Handbuch Diskurs und Raum: Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung [3., überarbeitete und erweiterte Auflage] 9783839432181

This handbook provides a detailed overview of discourse analytical approaches to spatial research in the social sciences

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Handbuch Diskurs und Raum: Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung [3., überarbeitete und erweiterte Auflage]
 9783839432181

Table of contents :
Inhalt
Vorwort zur dritten, aktualisierten und erweiterten Auflage
1 Diskursforschung in der Humangeographie
A Theorien und Konzepte der Diskursforschung in der Humangeographie
Einleitung
2 Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie
3 Gouvernementalität in der humangeographischen Diskursforschung
4 Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse – Ideologiekritik und Kritische Diskursanalyse
5 Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe
B Raumbegriffe in der Diskursforschung
Einleitung
6 Impulse geographischer Raumtheorien für eine raumund maßstabskritische Diskursforschung
7 Der unmögliche Raum bei Laclau und die politischen Räume der Geographie
8 Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden – Michel Foucaults Angebote an die Geographie
C Modi der diskursiven Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen
Einleitung
9 Sprachlichkeit
10 Bildlichkeit
11 Performativität
12 Praktiken
13 Materialität
D Methoden und empirische Zugänge der raumbezogenen Diskursforschung
Einleitung
14 Verfahren der lexikometrisch-computerlinguistischen Analyse von Textkorpora
15 Raumbezogenes Argumentieren
16 Die Aussagenanalyse als Mikromethode der Diskursforschung
17 Kodierende Verfahren in der Diskursforschung
18 Ein diskurstheoretisch informierter Blick auf Karten und Kartographie
19 Ethnographische Ansätze zur Analyse diskursiver Praxis
20 Fotografie als Methode zur Analyse von Visualität und Materialität
E Fazit und Ausblick
Einleitung
21 Ins Spiel der Wahrheit eintreten
Autorinnen und Autoren
Index

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Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.) Handbuch Diskurs und Raum

Sozial- und Kulturgeographie  | Band 11

Georg Glasze ist Lehrstuhlinhaber für Kulturgeographie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Geographie und geographischen Stadtforschung, den soziotechnischen Raumverhältnisse in der digitalen Transformation sowie der Diskursforschung. Annika Mattissek ist Professorin für Humangeographie an der Universität Freiburg. Ihre Forschungsinteressen umfassen aktuelle Fragen der Gesellschaft-Umwelt-Forschung, der Politischen Geographie und der interdisziplinären Diskursforschung.

Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.)

Handbuch Diskurs und Raum Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung

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© 2021 transcript Verlag, Bielefeld 3., überarbeitete und erweiterte Auflage Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3218-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3218-1 https://doi.org/10.14361/9783839432181 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort zur dritten, aktualisierten und erweiterten Auflage Georg Glasze, Annika Mattissek | 9

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Diskursforschung in der Humangeographie Konzeptionelle Grundlagen und empirische Operationalisierungen Georg Glasze, Annika Mattissek | 13

A Theorien und Konzepte der Diskursforschung in der Humangeographie 2 Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie Anke Strüver | 65

3 Gouvernementalität in der humangeographischen Diskursforschung Henning Füller, Nadine Marquardt | 87

4 Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse – Ideologiekritik und Kritische Diskursanalyse Bernd Belina, Iris Dzudzek | 109

5 Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe Georg Glasze, Annika Mattissek | 137

B Raumbegriffe in der Diskursforschung 6 Impulse geographischer Raumtheorien für eine raumund maßstabskritische Diskursforschung Sybille Bauriedl | 169

7 Der unmögliche Raum bei Laclau und die politischen Räume der Geographie Georg Glasze | 183

8 Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden – Michel Foucaults Angebote an die Geographie Nadine Marquardt, Verena Schreiber | 195

C Modi der diskursiven Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen 9 Sprachlichkeit Annika Mattissek | 211

10 Bildlichkeit Judith Miggelbrink, Antje Schlottmann | 223

11 Performativität Anke Strüver, Claudia Wucherpfennig | 249

12 Praktiken Christoph Baumann, Matthias Lahr-Kurten, Jan Winkler | 269

13 Materialität Thilo Wiertz | 291

D Methoden und empirische Zugänge der raumbezogenen Diskursforschung 14 Verfahren der lexikometrisch-computerlinguistischen Analyse von Textkorpora Finn Dammann, Iris Dzudzek, Georg Glasze, Annika Mattissek, Henning Schirmel | 313

15 Raumbezogenes Argumentieren Theorie, Analysemethode, Anwendungsbeispiele Tilo Felgenhauer | 345

16 Die Aussagenanalyse als Mikromethode der Diskursforschung Annika Mattissek | 365

17 Kodierende Verfahren in der Diskursforschung Georg Glasze, Shadia Husseini de Araújo, Jörg Mose | 379

18 Ein diskurstheoretisch informierter Blick auf Karten und Kartographie Georg Glasze, Christian Bittner, Boris Michel, Jörg Mose, Anke Strüver | 405

19 Ethnographische Ansätze zur Analyse diskursiver Praxis Jan Winkler, Andreas Tijé-Dra, Christoph Baumann | 417

20 Fotografie als Methode zur Analyse von Visualität und Materialität Anke Strüver, Katharina Wischmann | 441

E Fazit und Ausblick 21 Ins Spiel der Wahrheit eintreten Die Herstellung von Wissen und Macht in der Diskursforschung Annika Mattissek, Paul Reuber | 461

Autorinnen und Autoren | 469 Index | 473

Vorwort zur dritten, aktualisierten und erweiterten Auflage

Die Fertigstellung der aktualisierten und erweiterten Neuauflage des Handbuchs „Diskurs und Raum“ im Frühsommer 2020 fällt in eine Phase, in der unsere Welt von Umbrüchen geprägt wird, deren langfristige Folgen noch nicht absehbar sind. Ein Virus, das innerhalb weniger Monate Millionen von Menschen weltweit infizierte, und die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese Pandemie haben innerhalb kurzer Zeit etablierte gesellschaftliche Abläufe unterbrochen und maßgeblich transformiert. Vorsichtig formulierte Argumente einer diskurstheoretisch orientierten Perspektive auf den COVID-19-Ausbruch wagen wir zum Abschluss dieses Vorworts. Ein trivialer Nebeneffekt der Pandemie war, dass die Fertigstellung dieses Handbuchs von der Absage praktisch aller wissenschaftlichen Tagungen im Frühjahr 2020 begünstigt wurde und damit ein Projekt endlich seinen vorläufigen Abschluss gefunden hat, zu dem uns der transcript Verlag bereits 2013 ermutigt hatte. Die erste Auflage des Handbuchs war 2009 erschienen, hervorgegangen aus der mehrjährigen und intensiven Zusammenarbeit der beteiligten Autor*innen. Startpunkt dieser Zusammenarbeit war ein erstes Treffen 2004 und darauf folgend mindestens jährliche Workshops bis 2010. Von 2006 bis 2009 wurde der wissenschaftliche Austausch innerhalb dieser Gruppe sowie mit externen Expert*innen zudem als „wissenschaftliches Netzwerk“ von der DFG gefördert. Zur Vorbereitung der Neuauflage kam ein großer Teil der Autor*innen im Oktober 2014 nochmals im Kultur- und Tagungshaus Rauenthal im Rheingau zusammen. Vor dem Hintergrund der breiten Rezeption und Anwendung der Diskursforschung sowie angesichts neuer und weiterentwickelter Debatten wollten wir „unser Handbuch“ gemeinsam aktualisieren und erweitern.

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Die Erstauflage war eingebettet in einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Geographie in Richtung sozialkonstruktivistischer Ansätze. Räume wurden dabei nicht länger als gegeben konzeptualisiert, sondern als immer in spezifischer Weise hergestellt, kontingent und veränderbar. Durch die Rezeption v.a. englischsprachiger Arbeiten wurden in der deutschsprachigen Geographie in diesem Kontext auch Impulse diskurstheoretischer Ansätze aufgenommen – insbesondere im Rahmen einer Neubegründung politisch-geographischer und kulturgeographischer Arbeiten. Ein Schwerpunkt der Debatten in den 2000er Jahren drehte sich dabei um Fragen der theoretischen Grundlegung und methodischen Umsetzung diskursanalytischer Fragestellungen. Seitdem haben sich diskurstheoretische Perspektiven im Kanon der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze und -methoden zunehmend etabliert und ausdifferenziert. Jenseits der Unterschiede zwischen spezifischen Schulen und Forschungstraditionen adressieren sie im Kern das Verhältnis zwischen der Konstitution von Wissen und Wahrheiten einerseits sowie gesellschaftlichen Machtverhältnissen andererseits: Indem bestimmte Diskurse einflussreich bzw. hegemonial werden und andere damit gleichzeitig marginal, entwickeln sich bestimmte soziale Wahrheiten und letztlich bestimmte soziale Wirklichkeiten. Die Neuauflage des Handbuchs „Diskurs und Raum“ hat nach wie vor zum Ziel, auszuleuchten, welche Möglichkeiten diskurstheoretische Ansätze für raumbezogene Analysen in der Geographie und den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften eröffnen. Die Einführungen und Überblicke über Theorien und Methoden der Diskursforschung wurden für die Neuauflage aktualisiert und vielfach grundlegend überarbeitet. Neu hinzugekommen ist eine Reihe von Beiträgen, die dezidiert nicht-textliche Elemente in die Konzeptualisierung und methodische Operationalisierung der Diskursforschung einbeziehen. Nicht zuletzt bringt die Neuauflage dabei die Diskursforschung intensiver in einen Austausch mit Debatten um den material und practical turn, in denen gerade auch in der Geographie darum gerungen wird, wie aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus eine Beschränkung auf die symbolische Dimension sozialer Wirklichkeit vermieden und die „aktive Rolle“ von Materialität, Körperlichkeit oder Technik angemessen berücksichtigt werden kann. Schließlich wird in der neuen Auflage des Handbuchs diskutiert, welche Potenziale dieser Austausch eröffnet – gleichzeitig werden aber auch die Herausforderungen und Grenzen markiert. Diese Potenziale und Herausforderungen von Perspektiven, die in einer umfassenden Weise auf die Herstellung sozialer Wirklichkeiten abheben und dabei eine Gegenüberstellung von „Repräsentation“ und „Materialität“ überwinden wollen, lassen sich auch an der sogenannten „Corona-Krise“ verdeutli-

Vorwort zur dritten, aktualisierten und erweiterten Auflage

chen: Auf den ersten Blick mag die Beobachtung, dass ein Virus die Welt radikal verändern kann, vornehmlich als ein Beleg für die „aktive Rolle von Materialität“ herangezogen werden, eine Rolle, die die Diskursforschung vermeintlich übersieht. Das Virus, dem nicht einmal der Status eines Lebewesens zuerkannt wird, scheint eindeutig außerhalb der Welt der Zeichen und Bedeutungen zu liegen. Weitet man aber die Perspektive, dann wird deutlich, dass die sozialen Wirklichkeiten der Pandemie nur verstanden werden können, wenn die Einbettungen des Virus in vielfältige materielle und symbolische Prozesse ins Blickfeld genommen werden. So können Fragen der Sichtbarmachung und Kartierung des Virus, Fragen der Verbreitung sowie die Auseinandersetzungen um Maßnahmen zur Eindämmung nur dann angemessen verstanden werden, wenn sie als Verbindung von Materialität, soziotechnischen Praktiken und Bedeutungszuweisungen konzeptualisiert werden: In den Auseinandersetzungen um den Ursprung des Virus werden gentechnische Verfahren der Identifikation menschlich manipulierter bzw. „natürlicher“ Genome verknüpft mit geopolitischen Schuldzuweisungen und Konflikten. Im Ringen um angemessene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden Verfahren der Sichtbarmachung von Infektionen durch Labortechnologien und deren Übersetzung in Statistiken und Karten verknüpft mit Auseinandersetzungen um soziale Gerechtigkeit, um Grundrechte, um die Zukunft Europas, um den Einzelhandelsstandort Innenstadt usw. Gleichzeitig zeigt das Beispiel aber auch, dass der Beitrag der Diskursforschung an Grenzen stößt – bspw. dort, wo es dezidiert um ein Verständnis der „aktiven Rolle“ von Materialität geht: So bergen z.B. potenzielle Mutationen des Virus permanent die Gefahr, den Verlauf der Pandemie und deren gesellschaftliche Prozessierung zu beeinflussen – unabhängig von Bedeutungszuschreibungen. Die kurz diskutierten Beispiele aus dem Kontext der Pandemie zeigen aber, dass Fragen der Bedeutungsproduktion grundlegend mit Materialität sowie soziotechnischen Praktiken verbunden sind – und umgekehrt. Das Potenzial der Diskursforschung in der Geographie liegt nach unserer Einschätzung gerade auch darin, sensibel für die Herstellung sozialer Wirklichkeiten durch Verknüpfungen heterogener, bspw. symbolischer und materieller, Elemente zu sein – und damit z.B. Beiträge zum Verständnis einer solchen Pandemie entwickeln zu können. Wir sind daher zuversichtlich, dass auch die Neuauflage des Handbuchs auf Interesse stoßen wird. Bedanken möchten wir uns v.a. bei „unseren“ Autor*innen, denen wir teilweise (zu) viel Geduld abverlangt haben und die aber dennoch alle immer wohlwollend und unterstützend mit uns zusammengearbeitet haben. Wir hof-

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fen, dass sich die Freude an der tollen Zusammenarbeit im Lesevergnügen und in neuen Erkenntnissen für unsere Leser*innen niederschlägt. Georg Glasze und Annika Mattissek Erlangen und Freiburg im September 2020

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Diskursforschung in der Humangeographie Konzeptionelle Grundlagen und empirische Operationalisierungen

Georg Glasze, Annika Mattissek

Wie lässt sich verstehen, dass die Grenzen Europas in verschiedenen soziopolitischen und historischen Kontexten sehr unterschiedlich gezogen werden und dabei die „Identität Europas“ jeweils ganz anders bestimmt wird? Warum kann ein Taifun als „Naturkatastrophe“, als „Strafe Gottes“ und als „Konsequenz des anthropogenen Klimawandels“ bewertet werden? Wie kommt es, dass heutzutage Outdoor- und Natursportarten boomen und dabei neue Auseinandersetzungen mit Körperlichkeit und „Natur“ gesucht werden? Wie lässt sich erklären, dass bestimmte Werturteile und Vorstellungen breite Akzeptanz finden, die vor wenigen Jahren noch fast unsagbar waren? Ausgangspunkt des Handbuchs „Diskurs und Raum“ ist die These, dass Ansätze der Diskursforschung die Chance bieten, die gesellschaftliche Produktion von Bedeutungen und damit die gesellschaftliche Produktion spezifischer Wahrheiten und spezifischer sozialer und räumlicher Wirklichkeiten sowie die damit verbundenen Machteffekte zu konzeptualisieren. Damit kann die Diskursforschung der Humangeographie sowie den raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften neue Antworten auf die skizzierten Fragestellungen geben sowie weitere Fragestellungen eröffnen. Gegenstand der Diskursforschung sind überindividuelle Muster des Denkens, Sprechens, Sich-selbst-Begreifens und Handelns sowie die Prozesse, in denen bestimmte Vorstellungen und Handlungslogiken hergestellt und immer wieder verändert werden. Auch wenn die Analyse sprachlicher Sinngebungsprozesse konzeptionell und in vielen empirischen Untersuchungen eine prominente Stellung einnimmt, geht der Terminus „Diskurs“ im sozial- und kultur-

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wissenschaftlichen Sinne weit über die rein sprachliche Ebene des Bezeichnens hinaus. „Diskurs“ bezeichnet demnach jeweils spezifische Verbindungen zwischen symbolischen Praktiken (Sprach- und Zeichengebrauch), die klassifizieren und bewerten, mit körperlich-materiellen und soziotechnischen Praktiken. In den Worten Michel Foucaults: Diskurse sind charakterisiert durch eine spezifische Art und Weise, Verknüpfungen zwischen „Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen herzustellen“ (Foucault 1973 [1969]: 68). Ein zentrales Anliegen der Diskursforschung ist die Frage nach der Herstellung von Wissen und Wahrheit sowie die Frage nach der Verknüpfung von Wissen und Macht. Indem bestimmte Diskurse hegemonial werden und andere marginalisiert, werden bestimmte Wahrheiten und letztlich bestimmte soziale Wirklichkeiten hergestellt. Hierin liegt der Machteffekt von Diskursen. Macht wird damit weder als Ressource oder Eigenschaft einzelner Akteure verstanden noch als abstrakte repressive Kraft, die „von oben“ auf Menschen einwirkt. Vielmehr ist Macht sämtlichen sozialen Beziehungen inhärent, sie wirkt sowohl produktiv als auch repressiv. Die Diskursforschung konzipiert Wahrheiten und soziale Wirklichkeiten als niemals absolut und als niemals endgültig fixiert. In anderen diskursiven Kontexten können andere Diskurse hegemonial sein und damit andere Sichtweisen und Praktiken als „wahr“ oder „richtig“ gelten. Besonders deutlich wird die Kontingenz, d.h. die Nicht-Determiniertheit und Veränderbarkeit diskursiv konstituierter Wirklichkeiten, in Analysen, die den Wandel von Diskursen über die Zeit aufzeigen. Denn oftmals wird erst durch den Wandel deutlich, welche Sichtweisen und Positionen zuvor unterdrückt oder ausgeschlossen waren. Die Veränderungen von geltenden Wahrheiten und sozialen Wirklichkeiten können dabei entweder als radikaler Umbruch oder aber als schleichender Wandel verlaufen, der kaum bemerkt und nur im analytisch reflektierten Rückblick sichtbar wird. Allerdings soll dieser Fokus auf historische Veränderungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch zu einem gegebenen Zeitpunkt diskursive Konstruktionen selten eindeutig sind. Vielmehr konkurrieren oftmals unterschiedliche Positionen und letztlich unterschiedliche soziale Wirklichkeiten um Vorrang und Anerkennung. Diskurse sind daher stets im Fluss – Bedeutungen werden permanent entlang von Unstimmigkeiten, Brüchen und Konfliktlinien herausgefordert und neu bestimmt. Die Diskursforschung schärft damit auch den Blick für die Zusammenhänge zwischen Räumlichkeit und Macht. Denn wenn man konzeptionell anerkennt, dass zum einen Räume nicht einfach gegeben sind, sondern immer wie-

Diskursforschung in der Humangeographie

der neu konstituiert werden, und zum anderen die Verfasstheit von Räumen ein wichtiges Element der Herstellung sozialer Wirklichkeit ist, dann ist die Konstitution bestimmter Räume eng verknüpft mit der hegemonialen Durchsetzung bestimmter sozialer Wirklichkeiten. So macht es bspw. einen Unterschied, ob die Welt in erster Linie als politökonomisch differenziert gedacht, beschrieben und damit letztlich produziert wird oder als kulturell differenziert. Denn entlang dieser Distinktionsachsen werden auch geopolitische Konflikte beurteilt und Solidaritäten zu einzelnen Konfliktpartnern hergestellt. Ob etwa ein Einmarschieren US-amerikanischer Truppen in den Irak in erster Linie gemäß dem Slogan „no blood for oil“ (vgl. van Ells 1999) als Konsequenz ökonomischer Interessen repräsentiert wird oder als Folge des „clash of civilizations“ (Huntington 1993), führt zu sehr unterschiedlichen Solidaritäten und innen- wie außenpolitischen Reaktionen. Es werden dabei also nicht nur die Konfliktursachen unterschiedlich beschrieben, sondern letztlich unterschiedliche Konflikte zwischen unterschiedlich zusammengesetzten Konfliktparteien hergestellt. Mit der Konzeptualisierung aller Wahrheiten und aller sozialer Wirklichkeiten als kontingent, d.h. offen und veränderlich, verbindet sich der kritische bzw. politische Anspruch der Diskursforschung: Ziel ist es, vermeintlich feststehende Wahrheiten und soziale Wirklichkeiten zu hinterfragen und damit zu zeigen, dass auch andere Wahrheiten gedacht und gelebt werden können und andere soziale Wirklichkeiten möglich sind – egal, ob es sich um „wirtschaftliche Notwendigkeiten“ handelt oder um vermeintlich objektive Einteilungen der Welt (bspw. auf einer globalen Ebene die Unterscheidung von „Orient“ und „Okzident“ oder auf einer lokalen Ebene die Festlegung von „Problemquartieren“). Gleichzeitig rücken in einer solchen Perspektive auch die Positionierungen der jeweiligen Diskursforscher*innen selbst ins Blickfeld. Das vorliegende Handbuch richtet sich an zwei Gruppen von Leser*innen: zum einen an Studierende und Wissenschaftler*innen aus der (Human-)Geographie sowie den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich für die Potenziale der Diskursforschung in der raumbezogenen Gesellschaftsforschung interessieren. Diesen Leser*innen möchte das Handbuch einen Überblick über einige der zentralen theoretisch-konzeptionellen Ansätze der Diskursforschung und deren erkenntnistheoretische Unterschiede liefern sowie Methoden der empirischen Umsetzung vorstellen. Insgesamt zeigt das Handbuch, wie die Hinwendung zu konstruktivistischen Raumkonzepten auf der Basis diskurstheoretischer Ansätze gefasst werden kann. Zum anderen richtet sich das Handbuch auch an Leser*innen aus der interdisziplinären Diskursforschung. Dieser Gruppe bietet das Buch in Teil B eine Diskussion über die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Diskurs und Raum sowie in den Teilen A,

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C und D Hinweise zur Rezeption diskurstheoretischer Ansätze und deren Operationalisierung in der Humangeographie. In diesem Einleitungsbeitrag werden zunächst anhand von vier Beispielen die Potenziale der Diskursforschung für die raumbezogene Gesellschaftsforschung skizziert. Anschließend werden die in diesem Buch vorgestellten Ansätze im Kontext konzeptioneller Entwicklungen in der Humangeographie seit etwa den 2000er Jahren verortet, bevor anschließend diskutiert wird, wie eine dezidiert diskurstheoretische Konzeptualisierung der Kategorie Raum aussehen kann. Abschließend führt der Beitrag aus, welche Chancen die Diskursforschung eröffnet, um politische Auseinandersetzungen theoretisch zu fassen und eine gesellschaftskritische Rolle von Wissenschaft zu legitimieren.

Potenziale der Diskursforschung für die raumbezogene Gesellschaftsforschung Diskurstheoretische Ansätze haben in einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Disziplinen in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen (vgl. für einen Überblick Angermuller et al. 2014). Gleichwohl unterscheiden sich die untersuchten Fragestellungen und Interessenschwerpunkte in den einzelnen Fachkontexten. So lassen sich für die Geographie bzw. für die raumbezogene Gesellschaftsforschung sowohl inhaltliche als auch konzeptionelle Schwerpunkte ausmachen. In einer intensiven Theoriedebatte wurde in der Humangeographie seit den 1980er Jahren die Vorstellung von objektiv gegebenen Räumen und Raumstrukturen aufgebrochen (zur theoretischen Auseinandersetzung mit der Kategorie „Raum“ in der Humangeographie siehe in diesem Kapitel unten, Teil B des Handbuchs sowie bspw. Hard 1986; Crang/Thrift 2000; Miggelbrink 2002; Wardenga 2002; Belina 2013; Escher/Petermann 2016). Im Zuge des spatial turn erreicht diese Debatte seit einigen Jahren auch die benachbarten Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften (Bachmann-Medick 2006: 284ff.; Döring/Thielmann 2008; Günzel 2008, 2017). Zunehmend werden Räume und räumliche Strukturen nicht mehr als objektiv gegeben, sondern als gesellschaftlich konstruiert konzeptualisiert. Geht man in einer diskurstheoretischen Perspektive davon aus, dass weder gesellschaftliche Strukturen einfach gegeben sind noch die Identitäten intentional handelnder Akteure, dann eröffnet sich die Chance,

Diskursforschung in der Humangeographie

die gegenseitige Verschränkung der Konstitution von Räumlichkeit und der Konstitution des Sozialen ins Blickfeld zu nehmen. 1 Wir wollen mit dem Handbuch zeigen, dass mit einem solchen diskurstheoretisch begründeten Blick auf den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Raum neue Perspektiven für eine ganze Reihe „traditioneller“ Fragestellungen der Humangeographie sowie der raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt eröffnet werden. Wie diese neuen Perspektiven aussehen und welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn sie gegenüber anderen Herangehensweisen bieten, soll exemplarisch anhand vier aktueller Forschungsfelder aufgezeigt werden.

Grenzziehungsprozesse, Territorialisierungen und raumbezogene Identitäten Mit der Abkehr von der Vorstellung gegebener Räume und gegebener Identitäten rücken die diskursiven Prozesse ins Blickfeld, in denen räumliche Grenzen gezogen werden und raumbezogene Identitäten konstituiert werden. Insbesondere werden so neue Perspektiven darauf eröffnet, wie räumliche Differenzierungen („hier/dort“) mit sozialen Differenzierungen verknüpft werden und wie dadurch Bereiche des „Eigenen“ und des „Fremden“ abgegrenzt werden. Solche Verräumlichungen haben enorme gesellschaftliche Auswirkungen, da sie die (komplexe und widersprüchliche) soziale Welt in vermeintlich homogene Einheiten einteilen und damit Freund- und Feindbilder etablieren, die auf den unterschiedlichsten Maßstabsebenen handlungsrelevant werden (Glasze 2013; Meyer/Miggelbrink/Schwarzenberg 2016; Linnemann/Reuber 2015). 1

Zentral ist es dabei aus diskurstheoretischer Perspektive (etwa in Abgrenzung zu handlungstheoretischen Ansätzen und der Strukturationstheorie von Giddens), dass der Analysefokus auf die permanenten Prozesse der Herstellung von Strukturen und Subjekten gelegt wird und mit einer hohen Sensibilität für die Widersprüchlichkeiten, Brüche und damit letztlich dem Scheitern aller Strukturen und Identitäten operiert wird. Macht wird dabei nicht an das ressourcengestützte Handeln von Individuen gebunden, sondern als Effekt der Herstellung gerade bestimmter Strukturen und Subjektivierungen gefasst. Die Kernfrage lautet dann nicht (wie es für handlungs- oder strukturationstheoretische Ansätze charakteristisch wäre), welche Ziele bestimmte Akteure mit Rückgriff auf welche gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen (Ressourcen, Normen etc.) durchzusetzen suchen. Die Analyse zielt vielmehr darauf ab zu ermitteln, wie überhaupt Subjekte konstituiert werden, die dann bestimmte Zielvorstellungen entwickeln. Ebenso kann gefragt werden, wie bestimmte Ressourcen Bedeutung bekommen, indem sie in spezifische (und veränderliche) diskursive Zusammenhänge gestellt werden (s.u.).

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Insbesondere Arbeiten aus dem Bereich der Politischen Geographie haben verdeutlicht, wie sich der wissenschaftliche Blick verändert, wenn etablierte Territorialisierungen der Welt nicht als gegeben, sondern immer als hergestellt und als Gegenstand politischer Aushandlungen angesehen werden. So haben die Auseinandersetzungen um den Brexit anschaulich gemacht, dass mit der Frage um eine Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zur EU nicht nur Fragen nach der Gestaltung von Grenzregimen verknüpft sind, sondern weitreichendere Fragen nach der (Re-)Organisation politischer und ökonomischer Bündnisse (Bachmann/Sidaway 2016). Ebenso haben Analysen geopolitischer Repräsentationen des „Eigenen“ und des „Fremden“ an einer Vielzahl von Beispielen gezeigt, wie diese nicht nur Auswirkungen auf zwischenstaatliche Beziehungen (bis hin zu militärischen Interventionen) nehmen, sondern wie die dabei vollzogenen Grenzziehungen auch Konsequenzen für die Identifikationen von Individuen, d.h. deren Fremd- und Eigenwahrnehmungen, haben (Husseini de Araújo 2011; Bachmann/Müller 2015; Mattissek/Reuber 2016). Zentral ist an dieser Stelle, dass solche Grenzziehungen und Zuschreibungen nicht wertneutral, sondern durch vielfältige Machtbeziehungen geprägt sind. Diese zeigen sich im Alltag auf zahlreiche Art und Weise – von den unterschiedlichen Überprüfungsprozeduren, die Einwohner*innen verschiedener Länder bei der Einreise über sich ergehen lassen müssen, bis hin zu Diskriminierungen im täglichen Miteinander, die aufgrund von nationaler Zugehörigkeit und darauf basierenden Stereotypen („immer diese Deutschen/Türken/ Araber/Amis/…“) entstehen.

Konstitution von Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen Aus einer diskurstheoretischen Perspektive lassen sich nicht nur innergesellschaftliche Differenzierungsprozesse, sondern auch Fragestellungen im Bereich der sogenannten Gesellschaft-Umwelt- bzw. Mensch-Natur-Beziehungen neu interpretieren, indem die vermeintliche Gegebenheit von „Natur“ bzw. „Umwelt“ aufgebrochen und herausgearbeitet wird, wie jeweils die Grenze zwischen Mensch und Natur bzw. Gesellschaft und Umwelt gezogen wird. Die Frage danach, ob Überschwemmungen, Dürren oder andere klimatische Extremereignisse als „natürlich“ und damit als außerhalb des Einflusses von Menschen stehend oder aber als Ausdruck des anthropogenen Klimawandels interpretiert werden, lässt sich danach also nur dann beantworten, wenn herausgearbeitet werden kann, wie „Natur“ in einem bestimmten diskursiven Kontext konstituiert wird (Flitner 1998; Zierhofer 1998, 2007).

Diskursforschung in der Humangeographie

Eine solche Perspektive kann auch die aktuelle Debatte um den globalen Klimawandel bereichern. Im Gegensatz zu rein naturwissenschaftlichen Ansätzen, bei denen die Frage nach Ursachen und (regional spezifischen) Auswirkungen klimatischer Veränderungen im Vordergrund stehen, kann aus einer diskursorientierten Perspektive gefragt werden, wie (natur-)wissenschaftliche Erkenntnisse in unterschiedliche Argumentationslogiken und institutionelle Kontexte eingebunden werden. Damit wird es möglich zu fragen, mit welchen anderen Themen und sozialen Verhältnissen der Klimawandel jeweils in Verbindung gebracht wird (etwa mit ökonomischen Entwicklungen, postkolonialen Unterdrückungsverhältnissen oder der nationalstaatlichen Organisation der internationalen Politik) und welche Praktiken sowie Handlungsweisen dadurch jeweils ermöglicht und legitimiert bzw. marginalisiert werden (Paterson/ Stripple 2007; Pettenger 2007) Diskursanalysen in diesem Kontext haben bspw. herausgearbeitet, welche prinzipiellen Unterschiede zwischen wachstums- und modernisierungsorientierten Lösungen und Postwachstums- oder DegrowthAnsätzen bestehen. Während erstere in der Bekämpfung des Klimawandels auf Technologien und marktwirtschaftliche Mechanismen setzen, beanstanden wachstumskritische Diskurse die Dominanz kapitalistischer Denkweisen und fordern stattdessen eine grundsätzliche Infragestellung des herrschenden Wachstumsparadigmas (Anshelm/Hultmann 2015; Krüger 2015). Auch in der Analyse umweltbezogener (Planungs-)Konflikte kommen Diskursanalysen zum Einsatz. Entsprechende Auseinandersetzungen um die „Richtigkeit“ und „Angemessenheit“ planerischer Entscheidungen wurden z.B. in Bezug auf Fragen der Umsetzung der Energiewende (Roßmeier/Weber/ Kühne 2018), der Platzierung von Windrädern (Leibenath/Otto 2012; Otto/ Leibenath 2014) oder der praktischen Umsetzung von Energie- und Klimapolitik in Städten (Mattissek/Sturm 2017) untersucht. Dabei geht es zum einen um die Frage, welche Schutzansprüche auf welcher Maßstabsebene als besonders relevant gelten (z.B. globaler Klimaschutz vs. lokaler Naturschutz), sowie zum anderen um die Frage, in welches Verhältnis ökonomische, soziale und umweltbezogene Ansprüche diskursiv gestellt werden (Günzel 2016).

Ökonomie und Raum Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von Ökonomie und Raum war lange Zeit durch die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und optimalen Lösungen, bspw. für Standortentscheidungen, geprägt. So wurde insbesondere in der Wirtschaftsgeographie eine Reihe von Modellen entwickelt, die zum Ziel hatten, allgemeine Gesetzmäßigkeiten raumrelevanter wirt-

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schaftlicher Handlungen aufzuzeigen (Schätzl 1978; Voppel 1999). Diskurstheoretisch motivierte Ansätze können in diesem Kontext einen wichtigen Beitrag sowohl zu wissenschaftlichen als auch zu planerischen Debatten leisten, indem sie auch wirtschaftliche Notwendigkeiten und ökonomische Gesetzmäßigkeiten als gesellschaftlich produzierte Diskursstrukturen verstehen. Damit wird es möglich, wirtschaftliche Zusammenhänge, genau wie andere Formen gesellschaftlicher Strukturierung, als sozial hergestellte, kulturell spezifische und damit auch prinzipiell veränderliche und hinterfragbare Konstruktionen zu thematisieren (vgl. Berndt/Boeckler 2005). Mit anderen Worten: Auch die Gesetze der Wirtschaft oder des Marktes sind politisch in dem Sinne, dass sie auf Entscheidungsprozessen und Hegemonialisierungen beruhen (Maeße 2016). Aus einer solchen Perspektive können etwa die „Notwendigkeiten“ der Globalisierung oder die Bewertungsmaßstäbe einer „neoliberalen“ Wirtschaftslogik daraufhin hinterfragt werden, welche alternativen Sichtweisen und Entscheidungen sie marginalisieren und welche Machtverhältnisse durch sie konstituiert werden (Mattissek 2008; Schipper 2013; Dzudzek 2016). Die Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge zeigt dabei besonders eindrucksvoll, wie in Diskursen symbolische und materielle Praktiken untrennbar miteinander verzahnt sind: Denn die Fragen, wo investiert wird, wie investiert wird und wie dies begründet wird oder wie bspw. in Zeiten wirtschaftlicher „Panik“ Handlungen auf der sprachlichen und materiellen Ebene sich gegenseitig beeinflussen und verstärken, lassen sich gerade nicht aus allgemein und objektiv gültigen Gesetzmäßigkeiten ableiten, sondern eher als das Ergebnis diskursiver Aushandlungsprozesse konzeptualisieren (für einen Überblick über Diskursanalysen zu Wirtschaft vgl. Diaz-Bone/Krell 2015). Gerade in einer Zeit, in der in vielen gesellschaftlichen Bereichen – wie etwa in der Organisation von Universitäten oder in der Stadtentwicklung – wirtschaftliche Maßstäbe (noch) relativ unreflektiert absolut gesetzt werden, hat eine solche Sichtweise oftmals auch einen politischen Anspruch. Es geht darum, durch das Aufzeigen der jeweils praktizierten diskursiven Ein- und Ausschlüsse zu verdeutlichen, dass durchaus auch alternative Handlungsweisen möglich sind, die nur im Kontext der hegemonialen Diskurslogik als „irrational“ oder „unvernünftig“ erscheinen mögen.

Diskursforschung in der Humangeographie

Steuerung menschlichen Verhaltens im Raum – Herstellung räumlicher Praktiken Die Frage, wie sich Regelmäßigkeiten und Muster raumbezogener Praktiken erklären lassen, ist eines der zentralen Themen der Humangeographie. Die Diskurstheorie bietet hier einen Ansatzpunkt, um unterschiedliche Formen der Steuerung und Regierung (im Sinne von Foucault 2006a [1979], b [1978]) zu untersuchen, die Menschen bei spezifischen raumbezogenen Praktiken anleiten. So kann im Anschluss an Arbeiten Foucaults nach dem Verhältnis von Disziplinierung und Zwang einerseits und auf Überzeugungen und der Verinnerlichung von Normen und Wertvorstellungen basierenden Formen andererseits gefragt werden (Foucault 1976 [1975], 2006a [1979], b [1978]). Ebenfalls zentral ist – gerade für geographische Arbeiten – das Verhältnis zwischen materiellen bzw. technischen Arrangements (bspw. Architektur, Grenzzäune, Absperrungen, Sensoren) und symbolischen Praktiken, die diese materiell-technischen Gegebenheiten mit bestimmten Bedeutungen versehen und somit bestimmte Praktiken und Handlungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. Ein Beispiel für die Herstellung materieller Rahmenbedingungen, die die Zirkulation und Bewegung von Menschen und Dingen im Raum regulieren sollen, sind Stadtplanung und Städtebau (Foucault 2006b [1978]; Mattissek/Prossek 2013). So arbeitet Foucault v.a. am Beispiel der Seuchenbekämpfung heraus, wie die zunehmende diskursive Problematisierung der Verbreitungswege bestimmter Krankheiten die bauliche Gestaltung von Städten grundlegend verändert hat. Das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Aspekte der Regierung und Führung von Menschen lässt sich am Beispiel aktueller Veränderungen der Sicherheitspolitiken in Städten verdeutlichen (vgl. Glasze/Pütz/Rolfes 2005; Belina 2006; Germes/Glasze 2010; Füller/Marquardt 2010; Schreiber 2011; Füller/Glasze 2014). Hier zeigt sich, wie sprachliche Rahmungen, institutionelle Muster, alltägliche Praktiken und materiell-technische Arrangements in einem spezifischen Sicherheitsdiskurs ineinandergreifen. Die diskursanalytische Perspektive ermöglicht vor diesem Hintergrund, die historische und soziokulturell kontextspezifische Konstitution von Kategorien wie „kriminell“, „unsicher“, „bedrohlich“ etc. herauszuarbeiten. Eng verzahnt sind sprachliche Legitimationen und Argumentationsmuster dabei mit institutionellen Aspekten wie der Formulierung und Ausübung bestimmter Gesetze, bspw. der Regulierung des Zugangs einzelner Personengruppen zu bestimmten Orten (etwa des Zutritts Obdachloser zu Bahnhöfen). Die neuen Sicherheitsdiskurse werden durch architektonische und städtebauliche Arrangements (z.B. durch die Ins-

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tallation von Videokameras oder durch eine bauliche Gestaltung, die für spezifische Gruppen die Aneignung erleichtert bzw. erschwert) gestützt und verfestigt (Davis 1990). Dieser Ausflug zu einigen Fragestellungen, die gewinnbringend mithilfe diskurstheoretischer Ansätze bearbeitet werden oder bearbeitet werden könnten, stellt natürlich nur eine kleine Auswahl dar. Er macht aber deutlich, dass Arbeiten der Diskursforschung in vielfältigen thematischen Kontexten Perspektiven eröffnen, die bestehende Fragestellungen und Erklärungsmuster ergänzen und bereichern. Insbesondere eröffnet die Diskursforschung einen Blick dafür, dass Handlungen weder allein auf Intentionen und Ziele von Akteuren noch auf vordiskursive gesellschaftliche Makrostrukturen zurückgeführt werden können, sondern dass schon die Frage, was in einem bestimmten Kontext als legitimes Ziel oder sinnvolle Situationsbewertung gilt, abhängig von den diskursiven Rahmenbedingungen ist. Gesellschaftliche Machtbeziehungen zeigen sich aus Sicht der Diskursforschung also nicht allein in expliziten Verboten oder institutionellen Beschränkungen, sondern auch in den überindividuellen, oft implizit wirkenden Bedeutungsstrukturen, die menschlichem Handeln zugrunde liegen, und in deren Wirkung auf und Verknüpfung mit Normen, Alltagspraktiken und materiellen Arrangements. Die vorgestellten Arbeiten und Fragestellungen greifen in unterschiedlichen Akzentuierungen auf eine Reihe theoretischer Überlegungen zurück, die die konzeptionelle Basis diskurstheoretischer Arbeiten bilden. Im folgenden Abschnitt werden diese in ihren Grundzügen dargestellt.

Konzeptionelle Grundlagen der Diskursforschung Die deutschsprachige Humangeographie wie auch die deutschsprachigen Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften allgemein waren (im Unterschied etwa zur französischsprachigen Debatte) auf der konzeptionellen Ebene lange Zeit gekennzeichnet durch die Dichotomie zwischen szientistischen, an das Paradigma des Kritischen Rationalismus angelehnten Ansätzen und interpretativverstehenden Zugriffen, welche die Subjektivität unterschiedlicher Weltsichten in den Vordergrund stellten (bspw. hermeneutische und handlungstheoretische Ansätze). Im Zuge des linguistic und cultural turn wurden daneben vermehrt strukturalistische, poststrukturalistische und pragmatische Theorieentwürfe rezipiert, die auf unterschiedliche Arten und Weisen diskursanalytische Ansätze inspiriert haben. Die Grundlagen dieser drei Ansätze sollen im Folgenden kurz erläutert werden.

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Strukturalismus Mit dem Begriff „Strukturalismus“ werden Theorien und Methoden bezeichnet, die einzelne Phänomene aus ihrer Stellung in einem Beziehungsgefüge (einer Struktur) zu erklären suchen. Objekte (bspw. Wörter, Akte, materielle Artefakte) tragen demzufolge keine absolute, essenziell gegebene Bedeutung an sich, sondern diese ergibt sich vielmehr erst durch ihre Stellung innerhalb eines relationalen Bezugssystems. Für die Diskurstheorie ist diese Relationalität der Bedeutungsproduktion deswegen zentral, weil damit das Repräsentationsmodell fällt, d.h. die Vorstellung, dass in Sprache eine externe Realität abgebildet werden könne. Abbildung 1: Signifikat (Konzept/Bezeichnetes) und Signifikant (Bezeichnendes) im Zeichenbegriff von de Saussure

Quelle: de Saussure 1931 [1916]: 78

Als Begründer des Strukturalismus gilt der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure. Dieser prägte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung, dass Sprache ein durch abstrakte Regeln gekennzeichnetes Zeichensystem (langue) ist, welches sich in konkreten Sprechereignissen (parole) ausdrückt und die menschlichen Vorstellungen von und Wahrnehmungen der Welt strukturiert. Grundlegend für die Theorie de Saussures waren insbesondere drei Annahmen: 1) Die Arbitrarität der Zuordnung von Signifikant und Signifikat: Nach de Saus-

sure vereinigt das sprachliche Zeichen das Bezeichnende (den Signifikanten) und das Bezeichnete (das Signifikat, d.h. das Konzept). Dies bedeutet, dass die in unterschiedlichen Sprachen stattfindende Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat allein auf Konventionen beruht. Es hat also keinen „inneren“ Grund, warum die Buchstabenfolge „B-a-u-m“ eine Pflanze mit Verholzung und Blättern bezeichnet und nicht eine Wohnstätte (1931 [1916], s. Ab-

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bildung 1). Das Konzept de Saussures lässt sich mit einem Vergleich unterschiedlicher Sprachen veranschaulichen. So zeigt die Tatsache, dass das Konzept „Hund“ (Signifikat) in unterschiedlichen Sprachen mit jeweils anderen Signifikanten verknüpft ist (z.B. engl. dog, frz. chien, russ. собака), dass die Signifikanten arbiträr sind. Aber auch die Konzepte gehen nicht dem Sprachsystem voraus. Wäre dies der Fall, dann müssten in allen Sprachen die gleichen Konzepte existieren, die nur mit jeweils anderen Signifikanten verknüpft wären. Übersetzungen wären dann immer einfach und präzise. Viele Konzepte existieren aber nur in bestimmten Sprachen, in anderen jedoch nicht (bspw. gibt es für die Begriffe „Heimat“ und „spießig“ im Deutschen keine Entsprechungen im Englischen). Eine Übersetzung ist daher immer mit Schwierigkeiten verbunden (diese Problematik diskutieren die Arbeiten zum translational turn, für die Humangeographie s. Bruns/Zichner 2009; Crane/Lombard/Tenz 2009; Filep 2009; Husseini 2009). 2) Relationalität als Grundlage der Bedeutungskonstitution: De Saussure versteht Sprache als eine „Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbunden sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der Vorstellungen“ (1931 [1916]: 144). Die Ordnung der Signifikanten und die Ordnung der Signifikate decken sich nach de Saussure vollständig. Das System stelle „im Inneren jedes Zeichens“ (ebd.) die Verbindung zwischen Signifikant und Signikat her. Die spezifische Verbindung zwischen der Buchstaben- bzw. Lautfolge „B-A-U-M“ und der Vorstellung „Baum“ entsteht also in der Abgrenzung von anderen Signifikanten und Signifikaten. Abbildung 2: Herstellung von Bedeutung durch Abgrenzung

Quelle: de Saussure 1931 [1916]: 137

3) Ablehnung einer „objektiven Welt“ außerhalb von Sprache: De Saussure

lehnt die Idee fertiger Vorstellungen, welche schon „vor den Worten“ vorhanden sind, ab (1931 [1916]: 97). Denken ist seiner Ansicht nach untrennbar mit Sprache verbunden und ohne sprachlichen Ausdruck nur eine „gestaltlose und unbestimmte Masse“ (ebd.: 133). Das bedeutet, dass durch die beschriebenen strukturellen Charakteristika einer gesellschaftlich etablierten Sprache auch ein Rahmen für die Bedeutungsproduktion geschaffen wird.

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Insbesondere der letztgenannte Punkt macht deutlich, warum der Strukturalismus die Idee autonomer Subjekte kritisiert und damit auch ausdrücklich eine Gegenposition gegenüber subjektorientierten Ansätzen einnimmt. Denn mit der Vorstellung, dass Bedeutung erst in Sprache konstituiert wird, ist impliziert, dass auch Subjekte ihre vermeintlich individuellen Vorstellungen und Bewertungen der Welt immer nur durch und innerhalb derjenigen gesellschaftlich etablierten (sprachlichen) Struktur entwickeln können, die ihnen für die Symbolisierung der Welt zur Verfügung steht.

Semiotik/Allgemeine Zeichentheorie De Saussure hat in seinem cours de linguistique générale bereits den Anspruch formuliert, dass sein Konzept von Sprache als System von Zeichen die Grundlage lege für eine neue Wissenschaft, die Semeologie. Die Semeologie sei die „Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht“ (ebd.: 19). Letztlich ließen sich „symbolische Riten, Höflichkeitsformen, militärische Signale usw.“ genauso wie Sprache als System von Zeichen analysieren. De Saussure entwirft also bereits die Übertragung strukturalistischen Denkens auf das Feld nicht-sprachlicher Bedeutungssysteme und damit letztlich des Sozialen insgesamt. Ab den 1950er Jahren legen bspw. der Anthropologe Claude Lévi-Strauss und der Kulturkritiker Roland Barthes entsprechende Arbeiten vor. So arbeitet Lévi-Strauss Strukturen verwandtschaftlicher Beziehung und gesellschaftlicher Mythen heraus und analysiert diese wie sprachliche Strukturen (Lévi-Strauss 1971 [1958], 1993 [1948]). Barthes greift 1957 den Vorschlag zur Konstitution der Semeologie auf und wendet sich der Analyse eines nicht-sprachlichen Bedeutungssystems zu – der Mode (Barthes 1985 [1967]). Anstelle von Semeologie hat sich für die Analyse nicht-sprachlicher Bedeutungssysteme allerdings der Begriff „Semiotik“ etabliert. Aus Sicht der Diskurstheorie ist diese Erweiterung des sprachlichen Strukturmodells der Linguistik auf nicht-sprachliche Bedeutungssysteme deswegen wichtig, weil sie es ermöglicht, auch Alltagspraktiken oder materielle Artefakte in die Analyse einzubeziehen. Neben de Saussure gilt Charles Sanders Peirce (1839-1914) als einer der Begründer der Semiotik. Peirce geht von einem triadischen Zeichenmodell aus. Dieses umfasst das Bezeichnete (Zeichenobjekt), die Bezeichnungsform (Zeichenträger, Repräsentamen) und die Repräsentation dieses Zeichens im Bewusstsein der kommunizierenden Person (Interpretant) (Eco 1994 [1968]: 76ff.). Das triadische Zeichenmodell wird damit auch zu einer Grundlage der Ansätze des Pragmatismus. Denn mit der Prämisse, dass die Bedeutung eines Zeichens

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nicht durch eine vorgegebene Struktur festgelegt wird, sondern spezifisch im Kommunikationsprozess generiert wird, erkennt Peirce an, dass Sinn weder statisch noch absolut ist, sondern durch den Kontext der Kommunikation mitbestimmt wird (Nöth 2000: 64).

Sprechakttheorie und Pragmatik Der Einbezug des Kommunikationskontextes in die Analyse sprachlicher Formen stellt einen zentralen Bestandteil pragmatischer Ansätze dar. Im Zentrum der Analyse steht das Sprechhandeln von Akteuren, die sich sprachlicher Formen bedienen, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen – griffig auf den Punkt gebracht durch den Titel des grundlegenden Werks von John Austin (1972 [1962]) „How to do things with words?“. Damit führt die Sprachpragmatik einen zentralen Unterschied in die Untersuchung sprachlicher Formen ein: die Differenz zwischen der strukturellen Komponente linguistischer Ausdrücke („Semantik“) und dem tatsächlichen Gebrauch von Sprache in unterschiedlichen Kontexten („Pragmatik“) (Searle 1969; Austin 1972 [1962]; Grice 1975). Im Zentrum pragmatischer Untersuchungen steht die Frage, welche Aussagen, Sätze oder sprachlichen Formen in einem bestimmten Kontext gewählt wurden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Sprechakttheorie und die Sprachpragmatik befassen sich also – im Gegensatz zu strukturellen Ansätzen – nicht mit den allgemeinen, kontextunabhängigen Regeln und Strukturen, in die sprachliches Handeln eingebettet ist, sondern mit der kontextabhängigen Verwendung von Sprache (Wittgenstein 1953). Demzufolge kann bspw. der gleiche Satz in unterschiedlichen Kontexten ganz verschiedene Bedeutungen annehmen. Jedoch ist die Frage, welche Bedeutungen er annimmt, nicht beliebig, sondern lässt sich bis zu einem gewissen Grad aus allgemeinen Kommunikationsregeln bestimmen.2 Gerade im Kontext raumbezogener Kommunikation lassen sich dabei oftmals explizite und implizite Bedeutungsgehalte von Aussagen unterscheiden. So liegt bspw. einer Vielzahl von Aussagen ein räumliches Containerdenken zugrunde, welches selbstverständlich davon ausgeht, dass die 2

So besagt etwa das Grice’sche Kooperationsprinzip, dass Sender*innen und Empfänger*innen eines Kommunikationsaktes davon ausgehen, vom jeweils anderen verstanden zu werden bzw. von diesem eine sinnvolle Information zu erhalten (Grice 1975). Das Konzept der Präsupposition geht davon aus, dass in einer Aussage oft eine ganze Reihe von Vorannahmen enthalten sind, die als gegeben vorausgesetzt werden (Langedoen/Savin 1971). So transportiert bspw. die Aussage „Ich lebe im schönen Ostdeutschland“ explizit: Ostdeutschland ist schön, und implizit: es gibt einen begrenzten Raum Ostdeutschland (Schlottmann 2005).

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Welt in distinkte, homogene Raumeinheiten eingeteilt werden kann (Schlottmann 2005). Ansätze der Sprachpragmatik sind für diskurstheoretische Ansätze deswegen relevant, weil sie im Gegensatz zu strukturalistischen Konzepten den Blick für die Singularität und Ereignishaftigkeit von (Sprech-)Handlungen und Aussagen öffnen und deutlich machen, dass Bedeutungen nicht objektiv bestimmt werden können, sondern sich aus der spezifischen Verbindung von Text und Kontext ergeben. Entsprechend definiert Foucault in der „Archäologie des Wissens“ (1973 [1969]) auch die Aussage, die durch ihre Spezifizität und Einzigartigkeit gekennzeichnet ist, als kleinste Einheit des Diskurses und untersucht auf dieser Basis die Verbindung einzelner Aussagen in diskursiven Formationen. In dieser Fokussierung auf diskursive Formationen und damit auf überindividuelle Regeln und Muster liegt der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen Pragmatik und Diskurstheorie. Während Ansätze der Sprechakttheorie ihren Fokus auf singuläre Handlungen und die Rolle einzelner „Sprecher*innen“ legen, zielen Diskursanalysen auf die überindividuellen Regeln der Herstellung sozialer Wirklichkeit.

Kritik des Repräsentationsmodells im Poststruktura lismus Poststrukturalistische Ansätze gehen wie strukturalistische Ansätze davon aus, dass Bedeutung ein Effekt von Differenzierung ist. Im Gegensatz zum Strukturalismus betonen poststrukturalistische Arbeiten jedoch, dass je nach Kontext unterschiedliche Differenzierungen und damit immer wieder neue Bedeutungen möglich sind. Die Suche des Strukturalismus nach objektiven Gesetzen einer gegebenen Realität, die dann in Sprache (und in anderen Zeichensystemen) wiedergegeben wird, lehnen poststrukturalistische Theorien (ähnlich wie auch pragmatische Ansätze) ab. Allerdings begründen sie diese Ablehnung einer „absoluten“ Bedeutung von sprachlichen Formen nicht mit der Idee individueller Vorstellungen handelnder Individuen (wie der Pragmatismus), sondern argumentieren, dass Zeichen niemals eine feste Bedeutung haben, sondern sich auch auf der Bedeutungsebene allein durch immer wieder neue und andere relationale Verweise konstituieren (Derrida 1972 [1967], 1974 [1967]; Lacan 1973 [1966]). Die strukturalistische Vorstellung, dass jeder Signifikant im Zusammenspiel mit den differierenden Signifikanten eine eindeutig zu bestimmende Bedeutung habe, scheitert demnach, weil es kein Zentrum der Struktur gibt, d.h. keinen feststehenden Signifikanten, der Bedeutung endgültig fixiert, sondern nur ein ewiges Spiel von Verweisen (Derrida 1974 [1967]). Man kann diese Überlegung anhand der Funktion eines Wörterbuchs veranschaulichen: Jeder Eintrag wird mit

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mehreren Verweisen auf andere Einträge erläutert, und diese wieder mit Verweisen auf andere Einträge – und so setzt sich dies unendlich fort. Zudem sind die Differenzierungen und Relationierungen nicht zeitlos. Während strukturalistische Arbeiten einseitig davon ausgehen, dass die Wiederholung eines Zeichens dessen Bedeutung konsolidiert, weist insbesondere Jacques Derrida darauf hin, dass Wiederholung immer auch mit einer Bedeutungsverschiebung verbunden ist (Derrida 1974 [1967]; Zima 1994; Münker/Roesler 2000). Das heißt ein Signifikant differiert nicht – wie vom Strukturalismus angenommen – von einem feststehenden Set von Signifikanten, sondern immer wieder von anderen Signifikanten. In einem solchen offenen Verweisungszusammenhang wandeln sich Bedeutungen permanent. So ist auch zu erklären, dass ein und dasselbe Wort (lexem) in verschiedenen Kontexten immer wieder unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Die Wortfolge „elfter September“ hat heutzutage bspw. andere Bedeutungen als noch in den 1990er Jahren. Und die Bedeutung des Wortes „Hund“ ändert sich je nachdem, ob im Kontext von Tieren in einem Hundesportverein oder z.B. von Autohändlern die Rede ist – ohne dass aber dann jeweils genau eine Bedeutung feststehen würde. Damit wird insbesondere die Vorstellung aufgegeben, dass Sprache ein Repräsentationsmodell sei, d.h. dass durch sprachliche Zeichen die Vermittlung von Inhalten stattfinden würde, die der Sprache vorgängig und von ihr unabhängig wären. Diese Ablehnung des Repräsentationsmodells von Sprache und die Anerkennung der Mehrdeutigkeit sprachlicher Formen werden trotz aller konzeptioneller Unterschiede innerhalb diskurstheoretischer Arbeiten (s.u.) von einer Vielzahl diskurstheoretischer Ansätze geteilt. Entsprechend lassen sich einige Annahmen festhalten, die sowohl für den Poststrukturalismus wie auch für die meisten Diskurstheorien grundlegend sind: •



Sprache wird als zentrales Medium gesellschaftlicher Bedeutungskonstitution anerkannt. Damit ist eine Kritik an der Vorstellung einer außerhalb der Repräsentation bestehenden Wirklichkeit verbunden. Entsprechend wird auch die Produktion von Sinn und Wahrheit auf sprachliche Regeln und Strukturprinzipien zurückgeführt. Mit diesem Rekurs auf Sprache als grundlegendes Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit geht die Kritik des Subjektverständnisses der Aufklärung und der westlichen Moderne einher, die die Autonomie, Rationalität und Vernunft von Subjekten (und damit die rationale Rekonstruktion des Handelns von Akteuren) postuliert hatten (Foucault 1971 [1966], 1973 [1969]; Lacan 1973 [1966]; Žižek 1991; vgl. auch den Exkurs „Tod des Subjekts“).

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Die Vorstellungen zur sprachlichen Bedeutungskonstitution lassen sich prinzipiell auch auf nicht-sprachliche Zusammenhänge, etwa Bilder, Karten, Filme, Architekturen oder Alltagspraktiken, übertragen. So haben z.B. Arbeiten aus der Genderforschung deutlich gemacht, dass auch die Wahrnehmung und Konstituierung von Körperlichkeit nicht natürlich gegeben ist, sondern in gesellschaftlichen Diskursen geprägt wird (Butler 1997 [1993], 2004).3 Diese Strukturprinzipien werden (in Abgrenzung zum Strukturalismus) als offen und prinzipiell unabschließbar verstanden. Das bedeutet, dass sprachliche Ausdrücke in aller Regel an so viele unterschiedliche diskursive Zusammenhänge Anschluss bieten, dass ihre Bedeutung „überdeterminiert“ ist, d.h. nicht eindeutig bestimmt werden kann, sondern unterschiedliche Interpretationen zulässt und zudem historisch wandelbar ist. Der Strukturbegriff wird dabei also historisiert und dezentriert: Es wird sowohl die historische Wandelbarkeit von Strukturen betont als auch die Abhängigkeit der jeweiligen Wahrnehmung von der eingenommenen Betrachter*innenposition. Dies zeigt sich bspw. in Ansätzen des Postkolonialismus und des Feminismus (Bhabha 1994; Hall 1994, 1999 [1989]; Spivak 1996). In ihnen wurde darauf hingewiesen, dass viele der vermeintlich „objektiv wahren“ Formen der Geschichtsschreibung und der Kategorisierungen sozialer Wirklichkeit nur eine spezifische Perspektive, nämlich eine eurozentristische bzw. androzentristische Weltsicht, bieten. Daneben existieren aber eine ganze Reihe anderer Wirklichkeitsentwürfe, die durch hegemoniale Machtstrukturen unterdrückt und ausgeschlossen werden. Aus den vorangegangenen Überlegungen leitet sich eine Kritik von Universalismus, Objektivitätsglauben und Essenzialismen ab. Die Idee einheitlicher Prinzipien, auf die die Strukturierung gesellschaftlicher Wirklichkeit zurückgeführt wird (wie bspw. „rationale Subjekte“, „ökonomische oder räumliche Strukturen“, „historisch-teleologische Entwicklungen“), wird als machtgeladene soziale Konstruktion interpretiert, die mit spezifischen Trennungen, Ein- und Ausschlüssen, Marginalisierungen und Essenzialisierungen einhergeht. In Bezug auf die Frage, inwieweit Bedeutungskonstitution auch auf nicht-sprachliche und körperlich-materielle Prozesse und Verknüpfungen bezogen wird, nehmen Diskurstheorien unterschiedliche Positionen ein: In einem engen Verständnis von Diskurs, welches bspw. in weiten Teilen der Sprachwissenschaften dominiert, werden Diskurse als rein sprachlich verstanden. In einem weiten Diskursverständnis wird die Herstellung sozialer Wirklichkeiten durch die spezifischen Verknüpfungen sowohl sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Elemente untersucht.

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Diese konzeptionelle Ausrichtung mündet in vielen Fällen in das politische Projekt einer „Öffnung des Diskurses“ (vgl. Laclau/Mouffe 1985; Foucault/Martin 1988 [1982]; Mouffe 1999 [1996], 2007 [2005]). Es geht darum zu verdeutlichen, dass viele der als natürlich und unumstößlich repräsentierten Kategorien und Konzepte hergestellt sowie machtgeladen sind, und damit immer kontingent und veränderlich. Die Offenlegung der Strukturprinzipien gesellschaftlicher Sinnproduktion zielt in vielen Fällen also darauf ab, die Diskussion um zusätzliche Optionen zu erweitern, marginalisierte Positionen stärker ins Zentrum zu rücken und vermeintlich „natürliche“ Objektivierungen zu hinterfragen und aufzubrechen.

Exkurs: „Tod des Subjekts“ – Das Subjekt in der Perspektive des Poststrukturalismus Ein zentrales Merkmal und Abgrenzungskriterium diskurstheoretischer Ansätze gegenüber akteurszentrierten Perspektiven ist die Kritik an der Idee eines autonom und intentional handelnden Subjekts. Diese Kritik kulminiert in dem vielfach zitierten Schlusssatz aus Foucaults Werk „Die Ordnung der Dinge“ (Foucault 1971 [1966]: 462), in dem er schreibt: „[D]er Mensch verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ Mit diesem sogenannten „Tod des Subjekts“ wird aber keineswegs das Thema der Subjektivität „abgehakt“. Vielmehr ergeben sich aus der Perspektive des Poststrukturalimus eine ganze Reihe neuer konzeptioneller Fragestellungen, die sich mit der diskursiven Konstitution von Subjekten sowie von Subjektivität und Identität beschäftigen. Denn die Konzeptualisierung von Subjekten und Akteuren als nicht vordiskursiv gegeben, bedeutet aus Sicht der Diskurstheorie nicht, dass Subjekte und Akteure unwichtig wären oder als Forschungsgegenstände uninteressant. Vielmehr rücken gerade die Konstitutionsprinzipien, Machtstrukturen und Identifikationsprozesse, in denen Subjektivität und Identität als diskursive Effekte entstehen, in den Mittelpunkt des Interesses. Für die Beantwortung der Frage, wie Subjekte im Diskurs konstituiert werden, existieren eine Reihe von Ansätzen, die sich in Bezug auf ihre konzeptionelle Verortung und ihre Fokussierung unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen die Annahme, dass die Identität von Individuen nicht auf einen „echten“ Wesenskern zurückgeführt werden kann. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Identitäten erst in Diskursen konstituiert werden. So stellen bspw. Europa-Diskurse eine Subjektposition „Europäer“ her, rassistische Diskurse konstituieren Subjektpositionen wie „Weiß“ und „Schwarz“. Diese Identitäten sind dabei nicht zu verwechseln mit stabilen und in sich geschlossenen sozialen Rollen. Aus poststrukturalistischer Pers-

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pektive bleiben die Identitäten von Individuen vielmehr letztlich immer hybrid, widersprüchlich und brüchig. Jenseits dieser gemeinsamen Basisannahmen konzeptualisieren verschiedene Diskurstheorien das Phänomen Subjekt auf unterschiedliche Arten, die hier überblicksartig zusammengestellt sind und teilweise in einzelnen Kapiteln dieses Buchs aufgegriffen werden. 



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Einflussreich für eine ganze Reihe diskurstheoretischer Ansätze (Foucault 1971 [1966]; Laclau/Mouffe 1985; Butler 1990), wenn auch selbst nicht direkt der Diskursforschung zuzurechnen, sind die Arbeiten des marxistisch geprägten Louis Althusser. Dieser etablierte die Begriffe der Interpellation und der Überdeterminierung. Interpellation bezeichnet den Akt der Anrufung des Subjekts durch ideologische Staatsapparate. Althusser entwarf damit auf der Basis eines ökonomischen Materialismus eine Alternative zur Idee des autonomen Subjekts. Ihm zufolge werden Individuen durch die Ideologie „angerufen“, d.h. in bestimmte Subjektpositionen platziert. Institutionen wie die Medien, das Bildungssystem oder die Familie erwecken den Eindruck, dass Individuen autonom seien, indem sie definieren und „lehren“, was ein Arbeiter, eine Fabrikbesitzerin, ein Schüler, eine Polizistin etc. ist (Althusser 1977 [1970]: 140). Diese Anrufung sei ideologisch, da sie die wahren sozialen Beziehungen verdecke, welche durch die Ökonomie bestimmt seien. Neben dem Konzept der Anrufung greift Althusser den Begriff der Überdeterminierung des Psychoanalytikers Siegmund Freud auf. Althusser bezeichnet mit Überdeterminierung den Umstand, dass soziale Effekte, insbesondere die Identitäten von Subjekten, nicht auf eine einzige Quelle zurückzuführen sind oder eine eindeutige Bedeutung haben, sondern durch mehrere (und möglicherweise widersprüchliche) Referenzsysteme geprägt sind (Althusser 1977 [1970]).4 Der Gedanke, dass Identität durch die Einbindung in unterschiedliche Referenzsysteme entsteht, die sich gegenseitig überschneiden, widersprechen und infrage stellen, wird auch von vielen Vertreter*innen des Postkolonialismus betont (vgl. Bhabha 1994; Hall 1994, 1999 [1989]; Spivak 1996; einen Überblick über die Ansätze des Postkolonialismus bieten Castro Varela/Dhawan 2005). Diese postulieren, dass Subjekte und Identitäten nie staInsbesondere Laclau und Mouffe haben Althusser allerdings vorgeworfen, dass sein Konzept der Überdeterminierung inkompatibel sei mit seinem Festhalten an dem marxistischen Konzept, nach dem „in letzter Instanz“ das Ökonomische die anderen Bereiche der Gesellschaft determiniere (Althusser 1977 [1970]: 130ff.; Laclau/Mouffe 1985: 98).

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bil und eindeutig bestimmt seien, sondern dass durch die Verortung in unterschiedlichen diskursiven Verweissystemen Phänomene der Fragmentierung und der Hybridisierung entstehen. Diese Arbeiten verdeutlichen auch, dass Abgrenzungsprozesse, also die Unterscheidung von einem als „anders“ definierten Außen, grundlegend für die Konstitution von Identität sind. Dabei sind diese Grenzziehungen durch ungleiche Machtverhältnisse geprägt, die eine Seite (die des „Eigenen“) als besser erscheinen lassen als die andere Seite (die des „Außen“, von dem sich abgegrenzt wird; vgl. dazu bspw. die Arbeit von Said [1978] zur Konstitution des „Orients“). Das Konzept der (Geschlechts-)Identität als kulturelle Performanz von Judith Butler (1990, 2004; vgl. Kap. 11: Strüver/Wucherpfennig 2021) verdeutlicht, dass Gender-Identitäten nicht natürlich gegeben sind, sondern stets gesellschaftliche Konstrukte darstellen, welche durch Machtbeziehungen geprägt sind. Butler betont, dass die diskursiv konstituierten Subjektpositionen nicht unabhängig von gesellschaftlicher Praxis bestehen – d.h. Vorstellungen darüber, was eine Frau oder einen Mann (bzw. analog andere Identitäten) ausmacht, müssen immer wieder aufs Neue in Handlungen und Sprechakten bestätigt und hervorgebracht werden und können in solchen performativen Akten auch verändert werden. Die im Anschluss an Foucaults Konzept der Gouvernementalität etablierten governmentality studies interessieren sich weniger für die strukturell bestimmten Positionen, die Subjekte im Diskurs einnehmen, als vielmehr für die diskursiven Mechanismen, durch die Individuen zu bestimmten Handlungen angeleitet werden (Foucault 1988, 2006a [1979], b [1978]; Rose 1992, 1999; Lemke 1997; Krasmann 2003; Bröckling 2007). Einen Schlüsselbegriff stellen in diesem Zusammenhang die „Technologien des Selbst“ dar, d.h. die Verfahren, Denkschemata und Begründungsmuster, die Individuen anwenden, um sich selbst in einer bestimmten Art und Weise (bspw. als beruflich/privat erfolgreich/angesehen) zu erfahren. Der Fokus dieses Ansatzes liegt also weniger auf der Frage, welche Position Individuen im Diskurs einnehmen, als vielmehr auf der Frage, wie sich konkrete Praktiken des Alltagshandelns erklären lassen und welche Denkmuster und Techniken diesen zugrunde liegen (vgl. Kap. 3: Füller/Marquardt 2021). Der Schwerpunkt der Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985), insbesondere von Laclau (1996, 2005), liegt bei der Beantwortung der Frage, wie kollektive politische Identitätsbildungsprozesse erklärt werden können. Grundlegend für die Theorie ist die Annahme, dass Kollektive nicht auf der Basis eines gemeinsamen Wesenskerns entstehen, sondern sich vielmehr in diskursiven Abgrenzungsprozessen als Gemeinschaft konstituie-

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ren. Diese Abgrenzung erfolgt innerhalb des Diskurses durch die Ausbildung sogenannter antagonistischer Grenzen. Konstitutiv für Kollektive ist also nicht etwas, das sie gemeinsam haben, sondern etwas, von dem sie sich gemeinsam distanzieren (vgl. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021). Obwohl bzw. gerade weil diskurstheoretische Ansätze nicht von essenziell gegebenen Subjekten und Akteuren ausgehen, stehen die Konstitutionsprozesse von Identität und Subjektivität im Zentrum des Interesses dieser Ansätze. Identität und Subjektivität werden als diskursive Effekte verstanden, die durch die jeweiligen Diskursstrukturen geprägt und durch Abgrenzungsprozesse gekennzeichnet sind. Aus Sicht der Diskurstheorie wird damit die Frage zentral, wie Identitäten und Subjektivität im Diskurs entstehen und durch welche Zuschreibungsprozesse und Machtbeziehungen diese geprägt sind.

Ansätze der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung Wie die Einleitung und die empirischen Beispiele deutlich gemacht haben, beschäftigt sich Diskursforschung allgemein mit dem Zusammenhang zwischen sprachlichen und zunehmend auch nicht-sprachlichen Zeichensystemen, Bedeutungen und Machtverhältnissen. Im Zentrum der Analysen steht die Frage, wie die bestehenden Verweissysteme, Kategorien, Objekte und Bewertungen der sozialen Welt hergestellt werden, welchen Regeln sie genügen, wie diese Regeln durch performative Wiederholungen und Praktiken aktualisiert oder verändert werden. Darüber hinaus können Diskursanalysen aufzeigen, wie sich die diskursive Sinn-, Wahrheits- und Bedeutungskonstitution mit institutionellen Arrangements verschränkt und in Alltagspraktiken zeigt. Vor dem Hintergrund dieser übergeordneten Fragestellungen lassen sich innerhalb der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung verschiedene Untersuchungsperspektiven unterscheiden (für einen umfassenden Überlick vgl. Angermuller 2014a; Feustel et al. 2014; Wrana et al. 2014). Diese akzentuieren unterschiedliche Aspekte der diskursiven Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit bzw. argumentieren vor dem Hintergrund unterschiedlicher gesellschaftstheoretischer Annahmen. Vereinfacht lassen sich drei Schwerpunktsetzungen unterscheiden: strukturalistische Ansätze, die wissenssoziologisch orientierte Diskursforschung und poststrukturalistische Perspektiven (Keller 2004; Lees 2004; Mattissek/Reuber 2004; Angermuller 2005). Alle drei Ansätze bieten unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten für die Humangeographie. Ihre Prämissen und Schwerpunkte der Analyse werden im Folgenden kurz vorgestellt.

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Strukturalistische Diskursforschung Zur strukturalistisch orientierten Diskursforschung sind zunächst die Arbeiten der critical discourse analysis zu zählen (Fairclough 2013; Wodak/Meyer 2015; van Dijk 2015; vgl. auch Kap. 4: Belina/Dzudzek 2021). Diese wollen in einer aufklärerischen Perspektive herausarbeiten, wie Texte durch eine dahinterliegende Ideologie geprägt sind und damit die Hegemonie im Sinne der Meinungsführerschaft sozial dominanter Gruppen widerspiegeln und reproduzieren. Diese Arbeiten stehen in der Tradition marxistischer Ideologiekritik und gehen damit von prädiskursiv vorhandenen Sozialstrukturen aus, die sich im Diskurs niederschlagen und die es zu hinterfragen, zu „denaturalisieren“ gilt: „[D]enaturalization involves showing how social structures determine properties of discourse, and how discourse in turn determines social structures.“ (Fairclough 1995: 27) Die critical discourse analysis unterscheidet also zwischen einer Ebene der Ideologien und der Diskurse sowie einer Ebene der (wirklichen) sozialen Strukturen und Praxen. Sie werden daher teilweise dafür kritisiert, dass das Ergebnis letztlich vor der Analyse feststehe: Der Diskurs werde konzeptualisiert als durch die sozioökonomischen Strukturen determiniert (so bspw. Phillips/Jørgensen 2002: 6ff.). Letztlich würden diese Ansätze davon ausgehen, dass die Wissenschaft – im Gegensatz zum Rest der Menschheit – in der Lage sei, hinter den „Vorhang“ der Ideologien zu schauen und dort die „wirklichen“ Strukturen und Praxen zu beobachten (kritisch dazu bspw. Laclau 1996: 202). Daneben lassen sich Ansätze identifizieren, welche zwar nicht von vordiskursiv bestehenden Sozialstrukturen ausgehen, aber das Foucault’sche Diskurskonzept ebenfalls für eine insgesamt eher strukturalistisch orientierte Gesellschaftsanalyse nutzen. In einer solchen Perspektive liegt der Schwerpunkt von Untersuchungen in erster Linie darauf herauszuarbeiten, wie Praktiken, Sichtweisen und Entscheidungen durch übergeordnete diskursive Strukturen bestimmt werden. Ziel ist es also, Gemeinsamkeiten und Kohärenzen zwischen einzelnen, zunächst unverbundenen diskursiven Ereignissen und Aussagen herzustellen und diese zu einem Gesamtbild zusammenzufügen (Diaz-Bone 2002; Bublitz 2003).

Wissenssoziologische Diskursforschung Die wissenssoziologisch-interpretative Diskursforschung versucht, den Foucault’schen Diskursbegriff in die Wissenssoziologie im Anschluss an Peter Berger und Thomas Luckmann einzuführen. Ziel ist es, das intersubjektiv geteilte Wissen in gesamtgesellschaftlich relevanten Debatten zu rekonstruieren (Hajer 1995; Schneider 1999; Schwab-Trapp 2001; Viehöver 2003; Keller 2005, 2011). Die wis-

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senssoziologische Diskursforschung, wie sie im deutschsprachigen Kontext prominent durch Reiner Keller vertreten wird, fasst Diskurs als Struktur, welche die symbolische Praxis von Akteuren anleitet, von diesen allerdings auch beeinflusst wird und strategisch eingesetzt werden kann. In dieser Praxis wird der Diskurs reproduziert und transformiert. Die wissenssoziologische Diskursforschung baut damit auch auf der Strukturationstheorie von Anthony Giddens sowie auf Überlegungen von Pierre Bourdieu zur Strukturierung der Gesellschaft auf. Insgesamt ist dieser Ansatz bemüht, die Diskursforschung an etablierte Positionen innerhalb des interpretativen Paradigmas in den Sozialwissenschaften anzuschließen. Johannes Angermuller wirft der wissenssoziologisch-interpretativen Diskursforschung allerdings vor, dass sie Inkonsistenzen zwischen Theorie und Forschungspraxis produziere, indem sie zwar einerseits auf poststrukturalistischen Ansätzen aufbaue, aber andererseits an Ideen eines prädiskursiven intentionalen Subjekts festhalte und in der Forschungspraxis die interpretierenden Wissenschaftler*innen nicht hinterfrage (Angermuller 2005).

Poststrukturalistische Diskursforschung Poststrukturalistische bzw. zeichen- und differenztheoretisch orientierte Ansätze gehen – entsprechend der theoretischen Verortung – weder von gesellschaftlichen Verhältnissen noch von handelnden Subjekten als Ursprung diskursiver Strukturen aus. Vielmehr betrachten sie beides als diskursiv konstituiert und nehmen damit keinen außerdiskursiven „Grund“ der Gesellschaft an – wie ihn bspw. marxistische Theorien in der ökonomischen Basis verorten. Auf ähnliche Weise gelten auch individuelle und kollektive Identitäten nicht als Ursprung, sondern als Ergebnis diskursiver Prozesse, deren Konstitution aber niemals vollständig, homogen und in sich geschlossen sein kann, sondern immer durch Brüche, Fragmentierungen und erneute Schließungsversuche gekennzeichnet ist (Laclau/Mouffe 1985; Angermuller 2014b; Howarth/Glynos/Griggs 2016; zur deutschsprachigen Rezeption siehe: Marchart 2002, 2017; Sarasin 2003; Angermuller 2007). Der Fokus der Analysen liegt dann nicht auf der Frage, wer oder was diskursive Strukturen hervorbringt, sondern umgekehrt darauf zu erfassen, wie sowohl soziale, ökonomische und politische Strukturen als auch Identitäten, Intentionen und Handlungsrationalitäten diskursiv hergestellt werden. Insgesamt zielt eine poststrukturalistische Perspektive in deutlich geringerem Maß als die beiden erstgenannten Ansätze darauf ab, eine in sich geschlossene und homogene Erzählung zu generieren. Stattdessen rücken gerade die Brüche und Widersprüche in den Blick, durch die gesellschaftliche Wirklichkeiten geprägt sind, und die Konflikte, die sich entlang dieser Bruchlinien entfalten.

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Konsequenzen für die empirische Forschung Obwohl die heuristische Trennung der skizzierten Untersuchungsperspektiven für eine konzeptionelle Zuschärfung von Forschungsfragen sicherlich sinnvoll ist, lassen sich diese in der praktischen Anwendung nicht immer scharf trennen. So hat Diaz-Bone (2006) darauf hingewiesen, dass insbesondere strukturalistische und poststrukturalistische Aspekte des Diskurses in der empirischen Analyse kaum zu separieren sind: Denn um Brüche finden zu können, muss man zunächst Strukturen beschreiben, zwischen denen diese Brüche anzutreffen sind. Entsprechend verortet sich auch eine Vielzahl von Autor*innen in ihren Arbeiten quer zu den genannten Ansätzen und berücksichtigen sowohl strukturalistische als auch poststrukturalistische Aspekte. Die empirische Operationalisierung strukturalistischer und poststrukturalistischer Diskurstheorien steht dabei vor der Schwierigkeit, dass weder unmittelbar auf die Verfahren der verstehenden, qualitativen Sozialforschung noch auf szientistische Ansätze zurückgegriffen werden kann, die auf die Rekonstruktion einer „objektiven Wirklichkeit“ abzielen. Vielmehr müssen Verfahren und Herangehensweisen entwickelt werden, die es erlauben, sowohl der strukturellen Dimension von Diskursen als auch deren Brüchigkeit, Veränderlichkeit und Widersprüchlichkeit auf der methodischen Ebene Rechnung zu tragen (Vorschläge zur Operationalisierung bieten bspw. Nonhoff 2006; Angermuller 2007; Glasze 2007, 2013; Mattissek 2007, 2008; Husseini de Araújo 2011; Dzudzek 2016; Sturm 2019 sowie die Kapitel in Teil C des Handbuchs). Einen Schwerpunkt des vorliegenden Bandes bildet die Darstellung unterschiedlicher theoretischer und methodischer Herangehensweisen, die versuchen, die antiessenzialistischen Theoriegrundlagen der poststrukturalistischen bzw. zeichen- und differenztheoretischen Ansätze einzulösen.

Rezeption diskurstheoretischer Ansätze in der deutschsprachigen Humangeographie Konzeptionelle Wurzeln und die Entwicklung der Diskursforschung in der deutschsprachigen Humangeographie Der Beginn einer breiteren Rezeption und Verarbeitung diskursanalytischer Ansätze kann für die angloamerikanische Humangeographie etwa auf einen Zeitraum Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre datiert werden. Dort waren für die Rezeption der Diskursforschung v.a. Impulse aus den cultural studies,

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den postcolonial studies und den feminist studies richtungsweisend. Über diese Forschungskontexte wurden der sogenannte linguistic turn und der cultural turn für die Humangeographie erschlossen. Auf der Basis von sprachphilosophischen Arbeiten sowie den Schriften des Poststrukturalismus machen diese deutlich, dass Sprache nicht einfach als Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit gedacht werden kann, sondern dass in Sprache und anderen Zeichensystemen soziale Wirklichkeit erst hergestellt wird. Damit wurden (raumbezogene) Identitäten nicht mehr länger als gegeben akzeptiert, sondern als sozial hergestellte Kategorien hinterfragt, was empirisch zunächst für Gender-Identitäten und koloniale Identitätskonstruktionen ausgearbeitet wurde (s. bspw. Institute of British Geographers Women and Geography Study Group 1997; Gregory 1994). Die entsprechenden theoretischen Auseinandersetzungen fanden in der Folge, insbesondere über die Berücksichtigung der Positionalität wissenschaftlichen Arbeitens, auch in andere Forschungsbereiche Einzug (s. bspw. Gregory 1994).5 Ab Mitte der 1990er Jahre erfolgte die Rezeption und Übernahme entsprechender Ansätze in der deutschsprachigen Humangeographie. Hier wurden diskursanalytisch inspirierte Ansätze zunächst ebenfalls durch die Feministische Geographie und später die Politische Geographie aufgegriffen. Kristallisationspunkt der Entwicklungen war dabei der sich seinerzeit bildende Arbeitskreis Feministische Geographie, der das Wechselspiel von „sex“ und „gender“ sowie insbesondere die Rolle von Raum und Orten sowie von Materialität und Körperlichkeit bei der Konstitution von Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen mithilfe von diskurstheoretisch informierten Ansätzen untersuchte (Bauriedl/Fleischmann/Strüver/Wucherpfennig 2000; Kutschinske/ Meier 2000; Strüver 2003, 2005a, 2007; Wucherpfennig/Strüver/Bauriedl 2003; Fleischmann/Meyer-Hanschen 2005; Bauriedl/Schurr 2014). In den neuen Ansätzen zur Politischen Geographie, die sich etwa seit Mitte der 1990er Jahre im deutschsprachigen Raum zu entwickeln begannen, erfolgte der theoretische Input diskursanalytischer Ansätze zunächst durch die Rezeption der anglophonen Schule der „Critical Geopolitics“ (Oßenbrügge/Sandner 1994; Ó Tuathail 1996; Wolkersdorfer 2001; Lossau 2002; Reuber/Wolkersdorfer 2003). Seitdem haben sich diskursanalytische und poststrukturalistische Ansät5

Paradoxerweise wurden die im deutsch- und englischsprachigen Bereich als Poststrukturalisten bezeichneten französischen Denker wie insbesondere Foucault in der französischsprachigen Geographie lange Zeit trotz einiger sehr früher und persönlicher Kontakte (s. bspw. das Interview der Zeitschrift „Hérodote“ mit Foucault 1976 [Hérodote 1976]) kaum rezipiert (zu den Gründen s. Fall 2005).

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ze zu einem Mainstream der deutschsprachigen Politischen Geographie weiterentwickelt, denen vielfältige Forschungen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen zugrunde liegen (einen Überblick bietet Reuber 2012). Seit 2004 hat sich darüber hinaus die Tagungsreihe „Neue Kulturgeographie“ als Forum für kultur- und gesellschaftstheoretisch orientierte und insbesondere auch poststrukturalistische Arbeiten in der Geographie entwickelt. Die Tagungsreihe hat maßgeblich dazu beigetragen, Debatten über die Stellung, theoretische Grundlegung und methodische Umsetzung von Diskursanalysen in die Breite der geographischen Forschungslandschaft hineinzutragen. Als ein zentraler Diskussionsknoten fungierte dabei nicht zuletzt das von 2006 bis 2009 durch die DFG geförderte Wissenschaftsnetzwerk „Diskursforschung in der Humangeographie“ (s. Vorwort). Dieses führte eine Vielzahl von an Diskursforschung interessierten Humangeograph*innen zusammen und trieb die Auseinandersetzung mit Diskurstheorien und Wegen zu deren angemessener Operationalisierung voran. Das vorliegende Handbuch ist auch in der dritten, aktualisierten und ergänzten Neuauflage im Wesentlichen ein „Kind“ dieses Netzwerks. Die Rezeption und Weiterentwicklung von Diskursanalysen in der Geographie erfolgte dabei vor allem auf drei Ebenen: auf einer kultur- und gesellschaftstheoretischen, einer methodischen und einer inhaltlichen Ebene: •



Im konzeptionellen Bereich erfolgte eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Diskurskonzepten und deren kritische Bewertung im Kontext einzelner Fragestellungen. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Frage, auf welchen erkenntnistheoretischen Grundpositionen einzelne Diskurstheorien aufbauen, wie sich diese unterscheiden und welche methodologischen Konsequenzen sich aus den jeweiligen Theorien ergeben. Innerhalb der deutschsprachigen Humangeographie spielen dabei insbesondere Arbeiten, die sich relativ eng an Werken Foucaults orientieren, sowie die Rezeption poststrukturalistischer Diskurstheorien (Lacan 1973 [1966]; Laclau/ Mouffe 1985) eine große Rolle (vgl. Schreiber 2005; Strüver 2005a, b; Mattissek 2008; Füller/Marquardt 2009; Glasze 2013; Dzudzek 2016). Humangeograph*innen leisten dabei auch einen Beitrag für die interdisziplinäre Diskursforschung, indem sie auf die Rolle und politische Bedeutung „des Raums“ bei der diskursiven Konstitution des Sozialen aufmerksam machen (Glasze/Mattissek 2014; Glasze/Wullweber 2014; Mattissek 2017). Auf der methodischen Ebene erfolgte eine Ausdifferenzierung von Verfahren zur Operationalisierung der methodisch oft unspezifischen Konzepte der Diskurstheoretiker*innen. Der Fokus auf poststrukturalistische Kon-

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zepte macht es dabei unmöglich, einfach Methoden aus der empirischen Sozialforschung zu übernehmen, die entweder von einer objektiven Realität ausgehen (wie der Kritische Rationalismus) oder auf ein nachvollziehendes „Verstehen“ von Subjekten ausgerichtet sind (wie die qualitative Sozialforschung). Die Diskursforschung in der deutschsprachigen Humangeographie hat vor diesem Hintergrund eine ganze Reihe von Ansätzen und Methoden rezipiert, (weiter-)entwickelt und erprobt, die darauf abzielen, die konzeptionellen Prämissen diskurstheoretischer Ansätze angemessen zu übersetzen. Dazu gehört einerseits die Entwicklung methodologischer Strategien zur Formulierung und Beantwortung diskursanalytischer Fragen. Andererseits wurde eine Reihe konkreter Methoden (weiter-)entwickelt, die von quantitativ arbeitenden Verfahren der Korpusanalyse über die Analyse von Sprechakten, Aussagen und narrativen Mustern bis hin zu kodierenden und ethnographischen Verfahren reichen. Der Fokus lag dabei zunächst auf Verfahren der Analyse von Texten sowie – in etwas geringerem Maße – auf Bildern und Karten. Insbesondere seit den 2010er Jahren und im Kontext von Debatten um morethan-representational geographies (bspw. Strüver 2011) und dem material turn (s. bspw. den frühen englischsprachigen Impuls von Whatmore 2006) rücken zunehmend auch nicht-sprachliche Formen der diskursiven Herstellung sozialer Wirklichkeiten ins Blickfeld der Diskursforschung (insbesondere innerhalb der Geographie, aber auch in der interdisziplinären Diskursforschung, s. van Eeden 2017). Empirisch werden dabei einerseits vermehrt nicht-sprachliche Zeichensysteme wie Bilder, Filme und Karten untersucht. Darüber hinaus wird zunehmend nach der Rolle nicht-zeichenbasierter Praktiken sowie materiellsemiotischer und soziotechnischer Arrangements gefragt. Konzeptionell erörtert die Diskursforschung in der Geographie dabei Möglichkeiten und Grenzen des Austauschs mit Ansätzen einer „Semiotik der Dinge“, wie sie von Bruno Latour (1996: 375) in der sogenannten Actor-Network-Theorie (ANT) entworfen wurde (s. bspw. Bittner/Glasze/Turk 2013), mit Ansätzen der Assemblage-Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992; zur Rezeption in der Geographie s. bspw. Mattissek/Wiertz 2014) sowie mit den praxistheoretischen Überlegungen Theodore Schatzkis (2008, s. bspw. Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015 sowie einige der Beiträge im Handbuch „Praktiken und Raum“, Schäfer/Everts 2019). Die vorliegende erweiterte Neuauflage des Handbuchs greift die konzeptionellen und methodischen Weiterentwicklungen der Diskursforschung seit den 2010er Jahren sowohl in den aktualisierten als auch in den neuen Beiträgen auf.

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Diskurstheorie und Raumkonzepte Für die Humangeographie spielt die Debatte darüber, wie das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Raum bzw. die räumlichen Aspekte gesellschaftlicher Praktiken und Strukturen theoretisch gefasst werden können, traditionell eine zentrale Rolle. Bezogen auf den Zusammenhang zwischen Diskurstheorie und Raumkonzepten stellt sich dabei die Frage, welches Verständnis von Raum sich aus einer diskurstheoretischen Perspektive ableitet. Es soll also die eingangs formulierte Frage beantwortet werden, wie die Erkenntnisse des spatial turn auf der Basis diskurstheoretischer Ansätze weitergeführt werden können. Um die Unterschiede zwischen den einzelnen Konzeptualisierungen von Raum, die in der Fachtradition der Humangeographie eine wichtige Rolle spiel(t)en, sichtbar zu machen und (wenn auch didaktisch verkürzt) die eigene Positionierung im Fachkontext zu verdeutlichen, wird im Folgenden ein kurzer Überblick über die in der Geographie (und vielfach auch außerhalb) prominenten Raumkonzepte und deren Unterschiede zu einem diskurstheoretischen Konzept von Raum gegeben. Aus einer diskurstheoretisch informierten Perspektive lassen sich dabei die jeweiligen Interpretationen von Raum und Räumlichkeit als Paradigmen interpretieren und damit als spezifische Diskurse, durch die spezifische Abgrenzungsprozesse gegenüber alternativen Theorien konstituiert werden und die jeweils charakteristische Muster wissenschaftlichen Vorgehens hervorbringen bzw. marginalisieren. Die Frage, welches Raumkonzept in wissenschaftlichen Arbeiten herangezogen wird, spiegelt damit auch immer die hegemonialen Machtverhältnisse in einem bestimmten historischen, disziplinären und sprachlichen Fachkontext wider.

Räume als objektiv gegeben Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Geographie im 19. Jahrhundert gehören Fragen nach der Gliederung der Erdoberfläche in spezifische Räume zu den zentralen Fragen, welche Forschungsobjekte bzw. Perspektiven des Faches konstituieren. Vor dem Hintergrund des in hohem Maße die wissenschaftliche Diskussion prägenden evolutionistisch-naturwissenschaftlichen und realistischen Diskurses zielte die traditionelle Geographie bis in die 1960er Jahre auf die Identifizierung und Beschreibung von Räumen, die als gegebene, wesenhafte Ganzheiten gedacht wurden. Aufgebrochen wird dieses Paradigma im Kontext der quantitativen Revolution mit der Hinwendung zu raumwissenschaftlichen Ansätzen ab den 1950er Jahren in der englischsprachigen Geogra-

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phie und ab Ende der 1960er Jahre in der deutschsprachigen Geographie. Die raumwissenschaftliche Geographie will Gesetzmäßigkeiten der räumlichen Organisation gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen herausarbeiten. Damit werden Räume – zumindest idealtypischerweise – als wissenschaftliche Konstrukte konzeptualisiert. Seit den 1970er Jahren weisen vor dem Hintergrund der sogenannten humanistischen Wende die Arbeiten aus der Wahrnehmungsgeographie zudem darauf hin, dass verschiedene Individuen und verschiedene Gruppen unterschiedliche Vorstellungen von räumlichen Gegebenheiten haben. Allerdings hält die Wahrnehmungsgeographie dabei an der Gegebenheit eines objektiven Raums fest, der eben nur unterschiedlich wahrgenommen würde. Und raumwissenschaftlich orientierte Arbeiten tendieren vielfach dazu, die Räume zu verdinglichen, die sie selbst auf der Basis der quantitativen Sozialforschung konstruiert haben. Sie reproduzieren damit ebenfalls vielfach die Idee gegebener Räume (Arnreiter/Weichhart 1998; Wardenga 2002, 2006).

Räume als sozial konstruiert Im Kontext der Protestbewegungen der 1960er Jahre setzt in der englischsprachigen Geographie Ende der 1960er eine Auseinandersetzung mit marxistischen Theorieentwürfen ein. Ein zentraler Kritikpunkt der marxistisch informierten radical geography gegenüber dem vorherrschenden raumwissenschaftlichen Paradigma ist der Vorwurf, dass dabei vermeintlich objektiv gegebene Raumstrukturen zur Erklärung von Gesellschaft herangezogen werden, welche in ihrer vermeintlichen Neutralität die dahinterliegenden gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse (gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheitsbeziehungen) verschleiern und damit eine Kritik bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse verhindern (Anderson 1973). Die marxistisch informierte Geographie will diese Perspektive umdrehen und analysieren, welche Rolle Räumlichkeit innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse spielt – d.h. wie sich die Machtstrukturen von Gesellschaft in deren räumlicher Organisation niederschlagen und wie gesellschaftliche Beziehungen in räumlichen Strukturen (re-)produziert werden. Zu einem einflussreichen Bezugspunkt der Diskussion werden die Publikationen des französischen Stadtsoziologen Henri Lefebvre (für die englischsprachige Geographie dabei insbesondere 1986 [1974]), welche darauf zielen, „Raum als soziales Produkt zu verstehen, in dem […] soziale Prozesse und Strukturen konkret werden“, woraus folgt, „dass alle Raumproduktionen umkämpft sind“ (Belina/Michel 2007: 19). Mit der marxistisch informierten radical geography kann sich in der englischsprachigen Humangeo-

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graphie nach 1970 also erstmals auf breiter Front eine Perspektive durchsetzen, die davon ausgeht, dass Strukturen bzw. Prozesse, welche von der Geographie als „räumlich“ beschrieben und analysiert wurden, immer Ausdruck und Ergebnis sozialer Strukturen bzw. Prozesse sind (Massey 1992). Während die angloamerikanische Auseinandersetzung mit der sozialen Produktion von Raum also lange Zeit durch eine dezidiert gesellschaftskritische Denkhaltung geprägt ist, ist die Abgrenzung von einem objektivistischen Raumverständnis in der deutschsprachigen Humangeographie in weitaus stärkerem Maße durch die Ansätze der Handlungs- und Systemtheorie geprägt. Diese kritisieren seit Mitte der 1980er Jahre das raumwissenschaftliche Denken in kausalen Raumgesetzen und untersuchen im Gegensatz dazu, wie Räume in alltäglichen Handlungen bzw. in der Kommunikation produziert und reproduziert werden. Für die deutschsprachige Humangeographie ist hier insbesondere der handlungstheoretische Entwurf von Benno Werlen wegweisend. Dieser zielt darauf ab zu untersuchen, wie intentional handelnde Akteure in ihren alltäglichen Handlungen Räume (re-)produzieren (Werlen 1987, 1995, 1997). Raum und räumliche Strukturen sind nach Werlen sowohl Ergebnis menschlichen Handelns als auch Ausgangsbedingungen, wobei sich diese Ausgangsbedingungen nicht nur auf physisch-materielle Gegebenheiten, sondern auch auf sozial-kulturelle und subjektive Komponenten von Handlungskontexten beziehen. Helmut Klüter hingegen schließt an die Grundüberlegung der Luhmann’schen Systemtheorie an, die nicht Subjekte und nicht Handlungen, sondern Kommunikation als Baustein des Sozialen fasst: Er möchte herausarbeiten, welche Funktion Raum als „Element sozialer Kommunikation“ hat (Klüter 1986, 1987, 1994, 1999). Spätere Arbeiten führen diesen Ansatz auf der Basis einer gründlichen und stringenteren Auseinandersetzung mit dem Theoriegebäude der Luhmann’schen Systemtheorie fort und sprechen von Raumsemantiken als einer bestimmten Form der Beobachtung – einer Semantik, welche die Komplexität sozialer Beziehungen reduziert (Miggelbrink/Redepenning 2004; Pott 2005; Redepenning 2006). Letztlich gehen also die Ansätze der marxistisch orientierten Geographie, der handlungstheoretisch orientierten Geographie sowie auch der systemtheoretisch orientierten Geographie davon aus, dass die Konstruktion von Räumen durch gesellschaftliche Praktiken und Strukturen geprägt wird. Räume werden als Ausdruck und Konsequenz gesellschaftlicher Praktiken und Strukturen gedacht – als sozial konstruiert.

Diskursforschung in der Humangeographie

Räume als diskursiv konstituiert Der Zusammenhang zwischen Räumlichkeit und sozialen Gegebenheiten wird in diskursorientierten Ansätzen insofern radikalisiert, als diese davon ausgehen, dass gesellschaftliche Strukturen oder Akteure niemals feststehen, sondern immer widersprüchlich, instabil und brüchig sind. Raum kann damit nicht als Konsequenz bestimmter sozialer Strukturen und Prozesse gedacht werden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Soziales immer wieder neu konstituiert wird. Die Konstitution von Räumen ist dabei immer Teil der Konstitution von Gesellschaft. Grundlegend für diese Perspektive ist die Rezeption poststrukturalistischer Ansätze im Zuge des cultural turn, die ab Anfang der 1990er Jahre in der englischsprachigen Geographie und ab Ende der 1990er auch in der deutschsprachigen Geographie rezipiert werden. Poststrukturalistische Ansätze kritisieren sowohl die Idee feststehender gesellschaftlicher Makrostrukturen als auch die Vorstellung autonomer Subjekte. Bezogen auf das Verhältnis von Räumlichkeit und Sozialem ist hierbei entscheidend, dass auf der sozialstrukturellen Ebene wie auch auf der individuellen Ebene beides eng miteinander verflochten ist. So insistiert insbesondere Doreen Massey (1999, 2005), dass Räume nicht nur als das Ergebnis einer sozialen Produktion zu verstehen sind, sondern die Konstitution von Räumen integraler Bestandteil der Konstitution des Sozialen ist: „[…] [S]pace is now rendered as part (a necessary part) of the generation, the production, of the new. In other words the issue here is not to stress only the production of space but space itself as integral to the production of society.“ (Massey 1999: 10; Herv. i.O.)6 Vor diesem Hintergrund werden seit einigen Jahren die konzeptionellheuristischen Potenziale diskurstheoretischer Ansätze diskutiert. Ein zentrales Argument ist dabei, dass mit der Verknüpfung von sozialen Differenzierungen (wie insbesondere „eigen/fremd“) mit räumlichen Differenzierungen (vor allem „hier/dort“) die sozialen Differenzierungen objektiviert und naturalisiert werden. Die Konstitution spezifischer Räume ist damit ein wichtiges Element der diskursiven Herstellung hegemonialer sozialer Ordnungen. 6

Einflussreich für dieses Verständnis der gegenseitigen Hervorbringung von Raum/Materialität einerseits und gesellschaftlichen Verhältnissen andererseits waren insbesondere Arbeiten der Genderforschung, die herausgearbeitet haben, dass die physische Materialität des Körpers und die soziale Konstitution von (Geschlechter-)Identitäten konzeptionell nicht voneinander zu trennen sind (Butler 1997 [1993], 2004). Vielmehr bedarf jede soziale Positionierung auch einer physischen Materialisierung, und durch die jeweilige Form der Materialisierung werden soziale Verhältnisse entscheidend mitgeprägt.

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Ein wichtiges Forschungsfeld stellt die Untersuchung der Konstitution von Räumlichkeit in Texten und weiteren Zeichensystemen dar (wie Bildern, Filmen, Karten, aber bspw. auch Landschaftsgemälden und architektonischen Ensembles). Die Konzeption und insbesondere auch die forschungspraktische Operationalisierung der Beziehungen zwischen sprachlichen sowie visuellen symbolischen Formen und der physisch-materiellen Qualität von Objekten (bspw. eines Grenzzauns oder eines Schneesturms) ist in der Geographie Thema lebhafter Debatten. An Foucault angelehnte Arbeiten differenzieren teilweise zwischen „Diskurs“ (sprachlich-symbolische Ebene) und „Dispositiv“ (Bedeutungsproduktion innerhalb eines umfassenderen Sets an Praktiken, Institutionen, Materialitäten, Texten). Arbeiten, die eher an den diskurstheoretischen Schriften von Laclau und Mouffe orientiert sind, trennen nicht zwischen einer diskursiven und einer außerdiskursiven Sphäre. Vielmehr werden alle Objekte, alle sozialen Phänomene als Objekte eines Diskurses gefasst. Dabei bleibt allerdings offen, inwieweit Laclau und Mouffe materiellen Objekten auch eine aktive Rolle in der Herstellung sozialer Wirklichkeiten zuschreiben (vgl. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021). Vor dem Hintergrund der Debatten um more-than-representational geographies und einem material turn (s.o.) werden in Weiterführung poststrukturalistischer und diskurstheoretischer Ansätze seit den 2010er Jahren vermehrt Ideen von Raum diskutiert, die Räumlichkeit als jeweils spezifisches Ergebnis der topologischen Verknüpfung von materiellen und nicht-materiellen Elementen konzeptualisieren (einführend s. Müller 2015). Arbeiten aus dem neuen Feld einer „Digitalen Geographie“ weisen darauf hin, dass mit der wachsenden Bedeutung von Technik für die Konstitution sozialer Wirklichkeiten die symbolischzeichenhafte und die physische Dimension in vielfacher Weise zusammenfallen (s. bspw. Boeckler 2014; Glasze 2015; Wiertz/Schopper 2019) und drücken dies in neuen Konzeptualisierungen wie „hybriden Räumen“ (de Souza e Silva 2006), „code-space“ (Kitchin/Dodge 2011) oder „augmentierten Räumen“ (Graham 2017) aus. Insgesamt lässt sich für ein diskurstheoretisches Verständnis von Raum festhalten, dass erstens das Soziale (bspw. die Identität von Subjekten oder gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse) als jeweils in spezifischer Weise hervorgebracht konzeptualisiert wird, d.h. als immer nur temporär fixiert, von Widersprüchen durchzogen und sich in den jeweiligen materiellen und räumlichen Erscheinungsformen wandelnd, und dass dabei zweitens die Konstitution von Räumen als ein wichtiger Teil der Konstitution des Sozialen gedacht wird.

Diskursforschung in der Humangeographie

Zur gesellschaftlichen Relevanz der Diskursforschung Diskurstheoretisch orientierten Ansätzen wird verschiedentlich vorgeworfen, gesellschaftlich bzw. politisch wenig relevant oder gar schädlich für die Ideen einer emanzipativen und fortschrittsorientierten Wissenschaft zu sein. Tatsächlich lassen sich diskurstheoretische Ansätze kaum in das etablierte Wissenschaftsverständnis der Moderne integrieren, welches darauf abzielt, dass Wissenschaft absolute Wahrheiten aufdecken und darstellen soll. Wenn diskurstheoretische Ansätze aber weder davon ausgehen, der Gesellschaft (vermeintlich) absolut wahre Erkenntnisse liefern zu können (wie das bspw. die quantitativ-analytischen Ansätze der spatial sciences anstreben), noch davon, dass gesellschaftliche Verhältnisse von einer Außenperspektive erfasst und kritisiert werden können (wie das ein größerer Teil der marxistisch orientierten radical geography anstrebt) – welche Funktion und Legitimation hat dann ein solcher wissenschaftlicher Ansatz? Auf der Basis diskurstheoretischer Ansätze wird soziale Wirklichkeit als kontingent, d.h. als prinzipiell veränderbar, konzeptualisiert. Damit können scheinbar gegebene und als „normal“ akzeptierte Strukturierungsprinzipien der Gesellschaft problematisiert und Handlungsspielräume in scheinbar gegebenen und fixierten Situationen aufgezeigt werden. Diskurstheoretische Arbeiten wollen verdeutlichen, wie spezifische soziale Wirklichkeiten und Machtverhältnisse hergestellt werden, und damit auch die Veränderbarkeit dieser Verhältnisse aufzeigen und ggf. Grundlagen für deren Veränderung liefern. Dies gilt bspw. für Arbeiten der diskurstheoretisch orientierten Geschlechterforschung, des Postkolonialismus und der Politischen Geographie. Diese haben dazu beigetragen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass soziale Kategorien wie „Geschlecht“, „Ethnizität“ oder „Nationalität“ nicht objektiv gegeben sind, sondern in performativen Praktiken der Identifikation und Abgrenzung immer wieder aufs Neue konstituiert werden. In einem ähnlichen Sinne zielen Arbeiten, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wie der verstärkten Betonung von Sicherheitsaspekten oder der Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche befassen, darauf ab, soziale Verhältnisse in ihrer Konstruiertheit und damit auch in ihrer prinzipiellen Veränderlichkeit offenzulegen. Dabei sensibilisiert die Diskursforschung für die Verbindungen von Wissen und Macht: Sie arbeitet heraus, wie sich in bestimmten und immer auch machtdurchzogenen Kontexten ein bestimmtes Wissen, bestimmte Wahrheiten und damit letztlich bestimmte soziale Wirklichkeiten etablieren und durchsetzen können. Gleichzeitig lenkt die Diskursforschung den Blick auf die Frage-

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stellung, welche Machteffekte entstehen, wenn bestimmte soziale Wirklichkeiten etabliert werden und andere nicht. Die Diskursforschung eröffnet damit auch Chancen für Veränderungen, indem alternative soziale Wirklichkeiten denk- und gestaltbar werden. So formuliert der Diskurstheoretiker Foucault bereits 1982 in einem Interview: „My role – and that is too emphatic a word – is to show people that they are much freer than they feel, that people accept as truth, as evidence, some themes which have been built up at a certain moment during history, and that this so-called evidence can be criticized and destroyed.“ (Foucault/Martin 1988 [1982])

Die Diskurstheorie bietet damit auch eine Grundlage für die Neukonzeption politischer Auseinandersetzungen. Geht man im Sinne diskurstheoretischer Ansätze davon aus, dass Identitäten niemals gegeben und niemals endgültig sind, dann verändert sich in politischen Auseinandersetzungen der Blick auf den Widersacher. Dieser ist dann nicht ein wesenhaft radikal anderer „Feind“, sondern ein legitimer Gegner in einer immer offenen und veränderbaren Auseinandersetzung (Laclau/Mouffe 1985; Laclau 1996). Vor dem Hintergrund des Bedeutungsgewinns „postfaktischer“ Argumente und (rechts-)populistischer Strömungen haben allerdings verschiedene Autor*innen poststrukturalistische und diskurstheoretische Ansätze kritisiert und als Wegbereiter (prominent bspw. McIntyre 2018) bezeichnet, die eine Abkehr vom privilegierten und universellen Wahrheitspostulat der Wissenschaften in der Moderne vorbereitet hätten (grundsätzlich zu dieser Herausforderung der diskurstheoretischen Idee von Kritik vgl. bereits Latour 2004; aus sozialgeographischer Perspektive bspw. Oßenbrügge 2018). Der Kernvorwurf, der zumeist etwas diffus an eine „post-moderne“ Sozial- und Kulturwissenschaft gerichtet wird, lautet: Die Idee, dass jegliche Wahrheit konstruiert sei, habe nicht nur universalistische Vorstellungen untergraben, sondern eine Relativierung jeglicher Wahrheitsansprüche vorbereitet. So sei es bspw. möglich geworden, dass Klimawandelleugner dem weitgehenden Konsens der Naturwissenschaften zum anthropogen verursachten Klimawandel ihre eigenen „alternativen Wahrheiten“ als vermeintlich gleichwertig gegenüberstellen. Auf ähnliche Weise habe die Kritik am Universalismus es ermöglicht, dass z.B. in den „ethnopluralistischen“ Konzepten der „neurechten“ Bewegungen Menschenrechten ihre universelle Gültigkeit abgesprochen werde (s. bspw. die Streitschrift eines Vordenkers der neuen Rechten in Frankreich, de Benoist 2014). Vor diesem Hintergrund wird derzeit teilweise – insbesondere von Naturwissenschaftler*innen – eine Stärkung bzw. Re-Etablierung des privilegierten

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Wahrheitsanspruchs der Wissenschaften propagiert. So forderten im Kontext der „marches for science“ tausende Wissenschaftler*innen, dass Politik und Gesellschaft die Autorität wissenschaftlicher Erkenntnisse anerkennen und beachten sollen (kritisch dazu aus sozialwissenschaftlicher Perspektive vgl. Oßenbrügge 2018 und aus stärker philosophischer Perspektive Vogelmann 2019). Aus einer diskurstheoretischen Perspektive lässt sich folgende Antwort auf diese Kritiken formulieren: Die Diskursforschung untersucht, wie bestimmte Wahrheiten etabliert werden, indem sie die Regeln der Wahrheitsproduktion herausarbeitet. Damit bietet sie ein Werkzeug, um zwischen verschiedenen Strategien von Wahrheitsansprüchen und Rechtfertigungsstrategien zu unterscheiden. Sie postuliert dabei also gerade nicht, dass alle Wahrheitsansprüche oder alle sozialen Wirklichkeiten gleichwertig seien. Vielmehr kann die Diskursforschung auf diese Weise einen Beitrag leisten, um unterschiedliche Prozesse und Strategien der Herstellung von Wahrheit und Wissen zu unterscheiden (ähnlich auch Angermuller 2018). In Situationen, in denen verschiedene Wahrheitsansprüche in Widerspruch geraten, bietet eine solche Differenzierung sowohl Orientierung als auch eine Grundlage für die (positionierte) Formulierung von Kritik – bspw. auch in der Klimadebatte. So lenkt die Diskursforschung den Blick auf die Prozesshaftigkeit der Erkenntnisproduktion und stärkt damit eine Auseinandersetzung über Qualitätsstandards der Wissensproduktion. Beispielsweise lässt sich auf diese Weise in den Naturwissenschaften ein breites Feld identifizieren, in dem auf der Basis langjährig etablierter, immer wieder zur Diskussion gestellter und verfeinerter naturwissenschaftlich-experimenteller und modellbildendender Verfahren intersubjektiv nachvollziehbare Erkenntnisse produziert werden. Demgegenüber stehen die verschiedenen Positionen der Klimawandelleugner, die nicht annähernd auf entsprechend methodisch referenzierten und nachvollziehbaren Prozessen der Absicherung ihre Thesen aufbauen. In der Klimadebatte können auf Basis einer diskurstheoretischen Perspektive also naturwissenschaftliche Erkenntnisse verteidigt werden, ohne in (zu) einfacher Weise a priori der (Natur-) Wissenschaft zuzuschreiben, einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit zu haben und frei von sozialen Einflüssen zu sein. Letztlich hat der Anspruch der Diskursforschung, Kategorien und „Wahrheiten“ immer wieder als hergestellt zu fassen, auch Konsequenzen für die Positionierung des oder der Forschenden (vgl. Howarth/Glynos/Griggs 2016). Denn bereits die Fragen danach, was als gesellschaftliches Problem oder interessantes Thema wahrgenommen wird und warum ein bestimmtes Thema „sinnvoller- und notwendigerweise“ wissenschaftlich bearbeitet werden soll, sind kontingent und nur aus der Positionierung innerhalb spezifischer diskur-

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siver Kontexte zu verstehen. Dasselbe gilt für die Wahl der theoretischen Perspektive sowie deren empirische Operationalisierung. In diesem Sinne spiegelt auch die in diesem Sammelband vorliegende Auswahl von theoretischen und methodischen Zugängen sowie die empirischen Beispiele, an denen diese verdeutlicht werden, eine spezifische Ausrichtung und Positionierung der Autor*innen innerhalb ihres wissenschaftlichen (diskursiven) Kontextes. Die überwiegende Mehrzahl der hier versammelten Beiträge eint das Anliegen, theoretische Perspektiven und methodische Verfahren, die den Zusammenhang zwischen Wissen, Wahrheit, Machtstrukturen und Alltagspraktiken thematisieren, für die Formulierung und Bearbeitung humangeographischer Forschungsprojekte in Wert zu setzen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt dabei auf der Auslotung der Potenziale und Grenzen strukturalistischer und poststrukturalistischer Konzepte – er hebt sich damit dezidiert von stärker subjektbezogenen Arbeiten ab.

Aufbau des Handbuchs Gegenüber der 2009 erschienenen Erstauflage hat sich einiges geändert: Die wichtigste Neuerung ist die erweiterte und angepasste Grundstruktur des Handbuchs. Die ersten beiden Hauptteile „Theorien und Konzepte der Diskursforschung in der Humangeographie“ (Teil A) sowie „Raumbegriffe in der Diskursforschung“ (Teil B) wurden aktualisiert und erweitert. Komplett neu ist Teil C mit dem Titel „Modi der diskursiven Konstitution von Gesellschaft-RaumVerhältnissen“. Diesen haben wir eingeführt, weil sich die in der ersten Auflage vorgenommene Differenzierung in Theorien und Konzepte einerseits und Methoden sowie empirische Zugänge andererseits insofern als zu undifferenziert erwiesen hat, als sich vor allem die methodischen Kapitel auf sehr unterschiedliche Modi von Diskursivität bezogen. Die Kapitel in dem neuen Teil C diskutieren nun zunächst grundlegend, wie unterschiedliche Modi von Diskursivität (Sprachlichkeit, Bildlichkeit, Performativität, Praktiken, Technik und Materialität) konzeptualisiert werden können, und legen damit eine methodologische Grundlage für die nachfolgenden Methodenkapitel. Darauf aufbauend werden dann in Teil D Methoden und empirische Zugänge thematisiert, die sich jeweils auf unterschiedliche empirische Zugriffe beziehen (Texte, Karten, Beobachtungen, Fotografien). Kurze Einleitungstexte zu den vier Hauptteilen verorten die einzelnen Kapitel in diesem Aufbau des Handbuchs. Neu ist auch das Schlusskapitel des Handbuchs im fünften Teil E, welches unter dem Motto „Ins Spiel der Wahrheit eintreten“ eine Reihe übergeordneter Fragen der raumbezogenen

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Diskursforschung diskutiert, die das Autorenkollektiv des Handbuchs über die Jahre immer wieder beschäftigt haben. Dazu gehören unsere eigene Positionalität und politische Verortung als Wissenschaftler*innen, aber auch die Stellung von Methoden im diskurstheoretisch orientierten Forschungsprozess.

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A Theorien und Konzepte der Diskursforschung in der Humangeographie

Theorien und Konzepte der Diskursforschung lassen sich auf recht unterschiedliche theoretische Ursprünge zurückführen. Diese Ursprünge liegen zum einen, wie im einführenden Kapitel 1 verdeutlicht, in sprachwissenschaftlichen Ansätzen des Strukturalismus und Poststrukturalismus sowie des Pragmatismus, zum anderen in Arbeiten der Kritischen Theorie, die bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Ideologien problematisieren. Die im Handbuch vorgestellten Theorien und Konzepte der Diskursforschung sind durch strukturalistische bzw. poststrukturalistische Denktraditionen geprägt. Das bedeutet, dass sie die Idee autonom handelnder Subjekte sowie essenzialistische Identitätsverständnisse kritisieren und die Rolle von Macht-Wissen-Beziehungen in der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Verhältnisse betonen. Jenseits dessen unterscheiden sich die Kapitel bezüglich der Positionierungen im Spannungsfeld zwischen strukturalistischen, poststrukturalistischen und ideologiekritischen Ansätzen. Eine kaum zu überschätzende Rolle für die Entwicklung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursforschung haben die Arbeiten des französischen Historikers und Philosophen Michel Foucault gespielt, dem die ersten zwei Theoriekapitel gewidmet sind. Kapitel 2 von Anke Strüver diskutiert die zentralen Konzepte „Wissen“, „Wahrheit“, „Macht“ und „Subjektivierung“ in Foucaults Arbeiten und verdeutlicht, wie diese genutzt werden können, um Räume und ihre (veränderbaren) Bedeutungen als Teil und Medium gesellschaftlicher Prozesse und Machtverhältnisse zu interpretieren. Darauf aufbauend widmet sich Kapitel 3 von Henning Füller und Nadine Marquardt einem weiteren einflussreichen Konzept aus dem Spätwerk von Foucault: der Gouvernementalität. Es führt in die an Foucault anschließenden governmentality studies ein und zeigt, wie der von Foucault skizzierte Begriff die

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Idee von Regierung gegenüber traditionellen Ansätzen weitet, indem unterschiedliche Formen der Fremd- und Selbststeuerung in den Blick genommen werden. Dabei weist bereits Foucault an verschiedenen Stellen auf die Rolle von Räumlichkeit für unterschiedliche Formen der Steuerung hin und eröffnet damit der Geographie Chancen, die Rolle der (Re-)Produktion von Räumen im Kontext der Regierung von Gesellschaft zu erforschen. Die darauffolgenden zwei Kapitel leuchten Anknüpfungspunkte und Unterschiede diskurstheoretischer Ansätze zu marxistisch inspirierten Theorietraditionen aus. Eine dezidiert gesellschaftskritisch argumentierende und an marxistische Konzepte anknüpfende Position innerhalb der Diskursforschung stellen Bernd Belina und Iris Dzudzek in Kapitel 4 vor. Sie bringen in ihrem Beitrag Konzepte der Ideologiekritik mit poststrukturalistischen Diskurstheorien in einen Dialog. Im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit Arbeiten der Kritischen Diskursanalyse erörtern sie, wie in der Diskursforschung Gesellschaftsund Herrschaftsverhältnisse konzeptualisiert und kritisiert werden können und inwieweit Diskursanalyse somit eine Gesellschaftsanalyse darstellen kann. Ebenfalls in Auseinandersetzung mit Konzepten der Ideologiekritik, aber aus einer dezidiert poststrukturalistischen Perspektive heraus, stellt Kapitel 5 als letztes in diesem Teil des Handbuchs die Hegemonie- und Diskurstheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor. Dieser theoretische Zugriff betont die Kontingenz und Veränderbarkeit jeglicher gesellschaftlicher Verhältnisse. Damit öffnet die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe Räume für gesellschaftliche Veränderungen – und dies sowohl in einem metaphorischen als auch wörtlichen Sinne.

2 Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie Anke Strüver

Warum gehen einige Menschen besonders gerne oder sogar ausschließlich in der Dunkelheit joggen und warum würden andere Menschen das wiederum niemals tun? Wie werden menschliche Körper über Elemente der gebauten Umwelt arrangiert und (de-)platziert und welche Machtbeziehungen werden darin abgebildet bzw. dadurch hergestellt? Wie schlagen sich gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen und damit spezifische Formen von „Wissen“ in räumlichen Alltagspraktiken und der Eigen- und Fremdwahrnehmung von verkörperten Subjekten nieder? Diese und ähnliche Fragen verweisen auf Michel Foucaults Aussage, dass die „Kontrolle der Gesellschaft im Körper und mit dem Körper vollzogen“ (2003 [1994]: 275) wird, und stellen zugleich unter Einbeziehung der Dimension des Räumlichen als unhinter„gehbarem“ Teil der Gesellschaft die rahmende Frage dieses Kapitels dar. Foucaults Werke durchziehen seit mehr als drei Jahrzehnten in unübersehbarer Weise – und auch in unüberschaubarem Maße – die Sozial- und Kulturwissenschaften und sind, zeitlich leicht verzögert, dafür inhaltlich aber umso nachdrücklicher, spätestens mit der Jahrtausendwende auch in der deutschsprachigen Humangeographie angekommen. Der Fokus lag dabei anfänglich auf machtanalytischen Fragestellungen im Kontext der Konzeptualisierung von Raum als sozialer Konstruktion. Er erweiterte sich dann aber schnell und mit explizit poststrukturalistischer Ausrichtung um das weite Forschungsfeld des konstitutiven Wechselverhältnisses von „Raum und Identität“ und den damit verbundenen räumlichen wie sozialen Grenzziehungen, einschließlich der diskursiv-gesellschaftlichen Prozesse von Fremd- und Selbstwahrnehmung auf unterschiedlichsten Maßstabsebenen.

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Anke Strüver

Ganz allgemein hat die Foucault’sche Diskurstheorie zunächst die gesellschaftliche Konstruktion und Regulation von Bedeutungszuweisungen, die damit verknüpften Wahrheits- und Wirklichkeitsansprüche sowie die ihnen zugrunde liegenden Machtverhältnisse zum Gegenstand. Für die Humangeographie rückt indessen insbesondere das Zusammenspiel von Macht, Raum und Gesellschaft ins Blickfeld, da die gesellschaftliche und damit machtgeladene Konstruktion von Räumen wichtiger Bestandteil des Sozialen ist und die Bedeutungskonstitution von Räumen unhintergehbar mit der von sozialer Wirklichkeit verstrickt ist. Bei den theoretischen Grundlagen von Foucault handelt es sich um die im einleitenden Kapitel beschriebene Entstehung und Weiterentwicklung des klassischen Strukturalismus sowie um die Kritik am Strukturalismus durch den Poststrukturalismus. Im Anschluss daran ist es auch bei Foucault zunächst die Sprache, die er im weitesten Sinne als gesellschaftliches Organisationsprinzip versteht, durch das soziale Realitäten in historisch spezifischen Diskursen produziert werden. Zu diesen Diskursen gehören die Normen und Werte, aber auch die Machtverhältnisse einer Gesellschaft sowie die sie konstituierenden Praktiken. Besondere Aufmerksamkeit widmet Foucault in seinen Arbeiten den Auswirkungen des Diskurses auf die Machtverhältnisse und auf dessen Rolle bei den gesellschaftlichen Prozessen und Formen der Subjektivierung. Im Fokus steht die kritische Untersuchung von institutionellen Wissen(schaft)sdiskursen und sozialen Machtverhältnissen sowie deren Bedeutungen bei der Subjektkonstitution – und in seinen Werken hat Foucault historische Diskursformen untersucht, die zur Ausprägung des modernen Subjekts geführt haben. Foucault hat seine Arbeiten in einem Zeitraum von mehr als dreißig Jahren veröffentlicht. Dabei blieb es nicht aus, dass sich seine Zugänge und Ansichten bestimmter Aspekte verändert haben. Autor*innen, die sich mit seinem Gesamtwerk befassen, unterscheiden sich u.a. dadurch, ob sie es als ein einheitliches, unsystematisches oder als ein in Phasen unterteiltes Werk verstehen (vgl. vor allem Dreyfus/Rabinow 1987 [1982]; Deleuze 1992 [1986]; Fink-Eitel 1997; Sarasin 2005; Ruoff 2007; Keller 2008). Foucault selbst hat sein Werk als eine Reihe von „theoretischen Verschiebungen“ beschrieben (Foucault 1986a [1984]: 12f.) bzw. – und mit nahezu selbstironischem Rekurs auf die Vielzahl seiner Arbeiten – als „Verwandlungen“ (Foucault 2005 [1994]: 654). Diese Verschiebungen werden nachfolgend allerdings stärker im Hinblick auf die Genealogie („Theorie der Machtpraktiken“) als auf die der Archäologie („Theorie der Diskurse und Wissensformen“) berücksichtigt, um schließlich seine Überlegungen zum Subjekt zusammenzufassen. Das heißt in der Hinführung zu Letzterem werden hier die Machtpraktiken – und damit die hegemonialen Bedingungen sozialer

Foucault’sche Diskurstheorie

Praktiken, die den Diskurs und seine Machtverhältnisse bestimmen – prominenter betrachtet als die Frage, wie sich die Regeln der Diskurse und die sie ordnenden Formen und Strukturen des Wissens vollziehen. Folgt man Foucaults eigenen Ausführungen zur Systematisierung seines Werks in „Der Gebrauch der Lüste“, so ist es entlang der drei Achsen von Wissen–Macht–Subjekt bzw. von „Wissensformen“, „Machtsystemen“ und „Selbstpraktiken“ (1986a [1984]: 10ff.) strukturiert. Diese Achsen wiederum lassen sich (vordergründig) auch chronologisch verorten, nämlich mit den Untersuchungen zu Wissens- und Diskurssystemen in den frühen Werken wie „Archäologie des Wissens“ (1973 [1969]) und „Die Ordnung der Dinge“ (1971 [1966]), zur Disziplinar- und Biomacht insbesondere in „Überwachen und Strafen“ (1976 [1975]), „Der Wille zum Wissen“ (1977 [1976]) und „In Verteidigung der Gesellschaft“ (1999) sowie zum Subjekt bzw. zu Selbstverhältnissen und -praktiken in den späten Werken wie „Freiheit und Selbstsorge“ (1985), „Der Gebrauch der Lüste“ (1986a [1984]), „Die Sorge um sich“ (1986b [1984]) oder auch die „Geschichte der Gouvernementalität I und II“ (2004 [1978], 2004 [1979]) und die „Hermeneutik des Subjekts“ (2004 [2001]). Für eine intensivere Auseinandersetzung mit den drei Achsen ist diese Chronologie allerdings nur bedingt hilfreich, da die Beziehungen zwischen Wissens- und Machtsystemen sowie deren Einflüsse auf die Subjektkonstitution all seine Werke und Vorlesungen durchziehen, dabei jedoch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen verfolgen sowie den oben bereits erwähnten theoretischen Verschiebungen unterliegen. Dazu gehören nicht zuletzt auch die der Maßstäblichkeit, da sich bspw. hinsichtlich der Subjektkonzeptionen der „frühe Foucault“ eher mit mikrosozialen Fragen wie der „Mikrophysik der Macht“ in „Überwachen und Strafen“ (1976 [1975]: 38) beschäftigte, wohingegen sich der „mittlere Foucault“ mit dem Konzept der Biopolitik bereits explizit der Gesellschaftsanalyse zuwandte (vgl. Foucault 1977 [1976], 1978, 1999) und sich der „späte Foucault“ insbesondere mit dem Konzept der Gouvernementalität auf makrogesellschaftliche Formen der „Regierungskunst“ stützte (vgl. Foucault 2004 [1978], 2004 [1979]; sowie Kap. 3: Füller/Marquardt 2021). Die Struktur dieses Beitrags folgt jedoch der bereits angedeuteten Foucault’schen Systematisierung entlang der drei Achsen von Wissen, Macht und Subjekt, die an- und abschließend um den Raum als konstituierendes wie konstituiertes Element dieser Achsen erweitert wird.

