Handbuch der Integrativen Therapie [2. Aufl.] 9783662605936, 9783662605943

Die Integrative Therapie versteht sich als moderne „Humantherapie". Sie verbindet bewährte Konzepte unterschiedlich

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German Pages XIX, 319 [331] Year 2020

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Handbuch der Integrativen Therapie [2. Aufl.]
 9783662605936, 9783662605943

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIX
Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie (Anton Leitner)....Pages 1-30
Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte (Anton Leitner)....Pages 31-63
Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie (Anton Leitner)....Pages 65-94
Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie – Bedingungen des Integrierens (Anton Leitner)....Pages 95-124
Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie (Anton Leitner)....Pages 125-149
Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie (Anton Leitner)....Pages 151-177
Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie (Anton Leitner)....Pages 179-209
Die Effektivität der Integrativen Therapie (Anton Leitner)....Pages 211-240
Geschlechtertheorien (Claudia Höfner)....Pages 241-271
Entlang des Tree of Science. Geschlechtertheorien in der Integrativen Therapie (Claudia Höfner)....Pages 273-313
Back Matter ....Pages 315-319

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Anton Leitner · Claudia Höfner

Handbuch der Integrativen Therapie 2. Auflage

Handbuch der Integrativen Therapie

Anton Leitner • Claudia Höfner

Handbuch der Integrativen Therapie 2. Auflage Mit einem Geleitwort von Michael Kierein

Anton Leitner St. Pölten, Österreich

Claudia Höfner Wien, Österreich

ISBN 978-3-662-60593-6    ISBN 978-3-662-60594-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2010, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. © Adobe Stock, Fona Umschlaggestaltung: deblik Berlin Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Geleitwort

Ziel der Integrativen Therapie ist die persönliche Entwicklung als lebenslanger Prozess. Ausgehend von der aktuellen Situation wird nicht nur auf negative und defizitäre, sondern v.  a. auch auf positive und stützende Ereignisse fokussiert und Bewusstes und Unbewusstes in ihrer Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung und Lebensführung erfahrbar gemacht. Dabei entwickelt die Integrative Therapie mit ihrem ganzheitlichen Behandlungsansatz ihre Konzepte auf Grundlage klinisch-empirischer Forschung und unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Kenntnisse und Erfahrungen. Psychotherapeuten der Integrative Therapie setzen in ihrer Behandlung neben dem verbalen Austausch auch kreative Medien und Techniken ein, um Symptome psychischer, psychosomatischer und psychosozialer Erkrankungen zu beseitigen oder zu lindern sowie Lebensqualität, Gesundheitsverhalten und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Ausgangspunkt ist – wie so oft – die wichtigste Berufspflicht des Psychotherapiegesetzes, die Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen. Während das „Gewissen“ die berufsethische Grundhaltung vorgibt, resultiert das „Wissen“ aus der fachspezifisch-­wissenschaftlichen Ausbildung. In diesem Zusammenhang spannt das Handbuch „Integrative Therapie“ einen perfekten Bogen von den geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften, über die Entwicklung der Methode, deren zentrale Konzepte und Definitionen, weiter über das Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie, die Krankheits- und Gesundheitslehre, die Theorie und den Behandlungsverlauf samt Fragen der Effektivität bis hin zu den Geschlechtertheorien in der Integrativen Therapie. Dieses umfassende Standardwerk wird speziell in der fachspezifisch-­ wissenschaftlichen Ausbildung eine entscheidende Grundlage für alle Absolventen der Integrativen Therapie mit dem Ziel sein, in weiterer Folge kurativ und palliativ – sei es in ambulanten, stationären, klinischen oder rehabilitativen Settings, sei es im Rahmen der Einzel-, Paar-, Familien- und Gruppentherapie – tätig zu werden. Gleichzeitig widmet sich das Handbuch „Integrative Therapie“ auch dem besonderen Verhältnis zwischen den Disziplinen der Medizin, Psychosomatik, ­Psychologie und Psychotherapie, was für eine zeitgemäße interdisziplinäre Sichtweise als unverzichtbar anzusehen ist.

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Geleitwort

In diesem Sinne gilt es, dem ausgewiesen kompetenten Autorenteam für die Fortsetzung und Weiterführung der fachlichen Auseinandersetzung in der 2. Auflage des Handbuchs ausdrücklich zu danken. Zu erwarten bleibt, dass interessierte Leser – nicht nur der entsprechenden Fachgemeinschaft – die wesentlichen Impulse dieser Auseinandersetzung für den wissenschaftlichen Diskurs im Rahmen der Psychotherapie zu schätzen und zu würdigen wissen. Wien, Österreich im März 2020

Michael Kierein

Vorwort zur zweiten Auflage

Die Zeit der vielen einzelnen Psychotherapieschulen ist vorbei. Einige waren groß und bedeutend, vielleicht auch einseitig in ihrer Größe. Selbst oder gerade dann, wenn einer Therapiemethode kein Erfolg beschieden war, wurde nicht selten mehr und noch mehr von derselben angeboten. Freilich werden auch künftig Spezialisierungen sinnvoll sein, die sich an einem zeitgemäßen methodisch-therapeutischen Vernetzungsparadigma mit wissenschaftlicher Evidenz orientieren. Dies ergibt sich schon aus dem Anspruch bei der Behandlung bestimmter Altersgruppen oder spezifischer Krankheitsbilder. Es wäre zu kurz gegriffen, würde der Mensch nicht als ein komplexes, vielschichtiges Wesen in seiner Leiblichkeit, emotionalen Gestimmtheit, kognitiven Fassungskraft, sozioökonomischen Einbettung, ökologischen und kulturellen Weltverbundenheit in seiner Zeit wahrgenommen, erfasst und verstanden werden, oder zumindest dem Versuch unterzogen, ihn zu verstehen. Es würde dem leidenden Menschen nicht gerecht werden, auf seine vielfältigen Dimensionen in gut abgestimmter Kooperation mit dem Betroffenen nicht möglichst zutreffende, individuelle therapeutische Angebote zu machen. Grundlage für die psychotherapeutische Behandlung wird eine systematische Methodenintegration auf Basis schulenübergreifender Konzepte sein. Die vielfältigen, individuell zu beachtenden Zugänge zum Menschen erfordern das Wissen des Psychotherapeuten über eine Fülle methodischer Behandlungswege und einen fortlaufend auf Wissenschaftlichkeit, Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und v. a. Unbedenklichkeit überprüften Integrationsprozess. Dieses Handbuch ist ein Angebot an alle, die an Psychotherapie und an einer breit angelegten Humantherapie interessiert sind, insbesondere an Kollegen, die sich einen fachlichen Austausch wünschen. Aufseiten des Psychotherapeuten mag Revisionsbereitschaft helfen, sich trotz tradierter Schulenzugehörigkeit anregen zu lassen. Die Integrative Therapie habe ich nicht erfunden oder entwickelt. Ich habe sie vorgefunden, für gut befunden, praktisch angewandt und über die Ausbildungseinrichtung Donau-Universität Krems in Österreich in den Jahren 2000–2005 zur staatlichen Anerkennung geführt. Nach 10 Jahren wird hier die 2. aktualisierte und um die beiden letzten Kapitel ergänzte Auflage dieses Handbuches vorgelegt. Die Anregung des Verlages zu einem didaktischen Aufbau wurde aufgegriffen, ebenso die Vorgabe aus Gründen der

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besseren Lesbarkeit überwiegend das generische Maskulinum. Dies implizierrt beide Formen, schließt also die weibliche Form mit ein. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal bei all jenen Menschen bedanken, die mich ein Stück weit auf meinem persönlichen und beruflichen Weg begleitet haben. Hier gilt zuallererst mein herzlicher Dank meiner Frau Maria Christine Leitner, die, für Außenstehende oft unsichtbar, Großartiges geleistet hat, sodass für viele Lehrende und Studierende ein weiterer beruflicher Weg und Erfolg möglich werden konnte. Darüber hinaus möchte ich stellvertretend für die besonderen Personen, denen ich dankbar bin, Margit Jary (1896–1985) herausheben. Von ihr habe ich wichtige Anregungen in mein Leben mitgenommen. Ein großer Dank gilt Hilarion Gottfried Petzold, Ilse Orth, Johanna Sieper und Hildegund Heinl, den Begründern dieses spezifischen Weges des Integrierens. Besonders bedanken möchte ich mich bei Christiana Maria Edlhaimb-Hrubec, die durch ihre inhaltliche, fachliche und sprachliche Kompetenz wesentlich zur besseren Verständlichkeit dieser Auflage beigetragen hat. Wie schon damals in den 5 Jahren der Einreichphase zur Anerkennung des Verfahrens Integrative Therapie, ist es eine spannende Herausforderung, die Gedanken und Inhalte, in zehntausenden Seiten zum Teil geordnet, zum Teil unsystematisch verstreut, sorgfältig zusammenzuführen. Knapp und prägnant habe ich versucht, den komplexen kurativen Weg mit seinem, in unser kulturelles Umfeld passenden Menschenbild vorzustellen. Den Lesenden soll ein kurz gefasstes Lehrbuch für einen integrativen Behandlungsweg in die Hand gegeben werden, das gut überschaubar und praktisch nachvollziehbar ist und die wichtigsten Themenfelder erfasst. Teilweise sind Wortlaut und Satzaufbau aus Hilarion G. Petzolds Quellen ausdrücklich wiedergegeben. Dieses Handbuch möge auch dazu einladen, sich Petzolds umfassenden und bereichernden Schriften zu widmen. Bei der Erstellung der 2. Auflage dieses Buches verfasste Claudia Höfner in der wissenschaftlichen Erweiterung des Verfahrens Integrative Therapie die beiden abschließenden Kapitel. Claudia Höfner hatte an der Donau-Universität Krems 2016–2019  in der Position der Ausbildungsleitung des psychotherapeutischen Fachspezifikums Integrative Therapie die Verantwortung für die Ausbildung in diesem Gesundheitsberuf. Auf dem Weg der Entwicklung einer Humantherapie, auf welchem immer nur Wissen auf Zeit generiert werden kann, möge sich niemand vor konstruktiver Mitarbeit, diskursiver Auseinandersetzung und notwendiger, sinnvoller Vernetzung scheuen und auch nicht vor dem Betreten neuer Wege, die sich auch als Irrwege herausstellen können. Die Gliederung der Kapitel ist folgendermaßen gestaltet: • Im 1. Kapitel werden die weit in die Geschichte zurückreichenden Quellen skizziert und Bezugswissenschaften und philosophische Grundlagen vorgestellt, die dem Therapieverfahren eine strukturelle Logik geben. • Im 2. Kapitel werden die Entwicklung des Verfahrens Integrative Therapie und die Vernetzung unterschiedlicher Erkenntniswege in einem konsistenten zentralen Modell aufgezeigt, dies auch in Bezug auf den Kontext, in dem die ­Begründer

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des Verfahrens selbst standen. Ebenso wird die Entwicklung in der angrenzenden Disziplin Medizin gewürdigt. Im 3. Kapitel werden Verfahrensweise und Grundregel der Integrativen Therapie auf Basis ihrer anthropologischen Grundposition vorgestellt. Die Grundannahmen von Theorie, Konzepten und Fachtermini werden definiert, in einen praktischen Zusammenhang gestellt und am Beispiel der Mehrebenenreflexion veranschaulicht. Im 4. Kapitel werden das Entwicklungskonzept der Integrativen Therapie und dessen Modellvorstellung von Persönlichkeit diskutiert. Die Frage, wie das Integrieren in der Integrativen Therapie erfolgt, wird vor dem Hintergrund der theoretischen Bedingungen beantwortet. Die Themen Eklektizismus, Spiritualität, Religion und Esoterik werden in ihrem Stellenwert für die Psychotherapie angesprochen. Im 5. Kapitel werden die Theorie der Entstehung von Leidenszuständen und der Gesundheitserhaltung des Menschen sowie der neurobiologische Ansatz in der Integrativen Therapie vorgestellt. Es wird deutlich, dass ein mehrperspektivischer Zugang unterschiedliche Behandlungswege herausfordert, was erklären könnte, weshalb viele einzelne Therapieschulen bald Geschichte sind. Im 6. Kapitel werden die Grundprinzipien wie Intersubjektivitäts-, Bewusstseins-, Leiblichkeits-, Entwicklungs- und Sozialitätsprinzip als Grundlage für eine systematische Reflexion und Diskussion bei der Weiterentwicklung des Verfahrens gezeigt, wobei auch besonderes Augenmerk auf die Sozialisation in Ausbildungsprozessen gelegt wird. Im 7. Kapitel werden ein idealtypischer Behandlungsverlauf, die verschiedenen indikationsspezifischen Modalitäten, die Tiefungsebenen sowie Wege der Heilung und Förderung beschrieben. Vor diesem außergewöhnlich mannigfachen theoretischen System der Integrativen Therapie werden Behandlungsbeispiele vorgestellt. Im 8. Kapitel belegen Studien die Effektivität der Integrativen Therapie. Der besondere Wert dieser Effektivitätsstudien liegt darin, dass sie vor dem Hintergrund eines aufwendigen Untersuchungsdesigns den Verlauf psychotherapeutischer Interventionen aus verschiedenen Perspektiven nachzeichnen. Im 9. Kapitel geht es um jene Gendertheorien, die als Grundlage der Anthropologie der Integrativen Therapie betrachtet werden können. Nach einem Abriss der historischen Wurzeln werden die wichtigsten Grundbegriffe und Hintergrundtheorien erläutert. Im 10. Kapitel werden die eingeführten Theorien und Ergebnisse der aktuellen Geschlechterforschung entlang des Tree of Science auf ihre Kompatibilität mit der Integrativen Therapie hin überprüft und genderkompetente Implikationen für die therapeutische Praxis aufgezeigt.

Kundige Lesende werden in diesem Lehrbuch einige ihnen wichtig erscheinende Darstellungen des Verfahrens vermissen. Das liegt wohl in der Natur eines Handbuches, in welchem ein schmaler Grat zwischen unvermeidlicher und unzulässiger Verkürzung gegangen wird, sowie an einer subjektiven S ­ chwerpunktsetzung der

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Autorin und des Autors. Über viele Details, die hier nur kurz angedeutet oder in knappen Sätzen abgehandelt werden, sind Bücher geschrieben worden, die größtenteils in der anhängenden Literatur zu jedem Kapitel zu finden sind. Das Literaturverzeichnis bietet den interessierten Lesenden weiterführend die Möglichkeit, sich mit den zahlreichen Themenbereichen zu beschäftigen, die dieses Behandlungsverfahren derzeit ausmachen. An allen Orten, wo in Zukunft der Weg des Integrierens von Lehrenden und interessierten Personen noch aufgegriffen wird, kann möglicherweise dieses Buch für eine gelingende Weiterentwicklung von Psychotherapieverfahren Anregung und hilfreiche Unterstützung sein. Möge dieses kurze Lehrbuch auch eine Einladung für Psychotherapeuten sowie gleichermaßen für Patienten sein, sich über diesen kreativen, theoriegeleiteten, forschungsgegründeten und nicht abgeschlossenen Behandlungszugang zu informieren. St. Pölten, Österreich im März 2020

Anton Leitner

Inhaltsverzeichnis

1 Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie����������������������������������  1 1.1 Quellen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit��������������������������������������   1 1.2 Pioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere der Integrativen Therapie im Besonderen ������������������������������������������   4 1.2.1 Der Einfluss Sándor Ferenczis auf die Integrative Therapie����������������������������������������������������������������������������������   8 1.2.2 Anregungen durch das Psychodrama für die Integrative Therapie����������������������������������������������������������������   9 1.2.3 Der Beitrag der Gestalttherapie für die Integrative Therapie����������������������������������������������������������������������������������  10 1.2.4 Anregungen durch die Verhaltenstherapie für die Integrative Therapie����������������������������������������������������������������  11 1.2.5 Anregungen durch weitere Quellen aus Wissenschaft und Praxis ��������������������������������������������������������  12 1.3 Wichtige Referenzphilosophien für die Integrative Therapie ������������  15 1.3.1 Phänomenologie und Leibphilosophie������������������������������������  15 1.3.2 Hermeneutik, Metahermeneutik ��������������������������������������������  19 1.3.3 Ethik als erste Philosophie������������������������������������������������������  20 1.3.4 Diskurs und Dispositivanalyse������������������������������������������������  21 1.3.5 Dekonstruktivismus����������������������������������������������������������������  23 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������  25 2 Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte��������������������������������������������������������������������������������������������������������31 2.1 Wege zum Menschen über eine methodenübergreifende Mehrdimensionalität ��������������������������������������������������������������������������  31 2.2 Die Schritte der Entwicklung der Integrativen Therapie��������������������  34 2.3 Ausgewählte Psychotherapieverfahren als Quellen für die Integrative Therapie����������������������������������������������������������������  37 2.4 Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell ����������������������������  38 2.4.1 Metatheorien ��������������������������������������������������������������������������  41 2.4.2 Klinische Theorien������������������������������������������������������������������  45

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2.4.3 Praxeologie ����������������������������������������������������������������������������  46 2.4.4 Praxis��������������������������������������������������������������������������������������  47 2.5 Körper-Seele-Geist-Verhältnis������������������������������������������������������������  48 2.6 Das biopsychosoziale Modell in der Medizin und berufspolitische Aspekte��������������������������������������������������������������  51 2.6.1 Am Beispiel der Schmerzforschung ��������������������������������������  51 2.6.2 Psychosomatik und Psychosomatische Medizin��������������������  52 2.6.3 Gesundheitsversorgung aus einem berufspolitischen Blickwinkel ����������������������������������������������������������������������������  55 2.6.4 Patient – Klient ����������������������������������������������������������������������  57 Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������  58 3 Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie���������������������������������������������������������������������  65 3.1 Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Geschehen ��������  66 3.1.1 Die anthropologische Grundposition der Integrativen Therapie��������������������������������������������������������������  67 3.1.2 Körper, Seele, Geist und Leib definiert in der Integrativen Therapie����������������������������������������������������  68 3.1.3 Integrative Therapie: Axiome, Prinzipien und Konzepte��������������������������������������������������������������������������  71 3.2 Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln ������������  75 3.2.1 Erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Fundierung������������������������������������������������������������������������������  78 3.2.2 Basis einer integrativ psychotherapeutischen Behandlung ����������������������������������������������������������������������������  81 3.2.3 Verfahrensweise und Grundregel der Integrativen Therapie����������������������������������������������������������������������������������  82 3.3 Fachtermini, definiert in dem Verfahren Integrative Therapie������������  86 3.4 Mehrebenenreflexion in einer integrativ-therapeutischen Behandlung ����������������������������������������������������������������������������������������  88 Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������  90 4 Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie – Bedingungen des Integrierens �������������������������� 95 4.1 Das Entwicklungskonzept der Integrativen Therapie ������������������������  96 4.2 Modellvorstellungen von Persönlichkeit��������������������������������������������  97 4.3 Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie �����������������������������  99 4.3.1 Das Selbst������������������������������������������������������������������������������� 100 4.3.2 Das Ich������������������������������������������������������������������������������������ 101 4.3.3 Die Identität���������������������������������������������������������������������������� 102 4.4 Ziele, Kontext, Kontinuum – Rahmenbedingung für das Leibsubjekt ���������������������������������������������������������������������������������� 104 4.4.1 Die Ziele��������������������������������������������������������������������������������105 4.4.2 Der Kontext���������������������������������������������������������������������������� 105 4.4.3 Das Kontinuum ���������������������������������������������������������������������� 106

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4.5 Die Säulen der Identität���������������������������������������������������������������������� 106 4.5.1 Leiblichkeit ���������������������������������������������������������������������������� 107 4.5.2 Soziales Netzwerk������������������������������������������������������������������ 107 4.5.3 Arbeit, Leistung und Freizeit�������������������������������������������������� 108 4.5.4 Materielle Sicherheiten und milieuökologische Bezüge������������������������������������������������������������������������������������ 109 4.5.5 Wertorientierung, weltanschauliche und religiöse Überzeugung �������������������������������������������������������������������������� 109 4.6 Bedingungen des Integrierens für das Verfahren�������������������������������� 110 4.7 Theoretische Bedingungen des Integrierens �������������������������������������� 112 4.7.1 Leitkonzepte auf der Ebene der Metatheorie�������������������������� 112 4.7.2 Leitkonzepte auf der Ebene der klinischen Theorien������������� 113 4.7.3 Leitkonzepte auf der Ebene der Praxeologie und Praxis�������� 114 4.8 Eklektizismus aus Sicht der Integrativen Therapie ���������������������������� 114 4.9 Spiritualität und Religion aus Sicht der Integrativen Therapie ���������� 116 4.10 Esoterik aus Sicht der Integrativen Therapie�������������������������������������� 117 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������� 118 5 Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie�������������������������������������������������������������������������������� 125 5.1 Die Krankheitslehre in der Integrativen Therapie������������������������������ 128 5.1.1 Die anthropologische Krankheitslehre������������������������������������ 128 5.1.2 Die klinische Krankheitslehre������������������������������������������������ 130 5.2 Risikofaktoren für die Entstehung von gesundheitlichen Störungen und Krankheit�������������������������������������������������������������������� 136 5.2.1 Genetische und somatische Einflüsse und Dispositionen ������ 136 5.2.2 Entwicklungsschädigungen in den ersten Lebensjahren und in der Lebensspanne���������������������������������� 137 5.2.3 Adversive psychosoziale Einflüsse ���������������������������������������� 138 5.2.4 Negativkarriere im Lebenslauf������������������������������������������������ 138 5.2.5 Verinnerlichte Negativkonzepte���������������������������������������������� 139 5.2.6 Auslösende aktuale Belastungsfaktoren �������������������������������� 139 5.2.7 Diverse negative Einflüsse und ungeklärte Faktoren�������������� 140 5.3 Protektivfaktoren zur Gesundheitserhaltung�������������������������������������� 141 5.3.1 Entwicklungsförderung in den ersten Lebensjahren und in der Lebensspanne���������������������������������� 141 5.3.2 Konstruktive psychosoziale Einflüsse������������������������������������ 141 5.3.3 Positivkarriere im Lebenslauf ������������������������������������������������ 141 5.3.4 Verinnerlichte Positivkonzepte ���������������������������������������������� 141 5.3.5 Wirksame aktuale Unterstützungsfaktoren ���������������������������� 142 5.4 Der informierte Leib und neurobiologische Aspekte in der Integrativen Therapie�������������������������������������������������������������������� 142 5.4.1 Der Mensch als „informierter Leib“ �������������������������������������� 142 5.4.2 Neurobiologische Aspekte������������������������������������������������������ 143 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 147

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6 Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie �����������������151 6.1 Das Intersubjektivitätsprinzip ������������������������������������������������������������ 152 6.2 Das Bewusstseinsprinzip�������������������������������������������������������������������� 154 6.2.1 Naturwissenschaftliche Aspekte �������������������������������������������� 154 6.2.2 Philosophische Perspektiven�������������������������������������������������� 156 6.2.3 Klinische Perspektiven������������������������������������������������������������ 156 6.3 Das Sozialitätsprinzip ������������������������������������������������������������������������ 157 6.3.1 Die psychotherapeutische Ausbildung als Sozialisationsprozess�������������������������������������������������������������� 159 6.4 Das Leiblichkeitsprinzip �������������������������������������������������������������������� 161 6.5 Das Entwicklungsprinzip�������������������������������������������������������������������� 162 6.6 Die Behandlung in der Integrativen Therapie ������������������������������������ 165 6.6.1 Der erlebnistheoretisch-phänomenologische Ansatz�������������� 168 6.6.2 Der dynamische Regulationsansatz���������������������������������������� 168 6.7 Die therapeutischen Wirkfaktoren in der Integrativen Therapie �������� 169 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������� 171 7 Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie�������������������������� 179 7.1 Das Vierphasenmodell������������������������������������������������������������������������ 181 7.2 Modalitäten in der Integrativen Therapie����������������������������������������� 183 7.2.1 Konservativ-stützende, palliative Modalität ������������������������� 183 7.2.2 Erlebniszentriert-stimulierende Modalität������������������������������ 183 7.2.3 Übungszentriert-funktionale Modalität���������������������������������� 183 7.2.4 Konfliktzentriert-aufdeckende Modalität�������������������������������� 184 7.2.5 Netzwerkaktivierende Modalität�������������������������������������������� 184 7.3 Die Tiefungsebenen���������������������������������������������������������������������������� 185 7.3.1 Reflexionsebene���������������������������������������������������������������������� 185 7.3.2 Bilder und Affektebene ���������������������������������������������������������� 185 7.3.3 Involvierungsebene ���������������������������������������������������������������� 185 7.3.4 Autonome Körperreaktionsebene ������������������������������������������ 186 7.4 Wege der Heilung und Förderung ������������������������������������������������������ 186 7.4.1 Bewusstseinsarbeit������������������������������������������������������������������ 186 7.4.2 Nachsozialisation�������������������������������������������������������������������� 186 7.4.3 Erlebnisaktivierung ���������������������������������������������������������������� 187 7.4.4 Solidaritätserfahrung�������������������������������������������������������������� 187 7.5 Das Behandlungsverfahren Integrative Therapie�������������������������������� 188 7.6 Mediengestützte Techniken���������������������������������������������������������������� 189 7.6.1 Körperbild, Body Chart���������������������������������������������������������� 189 7.6.2 Panoramatechnik�������������������������������������������������������������������� 190 7.6.3 Selbstbilder und Selbstportraits���������������������������������������������� 190 7.6.4 Identitätsbilder������������������������������������������������������������������������ 190 7.6.5 Ich-Funktionsbilder���������������������������������������������������������������� 190 7.6.6 Projektives soziales Netzwerk������������������������������������������������ 191 7.6.7 Familienskulptur aus Ton ���������������������������������������������������191

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7.6.8 Ressourcenfeld und Konfliktfeld�������������������������������������������� 191 7.6.9 Innere Beistände, innere Feinde ��������������������������������������������191 7.7 Bewältigungsstrategie des Coping und Creating�������������������������������� 192 7.7.1 Copingressourcen������������������������������������������������������������������192 7.7.2 Creating���������������������������������������������������������������������������������� 193 7.8 Fünf Behandlungsbeispiele aus der Praxis der Integrativen Therapie���������������������������������������������������������������������������������������������� 193 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������� 207 8 Die Effektivität der Integrativen Therapie���������������������������������������������� 211 8.1 Effektivitätsstudien 1994–2009���������������������������������������������������������� 212 8.2 Untersuchungsdesign�������������������������������������������������������������������������� 214 8.3 Erhebungsinstrumente������������������������������������������������������������������������ 215 8.3.1 Veränderung der Symptomatik ���������������������������������������������� 215 8.3.2 Veränderung des interpersonalen Verhaltens�������������������������� 215 8.3.3 Veränderung der depressiven Beschwerden ���������������������������� 217 8.3.4 Veränderung der Angstsymptomatik �������������������������������������� 217 8.3.5 Einschätzung allgemeiner Lebenszufriedenheit �������������������� 218 8.3.6 Veränderung von Aspekten körperlichen Befindens �������������� 218 8.4 Rücklauf der Stichproben im Vergleich���������������������������������������������� 219 8.5 Diskussion der Ergebnisse������������������������������������������������������������������ 221 8.5.1 Entwicklung der Symptombelastung�������������������������������������� 222 8.5.2 Entwicklung des interpersonalen Verhaltens�������������������������� 224 8.5.3 Veränderung der depressiven Beschwerden ���������������������������� 227 8.5.4 Veränderung der Angstsymptomatik�������������������������������������� 229 8.5.5 Veränderung der Einschätzung der allgemeinen Lebenszufriedenheit���������������������������������������������������������������� 231 8.5.6 Veränderung von Aspekten körperlichen Befindens �������������� 234 8.5.7 Medikamentengruppe im Vergleich zur Therapiegruppe�������� 234 8.5.8 Stundenbogen�������������������������������������������������������������������������� 237 8.5.9 Mehrperspektivität in der Einschätzung des Therapieerfolges �������������������������������������������������������������������� 238 8.5.10 Änderung im sozialen Netzwerk des Patienten���������������������� 238 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 239 9 Geschlechtertheorien �������������������������������������������������������������������������������� 241 9.1 Einführung������������������������������������������������������������������������������������������ 242 9.2 Historischer Hintergrund�������������������������������������������������������������������� 242 9.2.1 Forsche Frauen: Die Geschichte der Frauenforschung und -bewegung�������������������������������������������� 242 9.2.2 Perspektivenwechsel: Männlichkeit aus der Perspektive der Frauenforschung�������������������������������������������� 244 9.2.3 Bewegte Männer: Die Geschichte der Männerforschung und -bewegung������������������������������������������ 247

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Inhaltsverzeichnis

9.3 Zentrale Konzepte und Theorien�������������������������������������������������������� 248 9.3.1 Sozialisationstheorien: Von Nature vs. Nurture zur Entwicklung im Kontext �������������������������������������������������� 248 9.3.2 Un/Doing Gender: Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht������������������������������������������������������������������������ 250 9.3.3 Symbolisch-diskursive Ordnungen: Vom Unbehagen der Geschlechter�������������������������������������������������� 253 9.3.4 Queer Theory: Wider die Eindeutigkeit von Geschlecht und Begehren ������������������������������������������������������ 256 9.3.5 Intersektionalität und Diversität: Die Achsen der Differenz �������������������������������������������������������������������������������� 258 9.3.6 Hegemoniale Männlichkeit: Zwischen Komplizenschaft und Marginalisierung���������������������������������� 261 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 265 10 Entlang des Tree of Science. Geschlechtertheorien in der Integrativen Therapie �������������������������������������������������������������������� 273 10.1 Metatheorien: Vom Wesen des Menschen, dem Sinn des Lebens und den Geheimnissen der Welt ������������������������������������������ 274 10.1.1 Integrative Erkenntnistheorie und die Situiertheit von Wissen�������������������������������������������������������������������������� 275 10.1.2 Integrative Wissenschaftstheorie: Komplexität statt Dichotomien���������������������������������������������������������������� 276 10.1.3 Integrative Kosmologie: Evolution, Materie und Diskurs ������������������������������������������������������������������������ 277 10.1.4 Integrative Anthropologie: Die Verschränkung von Kultur und Natur���������������������������������������������������������� 279 10.1.5 Integrative Gesellschaftstheorie: Hominität und Humanität�������������������������������������������������������������������� 282 10.1.6 Integrative Ethik: Verletzlichkeit und Achtsamkeit������������ 283 10.1.7 Integrative Ontologie: Partizipatives Mit-Sein als Konstruktion von Geschlecht���������������������������������������� 285 10.2 Realexplikative Theorien und Geschlechterforschung: Sozialpsychologie und Therapietheorien������������������������������������������ 286 10.2.1 Integrative Persönlichkeitstheorie: Geschlecht zwischen Leiblichkeit und Identität������������������������������������ 287 10.2.2 Integrative Entwicklungstheorie: Entwicklung als performativer Akt zwischen Subjektivität und soziokulturellem Rahmen�������������������������������������������� 289 10.2.3 Integrative Gesundheits- und Krankheitslehre: Diversität im dialektischen Raum �������������������������������������� 292 10.2.4 Allgemeine und spezielle Theorie der Therapie: Interaktion, Beziehung und Prozess im Kontext von Geschlecht�������������������������������������������������������������������� 294

Inhaltsverzeichnis

XVII

10.3 Praxeologie und Praxis: Der systematische Einfluss von Geschlecht und Intersektionalität im therapeutischen Prozess���������������������������������������������������������������������������������������������� 296 10.3.1 Integrative Prozesstheorie: Die Ursachen hinter den Ursachen���������������������������������������������������������������������� 299 10.3.2 Integrative Interventionslehre: Gesellschafts-, Macht- und Ideologiekritik durch doppelte Expertenschaft�������������������������������������������������������������������� 301 10.3.3 Integrative Methodenlehre: Gendersensible Heilung und Förderung ������������������������������������������������������ 302 10.3.4 Integrative Theorie der Institutionen, Praxisfelder, Zielgruppen: Die Macht der Diskurse ���������� 304 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 306 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Über die Autoren

Anton Leitner  geboren 1951, hat sich bis zu seiner Pensionierung 2016 als Leiter des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Fakultät für Gesundheit und Medizin der Donau-Universität Krems intensiv mit Weiterbildungen für Personen beschäftigt, in deren Arbeitsfeld der Umgang mit Menschen im Sinne eines intersubjektiven Prozesses im Mittelpunkt steht. Sein Ziel war stets die Vermittlung von theoriegeleiteter und forschungsgegründeter Praxis in medizinischen und psychosozialen Anwendungsfeldern. Forschungsschwerpunkte waren „Effektivitätsstudien“ und „Risiken, Nebenwirkungen und Schäden durch Psychotherapie“. Über die Ausbildungseinrichtung Donau-Universität Krems hat er in den Jahren 2000–2005 die Integrative Therapie, die er in den 1980er-Jahren in Deutschland kennengelernt hat, in Österreich zur staatlichen Anerkennung geführt https://www.dr-anton-leitner.at. Claudia Höfner  geboren 1972, war unter den ersten, die die Integrative Therapie nach ihrer Anerkennung in Österreich erlernten. Sie übernahm im Jahr 2016 die Ausbildungsleitung für dieses Verfahren. In Forschung und Lehre an verschiedenen österreichischen Universitäten und Bildungsinstituten befasst sie sich nicht nur mit Psychotherapie, sondern auch mit anderen psychosozialen und medizinischen Berufsfeldern. Dabei stehen insbesondere Fragen von Geschlecht, Macht, Identität und Diversität im Zentrum. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen seit den 1990er-Jahren im Bereich von Psychotherapie und Supervision, wobei v. a. „Effektivitätsstudien“ sowie „Risiken, Nebenwirkungen und Schäden durch Psychotherapie“ hervorzuheben sind. Die Weiterentwicklung der Integrativen Therapie in intersektionalen Feldern und ihre Vernetzung im europäischen Raum, aber auch die verfahrensübergreifende praxisorientierte Psychotherapieforschung sind ihr als Mitglied des Psychotherapiebeirats des österreichischen Gesundheitsministeriums ein besonderes Anliegen http://www.claudiahoefner.at.

XIX

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Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

Inhaltsverzeichnis 1.1  Q  uellen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit  1.2  Pioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere der Integrativen Therapie im Besonderen  1.2.1  Der Einfluss Sándor Ferenczis auf die Integrative Therapie  1.2.2  Anregungen durch das Psychodrama für die Integrative Therapie  1.2.3  Der Beitrag der Gestalttherapie für die Integrative Therapie  1.2.4  Anregungen durch die Verhaltenstherapie für die Integrative Therapie  1.2.5  Anregungen durch weitere Quellen aus Wissenschaft und Praxis  1.3  Wichtige Referenzphilosophien für die Integrative Therapie  1.3.1  Phänomenologie und Leibphilosophie  1.3.2  Hermeneutik, Metahermeneutik  1.3.3  Ethik als erste Philosophie  1.3.4  Diskurs und Dispositivanalyse  1.3.5  Dekonstruktivismus  Literatur 

1.1

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Quellen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit

Mit einem kurzen Blick in die Geschichte wird der Hintergrund der Integrativen Therapie skizziert. Ihre Wurzeln werden aus vielen Quellen gespeist, die bis in die antike Medizin zurückreichen. Die antike griechische und römische Medizin sowie die altorientalische waren von den jeweils vorherrschenden Weltbildern und religiösen Vorstellungen ebenso bestimmt wie von dem allmählichen Wachsen des Erfahrungswissens rund um Krankheiten und Verletzungen. Bereits um 500 vor Beginn unserer Zeitrechnung erkannte der griechische Arzt Alkmaion von Kroton die zentrale Steuerungsfunktion des Gehirns. Er beschrieb die traumatische Wirkung von Krieg und Hunger, während die Mehrzahl seiner Zeitgenossen in einem Vielgötterglauben und dämonologischen Weltbild gefangen war. Dämmerte ein biopsychosoziales Denken noch © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_1

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

nicht am Horizont, war Alkmaion aber diesem schon sehr nahe (Wachtler 1896). Das menschliche Selbstverständnis ist erst bei Demokrit (460–370 v. Chr.) mit „einer konsolidierten Innenwelt ausgestattet, der alle unwillkürlichen Regungen des Menschen eingemeindet sind“ (Schmitz 1999, S. 15). Aristoteles verbindet in seinem Menschen- und Weltbild begrifflich Soma als Körper und Leib, Psyché als Seele, Nous als Geist und Thymós als Gemütsanlage in dem Zoon Politikon, dem Menschen als soziales und politisches Wesen. Ökologie und ökologisches Bewusstsein tauchen als Thema erst viel später auf. Der Übergang von Magisch-mystischem und Mantischem, der Weissagung, von Dämonischem und archaisch Religiösem zu einer zunehmend an Beobachtung und Erfahrung orientierten Therapie vollzog sich sehr langsam in Vorwärts-, manchmal in Rückwärtsbewegungen. Aus heutiger Sicht eröffnen sich hier psychotherapeutische Betrachtungsweisen (Harris 1973). Um Fehlinterpretationen bei dem vergleichenden Heranziehen überlieferter Mythen zu vermeiden, ist es wichtig, sich der Sichtweise und dem Denken des historischen Autors in seiner Zeit anzunähern. Wie damals ist es auch heute für die Behandlung von Patienten entscheidend, welches Menschenbild und Weltbild den Helfer in seinem Tun leiten. Es wird eine Annäherung an die Person in ihrer Ganzheit und in ihrer Lebenswelt versucht, um sie in ihrem Gesundsein ebenso wie in ihrem Kranksein betrachten und verstehen zu können. ▶▶

Das Menschenbild und Weltbild des Therapeuten werden als wichtige Grundlage jeder psychotherapeutischen Behandlung verstanden und beeinflussen weitgehend jedes Handeln.

Die Medizin, wie sie in den Heiltempeln der alten Heil- und Gesundheitsgottheiten Asklepios und seiner Töchter, unter diesen Hygieia, praktiziert wurde, kann als breites Angebot von Behandlungsstrategien gesehen werden. Diese Medizin bezog den Menschen, vom Leibe ausgehend, in seiner sinnenhaften Wahrnehmungsfähigkeit mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten in das Behandlungsgeschehen ein. Bewegung, Musik, Tanz, Drama, Träume, Farbe und Ton kamen dabei zur Anwendung. Die Integrative Therapie hat mit der Leibarbeit, den kreativen Medien und Methoden und dem Einbezug der Natur bewusst Anschluss an diese asklepiadische Tradition gesucht (Petzold et al. 2012). Aus salutogenetischer wie pathogenetischer Perspektive nimmt die Integrative Therapie mit ihrem Verständnis vom Menschen und den menschlichen Verhaltensweisen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt in einer entwicklungsfördernden Behandlung immer Bezug auf die Gesundheitserhaltung und Gesundheitsentstehung wie auf die Krankheitsentstehung und Krankheitsentwicklung. Die Dimensionen der Heilkunst werden in allen Abstufungen beachtet. Ausgehend von einer differenziellen Untersuchung, die unter dem Gesichtspunkt der individuellen Unterschiede genau bis in alle Einzelheiten des Erlebens und Verhaltens der betreffenden Person geht, bis hin zu einer ganzheitlichen Heilkunst wie bei den Asklepiaden. Die Integrative Therapie stellt diese Heilkunst in einen zeitgemäßen, gesundheitswissenschaftlichen Rahmen, etwa durch ihre Beiträge zur Arbeit mit

1.1  Quellen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit

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protektiven, schützenden Faktoren und Resilienzen (Petzold und Müller 2004c). ­Miteinbezogen werden das Salutogenese-Konzept von Aaron Antonovsky (Lorenz 2004) und die Arbeit an gesunden sozialen Netzwerken (Hass und Petzold 1999). Damit gerät der Rückgriff auf die Antike nicht zu einer romantisierenden Rückwendung, und es wird eine Brücke zu den Konzepten der „New Public Health“ (Schwartz et  al. 1998; Mann 1996) und der Gesundheitspsychologie (Renneberg und Hammerstein 2006) geschlagen. Der Behandlungsansatz für Fragen der Lebensführung und Lebenskunst, aber auch der Sinndimension und der Rolle des Willens, wurde von der antiken philosophischen Therapeutik des Sokrates, Cicero, Seneca, Marc Aurel und Epiktet inspiriert (Petzold und Sieper 2008a), welche schon damals eine gesundheitsfördernde Ausrichtung vertraten. Alle diese Vordenker orientierten sich an der Idee einer gesunden Körperlichkeit durch selbst verrichtete Alltagstätigkeiten, durch Landbau, durch Gartenarbeit, durch sportliche Betätigung und durch vielfältig kreatives Handeln. Die antike Vorstellung der Seele war vielseitig und vielfältig, es ist kein einheitliches homogenes Bild der Seele vorstellbar (Hoppe 2008). Der Leib war der natürliche Ausgangspunkt des Heilens (Schmitz 1965, 1978). Konzepte einer Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, hat es damals nicht gegeben. Wohl aber gab es vonseiten der Philosophen Lebensberatung, worunter man eine differenzierte Seelenführung verstehen kann. Die Philosophie soll die Seele heilen, meinten Seneca und Epiktet. Sie sahen die Schule eines Philosophen als Arztpraxis, „iatreion“, als „Seelenambulanz“ (Foucault 1982  in Frank 2004, S. 1). Sie entwickelten viele Prinzipien, Übungen und Praxen, worauf die Integrative Therapie heute Bezug nimmt und diese auch nutzt (Petzold 2004c). Die Behandlung war damals auf die kulturphilosophisch vorfindliche Ganzheit des Menschen ausgerichtet, man glaubte an das Wirken der Götter, zuweilen auch an das Wirken des Logos, des Weltgeistes. Mit der Zeit wuchs allmählich ein Erfahrungswissen, ein empirisches Verständnis. Generationen von Heilern, Ärzten und Therapeuten aus unterschiedlichsten Zugängen haben über die Jahrhunderte daran mitgearbeitet. Ein Vermächtnis für die europäische Medizin stammt aus jenen Schriften, die unter dem Namen des Hippokrates (460–377 v. Chr.) überliefert sind. Darin wird im 5. Kapitel des 3. Buches (I/33) über das ehrbare ärztliche und therapeutische Verhalten sinngemäß formuliert: „Man muss die Philosophie seiner Zeit mit der Heilkunde und die Heilkunst mit der Lebenskunst verbinden“ (Kapferer und Sticker 1995). Wegen des Fehlens effektiver Hilfestellungen für viele Erkrankungen und aufgrund der eingeschränkten operativen Möglichkeiten war eine vorbeugende Medizin, oft in Form einer rechten Lebensführung, oberstes Prinzip. Der Arzt war zuerst Pädagoge und dann erst Arzneikundiger (Schipperges 1986). Darüber hinaus gab es nur wenige chirurgische Spezialisten für „ignis et ferrum“, in die heutige Medizin sinngemäß mit „Bestrahlung und Skalpell“ übersetzbar. Der Arzt war immer auch Lebensberater, denn er musste auf das „natura sanat, non medicus“ setzen, die Natur heilt, nicht der Arzt. Die Denkweise der hippokratischen Ärzte lautete „medicus curat, natura sanat“, der Arzt behandelt, die Natur heilt.

4 ▶▶

1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

Der Weg eines ganzheitlichen Zuganges in der Behandlung kranker Menschen war in der Antike wie heute von einer strukturellen Logik bestimmt: „Zuerst heile durch das Wort, erst dann durch die Arznei und zuletzt durch das Messer“ (Rothschuh 1978).

Prominente Vertreter solchen Denkens waren der bedeutende Arzt des Altertums Galenus von Pergamon (130–210), im Mittelalter Hildegard von Bingen (1098–1179) und in der Neuzeit Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493–1541), er nannte sich Paracelsus. Eine ähnlich integrative Grundausrichtung wurde im Zeitrahmen der Aufklärung von Carl Gustav Carus (1789–1869) und Ernst von Feuchtersleben (1806–1849) vertreten. Bereits 1846 schrieb Carus in der Zeitschrift Psyche eine 93 Seiten umfassende Theorie zum Unbewussten, „Zur Entwicklungsgeschichte der Seele“, und begann im ersten Abschnitt seines Buches mit einem Paukenschlag, der noch bis heute nachklingt: „Der Schlüssel zur Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins“ (Carus 1846, S.  1). Carus vertrat die Ansicht, „daß, da das Kranksein seine eigentliche Wurzel nur im unbewußten Seelenleben hat, die Idee der Krankheit nur hier erzeugt werden kann, eine eigenthümliche allein im bewußten Geiste wurzelnde Krankheit unmöglich sei“ (Carus 1846, S. 432). Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920), Lev Semjonowitsch Vygotskij (1896–1934), Alexander Romanowitsch Lurija (1902–1977) und Sigmund Freud (1856–1939) haben diesen Ansatz später weitergetragen. Hintergrundinformation: Auch wenn heute Vertreter der Biowissenschaften die Seele im Mülleimer der Wissenschaft entsorgt wissen wollen, hält „ein äußerst dichtes und wirkmächtiges Sinngeflecht“ (Harari 2017, S. 203) unsere persönlichen Überzeugungen, Empfindungen und Gefühle als subjektive Realität aufrecht.

1.2

 ioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere P der Integrativen Therapie im Besonderen

Ein bedeutender Pionier der Psychotherapie ist Pierre-Marie-Félix Janet (1859–1947), Philosoph, Arzt und Psychotherapeut, der mit seinem Mentor Jean-Martin Charcot (1825–1893) bemüht war, das Psychologische und das Physiologische zu integrieren als eine „psychologie physiologique“ (Janet 1885). Er erweiterte diese Idee ins Soziale (Janet 1889, 1924) und war auch Schöpfer des Begriffes des Unterbewussten, im Unterschied zu dem Begriff des Unbewussten. Janets Integrative Psychologie gab wichtige Anregungen für die Integrative Therapie, insbesondere für die Traumabehandlung (Petzold 2007b), wie auch für die systematische Entwicklung einer Theorie des Unbewussten durch Freud. Henri F. Ellenberger schreibt in seinem Standardwerk Die Entdeckung des Unbewußten (2005): „Freuds Methoden und Konzepte waren denen Janets nachgebildet, von dem er sich anscheinend ständig hat inspirieren lassen“ (Regis und Hesnard 1922, S. 352). Um sich von den Ideen Janets abzugrenzen und die Unterschiede zu diesen zu betonen,

1.2  Pioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere der Integrativen Therapie im … 5

gab Freud „ein entstelltes Bild von den Konzepten Janets, indem er behauptete, ­Janets Theorie der Hysterie basiere auf dem Konzept von der ‚Degeneration‘. Janet hat in Wirklichkeit gelehrt, die Hysterie sei eine Folge der Interaktion verschieden starker Anteile von konstitutionellen Faktoren und psychischen Traumata, und dies ist genau das, was Freud später ‚Ergänzungsreihen‘ nannte“ (Ellenberger 2005, S. 749). Janet berichtete bereits im Juli 1892 auf dem Internationalen Kongress für Experimentelle Psychologie in London über „seine Forschungsergebnisse über die Beziehung zwischen Amnesie und unbewußten fixen Ideen“ (Ellenberger 2005, S. 463). Im Januar 1893 hielt Freud im Wiener Medizinischen Klub einen Vortrag (Freud 1893), wo er ähnliche Gedanken vorstellte. Am 17. Internationalen Kongress für Medizin 1913 in London wurde über die Priorität dieser Erkenntnisse eine wissenschaftliche Diskussion geführt, in deren Rahmen vorgesehen war, dass Janet Kritik an Freuds Psychoanalyse bringen und Jung sie verteidigen sollte (Ellenberger 2005). Hintergrundinformation: Die Frage der Priorität: „In seinen frühen Schriften hat Freud Janets Priorität in Bezug auf die Rolle der ‚unterbewußten fixen Ideen‘ (nach Janets Worten) in der Ätiologie der hysterischen Symptome und im Hinblick auf ihre spätere Heilung durch ‚Katharsis‘ (nach den Worten Breuers und Freuds) anerkannt. Als Breuer und Freud ihre Vorläufige Mitteilung 1893 veröffentlichten, hatte Janet eine Priorität von sieben Jahren, und er hatte schon sechs oder sieben relevante Fallgeschichten veröffentlicht“ (Ellenberger 2005, S. 748).

Janet beanspruchte die Erstentdeckung der kathartischen Heilung von Neurosen, bewirkt durch die Aufklärung traumatischer Ursprünge. Sein zentrales Hauptwerk zu der, nach heutiger Terminologie, Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie umfasste 1100 Seiten und wurde durch die Kriegsereignisse erst 1919 veröffentlicht (Sponsel 2007). Der rege wissenschaftliche Austausch zwischen Frankreich und anderen Ländern führte Janet nach dem 1. Weltkrieg zu Vorlesungen nach London, Oxford, New York, Princeton und Philadelphia sowie nach Brasilien, Mexiko und Argentinien. 1937 reiste Janet nach Wien und besuchte Wagner von Jauregg. „Freud weigerte sich allerdings, ihn zu empfangen“ (Ellenberger 2005, S. 470). Hintergrundinformation: Freud kommentierte diesen Vorfall in einem Brief an Marie Bonaparte, dessen Originaltext in der deutschen Ausgabe des Buches von Ernest Jones zu finden ist: Jones E (1962) Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Band 3. Bern, Huber, S. 254.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte eine rasante Entwicklung von neuen Behandlungsmöglichkeiten der Psychotherapie. Sigmund Freud war ein Theoretiker, dessen Werk fast alle heute existierenden Psychotherapierichtungen beeinflusste. Viele Autoren, welche die Theorie und Praxis der Psychotherapie bereicherten, prägte Freud nachhaltig, nicht zuletzt auch durch deren Abgrenzung von der Psychoanalyse (Leitner und Petzold 2009). Die Integrative Therapie knüpft in ihrer Theoriebildung nicht an das Freud’sche Werk an. Die Integrative Therapie versteht sich nicht als Abkömmling oder Weiterführung der Psychoanalyse im Sinne einer Tiefenpsychologie. Der stets anregenden Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie verdankt sie dennoch zahlreiche wertvolle Erkenntnisse. Immerhin weisen

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

beide Psychotherapieverfahren in ihrer Vielfältigkeit gewisse Strukturähnlichkeiten auf. Eine größere, allerdings überwiegend praktische Bedeutung kommt den späten technischen Experimenten des Freud-Schülers Sándor Ferenczi zu. Für die Integrative Therapie ist Ferenczi ein wichtiger Referenzautor (Ferenczi 1964, 1972, 1988; Harmat 1989; Haynal 1989; Schuch 1994, 1998, 2000; Nagler 2003a, b; ­Petzold 2006g). Johann Christian Reil (1759–1813), „Begründer einer allgemein-integrativen und interdisziplinären Psychopathologie, Psychiatrie und Psychotherapie“ (Petzold und Sieper 2008, S. 13), verwendete erstmals 1808 den Begriff Psychiatrie (Sponsel 2007). Reil arbeitete im Bereich der Psychosomatik und war stets bemüht, Erkanntes in praktisch-ärztliches Handeln umzusetzen und in interdisziplinärem Austausch seine psychologische Behandlungsmethode weiterzuentwickeln: „Aerzte und Philosophen sollen die Theorie der psychischen Curmethode ihrer Vollendung immer mehr annähern“ (Reil 1803, S. 36). Vor mehr als 200 Jahren formulierte Reil folgenden Gedanken: „Die Heilanstalt für Irrende an sich ist ein totes Ding. Durch Menschen muss sie gleichsam erst Leben und Federkraft bekommen“ (Reil 1803, S. 473). „Der Arzt und Psychologe sind die nächsten Kräfte, durch welche die Kur der Irrenden bewerkstelligt werden muß. Sie sind beide Heilkünstler, bloß verschieden durch die Mittel, welche sie anwenden, sofern jener durch pharmaceutische, dieser durch psychische Mittel wirkt […] Genug daß die Irrenden zum Theil psychisch behandelt werden müssen und daß dies nicht anders als von einem Menschen geschehen kann, der dazu die nöthigen psychologischen Kenntnisse hat“ (Reil 1803, S. 476–477). Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gab es Arbeiten von Pionieren psychotherapeutischer Praxis und Theoriebildung, insbesondere für den Fachbereich der Psychosomatik. Zumeist stammten die Übersichtsdarstellungen von psychoanalytischen Autoren. Die Vertreter anderer Paradigmata wurden lange nicht entsprechend berücksichtigt und werden erst jetzt ausreichend gewürdigt (Egger 2007), beispielsweise jene der russischen Schule wie Iwan Petrowitsch Pawlow, Pyotr Kuzmich Anokhin, Lev Semenowitsch Vygotskij, Alexander Romanowitsch Lurija, oder der französischen Schule wie Jean-Martin Charcot und Pierre-Marie-Félix Janet. Der Begriff Psychosomatik, der von Johann Christian Reil 1803, später von Johann Christian August Heinroth 1818 verwendet worden war, wurde 1927 von dem Wiener Internisten und Psychoanalytiker Felix Deutsch (1884–1964) wieder aufgenommen, der dazu Basiskonzepte formulierte. In den USA war Deutsch einer der herausragenden Vertreter der Psychosomatik und der Begründer der Zeitschrift Psychosomatic Medicine. Der aus Ungarn stammende Franz Gabriel Alexander (1891–1964) entwarf in den 1930er-Jahren das psychophysiologische Regelkreismodell (Alexander 1971) und leitete später in Chicago eine psychiatrische Klinik. Alexander wird auch als Vater der psychoanalytischen Psychosomatik bezeichnet. Eine weitere wichtige Quelle für den integrativen Ansatz ist die Reflexlehre von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849greg.–1936) und deren Weiterentwicklung und Überschreitung zu einem Konzept dynamischer Regulation durch dessen Schüler Pyotr Kuzmich Anokhin (1898greg.–1974), Nikolai Alexandrowitsch Bernštejn (1896greg.–1966) und den schon erwähnten Alexander Romanowitsch Lurija (Pet-

1.2  Pioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere der Integrativen Therapie im … 7

zold und Michailowa 2008a). Genannt seien noch das Konzept des Gestaltkreises von Viktor von Weizsäcker (1886–1957) und das integrativ-praxeologische Modell von Georg Groddeck (1866–1934), worauf die Integrative Leibtherapie (Heinl 1986) Bezug nahm. Groddeck, der Freud bekanntlich den Terminus Es (Groddeck 1923) lieferte, integrierte in seinem Behandlungsansatz u. a. physiotherapeutische Anwendungen, Atemtherapie und Diätetik. Die Psychotherapie ist heute in vielen Ländern wie die Medizin als Gesundheitsberuf anerkannt. Aus den verschiedenen Klassifizierungen der Medizin sind in diesem Zusammenhang zwei Richtungen erwähnenswert, die naturwissenschaftliche Medizin und die Humanmedizin. Während erstere mit den Folgen des naturwissenschaftlich-­technischen Fortschritts ringt und nicht nur mit dem Erfolg, sondern zunehmend auch mit den Schwierigkeiten der immer genaueren und kostenintensiven, positivistisch-experimentellen Untersuchungsmethoden konfrontiert ist, sind die sog. Humanmedizin (Uexküll und Wesiack 1988) und die Formen ganzheitlicher Medizin (Milz 1985) um Prägnanz bemüht. Zu den letzteren zählt auch der Gesundheitsberuf „Psychotherapeut“ in seinen vielfältigen methodischen Ausformungen. In Österreich sind gegenwärtig in vier Orientierungen 23 psychotherapeutische Methoden anerkannt (Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz 2019). Wie ließe sich die Behandlungsform Psychotherapie für viele methodenspezifische Richtungen zutreffend beschreiben? Eine integrative Anregung könnte folgendermaßen lauten: Psychotherapie ist der Versuch einer die Selbstkenntnis erweiternden, beziehungsdynamischen Vorgehensweise in Prozessen wechselseitigen Mitgefühls. Ziel ist, durch psychoedukative Information und professionelle Anleitung zu einer gesundheitsbewussten Lebensführung auf der Grundlage biomedizinischer Erkenntnisse beizutragen, um möglichst Heilung, zumindest Besserung oder Linderung, auch Gesundheitsförderung, immer aber Tröstung zu erwirken. Miteinbezogen werden in den Verlauf personalisierter Behandlung in einem Informed Consent, einem erklärten Einverständnis, die jeweils subjektive Dimension sowohl des Patienten als auch des Therapeuten wie auch die gesunden Seiten des Hilfesuchenden, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der aktuellen Entwicklungspsychologie sowie der Bio- und Neurowissenschaften. Diese Definition sensu Hilarion Gottfried Petzold (2017) verbindet eine beziehungstheoretisch fundierte Sicht der Psychotherapie mit einer weiten Perspektive, welche bio- und neurowissenschaftliche Erkenntnisse, die Entwicklungspsychologie, die Genetik und Epigenetik einbezieht. Als Wiederherstellung von Gesundheit sollte weitgreifend eine Restitutio ad integrum, eine Wiederherstellung zu Unversehrtheit, im Sinne einer Heilung ohne bleibende Schäden Therapieziel sein. Die Behandlung richtet sich nicht nur auf eine umfassende Wiederherstellung der physiologischen Gesundheit, was oft nicht möglich ist, sondern eben auch auf die Wiederherstellung der Integrität der Person. Somit kann in der Erkrankung und trotz der Erkrankung Würde bewahrt oder wiedergewonnen werden, wie das der integrative Ansatz in dem Konzept der Patient Dignity vertritt (Müller und Petzold 2002a; Ricœur 2007). Es gilt zu bedenken, dass die Würde des Menschen, nicht nur des leidenden Menschen, immer antastbar bleibt (Leitner 2009), wie etwa in der medi-

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

zinischen Behandlung körperlich notwendige Untersuchungssituationen den Patienten unverschämte Nähe in größtmöglicher innerer Distanz erleben lassen.

1.2.1 Der Einfluss Sándor Ferenczis auf die Integrative Therapie Bei der Sichtung der Quellen der Integrativen Therapie kommt das Werk Freuds mit in den Blick. Sándor Ferenczi war ein Schüler und ein Kritiker Freuds. Sowohl die Arbeiten von Ferenczi als auch von Friedrich Salomon Perls, beide waren Psychoanalytiker und kritisierten Freud, stellen eine wertvolle Grundlage für die Entwicklung der Integrativen Therapie dar. Ferenczi und Perls haben sich allerdings in unterschiedlicher Weise von Freud wegentwickelt (Perls 1969, 1976, 1980). Ein Aspekt des Freud’schen Werkes ist das Einhalten von Regeln der Gesprächsführung als einer Technik der psychotherapeutischen Behandlung. Ausgangspunkt bildete einerseits die an den Patienten gerichtete Aufforderung, sich auf die Couch zu legen und möglichst entspannt frei zu assoziieren, und andererseits die Vorgabe für den Analytiker, hinter dem Patienten Platz zu nehmen und sich in eine gleichschwebende Aufmerksamkeit zu versetzen. Entsprechend der damals neu aufgekommenen Technik des Radioempfängers, sollte der Analytiker sein eigenes Unbewusstes wie einen Empfänger auf die Mitteilungen des Patienten ausrichten. Ziel war es, die in den freien Assoziationen des Patienten enthaltenen Abkömmlinge unbewusster Triebkonflikte aufzuspüren. In diesem Setting wurde der analytische Prozess in Gang gesetzt. Mit seinen Assoziationen tastete sich der Patient allmählich an die relevanten Themen heran, die der Analytiker, es handelte sich ja um unbewusste Inhalte, mithilfe seiner Vorstellungskraft herausfinden musste. Soweit schien alles ganz einfach, bis Komplikationen auftraten. Freud erkannte, dass der Patient im analytischen Setting am Analytiker Beziehungsformen aus seiner Kindheit zu wiederholen schien, statt sich nur an jene zu erinnern. Diesem Phänomen gab Freud den Namen Übertragung, weil es von der Übertragung kindlicher Gefühlseinstellungen auf den Analytiker herrührte. Dabei handelte es sich um Gefühlseinstellungen, welche der Patient gegenüber den Bezugspersonen in seiner Kindheit empfunden hatte. Der besondere technische Zugang der Freud’schen Analyse zeigte sich nun im Umgang mit diesen komplizierten Beziehungskonstellationen zwischen Patient und Analytiker. Die Übertragung als unbewusste Wiederholung war Freud zufolge durch die Deutung des Analytikers in Erinnerung umzuwandeln, um durch diese Arbeit an der Übertragung die Übertragung zu beseitigen. Freud erwartete hier Heilung durch Erkenntnis. Die Erfahrung Ferenczis übernehmend, fand Freud weiter heraus, dass sich, als Antwort auf die Übertragung des Patienten, beim Analytiker die sog. Gegenübertragung bildete. Der Therapeut hatte seine Gegenübertragung niederzuhalten. Somit vertrat Freud einen defensiven Gegenübertragungsbegriff. ▶▶

Von großer Bedeutung für die frühe Entwicklung der Integrativen Therapie ist das Werk des ungarischen Psychoanalytikers Sándor Ferenczi, der in seinem Spätwerk mit Veränderungen der psychoanalytischen Technik experimentierte (Petzold 2006g; Schuch 1994).

1.2  Pioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere der Integrativen Therapie im … 9

Drei Bereiche dieser Experimente sind es im Wesentlichen, die von der Integrativen Therapie als praktische Quelle herangezogen wurden: 1. Die Verschiebung der Betonung von der triebtheoretischen Deutung zu erlebnisorientierten Sichtweisen Ferenczi betonte, dass die Therapie nicht ohne intensive Beachtung des Erlebens des Patienten erfolgreich sein kann. Er ließ sich regelrecht von seinen Patienten beraten, wie er mit ihnen umgehen sollte, um ihrem Erleben gerecht zu werden, bis hin zu Phasen mutueller Analyse (Ferenczi 1988, S. 22; Thomä 2001). 2. Die Veränderung der Atmosphäre in der psychotherapeutischen Behandlung Ferenczi verhielt sich nicht distanziert. Er teilte in einer integren, nicht übergriffigen Weise den Patienten seine Gedanken und Gefühlsregungen in je passender Dosierung mit und war durchgehend um Freundlichkeit, Takt und Mitgefühl bemüht. Er erweiterte das Prinzip der Versagung durch das Prinzip der Gewährung und ermöglichte in kontrolliertem Umfang so eine gewisse Erlaubnis von kindlichen Bedürfnissen der Patienten. Er bezeichnete diese Behandlung als „Kinderanalysen mit Erwachsenen“ (Ferenczi 1972, S. 274). Er öffnete damit der Integrativen Therapie den Weg zur Arbeit mit regredierten Patienten. 3. Der veränderte Umgang mit der Gegenübertragung Die Gegenübertragung versuchte Ferenczi aufzulösen, indem er mit dem Patienten darüber sprach. Durch die Arbeit in der Übertragung schuf er einen therapeutischen Raum, wo der Patient bestimmte Nachsozialisationserfahrungen machen konnte. Von Ferenczi stammt die Aussage „ohne Sympathie keine Heilung“ (Ferenczi 1988). Ferenczi meinte damit aber keine naive gefühlshafte Zuwendung. Er war der Ansicht, dass es nach der kritischen Prüfung des Gefühls in der Gegenübertragungsanalyse zu einem wesentlichen Teil die Sympathie, die Wertschätzung des Therapeuten für seine Patienten sei, die diese heil mache. Dazu gehören entsprechende Atmosphären während des therapeutischen Settings. Denn Patienten kommen oft aus krankmachenden Atmosphären in die Psychotherapie, und es obliegt dem „Menschenbehandler“ (Schmitz 1977, S.  430) heile Atmosphären anzubieten.

1.2.2 A  nregungen durch das Psychodrama für die Integrative Therapie Eine frühe, therapiepraktische Quelle der Integrativen Therapie stellt das Werk von Jakob Levy Moreno (1889–1974) und dessen Frau Zerka Moreno, geb. Toeman (1917–2016), dar, insbesondere das Psychodrama und das Soziodrama. Der Einfluss auf die Integrative Therapie ist zeitlich nach Ferenczi und vor der Gestalttherapie anzusiedeln. Das Psychodrama gilt als kreative Quelle, insofern es ideologiearm und auf soziometrischen und rollentheoretischen Annahmen beruhend das

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

psychosoziale In-Szene-Setzen anbietet. Diese Technik im therapeutischen Dialog angewandt eignet sich gut als Element für die szenische Gestaltung des therapeutischen Prozesses. ▶▶

Jakob Levy Moreno gilt als ein Begründer der Gruppentherapie, entwickelte die Soziometrie, eine moderne Netzwerktheorie, und beschrieb den Menschen als soziales Atom. Er erarbeitete eine originelle Theorie der Kreativität und Spontaneität und führte den Begriff Body Therapy ein.

Moreno ist mit seiner sozialpsychiatrischen Rollentheorie einer der ersten Rollentheoretiker und wurde mit seiner großen Innovationskraft auch ein Pionier der Familientherapie, Gruppendynamik, Soziotherapie und Erlebnispädagogik (Petzold 1972a, 1984b). Für die Verwendung der psychodramatischen Inszenierungstechniken und therapiedidaktischen Strukturierungen gilt für den Einsatz im Rahmen des Verfahrens der Integrativen Therapie der Vorbehalt, der in Hinblick auf die Auswirkung der Dynamik des therapeutischen Prozesses reflektiert werden muss (Petzold 1979i, k, 1982a; Petzold et al. 2006; Petzold und Mathias 1982a; Petzold und Sieper 1990b, 2007a). Das Psychodrama ist nicht die einzige Quelle des „In-Szene-Setzens“ für szenisches Verstehen. Der antike Welttheatergedanke einerseits und die heutige Soziologie andererseits sind weitere Träger für szenisches Verstehen, beeinflusst durch die Theorien von Georg Simmel, George Herbert Mead, Erving Goffman und Helmuth Plessner (Petzold und Mathias 1982a).

1.2.3 D  er Beitrag der Gestalttherapie für die Integrative Therapie Die bedeutendsten Vertreter der Gestalttherapie sind Friedrich Salomon Perls (1883–1970) und dessen Frau Laura Perls, geb. Lore Posner (1905–1990). Heute ist die Gestalttherapie als historisches Phänomen einzuordnen. ▶▶

Der Beitrag der Gestalttherapie zur Integrativen Therapie besteht v. a. in der Anregung durch methodische Elemente der Erlebnisaktivierung und durch Konzepte der Awareness.

In der Gestalttherapie findet sich ein reicher Fundus von Impulsen, Konzepten, Techniken und Theoremen. Im Hinblick auf Theorie und Praxis wird sie von der Integrativen Therapie jedoch kritisch hinterfragt. So verfügt die Gestalttherapie nach Friedrich Salomon Perls aus der Sicht integrativer Therapeuten über kein ausreichend konsistentes Modell der Persönlichkeit. Für Perls ist der Mensch ein Organismus im Feld (Perls 1976). Dieser Organismus arbeitet nach dem biologischen Prinzip der homöostatischen Balance. Innere Bedürfnisse und äußere Anforderungen führen zu Unausgewogenheiten, die immer ausgeglichen werden müssen. Der Selbstregulationsvorgang (Perls 1976) wird unter Rückgriff auf die Gestaltpsycho-

1.2  Pioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere der Integrativen Therapie im …11

logie als Gestaltformation in Form eines Kontaktzyklus beschrieben aber auch generalisiert. Jeder Organismus, ob Mensch, Tier oder Pflanze, habe die Tendenz, sich nach dem Prinzip des Kontaktzyklus zu verwirklichen. Gesundheit ist das Funktionieren des Organismus. Ein gesunder Mensch ist im Kontakt mit sich und seiner Realität. Dadurch ist er in der Lage, die eigenen Bedürfnisse und die Anforderungen der Umwelt zu regulieren. Das gesunde Funktionieren befähigt, Kontaktzyklen zu vollenden. Krankheit hingegen ist eine Fehlfunktion des Organismus. Beim Kranken ist der Gestaltformationsprozess gestört, indem blockierte, unerledigte Kontaktzyklen fortwirken. Chronische gesundheitliche Störungen im Kontakt sind nach Perls Introjektion, Projektion, Konfluenz und Retroflexion. „Der Introjektor tut, was andere von ihm erwarten könnten. Der Projektor tut anderen das an, was er ihnen vorwirft. Der pathologisch Konfluente weiß nicht, wer wem was tut. Der Retroflektor tut sich selbst das an, was er am liebsten den anderen antäte. Er wird buchstäblich sein eigener schlimmster Feind“ (Perls 1976, S. 58). Anzuerkennen und zu würdigen sind eine Reihe von Leistungen und Beiträgen der Gestalttherapie: • Die szenische Arbeit mit imaginärer Dramatisierung oder monodramatischer Inszenierung, wie sie Perls von Moreno übernommen und praktiziert hat. • Die Gestalttherapie hat durch ihre Anlehnung an das Healthy Functioning einen frühen Beitrag zur gesundheitszentrierten Sicht des Menschen geleistet, im erklärten Gegensatz zur einengenden Pathologiezentrierung. • Die Körperorientierung, insbesondere die Beachtung detaillierter körpersprachlicher Phänomene. • Die, wenn auch in Ausarbeitung und Praxis kritisch zu sehende, interaktionale Orientierung, das Dialogische in der Gestalttherapie. • Das Konzept des Self Supports, welches dem Patienten ermöglicht, im Umgang mit sich selbst Sicherheit zu entdecken und zu begründen, wie im Hinblick auf die Erkundung eigener emotionaler Grenzerlebnisse. • Das Continuum of Awareness als phänomenologische Interventionspraxis.

1.2.4 A  nregungen durch die Verhaltenstherapie für die Integrative Therapie Die Verhaltenstherapie ist ein weiteres Element, das die Integrative Therapie seit ihren Anfängen bereichert hat. Hervorzuheben sind dabei ihre sozialpsychologische Orientierung und ihr Ansatz der kognitiven Wende, die sich als Forschungsrichtung mit objektiv beobachtbarem und messbarem Verhalten beschäftigt. In jedem Therapieprozess folgen auf Schritte emotionaler Erfahrung und rationaler Einsicht Phasen der Einübung. Konkret-aktionales Verhalten wird etwa im Behaviordrama oder im verhaltenstherapeutischen Rollenspiel geübt (Petzold 1977f). Das eingeübte Neue soll bis in die Abläufe eigenen Verhaltens gesichert, interiorisiert und verkörpert werden. Es geht um Covert Behavior, um verdecktes Verhalten. Emotionen und Denken sind solche Verhaltensweisen. In der Therapie geht es um das Annehmen

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

der vom Patienten selbst mitentschiedenen Veränderungsprozesse. Diese Prozesse sollen Bestand haben und dort, wo es für den Menschen sinnvoll ist, auch integriert werden. ▶▶

Gedanken schaffen Fakten. Die Überzeugung von Patienten, Neubewertung könne wirksam sein, macht behaviorale Praktiken zum ­Standardrepertoire der Integrativen Therapie, v. a. in Hinblick auf die Vorbereitung von Transferschritten.

Auch gehören diese Praktiken zum Einüben von, durch Einsicht begründeten, Verhaltensänderungen, zur Intervention in akuten Belastungssituationen oder zur Entwicklung von Copingstrategien (Petzold und Osterhues 1972). Diese werden erweitert und ergänzt durch Bewegungs- und Entspannungsmethoden wie Deh­nungsübungen oder imaginative Techniken. Bei entsprechender Indikation können bestimmte verhaltenstherapeutische Techniken eingesetzt werden wie zum Beispiel Desensibilisierung, Selbstsicherheitstraining, Shaping, Imitationslernen und Rollentraining sowie weitere (s. Abschn. 7.6). Auf der Grundlage von emotionalen Erlebnis- und kognitiven Einsichtsprozessen können derartige Übungssequenzen mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung im Therapieverlauf durchgeführt werden. Voraussetzung bleibt, dass behaviorale Praktiken im Rahmen der Integrativen Therapie stets in einen beziehungstheoretischen Rahmen eingebunden werden. Auch für den Einsatz dieser Praktiken gilt wie bei der Anwendung von Psychodrama, kreativen Medien oder anderen Techniken, dass ihr Einsatz im Rahmen des Verfahrens der Integrativen Therapie angezeigt sein muss. Bezüglich der Auswirkung und Dynamik auf den therapeutischen Prozess gilt die Voraussetzung, dass sie reflektiert und dem Patienten psychoedukativ erklärt werden, damit ihr Einsatz im Informed Consent erfolgt. ▶▶

Ziel in der Integrativen Therapie ist ein biopsychosozioökologisches und sozioökonomisches Erfassen des Menschen und seines Umfeldes unter Einbezug seiner historischen und gegenwärtigen kulturellen Einbettung.

Die Förderung körperlich-seelisch-geistiger und sozialer Gesundheit, die Beachtung und Pflege des ökologischen Umfeldes sowie die Förderung eines gesundheitsbewussten Lebensstils auf dem Boden des erweiterten biopsychosozialen Modells ist das zentrale Anliegen der Integrativen Therapie. Dieser Denkansatz wird als Haltung in der Praxis vertreten und ist Ziel der Umsetzung.

1.2.5 A  nregungen durch weitere Quellen aus Wissenschaft und Praxis Eine weitere Referenz für die Integrative Therapie ist Vladimir Iljine (1890–1974). Er entwickelte seit 1908 das Therapeutische Theater. Unter Einbeziehung der aktiven und elastischen Technik seines Lehranalytikers Ferenczi beeinflusste er nach-

1.2  Pioniere der Psychotherapie im Allgemeinen, Pioniere der Integrativen Therapie im …13

haltig die Entwicklung der Integrativen Therapie, im Speziellen der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie. Iljine spricht vom Leib als dem Ort der Wahrheit (Iljine 1923). Alle Informationen der individuellen Biografie eines Menschen sind im Leib gespeichert. Unser persönliches Schicksal hat sich an ihm und mit ihm vollzogen. Die Struktur und der Aufbau des Körpers und alle körperlichen Reaktionen zeigen, wo der Patient „steht“. Iljine veränderte die Technik Ferenczis, indem er deutungsfrei arbeitete, er vermied die verbale Deutung. Er forderte den Patienten auf, seine Reaktionen „leibhaftig“ zu zeigen, freie Aktionen anstelle freier Assoziationen zu bringen und seine Überlegungen mitzuteilen, soweit er dazu bereit war. Iljine regte an, Mimik, Gestik und Laute mit einzubeziehen. „Die feinspürige Einfühlung und die freie Möglichkeit einer Antwort, die Berührung aus der Berührtheit und ihre Annahme aus freien Stücken, die Erlaubnis lieben zu dürfen und die Bereitschaft eines offenen Herzens, diese Liebe anzunehmen, das sind die Grundlagen jener heilenden Beziehung, die wir ,aktive Analyse‘ nennen“ (Iljine 1942, S. 50). ▶▶

Zum Behandlungsparadigma Freuds hat Iljines Ansatz der Berührung aus der Berührtheit, der leiblichen Zuwendung, ein wichtiges Korrektiv gesetzt. Der Therapeut wird von der leiblichen Bedürftigkeit des Menschen angerührt.