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Anke Strüver

Wissen: Wissen macht Macht Ein grundlegendes Anliegen von Foucault war es, die Beziehung zwischen Macht und Wissen als dem Wissen zugrunde liegend zu betrachten und daher die Macht als Ausgangspunkt zur Untersuchung des Wissens zu nehmen. Denn der Wille zum Wissen ist ein Wille zur Macht – und Wissen dient der Durchsetzung, Erhaltung oder Auflösung von Herrschaftsverhältnissen (vgl. Foucault 1977 [1976], 1978). Im Unterschied zur herkömmlichen Definition „wissenschaftlichen Wissens“, nämlich der „wahren Erkenntnis objektiver Gegebenheiten“, hat sich Foucault in der Hinterfragung universeller Objektivität und Wahrheit primär auf die Konstitutions- und Ordnungsprozesse von Wissen konzentriert sowie auf die Frage, wie dominante Weltvorstellungen durch Diskurse ermöglicht und strukturiert werden: „Es handelt sich eher um eine Untersuchung, in der man sich bemüht festzustellen, von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalität sich bilden können, um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen.“ (Foucault 1971 [1966]: 24)

Insbesondere in seinen Werken „Archäologie des Wissens“ (1973 [1969]) und „Die Ordnung des Diskurses“ (1991 [1971]) hat Foucault grundlegende Überlegungen zur Theorie der Diskurse formuliert. Er unterscheidet dabei zwei Wissensebenen, zum einen die zentralen „Codes einer Kultur“, die die Alltagssprache und -praktiken beeinflussen, und zum anderen das wissenschaftliche Denken; und die dazwischen vermittelnde Ebene von Ordnungsstrukturen wird bei Foucault durch das Konzept der Diskurse besetzt (vgl. Foucault 1971 [1966]: 22f., 1973 [1969]: 41ff.). Hier zeigt sich, dass Foucault Diskurse nicht nur im engeren, unmittelbar sprachlichen Sinne behandelt, sondern als Praktiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben.“ (Foucault 1973 [1969]: 74, Herv. i.O.) Foucaults Vorstellung von Diskursen lässt sich paraphrasieren als institutionalisierte und geregelte Redeweisen. Er fokussiert somit die Konstruktion von

Foucault’sche Diskurstheorie

Wirklichkeit durch Sprache und deren Bedeutungen sowie die gesellschaftlich ausdifferenzierten Formen der Wissensproduktion. „Ein Wissen ist das, wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann, […] der durch die verschiedenen Gegenstände, die ein wissenschaftliches Statut erhalten werden oder nicht, konstituierte Bereich […], ein Wissen ist auch der Raum, in dem das Subjekt die Stellung einnehmen kann, um von Gegenständen zu sprechen, mit denen es in seinem Diskurs zu tun hat […], ein Wissen ist auch das Feld von Koordination und Subordination der Aussagen, wo die Begriffe erscheinen, bestimmt, angewandt und verändert werden […]; schließlich definiert sich ein Wissen durch die Möglichkeiten der Benutzung und der Aneignung, die vom Diskurs geboten werden […], [aber] es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert.“ (Foucault 1973 [1969]: 259f.)

In diesem Verständnis erscheint der Diskurs zunächst als vermeintlich omnipotentes Strukturprinzip der Gesellschaft. Allerdings ist damit weder Willkür noch Beliebigkeit gemeint. Vielmehr geht es Foucault um die spezifische Verknüpfung diskursiver Formationen und die durch sie angeleiteten (Kontroll-) Praktiken, den „Dispositiven der Macht“.1 Diskurse entstehen in je spezifischen historischen und kulturellen Kontexten und werden durch diskursive Praktiken (lesen, sprechen, schreiben, wahrnehmen, darstellen usw.) manifestiert, erhalten und transformiert. Über die diskursiven Praktiken werden zudem „objektives Wissen“, universalisierte Bedeutungen von Wahrheit, Normalität und Moral sowie Subjekte konstituiert. Eine diskursive Praxis ist daher die „Gesamtheit von anonymen historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben“ (Foucault 1973 [1969]: 171).

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Foucault führt den Begriff des „Dispositivs“ zur Kennzeichnung der machtstrategischen Verknüpfungen von Diskursen, Praktiken, Wissen und Macht ein. „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (Foucault 1978: 119f.)

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Diese „Wirkungsbedingungen von Aussagen“ verweisen wiederum direkt auf die hegemonialen Bedingungen bzw. gesellschaftlichen Kontexte, die die Wirkmächtigkeiten von Diskursen strukturieren. „Diskurse können gewissermaßen als ‚Substrat‘ gesellschaftlicher Prozesse, als in sich heterogene Produktions- und Konstitutionsbedingungen einer – gesellschaftlichen – Wirklichkeit gelten, von der angenommen wird, dass sie auf der Verselbständigung konstruktiver Prozesse und subjektloser Operationen sowie ihrer Performanz beruht und dass sie sich in materiellen Anordnungen, Technologien und Praktiken manifestiert.“ (Bublitz 2003: 9)

Diskurse sind in diesem Verständnis raumzeit-spezifische Möglichkeitsbedingungen bzw. „kulturelle Rahmungen“ (Frank 1984; Bublitz 2003), die das Denken und Handeln von – aber auch die Subjekte selbst – als individualisierte Personen innerhalb gesellschaftlich manifestierter Macht-Wissens-Komplexe konstituieren. Damit verschiebt sich nun der Fokus zunächst auf „die andere Seite derselben Medaille“, nämlich vom Wissen zur Macht, und konzentriert sich anschließend auf die Ebene des verkörperten Subjekts.

Macht: Macht als Machbarkeit Foucaults diskurstheoretische Konzeptualisierung von Macht als komplexes, mehrdimensionales Verhältnis geht über die klassische Unterdrückungs- und Repressionshypothese hinaus. Macht wird sowohl als repressiv und destruktiv als auch als produktiv aufgefasst und schließt die Möglichkeit des Widerstands mit ein. Daher gibt es für Foucault kein außerhalb der Machtverhältnisse und keine einfache Zweiteilung in Opfer und Täter*innen. Foucaults Vorstellung moderner Macht ist mit einer Kritik an statischen und etatistisch verengten Konzepten von Macht, Gewalt und Herrschaft verbunden. In seinen Arbeiten zum modernen Staat befasst er sich zwar mit dessen Disziplinartechnologien gegenüber der Bevölkerung 2, doch beinhalten die

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Foucaults verschiedene Zugänge zur Machtthematik lassen sich unterscheiden in die Disziplinarmacht bzw. „Mikrophysik der Macht“ (Foucault 1976 [1975]) einerseits, deren Hauptziel die Disziplinierung und Normalisierung der menschlichen Körper darstellt. Die Biomacht (Foucault 1977 [1976]) andererseits beschreibt die Politik der auf die Bevölkerung gerichteten staatlichen Machtstrategien der Disziplinarmacht (s.u.). Beide Zugänge wurden später durch die gouver-

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sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Strukturen auch Handlungsmöglichkeiten für die Menschen. Macht ist für ihn allgegenwärtig, zirkulierend und polymorph, sie ist nicht grundsätzlich repressiv strukturiert, sondern beinhaltet auch strategisch-produktive Aspekte. Es geht Foucault nicht um die Entwicklung einer Theorie der Macht, sondern um die Bestimmung der Instrumente zu ihrer Analyse, d.h. um die auf die Machtverhältnisse konzentrierte Frage: „[W]ie wird sie ausgeübt?“ (Foucault 1987 [1983]: 251) Macht ist für ihn der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt. Sie ist keine feste Institution, keine Struktur, keine Mächtigkeit einiger Mächtiger: „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.“ (Foucault 1977 [1976]: 115) In „Der Wille zum Wissen“ definiert Foucault Macht folgendermaßen (ebd.: 113f.): „Unter Macht verstehe ich hier nicht die Regierungsmacht als Gesamtheit der Institutionen und Apparate, die die bürgerliche Ordnung in einem gegebenen Staat garantieren. Ebenso wenig verstehe ich darunter eine Unterwerfungsart, die im Gegensatz zur Gewalt in Form der Regel auftritt. Und schließlich meine ich nicht ein allgemeines Herrschaftssystem, das von einem Element, von einer Gruppe gegen die andere aufrechterhalten wird und das in sukzessiven Zweiteilungen den gesamten Gesellschaftskörper durchdringt. […] Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.“

In diesem Verständnis ist Macht auch im politischen Sinne nicht nur unidirektionale Repression in Form von Unterdrückung oder Ausschließung. Sie hat nicht nur negative Auswirkungen, sondern auch positive und produktive Aspekte wie z.B. den der sozialen Integration oder des Widerstands (s.u.). Machtbeziehungen verhalten sich darüber hinaus nicht als etwas Äußeres zu anderen gesellschaftlichen Verhältnissen (Politik, Ökonomie, Sexualität …). Sie nementale „Kunst des Regierens“ erweitert (Foucault 2004 [1978], 2004 [1979]; s. auch Kap. 3: Füller/Marquardt 2021).

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sind immanent in allen Formen und Skalierungen von Beziehungen und durchlaufen die gesamte Gesellschaft in vielfältigen Kräfteverhältnissen. Aus diesem Grund erscheint es auch wenig sinnvoll, eine eindimensionale, polarisierende Gegenüberstellung von Herrschenden und Beherrschten zu betrachten. Foucault versucht stattdessen, Macht als ein Verhältnis zu denken, in dem es keine einfache Zweiteilung in Macht/Ohnmacht, Subjekt/Objekt, Täter*in/Opfer, oben/unten gibt. An deren Stelle tritt ein vielfältig verzweigtes Geflecht von Machtverhältnissen, in denen sich die Subjekte einer Gesellschaft befinden und die immer wieder neu verhandelt werden. Machtverhältnisse sind so tief im gesellschaftlichen Nexus verwurzelt, dass sie nicht als eine Struktur über oder außerhalb der Gesellschaft existieren. Eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse kann daher nur als Abstraktion gedacht werden. Das heißt aber auch, dass es kein erstes und grundlegendes Machtprinzip gibt, dessen Autorität bis ins winzigste Element der Gesellschaft reicht, sondern dass verschiedene Formen von Macht und Machtverhältnissen existieren (vgl. Foucault 1987 [1983]). Um zu verstehen, worum es bei Machtverhältnissen geht, müssen schließlich die Widerstandsformen, die Versuche zur Veränderung von Verhältnissen sowie die möglichen Formen von Freiheit untersucht werden. „In diesem Spiel [von Freiheit und Macht] erscheint die Freiheit sehr wohl als Existenzbedingung von Macht.“ (Foucault 1987 [1983]: 256) Denn: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch, oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“ (Foucault 1977 [1976]: 116) Macht ist in diesem Sinne einerseits zunächst den Subjekten scheinbar vorgängig – bzw. Subjekte sind als Produkte der Machtverhältnisse zu begreifen (s.u.). Andererseits setzt Machtausübung das Vorhandensein unterschiedlicher Subjekte und unterschiedlicher Handlungsformen voraus, da sie „auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat“ (Foucault 1987 [1983]: 255), operiert und auf ein „ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen, Erfindungen“ verweist (ebd.: 254; s. auch Bröckling 2007: 20ff.). Durch einen Rückgriff auf Foucaults Verständnis von Diskurs als Organisationsprinzip der Gesellschaft wird deutlich, dass sein diskurstheoretischer Ansatz prinzipiell die Möglichkeit des Widerstands beinhaltet: Da es verschiedene gesellschaftliche Interessen und Kontexte gibt, gibt es auch unterschiedliche, mehr oder weniger dominante Diskurse. Aus dem Wechselspiel von Ermächtigung und Begrenzung durch Diskurse erwächst zum einen die Dynamik von Diskursen, zum anderen liegen an den Bruchstellen zwischen den Diskursen Ansatzpunkte zum Widerstand. Vor diesem Hintergrund betont Foucault

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den strikt relationalen Charakter von Machtverhältnissen, die nur Kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren können. „Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellion, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im Feld der strategischen Machtbeziehungen existieren können.“ (Foucault 1977 [1976]: 117)

Hinrich Fink-Eitel fasst Foucaults Grundbegriff der Macht folgendermaßen zusammen: „Macht ist nicht, wofür sie bislang immer gehalten wurde, kein souveränes Herrschaftszentrum, das sein Gesetz von oben nach unten durchsetzt. Sie ist kein Eigentum und keine bloße Potenz, kein Vermögen oder Mittel, das es einem erlaubt, irgendwelche Zwecke durchzusetzen. Macht ist der Krieg aller gegen alle, der Gesamtzusammenhang ereignisund augenblickshafter Konfrontationen von Körper zu Körper, das komplexe dezentrierte Netzwerk einzelner, lokaler, antagonistischer Kräfteverhältnisse. Aus ihnen steigt sie von unten nach oben auf, bis hinauf zu globalen Machtstrategien oder Gesamtdispositiven (z.B. einem Staat). Widerstand ist das zu einem Kräfteverhältnis gehörende ‚Gegenüber‘ der Macht, die Gegen-Macht, die sich ihrerseits zu einer Globalstrategie vernetzen kann (z.B. einer Revolution). Alles ist Macht. Foucaults Theorie ist ein Monismus der Macht auf der Basis eines unendlichen, offenen Pluralismus lokaler, ungleicher und instabiler Kräfteverhältnisse.“ (Fink-Eitel 1997: 88)

Subjekt: Zwischen Individualisierung und Regierung In den Ausführungen zum Wissen und zur Macht deutete sich bereits an, dass Foucaults Vorstellungen vom Subjekt eng mit den diskursiven Praktiken der Wissensproduktion sowie der Machtdistribution verflochten sind. „Macht bringt Körper und Subjekte hervor, die im Sinne disziplinarischer und statistischer Vorgaben weniger der Repression als der Fremd- und Selbstführung unterliegen, worin Macht und Freiheit sich nicht als entgegengesetzte, sondern als miteinander verwobene Elemente zeigen und sich Kontrollstrategien mit von den Individuen anerkannten Formen der Lebensführung mischen.“ (Bublitz 2003: 70)

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Um wirksam zu sein, müssen Diskurse durch individualisierte Subjekte und deren Handeln aktiviert werden. Gleichzeitig konstituieren und regieren Diskurse in jeweils spezifischer Weise verkörperte Subjekte. Das moderne Subjekt bzw. der Mythos vom autonomen Vernunftsubjekt gehören somit zu Foucaults zentralen Interessen, und die (historischen) Prozesse der komplexen Konstitution des Subjekts werden in vielen seiner Werke sowie in Arbeiten über seine Werke aufgegriffen (vgl. Foucault 1973 [1969], 1976 [1975], 1977 [1976], 1978, 1987 [1983] sowie – mit verschobenem Schwerpunkt – Foucault 1985, 1986a [1984], b [1984], 2004 [1978], 2004 [1979], 2004 [2001], 2005 [1994]). Untersucht wird dabei einerseits, wie „in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“, und andererseits, wie „ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt“ (Foucault 1987 [1983]: 243). Es geht ihm dabei nicht primär um die Analyse von Machtphänomenen, sondern um die Arten der Objektivierung, die Menschen zu Subjekten werden lassen. „Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung. Aber die Analyse der Macht ist selbstverständlich unumgänglich. Denn wenn das menschliche Subjekt innerhalb von Produktions- und Sinnverhältnissen steht, dann steht es zugleich auch in sehr komplexen Machtverhältnissen.“ (Ebd.) Subjekte sind für Foucault Ergebnis eines komplexen historischen Konstitutionsprozesses, d.h. Subjekte werden gemacht. Ihre Identität ist niemals abgeschlossen, sie ist weder unveränderbar noch prinzipiell jedem Individuum eigen. Vielmehr befindet sich die Identitätsbildung in einem fortwährenden Prozess, in dem diskursive Praktiken die Subjektidentität (re-)produzieren und transformieren. Die diskursiven Praktiken (z.B. in Familie und Schule) konstituieren die Bedeutungen des physischen Körpers, der Gefühle und des Begehrens sowie die bewusste Subjektivität. Damit grenzt sich Foucault scharf von der cartesianischen und liberal-humanistischen Subjekt-Vorstellung ab. Diese setzt die einheitliche Natur des Subjekts sowie eine bewusste Subjektivität voraus und erweckt dadurch den Anschein einer Einheitlichkeit des autonomen (Vernunft-)Subjekts. „[Das Subjekt wird] nicht durch die synthetische Aktivität eines mit sich selbst identischen, stummen oder jedem Sprechen vorhergehenden Bewußtsein hergestellt, sondern durch die Spezifität einer diskursiven Praxis. […] Man wird darin [im Diskurs] ein Feld von Regelmäßigkeit für verschiedene Positionen von Subjektivität sehen. Der so begriffene Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts.“ (Foucault 1973 [1969]: 82; vgl. auch Foucault 1977 [1976])

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Trotzdem zielt Foucault nicht auf den vieldiskutierten „Tod des Subjekts“ – der ihm durch den Schlusssatz in „Die Ordnung der Dinge“ (1971 [1966]) oftmals unterstellt wurde.3 Zwar stellt das gesamte Buch, das die Grundlagen des diskurstheoretischen Denkens darlegt, eine gezielte Provokation und Herausforderung an die Bewusstseinsphilosophie, die Phänomenologie, den Humanismus und den Marxismus dar – zugespitzt in dem am Ende postulierten „Verschwinden des Menschen“ (ebd.: 462). Doch bezieht sich dieses antihumanistische Argument nicht auf die physische Existenz der Menschen, sondern auf die idealistischen Vorstellungen eines autonom handelnden Subjekts mit vordiskursivem Bewusstsein und Handeln (zur Diskussion um den „Tod des Subjekts“ vgl. Frank 1984 [12. bis 14. Vorlesung]). Für ihn leben Menschen als Subjekte, d.h. sie agieren als individualisierte Personen, die „Ich“ sagen können und in diesem Sinne als Subjekte existieren. Allerdings sind sie das weder aus einer psychologischen Notwendigkeit heraus noch mit anthropologischer Selbstverständlichkeit. Stattdessen sind die menschlichen Subjekte Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses, insbesondere spezifischer Machttechniken. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass das menschliche Handeln determiniert sei. Foucault weist lediglich die idealistische Auffassung von Autonomie zurück, nach der Subjekte alleiniger und genuiner Ursprung ihres Denkens, Fühlens und Handelns sind. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass in Foucaults poststrukturalistischer Auffassung das Subjekt in Diskurspraktiken konstituiert wird. Entgegen häufig geäußerter Kritik spricht Foucault den Menschen dadurch ihre Materialität bzw. Körperlichkeit nicht ab. Sie existieren als denkende, fühlende Subjekte und als sozial handelnde Personen, die aus dem Zusammentreffen widersprüchlicher Subjektpositionen und Praktiken heraus zu Widerstand und zur Auswahl zwischen verschiedenen Optionen fähig sind (s. Kap. 11: Strüver/Wucherpfennig 2021).

Disziplinar- und Biomacht: Die Kontrolle der Körper In der hier vorgestellten Perspektive, die nach den konkreten Orten des Zusammentreffens von Praktiken, Subjektkonstruktionen und Machtwirkungen fragt, kann Foucaults Analyse der Macht auch gelesen werden als eine Analyse des menschlichen Körpers als dem Ort, an dem sich die winzigen und begrenzten Gesellschaftspraktiken mit der Organisation der Macht in großem Maßstab 3

Dieser Schlusssatz besagt, dass durch „irgendein Ereignis […] der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 1971 [1966]: 462).

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verbinden, an dem die „Mikrophysik der Macht“ (Foucault 1976 [1975]), die Biomacht als Politik der Bevölkerungskontrolle (Foucault 1977 [1976], 1999) und die Gouvernementalität als Regierungskunst, einschließlich der Selbstsorgetechniken des Subjekts (Foucault 2004 [1978], 2004 [1979], 2004 [2001], 2005 [1994]), aufeinandertreffen. Der Körper steht damit unmittelbar im Feld des Politischen: „Die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zum Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen.“ (Foucault 1976 [1975]: 37) Der Körper kann daher nicht natürliche Grundlage des Selbst und der Selbsterkenntnis sein. Körper, Sexualität, leibliche Empfindungen wie Begehren und sexuelle Praktiken sind diskursiv erzeugte Effekte eines historisch spezifischen Macht-Wissens-Komplexes. Das soll aber nicht heißen, dass der Körper als starres, totes Objekt behandelt wird. Foucault begreift ihn als lebendigen Organismus, dessen vitale Äußerungskraft der Wille zur Macht ist. Die Körper werden durch die Machtverhältnisse als Subjekte konstituiert, sie sind also nicht ein Gegenüber der Macht, sondern eine ihrer ersten Wirkungen (vgl. Foucault 1978: 82f.; Fink-Eitel 1997: 67f.; s. auch Kap. 11: Strüver/Wucherpfennig 2021). Ein wichtiger Aspekt bei der Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ist für Foucault die Disziplinarmacht. Anhand seiner Studien über die Disziplinargesellschaft, das Gefängnis und die Irrenanstalt kommt er zu dem Ergebnis, dass Machtausübung mittels spezifischer Disziplinartechnologien erfolgt (Foucault 1976 [1975]). Ziel der Disziplinarmacht ist es, aus den Menschen nützliche, produktive und fügsame Körper zu machen. In diesem Zusammenhang thematisiert er auch die Mechanismen von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen, die Einteilung in Normalität und Verrücktheit sowie in Gleiche und Andere und postuliert das Recht auf Andersheit. In „Überwachen und Strafen“ zeigt Foucault (ebd.), dass der zentrale Ort der disziplinierenden Machttechniken der menschliche Körper ist. Die dort beschriebenen Disziplinartechnologien im Gefängnis gelten bei Foucault als sichtbarster Ausdruck der weit verbreiteten „Praktiken der Körperdisziplinierung“, der „Mikrophysik der Macht“, im 18. und 19. Jahrhundert. Diese Praktiken sind omnipräsent und unscheinbar zugleich und stellen normierte sowie produktive Körper her: Die Disziplinarmacht „wirkt normend, normierend, normalisierend“ (Foucault 1976 [1975]: 236, Herv. i.O.). Im Kontext seiner Untersuchung der Sexualität entwickelt Foucault schließlich die Begriffe der Biopolitik und Biomacht als Kontrolle der Körper (1977 [1976]). Er versteht die Biomacht als unerlässliches Element bei der Entwicklung

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des Kapitalismus, der ohne die kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktion bzw. ohne die Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre: „Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen wird nicht nur über das Bewusstsein oder durch die Ideologie, sondern ebenso im Körper und mit dem Körper vollzogen.“ (Foucault 2003 [1994]: 275, eigene Herv.) Darüber hinaus verlangte die Entwicklung des Kapitalismus das Wachstum der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Bevölkerung insgesamt. Das heißt der Kapitalismus brauchte Machtmethoden zur Steigerung der menschlichen Arbeitskraft bei gleichzeitiger Gewährleistung der Unterdrückungsverhältnisse. Parallel zur Entwicklung der Staatsapparate als Machtapparate bzw. als konkrete Herrschaftsinstitutionen zur Aufrechterhaltung der Produktionsverhältnisse begreift Foucault die im 18. Jahrhundert entstandenen Herrschaftstechniken, die auf allen Ebenen der Gesellschaft durch die verschiedenen Institutionen eingesetzt wurden (Familie, Armee, Schule, Polizei, Medizin, öffentliche Verwaltung u.v.a.m.). Das Einwirken der Machttechniken auf die Kräfte der ökonomischen Prozesse wiederum hat zur Sicherung von Herrschaftsbeziehungen und Hegemonien als Faktoren der gesellschaftlichen Absonderung und Hierarchisierung geführt. Durch die Abstimmung der Akkumulation von Menschen mit der von Kapital, durch die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktionskräfte und die Verteilung des Profits wurde die Ausübung der Biomacht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht. Dabei waren die Besetzung und Bewertung des lebendigen Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte unentbehrliche Voraussetzungen (vgl. Foucault 1977 [1976], 1999). Die Biomacht erzeugt in diesem Verständnis auf „produktive“ Weise konformistisches Verhalten von Subjekten zum Zweck der Machtsicherung. Der Körper wird zum Austragungsort von Verteilungskämpfen und Zuordnungen, zum Gegenstand von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen anhand körperlicher Merkmale. „Disziplinarmacht der Körper und Bio-Politik der Bevölkerung bilden die beiden Säulen der ‚Bio-Macht‘ in den entstehenden modernen Gesellschaften, die hauptsächlichen Erscheinungsformen ihres Macht-Wissens-Zugriffs auf die Körper.“ (Keller 2008: 118)

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Erweiterung der Subjektkonzeption: Die Praktiken der Selbstsorge „Wenn man die Genealogie des Subjekts in der abendländischen Kultur untersuchen will, muss man nicht nur die Herrschaftstechniken, sondern auch die Selbsttechniken berücksichtigen.“ (Foucault 2005 [1994]: 210)

Um der Frage, wie „ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt“ (Foucault 1987 [1983]: 243) nachzugehen, bedarf es neben dem Rückgriff auf die Disziplinar- und Biomacht auch der Berücksichtigung der Selbsttechniken, denen sich der „späte Foucault“ nicht in Abgrenzung, sondern in Ergänzung zu seinen früheren Subjektkonzeptionen verstärkt gewidmet hat. Mit den Selbsttechniken/-technologien thematisiert Foucault die Selbstkonstitution von Subjekten jenseits von Disziplinar- und Biomacht als „Selbstführung von Individuen“ bzw. Selbst-Subjektivierung im Rahmen der kulturell verfügbaren Lebensmodelle. Mit seinen Überlegungen zum Subjekt im Neoliberalismus als „Unternehmer seiner selbst“ (Foucault 2004 [1979]: 314) ist eine beachtliche Erweiterung seiner Subjektkonzeption einhergegangen mit dem Ziel, zu verstehen, „welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt (Foucault 1986a [1984]: 29). In Foucaults „Technologien des Selbst“ geht es im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung seiner Machtkonzeption sowie der Analyse der Gouvernementalität als Regierungskunst um die Praxen der „Autoformation“ (Foucault 1985: 10), d.h. der Selbstbildung, in denen sich Individuen aktiv als Subjekte herstellen. Als Technologien der Selbstbildung gelten Praktiken, „mit denen Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen“ (Foucault 1986a [1984]: 18), sodass „selbsttechnologische Subjektivierungspraktiken“ im Zusammenhang mit den Disziplinartechnologien aus dem Wechselspiel von Diskursivität und Materialität entstehen. Dieses Wechselspiel von Diskursivität und Materialität, von diskursiver Wissens-, Macht- und Subjektproduktion, wird abschließend am Beispiel verkörperter Subjekte und Raumkonstruktionen zusammengefasst.

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„Wissen Macht Subjekt“ – und Raum! In der kritisch-poststrukturalistischen Raumforschung ist nicht von Interesse, was der Raum ist, sondern inwieweit die (veränderbaren) Bedeutungen von Räumlichkeit einen unumgänglichen Teil gesellschaftlicher Prozesse ausmachen, und mit Doreen Massey (2007 [1992]: 113) ist „Raum […] eine der Achsen, entlang derer wir die Welt erfahren und konzeptualisieren“. Diese Auffassung findet sich auch in Foucaults Konzeptualisierung des Räumlichen, da er die gesellschaftliche Produktion von Raum mit der Konstruktion von Gesellschaft verknüpfte. Gemeint sind damit allerdings weniger seine Überlegungen zur Disziplinargesellschaft am Beispiel des panoptischen Gefängnisses (Foucault 1986a [1984]), in denen es primär um die explizit architektonische Gestaltung des Raums geht. Vielmehr beschäftigt sich Foucaults Konzept der „Heterotopologie“ mit den Relationen im Raum und den Relationen zu „Andere[n] Räume[n]“ (1991 [1967]), da er davon ausging, dass Raum für jede Form gesellschaftlichen Lebens und somit für jede Form der Machtausübung fundamental sei. Im Rahmen seiner Machtanalysen und ausgehend von der Annahme, „jeder Mensch hat zu einer bestimmten (Tages-)Zeit seinen ‚richtigen‘ Ort“, kam er zu der Auffassung, dass Disziplin(-ierung) nur durch die aktive Kontrolle von Raum und Zeit ausgeübt werden kann. Besonders interessant an Foucaults Heterotopologie erscheint der Aspekt der Funktion von Heterotopien als ein System von Ein- und Ausschluss: Denn jeder Raum hat in diesem Verständnis eine bestimmte gesellschaftliche Funktion – auch gegenüber anderen Räumen, d.h. sie sind exklusiv oder inklusiv und schließen bestimmte Menschen ein oder aus. Gerade in Bezug auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit auf unterschiedliche sozioökonomische und -kulturelle Verkörperungen verdeutlicht dieser Punkt die wechselseitigen Beziehungen von menschlichen Körpern und Räumen (vgl. Strüver 2005: 88ff.). Dem einführenden Charakter dieses Kapitels zu den Grundlagen und zentralen Begrifflichkeiten der Foucault’schen Diskurstheorie sind eine „objektive Oberflächlichkeit“ und eine „subjektive Schwerpunktsetzung“ im Hinblick auf die Auswahl und das Ausmaß der hier behandelten Konzepte gleichermaßen geschuldet, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit beinhalten. Dennoch – oder gerade deswegen – sei zum Abschluss noch einmal detaillierter auf das verkörperte Subjekt an der Schnittstelle von Wissens- und Machtsystemen bzw. auf das Zusammenspiel von Körper, Macht und Raum eingegangen. Foucault beschreibt mit den Technologien des Selbst eine Form der Subjektivität, die weder uneingeschränkt gesellschaftlich produziert (hier i.S.v. de-

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terminiert) noch absolut frei wählbar ist. Das heißt die Praktiken der Selbstsorge bzw. Selbstführung sind – entgegen ihrer Bezeichnung – nicht ausschließlich individuell, sondern gesellschaftlich: „Es sind Schemata, die es [das Subjekt] in seiner Kultur vorfindet und die ihm vorgeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind.“ (Foucault 2005 [1994]: 889) Diese Selbsttechniken sind somit nicht unabhängig von gesellschaftlichen Machtkämpfen und Herrschaftsverhältnissen, bilden jedoch ein Gegengewicht dazu. Sie setzen der Fremdbeherrschung die Selbstermächtigung entgegen. Zentraler Ort dieses Gegengewichts ist der Körper, auf den die Kräfte der Normalisierung und Disziplinierung sowie die der Selbsttechnologien – der Fremd- und der Selbstformung – einwirken: „Es sind die Körper, die potentiell disparaten körperlichen Regungen und Bewegungen, die durch die Einschreibung und Einverleibung der Subjektcodes und der Technologien zu spezifischen, identifizierbaren Subjekten werden.“ (Reckwitz 2008: 30) Foucault begreift das verkörperte Subjekt damit als eine „aktivistische Instanz“, dessen Selbstverstehen allerdings weder „im Inneren eines privaten Selbst verankert“ noch ausschließlich Produkt kollektiver Diskurse ist (ebd.: 35f., 38), sodass an dieses Konzept gekoppelte Fragen lauten, (1) wie unter bestimmten diskursiven Bedingungen bestimmte subjektive Selbstinterpretationen vollzogen werden und (2) welche auf das Selbst gerichtete Praktiken eingesetzt werden, um das Subjekt zu formen (vgl. ebd.). Übertragen auf ein konkretes Beispiel liest sich dieses Zusammenspiel von Disziplinar- und Selbsttechnologien folgendermaßen: Die neoliberalen Umstrukturierungen der Gesellschaft und die sich wandelnden Lebens- und Arbeitsformen haben zu einem veränderten Körperbewusstsein und zu einer neuen Bewertung des Körperlichen geführt. Der Körper wird zunehmend als „Option“ (Schroer 2005: 35) verstanden, der gesund, schön und fit sein muss, um sich gegen die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – aber auch auf dem Freizeitmarkt der Lebensstile – durchsetzen zu können. Diese Form der individualisierten Selbstsorge sowie die stetige Zunahme sportlicher Alltagsaktivitäten lassen sich als „neoliberales Körperbewusstsein“ verstehen, das sich als „Sportboom“ und „Fitnesswahn“ – als wachsende Bedeutung von sportlicher Bewegung als Teil der Alltagskultur und damit des öffentlichen Lebens und auch Raum-er-lebens – niederschlägt. Sportlichkeit als gesellschaftlicher Leitwert bzw. „diskursive Bedingung“ symbolisiert Gesundheit, Schönheit und Jugendlichkeit einerseits sowie Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit andererseits. Die Inkorporierung dieser „Werte“ lässt Sport treiben zum selbstverständlichen Teil des Alltagslebens werden. Derartige Selbstpraktiken, die die Individuen wählen, um mit und an ihrem Körper bestimmte Operationen zu vollziehen,

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um ihn zu formen und verändern, sind Ausdruck dessen, wie sich das unternehmerische Selbst konstituiert bzw. „optimiert“. Das heißt mit dem Konzept der Selbsttechniken hat sich die Ebene der Normierung von Körpern und Subjekten um die Selbstkontrolle im Prozess der Subjektivierung erweitert: Das Subjekt „bestimmt sich also selbst aus quasi-eigener Verantwortung und nach quasi-eigenen Zielen, aber es merkt nicht, dass ihm beides nicht zur Wahl stand und dass es eigentlich ein Produkt von Herrschaftsverhältnissen, von Macht-, Wissens- und Körpertechniken ist“ (Turnes 2008: 206). Selbsttechniken sind damit keine autonomen Praktiken, sondern innerhalb der diskursiven Bedingungen verortet. „Man könnte im Sinne Foucaults sagen: Die Fitnesswelle [der 1970er Jahre] bereitete die Körper auf die neuen Anforderungen der Mediengesellschaft vor, indem sie den aus der industriellen Arbeit freigesetzten Körper zum Fitnesskörper disziplinierte […]. Die Mediengesellschaft produziert einen Körper, dessen Physis vor allem zur öffentlichen Inszenierung und sozialen Positionierung des Subjektes dient und dessen Äußeres entsprechend gepflegt und gestylt werden muss.“ (Klein 2008: 258)

Der Fitnesskörper des Freizeitsports ist ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Prozesse materialisiert und inkorporiert werden. Dazu gehört nicht nur Sport im Sinne von körperlicher Bewegung, sondern auch Sport als LifestyleElement, als gesellschaftliches Zeichensystem, das neben der aktiven Bewegung den Körper prägt und gestaltet, sodass „sich körperlich (Un-)Wohlfühlen“ kein autonomes, vordiskursives Gefühl darstellt. Doch neben der gesellschaftlichen Prägung des Körpers geht es auch um die Verkörperung des Sozialen: Die Symbolisierung des Sozialen findet als Somatisierung statt (Bourdieu 1992 [1987]: 207) – und wirkt auch konstitutiv auf Räume. Denn der aktuelle Freizeitsport verlässt die angestammten Sportstätten (wie z.B. Turnhallen), „betritt die Straße“ und eignet sich den öffentlich-städtischen Raum, d.h. den gesellschaftlichen Raum, an. Sportive Verkörperungen prägen somit insbesondere den urbanen Raum als Bewegungsraum für nicht-institutionalisierte Sportaktivitäten wie z.B. Laufen oder Skaten, outdoor-bootcamps oder urban athletics. Einen nicht unbedeutenden Teil der urbanen Sporträume macht dabei das „Sehen und Gesehenwerden“ aus (Bublitz 2006): Öffentliche Räume stellen eine Bühne zur Selbstdarstellung und -inszenierung bereit, d.h. einerseits wird dadurch der Raum konstituiert und andererseits konstituiert er diejenigen, die sich in ihm aufhalten. Durch kollektive Bewegungspraktiken wird eine – vorübergehend exklusive – Gemeinschaft erzeugt, die mit ihren Aktivitäten einen öffentlichen Raum besetzt und sich in ihm und über ihn verortet. Da diese Ver-

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ortung bzw. Platzierung auf einer körperlichen Aufführung beruht, geht sie mit einer besonderen Sichtbarkeit einher (vgl. Boschert 2002b). „Körper und Bewegung [sind …] elementar mit der Dimension des Raums verknüpft. Sie brauchen Raum und sind raumgreifend. Es ist der Raum, der die Bewegungen der Körper ermöglichen wie auch verhindern kann und somit konstitutiv für die Bewegung ist.“ (Boschert 2002a: 20) Die Raumnutzungsmuster Sport treibender bzw. verkörperter Subjekte eignen sich dadurch zur Illustration von Verkörperungen an der Schnittstelle von Disziplinar- und Selbsttechnologien, und die gesellschaftliche Körperkonjunktur des Neoliberalismus lässt sich nicht nur am „Sport-Körper“, sondern auch am „Stadt-Körper“, in der Raumentwicklung und -nutzung ablesen, die ebenfalls weder ausschließlich gesellschaftlich noch individuell ist, sondern durch Wissen, Macht und Subjekte diskursiv wie materiell ausgehandelt wird. Wenn Räume und ihre (veränderbaren) Bedeutungen Teil und Medium gesellschaftlicher Prozesse und Machtverhältnisse sind, anhand derer wir die Welt „erfahren“ oder begehen, dann wird auch die eingangs formulierte Frage nach der Bevorzugung oder Vermeidung der Dunkelheit zum Joggen nachvollziehbar: Einige Menschen wollen beim Joggen am liebsten nicht gesehen werden, da sie sich dabei in und mit ihrem Körper nicht wohl fühlen – z.B. stark Übergewichtige – und die den „Schutz“ der Dunkelheit schätzen (sich gleichzeitig aber dem Fitnesswahn verpflichtet fühlen). Andere Menschen wiederum empfinden gerade die Dunkelheit nicht als Schutz, sondern als Bedrohung, und der dunkle Raum wird zum „Angstraum“, den es zu vermeiden gilt. Für Erstere ist der dunkle Raum weniger Bühne als Gardine (i.S.v. Schutz), für Letztere hingegen zu viel Bühne gerade durch die Dunkelheit als „Gardine“. In beiden Fällen ist die jeweilige „Qualität“ des Raumausschnitts in der Dunkelheit jedoch nicht dem Raum inhärent, sondern er ist Medium gesellschaftlicher Bedeutungszuweisungen und Machtverhältnisse, die zugleich auch die sich in ihm aufhaltenden Körper konstituieren. Das heißt ein Raum in der Dunkelheit hat für unterschiedliche verkörperte Subjekte unterschiedliche Bedeutungen und daraus resultierende Nutzungsmuster, da Dunkelheit das Gefühl des Schutzes, aber auch der Schutzlosigkeit generieren kann. Die hier nur kurz angedeuteten Beispiele für alltägliche Praktiken der Raum(um)nutzung machen jedoch mit Rekurs auf die Diskurstheorie Foucaults deutlich, dass und vor allem wie sich verkörperte Identitäten und Räume und ihre jeweiligen Bedeutungen machtvoll „co-konstituieren“ – dass „die Kontrolle der Gesellschaft [und des Raums] im Körper und mit dem Körper vollzogen wird“ (Foucault 2003 [1994]: 275) –, da Räume ihre Bedeutungen durch die ge-

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sellschaftlichen Nutzungen zugeschrieben bekommen und auch umgekehrt die Bedeutungen bzw. dominanten Nutzungsstrukturen von Räumen wichtiger Bestandteil im Prozess von verkörperten Identitätskonstruktionen sind.

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Einleitung Michel Foucaults „Werkzeugkiste“ ist groß – sie hat den Sozialwissenschaften ein ganzes Arsenal an analytischen Konzepten und Arbeitsweisen zu bieten. In der deutschsprachigen Geographie wurde Foucault erstmals im Kontext des linguistic turn und dem damit verbundenen Bedeutungsgewinn sprach- und zeichentheoretischer Herangehensweisen rezipiert. Aufgegriffen wurde dabei vor allem Foucaults Diskursbegriff, während seine anderen Konzepte zunächst weniger Beachtung fanden (Marquardt/Schreiber 2012). Mit der Diskursanalyse hat sich auch in der Geographie eine Perspektive etabliert, die gesellschaftliche Phänomene wie lokale Identitäten, räumliche Repräsentationen oder Strategien der Stadtentwicklung entlang der Basiskategorie Macht zu entschlüsseln versucht. Das Kriterium für wahrheitsfähige Aussagen ist demnach nicht, inwiefern sie mit einer gegebenen Realität übereinstimmen, sondern inwiefern sie in einem regelhaften, machtvollen System von Aussagen (= Diskurs) Sagbarkeit bekommen. In den ersten sozialwissenschaftlichen Bezugnahmen hat dabei zunächst ein eher enges Verständnis überwogen. Diskurse wurden ausschließlich als System von sprachlich gefassten Aussagen verstanden und entsprechend als sprachliche Phänomene analysiert (s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021). Foucault hat die Konzepte „Diskurs“ und „Macht“ in seinen späteren Arbeiten präzisiert und weiter gefasst. In den späteren Arbeiten rückt der Begriff des „Regierens“ in den Mittelpunkt, und das Augenmerk gilt stärker den nichtsprachlichen Bestandteilen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Die (machtvolle) Konstruktion geltender Wahrheiten und Bezeichnungen war dabei

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für ihn bloß ein Aspekt eines größeren Prozesses gesellschaftlicher (Selbst-) Regierung. „Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung“, führt Foucault (2005 [1980]: 115) in einem Gespräch aus und markiert damit sein Forschungsinteresse an Phänomenen des (Selbst-)Regierens und Regiert-Werdens. Ein geschärfter Blick auf Phänomene des „Regierens“ erlaubt es dem späten Foucault, herauszuarbeiten, inwiefern Machteffekte einer ganzen Reihe von Ausdrucksformen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu eigen sind. So wird sichtbar, dass neben dem Bereich des Sagbaren auch architektonische Gestaltungen, institutionelle Arrangements oder eingeübte Routinen Mittel des Regierens in einer Gesellschaft sein können. Diesen Forschungsansatz, Gesellschaft vor dem Hintergrund eines weit gefassten Begriffs von Regieren zu untersuchen, hat Foucault als Gouvernementalitätsanalyse bezeichnet. Die Gouvernementalitätsanalyse verengt einerseits strategisch das Blickfeld der Untersuchung gegenüber einer zunächst offeneren Diskursanalyse. Die Aufmerksamkeit gilt solchen Konstruktionen, Institutionen und Praktiken, die wirksam das Verhalten von Menschen beeinflussen. Andererseits vermeidet eine solche Perspektive die Gefahr des Repräsentationalismus bzw. einer Diskursontologie, wonach die Welt bloß als (sprachlicher) Diskurs existierend vorgestellt wird. Der Fokus auf die vielfältigen Formen des Regiert-Werdens unterstreicht die Bedeutung und Wirksamkeit nicht-sprachlicher Bestandteile des Sozialen (Lemke 2015). Im Folgenden möchten wir Foucaults Gouvernementalitätsanalyse auf Anschlussmöglichkeiten für die Humangeographie befragen. Was kennzeichnet die Analyseperspektive der Gouvernementalität und was verspricht diese Perspektive für humangeographische Fragestellungen? Was unterscheidet die Gouvernementalitätsanalyse von einer Diskursanalyse? Inwiefern erlaubt der Ansatz eine systematische Integration nicht-sprachlicher Bestandteile des Diskurses? Welche Fallstricke sind bei der Aneignung des Konzepts für empirische Forschung zu beachten? Der sperrige Begriff „Gouvernementalität“ taucht in den Arbeiten Foucaults vergleichsweise spät auf. Von zentraler Bedeutung wird das Konzept in Foucaults Denken insbesondere in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität, die er 1978 und 1979 gehalten hat (vgl. Foucault 2004 [1978], [1979]). Zusätzlich erschwerend für das Verständnis ist der Umstand, dass der Begriff von Foucault in den Vorlesungen für zwei unterschiedliche Anliegen verwendet wird: Zum einen dient er ihm, um eine bestimmte analytische Suchanweisung für Machtanalysen vorzuschlagen, auf der anderen Seite benutzt er Gouverne-

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mentalität, um eine historische Entwicklung westlicher Gesellschaften zu beschreiben (vgl. Nonhoff 2008: 287ff.). Eine wichtige Veränderung markiert der Begriff der Gouvernementalität im Hinblick auf das Verständnis von Macht und in Bezug auf das Vorgehen einer Machtanalyse. In den frühen Arbeiten Foucaults spielt das Phänomen „Regieren“ noch keine Rolle, das Interesse liegt hier unter anderem bei Fragen der Ideengeschichte und dabei auf der Herausbildung der modernen Wissenschaften. Im Zentrum dieser frühen Untersuchungen steht allerdings bereits die Verbundenheit von Wissen und Macht. Foucault zeigt die historische Relativität von Wissensbeständen auf und macht die gesellschaftlich produzierten Formationsregeln explizit, die zur Fixierung von allgemein geteilten Wahrheiten führen (vgl. „Die Ordnung der Dinge“, Foucault 1971 [1966]). In der Folge legt er mit „Überwachen und Strafen“ eine Arbeit vor, die entlang der Geschichte von Disziplinarinstitutionen und Gefängnissen einer weiteren Ausdrucksform gesellschaftlicher Machtverhältnisse nachspürt. Ordnung in den Schulen, Gehorsam in den Kasernen und die Aufsicht über Gefangene gelingen zum großen Teil über permanente, wiederkehrende und in alle Lebensbereiche hinein ausgeübte, im Einzelfall aber auch minimale Zurichtungen. Foucault spricht von der „Mikrophysik“ der Macht, welche die Individuen in vielfältigen Kräfteverhältnissen einschränkt, aber dadurch auch produktiv macht. Insbesondere in der Geographie sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen zum Panoptikum bekannt als Beispiel dafür, inwiefern auch räumliche Arrangements bzw. baulich-materielle Einrichtungen die Praktiken der Disziplinierung unterstützten und erleichtern sollen (vgl. „Überwachen und Strafen“, Foucault 1976 [1975]). Schließlich stellt Foucault in seinen späten Vorlesungen – und nicht mehr in einer eigenen Monographie systematisch ausgearbeitet – weitere Ergebnisse seines nun auf die „Künste des Regierens“ gerichteten Forschungsinteresses vor. Foucault gelingt es zu zeigen, inwiefern „Regieren“ im Laufe des 18. Jahrhunderts mit einer neuartigen Aufgabe verbunden wird. Parallel zu einer intensiveren Eintaktung individueller Körper mittels Disziplinartechniken erscheint allmählich der kollektive Körper – die Bevölkerung – als eine Herausforderung für „gutes Regieren“. Erstmals wird in den sogenannten Fürstenspiegeln jener Zeit danach gefragt, ob nicht kollektive Prozesse wie Ernährung, Gesundheit, Verkehr etc. besser gesteuert werden müssten. Wie können die Waren- und Verkehrsströme maximiert werden? Wie lassen sich Epidemien eindämmen? Im Zuge der Artikulation dieser neuartigen Probleme kommt es auch zur Einführung neuer Techniken. Erstmals wird detailliertes Wissen über die problematisierten Prozesse gesammelt. Sterbetafeln werden erstellt, Volkszählungen

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durchgeführt und Hausnummern im urbanen Raum vergeben (vgl. RoseRedwood 2006). Am Beispiel der Entdeckung des Gegenstands Bevölkerung als neue Aufgabenstellung für das Regieren demonstriert Foucault seine neue Machtanalyse, die posthum unter dem Begriff governmentality studies gefasst worden ist und die in den letzten Jahren sozialwissenschaftlich kanonisiert wurde. Kennzeichnend für diesen Ansatz der Machtanalyse ist zuallererst eine EntEvidenzialisierung. Es geht darum, die Selbstverständlichkeit zu hinterfragen, die bestimmte Probleme und Problemlösungen angenommen haben. Wie kommt es überhaupt dazu, dass etwas zu einem Steuerungsproblem wird, anderes aber nicht? Warum sind bestimmte Interventionen naheliegend? Welche Auswirkungen hat es, wenn etwas zum Gegenstand des Regierens wird und auf diese bestimmte Weise einer Steuerung unterzogen wird? „The point is to lessen our ‚perspectival captivity‘ (Owen 2002) and improve our capacity to imagine other forms of politics and subjectivity.“ (Walters 2012: 115) Eine Hilfestellung, die Foucault nutzt, um die nötige kritische Distanz zu den Selbstverständlichkeiten unserer Gegenwart zu erhalten, ist der Blick in die Geschichte. Die Rückschau schärft das Bewusstsein für die historische Kontingenz von Wahrheiten und unterstreicht, dass unser gegenwärtiges „für wahr halten“ weder zwangsläufig noch unverrückbar ist. In diesem Sinne beinhaltet die Perspektive der Gouvernementalität idealerweise ein genealogisches Verfahren, d.h. einen Ansatz, der die Gewordenheit der untersuchten Gegenstände einbezieht. Ein zweites Merkmal einer an Foucaults Ausführungen zur Gouvernementalität orientierten Machtanalyse ist die Hypothese einer relationalen Konstituierung der sozialen Welt. Für Foucault sind nicht die Dinge selbst (das Sagbare) interessant, sondern vielmehr die Beziehungen, die etwas in dieser oder jener Art sagbar machen. „Discourse is not what is said; it is that which constrains and enables what can be said.“ (Barad 2003: 819) In Foucaults „Philosophie der Relation“ (Veyne 1992: 67) stehen am Anfang die gegenseitigen Bezugnahmen und Abgrenzungen, welche die Gegenstände überhaupt voneinander unterscheidbar machen und in dieser oder jener Weise hervorbringen. Aus einem solchen Ansatz folgt entsprechend, dass auch Macht (und Regieren) nicht gegenständlich als „Mächtigkeit einiger Mächtiger“ (Foucault 1977 [1976]: 94) zu fassen sind, sondern als die „komplexe strategische Situation“ (ebd.), in der zu einer bestimmten Zeit das Sagbare, das Richtige und das Erforderliche – und damit das Feld möglicher Handlungen – hervorgebracht und strukturiert ist. „Man sollte die Macht nicht ausgehend von den ursprünglichen Bezugsgliedern der Beziehung, sondern ausgehend von den Beziehungen selbst untersuchen.“ (Foucault 2003 [1976]: 166)

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Ein drittes Kennzeichen ist das breite Repertoire von Beziehungen, denen eine Lenkungswirkung unterstellt wird. Mit der Parole, den „Kopf des Königs abzuschlagen“1, möchte Foucault auf die sich vervielfältigenden Momente der Lenkung hinweisen, die sich jenseits des offensichtlichen Agierens der Staatsapparate zunehmend in allen Bereichen des Gesellschaftlichen ausbreiten. Ihn interessiert die „Gesamtheit der Institutionen und Praktiken mittels deren man die Menschen lenkt“ (Foucault 2005 [1980]: 115). Diese Lenkung erfolgt eben nur im geringen Umfang mittels Gesetzen, Verboten und Bestrafung. Weitaus wirksamer – und gleichwohl schwerer zu fassen – sind solche Momente der Lenkung, die über die Produktion von Wissen, über die Disziplinierung in Institutionen oder über die Herstellung von Subjekten funktionieren. Die analytische Klammer „Regieren“ integriert unterschiedliche Wirkungsformen von Macht und erlaubt es dadurch, die Wechselwirkungen und das Zusammenspiel der verschiedenen Mechanismen zu erfassen. Foucault geht es mit dem Konzept der Gouvernementalität insgesamt darum, ein Verständnis für die Vielfalt der Formen politischer Lenkung zu fördern. Vor allem geht es ihm darum, auf Formen indirekter Lenkung hinzuweisen, die über die Beeinflussung des Handlungsfeldes funktionieren. Ein letztes Kennzeichen dieses Ansatzes ist schließlich die Annahme des Zusammenwirkens der vielfältigen Machtmechanismen im Sinne einer bestimmbaren Regierungsweise. Einige Techniken der Beeinflussung des Handelns sind besonders dominant oder wirken besonders effektiv zusammen. Foucault spricht hier von einer „Rationalität des Regierens“. Die Suche nach diesen übergreifenden Mustern bzw. Rationalitäten des Regierens aus einer Zusammenschau unterschiedlicher Ausdrucksformen von Macht ist letztlich der Kern einer Gouvernementalitätsanalyse. Bei einer solchen Analyse ist das Zusammenspiel der unterschiedlichen Formen der Machtausübung in einzelnen gesellschaftlichen Kontexten daraufhin zu untersuchen, ob es nicht eine dominante Funktionsweise und eine identifizierbare Zielsetzung gibt, auf die die verschiedenen Machteffekte hinwirken. Es geht darum, Rationalitäten und Techniken des Regierens in ihrem Zusammenspiel zu erfassen (vgl. Rose/O’Malley/Valverde 2006; Lemke 2007) – und zwar nicht, um die Plausibilität oder Effektivität dieses Zusammenspiels zu bewerten, sondern um die Effekte

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„Was wir brauchen, ist eine politische Philosophie, die nicht um das Problem der Souveränität, also des Gesetzes, also der Untersagung herum aufgebaut ist; man muss dem König den Kopf abschlagen, und in der politischen Theorie hat man das noch nicht getan.“ (Foucault 2003a [1978]: 200)

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herauszustellen: Was bedeutet es, zu diesem Zweck und auf diese Weise regiert zu werden? In seinen späten Arbeiten begegnet Foucault dem Phänomen „Macht“ also mit einer veränderten Arbeitshypothese. Nicht mehr allein die Machteffekte selbst stehen im Zentrum, sondern die „Regierungsweise“ – die gegenseitigen Beziehungen zwischen Machteffekten. Foucault benutzt, vorwiegend in der Vorlesungsreihe „Sicherheit – Territorium – Bevölkerung“ des Studienjahres 1977/1978 (vgl. Foucault 2003 [1978]), diese neu entwickelte Herangehensweise, um westliche Gesellschaften und ihre historische Entwicklung nach Machtarrangements abzusuchen. Der für unsere Gegenwart vorherrschende Modus von Machteffekten, so skizziert Foucault die ersten Ergebnisse, entsteht im 18. Jahrhundert und lässt sich – anschließend an historische Phasen, in denen souveräne bzw. disziplinierende Formen der Machtausübung überwogen – mit dem Schlagwort „Sicherheit“ charakterisieren.

Gouvernementalität und humangeographische Fragestellungen „Was hingegen existiert, ist die Materie […], aber diese Materie wiederum ist nichts, solange die Relation nicht dies oder jenes daraus macht.“(Paul Veyne 1992: 71)

Als Leitgerüst für humangeographische Forschungsvorhaben ist das Konzept der Gouvernementalität aus mehreren Gründen interessant. Verweise auf empirische Anwendungen sollen dabei belegen, inwiefern humangeographische bzw. allgemein sozialwissenschaftliche Forschungen von der Perspektive profitieren können. Erstens ist der für das Konzept der Gouvernementalität charakteristische Begriff des „Regierens“ bzw. der „Führung“ geeignet, um eine spezifische Form der Machtausübung in modernen, individualisierten Gesellschaften auszuloten. Denn der Begriff der „Führung umfasst zwei analytisch voneinander zu trennende Phänomene: ‚Führung‘ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten“ (Foucault 2005 [1982]: 286). Mit dem von Foucault genannten Aspekt der „Selbstführung“ wird der analytische Blick somit auch für Situationen erweitert, in denen sich Individuen – ohne dazu „gezwungen“ zu werden – durch

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verinnerlichte Normen oder Wertvorstellungen häufig widerstandslos in das Gefüge der Kräfteverhältnisse einpassen. Die Form des Selbstverhältnisses – darauf macht Foucault hier aufmerksam – stellt in einem weiten Sinne ebenfalls eine Form des Regierens dar, eine Selbst-Regierung. Die Perspektive der Gouvernementalität vermag wahrzunehmen, inwiefern auch über die Form, in der wir uns als moderne Subjekte selbst verstehen, Macht ausgeübt wird: „One of the most formative general principles underlying governmentality writings has been […] the identification of programmes and practices of rule in micro-settings, including those ‚within‘ the subject.“ (O’Malley/Weir/Shearing 1997: 501) Die Forschungsfrage nach der Rationalität des Regierens lenkt den Blick somit gerade auf die Verschränkung von Selbst- und Fremdführung. Der Topos „Regierung“ integriert Subjektivität (sich selbst regieren) und politische Herrschaft (regiert werden), integriert Macht, aber auch Widerstand („nicht dermaßen regiert werden wollen“, „sich selbst nicht dermaßen regieren wollen“). „The contact point, where the individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we call, I think, government.“ (Foucault 1993: 203) Mit diesem konzeptionellen Zugriff ermöglicht das Konzept der Subjektivierung als Machteffekt, auch solche Phänomene in die Analyse einzubeziehen, die bislang dem Bereich individueller Präferenzen oder „freier“ Wahlmöglichkeiten zugeordnet wurden: Fragen der Identität, Lebensstile und Selbstdisziplin (vgl. Greco 1993, 2004; Rose 1996, 2000; Nettleton 1997; Bröckling 2007). Für die Gegenwart lässt sich eine gesteigerte Bedeutung solcher indirekter Techniken der Machtausübung feststellen. Das Regieren der Gegenwart funktioniert offensichtlich nicht vornehmlich durch Gebot und Befehl, Untersagung oder Zwang, sondern zunehmend auch in der direkten und indirekten Einwirkung auf den Bereich der möglichen Handlungen der zu Regierenden. Unterschiedliche Aspekte dieser „neoliberalen Regierungsweise“ können mithilfe der Gouvernementalität konkretisiert und begrifflich gefasst werden: Die vielfältigen Formen der sogenannten Responsibilisierung (Verantwortlichmachung), häufig in Verbindung mit einer Überantwortung an den privaten Markt, einer Inflation von Risikoberechnungen oder einer ausgeweiteten Finanzialisierung (Lieber 2004; French/Kneale 2009). So kann am Beispiel der zunehmenden Wettbewerbsorientierung von Städten und der damit verbundenen Stadtmarketingaktivitäten gezeigt werden, dass das Stadtmarketing zunehmend auf Prozessen der Responsibilisierung von Bürger*innen beruht. Diese werden im Rahmen von runden Tischen, Public-private-Partnerships, Bürgerbeteiligungen und diversen Initiativen in vormals rein staatliche bzw. städtische Aufgaben einbezogen. Der augenscheinli-

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che Zugewinn direkter demokratischer Einflussnahme ist aus einer machtanalytischen Perspektive erheblich zu relativieren. Indem bspw. das Agendasetting und damit der Rahmen möglicher Entscheidungen der Debatte entzogen bleiben, sichert der Einbezug die Akzeptanz von Entscheidungen in einem vorgegebenen Möglichkeitsfeld (vgl. Lanz 2012). Für die Geographie ist Foucaults Konzept der Gouvernementalität darüber hinaus interessant, weil es ein ausgeweitetes Verständnis von Regierung vorschlägt, das neben Gesetzen, Institutionen oder verinnerlichten Wertevorstellungen auch Architekturen, Milieus und räumliche Arrangements als Steuerungsmedien anerkennt. Durch dieses programmatische Offenhalten können vielfältige Apparaturen, Einrichtungen, Programme und Anordnungen in die Analyse einbezogen werden, insofern sie einen Lenkungseffekt ausüben sollen. Gegenstand der Untersuchung ist dann „die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung, […] die Gesamtheit von Prozeduren und Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten“ (Foucault 2005 [1980]: 116). Gleich in der ersten Vorlesung zur Gouvernementalität diskutiert Foucault dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Machtwirkungen zu bestimmten Formen des Regierens anhand der historischen Bearbeitung sogenannter „Raumprobleme“ (2004 [1979]: 28) in der Stadtplanung (Umgang mit Seuchen, Kriminalität, Revolten, Organisation des Handels etc.). Der Begriff der Gouvernementalität, der im Kontext dieser Diskussion in der Vorlesung erstmals vorgeschlagen wird, steht „nicht für eine mythische Zeichenpraxis […], sondern verweist auf unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung und Leitung von Individuen und Kollektiven zielen“ (Lemke 2007: 13).2 Diese Aufmerksamkeit für räumliche Arrangements als Bestandteil des Regierens hat eine Reihe humangeographischer Arbeiten inspiriert. So lässt sich mithilfe von Foucaults Begriff des Regierens erfassen, inwiefern auch die Formierung von räumlichem Wissen, die historisch von der Vergabe von Haus2

Für geographische Perspektiven ist nicht zuletzt der Verweis auf die Interventionszonen und Handlungsfelder des Regierens zentral, die aus diesem Zusammenspiel von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken hervorgehen und die anzeigen, dass jedwede Form der Problematisierung immer räumliche Implikationen mit sich bringt. Vor dem Hintergrund dieser Begriffsentwicklung und der unterschiedlichen Beispiele, die Foucault heranzieht, erscheint auch die Rede von einer spatial governmentality einigermaßen redundant – was wäre denn überhaupt ein empirisches Beispiel für eine „raumlose, immaterielle Gouvernementalität“, die kein Feld ausweist, das sie bearbeitet, die ohne Anwendungsbezug bleibt?

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nummern bis zur Aufteilung der sozialen Welt in Regierungsbezirke und Nationalstaaten reicht, als Technik des Regierens lesbar ist (vgl. Rose-Redwood 2006). „[A]ccording to Miller and Rose (1990), one area of research into the governmental process might be the mechanisms that translate Foucault’s political rationalities into the domain of reality. One such mechanism is spatializing language (Rose 1996).“ (Moon/Brown 2000: 73) Aus gouvernementalitätsanalytischer Perspektive kann dann bspw. gefragt werden, wie spezifische Formen der Regierung an unterschiedliche, hierarchisch gegliederte räumliche Einheiten (Kommunen, Bundesländer, Nationalstaaten etc.) gebunden sind. Entsprechend haben Graham Moon und Tim Brown herausgearbeitet, wie der konservative Health Authorities Act in Großbritannien durch Bezugnahme auf unterschiedliche räumliche Maßstabsebenen legitimiert werden konnte (vgl. Moon/Brown 2000). Andere Arbeiten gehen stärker der baulichen und ästhetischen Anordnung (meist städtischer) Räume nach und prüfen die Wirkungsweisen solcher räumlicher Gestaltungen. Vielfach konnte gezeigt werden, inwiefern städtische Räume als Medien sozialer Kontrolle, als Filter- und Sortiermechanismus sozialer Gruppen und Handlungsweisen funktionieren (vgl. u.a. Merry 1993, 2001; Fyfe 1998; Allen 2006; Huxley 2006). Im Bereich städtischer Sicherheits- und Kontrollpolitik etwa zeigt sich, wie unerwünschte Gruppen nicht nur über Verbote und Vertreibung von bestimmten Orten ferngehalten werden, sondern auch über die Gestaltung der gebauten Umwelt: Sitzbänke im öffentlichen Raum werden so gestaltet, dass Obdachlose nicht auf ihnen liegen können, Jugendlichen wird das Skaten durch den Einsatz von Spikes, Kopfsteinpflaster und vielen weiteren Designelementen verleidet, öffentliche Toiletten werden abgebaut, um Orte des Drogenkonsums aus der Innenstadt zu entfernen, öffentliche Grünflächen durch Zäune, Bewässerungsanlagen und weitere Gartenund Landschaftsdesigns so umgestaltet, das ihre Nutzung durch marginalisierte Gruppen eher unterbleibt. Diese materiellen Eingriffe in den urbanen Raum, die das Design von Alltagsgegenständen und Orten in der Stadt verändern, können mithilfe von Foucaults Konzept der Gouvernementalität als eine „Politik der Artefakte“ verstanden werden, die bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher machen soll. Erneut an einem Beispiel: Eine bestimmte konsum- und unterhaltungsbezogene Gestaltung des öffentlichen Raums wird in aktuellen Diskursen als Bedingung für eine „kreative Stadt“ und schließlich für eine in der globalen Konkurrenz wettbewerbsfähige Stadt vorgestellt. Eine lebendige Urbanität dient zunehmend als Aushängeschild für Touristen und Investoren. Gleichzeitig kommen Hausordnungen und Betretungsverbote, aber auch subtilere Mechanismen wie die Gestaltung von Auf-

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enthaltsbereichen zum Einsatz, um den für eine Außenwerbung als „störend“ empfundenen Personengruppen – etwa Punker oder Obdachlose – Anwesenheit zu verleiden. Beide Mechanismen – Raumgestaltung wie Responsibilisierung – wirken hier zusammen und ergeben im Konzert mit weiteren gesetzlichen und institutionellen Formen der Steuerung ein spezifisches Ensemble von Machtwirkungen, eine Regierungsweise in der Stadt (vgl. Mattissek 2008). Gouvernementalität ist also passfähig für geographische Fragestellungen aufgrund der Sensibilität für den Aspekt der Selbstregierung, aufgrund eines Machtbegriffs, der die Bedeutung räumlicher Gestaltungen in der Konturierung des Feldes wahrscheinlichen Handelns wahrnimmt, und schließlich aufgrund eines Theorieangebots, das es erlaubt, jenseits alltagsweltlicher Grenzziehungen zwischen „natürlich gegeben“ und „menschengemacht“ politische Wirkungsweisen wahrzunehmen. Aus der Perspektive der Gouvernementalität sind es zuerst die Relationen, welche später die Gegenstände hervorbringen. Konsequent betrifft das auch vermeintliche „Gegebenheiten“ wie unsere Subjektivität, Körper, Sexualität. Vor allem solche Grundtatsachen des biologischen Lebens sind vom 18. Jahrhundert an zunehmend zu einem Gegenstand politischer Regulierung geworden, darauf weist Foucault in seinen Vorlesungen unter dem Stichwort „Biopolitik“ hin (Foucault 2003 [1978]). Biopolitik stellt das Phänomen heraus, dass die Justierung und Regulierung jener biologischen Prozesse, die den Kollektivkörper der Bevölkerung am Leben erhalten, zunehmend politische Aufmerksamkeit und Maßnahmen erfordert haben, bspw. Gesundheitssurveys, Hygienevorschriften oder Impfkampagnen. Neuere technische Entwicklungen haben die Möglichkeiten zur Beeinflussung von Körpern auf die molekulare Ebene erweitert und – aus Perspektive einer Gouvernementalitätsanalyse – möglicherweise auch die Art und Weise verändert, wie Körper in Machtverhältnisse eingebunden werden. In Gefahrendiskursen erscheint zunehmend die globale Zirkulation von Körpern (Terrorismus) und Mikroorganismen (Pandemien) als Problem und Herausforderung für veränderte politische Kontrollstrategien (vgl. Cooper 2008). In neuen Politiken der Biosicherheit verbindet sich Biopolitik mit Geopolitik (vgl. Braun 2007; Füller/Everts 2014). So werden Landesgrenzen am Flughafen zunehmend mit biometrischen Techniken gesichert, die es vermögen, Körper „auseinanderzunehmen“ und als ein Datenprofil zu betrachten, dessen Grad an potenziell gefährlicher Abweichung von einer Norm algorithmisch berechenbar wird (vgl. Amoore/Hall 2009). Allzu oft essenzialisierte Kategorien wie Körper werden aus der Perspektive der Gouvernementalität als Schauplatz von Machtverhältnissen erkennbar. Daraus eröffnen sich fruchtbare Ansatzpunkte für humangeographische Fragen, nicht nur in dem eben skizzierten Schnittfeld von Sicherheit, Geopolitik und Gesundheit.

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Konsequenzen für die methodische Anwendung Anders als bei anderen zentralen Begriffen wie Diskurs oder Subjekt, zu denen Foucault jeweils eigene Monographien vorgelegt hat (vgl. Foucault 1971 [1966], 1977 [1976]), konnte er die Perspektive der Gouvernementalität nur in seinen Vorlesungen ausführen. Dieses Fehlen einer wegweisenden Monographie war nun nicht unbedingt ein Hinderungsgrund für die weitere Ausarbeitung des Forschungsprogramms „Gouvernementalität“. Vielleicht ist dies im Gegenteil sogar ein Umstand, der mit zu der Verbreitung der Bezugnahmen geführt hat. Während die Monographien Foucaults schnell den Status von Klassikern erhielten und entsprechend ehrfürchtig behandelt wurden, entspann sich um das Konzept der Gouvernementalität, insbesondere in der anglophonen Sozialwissenschaft, eine angeregte Debatte. Besonders produktiv bei dieser Aneignung der Forschungsperspektive waren Soziologen*innen und Politologen*innen in Großbritannien und Australien. Angeregt vor allem durch den Band „The Foucault Effect“ (1991 von Colin Gordon u.a. herausgegeben, vgl. Burchell/Gordon/ Miller 1991), formierte sich das Forschungsfeld governmentality studies. Angesichts der hauptsächlich posthumen Rezeption des Gouvernementalitätskonzepts gilt hier noch weit mehr als bei anderen Konzepten Foucaults die viel zitierte Metapher der Werkzeugkiste. Eine Metapher, die zu einem produktiven Umgang mit der Theorie auffordert, bisweilen allerdings eine zu sorglose Verwendung provoziert hat. Im letzten Teil des Beitrags möchten wir im Hinblick auf zukünftige Anwendungen daher einen in unseren Augen problematischen Aspekt der Rezeption herausstellen und mit Hinweisen für die Konzeptualisierung empirischer Gouvernementalitätsanalysen in der humangeographischen Forschung schließen. Der problematische Aspekt der Rezeption des Konzepts betrifft die Vermischung der beiden oben skizzierten Bedeutungsebenen. Häufig wird in der gegenwärtigen Anwendung ignoriert, dass Foucault in einem Teil der Vorlesungen nicht das analytische Konzept Gouvernementalität präzisiert, sondern Ergebnisse einer historisch-empirischen Anwendung der Forschungshypothese „Suche nach Regierungsweisen“ präsentiert. So konnte Foucault mit seiner veränderten „gouvernementalen“ Perspektive aufzeigen, dass im 16. Jahrhundert ein neuartiger Modus des Regierens seinen Ursprung genommen hatte: abgrenzbar von bisherigen souveränen oder disziplinären Regierungsstilen und charakterisiert u.a. durch Selbstregierung, Aktivierung und Kontextsteuerung. Allerdings ist dies ein Ergebnis der Anwendung einer Forschungsperspektive, die unter dem Begriff „Regierung“ das Zusammenspiel von Wissensformen, Machttechniken und Subjektivierungsweisen integriert. Gegenwärtige Arbei-

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ten zur Gouvernementalität verzichten oftmals auf diese Unterscheidung, erweisen damit der empirischen Tiefenschärfe allerdings einen Bärendienst. Insbesondere im Hinblick auf zukünftige Anwendungen des Konzepts plädieren wir diesbezüglich für eine bewusste Trennung. Eine Konsequenz aus dieser oftmals unterbliebenen Trennung ist der häufig kritisierte Hang zur Generalisierung. Gouvernementalitätsanalysen, so der Vorwurf, schneiden die Empirie entsprechend vorgefertigter Erwartungen zu (vgl. u.a. Curtis 1995; O’Malley/ Weir/Shearing 1997; Osborne 2001). Eine strengere analytisch-konzeptionelle Verwendung des Konzepts ist jedoch in der Lage, so möchten wir argumentieren, diese häufig erhobene Kritik zu entkräften. Die Analyse einer „neoliberalen Regierungsweise“ macht die problematische Vermischung von analytischer und historisch-empirischer Ebene anschaulich. Im Anschluss an Foucaults Differenzierung und Periodisierung unterschiedlicher Rationalitäten des Regierens (souveräne, disziplinarische, gouvernementale Regierungsweise), identifizieren viele Anwendungen des Konzepts gegenwärtig eine neoliberale Regierungsweise, die auf ein liberales und auf ein wohlfahrtsstaatliches Regieren folge. Der anfängliche heuristische Nutzen dieser Unterscheidung wandelt sich aber mehr und mehr zu einer analytischen Schwäche (vgl. Rose/O’Malley/Valverde 2006). Häufig wird der Befund einer Periodisierung nicht bloß als Resultat einer Gouvernementalitätsanalyse angesehen, sondern zu einem Bestandteil des analytischen Gerüsts selbst erhoben. Statt ergebnisoffen nach Techniken, Programmen und Strategien zu suchen, stehen zentrale Eckpunkte der aufzufindenden Regierungsweise, wie das „Regieren durch Community“ (vgl. Rose 1996, 2000) oder das Regieren mittels Individualisierung (vgl. Bröckling 2000, 2002; Knights/McCabe 2003), dann von Anfang an fest. Die erwartete Kontur einer „neoliberalen Regierungsweise“ wird in diesem Fall meist nur noch mit selektiven Verweisen auf die Empirie bestätigt. Die Beharrlichkeit anderen Epochen zugeordneter Machtmechanismen, ihre häufige Inanspruchnahme durch gegenwärtiges Regieren und das Nebeneinander moderner und vermeintlich überkommener Formen der Macht – die Polytemporalität des Phänomens „Regieren“ (vgl. Walters 2012) – gerät dabei aus dem Blick. Eine produktivere Verwendung des Gouvernementalitätskonzepts hätte den analytischen Gehalt des Konzepts gegenüber dem historisch-deskriptiven Bestandteil zu betonen. Zum Abschluss des Beitrags möchten wir einige methodische Möglichkeiten vorstellen, die dazu dienen könnten, Gouvernementalität stärker analytisch-konzeptionell zu verstehen. Allerdings müssen und werden wir enttäuschen, falls Erwartungen an eine ausgearbeitete Anleitung zur Gouvernementalitätsanalyse geweckt wurden. Zentrales Anliegen Foucaults

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ist es, den Zugang zu den Kräfteverhältnissen der sozialen Welt nicht durch unnötige theoretische Vorannahmen und Generalisierung zu verstellen. Seine Konzepte entfalten ihr analytisches Potenzial erst mit dieser Haltung des „glücklichen Positivisten“ (Foucault 1973 [1969]: 182). Aus dem Bewusstsein für die Machteffekte von (quasi-)universellen Wahrheiten ergibt sich zudem folgerichtig eine Skepsis gegenüber festen Schlussregeln oder formalisierten Verfahren. Entsprechend hat sich Foucault in seiner Arbeit mit methodischen Anleitungen bzw. Handreichungen bedeckt gehalten. Eine Gouvernementalitätsanalyse „nach Rezept“ würde den grundsätzlichen Prämissen des poststrukturalistischen und wahrheitskritischen Denkens Foucaults zuwiderlaufen. Wir beschränken uns folglich auf drei Hinweise, die uns beim Zuschnitt eigener Analysen hilfreich gewesen sind: Konzeptionell ist der besondere Machtbegriff Foucaults ernst zu nehmen, insbesondere das charakteristische Wechselspiel von Macht und Widerstand, welches eine statische Verfestigung homogener Formen der Regierung verhindert. Die Analyse sollte darauf verzichten, nach chronologischen Entwicklungslinien zu suchen, sondern das empirische Feld als Topologie von Kräfteverhältnissen begreifen. Schließlich sind Machtverhältnisse empirisch auf die Ebene einzelner Machttechniken zurückzuverfolgen.

Zu den Hinweisen im Einzelnen Es bleibt eine Herausforderung für die empirische Anwendung der Gouvernementalitätsperspektive, Machtbeziehungen im jeweiligen Fallbeispiel tatsächlich in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Die Suchanweisung nach übergreifenden Mustern legt es nahe, zu schnell vermeintlich übergreifende Rationalitäten des Regierens zu konstatieren und dabei nur den passfähigen Ausschnitt der empirischen Wirklichkeit von Machtwirkungen zu berücksichtigen. Dann bliebe die Analyse aber, entgegen den poststrukturalistischen Lippenbekenntnissen, latent statisch und brächte das konzeptionelle Potenzial der Gouvernementalität nur bedingt zur Geltung. Foucault selbst weist in der Konzeption seiner Machttheorie der Kategorie „Widerstand“ einen prominenten Platz zu. Widerstand ist in den Arbeiten Foucaults zwar ein zentraler Begriff,3 wird aber nicht abschließend definiert. 4 Jedenfalls ist die Brüchigkeit 3

So ist Widerstand bspw. ein konstitutiver Bestandteil von Macht, wie Foucault sie versteht: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“ (Foucault 1977 [1976]: 122)

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Siehe hierfür die Forderung Neil Brenners nach einer Klärung des Widerstandsbegriffs: „Any viable interpretation of Foucault’s theory of power must therefore attempt to define the charac-

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von Machtverhältnissen und die konstitutive Rolle von Widerstand eine zwangsläufige Konsequenz des produktiven Machtbegriffs. Machtbeziehungen sind per Definition Effekt eines konflikthaften und von Widerständen begleiteten Prozesses der Entfaltung (vgl. Rose 2002). Widerstand ernst zu nehmen, hilft einer empirischen Anwendung der Gouvernementalitätsperspektive, die Tendenz zur Homogenisierung zu vermeiden, so unser erster methodischer Vorschlag. Insbesondere ist dabei eine Vorstellung von Macht und Widerstand aufzugeben, die sich auch in der empirischen Gouvernementalitätsforschung häufig findet: Macht wird hier als eine gefestigte Struktur begriffen und Widerstand als gelegentliche, aber zu vernachlässigende Störung. „The separation of contestation from rule, together with the subordination of contestation to rule at the analytical level, leaves little space for theorizing the productive engagement between them.“ (O’Malley/Weir/Shearing 1997: 511) Der zweite Hinweis betrifft den Rückgriff auf die Entwicklungsgeschichte des untersuchten Fallbeispiels. Hier bietet es sich im Sinne einer unbefangenen Hinwendung zu den akuten Kräfteverhältnissen an, auf eine Einordnung in langfristige Entwicklungslinien zunächst zu verzichten. So regt Foucault an, für die Analyse konkreter Machtkonstellationen in einer Gesellschaft eine chronologische Perspektive außen vor zu lassen und konzeptionell konsequent an der Mikrophysik der Macht anzusetzen. Statt Machteffekte von historischen Epochen ausgehend zu generalisieren, besteht seine methodologische Revolution darin, auf die konkreten Formen der Machtausübung, auf die practices of governance zu fokussieren (vgl. Veyne 1992). Die Anweisung lautet, nicht die Gegenstände selbst zu untersuchen, sondern die Praktiken, welche die Gegenstände als ihren Effekt hervorgebracht haben (vgl. Walters 2012). „Die Genealogie-Geschichte à la Foucault erfüllt also vollständig das Programm der traditionellen Geschichte; sie ignoriert die Gesellschaft, die Ökonomie etc. nicht, aber sie strukturiert diese Materie anders: nicht nach Jahrhunderten, Völkern, Kulturen, sondern nach Praktiken.“ (Veyne 1992: 75) Machtbeziehungen – so insistiert Foucault – lassen sich nicht ausgehend von übergreifenden Mustern, etwa eines „neoliberalen Regierens“ her, bestimmen. Stattdessen gilt es zu sehen, wie ein Zusammenspiel von Praktiken bestimmte Machteffekte hat. Womöglich lassen sich dann im zweiten Schritt übergreifende Muster identifizieren. In der Gouvernementalitätsforschung wird jedoch, wie oben gesehen, häufig eine Periodisierung an den Anfang ge-

ter of resistance more precisely and substantively than Foucault himself does.“ (Brenner 1994: 696)

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stellt und dadurch das Problem der Übergeneralisierung und des impliziten Strukturalismus noch verstärkt. Gerade eine geographische Gouvernementalitätsanalyse kann an dieser Stelle einen wichtigen Beitrag leisten, um auf die Heterogenitäten und Widerständigkeiten in Regierungsprogrammen aufmerksam zu machen. Denn obwohl es Formen der Regierung geben mag, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einer Vielzahl gesellschaftlicher Kontexte maßgeblichen Einfluss haben (heutzutage sicherlich solche „neoliberalen“ Formen des Regierens), sind die konkreten Praktiken, die innerhalb dieser Regierungsform auftreten, doch durch mannigfaltige Widersprüche, Heterogenitäten und Widerstände gekennzeichnet. Diese entstehen auch (aber natürlich nicht nur) aufgrund lokaler Aneignungsformen dieser übergreifenden Programme, die sich in konkrete lokale Kontexte und regional spezifische Praktiken einfügen und somit an verschiedenen Orten zu charakteristischen Widerständen und Brüchen führen. Ähnlich der Konzeption von Widerstand als „Katalysator“ für das bessere Auffinden von Machtverhältnissen und dem Insistieren auf Relationen bietet Foucaults Machttheorie einen dritten Hinweis, der bei der Konzeption empirischer Gouvernementalitätsstudien nützlich sein kann. Die Betonung des Relationalen bedeutet schließlich auch, nicht die machtvolle Institution oder das unterworfene Subjekt ins Zentrum der Untersuchung zu stellen, sondern die Unterwerfungsbeziehungen und ihre Fähigkeit zur Hervorbringung von Subjekten. Macht ist nicht „von ihrer Innenseite her zu nehmen“ (Foucault 2003 [1977]: 236). Unter anderem bedeutet das, nicht nach den Absichten zu fragen, die einen Machthaber motivieren, Macht auszuüben. Für die Wirkung und den Effekt einer Praktik ist es unerheblich, ob eine bewusste Überlegung zu dieser Praktik geführt hat oder nicht. Die psychologische Frage nach den Intentionen und der individuellen Sinngebung schränkt bloß die wahrnehmbaren Effekte ein und nötigt u.a. zu letztlich unbeantwortbaren Fragen nach der Bewusstheit/Unbewusstheit von Handlungen. Stattdessen ist es weitaus vielversprechender, so Foucault, Macht quasi von außen zu untersuchen, „da, wo sie in direkter und unmittelbarer Beziehung zu dem steht, was man ganz provisorisch ihren Gegenstand, ihre Zielscheibe, ihr Anwendungsfeld nennen kann, da, mit anderen Worten, wo sie sich einpflanzt und ihre wirklichen Effekte hervorbringt“ (ebd.: 237). Das bedeutet für die konkrete Umsetzung auf der empirischen Ebene jedoch nicht, dass die von Individuen vorgenommenen Rationalisierungen ihres eigenen Handelns nicht untersucht werden sollten. Vielmehr kann gerade eine Verbalisierung der (oftmals als selbstverständlich wahrgenommenen) eigenen Praktiken und Handlungsweisen durch Individuen, bspw. im Rahmen qualita-

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tiver Interviews, durchaus hilfreich sein, um die „Technologien des Selbst“ und hegemonial wirksame Rationalitäten zu identifizieren. Wichtig erscheint es an dieser Stelle jedoch, nicht im Stil eines hermeneutischen oder handlungstheoretischen Paradigmas extrahieren zu wollen, wie Individuen quasi „aus sich selbst heraus“ je spezifische Zielvorstellungen und Rationalisierungen entwickeln, sondern wie die unterschiedlichen Darstellungen dieser sich zu Mustern zusammenfügen lassen, welche sich als Ergebnis der Verschränkung unterschiedlicher Formen der Machtausübung erklären lassen. Sollen jedoch eher nicht-verbale Praktiken untersucht werden, können auch Verfahren der teilnehmenden Beobachtung weiterhelfen – das Spektrum der einsetzbaren Methoden ist generell vielfältig. Um unzulässige Generalisierungen und Homogenisierungen zu vermeiden, scheint es aber wichtig, nicht ausschließlich Regierungsprogramme (Broschüren, Verlautbarungen, Gesetzestexte etc.) zu untersuchen, sondern sich methodisch auch der Ebene konkreter, alltäglicher Praktiken anzunähern. Machtanalyse hat somit auf dem Anwendungsfeld selbst zu erfolgen; sie hat nach den Relationen zu fragen, in denen sich Machtwirkungen äußern; und sie hat in Rechnung zu stellen, dass es kein Zentrum der Macht gibt. Machtverhältnisse prägen unsere Anordnung der Dinge und Wissensbestände, unsere täglichen Interaktionen und unser Selbstverständnis. Viele Gouvernementalitätsanalysen folgen dieser Definition von Macht. Sie nehmen analytisch jedoch oft nur Ausschnitte der vielfältigen Anwendung von Macht in den Blick, nämlich vor allem politische Programme und die hier – zugegebenermaßen am einfachsten – aufzufindenden Rationalisierungen. Dies hat jedoch zur Folge, dass tendenziell vor allem die intendierten und nicht die tatsächlichen Effekte von Macht herausgearbeitet werden: „One of the prime difficulties with the ‚authorative centre‘ view of power is that it tends to be judged by its intended rather than by its actual effects.“ (Allen 2003: 157) Eine hilfreiche Metapher, um der methodischen Anweisung umfassender zu entsprechen, analytisch auf dem Anwendungsfeld anzusetzen, ist der Begriff der Technologie bzw. die Wahrnehmung von Macht in Gestalt von Machttechniken. Für das Forschungsinteresse an der Gesamtheit der Verfahren und Instanzen, in denen Macht ausgeübt wird, und für die Suche nach Mustern, in denen diese Machtrelationen in Beziehung stehen, kurz, für die Frage nach der Gouvernementalität der Gegenwart, hilft die Untersuchung von Machttechniken. Und zwar aus mehreren Gründen: Der Begriff der Machttechnik lenkt den Blick auf den Funktionsaspekt von Macht, d.h. die Vorstellung von „Techniken“ privilegiert automatisch Fragen nach Funktionsort, Funktionsweise und Wirkungen. Zum zweiten hält der Begriff den Blick offen für die unterschiedlichen

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Lebensbereiche, in denen wir in Machtverhältnisse eingespannt sind. „Regiert werden“ beinhaltet gegenwärtig zum Beispiel, im öffentlichen Raum der Überwachung ausgesetzt zu sein. „Regiert werden“ drückt sich aber auch darin aus, dass wir auf eine bestimmte Subjektivität festgelegt werden und auch aktiv einen bestimmten Lebensstil verfolgen. „[A]nalytics of government examines how forms of subjectivity, gender regimes and life styles are produced in practical terms by distinguishing a plurality of governmental technologies.“ (Lemke 2007: 49) In seinen Monographien konnte Foucault den Ertrag dieser Suchanweisung unter Beweis stellen. So gelang es ihm in „Überwachen und Strafen“ (1976 [1975]), unterschiedliche Techniken aufzuzeigen, die sich auf die Disziplinierung der individuellen Körper richten: Verfahren der zeitlichen Reglementierung, hierarchische Überwachung, Prüfung. In „Der Wille zum Wissen“ zeigt Foucault (1977 [1976]), wie im 19. Jahrhundert Techniken entstehen, welche die Reproduktion der Bevölkerung als eine zu regulierende Größe begreifen und bearbeiten. Schließlich öffnet das Konzept der Machttechnik den Blick für die verschiedenen Formen, in denen Machtverhältnisse auf uns wirken. Das kann über die Institution der Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Subjektpositionen geschehen, aber auch in dem Verfahren der Passkontrolle an der Grenze, und reicht bis zu der Architektur eines Gefängnisses. Der Begriff der Machttechnik ermöglicht es, die nicht-diskursiven Apparaturen und diskursiven Verfahren, Institutionen und Repräsentationen zusammen zu denken. „Governmental technologies denote a complex of practical mechanisms, procedures, instruments, and calculations through which authorities seek to guide and shape the conduct and decisions of others in order to achieve specific objectives.“ (Lemke 2007: 50) Statt von einer einfachen Abfolge der übergreifenden Logik des Regierens auszugehen, schlägt Foucault daher vor, „eine Geschichte der Techniken im engeren Sinne“ (2004 [1978]: 23) zu unternehmen. Anhand einer Technik des Regierens – Foucault nennt als Beispiele die Zellentechnik oder die Verbrechensstatistik – lässt sich darstellen, wie sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise Mittel des Regierens gewesen ist. Dadurch gewinnt eine Machtanalyse an Offenheit für die Disparitäten der sozialen Welt. Die Betonung des Widerstand-Aspekts, die Hinwendung zu Techniken des Regierens und die Vermeidung epochaler Einteilungen – immer liegt das Bemühen zugrunde, die Analyse sozusagen auf den empirischen Boden zu holen. Ein solches theoretisch formuliertes, positivistisches, empiriezentriertes Programm ist allerdings nicht leicht zu befolgen. Es liegt nahe, stattdessen mithilfe

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der Begriffe theoriegeleitet Thesen zu entwickeln und diese anschließend zu bestätigen. Diese deduktive Blickrichtung ist allerdings oftmals problematisch, wie wir zu zeigen versucht haben. Es besteht die Gefahr übereinheitlicher und starrer Generalisierungen. Anders angewandt, eröffnet die Perspektive der Gouvernementalität jedoch einen erneuten Blick auf die vielfältigen und teils subtilen Wirkungsorte gesellschaftlicher Machtbeziehungen und liefert einen Schlüssel zur Beantwortung nicht zuletzt humangeographischer Fragestellungen an die Funktionsweise gegenwärtiger Gesellschaft.

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4 Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse – Ideologiekritik und Kritische Diskursanalyse Bernd Belina, Iris Dzudzek

Einleitung In diesem Kapitel diskutieren wir Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse. Unser Ziel ist es, das gesellschaftskritische Potenzial der Diskursanalyse für die Geographie auszuloten. Diskurse verstehen wir als hervorgebracht durch und Momente von Gesellschaft: Den theoretischen Ausgangspunkt bildet deshalb die Analyse der Gesellschaft, die methodisch auch als Diskursanalyse vonstattengehen kann. Im Anschluss an Überlegungen, die unseren eigenen Arbeiten zugrunde liegen, setzen wir uns mit zwei Strömungen in der Literatur auseinander. Erstens greifen wir auf Konzepte der an Karl Marx anschließenden Ideologiekritik zurück (vgl. Marx/Engels 1969 [1845/46]; Althusser 1977 [1970]; PIT 1979; Gramsci 1991ff. [1948ff.]; Herkommer 2005), ohne die Essenzialismen zu verwenden, die dieser Tradition – oft zu Unrecht – unterstellt werden. Zweitens beziehen wir uns auf poststrukturalistische Diskursverständnisse (vgl. Foucault 1973 [1969], 1991 [1971], 2002 [1971], 2003a [1977], 2004 [1999]; Derrida 1974 [1967], 1976 [1972], 2001 [1971]; Laclau/Mouffe 1985; Laclau 1994; Mouffe 2005 [1993]), ohne die dort lauernden Idealismen zu reproduzieren. In unserem Verständnis ist die Tradition der Ideologiekritik mit ihrem Begriff von Gesellschaft entscheidend, weil die gesellschaftliche und politische Relevanz von Diskursen nur zu begreifen ist, wenn herausgearbeitet wird, aus welchen sozialen Praktiken diese hervorgehen und welche Machtverhältnisse sie stützen. Hier werden die „Was-Fragen“ beantwortet im Sinne von „Was wird diskutiert?“. Die Stärke poststrukturalistischer Diskursverständnisse sehen wir in ihrem Fokus auf die Form von Diskur-

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sen mit ihren Regeln, weshalb mit ihnen die „Wie-Fragen“ beantwortet werden können im Sinne von „Wie wird diskutiert?“. Wir behaupten nicht, in diesem kurzen Beitrag diese beiden Traditionen mit ihren zahlreichen, teilweise grundlegenden Unterschieden (vgl. Laclau 1996; Schärer 2008) irgendwie versöhnen zu können. Vielmehr geht es uns darum, aus beiden Traditionen Argumente anzuführen, dass und in welcher Hinsicht Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse zu betreiben und damit ein machtkritisches Projekt ist. Vorliegende Versuche, die unter dem Titel „Kritische Diskursanalyse“ einen ähnlichen Weg einschlagen (vgl. Link 1997; Jäger 2001; Fairclough 2002, 2005, 2007a, b; Fairclough/Wodak 2003; Wodak 2005; Wodak/Meyer 2006; Wodak/Kendall 2008), dienen uns dabei primär als Ideenquelle, die wir hier nicht en detail vorstellen. Wie in der Diskursforschung insgesamt, geht es einer Diskursforschung als Gesellschaftsforschung zunächst um Gesprochenes und Geschriebenes; anders als in vielen Varianten der Diskursforschung befasst sie sich stets mit dem Gesprochenen und Geschriebenen als Ausdruck und Mittel gesellschaftlicher/sozialer Kräfteverhältnisse, in denen sich Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse spiegeln und mittels derer diese hergestellt, stabilisiert und verändert werden können. In diesem Sinne verstehen wir Diskursanalyse nicht als reine Sprachanalyse, sondern als ein machtkritisches Projekt der Gesellschaftsforschung. Im Folgenden wollen wir zeigen, dass eine so verstandene Diskursanalyse keine reine Methode ist, sondern sinnvoll nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen gedacht werden kann, von denen diese Diskurse hervorgebracht werden. Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse bietet unseres Erachtens ein großes und noch weitgehend unausgeschöpftes Potenzial, um die Rolle ideologischer Diskurse für hegemoniale Raumproduktionen und die Rolle von Raumproduktionen zur Stützung hegemonialer Diskurse herauszuarbeiten. Damit ist sie nicht nur ein geographisches und linguistisches, sondern vor allem ein zutiefst gesellschaftskritisches Projekt. Eine solche Herangehensweise setzt ein Diskursverständnis voraus, das sich von den meisten in diesem Buch vorgestellten Konzepten unterscheidet. Diskurs wird hier nicht idealistisch verstanden. Das bedeutet, dass die soziale Welt nicht auf reinen Text zu reduzieren ist, weder theoretisch – Gesellschaft ist nicht identisch mit Sprache, wie etwa Lyotard (1986 [1979]) postuliert (zur Kritik vgl. Becker 1996: 14-22) – noch methodisch – die Analyse von Sprache ist kein privilegierter Zugang zum Sozialen, wie die Praxis der Diskursanalyse nahelegt (vgl. die meisten Beiträge in Teil C in diesem Band). Diskurs wird hier vielmehr als Set von Regeln der Aussagenproduktion verstanden, das in einem

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse

dialektischen Verhältnis mit den materiellen Grundlagen räumlicher und gesellschaftlicher Produktion und (Re-)Produktion steht und damit zur Aufrechterhaltung hegemonialer gesellschaftlicher und räumlicher Ordnungen beiträgt. So verstanden, wird Diskursanalyse zu einem Instrument kritischer Gesellschaftsforschung und stellt eine sinnvolle Ergänzung zu gängigen materialistischen Theorien der Raumproduktion dar, da hier explizit der Zusammenhang zwischen diskursiven und materiellen gesellschaftlichen Formen in den Blick genommen wird, die Herrschaft sowie soziale und räumliche Ungleichheiten (re-)produzieren. Das hier vorgestellte Verständnis von Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse illustrieren wir am Beispiel der gesellschaftlichen Form und des Diskurses der Nation.

Diskurse als gesellschaftliche Form In Diskursen spiegeln sich gesellschaftliche Verhältnisse, die durch soziale Praktiken produziert und reproduziert sind. Das heißt die Widersprüche und Machtunterschiede, durch die die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt sind, finden sich in den Diskursen in sprachlicher Form wieder. Diskurse sind in eine sprachliche Form gegossene gesellschaftliche Praktiken. Durch permanente Wiederholung verfestigen sich diese Praktiken zu Strukturen in Form von Diskursen, die so selbstverständlich werden können, dass von ihren gesellschaftlichen Ursprüngen abstrahiert wird, diese vergessen werden und als allgemeine Gesetze erscheinen. Die diskursiven Formationen sind gesellschaftliche Form neben und unter anderen, allen voran der Wert-, Staats- und Rechtsform (s.u.). Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse versucht, diese vergessene Beziehung zwischen abstrakten gesellschaftlichen und sprachlichen Formen (d.h. den Diskursen) und den konkreten gesellschaftlichen und sprachlichen Praktiken, aus denen sie entstanden sind, aufzudecken. Einer solchen Diskursanalyse geht es nicht um „Sprache“ oder „Diskurs“ an sich, sondern um Argumentationsformen, Aussagesysteme, diskursive Formationen etc., die Ausdruck je konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse sind und sich daher in der Struktur der Sprache spiegeln. Deshalb bedarf es keiner Diskurstheorie, sondern einer Theorie von Gesellschaft, die Macht und Funktion von Diskursen bei der (Re-)Produktion konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse erklären kann. Die Analyse soll die durch die Abstraktion verloren gegangene Verbindung von Diskursen zu den sozialen und sprachlichen Praktiken wiederherstellen, aus denen sie hervorgegangen sind, weil auf diese Weise die Machtverhältnisse sichtbar werden, die die Diskurse strukturieren. Die Diskursanalyse als Gesell-

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schaftsanalyse vermag damit die Kontingenz und historische Gewordenheit der vergessenen diskursiven und gesellschaftlichen Regeln aufzudecken und gesellschaftliche Verhältnisse infrage zu stellen. Dieses Verständnis von Diskursen als Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse sei am Beispiel des Nationendiskurses illustriert. Zu jeder Nation gehören eine Geschichte, Mythen, Traditionen und Symbole, Dinge also, die entweder in Sprache gefasst existieren oder nur durch die Bedeutung Sinn ergeben, die ihnen mittels Sprache zugeschrieben werden. Diese Diskurse lassen die Nation als etwas erscheinen, das es schon ewig gibt und dessen Gründung sich in den Mythen der Vorzeit verliert. Dabei wird vergessen gemacht, dass nationale Diskurse im heutigen Sinne erst seit der Neuzeit existieren (vgl. Hobsbawm/Ranger 1983; Anderson 1988 [1983]). In ihnen ist das soziale Verhältnis der Nation eingeschrieben, deren Kern nur zu erkennen ist, wenn das Schreiben und Sprechen über Nation in Relation zu den gesellschaftlichen Verhältnissen untersucht wird, denen es entstammt. Zu einer nationalen Geschichte oder zu nationalen Mythen werden die Diskurse, weil sie sich auf einen (existierenden, ehemaligen oder noch zu schaffenden) Nationalstaat beziehen, auf eine gesellschaftliche Form und auf ein Herrschaftsverhältnis also, zu deren ideologischer Ausstattung die genannten Diskurse gehören und das selbst als soziales Verhältnis (Poulantzas 2002) über die rein sprachliche Ebene hinausgeht und u.a. eine Währung, ein Rechtssystem (mit seinen Materialisierungen in z.B. Aktiengesellschaften und Gefängnissen), eine Armee und eine oder mehrere Polizei(-en) beinhaltet. So interessant die Untersuchung der Herstellung von nationaler Geschichte, nationalen Symbolen oder Traditionen ist und so viel dies über die gesellschaftlichen Verhältnisse aussagen kann, in denen und zu deren Beherrschung diese produziert wurden, so notwendig ist es doch, sich stets zu vergegenwärtigen, dass es die Diskurse von „nationaler Geschichte“ oder „einheitlicher Nationalkultur“ sowie die damit verbundenen diskursiven Praktiken wie Traditionen oder Bräuche nur gibt, weil sie das Herrschaftsverhältnis Nationalstaat ideologisch stützen, indem sie die Unterschiede zwischen Mitgliedern einer Nation zum Schweigen bringen und die Differenzen zu den Mitgliedern anderer Nationen aufrechterhalten. Auf weitere Aspekte dieses Beispiels kommen wir im Folgenden zurück.

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse

Zum dialektischen Stützungsverhältnis diskursiver und gesellschaftlicher Praktiken und Formen Je bestimmte diskursive Praktiken konstituieren die soziale Welt und werden durch je bestimmte soziale, materielle Praktiken konstituiert. Die machtvolle, gesellschaftlich hergestellte Form, die diskursive Praktiken durch Wiederholung und Abstraktion annehmen, wird als Diskurs bezeichnet. Dabei stehen diskursive und soziale Praktiken mit den gesellschaftlichen Formen und diskursiven Formationen jeweils in einem dialektischen „Verhältnis wechselseitiger Stützung und Konditionierung“ (Foucault 2003a [1977]: 265; vgl. Abbildung 3). „[T]he discursive constitution of society does not emanate from a free play of ideas in peoples heads but from a social practice which is firmly rooted in and oriented to real, material social structures.“ (Fairclough 1992: 66) Eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse geht stets von den gesellschaftlichen Verhältnissen aus und sieht Diskurse als Regelsysteme zur Aufrechterhaltung bestimmter gesellschaftlicher Rationalitäten in einem System gegenseitiger Stützung. Sie fragt nach Grund, Modus und Funktion der Produktion ebendieser Regelsysteme. Bezogen auf das Beispiel des Nationen-Diskurses etwa gilt, dass einzelne, als national zu bezeichnende diskursive Praktiken in den Zusammenhang des gesellschaftlichen Verhältnisses zu stellen sind, dem sie entstammen, also dem der Nation. Wenn etwa in den Medien – im Politikteil ebenso wie in der Sportberichterstattung – oder im Alltag von „wir“ die Rede ist, wenn die Mitglieder der eigenen Nation gemeint sind (vgl. Billig 1995), ist das nur zu verstehen im Zusammenhang mit der zugleich homogenisierenden und andere ausschließenden sozialen Form der Nation als Herrschaftsverhältnis (s.u.). Im dazugehörigen Diskurs erscheinen Nationen nach innen kulturell homogen, im Gegensatz zu anderen Nationen als stark different. Diese Vorstellung der Nation aber ist nicht allein diskursiv hergestellt, bspw. durch den Rekurs auf „wir“ als „wir Deutsche“. Die Rolle des Diskurses der Nation erklärt sich erst im Zusammenhang mit materiellen sozialen Praktiken wie bspw. des rechtlich geregelten Ausschlusses (z.B. von Ausländern aus der Gemeinschaft der Deutschen) und der vielfach durch staatliche Apparate wie Schulunterricht und staatlich geförderte Hochkultur betriebenen Homogenisierung „nationaler“ Kultur bei Exklusion anderer kultureller Praktiken. Die Beschreibung des Diskurses der Nation kann ohne den Rekurs auf die Funktionsweisen und Machtverhältnisse von Gesellschaft nicht verstanden werden. Das Schwenken von Fahnen, Singen von Hymnen, die Ansprache von Zeitungsleser*innen als „wir Deutsche“ oder andere materielle Praktiken werden durch einen Diskurs gestützt, der der Aufrecht-

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erhaltung der machtvoll hergestellten „nationalen Einheit“ dient, der „Fremde“ und „Ausländer“ ausschließt und marginalisiert. Diskurse wie auch gesellschaftliche Verhältnisse sind – wie oben beschrieben – nicht an sich gegeben oder natürlich. Sie werden durch die permanente Wiederholung und die dabei immer wieder vollzogene Abstraktion von ihrer konkreten, praktischen Herstellung produziert und reproduziert; auf diese Weise werden diskursive und gesellschaftliche Praktiken reifiziert. Unter Reifizierung verstehen wir „the moment in the process of alienation in which the characteristic of thing-hood becomes the standard of objective reality“ (Berger/Pullberg 1965: 200, Herv. i.O.), wobei Entfremdung (alienation) verstanden wird als „the process by which the unity of the producing and the product is broken“ (ebd.). Dieser Prozess der Entfremdung kann bei materiellen ebenso wie bei diskursiven Praktiken durch stetige Wiederholung und durch Abstraktion vom konkreten Produktionsprozess stattfinden. Wenn Diskursanalyse das Verhältnis von abstrakter sprachlicher Form (z.B. Nationaldiskurs) und gesellschaftlicher Form (z.B. Nationalstaat) verstehen will, dann muss sie die sozialen und sprachlichen Praktiken untersuchen, die diese Formen tagtäglich reproduzieren und bestätigen. Das bedeutet, dass sich die Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse mit der Praxis der Textproduktion auseinandersetzt, in der „the unity of the producing and the product is broken“ (Berger/Pullberg 1965: 200, Herv. i.O.). Ihre Aufgabe besteht darin, die Regeln herauszuarbeiten, die diese konkreten Praktiken strukturieren. Erst damit wird deutlich, dass gesellschaftliche und diskursive Regeln keine auf ewig fixen Strukturen sind, sondern durch die Dynamik sozialer und sprachlicher Praxis verändert werden können – und dies auch andauernd werden. Ausgangspunkt Kritischer Diskursanalyse sind also soziale und diskursive Praktiken, durch die gesellschaftliche Verhältnisse hergestellt, reproduziert und verändert werden können. Im Folgenden werden zunächst die Begriffe „gesellschaftliche Praktiken“ und „diskursive Praktiken“ näher bestimmt, anschließend die Begriffe „gesellschaftliche Form“ und „diskursive Formation“. Abschließend wird auf das machtvolle dialektische Stützungsverhältnis dieser vier Begriffe eingegangen, das mit Michel Foucault als Gouvernementalität bezeichnet werden kann. Es ist der Schlüssel zum Verständnis der Macht ideologischer Diskurse.

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse

Gesellschaftliche und diskursive Praktiken Für den an Marx anschließenden historischen Materialismus ist die „menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis“ (Marx 1969 [1845]: 5, Herv. i.O.) der „Kernpunkt“ (Haug 2000: 387).1 Der italienische Philosoph Antonio Gramsci (1991ff. [1948ff.]: 493, Herv. i.O.) formuliert diesbezüglich in den Gefängnisheften: „[D]as heißt Tätigkeit des Menschen (Geschichte) in concreto, das heißt angewandt auf eine bestimmte organisierte ‚Materie‘ (materielle Produktivkräfte), auf die vom Menschen umgeformte ‚Natur‘, Philosophie der Tat (Praxis), aber nicht der ‚reinen Tat‘, sondern gerade der ‚unreinen‘, das heißt wirkliche Tat im profanen Sinn des Wortes“.

Weder determinieren Natur bzw. Materie die Gesellschaft (wie das etwa traditionelle Geographie oder moderne Hirnforschung behaupten), noch tun dies Sprache, Ideen oder Kommunikation, also das rein Geistige. Vielmehr ist Gesellschaft gerade das praktisch und u.a. mittels Sprache hergestellte, dabei nie individuell, sondern stets gesellschaftlich zu begreifende Verhältnis zwischen beidem: „Praxis ist zunächst und vor allem Akt, dialektische Beziehung zwischen Natur und Mensch, Ding und Bewusstsein.“ (Lefebvre 1972: 40) Um etwas über diese Gesellschaft und ihre Raumproduktionen zu erfahren, um sie zu erforschen, stellt die Analyse von Gesprochenem und Geschriebenem eine von mehreren möglichen Zugängen dar (vgl. Fairclough 2007a: 2) – eben weil Diskurse gesellschaftlich hergestellt sind, weil sie eine in Sprache gegossene, verfestigte gesellschaftliche Form voller Abstraktionen konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse sind, die als Abstraktionen in ihnen fortleben. Diskursive Praktiken gehen also aus sozialen Verhältnissen hervor, die nicht ausschließlich sprachlich sind, die aber u.a. mittels Sprache hergestellt, reproduziert und transformiert sowie in Sprache ausgedrückt werden können. Diskursive Praktiken sind Aussagen aller Art und liegen stets in sprachlicher Form vor, bspw. als Interview, Zeitungsartikel etc. Ihr Auftreten wird durch bestimmte gesellschaftliche Regeln strukturiert, durch diskursive Formationen (Foucault 1973 [1969]: 58).

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Im Folgenden werden der Begriff „Praxis“, der eher in der (neo-)marxistischen Literatur Verwendung findet, und der Begriff „Praktik“, der dem Kontext poststrukturalistischer und postkolonialer Theorie entlehnt ist, synonym verwendet.

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Gesellschaftliche Form und diskursive Formation – oder wie ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse in eine hegemoniale Form gebracht werden Im Folgenden werden gesellschaftliche Formen und die diskursive Formation als abstrakte Formen gesellschaftlicher und diskursiver Praktiken diskutiert und in ein Verhältnis zueinander gesetzt.

Gesellschaftliche Formen Gesellschaftliche Widersprüche werden durch gesellschaftliche Formen prozessierbar gemacht. In der Analyse der Wertform hat Marx in „Das Kapital“ gezeigt, wie dies bezüglich des Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Wert funktioniert, und folgert: „Man sah, daß der Austauschprozeß der Waren widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt. Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen.“ (Marx 1988 [1967]: 118)

Analog dazu hat Paschukanis (1929) die Rechtsform untersucht und festgehalten, dass „der Streit, der Interessenszusammenstoß, […] die Rechtsform […] [erzeugen]“ (ebd.: 69, Herv. i.O.; Buckel/Fischer-Lescano 2007). Aufbauend u.a. auf Paschukanis, befasst sich die materialistische Staatstheorie mit der politischen Form des Kapitalismus, dem Staat, als der besonderen Instanz, die vermeintlich außerhalb der Einzelinteressen stehend deren Regierung organisiert und betreibt (Hirsch 2005). Das Denken in und Reden über diese grundlegenden gesellschaftlichen Formen verbleibt wegen deren „Fetischcharakter“ (Marx 1988 [1967]: 85ff.) üblicherweise an der Oberfläche, da es in „objektive[n] Gedankenformen“ (ebd.: 90) geschieht, die evident und quasi-natürlich erscheinen, also in Diskursen, in denen die gesellschaftlich und praktisch hergestellten Zusammenhänge reifiziert werden. Da gesellschaftliche Formen zugleich Resultat sozialer Praxis sind, gilt damit, dass sie „die Reproduktion der Gesellschaft hinter dem Rücken, aber mittels des Handelns der individuellen Akteure gewährleisten“ (Hirsch 2005: 40). Sie zu untersuchen erfordert Ideologiekritik im engeren Sinn, also die Kritik von vermeintlich selbstverständlichen Annahmen über die Gesellschaft, die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst erwachsen und für deren Reproduktion notwendig sind (vgl. Herkommer

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse

2005). Für eine solche Kritik können Methoden einer Diskursanalyse hilfreich sein. Am Beispiel der Nation ist weiter oben betont worden, dass nationale Diskurse in der Lage sind, die gewaltsam hergestellte nationale Einheit zu stützen, indem sie die Differenzen innerhalb der Nation zum Schweigen bringen. Die „imagined community“ bzw. „vorgestellte Gemeinschaft“ (vgl. Anderson 1988 [1983]) der Nation ist eine spezifische soziale Form mit einer dazugehörigen diskursiven Formation, die gesellschaftliche Widersprüche prozessierbar macht. Dies geschieht, indem eine Unterscheidung, nämlich die zwischen den Angehörigen der Nation und den Fremden, über alle anderen Unterschiede gestellt wird. Der „Nation-Form“ (Balibar 1990 [1988]: 111) gelingt es, sich die sozial hergestellten Unterschiede zwischen Mann und Frau, Herr und Knecht, Kapital und Arbeit, hetero- und homosexuell etc. unterzuordnen, „so dass schließlich der symbolische Unterschied zwischen ‚uns‘ und ‚den Fremden‘ obsiegt und als irreduzibel erlebt wird“ (ebd.: 116).

Ideologie – eine hegemoniale diskursive Formation Der mitunter leichtfertig benutzte Begriff der „Ideologie“ kann in diesem Rahmen genauer bestimmt werden. Eine diskursive Formation ist ein Set von Regeln, das das Auftreten bestimmter Aussagen ermöglicht und organisiert und andere Aussagen ausschließt. Mit ihm werden Inhalte des Sagbaren über die Form des Diskurses reguliert. „In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelationen, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, dass man es hier mit einer diskursiven Formation zu tun hat […]. Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind.“ (Foucault 1973 [1969]: 58, Herv. i.O.)

Diese Regeln, die die Praxis des Sprechens strukturieren, sind gesellschaftlich hergestellt, in ihnen zeigen sich konkrete gesellschaftliche Verhältnisse. Da Diskurse stets aus ganz konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen entstammen, werden sie stets durch konkrete Interessen, Zwecke, Formen der Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche etc. bestimmt, die in Zusammenhang mit bestimmten Praktiken stehen. Ideologisch sind Diskurse, wenn sie als Sachzwänge, d.h. naturalisiert, neutral, evident etc. erscheinen. Dann wirken sie als „ir-

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reduzibler Teil der Wirklichkeit“ (Fairclough 2001: 336). Sie sind scheinbar unabhängig von sozialen Praktiken, können aber tatsächlich nur deren Resultat sein. Diskurse und Ideologien sind damit kein als von den gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt zu verstehender Überbau. Vielmehr sind sie abstrakt gewordene, objektive gesellschaftliche Formen, deren Genealogie aus je konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen eine Ideologiekritik und Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse wieder „entdecken“ muss. In der Ideologie, so Karl Marx und Friedrich Engels, erscheinen „die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt“ (Marx/Engels 1969 [1845/46]: 26). Mit dieser Metapher bezeichnen sie die scheinbare Abtrennung des Denkens von konkreter sozialer Praxis, wie sie auf einer bestimmten Stufe der Arbeitsteilung eintritt. Denn obwohl „die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins […] unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen“ (ebd.) ist, löst sie sich davon scheinbar und verselbstständigt sich. Der berühmte Satz von Marx: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Marx 1969 [1859]: 9), darf dabei keinesfalls mechanistisch aufgefasst werden. Entscheidend ist das Adjektiv „gesellschaftlich“. In der je konkreten Gesellschaft entstehen Ideologien entweder „als Resultat einer spezifischen Tätigkeit der Ideologen“ (PIT 1979: 10), deren Ziel darin besteht, „ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen“ (Marx/Engels 1969 [1845/46]: 47), also als willentliche Lüge zur Verschleierung existierender Machtverhältnisse; oder, wie die Fetische der sozialen Formen, „hinter dem Rücken, aber mittels des Handelns der individuellen Akteure“ (Hirsch 2005: 40) ohne deren willentliches Zutun, mit dem Resultat, die hergestellten Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern, Männern und Frauen, Arbeitern und Fabrikbesitzern etc. zu verschleiern. Die Funktion ideologischer Diskurse ist die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse trotz ihrer inhärenten Widersprüche. Ideologische Diskurse sind in der Lage, asymmetrische Machtverhältnisse zu reproduzieren und zu stabilisieren und darüber hinaus Zustimmung für diese Ungleichheit unter denjenigen herzustellen, die durch sie benachteiligt werden. Diesen Zusammenhang hat Gramsci (1991ff. [1948ff.]) als das Problem der „Hegemonie“ bezeichnet, die ihm zufolge ein freiwilliges Mittun der Unterdrückten garantiert und in der Zivilgesellschaft – verstanden als erweiterter Staat (vgl. Buckel/Fischer-Lescano 2007) – produziert wird. Es gilt demnach: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang.“ (Gramsci 1991ff. [1948ff.]: 783)

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse

Dieses Verständnis von Hegemonie aufnehmend, hat Louis Althusser dem Begriff „Ideologie“ eine spezifische Bedeutung gegeben. Er bezeichnet damit die Funktionsweise, durch die aus konkreten Menschen, den „Individuen“, „Subjekte“ im modernen Sinn konstituiert werden: „Die Kategorie des Subjekts ist konstitutiv für jede Ideologie. Aber gleichzeitig fügen wir unmittelbar hinzu, daß die Kategorie des Subjekts nur insofern konstitutiv für jede Ideologie ist, als jede Ideologie die (sie definierende) Funktion hat, konkrete Individuen zu Subjekten zu ,konstituieren‘.“ (Althusser 1977 [1970]: 140, Herv. i.O.)

Ideologie ist hier nicht primär das, was Individuen denken, sondern sie „existiert immer in einem Apparat und dessen Praxis oder dessen Praxen“ (ebd.: 137), wobei die Apparate2 Bestandteile des erweiterten Staates sind (vgl. PIT 1979: 111). Ideologie ist für Althusser mithin das Resultat der Gesamtheit der Praktiken des erweiterten Staates, der aus Individuen Subjekte macht. Diesen Mechanismus bezeichnet er als die „Anrufung des Subjekts“, den er u.a. an folgendem Beispiel illustriert: In dem Moment, in dem ein Individuum von einem Polizisten auf der Straße mit den Worten „He, Sie da!“ ‚angerufen‘ wird und sich umdreht, wird es zum Subjekt, „[w]eil es damit anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt“ (ebd.: 142f.). Das Resultat zahlloser Anrufungen sind Subjekte, die als solche also Effekte staatlicher Praktiken sind. Wenn durch Anrufungen seitens der Staatsapparate „aus der Masse der Individuen Subjekte rekrutiert […] oder diese Individuen in Subjekte ‚transformiert‘“ (ebd.: 142) werden, ist dies ein durch und durch vermachteter Prozess: „Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung.“ (Ebd.: 148) Der Kern der Hegemonie, die auf diese Weise hergestellt wird, ist nicht direkte Herrschaft über Subjekte, sondern die Tatsache, dass diese Subjekte erst in machtvollen Praktiken konstituiert werden. Diese Vorstellung Althussers wurde und wird dafür kritisiert, dass es ihr schwer fällt zu erklären, warum sich Individuen als Subjekte anrufen lassen (Butler 2001 [1997]), was diesem Prozess etwas naturwüchsiges gibt; sie „ontologisiert die Unterwerfungserfahrung“ (Kaindl 2007: 146). Deshalb gilt es stets zu untersuchen, wie Subjekte im Sinne Althussers durch je spezifische, inhaltlich bestimmbare Anrufung – etwa als Schü2

Staatsapparate sind die institutionalisierte Form des Staates. Auf Althusser (1977 [1970]) geht die Unterscheidung zurück zwischen repressiven Staatsapparaten („die Regierung, die Verwaltung, die Armee, die Polizei, die Gerichte, die Gefängnisse usw.“; ebd.: 119), die „auf der Grundlage der Gewalt funktionier[en]“ (ebd.), und ideologischen Staatsapparaten, zu denen etwa Schulen, Parteien, Gewerkschaften, Hochkultur, Sport u.v.a.m. zählen.

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ler*innen, Arbeiter*innen, Delinquent*innen etc. – innerhalb der jeweiligen Herrschaftsprozesse – schulische Erziehung, Lohnarbeit, Polizeiarbeit – hergestellt werden. Der Zusammenhang von Anrufung, Diskurs und sozialen Strukturen sei erneut am Beispiel der Nation illustriert. Wie sehr die Nation zu einer hegemonialen Erzählung und damit ideologisch zur akzeptierten gesellschaftlichen Form geworden ist, wird bei dem Versuch deutlich, jenseits nationaler Homogenisierungen und Ausschlüsse zu denken und zu handeln. Dies zeigt die Situation der Gefangenen im Gefangenenlager in Guantánamo sehr eindrücklich, die als „enemy combatants“ angerufen werden, um ihnen eine Anrufung als Bürger eines Staates oder als Völkerrechtssubjekte zu verwehren. Diese Anrufungspraxis als „enemy combatant“ erlaubt es, ihnen den Status als Völkerrechts- und Staatsrechtssubjekte abzusprechen, an den das Recht auf ein Verfahren nach völkerrechtlichen oder rechtsstaatlichen Grundsätzen geknüpft ist (vgl. Gregory 2007). Das führt dazu, dass die Gefangenen weder nach nationalem Recht noch nach der Genfer Konvention behandelt werden, sondern aktiv auf das „nackte Leben“ (Agamben 2002 [1995], 2004 [2003]) reduziert werden. Gleichzeitig aber ist die Kritik an eben dieser Situation ja möglich und wird geübt: Die Häftlinge werden von den Kritiker*innen Guantánamos als Subjekte mit Namen und im Hinblick auf die Menschenrechte oder die Moral angerufen. Mit Althusser (1977 [1970]) ist dies als Anrufung durch die Apparate der Menschenrechte (NGOs etc.) zu interpretieren, die sich gegen die Reduzierung der Gefangenen auf Feinde bzw. das „nackte Leben“ richtet. Warum aber diese Anrufung auf den Plan tritt und von vielen Individuen bzw. Subjekten getragen wird, kann allein mit Althussers Theorie nicht erklärt werden, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Apparate der Menschenrechte ihrerseits indirekt, insbesondere durch die UN, auf den Apparaten der Nationalstaaten basieren. Widersprüche zwischen verschiedenen Apparaten können mit Althusser (ebd.) und einer auf seinem Konzept der „Anrufung“ aufbauenden Theorie, nach welcher alle staatliche Anrufung gleichermaßen Unterwerfung bedeutet, nicht sinnvoll thematisiert werden. Deshalb versteht Poulantzas (2002) den Staat in Weiterentwicklung von Althusser als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“ (ebd.: 159, Herv. i.O.), deren Interessen sich in „den Apparaten entsprechender Form [kristallisieren]“ (ebd.: 162). Eine Analyse, die damit zufrieden ist festzustellen, dass Subjekte durch Praktiken und Diskurse konstruiert und damit unterworfen werden, ohne zu untersuchen, in welchen gesellschaftlichen Kontexten die Praktiken und Diskurse stattfinden und welche Interessen der Unterwerfung ihren konkreten Inhalt geben, läuft Gefahr, die „unity of the producing and the pro-

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duct“ (Berger/Pullberg 1965: 200, Herv. i.O.) aufzubrechen, mithin das Subjekt zwar als produziertes zu behaupten, es zugleich aber durch Abstraktion vom konkreten Prozess seiner Herstellung wieder zu reifizieren. Bezogen auf das Beispiel könnte nicht erklärt werden, warum und wie das System Guantánamo von benennbaren gesellschaftlichen Kräften und Interessen in den und durch die Staatsapparate der USA geschaffen wurde. Dies wäre die Aufgabe einer Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse, die die Diskurse um „Sicherheit“, „Terrorismus“ und „Feinde“ und deren zeitweise Hegemonie nach 9/11 beim Umgang mit bestimmten Kriegsgefangenen im Zusammenhang mit den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA untersucht.

Form und Praxis – gouvernementale Regierungstechniken zwischen Selbst- und Fremdführung In Fortführung der Ideen Althussers hat Foucault das Konzept der Gouvernementalität entwickelt. Es bezeichnet eine Regierungstechnik, die sich zugleich durch Selbst- und Fremdführung auszeichnet. Sie beschreibt konkrete Regierungspraktiken und die gesellschaftliche und diskursive Form, durch die diese Praktiken „in-formiert“ werden. Diese Art der Regierung zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Individuen nicht nur als Fremdzwang auferlegt wird. Es ist vielmehr eine Machtpraxis, die jeder „am Ende so verinnerlichen wird, dass er sich selbst beobachtet; jeder wird so diese Überwachung über und gegen sich selbst ausüben“ (Foucault 2003a [1977]: 260f.). Foucault geht es bei seiner Diskussion der Gouvernementalität weniger darum, was jeweils von wem und warum regiert wird, sondern wie Regierung und Führung funktionieren. Gouvernementalität meint eine „Art des Denkens […], die fähig ist, eine Form [des Regierens] denkbar und praktizierbar zu machen, sowohl für ihre Anwender als auch für diejenigen, auf die sie angewandt wird“ (Gordon 1991: 3). Eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse untersucht auf der Makroebene, wie diese Rationalitäten und Denkordnungen hergestellt werden, und auf der Mikroebene, wie sie durch soziale und sprachliche Praktiken (re-)produziert und verschoben werden und auch wie sie bis auf die Ebene des Körpers Effekte zeitigt: „Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über“ (Foucault 2003b [1977]: 298), sie werden im wahrsten Sinne des Wortes „verkörpert“. Die Diskursanalyse untersucht, wie gouvernementale Praktiken in der Lage sind, „die Elemente der Realität wechselseitig in Gang zu setzen“ (Foucault 2004 [1978]: 101):

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„Man muss die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Technikformen – Herrschaftstechniken und Selbsttechniken – untersuchen. Man muss die Punkte analysieren, an denen die Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- oder Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden.“ (Foucault 1993: 203f., zit. nach Lemke 2007: 37)

Die gouvernementalen Regierungspraktiken können damit als Praktiken verstanden werden, in denen sich das dialektische Verhältnis zwischen Fremdund Selbstführung, zwischen diskursiver Formation und gesellschaftlicher Form sowie zwischen diskursiver und gesellschaftlicher Praxis als vermachteter Prozess zeigt. Auch für den Diskurs der Nation kann auf der Makroebene mit Nigel Harris (1990) festgestellt werden, dass bis in die Sprache hinein kaum je eine politische Forderung ohne Bezug auf dieses Herrschaftsverhältnis auskommt: „Nationalism today provides the framework and language for almost all political discussion.“ (Ebd.: 269) Diese Feststellung verweist auf die Mikroebene der Selbstführung, zu der Michael Billig – ohne sie so zu nennen – schreibt: „[N]ational identity in established nations is remembered because it is embedded in routines of life, which constantly remind, or ‚flag‘, nationhood. However, these reminders, or ‚flaggings‘, are so numerous and they are such a familiar part of the social environment, that they operate mindlessly, rather than mindfully […]. The remembering, not being experienced as remembering, is, in effect, forgotten.“ (Billig 1995: 38)

Wie machtvoll dieser Diskurs auf der Mikroebene ist, zeigt sich am Beispiel der „Ver-Körperung“ nationaler Diskurse. Sie können so weit verinnerlicht werden, dass sie zur eigenen Natur, zu einem Teil des Selbst werden, die das eigene Handeln und die eigene Wahrnehmung strukturieren. Am wirkungsvollsten ist der Diskurs des Nationalismus immer dann, wenn er auch materiell so weit verinnerlicht ist, dass wir ihn als natürlich bzw. als Teil unserer Natur wahrhaft empfinden. Dies zeigt sich etwa in patriotischen Gefühlen, die in Fußballstadien so manche Träne hervorrufen, sobald die Nationalhymne gespielt wird. Ziel der Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse ist es, zu erklären, wie Diskurse – wie derjenige der Nation – funktionieren und woher sie kommen, indem sie die diskursive Formation als gesellschaftliche Form untersucht und die konkreten diskursiven und gesellschaftlichen Praktiken sichtbar macht, die zur

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse

Reproduktion der diskursiven Formation beitragen. Sie untersucht an dieser Stelle insbesondere das Verhältnis von Makro- und Mikroebene, von Zwangsund Herrschaftsverhältnis und dessen Zueigenmachung.

Diskursive Praktiken und die Produktion von Raum Auf der hier skizzierten theoretischen Basis kann eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse zur Untersuchung konkreter Raumproduktionen beitragen. Auch Raum wird dabei verstanden als Produkt sozialer Praxis und als Ausdruck der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse (vgl. Harvey 1973; Lefebvre 1974). Die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse ist mittels sozialer und hier vor allem diskursiver Praktiken zur Produktion von Hegemonie in vielerlei Hinsicht mit der Reproduktion sozialer und räumlicher Ungleichheit verwoben. Ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse produzieren Räume ungleicher Entwicklung (vgl. als Überblick Harvey 2007 [2006]: 74ff.; Wissen/Naumann 2008). Gleichzeitig sind sie in den vielfältigen Formen alltäglicher sozialer Praxis stets umkämpft. Bei der Produktion von Raum spielen diskursive Praktiken insbesondere dann eine Rolle, wenn sie dazu beitragen, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu reproduzieren. Dann stehen sie in einem Verhältnis wechselseitiger Stützung mit hegemonialen Raumstrukturen, die aus ihnen hervorgehen und durch sie hervorgebracht werden. Insbesondere spielen sie bei der symbolischen Aneignung und Produktion von Räumen eine zentrale Rolle. Ein Paradebeispiel hierfür ist die schon mehrfach zur Illustration herangezogene „vorgestellte politische Gemeinschaft“ der Nation (Anderson 1988 [1983]: 15), die stets „als begrenzt vorgestellt [wird], weil selbst die größte von ihnen mit vielleicht einer Milliarde Menschen in genau bestimmten, wenn auch variablen Grenzen lebt, jenseits derer andere Nationen liegen“ (ebd.: 16). Diese spezifische Art und Weise, wie Herrschaft in der Nation organisiert ist, nämlich räumlich in der Form von Herrschaft über ein klar begrenztes Territorium, ist alles andere als selbstverständlich und auch nicht die einzige räumliche Form staatlicher Machtausübung (vgl. Agnew 2005). Weil die historische Grundlage der territorial vor- und hergestellten Nation der Staat als besondere Herrschaftsform (vgl. Hirsch 2005) bildet, der die Angehörigen der Nation von den „Fremden“ durch territoriale Grenzziehung, also durch Raumproduktion scheidet, gilt, dass „die historischen Wurzeln des Nationalismus und aller anderer Formen des Zugehörigkeitsgefühls zu einem Raumausschnitt in der Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen und nach Geschlecht zu suchen [sind] so-

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wie in der Errichtung des Staates, durch den die herrschende Klasse herrschen kann“ (Smith 2007: 65). Die moderne Nation als territoriale Entität ist ein Produkt sozialer und diskursiver Praktiken. Als soziale Form trägt sie zur Stabilisierung des Diskurses der Einheit des Nationalstaates bei. Die klar gezogenen territorialen Grenzen lassen die Nation als naturgegebene Entität erscheinen und verschleiern die Tatsache, dass sie durch soziale und diskursive Praktiken hergestellt wurde und immer wieder reaktualisiert wird.

Das kritische Potenzial der Diskursanalyse sozialer und diskursiver Praktiken Ideologien sind diskursive Formationen, die ungleiche, hegemoniale gesellschaftliche Verhältnisse stützen. Gefragt wird im Rahmen einer Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse weniger, inwiefern sich gesellschaftliche Gewaltverhältnisse in der Sprache widerspiegeln (wie es bspw. die Analyse der faschistischen Sprache durch Klemperer [2005] zeigt), sondern vielmehr, wie soziale und räumliche Ungleichheiten u.a. vermittels Sprache, vermittels der machtvollen – sprachlichen – Definition dessen, was diskutierbar, was denkbar, was wahr ist, als diskursive Praxis reproduziert und gestützt werden. Insbesondere geht es einer Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse darum, Brüche und gesellschaftliche Widersprüche anhand von Texten nachzuweisen und ihre verborgenen Machtverhältnisse zu entlarven. Ähnlich wie sich gesellschaftliche Verhältnisse nur durch eine Veränderung der je konkreten gesellschaftlichen Praktiken transformieren können, können sich auch Diskurse durch ständige Wiederholung verschieben, d.h. sie können ihre Bedeutung, ihren Sinn verändern. Spätestens seit den Arbeiten von Jacques Derrida (z.B. Derrida 1974 [1967], 1976 [1972], 2001 [1971]) ist bekannt, dass Repräsentationssysteme nicht fix sind, sondern Bedeutungen von Zeichen sich verschieben, sich mit der Zeit verändern können. Diese verschiebende Wiederholung nennt Derrida Iteration (vgl. Derrida 2001 [1971]). Mit der Diskursanalyse lassen sich Bedeutungsverschiebungen im Text aufspüren, die auf gesellschaftliche Veränderungen verweisen bzw. die Gewordenheit einer sprachlichen bzw. gesellschaftlichen Ordnung nachvollziehen, die Foucault die „Genealogie“ (Foucault 1991 [1971]: 39ff.) des Diskurses nennt. Das bedeutet, dass eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse neben der Infragestellung hegemonialer, evident erscheinender Diskurse auch die Bruchstellen und Verschiebungen herauszuarbeiten vermag, die ebendiese versteinerten, natürlich erscheinenden diskursiven Ordnungen zum Tanzen bringen,

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse

aufbrechen, verschieben oder infrage stellen. Dieses „zum Tanzen bringen“ natürlich erscheinender, verkrusteter, machtvoller diskursiver wie gesellschaftlicher Strukturen bezeichnet Derrida als Dekonstruktion: „Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zum anderen überzugehen, sondern eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an die sie geknüpft ist, umzukehren.“ (Derrida 2001 [1971]: 45) Die Dekonstruktion bezeichnet also stets das Aufbrechen eines Diskurses von innen heraus, eine Wendung seiner eigenen Logik gegen sich selbst, was möglich ist, weil sich in ihm die Widersprüchlichkeit der Vergesellschaftung spiegelt. Ziel der Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse ist es, die diskursiven Regeln, die den Diskurs konstituieren und stützen, freizulegen und so für ihre Dekonstruktion zu öffnen. Das Freilegen des Diskurses als Konstruktion kann eine Schwächung der Macht bedeuten, die von ihm ausgeht. Auf diese Weise kann es geschehen, dass sich die Dekonstruktion der Diskurse „bemächtigt und sie gegen ihre eigene Herkunft wendet“ (Foucault 2002 [1971]: 185). Die Dekonstruktion zielt stets auf die „Verschiebung“ diskursiver Grenzen und damit hegemonialer gesellschaftlicher Ordnung (vgl. Laclau 1994; Mouffe 2005 [1993], 2007 [2005]). Wenn sie dabei jedoch den weiter oben beschriebenen Zusammenhang von Diskurs und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht angemessen berücksichtigt und Gesellschaft theoretisch oder in der konkreten Untersuchung auf eine rein sprachliche Ebene reduziert, liegt in dieser Form der auf fortwährende Denaturalisierung abzielenden Kritik „etwas blind Naturwüchsiges“ (Demirović 2008: 26). Denn auf der Ebene der Sprache kann jede Aussage immer und immer wieder erneut „dekonstruiert“ werden, es gibt hier keine Hinweise darauf, welche Dekonstruktion, also welche (behauptete) Bedeutungsverschiebung sinnvoll und welche Unfug ist. Die im Sommer 2006 weit verbreitete Behauptung, schwarz-rot-gold hätte angesichts der allgemeinen Partystimmung nun eine ganz neue Bedeutung, vergisst, dass es um die Spiele der deutschen Mannschaft herum immer wieder zu tätlichen Angriffen auf Nicht-Deutsche kam. Auf theoretischer Ebene soll dieses Beispiel verdeutlichen, dass nur der Rückbezug des zu dekonstruierenden Diskurses auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen er entstammt, einen Maßstab für Art und Umfang der tatsächlichen Bedeutungsverschiebung liefert. Erst wenn mit der Dekonstruktion hegemonialer Diskurse auch ein Aufbrechen und eine Veränderung der verfestigten hegemonialen sozialen Praktiken einhergeht, zeigt sich das emanzipative Moment kritischer Wissenschaft. Ein Vorgehen, dessen Kritik auf der rein sprachlichen Ebene verbleibt, kann hingegen dazu beitragen, die „Verhältnisse auf einem höheren Niveau zu reproduzieren“ (ebd.: 27).

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Sprachgebrauch muss innerhalb seines sozialen Kontextes analysiert werden Weiter oben ist festgehalten worden, dass für eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse keine Diskurstheorie notwendig ist, sondern eine Gesellschaftstheorie, die Macht und Funktion von Diskursen erklärt. Eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse untersucht Sprachgebrauch als soziale Praxis. Sie darf sich daher nicht auf Linguistik beschränken, sondern muss „transdisziplinär“ (Fairclough 2005: 76) mit den Sozialwissenschaften und, wo es um Raumproduktionen geht, speziell der Geographie zusammenarbeiten. In letztgenannter Hinsicht muss sie das dialektische Verhältnis von Gesellschaft, Ideologie- und Diskursproduktion sowie Raumproduktion in den Blick nehmen. Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse untersucht, wie Sprachgebrauch als soziale Praxis in die Produktion und Reproduktion hegemonialer und ideologischer Strukturen verwickelt ist, d.h. wie sie zur Aufrechterhaltung asymmetrischer Machtverhältnisse beiträgt. Wie kann eine solche Diskursanalyse methodisch aussehen? Klassischerweise werden in Diskursanalysen Textkorpora untersucht. Diese bestehen in der Regel aus einer Zusammenstellung von Dokumenten, die bereits vor der Untersuchung in Textform vorliegen, wie bspw. policies, Absichtserklärungen, Beschlüsse oder Medienberichte. Analysen arbeiten in erster Linie programmatische Logiken im Material heraus, in denen vor allem Vorstellungen zukünftiger Entwicklungen formuliert werden – wie es werden soll. Im Gegensatz dazu zielt eine Kritische Diskursanalyse darauf ab, die Verdichtung von Diskursen in gesellschaftlichen Verhältnissen und zudem deren Machteffekte zu untersuchen – was in der Praxis passiert. Es geht also nicht allein um die Rekonstruktion von Diskursen, sondern um die Frage, wie diese in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen wirksam werden. Das Interesse richtet sich dann auf die gesellschaftlichen Implikationen von Programmatiken. Um das dialektische Stützungsverhältnis von Diskurs und Gesellschaft zu fassen, sollten kritische Diskursanalysen neben programmatischen Texten auch solche miteinschließen, die die Machteffekte von Diskursen belegen können. Dabei kann es sich um Evaluationen, Zeitungsberichte oder Berichte handeln, die die Konsequenzen politischer Programme, ihren Eingang in das Recht oder in die alltägliche Praxis dokumentieren. Darüber hinaus plädieren wir dafür, Korpora durch selbst erhobene Daten zu erweitern (s. Dzudzek 2016: 83ff. sowie Kap. 3: Füller/ Marquardt 2021). Dies können bspw. qualitative Interviews oder Feldnotizen aus teilnehmenden Beobachtungen, Bild- oder Filmbeschreibungen sein, um

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die Verdichtungen und Machteffekte von Diskursen besser ausleuchten zu können. In ihrer Analyse von Kreativpolitik bspw. begnügt sich Iris Dzudzek (2016) nicht damit, die neoliberale Programmatik von creative policies aufzuzeigen. Vielmehr interessiert sie, wie ebendiese wirksam werden. Dabei untersucht sie, wie Kreativpolitik Eingang in lokale Politik findet, in welche Programme sie übersetzt wird, inwiefern diese gelingen oder scheitern, dass sie häufig einen anderen als den intendierten Effekt haben und wie sie in der Praxis umkämpft sind. Auf diese Weise verschiebt sich der Analysefokus von der Logik einzelner Diskurse hin zu einer Analyse ihrer Verdichtung in gesellschaftlichen Verhältnissen und ihrer Machteffekte.

Aktuelle geographische Untersuchungen Seit dem ersten Erscheinen dieses Beitrags sind in der Geographie zahlreiche Studien erschienen, die eine marxistische Analyse sozialer Formen, Kräfteverhältnisse und Ideologien mit Methoden der Diskursanalyse, die poststrukturalistischen Debatten entlehnt sind, verbinden. Sie gehen dabei unterschiedliche Wege, um Entwicklungen, Verschiebungen und Brüche in Diskursen mit den gesellschaftlichen Prozessen zu verbinden, denen sie entstammen und in die sie intervenieren. Michael Mießner (2017) befasst sich in seiner Untersuchung der Raumordnungspolitik der BRD u.a. mit der Bedeutung ihres zentralen Begriffs, der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“. Unter Rückgriff auf Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985) analysiert er diesen als „leeren Signifikanten“, in dem ganz unterschiedliche Bedeutungen zusammengeschlossen werden. Welche Bedeutungen dabei wann und warum in dieser Weise zusammengeschlossen werden, untersucht er unter Rückgriff auf marxistische Theorien zu räumlich ungleicher Entwicklung, Staat und räumlicher Planung. Letztere ist demnach stets darauf verpflichtet, Wirtschaftswachstum im Staatsterritorium zu unterstützen, wozu sie in unterschiedlicher Weise auf erstere Einfluss zu nehmen versucht. Mießner zeigt, dass „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ in den 1960er Jahren für die Förderung von Kleinstädten, peripheren Regionen und ländlichen Räumen stand, weil diese Gegenden das stärkste Wirtschaftswachstumspotenzial versprachen; und erst später zusätzlich mit den heute dominanten Bedeutungen „räumlicher Ausgleich im Staatsterritorium“ und „soziale Gerechtigkeit“ aufgeladen wurden. Letzteres geschah zu einer Zeit, in der die Raumordnungspolitik immer deutlicher auf räumliche Differenzierung ab-

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zielte („Stärkung endogener Potenziale“), was durch den leeren Signifikanten verdeckt werden konnte. Verschiedene Arbeiten nutzen den Begriff des Regierens im Anschluss an Foucault, um die Effekte von Diskursen zu fassen. Dabei funktioniert dieser Begriff, der hier im weiten Sinn als Strukturierung gesellschaftlicher Möglichkeitsfelder begriffen wird, als Scharnier zwischen programmatischen Logiken und alltäglichen Praktiken. Wegweisend für diese gouvernementalitätstheoretischen Analysen in der deutschsprachigen Geographie waren die Arbeiten von Nadine Marquardt und Henning Füller (Füller/Marquardt 2021), die die Konsequenzen der Veränderung städtischer Sicherheitspolitiken für Downtown Los Angeles herausarbeiten. Stärker marxistisch orientiert untersucht Sebastian Schipper (2013) die Debatten im Stadtparlament von Frankfurt am Main zwischen 1960 und 2010, um zu zeigen, wie sich dort ab Anfang der 1980er Jahre die Vorstellung von der „unternehmerischen Stadt“, die sich im globalen Raum des Wettbewerbs beweisen muss, in Schüben und unabhängig von regierenden Parteien durchsetzte. Dies interpretiert er als Reaktion auf Krisen der kapitalistischen Vergesellschaftung, auf die städtische Eliten in dezidiert neoliberaler Weise reagieren zu müssen glaubten. Andere Arbeiten setzen sich mit der Verdichtung von Diskursen in konkreten gesellschaftlichen Bereichen wie dem Recht (vgl. Petzold 2018; Klosterkamp/Reuber 2017), der Kriminalpolitik (Perthus 2016), Infrastrukturen (Bruns/ Frick 2014; Schramm 2016), der gebauten Umwelt und Liegenschaften (Silomon-Pflug 2018), Nachhaltigkeit in der Stadt (Baudriedl 2011), von Citizenship und Migration (Rodatz im Erscheinen) oder formaler Politik (Burs 2013; Mössner 2016) auseinander.

Exkurs: Kritische Diskursanalyse in Deutschland Im deutschen Kontext werden unter dem Begriff „Kritische Diskursanalyse“ diejenigen Ansätze gefasst, die im Anschluss an die Literaturwissenschaftler Jürgen Link (1978, 1997) und Siegfried Jäger (2006) im weiteren Kontext des Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) in Duisburg entstanden sind. Auch diese Richtung verfolgt einen ideologiekritischen Ansatz. Als interdisziplinäres Projekt vereint die Kritische Diskursanalyse Ansätze aus der Psychologie, den Sozialwissenschaften und vor allem der Literaturwissenschaft. Ausgehend von der These, dass die moderne, funktional gegliederte Gesellschaft zu einer Herausbildung verschiedener Spezialdiskurse führt, die untereinander immer weniger verständlich und anschlussfähig sind, zielen Link und Jäger ihr In-

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teresse auf sogenannte Interdiskurse, die zwischen verschiedenen Spezialdiskursen vermitteln. Der literaturwissenschaftliche Fokus dieses Ansatzes zeigt sich, indem Link und Jäger Interdiskurse als vermittelnde (Kollektiv-)Symbole zwischen den Diskursen deuten (vgl. Link 1978, 1988). Sie sind gesellschaftlich bestimmt und historisch veränderbar. Symbolketten ebnen gesellschaftliche Widersprüche ein. Sie produzieren Normalität, indem sie Abweichung aus dem Diskurs verbannen. Beispielsweise beschreibt Link (1997) in seinem Buch „Versuch über den Normalismus“, wie es dem Mediendiskurs im Anschluss an den Fall der Berliner Mauer gelingt, einen nationalstaatlichen Normalzustand wiederherzustellen, den es so zuvor nie gegeben hat. In diesem Sinne erfüllt er eine ideologische Funktion, die die Kritische Diskursanalyse aufdecken will. Jäger setzt sich vor allem mit rechtem Gedankengut in gegenwärtigen Diskursen (vgl. Jäger 1999; Jäger/Jäger 1999; Jäger/Schobert 2000; Jäger/Jobst 2001; Jäger et al. 2004) sowie dem Mythos nationaler Identität auseinander (vgl. Jäger/Schobert 2004). Damit bietet auch die Kritische Diskursanalyse, wie sie im deutschen Kontext diskutiert wird, vielfältige Ansatzmöglichkeiten für kritische geographische Diskursanalysen.

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5 Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe Georg Glasze, Annika Mattissek

Potenziale der Hegemonie- und Diskurstheorie für humangeographische Arbeiten Die Hegemonie- und Diskurstheorie der Politikwissenschaftler*innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Fluchtpunkt poststrukturalistischer Theoriebildung entwickelt (Laclau/ Mouffe 1985; Laclau 1990, 2005; Mouffe 2000, 2005 [1993]; zur Rezeption und Weiterführung siehe einführend Marchart 1998, 2017; Howarth/Norval/Stavrakakis 2000; Nonhoff 2007; Reckwitz 2011; Marttila 2018). Im Zentrum der Arbeiten von Laclau und Mouffe steht das Interesse, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sowie die damit zusammenhängenden Machtverhältnisse zu hinterfragen und in ihrer Kontingenz offenzulegen – d.h. deutlich zu machen, dass diese immer das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse und damit prinzipiell veränderlich sind. Ein Fokus der Theorie liegt auf der Frage, wie sich Identitäten diskursiv konstituieren, d.h. welche Mechanismen die Identifikation von Individuen mit bestimmten Leitbildern, Vorstellungen, Programmen und Gemeinschaften steuern. Laclau und Mouffe zufolge sind diese Mechanismen maßgeblich für die Frage, welche sozialen Grenzen gezogen werden und welche Themen in der politischen Arena verhandelt werden. Entsprechend ihrer theoretischen Verortung in poststrukturalistischen Ansätzen legen die Autor*innen besonderen Wert auf die Konzeptualisierung von Brüchen und Widersprüchen innerhalb von Diskursen sowie auf – oftmals konfliktgeladene – Prozesse der Veränderung und des diskursiven Wandels. Laclau und Mouffe verfolgen dabei einen dezidiert politischen Anspruch: Die Kritik an

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essenzialistischen Denkschemata soll die Chance für neue emanzipatorische Praktiken eröffnen (Mouffe 2005 [1993], 2007 [2004]). Vor diesem Hintergrund lassen sich für die Anwendung des Konzeptes für humangeographische Fragestellungen und allgemein für sozial- und kulturwissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Diskurs und Raum auseinandersetzen, insbesondere die beiden folgenden Schwerpunkte ausmachen: Zum einen entwickelt die Theorie ein radikal konstruktivistisches Konzept von Identität. Humangeographische Arbeiten untersuchen in diesem Kontext, inwieweit in Identitätskonstrukten Differenzierungen von Eigenem und Fremden mit räumlichen Differenzierungen (z.B. zwischen Territorien, Maßstabsebenen oder Netzwerken) verknüpft werden, d.h. welche Ein- und Ausschlüsse vorgenommen werden und welche gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen damit produziert und reproduziert werden. Zum anderen werden politische Konflikte aus einem radikal antiessenzialistischen Verständnis von Gesellschaft heraus analysierbar, in dem politische Positionen nicht als objektiv gegeben, sondern als instabile Ergebnisse diskursiver Identifikations- und Grenzziehungsprozesse konzeptualisiert werden. Die Theorie stellt damit einen Rahmen zur Verfügung, um die Durchsetzung planerischer und weltanschaulicher Leitbilder, bspw. in der Raumplanung oder in der Stadtpolitik, konzeptionell zu fassen. Damit können Konflikte zwischen verschiedenen diskursiven Rahmungen herausgearbeitet sowie die Mechanismen untersucht werden, mit denen Allianzen zwischen einzelnen Positionen hergestellt werden. Insgesamt hilft die Diskurs- und Hegemonietheorie dabei, den Blick für die Ambivalenzen und Heterogenitäten zu schärfen, die innerhalb sozialer Wirklichkeiten bestehen. Im Fokus der Analyse steht also weniger die vermeintliche Homogenität von Diskursen, sondern eher deren permanente Unabschließbarkeit und Veränderlichkeit.

Ausgangspunkt: Kritik an der Idee gegebener sozialer Strukturen Zentral für die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe ist es, dass sie eine Theorie des Politischen und des Sozialen entwickeln, welche eine Konzeption politischer Auseinandersetzungen, der Konstitution von Identitäten sowie des Sozialen insgesamt leistet, ohne auf die Idee vorgängig gegebener sozialer Strukturen oder die Idee autonomer Subjekte zurückzugreifen. Viel-

Hegemonie- und Diskurstheorie

mehr werden auch die in Konflikten involvierten politischen Akteure und ihre Interessen als Ergebnisse und nicht als Ausgangspunkte von Auseinandersetzungen konzeptualisiert: „Political identities are not pre-given but constituted and reconstituted through debate in the public sphere. Politics, we argue, does not consist in simply registering already existing interests, but plays a crucial role in shaping political subjects.“ (Laclau/Mouffe 2001: xvii) Diesen Gedanken der diskursiven Konstitution von Identitäten führen die Autor*innen insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem in marxistischen Ansätzen geprägten Konzept von „Klassensubjekten“ aus. Laclau und Mouffe zufolge sind der Bereich der Ökonomie und folglich auch die hieraus resultierenden ökonomischen Klassen und deren Konflikte diskursiv hergestellt. „It is not the case that the field of the economy is a self-regulated space subject to endogenous laws; nor does there exist a constitutive principle for social agents which can be fixed in an ultimate class core; nor are class positions the necessary location of historical interests.“ (Laclau/Mouffe 1985: 85) Auch wenn der Ausgangspunkt von Laclau und Mouffe also strikt antiessenzialistisch ist, d.h. ohne Vorstellungen eines ökonomischen Determinismus oder von Interessenkonflikten vordiskursiv bestehender Klassensubjekte auskommt, teilen die Autor*innen doch das Forschungsinteresse marxistischer Theorien an der Analyse und Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse und verstehen sich in diesem Sinne als postmarxistisch. Im Gegensatz zu marxistischen Ansätzen stehen dabei aber weder die Widersprüche zwischen gesellschaftlichen „Klassen“ im Vordergrund, die als bestimmt von den wirtschaftlichen Verhältnissen gedacht werden, noch die Verhältnisse zwischen den vermeintlich getrennten Feldern sozialer Wirklichkeit wie „Politik“, „Ökonomie“ und „Ideologie“. Vielmehr geht es in erster Linie darum, gerade die Bedingungen der diskursiven Konstitution dieser Kategorien und der dadurch etablierten Beziehungen aufzudecken. Ziel ist es folglich herauszuarbeiten, dass diese Kategorien nicht objektiv gegeben sind, sondern als „sedimentierte“, d.h. verfestigte, Diskurse gelesen werden können. Indem diese Kategorien problematisiert und hinterfragt werden, lassen sich die Kategorien als Konstruktionen erkennen. „Sedimented theoretical categories are those which conceal the acts of their original institution, while the reactivating moment makes those acts visible again […]. Instead of dealing with notions such as ,class‘, the triad of levels (the economic, the political and the ideological) or the contradictions between forces and relations of production as sedimented fetishes, we tried to revive the preconditions which make their discursive operation possible, and asked ourselves questions concerning their continuity or discontinuity in contemporary capitalism.“ (Laclau/Mouffe 2001: viii)

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Die Theorieanlage von Laclau und Mouffe kommt also ohne die Annahme einer prädiskursiven Basis der sozialen Organisation aus. Identitäten und soziale Machtverhältnisse sind danach immer historisch spezifisch und kontingent, damit veränderbar und in diesem Sinne politisch. Kollektive Identitäten und damit Gemeinschaften („die Arbeiterklasse“, aber auch „Deutschland“, „die Arabische Welt“) entstehen demnach nicht auf der Basis objektiv gegebener gemeinsamer Eigenschaften, sondern werden erst in diskursiven Prozessen hervorgebracht. Damit sagen Laclau und Mouffe allerdings weder, dass wirtschaftliche Zusammenhänge belanglos sind, noch dass kollektive Identitäten für gesellschaftliche Prozesse unbedeutend sind. Sie machen vielmehr deutlich, dass soziale Wirklichkeit und die jeweils relevanten und machtvollen Kategorien und Relationen immer als das historische Ergebnis von politischen Prozessen gelesen werden müssen. Das Politische, d.h. die Akte der Entscheidung für eine bestimmte Form der Symbolisierung sozialer Wirklichkeit, ist Laclau und Mouffe zufolge maßgeblich für die Strukturierung der Gesellschaft (Laclau/ Mouffe 2001: XII). Laclau formuliert das folgendermaßen: „[T]he political is […] the anatomy of the social world, because it is the moment of the institution of the social. Not everything in society is political, because we have many sedimented forms which have blurred the traces of their original political institution …“ (Laclau 2005: 154) Im Folgenden werden zunächst die Schlüsselkonzepte und -aussagen der Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe erläutert. In einem zweiten Schritt wird dann aufgezeigt, wie dieser Ansatz genutzt werden kann, um Zusammenhänge von Diskurs, Hegemonie und Raum zu konzeptualisieren.

Schlüsselkonzepte und -aussagen der Diskursund Hegemonietheorie Weiterführung und Präzisierung des Diskursbegriffs Laclau und Mouffe verstehen Gesellschaft als diskursiv konstituiert. Im Diskurs werden politische Identitäten und gesellschaftliche Machtverhältnisse hergestellt, die durch Prozesse der Hegemonialisierung und Sedimentierung temporär fixiert werden und dann als quasinatürliche soziale Wirklichkeit wahrgenommen werden. Die Versuche, Bedeutungen und gesellschaftliche Verhältnisse festzuschreiben, scheitern aber letztlich immer an inhärenten Widersprüchen.

Hegemonie- und Diskurstheorie

Im Anschluss an Überlegungen Jaques Derridas (s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021) gehen Laclau und Mouffe davon aus, dass Bedeutungen niemals endgültig fixiert werden können. Da aber auch Identitäten und gesellschaftliche Beziehungen in Prozessen der symbolischen Bedeutungsproduktion hergestellt werden, sind auch diese damit immer kontingent. Gesellschaftliche Strukturen können nicht auf ein unverrückbares Fundament wie eine „göttliche Ordnung“ oder das „Gesetz der Ökonomie“ zurückgeführt werden. Die Vielzahl unterschiedlicher Begründungsmuster und Sinnstrukturen, die sich in gesellschaftlichen Prozessen der Bedeutungskonstitution überlagern, sowie innerhalb einzelner Bezugssysteme bestehende Widersprüche führen dazu, dass innerhalb des Diskurses immer wieder Brüche und Ambivalenzen auftreten. Es kommt also permanent zu Situationen, in denen aufgrund der Präsenz unterschiedlicher Referenzsysteme (und der innerhalb dieser bestehenden Unstimmigkeiten) Entscheidungen und Sinnkonstruktionen mehrdeutig und widersprüchlich sind. Zur Erklärung dieser diskursiv produzierten Instabilitäten und Brüche greifen die Autor*innen den Begriff der Überdeterminierung von Louis Althusser auf (Laclau/Mouffe 1985: 97ff.): Die soziale Wirklichkeit lässt sich danach nicht auf eine Ursache zurückführen, sondern ist immer überdeterminiert, geht also auf eine Vielzahl von untereinander verbundenen Ursachen zurück. Die Unmöglichkeit einer endgültigen Fixierung impliziert nach Laclau und Mouffe, dass immer neue partielle, temporäre Fixierungen möglich und notwendig werden. Die temporären Fixierungen sind die Grundlage für fortwährende Auseinandersetzungen um soziale Beziehungen und Identitäten. Die provokante These in ihrem Buch „Hegemony & socialist strategy“ lautet daher, dass Gesellschaft nicht existiert – in dem Sinne, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass gesellschaftliche Prozesse auf feststehende gesellschaftliche Strukturen zurückgeführt werden können (Laclau/Mouffe 1985: 108ff.). Zur Konzeptualisierung der beständigen Versuche, in dieser Situation der Überdeterminierung und Instabilität von Bedeutungen Ordnung zu schaffen, führen Laclau und Mouffe den Diskursbegriff ein: „Any discourse is constituted as an attempt […] to arrest the flow of differences.“ (Ebd.: 112) Sie beziehen sich dabei explizit auf den Diskursbegriff in Michel Foucaults „Archäologie des Wissens“ (ebd.: 105). Allerdings unterscheidet sich ihr Diskurskonzept in Bezug auf dessen Reichweite von demjenigen Foucaults, denn Laclau und Mouffe gehen konsequenter als Foucault über den Bereich der Sprache hinaus 1: Für die beiden 1

Foucault unterscheidet in „Archäologie des Wissens“ zwischen diskursiven (d.h. sprachlichen und anderen symbolischen) und nicht-diskursiven Praktiken: „Die archäologische Analyse individualisiert und beschreibt diskursive Formationen. Das heißt, sie muß sie in der Gleichzeitigkeit, in der

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Politikwissenschaftler*innen gibt es keinen dem Menschen zugänglichen Bereich des Außer- bzw. Vordiskursiven. Vielmehr sind gemäß der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe alle sozialen Beziehungen die letztlich immer fragilen und temporären Ergebnisse diskursiver Auseinandersetzungen. Die Vorstellung, dass jedes Objekt, jedes soziale Phänomen ein Objekt des Diskurses ist, muss dabei allerdings nicht bedeuten, dass es keine Welt außerhalb von Sprache und Gedanken gibt: „An earthquake or the falling of a brick is an event that certainly exists, in the sense that it occurs here and now, independently of my will. But whether their specificity as objects is constructed in terms of ,natural phenomena‘ or ,expressions of the wrath of God‘, depends upon the structuring of a discursive field. What is denied is not that such objects exist externally to thought, but the rather different the assertion that they could constitute themselves as objects outside of any discursive condition of emergence.“ (Laclau/Mouffe 1985: 108)

Laclau und Mouffe argumentieren also nicht radikalkonstruktivistisch – sie gehen nicht davon aus, dass es keine Welt jenseits der Diskurse gibt. Aber eine solche Welt wird ihrer Konzeption nach für die Menschen nur dann relevant, wenn sie diskursiv von Menschen und für Menschen mit Sinn versehen wird (s. das Beispiel mit dem Erdbeben im Zitat oben). Insofern ist die Diskurstheorie eine Gesellschaftstheorie. Der Diskursbegriff von Laclau und Mouffe umfasst dabei die Verknüpfung sowohl von sprachlichen als auch materiell-praktischen Elementen (Laclau 2005: 106). Laclau veranschaulicht dies, indem er ein Beispiel des Philosophen Ludwig Wittgenstein zur Kooperation zweier Bauarbeiter aufgreift: Der eine bittet den anderen, ihm einen Ziegelstein zu reichen. Obwohl nun die Frage als sprachlich und das Herüberreichen als außersprachlich beschrieben werden können, so sind beide Praktiken doch Teil eines größeren Zusammenhangs „Hausbau“, und genau die Qualität dieser Verknüpfung in größere Zusammenhänge macht beide Praktiken zum Teil eines Diskurses (Laclau 1990: 100; s. dazu auch Kap. 12: Baumann/Lahr-Kurten/Winkler 2021). sie sich präsentieren, konfrontieren und sie einander gegenüberstellen, sie von denen unterscheiden, die nicht dieselbe Zeitrechnung haben, sie in ihrer Spezifität mit den nicht diskursiven Praktiken in Beziehung setzen, die sie umgeben und ihnen als allgemeines Element dienen.“ (Foucault 1973 [1969]: 224) Allerdings ist Foucaults Positionierung zu der Frage, ob sich Sphären des Diskursiven bzw. Nicht-Diskursiven unterscheiden lassen, keineswegs eindeutig. So bemerkt er in einer Fachdiskussion mit Kollegen, auf die Unterscheidung diskursiv/nicht-diskursiv angesprochen, es sei „kaum von Bedeutung, zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht“ (Foucault 1978: 125, vgl. dazu ausführlicher Jäger 2006: 90ff.; Bührmann/Schneider 2008: 47f.).

Hegemonie- und Diskurstheorie

Um analytisch zwischen Entitäten unterscheiden zu können, die außerhalb bzw. innerhalb des Diskurses stehen, führen Laclau und Mouffe in ihrer Theorie die Differenzierung zwischen „Elementen“ und „Momenten“ ein. Als „Momente“ beschreiben sie all jene Differenzierungen, deren Bedeutungen in einem spezifischen Diskurs partiell fixiert wurden. Im „Feld der Diskursivität“ gibt es hingegen einen Überschuss an Bedeutungen. Diese Bedeutungen, welche in anderen Diskursen existierten bzw. existieren, bezeichnen sie als „Elemente“. Die Praktiken, die eine Beziehung zwischen Elementen herstellen, sodass deren Identität verändert wird, nennen sie „Artikulation“2. Auf diese Weise können sie ihren Diskursbegriff wie folgt präzisieren: „The structured totality resulting from the articulatory practice, we will call discourse.“ (Laclau/ Mouffe 1985: 105) Ein Diskurs ist also der Versuch, die Bedeutung von Elementen zu fixieren und sie somit in die Momente eines Diskurses umzuwandeln. Diese Umwandlung ist allerdings niemals vollständig, und damit scheitert letztlich jede Identität: „The status of the ,elements‘ is that of floating signifiers, incapable of being wholly articulated to a discursive chain. And this floating character finally penetrates every discursive (i.e. social) identity.“ (Ebd.: 113)

Neukonzeption einer Hegemonietheorie Laclau und Mouffe greifen den Begriff der Hegemonie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci auf (1991ff. [1948ff.]: GH 13 § 18). Gramsci versucht, mit dem Konzept der Hegemonie die Vorstellung einer mechanistischen Determinierung des gesellschaftlichen Überbaus durch die ökonomische Basis aufzubrechen. Hegemonie ist nach Gramsci die Fähigkeit der herrschenden Klasse, die Gesellschaft moralisch und intellektuell zu führen, indem es der herrschenden Klasse gelingt, ihre Überzeugungen als „kollektiven Willen“ zu etablieren (ebd.; Torfing 1999: 27ff.; Demirović 2007). Nach Gramsci muss die herrschende Klasse dabei über die rein korporativ-ökonomische Solidarität, die bspw. einen Kaufmann mit einem anderen Kaufmann verbindet, hinausgehen und in einem Kompromiss zumindest auch in Teilen die Interessen der Gruppen berücksichtigen, welche die Hegemonie der herrschenden Klasse akzeptieren:

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In den romanischen Sprachen wie auch im Englischen wird mit dem Wort „artikulieren“ in höherem Maße als im Deutschen auch die Bedeutung „verbinden“ transportiert („durch ein Gelenk zusammenfügen“). Die deutsche Übersetzung gibt daher die Bedeutung des diskurstheoretischen Konzepts „Artikulation“ nur teilweise wieder.

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„Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, dass den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, […] dass also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivitäten ausübt.“ (Gramsci 1991ff. [1948ff.]: GH 13 § 18)

Gramsci geht also davon aus, dass die Gesellschaft durch gegebene Klassen strukturiert ist. In seiner Perspektive bringt die Ökonomie Klassen hervor, und diese Klassen haben wahre Interessen (bspw. Gramsci 1991ff. [1948ff.]: GH 3 § 90). Laclau und Mouffe kritisieren aus ihrer poststrukturalistisch informierten Perspektive daher, dass Gramsci in letzter Instanz dem ökonomischen Determinismus verpflichtet bleibt. Sie „befreien“ das Hegemoniekonzept von diesen „Resten“ eines ökonomischen Essenzialismus: Hegemonie definieren sie als die Expansion eines Diskurses zu einem dominanten Horizont sozialer Orientierung. Die Entwicklung von diskursiven Auseinandersetzungen zu einer spezifischen sozialen Wirklichkeit wird in der Diskurstheorie also konzeptualisiert als die Hegemonie eines spezifischen Diskurses, der eine „temporäre Schließung“ des Diskurses verheißt und damit eine spezifische soziale Wirklichkeit naturalisiert (s. dazu auch Phillips/Jørgensen 2002: 36). Die Installierung einer hegemonialen Lesart gesellschaftlicher Wirklichkeit kann Differenzen und Heterogenitäten immer nur temporär schließen, jedoch nicht dauerhaft eliminieren. Die daher permanent im Diskurs entstehenden Widersprüche und Gegensätze haben Laclau und Mouffe zufolge das Potenzial, als Forderungen („demands“ in der Terminologie von Laclau 2005) in Konflikten vorgebracht zu werden. Jedoch ist die Frage, welche Differenzen in politischen Auseinandersetzungen tatsächlich als zentral und gegensätzlich (antagonistisch) artikuliert werden, nicht von vornherein bestimmt. Vielmehr bilden sich immer wieder aufs Neue Koalitionen, die durch den gemeinsamen Bezug auf bestimmte Kategorien („Klasse“, „Kultur“, „Geschlecht“) als Identitäten temporär fixiert werden. In anderen Worten: Die Frage, welche Gruppierungen sich in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gegenüberstehen, ist nicht von vornherein gegeben, sondern beruht auf permanenten Prozessen der Neukonfiguration von Kollektiven. Ob etwa globale politische Konflikte auf ungleiche Teilhabe an wirtschaftlicher Entwicklung, auf religiöse oder kulturelle Unterschiede oder auf postkoloniale Abhängigkeitsbeziehungen zurückgeführt werden, ist Ausdruck hegemonialer Deutungsweisen.

Hegemonie- und Diskurstheorie

Aufgrund der Instabilität der immer wieder neu strukturierten gesellschaftlichen Sinnstrukturen und der sich immer wieder neu etablierenden und wieder zerbrechenden Gemeinschaften scheitert letztlich jeder Versuch, eine permanente und universelle soziale Wirklichkeit zu etablieren, weil jegliche Form von Fixierung immer nur temporär bestehende Widersprüche und Heterogenitäten überdecken kann. Ereignisse, die nicht in der bestehenden Struktur verarbeitet werden können, unterminieren immer wieder die jeweils bestehenden Symbolisierungen und Verknüpfungen – Laclau und Mouffe sprechen hier von „Dislokationen“. Damit werden Situationen bezeichnet, die so neu sind, dass sie nicht aus der bestehenden sozialen Wirklichkeit heraus bearbeitet werden können, sondern radikal unentscheidbar sind und daher in einem politischen Akt entschieden werden müssen (Laclau/Mouffe 1985: 142; Laclau 1990: 39ff.). Dies bedeutet nicht, dass jederzeit alles möglich wäre, denn jeder politische Akt findet vor dem Hintergrund einer bestimmten sozialen Wirklichkeit statt, d.h. vor dem Hintergrund bestimmter sedimentierter Diskurse. Für den Erfolg eines spezifischen Diskurses ist nach Laclau entscheidend, dass er in einer gegebenen historischen Situation überhaupt zur Verfügung steht (availability) und in dieser eine glaubwürdige Lösung (credibility) zur Überwindung der Krise, d.h. der Dislokation, bietet. Je tiefgreifender die Dislokation einer Struktur ist, umso größer und tiefgreifender werden die Möglichkeiten für Reartikulationen, d.h. für neue diskursive Verknüpfungen (Laclau 1990: 39 u. 66). Vor dem Hintergrund diskursiver Auseinandersetzungen ist dann die Herstellung einer (neuen und letztlich wieder instabilen, weil nie alle Widersprüche vereinenden) sozialen Wirklichkeit durch einen partikularen Diskurs ein hegemonialer Akt. Genau hier liegt der Machteffekt diskursiver Auseinandersetzungen: Denn mit der Durchsetzung eines spezifischen hegemonialen Diskurses ist immer die Unterdrückung und Marginalisierung von alternativen sozialen Wirklichkeiten verbunden.

Ein politisches Konzept von Identität Die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe ermöglicht es, die Konstitution von individuellen und kollektiven Identitäten zu konzeptualisieren, ohne auf die essenzialistische Vorstellung von Wesensmerkmalen zurückgreifen zu müssen. Identität wird als ein „articulated set of elements“ (Laclau 1990: 32) konzipiert – als kontingente und temporäre Struktur, die verschiedene Elemente verbindet und auf diese Weise Einheit und Zugehörigkeit vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit sozialer Bruchlinien schafft. In „Hegemony & socialist strategy“ greifen Laclau und Mouffe zunächst das Konzept der Subjektpositionen von Althusser auf (Laclau/Mouffe 1985: 114ff.).

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Der marxistische Philosoph hatte das Konzept der „Anrufung“ (interpellation) als Alternative zur Idee des autonomen Subjekts entworfen. Aus dieser Perspektive heraus werden Individuen durch die Ideologie „angerufen“, d.h. in bestimmte Subjektpositionen platziert. Institutionen, die Althusser als ideologische Staatsapparate bezeichnet – wie die Medien, das Bildungssystem oder die Familie – konstruieren die Überzeugung, dass die Individuen autonom seien, indem sie definieren und „lehren“, was eine Arbeiterin, ein Fabrikbesitzer, eine Schülerin etc. ist (Althusser 1977 [1970]: 140ff.; Scharmacher 2004). Die Anrufung bezeichnet Althusser als ideologisch, da sie die wahren sozialen Beziehungen verdeckt, welche er als durch die Ökonomie bestimmt ansieht. Wie gezeigt, gibt es für Laclau und Mouffe allerdings keine „wahren sozialen Beziehungen“ und keine ökonomische Determinierung von Subjektpositionen. Sie verwerfen daher das Konzept der Ideologie, da diese in marxistischen Ansätzen mit der Vorstellung eines ökonomischen Determinismus und der Idee verbunden wird, dass die Wissenschaft ideologische Verzerrungen „demaskieren“ könne, d.h. die „tatsächlichen“ ökonomischen Verhältnisse hinter sozialen Beziehungen aufdecken könne. Die Idee des nicht-autonomen Individuums, d.h. der Subjektpositionen, greifen sie hingegen auf und rücken an die Stelle des Ideologiebegriffs den Diskursbegriff (Laclau/Mouffe 1985: 115; Laclau 1996). Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass ein Individuum von verschiedenen Diskursen, bspw. als Umweltschützerin, Mann, Christ, Französin, Schwarzer, Fußballfan etc., angerufen wird. Identität ist für Laclau und Mouffe die Identifikation mit einer diskursiv konstituierten Subjektposition. Letztlich scheitert aber jede Identifikation, weil keine Subjektposition eine vollkommene, ganze und endgültig fixierte Identität bieten kann. Die Idee des ganzen, autonomen und stabilen Subjekts interpretieren Laclau und Mouffe genauso wie die Idee einer determinierten und feststehenden Gesellschaftsstruktur als Wunsch nach einer letztlich unmöglichen Ganzheit (Laclau/Mouffe 1985: 121). In den späteren Publikationen, nach „Hegemony & socialist strategy“, vertieft v.a. Laclau die Idee des Wunsches nach Ganzheit und stabiler Identität – ein Wunsch, der zwangsläufig immer scheitert: Angeregt durch den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek setzt sich Laclau intensiver mit den Arbeiten des (post-)strukturalistischen Psychoanalytikers Jacques Lacan auseinander. Lacan geht davon aus, dass das Subjekt permanent nach Ganzheit strebt und dabei immer wieder scheitert.3 Die Subjektpositionen werden nach Lacan durch 3

Lacan verdeutlicht seine Überlegungen am Beispiel des Kleinkindes, das sich noch nicht als eigenständiges Subjekt wahrnimmt, aber in einem Zustand der Ganzheit und des Genießens (jouissance) lebt. Das Erkennen als eigenständiges Ich beschreibt Lacan mit der Metapher des

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sogenannte Polsterknöpfe (points de capiton) definiert. So wie die Knöpfe das Polster einer Couch fixieren, etablieren spezifische Signifikanten Äquivalenzketten und definieren damit eine Subjektposition – zumindest partiell und temporär (Stavrakakis 1999: 13ff.; Phillips/Jørgensen 2002: 42). Diese Vorstellung haben Laclau und Mouffe bereits in „Hegemony & socialist strategy“ aufgegriffen (Laclau/Mouffe 1985: 112): Privilegierte Signifikanten etablieren als „Knotenpunkte“ (nodal points) Äquivalenzketten und fixieren so Bedeutung relational. So wird bspw. im traditionellen Patriarchatsdiskurs der Knotenpunkt „Mann“ mit anderen Signifikanten wie „Stärke“, „Vernunft“, „Fußball“ etc. äquivalent gesetzt.4 Charakteristisch für Identitätsbildungsprozesse ist es nun, dass durch den gemeinsamen Bezug auf privilegierte Signifikanten auch gleichzeitig eine Abgrenzung nach außen konstituiert wird. Dieses Außen wird dabei als dasjenige konstruiert, welches die eigene Identität gefährdet und folglich aus ihr ausgeschlossen werden muss. Gleichzeitig ist es auf paradoxe Weise die Existenzbedingung jeder Identität.5 Laclau spricht mit Bezug auf Jacques Derrida von dem „constitutive outside“ (Laclau 1990: 9 u. 17). Die gemeinsame Identität wird also erst durch den gemeinsamen Antagonismus gegenüber einem radikal anderen Außen hergestellt. Auf der anderen Seite blockiert das Außen aber auch die volle Ausbildung jeglicher Identität, indem es die Kontingenz dieser Identität zeigt

Spiegels. Während des Spiegelstadiums sieht sich das Kind erstmals ganz in einem Spiegel und erkennt sich erfreut als eigenständiges und ganzes Lebewesen. Das Subjekt erkennt sich allerdings, indem es sich mit etwas anderem, dem Bild im Spiegel, identifiziert, sodass mit dem Blick in den Spiegel gleichzeitig Identifikation und Entfremdung, d.h. das Scheitern der vollständigen Identität, einhergehen (Lacan 1973 [1966]; Stavrakakis 1999: 17f.). Mit dem Eintritt in die Welt der „Bilder“ und allgemein der Bedeutungsstrukturen (des Symbolischen) tritt das Kind also gleichzeitig aus dem Zustand der Ganzheit und verliert den Zugang zum absoluten Genießen. Das letztlich immer scheiternde Streben nach Ganzheit und der Zugang zum absoluten Genießen (jouissance) werden bestimmend für die Existenz des Subjekts. 4

Subjekte sind danach in der Diskurstheorie insofern auch diskursive Elemente, als dass sie ihre Identität immer aus der Relationierung im Diskurs erfahren: „Individuen erscheinen immer als mit Sinn versehene, differente und spezifische Individuen und damit erst in Diskursen als Subjekte.“ (Nonhoff 2006: 156)

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Laclau veranschaulicht dieses Argument mit der Konstitution verschiedener Regionen von Marokko über Indien bis nach China – als eine einzige Weltregion um den Knotenpunkt „Orient“. Eine Konstitution, die nur möglich wird, weil „Orient“ dabei gleichbedeutend mit der Abgrenzung gegenüber „dem Westen“ ist: „Orient“ ist also gleich „Nicht-Westen“ (Laclau 1990: 32).

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– denn ohne den gemeinsamen Bezug auf ein Außen gäbe es keine universelle Gemeinsamkeit zwischen den so vereinten Elementen (ebd.: 21). In Anschluss an Lacan (1973 [1966]) und Žižek (1998 [1990]) lässt sich die Rolle dieses ausgeschlossenen Außen als Ausdruck der Unmöglichkeit der endgültigen Schließung der eigenen Identität interpretieren. Der in jeder Identität angelegte Mangel, das nie vollständig zu stillende Bedürfnis, ein geschlossenes und ganzes „Ich“ oder „Wir“ zu werden, wird auf ein Außen, auf einen antagonistischen Gegner projiziert.6 Die diskursiv konstituierte Gemeinschaft kann nicht aufhören, gegen ihr Anderes anzukämpfen bzw. sich immer wieder neue Andere zu suchen, da im Moment des Stillstands und des „Sieges über den Anderen“ auch die Gemeinschaft zerfallen würde – schließlich hält diese nichts zusammen als ihr gemeinsamer Gegner, ein Paradoxon, das die Diskursproduktion ständig in Bewegung hält. Damit kommt es zu einer antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Feldes. Diese antagonistische Zweiteilung ist allerdings nicht als Konflikt zweier Akteure zu interpretieren, die aus einer Art außerdiskursiven bzw. außersozialen Adlerposition heraus analysiert werden könnte. Die antagonistische Zweiteilung ergibt sich immer nur aus einer spezifischen Perspektive, wird in dieser Form also sozusagen nur „von einer Seite“ artikuliert (Nonhoff 2006: 221ff.; Laclau 2007 [2006]: 30f.). Charakteristisch für Identitätsbildungsprozesse entlang antagonistischer Grenzen sind die komplementären Logiken der Differenz und der Äquivalenz. Ausgangspunkt sind Forderungen oder demands, die keine essenziellen Gemeinsamkeiten besitzen, d.h. nicht über einen gemeinsamen Wesenskern verfügen. Ihre Gemeinsamkeit, das, was sie als Gemeinschaft auszeichnet, besteht in ihrer Abgrenzung nach außen. Diese Beziehung bezeichnen Laclau und Mouffe als Äquivalenz: Partikularinteressen schließen sich zu Äquivalenzketten zusammen. Die einzelnen Elemente einer kollektiven Identität sind also different insofern, als sie nicht über objektiv vorhandene gemeinsame Merkmale verfügen, und sie sind äquivalent, weil sie sich durch die gleiche Abgrenzung nach außen definieren. Die Abgrenzung nach außen – und damit gleichzeitig die kollektive Identität – wird durch einen spezifischen Signifikanten, einen „Knotenpunkt“ in der Terminologie von Lacan, repräsentiert. Dieser Signifikant muss, um die Ge6

Laclau adressiert damit auch die affektive Dimension von Prozessen der Identifikation (bspw. 2000). Überraschenderweise ist diese Dimension der Diskurs- und Hegemonietheorie auch im Kontext des neueren Interesses an Affekt und Emotion in der Sozial- und Kulturgeographie (bspw. Schurr 2014) bislang kaum aufgegriffen worden (zu den Ausnahmen gehört die Diskussion bei Winkler 2021).

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meinschaft als solche repräsentieren zu können, weitgehend von einer spezifischen Bedeutung entleert sein, da er sonst ja wieder in eine Differenzbeziehung treten würde und keine Äquivalenzbeziehung herstellen könne. Laclau und Mouffe bezeichnen diesen Knotenpunkt als leeren Signifikanten. Er repräsentiert die vollkommene, aber letztlich unmögliche Identität einer Gemeinschaft. Leere Signifikanten repräsentieren gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner verschiedener Elemente und verknüpfen diese damit in einen diskursiven Zusammenhang. Je größer die Menge der Elemente innerhalb eines solchen Zusammenhangs, desto kleiner wird deren gemeinsamer Nenner und desto unspezifischer muss auch der leere Signifikant werden – daher die Bezeichnung leerer Signifikant. Mit der Verkörperung einer Vielzahl von Elementen nach außen geht also zwangsläufig eine Sinnentleerung des Vertreters einher (s. Abbildung 3). Der leere bzw. entleerte Signifikant befindet sich also in einer ambivalenten Rolle: Auf der einen Seite repräsentiert er eine Kette disperser Elemente und auf der anderen Seite wird der Signifikant damit weitgehend bedeutungsleer. Die Frage, welche Signifikanten zu einem bestimmten Zeitpunkt als leere Signifikanten funktionieren und wie diese (immer wieder) mit Bedeutung gefüllt werden, ist eine Frage hegemonialer Auseinandersetzung (Laclau 2002 [1996]; Nonhoff 2006: 124ff.). Abbildung 3: Antagonistische Grenzziehung nach Laclau (2005)

Quelle: Mattissek 2008: 75, verändert nach Laclau 2005: 130

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Die Abbildung zeigt den Zusammenschluss verschiedener Partikularinteressen in einer Äquivalenzrelation. Laclau (2005: 130f.) zufolge sind diese Partikularinteressen (D1 bis D4) zunächst durch Differenz gekennzeichnet – in der Abbildung ist dies durch die unterschiedlichen unteren Hälften der Symbole für D 1 bis D4 dargestellt. Gleichzeitig sind alle diese Partikularinteressen aber äquivalent insofern, als sie in der Opposition gegenüber einem antagonistischen Außen vereint sind (dargestellt durch die antagonistische Grenze). Diese gemeinsame Abgrenzung wird symbolisiert durch einen bestimmten Signifikanten der Äquivalenzkette, in diesem Fall D1, der die Rolle des tendenziell leeren Signifikanten übernimmt und damit eine Doppelfunktion einnimmt: Auf der einen Seite bezeichnet er noch immer das Partikularinteresse D 1, auf der anderen Seite steht er aber auch stellvertretend für die diskursiv etablierte Abgrenzung der Äquivalenzkette nach außen. Die Etablierung einer neuen hegemonialen Ordnung und damit eines neuen Antagonismus wird dann nötig, wenn die etablierte diskursive Ordnung destabilisiert wird. Diesen Vorgang bezeichnet Laclau als Dislokation (s.o.). Dislokationen machen die Ausbildung ganzer, permanenter Identitäten unmöglich. Die Herausbildung eines Antagonismus ist eine mögliche – diskursive – Antwort auf die Dislokation, welche die Ursache für die Dislokation in einem antagonistischen Gegner verortet: „[A]ntagonism is not only the experience of a limit to objectivity but also a first discursive attempt at mastering and reinscribing it.“ (Laclau 2001 in einem Interview, zit. nach Norris 2006: 133, FN 35) Jedes soziale Kollektiv, jede politische Gemeinschaft beruht also Laclau und Mouffe zufolge auf einem Prozess der Grenzziehung, der den Diskurs in einen Bereich des „Eigenen“ und einen des „Anderen“ unterteilt. Dieser Mechanismus der Ausbildung antagonistischer Äquivalenzrelationen ist damit ein konstitutiver und notwendiger Bestandteil von Gesellschaft; sein jeweiliger Inhalt, also die Frage, welche Elemente hier mit Berufung auf welche Gemeinsamkeiten miteinander verknüpft werden, beruht jedoch auf keinerlei vordiskursiven Kausalitäten und ist Gegenstand hegemonialer Auseinandersetzungen. Gemeinschaften wie „die Basken“, „die Muslime“ und politische Zusammenschlüsse wie „die Gemeinschaft erdölexportierender Staaten“ etc. stellen danach also keine objektiv gegebenen oder zwingenden, quasinatürlichen Zusammenschlüsse dar. Vielmehr beruhen sie auf spezifischen Abgrenzungsprozessen nach außen, durch die eine innere Einheit erst hergestellt wird.

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Exkurs: Beispiele für hegemonial repräsentierte Äquivalenzrelationen Hegemonial repräsentierte Äquivalenzrelationen lassen sich aus der Perspektive der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe in verschiedensten Lebensbereichen und politischen Kontexten beschreiben. Auf der Ebene transnationaler bzw. (anti-)globaler Politik repräsentiert etwa das Label „ATTAC“, das ursprünglich „nur“ eine Initiative gegen Finanzspekulationen war (association pour une taxation des transactions financières pour l’aide aux citoyens, dt. „Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger“), mittlerweile eine Vielzahl ausgesprochen heterogener Ansprüche und Widerstände gegen „die Globalisierung“, die von Forderungen von Gewerkschaftsvertretern über antirassistische und antikapitalistische Bewegungen bis hin zu neonationalistischen Interessen oder Ansprüchen kultureller Autonomie reichen. Ein weiteres Beispiel ist das Schlagwort „grüner Politik“. Wie Stavrakakis (2000) zeigt, hat sich „grün“ zu einem Repräsentant für eine ganze Reihe zunächst unverbundener Partikularinteressen (ökologisch, feministisch, pazifistisch …) entwickelt. Die Diskurstheorie befähigt, die Idee von „vorgestellten Gemeinschaften“ (Anderson 1988 [1983]) wie Nationen, Ethnien, politische Gruppen, Sprachgemeinschaften etc. konzeptionell zu schärfen: Die Erinnerung historischer Konflikte, die Idee einer gemeinsamen Hautfarbe oder Sprache funktionieren als Knotenpunkte, welche eine Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Elementen definieren, diese gegenüber einem Außen abgrenzen und so eine Gemeinschaft herstellen (genauer dazu bspw. Norval 1996; Keohane 1997; Sarasin 2003; Glasze 2013). Der leere Signifikant ist dabei nicht Abbild oder Beschreibung einer existierenden Gemeinschaft, sondern die Gemeinschaft konstituiert sich vielmehr erst durch die gemeinsame Identifikation der einzelnen Elemente mit diesem Knotenpunkt. „The unity of the object is a retroactive effect of naming it.“ (Laclau 2005: 108) Auch wenn wir handeln, als ob Identitäten, d.h. als ob Nationen, Ethnien, Sprachgemeinschaften etc., objektiv gegebene Fakten seien, so muss diese soziale Wirklichkeit als das historische Ergebnis von politischen Prozessen gelesen werden – als sedimentierter Diskurs. Laclau und seine Schüler*innen sprechen daher folglich nicht länger von sozialer, sondern von politischer Identität (bspw. Stavrakakis 2001).

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Normativität und politische Positionierung aus diskurstheoretischer Perspektive: das Konzept der radikalen Demokratie Der Diskurs- und Hegemonietheorie wird vielfach vorgeworfen, mit der Betonung von Kontingenz eine normative Positionierung unmöglich zu machen. Damit werde es für diese Theorie letztlich unmöglich, Kritik an gesellschaftlichen Zuständen leisten zu können – so der Vorwurf. Eine mögliche Antwort auf dieses Dilemma bietet das von Laclau und Mouffe in den 1980er Jahren entwickelte (Laclau/Mouffe 1985: 149ff.) und später von Mouffe weiter ausgearbeitete normative Ziel einer „radikalen Demokratie“ (Mouffe 1988, 2000, 2005 [1993], 2007 [2004], 2007 [2005]). Das Konzept der radikalen Demokratie baut unmittelbar auf den theoretisch-konzeptionellen Grundlagen der Diskurstheorie auf, geht also von einem prozessualen Verständnis von Identität aus und fasst die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv konstituiert, damit kontingent und niemals endgültig fixiert. Vor dem Hintergrund, dass es keine absoluten und ewig gültigen Wahrheiten gibt, sei es für eine „radikale Demokratie“ notwendig, den Dissens anzuerkennen. Mouffe lehnt daher Vorstellungen einer „perfekt harmonischen“ Gesellschaft als letztlich gefährliche „Träume“ ab. Vielmehr regt sie an, die inhärente Un-Logik des Diskurses, seine niemals vollständig aufzulösenden Brüche, Differenzen und Widersprüche als notwendigen Bestandteil sozialer Wirklichkeit anzuerkennen und als Potenziale für eine fortwährende Debatte um die Gestaltung von Gesellschaft zu nutzen. Das Konzept der radikalen Demokratie will also das Potenzial der Diskurstheorie, Identitäten nicht essenzialistisch zu fassen, sondern als immer nur temporäre und kontingente Versuche der Fixierung zu konzeptualisieren, für die gesellschaftliche Praxis erschließen. „Only if it is accepted that the subject positions cannot be led back to a positive and unitary founding principle – only then can pluralism be considered radical.“ (Laclau/Mouffe 1985: 167) Damit soll es möglich werden, in den unvermeidlichen politischen Auseinandersetzungen den anderen nicht als „Feind“, sondern als legitimen „Gegner“ zu verstehen (Mouffe 2007 [2004]: 45). Bei aller Anerkennung und Betonung der Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Beziehungen muss Mouffe allerdings eingestehen, dass diese Transformation ein gewisses Maß an Konsens bezüglich der „konstitutiven ethisch-politischen Prinzipien“ der Demokratie voraussetzt (ebd.: 46). Es überrascht daher nicht, dass einige Kritiker*innen den Arbeiten von Laclau und Mouffe sowie dabei insbesondere dem Konzept einer „radikalen Demokratie“ vorwerfen, dass es die Bedeutung politischer Institutionen und des

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Staates vernachlässige (bspw. Jörke 2004; Hirsch 2007). Eine Konsequenz dieser Vernachlässigung ist der Kritik zufolge, dass das analytische PopulismusKonzept – welches Laclau und Mouffe in der Spätphase ihrer Tätigkeit theoretisch ausarbeiten (Laclau 2005) und politisch propagieren (Mouffe 2018) – die Gefährdung demokratischer Prozeduren durch politische Bewegungen, die für sich beanspruchen, für „das Volk“ zu sprechen, unterschätzt (s. Exkurs). Andererseits muss jedoch betont werden, dass es Mouffe ja gerade darum geht, die Notwendigkeit des Aufbaus formaler demokratischer Institutionen aus der radikalen Kontingenz gesellschaftlicher Verhältnisse und der Unvermeidlichkeit politischer Auseinandersetzungen abzuleiten. Ihr Konzept lehnt damit die formalen politischen Strukturen keineswegs ab (s. dazu auch Hetzel 2017).

Exkurs: Populismus aus der Perspektive von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Im Jahr 2005 publizierte Ernesto Laclau das Buch „On populist reason“ (als Paperback 2018 von Verso neu aufgelegt). Dieses stellt in erster Linie eine Ausformulierung und Weiterentwicklung seiner Hegemonietheorie dar. Laclau argumentiert, dass jegliche Konstitution einer politischen Gemeinschaft seinem Verständnis nach notwendigerweise immer auch „populistische“ Elemente aufweist. Im Kern wird damit das oben beschriebene Wechselverhältnis aus Äquivalenz- und Differenzbeziehungen bezeichnet: Um eine gewisse Wirkmacht in der Durchsetzung unerfüllter partikularer Interessen („demands“) zu erreichen, müssen diese als Teil einer universellen Gemeinschaft bzw. universeller Forderungen erscheinen, d.h. in Äquivalenzbeziehungen mit anderen Forderungen eintreten: „The frustration of a series of social demands makes possible the movement from isolated democratic demands to equivalential popular ones.“ (Laclau 2005: 85) Wie Simon Bohn (2017) treffend schreibt, liefert Laclau damit eine theoretische Konzeption zum Verständnis und zur Analyse populistischer Ansätze. Den Populismus als Ideologie diskreditiert er dabei explizit nicht. Das Insistieren auf die konstitutive Notwendigkeit populistischer Aspekte zur Formierung politisch handlungsfähiger Gruppen hat vielmehr zur Konsequenz, dass analytisch keine klare Grenze zwischen populistischen und nicht-populistischen Politiken gezogen werden kann. In der politischen Praxis haben sich verschiedene „linksorientierte“ politische Projekte in Lateinamerika, aber auch in Europa (bspw. Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland) explizit auf das Populismus-Konzept von Laclau bezogen. Vielfach werden dabei argumentative Bezüge auf „das Volk“ damit legitimiert,

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dass diese Bezüge nicht rechten Positionen überlassen werden sollten (explizit in ähnlicher Weise vgl. auch Mouffe 2018). Es ist aber zumindest fraglich, ob solche Bezüge auf „das Volk“ nicht immer Gefahr laufen, den Gegner in politischen Auseinandersetzungen zu diskreditieren und autoritäre Strukturen zu legitimieren (s. bspw. die Kritik durch Žižek 2006). Gerade vor diesem Hintergrund erscheint es terminologisch problematisch, dass Laclau einen allgemein gedachten Mechanismus der Formierung politisch handlungsfähiger Gruppen mit dem Begriff „Populismus“ verknüpft. Ein Begriff, der zumindest im Kontext der europäischen Geschichte eine problematische Nähe zu autoritären und exkludierenden Ideen von „Volksherrschaft“ und „Volkswille“ aufweist. Die Grundlagen und Voraussetzungen der radikalen Demokratie verorten Laclau und Mouffe in den symbolischen Ressourcen des demokratischen Diskurses. Mit der Französischen Revolution seien Freiheit und Gleichheit als grundlegende Knotenpunkte der Konstruktion des Politischen etabliert worden (zusammenfassend dazu vgl. Jörke 2004: 173). Vor diesem Hintergrund könne eine radikale Demokratie ein doppeltes emanzipatorisches Potenzial entwickeln: Zum einen könne das Konzept „Gleichheit“ auf immer weitere Bereiche des Sozialen ausgedehnt werden (d.h. immer weitere soziale Ungleichheiten als kontingent, damit politisch und veränderbar, konzeptualisiert werden). Und zum anderen können partikulare Setzungen, d.h. Versuche der Fixierung, immer wieder aufs Neue hinterfragt und aufgebrochen werden. So könne auch die Vorstellung einer klaren Trennung zwischen Zivilgesellschaft und Politik aufgebrochen und jeder Bereich von Gesellschaft als Gegenstand hegemonialer Auseinandersetzungen und damit von Politik konzeptualisiert werden. „The distinction public/private, civil society/political society are only the result of a certain type of hegemonic articulation, and their limits vary in accordance with the existing relations of forces at a given moment.“ (Laclau/Mouffe 1985: 185) Das Konzept der radikalen Demokratie eröffnet damit neue Perspektiven für eine kritische Wissenschaft: So können wissenschaftliche Arbeiten dazu beitragen, soziale Strukturen als Sedimentierungen zu fassen, die Prozesse der Sedimentation zu analysieren und damit immer wieder den kontingenten und veränderbaren Charakter jeglicher sozialer Strukturen herauszuarbeiten.

Hegemonie- und Diskurstheorie

Überlegungen zur Bedeutung raumbezogener Identitätskonzepte Auf der Basis der Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe lässt sich ein politisches Konzept von Raum und Identitätskonstruktionen, die sich auf bestimmte Räume beziehen, entwickeln (Felgenhauer 2021). Bezüge zu Räumen können demnach als Versuche interpretiert werden, die Hegemonie eines Diskurses zu stabilisieren. Die Artikulation von Hier-dort-Differenzierungen in Texten, Bildern und (materiellen) Praktiken erlaubt, die Zweiteilung des diskursiven Feldes als vermeintlich evidente territorial-erdräumliche Differenzierung zu konstituieren. So erscheint es vielfach „ganz natürlich“, dass zwischen Nationalstaaten, Kulturerdteilen oder Regionen objektiv beschreibbare Unterschiede bestehen: Hier ist es anders als dort, in Europa ist es anders als in den USA, im Umland ist es anders als in der Stadt und im Westen ist es anders als im Orient. Diese Grenzziehungen sind dabei insofern machtgeladen, als dass dabei vielfach ein „Wir“ und „Hier“ als das Richtige und Gute gegenüber einem defizitären, bedrohlichen und unnormalen „fremden Dort“ konstituiert werden. Signifikanten, über die räumlich-territoriale Differenzen hergestellt werden (wie bspw. „der Westen“), können vielfach als Knotenpunkte und tendenziell leere Signifikanten interpretiert werden, die Gemeinschaft konstituieren (Dzudzek/Glasze/Mattissek 2013). Räume sind damit Ergebnisse hegemonialer Diskurse und tragen gleichzeitig zur Naturalisierung und Stabilisierung hegemonialer Diskurse bei. Die Diskurstheorie bietet vor diesem Hintergrund die Chance, jene Prozesse zu untersuchen, die zu der vermeintlichen Objektivität und Gegebenheit spezifischer Räume führen, und die Machtbeziehungen aufzuzeigen, die in diesen Konstruktionen angelegt sind. Die große Bedeutung raumbezogener Identitätskonstruktionen erklärt sich aus der hohen Glaubwürdigkeit solcher Raumkonstitutionen. Diese rührt in erster Linie daher, dass gesellschaftliche Differenzierungen objektiviert und naturalisiert werden, indem sie mit einer räumlichen Hier-dortDifferenzierung verknüpft werden. Raumbezogene Identitätskonzepte scheinen daher eine große Rolle in zahlreichen sozialen Prozessen zu spielen – und dies auf verschiedenen Maßstabsebenen, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen.

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Fallstudie: Konstitution städtischer Identität in Abgrenzung vom Umland Mithilfe der diskurstheoretischen Terminologie von Laclau und Mouffe kann am Beispiel der sprachlichen Repräsentation des Verhältnisses zwischen Kernstadt und Umland gezeigt werden, wie „die Stadt“ (in diesem Fall die Stadt Frankfurt am Main) sich mittels diskursiver Abgrenzungsprozesse vom Umland bzw. der Region als soziale Gemeinschaft konstituiert. Grundlage der Analyse ist ein Textkorpus mit den Protokollen aller Stadtverordnetenversammlungen der Stadt Frankfurt am Main aus den Jahren 19932005. Aus diesem Textkorpus wurden alle Passagen extrahiert, in denen über Formulierungen wie „wir in Frankfurt“, „wir Frankfurter“ oder „wir hier in Frankfurt“ auf eine spezifische, raumbezogene Frankfurter Identität Bezug genommen wurde. Mithilfe lexikometrischer Auswertungen (s. Kap. 14: Dammann et al. 2021) wurde dann analysiert, welche Begriffe in der unmittelbaren Umgebung dieser Formulierungen7 statistisch signifikant häufiger auftraten als im Rest der Texte (Mattissek 2007). Die Auswertung zeigte, dass sich im Kontext dieser Suchausdrücke u.a. andere raumbezogene Signifikanten wie „Städte“, „Land“ (= Bundesland Hessen) sowie insbesondere die Begriffe „Umland“ und „Region“ häuften. In der näheren Analyse der entsprechenden Textpassagen wurde deutlich, dass es bestimmte Argumentationsmuster gibt, die an diesen Stellen immer wieder auftreten und in denen das Verhältnis zwischen der Stadt Frankfurt und der Region bzw. dem Umland diskursiv hergestellt wird. Generell lassen sich eine ganze Reihe diskursiver Argumentationsmuster ausmachen, in denen das Umland als Einheit hergestellt wird, welche die Stadt daran hindert, sich wirtschaftlich voll zu entfalten, eine „gesunde“ Sozialstruktur auszubilden etc. So wird bspw. argumentiert, die Stadt halte Infrastruktureinrichtungen (z.B. Theater, Krankenhäuser und Altenheime) vor, die vom Umland/der Region mitgenutzt würden, ohne dass diese Gemeinden sich in ausreichendem Maße an den Kosten beteiligten. Gleichzeitig entzögen die Umlandgemeinden der Stadt über Suburbanisierungsprozesse (Wohnmigration in die Peripherie der Städte) Ressourcen in Form von Steuereinnahmen. Diese sprachlichen Strukturierungen des Verhältnisses von Stadt und Umland sind eng verkoppelt mit institutionellen Verhältnissen: So werden etwa auch öffentliche Einnahmen und Ausgaben (Arbeitslosenhilfe, Zuschüsse zum sozialen Wohnungsbau etc.) auf die entsprechenden räumlichen Einheiten be7

255 Zeichen vor und nach dem Suchausdruck.

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zogen eingezogen bzw. verteilt. Im Sinne von Laclau können diese territorial definierten Praktiken der Mitteleinnahmen und -zuweisungen (bspw. kommunaler Finanzausgleich etc.) als sedimentierte Diskurse verstanden werden, in denen die Stadt Frankfurt und ihr Umland als distinkte Einheiten mit spezifischen sozialen Relationen reproduziert werden. Auf der sprachlichen Ebene zeigen sich diese Strukturierung des Diskurses und die daraus resultierende Konstitution einer kollektiven Identität Frankfurts bspw. in den folgenden zwei Zitaten: „In einem Gutachten hat die Landesregierung ermitteln lassen, welche kulturellen Einrichtungen im Ballungsraum Rhein-Main überregionale Bedeutung haben und von wem sie besucht werden. Bestätigt hat sich genau das, was wir hier in Frankfurt nun schon lange gesagt und auch in unseren eigenen Untersuchungen belegt haben. Demnach befinden sich 90 Prozent der kulturellen Leuchttürme der Region in Frankfurt, 30 Prozent der Besucherinnen und Besucher kommen aus dem Ballungsraum, 13 Prozent aus dem übrigen Hessen, aber die Finanzierung liegt zu 90 Prozent bei der Stadt Frankfurt am Main. Das kann so nicht bleiben, da müssen wir ganz eindeutig fordern, dass sich die Region beteiligen muss.“8 „Während [in Frankfurt, Anm. AM] immer mehr Wohnungen für vermeintlich sozial Schwächere entstanden sind, haben sich Bürgerinnen und Bürger, die aus Frankfurt kommen, die nicht mehr in der Lage waren, sich ein Häuschen zu bauen, eben dieses Haus im Umland gekauft, und somit ist auch die einkommensteuerabhängige Ertragskraft dieser Bürger ins Umland gezogen. Was zur Folge hatte, dass die Umlandgemeinden an Wohlstand gewonnen haben, während wir in Frankfurt eine Situation haben, die uns Angst und Bange machen muss, ob diese Stadt zukunftsfähig sein kann. Wir haben überproportional viele ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger in dieser Stadt. Verglichen mit anderen Großstädten leben hier mehr ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger und auch sozial schwache Menschen.“9

Die Region und das Umland werden also sowohl auf der sprachlichen Ebene als auch über damit verknüpfte institutionalisierte Praktiken als antagonistisches Anderes der Stadt konstruiert, welches die Prosperität der Stadt gefährdet. In der Abgrenzung von einem die eigene Identität bedrohenden „Außen“ (der Re8

Dr. Renate Wolter-Brandecker, SPD, Protokoll der 46. Plenarsitzung der Stadtverordnetenver-

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Volker Stein, FDP, Protokoll der 21. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt

sammlung Frankfurt am Main vom 14.7.2005. am Main vom 27.3.2003.

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gion oder dem Umland) konstituiert sich die städtische Gemeinschaft Frankfurts als soziale Einheit. Innerhalb der Stadt bestehende Unterschiede werden dadurch homogenisiert und Konflikte – etwa zwischen relativ wohlhabenden Familien, die sich einen Umzug ins Umland leisten können und anderen Bevölkerungsgruppen wie etwa Senioren, Migranten oder Sozialhilfeempfängern – territorialisiert.

Fallstudie: Konstitution einer weltumspannenden Gemeinschaft Ausgangspunkt der Studie ist eine traditionelle Fragestellung der Geographie: Wie kann die Existenz einer „internationalen Gemeinschaft“ und eines „geokulturellen Raums“ verstanden, d.h. konzeptualisiert und analysiert werden? Die Internationale Organisation der Frankophonie (Organisation Internationale de la Francophonie) definiert sich selbst als „internationale Gemeinschaft“ von mehr als 60 Staaten und Regionen sowie als „geokultureller Raum“. Ziel der Fallstudie war es, aus einer diachronen Perspektive herauszuarbeiten, um welche Knotenpunkte die frankophone Gemeinschaft artikuliert, welche Äquivalenzketten dabei gebildet und welches Außen jeweils konstituiert wurde. Dafür wurden mehrere diachrone Textkorpora mit Serien von Texten als Grundlage für korpuslinguistisch-lexikometrische Analysen (zur Methodik s. Kap. 14: Dammann et al. 2021) sowie die Untersuchung komplexer Artikulationen mithilfe kodierender Verfahren (zur Methodik s. Kap. 17: Glasze/Husseini de Araújo/Mose 2021) etabliert. Ergänzend wurde die diskursive Herstellung von Bedeutung in Bildern sowie die Sedimentierung und Desedimentierung von Diskursen in formalen Institutionen und Organisationen untersucht (Glasze 2013). Auf dieser Basis lässt sich herausarbeiten, dass die Frankophonie in den 1960er Jahren ein Versuch war, nach der Dislokation des Kolonialdiskurses eine neue Ordnung um den Knotenpunkt langue française zu etablieren. Im frühen Frankophoniediskurs werden Topoi der „Universalität“, „Klarheit“ und „Präzision“ der französischen Sprache mit den Topoi des „Andersseins“ und der „Verschiedenheit“ verknüpft. Der Frankophoniediskurs verbindet damit Artikulationsmuster des Kolonialdiskurses mit Mustern, welche die antikolonialen Diskurse der Unabhängigkeitsbewegungen prägen. Die französische Sprache wird dabei in den Rang gehoben, trotz (!) einer Vielfalt von „Rassen“ (sic!), „Religionen“ und „Kontinenten“ eine Gemeinschaft zu begründen. Langue française kann damit als Knotenpunkt und leerer Signifikant des frühen Frankophoniediskurses interpretiert werden, der es nach der Dislokation des Kolonialdiskurses ermöglicht, dass differente Elemente in eine Äquivalenzbeziehung treten und

Hegemonie- und Diskurstheorie

sich gleichzeitig gegenüber einem antagonistischen Außen abgrenzen – dem Kolonialismus. In frankophoniekritischen Texten werden langue française und francophonie hingegen mit „Autokratie“ und „Neokolonialismus“ äquivalent gesetzt (ebd.). Ab Ende der 1980er und v.a. in den 1990er Jahren beginnt eine Verschiebung des Frankophoniediskurses. Zum einen wird das Wort francophonie zunehmend häufig benutzt – die Wortfolge langue française hingegen seltener. Darüber hinaus wird francophonie mit Begriffen wie „Frieden“ und „Demokratie“ verknüpft, die im Kontext der internationalen Beziehungen insbesondere nach 1990 für das Gute und Richtige stehen. Ende der 1990er Jahre stabilisiert sich der Frankophoniediskurs dann um einen neuen Knotenpunkt. Die lexikometrischen Analysen zeigen, dass auf den Gipfelkonferenzen der Frankophonie seit 1999 signifikant häufiger von „kultureller Vielfalt“ gesprochen wird als auf den früheren Gipfelkonferenzen. Mithilfe kodierender Verfahren konnte herausgearbeitet werden, dass an die Stelle von langue française nun diversité culturelle als neuer Knotenpunkt getreten ist (s. dazu auch Kap. 17: Glasze/Husseini de Araújo/ Mose 2021). „Kulturelle Vielfalt“ und „Frankophonie“ werden im neuen Diskurs einer uniformisierenden und homogenisierenden – angelsächsisch dominierten – Globalisierung gegenübergestellt. Diese Zweiteilung des diskursiven Feldes macht die Frankophonie ab Ende der 1990er Jahre zum Knotenpunkt einer Allianz aller Elemente, die gegen eine homogenisierende und uniformisierende Globalisierung sind. Gleichzeitig werden die organisatorischen Strukturen der Frankophonie gestärkt und der Posten eines Generalsekretärs geschaffen (Glasze 2007, 2013). Im Frankophoniediskurs ist regelmäßig von „frankophonen Ländern“ bzw. einem „frankophonen Raum“ die Rede. In Karten und weiteren Visualisierungen wird die Frankophonie als Territorium dargestellt. Mit diesen Verknüpfungen von francophonie mit Territorial-Räumlichem wird die Gegebenheit eines frankophonen Raums und damit der Frankophonie naturalisiert. Die Existenz der Frankophonie erscheint damit als evident. Auf diese Weise wird also der Frankophoniediskurs in gewisser Weise gegen Kritik immunisiert und damit stabilisiert (ebd.). Die Ergebnisse der Fallstudie zeigen, dass die Sedimentierung des Diskurses in formalisierten Institutionen und v.a. in Organisationen den Diskurs über die Zeit stabilisiert. Mit den Organisationen wird die Artikulation koordiniert, und zudem werden Sprecherpositionen etabliert, von denen aus im Namen der Gemeinschaft und als Gemeinschaft artikulatorische Akte vollzogen werden können. Darüber hinaus geben die Ergebnisse Hinweise darauf, dass sich erfolgreiche hegemoniale Diskurse dadurch auszeichnen, dass sie Äquivalenzverbin-

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Georg Glasze, Annika Mattissek

dungen zu Signifikanten etablieren, die im jeweiligen diskursiven Kontext bereits hegemonial und als Hochwertbegriffe quasi unhinterfragbar sind. In Gegendiskursen scheinen hingegen genau die Elemente äquivalent gesetzt zu werden, die im hegemonialen Diskurs als das antagonistische Andere artikuliert werden.

Fazit und Ausblick Die Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe bildet seit dem Erscheinen von „Hegemony & socialist strategy“ 1985 einen wichtigen Bezugspunkt konzeptioneller Debatten im Kontext poststrukturalistisch informierter und politisch ausgerichteter Diskursforschung. Die Bedeutung der Theorie für empirische Arbeiten erklärt sich zum einen aus der konzeptionellen Schärfe und Kohärenz der Argumentation sowie zum anderen aus dem Umstand, dass Laclau und Mouffe eine Reihe von Konzepten wie bspw. Antagonismus, Hegemonie und Identität für die Diskursforschung fruchtbar gemacht haben. Somit steht ein Set an Konzepten zur Verfügung, welches in lebhaften Debatten weiterentwickelt wurde und wird (s. bspw. Stäheli 1995; Stavrakakis 1998; Glynos/Stavrakakis 2004; Howarth 2004; Marchart 2004, 2017; Nonhoff 2006; Angermüller 2007; Reckwitz 2011; Marttila 2018). Stärken der Diskurs- und Hegemonietheorie liegen in der Konzeptualisierung der diskursiven Herstellung kollektiver Identitäten sowie in der Ausarbeitung eines umfassenden Begriffs des Politischen. Arbeiten aus der Geographie fragen vor diesem Hintergrund nach der Bedeutung räumlicher Differenzierungen für die (Re-)Produktion von Identitäten und insgesamt gesellschaftlichen Grenzlinien. Die Analyse von letztlich allen gesellschaftlichen Strukturen als sedimentiert, hergestellt und kontingent ermöglicht, auch Konflikte und Marginalisierungen jenseits der formalen Arena der institutionalisierten Politik ins Blickfeld zu nehmen – und nicht zuletzt diese Arenen ebenfalls als kontigent, hergestellt und veränderbar zu fassen (bspw. Mattissek 2005, 2008; Glasze 2007, 2013; Brailich et al. 2009; Dikeç 2013; Dzudzek 2013; Strange 2013; Mullis 2017). Vergleichweise wenig widmen sich Laclau und Mouffe den sedimentierten Formen des Sozialen, d.h die Theorie bietet kaum Werkzeuge, um unterschiedliche Formen sozialer (und damit auch räumlicher) Organisation zu differenzieren. Das Forschungsdesign diskurstheoretisch orientierter Arbeiten in den Sozial- und Kulturwissenschaften konzentrierte sich dabei zunächst v.a. darauf, in welcher Form zentrale Konzepte wie „Antagonismen“, „Hegemonie“ oder „lee-

Hegemonie- und Diskurstheorie

rer Signifikant“ für die empirische Forschung „übersetzt“ werden können. Die Ableitung dieser Konzepte aus (post-)strukturalistischen Ansätzen und die Inspiration, die insbesondere Laclau aus Ansätzen der Rhetorik gezogen hat, haben es dabei nahegelegt, die Herstellung spezifischer sozialer Wirklichkeiten in Texten zu untersuchen (s. auch die Methodenkapitel dieses Buches). Der konzeptionell weite bzw. umfassende Diskursbegriff von Laclau und Mouffe eröffnet aber auch Bezüge zu Arbeiten, die nach der Herstellung sozialer Wirklichkeiten in materiellen bzw. körperlichen Praktiken (s. Kap. 12: Baumann/LahrKurten/Winkler 2021 sowie Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015; Baumann 2018; Winkler 2021) oder in soziotechnischen Assemblagen fragen (s. Kap. 13: Wiertz 2021 zu Diskurs und Materialität sowie Bittner/Glasze/Turk 2013).

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B Raumbegriffe in der Diskursforschung

Die drei Kapitel in diesem Teil diskutieren, wie theoretische Angebote aus der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursforschung mit den raumtheoretischen Debatten der Humangeographie in einen Dialog gebracht werden können. Dabei werden zum einen jene Teile der Werke diskurstheoretischer Autor*innen wie Michel Foucault, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau akzentuiert, die sich explizit mit Raum (in unterschiedlichen Lesarten) befassen, zum anderen werden Debatten zu Rolle und Konzeptualisierung gesellschaftlicher Räumlichkeit aus der neueren Sozial- und Kulturgeographie aufgegriffen und neu interpretiert. Sybille Bauriedl präsentiert in Kapitel 6 anhand ihrer Ausführungen zu konstruktivistischen Raumbegriffen Aspekte und analytische Dimensionen einer kritischen Raumtheorie sowie daraus abgeleitete Anknüpfungspunkte für die sozialwissenschaftliche Diskursforschung. Ihr zentrales Argument ist, dass die raumtheoretische Debatte in der neueren Sozial- und Kulturgeographie – bei allen internen Differenzierungen – davon ausgeht, dass es keinen Raum an sich geben kann, der unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen besteht. Vielmehr muss Raum als machtdurchzogene und prozesshafte Dimension von Gesellschaft verstanden werden. Auf der Basis dieses grundsätzlich konstruktivistischen Verständnisses wird Raum folglich sowohl als Bedingung als auch Effekt diskursiver Praxis interpretiert. Darauf aufbauend diskutiert Bauriedl vier Analysedimensionen von Raum, in denen physische, soziale, zeitliche, relationale und maßstäbliche Aspekte ins Verhältnis zu diskurstheoretischen Ansätzen gebracht werden. In Kapitel 7 setzt sich Georg Glasze mit dem Raumbegriff bei Ernesto Laclau auseinander – sowie mit der Zurückweisung dieses Raumbegriffs durch die britische Geographin Doreen Massey. Laclau fasst Raum als die letztlich unmögliche Fixierung von Strukturen und stellt diesem Raumbegriff die Dynamik

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Georg Glasze, Annika Mattissek

dislozierender Ereignisse gegenüber. Massey wirft Laclau vor, damit gerade jene Vorstellungen von Raum als unveränderlicher und apolitischer Struktur zu reproduzieren, die die neuere raumtheoretische Debatte in der Humangeographie Ende des 20. Jahrhunderts überwunden hat. Aufbauend auf weiteren Beiträgen aus der Politischen Theorie und der Geographie argumentiert Glasze, dass dieses Beispiel die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Austauschs zwischen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Debatten verdeutlicht – aber gleichzeitig auch dessen Chancen und Potenziale. Nadine Marquardt und Verena Schreiber loten in Kapitel 8 „Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden“ systematisch aus, welche Perspektiven die Arbeiten Michel Foucaults für sozialwissenschaftliche Untersuchungen gesellschaftlicher Räumlichkeit eröffnen. Dabei orientieren sie sich auch an Forderungen der Sozial- und Kulturwissenschaften, die Wirkmächtigkeit von Materialität konzeptionell in Theorien einzubeziehen. Wie eine solche Re-Materialisierung möglich ist, ohne in deterministische Denkmuster zu verfallen, diskutieren sie in drei Etappen: erstens anhand der räumlichen Komprimierung gesellschaftlicher Utopien und Krisen, zweitens in Form räumlicher Zugriffe auf Körper und damit verbundener Strategien der Individualisierung und drittens in der Analyse räumlicher Strategien der Selbststeuerung.

6 Impulse geographischer Raumtheorien für eine raum- und maßstabskritische Diskursforschung Sybille Bauriedl

In den Sozial- und Kulturwissenschaften wird unter dem Label des spatial turn seit Ende der 1990er Jahre eine umfangreiche Auseinandersetzung geführt über die Wechselwirkung von Gesellschaftsverhältnissen und die Art und Weise, wie Räume gedacht, wahrgenommen und gestaltet werden. Eine Diskursanalyse kann hierbei Hinweise geben zur symbolischen Strukturierung von Gesellschafts- und Raumverhältnissen und deren handlungsermöglichende und disziplinierende Effekte. Die Impulsgeber für den spatial turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften sind vielfältig. Eine raumtheoretische Debatte lässt sich mindestens bis Anfang der 1970er Jahre zurückverfolgen (vgl. Lefebvre 1991 [1974]). Da diese seit Mitte der 1980er Jahre insbesondere auch in der Humangeographie geführt wurde und wird, sollen die geographische Auseinandersetzung und deren wissenschaftstheoretischen und empirischen Implikationen hier im Zentrum stehen. Zentrale Protagonist*innen der kritischen Raumtheorie in der Geographie sind u.a. Neil Smith (1984), Edward Soja (1989), Doreen Massey (1994) und David Harvey (1996). In den letzten Jahren wurde ebenfalls von Geograph*innen eine kritische Auseinandersetzung über die Zusammenführung raumtheoretischer und diskurstheoretischer Ansätze angestoßen (vgl. Elden/Crampton 2007; Füller/Michel 2008). Für die deutschsprachige Forschung hat die feministische Geographie Michel Foucaults Ansätze für raumbezogene Fragestellungen seit Ende der 1990er Jahre erschlossen (vgl. Bauriedl et al. 2000; Bauriedl/Schier/ Strüver 2010; Schuster/Höhne 2017), die später auch u.a. in der geographischen Stadt-, Migrations- und Regionalforschung angewandt wurden. Eine Samm-

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Sybille Bauriedl

lung von geographischen Forschungsfeldern, die sich mit Michel Foucaults konzeptionellen Zugriffen auf Raumfragen auseinandersetzen, haben Henning Füller und Boris Michel herausgegeben (vgl. Füller/Michel 2012; zu den Wurzeln der Diskursforschung in der deutschsprachigen Humangeographie s. auch Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021). Die Diskursforschung hat mehrere theoretische Ausgangspunkte und ist in den letzten dreißig Jahren mit unterschiedlichen Ansätzen weiterentwickelt worden. Dieser Beitrag will jedoch die konzeptionellen und methodischen Differenzierungsangebote der raumtheoretischen Debatte vorstellen und kann daher die Diskursforschung an dieser Stelle nicht in ihrer Breite diskutieren. Da die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung sich auf die Rezeption der Ansätze von Foucault konzentrieren, wird vor allem auf das von ihm beschriebene Raumverständnis stellvertretend Bezug genommen. Die Problematik der geringen Differenzierung der verwendeten Raumbegriffe findet sich in ähnlicher Form auch in anderen diskurstheoretischen Ansätzen wieder. Auf der Suche nach einer expliziten Thematisierung der Analysedimension Raum in den Werken von Foucault unterscheidet Jonathan Murdoch einen „raumunsensiblen genealogischen Foucault“ und einen „raumsensiblen archäologischen Foucault“ (vgl. Murdoch 2006). Diskurstheoretisch fundierte und differenzierte Raumbegriffe stellt Foucault jedoch auch in der jüngeren archäologischen Phase nicht bereit. Entsprechend nehmen diskursanalytische Studien, die sich auf Foucault beziehen, unterschiedliche Raumdimensionen in den Blick, die oft nicht explizit gemacht und befriedigend reflektiert werden. Noch dazu ist der Begriff „Raum“ ein vielschichtiger Begriff der Alltagssprache und zudem in fremdsprachigen Übersetzungen an unterschiedliche Konnotationen geknüpft. Dieser Beitrag argumentiert daher, dass es für die Diskursforschung mehr bedarf als nur einer Sensibilität für die Dimension Raum, und schlägt mit Verweis auf die geographische Raumtheorie eine raumkritische Fundierung vor. Als „kritisch“ ist eine Raumtheorie zu verstehen, die gesellschaftliche Normierungen durch die Verwendung des Begriffs „Raum“ bzw. raumbezogener Konzepte und Essenzialisierungen bei der Analyse von Raumdimensionen reflektiert (z.B. identitätsbezogene Zuschreibungen durch Verweise auf die räumliche Herkunft von Personen). Auch wenn es keine einheitliche kritische Raumtheorie gibt, so gehen alle im Folgenden genannten Ansätze davon aus, dass es für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung keinen Raum an sich geben kann, der unbeeinflusst von Gesellschaftsverhältnissen ist. Diese grund-

Impulse geographischer Raumtheorien

sätzlich konstruktivistische Perspektive ist die Basis einer hohen Anschlussfähigkeit der kritischen Raumtheorie für die Diskursforschung. Ein differenziertes Raumverständnis bietet die Möglichkeit, dem diskurstheoretischen Anspruch, Raum gleichzeitig als Bedingung und Effekt diskursiver Praxis zu verstehen, analytisch näherzukommen. Hierfür lässt sich eine raumtheoretische Terminologie nutzen (vgl. Sturm 2000; Miggelbrink 2002; Redepennig 2006; Löw 2015). Für die geographische Raumtheorie ist außerdem die Maßstäblichkeit eine zentrale Raumdimension (vgl. Wissen 2008). Dieses Kapitel verfolgt das Ziel, zentrale Argumente der kritischen Raumtheorie nachzuvollziehen und damit die Potenziale und Grenzen für eine raumtheoretisch fundierte Erweiterung der Diskursforschung sichtbar zu machen. Als Argumentationsgrundlage dienen fünf Raumbegriffe der raumtheoretischen Diskussion, mit denen die unterschiedlichen Betrachtungsebenen benannt werden können, die für Diskursanalysen relevant sind, jedoch bislang kaum systematisch explizit gemacht werden: •









Physischer Raum: Die Diskursforschung untersucht die diskursive Hervorbringung und Legitimierung der materiellen Gestalt von institutionellen Räumen (Gefängnis, Psychiatrie usw.) und deren Ermöglichung und Disziplinierung sozialer Interaktionsformen. Sozialer Raum: Die Diskursforschung untersucht die Anordnung von Subjekt- und Diskurspositionen in sozialen Institutionen (Familie, Beruf, Regierung u.ä.) und deren Interaktionsnormen. Raum-Zeit: Die Diskursforschung untersucht primär eine genealogische Ordnung von Diskursen mit Blick auf räumliche Strukturierung als sekundäre Erklärungsvariable. Relationaler Raum: Die Diskursforschung untersucht die Bedeutung der räumlichen Bezüge unterschiedlicher Subjekte, Dinge und Diskurse und setzt deren Verortung miteinander in Verhältnis. Maßstäblichkeit: Die Diskursforschung untersucht diskursive vermittelte Normierungen von vertikal organisierten Interaktionsformen.

Die Struktur der folgenden Ausführungen orientiert sich an diesen Raumbegriffen. Der erste Abschnitt stellt die Konstruktions- und Konstitutionsbedingungen des physischen und sozialen Raums miteinander in Bezug, im zweiten Abschnitt wird das Konzept der Raum-Zeit als Erweiterung einer genealogischen Strukturierung in der Diskursforschung vorgestellt, der dritte Abschnitt fasst die Erkenntnispotenziale einer relationalen Raumperspektive für die Diskursforschung zusammen und der vierte Abschnitt stellt die Bedeutung einer

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maßstäblichen Perspektive auf die (An-)Ordnung von Diskursen heraus, um abschließend die Möglichkeiten einer Wissenssynthese von Diskurstheorien und Raumtheorien hervorzuheben.

Raum als Ort sozialer Un- und Anordnung Für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse kann der physische Raum nicht als Grundbedingung sozialer Interaktion betrachtet werden, da er immer schon das Ergebnis einer Syntheseleistung sozialer und kultureller Praxis darstellt. Erst „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst“ (Löw 2001: 159, vgl. auch Läpple 1991). Da diese Raumkonstitution im alltäglichen Handeln permanent abläuft, betont die kritische Raumtheorie die prozesshafte Dimension des Raums. Durch Bezeichnungen wie „verräumen“ (Bauriedl et al. 2000: 136) oder „spacing“ (Löw 2001: 158) wird versucht, diese Konstitutionspraxis auf den Begriff zu bringen. Die raumtheoretische Diskussion in der Geographie hat in den letzten Jahren gerade diesen Prozess der permanenten Reproduktion des Raums als Effekt und Bedingung gesellschaftlicher Interaktion betont. Eine zentrale Referenz dieser Raumbetrachtung ist Henri Lefebvre, der mit seinem Buch „The production of space“ (1991 [1974]) die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektiert, die die dingliche Gestalt des Raums hervorbringen. Sowohl physischer als auch sozialer Raum kann mit diesem Ansatz als Ausdruck dominanter Partikularinteressen gedeutet werden. Raumproduktion betrachtet Lefebvre als Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte und als Konfliktterrain permanenter gesellschaftlicher Normierungen. Für die Diskursforschung bedeutet dieser Ansatz, dass Gesellschaftsordnung und Raumstruktur von den gleichen Konstitutions- und Konstruktionsbedingungen gebildet werden und stets in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden müssen. Gerade dieser prozesshafte und machtdurchdrungene Raumbegriff macht die Ansätze der kritischen Raumtheorie anschlussfähig für die Diskursforschung. Die Verschränkung von Diskursivität und Räumlichkeit wird im urbanen Raum besonders deutlich. Auf der physischen Ebene – der städtischen Architektur und Infrastruktur, aber auch auf der Ebene unterschiedlicher Mobilitäts- und Aufenthaltsmuster – materialisieren sich Beziehungen von Form, Praxis und Diskursen unterschiedlicher Phasen der Stadtentwicklung (Huffschmid/Wildner 2009). Wo Machtverhältnisse ausgehandelt werden, entsteht Widerstand. Entsprechend interessiert sich z.B. Foucault sehr stark für normabweichende

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Räume, die er als „Heterotopien“, „andere Räume“ oder „Gegenorte“ beschreibt (Foucault 1986; vgl. Kap. 8: Marquardt/Schreiber 2021). Foucault macht die Wechselwirkung von Raum und Diskurs jedoch nicht in beide Richtungen explizit. Er konzentriert sich auf die konstituierende Bedeutung des Raums. Wenn Foucault z.B. in seinen frühen Studien Räume in Form einer psychiatrischen Klinik, eines Gefängnisses oder Museums untersucht, beschreibt er die Materialität der Gebäude als Ausgangspunkt seiner Analyse der Institutionalisierung sozialer Ordnung (Foucault 1977). Er zeigt damit die Wirkungsweise dieser räumlichen Materialität auf soziale Interaktionen. Der physische Raum wird hier als disziplinierend betrachtet aufgrund seiner Gestalt, dessen Gestaltungspraxis ist jedoch nicht Gegenstand seiner Diskursanalyse. Mit der Konstitution von Materialität durch soziale Ordnung und Normierung liefert vor allem die Geschlechterforschung wesentliche Beiträge, die sich mit dem CoKonstitutionsprozess von Raum und Körper beschäftigen (Butler 1997).

Raum-zeitliche Perspektive in der Diskursforschung Allein die Verzeitlichung gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu betrachten, macht räumliche Differenz unsichtbar. Nur von einer großen, historisch begrenzten Erzählung zu berichten (Fordismus, Globalisierung usw.), lässt die gleichzeitig ablaufenden lokalen Geschichten unbeachtet. Auch zum Verhältnis der Zeit- und Raumdimension stellt die kritische Raumtheorie anschlussfähige Ansätze für die Diskursforschung bereit. Vor allem Doreen Massey hat die sozialwissenschaftliche Praxis, soziale Prozesse in historischen Phasen abzugrenzen, kritisiert und die problematische Fokussierung auf die Kategorie Zeit als zentrale Erklärungsvariable nachgewiesen (vgl. Massey 2005). Sie mahnt an, dass auf diese Weise dem Raum eine statische Dimension zugeschrieben und er als erklärende Strukturierung für Gesellschaftsverhältnisse vernachlässigt wird (vgl. Kap. 7: Glasze 2021). „The imagination of space as a surface on which we are placed, the turning of space into time, the sharp separation of local place from the space out there; these are all ways of taming the challenge that the inherent spatiality of the world presents.“ (Massey 2005: 7) In diesem Sinne kann bspw. das Konzept der „Entwicklungsländer“ als Verzeitlichung räumlicher Unterschiede betrachtet werden. Ehemalige Kolonialländer des Südens werden auf einem industriell-kapitalistischen Entwicklungspfad eingeordnet, der in Relation zum ökonomischen Wachstumsmodell der alten Industriestaaten bemessen wird. Damit wird die Konzentration politischer und ökonomischer Macht in den USA und Europa durch konstruierte

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Entwicklungsstufen legitimiert und gleichzeitig diese räumliche Differenzierung manifestiert (vgl. Agnew 1998: 35f.). Mit dem Konzept einer Raum-Zeit (space-time), das die Dimensionen Raum und Zeit immer in ihrem Wechselverhältnis und als untrennbar betrachtet, bietet sich ein alternativer Blick auf den Raum. Der Raum wird mit diesem Konzept als Bestandteil der Produktion von Geschichte verstanden, genauso wie die Zeitdimension als Bestandteil der Produktion von Geographie (vgl. Massey 1994). Auf diese Weise lassen sich z.B. Globalisierungsprozesse als raumzeitliche Reorganisation oder, wie Harvey es nennt, „Raum-Zeit-Verdichtung“ kapitalistischer Gesellschaften interpretieren (vgl. Harvey 1990). Diskurstheoretische Studien, die sich an den Arbeiten von Foucault orientieren, sind vielfach geprägt von seiner genealogischen Betrachtungsweise von Diskursen, die ein historisches Sortieren gesellschaftlicher Prozesse bevorzugt. Wird jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Raum als kulturelle Größe verstanden, ist diese genealogische Dominanz bei der erkenntnistheoretischen Strukturierung zu kritisieren. Ein räumliches Sortieren kommt bei Foucault lediglich als Ausdifferenzierung historischer Phasen in Betracht, sozusagen als sekundäre Strukturierungsdimension. Die Wechselwirkungen zwischen Bedeutung und Materie können jedoch nur verstanden werden, wenn Zeit und Raum zusammengedacht und als produktive, offene Dimensionen betrachtet werden. Weder Zeit noch Raum sind grundsätzlich dynamische oder grundsätzlich statische Dimensionen. Entsprechend können Aussagen zur Ausdehnung einer spezifischen zeitlichen oder räumlichen Einheit niemals durch eine exakte Begrenzung und Reichweite dieser Dimension getroffen werden. Die Betrachtung des Lokalen, des Haushalts, des Staates usw. suggeriert eine Geschlossenheit dieses Betrachtungsraums bzw. der Betrachtungsebene, die weder eindeutig ist noch fix. Gleiches gilt für die Betrachtung historischer Phasen als begrenzte Zeitabschnitte.

Raum als Ensemble relationaler Lokalisierungen von Diskursen Die poststrukturalistische Raumtheorie ist angetrieben von dem Versuch, einen nicht-essenzialistischen Raumbegriff zu konzeptualisieren. Massey hat zahlreiche Publikationen vorlegt, in denen sie kritisiert, dass Raum in den Sozialwissenschaften als statisch lokalisiert verstanden würde. Damit werden nicht nur Raumstrukturen festgeschrieben, sondern auch die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse und Hierarchisierung ist nicht adäquat zu begreifen. Ihr Plädoyer für

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eine Theorie und Politik des Raums fasst Massey in der Monographie „For Space“ zusammen, in der sie drei Annahmen über den Raum herleitet: Erstens sei Raum als Produkt horizontaler und vertikaler Wechselbeziehungen zu verstehen (relational), zweitens als Sphäre der möglichen Existenz von Vielfalt (ermächtigend) und drittens als stets in Umgestaltung (prozesshaft) (vgl. Massey 2005: 9). Diese Prämissen können als Grundbedingungen einer raumkritischen Diskursforschung verstanden werden. Seit Anfang der 1990er Jahre propagiert Massey die konzeptionelle, empirische und politische Relevanz eines relationalen Raumverständnisses und begründet diese im Kontext feministischer und poststrukturalistischer Ansätze. In welcher Weise sich mit einem „relationalen Raumbegriff“ räumlich ungleiche Entwicklungen und sozialer Wandel in den Blick nehmen lassen, macht Massey in einer Studie zur britischen Regionalpolitik nachvollziehbar. Diese Studie beschreibt Geschlechterverhältnisse im Kontext postfordistischer, regionaler Arbeitsmärkte in Großbritannien (vgl. Massey 1993). Massey rekonstruiert „lokal konstruierte Geschlechterbeziehungen“ (ebd.: 114), indem sie die Effekte der regionalen Wirtschaftsförderung seit den 1960er Jahren in Nordengland (von der Bergbauregion zur Dienstleistungsregion im Niedriglohnbereich) und im Großraum London (von der Industrieregion zur Wissens- und Hightechregion) nachzeichnet. Der Wandel der geschlechtsspezifisch organisierten Produktions- und Reproduktionsarbeit hat sich in diesen Regionen sehr unterschiedlich vollzogen. Verstärkt wird diese räumliche Differenz jedoch erst durch das Verhältnis der beiden regionalisierten Arbeitsmarktcluster. Damit weist sie erstens die historische sowie räumliche Dynamik von Geschlechterund Klassenverhältnissen nach und zweitens die Bedeutung regionaler Prozesse im Verhältnis zu Diskursen in anderen Regionen. Diese sind wechselseitig strukturierend und transformierend wirksam. In welcher Weise sind aber lokale Gesellschaftsverhältnisse als lokal und verortet zu verstehen? Mit einem relationalen Raumverständnis ist Lokalität nicht allein Effekt, sondern auch Bedingung globaler Prozesse und Handlungsmacht. Orte werden aus dieser Perspektive zu einem produktiven Teil einer weitreichenden Geometrie der Macht (vgl. Massey 2006: 29). Globalisierung als Entterritorialisierung zu konzeptualisieren hieße, sich das Globale als ortlosen, grenzenlosen, ungebundenen space of flows vorzustellen und alle anderen sozialräumlichen Organisationsformen sozialer Beziehungen als vernachlässigbare Größen zu betrachten (vgl. Berking 2006: 8f.). Das Lokale entsteht jedoch gerade im Wechselspiel mit globalen Prozessen und Narrativen und macht daher ein relationales Raumverständnis für die Diskursforschung relevant, das sowohl Globalisierung als auch Lokalisierung als prozesshaft und ver-

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netzt begreift. Massey versteht Raum und seine Charakteristika nicht aus sich selbst heraus oder als Ergebnis der Dynamiken vor Ort (wie in der klassischen Länderkunde), sondern argumentiert, dass Räume immer die Summe der Relationen zu anderen Orten und gleichzeitig das Ergebnis von Territorialisierungen und Grenzziehungen sind. Masseys Auseinandersetzung mit Raum und Ort auf Grundlage einer relationalen Konzeptualisierung ist in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften eingeführt (vgl. Löw 2001; Hubbard/Kitchin/Valentine 2004; Berking 2006), wird in der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung jedoch wenig rezipiert. Trotz der Betonung der relationalen Perspektive des Raumbegriffs in zahlreichen Arbeiten der Diskursforschung ist z.B. bei Foucault festzustellen, dass er sich nicht bemüht, einen Raumbegriff herzuleiten oder sein relationales Raumverständnis stringent anzuwenden. Eine Diskursforschung, die eine relationale Perspektive vertritt und die Wechselwirkungen von Konstruktions- und Konstitutionsprozessen untersucht, muss konsequenterweise alle Dinge als relational begreifen, egal ob diese Dinge Orte, Identitäten oder sozialräumliche Formationen sind. Ideen entstehen nicht unabhängig von materiellen Objekten (vgl. Milliken 1999: 225).

Raum als geographische und politische Maßstabsebene Ein Aspekt des spatial turn der Sozialwissenschaften ist die Anerkennung der Bedeutung maßstäblicher Ordnung als Element gesellschaftlicher Strukturierung, d.h. der spatial turn ist auch ein scalar turn. Demzufolge gilt es für die Diskursforschung, die Aufmerksamkeit für den kulturell hervorgebrachten Raum nicht allein auf dessen Lage und Ausdehnung zu konzentrieren, sondern auch auf dessen Maßstäblichkeit. Von Interesse für die Diskursforschung ist nicht nur die horizontale (An-)Ordnung von Diskursen, sondern auch die diskursive Hervorbringung und daran anschließende Institutionalisierung von Maßstabsebenen und deren Verbindung mit Macht-Wissen-Strukturen (vgl. Marston/Jones/Woodward 2005; MacKinnon 2010). Diskursive Praxis kann für unterschiedliche geographische Maßstabsebenen (global, regional, lokal, körperlich usw.) verschieden wirksam sein, steht aber i.d.R. miteinander in Bezug. Aus diesem Grund gilt es nicht nur, die Verräumlichung von Diskursen in den Blick zu nehmen, sondern auch deren Vermaßstäblichung: Welche Rolle spielen geographische Maßstabsebenen für die Positionierung von Diskursen? Ist ein Diskurs sprachlich geknüpft an eine spezifische Maßstabsebene? Sind diskursive Praktiken spezifischen Maßstabsebenen zugeordnet? Diese Fragen können

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nur bearbeitet werden, wenn die Diskursforschung eine multiskalare Perspektive einnimmt. Eine solche Perspektive hat in der Geographie seit Mitte der 1990er Jahre mit der Analyse der Reorganisation ökonomischer und politischer Strukturen im Kontext von Globalisierungsprozessen zunehmend an Beachtung gewonnen. Die Schaffung, relative Aufwertung oder Abwertung von Maßstabsebenen ist nicht allein als räumlicher Konflikt, sondern als räumliche Dimension sozialer Konflikte zu verstehen (vgl. Wissen 2008: 9). Eine räumlich-maßstäbliche Reorganisation ist daher ein zutiefst herrschaftsförmiger Prozess. Für die Diskursforschung sollten daher Macht-Wissen-Komplexe in ihrer Maßstabsbindung sowie die Vermaßstäblichung von Diskursen von Interesse sein. Der Blick auf die diskursive Hervorbringung von Maßstäblichkeit ist in besonderem Maße relevant für Diskursanalysen, die sich mit Globalisierungsund Regionalisierungsprozessen, mit globalen Umweltveränderungen, Ressourcenkonflikten oder städtischer Restrukturierung und anderen Diskursen mit direktem Bezug auf geographische und politische Maßstabsebenen auseinandersetzen (vgl. Bauriedl 2007). So sind z.B. „Globalisierung“ und „Klimawandel“ umkämpfte Diskurse, die auf einzelnen Maßstabsebenen unterschiedliche Deutungsmacht erlangt haben und maßstabsspezifische Diskursdynamiken zeigen (vgl. Mattissek 2014; Castree 2015; Krüger 2015). In der Klimadebatte findet aktuell eine Deutungsverschiebung des Klimadiskurses statt, die für die globale und lokale Maßstabsebene unterschiedlich ausgeprägt ist. Der globale Klimawandel wird zunehmend als gesellschaftliche Krise gedeutet und die Tätigkeit des Menschen als zentrale Ursache globaler Umweltveränderungen betrachtet (IPCC 2014). Für die Klimapolitik auf der regionalen, lokalen und Haushaltsebene wird der Klimawandel hingegen weiterhin als Umweltkrise gedeutet, an die sich der Mensch anpassen kann, ohne sich von gewohnten Konsummustern und Produktionsweisen verabschieden zu müssen. Dieses Beispiel zeigt, dass es zu Deutungsverschiebungen kommen kann, die möglicherweise auf einer Maßstabsebene sichtbar werden, während der MachtWissen-Komplex auf einer anderen unberührt bleibt. Gleichzeitig wird durch diese diskursive Praxis die Deutung von Maßstabsebenen permanent reproduziert, wie z.B. mit dem Slogan der Nachhaltigkeitspolitik „global denken – lokal handeln“. Andere Konstruktionsleistungen des Klimadiskurses (Wachstums-, Technologieparadigma usw.) sind sowohl für die internationale Klimapolitik als auch alltagsweltliche Entscheidungsprozesse wirkmächtig. Rianne Mahone und Roger Keil bezeichnen daher die Grenzen diskursiver Maßstabsebenen als „Knoten der Macht“ und plädieren dafür, die Deutungsbezüge und -widersprüche unterschiedlicher Maßstabsebenen in den diskursanalytischen Fokus zu rücken (vgl.

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Mahone/Keil 2008). Um diese Knoten identifizieren zu können, halten Keil und Anne-Marie Debbané eine „scale-sensitiveness“ für die Diskursforschung für notwendig (Keil/Debbané 2005: 270). Sie verstehen dabei Maßstabsebenen nicht als prädiskursive Raumdimension, sondern leiten aus ihren empirischen Befunden zur kommunalen Wasserwirtschaft in Südafrika und Namibia die Notwendigkeit ab, die Konstitution geographischer Maßstäbe als diskursive Praxis der Klima-, Energie- und Wasserpolitik zu berücksichtigen. Auf die Diskursforschung übertragbare Hinweise einer multiskalaren Perspektive finden sich im Konzept der politics of scale, das besonders durch die radical geography ausgearbeitete wurde (vgl. Wissen 2008; Neumann 2015). Dieser Ansatz wurde schon 1984 von Neil Smith entworfen und verweist auf die komplexe und umkämpfte Rekonfiguration interskalarer Ordnung (vgl. Mahone/Keil 2008; Smith 1984). Analysegegenstand ist der Prozess der Maßstabszuordnung von Politiken als eine Praxis der Festschreibung von Politikinhalten und/oder deren Legitimation. Mit den Begriffen „up-scaling“, „down-scaling“, „rescaling“ wird der Prozess der möglichen Verschiebung der Politikzuordnung auf andere Maßstabsebenen begrifflich gefasst. Henning Füller und Boris Michel haben versucht, das Konzept der politics of scale mit einer foucaultschen Perspektive zu verbinden, und sehen den Mehrwert darin, einerseits die Skalierung der Welt durch soziale Akteure als diskursive Praxis zu erfassen und andererseits die Machtwirkungen der multiskalaren Ordnung zu untersuchen. Dafür müsste ihrer Ansicht nach ein brauchbarer scale-Begriff jedoch durch ein kritisches Machtverständnis erweitert werden, um sich verändernde Geometrien der Macht nachweisen zu können (vgl. Füller/Michel 2008). Mit diesem Argument schließen sie sich der Kritik von Sallie Marston, John Paul Jones und Keith Woodward an, die in der ursprünglich stark materialistischen Argumentation des „politics of scale“-Ansatzes starre, dualistisch markierte Maßstabshierarchien erkennen und diese grundsätzlich kritisieren (vgl. Marston/Jones/Woodward 2005). Diese Kritik wird auch von anderen Autor*innen aufgegriffen mit dem Argument, dass durch das Denken in Maßstabshierarchien emanzipatorische Möglichkeiten sozialen Handelns unsichtbar bleiben (vgl. Wissen 2008: 17).

Raum als relevante Dimension der Diskursforschung Als Gemeinsamkeit der vorgestellten Ansätze der kritischen Raumtheorie kann ihr Blick auf Raum als relationale, machtdurchzogene und prozesshafte Dimension sozialer Interaktion zusammengefasst werden. Eine Diskursfor-

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schung, die die Impulse des spatial turn ernst nimmt, muss daher erstens die Konstruktions- und Konstitutionsbedingungen von Räumen in ihr empirisches Programm aufnehmen und zweitens den Stellenwert einer räumlichen Analyse dem der genealogischen Analyse gleichstellen. Sobald die Diskursforschung ihren relationalen Anspruch auch auf die Betrachtung von Räumen konsequent anwendet, können Diskurse nicht mehr als fix eingeschrieben in den Raum begriffen werden und räumliche Praktiken nicht länger als positioniert innerhalb stabiler geographischer Maßstabsebenen. Als Konsequenz dieses Raumverständnisses gilt es, sowohl Räume als auch Maßstabsebenen als multiskalar und vielfältig hergestellt zu betrachten. Denn erst in Relation zu anderen Räumen und Maßstabsebenen lassen sich Diskursordnungen wie auch Geometrien der Macht erklären.

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7 Der unmögliche Raum bei Laclau und die politischen Räume der Geographie 1 Georg Glasze

Ein apolitischer Raumbegriff bei Laclau? In einem vielfach zitierten und mehrfach wieder aufgelegten Aufsatz kritisiert die britische Geographin Doreen Massey 1992 (in dt. Übersetzung 2007) Ernesto Laclau für dessen Konzeptualisierung von Raum und bezieht sich dabei vor allem auf die Aussage: „Politics and space are antinomic terms. Politics only exist insofar as the spatial eludes us.“ (Laclau 1990: 68) Massey argumentiert, dass Laclau ein Konzept von Raum entwerfe, dem das Politische komplett fehle (Massey 1992: 134). Diese Konzeptualisierung sei eine Provokation für eine Geographin, die, wie sie schreibt, gemeinsam mit vielen anderen für eine Konzeptualisierung des Räumlichen als dynamisch und politisch-progressiv arbeitet. Massey war in den 1990er und 2000er Jahren eine der profiliertesten Autor*innen der konzeptionellen Debatten in der Sozial- und Kulturgeographie (s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021 sowie Kap. 6: Bauriedel 2021). Sie hat maßgeblich an der Ausarbeitung einer Perspektive in der Sozial- und Kulturgeographie mitgewirkt, die jegliche Räume als hergestellt und damit kontingent fasst. Massey und weite Teile der neueren Sozial- und Kulturgeographie betonen dabei, dass diese Herstellungen regelmäßig konflikthaft verlaufen und in diesem Sinne politisch sind (bspw. Massey 1996). Dabei greift gerade auch Massey viel1

Das Kapitel basiert auf dem Beitrag aus der ersten Auflage des Handbuchs, greift jedoch neuere Debatten auf und argumentiert an einigen Stellen grundlegender. Für äußerst hilfreiche Anregungen zu Manuskripten dieses Beitrags bedanke ich mich herzlich bei Boris Michel, Nikolai Rosskamm, Jan Winkler und Annika Mattissek.