Auf die Praxis von Iljines Therapeutischem Theater (Iljine 1972) geht die Einteilung der verschiedenen therapeutischen Modalitäten (s.  Abschn.  7.2) zurück, die Iljine mithilfe des Improvisationstrainings (Petzold 1973b) vornahm. Es wird vorausgesetzt, dass der Patient all seine sensitiven und expressiven Möglichkeiten zur Verfügung hat, um sich beispielsweise in der konfliktzentrierten Arbeit einsetzen und einbringen zu können. Wer im Therapeutischen Theater in dramatischer Arbeit seine Konflikte wahrnehmen, erfassen, zeigen und dann lösen will, muss das Organ der Wahrnehmung, seinen erlebnisfähigen und ausdrucksfähigen Leib, zur Verfügung haben. Ansonsten sind seine Bemühungen zum Scheitern verurteilt oder zumindest eingeschränkt, und der Patient wird seine Ziele nicht erreichen können (Iljine 1942). In seiner Vorlesung 1965 erklärt Iljine: „Habe ich meinen Körper verloren, so habe ich mich selbst verloren. Finde ich meinen Körper, so finde ich mich selbst. Bewege ich mich, so lebe ich und bewege die Welt. Ohne diesen Leib bin ich nicht und als mein Leib bin ich. Nur in der Bewegung erfahre ich mich als mein Leib, erfährt sich mein Leib, erfahre ich mich. Mein Leib ist die Koinzidenz von Sein und Erkenntnis, von Subjekt und Objekt. Er ist der Ausgangspunkt und das Ende meiner Existenz“ (Petzold 1988n, S. 21). In der Therapiesituation und zum weiteren Üben werden in der Integrativen Therapie Achtsamkeits- und Entspannungsübungen mit sanfter Atem-, Spür- und Bewegungsarbeit verordnet. Diese erfolgen aufgelockert mit Übungen aus dem Improvisationstraining des Therapeutischen Theaters (Iljine 1942) und werden, wo angebracht, mit Ausdruck intensiviert. Der Therapeut „gibt die Erlaubnis“ oder regt

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

an, Grimassen zu schneiden, und mehr noch, den ganzen Körper pantomimisch einzusetzen. Auch kommen in der Behandlung erlebnisaktivierende, intermediale Arbeiten mit kreativen Medien zur Anwendung (Petzold und Orth 1990a, 2007). In den 1960er-Jahren hat Iljine in seinen Seminaren in Paris auch die Arbeiten bedeutender russischer Forscher vorgestellt, was bei seinen Studenten auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Zu diesen Forschern, die später wichtige Referenztheoretiker des integrativen Ansatzes geworden sind, zählen u.  a. der Psychologe Lev ­Semenowitsch Vygotskij (1896–1934), der Arzt und Psychologe Alexander Romanowitsch Lurija (1902–1977) und der Physiologe Nikolai Alexandrowitsch Bernštejn (1896–1966), ein Begründer der Bewegungswissenschaften. Lurija arbeitete in Moskau mit dem Erziehungspsychologen Vygotskij über die Struktur von Denken, Sprache und Spiel des Kindes, v. a. des kranken Kindes, zusammen. Nach Vygotskijs Tod führte Lurija diese Forschungsarbeit fort, baute sie aus, erweiterte und vertiefte sie und revolutionierte damit die Neuropsychologie. Dabei wurden komplexe psychische Störungen auf der biologischen, psychologischen und sozialen Ebene analysiert. Diese Arbeit führte Lurija zur „Syndromanalyse als einem methodischen Grundsatz seiner neuropsychologischen Forschungen“ (Petzold und Michailowa 2008a, S. 13). Lurija nutzte diese Forschungsergebnisse bei der Behandlung hirnverletzter Patienten. Der konsequente interaktionistische Ansatz Vygotskijs kommt hier zum Tragen, dass Prozesse wie Wahrnehmung, Bewegung, Sprache, Denken und Wollen in komplexen funktionellen Systemen zusammenwirken. „Es besteht kein Zweifel darüber, dass das menschliche Hirn das Organ der Bewusstseinstätigkeit ist und dass ohne höhere Nerventätigkeit kein einziger menschlicher Verhaltens- und Bewusstseinsakt möglich ist. Ebenso klar ist jedoch, dass die Quellen des Bewusstseins als Prozess der Widerspiegelung der Wirklichkeit, der Gewinnung und Verarbeitung von Information aus der objektiven Welt, der Schaffung komplizierter Verhaltensprogramme und der Kontrolle des Verhaltens nicht im Gehirn, nicht in den Mechanismen der Nerventätigkeit selbst zu suchen sind, sondern im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, in seinem gesellschaftlichen Leben“ (Lurija 1978, S. 644). Lurija verdeutlicht diesen Gedanken mit einem eindrucksvollen Beispiel: „Die Basiliuskathedrale würde nicht eine Minute stehen, wäre sie nicht unter Berücksichtigung der Gesetze der Festigkeitslehre erbaut worden. Wollte man aber die ganze Eigenart der Architektur dieser Kathedrale auf die für beliebige Bauwerke geltenden Gesetze der Festigkeitslehre zurückführen und nicht die Quellen ihres architektonischen Stils in den sozialen und kulturellen Traditionen suchen, so würde man wie in jedem Fall mechanistischen Denkens in eine Sackgasse geraten“ (Lurija 1978, S. 644). Mit einem dreifachen Fokus nimmt der integrative Denker Lurija den Menschen in den Blick, „mit dem Fokus ,Gehirn‘ das Biologische, dem Fokus ,Subjekt‘ das Psychologische und mit dem Fokus der gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit das Soziale (wie auch schon Janet). Er benennt damit Kerndimensionen jeder übergreifenden Wissenschaft vom Menschen. Sie sind allerdings nur als ,miteinander verschränkte‘ und in historischen Prozessen stehende zu begreifen“ (Petzold 1971k, S. 9). Lurija hat durch seine weitreichenden Einsichten und innovativen Forschun-

1.3  Wichtige Referenzphilosophien für die Integrative Therapie

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gen Grundlagen geschaffen, die für die Willenstherapie und die Einbeziehung der Dimension des Sozialen unverzichtbar sind (Petzold und Michailowa 2008a). Lurija war Entwicklungstheoretiker, Neurowissenschaftler, Kulturtheoretiker, Sprachwissenschaftler und setzte die gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis auf den Gebieten der Neurorehabilitation und der Sonderpädagogik um. Für die Diagnostik von Patienten durch die Syndromanalyse und für die Therapie durch die Rehabilitationsbehandlung ist ihm Wertvolles zu verdanken. Von seinem Lehrer Vygotskij wurden für die Integrative Therapie wichtige Konzepte wie das Konzept der Interiorisierung übernommen. ▶▶

Interiorisierung ist die Annahme und Verinnerlichung von Beziehungszuschreibungen: Durch die Tröstung des anderen Menschen lerne ich mich selbst zu trösten. Durch die Ablehnung des anderen Menschen bewirke ich Selbstablehnung (Petzold 2012e).

Durch die Interiorisierung guter Qualitäten kann therapeutische Beziehung Korrektive erhalten in einer Zone weiterführender Entwicklung (Vygotskij), in einer guten Passung (Petzold 2012c). Grundlegend für die Integrative Therapie wurde die Vygotskijsche Theorie der Mentalisierung mit der Maxime: Alles was intramental ist, war zuvor intermental, also im sozialen Gefüge, im Kulturraum, in den Köpfen anderer. Von Serge Moscovici wurde in dieser Tradition das Konzept der kollektiven mentalen Repräsentationen (Moscovici 2001) erarbeitet: Jeder Mensch entwickelt in Sozialisationsprozessen seine persönlichen mentalen Repräsentationen (Moscovici 2001).

1.3

 ichtige Referenzphilosophien für die W Integrative Therapie

1.3.1 Phänomenologie und Leibphilosophie Eine zentrale Referenz, auf die sich die Integrative Therapie bezieht, ist die leibund weltorientierte Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961). Bezogen auf ihr praktisches Vorgehen lässt sich Merleau-Pontys Philosophie in seinem Frühwerk folgendermaßen charakterisieren. Sie geht zunächst von Wissenschaftsergebnissen aus, stellt diese gründlich dar und unterzieht die Ergebnisse anschließend einer spezifischen Uminterpretation beziehungsweise Neuinterpretation. Dabei wird die Wahrnehmung auch für phänomenologische und erlebnistheoretische Analysen geöffnet. Merleau-Ponty wandte sich den phänomenalen Fakten zu, die sich der leiblichen Wahrnehmung darbieten. Er würdigte die Wahrnehmung und versuchte, diese erlebnistheoretisch aus einer Weltzugehörigkeit zu durchdringen. Seinem Denken nach ist der Mensch unablösbar einem Zur-Welt-Sein, Être-au-­ monde, verbunden. Die Leibphilosophie nach Merleau-Ponty (1966) wird kurz dargelegt: Das Bewusstsein des Leibes ist seiner Ansicht nach weder Denken bzw. innere Vorstellung

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

noch allein äußerer Gegenstand, sondern ein Synonym für sowohl Einheit als auch Unterscheidung von Körper-Seele-Geist. Im Begriff des Leibes wollte er die traditionellen Alternativen von anatomischem Körper und Bewusstsein aufheben zugunsten der „Suche nach einer dritten Dimension“ (Waldenfels 1983, S. 148). Die Leibphilosophie regt dazu an, herkömmliche Denk- und Sichtweisen grundlegend zu verändern. ▶▶

Nach Merleau-Ponty lässt sich der Leib nicht in Bewusstsein und Körper trennen, diagnostizieren und getrennt therapieren und dann wieder zusammenzusetzen, in der Annahme, auf diesem Wege den Menschen in seiner Ganzheit erfasst zu haben.

Der Leib ist grundsätzlich in die Welt eingewurzelt, so dass Leib und Welt zusammen gedacht werden müssen (Bischlager 2016; Mogorovic 2017). Merleau-­Ponty nimmt die traditionelle Unterscheidung von Bewusstsein und Körper in den Leibbegriff hinein. Leib ist zuerst eigener Leib: „Ich bin mein Leib“ (Merleau-Ponty 1986, S. 181), ein Gedanke, den er von den beiden Philosophen François-Pierre-­Gonthier Maine de Biran (1766–1824) und von Gabriel Marcel (1889–1973) übernommen hat. Der Leib ist lebendiger, phänomenaler Leib, die Art, wie sich das Subjekt in seinem Zur-Welt-Sein erfährt. Leib ist Teil der Welt und als solcher zur Welt gerichtet. Aus der leiblichen Wahrnehmung erfährt und entwickelt der Mensch Raum und Zeit. In seinem Werk Die Struktur des Verhaltens (1942, 1976) setzte sich Merleau-­ Ponty mit dem Behaviorismus, der Gestaltpsychologie und der Psychoanalyse auseinander. Er lehnte die behavioristischen Ansichten eines ursächlich verknüpften Reiz-Reaktions-Schemas ab, der Organismus wird hier als eine Maschine verstanden, die passiv auf äußere Stimuli reagiert. Genauso lehnte er es ab, das Biologische ausschließlich aus dem Physischen zu verstehen. Merleau-Ponty hielt es für ein Kunstprodukt, die naturwissenschaftlich geprägte behavioristische Vorstellung, die Beziehung des Organismus zur Umwelt könne objektiviert werden, dann in Einzelelemente zerlegt und anschließend nach Art des Reiz-Reaktions-Schemas erneut zusammengesetzt werden. Er setzte sein persönliches Verständnis entgegen, dass jeder Organismus selbst dazu beitrage, Gestalten in Form dialektischer Begegnungen zu bilden. Merleau-Ponty erkannte bereits auf der Ebene des Organismus Bedeutungen, die weder auf den Organismus noch auf den Stimulus zurückzuführen sind, sondern die dialektischen Begegnungen beider. Die Gestaltpsychologie bewertete er gegenüber dem Behaviorismus als Fortschritt. Hintergrund dafür war die Sichtweise, die aus seelischen Prozessen resultierende, strukturelle Ganzheit stelle mehr dar als die Summe der Teile. Aber auch die Gestaltpsychologie nahm Merleau-Ponty nicht von seiner Kritik aus. Die Gestaltpsychologie sieht die „Gestalt“, einer physischen Realität gleich, als Wahrnehmungsgegenstand an, platziert „Gestaltgesetze“ in die Welt und emanzipiert sich nicht konsequent vom Vorurteil des Realismus. Auf seine Weise hielt er dennoch am Gestaltgedanken fest, indem er Verhalten als strukturierte Gestaltung von Umwelt begriff.

1.3  Wichtige Referenzphilosophien für die Integrative Therapie

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In seinem Werk Phänomenologie der Wahrnehmung (1945, 1966) bezog sich Merleau-Ponty erneut auf die Gestaltpsychologie und Psychoanalyse. Er hielt beiden zugute, dass sie die Trennung von Körper und Seele ablehnten und sich mit dem Zusammenhang von Biografie und Physiologie befassten. Gestalt war für ihn „Erscheinung der Welt selbst“ (Merleau-Ponty 1966, S. 190), allerdings „nicht Projektion eines Inneren ins Äußere“ (Merleau-Ponty 1966, S. 85), sondern „Identität des Inneren und Äußeren“ (Merleau-Ponty 1966, S. 85). Diese Interpretation des Gestaltbegriffes ist unvereinbar mit dem ursächlichen Denken. Der Begriff des ­Verhaltens wurde ihm zur Gestalt, in der „Sensibilität und Motorik ihr Dasein allein als voneinander unablösliche Momente“ (Merleau-Ponty 1966, S. 147) haben und dem kausalen Denken unzugänglich bleiben. Die Bedeutung der Psychoanalyse Freuds sah Merleau-Ponty v.  a. darin, dass Freud biologischen Funktionen eine ausdrückliche Gegensätzlichkeit zugeschrieben hatte. Freud reduzierte die Sexualität nicht auf ihre biologische Funktion, sondern interpretierte sie, als eine Art des Menschen zu sein, als eine Art des Menschen zur Welt und zum anderen zu sein. Die Sexualgeschichte eines Menschen liefert einen Schlüssel zu seinem Leben überhaupt, weil sich in der Sexualität sein Verhalten zur Welt, zur Zeit und zum anderen entwirft (Merleau-Ponty 1966). In seinem posthum veröffentlichten Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964, 1986) führt Merleau-Ponty den nicht materiell zu verstehenden Begriff des Fleisches ein. „Das Fleisch ist der latente, lebendige Vorgang von sehendem Leib und Sichtbarem, von berührendem Leib und Berührbarem“ (Merleau-Ponty 1986, S. 191). Das Fleisch wird ihm zum Kernbegriff der kreuzweise aufeinander bezogenen Ereignisse, „der Einheit von Sehendem und Gesehenem, der Gleichzeitigkeit von Innen und Außen, von Sichtbarem und Unsichtbarem. Das Unsichtbare wird ihm über das Nicht-Sichtbare, das nicht mehr oder noch nicht oder von anderswo oder von anderen gesehen werden kann hinaus zu einer Form der Abwesenheit, die als solche zur Welt gehört und unaufhebbar ist“ (Waldenfels 1983, S. 200). Hintergrundinformation: In der therapeutischen Praxis öffnet ein Patient die Tür, kommt als Leib, der er gerade ist, herein, mit seinem individuellen Bewegungsmuster und Gangbild, seiner Körperhaltung, seinem augenblicklichen Gesichtsausdruck, mit seiner Stimme, seinen aktuellen Gefühlen, seinem Wissenshorizont, beeinflusst von seinem Willen zu diesem, gerade zu diesem Therapeuten zu gehen. Die Verschränkung in dem aktiven und passiven Verlauf von Sehen und Gesehenwerden beginnt…

Das Unbewusste ist bei Merleau-Ponty „die Abwesenheit in der Anwesenheit, das nicht Wahrgenommene im Wahrgenommenen, das ‚Eigentliche‘ des Sichtbaren, seine unsichtbare Kehrseite“ (Frostholm 1986, S. 39). Für Merleau-Ponty ist das Leben als Ganzes Handlung. Die für den Menschen charakteristische Struktur ist die Kultur. Der handelnde Mensch bewegt sich ganz im Raum seiner Sinngebilde, die er kulturell erschaffen hat und in die er vom ersten Lebenstag an hineinwächst. Wahrnehmung ist für ihn bereits Sinnsuche und Sinnverwirklichung (Petzold 1978c). Krankhaftes Erleben und Verhalten ist für Merleau-Ponty eine ganz konkrete Stellungnahme zum Leben, wobei das Subjekt eine für sich gerade noch mögliche

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

Struktur realisieren will. Krankheit versteht er entweder als Entwicklungsmangel oder als Regression. Verdrängung ist das Ergebnis der beschränkten Integrationskraft des Subjekts, hier nimmt Merleau-Ponty Bezug auf Janet. Die Begrenzung seiner Integrationskraft hindert das Subjekt daran, sein gesamtes Dasein in Verhaltensmustern unterzubringen. Deshalb erzwingen nichtgemeisterte oder vermiedene Lebenssituationen die Abspaltung bestimmter Bedürfnisse. Das in seiner Integrationskraft beschränkte Subjekt versucht die Konstellationen zu vermeiden, die jenen ähneln, die es bedrohen. Der Mensch verzweifelt an seinen „höheren“ ­Sinnrealisationen und begnügt sich mit der „minderen“ Sinnmodalität des Krankseins. Diese „niedere“ Sinnmodalität verengt einerseits seinen Lebensraum, bietet dem Menschen andererseits auch relative Sicherheit und Angstfreiheit. Krankheit ist für Merleau-­Ponty ein „primitives Verhalten“, das der Mensch einsetzt, wenn das „höhere Verhalten“ nicht erworben werden konnte oder abgebaut wurde. Im diesem „primitiven Verhalten“ ist jedoch keimhaft die „höhere“ Sinndimension enthalten. Die französische Existenz-, Beziehungs- und Leibphilosophie von Gabriel Marcel war für Merleau-Ponty inspirierend. Marcel (1985) beschrieb die therapeutische Beziehung als ein zwischen Subjekten verlaufendes Geschehen. In der Integrativen Therapie wird sie auch als intersubjektives Ereignis verstanden und praktiziert. Eine vordergründig verdinglichende Interaktion, wie die Erhebung eines Tastbefundes bei muskulärer Verspannung, wird im Rahmen einer von diesem Denken angeregten Haltung in der psychosomatischen Behandlung in eine Subjektbeziehung verwandelt. Hier wird die therapeutische Beziehung zu einer bedeutenden Begegnung, in einer akzeptierenden Haltung und in einem verstehenden Bezogensein. In der schmerzgekrümmten Bewegung oder einem verzerrten Gesichtsausdruck drückt sich nicht nur der Körper, sondern der Mensch leibhaftig aus. ▶▶

Wir haben unseren Leib nicht, allenfalls haben wir unseren Körper. Wir sind unser jeweiliger Leib. In der Leiblichkeit drückt sich das Wesen des Menschen aus. In jeder Gestik, Mimik, Körperhaltung und Bewegung werden innere Gestimmtheiten und die Geisteshaltung erkennbar.

Die Leibphilosophie Marcels bietet einen Ausweg aus dem polarisierenden und fragmentierenden Dualismusproblem Körper  – Seele oder dem Trichotomiepro­ blem Körper – Seele – Geist. Die Leibphilosophie gehört zu den zentralen Referenzen der Integrativen Therapie. Der Leib ist der belebte, mit Bewusstsein ausgestattete, vom Subjekt erlebte Körper. Auch in der Therapie erfährt der Therapeut den Patienten über dessen Körperlichkeit hinaus als Leib, welcher der Behandelnde immer auch selbst ist. Die therapeutische Situation ist in einer gemeinsamen zwischen dem Patienten und Therapeuten gegebenen Realität immer eine Situation in Zwischenleiblichkeit. Der Therapeut fühlt sich aus der Erfahrung seines eigenen Leibseins in das Leibsubjekt des Patienten ein, worin die Basis für jede nonverbale, averbale, periverbale und transverbale Kommunikation liegt. Die leibbezogene Befunderhebung und Diagnostikerstellung können in ihrer Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sieht Marcel den „Leib als Fixie-

1.3  Wichtige Referenzphilosophien für die Integrative Therapie

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rung der persönlichen Lebensgeschichte an, die in den Archiven des Erinnerungsleibes“ (Petzold 1988n, S. 373), der speicherungsfähigen Substanz unseres Gehirns, aufgezeichnet hat, ist eine Beschränkung auf ein diagnostisches Vorgehen, welches Körperwahrnehmung, Körperausdruck und Körpersprache übersieht, nicht mehr möglich (Petzold 1988n, 1996a). So kann mit Marcel angenommen werden, dass ein Körper fleischgewordene Geschichte ist, „genauer gesagt der Abschluss, die Fixierung einer Geschichte. Das Lebensschicksal der Patienten hingegen ist die Geschichte ihres Leibes… Je mehr ich mein Leib bin, desto mehr an Wirklichkeit wird mir verfügbar. Die Dinge existieren doch nur, sofern sie mit meinem Körper in Kontakt stehen, von ihm wahrgenommen werden. Hier aber liegt das Wesen der Erkrankung, dass die existenzielle Einheit von Selbst und Körper gestört oder verloren ist. Für den Patienten wird die Welt, die Wirklichkeit unverfügbar, er verliert das Bewusstsein seiner selbst als Existierender, er vermag keinen Kontakt – oder nur einen gestörten – nach außen, zu anderen zu finden“ (Marcel 1968 in Petzold 1988n, S. 493–494). In der therapeutischen Begegnung sind Patient und Therapeut in zwischenleiblicher Kommunikation (Marcel 1985) gebunden, die zu dem Kernkonzept der Inte­ grativen Therapie, der intersubjektiven Ko-respondenz, hinführt.

1.3.2 Hermeneutik, Metahermeneutik Paul Ricœur (1913–2005) ist eine weitere Quelle für die Integrative Therapie (Petzold 2005p), er wurde von Gabriel Marcel und Edmund Husserl beeinflusst. Vor allem beschäftigte sich Ricœur aus phänomenologischer und psychoanalytischer Perspektive in immer tiefer- und weiterführenden neuen Bewegungen hermeneutischen Erschließens mit dem menschlichen Wollen. Konkret beachtete er die sprachlichen Produktionen, die Symbole, in welchen sich der Mensch ausdrückt, sowie die Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft. Das zentrale Anliegen dabei ist, einen Patienten „besser zu verstehen als er sich verstanden hat, das heißt, die in seinem Diskurs eingeschlossenen Bewusstseinskräfte über den Horizont einer eigenen existenziellen Erfahrung hinaus zu entfalten“ (Ricœur 1969, S. 113). Dies wird in der Integrativen Therapie durch einen Prozess der „Distanzierung und Entzeitlichung“ (Ricœur 1969, S. 113) versucht, in welchem wir hier und heute im therapeutischen Setting durch das Einbeziehen von Bewegung, Gestik, Mimik, also der leiblichen Regungen, das Dort und Dann zugänglich machen. Wird Hermeneutik an den Prozess des Lebens rückgebunden, „das sich selbst auslegt“ (Ricœur 1974, S. 116), ist sie auf ein Verstehen der Leiblichkeit und der Lebenswelt gerichtet, auf die Diskurse des Unbewussten oder auf die „grundsätzliche Wahrheit einer personalen Geschichte in einer konkreten Situation“ (Ricœur 1974, S. 116). Hermeneutik kann im therapeutischen Geschehen nicht nur den Gesetzen objektivierender Rationalität folgen und sich nicht nur dem logisch Verstehbaren zuwenden. Sie muss das Verstehen übersteigen und auch noch versuchen, das zu erfahren, was in den Atmosphären, Stimmungen, Ahnungen und Anmutungen liegt. Oft genug gilt es zu begreifen und anzuerkennen, dass es Unbegreifbares gibt,

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vor dem man in Staunen oder Entsetzen oder in Ehrfurcht innehält. Aber auch das ergibt oftmals einen Sinn, selbst wenn dieser seine Bedeutung nicht oder noch nicht freigibt und daher jetzt nicht zu Wissen führt, sondern zu einer „Gewissheit aus Erfahrung“ (Ricœur 1978, S. 105). Es gibt eine „spezifische Mehrstimmigkeit in der Sinndeutung des menschlichen Handelns“ (Ricœur 1978, S.  105). Demnach sind auch vielfältige Auslegungen möglich, abhängig von unserer motivationalen Lage und den Situationsbedingungen. Verstehen ist daher kein nur nachahmendes, sondern auch ein schöpferisches Verhalten. Folglich sind im lebendigen Prozess des Denkens und Fühlens immer wieder Überschreitungen von bisher Gedachtem und Gefühltem möglich, und es wird im Sinne einer guten Hermeneutik ein neuer Sinnzusammenhang konstituiert (Ricœur 1988). Der Kreis vermag sich zu öffnen, indem er die Form einer Spirale gewinnt. Petzold nennt diese die heraklitische. Sie beginnt nicht wie die archimedische Spirale an einem Ausgangspunkt, sondern ist wie die Schraubenspirale einer Wein- oder Walkerpresse ohne Anfang und Ende: „Der Weg der Walkerpresse ist – vor und zurück – ein und derselbe“ (Diels und Kranz 22 B 60, 1961). Es gibt unbewusste Regionen, die jenseits der bewussten liegen, sie waren ein der philosophischen Reflexion lange verborgenes Land. „Natur pflegt sich versteckt zu halten (Heraklit)“ (Diels und Kranz 22 B 123, 1961). Die zwischenmenschliche Wirklichkeit ist immer auch die Geschichte von Beziehungen, die neben der eigenen Sicht auch noch den anderen Blick, die Zeugenschaft des anderen braucht (Ricœur 1969). Durch das Zeugenbewusstsein eines anderen im Rahmen einer Therapie, also allein durch die Anwesenheit des Therapeuten, wird das Unbewusste des Patienten wesentlich mitkonstituiert (Ricœur 1965). Diese Zeugenschaft des anwesenden Therapeuten macht oft erst das eigene Unbewusste zugänglich, welches dem Patienten durch den sog. blinden Fleck entginge. Es hilft auch, die eingeschränkte Sicht auf sich selbst zu übersteigen und somit das eigene Denken noch einmal zu überdenken. Ein Metareflektieren ermöglicht dem Therapeuten Beobachtungen höherer Ordnung und ein tieferes Verstehen. Eine Metahermeneutik reflektiert diese komplexen Zusammenhänge auf ihre kulturtheoretischen und neurobiologischen Voraussetzungen (Petzold 2016f). ▶▶

In der hermeneutischen Spirale eines idealtypischen integrativ-­ therapeutischen Vorgehens, eingebunden in den dialektischen Prozess, wird die Dialektik vom Verstehen zum Erklären überschritten in Richtung einer Metahermeneutik: Wahrnehmen – Erfassen – Verstehen – Erklären (Petzold 2016f).

1.3.3 Ethik als erste Philosophie Durch das Faktum gemeinsam existierender Intersubjektivität (Marcel 1940, 1967) im Rahmen eines therapeutischen Prozesses kristallisieren sich im Sinne Emmanuel Lévinas (1906–1995) durch ethische Diskurse Leitprinzipien heraus (Lévinas 1983). Diese ethischen Diskurse sind an die Beziehung und Auseinandersetzung gebunden, sie stellen immer wechselseitiges Antworten in einem gemeinsamen Pro-

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zess auf der Basis der gegenseitigen Wertschätzung dar und konstituieren sie gleichzeitig. Die Philosophie Emmanuel Lévinas ist eine weitere Quelle für die Integrative Therapie. Durch zwei Traditionen ist sie stark beeinflusst, durch die Philosophie von Edmund Husserl sowie durch das Denken Martin Heideggers. An Stelle des Heidegger’schen Seinsdenkens wendet sich Lévinas hin zur Andersheit des anderen Menschen. An die Stelle einer Philosophie jenseits von Ethik setzt er die Ethik jenseits der herkömmlichen philosophischen Tradition als erste Philosophie. Er überschreitet das Ich-und-Du-Denken Bubers und weist darauf hin, dass der Andere immer schon vor mir da ist. In der Integrativen Therapie führte das zu einer ­beziehungstheoretischen Wende, weg von Bubers hegemonialem Ich hin zur Formel: Wir-Du-Ich, Du-Ich-Wir in Kontext und Kontinuum (Petzold 1996k). Der Respekt vor der grundsätzlichen „Andersheit des Anderen“ (Lévinas 1995, S.  186), das Wissen seiner letztendlichen Unverfügbarkeit, hat für die Ethik der therapeutischen Beziehung in der Integrativen Therapie eine fundamentale Bedeutung. Diese Unverfügbarkeit macht jeden Überlegenheitsgestus obsolet. Die Integrative Therapie vertritt eine auf die Beziehung und Situation ausgerichtete Diskursethik (s. Abschn. 2.4.1.5). Das ethische Leitprinzip der Integrativen Therapie könnte als anthropologischer Imperativ bezeichnet werden. ▶▶

Unser Handeln soll im Leben so ausgerichtet sein, dass es vor Menschen mit klarem Verstand und liebevollem Herzen bestehen kann. Menschen mögen den Blick für das Ganze, die Liebe für das Detail und die Treue zu beidem finden (Petzold 1985p; de Saint-Exupéry 1958).

1.3.4 Diskurs und Dispositivanalyse Der Philosoph und klinische Psychologe Michel Foucault (1926–1984) begründete einen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Weg, insbesondere zur Kritik der Psychiatrie. Darin beschreibt er das Denken in Dispositiven. Bezogen auf die Integrative Therapie entsteht diesem Denken nach ein Krankheitsbild aus biopsychosoziokulturellen Prozessen, politischen, ökologischen und ökonomischen Verhältnissen und ist vor diesem Hintergrund kritisch zu analysieren. Psychotherapie ist immer auch Kulturarbeit (Petzold et al. 2014a). Diagnostische Kriterien sind auf die Situation bezogen und im zeitlichen Verlauf zu relativieren. Das Denken in Dispositiven weist ein objektivierendes und allgemeingültig erklärendes Denken über eine Erkrankung zurück. Der französische Begriff „dispositif“ wird hier noch etwas näher beleuchtet. Im ersten Band seiner späteren dreibändigen Untersuchung über „Sexualität und Wahrheit“ mit dem Titel „Der Wille zum Wissen“ (Foucault 1977) entwarf Foucault gegenüber seinen früheren Sichtweisen die komplexere Kategorie des Dispositivs. Foucault bezeichnete mit diesem Begriff ein Verständnismuster, das aus einem Netz verschiedener Elemente geknüpft werden kann (Foucault 1978). Das Dispositiv bildet eine Art Formation, ein heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen,

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reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz „Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, alles in allem Praktiken umfasst, die kritisch auf ihre Hintergründe reflektiert werden müssen“ (Foucault 1978, S. 119). Einer solchen kritischen Position hat sich die Integrative Therapie verpflichtet. Nach Foucault gilt es zu verstehen, dass die Dinge nur Objektivierungen bestimmter Praktiken sind, deren Bestimmungen ans Licht gebracht werden müssen. Der Irrtum wiederum liege darin, den Gegenstand der Praktik für einen natürlichen Gegenstand zu halten, wie zum Beispiel eine Krankheit oder den Wahnsinn. „Die Illusion vom natürlichen Gegenstand verhülle den uneinheitlichen Charakter der Praktiken“ (Veyne 1992, S. 35). Ein Dispositiv besteht aus Verhältnislinien, die auf verschiedenen Dimensionen einzuordnen sind. „Foucaults letzter Fassung folgend, sind Dispositive zusammengesetzt aus Sichtbarkeitslinien, Linien der Aussage, Kräftelinien und Subjektivierungslinien, Riss-, Spalt- und Bruchlinien, die sich alle überkreuzen und vermischen, von denen die einen die anderen wiedergeben oder durch Variationen oder sogar Mutationen in der Verkehrung wieder andere erzeugen“ (Deleuze 1991, S. 157). ▶▶

Foucaults Denken in Dispositiven zielte auf die Überwindung des in der Geschichtswissenschaft üblichen Denkens in Kausalverhältnissen. Seine Beschreibung verläuft nicht mehr von einem Objekt zum andern, sondern von allem zu allem.

Foucault ignoriert in seiner Geschichtsauffassung damit keineswegs die traditionelle Sicht von Geschichtswissenschaft, aber er strukturiert diese nicht wie herkömmlich nach Jahrhunderten, Völkern, Kulturen und Grenzen, sondern nach Praktiken. Er kommt davon ab, Geschichte als eine Abfolge von Großereignissen in einem hierarchisch gegliederten Bestimmungsgefüge zu sehen und ermittelt stattdessen eine Geschichte von Praktiken, in denen Menschen Wahrheiten gesehen haben und eine Geschichte ihrer „Kämpfe um diese Wahrheiten“ (Veyne 1992, S. 75). Vor diesem Hintergrund wurden und werden in der Integrativen Therapie Theorien, Thesen, Konzepte und Methoden, die aus anderen Psychotherapieverfahren übernommen werden könnten, kritisch reflektiert. Wahrheit ist nach Foucault eine Gesamtheit von veränderbaren Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird. Mit der Veränderung der Regeln ändern sich auch die Wahrheiten. Foucaults großes, durchgängiges Thema war das Phänomen der Macht. Er widerspricht der landläufigen Auffassung, dass Macht etwas sei, was man erwerben, wegnehmen, teilen, bewahren oder verlieren könne. Macht ist für ihn keine Entität, sondern etwas, „was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (Foucault 1977, S. 115). Im Gegensatz zur herkömmlichen Sicht, die Macht sei oben verortet, kommt Macht nach Foucault häufig von unten. Er nennt ökonomische Prozesse, Erkenntnisse, sexuelle Beziehungen nicht als etwas Äußeres, sondern als diesen Verhältnissen immanent. Foucault

1.3  Wichtige Referenzphilosophien für die Integrative Therapie

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spricht vom „strikt relationalen Charakter der Machtverhältnisse“ (Foucault 1977, S. 117) und deshalb von der „Allgegenwart der Macht“ (Foucault 1977, S. 114). „Macht ist überall  – nicht weil sie alles umfasst –, sondern weil sie von überall kommt“ (Foucault 1977, S. 114). Foucaults Theorie der Machtverhältnisse kehrt die landläufige Sicht auf Institutionen und Staat um. Institutionen sind nicht Ursprung und Erklärung von Macht. Für Foucault sind sie lediglich geronnene Praktiken, operative Mechanismen, die Macht voraussetzen und fixieren. „Es gibt nicht den Staat, sondern eine Durchstaatlichung. Das Beherrschen geht dem Staat voraus“ (Foucault 1977, S. 114). Mit Beherrschen meint er die Fähigkeit des Einwirkens in all ihren Aspekten, wie das Beherrschen von Kindern, Familien, Kranken oder Mitarbeitern (vgl. Deleuze 1987; Schuch 2003). Die differenzierten macht- und aggressionstheoretischen Analysen der Integrativen Therapie, die Konzepte zur Theorie der Gerechtigkeit und des Unrechts in ihrer Bedeutung für die Psychotherapie wie „Mythen in der Psychotherapie“ (Petzold et al. 2014a) oder „Risiken und Nebenwirkungen durch Psychotherapie“ (Märtens und Petzold 2002; Leitner et  al. 2013, 2014) greifen auf Foucault, Lévinas und Ricœur zurück.

1.3.5 Dekonstruktivismus Die Integrative Therapie bezieht sich neben der ganzheitlichen mit ihrer differenziellen Behandlungsform auf den Dekonstruktivismus von Jaques Derrida (1930–2004), der diesen Begriff geprägt hat. Hintergrundinformation: In dem Begriff Dekonstruktion erfolgt die Verschränkung von Destruktion und Konstruktion. Jaques Derrida meint die sinnkritische Analyse der Bedingungen des Verstehens.

Für Derridas Denken war der Einfluss von Husserl, Heidegger und Lévinas wichtig. Derrida entwickelte seine Theorie ausgehend von der Möglichkeit für den anderen. Jede Entscheidung sei eine passive Entscheidung des anderen in mir (Derrida 1972). Ebenso kennzeichnet er die Praxis der Dekonstruktion als die Ermöglichung einer Beziehung oder eines Empfanges des anderen (Derrida 1972). Das Andere oder der Andere ist im Unterschied zu Lévinas bei Derrida nicht auf Menschen beschränkt. Derridas Philosophie wurde von seinen persönlichen Erfahrungen der Diskriminierung und Repression in seiner Kindheit geprägt, die sich tief in sein Denken und Handeln eingruben. Seine Philosophie steht für den Diskurs der Gliederung und der Differenz, welche im neuen Pluralismus der Wissenschaft vielfältig ihren Ausdruck gefunden hat (Petzold 2016p). Einheit und Ganzheit als Metaphern zeugen von dem Bemühen des menschlichen Geistes, Weltvielfalt und Ideenvielfalt zusammenzuschweißen, und blickt man auf seine historische Konkretisierung, war dieses Bemühen oft genug gewaltsam und blutig. Die alleinseligmachenden Ansprüche der großen Religionen, besonders in ihrer Form als Staatsreligionen, hatten immer die Vernichtung der

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Andersdenkenden im Gefolge. In der Philosophie ist es nicht anders, besonders wenn sie in kryptoreligiöser Funktion zur Staatsphilosophie wird, wie die linken und die rechten Interpretationen und deren Folgen zeigen (Petzold 2015l, 2016p). Wissenschaft hingegen braucht Pluralität, sie ist vielstimmig (Derrida 1972, 1982). Diese Wissenschaft betont differenzielle Vorgehensweisen und Ansätze und bejaht zugleich die Notwendigkeit von Integrationen, verstanden als Vernetzung von Verschiedenem. Dem Dissens, der als Ausdruck von „différance“ (Derrida 1967) Vielfalt, Transversalität, also Querverlaufendes begründet, wird im integrativen Ansatz eine eminente Bedeutung beigemessen, denn Dissens ist eine Quelle von Innovation, Kokreativität, Ausdruck der Freiheit und Wertschätzung von Andersheit (Petzold 2003a). ▶▶

Es wird viel an Humanität gewonnen, wenn Menschen zu dem Konsens finden, in diesem oder jenem Punkt im Dissens zu bleiben, ohne weitere Verletzungen anzurichten oder Kriege zu führen.

Die philosophischen Überlegungen zum Sprachbewusstsein haben therapeutische Konsequenzen für die Integrative Therapie. Keineswegs wird einem Logozentrismus (Derrida 1967, 1979) gehuldigt oder gar die Rückführung des Aktionalen in die Sprache verlangt (Lorenzer 1973). Dennoch wird die Sprache wertgeschätzt, die Sprache der Worte, der Bilder, der Klänge, die Sprache der Handlungen. In der therapeutischen Arbeit wird Unbewusstes, das Unbewusste, nicht als Monolith gesehen, genauso wenig wie das Bewusste. Beide sind komplex in ihren Manifestationen, vielgestaltig eine Dissemination (Derrida 1972). Deren Sinn ist in unterschiedlichen Feldern verstreut, aus ihm sprechen vielfältige Sprachen (Derrida 1972), und dennoch sind sie dabei nicht zersplittert, sondern durch sich kreuzende Bahnen verbunden. Zukunftsgerichtete, nichtreduktionistische Therapieformen für komplexe gesundheitliche Störungen und Krankheiten in belastenden Lebens- und Berufswelten können nicht von ein paar wenigen psychotherapeutischen Schulen entwickelt und realisiert werden. Das wird eine Aufgabe aller Orientierungen im Feld der Psychotherapie werden und verlangt die Kokreativität vieler, braucht breite Kooperationen ohne Ausgrenzung, Fähigkeit zu Reversibilität, in wechselseitiger Wertschätzung von Andersartigkeit und „différance“ (Derrida 1967; Petzold 2003a). An dieser Stelle sei im Rahmen dieses Handbuches der kurze Exkurs über wichtige Referenzphilosophien der Integrativen Therapie beendet und auf die Originalquellen oder auf monographische Arbeiten aus der Integrativen Therapie zu diesen Quellen und auf deren Rezeption (Petzold 2002h, Petzold et al. 2014a) verwiesen. Es konnten hier nicht alle wichtigen Einflüsse aufgezeigt werden, wie Hanna Arendt, Michail M. Bachtin, Pierre Bourdieu, Charles Darwin, Henry Dunant, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann oder Hermann Schmitz, die in den zentralen Texten der Integrativen Therapie immer wieder vorkommen, wo entsprechende Veröffentlichungen dieser Autoren zu finden sind (Petzold 2002p).

Literatur

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Zusammenfassung

Die Integrative Therapie bezieht ihre Anregungen aus Quellen, die weit in die Geschichte zurückreichen. Diese Quellen führen zur Grundlage ihres Menschenund Weltbildes. Kurz vorgestellt werden die Phänomenologie, die Leibphilosophie, die Hermeneutik und Überlegungen zur situativen Diskursethik sowie kritisch reflektierende Ansätze, wie die Dispositivanalyse und der Dekonstruktivismus. Von den Referenzen aus Wissenschaft und Praxis werden u. a. Vladimir Iljine, Lev Vygotskij, Alexander Lurija und Pierre Janet als Vordenker des integrativen Zuganges zum Menschen gesehen. Die Methoden der aktiven elastischen Psychoanalyse der ungarischen Schule, des Psychodramas, der Gestalttherapie und der Verhaltenstherapie werden komprimiert vorgestellt und deren Option zur Anwendung in der ­Integrativen Therapie aufgezeigt. Der Versuch einer Psychotherapiedefinition wird vorgenommen.

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Petzold HG, Orth I (Hrsg) (1990a) Die neuen Kreativitätstherapien. Handbuch der Kunsttherapie. 2 Bd, 3. Aufl. Junfermann, Paderborn, 1994 Petzold HG, Orth I (2007) „Der schiefe Turm fällt nicht… weil ich das will!“  – Kunst, Wille, Freiheit. Kreativ-therapeutische Instrumente für die Integrative Therapie des Willens: Willenspanorama, Zielkartierungen, Ich-Funktions-Diagramme. In: Petzold HG, Sieper J (Hrsg) (2007a) Der Wille, die Neurowissenschaften und die Psychotherapie. 2 Bd, Edition Sirius, Aisthesis, Bielefeld, S 553–596 Petzold HG, Osterhues UJ (1972) Zur verhaltenstherapeutischen Verwendung von gelenkter katathymer Imagination und Behaviourdrama in einem Lebenshilfezentrum. In: Petzold HG (Hrsg) Angewandtes Psychodrama in Therapie, Pädagogik, Theater und Wirtschaft. Junfermann, Paderborn, S 371–486 Petzold HG, Sieper J (1990b) Die neuen – alten – Kreativitätstherapien. Marginalien zur Psychotherapie mit kreativen Medien. In: Petzold HG, Orth I (1990) Die neuen Kreativitätstherapien. Handbuch der Kunsttherapie. 2 Bd, 3 Aufl 1994, Junfermann, Paderborn, S 519–548 Petzold HG, Sieper J (Hrsg) (2007a) Der Wille, die Neurowissenschaften und die Psychotherapie. 2 Bd, Edition Sirius, Aisthesis, Bielefeld Petzold HG, Sieper J (2008a) Der Wille, die Neurobiologie und die Psychotherapie Band II Psychotherapie des Willens. Theorie, Methoden und Praxis. Aisthesis Edition Sirius, Bielefeld Petzold HG, Sieper J (Hrsg) (2008b) Der Wille, die Neurowissenschaften und die Psychotherapie. Aisthesis Edition Sirius, Bielefeld Petzold HG, Schay P, Scheiblich J (2006) Integrative Suchtarbeit. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Petzold HG, Moser S, Orth I (2012) Euthyme Therapie – Heilkunst und Gesundheitsförderung in asklepiadischer Tradition: ein integrativer und behavioraler Behandlungsansatz „multipler Stimulierung“ und „Lebensstilveränderung“ Psychol Med 23. Jhg, Bd 3/2012: S 18–36 und Bd 4: S 42–59 Petzold HG, Orth I, Sieper J (2014a) „Mythen, Macht und Psychotherapie“. Therapie als Praxis kritischer Kulturarbeit. Aisthesis, Bielefeld Regis E, Hesnard A (1922) La Psychoanalyse des nèvroses et des psychoses. Alcan 2 Aufl. Die Entdeckung des Unbewußten Ellenberger HF 2005, S 750 Diogenes Zürich Reil JC (1803) Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Curt, Halle Renneberg B, Hammelstein P (2006) Gesundheitspsychologie. Springer, Berlin/New York Ricœur P (1965, dtsch. 1969) Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Suhrkamp, Frankfurt am Main Ricœur P (1974) Hermeneutik und Strukturalismus. Kösel, München Ricœur P (1978) Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen. In: Boehm G (Hrsg) Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main Ricœur P (1988) Zeit und Erzählung, Bd 1. Fink, München Ricœur P (2007) Der Unterschied zwischen dem Normalen und dem Pathologischen als Quelle des Respekts. In: Sieper J, Orth I, Schuch HW (Hrsg) Neue Wege Integrativer Therapie. Klinische Wissenschaft, Humantherapie, Kulturarbeit  – Polyloge. Edition Sirius, Aisthesis, Bielefeld, S 259–269 Rothschuh K (1978) Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart. Hippokrates, Stuttgart Saint-Exupery de A (1958) Der kleine Prinz. Schwann, Düsseldorf Schipperges H (1986) Der Arzt als Pädagoge. Integr Ther 4:264–283 Schmitz H (1965, 1967) System der Philosophie. Bd 2 Der Leib, 1. Teil; Bd 3 Der Raum, 1. Teil Der leibliche Raum. Bouvier, Bonn Schmitz H (1977) System der Philosophie. Das Göttliche und der Raum, Bd 4. Bouvier, Bonn Schmitz H (1978) Leib und Seele in der abendländischen Philosophie. Philosophisches Jahrbuch 85: 221–241 Schmitz H (1999) Adolf Hitler in der Geschichte. Bouvier, Bonn

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1  Geschichtliche Quellen und Referenzwissenschaften der Integrativen Therapie

Schuch HW (1994) Aktive Psychoanalyse. Sándor Ferenczis Beitrag zur Technik der Psychotherapie. Integr Ther 20(1–2):68–100 Schuch HW (1998) Sándor Ferenczi. Einige Aspekte des theoretischen Werkes von Sándor Ferenczi (1873–1933). Gestalttherapie 12/1:3–21 Schuch HW (2000) Bedeutsame Akzentverschiebungen – Von der Genitaltheorie zur Elastischen Psychoanalyse. Gesta 39(Schweiz):36–51 Schuch HW (2003) Geschichte und Psychotherapie. In: Leitner A (Hrsg) Entwicklungsdynamiken in der Psychotherapie. Krammer, Wien, S 13–56 Schwartz FW, Badura B, Leidl R, Raspe H, Siegrist J (1998) Das Public-Health-Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München Sponsel R (2007) Irrtümer und Irrwege Freuds aus allgemein-integrativer Sicht. Integr Ther 1–2:171–192 Thomä H (2001) Ferenczis „mutuelle Analyse“ im Lichte der modernen Psychoanalyse. Forum der Psychoanalyse, Ausgabe 3/2001, Springer, Berlin von Uexküll T, Wesiack W (1988) Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns. Urban & Schwarzenberg, München/Wien/Baltimore Veyne P (1992) Foucault. Die Revolutionierung der Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main Wachtler J (1896) De Alcmaeone Crotoniata. Teubner, Leipzig Waldenfels B (1983) Phänomenologie in Frankreich. Suhrkamp, Frankfurt am Main

2

Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

Inhaltsverzeichnis 2.1  2.2  2.3  2.4 

 ege zum Menschen über eine methodenübergreifende Mehrdimensionalität  W Die Schritte der Entwicklung der Integrativen Therapie  Ausgewählte Psychotherapieverfahren als Quellen für die Integrative Therapie  Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell  2.4.1  Metatheorien  2.4.2  Klinische Theorien  2.4.3  Praxeologie  2.4.4  Praxis  2.5  Körper-Seele-Geist-Verhältnis  2.6  Das biopsychosoziale Modell in der Medizin und berufspolitische Aspekte  2.6.1  Am Beispiel der Schmerzforschung  2.6.2  Psychosomatik und Psychosomatische Medizin  2.6.3  Gesundheitsversorgung aus einem berufspolitischen Blickwinkel  2.6.4  Patient – Klient  Literatur 

2.1

 31  34  37  38  41  45  46  47  48  51  51  52  55  57  58

 ege zum Menschen über eine W methodenübergreifende Mehrdimensionalität

Die Zeit der vielen Psychotherapieschulen ist Geschichte. In Zukunft wird eine verbindende Bezeichnung für methoden- und schulenübergreifende Psychotherapierichtungen gewählt werden, die in Cluster, Bereiche oder Verfahren zusammenführt. Im weiteren Text dieses Handbuches wird der Begriff „Verfahren“ ­bevorzugt. Die Integrative Therapie ist eine methodenübergreifende Psychotherapierichtung, ein entwicklungs-, kontext- und ökologieorientiertes, biopsychosoziales Verfahren. Die Integrative Therapie gehört keiner Schule an, sondern zählt wie die Ansätze von Klaus Grawe (Grawe et  al. 1994), John Norcross oder David Orlinsky zum neuen „Integrationsparadigma“ (Petzold 1992b, 2003a, S. 376). Dieser von Petzold © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_2

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32

2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

geprägte Begriff meint nicht nur ein spezifisches Merkmal, sondern die seit Ende der 1970er-Jahre unübersehbare Tendenz einzelner Therapieforscher und Kliniker, übergreifende Modelle zu entwickeln. Im deutschsprachigen Raum nahmen diese Idee seit den 1970er-Jahren unter anderen Bastine (1986), Heim (1985) und Wyss (1970) auf. Mit der Bezeichnung „neues Integrationsparadigma“ wird auch auf Therapieschulen Bezug genommen, die sich mit Argumenten, Sichtweisen und Praktiken anderer Therapieschulen auseinandersetzen, um deren Ansätze ggf. in ihr eigenes Repertoire zu integrieren. In zahlreichen Publikationen zur Integrativen Therapie, die vergleichende Psychotherapieforschung zum Thema hatten, sind solche Tendenzen dokumentiert und reflektiert. Die Personen, die für den Aufbau des hier präsentierten Verfahrens voranstehen, sind Hilarion Gottfried Petzold, Johanna Sieper, Ilse Orth und Hildegund Heinl (1919–2005). Ihre persönlichen Sozialisations- und Bildungsgeschichten sind entscheidend für die Entwicklung und auch Namensgebung dieser Humantherapie. In der laufenden Diskussion zur Wissenschaftstheorie besagt eine leitende These, die Psychotherapie und auch die psychosomatische Medizin hätten einen mehrdimensionalen fakultäts- und methodenübergreifenden Wissenschaftsbegriff zu vertreten. Alle relevanten Theorien und Erkenntnismethoden der „Wissenschaften des Lebens“ (Pieringer 1994, S. 121) hätten Beachtung zu finden und sollten, wo immer das sinnvoll und möglich ist, und es ist nicht immer möglich, integriert werden, wenn der ganze Mensch erfasst werden soll (Pieringer et al. 2002). Eine Sicht, die auch Vygotskij und Lurija in den 1920er-Jahren in Russland und Janet im gleichen Zeitraum in Frankreich vertreten haben. Integration braucht eine differenzierte und konsistente Theorie des Integrierens (Sieper 2006). Aus dieser erkenntnistheoretischen Leitthese fand auch die Öffnung zu einem biopsychosoziokulturellen, ökologischen und sozioökonomischen Verständnis in der Integrativen Therapie statt. ▶▶

Um Wege zu dem Menschen zu finden und Therapie anzubieten, nutzt die Integrative Therapie in einem weit gefassten Ansatz den phänomenologischen, hermeneutischen, existentiellen sowie dialektischen und systemischen Erkenntnisweg.

Der phänomenologische Weg gründet auf der Wahrnehmung mit allen Sinnen und ist auf Mitteilungen des Offensichtlichen, auf Gesundes wie Krankes, gerichtet. „Sich mitzuteilen, ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist …“ (Goethe 1982, S. 471) eine Voraussetzung in allen Befunderhebungen, die dann auf der Grundlage von Wissen über „klinische Beschreibungen und diagnostische Leitlinien“ (Dilling et al. ICD-10 1993, s. Kap. V, S. 7) zu Diagnosen führen, aus welchen sich therapeutische Interventionen ableiten. Hintergrundinformation: In dem Roman Die Wahlverwandtschaften lässt Johann Wolfgang von Goethe Ottilie ins Tagebuch schreiben: „Sich mitzuteilen, ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung“ (Goethe 1809, Aufl. 1982, S. 471).

2.1  Wege zum Menschen über eine methodenübergreifende Mehrdimensionalität

33

Dieser Ansatz schließt den hermeneutischen Weg mit ein, der das Wahrgenommene in Prozessen des Verstehens und Erklärens, die auf Sinnschöpfung gerichtet sind, verarbeitet und interpretiert (Petzold und Orth 2005a). Der hermeneutische ­Erkenntnisweg in der Philosophie führt in seiner Anwendung in der Psychotherapie über einfühlende Auslegung und gemeinsame Interpretation von Patient und Therapeut. Die Vertreter dieses Denkens sind Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, Gadamer und Ricœur. In der Behandlung zeigt sich empathische Zuwendung und gemeinsame Interpretation als sehr hilfreich. Therapie ist aus Sicht der Integrativen Therapie ein ko-kreativer Akt. Die konsequente Reflexion der historisch-kulturellen und soziologischen Zusammenhänge nach Foucault, Derrida, Habermas und Luhmann einerseits, und seiner neurobiologisch-systemischen, zerebralen und entwicklungspsychobiologischen Voraussetzungen andererseits führen zu einem Konzept der Metahermeneutik, mit der sich die Hermeneutik selbst in den Blick nimmt (Petzold 2005p, 2009k). Der integrative Ansatz ist auch einem existenziellen Weg verpflichtet, einem Schauen nach dem Wesentlichen, nach der ausstrahlenden Würde des kranken Menschen als Person (Marcel 1956; Ricœur 2007). Es ist metaphorisch gesprochen ein „Schauen mit dem Herzen“ sensu Antoine de Saint-Exupéry (1950/1991). Ein zentrales Therapiekonzept ist die Erweiterung des Sinnerlebens durch Selbst- und Welterkenntnis. Die wissenschaftlichen Referenztheoretiker für diesen Zugang sind v. a. Husserl, Bachtin, Arendt, Marcel, Merleau-Ponty, Lévinas und Schmitz (Petzold 2003a). Ein weiterer in der Sozialwissenschaft vertretener Zugang zum Menschen ist die dialektische Erkenntnismethode. Von Heraklit und Empedokles wurde sie in die Philosophie eingeführt und von Kant, Hegel und anderen kritisch differenziert. Der Fokus zielt auf das Erfassen von Spannungen zwischen physischen und psychischen Situationen und geht der Frage nach, wie sich die veränderten Polaritäten, Positionen, auch Wertpositionen, und Strukturen des erkrankten Menschen, des Menschen in seiner Beziehung zu seiner realen Umwelt, verhalten. Ein dialektischer Zugang fordert demgemäß auch Konfrontation und Ermutigung im Ringen um eine neue Balance. In der Therapie sind einerseits physiologische und biologische Maßnahmen, andererseits psychotherapeutische Konfrontation und sozialmedizinische Vorsorge gefordert (Pieringer et al. 2002). In seinem systemischen Modell vertrat der griechische Arzt und Philosoph Alkmaion von Kroton (s. Abschn.  1.1) das pythagoreische Harmoniekonzept. Darin wird die Auffassung vertreten, dass Gesundheit eine „isonomia“, eine Gleichberechtigung gegensätzlicher Kräfte im menschlichen Körper sei. Krankheit sei das Ergebnis des Vorherrschens einer dieser Kräfte. Das systemische Modell wurde von den russischen Physiologen Uchtomsky, Anokhin und Lurija zu einer nonlinearen Systemtheorie weiterentwickelt. In Deutschland war ein Vertreter dieses Ansatzes der Neurologe Kurt Goldstein, welcher der Gestaltpsychologie verbunden war. Das systemische Modell basiert auf der Vorstellung von Prozessen dynamischer Regulation (Lurija 1932, 1992; Petzold und Michailowa 2008a, 2008b). Es ist eines der nützlichsten Modelle, welches die Entwicklung der Integrativen Therapie in

34

2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

ihrer Ausrichtung der multitheoretischen Arbeit vorangetrieben hat (Sieper 2006). Niklas Luhman (1968) hat das systemische Modell für die Ebene sozialer Systeme ausgearbeitet. Sein Werk wurde von Petzold rezipiert und für die Konzeptentwicklung der Integrativen Therapie genutzt (Petzold 1974j; Schmidt und Kieserling 2017). Luhmanns Ansatz wird bis heute in der integrativen Supervision (Petzold 1998a, 2007a) und in der Soziotherapie (Petzold et al. 2006) vertreten.

2.2

Die Schritte der Entwicklung der Integrativen Therapie

Die Entwicklung der Integrativen Therapie lässt sich in Hinblick auf ihre Identität in mehreren Schritten beschreiben. Der erste Abschnitt reicht von der Mitte der 1960er-Jahre bis Anfang der 1980er-Jahre, der zweite Abschnitt von Anfang der 1980er-Jahre bis 2000. Seither erfolgen innovative Weiterentwicklungen (Petzold et al. 2018; Stefan 2020). In ihrem ersten Entwicklungsabschnitt durchlief die Integrative Therapie mehrere Phasen der Selbstfindung. In dieser Phase stand die Auseinandersetzung mit den späteren Quellverfahren im Vordergrund. Zeitlich in naher Abfolge waren das die Psychoanalyse, und zwar jene der ungarischen Schule, das Psychodrama, die Gestalttherapie, das Therapeutische Theater, die Verhaltenstherapie sowie leib- und körpertherapeutische Verfahren. Hintergrundinformation: Interessenten für das Psychotherapeutische Fachspezifikum „Integrative Gestalttherapie“ sei an dieser Stelle die 2. Auflage des Buches Gestalttherapie von Markus Hochgerner et al. (2018) empfohlen.

Bezeichnend für den ersten Entwicklungsabschnitt war, dass Protagonisten der Integrativen Therapie nie meinten, im eigentlichen Sinne elastische Psychoanalyse, Psychodrama, Gestalttherapie oder Körpertherapie zu betreiben. Sie dachten, ihrem Anspruch folgend, sie machten etwas Weiteres, Breiteres, jedenfalls etwas Anderes. So herrschte in Hinblick auf die Gestalttherapie die Auffassung, diese auf ihre europäischen Wurzeln zurückzuführen, sie neu zu interpretieren und zu erweitern, letztlich qualitativ zu verändern. Die Besonderheit des ersten Entwicklungsabschnittes, auf mehrere Quellen zurückzugreifen, die wissenschaftstheoretisch gesehen eine hohe Kompatibilität aufweisen, hängt mit der besonderen Situation im Frankreich der 1960er-Jahre zusammen. Petzold, Sieper und Orth studierten zu dieser Zeit in Paris. Damals blühte mit dem Élysée-Vertrag die deutsch-französische Freundschaft auf. Das öffnete die europäische Integrationsbewegung und die 1968er-Bewegung setzte viele neue Impulse. Pierre Janet (s. Abschn. 1.2), Philosoph, Psychiater und Vertreter der modernen klinischen Psychologie, hatte in den 1920er- und 1930er-Jahren schon eine integrative Psychologie und eine psychiatrische Psychotherapie entwickelt. In diesen Therapieformen hatte er entwicklungspsychologische, philosophische und klinisch-­psychologische Konzepte integrierend verbunden. An diese Tradition knüpfte die Integrative Therapie ausdrücklich an. Sie evaluierte

2.2  Die Schritte der Entwicklung der Integrativen Therapie

35

verschiedene ­Psychotherapieverfahren aus unterschiedlichen Perspektiven. Mit der klinischen Sichtweise wurde dabei Bezug auf Janet genommen. Die wissenschaftstheoretischen und anthropologischen Kriterien steuerten der Philosoph Paul Ricœur und die beiden Philosophen und Psychologen Michel Foucault und Maurice Merleau-Ponty bei, die sich alle konzeptkritisch mit der Psychotherapie auseinandersetzten. Von Petzold ausgehend, bestand der Kontakt mit der russischen Kulturtheorie und der ­Neuropsychologie von Vygotskij, Lurija und Bachtin. Das Ziel war, eine generell kritisch-­reflexive Distanz zum jeweiligen Selbstverständnis herzustellen. Parallel dazu erfolgten die Auseinandersetzung mit und die Erprobung von zahlreichen weiteren psychotherapeutischen Verfahren und Ansätzen. Ein wichtiger Ansatz war der behaviorale und kognitivistische, wobei schon damals auf die zu dieser Zeit vorhandene Forschungslage zurückgegriffen wurde. Bestimmend für die Integrative Therapie war über den Horizont der jeweiligen Psychotherapieverfahren hinaus die konsequente Wissenschafts- und Forschungsorientierung. Der Integrationsgedanke bildete von Anfang an das durchgängige Leitmotiv, auch wenn bestimmte methodische Ausrichtungen, wie elastische Psychoanalyse, Psychodrama, Gestalttherapie, Verhaltenstherapie, Leibtherapie, zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich gewichtet wurden (Petzold und Orth in Petzold et al. 2018). ▶▶

Nach langen Diskussionsprozessen, die in die frühen 1970er-Jahre hineinreichten, setzte sich Anfang der 1980er-Jahre das Selbstverständnis für ein eigenständiges Psychotherapieverfahren durch, die Integrative Therapie.

Die Identitätsfindung in diesem zweiten Entwicklungsabschnitt durchlief diskursive Auseinandersetzungen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Rückblickend kann die Integrative Therapie als Neugründung auf einem bereits reich bestellten Feld angesehen werden. Die Neugründung erfolgte unter Rückgriff auf die Phänomenologie, die Hermeneutik, die Systemtheorie, die Wissenschaftsgeschichte und die Metahermeneutik (Petzold 2003a) mit einem innovativen Modell der Wissensstruktur, dem sog.  Tree of Science (Petzold 1992a, S.  457; 2003a, S. 383–514). Mit diesem Modell wurde eine originelle erkenntnistheoretische Basis geschaffen. In Auseinandersetzung mit der Anthropologie, nach Marcel, Levinas, Bachtin, Merleau-Ponty, Plessner und anderen, wurde eine konsistente anthropologische Position formuliert (Petzold 1988n, 2003e). Auf dieser Grundlage wurde eine Persönlichkeitstheorie ausgearbeitet (Petzold 1984i, 2003a), ganz wie es die Strukturlogik des Tree of Science vorgibt. Der aktuelle Stand der Entwicklungspsychologie wurde genutzt und die klinische Psychologie wurde vor dem Hintergrund des Fundus der Gesamtpsychologie rezipiert. Darauf aufbauend wurden vorhandene theoretische Modellvorstellungen und psychotherapeutische Praktiken aus den jeweiligen Verfahren gesichtet. Deren Vereinbarkeit wurde geprüft, erprobt und in die Integrative Therapie, in ihr Integrationsmodell und ihr neues theoretisches Fundament übernommen. Gleichzeitig wurden systematisch eigene Theorien wie das Stimulierungsmodell der Krankheitslehre (s. Abschn. 5.2), das Ko-­respondenzmodell,

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

die Identitätstheorie (s. Abschn. 4.3.3), sowie eine Fülle eigenständiger Methoden, Techniken und Medien entwickelt (s. Abschn. 7.5). Hintergrundinformation: Das Ko-respondenzmodell beschreibt einen wechselseitig stattfindenden Prozess zwischen Subjekten (s. Abschn. 3.1).

Von Beginn an wurden eigenständige Entwicklungen betrieben und anschlussfähige Inhalte anderer Ansätze mitberücksichtigt. Durch diese Art der Rezeption wurden die infrage kommenden Verfahren für die Integrative Therapie stets einer Kritik, Neuinterpretation und theoretischen Neubegründung und Neueinordnung unterzogen. Durch diesen Weg qualitativ verändert, haben sie so den theoretischen und praxeologischen Korpus der sich herausbildenden Integrativen Therapie bereichert (Petzold 2003a). Am Beispiel der Gestalttherapie wird das besonders deutlich. Im Laufe der Zeit wurde das als wichtig bewertete Verfahren Gestalttherapie zunehmend auf dem nachgeordneten Rang eines methodischen Elementes platziert. Bestimmte gestalttherapeutische Elemente sind nur Optionen in dem Verfahren Integrative Therapie, zu deren Anwendung es einer speziellen Indikation bedarf (Petzold 2003a). Parallel zur Entwicklungslinie der theoretischen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Diskussion psychotherapierelevanter Theorien lässt sich eine Entwicklung feststellen, welche die Auseinandersetzung mit psychotherapeutischen Praktiken betrifft. Im Rahmen dieser Diskurse, ganz besonders aber auch durch Eigenentwicklungen, bildete sich der selbstständige Charakter einer Arbeitsweise der Integrativen Therapie heraus. Mit einer klar beschreibbaren, dadurch der fachlichen Diskussion zugänglichen Grundregel der Integrativen Therapie (Petzold 2000a) (s. Abschn. 3.2.3), die in Kontrast zu historischen Grundregeln anderer Verfahren steht, wird der eigene spezifische Weg offensichtlich. Die Arbeitsweise der Integrativen Therapie wird durch die Ausführung von Behandlungsbeispielen deutlich gemacht (s. Abschn. 7.8). ▶▶

Die psychologischen und philosophischen Quellen der Integrativen Therapie verursachten oft Vermittlungsprobleme, Diese Quellen fordern, eine gänzlich andere Perspektive einzunehmen, nämlich intersubjektive, erlebniszentrierte und weniger objektivierende Standpunkte.

Die persönliche Sozialisation der Begründer ist für die Entwicklung und Ausrichtung eines Therapieverfahrens entscheidend. Die Mehrsprachigkeit Hilarion G. Petzolds, der maßgebliche deutsche, russische und französische Kultureinfluss und die persönlichen Begegnungen mit Vertretern der Quellverfahren waren der Keim für diese Kulturarbeit mit ausgeprägter Mehrdimensionalität. Mit diesem Wissenshintergrund betreiben Petzold und Vertreter dieses Zugangs Psychologie aus der Sicht der französischen und russischen Schule und Philosophie von einem anderen als vom gewohnten objektivierenden, reduktionistischen Standpunkt. Sie gehen einerseits häufig vom Erleben des Individuums und seinen sozialen Netzwerken und

2.3  Ausgewählte Psychotherapieverfahren als Quellen für die Integrative Therapie

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Kontexten aus und nehmen die erlebte oder erlebbare Qualität von Beziehungen zu den Themen Intersubjektivität, Alterität, Ethik und Macht in den Blick. Andererseits praktizieren sie eine kulturtheoretische Metareflexivität nach Lyotard und Foucault, die Dogmatismen eine Absage erteilt. Bernhard Waldenfels beginnt das Vorwort zu seinem Standardwerk Phänomenologie in Frankreich (1983) bezeichnenderweise folgendermaßen: „Wenn neuere Texte aus Frankreich für ausländische Leser mitunter allzu mysteriös klingen, so kann das auch daran liegen, dass die eigenen Resonanzflächen zu schmal oder zu unelastisch sind“ (Waldenfels 1983, S. 13). Dabei sind auch Begriffsüberschneidungen oder andere Bedeutungszuschreibungen mögliche Ursachen für einen erschwerten Zugang zu diesen Texten.

2.3

 usgewählte Psychotherapieverfahren als Quellen für A die Integrative Therapie

Die Entwicklung der Integrativen Therapie ging mehrgleisig vonstatten. Das klinische Verfahren Integrative Therapie wurde an der „Entwicklungspsychologie in der Lebensspanne“ (Oerter und Montada 1987) orientiert und als praktisches Verfahren mit Bezug zu verschiedenen Therapieströmungen entwickelt, zu denen es auch theoretische und klinische Arbeiten beisteuerte. Die Integrative Therapie hat neben zahlreichen eigenständigen Behandlungswegen auch ausgewählte methodische Konzepte unterschiedlicher Psychotherapieverfahren berücksichtigt (Petzold 2003a): • die Psychoanalyse, in der Weiterentwicklung nach Sándor Ferenczi, Michael Balint und Vladimir Iljine, • das Psychodrama nach Jacob und Zerka Moreno, • die klassische Gestalttherapie, nach Fritz Perls, Lore Perls und Paul Goodman, • die Verhaltenstherapie, nach Frederick Kanfer, • das systemische Modell, nach Niklas Luhmann, • und verschiedene leibtherapeutische Ansätze, nach Wilhelm Reich, Alexander Lowen und Elsa Gindler. Diese Einflüsse wurden nach sorgfältig erarbeiteten Integrationskriterien (Petzold 1993n, 1977f; Sieper 2006) kritisch gesichtet und bewertet. Die Einflüsse der methodischen Konzepte wurden nicht unreflektiert eklektisch zusammengewürfelt, sondern zusammen mit den eigenen Entwicklungen zu einem in sich konsistenten Psychotherapieverfahren, der Integrativen Therapie, ausgearbeitet. Alle genannten Quellen sind als historische Phänomene für die Entwicklung der Integrativen Therapie von Bedeutung. Als Einflussgrößen waren sie zumeist in einer gewissen Gleichzeitigkeit relevant. Der integrative Ansatz stand und steht mit den Entwicklungen im Gesamtfeld der Psychotherapie in Ko-respondenz, in einem konstruktiven Polylog (Petzold 2002c).

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

Hintergrundinformation: Polylog ist ein Konzept der Diskurse und Gespräche nach vielen Seiten hin, ein Konzept, das von Bachtins Idee einer „polyphonen Dialogizität“ (1981) inspiriert ist (Petzold et al. 2008a, S. 326).

Diese Polyloge machen für die Entwicklung eines Behandlungsweges Sinn, wie es die Integrative Therapie für das komplexe Wesen Mensch versucht. Sinn entsteht nämlich durch Begegnung und Auseinandersetzung in polylogischen Konsens-­ Dissens-­Prozessen (Petzold 2003a). ▶▶

2.4

In Abgrenzung zu einer willkürlich zusammengeführten Ansammlung von etablierten Psychotherapiemethoden wurde die Integrative Therapie als theoretischer Ansatz systematischer Methodenintegration auf der Basis erkenntnistheoretischer, anthropologischer und beziehungstheoretischer Konzepte gegründet.

Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell

Von Anbeginn war die Idee einer Metastruktur für die Integrative Therapie in Form eines „Tree of Science“ (Petzold 1992a, S. 457; 2003a, S. 383) strukturgebend und steht zentral für die Entwicklung dieses Psychotherapieverfahrens. Der systematische Aufbau für die Theorie wird von der anthropologischen Formel des Leibsubjektes im intersubjektiven Bezug in Kontext und Zeit (Petzold 1991k) wie ein roter Faden durchzogen und ist ein wegweisendes Element für die Integrative Therapie. ▶▶

Grundsätzlich sollte ein psychotherapeutisches Verfahren für Therapeut und Patient eine klar nachvollziehbare innere Konsistenz und Kohärenz aufweisen. Ein psychotherapeutisches Verfahren sollte konzeptuell hinlänglich durchgängig sein und vom Patienten verstanden werden können.

Die angebotenen Lehrveranstaltungen, welche die Integrative Therapie als psychotherapeutisches Ausbildungsverfahren ausweisen, sind Selbsterfahrung im Einzelsetting, heute als dyadisches Setting benannt, Selbsterfahrung im Gruppensetting, theorie- und praxisverschränkte Methodenvermittlung, Supervision und supervidierte Praxis. All diese Ausbildungsschritte basieren auf einer konsistenten fachspezifischen Theorie. Diese in sich konsistente Theorie verbindet die aufeinanderfolgenden Schritte, welche die Prozesse in der psychotherapeutischen Behandlung zu einem zusammenhängenden Ganzen fundieren, auf der Grundlage eines Menschenbildes und klarer, erkenntnistheoretischer Positionen. Der theoretische Hintergrund der Behandlung eines Menschen hat metatheoretisch klar und nachvollziehbar zugeordnet zu sein. Er ist auf dem Boden einer klinisch-­theoretischen, die Realität des klinischen Alltags explizierenden Ebene sowie auf einer praxeologischen Ebene zu entwickeln. Dies wiederum bildet die Grundlage einer reflektierten, in sich konsistenten, nichteklektischen Praxis, die wiederum den Boden jeder Theorie bildet (Petzold 2000h, 2003a).

2.4  Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell

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In einem geeignet scheinenden Augenblick kann auch eine kurze theoretische Erläuterung sinnvoll sein, die der Therapeut dem Patienten über den geplanten Therapieschritt gibt. Ein sinnvoll abgestimmter theorie-praxisbezogener Aufbau für die Behandlung von Menschen erfordert metatheoretische, klinische und praxeologische Konsistenz, vom Menschenbild über Ethikfragen, vom Wissen um Erkenntnistheorie und Persönlichkeitsentwicklung des Menschen sowie von Gesundheits- und Krankheitslehre bis hin zu Methodik- und Interventionslehre und Umsetzung in der Dyade oder Netzwerktherapie, wie Paar- oder Familientherapie. Der praktische Grund für dieses abgestimmte Theoriegebäude besteht darin, einerseits den Studierenden die nötige Sicherheit bei ihren späteren psychotherapeutischen Interventionen zu geben und andererseits Patienten davor zu schützen, durch widersprüchliche ­Interventionen in potenziell schädigende Unklarheiten verstrickt zu werden (Märtens und Petzold 2002). ▶▶

Wenn gegensätzliche, unvereinbare Theoriepositionen wahllos zusammengewürfelt werden, kann dies bei dem Patienten durch sich widersprechende Handlungsanweisungen auf der Interventionsebene zu Verwirrung führen (Märtens und Petzold 2002).

Auch das implizite Vermitteln von unterschiedlichen anthropologischen Positionen und Werthaltungen, die nicht als unterschiedlich kenntlich gemacht werden, schafft beim Patienten Unklarheit. Es führt zu Verunsicherung in der persönlichen Entwicklung des Behandelten und beschert dem Therapeuten Orientierungslosigkeit für den Prozess oder für die Ziele des therapeutischen Handelns. Daher wird in der Integrativen Therapie ein in sich konsistentes Handeln gefordert und gegen ein unkritisches Auswählen aus verschiedenen Systemen von Referenzen plädiert (Märtens und Petzold 2002). Im Rahmen einer Psychotherapie nach diesem Integrationsmodell, das auf Intersubjektivität ausgerichtet ist, bewegen sich Therapeut und Patient ko-respondierend in einer unmittelbaren und ganzheitlichen Begegnung und Auseinandersetzung. Dies geschieht sowohl auf der Körperebene, wo Körperhaltung, Bewegung, Gestik und Mimik miteinbezogen werden, als auch auf der Gefühls- und Vernunftebene, zu einem vom Patienten mitgebrachten Beschwerdebild, unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes. Ziel ist dabei die Herstellung eines Konsenses, um gemeinsam Konzepte für die weitere Vorgangsweise in der Therapie auf Grundlage einer Kooperation zu erarbeiten. Wenn ein derartiger therapeutischer Zugang unter der Voraussetzung wechselseitiger Anerkennung von subjektiver Unversehrtheit plötzlich durch eine Intervention aus einem nichtkompatiblen Therapieverfahren unterbrochen wird, wie beispielsweise eine direktive Anweisung, ein nicht nachvollziehbares Energiekonzept oder apodiktische Deutungskünste vonseiten des Therapeuten, kann es zu Risiken, Nebenwirkungen, ja sogar Schäden durch Psychotherapie kommen (Märtens und Petzold 2002; Leitner et al. 2013a, 2014). Hintergrundinformation: Ein Dank gilt hier Prof. Silke Gahleitner für die engagierte Unterstützung im Abschlussstadium des Forschungsprojektes „Risiken, Nebenwirkungen und Schäden durch Psychotherapie“ und für die kompetente Zusammenarbeit an der Donau-Universität Krems.

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

Deshalb ist es in der Integrativen Therapie seit ihrem Bestehen von Relevanz, eine Auswahl kompatibler oder gut vernetzbarer theoretischer Konzepte und methodisch geprüfter Vorgehensweisen anzubieten. ▶▶

Bei einer evtl. Erweiterung des Verfahrens durch neue Methoden und Techniken ist darauf zu achten, Leitkonzepte zu wählen, die das therapeutische Verfahren hinlänglich konsistent halten (Petzold 2003a).

Die integrativ-psychotherapeutische Vorgehensweise, ob psychodynamisch, phänomenologisch oder hermeneutisch, gestattet keine von dem konkreten Geschehen in der zwischenmenschlichen Beziehung losgelöste verdinglichende Objektivität, wohl aber einvernehmlich erarbeitete Objektivierungen. Dabei erfolgt der Blick beider an dem psychotherapeutischen Geschehen Beteiligten aus einer exzentrischen Position, aus dem räumlichen und zeitlichen Abstand auf eine problematische Lebenssituation hin (Petzold 2003a). Die positive Entwicklung in der Therapie hängt auch davon ab, welches Bild wir uns von dem jeweiligen Menschen machen, welches Verständnis wir von seinem Gewordensein, seiner Entwicklung haben, welche Annahmen von den Strukturen der Persönlichkeit und ihrer gesellschaftlichen Vernetzung wir treffen. Je menschengerechter die theoriegeleiteten Praxisschritte während der Ausbildung zum Psychotherapeuten erlebt werden, oder nach der Ausbildung in der supervidierten praktischen Arbeit erfolgen, umso effizienter wird die Behandlung nach allen Seiten und für alle Seiten sein; in erster Linie freilich für den Patienten, für seine Angehörigen, aber auch für den Therapeuten und letztlich auch für den Versicherungsträger. Wenn eine Behandlung erfolgreich ist, stellt sich diese von vielen Teildisziplinen getragene Wissenschaft als Kunst dar, den Menschen zu begleiten. Doch der Kunstfertigkeit eines Therapeuten wird noch mehr abverlangt. Die konsensuell erarbeitete Objektivierung bezieht auch die empirisch abgesicherte Wirksamkeitsüberprüfung mit ein und, wenn indiziert, auch unter Anwendung eines Therapiemanuals. ▶▶

Der Siegeszug einer „evidence based intervention“ und eines informierten Patienten, den sich Vertreter der Gesundheitsberufe wünschen, lassen keine Wahl: Es wird in Zukunft vermehrt die Frage gestellt werden, inwiefern die Wirksamkeit therapeutischer Interventionen empirisch nachgewiesen ist (Schnyder 2009).

Hintergrundinformation: Bei aller Begeisterung für „evidence based intervention“, die mit etablierten empirisch abgesicherten Therapien vergangenheitsorientiert bleibt, darf eine kreative innovationsfreudige Weiterentwicklung neuer Therapieansätze mit noch nicht empirisch abgesicherten Wirksamkeitsnachweisen nie versiegen. Es gilt dann, diese neuen Ansätze auf ihre Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit, Unbedenklichkeit und Wirtschaftlichkeit zu prüfen.

Die Integrative Therapie hat mit dem Kernkonzept des Verfahrens, der Metastruktur des Tree of Science, eine für die Therapieentwicklung handlungsrelevante Theoriekultur beschritten. Dieses übergeordnete Modell umfasst eine alle wesentlichen

2.4  Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell

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Wissensbereiche vernetzende Struktur der Psychotherapie als Disziplin. Es wird deutlich, dass es sich um eine Humantherapie handelt, die nicht nur auf Psychisches oder Somatisches gerichtet ist. Der im Denken Vieler, auch vieler Patienten fast unvermeidliche implizite Dualismus wird vermieden, es wird ebenso der Kontext sozialer, kultureller und sozioökonomischer Dimensionen miteinbezogen. Dieses übergeordnete Modell ist der Rahmen für eine ordnende und zugleich offene Systematik von Theorien, die in eine Therapie einfließen. Auf den ersten Blick stellt sich diese Wissensstruktur als Raster dar, entlang dessen die Wissensbestände aufgefächert werden, von Metatheorien über klinische Theorien bis hin zur Praxeologie und Vermittlung für die Praxis. Das formale Schema steht für das wissenschaftlich ebenso begrüßenswerte wie einleuchtende Vorhaben, psychotherapierelevante Theorie hinsichtlich Strukturniveau und Geltungsanspruch wissenschaftstheoretisch einzuordnen und zu diskutieren. Es mag erstaunen, dass ein solches Schema in dieser Form erstmalig durch die Integrative Therapie für den Bereich der Psychotherapie vorgelegt worden ist. Auf den zweiten Blick bietet sich diese Wissensstruktur als Entwurf für eine interdisziplinäre Fundierung von Psychotherapie an. Damit kann eine vielschichtige Vernetzung von transdisziplinären Wissensbeständen auf unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Ebenen erfolgen (Petzold 2003a). Das strukturgebende Modell des Tree of Science umfasst Metatheorien, klinische Theorien, Praxeologie und Praxis (Petzold 2003a; Petzold et al. 2018).

2.4.1 Metatheorien In den Gesundheitsberufen, in der Pädagogik, in der Politik, in der Sozialarbeit, in einer humanmedizinischen Behandlung, jeder Arbeit mit Menschen liegen metatheoretische Annahmen wie Menschenbilder, Vorstellungen von der Gesellschaft und ethiktheoretische Überlegungen zugrunde. Ohne derartige Vorstellungen ist schlüssiges Handeln in der Praxis nicht möglich. Die Entscheidung für die jeweilige metatheoretische Position trifft der Mensch • aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, vermittelt durch die Erziehungsverantwortlichen, Familie, oder • aufgrund von Machtstrukturen, denen er ausgesetzt ist, wie Gesinnungszwang in politischen Systemen, oder • aufgrund der argumentativen Überzeugungskraft, einer konzeptionellen Übereinstimmung, oder • aufgrund der Stimmigkeit für einen gegebenen Lebenszusammenhang in spezifischem Kontext. Schließlich kommt noch ein Moment persönlicher Berührungspunkte hinzu, entsprechend der persönlichen Weltanschauung, mitbegründet durch den sozioökonomischen Status und dem Lebensgefühl, das über Sozialisation, Tradition und

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

­ trömungen aus dem kollektiven und individuellen Gedächtnis und biologischen S Vorgaben einfließt (Janet 1928; Moscovici 2001; Petzold 2003a). Hintergrundinformation: Biologische Vorgaben sind jedoch „nicht unbedingt ursächlich für eine Verhaltensweise verantwortlich, sondern modulieren nur, sensibilisieren und senken die Schwelle für Umweltreize, die sie verursachen“ (Sapolsky 2017, S. 862). ▶▶

Metatheorien stellen keine objektiven, absoluten Wahrheiten zur Verfügung. Sie sind als Niederschlag und Ausdruck bestimmter historischer, zeitgeschichtlicher, soziokultureller, sozioökonomischer und ökologischer Situationen zu verstehen (Petzold 2003a).

Metatheorien sind beständig im Fluss. Diese Relativität, dieses Fehlen ewiger Wahrheiten, außer der Wahrheit des fortwährenden Wandels, der immer neue Formen hervorbringt, ist für den Menschen schwer aushaltbar, denn diese Offenheit lässt die Last der Freiheit spüren (Berdjajew 1954). Gleichzeitig motiviert dies, an gewachsenen und vertrauten Gedankengebäuden festzuhalten, um in ihnen zu wohnen und sich geistig beheimatet zu fühlen. Im Folgenden werden einzelne Positionen des Tree of Science für die konsequenterweise als Entwurf bezeichnete derzeitig gültige Fassung der Integrativen Therapie kurz vorgestellt (Petzold et al. 2018).

2.4.1.1 Erkenntnistheorie Ehe der Therapeut einen leidenden Menschen begleitet, hat er sich mit seinem eigenen Menschenbild auseinanderzusetzen und hat sich die Frage zu beantworten, wie er Erkenntnisse über den Patienten gewinnen kann. In einem sehr komplexen Prozess kann dies zwischen Erkennendem und Erkanntem geschehen (Merleau-Ponty 1945, 1964) oder als „Wechselwirkung zweier Systeme“ (Kriz 1981, S. 18), wohl immer in einem gemeinsamen kreativen Akt (Iljine 1990). Den Quellen und dem theoretischen Ausgangspunkt der Integrativen Therapie gemäß, der Phänomenologie (Husserl 1985; Merleau-Ponty 1966), wollen wir vom Leibe her Sinn aus den Sinnen schöpfen. Das Wahrgenommene wird in den Kontext des Sozialen, des Ökologischen und Kulturellen eingebettet und in einen Gesamtzusammenhang gestellt. Im Verlauf eines intersubjektiven Prozesses geht der gemeinsame Weg „von den Phänomenen“, den Symptomen, Befunden, sozialen Verhaltensweisen, „über die Strukturen“, die Störungsbilder, Diagnosen, hin zu den „biografisch determinierten Entwürfen“ (Petzold 2003a, S. 38), sichtbar in oft minimalen körperlichen Bewegungsansätzen, auch in Mimik und Gestik. Die so erfahrene Erkenntnis und der so erfahrene Erkenntnisgewinn sind nicht wertfrei, sondern von Erkenntnisinteressen bestimmt (Habermas 1968). Die gemeinsame Auslegung der Phänomene zwischen Patient und Therapeut führt zu geteilter Wirklichkeit. Durch diese Ko-kreativität wird die Phänomenologie in einer gemeinschaftlichen Hermeneutik, einer Tiefenhermeneutik (Ricœur 1974, 1978), vom Leibe her, vom Bewusstsein, von der Sozialität her erweitert. So schreiten die Erkenntnisprozesse vom Wahrnehmen zum Erfassen, zum Verstehen und zum Erklä-

2.4  Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell

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ren fort und erweitern die Sinnerfassungskapazität des Menschen. Die Erkenntnistheorie der Integrativen Therapie ist als „phänomenologisch-struktural und hermeneutisch“ (Petzold 2003a, S. 403) zu bezeichnen.

2.4.1.2 Wissenschaftstheorie Hier wird die erkenntnistheoretische Position auf ihr Zustandekommen unter wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten hinterfragt. Die Integrative Therapie reflektiert die Wissenschaft auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Interessenlagen, Machtverhältnisse und weiterer Einflussgrößen. Die Integrative Therapie setzt eigene theoretische Positionen zu anderen Therapierichtungen in Beziehung und tritt in Ko-respondenzprozesse mit wissenschaftlichen Strömungen und Therapieverfahren. In biologischer und gesellschaftlicher Hinsicht sieht die Integrative Therapie Erkenntnis als einen evolutionären Prozess mit vielfachen Ausformungen in den Wissenschaften, als einen Prozess, der sich im Sinne der heraklitischen Spirale (s. Abschn.  1.3.2; s. Abschn.  6.6) Windung um Windung vorwärtsbewegt. ­Wissenschaftliche Erkenntnis wird in vernetzenden, diskursiven Prozessen durch Konsens- und Dissensbildung bestimmt. Die Wissenschaftstheorie der Integrativen Therapie ist „evolutiv-pluralistisch, metahermeneutisch, konnektivierend“ (Petzold 2003a, S. 405). 2.4.1.3 Anthropologie Wir, Du und Ich sind die Grundlage für die gemeinsam kreative Intersubjektivität im jeweiligen Lebenszusammenhang und in der Zeit. Das Wir wird gegenüber dem Buber’schen Dialog „Ich und Du“ (Buber 1983) besonders hervorgehoben. Evolutionstheoretisch betrachtet entwickelte sich der Mensch als Gruppenwesen in Polyaden. Die Sprache entstand nicht in Dialogen, sondern in Polylogen (Petzold 2000c; Osten 2008). An dieser Stelle ist der Diskurs um eine geschlechtergerechte wie geschlechtersensible Sprache erwähnenswert. Die Integrative Therapie sieht in ihrem anthropologischen Konzept den Menschen als ein Körper-Seele-Geist-Welt-Wesen (Petzold 2003e). In der Diskussion wird die Perspektive auf Gender und Geschlecht, männlich, weiblich, divers, inter oder offen, weiterhin die anthropologische Sicht der Integrativen Therapie beeinflussen (Höfner und Schigl 2011; Höfner 2008) (s. Kap. 9 und 10). Der Mensch erkennt die eigene Existenz mit anderen in der Welt und versucht, diese gender- und ethniebewusst zu verstehen und kreativ für sich und mit anderen, also ko-kreativ zu entwerfen. Die Integrative Therapie beantwortet die Frage nach dem Menschenbild als „existenzialistisch, intersubjektiv und ko-kreativ“ (Petzold 2003a, S.  408). Die kurz gefasste anthropologische Grundformel beschreibt den Menschen als Leib-Subjekt im sozialen, ökologischen, sozioökonomischen und kulturellen Umfeld im Strom der Zeit. Der Mensch und seine Lebenswelt befinden sich stets im Wandel in „schöpferischen Metamorphosen“ (Petzold 2003a, S. 409). „In der Integrativen Therapie spricht man […] gegenwärtig von einem ‚Körper-­ Seele/Geist-Welt-Problem‘ (Petzold und Orth 2018, S. 903). Körperliches fällt in den Bereich des Materiellen, des Biologischen und Physikalischen. Seele/Geist, mit

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

Querstrich geschrieben, zielt auf die Sphäre des emergenten Transmateriellen, wie zum Beispiel Gedanken, Gefühle oder Volitionen. Der integrative Leibbegriff in Form des informierten Leibes umfasst beides und bezieht außerdem die genealogisch-­ historische sowie ökologische Situiertheit des Leib-Subjekts mit ein.“ (Stefan 2020, S. 5)

2.4.1.4 Gesellschaftstheorie Im Laufe der Menschheitsgeschichte brachte der Mensch mit fortschreitender Entwicklung und Differenzierung sozialer Strukturen immer neue Gesellschaftsformen hervor. Es entstanden schöpferische Freiräume und gesellschaftliche Vielfalt und eine weitere subjektive Ausdifferenzierung wurde möglich (Petzold 2003a). Die ökologische Sicht, das Konzept Kontext und Kontinuum in der Integrativen Therapie und das erkenntnistheoretische Konsenskonzept einer gemeinschaftlichen Auslegung des Subjekts und der Gesellschaft führen hin zu Sozialität, zu einer Gesellschaftstheorie und ihren Fragestellungen. Der Mensch wird in der Sozialisation durch die Verinnerlichung des verallgemeinerten Anderen (Mead 1934) sich selbst zum Gefährten und wird zum Subjekt. Das Ich wächst in Dialogen und Polylogen (Bachtin 1981; Buber 1982; Petzold 2002c). Das Subjekt wächst im Diskurs mit dem Mitsubjekt (Marcel 1956). Der schöpferische Mensch wächst in Ko-respondenz und Ko-kreation mit der Welt und dem Mitmenschen (Petzold 1978c, 1990b). Die gesellschaftstheoretische Position der Integrativen Therapie ist als „synarchistisch“ (Petzold 2003a, S. 410), als gerecht für alle Klassen, wo viele Personen gemeinsam die Herrschaft ausüben, aber auch als „kritisch-pragmatisch“ (Petzold 2003a, S. 410) zu bezeichnen. 2.4.1.5 Ethik Konkrete ethische Fragestellungen in der Psychotherapie sind beispielsweise Fragen von Patienten, die Scheidung, Missbrauch, Religiosität oder Abtreibung betreffen. Es werden aber auch im therapeutischen Kontext Fragen vom Therapeuten selbst zu den Themen Manipulation, Verführung, Machtausübung durch Instrumentalisierung sowie Sexualität gestellt, die im Rahmen der Supervision reflektiert werden. Ebenso prekär können diese Fragen im Bildungs- und Ausbildungskontext auftreten (s. Abschn. 6.3.1). In der Integrativen Therapie wird eine auf die jeweilige Situation ausgerichtete Diskursethik vertreten, die erst in der therapeutischen Beziehung entsteht, im Unterschied zu einer reinen Normsetzung wie in der christlichen Ethik (Petzold 2003a). Die situativ ausgerichtete Diskursethik gründet in der Intersubjektivität und zielt auf die Unversehrtheit des Lebendigen. Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte wird deutlich, es gibt keine objektiven Werte und keine Ethik für die Ewigkeit. Psychotherapie als Wissenschaft interpretiert Wirklichkeit. Ethik reguliert die Interpretation und die aus ihr folgenden wissenschaftlich begründeten Handlungskonsequenzen in der therapeutischen Arbeit (Petzold 2003a). Die Bewertung in der therapeutischen Situation muss jeweils gemeinsam von Therapeut und Patient erfolgen und die Sachlage unter Rückbindung an die derzeit anerkannten ethischen Regeln berücksichtigt werden. Ethik hat vernünftiger, besonnener Diskussion standzuhalten. Ethik gewährleistet die Berücksichtigung der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, der Erfüllung menschlicher Erwartungen, der Vermeidung unnötigen

2.4  Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell

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Leidens, der Überprüfung von Gegebenheiten und Sachverhalten auf der Grundlage menschlicher Erfahrungen (Petzold 2003a). Die traditionelle christliche Ethik der Nächstenliebe oder die klassisch-medizinische Ethik des „primum nil nocere“, im hippokratischen Eid verankert, die selbst auferlegte Verpflichtung des Arztes, niemandem zu schaden, ist heute nicht mehr ausreichend (Macki 1981). Solche Einstellungen müssen abgelöst werden von einer Ethik der engagierten Verantwortung für das Leben, welches die Ökologie unserer gesamten Welt einschließt und den sozioökonomischen Status in seiner umfassenden Bedeutung begreift (Petzold 2003a). Denn, „als die Menschen den sozioökonomischen Status erfanden, verschafften sie sich damit ein Instrument der Unterordnung, das alles in den Schatten stellte, was hierarchische Primaten in dieser Hinsicht entwickelt hatten“ (Sapolsky 2017, S. 864). Hintergrundinformation: Der sozioökonomische Status ist eine vom Menschen gemachte Tatsache. Erklärte Ziele der Integrativen Therapie sind die kurative und rehabilitative Absicht, darüber hinaus die Kulturarbeit und Kulturkritik durch ­Förderung gesellschafts- und gesundheitspolitischen Bewusstseins, weiter das Engagement für soziale Gerechtigkeit, Gesundheitskultur, Menschen- und Patientenrechte sowie humane Lebensbedingungen.

Die therapeutische Ethik legt einen Schwerpunkt auf die Verantwortung des Therapeuten gegenüber dem Patienten, einen weiteren auf die Bewertung der Lebenssituation und des Verhaltens des Patienten durch den Therapeuten. Darüber hinaus liegt noch ein weiterer Schwerpunkt auf der Verantwortung des eigenen Handelns als Therapeut gegenüber dem eigenen Gewissen und gegenüber der Gesellschaft (Petzold 2003a). Ferner zählen zu den Metatheorien die allgemeine Forschungstheorie, die Kosmologie und die Ontologie, die Lehre vom Sein.

2.4.2 Klinische Theorien Die klinischen Theorien legen die Realität des klinischen Alltags dar und dienen der Klärung konkreter Situationen in der psychotherapeutischen Behandlung. Die klinischen Theorien sind für die empirische Überprüfung ihrer Annahmen und Aussagen geeignet, stellen jedoch derzeit nicht für jeden zu beforschenden Bereich entsprechende Untersuchungsmethoden bereit. Bei der persönlichkeitstheoretischen Forschung kommt es zu nicht vertretbaren Verkürzungen des Untersuchungsgegenstandes, weil die Komplexität durch eine unzulässige Begrenzung von Variablen reduziert wird (Petzold 2003a; Petzold et al. 2018). Metatheorien und klinische Theorien müssen kompatibel sein. Annahmen der Anthropologie beispielsweise haben mit jenen der Persönlichkeitstheorie in Einklang zu stehen. ▶▶

Unvereinbarkeiten zwischen Metatheorien und klinischen Theorien können in sich widersprüchliche Interventionsstrategien mit sich bringen (Petzold 2003a). Folglich sind die Bedingungen des Integrierens zu beachten (s. Abschn. 4.6 und 4.7).

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

Zu den klinischen Theorien zählen: • allgemeine Theorie der Psychotherapie, Theorie der Ziele von Psychotherapie, Theorie sozialer Beziehungsgefüge und Genderfragen in der Psychotherapie, die Übernahme von Ergebnissen therapiespezifischen Wissens aus den Human- und Biowissenschaften, • Theorie, Methodik und Ergebnisse der Psychotherapieforschung, • Persönlichkeitstheorie, fokussiert auf den Entwicklungsweg in Beziehungen, • Entwicklungstheorie, lebenslaufbezogen und auf Interaktion beruhend, • Gesundheits- und Krankheitslehre einschließlich einer Theorie der Diagnostik, multifaktoriell und kontextbezogen, • spezielle Theorien der Psychotherapie, auf der Basis von Mehrperspektivität (Petzold 2003a).

2.4.3 Praxeologie Unter Praxeologie wird die „Wissenschaft von der Praxis als Umsetzung von Theorie in Handeln“ (Petzold et al. 2018, S. 14) in den angewandten Humanwissenschaften verstanden. Hier kommen alle Bereiche der Metatheorie und der klinischen Theorien zum Tragen und werden auf der Praxisebene verbunden. ▶▶

Wissenschaftliche wie praktische Erfahrungen führen zur Erweiterung von Sichtweisen. In der Durchdringung und Zusammenführung dieser Erfahrungsmöglichkeiten liegt ein hoher Erkenntnisgewinn (Petzold 2003a).

Durch qualitative und quantitative Forschung wird die Effektivität und Wirksamkeit der Praxeologie evaluiert und ist damit an sich ein Forschungsprozess (Gahleitner et al. 2014). Die Geschehnisse in der Praxis werden gesammelt, gesichtet und aufgearbeitet. Ziel ist, auf der Basis einer gelungenen Theorie-Praxis-­Verschränkung neue Fragestellungen für empirische Überprüfungen und Theoriebildungen zu entwickeln. Angewandte Humanwissenschaften wie die Psychotherapie wurzeln in der von Theorie getragenen Praxis und stellen die Basis der Theorie des jeweiligen Therapieverfahrens dar. Die fortlaufende Reflexion des therapeutischen Geschehens hat rational begründbar und ethisch legitimierbar zu sein, wird im gemeinsamen Prozess zwischen Patient und Therapeut getragen und entwickelt die Theorie des Verfahrens weiter (Petzold 2003a). Erst die Einbeziehung des Patienten in diesen Erkenntnisprozess ermöglicht den mehrperspektivischen Blick. Aus integrativer Sicht kann der Patient erkennen, was der Therapeut im therapeutischen Geschehen wahrnimmt, erfasst und versteht, beziehungsweise wahrzunehmen, zu erfassen und zu verstehen glaubt. Die Teilhabe am Erkenntnisprozess setzt auch eine Erklärung vonseiten des Therapeuten voraus, wobei dies im therapeutischen Geschehen nicht immer möglich ist. „Die Praxeologie“ (Petzold 2003a, S. 494) ist nicht nur Praxiswissenschaft für den Therapeuten, sondern auch für den Patienten, indem dieses Wissen transparent macht, was in der psychotherapeutischen

2.4  Der Tree of Science, ein strukturgebendes Modell

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­ ehandlung gerade geschieht. Damit wird, wo das möglich ist, Informed Consent herB gestellt und die Einladung zur aktiven Mitgestaltung des Therapieprozesses angeboten. Wenn dies gelingt, kann der Locus of Control partizipativ verwaltet werden und schlussendlich, wie die Forschung belegt, den Heilungsprozess fördern (Flammer 1990). Zur Praxeologie zählen u. a.: • • • • • • •

„Praxis der Psychotherapieforschung, Interventionslehre (Theorie der Methoden, Techniken, Medien, Stile etc.), Prozesstheorien, Theorien zu verschiedenen, insbesondere prekären Lebenslagen, Theorie des Settings, Theorien zu spezifischen Patientensystemen (Änderung durch den Verfasser), Theorien zu spezifischen Institutionen und Feldern“ (Petzold 2018, S. 138).

2.4.4 Praxis Die psychotherapeutische Praxis erfolgt mit Patienten unterschiedlicher Altersstufen in verschiedentlichen Settings wie in der Dyade, mit Paaren oder in der Gruppe, wie beispielsweise mit Familienkonstellationen (Petzold 2000h, 2003a). Im Sinne einer fundierten Praxeologie wird auf Positionen der Realität des klinischen Alltags und auf Konzepte der Metatheorie zurückgegriffen (Schuch 1988). Auf diese Weise bleibt Praxis mit Theorie verwoben. Vor dem Hintergrund des Strukturierungsrasters Tree of Science wird erkennbar, welches Menschenbild handlungsleitend ist, welche Einflussgrößen wie Entfremdung oder Verdinglichung zu konkreten Krankheitsbildern führen und mit welchen Interventionskonzepten und Methoden Therapie durchgeführt wird (Petzold 2003a; Petzold et al. 2018). ▶▶

Wirksame Psychotherapie geschieht nicht voraussetzungslos. Die Integrative Therapie gründet auf einem theoretischen Ausgangs- und Bezugspunkt, einem zentralen Denkansatz, von dem aus, bzw. zu dem hin die Behandlungspraxis und die vorliegende Theorie übereinstimmen (Petzold 2018).

Psychotherapie geschieht in Hinblick auf den leidenden, kranken, Hilfe suchenden Menschen, den Patienten, aber auch auf den gesunden Menschen, den Klienten, der zugleich ein sich entwickelnder ist, der das Potenzial zur Entwicklung seiner Persönlichkeit in sich trägt. In der Behandlung wird wieder an die hippokratische Tradition angeknüpft, die den Arzt und Therapeuten als Pädagogen einer rechten Lebensführung, einer „díaita“ sieht (Schipperges 1986). Hätte die Integrative Therapie diesen Bezugspunkt nicht, geriete sie in Gefahr, ein beliebiges, unreflektiertes eklektisches Konglomerat abzugeben, das nach jeweiligem Gutdünken, nach Bedarf oder beliebigen Eingebungen zusammengestellt wird, und sie liefe Gefahr, für ihre eigenen theoretischen Grundlagen blind zu sein (Petzold 2018).

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

Das die Entwicklung anstoßende Modell des Tree of Science ist für die Integrative Therapie ein theoretischer Ort der Reflexion und Metareflexion, an den hohe theorie-praktische Ansprüche gestellt werden in Bezug auf erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische und wissenssoziologische Fragestellungen (Schuch 2000b; Sieper 2006). Diese Ansprüche betreffen v. a. das Verhältnis von Theorie, Methodik, Praxis und Forschung. Entsprechend dem Tree of Science wäre in Konsens-Dissens-Prozessen mit Vertretern anderer Psychotherapieverfahren in einem noch auszuhandelnd en Weg die Förderung der interdisziplinären Diskurse zwischen den jeweiligen psychotherapeutischen Fachspezifika anzustreben. In dieser Anregung läge ein Beitrag zur Überwindung des Schulenstreits. Es wäre das Ergebnis eines gelungenen Ko-­respondenzprozesses, wenn dieser Austausch revisionsbereit geführt würde (Petzold 2003a). Die Diskussion von Psychotherapeuten unterschiedlicher Methoden mit ­Vertretern der Psychosomatischen Medizin wäre notwendig, weil die Grundannahmen der Theoriebildungen für die Behandlung erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Qualitätsprüfungen unterzogen werden sollten und ­ diesen genügen müssten. Ansonsten blieben diese Gesundheitsberufe den Traditionen von Mythologien zugeordnet (Petzold et al. 2014a). In diesem Denken sind die irrigen wie implikationsreichen Begriffe Psychotherapie und Psychosomatik hinterfragenswert.

2.5

Körper-Seele-Geist-Verhältnis

Es stellt sich die Frage, ob es eine rational nachvollziehbare und intersubjektiv überprüfbare Definition der Psyche gibt. Oder wird mit Psychotherapie und Psychosomatik ein Begriffssystem mitgeschleppt, das eine problematische Implikation aufweist, nämlich die des Körper-Seele-Dualismus (Schuch 2000a; Fazekas 2013). In diesem Dualismus werden nicht nur aufseiten der Seele Probleme aufgeworfen, auch die scheinbar unproblematische Seite des Körpers bildet erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch gesehen eine fragwürdige Basis (Schuch 2000a). Der hier regelmäßig zitierte René Descartes, einer der wichtigen Begründer eines neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens, hatte in seinen Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Descartes 1641, zit. nach Gabel 1960) behauptet, Geist und Körper seien zwei unterschiedliche Substanzen. Er nahm darüber hinaus an, dass die Erkenntnis des menschlichen Geistes ursprünglicher sei als die des Körpers. Den körperlichen Dingen schrieb er eine eigene Existenz zu. Er räumte allerdings in seiner sechsten Meditation ein, dass die körperlichen Dinge vielleicht nicht alle genauso wie er sie mit den Sinnen wahrnimmt, existierten, da die sinnliche Wahrnehmung dunkel und verworren sei (Descartes 1641, zit. nach Gabel 1960). Aus der Sicht der gegenwärtigen Physik, der Bio- und Neurowissenschaften ist die kartesianische Auffassung, das Wesen des Körpers sei seine Ausdehnung, wissenschaftlich überholt. Descartes wusste noch nichts von Neutrinos, die ungestört Wände durchdringen können, ebenso wie der angeblich immaterielle Geist, oder von Biophotonen, dem schwachen Licht lebender Zellen (Schuch 2000a).

2.5 Körper-Seele-Geist-Verhältnis

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Der kartesianische Dualismus wird nicht nur seitens der Leibphilosophie, die vom „Chiasmus von Sehendem und Gesehenem“ (Merleau-Ponty 1986, S.  172) ausgeht, infrage gestellt (s. Abschn.  1.3.1). Auch materialistische Auffassungen oder Emergenztheorien (Bunge 1980; Stoering 1984) gehen von der rein physischen Natur des Geistes aus. Mit der Annahme einer an die Materie gebundenen, einer transmateriellen Ebene und nicht einer immateriellen Ebene, an die man glauben kann, nimmt die Integrative Therapie eine Zwischenposition in der Frage des Körper-Seele-Verhältnis ein (Petzold und Orth 2007). In der Integrativen Therapie wird noch differenzierter von einem „Körper-Seele/Geist-Welt-Problem“ (Petzold und Orth 2018) des in sozialen, ökologischen, sozioökonomischen und kulturellen Zusammenhängen eingebetteten Menschen gesprochen (Petzold und Orth 2018). Körper bezieht sich auf das Materielle und Seele/Geist auf das Transmaterielle, wie Gedanken, Gefühle und Willenshandlungen (Petzold und Orth-Petzold 2018a). Die materialistische Position beinhaltet auch erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Probleme, denn sie kann das Materielle nicht abschließend bestimmen. Und so bleibt offen, was mit dem von ihr Vergegenständlichten exakt gemeint sein könnte (Schuch 2000b). Wissenschaftstheoretisch muss der jeweils aktuelle Stand der Physik immer als Durchgangsstadium angesehen werden. Folglich hat die derzeitige wissenschaftliche Sicht auf die Welt ebenso nur vorübergehend Gültigkeit, wie sich alle vorangegangenen Welterklärungen als lediglich vorläufige Erklärungsversuche erwiesen haben. Das vom transmateriellen Geist zu unterscheidende Materielle gibt nur einen Stand der gegenwärtigen Erkenntnis- und Betrachtungsweisen mit den aus ihnen hervorgehenden Sprachspielen (Wittgenstein 1953) wieder. Darüber hinaus muss noch die Sinnenhaftigkeit des sich im eigenleiblichen Spüren (Schmitz 1989) seiner materiellen Realität bewussten Subjekts bedacht werden. Somit wirft nicht nur die Seite der Psyche, sondern auch die Seite des Körpers kritische Fragen auf. In der forschungsgegründeten Modellbildung weisen Damasio (1995, 1999), ebenso Sapolsky (2017) darauf hin, dass die somatischen Prozesse, das neuronale und immunologische System, die Emotionen, die Erkenntnisse und der Wille miteinander verwoben sind. Es erscheint daher abwegig, sie immer noch nach Maßgabe historisch überholter Modellvorstellungen zu trennen, um sie anschließend isoliert zu untersuchen und dann zu therapieren (Schuch 2000b). Psychotherapietheorien halten nach wie vor dualistisch am Körper-Seele-Begriff fest. Kritische Stellungnahmen seitens der Psychotherapie sind kaum zu finden. Es werden weiterhin die biologischen, sozialen, ökologischen, kontextuellen, sozioökonomischen und kulturellen Realitäten marginalisiert. In der Folge wird nicht nur erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch auf Sand gebaut. Es werden für die Praxis Probleme geschaffen, wenn der Tatsache ausgewichen wird, dass in der Psychotherapie leibhaftige Menschen in ihrer sozialen Realität, Subjekte in ihrer Lebenswelt, behandelt werden. Aus der Sicht der Integrativen Therapie ist Psychotherapie in erster Linie als eine biopsychosoziale Humantherapie zu verstehen (Schuch 2000b; Petzold 2001a; von Uexküll 1986, 1996). Sie ist die Therapie von Menschen, die sich in einer bestimmten Lebenszeit und in einem bestimmten Lebenskontext erleben und verhalten (Schuch 2000b).

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

Die Entwicklung der Theorie und die praktische Anwendung der Integrativen Therapie waren von Anfang an dezidiert klinisch ausgerichtet und forschungsorientiert. Die Integrative Therapie suchte Anschluss an die Ursprungsquellen wie Existenzialismus, Phänomenologie, Gestaltpsychologie und die ungarische Tradition der Psychoanalyse Ferenczis, seine aktive und elastische Technik. Durch Behavioristen wie Frederick Kanfer und andere Vertreter der Verhaltenstherapie wurden schon früh verhaltenstherapeutische Methoden integriert (Petzold und Osterhues 1972). Mit Bezug auf Maurice Merleau-Ponty und Paul Ricœur wurde die phänomenologisch-­hermeneutische Tradition gepflegt und in Richtung einer Tiefenhermeneutik und dann Metahermeneutik ausgebaut (Petzold 1988n). Der Entwicklungsweg der Integrativen Therapie war zu einem multitheoretischen bzw. intertheoretischen Verfahren mit transtheoretischen Perspektiven eingeschlagen (Petzold 2018). Um den Menschen nur annähernd gut zu verstehen, und darum geht es im Wesentlichen in der psychotherapeutischen Behandlung, ist ein Zugehen auf der Basis vieler Theorien und eine Vernetzung von Theorien nötig. Dies führt zu einer hohen informationalen Vernetztheit und einem transtheoretischen Entstehen von Erkenntnissen (Petzold 2018). ▶▶

Die Psychotherapie kommt längst mit einem Ansatz allein nicht mehr aus, um dem Menschen als vielschichtiges Wesen gerecht zu werden. Psychotherapie mit unterschiedlichen theoretischen und praktischen Modellen in einem konsistenten Systemverbund scheint sinnvoll und zeitgemäß (Petzold 2018).

Die Integrative Therapie wurde durch klinisch empirische Forschung, etwa zum Überforderungserleben und Burnout (Petzold 1968a, b), zur überforderungsbedingten Depression (van der Mei et al. 1997), zur netzwerkpathologisch bedingten Multimorbidität (Petzold 1979c), zur stressbedingten Psychosomatik (Heinl 1997), weiterentwickelt. Für die Behandlung psychosomatisch bedingter Verhaltensstörungen und Leidenszustände haben weiterführende Erkenntnisse über das traditionelle psychoanalytische Modell der Psychosomatik hinausgehend stattgefunden. Das psychophysiologische Stressmodell von Hans Selye (1978) gab wichtige Impulse und hat im integrativen Ansatz zu einem erweiterten entwicklungspsychobiologischen Stressmodell geführt (Petzold 1968a, 1992a, 2003a). Ebenso waren Entwicklungen der Psychophysiologie wie die Psychoneuroendokrinologie und die Psychoneuroimmunologie (Schedlowski und Tewes 1996; Straub 2005) wesentlich für die Psychotherapie im Allgemeinen. Die psychologische Biologie und die Verhaltensmedizin (Birbaumer und Schmidt 2005; Ehlert 2003), die Systemtheorie nach Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack mit dem dynamischen biopsychosozialen Modell, das biopsychosoziale Modell des George L. Engel und das integrative salutogenetische Modell von Gesundheit, Krankheit und Kranksein des Herbert Weiner (Egger 2007a) waren für die Integrative Therapie im Besonderen impulsgebend. Es findet sich eine Vielzahl von theoretischen Konzepten, die darauf hinweisen, dass die Fragen nach den Körper-Seele-Geist-Verhältnissen, nach ihrer ­kausalen

2.6  Das biopsychosoziale Modell in der Medizin und berufspolitische Aspekte

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Verknüpfung, noch weit davon entfernt sind, gelöst zu sein. Mit der systemischen oder mit der integrativen Betrachtung, die auch im Systemansatz gründet (Petzold 1974j, 2007), wird mit dem Konzept „multipler Kausalitäten“ (Sieper 2007) gearbeitet, welches jeder Monokausalität eine Absage erteilt. Eine solche Auffassung konvergiert mit dem integrativen Modell einer nonlinearen, longitudinal ausgerichteten Entwicklungspsychobiologie der Lebensspanne (Sieper 2007b). In der aktuellen, systemtheoretisch, neurobiologisch und neuroimmunologisch fundierten Psychosomatischen Medizin wurde davon Abstand genommen, psychosomatische Krankheiten oder Psychosomatosen von den übrigen Erkrankungen beziehungsweise gesundheitlichen Störungen abzugrenzen, was wiederum für die Bezeichnung biopsychosoziale Humantherapie spricht. Diese Theorieentwicklungen vertreten konsequent ein biopsychosoziales Modell und wollen das traditionelle psychosomatische Modell überwinden, welches allen Bemühungen zum Trotz den alten Dualismus fortschreibt (Egger 2007b). In einem erweiterten biopsychosozialen Modell „kann es keine psychosomatische Krankheitsbilder geben  – genauso wenig wie es nicht – psychosomatische Krankheitsbilder gibt“ (Egger 2008, S. 12). Die Klassifizierung der bestehenden Psychosomatik oder Psychosomatischen Medizin ist prinzipiell zu erweitern (Egger 2007b), um zu einer neuen Interdisziplinarität mit neuen transdisziplinären Erkenntnissen hinzuführen.

2.6

 as biopsychosoziale Modell in der Medizin und D berufspolitische Aspekte

2.6.1 Am Beispiel der Schmerzforschung Auch in der Grundlagenforschung, der Schmerzforschung, ließ lange vor der Integrativen Therapie ein integrativer Schritt aufhorchen. Am 19. November 1965 stellten der Psychologe Ronald Melzack und der Biologe Patrick Wall in der Fachzeitschrift Science ihre Schmerztheorie unter dem Titel „Pain Mechanism: A New Theory“ (Melzack und Wall 1965) vor. Ihre Theorie zu einem „gate control system“ (Melzack und Wall 1965, S. 971) schlug hohe Wellen. Sie stellte die Brücke zwischen Physiologie, Gedanken, sozialer Umwelt, Kultur und Psyche dar. Der Schmerz ist nicht psychisch oder physisch, sondern immer durch beides bedingt, so damals die Theorie von Melzack und Wall. Ein neues Zeitalter der Schmerzforschung und Therapie brach an. Mit der Gate-Con­trolTheorie, die von Melzack später zur Neuromatrixtheorie (Melzack 2001) weiterentwickelt wurde, sind Geist und Körper nach Jahrhunderten der Trennung durch die Naturwissenschaft mit weitreichenden Folgen wieder vereint. „Der Ausdruck ‚psychogener Schmerz‘ gilt … als überholt. Psyche und Körper sind im Schmerz so innig ineinander verwoben, dass eine Unterscheidung zwischen Schmerz in der Psyche und im Körper sinnlos erscheint. Deshalb gehören Begriffe wie ‚psychogen‘ oder ‚somatoform‘ in die Mottenkiste“ (Albrecht 2015, S. 270).

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

2.6.2 Psychosomatik und Psychosomatische Medizin Heute ist der Begriff Psychosomatik und Psychosomatische Medizin nicht mehr als Wechselwirkung zwischen zwei eigenständigen Entitäten wie Psyche und Körper zu verstehen, sondern sehr viel weiter zu fassen (Fazekas 2015). Soziokulturelle Momente, wie Ethnie, Gender, Alter und Schichtzugehörigkeit, oder ökologische Momente, wie Mikro- und Mesoumgebungen, sind einzubeziehen. Erst dann können gesundheitliche Störungen als dysregulierte „funktionelle Systeme“ (Petzold und Michailowa 2008b, S. 12) besser verstanden werden, die Syndromcharakter (Lurija 1992) gewinnen. Lurija hat dieses Modell bei der Diagnose und Behandlung von Hirnverletzten entwickelt. Mithilfe der Syndromanalyse (Lurija 1992), einer auf methodischer neuropsychologischer Forschungsgrundlage basierenden Vorgehensweise, erfolgte die systematische Beschreibung umfassender Symptomenkomplexe, gebündelt in dem Begriff Syndrom. Darauf aufbauend gelang es Lurija unter Berücksichtigung anatomischer, physiologischer und biografischer Daten zu einem Verständnis der Funktionalität der Symptome hinsichtlich bestimmter neurobiologischer, psychologischer oder soziokultureller Bedingungen zu kommen. Durch diese Zusammenführung wurde das Syndrom einerseits für den betroffenen Patienten wahrnehmbar und andererseits für die Medizin objektiv messbar (Petzold und Michailowa 2008b). Bei komplexen gesundheitlichen Störungen wie psychosomatischen Störungen, Suchterkrankungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen kann der prozessualdiagnostische, syndromanalytische Ansatz angewandt werden. Auch eine ehemals als dominant psychisch verstandene Erkrankung, wie Major Depression, bei der die Dynamik der Neurotransmitter des zentralen und intestinalen Nervensystems, das komplexe Zusammenspiel aller Hormone, die neuromuskuläre, physische Kondition beeinträchtigt sind, somit das Erscheinungsbild des betroffenen Menschen verändert ist und die Sozialbeziehungen belastet sind, erfordert „komplexe Behandlungsmaßnahmen“ (Petzold und Sieper 2007a, S. 519). Nachstehend folgt eine Auswahl klinisch komplexer psychosomatischer oder biopsychosozialer Syndrome bei Patienten, die u. a. in der Praxis Integrativer Therapeuten und Psychosomatischer Mediziner zur Behandlung vorstellig werden können: • biopsychosozialen Phänomene körperlicher Schädigungen nach Unfällen, • schwerste körperliche Erkrankungen, akute und chronische Infektionserkrankungen mit deren psychosozialen Begleiterscheinungen, • Konversions- und Überlastungsstörungen bei aktuellen oder nachwirkenden Konflikten, Traumata, wie bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), bei Belastungen oder Drucksituationen und „daily hassles“, wie alltägliche He­ rausforderungen, Alltagsstress und täglich kleine zermürbende Ärgernisse, • funktionelle Störungen als Begleiterscheinungen von emotionalen Belastungen, wie Verlust, Trauer, Ängste, soziale Spannungen, • Suchtformen, legale oder illegale stoffgebundene, nichtstoffgebundene, wie Spielsucht oder Workaholism,

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• dysfunktionales Gesundheitsverhalten, wie bewegungspassiver Lebensstil, Fehlernährung, Rauchen, Social Drinking, und dessen Folgen, wie Übergewicht, metabolisches Syndrom, Diabetes Typ 2, • schwere Persönlichkeitsstörungen und ihre somatischen Begleiterscheinungen, wie Essstörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), psychotische Störungen, • Schmerzzustände, Erschöpfung, gastrointestinale Symptome und Herz-­ Kreislauf-­Beschwerden. Eine weitere Auswahl von gesundheitlichen Störungen folgt, wie sie im systematischen Verzeichnis der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme angeführt sind: • endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten: Diabetes mellitus, Diabetes insipidus, Hyperthyreose etc., • Neoplasien: aus der Sicht der Psychoonkologie, • neurotische, Belastungsstörungen, Agoraphobie, soziale Phobien, spezifische (isolierte) Phobien etc., • andere Angststörungen: Panikstörung, generalisierte Angststörung, Angst und depressive Störung gemischt etc., • Zwangsstörung: vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale) etc., • Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen: akute Belastungsreaktion, posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörungen, Folgen von Mobbing mit somatischen Symptomen etc., • dissoziative Störungen (Konversionsstörungen): dissoziative Bewegungsstörungen, Krampfanfälle, Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen etc., • Somatisierungsstörung: undifferenzierte Somatisierungsstörung, hypochondrische Störung, autonome Funktionsstörung, Schmerzstörung etc., • Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren, • Essstörungen: Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Essattacken bei anderen psychischen Störungen, • nichtorganische Schlafstörungen, nichtorganische Insomnie, Hypersomnie, Pavor nocturnus etc., • sexuelle Funktionsstörungen: Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen, Versagen genitaler Reaktionen, Orgasmusstörung, Ejaculatio praecox, Dyspareunie etc., • psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, • psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten, • Missbrauch von nichtabhängigkeitserzeugenden Substanzen, • Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom, Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen, nichtorganische Enuresis, nichtorganische Enkopresis etc., • andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit: organische emotional labile (asthenische) Störung, funktionelle Anfallsleiden etc., • Krankheiten des Nervensystems: Chronic Fatigue Syndrome etc.,

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• Sehstörungen: Amaurosis fugax, Glaukom, Myopie etc., • Krankheiten des Ohres: Tinnitus, Schwindel, Hypakusis etc., • Krankheiten des Kreislaufsystem: Hypertonie, Myokardinfarkt, periphere arterielle Verschlusskrankheit etc., • Krankheiten des Atmungssystems: Asthma, COPD etc., • Krankheiten des Verdauungssystems: Ulcus duodeni, Colon irritabile, Colitis ulcera, M. Crohn etc., • Krankheiten der Haut und der Unterhaut: Neurodermitis, Psoriasis, • Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes: Glieder- u. Gelenksschmerzen, Rückenschmerzen, Nacken- und Schulterschmerzen, Spannungskopfschmerz, Fibromyalgie etc., • psychische Komorbiditäten, • Störungen mit klinischen Minimalbefunden: Hypochondrie etc., • funktionelle Störungen, • Bodily Disstress Syndrome, • MUPS (MUS) – Medically Unexplained Physical Symptoms, • Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen, die Mühe mit der Bewältigung haben: Behinderungen, Missbildungen, Chromosomenanomalien etc., • Betreuung von Patienten nach Organ- oder Stammzelltransplantationen, • Burn-out-Syndrom. Diese exemplarisch angeführten klinischen Befunden und Diagnosen bilden u. a. körperliche Symptome ab, die durch biomedizinische Diagnostik objektivierbar sind, jedoch nicht den gesamten Symptomenkomplex im Sinne eines biopsychosozialen Zugangs gerecht werden. Daher ist eine Zusammenarbeit zwischen einem Psychotherapeuten und einem Arzt, allein schon wegen differentialdiagnostischer Abklärung und möglichst optimaler Betreuung, sicherzustellen. Dies ist auch die Forderung gemäß § 14 Abs. 2 des Psychotherapiegesetzes BGBl. Nr. 361/1990. Hintergrundinformation: Als Befund wird die Gesamtheit der durch einen Arzt oder Psychotherapeuten erhobenen körperlichen und psychischen Phänomene eines Patienten bezeichnet. Der ärztliche Befund wie der psychotherapeutische Befund beziehen sich immer auf den Untersuchungszeitpunkt, den gegenwärtigen Zustand des Patienten. ▶▶

Ein Symptomenkomplex, ein Syndrom, erfasst die bei einem Patienten vorliegenden somatischen Störungsbilder, wie internistische, dermatologische, gynäkologische, urologische, neurologische und weitere, sowie psychische Störungsbilder unter ökologischen sowie soziokulturellen Bedingungen.

Evidenzbasierte medizinische und biografische Daten einschließlich der aktuellen Lebenslage des Patienten gilt es demnach bei jeder Therapeut-Patient-­Begegnung zu berücksichtigen. Nicht nur ein Ausfall motorischer, sensibler Funktionen oder eine Dysfunktion sind in den Blick zu nehmen, sondern die komplexen funktionellen Systeme in ihrem Zusammenspiel. Diese können durch Noxen, wie kritische Lebensereignisse, psychische Belastungen, Überforderungserlebnisse, Stress, Traumata mit ihren Reaktionsbildungen und Symptomfolgen, das personale System des Menschen überlasten und zu psychophysischer Dysregulation führen.

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2.6.3 G  esundheitsversorgung aus einem berufspolitischen Blickwinkel Einerseits ringen in der stationären und ambulanten Gesundheitsversorgung im Jahr 2020 noch immer die einzelnen Fachbereiche wie Innere Medizin, Psychiatrie, Psychologie und v. a. die Vielzahl psychotherapeutischer Schulen vor dem Hintergrund der jeweiligen geschichtlichen Entwicklungen um den Führungsanspruch in der Behandlung psychosomatischer Leidenszustände. Andererseits ist die psychosomatische Versorgung im Österreichischen Strukturplan Gesundheit 2017 gemäß Beschluss der Bundes-Zielsteuerungskommission vom 30.  Juni 2017 inkl. der bis 6. April 2018 beschlossenen Anpassungen (Bundeskanzleramt 2018) implementiert und ist seit 2020 auf dem Weg der Umsetzung. Vor diesem Hintergrund hat sich das beratende Organ der Bundesministerin, des Bundesministers für Gesundheit in Österreich, der Oberste Sanitätsrat (OSR), mit dem Körper-Seele-Verhältnis auf struktureller Ebene beschäftigt. Im Rahmen des Auftrags an Anton Leitner wurde in einer Arbeitsgruppe des OSR innerhalb der drei Funktionsperioden von 2008–2016 eine Strukturierung der Psychosomatischen Medizin für alle klinischen Fächer vorgenommen. Erstens wurde das Fachgebiet Psychosomatische Medizin definiert, und zweitens wurden die Beschlüsse durch die Vollversammlung der Österreichischen Ärztekammer auf der Grundlage einer „Bedarfserhebung mit Lösungsvorschlag zur Qualitätssicherung“ (Leitner et al. 2013b, S. 408) inhaltlich vorbereitet. Hintergrundinformation: „Mit dem klinischen Fachgebiet Psychosomatische Medizin wird eine Spezialdisziplin benannt, die sich wissenschaftlich und in ihrem Versorgungsauftrag mit jenen Krankheitsbildern befasst, bei denen es für eine erfolgreiche Behandlung Voraussetzung ist, ihre Genese und Aufrechterhaltung der Symptomatik unter bio-psycho-sozialen, kulturellen und ökologischen Zusammenhängen und Wechselwirkungen zu begreifen. Die subjektiv, individuell erlebte Lebenswelt des betroffenen Menschen, seine körperlich-leiblichen Beschwerden und seine soziale Einbindung werden als beeinflussbare Prozesse komplexer dynamischer Systeme erkannt. Psychosomatische Medizin berücksichtigt die subjektive und die objektive Seite von Gesundsein und Kranksein sowie das Beziehungserleben und Beziehungsgestalten des Menschen über die gesamte Lebensspanne hin und ist damit relevant für die Förderung von Selbstheilung. Psychosomatische Medizin ist sowohl fachspezifisch als auch fächerübergreifend angelegt. Auf der Basis psychosomatischer Haltung werden Differentialdiagnosen und Therapiepläne erstellt. Psychosomatische Medizin umfasst die Gesundheitsförderung, die Prävention, die kurative und rehabilitative Medizin“ (Leitner et al. 2013b, S. 409–410).

Das zweite Ergebnis dieser vom Bundesministerium angeregten Initiative war, dass mit 01.06.2015 auf der Grundlage des Ärztegesetzes (Bundeskanzleramt 2019) die neue Ärzteausbildungsordnung laut BGBl. I Nr. 82/2014 (Bundeskanzleramt 2014) in Kraft getreten ist, in der sowohl in der Basisausbildung als auch in der Grundausbildung Psychosomatische Medizin im Sinne einer psychosomatischen Grundversorgung für alle Fächer in der Ärzteausbildung verankert wurde. Der letzte bedeutende Schritt war die Einführung der Spezialisierung in fachspezifischer psychosomatischer Medizin ab 01.01.2018 laut BGBl. I Nr. 26/2017 (Bundeskanzleramt 2017). Durch diese auf dem Ärztegesetz aufbauende Verordnung ist die biopsychosoziale Sicht auf den Menschen vor einem ökologischen, sozioökonomischen und kulturellen Kontext

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im Zeitkontinuum, wie in der Integrativen Therapie, auch in der Ärzteschaft als Ausund Weiterbildungsbestandteil angekommen und für das ärztliche Arbeitsleben lang ausbildungs-, weiterbildungs- und fortbildungsverpflichtend. Hintergrundinformation: Der Dank gilt der Kollegin und den Kollegen, die unter der Leitung von Anton Leitner als Mitglieder der Subkommission im Obersten Sanitätsrat durch ihre Mitarbeit diesen Erfolg ermöglicht haben: MR Dr. Hans-Peter Edlhaimb, MSc, PD Dr. Christian Fazekas, Univ.-Prof. Dr. Karl Harnoncourt, Univ.-Prof. Dr. Gabriele Moser, Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, Univ.-Prof. Dr. Walter Pieringer und Dr. Jochen Strauß.

Im Gesundheitswesen in Österreich war ein berufspolitisch erfolgreicher und relevanter Moment die gesetzliche Anerkennung des Verfahrens Integrative Therapie als psychotherapeutisches Fachspezifikum nach dem Psychotherapiegesetz. Nach jahrelangen Diskursen innerhalb einer Fachsektion des Österreichischen Arbeitskreises für Gruppendynamik und Gruppentherapie (ÖAGG) war zu klären, ob die Integrative Therapie als eigenständiges Psychotherapieverfahren anerkennungswürdig wäre. Für die Donau-Universität Krems wurde unter der Leitung von Anton Leitner mit der namentlichen Nennung eines Lehrtherapeutenteams im Oktober 2000 an das Bundesministerium für Gesundheit ein Ansuchen um Anerkennung als psychotherapeutische Ausbildungseinrichtung gemäß §  7 des Österreichischen Psychotherapiegesetzes laut BGBl. Nr. 361/1990 (Bundeskanzleramt 1990) gestellt. Für die Einreichung waren Forschungsstudien zu Effektivität und Wirksamkeit des Verfahrens Integrative Therapie zu erbringen (s. Effektivitätsstudien Kap. 8). Hintergrundinformation: Diejenigen Personen, die entscheidend zum Gelingen dieser Anerkennung beigetragen haben, sind: Dr. Angela Steffan und Prof. Dr. Michael Märtens mit der Durchführung der Effektivitätsstudie, Univ.-Prof. Dr. Heidi Möller mit ihrer Unterstützung in der Vollversammlung des Psychotherapiebeirates im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Univ.-Prof Dr. Ulrich Schnyder mit seiner fachlichen Förderung, Prof. Dr. Hans Waldemar Schuch M.A. mit der Mitarbeit in Teilbereichen für das Einreichpapier, die Rektoren Univ.-Prof. Dr. Werner Fröhlich und Prof. Dr. Helmut Kramer, der Kollegiumsvorsitzende Univ.-Prof. Dr. Dieter Falkenhagen mit den schriftlichen Stellungnahmen an das BMG und der Präsident der Ärztekammer für Niederösterreich, MR Dr. Gerhard Weintögl mit der Unterstützung des Forschungsprojektes. Die wichtigste Voraussetzung war: Es konnte und durfte auf die Texte des Lebenswerkes von Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion Gottfried Petzold zurückgegriffen werden.

Per 12. Dezember 2005 ist nach Anhörung des Psychotherapiebeirates sowie nach Empfehlungen interner und externer Gutachter die Integrative Therapie als psychotherapeutisches, methodenspezifisches Verfahren seitens des Österreichischen Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen (BMGF) anerkannt. Hintergrundinformation: Auszug aus dem Anerkennungsbescheid des Österreichischen Bundesministeriums für Gesundheit (BMG): „Zum Ansuchen … um Anerkennung als Psychotherapeutische Ausbildungseinrichtung wird festgehalten, dass die antragstellende Einrichtung die § 7 leg. cit. normierten fachlichen Voraussetzungen erfüllt. Insbesondere weisen die vorliegenden Unterlagen auf Erfüllung der Kriterien bezüglich Methodenspezifität, einer wissenschaftlich-­psychotherapeutischen Theorie des menschlichen Handelns, Eigenständigkeit der Methode in der praktischen Anwendung und Wirksamkeit im Hinblick auf psychosoziale oder psychosomatisch bedingte Leidenszustände hin. Die Erreichung der Ausbildungsziele erscheint durch Umfang und durch Inhalt des Curriculums gegeben“ (BMGF, Bescheid vom 12.12.2005, S. 2).

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In Österreich starteten im Jahr 2007 die ersten Ausbildungsgruppen für Integrative Therapie. In der Schweiz ist die Integrative Therapie als postgradualer Weiterbildungslehrgang „Integrative Psychotherapie“, durchgeführt von der Stiftung Europäische Akademie für psychosoziale Gesundheit und Integrative Therapie (SEAG), vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) seit Oktober 2018 akkreditiert. Der Abschluss berechtigt zur Berufsbezeichnung „Eidgenössisch anerkannte/r Psychotherapeut/ in“ (Bundesamt für Gesundheit, Schweiz 2018). Weiterbildungen in Integrativer Therapie sind auch angeboten in Deutschland, den Niederlanden, in Norwegen, Kroatien, Serbien, Griechenland und Neuseeland. Seit 2007 besteht die Europäische Assoziation für Integrative Therapie (EAIT).

2.6.4 Patient – Klient Mit dem Gesetzesbeschluss des Nationalrates vom 7. Juni 1990 hat in Österreich die Medizin die Monopolstellung verloren, Menschen zu diagnostizieren und zu therapieren. Seither dürfen auch Vertreter anderer Gesundheitsberufe wie Klinische Psychologen und Psychotherapeuten kranke Menschen diagnostizieren und therapieren. Dafür erfolgt auch eine finanzielle Unterstützung durch die Krankenkassen. Die gewählte Unterscheidung Patient/Klient wird im vorliegenden Handbuch durchgängig berücksichtigt und soll zum besseren Verständnis dienen (s. Abschn. 3.2). Selbstverständlich bleibt es jedem Psychotherapeuten freigestellt, gesunden Personen oder Personen, die mit ihren nichtkrankheitswertigen Schwierigkeiten eine Hilfestellung in Anspruch nehmen wollen, Hilfe anzubieten. Diese Personen können als Klient bezeichnet werden. Es ist fast immer sinnvoll, insbesondere im Beratungskontext, Selbstreflexion und Selbsterfahrung anzubieten. Das kann zur Erweiterung der Sinnerfassungskapazität führen und einer Lebensstiländerung und Prophylaxe dienen. Diese Dienstleistung wird nicht mit einer Diagnose belegt, und daher auch nicht mit öffentlichen Geldern bezahlt. Die Sorge ist überholt, dass durch die Bezeichnung Patient der passive Empfang von Interventionen und der Verlust von Autonomie erfolgt, und ausschließlich mit der Bezeichnung Klient die Mündigkeit des Behandelten bestehen bleibt, seine Autonomie aufrechterhalten bleibt und mit dem Behandler jederzeit Begegnung auf Augenhöhe möglich ist. Längst wird in der Psychotherapie und in der Medizin der Weg „von der Compliance zur Adherence, vom Informed Consent zu respektvollem Informed Decision Making“ (Leitner 2009, S. 71–86) beschritten. Den Unterschied zwischen Klient (ohne Diagnose) und Patient (mit Diagnose, die auf der Grundlage von Informed Consent zustande kam) nicht klar zu benennen, verschleiert die Realität „und verhindert deshalb wirkliche Emanzipation“ (Petzold 1981, S. 312).

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Zusammenfassung

Die Integrative Therapie entstand durch kritische Sichtung nützlicher Konzepte und Methoden der psychotherapeutischen Hauptströmungen. Sie nutzt den phänomenologischen, hermeneutischen, existentiellen, dialektischen und systemischen Erkenntnisweg. Ein strukturgebendes und die Entwicklung anstoßendes Modell, der Tree of Science, verantwortet die innere Konsistenz und die konzeptuell hinlängliche Durchgängigkeit des Verfahrens. Die Auffächerung des Körper-Seele-­Dualismus in eine biopsychosoziale Humantherapie in Lebenszeit und Lebenskontext eröffnet Wege, um dem Menschen in der Therapie möglichst umfassend gerecht zu werden. Ein Blick über das Verfahren hinaus zeigt, dass in der Medizin nach Jahrhunderten der Trennung Geist und Körper wieder vereint sind. Dies belegt eine zeitgemäße Definition von Psychosomatischer Medizin. Der berufspolitische Schritt zur staatlichen Anerkennung des Verfahrens Integrative Therapie wird erwähnt.

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

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2  Entwicklung der Integrativen Therapie und berufspolitische Aspekte

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3

Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Inhaltsverzeichnis 3.1  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Geschehen 3.1.1  Die anthropologische Grundposition der Integrativen Therapie 3.1.2  Körper, Seele, Geist und Leib definiert in der Integrativen Therapie 3.1.3  Integrative Therapie: Axiome, Prinzipien und Konzepte 3.2  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln 3.2.1  Erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Fundierung 3.2.2  Basis einer integrativ psychotherapeutischen Behandlung 3.2.3  Verfahrensweise und Grundregel der Integrativen Therapie 3.3  Fachtermini, definiert in dem Verfahren Integrative Therapie 3.4  Mehrebenenreflexion in einer integrativ-therapeutischen Behandlung Literatur

 66  67  68  71  75  78  81  82  86  88  90

Die Integrative Therapie ist als Psychotherapieverfahren ein Behandlungsweg, der sich auf die Grundlagen von integrativen Therapietheorien und deren Methodik zurückführen lässt. Es handelt sich um ein psychotherapeutisches Verfahren, das neben dem verbalen Austausch auch Ansätze nonverbaler Kommunikation sowie kreative Methoden, Techniken und Medien miteinbezieht (Petzold 2003a). Ziel der Integrativen Therapie ist, Heilungsprozesse bei psychischen, psychosomatischen bzw. biopsychosozialen Erkrankungen in Gang zu setzen, zumindest Besserung von Leidenszuständen zu erwirken. In einem dyadischen Setting, wie Einzeltherapie, oder in einem polyadischen Setting, wie Paar- oder Gruppentherapie, wird Besserung, im Idealfall Beseitigung von gesundheitlichen Störungen angestrebt. Eine Neuorganisation des Denkens, Erlebens und Verhaltens des Patienten wird mittels Kontakts, Begegnung und therapeutischer Beziehung unter professioneller Bearbeitung aktueller Lebensprobleme, Netzwerksituationen und unbewusster Konflikte angeregt (Petzold 2003a; Petzold et al. 2018).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_3

65

66 ▶▶

3.1

3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung ist für die Wirksamkeit von Psychotherapie wesentlich. In dem Verfahren Integrative Therapie umfasst die therapeutische Beziehung intersubjektives Geschehen und intersubjektives Handeln (Petzold 2003a).

 ie therapeutische Beziehung, ein D intersubjektives Geschehen

Im Sinne des Geschehensbegriffes wird die therapeutische Beziehung als ein oft unbewusstes Geschehen zwischen zwei Menschen, zwei Subjekten beschrieben. Therapeut und Patient befinden sich in einem Prozess der „intersubjektiven Ko-­ respondenz“ (Petzold 1980g, S.  242). Die besondere Schreibweise des Begriffes Ko-respondenz unterstreicht hier den wechselseitigen Austausch von Geltungsansprüchen. Dabei geht es um ein Miteinander-Antworten auf etwas, was gerade anfällt, ein Problem, eine Situation, ein Thema, eine gesundheitliche Störung, eine Krankheit oder eben eine aktuelle Belastung. Das Modell der „intersubjektiven Ko-respondenz“ (Petzold 1980g, S. 242): • Intersubjektive Ko-respondenz ist ein Weg direkter und ganzheitlicher Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Subjekten, zwischen Therapeut und Patient im Rahmen einer Therapie. Mit der jedem Menschen eigenen, spezifischen Körperhaltung wird dieser Weg schon durch die Begrüßung eingeleitet. Die Gefühls- und Vernunftebene beeinflussen ebenso diese Begegnung, insbesondere durch die in die Therapie mitgebrachten Themen. Einbezogen wird der jeweilige Lebenszusammenhang, in dem sich der Patient gerade befindet, eingebettet in die Zeit der erlebten Vergangenheit, der Gegenwart bis hinein in die geplante Zukunft (Petzold 1980g). • Ziel der intersubjektiven Ko-respondenz ist die Herstellung von Übereinstimmung zwischen Therapeut und Patient; das respektvolle Feststellen von Dissens ist hier jeweils mit eingeschlossen. Der Konsens betrifft Behandlungskonzepte, die von beiden einvernehmlich zu tragen sind und Kooperationen ermöglichen können (Petzold 2003a). Diese Haltung ist eine Grundlage für die psychotherapeutische Behandlung in der Integrativen Therapie: Ein Patient erzählt beispielsweise einen Traum, einschließlich seiner subjektiven Interpretationsversuche, die für ihn noch keinen Aufschluss über mögliche Zusammenhänge zu seinem Leben aufzeigen. Der Therapeut regt etwa durch eine Frage an, sich in eine Traumsequenz leibhaftig einzufühlen und sich in eine Traumszene hineinzuversetzen. Das Annehmen einer solchen Anregung ist für manchen Menschen höchst ungewöhnlich, kann jedoch ein erster, aktiver Schritt zur Überschreitung von bisherigen Grenzen sein, was Wachstum wie Neuorientierung und den Beginn einer Abschwächung oder sogar Auflösung von Leidvollem bedeuten kann.

3.1  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Geschehen

67

Hintergrundinformation: Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger formuliert in seinem Buch Schöpferische Freiheit (1962) sinngemäß: Wachstum findet oftmals unter Duldung von Umwegen immer an den Grenzen statt (Metzger 1962).

• Voraussetzung für intersubjektive Ko-respondenz ist die in der prinzipiellen Gemeinsamkeit, in der Koexistenz alles Lebendigen gründende, wechselseitige Anerkennung subjektiver Redlichkeit. Intersubjektive Ko-respondenz wird bezeugt durch die Zustimmung, die eine oder andere Anregung des Therapeuten aufzugreifen, und sei es nur der Konsens darüber, miteinander auf der Subjektebene in den Prozess der Ko-respondenz einzutreten, sich auf Fragen oder Anregungen einzulassen oder konsensuell Dissens festzustellen und den Dissens als solchen zu respektieren (Märtens und Petzold 1998). • Scheitern von Ko-respondenz führt zu Entfremdung, Frontenbildung, Rechtsstreitigkeit, gesundheitlicher Störung, Krankheit und Krieg (Petzold 2003a).

3.1.1 D  ie anthropologische Grundposition der Integrativen Therapie Das Menschenbild der Integrativen Therapie definiert den Menschen intersubjektiv, als miteinander-kreativen, als ko-kreativen, schöpferischen Menschen im Lebenszusammenhang und in der Lebenszeit in Kontext und Kontinuum (Petzold 2003e). In der Sprache der Philosophie ausgedrückt ist der Mensch Leibsubjekt in der Lebenswelt. ▶▶

Der Mensch ist ein Körper-Seele-Geist-Wesen in einem sozialen, ökologischen, sozioökonomischen und kulturellen Umfeld, in einer konkreten historischen Zeit (Petzold 2003e).

Der Mensch wird als Leibsubjekt, als Körper-Seele-Geist-Subjekt erkannt. Unser Leib ist das totale Sinnes-, Ausdrucks- und Handlungsorgan. Der Leib wird in seiner körperlichen, seelischen und geistigen Dimension umfasst, eingebunden in seinem sozialen und ökologischen Kontext, miteinbezogen wird seine Fähigkeit, durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Spüren wahrzunehmen und zu handeln. Gleichzeitig wirkt der Mensch als vielfacettiger Leib auffordernd auf die Umwelt durch sein Auftreten in Haltung, Gestik, Mimik, Bewegung, durch seine gesamte Ausstrahlung. Folglich sind Zugänge aus vielen Blickwinkeln erforderlich, die Therapeut und Patient zu einer Befunderhebung (s. Abschn. 2.6.2) und weiter zu einer möglichen Diagnose führen. Multimethodische, ko-kreative und konsensuell beschrittene Behandlungswege stehen offen. Es wird versucht, der Komplexität eines Menschen im Rahmen einer Behandlung annähernd gerecht zu werden (Petzold 2003e).

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

In Hinblick auf Menschenbilder in der Psychotherapie gilt es zu bedenken, dass psychotherapeutische Theoriebildungen stets explizite und implizite Menschenbilder enthalten (Dührssen 1998). Annemarie Dührssen hat das beim Vergleich von Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und humanistischer Psychologie exemplarisch aufgezeigt. Die in psychotherapeutischen Theoriebildungen enthaltenen Menschenbilder sind keineswegs originär psychotherapeutische Menschenbilder. Diese lassen sich vor dem Hintergrund von Zeitströmungen des Denkens entlang der Geschichte der an der Begründung und Formulierung eines psychotherapeutischen Verfahrens Beteiligten nachvollziehen. Am Beispiel Freuds philosophischer Betrachtung ist dieses Phänomen u. a. von Hemecker (1991), Gödde (1991), Marquard (1987) oder Reicheneder (1990) gründlich erforscht und dargestellt worden. Grundsätzlich ist zu bezweifeln, ob sich spezifisch psychotherapeutische Menschenbilder überhaupt nachweisen lassen, ist doch zu bedenken, dass Psychotherapie stets in soziokulturelle Diskurse eingelassen und in sozioökonomischen Kontexten zu sehen ist (Petzold 2003e). Das Menschenbild der Integrativen Therapie ist entsprechend seiner theoretischen Zuordnung in der Metatheorie formal eingeordnet. Dies ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Besonderheiten und Anforderungen der zugrunde gelegten Referenztheorien. Darüber hinaus lässt sich das Menschenbild der Integrativen Therapie unter Rückgriff auf Ausführungen zu Entwicklungstheorie, Persönlichkeitstheorie sowie Gesundheitsund Krankheitslehre darstellen. Das Menschenbild der Integrativen Therapie ist hoch differenziert und in seiner Facettenvielfalt entlang der Wissensstruktur des Tree of Science (s. Abschn. 2.4) zutreffend beschrieben (Petzold 2003e). Es ist verankert in dem anthropologischen und ethiktheoretischen Konzept und in den die Realität des klinischen Alltags explizierenden Theorien, wie Entwicklungstheorie, Persönlichkeitstheorie, Identitätstheorie, Theorie der Salutogenese und Pathogenese. Durch die Anschlussfähigkeit der einzelnen theoretischen Gesichtspunkte ist das Menschenbild der Integrativen Therapie im Sinne einer Theorie der psychosozialen Entwicklung und Krankheitsentstehung entlang einer Wissensstruktur eindeutig nachzuvollziehen (Schnyder 2005; Petzold 2003e).

3.1.2 K  örper, Seele, Geist und Leib definiert in der Integrativen Therapie Körper ist die Gesamtheit aller biologischen, biochemischen und bioelektrischen Prozesse des Organismus, neben der im genetischen und physiologischen Körpergedächtnis festgehaltenen Lernprozesse und Erfahrungen (­Petzold 2009c). ▶▶

Körper ist der Dingkörper, der als seine physikalische Größe in Kilopond gemessen und als Biomasse in Kilogramm bestimmt wird (Petzold 2014c), der vom Chirurgen unter Narkose operiert wird, oder nach dem Tod entseelt als Körper von Angehörigen, von Leib-Subjekten verabschiedet wird.

3.1  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Geschehen

69

Seele ist die in körperlichen Prozessen gründende Gesamtheit aller Gefühle, Motive, Willensakte und schöpferischen Impulse, neben den durch die Seele bewirkten und im Gedächtnis gespeicherten Lernprozessen und Erfahrungen und den auf einer solchen Grundlage möglichen Hoffnungen, Wünschen und Befürchtungen. Alles zusammen ermöglicht uns das Erleben von Selbstempfinden, Selbstgefühl und Identitätsgefühl (Petzold 2009c). ▶▶

Seele ist die „Gesamtheit aller emotionalen, motivationalen und volitiven Vermögen plus ihres Lernens“ (Petzold 2018, S. 135).

Geist ist die Gesamtheit aller erkenntnismäßigen Prozesse und der durch diese hervorgebrachten Inhalte. Zu diesen geistigen Prozessen zählen auch die im Gehirn gespeicherten Lernprozesse, Erfahrungen und kulturellen Wissensbestände und die auf dieser Grundlage möglichen Leistungen, wie die Entwicklung von Zielen, Plänen und Entwürfen. Ein derartiges Zusammenwirken ermöglicht Selbstbewusstheit und persönliche Identitätsgewissheit. Der Geist wird bewusst, reflektierend und reflexionsfähig, als ursächlich begründetes Handeln gesehen. Wertend reguliert der Geist die Bedürfnisse einer Person und ist immer in seiner Kultur verwurzelt (Petzold 2009c). ▶▶

Geist ist die „Gesamtheit aller basalen und höheren kognitiven Prozesse plus ihres Lernens“ (Petzold 2018, S. 135).

Die immer wieder auftretenden Verwirrungen zwischen Begriffen wie Seele oder Geist, die englische Sprache differenziert „soul“ und „mind“, sind im Wesentlichen sprachlicher und nicht ontologischer Natur (Egger 2017). Hintergrundinformation: Ontologie ist eine Disziplin, die sich innerhalb der theoretischen Philosophie mit der Einteilung des Seienden und den Grundstrukturen der Wirklichkeit befasst.

Leib wird als die Gesamtheit aller motorischen, emotionalen, geistigen und die Aufnahme von Sinnesempfindungen betreffenden sowie sozial-kommunikativen Stile in ihrer gegenwärtig beabsichtigten Beziehung mit dem Umfeld verstanden (Petzold 2009c). ▶▶

Leib ist der belebte, lebendige Körper und zwar nicht nur als Lebendigkeit, sondern als eine Lebendigkeit, die Bewusstheit und Personalität besitzt (Petzold 2014c).

„Bewusstheit ist Bewusstsein und das Erkennen dessen, was im Bewusstsein vor sich geht, oder dessen, was in uns vor sich geht, während wir bei Bewusstsein sind“ (Feldenkrais 1978, S. 78). Hintergrundinformation: Wenn der Leser diese Zeilen liest und sich den Sinn dieser Aussage gerade bewusst macht, gleichzeitig spürt wie der Platz, auf dem er sitzt, vielleicht steht, seinen Körper trägt und ihn jetzt eben eine konkrete Haltung einnehmen lässt; wenn gleichzeitig wahrgenommen wird, wie das Herz schlägt, wie geatmet wird und sich dabei noch der Gefühle gewahr wird, bevor er sich auf diese Lektüre eingelassen hat, dann, ja dann ist von Bewusstheit die Rede. Bewusstheit ist mehr und etwas anderes als Bewusstsein.

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Der Leib ist keine rein materielle, sondern eine transmaterielle Größe, der Leib ist etwas, das über das dinghaft Physische hinausgeht, aber noch an die Materie, wie die Gehirnmasse, gebunden ist. Transmaterielle Größen können im Gegensatz zur immateriellen Größe, dem Seelenbegriff des Theologen, empirisch nachgewiesen werden, etwa am Phänomen des Phantomgliedes (Petzold 1988n). Ein anonymisiertes und de-identifiziertes Beispiel (Rall et al. 2014) aus der medizinischen Praxis vor dem theoretischen Hintergrund der Integrativen Therapie: Ein Schulkind, das durch einen Verkehrsunfall sein rechtes Bein verloren hat, wird nach einem Jahr und auch noch später erschrecken und Schmerzen signalisieren, wenn sich seine Mutter an die Stelle des Bettes setzt, wo früher das Bein war. Das Kind reagiert reflexhaft, als ob es noch unversehrt wäre. Im subjektiven Empfinden des Kindes ist das Bein noch da, als sog. Phantomglied. Das heißt, das Kind spürt den Leib, es spürt sogar in dem nicht mehr materiell vorhandenen, aber gefühlten Stück Leib Schmerzen, Phantomschmerzen. Der Leib ist transmateriell präsent. Erfahrungen, die das Kind im Laufe seines bisherigen Lebens mit seinem Leib gemacht hat, führen zu diesen „transmateriellen Dimensionen“ (Petzold 2003a, S. 855). Phantomgliedphänomene treten besonders ab dem 8. oder 9. Lebensmonat auf und haben ein schnelles „failing out“, sie verblassen sehr schnell. Das konnte in der Auswertung motorischer Verläufe in Videoanalysen von gesunden und von behinderten Kindern nachgewiesen werden. Eine Erklärungshypothese wäre, ein 5 Monate altes Baby hat noch keine langen Erfahrungen mit seinem Leib gemacht. Aus seinen Körperregionen sind noch nicht so viele „propriozeptive Informationen“ (Petzold 1988n, S.  354), Wahrnehmungen, von den Muskelspindeln und Sehnen, von den Gelenken und tiefen Bindegeweben übermittelt worden, die an das Gehirn melden, wie das Bein gelagert ist. Vor dem 8. Lebensmonat sieht das Baby auf seine strampelnden Beinchen und weiß noch nicht, dass sie zu ihm gehören. Ein Mensch, als Leibwesen eingewoben in ein soziales und ökologisches Umfeld in die jeweilige Kultur, ist über seine Lebensspanne hin fähig, seine Identität zu entwickeln (Petzold et al. 2013a). Im ständigen Wandel seiner Zeit lernt er, seine bewussten und unbewussten Strebungen, seine sozialen Beziehungen und die von ihnen kommenden Zuschreibungen sowie seine ökologische und kulturelle Zugehörigkeit immer besser zu verstehen. Das Ziel ist, persönlichen Lebenssinn zu gewinnen und mit anderen zu teilen (Petzold et al. 2013a). „Die Dimension des Sozialen wird von Beginn der Lebensäußerungen an, d. h. ab ovo und später auf der jeweiligen Verarbeitungskompetenz des Menschen mit seiner Umwelt in einem wechselseitigen Austausch erlebt und gelebt“ (Petzold und Orth 2007, S. 1057). Je früher ein Kind in einfühlsamer Weise in ein soziales Miteinander aktiv mitgenommen wird, desto wahrscheinlicher wird der Mensch durch Rollenübernahme auf der Grundlage der individuellen genetischen Vorgaben später in der Lage sein, sich in das emotionale Erleben anderer hineinzuversetzen. Die elterlichen Botschaften gestalten gleichermaßen mit, auch wenn ein Elternteil abwesend sein sollte. Dabei werden Werte vermittelt, die ihren Ausdruck in den Handlungen des Kindes, des Jugendlichen und späteren Erwachsenen finden. Im Erleben des Menschen in seiner Leiblichkeit erfolgt die psychotherapeutische Behandlung zwischen Therapeut und Patient in Zwischenleiblichkeit. Diese gründet auf der basalen

3.1  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Geschehen

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menschlichen Erfahrung von Beziehung, die ein Grundmuster aus frühen Beziehungen darstellt und in der Therapie zwischen Therapeut und Patient aktualisiert wird. Wenn dies gelingt, kann in der Zwischenleiblichkeit eine heilende Wirkung des therapeutischen Geschehens liegen (Petzold 2012a). Die Ökologie betrifft den persönlichen Wohn-, Lebens- und Arbeitsraum ebenso, wie die Ökologie der Makroebene den gesamten Lebensraum unserer Welt umfasst (Petzold 2006p). ▶▶

Ökologie steht in der Integrativen Therapie für das Konzept „Kontext/ Kontinuum“ (Petzold 2003a, S.  118), das den Bereich des physikalischen, biologischen und sozialen Lebensraumes einschließt. Kontext/ Kontinuum wird oftmals als Synonym für Lebenswelt verwendet.

In der Therapie wird die Sensibilisierung für eine ökologische Bewusstheit angestrebt und kann in der Folge zu Handlungen führen, wie beispielsweise zur Beseitigung von Umweltnoxen, zur Förderung von Engagement für die Umwelt und zur Entwicklung einer ökosophischen Haltung (Petzold 2016i).

3.1.3 Integrative Therapie: Axiome, Prinzipien und Konzepte „Axiome sind Grundannahmen einer Theorie, …; Prinzipien sind begründende Festlegungen mit einem sehr hohen Grad innerer Konsistenz …; Konzepte sind konsensuell begründete Annahmen, die für die Theorie, Praxeologie und Praxis eine handlungsbegründende und -leitende Funktion haben“ (Petzold 2003a, S. 116). In der Welt wird Wahrnehmung und Handeln des Menschen leiblich-sinnlich realisiert und mit Bedeutung versehen. Primordial, ursprünglich stehen wir in einem lebendigen, ko-respondierenden Austauschprozess mit der Welt und unseren Mitmenschen. Die frühen Beziehungserfahrungen können durch später vorherrschende negative Beziehungserfahrungen verändert, getrübt und verschüttet werden, sodass sich die Fähigkeit zu intersubjektiver Ko-respondenz, zu Kontakt, Begegnung und therapeutischer Beziehung, weiter zu einer parrhesiastischen Auseinandersetzung, zu einer offenen, freimütigen Rede von Person zu Person (Foucault 1996) nicht entwickeln kann (Petzold 2003a). „Alles Sein ist ‚Mit-Sein‘“ (Petzold 2003a, S. 116). Auch bei prinzipieller Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen und einer Verbundenheit als Mitmensch, beinhaltet dieses Denken ein unaufhebbares Moment des Unterschiedes, der Differenz, des individuellen Unterschiedes trotz allen Mit-Seins. Nach der Aussage des Ko-existenzaxioms (Petzold 2000h) lebt der einzelne Mensch in Koexistenz in und mit der Gemeinschaft mit anderen Menschen, er koexistiert. ▶▶

Die Integrative Therapie vertritt das Axiom des Heraklit, alles fließt und ist im Fluss verbunden. Als Verfahren ist die Integrative Therapie systematisch unfertig, in ständiger Entwicklung begriffen und anerkennt ihre Lehrinhalte nur als Positionen auf Zeit (Petzold 2014e).