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fach Impulse aus der Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe auf (bspw. Massey 2005: 42 u. 44). Wie lässt sich diese Kontroverse einordnen? Wie ist es möglich, dass Ernesto Laclau in seiner Diskurs- und Hegemonietheorie, die das Feld des Politischen gegenüber den traditionellen Ansätzen der Politischen Theorie deutlich ausgeweitet hat und die Kontingenz jeglicher gesellschaftlicher Verhältnisse betont (s. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021), einen Begriff von „Raum“ entwickelt, den Massey als statisch und dezidiert apolitisch zurückweist? In diesem Kapitel wird zunächst die Argumentation von Laclau rekonstruiert. Aufbauend auf einem Vorschlag der Laclau-Schüler David Howarth und Oliver Marchart lege ich im ersten Schritt dar, dass die Zurückweisung des laclauschen Raumbegriffs durch Massey nicht zuletzt darauf zurückgeführt werden kann, dass die beiden von unterschiedlichen Konzepten sprechen: Als Sozial- und Kulturgeographin sucht Massey nach angemessenen Kategorien für die Beschreibung, Analyse und Kritik sozialer Wirklichkeiten – sie argumentiert also im Sinne der „ontologischen Differenz“ auf einer ontischen Ebene. Räume bei Massey sind Räume der sozialen Wirklichkeit(-en). Laclau argumentiert hingegen auf einer ontologischen Ebene und fragt nach den Voraussetzungen der sozialen Wirklichkeit. Nun könnte man die Debatte zwischen Massey und Laclau nach fast dreißig Jahren als eines von vielen Missverständnissen in wissenschaftlichen Diskussionen „abhaken“. In Fortführung der Debatte zwischen diskurstheoretisch orientierter Philosophie bzw. Politischer Theorie sowie Sozial- und Kulturgeographie (dazu bspw. Howarth 1993; Marchart 1998, 2014; Sparke 2005; Stavrakakis 2008; Featherstone 2008; Glasze 2009, 2012; Dikeç 2012; Roskamm 2017) möchte ich im zweiten Schritt allerdings argumentieren, dass das Beispiel geeignet ist, um zum einen die Herausforderungen des Austausches zwischen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Debatten anschaulich zu machen – zum anderen aber auch die Potenziale dieses Austausches.

Verständigungsprobleme zwischen Politischer Theorie und Geographie Laclau und seine vielfache Co-Autorin Chantal Mouffe haben seit den 1980er Jahren die Perspektive der Diskurs- und Hegemonietheorie ausgearbeitet, die jegliche gesellschaftlichen Verhältnisse als kontingent, d.h. in spezifischer Weise hergestellt und veränderbar, konzeptualisiert (s. dazu Kap. 5: Glasze/ Mattissek 2021). Eine endgültige Fixierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist

Der Raumbegriff bei Laclau

nach Laclau unmöglich – vielmehr sei das Soziale immer nur das temporäre Ergebnis von permanenten Versuchen einer Fixierung. Das Soziale bezeichnet er unter Bezugnahme auf eine Begrifflichkeit von Edmund Husserl als „sedimentierte Diskurse“ (Laclau 1990: 34f.). Die dem Sozialen zugrunde liegenden Entscheidungen fasst Laclau als das Politische. Dieses Politische geht also immer dem Sozialen voraus: „[T]he political is […] the anatomy of the social world, because it is the moment of the institution of the social. Not everything in society is political, because we have many sedimented forms which have blurred the traces of their original political institution […].“ (Laclau 2005: 154) Zeitlichkeit verbindet Laclau mit nicht determinierten und unerwarteten Ereignissen, den dadurch notwendigen Entscheidungen – und damit dem Politischen. Raum versteht er hingegen als fixierte Struktur von Elementen: „As we know, spatiality means coexistence within a structure that establishes the positive nature of all its terms.“ (Laclau 1990: 69) Dabei will Laclau seinen Raumbegriff nicht rein metaphorisch verstanden wissen: „There is no metaphor here. […] If physical space is also space, it is because it participates in this general form of spatiality.“ (Ebd.: 41f.) Die Auslöschung der Zeitlichkeit eines Ereignisses bezeichnet Laclau als Verräumlichung (insbes. Laclau 1990). Sein Argument verdeutlicht er mit dem FortDa-Spiel nach Freud. Der Wiener Psychoanalytiker hatte bei seinem Enkel beobachtet, dass dieser im Alter von anderthalb Jahren ein „Spiel“ entwickelt hatte, bei dem er immer wieder Gegenstände wegwarf, sodass diese „fort“ waren, und sie dann wieder zurückzog, sodass sie wieder „da“ waren. Nach Freud ermöglicht das Fort-Da-Spiel dem Kind, die Angst vor dem Ereignis „Abwesenheit der Mutter“ zu verarbeiten. Das Ereignis wird durch eine Abfolge von An- und Abwesenheit symbolisiert, in diesem Sinne synchron präsent gemacht. Diese Repräsentation des Ereignisses bezeichnet Laclau als Verräumlichung. Letztlich konzeptualisiert Laclau alle wiederkehrenden Abfolgen daher nicht als zeitlich, sondern als räumlich. Auch jede teleologische Konzeption von Veränderung, bei der Richtung, Ziele und Zwecke einer Veränderung determiniert sind, sei räumlich. Vor dem Hintergrund einer solchen exklusiven Gleichsetzung von Zeitlichkeit mit Wandel, Entscheidungen und dem Politischen verwundert es nicht, dass Massey Laclau vorwirft, seine Perspektive auf Raum mache es unmöglich, die politische Dimension von Räumlichkeit ins Blickfeld zu nehmen (vgl. Massey 1992).2 Eine Konzeption von Raum als statischem Gegenpart von Zeit, wel2

In ähnlicher Weise kritisiert auch Margaret Kohn die Dichtomisierung von Raum und Zeit bei Laclau. Sie betont, dass sowohl Zeit als auch Raum „elements of fixity and flux“ enthalten (Kohn 2003: 23).

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che für Dynamik und Veränderung steht, wird in der raumtheoretischen Debatte der Geographie bereits seit Ende der 1980er Jahre grundlegend kritisiert (s. insbes. Massey 1992, 1999; Soja 1995, 1996; s. auch Kap. 6: Bauriedl 2021). Aufbauend auf poststrukturalistischen Ansätzen und damit auch theoretisch den Arbeiten von Laclau durchaus nahestehend, entwirft Massey ein Konzept von Raum „as constructed out of interrelations, as the simultaneous coexistence of social interrelations and interactions at all spatial scales“ (Massey 1992: 79). In der Einleitung ihrer Monographie zur raumtheoretischen Debatte bezeichnet Massey Raum gar als „die Dimension des Sozialen“ (Massey 2005: 224). Dabei betont sie die Untrennbarkeit von Raum und Zeit (ebd.: 159). Diese Konzeption, die auf die Pluralität und Vielfältigkeit des Raums abhebt, grenzt sie von einem teleologischen Denken in zeitlichen Sequenzen ab, welches durch vermeintliche Eindeutigkeit und widerspruchsfreie Abfolgen unterschiedlicher Zustände gekennzeichnet sei. „Truly recognizing spatiality […] necessitates acknowledging a genuinely co-existing multiplicity – a different kind of difference from any which can be compressed into a supposed temporal sequence.“ (Massey 1999: 281) Die Ursachen für (diskursiven) Wandel liegen nach Massey daher nicht zuletzt in der im Raum koexisitierenden Vielfalt. Veränderungen entstünden aus den unüberwindbaren (gleichzeitigen!) Widersprüchen, die im Raum aufeinandertreffen (ebd.). Diese Konzeptualisierung von Raum als Gleichzeitigkeit von Widersprüchen und Vielfalt biete letztlich eine Voraussetzung für das normative Ziel einer radikalen Demokratie, wie es Laclau und insbesondere Mouffe skizziert haben (Laclau/Mouffe 1985; Massey 1995, 1999, 2005; Mouffe 2005 [1993]; s. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021). Obwohl sowohl Laclau als auch Massey vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Ansätze argumentieren, und die normativen Zielrichtungen ihrer Arbeiten sich im Leitbild der „radikalen Demokratie“ (bspw. Massey 2005: 42; s. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021) treffen, scheinen beide von vollkommen unterschiedlichen Konzepten zu sprechen, wenn sie sich auf Raum beziehen. Die Laclau-Schüler Howarth (1993) und Marchart (1998, 2014) haben einen Vorschlag entwickelt, der dieses Missverstehen verständlich macht: Sie greifen dafür die heideggersche Differenzierung zwischen Ontologie und Ontik auf und argumentieren, dass die Konzeption von Laclau auf einer ontologischen Ebene operiere, während Massey als Sozialwissenschaftlerin auf einer ontischen Ebene Räume der sozialen Wirklichkeit konzeptualisiere. Während Laclau also nach den Voraussetzungen der sozialen Wirklichkeit frage, entwickle Massey Kategorien für die Beschreibung und Analyse sozialer Wirklichkeit(-en). So argumentiert Marchart, dass Laclau Raum konzeptualisiere als

Der Raumbegriff bei Laclau

„Namen für den theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation, d.h. Ereignissen, welche in eine Struktur einbrechen. Dieser Extremfall kann jedoch nie eintreten, weil das konstitutive Außen der Struktur immer Spuren und dislokatorische Turbulenzen im Inneren hinterlassen wird […]“. (Marchart 1998)

Raum setze Laclau also gleich mit einer (letztlich unmöglichen) endgültig fixierten Struktur. Der Umstand, dass es Raum (sing.) als endgültig fixierte Struktur im ontologischen Sinn nicht geben könne, sei die Voraussetzung und der Grund dafür, dass es auf der ontischen Ebene, d.h. der Ebene der sozialen Wirklichkeiten, hingegen unterschiedliche, veränderbare und immer wieder neu (re-)produzierte Räume (pl.) geben könne. In Fortführung der oben skizzierten Überlegungen kritisiert Marchart in einem neueren Aufsatz grundsätzlich eine Dichotomisierung von „Raum“ und „Zeit“ und fordert: „[W]e have to come to an understanding of time and space as something entirely intertwined.“ (Marchart 2014: 278f.) Er distanziert sich dabei von einigen Formulierungen Laclaus, die eine solche Dichotomisierung nahelegen und nicht eindeutig zwischen Raum als letztlich unmögliche, fixierte Struktur und dem kontingenten Sozialen unterscheiden. Marchart will damit die Argumentation von Laclau konsistenter machen und nähert sich dabei interessanterweise in hohem Maße der Argumentation von Massey an. Er betont, dass jegliche soziale Wirklichkeit als eine relationale Anordnung und insofern als räumlich konzeptualisiert werden kann, und führt dafür den Begriff der „sozialen Topographie“ ein. Die soziale Topographie sei aber niemals endgültig fixierbar, sondern könne immer wieder aufgebrochen werden: „[E]very topography is constantly done and undone, just as Massey claims.“ (Ebd.: 279) Fixierungen (bezeichnet als das „Soziale“ bzw. als „soziale Topographie“) und Aufbrüche, Veränderungen sowie Entscheidungen (bei Laclau das „Politische“ und an anderer Stelle „Zeitlichkeit“) seien damit nach Marchart immer miteinander verflochten (ähnlich auch bereits der Laclau-Schüler Stavrakakis 2008: 152).3

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Nikolai Rosskamm hat mich freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht, dass Laclau in dem von Massey kritisierten Zitat Politik und Raum als „antinomische“, d.h. sich widersprechende, Begriffe und nicht einfach als Gegensatz bezeichnet. Auch dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass Laclau letztlich eine – wie dann von Marchart 2014 ausgearbeitete – widersprüchliche Verflechtung von Raum und Zeit im Blick hatte.

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Ausblick: Übersetzung von Raumkonzepte n Wie kann vor dem Hintergrund der skizzierten Un- und Missverständnisse ein produktiver Austausch zwischen den Raumkonzepten der Politischen Theorie Laclaus und den Raumkonzepten in der neueren Sozial- und Kulturgeographie gestaltet werden? Das „Missverstehen“ zwischen Massey und Laclau verdeutlicht einerseits, dass eine dekontextualisierte, quasi wörtliche Übernahme von Begriffen und Konzepten aus der philosophischen Debatte in die sozialwissenschaftliche Analyse wenig hilfreich ist (so auch Dikeç 2012: 675; Marchart 2014: 280). Andererseits bieten die Arbeiten Laclaus der neueren Sozial- und Kulturgeographie wichtige Impulse zur Reflexion der eigenen Perspektiven und letztlich zur Konzeptualisierung gesellschaftlicher Raumverhältnisse – gerade weil Laclau nach den Voraussetzungen der sozialen Wirklichkeit fragt. Aber auch die Politische Theorie kann in einer Auseinandersetzung mit den Raumkonzepten der neueren Sozial- und Kulturgeographie Sensibilität gewinnen für die im „Theoriegebäude“ bislang wenig reflektierten, immer spezifischen gesellschaftlichen Raumverhältnisse sowie die Konsequenzen einer spezifischen „Raumsprache“. So zeigen die Rezeptionen der Arbeiten Laclaus in der Sozial- und Kulturgeographie (s. einführend dazu Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021), dass dabei die konstruktivistische Perspektive auf „Räume als hergestellt“ geschärft und radikalisiert werden kann. Indem die Unmöglichkeit einer endgültigen Fixierung jeglicher gesellschaftlicher Strukturen akzeptiert und damit das Blickfeld geöffnet wird für die unterdrückten Alternativen und Ausschlüsse, wird die Sozialund Kulturgeographie hin zu Fragen nach alternativ möglichen, aber marginalisierten und ausgeschlossenen gesellschaftlichen Räumen orientiert. Dabei ermöglicht das Konzept der Artikulation (als Verknüpfung heterogener Elemente) und der über den Bereich von Sprache und Bedeutungssytemen hinausreichende „weite Diskursbegriff“ bei Laclau, an Debatten zur relationalen Konzeption von Raum im material turn und practical turn anzuknüpfen (s. Kap. 13: Wiertz 2021 sowie Kap. 12: Baumann/Lahr-Kurten/Winkler 2021) und diese Debatten gleichzeitig stärker für Fragen nach den nicht realisierten, marginalisierten und unterdrückten gesellschaftlichen Strukturen und damit dem Politischen zu sensibilisieren.4 4

Howarth (1993) und Rosskamm (2017) weisen zudem darauf hin, dass die konzeptionelle Auseinandersetzung mit den Debatten in der Politischen Theorie die Geographie für die Gefahren einer Überhöhung und Ontologisierung des Raumes (weiter) sensibilisieren kann. Sie verweisen dabei einerseits auf Konzepte wie „Lebensraum“ oder „Raumdruck“, mit denen die traditio-

Der Raumbegriff bei Laclau

Unnötig und letztlich irreführend erscheint es für die sozial- und kulturgeographische Forschung hingegen, mit Laclau den „theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation“ (Marchart 1998) mit dem Begriff „Raum“ zu fassen. Konzeptionell überzeugend sind hingegen die Überlegungen von Massey (2005) und Marchart (2014), die soziale Wirklichkeit als eine kontingente relationale Anordnung und insofern als räumlich zu konzeptualisieren. Es ist allerdings dennoch fraglich, ob die Sozial- und Kulturgeographie eine solche weitgreifende Konzeption von Räumen übernehmen sollte (und damit zur umfassenden Wissenschaft des Sozialen würde). 5 Im Sinne etablierter Kompetenzbereiche in den Sozial- und Kulturwissenschaften erscheint es heuristisch fruchtbarer, wenn die Sozial- und Kulturgeographie eine Konzeption von Räumen als immer kontingent und damit politisch aufgreift, allerdings nur jene Artikulationen als Konstitution von Räumen bezeichnet, die symbolisch und/oder materiell Hier-dort-Unterscheidungen herstellen, indem bspw. in einem territorialen Sinne Grenzen gezogen und Regionen differenziert werden, in einem skalaren Sinne Maßstabsebenen konstitutiert und differenziert werden oder in einem topologischen Sinne Orte konstituiert, differenziert und ggf. vernetzt werden (Glasze 2009).6 nelle Geopolitik Entscheidungen aus einer vermeintlichen Wesenheit der Räume ableiten wollte. Andererseits läge aber auch in aktuellen Konzepten, die eine Vielfalt im Raum betonen, immer eine Gefahr, in regionalistische oder nationalistische Politiken umzuschlagen, die die gesellschaftliche Vielfalt territorial kammern wollen und damit progressiven Ideen universeller Rechte und politischer Partizipation zuwiderlaufen. 5

Würden jegliche soziale Strukturierungen als Räume bezeichnet, wäre es zudem unmöglich, zwischen gesellschaftlichen Strukturen – die bspw. nach Geschlecht, Religion, politischer Orientierung oder Pigmentierung der Haut differenzieren – und den spezifischen Rollen zu unterscheiden, die Differenzierungen von Orten oder Maßstabsebenen, Abgrenzungen von Territorien oder Beziehungen in Netzwerken für die Reproduktion spezifischer gesellschaftlicher Strukturen spielen. Die spezifische Sehschärfe einer sozial- und kulturgeographischen Perspektive, die auf die Fragen der Konstitution gesellschaftlicher Räumlichkeit abhebt, würde damit eingebüßt (Glasze/Pütz 2007; Glasze 2012, 2013).

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Daher kann auch eine Konzeption jeglicher Verräumlichungen als Bedeutungssystem, wie es Roskamm (2017) als Strategie zur Rezeption laclauscher Ansätze für die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung vorschlägt, nicht überzeugen. Zudem liefe eine Konzeption von Raum als Bedeutungssystem Gefahr, die Vorstellung einer Gleichsetzung von Raum mit einer fixierten Repräsentation zu reproduzieren (kritisch dazu bspw. Massey 2005: 13ff.). Und nicht zuletzt hat es sich in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung zwar durchaus als produktiv erwiesen, Räume als hergestellt in Verbindungen und Relationalisierungen zu

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Aber auch die von Laclau inspirierte Politische Theorie könnte davon profitieren, wenn eine tiefgreifendere Auseinandersetzung mit der Raumdebatte in der Sozial- und Kulturgeographie gesucht würde. So haben bereits die Arbeiten von Sparke (2005) und Featherstone (2008) darauf aufmerksam gemacht, dass Laclau (und Mouffe) in ihren konzeptionellen Arbeiten zwar einerseits abstrakt und damit losgelöst von spezifischen Kontexten argumentieren (wollen), sich andererseits aber implizit fast durchweg auf eine nationalstaatliche und damit spezifisch territoriale Organisation von Gesellschaft beziehen. Sie argumentieren, dass Laclau und Mouffe damit die Gegebenheit einer spezifischen räumlichen Organisation von Gesellschaft nicht hinterfragen. In der Konsequenz bleibe die Diskurs- und Hegemonietheorie paradoxerweise vielfach überraschend blind für die Kontingenz der immer spezifischen räumlichen Organisation gesellschaftlicher Verhältnisse. In gewisser Weise ist diese Blindheit für spezifische gesellschaftliche Raumverhältnisse bei Laclau und Mouffe nicht zuletzt auch Ausdruck dessen, dass die beiden eine abstrakte Theorie entwickeln wollen und sich in der Konsequenz wenig für (historisch und geographisch) spezifische Institutionen interessieren. Die von Sparke (2005) als blutleer bzw. „anämisch“ bezeichneten Geographien bei Laclau und Mouffe sind damit eine Konsequenz der geringen Sensibilität für spezifische gesellschaftliche Institutionen ihrer Diskurs- und Hegemonietheorie (zur Kritik am Desinteresse von Laclau und Mouffe an Institutionen siehe bspw. auch Mouzelis 1988). Da sich aber auch eine abstrakte Politische Theorie letztlich immer auf spezifische gesellschaftliche Verhältnisse beziehen muss, könnte die Diskurs- und Hegemonietheorie daher von den Impulsen der neueren Sozial- und Kulturgeographie profitieren, die die Kontingenz gesellschaftlicher Raumverhätnisse betonen und in zahlreichen empirischen Studien Prozesse der Etablierung, Herausforderung und Transformation gesellschaftlicher Raumverhältnisse herausarbeiten (ähnlich argumentiert auch der Laclau-Schüler Stavrakakis 2008).7 konzeptualisieren. Als fruchtbar erweisen sich dabei aber in der jüngeren Debatte gerade Ansätze, die die permanenten Verknüpfungen von Bedeutungen, Praktiken und Materialitäten in der Herstellung sozialer Wirklichkeiten ins Blickfeld nehmen – so wie es im Konzept der Artikulation und dem weiten Diskursbegriff auch bei Laclau durchaus angelegt ist (s. Kap. 13: Wiertz 2021). Eine Beschränkung auf die symbolischen Dimensionen, wie es im Begriff der „Bedeutung“ angelegt ist, wäre in diesem Kontext eben: eine Beschränkung. 7

Nicht zuletzt könnte der Hinweis Masseys darauf, dass gesellschaftliche Vielfalt und Widersprüche im Raum koexistieren und aufeinandertreffen, in der diskurstheoretischen Debatte als ein Impuls aufgegriffen werden, der grundsäztlich die Frage stellt, welche Rolle Materialität

Der Raumbegriff bei Laclau

Neben einer solchen Sensibilisierung für die immer spezifischen gesellschaftlichen Raumverhältnisse weist die Kritik von Massey (1992: 142) aber auch darauf hin, dass die Theorieanlage von Laclau mit spezifischen Raumbegriffen arbeitet, welche die Differenzierung zwischen einem Innen und einem Außen betonen (vgl. dazu auch Dikeç 2012 sowie bereits Featherstone 2008). Diese Kritik läuft zwar an einigen Stellen Gefahr, der Komplexität der Diskurs- und Hegemonietheorie nicht gerecht zu werden. So fasst Laclau die Zweiteilung des diskursiven Feldes in ein „Innen“ und „Außen“ ja gerade nicht wie Territorien im geographischen Raum – d.h. nicht als zwei empirisch abgrenzbare Identitäten. Vielmehr geht Laclau davon aus, dass die prinzipielle Umöglichkeit einer Schließung von Identität auf ein Außen projeziert wird. Dennoch ist anzuerkennen, dass die spezifische „Raumsprache“ von Laclau und Mouffe Vorstellungen von Grenzziehungen und Dichotomisierungen in der Gesellschaft betont und alternative Vorstellungen bspw. einer koexistierenden Vielfalt (Massey 1999) marginalisiert.

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8 Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden – Michel Foucaults Angebote an die Geographie Nadine Marquardt, Verena Schreiber

Raumfragen haben auch drei Jahrzehnte nach dem spatial turn nicht an Aktualität und Relevanz eingebüßt. Ihretwegen gibt es die Geographie, an ihnen arbeitet sie sich ab. Gelegentlich schütteln sie die Geographie kräftig durch, vor allem dann, wenn sie mit neuen Denkangeboten verbunden werden. Michel Foucaults Werk ist so ein Denkangebot. Mit seinen diskurs- und machtanalytischen Arbeiten hat er die Geographie und andere an Raumfragen interessierte Sozialwissenschaften ordentlich aufgewirbelt. Dabei kommen Foucaults Schriften zunächst gar nicht sehr geographisch daher. Schließlich hat er mit seinen Ausführungen zu Wissen, Macht und Subjekt den Sozialwissenschaften bereits eine ganze Serie an starken Konzepten hinterlassen, von denen jedes für sich zu einer kritischen Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse der Gegenwart taugt. Und dennoch ist Foucaults Werk auch zu einer der wichtigsten Inspirationsquellen für sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Raum geworden. Das ist kein Zufall: Bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass die Analyse der Verschränkung von Techniken der Wissensproduktion und der Machtausübung mit räumlichen Diskursen, Anordnungs- und Interventionspraktiken sich wie ein roter Faden durch seine Schriften zieht. Quer durch seine divergenten Diskurs- und Machtkonzeptionen operiert Foucault beharrlich mit räumlichen Kategorien und Begriffen. Seine Machtanalysen sind immer auch Analysen der Räumlichkeit von Macht-Wissen-Komplexen, und die von ihm ausgearbeiteten Begriffe sind in hohem Maße mit unterschiedlichen Raumbestimmungen verknüpft (vgl. auch Crampton 2013; Elden 2014).

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Hier setzt der Beitrag an und lotet systematisch das Potenzial von Foucaults Arbeiten für sozialwissenschaftliche Analysen gesellschaftlicher Räumlichkeit aus. In drei Etappen diskutieren wir, wie Regierungspraktiken und Raumproduktionen zusammenhängen: (1) in Form der räumlichen Verdichtung gesellschaftlicher Utopien und Krisen, (2) in Form räumlicher Zugriffe auf Körper und damit einhergehender Strategien der Individualisierung sowie (3) in Form räumlicher Strategien der Selbststeuerung.1 Diese Systematisierung orientiert sich auch an dem aktuellen Bedürfnis der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Wirkmächtigkeit von Materialität in den eigenen Untersuchungen wieder mehr Gewicht beizumessen. Unser Plädoyer für eine Annäherung an Foucaults Werk gilt daher einem integrierten Blick auf Raumproduktionen, der keine Trennung von repräsentationalen und materialisierten Geographien vornimmt.2 Die im Folgenden gewählten Beispiele zeigen, dass Foucault immer an Formen der Problematisierung und Intervention interessiert war, in denen sich Denk- und Handlungsformen mit einer materiellen Wirklichkeit verbinden.

Raumproduktionen I: Verdichtung gesellschaftlicher Utopien und Krisen In den Vorträgen „Die Heterotopien“ (Foucault 2005a) und „Von anderen Räumen“ (Foucault 2005b) setzt sich Foucault mit Orten auseinander, an denen gesellschaftliche Utopien realisiert, Krisen gebändigt und Widersprüche domestiziert werden. Er nimmt hier bereits einen analytischen Zugang zu dem Einsatzfeld von Machttechniken vorweg, die er später als Disziplinarmacht genauer fassen wird und auf die der Beitrag anschließend eingeht. In seinen Auseinandersetzungen mit den „Heterotopien“ wird demgegenüber vorerst eine Materialität von Machtverhältnissen evident, die auf der Verdichtung und Bearbeitung gesellschaftlicher Utopien, Krisen und Widersprüche in eigens dafür ausgewiesenen Räumen beruht. Mit Heterotopien bezeichnet Foucault Orte, „welche die Gesellschaft an ihren Rändern unterhält“ und an denen Menschen versammelt werden, die sich „im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten“ (Foucault 2005a: 12). Foucault denkt hier z.B. an Psychiatrien, in denen 1

Eine weitere – topologische – Denkweise von Räumlichkeit als „Spracharchitektur“, die Michel Foucault paradigmatisch in der „Archäologie des Wissens“ (1981) ausformuliert hat, wurde in einer früheren Version dieses Beitrags dargestellt (vgl. Schreiber 2009).

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Eine frühere Version dieses Aufsatzes ist zuerst erschienen als Marquardt und Schreiber 2013.

Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden

als anormal deklarierte Menschen Prozeduren unterzogen werden, welche auf Normalisierung zielen; er denkt an Krankenhäuser, die Menschen in medizinischen Krisensituationen von der Gesellschaft isolieren; oder er denkt an Gefängnisse, in denen Menschen mittels Techniken der Disziplinierung wieder „gesellschaftsfähig“ gemacht werden sollen. Neben derartigen AbweichungsHeterotopien identifiziert Foucault zudem Illusions-Heterotopien. Hierzu zählen etwa Gärten, in denen die Welt durch eine ideale Ordnung zu symbolischer Vollkommenheit gelangt (ebd.: 15). Mit Illusions-Heterotopien werden Utopien zum paradiesischen Spiegel lebensweltlicher Realität. Abweichungs-Heterotopien komprimieren hingegen Widersprüche gesellschaftlicher Problembearbeitung auf engstem Raum – Krisen, die unseren Alltag zwar mitbestimmen, aber weitgehend dethematisiert bleiben sollen oder gar verschwiegen werden müssen. So finden sich Heterotopien materiell häufig inmitten der Gesellschaft. Sie besitzen jedoch gleichzeitig ein „System der Öffnung und Abschließung, welches sie von der Umgebung isoliert“ (ebd.: 18). Aufgabe ihrer Materialisierung ist es, Hoffnungen und Sehnsüchte ebenso wie Konflikte und Krisen in den Bereich des Sichtbaren und damit Bearbeitbaren zu überführen: „Hospitäler, Armenhäuser, Museen, öffentliche Badeanstalten, Schulen, Hauswesen, Asyle sind allesamt Räume, in denen sich die Rationalität einer genau ausgearbeiteten Konstruktion dessen, was gesehen werden kann, rekonstruieren lässt. Sie sind Räume konstruierter Sichtbarkeit.“ (Rajchman 2000: 51)

Heterotopien sind nicht etwa aus der lebensweltlichen Realität verbannt. Im Gegenteil sichern gerade die „Masken ihrer Äußerlichkeit“ (Hasse 2007: 76) und ihre Integration in die Stadtarchitektur, dass eine Problematisierung ihrer exkludierenden und illusorischen Vorgehensweise ausbleibt und eine reibungslose Organisation von Gesellschaft sichergestellt wird. Heterotopien sind damit Gegenräume, die sich realen Orten widersetzen, sie ersetzen oder reinigen sollen (Foucault 2005a: 10f.). Nicht zuletzt aufgrund der fragmentarisch erscheinenden Ausführungen Foucaults zu den „anderen Räumen“, ist das Konzept der Heterotopien für konkrete Analysen der Räumlichkeit von Gesellschaft weitgehend ungenutzt geblieben. Eine Ausnahme bilden etwa die Studien von Jürgen Hasse (2007) zur Heterotopologie des Parkhauses und des Friedhofs. Insbesondere in der räumlichen Ordnung des Friedhofs und seiner materiellen Einbettung in die Stadt werden die gesellschaftlichen Funktionen heterotoper Räume evident.

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„[Der Friedhof bestreitet] die Endlichkeit des Lebens, indem der reale Raum des Friedhofs vom übrigen Raum der Stadt durch eine Mauer abgetrennt ist. Es gibt ein Drinnen und ein Draußen. Drinnen ist tatsächlich alles anders als draußen. Der Friedhof ist ein Garten mit einem eigenen Naturzyklus, weil Menschen exotische Bäume und Sträucher auf ihn eingepflanzt haben. Draußen bahnt sich das (biologisch) endliche Leben seinen Weg. Draußen ist der Lärm der Stadt, der Raum, in dem man das Leben verlieren kann.“ (Hasse 2007: 77)

Mittels der heterotopen Verräumlichung des Todes – in Form des Friedhofs oder seiner spätmodernen Rekonzeptualisierung als Friedwald – setzt sich der Mensch ins Verhältnis zu seiner Sterblichkeit. Der Friedhof ist ein Ort außerhalb aller anderen Orte, an dem die Grenzsituation des Todes bewältigbar gemacht wird (Hasse 2012: 119ff.). Auch wenn Foucault bei der Beschreibung von Heterotopien letztlich exakte Kriterien ihrer Bestimmung schuldig geblieben ist und im Vergleich zu seinen machtanalytischen Arbeiten keine ausformulierte Konzeptualisierung bietet, ist hier bereits angelegt, was sein ganzes Werk bestimmen wird: die der Machtausübung immanente Grenzverwischung zwischen symbolischen Formen der Repräsentation und dem Physisch-Materiellen.

Raumproduktion II: Zugriffe auf Körper und Individualisierung Der Fokus auf die Räumlichkeit gesellschaftlicher Machtbeziehungen, der in Foucaults Ausführungen zu den Heterotopien noch recht vage bleibt, rückt spätestens ab „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1977) ins Zentrum des Interesses und wird hier weiter ausgearbeitet. Besondere Aufmerksamkeit widmet Foucault in diesem Zusammenhang räumlichen Machtmechanismen, den „kleinen, lokalen Taktiken, die jeden von uns einzwängen“ (Foucault 2003a: 524). In seinen Untersuchungen der Disziplinarmacht beschreibt Foucault eine Strukturierung des Raumes mithilfe der Zellentechnik, die die Disziplinargesellschaft weit über das Gefängnis hinaus durchwirkt hat. Es ist die Zellentechnik, also eine Form der räumlichen Anordnung, die der Disziplinarmacht mehrere Dinge ermöglicht: Sie erleichtert erstens den vereinzelnden Zugriff auf Körper, sie soll dadurch zweitens Effekte der Subjektivierung herstellen und drittens neue Formen der Wissensproduktion über das delinquente Subjekt ermöglichen. Erste Zielscheibe der disziplinären Machtmechanismen ist der Körper:

Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden

„[D]er Kapitalismus, der sich Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt, hat zunächst einmal ein erstes Objekt vergesellschaftet, den Körper, in seiner Funktion als Produktiv- oder Arbeitskraft. Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen wird nicht nur über das Bewusstsein oder durch die Ideologie, sondern ebenso im Körper und mit dem Körper vollzogen.“ (Foucault 2003b: 275)

Interessant ist für Foucault die symbolische und materielle Praxis der vereinzelnden Verortung als strategischer Bestandteil der Disziplinarmacht, die sich die praktische Ortsgebundenheit der Körper zunutze zu machen sucht. Das Gefängnis, die Schule, die Klinik und die vielen weiteren Disziplinarräume, die Foucault ins Zentrum seiner Analyse stellt, schaffen ein „Feld neuer Einsätze der Macht und des Wissens“ (de Certeau 1991: 230f.). Vor allem in „Überwachen und Strafen“ widmet Foucault den räumlichen Anordnungs- und Interventions des Gefängnisses große Aufmerksamkeit. Er zeigt, wie über die architektonische Gestaltung und Ausrichtung der Zellen, die vereinzelnde Verortung der Gefangenen, über Blickachsen und Lichtverteilungen, die die Beobachter unsichtbar und die Eingesperrten sichtbar werden lassen, das Gefängnis zu einer asymmetrischen „Sichtbarkeitsmaschine“ und zu einem „analytischen Raum“ (Opitz 2007: 47) werden kann. Eine solche ideale „Sichtbarkeitsmaschine“ ist das panoptische Gefängnis. Das Panoptikum ist für Foucault aber nicht einfach ein „Traumgebäude“ perfektionierter Überwachung und Bestrafung. Vielmehr ist Foucault zufolge die im architekturalen Entwurf des Panoptikums angelegte Verwendung von Raum als eine Produktivkraft für Einschließungsmilieus in vielen Variationen bereits im Alltagsleben der Menschen realisiert: „[E]s dient zur Besserung von Sträflingen, aber auch zur Heilung von Kranken, zur Belehrung von Schülern, zur Überwachung von Wahnsinnigen, zur Beaufsichtigung von Arbeitern, zur Arbeitsbeschaffung für Bettler und Müßiggänger. Es handelt sich um einen bestimmten Typ der Einpflanzung von Körpern im Raum, der Verteilung von Individuen in ihrem Verhältnis zueinander, der hierarchischen Organisation, der Anordnung von Machtzentren und -kanälen, der Definition von Instrumenten und Interventionstaktiken der Macht – und diesen Typ kann man in den Spitälern, den Werkstätten, den Schulen und Gefängnissen zur Anwendung bringen.“ (Foucault 1977: 264)

Die Disziplin basiert maßgeblich auf einer „Umkehrung der Ökonomie der Sichtbarkeit“ (Foucault 1977: 241), die die Machtausübung über eine „konzertierte Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken“ (ebd.: 259) organisiert. Sie ist eine Machtform, die nicht zuletzt über „Techniken des Raumes“ (ebd.) versucht, ihre Wirkung zu entfalten. Diese Techniken des Raumes

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sollen den vereinzelnden Zugriff auf Körper ermöglichen und Effekte der Subjektivierung, vor allem der Inkorporierung von Machtstrukturen, erwirken. Die disziplinierende Subjektivierung ist für Foucault ein „Modus der Individualisierung“ (2004: 28), der mit räumlichen Strategien operiert. Individuen und Individualität sind nicht so sehr das Ausgangsmaterial der Disziplinarmacht als vielmehr selbst ein Effekt bestimmter Machttechniken. Es handelt sich um einen „Tiefeneffekt“, der über sprachliche Praktiken (Foucault nennt hier z.B. die Beichte oder auch die psychoanalytische Gesprächssituation, in der wir angehalten sind, eine „tiefere Wahrheit“ über uns als Individuen zu gestehen), aber auch über materielle Praktiken hergestellt wird. So soll etwa die geistige Ertüchtigung in der Schule nicht zuletzt auch über die körperliche Disziplinierung realisiert werden, die durch spezifische Anordnungen der Schüler im Klassenzimmer hergestellt wird. So ist jedem Vorgang der Subjektwerdung ein Stück materiellen Zwangs inhärent, „weil es stets wenn nicht der handgreiflichen Disziplinierung, so doch der physischen Präsenz verräumlichter Gewalt bedarf, um ein menschliches Wesen in das entsprechende Netzwerk sozialer Regeln einzuüben“ (Honneth 2003: 24). Die von Foucault analysierte räumliche Technik der Parzellierung, die jedem Individuum einen Platz und jedem Platz ein Individuum zuordnet, ist individualisierendes Erkenntnisraster und materiell-räumliche Praxis gleichzeitig. Der materielle Raum wird hier nicht als „Bedeutungsträger“ in den Blick genommen, so wie es sozialkonstruktivistische Analysen der letzten Jahre vorschlagen. Foucault zeigt etwas anderes: Wissen ist nicht nur eine Produktionsinstanz des Raumes – der architekturale Raum selbst ist die Bedingung der Möglichkeit der Produktion spezifischer Wissensbestände. Die Raumordnung ist eine zentrale Voraussetzung für das Entstehen neuer Wissensformen und das „Wuchern“ von Expertendiskursen, etwa über den Delinquenten oder das widerspenstige Schulkind. Dennoch leitet Foucault die Entstehung der Disziplinargesellschaft nicht ursächlich von der materiellen Gestaltung des Gefängnisses, der Schule, Kaserne, oder Klinik ab. Eine solche Lesart wäre eine unzulässige Verkürzung der Bedeutung, die Foucault der Räumlichkeit von Machtverhältnissen beimisst. Foucault beschreibt in seinen historischen Analysen zwar, wann und wie Architektur und Städtebau „politisch“ bzw. zu Techniken des Regierens wurden, weist aber gleichzeitig auch die Gestaltungsphantasie zurück, der physischmaterielle Raum könne quasi aus sich selbst heraus politische Effekte zeitigen oder auch emanzipatorische Impulse generieren und zur Lösung sozialer Probleme beitragen: „Wenn man einen Ort fände […], an dem tatsächlich Freiheit ausgeübt wird, dann nicht aufgrund der Eigenschaften von Objekten, sondern dank der Praxis der Freiheit.“ (Foucault 2005c: 330) Räume sind für Foucault

Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden

weder passive Träger diskursiver Bedeutungsproduktion noch in einer eindeutig determinierenden Form als „Herrschaftsbehälter“ oder gar als potenzielle „Befreiungsmaschinen“ aufzufassen (ebd.: 331).

Raumproduktion III: Gestaltung von Rahmen bedingungen für Selbststeuerung Mit der Gouvernementalität entwickelt Foucault ein neues Verständnis von Machtausübung, das zwischen Macht und Herrschaft differenziert. In den Mittelpunkt der Analyse rückt nun der Begriff des Regierens. Foucault fokussiert dabei, ähnlich wie in der Analyse der Disziplinarmacht, vor allem auf Techniken des Regierens, also auf die vielen kleinen Mittel, die für die Steuerung der Bevölkerung zum Einsatz gebracht werden. Während Foucaults Analyse der Disziplinarmacht vor allem den Körper und seine disziplinäre Zurichtung betrachtet, nimmt das Konzept der Gouvernementalität das Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Regierungsweisen und Wissensformen in den Blick. Räumliche Interventions- und Anordnungspraktiken verlieren im Zuge dieser Neuausrichtung des Forschungsinteresses nicht an Relevanz. Im Gegenteil, auch im Kontext der Gouvernementalitätsvorlesungen diskutiert Foucault vor allem die „Raumprobleme“ (Foucault 2004: 28), denen sich Regierungstechniken widmen. Regieren bedeutet schließlich immer auch: Probleme verortbar machen, Interventionsräume zuschneiden, Grenzen der Zuständigkeit markieren, Strategien ausweiten. Erneut stellt Foucault vor allem den unmittelbaren Anwendungsbezug des Regierens und die Reaktion auf konkrete Probleme ins Zentrum seiner Analyse der Raumordnung. Er fragt nicht, wie Herrschaft durch repräsentative Architektur zum Ausdruck gebracht wird, sondern zeichnet nach, wie Regierungen mit raumgestalterischen Strategien auf Herausforderungen wie Warenverkehr, aber auch Epidemien oder Kriminalität reagiert haben. In der „Geschichte der Gouvernementalität I“ (2004) etwa nimmt Foucault Räume in den Blick, deren Aufgabe es ist, Zirkulation zu organisieren und sicherzustellen. Für ihn ist die Stadt des 18. Jahrhunderts ein Sicherheitsraum, dessen Gestaltung vor allem Multifunktionalität ermöglichen soll. Kollektive Infrastruktur herstellen, auf Wahrscheinlichkeiten einwirken, um „gute“, sich potenziell selbst steuernde Zirkulation (von Luft, Waren, Geld, Arbeitskraft) zu ermöglichen und „schlechte“ Zirkulation (von Krankheiten, Kriminalität, Revolten) in Maßen zu halten, ist die neue Maxime dieser Form der Stadtgestaltung. Für seine Genealogie moderner Gouvernementalität und Biopolitik wählt Fou-

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cault die lokalen Problematisierungen und Techniken, mit denen „die Städtebauer den städtischen Raum denken und zu modifizieren versuchen“ (Foucault 2004: 40), als ersten Anknüpfungspunkt. Anders als die Disziplinarmacht, die die Stadt „von einer geometrischen Figur aus, einer Art architektonischem Modul, nämlich dem Karree oder dem Rechteck“ (ebd.: 34), zu reorganisieren versuchte, ist für die moderne Sicherheitsstadt vor allem charakteristisch, dass hier pragmatisch versucht wird, mit dem „Gegebenen“ zu arbeiten. Der Wechsel der Machttypen impliziert also einerseits neue Formen der diskursiven Benennung von Problemen, andererseits sind die neuen Formen der Regulation auch gleichbedeutend mit einer veränderten Form materieller Gestaltung. Wie Foucault zeigen kann, kommt in der Handelsstadt des 18. Jahrhunderts erstmals eine Form der Machtausübung zum Einsatz, die paradigmatisch für die moderne Gouvernementalität ist: eine Form des Regierens, die nicht mehr nur zwingt, unterwirft und unterdrückt, sondern auch über die Erschaffung eines Feldes konditionierter Möglichkeiten Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung und die Verlaufsmuster sozialer Prozesse zu nehmen versucht. Foucaults Analyse dieses „Regierens aus der Distanz“ (Rose 1996: 43), das immer wieder auch auf räumliche Techniken zurückgreift, um unsere Selbstführung in die erwünschte Richtung zu lenken, hat bis heute kaum etwas von ihrer Aktualität eingebüßt.

Für einen integrierten Blick Auch wenn dieser Beitrag den Anschein erwecken mag: Foucault hat nicht alles auf den materiellen Raum gesetzt! Und genau das eröffnete ihm die Möglichkeit der integrierten Betrachtung unterschiedlichster Machtwirkungen. Vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktion von Foucaults Auseinandersetzungen mit Raum und Räumlichkeit erscheint weder eine Privilegierung sprachlicher Repräsentationen als Untersuchungsgegenstand noch eine Konzentration auf materialisierte Geographien plausibel. Eine an Foucault anschließende Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Raumverhältnisse ist kein Nullsummenspiel, das in die eine oder andere Richtung auflösbar wäre. Damit sind Foucaults Arbeiten vielen aktuellen Debatten voraus, die eine „Rematerialisierung“ poststrukturalistischer Ansätze und eine größere Nähe zu alltäglichen Praktiken der Raumproduktion fordern (vgl. Marquardt/Schreiber 2012). Während bis vor wenigen Jahren sprachanalytische Verfahrensweisen in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen noch als befreiende Al-

Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden

ternativen zu insbesondere akteurszentrierten Ansätzen empfunden wurden, hat sich ihre Geltung nun ins Gegenteil verkehrt: „Language has been granted too much power. The linguistic turn, the semiotic turn, the interpretative turn, the cultural turn: it seems that at every turn lately every ‚thing‘ – even materiality – is turned into a matter of language […].“ (Barad 2003: 801)

Angesichts dieser anhaltenden Aushandlungen um den „richtigen“ Zugriff auf Gesellschaft lohnt die Auseinandersetzung mit Foucaults raumsensiblen Analysen umso mehr. Für die poststrukturalistisch ausgerichteten und an Raum interessierten Sozial- und Geisteswissenschaften eröffnen seine Arbeiten weitaus mehr Möglichkeiten, als ausschließlich die Entstehungsbedingungen räumlichen Wissens zu untersuchen oder sich Tendenzen essenzialisierender und totalisierender Raumzuschreibungen entgegenzustellen. Ansätze, die entweder auf sprachliche Bedeutungszuschreibungen oder auf praktische Raumproduktionen fokussieren, müssen nicht als konkurrierende Zugänge einer kritischen Gesellschaftsanalyse gedacht werden. Foucaults Arbeiten weisen weit über derartige Abgrenzungsdebatten hinaus und zeigen einen Weg der Verbindung auf.

Literatur Barad, Karen (2003): „Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter“, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 28 (3), S. 801-831. Certeau, Michel de (1991): „Das Lachen Michel Foucaults“, in: Schmid, Wilhelm (Hg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 227-240. Crampton, Jeremy W. (2013): „Space, Territory, Geography“, in: Falzon, Christopher/O’Leary, Timothy/Sawicki, Jana (Hg.), A Companion to Foucault, Oxford: Wiley-Blackwell, S. 384-393. Elden, Stuart (2014): „Space“, in: Lawlor, Leonard/Nale, John (Hg.), The Cambridge Foucault Lexicon, Cambridge: Cambridge University Press, S. 466471. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Nadine Marquardt, Verena Schreiber

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Wenn Raumproduktionen zu Regierungspraktiken werden

Rajchman, John (2000): „Foucaults Kunst des Sehens“, in: Holert, Tom (Hg.), Imagineering: visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln: Oktagon, S. 40-63. Rose, Nikolas (1996): „Governing ‚advanced‘ liberal democracies“, in: Barry, Andrew/Osborne, Thomas/Rose, Nikolas (Hg.), Foucault and Political Reason, London: Routledge, S. 37-65. Schreiber, Verena (2009): „Raumangebote bei Foucault“, in: Glasze, Georg/ Mattissek, Annika (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript, S. 199-212.

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C Modi der diskursiven Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen

Die folgenden fünf Kapitel fragen danach, wie die theoretische Perspektive einer diskursiven Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen für unterschiedliche Modi differenziert und konkretisiert werden kann: Sprachlichkeit, Visualität, Performativität und Praktiken, Technik und Materialität. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die raumbezogene Diskursforschung – ebenso wie große Teile der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung insgesamt – bislang in hohem Maße auf Analysen von Texten aufbaut. Dies ist im Wesentlichen auf drei Ursachen zurückzuführen: Erstens haben viele Diskurstheorien, wie das einführende Kapitel 1 gezeigt hat, Ursprünge in der Linguistik und den weiteren Sprachwissenschaften. Damit gestaltet sich zweitens die methodologische Operationalisierung einer diskurstheoretischen Perspektive für Sprachlichkeit vergleichsweise einfach. Und drittens wurden in den Sprachwissenschaften, aber auch in verschiedenen Bereichen der Sozialund Kulturwissenschaften viele Methoden einer diskurstheoretisch orientierten Textanalyse entwickelt und empirisch erprobt, sodass die Diskursforschung hier auf etablierte Verfahren zurückgreifen kann. Gleichzeitig haben Diskurstheoretiker*innen wie Michel Foucault, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau immer wieder betont, dass die diskursive Konstitution sozialer Wirklichkeit nicht auf Texte beschränkt ist. Diese theoretisch unmittelbar einleuchtende Aussage wirft in der Analysepraxis allerdings Fragen auf. Denn wenngleich es konzeptionell plausibel ist, über die Relationierungen in Sprache hinauszugehen und Verknüpfungen bspw. in und zwischen Bildern, Praktiken und „Dingen“ ins Blickfeld von Diskursanalysen zu rücken, so erfordert dies doch grundsätzliche Überlegungen zu Theorie und Methodologie. Die folgenden Beiträge beleuchten die theoretischen und methodologischen Konsequenzen der Untersuchung unterschiedlicher Modi der diskursiven

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Georg Glasze, Annika Mattissek

Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen. Während die ersten drei Kapitel zu Sprachlichkeit, Visualität und Performativität sich dabei recht eindeutig innerhalb diskurstheoretischer Paradigmen verorten, loten die darauffolgenden Kapitel zu Praktiken sowie Technik und Materialitäten Anknüpfungspunkte zu, aber auch Differenzen gegenüber theoretischen und methodischen Debatten im Kontext eines practical und material turn aus. Kapitel 9 von Annika Mattissek zu Sprachlichkeit baut auf den Ausführungen im Einleitungskapitel zu den konzeptionellen Einflüssen strukturalistischer und pragmatischer Ansätze der Sprachwissenschaften auf. Es verortet diese Impulse im Kontext von theoretischen Entwicklungstendenzen der Linguistik und macht deutlich, dass insbesondere die Frage, ob und inwieweit sprachliche und außersprachliche Kontexte in die Analysen einbezogen werden, eine zentrale Rolle für die Herausbildung unterschiedlicher Debattenstränge einer sprachwissenschaftlichen Diskursforschung gespielt hat. Kapitel 10 zur diskurstheoretisch orientierten Interpretation von Bildern von Judith Miggelbrink und Antje Schlottmann setzt an der Beobachtung an, dass Bilder in der heutigen massenmedialen Kommunikation nahezu ubiquitär sind. Gleichzeitig werden Bilder vielfach als „Abbild“ gelesen, wodurch ihnen Authentizität zugesprochen wird. Daraus leiten die Autorinnen die Notwendigkeit ab, Bilder als eigenständige Äußerungsform in raumbezogene Diskursanalysen einzubeziehen. Dazu geben sie zunächst einen Überblick über Beiträge zur Bilddiskursanalyse sowie zu bildtheoretischen Positionen und entwerfen darauf aufbauend Perspektiven für spezifisch geographische bzw. raumbezogene Untersuchungen der Bilddiskursanalyse. Anke Strüver und Claudia Wucherpfennig führen in Kapitel 11 in die Grundlagen von Performativität und deren Anspruch der Erweiterung und Fortführung des Text- und Zeichenbegriffs im cultural turn ein. Im Anschluss an Arbeiten von Judith Butler plädieren die Autorinnen dafür, die Materialität und Körperlichkeit von Sprechakten stärker als in linguistischen Ansätzen in den Blick zu nehmen und offenzulegen, wie performative Wiederholungen von Sprechakten z.B. durch ihren ritualisierten oder zitierenden Charakter den Konstruktionscharakter sozialer Verhältnisse verschleiern. Ebenfalls an der Kritik einer einseitigen Sprach- und Textzentrierung vieler „klassischer“ Diskursanalysen setzt Kapitel 12 von Christoph Baumann, Matthias Lahr-Kurten und Jan Winkler zu Praktiken an. Um diese Engführung zu überwinden, erörtern die Autoren zunächst Theorien der Praxis mit einem Fokus auf poststrukturalistischen Debattensträngen. Darauf aufbauend erkunden sie Verwendungen des Praktikenbegriffs in der Diskurstheorie, um in einer Synthese die wechselseitigen Sensibilisierungspotenziale von Diskurs- und

Modi der diskursiven Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen

Praktikentheorien für eine Analyse der (Re-)Produktion des Sozialen zu diskutieren. Thilo Wiertz leuchtet in Kapitel 13 das teilweise spannungsgeladene Verhältnis zwischen Diskursforschung und den Debatten im Kontext eines material turn aus. Dazu legt er in einem ersten Schritt zentrale Prämissen und Argumente in Kontroversen zwischen Diskursforschung und Neuem Materialismus dar. In einem zweiten Schritt zeigt er Perspektiven auf, die im Schnittfeld zwischen diesen Theoriesträngen entstehen, und diskutiert, wie Ansätze des Neuen Materialismus helfen können, diskurstheoretische Bezüge zu Materialität zu präzisieren und weiterzuentwickeln.

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9 Sprachlichkeit Annika Mattissek 1

Poststrukturalistisch orientierte Diskurstheorien bauen auf der Idee auf, dass Sinn weder immanent noch vorgängig ist, d.h. sich weder aus den vermeintlich „natürlichen Gegebenheiten“ von Dingen und gesellschaftlichen Tatsachen noch als Ergebnis vordiskursiver Ordnungen ergibt (s. einführendes Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021 und bspw. Angermüller 2014a: 76) Jenseits dessen lassen sich in der Diskursforschung, abhängig von den theoretischen Bezügen und disziplinären Verortungen, unterschiedliche Begriffsverständnisse von „Diskurs“ identifizieren. Diese lassen sich u.a. danach unterscheiden, welche Rolle sie Sprache zuschreiben, wie sie sprachliche Prozesse konzeptualisieren und welche Aspekte von Sprache sie jeweils als relevant erachten. Die wichtigste Unterscheidung liegt hierbei zwischen Konzeptionen, welche Diskurse als rein sprachliche Angelegenheit betrachten, und Auffassungen, die neben Sprache auch andere Formen der Bedeutungsproduktion berücksichtigen (vgl. Kap. 10: Miggelbrink/Schlottmann 2021 zu Visualität, Kap. 11: Strüver/ Wucherpfennig 2021 zu Performativität sowie Kap. 12: Baumann/Lahr-Kurten/ Winkler 2021 zu Praktiken). Der in Kapitel 1 (vgl. Glasze/Mattissek 2021) eingeführte und in großen Teilen dieses Handbuchs zugrunde gelegte Diskursbegriff ist eher weit gefasst und versteht im Anschluss an Michel Foucault gesellschaftliche Macht-Wissen-Ordnungen als Effekt der Verknüpfung sehr unterschiedlicher Elemente, die bspw. auch Praktiken beinhalten (s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021 sowie Foucault 1973 [1969]). Gleichwohl nimmt Sprache auch in solch weiten Diskursverständnissen eine zentrale Stellung ein, was nicht überrascht, denn Sprache kann als das wichtigste gesellschaftliche Kommunikationsmedium und System konventioneller 1

Für Rückmeldungen und Hinweise zu dem Manuskript dieses Beitrags – insbesondere im Teil „Sprache, Gesellschaft und Raum in der Geographie“ – bedanke ich mich bei Georg Glasze.

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Annika Mattissek

Zeichen gelten (vgl. Busse/Ziem 2014: 373). Entsprechend haben sich auch die meisten der in Kapitel 1 (vgl. Glasze/Mattissek 2021) skizzierten theoretischen Grundlagen der Diskursforschung (Strukturalismus, Pragmatik, Poststrukturalismus) aus einer Auseinandersetzung mit Sprache entwickelt und sind dann sukzessive auf andere Zeichensysteme erweitert worden. Neben dieser grundsätzlichen Entscheidung, welches diskurstheoretische Verständnis zugrunde gelegt wird, bestehen in unterschiedlichen Fächern verschiedene Erkenntnisinteressen. Insbesondere lassen sich tendenziell sozialwissenschaftliche und sprachwissenschaftliche Perspektiven unterscheiden: Während sozialwissenschaftliche Analysen (mit disziplinär unterschiedlichen Schwerpunkten) Diskurse in erster Linie im Hinblick auf die Entstehung und die Wirkweisen gesellschaftlicher Machtverhältnisse untersuchen, stehen im Zentrum linguistischer Fragen die Muster, Regelhaftigkeiten und Bedeutungseffekte des Auftretens sprachlicher Äußerungen. Debatten um Diskurstheorien sind dabei sowohl Ausdruck als auch Triebkraft von konvergenten Entwicklungen zwischen Sozial- und Sprachwissenschaften: Im Zuge des linguistic turn ist die Rolle von Sprache auch in den weiteren Kultur- und Gesellschaftswissenschaften in den Fokus gerückt. Theoretisch und methodisch haben sich kulturund sozialwissenschaftliche Ansätze entsprechend zunehmend damit beschäftigt, wie sprachliche Muster und Strukturen einerseits als Ausdruck von wie auch andererseits als konstitutiv für gesellschaftliche Verhältnisse interpretiert werden können. Diese Frage wird von verschiedenen Diskurstheorien unterschiedlich beantwortet und wurde im vorangegangenen Teil des Buches für verschiedene gesellschaftswissenschaftliche Diskurstheorien näher ausgeführt. Umgekehrt ist in der Linguistik ab etwa den 1970er Jahren ein zunehmendes Interesse an sozial- und kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen und Fragestellungen zu erkennen, welches sich disziplinpolitisch etwa in der Entwicklung von Subdisziplinen wie der anthropologischen Linguistik und Ethnologie des Sprechens oder der Soziolinguistik niederschlägt. Dies führt dazu, dass auch Methoden der empirischen Sozialforschung in die Linguistik hineingetragen werden (vgl. Reisigl/Ziem 2014: 73). Dabei hat der Begriff des Diskurses in sehr unterschiedliche Bereiche der Disziplin Eingang gefunden und dazu beigetragen, dass eine Vielzahl linguistischer Konzepte und Begriffe (z.B. Argumentationen, Aussagen, Frames etc.) aus der Perspektive (linguistischer) Diskursanalysen adaptiert und teilweise neu interpretiert wurden. Maßgeblich für die Frage, wie der Diskursbegriff in der Linguistik rezipiert und interpretiert wurde und welche methodischen Instrumente entsprechend besonders prominent weiterentwickelt wurden, sind eine Reihe konzeptioneller Entwicklungen innerhalb der Linguistik seit den 1970er Jahren. Diese werden im Fol-

Sprachlichkeit

genden in einem ersten Schritt näher erläutert. In einem zweiten Schritt wendet sich der Beitrag der Frage zu, wie sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen die im folgenden (Methoden-)Teil des Handbuchs aufgegriffenen sprachwissenschaftlichen Ansätze (Lexikometrie, raumbezogenes Argumentieren, Aussagenanalyse, kodierende Verfahren und ethnographische Ansätze) interpretieren lassen bzw. welche Auslegungsmöglichkeiten hier aus der Perspektive der linguistischen Theorieentwicklung bestehen.

Entwicklungstendenzen der Linguistik Die drei aus den Sprachwissenschaften stammenden Theorien des Strukturalismus, der (Sprach-)Pragmatik und des (linguistischen) Poststrukturalismus stellen auch für die theoretische Grundlegung der Diskursforschung in den Sozialwissenschaften zentrale Referenzen dar (genauer dazu s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021). Während dabei für viele Gesellschaftswissenschaften, insbesondere im deutschsprachigen Raum, die zentrale Innovation des Diskurskonzeptes zunächst darin lag, dass stark individualistische Theorien infrage gestellt und der Einfluss gesellschaftlicher Macht-Wissen-Strukturen identifiziert wurde, verlief die Rezeption innerhalb der Linguistik nahezu gegensätzlich. Diese war bis in die 1970er Jahre hinein sehr stark durch strukturalistische Ansätze geprägt, die in der Tradition Ferdinand de Saussures die allgemeinen Strukturen von Sprache untersuchten, unabhängig von ihrem jeweiligen Gebrauchskontext. Diskurslinguistische Ansätze kritisierten diese statische Sichtweise auf sprachliche Strukturen und waren in diesem Sinne auch ein explizites Gegenprojekt „zu formalen, kontextabstrakten generativen Sprach- und Grammatiktheorien“ (Reisigl 2014: 80). Die zunehmende Etablierung der Diskursanalyse, die in der Linguistik meist als die Untersuchung von language in use (Wetherell/Taylor/Yates 2001) definiert wird, kann damit gleichermaßen als Ausdruck und Antrieb einer Entwicklung von strukturalistischen zu pragmatischen Ansätzen angesehen werden, d.h. weg von der abstrakten Beschreibung allgemeiner sprachlicher Muster und Regelhaftigkeiten hin zur Untersuchung des kontextabhängigen Sprachgebrauchs (vgl. Reisigl/Ziem 2014: 73). Einen zentralen Referenzpunkt für die Entwicklung des Diskursbegriffs in der Linguistik stellt dabei Michel Foucaults „Archäologie des Wissens“ (1973 [1969]) dar. Foucault führt hier als zentralen Begriff die Aussage als kleinste kommunikative Einheit ein, die nicht nur aus abstrakten Zeichen besteht, sondern darüber hinaus durch ihre Verknüpfungen mit ihren Kontexten bestimmt

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Annika Mattissek

ist. Die „Archäologie des Wissens“ lässt sich daher auch als Distanzierung Foucaults von früheren Werken mit deutlich stärker strukturalistischem Fokus verstehen, indem er „auf die Spezifizität und Singularität diskursiver Ereignisse und auf die enunziativ-pragmatische Dimension der Äußerung hinweist“ (Angermüller 2014b: 390). Gleichzeitig bleiben hier aber strukturelle Dimensionen von Diskursen etwa über den Begriff der „Formationsregeln“ ebenfalls Gegenstand der Analyse (vgl. Foucault 1973 [1969]). Die Rezeption und Entwicklung des Diskurskonzeptes innerhalb der Linguistik lässt sich also auch als Ausdruck des zunehmenden Einflusses pragmatischer Theorien interpretieren, die vor allem die Kontextabhängigkeit von Bedeutungsproduktion betonen. Entscheidend für daran anschließende Forschungsfragen und -methoden ist dann die Definition bzw. „Größe“ des Kontextes. Martin Reisigl und Alexander Ziem unterscheiden hier zwischen einer engen und einer weiten Auslegung: In der engen Auslegung des Kontextes bezieht sich dieser auf den unmittelbaren Interaktionszusammenhang, d.h. „die einer Äußerung vorangehende oder nachfolgende Kommunikation bzw. Interaktion“ (Reisigl/Ziem 2014: 74). Die weitere Auslegung weist hingegen deutlich größere Anknüpfungspunkte zu gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen auf und bezieht auch „politische, historische, wirtschaftliche, psychologische und andere Faktoren des Sprachgebrauchs“ mit ein, die sich im Äußerungskontext nicht direkt zeigen (ebd.).

Sprachlicher Interaktionszusammenhang Beispiele für Verfahren einer „engen“ Auslegung von Kontext lassen sich in der Konversationsanalyse und bei klassischen Verfahren der Textlinguistik finden. Erstere untersuchen anhand von detaillierten Transkripten natürlich gesprochener Sprache, wie Kommunikationspartner ihre sprachlichen Interaktionen praktisch gestalten. Dabei liegt ein Fokus auf Interaktions- und Sprechsequenzen wie Sprecherwechseln oder Paarsequenzen (z.B. Frage/Antwort oder Gruß/Gegengruß) sowie auf der Frage, wie Kohärenz in Gesprächen bzw. wie spontane „Reparaturen“ an Gesprächsfrequenzen hergestellt werden (vgl. Gülich/Mondada 2008). In der Textlinguistik werden ähnliche Fragen an Schriftsprache gestellt: Hier geht es bspw. um Fragen der Kohärenz, Kohäsion und Themenentfaltung. Kohärenz beschreibt, wie Texte in logischer bzw. thematischer Hinsicht strukturell zusammenhängen (z.B. durch Kausalitäts- oder Zeitbeziehungen), d.h. wie in Texten durch die Abfolge thematisch verknüpfter Informationen Sinnzusammenhänge generiert werden (vgl. Bußmann 2002). Kohäsion hingegen wird

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durch grammatikalische und lexikalische Formen hergestellt und beschreibt, welche formalen Hinweise zur Verknüpfung von Textteilen innerhalb des Textes gegeben werden (vgl. ebd.). Kohäsion bezieht sich also auf die unmittelbar „sichtbaren“ sprachlichen Formen der Herstellung von Zusammenhängen in Texten, während Kohärenz sich auf die Konstitution inhaltlicher Sinnzusammenhänge bezieht, die nicht unmittelbar an bestimmten sprachlichen Formen festgemacht werden können.

Gesellschaftliche Kontextfaktoren des Sprachgebrauchs Ansätze zum Einbezug des weiter gefassten gesellschaftlichen Kontextes auf die Bedeutungskonstitution von Aussagen lassen sich in unterschiedlichen linguistischen Teildisziplinen finden. Ziel ist dabei jeweils, herauszuarbeiten, wie gesellschaftliche Strukturen und Prozesse Sprachgebrauch beeinflussen. So geht die Soziolinguistik bereits seit den 1970er Jahren überwiegend mithilfe quantitativer Ansätze der Frage nach, wie soziodemographische Einflussfaktoren (z.B. Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit) sich auf den Sprachgebrauch unterschiedlicher sozialer Gruppen auswirken (vgl. Labov 1972). Jüngere soziolinguistische Ansätze umfassen die interaktionale Soziolinguistik, die kulturelle Kommunikationsmuster in lokalen Interaktionssituationen untersucht (vgl. Gumperz 2001), und die kritische Soziolinguistik, die explizit gesellschaftliche Machtverhältnisse in die Analyse einbezieht (vgl. Blommaert 2005). Beide letztgenannten Ansätze sind stark von der Ethnographie und linguistischen Anthropologie geprägt und wenden in erster Linie qualitative Untersuchungsmethoden an. Gerade die jüngeren Forschungsstränge zeichnen sich durch einen stärkeren Einbezug sozialwissenschaftlicher Theorien aus. Zunehmend wird hier im Anschluss an poststrukturalistische Theorien auch die Rolle von Sprache für die kontingente Konstitution gesellschaftlicher Kategorien wie „Nation“ oder „Geschlecht“ thematisiert (vgl. Reisigl/Ziem 2014: 82). Für die methodologischen und methodischen Debatten dieses Handbuchs maßgeblich sind zwei Entwicklungstrends in der Linguistik: Erstens wenden sich linguistische Debatten, ausgehend von stark strukturalistisch geprägten Theorien, zunehmend pragmatischen Ansätzen zu. Dabei bleibt jedoch das grundsätzliche „Sowohl-als-auch“ von strukturalistischen und pragmatischen Perspektiven in der Mehrzahl der Ansätze erhalten. Parallel dazu finden zweitens eine Annäherung an und ein verstärkter Einbezug von sozialwissenschaftlichen Theorien und Methoden statt, die zu neuen Anknüpfungspunkten zwischen Sprach- und Gesellschaftswissenschaften führen.

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Exkurs: Der Diskursbegriff in der Linguistik Wie die Ausführungen im Text gezeigt haben, ist der Diskursbegriff in der Linguistik insgesamt Ausdruck konzeptioneller Verschiebungen, die sich auf sehr unterschiedliche Teilbereiche der Linguistik erstrecken. Entsprechend findet der Diskursbegriff auch in vielfältigen Subdisziplinen der Linguistik Verwendung und wird hier mit je spezifischen Schwerpunktsetzungen rezipiert. Reisigl und Ziem identifizieren insgesamt sechs Teilbereiche und Debattenzusammenhänge innerhalb der Linguistik, in denen Diskurskonzepte eine zentrale Rolle spielen: „Will man die unterschiedlichen diskursanalytischen Strömungen der Sprachwissenschaften grob sortieren, lassen sich daher zumindest pragmatische, soziolinguistisch und ethnographisch bzw. anthropologisch orientierte, textlinguistisch und semantisch geprägte, kritische (einschließlich kritisch-feministische) und kognitive Ansätze unterscheiden.“ (Reisigl/Ziem 2014: 75) Trotz dieser vielfältigen und teilweise durchaus unterschiedlichen Rezeptionen wurde aber gerade der Diskursbegriff auch immer wieder zum Anlass genommen, um Überschneidungen und Anknüpfungspunkte zwischen den einzelnen Perspektiven herauszuarbeiten (z.B. Maingueneau 1976; vgl. Reisigl/Ziem 2014). Besonders prominent werden Diskurskonzepte innerhalb der Diskurslinguistik diskutiert. Diese hat sich seit etwa Ende der 1990er Jahre in den Sprachwissenschaften als eigenständige Teildisziplin etabliert (vgl. Böke/Jung/Wengeler 1996; Blommaert 2005; Warnke 2007, 2018). Sie baut auf den etablierten Methoden und Konzepten der Analyse von Sprache in der Linguistik auf, bezieht sich dabei aber gleichzeitig auf poststrukturalistische Theorien, insbesondere auf Autoren wie Michel Foucault und Jacques Derrida (Warnke 2018). Die Rezeption etwa des Foucault’schen Verständnisses von Aussagen birgt dabei für die Linguistik auch Herausforderungen, die sich aus dem multimodalen, d.h. über die rein sprachliche Ebene hinausgehenden, Charakter von Aussagen ergeben. Durch das erweiterte Erkenntnisinteresse auf die Überlappungs- und Schnittbereiche von Sprache und außersprachlichen Gegebenheiten, wie z.B. Macht, Verhalten, Subjektivierungen etc., ist die „linguistische Analyse von Diskursen in diesem Sinne immer mit der Explikation von Impliziertheit befasst“ (Warnke 2018: XIII) und hebt sich damit von „klassisch“ linguistischen Arbeiten ab, die sich v.a. auf die unmittelbar beobachtbaren Oberflächenphänomene von Sprache beziehen (vgl. ebd.). Für die Diskurslinguistik stellt sich damit die Frage, wo in einem derart umrissenen Diskursverständnis die Grenzen der eigenen „Zuständigkeiten“ gezogen werden, d.h. wo linguistische Diskursanalysen ansetzen, welche Dimensionen von Diskursen sie für das sprachwissenschaftliche Interesse ein- oder ausschließen und wo sie ihre disziplinären Grenzen definieren (vgl. Warnke/Spitzmüller 2008:

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5ff.). Ingo H. Warnke und Jürgen Spitzmüller (2008) konstatieren zu dieser Frage der Stellung sprachwissenschaftlicher Analysen innerhalb des Feldes der Diskursforschung: „Der diskursanalytische Gegenstand im Allgemeinen ist […] weiter als der diskurslinguistische im Besonderen. Diskursanalyse untersucht Wissen, Text und alle Sorten kultureller Artefakte ebenso wie sprachliche und nichtsprachliche Handlungen. Diskurslinguistik befasst sich demgegenüber mit allen vielschichtig strukturierten Aussagen- und Äußerungskomplexen, in denen Sprache als symbolische Form rekurrent verwendet wird oder beteiligt ist.“ (Ebd.: 8f.) Um das Verhältnis der unterschiedlichen Bezugspunkte in der Analyse deutlicher hervorzuheben, unterscheiden Warnke und Spitzmüller (2008) zwei Fälle. Erstens Untersuchungen, bei denen Sprache das alleinige Symbolisierungsmedium in Diskursen ist und in denen sich die Analyse allein auf sprachliche Formen und Strukturen bezieht. Diese bezeichnen sie als „innere Diskurslinguistik“. Demgegenüber stehen zweitens Diskurse, in denen Sprache ein Teilmedium der Symbolisierung darstellt und diese Beteiligungsrolle im Verhältnis mit ihren Außenbezügen untersucht wird. Dieser Fall wird auch als „äußere Diskurslinguistik“ bezeichnet (ebd.: 9).

Sprache, Gesellschaft und Raum in der Geographie In der Geographie lassen sich grob vereinfacht zwei Perspektiven auf Sprache und Sprachlichkeit differenzieren: Arbeiten der Sprachgeographie kartieren die räumliche Verbreitung von Sprachen und Dialekten. Kulturgeographische Arbeiten nach dem linguistic turn interessieren sich hingegen dafür, wie in Sprache bestimmte Bedeutungen und damit auch Geographien hergestellt werden. Im 19. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sprachgeographische Arbeiten als Beiträge innerhalb des traditionellen kulturgeographischen Paradigmas, welche die Welt als ein Mosaik von Kulturen beschreiben wollte. Seit Ende der 1960er Jahren erschienen dann Arbeiten, welche diesen Ansatz dynamisieren. Sie diskutieren, wie Sprache als Symbol territorial oder zumindest geographisch definierter Zugehörigkeit verwendet wird (z.B. Rowley 1985), wie die Verbreitung von Sprachen durch demographische, politische und ökonomische Entwicklungen beeinflusst wird (vgl. Kraas 1992; Kreutzmann 1995; Sanguin 1993) und regionalistische bzw. nationalistische Identitäten und politische Überzeugungen mit der Verbreitung von Sprachen sowie mit Sprachpolitiken zusammenhängen (vgl. Loyer 2002 sowie González 2003). Arbeiten, die sich vielfach einer neuen Kulturgeographie zurechnen, konzipieren Sprache im Vergleich dazu nicht in erster Linie als zu kartierenden „Ge-

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genstand“. Vielmehr gehen sie davon aus, dass sich mit und in Sprache überhaupt erst Geographien konstituieren. Peter Jackson (1989) beschreibt diese vielfach als linguistic turn beschriebene Neuausrichtung wie folgt: „[A] revitalised cultural geography must go beyond the mapping of languages and the geography of dialect towards the study of language itself as the medium through which intersubjective meaning is communicated.“ (Jackson 1989: 169) Die Vorstellungen von Geographien sind danach also soziale Konstruktionen, die v.a. auch über Sprache vermittelt werden (vgl. zur Rezeption dieses Ansatzes in der Kultur- und Sozialgeographie z.B. Hard 1972; Jackson 1989; Gregory 1994; Racine 1995; Schlottmann 2005; Glasze/Pütz 2007). Die sprachorientierten Beiträge dieses Handbuchs ordnen sich in diesen Forschungsstrang ein – gerade hier wurde und wird vielfach der Bezug zu Konzepten und Methoden aus der Linguistik gesucht. Geographische Forschungen, die danach fragen, wie sich die Konstitution von Geographien in verschiedenen räumlichen Kontexten unterscheidet, kombinieren in gewisser Weise die oben gegenübergestellten Ansätze. So eröffnet die Erforschung von Texten aus georeferenzierten Beiträgen in sozialen Medien (bspw. georeferenzierten Tweets) die Möglichkeit, die (auch) sozialräumlich differenzierte Herstellung von Bedeutungen zu analysieren (s. bspw. das Projekt zu Geographien des hate speech in den USA auf Twitter von Stephens 2013).

Ausblick: Implikationen und Anknüpfungspunkte für die Analyse von Diskurs und Raum Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich eine Reihe von Reflexionsperspektiven ableiten, die zur Einordnung und ggfs. Anpassung sprachwissenschaftlicher Ansätze in raumbezogenen, gesellschaftswissenschaftlichen Diskursanalysen genutzt werden können: •

• •

Erstens kann an unterschiedliche Verfahren jeweils die Frage gestellt werden, welches Verhältnis zwischen strukturalistischem und pragmatischem Denken besteht; zweitens können Methodiken danach befragt werden, welche Definition des Kontextes ihnen jeweils zugrunde liegt, und drittens kann reflektiert werden, welche Möglichkeiten zur Analyse poststrukturalistischer Kontingenzen, Verschiebungen und Uneindeutigkeiten die Verfahren jeweils bieten.

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Wichtig ist hierbei zu betonen, dass es nicht darum geht, die in Teil D dieses Buches vorgestellten (auch) sprachwissenschaftlichen Methodologien und Methoden (Lexikometrie/Computerlinguistik, Argumentationsanalyse, Aussagenanalyse, kodierende und ethnographische Verfahren) hier einer der drei „Schubladen“ Strukturalismus, Pragmatik und Poststrukturalismus zuzuordnen. Auch greift die möglicherweise auf den ersten Blick naheliegende Versuchung, Ansätze der Makroebenen (Lexikometrie) dem Strukturalismus zuzuordnen und die eher auf der Mikroperspektive ansetzenden Aussagen- oder Argumentationsanalysen der Pragmatik zuzuschreiben, zu kurz. Beispielsweise können korpuslinguistische Verfahren (vgl. Kap. 14: Dammann et al. 2021) genutzt werden, um allgemeine Regelmäßigkeiten des Sprachgebrauchs zu identifizieren (strukturalistische Perspektive), um deren Uneindeutigkeiten und Veränderungen offenzulegen (poststrukturalistische Perspektive) oder um die Konstitution von Bedeutung im Zusammenwirken von Text und Kontext sowohl auf der „engen“ textlichen Ebene (z.B. Bestimmung von Kollokationen mit bestimmten Raumbezeichnungen) als auch auf der „weiteren“ außertextlichen Ebene (z.B. unterschiedliche Muster des Sprachgebrauchs bei unterschiedlichen politischen Parteien oder in unterschiedlichen Medien) aufzuzeigen. Ebenso können etwa Argumentationsanalysen (vgl. Kap. 15: Felgenhauer 2021) Verwendung in der Aufdeckung der typischen Struktur argumentativ ausgetragener Auseinandersetzungen finden (strukturalistische Perspektive) oder in der Kombination mit qualitativen Verfahren genutzt werden, um die Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten der von Individuen jeweils kognitiv ergänzten Bedeutungen aufzudecken. Darüber hinaus hängt die Frage, wie spezifisch oder umfassend die jeweils interpretativ ergänzte Schlussregel ist, davon ab, wie eng der relevante Kontext gefasst wird: Dieser kann von sprachlichen Grundmustern räumlich-topologischer Ausdrucksweisen (enger Kontextbegriff) bis hin zu alltagspolitischen Bezügen, die in einem jeweiligen thematischen Diskurs relevant sind (weiter Kontextbegriff), reichen. Diese kurzen Beispiele zeigen, dass je nach wissenschaftlicher Fragestellung und theoretischer Grundlegung der Analyse nicht nur unterschiedliche methodische Verfahren genutzt werden können, sondern dass auch die jeweilige Interpretation und Auslegung der Methodiken themenspezifisch angepasst werden muss. Die in diesem Kapitel skizzierten Einordnungen und die MethodikKapitel in Teil D sollen dazu anregen, sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, Herangehensweisen und Verfahren zu nutzen, dabei aber gleichzeitig immer mit zu reflektieren, wie diese methodisch und interpretativ dem jeweiligen (gesellschaftswissenschaftlichen und raumbezogenen) Untersuchungsdesign angepasst werden können und müssen.

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„Man möge mir meinen Mangel an Kompetenz verzeihen. Ich bin kein Kunsthistoriker. Bis vor einem Monat hatte ich noch nichts von Panofsky gelesen.“ (Foucault 2001 [1967]: 794)

Bilder und Blicke Was hat die Geographie mit Bildern zu tun? Auf den ersten Blick nichts, sind Bilder und ihre Analyse doch Sache der Kunstwissenschaften und deren Gallionsfigur Erwin Panofsky. Auf den zweiten Blick sehr viel, vergegenwärtigt man sich, „dass Geographie im Kern ein visuelles Unterfangen ist“ (Sui 2000: 322). Geograph*innen sehen aber nicht nur Dinge „draußen“, „im Gelände“, sie machen nicht nur selbst Karten und andere Bilder. Zunehmend wird geographisches Arbeiten auch von einem empirischen Interesse an Visualisierungen verschiedenster Art (vgl. Schlottmann/Miggelbrink 2009) und einer kritischreflexiven Auseinandersetzung mit ihrer Wirkmächtigkeit, den „Visualitätsregimen“ begleitet, welche die Praktiken des Sehens und Abbildens hinterfragt (s. Michel 2015). Dabei sind es aber v.a. die Bildwissenschaften und – im englischsprachigen Raum – die cultural studies, die auch für die Geographie den größeren Bezugsrahmen bilden, insofern sie die Bedeutung des Visuellen für die Konstitution von Gesellschaft-Raum-Beziehungen reflektieren. Die Beziehungen zwischen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen, Fragestellungen und als relevant erachteten Themen sind dabei komplex und lassen sich kaum als eindeutige chronologische Ableitung oder konsistente Über- und Unterordnungen deuten. So stellt sich das große Feld dessen, was wir als „Visuelle Geographien“ adressieren, als ein Konglomerat recht unterschiedlicher und durchaus

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nicht widerspruchsfreier erkenntnistheoretischer Zugänge und kontextgebundener Interessen und Fragestellungen dar (vgl. Schlottmann/Miggelbrink 2015). Diskursanalytische Positionen, welche die Geographie vornehmlich durch die Auseinandersetzung mit dem cultural turn erreicht haben, nehmen in diesem Geflecht bislang allerdings keine sehr prominente Rolle ein. Ein spezifisch geographisches Defizit ist das nicht, dominiert doch herkunftsgemäß in der Diskursanalyse die Beschäftigung mit sprachlichem und textlichem Material. Die Abwesenheit des Visuellen in diskursanalytischen Untersuchungen durchzieht viele Disziplinen auch deswegen, weil Visualität und Ästhetik – wie auch Emotionalität – bis weit in das 20. Jahrhundert hinein keine zentralen Gegenstände sozial- und gesellschaftstheoretischer Debatten waren (vgl. Reckwitz 2012). Interessanterweise stammen Forderungen, andere als sprachliche Zeichen in der Erforschung kommunikativen Handels zu berücksichtigen, aber gerade aus einem sprachwissenschaftlichen Theoriezweig, der linguistischen Pragmatik, weil diese die Bedeutung von Zeichen nicht im Laut selbst sucht, sondern als kontext- und situationsabhängig versteht (u.a. Stöckl 2004; vgl. Kap. 9: Mattissek 2021). Aber auch die wachsende Bedeutung der Medientheorie und -didaktik führt aktuell zu einem verstärkten analytischen Interesse an Bildlichkeit sowie an Bild-Text-Beziehungen. Eine nicht unwesentliche Motivation, in diskursanalytischen Perspektiven Bilder als Zugang zum Verständnis von Gesellschaft einzubeziehen, wird in konstruktivistischer Perspektive darin gesehen, dass „die Massenmedien eine Realität [erzeugen], an der sich die Gesellschaft orientieren kann“ (Sutter 2010: 36). Die alles durchdringende Produktion von Gebrauchsbildern wird dabei durch vermutete „Informationseffizienz in der bildlichen Kommunikation“ (ebd.) legitimiert. Das heißt: Fotografischem und filmischem Material wird eine hohe Ikonizität, also ein hohes Maß an Ähnlichkeit zwischen dem ikonischen Zeichen (z.B. dem Bild von einem Berg) und seinem Referenzobjekt (dem abgebildeten Berg), zugesprochen (vgl. Michel 2006: 57, nach Morris 1973). Mindestens unterschwellig schwingt in der Diskussion, die sich mit dem Informationsgehalt bildlicher Kommunikation beschäftigt, also stets die Frage mit, „ob Bilder auf die Wirklichkeit verweisen, da sie der Wirklichkeit ähnlich sind“ (ebd.). Mit anderen Worten: Aus dieser Perspektive dient das Bild der Vermittlung von Informationen, die ihm vorausgehen. Demgegenüber muss eine Position, die die Eigenständigkeit des Bildes gegenüber dem Text und der gesprochenen Sprache reklamiert (vgl. Boehm 2004) umso dringender darauf bestehen, Bilder eben nicht nur als illustrierendes und kommentierendes und letztlich abhängiges Beiwerk „des Diskurses“ zu sehen, sondern als eigenständige Äußerungsform, deren Untersuchung wiederum Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Kontext ihrer Produktion zulässt.

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Inwieweit können bilddiskursanalytische Fragen nun zum Verständnis von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen beitragen? Die Beantwortung dieser Frage hängt erstens davon ab, was denn unter „Gesellschaft-Raum-Verhältnissen“ verstanden werden soll, und das ist geographiegeschichtlich nachweislich sehr unterschiedlich gewesen (vgl. u.a. Eisel 1980; Weichhart 1999, 2008; Zierhofer 1999; Werlen 2000). Rücken Praktiken der Konstitution und Aneignung raumzeitlicher Wirklichkeiten in den Mittelpunkt des Interesses, dann stellt sich zweitens die Frage, inwieweit bilddiskursanalytische Perspektiven zum Verständnis der Mechanismen sowie der Ausdrucksformen dieser Konstitutionsund Aneignungsprozesse beitragen können. Im Sinne eines in die Thematik einführenden Beitrags und vor einem immer noch recht spärlichen Hintergrund an substanziellen Arbeiten zum Verhältnis von Bild, Diskurs und Raum soll im Folgenden zunächst auf bislang geleistete Beiträge zur Bilddiskursanalyse eingegangen werden. Dem Versuch der Einordnung in eine Matrix von bildtheoretischen Positionen folgen dann Überlegungen zu einer spezifisch geographischen Perspektive und zu Aussichten, die eine Einbeziehung bilddiskurstheoretischer Perspektiven in die – oder besser in eine – Geographie bieten könnte.

Bilddiskursanalyse – eine erste Annäherung Die Bilddiskursanalyse schließt an die zentrale theoretische Annahme zahlreicher bildwissenschaftlicher Positionen an, indem sie davon ausgeht, dass Bilder „Realität nicht einfach ab[bilden], sondern sich an der Konstruktion von gesellschaftlicher Realität [beteiligen]“ (Maasen/Mayerhauser/Renggli 2006: 19). Innerhalb dieser bildtheoretischen Positionierung ist für ein bilddiskursanalytisches Vorgehen darüber hinaus spezifisch, dass Bilder als Bestandteil von „bestimmten Macht-Wissen-Konstellationen (Dispositiven)“ verstanden werden, die „im intermedialen Zusammenspiel mit Texten oder architektonischen Formationen Sichtbarkeiten [verteilen], politische Relevanzen [erzeugen] und die Verortung entsprechender Subjektpositionen [ermöglichen]“ (ebd.). Folglich interessieren sich bilddiskursanalytische Zugänge weniger für das einzelne Bild, auch wenn sie möglicherweise nur ein einziges Bild analysieren (z.B. Renggli 2005), sondern vielmehr für gesellschaftliche Ordnungs- und Positionierungsverhältnisse, innerhalb derer Bilder Funktionen im Hinblick auf gesellschaftliche Sichtbarkeitsverhältnisse haben (s. auch Kauppert/Leser 2014; Przyborski/Haller 2014). Ebenso folgerichtig wird Bildern kein Primat bezüglich der Konstituierung gesellschaftlicher Realität(-en) eingeräumt, vielmehr wird von

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einer Verwobenheit textlicher (sprachlicher) und bildlicher Aussagen und von einer Verschränkung des Sagbaren und des Sichtbaren ausgegangen (zu einer verschränkten Text- und Bildanalyse vgl. Maasen/Böhler 2006). Elemente des Diskurses ziehen sich als Themen durch die Texte, „aber sie gewinnen Gestalt in den plastischen Motiven, die ihrerseits Veränderungen unterworfen sind“ (Foucault 2001 [1967]: 795). Zwischen verbalen und nicht-verbalen Äußerungs-/Ausdrucksformen des Diskurses bestehen Beziehungen; welcher Art, ist offen, sie sind aber keineswegs deterministischer Art in dem Sinne, dass das Verbale/Textliche das andere notwendig hervorbringen würde oder umgekehrt. Das Sichtbare darf dem Sagbaren nicht untergeordnet werden, auch wenn dies der allgemeinen Überzeugung entspräche, der zufolge die „Strukturen der Sprache […] der Ordnung der Dinge ihre Form“ aufprägen (ebd.). Letzteres hieße, plastische Formen als Texte aufzufassen und sie daraufhin zu untersuchen, was sie „sagen“ wollen, mithin „das Sprechen [zu] rekonstruieren, wo es sich wegen des unmittelbaren Ausdrucks seiner Worte entledigt hatte“ (ebd.) (vgl. Kap. 20: Strüver/Wischmann 2021 zu Fotografie). Damit aber werde man der ganzen Komplexität der Beziehungen zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren nicht gerecht: „Diskurs und Form bewegen sich im Verhältnis zueinander. Aber sie sind keineswegs unabhängig voneinander.“ (Foucault 2001 [1967]: 795) Möglicherweise gerade um die Eigenständigkeit der Bilder herauszustellen und damit den Blick auf die Verhältnisse zu öffnen, stellt Michel Foucault im Folgenden „Diskurs und Figur“ in ihrer je eigenen Seinsweise gegenüber und begrenzt damit implizit den Diskursbegriff: „Der Diskurs ist also nicht die gemeinsame Interpretationsgrundlage aller Erscheinungen einer Kultur. Eine Form erscheinen zu lassen ist keine indirekte (subtilere oder auch naivere) Art, etwas zu sagen. Nicht alles, was die Menschen tun, ist letztlich ein entschlüsselbares Rauschen. Diskurs und Figur haben jeweils ihre eigene Seinsweise; aber sie unterhalten komplexe, verschachtelte Beziehungen. Ihr wechselseitiges Funktionieren gilt es zu beschreiben.“ (Ebd., Herv. i.O.)

Das heißt aber nun nicht, dass bilddiskursanalytische Ansätze sich in methodischer Hinsicht der gleichen Verfahren bedienen würden und könnten wie jene diskursanalytischen Arbeiten, die den Text als Ausgangspunkt der Rekonstruktion von Aussageverhältnissen wählen. Um zu erschließen, welche Funktion Bildern für sozialkulturelle Phänomene und Prozesse zukommt, greifen bilddiskursanalytische Perspektiven weitgehend auf (etablierte) bildwissenschaftliche Theoreme und Verfahren zurück. So untersucht bspw. Urs Stäheli Finanzwerbungen innerhalb eines diskursanalytisch formulierten Erkenntnisinteres-

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ses mithilfe einer ikonographischen Codierung des Bildmaterials (Stäheli 2006), Cornelia Renggli greift auf phänomenologische Bildpositionen zurück (Renggli 2005), integriert aber auch systemtheoretische Überlegungen (Renggli 2006) und beschreibt als Ziel der Arbeit mit Bildern, „deren Möglichkeitsbedingungen zu erforschen“ (Renggli 2014: 60). Welchen Bildbegriff bieten (bild-)diskursanalytische Positionen an? Keineswegs einen eindeutigen, wie Klaus Türk meint. Bilddiskursanalytische Arbeiten bezögen sich meist mehr oder weniger stark auf Foucault. Aus dessen spezifischer Konzeption der Diskursanalyse lasse sich ein Bildbegriff ableiten, der am Konzept der Artefakte orientiert sei: Foucaults Diskursanalyse operiere, so Türk, „strikt nur auf einer Ebene […], nämlich auf der Ebene der diskursiven Elemente, der Artefakte selbst, um immanent auf dieser Ebene Strukturen und Konstruktionen zu ermitteln. Artefakte werden deshalb nicht als ,Dokumente‘ für etwas anderes als sie selbst behandelt, sondern als autonome ,Monumente‘, deren Positionen in einem Muster der Ein- und Ausschließung, einer Struktur der Ermöglichung und Inhibierung zu bestimmen sind. Der Diskurs ist hier nicht die hinter oder unter den diskursiven Elementen liegende verborgene Rede, sondern das ,verbindende Muster‘ (Bateson) der diskursiven Elemente selbst.“ (Türk 2006: 153)

Ein darauf Bezug nehmender Bildbegriff könne folglich nicht auf Ideologieproduktion, auf vermeintlich hinter den Bildern liegende Wahrheiten oder Weltauffassungen abzielen, sondern müsse „bilddiskursive Felder“ identifizieren, deren innere Strukturierungen sowie „historische Brüche in bildthematischen und bildstrukturellen Darstellungen“ herausarbeiten (ebd.: 154). Dies schließe aber dennoch nicht aus, mit einem anders gelagerten Diskursbegriff Bilder nicht als für sich stehende „Monumente“, sondern – weniger autonom – als Dokumente für etwas anderes aufzufassen. Eine poststrukturalistische, am Foucault’schen Diskursbegriff ausgerichtete Perspektive interessiert sich also weniger für ein Bild an sich und für „das Bild“ an sich, sondern für die durch Bilder vorgenommenen, ausgelösten, reproduzierten, bestrittenen, ironisierten usw. Strukturierungen. Bild und Bildlichkeit sind in diskursanalytischer Perspektive daher eingebettet in ein breiter angelegtes Verständnis des Sehens und Akte des Sehens und deren Rolle für die Konstitution des Sozialen und des Subjekts. Subjekte sind demnach weder autonome Schöpfer*innen eines im Moment ihres Sehens kreierten Sinns noch vollziehen sie im Sehen einen ihrem Sehen vorausgehenden Deutungsprozess nach. Vielmehr insistiert eine poststrukturalistische Perspektive auf dem per-

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formativen Akt des Sehens, der insofern stets ein produktives und veränderndes Tun ist, als „Körper- und Subjektkonstitution durch visuelle Anrufungen“ zustande kommen (Strüver 2015: 51). Diese wiederum haben insofern eine räumliche Dimension, als das Subjekt „z.B. durch (Raum-)Bilder, aber auch durch räumliche (An-)Ordnungen“ (ebd.) angerufen werden kann (vgl. Kap. 20: Strüver/Wischmann 2021). Werbung – um hier ein gängiges Beispiel zu nennen – kann dementsprechend einerseits dokumentarisch verstanden werden als Ergebnis und Niederschlag gesellschaftlicher Ordnungs- und Normierungsansprüche, die sich in der Wahl des Dargestellten (wie auch des Ausgelassenen), im visuellen Arrangement und in Bild-Text-Beziehungen manifestieren. Andererseits kann sie in poststrukturalistisch-subjekttheoretischer Perspektive daraufhin untersucht werden, welche auf die gesellschaftlichen Positionierungsmöglichkeiten des Subjekts bezogenen Anrufungen von ihr ausgehen. Die in Abbildung 4 und 5 gezeigten Werbeanzeigen aus den 1960er Jahren und von 2016 können also bspw. daraufhin analysiert werden, welche Strukturierungsansprüche in Bezug auf die gesellschaftlichen Positionierungsmöglichkeiten von Subjekten durch Werbung (ko-)konstituiert und wie diese wiederum mit der Produktion von Raum verbunden werden. Welche – im Türk’schen Sinne – „verbindenden Muster“ lassen sich identifizieren, wenn man Bildreihen untersucht (für die die hier ausgewählten Bilder nur als eklektizistische Illustrationen stehen können)? Bricht das Nicht-mehr-Zeigen von Autos in der Automobilwerbung von 2016 (vgl. Abbildung 5b) mit normierten und normierenden Darstellungen und markiert insofern etwas Neues oder sind – im Gegenteil – Fortführungen alter Muster auszumachen? Wie wird visuell die Entscheidung über Mobilität eingebettet in eine (Paar-)Beziehung? In welchem Verhältnis steht die sorgfältig inszenierte Aufstellung einer Familie in ihrem Wohnzimmer in Abbildung 4a zum dynamischen Arrangement der aktuellen Wüstenrot-Werbung in Abbildung 5a? Welche Gesellschafts- und Rollenbilder werden jeweils adressiert, worin unterscheiden sie sich und wo lassen sich Kontinuitäten aufdecken?

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Abbildung 4 a-b: Inszenierung eines Wohnzimmers bzw. Autowerbung im Wirtschaftswunder

Quelle: http://www.wirtschaftswundermuseum.de/moebeldesign-60er-1.html; 06.08.2020

Quelle: http://www.wirtschaftswundermuseum.de/ bilder-60er-jahre-1.html; 06.08.2020

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Abbildung 5 a-b: Aktuelle Werbung

Quelle: https://www.wuestenrot.de/de/ueber-uns.html; 06.08.2020

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 03./04.09.2016, S. 5

Aus diskursanalytischer Perspektive interessiert das normierte und normierende Bildhandeln mithin vor allem im Hinblick auf die diesem zugrunde liegenden Wahrheits- und Natürlichkeitsbehauptungen (vgl. Rose 2016 [2001]: 137f. u. 140). Diese mögen sich zwar gelegentlich in einem Bild manifestieren, sind aber nicht allein aus diesem heraus verständlich. Vielmehr gewinnen sie ihre Bedeu-

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tung erst durch die eingangs benannten Macht-Wissen-Konstellationen, die sie selbst mit hervorbringen. Sprache ist – ohne die Bedeutung der unmittelbaren Affektion unterschlagen zu wollen (s. Hasse 2015: 37ff.) – wiederum ein wesentlicher Bestandteil dieser Macht-Wissen-Konstellationen. Wenn aber Sprache und Bild in „Bildpraxen“ und „Bildhandeln“ sich permanent durchdringen, dann sind Bilder wiederum als Quellen für das Verständnis normierten und geregelten sprachlichen Handelns essenziell. Analysen und Dokumente an der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft bilden diesbezüglich einen reichen Fundus sprachlicher und visueller Wahrheitsproduktion, in denen einerseits Sprache und Bild – in Form von Karten, Diagrammen und Schaubildern – eine argumentative und appellative Einheit bilden. Das heißt sie bilden in ihrem Zusammenwirken ein Argument, das aufseiten der Adressat*innen etwas bewirken soll: Diese sollen überzeugt werden, zustimmen, vielleicht sogar weitergehend aktiv werden. Andererseits erzeugen aber Sprache und Bild mit einem je eigenen Repertoire an Geltungsansprüchen eben auch Wahrheit (s. am Beispiel des Berlin-Instituts Bevölkerung und Entwicklung Wintzer 2015). Kehren wir daher noch einmal zurück zum Verhältnis von Bild und Sprache. Statt von der „[j]e eigenen Seinsweise“ von „Diskurs und Figur“ auszugehen, wird nämlich von einigen Autor*innen eine gewisse Parallelität ausgemacht. Angelehnt an die sprachzentrierte Konzeption von Stuart Hall (1994 [1992]: 150) kann ein Diskurs als eine Gruppe nicht nur von sprachlichen, sondern auch von bildlichen Aussagen verstanden werden, die eine bestimmte Sichtweise zur Verfügung stellen, um etwas darzustellen bzw. bildlich auszudrücken, als eine besondere Art von „visuellem Wissen“ über einen Gegenstand. Auf der Ebene der Zeichen diskutiert Umberto Eco die Möglichkeit, visuelle Zeichen analog zu sprachlichen Zeichen als Codes zu fassen (Eco 1994 [1972]: 197ff.). Wird man aber damit der Besonderheit des visuellen Zeichens gerecht und wie verhält es sich zum oder im Diskurs? Uwe Pörksen, der den Begriff des Visiotyps kreiert hat, um damit den „durch die Entwicklung der Informationstechnik begünstigten Typus sich rasch standardisierender Visualisierung“ (Pörksen 1997: 27) zu fassen, versucht eine differenzierte Antwort: Erklärungen wissenschaftlicher Zusammenhänge, politische Äußerungen, Begründungen, Informationen usw. sind zunehmend durchsetzt mit Visualisierungen wie Bevölkerungspyramiden und Wachstumskurven, Luftbildern vermeintlicher Produktionsstätten von Massenvernichtungswaffen, Karten der Luftbelastung, mikroskopischen Aufnahmen von Zellen und Mikroorganismen usw. Kurz: Visualisierungen sind überall präsent, wenn es um Aussagen über etwas geht. Sie sind aber nicht einfach Illustrationen oder Ergänzungen des Wortes, sondern entfalten ihre eigene Wirkkraft und stehen verselbstständigt als

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„globale visuelle Zeichen“ (ebd.: 28). Sie können das, weil sie eingebettet sind in soziale Normen, die ihnen Bedeutung(-en) verleihen, d.h. sie sind eingebettet in Denk- und Wissensstile (vgl. Fleck 2012 [1935]) und technische Standards, in Gebrauchsnormen, in vorhandene und tradierte Bildervorräte und nicht zuletzt in (wechselnde) Neigungen zur Visualisierung selbst (vgl. Pörksen 1997: 172f.). Sie sind aber nicht nur „geradezu Ausbünde sozialer Norm“, sie haben selbst wiederum „eine starke prägende, Normen bestätigende und setzende Wirkung“ (ebd.: 168). Wenn folglich unter „Diskurs“ mit Hall eine Gruppe von sprachlichen und bildlichen Aussagen verstanden wird, die eine bestimmte Sichtweise zur Verfügung stellen (s.o.), dann kommt man nicht umhin, die prägende Wirkung von Visualisierungen zu berücksichtigen. Dazu aber müssen die visuellen von den sprachlichen Zeichen unterschieden werden. Das heißt: Pörksen diskutiert die Frage der Beziehung zwischen visuellen und sprachlichen Zeichen, indem er aus sprachwissenschaftlicher Sicht nach einer Möglichkeit sucht, sie auseinander zu halten und eine Grenze zwischen ihnen zu ziehen. Diese sieht er in der Unterschiedlichkeit der mit ihnen verbundenen „Übereinkunft“: „Das sprachliche Zeichen gilt auf Grund einer zwar grundsätzlich beliebigen, aber festen Verabredung; die lautliche Form ist der vereinbarte Stellvertreter. Die visuelle Form gilt, wo sie zum ,Zeichen‘ wird, auf Grund eines zur Konvention gewordenen Wahrnehmungsschemas; die von der Form vermittelte Bedeutung ist eine sozial verankerte Sehnorm: Teil des Blickes.“ (Pörksen 1997: 153)

Die Gleichsetzung von visueller und sprachförmiger Diskursivität ist damit alles andere als unproblematisch. Während auf der einen Seite – ausgehend vom Gebrauch des Bildes – der normierte und normierende Charakter von Visualisierungen hervorgehoben und in Beziehung zur Spezifik des visuellen Zeichens gesetzt wird, gilt auf der anderen Seite – ausgehend von der Frage der ikonischen Sinnerzeugung – jedes Bild als polysemisch, d.h. seine Bedeutung wird nicht allein durch seinen Inhalt und seine Struktur vorgegeben, sondern liegt eben nicht zuletzt auch „im Auge des Betrachters“. Auch hier wird betont, dass die Logik der Bilder (und damit auch „ihre Macht“) anders geartet ist als die des gesprochenen oder geschriebenen Satzes oder anderer Sprachformen. Sie wird, folgt man etwa Gottfried Boehm (2007: 34), „wahrnehmend realisiert“. Dennoch, so Boehm, ist diese nicht den Sätzen und anderen Sprachformen folgende, also nicht-prädikative, Logik (vgl. Boehm 2004) der Bilder nicht entkoppelt von sprachlichen Diskursen (vgl. Boehm 2007). Vielmehr ist von einer Durchdringung auszugehen, die sich in der kommunikativen Notwendigkeit der Versprachlichung von Wahrnehmung und den Metaphern (in) der Sprache beson-

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ders deutlich zeigt. Aushandlungen von bestimmten Bedeutungen des Sichtbaren werden sprachlich geführt, das dialektische Verhältnis der Produktion und Reproduktion von Wirklichkeit scheint sowohl bildhafter als auch sprachlicher Art. Bildlichkeit ist also kein Opponent oder Supplement von Sprachlichkeit, vielmehr unterhalten Bild und Sprache eine sehr viel komplexere Beziehung zueinander. Jürgen Hasse (2015) hat dies anschaulich anhand einer Diskussion von Bildbegriffen, die sich auf materielle Begriffe beziehen, und solchen, die die Bildhaftigkeit der Sprache zu erfassen versuchen, demonstriert und gezeigt, wie diese ineinander übergehen. Bevor an diese Überlegungen im Hinblick auf einen spezifisch geographischen Anschluss angeknüpft werden kann, besteht nun jedoch noch Klärungsbedarf hinsichtlich der bilddiskursanalytischen Position in Abgrenzung zu anderen, etwa handlungstheoretischen Positionen.

Bilddiskursanalyse – Versuch einer Einordnung in andere bildtheoretische Positionen Aus der philosophischen Tradition der theoretischen Auseinandersetzung mit Bildern, bildhaften Zeichen, Visualität und Wahrnehmung haben sich bis heute höchst unterschiedliche Ansätze und Zugänge zu visuellem Material und zur „Bilderfrage“ (Boehm 2004: 28) entwickelt. Eine Systematisierung scheint dabei von vornherein kaum in dem Sinne möglich, dass sich die Zugriffe trennscharf unterscheiden ließen und eine Kategorisierung den Differenzierungen innerhalb schlagwortartig zusammengefasster Perspektiven gerecht werden könnte. Wie können bildtheoretische Positionen voneinander unterschieden werden? Wir schlagen vor, diese Unterscheidung entlang der Frage nach dem (theoretisch) angenommenen Entstehungsort der Bildbedeutung vorzunehmen. „Ort“ ist hierbei durchaus metaphorisch zu verstehen: Es geht um die Frage, wo sich im – vermutlich komplexen – Zusammenspiel von materieller Wirklichkeit, der Intention der Bildproduzent*innen, dem Auge der Betrachter*innen und der Kommunikation über Wahrgenommenes bildbezogene Wirklichkeit konstituiert, wo sie Bedeutung erhält und worauf entsprechend der theoretisch ausgerichtete Blick fokussiert. Daraus wiederum lässt sich ableiten, welche Gefahren der Ausblendung bzw. Überbetonung die jeweilige Position mit sich bringt. Die nachfolgende Tabelle fasst dementsprechend die Zugänge in Bezug auf ihre Blickrichtung, ihre methodischen Zugänge, ihre Fragestellungen sowie ihre (potenziellen) blinden Flecken schematisch zusammen, wobei den acht Positionen eine unvollständige, eher exemplarisch zu verstehende Auswahl von Ver-

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Tabelle 1: Übersicht bildtheoretischer Ansätze Nr.

Ort der Bedeutung

Ansatz

Vertreter*in (Auswahl)

Methodik/ Zugang

Fragestellungen

Gefahren/ blinde Flecken

1

im Abgebildeten (Bildsujet)

essenzialistisch, repräsentional

Platon

Beschreibung

Was ist die reale BildReferenz?

essenzialistische Haltung verneint Manipulierbarkeit, blendet konstitutive Aneignungsprozesse aus

2

in der Abbildung

medienwissenschaftlich

Großklaus

Kritik

Was bewirkt die Evidenz des technisch-apparativen (Ab-)Bildes?

unterschätzt die Kreativität der symbolischen Aneignung

3

im Bildobjekt

semiotisch, ikonographisch

Barthes, Eco, Goodman, Panofsky

(Objektive) Hermeneutik

Was bedeutet das bildhafte Zeichen? Was sagt das Bild, worauf verweist es?

blendet die – ggf. nichtfunktionale – Herstellung und Aneignung, „Semiotisierung“ (Wiesing 2004), aus

4

im Vollzug der Betrachtung

systemtheoretischsemiotisch

Fellmann

Semiologie/ Semiotik

Welche Bedeutung hat Bildlichkeit für die Wahrnehmung? Wie werden Bilder zur Wirklichkeit?

entsubjektiviert den Betrachter zu einem Vollzieher eines allgemeinen Sinns

5

in der Bildpraxis

pragmatisch, performativ

Bourdieu, Bredekamp, Michel, Morris, Peirce, Schelske, Schürmann

Kontextualisierung

Wie werden bildhafte Zeichen in soziokulturellen Kontexten verwendet und interpersonal mitgeteilt? (Geltungsansprüche, Prägung der Wiedererkennung etc.)

unterschätzt die strukturelle Dimension der Deutung, überbetont die Offenheit, Handlungsfreiheit (Schelske 2001)

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in der Bildwahrnehmung/ im Subjekt

phänmenologisch

MerleauPonty, Schürmann, Waldenfels, Wiesing

Wahrnehmung, Erfahrung/ Introspektion

Wie erscheint was als was? Was löst das Bild (körperlich) aus?

blendet das semiotische Vorwissen beim Herantreten an Bilder und die symbolische Durchdringung von Wahrnehmung aus

7

in der Beobachtung (Anwendung einer Unterscheidung)

diskursanalytischsystemtheoretisch

Maasen, Renggli

Beobachtung von Beobachtung(en); differenztheoretisch („Bruch mit Evidenzen“)

Wie kann die Betrachtung eines Bildes beobachtet werden? Was sind die kulturell „sedimentierten Selbstverständlichkeiten“ der Bildbetrachtung? Wie werden in der Bildbetrachtung Subjekte konstituiert?

blendet subjektive/ individuelle Hintergründe der Bildkonstitution aus

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im kulturellen Hintergrund/in der intersubjektiven Sphäre

diskurstheoretisch

Bourdieu, Foucault, Urry

Diskursanalyse (Archäologie/ Genealogie)

Wie ist der Blick/die visuelle Erfahrung/das visuelle Wissen (intersubjektivstrukturell und durch soziale Vordeutung) gerichtet/gesteuert/diszipliniert?

tendenziell wird das Normative überbetont, während die emotionale Subjektivität der direkten, dramatischen Bilderfahrung ausgeblendet wird

Quelle: eigene Zusammenstellung

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treter*innen zugeordnet ist. In dieser idealtypischen Übersicht nicht berücksichtigt sind die vielen „Grenzgänger“ wie etwa Klaus Sachs-Hombach (2004, 2006), der sich seit Jahren um eine Verbindung phänomenologischer und semiotischer Zugänge im Sinne einer „allgemeinen Bildwissenschaft“ bemüht, oder Stäheli (2006), der eine Kombination von Ikonographie und Systemtheorie vorschlägt. Wir verorten die Analyse des Visuellen innerhalb der jüngeren Debatte um die Bedeutung von Symbolsystemen, Codes und Wissensordnungen für die Analyse von Diskurs-/Praxisformationen. Damit wird weder dem Diskurs noch der Praxis eine präfigurierende Rolle zugeschrieben, vielmehr gehen wir davon aus, dass soziale Formationen einerseits durch signifizierende Prozesse hervorgebracht und reguliert werden und diese wiederum hervorbringen, andererseits aber aus „mehr“ bestehen als aus signifizierenden Prozessen. Dieses „Mehr“ wird in praxistheoretischen Positionen vor allem über die Körperbindung jeglichen Tuns, die Beteiligung physischer Objekte sowie die Affektbeteiligung konzeptualisiert. „Bilder“ lassen sich nun in Bezug auf die Bedeutungen hin untersuchen, die von ihnen ausgehen und in die sie „hineingestellt“ werden. Sie lassen sich aber gleichermaßen auch ausgehend von ihrer Materialität her verstehen wie auch von den sozialen und materiellen Arrangements, in denen sie verwendet werden. Eine diskursanalytische Adressierung von Bildern bedeutet für uns folglich nicht, diese auf Prozesse der Signifikation zu reduzieren, sondern lediglich, dass wir im Kontext dieses Buchs die Analyse von Bildern aus einer theoretischen Perspektive heraus betrachten, die die Signifikationsprozesse in den Vordergrund stellt. Wir schließen damit an eine von Andreas Reckwitz formulierte Definition des Diskursbegriffs an, der Diskurse als „Signifikationsregime“ versteht, „die jegliche Form menschlichen Handelns als sinnhaftes Handeln fundieren. Diskurse sind jene kulturellen ‚Sprachen‘, die eine intelligible Sozialwelt in ihrer Produktion, Reproduktion und Identifikation erst möglich machen.“ (Reckwitz 2008: 192) Mit Blick auf die Positionierung eines bilddiskurstheoretischen Zugangs im Spektrum bildtheoretischer Ansätze sind zwei Dinge hervorzuheben. Erstens: Die Bilddiskursanalyse oder die diskurstheoretische Bildanalyse gibt es nicht. Arbeiten, die sich aus einem diskursanalytischen Interesse Bildern oder, weiter gefasst, visuellem Material zuwenden, bedienen sich bei unterschiedlichen bildtheoretischen Positionen und loten ihr analytisches Potenzial aus. Stäheli (2006) bspw. beginnt mit einer systemtheoretisch begründeten Analyse von Finanzwerbung und kombiniert diese mit einer aus der ikonographischen Tradition hergeleiteten Methode der Analyse von Werbematerial, um daraus dann wiederum Aussagen über die eingesetzten „visuellen Strategien“ und verwen-

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deten Bild- bzw. Bild-Text-Typen ableiten zu können, deren Existenz er aufgrund seiner theoretischen Positionierung als These aufgestellt hat. Die in der Tabelle vorgenommenen Abgrenzungen können folglich nur einer Orientierung dienen, sind aber nicht trennscharf. Zweitens: Der tabellarischen Ordnung auf der Basis der angenommenen Orte der Bildkonstitution folgend, zeigt sich der diskurstheoretische Zugang als derjenige, der einerseits am stärksten Augenmerk auf die gesellschaftliche Vordeutung von Bild(be)deutungen legt und der andererseits Ähnlichkeitskriterien weitgehend ausblendet. Es interessiert also vor allem die kontextuelle Einbindung von Bildern (und Sichtweisen) und die soziokulturell bedingte Einschränkung der Möglichkeit ihrer Interpretation, weniger die kontextuelle Einschränkung der Möglichkeit der Wahrnehmung (vgl. Sachs-Hombach 2001). Dafür können auch analytische Ansätze herangezogen werden, die nicht primär aus einer diskursanalytischen Position stammen, wie bspw. der rekonstruktive Ansatz (Bohnsack 2007, 2009; für ein Anwendungsbeispiel vgl. Vogelpohl 2015). Ähnlich wie aus diskursanalytisch-systemtheoretischer Perspektive (Position 7 in der Tabelle) wird auch subjektiven bzw. individuellen Hintergründen der konstitutiven Deutung wenig Beachtung geschenkt. Dem ließe sich begegnen, indem – wie Cornelia Renggli (2006) es vorschlägt – die Betrachtung des Bildes durch jemanden („ich“) als Ausgangspunkt genommen und diese Beobachtungen als Unterscheidungen begriffen würden, die nicht dem Bild inhärent sind, sondern im Moment der Bildbetrachtung durch jemanden vollzogen, „bezeichnet“ werden. Das Bild ist dann nichts „an sich“, sondern das Ergebnis eines Unterscheidungsprozesses, der nun seinerseits einer Beobachtung zweiter Ordnung unterworfen werden kann. Während semiotische und phänomenologische Positionen, welche die Bedeutungskonstitution im Bild selbst respektive im Vollzug der (individuellen) Wahrnehmung verorten, dazu tendieren, die normative Dimension der Betrachtung auszublenden, wird das Normative in diskursanalytischer Hinsicht tendenziell überbetont und eine machtdurchdrungene Bildpraxis generell vorausgesetzt. Dabei ist es durchaus nicht so, dass die Vertreter*innen der – notwendig selektiven – Positionen die jeweils anderen Dimensionen verneinen. „Auch dort, wo wir vitale Spontaneität vermuten, liegt Kultur, Konvention, System, Code und damit Ideologie vor“, bemerkt etwa Eco (1971 [1967]: 82) und wendet sich damit ebenso wie Pierre Bourdieu (1974 [1970]: 162) dezidiert gegen den „Mythos vom ,reinen Auge‘“. Doch perspektivisch und instrumentarisch entzieht sich die intersubjektive, soziokulturelle, normativ geregelte Dimension der Bildkonstitution ihrem Blick. Auch die (objektive) Hermeneutik ist hier einzureihen, die zwar immer wieder darauf hinweist, dass analytisch keinesfalls Vorannahmen in das Bild hineinge-

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tragen werden dürfen, die aber, gerade weil sie die Bildkonstitution im Bild selbst vermutet, keine theoretische Basis für die Unterscheidung zwischen dem Hereingetragenen und dem Bildimmanenten bietet. Hingegen haben diskursanalytische Positionen keinen Begriff für anthropologische Konstanten visueller Wahrnehmung, und obwohl sie alltägliche Routinen des Bildhandelns nicht ausschließen, tendieren sie dazu, sie in ihrer Bedeutung unterzubewerten.

Bild, Diskurs und Raum: Spezifika geographischer Herangehensweisen An die vorangegangenen allgemeinen theoretischen Überlegungen und Ordnungsbestrebungen ist nun die Frage anzuknüpfen, welchen Beitrag die diskursanalytische Position zu einer geographisch ausgerichteten Beschäftigung mit Bildern und Bildlichkeit bzw. dem Visuellen leisten könnte. Dass Geographie konstitutiv visuell sei, hat Yi-Fu Tuan bereits Ende der 1970er Jahre festgestellt und damit darauf aufmerksam gemacht, dass Disziplinen sich hinsichtlich der Wege der Wissenserzeugung, also hinsichtlich ihrer epistemologischen Positionierung, unterscheiden (Tuan 1979). Diese konstitutive Visualität der Geographie manifestierte sich zunächst jedoch vornehmlich instrumentell in der Herstellung visueller Materialien, insbesondere in kartographischen Darstellungen zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und -darstellung. Auf der reflexiven Ebene, auf der die spezifischen Bedingungen der Produktion und Interpretation visuellen Materials – nicht zuletzt ihre diskursive Einbettung und ihre diskursstrukturierende Kapazität – zu thematisieren wären, blieb sie weitgehend latent (vgl. hierzu Schlottmann/Miggelbrink 2009). Dieser Befund ist mit den erst im Lauf der letzten zehn Jahre durchgreifenden Veränderungen des fachkonstitutiven Moments in Verbindung zu bringen. Während das Wesen der Geographie zunächst dinglich festgemacht wurde, werden heute (reflexiv kritische) geographische Perspektiven als Alleinstellungsmerkmal diskutiert. Diese poststrukturalistische Wendung ist jedoch nicht ohne Widersprüche, insbesondere nicht hinsichtlich eines weiterhin geltenden essenzialistischen Alltagsverständnisses, dem sich auch die Theoretiker*innen nicht entziehen können (vgl. hierzu Schlottmann 2013). Auf den ersten Blick scheint es etwa plausibel, einen geographischen Zugang zur gesellschaftlichen Bedeutung von Visualität über die Verwendungen von Landschaften zu erschließen. Folgt man Anton Escher und Stefan Zimmermann (2001) am Beispiel des Films, dann eröffnet die systematische Betrachtung des Landschaftlichen einen ersten analytischen Zugriff auf Formen

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und Praktiken der Verortung durch (bewegte) Bilder. Allerdings ergeben sich Probleme, wenn man diesen Zugriff als genuin „geographisch“ anhand des Bildelements „Landschaft“ festmacht, zumindest dann, wenn grundsätzlich eine nicht-essenzialistische Perspektive angelegt wird. Nicht nur wird das als Landschaft erkannte Bildsujet als vorsemiotischer Gegenstand bereits vorausgesetzt, eine zweite Vordeutung besteht darin, dass es das Bildobjekt Landschaft ist, das einen Film geographisch interessant macht. Die stillschweigende Voraussetzung, dass die Kulisse einer filmischen Handlung eine wie auch immer geartete Landschaft abbildet bzw. vom Betrachter als solche dekodiert wird, ist vor dem Hintergrund bildtheoretischer Diskussionen jedoch keineswegs selbstverständlich. Gibt es überhaupt genuin geographisches visuelles Material? Kann man Bilder sortieren in geographisch relevante und andere? Aus semiotischer Sicht kaum, wenn davon ausgegangen wird, dass nicht das Bild selbst, sondern seine Eingebundenheit in einen Verwendungszusammenhang und ein semantisches Umfeld Bedeutungen freisetzen (hermeneutischer Ansatz, kontextualistische Argumentationen) bzw. erst erzeugen (pragmatischer Ansatz). Nichts ist dann per se geographisch, es gibt nur einen geographisch ausgerichteten Blick auf etwas in Bezug auf das Erkenntnisinteresse an (gesellschaftlichen) Raumverhältnissen. Die zu stellenden Fragen müssten daher lauten: Worin besteht die spezifische Bedeutung von Bildern für alltägliche räumliche Strukturierungsleistungen? Und welcher Art ist das derart strukturierte Räumliche? Geographie wird dabei – konstruktivistischen Ansätzen entsprechend – nicht gegenstands-, sondern tätigkeits- bzw. praxisbezogen definiert. Daraus folgt, dass auch einzelne Elemente nicht als die Gegenstände einer geographischen Bildanalyse zu extrahieren sind; zumindest nicht, solange nicht auch eine fundierende Auseinandersetzung mit dem Landschafts- respektive Raumbegriff stattfindet und begründet wird, warum und inwiefern die „Landschaftsbilder“ raumkonstituierend und raumstrukturierend wirken. Folglich ist das Erkennen bzw. Einordnen der Bildbedeutung nicht im Signifikanten selbst begründbar, sondern im Prozess des Gebrauchs von Zeichen, d.h. als eine Form der Einheit von Signifikant, Code und Signifikat, die zusammen eine Verortung bzw. „Verräumlichung“ im Sinne der Zuweisung eines geographischen Deutungsrahmens bilden. Das löst das Problem nicht, sondern verschiebt es auf die Ebene einer Analyse des (konventionalisierten) Gebrauchs visueller Zeichen. Nicht eine inhärente Bildbedeutung steht dann im Vordergrund eines geographischen Bildbegriffs, sondern das kulturell bedingte und disziplinierte Sehen sowie die soziokulturellen Verweise der vorhandenen und nicht vorhandenen Signifikate. Dann könnte man auch fragen, was im Bild die Interpretation einer konkreten erdräumlichen Verortung auslöst, warum und inwiefern es

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also „verräumlicht“ wird und welche Bedeutung diese Verortung für das Verstehen des Bildes oder den Zusammenhang, innerhalb dessen das Bild verwendet wird, hat. Wesentlich dafür ist die aus bildpragmatischer Perspektive zu stellende Frage, wie der Geltungsanspruch („Hier sieht es so aus!“) einerseits auf indexikalische Zeichen im Bild und andererseits auf den (eingeübten) Akt des Sehens zurückzuführen ist. Erst im Akt des Sehens – d.h. im Gebrauch des Bildes – kann eine Ordnung des Gesehenen entlang kategorialer Dimensionen vollzogen werden: Dieses Bild zeigt den Frankfurter Bahnhof, jenes die alte Baumwollspinnerei in Leipzig, dieses Bild zeigt einen alten Menschen, jenes einen jungen. Im alltäglichen Vollzug ist dieses ordnende Sehen jedoch nicht präsent als eingeübtes Muster des Bildgebrauchs, sondern wird als Eigenschaft des dargestellten Gegenstands im Bild als vom Akt der Wahrnehmung unabhängige und daher äußere Eigenschaft einer umgebenden und lediglich abgebildeten Wirklichkeit hingenommen. Die Frage, welches Material zur Diskussion steht, wenn im Rahmen eines humangeographischen Ansatzes diskursanalytisch gearbeitet werden soll, ist also keineswegs trivial. Wird die Frage damit beantwortet, dass es sich um ein spezifisches Motiv bzw. Sujet handle, gerät anderes Bildmaterial in den Fokus, als wenn bestimmte Themen, Herangehensweisen ([ex- oder implizite] Theorie[-n], Methodologie[-n], Methodik[-en]) als Bestimmungsmoment des „Geographischen“ herangezogen werden. Greift man noch einmal Tuans Diktum von der Geographie als einer visuellen Disziplin auf, lässt sich daraus ein für die bildtheoretische Positionierung der Geographie wichtiges Argument gewinnen. Zur spezifischen Medialität geographischen Wissens gehören konstitutiv Formen der Visualisierung, die (u.a.) (statisches) Fakten-Wissen in einer erdräumlich projizierten Matrix realräumlich verorten und die bildhaft mittels einer fotografischen Wiedergabe einer „äußeren Welt“ arbeiten (vgl. Kap. 20: Strüver/Wischmann 2021). Das Verbindende solcher auf den ersten Blick doch höchst unterschiedlichen Prozeduren liegt im meist latent bleibenden Abbildtheorem, das die Realität als etwas außerhalb des Abbildungsprozesses Liegendes versteht und demzufolge Gegenstand der Abbildung ist. Aufgrund dieses latenten Abbildtheorems wird Geographisches eher mit dem in Verbindung gebracht, was Sabine Maasen, Thomas Mayerhauser und Cornelia Renggli (2006: 21) als „visuelle ,Zeugenschaft‘“ bezeichnen, „die das Reale, die Wahrheit abzubilden, vorgibt“, als mit der „Funktion eines artifiziellen Ordnungsmodells“. Die prägende Wirkung dieses Abbildtheorems kommt auch in bisherigen Arbeiten zum Verhältnis von Geographie und Film/Bild zum Tragen. Etwa in der geläufigen Gegenüberstellung von konkretem Raum und abgebildetem Raum, von Räumen ers-

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ter und zweiter Ordnung (vgl. Bollhöfer 2003) oder auch von Landschaften innerhalb und außerhalb des Films (vgl. Escher/Zimmermann 2001). Das Geographische besteht dann in der Bezugnahme auf und in der Wiedergabe von einer bestimmten Gegenständlichkeit der Welt. Implizit wird dabei davon ausgegangen, dass zwischen dem Gegenstand und dem Bild ein Verhältnis besteht, eine Art Korrespondenz, die als „übereinstimmend“ oder „wahrheitsgetreu“, aber auch als Abweichung vom konkreten Raum, als dessen Überhöhung, als Neuund Umcodierung oder auch als Stereotypisierung gedeutet wird. Immer aber wird ein abbildendes Verhältnis angenommen, wobei gleichzeitig versichert wird, dass dieses Verhältnis keineswegs als mimetisches gedacht werden dürfe (vgl. ebd.: 230). Das hierbei zur Diskussion stehende Bildmaterial wird unter referenziellen Perspektiven in dem Sinne betrachtet, dass es sich auf einen konkreten Ort bezieht (vgl. Bollhöfer 2007: 20) oder (in fiktionalen Verwendungen) doch eine wenigstens potenzielle Konkretheit hat. Es geht um Bilder, die „realistisch“ sind und Schauplätze tatsächlicher oder fiktionaler Handlungen abbilden, gleichzeitig aber immer Bilder bleiben. Dies ließe sich im Hinblick auf eine dem konstruktivistischen Zugang zuwiderlaufende Einschränkung des Blicks auf die Herstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit kritisieren. Man kann aber das implizite Abbildtheorem zudem auch explizit machen und reflexiv wenden: Stellt man die (gewollte, intendierte, als selbstverständlich erscheinende) Referentialität in den Mittelpunkt, lässt sich die Frage stellen, welche Funktion bildhaft hergestellte Wirklichkeitsgarantien und damit direkt verbundene Themen wie „Manipulation“ oder „Wirklichkeitsverzerrung“ im gesellschaftlichen Handeln haben.