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Das Verfahren Integrative Therapie hat den Anspruch, nie abgeschlossen zu sein und immer ein Entwurf zu bleiben. Dies eröffnet auch die Freiheit, unterschiedliche, aber kompatible Entwicklungsstränge aufzugreifen, denn auch Theorien, die Positionen auf Zeit sind, müssen forschungsgegründet sein, wenn sie zur Patientenbehandlung zugelassen werden. Hier ist qualitative wie quantitative Forschung unbedingt erforderlich, um vor der psychotherapeutischen Anwendung am Menschen Belege der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit vorlegen zu können. Evidenzbasierte Intervention „ist aber immer vergangenheitsorientiert: Sie gibt uns lediglich Auskunft über gut etablierte, empirisch abgesicherte Therapien. Wenn wir uns also nur auf die verfügbare wissenschaftliche Evidenz verlassen, gibt es keine Weiterentwicklung“ (Schnyder 2009, S. 66) (s. Abschn. 2.4). Kontinuitäts-/Diskontinuitätsprinzip (Metamorphoseprinzip) (Petzold 2000h) Der Mensch ist in seinen Strebungen bewusst und unbewusst stets auf anderes und andere gerichtet und verwirklicht leibhaftig eine gemeinsame Absicht in dieser Welt. Der Mensch will leben und lernen. Lebensprozesse sind Prozesse komplexen Lernens und vollziehen sich nicht linear, wie eine in der Integrativen Therapie eigenständig entwickelte Lerntheorie besagt (Sieper und Petzold 2002/2011). Diese Prozesse des Strebens und Lebens sind im ständigen Wandel unter Bedingungen von Regelhaftigkeit und Diskontinuität. Der Mensch schaut auf seinen bereits beschrittenen Lebensweg zurück und findet dieses Prinzip durchwegs bestätigt. Intentionalitätskonzept (Petzold 2003a) Der Mensch als Leib, als Körper-Seele-Geist-Subjekt in seiner materiellen und transmateriellen Verbundenheit, ist in seinen unbewussten und bewussten Strebungen immer auf andere und anderes bezogen. Intersubjektivitätsaxiom (Petzold 1980g) Eine gegebene Bezogenheit, die in der Entwicklung der Leiblichkeit und in der im Verlaufe der Evolution ausgebildeten sozialen Natur des Menschen wurzelt, bietet die Grundlage für Interaktion und Kommunikation und bestimmt somit auch die therapeutische Beziehung (Petzold et  al. 1994a). Mensch wird der Mensch durch den Mitmenschen, der Mensch ist immer Mitmensch und auf Mitmenschen bezogen. Der Mensch wird als Subjekt gesehen. Ziel in der therapeutischen Behandlung ist die Gestaltung gelebter Intersubjektivität, wobei die „Andersheit des Anderen“ (Lévinas 1995, S. 186) in der Zusammenschau des Wir, Du, Ich zu beachten und zu respektieren ist. Die therapeutische Beziehung als intersubjektives Geschehen schließt die Idee einer „unterstellten Intersubjektivität“ ein: ▶▶

Entscheidend für unterstellte Intersubjektivität ist, den Patienten als gleichberechtigtes Subjekt zu sehen, ohne die Kompliziertheit von Prozess und Struktur der therapeutischen Behandlung, den unterschiedlichen Wissensstand und die möglichen Wirkfaktoren zu verkennen (Petzold 2003a).

3.1  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Geschehen

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Unterstellte Intersubjektivität lässt dem anderen prinzipiell gleichen Subjektstatus zukommen, wenn dieser auch aus verschiedenen Gründen Defizite in der Struktur hat und den Subjektstatus derzeit nicht gänzlich realisieren kann (Petzold 2003a). Nach Merleau-Ponty ist der Kranke ein Subjekt, das auf seinem jeweiligen Strukturniveau Antworten auf Problemstellungen gibt, die ihm das Leben stellt. Von vornherein wird Intersubjektivität unterstellt. In der Behandlung eines Patienten bedeutet Intersubjektivität gemeinsame Hermeneutik, die gemeinsame Auslegung. In der integrativen Therapiesituation versuchen Therapeut und Patient sich ko-­ respondierend klar zu werden, was in dem laufenden Ko-respondenz-Prozess gerade geschieht. Alteritätsprinzip (Petzold 2000h) Die Befunderhebung und in der Folge die Diagnosestellung beginnen in Intersubjektivität (s. Abschn. 6.1). In Ko-respondenz versuchen Therapeut und Patient konsensuell den Prozess und die Struktur des Patienten zu erfassen. Selbst die konkret geplante therapeutische Intervention wird ko-respondierend auf Übereinstimmung und ihren Sinn geprüft. Polylogprinzip (Petzold und Müller 2005/2007) Handlung, auch die Behandlung, ist Kooperation zwischen Therapeut und Patient. Die in Kooperation erlebte Kreativität ist immer „Ko-kreativität“ (Petzold und Sieper 1993a, S. 98). Sinn wird aus Polylogen (s. Abschn. 2.3) geschöpft und ist deshalb Sinn mit anderen und anderem und steht gleichzeitig in Differenz, im Dissens zu wieder anderem. ▶▶

Jedem Monolog geht ein Dialog voraus. Auch der Dialog findet nicht voraussetzungslos statt. In jedem Dialog sind Polyloge enthalten, Gespräche nach vielen Seiten hin, einerseits im Sinne von inneren Zwiesprachen, andererseits mit vielen Gesprächspartnern (Petzold 2003a).

Aus den Polylogen sind die Stimmen der Zeit zu hören, in Form erlebter oder erinnerter Gespräche mit Großeltern, Eltern, Freunden und anderen Mitmenschen oder in Form gelesener Aussagen. Hominitätsprinzip (Petzold et al. 2014a) Der Mensch als Leibsubjekt ist uranfänglich mit seiner Lebenswelt verschränkt, Mensch und Lebenswelt stehen in beständiger Entwicklung. Hominität, die individuelle und kollektive Menschennatur, ist in ihrer biopsychosozialen Verfasstheit und in der ökologischen und kulturellen Eingebundenheit mit ihren Möglichkeiten zu Destruktivität wie Inhumanität, aber auch zu Dignität wie Humanität in beständigem Werden und verlangt fortwährendes Sich-selbst-Erkennen. Der Mensch wird als Natur- und Kulturwesen in ständiger Entwicklung durch Selbstüberschreitung auf dem Weg sein und die Verwirklichung von Humanität als Person mit einer klaren, stabilen, aber auch komplexen, eigenen Identität als Aufgabe vor sich haben. Daher ist die Integrative Therapie als Humantherapie zu sehen.

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Sie ist ausgerichtet auf das zwischenmenschliche, polylogische Grundprinzip, Wir, Du und Ich in Kontext und Zeit. Der Mensch ist in fortwährender Entwicklung zu begreifen. ▶▶

Der Mensch ist in seiner Hominität, in seinem Menschenwesen, und in seiner Humanität, seiner Menschlichkeit, in der Umsetzung seines Verständnisses vom Menschsein, von der Menschenwürde, von Gerechtigkeit, von Freiheit nie abgeschlossen, sondern beständig auf dem Weg (Petzold 2003a).

Diese nie erfolgte Abgeschlossenheit geschieht unter der Vorgabe der Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Entwicklungsstufen, vom Neugeborenen hin bis zum Greis, und der unterschiedlichsten Ausstattung kognitiver, emotionaler, sozialer und sozio­ ökonomischer Gegebenheiten. Das Miteinanderleben ist und bleibt eine immerwährende Herausforderung (Petzold 2003a). Identitätskonzept (Petzold 1984i, 2003a) Identität gründet auf Fremd- und Selbstzuschreibung. Identität wird aktiv durch fremd- und selbstzuschreibende, verstandesmäßige, gefühlsmäßige, wertende, wechselseitig beeinflussende und willentliche Informationen aus einer Vielfältigkeit gewonnen. Transversalitätsprinzip (Petzold 2005r/2010) Gesundsein und Kranksein sind vielschichtig und als menschliche Realität auch mehrdeutig. Gesundsein und Kranksein erfordern Mehrperspektivität, viele Sichtweisen. Sie verlangen die Überschreitung herkömmlicher Auslegung und Analyse und somit die Durchdringung einer transversalen, einer quer oder nach allen Richtungen verlaufenden Vernunft. Transversalität ist ein zentrales Prinzip des integrativen Ansatzes und trifft das Wesen der Integrativen Therapie in spezifischer Weise. Um Offenheit für Neues, Freiheit für andere, neue Sichtweisen und Andersdenken zu gewährleisten, braucht Transversalität die anderen, das Denken, Tun und den Austausch mit anderen (Petzold 2018). Ein offenes, nichtlineares, fortschreitendes, vielschichtiges Denken vernetzt Erkenntnis und Wissensstände, erweitert in systematischen Suchbewegungen die Erkenntnishorizonte und begibt sich durch eine neue, andere Sicht beständigen komplexen Lernens in Diskurse von Freiheit (Petzold und Orth 2018). Kontext-/Kontinuumsaxiom (Petzold 1974j) Nichts kann ohne seinen raumzeitlichen Zusammenhang, wie er in einem gegebenen, zeitlich gedehnten Hier und Heute zugänglich wird, sinnvoll begriffen werden. Das erlebte Heute ist ein extendiertes Jetzt in einem horizontoffenen Raum. „Der Patient trägt in jedem Moment seiner Gegenwart die Ereignisse der Vergangenheit und die Möglichkeit seiner Zukunft in sich“ (Petzold 1974k, S. 316). Der Patient ist als Person nur in diesem raum-zeitlichen Kontext/Kontinuum zu begreifen.

3.2  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln

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Integritätsprinzip (Petzold 2000h) Die Grundlage von Integrität, der Unversehrtheit des Menschen, ist bedingt durch die notwendige übereinstimmende Bestätigung der frühen, gemeinschaftlichen Existenz von Menschen bis hin in die gegenwärtige Lebenssituation. Für die Gewährleistung der übereinstimmenden Bestätigung gilt, in engagierter ­Verantwortung für sich selbst und andere Menschen, für Gruppen und für Lebensräume einzutreten. Konsens-/Dissensprinzip (Petzold 1991a) Vorgehensweisen und Ansätze unter dem Gesichtspunkt der individuellen Unterschiede, die zugleich die Notwendigkeit von Integrationen bejahen, werden im Sinne der Vernetzung von Verschiedenem und des Ausdrucks der Freiheit und der Wertschätzung von Andersheit verstanden. Diese Aussage bezieht sich auf das Konzept der „différance“ Jacques Derridas (Derrida 1967). Synergieprinzip (Petzold 1974k) Die Wirkungen von bewährten Verfahren, Methoden und Techniken zusammenzuführen, dieses Prinzip bedeutet mehr und etwas anderes als die Summe von Teilwirkungen. Synergie im Zusammenspiel von Verschiedenem lässt Neues entstehen. Das Zusammenwirken von Teilsystemen führt zu übergeordneten Qualitäten. Sy­ nergie schafft vielfältigen Sinn und Entwicklungschancen. Konzept der Ko-kreativität (Petzold 1971k; Iljine 1990) Der schöpferische Mensch ist ein kreatives Wesen, das ko-kreativ, innovativ kooperiert und die gemeinschaftliche Gestaltung eines guten Lebens mit vielfältigen schöpferischen Ideen und Mitteln anstrebt (Petzold und Sieper 1993a). Der Mensch oder Gruppen von Menschen, die Konzepte konsensuell erstellen und ihre Zusammenarbeit in einer Kooperation begründen, erleben durch Ko-­ kreativität Wachstumsprozesse, die in Überschreitungen von bisher Gedachtem und Geleistetem liegen können (Petzold und Orth 2018).

3.2

 ie therapeutische Beziehung, ein D intersubjektives Handeln

Im Sinne des Handlungsbegriffes ist die Integrative Therapie ein sich über bestimmte Zeit erstreckender Prozess, in welchem persönliche und gemeinschaftliche Auslegung erfolgt. Dieser Vorgang beinhaltet Erfahrenes, Gefühle, Verstehen sowie Willens- und Motivationsverläufe. Auf der Basis der sich in der intersubjektiven Ko-respondenz realisierenden Ereignisse werden in der Gegenwart bewusste und unbewusste Strebungen, lebensbestimmende, belastende, unabgeschlossene und immer auch förderliche Erfahrungen der Biografie fokussiert. Je nach Bedeutung werden diese erinnerten Ereignisse für die Persönlichkeitsentwicklung und Lebensführung erfassbar gemacht. Psychotherapie ist im Sinne Integrativer Therapie ein intersubjektives Geschehen und Handeln. Psychotherapeutische Behandlung erfolgt in einer be-

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

stimmten Atmosphäre im Wechselspiel zwischen einem oder mehreren zu Behandelnden und einem oder mehreren Therapeuten. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, das intersubjektive Geschehen, die sich ergebenden Abläufe und Situationen zu ­erkennen, zu reflektieren und indikationsspezifisch durch intervenierendes Handeln theoriegleitet zu beeinflussen (Petzold und Orth 1990a). Die Therapie wird erst zur professionellen Behandlung, wenn der Psychotherapeut sein Tun mithilfe von Modellvorstellungen (Herzog 1984) zum Geschehen in der Psychotherapie in einer spezifischen Weise reflektiert und sich auf dieser Grundlage verhält. Ohne die Vielschichtigkeit der psychotherapeutischen Situation zu übersehen, bedeutet intersubjektive Ko-respondenz von Therapeut und Patient Begegnung und Auseinandersetzung von Person zu Person. Psychotherapeutisches Handeln schließt ein, sich von dem Patienten emotional berühren zu lassen, sich auf die Lebenswelt des Patienten einzulassen und auf begrenzte Zeit Teil dieser Lebenswelt zu werden (Petzold et al. 1999). Für die therapeutische Beziehung ist charakteristisch, dass sie keine im herkömmlichen Sinne zwischenmenschlich empathische Beziehung ist. Der Therapeut verleiblicht für den Patienten stets auch Personen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Es aktualisieren sich bewusst und v. a. unbewusst frühere Atmosphären und Szenen, wenn Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen vorliegen. Dies geschieht oft in einer zeitlichen Abfolge, indem eine Szene die nächste abruft, dann wieder eine andere Szene abgerufen wird und so weiter. In der therapeutischen Beziehung erfolgen Übertragungen, die, weil unbewusst, die Wahrnehmung der Gegenwart verändern oder verstellen können. Durch die Idealisierung des Therapeuten vonseiten des Patienten kann die Gegenwart verzerrt erlebt werden. Frühe Beziehungserfahrungen, die nichtdistanzierungsfähige Wiederholungen von frühen Szenen und Narrativen sind, können die Realität im Hier und Heute verstellen. ▶▶

Ein wesentliches Ziel in der therapeutischen Behandlung ist: „Wo Übertragung war, soll Beziehung werden“ (Petzold 2003a, S. 835). Die unbewussten Übertragungsmuster, die archaischen Narrative, werden im therapeutischen Prozess erfahrbar, gemeinsam interpretiert und verändert.

Übertragungen können nicht nur vonseiten des Patienten aufkommen, auch der Therapeut kann unbewusste frühere Übertragungskonstellationen agieren. Daher ist auch eine fortlaufende Supervision für jeden psychotherapeutisch Behandelnden verpflichtend. Im Unterschied zur Übertragung des Therapeuten sind aus Sicht der Integrativen Therapie Gegenübertragungen bewusste, bzw. bewusstseinsnahe empathische Reaktionen auf das, was der Patient dem Therapeuten entgegenbringt (Petzold 2003a). In der Schlussphase einer Therapie nehmen die empathischen Gegenübertragungen des Patienten zum Therapeuten zu. Dieses Phänomen ist nicht einseitig und erfolgt auch von Therapeutenseite. Wechselseitige Empathie ist die Voraussetzung für Begegnungs-, Auseinandersetzungs- und Beziehungsfähigkeit, also

3.2  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln

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Grundlage für jede gelungene intersubjektive Ko-respondenz als Form stimmigen Kontaktes und klarer Interaktion, ohne sich in Involviertheit zu verstricken (Petzold 2003a). Die hohe Komplexität der therapeutischen Beziehung geht weit über die klinischen Kategorien des intersubjektiven Prozesses, der Übertragung und Gegenübertragung hinaus (Petzold 2012c). Das Axiom der Intersubjektivität hat weitreichende Konsequenzen für die therapeutische Haltung und Praxis der Integrativen Therapie. Die Behandlung erfolgt entsprechend dem Geschehensbegriff aus dem Blickwinkel unterstellter Intersubjektivität. Der Patient wird als Mit-Subjekt gesehen und zunächst als Mensch, der auf der Grundlage seiner Strukturbildung auf die Anforderungen antwortet, die ihm das Leben stellt. Therapeutisches Ziel ist die Gestaltung von Intersubjektivität. Der Patient soll sich in der therapeutischen Beziehung als Subjekt erfahren. Die Therapie realisiert die intersubjektive Voraussetzung im Gedanken der leiblichen Begegnung durch innere Berührung auf der Ebene leibhaftiger Koexistenz und als intersubjektive Hermeneutik des sprachlichen und nichtsprachlichen Ausdrucks (Petzold 2003a). Ein solches Vorgehen wirft in besonderer Weise ethische Fragen auf. Die Frage nach dem Anderen (Lévinas 1983; Petzold 1996) ist in Hinblick auf bemächtigende, objektivierende Betrachtungs- und Verhaltensweisen zu stellen. Die unvermeidliche, weil strukturelle Unterwerfung des anderen Menschen, des Patienten, ist durch fortlaufende Reflexion tendenziell aufzuheben (s. Abschn. 6.3.1). Den Geschehensbegriff der intersubjektiven Ko-respondenz auf die Ebene des Handlungsbegriffes zu übertragen, heißt im Sinne des Respektierens des anderen, die therapeutische Beziehung zum anderen Subjekt stets neu zu überdenken und in neues Erleben, Denken und Verhalten umzuwandeln. Es spielen die Aspekte Achtung, Respekt, Takt, Verlässlichkeit, Vertrauen und Würde eine herausragende Rolle (Petzold 1988n). Das psychotherapeutische Verfahren Integrative Therapie ist • ein kuratives, heilendes und palliatives, linderndes Handeln in ambulantem, stationärem, klinischem und rehabilitativem Setting für Patienten, • eine gesundheitsfördernde Behandlung für Krankheitsprävention und Aufbau eines gesundheitsaktiven Lebensstils für Patienten, • ein Weg der Persönlichkeitsentwicklung, durch Förderung von Bewusstheit, Kompetenzerleben, Selbstwirksamkeit, persönlicher Souveränität im privaten und öffentlichen Bereich für Patienten und Klienten, • eine Möglichkeit der Kulturarbeit und Kulturkritik durch die Förderung gesellschafts- und gesundheitspolitischen Bewusstseins, durch Engagement für soziale Gerechtigkeit, Gesundheitskultur, Menschen- und Patientenrechte sowie humane Lebensbedingungen für Patienten und Klienten (Petzold 2003a). Wie in Abschn. 2.6.4 hingewiesen, ist eine mit öffentlichen Geldern finanziell unterstützte Psychotherapie eine Behandlung von Patienten. Daher gilt: „den Klientenstatus zu erreichen, wird ein erstes Therapieziel“ (Petzold 1981, S. 312).

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Die Integrative Therapie ist aus psychotherapeutischen Schulen im Sinne von deren Überprüfung mit nachfolgender Weiterentwicklung oder Kombination reflektiert und nicht unreflektiert eklektizistisch entwickelt worden. ▶▶

Die Integrative Therapie wurde als Integrationsparadigma eigenständig und interdisziplinär auf der Basis von Referenzwissenschaften begründet (Petzold 1993n).

Dieser Behandlungsansatz versteht sich als ein aus gesichteten Quellen gespeistem Netz von Wissen und Praxen, von Konzepten und Methoden. Die Integrative Therapie bildet eine Vernetzung von Vielfältigkeiten, die seitens der Humanwissenschaften über den Menschen als Einzel- und Gruppenwesen, über Organisationen und Institutionen zusammengeführt worden sind. Die Integration ist Ausgangspunkt und wesentlicher Gehalt des Verfahrens Integrative Therapie. Integriert werden aufgegliederte, vielschichtige oder auf den ersten Blick unvereinbar erscheinende Teile zu einem übergeordneten Ganzen. Immer wieder erfolgt das Lösen von Aufgaben und Problemen auf einer neuen Ebene. Unterschiedliches wird nicht eingeebnet, sondern bleibt bestehen und wird vernetzt. Integration ist primär ein Prozess des Zusammenführens von Verschiedenem. In zweiter Linie gilt es nach Verdeutlichung des Unterschiedes diesen zu bewahren, jedoch bei Wahrung des Unterschiedes Brücken der Verbindung herzustellen (Petzold 2003a). Nie ist Integration im Sinne der Integrativen Therapie Nivellierung oder Aufhebung von objektiv vorhandenen Unterschieden. Die Ursprünglichkeit und der klare theoretisch-praxeologische Aufbau des Verfahrens Integrative Therapie ermitteln sich aus der erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch fundierten Form des Denkens.

3.2.1 Erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Fundierung Für die Erklärung erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Fundierung des Denkens in der Integrativen Therapie werden zentrale Begriffe wie Exzentrizität, Mehrperspektivität, Synopse, Konnektivierung und Transversalität (Petzold 2002b) hervorgehoben. Exzentrizität ist der Blick von außen, im Gegensatz zur Zentrierung, dem unmittelbaren In-sich-Hineinspüren. Der Therapeut schaut aus einem guten Abstand auf das Leibsubjekt in seinem Kontext und Kontinuum hin, auf sich selbst wie von außen, bei gleichzeitigem Gewahrsein, welcher Prozess sich zwischen Therapeut und Patient gerade ereignet. Mehrperspektivität meint, mehrere Blickwinkel und Standpunkte zu beachten (Petzold 2003a). Exzentrizität ermöglicht Mehrperspektivität, Mehrperspektivität setzt Exzentrizität voraus, beide bedingen einander. Exzentrizität gilt sowohl für den Blick nach außen als auch für den Blick von außen nach innen auf sich selbst. Gernot Böhme hat dies in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1985) als „obliques Bewusstsein“ (Böhme 2012, S. 192) bezeichnet. Die aus der

3.2  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln

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exzentrischen Position gewonnene Mehrperspektivität eröffnet die Möglichkeit zu einer Synopse, zu einer Zusammenschau. Diese wiederum ermöglicht Konnektivierung, die Vernetzung verschiedener, aktiv in den Blick genommener oder in das Auge fallender Wissensbestände. Konnektivierung kann als kreative Verfahrensweise verstanden werden, als ein Vorgehen, das ständig, aufs Neue vollzogen, neue ­Interpretationen hervorbringt. Durch Konnektivierung soll die Bildung vielschichtiger Interpretationen gefördert und somit für den Patienten ein auf Zeit gültiger Sinn begründet werden, im Sinne fundierter Positionen, die aber veränderbar bleiben (Petzold 2003a). Transversalität ist ein offener, nichtlinearer, vielseitiger, mit individuell unterschiedlichem Zeitaufwand verbundener Denkablauf. Dieses prozessuale Denken ist ein Denken von Vielfalt in permanenten Übergängen, ein Denken, das charakterisiert ist durch Reflektieren und Metareflektieren (Petzold 2003a). Durch ein beständiges Überdenken, Nachdenken und Durchdringen der eigenen Positionen und ihrer Kontexte wird deren ganze Komplexität mehr und mehr erschlossen, ohne zu einem bestimmten Abschluss oder einem letzten Sinn kommen zu wollen, sondern „um immer neuen Sinn freizusetzen“ (Petzold 1998a, S. 34). Der Transversalität ist in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung beizumessen. Tranversalität charakterisiert die Integrative Therapie durch den nichtlinearen Denkablauf ausgezeichnet als theoretisches und praktisches Verfahren. ▶▶

Integrativen Therapeuten ist das Hinterfragen ihrer Reflexion angeraten. Vor dem gegebenen kulturellen Hintergrund der geistesgeschichtlichen Strömungen sind Zusammenhänge zu verstehen, um in eine Metahermeneutik einzutreten, in der sich die Hermeneutik selbst zum Gegenstand der Auslegung macht (Petzold 2003a).

Systematische Suchbewegungen werden zum Erkenntnisprinzip, fortwährende Überschreitungen zum Entwicklungsziel. In gewisser Hinsicht erscheint dieses Denken rastlos. Es zielt auf die Ermöglichung von Vielfalt, auf die Zulässigkeit, aus verschiedenen Blickpunkten erfolgenden Argumentierens, auf die Gültigkeit vielschichtiger Ordnungen und auf die Relativierung von einseitigen Geltungsansprüchen (Petzold 2003a). Charakteristisch für das Denken in der Integrativen Therapie ist das Denken in Dispositiven. Das Dispositiv ist definiert als Ensemble heterogener, uneinheitlicher Elemente (Foucault 1978) (s.  Abschn.  1.3.4). Im intersubjektiven Ko-­ respondenzprozess zwischen Therapeut und Patient eröffnet sich eine Vielzahl von Interventionsmöglichkeiten für den Therapeuten. Bei der Integration geht es nicht um die Behauptung, etwas nur auf ein einzelnes Thema und auf eine einzige Ursache zurückzuführen und einheitlich verfassten Erkenntnissen und Praktiken zu folgen. Es geht um eine Erweiterung, um Vielfalt und Differenzierung. Integration ist nicht als schrittweise Assimilation, als Angleichung oder Einverleibung, nicht als Nivellierung, als Gleichmachen, zu verstehen. Integration ist Konnektivierung, Vernetzung. Es wird ein Bild von Wissenschaft gezeichnet, das konventionellen, objektiven wissenschaftlichen Abläufen nicht entspricht.

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Komplexität ist nicht auf Unpersönliches, Formelhaftes und Abstraktes zu reduzieren. Die Vielfältigkeit soll im Gegenteil erhalten bleiben und differenziert werden. Das vom Patienten Erlebte und als gesundheitliche Störung Ausgedrückte soll vielschichtig aufgefächert und dargestellt werden. Im therapeutischen Prozess werden die Bezüge zu seinem Gewordensein hergestellt, vom Therapeuten und Patienten gemeinsam erfasst und verstanden, um dann konsensuell Therapieschritte einzuleiten. Genau hier stößt herkömmliche Forschung durch die schier unendliche, aber notwendige Variabilitätsvielfalt an Grenzen. Durch Dekonstruktion (Derrida 1972, 2000) (s. Abschn. 1.3.5) sind konventionelle Denkweisen durch einen autorisierten und institutionellen Diskurs aufzudecken, wieder aufzubrechen oder zu verhindern. Auf der Grundlage der Diskursanalyse (Foucault 1978) ist die in den eingrenzenden Denkweisen gewonnene Macht zu thematisieren (Hässing 2008). Das betrifft ganz besonders die strukturelle Macht von Deutungsmonopolen, die in der Psychotherapie allzu oft vorkommen. Auch die Vorgaben von Standardformaten, Leitlinien therapeutischer Methodik, zählen letztlich hier dazu. Es handelt sich in der konkreten Anwendung dieses Integrationsmodells um ein Verständnis, welches Denken und Wissen im Kontext einer bestimmten intersubjektiven und metaszenischen, historischen Situation begreift. Dem Denken und dem Wissen wird eine soziale und geschichtliche Bedeutung zuerkannt. Beides wird grundsätzlich intersubjektiv und durch reflektierte Gespräche über Lebenswelt und Zeithorizont erfasst. Gewonnen werden Erkenntniszusammenhänge in länger andauernden Ko-­respondenzprozessen im Konsens und Dissens, als Begegnung und immer auch Auseinandersetzung, unter Berücksichtigung von anderem und Beachtung und Achtung der „Andersheit des Anderen“ (Lévinas 1995, S. 186). Diese Haltung weist über die Wissenschaftstheorie hinaus auf bestimmte ethische Dimensionen. In der Integrativen Therapie gehen Therapeut und Patient von der respektvollen Übereinstimmung über die Tatsache der Differenz aus, und auch über das Leiden an dieser Differenz. Erwartet wird das Auftauchen von neuen Erkenntnisqualitäten, die über die bekannten Qualitäten hinausragen (Petzold 2003a; Petzold et al. 2018). ▶▶

Ziel von Psychotherapie ist die Erweiterung des Potenzials der Hominität in Richtung einer Verwirklichung von Humanität. Dies erfordert die Verbindung von Vernunft und Gefühl. Ein ausgehandelter Vernetzungsprozess von Miteinandersein und Selbstbestimmtheit kann diesem Ziel nahekommen (Petzold 2003a).

Die Integrative Therapie setzt sich mit dem Blick auf die Bezogenheit des Menschen für ein eigenes Konzept von Souveränität ein (Petzold und Orth 2014). Die Vorstellung einer individuellen Autonomie wird als begrenzt gesehen. Souveränität gründet im Leib. Souveränität wird vom Subjekt gleichzeitig erfahren und erschaffen. Sie verdichtet sich im Erleben zu einem inneren Kern persönlicher Sicherheit und Freiheit, der sich füllt mit Selbstgefühl, Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit und im Ergebnis mit Selbstwertgefühl sowie mit der Erfahrung von Verbundenheit und Zugehörigkeit (Petzold und Orth 2014).

3.2  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln

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Souveränität beginnt im Lauf der Entwicklung des Individuums mit der Kon­ trolle über Körperfunktionen, der Verfügbarkeit über den eigenen Körper, dem Besitz von Bewegungsspielräumen. Darüber hinaus erstreckt sich Souveränität bis hin zur sozialen Wirksamkeit durch kommunikative Fähigkeit und Fertigkeit. Dies drückt sich in einer Besonnenheit, guten Kollegialität, Wertschätzung, Würde, Verantwortlichkeit und Dialogfähigkeit im sozialen Handeln aus (Petzold und Orth 2014). Diese Art des Denkens und an Dinge heranzugehen ist ein charakteristischer Stil in der Integrativen Therapie und vergleichbar einer Einstellung, aus der bestimmte nachvollziehbare Herangehens- und Umgangsweisen mit Themen und Aufgaben resultieren (Petzold 2003a). Diese Vorgehensweise unterscheidet sich grundlegend von den üblichen Traditionen im Feld der Psychotherapie und weist eine Besonderheit gegenüber anderen psychotherapeutischen Verfahren auf. Grundgelegt ist eine klar ausformulierte, erlebnistheoretisch verfasste, multiwissenschaftliche Konzeption. Die Weiterführung dieser Konzeption geschieht in Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, gemeinsam mit der damit verbundenen Forderung nach einer Verbreiterung der Basis von Behandlungsformen. Konsequent erfolgt der Anschluss an die aktuellen Erkenntnisstände der klinischen Psychologie, der Sozialpsychologie und der Entwicklungspsychologie, ebenso an die Ergebnisse der Neurowissenschaften und die Resultate der empirischen Psychotherapieforschung (Petzold et al. 2000; Leitner et  al. 2009). Der Begriff Psychotherapie ist an dieser Stelle hinterfragenswert (s. Abschn. 2.4.4 und 2.5). Die von der Integrativen Therapie vollzogenen, eigenständigen Entwicklungen werden zurzeit von einigen Strömungen der modernen Psychoanalyse angestrebt. Die Psychoanalyse hat bei der Erosion ihres „common ground“ (Altemeyer und Thomä 2006) unter einem gemeinsamen Dach mittlerweile etwa vier Psychologien und zahlreiche Schulen mit zumindest zwei Techniken entwickelt und integriert eine Vielzahl von Anregungen, wie Intersubjektivität, Körper, Entwicklungspsychologie, Neurobiologie. Das Verfahren Integrative Therapie verfügt in seinem theoretischen Fundament über diese Konzepte.

3.2.2 Basis einer integrativ psychotherapeutischen Behandlung Der Therapeut bringt in einer intersubjektiven Grundhaltung die Verfügbarkeit mit, sich mit dem Patienten als Person, mit seiner Lebenslage und seiner Netzwerksituation auseinanderzusetzen. Der Therapeut ist bereit, sich mit dem Leiden, den gesundheitlichen Störungen und Belastungen wie auch mit den Ressourcen, Kompetenzen und Entwicklungsaufgaben des Patienten zu konfrontieren. Für dessen Gesundung ist der Therapeut bereit, mit dem Patienten gemeinsam an Problemlösungen und an seiner Persönlichkeitsentwicklung zu arbeiten. Lege artis unterstützt und fördert der Therapeut den Patienten professionell „nach bestem Wissen und Gewissen und unter Beachtung der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft“ (Rechtsinformationssystem des Bundes [RIS] 2019, § 14. [1]).

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Der Patient erklärt seine grundsätzliche Bereitschaft, sich mit sich selbst, seiner gesundheitlichen Störung, den Hintergründen und seiner Lebenslage sowie mit dem Therapeuten und seinen Anregungen problembezogen auseinanderzusetzen. Er bringt je nach seinen Möglichkeiten seine Fähigkeiten und Fertigkeiten, seine Probleme und seine subjektiven Theorien zur eigenen Störung ein, und übernimmt mit die Verantwortung für das Gelingen seiner Therapie (Petzold 2003a). ▶▶

Therapeut und Patient erkennen das Prinzip der doppelten Expertenschaft an (Petzold 1990i), der Patient für seine Lebenssituation und der Therapeut für die klinische Erfahrung, beide in respektvollem Umgang vor der „Andersheit des Anderen“ (Lévinas 1995, S. 186).

Beide beabsichtigen, auftretende Probleme im therapeutischen Prozess und in der therapeutischen Beziehung ko-respondierend zu lösen. Das therapeutische Setting gewährleistet die Sicherung von Fachlichkeit, Patientenrechten und die Würde des Patienten. Die Zustimmung des Patienten vorausgesetzt, lässt der Therapeut seine Behandlung durch professionelle Supervision begleiten.

3.2.3 V  erfahrensweise und Grundregel der Integrativen Therapie Die Integrative Therapie lässt sich als einen, Schritt für Schritt aufeinanderfolgend, über eine gewisse Zeit entstehenden Weg charakterisieren. Es gilt dabei das Prinzip des Geschehenlassens, Wirkenlassens und Handelns. Abweichungen wie etwa im Fall erforderlicher Stütze, Krisenintervention, Strukturierung sind gesondert therapeutisch zu begründen. Therapiedidaktische Strukturierungen geben kreative Medien, Rollenspiel, verhaltensbezogene Übungen, auch die Entwicklung von Copingstrategien und Creatingstilen (s. Abschn. 7.7). Eine wesentliche Dimension der Grundregel des Geschehenlassens, Wirkenlassens und Handelns liegt im Erfassen des rechten Augenblicks und im Fluss der angebotenen Szene zu bleiben. Denn eine Szene folgt der anderen, ein Gefühl kreiert ein Wort und ruft ein weiteres hervor, eine emotionale Berührung führt zur nächsten. Der Therapeut versucht, aus seiner professionell eingenommenen Exzentrizität den Prozess des von ihm so wahrgenommenen intersubjektiven Geschehens prägnant zu machen. Er macht die relevanten Phänomene, die er in kontinuierlicher Aufmerksamkeit erfasst, dem Patienten zugänglich und strebt mit ihm darüber Übereinkunft an. Anschließend beginnt er mit dem Patienten gemeinsam die Phänomene zu klären und, wenn möglich, gemeinsam zu interpretieren. Dies erfolgt unter Zuhilfenahme bewährter Modelle von Lebensvorstellungen und Lebenssituationen, unter Zuhilfenahme der jeweils auszuwählenden Blickwinkel auf das Individuum, der sozialen Beziehungen, des Zeitkontinuums sowie der Betrachtungsweisen auf die Psychodynamik (Petzold 2003a).

3.2  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln

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In der Integrativen Therapie wird ein Leibgedächtnis angenommen (Petzold und Sieper 2012a). Im Leib sind kognitive, emotionale und volitive Inhalte im Kontext gespeichert. Diese Zusammenhänge stehen im Kontext von Atmosphären, aus denen Bilder, Szenen und Szenenfolgen auftauchen, welche durch Worte und Sätze benannt werden. Leibliche Phänomene wie sensumotorische, propriozeptive und autonome Körperreaktionen können auftreten. Diese wiederum werden von emotionalen Bewertungen, kognitiven Einschätzungen, subjektiven Sinnstrukturen und Bedeutungen begleitet. Das Leibgedächtnis wirkt atmosphärisch und szenisch. Szenen sind hier als leiblich sedimentierte Strukturen zu verstehen, die sich, wenn sie aufgerufen werden, in Körperreaktionen zeigen. Eine der bevorzugten Behandlungsweisen der Integrativen Therapie ist die „holografische Evokation“ (Petzold 2003a, S. 692), eine ganzheitliche Vorstellung der Situation als leiblich sedimentierte Szene aus Körperhaltung, Gestik, Mimik und Bewegungsabläufen. Diese leiblich sedimentierten Strukturen sind im Austausch mit dem Patienten zu ermitteln und zunächst hypothetisch zu interpretieren. Therapeut und Patient schließen von der phänomenalen Ebene auf sinnhafte Strukturen und darin enthaltene Entwürfe, aus der Narration, der erlebten, erzählten und mitgestalteten Lebensgeschichte, auf Narrative, auf Lebensmuster (Petzold 2003a). Erstes Gültigkeitskriterium der hypothetischen Interpretation ist das Gefühl und die Beurteilung des Patienten. Das Erleben der Szene muss sich für den Patienten stimmig anfühlen und nachvollziehbar sein. Als technisches Instrument kann das sog. Shifting zur Anwendung kommen: Der Therapeut wechselt mehrfach den Bezugsrahmen des Beobachtens und Handelns. Er durchschreitet den narrativen Raum auf verschiedenen Ebenen, um eine mehrperspektivische Sicht auf das sich Darbietende zu erhalten (Petzold 2003a). Er erfasst schädigende ebenso wie fördernde Lebensereignisse und ordnet diese biografisch ein. Das versetzt den Therapeuten in die Lage, dem Patienten, unter Berücksichtigung seiner jeweiligen Entwicklungsebene und Erlebensfähigkeit, bezüglich der schädigenden und fördernden Faktoren durch einfühlsames Fragen Anregungen geben zu können. Systematisch entwirrt der Therapeut das komplexe Wirkgefüge der Intersubjektivität. Er betrachtet, was ihm der Patient im Augenblick zeigt. Er konzentriert sich auf das Beschreiben, Wahrnehmen, Erfassen und Verstehen von Vorgängen. Schrittweise findet er sein eigenes Wahrnehmen, Erfassen und Verstehen des Patienten und versucht, sich als Therapeut im wechselseitigen Austausch mit dem Patienten wahrzunehmen, zu erfassen und zu verstehen. Schließlich stellt er diesen wechselseitigen Austausch zwischen sich und dem Patienten in das gemeinsame Wahrnehmen, Erfassen und Verstehen. Auf der Basis der sich in der intersubjektiven Ko-respondenz über die Zeit realisierenden Phänomene übernimmt der Therapeut die Aufgabe, mit dem Patienten dessen bewusste und unbewusste Strebungen zu fokussieren und in ihrer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und Lebensführung des Patienten erfahrbar zu machen. Dabei werden belastende, defiziente Ereignisse genauso wie protektive ­sowie tragende, lebensbestimmende Strukturen der Biografie sorgfältig gemeinsam in den Blick genommen. In diesem gemeinsamen Schritt kommt es durch die

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

k­ o-­respondierende Auseinandersetzung zu einer Einschätzung der Situation. Therapeut und Patient erfassen die Mitteilungen des Patienten in der Zeit- und Lebensspanne und dem dazugehörigen Situationszusammenhang. Berücksichtigung findet das Selbstverständnis und das persönliche Weltbild des Patienten, seine Sichtweise auf sein eigenes Leben und seine Probleme. Die Zusammenschau berücksichtigt die Gesamtheit der Aspekte und führt zum ganzheitlichen Erfassen komplexer Wirklichkeit, die hermeneutisch mit Bedeutung versehen wird (Petzold 1974j). Durch die Übereinkunft bezüglich der Befunde und durch die Zustimmung des Patienten zur Vorgehensweise des Therapeuten etabliert sich eine Ebene der kognitiven Führung der Therapie. Beide, Therapeut und Patient, können im Rahmen ihrer unterschiedlichen Rollen und Kompetenzen den Therapieverlauf lenken und auf diesen Einfluss nehmen. Ebenso geht es darum, kontinuierlich einen Informed Consent aufrechtzuerhalten (Leitner 2009). ▶▶

Informed Consent bedeutet, den Patienten unter Berücksichtigung seines Verständnishorizontes von Beginn an über die Befunde und die Vorgehensweise des Therapeuten in einer geeigneten Weise zu informieren und seine Einwilligung einzuholen (Petzold 2003a).

Durch Transparenz kann dem Patienten die Möglichkeit der qualifizierten Zustimmung zu dem und die Mitwirkung an dem therapeutischen Vorgehen eröffnet werden. Professionell wird die Bildung einer kooperativen Partnerschaft angestrebt, die auf Heilung, Unterstützung, Vergrößerung, Bereicherung und Bekräftigung der persönlichen Souveränität des Patienten ausgerichtet ist. Dies berücksichtigend realisiert der Therapeut in einem psychotherapeutischen Prozess immer auch einen Vorgang, der sich über eine bestimmte Zeit erstreckt, sich auf eine bestimmte Situation bezieht und innerhalb einer therapeutischen Beziehung geschieht. Diese Beziehung ist immer wieder kreativ neu herzustellen und reflektiert eine Kombination von Blickwinkel auf das Individuum, Betrachtungsweisen und Modellvorstellungen von Lebensprozessen (Petzold 1993p). Zentraler Faktor bei der Auswahl und Gestaltung der jeweiligen Kombination ist im Rahmen der Therapie die Mehrebenenreflexion zur Erklärung des sprachlichen und nichtsprachlichen therapeutischen Prozesses. Darüber hinaus bedient sich der Therapeut zur Klärung und Sondierung der Mitteilungen des Patienten sowie des eigenen Erlebens und Verhaltens eines Fundus bewährter Modelle. Eine zentrale Modellvorstellung der Integrativen Therapie ist die Vorstellung des sich lebenslang entwickelnden Menschen, im Kontext bestimmter Bezugspersonen, sozialer Netzwerke und ökologischer wie kultureller Einflüsse. Diese lebenslange Entwicklung erfolgt durch bestimmte gesellschaftliche Institutionalisierungen hindurch, wie Kindergarten, Schule, Lehre oder Studium und Beruf, in bestimmten Milieus, mit spezifischen Atmosphären und kulturellen Bräuchen, zu einer bestimmten Zeit mit bestimmten politischen Ordnungen. Entsprechend dieser Modellvorstellung hat sich der Therapeut eine allgemeine Vorstellung von dem Prozess der Entwicklung und der dabei typischerweise ­ zu  ­ absolvierenden gesellschaftlichen Institutionalisierungen, Sozialisations- und ­Enkulturationsprozesse zu bilden. Enkulturation ist Teil des Sozialisationsprozesses,

3.2  Die therapeutische Beziehung, ein intersubjektives Handeln

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das unmerkliche Hineinwachsen in die jeweilige eigene Kultur, vom Säugling bis hin zum kulturell integrierten Erwachsenen (Ambühl 1987; Petzold 2003a). Auf diesem Wissen basierend entwirft der Therapeut Modellvorstellungen von der konkreten Erlebenswelt und Lebenswelt des sich in die Welt hinein entwickelnden Menschen. Er hat dabei das soziale Umfeld, Lebensstile und die in ihnen realisierten, besonderen Atmosphären zu berücksichtigen, welche der sich entwickelnde Mensch in einer bestimmten Kultur üblicherweise erlebt und durchlebt und auf der jeweiligen Entwicklungsstufe mit Bedeutung versehen hat (Petzold 2003a): ▶▶

Interventionen des Verfahres Integrative Therapie erfolgen diagnoseund indikationsspezifisch. Interventionen werden durch Mehrebenenreflexion geleitet, überprüft und begründet und umfassen eine indikationsspezifische, szenisch-kreative Gestaltung des therapeutischen Settings (Petzold 2003a).

Therapietechnisch ist die Integrative Therapie nicht auf ein bestimmtes Therapiesetting, auf die Anwendung bestimmter therapeutischer Techniken oder auf bestimmte manualisierbare Abläufe festzulegen. Seit ihren Anfängen ist das Verfahren auf eine Theorie von Bezogenheit, des zwischenmenschlichen Umgangs in Alltags- und Therapiesituationen, und auf emotionale und kognitive Verhaltungsänderung ausgelegt (Petzold 1978c, 1980g, 1991a, 1996). Das biopsychosoziokulturelle Modell der Humantherapie Integrative Therapie verdeutlicht, dass es keine psychosomatischen Erkrankungen im engeren Sinne gibt. Bei jeder Erkrankung haben körperliche, seelische, soziale, geistige sowie ökologische und sozioökonomische Einflüsse in der Zeitachse für die Person mehr oder weniger Bedeutung. Ganz evident wird diese Position zum Beispiel bei depressiven Störungen, wo massive neurophysiologische Fehlsteuerungen zu Grunde liegen. Diese Fehlsteuerungen können sich in einem Spannungszustand der Muskulatur, des Gewebes, der Atmung und des Bewegungsverhaltens äußern, auch in der Beeinträchtigung der Herz-Kreislauf-Funktion. Der depressive Mensch zeigt eine klinisch relevante Senkung der Stimmungslage von durchgehend mindestens 2 Wochen Dauer, das soziale Netzwerk bildet sich zurück und die Willenskräfte sind geschwächt. Hier ist es angebracht, ein komplexes integratives Therapieangebot mit einem Bündel von Maßnahmen zu stellen (Petzold und Sieper 2007). Immer klarer erfassbare neurobiologische und neuroendokrinologische Dimensionen des Krankheitsgeschehens lassen nie nur eine Verursachung, einen Auslöser oder eine Störungsquelle erkennen und erfordern stets vielfältige Zugänge der Behandlung (Petzold 1974j, 2013g, 2014i; Petzold und Sieper 2007a): • • • • •

somatische, biologische Ursachen psychologische Ursachen soziokulturelle Ursachen ökologische, kontextuelle Ursachen sozioökonomische Ursachen

→ → → → →

körper-, leibtherapeutische Maßnahmen; psychotherapeutische, beratende Maßnahmen; sozio-, netzwerktherapeutische Maßnahmen; ökologische Maßnahmen; politische Maßnahmen.

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Was bisher als eindeutig somatisch galt, ein Beinbruch durch einen Skiunfall beispielsweise, wird jetzt in seinen möglichen erweiterten Dimensionen erfassbar. Eine bipolare affektive Störung mit einer manischen Episode etwa, kann als Affektstörung eine ungebremste emotionale Reagibilität, Angstfreiheit und Antriebssteigerung zur Folge haben und Wahrnehmung und Aufmerksamkeit beim Skifahren vermindern. Ein anderes Beispiel aus der Praxis zeigt, was als eindeutig psychisch galt, eine depressive Verstimmung mit starker emotionaler Niedergeschlagenheit, Rumina­ tionen als wiederholend düsterem Nachsinnen und Antriebslosigkeit wird in seinen somatischen Dimensionen fassbar, diagnostiziert als hirnorganische Erkrankung, ausgelöst durch einen Tumor, oder als Hypothyreose. In dieser Zusammenschau sind dringend differenzialdiagnostisches Vorgehen durch einen Arzt und eine abklärende Zusammenarbeit mit einem Arzt geboten, wie es das Psychotherapiegesetz vorsieht (Rechtsinformationssystem des Bundes [RIS] 2019, § 14. [2]). Viele Leidenszustände sind jedoch mit sozialen Faktoren verbunden, die aus dem Netzwerk als sozialer Stress auftauchen oder in das Netzwerk als sozialer Stress einwirken. Manches Mal finden auch ökologische Belastungen von Arbeitsplatz oder Wohnsituation ihren leiblichen Niederschlag (Petzold 2008b). Es ist von Bedeutung, diese Dimensionen in ihrer unterschiedlichen Gewichtung im Krankheitsgeschehen als leibliche Auswirkung zu erkennen. Diese Sichtweise ist in der anthropologischen Grundformel der Integrativen Therapie vertreten (Petzold 1974j).

3.3

 achtermini, definiert in dem Verfahren F Integrative Therapie

Ausgewählte Fachtermini werden definiert und mit dem theoretischen Hintergrund der Integrativen Therapie verknüpft. • Heuristiken sind aus Sicht der Integrativen Therapie Modellvorstellungen von Lebensprozessen und Lebenssituationen. Im Rahmen eines Erstgespräches, einer Anamnese, kann eine „systematische Heuristik“ (Petzold 1988n, S.  206) durch konkrete Fragen den späteren Behandlungsweg erweitern, wie etwa: Was ist gesund und funktionsfähig? Was ist gestört und funktionsuntüchtig? Was ist defizient? Was wäre möglich und ist noch nicht genutzt? • Perspektiven sind Blickwinkel auf das Individuum, auf seine sozialen Beziehungen, auf Institutionen und Organisationen. Eine weitere wichtige Perspektive ist die des Zeitkontinuums, des Blickwinkels auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen. Aus dieser Perspektive wird der Mensch in seiner „Lebensspanne“ (Petzold 2003a, S. 799) gesehen. • Optiken sind Betrachtungsweisen, die sich auf Entwicklung beziehen, auf Psychodynamik, auf systemisch-interaktionale, ökologische, kognitiv-behaviorale Betrachtungsweisen (Petzold 1994a). • Hermeneutik des sprachlichen und nichtsprachlichen Ausdrucks bedeutet die Beachtung und Erklärung der Interaktion von Therapeut und Patient, besonders die Mitteilungen des Patienten auf atmosphärische und szenische Bedeutung hin (Petzold 2003a).

3.3  Fachtermini, definiert in dem Verfahren Integrative Therapie

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• Tiefenhermeneutik umfasst Analyse, Interpretation und Sinnverstehen eigenleiblicher Wahrnehmung. Wesentliche Elemente der Tiefenhermeneutik sind eigenleibliches Spüren, Erfassen von Atmosphären, Erfassen von Gefühlsqualitäten sowie szenisches Verstehen des leiblichen Erlebens (Petzold und Orth 1993e). • Metahermeneutik ist die Überschreitung des Erklärens, wobei die Hermeneutik selbst noch einmal reflektiert wird, anhand der Diskursanalyse nach Foucault, der Dekonstruktion nach Derrida und der transversalen Mehrebenenreflexion nach Petzold (Petzold 2003a). • Atmosphären sind immer räumlich „randlos, ergossen, dabei ortlos, d. h. nicht lokalisierbar“ (Schmitz 1969, S. 343). Atmosphären sind „ergreifende Gefühlsmächte, räumliche Träger von Stimmungen“ (Böhme 2007, S. 294). • Szene bezeichnet die raum-zeitliche Struktur des Horizonts meiner Wahrnehmung und meines Verhaltens. Erlebnistheoretisch verstanden umfasst Szene alles, was ich in Wahrnehmung und Handlung erreiche, und alles, was mich in Wahrnehmung und Handlung erreicht (Petzold 2003a). • Szenisches Verstehen und atmosphärisches Erfassen bedeutet, die raum-zeitliche Struktur des Horizonts meiner Wahrnehmung und meines Verhaltens sowie dessen affektive Tönung zu erfassen und nach Maßgabe bestimmter Muster zu interpretieren und zu evaluieren. Auch therapeutisches Setting und therapeutische Interaktion haben szenischen Charakter und sind atmosphärisch bestimmt (Schuch 2018). • Triplexreflexion bezeichnet die Reflexion der Reflexion im Rahmen eines Supervisionsgeschehens. Der Therapeut bedient sich in der Therapie zur Klärung und Analyse des Geschehens, Wirkens und Handelns der Methode der Mehrebenenreflexion (Petzold 1994a). Die Theorie der Integrativen Therapie bezieht sich auf philosophische Quellen (s. Abschn. 1.3), welche die neu geschaffenen Begriffe in der Integrativen Therapie sprachlich formen. Bei diesen oftmals als sprachliche Neubildungen oder Neologismen bezeichneten Präzisierungsversuchen handelt es sich in der Regel um Begriffe aus der Philosophie, wie Begriffsbildungen von Konnektivierung, Transversalität oder Transgression zeigen. Der Begriff Neologismus wird oft für Neues zur Abgrenzung von bedeutungsüberladenem Altem verwendet. Neologismus mutet als Zuschreibung für neue weiterführende Entwicklungen und Verfahren unpassend an. Bekanntlich handelt es sich bei diesem Begriff auch um einen psychopathologischen Befund bei formalen Denkstörungen: „Wortneubildungen, die in der Sprache nicht vorkommen und oft auch nicht unmittelbar verständlich sind“ (Linden 1996, S. 5). Es ist aber unumgänglich, dass bei Weiterentwicklungen in allen Bereichen neue Begriffe entstehen. So war auch die Bezeichnung Psychosomatik (Reil 1803; Hoffbauer 1808; Heinroth 1818) aus der Sicht vieler orthodoxer Fachpersönlichkeiten ein Neologismus und wurde dementsprechend bis zu Lebzeiten Theodor Meynerts (1833–1892), Professor für Psychiatrie an der Universität Wien, vehement abgelehnt. Wie dieses Beispiel zeigt, kann in der Kreation von Neologismen auch Fortschritt liegen.

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3.4

3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

Mehrebenenreflexion in einer integrativ-therapeutischen Behandlung

Behandlungsbeispiel – nach Anonymisierung und De-Identifikation (Rall et al. 2014) Eine junge Frau leidet zeitweise massiv an Engegefühl im Hals- und Brustbereich, an Schwindelgefühl sowie Parästhesien im Bereich beider Hände distal. Deswegen war sie schon mehrfach in stationärer Untersuchung auf einer neurologischen Fachabteilung. Aus medizinischer Sicht ergab sich kein pathologischer Befund. Ebene 1: Betrachtung einer gegebenen Situation durch unterschiedliche Perspektiven und Optiken auf dem Hintergrund von Heuristiken. Der wahrgenommene Ausschnitt der Wirklichkeit wird vom Therapeuten erfasst. In einem intrasubjektiven Prozess erfolgt die Bewertung auf der Grundlage von Alltagstheorien, professionellen und anderen Theoriekenntnissen. Es kommt bei dem Therapeuten zur Abgleichung des gerade vorgängigen Erlebens bei gleichzeitiger Vernetzung mit seinen vorhandenen Erfahrungen. Dies kann auf den unterschiedlichsten Ebenen des Bewusstseins stattfinden (Petzold 1988b, 1991a). Erster Auszug aus dem Behandlungsbeispiel  Nachdem die Patientin die Qualität, Intensität und Begleitzeichen der Beschwerden beziehungsweise die persönliche und Familienanamnese im Erstkontakt beschrieben hat, berichtet sie, dass sie seit mehreren Jahren mit ihrem Freund zusammenlebt und jetzt mit ihm ein Haus baut. Sie betont von sich aus, dass sie schon im Rahmen der neurologischen Untersuchungen mehrmals über ihre Beziehung befragt worden sei. Sie bewertete dies als unangebracht. Dabei wendet sie (für den Therapeuten ohne erkennbaren Grund) ihren Kopf nach rechts und schaut in Richtung Fenster. Während ihrer Feststellung, dass die Beziehung zu ihrem Freund in Ordnung sei, bewegt sie ihre rechte Schulter ruckartig nach vor und die linke Schulter zurück und umgekehrt. Leibarbeit in der Integrativen Therapie: Bewegung produziert Informationen. Es scheint, als spreche sie durch diese Körperbewegung gerade das Gegenteil von dem aus, was sie verbal bekräftigen wollte. Ebene 2: Reflexion der eigenen Wahrnehmung, der dabei verwendeten unterschiedlichen Perspektiven und Optiken sowie der zur Orientierung verwendeten Heuristiken. Der Therapeut reflektiert sein Registrieren von Perspektiven und Optiken, die er intuitiv-situativ wählt. Weiter überprüft er die Heuristiken, an denen er sich ­orientiert; evtl. erfolgt auch eine Reflexion jener Heuristiken, gegen die er sich entschieden oder die er intuitiv nicht in Betracht gezogen hat. Kurz, der Therapeut beobachtet und reflektiert seine Beobachtungen. In der intrasubjektiven Ko-respondenz wird bewusst und reflexiv das Geschehen erfasst und ggf. in die intersubjektive Ko-­respondenz mit der Patientin eingebracht. Zweiter Auszug aus dem Behandlungsbeispiel  Der Therapeut macht die Patientin auf seine Beobachtung aufmerksam (von den Phänomenen zu den Strukturen: durch leibliche Entwürfe, durch Bewegungsansätze). Und er bittet sie, nachdem sie sich an

3.4  Mehrebenenreflexion in einer integrativ-therapeutischen Behandlung

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ihre vor wenigen Minuten vollzogenen Kopf- und Schulterbewegungen erinnern kann, diese zu wiederholen und darauf zu achten, ob oder was ihr dabei in den Sinn kommt. Die Patientin kann sich auf das Angebot einlassen und wiederholt mehrmals die Bewegungen und den Blick zum Fenster. Plötzlich senkt sie langsam ihren Kopf und sagt mit belegter Stimme: „Damals, es war Herbst und so ein Wetter wie heute (sie schaut dabei wieder zum Fenster), bin ich draufgekommen, dass mein Freund eine Außenbeziehung hat. Ich konfrontierte ihn damit, er bestritt alles und die Sache wurde von uns beiden nie mehr erwähnt“. Es fällt ihr jetzt auf, dass sie immer dann, wenn das Wetter „so wie damals“ ist, ihre Symptome und ihre Beschwerden bekommt. Plötzlich befällt sie eine Unruhe, weil ihr weitere Indizien auffallen, die sie befürchten lassen, dass seine damals abgestrittene Außenbeziehung noch immer bestehen könnte. Ebene 3: Hyperexzentrische Position: Reflexion der Bedingungen des Beobachtens in Hinblick auf die Entdeckung übergeordneter, verdeckter oder auf den ersten und zweiten Blick nichtauffälliger oder bewusster Gesichtspunkte, zum Beispiel unbewusster kultureller Diskurse. Diese Ebene ist in der Regel nur durch Supervisoren mit hoher Exzentrizität und durch interdisziplinäre Diskurse zu erreichen. Der gemeinsame Reflexionsprozess erfolgt intersubjektiv zwischen Therapeut und Supervisor oder gemeinsam reflexiv-­ diskursiv mit anderen, wie mit Gruppenmitgliedern einer Supervisionsgruppe oder in einer Intervision. Dieser Doppelvorgang, Wahrnehmen und Beobachten des eigenen Beobachtens, wird wieder und wieder intra- und intersubjektiv in der genannten Konstellation reflektiert und kann zu einem komplexeren Erkenntnisprozess führen. Dritter Auszug aus dem Behandlungsbeispiel  In der Reflexion mit dem Supervisor eröffnen sich vielfach mögliche Varianten. Eine Variante könnte den Leidensgewinn für die Patientin aufzeigen, der in der ungeklärten, offenen Situation liegt. Um den Preis, den sie mit ihren Beschwerden bezahlt, bestimmt sie Maß und Zeitpunkt von Aufmerksamkeit und Zuwendung vonseiten ihres Freundes. In einer Therapiesequenz erwähnt die Patientin, sie bekäme während ihres Leidens jene Liebe von ihrem Freund, die sie sich immer wünschte. An der Grenze der Ebene 3 einer Supervision wird eine 4. Ebene berührt, die philosophische Kontemplation. Hier ist die Anregung von Bertrand Russel ­angebracht, sich der Weite zu öffnen, wie sie manchmal Philosophie bieten kann: „Der Wert der Philosophie darf nicht von irgendeinem festumrissenen ­Wissensstand abhängen, den man durch Studium erwerben könnte. Der Wert der Philosophie besteht im Gegenteil gerade wesentlich in der Ungewißheit, die sie mit sich bringt. Wer niemals eine philosophische Anwandlung gehabt hat, der geht durchs Leben und ist wie in ein Gefängnis eingeschlossen: von den Vorurteilen des gesunden Menschenverstands, von den habituellen Meinungen seines Zeitalters oder seiner Nation und von den Ansichten, die ohne die Mitarbeit oder die Zustimmung der überlegenden Vernunft in ihm gewachsen sind. So ein Mensch neigt dazu, die Welt bestimmt, endlich, selbstverständlich zu finden; die vertrauten Gegenstände stellen keine Fragen, und die ihm unvertrauten Möglichkeiten weist er verachtungsvoll von der Hand. Sobald wir aber anfangen zu philosophieren […] führen

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

selbst die alltäglichsten Dinge zu Fragen, die man nur sehr unvollständig beantworten kann. Die Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewißheiten darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten. Sie schlägt die etwas arrogante Gewißheit jener nieder, die sich niemals im Bereich des befreienden Zweifels aufgehalten haben, und sie hält unsere Fähigkeit zu erstaunen wach, indem sie uns vertraute Dinge von uns nicht vertrauten Seiten zeigt“ (Russel 1967, S. 138). Ein philosophisches, beschauliches Nachdenken kann weitere Komplexität erschließen, und auch, wo dies möglich ist, zur Komplexitätsreduktion führen. Bei der Herausarbeitung immer weiterer Vielfalt können wir auch an die Grenze des Integrierens stoßen (Petzold und Sieper 1993a). Zusammenfassung

Werden Verfahrensweise und Grundregel der Integrativen Therapie in ihren Dimensionen von Geschehenlassen, Wirkenlassen und Handeln in theoretisch-praktischen Zusammenhängen dargestellt, durchzieht das differenzierte Menschenbild wie ein verbindender Faden die ethiktheoretische Position, die Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie, die Gesundheits- und Krankheitslehre bis hin zur Praxeologie und Praxis. Grundannahmen, Prinzipien und Konzepte bilden den weitgefassten Rahmen für die therapeutische Beziehung und geben Sicherheit für Therapeut und Patient in einem intersubjektiven Therapieverlauf. Fachtermini werden mit der Theorie der Integrativen Therapie in Verbindung gebracht. Die Ebenen der Mehrebenenreflexion werden anhand eines Behandlungsverlaufes besprochen. Das biopsychosoziokulturelle Modell der Humantherapie Integrative Therapie wird in seinem Potential der Erweiterung von Hominität hin zu einer gelebten Humanität gesehen.

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Literatur

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3  Grundregel, zentrale Konzepte und Definitionen der Integrativen Therapie

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4

Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie – Bedingungen des Integrierens

Inhaltsverzeichnis 4.1  D  as Entwicklungskonzept der Integrativen Therapie  4.2  Modellvorstellungen von Persönlichkeit  4.3  Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie  4.3.1  Das Selbst  4.3.2  Das Ich  4.3.3  Die Identität  4.4  Ziele, Kontext, Kontinuum – Rahmenbedingung für das Leibsubjekt  4.4.1  Die Ziele  4.4.2  Der Kontext  4.4.3  Das Kontinuum  4.5  Die Säulen der Identität  4.5.1  Leiblichkeit  4.5.2  Soziales Netzwerk  4.5.3  Arbeit, Leistung und Freizeit  4.5.4  Materielle Sicherheiten und milieuökologische Bezüge  4.5.5  Wertorientierung, weltanschauliche und religiöse Überzeugung  4.6  Bedingungen des Integrierens für das Verfahren  4.7  Theoretische Bedingungen des Integrierens  4.7.1  Leitkonzepte auf der Ebene der Metatheorie  4.7.2  Leitkonzepte auf der Ebene der klinischen Theorien  4.7.3  Leitkonzepte auf der Ebene der Praxeologie und Praxis  4.8  Eklektizismus aus Sicht der Integrativen Therapie  4.9  Spiritualität und Religion aus Sicht der Integrativen Therapie  4.10  Esoterik aus Sicht der Integrativen Therapie  Literatur 

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_4

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4.1

4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

Das Entwicklungskonzept der Integrativen Therapie

Das Entwicklungskonzept der Integrativen Therapie (Petzold 2003a) versteht sich als klinische Entwicklungstherapie in der Lebensspanne, als „lifespan developmental approach“ (Petzold 2003a, S. 69). ▶▶

Für die Entwicklung der Persönlichkeit ist die gesamte Lebenszeit relevant, vom Neugeborenen bis ins hohe Alter. Den Sozialisationserfahrungen im 1. und 2. Lebensjahrzehnt wird dabei ein besonderer Stellenwert eingeräumt (Petzold 1992e).

Das Modell der Integrativen Therapie setzt die Entwicklung der Persönlichkeit am Organismus, der biologischen Basis des Menschen, an und bezieht das emotionale Leben, die psychische Dimension und den sozialen Kontext mit ein (Vygotsky 1992). Die intrauterine thalassale Geborgenheit im Urmeer des mütterlichen Schoßes (Ferenczi 1962) gibt dem Fötus ein biologisch gesichertes Milieu. Der Uterus als Organ schützt den Fötus optimal. In dieser Geborgenheit erfolgen die Bildung der Nervenplatte und die Ausdifferenzierung des zentralen und peripheren Nervensystems. Die Hirnbereiche entwickeln sich zeitunterschiedlich, das bedeutet eine weitgehende Abkoppelung des Wahrnehmungssystems vom zentralen Nervensystem. Der entwicklungsbedingte zerebrale Schutz hat vermutlich dazu beigetragen, dass Ungeborene über die Jahrtausende hinweg kriegerische Auseinandersetzung, Migration und Katastrophen überstanden haben. Auf der Grundlage der genetischen Vorgaben und der von außen kommenden Störmomente bzw. Reize bewirkt die Ko-respondenz zwischen dem Fötus und der intrauterinen Umgebung „Kompensationen, die zu Entwicklungsschritten“ (Blechschmidt 1979, S. 17) führen. Der Fötus braucht Entwicklungsreize, da er von Anfang an auf Problembewältigung ausgerichtet ist. Die Entwicklung vollzieht sich in der Interaktion zwischen seiner genetischen Ausstattung, dem Kontext, der Erfahrung seiner Wahrnehmung und motorischen Abläufen. Gilbert Gottlieb (1973, 1978) spricht von einer Spirale der Erfahrung. Gene sind eine Grundlage der Strukturreifung des menschlichen Körpers, der die Grundlage für das „Funktionieren“ ist. Der weitaus überwiegende Teil der Schwangerschaften und Geburten verlaufen störungsfrei, der ungeborene Mensch löst seine Entwicklungsaufgaben und kommt gesund und mit vitaler Ausstattung zur Welt. Mit dieser Aussage wird das in der Literatur häufig beschriebene Geburtstrauma oder Urtrauma ad absurdum geführt und könnte als Männerphantasie oder kryptoreligiöse Fortschreibung der Erbsündenlehre interpretiert werden (Petzold 2003a). ▶▶

Das Theorem einer basalen Geborgenheit und eines gleichsam mitgegebenen Grundvertrauens, „bietet einen Ausgangspunkt für ­therapeutische Arbeit in allen Lebenssituationen und mit allen Altersgruppen, von der Kindertherapie bis hin zur Sterbebegleitung“ (Petzold 2003a, S. 525).

4.2  Modellvorstellungen von Persönlichkeit

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Ein wesentliches Konzept der integrativen Entwicklungstheorie für eine sog. entwickelte Persönlichkeit ist das Konzept der Viation (Petzold 1975h), der persönlichen Verlaufsbahn. Hintergrundinformation: Viationen „sind höchst individualisierte, biographisch bestimmte und kontextabhängige Verlaufsbahnen intrapersonaler Prozesse (Prozesse, die sich in der Person selbst ereignen) und interpersonaler Prozesse (Prozesse, Geschehensabläufe, die sich zwischen Menschen ereignen, wie z.  B.  Gestaltungs-, Problemlösungs-, Therapie-, Krisen-, Trauer-, Sterbeprozesse u.  ä.), deren Verläufe gewisse Grade von Variabilität haben, jedoch nach dem Gesetz der ‚guten Kontinuität‘ auch eine gewisse Bestimmbarkeit aufweisen, besonders wenn schon größere Verlaufsabschnitte bekannt sind, die eine ‚Prägnanztendenz‘ erkennen lassen“ (Petzold 1975h, S. 31).

Die Entwicklungsprozesse des Menschen verlaufen individuell. Auf Lebensthemen, die sich einem Menschen durch Reifung und Einflüsse der sozialen, ökologischen und kulturellen Umwelt stellen, wird er mit seinem persönlichen Entwicklungsprozess, seiner Viation reagieren. Hier ist das Konzept der Narration, der persönlichen Deutung des eigenen Entwicklungsprozesses, zu nennen. Dieser wird durch die Narration ganz erheblich beeinflusst, wie durch die Wahl der Lebensthemen oder der persönlichen Zielsetzungen (Petzold und Orth 1985a). ▶▶

4.2

Im Entwicklungsmodell der Integrativen Therapie werden Konzepte der Persönlichkeitstheorie zu Selbst, Ich und Identität mit den Ergebnissen der empirischen Entwicklungsforschung verbunden. Das Modell gründet auf der Überzeugung, der Mensch als soziales Wesen ist eingebettet in seine jeweilige Kultur.

Modellvorstellungen von Persönlichkeit

Die Modellvorstellungen von Persönlichkeit der Psychoanalyse und der Integrativen Therapie zeigen prinzipielle Unterschiede in der Konzeption. Der psychische Apparat der Psychoanalyse weist die Instanzen Es, Ich und Über-Ich auf und ist in seinem Kern ein Konfliktmodell. Diesen Konflikt sah Freud zunächst in der Polarität von Natur, von Trieb und Kultur. Die Modellvorstellung von Persönlichkeit der Integrativen Therapie ist demgegenüber phänomenologisch, erlebnistheoretisch und strukturalistisch begründet und in Kontext/Kontinuum eingebettet (Petzold 2003a). Diese Vorstellung bezieht sich nicht nur auf Konflikte. Der Konflikt stellt lediglich einen Spezialfall möglicher persönlichkeitsstruktureller Problematik dar. Eine einengende Zuschreibung dessen, was den Menschen ausmacht, tritt aus erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Gründen in der Integrativen Therapie zurück. Durch die ausdrückliche Bezugnahme auf das Prinzip der Alterität, das die grundsätzliche Unerkennbarkeit des Anderen einschließt, gestattet dieses Prinzip dem Menschen, nur durch die Spuren des Anderen diesem Menschen auf die Spur zu kommen (­Lévinas 1983). Im therapeutischen Kontext ist es erforderlich, die subjektiven

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

­ heorien und die subjektive, mentale Repräsentation des Patienten einzubeziehen T und ernst zu nehmen (Petzold und Orth 2018). Psychotherapie, die das Prinzip der Andersheit in der Behandlung mit Menschen praktiziert, ist ein hoch reflektiertes, achtungsvolles, mitmenschliches Verhalten auf dem Boden von bewährten Modellvorstellungen, unter der Nutzung spezifischer Blickwinkel und Betrachtungsweisen, vor dem Hintergrund einer ausformulierten Ethik (s. Abschn. 2.4.1.5). Auf der Ebene der klinischen Theorien des Tree of Science (s. Abschn. 2.4) wird der Mensch in Übereinstimmung mit der empirischen Entwicklungspsychologie sowie der Entwicklungs- und Sozialisationsforschung in einer lebenslangen Entwicklung vom Säuglingsalter bis zum Senium gesehen. Im Entwicklungsmodell der Integrativen Therapie werden sensible Phasen angenommen, in denen entlang biologischer Entwicklungsschritte in der Interaktion mit dem sozialen, ökologischen und kulturellen Kontext durch Sozialisations- und Enkulturationsprozesse die Persönlichkeit heranwächst und sich Identität durch wechselseitige Zuschreibungen herausbildet (Petzold 2003a; Schuch 2012a). ▶▶

Die menschliche Entwicklung wird als ein über die Zeit erfolgtes Zusammenwirken begriffen, das zur Bildung der Persönlichkeit führt. Dabei kommen genetische Faktoren, soziale Netzwerke, diverse Kontexte wie kulturelle, politische, historische Gegebenheiten und sozioökonomische Faktoren zum Tragen.

Das Modell von Persönlichkeit der Integrativen Therapie ist im Kern phänomenologisch begründet und betont den prozessualen Aspekt (Schnyder 2005). Die menschliche Existenz wird als lebenslanger Prozess im Sinne der klinischen Entwicklungspsychologie (Oerter et al. 1999) betrachtet. So entwickelt sich die Persönlichkeit aus Sicht der Integrativen Therapie aufgrund von lebenslangen Ereignisketten und den aus ihnen wirksam werdenden Stimulierungsströmen durch Interaktion und Kommunikation, durch Sozialisation, Enkulturation und Ökologisation von einem archaischen Selbst zu einem reifen Selbst, das über ein prozessuales Ich als Gesamtheit von primären, sekundären und tertiären Ich-Prozessen verfügt (Petzold und Orth 2018). Durch die Interaktionen über die Umwelt konstituiert sich Identität durch Fremd- und Selbstattribution und deren Bewertung (Petzold 2001p). Laut Identitätsforschung ist Identität von beidem bestimmt. Persönlichkeit kann ohne soziale Netzwerke nicht entwickelt werden, sie resultiert aus Synergieeffekten, Annäherungen und Übereinstimmungen in den Konvois des Patienten. Hintergrundinformation: Der Begriff „Konvoi“ steht für das sozialpsychologische Konzept „Netzwerk in der Zeit“ (Hass und Petzold 1999), das Hass und Petzold in den klinischen Kontext übertragen haben.

Persönlichkeitstheoretische Konzepte zu Person als Selbst, Ich und Identität und folglich Personalität (Petzold 2003a) müssen nach integrativer Auffassung an die empirische, longitudinale Entwicklungspsychobiologie und die wissenschaftliche Persönlichkeitspsychologie, etwa an die genderspezifische Identitätsforschung (Höfner 2017; Schigl 2018, 2019) anschlussfähig sein, wie es die Sozialisationstheorie und klinische Entwicklungspsychologie vorgibt (Oerter et al. 1999).

4.3  Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie

4.3

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Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie

In der Integrativen Therapie umfasst das Modell der Persönlichkeit die Dimensionen Selbst, Ich und Identität. Diese Dimensionen sind als sich über die Zeit erstreckende Verläufe zu verstehen. Selbst, Ich und Identität werden nicht als einmal entstandene, relativ statische Größen oder normative Konstellationen begriffen, sondern als lebendige prozessuale Synergien, die in beständiger Interpretationsarbeit und in Reflexion von Kontext und Kontinuum eine flexible Persönlichkeit mit fundierter Souveränität konstituieren. Es handelt sich dabei um eine Modellvorstellung von Persönlichkeit, die es dem Subjekt nahelegt und es dabei zu unterstützen versucht, sich selbst und anderen vertraut zu bleiben und kompetent durch das Leben zu navigieren, bei aller Komplexität der modernen Lebenswelt. Angestrebt wird die Partizipation an den vielfältig divergierenden und disparaten Sozialwelten und Lebensstilgemeinschaften (Müller und Petzold 1999, 2002a). ▶▶

Selbst, Ich und Identität erhalten bei relativ gleichbleibenden und sich auch verändernden Bedingungen über die Zeit eine gewisse Stabilität, Konstanz und Qualität.

Selbst, Ich und Identität können jedoch auch destabilisiert, sogar zerstört werden, wenn sich die Lebensverhältnisse gravierend verändern und zeitextensive Belastungen und Schädigungen auftreten, wie durch Flucht, Erkrankung, Trennung, Arbeitslosigkeit oder Stigmatisierung. Es bedarf sozusagen immer wieder der Umsetzung, Auffrischung, Bewährung, Gestaltung und des Neuentwurfes in den Bereichen des Selbst, des Ich und der Identität: • in dem Bereich des Selbst durch Selbstwertbestätigung und im Selbsterleben durch eigenleibliches Spüren, • in dem Bereich des Ich durch Herstellung in Hinblick auf die Gründung des Ich im Selbst wie auch auf die Wirkung des Ich zur Welt und die Wirkung von der Welt auf das Ich, • in dem Bereich der Identität durch hinlänglich kongruente Selbst-Identifikation und Fremd-Identifizierungen, durch zu bewältigende Prozesse der Veränderung und Gestaltung oder durch die Realisierung der persönlichen Souveränität im Lebenszusammenhang (Petzold 2003a). Zwang, Diskriminierung und Mangel an Ressourcen gefährden die Identität; lebendige Interaktion, Freiräume und Ressourcenvielfalt bauen Identität auf. Das Modell der Persönlichkeit in der Integrativen Therapie (Petzold und Mathias 1982; Schuch 2000b) wird durch die Integration forschungsgestützter Ergebnisse der longitudinalen Entwicklungspsychologie und der klinisch relevanten Sozialpsychologie untermauert. Genderfragen wird in diesem Modell besondere Beachtung geschenkt (Frühmann 1985; Petzold und Sieper 1998; Höfner 2017; Höfner et al. 2011; Schigl 2019).