Bildlichkeit und Gesellschaft-Raum-Verhältnisse: eine Perspektive Die aufgezeigte Realitätsproblematik einer spezifisch geographischen Bildlichkeit, die sich an vermeintlich geographischen Referenten festmacht, weist den Weg zu einer anderen Bestimmung des Verhältnisses von Bild, Raum und Gesellschaft. So ist davon auszugehen, dass Bilder auf eine eigenständige (nichttriviale) Weise zur Konstitution raumzeitlicher Wirklichkeit(-en) beitragen. Das heißt aber eben nicht, dass es (nur) um die (scheinbar) primären Raumbilder wie z.B. Landschaftsbilder gehen müsste. Selbstverständlich können Raum-Bild-Verhältnisse von der Frage der Realitätserzeugung her diskutiert werden (vgl. Miggelbrink 2009), aber dabei ginge es dann nicht um einen schlichten Nachweis von bildlicher Korrektheit oder Manipulation. Setzt man

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einerseits Selektivität, Kontextualität und Perspektivität der Konstitution jeglicher Bildlichkeit voraus und geht andererseits davon aus, dass es eine präskriptive („geographische“) Referenz im Sinne eines beobachterunabhängigen Objekts nicht gibt, dann gerät auch hier die Bildpraxis – die fortlaufende Herstellung des Bildes und der Bildbedeutung im Gebrauch – in den Mittelpunkt. Stattdessen lassen sich ausgehend von bestimmten Topoi, die als geographischer Diskurs rekonstruiert werden können, bestimmte, auch auf den ersten Blick „nicht-landschaftliche“ Bilder als Symbolisierungen ebendieser Topoi dechiffrieren (Hard 1987). Das hieße aber, eine Unterscheidung, wie sie Edmund Husserl mit Bildsujet, Bildobjekt und Bildträger vornimmt, ist kaum hilfreich. Es geht eben nicht um die Landschaft als Bildsujet, sondern um die Symbolisierung einer Idee, nicht um die Abbildung eines Gegenstands, sondern um Analogien von Weltbildern und deren Basis in Vergesellschaftungsprozessen. Landschaft kann dann etwa als „das äußere Bild einer inneren Einheit von Mensch und Natur, in der sich der ,objektive Geist‘ in variierenden Formen zeigt“ (Eisel 1987) bestimmt werden und wäre damit immer schon ein semantisches Konzept, weder eine Theorie noch ein Realobjekt. Eine „bildliche Umsetzung“ kann es streng genommen nicht geben (die stellt immer die Frage: von was?), sondern nur Variationen der immanenten Bildhaftigkeit des Konzepts. Das hieße aber andersherum, dass Bilder als prominente Zugänge zu vergangenen und zeitgenössischen gesellschaftlichen Raumverhältnissen wie auch dem Mensch-Natur-Verhältnis genutzt werden können. Diese Raumverhältnisse sind jenseits eines rein kognitiven Verhältnisses auch als affektiv begründet zu begreifen. Womit Bilder – methodisch gewendet – ebenfalls als Zugang zu affektiven Dimensionen der Konstitution gesellschaftlicher Raumverhältnisse begriffen und fruchtbar gemacht werden können (vgl. exemplarisch Rose/Willis 2019). Um nicht immer wieder in die „Realitätsfalle“ zu tappen, die sich übrigens, wenn auch variierend, in jedem der in der Tabelle gelisteten Ansätze auftut, hieße das, nun mit einem konstruktivistisch gewendeten Realitätskonzept zu arbeiten. So entstehen zunächst andere Fragen als die nach Funktion und Wirklichkeitsgehalt geographischer Bilder, nämlich die nach ihrer wirklichkeitskonstituierenden Funktion. Welche Rolle spielen Bilder bei der Konstitution einer solch aufgefassten bzw. gedeuteten raum-zeitlichen Wirklichkeit? In Abkehr von einem (abbildtheoretisch fundierten) Realismus-Konzept ist dieses Geographie-Machen durch Bilder dann notwendig mit einem Begriff von hergestellter Realität verbunden. Diese lässt sich als stabilisierendes, Kontingenz reduzierendes Bild-Produkt im Sinne einer verwirklichenden, Kontinuität erzeugenden Verortung fassen. Solch verortender Effekt wäre dann als ein epis-

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temologisch zu fassender Vorgang zu begreifen, womit (bild-)praxistheoretische und insbesondere (bild-)diskurstheoretische Positionen der Erschließung von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen zu begründen sind. In geographischer Auslegung hieße das, z.B. zu fragen, wie mit (Un-) Sichtbarkeiten von Raumrepräsentationen diskursiv umgegangen wird und wie Referentialität und Evidenzcharakter von materiellen Bildern konstitutiv an Diskursen über Regionen, urbane Räume oder Landschaften beteiligt sind (vgl. Müller/Backhaus 2007). Auszuweiten wäre diese Perspektive auf – hier nicht näher diskutierte – digitale Visualisierungen. Clare Melhuish, Monica Degen und Gillian Rose etwa zeigen, dass diese als machtvolle technische und affektive Agenten der Vergegenwärtigung und Reproduktion urbaner Räume in Städten überall auf der Welt einen Zugang zu jenen Mechanismen bieten, durch die die größeren politischen Prozesse vermittelt und verhandelt werden (Melhuish/ Degen/Rose 2016: 242). Daran lässt sich dann auch die Frage anschließen, wie Bilder Anteil an der Fetischisierung von urbanen und nicht-urbanen Landschaften haben, insofern sich die sozialen Prozesse der Herstellung hinter einem scheinbar natürlichen Wert verstecken. Und auch die soziokulturelle „Disziplinierung des Blicks“ (vgl. Urry 2002) scheint ein aussichtsreiches Feld einer begrifflich so abgestützten diskursanalytischen Betrachtung. Denn ob eine Berglandschaft als Natur, als heile Welt oder als ökologisches Krisengebiet erscheint, hängt aus dieser Perspektive nicht nur wesentlich damit zusammen, welche anderen Deutungsmöglichkeiten ausgeblendet werden, sondern vor allem mit diskursiv verankerten Ansprüchen auf bildliche Wahrhaftigkeit und Umgangsweisen mit bildlicher Realitätstreue. Ein bildtheoretisch fundierter diskursanalytischer Umgang mit Bildern und Bildlichkeit in der Geographie erlaubt dann Einsichten in die Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen, die (erstens) über die Analyse der sprachlichen Zeichen nicht erschlossen werden können und (zweitens) mit den gerade durch Bilder hergestellten Essenzialismen brechen, ohne aber deren gesellschaftliche Funktionalität aus dem Blick zu verlieren.

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Einführung: Performativität als diskursive Praxis der Produktion von Realität „Früher habe ich ‚performatorisch‘ benutzt. ‚Performativ‘ ziehe ich vor, weil es kürzer, nicht so häßlich, leichter zu handhaben und traditioneller gebildet ist.“ (Austin 2002 [1962]: 27, Anm. 7)

Performativität bezieht sich im Rahmen dieses Kapitels auf den performative turn als Weiterentwicklung der linguistic/semiotic/representational turns – und somit auf die Erweiterung und Re-Materialisierung des Text- und Zeichenbegriffs des sogenannten cultural turn. Der Performativitätsansatz zielt dabei neben der Untersuchung der sprachlich-diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit auch auf deren soziale wie materielle Konstitution, womit Performativität weniger als ein sprachliches bzw. linguistisches, sondern vielmehr als ein soziales Phänomen anzusehen ist (Krämer/Stahlhut 2001: 38). In der angloamerikanischen Geographie werden performative Ansätze seit Ende der 1990er Jahre diskutiert (u.a. Rose 1999; Gregson/Rose 2000; Nash 2000; Cloke/May/Johnsen 2008). Mittlerweile haben sie sich auch in deutschsprachigen humangeographischen Debatten etabliert (vgl. Berndt/Boeckler 2007, 2017; Boeckler/Strüver 2011; Strüver 2005; Strüver/Wucherpfennig 2012; Strüver 2015; s. auch das Themenheft „Geographien des Performativen“ der Geographischen Zeitschrift 2014). Die anfängliche Verwendung des Begriffs „performativ“ findet sich in den posthum veröffentlichten Vorlesungen des Sprachphilosophen John L. Austin. Deren sprachwissenschaftlicher Ertrag „wird allgemein darin gesehen, dass

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Austin den ,deskriptiven Fehlschluss‘ des logischen Positivismus entlarvte und den Blick darauf lenkte, dass wir durch Äußerungen in vielfältiger Weise Handlungen ausführen“ (Bohle/König 2001: 13; eigene Herv.). Neben diesem sprachbezogenen Performativitätsbegriff Austins gibt es eine Reihe von weiteren Performativitätsansätzen, die sich größtenteils unter einem theatralen und damit im klassischen Sinne kulturellen Performanzbegriff subsumieren lassen. Dieser betont die Herstellung bzw. Ausführung sozialer Wirklichkeit durch Aufführung und versteht dabei Kultur als Inszenierung und Aufführung bzw. Theatralität als Kultur (s. bspw. Fischer-Lichte 2004; vgl. auch Bachmann-Medick 2006: 107-111 u. 123f.). In unserem Beitrag wird der theatrale Performanzbegriff keine weitere Berücksichtigung finden, im Zentrum steht demgegenüber die diskurstheoretische Weiterentwicklung von Austins Überlegungen insbesondere durch die Philosophin Judith Butler, welche auf die Konstituierung sozialer und materieller Phänomene durch Sprache und gesellschaftliche Bedingtheiten abzielt.

Hinführung: „How to do things with words“ John L. Austins Sprechakttheorie Austin entwickelte seine Theorie der Sprechakte im Rahmen einer Vorlesungsreihe mit dem programmatischen Titel „How to do things with words“, die er im Jahr 1955 an der Harvard University hielt. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen der Gebrauch der Sprache (in Abgrenzung zur reinen Betrachtung des Inhalts) und die grundlegende Idee, dass mit sprachlichen Äußerungen immer auch Handlungen vollzogen werden (vgl. Austin 2002 [1962]). Hiermit setzt Austin direkt an Ludwig Wittgensteins Sprachspielthese an, insbesondere an dessen Auffassung, dass die Bedeutungen von sprachlichen Äußerungen durch ihren Gebrauch entstehen (vgl. von Savigny 2002: 7; Wirth 2002: 10). Den Ausgangspunkt von Austins Sprechakttheorie bildet die Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen. Während mit konstativen Äußerungen etwas festgestellt, bemerkt oder beschrieben wird (z.B. „Detlef hat geheiratet.“), zeichnen sich performative Äußerungen dadurch aus, dass mit ihnen direkt etwas getan wird: „Wenn ich vor dem Standesbeamten oder am Altar sage ,Ja‘, dann berichte ich nicht, daß ich die Ehe schließe; ich schließe sie.“ (Austin 2002 [1962]: 27) In ähnlicher Weise werden Handlungen vollzogen, wenn jemand sagt: „Ich verspreche dir, dass …“, „Ich warne dich!“ oder auch „Das Büffet ist eröffnet!“. Kraft derartiger Äußerungen werden un-

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mittelbar soziale Tatsachen geschaffen; eine performative Äußerung „konstituiert, was sie konstatiert“ (Krämer/Stahlhut 2001: 37). Dementsprechend kann sie auch weder wahr noch falsch sein. So macht es einen Unterschied, ob jemand sagt: „Das Kind wurde auf den Namen Judith getauft.“ (= konstative Äußerung, die wahr oder falsch sein kann) oder ob er*sie sagt: „Ich taufe dich auf den Namen Judith.“ (= performative Äußerung, die das vollzieht, was sie sagt – und häufig dadurch unterstützt wird, dass dem Kind Wasser über den Kopf geschüttet wird). Wie wir weiter unten mit Bezug auf Butler ausführen werden, wird dem Kind in diesem Rahmen nicht nur ein (Eigen-)Name und damit ein bedeutender Teil seiner personalen Identität verliehen. Vielmehr wird es (nachdem vor oder während der Geburt das Geschlecht festgestellt wurde) als Mädchen angerufen und damit als geschlechtlich bestimmtes Subjekt in die Welt geführt. – Aber zurück zu Austin: Wenn performative Äußerungen selbst weder wahr noch falsch sein können, bedeutet dies natürlich nicht, dass die damit vollzogene Handlung auch gelingt. Hierzu bedarf es gewisser Kontexte oder Gelingensbedingungen, die aufseiten der Sprecher*innen, der Adressat*innen und/oder der institutionellen Rahmenbedingungen liegen. „Ganz allgemein gesagt, ist es immer nötig, daß die Umstände, unter denen die Worte geäußert werden, in bestimmter Hinsicht oder in mehreren Hinsichten passen, und es ist sehr häufig nötig, daß der Sprecher oder andere Personen zusätzlich gewisse weitere Handlungen vollziehen – ob nun ,körperliche‘ oder ,geistige‘ Handlungen oder einfach die, gewisse andere Worte zu äußern.“ (Austin 2002 [1962]: 29, Herv. i.O.)

So muss Austin zufolge die Äußerung (z.B. ein Versprechen) ernst bzw. ehrlich gemeint sein. Insbesondere bei konventionalen und rituellen Verfahren (Taufe, Vermählung, Vertragsabschluss, …) muss das Verfahren zudem korrekt und vollständig ausgeführt werden. Weiterhin müssen die beteiligten Personen befugt bzw. zum Verfahren zugelassen sein. Andernfalls verunglückt die Handlung; sie kommt nicht zustande bzw. erweist sich als nichtig (vgl. Austin 2002 [1962]: 35ff.). Die Bedeutung performativer Äußerungen lässt sich somit „nicht mit Bezug auf ihren Wahrheitswert, sondern nur mit Bezug auf ihre Gelingensbedingungen bestimmen“ (Wirth 2002: 10). Dies bedeutet auch (und hierin liegt ein zentraler Stellenwert von Austins Sprechakttheorie): Um erkennen und erklären zu können, auf welche Weise mit Äußerungen Handlungen vollzogen werden und inwiefern dies ge- oder misslingen kann, reicht es nicht aus, sich allein auf den Satzinhalt zu konzentrieren. Vielmehr muss die Äußerung im

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Kontext des gesamten Sprechakts, d.h. der gesamten Situation, in der die Äußerung getätigt wird, betrachtet werden (vgl. Austin 2002 [1962]: 71). So weit, so gut – oder auch nicht. Denn ab der fünften Vorlesung beginnt Austin, sein bisheriges Theoriegerüst in sich zusammenbrechen zu lassen, indem er zeigt, dass sich kein Kriterium finden lässt, das seine ursprüngliche Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen aufrechterhalten lässt, und diese sukzessive demontiert. Stattdessen führt er die Unterscheidung zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Sprechakten ein, welche in jeder Äußerung zusammenwirken. Unter einem lokutionären Akt versteht Austin (vgl. 2002 [1962]: 113ff.) die gesamte Handlung „etwas zu sagen“, also den Sachverhalt, dass jemand die Sprache gebraucht und bestimmte Laute von sich gibt. Ein illokutionärer Akt kommt dagegen zustande, indem jemand etwas sagt. Entscheidend ist hier die konventionale bzw. illokutionäre Rolle von Sprechakten (Ratschlag, Befehl, Frage, Wunsch, Drohung, Beschreibung etc.), die durch sprachliche und gesellschaftliche Konventionen geregelt ist und sich „auf die Handlungsdimension jeder Äußerung bezieht“ (Krämer/Stahlhut 2001: 36; eigene Herv.; s. Austin 2002 [1962]: 123ff.). Wird ein illokutionärer Akt im Moment der Äußerung ausgeführt, so gilt dies nicht für perlokutionäre Akte, welche vollzogen werden, dadurch dass jemand etwas sagt: „Überzeugen, Überreden, Abschrecken, […] Überraschen oder Irreführen.“ (Austin 2002 [1962]: 123) Perlokutionäre Akte, die mit der Äußerung selbst nicht identisch sind, zeichnen sich also durch ein „Nachspiel“ bzw. eine Kette von (beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Wirkungen, Folgen oder Effekten aus, die sie bei den Adressat*innen auslösen (vgl. Austin 2002 [1962]: 121 u. 131ff.); kurz: „Während illokutionäre Akte sich mittels Konvention vollziehen, vollziehen sich perlokutionäre Akte mittels Konsequenzen.“ (Butler 2006 [1997]: 34)

An- und Ausschlüsse Es ist vor allem das Verständnis von performativen Akten als soziale Akte, welches Austins Sprechakttheorie und die Performativität für sozial- und kulturwissenschaftliches Arbeiten nutzbar sowie für die Diskurstheorie anschlussfähig gemacht haben. Hervorzuheben sind dabei insbesondere drei Aspekte: Wenn sich performative Akte nicht auf Sprache reduzieren lassen, sondern es die gesamte Sprechsituation ist, in der sie ihre Kraft und Wirksamkeit entfalten (können), bedeutet dies erstens, immer auch die Materialität und Körperlichkeit von Sprechakten mit in den Blick zu nehmen – eine Dimension, die im Zu-

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ge des cultural turn und der Diskurstheorie oftmals vernachlässigt wird. Zweitens muss der ritualisierte, zitierende und wiederholende Charakter von Sprechakten und deren Effekten berücksichtigt werden, der häufig selbstverständliche, mithin scheinbar natürliche Formen annimmt. Denn gerade diese Quasi-Natürlichkeit verschleiert den Konstruktionscharakter der Effekte und verleiht ihnen so ihre Wirkmächtigkeit. Insofern ist es auch wenig sinnvoll, nach klar definierbaren Anfängen oder Grenzen von performativen Akten zu suchen, vielmehr müssen diese als „kondensierte Geschichtlichkeit“ (Butler 2006 [1997]: 12) begriffen werden, die wiederum Ursache und Effekt zugleich sein kann. Zu betonen ist drittens, dass performative Akte immer auch verunglücken oder scheitern können. Erst dies eröffnet Möglichkeiten und Spielräume für Veränderung, Subversion und politische Intervention. Gemeinsam liefern diese Aspekte gewinnbringende Anknüpfungspunkte für eine macht- und herrschaftskritische Analyse von Räumen und Räumlichkeit in deren Materialität und Sozialität. Hierzu bedarf es jedoch einer grundlegenden Reformulierung respektive Dezentrierung des Subjekts, denn ähnlich wie es in theatralen Performativitätskonzepten der Fall ist, ist Austins sprechendes Subjekt als ein prädiskursives, (selbst-)bewusst und intentional handelndes konzipiert.

Durchführung: (Geschlechts-)Identität als kulturelle Performanz – Judith Butlers performative Sprechakttheorie Performanz als wiederholte Inszenierung von Normierung Wie wir oben angedeutet haben, befasst sich Butler mit performativen Sprechakten – insbesondere im Hinblick auf vergeschlechtlichte, sexualisierte und rassifizierte Anrufungen und Subjektidentitäten. Ihre Analyse baut auf der Frage auf, was mit den Subjekten und der Stabilität von Identitätskategorien geschieht, wenn sie sich als ontologische Kategorien eines spezifischen Machtregimes herausstellen. Ausgehend von der Foucault’schen Diskurstheorie einerseits (s. Kap. 2: Strüver 2021 sowie Kap. 3: Füller/Marquardt 2021) sowie der Performativität von Sprechakten (Austin) und deren Verschiebungseffekten (Derridas différance, vgl. Derrida 1976 [1972]) andererseits, sucht sie nicht nach den Ursprüngen der Kategorien Geschlecht, Geschlechtsidentität oder Rasse, sondern begreift sie als Effekte spezifischer Machtformationen. Butler ersetzt somit die ontologische Frage „Was ist das Subjekt?“ durch die konstruktivistische Frage „Wie wird es hergestellt, verkörpert und anerkannt?“. Sie geht dabei

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über die Feststellung hinaus, dass das Subjekt diskursiv konstituiert ist, indem sie das Augenmerk auch auf die andauernde performative Selbstarbeit lenkt, d.h. auf die Verarbeitung hegemonial gewordener gesellschaftlicher Regulierungsmechanismen in körperlichen Verhaltensroutinen, einschließlich der performativen Selbst-Darstellung, aber auch der (Nicht-)Anerkennung durch andere. Das heißt Butler befasst sich mit den normativen Bedingungen des Subjekt-„Seins“ – und „Anerkennung“ umfasst dabei die prinzipielle Anerkennbarkeit eines Subjekts entlang von normierten Kategorien, die als solche der Selbstarbeit vorausgehen (vgl. Butler 2010). Butler konzentrierte sich anfänglich auf das feministische Subjekt Frau(-en) und die Kategorie Geschlecht, die durch die herrschenden Machtstrukturen hervorgebracht und beschränkt worden sind. In diesem Zusammenhang zweifelt sie die Trennung von biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechtsidentität an, da die Geschlechtsidentität erstens nicht das kausale Resultat des Geschlechts sein muss und zweitens nicht etwas Starres, Unveränderliches darstellt. Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit erweisen sich indessen, ebenso wie Geschlechtsidentität, als kulturelles Produkt, und „möglicherweise ist Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen“ (Butler 1991 [1990]: 24). Aus diesem Grund sollte Geschlechtsidentität nicht als die kulturell zugeschriebene Bedeutung eines vorgegebenen anatomischen Geschlechts verstanden werden, sondern – wie auch Geschlecht selbst – als diskursives Produkt, als Effekt hegemonialer politischer und gesellschaftlicher Regulationsweisen. Wenn Butler von einer diskursiv erzeugten Wirklichkeit spricht, geht sie von der Sprache als Bezeichnungs- und Bedeutungspraxis sowie deren performativem Charakter aus. Performativität ist in diesem Sinne die diskursive Praxis, die die Identität(-en) eines Subjekts „real“ – und auch materiell – werden lässt. Die Subjektivitäts- und Identitätsbildung befindet sich in einem ständigen Prozess von Definition, Bestätigung oder Neudefinition des Selbst, und dieser Prozess wird durch ökonomische, politische, soziale und kulturelle Diskurspraktiken geprägt, die von räumlichen und zeitlichen Situierungen abhängig sind. Butler gelangt dabei zu der Erkenntnis, dass es keine vordiskursiven, ursprünglich existierenden Körper und Identitäten gibt, sondern dass sie Effekte bestimmter Machtformationen sind – ohne durch diese determiniert zu sein. Sie stützt sich damit auf Foucaults Ausführungen zur Biomacht und die Annahme, dass Diskurspraktiken auch die Bedeutungen des physischen Körpers und der Gefühle konstituieren, dass der Körper Austragungsort gesellschaftlicher Verteilungskämpfe und damit eine der ersten Wirkungen von Macht ist (vgl. Foucault 1977 [1976]). Foucault zufolge ist der Körper somit ein Ort, an dem

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gesellschaftliche Mikro- und Makrostrukturen aufeinandertreffen. Die Biomacht als Kontrolle der Körper dient somit der Erzeugung von konformistischen Körpern und Subjekten zur Machtsicherung. Aufgrund der Unklarheiten in Bezug auf die Materialität des Körpers nimmt Butler als Teil des Performativitätskonzepts eine Reformulierung des Körpers vor, die folgende Aspekte umfasst: Die materiellen Wirkungen des Körpers werden als Produkt der Macht aufgefasst, sodass die regulierenden Normen von den Wirkungen nicht zu trennen sind. Das heißt: Die sich ständig wiederholende Macht der Diskurse produziert performativ diejenigen Phänomene (z.B. Körper), die sie kontrolliert. Geschlecht ist in diesem Sinne nicht etwas rein Biologisches, Gegebenes, dem die Geschlechtsidentität auferlegt ist, sondern eine kulturelle Norm, die die Materialisierung der Körper regiert. Der Prozess, durch den eine körperliche Norm angenommen wird, ist eng mit sprachlichen Bedeutungszuschreibungen durch Subjekte und mit der Frage der Identifizierung verbunden (vgl. Butler 1997 [1993]: 22). Diese Reformulierung des Körpers und des Subjekts wirft die Frage nach dessen materieller Handlungsfähigkeit auf, und es kann ihr nur entgegnet werden, dass ein Verständnis von Körpern als Konstruktion sowie das Infragestellen des autonomen Vernunftsubjekts nicht deren Abschaffung oder Handlungsunfähigkeit bedeutet. „[Denn die] Konstruktion ist weder ein Subjekt noch dessen Handlung, sondern ein Prozeß ständigen Wiederholens, durch den sowohl ‚Subjekte‘ wie ‚Handlungen‘ überhaupt erst in Erscheinung treten. Es gibt keine Macht, die handelt, sondern nur ein dauernd wiederholtes Handeln, das Macht in ihrer Beständigkeit und Instabilität ist.“ (ebd.: 32)

Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel der räumlichen – und d.h. vielfach auch geschlechterdifferenten – Sozialisation: Bis vor wenigen Jahren war es in unserer Gesellschaft quasi selbstverständlich, dass Jungen „raumgreifenden“ (Freizeit-)Aktivitäten mit relativ großem Krafteinsatz nachgehen (können und sollen): Fußball spielen, Herumstreunen, Kampfsport treiben usw. Mädchen dagegen wurden – abgesehen vom Reiten – vor allem wenig expansive Aktivitäten eingeräumt, bspw. Gummitwist, Puppenspiel, Ballett oder rhythmische Sportgymnastik. Begründet wurde dies weithin mit spezifischen Rollen und Aufgaben, die Kinder und Jugendliche zu erlernen haben, darüber hinaus aber auch mit der jeweiligen körperlichen Konstitution. Die Konsequenz, dass mit derartigen Praktiken unterschiedliche Raumaneignungs- und Subjektivierungsprozesse zwischen Jungen*Männern und Mädchen*Frauen einhergehen, ist aus feministischer Perspektive und der Männlichkeitsforschung vielfach kri-

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tisiert worden (vgl. Schnack/Neutzling 1990; Massey 1993; Martschukat/Stieglitz 2005; Hartmann-Tews/Rulofs 2006). In den (zugegebenermaßen etwas überspitzten) Beispielen offenbart sich aber auch der ritualisierte und wiederholende Charakter von Geschlechternormen und körperlichen Verhaltensroutinen. Gelingen derartige Praktiken, d.h. fügen sich die Subjekte in gesellschaftlich hegemoniale Vorstellungen und Normen ein, werden diese zitatförmig reproduziert und stabilisiert; sie erscheinen als normal und richtig. Wie sehr dagegen Identitätskonstruktionen und vergeschlechtlichte Selbst-Verständlichkeiten infrage gestellt werden und aus den Fugen geraten können, zeigen bspw. die Figuren in Spielfilmen wie „Billy Elliot“, „Mein Leben in Rosarot“, „Boys don’t cry“, „XXY“, „Tomboy“, „Pride“ oder auch (in utopisch-verklärter Form) „Kick it like Beckham“. In diesen filmischen Inszenierungen, die die Alltagserfahrungen Tausender Jugendlicher (und deren sozialer Umfelder) repräsentieren, artikulieren sich in sehr eindrücklicher und z.T. dramatischer Weise körperliche und emotionale „Normierungs-, Formierungs- und Disziplinierungsprozesse“ (vgl. Foucault 1976 [1975]). Körper wie auch Geschlecht erweisen sich hier als Norm und Effekt gesellschaftlicher Macht (s. auch Wucherpfennig 2010; Wucherpfennig/Strüver 2014). Zugleich zeigt sich hierin, dass die Konstruktion kein einzelner Akt oder kausaler Prozess ist, der von einem Subjekt ausgeht und in festgelegten Wirkungen endet. Vielmehr findet Konstruktion als zeitlicher Prozess statt, der mit der laufenden Wiederholung von Normen funktioniert: „Als sedimentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden oder rituellen Praxis erlangt das biologische Geschlecht [und der Körper] seinen Effekt des Naturalisierten.“ (Butler 1997 [1993]: 32)

Die strategische Politik subversiver Wiederholungen als Möglichkeit des Widerstands durch Variation und Intervention In der Spezifizierung der Entstehung und Stabilisierung der „diskursiv erzeugten Wirklichkeit“ und aus ihrer Kritik an ontologischen Identitätskategorien entwickelt Butler das Konzept des Geschlechts als kulturelle Performanz. Ziel dieses Konzepts ist neben der theoretischen Erörterung der diskursiven Produktion von Geschlecht die Entwicklung von neuen Formen des politischen Handelns, das die ungelösten Widersprüche und Durchkreuzungen innerhalb von Subjektidentitäten zum Ausgangspunkt des Handelns macht. „Ohne die Einheit als Voraussetzung oder Ziel […] könnten provisorische Einheiten im Kontext

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der konkreten Aktionen entstehen, die andere Zwecke verfolgen als die, Identität zu artikulieren.“ (Butler 1991 [1990]: 36, eigene Herv.) Ausgangsüberlegung von Butlers Konzept der kulturellen Performanz bildet die Frage, worin für das innerhalb der Diskursverhältnisse hervorgebrachte Subjekt Möglichkeiten für eine wirkungsvolle Subversion liegen. Da die normierenden Identitätskategorien der wiederholten Inszenierung/Performanz derselben bedürfen, stellt die Wiederholung jeweils eine Re-Inszenierung des bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes und damit die ritualisierte Form seiner Legitimation dar. In diesem Verständnis sind Identitätsattribute nicht expressiv, sondern performativ, und die Identität, die sie angeblich ausdrücken, erweist sich als eben durch diese Attribute konstruiert. Dies bedeutet auch, dass es weder vordiskursive, ursprünglich existierende Identitäten gibt noch richtige oder falsche. Ebenso wenig kann Subversion durch Rückgriff auf ein autonomes, vordiskursiv-souveränes Subjekt praktiziert werden oder durch eine Positionierung außerhalb des herrschenden Diskurses. Dennoch begreift Butler das Subjekt als Effekt bestimmter Diskurse nicht als durch diese Diskurse determiniert: Durch die regulierende Wiederholung der gesellschaftlichen Bezeichnungs- und Bedeutungskomplexe besteht für die Subjekte die Möglichkeit, innerhalb der repetitiven Verfahren die Bezeichnungen aktiv zu variieren. Ein Effekt zu sein, bedeutet daher für die Identität nicht, schicksalhaft determiniert, künstlich oder arbiträr zu sein (vgl. Butler 1991 [1990]: 213ff.). Stattdessen geht es Butler um die Entwicklung einer strategischen Politik, die durch diskursimmanente, subversive Wiederholungen lokale Möglichkeiten des Widersprechens, des Variierens und der Intervention schafft (s.u.). Butler hat immer wieder auf verschiedenste interventionistische Praktiken im politischen Kontext hingewiesen. In neueren Publikationen hat sie dabei Überlegungen zur Hervorbringung von materiellen Räumen durch eine performative Theorie der Versammlung von Menschen in ihrer Körperlichkeit angestellt (als Soziale Bewegungen, auf Demonstrationen, während revolutionärer Umbrüche etc.): Sie arbeitet dabei heraus, wie menschliche Körper durch die performative Kraft des Versammelns als materielles Arrangement ihren Protest zum Ausdruck bringen und (an-)erkannt werden (vgl. Butler 2015). Bereits früh hat Butler, insbesondere zum besseren Verständnis der vermeintlichen Immaterialität von diskursiv produzierten Körpern, einen alternativen Begriff von Materie vorgeschlagen. Während die klassische Konfiguration von Materie die eines Ortes der Erzeugung ist und als Prinzip der Entstehung und Kausalität verallgemeinert wird, versteht Butler unter Materie mehr als einen Ort oder eine Oberfläche, die von der diskursiven Produktion ausgeschlossen ist und nur das darstellt, worauf die Konstruktion einwirkt. Stattdessen be-

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greift sie Materie als einen Prozess der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, sodass sich die Wirkungen von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellen, die als Materie bekannt sind (vgl. Butler 1997 [1993]: 32 u. 54ff.). „Materialität bezeichnet eine bestimmte Wirkung der Macht oder ist vielmehr Macht in ihren formativen oder konstituierenden Effekten. Solange Macht erfolgreich verfährt, indem sie einen Objektbereich […] als eine für selbstverständlich gehaltene Ontologie errichtet, werden ihre materiellen Effekte als Datenmaterial oder als primäre Gegebenheiten aufgefaßt. Diese materiellen Positivitäten treten außerhalb von Diskurs und Macht in Erscheinung, und zwar als […] ihre transzendentalen Signifikate. Aber im Moment des Erscheinens ist das Macht/Diskurs-Regime am vollständigsten unkenntlich und überaus heimtückisch wirksam.“ (Ebd.: 62, Herv. i.O.)

In Anlehnung an Foucault begreift Butler daher die Produktivität der Macht als die Erzeugung von materiellen Wirkungen, z.B. Körpern. Materie wiederum erweist sich als Zeichen, das Bedeutungen inszeniert und die Wirklichkeit konstruiert – und auch in ihr interveniert. „Die Konzepte der Materie und des Körpers dekonstruieren heißt nicht, sie zu verneinen oder abzulehnen. Vielmehr beinhaltet die Dekonstruktion dieser Begriffe, daß man sie weiterhin verwendet, sie wiederholt, subversiv wiederholt, und sie verschiebt bzw. aus dem Kontext herausnimmt […]. [Es geht] darum, sie aus ihrem metaphysischen Gehäuse zu befreien, um ganz unterschiedliche politische Ziele zu besetzen und zu verfolgen. Die Materie von Körpern zu problematisieren beinhaltet an erster Stelle einen Verlust epistemologischer Gewißheit, der aber nicht zwangsläufig zu politischem Nihilismus führen muß.“ (Butler 1993a: 52)

Ausgehend von dieser theoretischen Neuformulierung des Körpers und seiner Materie stellt sich nach wie vor die Frage, wie Subjektidentitäten gesellschaftlich produziert und wie sie ge- und erlebt werden: Wie sich anhand von Foucault und Butler zeigen lässt, ist der Körper eine vermittelnde Instanz zwischen gesellschaftlichen Mikrostrukturen (subjektiver Identität) und Makrostrukturen (gesellschaftlichen Kategorien wie z.B. Geschlecht, Alter, Ethnizität oder Sozialstatus). Der Körper gilt damit als „Schnittstelle von Gesellschaft und Subjekt“ (Bublitz 2003: 74) bzw. als „stabilitätssicherndes Scharnier“ (Villa 2011: 63), das zwischen (Mikro-)Konstruktionen und (Makro-)Strukturen vermittelt; er „ist Bindeglied von Struktur und Subjekt; er ist Konstituens für Sozialität und zugleich Produkt dieser Sozialität“ (ebd.; s. auch Lindemann 1994 und Jäger

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2004, die Butlers performativitätstheoretische Überlegungen zum Körper mit einer phänomenologischen Perspektive auf den Leib verknüpfen). Körperliche Identität wird durch Benennung und Anrufung geschaffen. Auf die Bedeutung der Sprache bei der gesellschaftlichen Konstitution von Körpern kommt Butler zurück, indem sie eine performative Sprechakttheorie entwickelt, deren Ausgangspunkt die normierenden Aspekte von Sprache sind. Damit schließt sie – in Auseinandersetzung mit Austin sowie mit Louis Althusser, Ferdinand de Saussure und Jacques Derrida – an die Annahme an, dass der Körper nicht etwas rein Materielles ist, sondern immer auch die Verkörperung von durch Sprache strukturierten Normen, die die Wahrnehmung und Erfahrung beeinflussen. Denn „Identitätskategorien [haben] niemals nur einen deskriptiven, sondern immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter“ (Butler 1993a: 49). Einen Namen zu erhalten, gehört nach Butler zu den Bedingungen, durch die sich das Subjekt sprachlich konstituiert und auf „seinen Platz verwiesen“ wird. „Sprache erhält den Körper nicht, indem sie ihn im wörtlichen Sinne ins Dasein bringt oder ernährt. Vielmehr wird eine bestimmte gesellschaftliche Existenz des Körpers erst dadurch ermöglicht, dass er sprachlich angerufen wird.“ (Butler 1997 [1993]: 14) Die Anrufung, das „beim Namen Nennen“ wiederum ist kein rein sprachlicher Akt, sondern immer auch eine Auferlegung von Normen. Um die konstituierenden, normierenden Effekte von Sprache analysieren zu können, muss der Kontext, innerhalb dessen gesprochen wird, untersucht werden. Dieser Verweis auf den Kontext erfordert wiederum einen Rückgriff auf ein mehrdimensionales Verständnis von Macht als allgegenwärtiges, flexibles Strukturprinzip der Gesellschaft (vgl. Kap. 2: Strüver 2021 und Kap. 3: Füller/ Marquardt 2021). Die veränderliche Macht bestimmter Ausdrücke markiert die Performativität von Sprache, die aus (Re-)Signifizierungen besteht und weder einheitlich noch ursprünglich ist. Sprache geht somit weit über die Abbildung oder Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse hinaus: Sie inszeniert sowohl diese Verhältnisse als auch die Individuen. Sprache ist das Instrument der (Re)Produktion der gesellschaftlichen Strukturen, indem sie die*den Angesprochene*n im Moment der Äußerung konstituiert (vgl. Butler 1997 [1993]: 33). Ein bereits benanntes Subjekt hat dadurch die Möglichkeit, erneut benannt zu werden und selbst sich und andere zu benennen. In allen Fällen ist es kein souverän handelndes und sprechendes Subjekt, sondern ein diskursiv produziertes, das den Diskurs, den es reproduziert, nicht kontrollieren kann, aber dennoch für seine sprachlichen Äußerungen verantwortlich ist (vgl. ebd.: 54f.). Im Anschluss an ihre Ausführungen zur sprachlichen Konstitution von Körpern und Subjekten entwickelt Butler Ideen für eine Politik des Performativen, die

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u.a. untersucht, warum die Normen, die das Sprechen beherrschen, sich im Körper einrichten (vgl. Butler 1997 [1993]: 201ff.). Das „gesellschaftliche Leben“ eines Körpers wird, wie oben gezeigt, durch Anrufung/Benennung hergestellt, die sprachlich und produktiv zugleich ist, d.h. die Anrufung nimmt in körperlichen Stilen Form an und kann ihrerseits soziale Realität performativ herstellen. „Die Anrufung, die ein Subjekt in die Existenz ruft, d.h. gesellschaftlich performative Äußerungen, die mit der Zeit ritualisiert und sedimentiert worden sind, sind für den Prozeß der Subjektbildung ebenso zentral wie der verkörperte, partizipatorische Habitus.“ (Ebd.: 217) Von einer gesellschaftlichen Anrufung angesprochen zu werden, ist somit gleichbedeutend damit, gesellschaftlich konstruiert und normiert zu werden. Die Normen wiederum richten sich im Körper ein, da Menschen als kategorisierte Individuen erkennbar sein müssen, um überhaupt gesellschaftlich agieren zu können. Gleichwohl ist die körperliche Identität mehr als nur der festgelegte Effekt von Sprechakten, die sie konstituieren. Denn wenn der Körper durch die Wiederholung von Normen gebildet wird, besteht – im diskurstheoretischen Verständnis – die Möglichkeit zur Veränderung und Resignifikation. Körper und Identität nicht als natürliche, sondern als politische Kategorien aufzufassen, Körper und Identität zu prozessualisieren, eröffnet subversive Möglichkeiten insofern, als Körper und Identitäten resignifiziert und durch parodistische Wiederholungen der Bezeichnungspraxen performativ verändert werden können. Durch die Performativität wird der Sprechakt zu einem Akt des Widerstands. Voraussetzung dafür ist zum einen die Überwindung von Denkmustern, die den Körper und die Subjektidentität als etwas scheinbar Natürliches betrachten, denn erst durch den Bezeichnungsprozess entsteht der Effekt des Natürlichen, d.h. die Bezeichnung erzeugt den Effekt des a priori Bezeichneten. Zum anderen kann Widerstand nicht länger als politisches Handeln von Bewusstseinssubjekten gedacht werden, sondern als diskursimmanente Verinnerlichung und Verschiebung von Machtverhältnissen. Identität in diesem Sinne ist kein abstraktes theoretisches Konzept. Denn identitätsbezogene diskursive Praktiken bringen eben jene Körper hervor, über deren Identitäten angeblich nur gesprochen wird. Durch diese Perspektive kann erkannt werden, wann, wie, wo, warum, durch wen und mit welchen Effekten Identität entsteht. Denn in der dekonstruktivistischen Perspektive existieren Identitäten nicht als Wesen außerhalb der diskursiven Formation oder vor der Repräsentation, sondern sind (wie Körper) so konstituiert, als ob sie vor der Repräsentation existieren würden. Durch die ständig erzwungene Identifikation mit idealen, normativen Vorgaben entstehen automatisch Abweichun-

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gen, „nicht-normale“, andere Identitäten. An genau dieser Stelle der unvorhersehbaren Wirkungen, der „Abweichungen“, entsteht „Handlungsfähigkeit, [die] in das impliziert ist, dem sie sich widersetzt“ (Butler 1993b: 127). Diese Form der Handlungs- und Widerstandsfähigkeit setzt voraus, dass Identitäten prozessual sind, vieldeutig, fragmentiert und widersprüchlich.

Fort- und Ausführung: Performative Ansätze als Form der „Resozialisierung“ durch Materialisierung – Empirische Erfassbarkeit sozialer Alltagspraktiken Butlers These von der performativen Materialisierung hat die Annahme widerlegt, dass Körper und Subjektivität als letzte außerdiskursive Referenz für Erfahrungen gelten können. In der Theorie des dezentrierten Subjekts sind Menschen weder auf ihre Intentionen noch auf strukturelle Determinanten reduzierbar. Butler führt dies in „Psyche der Macht“ (Butler 2001 [1997]) weiter aus, indem sie darlegt, dass Voraussetzung des Menschseins einerseits die Unterwerfung von Subjekten unter die Macht ist, andererseits aber Widerstand nicht außerdiskursiv ist: „Macht, die am Körper ansetzt, ist ohne Widerstand des Körpers, der sich in unterschiedlichen Verkörperungen kundtut, nicht denkbar.“ (Winter 2003: 115) Butler spricht sich damit deutlich gegen das „Trugbild der Souveränität“ des Subjekts (1998 [1997]: 29) bzw. für ein Verständnis als postsouveränes Subjekt aus (ebd.: 198). Zugleich aber ist das Subjekt fähig, „sich selbst als ein ‚Ich‘ zu zitieren“ (1993a: 131) und über dieses Ich den „Status eines Wahrnehmungsobjektes“ zu erlangen (2001 [1997]: 158; s. auch den Abschnitt zum Subjekt in Kap. 2: Strüver 2021). Das Konzept der Performativität leugnet also nicht die Materialität des Körpers und des körperlichen bzw. vergeschlechtlichten und/oder rassifizierten Subjekts, sondern lediglich die vordiskursive Materialität. Es versteht Materialität immer als Prozess der Materialisierung, der eine temporäre Fixiertheit durch performative Fremd- und Selbstbildung erreichen kann, die mehr als nur Diskurs ist. Denn Butlers Performativität ist zu verstehen als ein sich ständig wiederholender Akt – als sich wiederholende Praxis der Reiteration im Sinne Derridas. Wenn performative Ansätze – bzw. hier insbesondere das Werk Butlers – in diesem Sinne als ein Versuch gesehen werden, das Materielle (des Körpers, des Handelns, von Subjektivität) zu „re-sozialisieren“, d.h. wieder stärker gesellschaftstheoretisch und -praktisch zu erden, dann bieten sich für eine theoretische Fort- und eine empirische Ausführung des Performativitätsgedankens vier zwar verschiedene, jedoch durchaus kombinierbare Perspektiven an: erstens

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das Konzept des doing identity, zweitens der Intersektionalitätsansatz, drittens aktuelle Perspektiven zur Einbeziehung von Affekt und Emotionen sowie viertens zur Performativität von Materie. Als Abschluss werden wir die Anschlussfähigkeit dieser Perspektiven an Butlers Performativitätsansatz in gebotener Kürze skizzieren. Das Konzept des doing identity, welches in der Tradition der interaktionistischen Soziologie und Ethnomethodologie steht, wendet sich ebenfalls explizit gegen ein essenzialistisches Subjekt- und Identitätsverständnis. Für eine Fortund Ausführung des Performativitätsansatzes eignet es sich zudem dadurch, dass es die sozialen Prozesse thematisiert, die Identitätskategorien als sozial relevante Merkmale in der Interaktion, d.h. im Rahmen von räumlichen Alltagspraktiken, hervorbringen (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992; zu performativen Raumaneigungs- und Identitätskonstitutionsprozessen von transnational mobilen Haushaltshilfen s. Strüver 2013). Butlers Performativitätsverständnis beinhaltet auch die Idee, dass in einem Subjekt wie auch in einem Körper immer mehrere kulturelle Subjektcodes aufeinandertreffen und sich daraus verschiedene Konstellationseffekte ergeben und auch verschieben können. Dieses Aufeinandertreffen verschiedener „kultureller Codes“ bzw. Kategorien im Prozess der Subjektivierung verweist in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Intersektionalität, das die komplexe Durchkreuzung von Identitätskategorien innerhalb von Subjekten zu erfassen vermag: Der Ansatz fordert ein Verständnis von Subjektformationen als komplexes Ineinandergreifen unterschiedlichster sozialer Identitäts- und Differenzkategorien. Es geht somit um die analytische Verbindung verschiedener machtgeladener Kategorisierungen wie Ethnizität, Geschlecht, Klasse, Alter, körperliche Verfasstheit, Religion usw., die gesellschaftliche Beziehungen hierarchisch strukturieren – und zwar um die konzeptionelle Verschränkung („Durchkreuzung“) der Kategorien, nicht um deren additive Reihung (vgl. McCall 2005). Und es geht auch um das „verlegene ,usw.‘“ (Butler 1991 [1990]: 210), das stets der Reihung von Kategorien wie Hautfarbe, Sexualität, Ethnizität, Klasse und Gesundheit folgt, wie Butler im Rahmen ihrer Kritik an der Theorie des situierten Subjekts zu verstehen gibt. In kritischer Auseinandersetzung mit der Intersektionalitätsdebatte wurde zudem der Begriff der Interdependenzen eingeführt, um den Fokus auf wechselseitige Interaktionen und innere Verwobenheiten anstatt auf Schnittmengen zu legen. Hier geht es weniger um die Beziehungen zwischen verschiedenen Kategorien als vielmehr um die Konzeptualisierung der jeweiligen Kategorien als interdependent: „Durch diese integrale Perspektive [des Denkens in interdependenten Kategorien] wird die Idee der ‚Verschränkung‘ demnach radikalisiert,

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indem Differenzen bzw. Ungleichheiten nicht mehr zwischen (distinkt oder verwoben gedachten) Kategorien wirksam sind, sondern innerhalb einer Kategorie.“ (Walgenbach 2012: 24, Herv. i.O.) Der Intersektionalitäts-/Interdependenzen-Ansatz verfolgt insgesamt eine Perspektive, die gesellschaftliche Machtstrukturen mit individuellen Erfahrungen und Interaktionen verbindet. Die ersten durchgeführten Studien konzentrieren sich allerdings primär auf die mikroanalytische Ebene (vgl. Sobiech 2004; Bruner 2005; Valentine 2007; King 2008), sodass die fehlende Konkretisierung sowohl in der theoretischen als auch der praktischen Dimension der Sozialstruktur kritisiert wird (vgl. Klinger 2003, 2008; Knapp 2008). Letzteres wiederum wird im Mehrebenen-Ansatz versucht, der die Identitätskonstruktionen mit Gesellschaftsstrukturen und diskursiv-kulturellen Repräsentationen in der empirischen Erforschung verbindet (vgl. Winker/Degele 2009; für eine Anwendung s. Strüver 2013). Kritisiert wird an diskurs- und performativitätstheoretischen Konzepten häufig, dass sie affektives und emotionales Leben bzw. Erleben durch eine Konzentration auf „Konstitution durch Repräsentation“ unberücksichtigt ließen, d.h. dass sie unmittelbar körperliches Erleben vernachlässigen (vgl. Thrift/Dewsbury 2000; Nash 2000; Colls 2012). Die explizite Berücksichtigung der körperlichen Materialität im Alltags(er)leben sowie der Performativität von Materialität kann zum einen durch eine Art „more-than-representational“-theory im Sinne Hayden Lorimers (2005) geschehen. Zum anderen bieten Donna Haraways und Karan Barads Konzeptionen des Körpers als materiell-semiotischer Verschränkungsprozess Weiterentwicklungen von Butlers Argument der performativen Materialisierung von verkörperten Subjekten an, indem sie die dynamische Intra-Aktivität zwischen Materiellem und Diskursivem in verkörperten Subjekten hervorheben – zwischen Bedeutung und Materie, „Wissen und Sein, Wort und Welt, Kultur und Natur. Phänomene sind materiell-kulturelle Da-Seins.“ (Barad 2015: 61; s. auch Haraway 2016) Ein derartiger social and material return infolge der Erweiterung des Textund Zeichenbegriffs des cultural turn lehnt in seiner Forderung nach der stärkeren Berücksichtigung von Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Ungleichheit die Diskurs- und Repräsentationstheorien nicht ab (insbesondere deren Annahmen zur Denaturalisierung und De-Essenzialisierung gesellschaftlicher Subjektkategorien), leitet jedoch veränderte Konsequenzen daraus ab, nämlich die Neudefinition von Materie und Materialität (als intra-aktiver Prozess der Materialisierung) sowie die Berücksichtigung von soziokulturellen Ungleichheitslagen und soziomateriellen Ungerechtigkeitsfragen.

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Walgenbach, Katharina (2012): „Gender als interdependente Kategorie“, in: Walgenbach, Katharina et al. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 23-64. Winker, Gabriele/Degele, Nina (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: transcript. Winter, Rainer (2003): „Zwischen Widerstand und Ermächtigung. Zur Konstruktion des Körpers in den Cultural Studies“, in: Alkemeyer, Thomas/Boschert, Bernhard/Schmidt, Robert/Gebauer, Gunter (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 103-116. Wirth, Uwe (2002): „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: Wirth, Uwe (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-60. Wucherpfennig, Claudia (2010): „Geschlechterkonstruktionen und öffentlicher Raum“, in: Bauriedl, Sybille/Schier, Michaela/Strüver, Anke (Hg.), Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen: Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 48-74. Wucherpfennig, Claudia/Strüver, Anke (2014): „‚Es ist ja nur ein Spiel …‘ – Zur Performativität geschlechtlich codierter Körper, Identitäten und Räume“, in: Geographische Zeitschrift 102 (3), S. 175-189.

12 Praktiken Christoph Baumann, Matthias Lahr-Kurten, Jan Winkler

Einleitung Diskursanalytische Arbeiten in Anschluss an Überlegungen von Theoretiker*innen wie Michel Foucault oder Ernesto Laclau und Chantal Mouffe fokussieren die zeichenhafte Konstitution von Bedeutung. Sie stehen damit in engster Verbindung zum sogenannten lingustic turn, dem zufolge Sprache als ein unhintergehbarer Modus der Konstitution des Weltzugangs und der Weltdeutung begriffen wird (s. Kap. 9: Mattissek 2021). Für die Kultur- und Sozialgeographie bedeutet dieses erkenntnistheoretische Grundargument, eben jene zentralen sprachlichen Aspekte des Weltbezugs, die zeichenhafte Konstitution der raumbezogenen Wirklichkeit, zu analysieren und zu hinterfragen. Diese analytische Fokussierung von Teilen der Humangeographie auf das Sprachlich-Zeichenhafte wird allerdings auch kritisiert. Mit Blick auf die geographische Diskursforschung argumentieren etwa Eberhard Rothfuß und Thomas Dörfler (2013: 16f., Herv. i.O.): „Unzweifelhaft beinhaltet die Erfahrung der Welt die Sprache und den Umgang mit ihr, wesentlicher jedoch ist, dass die Sprache nur ein Teil der Welterfahrung ist, sie aber keineswegs der Welt übergeordnet der sie allein strukturiert, wie man im Überschwang des linguistc turn seit den 1970er Jahren annahm. Uns scheint in der ‚poststrukturalistischen‘ Humangeographie und Sozialwissenschaft eine gegenteilige Auffassung vorherrschend zu sein, denn Macht, Subjekt und Interaktion sind dort nur noch sprachlich-diskursiv vermittelt konzipiert.“

Eine solche Kritik an einer „textualistischen“ Fokussierung (vgl. Reckwitz 2003: 288) wird bspw. auch von der non- bzw. more-than-representational geography (u.a. Lorimer 2005; Schurr/Strüver 2016) geübt. Anstelle des Diskursiven (verstanden

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als etwas primär Repräsentationales) gelte es wieder, stärker die körperlichmaterielle Dimension des Weltbezugs in den Blick zu nehmen. Ein wichtiges analytisches Konzept ist dabei das der Praxis bzw. das der Praktiken (auf das Verhältnis beider Begriffe wird weiter unten eingegangen), weshalb diese breite konstruktivistische Strömung u.a. auch als practice turn bezeichnet wird. „Practice matters!“ konstatieren Jonathan Everts, Matthias Lahr-Kurten und Matt Watson (2011) in einem gleichnamigen, programmatischen Aufsatz (vgl. zu neueren Ansätzen einer Inwertsetzung praktikentheoretischer Perspektiven für die Geographie z.B. Schäfer/Everts 2019; Geiselhart/Winkler/Dünckmann 2019). „Praktiken“ ist allerdings auch ein Begriff, welcher zum terminologischen Inventar vieler diskursanalytischer Studien zählt. Dieser Beitrag setzt sich mit eben jenem Terminus auseinander und betrachtet insbesondere dessen Relation zu verschiedenen diskursanalytischen Ansätzen. Dies geschieht in drei Schritten: Zunächst werden wesentliche konzeptionelle Bezüge sowie Elemente aktueller Theorien der Praxis erörtert. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt dabei auf poststrukturalistischen Varianten und Lesarten. Anschließend erfolgt eine Erkundung der Verwendung des Praktikenbegriffs in verschiedenen diskursanalytischen Konzeptionen. Ausgehend von einem poststrukturalistischen Verständnis von Diskurs und Praktiken werden schließlich gegenseitige Sensibilisierungspotenziale beider Blickweisen auf die (Re-)Produktion des Sozialen diskutiert.

Theorien der Praxis Wie das Feld der Diskurstheorie/-analyse, so ist auch das Feld der Praxistheorien durch unterschiedliche Ansätze geprägt. Dazu gehören Positionen des Materialismus bei und im Anschluss an Karl Marx, die Praxeologie Pierre Bourdieus sowie die Sozialphilosophie Theodore Schatzkis, aber auch Theorieangebote aus dem Bereich der cultural studies oder der science and technology studies werden nicht selten mit einem entsprechenden Etikett belegt (vgl. u.a. Reckwitz 2003; Schäfer 2013; Hillebrandt 2014). Im Folgenden werden wichtige konzeptionelle Bezüge und Grundannahmen praxistheoretischer Konzeptionen skizziert.

Praktiken

Grundlagen I: Sinnliche Tätigkeit, Materialität und (Post-)Strukturalismus In der Moderne ist es zunächst Marx, der den Begriff der Praxis als eine zentrale theoretische Kategorie einführt und prägt. In der aktuellen praxistheoretischen Diskussion werden dabei vor allem seine sogenannten Feuerbachthesen als eine wichtige Referenz angesehen (vgl. z.B. Hillebrandt 2014: 31ff.): „Alles gesellschaftliche Leben“, so Marx, „ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ (Marx 1990: 7) Bei ihm ist der Fokus auf das Praktische eingelassen in seine materialistische Philosophie, die er als Gegenprogramm zum zeitgenössischen Idealismus setzt. Er definiert Praxis als „menschliche sinnliche Tätigkeit“ (ebd.: 5) und kritisiert idealistische Konzeptionen als zu abstrakt und zu wenig gegenständlich orientiert. Eine solche materialistische, gerade auch körperorientierte Auffassung von Praxis stellt eine wesentliche Grundlage praxistheoretischer Theoriebildung dar.1 Eine Praktik ist zunächst, so banal dies klingen mag, eine sinnliche, körperliche Tätigkeit. Entsprechend definiert etwa Schatzki sie als einen Nexus von „bodily doings and sayings“ (Schatzki 2002: 72, eigene Herv.). Er nutzt den Begriff „bodily“, um zu betonen, dass Praktiken zuerst „nichts anderes als Körperbewegungen darstellen“ (Reckwitz 2003: 290). Auch in der Praxeologie Bourdieus nimmt das Körperliche, v.a. im Rahmen des Habituskonzepts, eine wichtige Stellung ein. Ein Habitus ist ein inkorporiertes „System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 154). Im Sozialisationsprozess wird der Habitus in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata ausgebildet. Er markiert dabei gleichsam den körperlichen Effekt wie die körperliche Erzeugung von Praktiken und ist ein wichtiger Baustein in Bourdieus Ansatz, um – anschließend an Marx – „eine materialistische Theorie zu konstruieren“ (Bourdieu 2001: 175; vgl. Hillebrandt 2014: 62).

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Hiermit ist natürlich nur eine kleine Facette der Praxis-(und Materialitäts-)Konzeption von Marx angeschnitten. Die Konzentration dieses Artikels liegt bei eher poststrukturalistischen Varianten der Praxistheorie wie in den Arbeiten von Theodore Schatzki, Andreas Reckwitz oder Frank Hillebrandt. Für eine Einführung in die Praxistheorie des Marx’schen historischen Materialismus sowie dessen raumtheoretischer Weiterführung bei Henri Lefebvre und David Harvey sei auf Bernd Belina 2013 verwiesen (s. auch Kap. 4: Belina/Dzudzek 2020).

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Dabei weist Bourdieu in einer weiteren Beziehung eine deutliche Nähe zu Marx auf, die allerdings in anderen praxistheoretischen Spielarten eher problematisiert wird: die relativ fixiert gedachte strukturelle Determination von Praxis. Ist bei Marx die ökonomische Basis, verstanden als die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse sowie als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung, die kausale Ursache von Praktiken, so konzipiert Bourdieu den Habitus vor allem auch als strukturell gebunden. Auf der Grundlage sich verfestigender sozialstruktureller Differenzen komme es zur habituellen Inkorporierung gruppenspezifischer Dispositionen und so zu „feinen Unterschieden“ (vgl. Bourdieu 1982) im Lebensstil verschiedener sozialer Klassen. Eine solche strukturalistische Theorieanlage wird innerhalb der aktuellen praxistheoretischen Diskussion durchaus auch kritisch beleuchtet und ist ebenso eine wichtige Kontrastfolie poststrukturalistischer Diskurstheorien. So bildet gar die Kritik am Marx’schen ökonomischen Determinismus den Ausgangspunkt der diskurstheoretischen Überlegungen von Laclau und Mouffe (s. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2020a). Gerade diese poststrukturalistische Kritik soll im Folgenden näher ausgeführt werden, enthält sie doch in ihrer Ablehnung strukturalistischer Reproduktion auf eine besondere Art und Weise praxistheoretische Momente, die ähnlich auch in einigen aktuellen Praxistheorien enthalten sind (z.B. Schatzki 2002; Reckwitz 2003; Hillebrandt 2014). So kritisieren gerade poststrukturalistische Ansätze die strukturalistischen Praxistheorien selbst aus einer „Logik der Praxis“ heraus.

Grundlagen II: Sprachspiele, doings and sayings und Regelfolgen Eine weitere, zentrale Referenz praxistheoretischer Theoriebildung ist das Spätwerk Ludwig Wittgensteins. Dreh- und Angelpunkt der wittgensteinianischen Philosophie ist zunächst das Nachdenken über Sprache. Während er in seinem Frühwerk, dem „Tractatus logico-philosophicus“, den Versuch unternimmt, Grundlagen einer logisch geregelten Redeweise zu entwickeln, verwirft er derlei Ansinnen deutlich in seinen, für die Praxistheorie relevanten, „Philosophischen Untersuchungen“. Wittgenstein betrachtet darin Sprache nicht als ein abstraktes, durch eindeutige Regeln fixiertes System, sondern als Praxis: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 2008: § 43) – diese Gebrauchstheorie der Bedeutung wurde gerade von der pragmatistischen Sprechakttheorie um John Austin oder John Searle weiter ausbuchstabiert (s. dazu auch Kap. 11: Strüver/Wucherpfennig 2020).

Praktiken

Im Zentrum seiner Untersuchungen steht der Begriff des Sprachspiels. Dieser Terminus sollte aber nicht zu dem Schluss führen, Wittgenstein ginge es ausschließlich um Sprache. Vielmehr konstatiert er: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“ (Ebd.: § 7) Ein Sprachspiel ist folglich als ein „Zusammenhang zwischen der Verwendung sprachlicher Ausdrücke und eingefleischten Handlungsweisen“ (Schulte 2001: 146). Genau hieran schließt auch Schatzki an, der seine Sozialphilosophie übrigens in seinem Frühwerk ausdrücklich als einen „Wittgensteinan approach“ betitelt (Schatzki 1996), wenn er Praktiken eben als einen Nexus von „bodily doings and sayings“ (Schatzki 2002: 72, eigene Herv.) betrachtet und betont: „Practices are a motley of actions of both sorts, and it seems to me an error to grant priority to either type.“ (Ebd.: 77) Wesentlich für Wittgensteins Ansatz ist das praktische Erlernen eines „Sich-Einbringen-Könnens“ in die Prozesse der Bedeutungsgenerierung, d.h. in das Sprachspiel. Diese Selbsteinfügung des praktizierenden Subjekts bezeichnet er zuweilen als eine „Abrichtung“ (z.B. Wittgenstein 2008: § 6). Individuen werden abgerichtet, in bestimmten Situationen in einer bestimmten Weise „Tätigkeiten zu verrichten“, „Wörter zu gebrauchen“ sowie auf eine bestimmte Weise „auf die Worte des anderen zu reagieren“ (ebd.). Durch die Teilnahme an Sprachspielen erlernt man ein Weiterwissen – ein Wissen, das es wahrscheinlich macht, anschlussfähig bzw. verstehbar zu agieren und welches dazu befähigt, in diesem Sinne den Regeln des Sprachspiels zu folgen. Was meint nun das Regelfolgen? Wittgenstein wendet sich gegen ein Verständnis von Regeln als „abstrakte oder mentale Entitäten, die unabhängig […] bestimmten, was als korrekte und inkorrekte Befolgung gilt“ (Puhl 2011: 92). Regeln sind für ihn keine autonomen, der Praxis äußerlichen und selbige determinierenden Repräsentationen oder Codes, sondern ein konstitutives Element der Praxis. Ob eine Regel „richtig“ angewendet wird, lässt sich nur im praktischen Regelfolgen erkennen, das nicht immer explizit gemacht werden kann. In der praxistheoretischen Diskussion wird dies mit Begriffen wie „praktischer Sinn“, „praktische Intelligibilität“ oder „implizites Wissen“ gefasst (vgl. u.a. Reckwitz 2003). Dass Wittgenstein hierbei eine gewisse Nähe zum Poststrukturalismus und dessen Kritik an fixierten Strukturen aufweist, wird besonders bei seinem sogenannten Regelregressargument deutlich.2 Eine Regel (zur 2

Er illustriert dieses Argument u.a. mit folgendem Beispiel: „Nimm an, ich erkläre: ‚Unter ›Moses‹ verstehe ich den Mann, wenn es einen solchen gegeben hat, der die Israeliten aus Ägypten geführt hat, wie immer er damals geheißen hat und was immer er sonst getan, oder nicht getan haben mag.‘ – Aber über die Wörter dieser Erklärung sind ähnliche Zweifel möglich wie die

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Verwendung von Begriffen genauso wie bezüglich „stummer“ Formen des SichVerhaltens) bedarf stets einer weiteren (Meta-)Regel, die festzulegen sucht, wie und wann die erste Regel anzuwenden ist etc., womit sich ein unendlicher Regress einstellt. „Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft.“ (Wittgenstein 2008: § 198) So ist es nicht eine autonome Regel, die Bedeutungen letztbegründet, sondern das praktische Tun selbst, „welche[s] am Grunde des Sprachspiels liegt“ (Wittgenstein 1970: § 204). Und genau „[d]arum ist ,der Regel folgen‘ eine Praxis“ (Wittgenstein 2008: § 202). In dieser Weise geht Wittgenstein (und mit ihm der Poststrukturalismus sowie verschiedene Varianten der Praxistheorien) von einer prinzipiellen Offenheit des Sozialen aus. Während nun in der poststrukturalistischen Diskurstheorie der Schwerpunkt vor allem auf die Mechanismen der partiellen und temporären Schließung gelegt wird (also wie sich historisch bestimmte Regelmäßigkeiten des Tuns und Sagens herausbilden), fokussiert die praxistheoretische Brille vielmehr das situierte Regelfolgen im Sinne Wittgensteins, indem sie die „Logik der Praxis“ zu rekonstruieren versucht (vgl. Reckwitz 2003; Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015). Eine solche Konzentration soll anhand zweier Forschungsströmungen im Folgenden näher charakterisiert werden: den science and technology studies sowie den cultural studies.

Blick auf die Praxis: Die Beispiele science and technology studies und cultural studies Beiden Strömungen, die sich seit den 1960er und 1970er Jahren entwickelt haben, geht es darum, die Logik der Praxis gerade in ihrer Kontextgebundenheit empirisch zu fassen (vgl. Hillebrandt 2014: 16ff.). Die science and technology studies fokussieren sich auf die Frage, wie in und durch Praktiken – praktische Prozeduren, Verfahrensweisen, Mechanismen und Routinen – wissenschaftliches Wissen generiert und an praktische Erfahrungen rückgekoppelt wird. Ein Analysegegenstand einiger Arbeiten der science and technology studies wären z.B. Forschungspraktiken in Laboratorien und Instituten. Wissenschaftliche Erkenntnisse oder technologische Innovationen werden weniger als ein rein rational geplantes Ergebnis denkender Forscher*innen oder wissenschaftlicher Prinzipien gesehen, sondern als ein situierter Prozess. Einen herausragenden Stelüber den Namen ‚Moses‘ (was nennst du ‚Ägypten‘, wen ‚die Israeliten‘, etc.?). Ja, diese Fragen kommen auch nicht zu einem Ende, wenn wir bei Wörtern wie ‚rot‘, ‚dunkel‘, ‚süß‘, angelangt wären.“ (Wittgenstein 2008: § 87)

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lenwert innerhalb der science and technology studies nimmt die maßgeblich von Bruno Latour, Michel Callon und John Law entwickelte Akteur-NetzwerkTheorie ein, die nicht selten als eine „Variante der Praxistheorie“ (Hillebrandt 2014: 18; vgl. Schäfer 2013: 251ff.) gesehen wird. Die Grundidee der AkteurNetzwerk-Theorie ist, dass sich Praxis in einer Vernetzung (auch Versammlung oder Assoziation genannt) von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten vollzieht. Wissenschaftliche, technologische, ja gesellschaftliche Innovation realisiert sich durch eine Neuverknüpfung heterogener Elemente, wobei diese Neuverknüpfung die Elemente wechselseitig neu bestimmt. Und diesen Verknüpfungsprozessen nachzuspüren, ist das wesentliche Ziel entsprechender Studien. Die materialistisch orientierte Ausrichtung der Akteur-NetzwerkTheorie ist dabei offensichtlich: Es geht nicht nur um die Rehabilitierung des Körpers als wichtigem Bestandteil sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, sondern vor allem auch um eine Aufwertung der nicht-menschlichen Dimension im Kontext von Ordnungs- und Verknüpfungsprozessen in der Form von Gegenständen, Artefakten oder nicht-menschlichen Organismen. Ähnliche Gedanken nimmt auch Schatzki in seine Praxistheorie auf: Etwa seit der Jahrtausendwende denkt er Praktikentheorien zusammen mit Arrangement-Theorien (die für ihn, sehr vereinfacht gesagt, „in Konfigurationen organisierte soziale Phänomene“ thematisieren, weshalb er u.a. auch die Theorien von Latour, Laclau/Mouffe oder Foucault zu dieser Gruppe zählt; die Praktikentheorien nehmen, ebenfalls sehr grob skizziert, „organisierte Aktivitäten“ in den Blick; Schatzki 2002: xiif.). Daher ist für Schatzki das Konzept der sogenannten practice-arrangement-bundles wesentlich: Arrangements versteht er als die Verknüpfung von „people, artifacts, organisms, and things through and amid which social life transpires, in which these entities relate, occupy positions, and possess meanings […] in which nonhumans enjoy meaning, people assume meanings and identities, and entities of both sorts relate and occupy positions“ (Schatzki 2002: 38). Als Resultat sind für Schatzki Arrangements daher als Anordnungen bedeutungsvoller materieller Entitäten anzusehen, die ihre Bedeutung im Rahmen von Praktiken erhalten. Und eben weil für ihn Arrangements keine unabhängigen Konfigurationen darstellen, sondern nur in actu vollzogen werden, wählt er das Kompositum des practice-arrangement-bundles. Auch den cultural studies geht es primär um die Analyse der praktischen Dimension. Obwohl es sich bei ihnen um sehr heterogene Forschungsrichtungen mit vielfältigen theoretischen Bezügen handelt, geht es den verschiedenen Ansätzen um ein „Doing Culture“ (vgl. Hörning/Reuter 2004). Kulturen werden nicht als statisches Ideen- oder Wertgebäude gedacht, sondern als dynamisch und prozesshaft. Die cultural studies vertreten oftmals einen „radikalen Kontextua-

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lismus […], der sich in dem Verständnis manifestiert, dass kein kulturelles Produkt und keine kulturelle Praxis außerhalb des kontextuellen Zusammenhangs fassbar ist, in dem sie stehen“ (Hepp 2010: 18). So wird etwa die textorientierte Medienanalyse ergänzt um einen Blick auf die konkreten Prozesse der Medienproduktion sowie unterschiedliche Möglichkeiten der praktischen Medienaneignung und Rezeption (vgl. Baumann 2018a, b).

Methodologische Übersetzung: Das Beispiel Ethnomethodologie Die skizzierten Konzeptualisierungen sind also stärker induktiv ausgerichtet. Sie setzen sich zumeist ab von deduktiven Prinzipien strukturalistischer, funktionalistischer oder systemtheoretischer Perspektiven auf Kultur und Gesellschaft. Diese Ausrichtung bedeutet auf methodologischer Ebene eine empirische Analyse von Praktiken mittels qualitativer Verfahren der Sozialforschung. Hierbei steht allerdings weniger die Rekonstruktion der individuellen Beweggründe, Motive oder Intentionen der Handelnden im Vordergrund, sondern eher ein an die sogenannte Ethnomethodologie Harold Garfinkels orientiertes Vorgehen (vgl. Bergmann 2012). Garfinkel versteht „soziale Tatsachen als eine fortwährende Hervorbringung und Leistung der gemeinsamen Tätigkeiten des Alltagslebens“ (Garfinkel 1967: VII., zit. n. Bergmann 2012: 121) und geht davon aus, „dass sinnhafte Ereignisse vollständig und ausschließliche Ereignisse in der Verhaltensumgebung einer Person sind. […] Daher gibt es keinen Grund, unter die Schädeldecke zu schauen, denn dort ist nichts Interessantes zu finden außer Hirn.“ (Garfinkel 1963: 190, zit. n. Bergman 2012: 125) Wie von Wittgenstein angedacht, liegt das ethnomethodologische Programm folglich darin, die Sinn- und Regelhaftigkeit von Tätigkeiten in ihrer Situiertheit zu analysieren. Und dafür, so folgert auch Schatzki, „the investigator has no choice but to do ethnography“ (Schatzki 2012: 24); eine solche praxistheoretisch fundierte Ethnographie betreibt in der Geographie z.B. Lahr-Kurten anhand der deutschfranzösischen Sprachpolitik oder aber der intensivmedizinischen Versorgung extremer Frühgeburten (Lahr-Kurten 2012, 2018); ausführlicher zur Ethnomethodologie s. Kapitel 19 von Jan Winkler, Andreas Tijé-Dra und Christoph Baumann in diesem Band.

Praktiken

Zusammenfassung: Konturen des Praktikenbegriffs Die Konturen des Praktikenbegriffs lassen sich schematisch folgendermaßen zusammenfassen: Ausgehend von einer materialistisch orientierten Perspektive werden Praktiken zunächst als in gesellschaftliche Verhältnisse eingepasste, mehr oder weniger routinierte Bewegungen des Körpers verstanden. Sie konstituieren sich in Sozialisationsprozessen, die in Bourdieus Arbeiten (z.B. 1982) im Sinne einer Inkorporierung gesellschaftlicher (Norm-)Strukturen und in Wittgensteins Abhandlungen als körperliche „Abrichtung“ (Wittgenstein 1996: 123) thematisiert werden. Neben der Rehabilitierung der körperlichen Aktivität als sozialtheoretische Kategorie heben „Theorien der Praxis“ ferner die Gegenständlichkeit der Welt hervor und begreifen nicht-menschliche Entitäten wie etwa Artefakte nicht ausschließlich als Hilfsinstrumente einer Praktik, sondern als wichtige Teilelemente der Praktiken selbst – sei es in einem Netzwerk von Aktanten (Latour) oder sei es in einem practice-arrangement-bundle (Schatzki). Ferner wird über den Fokus auf Praktiken Sinn/Bedeutung nicht als eine übergeordnete, quasi-autonome Entität oder als bloßer Effekt der inneren Strukturierung von Repräsentationszusammenhängen betrachtet, sondern – anschließend an Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen – als etwas konzipiert, das sich „in der Praxis ereignet“ (Hillebrandt 2014: 87). Dies bedeutet, „dass aus Sicht der Praxistheorie und im Gegensatz zum Mentalismus [z.B. Handlungstheorie, Anm. d. Verf.] Wissen und seine Formen nicht ‚praxisenthoben‘ als Bestandteil und Eigenschaften von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen und zu rekonstruieren ist“ (Reckwitz 2003: 292, Herv. i.O.). Praktiken stehen in einem ambivalenten Status zwischen Routinisiertheit und Offenheit (vgl. Reckwitz 2003) bzw. zwischen Stabilität und Instabilität (vgl. Schäfer 2013). Sie sind insofern stabil, als sie sich in Prozessen der Inkorporation oder Abrichtung überindividuell als soziale Routinen ausprägen. Sie sind insofern instabil, als sich ihre Wiederholungen nicht eins zu eins aufgrund einer eindeutigen Bezugsregel vollziehen, sondern sich innerhalb wandelnder Kontexte transformieren. Dieses Unterkapitel abschließend, sei noch auf mögliche terminologische Unklarheiten hingewiesen: Im deutschsprachigen Diskussionszusammenhang wird gelegentlich zwischen Praxis und Praktik unterschieden, wobei Praxis zumeist als der allgemeinere Begriff gilt. Hillebrandt (2014: 58) z.B. versteht Praktiken als einzelne doings und sayings. Sie sind als solche „direkt“ beobachtbar. Praxis (oder Praxisform) markiert bei ihm dagegen eine „Verkettung von

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ereignishaften Einzelpraktiken“ (ebd.), z.B. Praktiken des Abtastens, des Fragens etc. im Rahmen der medizinischen Diagnosepraxis. Innerhalb praxistheoretischer Konzeptionen finden sich auch häufig Bezüge auf den Begriff des Diskurses. Dabei wird der Terminus zumeist im engeren Sinne als „Sprachliches“ benutzt. Für Schatzki etwa sind sayings diskursive, doings dagegen nicht-diskursive Tätigkeiten (vgl. Schatzki 2002: 76f.). Diese Engführung ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, die eigene materialistisch orientierte Position zu profilieren und zu betonen, dass „die Sprache nur ein Teil der Welterfahrung ist, sie aber keineswegs der Welt übergeordnet oder sie allein strukturiert“ (s. Zitat in der Einleitung). Was wird nun in diskursanalytischen Konzepten unter Praxis verstanden?

„Praktiken“ in diskursanalytischen Konzeptionen In einer der am häufigsten zitierten Stellen aus Foucaults Buch „Archäologie des Wissens“, in dem er Grundlagen seines diskursanalytischen Vorgehens erörtert, heißt es, die Diskursanalyse sei „eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen […], sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen [parole] und die Sprache [langue]. Dieses mehr muss man ans Licht bringen.“ (Foucault 1973: 74)

Wenngleich, wie dieses Zitat andeutet, Foucault das Diskursive explizit an Praktiken bindet und er in der praxistheoretischen Diskussion durchaus als wichtige Referenz angesehen wird (z.B. Schäfer 2013: 121ff.), so buchstabiert er keine Praxistheorie des Diskurses aus. Auch eingedenk des sich in seinen Schriften immer wieder verändernden Diskurskonzeptes, findet sich in der an Foucault anschließenden sozialwissenschaftlichen Diskursforschung eben keine einheitliche Bestimmung von Praktiken und deren Relation zum Diskursiven. Vielmehr deuten die verschiedenen diskursanalytischen Ansätze mit der Zuhilfenahme diverser konzeptioneller Ergänzungen diese Beziehung recht unterschiedlich aus. Im Folgenden sollen verschiedene solcher Ausdeutungen skizziert werden (vgl. Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015).

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Kritische Diskursanalyse und Wissenssoziologische Diskursanalyse In der Kritischen Diskursanalyse, wie sie im deutschsprachigen Kontext etwa von Siegfried Jäger vertreten wird, werden diskursive von nicht-diskursiven Praktiken getrennt (vgl. Jäger 2001). Während erstere als „Sprechen und Denken auf der Grundlage von Wissen“ definiert werden, markieren letztere das nichtsprachliche „Handeln auf der Grundlage von Wissen“ (ebd.: 82). Wissen wiederum wird als Bewusstseinsinhalt, mit dem Menschen die umgebende Wirklichkeit deuten, konzipiert (vgl. ebd.: 81). Ein Diskurs, verstanden als ein (zeichenhafter) „Fluss von Wissen“, welcher in „Diskursfragmenten“ (z.B. Medienangeboten) sichtbar wird, ist bei Jäger die zentrale Größe, der die Wirklichkeitskonstruktion sowie „Praxen“ generell determiniert (ebd.). Ontologisch steht hier das Diskursiv-Sprachliche also tendenziell über dem Praktischen. Entsprechend konzipiert Jäger die Diskurs- auch primär als Textanalyse. In der Kritischen Diskursanalyse werden Praktiken folglich als wissensbasierte Vollzugsformen des Diskurses gefasst, die von letzterem tendenziell bestimmt werden. Etwas ausdifferenzierter ist die Praktiken-Typologie der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Reiner Kellers (ausführlich in Keller 2011; vgl. auch Wrana 2012: 188ff.). Einen Diskurs bestimmt er als eine nach „unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen“ (Keller 2011: 234). Davon ausgehend unterscheidet er drei Formen von Praktiken. Zunächst Praktiken der Diskurs(re)produktion, die als „typisch realisierte Kommunikationsmuster […] in einem Diskurszusammenhang“ (ebd.: 228) Bedeutung reglementieren. Darunter sind in erster Linie sprachliche Praktiken (z.B. Schreiben, Predigen), aber auch nicht-sprachliche Praktiken (z.B. symbolische Gesten, Tragen einer spezifischen Kleidung) gefasst (ebd: 258). Eine zweite Form der diskursbezogenen Praktiken sind die sogenannten diskursgenerierten Modellpraktiken. Diese fungieren als Handlungsmuster in bestimmten Praxisfeldern, die den jeweiligen „praktischen Vollzug […] anleiten“ (ebd.: 257). Als Beispiele nennt er die ärztliche Diagnose oder spezifische Hygienepraktiken. Und schließlich die diskursexternen Praktiken3, die alltäglich tradiert werden und „eine von Diskursen unabhängige Ebene der Handlungsvollzüge bilden“ (Keller 2011: 257; z.B. Spazieren, Begrüßen). Keller gesteht ein, dass eine solche Unterscheidung von Praktiken empirisch „nicht leicht zu treffen“ sei und es si3

Diese bezeichnet er deswegen nicht als „nicht-diskursiv“, weil er diesen Begriff bereits für die Unterscheidung von sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken reserviert hat, die allerdings (etwas missverständlich) bei ihm nicht mit der Unterscheidung diskursbezogen und nicht-diskursbezogen zusammenfallen (vgl. Keller: 2011: 256; vgl. auch Wrana 2012: 189).

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cherlich „Mischungsverhältnisse“ (ebd.) gebe, betont aber dennoch den heuristischen Wert seiner Typologie, der eben vor allem darin läge, die Grenzen des Diskurses zur „Eigen-Willigkeit […] im Umgang mit den diskursiven Zumutungen in der Analyse [zu] berücksichtig[en]“ (ebd.). Das analytische Programm Kellers besteht zwar auch primär aus einem textanalytischen Vorgehen, doch regt er an, ethnographische Verfahren in einer „korrigierende[n] Position“ einzusetzen, nicht zuletzt um die Diskursanalyse für die (sprachlich wie nichtsprachliche) „Rezeption/Aneignung/Auseinandersetzung mit Diskursen in gesellschaftlichen Praxisfeldern“ (ebd.: 261) zu sensibilisieren und dabei die gerade angesprochene „Eigenwilligkeit“ im Alltag berücksichtigen zu können (s. dazu Kap. 19: Winkler/Tijé-Dra/Baumann 2020).

Strukturalistische Diskursanalyse Während Keller in der Differenzierung verschiedener Praktikentypen und seiner Anregung einer „Ethnographie des Diskurses“ ein Ergänzungsangebot für diskursanalytisches Vorgehen sieht, versucht Rainer Diaz-Bone (2010), die Praxeologie Bourdieus diskurstheoretisch zu erweitern. Wie im vorherigen Punkt bereits skizziert, unterscheidet Bourdieu eine Ebene der Sozialstruktur und eine Ebene des Lebensstils, zwischen denen der Habitus vermittelt. Diaz-Bone argumentiert nun, dass der Habitus und somit die Praxis nicht ausschließlich auf den (materiellen) Bereich der Sozialstruktur zurückführbar sei, sondern auch durch das Diskursive, durch kulturelle Wissensordnungen, beeinflusst werde.4 Als eine dritte Ebene führt er deshalb den sogenannten Raum des (Inter-)Diskurses ein (Diaz-Bone 2010: 117ff.). „Lebensstile bewirken“, so Diaz-Bone, „eine Nachfrage nach Semantiken“ (ebd.: 133). Diskurse „befriedigen“ diese Nachfrage, stiften Sinn und „lenken Lebensstile in dauerhafte Bahnen“ (ebd.: 134). In seiner strukturalistischen Diskursanalyse fokussiert er sich nun auf eben jene kulturellen Wissensordnungen spezifischer Milieus und arbeitet durch eine Analyse von Special-Interest-Zeitschriften jeweils zentrale Semantiken des Heavy-Metal- und des Techno-Diskurses heraus.

4

Diaz-Bone attestiert zwar, dass Bourdieu das Diskursive durchaus mitdenkt, aber in Form eines „schwachen Diskurskonzeptes“ (Diaz-Bone 2010: 69f.). Seine Arbeit begreift er so gesehen als eine „diskurstheoretische Radikalisierung“ (ebd.: 70) der Praxeologie Bourdieus.

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Poststrukturalistische Diskursanalyse Einen dezidiert poststrukturalistischen Zugang zu diskursiven Praktiken wählt bspw. Daniel Wrana (vgl. 2012; u.a. auch Wrana/Langer 2007). Ihm geht es im Gegensatz zu bzw. stärker als bei den bereits skizzierten Konzeptionen darum, das Diskursive als Praktiken bzw. Ensembles von Praktiken zu bestimmen. Die eingangs zitierte Aussage Foucaults heißt für ihn „nicht, anzunehmen, dass Diskurse von Praktiken reproduziert werden, sondern dass Diskurse Praktiken sind“ (Wrana 2012: 191; Herv. i.O.). Diskurse sind keine den Praktiken übergeordnete oder sie determinierende Strukturen, sondern selbst ein Ensemble von zueinander in Beziehung stehenden Praktiken, die zugleich überindividuellregelhaft wie situativ sind. Wrana argumentiert hierbei mit dem Begriff des Schemas, den er Bourdieus Praxeologie entlehnt. Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata konstituieren sich in Praxiskontexten und bilden so gleichsam die inkorporierte Grundlage für Praktiken. Diese Schemata bilden den Sammelbegriff für das in diskursiven Praktiken operative, explizite und implizite Wissen, welches stets an Prozessen der Bedeutungsherstellung mitwirkt. Im Gegensatz zu Bourdieu sieht Wrana die Schemata allerdings nicht unbedingt an Klassensozialisation gebunden, sondern geht von einer größeren Offenheit in „[p]ostmodernen Gesellschaften mit komplexen Wissensfeldern und -ordnungen“ (ebd.: 195) aus. Seine poststrukturalistische Ausrichtung unterstreicht er durch die Bezugnahme auf das von Jacques Derrida sowie Judith Butler geprägte Konzept der Iteration. Praktiken werden durch Zitation wiederholt und so überindividuell bzw. regelhaft. In diesem Sinne stellen sie Diskurse dar. Allerdings erfolgen die Zitationsprozesse nie vollständig „eins zu eins“, sondern je nach Situation unterschiedlich. Inwiefern diese Zitationsprozesse vollzogen werden, ist nun eine Frage der konkreten diskursanalytischen, empirischen Forschung, die sich, so Wrana, auf die unterschiedlichsten Materialsorten von Medientexten über Interview-Transkripte hin zu Beobachtungsprotokollen beziehen kann – eben weil das Diskursive sich in allen Praxisfeldern verschiedentlich vollzieht (vgl. auch Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015). Aus einer poststrukturalistischen, diskurstheoretischen Perspektive können Praktiken damit als Modi der Reproduktion des Diskursiven verstanden werden. Die Aufmerksamkeit der Analyse liegt auf der Frage, wie Diskurse als Praktiken operieren, sich in praktische Vollzugskontexte einschreiben und gleichzeitig innerhalb letzterer auch Verschiebungen und Brüche erfahren können.

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Entwicklungen in der humangeographischen Diskursforschung Blicken wir nun auf die humangeographische Diskursforschung. Mit dem cultural bzw. linguistc turn wurden diskursanalytische Konzeptionen zunächst vor allem in der Politischen Geographie und in deren Ausrichtung zu einer Kritischen Geopolitik rezipiert und angewendet (z.B. Wolkersdorfer 2001). Analyseschwerpunkt hierbei ist vor allem die Dekonstruktion räumlicher Repräsentationen (geopolitischer Leitbilder). Dabei fungiert das diskursanalytische Vorgehen z.T. als Ergänzung einer akteurs- bzw. handlungsorientierten Sozialgeographie. Ein Diskurs ist demnach, ähnlich zum Konzept Jägers (2001), eine handlungsleitende symbolische Ordnung, die primär durch sprachliche Handlungen vollzogen wird. Gerade in der letzten Dekade wurden derartige handlungstheoretische Konzeptionen von stärker poststrukturalistischen Ansätzen ergänzt, die von einem anderen, erweiterten Diskursbegriff ausgehen und gerade auch die Analysekategorie eines primär intentional handelnden Akteures problematisieren. Mit Georg Glasze und Annika Mattissek (s. dazu Kap. 1: Glasze/Mattissek 2020b: 13) lassen sich Diskurse begreifen als „überindividuelle Muster des Denkens, Sprechens, Sich-selbst-Begreifens und Handelns sowie [als] Prozesse, in denen bestimmte Vorstellungen und Handlungslogiken hergestellt und immer wieder verändert werden“. Diskurse sind so gesehen also weder auf eine sprachliche oder zeichenhafte Ebene beschränkt noch sind sie jenseits – sondern als – Praxis zu denken. Bei der methodischen Operationalisierung dominieren allerdings häufig textorientierte Zugänge, mit denen hegemoniale Ordnungen herausgearbeitet werden. Im Zuge der practice/performative/material turns entstanden in der jüngeren Vergangenheit Vorschläge für ein stärkeres Mitdenken der konkreten, materiellen und praktischen Situierung des Diskurses. In der non- oder more-thanrepresentational geography wird dabei die Bedeutung symbolischer Repräsentationen nicht in Zweifel gezogen – „representation matters“, so Ben Anderson und Paul Harrison (2010: 6) in einem entsprechenden Einleitungsartikel. Vielmehr wird aber betont, dass Repräsentation und Praxis, Symbole und Alltagsleben eben untrennbar miteinander verknüpft seien: „they [nicht-repräsentionale Ansätze, Anm. d. Verf.] share an approach to meaning and value as thought-inaction“ (ebd.). In eine solche Richtung gehen etwa Wucherpfennig und Strüver (2014), die die Arbeiten Foucaults mit Ideen Butlers performativitätstheoretisch interpretieren (s. auch Kap. 11: Strüver/Wucherpfennig 2020). Martin Müller (2008, 2009) mahnt in prüfender Auseinandersetzung mit der Kritischen Geopolitik an, dass sich diese bislang zu sehr auf die Dekonst-

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ruktion „großer“ Zusammenhänge konzentriert habe und das „Kleine“ außer Acht lassen würde (vgl. Müller 2008). Diskurstheoretische Überlegungen mit bildungssoziologischen Konzepten Bourdieus kombinierend, legt er den – gerade auch ethnographischen – Fokus darauf, wie great power identities im Mikrokontext einer russischen Diplomatenhochschule inkorporiert und performativ werden. Eine theoretische wie methodologische Erkundung von „Geographien zwischen Diskurs und Praxis“ unternehmen Baumann, Tijé-Dra und Winkler (2015). Ausgehend von Überlegungen Wittgensteins zum Sprachspiel und Regelfolgen arbeiten sie die ontologischen Gemeinsamkeiten der Diskurstheorie Laclaus und Mouffes und der Praxistheorie Schatzkis heraus, verweisen dabei aber auf graduell verschiedene Erkenntnisinteressen, die sich gerade in der unterschiedlichen empirischen Ausrichtung entsprechender Studien manifestieren. Sie schlagen eine integrative Perspektive vor, die das diskurstheoretische Konzept des „leeren Signifikanten“ stärker in einer (alltags-)praktischen, situativen Dimension betrachtet.

Zusammenfassung: Verschiedene Praktikenbegriffe In der Diskursforschung gehört der Praktikenbegriff zum festen Bestandteil, wird allerdings recht unterschiedlich konzipiert. In einer sprachorientierten Ausrichtung meint der Terminus „diskursive Praktiken“ vor allem das Sprechen oder die Zeichenproduktion. Die Welt des Diskurses ist dabei primär die der Zeichen, welche die „nicht-diskursive“ Welt beeinflusst. Die linguistische Rezeption der Foucault’schen Überlegungen wird aber immer stärker durch explizit sozialwissenschaftliche, über die Sprache hinausgehende Konzepte (u.a. Bourdieu, Wissenssoziologie, Schatzki, Butler) ergänzt. Die Welt des Diskurses endet dabei nicht zwangsläufig an der Grenze zwischen Sprache und NichtSprache, sie ist eine Welt von konkreten, in Beziehung stehenden Praktiken sowohl sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Art. Gerade die poststrukturalistische Diskursforschung infolge von Laclau und Mouffe vertritt auf konzeptioneller Ebene einen solchen weiten Diskurs(-als-Praxis)-Begriff und steht daher nicht quer zum Ruf nach einem practice turn oder einer more-thanrepresentational geography. Die generell zunehmende Sensibilität für Praktiken muss daher nicht als ein Paradigma gesehen werden, das in kategorialer Differenz zur Diskursforschung steht, sondern kann als Angebot betrachtet werden, welches diskursanalytisches Arbeiten sensibilisieren kann. Im Folgenden sollen solche Sensibilisierungsdimensionen skizziert werden.

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Sensibilisierungen Wichtige Spielarten der Praxistheorie wie auch der Diskurstheorie sind poststrukturalistisch angelegt. Gesellschaftliche Verhältnisse sind demnach nicht kausal auf eine praxis- bzw. diskursexterne Größe zurückzuführen, sondern ereignen sich in der Praxis bzw. im Diskurs. Dabei wird durchaus in Strukturen gedacht, allerdings in einem offenen, prozesshaften Sinn. Praxis und Diskurs stehen jeweils in einem Status zwischen Stabilität und Instabilität, zwischen fester Struktur und flüssiger Transformation. Theorien der Praxis fokussieren stärker die materielle Dimension sozialer Prozesse und verweisen darauf, dass sich die Logik der Praxis nur adäquat in ihren situierten Vollzügen rekonstruieren ließe. Es geht also stärker um eine kontextsensible Mikroanalyse der Sprachspiele und des Regelfolgens im Sinne Wittgensteins.5 Diskurstheorien interessieren sich dagegen vor allem dafür, wie die prinzipielle Offenheit des Sozialen geschlossen wird und sich entsprechende, partiell und temporär fixierte Strukturen als Regelmäßigkeiten herausbilden bzw. miteinander konkurrieren. Eine wesentliche diskursanalytische Frage lautet: Was ist in einer bestimmten historischen Situation in Bezug auf einen Gegenstand überhaupt möglich zu sagen und zu tun? Dieses Ansinnen lässt sich auch als eine historisch sensible, machtkritische Sprachspielanalyse bezeichnen. Nicht zuletzt aufgrund des historischen Anspruchs liegt das Augenmerk vor allem auf einer textorientierten Methodologie, die diskursive Verschiebungen häufig auf einer vergleichsweise größeren Maßstabsebene analysiert. Dass das Diskursive aber „irreduzibel auf das Sprechen [parole] und die Sprache [langue] ist“ (s.o.), zeigt sich etwa bei Foucault, dem es in seinen Studien ja gerade um eine kritische Auseinandersetzung mit der historischen Genese bestimmter Praktiken geht, seien es medizinische und psychiatrische Praktiken, Praktiken des Überwachens und Strafens oder Praktiken/Technologien des Selbst. Beide Strömungen profitieren voneinander. In der praxistheoretischen Konzentration auf die Erfassung des Vollzugs von Tätigkeiten liegt etwa die Gefahr eines „selbstgenügsamen Situationalismus“ (Schmidt 2012: 230; vgl. Hillebrandt 2014: 110), also eines Vorgehens, welches sich in der Deskription einzel5

Hierbei ist allerdings das Missverständnis auszuschließen, dass Theorien der Praxis ausschließlich auf einer „Mikro-Ebene“ ansetzen und „größere“ Phänomene ausschließen würden (vgl. dazu etwa die praktikentheoretische Analyse Lahr-Kurtens [2012] zu binationalen Sprachpolitiken oder Everts [2016] Auseinandersetzung mit „Practice theory and large phenomena“; vgl. auch: Schäfer/Everts 2019).

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ner Situationen erschöpft. Diskurstheoretische Konzepte sensibilisieren dafür, dass solche Situationen nicht ahistorisch zu denken sind, sondern immer in Relation zu historisch wandelbaren diskursiven Formationen stehen, die bestimmte Praktiken wahrscheinlich machen und andere ausschließen. 6 Theorien der Praxis sensibilisieren beim Durchführen diskursanalytischer Studien dafür, dass sich die Konstitution von Bedeutung, um die Terminologie Laclaus und Mouffes zu verwenden, durch die Artikulation sprachlicher und nichtsprachlicher Momente vollzieht und dass bodily sayings und doings durchaus in den diskursanalytischen Blick eingehen können. Über den in diskursanalytischen Arbeiten vorhandenen (aber selten genauer definierten) Praktikenbegriff lassen sich so auch deutliche Anschlussstellen zu dem in den letzten Jahren vielbeschworenen material turn in der Geographie herstellen (s. Kap. 13: Wiertz 2020; vgl. Kazig/Weichhart 2009 sowie kritisch Belina 2014). Ferner sensibilisieren praxistheoretische Konzeptionen dafür, dass sich die Wandelbarkeit oder die Instabilität diskursiver Praxis(-formationen) nicht nur sprachlich und in maßstabsgrößeren Dimensionen ereignet und beobachten lässt (z.B. diskursive Verschiebungen über Dekaden hinweg), sondern dass sich diskursive Praktiken mit differierendem Kontext auch „im Kleinen“ (graduell) verändern und brechen können, dass „der Diskurs“ eben nicht etwas jenseits körperlicher Tätigkeiten ist, sondern sich in diesen beständig (neu) artikuliert. Auch wenn die generelle Befruchtung praxis- und diskurstheoretischer Überlegungen aus genannten Gründen begrüßenswert ist, sei abschließend eine gewisse „Warnung“ ausgesprochen: Empirische Einzelstudien, die sich diskursive Praktiken in sprachlicher und nicht-sprachlicher Dimension, in spezifischen situativen Kontexten und über-situativen Strukturen in deren historischer Gewordenheit anzusehen versuchen, können Gefahr laufen – als eine Art „eierlegende Wollmilchsau“ –, einen allzu holistischen Anspruch einlösen zu wollen, der auf Kosten einer fokussierten wissenschaftlichen Fragestellung und deren Beantwortung geht. Eine Fokussierung bei diskursanalytischen Einzelstudien auf textuelle Analysegegenstände, die z.B. mit sprachanalytischen Verfahren bearbeitet werden, muss daher nicht unbedingt pauschal als „Textualismus“ kritisiert werden, welcher etwa „Macht, Subjekt und Interaktion […] nur noch sprachlich-diskursiv 6

In eine solche Richtung scheint z.B. auch Hillebrandt (2014: 110f.; ebenso Reckwitz 2008) zu gehen, wenn er als Ergänzung der Begriffe „Praktik“/„Praxis“ den Terminus „Praxisformationen“ einführt, verstanden als historisch etablierte, überindividuelle Versammlungen von Praktiken. Der Vorwurf eines „selbstgenügsamen Situationalismus“ kann historisch-materialistischen Theorien der Praxis nicht attestiert werden.

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vermittelt konzipiert“ (s. Zitat in Einleitung). Es ist nicht zuletzt das Resultat einer wissenschaftlichen Konzentration auf einen durchaus wichtigen Teil der „Welterfahrung“, welche sich mit anderen Einzelstudien, die z.B. mit ethnographischen Methoden stärker auf die Körperlichkeit und Situiertheit eines bestimmten Phänomens eingehen, wechselseitig ergänzen kann. Anschlussstellen für derlei Ergänzungen, das hat dieser Beitrag verdeutlicht, gibt es genug.

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Einleitung Gibt es eine Welt jenseits des Diskurses? Lassen sich gesellschaftliche Phänomene allein durch Sprache erfassen und erklären? Welche Bedeutung haben technische Geräte, chemische, biologische oder physikalische Prozesse in der Diskursforschung? Und worum geht es, wenn einige Autor*innen die Materialität des Diskurses betonen, während andere einen Neuen Materialismus bewerben, der mit dem Primat des Symbolischen brechen soll? Kaum ein*e Diskurforscher*in wird sich diesen Fragen im Laufe seiner*ihrer Arbeit entziehen können. Und auch erfahrenen Forscherinnen und Forschern fällt es mitunter nicht leicht, präzise und einfach verständliche Antworten zu formulieren: Zu vielschichtig und heterogen sind Diskurs- und Wirklichkeitsbegriffe in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. Auch in den Aufsätzen dieses Handbuchs paust sich keine einheitliche Position zu diesen Fragen durch. Vielmehr wird in der Vielfalt der Perspektiven zweierlei deutlich: Erstens hängt die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Diskurs, Sprache und Materialität von den diskurstheoretischen Bezugspunkten und empirischen Interessen ab. Sie wird jeweils anders ausfallen, wenn es um Körper und Performativität geht, um die Gouvernementalität städtischer Räume, die Konstruktion der Natur oder hegemoniale Interpretationen in gesellschaftlichen Konflikten. Und dennoch zeigt sich zweitens, dass die verwendeten Diskurskonzepte vielfach über ein Verständnis von Diskurs als rein sprachliches Phänomen hinausreichen. So lenkt die Gouvernementalitätsforschung die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Wissensproduktion und Regierungstechniken in unterschiedlichen, „materiellen“ Gegenstandsbereichen (vgl. Kap. 3: Füller/Marquardt 2021), Anke Strüver und Claudia Wucherpfennig (2021) plädieren in Kapitel 11 für einen erweiterten und „re-materialisierten“ Zeichenbegriff, und Kapitel 10 von Judith

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Miggelbrink und Antje Schlottmann (2021) verdeutlicht, dass „Visualität“ eine wesentliche Rolle für die Produktion von Sinn und Bedeutung spielt. Trotz dieser Grenzbewegungen hält sich die Kritik, die Diskursforschung würde Kultur und Gesellschaft unzulässig auf den Bereich des sprachlichsymbolischen verengen. Das Bedürfnis, dem linguistic turn und cultural turn einen „materialist return“ (vgl. Whatmore 2006) folgen zu lassen, scheint groß, nicht zuletzt in einem Fach wie der Geographie, die das Verhältnis von Gesellschaft, Raum und Umwelt zum Kern ihrer Arbeit zählt. Seit etwa den 1990er Jahren haben sich unterschiedliche sozialwissenschaftliche Strömungen entwickelt, die für eine stärkere Berücksichtigung materieller Facetten in der Betrachtung von Raum und Gesellschaft eintreten (vgl. Anderson et al. 2012). Vor diesem Hintergrund verfolgt dieses Kapitel zwei Ziele: Zum einen wird es einige der zentralen Prämissen und Argumente diskutieren, die die Kontroverse um das Verhältnis von Diskurs, Sprache und Materialität prägen. Zum anderen soll es Perspektiven aufzeigen, die im Schnittbereich von Diskursforschung und Ansätzen eines „Neuen Materialismus“ entstehen. So können Ansätze des Neuen Materialismus bspw. helfen, die in unterschiedlichen Diskurstheorien angelegten Bezüge zur Materialität von Gesellschaft weiterzuentwickeln und die Dynamik und Wirkmächtigkeit materieller Prozesse innerhalb diskursiver Ordnungen herauszuarbeiten. Diese Themen bilden ein Diskussionsfeld, mit dem sich ohne Weiteres nicht unbedingt eine ganze Bibliothek, aber doch das ein oder andere Bücherregal füllen ließe. Zudem sind viele Ideen Gegenstand aktueller theoretischer wie empirischer Diskussionen in unterschiedlichen Bereichen der Sozial- und Kulturwissenschaften und reichen gleichermaßen weit in die philosophische Ideengeschichte zurück. Einer umfassenden Darstellung sind an dieser Stelle also Grenzen gesetzt – sowohl was den Umfang dieses Kapitels als auch meine eigenen Kenntnisse der facettenreichen Diskussionsstränge betrifft. Ich werde daher beispielhafte Gedanken und Argumente skizzieren, deren Auswahl durch meine akademische Verortung in der Politischen Geographie, GesellschaftUmwelt-Forschung und science and technology studies geprägt ist und die dazu anregen sollen, dem Verhältnis von Materialität und Diskurs theoretische und empirische Aufmerksamkeit zu schenken. Mit diesem Ziel im Blick wird der folgende Abschnitt zunächst anhand einzelner Beispiele diskutieren, wie sich poststrukturalistische Diskurstheorien auf Materialität sowie eine außerdiskursive Wirklichkeit beziehen. Im Anschluss werden einige zentrale Argumente aus Ansätzen des Neuen Materialismus eingeführt. Der vierte Abschnitt illustriert den Zusammenhang von Diskurs und Materialität an einigen Beispielen aus der geographischen Forschung. Das Fazit fasst die zentralen Argumente

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zusammen und plädiert für einen stärkeren Fokus auf die Komplexität und Hybridität der Kontexte, in denen Sprechen stattfindet und Sprache ihre Wirksamkeit entfaltet.

Diskurs, Materialität und „die Welt da draussen“ Ansätze aus der poststrukturalistischen Diskursforschung betonen das enge Verhältnis von Wissen und Macht und verweisen darauf, dass die Wirklichkeit, in der „wir“ leben, nicht das Resultat natürlicher Gesetzmäßigkeiten ist (s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021a). Zwar existieren durchaus stabile gesellschaftliche Zustände und Regelhaftigkeiten im menschlichen Denken und Handeln, doch diese sind weder auf eine universelle Natur des Menschen zurückzuführen noch auf äußere natürliche oder materielle Einflüsse. Wie „wir“ die Welt wahrnehmen und unterteilen, welche sozialen Hierarchien wir akzeptieren, wie wir Eigenes und Fremdes unterscheiden und wo wir Grenzen ziehen, ist das Ergebnis sozialer Konstruktionen, d.h. abhängig davon, wie Wirklichkeit dargestellt, gedeutet und bewertet wird. Die Diskursforschung hebt hervor, dass hierfür Sprache und, allgemeiner, Praktiken der Bedeutungsherstellung zentral sind. Wichtige theoretische Bezugspunkte sind dabei der erkenntnistheoretische Konstruktivismus (Wahrnehmung ist kein Abbild einer von Beobachter*innen unabhängigen Welt), der sprachwissenschaftliche Strukturalismus und Poststrukturalismus (Bedeutung ergibt sich aus der Beziehung von Zeichen bzw. Aussagen) sowie die Sprechakttheorie (Sprechen ist „performativ“ insofern es die Wirklichkeit, in der und über die gesprochen wird, verändert). Auch wenn der Begriff „Diskurs“ vielschichtig ist und kaum einheitlich verwendet wird, lassen sich also zwei wesentliche Charakteristika herausstellen, die vielen Ansätzen der Diskursforschung gemein sind: Erstens umfasst ein Diskurs Praktiken, durch die gesellschaftliche bzw. kulturelle Vorstellungen von Wirklichkeit entstehen. Sprache ist hierfür vielfach wichtig, aber auch andere Praktiken sind für die Herstellung von Wissen und Bedeutung relevant. Zweitens sind diese Praktiken nicht nur konstitutiv für unsere Vorstellung von Wirklichkeit und gesellschaftlicher Ordnung, sondern ebenso für die Art und Weise, wie wir diese gestalten und verändern. Unser Bild der Welt ist maßgeblich dafür, welche Handlungen wir akzeptieren oder sanktionieren, wie wir Wohlstand und Ressourcen verteilen oder darüber entscheiden, wer an welchem Ort leben darf. Vielfach haben sprachliche Artikulationen zudem ganz reale und materielle Konsequenzen: Ein richterlicher Urteilsspruch, die Ankündigung einer Leit-

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zinserhöhung durch die Europäische Zentralbank oder ein negativer Asylbescheid sind eindrückliche Beispiele dafür. Folgt daraus, dass Diskursforschung Gesellschaft vor allem auf Sprache reduziert und die Existenz einer außersprachlichen Wirklichkeit negiert? Umgekehrt gefragt, welchen Stellenwert können „materielle“ Gegenstände und Prozesse in diskurstheoretischer Betrachtung beanspruchen? Ein kursorischer Blick auf drei Perspektiven aus der Diskursforschung kann helfen, Antworten auf diese Fragen zu formulieren. In der Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe besteht ein Diskurs aus „Artikulationen“, d.h. Praktiken, durch die eine gesellschaftlich bedeutsame Wirklichkeit entsteht (vgl. Laclau/Mouffe 1985; s. auch Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021b). Artikulationen können, müssen aber nicht sprachlich sein, und sie beziehen auch materielle Aspekte der Welt mit ein. Ein Diskurs ist hier also als eine Art Netz zu verstehen, in dem unterschiedliche Elemente der Welt – materielle wie nicht-materielle – zu einem sinnvollen Ganzen verknüpft sind. Insofern sind auch nicht-sprachliche Gegenstände oder Phänomene Teil eines Diskurses. Für die Diskursanalyse folgt dennoch, dass sie sich vor allem auf die Logiken der Sinnproduktion konzentriert, denn materielle Aspekte der Welt treten erst als Teil oder Gegenstand einer Artikulation gesellschaftlich in Erscheinung. So kann man zwar von einem Klimawandel sprechen, doch lässt sich das physikalische Phänomen nicht von den gesellschaftlichen Debatten und Wertvorstellungen isolieren, mit denen es verknüpft ist. Eine Wirklichkeit außerhalb des Diskurses mag also existieren, doch ist es nicht möglich, etwas über sie auszusagen, ohne dass sie im selben Moment Gegenstand diskursiver Ordnungsprinzipien und Machtverhältnisse wird. Daraus folgt, dass sich prinzipiell alle Dinge von gesellschaftlichem Belang – auch Natur, Naturwissenschaft oder Technik – unter dem Blickwinkel ihrer diskursiven Konstruktion betrachten lassen. Undeutlich bleibt dabei, ob und inwiefern die Funktionsweise materieller Prozesse oder technischer Arrangements selbst einen Einfluss auf den Diskurs haben kann und wie sich dieser untersuchen ließe. Arbeiten von Slavoj Žižek (2000) und Yannis Stavrakakis (2000) orientieren sich an den psychoanalytischen Theorien Jacques Lacans und entwerfen ein Diskurskonzept, das sich expliziter als jenes von Laclau und Mouffe mit der Frage einer materiellen Realität befasst. So wie die Psychoanalyse Triebkräfte postuliert, derer sich das Individuum nicht bewusst ist, so geht diese Diskurstheorie davon aus, dass es etwas Reales gibt, das im Sozialen wirkt, jedoch nicht vollständig verstanden bzw. symbolisiert werden kann. In den Vordergrund der Betrachtung treten dann Dislokationen, d.h. Momente, in denen eine Diskrepanz zwischen einer bestehenden Deutungsweise und dem Realen offenbar

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wird. Das Reale kann dabei auch Aspekte einer materiellen Wirklichkeit umfassen, wie bspw. einen Körper, insofern er sich einem vollständigen Verständnis und einer vollständigen Kontrolle entzieht (vgl. Rickert 2007: 46). Stavrakakis (2000) wendet eine solche Perspektive auf Umwelt und Natur an: Zu allen Zeiten gab und gibt es gesellschaftliche Vorstellungen von Natur, die diese jedoch nie vollständig verstehen oder erklären können. Unerwartete Ereignisse oder Prozesse treten dann als Dislokationen in Erscheinung und stellen bestehende Vorstellungen infrage. Dementsprechend ist für Stavrakakis die Entstehung Grüner Bewegungen und Grüner Parteien zum Ende des 20. Jahrhunderts auch darauf zurückzuführen, dass eine Diskrepanz zwischen dem Paradigma grenzenlosen ökonomischen Wachstums einerseits sowie ökologischen Krisen andererseits offenbar wird (s. Stavrakakis 2000: 110). Diese Dislokation öffnet den Raum für politisch-diskursive Aushandlungsprozesse: Denn das Wissen über eine ökologische Krise allein sagt noch nichts darüber aus, ob das alte Paradigma verworfen und bspw. durch das Konzept einer Postwachstumsgesellschaft ersetzt wird oder ob die Beschwörung Grünen Wachstums und einer ökologischen Modernisierung das alte Paradigma zu retten vermögen. Eine dritte Perspektive auf das Verhältnis von Materialität und Diskurs findet sich in Judith Butlers Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Diskursen und Körpern (Butler 1990, 1993). Viele gesellschaftliche Debatten und frühe feministische Arbeiten betonen die Unterscheidung zwischen einem biologischen Geschlecht (sex) und einer gesellschaftlichen Geschlechtsidentität (gender). In dieser Sichtweise erscheinen Natur und Biologie also zunächst als wertneutrale oder unpolitische Beschreibungen, auf die sich nachträgliche gesellschaftliche Diskurse, d.h. Wertvorstellungen und Machtverhältnisse, einschreiben. Butler kritisiert diese Sichtweise und zeigt auf, dass eine klare Trennung unmöglich ist. Denn auch der Diskurs über das biologische Geschlecht ist von gesellschaftlichen Normvorstellungen der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität durchzogen. Dies zeigt sich bspw. im Umgang mit Subjekten bzw. Körpern, die sich nicht in das Schema „biologisch männlich/weiblich“ fügen. Vor diesem Hintergrund kritisiert Butler das theoretische Konstrukt einer wertfreien, außer- oder vordiskursiven Materie. Sie führt stattdessen den Begriff der „Materialisierung“ ein, womit sie jene Prozesse und Praktiken bezeichnet, durch die Körper innerhalb eines gesellschaftlichen Feldes identifiziert und reguliert werden. Butler betont in diesem Zusammenhang, dass der Begriff der „sozialen Konstruktion“ irreführend ist und dass der Diskurs keineswegs allein die Entstehung von Körpern bestimmt. Ihr Begriff der Materialisierung ist insofern auch als theoretisch-begriffliche Annäherung an Kritiker*innen zu sehen, die ihr einen sprachlich-symbolischen Reduktionismus

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vorwerfen. Doch trotz dieser Annäherung in ihrem Buch „Bodies that matter“ (1993) lässt Butler offen, wie die Materialität von Körpern eine Untersuchung von Gesellschaft und Identität bereichern könnte, und beschränkt sich in ihrer Diskussion weitgehend auf die Normen und Machtverhältnisse, die das Auftreten von (materiellen) Körpern in einem gesellschaftlichen Feld ermöglichen und regulieren. Diese Beispiele decken natürlich nur einen kleinen Ausschnitt diskurstheoretischer Betrachtungen ab. Doch sie verdeutlichen ein häufiges Charakteristikum diskurstheoretischer Auseinandersetzungen mit Materialität: Auf der einen Seite finden sich Belege dafür, dass Diskurstheorien Wirklichkeit nicht allein sprachlich-symbolisch begreifen und sich durchaus mit Körpern, Natur oder auch Technik befassen. Und trotzdem bleibt die Betrachtung meist auf der Ebene des Symbolischen und bei der Frage, wie im Diskurs eine (auch materiell verstandene) Wirklichkeit mit Bedeutung versehen und zu einem Teil gesellschaftlicher Machtverhältnisse wird. Diese Verlagerung der Betrachtung ist durchaus strategisch: Es geht darum, gesellschaftliche Verhältnisse aus der Gesellschaft heraus zu erklären und nicht auf vermeintlich „natürliche“ Gesetzmäßigkeiten oder Rahmenbedingungen zurückzuführen, die nicht verhandelbar sind. Indem man auf Sprechen und die Herstellung von Bedeutung abhebt, arbeitet man Möglichkeiten zur Aushandlung und Veränderung heraus. Auf der anderen Seite lässt eine solche Betrachtung offen, wie diskursive Ordnungen und Veränderungen mit materiellen Dingen und Prozessen, ihren Eigenlogiken, Widerständen oder Überraschungen zusammenhängen und interagieren. Insofern auch Ansätze des Neuen Materialismus die historische „Gemachtheit“ und prinzipielle Veränderlichkeit gesellschaftlicher Wirklichkeit betonen, bieten sie eine Möglichkeit, die Debatte in diese Richtung zu öffnen, ohne auf naturdeterministische Erklärungslogiken zurückzufallen.

Neuer Materialismus, neues Material In Diskurstheorien wird argumentiert, dass auch eine materielle Welt erst als Teil von Diskursen gesellschaftlich in Erscheinung treten kann und sich daher vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Konstruktion untersuchen lässt. Befasst man sich mit Ökosystemen, stellt sich aus diskurstheoretischer Perspektive bspw. die Frage, welcher Kategorien sich die Naturwissenschaften bedienen, welche gesellschaftlichen Vorstellungen von Natur daran anknüpfen und was dies für den gesellschaftlichen Umgang mit Natur bedeutet (vgl. Darier 1999; Rutherford 2007). Nichts existiert demnach außerhalb von Diskursen, je-

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denfalls nichts von gesellschaftlicher Bedeutung (vgl. van Dyk et al. 2014: 357). Das ist augenscheinlich plausibel, doch lauert ein Zirkelschluss, denn Diskurs wird ja als Bereich der Bedeutungsproduktion oder Wissensordnungen eingeführt und definiert. Zu behaupten, alles von Bedeutung liegt im Bereich der Bedeutung ist jedoch einfach. Ein gehaltvolles Argument entsteht erst, wenn man „gesellschaftliche Bedeutung“ allgemeiner im Sinne von „Relevanz“ oder „Wirkung“ liest. Nur ist das Argument dann nicht mehr ebenso selbstverständlich, denn es bleibt zu fragen, ob sich gesellschaftliche Phänomene im Diskursiven erschöpfen, d.h. der Blick auf diskursive Verknüpfungen hinreichend für ihre Erklärung ist. An diesem Punkt setzen Ansätze des Neuen Materialismus an. Denn die Diskursforschung weicht der Frage aus, ob und wie materielle Gegenstände und Prozesse innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge wirken können. In ihr erscheinen naturwissenschaftliche Erkenntnisse, physikalische Prozesse, technische Geräte oder körperliches Erleben vorwiegend hinsichtlich ihrer Artikulation und sprachlichen Repräsentation. Wie Karen Barad, eine Vertreterin des Neuen Materialismus, kritisiert: „Language matters. Discourse matters. Culture matters. There is an important sense in which the only thing that does not seem to matter anymore is matter.“ (Barad 2003: 801) Die selbstgestellte Herausforderung des Neuen Materialismus besteht darin, einerseits sensibel gegenüber der Positionalität und den Machteffekten von Wissen zu bleiben und andererseits dem Feld der Erklärungen wieder eine materielle Dimension hinzuzufügen. Alles ist Diskurs – aber eben nicht nur. Donna Haraway fasst diese Herausforderung wie folgt zusammen: „So, I think my problem, and ‚our‘ problem, is how to have simultaneously an account of radical historical contingency for all knowledge claims and knowing subjects, a critical practice for recognizing our own semiotic technologies for making meanings, and a nononsense commitment to faithful accounts of a ‚real‘ world, one that can be partially shared and that is friendly to earthwide projects of finite freedom, adequate material abundance, modest meaning in suffering, and limited happiness.“ (Haraway 1988: 579)

Wichtige Impulse für die Debatte haben Arbeiten aus dem Bereich der science and technology studies gegeben, die zunächst eine der Diskursforschung ähnliche Frage aufwerfen: Wie entsteht eigentlich Wissen? Doch anstatt sich erkenntnistheoretischen Debatten hinzugeben, machten sich in den 1970er und 1980er Jahren verschiedene Autor*innen daran, in ethnographischen Studien zu beobachten, was Wissenschaftler*innen eigentlich tun, um zu dem zu gelangen, was später als Wissen oder Fakt gilt (vgl. Latour/Woolgar 1979; Lynch 1985). Diese

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Arbeiten zeigen auf, dass in der Produktion von Wissen unterschiedliche symbolische Systeme zum Einsatz kommen: Sprache, aber auch Informatik oder Mathematik. Darüber hinaus lenken sie das Augenmerk zusätzlich auf verschiedenste materielle Gegenstände und technische Arrangements. So ist Wissenschaft vielfach das Ergebnis erheblichen materiellen Aufwands (man denke nur an unterirdische Teilchenbeschleuniger oder den Betrieb von Satelliten zur Fernerkundung) und sozialer Interaktionen von Wissenschaftler*innen, die sich über die Deutung einer Messung verständigen, über die Validität von Ergebnissen streiten oder in Interaktion mit Öffentlichkeit und Politik um Interpretationen und Handlungskonsequenzen ringen. Wissen lässt sich also durchaus als „Konstruktion“ begreifen, die aber keineswegs allein sprachlich bestimmt ist, setzt sie doch ein erfolgreiches und stabiles Zusammenwirken verschiedenster menschlicher und nicht-menschlicher Komponenten voraus. Ein „Diskurs“ erscheint dann eher als Zusammenwirken heterogener Komponenten und Logiken, wie Haraway am Beispiel der Biologie verdeutlicht: „Organisms emerge from a discursive process. Biology is a discourse, not the living world itself. But humans are not the only actors in the construction of the entities of any scientific discourse; machines (delegates that can produce surprises) and other partners (not ‚pre- or extra-discursive objects‘, but partners) are active constructors of natural scientific objects.“ (Haraway 1992: 298)

Der wichtige Punkt an dieser Stelle ist nicht, dass es im Diskurs noch etwas Anderes geben kann, denn das erkennen Diskurstheorien ja durchaus an. Wichtig ist vielmehr, dass Materie nicht als passiv begriffen wird (als etwas, das vom Diskurs organisiert wird und dadurch gesellschaftliche Relevanz erlangt), sondern als „Partner“ bzw. „aktiver Konstrukteur“, der an der Herstellung von Wissen und Wirklichkeit beteiligt ist. Dieses Argument lässt sich über die Betrachtung von Wissenschaft hinaus erweitern. Denn Gesellschaft ist durchzogen von Materie – von Körpern, technischen Artefakten, anderen Lebewesen. So lassen sich auch gesellschaftliche Ordnungen als heterogene Verbindungen betrachten, in denen menschliche und nicht-menschliche Komponenten zusammenwirken. Wirtschaft, Arbeit, Gesundheit, Handel, Mobilität, Krieg – kaum ein Bereich des Gesellschaftlichen, an dessen Wandel nicht auch verschiedene technische, biologische oder andere materielle Arrangements und Prozesse beteiligt sind. Ja die Produktion von Bedeutung selbst lässt sich kaum mehr aus Zeichentheorien allein verstehen, denn auch sie verändert sich entlang maschineller Funktionslogiken: Nachrichten werden von Algorithmen sortiert und ausgewertet, social bots in-

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tervenieren in politischen Debatten, 140-Zeichen-Artikulationen zirkulieren in weltumspannenden Follower-Netzen, erhöhen die Reichweite und Geschwindigkeit von Sprechakten und bringen neue Zentren der Meinungsbildung hervor. Versteht man Gesellschaft als Produkt heterogener Verknüpfungen, folgt daraus, dass die Fähigkeit, Wirkung zu entfalten, nicht allein bei Akteuren oder in Sprache und Sprechakten verortet werden kann. Handlungsfähigkeit bzw. agency lässt sich dann besser als eine Eigenschaft von Gefügen, eines agencements (vgl. Deleuze/Guattari 1992) oder „Akteurs-Netzwerks“ (s. Latour 2007) betrachten: Meine Fähigkeit, einen wissenschaftlichen Text zu verfassen und zu verbreiten, ändert sich grundlegend mit den Möglichkeiten computergestützter Textverarbeitung und dem Zugriff auf digitale Literaturdatenbanken. Google Maps verändert unseren Blick auf Städte und unsere räumlichen Handlungsmuster. Ein Reisender, ausgestattet mit Navigationssystem und Übersetzungssoftware in einem fremden Land, ein Soldat, der eine mehrere tausend Kilometer entfernte Drohne steuert, ein Landwirt, dessen Maschinen eigenständig auf der Grundlage großer Datenmengen über Düngungs- oder Bewässerungsmengen entscheiden – Subjekte entstehen und verändern sich als Teil soziomaterieller Arrangements. Man könnte auch grundlegender sagen, dass es nicht allein oder primär die Fähigkeit zur Sprache ist, die Menschen und Gesellschaften auszeichnet, sondern die unauflösliche Verwobenheit in technischmaterielle Zusammenhänge (vgl. Latour 1991). Entlang dieser Überlegungen zu Wissen(-schaft), Technik und Materialität sind mittlerweile eine Vielzahl gesellschaftswissenschaftlicher Theorien und Konzepte entstanden: die Akteur-Netzwerk-Theorie, die sich um eine symmetrische Betrachtung und Beschreibung menschlicher und nicht-menschlicher Verknüpfungen bemüht (vgl. Akrich/Latour 1992; Law 2008); AssemblageTheorien, die im Anschluss an das philosophische Projekt von Gilles Deleuze und Felix Guattari die Komplexität und Prozesshaftigkeit von Gesellschaft betonen (vgl. Anderson et al. 2012; DeLanda 2006); Ansätze, die sich mit der Koproduktion wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnungen befassen (vgl. Jasanoff 2010), oder solche, die den dynamisch-materiellen Aspekt in Michel Foucaults Arbeiten zu Gouvernementalität und Biopolitik herausstreichen (vgl. Lemke 2015; Philo 2012); non-representational theory (vgl. Anderson/Harrison 2010), Agentieller Realismus (s. Barad 2007), thing power (s. Bennett 2010), die Liste ließe sich fortsetzen. Viele dieser Ansätze ähneln sich in ihrer theoretischen Grundhaltung, auch wenn sie in unterschiedlichen akademischen und philosophischen Traditionen verortet sind und je eigene Schwerpunkte setzen. Sie stimmen auch darin überein, dass es ihnen nicht darum geht, Gesellschaft

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als vor allem materiell bestimmt zu betrachten. So wie diskurstheoretische Ansätze betonen sie die „Gemachtheit“ und historische Kontingenz von Wissen und Wirklichkeit. Das ist kein Widerspruch: Denn begreift man Materie als produktiven, teils widerständigen, dynamischen und bisweilen überraschenden Bestandteil gesellschaftlicher Beziehungen, dann erhöht sich die Komplexität und vervielfältigt sich das Material, mit dem sich Gesellschaftsforschung auseinandersetzt. Dies gilt auch für Untersuchungen, die das Verhältnis von Gesellschaft und Raum betreffen.