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

4.3.1 Das Selbst Die Entwicklungsschritte der ersten Lebensjahre skizziert Petzold folgendermaßen: Das menschliche Lebewesen ist bereits vorgeburtlich ein organismisches Selbst. Der Organismus entwickelt die Grundlagen der Wahrnehmung und der Reaktionsfähigkeit, „ohne dass das Wahrgenommene schon in komplexer Form gespeichert wird bzw. werden kann“ (Petzold 1992a, S. 671). Das menschliche Lebewesen ist, eingebunden in die intrauterine Lebenswelt, ungefähr ab dem 3. Schwangerschaftsmonat bereits in rudimentärer Weise abgegrenzt und gleichzeitig fähig zu Kontakt durch selbstinitiierte Bewegungen in Abstimmung mit den Bewegungen der Mutter. Im organismischen Eingebundensein wurzelt die Fähigkeit des Menschen, Grundvertrauen aufzubauen. In der Zeit vom 6. Schwangerschaftsmonat bis etwa zum 3. Monat nach der Geburt bildet sich das „archaische Leib-Selbst“ (Petzold 2003a, S. 820). Es ist v. a. gekennzeichnet durch die Fähigkeit zu Affektbildung und affektiver Reaktion, wie beispielweise zu Erregung und Beruhigung (Petzold 2003a). Das Selbst als Leib-Selbst mit seiner Auffächerung in Ich und Identität ist ein Zusammenschluss einer im Leibgedächtnis festgehaltenen Repräsentation komplexer, voneinander abhängiger, sensumotorischer, emotionaler, kognitiver, willentlicher und sozial-kommunikativer Muster beziehungsweise Stile, die über die Lebensspanne hin ausgebildet und wirksam werden (Petzold 1996a). Unter anthropologischer Betrachtungsweise ist das Selbst das reflexive, in gesellschaftlichen Prozessen wie Zeitgeist oder Zeitgeschichte eingebundene Subjekt als Leib-Subjekt abgebildet in dem Begriff des Leib-Selbst. In der Überlegung bezüglich der Selbstkonstitution wird die Subjektkonstitution mitbedacht. Multitheoretisch wird das Selbst zunächst vom Menschenbild her als leibliches Phänomen begriffen, als der lebendige Grund, aus dem sich in Kontext und Kontinuum Ich und Identität entwickeln. Leibphilosophisch wird das Selbst als das einfache Dasein verstanden, als Synergie passiver Gegebenheit vor jeder Selbsterkenntnis, als wahrnehmungs- und speicherfähiges biologisches Substrat, das exterozeptiv Information aus der Außenwelt und propriozeptiv Information aus seiner eigenen Innenwelt aufnimmt und verarbeitet, mit Bezug auf Damasio (1995/1996, 1999) wird vom „informierten Leib“ (Petzold 1988n, 2018, S. 937) gesprochen. Das Selbst ruht in der kollektiven Leiblichkeit. Von Beginn seiner Existenz an ist es ein Einzelnes und Allgemeines zugleich, ein Selbst für sich und ein Selbst mit anderen. Es schließt die Dimension individueller und kollektiver unbewusster Prozesse mit ein. In Anlehnung an Jacob Levy Moreno wird das Selbst auch rollentheoretisch begriffen, das Selbst entstünde durch Rollen: „Roles do not emerge from the self, but the self emerges from roles“ (Moreno 1946, S. 53). Eine Rolle war für Moreno verkörperte „interpersonal experience“ (Moreno 1946, S.  53), verkörperte zwischenmenschliche Erfahrung. Das Individuum erlebt sich als Selbst in der G ­ egensätzlichkeit von Selbstgefühl und Rolle. Das Selbstgefühl entsteht und hat seinen Ort im Inneren des Individuums und weist als individuelle Beziehungsform vom Individuum auf die soziale Welt hin. Die Rolle kommt als soziale Beziehungsform sozusagen von außen aus der sozialen und kulturellen Welt, als soziales und kulturelles Atom, auf das Individuum zu und wird von diesem verkörpert (Petzold und Mathias 1982).

4.3  Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie

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Das Selbst unterliegt permanenter Entwicklung. Wenn die neuronalen Verknüpfungen eine solche Ausprägung angenommen haben, dass der Organismus in der Lage ist, Umweltreize wahrzunehmen und zu speichern, sich auf dieser Grundlage zu verändern, weiterzuentwickeln und sich neu zu verhalten und neue Erfahrungen zu machen, wird das Selbst als „archaisches Selbst“ (Petzold 2003a, S. 820) bezeichnet. Das „reife Selbst“ (Petzold 2003a, S. 543), relativ konsistent und stabil, ist als Zusammenschluss von Mustern, als auf sich selbst bezogene Emotionen, Volitionen und Kognitionen beschreibbar, etwa als Fähigkeit, sich seiner selbst gewiss zu sein, als Fähigkeit zu Selbstbestärkung, Entschlossenheit, Selbstsorge und Einstehen für sich selbst. Das reife Selbst wurzelt im Erleben eines von Grundvertrauen getragenen Lebensgefühls und wird durch die Integration noch nicht integrierter Persönlichkeitsanteile und Bilder über das Selbst ins Selbstbild erweitert. Im Hineinwachsen des Einzelnen in die Kultur der ihn umgebenden Gesellschaft in einem Enkulturations- und Sozialisationsprozess bildet sich im Zusammenwirken von bewusstem Wahrnehmen, Verarbeiten und Handeln auf dem Boden des Leib-Selbst das Ich-Selbst heraus. Das Ich-Selbst vereint Ich und Selbst als leibhaftige, personale Identität (Petzold 1992a, 2003a).

4.3.2 Das Ich In Abhängigkeit von der Reifung des Zentralnervensystems entwickelt sich durch „interpersonale Erfahrungen und intrapersonale Daseinsgewissheit“ (Petzold 2003a, S. 538) etwa ab dem 3. bis zum 7. Lebensmonat das archaische Ich. Die Daseinsgewissheit, eine Säule des Grundvertrauens, beruht auf dem selbstverständlichen, unwillkürlichen Funktionieren des Organismus von Anbeginn und dem einfühlenden Kontakt mit und durch die Bezugspersonen. Kontaktaufnahme und Interaktionsverhalten bilden die Grundlage des archaischen Ich, aus dem sich in weiteren Differenzierungsprozessen die Ich-Funktionen entwickeln. Diese beruhen auf der „Differenzierung sinnlicher Wahrnehmung, der Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses, der Erinnerungsfähigkeit und dem Aufkommen des szenischen Gedächtnisses […] sowie der zunehmenden Kontrolle von Haltung, Bewegung und Mikro-Umwelt, und den Interaktions- und Mitgefühl-­ Erfahrungen von Seiten der wichtigsten Bezugspersonen“ (Petzold 1992a, S. 684). Durch die einfühlende Zuwendung entwickelt sich ca. zwischen dem 8.–12. Lebensmonat das subjektive Leib-Selbst. Das Kleinkind bekommt ein Gefühl, ein Selbst zu sein, mit eigenen Gefühlen und Wünschen. Es entwickelt eine Selbst-­ Gewissheit, die über die Daseins-Gewissheit des archaischen Ich hinausgeht. Es zeigt beispielsweise große Freude, wenn es im Spiel die Bausteinchen umwirft. Grundlage für dieses Verhalten ist die Gewissheit, dass der andere, als Subjekt, ähnliche Gefühle hat wie das Kind selbst. Aus dem Miteinander, der Inter-­ Subjektivität bildet sich das Individuelle, das Subjektive heraus (Petzold 2003a). Das Ich ist das Selbst in Tätigkeit. Es ist eine Funktion des Selbst, und zwar der aktiv wahrnehmenden, erkennenden, verarbeitenden, handelnden Ich-Prozess. Es ist auf ein Ziel gerichtet und besitzt die Fähigkeit zum Blick von außen auf sich

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

selbst. Das Ich nimmt das Selbst in den Blick. Es reflektiert in der Selbstreflexion das Selbst im Lebenskontext und im biografischen Kontinuum. Das Ich ist bezogen auf das Selbst und auf das andere, nämlich auf das, was außerhalb von dem Ich liegt. Seine Identifikationen sind zugleich Differenzierungen, Kontakt, Angrenzung und Abgrenzung in einem (Petzold 2003a). Das Ich ist ein auf die Gegenwart bezogener Prozess, der sich jetzt im jeweiligen Wahrnehmen, Verarbeiten und Handeln konstituiert und der seine Stabilität durch das Leib-Selbst und durch eine gewisse Beständigkeit des sozialen und ökologischen Umfeldes erhält. Es ist in die Dynamik des Entwicklungsgeschehens im Lebenslauf eingebunden. In unterschiedlichen Phasen des Entwicklungskontinuums ergeben sich Ich-Leistungen von unterschiedlicher Komplexität und Qualität (Petzold 2003a). Die wesentliche Ich-Leistung besteht in der Konstituierung von Sinn als dem Erfassen von Zusammenhängen, der Verortung des Selbst in Kontext und Kontinuum und damit der Ausbildung von Identität. Sie ist abhängig von der entwicklungsbedingten Kapazität, Sinn zu erfassen und zu interpretieren, intersubjektiv zu bestimmen oder intrasubjektiv sich und somit seinem Leben Sinn zu geben (Petzold et al. 1994/2016). ▶▶

Das reife Ich ist durch Stärke und Flexibilität gekennzeichnet, das heißt durch Eindeutigkeit und Zuverlässigkeit. In der Integrative Therapie werden primäre, sekundäre und tertiäre „Ich-Funktionen“ (Petzold 2003a, S. 74) unterschieden.

• Primäre Ich-Funktionen: sind Wahrnehmen, Erinnern, Denken, Fühlen, Wollen, Entscheiden und Handeln. • Sekundäre Ich-Funktionen: sind Integrieren, Differenzieren, Abgrenzen, Ambiguitätstoleranz, wie Doppeldeutigkeit von Wörtern, Symbolen oder Sachverhalten, und Frustrationstoleranz, wie Rollendistanz, Kreativität, Planen oder Metareflexion. • Tertiäre Ich-Funktionen: werden als hochkomplexe Prozesse angenommen, wie soziales Gewissen, politische Sensibilität oder philosophische Kontemplation (Petzold und Orth 2007). Das Ich wird als Gesamtheit aller, im Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft aus dem Leib-Selbst entstehenden Ich-Funktionen als ein sich über die Zeit erstreckender Vorgang gesehen. Die Ich-Prozesse können durch Ich-Qualitäten charakterisiert werden, einerseits durch Vitalität, Stärke, Flexibilität, Kohärenz und Differenziertheit, andererseits durch Rigidität, Schwäche und Desorganisiertheit (Petzold 1992a).

4.3.3 Die Identität In Zusammenhang mit der Sprachentwicklung beginnt die Ausformung der Identität etwa zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat, benannt als „archaische Identität“ (Petzold 2003a, S. 541).

4.3  Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie

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Das Kind lernt in vielfältigen Wiederholungen, seine Bezugspersonen mit Namen zu bezeichnen und auch sich selbst zu benennen. Ebenso werden die eigenen Körperteile benannt und werden wie von außen als zu dem Kind gehörig angesehen. Das Kind beginnt, Exzentrizität zu entwickeln. Der eigene Leib wird auf diese Weise noch einmal ganz neu angeeignet. Das Kind lernt, die elterliche Körpersprache bewusster zu lesen, Stimmen und Tonfall als angenehm oder unangenehm einzuordnen. Das Kind lernt Eigenschaften und Gesten zuzuordnen, zuzuschreiben, und die eigene Bewegung, Mimik und Gestik im Kontakt gezielter einzusetzen (Petzold 2003a). Auf diesem Wege werden die Grundlagen gelegt für die eigene Identifikation, des „So bin ich“, und die Identifizierungen durch andere, durch deren „So bist du.“ Die Identität konstituiert sich im Zusammenwirken von Leib und Kontext im Zeitkontinuum (Petzold 1998a). ▶▶

Identität erwächst aus dem Miteinander im sozialen Netzwerk, eingebettet in die jeweilige Kultur in wechselseitigen Vorgängen. Sie entsteht über die Zeit in der Übereinstimmung von Selbst-Zuschreibung und Fremd-Zuschreibung und deren kognitiver und emotionaler Bewertung und Verarbeitung (Petzold 1998a).

Identität entsteht in dialektischen Verläufen: Einerseits gewinnt das Ich Bilder über das Selbst aus dem Selbsterleben und schreibt diese dem Selbst zu. Andererseits erfährt das Ich im Sozialisationsprozess aus dem Außenfeld Fremd-­Zuschreibungen und gleicht diese mit vorhandenen Selbstbildern ab. Die vor dem Hintergrund biografischen Selbst- und Kontextwissens kognitiv wahrgenommenen und emotional bewerteten Selbst- und Fremd-Zuschreibungen werden verinnerlicht. So erwächst in komplexen Prozessen der Identitätsarbeit eine personale, offene, nichtlineare, sondern vielschichtige Identität, die permanent überschritten wird, und sich der Mensch damit emanzipiert (Petzold et al. 2000c). In solchen über die Zeit sich erstreckenden Vorgängen trägt das Subjekt durch Zuschreibung wechselseitig auch zur Identitätskonstitution der anderen Subjekte seines Umfeldes, der sogenannten relevanten Anderen seines Netzwerks bei (Müller und Petzold 1998a). Identität wird durch das Ich konstituiert und aufgrund von Identifizierungen, von Fremd-Zuschreibungen, durch Personen aus dem Kontext die Social Identity begründet. Durch Identifikationen, durch Selbst-Zuschreibungen, wird die Ego Identity begründet. Darüber hinaus erfolgt die Konstituierung von Identität durch die Wertung von Fremd- und Selbstzuschreibung, ihrer emotionalen und kognitiven Einordnung in biografisch bestimmte Sinnzusammenhänge, die zu Internalisierungen führen. Differenzierte und zusammenhängende Ich-Prozesse schaffen im interaktiv-­ kommunikativen Kontext und im Kontinuum des Lebens durch Zusammenschluss in sozialen Bezugsrahmen, Lebenslagen, Lifestyle-Gemeinschaften eine vielschichtige, facettenreiche Identität. In kritischer Metareflexion und metahermeneutischer Betrachtung der eigenen Subjektkonstitution entwickelt sich über die Zeit eine souveräne Identität.

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

Identitätsqualitäten sind einerseits Stabilität, Konsistenz, Komplexität und Prägnanz, andererseits Inkonsistenz, Zerstreutheit etc. (Petzold 1992a). Diese Identitätstheorie ist sozialpsychologisch fundiert, eigenständig konzeptualisiert (Petzold und Mathias 1982) und wurde im Rahmen klinischer Forschung bewertet (Affeldt 1999). Über die Identitätserfahrung, die sprachlich-symbolische Erfassung der Welt und das beginnende Rollenhandeln entsteht reflexive Selbsterkenntnis. Damit ist ungefähr im 4. bis zum 5. Lebensjahr die Grundlage gelegt für eine „reife Identität“, ein „reifes Ich“, ein „reifes Selbst“ (Petzold 2003a, S. 543). Die Verwendung der Bezeichnung „reif“ ist hier nur im Rahmen der kindlichen Entwicklung zu verstehen. Der Begriff ist problematisch, weil er etwas Fertiges vorgibt, das so nicht gemeint ist. Allerdings erscheint es auch schwierig, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die das in der Phase erreichte Niveau von Grundstrukturen einerseits als einen gewissen Abschluss und andererseits als Phase in einem lebenslangen Prozess kennzeichnet. Das Kind hat jetzt eine solide Grundlage von Beziehungserfahrungen verinnerlicht. Entsprechend diesen Erfahrungen geht es mit sich und mit anderen um. Die Struktur des inneren Anderen entwickelt sich weiter, das Gewissen bildet sich. Das Kind lernt auf Rollenerwartungen zu reagieren, spielerisch verschiedene Rollen zu übernehmen, Selbstbilder zu entwickeln und im sozialen Rahmen zu präsentieren. Erfahrungen werden eingeordnet und in Gesprächen und Selbstgesprächen in einen Bezug zu Vergangenem und Zukünftigem gebracht. Die persönliche Deutung des eigenen Lebens beginnt (Petzold 2003a). ▶▶

Der Mensch wird in der Integrativen Therapie als Leib-Subjekt mit multimodaler Erkenntnisstruktur in Kontext und Kontinuum gesehen, ausgerichtet auf die Verwirklichung von Humanität (Petzold 2003a).

Der Weg zu Humanität ist intersubjektiv und ein sich über die Zeit erstreckender Vorgang, in Ko-respondenz und Bezogenheit mit anderen Subjekten und der Welt, in einem lebenslangen Entwicklungsprozess. Die Perspektive der Integrativen Therapie als Psychotherapie wird demnach zur Perspektive einer Humantherapie. Die Ziele einer solchen „Humantherapie“ (Petzold 2003a, S. 76, S. 1051) sind differenziert nach Persönlichkeit, Kontext und Kontinuum.

4.4

 iele, Kontext, Kontinuum – Rahmenbedingung für Z das Leibsubjekt

Dem Leibsubjekt erwächst persönliche Souveränität durch ein positives, konsistentes und stabiles Selbst. Mit den selbstreferenziellen Emotionen und Kognitionen entwickelt der Mensch die Fähigkeit zur Selbstbestärkung, Selbstsorge und Selbstgefährtenschaft, dem Einstehen für sich selbst und für andere. Dazu sind konstruktive Rahmenbedingungen unerlässlich, damit eine Verinnerlichung, Interiorisierung (s.  Abschn.  1.2.5.), von positiven Lebenseinstellungen möglich werden (Petzold 2012e).

4.4  Ziele, Kontext, Kontinuum – Rahmenbedingung für das Leibsubjekt

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4.4.1 Die Ziele Die Ziele für die Entwicklung der Persönlichkeit in der Integrativen Therapie sind: • persönliche Klarheit, das Bekenntnis zur subjektiven Wahrheit, zur Parrhesie, sowie das Erleben eines von Grundvertrauen getragenen Lebensgefühls und die Integration dissoziierter Persönlichkeitsanteile ins eigene Selbstbild (Petzold 2003a); • ein starkes, aber gleichzeitig flexibles und fähiges Ich, das sich auch von außen betrachten kann; • die Fähigkeit zur Selbstregulation, zum Wahrnehmen, Ausdrücken, Verwirklichen, Regulieren eigener Bedürfnisse, wie Absichten, Motivationen, des eigenen Willens und die Regulation körperlicher Zustände und Befindlichkeiten; • die Fähigkeit zu einem angemessenen Verhältnis in Kontakt, Begegnung, Beziehung, Bindung, Konsensbildung und Abgrenzung sowie die Fähigkeit zu Mitgefühl, Perspektivenübernahme und Konfliktfähigkeit (Petzold 2003a); • die innere Ressourcenlage, wie emotionale Stabilität, kognitive Kompetenzen, Entscheidungsfähigkeit, Wissen und Kenntnisse. Hintergrundinformation: Parrhesie bedeutet „Kraft und den Mut zur Offenheit, Klarheit und freimütigen Rede“ (Petzold 2003a, S. 26).

4.4.2 Der Kontext Zu dem Kontext und Bezugsrahmen eines Menschen gehören seine stabilen sozialen Netzwerke mit einer gut unterstützten Entfaltungsmöglichkeit durch die unmittelbare nächste Gemeinschaft, dem Familienverband mit einer zugesicherten Unterstützung. Der Mensch baut auf eine stützende externe Ressourcenlage. Zu dieser Ressourcenlage zählen seine Arbeit und Arbeitsfähigkeit, eine befriedigende Freizeitgestaltung, die Möglichkeit zu Bildung und Weiterbildung, seine materiellen Sicherheiten, soziale Integration und sein sozialer Rückhalt. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der den kontextuellen Rahmen erfasst, ist die Handhabung von Umwelteinflüssen. Diverse Risikofaktoren sind mit den eigenen Gestaltungs- und Copingfähigkeiten und entsprechend der eigenen Vitalität, Vulnerabilität und Resilienz handzuhaben und zu meistern. Risikofaktoren sind chronische Überlastungen, gelegentlicher Hyperstress oder aufreibender, täglicher Kleinkram (Petzold 2003a). Im Kontext der Lebenszusammenhänge sind kognitive, emotionale und willentliche Inhalte leiblich gespeichert, die Integrative Therapie spricht vom Leibgedächtnis, vom informierten Leib (Petzold 2001j, 2004h) (s. Abschn. 5.4.1). Im Leibgedächtnis sind gespeichert: Atmosphären, Bilder, Szenen, Szenenfolgen, Worte und Sätze, einschließlich der ihnen zugehörigen leiblichen Phänomene wie sensumotorische, propriozeptive und autonome Körperreaktionen. In diesem Kontext sind auch die begleitenden emotionalen Bewertungen, kognitiven Einschätzungen, subjektiven Sinnstrukturen und Bedeutungen enthalten.

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

4.4.3 Das Kontinuum Zu dem Kontinuum gehören problemrelevante, lebensgeschichtliche Ereignisse und Ereignisketten, die Einfluss auf die aktuelle Situation haben und Teil des Symptombildes und Teil der Aufrechterhaltung der gesundheitlichen Störung des Menschen sein können. Ebenso gehören zu dem Kontinuum zugängliche, aktivierbare Ressourcen und protektive Faktoren aus der persönlichen Lebensgeschichte, das können Menschen, Orte und auch Handlungen sein. Bedeutungsvoll sind hier haltgebende Zukunftserwartungen, wie Ziele, Pläne, Hoffnungen, Glaubensrückhalt, andere Werterfahrungen und Wertvorstellungen als protektive Faktoren sowie die Erfahrung von Sinn im eigenen Leben und Handeln, darüber hinaus eine Schau auf die Lebensspanne und den bisherigen Entwicklungsprozess (Petzold 1981e, 2003a). ▶▶

Die Persönlichkeit gründet im Leib, der dem Menschenbild zu Grunde liegt. Das Leib-Subjekt ist in die Lebenswelt eingebunden. Leib und Kontext/Kontinuum sind nicht voneinander zu lösen.

Der Leib wird als Erlebensweise und Erlebtes begriffen, der Leib erlebt sich selbst und wird von anderen erlebt, er steht in Szenen und erlebt szenisch, ist umgeben von Atmosphären, die ihn beeinflussen und zu denen er beiträgt (Petzold 1991o, 2000h, 2002c). Hintergrundinformation: M. Merleau-Ponty, G. H. Mead und M. M. Bachtin haben zu dieser Sicht der konsequenten Kontextualisierung und Temporalisierung in der Integrativen Therapie beigetragen.

4.5

Die Säulen der Identität

Nach dem Konzept der „Fünf Säulen der Identität“ (Petzold und Orth 1994a, S. 372) tragen diese Säulen den Menschen durch seine lebenslange Identitätsentwicklung. ▶▶

Die Identität ruht auf fünf Säulen, die sich aus der Dialektik von Selbst-Zuschreibung und Fremd-Zuschreibung konstituieren. Entscheidend für die Zuschreibung von außen ist, dass sie von Personen kommt, die aus dem relevanten Umfeld der zu beschreibenden Person stammen.

• Leiblichkeit: Das ist mein individueller Leib (Körper-Seele-Geist-Einheit) – das, was ich von mir erlebe und nach außen hin verleibliche, mir aber auch als Identifizierung zugeschrieben wird. • Soziales Netzwerk: Das ist der soziale Kontext, das soziale Netz, dem ich zugehöre und der/das mir zugehört – meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen. • Arbeit, Leistung und Freizeit: In diesen Bereichen verwirkliche ich mich und werde durch diese identifiziert.

4.5  Die Säulen der Identität

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• Materielle Sicherheit und milieuökologische Bezüge: Das sind mein Haus, meine Wohnung, meine Heimat, mein Verhältnis zur Natur und die mir zugeschriebenen Verhältnisse. • Wertorientierungen, weltanschauliche und religiöse Überzeugungen: Diese sehe ich bei mir und diese werden mir attribuiert (Petzold 2003a). „Über eine stabile und prägnante Identität in den Identitätsbereichen Leiblichkeit, soziales Netz, materielle Sicherheiten, Arbeit, Leistung und Freizeit sowie Werte verfügen wir, wenn Fremdattribution/Identifizierung und Selbstattribution/Identifikation sich treffen bzw. sehr nahe kommen“ (Petzold und Orth 2007, S. 1057). Die Integrative Identitätstheorie als Grundlage für eine entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch orientierte Psychotherapie als Humantherapie beschreibt diese fünf Säulen der Identität (Petzold 2001p).

4.5.1 Leiblichkeit Die erste Säule der Identität beschreibt die Leiblichkeit. Der Leib, als Körper-­Seele-­ Geist-Einheit ist die Grundlage der Existenz des Menschen. Die Voraussetzung allen Wahrnehmens und Handelns und Ursprung aller Gefühle und Gedanken ist der Leib, er ist als Ort in der Zeit die tragende Säule für die Identität. Seine Unversehrtheit, seine Gesundheit und Leistungsfähigkeit sind die Voraussetzung und der Garant für ein klares Identitätserleben. Bei einer Verletzung, einer Erkrankung oder bei körperlichen Abbauprozessen, welchen der Mensch in unterschiedlicher Geschwindigkeit entgegengeht (Gawande 2014), ist die Identität bedroht (Petzold 2001p). Die Säule der Leiblichkeit umfasst Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden, eine erfüllte Sexualität, das Erleben von Unversehrtheit und Zufriedenheit mit dem persönlichen Aussehen. Die Entscheidungsfreiheit ermöglicht, einen gesundheitsfördernden Lebensstil zu wählen. Dies zeigt sich in Form verbaler und nonverbaler Kommunikation, in der Bewegung, Gestik, Mimik, in der gesamten Haltung des Menschen und wird von den anderen über persönliche Empfindungen ausgedrückt. Durch diese anderen aus dem Kontext dieses Menschen bildet sich die zweite Säule der Identität, die des sozialen Netzwerkes. Hintergrundinformation: Dieses und die folgenden Beispiele sind jeweils anonymisiert und de-identifiziert (Rall et al. 2014). Ein Beispiel für den Identitätsbereich Leiblichkeit: Identifizierung durch Fremdzuschreibung: „Das ist eine gut aussehende, sportlich wirkende Erscheinung“, sagen Mitarbeiterinnen über ihre neue Kollegin. Identifikation durch Selbsteinschätzung: „Ja ich weiß von meiner positiven Ausstrahlung, wenn ich einen Raum betrete oder auf jemanden zugehe – ich fühle mich einfach wohl in meiner Haut.“

4.5.2 Soziales Netzwerk Das soziale Netzwerk bildet die zweite Säule im Modell der Identität. Familie, Freunde sowie kollegiale Verflechtung sind der persönliche Identitätsbereich (Petzold 2001p).

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

Mit seinem Leib verkörpert der Mensch Rollen. Er ist in sein soziales Netz eingebunden, welches ihm wiederum Rollen zuschreibt, die der Mensch verkörpert. Das soziale Netzwerk, sein soziales Atom, ist für das Identitätserleben des Menschen Voraussetzung. Identität wird über den Kontakt zu anderen Menschen entwickelt, in Begegnungen erweitert und in Beziehungen stabilisiert. Ein gesicherter Rückhalt durch Familie, durch veränderte Lebensformen erweiterte Familie und Freunde eröffnet dem Menschen Möglichkeiten für seine Selbstentwicklung. In einem sozial vernetzten Gefüge wird eine gelebte Begleitung vom jüngsten bis zum ältesten Mitmenschen in der Rückwirkung gleichsam eine gelebte Begleitung für diesen individuellen Menschen selbst. Hintergrundinformation: Ein Beispiel für den Identitätsbereich soziales Netzwerk: Identifizierung durch Fremdzuschreibung: „Die hat aber ein Glück mit ihrer Familie und ihrem Freundeskreis!“, sagen die Kolleginnen nach einem Besuch bei ihr. Identifikation durch Selbstzuschreibung: „Das weiß ich, auf meine Familie konnte ich mich immer hundertprozentig verlassen, auch habe ich gute Erfahrung mit vielen meiner Freunde.“

4.5.3 Arbeit, Leistung und Freizeit Der Rückhalt durch ein gesichertes soziales Netz kann die Voraussetzung für die positive Entwicklung der dritten Säule bieten. In dem leibhaftigen Handeln, in seiner Arbeit gestaltet der Mensch sein Leben und seine persönliche Lebenswelt. In seinem Tun sucht er seine Verwirklichung. Das von ihm Geleistete und Geschaffene bietet dem Menschen durch ­Selbstzuschreibung eine Identifikationsmöglichkeit. In seinem relevanten Kontext haben die anderen Mitmenschen die Möglichkeit zu einer Fremdzuschreibung, zu einer Identifizierung. Die Leistung des Menschen steht somit nicht nur für ihn selbst, sie wird auch von den anderen gesehen und mit ihm selbst in Zusammenhang gebracht (Petzold 2001p). Die dritte Säule der Identität bezieht zu Arbeit und Leistung die Freizeit mit ein und impliziert das Thema einer gelungenen Work-Life-Balance, einem Ziel, dem viele Menschen nahekommen wollen. Die soziokulturelle Forderung unserer Gesellschaft nach Flexibilität und hoher Leistungsbereitschaft bringt für arbeitende Menschen oft größte Herausforderung, auch Überforderung. Teilzeitbeschäftigung oder Befristungsvereinbarung, diese sozial geschaffenen Möglichkeiten durch das Arbeitsgesetz zu nutzen, gelingt nicht immer. Arbeitsbedingter Dauerstress und Erschöpfungszustände können Krankheitssymptome auslösen wie Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, sexuelle Funktionsstörungen und Somatisierungsstörungen unterschiedlichster Art bis hin zu den schwer fassbaren Medically Unexplained Physical Symptoms (MUPS) (s.  Abschn.  2.6.2). Die damit einhergehenden Fehlzeiten am Arbeitsplatz und Minderleistungen wirken sich für den Betroffenen selbst und für die Menschen in seiner Umgebung vielfältig aus. Dies wiederum greift auch die vierte Säule der Identität an und kann diese schmälern.

4.5  Die Säulen der Identität

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Hintergrundinformation: Ein Beispiel für den Identitätsbereich Arbeit, Leistung und Freizeit: Identifizierung durch Fremdzuschreibung: „Die neue Kollegin ist fachlich kompetent und schafft neben der Rollen Berufskarriere und Mutter auch noch Freizeitaktivitäten einzuplanen und zu genießen. “Identifikation durch Selbsteinschätzung: „Ja, ich weiß um meine Kompetenz, die ich mit meinem Erfahrungshintergrund in diese Abteilung hervorragend einbringen kann. Ich habe mich über die Aufnahme nach meiner Bewerbung hier riesig gefreut, auch über die Herausforderungen, die in meinem Spezialgebiet auf mich zukommen. Schon im Rahmen des Bewerbungsgesprächs war es mir wichtig, abzuklären, dass mir ausreichend Raum für meine Freizeitaktivitäten und meine Familie bleiben.“

4.5.4 Materielle Sicherheiten und milieuökologische Bezüge Ökonomische Sicherheit und ökologisches Eingebundensein, Wohnung, Güter und Nahrung bilden nicht nur den Halt/die Stützen für die Säule der Leiblichkeit, sind nicht nur Voraussetzung für die soziale Zugehörigkeit, die Wahl des Arbeitsplatzes und die Möglichkeit der Freizeitgestaltung. Ökonomische Sicherheit und ökologisches Eingebundensein sind auch für die Zuschreibung, die Identifizierungsmöglichkeit des gesellschaftlichen Umfeldes von Bedeutung. Materielle Sicherheiten stützen die Identität entscheidend, der Wegfall materieller Sicherheiten erschüttert die Identität (Petzold 2001p). Ein Leben in ökologischem Bewusstsein und in der Bewältigung der eigenen Arbeit kann dem Menschen selbst und seinen Nächsten materielle Sicherheit ermöglichen. Der Selbstwert des Menschen und seine persönlich empfundene Zufriedenheit können in diesem Idealfall eine Basis für die Verantwortung bezüglich des anderen Menschen, der sozialen und ökologischen Umwelt und der Ressourcen der Welt sein. Mit erworbener materieller Sicherheit können implizite Werthaltungen den Blick für milieuökologische Bezüge eröffnen. Hintergrundinformation: Ein Beispiel für den Identitätsbereich materielle Sicherheit und milieuökologische Bezüge: Fremdzuschreibung durch Identifizierung: „Die hat eine herrliche Wohnung mit Dachterrasse und Ausblick über die ganze Innenstadt!“, sagen die Arbeitskolleginnen nach dem Besuch. Identifikation durch Selbsteinschätzung: „Ja, stimmt, da haben wir viel reingesteckt und leben jetzt auch komfortabel, gleichzeitig ökologisch bewusst, weil wir einerseits Ressourcen sparen und andererseits die Annehmlichkeiten wie in einem eigenen Haus haben.“

4.5.5 W  ertorientierung, weltanschauliche und religiöse Überzeugung Werthaltungen werden gesellschaftlich vermittelt, jedoch persönlich angenommen und verkörpert. Werte wirken, wenn sie als solche gelebt werden. Die Säule der Werte kann besonders in Krisenzeiten entscheidend sein. Wenn sie kräftig gebaut und entwickelt wurde, kann sie für das Identitätserleben immens an Tragkraft gewinnen. Die Wertesäule kann den Menschen in seiner Identität noch tragen, wenn andere Säulen schon beschädigt oder eingestürzt sind. Selbst bei Verlust leiblicher

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

Integrität, bei gesellschaftlicher Ächtung, dem Entzug von Arbeit und materieller Sicherheit kann sie dem Menschen noch Stütze sein, wenn auch sonst nichts mehr Bestand hat (Petzold 2001p). Besonders berührend führt das der Begründer der Dritten Wiener Schule der Psychotherapie, Viktor Frankl, in seinem Buch … trotzdem ja zum Leben sagen (1946/1979) anhand seiner persönlichen Geschichte aus. Der Mensch fühlt sich zu Wertegemeinschaften zugehörig, er bezieht aus den Werten, die er in sich trägt, Kraft. Der Mensch gibt seinem Leben Sinn, dann hat sein Leben Sinn. Humanitäre oder ökologische Vereinigungen, Selbsthilfegruppen, politische Bewegungen und Religionsgemeinschaften sind nur einige Beispiele. Werte als identitätsbestimmende Quelle drücken sich als Haltung und Verhalten der Welt und den Mitmenschen gegenüber aus. Hintergrundinformation: Ein Beispiel für den Identitätsbereich Wertorientierung, weltanschauliche und religiöse Überzeugung: Identifizierung durch Fremdzuschreibung: „Die engagiert sich mit großem Einsatz für ‚Ärzte ohne Grenzen‘, Respekt!“, meint ihr Freundes- und Kolleginnenkreis. Identifikation durch Selbsteinschätzung: „Ja, für Menschen, die unverschuldet Leid erfahren und in Not geraten, setze ich mich gerne ein“.

4.6

Bedingungen des Integrierens für das Verfahren

Auf die einfach klingende Frage: „Wie erfolgt das Integrieren in der Integrativen Therapie?“, ist in dem Wissen um das Modell des Tree of Science nur eine komplexe Antwort zu erwarten. Für das Entstehen des Verfahrens Integrative Therapie ist der Vorgang zu beschreiben, bereits vorhandene Theorien wissenschaftlich kritisch zu hinterfragen, auszuwerten, zu rekonstruieren und ggf. weiterzuentwickeln oder zur Ausarbeitung neuer Konzepte heranzuziehen. In der Publikation von Hilarion G. Petzold und Ulrike Mathias Rollenentwicklung und Identität (1982) erfolgte die erste vollständige Rekonstruktion der Persönlichkeitsund Rollentheorie von Moreno, um auf dieser Grundlage einen bestimmten Bereich der integrativen Persönlichkeitstheorie zu entwickeln. Das Buch stellt eine wichtige Grundlage für die Entwicklung der europäischen Psychodramabewegung dar. Erstmals im deutschen Sprachraum wurden die in einer Vielfalt von Arbeiten unsystematisch verstreuten Elemente von Morenos Rollen- und Persönlichkeitstheorie rückverfolgt und die dazugehörigen Quellentexte zusammengestellt. Diese Rekonstruktion geschah in Angrenzung zu den wertvollen Ansätzen und Ideen Morenos, die an den Ergebnissen entwicklungspsychologischer Forschung überprüft wurden. Schon hier wurden relevante, weiterführende integrative Theoriekonzepte für die Integrative Therapie formuliert. Das Buch Rollenentwicklung und Identität (Petzold und Mathias 1982) enthält im ersten Teil „Die sozialpsychiatrische Rollentheorie J.  L.  Morenos und seiner Schule“ (Petzold 1982, S. 13–188) über die Rekonstruktion der Theorie Morenos. Weiter sind die Kapitel „Konzepte zu einer integrativen Rollentheorie in der Tradition Morenos“ (Petzold 1982, S. 146-157) sowie „Vorüberlegungen und Konzepte zu einer integrativen Persönlichkeitstheorie“ (Petzold 1982, S. 159-188) formuliert.

4.6  Bedingungen des Integrierens für das Verfahren

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In diesem Kapitel wird das Persönlichkeitsmodell der Integrativen Therapie auf leibphilosophischer Grundlage programmatisch entworfen, das in der Folge auf der Grundlage empirischer entwicklungspsychologischer Säuglings- und Kleinkindforschung ausformuliert und fundiert wurde. Mit dieser Erweiterung wurde das Paradigma Morenos verlassen und überschritten. Die in diesem Entwurf enthaltene eigenständige Linie der Theoriebildung über das „Selbst“ geht nicht primär auf Moreno, sondern auf Merleau-Ponty (1945, 1966) und die empirische Entwicklungspsychologie zurück. Bereits in dem Kapitel „Konzepte zu einer integrativen Rollentheorie in der Tradition Morenos“ (Petzold 1982, S. 146) wird Morenos Ansatz durch den Hinweis auf Merleau-Ponty konzeptkritisch diskutiert. Das Selbst ist in diesem Entwurf ein multitheoretisches Konstrukt, in dessen Zentrum philosophische Überlegungen stehen, insbesondere der Leibbegriff Merleau-­Pontys und entwicklungspsychologische Überlegungen aus der französischen und russischen Schule nach Janet, Wallon und Vygotsky. Hinzu kommen philosophische Erwägungen zu Intersubjektivität und Alterität. Auch speist sich der Selbstbegriff aus den Erörterungen von Ricœur (1996). Morenos Gedanke einer Emergenz des Selbst aus Rollen nimmt im multitheoretischen Konstrukt erst unter soziologischen Aspekten eine wichtige Stellung ein. Mittlerweile ist die Entwicklung der Persönlichkeitstheorie der Integrativen Therapie weiter fortgeschritten. Zum gegenwärtigen Stand der Theorieentwicklung lässt sich eine deutliche Differenz zum Ansatz Morenos konstatieren. Zunächst ist festzustellen, dass Moreno die Begriffe Ich und Selbst nicht immer klar u­ nterschieden hat. Selbst, Ich, Persönlichkeit, Charakter waren für ihn Cluster-Effekte, heuristische Hypothesen, „metapsychologische Postulate, Sprachspiele“ (Moreno 1946, S. 53). Die Integrative Therapie stimmt Morenos Position insofern zu, als die Bildung der Persönlichkeit wesentlich durch das Lernen von Rollen und Szenen konstituiert wird. Morenos Definitionen zeigen seine Position: Das Ich: „Die greifbaren Aspekte von dem, was wir ‚ego‘ nennen, sind die Rollen, in denen es handelt“ (Moreno 1946, S. 53). Das Selbst: „Das Rollenspiel geht dem Entstehen des Selbst voraus. Rollen entstehen nicht aus dem Selbst, sondern das Selbst entsteht aus Rollen“ (Moreno 1946, S.  53). Alle Rollen, über die eine Person verfügt, bilden das Selbst (Petzold und Mathias 1982). Die Identität: Moreno definiert Identität als „the identity of roles“ (Moreno 1946, S. 381). ▶▶

Der Ansatz der Integrativen Therapie fasst leibtheoretische, sozialisations- und enkulturationstheoretische Diskurse zusammen und ist durch die empirische Entwicklungspsychologie der Lebensspanne abgesichert.

Der Ansatz der Integrativen Therapie umfasst die Entwicklung von Kognitionen, Emotionen, Volitionen sowie die Entwicklung der Kommunikation vom Säuglingsalter bis hin zum hohen Senium.

112

4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

Im Anschluss an die und in der Erweiterung der Theorie Moscovicis wird in der Integrativen Therapie die Entwicklung der Persönlichkeit in sozialen Welten durch komplexe kollektiv-mentale und subjektiv-mentale Repräsentationen in den Vordergrund gestellt (Petzold 2003a). Demnach ist der Mensch von den ersten Lebenstagen an in soziale Kontexte eingebettet und bildet in diesen leibhaftig seine Persönlichkeit aus. Der Mensch wird beeinflusst durch die umgebende Kultur und Sozialwelt mit ihren kollektiven Repräsentationen, die in die individuellen Repräsentationen einfließen und die ihrerseits wiederum von den individuellen Repräsentationen kollektiv hervorgebracht werden. Moreno vertritt dezidiert in Abgrenzung zu Mead eine Handlungstheorie und keine kognitive Theorie der Persönlichkeit. Darüber hinaus erarbeitete die Integrative Therapie eine konsistente Verbindung von Kognitions- und Handlungstheorien auf der Grundlage von Mead, Moscovici und Vygotsky.

4.7

Theoretische Bedingungen des Integrierens

Nach der Erörterung wie die Persönlichkeitstheorie der Integrativen Therapie anhand von An- und Abgrenzung zu bestehenden Theorien entwickelt wurde, wird hier die theoretische Grundlage des Integrierens in der Integrativen Therapie ­vorgestellt. In der Integrativen Therapie verläuft die Integration von unterschiedlichen Konzepten und Methoden über das Abprüfen von Leitkonzepten, sog. Integratoren, auf „konzeptsyntone oder konzeptdystone Parameter“ (Petzold 2003a, S. 66). Fremde Leitkonzepte werden auf übereinstimmende oder ähnliche Strukturen, funktionelle Gleichwertigkeiten geprüft, um Gemeinsamkeiten oder Divergenzen zur Integrativen Therapie aufzuweisen. ▶▶

Aus der Einheitlichkeit des Verfahrens und des Integrierens in der Integrativen Therapie wird deutlich: Es handelt sich um eine systematisch reflektierte Integration von Therapieverfahren und die Überprüfung der Quelltheorien auf Vereinbarkeit.

Um die Vereinbarkeit der Quelltheorien zu gewährleisten, wird das zentrale Entwicklungskonzept der Integrativen Therapie, der Tree of Science (s. Abschn. 2.4), als formale Struktur verwendet, um die Wissensstände angewandter Humanwissenschaften zu analysieren und zu ordnen.

4.7.1 Leitkonzepte auf der Ebene der Metatheorie Orientierungsspezifische Kennzeichen für die Integrative Therapie (Petzold 2003a) sind zu prüfen: • an der Leiblichkeit, an der Phänomenologie leiblich-perzeptueller Erfahrung (Petzold 1985g), mit Bezug auf G. Marcel, M. Merleau-Ponty, H. Schmitz und M. Foucault;

4.7  Theoretische Bedingungen des Integrierens

113

• am Weltbezug, an einer evolutionsbiologisch-psychologischen Perspektive, einem integrierenden Naturbegriff (Petzold 2013g), mit Bezug auf C.  Darwin, A. N. Whitehead, I. Prigogine; • an Sozialitäts- und Entfremdungsphänomenen (Petzold 1996; Coenen 1981), mit Bezug auf T. W. Adorno, P. Bourdieu, P. Goodman, G. H. Mead, G. Politzer und J. Derrida; • an Sinn und Bedeutung als persönliche und soziale Konstruktionen mit sozialhermeneutischer und sozialkonstruktivistischer Perspektive (Petzold 1988b), mit Bezug auf P. Ricœur, J. Derrida und auf A. Schütz, P. Berger, N. Luhmann; • an einer situativen und diskursiven Ethik der Gewährleistung von Integrität, der eigenen wie der des anderen und der Welt des Lebendigen (Petzold 1990n, 1992a; Schuch 1988; Krämer 1992; Endreß 1995), mit Bezug auf E. Lévinas, M. Foucault, G. H. Mead; • an Intersubjektivität, Ko-respondenz, Diskurs, Polylog/Dialog (Petzold 1978c, 1991e), mit Bezug auf G.  Marcel, E.  Lévinas, M.  M.  Bachtin, G.  H.  Mead, J. Habermas; • an Bewusstseinsprozessen, Exzentrizität, Reflexivität und Metareflexivität (Petzold 1988a; Metzinger 1995); • an unbewussten Prozessen (Petzold 1988a); • an Sprache, symbolischer Interaktion und Sinnstrukturen (Petzold und Orth 1985a, Orth und Petzold 2000; Petzold et  al. 2018; Ricœur 1969, 1974), mit Bezug auf M. Merleau-­Ponty, G. H. Mead; • an ideologiekritischer Metareflexion (Petzold und Orth 1999a; Petzold et  al. 2000c), mit Bezug auf M. Foucault, P. Bourdieu, J. Derrida, G. Deleuze.

4.7.2 Leitkonzepte auf der Ebene der klinischen Theorien Orientierungsspezifische Kennzeichen für die Integrative Therapie (Petzold 2003a) sind zu prüfen: • an der biopsychosozialen Ausrichtung (Petzold 1974j, 2000h, 2001a; Melzack und Wall 1965; Sapolsky 2017); • an einer Kontext-/Kontinuumstruktur, an der systemisch-ökologischen Perspektive und der Lebenslageorientierung (Petzold et  al. 1994), mit Bezug auf N. Luhmann; • am Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezug (Petzold 1981e, 1991o; Ricœur 1988, 1989, 1991), mit Bezug auf die Zeittheorien von G. H. Mead und M. Merleau-Ponty; • am „life span developmental approach“ (Petzold 1999b); • an Pathogenese und Salutogenese, Heilung und Entwicklung (Petzold et  al. 1993; Petzold und Steffan 2000a); • an Problemen, Ressourcen, Potenzialen (PRP) als Fundierung von Zielparametern (Petzold 1997p; Petzold et al. 1998); • an differenziellen Selbstprozessen – Selbst, Ich, Identität (Petzold 1992a, 1999q; Müller und Petzold 1998);

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

• an prozessualer Diagnostik/Theragnostik (Osten 2000; Petzold und Osten 1998; Petzold et al. 2000b); • an integrative psychotherapeutische Diagnostik (IPD) (Osten 2019); • an generalisierten und störungsbildspezifischen Behandlungskonzepten (van der Mei et al. 1997; Heinl 1997; Petzold et al. 2000b); • an Netzwerken, Konvois (Hass und Petzold 1999), an „social worlds“ als „kollektive Kognitionen, Emotionen, Volitionen“ (Petzold 1991a).

4.7.3 Leitkonzepte auf der Ebene der Praxeologie und Praxis Orientierungsspezifische Kennzeichen für die Integrative Therapie (Petzold 2003a) sind zu prüfen: • an der Alltagsrealität und Lebenslage  – chancenreiche, prekäre, destruktive (Müller und Petzold 2001); • an Alltagsformen der Relationalität im Netzwerk bzw. Konvoi – Verschmelzung, Kontakt, Begegnung, Beziehung, Bindung, Abhängigkeit, Hörigkeit (Petzold 1988p); • an klinischen Phänomenen der Relationalität – Übertragung des Patienten und des Therapeuten, Gegenübertragung des Patienten und desTherapeuten, Widerstand, Abwehr (Petzold 1980g, 1981b, 1993p); • an multiplen „Wegen der Heilung und Förderung“ und methodenpluralen und multimodalen Vorgehensweisen (Petzold 1988n, 1996a; 1993h; Petzold und Sieper 1993a), Prozessorientierung (Orth und Petzold 1990c, 1993c); • an therapeutischen Wirkfaktoren (Petzold 1993p; Märtens und Petzold 1998; Petzold und Steffan 2000a); • an Evaluations- und Qualitätssicherungskonzepten (Petzold et al. 1995, 2000a; Steffan und Petzold 2001; Steffan 2002; Leitner et al. 2008, 2009). ▶▶

Unter Verwendung dieses Rasters an Integratoren kann hinlängliche Vielfalt auf der Grundlage eines verbindenden Menschenbildes ermöglicht werden, ohne in einen Zustand von Unordnung oder Verwirrung zu enden.

Auf der Grundlage dieser Ordnung können im Rahmen der ständigen Entwicklung der Integrativen Therapie Leitparadigmen, Leitdiskurse und Leitkonzepte nach spezifischen Prinzipien ausgewählt werden, und es kann unterschieden  werden, was mit den grundlegenden Konzepten dieses Verfahrens ü­ bereinstimmt und was nicht (Petzold et al. 2001; Petzold 2000h; Schuch 2000a, 2001).

4.8

Eklektizismus aus Sicht der Integrativen Therapie

Ein Thema im psychotherapeutischen Behandlungskontext bezieht sich auf die Frage des Eklektizismus.

4.8  Eklektizismus aus Sicht der Integrativen Therapie

115

Ist der Begriff eklektisch als „aus etwas Vorhandenem zusammengestellt“, also „gesammelt“, zu interpretieren, ist er auch abwertend als „imitierend, nachahmend“ und „unschöpferisch“ zu finden. Die etymologische Spur verfolgend, ist es in Bezug auf das Verfahren Integrative Therapie von Interesse, das griechische Verb „eklégein“ in der Bedeutung von „auslesen, auswählen“ oder „aussuchen“ heranzuziehen und im Kontext des Tree of Science den systematischen Eklektizismus als kritische und systematische Auswahl von Theorien und Methoden zu erklären. ▶▶

Psychotherapie ist nie voraussetzungslos, Psychotherapie wird nie voraussetzungslos sein. Psychotherapieschulen haben sich stets in einem bereits bestellten Feld entwickelt (Garfield 1982).

Wie der Literatur zu entnehmen (Gödde 1999), ist eklektisches Vorgehen legitim und wissenschaftlich. Wie viele Forscher bildetet auch Freud sein Denken eklektisch heraus, indem er neuroanatomisch-­physiologische, chemische, physikalische und technologische Begrifflichkeiten mit philosophischen kombinierte. Das Unbewusste hatte Freud der Philosophie von Leibniz entnommen, die zwei Tendenzen des Bewussten und Unbewussten der Philosophie von Schelling, die Vorstellung eines unbewussten, allgemeinen Triebes von Schopenhauer, die unbewusste Konfliktdynamik von Nietzsche, die traumatische Verursachung der Neurosen von Charcot, die Übertragung und das Realitätsprinzip von Janet und den Begriff des „Es“ (Groddeck 1923/1984) von Groddeck, der von Freud hoch geschätzt wurde. Über die Jahrzehnte der Entwicklung steht heute trotzdem oder gerade deswegen das Verfahren Psychoanalyse als eine Urform der modernen Psychotherapie in sich konsistent da (Wesiack 2003). Im Handwörterbuch der Psychologie (Asanger und Wenninger 1988) werden vier verschiedene Formen des Eklektizismus unterschieden: • Der Synkretismus als unsystematischste Form des Eklektizismus, ist als Vermischung zweier oder mehrerer Lehren zu sehen. • Der systematische Eklektizismus achtet auf kritische und systematische Auswahl von Theorien und Methoden. • Der technische Eklektizismus orientiert sich am Nützlichkeitsprinzip und versucht, die wirksamsten Methoden aus verschiedenen Therapieschulen zusammenzutragen, ohne deren Herkunftstheorien auf Vereinbarkeit zu prüfen. • Der theoretische Eklektizismus strebt die Integration verschiedener Theorien an und wird häufig gleichbedeutend mit dem Begriff der Integration verwendet. Die Integrative Therapie definiert Integration als systematische Zusammenfassung differenzierter oder disparater Teile zu einem übergeordneten Ganzen, als das Lösen von Problemen und Aufgaben auf einer höheren Strukturebene. Es geht um die Wahrung der theoretischen und methodologischen Eigenheiten der psychoanalytischen, psychodramatherapeutischen, gestalttherapeutischen, verhaltenstherapeutischen und anderer Elemente, es geht auch um die Wahrung der systemtheoretischen Betrachtungsweise mit dem Ziel einer komplexeren Sicht der Dinge und differenzierter Handlungsmöglichkeiten (Petzold 1975h).

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

Integrative Therapie als systematische Zusammenführung achtet auf kritische und systematische Auswahl von Theorien und Methoden. ▶▶

Differentes aus den verschiedenen Quellverfahren der Integrativen Therapie wird nicht eingeschmolzen, sondern bleibt bestehen. Differentes wird vernetzt. Integration ist ein Prozess der Konnektivierung von Verschiedenem, das bestehen bleibt und sich eigenständig weiterentwickeln kann und soll.

Mit Blick auf die Zukunft ist für Bastine Integration „der gelungene Versuch, gegebene Elemente in einem neuen Ganzen zu organisieren, d. h. unter übergeordneten Gesichtspunkten einen neuen Zusammenhang herzustellen“ (Bastine 1986, S. 233).

4.9

 piritualität und Religion aus Sicht der S Integrativen Therapie

Persönliche Religiosität gehört in die grundrechtlich geschützte Privatsphäre von Menschen. Die Idee des Immateriellen als reine Geistigkeit wie unsterbliche Seele oder Gott und nicht an Materie gebundene Wirklichkeit fällt aus dem Rahmen des wissenschaftlichen Weltbildes und ist eine Sache persönlichen Glaubens (Petzold et al. 2014a). Persönliche Religiosität kann eine hohe subjektive Bedeutung gewinnen, die ernst genommen werden muss und der Achtung und Wertschätzung bedarf. Obskurantismus, fundamentalistische Intoleranz und Militanz sind als Gefahr wahrzunehmen und anzusprechen. Fragen zu Immateriellem, Geistigem sind Themen der Seelsorge (Petzold 2005b) und des persönlichen geistigen Lebens, dessen ethischer Raum und dessen Ästhetik Menschen erfüllen, trösten und beglücken können. Aus Sicht der Integrativen Therapie tut die Psychotherapie gut daran, in einem säkular-wissenschaftlichen Rahmen zu bleiben, sodass die Menschen auf ihr Recht bauen können, mit überprüften und überprüfbaren Methoden bei vorliegenden gesundheitlichen Störungen sicher behandelt und bei Problemen fachlich kompetent beraten zu werden (Petzold et al. 2014a). Psychotherapie ist eine rechtlich geregelte Dienstleistung und ein wissenschaftlich fundiertes, professionelles Handeln im Rahmen und nach den Regeln des öffentlichen Gesundheitswesens (Senf und Broda 2005). „Eine derart positionierte Psychotherapie gründet auf wissenschaftlich nachvollziehbaren und empirisch überprüften Krankheits-, Heilungs- und Behandlungstheorien. Weiter ist Psychotherapie gemäß Senf und Broda dadurch charakterisiert, dass sie theoretisch abgeleitete und empirisch abgesicherte Verfahren, Methoden und Settings zur zielgerichteten Veränderung im Erleben und Verhalten einsetzt und die Behandlung und Prävention psychisch bedingter oder mitbedingter Krankheiten, Störungen und Beschwerden bezweckt“ (Schnyder 2009, S. 52). Ein solches Vorgehen setzt im Gegensatz zu spirituellen Handlungen eine gründliche Diagnostik sowie eine qualifizierte Differenzialindikation voraus. Der gravie-

4.9  Spiritualität und Religion aus Sicht der Integrativen Therapie

117

rende Unterschied liegt auch darin, dass Psychotherapie mit a priori formulierten und a posteriori evaluierten Therapiezielen durchgeführt wird. ▶▶

Eine gesetzlich geregelte Psychotherapie lässt keine spirituellen Interventionen zu. Durch das strukturelle Gefälle der Therapeut-Patient-­ Situation und der dadurch möglichen idealisierenden Übertragung ist bei jeder Intervention das Risiko von Manipulation und Missbrauch gegeben.

Gespräche zu spirituellen Fragen oder religiösen Themen können in einer Psychotherapie stattfinden, sofern sie von dem Patienten eingebracht werden. Religiöse Behandlung, spirituelle Interventionen und religiöse Praktiken sind kein Behandlungsangebot (Petzold et al. 2009). Es ist das Recht des Patienten, alles für ihn Bedeutsame in die Therapie einzubringen. In den Freiraum persönlicher und weltanschaulicher Entscheidungen hat die Psychotherapie nicht einzudringen. Dieser Freiraum kann Themen wie Religionszugehörigkeit (Schuch 2012a), Sexualität (Schuch 2012b; Lackner-Naberžnik 2012; Stiels-Glenn 2012) und Sterben (Reichel 2018) beinhalten und ist achtungsvoll zu respektieren.

4.10 Esoterik aus Sicht der Integrativen Therapie Wenn in der Psychotherapie Methoden der Diagnostik und Intervention vermischt werden mit Auspendeln, dem Erstellen von Horoskopen, dem Legen von Tarot-­ Karten, wenn Kristalle, Wünschelruten und Runen als Hilfe in Anspruch genommen werden, mit Verstorbenen und Schutzgeistern Kontakt gesucht wird, oder mit feinstofflicher Energieübertragung, wie bei der Bachblüten- oder Aromatherapie, behandelt wird, so sind diese Angebote, ebenso wie das Rebirthing, die Reinkarnationstherapie, das Chanelling, Geistheilungen, das Reiki, das Aura-Reading oder die Arbeit an Chakren, nicht im wissenschaftlichen Sinne fundiert (Möller 2003). „Es fällt auf, dass die menschliche Seele in all den ‚Theorien‘ von Esoterikern durch vereinfachte naturwissenschaftliche Modelle zu erklären versucht wird. Es geht um Begriffe wie ‚Energiefluss‘, der Körper des Menschen wird als ‚eine Magnetkarte‘ verstanden, es geht um ‚positive, negative Ladungen‘ oder ‚Pole‘ des menschlichen Körpers, es geht um ‚Heilfrequenzen‘ von Kristallen, Begriffe, die mehr oder weniger der Physik entlehnt sind. Es herrscht zumindest sprachlich eine konkretistische und materialistische Weltsicht − welch ein Kontrast zur Spiritualität“ (Möller 2003). Auch transpersonale Ausflüge und der Rückgriff auf archaische Praktiken wie Schamanismus sind im Kontext der Psychotherapie wissenschaftlich nicht fundiert. „Hochkomplexe religionsphilosophische Traditionen wie der Hinduismus oder der Buddhismus werden simplifiziert. Ebenfalls werden Splitter aus der christlichen Lehre benutzt und trivialisiert. Petzold spricht von einem ‚Billigverschnitt‘ in der Gestalt religiösen Halbwissens, der die Menschen der Anstrengung der Aneignung eines religiösen Systems enthebt. Östliche und westliche Weisheitslehren werden auf diese Weise missbraucht. Ein tief religiöser Mensch zu sein ist von ähnlicher

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

Mühsal gekennzeichnet wie die Entscheidung, als Agnostiker oder Atheist durch die Welt zu schreiten“ (Möller 2003). Trotzdem sind auch hier der persönliche Freiraum und die Weltanschauung der Menschen zu respektieren, auch wenn Positionen eingenommen werden, die man als Therapeut selbst nicht teilt. Ziel ist es, keine Politik der Ausgrenzung zu befürworten, sondern diesen Diskurs mit einer Haltung der „weiterführenden Kritik“ (Petzold et al. 2014a, S. 548) anzubieten. ▶▶

Aus Sicht der Integrativen Therapie ist in der Behandlung des Patienten ein theoriegeleiteter und forschungsgegründeter Zugang verpflichtend.

Die Formulierung der Berufsumschreibung im österreichischen Psychotherapiegesetz vom 7. Juni 1990, BGBl. Nr. 361/1990 gibt die Verpflichtung zu wissenschaftlich-­ psychotherapeutischen Methoden vor: „Die Ausübung der Psychotherapie im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die nach einer allgemeinen und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewußte und geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern“ (Rechtsinformationssystem des Bundes [RIS] 2019, § 1. [1]).

Zusammenfassung

Nach dem Verständnis der Integrativen Therapie ist jede Persönlichkeit verleiblichte Kultur, die in eine kollektive Realität eingebettet, auf dem Boden einer klinischen Entwicklungspsychologie über die Lebensspanne zu verstehen ist. Das Modell der Persönlichkeit, in seinen Dimensionen vorgestellt, beschreibt die unterschiedlichen Ich-Funktionen und Identitätsbereiche. Die Integration in der Integrativen Therapie verläuft über das Abprüfen von Integratoren, einem Konzept übereinstimmender und nichtübereinstimmender Parameter entlang dem Tree of Science. Es wird der Freiraum weltanschaulicher Entscheidungen zu Spiritualität und Religion angesprochen, unter dem Hinweis des achtungsvollen Respekts. Die kritische Sicht auf Esoterik wird mit der gesetzlichen Verpflichtung zu wissenschaftlich-­ psychotherapeutischen Methoden beantwortet. Die Begründung liegt v.  a. darin, dass Antirationalität zu Entwicklungen führen kann, die Realitätsverkennung und pathologische Dynamiken ermöglichen.

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

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4  Das Entwicklungskonzept zur Persönlichkeit in der Integrativen Therapie …

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5

Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

Inhaltsverzeichnis 5.1  D  ie Krankheitslehre in der Integrativen Therapie   128 5.1.1  Die anthropologische Krankheitslehre   128 5.1.2  Die klinische Krankheitslehre   130 5.2  Risikofaktoren für die Entstehung von gesundheitlichen Störungen und Krankheit   136 5.2.1  Genetische und somatische Einflüsse und Dispositionen   136 5.2.2  Entwicklungsschädigungen in den ersten Lebensjahren und in der Lebensspanne  137 5.2.3  Adversive psychosoziale Einflüsse   138 5.2.4  Negativkarriere im Lebenslauf   138 5.2.5  Verinnerlichte Negativkonzepte   139 5.2.6  Auslösende aktuale Belastungsfaktoren   139 5.2.7  Diverse negative Einflüsse und ungeklärte Faktoren   140 5.3  Protektivfaktoren zur Gesundheitserhaltung   141 5.3.1  Entwicklungsförderung in den ersten Lebensjahren und in der Lebensspanne   141 5.3.2  Konstruktive psychosoziale Einflüsse   141 5.3.3  Positivkarriere im Lebenslauf   141 5.3.4  Verinnerlichte Positivkonzepte   141 5.3.5  Wirksame aktuale Unterstützungsfaktoren   142 5.4  Der informierte Leib und neurobiologische Aspekte in der Integrativen Therapie   142 5.4.1  Der Mensch als „informierter Leib“   142 5.4.2  Neurobiologische Aspekte   143 Literatur   147

Kranksein und Gesundsein werden als Pole eines Kontinuums gedacht, daher ist in der Integrativen Therapie Gesundheit und Krankheit in diesem gegensätzlichen Gesamtzusammenhang zu sehen. In der Gesundheits- bzw. Krankheitslehre wird die Annahme eines Geschehens mit vielen Einflüssen und Faktoren in den Mittelpunkt gestellt. Gesundheits- und Krankheitslehre basieren auf der empirischen „klinischen Entwicklungspsychologie“ (Petzold 2003a, S. 448). Die Modellvorstellung der Krankheitsentstehung ist szenisch und erlebnistheoretisch begründet. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_5

125

126 ▶▶

5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

Pathogenetische und salutogenetische Faktoren werden gleichermaßen in den Blick genommen. Beachtung finden nicht nur Schädigungen, sondern auch Ressourcen, Copingstrategien, Creatingstrategien, Kompensations- und Gestaltungsmöglichkeiten.

In der Psychotherapie werden bei Risiko- und Belastungssituationen des Patienten neben möglichen Defiziten ebenso Stütz- und Schutzfaktoren berücksichtigt. Befunderhebung, Diagnostik und Therapie erfolgen möglichst bis in die Einzelheiten des Erlebens und Verhaltens einer Person, des Weiteren lebenslaufbezogen und differenziell unter dem Gesichtspunkt der individuellen Unterschiede. Das Verständnis von Pathogenese ist durch die Perspektive einer lebenslangen, „differenziellen Entwicklungspsychologie“ (Petzold 2003a, S. 196) geprägt. Hintergrundinformation: Der Mensch wird in der Entwicklung seiner Lebensspanne unter den Perspektiven seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesehen. Konkretisiert wird diese Betrachtungsweise durch die Optik lebensabschnittstypischer Heuristiken, unter besonderer Berücksichtigung des persönlichen Milieus und der Zeitgeschichte des Menschen.

Schädliche wie heilende Wirkungen können zu jedem Zeitpunkt des Lebensverlaufes eintreten. Schädigungen wirken pathogen, wenn sie auf entsprechend vorherrschende Situationen treffen und wenn keine ausreichende Kompensation oder Substitution zur Entlastung verfügbar ist. In Hinblick auf die Erhaltung von Gesundheit und die Entstehung von Krankheit wird dem sozialen Netzwerk und dem gesamten Bezugsrahmen des Menschen eine große Bedeutung zugemessen. Menschen in stabilen, funktionierenden Beziehungen haben eher die Chance, ihr Gesundheitspotenzial zu aktualisieren. In belasteten Beziehungen stehen Menschen verstärkt im Risiko, zu erkranken. Neben der genetischen Disposition gilt als wesentliche Einflussgröße bei der Erhaltung von Gesundheit und Entstehung von Krankheit das Zusammenwirken von Risiko-, Belastungs- und Schutzfaktoren in zwischenmenschlichen Beziehungen. Interpersonaler Stress wirkt höchst belastend, tragfähige und gute interpersonale Beziehungen wirken entwicklungsfördernd und heilend (Petzold 2003a). ▶▶

Die Entstehung von Krankheit wird als multikausaler, nonlinearer Prozess verstanden, der sich in der Gesamtheit von biopsychosozial-­kulturellen, politischen, ökologischen und ökonomischen Verhältnissen vollzieht.

Die Integrative Therapie steht in der Herausforderung, Heilungsprozesse und Linderungsprozesse zu bewirken oder zu begünstigen sowie multiple protektive und salutogenetische Gesundungsprozesse zu fördern. Die Überlegungen zur Krankheitsentstehung beruhen auf der Basis einer Theorie der biopsychosozialen Entwicklung. Die Krankheitsentstehung lässt sich quer durch die metatheoretische Wissensstruktur des Tree of Science (s.  Abschn.  2.4) nachzeichnen. Das Menschenbild der Integrativen Therapie steht in Bezug zur ­Entwicklungstheorie, Persönlichkeitstheorie und Identitätstheorie bis hin zu den

5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

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theoretischen Modellvorstellungen über die Pathogenese und die Salutogenese und dem daran anzuschließenden Heilungsprozess. Krankheit gehört als Möglichkeit des Lebensprozesses zur menschlichen Existenz, die von Beginn an eine gewisse Brüchigkeit aufweist und deshalb der Fürsorge und Vorsorge bedarf. „In Gesundheit und Krankheit verschränken sich Organismus und Subjekt, Biologie und Soziales, Natur und Kultur“ (Petzold 2003a, S. 451). Wie alle Ebenen des strukturgebenden Modells des Tree of Science, die durchgängige Konsistenz des Verfahrens wahren, durchzieht das anthropologische Konzept Leibsubjekt in der Lebenswelt auch die Krankheits- und Gesundheitslehre der Integrativen Therapie. „Weil Gesundheit persönlich erlebt und genossen und Krankheit persönlich erfahren und durchlitten werden, haben sie eine höchst subjektive Dimension, über die sich Menschen jeweils intersubjektiv verständigen müssen“ (Petzold 2003a, S. 451), um die Frage nach gesund oder krank angemessen beantworten zu können und um in dieser intersubjektiven Verständigung einen für den Patienten stimmigen Therapieweg zu finden. In Rückbindung an die erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundkonzepte, die das Verfahren prägen, müssen Krankheit und Gesundheit ko-­ respondierend bestimmt werden. Petzold definiert Gesundheit umfassend: „Gesundheit wird als eine subjektiv erlebte und bewertete sowie von außen wahrnehmbare, angeborene Qualität der Lebensprozesse im Entwicklungsgeschehen des Leib-Subjektes und seiner Lebenswelt gesehen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch sich selbst ganzheitlich und differenziell, in leiblich-konkreter Verbundenheit mit dem Lebenszusammenhang, wahrnimmt und im Wechselspiel von schützenden Faktoren und Risikofaktoren, entsprechend seiner Vitalität oder Verletzlichkeit, Bewältigungspotenzialen, Kompetenzen und Ressourcenlage imstande ist, kritische Lebensereignisse bzw. Probleme zu handhaben, sich zu regulieren und zu erhalten. Schließlich entwickelt der Mensch auf dieser Grundlage seine körperlichen, seelischen, geistigen, sozialen und ökologischen Potenziale ko-kreativ und konstruktiv und entfaltet und gestaltet so ein Gefühl von Kohärenz, Sinnhaftigkeit, Integrität und Wohlbefinden“ (Petzold 1990i, S. 17). ▶▶

Leibliche Gesundheit ist aus Sicht der Integrativen Therapie für die Menschen mehr als körperliches Funktionieren (s. Abschn. 3.1.1).

Gesundheit umfasst vieles, Gesundheit umfasst Qualitäten wie körperliche Beschwerdefreiheit, seelische Ausgewogenheit, geistiges Interesse, zwischenmenschliche Beziehungsgestaltung, soziales Engagement und ökologische Bewusstheit. Dem weit gefassten Gesundheitsbegriff der Integrativen Therapie entsprechend, definiert Petzold Krankheit umfassend: „Krankheit ist eine mögliche Qualität der Lebensprozesse des Leibsubjektes u n d seiner Lebenswelt. Sie kann im Verlauf des Lebens durch exogene Ketten schädigender Ereignisse, die das Bewältigungspotential und die Ressourcenlage des Individuums überlasten, verursacht werden oder/ und durch endogene Dysregulationen und natürliche Abbauerscheinungen. Die Folge ist, daß die gesunden Funktionen des Organismus, die Fähigkeit der Person

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

zur alloplastischen Gestaltung und kokreativen Entfaltung des Lebens in Kontext/ Kontinuum mehr oder weniger beeinträchtigt, gestört, außer Kraft gesetzt werden oder irreversibel verloren gehen können und dysfunktionale autoplastische Reaktionen auftreten. Damit verbunden können internal subjektive Dissonanzen zum vertrauten Gefühl eigenleiblich gespürter Gesundheit entstehen sowie external perzipierbare Abweichungen von stabilisierten Erscheinungsbildern gesunder körperlicher, seelischer, geistiger und sozialer Lebensprozesse erkennbar werden. Diese Abweichungen werden durch das eigene Gesundheitserleben des Subjekts bzw. durch einen externalen Beobachter festgestellt, wobei sie an kulturellen bzw. gesellschaftlichen normativen Konsensbildungen, Gesundheit und Krankheit betreffend, orientiert sind“ (Petzold 2003a, S. 451).

5.1

Die Krankheitslehre in der Integrativen Therapie

Der Entwurf der Integrativen Therapie mit seinem erweiterten Gesundheits- und Krankheitsbegriff geht davon aus, dass Gesundheit kein privates Gut und Krankheit nichts „Un-natürliches“ ist. „In Gesundheit und Krankheit verschränken sich Organismus und Subjekt, Biologie und Soziales, Natur und Kultur“ (Petzold 2003a, S.  451), Mensch und Geschichte, und das macht ihre Bestimmung so schwierig. Beide Begriffe bleiben facettenreich, mehrwertig, stehen im Wandel. Sie werden durch eine Definition sicher niemals bestimmt. „Weil Gesundheit persönlich erlebt und genossen und Krankheit persönlich erfahren und durchlitten werden, haben sie eine höchst subjektive Dimension, über die sich Menschen jeweils intersubjektiv verständigen müssen, um einander gerecht zu werden und die richtige, ‚stimmige‘ Hilfe, Unterstützung, Therapie zu finden“ (Petzold 2003a, S.  451), in zwischenmenschlicher, heilender Begegnung. Die Krankheitslehre in der Integrativen Therapie wird in einen anthropologischen und in einen klinischen Bereich unterteilt (Petzold und Schuch 1992; Schuch 2000). Die anthropologische Sichtweise von Krankheit umfasst philosophisch-­ anthropologische, sozialanthropologische und kulturanthropologische Aspekte. Die klinische Dimension basiert auf der erweiterten Sichtweise des Menschenbildes und bezieht medizinisch-biologische Blickwinkel ebenso ein wie psychologische und soziologische.

5.1.1 Die anthropologische Krankheitslehre Die „anthropologische Krankheitslehre“ (Petzold und Schuch 1992; Petzold 2003, S. 452) findet sich im Konzept einer vielfachen Entfremdung und Verdinglichung. Dieser Denkansatz reicht über die Version von Marx auf die Hegel’sche Vorlage zurück. Die spätere Weiterführung dieses Denkansatzes leisteten Adorno und Lukacs. Schuch und Petzold haben sich dem Thema der „Theorie der Entfremdung“ (1992) auf der Grundlage des Werkes von Hegel und Marx aus einer Metaperspektive angenähert und die Krankheitslehre der Integrativen Therapie in einer

5.1  Die Krankheitslehre in der Integrativen Therapie

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s­ pezifischen Akzentsetzung um sozial-, existenz- und leibphilosophische Perspektiven erweitert. Hintergrundinformation: Quellen für die anthropologische Krankheitslehre der Integrativen Therapie sind: Goodman 1946; Habermas 1981; Mead 1932, 1934; Merleau-Ponty 1966, 1968, 1986; Satre 1964, 1967; Schmitz 1965, 1967, 1978, 1989.

Die „multiple Entfremdung“ (Petzold 2003a, S.  452) des Menschen erfasst die Entfremdung • • • • •

vom eigenen Leibe, von den Mitmenschen, von der Lebenswelt, von der Arbeit, von der Zeit.

Verdinglichung geht zumeist mit Zerstörung und Desintegration, mit der Beschädigung der Unversehrtheit des personalen Leib-Subjektes und des sozialen und ökologischen Lebensraumes einher und kann letztendlich die Zerstörung des Lebens zur Folge haben. Die Entfremdung vom Leib zeigt sich im abgespaltenen Bewusstsein, das in der Folge den Charakter des „Dinglich-Körperlichen“ erhält (Petzold 2003a). ▶▶

Manch ein Mensch erlebt sich nicht als Zentrum einer eigenen leiblichen Welt. Er hat nach seinem Verständnis nur einen Körper, aber er ist nicht sein Leib. Der zum Objekt reduzierte Körper erfasst in dieser Objekthaftigkeit den ganzen Menschen mit oft weitreichenden Folgen.

Das ins Bewusstsein eingeprägte Denken und Fühlen spiegelt sich in allen Äußerungen des Menschen wider. Ein anonymisiertes und de-identifiziertes Beispiel (Rall et al. 2014) veranschaulicht diese Aussage: Die knappe Mitteilung eines Unfallopfers an den erstversorgenden Arzt mit dem Verweis auf eine stark blutende Verletzung am Unterarm: „Mir ist hier der Lack abgegangen.“ Gleich darauf der harsch formulierte Auftrag an den Arzt: „Reparieren Sie das“, drückt neben der individuellen Schockverarbeitung auch sprachlich die weitgehende Trennung zwischen dem leiblichen Ich und einer gegenständlich beschriebenen Körperlichkeit aus. Für viele Menschen gilt das sog. Schweigen, das Nichtspüren ihrer Organe als Gesundheit. Schmerzloses Funktionieren des Körpers lässt den Menschen zu einer Maschine, zu einem Automaten werden. In diesem Denken und Verhalten zeigt sich solch ein Mensch im Umgang mit der Welt, mit seiner privaten und beruflichen Lebenswelt, im Umgang mit jedem seiner Mitmenschen. Besondere Bedeutung hat für den Menschen die Entfremdung von der Zeit. „Die Zeit als Lebenszeit, als ‚meine Zeit‛, ist gleichbedeutend mit der Lebensspanne, dem Lebensganzen, in dem ich mich nur verstehen lernen kann, wenn ich es in seiner Ganzheit erfasse und im Blick behalte“ (Petzold 1989f, S. 140). Hier ist nicht

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

nur der erlebte Augenblick oder ein konkret beschriebener Zeitabschnitt gemeint, ­sondern die gesamte Zeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Zeit umfängt das Fassungsvermögen, das in jedem Hier und Heute das Dort und Dann leiblich präsent sein lässt. Oft sind es nicht bewusste, sondern tief verinnerlichte Ereignisse aus einem fernen Dort, die als Quelle hinter den jetzt erkennbaren Quellen für gesundheitliche Störungen und Krankheiten sind. Vielfältige Formen multipler Entfremdung oder Verdinglichung können wie Relikte aus längst vergangener Zeit herausragen und Leiden bescheren. Die anthropologische Krankheitslehre, welche die vielfache Entfremdung und Verdinglichung berücksichtigt, ist gleichzeitig und gleichwertig wie die klinische Krankheitslehre zu beachten, deren Konzept auf die krankmachende Stimulierung zentriert ist.

5.1.2 Die klinische Krankheitslehre ▶▶

Der klinische Krankheitsbegriff ist in Verbindung mit der Persönlichkeits- und der Entwicklungstheorie zu sehen. Der Mensch ist ein multisensorisches und multiexpressives Wesen. Der klinische Krankheitsbegriff bezieht sich auf szenisch und erlebnistheoretisch vorgegebene Situationen schädigender Stimulierung.

Zu der klinischen Krankheitslehre der Integrativen Therapie sind folgende drei Modelle zur Pathogenese anzuführen: Das Pathogenesemodell der Entwicklungsnoxen, der zeitextendierten, multifaktoriellen Überlastung und das Modell der Repression (Petzold 2003a).

5.1.2.1 Das Pathogenesemodell der Entwicklungsnoxen In dem „Pathogenesemodell der Entwicklungsnoxen“ (Petzold 2003a, S. 463–469) werden die Auswirkungen erlebter Defizite, Konflikte, Störungen und Traumata auf die Entwicklung der Persönlichkeit in Hinblick auf die Persönlichkeitsbildung von Selbst, Ich und Identität überprüft. Defizite und Mangelerfahrungen sind fehlende oder einseitige Stimulierungen, wodurch der sich entwickelnde Mensch notwendige Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht ausbildet: • Auf der Ebene des Selbst: Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit. • Auf der Ebene des Ichs: emotionale Resonanz und Steuerungsfähigkeit, gutes Denkvermögen und gute Erinnerungsfähigkeit, rege Phantasie und Willenskraft sowie Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit. • Auf der Ebene der Identität: Eindeutigkeit und Klarheit in den Bereichen des Leibbezugs, der sozialen Netzwerke, der Arbeit, Leistung und Freizeit sowie der materiellen Sicherheit und der Werte (s. Abschn. 5.2.2).

5.1  Die Krankheitslehre in der Integrativen Therapie

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Konflikte sind konträre, zwiespältige Stimulierungen. Wenn Konflikte nicht aufgelöst werden, kann dies zu Spannungszuständen auf der Ebene des Selbst führen: Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit auf der Ebene des Ichs wie Unvereinbarkeit und Irritation auf der Identitätsebene sind die Folge. Derartige Schäden können über die gesamte Lebenszeit auftreten, zur körperlichen Beeinträchtigung in Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögen führen, krankmachend wirken sowie ablehnende Gefühlslagen fixieren (s. Abschn. 5.2.2). Störungen gesundheitlicher Art können entstehen durch unklare, mangelnde oder fehlgeleitete Empathie der Bezugsperson oder inkonstante Stimulierung, wie durch fehlende Beziehungskontinuität. Wenn diese nicht ausreichend kompensiert wird, können biopsychosoziale Störungsbilder auftreten. Auf der Ebene des Ichs können sich Unsicherheiten im Wahrnehmen, Fühlen, Wollen, Denken und Werten entwickeln, und auf der Ebene der Identität kann eine nicht eindeutige, wankelmütige und damit leicht zu beeinflussende Persönlichkeit entstehen. Traumata können verschiedentlich entstehen, durch externe Überstimulierung wie Kriegserleben oder Gewalterleben, durch interne Überstimulierung wie durch eine medizinische Akuterkrankung oder plötzlichen Verlust einer nahen Person. Je nach Schwere des Erlebens können Störungen der Persönlichkeit im Leib-Selbst auftreten: Wenn Schutz oder Kompensation nicht ausreichen, wenn dem Betreffenden die Feinspürigkeit abhandenkommt und erst die bereits eingetretene organische Ausfallserscheinung und die damit einhergehenden Schmerzen (Pieh et al. 2016), Lähmungserscheinungen oder Empfindungslosigkeit erlebt werden. Wenn auf der Ebene des Ichs das bewusste Fühlen oder die Kreativität aufgrund eines Traumas abhandenkommt, können auf der Ebene der Identität Brüche entstehen. ▶▶

Defizite, Konflikte, Störungen und Traumata, jeder dieser Faktoren kann bei entsprechender Ausprägung und mangelnder Stütze zu einer Stressphysiologie führen und sich letztlich in einer Krankheit oder gesundheitlichen Störung manifestieren.

5.1.2.2 Das Pathogenesemodell zeitextendierter, multifaktorieller Belastung und Überlastung Das „Pathogenesemodell zeitextendierter, multifaktorieller Be- und Überlastung“ (Petzold 2003a, S. 469–475) bezieht das Konzept der Schädigungen im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung mit ein. Mit dem Blick auf die Vergangenheit werden die Prozesse und Strukturen der Gegenwart sowie der faktische, antizipierte und projektive belastende Zukunftsraum oft als Distress wahrgenommen. In diesem Pathogenesemodell werden die vielfältigen Belastungen berücksichtigt, auch Überlastungen im aktuellen Lebenszusammenhang vor dem Hintergrund der Vergangenheitseinflüsse und den möglichen zukünftigen Ereignissen. Der Mensch steht in seinem Kontext des Hier und Heute mit Familie, Freunden, Nachbarn, seiner beruflichen und privaten Tätigkeit, seiner Schichtzugehörigkeit und seinem Kulturkreis. Aus diesen Zusammenhängen kommen auf den Menschen in qualitativer und quantitativer Hinsicht Anforderungen zu, die er erfüllen soll. Das

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

„Mehrebenenmodell“ (Petzold 1974k, S. 316) beschreibt den Menschen und sein Umfeld als räumlich und zeitlich gestaffelte Figur-Hintergrund-Relation in Kontext und Kontinuum auf den Mikro-, Meso-, Makro- und Megaebenen. Wenn dem Individuum die Bewältigung seiner Aufgaben zu seiner eigenen und zur Zufriedenheit anderer gelingt, trägt das entscheidend zu einer stabilen Identität bei. Kann der Mensch den Anforderungen nicht oder noch nicht gerecht werden, kann es einerseits zu Überforderungen, zu Distress kommen, andererseits kann es dennoch die Grundlage für Wachstum werden (Metzger 1962) (s. Abschn. 3.1). „Überforderung tritt ein, wenn Belastungssituationen und externalen Ansprüchen keine stützende Umwelt, keine ausreichenden äußeren und inneren Ressourcen und keine adäquaten Bewältigungsmöglichkeiten sowie keine ausreichende persönliche Stabilität gegenüberstehen, so dass die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten des Individuums im Feld eingeschränkt oder blockiert und seine Fähigkeiten der Selbststeuerung beeinträchtigt oder gar außer Kraft gesetzt werden. Krisen sind die Folge!“ (Petzold 1968a, S. 42) ▶▶

Im Unterschied zum herkömmlichen medizinischen Begriff der Krise, die sich als Höhe- und Wendepunkt bei einer Krankheit versteht, wird in den sozialwissenschaftlichen Krisentheorien die Krise als Verlauf beschrieben.

Wird die, durch eine schädigende Wirkung ausgelöste Labilisierung eines Systems mit den vorhandenen Strategien nicht mehr bewältigt, kann die Bedrohung des Systembestandes die Folge sein. Diese Verlaufsbeschreibung lässt sich auf soziale, ökonomische, technische und personale Systeme anwenden. Die Identität einer Persönlichkeit kann sich durch massive Überforderung nicht mehr durch die gewohnten Bewältigungsstrategien stabilisieren. Die Identität erfährt eine Minderung oder nachhaltige Veränderung bis hin zu ihrem möglichen Zusammenbruch. Für das Integrative Therapieverfahren arbeitete Petzold im Jahr 1982 einen Krisenverlaufsprozess theoretisch und grafisch aus, beginnend vom Moment des Eintritts einer Noxe, die die Labilisierung eines Systems einleitet, über das Auftreten von Turbulenzen, über den Point of no Return und mögliche Dekompensationen bis hin zu Stabilisierung und Neuorientierung (Petzold 1982d). Ein anonymisiertes und de-identifiziertes Beispiel aus der Praxis (Rall et al. 2014) In einer Familie mit zwei Kleinkindern verstirbt der Vater plötzlich durch einen Unfall. Dies stürzt die Hinterbliebenen durch die dramatische Belastung in eine Krise. Es kommt in der Folge zu einer Labilisierung, welche die Persönlichkeit der jungen Mutter erschüttert, weil sie als erwachsene Frau die volle Tragweite des Geschehenen erfassen kann. Sie gerät in Turbulenzen und nimmt in der Not auch professionelle Hilfe an. Eine weitere Turbulenz für diese Frau bestand darin, dass nach einer gynäkologischen Routineuntersuchung der Befund des Gebärmuttermundabstriches das Ergebnis „Pap IVa“ brachte. Erst nach einer Kontrolluntersuchung erfolgte Entwarnung. Das Ergebnis war dann wieder ohne pathologischen Befund.

5.1  Die Krankheitslehre in der Integrativen Therapie

133

Hintergrundinformation: Der sog. Pap-Test wurde von dem griechischen Pathologen George Nicolas Papanicolaou 1928 veröffentlicht (Papanicolaou 1928). Dieser Test beinhaltet die mikroskopische Untersuchung von Zellen eines ­Zellabstriches vom Gebärmutterhals zur Frühentdeckung von Krebs und dessen Vorstadien. Der Befund Pap IVa zeigt das „Zellbild einer schweren Dysplasie/ eines Carcinoma in situ“ (Griesser et al. 2013, S. 1043).

Eine weitere Turbulenz führte die junge Frau an ihre Grenzen, der Sturz des kleinen Sohnes aus großer Höhe. Das Kind musste mit dem Rettungshubschrauber in die Unfallabteilung des nächstgelegenen Krankenhauses geflogen werden. Auch dieses Schockereignis endete letztlich glimpflich. In den folgenden Monaten konnte sich die Familie trotz des tragischen Verlustes des Vaters und Partners wieder „fangen“, sich stabilisieren und eine Neuorientierung finden. Gesetzt den Fall, eine solche (gute) Wendung tritt nicht ein, und es kommen durch weitere zeitnahe Ereignisse mit gesteigerter emotionaler Intensität zusätzliche Turbulenzen auf, kann es zu einem Point of no Return kommen, von dem aus eine überschießende oder regressive Dekompensation erfolgt. Eine überschießende Dekompensation wäre ein unkontrollierter Aggressionsausbruch, Gewalttätigkeit, Misshandlung, im Extremfall Mord oder ein spontan verübter Suizid. Eine regressive Dekompensation bestünde in einer reaktiven Depression, in einem Bilanzsuizid oder in einer biopsychosozialen Erkrankung, die bei Chronifizierung und anhaltend herabgesetzter Immunlage zu einer organischen Schädigung führen kann. Entscheidend mitbeeinflussend für die „Organwahl“ ist die Vorgabe durch die genetische Disposition. ▶▶

Das „Mehrebenenmodell“ (Petzold 2003a, S. 482) mit der Beachtung von Kontext und Kontinuum ermöglicht in der Diagnostik über die Analyse von Bedürfnissen, Konflikten sowie Ressourcen mit dem Patienten ko-respondierend die Sichtung der relevanten Zusammenhänge, welche die Grundlage für die Therapie sind.

Das von Frühmann visualisierte „Mehrperspektiven-Analysemodell“ (Frühmann 1986, S.  258) zur multidiagnostischen und multitheoretischen Betrachtung von Krankheitsursachen ermöglicht es, die vielfachen Quellen von Krankheiten besser in den Blick zu bekommen, „weil eine multidiagnostische und multitheoretische Zugangsweise gewählt werden kann, um auf den Lebenszusammenhang (Kontext/ Kontinuum) zu schauen“ (Petzold 2003a, S. 482). Diagnostische Standpunkte sind hier Common-Sense-Einschätzung, psychiatrische Diagnostik (ICD, DSM), Verhaltensanalyse nach Kanfer (Schulte 1976), Attributionsdiagnostik (Krampen 1989), Life-Event-Diagnostik (Filipp und Baukmann 1990) und körpertherapeutische Diagnostik (Rumpf und Schuhmann 1983). An theoretischen Perspektiven werden phänomenologische, behaviorale, soziale, entwicklungs-, emotions- und kognitionspsychologische und humanistisch psychologische Theorien miteinbezogen. Der mehrperspektivische Blick soll die Herstellung von Sinnstrukturen ermöglichen, in einem Interaktionsprozess von Therapeut und Patientin aufzeigen, was gegenwärtig für die Patientin bedeutungsvoll ist oder gerade war. Ko-respondierend werden die Ursachen herausgearbeitet, die unter subjektiver und externaler

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

­ erspektive „zu einer ‚hinreichenden Stimmigkeit‘ führen“ (Petzold 2003a, S. 482) P und in der Folge behandelt werden. Konsequenterweise verlangt der „Ansatz einer multitheoretisch ausgelegten, komplexen und differentiellen Theorie der Pathogenese in der Lebensspanne“ (Petzold 2003a, S.  479) eine prozessuale Diagnostik, die wiederum eine prozessuale Therapeutik einfordert. Die Handlungspraxis einer prozessualen Therapeutik ist ausgerichtet auf: • die rückblickende Darstellung der persönlichen Vergangenheit, • die gegenwärtig ko-respondierende Bestandsaufnahme aller kognitiven und emotionalen Bewertungen und • die vorausschauende Erfassung der in die Zukunft gelegten Ängste, Hoffnungen, Sehnsüchte, Wünsche, Pläne und Ziele. Durch integrative Methoden werden dysfunktionale Verhaltenskontinuitäten aufgespürt und Veränderungen auf der Basis integrativer Praxeologie und Praxis ermöglicht.

5.1.2.3 Das Pathogenesemodell der Repression In dem „Modell der Repression emotionaler, expressiver Impulse“ (Petzold 2003a, S. 460) wird die Rücknahme emotionaler, expressiver Impulse nach negativen Ereignissen, Traumata und Resonanzmangel in sensiblen Phasen erfasst. Retroflexion, Selbstanästhesierung und Dissoziation werden thematisiert. Die Verhinderung emotionalen und motorischen Ausdrucks kann krankheitsverursachend sein (Traue 1989). Je basaler die Emotionen, je näher sie bei den „Grundgefühlen“ wie Hass, Liebe, Freude, Begierde, Überraschung, Ekel, Scham oder Traurigkeit liegen (Bloch 1989; Clynes 1976; Izard 1977), desto schwieriger wird es für den Menschen, sich der ergreifenden Macht derartiger Gefühle zu widersetzen. In der Qualität der menschlichen Emotion liegt die Gegebenheit, dass auf Eindruck Ausdruck folgen kann. Dies ist offensichtlich bedeutend für die Gesundheit und die Entstehung von gesundheitlichen Störungen und Krankheit. ▶▶

Der Mensch ist auf Ausdrucksverhalten bei emotionaler Erregung angelegt. Unterdrückung, Behinderung oder die Dämpfung des emotionalen Ausdrucks kann zu Anspannungs-, Verkrampfungs-, Abspaltungs- oder Selbstanästhesierungsprozessen mit pathogenen Wirkungen führen (Petzold 2003a).

Der Begriff Repression wird hier nicht dem der Verdrängung im Sinne Freuds gleichgesetzt. Eher kommt der Begriff dem Konzept der Retroflexion Perls’ oder der Dissoziation Janets’ nahe. Die sich aufdrängenden Impulse werden zurückgehalten, unterdrückt, abgespalten, weil der Ausbruch dieser negativen Gefühle, in Handlungen umgesetzt, überflutend, vielleicht traumatisch enden würde (Petzold 2003a).

5.1  Die Krankheitslehre in der Integrativen Therapie

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Ein anonymisiertes und de-identifiziertes Beispiel (Rall et al. 2014) aus der Praxis Ein Verkäufer mittleren Alters empfindet Wut und Zorn während einer Auseinandersetzung mit einem Kunden. Diesem gegenüber stellt er jedoch in der Situation selbst völlige Gelassenheit und Souveränität zur Schau. Der aggressive Impuls des Mannes mündete in einem Faustschluss der rechten Hand und einer leichten Abduktion des rechten Armes. Beides war in der Situation weder für den Kunden noch für den Verkäufer selbst zu erkennen oder wahrzunehmen. Tage später kam der sportlich aussehende Verkäufer, schon seit einigen Wochen als Patient wegen einer depressiven Störung in psychotherapeutischer Behandlung, in die Therapiestunde. Er berichtete über den stechend-ziehenden Schmerz, den er seit der Begegnung mit diesem Kunden verspürte, der vom Rücken zwischen den Schulterblättern in den rechten Arm ausstrahlte und über die Nackenregion bis in die rechte Schläfe und Stirnregion verlief. Eine Leibintervention machte deutlich, dass der aggressive Impuls gegen den Kunden sich in Form einer Retroflexion, einer Muskelverkrampfung, äußerte und sich auf diese Art in leibliche Konkretheit transformierte (s. Abschn. 7.8, Behandlungsbeispiel 1). ▶▶

Positive und negative Stimulierungen wirken auf das Leibsubjekt und können physiologische Reaktionen, Affekte und unterschiedlichste Resonanzen auslösen. Dies ist für Erinnerungen an positive oder negative Impressionen ebenso gültig. Bewegungen führen zu Erinnerungen.

Erlebte Eindrücke werden kognitiv und gefühlsmäßig eingeschätzt. Es „entwickelt sich als ‚Synergem‘ die E-motion, die nach außen in die Expression drängt“ (Petzold 2003a, S. 652). Trifft die Expression auf eine positive Resonanz bei einem anderen Menschen und führt diese Expression nach empfangenem Eindruck ihrerseits zu einer positiven Expression bei dem anderen, kann dieses intersubjektive Geschehen den Verlauf einer gelungenen Interaktion bewirken und zu Wachstum führen. Trifft die Expression auf keine Resonanz, kann keine Entwicklung stattfinden. Wird die Expression mit Repression beantwortet, mit Bedrohung, Bestrafung oder Einengung, kann in einer derartig wiederkehrenden und anhaltenden Dynamik als Reaktion auf die Repression eine reaktive Verstimmung, eine Depression oder eine biopsychosoziale Störung folgen. Emotionen schließen körperliche, kognitive und soziale Facetten ein, der Mensch reagiert leibhaftig auf Repression. Die psychische Störung Depression findet beispielsweise ihren Ausdruck in der Körperhaltung, im Gang eines Menschen, im Muskeltonus, im Atemmuster, im Hautturgor, in seiner Gestik und Mimik. Vielleicht kommt der Patient gramgebeugt mit verlangsamten Schritten dem Behandler entgegen und reicht auffällig kraftlos seine Hand zur Begrüßung. Wird die schlaffe Haltung oder bei Angst- und Panikstörungen die angespannte Haltung chronifiziert, kann es zu Fehlhaltungen, Verspannungsschmerzen, später zu Abnützungserscheinungen von Gelenken oder Bandscheiben und in weiterer Folge im Rahmen der Behandlung evtl. sogar zu chirurgisch notwendigen Maßnahmen kommen. Der Mensch ist eben Leibsubjekt in Kontext und Kontinuum.

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

In einer Gesamtsicht wird eine Reihe von krankmachenden und gesundheitsfördernden Faktoren berücksichtigt, die in ihrer Interaktion auf den Leibbegriff der Integrativen Therapie abgestimmt sind, der Somatisches, Psychisches und psychosoziale Perspektiven integriert und somit den Körper-Seele-Dualismus unterläuft. Für den Behandler ist es entscheidend, in jeder von dem Patienten geschilderten Störung sich des Menschenbildes vom Leib in Kontext und Kontinuum gewahr zu sein und der nachdrücklichen Einladung von Patientenseite zu widerstehen, auf den organpathologischen Befund eingeengt zu werden. Ein „abwartendes Offenlassen“ bei gleichzeitiger Bedachtnahme „abwendbarer gefährlicher Verläufe“ können ia­ trogenen Schäden vorbeugen. Hintergrundinformation: Auf die Formulierungen „abwartendes Offenlassen“ und „abwendbare gefährliche Verläufe“ hat mich Dr. Gerhard Gattringer, MSc, Arzt für Allgemeinmedizin in Waidhofen an der Ybbs, aufmerksam gemacht.

Sowohl eine genetisch disponierte als auch eine biografisch erworbene Verletzbarkeit, die in der Chronik des Leibgedächtnisses gespeicherte negative Ereigniskette, wie fehlgeleitete Regulations- und Lernprozesse sowie kognitive und emotionale Bewertungen sind immer zu beachten. Solche Schädigungen bewirken über die Zeit im körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Bereich Symptomatiken, also leibliche Symptome (Petzold 2003a). Krankheiten und gesundheitliche Störungen des Menschen sind oft Ausdruck pathogener Lebenszusammenhänge. Patienten kommen aus krankmachenden Atmosphären in die Behandlung, aus kranken sozialen Netzwerken (Moreno 1934, 1947b), „aus vorgeschädigten (prävalenten) pathogenen Milieus“ (Petzold 1988n, S. 459), aus Belastungen in Arbeitswelt, Familie oder Partnerschaft. In der Therapiesituation ist der Psychotherapeut aufgefordert, zunächst einmal zumindest so etwas wie heile Atmosphären anzubieten.

5.2

 isikofaktoren für die Entstehung von R gesundheitlichen Störungen und Krankheit

Die Risikofaktoren für die Entstehung von gesundheitlichen Störungen und Krankheit beim Menschen sind vielfältig. In dem Integrativen Therapieverfahren ist eine systematische Zuordnung dieser Faktoren in den nachstehenden Bereichen ausgeführt (Petzold und Schuch 1992; Petzold 2003a, S.  457). In Anlehnung an diese Erarbeitung werden hier die Bereiche praxisorientiert unterlegt.

5.2.1 Genetische und somatische Einflüsse und Dispositionen „Genetische und somatische Einflüsse und Dispositionen“ (Petzold 2003a, S. 457) verweisen auf die Bedeutung der erblichen Veranlagung des Menschen. Als Beispiel für eine genetisch bedingte Erkrankung wäre Chorea major oder Huntington, volkstümlich Veitstanz genannt, zu erwähnen. Hier liegt ein Defekt auf dem Chromosom 4 vor, der sich meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr manifestiert

5.2  Risikofaktoren für die Entstehung von gesundheitlichen Störungen und Krankheit

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und mit einer fortschreitenden Demenz verbunden ist. Die Erkrankung geht mit einem überschießenden Bewegungsdrang bei gleichzeitig herabgesetztem Muskeltonus einher. Veitstanz hieß die Erkrankung, weil Menschen mit einer solchen Störung noch um 1900 zur Kapelle St. Veit bei München pilgerten und Heilung ersehnten. Dies führte damals zu keiner Heilung, was auch noch heute weder der Psychotherapie gelingt, noch mit naturwissenschaftlich-medizinischen Maßnahmen möglich ist. Eine genetische Disposition ist auch die früher als endogene Depression bezeichnete affektive Störung oder bestimmte Formen der Psychose. Als somatisch bezeichnete Störungen sind körperlich begründbare Erkrankungen, wie eine somatisch bedingte Depression, die etwa nach einer Operation, bei einer Schilddrüsenunterfunktion oder bei einem Hirntumor auftreten kann (s. Abschn. 2.6.2 und Abschn. 3.2.3). ▶▶

Der Mensch ist ein biopsychosoziales Wesen. Die körperliche Ausstattung in ihrer Verletzlichkeit ist für den Menschen hoch relevant. Von ebenso großer Bedeutung ist die pränatale, perinatale und postnatale Zeit für den Menschen. Die organischen Grundlagen bleiben entscheidend.

Die Forschung beschäftigt sich mit der erblichen Veranlagung des Menschen und der Voraussage des gegebenen individuellen Krankheitsrisikos und kommt derzeit zu dem Schluss: „Bei aller Euphorie der Wissenschaft über die Möglichkeit der Vorhersage … sind die Urteile aus dem Erbgut nie eine glasklare Diagnose, sie bleiben Prophetie. Keine Eigenschaft, keine Veranlagung ist vollständig vom Erbgut bestimmt“ (Bahnsen, 18.10.2018, DIE ZEIT N°43). Pathogene und salutogene körperlich vererbte Vorgaben wirken jeweils im Zusammenspiel mit anderen krankheitsauslösenden Faktoren.

5.2.2 E  ntwicklungsschädigungen in den ersten Lebensjahren und in der Lebensspanne Mit einigen Beispielen sei auf diverse Konfliktmöglichkeiten verwiesen (s.  Abschn. 5.1.2.1): • Das zeitgleiche Entstehen unterschiedlicher Bedürfnisse des Organismus: Beispiel: Gleichzeitig tritt das Bedürfnis nach Essen und Schlafen auf. • Die Kollision des inneren Bedürfnisses mit den Forderungen der Außenwelt: Beispiel: Das Kind will spielen, die Bezugsperson versucht, dies zu verhindern. • Die Hemmung des organischen Bedürfnisses durch ein verinnerlichtes Gebot: Beispiel: Das Bedürfnis des Kindes zu schlafen wird durch das verinnerlichte Gebot verhindert, die von der Bezugsperson geforderte Leistung zu erfüllen. • Die Kollision einer internalisierten Bestrebung mit der Außenrealität: Beispiel: Ein Mensch will einem anderen helfen, die äußere Katastrophensituation wie Hochwasser oder Krieg macht es unmöglich.

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

• Externe widersprüchliche Impulse: Beispiel: Die Institution stellt an den Mitarbeiter die Forderung, eine spezielle Weiterbildung zu absolvieren, deren Aufnahmeregelung der Mitarbeiter aber nicht erfüllt. • Die Kollision von Bedürfnissen: Beispiel: Das basale Bedürfnis nach Sexualität, gekoppelt mit dem verinnerlichten Bedürfnis nach einer intimen, angenehmen Umgebung, wird durch widrige situative und räumliche Umstände verhindert. • Die Kollision erlernter und internalisierter Strebungen: Beispiel: Ein Mensch strebt schon lange nach einer begehrten Position, das Gebot der Fairness den anderen gegenüber hemmt ihn. Nicht jede Widersprüchlichkeit ist als Defizit oder Störung zu sehen. Harari beschreibt bezüglich der mittelalterlichen Kulturgeschichte die Unmöglichkeit, „Rittertum und Christentum unter einen Hut zu bekommen“ (Harari 2013, S. 204), oder in der modernen Welt, Freiheit und Gleichheit zu vereinbaren. Widersprüche sind unvermeidlicher Bestandteil jeder menschlichen Kultur, sie sind der Motor der Geschichte. Ungereimtheiten, Spannungen und Konflikte machen jede Kultur aus. „Dieses Phänomen ist so verbreitet, dass es sogar einen eigenen Namen hat: die kognitive Dissonanz. Unter diesem Begriff stellen sich manche Menschen eine psychische Störung vor“ (Harari 2013, S. 204). Widersprüche wahrzunehmen und auszuhalten ist eine überlebenswichtige Fähigkeit. Defizite, Konflikte, Störungen und Traumata können einerseits zu Entwicklungsschädigungen in den ersten Lebensjahren und über die ganze Lebensspanne zu gesundheitlichen Konsequenzen, Krankheit und Leiden führen (s. Abschn. 5.1.2.1), andererseits können diese Phänomene unter bestimmten Voraussetzungen auch zu Wachstum und Neuorientierung führen (s. Abschn. 3.1).

5.2.3 Adversive psychosoziale Einflüsse Krankheitsauslösend wirken können „adversive psychosoziale Einflüsse (Milieufaktoren)“ (Petzold 2003a, S. 457), wenn ein schwacher sozioökonomischer Status (s. Abschn. 2.4.1.5) oder schwache soziale Netzwerke mit problematischen Beziehungskonstellationen und dysfunktionalen Kommunikationsstilen vorliegen. Ein ineffektives Supportsystem bei gleichzeitigem Fehlen von protektiven Faktoren zählen zu den adversiven psychosozialen Einflüssen.

5.2.4 Negativkarriere im Lebenslauf Der Bereich der „Negativkarriere im Lebenslauf“ (Petzold 2003a, S. 457) manifestiert sich, wenn negative familiäre, freundschaftliche oder kollegiale Kontakte, wenn gescheiterte Entwicklungsphasen in der Adoleszenz, wenn destruktive ­Situationen im Beruf, in der Partnerschaft oder in der Familie vorliegen. Diese

5.2  Risikofaktoren für die Entstehung von gesundheitlichen Störungen und Krankheit

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­ edingungen können auch durch erworbene Muster des Scheiterns an EntwickB lungsaufgaben entstehen, wie beispielsweise wiederholt abgebrochene Schulkarrieren oder das Nichterlangen eines Berufsabschlusses. Was anamnestisch an medizinischer und therapeutischer Abklärung erforderlich ist, kann auf der anderen Seite eine verhängnisvolle Patientenkarriere entstehen lassen, wenn wohlmeinende, ängstliche Eltern ihr Kind von einem Spezialisten zum nächsten bringen. In dieser Verunsicherung werden immer weitere ausgefallene Diagnosen gesammelt, und die Gedanken und Handlungen des Kindes und seiner sozialen Umgebung konzentrieren sich auf das Thema Kranksein und Behandlung. Ein solcher krankheitsauslösender Faktor befördert auch die Verinnerlichung von Negativkonzepten.

5.2.5 Verinnerlichte Negativkonzepte „Internale Negativkonzepte“ (Petzold 2003, S. 457) werden durch negative kognitive oder emotionale Bewertungen aufbereitet. Gleichermaßen können negative Kompetenz- und Kontrollerwartungen, negative Selbstkonzepte, negative Lebensstile und Zukunftserwartungen den Weg zu mangelnder Kreativität und Souveränität bereiten. Ein anonymisiertes und de-identifiziertes Beispiel aus der Praxis Der Satz, „die Frauen in unserer Familie werden nicht alt“, steht als schicksalhafter Hintergrund einer Frau. Die Mutter der jungen Frau war mit 33 Jahren gestorben, die Großmutter mit 29 und deren Mutter ebenfalls sehr früh mit 30 Jahren. Sich dem vermeintlichen Schicksal hingebend, verabsäumte die derzeit 28-jährige Frau bei einer fortdauernden Gebärmutterblutung über lange Zeit den notwendigen Arztbesuch. Wie sich erst später herausstellte, entwickelte die Frau eine für Außenstehende irrationale Angst infolge einer Metrorrhagie aufgrund eines Uterus myomatosus. Hintergrundinformation: Bei Uterus myomatosus handelt es sich um eine „gutartige Muskelgeschwulst … des Uterus mit östrogenabhängigem Wachstum“ (Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage, 2001, S. 1121). Metrorrhagie ist eine „unregelmäßige, länger als 14 Tage andauernde, zyklusunabhängige Gebärmutterblutung“ (Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage, 2001, S. 1060)

Ähnliche Beispiele von unterschiedlichsten Krankheitsbildern bei Patienten im Kontext von tradierten Mythen in Familiensystemen tauchen gelegentlich in psychotherapeutischen Prozessen in der Praxis auf. Bei Fortbestehen von derlei Symptomatik ist medizinische Begutachtung und Abklärung einzuholen.

5.2.6 Auslösende aktuale Belastungsfaktoren Als „auslösende aktuale Belastungsfaktoren“ (Petzold 2003a, S. 457) sind kritische Lebensereignisse, sog. Critical-Life-Events, zu nennen, auch unspezifischer Aktualstress, sog. Daily Hassles, welche sich möglicherweise von kleineren alltäglichen

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

Unannehmlichkeiten und Ärgernissen über langandauernde Belastungen bis hin zu gesundheitlichen Störungen entwickeln und die sich zum Beispiel in einem Karriereknick, Ressourcenverlust oder als anhaltender Hyperstress manifestieren. Über den Umweg pathophysiologischer Veränderungen ist die Entstehung von Krankheit denkbar, deren Zusammenhänge den Betroffenen nicht oder nie bewusst werden. Die Praxis zeigt die Schwierigkeit, klare Ursachen und Begründungen bei Belastungen herausfinden und Folgeerscheinungen prognostisch angeben zu wollen. Die Diagnose Bandscheibenvorfall beispielsweise kann viele belastende Auslöser haben, eine ungünstige Bewegung im Sport, eine belastende berufliche Tätigkeit, eine über Jahre aufgebaute „schlechte Körperhaltung“. Ein Zusammenhang kann in einer wiederholt bedrohlich erlebten Situation eines Menschen gesehen werden. Wenn ein Kind sich wiederholt anspannt, um die Schläge des Vaters abzuwehren, diese Anspannung mit in seinen Schlaf nimmt, weil im Nachbarzimmer die tobende Stimme des Vaters zu hören ist, weil der Vater die Tür öffnen könnte, weil der strenge Blick und die Mimik des Vaters das Kind begleitet. Vielleicht entwickelt das Kind durch das Leben in solcher Atmosphäre einen erhöhten Muskeltonus. So könnte eine Chronifizierung der Muskelverspannung eingeleitet werden, welche im Erwachsenenalter konkrete Schäden zeitigt. Als Folge kann die osmotische Ernährung der Bandscheiben herabgesetzt sein, das wiederum kann in weiterer Folge im Rahmen einer bildgebenden Untersuchung objektiv eine Abnützung der Bandscheiben zeigen, die eine Voraussetzung für einen Bandscheibenvorfall darstellt.

5.2.7 Diverse negative Einflüsse und ungeklärte Faktoren Weitere Risikofaktoren für die Entstehung von gesundheitlichen Störungen und Krankheit sind „diverse negative Einflüsse, ungeklärte Faktoren“ (Petzold 2003a, S. 457). Anzuführen sind hier die Social Inheritance, das negative soziale Erbe, das breite Spektrum ökologischer Einflüsse von Drogen, Umweltgiften und Ernährung, auch Freiheitsentzug in Form von Inhaftierung oder Gefangenschaft oder ebenso Extremklimata. Und ungeklärte Faktoren lassen das Spektrum der Einflüsse offen. Unter diesem Thema sind die delegierten Gefühle zu nennen, die eine Übernahme von Fremdaffekten darstellen. Wenn beispielsweise die Bezugsperson eines Kindes nicht über ein reiches Spektrum emotional flexibler, differenzierter und nuancierter Gefühle verfügt, sondern gefühlsarm, emotional blockiert, depressiv und ängstlich ist, kann es beim Kind durch das vorgelebte Verhalten zur Ausbildung eines eingeschränkten Affektlebens oder zur Übernahme von Fremdaffekten kommen. Delegierte Affekte sind Affekte, die von der Bezugsperson nicht offen gelebt werden können. Die Affekte werden als Atmosphären, subtile Spannungszustände und Gefühlsströmungen weitergegeben und vom Kind, vom Jugendlichen stellvertretend ausgelebt, manchmal ein ganzes Leben lang. Wenn die angeführten Faktoren oder einige von diesen ohne protektive Kompensation zusammentreffen, kann eine Krankheit oder eine gesundheitliche Störung entstehen.

5.3  Protektivfaktoren zur Gesundheitserhaltung

5.3

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Protektivfaktoren zur Gesundheitserhaltung

Zur Erhaltung von Gesundheit und zur Gesundheitsförderung ist eine Vielzahl an Unterstützungsgelegenheiten hilfreich. Ähnlich zur systematischen Zuordnung der Risikofaktoren für die Entstehung von Erkrankungen werden die „Protektivfaktoren“ (Petzold 2003a, S. 457) in den nachstehenden Bereichen schützender Möglichkeiten eingeteilt.

5.3.1 E  ntwicklungsförderung in den ersten Lebensjahren und in der Lebensspanne Die „Entwicklungsförderung in den ersten Lebensjahren und in der Lebensspanne“ (Petzold 2003a, S. 457) umfasst ein anregend unterstützendes Angebot von generell supportiver Stimulierung, von Konstanz, maßvoller Anregung, von stabilen Ressourcen. Support, sichere Unterstützung, Erleben von Glücksgefühlen und Ausgeglichenheit können zu einer gesundheitsfördernden Wellnessphysiologie führen.

5.3.2 Konstruktive psychosoziale Einflüsse „Konstruktive psychosoziale Einflüsse (Milieufaktoren)“ (Petzold 2003a, S. 457) basieren auf einem guten sozioökonomischen Status, auf starken, ressourcenreichen sozialen Netzwerken, die über weite Strecken von harmonischen Beziehungen auf der Grundlage gelungener funktionaler Kommunikationsstile getragen werden.

5.3.3 Positivkarriere im Lebenslauf Der Bereich der „Positivkarriere im Lebenslauf“ (Petzold 2003a, S. 457) erfasst positive familiäre, freundschaftliche und kollegiale Kontakte, eine gelungene Entwicklung in der Jugend und in der Phase der Adoleszenz. Darüber hinaus sind eine konstruktive Berufssituation, eine gelingende Partnerschaft, ein ausreichend glückliches Familienleben sowie erworbene Muster des Gelingens gesundheitsfördernd.

5.3.4 Verinnerlichte Positivkonzepte Durch positive kognitive und emotionale Bewertungen und positive Kontrollerwartungen werden „internale Positivkonzepte“ (Petzold 2003a, S. 457) gefördert. Stabilisierende Selbstkonzepte, Freude bereitende Lebensstile und Zukunftserwartungen führen zu reicher Kreativität und einer tragenden Souveränität.

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

5.3.5 Wirksame aktuale Unterstützungsfaktoren Als „wirksame aktuale Unterstützungsfaktoren“ (Petzold 2003a, S.  457) zählen positive Life Events im Sinne von positiven Lebensereignissen unterschiedlicher Art, über die Lebensspanne hinweg anhaltende Entwicklungsförderung, positive Lernerfahrungen und wertvoller Gewinn an Ressourcen. Copingchancen können situationsbedingt hilfreich sein, das Erleben positiver Beziehungen und Peak Experiences als herausragende Erfahrungen zählen zu den salutophysiologischen Einflüssen. Die erläuterten salutogenetischen und protektiven Einflüsse und Ressourcen sowie die pathogenen Faktoren und Risikofaktoren umfassen biopsychosoziale Einflüsse, sodass Gesundsein und Kranksein als komplexe, ökologische und biokulturelle Phänomene (Morris 2000) gesehen werden können.

5.4

 er informierte Leib und neurobiologische Aspekte D in der Integrativen Therapie

Naturwissenschaftliche Grundlagen haben für die Erklärung des menschlichen Verhaltens große Bedeutung. Zu jeder Zeit beeinflussen Aktionspotentiale, Neurotransmitter und neuronale Schaltkreise in bestimmten Hirnregionen das menschliche Verhalten. Die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise wird zur Begründung therapeutischen Vorgehens in der Integrativen Therapie von Beginn an beachtet, ursprünglich durch den Neuropsychologen Lurija beeinflusst.

5.4.1 Der Mensch als „informierter Leib“ ▶▶

Das Konzept des „informierten Leibes“ (Petzold 2003a, S. 1051; Petzold 2009c; Petzold und Orth 2018, S. 937) definiert den Leib als informiert durch die von außen wahrgenommenen Reize aus der kulturellen und ökologischen Welt und der aus dem Inneren des Leibes vermittelten Wahrnehmungen selbst über sich und seine Befindlichkeit.

Ein kulturalistisch reflektierter Informationsbegriff (Janich 2006) wird dem Konzept des „informativen Leibes“ zugrunde gelegt. Das Gehirn als Teil des Körpers ist mit allem Körperlichen verbunden, der Leib darüber hinaus mit dem ihn umgebenden Kontext und seinem kulturellen Umfeld (Sapolsky 2017; Fuchs 2016). Der Mensch ist als Leibsubjekt auf Zusammenspiel und Kommunikation mit den ­Mitmenschen ausgerichtet. In der Psychotherapie erfolgt Arbeit in der „Zwischenleiblichkeit“ (Leitner 2000, S.  789). Unterschieden wird zwischen dem sinnlich wahrnehmenden Leib, dem sich erinnernden Leib und dem sich ausdrückenden Leib. Der perzeptive Leib mit seinem vielfältigen Sinnesvermögen nimmt wahr. Das Wahrgenommene wird in der speicherungsfähigen Substanz des Gehirns, in dem memorativen Leib, im Leibgedächtnis gespeichert und über den

5.4  Der informierte Leib und neurobiologische Aspekte in der Integrativen Therapie

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Körper, die Körperhaltung und über jegliche körperliche Regung im expressiven Leib ausgedrückt. Die Begriffe „perzeptiver Leib“, „memorativer Leib“ und „expressiver Leib“ sind metaphorische Kreationen und nicht als wortwörtlich zu verstehen.

5.4.2 Neurobiologische Aspekte Menschliche Verhaltensweisen sind unter neurobiologischen Aspekten zu betrachten (Sapolsky 2017; Kandel 2006). Eine Erkenntnis der heutigen Neurowissenschaften besagt, alle Leistungen des Gehirns, seien sie perzeptiver, kognitiver, emotionaler oder motorischer Art, sind Funktionen von Neuronennetzen. „Heute ist man sich einig, dass die limbische Funktion zentrale Bedeutung für die Emotionen besitzt, die für unsere besten und schlimmsten Verhaltensweisen bestimmend sind“ (Sapolsky 2017, S. 38). Die herkömmlich so bezeichneten psychischen Erkrankungen korrelieren mit dysfunktionalen Veränderungen von Neuronennetzwerken, insbesondere im limbischen System. Solche Veränderungen können auf genetische Defekte, Erkrankungen oder auf vorgeburtlich, frühkindlich oder im späteren Lebensalter erlittene Schädigungen oder Einflüsse zurückgehen. Die Veränderungen drücken sich beispielsweise in einer messbaren abnormen Erhöhung oder Erniedrigung von Neurotransmittern, wie Dopamin oder Serotonin in bestimmten Regionen des Zentralnervensystems aus. Die Modulatoren für diese zu gesundheitlichen Störungen führenden Veränderungen sind Eiweiße und Amine. Dass psychische Erkrankungen auf solche Veränderungen in den Neuronennetzwerken zurückzuführen sind, sagt aber noch nichts über deren dahinterliegenden Ursachen aus. Veränderungen als Verarbeitungseigenschaften von Neuronennetzwerken bedeuten erst einmal nur Kommunikationsstörungen zwischen Gehirnzentren. Eric Kandel (2006) postulierte zum Verständnis des Zusammenspiels zwischen Hirnfunktionen, mentalen Vorgängen sowie genetischen und psychosozialen Einflüssen sinngemäß Folgendes: • Alle mentalen Prozesse leiten sich aus Aktivitäten des Gehirns ab. Verhaltensstörungen und psychosomatische Störungen können auch als Störungen der Hirnfunktion angesehen werden. • Gene und ihre Proteinprodukte sind wichtige Determinanten der Verbindungen zwischen den Neuronen und ihren Funktionen. • Lernen ruft Veränderungen der Genexpression hervor. Psychosoziale Erfahrungen und genetische Anlagen sind daher eng miteinander verknüpft. • Wenn Lernen einen messbaren Einfluss auf das Gehirn hat, dann führt auch eine erfolgreiche Psychotherapie zu messbaren Veränderungen. Aus heutigem Verständnis ist das Gehirn das biologische Instrument des Lernens. Die Prozesse des Gehirns sind zugleich die Lernprozesse, die das Gehirn verändern (Edelmann 2004). Somit liegt hier eine Rekursivität vor. Gehirne, Kontexte wie ökologische und sozioökonomische sowie Kulturen befinden sich in einem ständi-

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

gen Prozess der Koevolution wie Sapolsky (2017), Fuchs (2016), Edelmann (2004) oder auch Anokhin (1974) das sehen. Die neurobiologischen Forschungsansätze zeigen durch die Entdeckung der Neubildung von Gehirnzellen im Erwachsenenalter, den kortikalen Neuronen, dass das Gehirn in einer Weise über Plastizität und funktionelle Variabilität verfügt, die lange nicht vermutet worden war. Die Neuroplastizität des Gehirns wurde zuerst in der Grundlagenforschung anhand von Tierversuchen belegt. In einer Forschungsarbeit wurden 4 Wochen lang mithilfe eines Zwei-Photonen-Laser-Imaging bei einer lebenden Maus die gleichen Neurone beobachtet. Es wurde in den Schädelknochen der Maus zunächst ein Loch gebohrt und ein Objektiv montiert. In dieser Zeit wurde der somatosensorische Kortex über die Barthaare gereizt und die Entwicklung und Aussprossung von New Spines, von neuen Dornen, nachgewiesen (Knott et al. 2006). Trotz dieses großen Erfolges ist vor zu großer Euphorie über Erwartungen zu warnen, dass sich psychisch zugeschriebene Verhaltensweisen in den bildgebenden Verfahren widerspiegeln. Heute werden bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI) benutzt, um biologische Vorgänge im Gehirn darzustellen. Es ist aber dabei immer zu beachten, dass hier optische Präsentationen eines rechnergenerierten Gehirnmodells dargestellt sind und nicht die Gehirnstruktur selbst. Farbbilder des Gehirns können sehr realitätsgetreu wirken (Schuch 2014). Das Revolutionäre bei diesen Forschungsansätzen ist jedoch, dass die Neurowissenschaften subjektive Erfahrungen als legitimes Forschungsgebiet etabliert haben. Damit hat auch hier die Erkenntnis Platz gegriffen, dass ein von subjektiven Elementen gesäuberter Realitätsbegriff zwar an methodischer Exaktheit gewinnt, aber Gefahr läuft, den Menschen aus dem Auge zu verlieren (Walch 1981). Neurobiologische Ansätze gewinnen durch die Integration kognitiver, psychosozialer und biologischer Zugangswege, durch die vermehrte Beachtung von Emotionen und Kontexten, bis hin zu kulturellen Einflüssen, wie spektakuläre technologische Entwicklungen zeigen, an Attraktivität für die Psychotherapie bei allen bestehenden Grenzen. Ein Beispiel aus der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie Seit den Anfängen der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie wurde auch sporttherapeutisch gearbeitet. Petzold führte Anfang der 1970er-Jahre das „therapeutische Laufen“ (Petzold 1974k) in diese Methode ein. Wie die „Amsterdamer Laufstudien“ zeigten, war die Lauftherapie als ein Element der lntegrativen Leibund Bewegungstherapie der verbalen, psychodynamischen Psychotherapie in der Behandlung von Depressionen überlegen. Bei einer Vergleichsgruppe mit Patientinnen, die mit Serotoninwiederaufnahmehemmern, der SSRI-Medikation, behandelt wurden, erwies sich die Lauftherapie bei der Reduktion der Depressionswerte als gleich wirksam (van der Mei et al. 1997). Neben psychologischen Faktoren, wie der Stärkung der Selbstwirksamkeit und der Sensibilisierung der eigenleiblichen Wahrnehmung, und psychosozialen Faktoren, wie die Gespräche der Teilnehmerinnen in der Laufgruppe, wurden physiologische Parameter untersucht: Ruhepuls, Blutdruck, Lungenvolumen, Sputumkortisol. Es wurden Einflüsse auf das serotonerge

5.4  Der informierte Leib und neurobiologische Aspekte in der Integrativen Therapie

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und dopaminerge System angenommen (Petzold 2008b). Eine groß angelegte Studie mit einer Analyse der Daten von rund 300.000 Personen stellten Forscher des Massachusetts General Hospital im Fachblatt JAMA Psychiatrie vor. Mit der aufwendigen statistischen Methode, der Mendelʼschen Randomisierung, wurde der Ursache-­Wirkung-­Zusammenhang hergestellt. Demnach könnte Bewegung tatsächlich vor Depressionen schützen. Bereits 15 min intensive Bewegung oder 1 h flott Spazierengehen reduziert das Risiko für Depressionen um 26 % (Choi et al. 2019). Eine leiborientierte klinische Praxis, die den Nachweis erbringt, dass aerobes Ausdauertraining einen Einfluss auf die Expression neurotropher Faktoren hat, welche die hippokampale Zellproliferation fördern und die Depression reduzieren, sind ein profundes Beispiel für die Wege, die leiborientierte Psychotherapie und eine zeitgemäße biopsychosoziale Krankheitstheorie bzw. psychosoziosomatische Konzeptbildung beschritten haben. Der Einfluss der psychosozialen Komponenten muss noch stärker untersucht werden, denn ein positives soziales, kreatives Miteinander im Laufen, bei dem viel gelacht und gescherzt wird (van der Mei et al. 1997), kann emotionale Ansteckungseffekte bewirken und zu einer zerebralen Aktivierung beitragen (Lamacz-Koetz 2007). Vielfach wird in diesem Zusammenhang von Spiegelneuronen gesprochen. Ein Spiegelneuron ist eine Nervenzelle, die im Gehirn beim „Betrachten“ eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster zeigt wie bei dessen „eigener“ Ausführung (Kohler et al. 2002). Der italienische Neurophysiologe Giacomo Rizzolatti untersuchte an Makaken im fMRI die Aktivität von für eine Handlung entsprechenden Hirnarealen bei der bloßen Beobachtung dieser Handlung von anderen (Rizzolatti und Craighero 2004). Wird versucht, im psychotherapeutischen Geschehen mit der hypothetischen Annahme der Spiegelneuronaktivität zu argumentieren, ist nach dem Hirnforscher Gregory Hickok strikt gegenzuhalten und die Bedeutung dieser Nervenzellen als Mythos zu sehen (Hickok 2015). Integration ist eine Zusammenführung von naturwissenschaftlichen, psychodynamischen und psychosozialen Erkenntnissen. Die Beachtung solcher Grundsätze kann dem Therapeuten helfen, neurowissenschaftliche Ergebnisse, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, wie etwa die Netzwerkforschung für Behandlungswege, Strategien und Zielsetzungen ernst zu nehmen. Das bedeutet, dass wir den Weg aus der Monodisziplinarität, in der die Disziplinen voneinander isoliert ein Problem bearbeiten, durch Interdisziplinarität überschreiten, in der sie sich in Bezug auf ein Thema koordinieren und alle ihre Möglichkeiten einsetzen und in Polylogen miteinander kooperieren (Petzold und Müller 2005, 2007). Eine hohe Dichte der Vernetzung der einzelnen Disziplinen kann auch noch zur Transdisziplinarität weiterführen (Petzold 1988n, 2003a). Die mehrperspektivische Zugangsweise, wie sie die Integrative Therapie praktiziert, erfordert multimethodische Behandlungswege. Diese Wege können durch neue Ansätze des Denkens, Erlebens und Verhaltens des Patienten stattfinden, mittels therapeutischen Kontakts, Begegnung und Beziehung unter Bearbeitung aktueller Lebensprobleme, sozialer Netzwerksituationen und unbewusster Konflikte sowie unter Einbezug neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und der biologischen Psychiatrie.

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5  Die Krankheitslehre und Gesundheitslehre in der Integrativen Therapie

Ein mehrdimensionaler, multimodaler Zugang, in dem Menschen angeregt werden, Neues zu lernen, neue Handlungsmuster, neue Bewegungsmuster auszuprobieren, wirkt sich aufgrund der von der Natur angebotenen Neuroplastizität unseres Gehirns stets körperlich aus, wie im Tierversuch gezeigt werden konnte (von Knott et  al. 2006). Den bildgebenden Verfahren verdanken wir, dass heute sichtbar gemacht werden kann, wie leiborientierte Behandlungen die Vernetzung im Gehirn verändern (Grawe 2004). In der Psychotherapie ist die unspezifische Aussage „Bewegung ist gesund“ nicht hinreichend. Es geht darum, in Zukunft immer prägnanter zu wissen, welche Maßnahmen auf welche Weise welche Effekte hervorbringen. Um komplexe Zusammenhänge verstehen und beeinflussen zu können, ist ein übergeordneter Rahmen der Betrachtungen Voraussetzung. Gesunde und ungesunde Lebensvorgänge von Menschen machen die Zusammenschau von metatheoretischen und klinischen Positionen unter verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven erforderlich. Monodisziplinäre Sichtweisen greifen zu kurz, sie müssen zu multi- und interdisziplinären Sichtweisen überschritten werden. Damit ist auch eine Integration aller wesentlichen wissenschaftlichen Konzepte der Psychotherapien gefordert. Die Integration bzw. Vernetzung wichtiger Erkenntnismethoden wie die der phänomenologischen, hermeneutischen, existenziellen, dialektischen und systemischen Wege zum Menschen, gestützt und begründet durch empirische Forschung in komplexen Designs (Leitner et al. 2008, 2009; Märtens et al. 2003; Steffan und Petzold 2001), bleiben eine wichtige Aufgabe. Theoretisch begründetes multitheoretisches Arbeiten, wie es im integrativen Ansatz entwickelt wurde, ist für die klinische Praxis und für die Ausbildung zum Psychotherapeuten eine Forderung der Zeit (Leitner und Sieper 2008; Petzold und Sieper 2007; Sieper et al. 2007). Die einzelnen Diskurse sind nicht weiter als isolierte Metaerzählungen (Lyotard 1982) zu betrachten, sondern es gilt, diese als Teilansichten zu erkennen, die einer kritischen Abstimmung und dann einer sinnvollen Vernetzung bedürfen. ▶▶

Ein kritisches Verständnis für die aktuellen Entwicklungen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Psychotherapie, die aus den neurobiologischen Forschungsergebnissen der letzten Jahre stammen, machen deutlich, dass die Aufsplitterung in viele Therapieschulen Geschichte ist.

Das bedeutet nicht, dass damit einem wilden unreflektierten Eklektizismus Tür und Tor geöffnet wäre. Es geht vielmehr um einen gut abgestimmten Einsatz von Vielfalt und um eine zusammenhängende, theoretische Begründung von Praxis und ihre durch sorgfältige empirische Forschung abgesicherte Wirksamkeit und weitgehende Nebenwirkungsfreiheit. Gemeint ist eine Praxis, die dem Hilfesuchenden, dem Patienten, auch noch jenes Maß an Freiheit und dynamischer Selbstregulation eröffnet, welche die Selbstkonstituierung des Subjekts fördert. Unter Integration ist demnach nicht die Generierung und Behauptung monothematisch und monokausal begründeter, tendenziell einheitlich verfasster Erkenntnisse und Praktiken gemeint, wie in einzelnen Fachrichtungen der Medizin, sondern es geht auch hier um Erweiterung, Vielfalt und Differenzierung (Leitner und Sieper 2008).

Literatur

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Zusammenfassung

Die Überlegungen zur Krankheitsentstehung und Gesundheitserhaltung lassen sich im Modell der metatheoretischen und klinisch theoretischen, der Realität des klinischen Alltags explizierenden Wissensstruktur des Tree of Science (s.  Abschn.  2.4) nachzeichnen. Das Menschenbild der Integrativen Therapie steht in Bezug zur Entwicklungstheorie, Persönlichkeitstheorie, zur Gesundheits- und Krankheitslehre. Diese Theorieschritte sind im Rahmen der Therapie wiederum die theoretische Grundlage für den Besserungs- und Gesundungsprozess. Ein mehrperspektivischer Zugang zum leidenden Menschen ist die Herausforderung, viele unterschiedliche Behandlungswege zu beschreiten, freilich bis hin zum Einbezug biologischer Maßnahmen. Die Position der Integrativen Therapie ist es, stets eine multifaktorielle Genese für Gesundheit und Krankheit, biopsychosoziale Einflüsse und ökologische, kulturelle, kontextbezogene sowie sozioökonomische Phänomene zu beachten.

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Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Inhaltsverzeichnis 6.1  D  as Intersubjektivitätsprinzip  6.2  Das Bewusstseinsprinzip  6.2.1  Naturwissenschaftliche Aspekte  6.2.2  Philosophische Perspektiven  6.2.3  Klinische Perspektiven  6.3  Das Sozialitätsprinzip  6.3.1  Die psychotherapeutische Ausbildung als Sozialisationsprozess  6.4  Das Leiblichkeitsprinzip  6.5  Das Entwicklungsprinzip  6.6  Die Behandlung in der Integrativen Therapie  6.6.1  Der erlebnistheoretisch-phänomenologische Ansatz  6.6.2  Der dynamische Regulationsansatz  6.7  Die therapeutischen Wirkfaktoren in der Integrativen Therapie  Literatur 

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Wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits erwähnt, stützt sich die Integrative Therapie auf den Fundus phänomenologischer, hermeneutischer, tiefenpsychologischer, behavioraler und systemischer Theorien und auf die theoretischen Erkenntnisse der Sozialwissenschaften. Das Verfahren ist entlang eines theoretischen Rahmens entwickelt worden, der zur Erfassung und Strukturierung von Psychotherapie dient, entlang des Tree of Science (Petzold 1990h, 2003a, 2014c, 2018) (s. Abschn. 2.4). ▶▶

Im Tree of Science wird die Abbildung der Integrativen Therapie als psychotherapeutische Disziplin umrissen. Es handelt sich um eine sehr breit angelegte, einerseits ordnende, aber zugleich auch offene Systematik von Theorien, die für das Verfahren relevant sind.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_6

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Die Ordnungsstruktur dieses Modells bildet eine Grundlage zur systematischen Reflexion, Diskussion und permanenten, wo immer möglich, forschungsgestützten Weiterentwicklung von Psychotherapie. Diese Struktur erstreckt sich über Theorien unterschiedlicher Reichweite bis hin zu Praxeologie und Praxis, die sich anhand übergreifender Grundprinzipien organisieren (Petzold 2003a). Für die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie können folgende Grundprinzipien angenommen werden: das Intersubjektivitätsprinzip, das Bewusstseinsprinzip, das Sozialitätsprinzip, das Leiblichkeitsprinzip und das Entwicklungsprinzip. „Prinzipien sind begründende Festlegungen mit einem sehr hohen Grad innerer Konsistenz“ (Petzold 2003a, S. 116) (s. Abschn. 3.1.3).

6.1

Das Intersubjektivitätsprinzip

„Die menschliche Intersubjektivität wird durch die wechselseitige Zuerkennung von Würde konstituiert“ (Petzold 1980g, 2018, S. 171; Petzold und Müller 2005b, 2007). Menschliche Existenz ist gemeinsame Existenz, ist Ko-existenz. Die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen erfolgt in Beziehung zu Menschen, somit ist die therapeutische Praxis als beziehungszentriert zu definieren. Neue Formen wie internetbasierte Psychotherapie oder Beratung (Hintenberger und Kühne 2009) oder die Verordnung von Cognitive Enhancers (Norberg et al. 2008) können derzeit nur für klar abgegrenzte gesundheitliche Störungen angeboten werden. Im psychotherapeutischen Behandlungsprozess wird der Patient als Partner gesehen, unter der Annahme einer jeweiligen Expertenschaft, die des Therapeuten für klinische Belange und die des Patienten für seine alltags- und lebensweltlichen Belange (Petzold 2003a). Im therapeutischen Prozess der Integrativen Therapie wird alles, was dem Patienten guttut und ihn fördert ebenso thematisiert wie das, was nicht guttut und der Verbesserung bedarf. Das Wesen des Menschen gründet in der Leiblichkeit (Petzold 1988n). Diese Annahme des integrativen Menschenbildes führt zu der Erkenntnis, dass bei allen kreativen und experimentierfreudigen Ansätzen in der Psychotherapie Leiblichkeit in ihrem Wesen letztlich als Zwischenleiblichkeit zu begreifen ist. Subjektivität ist immer intersubjektiv gegründet. Jedem Du und Ich liegt ein Wir zugrunde. Intersubjektivität als Beziehung zwischen Menschen ist die Grundlage der intersubjektiven Ko-respondenz (s. Abschn. 3.1) und ist ein durchgängiges Leitkonzept der Integrativen Therapie. Ko-­respondenz ist ein Prinzip und eine Methode der Erkenntnis des integrativen Ansatzes. Die Silbe „Ko“ verweist auf den anderen Menschen als Mitsubjekt. Ko-respondenz kommt in der Theorie, in der Praxeologie und in der Praxis der Behandlung mit Menschen zum Tragen. Durch Ko-respondenz wird gewährleistet, dass bei aller notwendigen Vielfalt, in allen erforderlichen und angemessenen Differenzierungen, ein integrierendes Moment wirksam bleibt und sei es nur das Moment des Vernetzens, des In-Beziehung-Setzens. Ko-respondenz als komplexes ­Lernen und Handeln kann als etwas außerordentlich Praktisches gesehen werden (Petzold 2003a).

6.1 Das Intersubjektivitätsprinzip ▶▶

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Psychotherapie heißt, aus einer angemessenen Distanz achtungsvoll auf den anderen bezogen zu sein, aus einer professionell exzentrischen Sicht klar zu befunden, zu diagnostizieren und theoriegeleitet, forschungsgegründet therapeutisch zu intervenieren (s. Abschn. 1.2.).

Die Behandelnden brauchen die Fähigkeit, sich situations- und indikationsspezifisch mit dem Patienten in einer gemeinsamen Form von Kontakt, Begegnung und therapeutischer Beziehung, einer Arbeitsbeziehung, zu befassen, ohne die Komplexität des Behandlungsprozedere zu verkennen. Das bedeutet, den Patienten über die Befunde und Vorgehensweise des Therapeuten von vornherein partnerschaftlich, in einer patientengerechten Sprache und geeigneten Weise so zu informieren, um ihm durch diese Transparenz des Vorgehens die Möglichkeit der qualifizierten Zustimmung zum und der Mitwirkung an dem therapeutischen Vorgehen zu eröffnen (Leitner 2009). Wenn im Rahmen des intersubjektiven Ko-respondenzprozesses Informed Consent, Adherence oder Concordance bzw. respektvolles Informed Decision Making hergestellt wird, kann damit der Locus of Control partizipativ verwaltet werden (Müller und Petzold 2002). Die Forschung zeigt, dass die Erhöhung der bewussten Mitentscheidung des Patienten zu erhöhter Selbstwirksamkeit führt und mit Gesundheit korreliert (Flammer 1990). Das Vertrauen des Patienten zu dem Behandelnden ist verbunden mit dem Zutrauen auf die a priori unterstellte Professionalität und Sorgfalt des Therapeuten. ▶▶

In der Integrativen Therapie ist Sein als Mit-Sein festgelegt. Dies ist die Grundannahme für Intersubjektivität, eingebettet im Leitkonzept des Menschenbildes. Als biopsychosoziales Wesen ist der Mensch eingebettet in ein ökologisches, sozioökonomisches und kulturelles Umfeld in der Zeit.

In der Praxis bringt der Therapeut jenes Maß an intersubjektivem Feingefühl ein, das dem Patienten die Freiheit und Selbstregulation eröffnet, welche die Selbstkonstituierung des Subjekts fördern. Die Komplexität des Geschehens ist noch umfassender: „Die Bereitschaft zu helfen ist innerhalb eines hedonistischen Konzepts eine Funktion der zu erreichenden Vorteile oder besser, eine Funktion des persönlichen Nutzens“ (Schuch und Schuch 1980, S. 50). Die Bereitschaft reicht tief bis in die Therapeut-Patient-Beziehung hinein. Über die Einbeziehung des persönlichen Nutzens lässt sich verdeutlichen, dass auch in der professionellen, heilenden Beziehung die Bedürfnisse und Ziele des Helfers befriedigt werden. „Die unbewusste Motivlage des Entschlusses, warum jemand Psychotherapeut geworden ist, wird in jeder Begegnung mit einem Kranken im Sinne der Befriedigung eines Bedürfnisses aktualisiert: Jeder Kranke wird so Teil der Identität des Therapeuten“ (Hartmann 1976, S. 103). Es fehlen derzeit noch Untersuchungen, ob diese Dimension der heilenden Beziehung, die unbewusste Verwirklichung des Patienten, wertvoll für die Verfassung der Identität des Therapeuten zu sein, nicht auch eine Aufwertung des Patienten bewirkt, die dessen innerer Bereitschaft, zu heilen, zugutekommt.

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Das Intersubjektivitäts-Modell der Integrativen Therapie wird v. a. durch Ergebnisse der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung und Untersuchungen über die Lebenswelten alter Menschen gestützt. Die Babyforschung bestätigt, dass das Kind von Anfang an in Interaktion und Kommunikation ist, aktiv seine Umwelt beeinflusst und über ein waches Unterscheidungsvermögen verfügt (Petzold 1980g).

6.2

Das Bewusstseinsprinzip

„Bewußtsein muß im Sinne eines mehrspektivischen Ansatzes, wie ihn die Integrative Therapie vertritt, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden“ (Petzold 2003a, S. 214). Menschliches Erleben ist durch exzentrisches Bewusstsein gekennzeichnet, einen Mittelpunkt überschreitend, von außen auf sich und die Situation schauend. Vielschichtiges Bewusstsein organisiert die kognitiven, emotionalen, volitiven und sozialen Prozesse. Bewusstsein wird in einem Spektrum gesehen, vom Unbewussten bis hin zu reflexivem Ich-Bewusstsein. Die Grundlagen dafür liegen in der Kognitionsforschung, den Neurowissenschaften und der Bewusstheitstheorie. In der psychotherapeutischen Praxis ist der Therapeut mit dem Umgang und der Förderung von Bewusstheitsprozessen zentral befasst, die mit Bezug auf die Neurowissenschaften (Stefan 2020), Philosophie und klinische Praxeologie in der „inte­ grativen Bewusstseinstheorie“ (Petzold 1988a, b, 2007a; Dehaene 2014; Eagleman 2013) diskutiert werden. Bewusstheit ist mehr und etwas anderes als Bewusstsein (s. Abschn. 3.1.2).

6.2.1 Naturwissenschaftliche Aspekte Neurowissenschaftliche Aspekte (Petzold 2003a, S. 216; Sapolsky 2017) sind eine Grundlage für die Behandlung von gesundheitlichen Störungen des Menschen. „Nach den Ergebnissen bisheriger Forschung scheint die These, dass erst der Cortex (Großhirn) bewusste Erfahrungen vermittelt, die größte Plausibilität zu besitzen“ (Werth 1983, S. 184). Diese Position stützt die Sichtweise, dass unser Bewusstsein an spezifische Aktivitäten des Gehirns gebunden ist, aber wie so vieles beim frontalen Kortex, hängt alles und jedes vom Kontext ab. Aktuell vermitteln neurobiologische Erkenntnisse, „dass eine Verhaltensweise nicht im Gehirn beginnt. Das Gehirn ist nur die gemeinsame Endstrecke“ (Sapolsky 2017, S. 108), in der auch Psychisches, Soziales, Ökologisches und Kulturelles „zusammentreffen und zur Entstehung unseres Verhaltens beitragen“ (Sapolsky 2017, S. 108). Eine Konsequenz daraus ist, dass wir nicht die autonomen Entscheidungsträger sind, für die wir uns gerne halten, sondern dass der kontextuelle Einfluss stark zu berücksichtigen ist (Sapolsky 2017). ▶▶

Neben hormonal-endokrinen sind auch vegetative, vaskuläre und sensorische Einflüsse wie optische, akustische, taktile, olfaktorische Reize,

6.2 Das Bewusstseinsprinzip

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aber auch soziale, ökologische, sozioökonomische und kulturelle Vorgaben die Voraussetzung dafür, wie der Mensch die Welt erfährt und wie er handelt. Hier ist zu beachten, Hormone wie beispielsweise Testosteron erzeugen nicht die Aggression, Testosteron macht empfänglicher für Aggressionsauslöser. Oxytocin und Vasopressin verstärken die Prosozialität, fördern die Bindung von Mutter und Neugeborenem, ebenso fördern sie die Bindung von monogamen Paarbeziehungen, aber nur in Bezug auf ein Wir. Bei Anderen werden wir unter dem Einfluss von Oxytocin und Vasopressin ethnozentrischer. Hormone verursachen nicht, sie bestimmen unsere Verhaltensweisen. „Sie machen uns empfänglicher für soziale Auslöser … und verstärken unsere bereits vorhandenen Tendenzen und Neigungen“ (Sapolsky 2017, S.  181). Nichts scheint also irgendetwas zu verursachen, vielmehr übt alles nur einen modulierenden Einfluss auf etwas anderes aus (Sapolsky 2017). Auch Gene sind keine autonomen Akteure, die den Ablauf biologischer Ereignisse bestimmen. Sie werden von der Umwelt reguliert. Hier gilt es, unser Verständnis von Umwelt zu weiten, vom Zellinneren bis zum Universum. Auch die Epigenetik ermöglicht Umwelteffekte über eine Lebensspanne hinaus von generationsübergreifender Dauer (Sapolsky 2017). Schwerpunkt aktueller Forschung ist die intensive Beschäftigung mit Gen-­ Umwelt-­Wechselwirkungen (Reiss et al. 2013; Hart et al. 2013). „Die Erblichkeit kognitiver Entwicklung bei Kindern aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status (SES) ist sehr hoch, z. B. rund 70 % für den IQ. Sie beträgt aber nur 10 % bei Kindern mit niedrigem SES. Ein höherer SES ermöglicht also die vollständige Entfaltung der genetischen Einflüsse auf die Kognition, während ein niedriger diese Einflüsse einschränkt … Gene sind nahezu ohne Bedeutung für die kognitive Entwicklung, wenn Kinder in schrecklicher Armut aufwachsen – die negativen Effekte der Armut übertrumpfen die Genetik“ (Sapolsky 2017, S. 328) (s. Abschn. 2.4.1.5). In früheren empirischen Arbeiten (Perrig et al. 1993; Hilgard 1978; Treisman 1960, 1969) wurde die differenzierte Abstufung von Bewusstseinsprozessen in reflexives Unbewusstes, präreflexives Vorbewusstes, koreflexives Mitbewusstes, reflexives Wach- und Ich-Bewusstes, hyperreflexives Klarbewusstes und transreflexive Versunkenheit in gegenstandsloser Meditation beschrieben. Damals wurden die Grundlagen für eine wissenschaftliche Hermeneutik und Metahermeneutik gelegt, die durch die Sinne konstituiert werden. Diese aus der neurologischen Wahrnehmungsforschung gewonnenen Ergebnisse beziehen sich jeweils auf sehr eingegrenzte Bewusstseinsphänomene. Es geht dabei immer um ein Bewusstsein von Reizen wie Sehen, Hören oder Empfindungen. Komplexe Bewusstseinszustände wie das Bewusstsein seiner selbst oder inhaltlich weitgreifende Konstrukte wie das Unbewusste (s. Abschn.  1.2 und 1.3) sind nicht Gegenstand der empirischen Forschung. Was sie darstellen, sind eine Vielfalt bewusster und unbewusster Zustände bzw. Prozesse (Petzold 2003a).

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

6.2.2 Philosophische Perspektiven „Philosophische Perspektiven“ (Petzold 2003a, S. 223) verdeutlichen die Position der Hintergrundkonzepte für die Integrative Therapie. Die Integrative Therapie entwickelt den Entwurf für das Bewusstsein vom Leibe her und geht vom lebendigen Organismus und seiner Beziehung zur Welt aus. Bewusstsein ist nur möglich, wenn eine spezifische Aktivität des Gehirns mit Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes gegeben ist. Die spezifische Aktivität ist auf das „Innen des Leibes und auf sein Umfeld gerichtet“ (Merleau-Ponty 1964, S. 196). Das jeweils Wahrgenommene ist dabei zugleich von äußeren und inneren Bedingungen abhängig und darüber hinaus verbinden sich Innen und Außen. Damit ergeben sich organismische und soziale und ökologische Perspektiven des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist fundiert in der komplexen Beziehung, die der Leib zur Umwelt hat. Diese Verschränkung gilt es konkret zu erleben und zu erfahren, und aus der Erfahrung wird Bewusstsein gewonnen, das zu Handlungskonsequenzen im Umgang mit uns selbst und der Umwelt führt (Petzold 2003a). Ein Bewusstmachen in dieser Form bedeutet Arbeit, Bewusstseinsarbeit mit Blick ins eigene Innere, wie es in einer Psychotherapieausbildung im Rahmen der Selbsterfahrung, der Lehrtherapie, geschieht. Dieser Ausbildungsschritt übersteigt das Bewusstmachen biografischer Hintergründe und soll dazu beitragen, den Patienten in der psychotherapeutischen Behandlung besser zu verstehen. Bildungssprachlich betrachtet, formuliert es der Arzt und Dichter Friedrich Schiller: „Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die anderen es treiben; Willst du die andern verstehen, blick in dein eigenes Herz!“ (von Schiller 1797, Aufl 1960, S. 43)

In Bezug auf die Therapie mit Patienten und Lehrtherapie mit Auszubildenden: Willst du, Therapeut, Lehrtherapeut, die anderen verstehen, blick vorher in dein eigenes Herz oder: Lern dich selber gut kennen, bevor du vorgibst, einem anderen eine Hilfe sein zu wollen. ▶▶

Die Dimensionen Leibbewusstsein, Weltbewusstsein, Sprachbewusstsein und Zeitbewusstsein sind zwar unterscheidbare aufgegliederte Verfeinerungen und dennoch in einem „komplexen Bewusstsein“ (Petzold und Orth 2018, S. 935) miteinander verbunden.

6.2.3 Klinische Perspektiven „Klinische Perspektiven“ (Petzold 2003a, S. 236) in der Integrativen Therapie formulieren therapeutisch-praktische Fragestellungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Diskurse. In der unmittelbaren Begegnung, getragen von der Verantwortung für den kranken Menschen im Rahmen des klinisch-therapeutischen Handelns, erfolgt die hautnahe Betroffenheit vom Leiden und vom Schicksal des Patienten durch den Therapeuten. Auch daraus erwächst dem Therapeuten Erkenntnisgewinn.

6.3 Das Sozialitätsprinzip

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Der Ertrag beruht auf dem Wissen der naturwissenschaftlichen wie der philosophischen Reflexionen und Entwürfe eines komplexen, vielgestaltigen Bewusstseins für den Therapeuten und letztlich auf dem für den Patienten und seinen Lebenszusammenhang erfassbaren Wert dieser Reflexionen. ▶▶

Der Therapeut wird in das Behandlungsgeschehen als Mitsubjekt über das Übertragungs- und Gegenübertragungsereignis einbezogen. Darin liegt das Besondere der klinischen Situation und des therapeutischen Erkennens und Erfassens.

Durch die Einsicht in komplexe, auch unbewusste Strebungen können Menschen für sich selber Veränderungen planen und einleiten. Wenn der Mensch die Hintergründe seines Handelns besser verstanden und Konfliktbewusstsein und Problembewusstsein erfahren hat, kann er in seinem Leben, aber auch in der Rolle als Patient, Beziehungen und Lebensvollzüge bewusster mitgestalten. Die Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit besser wahrzunehmen, besser zu erfassen, zu verstehen und auszulegen, eröffnet ihm differenziertere diagnostische und therapeutische Möglichkeiten (Petzold 2003a).

6.3

Das Sozialitätsprinzip

Sozialität und Individualität bleiben verbunden „in einem lebenslangen Prozeß der Selbstkonstitution und Identitätsarbeit, d. h. der Konstitution von Subjektivität in intersubjektiver Ko-respondenz“ (Petzold 2003a, S.  548). Der Mensch ist in der Sozialität und deren Kultur verortet (Bourdieu 1997). Er ist unlösbar in die jeweilige Welt und in die Zeit eingewoben, für sich stehend und doch untrennbar mit Mitmenschen in Szenen, Stücken, Geschichten, Metaerzählungen verbunden. Der Mensch ist niemals autonom, im Sinne von „nur dem von uns selbst gesetzten Recht“ (Sapolsky 2017, S. 229) verpflichtet. Das Sozialitätsprinzip, wie es in der Integrativen Therapie diskutiert wird, zeigt uns, dass der Mensch auf Ko-­ respondenzen, Kontrakte, Ko-operationen angewiesen ist (Petzold 2012a). „Entscheidend sind soziales Gedächtnis, emotionale Perspektivenübernahme, Impulskontrolle, Empathie, die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten, und Selbstregulation“ (Sapolsky 2017, S. 229). ▶▶

Evolutionsbiologisch betrachtet ist der Mensch in Polyaden, in Gruppen, zum Menschen geworden. Deshalb kann der Mensch von der frühen Säuglingszeit an zu anderen Menschen höchst spezifische und sehr unterschiedliche Beziehungen und Beziehungsverhältnisse aufbauen (Petzold et al. 2013a).

Der Mensch ist auf Polyloge, nicht dyadisch-dialogisch ausgerichtet, er praktiziert Kontakte, Begegnungen, Beziehungen mit vielen Mitmenschen (Petzold und Orth 2018). Als soziales Wesen ist der Mensch in seinem mikro-, meso- und makrosozialen

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Bezugsrahmen zu verstehen. Soziale Netzwerke, R ­ ollen, ­Identitätszuschreibungen und kollektive Wertsysteme bestimmen sein Handeln und sein Gesundsein und sein Kranksein. Eine derartige, den Kontext berücksichtigende Sichtweise des Therapeuten verlangt für die Praxis, den Patienten schon im Rahmen der Befunderhebung, dann in der Diagnoseerstellung mit Blick auf seinen Lebenszusammenhang und die gesamte Lebenszeit zu betrachten und therapeutisch über einen individualisierenden Ansatz hinausgehend zu behandeln. Folglich sind netzwerk- und ressourcentheoretische Überlegungen praktisch in das therapeutische Handeln einzubeziehen. Menschliche Erfahrung schöpft aus der menschlichen Gemeinschaft und aus den von dieser hervorgebrachten Formen und Systemen, wie beispielsweise der Sprache als Denksystem (Petzold et al. 2018). ▶▶

Das Individuum partizipiert auch über die Sprache an der Sozialität und der Welt. Auf einer solchen Grundlage werden komplexe, vielschichtig gewonnene Erkenntnisse erst möglich, und es kann auf der individuellen und der gemeinschaftlichen Ebene ein „komplexes Lernen“ (Petzold et al. 2018, S. 934) stattfinden.

Wenn Menschen etwas begehren, sich einander in Liebe, Lust oder Leidenschaft zuwenden oder einander bis hin zu Vernichtung bekämpfen, wenn Menschen ihr Leben gestalten, so tun sie dies in mannigfaltigen Entwürfen, worin sich Biologie und Sozialität in einem spezifischen Kontext verschränken. Mit dem Blick auf die Menschheitsgeschichte und die stets gegenwärtigen Weltverhältnisse scheint es einen nicht zu hintersteigenden Rest zu geben, der sich in Prozessen der Sozialisation und Enkulturation nicht auflöst, wie die ultimative Destruktivität, wozu der Mensch fähig ist und die sich bei anderen Tieren in dieser Form nicht findet (Petzold 2003e). Im Sozialisationsprinzip ist die Integrative Therapie als Humantherapie begründet. Der Mensch war nie und ist nie nur „organism“ (Perls 1969c), nie nur Seele, nie nur Geist. Folglich wäre begrifflich Humantherapie den Begriffen Psychotherapie oder Körpertherapie vorzuziehen, denn das selbst-bewusste Subjekt ist „embodied and embedded“ (Petzold 2004h; Petzold und Orth 2004b). Der Mensch lebt in ko-­ existiver Leiblichkeit mit anderen Subjekten in menschlicher Gemeinschaft und ist niemals allein über das Seelische, wie dieses auch bestimmt sein mag, zu erfassen. Unterstützung erhält diese Sicht noch aus anderen Quellen, durch den Bezug auf die Neuropsychologie von Alexander R. Lurija (1978), ebenso sind hier Paul Broca, Antònio R. Damàsio, Kurt Goldstein und die russische Schule der Neurophysiologie des Pyotr K. Anokhin (1967) und Nikolaj A. Bernštejn (1967) zu nennen (Sieper und Petzold 2002). Neben den Fundamenten in nichtlinearen, systemtheoretischen Modellen wird die Tätigkeit des Menschen, sein Leben in sozialen Systemen und deren Wirkung auf neurophysiologische und neuropsychologische Prozesse in der Tradition von Lev S. Vygotskij stark betont (Petzold und Sieper 2004). Die biopsychosoziale Ausrichtung einer Humantherapie akzentuiert die Sozialität und bekräftigt, dass „jedes Entwicklungsgeschehen zunächst zwischenmenschlich als interpersonale und dann als intrapersonale Kategorie gesehen werden muss“ (Vygotsky 1992, S. 236).