Diskurs und Materialität in der Forschung In unterschiedlichen Bereichen der Geographie haben Ansätze des Neuen Materialismus neue Akzente gesetzt und Themenfelder erschlossen. Naheliegend ist die Relevanz des Neuen Materialismus für die Gesellschaft-UmweltForschung und bspw. für Debatten um eine Neoliberalisierung von Natur (vgl. McCarthy/Prudham 2004). In Diskussionen um den Klimawandel oder Ökosystemdienstleistungen etwa erscheint Natur vielfach unter dem Aspekt ihres ökonomischen Werts und als handelbares Gut. Diskurstheoretische Arbeiten geben Auskunft darüber, wie eine solche Sichtweise entsteht und wie sie dazu führt, dass Umwelt- und Klimaschutz zunehmend an Prinzipien marktwirtschaftlicher Effizienz ausgerichtet werden. Erweitern lässt sich diese Betrachtung um die Fragen und Gegenstände, mit denen Chemiker*innen, Physiker*innen, Biolog*innen oder Ingenieurwissenschaftler*innen befasst sind. Denn die physischen Eigenschaften, bspw. von Wasser oder Erdgas, gehen mit spezifischen technischen Herausforderungen an Erschließung und Transport einher, die wiederum die Art und Weise beeinflussen, wie sich unterschiedliche Materialien in ökonomische Austauschbeziehungen eingliedern lassen. Karen Bakker (2010) zeigt dies am Beispiel der Privatisierung von Wasser. Ähnlich verhält es sich im internationalen Handel mit Treibhausgasen (vgl. Lovell/ Liverman 2010). Denn natürlich ist ein CO2-Zertifikat zunächst eine diskursive Konstruktion, die einen Handel mit Emissionen ermöglicht, ohne dass dabei tatsächlich Kohlenstoffdioxid vom Verkäufer zum Käufer bewegt wird. Und dennoch ist die Materialität mitbestimmend dafür, an welchen Orten und durch welche Praktiken sich CO2-Zertifikate generieren lassen. Teilnehmen am Markt kann schließlich nur, wem es gelingt, die materiellen Interaktionen von Mensch-Umwelt-Systemen so zu organisieren, dass CO2 nachweisbar, quantifizierbar und nachhaltig der Atmosphäre entzogen wird (vgl. Mattissek/Wiertz 2014).

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An dieser Stelle zeigt sich auch die Bedeutung von Technik und technologischem Wandel. Zum einen sind technische Geräte maßgeblich an der Konstruktion unserer Vorstellungen von Natur beteiligt. So entstehen mit hochauflösenden Satelliten, Klimamodellen oder Elektronenmikroskopen neue Sichtweisen auf ökologische Prozesse. Zum anderen verschieben sich in der Entwicklung neuer technischer Verfahren Ideen und Visionen darüber, wie sich Gesellschaft und Gesellschaft-Natur-Verhältnisse steuern ließen (vgl. Borup et al. 2006; Wiertz 2016). Ein Beispiel sind Entwicklungen der Grünen Gentechnik, die dem Diskurs um die Ernährungssicherheit einer steigenden Weltbevölkerung eine neue Dynamik verleihen. Ein weiteres Beispiel ist die Idee, den Klimawandel durch großräumige Eingriffe in den Strahlungshaushalt zu bremsen (vgl. Crutzen 2006): Ließen sich solche „climate engineering“-Techniken tatsächlich realisieren, dann wäre es möglich, das Weltklima zu verändern, ohne dass sich hierfür eine große Zahl von Staaten und Akteuren auf gemeinsame Ziele und Strategien einigen müssen. Zudem würde es plötzlich möglich werden, ganz andere Klimazustände als einen derzeitigen oder vergangenen anzustreben (vgl. Heyen/Wiertz/Irvine 2015). Leicht lassen sich weitere Beispiele finden: Internationale Kriegsführung verändert sich im Zeitalter von Satelliten und Drohnen (vgl. Gregory 2011), der Markt für Erdgas wandelt sich durch dessen Verflüssigung und Transport als liquefied petroleum gas. Gemein ist all diesen Beispielen, dass sich entlang technischer Veränderungen und Visionen Handlungsfähigkeiten, Wissensordnungen und Machtverhältnisse verschieben. Art und Richtung dieser Veränderungen ist eng an die Arbeit von Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen sowie an die Dynamik und Widerständigkeit einer komplexen materiellen Wirklichkeit geknüpft. Der Neue Materialismus geht auch mit einer veränderten Perspektive auf Subjekte einher, die er als Teil heterogener Verknüpfungen betrachtet. Nicht nur dahingehend, dass Subjekte oder Akteure an technische und andere nichtmenschliche Entitäten gebunden sind. Insbesondere feministische Arbeiten heben auch die Körperlichkeit und die Bedeutung von Affekten für ein Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge hervor (vgl. Schurr/Strüver 2016). Dies hat zum Beispiel Implikationen für das Verständnis von Nationalismus und nationaler Identität: Eine stärker auf Sprache bezogene Perspektive könnte an dieser Stelle hervorheben, wie die Anrufung und Abgrenzung des Eigenen in Literatur, Medien oder alltäglichen Diskussionen erfolgt und wie Gemeinschaft in besonderen Ereignissen, bspw. einer Fußballweltmeisterschaft, symbolisiert und inszeniert wird. Elisabeth Militz und Carolin Schurr (2016) sprechen hingegen von einem „Affektiven Nationalismus“, um die zentrale Rolle von Körpern und Emotionen bzw. Affekten hervorzuheben. Sie arbeiten am Beispiel

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Aserbaidschan heraus, wie alltägliche Interaktionen oder Festivitäten nationale Identität hervorbringen und festigen. Dies geschieht nicht allein durch die Ordnung und den Verweis auf Symbole, sondern insbesondere durch körperlich-affektive Mobilisierungen und Interaktionen: Tänze, Musik, auch einzelne Hand- oder Körperbewegungen werden Teil eines körperlichen Erlebens, das sich zu einem gemeinsamen Gefühl von Nation verdichtet. Nationalismus zeigt sich hier in „machtvollen Momenten affektiver Begegnungen“ (Militz/Schurr 2016: 57), in denen sich Menschen, Orte und Gegenstände im Sinne einer geteilten Identität ausrichten. Umgekehrt provoziert er Befremden und Ausschlüsse gegenüber jenen Subjekten und Körpern, die mit den verbindenden Deutungsmustern und Erfahrungen nicht vertraut sind und sich von den ihnen „fremden“ Ereignissen nicht gleichermaßen beeinflussen oder beeindrucken lassen. Diese kurzen Einblicke verdeutlichen mögliche Verschiebungen in der Perspektive auf gesellschaftliche Raumverhältnisse, wenn man diese entlang eines Neuen Materialismus betrachtet. Sie zeigen, dass es nicht darum geht, Materie als Außen von Kultur und Gesellschaft zu betrachten, sondern als eine von ihr untrennbare Dimension. Wissen und Machtverhältnisse sind durchzogen von körperlichen, biologischen, physikalischen oder technischen Logiken, die mit Logiken der Sinnproduktion, mit gesellschaftlichen Normen, Autoritäten und Wertvorstellungen interagieren. Diskurs und Materie stehen sich also nicht als zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche gegenüber, sondern bilden heterogene Gefüge, wirken miteinander und aufeinander ein und setzen sich wechselseitig voraus.

Fazit Die Diskussionen der vorangehenden Abschnitte zeigen, dass Diskurstheorien sich durchaus differenziert mit der Frage beschäftigen, in welchem Verhältnis Praktiken der Bedeutungsherstellung zu einer physisch-materiellen Wirklichkeit stehen. Andererseits scheint es auch, als würden diese Bezüge in der Forschung nur teilweise aufgegriffen. So kritisieren Vertreter*innen eines Neuen Materialismus, dass Körper, Natur und Technik eher als passive Bezugspunkte in diskursiven Ordnungen erscheinen und ihre Vielfalt, Dynamik und Fähigkeit, gesellschaftliche Änderungen zwar nicht zu determinieren, aber doch zu provozieren, zu wenig berücksichtigt wird. Unterschiede zwischen Ansätzen des Neuen Materialismus und der Diskursforschung bestehen in der erkenntnistheoretischen Positionierung sowie

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im Begriff von Materie und Materialität. Während sich diskurstheoretische Arbeiten meist stärker auf einen erkenntnistheoretischen Konstruktivismus beziehen und auf dieser Grundlage den Fokus auf die sprachlich-symbolischen Bedingungen von Erkenntnis verlagern, verstehen sich Ansätze des Neuen Materialismus in der Regel als realistische Theorien (vgl. Escobar 2007). Das bedeutet nicht, dass Beschreibungen der Welt als objektiv oder universell gelten, sondern lediglich, dass an ihrer Konstruktion nicht allein menschliche Subjekte beteiligt sind, sondern eine Vielzahl von Entitäten, die unterschiedlichen Logiken folgen und ihrerseits einen Beitrag zum Diskurs leisten. Für den Begriff der Materialität folgt daraus, dass Diskurstheorien das Augenmerk eher auf die Frage richten, wie Praktiken der Bedeutungsproduktion das Auftreten von Materie und materiellen Prozessen ordnen und regulieren. Demgegenüber versteht der Neue Materialismus Materie selbst als aktiv, widerständig und dynamisch und hebt hervor, dass an der Konstruktion kultureller und gesellschaftlicher Wirklichkeiten vielfältige heterogene Logiken und Entitäten beteiligt sind. So fordert er eine stärker symmetrische Betrachtung ein, die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen sprachlich-symbolischen und materiellen Logiken erfasst (vgl. Mattissek/Wiertz 2014). Diese Unterschiede stehen einer konstruktiven Auseinandersetzung zwischen Diskurstheorie und Neuem Materialismus jedoch nicht zwingend entgegen. So geht es Vertreter*innen eines Neuen Materialismus nicht darum, zentrale Prämissen der Diskurstheorie hinsichtlich der Positionalität von Wissen und der Kontingenz gesellschaftlicher Wirklichkeit zu verwerfen und Gesellschaft auf natürliche Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Auch sie betonen die historische „Gemachtheit“ von Gesellschaft und Kultur und insistieren, dass Wissen an spezifische Perspektiven, Positionen und Techniken gebunden ist. Zudem begreifen sie „Natur“ oder „Materie“ nicht als ein Außen, sondern als integralen Bestandteil von Gesellschaft. Aus diesen Gemeinsamkeiten ergeben sich Chancen, auch für die Weiterentwicklung der Diskursforschung selbst. So scheinen in Arbeiten zum Neuen Materialismus spannende Themenfelder auf, zu denen die Diskursforschung gerade aufgrund ihrer Sensibilität gegenüber Sprache wertvolle Beiträge leisten kann. Auch in der veränderten Materialität des (digitalisierten) Sprechens selbst öffnet sich ein Feld möglicher Begegnungen unterschiedlicher Ansätze. Arbeiten, die sich auf Ansätze des Neuen Materialismus berufen, greifen zudem vielfach auf ethnographische Methoden zurück. Letztere bieten eine Möglichkeit für Diskursforscher*innen, die Sensibilität gegenüber einer heterogenen Wirklichkeit zu stärken und nuancierte Einblicke in das Wirkungsverhältnis symbolischer und materieller Aspekte der Welt zu geben. Die Herausforderung wäre, Sprache

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und Sprechen noch stärker als bisher in konkreten Situationen zu untersuchen und einen Begriff von Wirkung zu entwickeln, der nicht nur die Performativität der Sprache anerkennt, sondern sensibel gegenüber den vielfältigen Wirkungen und Dynamiken anderer Arrangements bleibt. Lässt sich die Diskursforschung auf eine solche Begegnung mit dem Neuen Materialismus ein, dann könnte dies dazu beitragen, bereits vorhandene Bezüge zur Materialität von Gesellschaft in der Diskursforschung weiterzudenken und, ganz im Wortsinn, mit Leben zu füllen.

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307

D Methoden und empirische Zugänge der raumbezogenen Diskursforschung

Diskurstheoretische Positionierungen betonen den grundlegenden Zusammenhang zwischen der Herstellung gesellschaftlicher Wahrheiten und der Produktion von Machtverhältnissen. Entsprechend sind sie als wissenschaftstheoretische Herangehensweisen auch besonders sensibel für die Frage, welche Konsequenzen die Wahl einer bestimmten theoretischen „Brille“ und die Wahl bestimmter methodischer Verfahren für die Produktion wissenschaftlichen Wissens haben. Aus diskurstheoretischer Perspektive kann es bei der Entscheidung für ein bestimmtes methodisches Vorgehen entsprechend nicht darum gehen, die eine objektive Wahrheit zu „entdecken“. Vielmehr ist das Ziel, mit unterschiedlichen Verfahren und Beobachtungsstrategien und für unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche Regelhaftigkeiten der Produktion von Macht-Wissen-Verhältnissen offenzulegen. Ein Diskussionspunkt in empirischen Diskursforschungen ist häufig, in welchem Maße die Erhebung empirischer Materialien einem strengen methodischen Schema folgen soll – oder nicht. Grundsätzlich lassen sich hier Arbeiten unterscheiden, die diskurstheoretische Konzepte in erster Linie nutzen, um bestimmte empirische Fragestellungen und Interpretationen zu entwickeln, dabei aber unterschiedliche Formen der Empirie und Auswertung recht frei miteinander kombinieren. Eine zweite Form wissenschaftlicher Arbeiten baut hingegen stärker auf methodengeleitete Vorgehensweisen. Ziel ist es dabei, durch ein transparentes Vorgehen bei Datenerhebung und -analyse Interpretationen nachvollziehbar zu machen (vgl. ausführlicher hierzu das abschließende Kapitel 21 von Annika Mattissek und Paul Reuber). Die im Folgenden präsentierten Methodiken sind stärker der letztgenannten Denkweise verpflichtet. Durch sie wird auf unterschiedliche Arten versucht, Antworten auf die Frage zu finden, wie sich die teilweise recht abstrakten und

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Georg Glasze, Annika Mattissek

komplexen Konzepte der Diskurstheorie auf die Untersuchung verschiedener empirischer Materialien übertragen lassen. Die dabei berücksichtigten empirischen Verfahren schließen insofern an die Modi der gesellschaftlichen Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen an, als sie ebenfalls ein Spektrum von stärker sprach- und textbasierten Verfahren bis hin zu visuellen und praxisbezogenen Ansätzen abdecken. Die ersten drei Kapitel bauen auf Methoden der Linguistik auf und diskutieren deren Adaptionen für die raumbezogene Diskursforschung. Kapitel 14 zu Verfahren der lexikometrisch-computerlinguistischen Analyse von Textkorpora von Finn Dammann, Iris Dzudzek, Georg Glasze, Annika Mattissek und Henning Schirmel setzt auf der Ebene textübergreifender Strukturen an. Es zeigt auf, wie mithilfe quantitativ arbeitender Verfahren große Textkorpora auf ihre Gemeinsamkeiten hin und auf die ihnen inhärenten Regeln der Verknüpfung von Wörtern untersucht werden können. Solche auf der Makroebene von Texten ansetzenden Verfahren, die teilweise als distant reading bezeichnet wurden, bieten die Chance, induktiv diskursive Strukturen und deren Veränderungen bspw. im Zeitverlauf herauszuarbeiten, die „von Hand“, d.h. durch interpretierendes Lesen der Forschenden, nicht erfassbar wären. In Ergänzung zu einer solchen Makroperspektive, die große Textmengen in den Analysefokus nimmt, setzen die drei darauffolgenden Beiträge auf der Ebene einzelner Texte bzw. Textsegmente an. Anhand von Konzepten der Argumentationsanalyse zeigt Tilo Felgenhauer in Kapitel 15, wie die impliziten Annahmen und Schlussregeln, die sprachlichem Argumentieren zugrunde liegen, als Ausdruck diskursiver Strukturen interpretiert und analysiert werden können. Annika Mattissek geht in Kapitel 16 der Frage nach, inwiefern Verfahren der Aussagenanalyse eingesetzt werden können, um auf der Mikroebene einzelner Textsegmente Verbindungen zwischen Text und Kontext zu untersuchen und die Präsenz von Brüchen, Widersprüchen und Konflikten im Diskurs herauszuarbeiten. Kapitel 17 zu kodierenden Verfahren von Georg Glasze, Shadia Husseini de Araújo und Jörg Mose entfernt sich etwas weiter von formal-linguistischen Text-Charakteristika und widmet sich der Frage, wie Kodierstrategien, die ursprünglich aus der qualitativen Sozialforschung stammen, für diskurstheoretische Fragestellungen eingesetzt werden können. Dabei zeigen die Autor*innen auf, dass hier vor allem die theoriegeleitete Formulierung von Analysekategorien eine entsprechende konzeptionelle Adaption ermöglicht. Die abschließenden drei Methodenkapitel beschäftigen sich mit Analysestrategien zur Untersuchung nicht-textlicher Materialien: Kapitel 18 von Georg Glasze, Christian Bittner, Boris Michel, Jörg Mose und Anke Strüver nimmt –

Methoden und empirische Zugänge der raumbezogenen Diskursforschung

auf der Basis von Arbeiten der sogenannten Kritischen Kartographie – Karten als traditionelles Kommunikationsmedium der Geographie in den Blick. Dabei wird die Frage diskutiert, wie diskursanalytische Herangehensweisen mit neueren Ansätzen, die auch die Techniken und Praktiken von Kartographie sowie weiterer Geoinformationstechnologien ins Blickfeld nehmen, kombiniert werden können. Kapitel 19 baut konzeptionell auf Beitrag 12 zur Rolle von Praktiken in der diskurstheoretischen Forschung auf. Jan Winkler, Andreas Tijé-Dra und Christoph Baumann zeigen hier, wie ethnographische Methoden eingesetzt werden können, um in einem diskurstheoretisch orientierten Forschungsdesign dezidiert nicht-sprachliche Praktiken ins Blickfeld zu nehmen. Im abschließenden Kapitel 20 stellen Anke Strüver und Katharina Wischmann Fotografie als Methode für eine diskursanalytisch orientierte Auseinandersetzung mit Visualität und Materialität der gestalteten Umwelt in Städten vor.

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14 Verfahren der lexikometrisch-computerlinguistischen Analyse von Textkorpora Finn Dammann, Iris Dzudzek, Georg Glasze, Annika Mattissek, Henning Schirmel

Lexikometrische Verfahren untersuchen die quantitativen Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen in geschlossenen Textkorpora, d.h. in Textkorpora, deren Definition, Zusammenstellung und Abgrenzung klar definiert ist und die nicht im Laufe der Untersuchung verändert werden. Im Rahmen diskursorientierter Ansätze können diese Verfahren genutzt werden, um Rückschlüsse auf diskursive Strukturen und deren Unterschiede zwischen verschiedenen Kontexten wie bspw. Entwicklungen über die Zeit zu ziehen. Ziel lexikometrischer Verfahren in der Diskursforschung ist also, großflächige Strukturen der Sinn- und Bedeutungskonstitution in Textkorpora zu erfassen (allgemein zur Lexikometrie und computerlinguistischen Verfahren1 s. Maingueneau 1991: 48ff.; Fiala 1994; Bonnafous/Tournier 1995; Lebart/Salem/Berry 1998; Marchand 1998; Teubert 2005; Baker 2006; Lemnitzer/Zinsmeister 2006; Scherer 2006; Scholz/Mattissek 2014).2 Die Verfahren der Lexikometrie und der Korpuslinguistik wurden innerhalb der Sprachwissenschaften entwickelt. Ihre konzeptionellen Grundlagen liegen in der de Saussure’schen Linguistik und zumindest teilweise auch in der Radi1

Der Begriff der Lexikometrie ist in der französischsprachigen Wissenschaftslandschaft im Austausch zwischen (post-)strukturalistisch und vielfach explizit diskurstheoretisch orientierten Sprach- sowie Sozialwissenschaften entstanden und wurde von dort auch in die deutschsprachigen Sozialwissenschaften übernommen. Daneben werden in englisch- und deutschsprachigen Publikationen vielfach auch die Begriffe der Computerlinguistik und Korpuslinguistik genutzt – hier allerdings nicht immer mit einem Bezug zu diskurstheoretischen Ansätzen.

2

Grundlegende Informationen zur computergestützten Korpuslinguistik bietet der Internetauftritt des Linguisten Noah Bubenhofer (http://www.bubenhofer.com/korpuslinguistik; 17.03.2019).

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F. Dammann, I. Dzudzek, G. Glasze, A. Mattissek, H. Schirmel

kalisierung der de Saussure’schen Ansätze im Poststrukturalismus sowie den diskurstheoretischen Überlegungen Foucaults. Dabei ermöglichen lexikometrische Verfahren, gerade auch die Unterschiedlichkeit von Verweisstrukturen und damit der Bedeutungen von einzelnen Wörtern und Zeichenverkettungen in unterschiedlichen diskursiven Formationen zu erfassen. Während bei Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse mit der Kategorisierung und Kodierung von Textabschnitten wichtige Teile der Interpretation i.d.R. an den Anfang der Untersuchung gestellt werden (s. Exkurs „Abgrenzung der Lexikometrie von der quantitativen Inhaltsanalyse“), steht bei der Lexikometrie die Herausarbeitung quantitativer Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen innerhalb eines gegebenen Textkorpus im Vordergrund – der Schwerpunkt der Interpretation wird im Forschungsprozess damit tendenziell nach hinten an das Ende des Forschungsprozesses verlagert. Dabei handelt es sich jedoch „nur“ um eine tendenzielle Verlagerung des Schwerpunktes, da die Formulierung der Fragestellung sowie die Zusammenstellung, Definition und Abgrenzung der geschlossenen Korpora immer bereits interpretative Entscheidungen erfordern. Die eigentliche Interpretation der Ergebnisse erfolgt aber erst, nachdem die Ergebnisse der korpuslinguistischen Analysen vorliegen. Innerhalb der mit großen Textkorpora arbeitenden Verfahren lassen sich zwei Herangehensweisen unterscheiden: Als korpusbasiert (corpus based) werden korpuslinguistische Verfahren bezeichnet, bei denen aufgrund von zuvor aufgestellten Hypothesen über sprachliche Verknüpfungen die Verteilung eines im Voraus definierten lexikalischen Elements in einem definierten Teilkorpus (bspw. in einem bestimmten Zeitabschnitt oder in den Texten einer bestimmten Sprecherposition) untersucht wird. Als korpusgesteuert (corpus driven) werden hingegen induktive Verfahren bezeichnet, die ohne im Voraus definierte Suchanfragen auskommen und damit die Chance bieten, auf Strukturen zu stoßen, an die man nicht schon vor der Untersuchung gedacht hat (vgl. Tognini-Bonelli 2001). Ein „corpus driven“-Vorgehen ist daher besonders für explorative Zwecke geeignet, d.h. um einen ersten Überblick über Unterschiede und Gemeinsamkeiten sprachlicher Verweisstrukturen aufzuzeigen (für einen ausführlicheren Vergleich der beiden Verfahren vgl. Scholz/Mattissek 2014). Folgt man der gemeinsamen theoretischen Grundannahme von Strukturalismus und Poststrukturalismus, dass Bedeutung ein Effekt der Beziehung von (lexikalischen) Elementen zu anderen (lexikalischen) Elementen ist, dann können lexikometrische Verfahren herangezogen werden, um diese Beziehungen

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

und damit die Konstitution von Bedeutung herauszuarbeiten.3 Lange Zeit wurden lexikometrische Verfahren allerdings kaum im Rahmen von Forschungsprojekten eingesetzt, die auf eine Operationalisierung von Diskurstheorien – etwa im Anschluss an Michel Foucault oder Ernesto Laclau und Chantal Mouffe – zielen. Wo liegen die Ursachen für diese Zurückhaltung? Paul Baker vermutet, dass lexikometrische Verfahren als quantitative Methoden vielfach in eine Schublade mit Ansätzen gesteckt werden, die in einem naiven Realismus davon ausgehen, dass wissenschaftliche Analysen einfach objektive Fakten messen können (2006: 8). Hinzu kommt, dass lexikometrische Verfahren bis Ende der 1990er Jahre selbst bei diskursanalytisch arbeitenden Sozialwissenschaftler*innen in der deutsch- und englischsprachigen Forschungslandschaft wenig bekannt waren.4 Seit Ende der 2000er Jahre werden diese Verfahren aber intensiv rezipiert (vgl. Glasze 2007b; Linnemann 2014) und gerade auch in den raumbezogenen Sozialwissenschaften genutzt, um so unterschiedliche Fragestellungen wie mediale Stigmatisierungen von Räumen und Menschen (s. Glasze/Weber 2014; Mattissek/Reuber 2016; Tijé-Dra 2018), Diskurse um Entwicklungshilfe und Ernährungssicherheit (vgl. Marx 2014; Linnemann/Reuber 2015) und planungsbezogene Diskurse (s. Günzel 2016; Sturm 2019) zu untersuchen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Bedeutungsgewinns digitaler Medien sowie im Kontext der Etablierung und institutionellen Förderung eines Feldes der „Digitalen Geistes- und Sozialwissenschaften“5 ist in den letzten Jahren 3

John Rupert Firth hat diese Perspektive als „Kontextualismus“ bereits in den 1950er Jahren in die Linguistik eingeführt. Die Kontexte lexikalischer Elemente geben danach Hinweise auf deren Gebrauch und damit deren Bedeutung: „You shall know a word by the company it keeps.“ (1957, zit. nach Belica/Steyer 2005: 15; vgl. Lemnitzer/Zinsmeister 2006)

4

In der französischsprachigen Forschungslandschaft sind lexikometrische Verfahren hingegen schon länger etabliert: Hier existieren im Rahmen der sogenannten „französischen Schule der Diskursforschung“ seit den 1960er Jahren vielfältige Beziehungen zwischen Linguistik, Politikund Geschichtswissenschaft, sodass politik- und geschichtswissenschaftliche Arbeiten regelmäßig auch auf lexikometrische Verfahren zurückgreifen (vgl. Bonnafous/Tournier 1995; Guilhaumou 1997; Mayaffre 2004). In Deutschland wurden diese Arbeiten lange Zeit nur vereinzelt von einigen Romanist*innen rezipiert (s. Lüsebrink 1998; Reichardt 1998), einen frühen englischsprachigen Überblick liefert Glyn Williams (1999). Einige Hinweise zur Verwendung lexikometrischer Verfahren in der französischsprachigen Geschichtswissenschaft bietet auch der von Reiner Keller ins Deutsche übersetzte Aufsatz von Jacques Guilhaumou (2003).

5

So sind seit Ende der 2000er Jahre zahlreiche neue Forschungsinfrastrukturen für die Arbeit mit digitalen Textkorpora etabliert worden. Hervorzuheben ist hier insbesondere das Projekt CLA-

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zu beobachten, dass in den Sozialwissenschaften in zunehmendem Maße lexikometrisch-computerlinguistische Ansätze eingesetzt werden (s. bspw. Lemke/Wiedemann 2016; Scholz 2018). Dabei transformiert die Verbreitung der digitalen sozialen Medien die Formen der Herstellung, Verarbeitung und Verbreitung von Texten grundlegend. Sozialwissenschaftliche Forschung zu den Inhalten sozialer Medien muss sich daher auch mit den veränderten soziotechnischen Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation auseinandersetzen. Dabei können auf konzeptioneller Ebene Anknüpfungspunkte zu Ansätzen des Neuen Materialismus gesucht werden, wenn bspw. die technischen Prinzipien der Verbreitung von Texten (z.B. die Bedeutung von Algorithmen von Plattformen wie Google oder Facebook) in die Analyse mit einbezogen werden (vgl. Wiertz/Schopper 2019). Methodisch sind diese Herausforderungen eng mit Fragen der automatisierten Generierung von Textkorpora aus digitalen Quellen sowie einer Berücksichtigung des vernetzten Charakters sozialer Medien verknüpft (s. Wiertz 2018; Wiertz/Schopper 2019). Im Folgenden werden die wichtigsten methodischen Grundlagen lexikometrischer Verfahren skizziert und dabei insbesondere aufgezeigt, wie diese in ein Forschungsdesign eingebunden werden können, das entsprechend einer diskurstheoretischen Positionierung auf die Kontingenz und Dynamik von Bedeutungen abhebt.

Exkurs: Abgrenzung der Lexikometrie von der quantitativen Inhaltsanalyse Die Verfahren der Lexikometrie sind nicht zu verwechseln mit Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse. Die Inhaltsanalyse hat ihre Ursprünge in der USamerikanischen Kommunikationswissenschaft und baut auf einem Kommunikationsmodell „Sender → Inhalt → Empfänger“ auf. Ziel ist dabei, vom „Inhalt“ auf „die soziale Wirklichkeit“ zu schließen – d.h. auf den „Kommunikator“, den „Rezipienten“ oder die „Situation“. Wichtigste Methodik ist die Kodierung der „Inhalte“ von Texten mittels eines Kategoriensystems (vgl. Merten 1995). Bei der Inhaltsanalyse wird davon ausgegangen, dass jeder Text(-teil) einen eindeutig zu bestimmenden „Inhalt“, d.h. eine Bedeutung, transportiert und dass dieser „Inhalt“ durch die Inhaltsanalytiker*innen erschlossen werden kann. Aus der Sicht einer poststrukturalistisch informierten Diskursforschung ist ein solches RepräsentatiRIN – European Research Infrastructure for Language Resources and Technology (http://www. clarin.eu; 01.11.2019).

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

onsmodell, das von einem Text(-teil) auf die eine, vermeintlich gegebene Bedeutung schließen will, problematisch. Die Diskursforschung betont ja gerade die Mehrdeutigkeit und Instabilität von „Sinn“ (vgl. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021a).

Verfahren der Lexikometrie und Korpuslinguistik Auswahl der relevanten Textsorten Grundlage lexikometrischen Arbeitens sind digitale Textkorpora. 6 In den Analysen werden unterschiedliche Teile des Korpus miteinander verglichen. Korpora für lexikometrische Analysen müssen „geschlossen“ sein, da die lexikometrischen Analysen nur dann sinnvoll sind, wenn sie sich auf ein stabiles Ensemble von Texten beziehen. Für die Zusammenstellung des Korpus ist es entscheidend, dass – mit Ausnahme der zu analysierenden Variable (bspw. unterschiedliche Zeitabschnitte oder unterschiedliche Sprecherpositionen) – die Bedingungen der Aussagenproduktion möglichst stabil gehalten werden (s.u.). Denn bei einem Vergleich, bei dem zwischen den zu vergleichenden Teilen sowohl die Zeit bzw. Epoche, die Kommunikationskanäle, die Sprecherposition, die Genres etc. wechseln, könnten keine sinnvollen Ergebnisse gewonnen werden, da nicht mehr bestimmt werden kann, auf welche Veränderungen sprachliche Unterschiede zurückzuführen sind. Bei der Vorbereitung lexikometrischer Verfahren ist die Überlegung zentral, bezüglich welcher Kriterien die Bedeutungskonstitution verglichen werden soll, denn dies entscheidet über die Segmentierung, d.h. Aufteilung des Textkorpus in entsprechende vergleichbare Teilkorpora: Sollen zeitliche Verschiebungen untersucht werden, wird man eine diachrone Segmentierung wählen. Geht es darum, die Unterschiedlichkeit von Bedeutungskonstitutionen aus der Sicht von einzelnen Sprecherpositionen oder in einzelnen Genres zu erfassen, wird man ein zeitlich homogenes Korpus wählen, das nach den auftretenden Sprecherpositionen bzw. nach einzelnen Genres segmentiert wird etc. Die anderen Merkmale des Textes werden dabei jeweils konstant gehalten. 7 Sprecherpositionen werden hier in Anlehnung an Überlegungen Foucaults (1973 [1969]) als institutionell stabilisierte Positionen i.d.R. innerhalb von Organi6

Dafür wird entweder auf Texte zurückgegriffen, die bereits digital vorliegen, oder die Texte

7

Die Zusammenstellung des Korpus ist also abhängig von der Fragestellung der Untersuchung,

müssen mittels Texterkennung digitalisiert werden. wobei immer auch die Frage geklärt werden muss, wofür ein bestimmter Korpus steht.

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sationen gefasst, die spezifische Zugangskriterien haben und die bestimmte Möglichkeiten, Tabus und Erwartungen des Sprechens bzw. allgemein der Textproduktion mit sich bringen – weitgehend unabhängig von den Individuen, welche die Position einnehmen. Die Sprecherpositionen sind dabei selbst diskursiv konstituiert. Je nach Fragestellung der Untersuchung kommen unterschiedliche Sprecherpositionen infrage. In der Regel sind gesellschaftlich bedeutsame Sprecherpositionen in Organisationen eingebunden, sind also Positionen, von denen aus im Namen und als Organisation gesprochen werden kann (bspw. Texte von Wissenschaftsorganisationen, Zeitungstexte, Texte von Behörden oder Ministerien etc.). Für diachron angelegte Studien ist darüber hinaus die Arbeit mit Serien sinnvoll, die durch regelmäßige Publikationen einer Sprecherposition entstehen (Texte regelmäßig erscheinender Medien, Verhandlungsbände regelmäßig stattfindender Konferenzen, Protokolle regelmäßig tagender Gremien etc.). Mit dem Begriff des Genres bzw. der Gattung werden in den Sprachwissenschaften Gruppen von Texten bezeichnet, für deren Strukturierung und damit deren Kohärenz sich historisch spezifische, institutionell stabilisierte Regeln etabliert haben (vgl. Maingueneau 2000 [1986]): So gelten für die Strukturierung und Kohärenz wissenschaftlicher Fachaufsätze andere Regeln als für Zeitungsartikel und wiederum andere für politische Reden. Im Rahmen der Diskurstheorie können die entsprechenden Institutionen, d.h. Sprecherpositionen bzw. Genres, selbst als diskursiv konstituiert konzeptualisiert werden – als „sedimentierte Diskurse“ (s. Laclau 1990 u. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021b).8

Zusammenstellung der Texte für das Textkorpus Für die Zusammenstellung der Texte für das zu untersuchende Textkorpus lassen sich zwei prinzipielle Strategien unterscheiden: •

Es werden alle Texte einer bestimmten Textserie (z.B. alle Texte einer bestimmten Zeitung, alle Reden eines Präsidenten, alle Verlautbarungen ei-

8

In den Sprachwissenschaften gibt es zudem Bemühungen, durch die Zusammenstellung sehr großer Textmengen Standardkorpora zu erstellen, welche „den“ typischen Sprachgebrauch einer bestimmten Epoche abbilden sollen. Beispiele sind der British National Corpus (BNC) (http://www.natcorp.ox.ac.uk; 25.09.2006), das Projekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (http://www.dwds.de; 25.09.2006), die Korpora des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (http://www.ids.de; 16.01.2007) sowie der französische Korpus Frantext (http:// www.frantext.fr; 25.09.2005). Ziel solcher Bemühungen ist es u.a., Vergleiche zwischen spezifischen Textkorpora und „dem“ Sprachgebrauch in einer Epoche zu ermöglichen.

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora



ner Organisation, die Einträge in einem Blog, Beiträge eines Accounts in den sozialen Medien etc.) über einen festen Zeitraum berücksichtigt. Anhand des Auftretens von Schlüsselwörtern oder thematischen Kodierungen wird ein thematisches Korpus erstellt.

Die Frage, welches dieser Verfahren besser geeignet ist, hängt letztlich von der Fragestellung ab. Bei thematischen Korpora muss allerdings berücksichtigt werden, dass hier das Risiko besteht, dass nur jene Texte bzw. Textpassagen berücksichtigt werden, die den impliziten Erwartungen der Wissenschaftler*innen entsprechen (vgl. Baker 2006). Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass nicht alle sprachlichen Muster an Schlüsselbegriffen festzumachen sind: So können etwa oft als „neoliberal“ bezeichnete sprachliche Formen auf ganz unterschiedliche Art und Weise und mithilfe sehr unterschiedlicher Wortverbindungen ausgedrückt werden (s. Mattissek 2008). Die Analyse geschlossener Korpora, bspw. mit Serien von Texten einer homogenen Sprecherposition, begrenzt das Risiko von Zirkelschlüssen und erhöht die Chance, Diskursmuster herausarbeiten zu können, die nicht den impliziten Erwartungen entsprechen (vgl. Glasze 2007b).9

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Texten Innerhalb lexikometrischer Verfahren lassen sich insbesondere vier grundlegende Methoden unterscheiden, die vielversprechende Ansätze für diskurstheoretisch orientierte Arbeiten bieten. Dies sind Frequenz- und Konkordanzanalysen, Analysen der Charakteristika eines Teilkorpus sowie Analysen von Kookkurrenzen (eine ausführlichere Darstellung bieten Lebart/Salem 1994; Lebart/ Salem/Berry 1998; Marchand 1998: 29ff.; Baker 2006; Scholz/Mattissek 2014). Für die Berechnung bzw. Erstellung der jeweiligen Parameter und Auswertungen kann auf unterschiedliche Computerprogramme zurückgegriffen werden (s. Exkurs „Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Software und Ressourcen“). Im Folgenden werden die wichtigsten lexikometrischen Verfahren anhand empirischer Beispiele kurz vorgestellt.

9

In der Anwendung stärker interpretativ ausgerichteter Methoden, wie bspw. bei kodierenden Verfahren (s. Kap. 17: Glasze/Husseini de Araújo/Mose 2021), ist im Vergleich dazu die Arbeit mit offenen Korpora verbreitet, die im Laufe der Analyse verändert, d.h. verkleinert bzw. ergänzt, werden. Hier startet die Analyse häufig mit einem auf Basis des Kontextwissens thematisch zusammengestellten Korpus.

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Frequenzanalysen Frequenzanalysen zeigen, wie absolut oder relativ häufig eine spezifische Form in einem bestimmten Segment des Korpus auftritt: Auf der Basis von diachronen Korpora lassen sich damit also bspw. die relative Häufigkeit eines Wortes (Graphems, d.h. der kleinsten zusammenhängenden Einheit, die im Schreibfluss auftritt) oder von regelmäßig verknüpften Wörtern (Wortfolgen bzw. NGrammen) im Zeitverlauf herausarbeiten (vgl. Abbildung 6). In der Regel werden zunächst Wortlisten erstellt, in denen alle grammatischen Formen eines Wortes (d.h. die einzelnen Grapheme) getrennt gezählt werden (also bspw. Forscher/Forscherin/Forschern/Forschers). Oftmals kommt es aber vor, dass man solche Flexionen für die Analyse als gleichwertig betrachten möchte. In diesem Fall wird mit dem Lemma bzw. Lexem gearbeitet, d.h. mit einer Gruppe verschiedener Flexionsformen, die alle zum gleichen Begriff gehören; im oben genannten Beispiel würden also Forscher/Forschern und Forschers zum gleichen Lemma gehören. Dieser Vorgang wird als Lemmatisierung bezeichnet (vgl. Lebart/Salem/Berry 1998: 23). Die Grenze, welche Wortformen für eine gegebene Analyse als äquivalent angesehen werden und welche nicht, hängt von der Fragestellung ab – so kann etwa in einem Fall, wo es um ungleiche Geschlechterverhältnisse an Universitäten geht, die Unterscheidung zwischen „Forscher“ und „Forscherin“ entscheidend sein, in einem anderen Fall, wo es nur darum geht, welche Rolle in einer bestimmten Stadt die Forschung spielt, ist diese Differenzierung nicht relevant (vgl. Lebart/Salem/Berry 1998: 22). Die Abbildung zeigt ein Teilergebnis eines Forschungsprojekts, in dem der Bedeutungswandel des Lexems „banlieue*“ im Kontext der sogenannten „Krise der banlieues“ in Frankreich untersucht wird (vgl. Glasze/Germes/Weber 2009). Anhand eines diachron angelegten Pressekorpus mit allen Artikeln der Tageszeitung Le Monde seit 1987, die das Lexem „banlieue“ enthalten, konnte gezeigt werden, dass seit 2003 die relative Häufigkeit von Wörtern stark angestiegen ist, die semantisch dem Feld der ethnischen Differenzierung (untersucht wurde die Buchstabenfolge „ethn*“) und dem Postkolonialismus (untersucht wurde die Buchstabenfolge „colonial*“) zugerechnet werden können10. Dies kann als ein erster Hinweis darauf gewertet werden, dass es zu einer Ethnisierung des banlieue-Diskurses kommt, d.h. dass die sogenannte „Krise der banlieues“ seit 2003 zunehmend als eine Krise der ethnischen Differenz und des Postkolonialismus konstituiert wird. 10 Die Lexeme „ethn*“ und „colonial*“ wurden ausgewählt, da diese in einer vorangegangenen Analyse der Charakteristika eines Teilkorpus (s.u.) als Charakteristika des banlieue-Diskurses identifiziert wurden.

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

Abbildung 6: Ergebnisse des diachronen Vergleichs relativer Häufigkeiten von Wörtern des Postkolonialismus und der ethnischen Differenzierung im banlieue-Diskurs (Le Monde 1987-2005) 180

Rel. Häufigkeit * 1 000 000

160

Freq/Okk * 1 000 000 für ethn* Freq/Okk * 1 000 000 für colonial*

140 120 100 80 60 40 20 0 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005

Quelle: eigene Darstellung

Konkordanzanalysen Die einfachste Möglichkeit, den Kontext eines Wortes bzw. einer Wortfolge zu untersuchen, ist die Anzeige von Konkordanzen. Dabei werden die jeweils vor und hinter einem Schlüsselwort stehenden Zeichenfolgen dargestellt. Eine Konkordanz ist eine Liste, die alle Vorkommen eines ausgewählten Wortes – oder auch von Wortfolgen – in ihren Kontexten zeigt. Für Konkordanzen üblich ist eine zeilenweise Darstellung, die als KWIC (key word in context) bezeichnet wird (vgl. Scherer 2006: 43; Lebart/Salem/Berry 1998: 32f.). Auf der linken und rechten Seite des jeweiligen Wortes wird je nach verwendeter Analysesoftware ein festgelegter Kontext, bestehend aus einer bestimmten Anzahl an Zeichen oder Wörtern, angezeigt (vgl. Abbildung 7). Konkordanzanalysen können sinnvoll als Vorbereitung und Hilfe für die qualitative Interpretation der Kontexte bestimmter Schlüsselwörter verwendet werden.

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Abbildung 7: Ausschnitt aus einer Konkordanzliste

Quelle: eigene Darstellung

Abbildung 7 zeigt einen Ausschnitt der Konkordanzen des Lexems „Jugendliche*“ in dem Diskurs über ostdeutsche Großwohnsiedlungen der Süddeutschen Zeitung von 1994 bis 2006 (vgl. Brailich et al. 2010). Das Lemma „Jugendliche“ stellt in der hier gezeigten Studie über die Konstitution ostdeutscher Großwohnsiedlungen ein Charakteristikum eines Teilkorpus dar und wird anhand einer Konkordanzanalyse kontextualisiert. So lässt sich in der Darstellung der Konkordanzen erkennen, dass „Jugendliche*“ vielfach in Verbindung mit Wörtern steht, welche Problematisierungen als „gewalttätige“, „rechtsextreme“ oder „randständische Jugendliche“ konstituieren.

Analysen der Charakteristika eines Teilkorpus Diese Analysearten zeigen, welche lexikalischen Formen für einen Teil des Korpus im Vergleich zum Gesamtkorpus bzw. zu einem anderen Teilkorpus spezifisch sind. Hierzu werden diejenigen Wörter ermittelt, die in einem bestimmten Teilkorpus signifikant über- oder unterrepräsentiert sind11. Die Analysen

11

Berechnungsgrundlage der Signifikanz sind die absolute Häufigkeit eines bestimmten Wortes bzw. einer Gruppe von Wörtern (d.h. von Graphemen oder Lexemen) bzw. einer Wortfolge und die Gesamtzahl aller Wörter in einem gegebenen Korpus (Okkurrenzen). Aus dem Verhältnis zwischen der Häufigkeit einzelner Wörter bzw. Wortgruppen und der Gesamtzahl aller Wörter

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

von Charakteristika eines Teilkorpus sind also induktiv und korpusgesteuert (corpus driven), d.h. sie kommen ohne im Voraus definierte Suchanfragen aus und bieten damit die Chance, auf Strukturen zu stoßen, die vor der Untersuchung noch nicht vermutet wurden (vgl. Teubert 2005; Bubenhofer 2008). Abbildung 8 zeigt die in einer Analyse der Süddeutschen Zeitung (19942006) herausgearbeiteten Charakteristika eines Teilkorpus und visualisiert den Mediendiskurs zu westdeutschen Großwohnsiedlungen (vgl. Brailich et al. 2010). Dazu wurde anhand der Eigennamen westdeutscher Großwohnsiedlungen mit mehr als 2.500 Wohneinheiten ein Teilkorpus gebildet und mit dem Referenzkorpus aller Artikel der Süddeutschen Zeitung verglichen. Mit diesem korpusgesteuerten (corpus driven) Ansatz wurden diejenigen Wörter herausgearbeitet, die charakteristisch für die Bedeutungskonstitution westdeutscher Großwohnsiedlungen sind. Je näher die charakteristischen Wörter zum Zentrum der Abbildung stehen, desto signifikanter sind diese (desto höher ist ihr keyness-Wert12). Der Schriftgrad zeigt die Häufigkeit des jeweiligen Wortes im Teilkorpus an. Die Wörter wurden „manuell“ in thematischen Gruppierungen angeordnet, um eine bessere Übersichtlichkeit zu gewährleisten.13

im Korpus lässt sich die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Frequenz des Wortes in einem Teil des Korpus berechnen. Auf diese Weise wird deutlich, welche Wörter und ggf. Wortfolgen in einem Teilkorpus im Vergleich zum Gesamtkorpus spezifisch häufiger bzw. seltener vorkommen. Je nach Analysesoftware stehen unterschiedliche statistische Tests für die Berechnung der Signifikanzen zur Verfügung (s. Exkurs „Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Software und Ressourcen“). 12 Das lexikometrische Analyseprogramm WordSmith Tools berechnet als Signifikanzwert der Charakteristika einen sogenannten keyness-Wert. Die Berechnung der Charakteristika erfolgte mithilfe eines statistischen Tests auf Basis von Ted Dunnings Log Likelihood (vgl. Dunning 1993). 13

Als Interpretationshilfe wurden dabei Konkordanzanalysen herangezogen, um wiederum den Kontext der Charakteristika genauer bestimmen zu können (s.o.).

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Abbildung 8: Ergebnisse der Analyse von Charakteristika des Teilkorpus westdeutsche Großwohnsiedlungen mit dem Referenzkorpus Süddeutsche Zeitung 1994-2006

Quelle: eigene Darstellung

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

Kookkurrenzanalysen Die Untersuchung von Kookkurrenzen14 zeigt, welche Wörter und Wortfolgen (N-Gramme) im Korpus mit einer gewissen Signifikanz miteinander verknüpft werden, d.h. welche Wörter in der Umgebung eines bestimmten Wortes überzufällig häufig auftauchen15. Dafür wird ein Teilkorpus mit der Umgebung um ein bestimmtes Schlüsselwort erstellt. Diese Umgebungen können Einheiten sein wie der Satz oder Absatz, in dem das Schlüsselwort vorkommt, ein definierter Bereich mit einer bestimmten Zahl von Wörtern vor und nach dem Schlüsselwort oder Einheiten, aus denen das Korpus zusammengesetzt wurde (bspw. einzelne Reden oder Presseartikel, in denen das Schlüsselwort vorkommt). Das Teilkorpus mit den Wörtern und Wortfolgen in der Umgebung des Schlüsselwortes wird dann auf Charakteristika im Vergleich zum Gesamtkorpus untersucht (s.o.). Abbildung 9 zeigt die in der vergleichenden Printmedienanalyse herausgearbeiteten Kookkurrenzen mit „Frankfurt am Main“ (vgl. Mattissek 2008). Je weiter innen die Begriffe stehen, desto höher der ced-Wert16 und desto wahrscheinlicher ist es folglich, dass die beobachtete Häufung dieser Begriffe in den Artikeln zu Frankfurt statistisch signifikant (d.h. „überzufällig“) ist. Die Größe der Begriffe entspricht der relativen Häufigkeit im untersuchten Teilkorpus. Inhaltlich-semantisch wurden die Wörter der Übersichtlichkeit halber manuell unterschiedlichen thematischen Segmenten zugeordnet.

14 Teilweise werden Wörter, die regelmäßig in der Nähe voneinander auftreten, auch als Kollokationen bezeichnet (vgl. Baker 2006). 15 Zur Berechnung von Signifikanzen siehe Unterkapitel „Analyse der Charakteristika eines Teilkorpus“. 16 Der ced-Wert ist ein Maß für die Überzufälligkeit des Auftretens eines Begriffs in einem Teilkorpus verglichen mit allen anderen Teilkorpora.

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Abbildung 9: Ergebnisse der Kookkurrenzanalyse des Begriffs „Frankfurt“ in überregionalen Printmedien* 1999-2005

Quelle: eigene Darstellung

Multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen Eine sinnvolle Erweiterung der Kookkurrenzanalyse bieten multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen, mithilfe derer sich Kookkurrenzen verschiedener Begriffe in unterschiedlichen Teilkorpora in einen Zusammenhang bringen lassen (vgl. Dzudzek 2013). Während bei der Kookkurrenzanalyse die Bedeutungsverschiebung eines Begriffs durch unterschiedliche Teilkorpora verfolgt wird und man davon ausgeht, dass es einen fixen Knotenpunkt gibt, der in allen

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

Teilkorpora eine zentrale, wenn auch sich verändernde Rolle spielt, bieten multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen die Möglichkeit, diskursive Verschiebungen im Sinne eines Gleitens von „Signifikant zu Signifikant“ zwischen unterschiedlichen Teilkorpora zu verfolgen. Ziel multivariater Analyseverfahren von Differenzbeziehungen ist also die Erweiterung der Kookkurrenzanalyse hin zu einer Analyse eines komplexen differenziellen Netzes von Zeichen (Textelementen), in dem Bedeutung konstituiert wird im Sinne von Ferdinand de Saussure (1931 [1916]) sowie Laclau und Mouffe (1985). Daher wird der Begriff der Kookkurrenz, der „das gemeinsame Vorkommen zweier Wörter in einem gemeinsamen Kontext“ (Lemnitzer/Zinsmeister 2006: 147; eigene Herv.) beschreibt, um eine Vielzahl von Dimensionen erweitert, sodass er die Beziehung mehrerer Elemente innerhalb eines differenziellen Zeichensystems beschreibt. Mithilfe multivariater Dimensionsreduktionsverfahren lässt sich dieser komplexe n-dimensionale Zusammenhang in einem zweidimensionalen Koordinatensystem visualisieren. Als dimensionsreduzierende Methoden für linguistische Sachverhalte kommen die Hauptkomponentenanalyse und die Korrespondenzanalyse17 infrage (vgl. Lebart/Salem/Berry 1998: 45-69). In diesem zweidimensionalen Koordinatensystem lassen sich nun folgende Sachverhalte ablesen: •





17

Möglicher Kontext: Die relative Nähe bzw. Entfernung der Begriffe zueinander ist Indikator für mögliche Differenz- bzw. Äquivalenzverhältnisse im Sinne von Laclau und Mouffe. Möglicher relativer Bedeutungsgrad für den Diskurs: Je weiter die Begriffe vom Mittelpunkt des Koordinatenkreuzes entfernt sind, desto größer ist ihre „relative Wichtigkeit“ (Lebart/Salem/Berry 1998: 57) für den Diskurs einzuschätzen. Denn je häufiger ein Begriff in einem Teilkorpus vorkommt und je stärker er sich vom Vorkommen in sonstigen Teilkorpora und von anderen Begriffen unterscheidet, desto stärker wird er nach außen gezogen. Mögliche Cluster von Teilkorpora: Nicht nur die Lage der Begriffe zueinander kann interpretiert werden, sondern auch die Lage der Teilkorpora zueinander. Die relative Nähe bzw. Entfernung der Teilkorpora bietet eine Grundlage zur Abgrenzung von Phasen bzw. Clustern im Diskurs.

Es gibt eine Vielzahl von Statistikprogrammen, die unterschiedliche multivariate Verfahren rechnen und visualisieren können. Das eigentlich für die Ökologie entwickelte Programm Canoco 4.5 kann neben der üblichen Hauptkomponentenanalyse auch die für linguistische Zwecke entwickelte Korrespondenzanalyse rechnen (Ter Braak/Smilauer 2002).

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Identifikation von möglichen zentralen Begriffen für die einzelnen Phasen/Cluster des Diskurses: Mithilfe der hier dargelegten Verfahren kann ermittelt werden, welche Begriffe für welche Phasen/Cluster besonders charakteristisch sind. Die relative Nähe der Begriffe zu den Teilkorpora zeigt, welche Begriffe für welche Phasen/Cluster besonders charakteristisch sein können.18

Multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen stellen ein exploratives Tool der Diskursanalyse im Sinne des korpusgesteuerten (corpus driven) Ansatzes dar. Da Position und relative Lage der Begriffe im Koordinatensystem zueinander – im Gegensatz zu den beiden oben vorgestellten Verfahren – rein mathematisch bestimmt sind, können sie nicht direkt interpretiert werden. Position und relative Lage der Begriffe zueinander aber bieten gute Anhaltspunkte für das Finden von Begriffsrelationen in sehr großen Korpora, deren Qualität dann durch gezieltes Nachschlagen im Korpus interpretativ bestätigt werden muss. Abbildung 10 zeigt das Ergebnis einer multivariaten Analyse von Differenzbeziehungen am Beispiel des Kultur-Diskurses der UNESCO (vgl. Dzudzek 2013). Grundlage der hier dargestellten Hauptkomponentenanalyse sind charakteristische Begriffe mit Raumbezug aus dem Korpus aller UNESCO-Resolutionen seit ihrer Gründung. Die Abbildung visualisiert die diskursive Verschiebung von einer Fokussierung auf den Nationalstaat in der frühen und mittleren Phase hin zur sub- und supranationalen Ebene in der jüngeren Phase, in der Begriffe wie „subregional“, „regional“, aber auch „worldwide“ und „global“ relevant werden. Auch zeigt sich anhand der räumlichen Nähe der Begriffe innerhalb der Grafik die Differenzbeziehung zwischen „colonialism“ und den „national liberation movements“, welche diskursiv mit der Befreiung der „newly independent countries“ vom Kolonialismus verknüpft werden. Dass die mathematisch bestimmte Lage der Begriffe zueinander nicht direkt interpretiert werden kann, sondern die Qualität der Beziehungen zueinander durch gezieltes Nachschlagen im Korpus überprüft werden muss, zeigt der Begriff „national culture“. Er taucht in der Grafik in der mittleren Phase auf. Dies mag zunächst verwundern, da die interpretative Analyse zeigt, dass „Nationalkultur“ das räumliche Ordnungsprinzip ist, in dem Kulturen in der ersten Phase des Diskurses verortet und verhandelt werden. Die Tatsache, dass der Begriff aber erst überzufällig häufig in der mittleren Phase mit Begriffen wie „(neo-)colonialism“ und „national liberation movements“ auftaucht, hängt damit zusammen, dass er erst im Diskurs ausgesprochen wird, als das Konzept der nationalen Container, in denen man Kulturen verorten kann, durch die nationalen Be18 Dies ist allerdings nur über einen Umweg möglich, der die Jahrgänge und Begriffe leicht gegeneinander verschiebt (s. Dzudzek 2013: 66).

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

freiungsbewegungen der postkolonialen Staaten zum Thema gemacht wird: „[T]he need to reassert indigenous cultural identity and to eliminate the harmful consequences of the colonial era, […] call(s) for the preservation of national culture and traditions.“ (UNESCO 2006: 60) Abbildung 10: Ergebnisse einer multivariaten Analyse von Differenzbeziehungen des Kultur-Diskurses der UNESCO

Quelle: eigene Darstellung

Verfahren der Georeferenzierung Die Verfahren der Georeferenzierung erweitern lexikometrische Studien systematisch um eine räumliche Dimension (einführend s. Gregory/Hardie 2011; Paterson/Gregory 2019). Dabei wird in Textsammlungen mithilfe von Programmen zur Eigennamenerkennung für jeden Ortsnamen (Toponym) eine linguistische Annotation vergeben. Im Anschluss werden alle linguistisch annotierten Ortsnamen mit einem digitalen Ortsverzeichnis (Gazetteer) abgeglichen, in dem für Hunderttausende von Toponymen entsprechende Längen- und Breitengrade hin-

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terlegt sind. Letztlich generiert die Georefenzierung von Toponymen aus Korpora strukturierte Geodaten, die in Geoinformationssystemen visualisiert und weiterverarbeitet werden können. Dies ermöglicht eine Kombination aus lexikometrischen Verfahren mit verschiedenen Verfahren aus dem Bereich der geographic information science (GIScience). So können Orts- und Raumbezüge in Teilkorpora, bspw. in einem Desktop-GIS, kartographisch dargestellt und räumliche Muster diachron oder etwa im Hinblick auf Sprecherpositionen, Genres oder thematische Wortgruppen verglichen werden. Zudem ist es über die Georeferenzierung auch möglich, die Verwendung von Toponymen in (Teil-)Korpora mit weiteren räumlichen Informationen, wie etwa regionalisierten soziodemographischen Daten, in Relation zu setzen. Daher eröffnet sich hier für die lexikometrisch arbeitende Diskursforschung ein weites und diverses Feld an räumlichen Visualisierungs- und Analyseverfahren. Gleichzeitig ist diese explizit geographische Textanalyse aber auch durch die technischen Eigenschafen von GIS limitiert, in denen die Welt als Koordinatenraum modelliert wird, der sich in der Regel nur durch Vektor- oder Rasterdaten beschreiben lässt. Viele Fragen der Diskursforschung beziehen sich aber auch auf solche Aspekte der gesellschaftlichen bzw. kulturellen Produktion sozialer Wirklichkeiten, die sich nicht – oder nur zu gewissen Teilen – mittels der Analyse von Vektor- oder Rasterdaten in einem solchen Modell bearbeiten lassen. Für die Diskursforschung sind daher gerade neuere Ansätze der place-based GIS (PBGIS) und der Qualitativen GIS von Interesse, die unterschiedliche Raumkonzepte und Gesellschaft-Raum-Verhältnisse in ihren Modellierungen berücksichtigen (vgl. Westerholt/Mocnik/Zipf 2018). Abbildung 11 zeigt die absoluten und relativen Häufigkeiten der Nennungen von Ländertoponymen in den öffentlichen Reden des Deutschen Bundestags der 16. und 17. Legislaturperiode als Kartenanamorphoten. Kartenanamorphoten (engl. cartograms) skalieren Geometrien proportional zu bestimmten Attributen – in diesem Fall zur absoluten Häufigkeit der Nennung von Ländertoponymen im Referenzkorpus. Zusätzlich wird die relative Häufigkeit der Ländertoponyme im Korpus durch die farbliche Klassifizierung dargestellt. Die Kartenanamorphoten heben auf diese Weise räumliche Schwerpunkte hervor und bieten daher eine Möglichkeit der visuellen Exploration geographischer Dimensionen in Textkorpora. So deuten die beiden Darstellungen bspw. auf eine signifikante Verschiebung der räumlichen Problematisierungen bestimmter Länder des globalen Nordens hin – wie etwa in Hinsicht auf die zunehmenden Häufigkeiten von Nennungen südeuropäischer Staaten in der 17. Legislaturperiode. Gleichzeitig zeigt sich über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg ein kontinuierliches „Schweigen“ über die meisten Regionen des globalen Südens.

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

Abbildung 11: Ergebnisse einer diachronen Frequenzanalyse der Nennungen von Ländertoponymen im Deutschen Bundestag in der 16. und 17. Legislaturperiode, visualisiert als anamorphe Kartogramme

Quelle: eigene Darstellung

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Exkurs: Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Software und Ressourcen In lexikometrischen Diskursanalysen können vier Verfahrensschritte differenziert werden: (1) die Erfassung von Texten für die Korpuserstellung, (2) die Korpusaufbereitung, (3) das Korpusmanagement bzw. das Datenbankmanagement sowie (4) die Korpusanalyse und -visualisierung. Für alle Verfahrensschritte liegt eine Vielzahl von Programmen und Werkzeugen vor, die teilweise mehrere Verfahrensschritte zusammenführen. Bei der (1) Erfassung der Texte für die Korpuserstellung ist zu beachten, dass es heute bereits eine Reihe digital vorliegender Korpora gibt, die Forscher*innen zur freien Verfügung stehen (eine zentrale Übersichtsplattform zu digitalen Textressourcen für die Forschung bietet das Clarin-Projekt, darüber hinaus wurden bspw. in der Computerlinguistik der FAU Erlangen Nürnberg und in der Humangeographie der Universität Freiburg CQP-Webserver mit zahlreichen digitalen Textkorpora etabliert)19. In vielen Fällen müssen digitale Korpora jedoch selbst aufgebaut werden. Liegen Texte ausschließlich in analoger Form vor, ist ein erster notwendiger Schritt deren Digitalisierung. Nach dem Scannen der analogen Texte müssen die Bilddateien dafür mit einer Software zur Texterkennung bearbeitet werden. Für einfach strukturierte Textkorpora guter Qualität kann dafür bspw. das freie Python-Modul PDFMiner genutzt werden. Für komplexer strukturierte Textkörper mit schlechter Bildqualität kommen hingegen solche Texterkennungsprogramme zum Einsatz, die über ein graphisches Interface zur visuellen Nachbearbeitung verfügen. Eine bekannte proprietäre Software hierfür ist ABBYY FineReader.20 In zunehmendem Maße liegen Texte bereits in digitalen Onlinequellen vor (bspw. Blogs, Online-Nachrichtenseiten und Beiträge in sozialen Medien). Verfahren des sogenannten web scraping ermöglichen ein automatisiertes Auslesen von Onlinetexten. Neben der Extraktion von Texten können auch Metadaten, wie Autor*innennamen und Erscheinungsdaten, ausgelesen werden, die für die spätere Korpusanalyse relevant sind. Für die Verfahren des web scraping stehen Module in den Programmiersprachen Python (bspw. requests und BeautifulSoup) und R

19 Clarin Virtual Language Observatory (https://vlo.clarin.eu, 31.10.2019); CQP-Web at FAU (https://corpora.linguistik.uni-erlangen.de/cqpweb/; 01.11.2019) und CQPWeb-Server der Humangeographie an der Universität Freiburg (https://diskurs.geographie.uni-freiburg.de/; 01.11.2019). 20 PDFMiner (https://pypi.org/project/pdfminer/; 01.11.2019); ABBYY FineReader (http://www.abbyy. com; 01.11.2019).

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

(bspw. Rcrawler oder rvest) zur Verfügung.21 Als Alternative zum web scraping bieten verschiedene soziale Medienplattformen Programmierschnittstellen (Application Programming Interfaces, kurz API) an, die einen Zugriff auf Texte und Metadaten von Nutzer*innen in ihren Datenbanken ermöglichen. 22 Im Anschluss an die Datenakquise ist in der Regel eine (2) Aufbereitung des Korpus notwendig. Die erhobenen Texte werden in einem ersten Schritt in ein einheitliches Dateiformat (bspw. Extensible Markup Language [XML], txt oder CSV) überführt und in einem zweiten Schritt von nicht relevanten Zeichenketten wie URLs, Seitenüberschriften und -zahlen oder Literaturverzeichnissen bereinigt. Die Bereinigung der Texte geschieht mithilfe „Regulärer Ausdrücke“ (Regular Expressions, kurz Regex).23 Bekannt sind „Reguläre Ausdrücke“ bspw. durch die Funktion „Suchen und Ersetzen“ in Textbearbeitungsprogrammen. Alle einschlägigen Programmier- und Abfragesprachen verfügen über komplexe Funktionen der Extraktion, der Bearbeitung und des Löschens von Zeichenketten. Daher ermöglichen „Reguläre Ausdrücke“ neben der Textbereinigung auch eine systematische Extraktion von Metadaten anhand eigens definierter Muster. Bereinigt und strukturiert vorliegende Textdaten werden anschließend mit drei grundlegenden Verfahren aus dem Bereich der Computerlinguistik aufbereitet: (a) die Tokenisierung, (b) die Lemmatisierung und (c) das Part-of-speech-Tagging. Unter (a) Tokenisierung versteht man die Segmentierung von Zeichenketten in logische Einheiten (Wörter, Satzzeichen, Zahlen). Als Trennungsmarker der einzelnen Tokens dienen dabei bspw. Leer- und Satzzeichen. Die Tokenisierung von Texten ist Voraussetzung für alle korpuslinguistischen Analyseverfahren, die auf Berechnungen von Häufigkeiten bestimmter Wörter basieren (bspw. Frequenzanalysen). Bei der (b) Lemmatisierung werden die einzelnen Tokens mit entsprechenden lexikalischen Grundformen – Lemmata – annotiert. Damit können Korpusanalysen alle Flexionen eines Wortes berücksichtigten. Ist eine Fokussierung auf einzelne Wortarten angedacht, können die Tokens zusätzlich mit dem Verfahren des (c) Part-of-speech-Tagging um die jeweiligen Wortarten wie bspw. Nomen oder Verben annotiert werden. Neben diesen drei grundlegenden Verfahren haben sich in den letzten Jahren zwei weitere Verfahren der Annotation etabliert, 21 BeautifulSoup (https://www.crummy.com/software/BeautifulSoup/; 01.11.2019); requests (http://de. python-requests.org/de/latest/; 01.11.2019); rvest (https://github.com/tidyverse/rvest; 01.11.2019) und Rcrawler (https://github.com/salimk/Rcrawler; 01.11.2019). 22 Die Module Tweepy (Python) und twitteR (R) bieten bspw. verschiedene Methoden zur Datenbeschaffung über die API von Twitter an. 23 Eine Einführung in Regex bietet der korpuslinguistische Onlinekurs von Noah Bubenhofer (www.bubenhofer.com/korpuslinguistik/kurs/index.php?id=regexp.html; 01.11.2019).

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die die Grundlage geographischer Textanalysen bilden: die Eigennamenerkennung (Named-entity-recognition, kurz: NER) und die darauf aufbauende Geokodierung bzw. Georeferenzierung. Für alle der hier vorgestellten Verfahrensschritte steht eine Vielzahl von OpenSource-Werkzeugen zur Verfügung: Das in Python geschriebene Natural Language Toolkit (NLTK) verfügt über Funktionen zur Tokenisierung von Texten und zur Annotation von Eigennamen. 24 Das Programm TreeTagger erkennt Wortarten in verschiedenen Sprachen. 25 Online-Gazetteers wie Nominatim oder GeoNames geokodieren Eigennamen von Orten.26 Das aufbereitete Korpus kann anschließend für das (3) Korpusdatenmanagement in eine Datenbank übertragen werden. Einerseits ist hier eine weitere Aufbereitung und Unterteilung des Korpus anhand von Metadaten möglich. Andererseits verfügen einige Datenbanken über integrierte linguistische Analysefunktionen. Neben den einschlägig bekannten SQL-Datenbanken, wie PostgreSQL und SQLITE, eignet sich hierfür besonders der Suchserver ElasticSearch oder die Software IMS Open Corpus Workbench (CWB).27 Letztere ist für Konkordanz- und Korpusanalysen optimiert und verfügt mit Corpus Query Processor (CQP) über eine eigene Abfragesprache für Korpusanalysen (vgl. Schopper/Wiertz 2017). Zusätzlich steht mit CQPWeb ein browserbasiertes graphisches Interface bereit, das einerseits das Korpusdatenmanagement und andererseits grundlegende Korpusanalysen unterstützt. Zudem verfügt CWB über eine Schnittstelle zur Programmiersprache R, die mithilfe der R-Bibliothek polmineR eine Integration in eigene Analyse- und Visualisierungsskripte ermöglicht.28 Das Setup aus R und CWB eignet sich daher gerade für den Einstieg in komplexere (4) Korpusanalysen und -visualisierungen. Neben den hier erwähnten Werkzeugen und Korpusdatenbanken gibt es unterschiedliche Programme, in denen einige Werkzeuge für die lexikometrische Diskursanalyse als Paketlösungen angeboten werden. Hierzu zählen bspw. Lexico, CorpusExplorer und TXM.29 24 Natural Language Toolkit (https://www.nltk.org/; 01.11.2019); StanfordNERTagger (http://www. nltk.org/api/nltk.tag.html#module-nltk.tag.stanford; 01.11.2019). 25 TreeTagger (https://www.cis.uni-muenchen.de/~schmid/tools/TreeTagger/; 01.11.2019). 26 Nominatim (https://nominatim.openstreetmap.org/; 01.11.2019); Geonames (https://www.geo names.org/; 01.11.2019). 27 Corpus Workbench (http://cwb.sourceforge.net/; 01.11.2019). 28 polmineR (https://polmine.github.io/; 01.11.2019). 29 Die Softwarepakete Lexico und TXM wurden im Kontext der universitären Lexikometrie in Frankreich entwickelt: Das französischsprachige Lexico liegt Stand Ende 2019 in der Version 5 vor (http://www.lexi-co.com/; 01.11.2019), TXM ist auch englischsprachig in Version 8 verfügbar

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora

Fazit: Potenziale und Grenzen korpuslinguistischlexikometrischer Verfahren für die Diskursforschung Wie die Ausführungen und Beispiele gezeigt haben, können lexikometrische Analysen im Rahmen diskursanalytischer Arbeiten einen wichtigen Beitrag leisten. Sie ermöglichen es, große Textmengen zu erfassen und auf Regelmäßigkeiten und Strukturen zu untersuchen, die „von Hand“, d.h. durch Lesen des*der Forschenden, nicht zu erfassen wären. Lexikometrische Verfahren bieten zudem die Chance, induktiv diskursive Strukturen herauszuarbeiten, die gerade nicht den Vorannahmen der Forschenden entsprechen. Strukturalistische bzw. poststrukturalistische Theorien teilen die Auffassung, dass Bedeutung durch regelmäßige Verknüpfungen von Elementen entsteht. Die Lexikometrie hilft, diese theoretische Annahme zu operationalisieren, indem sie Differenzbeziehungen von sprachlichen Elementen untersucht und damit die kontextspezifische Konstitution von Sinn im diachronen oder synchronen Vergleich herausarbeitet. Gerade der Vergleich unterschiedlicher Teilkorpora kann dabei eingesetzt werden, um auch Unterschiede, Verschiebungen und Brüche innerhalb des Diskurses – etwa Veränderungen über die Zeit oder Unterschiede zwischen Sprecherpositionen – herauszuarbeiten. Damit kann aufgezeigt werden, wie sich die Konstitution von Bedeutungen abhängig vom jeweiligen diskursiven Kontext verschiebt, wie sie verändert und von neuen Formen der Sinnproduktion herausgefordert wird (vgl. Glasze 2007a, b). Mithilfe der entsprechenden statistischen Verfahren können aber nicht nur Unterschiede zwischen einzelnen Teilkorpora untersucht werden, sondern auch Begriffshäufungen im Kontext bestimmter sprachlicher Formen. So kann für Fragestellungen, die sich mit der Herstellung kollektiver Identität und diskursiver Gemeinschaften beschäftigen, nach Kookkurrenzen des Begriffs „wir“ (sowie „uns“ etc.) gesucht werden. Die Signifikanten, die in solchen sprachlichen Kontexten besonders häufig auftreten, können Hinweise auf Prozesse der Identifikation und Abgrenzung bieten (vgl. Mattissek 2007). Die Verwendung lexikometrischer Verfahren stößt allerdings auch an Grenzen. So kann mittels lexikometrischer Verfahren zwar bspw. gezeigt werden, ob und wann das Wort „Afrika“ regelmäßig mit „Armut“ verknüpft und dementsprechend eine bestimmte Bedeutung hergestellt wird – oder nicht. Die lexikometrischen Analysen sind aber nur teilweise in der Lage, die Qualität dieser (http://textometrie.ens-lyon.fr/?lang=en; 01.11.2019). Das deutschsprachige Programmpaket CorpusExplorer wurde von einem deutschen Computerlinguisten entwickelt (https://notes.janoliver-ruediger.de/software/; 01.11.2019).

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Verknüpfungen herauszuarbeiten und damit zu untersuchen, ob z.B. zwischen den Elementen Beziehungen der Temporalität, der Äquivalenz, der Opposition oder der Kausalität hergestellt werden. Es erscheint daher heuristisch fruchtbar, auch diese Dimension der Konstitution von Bedeutung ins Blickfeld zu nehmen.30 Darüber hinaus erweist sich die Lexikometrie auch als wenig hilfreich, wenn es darum geht, ungesagtes oder implizites Wissen (etwa Prämissen, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden) zu erfassen. Nur sehr eingeschränkt lassen sich bislang Phänomene wie Ironie oder Sarkasmus computergestützt analysieren. In der Regel bietet es sich daher in empirischen Arbeiten an, lexikometrische Methoden mit anderen Verfahren zu kombinieren, die die Konstitution von Bedeutung in einzelnen Aussagen oder Texten adressieren. Insbesondere können die hier vorgestellten Verfahren der quantitativen Makroanalyse von Texten sinnvoll mit Verfahren der Argumentations- und Aussagenanalyse sowie kodierenden Verfahren verknüpft werden (s. Kap. 15: Felgenhauer 2021, Kap. 16: Mattissek 2021 u. Kap. 17: Glasze/Husseini de Araújo/Mose 2021). Für diese „Mikroverfahren“ liefert die Lexikometrie wichtige Anregungen, indem sie Hinweise auf relevante Themen- und Begriffsfelder gibt.

Exkurs: Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Fachbegriffe 

Signifikanz/Signifikanztests: In der Lexikometrie bzw. Korpuslinguistik spielen Signifikanztests eine wichtige Rolle. Sie werden verwendet, um bspw. zu überprüfen, ob ein bestimmtes Lexem in einem Teilkorpus signifikant häufiger vorkommt als in einem Referenzkorpus. In diachroner Perspektive kann damit geprüft werden, ob die Verwendung eines Sprachmusters sich zeitlich signifikant verändert. Auch bei der Berechnung von Kookkurrenzen und N-Grammen werden Signifikanztests eingesetzt, um zu bestimmen, ob zwei Wörter überzufällig (signifikant) häufig zusammen auftreten. Regelmäßig verwendete Signifikanztests sind bspw. der ChiQuadrat-Test oder der Log-Likelihood-Test.

30 Prinzipiell könnten diese Fragen auch mittels lexikometrischer Verfahren adressiert werden – die Untersuchung müsste dann letztlich unendlich lange fortgesetzt werden, um auch die signifikanten Umgebungen der signifikanten Umgebungen der signifikanten Umgebungen zu untersuchen usw. In der Forschungspraxis ist dies allerdings kaum umsetzbar.

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora









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Multivariate Verfahren: Ziel multivariater Analyseverfahren von Differenzbeziehungen ist die Erweiterung der Kookkurrenzanalyse hin zu einer Analyse eines komplexen differenziellen Netzes von Zeichen (Textelementen), in dem Bedeutung konstituiert wird. Dabei wird der Begriff „Kookkurrenz“ um eine Vielzahl von Dimensionen erweitert, sodass er die Beziehung mehrerer Elemente innerhalb eines differenziellen Zeichensystems beschreibt. Mithilfe multivariater Dimensionsreduktionsverfahren lässt sich dieser komplexe n-dimensionale Zusammenhang in einem zweidimensionalen Koordinatensystem visualisieren. Corpus based (korpusbasiert): Deduktive korpuslinguistische Verfahren, bei denen die Verteilung eines im Voraus definierten lexikalischen Elements in einem Textkorpus untersucht wird. Corpus driven (korpusgesteuert): Induktive korpuslinguistische Verfahren, die ohne im Voraus definierte Suchanfragen auskommen und damit die Chance bieten, auf Strukturen zu stoßen, die vor der Untersuchung noch nicht in Erwägung gezogen wurden. Genre: Mit dem Begriff des Genres werden in den Sprachwissenschaften Gruppen von Texten bezeichnet, für deren Strukturierung und damit deren Kohärenz sich historisch spezifische, institutionell stabilisierte Regeln etabliert haben. So gelten für die Strukturierung und Kohärenz wissenschaftlicher Fachaufsätze andere Regeln als für Zeitungsartikel und wiederum andere für politische Reden. Graphem: Als Graphem wird die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der geschriebenen Sprache bezeichnet. Kollokationen: s. unter Kookkurrenzen Kookkurrenzen: Als Kookkurrenz wird das überzufällig häufige gemeinsame Auftreten zweier oder mehrerer Wörter in einer bestimmten definierten Umgebung eines bestimmten Schlüsselwortes bezeichnet. Die Untersuchung von Kookkurrenzen zeigt, welche Wörter und Wortfolgen im Korpus mit einer gewissen Signifikanz miteinander verknüpft werden, d.h. das gemeinsame Auftreten ist höher, als bei einer Zufallsverteilung aller Wörter zu erwarten wäre. Eine Kookkurrenzanalyse untersucht die Wortumgebung eines ausgewählten Begriffs und gibt dadurch Aufschluss über seine Bedeutungskonstitution. Lexem: Das Lexem ist die kleinste semantische Einheit. Es bezeichnet eine Menge von Wörtern, welche alle Flexionsformen des gleichen Grundwortes darstellen, d.h. sich nur in bestimmten morphosyntaktischen Merkmalen (Kasus, Numerus, Tempus usw.) unterscheiden. So gehören z.B. die ver-

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schiedenen Flexionsformen eines Substantivs oder Verbs zum selben Lexem (laufen, läuft, läufst = ein Lexem; laufen, Läufer = zwei Lexeme). Lemma/Lemmatisierung: Ein Lemma bezeichnet in der Lexikographie und Linguistik eine lexikographische Standardnotation für ein Lexem. Ein Lemma ist die Grundform eines bestimmten Wortes, die nach bestimmten Notationskonventionen gebildet wird (z.B. im Deutschen für Nomen die Verwendung des Nominativ Singular, für das Verb der Infinitiv). Anhand einer Lemmatisierung wird eine Reduktion der Flexionsformen eines Wortes auf die Grundform durchgeführt. Lexikometrie: Die Lexikometrie zielt darauf ab, großflächige Strukturen der Sinn- und Bedeutungskonstitution in Texten zu erfassen. Lexikometrische Verfahren untersuchen die quantitativen Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen in geschlossenen Textkorpora, d.h. in Textkorpora, deren Definition, Zusammenstellung und Abgrenzung klar bestimmt ist und die im Laufe der Untersuchung unverändert bleiben. Okkurrenzen: In der Linguistik bezeichnet man mit Okkurrenz die Häufigkeit, mit der ein bestimmtes sprachliches Element wie bspw. ein Wort in einem komplexeren sprachlichen Zusammenhang auftritt. Konkordanz: Eine Konkordanz ist eine Liste, die alle Vorkommen eines ausgewählten Wortes – oder auch von Wortfolgen – in ihren Kontexten zeigt. Für Konkordanzen üblich ist eine zeilenweise Darstellung, die als KWIC (key word in context) bezeichnet wird. Auf der linken und rechten Seite des jeweiligen Wortes wird ein festgelegter Kontext, bestehend aus einer bestimmten Anzahl an Zeichen oder Wörtern, angezeigt. Konkordanzanalysen können sinnvoll als Vorbereitung und Hilfe für die qualitative Interpretation des Kontextes bestimmter Schlüsselwörter verwendet werden. Sprecherposition: Sprecherpositionen werden in Anlehnung an Überlegungen Foucaults als institutionell stabilisierte Positionen i.d.R. innerhalb von Organisationen gefasst, die spezifische Zugangskriterien haben und die bestimmte Möglichkeiten, Tabus und Erwartungen des Sprechens bzw. allgemein der Textproduktion mit sich bringen – weitgehend unabhängig von den Individuen, welche die Position einnehmen. Die Sprecherpositionen sind dabei selbst diskursiv konstituiert. Textkorpus: Ein Korpus ist eine Sammlung schriftlicher oder gesprochener Äußerungen, die als empirische Grundlage für sprachwissenschaftliche Untersuchungen dient. Die Beschaffenheit des Korpus hängt von der spezifischen Fragestellung und der methodischen Herangehensweise der Untersuchung ab. Die typischerweise digitalisierten Daten können ggf. Metadaten enthalten, die diese Daten beschreiben, sowie linguistische Annotationen.

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora



N-Gramme: Ein N-Gramm ist eine Folge aus N Zeichen oder N Wörtern. So besteht bspw. ein Monogramm aus einem Zeichen, z.B. nur aus einem einzelnen Buchstaben, das Bigramm aus zwei und das Trigramm aus drei Zeichen. Im Rahmen von lexikometrischen Analysen bezieht sich die Berechnung von N-Grammen vor allem auf Wortkombinationen aus N Wörtern (auch multi word units oder segments repetés genannt). So lassen sich NGramme nach ihrer Frequenz sortieren oder in komplexeren Verfahren nach ihrer Signifikanz gewichten.

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15 Raumbezogenes Argumentieren Theorie, Analysemethode, Anwendungsbeispiele Tilo Felgenhauer

Argumentieren und Begründen als „Geographie -Machen“ Fokussieren die Neue Kulturgeographie und die Politische Geographie soziale Aushandlungsprozesse um Raum, so stehen oft strukturale Machtaspekte und das Vermögen der hegemonialen Bedeutungsbelegung von Orten bzw. Raumausschnitten durch bestimmte Diskurspositionen im Vordergrund. Empirisch können dann mit qualitativen und quantitativen Analysen Sprechweisen, Begriffsbildungen und diskursive Formationen identifiziert werden, die als fest gefügte Deutungsmuster die sprachliche Konstruktion der räumlichen Wirklichkeit bestimmen. Solche diskursiven Geographien werden zur gesellschaftlichen Realität, wenn nur noch eine oder wenige „Lesarten“ des Ortes dauerhaft praxisrelevant bleiben und eine hegemoniale Deutung beliebige Um- und Neudeutungen ausschließt. Erweitert werden kann dieses machtzentrierte Verständnis mithilfe der Argumentationstheorie und der Methode der Argumentationsanalyse. Strategien, Rhetoriken und Standpunkte raumbezogener Debatten (z.B. Migrationsdebatten, Nutzungskonflikte, Konstruktionen regionaler Identität etc.) können als ein „Geben und Verlangen von Gründen“ (Brandom 2001: 41) aufgefasst werden. Geographische Weltbilder zeigen sich u.a. darin, welche Gründe für ein bestimmtes Handeln oder eine politische Forderung angegeben werden. Wer z.B. Maßnahmen zum Klimaschutz mit der Solidarität mit den besonders betroffenen sogenannten Entwicklungsländern begründet, drückt damit nicht nur seine Vorstellung einer globalen Verantwortungsgemeinschaft aus, sondern unterstellt auch die menschliche Verursachung des Klimawandels, dessen räum-

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Tilo Felgenhauer

lich ungleich verteilte Auswirkungen ebenso wie das Vermögen des Menschen, dem zu begegnen. Das heißt die im Diskurs vorgebrachten Argumente sind besonders geeignete Bestandteile, um die raumrelevanten Vorannahmen und das implizite Wissen der beteiligten Akteure systematisch untersuchen zu können. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen müssen Argumente und Begründungen im Allgemeinen nach relativ strengen Regeln konstruiert werden. Beim Argumentieren lassen wir im Alltag viel weniger „durchgehen“ als etwa im Bereich der Poesie. Auch ist der soziale Charakter eines Arguments ein komplett anderer als der eines Befehls, eines Berichts oder Ähnlichem. Das Argumentieren soll eigene Überzeugungen ausdrücken und vor allem verbreiten – sei es zum Gegenüber oder zum Publikum eines Massenmediums. Zum anderen sind Argumente sehr komplexe soziolinguistische Gebilde, auch und gerade dann, wenn sie mit wenigen Worten auskommen. Dieser Beitrag möchte zeigen, dass ihr impliziter Gehalt dabei nicht nur von großem Erklärungswert, sondern auch analytisch vergleichsweise gut zugänglich ist – gerade im Hinblick auf raumbezogenes Argumentieren. Die Argumentationsanalyse ist dementsprechend als Rekonstruktion einer alltäglichen Praxis zu verstehen – als ein qualitatives sprachanalytisches Verfahren, das vor allem die Satz- und Wortebene in den Blick nimmt. Sie setzt also auch qualitative Erhebungsverfahren voraus, die entweder Transkripte erzeugen (z.B. von Interviews, Filmen oder TV-Sendungen) oder textförmige Dokumente aufbereiten (z.B. Zeitungsartikel). Für die geographische Anwendung setzt dies voraus, dass sich die Textdatengrundlage thematisch-inhaltlich auf Raum oder eine geographisch relevante Problematik bezieht. Außerdem ist zu beachten, dass der interpretierbare Umfang zumeist auf kürzere Passagen beschränkt bleibt. Methodisch besteht der Kerngedanke darin, dass Rechtfertigungen und Begründungen, die für bestimmte Behauptungen angegeben werden, als Praktiken der Welt- und damit der Raumkonstruktion aufzufassen sind. Dies erfolgt zum einen, indem Begründungen und Argumente ausdrücklich auf räumliche Gegenstände und Probleme verweisen und damit deren Bedeutung und Sinn benennen1, und zum anderen, indem sie zumeist unausgesprochenes raumbezogenes Hintergrundwissen (re-)produzieren2. Während des Argumentierens 1

Linguistisch wird diese Ebene mit den Begriffen „Referenz“ (Bezug auf …) und „Prädikation“

2

Diese Ebene der Präsuppositionen ist vergleichbar mit dem Begriff des Vorkonstruktes in der

(z.B. Zuweisung einer Raum-Zeit-Stelle, Eigenschaft etc.) erfasst (s. Reisigl/Wodak 2001: 45ff.). Aussagenanalyse (s. Kap. 16: Mattissek 2020).

Raumbezogenes Argumentieren

schaffen wir eine bestimmte Geographie. Und dies nicht nur, indem wir alltäglich Aussagen über Raum machen, sondern vor allem, indem wir Aussagen über die räumliche Wirklichkeit „zwischen den Zeilen“ vermitteln oder diese als Rezipienten akzeptieren. So werden mithilfe von Argumenten ständig Gewissheiten über die räumliche Wirklichkeit bestätigt und verbreitet. Wie aber läuft diese Form der kommunikativen Praxis ab? Wie kann man dieses Tun rekonstruieren und analysieren? Und wodurch unterscheiden sich raumbezogene Argumentationen von anderen? Dazu sollen zu Beginn einige begriffliche und theoretische Grundlagen aufbereitet und auf empirische Beispiele angewendet werden, um die Vorgehensweise der Argumentationsanalyse zu verdeutlichen. Abschließend wird der Platz der Argumentationsanalyse und -theorie innerhalb der Diskursanalyse und innerhalb der Humangeographie diskutiert.

Grundbegriffe und Entwicklungslinien der Argumentationstheorie Das Argument war bereits ein wichtiger Bestandteil der antiken Rhetorik. Vor allem im Sinne praktischen „How-to-do-Wissens“ haben die Sophisten als „Rhetorik-Trainer“ zur Verbreitung rhetorisch-argumentativer Kenntnisse und Fähigkeiten beigetragen. Natürlich lag ihr Interesse nicht im theoretischanalytischen Erkennen, sondern darin, zum überzeugenderen Sprechen und Argumentieren zu befähigen. Die wichtigsten drei Redegattungen der politischen Staatsrede, Gerichtsrede und Festrede (Ottmers 2007: 17ff.)3 sind jeweils aus vier klassischen Redeteilen aufgebaut (ebd.: 54ff.): Exordium, der Redeanfang als Kontaktaufnahme zum Publikum, das Narratio, das eine plausible und glaubwürdige Beschreibung des Themas/Problems beinhalten soll, die Argumentatio, welche die entscheidende und überzeugende Beweisführung vorbringt. Abgeschlossen wird die Rede mit der Perroratio, dem emotionalen und affektorientierten Abschluss. Die Topik unterscheidet hier bereits einige Grundprinzipien und „gängige“ Wege des Argumentierens wie das Teil-Ganzes-Schema (induktive Argumentation) bzw. das Ganzes-Teil-Schema (deduktive Argumentation). Vergleiche und Gegensätze stützen die eigene Behauptung oder widerlegen die des Gegners, oder aber das Kausalprinzip soll Begründung und Behauptung wie eine naturgesetzliche Ursache-Wirkung-Relation aussehen lassen (zur modernen [Weiter-]Entwicklung vgl. Kienpointner 1992: 187ff. u. 246). 3

Geographisch interessant ist vor allem die Subgattung des sog. Städtelobes.

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Wer aktuelle Medienberichte oder politische Statements untersucht, wird die klassischen Elemente ebenso erkennen wie den Idealtypuscharakter dieses Schemas. Gesprochen und argumentiert wird so, aber eben auch anders. Der persuasive Effekt einer Rede kann sogar aus der Konterkarierung des klassischen Aufbaus resultieren. Ein Argument kann plausibel erscheinen auch ohne die traditionelle Rahmung, denn oft verhindert der Charakter moderner Massenmedien die rhetorische Ausbreitung und Entfaltung eines Themas im Sinne der klassischen Lehre. Interessanter erscheint es deshalb, die innere Struktur des Arguments und seine sozialen und kommunikativen Grundlagen zu untersuchen – trotz und gerade wegen der vielfältigen Verkleidung und Integration des Argumentativen im Alltag. Dabei kann man sich zunächst für die logische Konsistenz von Argumentationen interessieren (s. Salmon 1983; Bayer 1999), um daraus Kriterien zur Bewertung von Argumenten und Handlungsanweisungen zum „richtigen“ Argumentieren abzuleiten (s. van Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans 2002). Im Rückgriff auf das Prinzip des sogenannten „klassischen Syllogismus“, der ein Schlussschema der Form „wenn A = B und B = C, dann A = C“ beinhaltet, erscheinen diese auf das Logische abzielenden Prüfungen von Argumenten aber ebenso logisch zwingend wie empiriefern. Dies liegt vor allem daran, dass die logische Konsistenz nicht die zentrale alltags-praktische Instanz ist, die die Logiker gern in ihr sähen. Lehrbücher des Argumentierens bieten daneben auch eine formale Unterscheidung von Argumenten im Sinne einer „Morphologie“ an. Je nach Zahl und Ordnung der „Stränge“ einer Argumentation kann man bspw. Einzel- oder multiple Argumentationen unterscheiden (vgl. ebd.: 63ff.). Neben dem rein logischen Zugang und der klassifizierenden Formenlehre hat sich seit einiger Zeit eine dritte einflussreiche Forschungsrichtung aus der Wiederbelebung der Rhetorik im 20. Jahrhundert und aus der sprachpragmatisch interessierten Philosophie entwickelt. Chaïm Perelman (1980) als Vertreter dieser „neuen Rhetorik“ betont, dass die Stärken und Schwächen von Argumenten nicht aus logischer Reinheit resultieren, sondern aus der Wirkmächtigkeit vor einem „virtuellen Auditorium“. Argumentieren als rhetorische Kernpraxis ist damit stets gesellschaftlich situiert. Diese Einsicht findet man auch in Ludwig Wittgensteins Denken, das Sprechen als Handeln auffasst und die soziale Wirklichkeit als ein Konglomerat von „Sprachspielen“ versteht. Daraus entwickelte John L. Austin seine Sprachpragmatik („How to do things with words“, 1994 [1955]) und Stephen Toulmin (1996 [1958]) seine Argumentationstheorie (s.u.). Insbesondere Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1995 [1981]: 25ff.) und Josef Kopper-

Raumbezogenes Argumentieren

schmidt (2000) haben an diese Linie im deutschen Kontext angeknüpft und nach den sozialen und politischen Implikationen des Argumentierens gefragt. Argumentationen haben die Aufgabe, strittige Behauptungen auf unstrittige, allgemein akzeptierte Gründe zurückzuführen und so die anderen Diskussionsteilnehmer oder das Auditorium von der Gültigkeit der vorgebrachten Behauptung zu überzeugen. Gelungenes Argumentieren führt also die gemachte Behauptung zurück auf gemeinsame, vielleicht sogar universale Überzeugungen (vgl. Aristoteles’ „Enthymem“, s. Ottmers 2007: 74ff.). Daraus entsteht der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995 [1981]: 161). Gute Gründe haben für uns eine seltsame Affinität, die gegebenenfalls auch asymmetrische Machtverhältnisse transzendieren kann. Der Stärkere kann sich auf ein Argument einlassen und z.B. auf die gewaltsame Durchsetzung seines Willens verzichten. Dies ist eine besondere zivilisatorische Leistung, die nicht leichtfertig durch postmoderne Vernunftkritik und vorschnelle Relativierung aufs Spiel gesetzt werden sollte. Soll unsere Gesellschaft als emanzipiert, demokratisch und liberal gelten können – so eine zentrale Aussage der Habermas’schen Philosophie –, ist sie auf die Verbindlichkeit und Überzeugungskraft von Argumenten und Gründen angewiesen. Auch John Searle (2001) zeigt, wie schwer es ist, auf die Idee der Rationalität, die für das Argumentieren überhaupt grundlegend ist, zu verzichten. Er gibt das Beispiel, dass er gefragt wird, welches Argument er überhaupt für die Rationalität anführen könne, und erwidert sogleich, dass schon diese Frage selbst Rationalität voraussetzt. Auch Robert Brandom (2001) zeigt, dass selbst angesichts der Pluralisierung der Lebensstile und Weltbilder die Rationalität und damit unsere Fähigkeit zum Argumentieren für das Funktionieren der Gesellschaft grundlegend sind. Denn nur dann, wenn die Mitglieder sich verbindlich auf bestimmte Aussagen (und vor allem auf die Konsequenzen von Aussagen) festlegen lassen, kann die Bindungskraft entstehen, die z.B. für das Einhalten von Gesetzen und die Aufrechterhaltung von Alltagsroutinen notwendig ist. Ohne sprachliche Rationalität gibt es kein (An-)Erkennen der Konsequenzen, die aus bestimmten Aussagen entstehen, und damit keine soziale und normative Verbindlichkeit. Demzufolge ist die Praxis des Argumentierens nicht als exotische Sonderform des gesellschaftlichen Austauschs aufzufassen, sondern als eine konstitutive Ebene der sozialen und, wie nun zu zeigen sein wird, räumlichen Wirklichkeit. Geographisches Argumentieren ist keine spezifische Argumentationsart oder -form. Geographische Forschungsfragen können aber spezifische Aspekte in die Analyse von Argumentationen einbringen, die eine allgemeine, z.B. rein

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Tilo Felgenhauer

logische, Analyse der Argumentation außer Acht lassen würde 4. Die Themenfeld- und Wissensabhängigkeit ist im Analyseschema von Toulmin besonders gut sichtbar.

Die Methodik der Argumentationsanalyse Ausgangspunkt von Toulmins Überlegungen ist die Beobachtung, dass die Menschen nicht zwingend logisch argumentieren. Eine rein logische Analyse würde also die soziale Wirklichkeit zu einem großen Teil ausblenden oder nur als mangelhaft und unzulänglich erscheinen lassen. Seine Idee ist stattdessen die Untersuchung des tatsächlichen „Gebrauchs von Argumenten“ 5. Ihn interessieren nicht die Perfektion und Vollständigkeit des Arguments, sondern das reale, für die Akteure relevante Thema und dessen argumentative Darstellung. Er geht sogar so weit, analytische Argumente (die logisch zwingenden, aber praktisch irrelevanten) von den substanziellen „echten“ Argumenten zu unterscheiden (Toulmin 1996 [1958]: 111ff.). Es geht ihm nicht um eine logische Bewertung, sondern um ein Verstehen des realen Behauptens und Begründens. Die beiden letztgenannten Begriffe sind auch die ersten beiden Bestandteile, die Toulmin an einem Argument identifiziert (s. Abbildung 12, vgl. Kopperschmidt 2000: 109ff.): Eine Behauptung (claim oder auch conclusion genannt) wird durch einen Fakt (data) als Begründung gestützt. Ganz gleich, welches Thema verhandelt wird, diese beiden Komponenten machen das Argument aus. Das Interessante und Komplexe am Argument ist aber nicht deren simples Vorhandensein, sondern der gedankliche Übergang vom Grund zur Behauptung, von data zu claim. Diese abstrakte gedankliche Bewegung wird systematisch mithilfe des Argumentationsschemas zugänglich.

Toulmins Argumentationsschema Die Begriffe „claim“ (Behauptung) und „data“ (stützender Fakt, Begründung) bilden die Ausgangspunkte seines Schemas (s. Abbildung 12), werden aber um wichtige Elemente ergänzt. Um nach den Bedingungen des Übergangs vom da4

Zur Rezeption der Argumentationstheorie in der Humangeographie in diesem Sinne siehe Tilo Felgenhauer (2007a: 90ff.), Christiane Marxhausen (2010: 206ff.) und Jeannine Wintzer (2014: 115ff.).

5

Der Titel seiner Arbeit lautet: „The Uses of Arguments“ (i.O. 1958).

Raumbezogenes Argumentieren

ta zum claim zu fragen, bildet er eine dritte Einheit, den sogenannten warrant, in der deutschen Übersetzung als Schlussregel bezeichnet. Diese gibt an, welche (meist nicht ausgesprochene) Aussage die Erklärung für den Übergang vom data zum claim rechtfertigen würde. Die Schlussregel wiederum stützt sich auf Hintergrundwissen, ohne das sie nicht formulierbar wäre. Dies wird in der Kategorie „backing“ (auch: Stützung) eingetragen. Es stellt die unausgesprochenen Voraussetzungen für die Schlussregel und damit für das gesamte Argument dar. Abbildung 12: Das Argumentationsschema6 data (begründender Fakt)

claim/conclusion (Behauptung)

warrant (Schlussregel)

backing (Hintergrund)

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90, verändert)

Zu betonen ist dabei, dass Schlussregel und Hintergrund nicht als Bewertungen des Arguments durch den Interpreten zu verstehen sind, sondern die unausgesprochenen Elemente des Arguments wiedergeben sollen: Was müsste gelten, damit der Übergang vom data zum claim verständlich wird? Damit soll nicht die Plausibilität des Arguments beurteilt, sondern seine Funktion und Anatomie erläutert werden. Dazu zunächst ein einfaches hypothetisches Beispiel, dass aber bereits eine Anwendung auf raumbezogenes Schließen und Schlussfolgern beinhaltet.

6

Toulmin gibt außerdem noch „modale Operatoren“ (O) an, die die Strenge der Schlussregel (z.B. „D, deshalb wahrscheinlich C“) oder Ausnahmebedingungen (AB) angeben (z.B. „D, deshalb C, es sei denn …“) (s. Toulmin 1996 [1958]: 92f.).

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Beispiel 1: Raumargument und Herkunft Abbildung 13: Lena kommt aus Deutschland, deshalb ist sie Europäerin. data: Lena kommt aus Deutschland …

claim/conclusion: … deshalb ist sie Europäerin.

warrant: Deutschland ist ein Teil Europas. Alle Deutschen sind deshalb auch Europäer. Also ist auch Lena, weil sie aus Deutschland kommt, Europäerin.

backing: Europa setzt sich aus Teilräumen, z.B. Nationalstaaten, zusammen. Diese „enthalten“ Nationalitäten oder Ethnien, die räumlich voneinander separiert sind.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90)

Die Schlussregel gibt die deduktive Schlussfolgerung an, die mit allgemeingültigen Sätzen auch die spezifische Aussage über Lena stützt. Hier werden die Zwischenschritte des Schlussfolgerns explizit gemacht. Im backing ist dann das Hintergrundwissen benannt, das die Voraussetzung für die Schlussregel bildet. In diesem Fall geht es um das grundsätzliche Verständnis und die alltägliche Praxis, gesellschaftliche Differenzierungen (Individuen, Ethnien, Nationen) an territoriale Gliederungen (Deutschland, Europa) zu koppeln. Dieses Wissen wiederum repräsentiert natürlich keine „Naturtatsachen“, sondern ist kulturell und diskursiv erzeugt. Genau dadurch macht die Schlussregel das „gängige Normalverständnis“ oder eine hegemoniale implizite Lesart sichtbar. Und zwar nicht nur die des Argumentierenden, sondern ebenso die des Interpreten.

Beispiel 2: Regionaler Konsum Während das vorangegangene Beispiel (s. Abbildung 13) vor allem zur Illustration der Analysekategorien dient, soll nun gezeigt werden, wie die Argumentationsanalyse alltags- und handlungsorientiert eingesetzt werden kann, indem sie bspw. als Auswertungsmethode für qualitative Interviews benutzt wird. Dies erfordert nicht zwingend eine Fokussierung der Interviewform auf argumenta-

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tive Sprechakte, gezielte Begründungsaufforderungen durch den Interviewer können diese aber auslösen, um raumbezogenes Hintergrundwissen oder bestimmte Deutungsmuster zugänglich zu machen.7 Am Beispiel regionalen Konsums soll die Argumentationsanalyse wiederum als Zugang zur alltäglichen „Raumlogik“ benutzt werden. Das Beispiel stammt aus einem qualitativen Konsumenten-Interview, das am Verkaufsort geführt wurde. Die Befragte rechtfertigt ihre Präferenz für regionale, in diesem Fall Thüringer Lebensmittel: „Ich kaufe unbedingt die Thüringer Leberwurst, weil ich hier aufgewachsen bin. Also das will ich unbedingt auch von hier haben, wegen des Geschmacks. Ist das woanders her, ist das ganz anders im Geschmack.“ (Interviewauszug, vgl. Felgenhauer 2007b: 47) Zunächst zeigt sich die höhere Komplexität realer Argumentationen im Vergleich zum ersten hypothetischen Beispiel. Man spricht von einer sogenannten multiplen Argumentation (van Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans 2002: 69), weil zwei verschiedene Begründungen zur Stützung derselben Behauptung angegeben werden. Deshalb erfolgt die Analyse in Form von zwei Teilargumenten, die ein je eigenes Schema erfordern. Das erste Teilargument begründet die Produktwahl mit einem individuellen biographischen Hintergrund.

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Carsten Ulrich (1999) unterscheidet in seiner Form des „diskursiven Interviews“ zwischen Erzähl- und Begründungsaufforderungen. So kann zu Beginn in einem narrativen Teil eine freie Erzählung erfolgen, die anschließend durch Nachfragen und Begründungsaufforderungen durch den Interviewer ergänzt und fokussiert wird.

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Abbildung 14: Teilargument 1: raumgebundene Sozialisation und Konsumtion/Produktion data: „… weil ich hier aufgewachsen bin.“

claim/conclusion: „Ich kaufe Thüringer Leberwurst …“

warrant: Man kauft die Dinge, die dort produziert werden, wo man aufgewachsen ist [in diesem Fall Thüringen].

backing: Der Ort der Sozialisation bestimmt die Produktwahl des Konsumenten. Produktions-, Sozialisations- und Konsumtionsgeographie sollten übereinstimmen. Sozialisation und Konsumtion sind ortsgebundene Praktiken (Gewohnheit? Eingeübtes Verhalten?) oder sollten es sein.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90)

Ein Grundprinzip bei der Produktwahl besteht offenkundig darin, die eigene Herkunft, die sich biographisch ausprägt, und die Herkunft der konsumierten Produkte in Übereinstimmung bringen zu wollen. „Herkunft“ wird dabei räumlich/geographisch gedacht und mit „Bodenständigkeit“ und Kontinuität als Idealvorstellung verknüpft. In der Deutung der Interviewten ist die Welt sprichwörtlich „in Ordnung“, wenn die Geographien des eigenen Lebenslaufs, der Produktion und der Konsumtion von Lebensmitteln übereinstimmen. Das zweite Teilargument (s. Abbildung 15) ergänzt dies.

Raumbezogenes Argumentieren

Abbildung 15: Teilargument 2: Der Herstellungsort prägt die Produkteigenschaften data: „… wegen des Geschmacks.“

claim/conclusion: „Also das will ich unbedingt von hier haben …“

warrant: „Ist das woanders her, ist das ganz anders im Geschmack.“ [Ist es von hier, hat es den gewünschten Geschmack.]

backing: Produkteigenschaften sind abhängig vom Herstellungsort. Der geographische Ort prägt die Produkteigenschaften.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90).

Während das erste Teilargument ausdrückt, dass die eigene Lebenswelt und die Muster der Produktbewertung raum- und ortsgebunden sind bzw. sein sollten, stützt das zweite Argument die Annahme, dass der Ort auch die Produkteigenschaften determiniert. Das erste Teilargument postuliert die Prägung der Menschen durch den Ort im Sinne der Ausprägung bestimmter Präferenzen bei der Produktwahl. Das zweite Teilargument postuliert die Prägung des Produktes durch den Ort, das dann „logischerweise“ diesen Präferenzen am besten entspricht. So schematisiert, gibt die Argumentation insgesamt Aufschluss über die unausgesprochenen deskriptiven oder normativen Annahmen, die die Interviewte über die Geographie der Produktion und Konsumtion macht. Solche und ähnliche „Raumlogiken“ sind im alltäglichen, lebensweltlichen Kontext ebenso am Werk wie in der Weltpolitik, wie das folgende Beispiel zeigt.

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Beispiel 3: Geopolitik Abbildung 16: Streit um Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer

data: Der türkische Festlandsockel umfasst die umstrittenen Gewässer.

claim: Die Türkei hat keinen Anspruch auf die Gasvorkommen. claim: Die Türkei hat Anspruch auf die Gasvorkommen.

warrant: Geomorphologie entscheidet über Zugehörigkeit.

data: Die Gasvorkommen liegen in den Küstengewässern der griechischen Inseln.

warrant: Räumliche Nähe rechtfertigt administrativen/ökonomischen Anspruch.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90)

Im Streit um Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer im Sommer 2020 haben die „Anrainer“ Griechenland und Türkei geographisch interessante Argumente vorgebracht. Anlass war zunächst die Erkundungsfahrt eines türkischen Forschungsschiffes, welches sich dabei auch in bisher Griechenland zugeschriebenem Hoheitsgebiet bewegt hat. Im Zuge der folgenden Auseinandersetzung wurde für und gegen die Erkundung sowie geplante Ausbeutung der Gasvorkommen durch die Türkei argumentiert. Von griechischer Seite wurde gegen die türkischen Aktivitäten mit dem Verweis auf die Zugehörigkeit der durchfahrenen Gewässer zu den weit verstreut liegenden, oft kleinen griechischen Inseln protestiert. Die Gewässer befänden sich in der räumlichen Umgebung der Inseln, ergo gehörten diese zu den Inseln und damit zum griechischen Hoheitsgebiet. Umgekehrt wurde von türkischer Seite dargelegt, dass die Inseln selbst zwar griechisches Territorium darstellten, sich die sie umgebenden Gewässer (und vor allem der hier wichtige Meeresgrund) aber zum großen Teil auf dem türkischen Festlandsockel befänden und damit ein natürliches Recht für die Türkei bestehe, in diesen Meeresgegenden Rohstoffe zu suchen und zu nutzen.

Raumbezogenes Argumentieren

So durchsichtig diese Argumentationen angesichts der machtpolitischen Konstellation auch sein mögen – wollen die Akteure untereinander, von den außerdem beteiligten politischen Institutionen (EU, internationale Seegerichtsbarkeit u.a.) und in der Öffentlichkeit Zustimmung für ihre Ziele erlangen, müssen sie sich dem „Argumentationszwang“ unterwerfen. Der Diskurs verlangt – gerade angesichts eines drohenden militärischen Konflikts – von den Parteien die Darstellung der eigenen Position in Form eines Arguments: Im Fall der Türkei basiert dieses im Aufbieten eines wissenschaftlichen, geomorphologischen Befundes, im Fall Griechenlands wird eine allgemein akzeptierte Distanzlogik bemüht, die besagt, dass räumliche Nähe immer auch eine Intensität der Beziehung und letztlich territoriale Zugehörigkeit impliziert. In beiden Fällen wird suggeriert, dass sich die politische Praxis von „natürlichen Verhältnissen“ leiten lassen sollte. Nun könnte man diese Argumente sicherlich entkräften oder zumindest ins Wanken bringen, indem man wiederum die Schlussregeln hinterfragt und nach Gründen für deren Gültigkeit und Relevanz sucht. Man sollte die Wirksamkeit und Verbreitung der hier zutage tretenden „Raumlogiken“ aber nicht unterschätzen und stattdessen das Gedankenexperiment wagen, wie man als kritische*r kulturgeographische*r Analyst*in auf die Frage antworten würde, warum z.B. Kamerun oder Österreich keine Möglichkeit erhalten, an den Rohstoffen des östlichen Mittelmeers zu partizipieren. Dann sieht man sich womöglich selbst aus diskurskritischer Sicht versucht, eine distanz- oder geologische Argumentation zu führen. So durchschaubar, so machtpolitisch motiviert die hier untersuchten Argumente auch sein mögen – die ihnen zugrunde liegenden Vorannahmen und Schlüsse, auch im Sinne des Aus-Schließens, sind vielerorts zu finden8.

Diskussion der Ergebnisse Auffällig ist in den Beispielen, dass Raumbezüge vor allem in den impliziten Teilen des Arguments (warrant, backing) zu finden sind. Diese scheinen für die sprachliche Raumkonstitution, d.h. für die Bedeutungs- und Sinnerzeugung 8

Unabhängig von diesen knappen illustrativen Beispielen ist festzustellen, dass die Methode der Argumentationsanalyse auch in umfassenderen empirischen Untersuchungen mit sehr unterschiedlichen Raumthematiken verwendet wird: z.B. bei Felgenhauer (2007a: 167ff.) mit Bezug auf den medialen Diskurs um „Mitteldeutschland“ und bei Fabian Faller (2016: 142ff.) mit Bezug auf die Relevanz räumlicher Aspekte für Akteure in der Biogaserzeugung. Dominik Kremer (2013: 186f.) thematisiert Argumentationen und Begründungen als Teil von ortsbezogenen Erinnerungsnarrativen am Beispiel der Stadt Bamberg.

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des sprachlichen Raumbezugs, entscheidend zu sein. Ausdrückliche Benennungen mithilfe sogenannter Toponyme, wie z.B. „Thüringen“, sind zwar vorhanden, müssen aber – um als solche erkannt und als „Raumbezeichnungen“ verstanden werden zu können – an ein komplexes geographisches Weltwissen als eine Art „Basisvokabular“ anschließen können. Dieses besteht z.B. aus kognitiven Metaphern (vgl. Lakoff/Johnson 2003 [1980]; Schlottmann 2005), die in die Schlussregel (warrant) und das backing eingelassen sind. Zum einen ist die sogenannte Container-Metapher (oder auch das Container-Konzept) ein besonders wichtiges Prinzip der Raumkonstruktion, weil es zweidimensionale Ausschnitte der Erdoberfläche zu dreidimensionalen „Behältern“ macht, die dann als Nationalstaaten oder Regionen gedacht werden (s. Beispiel 1, Abbildung 13). Die Sprechweise „in Deutschland“ oder „aus Deutschland“ bringt genau dieses Konzept zum Ausdruck, das alle möglichen Natur- und Kulturphänomene zum Inhalt eines räumlich begrenzten Containers macht – vom Bürger mit einer bestimmten Nationalität bis hin zur Wurst aus Thüringen. Anthropomorphisierungen sind ein weiteres, häufig anzutreffendes Element impliziter sprachlicher Geographien. Hier wird die Region oder Nation als Wesen vorgestellt, dem dann auch Bewusstsein und Handlungsfähigkeit zugeschrieben werden kann. Im Fall internationaler Konflikte (vgl. Beispiel 3, Abbildung 16) geschieht dies typischerweise dadurch, dass Nationalstaaten wie selbstverständlich als die Akteure in politischen Auseinandersetzungen erscheinen. Im weiteren Sinne zählen auch Zentrum-Peripherie-Figuren zu solchen grundlegenden Konzepten, die auch in der phänomenologischen Lebensweltphilosophie und der humanistic geography eine zentrale Rolle spielen. Die Welt, so der Kerngedanke des Lebensweltkonzepts von Edmund Husserl (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 71), wird unserer Sinneswahrnehmung entsprechend in ein inner- und außerkörperliches Erleben eingeteilt – unser Bewusstsein ist von der Außenwelt abgeteilt. Unser Körper erscheint dabei als Koordinatenursprung, um den herum sich die Welt in konzentrische Kreise gliedert. Phänomenologisch gesehen, ist jeder „sein“ bzw. jede „ihr“ eigener Mittelpunkt der Welt. Das sprachliche Zeigen (Deixis), das wie in Beispiel 2 („von hier“) immer in Abhängigkeit vom Sprecherstandort interpretiert wird, drückt genau diese Körper- und Subjektzentrierung der Sprache aus (dazu Genaueres in Kap. 16: Mattissek 2020). Ausgehend von der eigenen Situiertheit werden räumliche Unterscheidungen vorgenommen: „hier“ vs. „woanders“, „nah“ vs. „fern“, „vertraut“ vs. „fremd“ etc. Diese und andere Grundmuster der sprachlich-kognitiven Welteinteilung sind für die Artikulation von raumbezogenen Argumenten grundlegend, und deshalb bildet die Argumentationsanalyse umgekehrt auch die Möglichkeit zu

Raumbezogenes Argumentieren

deren Freilegung. In Relation zur Diskurstheorie stellt sich die Frage, ob die Schlussregeln alltäglicher Argumentationen mit hegemonialen Lesarten gleichzusetzen sind. In dem Sinne, wie sie auf geteiltes Wissen von Sprecher*in und Adressat*innen verweisen, spiegeln sie natürlich auch Machtverhältnisse, die das Spektrum möglicher Schlussregeln praktisch (und nicht nur logisch) begrenzen. Plausibilität und Überzeugungskraft eines Arguments können aber nicht allein durch Machtkonstellationen determiniert sein. Denn wenn es um reine Hegemoniezementierung ginge, wäre das Argumentieren eine viel zu anstrengende, reflektionsbehaftete, offene und deshalb ungeeignete Praxis.

Diskussion der Methode Die Argumentationsanalyse ist vor allem auf einzelne Diskursausschnitte anzuwenden, wodurch sie ergänzend zur qualitativen Inhaltsanalyse oder auch zu anderen „Makro-Verfahren“ zum Einsatz kommen kann. Wie die Schematisierungen zeigen, ist sie außerdem in ihrer Vorgehensweise eine Art still stellende Methode – das Prozessuale und Dynamische wird mithilfe der Schematisierung gewissermaßen eingefroren, damit aber auch der Besichtigung und Analyse überhaupt erst zugänglich gemacht. Aus dem auch zeitlich formierten Textoder Redefluss werden einzelne Elemente herausgegriffen, die den Sprechakten des Behauptens und Begründens entsprechen. Natürlich müssen diese, um dem Kriterium einer validen qualitativen Analyse zu entsprechen, auch real im Textzusammenhang stehen. Es geht aber nicht um eine umfassende Materialstrukturierung, sondern um die Explikation einzelner Passagen, die einen argumentativen Charakter tragen. Die Argumentationsanalyse könnte so im Teilschritt der Explikation auch in eine qualitative Inhaltsanalyse integriert werden (vgl. Mayring 1999: 91ff.). Die Interpretation der Textpassage erfolgt dann aber nicht unter Zuhilfenahme textexterner Wissens- und Datenbestände, sondern textintern, indem nach dem impliziten Gehalt in Form von Schlussregeln und Geltungsbedingungen gefragt wird. Weiterhin ist die Bereichsabhängigkeit der Argumentation und Argumentationsanalyse zu beachten (vgl. Toulmin 1996 [1958]: 222). Aus grundsätzlich unendlich vielen logischen Geltungsbedingungen werden im Fall einer kulturgeographischen Fragestellung lediglich die raumbezogenen herausgefiltert. Wollte man hier logische Vollständigkeit erreichen, müsste man bspw. in Beispiel 3 ontologische Setzungen wie „Das Mittelmeer existiert“ mit aufführen, was allerdings wenig zielführend im Hinblick auf die Beantwortung einer konkreten diskursanalytischen Forschungsfrage erscheint. Um diese Fokussierung herzu-

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stellen, sollte bereits die thematische geographische Relevanz der zentralen Behauptung bzw. der expliziten Begründung vor der genauen Analyse abgeschätzt werden. Dazu kann die Identifizierung von Toponymen (z.B. mithilfe von lexikometrischen Verfahren, s. Kap. 14: Dammann et al. 2020 u. Kap. 17: Glasze/Husseini de Araújo/Mose 2020) oder von Sprachelementen räumlicher Deixis ein Vorbereitungsschritt sein. Bezogen auf den Modus und die erwartbaren Ergebnisse raumbezogener Argumentationen ist zu sagen, dass diese keine spezifische äußere Form aufweisen – sie benötigen keine eigene Form der Schematisierung. Wohl aber zeichnen sich die Schlussregeln in ihrem Gehalt durch einen spezifischen Raumbezug aus. Insgesamt ist die Argumentationstheorie als Teilgebiet der Sprachpragmatik zu verstehen, d.h. das Geben und Verlangen von Gründen sind Handlungen, die sprecher- und situationsgebunden erfolgen. Tendenziell weicht dieses Verständnis sowohl von der traditionellen Logik als auch von einigen Linien der Diskurstheorie ab, weil das strukturalistische Moment und die übergeordnete Formation zugunsten der „Mikropraxis“ der einzelnen Argumentation zurückgestellt werden. Da jede Argumentation primär als monologisches Handeln (Lumer 1990: 6) mit einem autonomen Gültigkeitsanspruch zu verstehen ist, ist diese prinzipiell auch kontextfrei analysierbar. Für die Schematisierung muss das einzelne Argument zunächst isoliert werden, um seine „Binnenlogik“ erfassen zu können. Anschließend ist eine Verknüpfung oder auch Kontrastierung unterschiedlicher Argumente möglich und eine Rahmung im Sinne einer Makroanalyse anschlussfähig. Sprachwissenschaftlich (Textlinguistik) ist die Argumentationstheorie und -analyse vor allem mit den Konzepten der Kohärenz und der thematischen Verknüpfung von Aussagen („thematische“ oder „anaphorische Wiederaufnahme“, Brinker 2001: 27ff.) kompatibel, weil es auch hier (wie beim Argumentieren, aber in einem allgemeineren Sinne) um die rationale Fähigkeit geht, Aussagen aufeinander beziehen zu können, Widersprüche zu erkennen oder implizite Schlussfolgerungen zu ziehen (vgl. ebd.: 36; mit geographischem Bezug s. Felgenhauer 2007a). Dieses Vermögen, mit dessen Hilfe wir bspw. Schlussregeln und deren Konsequenzen im Alltag identifizieren und unausgesprochen akzeptieren, wird von Robert Brandom mit dem Begriff der Inferenz beschrieben (Brandom 2001: 9). Wir können Aussagen im Alltag nicht beliebig und frei deuten, weil das Vorbringen und Akzeptieren von Behauptungen in erstaunlich hohem Maße an soziale Bindungen (Erwartungen, Normen, Sanktionierungen etc.) gekoppelt ist. Diese werden mithilfe unserer rationalen Fähigkeiten, wie sie sich im Argumentieren (aber nicht nur dort) zeigen, in die Alltagssprache eingeflochten. So wird das Verstehen einer Aussage zwar stets zur Interpretati-

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ons-, aber niemals zur reinen Privatsache. Unsere Freiheit der Artikulation wird demnach nicht nur vom jeweiligen Diskurs und dessen „Sagbarkeiten“, sondern auch von unserer sprachlichen Vernunft ermöglicht und gleichzeitig begrenzt. Diese Erweiterung vom Argument zur Inferenz kann in ihrer empirischen Anwendung z.B. dann von Nutzen sein, wenn man nicht-argumentative, aber gleichwohl kohärente Texte oder visuelles Material analysieren will. Bilder können nicht eigentlich argumentieren, wohl aber können sie uns als Interpret*innen zu bestimmten Inferenzen und Schlussfolgerungen veranlassen. Das heißt in der Text-Bild-Interpretation, ob alltäglich oder wissenschaftlich, werden die gleichen Fähigkeiten aktiviert, die auch beim Argumentieren am Werk sind – natürlich durch ästhetische, emotionale und andere Interpretationsdimensionen erweitert.