6.3 Das Sozialitätsprinzip

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Die Integrative Therapie versucht, therapierelevante, persönlichkeitstheoretische Entwürfe mit allen therapiepraktischen Konsequenzen beizuziehen. Das Selbst bildet sich in empirisch untersuchbaren, interaktionalen Entwicklungsprozessen als „life span developmental approach“ (Petzold 1981f, 1992a, 1994j; Rutter und Rutter 1992) in sozialen Netzwerken aus. Dies geschieht im sozialen Miteinander, in sozialen Szenen, als Sozialisationswirkung (Goffman 1969; Hurrelmann 1995). In diesem Sinne verlangt Therapie immer auch Interaktions- und Netzwerkorientierung. In diesen ko-respondierenden Prozessen wird das Gehirn des Menschen durch die Realität sozialer Situationen geformt (Lurija 2001; Freeman 1995). Damit verbunden sind die persönlichkeitsbildenden Prozesse, woraus Selbstkenntnis, Selbstkritik, Selbstgewissheit, Selbstsicherheit und Selbstzweifel für Therapeut und Patient gleichermaßen entstehen können. Auf diese Weise bildet sich eine sog. Theory of Mind, die durch die Persönlichkeitsstrukturen Selbst und Identität (Petzold 2001p) über die gesamte Lebensspanne hin veränderbar erhalten wird. Das Zusammenspiel von protektiven, salutogenen, belastenden, pathogenen und defizitären Ereignisketten trägt dazu bei (Petzold et al. 1993; Petzold und Müller 2004c). Der Integrative Ansatz steht im wissenschaftlichen Diskurs der „klinischen Entwicklungspsychologie der Lebensspanne“ (Petzold 2003a, S. 537) und hat in das Feld der Psychotherapie die Entwicklungstherapie als Paradigma eingebracht (Petzold 1994q). Die Integrative Therapie thematisiert Fragen der Behandlung als Entwicklungs-, Sozialisations- und Enkulturationsgeschehen von der Säuglingszeit bis zum Senium und setzt die gewonnenen Erkenntnisse behandlungsmethodisch um (Petzold 1995a, 1993c). Integrative Therapie wird als spezifischer Sozialisationsprozess verstanden, gehandhabt und genutzt. Das gilt darüber hinaus auch für die Prozesse jeglicher Ausbildung.

6.3.1 D  ie psychotherapeutische Ausbildung als Sozialisationsprozess Ein wichtiger Aspekt darf in der Psychotherapieausbildung nicht übersehen werden. Therapie und Therapieausbildung sind selbst Sozialisationsprozesse. Jedem Sozialisationsprozess haften Macht- und Wahrheitsdiskurse an, und das ist prinzipiell prekär (Bourdieu 1997). Dem auszubildenden Menschen werden die herrschenden Wahrheiten, Werte, Verhaltenskodizes der jeweilig dominanten Sozialität, wie etwa einer Psychotherapieschule, vermittelt, oft regelrecht aufgeprägt, bis sie den Ausbildungskandidaten für die Abschlussprüfung „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind. Nach Abschluss der Ausbildung kann es sehr lange dauern, wenn es denn je gelingt, sein Eigenes, zu seiner Persönlichkeit Passendes zu finden. Verfahrensweisen und Instrumente der Erziehung, Bildung und Ausbildung sind die Werkzeuge der Sozialisation. In der Psychotherapie und in der Therapieausbildung als Sonderbereich des Sozialisationsgeschehens (Berger und Luckmann 1970) wurden spezifische Instrumente sozialisatorischer Praxis eingeführt. Neben der professionellen Kompetenzerweiterung ist zeitgleich im Ausbildungsrahmen die personale und soziale Kompetenzerweiterung das erklärte Ziel.

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Die vorgesehenen Instrumente in der Psychotherapieausbildung sind neben Theorie und Methodik die Selbsterfahrung und Supervision. Es sind mächtige Instrumente der „Synchronisation“. Der früher verwendete Terminus „Kontrollanalyse“ zeigt unverblümt das definierte Ziel, die Kontrolle.

Verweisen die etymologischen Spuren auf Aspekte von Macht und Führung, ist seit 1991 der vom Psychotherapiegesetz vorgegebene Begriff Supervision in der Bedeutung der professionellen Beratung zur Qualitätssicherung im Vordergrund (Edlhaimb-Hrubec 2004). Supervision in integrativem Denken und Handeln könnte heute „einem Konvisionären Sehen“ (Edlhaimb-Hrubec 2005, S. 88) nahekommen. „Supervision scheint … eine ausgezeichnete Forschungsszene zu sein; man muß aber dann auch die Unvoreingenommenheit eines Forschers besitzen, um neu Auftauchendes nicht sofort in alte Muster zu gießen, sondern nach jeweils neuen Erklärungen zu suchen – auch dann, wenn sie längst Gedachtem widersprechen“ (Jaeggi 2001, S. 135). Im Bewusstsein der sozialisatorischen Bedeutung von Supervision untersuchten Vertreter der Integrativen Therapie Methodologien kritisch theoretisch und empirisch, um eigenständige Formen der Praxis zu entwickeln (Petzold 1993m, 1998a; Oeltze et  al. 2002; Leitner et  al. 2004; Petzold und Müller 2005a; Petzold et  al. 1999, 2003). Es sind die Gefahren in der Selbsterfahrung in den Fokus zu nehmen, die neben Theorie- und Methodikvermittlung im Zentrum der Psychotherapieausbildung stehen. Konzepte der Ausbildung könnten auch wie kryptoreligiöse Kon­ strukte verwendet werden. Der Weg von der „Konfession zur Profession“ (Grawe et al. 1994) ist noch nicht am Ziel angelangt und noch durch umfangreiche qualitative und quantitative Forschungsbelege zu festigen. Ohne ein theoretisch fundiertes, ideologiekritisch durchleuchtetes Konzept von Selbsterfahrung erarbeitet zu haben, ist Ausbildung für die Behandlung von Menschen nicht mehr zeitgemäß. Eine theoretisch formulierte Linienführung zur Entwicklung von Selbst- und Identitätsmodellen (Ricœur 1996) ist in Bezug auf Selbst- und Identitätskonzeptionen therapierelevant. In der Umsetzung der Psychotherapieausbildung bleibt die Gefahr der Machtausübung gegeben. Das offensichtliche Risiko liegt in den möglichen Schädigungen durch psychotherapeutische Sozialisationen in Behandlungs- wie Ausbildungsprozessen und durch die mächtigen und zum Teil durchaus manipulativen Selbsterfahrungsprozesse (Märtens und Petzold 2002; Leitner et al. 2013, 2014). Laireiter (2002) konnte durch empirische Nebenwirkungs- und Schadensforschung für die Selbsterfahrung in Psychotherapieausbildungen normierende Einflüsse aufzeigen, durch welche die Möglichkeiten des Andersseins (Foucault 1998) massiv eingeschränkt werden. Die Gefahren der kalibrierten seelischen Zurichtung sind immens (Dauk 1989). Deshalb müssen in die Prozesse der Selbsterfahrung auch Möglichkeiten zur kritischen Exzentrizität und Mehrperspektivität methodisch eingebaut werden, die diesen Effekten entgegensteuern, sie offenlegen und zur Problematisierung und weiterführenden Kritik (Foucault 1992, 1996) ermutigen. Im Integrativen Ansatz wurden dafür die Instrumente der metahermeneutischen Mehrebenenreflexion (s. Abschn. 3.3 und  3.4)

6.4 Das Leiblichkeitsprinzip

161

und  der Mythenkritik entwickelt (Petzold und Orth 1999a, 2014), welche im ­exzentrisch-­hyperexzentrischen Blick die Prozesse der eigenen Subjektkonstitution betrachten helfen. Die Thematik bleibt, sie bleibt unvermeidlich strukturell prekär und ist im Bewusstsein zu halten (Petzold et al. 2000b).

6.4

Das Leiblichkeitsprinzip

„Leiblichkeit“ (Petzold 1985, 2018, S. 135; Schmitz 1965; Foucault 1998; Marcel 1985; Merleau-Ponty 1966) beschreibt die interaktive Verbundenheit des informierten Leibes in seiner Lebenswelt in zwischenleiblicher Bezogenheit zu dem Mitmenschen. Menschliches Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln ist leibbegründet. Leib wird als anthropologische Begrifflichkeit im Sinne der biologischen und phänomenalen Wirklichkeit des Menschen verstanden. Der Begriff Leib vermeidet die klassische dualistische Position und versucht die zergliedernde Sicht von Körper− Seele−Geist zu integrieren (Petzold 1985). Das Konzept steht in der Tradition phänomenologischer Philosophie und Psychiatrie (Ey 1967; Jaspers 1973; Wyss 1970). Der lebendige, mit einem komplexen Großhirn ausgestattete und damit bewusstseinsfähige Körper verbindet organische, materielle und transmaterielle Wirklichkeit zum Leib, der sich im Zustand der Aufmerksamkeit seiner selbst bewusst werden kann (s. Abschn.  2.5 und Abschn.  3.1.2). Die Leiblichkeit des Menschen ist somit ein Zusammenschluss von materiellen und transmateriellen Prozessen. Leiblichkeit wird so in ihrer wahrnehmenden, durch Bewegung, Haltung, Gestik und Mimik sich ausdrückenden und sich erinnernden Dimension gesehen, ebenso wie in der Dimension des Unzugänglichen, des Verdrängten und Unbewussten (Carus 1846; Freud 1915e) und des Zugänglichen, Offensichtlichen (Perls 1976). ▶▶

Die Bedeutung der Leibdimension in der Leibarbeit mit dem Patienten verlangt die Berücksichtigung der Psychophysiologie, der nonverbalen Kommunikation und ist besonders auf emotionale Ausdrucksphänomene gerichtet.

Emotionen aus der Sicht der Integrativen Therapie sind „komplexe, das gesamte Leibsubjekt in seinem soziophysikalischen und soziokulturellen Kontext ergreifende Prozesse. Thymosregungen, die mit variierender Intensität, Tönung und Bewußtheit als Affekt, Gefühl, Passion, Stimmung, Grundstimmung oder Lebensgefühl vom ‚Selbst‘ eigenleiblich gespürt und vom ‚Ich‘ bewußt erlebt werden“ (Petzold 2003a, S. 619). Emotionen sind in komplexen Verbindungen von spezifischen physiologischen, wie neuronalen, endokrinen, kardiovaskulären, muskulären, respiratorischen Erregungsmustern beeinflusst und drücken sich in subjektiven Erlebnisweisen, kognitiven Bewertungen und Benennungen aus. Zu diesen Prozessen zählen auch sozial-kommunikative Orientierungen und daraus folgend charakteristisches Ausdrucksverhalten in Mimik, Gestik, Haltung und Bewegung. Sie entstehen als Resonanz auf Einflüsse, auf Stimulierung der aktualen Umwelt oder als

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

autochthone Impulse der aktualen Innenwelt als Motivation, Volition, Antriebe, Erinnerungen, Fantasien (Petzold 2003a). Leibhaftig wahrgenommene und ausgedrückte Gemütsbewegungen haben für das Individuum eine motivierende, orientierende, wertende und sinnstiftende Funktion. Einerseits in Hinblick auf seinen Bezug zur Umwelt, was auch für die Umwelt eine orientierende und Bewertung ermöglichende Funktion mit sich bringt, und andererseits in Hinblick auf den inneren Zustand eines Individuums (Petzold 2003a). Als qualitativer Bestandteil von Kommunikation ist das Leib-Selbst von Emotionen umgeben, und zwar durch die vom Leib-Selbst ausgehenden, unterschwelligen, aber wahrnehmbaren vielfältigen Signale als Atmosphäre, womit sich aufgrund der ausgelösten Resonanzen ein emotionales Feld aufbaut. „Dies kann durch ‚Ansteckungseffekte‘ Gruppen und größere Kollektive erfassen, wodurch in Rückwirkungseffekten wiederum das subjektive Gefühl als körperlich-seelisch-geistige Synergie (Thymos) beeinflußt wird“ (Petzold 2003a, S.  620). Therapeutische Interventionen zur Veränderung einer emotionalen Lage müssen deshalb das Feld, seine emotionale Kultur und die Leiblichkeit in all ihren Dimensionen einbeziehen. „Sie werden sich, weil es um Thymosregungen geht, nicht auf verbale Psychotherapie beschränken können, sondern sie als thymopraktische Psychotherapie und feld­ orientierte Soziotherapie zu einer Humantherapie ergänzen bzw. überschreiten müssen“ (Petzold 1970c, S. 57). „Die neurowissenschaftliche Empathieforschung hat mit bildgebenden Verfahren gezeigt (Eres et al. 2015), dass Empathie eine kognitive Seite (Verständnis) und eine emotionale (Mitgefühl) hat, sowie eine somatosensumotorische Seite (Mitschwingen) – so das integrative Modell ‚komplexer wechselseitiger Empathie‘“ (Petzold 2018, S. 171). ▶▶

Das Leiblichkeitsprinzip als ein Kernkonzept der Integrativen Therapie baut auf der Idee des informierten Leibes auf, der durch die Interaktion in der sozioökologischen Lebenswelt und der zwischenleiblichen Bezogenheit mit anderen verbunden ist (Petzold 2018).

In einer so reflektierten, theoriegeleiteten und respektvollen Bezogenheit kann in Anlehnung an einen erweiterten französischen Leitsatz aus dem 16.  Jahrhundert „Heilen manchmal, Lindern oft, Trösten (und Fördern) immer“ gelingen (s. Abschn. 7.4.4).

6.5

Das Entwicklungsprinzip

Entwicklung ist „der komplexe Prozeß des Gewinns von motorischer, sensorischer, perzeptueller, kognitiver und sozialer Kompetenz und Perfomanz“ (Petzold 2003a, S.  817). Entwicklung sieht die menschliche Existenz als lebenslangen Entwicklungsprozess im Sinne der „klinischen Entwicklungspsychologie“ (Oerter et  al. 1999). In diesem Entwicklungsprozess werden sensumotorische, gefühlsbestimmte, durch den Willen bestimmte, kognitive und soziale Entwicklungsverläufe berücksichtigt. Ein besonderes Charakteristikum für diesen Ansatz ist die Beachtung der

6.5 Das Entwicklungsprinzip

163

empirischen Babyforschung, der klinischen Längsschnittstudien, der Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters und der Berücksichtigung von Risikofaktoren und protektiven Faktoren (Petzold 2003a). Integrative Therapiepraxis ist ­konsequent entwicklungsbezogen und auf die Bearbeitung negativer, defizitärer und ebenso positiver Ereignisketten gerichtet, wobei die Entstehung von Krankheit wie die Erhaltung und Entwicklung von Gesundheit über die gesamte Lebensspanne hin erfolgen kann und somit monokausale durch nonlineare, mehrperspektivische Betrachtungsweisen (Frühmann 1987, 2013) abzulösen sind. Vor allem Ergebnisse der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung sowie Untersuchungen über die Lebenswelten alter Menschen stützen das Intersubjektivitätsmodell der Integrativen Therapie. Das Kind ist ab ovo in Interaktion mit der Welt, verfügt über ein waches Unterscheidungsvermögen und beeinflusst von Anfang an aktiv seine Umwelt. Kinder sind, wenn sie von ihrer Umwelt keine Inhibition erfahren, wahrliche Kommunikationsweltmeister (Petzold 2003a). Das Leben und die Entwicklung von Gesundsein und Kranksein sind nur zu verstehen, wenn die gesamte Lebenspanne in den Blick genommen wird. Daher kann es von Vorteil sein, wenn Psychotherapeuten in ihrer Ausbildung die Möglichkeit erhalten, Patienten jeder Altersstufe zu behandeln, vom Kind bis zum Patienten im hohen Alter, um ein Gefühl für die Lebensgestalt in ihrer Erstreckung und für die relevanten Entwicklungsaufgaben zu bekommen (Havighurst 1948). Die Analyse der Lebensgeschichte muss in der Therapie eine fortschreitende sein, die mit der Schwangerschaft beginnt, sich über die ersten Lebensjahre, die Adoleszenz, durch das Erwachsenenalter und antizipatorisch bis ins Senium erstreckt (Petzold 1999b). Therapie darf nicht nur rückblickend auf Vergangenheit ausgerichtet sein oder den Moment auf das Hier und Heute zentrieren, sie hat auch zukunftsgerichtet vorausplanend das Leben zu gestalten (Petzold und Müller 2005b). Aus diesem Grunde „muss Entwicklungspsychologie für den Bereich der Psychotherapie immer auch klinische Entwicklungspsychologie in der Lebensspanne sein“ (Petzold 1999b, S. 43). Die klinische Entwicklungspsychologie und der Life Span Developmental Approach wurden durch die Integrative Therapie sehr früh in das psychotherapeutische Feld gebracht. Die Konzepte „protektive Faktoren“ und „Resilienz“ wurden in der psychotherapeutischen Praxis für jedes Lebensalter herangezogen (Petzold 1979k; Petzold et al. 1991; Müller und Petzold 2003; Petzold und Müller 2004c). Als eine Subdisziplin der Life-Span Developmental Psychology wird die „Inte­ grative Entwicklungstherapie in der Lebensspanne − eine biopsychosoziale Humantherapie“ (Orth und Petzold 2000) geführt. Diese Humantherapie untersucht einerseits Fragen der Interaktion von gesundheitsfördernden, schützenden Faktoren, andererseits risikobehaftete, belastende und potenziell krankheitsverursachende Faktoren und hiermit die Ausbildung von Resilienzen im Zusammenhang mit sozialen Situationen. Diese Therapie ist bemüht, die Bedingungen für das Entstehen von Gesundsein und Kranksein über die Lebensspanne in spezifischen Altersabschnitten, die zugrundeliegenden ursächlichen Zusammenhänge spezifischer Störungsbilder und die Formen des Therapieverlaufs gender-, ggf. ethnienbewusst mit den Konzepten und Methoden der empirischen Entwicklungspsychologie aufzuklären (Petzold et al. 1991).

164

6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Unter „klinischer Entwicklungspsychologie in der Lebensspanne“ (Petzold 1999b, S.  43) wird in der Integrativen Therapie einerseits die konsequente ­Umsetzung entwicklungspsychologischer Erfahrungen aufgrund diesbezüglicher Forschungsergebnisse verstanden. Dabei handelt es sich um Forschungsergebnisse, die insbesondere aus der Längsschnittforschung zur Entwicklung von gesundem und gestörtem Verhalten sowie Leidenszuständen und für die klinisch-therapeutische Arbeit in der Praxis der Therapie relevant sind. Andererseits wird mit dieser Bezeichnung die Theorie- und Forschungsarbeit im Bereich der klinischen Psychologie und Psychotherapie verstanden (Petzold 2003a). ▶▶

Mit entwicklungspsychologischer Methodik werden prospektiv longitudinal Risikokarrieren und Krankheitsverläufe untersucht, um kritische Lebensereignisse, Risiken, protektive Faktoren, protektive Prozesse, Resilienzen sowie positive und negative Netzwerkeinflüsse zu erfassen (Petzold 1995j).

Durch das entwicklungspsychologisch methodische Erfassen von Krankheitsverläufen wird die Voraussetzung geschaffen, von einer ausschließlich pathologiezen­ trierten Konzeptualisierung abzukehren. Die klinische Entwicklungspsychologie, welche die entwicklungspsychoneurobiologische Forschung einbezieht und alters-, gender- und schichtspezifisch ausgerichtet ist, bietet eine zuverlässige Grundlage für die ursächlichen Zusammenhänge von gesundheitlichen Störungen. In dieser entwicklungspsychologischen Differenzierung wird auch die Förderung positiver Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht und der Therapeut wird in Kenntnis gesetzt, wie er für seinen Patienten ein protektives Milieu bereitstellen und seine Resilienzbildung fördern kann (Petzold 1995j). Das Intersubjektivitätsprinzip, das Bewusstseinsprinzip, das Sozialitätsprinzip, das Leiblichkeitsprinzip und das Entwicklungsprinzip stehen für die Theorie des menschlichen Handelns in der Integrativen Therapie. Diese beschriebenen fünf Prinzipien kommen als Grundannahmen in allen theoretischen Teilbereichen und in der gesamten Praxeologie und Praxis der Integrativen Therapie zum Tragen. Sie sind mit ihrer Orientierung an der Intersubjektivität, den Bewusstseinsprozessen, der Sozialität, mit der Orientierung an der Leiblichkeit, am Life Span Developmental Approach die „Integratoren der Integrativen Therapie“ (Petzold 2003a, S. 66). Diese Integratoren haben in der vorgegebenen Struktur des Tree of Science eine nachvollziehbare Zusammenhängigkeit (Petzold 1990h). Anhand der Integratoren (s. Abschn. 4.7) werden die gemeinsamen oder divergierenden Konzepte auf Übereinstimmung oder Ähnlichkeit in ihren Strukturen überprüft. Somit werden Referenztheorien beigezogen, die eine Mehrperspektivität und vielfältige Sicht auf die Theorie ermöglichen. Ziel dieses geordneten Vorgehens ist die Herstellung eines folgerichtigen Zusammenhanges und einer Stimmigkeit der Theorie-Praxis-Verschränkung. Ebenso gilt dieses strukturelle Vorgehen für das therapeutische Handeln, um ein Abgleiten in unreflektierten Eklektizismus oder ein Ausprobieren ungesicherter Behandlungsmethoden zu verhindern (s. Abschn. 4.8).

6.6 Die Behandlung in der Integrativen Therapie

6.6

165

Die Behandlung in der Integrativen Therapie

Die Grundlage und Voraussetzung therapeutischen Handelns ist menschliches Handeln. Im menschlichen Handeln geht es um etwas sehr Einfaches, wenn auch schwierig Benennbares. Es geht um das gegenseitige Erleben unverstellten, lebendigen Kontakts, das Vollziehen unmittelbarer Begegnung (Petzold 2003a). Das Wesentliche einer therapeutischen Beziehung ist die Erfahrung natürlicher, unverstellter, nichtentfremdeter Beziehungsqualitäten, wie sie den Patienten oft über lange Zeit fehlten. Ein wesentlicher therapeutischer Wirkfaktor scheint in unserer Kultur der Blickkontakt zu sein, das einfache In-die-Augen-schauen-Können. In der auf einem klaren Kontakt aufbauenden guten Begegnung und daraus erlebten therapeutischen Beziehung entstehen Gefühle des Verbundenseins, der Sicherheit und des Getragenseins, des emotionalen Angenommenseins und Gestütztseins. Der Therapeut braucht nicht immer verbal zu bekräftigen, weil es atmosphärisch bereits vermittelt ist. Im Integrativen Ansatz werden die Prozesse „dynamischer Regulation“ (Petzold und Orth 2018, S.  908) zwischen Systemen, wie beispielsweise zwischen System Therapeut und System Patient, auch als Passung bezeichnet. Die Passung ermöglicht und gewährleistet eine hinlänglich gute, wechselseitige Angleichung beziehungsweise Synchronisation (Petzold und Sieper 2012a). Dies verlangt dem Therapeuten einiges ab. Er benötigt die Fähigkeit, situations- und indikationsspezifisch mit dem Patienten eine gemeinsame Form von Kontakt, Begegnung und darauf aufbauend eine therapeutische Beziehung zu praktizieren, ohne die Komplexität der psychotherapeutischen Situation zu verkennen. Streng indikationsbezogen kann zeitlich begrenzt Bindung therapierelevant sein. „Das schließt auch die prinzipielle Bereitschaft ein, sich für die Patienten zu öffnen, mit ihnen emotional in Resonanz zu kommen und sich empathisch auf das Erleben und auf die Lebenswelt des Patienten, mit dem wir ko-existieren einzustellen“ (Petzold 2003a, S. 71). Situations- und indikationsspezifisch zu intervenieren kann auch beinhalten, sich dem Patienten ausgewählt und begrenzt zu erkennen zu geben. Hier ist ein therapeutischer Stil gemeint, der Self-Disclosure und Abstinenz verbindet und von Laura Perls als „selektive Offenheit“ (Petzold 1980g, S. 255) beschrieben wurde. Dabei ist zu bedenken, dass spontanes Erleben und Verhalten des Therapeuten stets der gründlichen Reflexion, der Klärung und Differenzierung bedarf. Auf diese Art gesichert, kommen theoriegeleitet professionell reflektierte, begründete und zielgerichtete Verhaltensweisen des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung seriell und situativ zum Einsatz (Petzold 1980g). ▶▶

Es ist ein grundlegendes Bedürfnis und eine Sehnsucht des Menschen, sich im tiefen Inneren gemeint und verstanden zu fühlen  – und sich selbst zu verstehen. Es genügt nicht, mit aufgesetztem Expertenwissen zu beeindrucken oder mit magischen Gesten und Phrasen zu manipulieren (Petzold 1980g).

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Verstehen verweist nicht auf Verbalisierung des Therapeuten wie: „Ich verstehe Sie“, sondern Verstehen bedeutet, dass sich der Patient subjektiv wahrgenommen, erfasst, verstanden und in der Folge in hilfreicher Form behandelt fühlt. Um dies zu erreichen, können manchmal weite Wege und komplexe therapeutische Aktionen erforderlich sein. Ein Weg, den Patienten zu verstehen und ihm das Gefühl zu vermitteln, verstanden zu werden, verläuft zum einen über die therapeutische Klärungsarbeit. Der Therapeut erörtert und klärt das Erleben, Denken und Verhalten sowie die Lebensgeschichte und Lebenssituation des Patienten unter einem phänomenologischen Gesichtspunkt. Zum anderen erfolgt auch eine wohldosierte, indikationsspezifische Unterstützung des Patienten. Diese Unterstützung kann vielfältig sein, sie kann durch emotionale Zuwendung bewirkt werden oder aus der selektiven Offenheit des Therapeuten bestehen, sich ausgewählt und begrenzt zu erkennen zu geben. Es kann auch eine Grenzsetzung, eine „skillful frustration“ (Petzold 1980g, S. 282) sein. Die spezifische Stützung des Patienten, ihm das zu geben, was für ihn hilfreich ist, bildet eine der schwierigsten Aufgaben, die in der therapeutischen Behandlung zu lösen ist. Eine Conditio sine qua non stellt für jedes therapeutisches Handeln die „metahermeneutische Mehrebenenreflexion“ (Petzold 2018, S.  145) dar (s. Abschn. 3.2.3). Das Modell für den hermeneutischen Verlauf in der Integrativen Therapie ist die hermeneutische Spirale, welche „von den Phänomenen zu den Strukturen zu den Entwürfen“ (Petzold 2003a, S. 429) führt (s. Abschn. 2.4.1.1). Der Weg von den Phänomenen zu den Strukturen verläuft idealtypisch in Form einer Spirale und beinhaltet das Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Erklären. Der spiralig fortschreitende, in sich reflexive Prozess ist in zwei Doppeldialektiken organisiert, in denen sich leibhaftige Erkenntnis konstituiert: in der „leibnahen, erlebnistheoretisch-­ phänomenologisch orientierten Dialektik von Wahrnehmen und Erfassen und der vernunftnahen, hermeneutisch orientierten Dialektik von Verstehen und Erklären“ (Petzold 2003a, S. 498) (s. Abschn. 1.3.2). In der Integrativen Therapie wird Psychotherapie als Prozess einer „heraklitischen Spirale des Erkenntnisgewinns“ (Petzold 2003a, S. 497) beschrieben, der auf einer Ko-respondenz zwischen dem Patienten und dem Therapeuten beruht. Ko-­ respondenz führt zu Konsens oder Dissens, weiter zu Konzepten und im Idealfall zu einer Ko-operation. Es werden Wahrnehmung, Emotion, Verarbeitung, Kognition, Handeln und Verhalten als miteinander verschränkte Dimensionen des personalen Systems gesehen (Petzold 1978c, 1991e, 2000h). Die folgende Abbildung zeigt in Anlehnung an das Modell Petzolds (Petzold 1994j, S. 526) stark vereinfacht die soziale Interaktion als Prozess im Kontext eines Systemmodells. Hier klingt die Vieldimensionalität der Integrativen Therapie in ihrem Denken und Handeln wieder an (Abb. 6.1). • Als Basis steht der Mensch mit seinem Leib-Archiv sowie den Dimensionen Kognition, Emotion und Verhalten als „informierter Leib“ (Petzold und Orth 2018, S. 937) (s. Abschn. 5.4.1). • Der Prozess findet im Spannungsfeld einer Polarität zwischen Organismus und Subjekt einerseits und andererseits Umwelt und Lebenswelt eines Menschen statt.

6.6 Die Behandlung in der Integrativen Therapie

167

Künftige Aufgaben oder Ziele W

Information aus Organismus / Subjekt

INFORMIERTER LEIB H

Emotion

Bedingungen-

Information aus Umwelt / Lebenswelt

V

der Gegenwart

Bedingungen der Vergangenheit: Probleme, Ressourcen, Potenziale

Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft

W Wahrnehmungs-, V Verarbeitungs-, H Handlungsspirale

Abb. 6.1  Interaktionsmodell in einem Bezugsrahmen sozialer Prozesse

• Information aus dem Organismus und gleichzeitig aus der Lebenswelt wirkt über eine Wahrnehmungs-Verarbeitungs-Handlungsspirale (W V H), wobei die Pfeilrichtungen zeigen, dass der Prozess, der fortschreitet, jeweils auch rückwirken kann. Wahrnehmen führt zum Verarbeiten und wirkt zurück ins Handeln. Verarbeiten führt ins Handeln und wirkt zurück ins Wahrnehmen. Handeln führt zum Wahrnehmen und wirkt zurück ins Verarbeiten, vor dem Hintergrund des Zeitkontinuums Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft (V G Z). • Das Modell beinhaltet auch ein Motivationssystem und Volitionssystem, das von Bedingungen der Vergangenheit über die Bedingungen der Gegenwart zu künftigen Aufgaben und angestrebten Zielen hinwirkt, mit der Möglichkeit auf Rückwirkung. Das Handeln in der Integrativen Therapie besteht therapietechnisch in der Anwendung einer kreativ neu zu generierenden, reflektierten Vernetzung von Perspektiven, Optiken und Heuristiken (Petzold 1994a, 2003a) (Abschn. 3.3). Zentraler Faktor für die Gestaltung der jeweiligen Kombination ist die „metahermeneutische Mehrebenenreflexion“ (Petzold 2003a, S. 34, 2018, S. 145). ▶▶

Der Therapeut legt sich das handlungsanleitende Theoriemodell der Mehrebenenreflexion zur Klärung und Analyse des intersubjektiven Geschehens und Handelns gewissermaßen selbst innerlich zurecht.

168

6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

In der Mehrebenenreflexion (s. Abschn. 3.4), die ihrerseits in philosophische Kontemplation eingebettet ist, werden Entscheidungen vorbereitet und begleitet, wie die Auswahl und Kombination von „Wegen der Heilung und Förderung“ (s. Abschn. 7.4), von „Modalitäten“ (s. Abschn. 7.2) und von „Tiefungsebenen“ (s. Abschn. 7.3) (Petzold 2003a, S. 589, 1988n, S. 104). Bei all den behandlungspraktischen Schritten, die eine patienten- und situationsorientierte Elastizität einfordern, geht es um die Überwindung der Vorstellung des psychophysischen Dualismus, ohne in einen „materialistischen Monismus“ (Petzold und Sieper 2008a, S. 32) zu verfallen. Vor dem Hintergrund der evolutionären Entwicklung des Menschen wird die Hominisation in der Integrativen Therapie phylogenetisch „biopsychosozialökologisch aufgefasst, wie auch die persönliche ontogenetische Entwicklung“ (Petzold und Orth 2007a, S. 639). Folglich käme ein einseitiger Zugang für psychotherapeutische Behandlung im Sinne der Integrativen Therapie einem Kunstfehler gleich. Der Ansatz der erlebnistheoretischen Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty (1966) (s. Abschn. 1.3.1) und der Ansatz der dynamischen Regulation von Lurija, Bernštejn und Anokhin wirken dieser Gefahr entgegen.

6.6.1 Der erlebnistheoretisch-phänomenologische Ansatz Der erlebnistheoretisch-phänomenologischen Ansatz des französischen Philo­ sophen und Psychologen Maurice Merleau-Ponty (s. Abschn. 1.3.1) besteht im Wesentlichen darin, Denkansätze und Forschungsergebnisse seiner Zeit aufzunehmen, zu diskutieren und erlebnistheoretisch-phänomenologisch neu zu interpretieren. Im Zentrum stehen in der philosophischen Methode Merleau-Pontys die Begriffe des Leibsubjektes, der Intersubjektivität und der Natur. Im Begriff des Leibes hebt er die traditionellen Alternativen von anatomischem Körper und Bewusstsein auf zugunsten der „Suche nach einer dritten Dimension“ (Waldenfels 1983, S. 148). Der Leib ist in die Lebenswelt, in die Natur eingebettet. Der Leib-Begriff und der Lebenswelt-­Begriff als Welt des Lebendigen umfassen beides (Petzold 2009c; Hüther und Petzold 2012; Petzold und Sieper 2012a). Körper wie das Gehirn beziehen sich auf das Materielle und „Seele/Geist (mit Querstrich geschrieben)“ auf die Welt des „emergenten Transmateriellen, wie Gedanken, Gefühle und Volitionen“ (Stefan 2020, S. 5).

6.6.2 Der dynamische Regulationsansatz „Neurobiologische Aspekte“ (Petzold und Orth 2018, S. 937) bedeuten in der Integrativen Therapie die Förderung von Regulationspotenzial und dynamischer Regulation. Der Begriff „dynamische Regulation“ (Petzold 2011e, S. 25) ist von zentraler Bedeutung. Er stammt aus der Biologie und Neurophysiologie nach Anokhin, Bernštejn und Lurija und ist aus der Beobachtung lebendiger biologischer Systeme hergeleitet. Durch Regulationsprozesse können Wirkungen aus den Umweltsyste-

6.7 Die therapeutischen Wirkfaktoren in der Integrativen Therapie

169

men und dem eigenen organischen Binnensystem ihre Funktionsfähigkeit entwickeln, aufrechterhalten und optimieren (Petzold und Orth 2018). So lernte und lernt der Mensch im Verlauf seiner lebenslangen Entwicklung, so dies gelingt, zu einer Persönlichkeit zu werden und in dieser und durch diese Persönlichkeit Selbstregulations- und Selbstheilungskräfte für sich auszubilden. Das können beruhigende innere Dialoge wie Gebete oder Mantras sein, das kann entlastende Gewissensarbeit oder die heilsame Möglichkeit des liebevollen Umgangs mit sich selbst sein. Selbst­ entwicklung und Selbstgestaltung können schließlich dazu führen, dass das Selbst als Künstler und Kunstwerk erkennbar wird (Petzold 1999q). ▶▶

Es ist wichtig, Selbstregulations- und Selbstheilungskräfte des Organismus zu aktivieren und zu unterstützen. Dies geschieht auch durch Interiorisierung (s. Abschn. 1.2.4) guter Qualitäten, ökopsychosomatische Interventionen, wie Aufenthalte in der Natur, Wandern oder körperliche Arbeit (Petzold 2006, 2018c; Petzold et al. 2013a).

Oft werden die Begriffe Regulation oder Selbstregulation (Kanfer 1970) mit dem aus der Physik stammenden Begriff Selbstorganisation gleichgesetzt, wie er in der Synergetik (Haken und Schiepek 2006) verwendet wird. Die Integrative Therapie hält jedoch am ursprünglichen Regulationsbegriff fest. Der biologische und der physikalische Systembegriff können nicht gleichgesetzt werden. Sie unterscheiden sich durch einen wesentlichen, nicht zu übersehenden Parameter, nämlich durch das Leben. ▶▶

Bezogen auf die vorgegebene Situation, in welcher der Patient sich eben befindet, wird das Leben aus der Sicht der Integrativen Therapie im jeweiligen Gesamtkontext des Lebensverlaufes unter pathogenetischer und salutogenetischer Perspektive betrachtet.

Je nach den Einwirkungen der Einflussgrößen werden das therapeutische Vorgehen und Ziele mit Beteiligung des Patienten als Rahmen konzipiert. Besonders wird darauf geachtet, die protektiven Faktoren zu identifizieren und zu nutzen und die Belastungsfaktoren zu kompensieren, die Risikofaktoren zu mindern und die Resilienzbildung zu fördern (Petzold et al. 1993).

6.7

 ie therapeutischen Wirkfaktoren in der D Integrativen Therapie

In der Integrativen Therapie kommen derzeit nachstehende „therapeutische Wirkfaktoren“ zum Tragen (Petzold 1993p, 2003a, S. 1036-1045; Petzold und Steffan 2000a): • Einfühlendes Verstehen, Empathie • Emotionale Annahme und Stütze • Hilfen bei der realitätsgerechten, praktischen Lebensbewältigung/Lebenshilfe

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• • • • • • • • • • •

6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

Förderung emotionalen Ausdrucks, volitiver Entscheidungskraft Förderung von Einsicht, Sinnerleben, Evidenzerfahrungen Förderung kommunikativer Kompetenz/Performanz und Beziehungsfähigkeit Förderung leiblicher Bewusstheit, Selbstregulation und psychophysischer ­Entspannung Förderung von Lernmöglichkeiten, Lernprozessen und Interessen Förderung kreativer Erlebnismöglichkeiten und Gestaltungskräfte Erarbeitung von positiven Zukunftsperspektiven und Erwartungshorizonten Förderung eines positiven, persönlichen Wertebezugs Förderung von prägnantem Selbst- und Identitätserlebens, Souveränität Förderung tragfähiger, sozialer Netzwerke Ermöglichen von Solidaritätserfahrungen und fundierter Partnerschaft

Auch diese aufgezählten Wirkfaktoren sind wie die Integrative Therapie als Verfahren systematisch unfertig und damit Positionen auf Zeit, daher in ständiger Entwicklung begriffen (Petzold 2014e) (s. Abschn. 3.1.3). Am Fritz Perls Institut in Hückeswagen erfolgte im Rahmen der Forschung zur Entwicklungspsychologie eine Auswertung von 240 Behandlungsberichten und Graduierungsarbeiten Integrativer Therapeuten. Im Fokus standen therapie- und veränderungswirksame Faktoren. Hinzu kam eine Analyse von Fachpublikationen zum Wirkfaktorenkonzept (Petzold 1993a) und zahlreiche empirische Studien der Psychotherapieforschung (Petzold und Schobert 1987). Auf dieser Grundlage wurden unter Einbeziehung des Modells der „Vier Wege der Heilung und Förderung“ (Petzold 1988n, S.  218) (s. Abschn.  7.4) diese Heilfaktoren erarbeitet und in der Praxis erprobt.

Zusammenfassung

Das Prinzip der Intersubjektivität unterstreicht den Verlauf der Entwicklung zur Persönlichkeit in Beziehungsstrukturen und die Beziehungszentriertheit der therapeutischen Praxis. Im Bewusstseinsprinzip wird das menschliche Erleben, durch reflektiertes Bewusstsein gekennzeichnet, dargestellt. Das Bewusstsein ist durch Erkenntnis, Gefühls- und Willensprozesse sowie soziale Prozesse organisiert. Das Sozialitätsprinzip bezieht sich auf netzwerk- und ressourcentheoretische Überlegungen. Die Supervision zur Beachtung möglicher Gefahren in der Psychotherapieausbildung wird thematisiert. Im Leiblichkeitsprinzip werden die Vermeidung der klassischen dualistischen Position und der Versuch einer umfassenderen Sicht von Körper, Seele/Geist angesprochen. Der lebenslange Entwicklungsprozess mit den Dimensionen Bewegung, Gefühl, Wollen und Soziales ist im Entwicklungsprinzip beschrieben. Die veränderungswirksamen Heilfaktoren werden in ihrer Ausrichtung für die Behandlung vorgestellt.

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

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6  Die Theorie der Behandlung in der Integrativen Therapie

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Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

Inhaltsverzeichnis 7.1  D  as Vierphasenmodell  7.2  M  odalitäten in der Integrativen Therapie  7.2.1  Konservativ-stützende, palliative Modalität  7.2.2  Erlebniszentriert-stimulierende Modalität  7.2.3  Übungszentriert-funktionale Modalität  7.2.4  Konfliktzentriert-aufdeckende Modalität  7.2.5  Netzwerkaktivierende Modalität  7.3  Die Tiefungsebenen  7.3.1  Reflexionsebene  7.3.2  Bilder und Affektebene  7.3.3  Involvierungsebene  7.3.4  Autonome Körperreaktionsebene  7.4  Wege der Heilung und Förderung  7.4.1  Bewusstseinsarbeit  7.4.2  Nachsozialisation  7.4.3  Erlebnisaktivierung  7.4.4  Solidaritätserfahrung  7.5  Das Behandlungsverfahren Integrative Therapie  7.6  Mediengestützte Techniken  7.6.1  Körperbild, Body Chart  7.6.2  Panoramatechnik  7.6.3  Selbstbilder und Selbstportraits  7.6.4  Identitätsbilder  7.6.5  Ich-Funktionsbilder  7.6.6  Projektives soziales Netzwerk  7.6.7  Familienskulptur aus Ton  7.6.8  Ressourcenfeld und Konfliktfeld  7.6.9  Innere Beistände, innere Feinde  7.7  Bewältigungsstrategie des Coping und Creating  7.7.1  Copingressourcen  7.7.2  Creating  7.8  Fünf Behandlungsbeispiele aus der Praxis der Integrativen Therapie  Literatur 

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© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_7

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

Die Behandlung in der Integrativen Therapie gründet auf einer professionellen Beziehung, die Zeit in Anspruch nimmt und sich auf die persönliche Situation eines Menschen, eine gesundheitliche Störung oder ein Krankheitsbild bezieht. Der Behandlungsweg findet in einer Kombination von bestimmten Perspektiven als Blickwinkel, Optiken als Betrachtungsweisen und Heuristiken, als Modellvorstellungen statt (s. Abschn. 3.3). Eine Hilfestellung für die Gestaltung des Behandlungsverlaufs ist die Mehrebenenreflexion (Petzold 2003a, S.  34, 2018, S.  145) (s. Abschn. 3.4). In einem vielschichtigen Reflexionsprozess zwischen Therapeut und Patient werden therapeutische Entscheidungen vorbereitet, wie die Auswahl und Kombination der „Wege der Heilung und Förderung, Modalitäten und Tiefungsebenen“ (Petzold 2003a, S. 76–79, S. 507, S. 1038). Die theoriegeleiteten Interventionen erfolgen auf der Grundlage der erhobenen Befunde, sind diagnose- und indikationsspezifisch durch mehrfache Reflexion überprüft und begründet. ▶▶

Wenn möglich verfährt der Therapeut nach den Schritten geschehen lassen, wirken lassen und handeln. Abweichungen von diesen Schritten sind zu begründen, etwa im Fall erforderlicher Stützung, Strukturierung, Grenzziehung oder Krisenintervention.

In diesem Vorgehen konkretisiert sich in der Praxis der Leitsatz „Von den Phänomenen zu den Strukturen und zu den Entwürfen“ (Petzold 2003a, S.  429) (s. Abschn. 2.4.1.1). Ausgangs- und Anknüpfungspunkte der therapeutischen Zusammenarbeit zwischen Patient und Therapeut sind die verbalen und nonverbalen Mitteilungen des Patienten über sich selbst, seine aktuelle Lebenssituation und über die seines sozialen Netzwerkes. Besonders zu beachten sind einerseits die szenischen und atmosphärischen Realisierungen und andererseits die phänomenale Realität der therapeutischen Beziehung (Hofer-Moser 2018). „Es kann so etwas wie eine gemeinsam erstellte (intersubjektive) Diagnose und/oder Prozessdiagnose gemacht werden“ (Osten 2000, S. 453, 2019). Unter Prozessdiagnose wird die Gesamtheit aller Maßnahmen verstanden, die erforderlich ist, um einen Menschen in seiner Lebenssituation und Lebensspanne unter Einbeziehung seiner Sichtweise und seiner „subjektiven Weltbilder“ (Petzold 2003a, S. 475) zu erfassen und zu verstehen. ▶▶

Einerseits wird in ko-respondierender Auseinandersetzung mit dem Patienten ein fundierter Konsens über die Einschätzung des Störungsbefundes über Inhalte, Ziele und Rahmenbedingungen der Therapie vereinbart, andererseits werden eine klinische Diagnose und ein Therapieplan erstellt.

Integrative Therapie beginnt schon mit der Art der Anamneseerhebung und Dia­ gnostik. Der prozessual verlaufende intersubjektive Behandlungsweg beginnt von der Kontaktaufnahme zwischen Therapeut und Patient und schließt im Sinne einer

7.1  Das Vierphasenmodell

181

Theragnostik die Befunderhebung, die Anamnese, die Diagnose und die Therapie ein. Demnach werden Krankheit oder gesundheitliche Störung als Status im Sinne einer Momentaufnahme erhoben, aber nicht als Status diagnostisch festgeschrieben, sondern prozessual intersubjektiv ko-respondierend zwischen Therapeut und Patient ermittelt. Das heißt dynamisch, von Situation zu Situation, im Lichte des sich wandelnden Verständnisses und mit der sich verändernden Befundlage sowie mit den emotionalen Gehalten und sinnhaften Bedeutungen. Hintergrundinformation: Rainer Frank machte Ende der 1960er-Jahre Hilarion G. Petzold auf den Begriff Theragnostik aufmerksam. Wird die diagnostisch-­anamnestische Zielsetzung in einem Prozess erreicht, wird dieser Prozess selbst schon als therapeutisch angesehen.

In der Ko-respondenz zwischen Therapeut und Patient werden die Befunde und Einschätzungen des Therapeuten dem Patienten mitgeteilt und überprüft, damit eine Auseinandersetzung und Abstimmung zwischen Therapeut und Patienten darüber erfolgen kann. Das phänomenale und prozessuale Vorgehen ist durchaus kompatibel mit der strukturell kategorialen Diagnostik der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) und des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) und wird stets mit diesen verbunden (Petzold und Osten 1998). Auf einer solchen Grundlage sind adäquate Zielfindungen möglich (Petzold et al. 1998). Einen Bestandteil des anamnestisch-diagnostischen Prozesses stellt die gemeinsame Reflexion der „Patienteninformation ‚Beipackzettel‘“ (Leitner et  al. 2014) dar, in der u. a. die Beantwortung der Frage erfolgt, wann Psychotherapie überhaupt durchgeführt wird, welche Formen (s. Abschn. 7.5) des therapeutischen Vorgehens es gibt und nicht zuletzt wird über „Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen“ (Leitner et al. 2014; Gahleitner und Schigl, 2019) der Therapie informiert. ▶▶

7.1

Die Behandlung ist ein ko-kreatives Ereignis einer gemeinsamen Vorgehensweise von Therapeut und Patient: Das spezifische Geschehen von Kontakt-Begegnung-Beziehung ist getragen und verantwortet durch die professionelle Kompetenz des Therapeuten und das Mitwirken des Patienten.

Das Vierphasenmodell

Idealerweise verläuft die Praxis der psychotherapeutischen Vorgangsweise im „tetradischen System, einem dynamischen Prozessmodell mit Initialphase, Aktionsphase, Integrationsphase und Neuorientierung“ (Petzold 1974k, 1988n, S. 80). ▶▶

In der Initialphase versucht der Therapeut, die Situation und den Bezugsrahmen des Patienten wahrzunehmen, zu erfassen und ko-­ respondierend zu klären.

182

7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

Weitere Aspekte kommen in der Initialphase zum Tragen, wie Kontakt, Orientierung, Sichtung und Reflexion des vom Patienten eingebrachten Inhalts, sowie vorläufige Konzept- und Hypothesenbildung auf der Basis von Identifizierung und ­Formulierung des Problems. Es werden Sachinformationen wie empirische Daten, Fachwissen und theoretische Modelle ebenso erhoben und reflektiert wie persönliche Erfahrungen, emotionelle und wertende Stellungnahmen. In der Initialphase erhöht die Vielfalt an Informationen die Komplexität. Sinnvolle Reduktionsstrategien strukturieren diese Vielfalt und lassen „Prägnanz und Differenzierung“ (Petzold 2003a, S. 127) erwachsen. ▶▶

Die Aktionsphase ist geprägt von den Wahrnehmungen und Mitteilungen aller Beteiligten in einer Gruppentherapie oder in einer Dyade von Therapeut und Patient, was letztlich zu mehr Verstehen führen kann.

Die Aktionsphase kann mit dem Gefühl von Entlastung, Befreiung, mit einer Atmosphäre von Zugehörigkeit und Zufriedenheit einhergehen. Nonverbal kann sich dieses Gefühl in Mimik, Gestik, körperlicher Haltung und im Bewegungsablauf zeigen und damit „insgesamt eine veränderte Bewusstseinslage ausdrücken“ (Petzold 2003a, S. 130). ▶▶

In der Integrationsphase erfolgt die kritische Auswertung der Ereignisse der Initial- und Aktionsphase entweder im Ko-respondenzprozess einer Gruppe oder in der Dyade zwischen Therapeut und Patient.

Das Ziel der Integrationsphase ist, die erfahrenen Veränderungen bewusst und prägnant zu machen, den Sinn des Geschehens und seine Bedeutung hervorzuheben, „das Erarbeitete kritisch zu reflektieren und in Handlungskonsequenzen überzuleiten“ (Petzold 2003a, S. 130). Der sprachliche Austausch über die gedachten, gefühlten und in Handlung umgesetzten Erfahrungen in den vorangegangenen Phasen ergibt die Integrationsschritte, die als Vorbereitung für die oft umfassenden Veränderungen nötig sind. Praktisch geschieht dies „durch emotionales Teilnehmen an der Erfahrung des anderen und Offenlegungen des eigenen Erlebens (‚sharing‘, ‚selfdisclosure‘), durch Rückmeldung von Beobachtungen (‚feedback‘), durch Klärung der Beziehungen (‚analysis‘)“ (Petzold 2003a, S. 131), in der Gruppentherapie oder in der dyadischen Behandlung zwischen Therapeut und Patient. ▶▶

In der Neuorientierungsphase erfolgt die Umsetzung des Patienten in Handlungssequenzen des Alltags, in die berufliche Situation und in die private Sphäre. Die Veränderung des Umfeldes durch die Person des Patienten und die erfolgreiche Anpassung des Patienten an bestehende Verhältnisse ist möglich.

Die Umsetzung von therapeutischen Konzepten in die Lebenspraxis des Patienten stellt eine Rückwirkung auf die Lebensumstände dar, woraus das Problem hervorgegangen sein mag, weswegen der Patient in die Therapie gekommen war. Die in

7.2  Modalitäten in der Integrativen Therapie

183

der Neuorientierungsphase umgesetzten Praxiserfahrungen führen zu Bestätigung oder Revision. Damit folgt auf die Neuorientierungsphase in einer Spiralbewegung wieder eine Initialphase, die in einem neuen Ko-respondenzprozess die erarbeiteten Entwürfe laufend präzisiert, verändert oder widerlegt, um weitere, noch bessere Praxis zu ermöglichen (Petzold 2003a). Dieser therapeutische Ansatz wurde über die Jahre systematisch ausgearbeitet (Petzold 1973, 1980c) und mit Rückgriff auf die Ergebnisse der longitudinalen Studien zu protektiven Faktoren und Risikofaktoren in der Entwicklungspsychologie vertieft (Petzold et al. 1993).

7.2

Modalitäten in der Integrativen Therapie

In der praktischen Gestaltung des therapeutischen Prozesses legt die Integrative Therapie indikationsspezifisch den Schwerpunkt auf verschiedene Modalitäten und vertritt damit ein „multimodales Vorgehen“ (Petzold und Orth 1990a, S. 910).

7.2.1 Konservativ-stützende, palliative Modalität In der konservativ-stützenden, palliativen Modalität erfährt der Patient Beistand, Begleitung, Entlastung, Sicherung, Linderung von Schmerzen in Krisenepisoden, in Phasen kritischer Lebensereignisse oder anlässlich der Bewältigung bestimmter, überfordernder Lebensaufgaben wie im Umgang mit Verlusten (Petzold et al. 2000a).

7.2.2 Erlebniszentriert-stimulierende Modalität Die erlebniszentriert-stimulierende Modalität und die aktive Imagination unterstützen die Flexibilisierung der Persönlichkeit mit ihren Strukturgefügen (Petzold und Orth 1990a). Dies ist insbesondere bei Patienten angezeigt, die meinen, ihren Körper nur zu haben. In dieser Modalität wird der ganze Mensch in seiner persönlichen Einzigartigkeit als Leib in seinem Ausdruck gefördert, um die distanziert-­ objektivierende Beziehung zu dem eigenen Körper zu verändern, um den eigenen Körper als zugehörig zu erleben, um letztlich Leib zu sein.

7.2.3 Übungszentriert-funktionale Modalität Die übungszentriert-funktionale Modalität dient bei Behandlungen dem Ziel, eine funktional günstige Haltung, Bewegung oder Atmung herbeizuführen. Dies kann mit Relaxationsmethoden wie Integrative Differenzielle Regulation (IDR) (van der Kolk et al. 2000), mit körpertherapeutischen Übungen, Lauftherapie, Bogenschießen und Biofeedback erreicht werden (Hausmann und Neddermeyer 1996; van der Mei et al. 1997; Waibel und Jakob-Krieger 2009; Höhmann-Kost 2018).

184

7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

7.2.4 Konfliktzentriert-aufdeckende Modalität In der konfliktzentriert-aufdeckenden Modalität werden Methoden aus der aktiven Psychoanalyse, der Gestalttherapie, dem Psychodrama und kognitive Problemlösungsansätze zur Anwendung gebracht. Biografische und aktuelle Probleme, dissoziierte und verdrängte Konflikte, problematische Persönlichkeitsstrukturen sowie spezifische Körperhaltungen, die als Folge traumatischer Erfahrungen oft massive muskuläre Verspannungen zur Folge haben, werden einer Behandlung zugänglich gemacht (Petzold 1988n).

7.2.5 Netzwerkaktivierende Modalität Die netzwerkaktivierende Modalität ist ein besonderes Spezifikum der Integrativen Therapie (Hass und Petzold 1999). In dieser Modalität werden zusammen mit dem Patienten die Ressourcen seines sozialen Netzwerkes aktiviert. Dabei verdeutlichen spezifische Mappingtechniken das soziale Netzwerk. Das soziale Netzwerk wird bewusst, transparent und somit nutzbar und kann, wo nötig, erweitert werden. Werden in dem Prozess die Netzwerke als vergiftet oder unvollständig erfahren, sollten sie kuriert werden. Gute Netzwerkqualitäten müssen gepflegt und, wo gewünscht und möglich, ausgebaut werden. In der Gegenwart ist eine zunehmende Erosion traditioneller Struktur- und Organisationsformen zu beobachten. Mit dieser Erosion gehen vermehrt Trennung, der Wechsel sozialer Umgebungen sowie die zunehmende Vereinzelung von Menschen einher. Die Integrative Therapie erachtet es als notwendig, Hilfe bereitzustellen bei der Entwicklung von neuen, tragfähigen sozialen Strukturen, von Netzwerken, in denen der Mensch Zugehörigkeit, Partnerschaft, Nachbarschaft, Kollegialität erfahren kann (Petzold und Märtens 1999). ▶▶

Der Fortschritt in der Theorieentwicklung, in der Forschung und praktischen Behandlungserfahrung wird zur Einführung weiterer Modalitäten führen, beispielsweise zu psychotherapierelevanten naturheilkundlichen Verfahren oder mikroökologischen Ansätzen oder zu internetbasierter Therapie und Beratung.

Neben der immer häufiger in Anspruch genommenen Onlineberatung (Hintenberger 2019) ist noch eine weitere Modalität für den Patienten zu erwägen, die unterstützende gleichzeitige Verordnung von Medikamenten, zum Beispiel bei der Behandlung einer affektiven Störung mit dem klinischen Erscheinungsbild einer schweren depressiven Episode, besitzt nach Überwindung von dogmatischen Barrieren bei manchen Patienten belegbare Evidenz. Laut Psychotherapiegesetz in Österreich, BGBL. Nr. 361/1990, § 14. (2), hat der Psychotherapeut „seinen Beruf persönlich und unmittelbar, allenfalls in Zusammenarbeit mit Vertretern seiner oder einer anderen Wissenschaft auszuüben“ (RIS – Psychotherapiegesetz 2019). Eine allfällige Motivationsarbeit beim Patienten, ggf. einen Arzt aufzusuchen, ist kontinuierlich fortzusetzen und mögliche Widerstände gegen eine solche Konsultation sind zu thematisieren und unterstützend abzubauen (s. Abschn. 2.6.2).

7.3  Die Tiefungsebenen

7.3

185

Die Tiefungsebenen

In der Integrativen Therapie dient das Modell der „vier Ebenen der therapeutischen Tiefung“ (Petzold 1988n, S. 104) zur Einordnung und Beurteilung von Therapieverläufen, zur Lenkung der therapeutischen Interventionen und spezifischen Beantwortung der Äußerungen des Patienten. Dieses Modell kann als Spektrum mit fließenden Übergängen aufgefasst werden. Zwischen den Ebenen der Reflexion, der Bilder und Affekte, der Involvierung und der autonomen Körperreaktion besteht keine klare Trennung. „Die Prozesse von unterschiedlicher Intensität können zwischen den Ebenen oszillieren oder auf verschiedenen Ebenen parallel ablaufen“ (Petzold 1988n, S. 104).

7.3.1 Reflexionsebene Das therapeutische Geschehen erfolgt auf der „Ebene der Reflexion“ (Petzold 1988n, S. 106), der Ebene des Durchdenkens. Erinnerungen kommen als gedankliche Inhalte ins Bewusstsein, ohne Möglichkeit, eine sichtbare emotionale Beteiligung feststellen zu können (Petzold 1988n).

7.3.2 Bilder und Affektebene Auf der „Ebene des Bilderlebens und der Affekte“ (Petzold 1988n, S. 107) können zwei Reaktionen im Erleben unterschieden werden: • Bilderleben ohne emotionale Beteiligung In dem Patienten kommen bildhafte Erinnerungen auf, ohne von diesen Szenen näher berührt zu werden. Der Patient schaut auf die erinnerten Ereignisse wie auf einen Film, der mehr oder weniger interessiert, aber keine emotionale Beteiligung auslöst. • Bilderleben mit emotionaler Beteiligung Der Patient wird vom Geschehen so angerührt wie in einem Film, der ihn emotional erregt, der ihn freudig bewegt oder zu Tränen rührt, aber er bleibt Zuschauer. Die emotionale Beteiligung kann durchaus stark werden, lässt den Körper aber noch relativ unbeteiligt. Kommt es zu Tränen, so ist das Weinen meist flach und schnell wieder vorüber (Petzold 1988n).

7.3.3 Involvierungsebene In der „Ebene der Involvierung“ (Petzold 1988n, S. 107) tritt die Außenrealität stark zurück, der ganze Mensch ist am Gefühlsleben beteiligt. Der Patient wird von Schmerz, Zorn, Angst, Ekel oder Freude gleichsam geschüttelt. Er ist nicht mehr Zuschauer, er ist sozusagen in das Bild, in die Szene hineingetreten. Diese Situation wird dem Involvierten so plastisch, als wäre der Patient in dem Augenblick mitten in dieser Szene (Petzold 1988n).

186

7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

7.3.4 Autonome Körperreaktionsebene In der „Ebene der autonomen Körperreaktion“ (Petzold 1988n, S. 108) kann sich der Prozess der Involvierung so stark verdichten, dass der Körper autonom zu reagieren scheint. Tiefes Atmen, Zittern, Weinen, Schreien können als Erscheinungsbild auftreten. Für ein aktiv tiefendes therapeutisches Vorgehen bedarf es grundsätzlich einer spezifischen Indikation, nicht zuletzt um Retraumatisierungen bei Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) zu vermeiden (van der Kolk 1994; van der Kolk et al. 1996). Bei hoher Tiefung ist die Gefahr einer „trauma addiction“ (van der Kolk 1989, S.  1530) oder „Retraumatisierung“ (Petzold et  al. 2000a, S. 537) zu beachten. ▶▶

7.4

Der sich spontan entwickelnde Prozess ist dem induzierten vorzuziehen. Prozesse haben auf allen vier Ebenen ihre Bedeutung und Berechtigung. Die therapeutische Relevanz hängt nicht vom Erreichen einer bestimmten Tiefungsebene ab.

Wege der Heilung und Förderung

Im Sinne einer differenzierenden Krankheits- und Gesundheitstheorie werden auf unterschiedlichen Niveaus der persönlichen Entwicklung von Patienten unter dem Gesichtspunkt der individuellen Unterschiede Behandlungsstrategien praktiziert, die sich im Wesentlichen in „vier Wege der Heilung und Förderung“ (Petzold 1988n, S. 218, 2012h) fassen lassen. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, auf der theoretischen Grundlage von praktischer Anwendung, durch Technik und Wirkweise multiple Heilungs- und Entwicklungsprozesse zu fördern.

7.4.1 Bewusstseinsarbeit Der erste Weg der Heilung und Förderung ist die „Bewußtseinsarbeit, die zur Sinnfindung führt“ (Petzold 2003a, S. 589). Im Rahmen der intersubjektiven Ko-­respondenz (Petzold 2003a) zwischen Patient und Therapeut kann die therapeutische Behandlung an unbewussten Störungen und Konflikten Klärung und mehrperspektivische Einsicht gewähren. Das Ziel ist, sich selbst und das Leben besser zu verstehen, und durch die Auflösung narrativer Fixierungen, Skripts und durch ­Veränderung kognitiver Strukturen die Herstellung, bzw. die Wiederherstellung von Sinn zu erwirken (Petzold 2012h).

7.4.2 Nachsozialisation Der zweite Weg der Heilung und Förderung ist die „Nachsozialisation, die Grundvertrauen bekräftigt“ (Petzold 2003a, S 589). Auf diesem Weg der Förderung werden Neusozialisation und emotionale Differenzierung angeregt.

7.4  Wege der Heilung und Förderung

187

Durch die Vermittlung substitutiver, korrektiver, alternativer, emotionaler und kognitiver Erfahrungen werden Defizite im Aufbau der Persönlichkeitsstruktur so weit wie möglich behoben. Die persönlichkeits- und entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungen dieser Erfahrungen sollen ausgeglichen und durch korrigierende emotionelle Erfahrung (Alexander 1950) abgemildert oder durch alternative emotionale Erfahrung und Ressourcenarbeit neu orientiert werden (Petzold 1988n, 2003a). Die an den Ergebnissen der Säuglings- und Longitudinalforschung orientierten Behandlungsstrategien kommen v.  a. bei frühen Persönlichkeitsschädigungen in Betracht, um dysfunktionale kognitive, emotionale und volitive Strukturen wie Schemata, Narrative und Skripts zu verändern. Auf dem Weg der Neusozialisation sind Missverständnisse zu vermeiden und zu verhindern. Um den Patienten vor der Fehldeutung eines Beziehungsangebotes durch den Therapeuten zu schützen, ist die Klarheit und Ausdrücklichkeit von Parenting-­Angeboten, von Angeboten einer Elterlichkeit seitens des Therapeuten unbedingt zu beachten. Der Therapeut kann einem Patienten nur wie ein guter Vater sein, resp. nur wie eine gute Mutter sein. Durch Interiorisierung kann Grundvertrauen wiederaufgebaut oder bekräftigt werden. Angestrebt werden eine tragfähige Beziehungs- und Auseinandersetzungsfähigkeit und in emotionalem Erleben „zugehörig sein, beziehungsfähig werden, Liebe spüren und geben, sich zum Freund werden“ (Petzold 2012h, S. 17).

7.4.3 Erlebnisaktivierung Der dritte Weg der Heilung und Förderung ist die „Erlebnisaktivierung, die durch ‚alternative Erfahrungsmöglichkeiten‘ zur Persönlichkeitsentfaltung beiträgt“ (Petzold 2003a, S. 589). Durch die Entwicklung und Förderung persönlicher und gemeinschaftlicher Ressourcen und Potenziale wie Kreativität, Fantasie, Sensibilität oder Flexibilität werden alternative Handlungsmöglichkeiten mittels multipler Anregungen in der erlebnis- und übungszentrierten Modalität gefördert. Dies geschieht durch kreative Erlebnisentdeckung, Arbeit mit Träumen sowie durch das gezielte Einbeziehen des Alltagslebens als Experimentier- und Übungsfeld und durch den aktiven Aufbau und die Stärkung von ressourcenorientierter Erlebnisaktivierung und persönlicher Souveränität. Ziel ist es, neugierig zu bleiben oder neugierig zu werden (Petzold 2012h).

7.4.4 Solidaritätserfahrung Der vierte Weg der Heilung und Förderung ist die „Solidaritätserfahrung“ (Petzold 2003a, S.  589) durch alltagspraktische Hilfen und Förderung der Bildung psychosozialer Netzwerke. Durch soziales Sinnerfassen und Sinnverstehen können die Ursachen hinter den Ursachen und damit die Folgen nach den Folgen erkannt werden. Beabsichtigt wird die Förderung eines komplexen Bewusstseins für die Phänomene zwischenmenschlicher Abgründe und liebevollem Miteinander. Der Bezug zur Sozialität hebt die Erfahrung von Solidarität, sozialer Zugehörigkeit

188

7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

und Eingebundenheit hervor. Dieser Bezug zur Sozialität führt pragmatisch zu Hilfen der Lebensbewältigung mittels Verwendung von behavioralen, suportiven und netzwerktherapeutischen Methoden unter Einbeziehung aller zugänglichen, im Gesundheitswesen anerkannten Einrichtungen und Organisationen. Gemeinsam Schritte zu setzen, ist die Zielorientierung (Petzold 2012h). Auf den Wegen der Heilung, des Linderns und der Förderung kommen unspezifische und spezifische Wirkfaktoren zum Tragen, dies bestätigt auch die Forschung (Märtens und Petzold 1998). Ein, hier erweiterter Leitsatz aus dem Frankreich des 16. Jahrhunderts würdigt das Heilen und Fördern in einer Weise, die auch heute nichts an Aktualität eingebüßt hat: „Heilen manchmal, lindern oft, trösten (und fördern) immer“ (s. Abschn. 6.4). Der Neurobiologe und Primatologe Robert Sapolsky schreibt in seinem 2017 erschienenen Buch Gewalt und Mitgefühl: „Viele unserer besten Manifestationen von Moral und Mitgefühl sind nicht einfach ein Produkt der menschlichen Zivilisation, sondern haben weit tiefere Wurzeln. … Wir werden fortwährend von scheinbar irrelevanten Reizen, unterschwelligen Informationen und inneren Kräften geprägt, von denen wir nicht die geringste Ahnung haben. Unsere schlimmsten Verhaltensweisen, diejenigen, die wir verdammen und bestrafen, sind die Produkte unserer Biologie. Aber vergessen wir nicht, dass das Gleiche auch für unsere besten Verhaltensweisen gilt“ (Sapolsky 2017, S. 863–864). Und es ist sinnlos, zwischen Aspekten zu unterscheiden, die „biologisch“ sind, und solchen, die man als, sagen wir, „psychologisch“ oder „kulturell“ bezeichnen würde. Alle diese Dinge sind unauflöslich miteinander verknüpft. Es ist also augenscheinlich wichtig, die Biologie dieser menschlichen Verhaltensweise zu verstehen. „… Und da stehen wir wirklich vor einem fürchterlichen Durcheinander aus Neurochemie, Hormonen, Sinnesreizen, pränataler Umgebung, Früherfahrung, Genen, biologischer und kultureller Evolution, Umweltdruck und vielem mehr“ (Sapolsky 2017, S. 13–14).

7.5

Das Behandlungsverfahren Integrative Therapie

Das „System der ‚Integrativen Therapie‘ als ‚Verfahren‘“ (Petzold 2003a, S. 974, S. 507) zeigt für die Behandlung ein reichhaltiges und originelles Repertoire von Behandlungsmethoden, Techniken, Medien, Formen, Wegen, Modalitäten, Stilen, Strategien und Modellen, die allesamt darauf ausgerichtet sind, im Rahmen einer intersubjektiven Ko-respondenz theoriegeleitet Ziele für und mit dem Patienten zu erreichen. • Methoden sind theoriegeleitet aufeinander abgestimmte Strategien im Rahmen eines Verfahrens wie Bewegungs-, Tanz-, Kunst-, Musik-, Leib-, Poesie-, Biblio-, Kinder-, Jugendtherapie und Supervision. • Techniken sind Instrumente, die Situationen im Rahmen einer Methode strukturieren, wie beispielsweise Imagination, Rollenwechsel, leerer Stuhl, Identifikations- oder Doppeltechnik.

7.6  Mediengestützte Techniken

189

• Medien sind Informationsträger wie Ton (Erde), Farben, Puppen, Masken, In­ strumente und Video. • Formen sind Ausrichtungen im Rahmen einer Methode wie Einzel-, Paar-, Familien-­und Gruppenbehandlung. • Wege sind indikationsspezifische Ausrichtungen wie Bewusstseinsarbeit, Nachsozialisation, Erlebnisaktivierung und Solidaritätserfahrungen. • Modalitäten sind der Anwendungsmodus der Methode wie übungszentriert, erlebniszentriert, konfliktzentriert – aufdeckend, konservativ stützend, netzwerkaktivierend, internetbasiert oder medikamentös unterstützend. • Stile sind Qualitäten der Intervention wie abstinent, supportiv, konfrontierend, selektiv offen oder partiell teilnehmend. • Strategien sind definiert als der weit gespannte Bogen von Vorbeugung, Wiederherstellung, Erhaltung, Entwicklung, Bewältigung und Amelioration, einer Besserung (Petzold 2003a). Aktionale Methoden wie Behaviordrama, Rollenspiel- und Imaginationsverfahren verwenden kreative Medien (Petzold und Orth 1990a; Petzold und Sieper 1993) bis hin zum Einsatz von leib-, entspannungs- und sporttherapeutischen Maßnahmen (Wilke et al. 1991; van der Mei et al. 1997). Sie werden auf der Grundlage einer differenzierten Interventionslehre eingesetzt (Petzold 1993a; Hausmann und Neddermeyer 1996; Rahm et  al. 1993; Waibel und Jakob-Krieger 2009; Höhmann-­ Kost 2018). Die Theorie der Behandlung und Wirkweise der Integrativen Therapie ist als subjektgerichtet, somit personenzentriert dialogisch und mit einer interaktions-, kommunikationsgerichteten Netzwerkperspektive zu charakterisieren (Petzold 1980g, 1995a; Petzold et al. 1994).

7.6

Mediengestützte Techniken

Erarbeitet wurden für das Behandlungsverfahren Integrative Therapie mediengestützte Techniken von Hilarion G. Petzold, Ilse Orth, Johanna Sieper, Hildegund Heinl, Lotti Müller und andere. Exemplarisch werden mediengestützte Techniken (s. Abschn. 3.2.3) angeführt.

7.6.1 Körperbild, Body Chart Auf dem kreativen Weg „zur leiblichen Geschichte, insbesondere der verdrängten“ (Petzold 2003a, S. 876) wird der Patient angeregt, seinen Leib in Umrissen aufzuzeichnen und all das hineinzumalen, was ihm in den Sinn kommt. Das Körperbild oder Body Chart bietet als Umrissbild dem Patienten Struktursicherheit, Eingrenzungen sind möglich, oder eben ein freies Körperbild mit einem höheren projektiven Potenzial.

190

7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

7.6.2 Panoramatechnik „Die Panoramatechnik in der Diagnostik der Lebensspanne“ (Petzold 2003a, S.  993) bietet unterschiedliche Möglichkeiten wie das Lebenspanorama, das Gesundheits- und Krankheitspanorama, das Arbeitspanorama oder das dreizügige Karrierepanorama. Hintergrundinformation: Ein junger Student hat 1965 im Louvre in Paris eine von Picasso geleitete Führung miterlebt, wo dieser den Bogen seines bisherigen Schaffens vorstellte. Am Ende der durchschrittenen Schauräume hatte dieser Student die Idee, ein „Lebenspanorama“ durchschritten zu haben. Der Student war Hilarion Gottfried Petzold.

Im Unterschied zur fokalisierenden Betrachtung von Einzelereignissen eröffnet die Panoramatechnik durch projektive Darstellungen unter longitudinaler, retrospektiver, aber auch antizipierend prospektiver Perspektive eine Überschau mit synoptischen Qualitäten. Diese Technik ermöglicht eine praxeologische Umsetzung des „lifespan developmental approach“ (Petzold 2003a, S. 69).

7.6.3 Selbstbilder und Selbstportraits Selbstbilder oder „Selbstportraits“ (Petzold 2003a, S. 604) werden als freie, projektive Bilder oder als realistische Bilder des Selbst nach dem Spiegel gemalt, ggf. als Rahmenbilder. Die in der Integrativen Therapie begründete Rahmentechnik ermöglicht dem Patienten, auf einem breiten Rahmen oder Rand externale Einflüsse auf seine Innenwelt bildlich darzustellen. „Der Mensch lebt mit seinem Spiegelbild ein Leben lang“ (Petzold 2003a, S. 603).

7.6.4 Identitätsbilder Bei der Technik der „Identitätsbilder“ (Petzold 2003a, S. 995) werden die als „Säulen der Identität“ (Petzold 1983f, S. 430 und s. Abschn. 4.5) benannten Identitätsbereiche Leib, soziales Netzwerk, Arbeit/Leistung/Freizeit, materielle Sicherheiten und Werte ins Bild gebracht. Sofern die Instruktion dies vorgibt, kann die Darstellung auch unter longitudinaler Perspektive erfolgen.

7.6.5 Ich-Funktionsbilder In der Technik der bildliche Darstellung der „Ich-Funktionen“ (Petzold 2003a, S. 74) wird die Darstellung der primären Ich-Funktionen wie Denken, Fühlen, Wollen, Handeln oder Memorieren, der sekundären Ich-Funktionen wie Integrieren, Differenzieren oder Demarkation und evtl. der tertiären Ich-Funktionen wie soziales Gewissen, politische Sensibilität oder philosophische Kontemplation angeleitet (s. Abschn. 4.3.2).

7.6  Mediengestützte Techniken

191

Auch hier gilt, sofern es die Instruktion vorgibt, kann die Darstellung auch unter einer longitudinalen Perspektive erfolgen.

7.6.6 Projektives soziales Netzwerk Das projektive soziale Netzwerk wurde in Erweiterung von Morenos „sozialem Atom“ (Moreno 1947b) als mediengestützte Technik in die Integrative Therapie eingeführt. Das soziale Netzwerk des Patienten wird in der Regel als Dreizonenprofil dargestellt, als Kern-, Mittel- und Randzone, zuweilen spezifiziert als familiales, amikales, kollegiales oder visionales Netzwerk. In einem Netzwerk sind oftmals unterschiedliche „social worlds“ oder „représentations sociales“ vorhanden, die als kollektive Kognitionen, Emotionen und Volitionen definiert werden und mit der Sprechblasentechnik visualisiert werden können. Sofern die Instruktion dies vorgibt, kann die Darstellung auch unter longitudinaler Perspektive erfolgen.

7.6.7 Familienskulptur aus Ton In der Erweiterung der Idee des „sozialen Atoms“ (Moreno 1947b) wird der Patient eingeladen, aus Ton seine Familie zu formen, zu arrangieren. Diesem Ansatz folgend werden in der Gruppentherapie vom Protagonisten Gruppenteilnehmer als Familienmitglieder im Raum aufgestellt und durch diese Technik in Szene gebracht. Hintergrundinformation: Die Aufstellungs- und Interpretationsarbeit erfolgt in der Integrativen Therapie durch den Protagonisten, nicht wie bei Hellinger durch den Therapeuten. Als Gruppenteilnehmer in Wien lernte Hellinger das Familienaufstellen als eine psychodramatische Technik bei Petzold 1970 kennen und baute diesen Ansatz in einer spezifischen Weise aus, deren Ausrichtung die Integrative Therapie nicht teilt.

7.6.8 Ressourcenfeld und Konfliktfeld Als mediengestützte Techniken sind Ressourcenfeld und Konfliktfeld inhaltlich selbsterklärende Ansätze für „ein mehrspektivisches Erfassen komplexer Zusammenhänge“ (Petzold 2003a, S.  162). Im Ressourcenfeld werden die Eigen- und Fremdressourcen der Person gemäß der Integrativen Ressourcentheorie (Petzold 1997p) dargestellt, gleichermaßen im Konfliktfeld die Konflikte.

7.6.9 Innere Beistände, innere Feinde Die „inneren Beistände“ und die „inneren Feinde“ als mediengestützte Techniken sind in Anlehnung an die Freudʼsche „Über-Ich-Konzeption“ als „Über-Ich-Bänke“ (Petzold und Orth 1994a, S. 375) bekannt. Die Persönlichkeit des Menschen wird

192

7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

als von internalisierten positiven und negativen Menschen „bevölkert“ gedacht, deren Atmosphären und Botschaften das Denken, die Gefühle und das Verhalten bestimmen. Die angeleitete bildliche Darstellung kann diese Einflüsse erkennbar werden lassen. Die mediengestützten Techniken erweisen sich als ein direkter Weg zum Menschen, wo noch nie Gedachtes, noch nie bewusst Empfundenes und Zusammenhänge erfahrbar gemacht werden, sodass sich Wege zu Neuorientierungen eröffnen können. Smartphones und Suchmaschinen bieten in „Veränderte mediale Lebenswelten und Implikationen für die Beratung“ (Hintenberger und Kühne 2009) neue kreative mediengestützte Wege an, wie Behandlungswege in der Quarantäne während der Corona-Pandemie 2020 gezeigt haben.

7.7

Bewältigungsstrategie des Coping und Creating

Die Integrative Therapie sieht für kritische Lebenslagen des Menschen als Bewältigungsstrategien sog. Coping- und Creatingmöglichkeiten (Petzold 2003a, S.  74) vor. Für bedeutsame, schwierig empfundene Lebensereignisse und Lebensphasen werden in der psychotherapeutischen Behandlung ko-kreativ diese Interventionsformen als weitere Bewältigungshilfen angewendet.