Einordnung in das humangeographische und diskursanalytische Methodenspektrum Die Argumentationsanalyse bildet ein Mikroverfahren, das im Rahmen einer umfassenderen Diskursanalyse auf der Satzebene operiert und grundsätzlich qualitativ angelegt ist. Je nach Charakter der jeweiligen Untersuchung kann die Argumentationsanalyse im Sinne einer reinen hermeneutischen Rekonstruktion (Welche Prämissen und Behauptungen werden real postuliert und akzeptiert?) oder auch als kritisch-rationale Dekonstruktion (Welche Prämissen beinhalten diskursive Schließungen, hegemoniale oder manipulative Deutungen?) angewendet werden. Die Methode ist in ihrer diskursanalytischen und insbesondere sozialgeographischen Anwendung nicht als Rhetorikschule zu verstehen, die hauptsächlich die logische Konsistenz, ethische Qualität oder gar affektive Wirkung einer Argumentation beurteilen helfen soll. Es handelt sich auch nicht primär um eine „entlarvende“ Aufklärungstechnik, obwohl natürlich das ideologiekritische Potenzial der Methode auf der Hand liegt – etwa im Sinne der Extraktion hegemonialer Lesarten. Sie ist aber vor allem ein Weg, das in Alltagsargumentationen „eingebaute“ geographische Vorwissen zu extrahieren und damit die Prämissen und impliziten Gehalte raumbezogener Kommunikation sichtbar zu machen. Ihr diskursanalytisches Potenzial könnte dann in einem nächsten Schritt die Offenlegung der Geltungsbedingungen von raumbezogenen Argumenten

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auch im außerwissenschaftlichen Alltag für die Akteure selbst, z.B. im Bereich der Konflikt-Mediation, erleichtern. Die Möglichkeit, die Argumentationsanalyse relativ reibungslos in umfassendere Diskursanalysen zu integrieren (s. z.B. Wodak et al. 1998; Reisigl/ Wodak 2001), sollte die gänzlich unterschiedlichen theoretischen Hintergründe jedoch nicht verdecken. Während die Argumentationsanalyse aus der Sprachpragmatik kommt, die einen mehr oder weniger starken Handlungs- und Rationalitätsbegriff beinhaltet, kritisiert insbesondere die poststrukturalistische Diskurstheorie Begriffe wie Handlungsrationalität, Vernunft und Subjekt. Beide Theorie-„Schulen“ geben eine je eigene Antwort auf die Herausforderung, wie Raum als kontingentes Phänomen zu fassen sei. In einer groben Verallgemeinerung könnte man sagen, die Pragmatik favorisiert eine rationalistische, die diskurstheoretische eine strukturalistische Erklärung der sozialen Fixierung des Räumlichen. Bei der Anwendung der Argumentationsanalyse ist also jeweils auf die Kompatibilität von Makro- und Mikroebene zu schauen, sodass sich Argumentations- und Diskursanalyse ergänzen und nicht widersprechen.

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16 Die Aussagenanalyse als Mikromethode der Diskursforschung Annika Mattissek

Eine zentrale Aussage strukturalistischer und poststrukturalistischer Ansätze im Allgemeinen und der Diskurstheorie im Besonderen ist die konstitutive Rolle der Sprache für die gesellschaftliche Produktion von Bedeutungen (s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021). Folglich liegt der Schluss nahe, die Regeln der Bedeutungsproduktion einer Gesellschaft über deren Verfasstheit in sprachlichen Formen zu erschließen. Mit den Ausführungen zu lexikometrischen Verfahren wurde in Kapitel 14 von Finn Dammann et al. (2021) ein Zugang vorgestellt, der versucht, situationenübergreifende Muster des Sprachgebrauchs zu erfassen und die für diesen Sprachgebrauch grundlegenden Regeln und Verknüpfungen herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen lässt allerdings die Frage offen, wie in empirischen Analysen auch die Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten analysiert werden können, die sich aus der kontextspezifischen Aneignung sprachlicher Formen ergeben. Denn ähnlich wie die qualitative Sozialforschung widersprechen auch viele theoretische Konzepte des Poststrukturalismus der Idee, dass (sprachliche) Bedeutungen eindeutig seien, und insistieren vielmehr darauf, dass Sinnproduktion nur für bestimmte Situationen bzw. soziale Kontexte erfasst werden kann. Im Folgenden soll daher mit der Aussagenanalyse in der Tradition der französischen Schule der Diskursanalyse ein methodologischer und methodischer Zugang vorgestellt werden, der diesen Anspruch – Vieldeutigkeit, Kontextbezug und Heterogenität der Sinnproduktion zu erfassen – einzulösen sucht. Im Zentrum des Vorgehens steht dabei der Versuch, die Regeln offenzulegen, anhand derer Verbindungen zwischen sprachlichen Äußerungen und ihrem nichtsprachlichen Kontext hergestellt werden.

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Grundlagen der Aussagenanalyse Weitgehend unbeachtet von der angloamerikanischen und zunächst auch von großen Teilen der deutschsprachigen Diskussion hat sich in den letzten vierzig Jahren in Frankreich im Schnittfeld von Sprachwissenschaften und Sozialwissenschaften eine breite Auseinandersetzung mit Fragen der Operationalisierung von Diskurstheorien entwickelt. Aus dieser sind sowohl Methoden der Makroanalyse, d.h. der Auswertung und wissenschaftlichen Beschreibung großer Textkorpora (vgl. Kap. 14: Dammann et al. 2021), als auch der Mikroanalyse, d.h. der Analyse einzelner Aussagen, hervorgegangen (vgl. Williams 1999; Angermuller 2007). Solche eng am Text arbeitenden mikroanalytischen Verfahren haben in den letzten Jahren zunehmend auch Anwendung in raumbezogenen Diskursanalysen gefunden (vgl. Mattissek 2008; Tijé-Dra 2014; Linnemann 2019; Sturm 2019). In diesem Beitrag werden ihre konzeptionellen Grundlagen, methodischen Zugänge und empirischen Potenziale für diskursanalytisches Arbeiten ausgelotet. Für die Ansätze der Aussagenanalyse lassen sich drei zentrale Prämissen festhalten: Materialität der Form, Überdeterminierung der Sinnproduktion und Regelhaftigkeit der Bedeutungskonstitution. Diese drei grundlegenden Konzepte werden im Folgenden kurz ausgeführt. Verfahren der Aussagenanalyse nehmen die Materialität der Form zu ihrem Ausgangspunkt, d.h. sie gehen nicht davon aus, dass die Bedeutung von Texten durch einen dahinterliegenden „Sinn“ bestimmt wird, sondern postulieren, dass Sinn einen instabilen, diskursiven Effekt darstellt, der im Zusammenspiel sprachlicher (materialer) Formen und dem jeweiligen interpretativen Kontext immer wieder aufs Neue hervorgebracht wird. „Die Zeichen und Praktiken des Diskurses erweisen sich insofern als ‚material‘, als sie keinen stabilen inhärenten Sinn aufweisen. Sinn ist ein Effekt, der im Zusammenspiel der materialen Elemente des Diskurses mit dem Kontext im interpretativen Prozess entsteht.“ (Angermuller 2007: 104) Ein zentrales Charakteristikum dieser Sinnproduktion ist es, dass diese nicht eindeutig ist, dass also die Bedeutung einer Aussage nicht absolut und objektiv bestimmt werden kann, sondern durch Überdeterminierung gekennzeichnet ist. Mit Überdeterminierung ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass Aussagen unterschiedlich interpretiert werden können und eine unterschiedliche Funktion und Bedeutung haben, je nachdem in welchem Kontext sie geäußert werden. So können etwa durch den Satz „Wir Europäer zeichnen uns durch eine gemeinsame Wertebasis aus, die es zu bewahren gilt“ recht unter-

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schiedliche politische Gemeinschaften konstituiert werden, abhängig davon, wer diesen Satz in welchem Kontext wie äußert. Die Regelhaftigkeit der Bedeutungskonstitution schließlich postuliert, dass die Frage, welche Bedeutung eine Aussage hat, zwar nicht kontextunabhängig bestimmt werden kann, dass sie aber trotzdem bestimmten Regeln folgt, die ebenfalls in der Sprache angelegt sind. Ziel ist es folglich, die allgemeinen Schemata der Äußerung, die oft unbewusst und unreflektiert ablaufenden Prozesse der inhaltlichen Verknüpfungen einzelner Begriffe und die Regeln, nach denen diese mit ihrem diskursiven Kontext in Verbindung gesetzt werden, offenzulegen.

Verfahren der Aussagenanalyse Um die Regeln der Bedeutungskonstitution zu bestimmen, die aus der Verbindung von Text und Kontext entstehen, wendet sich die Aussagenanalyse denjenigen sprachlichen Ausdrucksformen zu, die über die einzelne Aussage hinausweisen und sie reflektieren. Das geschieht etwa, indem sie diese mit einer Person, einer Zeit und einem Ort in Bezug setzen – wie die deiktischen Partikel – oder indem sie wie Verneinungen auf alternative Sichtweisen aufmerksam machen, die für die Interpretation der Aussage notwendig vorausgesetzt werden müssen. Der Ansatz macht somit die sprachlichen Formen, durch die die Deutung von Texten durch den Leser angeleitet wird, explizit und trägt damit dazu bei, die Interpretation innerhalb des Forschungsprozesses nach hinten zu verschieben. „Wie Texte tatsächlich verstanden werden, kann und will dieser Ansatz nicht bestimmen. Aber Texte können auch nicht beliebig verstanden werden. So geben die Formen, mit denen Texte operieren, den Lesern Instruktionen über die relevanten Ko- und Kontexte. Diese unterspezifizierten Formen organisieren den Diskurs, indem sie ihre Leser auf die Suche nach den Kontexten schicken, in denen sie geäußert werden.“ (Angermuller 2007: 140)

Ziel ist es also nicht, den (eindeutigen) Inhalt eines Textes zu bestimmen, sondern aufzuzeigen, wie sich ein Text über in ihm angelegte Ausdrucksformen mit immer wieder neuen Äußerungskontexten verbindet (vgl. ebd.: 137). Die logischen Verknüpfungen zu den jeweiligen Äußerungskontexten (also bspw. die Verbindung zwischen „hier“ = „mein Schreibtisch am Geographischen Institut“, „jetzt“ = „ein sonniger Vormittag im April“ etc.) stellen die einzelnen Spre-

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cher*innen (Enunziator*innen) in Kommunikationssituationen individuell her – diese Verknüpfungen sind der Analyse nicht zugänglich. Neben diesen sehr konkreten Verweisen enthalten Texte aber auch vielfältige implizite Referenzen auf kontextspezifische soziokulturelle Formen vorausgesetzten Wissens. Beispielsweise evozieren Verweise auf „die Globalisierung“ das Vorhandensein eines Prozesses, der bei den meisten Leser*innen weitreichende Assoziationen hervorrufen wird – welche diese sind, ist jedoch abhängig davon, mit welchen Debatten die Rezipient*innen jeweils vertraut sind. Hinzu kommt, dass in einer Aussage mehr als eine Sichtweise zu einem bestimmten Thema vorhanden sein kann und unterschiedliche Diskursstränge mit teilweise widersprüchlichen Argumentationen angesprochen werden können. Insgesamt lassen sich also zumindest drei unterschiedliche Formen enunziativer Markierungen unterscheiden, die auf verschiedene Dimensionen der Analyse der Äußerung verweisen und die weiter unten näher erläutert werden: •





Zunächst werden die Parameter angesprochen, die die Verbindung zu möglichen Äußerungskontexten organisieren – insbesondere deiktische Partikel (vgl. unten), die die personelle, räumliche und zeitliche Verortung garantieren (z.B. „wir“, „hier“, „jetzt“). Die Instruktionen zu den argumentativen Verkettungen mit anderen Aussagen rekurrieren auf Annahmen und Aussagen, die zum „Verständnis“ einer Aussage getroffen bzw. angenommen werden müssen – Vorkonstrukte, Präsuppositionen, Implikationen. Der Verweis auf die Vielzahl vorhandener Sprechperspektiven spricht das Konzept der Polyphonie an, das einzelne Aussagen als Gewirr unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Sprechperspektiven versteht.

Die genannten drei Dimensionen der Verortung einer Aussage in einem diskursiven Kontext werden im Folgenden näher erläutert. Gemeinsam sind diese Aspekte in der Lage, auf der Mikroebene einzelner Aussagen das Zusammenwirken größerer diskursiver Zusammenhänge zu verdeutlichen. Dabei wird sich zeigen, dass in der Aussagenanalyse vor allem solche Ausdrücke relevant sind, die in inhaltsanalytischen oder lexikometrischen Herangehensweisen meist zu kurz kommen: indexikalische Ausdrücke („ich“, „wir“, „hier“ etc.) und Konnektoren („aber“, „weil“, „dennoch“ etc.) sowie Modalisatoren und evaluative Termini, durch die in der Aussage Subjektivität hergestellt wird.

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Deiktika/Deixis Eine erste Form sprachlicher Ausdrücke, die die Äußerung zu ihrem diskursiven Kontext in Bezug setzen, sind die deiktischen Formen oder Zeigewörter wie z.B. „ich“, „hier“ und „jetzt“. Die deiktischen Wörter reflektieren die Äußerung dadurch, dass sie auf die Person, den Ort und die Zeit der Äußerung verweisen (vgl. die Hier-ich-jetzt-Origo von Karl Bühler 1965 [1934]). „The deictics pertain to how a sequence is designated as relating to an object of discourse.“ (Williams 1999: 238) Durch diese Verweisfunktion haben deiktische Wörter eine doppelte Bedeutung, die sie von lexikalischen Ausdrücken unterscheidet: „Jedes Zeigewort, so Jakobson [1957, Anm. AM], hat eine eigene allgemeine Bedeutung. So ist ICH der Sender und DU der Empfänger einer an ihn gerichteten Nachricht. Das Signifikat der Zeigewörter unterscheidet sich jedoch von dem gewöhnlicher Nomen. Der Bezug eines Zeigewortes ist nur zu klären, wenn man es im räumlichen und temporalen Kontext der Äußerung untersucht. Zeichen wie fenêtre/Fenster oder tulipe/Tulpe können dagegen exakt definiert werden und ermöglichen eine rein empirische Bestimmung einer Gruppe von Gegenständen, die als ‚Fenster‘ oder ‚Tulpe‘ bezeichnet werden dürfen.“ (Maingueneau 2000 [1986]: 18)

Die primären Äußerungspartikel („ich“, „hier“, „jetzt“) lassen sich durch eine Reihe weiterer Verweiswörter ergänzen, die sich wiederum in Pronomen der Person, die direkt vom Äußerungskontext abhängen („wir“, „du“, „uns“, „euch“ etc.) und Pronomen der Nicht-Person, die auf eine weitere textuelle Umgebung verweisen („er“, „sie“, „man“ etc.) unterscheiden. Eigennamen, sowohl von Menschen („Michel Foucault“, „Annika Mattissek“) als auch von Orten („Freiburg“, „Deutschland“), stellen eine dritte, „absolute“ Referenzweise dar, da sie mit ihrem Objekt konventionell verbunden sind (vgl. Angermuller 2007: 120). Über solche deiktische Partikel kann in Texten Subjektivität hergestellt werden, „und zwar insofern als der Gebrauch dieser Partikel es den Sprechern erlaubt, ihren ‚subjektiven Abdruck‘ in der Sprache zu hinterlassen“ (ebd.: 122). Eine besondere Rolle für die Analyse diskursiv hergestellter raumbezogener Identitäten können die Verknüpfung von Personalpronomen wie „wir“ und „uns“, durch die eine Gemeinschaft konstituiert wird, mit räumlichen Bezügen wie „hier“ und „dort“ einnehmen („Wir hier in Europa sind anders als die anderen dort in den USA/im Orient/in Asien“). Auf diese Weise kann nachvollzogen werden, welche Bereiche des „Eigenen“ und des „Fremden“ in Texten unterteilt werden und mit welchen Eigenschaften diese Bereiche jeweils verbunden werden. Aber nicht nur personelle, sondern auch temporale und räumliche Verwei-

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se werden über Deiktika organisiert: So erfordern auch zeitliche Adverbien wie „gestern“, „damals“, „letztes Jahr“ und „bald“ oder räumliche Verortungen wie „nah“, „fern“, „hinter“, „links“ einen Bezug auf einen gewissen Zeitpunkt oder Standpunkt, um im diskursiven Kontext eine (temporär fixierte) Bedeutung annehmen zu können. Aus Sicht einer diskurstheoretisch informierten Humangeographie können gerade die letztgenannten raumbezogenen Deiktika eine herausgehobene Rolle einnehmen. Denn ihre Analyse macht deutlich, wie auch in alltäglichen, oft unbewusst ablaufenden Kommunikationssituationen Aufteilungen der Welt in Bereiche des Eigenen und des Fremden, der Nähe und der Ferne konstituiert werden. Dies geschieht, indem räumliche Deiktika diskursiv mit bestimmten „Raumcontainern“ verknüpft werden und somit immer wieder aufs Neue Grenzziehungsprozesse performativ vollzogen werden.

Vorkonstrukt Der Begriff des Vorkonstrukts trägt bei Michel Pêcheux dem Umstand Rechnung, dass eine Äußerung nicht im luftleeren Raum steht, sondern an andere Äußerungen anschließt, die zuvor getroffen wurden (Pêcheux 1983). „Über das Vorkonstrukt ragt ein Außen in den Diskurs hinein, das sich in der Regel als ein Wissen präsentiert, das sich von selbst versteht und keiner weiteren Begründung bedarf.“ (Angermuller 2007: 152) In Pêcheux’ Theorie verweisen die Vorkonstrukte insbesondere auf soziale und institutionelle Strukturen, in die eine Äußerung eingebettet ist. Neben den unmittelbar für das „Funktionieren“ von Aussagen notwendigen Voraussetzungen wird dadurch also ein ganzes Set an Wertungen und Positionierungen angesprochen, die den Hintergrund von Aussagen bilden (vgl. auch Kap. 15: Felgenhauer 2021). So impliziert etwa die (fiktive) Aussage „Die Bekämpfung des globalen Klimawandels, der sich zu einem zentralen Thema entwickelt hat, darf nicht unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gefährden“ zunächst einige Banalitäten, wie dass es einen globalen Klimawandel gibt und dass zu dessen Bekämpfung Maßnahmen ergriffen werden können. Darüber hinaus werden aber auch normative Positionen berührt, die ebenfalls zum „Verständnis“ der Aussage notwendig sind, wie etwa dass ein Wettbewerb zwischen Wirtschaftsstandorten stattfindet, dass dieser für Standorte bedrohlich ist und dass sich daraus die Notwendigkeit ergibt, Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels zu diesem ins Verhältnis zu setzen. Was aus dem Satz in dieser Form ohne Kontext nicht hervorgeht, ist, auf wen oder was sich das in der Wettbewerbsfähigkeit gefährdete „wir“ bzw.

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„uns“ bezieht. In realen Zitaten könnten das z.B. Städte oder Regionen, aber auch Nationalstaaten oder die Europäische Union sein. Das Auftreten von Vorkonstrukten lässt sich nach Johannes Angermuller (2007: 154) insbesondere (aber nicht ausschließlich) an zwei grammatikalischen Formen festmachen: den nicht-notwendigen Relativsätzen („der sich zu einem zentralen Thema entwickelt hat“) sowie Nominalisierungen, die bspw. durch bestimmte Endungen wie „-ismus“ (Kapitalismus, Liberalismus) angezeigt werden. Von diesen unterschiedlichen Formen nimmt in der Literatur die Diskussion von Nominalisierungen den weitaus größten Raum ein (vgl. Williams 1999; Baker 2006). Unter Nominalisierungen versteht man Substantive, die als Kurzform für einen ganzen Satz mit Subjekt und Prädikat stehen und damit einen Transformationsprozess von der Verbform zum Nomen durchlaufen haben. „Nominalization involves a process being converted from a verb or adjective into a noun or a multi-noun compound (e.g. discover → discovery, solve → solution).“ (Baker 2006: 153) Nominalisierungen abstrahieren von dem Umstand, dass die beschriebenen Prozesse oder Zustände das Ergebnis des Handelns von Akteuren sind (vgl. ebd.: 153). In diesem Sinne verweisen sie auf ein diskursives Vorwissen (bzw. Vorkonstrukt), indem Aussagen getroffen werden, für die innerhalb der Aussage keine diskursive Person (kein „ich“, „wir“ oder „die Regierung“) mehr die Verantwortung übernimmt. „Thus, when nominalisation occurs, so also does preconstruction, in the sense that there is no trace of the taking in charge that one has with verbs. Thus the example ‚the development of steel production is important‘ claims that something is important without implying any responsibility for that development. The series of marks of person and modality are absent, leaving the taking in charge and agency within the context of the preconstructed.“ (Williams 1999: 224)

Eine Möglichkeit, die Vorkonstrukte in Nominalisierungen sichtbar zu machen, ist die Paraphrase, die diese wieder in eine Verbform überführt und damit die enunziativen Referenzen wieder „zurückgibt“. Beispielsweise könnte mit Bezug auf das oben stehende Beispiel der recht abstrakte Bezug auf „die Bekämpfung des Klimawandels“ rückverwandelt werden in „Personen oder Gruppen, die den Klimawandel bekämpfen“. Eine solche Paraphrase in Verbform wirft dann in deutlich höherem Maße als die Nominalisierung die Frage auf, wer oder was hier tätig wird oder tätig werden sollte, und akzentuiert daher auch stärker Fragen nach Zuständigkeit oder Verantwortung.

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Mehrstimmigkeit von Aussagen/Polyphonie Bereits die Analyse der Deiktika erlaubt es, der Heterogenität von Bedeutungen einzelner Aussagen insofern gerecht zu werden, als diese mit immer wieder neuen und anderen diskursiven Kontexten in Verbindung gesetzt werden müssen und dadurch immer wieder neuer und anderer „Sinn“ entsteht. Ein weiterer Ansatz, der der Heterogenität von Sinn Rechnung trägt, ist die Analyse der polyphonen Struktur von Aussagen. Im Gegensatz zu den Deiktika sieht diese allerdings Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit nicht nur als Ergebnis der Verbindungen zwischen Text und Kontext, sondern als bereits in einzelnen Textsegmenten selbst eingeschrieben. Die Analyse der polyphonen Struktur einer Aussage geht auf Oswald Ducrot (1984) zurück. Ducrot zufolge sind in einer Aussage nicht nur eine Stimme (die des*der Sprecher*in), sondern eine ganze Reihe verschiedener Stimmen präsent, die durch Verbindungswörter wie „nein“, „jedoch“, „aber“, „sondern“, „wahr“, „vielleicht“ etc. auf unterschiedliche Distanz gehalten werden. Solche Konnektoren nehmen deswegen eine zentrale Stellung ein, da sie „Aussagen in ein argumentatives Verhältnis zueinander setzen“ (Angermuller 2007: 128). Beispielsweise operiert die Aussage „Die Umsetzung von Klimaschutzzielen ist wichtig, aber wir dürfen darüber nicht die Belange des lokalen Naturschutzes vergessen“ mit zwei Teilaussagen: a) „Die Umsetzung von Klimaschutzzielen ist wichtig“ und b) „Wir dürfen darüber die Belange des lokalen Naturschutzes nicht vergessen“. Beide Aussagen werden vom „Verantwortlichen“ der Äußerung, dem Lokutor, auf unterschiedliche Distanz gehalten: Beide werden in der Aussage als „wahr“ vorausgesetzt, jedoch erscheint die erste Aussage durch die Einschränkung der zweiten in einem neuen Licht: Zu a) wird eine größere Distanz deutlich als zu b). Mit anderen Worten: In der Aussage wird zwar für einen bestimmten Standpunkt (die Umsetzung von Klimaschutzzielen) Stellung bezogen, jedoch nicht ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es zu diesem Sachverhalt auch noch weitere Meinungen gibt, die so dominant sind, dass sie sich als konkurrierende Deutungsangebote quasi in die eigentliche Äußerung „hineinschleichen“. Zur Beschreibung der Vielstimmigkeit von Aussagen unterscheidet Ducrot zwei „diskursive Wesen“ (Angermuller 2007: 129): zum einen den Lokutor, d.h. die Instanz, welche „für die Aussage verantwortlich zeichnet“ (Ducrot 1984: 193, zit. nach Angermuller 2007: 129), zum anderen Enunziatoren (énonciateurs), die für einzelne Positionierungen stehen und die vom Lokutor auf unterschiedliche

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Distanzen gehalten werden. Diese diskursiven Wesen, Lokutor und Enunziator, sind nicht zu verwechseln mit „realen Personen“. „Lokutor und Enunziator [sind] diskursive Wesen, die zum Inventar der Aussage gehören und nicht auf ein sprechendes Subjekt, auf ein bestimmtes Individuum draußen in der Welt, zurückgeführt werden können.“ (Angermuller 2007: 130) Vielmehr können sich in Äußerungen von ein und derselben Person durchaus eine Vielzahl von Stimmen und Perspektiven überlagern, die sich gegenseitig stützen, widersprechen und infrage stellen. Durch diese Sichtweise auf einzelne Aussagen als Schauplatz unterschiedlicher divergierender Ansichten und Stimmen macht Ducrot deutlich, dass „die Bedeutung“ von Aussagen nicht auf einen homogenen einheitlichen Ursprung zurückzuführen ist (vgl. ebd.: 129). Gerade die Analyse der polyphonen Struktur von Aussagen scheint somit geeignet, um diskursive Situationen zu analysieren, in denen ein (diskursiv artikulierter) Bruch zwischen der hegemonialen und etablierten Diskursstruktur auf der einen Seite und einer vor diesem Hintergrund getroffenen und zu der hegemonialen Darstellung widersprüchlichen Aussage auf der anderen Seite besteht. Diese Brüche und Widersprüche zeigen sich dann oftmals in einem gehäuften Auftreten von verneinenden Konnektoren (z.B. „aber“, „nicht“, „sondern“) ebenso wie in einer Vielzahl von Adjektiven und Verben, die eine Verneinung beinhalten (z.B. „unanständig“, „unvermeidlich“, „zweifellos“, „entgegentreten“). Diese besondere Bedeutung von Negationen erklärt sich daraus, dass diese nicht, wie etwa in der mathematischen Logik, zu einer Aufhebung der ursprünglichen Aussage führt. „Die Negation [macht] einen positiven Wert (p) nicht wie in einer mathematischen Operation einfach zu einem negativen Wert; sie ist eine komplexe Operation, in der sich zwei Stimmen überlagern, und zwar ein Enunziator (énonciateur), der etwa E:(p) äußert, und ein Lokutor, der den Enunziator auf Distanz hält (L: ‚Es ist nicht wahr, dass E:(p)‘).“ (Angermuller 2007: 129)

Die Spuren der ursprünglichen „positiven“ Äußerungen bleiben also in der Aussage als Hinweis auf alternative Sichtweisen enthalten. Neben den Konnektoren, die die einzelnen Stimmen in Aussagen orchestrieren, nennt Angermuller noch weitere linguistische Anzeichen für polyphone Strukturen: So können auch modale Brüche (z.B. Wechsel zum Imperativ), indirekte Rede, nominalisierte Sätze, assertive 1 oder negierende Partikel sowie der Gebrauch von Ironie Hinweise auf Teilaussagen geben, die vom Lokutor der 1

Durch assertive Partikel werden Forderungen, Drohungen oder Aggressionen ausgedrückt.

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Aussage auf unterschiedliche Distanz gehalten werden (vgl. Angermuller 2007: 129ff.). Alle diese Formen stellen Beispiele dafür dar, dass Aussagen geäußert werden, ohne dass der Lokutor die Verantwortung für diese übernimmt, hinterfragen damit die Homogenität von Aussagen und machen Heterogenitäten explizit.

Empirisches Beispiel Die dargelegten Potenziale der Aussagenanalyse sollen abschließend anhand eines Fallbeispiels illustriert werden. Gegenstand der vorgestellten empirischen Untersuchung war eine Analyse des Stadtimagemarketings deutscher Großstädte (Frankfurt am Main, Köln und Leipzig, vgl. Mattissek 2008). Die Anforderungen an dieses Imagemarketing ergeben sich aus den hegemonialen Vorgaben eines globalisierten Standortwettbewerbs, die Standards wie Effizienz, Modernität, Wettbewerbsorientierung etc. einfordern. Allerdings lassen sich Stadtimages durch gezielte Marketingmaßnahmen nicht einfach beliebig verändern. Denn die getätigten Zuschreibungen müssen sich immer in einen Kontext bereits etablierter Repräsentationen einreihen, und durch diesen Kontext wird gewissermaßen ein pfadabhängiges „Glaubwürdigkeitsspektrum“ vorgegeben. Daher können Darstellungen, die zu weit von diesem Spektrum abweichen, zu unvorhergesehenen Diskurseffekten führen, die den Bruch zwischen hegemonialem Image und aktueller Repräsentation deutlich machen. Solche Widersprüche zwischen konkurrierenden Zuschreibungen können anhand eines gehäuften Auftretens von Konnektoren wie „aber“, „nicht“, „sondern“, etc. festgemacht werden. Dies zeigte sich in der empirischen Analyse bspw. in Frankfurt am Main, wo das Stadtimagemarketing versuchte, entgegen der hegemonialen Darstellung als „kalter Bankenstadt“ auch solche Elemente im Stadtimage zu verankern, die eine positive Ortsbindung ermöglichen, wie in den folgenden zwei Textausschnitten deutlich wird. „Kein Zweifel: Frankfurt bringt auf reizvolle Art und Weise Gegensätzliches zusammen. Und auf das angenehmste die Vorzüge einer Weltstadt mit Beschaulichkeit. Eine Stadt mit Lebensart, in deren Straßen Vielsprachigkeit selbstverständlich ist. Dabei liegen zwischen Weltstadtflair und anheimelnder Gemütlichkeit in Frankfurt oft nur ein paar Schritte. Und kaum zu glauben, die Finanzmetropole ist kein steinerner Moloch, sondern eine sattgrüne Stadt.“

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„Nirgendwo wird ein höheres Tempo angeschlagen als auf der Zeil, einer der umsatzstärksten Einkaufsstraßen Deutschlands. Die Stadt am Main ist aber auch gemütlich. Apfelweinkneipen in jedem Stadtteil lassen den Alltag beim Feierabend vergessen.“ (http://www.stadt-frankfurt.de; 16.03.2008)

Der Widerspruch zwischen den hier gewählten Zuschreibungen zu Frankfurt und den sonst im Stadtimage dominierenden Eigenschaften zeigt sich in Form von diskursiven Brüchen: Die Behauptung, Frankfurt sei „heimelig“ und „gemütlich“ ist diskursiv kaum möglich, ohne durch polyphone Markierungen („dabei“, „kein“, „aber“) implizit auf die weitaus stärker im Diskurs verankerte hegemoniale Repräsentation von Frankfurt als wenig emotionaler Stadt zu verweisen. Die Analyse der deiktischen Markierungen im Stadtimagemarketing war im Rahmen der zitierten Untersuchung in erster Linie geeignet, um diskursive Trennungen in Bereiche des Eigenen und des Anderen zu untersuchen, die konstitutiv für die Etablierung raumbezogener Identitäten sind. So war es etwa für die Stadt Leipzig zum Zeitpunkt der Untersuchung (noch) charakteristisch, dass diese in starkem Maße als „Stadt im Osten“ wahrgenommen wurde, was diskursiv mit einer ganzen Reihe problematischer Konnotationen verknüpft war (Arbeitslosigkeit, Abwanderung etc.). Folglich wurde in der Eigendarstellung häufig versucht, sich von „dem Osten“ zu distanzieren, sei es in zeitlicher Hinsicht („heute spielt das keine Rolle mehr“) oder in räumlicher Hinsicht, wie der folgende Textausschnitt deutlich macht: „In seinem Büro, das mit viel Glas und hellem Holz eingerichtet ist, rückt der Münchner Marzin die neuen Koordinaten der Leipziger Messe zurecht: ‚Hier ist nicht Ostdeutschland, wir sind ein zentraler Punkt in Mitteleuropa‘.“ (SZ, 27.08.2005, eigene Herv.)

Diese Darstellung etabliert eine positive Abgrenzung von der problematischen Wahrnehmung der Stadt Leipzig als „ostdeutsche Stadt“. Jedoch ist dies nicht möglich, ohne auf die hegemoniale Trennung in „Ost“ und „West“ Bezug zu nehmen (dieser Bruch zeigt sich erneut in dem Begriff „nicht“). Dabei wird allerdings die eigene Identität durch die Begriffe „wir“ und „hier“ gerade in Abgrenzung von „dem Osten“ konstituiert, der somit das ausgeschlossene Andere der eigenen Identität darstellt. Implizit als Vorwissen vorausgesetzt wird in dieser Darstellung, dass dieser „ganz andere Osten“ eben gerade nicht durch die positiven Eigenschaften gekennzeichnet ist, die in dem Zitat der Stadt Leipzig zugeschrieben werden (hell, zentral, neu), denn erst durch diesen Gegensatz wird die eigene Abgrenzung verständlich.

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Fazit Die hier nur sehr kurz angerissenen Beispiele machen deutlich, dass in einzelnen Aussagen oftmals eine Vielzahl von Positionierungen und Annahmen enthalten sind. Diese können mithilfe des beschriebenen Instrumentariums sichtbar und damit der Analyse zugänglich gemacht werden. Insbesondere für poststrukturalistisch informierte Diskursanalysen bedeutet dies eine Bereicherung, bietet sich damit doch die Möglichkeit, Brüche und Heterogenitäten, deren zentrale Bedeutung auf der theoretischen Ebene postuliert wird, auch empirisch „finden“ und analysieren zu können. Zudem eröffnen sich dadurch Möglichkeiten, Widersprüche zwischen hegemonialen Diskursstrukturen und sie herausfordernden konfligierenden Darstellungen sichtbar zu machen.

Exkurs: Grundbegriffe linguistischer Methoden Anschließend an Arbeiten der Linguistik lässt sich zwischen unterschiedlichen Worttypen mit unterschiedlichem Status innerhalb der Analyse differenzieren (vgl. Achard 1995: 76): Wörter mit einer lexikalischen Funktion/lexikalische Wörter und indexikalische Wörter (vgl. Williams 1999). 



Bei lexikalischen Wörtern (lexicon/lexical) wird Bedeutung über ihren performativen Gebrauch und ihre relationalen Bedeutungen zu anderen Wörtern in unterschiedlichen Kontexten bestimmt. Diese Bedeutung konstituiert einen bestimmten Überschneidungsbereich „ähnlicher“ Bedeutungen, der als „site of maximum common meaning“ (Williams 1999: 213) bezeichnet werden kann. Indexikalische Wörter tragen keine eigene inhaltliche Bedeutung, sondern beziehen diese erst im spezifischen Gebrauch innerhalb eines diskursiven Kontextes durch die Verbindungen mit diesem („ich“, „du“ oder „hier“ bspw. können in unterschiedlichen diskursiven Kontexten auf völlig unterschiedliche Personen und Orte verweisen).

Diese Unterscheidung hat Konsequenzen für die Frage, auf welche Typen von Wörtern sich unterschiedliche Analysestrategien beziehen: Während lexikalische Wörter vor allem Gegenstand quantitativ-korpusanalytischer Methoden sind, die versuchen, Regelmäßigkeiten von Verknüpfungen aufzuzeigen, setzen die Verfahren der enunziativen Analyse häufig gerade bei den indexikalischen Wörtern an, die die Verbindung zwischen Text und Kontext organisieren.

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Literatur Achard, Pierre (1995): „Formation discursive, dialogisme et sociologie“, in: Langages 117, S. 82-95. Angermuller, Johannes (2007): Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld: transcript. Baker, Paul (2006): Using corpora in discourse analysis, London/New York: Continuum. Bühler, Karl (1965 [1934]): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: Gustav Fischer. Dammann, Finn/Dzudzek, Iris/Glasze, Georg/Mattissek, Annika/Schirmel, Henning (2021): „Verfahren der lexikometrisch-computerlinguistischen Analyse von Textkorpora“, in: Glasze, Georg/Mattissek, Annika (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript, S. 313-344. Ducrot, Oswald (1984): Le dire et le dit, Paris: Minuit. Felgenhauer, Tilo (2021): „Raumbezogenes Argumentieren: Theorie, Analysemethode, Anwendungsbeispiele“, in: Glasze, Georg/Mattissek, Annika (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript, S. 345-364. Glasze, Georg/Mattissek, Annika (2021): „Diskursforschung in der Humangeographie: Konzeptionelle Grundlagen und empirische Operationalisierungen“, in: Glasze, Georg/Mattissek, Annika (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozialund kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript, S. 13-61. Linnemann, Kirsten (2019): „‚Es war kein Job, es war eine Berufung‘ – Gouvernementale Führung, fragmentierte Subjekte und contre-conduite in der nichtstaatlichen Entwicklungspraxis“, in: Geographica Helvectica 74, S. 167181. Maingueneau, Dominique (2000 [1986]): Linguistische Grundbegriffe zur Analyse literarischer Texte, Tübingen: Narr. Mattissek, Annika (2008): Die neoliberale Stadt. Diskursive Repräsentationen im Stadtmarketing deutscher Großstädte, Bielefeld: transcript. Pêcheux, Michel (1983): Language, semantics and ideology. Stating the obvious, London/Basingstoke: The Macmillan Press.

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Sturm, Cindy (2019): Klimapolitik in der Stadtentwicklung. Zwischen diskursiven Leitvorstellungen und politischer Handlungspraxis, Bielefeld: transcript. Tijé-Dra, Andreas (2014): „Eine andere banlieue? Eine Diskursanalyse gegenhegemonialer Raumproduktionen“, in: Europa Regional 20 (12), S. 89-102. Williams, Glyn (1999): French discourse analysis. The method of post-structuralism, London/New York: Routledge.

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Einleitung: Analyse komplexer Bedeutungssysteme Diskursanalysen untersuchen im Anschluss an die konzeptionellen Überlegungen von Michel Foucault bzw. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Konstitution und Wandel von sprachlichen und nicht-sprachlichen Bedeutungssystemen (s. Kap. 1 bis 8, vgl. Viehöver 2001: 177). Diese Bedeutungssysteme können sehr komplex sein. So wird in Texten, um deren Analyse es in diesem Kapitel gehen wird, Bedeutung nicht nur durch die Verknüpfung einzelner Elemente hergestellt, sondern durch vielfältige Verbindungen und vielschichtige Relationen oberhalb der Wort- und Satzebene, häufig sogar oberhalb der Ebene einzelner konkreter Texte. Um diese im Rahmen einer diskursanalytischen Untersuchung greifen zu können, reichen Verfahren, die unmittelbar quantifizierend an der sprachlichen Oberfläche ansetzen (wie lexikometrisch-korpuslinguistische Verfahren, s. Kap. 14: Dammann et al. 2021) vielfach nicht aus. Ein wichtiges Verfahren diskursanalytischer Arbeiten ist daher auch das stärker interpretative Kodieren von Elementen und deren Verknüpfungen (s.u.). Das Ziel des Kodierens als Teilschritt einer Diskursanalyse ist es, Regelmäßigkeiten im (expliziten und impliziten) Auftreten (komplexer) Verknüpfungen von Elementen in Bedeutungssystemen herauszuarbeiten. Diese lassen sich dann als Hinweise auf diskursive Regeln verstehen. Dabei werden Techniken der interpretativen Textanalyse sowie der qualitativen Inhaltsanalyse angewendet, die allerdings an die theoretischen Vorannahmen angepasst verwendet werden müssen. Aus diesem Grund wird in dem Kapitel zunächst der Stellenwert des Kodierens in diskurstheoretischen Analysen diskutiert und gegenüber der Funktion des Kodierens in qualitativen Inhaltsanalysen abgegrenzt. Anschließend wird dargestellt, welche Elemente in textbasierten Diskursanalysen kodiert werden können, wie sich Korpora für die Kodierung zusammenstellen lassen und wie die Kodierung

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abläuft. Anhand dreier Fallstudien im Themenbereich raumbezogener Identität wird dann beispielhaft die Integration kodierender Verfahren in diskurstheoretisch orientierte Forschungsprojekte dargestellt.

Kodierende Verfahren im Rahmen diskurstheoretisch orientierter Forschungsprojekte Wozu kodieren in Diskursanalysen? Kodierende Verfahren können im Rahmen diskursanalytischer Untersuchungen hilfreich sein, um Regeln des Diskurses und damit letztlich Regeln der Konstitution von Bedeutung und der Herstellung sozialer Wirklichkeit aufzudecken. Kodierungstechniken wurden in den Sozialwissenschaften zunächst vor dem Hintergrund interpretativ-hermeneutischer Theorien entwickelt, bspw. im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2008 [1983]) und in Ansätzen der grounded theory (Strauss/Corbin 1996 [1990]; Glaser/Strauss 1998 [1967]). Innerhalb dieser interpretativ-hermeneutisch orientierten Ansätze dient das Kodieren dazu, Textstellen zu klassifizieren und zu bündeln. Die dabei entwickelten Codes werden als Indikatoren für einen bestimmten Inhalt, einen bestimmten Sinn interpretiert. In diskurstheoretisch orientierten Forschungsprojekten dient das Kodieren von Elementen und deren Verknüpfungen dazu, Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten und von diesen Regelmäßigkeiten auf die Regeln der diskursiven Bedeutungskonstitution zu schließen. Dementsprechend halten die beiden Diskursforscher Rainer Diaz-Bone und Werner Schneider (2003) fest, dass Kodierungen in diskurstheoretisch orientierten Analysen zwar auch der Identifizierung und Markierung von Textstellen dienen, diese Textstellen aber nicht unmittelbar als Indikator für bestimmte Inhalte interpretiert werden. Vielmehr zielen die Kodierungen darauf ab, die in den Texten (re-)produzierten diskursiven Ordnungen herauszuarbeiten. Während der Ablauf der Kodierung (Markierung, Ordnung, Klassifizierung) in diskurstheoretisch orientierten Analysen also vielfach ähnlich verläuft wie in interpretativ-hermeneutisch orientierten Analysen (Reuber/Pfaffenbach 2005: 162; Mayring 2008 [1983]: 65ff.), ist der konzeptionelle Stellenwert des Kodierens ein anderer: Ziel ist es, Aussagen über Strukturiertheit und Regelhaftigkeit in der Bedeutungsproduktion der jeweiligen Texte treffen zu können (DiazBone/Schneider 2003: 474).

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

Was kann man in Diskursanalysen kodieren? Wenn das Ziel des Kodierens ist, Regelmäßigkeiten in den Beziehungen von lexikalischen Elementen bzw. Konzepten (s.u.) in Diskursen herauszuarbeiten, um damit auf die Regeln der Konstitution von Bedeutung zu schließen, muss bei der Frage, was eigentlich kodiert werden kann, zwischen zwei Schritten unterschieden werden: erstens dem Kodieren selbst und zweitens der Analyse von Regelmäßigkeiten, die sich im Überblick über die kodierten Textstellen erkennen lassen. Was kodiert wird, ist also eine Frage, die sich im Wesentlichen im ersten Schritt stellt. Um diesen zu operationalisieren, schlagen wir vor, zwei Ebenen des Diskursiven konzeptionell zu unterscheiden:

Elemente In Anlehnung an Laclau und Mouffe (Laclau/Mouffe 1985, s. Kap. 5: Glasze/ Mattissek 2021) können Elemente als Basiseinheit des Diskurses begriffen werden. Dabei lassen sich in der Forschungspraxis zwei unterschiedliche Verständnisse erkennen: Elemente können entweder als lexikalische Elemente (d.h. Wörter bzw. Wortfolgen) oder als semantische Konzepte gefasst werden – so wird das Konzept „Spanien“ bspw. durch die gesprochenen/geschriebenen Symbole „España“1 und „Estat Espanyol“2 sowie visuell durch die Umrisse des spanischen Staates transportiert. In beiden Auffassungen dienen die Elemente im Kodierungsprozess im Wesentlichen als Suchraster (und damit lediglich als Bestandteil eines Codes, jedoch nicht als Code selbst). Sie können je nach Forschungsfrage entweder im Vorhinein festgelegt werden oder auch durch andere Verfahren, wie z.B. lexikometrische Abfragen, ermittelt und anschließend im Text gesucht werden.

Artikulationen Das, worauf das Kodieren eigentlich abzielt, sind nicht die einzelnen Elemente selbst, sondern ihre Verknüpfungen untereinander. Um diese greifen zu können, wird hier das Konzept der Artikulation3 verwendet. Demnach setzen Artikulationen Elemente miteinander in Beziehung und stellen auf diese Weise Beziehungen einer spezifischen Qualität her – bspw. Beziehungen der Äquivalenz, der Opposition, der Kausalität oder der Temporalität (Somers 1994: 616). Dabei können minimal zwei Elemente miteinander verknüpft werden, vielfach 1

Span.: Spanien.

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Katalanisch: spanischer Staat.

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„Artikulation“ wird also im Sinne von Verknüpfung bzw. Verbindung angewandt.

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werden aber komplexe Verbindungen zwischen verschiedenen Elementen gebildet. Solche komplexen Verknüpfungen werden teilweise als plot (z.B. Viehöver 2001: 197), storyline (z.B. Hajer 2003: 277) oder narratives Muster (z.B. Glasze 2013: 213ff.), Argumente (s. Kap. 15: Felgenhauer 2021) oder Aussagen (s. Kap. 16: Mattissek 2021) bezeichnet. Artikulationen, die sich in hohem Maße zu einem Gemeinplatz verfestigt haben, werden zuweilen unter dem Begriff „Topos“ (Wengeler 2003) gefasst. Sowohl einzelne Elemente einer Artikulation als auch Elemente in ihrer Verknüpfung als bspw. Topos können in einem Text entweder explizit oder als implizit mitbehauptet auftauchen (s.u.). Ein Beispiel für eine solche Artikulation wäre „Kasachstan ist ein europäisches Land“. Hier werden die Elemente „Kasachstan“ und „europäisch“ in eine Äquivalenzbeziehung gebracht. Diese Artikulation könnte auch visuell konstituiert werden, z.B. durch kartographische Darstellungen der Mitglieder des europäischen Fußballverbandes UEFA.

Wie kann man kodieren, um auf diskursive Regeln zu schließen? Kodieren ist ein interpretatives Verfahren, das sich je nach Fragestellung der Arbeit und Zusammenstellung des empirischen Materials mehr oder weniger stark formalisieren lässt. Die Verfahren können unterteilt werden in eher deduktive und eher induktive Vorgehensweisen. Induktiv meint in diesem Zusammenhang, dass das Kategorien- oder Codesystem beim Durchgang durch das Material nach und nach entwickelt wird (Mayring 2008 [1983]: 74ff.). Hierbei handelt es sich um einen offenen Prozess, der es erlaubt bzw. erfordert, die einzelnen Codes während der Kodierung zu modifizieren und gewonnenen Erkenntnissen anzupassen. Deduktiv heißt hingegen, dass das Kategorien- oder Codesystem bereits vor der Arbeit mit dem Textmaterial entwickelt wurde. So können bspw. auf der Basis theoretischer Annahmen bestimmte Artikulationen als Code definiert und anschließend im Textkorpus gesucht werden. Darüber hinaus können in einer Kombination von korpuslinguistisch-lexikometrischen mit kodierenden Verfahren die Ergebnisse lexikometrischer Analysen für die Definition von Codes herangezogen werden (s. Exkurs).

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

Exkurs: Integration von kodierenden und lexikometrisch korpuslinguistischen Verfahren Im Rahmen einer Operationalisierung der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe können kodierende Verfahren lexikometrisch-korpuslinguistische Verfahren v.a. in zwei Punkten ergänzen: Die lexikometrisch-korpuslinguistischen Verfahren geben auf der Ebene der Sprachoberfläche Hinweise auf Charakteristika, bspw. historisch bestimmte Teilkorpora, sowie auf die Kookkurrenzen bestimmter Wörter oder Wortfolgen. Mithilfe kodierender Verfahren kann anschließend geklärt werden, welche Qualitäten die Verbindungen zwischen den lexikometrisch ermittelten Wörtern bzw. Wortfolgen haben. In diachron angelegten Studien können lexikometrische Verfahren Hinweise auf Brüche und Verschiebungen des Diskurses im Zeitverlauf herausarbeiten. Gemäß der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe können diese Brüche und Verschiebungen als Folgen einer Dislokation des Diskurses interpretiert werden, die dadurch ausgelöst werden, dass „Ereignisse“ nicht in einen bestehenden Diskurs integriert werden können. Mithilfe kodierender Verfahren kann dann gezielt nach Artikulationen gesucht werden, die im Widerspruch zu dem für eine bestimmte Epoche als hegemonial identifizierten Diskurs stehen und so Hinweise auf die Ursache für dessen Dislokation liefern. In den meisten Forschungsprojekten laufen die Prozesse der Code-Bildung entsprechend ihrer jeweiligen Fragestellung sowohl induktiv als auch deduktiv ab, jedoch ggf. mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Grundsätzlich sollte jedoch stets transparent gemacht werden, warum welche Textstelle wie kodiert wird. Um auch nicht explizit, aber implizit „Gesagtes“ im Text erkennen und herausarbeiten zu können, sozusagen Mitbehauptetes und Mitgemeintes, das beim Leser des Textes als vorhandenes Wissen vorausgesetzt wird, kann bspw. das Toulmin-Schema (Toulmin 1996 [1958]) zuhilfe genommen werden. Demnach begründet der Sprecher eine These (= Konklusion) mit Argumenten, wobei die Verknüpfung beider Teile durch die Schlussregel erfolgt. Anhand derer wird vom Argument auf die Konklusion geschlossen. Während These bzw. Konklusion und Argument expliziert werden, wird die Schlussregel zumeist nicht ausgedrückt, denn sie beinhaltet vorausgesetztes, konsensuelles Wissen, durch das sie als Prämisse fungieren kann, mittels derer vom Argument auf die These geschlossen wird (detailliert s. Kap. 15: Felgenhauer 2021).

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Nach dem Schritt des eigentlichen Kodierens gilt es im zweiten Schritt, Regelmäßigkeiten innerhalb der kodierten Textstellen des Materials zu erkennen und herauszuarbeiten. Dabei kann die Analyse von Regelmäßigkeiten auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen: Durch Häufigkeitsanalysen kann untersucht werden, welche Codes wie häufig im Material vorkommen. Dieser Schritt ermöglicht, Rückschlüsse auf die Dominanz oder Marginalität bestimmter expliziter Verknüpfung von Elementen zu ziehen. Außerdem lassen sich auch zeitliche Verläufe (durch Häufigkeitszählungen zu bestimmten Zeitpunkten) nachzeichnen und Zusammenhänge sichtbar machen. Neben Häufigkeitszählungen können auch weitere quantitativ-statistische Analysen mit den Codes durchgeführt werden, wie z.B. die Analyse von Korrelationen (Mattissek 2005). Daran anschließend können sowohl synchrone Vergleiche durchgeführt werden, bspw. der Vergleich von Regelmäßigkeiten unterschiedlicher Korpora, als auch diachrone Vergleiche, wie zeitliche Verläufe von Regelmäßigkeiten. Bei der Ableitung von diskursiven Regeln aus den Regelmäßigkeiten (vgl. Fallstudien, s.u.) handelt es sich ebenfalls um einen interpretativen Schritt. Ausgangsthese ist, dass die Regelmäßigkeiten Manifestationen von diskursiven Regeln sind. Die Regeln dürfen dabei nicht als statisch verstanden werden; sie sind vielfältig, können widersprüchlich sein und unterliegen fortwährend Veränderungen.

Welche Korpora können im Rahmen von Diskursanalysen kodiert werden? Da die kodierenden Verfahren im Rahmen von Diskursanalysen darauf zielen, Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten, erscheint es grundsätzlich sinnvoll, mit umfangreichen Textkorpora zu arbeiten. Dabei muss die Zusammenstellung des Korpus auf vorhandenem Kontextwissen basieren. In erster Linie entscheidet die Fragestellung über die Auswahl der zu untersuchenden (textlichen sowie ggf. auch nicht-textlichen) Materialien. Welche Sprecherpositionen sind gesellschaftlich besonders relevant? Welche Genres sind einflussreich? Im Gegensatz zu lexikometrischen Untersuchungen kann im Rahmen von kodierenden Verfahren auch mit einem offenen, sich erweiternden Korpus gearbeitet werden. Da zu Beginn des Forschungsprozesses vielfach nicht das gesamte zu untersuchende Diskursfeld überblickt werden kann und sich aus den ersten Ergebnissen neue Detailfragen ergeben können, erscheint es dabei sinnvoll, sich an die Methode das theoretical sampling der grounded theory anzulehnen (Strauss/Corbin 1996 [1990]: 25f.; Lamnek 2005: 100f.). Hier erfolgen Daten-

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

sammlung und -auswertung in mehreren Schritten und werden so lange fortgesetzt, bis bei der Auswertung neuer Daten keine neuen Ergebnisse mehr hinzutreten (Lamnek 2005: 100f.).

Welche Herausforderungen gibt es beim Kodieren in Diskursanalysen? Die methodologischen Ausführungen über das Kodieren abschließend, sollen nun noch einmal die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Kodierens innerhalb eines diskursanalytischen Rahmens beleuchtet werden. Wie bereits dargelegt, wurden die kodierenden Verfahren innerhalb der Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund interpretativ-hermeneutischer Erkenntnistheorien entwickelt. Der Einsatz kodierender Verfahren im Rahmen von Diskursanalysen erfordert also zunächst einen „Umbau“ und eine „Einpassung“ kodierender Verfahren in diskurstheoretische Forschungsanlagen. Wie gezeigt, sind in der Forschungspraxis allerdings auch im Rahmen von Diskursanalysen an verschiedenen Stellen „interpretative Schritte“ unumgänglich. Der Einsatz kodierender Verfahren in Diskursanalysen sollte jedoch immer „von einer hohen Sensibilität für die erkenntnistheoretischen Probleme der Interpretation bestimmt“ (Glasze 2007: 13) werden. Konkret bedeutet dies für den Forschungsprozess, dass erkenntnistheoretische Brüche aufgezeigt werden müssen. Letztlich muss immer auf die Positionalität jeglicher Forschung hingewiesen und damit vor dem Hintergrund operiert werden, dass die Ergebnisse immer auch hätten anders ausfallen können (Lossau 2002: 64). Was in der Anwendung des Kodierverfahrens weiterhin problematisiert werden muss, sind seine „blinden Flecken“, denn die Entwicklung des CodeBuchs sowie die Zuordnung von Textstellen des Materials zu bestimmten Codes sind Prozesse, die von außen kaum einsehbar sind (Reuber/Pfaffenbach 2005: 115)4 – auch wenn die Verwendung von Programmen der computergestützten Inhaltsanalyse (qualitative data analysis, QDA) wie bspw. MaxQDA oder Atlas.ti die Nachvollziehbarkeit der Kodierungen erleichtern können (Diaz-Bone/ Schneider 2003). 4

Hinter diesem Argument versteckt sich die Forderung nach einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit empirischer Ergebnisse, welche aus poststrukturalistischer Perspektive ohnehin als unmöglich deklariert und abgelehnt werden. Jedoch darf diese Ablehnung nicht als ein Freibrief für eine naive Alltagshermeneutik verstanden werden, denn will die Arbeit zum Wissenschaftsdiskurs gehören, muss sie versuchen – auch wenn dies unerreichbar bleibt –, ihren Forschungsprozess nachvollziehbar und überprüfbar zu gestalten.

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Mit der Kritik an den blinden Flecken des Kodierens hängt ganz eng die Warnung vor dem selektiven Blick der oder des Forschenden zusammen. Die Schritte bei der Analyse (wie das Suchen von Elementen sowie das interpretative Kodieren von Verknüpfungen) und damit auch die Ergebnisse hängen in starkem Maße vom Vorwissen und Vorverständnis der oder des Forschenden ab (Bublitz 2001: 237). Ein anderes Vorverständnis der oder des Forschenden, ein anderes Vorwissen, eine andere Vorabkonstruktion führt entsprechend zu anderen Ergebnissen. Darüber hinaus gehen beim Kodieren durch Zusammenfassung, Kategorisierung und Zuordnung von Textelementen viele Feinheiten und Bedeutungsspielräume verloren. Aus diskurstheoretischer Perspektive ist dies insofern problematisch, als dass dadurch Bedeutungsspielräume reduziert und bestimmte Bedeutungen – vor allem in der Ergebnisdarstellung – festgeschrieben werden.

Fallstudien: diskursive Konstitution raumbezogener Identitäten Die folgenden Fallstudien zielen alle aus einer diskurstheoretischen Perspektive auf die Analyse raumbezogener Identitätskonzepte und setzen dabei u.a. auf die Verwendung kodierender Verfahren. Poststrukturalistische und mithin auch diskurstheoretische Ansätze kritisieren die Vorstellungen wesenhaft gegebener, einheitlicher, geschlossener und dauerhafter Identitäten (vgl. in diesem Handbuch Kap. 1, 2, 3 u. 5). Auch die hier im Weiteren behandelten Kollektividentitäten werden als kontingente, fließende, hybride, historisch situierte, in einem diskursiven Prozess geformte Kategorien konzeptualisiert (dazu bspw. Somers 1994; Haraway 1995; Hall 1999 [1989]; Pott 2007). Die Konstitution scheinbar stabiler kollektiver Identitäten durch Ausschluss und Differenzbildung sowie interner Homogenisierung kann als Grundmechanismus gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden. Auf diese Weisen werden Kategorien von Sinn und Ordnung etabliert. Als diskursive Regeln der raumbezogenen Identitätskonstitution lassen sich die Differenzierungen zwischen Eigenem und Fremden mit der geographisch-territorialen Differenzierung zwischen hier und dort (Redepenning 2006; Glasze 2013) sowie in vielen Fällen auch die Konstruktion einer gemeinsamen (historischen) Narration beobachten. Auf diese Weise werden Identitätskonzepte stabilisiert, da sie eben mit vermeintlich objektiven räumlichen Differenzierungen verknüpft und damit naturalisiert werden (vgl. dazu auch Pott 2007).

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

Kollektive Identitäten sind also ein Effekt komplexer Verweisstrukturen. Die nachfolgend vorgestellten humangeographischen Arbeiten zu raumbezogenen Identitätskonzepten zeigen beispielhaft, wie die o.g. diskursiven Regeln durch Kodieren nachgezeichnet werden können. Zunächst werden jeweils kurz Fragestellung und Korpuszusammenstellung charakterisiert. Dann wird der Analyseschritt des Kodierens thematisiert, bevor abschließend die Analyse der Regelmäßigkeiten im Auftreten von Codes vorgestellt werden.

Verknüpfung lexikometrischer und narrationsanalytischer Vorgehensweise am Beispiel eines Forschungsprojekts zur diskursiven Konstitution der Frankophonie Fragestellung, Korpuszusammenstellung, Verknüpfung mit lexikometrischer Analyse Die hier in Auszügen vorgestellte Studie (ausführlich s. Glasze 2013, zur Konzeption s. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021) fragt danach, wie die kollektive Identität der „Frankophonie“ konzeptualisiert und analysiert werden kann. Die Internationale Organisation der Frankophonie definiert sich selbst als „internationale Gemeinschaft“ von mehr als 60 Staaten und Regionen sowie als „geokultureller Raum“. Im ersten Untersuchungsschritt wird die historische Entwicklung des Frankophoniediskurses seit der Entkolonialisierung bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts korpuslinguistisch-lexikometrisch untersucht. Dazu werden mehrere geschlossene, digitale Korpora erstellt, die jeweils von einer weitgehend homogenen Sprecherposition stammen und in hohem Maße einem homogenen Genre zuzurechnen sind (Protokolle der Frankophonie-Konferenzen, Reden der Generalsekretäre der Frankophonie). Für die kodierende Analyse werden diese Korpora in ein Programm zur computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse eingelesen (Atlas.ti) und darüber hinaus einige weitere Texte integriert (u.a. Einleitungen und Schlusskapitel von Monographien zur Frankophonie, Texte zweier frankophoniekritischer Organisationen sowie Texte, die von den heutigen Frankophonieorganisationen als „Gründungstexte“ beschrieben werden). Im Vergleich zu der korpuslinguistisch-lexikometrischen Analyse muss die kodierende Analyse aus arbeitsökonomischen Gründen auf bestimmte Textstellen fokussiert werden. Ansatzpunkt sind dabei soweit wie möglich die Kontexte von Wörtern bzw. Wortfolgen, die nach der lexikometrischen Analyse Hinweise auf Charakteristika, Brüche und Verschiebungen des Diskurses gegeben haben. Im ersten Schritt werden also jeweils die Absätze kodiert, in denen diese lexikalischen Elemente auftreten. Im zweiten Schritt wird zum einen induktiv analy-

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siert, mit welchen Konzepten diese lexikalischen Elemente verknüpft werden, sowie zum anderen in einem durch die Konzeption von Identität in der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe (s. Kap. 5: Glasze/Mattissek) deduktiv angeleiteten Schritt untersucht, welche Qualität von Beziehungen dabei jeweils hergestellt wird.

Analysebeispiel: Kodieren der Artikulationen um lexikometrisch ermittelte Signifikanten und Identifikation von Regelmäßigkeiten Im Zuge korpuslinguistisch-lexikometrischer Untersuchungen kann gezeigt werden, dass die Wortfolge „diversité culturelle“ (kulturelle Vielfalt) mit hoher Signifikanz charakteristisch für die Verhandlungsprotokolle der drei Frankophonie-Gipfelkonferenzen 1999, 2002 und 2004 im Vergleich zu allen Konferenzen zwischen 1986 und 2004 ist. Untersucht man vor diesem Hintergrund, in welche Beziehungen die Wortfolge „diversité culturelle“ in Reden und Protokollen aus dem Kontext der organisierten Frankophonie eingebunden wird, dann lassen sich folgende Muster interpretativ herausarbeiten: • • •

„diversité culturelle“ als Eigenschaft der Frankophonie und ihrer Geschichte, „diversité culturelle“ als Voraussetzung und als Element von Demokratie, Frieden und nachhaltiger Entwicklung sowie „diversité culturelle“ als Gegensatz zu einer uniformisierenden und homogenisierenden Globalisierung.

„Diversité culturelle“ wird also in Artikulationen eingebunden, welche kulturelle Vielfalt als Eigenschaft und Wesen der Frankophonie fassen, sowie in Artikulationen, welche die Geschichte der Frankophonie mit kultureller Vielfalt gleichsetzen und aus dieser Äquivalenz eine Berufung der Frankophonie ableiten (s. Tabelle 2). „Frankophonie“ ist danach äquivalent mit „kultureller Vielfalt“, weil sich die Frankophonie aus vielfältigen Räumen zusammensetzt und weil die Geschichte der Frankophonie eine Geschichte der kulturellen Vielfalt ist. Zwischen „kultureller Vielfalt“ und „Frankophonie“ werden somit historisch-teleologische und räumlich-geodeterministische Beziehungen hergestellt. Als wiederkehrendes und (relativ) festes Muster wird auf diese Weise eine bestimmte Bedeutung konstituiert und reproduziert.

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

Tabelle 2: Narrative Muster „Diversité culturelle als Eigenschaft der Frankophonie und ihrer Geschichte“5 „[…] die Frankophonie wurde geboren und wächst in der kulturellen Vielfalt.“ Rede des Premierministers von Kanada, Jean Chrétien, auf der VIII. Gipfelkonferenz der Frankophonie 1999 in Moncton (Kanada)

„Von ihren Ursprüngen an bildete sich die Frankophonie auf dem Sockel der kulturellen Vielfalt. Als Raum, der Völker mehrerer Kontinente mit sehr unterschiedlichen Geschichten und kulturellen Traditionen umfasst, ist die Frankophonie ein Laboratorium der Solidarität unter dem Zeichen der Vielfalt.“ Rede des OIF-Generalsekretärs, Abdou Diouf, am 4. September 2003 vor der Ministerkonferenz der Frankophonie zur Informationsgesellschaft

„Auf der Gipfelkonferenz in Beirut hat die Frankophonie daran erinnert, dass die kulturelle Vielfalt wahrhaft von Beginn an ihr Arbeitsfeld ist […].“ Rede der Ministerpräsidentin der französischen Gemeinschaft Belgiens, Marie Arena, auf der X. Gipfelkonferenz der Frankophonie 2004 in Ouagadougou (Burkina Faso) Quelle: Glasze 2013: 183

Die Äquivalentsetzung von „francophonie“ und „diversité culturelle“ wird als Legitimation für die Sensibilität, Betroffenheit und Kompetenz der Frankophonie für das Thema der kulturellen Vielfalt herangezogen und damit zu einer Legitimation der Aktivitäten der Organisationen der Frankophonie (s. Tabelle 3).

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Die Zitate in den Fallstudien wurden jeweils von den Autor*innen übersetzt – die Originalzitate werden in den zitierten Studien belegt.

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Tabelle 3: Narrative Muster „Die Frankophonie als sensibel und kompetent im Kampf für die kulturelle Vielfalt“ „Frankophon zu sein heißt daher zu kämpfen, über die Verteidigung der französischen Sprache hinaus, für die Toleranz, für den Respekt der sprachlichen und kulturellen Vielfalt, für den Erhalt einer pluralen Zivilisation. In einem Wort: für einen neuen Humanismus!“ Rede des Generalsekretärs der OIF, Boutros Boutros-Ghali, auf der Eröffnung eines Symposiums zur Sprachenvielfalt in den internationalen Organisationen am 5. November 1998 in Genf

„Von ihren Ursprüngen an wurde die Frankophonie von ihren Gründern unter dem Zeichen der sprachlichen und kulturellen Vielfalt entworfen. […] Es ist daher nur natürlich, dass ihre Mitglieder besonders sensibel sind […] für die Notwendigkeit, die kulturelle Vielfalt im Zeitalter der Globalisierung zu erhalten, und zum anderen für das Risiko, das sie mit sich bringt.“ Rede des Generalsekretärs der OIF, Abdou Diouf, in einer Rede vor dem Parlament der französischen Gemeinschaft Belgiens am 13. März 2003 in Brüssel Quelle: Glasze 2013: 186

Darüber hinaus wird „diversité culturelle“ in Artikulationen eingebunden, in denen „kulturelle Vielfalt“ als Voraussetzung und Element von „Demokratie“, „Frieden“ und „nachhaltiger Entwicklung“ konstituiert wird. Auf diese Weise wird „kulturelle Vielfalt“ und damit „Frankophonie“ mit Signifikanten verknüpft, die im Kontext internationaler Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in hohem Maße hegemonial sind – d.h. als unumstößlich akzeptiert werden (s. Tabelle 4).

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

Tabelle 4: Narrative Muster „Diversité culturelle als Voraussetzung und als Element von Demokratie, Frieden und nachhaltiger Entwicklung“ „Die Mitgliedsstaaten und -regierungen beurteilen die Achtung der kulturellen Vielfalt als eine notwendige Bedingung für die nachhaltige Entwicklung […].“ Rede des OIF-Generalsekretärs, Boutros Boutros-Ghali, auf dem Weltgipfel zur Nachhaltigen Entwicklung am 29. August 2002 in Johannesburg (Südafrika)

„Lasst uns gemeinsam handeln, um die Frankophonie zu einem wahrhaften Raum der Vielfalt, der Gleichheit, der Solidarität und der Komplementarität zu machen, um zum Bau einer Welt des Friedens, der Stabilität, der Kooperation und der nachhaltigen Entwicklung beizutragen.“ Rede der vietnamesischen Vizepräsidentin, My Hoa Truong, auf der X. Gipfelkonferenz der Frankophonie 2004 in Ouagadougou (Burkina-Faso)

„Die kulturelle und linguistische Vielfalt ist das Herz der Aktivitäten, die von der Frankophonie unternommen werden. Sie ist zu einer politischen Frage geworden, denn in dem gegenwärtigen Prozess der Globalisierung ohne die kulturelle Vielfalt laufen wir sonst Gefahr, eine Schwächung des Dialogs der Kulturen, des Gleichgewichts einer multipolaren Welt und gar der fundamentalen Werte des Friedens, der Gerechtigkeit und der Demokratie beobachten zu müssen.“ Neujahrsansprache des OIF-Generalsekretärs, Abdou Diouf, am 24. Januar 2005 in Paris Quelle: Glasze 2013: 187

Zu der Bedeutungsfixierung trägt darüber hinaus bei, dass „diversité culturelle“ in einen Gegensatz gestellt wird zu einer „uniformisierenden“ und „homogensisierenden Globalisierung“ und damit ein antagonistisches Außen der Frankophonie definiert wird: eine (kulturell und sprachlich) uniformisierte und homogenisierte Welt (s. Tabelle 5).

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Tabelle 5: Narrative Muster „Diversité culturelle als Gegensatz zu einer uniformisierenden und homogenisierenden Globalisierung“ „Im Zeitalter der Globalisierung […] und der voranschreitenden Uniformisierung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens […] scheint die Frankophonie sich der Etablierung eines uniformisierten Lebensstils entgegenstellen zu können, der de facto zu einer Auslöschung von Identitäten führen würde.“ Barrat, Jacques (Hg.) (1997): Géopolitique de la Francophonie (= Politique d’aujourd’hui), Paris: Presses universitaires de France.

„Nein zu einer ungeregelten Globalisierung, die sich nicht um die Individuen, die kulturelle Vielfalt, die Demokratie kümmert.“ Rede des OIF-Generalsekretärs, Boutros Boutros-Ghali, auf der Sitzung des Jugendparlaments der Frankophonie am 8. Juli 2001 in Québec (Kanada)

„Die Bedrohungen der Uniformisierung, die auf der Vielfalt der Kulturen und Sprachen lastet, die tragischen Ereignisse des 11. September 2001, die immer augenscheinlichere Notwendigkeit, den ‚Schock der Kulturen‘ zu verhindern, den einige vorhersagen, vergrößert den Nutzen und die Relevanz unserer Allianz.“ Rede des Präsidenten der Republik Burkina-Faso, Blaise Compaore, auf der IX. Gipfelkonferenz der Frankophonie 2002 in Beirut (Libanon) Quelle: Glasze 2013: 189

Damit wird das Außen gegenüber der Frankophonie konstituiert und gleichzeitig eine Aufgabe und Funktion definiert: die Frankophonie als „unentbehrlicher Schutzwall“6 gegenüber der uniformisierenden (angelsächsisch-dominierten) Globalisierung. 6

So bspw. eine Pressemitteilung der Union Internationale de la Presse Francophone (UPF) vom 24. März 2003: „La Francophonie apparaît comme la garante de la diversité des identités et du droit de chacun de se déterminer, constituant ainsi un rempart indispensable contre l’hégémonie d’une pensée unique.“ (Die Frankophonie erscheint als Garant der Vielfalt der Identitäten und des Rechts der Selbstbestimmung und bildet damit einen unverzichtbaren Schutzwall gegen die Hegemonie des Einheitsdenkens. http://www.presse-francophone.org/ uijplf/uijplf_upfbelgique.htm; 15.09.2007) Ähnlich äußert sich der ehemalige Generalsekretär des Haut Conseil de la Francophonie, Stélio Farandjis, im Journal Jeune Afrique vom 6. April 1999.

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

Der Signifikant „diversité culturelle“ kann damit im Sinne der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe (s. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021) als ein Knotenpunkt des Diskurses der institutionalisierten Frankophonie zu Beginn des 21. Jahrhunderts interpretiert werden. So wird „diversité culturelle“ als Voraussetzung und Element für Begriffe konstituiert, die im Kontext der internationalen Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts für das Gute, Richtige und Unhinterfragbare stehen wie „Frieden“, „Demokratie“ und „nachhaltige Entwicklung“, und rückt damit selbst in die Nähe eines solchen Hochwertbegriffs. Abgegrenzt wird „diversité culturelle“ von „Homogenisierung“ und „Uniformisierung“, die wiederum als Eigenschaften einer angelsächsisch dominierten Globalisierung konstituiert werden. Damit funktioniert „diversité culturelle“ im Frankophoniediskurs als leerer Signifikant, auf den sich verschiedene Elemente beziehen können.

Kodieren von Differenz- und Äquivalenzbeziehungen sowie die Erstellung semantischer Strickleitern am Beispiel einer Analyse imaginativer Geographien in arabischen Printmedien Das hier vorgestellte Beispiel ist Teil eines Dissertationsprojekts über imaginative Geographien in den panarabischen Printmedien al-Hayat, al-Quds al-Arabi und Asharq Alawsat (s. ausführlich Husseini de Araújo 2011; Husseini 2009). Imaginative Geographien sind in Anlehnung an Edward Said (2009 [1978]) als räumlich definierte Konstruktionen von Eigenem und Anderem zu verstehen, die jeweils in Abgrenzung zueinander gebildet werden. Es handelt sich hierbei nicht um realitätsnahe Abbildungen der Welt, sondern um kraftvolle diskursive Verflechtungen von Macht, Wissen und Geographie, die gesellschaftliche Ordnungen herstellen, soziale und politische Praktiken legitimieren, etablieren, verfestigen und verändern. In den Medien erfüllen sie im Wesentlichen die Funktion, Nachrichten (mit) zu erklären, Orientierung für das Publikum zu schaffen und ggf. zum Handeln anzuleiten (Husseini de Araújo 2011: 76ff.). Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Terroranschläge von 9/11, der daraufhin proklamierte „Kampf gegen den Terrorismus“ und die Frage, welche Weltordnungen und imaginative Geographien in diesem Kontext in Massenmedien reproduziert werden. Während in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Untersuchungen westlicher Medien vorgenommen wurden (s. bspw. Alsultany 2012; Powell 2011; Reuber/Strüver 2009; Saeed 2007), liegen kaum Analysen arabischer Medien vor. Ziel des Projekts ist es daher, zentrale imaginative Geographien von Eigenem und Anderem in arabischen Medien aufzuspüren und die diskursiven Regeln, die diesen Konstruktionen unterliegen, offenzulegen.

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Um den Korpus einzugrenzen, beschränkt sich die Untersuchung auf einen Zeitraum zwischen September 2001 (9/11) und dem Streit um die MohammedKarikaturen im Jahr 2006 sowie auf die Meinungsrubriken der ausgewählten Zeitungen (s.o.), da gerade hier die (Re-)Produktion von geopolitischen Weltbildern und raumbezogenen Identitäten im Zuge der Kontextualisierung, Deutung und Bewertung von Medienereignissen besonders deutlich zutage treten. Um die Fragestellung dieser Studie zu bearbeiten, wird im ersten Schritt eine Überschriftenanalyse aller Artikel durchgeführt. Diese zielt darauf ab, einen Überblick über die in den Zeitungsartikeln verhandelten Konstruktionen zu schaffen. Auf die Ergebnisse dieses Schrittes aufbauend, werden Artikel für eine Feinanalyse zusammengestellt und induktiv Begriffe herausgearbeitet, die räumliche Identitäten konstituieren (s. ausführlich Husseini de Araújo 2011: 107-110). Auf dieser Basis werden dann die ausgewählten Texte im Rahmen der Feinanalyse kodiert. Dieser zweite Schritt sowie die anschließende Suche nach Regelmäßigkeiten und der Schluss auf diskursive Regeln werden im Folgenden kurz und exemplarisch dargestellt: Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Identitäten durch Differenzachsen von „Eigenem“ und „Anderem“ konstituiert werden, wird das Material nach Verknüpfungen von Elementen durch Differenz- und Äquivalenzbeziehungen kodiert, wobei auch implizit Mitbehauptetes unter Zuhilfenahme des ToulminSchemas (s.o.) berücksichtigt wird. Als Suchraster dienen dabei die mithilfe der Überschriftenanalyse herausgearbeiteten Begriffe. Darunter fallen bspw. die Elemente „USA“ und „islamische Welt“. Die Texte werden danach durchsucht, wobei dann die Textstellen kodiert werden, in denen Differenz- oder Äquivalenzbeziehungen ebendieser Elemente mit anderen zutage treten. So ist bspw. einer der im Rahmen des Kodierungsprozesses gebildeten Codes „USA versus islamische Welt“ (ein anderer wäre z.B. „Kolonialmächte versus kolonialisierte Welt“). Im Zuge des Kodierens werden aus den kodierten Textstellen „semantische Strickleitern“ (vgl. Höhne 2003) herausgearbeitet. Dabei handelt es sich um ein Konzept, anhand dessen Verknüpfungen von Textelementen innerhalb eines Zeitungsartikels (bzw. einer thematischen Einheit eines Zeitungsartikels) offengelegt werden können. Entscheidend ist hier der Bedeutungszusammenhang von Textelementen, der aufgrund semantischer Merkmale entsteht. Semantische Differenzen und Äquivalenzen wirken dabei zusammen und werden in einer Art Strickleitersystem gegenübergestellt, wobei auch implizit mitbehauptete Elemente berücksichtigt werden können (s.o.). Veranschaulichen lässt sich dies durch die folgende Textpassage, die mit dem Code „USA versus islamische Welt“ erfasst wurde:

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

„Die USA führten […] einen scheußlichen Krieg gegen Afghanistan, vergossen das Blut Unschuldiger und setzten andere Staaten der islamischen Welt auf die Liste der Aggression […]. Der gegenwärtige Krieg, der im Rahmen des ‚Kampfes gegen den Terror‘ geführt wird, der in Afghanistan begann und seine Aggression auf andere ausstreckt, fällt unter die Kategorie der Unterwerfung und nicht unter die Kategorie der Konfrontation zweier, in ihrer militärischen Kraft nahe beieinander liegenden Weltmächte. […] Der Kampf erhebt sich hier […] nicht zu einem Krieg mit einem ebenbürtigen Feind, der selbst Reißzähne hat. […] Was uns betrifft, so erfüllen wir [lediglich] die Bedingungen schwacher Völker, die einem Krieg gegenüberstehen, der auf ihre Unterwerfung abzielt.“ (Shafiq, al-Hayat, 28.10.2001, S. 19, übers. von SHdA)

Die in dieser kodierten Textstelle zutage tretenden, Identität konstituierenden Begriffe „USA/Amerika“ auf der einen und „Afghanistan und andere Staaten der islamischen Welt“ auf der anderen Seite sowie die mit ihnen verknüpften semantischen Merkmale – „führt Krieg“, „Blut Unschuldiger“, „Aggression“ etc. – lassen sich nun in einer Strickleiter gegenüberstellen (s. Abbildung 17, die Begriffe in Klammern geben das nicht explizit Gesagte, aber implizit Mitbehauptete an). Nachdem die Kodierung aller Texte des Korpus abgeschlossen ist und alle semantischen Strickleitern aus dem Material herausgearbeitet wurden, werden die Strickleitern miteinander verglichen, um Regelmäßigkeiten in der Anordnung von bestimmten Elementen und ihren spezifischen Differenz- bzw. Äquivalenzbeziehungen zu finden. Eine der Regelmäßigkeiten, die sich in der Studie zeigt, ist, dass das, was explizit oder implizit als Element „des Eigenen“ auftritt, gegenüber dem Element „des Anderen“ fast in allen semantischen Strickleitern in der Position des Opfers erscheint – gleich, „wer“ „Eigenes“ und „Anderes“ konkret verkörpert. So ist bspw. „das Eigene“ als „islamische Welt“ Opfer der „USA“, aber „das Eigene“ ist auch als „Welt“ Opfer „des Terrorismus“, als „Volk“ Opfer „arabischer Regime“, als „kolonialisierte Welt“ Opfer „der Kolonialstaaten“, als „Muslime“ Opfer von „religiösem Extremismus“, als „Araber und Muslime“ Opfer von „Islamophobie“ u.Ä. Aus dieser Regelmäßigkeit heraus wird auf eine zentrale diskursive Regel im untersuchten Korpus geschlossen und als Grenzziehung interpretiert, die Identitäten von „Eigenem“ und „Anderem“ entlang der Differenz von Opfer/Agressor anordnet und damit formt (s. ausführlich Husseini de Araújo 2011: Kap. 4, insb. Kap. 4.5).

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Abbildung 17: Semantische Strickleiter „USA versus islamische Welt“

Quelle: eigene Darstellung

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Die Kodierung narrativer Muster in spanischen und katalanischen Historiographien Das im Folgenden vorgestellte Material ist Teil einer Dissertation zur Dynamik raumbezogener Identität in politischen Konflikten um die territoriale Ordnung des spanischen Nationalstaats. In diesem kurzen Beispiel soll anhand der historischen Narrationen über die katalanische und spanische Nation gezeigt werden, wie die Konstruktion von Identitäten über eine gemeinsamen Geschichte (vgl. Smith 1988; Renan 1990 [1882]; Anderson 1988 [1983]; Weichlein 2006) mithilfe kodierender Verfahren analysiert werden kann. Die historischen Erzählungen formen sich dabei nicht in einzelnen Texten, sondern text- und genreübergreifend. Die folgenden Belegzitate stammen aus Zeitungen und Schulbüchern. Verweise auf Nationalgeschichten ließen sich im Rahmen der Untersuchung, aber auch in Verfassungstexten, an Erinnerungsorten, in Stadtplänen, in Museen etc. nachweisen. Durchsucht wird der Korpus nach Stellen, an denen die Konzepte der jeweiligen Nationen als Element des Diskurses auftreten. Mithilfe des oben beschriebenen Kodiersystems lassen sich Nationalgeschichten (und deren Varianten) in einem induktiven Schritt rekonstruieren, indem komplexe Artikulationen, in denen verschiedene Elemente verbunden sind (sog. narrative Einheiten), in den untersuchten Texten als Code markiert werden. Um Variationen aufzuzeigen, werden die Codes entlang einer Zeitskala nach dem erzählten Zeitpunkt geordnet (s. Tabelle 6). Diesem Schritt schließt sich die Herausarbeitung von Regelmäßigkeiten und Varianten in den Codes an. Der Fokus liegt dabei nicht so sehr auf dem Inhalt historischer Narrationen, sondern auf der Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird. So kann im vorliegenden Beispiel die diskursive Konstruktion verschiedener Beziehungen von Spanien und Katalonien beobachtet sowie auf allgemeine diskursive Regeln zur Konstitution raumbezogener Identität allgemein geschlossen werden: •

Eine Vielzahl der kodierten Episoden stellt eine Verbindung der Begriffe „Spanien“, „Einigkeit“ und „Stärke“ (z.B. Zit. 2 u. 3) sowie „Katalonien“ und „Freiheit“ (z.B. Zit. 1) her. Diese Artikulationen konstituieren einen Antagonismus von Spanien und Katalonien, indem der spanische Staat als Fessel des nach Freiheit drängenden katalanischen Volkes dargestellt wird.

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Eine andere Regelmäßigkeit ist die Temporalisierung der Erzählungen von der Nation. Als allgemeine diskursive Regel der Erzählweise von Nationalgeschichten lässt sich ein Spannungsbogen von der Geburt über Hoch- und Niedergangsphasen bis hin zu Wiedergeburtsmotiven herausarbeiten. Für den vorliegenden Fall werden die spanische und katalanische Geschichte nach demselben Muster, aber phasenverschoben erzählt, sodass bspw. die Phase des Aufstiegs der spanischen Nation den Niedergang der katalanischen zeitlich überlagert (vgl. Zit. 4 u. 5). So werden Spanien und Katalonien auch durch die Struktur des Erzählens von Nationalgeschichten als Antagonisten konstituiert (für eine detaillierte Darstellung vgl. Mose 2014).





Tabelle 6: Auszug aus dem Codebuch zur Rekonstruktion der historischen Narrationen mit Belegzitaten7:

7

Nr.

Code

Belegzitat

1

Geburt Kataloniens durch Unabhängigkeit

„In der 2. Periode etablierten sich die Grafen in Abhängigkeit von den fränkischen Herrschern. Es gab viele Aufstände und Bürgerkriege, und der nationale Geist [Kataloniens] begann sich von der ausländischen Herrschaft zu emanzipieren.“

2

Geburt Spaniens durch Einheit

„Durch acht Jahrhunderte hindurch kämpften diese Könige gegen die Araber und am Ende, vereinigt unter der Herrschaft der reyes católicos, erreichten die spanischen Länder und Menschen ihre endgültige Einigkeit.“

3

Geburt Spaniens durch Einheit

„Im Gegensatz zu einem berühmten ausländischen Politiker, der den sehr bekannten Satz ‚Teile und Siege‘ geprägt hat, haben die katholischen Könige das gegenteilige Prinzip angewendet: ‚Wenn wir uns vereinigen, werden wir niemals besiegt werden.‘“

Die Zitate stammen aus folgenden Zeitungen und Schulbüchern: (1) Font y Sagué (1907): Historia de Catalunya Barcelona, S. 41; (2) Alvarez Perez (1956): Enciclopedia, Valladoid, S. 588; (3) ebd., S. 590; (4) ABC 13.10.1957, S. 50; (5) Avui 09.11.1977, S. 3; (6) Brotons Vitoria et al. (2002): Conocimiento del Medio Castilla y León. Tercer Ciclo de Primaria. Madrid, S. 174; (7) Instituto de España (Hg.) (1937): Manual de la Historia de España. Segundo Grado, Santander, S. 278f.; (8) ABC 02.01.1986, S. 6.

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung

4

spanisches Kolonialreich als Hochphase

„Was wird bleiben? Für Spanien, als historisches Subjekt, bleibt bei der Beantwortung dieser Frage kein Zweifel. Wenn kein anderer Grund da wäre, um seine Existenz vor Gottes Augen zu rechtfertigen, so würde das kolossale amerikanische Unternehmen ausreichen. […] Sie [die Kanaren, d.A.] waren der erste Anlaufhafen der Entdecker und der letzte der geschlagenen Armee, die aus Kuba zurückkam. Hier dämmerte 1492 ein Imperium und ging 1898 unter.“

5

Niedergang Kataloniens durch Verlust der Freiheit

„Die Märtyrer des 11. September [1714, Besetzung Barcelonas durch ‚spanische‘ Truppen, d.A.], und viele andere danach, starben für Katalonien. An uns ist es nun, ‚für Katalonien zu leben‘, und wir haben die Pflicht, all unser Wissen und all unser Können aufzuwenden, um das zu erreichen.“

6

Niedergang Spaniens im Zusammenhang mit moralischem Verfall

„Die moderne Epoche begann mit einer Zeit großer Pracht, aber endete mit einer Zeit des Niedergangs.“

7

Auferstehung Spaniens im Faschismus

„Glücklicherweise überlebten die ewigen Wahrheiten Spaniens, obwohl sie unter Bergen von schlechten Gesetzen und schlechten Regierungen begraben waren. […] Aufgabe der Jugend war es, sie wiederzubeleben […].“

8

Auferstehung Spaniens in der Demokratie

„Das heutige Spanien, jung und verführerisch, kann viel zur Geschichte beitragen. Dieses Neue Spanien beglückwünscht Dich [Europa, d.A.] und bietet Dir sein Bestes dar.“ (Die Zeitung ABC zum Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft)

Quelle: eigene Darstellung

Diese drei beispielhaften Ergebnisse geben nur einen kurzen Einblick in die Potenziale kodierender Verfahren in dem skizzierten Forschungsprojekt. Anhand von Variationen von narrativen Elementen lassen sich auch Sprecherpositionen herausarbeiten (z.B. katalanisch-separatistisch; vgl. Zit. 1 u. 5). In einer diachronen Betrachtungsweise (Ordnung der Codes nach dem Erzählzeitpunkt) werden auch Bedeutungsverschiebungen deutlich (vgl. Zit. 7 u. 8) und es kann die Dynamik diskursiver Regeln herausgearbeitet werden.

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Fazit Kodierende Verfahren dienen innerhalb diskurstheoretisch orientierter Forschungsprojekte dazu, Regelmäßigkeiten in der expliziten und impliziten Verknüpfung von lexikalischen Elementen und von Konzepten herauszuarbeiten, die oberhalb der Wort- und Satzebene, vielfach sogar oberhalb der Ebene einzelner konkreter Texte liegen. Kodiert werden dabei bestimmte lexikalische Elemente und Konzepte innerhalb komplexerer Verknüpfungen, die teilweise als plot, storyline, narratives Muster, Argument oder Aussage bezeichnet werden. Die dargestellten Fallbeispiele zeigen, dass die Identifizierung von Elementen dabei eng an der sprachlichen Oberfläche ansetzt und auf bestimmte Wörter und Wortfolgen zielen kann. Gleichzeitig zeigen sie jedoch auch, dass es vielfach sinnvoll ist, stärker interpretativ bestimmte Konzepte zu kodieren, die durch unterschiedliche Signifikanten transportiert werden können. Dasselbe gilt für die Verknüpfung, d.h. die Artikulation von Elementen und Konzepten: Die Qualität dieser Verknüpfungen wird immer auch interpretativ herausgearbeitet, auf der Sprachoberfläche lassen sich dazu allenfalls Hinweise erkennen.

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18 Ein diskurstheoretisch informierter Blick auf Karten und Kartographie Georg Glasze, Christian Bittner, Boris Michel, Jörg Mose, Anke Strüver

Karten vermitteln Weltbilder, beeinflussen damit Denken und Handeln und sind in diesem Sinne mächtig. Die neuen technischen Möglichkeiten der digitalen Geoinformation führen heutzutage zu einem Boom sowie zu veränderten Produktions- und Konsumtionsbedingungen von Karten: Mobile Karten auf dem Handy, digitale Globen auf dem Laptop und Karten im „Edutainment“ der Nachrichten kategorisieren, verorten, grenzen ab, benennen und (re-) produzieren damit bestimmte Weltbilder. In den meisten Lehrbüchern zur Kartographie inklusive der neueren Lehrbücher zur computergestützten Kartographie und zu Geographischen Informationssystemen dominiert ein technischer Zugang zur Kartographie (bspw. Wilhelmy/Hüttermann/Schröder 2002; Kraak/Ormeling 2003; Slocum et al. 2009; Kohlstock 2018; einen Exkurs zu sozialwissenschaftlichen Perspektiven bietet allerdings Dickmann 2018). Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Herstellung von Karten werden dabei ebenso wenig thematisiert wie die gesellschaftlichen Effekte der Kartographie. Seit den 1990er Jahren haben sich unter dem Schlagwort einer „Kritischen Kartographie“ jedoch neue sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Perspektiven auf Karten, Kartographie und digitale Geovisualisierungen entwickelt, die vielfach Impulse aus der Diskurstheorie aufgreifen (vgl. Harley 1989; Smith 1992; Crampton 1994, 2001, 2010; Pickles 1995, 2004; Schuurman 2000; Kitchin/ Dodge 2007; Glasze 2009; Dodge/Kitchin/Perkins 2009; Graham 2009; Elwood/ Mitchell 2013; Stephens 2013; Kim 2015). In diesem Kapitel wollen wir zwei diskurstheoretisch orientierte Perspektiven auf Karten und Kartographie vorstellen: Zum einen eine Perspektive, die Karten als „Text“ bzw. als Zeichensysteme untersucht, d.h. die Regelmäßigkeiten in diesen Zeichensystemen beleuchtet und damit die diskursiven Regeln he-

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rausarbeitet, die dazu führen, dass in Karten gerade bestimmte Weltbilder (re-) produziert werden. Sowie zum zweiten eine Perspektive, die Kartographie als soziotechnische Praxis fasst. Diese Perspektive kann sinnvoll mit einem „weiten“ Diskursbegriff zusammengeführt werden, der Diskurse als relationales Zusammenwirken verschiedener Elemente versteht. Damit kommt ins Blickfeld der Forschung, wie im Zusammenwirken bestimmter Praktiken und Techniken gerade bestimmte Karten entstehen, die wiederum in bestimmte soziotechnische Praktiken eingebunden werden und so in der Welt wirken.

Karte als Text Der britische Geograph und Kartographie-Historiker Brian Harley schlägt 1989 in seinem bekannten, vielfach wiederaufgelegten und übersetzten Aufsatz „Deconstructing the map“ (dt. 2004) vor, Karten ähnlich wie Texte zu analysieren. Harley greift dabei den Diskursbegriff von Michel Foucault (1973 [1969]) auf und schlägt vor, von Regelmäßigkeiten der kartographischen Darstellung auf die diskursiven Regeln der Kartographie zu schließen und auf diese Weise das „Wie“ der Weltbildproduktion zu untersuchen (s. dazu Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021 sowie Kap. 10: Miggelbrink/Schlottmann 2021). Als eine Regelmäßigkeit und diskursive Regel der Kartographie identifiziert Harley das Prinzip der Ethnozentrizität von Karten – d.h. die empirisch zu beobachtende Regel, dass der Ort des Eigenen regelmäßig ins Zentrum von Karten gesetzt wird (2004 [1989]: 9f.). Eine Regel, die in einem einfachen Experiment herausgearbeitet werden kann: So zeichneten bspw. hunderte von Erstsemestern der Geographie in den Anfängervorlesungen der Kartographie in Mainz und Erlangen auf die Frage nach einer Weltkarte eurozentrierte (und genordete) Weltkarten. Obwohl die Aufgabenstellung dies nicht verlangt hat und auch amerikazentrierte, pazifikzentrierte, asienzentrierte (und darüber hinaus auch gesüdete, gewestete oder geostete) Karten möglich gewesen wären. Als eine weitere Regel beschreibt Harley die „Regel der sozialen Ordnung“ (2004: 10). Dabei geht Harley davon aus, dass Karten implizit die Regeln der sozialen Ordnung ihres Entstehungskontextes reproduzieren: „Häufig dokumentiert der Kartenproduzent genauso eifrig die Konturen des Feudalismus, die Umrisse der religiösen Hierarchien oder die Schritte auf den Stufen der sozialen Klasse wie eine Topographie der physischen und menschlichen Umwelt.“ (Ebd.) Ganz im Sinne der Diskursforschung geht Harley davon aus, dass diese Darstellungen nicht auf bewussten Entscheidungen eines Kartographen bzw. einer Kartographin beruhen, sondern dass diese Selbstverständlichkeiten ihres

Kritische Kartographie

spezifischen sozial-diskursiven Kontexts reproduzieren – mit anderen Worten: diskursive Regeln. Als ein Beispiel für eine solche Reproduktion der vorherrschenden sozialen Ordnung kann das quasi regelhafte Verschweigen nichtchristlicher Religionsbauten in der amtlichen Kartographie in Deutschland interpretiert werden (s. Abbildung 18): Für Synagogen oder Moscheen sieht die amtliche Kartographie keine Signatur vor (vgl. Glasze 2009, und mit einem Ausblick auf die Web-2.0-Kartographie vgl. Bittner/Glasze 2018). Abbildung 18: Ausschnitt aus dem Signaturenkatalog der amtlichen Topographischen Karte (TK 25)

Quelle: Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland 2020

Wie Mose 2005 (s. Abbildung 19) am Beispiel von Wetterkarten in Printmedien zeigt, folgen auch vermeintlich ganz alltägliche und unpolitische Karten bestimmten Regeln: So präsentieren die Wetterkarten in zentralstaatlich orientierten Tageszeitungen das gesamte Territorium Spaniens, während regionalistisch orientierte Tageszeitungen in Katalonien regelmäßig eine Inselkarte verwenden, die nur Katalonien (und teilweise benachbarte Regionen) darstellt. Zusammenfassend lassen sich im Anschluss an Harley und in Anlehnung an Pinder (2003: 176) vier Aspekte einer diskurstheoretisch inspirierten Arbeit mit „Karten als Text“ differenzieren: 1. Hierarchien der Darstellung: die Untersuchung der kartographischen Zeichen und der Weise, wie ihre visuelle Bedeutung strukturiert wird. Welche Zeichen in welcher Größe werden für welche Gebäude, Siedlungen oder andere Strukturen genutzt? Welche Rückschlüsse lassen sich von diesen diskursiven Regeln auf gesellschaftliche Prozesse ziehen? 2. Kartographisches Schweigen: Was wird auf einer Karte nicht dargestellt, was wird verschwiegen? 3. Geometrien: Welche Projektionen, welche Zentrierungen und welche Orientierungen werden genutzt? 4. Symbolik und Ausschmückungen: Wie tragen die Symbolik und Ausschmückungen (bspw. Titel, Farbgebrauch) zur Bedeutung einer Karte bei?

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Abbildung 19: Reproduktion einer nationalstaatlich-spanischen bzw. einer regional-katalanischen Geographie in den Wetterberichten in zentralstaatlich bzw. regionalistisch orientierten Tageszeitungen in der spanischen Provinz Katalonien

Quelle: Mose 2005: 174

Ein weiterer wichtiger Impulsgeber für die Kritische Kartographie ist Denis Wood, der zusammen mit John Fels bereits 1986 in dem Aufsatz „Designs on Signs. Myth and Meaning in Maps“ die rhetorische Natur von Karten herausgearbeitet hat. Wood und Fels verstehen die Karte aus einer strukturalistischsemiologischen Perspektive als mehrfach kodiertes Zeichensystem. Ähnlich wie Harley sehen Wood und Fels die Macht von Karten darin begründet, dass Karten weithin als neutrale Repräsentation von Faktenwissen akzeptiert sind. Um den impliziten Bedeutungsebenen von Karten nachspüren zu können, schlagen Wood und Fels vor, das Zusammenwirken der Elemente einer Karte zu untersuchen und die Form der Darstellung zu hinterfragen. Am Beispiel der „Official State Highway Map of North Carolina“ arbeiten sie heraus, wie eine banale Straßenkarte vorherrschende Strukturen von staatlicher Territorialität und einer motorisierten Verkehrsgesellschaft reproduziert. Um zu analysieren, wie eine Karte ihren Behauptungen Autorität verleiht, schlagen Wood und Fels (2008) in Anlehnung an das literaturwissenschaftliche Konzept des Paratextes1 (vgl. Genette 1989) eine Analyse der sogenannten paramap vor. Kritische Kartenanalyse solle also nicht nur das Kartenbild im engeren

1

Mit dem Konzept des Paratextes zeigt Gérard Genette, dass die Rhetorik eines Textes nicht bloß aus seinem eigentlichen Inhalt hervorgeht, sondern ebenso aus den Elementen um den Text herum wie Titel, Vorwort, Illustrationen, Anmerkungen etc.

Kritische Kartographie

Sinne untersuchen, sondern auch die Einbettung dieses Kartenbildes: Als perimap bezeichnen sie alle graphischen und textlichen Elemente, die um das eigentliche Kartenbild herum zu finden sind. Hierzu gehören bspw. Legende, Nordpfeil und dekorative Elemente, ebenso wie weiterführende Erklärungen und Informationen. All diese Elemente seien in spezifischer Weise gestaltet und angeordnet worden und ebenso rhetorisch wie das Kartenbild selbst. Die epimap beinhalte alle Elemente jenseits von Karte und perimap, also z.B. den Text der Publikation, in welcher die Karte erschienen ist, beigelegte Werbungen und Broschüren, Vorworte oder auch das Material, auf welches die Publikation gedruckt worden ist. Die paramap trage zur Rhetorik der Karte bei und müsse demnach in der Analyse berücksichtigt werden (vgl. Wood/Fels 2008: 192f.). Die Arbeiten der Kritischen Kartographie zeigen also, dass Karten immer in bestimmte Macht-Wissen-Komplexe eingebunden sind. Einerseits schreiben sich hegemoniale gesellschaftliche und räumliche Strukturen in Karten ein. So ist es bspw. weder naturgegeben noch zufällig, dass der Standard-Nullmeridian durch einen Vorort von London verläuft, sondern Konsequenz der Stellung des Vereinigten Königreichs als dominante Weltmacht des 19. Jahrhunderts. Andererseits werden mit Karten immer bestimmte Bilder der Welt vermittelt und andere potenziell mögliche Weltbilder marginalisiert: So rücken bspw. auch noch heute die meisten Weltkarten Europa ins Zentrum und reproduzieren damit die Dominanz eurozentrischer Weltbilder.

Kartographie als soziotechnische Praxis Eine Konzeption der Kartographie als soziale und soziotechnische Praxis baut auf den oben dargestellten Ansätzen einer Kritischen Kartographie auf – geht jedoch über den Fokus auf das Kartenbild, d.h. die Repräsentation, hinaus. Schon der oben beschriebene Ansatz kommt nicht ohne Berücksichtigung der Produktionsbedingungen und des gesellschaftlichen Kontextes aus: So setzt sich Harley bspw. neben der Analyse von Kartenbildern auch mit deren Produktionsbedingungen zum jeweiligen Zeitpunkt auseinander (s.o.). Er zeigt auf, wie sich die Machtstrukturen des 18. Jahrhunderts in England auf die Organisationsformen der Kartographie auswirkten und damit letztlich das Kartenbild beeinflussten (vgl. Harley 2002b) oder wie die Besiedlung Nordamerikas durch englische Siedler und die damit einhergehende Vertreibung der nordamerikanischen Ureinwohner von einer „kartographischen Landnahme“ begleitet wurden (vgl. Harley 2002a).

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Seit den 1990er Jahren hat sich zunächst in der englischsprachigen Geographie eine Diskussion entwickelt, die das Kartieren und die gesamte Kartographie als soziotechnische Praxis fasst und untersucht, wie diese Praxis Voraussetzungen und Möglichkeiten bietet für die Welten, in denen wir leben, und die Subjekte, die wir werden (Pickles 2004: 5). Damit rücken verstärkt die Prozesse, Techniken und Praktiken ins Blickfeld, die mit der Herstellung und Nutzung von Karten verbunden sind. Rundstrom (1990, 1991) rückt in seinen Arbeiten zu indigener Kartographie in Nordamerika bspw. den Fokus auf die Praktiken des mapping, die er als grundlegend für die Herstellung von Ordnung in der Welt betrachtet (vgl. Rundstrom 1990: 155). Matthew Edney (1993) entwickelt das Konzept der „cartographic modes“. Er bezeichnet damit spezifische soziokulturelle und soziotechnische Konstellationen, die Grundlage für die Herausbildung spezifischer kartographischer Praktiken werden (Edney 1993: 57f.). Weitere Arbeiten öffnen die Perspektive auch für die unterschiedlichen Praktiken des Kartengebrauchs. In diesen wird argumentiert, dass ein und dieselbe Karte auf verschiedenste Weise rezipiert werden kann und damit auch in unterschiedlichste Prozesse eingebettet wird (vgl. Orlove 1991, 1993; Brown/Laurier 2005; Perkins 2008: 152ff.). Karten können in diesen Ansätzen also gleichzeitig als Ergebnis und als Teil von übergeordneten soziotechnischen Praktiken verstanden werden, in deren Abläufen sie produziert und konsumiert werden. Neuere Arbeiten der sozial- und kulturwissenschaftlichen Kartographieforschung beziehen ihre Anregungen v.a. aus der Wissenschafts- und Technikforschung. So weisen Rob Kitchin, Chris Perkins und Martin Dodge darauf hin, dass der Wissenschafts- und Techniksoziologe Bruno Latour die Kartographie als Beispiel genutzt hat, um zu zeigen, wie in der europäischen Neuzeit Verfahren der modernen Wissenschaft Autorität bekamen und „Wahrheit“ verkünden konnten. „Wahrheiten“, die dann wiederum genutzt werden, um „in der Welt“ zu arbeiten (Kitchin/Perkins/Dodge 2009: 14). Latour (1987) stellt dar, wie die Verbindung von Kartographietheorien, Kartierungstechniken (bspw. Quadranten, Sextanten, Logbücher etc.), disziplinären Techniken des Handels (bspw. die unter Seefahrern weitgehend standardisierten Techniken der Erkundung, Erfassung und Sicherung räumlicher Informationen) zusammengewirkt hat und auf diese Weise ermöglichte, dass in einer systematischen, aufeinander aufbauenden Weise Informationen von entfernten Orten angesammelt wurden (Latour 1987: 220ff.). Karten befähigen damit zu angemessenen Handlungen aus der Distanz. Latour argumentiert, dass die Etablierung von Konventionen der Kartenerstellung und -nutzung (Maßstäbe, Orientierung, Projektionen, Symbole etc.) ermöglichte, dass die Karte zu einer stabilisierten und transfe-

Kritische Kartographie

rierbaren Form des Wissens wurde. Karten schufen damit eine Voraussetzung für internationalen Handel, territoriale Expansion und globale Kolonisation und waren damit Teil der Herstellung neuer Geographien. Diese soziotechnisch orientierten Ansätze bieten einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Kartographieforschung einen Rahmen, um herauszuarbeiten, wie Karten in der Welt wirksam werden und die Welt verändern. Abbildung 20: Die Web-2.0-Karte als heterogene soziotechnische Assemblage

Quelle: Bittner/Glasze/Turk 2013: 942

Eine Perspektive auf Kartographie als soziotechnische Praktiken kann gewinnbringend mit einem „weiten Diskursbegriff“ zusammengeführt werden, der Diskurse als relationales Zusammenwirken heterogener Elemente fasst (s. dazu auch Kap. 13: Wiertz 2021). Wie Christian Bittner, Georg Glasze und Cate Turk 2013 für Forschungen zu Web-2.0-Kartographien darstellen, ermöglicht dies, Fragen von In- und Exklusion sowie letztlich Fragen von Macht an die soziotechnischen Praktiken der Kartographie zu stellen. Sie schlagen vor, soziotechnische „Assemblagen“ der Herstellung und Nutzung von Karten zu untersuchen – also die Elemente zu identifizieren, die an der Herstellung und Nutzung von Karten beteiligt sind: bspw. Darstellungskonventionen, Software-Pakete, Datenstandards, Organisationsstrukturen usw. Die Orientierung an der Diskursund Hegemonietheorie kann dabei helfen, den Blick nicht allein auf die reali-

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sierten Verbindungen zu lenken, sondern auch die potenziellen, aber nicht realisierten, marginalisierten Verbindungen mit zu bedenken – mit anderen Worten sensibel für die Kontingenz kartographischer Praktiken zu sein. Die Impulse aus der diskurstheoretisch orientierten, kritisch-sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursforschung werden in den letzten Jahren auch zunehmend dafür genutzt, Praktiken einer dezidiert partizipativen und für Fragen sozialer Ungleichheiten sensiblen Kartographie zu entwerfen (einführend dazu bspw. Bryan 2011; Elwood/Mitchell 2013; Bittner/Michel 2018 a, b; Strüver 2015). So kombiniert z.B. Irene Bittner (2018) in einer Studie zur Freiraumnutzung in Wien partizipative Methoden wie die sketch maps mit Methoden des Tracking, um Möglichkeiten und Grenzen einer kartogaphischen Erfassung und Visualisierung von Geschlechterkonstruktionen auszuleuchten.

Schluss: Karten als (Re-)Produzenten bestimmter Geographien Karten wurde und wird vielfach zugesprochen, dass sie Wirklichkeit „abbilden“. Die diskurstheoretisch orientierte Kritische Kartographieforschung untersucht Karten hingegen zum einen als Texte bzw. Zeichensysteme, die immer bestimmte Bilder der Welt (re-)produzieren. Zum anderen wird Kartographie im Sine eines weiten Diskursbegriffs als soziotechnische Praxis verstanden, die in der Verknüpfung bestimmter Techniken und Praktiken bestimmte Karten hervorbringt, die dann wiederum in weitere Praktiken eingebunden werden und damit in der Welt arbeiten.

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Kritische Kartographie

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19 Ethnographische Ansätze zur Analyse diskursiver Praxis Jan Winkler, Andreas Tijé-Dra, Christoph Baumann

Einleitung: Ethnographie in der Geographischen Diskursanalyse Die Ethnographie, mit der teilnehmenden Beobachtung als zentraler Methode, gilt im Kanon der qualitativen Sozialforschung als eine etablierte Forschungsstrategie. Mit Christian Lüders (2000: 390) lässt sich ihr allgemeiner Anspruch im Interesse an den Vollzugsformen gesellschaftlicher Praxis und der damit verbundenen Herstellung sozialer Wirklichkeit beschreiben. Die ethnographisch Forschenden fokussieren hierfür die von Akteur*innen „situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution sozialer Phänomene aus der teilnehmenden Perspektive“ (ebd.). Obschon nun auch einige diskurstheoretische Zugänge Diskurs als Praxis konzipieren, d.h. als temporär geordnete Verkettung sprachlicher und nichtsprachlicher Praktiken (s. Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015; vgl. auch Kap. 12: Baumann/Lahr-Kurten/Winkler 2021), erfolgt eine Integration ethnographischer Methoden in die Diskursforschung zur Untersuchung „diskursiver Praktiken“ (vgl. Wrana 2012) eher zögerlich. Für empirische Analysen greift das Gros der Foucault’schen oder hegemonietheoretisch inspirierten Diskursanalysen (auch) in der Kulturgeographie überwiegend auf ein etabliertes Bündel sprach- und textorientierter Ansätze zurück (vgl. Kap. 14: Dammann et al. 2021, Kap. 16: Mattissek 2021 u. Kap. 17: Glasze/Husseini de Araújo/Mose 2021). Gründe für diese Entwicklung liegen weniger in der Zugänglichkeit großer Mengen bereits produzierten Textmaterials, als vielmehr in der bevorzugten Adaption linguistisch geprägter Rezeptionen diskurstheoretischer Werke, die fortlaufend um Performativitätsbzw. praktikentheoretische Ansätze ergänzt werden (vgl. Kap. 11: Strüver/ Wucherpfennig 2021 sowie Kap. 12: Baumann/Lahr-Kurten/Winkler 2021).

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Um einen breiten Diskursbegriff, wie er in etwa von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe konzipiert wird (2006 [1985]), nicht auf seine linguistische Dimension zu begrenzen, plädiert der vorliegende Beitrag für eine stärkere Berücksichtigung ethnographischer Methoden, die im Kontext diskursanalytischer Ansätze den Fokus auf Praktiken legen können und Diskurse im Hinblick auf die Konstitution von Identität(-en) als „Ensembles diskursiver Praktiken“ (Wrana 2012: 191) analysieren (vgl. van Dyk et al. 2014). Eine derart ausgerichtete Ethnographie lenkt den Blick auf die Materialisierungen diskursiver Ordnungen im Kontext gesellschaftlicher Praxis und hier v.a. auf deren Reproduktion im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Instabilität (vgl. Schäfer 2013). Eine Ethnographie diskursiver Ordnungen interessiert sich damit sowohl für die Modi der Sedimentierung des Diskurses als auch für die „Orte“, an denen diese Ordnungen im praktischen Vollzug (neu) verhandelt/verhandelbar und prozessiert werden. Gerade hier sehen wir einen Mehrwert einer Integration ethnographischer Perspektiven in die geographische Diskursforschung, wodurch doing discourse als (in-)stabiler, multimodaler (sprachliche und nichtsprachliche Elemente umfassender) Prozess analysiert werden kann. Nach einer Vorstellung der „klassischen“ ethnographischen Epistemologien diskutiert der Beitrag eine diskursanalytische „In-wert-setzung“ ethnographischer Feldzugänge aus konzeptionell-methodologischer Perspektive. Er stellt die Frage, welche Aspekte der diskursiven Konstitution gesellschaftlicher Verhältnisse über ethnographische Zugänge sichtbar gemacht werden können. Anhand von Forschungsbeispielen zu lokalpolitischen Konfigurierungen von „Islam“ und „Muslim*innen“ in Deutschland werden anschließend Aspekte des Mehrwerts einer Ethnographie diskursiver Praxis illustriert: Die Aufschlüsselung des konstitutiven Spannungsfelds von Stabilität und Instabilität sowie Impulse für ein Nachdenken über Körperlichkeit, Emotion und Affekt.

Ethnographische Arbeitsweisen und Epistemologien und deren Weiterentwicklung Das Beschreiben (graphéin) – i.w.S. nicht-europäischer – „fremder Völker“ (éthnos) reicht weit vor die Etablierung einer wissenschaftlichen Ethnographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Alltagshandlungen bis dato unbekannter ethnischer Gruppen in Kolonialgebieten wurden bereits von Forschungsreisenden, Händlern und Missionaren in Reiseberichten niedergeschrieben. Solche Reiseliteratur fand, trotz exotisierenden, unsystematischen Darstellungen, im 19. Jahrhundert Eingang in die Wissensproduktion der sich etablierenden

Ethnographisch informierte Diskursforschung

Ethnologie bzw. Kulturanthropologie. Eine systematische Ethnographie legte erstmals Bronislaw Malinowski mit seiner Monographie „Argonauts of the western Pacific“ (2004) vor. Dort umriss er das Konzept einer stationären Feldforschung, ihrer Arbeitstechniken und Erkenntnisinteressen. So entstand ein epistemologisch inzwischen überholtes Paradigma des methodisch kontrollierten „Fremdverstehens“ objektivistischer Prägung. Das Malinowskis Forschungsstrategie zugrunde liegende Methodenset zielt vorwiegend auf die Teilhabe am Alltag der Erforschten und umfasst verschiedene Modi der teilnehmenden Beobachtung von sozialer (Alltags-)Praxis, um mit konkreten lebensweltlichen Vorstellungen vertraut zu werden (ebd.: 5ff.). Im Gegensatz zu den konzeptionellen Prämissen Malinowskis gilt sein Methodenset noch heute als Referenz ethnographischer Feldforschung. Durch (in Feldtagebüchern zu protokollierende) standardisierte Formen der Beobachtung (Zählungen, Vermessungen, Aufnahmen) und Befragung, wie auch über ungeplante Unterhaltungen und Beobachtungen oder das Sammeln von Artefakten im Feld, soll eine „ganzheitliche“ Repräsentation der Strukturen, Regeln und Routinen „fremder“ Gesellschaften erarbeitet werden (vgl. Beer/Fischer 2003; Illius 2003).1 Das beschriebene Vorgehen wurde insgesamt als „teilnehmende Beobachtung“ in vielen Lehrbüchern der Sozialforschung kanonisiert, der Begriff „participant observation“ allerdings erst nach Malinowski von der US-amerikanischen Anthropologin Florence Kluckhohn (1940) geprägt. Insgesamt verschrieb sich der ethnographische Zugang dem Ziel, „to grasp the native’s point of view, his [sic!] relation to life, to realise his vision of his world. We have to study man, and we must study what concerns him most intimately, that is, the hold which life has on him.“ (Malinowski 1922 [2002]: 19, Herv. i.O.) Der holistische und zugleich paternalistische Blick der klassischen Ethnographie sowie deren Objektivitätsanspruch bei der Beobachtung und Konstitution des „Fremden“ wurden mit dem Aufkommen hermeneutischer und sozialkonstruktivistischer Ansätze ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedentlich kritisiert und weiterentwickelt. Eine solche Weiterentwicklung lieferte Clifford Geertz mit seinem Konzept der „dichten Beschreibung“ (thick despriction). Geertz hinterfragt die Vorstellung der Ethnographie als ein „reines Beobachten und Beschreiben“ sozialer Praxis und erhebt die Interpretation der*s Forschen1

Das Ziel des Beitrags besteht in einer Vermengung ethnographischer und diskurstheoretischer Erkenntnisinteressen. Die Arbeitstechniken der Ethnographie sind als solche nicht Hauptgegenstand des Beitrags. Für „handwerklichere“ Beschreibungen der ethnographischen Methode in der Geographie verweisen wir auf einschlägige Methodenbücher (vgl. Reuber/Pfaffenbach/ Mattissek 2013; Watson/Till 2010).

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den zum zentralen Moment der Analyse. Um „fremde Kulturen“ zu untersuchen, fragt Geertz mithilfe eines semiologischen Kulturbegriffs nach den „selbstgesponnen Bedeutungsgewebe[n]“, in die Menschen „verstrickt“ (Geertz 1994 [1973]: 9) sind. Erst das Interpretieren dieser Bedeutungen im Verlauf teilnehmender Beobachtungen bringt eine dichte Beschreibung hervor, die symbolische Tiefenstrukturen offenlegt (vgl. Wolff 1992), wobei die Reflexion der eigenen Interpretationen in die dichte Beschreibung Einzug finden solle. Ein Beispiel für eine dichte Beschreibung ist Geertz’ Analyse des balinesischen Hahnenkampfs (1994 [1973]: 412-453). Er rekonstruiert die kulturellen Bedeutungen rund um den Wettkampf und schließt von diesen auf allgemeinere symbolische Strukturen einer Gesellschaft. Die im Ergebnis literarische, dichte Beschreibung unterscheidet sich deutlich von deskriptiven Darstellungen vermeintlich objektiver Wirklichkeiten. Eine poststrukturalistische Antwort auf die Frage zum Anspruch der Ethnographie lieferte die sogenannte „writing culture“-Debatte zu den Produktionsbedingungen von ethnographischen Texten und Kulturbegriffen. Sie reflektierte unter Rekurs auf postmoderne, postkoloniale und literaturwissenschaftliche Theoriebildung die strukturierenden, hegemonialen Diskurse des Genres. Der gleichnamige Sammelband von James Clifford und George Marcus (1986) repräsentiert viele Aspekte dieses erkenntnistheoretischen Projekts, das die (allzu) machtvolle Rolle des*der Autor*in ethnographischer Texte (auch bei Geertz) sowie die hieraus resultierende holistische Re-Konstruktion „fremder“ Kulturen hinterfragt. So galt es, den tradierten, klassisch ethnographischen Modus einer monophonic authority (vgl. Clifford/Marcus 1986) zurückzuweisen. Vielmehr seien im Schreibprozess die eigene Positionalität noch stärker zu reflektieren und, über den Einbezug der Stimmen der Erforschten, dezidiert „polyphone“ Ethnographien hervorzubringen. In der Konsequenz wurde das Verfassen von Ethnographien als eine Praxis reflektiert, die Kulturen als solche erst herstellt (writing culture). Die skizzierten Debatten zeigen auf, wie im Kontext postmoderner Theoriebildung ethnographische Selbstverständnisse re-konfiguriert wurden (vgl. Britzmann 1995; Müller 2012). Gerade die Annahme, dass der ethnographische Blick stets einer partikularen Perspektive entspringt und eben keine holistische Rekonstruktion des Gegenstands ermöglicht, ist auch für die Überlegungen dieses Aufsatzes von Bedeutung.2 Ebenso bricht eine poststrukturalistische Ethnographie mit der „expectation that the ethnographer is capable of produc2

Aus diesem Blickwinkel sind auch die soziologischen Adaptionen der Ethnographie von Interesse, die statt einer Erforschung „fremder Kulturen“ eine „Befremdung der eigenen Kultur“ anpeilen (Hirschauer/Amann 1997: Buchtitel).

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ing truth from the experience of being there“ (Britzmann 1995: 229). Jedes „dort sein“ sei vielmehr in epistemologische Beobachtungs- und Erkenntnisraster eingebettet gedacht. Neben einer solchen erkenntnistheoretischen Neu-Bewertung des ethnographischen „Outputs“ möchten wir in diesem Beitrag jedoch, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit den Erkenntnisinteressen poststrukturalistischer Diskursforschung, dezidiert die methodologisch-konzeptionelle Frage aufwerfen, welche Dimensionen oder Modi diskursiver Praxis durch ethnographische Feldzugänge stärker in den Blick genommen werden können. Was also bringt die Ethnographie den poststrukturalistisch eingefärbten, diskurstheoretischen Fragen nach der Aushandlung und (Re-)Produktion von (Raum-)Identitäten und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen? Die in diesem Band diskutierten Spielarten der Diskursanalyse gehen von einer konstitutiven Gemachtheit, Umkämpftheit und Kontingenz gesellschaftlicher Verhältnisse aus. Soziale Identitäten und Ordnungen reproduzieren sich demnach im Vollzug diskursiver Praxis immer wieder neu und erlangen niemals einen Zustand endgültiger Geschlossenheit. Daraufhin wird analysiert, wie dennoch eine temporäre Stabilisierung von Identitäten funktioniert. Solche Stabilisierungsprozesse, so die Annahme, gehen stets mit Einund Ausschlüssen bestimmter Identitäten einher (s. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021a u. Kap. 5: Glasze/Mattissek 2021b). Eine poststrukturalistische Ethnographie wird sich diesen Erkenntnisinteressen widmen und gemäß ihrem Schwerpunkt auf sich vollziehende Tätigkeiten, in erster Linie auf Praktiken, fokussieren (vgl. Kap. 12: Baumann/Lahr-Kurten/Winkler 2021). Sie analysiert, wie in und durch Praktiken Identität(-en) in situierten Aushandlungsprozessen hervorgebracht und (be-)greifbar gemacht werden. Insofern aus poststrukturalistischer Perspektive die Vorstellung fester Identitäten unterlaufen wird, kann eine entsprechende Ethnographie keine universellen Bedeutungen bspw. von kulturellen Lebenswelten herausarbeiten, sondern wird sich – als eine Art der „fokussierten Ethnographie“ (vgl. Knoblauch 2001) – auf einzelne Prozesse der Bedeutungsherstellung in soziomateriellen Kontexten fokussieren. Anstatt bspw. „die eine Bürokultur“ verstehen und abschließend rekonstruieren zu wollen, könnte in etwa untersucht werden, wie in alltäglichen Büropraktiken bestimmte Subjektpositionen reproduziert oder verändert werden. Diese ethnographischen „stories“ (Britzmann 1995: 229) sind dann auch keine Geschichten über (tatsächlich existierende) „cultural secrets“ (ebd.: 229) mehr, sondern Analysen dessen, wie durch Praktiken Phänomene in die Existenz gerufen und handhabbar gemacht werden (vgl. Ott 2011: 87).

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Theoretische Grundlagen und Anwendungsfelder einer „Ethnographie der Diskurse“ Grundlagen 1: Eine Ethnographie diskursiver Praktiken Einige Autor*innen nutzen ethnographische Methoden für die Analyse von Diskursen „at work“. Fokus solcher – auch geographischer – Studien sind dann die Performativwerdung von Diskursen (vgl. Dzudzek 2016), „diskursive Praxis“ (vgl. Wrana 2012) oder auch Praktiken der Machtausübung/Regierung (s. Ott 2011; Marquardt 2015). Wir möchten nun über die Diskussion solcher Ansätze der Frage nachgehen, welche konzeptionellen Prämissen einer diskursanalytisch ausgerichteten Ethnographie zugrunde gelegt werden können. Die poststrukturalistische Theoriebildung unterläuft die Vorstellung eines ontologischen Unterschieds zwischen sprachlichen Aussagen und „stummen“ Körperaktivitäten nicht-sprachlicher Art (vgl. Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015). Entsprechend dieser Perspektive ist die soziale Welt „aus Praktiken zusammengesetzt, die sich als Wiederholung und permanente Verschiebung von Mustern der Bewegung und der Äußerung von aktiven Körpern und Dingen verstehen lassen“ (Reckwitz 2008: 202). Sprachliche Äußerungen und nichtsprachliche Tätigkeiten werden gleichermaßen als materielle Elemente eines differentiell organisierten Verweisungszusammenhangs konzipiert: „The fact that we are dealing with words in one case and with actions in the other is something that we can keep fully within a unified grammar as long as the principle of differentiality is strictly maintained.“ (Laclau 2000: 77) Diskurse manifestieren sich sodann als eine sich temporär stabilisierende Regelmäßigeit in der Ausführung von Aktivitäten des Tuns und Redens (doings and sayings, vgl. Schatzki 2002). In diesem Lichte erscheint Diskurs als eine „ontological category that specifies the interweaving of words and actions into practices“ (Howarth 2005: 336). Gemäß eines solches Diskursverständnisses können auch „stumme“ Körper-Tätigkeiten mit einer diskursanalytischen Heuristik als geordnete/ordnende Elemente des Diskurses analysiert werden (Ott/Wrana 2010; Wrana/Langer 2007). Auch nicht-sprachliche Praktiken sind dann insofern als diskursiv zu denken, als sie Arten des „Regelfolgens“ (Wittgenstein 2008) darstellen sowie mit den sprachlich explizierten Formen von Wissensreproduktion in einem spezifischen Verhältnis stehen. In der verwobenen Angeordnetheit und Aufeinander-Bezogenheit sprachlicher und nicht-sprachlicher Aktivitäten, und damit in Praktiken, konstituieren sich die temporären Ordnungen des Diskurses, wobei zu betonen ist, dass „Macht und Wissen in Praktiken verwoben sind

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und ihr Zusammenhang die Praktiken konstituiert“ (Ott 2011: 86). Somit sind Praktiken als der zentrale Modus der Reproduktion des Diskurses und in diesem Sinne als diskursive Praktiken (vgl. Wrana 2012) aufzufassen, die auf sehr verschiedene Weise zeichenhaft organisiert und zählebig sein können (s. van Dyk et al. 2014). Die Materialität von Praktiken ist dabei „der Zugang, sie zu analysieren“ (Ott 2011: 88). Derartig gefasste Praktiken sind folglich auch Untersuchungsgegenstand einer poststrukturalistischen Ethnographie, die sich als eine diskursanalytische (vgl. Langer 2008), machtanalytische (vgl. Ott 2011), in jedem Fall aber als eine „sich praxisanalytisch verstehende Ethnographie“ (Ott/Wrana 2010: 167) ausgestalten muss. Als solche „überschreitet [sie] ein Handlungsverständnis, das vom Sinn her konstruiert ist, indem [sie] die Aktion in den Fokus der Analyse stellt“ (ebd.: 167). Sich vom „Verstehen“ loslösend, strebt sie eine auf Beobachtung beruhende Analyse der Regelmäßigkeit in der Streuung von Aussagen/Praktiken (vgl. Foucault 1981: 58) bzw. von Mustern des Tuns und Redens (vgl. Schatzki 2002) an. Eine poststrukturalistische Ethnographie, die das soeben skizzierte Diskursverständnis aufgreift, leitet in die Frage hinein, wie im Vollzug diskursiver Praxis „Beziehungen zwischen Bedeutungen, Gegenständen, Subjektivitäten und Materialitäten hergestellt [werden]“ (Wrana 2012: 196). Die Produktivität und Operativität des Diskursiven zeigt sich gerade durch jene Beziehungen charakterisiert – Beziehungen zwischen einerseits dem, was unter bestimmten Bedingungen als vorhandenes Wissen sprachlich explizierbar ist und sich in den Sprachpraktiken der Zeichenverwendung, der (Um-)Deutung, Argumentation und Legitimation ausdrückt, und andererseits jenen „stummen“ Praktiken, Aktivitäten, Techniken, routinierten gesellschaftlichen Abläufen und Verhältnissen, die nicht notwendigerweise als solche in der expliziten Aussagenproduktion auftauchen (vgl. Foucault 1981; Laclau/Mouffe 2006 [1985]; zur Diskussion s. Ott 2011: 87; Wrana/Langer 2007). An dieser Stelle wird nun gerade der Ethnographie beigemessen, solche Beziehungen fassen zu können (vgl. Wrana 2012; van Dyk et al. 2014). Sie erscheint als „particularly useful for examining discourse production“ (Macgilchrist/van Hout 2011: 4) und analysiert die „diskursive Praktik […] als eine produktive Funktion“ (Ott 2011: 90) der Beziehungsherstellung. Dies etabliert auch eine Abgrenzung zu praktikentheoretischen Ethnographien, die primär auf implizites Wissen abzielen (vgl. Reckwitz 2008). Eine solche Ethnographie liefert heterogenes Datenmaterial, wobei die herausgearbeiteten sprachlichen und „stummen“ Praktikenanteile in einem Verhältnis gegenseitiger Kontextualisierung zu denken sind (vgl. Langer 2008; Kalthoff 2003).

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Aufgrund teils sehr verschiedener Konzeptualisierungen von „Diskurs“ und „Praxis“ innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften (vgl. Baumann/ Tijé-Dra/Winkler 2015) wird die Idee einer diskursanalytischen Ethnographie als solche bisweilen de-legitimiert. In praktikentheoretischen Diskussionen bspw. erscheint Ethnographie als ein Zugang zu körperlich-routinierten Aspekten sozialer Praxis sowie zu Formen impliziten Wissens (vgl. Reckwitz 2008; Wrana 2012), die dann gerade „zu dem sprachlich-intelligiblen Wissen in Kontrast gestellt [werden]“ (Ott 2011: 84). Insofern Letzteres dann dem „Diskurs“ zugeordnet wird, könne es – terminologisch betrachtet – keine diskursanalytische Ethnographie geben. Ein anderes Diskursverständnis vertritt etwa Reiner Keller (2008) in der Konzeption seiner wissenssoziologischen Diskursanalyse. Dieses zielt zwar auf „die regelhafte Normung, aber nicht [auf] die unerwarteten Brüche und Heterogenitäten, denn diese werden nicht dem Diskurs, sondern der Kreativität der AkteurInnen zugeschrieben“ (Wrana 2012: 190). Letztere sei dann Gegenstand der Ethnographie, die folglich eine „korrigierend[e] Funktion gegenüber der Diskursforschung“ einnehmen solle (Keller 2008: 261). Wir hingegen möchten die Ethnographie nicht als Ergänzung oder Korrektur, sondern als zentrale Methode zur Analyse von Diskursen als „Ensembles diskursiver Praktiken“ (Wrana 2012: 191) verstehen, wobei die Brüchigkeit der Alltagspraxis als Resultat der „Heteronomie der diskursiven Praktiken selbst“ (Wrana 2012: 190) verstanden werden soll.

Grundlagen 2: Die Unabschließbarkeit des Diskurses Das zunehmende Bedürfnis nach ethnographischen Arbeitsweisen innerhalb der diskursanalytisch geprägten Forschung mag auch der poststrukturalistischen Setzung einer konstitutiven Polysemie und Unabschließbarkeit jeder diskursiven Ordnung geschuldet sein. Aus diesem Grund, so Keller, werde eine „Ethnographie diskursiver Praktiken mit dem Hinweis eingefordert, dass Textproduktion und Textrezeption auseinanderfallen“ (2010: 57). Das bedeutet, dass jedes diskursive Element (ob Sprachzeichen oder Körperaktion) erst im Vollzug bestimmter Praktiken als ein bedeutsames Element hervorgebracht und sodann im Vollzug anschließender Praktiken wieder re-artikuliert wird. In diesem Prozess aneinander anschließender Praktiken verändert sich die Bedeutung des Elements beständig (vgl. Laclau/Mouffe 2006 [1985]). An dieser Stelle werden nun performativitätstheoretische Ansätze relevant (vgl. Laclau 2000), die das Augenmerk genau auf jene Bedeutungsverschiebungen von Identitäten in ihrer Performativ-Werdung richten. Der Fokus auf Praktiken vermag dann die Unabschließbarkeit und Wandelbarkeit diskursiver Ordnungen sichtbar zu ma-

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chen. In diesem Zusammenhang lässt sich ein Mehrwert ethnographischer Ansätze für diskursanalytische Forschung verorten: Die Ethnographie kann als ein privilegierter Zugang zur Performativ-Werdung von Identität(en) verstanden werden. Wie Laclau in Anlehnung an die Arbeiten Judith Butlers anmerkt (s. Laclau 2000: 77f.), könne gerade eine Analyse, die über linguistische Zeichenbeziehungen hinausgeht und das Gesamt der sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken einschließlich deren materiellen Kontexten in den Blick nimmt, jene konstitutive Wandelbarkeit des Diskursiven bevorzugt sichtbar machen (und folglich stete Variationen in den Ausführungsformen von Praktiken in je neuen Vollzugs-Kontexten erfassen). Ethnographisches Arbeiten kann damit als Analyse der Vollzugskontexte von Praktiken und den dabei artikulierten (raumbezogenen) Identitäten konzipiert werden. Gewissermaßen grundsätzlich als visual ethnographies (vgl. Schurr 2012) zu verstehen, versprechen Ethnographien einen Zugriff auf die Sichtbarkeiten und Sichtbarwerdungen körperlicher Performanzen, wobei diese situierten Sichtbarwerdungen nach ihren je eigenen performativen Effekten auf die (Re-) Artikulation von Identitäten zu befragen sind. Über die Beobachtung von Praktiken könne also nicht nur analysiert werden, wie sich Identitäten im Verlauf von Praxis sedimentieren (vgl. van Dyk et al. 2014), sondern auch, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen Bedeutungsverschiebungen stattfinden. Es ist die Auseinandersetzung mit dieser Spannung zwischen Stabilität und Instabilität (vgl. Schäfer 2013), die als Potenzial einer Ethnographie der Diskurse erscheint. Ähnliche Perspektiven auf den Mehrwert ethnographischen Arbeitens lassen sich (partiell) in einigen humangeographischen (vgl. Müller 2009; Schurr 2012; Füller/Marquardt 2010; Dzudzek 2016) und gesellschaftswissenschaftlichen Studien (vgl. Langer 2008; Tuori 2009; Ott 2011; Ott/Wrana 2010) finden. Das Potenzial der Ethnographie, die Brüchigkeit diskursiver Programme zu erfassen, wurde auch in gouvernementalitätstheoretischen Studien erkundet. Hier ist auf Arbeiten zu verweisen, die die Ethnographie als Zugang zu Praktiken der „Machtausübung im Vollzug“ (Ott/Wrana 2010: 166) bzw. zu Praktiken der Regierung und deren lokalspezifischen Ausprägungen und Dynamiken erkennen (vgl. Li 2007; Langer 2008; Tuori 2009; Ott 2011; Füller/Marquardt 2009; Marquardt 2015; Dzudzek 2016). Nach Salla Tuori (2009: 86) würden sich gerade in situierten Interaktionsprozessen verstärkt Räume für Neu-Verhandlungen von Identitäten öffnen und schließen, womit gegenüber Texten eine dynamischere Wirkungsweise von Macht anzunehmen sei. Teilnehmende Beobachtungen ermöglichen dann, die Unmöglichkeit spannungslosen Regierens (vgl. Li 2007), die „Performativität des Regierens“ (Dzudzek 2016: 46) oder die „Pro-

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duktion einer ‚Regierungskunst‘“ (Ott/Wrana 2010: 180) zu analysieren und dabei auch „die Widerstände, die unerwarteten Gebrauchsweisen und die Gegenprogramme als Praktiken“ (ebd.: 159) zu fassen (vgl. auch Watson 2017; Everts et al. 2019). Mit der Ethnographie wird versucht, die oftmals homogenisierenden, „großen Diagnosen“ über Regierungsrationalitäten zu überkommen (Füller/Marquardt 2010: 156), indem die Heterogenitäten auch räumlich situierter, lokaler Übersetzungsformen von Regierungsprogrammen betont werden.

Grundlagen 3: Poststrukturalistische Beobachtung? In Anlehnung an Reflexionen Kellers (2010) möchten wir die Frage stellen, wie eine „sich praxisanalytisch verstehende Ethnographie“ (Ott/Wrana 2010: 167) Praktiken überhaupt erfassen/beobachten möchte? Dabei ist zu fragen, inwiefern gerade nicht-sprachliche Aktivitäten einen höheren Unbestimmtheitsgrad aufweisen könnten als sprachliche Elemente, was für ethnographisches Arbeiten im Hinblick auf die Identifizierung von Praktiken zu reflektieren wäre. Mit Andreas Reckwitz differenzieren wir hierbei einerseits zwischen „Zeichen verwendende[n] Praktiken“ (2008: 203) und andererseits Praktiken, die „trotz ihrer Sinnhaftigkeit keine expliziten Aussagen ‚über‘ die Dinge machen“ (ebd.: 201). Dieser zweite Praktikentypus kann natürlich selbst als ein Zeichen gedeutet werden und zudem mit Praktiken der Zeichenverwendung verknüpft sein. Muss nun aber im Zuge ethnographischer Beobachtung „stummer“ Praktiken, gegenüber einer textualistischen Analyse, das Zeichenhafte in stärkerem Ausmaß als solches erst interpretierend rekonstruiert werden (womit das Erkennen von Praktiken ggf. stärker von Vorannahmen geprägt wäre)? Die Analyse sprachlicher Aussagen fokussiert auf einzelne Sprachsymbole (z.B. Wörter), eine Analyse von Praktiken muss die Praktik als Ganzes – im Sinne eines komplexen Zeichens – deuten. Auch sprachliche Elemente sind verschiedentlich deutbar, aber wohl stärker konventionalisiert, da ihnen explizit eine Kommunikationsfunktion zugesprochen wird, was eine stärkere Systematisierung und Einschränkung ihres semantischen Feldes bedeutet. Angenommen, es lässt sich durch Beobachtung erheben, dass ein*e städtische*r Integrationsbeauftragte*r regelmäßig zum Telefonhörer greift, um mit Vertreter*innen von Migrantenorganisationen Bildungsprojekte zu besprechen. Wie deutet man diese Praktik? Als „Telefonieren“, „Sprechen“, „Verhandeln“, „Networken“, „Integrationsarbeit“? Aus poststrukturalistischer Perspektive kann die Identifizierung einer Praktik jedenfalls nicht auf der Vorstellung einer festen Bedeutung selbiger basieren, sondern muss davon abhängig gemacht werden, wie die ethnographische Beobachtung im Kontext diskursanaly-

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tischer Fragen perspektiviert wird (vgl. Ott 2011: 78). Es geht weder um die Bedeutung, die bspw. „Praktiker*innen“ selbst einer Praktik beimessen, noch um die eine Form einer Praktik, sondern um die möglichen, kontextabhängigen Bedeutungen von Praktiken, und zwar im Hinblick darauf, wie durch diese Praktiken diskursive Ordnungen fortgeschrieben oder subvertiert werden. Eine poststrukturalistische Ethnographie könnte Praktiken also von ihren diskursiven Machteffekten her bestimmen (vgl. Ott/Wrana 2010). Die Fassung einer beobachteten Tätigkeit als „Praktik X oder Y“ ergäbe sich dann daraus, welche Macht- und Strukturierungseffekte dieser Tätigkeit – in Verbindung mit anderen Tätigkeiten – innerhalb von Prozessen der Re-Konfigurierung von Identitäten und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zugeschrieben werden können. Insgesamt konnte in diesem Kapitel herausgearbeitet werden, dass eine Konzeptualisierung von Diskursen als diskursive Praxis den Rahmen dafür bieten kann, um diskurstheoretisch informiert auch Praktiken im Sinne konkreter und körperlicher Aktivitäten in den Blick zu nehmen. Diese Praktiken werden dann als ein Modus der (Re-)Produktion und/oder Transformation des Diskursiven gedacht. Um diesen spezifischen Modus zu untersuchen, muss dann auch auf die besondere materielle und körperliche Dynamik von Praktiken geblickt werden. Die folgenden empirischen Beispiele sollen die bisher genannten theoretischen und methodologischen Aspekte verdeutlichen und v.a. aufzeigen, in welcher Art und Weise Praktiken sowohl diskursive Zusammenhänge als auch Machtverhältnisse enthalten, aktualisieren oder verändern.

Beispiele diskursanalytischer Ethnographien Im Folgenden möchten wir anhand von Beispielen aus einer empirischen Studie zum kommunalen Dialog mit dem „Islam“ in einer süddeutschen Großstadt den Mehrwert ethnographischen Arbeitens für diskursanalytische Forschung aufzeigen. Dabei werden zum einen das Spannungsfeld Stabilität/Instabilität beleuchtet und zum anderen auch Möglichkeiten eruiert, über den ethnographischen Zugang Kategorien zu erfassen, die die diskurstheoretische Perspektive konzeptionell erweitern könnten, so in etwa Aspekte körperlicher Performativität und Aspekte der Emotionalität.3

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Die Beispiele und diesbezüglichen Thesen entstammen dem Dissertationsprojekt von einem der Autoren dieses Aufsatzes (Jan Winkler) und basieren auf eigenen ethnographischen Erhebungen in der untersuchten Stadt im Zeitraum zwischen 2014 und 2016.

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Der Dialog mit dem Islam: Machtanalytische Ethnographien In der untersuchten Stadt – wie in vielen anderen deutschen Städten – werden „Islam“ und „Muslim*innen“ vielfach unter integrations- und sicherheitspolitischen Vorzeichen problematisiert (vgl. Tezcan 2006, 2007; Gesemann 2006; Schmid/Akca/Barwig 2011; Haddad 2015). Städtische Politik und Verwaltung praktiziert vermittels bestimmter Arbeitskreise, Foren und Projekte einen in verschiedene kommunalpolitische und administrative Handlungsfelder eingebetteten „Dialog“ mit dem lokalen „Islam“. „Dialog“ ist hierbei bereits als ein Programm bzw. Regierungsskript zu deuten (vgl. Tezcan 2007; Amir-Moazami 2011; Dornhof 2012), welches in bestimmten Modi auf die lokale Integration von „Muslim*innen“ zielt. Diese Modi basieren auf den Paradigmen gegenseitiger Partnerwerdung und Partizipation sowie einer konsensorientierten Involvierung „auf Augenhöhe“. Über teilnehmende Beobachtungen in verschiedenen Dialoginitiativen (v.a. dem „Freundeskreis muslimischer Gemeinden [Stadtname]“ FMGE, einem von der Stadt initiierten integrationspolitischen Forum, sowie der „Christlich-Islamischen Arbeitsgemeinschaft [Stadtname]“ CIAG, einem integrationspolitisch überformten, städtisch ko-moderierten interreligiösen Gesprächskreis, an dem Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung partizipieren) wurde unter Rekurs auf Michel Foucaults (2005) Machtanalytik der Frage nachgegangen, wie „Islam“ und „Muslim*innen“ durch Dialog gouvernementalisiert, d.h. regierbar gemacht werden. Früh fiel im Zuge der teilnehmenden Beobachtungen auf, dass der dortige Dialog eine sehr informelle Art der Interaktion zwischen städtischen, „muslimischen“, zivilgesellschaftlichen und „christlich“-kirchlichen Vertreter*innen zu etablieren schien. Die praktizierte Informalität wird dabei zum Programm erhoben und in einigen Sitzungen als Besonderheit guter, begegnungsorientierter und lokaler Kommunalpolitik artikuliert, in dessen Verlauf Vertrauen entstehen soll. Alle Dialogteilnehmer*innen bemühen sich untereinander um eine dezidiert lockere Umgangsweise. Ethnographische Feldbeobachtungen verdeutlichen eine auffällig emotional prozessierte, von gegenseitigen Solidaritätsbekundungen oder gegenseitigem Loben begleitete Atmosphäre des Miteinanders (vgl. Fortier 2007; de Wilde 2015). Die Teilnehmer*innen des Dialogs duzen sich (auch lokalpolitische „Prominenz“, wie die zweite Bürgermeisterin, duzt und lässt sich duzen), scherzen miteinander, erzählen sich persönliche Vorfälle und pflegen eine nicht-hierarchische Sitzordnung. In routinierten Redepraktiken werden solche Phänomene auch explizit als Zeichen eines vertrauensvollen Verhältnisses angesprochen: mit betonender Intonation, warmer, anerkennender Stimme und mit Zufriedenheit signalisierender Mimik. Der eth-

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nographische Zugang zeigte, dass diese Praktiken in den Sitzungen Zeit in Anspruch nehmen, rituellen Charakter aufweisen und eine affizierende Wirkung zu haben scheinen. So ließ sich der Dialog als eine Praxis verstehen, die als ein Gegenmittel zu „überhitzten“, problemorientierten Islamdebatten auf die Schaffung persönlicher Beziehungen sowie auf eine lokale Vergemeinschaftung mit „unseren [Stadtname] Muslimen“ abzielt (Zitat aus der Rede einer politischen Repräsentantin auf einer Vernissage in der Stadt am 01.02.2015) – und somit auch räumliche Ordnungen reproduziert. Der Dialog ist ferner durch Praktiken der zeitlichen und räumlichen Organisation geprägt. Man trifft sich regelmäßig, rotiert dabei den Sitzungsort (kommunale Räume, kirchliche Räume, Moschee-Räumlichkeiten), die Teilnehmer*innen bewirten sich gegenseitig kulinarisch, es wird versucht, die Verteilung der Redeanteile möglichst symmetrisch zu gestalten. Alle im Dialog besprochenen Themen sollen stets nochmal durchdacht und mit der „eigenen“ religiösen Gemeinde abgeklärt werden, folglich lässt man sich gegenseitig „Zeit zum Nachdenken“. Diese Dinge werden explizit thematisiert. Auch das Achten auf die religiösen Befindlichkeiten des Gegenübers erhält im Dialog programmatische Stellung: In einer CIAG-Sitzung während des Ramadan stellten alle „nicht-muslimischen“ Teilnehmer*innen ihre Getränke unter den Tisch, um die fastenden „Muslim*innen“ nicht zu belasten. In einem Moment wurde dann auch auf die unter dem Tisch stehenden Getränke hingewiesen, wodurch sie hervorgehoben und sichtbar gemacht wurden. Das Bild der Getränke sei ein Zeichen des Verständnisses, so die anschließende Argumentation. Solche Praktiken der Aufmerksamkeit können als Ausdruck des Versuchs gedeutet werden, „Integration“ als gegenseitige Anstrengung zu praktizieren. So erklärte eine „muslimische“ Sprecherin der CIAG, dass der Dialog als pragmatisches und partnerschaftliches Projekt jenseits der bisher allzu normativ-fordernden Integrationspolitiken anzusiedeln sei; und gerade im so ermöglichten verständnisorientierten Miteinander könne man dann auch über Probleme des Zusammenlebens vor Ort reden. Diese Reartikulation des Integrationsbegriffs gewinnt ihre Plausibilität im Kontext der beschriebenen Praktiken: Hier wird sie (be-) greifbar gemacht. Diese diskurs- und gouvernementalitätstheoretische Ethnographie erzählt bislang eine „Geschichte der Stabilität“ der diskursiven Praxis des Dialogs. In dessen Kräftefeld werden bestimmte Themen zu Angelegenheiten „muslimischer“ Gemeinden erklärt und bearbeitet. Der Dialog erscheint als emotionalisierte Spielart einer Involvierungstechnik, die die Selbstführungskompetenzen „muslimischer“ Gemeinden fördern will. Die Stabilität dieses Zugriffs auf „Muslim*innen“ reproduziert sich dabei gerade im Zusammenspiel aus sprach-

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lichen und nicht-sprachlichen Praktiken, programmatischen Aussagen, dem damit verknüpften „Zeigen“ auf sichtbar gemachte Elemente, routinierten Abläufen und Settings. Die ethnographische Forschung erschließt verschiedene Materialsorten, deren gegenseitige Kontextualisierung analysiert werden kann (vgl. Ott/Wrana 2010; Watson 2017).

Ethnographie und die Ränder der Diskurse Eine solche Analyse lässt zudem erst verständlich werden, wie sich die Machteffekte des Dialogs entfalten können. So ermöglicht bspw. das die Dialogpraxis prägende Zusammenspiel aus Aussagen, Praktiken und Routinen bestimmte Formen von Kritik. Im Kontext zweier aufeinanderfolgender Sitzungen der CIAG zum Thema „Islam und religiöse Gewalt“ formulierte ein Vertreter einer lokalen „katholischen“ Bildungsinstitution Kritik am „Islam“: So erachte er die „christliche“ Idee der Feindesliebe als friedensethisch konstruktiver und radikaler als ableitbare „islamische“ Vergemeinschaftungsbotschaften. Das Aussprechen dieser und ähnlicher Formen von Kritik war ihm jedoch sichtlich unangenehm. In einer Situation legitimierte er jedoch seine kritischen Anmerkungen mit dem Verweis, dass man „hier doch im Vertrauen und unter Freunden sei“ sowie „ehrlich miteinander reden könne“ (Zitate aus Mitschriften im Kontext teilnehmender Beobachtungen; die Zitate sind nicht unbedingt wortwörtlich, aber sicherlich nah am Gesagtem; Beobachtungen: 2015). Die Legitimation von (Islam-)Kritik mittels eines institutionalisierten Freundschaftsmotivs war insgesamt auch erfolgreich. Die Kombination solcher Argumentationsweisen mit diversen körperlichen Ausdrucksformen eines gewissen „Hinund-her-gerissen-Seins“ – zwischen einerseits einem „Kritisieren-Wollen“ und andererseits der steten und mit der Anerkennungslogik verschnittenen Sorge um das gute Verhältnis zu den „Anderen“ im Dialog – ermöglichte es dem „Kritiker“, als ein offen/ehrlich sprechender Verbündeter zu erscheinen; ein Verbündeter, der zwar kritisiert, aber selber „leidet“ (oder zumindest: die Problematik seiner eigenen Kritik verspürt), weil er nicht verletzen oder spalten will. Die gleichzeitige Artikulation von Kritik und eines Strebens nach einem „gutem Verhältnis“ zeigte sich im performativen Vollzug als emotional aufgeladen. Entsprechend reihten sich Praktiken der Vergemeinschaftung an. So wurde dem „Kritiker“ Verständnis entgegengebracht, einige „muslimische“ Sprecher*innen suchten die Situation mit wohlplatzierten, humorvollen Bemerkungen zu entspannen. Letztlich wurde festgesetzt, dass der „Kritiker“ nächste Sitzung Zeit für seine Fragen erhalten solle. Die problematische Situation – der Widerspruch zur dominanten Vorstellung des Dialogs als Anerkennung des lo-

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kalen „Islam“ – konnte so „abgepuffert“ werden. Es lässt sich hier ein machtanalytischer Zusammenhang herstellen zwischen der sprachlichen (im Feldprotokoll als Zitat festgehaltenen) Aussage über das Vertrauensverhältnis sowie den (verschriftlichten) Beobachtungen über die Performativität der Dialogpraktiken. Über die Routine des Dialogs konnte eine Informalität im Umgang miteinander (re-)produziert werden, die das Motiv gegenseitigen Vertrauens intelligibel rahmt und bestimmte (kritische) Aussagen anschlussfähig macht. Das Beispiel kann zudem illustrieren, inwiefern die teilnehmende Beobachtung es ermöglicht, körperliche (z.B. mimische, gestische) Aspekte zu berücksichtigen. Der ethnographische Zugang eröffnete hier auch die Frage, inwiefern „Emotionalität […] über körperliche Ausdrucksformen eine unter bestimmten diskursiven Bedingungen plausible Repräsentanz erhält“ (Winkler 2017: 306; Herv. i.O.) und so zum Element der Dialog-Praxis werden kann. Diese, so die These, verknüpft die Sichtbarwerdung bestimmter körperlicher Ausdrucksformen (hier: verständnissuchende Blicke, beschwichtigende Gesten und Intonationsweisen, eine gewisse Nervosität) mit spezifischen Emotionen und Symbolen des Dialogs („Vertrauensverhältnis“) und macht letztere damit (be-) greifbar. Ethnographisches Arbeiten kann folglich ein derzeit in der Geographie und in den Sozialwissenschaften präsentes Nachdenken über die Bedeutung von Affekt und Emotionalität bzw. einer performativity of emotions (vgl. Schurr 2013) für die (Re-)Produktion gesellschaftlicher Ordnungen befördern (vgl. Hutta 2015; de Wilde 2015; Müller 2015; Marquardt 2015). Damit kann die Ethnographie Phänomene erschließen, die nicht nicht-diskursiv, aber auf je sehr unterschiedliche Art und Weise zeichenförmig sind (vgl. van Dyk et al. 2014: 35), und Impulse liefern für ein Theoretisieren der „Ränder der Diskurse“ (vgl. Wrana/Langer 2007).

Stabilität/Instabilität Der ethnographische Zugang ermöglicht es gleichzeitig, eine Geschichte der Instabilität zu erzählen. Dies soll erneut anhand einer Sitzung der CIAG illustriert werden. Die Praxis dieses Dialogforums basiert auf einer spezifischen identitätslogischen Ordnung: Am „runden Tisch“ wird das Zusammenkommen zwischen „den Christ*innen“ und „den Muslim*innen“ unter Beteiligung „der Stadt“ praktiziert. Dazu werden einzelne Personen als „Vertreter*innen einer bestimmten Religion“ positioniert. Bereits hier zeigt sich das Problem, dass die potenzielle Vielgestaltigkeit z.B. „islamischer“ Positionen zugunsten der Stärkung einzelner Repräsentant*innen ausgeblendet wird. Gerade das Paradigma der Vertrauensbildung zementiert diese Ordnung umso stärker, insofern ein-

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zelne Personen zu den vertrauten Ansprechpartner*innen bezüglich des lokalen „Islam“ gemacht werden. Die Interaktionen der Vertreter*innen im Dialog werden als ein Zusammenkommen „auf Augenhöhe“ orchestriert. Gleichwohl sitzen im Dialog vielfach professionelle Theolog*innen auf „christlicher“ Seite theologischen Laien auf „muslimischer“ Seite gegenüber (Klinkhammer et al. 2011). Dies führt zu strukturellen Asymmetrien, die jedoch mitunter verdeckt werden, als die gesamte Praxis des Dialogs darauf aufbaut, „muslimische“ Sprecher*innen zu „Expert*innen des Islam“ zu machen und damit den „christlichen“ (anerkannten) Expert*innen eine*n Partner*in auf Augenhöhe buchstäblich gegenüberzusetzen.4 Diese Ordnungen von Identität(-en) sedimentieren sich im Vollzug praktischer Abläufe (wie sie oben beschrieben wurden); und mit Silke van Dyk et al. erachten wir „sedimentiert“ als „ein wichtiges Wort, um die unterschiedliche Zählebigkeit von materiell-zeichenhaften Entitäten zu beschreiben“ (2014: 354). Über die teilnehmende Beobachtung ließen sich nun auch Brüche in diesen sedimentierten Routinen analysieren. In einer der Sitzungen sollten „christliche“ und „islamische“ Perspektiven auf soziales Engagement in der Stadt diskutiert werden, wozu jeweils ein*e „muslimische*r“ und ein*e „christliche*r“ Sprecher*in nacheinander Impulsreferate über theologische Perspektiven und praktische Aktivitäten ihrer Gemeinden hielten. Die Praxis des Dialogs suggerierte, dass es überhaupt möglich sei, die „islamische“ und die „christliche“ Perspektive auf soziales Engagement vergleichend zu erarbeiten. Die Praktik des „Nacheinander-Referate-Haltens“ ist dabei im Dialog eine wiederkehrende Verfahrensweise. Im Zusammenspiel mit dem Setting des „runden Tisches“ und den Positionierungen von Körpern und Artefakten konstituiert sie die vortragenden Subjekte als in einem symmetrischen Verhältnis stehende Dialogpartner sowie als Expert*innen für „ihre“ Religionen. Das Referat des „evangelischen“ Pfarrers war nun aber um ein Vielfaches länger, nahm umfangreicher auf theologische Perspektiven Bezug und konnte im Vergleich auch mehr über konkrete lokale soziale Initiativen (der Kirche) berichten. In der Logik des Dialogs schien die Vorstellung auf, der „Islam“ hätte zu einem zentralen gesell4

Hierbei können sich einseitige Vorstellungen von „Islam“ reproduzieren. Wenn ein*e „muslimische*r“ Vertreter*in ein theologisches Statement zu einem gesellschaftlichen Thema abgeben soll und aus strukturellen Gründen nicht jene theologische Tiefe und jenen „akademischen“ Reflexionsgrad erreichen mag, um die „christlichen“ Theologen „am anderen Tischende“ zu überzeugen, diese*r Repräsentant*in jedoch als „Islam“-Vertreter*in per se begriffen wird, mögen sich reduktionistische Vorstellungen von „Islam“ bzw. einer islamischen Theologie weiter verfestigen (vgl. Tezcan 2006; Klinkhammer et al. 2011).

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schaftlichen Thema weniger zu sagen. Die sich im Aufeinanderfolgen der ungleichen Referate ausdrückende „Asymmetrie zuungunsten der ‚Muslim*innen‘“ schien einige der anwesenden „muslimischen“ Vertreter*innen zu affizieren. Dies machte sich in etwa durch sichtbare unruhige Bewegungen während der Rede bemerkbar, durch gelegentliche Seufzer, mimische und gestische Ausdruckformen, die Distanz und Verärgerung ausdrücken, oder durch demonstrativ gezeigtes Desinteresse. Vor dem Hintergrund der identitätslogischen Folie des Dialogs manifestierte sich ein affektiv geladener Konflikt, der sich während der Referate ankündigte und danach entlud. Ein „muslimischer“ Vertreter verteidigte sogleich – sozusagen ungefragt – die „Muslim*innen“: Dass „muslimische“ Gemeinden weniger soziale Projekte realisieren, habe schlicht strukturell-organisationale und finanzielle Gründe und sei nicht religiös bedingt (teilnehmende Beobachtung CIAG, 2015, sinngemäße Aussage). Diese Verknüpfung hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch niemand expliziert, sie lag aber aufgrund der konstituierten Wissensordnung – „Christ*innen“ sprechen mit „Muslim*innen“ über religiöse Perspektiven auf Gesellschaft – in der Luft. Bereits hier unterlief der „muslimische“ Vertreter den Anspruch der interreligiösen Sitzung, v.a. religiöse Aspekte zu reflektieren. Er schien zu ahnen, was tatsächlich noch folgen sollte: Denn so wurde trotz des Ansprechens gesellschaftlicher Asymmetrien letztlich im Identitätsmuster des Dialogs verblieben: Die beiden Referate wurden (a) als „christliche“ und „islamische“ Perspektive angenommen und (b) zum Ausgangspunkt einer tendenziell vergleichenden Debatte über den Zusammenhang von Religiosität und sozialem Engagement gemacht. So wurden (c) u.a. auch religiöse Gründe für eine vermeintlich schwächer ausgeprägte Bereitschaft von „Muslim*innen“ zu ehrenamtlichem Engagement diskutiert – teils wurde gar ein angeblicher Mangel „muslimischer Ehrenamtskultur“ aufgeworfen. In dieser Situation „der Unterlegenheit“ merkten die „muslimischen“ Kommentator*innen immer wieder an, dass es doch „den“ Muslim und „den“ Islam gar nicht gäbe; und ferner, dass Bereitschaft zum Ehrenamt v.a. von individuellen Aspekten abhänge. Überdies wurde (u.a. auch in nachträglich gehaltenen Interviews) betont, dass die anwesenden „Muslim*innen“ keine theologischen Expert*innen seien und man überhaupt nicht umfassend über „islamische“ Perspektiven auf Sozialengagement sprechen könne. Solche Aussagen unterwandern die Grundmuster des Dialogs, der auf der Existenz von ReligionsExpert*innen aufbaut, die über ihre Religion umfassend Bescheid wissen. Dieses Unterlaufen der eigenen Sprecherposition als Moment der Irritation wird erst im Gesamtkontext eines emotionalisierten Konflikts sowie mit Bezugnahme auf die Dialogpraxis verständlich. Der Sitzungsmoderator musste letztlich

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auf den Konflikt reagieren, indem er beschwichtigend anerkannte, dass die Gespräche keine Grundlage für Allgemeinaussagen über den „Islam“ bieten würden.5 Wie wurden in diesem Beispiel Praktiken identifiziert? Statt z.B. von einem „Nacheinander-Referieren“ auszugehen, hätten auch Praktiken des „Sprechens“ oder „Diskutierens“ betont werden können. Die Hervorhebung des „Referathaltens“ und der raumzeitlichen Organisation eines „nacheinander“ sind analytische Entscheidungen. Diese Praktiken erschienen im Zuge der ethnographischen Forschungspraxis als wiederkehrende, strukturbildende Verfahrensweisen und demnach für die Organisation des Dialogs zentral. Zugleich verweisen diese Entscheidungen auf eine machtanalytische Perspektive, die das nacheinander angeordnete Halten „christlicher“ und „muslimischer“ Beiträge als Herstellung partnerschaftlich-symmetrischer Beziehungen zwischen „Muslim*innen“ und „Christ*innen“ und damit als Element einer Rationalität der „Augenhöhe“ deutete. Diese bildet den Boden für die angestrebte Formung des lokalen „Islam“. Ein Reden über „Augenhöhe“ ließ sich sowohl in Dokumenten (Flyer, Sitzungsprotokolle usw.) als auch in den Sitzungen wiederkehrend beobachten. Somit ließen sich sowohl Muster im Reden über bestimmte Motive als auch in den praktischen Verfahrensweisen beschreiben und in Beziehung setzen (vgl. Dzudzek 2016).

Resümee Der Beitrag zeigt den Mehrwert ethnographischer Feldzugänge für die Analyse diskursiver Praxis. Es wurde an Beispielen dargestellt, wie ein diskurstheoretisch informierter ethnographischer Zugang gleichermaßen die „Desorganisation […], die Ambivalenzen und Widersprüche“ (van Dyk et al. 2014: 360) diskursiver Praxis aufscheinen als auch die Frage aufkommen lässt, „aufgrund welcher Praktiken diese Unordentlichkeit als Ordnung [auch: als räumliche Ordnung] erscheint“ (ebd.: 360). Ethnographische Diskursanalyse, so argumentieren wir, rekonstruiert ein Geflecht verschiedentlich sedimentierter Beziehun5

Instabilität drückte sich bereits in den Mikropraktiken des Präsentierens aus. Bevor der „muslimische“ Vertreter zu referieren begann, deutete er beiläufig auf einen Notizzettel in seinen Händen und erklärte – den Zettel hin und her bewegend – mit „herunterspielenden“ Gesten, dass er „jetzt nur so ein bisschen was vorbereitet hat, nichts Großes“. Den Zettel artikulierte er als Ausdruck seines lediglich „kleinen“ Impulses. Bereits solche Aktivitäten unterlaufen partiell die im Dialog etablierte Sprecherposition der „Islam“-Expert*innen.

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gen diskursiver Praxis im konstitutiven Spannungsfeld von Stabilität und Instabilität. Ferner, so wurde gezeigt, kann sie Implikationen eines „weiten Diskursbegriffs“ für humangeographische Fragestellungen zur Herstellung von Identität(-en) und Räumen ausloten. So lassen sich Perspektiven auf die Frage generieren, wie die diskursive (Re-)Produktion gesellschaftlicher Verhältnisse in konkreten lokalen, materiellen und räumlich-situierten Kontexten operativ wird und welche Bedeutung dabei Praktiken, Körper oder auch Emotionen haben können. Damit kann eine Ethnographie der Diskurse auch rekonstruieren, wie sich in spezifischen räumlichen Zusammenhängen heterogene Elemente versammeln und anordnen und dadurch überhaupt erst die Grundlagen für das Operativ-Werden von Diskursen schaffen. Der ethnographische Fokus auf Praktiken kann damit zeigen, wie durch den Vollzug dieser Praktiken und als Ausdrucksformen des Diskursiven lokale Verdichtungen entstehen, diskursiv konstituierte Orte und Räumlichkeiten, in denen sich Diskurse immer auch lokalspezifisch einschreiben und je verschiedentlich sedimentieren.

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20 Fotografie als Methode zur Analyse von Visualität und Materialität Anke Strüver, Katharina Wischmann

Einleitung Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Konstituierung diskursiver Machtverhältnisse jenseits des Sprachlichen – auf Visualität und auf Materialität. Dabei umfasst Visualität weit mehr als diskursive Imaginationen und Raumproduktionen, die sich bspw. anhand von visuellen Materialien wie Karten, Filmen oder Bildern analysieren lassen, und zielt hier – gerade auch in Beziehung zu Materialität – auf die konkrete räumliche, gestaltete (städtische) Umwelt. Wir orientieren uns dabei an der Frage, wie die alltäglich sichtbaren (visuellen) und präsenten (materiellen) Bedingungen des Städtischen – zum Beispiel Architektur, Veränderungen der gebauten Umwelt, städtische Brach- und Freiflächen u.v.a.m. – in einen diskurstheoretischen und -analytischen Ansatz einfließen können. In einem ersten Teil wird kurz mit Michel Foucault eine Erweiterung des vorrangig sprachlichen Diskursverständnisses durch materielle und visuelle Dimensionen vollzogen. In Ergänzung der Überlegungen zur Bedeutungskonstitution von materiellen und visuellen Artefakten durch sprachliche Diskurse (z.B. Subjektidentitäten oder Raumbilder) und der Analyse dieser Artefakte als gesellschaftlich wirkmächtige Zeichensysteme wird in diesem Beitrag Visualität als das Moment konzipiert, das einer gesellschaftlichen Materialität Macht und damit Relevanz verleiht. Materialität wiederum gilt als das Potenzial eines Materials, gesellschaftlich bedeutsam gemacht zu werden (z.B. Glas oder Waschbeton an Gebäudefassaden, Mauern, Zäune oder Wachposten an Staatsgrenzen, Rasen- oder Strauchflächen in Parks etc.).

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In einem zweiten Teil werden die Foucault’schen Grundlagen mit einer Tendenz zur Heuristik mit performativitäts- und praxistheoretischen Überlegungen im Hinblick auf Visualität als performative Praxis des Sehens vertieft. Hier geht es primär um die Prozesse der Bedeutungs- bzw. Relevanzproduktion durch Visualität, die an konkrete (Routine-)Praktiken wie „Sehen beim Gehen“ und das Erleben von Materiellem bzw. Materialisiertem geknüpft sind. Visualität ist somit auch als performative Praxis (des Sehens, des Gehens, des Erlebens etc.) konzeptualisiert, durch die im Vollzug des Sehaktes zwischen dem „Wie“ und dem „Was“ des Sehens vermittelt wird. Abschließend stellen wir Stadtfotografie als einen methodischen Zugang vor, der dies beispielhaft operationalisiert.

Konzeptionelle Grundlagen Für eine diskurstheoretische Auseinandersetzung mit Visualität und Materialität finden sich bei Foucault neben den klassischen Ausführungen zur Wirkmächtigkeit von räumlichen Anordnungen im Allgemeinen (1991) und von Architektur im Besonderen (1976 [1975]) konzeptionelle Grundlagen vor allem in „Die Ordnung der Dinge“ (1971 [1966]) und in dem Aufsatz „Worte und Bilder“ (2001 [1994]): In beiden beschäftigt er sich mit dem (Nicht-)Verhältnis von Sprachlichem zu Visuellem in dem Sinne, als dass sich die Bedeutung des Visuellen (zunächst) weitgehend unabhängig vom Sprachlichen aus der räumlichen Anordnung erschließen lässt. In der Gegenüberstellung von Sichtbarem und Sagbarem umfasst Sichtbarkeit dabei weit mehr als Bildlichkeit, nämlich auch plastische Formen und somit das Material des Sichtbaren. Diskurse können sich gleichwohl auch, wie Foucault (2001 [1994]) beschreibt, als Gesagtes und/oder als Gesehenes materialisieren; wobei beide Dimensionen komplexe Wechselwirkungen unterhalten. Formen und – unserer Argumentation folgend – auch (stadt-)räumliche Materialitäten sind somit nicht nur Effekt eines sprachlichen Diskurses; Visualität bedarf nicht zwingend sprachlich vorbestimmter Bedeutungshaftigkeit. Vielmehr ist die syntaktische Abfolge von Sichtbarkeiten und somit ihre Relationalität zentral für machtdurchzogene Raumordnungen.

Spuren des Visuellen und Materiellen in Foucaults Werk Das Verhältnis von Sprache, Materialität und Visualität konzeptualisiert Foucault im Laufe seines Werks äußerst unterschiedlich. In seinem Frühwerk be-

Visualität und Materialität

rücksichtigt Foucault das Visuelle als diagnostische Praxis des ärztlichen Blicks (1988 [1963]), wobei das Sichtbare für ihn (noch) außerhalb des Diskursiven steht und einzig durch das Sagbare zu erschließen ist. Diese Abhängigkeit wird in „Die Ordnung der Dinge“ (1971 [1966]: 30-45) relativiert, als Foucault im Kontext kunsthistorischer Kommentare die Eigenständigkeit des Visuellen neben dem Sprachlichen betont und darauf verweist, dass die Logik des Visuellen nicht durch einen interpretierenden Blick zu ermitteln sei, sondern dass sich Bedeutung aus der syntaktischen Abfolge des Sichtbaren speist – aus Anordnungen. Dieses Konzept von Visualität erweist sich als durchaus anschlussfähig an die relationale Bedeutungskonstitution von linguistischen Diskursen (vgl. Kap. 1: Glasze/Mattissek 2021). Neben der Relevanz von Visualität im Sinne einer relationalen Position in einem Netz sichtbarer Elemente spielt aber auch die „einfache Ebene ihrer Existenz“ (Foucault 1971 [1966]: 38) im Sinne einer Präsenz eine Rolle. Eine entscheidende Erweiterung des Verständnisses von Visualität vollzieht Foucault mit seinem Aufsatz „Worte und Bilder“ (2001 [1994]) von 1967 (vgl. Kap. 10: Miggelbrink/Schlottmann 2021). Interessierte ihn das Sichtbare zuvor in der Malerei und damit in bildlichen Darstellungen, nimmt Foucault hier das Sichtbare als „ein plastisches Universum“ in den Blick, wodurch auch die Materialität des Sichtbaren einbezogen wird. Dem Begriffspaar „sichtbar“ und „sagbar“ ordnet Foucault die Diskursdimensionen „Form/Motiv“ und „Thema“ zu. Im Prozess der Artikulation von „Formen/Motiven“ sowie von „Themen“ sind sie als Gesehenes und Gesagtes durch die jeweiligen Diskurse konstituiert (ebd.: 795). Foucault konzipiert hiermit ein erweitertes Diskursverständnis, in dem neben die sprachlichen Themen des Diskurses seine plastischen Formen treten. Was beide Dimensionen eint, sind die diskursiven Existenzbedingungen. Was sie jedoch unterscheidet, sind die Analyseprozesse der Bedeutungshaftigkeit: Denn während sprachliche Diskurse als Themen einer Syntax und ihrer Konventionen bzw. Logik folgen, gilt für materielle und visuelle Diskurse als Formen/Motive keineswegs eine analoge, gar textähnliche Dechiffrierbarkeit.

Und über Foucault hinaus … Seit der Jahrtausendwende ist ein neues Interesse in den Kultur- und Sozialwissenschaften an Materialität und materieller Kultur zu beobachten (vgl. Miller 2005; Hicks/Beaudry 2010b; Barry 2013), in der Geographie wurde gar eine „Re-Materialisierung“ der Humangeographie ausgerufen (s. Jackson 2000; Philo 2000; Lees 2002). Forschung mit Interesse an „Sachkultur“ beschäftigt sich mit den „embodied politics present in the everyday material world“ (Rose/Tolia-

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Kelly 2012: 1). Eine Notwendigkeit zur Hinwendung zum Materiellen entsprang der Feststellung, „that text-based approaches to materiality have failed to engage with the sheer weight and power of urban materials“ (Hicks/Beaudry 2010a: 14). Aber auch seit dieser materiellen Wende wird die Frage, was unter Materialität und insbesondere unter der Materialität der gebauten Umwelt zu verstehen ist, vernachlässigt – in der Geographie, in poststrukturalistischen Ansätzen und in der Diskursforschung. Meist wird argumentiert, Materialität sei diskursiv konstituiert, erst das sehende, beschreibende, anfassende Subjekt und/oder eine pauschale „Gesellschaft“ stelle die Bedingung für Materialität her, da es im anti-essenzialistischen Denken keine (außerdiskursiven) Eigenschaften, keine Eigenlogik von Materialität geben kann. Mit einem Fokus auf Materialität in Ergänzung zum sprachbasierten Diskurs (Rede, Text, Denkmuster etc.) wird jedoch eine Unterscheidung vorgenommen, die Materialität – zumindest im Moment der Analyse – isoliert und als etwas Spezifisches darstellt. Im Anschluss daran verstehen wir hier unter Materialität nicht die Oberfläche bspw. eines Gebäudes, sondern die Möglichkeit der Oberfläche, im Diskurs aufzutreten. „Materialität ist somit prozesshaft, nur vorübergehend fixiert und setzt in irgendeiner Form einen sehenden Rezipienten oder eine sehende Rezipientin voraus.“ (Wischmann 2016: 151) Am Nexus von Materialität und Visualität muss also weniger nach der Sichtbarkeit eines Materials und einer materiellen Eigenschaft gefragt werden als vielmehr danach, was im Raum wie sichtbar ist bzw. gesehen wird und welche gesellschaftlichen Machtverhältnisse diese Sichtbarkeiten konstituieren und bewirken (vgl. Rose/Tolia-Kelly 2012).

Visualität als performative Praxis In der Konzentration auf Sehen und Sichtbarkeiten bedarf es einer Forschungsperspektive, die die Relationalität von menschlichen Körpern und nicht-menschlichen Artefakten (wie Gebäuden, Zäunen etc.) posthumanistischperformativ, aber auch praxistheoretisch denkt. Der Blick – im empirischen Feld der Analyse wie in der Methodologie der Forschung – richtet sich somit auf das Erleben der vielfältigen materiell-semiotischen Verbindungen zwischen menschlichen Körpern und nicht-menschlichen Materialitäten. Um sich dem Erleben dieser Relationalität weiter anzunähern, greifen wir auf Schürmanns Konzept vom Sehen als performative Praxis des Welterschließens zurück, für das sie sprechakttheoretische Überlegungen vom Sprachlichen auf das Visuelle überträgt. Für sie ist Sehen eine performative Vollzugspraxis, die ähnlich funktioniert wie Sprechen (vgl. Schürmann 2008). Dies lässt sich in

Visualität und Materialität

Bezug auf Visualität als „unumgänglicher“ Teil diskursiver Raumordnungen erweitern: Visualität als performative Praxis des Sehens bezieht sich auf die Relevanzproduktion durch Visualität, die an Alltags- und Routinepraktiken wie bspw. „Sehen beim Gehen“ – und dabei wiederum an das Erleben von Material und das Sehen von Materialität – geknüpft sind (vgl. Reckwitz 2012; Schürmann 2008). Visualität wird dann als performative Praxis (des Sehens, des Gehens, des Erlebens etc.) konzeptualisiert, in der einem bedeutsam gewordenen Material als Teil des Diskurses gesellschaftliche Relevanz beigemessen wird. In Eva Schürmanns Auseinandersetzung mit dem Vorgang des Sehens als performative Praxis versucht sie, den klassischen Subjekt-Objekt-Dualismus sowie einseitig realistisch-wahrnehmungstheoretische oder konstruktivistischdiskurstheoretische Bezüge zu vermeiden. Für sie ist Sehen eine performative Vollzugspraxis, die ähnlich funktioniert wie Sprechen (vgl. Schürmann 2008). Das Sichtbare ist dann weniger objektive Referenz des Sehens bzw. des Gesehenen als vielmehr „Dispositiv oder Ermöglichungsgrund des Sehenkönnens“ (ebd.: 24). Dadurch steht hier weder individuelles („subjektives“) Sehen im Mittelpunkt noch vermeintlich objektive Sichtbarkeiten; stattdessen geht es um den Aspekt des Sehens im Rahmen des Sichtbaren. In diesem Denkrahmen konzentriert sich das Verhältnis von Sehen zu Gesehenem auf den Vollzug und die vielfältigen Möglichkeiten des Gebrauchs. In der Übertragung von John Austins sprechakttheoretischer Annahme, dass in performativen Sprechakten das Sagen wichtiger ist als das Gesagte, ist dann auch in der performativen Praxis des Sehens der Vollzug relevanter als das Gesehene. „Wenn Sprechen durch den Vollzug Realitäten schafft, so schafft Sehen ebenfalls durch den Vollzug Realitäten: Sehen als Praxis vollzieht bzw. konstituiert das Gesehene.“ (Strüver 2015: 57) An die Stelle eines Verständnisses von identifizierendem und/oder interpretierendem Sehen („Sehen als“) tritt ein Verständnis materiell-visueller Diskurse, deren gesellschaftliche Relevanz erst durch die Vollzugspraxis des Sehens hergestellt wird. Das heißt erst durch das Sehen wird Materialität (z.B. eines Gebäudes, Zauns oder auch einer Baulücke) zum Teil des gesellschaftlichen Diskurses – und es sind die durch gesellschaftliche Normen und Machtverhältnisse kontextualisierten Sehkonventionen, die etwas wahrnehmbar und sichtbar werden lassen. Judith Butler (2007) hat diese Sehkonventionen als Rahmen („frames“) bezeichnet, die gesellschaftlich normiert sind und das Feld des Wahrnehmbaren und Sichtbaren konstituieren. Diese Rahmen enthalten immer bereits hegemoniale Deutungen und vermitteln zugleich mithilfe visueller Repräsentationen dominante Diskurse. Und auch vermeintlich transparente, da dokumentarische visuelle Materialien wie Fotografien sind „gerahmt“: Ein

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Foto ist nicht das Abbild des Geschehens, sondern konstitutiver Teil des Sehens des Geschehens. Materiell-visuelle Diskurse wie Gebäude(-ensembles) oder freie Plätze fungieren somit nicht nur als Ausdruck, sondern auch als machtgeladenes Medium des Sozialen, da ihre Präsenz und Materialität Nutzungsmöglichkeiten, Aneignungs- und Ausgrenzungspraktiken im Vollzug des Sehens implizieren (vgl. Strüver 2015; Wischmann 2016). Die analytische (und im Prinzip auch epistemologische) Trennung zwischen Sichtbarem und Gesehenem im Sinne einer performativen Praxis des Sehens lässt sich hervorragend mit der „Vermittlungsbewegung von Selbst und Welt“ im wörtlichen Sinne überkommen. Die nachfolgend vorgestellte Methode der Stadtfotografie stellt insbesondere die Praktiken des Sehens beim Bewegen im Raum, des Selbst in der Welt, in den Mittelpunkt.

Stadtfotografie als Beispiel für eine methodische Operationalisierung Im Anschluss an die Konzeptualisierung der materiell-visuellen Dimension von Diskursen stellen wir im Folgenden einen methodischen Zugang zur Analyse materiell-visueller Diskurse vor. Obwohl Foucault selbst die Relevanz einer Analyse der Wechselwirkungen von sprachlichen und visuellen Diskursen hervorhebt, bemerkt er gleichzeitig die Schwierigkeiten einer empirischen Umsetzung: „Nun stellen sich zahlreiche – sehr schwer zu lösende – Probleme, wenn man die Grenzen der Sprache überschreiten möchte, und sogar schon bei der Untersuchung realer Diskurse.“ (Foucault 2001 [1994]: 797) Weder lassen sich die Verfahren textbasierter Diskursanalysen auf Visuelles und Materielles übertragen noch eignen sich die klassischen Methoden der Bildinterpretation und Bildanalyse zur diskurstheoretischen Betrachtung stadträumlicher Visualitäten und Materialitäten. Um stadträumliche Materialität „als solches“ in einer diskurstheoretisch orientierten Analyse zu untersuchen, gilt es vielmehr, die Prinzipien von Präsenz und Position in ein methodisches Vorgehen zu überführen. In diesem Zusammenhang bieten die Verfahren der urban photography (vgl. Hunt 2014) sowohl hinsichtlich der empirischen Erhebung als auch der visuellen Forschungs- und Analysepraxis aufschlussreiche Einsichten. Mia Hunt beschreibt urban photography als „image-making that engages critically both with the city and with photographic traditions – mainly uniting the inquisitive eye of the documentary photographer with the immediacy of street photography“ (ebd.: 152).

Visualität und Materialität

In Bezug auf materiell-visuelle Diskurse können Fotografien Momentaufnahmen von Präsenzen liefern, Sichtbarkeiten aufnehmen und so vorübergehend fixierte Diskurse festhalten. Stadträumliche Materialität und Visualität wird durch Fotografie greifbar, indem die Kamera in Interaktion mit der Oberfläche und Beschaffenheit von Materialien tritt – zum Beispiel Gebäudefassaden. Ein erster Schritt dieser visuellen Methodik liegt also im Fotografieren der materialisierten Motive von Diskursformationen. Darüber hinaus bietet Stadtfotografie das Potenzial, den Kontext von Objekten und Gebäuden einzubeziehen, um Rückschlüsse auf die relationalen Differenz- und Beziehungsgefüge und somit auf die Position materiell-visueller Diskurse ziehen zu können. Anhand mehrerer Fotografien, bspw. von Gebäuden aus unterschiedlichen Perspektiven, können visuelle Beziehungen zwischen gebauten Strukturen festgehalten und eine Annäherung an eine Vielzahl von Sehmöglichkeiten geleistet werden. Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang visuelle Oppositionspaare wie z.B. „alt und neu“ oder „hoch und niedrig“ sowie Proportionen und unterschiedliche Flächenaufteilungen (s. Wischmann 2016).

Fallstricke fotografischer Forschungspraxis Fotografien erfüllen in einem diskurstheoretischen Forschungsprozess nicht nur die Funktion visueller „Daten“, sondern sie nehmen auch einen Stellenwert als visuelle Praxis ein. Eine geographische Forschungspraxis mit Fotografie(-n) ist jedoch weder ein neues Vorgehen noch beschränkt sie sich auf den urbanen Raum. Als Illustrationen von Forschungsaufenthalten, als Vergleichsfotografien von Gletschern in der Glazialmorphologie, bei Archivanalysen, als Satellitenbilder, in der Fernerkundung oder in der Schulgeographie haben Fotografien eine lange Tradition (vgl. Driver 2003; Rose 2008; Crang 2010). Nach Gillian Rose werden Fotografien in den meisten dieser Fälle verwendet „as straightforward descriptions of what a place looks like“ (Rose 2008: 157). Eine viel diskutierte fotografisch-geographische Tradition ist im Kolonialismus verwurzelt. Als Visualisierung des Exotischen und Fremden sowie als Beleg von Eroberung und Erforschung wird der „colonial ‚way of seeing‘“ (ebd.: 153) rückblickend als eine grundlegende Form von (männlicher) Macht, einseitiger Informationshierarchie und Ausbeutung problematisiert (Schwartz/Ryan 2003; Crang 2010). Angesichts dessen sowie in Anbetracht weiterer „Problemfelder“ von (Stadt-) Fotografie, die wir im Folgenden ausschnitthaft skizzieren werden, warnt der

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britische Soziologe und Fotograf Paul Halliday vor unreflektierter fotografischer Praxis und fordert einen critical visual urbanism1. Hierzu zählt in erster Linie ein Bewusstsein der Forschenden gegenüber der „Macht der Bilder“ (Lobinger 2012: 20f.). Fotografien ist der Anschein eines visuellen Realismus inhärent, den Mike Crang (2010: 210) als „apparent facticity of pictures“ bezeichnet. Durch diese affirmative und wahrheits-behauptende Faktizität entfalten Fotografien ihre überzeugende Wirkmächtigkeit (vgl. Knowles 2006: 513). Der selbst-evidenzielle und eindeutige Charakter von Fotografien wurde von Bill Jay herausgefordert, indem er sie als „slippery“ – „rutschig“ – beschrieben hat (1992: 10) und damit infrage stellt, dass Bilder wie Fenster auf die Realität funktionieren (vgl. Rose 2008: 155). Weder taugt die Annahme einer verlustfreien Übersetzung des Gesehenen in eine Fotografie noch werden Bilder von jedem und jeder gleich rezipiert und mit Sinn versehen. Dementsprechend ist mit Roland Barthes (1989) von der Polysemie der Fotografie auszugehen, die bei Bildrezipient*innen ganz unterschiedliche Gedanken, Gefühle und Bedeutungen auslösen kann. Ein weiteres „rutschiges“ Verhältnis besteht zwischen Fotografie und Authentizität, beginnend bei dem Unterschied von gestellten und nicht gestellten Fotografien über Bildbearbeitung bis hin zu Manipulation. Dabei muss es einem*r Fotograf*in gar nicht selbst bewusst sein, inwiefern eine fotografierte Situation gestellt ist, wenn bspw. die fotografierten Menschen die Kamera bemerken und sich entsprechend verhalten, während der*die Fotograf*in denkt, eine ungestellte Szene aufzunehmen. Aber auch ohne die aktive Wahrnehmung einer Kamera gibt es – gerade in der Stadt – viele Orte, an denen ein „gestelltes“ Verhalten auftritt bzw. aufgeführt wird, sodass die Grenzen zwischen Authentizität und „Echtheit“ verschwimmen und die Eignung eines Bildes als Evidenz grundsätzlich infrage gestellt werden muss. Weitere Bedenken in Bezug auf Stadtfotografie werden nicht zuletzt aus Richtung der critical visual methodologies formuliert (vgl. Hunt 2014: 154). Hunt thematisiert die hierarchische Praxis der Fotografie als ein „disempowering of the subject“ (2014: 154), und Rose sieht diese Art von Objektifizierung vor allem durch street photography realisiert, die eine „kind of macho power“ zelebriere (2001: 22). An anderer Stelle spricht Rose (2008: 153) sogar von „optischer Gewalt“, wenn Fotograf*innen zum Beispiel Bilder von Menschen oder Orten machen, um sie an anderer Stelle auszustellen, zu verkaufen und Karriere damit zu machen. Auch wenn seitens der Stadtfotograf*innen vielfach die Absicht be1

Im Rahmen eines Vortrags auf der International Urban Photography Summer School in London (2012).

Visualität und Materialität

steht, sowohl künstlerisch ansprechende als auch solche Fotografien zu machen, die einem critical visual urbanism Rechnung tragen, steht die Ästhetisierung in der Fotografie und die „impressionable beautification of everything“ (Hunt 2014: 154) zunehmend im Blickpunkt von Kritik, weil damit häufig ein Verlust der Sensibilität für Orte und Menschen sowie eine Trivialisierung von sozialen Problemen einhergeht. Die „Rutschigkeit“ des Mediums Fotografie spielt ebenfalls eine Rolle für die Selektivität des Bildausschnitts (vgl. Hunt 2014: 154). Fotografien zeigen die eigenen Interpretationen der Fotografierenden von Wirklichkeit. „A camera in hand can heighten awareness of the visual and the material aspects of space. It can make us look at space and think about it in different ways; we make sense of the city through dialogue with the camera.“ (Ebd.: 164, eigene Herv.) Mit der Wahl des Motivs, der Entscheidung, was im Bildrahmen und was außerhalb dieses Rahmens ist, sowie mit dem Moment des Auslösens der Kamera geht eine Deutung und Interpretation einher. Hunt macht aber noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam, und zwar auf den Dialog. Damit hebt sie die körperliche und kollaborative Praxis des Fotografierens hervor: „Image-making is inherently collaborative […]; we expose our attitudes and approaches to places and people in the images we make.“ (Ebd.: 163) Stadtfotografie als Methode verstehen wir als ein empirisches Vorgehen, das lokale Sichtbarkeiten diskurstheoretisch analysiert, und illustrieren es im abschließenden Abschnitt am Beispiel stadtentwicklungspolitischer Auseinandersetzungen in Hamburg-St. Pauli. Ähnlich wie die Aufnahme von Interviews mit einem Diktiergerät werden hier lokale Sichtbarkeiten (von Straßenzügen, Gebäuden, Freiflächen etc.) mit einer Kamera aufgenommen – ohne dass die Praxis des Fotografierens zum Gegenstand der Forschung wird. Vielmehr geht es um die stadträumlichen Materialitäten, die auf ihnen sichtbar werden, d.h. die aufgrund ihrer Visualität diskursive Relevanz erlangen. „In Bezug auf materiell-visuelle Diskurse können Photographien Momentaufnahmen von Präsenzen liefern, Sichtbarkeiten aufnehmen und so vorübergehend fixierte Diskurse festhalten. Stadträumliche Materialität und Visualität wird durch Photographien greifbar, indem die Kamera in Interaktion mit der Oberfläche und Beschaffenheit von Materialien – zum Beispiel Gebäudefassaden – treten.“ (Wischmann 2016: 175)

Darüber hinaus ermöglichen Fotografien die Einbeziehung des Kontexts von Objekten und Gebäuden, um Beziehungsgefüge zu untersuchen. Und schließlich beinhaltet das Fotografieren eines Gebäudes aus unterschiedlichsten Perspektiven eine Vielzahl von möglichen Sehweisen innerhalb des Sichtbaren. Fo-

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tografien illustrieren somit keine empirische Realität, sondern eine empirische Analyse (vgl. Rose 2008: 158). Dabei ist die Sichtweise der fotografierenden Person weder objektiv noch subjektiv, sondern Teil des Diskurses und durch normative Sehkonventionen „gerahmt“.

Doing photography Viele dieser Aspekte fotografischer Forschungspraxis werden (nicht nur) in der Geographie häufig vernachlässigt, wenn Fotografien als unkommentierte Untermalung in Forschungsarbeiten verwendet werden (mit substanziellen Ausnahmen wie etwa Gregory 1994; vgl. auch Ryan 2003). Die hier diskutierten Problemfelder von Stadtfotografie machen deutlich, dass ein reflexiver und bewusster Umgang sowohl mit der Kamera als auch mit den Fotografien notwendig ist (vgl. Rose 2001, 2008; Pink 2010; Hunt 2014). Dies erfordert zunächst einen präzisierten Fotografie-Begriff: „[I]nstead of thinking of photos as transparent windows that allow us to peer into places we would never otherwise see, some geographers are starting to think of photos more as prisms that refract what can be seen in quite particular ways.“ (Rose 2008: 151) Auch Hunt versteht Fotografien als „partial fragments” (2014: 154) und rückt den Prozess des Fotografierens als „doing photography“ (ebd.: 152ff., Herv. i.O.) in den Vordergrund, deren performative Praxis auch die Forschenden im Prozess situiert sowie die Entscheidungen der Bildherstellung diskutiert. „Making an image is an event, an invitation for exchange, and a moment that cultivates and reveals our relationships with a space, its objects, and its people.“ (Ebd.: 163) Im Folgenden greifen wir aus dem stadtfotografischen Methodenspektrum2 zwei Verfahren heraus, die sich für einen diskurstheoretischen Zugang anbieten: rephotography und photography as evocation.

Rephotography Unter rephotography (auch repeat photography, vgl. Walker/Leib 2002) versteht Jon Rieger „a process by which we create temporally ordered, that is longitudinal, photographic record of a particular place, social group, or other phenomenon“ (Rieger 2011: 133). Anhand wiederholter Fotografien kann sozialer und räumlicher Wandel qualitativ untersucht werden, denn die Vertreter*innen 2

Weitere stadtphotographische Methoden sind z.B. reflexive Photographie/participant photography (vgl. Dirksmeier 2007; Allen 2012), Photo-Essay (s. Ryan 2003: 236) oder Photo-Spaziergänge/urban detours (vgl. Halliday 2006).

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dieser Methode gehen davon aus, dass viele gesellschaftliche Aspekte im Stadtraum sichtbar sind (vgl. Rose 2008: 158; Rieger 2011: 132). Der Fotograf Camilo J. Vergara fotografiert für seine Langzeitstudien US-amerikanischer Großstädte seit über 40 Jahren dieselben Gebäude und Straßenzüge (vgl. Vergara 19953) und kann damit eindrücklich Transformationsprozesse wie Verfall, Abriss, Umund Neubau sowie Hinweise auf veränderte Bewohner*innenstrukturen festhalten. Rephotography stellt eine geeignete Methode dar, um sichtbare und materielle Veränderungen in der gebauten gesellschaftlichen Struktur einzufangen. In Kombination mit Befragungen ermöglicht sie zudem, die Relevanz der gebauten Umwelt auf Alltagswahrnehmungen sowie als Ausdruck stadtentwicklungspolitischer Diskurse aufzuspüren. In Bezug auf eine materiell-visuelle Diskursanalyse bietet rephotography Ansatzpunkte für den zeitlichen und politisch-praktischen Wandel von Diskursen. So können temporäre städtische Raum(um)nutzungen durch bspw. urban gardening, Streetskater*innen oder Obdachlose auf Grundlagen von regelmäßiger rephotography in kürzeren Abständen (mehrmals täglich, mehrmals monatlich oder aber mehrmals jährlich) aufgespürt, sichtbarer und ggf. als Teil gesellschaftlicher Regeln oder Umbrüche analysiert werden. Auch lokale Gentrificationprozesse lassen sich durch rephotography in festen Intervallen (z.B. jährlich) als Manifestation eines globalen Reurbanisierungsdiskurses einfangen und analysieren (s.u.).

Photography as evocation Mit der Bezeichnung photography as evocation beschreibt Rose ein stadtfotografisches Vorgehen, dessen Fokus eher auf der erkenntnistheoretischen Reichweite von Fotografien liegt (vgl. Rose 2008). Nach Rose evozieren Fotografien Präsenz und Materialität, sodass bewusst das beschreibende Potenzial von Fotografien ausgeschöpft wird, das Fotografien – gerade im Gegensatz bzw. in Ergänzung zu Texten oder Karten – leisten können, und zwar die Evozierung der „material aspects of a place“ (ebd.: 155). Fotografien erfüllen in dieser Hinsicht durchaus einen – reflektierten – illustrativen Zweck, mit dem Ziel „to evoke its [the materiality’s] brute thing-ness, there-ness, that words cannot convey“ (ebd.: 156). Die im Rahmen der urban photography diskutierten Konzepte der critical visual methodologies, doing photography sowie photography as evocation bieten einen methodisch-konzeptionellen Rahmen, um gerade der Spezifik diskursiver Materialität und Visualität gerecht zu werden und in gewissem Maße die Ambiguität, 3

Vgl. weitere Fotografien seines Projekts „Tracking Time“ auf http://www.camilojosevergara. com/About-This-Project/1/; 04.08.2014.

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die simultane Wahrnehmung sowie die Momente des Ungreifbaren und des Unbestimmten in die Analyse zu integrieren. Als Dokumentation einer visuellen Praxis sowie als Dokumente einer gesehenen Materialität stehen die Fotografien im Forschungsprozess auf der einen Seite für sich und können schon vor einer Interpretation oder Analyse einen Erkenntniswert erfüllen. Auf der anderen Seite bilden die Fotografien das empirische Material einer materiellvisuellen Diskursanalyse, die die visuellen, relationalen Beziehungsgefüge und deren Regelhaftigkeiten untersucht. Je nach Forschungsfrage bzw. Erkenntnisinteresse kann ein fotografischer Korpus in einem codierungsähnlichen Vorgehen strukturiert und ausgewertet werden.

Ausblicke Die vorangegangenen Ausführungen werden wir nun abschließend beispielhaft anhand materiell-visueller Diskurse als Teil der stadtentwicklungspolitischen Auseinandersetzung im Hamburger Stadtteil St. Pauli veranschaulichen: Die sogenannten Esso-Häuser bestanden aus einem seit ihrem Bau Anfang der 1960er Jahre weitgehend unveränderten Gebäudekomplex direkt am Spielbudenplatz und damit zentral an der Touristen- und Vergnügungsmeile Reeperbahn. Der Komplex bestand neben der namensgebenden Tankstelle aus zwei achtstöckigen Wohnblocks in Plattenbauweise sowie einem zweistöckigen Gewerberiegel mit Geschäften und Clubs. Mit dem Verkauf durch die bisherige Eigentümerfamilie an eine Immobilienfirma 2009 wurden Abriss- und Neubaupläne entwickelt, begründet mit der Baufälligkeit der Gebäude. Daraufhin gründete sich die stadt- bzw. bundesweit Aufmerksamkeit erregende „EssoInitiative“, die sich für eine Sanierung der Gebäude einsetzte und deren Erhaltungsforderungen neben den Gebäudenutzungen auch auf den Erhalt des vertrauten Charakters einschließlich der vertrauten Visualitäten und Materialitäten des Komplexes als Element des Stadtteils umfassten. Im Dezember 2013 mussten die Gebäude über Nacht wegen akuter Einsturzgefahr geschlossen bzw. evakuiert werden; bereits Ende Januar 2014 wurde mit dem Abriss begonnen. Der Verkauf, der zunehmende – sichtbare – Verfall und schließlich der Abriss der Häuser wurden von anhaltenden öffentlichen Protesten von Stadt(teil)bewohner*innen begleitet und teilweise prominent unterstützt. Der Abriss der Esso-Häuser verkörpert jenseits des Symbolischen die materiell-visuelle Nicht-Präsenz des Verlusts (vgl. Wischmann 2016: 331ff.) und

Visualität und Materialität

lässt sich mithilfe der rephotography (2013 und 2014) verdeutlichen (vgl. Abbildungen 21 und 22).4 Abbildung 21: Tanzende Türme, Spielbudenplatz Hamburg-St. Pauli 2013

Quelle: Katharina Wischmann

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Dieses Beispiel entstammt einer größeren Forschungsarbeit zur Visualität und Materialität stadtteilpolitischer Diskurse in Hamburg-St. Pauli (Wischmann 2016), deren empirisches Design hier als ein mögliches diskursanalytisches Vorgehen kurz skizziert wird: Erstens wurde über einen Zeitraum von drei Jahren eine rephotography ausgewählter Standorte in St. Pauli durchgeführt, um die baulichen Veränderungen in ihrer Materialität und Visualität zu dokumentieren. Zweitens dienten diese Photographien der Analyse der Aspekte von Visualität und Materialität, die die lokalen Stadtentwicklungsprozesse evozieren. Und drittens wurden die Photographien (analog bzw. parallel zu den Transkripten geführter Interviews) codiert, sodass sich stadträumlich relevante Sichtbarkeiten und Materialitäten in St. Pauli auch auf Grundlage dessen ermitteln ließen, über welche Gebäude, Plätze und Bauprojekte häufig und regelmäßig gesprochen wird. Gerade durch Letzteres konnte vermieden werden, dass der Blick der Forscherin den der Befragten überdeckt (vgl. ebd.: 180ff.).

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Abbildung 22: Tanzende Türme, Spielbudenplatz Hamburg-St. Pauli 2014

Quelle: Katharina Wischmann

Während vor dem Abriss durch die unterschiedlichen Baujahre, -höhen, und -materialien sowie unterschiedliche Nutzungen sehr heterogene Beziehungen zwischen den Tanzenden Türmen (Fertigstellung 2012) und dem Esso-Komplex bestanden (Glas-Beton-Glanz-Fassaden vs. baufälliger Nachkriegsplattenbauweise sowie Differenz Neues–Vertrautes), gewannen erstere nach dem Abriss erheblich an visueller Dominanz: zum einen durch ihre im wahrsten Sinne des Wortes „herausragende“ solitäre Position, zum anderen in Relation zur abrissbedingten Freifläche der ehemaligen Esso-Häuser. Am Spielbudenplatz trafen und treffen somit zwei gegensätzliche stadtentwicklungspolitische Ansprüche aufeinander: einerseits hochwertige Bürogebäude und glitzernde Touristenattraktionen wie die Tanzenden Türme am östlichen Ende, die eine Materialisierung (und Visualisierung) des hegemonialen Diskurses der unternehmerischen Stadt darstellen; andererseits die materialisierten Präsenzen der vertrauten Baufälligkeit bzw. der Freifläche und des Bauzaunes am Südrand des Spielbudenplatzes. Zudem fand als Protest gegen die unternehmerische Stadt eine Art visuelles Wettrüsten statt, das aufseiten der Bewohner*innen darin bestand, den Unmut möglichst sichtbar zu platzieren (vgl. Abbildung 23).

Visualität und Materialität

Abbildung 23: Plakat am ESSO-Bauzaun in Hamburg-St. Pauli (2011)

Quelle: Katharina Wischmann

Die Analyse der materiell-visuellen Diskurse in Hamburg-St. Pauli macht deutlich, dass Gebäude(-komplexe) sowohl als Materialisierung eines sprachlich verfassten Diskurses, z.B. um Aufwertung oder Verlust des Vertrauten, als auch durch ihre plastische Form bzw. visuelle Präsenz im Stadtraum wirkmächtig sind. Im Kontext visueller Wahrheitsregime („seeing is believing“) tritt eine diskursiv gerahmte Gleichsetzung von erlebten und gesehenen Veränderungen mit der Bewertung von Stadtentwicklungsprozessen ein. Das heißt Gebäude (und auch Freiflächen) stellen eine visuell wahrnehmbare Materialisierung von Machtverhältnissen dar, die zugleich in ihrer durch Sehkonventionen gerahmten Sichtbarkeit für die Deutungshoheit – sowie die Nutzungs(un)möglichkeit – relevant sind und die mithilfe von photography as evocation und rephotography diskurstheoretisch untersucht werden können.

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E Fazit und Ausblick

Die Produktion von Wissen, Wahrheiten und sozialen Wirklichkeiten ist politisch, und sie ist mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verwoben – das ist, bei allen Unterschieden, der gemeinsame Nenner diskurstheoretischer Ansätze. Das abschließende Kapitel 21 des Handbuchs von Annika Mattissek und Paul Reuber nimmt diese grundlegende Perspektive der Diskursforschung auf und bezieht sie auf die Frage, welche Rolle ein „Handbuch Diskurs und Raum“ und die darin angelegten Entscheidungen und Setzungen wissenschaftlich spielen. Dabei machen der*die Autor*in deutlich, dass auch das Verfassen und Veröffentlichen des Handbuchs, ebenso wie die Auswahl der darin repräsentierten theoretischen und methodischen Zugänge, eine machtvolle Intervention in den wissenschaftlichen Diskurs darstellt. Denn jede Wahl für eine bestimmte theoretische Perspektive und methodische Umsetzung rückt immer bestimmte empirische und konzeptionelle Aspekte in den Fokus und blendet gleichzeitig andere aus. Damit sind theoretische, methodologische und methodische Entscheidungen immer auch selbst machtvolle Interventionen im Ringen um Wissen und Wahrheiten. Im Prozess der Erstellung haben sich aus dieser Erkenntnis grundlegende Fragen für die Organisation des Handbuchs abgeleitet, z.B. bezogen darauf, was den jeweiligen Stellenwert und das Verhältnis von Theorien und Methoden angeht und wie politisch die Diskursforschung sein soll. Die dabei in der Gruppe getroffenen Entscheidungen, die dem jetzigen Aufbau und der Präsentation von Beiträgen zugrunde liegen, waren dabei vielfach von hitzigen Diskussionen geprägt. Das Schlusskapitel macht eine Reihe der dabei geführten Debatten noch einmal explizit und möchte damit auch zu einem reflektierten Umgang mit dem Handbuch anregen, der dieses nicht als Ansammlung von „Kochrezepten“ für die eigene Forschung versteht, sondern stattdessen die im Forschungsprozess getroffenen Entscheidungen und die eigene Positionalität der Forschenden immer wieder kritisch hinterfragt und einordnet.

21 Ins Spiel der Wahrheit eintreten Die Herstellung von Wissen und Macht in der Diskursforschung Annika Mattissek, Paul Reuber

Wahrheit, Wissen und Macht Bei Fragen der Wahrheit verstand Michel Foucault keinen Spaß. Er gehörte zu den Denker*innen seiner Epoche, die immer wieder darauf hingewiesen haben, dass so etwas wie eine „objektive“ Wahrheit erkenntnistheoretisch unmöglich zu erlangen ist. Entsprechend eignet sich „Wahrheit“ aus seiner Sicht weder als Ideal wissenschaftlichen Arbeitens noch als Fundament, auf dem man eine zweifelsfrei gültige Ordnung der Welt aufbauen könnte. Der Bezug auf „die Wahrheit“ stellt sich aus Foucault’schem Blickwinkel eher als diskursiver Machteffekt dar. Er entsteht, wenn sich eine von vielen möglichen WissensOrdnungen so kraftvoll als die „einzig richtige“ oder die „einzig wahre“ in den gesellschaftlichen Diskurs einschreiben kann, dass ihre Annahmen als hegemonial, als allgemeingültig angesehen werden. Immer wieder in der Geschichte der Menschheit haben bestimmte WissensOrdnungen eine solche Position einnehmen können und mit einem darauf gründenden Absolutheitsanspruch konkurrierende Formen des Wissens marginalisiert, seien es z.B. die „Theo“Logiken des europäischen Mittelalters oder die „natur“wissenschaftlichen Denksysteme der Moderne. Dass diese – oft über Jahrhunderte hinweg – den Status eines quasi-objektiven Wissens- und Weltsystems einnehmen konnten, zeigt, welche tiefen historischen Furchen diskursive „Wahrheitsregime“ genealogisch gesehen pflügen können. Aus Foucault’scher Sicht beruhen diese auf einer untrennbaren Verknüpfung von Wahrheit und Macht, denn

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„[d]ie Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser Welt wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.“ (Foucault 1978: 51)

Vor diesem Hintergrund ist auch das Schreiben und Veröffentlichen eines „Handbuchs Diskurs und Raum“ eine machtvolle Intervention in ein diskursives Feld, welches bestimmte Theorien und Methoden in den Vordergrund rückt und ihnen damit zu größerer Sichtbarkeit und – qua Spielregeln des wissenschaftlichen Publizierens – zu (vermeintlich) größerer Legitimität verhilft als anderen. Entsprechend dürfen aber auch die in diesem Band vertretenen Theorien und Methoden nicht als Zugänge verstanden werden, die bei „richtiger“ Anwendung der theoretischen Konzepte und methodischen Verfahren zu objektivem Wissen führen, sondern als mögliche Formen der (wissenschaftlichen) Konstruktion von „Wahrheiten“, die keine Absolutheitsansprüche erheben können. Folgt man dieser generellen Sichtweise auf das Verhältnis von Wissen/Wahrheit und Macht, so überrascht es wenig, dass auch das Autorenkollektiv von „Diskurs und Raum“ hitzige und teilweise kontroverse Diskussionen darüber geführt hat, welche Ansätze in welcher Form in diesem Buch repräsentiert werden sollen. In einigen Punkten haben diese Debatten dazu geführt, dass wir – trotz sehr unterschiedlicher theoretischer und methodischer Schwerpunkte – eher zu einem gemeinsam geteilten Verständnis von dem Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode gekommen sind. In anderen Fällen haben die Diskussionen dazu geführt, die prinzipielle Unterschiedlichkeit von Herangehensweisen in diesem Spannungsfeld zu erkennen, diese im Buch nebeneinander zu repräsentieren und damit auch eine Reflexion darüber zu ermöglichen, dass die Wahl von Theorien und Methoden immer zu einer spezifischen Positionierung führt, die nicht nur bezogen auf das Ergebnis der Analyse, sondern auch bezogen auf die Stellung innerhalb der Wissenschaft sowie innerhalb der Gesellschaft reflektiert werden sollte. Dieser Reflexionsprozess ist unserer Meinung nach eines der wichtigen Charakteristika einer poststrukturalistischen Perspektive, das in einer Vermittlung, die auf methodische Herangehensweisen zielt, vielfach zu kurz kommt. Dabei geht es nicht nur um eine methodische Feinkritik im Sinne gelungener

Die Herstellung von Wissen und Macht

oder weniger gelungener Arbeitsschritte, sondern um prinzipiellere Fragen zum Stellenwert und zur Aussagekraft methodengeleiteten empirischen Arbeitens. Hieraus leitet sich ein Erfordernis ab, das auch als eines der Kernanliegen dieses Bandes formuliert werden kann: Es zielt darauf ab, den Dialog über das Verhältnis von Theorie, Methode und Empirie offenzuhalten und in diesem Feld zu kritischem Nachdenken anzuregen. Im Folgenden skizzieren wir dazu einige der zentralen Diskussionspunkte, die uns in den Autor*innenworkshops zu „Diskurs und Raum“ bewegt haben. Die Argumente sind dabei – im Sinne eines Schlussakkordes – aus didaktischen Gründen eher geschärft und spiegeln entsprechend nicht die Meinungen realer Personen wider, sondern stellen etwas überspitzte Polarisierungen dar.

Das Spannungsfeld zwischen Theorie, Methode und Empirie Theorien und Methoden sind janusköpfig. Auf der einen Seite ermöglichen sie durch die genaue Darlegung bestimmter Konzepte, Sichtweisen und methodischer Herangehensweisen neue Perspektiven auf empirische Gegenstände. Gleichzeitig verstellen sie aber auch den Blick auf Zusammenhänge oder Gegebenheiten, die mit der spezifischen wissenschaftlichen „Brille“ (Werlen 2004) nicht zu erkennen sind. Die Fülle sehr unterschiedlicher Theorien und Methoden, die innerhalb des Feldes der Diskursforschung verfolgt werden können, (ver-)führen oftmals dazu, über dem Erkenntnispotenzial „neuer“ Theorien und Methoden deren Grenzen aus den Augen zu verlieren. Diese prinzipielle Erkenntnis führt zu zwei Forderungen in der Auseinandersetzung mit empirischen Gegenständen:

Empirie ernst nehmen, Verstörungen zulassen! Gerade komplexe und in Lehrbüchern der Diskursforschung didaktisch sehr überzeugend ausgearbeitete theoretische Konzepte können dazu verleiten, diese als Schablonen für die Interpretation gesellschaftlicher Phänomene zu verwenden. In der Praxis von Fallstudien kann das dazu führen, dass Forscher*innen empirisch das „finden“, was sie aufgrund der voreingestellten Theorie als Beobachtungs- und Beschreibungskategorien erwarten, z.B. „leere Signifikanten“, „gouvernementale Regierungspraktiken“ oder „neoliberale Diskursstrukturen“, die sie dann mit Rückgriff auf das Vokabular von Autor*innen wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe oder Michel Foucault gewissenhaft „rekonstruieren“. So produzierte Ergebnisse können Gefahr laufen, sich durch eine gewisse Vorhersehbarkeit und Redundanz auszuzeichnen. Aufgrund dieser tendenziellen Neigung, die Kompatibilität mit den theoretischen Grundlagen in

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Annika Mattissek, Paul Reuber

den Vordergrund der Erzählung zu rücken, ist der Präsentation der Ergebnisse dann teilweise nicht mehr zu entnehmen, ob und in welchem Maße es auch widersprüchliche Beobachtungen gab, die nicht ins Schema gepasst haben, und was mit diesen im Zuge der Datenauswertung passiert ist. Es sind aber gerade solche Brüche und Widersprüche, die oftmals neue Fragen aufwerfen und damit auch Theorien lebendig und in der Entwicklung halten. Deshalb sind häufig solche Arbeiten spannender, die aktiv auch die Grenzen der jeweiligen Perspektive deutlich machen, indem sie aufzeigen, welche Phänomene empirisch auftreten, die nicht mithilfe der gewählten Theorie beschrieben werden können. Von solchen Beobachtungen aus lassen sich z.B. Präzisierungen der theoretischen Begriffe vornehmen oder Ansätze entwickeln, die eine produktive Kombination mit anderen Theoriebausteinen sinnvoll erscheinen lassen. Aus postkolonialer Sicht sind solche Erwägungen dort noch einmal besonders relevant, wo ein latenter Eurozentrismus in der Theoriedebatte (die Mehrzahl der derzeit prominenten poststrukturalistischen Theorien wurde aus einer eurozentrischen Sicht verfasst) den empirischen Zugriff auf anders formatierte gesellschaftliche Realitäten eher erschwert.

Relevanz empirischer Themen gesellschaftlich begründen! Wenn gerade auch diskurstheoretische Erwägungen immer wieder den Punkt unterstreichen, dass Wissenschaft als gesellschaftlich situierte Ordnung des Wissens keinen Anspruch auf absolute Wahrheitsproduktion erheben kann, wie begründet sie dann die Wahl theoretischer Annahmen und empirischer Umsetzungen? Grundsätzlich gibt es dafür keine objektiv richtige Antwort, und auch die eher machttheoretisch unterlegte Antwort „Weil man es kann“ oder „Weil es gerade Mode ist“ bietet keine gesellschaftlich überzeugenden Argumente. Will man echte Überzeugungsarbeit leisten, dann gilt es zu zeigen, dass man mit diskurstheoretischen Analysen neue und relevante Perspektiven für als gesellschaftlich relevant angesehene Probleme und Fragestellungen bieten kann. Eine solche Form der Rechtfertigung entscheidet sich bereits an der Formulierung wissenschaftlicher Themen und Fragestellungen sowie an der Art und Weise, wie diese von Wissenschaftler*innen bearbeitet werden. Es gilt also, die eigene Arbeit immer wieder daraufhin zu befragen, ob und wie die untersuchten Themen gesellschaftliche Bedeutung haben und inwieweit die aus der Wahl von Theorie und Methodik generierte „Formatierung“ des Untersuchungsgegenstands geeignet ist, eine kritische und/oder konstruktive Intervention in den entsprechenden gesellschaftlichen Gegenstandsbereich zu ermöglichen.

Die Herstellung von Wissen und Macht

Die Rolle von Methoden: Schärfung oder Verstellung des wissenschaftlichen Blicks? Wie die obenstehenden Ausführungen deutlich machen, sind auch diskursanalytische Methoden nicht einfach „Werkzeugkästen“, die empirisch bereits bestehende Zusammenhänge und Gegenstände abbilden, sondern Technologien, die Untersuchungsobjekte im Prozess der Analyse konstruieren. Michel Foucault hat dies am Beispiel des Begriffs „Bevölkerung“ verdeutlicht: Dieser wurde als Einheit und Bezugspunkt politischer Interventionen erst durch die Entwicklung der modernen Statistik sichtbar, die als eine Technologie der katalogisierten Erfassung von Daten bestimmte Aussagen über Entwicklung, Merkmale und Struktur der Bevölkerung ermöglichte (Foucault 2004 [1978]). Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass vermeintlich deskriptive Datensammlungen und darauf aufbauende wissenschaftliche Auswertungen alles andere als neutral sind, sondern durchaus ein machtvolles Instrument gesellschaftlicher Beobachtung und Disziplinierung sein können. Diese Erkenntnis führt zu sehr unterschiedlichen Positionierungen von Wissenschaftler*innen in Bezug auf die Bewertung unterschiedlicher Formen des methodischen Arbeitens. Wollte man etwas polarisieren, so könnte man (auch) für die Diskursanalyse das Feld der Möglichkeiten zwischen den Polen von „Methodenfetischist*innen“ und „freien Denker*innen“ aufspannen. Im ersten Fall entstehen Analysen, die auf der Grundlage methodisch-kontrollierter Verfahren versuchen, Regelhaftigkeiten der Aussageproduktion zu rekonstruieren. Diese Herangehensweisen arbeiten häufig eng an textlichen Materialien und versuchen dort, auf unterschiedlichen Maßstabsebenen (z.B. korpuslinguistische Makroebene vs. aussagenanalytische Mikroebene) mit nachvollziehbaren Verfahren innere Logiken und Ordnungen von Textkorpora hervortreten zu lassen. Vertreter*innen solcher Vorgehensweisen argumentieren, dass ein solches, methodisch kontrolliertes Vorgehen hilft, eine willkürliche Auswahl empirischer Beobachtungen zu verhindern, bei denen immer die Gefahr besteht, dass nur das gefunden wird, was bereits als Vorstellungen und Analysekategorien in den Köpfen der Forschenden vorhanden war (z.B. neoliberale Rationalitäten). Zumindest implizit liegt vielen dieser Methoden auch die Idee der Intersubjektivität zugrunde. Gerade linguistisch inspirierte, in der Tradition des Strukturalismus entwickelte Verfahren gehen zu einem gewissen Grad davon aus, dass es bestimmte Strukturen im Datenmaterial „gibt“, die mithilfe textbasierter Methoden offengelegt werden können. Im zweiten Fall finden sich diejenigen Herangehensweisen, die sich aus einer theoretischen Perspektive heraus ihrem Untersuchungsgegenstand metho-

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466

Annika Mattissek, Paul Reuber

disch gesehen eher in einem offenen, interpretativen Verfahren annähern. In Abgrenzung zu stark formalisierten Methoden führen sie ins Feld, dass diese durch die starke Lenkung des Blicks, den entsprechende Verfahren implizieren, Aspekte ausblenden, die inhaltlich relevant sind, jedoch mit dem sehr begrenzten „Suchscheinwerfer“ einzelner Methoden nicht sichtbar werden. Zudem argumentieren sie, dass Forschung ja ohnehin immer und unhintergehbar in einer Wissensordnung positioniert und damit bereits „vorformatiert“ ist, und dass folglich der Versuch, mit einer vermeintlich intersubjektiven Überprüfbarkeit zu argumentieren, nicht nur zum Scheitern verurteilt ist, sondern machtkritisch gesehen seine eigene Positioniertheit mit dem Verweis auf standardisierte oder intersubjektiv überprüfbare Verfahren zu verschleiern sucht. Als Gütekriterien einer solchen Form von interpretativer Wissenschaft gelten dann stattdessen eher der stringente Bezug auf einen theoretischen Rahmen sowie Plausibilität und Nachvollziehbarkeit der empirischen Schlüsse. Vertreter*innen einer solchen Vorgehensweise haben ihren prominentesten Vordenker in Michel Foucault selber, dessen Genealogien auf einer methodisch wenig nachvollziehbaren, dafür theoretisch sehr konsequent argumentierenden Exegese eines teilweise nur verschwommen erkennbaren Korpus von Materialien aus den entsprechenden gesellschaftlichen Epochen beruhen. Aus der erstgenannten Perspektive einer stärker methodengeleiteten Vorgehensweise liegt die Schwäche dieser Herangehensweise allerdings darin, dass die Auswahl der empirischen Daten und die zu ihrer Interpretation herangezogenen Strategien letztlich nicht immer (vollständig) transparent gemacht werden. Bereits die etwas (über-)pointierte Form der Herausarbeitung dieser beiden Positionierungen macht deutlich, dass ihr Zweck nicht darin besteht, an dieser Stelle für die eine oder andere Position Stellung zu beziehen, sondern den Leser*innen eine didaktische Problematisierung an die Hand zu geben, mit der sich die häufig eher kontingenten und hybriden Verortungen unterschiedlicher konkreter Studien in diesem Spektrum einordnen und bewerten lassen. Ziel eines solchen Anliegens ist es auch, darauf hinzuweisen, dass jede Form der Positionierung ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen hat, und dass sie dabei gleichzeitig an unterschiedliche Macht-Wissen-Konstellationen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft anschlussfähig sind. In diesem Sinne kann also die Frage der methodischen Operationalisierung durchaus auch eine strategische Komponente beinhalten, da die Wahl der Verfahren auch davon mitbestimmt sein kann, an welche Wissensordnungen und Wahrheitsregime man „andocken“ möchte.

Die Herstellung von Wissen und Macht

Ins Spiel der Wahrheit eintreten: Wie politisch ist die Diskursforschung? Die Bewusstheit für den Konstruktionscharakter und den „Wahrheitsmaschinen-Effekt“ wissenschaftlicher Theorien und Methoden sowie die darin eingebundene Rolle und Positioniertheit der Diskursanalyse selbst verweisen gemeinsam auf den zutiefst politischen Charakter von Wissen, WissensOrdnungen und Wissenschaft. Sie führen uns als Wissenschaftler*innen noch einmal auf das Kernargument von Michel Foucault zurück, nachdem die Wahrheit von dieser Welt ist, in dieser Welt produziert wird. Sie machen uns dabei deutlich, dass wir, was diese Wahrheit angeht, nicht von einer privilegierten Position heraus sprechen. Wissen ist nicht durch Aspekte wie „Objektivität“ oder „Allgemeingültigkeit“ zu charakterisieren. Wissen ist politisch, immer und unausweichlich. Dies hat auch Konsequenzen für die Frage, wo und wie Diskursforschung Anwendung in der Welt „da draußen“ findet, welche Formen von gesellschaftsrelevantem Wissen sie produziert und in welchen Feldern der Debatte sie sich damit zu Wort meldet. Was Diskursanalysen nicht oder zumindest nicht in erster Linie bereitstellen, sind klare Handlungsempfehlungen, wie ein gesellschaftlicher Bereich am besten zu (re-)strukturieren sei – d.h. unmittelbar planungs- und anwendungsorientiertes Wissen. Vielmehr bieten Diskursanalysen Grundlagen und Anregungen für andere gesellschaftliche Felder. Ein Beispiel ist die Unterstützung von Mediations- und Moderationsprozessen im Kontext politisch/planerischer Aushandlungen und Konflikte. Hier machen Diskursanalysen den immer konstruierten und damit kontingenten Charakter unterschiedlicher Positionen erkennbar und schaffen damit Spielräume für wechselseitige Toleranz, für Dialog und Verhandlung. Ein weiteres Beispiel ist das aus wissenschaftlicher Sicht zuweilen unterschätzte Feld des Schulunterrichts (und der politischen Bildung). Hier können diskursanalytisch angelegte Dekonstruktionen dazu beitragen, u.a. für die zutiefst politische Dimension raumbezogener Identitäten und deren zentrale Rolle in darauf aufbauenden Freund- und Feindbildern in gesellschaftlichen Konflikten zu sensibilisieren. In Feldern wie diesen ist die diskursanalytisch informierte Intervention aber natürlich auch selbst nicht neutral. Wer in der oben angedeuteten Weise bei Konflikten in Richtung Toleranz und Verständigung, in Richtung pluraler Modelle von „Fortschritt“ und einer Reflexion der eigenen Positionierung moderiert, der interveniert selbst politisch. Die in der Denkbewegung der Dekonstruktion angelegte Betonung von Pluralität, Toleranz und Differenz ist selbst bereits politisch verortet, sie richtet sich aktiv gegen Abschottung, gegen die

467

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Annika Mattissek, Paul Reuber

Verfestigung von Identitäten und darauf aufbauende Ausgrenzungen. Wie die Beiträge in diesem Buch an vielen Stellen gezeigt haben, geht es dabei nicht darum, eine bestehende Wahrheit durch eine bessere oder andere zu ersetzen, sondern vielmehr den Prozess des Problematisierens, Hinterfragens und Reflektierens von Denkordnungen offenzuhalten – sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch über sie hinaus.

Literatur Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve. Foucault, Michel (2004 [1978]): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Werlen, Benno (2004): Sozialgeographie. Eine Einführung, Bern: UTB.

Autorinnen und Autoren

Baumann, Christoph ist promovierter Geograph und Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch, Geographie sowie Philosophie. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen vor allem die Felder Geographie des Ländlichen, Mediengeographie und Geographiedidaktik. In seiner diskursanalytischen Dissertation in der Erlanger Kulturgeographie untersuchte er Praktiken des Idyllisierens als Modi der Lebensführung in der (Spät-)Moderne. Bauriedl, Sybille ist Professorin für Integrative Geographie an der EuropaUniversität Flensburg mit den Lehr- und Forschungsschwerpunkten politische Ökologie des Klimawandels, nachhaltige Stadtentwicklung, feministische Geographie, postkoloniale Geographie und digitale Transformation. Belina, Bernd lehrt und forscht als Professor für Humangeographie am Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt am Main; seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich historisch-geographischer Materialismus, Politische Geographie, Stadtgeographie und Kritische Kriminologie. Bittner, Christian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Forschungsdatenmanagement, in der Digitalisierung von Wissenschaft und der Etablierung von Open Science und Open Data. Dammann, Finn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie und dem téchne-Campus-Netzwerk für Digitale Geistes- und Sozialwissenschaften der FAU Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich politischer Geographien der digitalen Transformation und im interdisziplinären Schnittfeld zwischen Computerlinguistik und GIScience.

470

Handbuch Diskurs und Raum

Dzudzek, Iris lehrt und forscht als Juniorprofessorin für Kritische Stadtgeographie am Institut für Geographie an der Universität Münster; ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Regierung der Kreativen Stadt, globale Geographien der Gesundheit, poststrukturalistische Theorien und feministische Wissenschaftstheorie. Felgenhauer, Tilo ist Hochschulprofessor für Humangeographie an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die sprachliche und symbolische Konstruktion räumlicher Wirklichkeiten und die Anwendung qualitativer Methoden auf sozialgeographische Fragestellungen. Empirische Untersuchungsfelder sind regionale Medien, regionenbezogener Konsum und die alltäglichen Geographien des Technikgebrauchs. Füller, Henning ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Kulturund Sozialgeographie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat in einer gemeinsamen Dissertation mit Nadine Marquardt Machtaspekte städtischer Restrukturierung in Los Angeles identifiziert. Aktuelle Arbeiten thematisieren Techniken der Biopolitik und digitale Geographien der Stadt. Glasze, Georg leitet den Lehrstuhl für Kulturgeographie an der FAU ErlangenNürnberg. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Politischen Geographie, der geographischen Stadtforschung sowie der soziotechnischen Raumverhältnisse in der digitalen Transformation. Husseini de Araújo, Shadia lehrt und forscht als Professorin für Wirtschaftsgeographie am Institut für Geographie der Universität Brasília (Brasilien); ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Wirtschafts- und Kulturgeographie. Lahr-Kurten, Matthias ist promovierter Geograph und Referent in der Hessischen Staatskanzlei sowie unabhängiger Wissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Politische Geographie, deutsch-französische Beziehungen sowie demographische und nachhaltigkeitsbezogene Fragen im politischen Kontext. In seiner Dissertation untersuchte er die deutsch-französische Sprachpolitik und zeigte, dass Geopolitik praktikentheoretisch analysiert werden kann und sich somit Praxistheorien auch für die Untersuchung „großer Phänomene“ eignen. Marquardt, Nadine ist Professorin für Sozialgeographie am Geographischen Institut der Universität Bonn. Sie hat in einer gemeinsamen Dissertation mit Henning Füller Machtaspekte städtischer Restrukturierung in Los Angeles identifi-

Autorinnen und Autoren

ziert. Ihre Habilitation fokussierte auf Wohnungslosigkeit und institutionelle Wohnformen. Ihre aktuelle Forschung bewegt sich im Schnittfeld von geographischer Wohnforschung, Technikforschung und feministischer Geographie. Mattissek, Annika lehrt und forscht als Professorin an der Universität Freiburg. Sie untersucht aus unterschiedlichen poststrukturalistischen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden Themen aus den Bereichen der Politischen Geographie und der Gesellschaft-Umwelt-Forschung. Michel, Boris ist Professor für Digitale Geographie am Institut für Geowissenschaften und Geographie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeits- und Forschungsinteressen liegen unter anderem im Bereich der geographischen Stadtforschung und auf kritischen Geographien digitaler und analoger Kartographien. Miggelbrink, Judith ist Professorin für Humangeographie an der TU Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Grenzen und Grenzregionen, Visuelle Geographien, Geographien globaler Verflechtungen und Peripherisierung. Mose, Jörg forschte an der WWU Münster zu raumbezogener Identität und Nationalismus in Spanien. Derzeit lebt er in Schwerin und arbeitet im Amt für Raumordnung und Landesplanung Westmecklenburg und als Quartiersmanager. Reuber, Paul ist Professor am Institut für Geographie der Universität Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Politischen Geographie und in der Kulturgeographie. Schirmel, Henning promovierte im Forschungsprojekt „Unsicherheitsdiskurse und Stadtentwicklung in Europa“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zurzeit ist er als Geograph bei der Deutschen Bahn AG tätig. Schlottmann, Antje lehrt und forscht am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu gesellschaftlichen Naturverhältnissen, Visuellen Geographien sowie Prozessen der sprachlichen und bildlichen Vermittlung. Sie hat in Freiburg Geographie studiert mit dem Schwerpunkt geographische Entwicklungsforschung und in Jena zu Raumkonzepten in der Alltagssprache am Beispiel der Berichterstattung zur deutschen Einheit promoviert.

471

472

Handbuch Diskurs und Raum

Schreiber, Verena ist Juniorprofessorin für Geographie und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Humangeographie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie forscht zu Geographien der Kindheit, feministisch-transformativer Didaktik und aktuellen Stadtentwicklungsprozessen. Strüver, Anke ist Professorin für Humangeographie mit dem Schwerpunkt Stadtforschung an der Universität Graz. Ihre thematischen Schwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Raumtheorien, insbesondere im Bereich der Verkörperungen bzw. der biosozialen und biodigitalen Verschränkungen als Teil der digitalen und nachhaltigen Transformation. Tijé-Dra, Andreas, Geograph, promovierte an der FAU Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Stadtgeographie, Kulturgeographie und Politische Geographie. Er ist derzeit in der Stadtplanung tätig. Wiertz, Thilo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg. In seiner Forschung befasst er sich mit der Rolle von Medien in der Diskursforschung sowie mit dem Schnittfeld von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Winkler, Jan ist Kultur- und Sozialgeograph und lehrt an der FAU ErlangenNürnberg. In seinen Forschungsarbeiten widmet er sich vielfach den Zusammenhängen zwischen Macht, Differenz, Identität und Raum (bspw. im Kontext von Forschungsprojekten zu Integrations- und Zugehörigkeitsverhältnissen in Deutschland und Europa). Daneben setzt er sich mit Diskurs- und Gouvernementalitätstheorien, Theorien der Praxis sowie emotions- und affekttheoretischen Ansätzen auseinander und beleuchtet dabei insbesondere auch Möglichkeiten der Verknüpfung dieser Ansätze. Wischmann, Katharina hat 2015 an der Universität Hamburg über stadtteilpolitische Diskurse am Beispiel Hamburg-St. Pauli promoviert und ist seitdem als Studienrätin an einem Hamburger Gymnasium tätig. Wucherpfennig, Claudia arbeitet als Pädagogische Mitarbeiterin bei Umweltlernen in Frankfurt am Main e.V. Nebenberuflich ist sie Lehrbeauftragte am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo sie lange Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Gesellschaftliche Naturverhältnisse, Globales Lernen, Visualität und geographische Geschlechterforschung/Interdependenzen.

Index

Abbildtheorem

239f.

Argumentation, multiple

Affekte/affektiv

231, 235, 241f.,

262f., 301f., 347, 361, 418, 431, 433

353 Argumentationsanalyse

219,

310, 336, 345ff., 350, 353, 357-

agencement agency

348,

299

362

299, 371

Akteur-Netzwerk-Theorie 275, 299

Argumentationsschema

350f.

Argumentationstheorie

347-

350, 360

Algorithmen/algorithmisch 96, 298, 316 Althusser, Louis

89, 143, 155, 158f.,

188ff., 285, 293f., 297, 299, 31, 119ff., 141,

145f., 259 Aneignung

Artikulation

358, 361, 381ff., 388, 390, 397, 400, 425, 430, 443 Assemblage-Theorien

39, 299

123, 225, 234, 255, 276, 280,

Ausbeutungsverhältnis

110

365, 446

Austin, John

Anrufung

22, 69, 88, 97, 101,

31, 119f., 146, 228, 253,

259f., 301

26, 249-253, 259,

272, 348, 445 Außen, konstitutives

Antagonismus/antagonistisch

32f., 147-

151, 157f., 187, 391ff.

33, 73, 144, 147-150, 157, 160, 391, 397f.

Barad, Karen

Anthropomorphisierung Archäologie

358

27, 66ff., 141, 196,

213f., 234, 278

263, 297

Barthes, Roland

25, 234, 448

Bedeutungskonstitution

24,

28f., 33, 66, 141, 215, 236, 313,

474

Handbuch Diskurs und Raum

317, 323, 337f., 366f., 380, 441, 443

Derrida, Jacques

28, 124f., 141,

147, 216, 253, 259, 261, 281

Beobachtung, teilnehmende/ ethnographische

102, 126,

281 (Kap. 19)

111,

113ff., 122, 126, 233 Differenz/Differenzen/Diffe-

Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas

dialektisches Verhältnis

34

renzierung/Differenzierungen

17-18, 27-28, 35-36, 43-

Bildanalyse 226, 235, 238, 446

44, 138, 144, 148-150, 155, 173-

Bildbegriff

175, 189, 191, 234, 326-329, 386,

227, 233, 238

Bilddiskursanalyse

225-237

Bildhaftigkeit der Sprache Bildlichkeit

233

48, 223f., 227, 233f.,

237, 240ff., 442 Bildpraxis

35, 234, 236,

270ff., 277, 280f., 283 Brüche, diskursive

14, 17, 35f.,

335, 375f., 383, 387, 424 32, 208, 250-263,

281ff., 295f., 425, 445 constitutive outside

358

corpus based

314, 337

corpus driven

314, 323, 328, 337

critical discourse analysis

Diskurslinguistik

216f.

Diskurstheorie/n

16-48, 66, 111,

274, 283f., 294-298, 302f., 310, 318, 359-362, 365f., 383, 393, 405 (Kap. 2, 5) Diskursverständnis

109f.,

201ff., 422ff.

147

Container-Metapher

critical geopolitics

27, 69,

111, 113-117, 122-124, 141, 260,

126, 137-152, 207f., 252f., 270-

124, 127, 137, 141, 152, 191, 281, Butler, Judith

diskursive Formation 285, 314, 345, 447

236, 241

Bourdieu, Pierre

393-395

- enges

87

- weites

29, 211, 216, 441, 443

Dislokation

145, 150, 158, 187,

189, 295, 383 34

37

Dispositiv

44, 225, 445

- der Macht 69, 73 Disziplinierung/Disziplinar-

cultural studies 36, 223, 270, 274f.

technologie/Disziplinar-

cultural turn

macht 70, 75-82, 89-93, 103,

22, 37, 43, 203, 208,

224, 249, 253, 263, 292

171, 196-202, 242, 256, 465 doings and sayings

Deiktika Deixis

369-370 358, 360, 369

271ff., 422

Index

Elemente, diskursive

69, 142-

151, 158ff., 211, 226f., 380f. Emotionen/Emotionalität

148,

224, 262, 301, 418, 427, 431, 435 Empirie

98, 309, 462f.

Essenzialismus/essenzielle Bedeutung/Essenzialisierung

23, 29, 63, 96, 109,

170, 203, 234, 237f., 242 ethnographische Methoden/ Ethnographie/Ethnomethodologie

215, 262, 276, 280,

303, 311 (Kap. 19) Evidenzcharakter von materiellen Bildern

242

Genre

317f., 330, 337, 384, 387,

397, 420 Geographie-Machen Geschlecht

241, 345

37, 45, 123, 144, 175,

189, 215, 251, 253-256, 258, 262, 295, 320 Geschlechtsidentität

32, 37, 43,

253ff., 295 gesellschaftliche Raumproduktion

110f., 115, 123, 126, 172,

441 (Kap. 8) Gesellschaft-Raum-Verhältnisse

207f., 225, 242, 330

Gesellschaft-UmweltForschung

292, 300

Gouvernementalität/gouverneFoucault, Michel

14, 21, 27, 30,

32, 34, 38, 44, 46, 63f., 114, 121, 124, 128, 141, 167-178, 207, 211216, 226f., 234, 253f., 258, 269, 275, 278, 281-284, 299, 314f.,

mentalisiert

32, 67, 76, 78,

88ff., 114, 121, 201f., 291, 299, 425ff. (Kap. 3) governmentality studies 32, 63, 90, 97

317, 338, 379, 406, 417, 428,

Gramsci, Antonio

441ff., 446, 461-467 (Kap. 2, 3,

Graphem

8)

grounded theory

115, 118, 143f.

320, 322, 337 380, 384

Führung (von Individuen)/ Selbst- vs. Fremdfüh-

Habitus

rung

Handlungstheorie

21, 73, 78, 80, 92, 121f.,

202

260, 271f., 280

Haraway, Donna Harley, Brian

Genderforschung/Geschlechter-

277 263, 297f.

406-409

Hegemonie/Hegemonietheorie

forschung/feministische

34, 71, 77, 118-123, 135ff., 184,

Ansätze

190f., 359, 411, 417 (Kap. 5)

29, 37, 43, 45, 169,

173, 175, 216, 254-255, 295, 301 Genealogie

66, 78, 118, 201, 234

Hermeneutik

67, 234, 236, 385

475

476

Handbuch Diskurs und Raum

Heterogenität

101, 138, 144f.,

365, 372, 374, 376, 424, 426 Heterotopie

79, 173, 196-198

Identität/Identitätskonstitution 13, 16f., 30ff., 35, 37, 44, 46, 65,

Klassensubjekt

139

Knotenpunkt

147ff., 151, 154f.,

158f., 326, 393 Kodierung

314, 316 (Kap. 17)

Kohärenz

34, 160, 214f., 318,

337, 360

74, 82f., 87, 93, 129, 137-152,

Kollokation

155ff., 160, 176, 191, 217, 251-

Konkordanz

321f., 334, 338

263, 296, 301f., 335, 345, 369,

Konnotation

170, 375

375, 380, 386ff., 392, 394f.,

Konstitution von Subjekten

397, 418, 421, 424f., 427, 431ff., 435, 467f.

17, 227f., 254, 259 konstitutives Außen

- kollektive Identität

32, 35,

140, 145, 148, 157, 160, 335, 386f. 31, 34, 63, 77, 117ff.,

124, 127, 139, 146, 153, 199, 236 Ideologiekritik

34, 63f., 128, 361

(Kap. 4)

Konstruktivismus, erkenntnis293, 303

Kontext, diskursiver/Kontextbezug

18, 26, 160, 219, 224,

236, 251, 274ff., 313ff., 335, 365-376, 407

Ikonizität/ikonographische Codierung

224, 227, 235

illokutionärer Akt

252

Gemeinschaft

117, 123

360f.

Informationseffizienz

Kontingenz

14, 64, 90, 112, 137,

147, 152f., 184, 190, 218, 241, 300, 303, 316, 412, 421

imagined community/vorgestellte

Konversationsanalyse Kookkurrenz

214

319, 325ff., 335ff.,

383 224

Institution/Institutionalisierung

32, 147-151,

157f., 187, 392 theoretischer

Ideologie

Inferenz

219, 325, 337

14, 31, 43, 69, 71, 77,

Körper/Körperlichkeit/Körperliches

10, 13, 29, 37, 43, 65,

70, 73-82, 89, 96, 103, 121, 168,

88, 91, 94, 101, 103, 146, 152f.,

173, 196-201, 208, 252-263, 271,

158f., 171, 173, 176, 190, 318, 357

275, 277, 286, 291, 295ff., 298,

Iteration

124, 261, 281

301f., 358, 418, 422, 432, 435, 444, 449

Karte

29, 39, 44, 48, 159, 223,

231, 311, 441, 451 (Kap. 18)

Kritische Diskursanalyse 114, 126, 128f., 279

64,

Index

Kritische Geopolitik

282

Kritischer Rationalismus

63, 65ff., 89ff., 111ff., 139f., 22, 39

173, 212, 215, 293ff., 444f., 459 Machttechnik

Lacan, Jacques

146, 148, 294

Laclau, Ernesto

31, 32, 44, 64,

75ff., 97, 99,

102f., 196, 200 Macht-Wissen-Komplex/Macht-

127, 167f., 207, 269, 272, 275,

Wissen-Konstellation

283, 285, 294, 315, 327, 379,

70, 76, 177, 195, 225, 231, 409,

381, 383, 388, 393, 418, 425, 463

466

(Kap. 5, 7)

Mangel

Landschaft/Landschaftsbilder 237-242 127, 149ff.,

155, 158, 160, 283, 393, 463 Lemmatisierung Lexem

320, 333, 338

28, 320, 322, 336ff.

Lexikometrie

148, 223, 433

Marx, Karl

109, 115f., 118, 270ff.

marxistische Theorie

leerer Signifikant

213, 219, 313f.,

316f., 335-338 212, 217f., 249, 292

35, 41, 64,

127, 139 Maßstäblichkeit

67, 171, 176f.

Materialisierung

43, 112, 197,

249, 255, 258, 261, 263, 295, 418, 443, 454f. Materialität

linguistic turn 22, 37, 87, 203,

14,

10f., 37, 43, 48, 75,

78, 168, 173, 190, 196, 207ff., 235, 252f., 255, 258, 261, 263, 271, 311, 423 (Kap. 13, 20)

Macht/Machtverhältnis

14, 17,

- der Form

20, 31, 33, 40f., 45, 47, 66-82,

material turn

87, 89-93, 96, 98-103, 109-114, 118, 121-126, 137-142, 172-179, 195f., 199f., 215f., 254-261, 269, 285, 293-296, 301f., 349, 359, 393, 408, 411, 423-427, 441, 447, 455 (Kap. 21) - produktive Macht

14ff.,

282, 285 materiell-semiotische Verschränkung Medien

263 31, 95, 113, 146, 218f.,

301, 316, 318f., 332, 393

70f., 259 22, 41, 45,

28, 317,

365, 372 Mehrstimmigkeit

- soziales/gesellschaftliches Machtverhältnis

10, 39, 44, 188, 208f.,

Mehrdeutigkeit(-en)

65ff., 100, 258 - repressive Macht

366

Methoden

372

15, 23, 39, 48f., 94,

102, 117, 127, 207, 212, 215f., 218f., 286, 309f., 315, 319, 327,

477

478

Handbuch Diskurs und Raum

336, 366, 376, 412, 446, 450, 459, 462f., 467 - Rolle von

mativität

465f.

mikroanalytisch

252

phänomenologische Bildposition

Momente, diskursive

249, 282

perlokutionärer Akt

67, 70, 76, 89, 100 143

227, 236

Politische Geographie

more-than-representational

18, 37, 45,

282, 292, 345

39, 44, 269, 282f.

Mouffe, Chantal

442-446, 450

performative turn

263, 366

Mikrophysik der Macht

geography

performative Praxis/Perfor-

31f., 44, 64,

127, 167, 184, 186, 190f., 207, 269, 272, 275, 283, 285, 294,

Polyphonie

368, 372

Populismus

153f.

Positionalität

37, 49, 297, 303,

385, 420, 459

315, 327, 379-383, 388, 393, 418,

Positionierungsverhältnis 225

463 (Kap. 5)

Postkolonialismus

Muster, narratives

39, 382, 389-

392, 397, 400

29, 31, 45,

320f. Poststrukturalismus 28, 37, 63, 213, 219, 273f., 293, 314, 365

Nationalismus, affektiver Neue Kulturgeographie

301 38, 167,

345

270, 282f.

Pragmatik 26f., 212, 219, 362 - Sprachpragmatik

Neuer Materialismus

209,

291f., 296f., 300-304, 316 N-Gramm

practice turn

320, 325, 336, 339

nicht-diskursiv

94, 103, 141f.,

278f., 283, 431

26f., 213,

219, 348, 360, 362 Praktiken

14, 19ff., 32ff., 39,

42ff., 45, 48, 66-82, 88f., 91, 94, 100ff., 109, 111-125, 128, 141f., 155, 157, 161, 176, 179,

Normativität

152

200, 202, 207ff., 211, 223, 225,

Normierung

81, 170-173, 228,

255ff., 260, 293ff., 302f., 311,

253

366, 393, 406, 410ff., 417f., 421-430, 434f., 442, 445f. (Kap.

ökonomischer Determinismus 139, 144, 146, 272

12) Präsupposition Psychoanalyse

panopticon/Panoptikum Partikularinteresse/n

89, 199 148ff.

26, 346, 368 294

Index

qualitative Inhaltsanalyse

359,

379f., 387

Regierung/Regierungspraktiken/Regierungsweise

qualitative Sozialforschung

21, 64,

71, 73, 88, 91-102, 116, 121f.,

36, 39, 276, 310, 365, 417

168, 171, 399, 422, 425, 463

quantitative Inhaltsanalyse

314,

316

(Kap. 8) Relationalität 23f., 442, 444 Re-Materialisierung

radical geography

41, 45, 178

radikale Demokratie

152, 154,

186

168, 249,

291, 443 (Kap. 13, 20) rephotography

450-455

Repräsentationsmodell

Rationalität(-en)

28, 35, 68, 101,

113, 121, 197, 349, 362, 434, 465 - des Regierens

91, 93, 98f.,

426

316 representational turn

249

Responsibilisierung Rhetorik

Raum

23, 27f.,

Risiko

93, 96

161, 345, 347f., 408f.

319, 390

- politisches Konzept von Laclau

155ff., 183ff. (Kap. 7)

- relationaler

171, 174ff., 179,

187ff.

Saussure, Ferdinand de 213, 259, 313f., 327 Schatzki, Theodore

- topologischer

43f., 189, 196

raumbezogene Identitätskonstruktion

369, 375, 380, 386f., 394, 397, 425, 467

39, 270f.,

273, 275, 277f., 283 Schlussregel

17, 37, 155f.,

23ff.,

99, 219, 310, 351f.,

357-360, 383 science and technology studies 270, 274f., 292, 297

Raum-Bild-Verhältnis

240

Raumproduktion/gesellschaftliche Raumproduktion

41,

Searle, John

272, 349

Sedimentierung/sedimentiert 139f., 145, 151, 154, 157-160,

110f., 115, 123, 126, 168, 172, 441

185, 234, 256, 260, 318, 418,

(Kap. 6, 7 und 8)

425, 432, 434f.

Raumtheorie(n)

167 (Kap. 6, 7

und 8) Reale, das Regelfolgen 422

Selbststeuerung

21, 64, 168, 196,

201 239, 294f. 272ff., 277, 283f.,

Selbstverhältnis

67, 93

Semantik

26, 42, 280

Semiotik

25, 39, 234

479

480

Handbuch Diskurs und Raum

Sicherheit

92, 96, 121

Subversion

Sichtbares/Sichtbarkeit

82, 197,

253, 257

Syllogismus

348

199, 225f., 233, 242, 425, 442447, 449, 453, 455, 462 Signifikationsregime Souveränität

Technik

235

93f., 96, 98, 102f., 195, 197,

91, 261

199-202, 207f., 294, 296, 299,

soziale Praxis/Praktik

66f., 109,

111, 113, 116, 118, 123, 125f., 419, 424 spatial science

212, 215

423 199f.

Technologie/Technik des Regie-

45

rens

16, 40, 169, 176, 179,

195

91, 94f., 103, 121f.,

200f., 291 Technologie des Selbst

Sprachgebrauch 126

- kontextabhängiger

Territorialisierung

213, 215,

219 Sprachgeographie 348 Sprechakttheorie

26f., 250-253,

259, 272, 293 Strukturalismus

23, 27, 28f., 63,

66, 101, 212f., 219, 293, 314, 465 Subjekt, modernes

25, 28, 30-

33, 66ff., 74, 78ff., 93, 119, 138, 255 Subjekte, Konstitution von

17,

30, 32, 37, 78, 227f., 254f., 259 Subjektivierung/Subjektivie66, 78, 81, 93,

97, 198ff, 262 Subjektposition 145ff., 225, 421

30ff., 75, 103,

17f., 176

Textanalyse/Text- und Bildanalyse

217

250, 272ff., 283f.,

rungsweise

32, 78ff.,

81, 88, 102, 122, 284

- als soziale Praxis

Sprachspiel

301ff., 311, 379, 406, 410, 412, Techniken des Raumes

Soziolinguistik spatial turn

10, 14, 32, 44, 48, 89, 91,

207, 226, 279, 334, 379

Textkorpus/Textkorpus, geschlossen 156, 314, 318, 337, 338 Textlinguistik

214, 360

Topik 347 Toulmin, Stephen

348, 350-356,

383, 394 Überdeterminierung Universalismus urban photography

31, 141, 366

29, 46 446, 451

Vernunftsubjekt/modernes Subjekt Verortung

66, 74, 93, 255 30, 32, 35, 49, 81, 137,

171, 199, 211, 225, 238, 241, 292, 368, 370, 466

Index

Vieldeutigkeit Visiotyp

365

Wissenssoziologie/wissenssozio-

231

Visualisierung

logische Diskurs159, 223, 231f.,

239, 242, 330, 334, 405, 412, 447, 454

analyse

33f., 279, 283, 424

Wittgenstein, Ludwig

142, 250,

272-274, 277, 283f., 348

Visualität/Visualitätsregime 207f., 223f., 233, 237, 292, 311 (Kap. 20) Visuelle Geographie visuelle Strategien Vorkonstrukt

223 235

346, 368, 370f.

Wahrheitsproduktion

47, 231,

464 Widersprüche/Widersprüchlichkeiten

17, 35f., 44, 71,

101, 111, 116ff., 120, 124, 129, 137, 139, 141, 144f., 152, 177, 186, 190f., 196f., 219, 237, 256, 360, 365, 372f., 374-376, 434, 464 Widerstand/Widerständigkeit

70-73, 75, 93, 99ff., 103,

172, 256, 260f., 301 Wirklichkeit

10f., 13ff., 27ff.,

33, 35ff., 39, 44-47, 66, 69f., 99, 118, 139ff., 144f., 151f., 161, 184, 186-190, 196, 207, 224f., 233f., 239ff., 249f., 254, 256, 258, 269, 279, 291-303, 316, 330, 345, 347-350, 380, 412, 417, 420, 449, 459 Wissensproduktion

47, 69, 73,

91, 195, 198, 291, 297, 418

Žižek, Slavoi

146, 148, 294

481

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