7.7.1 Copingressourcen „Coping und Ressourcengebrauch“ (Petzold 1997p, S. 435) sind in der Psychotherapie wichtige Konzepte geworden. Die Integrative Therapie hat hierzu einen umfassenden ressourcentheoretischen Ansatz beigesteuert (Petzold 1997p). Das Coping gebraucht und verbraucht als Bewältigungsleistung Ressourcen. Die Bewältigungsstrategie des Coping kann sich in unterschiedlichen Stilen vollziehen, die personen- und situationsspezifisch ausgeprägt sein können. • Evasives Coping ist der Versuch, den Belastungen und Bedrohungen durch Ausweich-­und Vermeidungsstrategien zu entgehen. Die Methodik liegt im ko­ gnitiven und emotionalen Abwägen, was funktional und was angemessen ist. Das Erarbeiten und Erproben erfolgen durch Rollenspiel oder in  vivo. Beides sind gute Ausweichstrategien. • Aggressives Coping will durch Strategien der Konfrontation, der Selbstbehauptung, des Kampfes und durch wehrhaftes Verhalten mit Negativeinwirkungen bewältigen. Die Methoden erfolgen in Aggressionsübungen, in einem Selbstbehauptungstraining, in psychomotorischen Übungen oder im Rollenspiel. • Adaptives Coping versucht durch Strategien der Anpassung, der Regression, der Zurücknahme und durch bedachtsames Verhalten mit Problemen, Belastungen oder Überforderungen zurechtzukommen. Die Methoden dafür erfolgen durch kognitives und emotionales Abwägen, was funktional und was angemessen ist, oder über Erarbeiten und Erproben durch Rollenspiel oder in vivo (Petzold 1997p).

7.8  Fünf Behandlungsbeispiele aus der Praxis der Integrativen Therapie

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7.7.2 Creating In den unterschiedlichen Creatingstilen liegen Möglichkeiten kreativer bzw. ko-­ kreativer Lebensgestaltung oder Problemlösung. Durch Creating können Ressourcen geschaffen werden. Für das Creating lassen sich situations- und personenabhängige Stile durch schöpferisches Handeln finden. Der Begriff „Stil“ beschreibt in der Psychotherapie auch Qualitäten der Intervention im Rahmen einer Methode, wie direktiv oder nondirektiv, abstinent oder zugewandt, aufdeckend oder stützend (Petzold 1997p). • Creative Adjustment benennt das kreative Anpassen in vorgefundenen Gegebenheiten unter einfallsreicher Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten. Die Methoden liegen in Improvisations- und Rollenspielen, Szenarienentwürfen und Szenarienreflexion (Petzold 2003a). • Creative Change benennt das kreative Gestalten und Verändern der vorgefundenen Gegebenheiten, im Sinne ihrer Überschreitung und Ressourcenvermehrung. „Methodik: Szenenentwürfe, Rollenspiele, Souveränitätskarten, Power-Map“ (Petzold 1998a, S. 342), kreative Medien (Petzold und Orth 1990a). • Creative Cooperation benennt die ko-kreative, das individuelle schöpferische Tun überschreitende Aktivität, in der Möglichkeiten einbezogen werden und Konfluxphänomene als fließendes Zusammenspiel von Potenzialen auftauchen. Neue Ressourcen werden freigesetzt und geschaffen (Petzold 1997p; Petzold und Orth 1996b). „Methodik: Arbeit mit kreativen Medien“ (Petzold 1998a, S. 287). Die Integrative Therapie wird in der Praxis bei Patientengruppen unterschiedlichsten Alters, bei Kindern, Jugendlichen sowie Erwachsenen, und unterschiedlicher Symptomatik von integrativen Therapeuten in Privatpraxen, Kliniken, Fachkrankenhäusern und Einrichtungen der Rehabilitation und in Beratungsstellen angewandt. Auch in der Psychiatrie und in der Psychosomatischen Medizin wird das Verfahren eingesetzt, gemäß der Definition: „Die Ausübung der Psychotherapie wird definiert als umfassende bewusste und geplante (Kranken-)Behandlung …“ (Kierein 2011, S.  45). Zahlreiche Behandlungsverläufe, Abschlussarbeiten und Masterthesen belegen dies (FPI-Publikationen 2019; Universitätsbibliothek  – Donau-­Universität Krems 2019). Hintergrundinformation: „Die Praxis der Integrativen Therapie“ (Reichel und Hintenberger 2013) und „Leibtherapie. Eine neue Perspektive auf Körper und Seele“ (Hofer-Moser, 2018).

7.8

 ünf Behandlungsbeispiele aus der Praxis der F Integrativen Therapie

Die folgenden anonymisierten und de-identifizierten Behandlungsbeispiele (Rall et  al. 2014) aus der Praxis der Integrativen Therapie zeigen den möglichen Verlauf ko-respondierenden Geschehens im Rahmen leibtherapeutischer

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

Fokalinterventionen. Diese Interventionen wachsen oftmals aus längerfristigen therapeutischen Kontakten. Es geht um das ganzheitliche Erfassen von Abläufen, um das Sammeln objektiver Aspekte und subjektiver Sichtweisen. Zudem sind situative, szenische und atmosphärische Informationen grundlegend für diese Arbeit. Dieser für die Integrative Therapie spezifische Zugang zum Menschen ist zwar nur ein Aspekt für dieses Psychotherapieverfahren, aber ein sehr charakteristischer. Es handelt sich jeweils um die Vorstellung einer klinischen Mikrosituation, die im Rahmen geglückter intersubjektiver Begegnung für den jeweiligen Patienten Verbesserung bewirken kann. Behandlungsbeispiel 1 Dieses Behandlungsbeispiel schließt an das Beispiel aus der Praxis im Abschn. 5.1.2.3 an: Ein Verkäufer hatte eine Auseinandersetzung mit einem Kunden, und ohne es selbst zu bemerken, ballte er die rechte Hand zur Faust und hob den Arm leicht an. Er verspürte seitdem einen stechend-ziehenden Schmerz vom Rücken ausgehend über die Nackenregion bis in die Stirnregion. Eine Leibintervention machte deutlich, dass sich der aggressive Impuls in Form einer Retroflexion äußerte und sich auf diese Art in leibliche Konkretheit transformierte. Mit der Anregung des Therapeuten des Verstärkens der aufkommenden Körperimpulse, Faustschluss und Auswärtsbewegung des Armes, bestand die Leibintervention darin, die vorhin vom Therapeuten wahrgenommene Bewegung auch dem Erleben des Patienten zugänglich zu machen. Nach Einladung durch den Therapeuten im gut geschützten Therapieraum verstärkte der Patient den aufkommenden Impuls und ließ den zurückgehaltenen Ärger zu, indem er kraftvoll mit der Faust auf einen Medizinball schlug. Im System der Praxisbeschreibung der Integrativen Therapie kann diese Therapiephase theoretisch als Aktionsphase beschrieben werden, als dritte Ebene der therapeutischen Tiefung und als konfliktzentriert aufdeckende Modalität. Der Therapeut ermutigte den Patienten noch in einem weiteren Schritt, sich verbal zu äußern. Daraufhin kam eine Flut von verbalen Attacken gegen den Kunden, danach gegen andere ihm nahestehende Personen. Nach dieser für den Patienten körperlichen Anstrengung fühlte er sich im Moment frei von Schmerz und blieb es auch in der Folgezeit. Er selbst interpretierte das Erlebte so, dass der aggressive Impuls gegen den Kunden im Ansatz steckengeblieben war und sich in einer schmerzhaften Muskelverkrampfung im Bereich des rechten Armes über die Nackenregion ausstrahlend geäußert hatte (Reich 1973). Der Therapeut griff nur das Phänomen Faustschluss und Abduktion des rechten Armes als Signal auf. Das führte den Patienten zum Evidenzerlebnis, wobei die Entschlüsselung der Signale anschließend durch den Patienten selbst geleistet wurde (Integrationsphase). In der nachfolgenden Reflexion überlegte der Patient, wie er sich in einer zukünftigen ähnlichen Situation verhalten könnte, um derartige Schmerzen zu vermeiden. Er beschloss, zu versuchen, dem Impuls in geschütztem Rahmen nachzugeben, Bewegungsansätze aufzugreifen, diese zu verstärken und sich auf diese Weise damit Erleichterung zu verschaffen (Neuorientierungsphase).

7.8  Fünf Behandlungsbeispiele aus der Praxis der Integrativen Therapie

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Behandlungsbeispiel 2 Eine Studentin kam wegen einer anfallsartig auftretenden Atemnot in die Therapie. Diese Atemstörung wurde von dem Internisten als paroxysmale Dyspnoe diagnostiziert und wurde trotz medikamentöser Behandlungsversuche nicht besser. Bei der Beschreibung ihrer gesundheitlichen Störung erkannte die Patientin keine Zusammenhänge zwischen zeitlichem Auftreten, allfälligen Begleitzeichen sowie intensivierenden oder lindernden Faktoren. Sie selbst vermutete trotz der unauffälligen Untersuchungsergebnisse eine noch nicht entdeckte organische Ursache für ihre Beschwerden. Daher nahm sie zunächst die Zuweisung zur Psychotherapie abwehrend auf. Mit Ausnahme der momentanen körperlichen Beschwerden empfand die Frau ihre augenblickliche Lebenssituation als zufriedenstellend. Als sie im Detail über ihre Atemnotanfälle berichtete, fiel dem Therapeuten auf, dass sie bemüht war, ihren Kopf gerade zu halten und dass sie dabei immer wieder mit den Augen horizontal nach links bzw. leicht nach links oben blickte. Durch die Mitteilung dieser Beobachtung fokussierte sie ihre Wahrnehmung auf den immer wieder nach links außen gerichteten Blick. Die Patientin wiederholte ihn bewusst mehrfach. Daraufhin veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, sie nickte und begann zu weinen. Nach einiger Zeit beruhigte sie sich, und auf die Frage, ob sie erzählen wolle, woran sie sich erinnert habe, folgte eine erweiterte persönliche Anamnese. Sie wohnte seit 2 Jahren mit ihrem Freund, einem Studenten, zusammen. Die Patientin fühlte sich für ihre Beziehung mit ihm dermaßen verantwortlich, dass sie alles organisierte, von der Prüfungseinteilung bis zur Freizeitgestaltung. Ihr Freund nahm ihre Vorschläge immer gerne auf. Nach der gemeinsam bestandenen Skilehrerprüfung lernte sie mit ihrem Freund in einer Tanzschule lateinamerikanische Tänze. Dabei waren die beiden so erfolgreich, dass sie auch an Turniertänzen teilnahmen. Für ihren Freund organisierte sie wegen des besser passenden Größenunterschiedes eine Freundin als Tanzpartnerin. Da sie sich auch für die Tanzfortschritte der beiden verantwortlich fühlte, kontrollierte sie deren Schritte mit dem vom Therapeuten wahrgenommenen charakteristischen Blick. Es fiel ihr jetzt wie Schuppen von den Augen, dass sie offensichtlich mehr wahrgenommen hatte, nämlich die Sympathie der beiden füreinander. Beim Aussprechen dieser für sie bis jetzt nicht bewussten Wahrnehmung blieb ihr, wie sie selbst sagte, „regelrecht die Luft weg“. Der Internist behandelte eine paroxysmale Dyspnoe. Weitere Details folgten, ihr Freund setzte sich nach dem Tanzen im Lokal neben seine Tanzpartnerin und nicht neben sie oder er holte seine Partnerin vor dem Kursbeginn allein − ohne sie − zum Tanzen ab. Sie sprach den Verdacht aus, dass das zeitliche Auftreten des Symptoms, der anfallsartigen Atemnot, mit der ihr bis jetzt nicht bewussten Eifersucht in Zusammenhang stand. Plötzlich begann die Patientin von ihrer Mutter zu erzählen, welche sich, als die Patientin ca. ein halbes Jahr alt war, von ihrem Mann, dem Vater der Patientin, trennte, weil er eine Außenbeziehung hatte. Die Mutter heiratete wieder; auch der zweite Mann hatte, als die Patientin 9 Jahre alt war, eine Freundin. In weiterer Folge hatte ihr Stiefvater immer wieder Affären. Lange war es auch ein Familiengeheimnis, dass der Stiefvater nicht der biologische Vater der Patientin war. Für die unmittelbare Nachbarschaft wirkte die Familie vollkommen intakt und heil. Die Patientin entschied sich im Lichte

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

dieser Zusammenhänge für eine längst fällige Aussprache mit ihrem Freund. Die im Rahmen der prozessualen Diagnostik auf der Grundlage der leibbezogenen Psychotherapie herausgearbeitete Problem- und Konfliktanalyse zeigte bei der Patientin in der frühkindlichen Zeit Atmosphären von Eifersucht, krampfhaftes Festhaltenwollen und Verlassenwerden als Traumatisierungen, Defizite und fortwährende Konflikte. Das Nicht-akzeptieren-Wollen von Tatsachen (der Stiefvater wird lange Zeit als der leibliche Vater ausgegeben, eine heile Welt wird vorgespielt) unterstreicht das Milieu in der Familie und verdeckt die Diskontinuitäten. Daraus ergibt sich in der Leibfunktionsanalyse, dass der perzeptive, memorative und expressive Leib sich in festgeschriebenen Handlungsformen (Narrativen) wiederfindet. Das vorgelebte Verhalten der Mutter, so sieht es die Patientin zu diesem Zeitpunkt der Therapie, wurde von ihr „miterlebt“. Sie fühlte sich für die Beziehung zu ihrem Freund verantwortlich und versuchte ebenfalls, alles unter Kontrolle zu halten. So könnten, meinte sie, spannungsgeladene Atmosphären, die ihr aus ihrer frühen Kindheit bekannt waren, ungewollt wiederhergestellt und fortgesetzt werden. Behandlungsbeispiel 3 Der Sohn eines Landwirtehepaars wird mit Verdacht auf Herzinfarkt von der Rettung auf die Medizinische Abteilung eines Krankenhauses gebracht. Er leidet unter massivem präkordialem Druckschmerz. Eine gründliche körperliche Untersuchung zeigt, dass organisch nichts messbar Pathologisches vorlag. Bei der Durchuntersuchung wird auch der Verdacht auf eine psychosomatische Störung ausgesprochen. Eine Psychotherapie wird in Erwägung gezogen und dem Patienten empfohlen. Beim ersten Kontakt tritt dem Therapeuten ein mittelgroßer, stämmiger junger Mann entgegen, der ihn freundlich-ängstlich anlächelt. Bei der Begrüßung reicht er dem Therapeuten nur seine Fingerspitzen; sie fühlen sich zittrig und schweißig an. Nachdem ihm ein Platz angeboten wird, setzt er sich auf die vordere Kante des Stuhles. Bei „eingezogenem“ Kopf wölbt er seinen Rücken wie den Panzer einer Schildkröte. Die Arme liegen auf seinen Oberschenkeln, die Hände sind krampfhaft aneinandergepresst, ebenso die Beine. Er beginnt sofort mit der Erklärung, dass er sich nicht vorstellen könne, dass „dies alles nur nervlich“ sei, denn er spüre ja die Schmerzen und bilde sich das wirklich nicht ein. Auf die Frage des Therapeuten, wie er sich jetzt gerade erlebe, sagt er: „Wie eingeklemmt“. Eine treffendere Beschreibung für seine Körperhaltung hätte es für diesen Augenblick wohl nicht gegeben. Auf die weitere Frage, wo er sich sonst noch wie eingeklemmt erlebe, kommt nach einem bitteren Lächeln ein detaillierter Lebenslauf, der für ihn durchwegs einengend war. Als jüngstes von vier Geschwistern, die inzwischen alle verheiratet sind und auswärts wohnen, ist er vom Vater dafür bestimmt worden, einmal den Hof zu übernehmen. Der Vater ist zu Hause der unumschränkte Herrscher und denkt noch nicht daran, die Landwirtschaft seinem Sohn zu übergeben. Dieser fühlt sich daher als Diener seines Vaters, als Befehlsempfänger, und kann keine einzige eigenständige Idee gegen den Vater durchsetzen. Die Beziehung zu einer Frau scheiterte, weil seine Freundin sich nicht dem zukünftigen Schwiegervater unterordnen wollte. Einige Tage vor der Aufnahme im Krankenhaus kam es wieder zu einer „einsamen Entscheidung“ des Vaters, die aber in ihrer Tragweite die Zukunft des Sohnes betraf. Es ging um den

7.8  Fünf Behandlungsbeispiele aus der Praxis der Integrativen Therapie

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Zukauf einer weiteren Landwirtschaft. Beim Abschluss dieses Geschäftes, mit dem der Patient überhaupt nicht einverstanden war, aber auf ausdrücklichen Wunsch seines Vaters anwesend sein musste, verspürte er einen immer stärker werdenden stechenden, bohrenden Schmerz in der Brust, und zwar von der Stelle ausgehend, wo er schon immer eine Berührungsangst gehabt hatte. Auf die Frage, seit wann genau er diese Berührungsangst dort habe, kann er keine Antwort geben. Während seines Berichtes spricht er mehrmals die Vermutung aus, dass bei der organischen Untersuchung „etwas übersehen“ worden sei. Auffallend ist auch, dass sich der Patient während des Erzählens immer wieder zur Tür umblickte, als würde er jemanden erwarten. Darauf angesprochen, sagte er, dass es seinem Vater wohl nicht recht wäre, wenn er wüsste, worüber er hier rede. Am Ende dieser ersten Begegnung sagt der Therapeut dem Patienten, dass er in seinen Lebensumständen sehr wohl mögliche Zusammenhänge für seine Schmerzen vermute und bereit wäre, ihn zu behandeln, wenn er dies wolle. Einen stationären Aufenthalt hielt der Therapeut nicht mehr für notwendig. Er müsse sich, falls er sich dafür entscheide, selbst um einen weiteren ambulanten Termin bemühen. Der Patient sagt, dass er dieses Gespräch angenehm erlebt habe, seine Schmerzen seien im Vergleich zum Zeitpunkt der Aufnahme zwar nicht mehr so gravierend, aber dennoch da. Er könne sich überhaupt nicht vorstellen, dass sein Zustand „nur durch Reden“ zu verändern sei. Der Therapeut bleibt bei seinem Angebot, und die beiden verabschieden sich. Wenige Tage später bittet der Patient um einen ambulanten Termin und kommt in die „zweite Stunde“. In der Zwischenzeit habe ihn, wie er mitteilt, das letztes Gespräch sehr beschäftigt, insbesondere die Frage, seit wann er die Berührungsangst an der beschriebenen Stelle habe. Dabei erinnerte er sich nach einer Plauderei mit seiner Mutter unklar an eine Bedrohung durch ein Pferd auf der Weide, die er als kleines Kind erlebt habe. Der Therapeut fragt ihn, ob er zu einem Experiment bereit sei. Er willigt ein, und beide gehen in den unmittelbar an den Therapieraum a­ ngrenzenden Gymnastikraum. Dort wird der Patient angeregt, die Szene auf der Weide durch das Aufbreiten von Matten nachzustellen und jene Teile zu erzählen, an die er sich erinnern kann. Dann schlägt der Therapeut ihm vor, sich wie damals auf den Boden (auf die vorbereiteten Matten) zu legen. Durch seine Erzählung stimmt er sich auf die Szene ein und führt sich so der damals erlebten Situation näher. Der Therapeut hält ein Kopfkissen so gegen die Brust des Patienten, wie dieser in dessen Erinnerung (oder der Erinnerung von dessen Mutter) durch den Kopf des Pferdes bedroht und gedrückt wurde und verharrte in dem Augenblick trotz Gegenwehr. Er drückt seine Angst aus und versucht mit seinen Händen, sich vom Kissen zu befreien. Nach geraumer Zeit in dieser für den Patienten bedrohlich empfundenen Situation beendet der Therapeut die Szene so abrupt, wie er die Szene vorher beschrieben bekommen hatte. (Damals befreite ihn seine Mutter aus der ihn beängstigenden Lage.) Nach dieser Anstrengung bleibt der Patient mehrere Minuten auf der Matte liegen, setzt sich dann langsam auf und berichtet über die Eindrücke, die er jetzt wiedererlebt, wiederempfunden hat. Dabei streift er mit der rechten Handfläche über den gesamten Brustbereich. Nach der vollzogenen Handbewegung sagt er verwundert, er verspüre im Augenblick keinen Schmerz und nennt dies (für den Moment) „Zauberei“. Er wiederholt diese Handbewegung mehrmals, auch mit der linken Hand.

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

Der Patient ist am Ende der zweiten Stunde sehr froh über die erlebte Erfahrung und betont, dass er jetzt wisse, dass Psychotherapie nicht nur „reden“ sei und sich bei ihm „wirklich etwas verändert“ habe. Er entscheidet sich dafür, wiederzukommen, weil er sich jetzt auch Bewältigungsstrategien für das Leben mit seinem Vater erhofft. Die Therapie wird weitergeführt, wobei besonders die Vaterthematik im Mittelpunkt steht. Nach einem halben Jahr wird die Behandlung auf Wunsch des Patienten beendet. Er fühlt sich jetzt nicht mehr wie „eingeklemmt“, das ist auch an seiner veränderten Körperhaltung erkennbar. Interpretative Auswertung: Der Patient kommt zur prozessualen Diagnostik. Die schon lange anhaltende Lebenssituation des Patienten drückt sich konkret in seiner Sitzhaltung (Lebenshaltung) aus. Aus dem Erkennen und der daraus erfolgten Einsicht, dass es Zusammenhänge zwischen seiner Lebenssituation und seiner Körperhaltung gibt, wächst eine Erwartungshaltung bezüglich dieser unbekannten Therapieform. Die „Neugier“, der Leidensdruck und die angebotene freie Entscheidung zur Therapie lassen in ihm nach einer kurzen Bedenkzeit den Entschluss reifen, wiederzukommen. In der Aktionsphase kommt es auf der Affektebene zu der kathartischen Abreaktion eines leiblich gespeicherten Erlebnisses. Dabei fällt auf, dass ihm während der Regressionsarbeit nicht die volle Kraft eines erwachsenen Mannes zur Verfügung steht. Sein Leib ist während dieser Behandlung die sichtbare Brücke zwischen dem Damals und dem Hier und Heute. Die existenzielle Bedrohung damals bekommt Bezug zur Ohnmachtssituation jetzt. Das Leibgedächtnis, (metaphorisch gemeint, nicht buchstäblich) hier verstanden als Reservoir alter Szenen, welche die Zeit überdauern und in seinem Fall als Residuum nur mehr eine Berührungsangst an der einst bedrohten Körperstelle zeigen, dieses Leibgedächtnis wird durch das aktuelle Angebot an der gegenwärtigen Stelle des Zeitkontinuums wieder lebendig. Hat der Patient über die Jahre an dem durch das Trauma von einst ausgelösten „punctum maximum“ als chronifizierenden Fortbestand − durch viele auch im übertragenen Sinne immer wiederkehrende Einengungen − eine Berührungsphobie behalten, so empfindet er durch die sich jetzt zuspitzende Lebenssituation, die nicht austragbare Auseinandersetzung mit dem Vater, einen Bedrohung verheißenden Schmerz. Um die Erfahrung nach der Abreaktion für sich annehmen zu können, erklärt der Patient das gerade Erlebte zunächst für „Zauberei“. Dieses Erlebnis bestätigt ihm aber auch, dass es sinnvoll ist, sich auf eine weiterführende Therapie einzulassen. So kann er an die gelungene leibzentrierte Fokalintervention eine Therapie anschließen, in der es möglich wird, an dem für ihn schwierigen Vaterproblem zu arbeiten und eine Entfaltung und Bereicherung seines eigenen personalen Potenzials zu erreichen. Behandlungsbeispiel 4 Eine Schülerin wird von der Kinderabteilung eines Krankenhauses mit der Verdachtsdiagnose Anorexia nervosa zur Begutachtung geschickt. Sie ist die Tochter von Kaufleuten und hat noch vier ältere Brüder. Die Patientin kommt in Begleitung ihrer Mutter auf die Psychosomatische Station. Das groß gewachsene Mädchen wirkt sehr scheu und zurückhaltend. Ihre Mutter strahlt Wärme und Fürsorglichkeit

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aus. Sie beginnt auch gleich zu berichten, dass die Tochter seit einem halben Jahr nach der Behandlung bei einer Logopädin ihre Essgewohnheiten vollkommen geändert habe. Sie nehme keinen Bissen mehr zu sich, ohne sofort Tee oder Wasser nachzutrinken und komme so pro Mahlzeit auf bis zu über 2 l Flüssigkeitsaufnahme. Danach erbreche sie regelmäßig und habe daher ständig an Gewicht verloren. Seit 3 Monaten sei auch die Menstruation, die sie seit 2 Jahren hatte, wieder vollständig ausgeblieben. Während dieses Berichts fühlt der Therapeut die großen, braunen Augen des Mädchens auf sich gerichtet und nimmt in Abständen von mehreren Sekunden ritualisierte Schluckbewegungen wahr, wobei sie den Kopf zunächst leicht nach vor neigt, in der weiteren Folge langsam zurückbewegt und dabei leicht die Schultern hebt. Der Therapeut teilt ihr seine Beobachtung mit, worauf ihm die Mutter antwortet, dass ihre Tochter das jetzt immer so mache. Er fragt daraufhin die Patientin, was sie ihm dazu sagen könne. Sie erzählt ihm, dass sie das Verhalten seit dem „Elektroschock“ vor einem halben Jahr habe. Dem Therapeuten scheint diese Antwort höchst ungewöhnlich; darum lässt er sich den „Elektroschock“ genau beschreiben. Es stellt sich heraus, dass das Mädchen bei der Logopädin eine Elektrotherapie erhalten hatte. Der Therapeut bittet das Mädchen, diese Schluckbewegungen in kürzeren Abständen zu wiederholen und dabei etwas zu übertreiben. Während der Übung regt er sie an, nachzudenken, wo sie solche Schluckbewegungen schon einmal erlebt hat, worauf sie sofort von einem Film erzählt, den sie vor etwa 2 Jahren im Fernsehen gesehen hatte. Der Mann in diesem Film erhielt Elektroschocks, woraufhin er Schluckstörungen hatte. Mit diesen Bildern aus der Erinnerung, dem Bewegungsverlauf und der kindlichen Fehlinterpretation erscheint es neben weiteren Fakten unwahrscheinlich, dass es sich hierbei um eine Anorexia nervosa handelt. Zudem besteht keine Furcht davor, dick zu werden; es liegt keine Störung des Körperschemas vor. Der Gewichtsverlust beträgt nur 12,5 % statt mindestens 25 % wie bei einer Anorexia nervosa. Es besteht auch keine Weigerung, das nach Alter und Größe berechnete Normalgewicht zu halten. Daraufhin ersucht der Therapeut die Mutter, sie möge etwas zu essen kaufen, von dem sie weiß, dass ihre Tochter es sonst sehr gerne mag. Etwas verwundert über seine Aufforderung geht sie ins Krankenhausbuffet und besorgt einen Kuchen. In der Zwischenzeit beschreibt der Therapeut der Patientin genauestens den Schluckvorgang und betont dabei, dass alles, was die Speiseröhre einmal erfasst hat, auch wenn es länger dauert, in den Magen befördert wird. Dabei fordert er sie auf, das Beschriebene in Gedanken mitzuvollziehen. Als die Mutter wieder zurückkommt, bittet der Therapeut die Patientin, das eben Besprochene und von ihr gedanklich Mitvollzogene auszuprobieren. Die Mutter sieht sich sofort nach einem Glas Wasser um, weil sie ja weiß, dass ihre Tochter nach jedem Bissen trinken muss. Der Therapeut hält die Mutter davon ab und regt an, ihre Tochter möge es einmal ohne zusätzliches Wassertrinken versuchen. Zu ihrer Überraschung isst die Tochter den Kuchen ohne unterstützendes Nachtrinken auf. Nach dieser Fokalintervention vereinbart der Therapeut mit der Patientin noch ein paar Begegnungen. Sehr bald hat sie an Gewicht zugenommen, die Menstruation hat sich wieder eingestellt und die Essgewohnheiten sind unauffällig geblieben.

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

Versuch einer Interpretation: Das Aufgreifen des leiblichen Signals (auffallende Schluckbewegungen) führt zum Kern des erinnerten Evidenzerlebnisses (Film). Indem der Therapeut die Patientin in ihrer Sichtweise ernst nimmt und zunächst auch ihre Annahme aufgreift, einen Elektroschock bekommen zu haben, entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens. So gelingt es der Patientin durch die entsprechende Fachinformation durch den Therapeuten (genaueste Beschreibung eines Schluckvorganges), der sie aufmerksam folgt – und möglicherweise auch durch das gedankliche Mitvollziehen über den Weg „mnestischer Bahnung“ und dann noch durch die real gemachte Erfahrung mit dem Kuchen –, die Identifikation mit dem Filmhelden aufzulösen. Die unmittelbar angebotene praktische Überprüfung der neuen Information ermöglicht der Patientin eine Neuorientierung durch Umsetzung des Gelernten in die Praxis. Behandlungsbeispiel 5 Der Patient ist von Beruf technischer Angestellter, verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern, die bereits auswärts in einem eigenen Haushalt leben. Auf Einweisung des Hausarztes wird der Patient wegen starken Schwindels mit der Rettung in eine klinische Fachabteilung gebracht, wo eine gründliche neurologische Durchuntersuchung lediglich einen rechtsbetonten, endlagig erschöpfbaren, horizontalen Nystagmus und im EEG unregelmäßige, rasche Alphawellen mit häufigen Übergängen in den Betabereich erbringt. Das entspricht einem leicht abnormen Befund. Alle sonstigen organischen Befunde einschließlich der kranialen Computertomografie sowie der Vestibularapparatuntersuchung durch die Hals­ Nasen-Ohren-­Fachabteilung sind unauffällig. Die Diagnose ergab einen Vertigo, eine subjektive Störung der Orientierung des Körpers im Raum. Für den Menschen als Körper-Seele-Geist-Subjekt ist eine gründliche körperliche Untersuchung nicht nur angezeigt, sondern unbedingt erforderlich. Der Patient erhält eine rheologische Infusionstherapie (mit initial zwei Aderlässen mit isovolämischer Hämodilution, weil der Hämatokritwert entsprechend erhöht ist). Zusätzlich bekommt er eine orale antiemetische Medikation. Nach einer Woche medikamentöser Behandlung und unveränderter Symptomatik wird der Patient auf Intervention der Tochter, die als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegekraft in dieser Klinik tätig ist, dem in dieser Einrichtung tätigen Integrativen Therapeuten zu einer prozessualen Diagnostik vorgestellt. Beim Erstkontakt wird der Patient im Sitzwagen in den Therapieraum geführt, da es ihm vor Schwindel unmöglich ist, selbst zu gehen. Er wirkt müde und sein Gesicht ist maskenhaft angespannt. Bei der Begrüßung reicht er kaum die Fingerspitzen, die sich zittrig anfühlen. Er legt danach die Arme auf seine Oberschenkel und ballt die Hände zu Fäusten, und drückt sie aneinander, ebenso drückt er die Beine aneinander. Er beginnt sofort mit der Erklärung, dass er seine Tochter, die diese Begegnung vorgeschlagen hat, nicht verstehe, denn er könne sich nicht vorstellen, dass sein Zustand „nur psychisch bedingt“ sei, denn er leide ja wirklich unter seinem Schwindel und bilde sich diesen nicht ein. Nach seinen Angaben war der Patient bis zum Zeitpunkt seiner Schwindelattacke immer gesund. Der Schwindel trat für ihn und seine Familie aus unerklärlichen Gründen am Sonntagvormittag nach dem Messbesuch auf dem Kirchplatz seiner

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Heimatgemeinde auf. Auch aus der erweiterten Anamnese durch den Aufnahmearzt und der bereits erfolgten Außenanamnese mit der Ehefrau und den Kindern tauchen keine wie immer gearteten belastenden Faktoren aus der Biografie auf. Alle bestätigen, dass innerhalb der Familie „alles in Ordnung“ sei, und auch sonst gebe es keinerlei Belastung, zum Beispiel finanzieller Natur. Auch der Arbeitsplatz sei gesichert, und es gebe dort keine Spannungen. Es liegt also anscheinend eine blande Anamnese vor. Therapieverlauf: Die erste Behandlungsstunde ist ganz darauf gerichtet, die kritische Einstellung des Patienten zu diesem Gespräch zu gewähren. Durch das respektvolle Eingehen auf seine angstvolle Frage, ob der Schwindel ein Dauerzustand bleibe und er vielleicht auch noch „nervenkrank“ sei, wird es möglich, im Gespräch eine „Übersetzungsarbeit“ zu leisten, durch die der Patient erfährt, was Psychotherapie überhaupt ist. Bei der Verabschiedung betont er, dass er das Gespräch zwar sehr angenehm erlebt habe, sein Schwindel aber weiter unverändert sei. Er könne sich überhaupt nicht vorstellen, dass sein Zustand durch Psychotherapie anders werden könne. Der Therapeut verweist auf die gründlichen Durchuntersuchungsergebnisse und erwähnt nebenbei, dass wir Menschen wohl nicht nur einen Körper haben, sondern mehr sind und uns daher in dieser Komplexität doch ernst nehmen dürfen. Er bietet ihm die Möglichkeit eines nochmaligen Gesprächs an. Wenn er zu einer weiteren Therapiestunde kommen will, soll er es bei der Visite dem Stationsarzt mitteilen. Wenige Tage später kommt er in die zweite Stunde. Dem Therapeuten fällt auf, dass er bei der Begrüßung diesmal bereits die „ganze“ Hand reicht. In der Zwischenzeit habe ihn das letzte Gespräch sehr beschäftigt, teilt er mit, aber er wisse noch immer keinen logischen Grund für seinen unverändert vorhandenen Schwindelzustand. Der Therapeut sagt ihm, dass er ihm glaube, er habe jedoch schon oft die Erfahrung gemacht, dass unser Körper „mehr weiß“, als uns momentan bewusst zugänglich ist. Ein leises Nicken vom Patienten ermuntert den Therapeuten zu der Frage, ob er zu einem Experiment bereit sei. Der Patient willigt ein. Nachdem der Therapeut weiß, dass sein Schwindel erstmals im Stehen aufgetreten ist, bittet er ihn, trotz der momentanen Beschwerlichkeit zu versuchen, aufzustehen. Der Therapeut hilft ihm beim Aufstehen und führt ihn ein paar Schritte in die Mitte des Raumes auf eine weiche Bodenmatte. Jetzt stellt er sich ihm gegenüber und hält den Patienten leicht an seinen Unterarmen. Nun ersucht er den Patienten, sich die Situation um die Zeit des aufgetretenen Schwindelanfalles zu vergegenwärtigen und sich den gesamten szenischen Hintergrund „leibhaftig“ vorzustellen. Nach einiger Zeit zieht er die Schultern hoch, rollt sie nach vor und einwärts und faltet dabei die Hände. Während der Therapeut ihn noch leicht stützt, ermuntert er ihn, seinen Impuls dieser Körperbewegung weiter zu folgen und sie noch deutlicher zu machen, worauf der Patient den Rücken nun noch stärker zu einer Kugel wölbt, das Kinn auf das Brustbein legt und die gefalteten Hände dann zu Fäusten ballt und unters Kinn auf die Brust drückt. Der Therapeut nimmt wahr, wie er Anzeichen macht, die Knie zu beugen, worauf er ihn wieder ermuntert, dem eigenen Impuls nachzugeben und durchaus bewusst ein Stück zu übertreiben. Er kauert sich wie zu einer Kugel zusammen, dreht sich in der Hockstellung, kippt, noch immer vom Therapeuten assis-

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tiert, langsam auf die rechte Körperseite und bleibt in dieser kleinstmöglichen Körperhaltung auf der Bodenmatte liegen. In dieser Position berührt der Therapeut ihn mit seiner rechten Hand am Rücken und nimmt leichte, ruckartige Bewegungen, die von seiner Atmung stammen, wahr. Auf die Einladung, er möge zulassen, was auch immer komme, beginnt er zuerst zu schluchzen, was anschließend in anhaltendes Weinen übergeht. Dabei berührt der Therapeut ihn leicht stützend am Rücken und reicht ihm Taschentücher. Nach einer Weile streckt er sich auf der Matte und setzt sich auf. Der Therapeut setzt sich auch auf den Boden ihm gegenüber. „Was war jetzt?“, fragt er. Der Patient antwortet, er fühle sich „freier“ und verspüre im Moment auch keinen Schwindel, was er seltsam finde. Einige Momente später fragt der Therapeut den Patienten, ob er erzählen wolle, ob ihm Bilder, Szenen und Erinnerungen „aufgetaucht“ sind. Kopfschüttelnd leitet er den Bericht ein, dass ihm die Situation vor dem Schwindelanfall in der Kirche „aufgetaucht“ sei: Er war, wie immer, sonntags bei der Messe. Einem Brauch folgend, reichen einander im Rahmen der Feier die Menschen in der Kirche die Hände zum Friedensgruß. Dabei, so erinnert er sich, bemerkte er, dass links knapp hinter ihm jene Nachbarin stand, mit der er vor wenigen Tagen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit hässlichen gegenseitigen Beschimpfungen gehabt hatte. Danach hatte er sich und seinen Angehörigen geschworen, mit dieser Frau niemals wieder ein Wort zu sprechen. Auch in der „besonderen“ Situation in der Kirche, die die religiösen Wertvorstellungen des Friedenschließens unterstreichen soll, gab er ihr nicht die Hand zum Friedensgruß, ­sondern drehte sich wieder zurück und spürte dabei, wie sich „in ihm alles zusammenzog“. „Wäre es möglich gewesen, hätte ich mich zu einer kleinwinzigen Kugel zusammengerollt“, sagt er dann. Er hat damals auch das Gefühl gehabt, dass ihm das Blut stocke und der Blutkreislauf in seinem Fluss fast innehalte. Dieses Gefühl hielt für den Rest der Messe an, und mit den ersten Schritten beim Hinausgehen aus der Kirche bemerkte er zunächst ein leichtes Schwindelgefühl, welches sich auf dem Kirchplatz so verschlimmerte, dass er von dort direkt zu seinem Hausarzt geführt werden musste, der ihn sofort ins Krankenhaus einwies. Auf meine Frage, wie ernst er ein von ihm im Zorn ausgesprochenes Wort wirklich nehme, nie mehr mit einem Menschen zu reden, mit dem er einen so massiven Streit gehabt hat, sagt er mir, dass es Charakterstärke sei, so etwas durchhalten zu können. Im weiteren Gespräch kommen die Themen christliche Nächstenliebe, das Verzeihenkönnen und anschließend „Die Vergänglichkeit“ (Hebel 1803/1963, S. 448–451) von uns Menschen auf, was Herrn K. sehr nachdenklich stimmt. Vor der Beendigung der Therapieeinheit bittet der Therapeut ihn noch einmal, auf das, was er jetzt erlebt hat, zurückzuschauen und es zu benennen. Er reagiert spontan: „Ich habe mir − Ihrer Anregung folgend − nur die Situation vor dem Auftreten meines Schwindels vorgestellt, dann kamen diese Gefühle hoch und alles ging wie von selbst. Jetzt sehe ich erstmals mögliche Zusammenhänge.“ Abschließend steht er selbst auf. Da er im Moment schwindelfrei ist, begleitet der Therapeut ihn auf die Krankenstation und spricht auf dem Weg dorthin über Alltägliches. Bei der nächsten Begegnung am Tag darauf geht es dem Patienten gut. Das Symp­tom ist so schwach, dass er selbstständig kommen kann. Er bezieht sich sofort auf das Gespräch über das Verzeihen und betont, dass eine weitere Begegnung mit

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der Nachbarin aufgrund der Verletzungen, die er einstecken musste, sehr schwer sei und ihm wohl Übermenschliches abverlangen würde. Um einen anderen Zugang zu diesem belastenden Thema zu finden, schlägt der Therapeut ihm ein Rollenspiel vor. Er bietet ihm einen Stuhl an und bittet ihn, sich vorzustellen, auf dem ihm gegenüber befindlichen leeren Stuhl säße diese Nachbarin. Seine ausgezeichnete Imaginationsfähigkeit ermöglicht es ihm, die Szene der damaligen Auseinandersetzung so deutlich in den Raum zu holen, dass sich durch den immer wiederkehrenden Rollenwechsel eine lautstarke Wiederholung der damaligen Situation entspinnt. Der Therapeut steht ihm immer wieder bei und ermuntert ihn, seine Sichtweise klar, deutlich und auch lautstark auszusprechen. Der Patient wird dabei sichtlich lebendiger. Er kann sich auch erstaunlich gut in die Rolle der Nachbarin versetzen. Am Ende dieser Dialogarbeit fühlt er sich sehr gut und verspürt überhaupt keinen Schwindel mehr. Der erfreuliche Zustand hält an, sodass er 3 Tage später entlassen werden kann. Vorher teilt er dem Therapeuten noch seinen Entschluss mit, einen Versuch zu unternehmen, mit der Nachbarin „ins Reine“ zu kommen. Zwei Monate später besucht er den Therapeuten mit seiner Frau auf der Station. Es geht ihm nach wie vor gut, das heißt, er ist beschwerdefrei. Beim Händedruck zum Abschied teilt er ihm lächelnd mit: „Mit meiner Nachbarin habe ich auch Frieden geschlossen.“ Ein Jahr später berichtet seine Tochter, dass er nach wie vor beschwerdefrei ist. Epikrise: Dem diagnostisch-therapeutischen Prozedere auf der Ebene objektiver somatischer Fakten folgt nach einer Woche ein intersubjektiver Ansatz im Rahmen einer leiborientierten Arbeit. Angeregt wird der Schritt durch die Tochter von Herrn K., die als diplomierte Fachkraft auf der Abteilung schon mehrfach miterleben konnte, dass Psychotherapie anderen Patienten geholfen hat (eine Anregung, die für ihren Vater zum „protektiven Faktor“ wird). In der Initialphase des therapeutischen Geschehens liegt eine anamnestisch-diagnostische und vertrauensbildende Zielsetzung, die darin besteht, dass beim ersten Treffen über einen Kontakt eine Begegnung hergestellt wird, die die Grundlage für eine therapeutische Beziehung bildet. Die kritische Einstellung des Patienten ist als positive Ressource aufzufassen, die ihm in dieser Situation hilft, eine realitätsgerechte Auseinandersetzung zu führen. Zwischen Herrn K. und dem Therapeuten gelingt eine direkte und ganzheitliche Begegnung, eine Auseinandersetzung über die Themen seines derzeitigen Krankseins und seiner Ängste unter Einbeziehung des Umfeldes und der Lebenszeit des Patienten. Diese Begegnung führt zu einem Konsens, der die Grundlage für eine Kooperation wurde, auch wenn der Konsens zunächst nur darin lag, dass es sinnvoll sein könne, sich offen und ehrlich, um der Gesundheit willen auf die Erinnerung von Lebenszusammenhängen einzulassen. Das gelingt auch, denn aufgrund der Beschreibung, was Psychotherapie ist, kann sich der Patient vorstellen, dass es Zusammenhänge zwischen Lebenssituationen und körperlichen Manifestationen gibt. So wächst beim Patienten eine Erwartungshaltung bezüglich der ihm bisher unbekannten Therapieform. Diese „Neugier“, der Leidensdruck und die vom Therapeuten angebotene freie Entscheidung zur Therapie lassen in ihm nach einer kurzen Bedenkzeit den Entschluss reifen, weiterzumachen. Der Patient spricht davon, dass er sich Gedanken gemacht, aber noch keine logische Erklärung für sein Symptom gefunden hat. In der Initialphase und der unmittelbar sich anschließenden Aktions-

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

phase werden über das thematische Fokussieren hinaus Stimuli gesetzt, die biografisches Material aktivieren. Schon in der Eingangsphase werden immer auch therapeutische Prozesse ausgelöst. Das „theragnostische“ Verfahren (Frank 1976) ermöglicht es dem Patienten und dem Therapeuten, das Konfliktfeld zu erfassen, die Konfliktkerne aufzufinden und die jeweils relevanten Konfliktkonstellationen deutlich werden zu lassen, um im Prozess zu verstehen und zu begreifen. In der folgenden Aktionsphase werden diese Konfliktausdrucksformen vertieft und differenziert. Es kommt auf der Affektebene − über Schluchzen und dann lösendes Weinen − zu einer emotionalen Erfahrung, worin sich Trauer, Zorn und Schmerz über den Konflikt mit der Nachbarin und, wie der Patient später sagt, über viele in seinem Leben ähnlich verlaufende Situationen ausdrückt. Seine Vorstellung von „charaktervollem Handeln“ ist zu einer einengenden, chronischen Verhaltensstrategie geworden. Aus salutogenetischer Sicht hingegen ist seine tiefgegründete religiöse Wertvorstellung, zu der auch gehört, dass er letztlich mit seinen Mitmenschen in Frieden leben will, eine gesundheitsfördernde Quelle. Die imaginierte szenische Evokation der Ereignisse in der Kirche ermöglicht es Herrn K., sich den Zusammenhang zwischen den gegenwärtigen Beschwerden und dem konkreten Erlebnis, der Auseinandersetzung mit der Nachbarin, bewusst zu machen. Die Imaginationsfähigkeit des Patienten hilft ihm, seine vorhandene Ich-Stärke − frei von kräftebindendem Hass und Zorn − wieder als positive Ressource zu nützen. In der konfliktorientierten Leibarbeit erfolgt demnach über Weinen das Durchleben eines leibgespeicherten Lebensgeschichtsereignisses. Die aufgewühlten körperlichen Reaktionen − das Weinen und andere Emotionen − müssen sich aber auch wieder beruhigen, der gesamte Prozess muss sich „setzen“. Das geschieht in der Integrationsphase, in welcher der Patient sein Erleben in der vorhergehenden Aktionsphase durchsprechen kann und einzuordnen versucht. Der Therapeut begibt sich auch leibhaftig auf dieselbe Ebene, er setzt sich ihm gegenüber auf die Bodenmatte. Auch das Erleben von guter Alltäglichkeit (die Gespräche mit dem Therapeuten auf dem Rückweg zur Station) und die Zeit zwischen den Therapiestunden sind Erfahrungen, die zur körperlichen, emotionalen und kognitiven Integration beitragen. In einer solchen intersubjektiven, reflexiven Arbeit geht es um das Erkennen und in der Folge um das Infragestellen von alten Mustern in der individuellen und sozialen Realität eines Menschen. Über die Herstellung einer gemeinsamen Auslegung gelingt es, neuen Sinn zu stiften. Durch die vielfache Stimulierung − vom Gespräch bis zur Ermunterung, Bewegungen und Weinen zuzulassen, die er im Rahmen dieser leiborientierten Therapie erfahren hat − kann der Patient Evidenzerfahrungen machen. Darunter verstehen wir das Zusammenwirken von Körpererleben, gefühlsmäßigen Erfahrungen und rationalen Einsichten, wobei das umfassende Geschehen ein gründliches „Aha-­ Erlebnis“ für den Patienten sein kann. In seinem Fall führt diese Phase der Neuorientierung zu einer Konsequenz, die zunächst nur gedanklich erfasst, dann dem Therapeuten gegenüber ausgesprochen und schließlich in der Realität mit der Nachbarin umgesetzt wird. Leiborientierte Psychotherapie, Integrative Therapie vollzieht sich auf mehrere Ebenen der Tiefung. Darunter verstehen wir das Maß an rational reflektierter Kont-

7.8  Fünf Behandlungsbeispiele aus der Praxis der Integrativen Therapie

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rolle, welches der Patient während des therapeutischen Geschehens hat. Der Therapeut soll die Ebenen vom Phänomen her, das der Patient „leibhaftig“ bietet, erkennen, um die jeweils angemessene Interventionsstrategie einzusetzen, der Therapeut muss, wie es ein Kerngedanke der Phänomenologie ausdrückt, vom Leibe her Sinn aus den Sinnen schöpfen (s. Abschn. 2.4.1.1). Der Patient blieb in der ersten Behandlungsstunde, wo es grundsätzlich um Überlegungen bezüglich Psychotherapie ging, auf der Reflexionsebene. Auf dieser Ebene verblieb er bis zur zweiten Begegnung mit dem Therapeuten, einschließlich der Zeit auf der Krankenstation, wo er sich offensichtlich gedanklich weiter mit dem Thema auseinandergesetzt hatte. Schon in der folgenden Stunde war der Boden des Vertrauens ausreichend, um über die Ebene der Vorstellungen zu einer noch weiteren „therapeutischen Tiefung“ zu gelangen. Durch die Intervention, die in der Einladung lag, zuzulassen, was immer auftauche, kam der Patient mit seinem Schluchzen und Weinen auf die Ebene der Involvierung. Die Therapie endete dann wieder auf der Ebene der Reflexion, wo sich die Integration vollziehen konnte. Während die somatische Medizin in erster Linie eine Funktionsstörung durch pathologisch-anatomische Veränderungen und ihre Ausformungen zu orten versucht und dem Patienten medikamentös beisteht, wird in der Leibarbeit der Humantherapie Integrative Therapie ein subjektiver Sinnzusammenhang gesucht. Die Einbeziehung und Mitverwendung des Subjektiven (beim Patienten und beim ­Therapeuten) ist das grundlegend Andere gegenüber den herkömmlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen. Diese Art von therapeutischer Beziehung gestattet eben keine vom Geschehen losgelöste, „reine“ Objektivität. Auch erschließen sich wesentliche Teile der psychotherapeutischen Prozesse, die im Rahmen einer intersubjektiven Ko-respondenz erfolgen, einem außenstehenden Beobachter oft nicht. Es ergibt sich eine Art Unschärferelation: Je mehr sich der Therapeut dem Erleben in der therapeutischen Beziehung entzieht, desto mehr verschließt er sich dem heilenden Faktor der Beziehung. Veränderung, Linderung, im günstigsten Fall Heilung kann beim Patienten auch nicht erfolgen, wenn der integrativ ausgerichtete Psychotherapeut keine kritische, theoriegeleitete Reflexion seines eigenen Wahrnehmens und Erlebens in der therapeutischen Beziehung leistet. Der Therapeut, der alle sich zeigenden Phänomene beim Patienten und bei sich selbst beachtet, ist immer in die Ereignisse der eigenen Beobachtungen involviert. Er ist Teil einer Handlung, die sich als Interaktion zwischen dem Therapeuten und dem Patienten abspielt, er ist somit in einer unauflösbaren Dialektik zwischen dem „In-Beziehung-Sein“ und der exzentrischen Betrachtung des Patienten und seiner eigenen Person. Der phänomenologische Zugang versteht sich als das, was vom Therapeuten wahrgenommen, erkannt und erfasst wird und was er sich und anderen erklären kann. Er zeigt sich als Mensch, der die Tatsache, selbst Krankheit und Leid erlebt zu haben, in seine Arbeit mit kranken Menschen miteinbringt, um so durch die eigenen Anmutungen zu einer Erhellung der inneren Sinn- und Motivationszusammenhänge bei seinen Patienten zu gelangen (Walch 1981). Weil sich die Phänomenologie auf Beschreibungen der menschlichen Existenz versteht, verhält sie sich neutral gegenüber „Psychischem“ und „Physiologischem“. Ausgangspunkt ist der Mensch als Leib. Das bedeutet, auch Beschreibungen von

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

Strukturen über den naturwissenschaftlichen Weg wie Elektroenzephalografie (EEG), Magnetresonanztomografie (MRT) oder Computertomografie (CT) miteinzubeziehen. Die „Leibarbeit“ lässt also breiten Raum für naturwissenschaftliche Erkenntnisse und grenzt sich damit gegen den Vorwurf bloßer Spekulationsfreudigkeit und billigen Intuitionismus ab. Der phänomenologisch ausgerichtete Behandler soll Zeugnisse jederlei Art zur Kenntnis nehmen (und soll dies auch können). Neben wissenschaftlichen Ergebnissen muss er sich auch an die unwillkürliche Lebenserfahrung in ihren leisesten, oft unmerklich erscheinenden Entwürfen von Gesten und Bewegungen herantasten − und das noch Unverfügbare verfügbar machen. Die Risiken und Gefahren in der leiborientierten Integrativen Therapie sind in professioneller Supervision zu thematisieren. Wenn der Therapeut in Anlehnung an die Phänomenologen, insbesondere Merleau-­Ponty (1966), davon ausgeht, dass der Leib (Körper-Seele-Geist-Subjekt) die jeweilige Person ist, wirken Manipulationen am Leib unmittelbar verändernd auf die Person. Wenn, wie Gabriel Marcel (1967) schreibt, die ganze Biografie, alles Positive und alles Negative, im Leib eingefangen ist, also das Schicksal von Menschen die Geschichte ihres Leibes ist, dann ist in jeder Bewegung wie Gestik (s. Abschn.  1.3.1) die Geschichte des Menschen in einem gelungenen intersubjektiven Ko-respondenzprozess wahrnehmbar, erfassbar, verstehbar und erklärbar. In einem derartigen Prozess wird jede Körperintervention zu einer existenziellen ­Intervention, die die Integrität des Patienten fördern, stören oder zerstören kann. Sie verlangt deshalb von dem Therapeuten persönliche Integrität und ausreichendes Können. Wenn der Therapeut in der leiborientierten Therapie einen Leidenden berührt, gilt es, sich dieser weitreichenden Auswirkungen gewahr zu sein, denn „es wird ein Mensch in die Hand genommen“ (Dürckheim 1978). Entscheidend ist bei allen lehr- und lernbaren leiborientierten Therapien in der Psychotherapie unter den vielen bekannten Wirkfaktoren die zwischenmenschliche Dimension, die getragen wird von Respekt, Achtsamkeit und Verantwortung für den anderen. Zusammenfassung

Um die Behandlung einer Therapie richtig einzuschätzen, steht in der Integrativen Therapie die Idee eines idealtypischen Verlaufs sowie das Modell der Tiefungsebenen zur Verfügung. Die Abfolge ist nicht statisch, sondern kann durchaus in fließenden Übergängen aufgefasst werden. Auf die Gefahren therapeutischer Tiefungsarbeit wird hingewiesen. Die Wege der Heilung und Förderung sind mit exemplarischen Beispielen ausgeführt und schließen im bescheidenen „Trösten immer“. Diese Bescheidenheit wird aus neurobiologischer Sicht relativiert. Mit anschaulichen Erläuterungen sind die mediengestützten Techniken, Coping- und Creatingstrategien in dem außergewöhnlich mannigfachen System des Behandlungsverfahrens Integrative Therapie in eine übersichtliche Form gebracht. Vor diesem theoretischen Rahmen werden abschließend Behandlungsbeispiele vorgestellt, welche die Integrative Therapie als theoriegeleitet und forschungsgegründet ausweist (s. Kap. 8).

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7  Der Behandlungsverlauf in der Integrativen Therapie

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Die Effektivität der Integrativen Therapie

Inhaltsverzeichnis 8.1  E  ffektivitätsstudien 1994–2009  8.2  U  ntersuchungsdesign  8.3  E  rhebungsinstrumente  8.3.1  Veränderung der Symptomatik  8.3.2  Veränderung des interpersonalen Verhaltens  8.3.3  Veränderung der depressiven Beschwerden  8.3.4  Veränderung der Angstsymptomatik  8.3.5  Einschätzung allgemeiner Lebenszufriedenheit  8.3.6  Veränderung von Aspekten körperlichen Befindens  8.4  Rücklauf der Stichproben im Vergleich  8.5  Diskussion der Ergebnisse  8.5.1  Entwicklung der Symptombelastung  8.5.2  Entwicklung des interpersonalen Verhaltens  8.5.3  Veränderung der depressiven Beschwerden  8.5.4  Veränderung der Angstsymptomatik  8.5.5  Veränderung der Einschätzung der allgemeinen Lebenszufriedenheit  8.5.6  Veränderung von Aspekten körperlichen Befindens  8.5.7  Medikamentengruppe im Vergleich zur Therapiegruppe  8.5.8  Stundenbogen  8.5.9  Mehrperspektivität in der Einschätzung des Therapieerfolges  8.5.10  Änderung im sozialen Netzwerk des Patienten  Literatur 

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Effektivität behandelt die Frage, ob sich eine Intervention zur Erreichung des Zieles eignet oder geeignet hat, im Gegensatz zur Effizienz, die nach dem Verhältnis von Aufwand und Ergebnis bezüglich des Einsatzes einer Intervention fragt. Effektivität meint also den Grad der Zielerreichung und der Wirksamkeit, Effizienz das Verhältnis von Kosten und Nutzen (Duden 1997).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Leitner, C. Höfner, Handbuch der Integrativen Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60594-3_8

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8  Die Effektivität der Integrativen Therapie

Aussagen über die Effektivität von Psychotherapie können nur getroffen werden, wenn überprüft wird, inwieweit das theoretische Wissen und die Fähigkeit zur ­praktischen Umsetzung, die in einer Psychotherapieausbildung vermittelt wurden, in der psychotherapeutischen Praxis auch den Patienten zugutekommen (Petzold et al. 1994). Ebenso sind die Beurteilung der psychotherapeutischen Qualität und die Wirksamkeit therapeutischer Interventionen wesentlich von der Beschaffenheit der Aus- oder Weiterbildung abhängig (Schneider und Buchkremer 1995; Fazekas und Leitner 2012). Auf der Grundlage dieser Koppelung wurde für die Prüfung der Effektivität der Integrativen Therapie ein Forschungsdesign entwickelt, in dessen Zentrum die Erfassung der Ergebnisqualität steht. Die Qualität eines psychotherapeutischen Verfahrens hängt nicht zuletzt von der ständigen Auseinandersetzung mit dessen Praxis und der wissenschaftlich fundierten Überprüfung von dessen Effektivität ab. Die Evaluation einer Therapie kann nie losgelöst gesehen werden von der Frage nach der Effektivität auf der Patientenseite. Außerdem ist zu berücksichtigen: Was wirkt, hat Nebenwirkungen, so auch die Psychotherapie (Leitner et al. 2013, 2014).

8.1

Effektivitätsstudien 1994–2009

Die Überprüfung der Effektivität von Integrativer Therapie mittels Psychotherapieevaluation wurde seit Beginn der Entwicklung des Verfahrens fortlaufend durchgeführt. In diesem Kapitel werden 3 Studien, die an der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit (EAG) und an der Donau-Universität Krems (DUK) erbracht wurden, beschrieben und vergleichend gegenübergestellt: Studie 1: 1994–2000 Studie 2: 1999–2002 Studie 3: 2002–2008 Studie 2 und Studie 3

EAG (Steffan 2002), DUK (Märtens et al. 2003), DUK (Leitner et al. 2008a), DUK (Leitner et al. 2009).

Die Studie 1 an der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit wurde 1994 konzipiert und 2000 unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Hilarion G. Petzold und der Projektleitung von Prof. Michael Märtens beendet (Petzold et al. 1998, 2000). Mit dem Beginn der Dissertation von Angela Steffan im Herbst 1996 war die methodische Konzeption der Studie weitgehend abgeschlossen. Das Projekt wurde über 3  Jahre vom Arbeitsamt Düsseldorf finanziell unterstützt. Die Arbeit wurde an der Fakultät für Biowissenschaften, Pharmazie und Psychologie der Universität Leipzig als Dissertation angenommen und im Logos Verlag Berlin publiziert (Steffan 2002). Es nahmen Therapeuten teil, die eine Integrative Therapieausbildung an der EAG in Deutschland absolviert hatten. An der zweiten und dritten Untersuchung nahmen Ärzte teil, die im Rahmen ihrer Weiterbildung in Österreich als Hauptfach Integrative Therapie gewählt hatten und von Lehrtherapeuten für Integrative Therapie ausgebildet wurden. Diese

8.1 Effektivitätsstudien 1994–2009

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ärztliche Weiterbildung ist von Inhalt und Umfang gleichwertig der Psychotherapieausbildung nach dem österreichischen Psychotherapiegesetz. Studie 2 (Märtens et al. 2003) und Studie 3 (Leitner et al. 2008a) wurden gemeinsam ausgewertet (Leitner et al. 2009). Das Design der beiden Replikationsstudien war deckungsgleich, bis auf die Erweiterung um die allgemeine Depressionsskala (ADS-L), das State-Trait-Angstinventar (STAI-G) und die Medikamentenvergleichsstudie, die nur in Studie 3 durchgeführt wurde. Die Ergebnisse der Studie 2 und Studie  3 (Leitner et  al. 2009) wurden, wo dies möglich war, mit der EAG-­ Studie 2000 (Steffan 2002) verglichen. Dieses Projekt wurde von der Ärztekammer für Niederösterreich finanziell unterstützt. Das Verfahren Integrative Therapie wird seit dem Jahr 2007 als Universitätslehrgang angeboten. Es ist selbstverständlich, künftig derart aufwendige Untersuchungen bestmöglich zu publizieren. Die Effektivität einer Psychotherapie umschreibt die Wirksamkeit einer Intervention unter realen Praxisbedingungen und bezieht sich primär auf die Praktikabilität (Kazdin 1997). Effektivitätsstudien belegen in der Regel eine niedrigere Wirksamkeit als Laborstudien, weisen aber eine höhere externe Validität auf. Sie berücksichtigen folgende entscheidende Bedingungen in der Praxis, die in Wirksamkeitsstudien nicht erfasst werden: • Psychotherapie hat keine festgelegte Behandlungsdauer. • In der Psychotherapie gibt es eine Selbstkorrektur. Wenn eine Methode nicht wirkt, wird eine weitere Methode herangezogen. • Psychotherapie wird weitgehend aufgrund einer bewussten Entscheidung durch den Patienten begonnen. Der Patient wählt seinen Therapeuten aus. • Der Patient hat multiple Probleme und kein einzelnes, abgrenzbares Symptom. • Psychotherapie zielt bei dem Patienten auf die Verbesserung der Gesamtfunktion und nicht auf eine spezifische Symptomverringerung (Seligman 1996). Die Leistungsfähigkeit des Therapeuten und somit die Ergebnisqualität der Therapie kann nur dann entsprechend überprüft werden, wenn sie aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird, wenn nämlich der Patient, die Angehörigen des Patienten und der Therapeut zu Wort kommen. Als Indikatoren für die Effektivität und für den Erfolg Integrativer Therapie müssen neben der subjektiven Einschätzung des Therapieerfolges vonseiten des Patienten, des Therapeuten und der Angehörigen des Patienten, objektive Kriterien in Form von sich über die drei Messzeitpunkte der Eingangserhebung, Abschlusserhebung und Katamnese hinweg verändernden Testergebnissen verwendet werden, um auch den zeitlichen Verlauf einer therapeutischen Intervention zu erfassen. Um die Wirkung der Psychotherapie besser von der medikamentösen Behandlung abgrenzen zu können, wurde in der Untersuchung (Leitner et al. 2008a) das Sample um eine Medikamentenvergleichsgruppe erweitert. Patienten, die dezidiert keine Psychotherapie in Anspruch nehmen wollten, wurden von Ärzten medikamentös behandelt.

214

8.2

8  Die Effektivität der Integrativen Therapie

Untersuchungsdesign

Die Besonderheit und der Wert aller 3 Studien liegen darin, dass sie den Verlauf psychotherapeutischer Interventionen aus verschiedenen Perspektiven nachzeichnen. Im Sinne einer Längsschnittuntersuchung wurden zu drei Messzeitpunkten Daten erhoben: • Die Eingangserhebung erfolgte spätestens nach der zweiten Therapiestunde. • Die Abschlusserhebung fand bei Beendigung der Therapie statt. • Die katamnestische Erhebung wurde ca. ein halbes Jahr nach Abschluss der Therapie durchgeführt. Begleitend zur Psychotherapie wurden kontinuierlich Stundenbogen eingesetzt, mit deren Hilfe sowohl der Therapeut als auch der Patient das therapeutische Geschehen unmittelbar nach jeder Stunde beurteilten. Die Abb. 8.1 zeigt eine Übersicht über die verwendeten Erhebungsinstrumente und den zeitlichen Aufwand zu den verschiedenen Messzeitpunkten. Die Medikamentenvergleichsgruppe bestand aus erwachsenen Patienten mit einer nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10, Kapitel V (F) (Dilling et al. 1993) definierbaren klinischen Diagnose, die keine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nahm, sondern ausschließlich medikamentös behandelt wurde. Die Befragung der Medikamentenvergleichsgruppe hatte einen deutlich geringeren Umfang als die Befragung der Gruppe der psychotherapeutisch Behandelten. Es gab nur eine Eingangsbefragung und eine

Outcomeevaluation Zeitpunkt der Erhebung Es füllt aus

Abschlusserhebung (nach Beendigung der Therapie)

Eingangserhebung bis zur 2. Stunde

Erhebungsinstrumente

Katamnese (ein halbes Jahr nach Abschluss der Therapie)

Kontinuierlicher Einsatz von Stunderbegleitbögen (im Anschluss an jede Stunde)

Zeit Zeit Zeit Erhebungsinstrumente Erhebungsinstrumente Erhebungsinstrumente (min) (min) (min)

Patienten-FB SCL-90-R IIP-C STAI-G ADS-L

30 15 15 10 10

Therapeut

• Therapeuten-FB • Therapiebeurteilungs-FB

15 10

Angehörige

• Angehörigen-FB

15

Patient

• • • • •

Prozessevaluation

• • • • •

Zeit (min)

Patienten-FB SCL-90-R IIP-C STAI-G ADS-L

30 15 15 10 10

• • • • •

Patienten-FB SCL-90-R IIP-C STAI-G ADS-L

30 15 15 10 10

• Stundenbogen

10

• Therapiebeurteilungs-FB

10

• Therapiebeurteilungs-FB

10

• Stundenbogen

10

• Angehörigen-FB

15

• Angehörigen-FB

15

Abb. 8.1  Übersicht über die Erhebungsinstrumente und Messzeitpunkte der Psychotherapie­ gruppe. FB Fragebogen, SCL-90-R Symptomcheckliste, IIP-C Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme, STAI-G State-Trait-Angstinventar, ADS-L allgemeine Depressionsskala

8.3 Erhebungsinstrumente

215 Eingangsbefragung

Abschlussbefragung

Nach 1. oder 2. Gespräch, wenn klar ist, dass Patient Medikamente und keine Psychotherapie bekommt

Entweder: nach dem Absetzen der Medikamente (Beendigung der medikamentösen Therapie) Oder: 6 Monate nach Beginn der medikamentösen Therapie

Fragebögen für Patienten

• SCL-90-R • M-Patienten-Fragebogen

• SCL-90-R • M-Patienten-Fragebögen

Fragebögen für Therapeuten

• M-Therapie-Beurteilungsbogen

• M-Therapie-Beurteilungsbogen

Zeitpunkt der Erhebung

Abb. 8.2  Messzeitpunkte und Erhebungsinstrumente der Medikamentengruppe. SCL-90-R Symp­ tomcheckliste

Abschlussbefragung mit insgesamt drei Fragebögen, zwei für den Patienten und einen für den Therapeuten (s. Abb. 8.2).

8.3

Erhebungsinstrumente

Die standardisierten Instrumente, die Symptomcheckliste von Derogatis und das Inventar interpersonaler Probleme, werden von der Society for Psychotherapy Research (SPR) als ein psychotherapeutisches Kernmessverfahren angesehen (Grawe und Braun 1994) (Abb. 8.3).

8.3.1 Veränderung der Symptomatik Zur Bestimmung der Veränderung der Symptomatik wurde ein Vergleich der Gesamtwerte sowie der einzelnen Skalenwerte der Symptomcheckliste (SCL-90-R) (Hessel et al. 2001) zwischen den drei Testzeitpunkten herangezogen. Die Skalen der SCL-90-R messen den subjektiven Ausprägungsgrad psychischer Symptome wie zum Beispiel Somatisierung, phobische Angst oder Depressivität. Eine Reduktion der mittleren Skalenwerte bedeutet eine Reduktion der Beeinträchtigung durch psychische Symptome und wird als Indikator für den Erfolg der Psychotherapie gesehen. Zusätzlich wurden Effektstärken für den Vergleich von Eingangs- und Abschlusserhebung berechnet, um sie mit Effektstärken anderer Untersuchungen vergleichen zu können.

8.3.2 Veränderung des interpersonalen Verhaltens Zur Bestimmung der Veränderung von Problemen im interpersonalen Verhalten wurde ein Vergleich der Gesamtwerte sowie der einzelnen Skalenwerte der ­Kurzform des Inventars interpersonaler Probleme (IIP-C) (Horowitz et  al. 1994, 2000) zwischen den drei Testzeitpunkten herangezogen.

216

8  Die Effektivität der Integrativen Therapie

Instrument

Variablen

SCL-90-R Symptomcheckliste (Hessel et al. 2001) (P. und M.)

90 Items zur Selbsteinschätzung psychischer Symptome und Belastungen, die 9 Skalen bilden: (1) Somatisierung, (2) Zwanghaftigkeit, (3) Unsicherheit, (4) Depressivität, (5) Ängstlichkeit, (6) Aggressivität, (7) phobische Angst, (8) Paranoides Denken, (9) Psychotizismus

IIP-C Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme (Horowitz et al. 1994) (P.)

Operationalisierung zwischenmenschlicher Probleme orientiert an Kieslers (1983) Kreismodell, wird durch 4 Gegensatzpaare bestimmt: (1) autokratisch-unterwürfig, (2) streitsüchtig-ausnutzbar, (3) abwesend-fürsorglich, (4) introvertiert-expressiv

ADS-L Allgemeine Depressionsskala (Hautzinger und Bailer 1993) (P.)

Die Langform des Fragebogens besteht aus 20 Items zur Selbstbeurteilung von depressiven Beschwerden im Vorfeld depressiver Erkrankungen hinsichtlich 7 verschiedener Dimensionen: (1) gedrückte Stimmung, (2) Schuldgefühle, (3) Gefühl der Wertlosigkeit, (4) Gefühl von Hilf-und Hoffnungslosigkeit, (5) Antriebsmangel, (6) Appetitverlust, (7) Schlafstörungen

STAI-G State-Trait-Angstinventar (Laux et al. 1970) (P.)

2 Skalen mit je 20 Items, die Angst als Zustand (State-Angst) und Angst als Eigenschaft (Trait-Angst) erfassen: (1) Zustandsangst: emotionaler Zustand, gekennzeichnet von Anspannung, Besorgtheit, Nervosität, innerer Unruhe und Furcht vor zukünftigen Ereignissen sowie von einer erhöhten Aktivität des autonomen Nervensystems (2) Angst als Eigenschaft / Ängstlichkeit: relativ stabile interindividuelle Differenzen in der Neigung, Situationen als bedrohlich einzustufen und auf solche Situationen mit einem höheren Anstieg an Zustandsangst zu reagieren als sog. Niedrigängstliche

Therapeuten-Fragebogen (in Anlehnung an EAG) (Th.)

Soziodemographische Angaben der Therapeuten, Weiterbildungshintergrund, therapeutische Orientierung, Arbeitsweisen, Erfahrungen, Einstellungen

Therapiebeurteilungs-Fragebogen (in Anlehnung an EAG) (P. und M.)

Diagnose(n) gemäß ICD-10, Einschätzungen zu Therapieverlauf und –erfolg, Einschätzung allgemeiner Lebenszufriedenheit (Fremdbeurteilung)

Patienten-Fragebogen (in Anlehnung an EAG) (P. und M.)

Soziodemographische Daten der Patienten, Therapievorerfahrung, Zugangsweg zum Therapeuten, Einschätzungen zu den Ursachen der Beschwerden, Alkohol-, Medikamenten-und Drogenkonsum, körperorientierte Aspekte (Körperschemata), subjektive Einschätzungen zum Therapieverlauf, soziales Netzwerk (Netzwerkinstrument), Einschätzung allgemeiner Lebenszufriedenheit (Selbstbeurteilung)

Angehörigen-Fragebogen (In Anlehnung an EAG)

Einschätzung allgemeiner Lebenszufriedenheit (Fremdbeurteilung)

Stundenbogen (P. und Th.)

(1) Therapeuten-Stundenbogen: 3 Items zur Einschätzung der Therapiesitzung, wobei eines beschreibend-offen formuliert ist, die anderen beiden auf einer Prozentskala von „stimmt überhaupt nicht“ bis „ja, ganz genau“ einschätzt werden, Die Items umfassen die Bereiche: Thema der Stunde (beschreibend), Effektivität und Beziehungsgestaltung (Stufenskala). (2) Patienten-Stundenbogen: Dieselben 3 Items wie Therapeut

Abb. 8.3  Übersicht über Erhebungsinstrumente und gemessene Variablen der Psychotherapie­ gruppe (P) und Medikamentenvergleichsgruppe (M). EAG Europäische Akademie für psychosoziale Gesundheit, Th Therapeuten

8.3 Erhebungsinstrumente

217

8.3.3 Veränderung der depressiven Beschwerden Das Ausmaß an depressiven Beschwerden des Patienten wurde mit der Langform der allgemeinen Depressionsskala (ADS-L) (Hautzinger und Bailer 1993) gemessen. Ein Selbstbeurteilungsfragebogen ermittelte 20 verschiedene Depressionsmerkmale mit vierstufiger Beantwortungsmöglichkeit, von 0 = „selten oder überhaupt nicht“ bis 3 = „meistens, die ganze Zeit“. Die 16 Items sind so gewählt, dass ein hoher Wert auf eine depressive Symptomatik hinweist: Verunsicherung, Appetitstörung, fehlende Reagibilität, Konzentrationsprobleme, Niedergeschlagenheit, Anstrengung, Selbstabwertung, Angst, Schlafstörungen, kommunikative Antriebslosigkeit, Einsamkeit, Unfreundlichkeit anderer, Weinen, Traurigkeit, Ablehnung durch andere und Antriebslosigkeit. Die 4  Kontrollitems sind umgekehrt gepolt, sodass ein niedriger Score als Indikator für depressive Beeinträchtigung zu deuten ist: Selbstwert, Hoffnung, Fröhlichkeit und Genussfähigkeit. Der Fragebogen wurde nur in der Studie 3 (Leitner et al. 2008a) von jenen Patienten mit der entsprechenden Diagnose erhoben. Die Veränderung über die Zeit wurde anhand des Vergleiches der Eingangs- und Abschlusswerte und der katamnestischen Mittelwerte überprüft. Diesen Werten wurden die Werte einer gesunden Referenzstichprobe (Hautzinger und Bailer 1993) gegenübergestellt. Zusätzlich wurden Effektstärken berechnet und nur jene Patienten in die Berechnungen miteinbezogen, die zu den jeweils verglichenen Testzeitpunkten an der Studie teilnahmen.

8.3.4 Veränderung der Angstsymptomatik Der Begriff Angst kann sowohl einen Zustand „State-Angst“ als auch eine Persönlichkeitseigenschaft „Trait-Angst“ beschreiben. Der Zustand State-Angst meint einen aktuellen, kurzfristigen emotionalen Zustand der Anspannung, Besorgtheit, nervösen Unruhe und der erhöhten Aktivität des autonomen Nervensystems. Der Zustand geht einher mit der Furcht vor einem zukünftigen Ereignis. Angst als persönliche Eigenschaft, Trait-Angst bedeutet die zeitlich weitgehend stabile, relativ situationsunabhängige, stärkere Tendenz, Situationen als bedrohlich wahrzunehmen und auf solche Situationen mit einem erhöhten Anstieg der Zustandsangst zu reagieren (Laux et al. 1970). Das State-Trait-Angstinventar (STAI-G) (Laux et al. 1970) erfasst auf zwei Skalen mit je 20 Items Statements sowohl der State-Angst als auch der Trait-Angst der jeweiligen in die Studie aufgenommenen Person. Die Antworten reichen von „fast nie“ (1) bis „fast immer“ (4), wobei einige positiv formulierte Items bei der Auswertung umgepolt wurden. Der Fragebogen wurde ebenso wie der ADS-L-Fragebogen nur von Patienten mit der entsprechenden Diagnose ausgefüllt. Die Veränderung über die Zeit wurde im Folgenden anhand des Vergleiches der mittleren Skalenrohwerte zwischen der Eingangs- und Abschlusserhebung und der

218

8  Die Effektivität der Integrativen Therapie

katamnestischen Erhebung sowie mit einer gesunden Referenzstichprobe (Laux et al. 1970) überprüft. Zusätzlich wurden Effektstärken der State-Angst- und Trait-Angst-Gesamtwerte berechnet. Es wurden auch hier nur jene Patienten in die Berechnungen miteinbezogen, die zu den jeweils verglichenen drei Testzeitpunkten an der Studie teilgenommen hatten.

8.3.5 Einschätzung allgemeiner Lebenszufriedenheit Das Instrument, die Einschätzung allgemeiner Lebenszufriedenheit (EAL), das der salutogenetischen Ausrichtung der Integrativen Therapie gerecht wird, wurde ebenso wie das Instrument für das soziale Netzwerk, für die Leiblichkeit, den Aspekten körperlichen Befindens, und für den Post-Session-Outcome mittels Stundenbogen an der EAG entwickelt (Steffan 2002). Die Veränderung in der Selbsteinschätzung der eigenen allgemeinen Lebenszufriedenheit wurde mit den Einschätzungsskalen allgemeiner Lebenszufriedenheit gemessen. Den Ergebnissen des Patienten wurde die Perspektive sowohl des Therapeuten als auch die Sicht der Angehörigen gegenübergestellt, um Zusammenhänge und Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Lebenszufriedenheit des Patienten untersuchen zu können. Die aktuelle Lebenszufriedenheit des Patienten wurde jeweils auf einer Prozentskala von 0  %  =  „trifft nicht zu“ bis 100  %  =  „trifft zu“ von dem Patienten selbst, dessen Therapeuten und Angehörigen zu den drei Testzeitpunkten eingeschätzt. Hohe Werte bedeuten hohe Lebenszufriedenheit. Die Original-Items sind in den Abbildungen mit dem jeweiligen Stichwort angegeben: 1. Persönlichkeit: Ich bin zufrieden mit meiner Persönlichkeit und meinen Fähigkeiten. 2. Leben: Ich bin im Augenblick zufrieden mit meinem Leben. 3. Lebenssinn: Ich erlebe mein Leben als sinnvoll. 4. Kontakte: Ich komme im Kontakt mit anderen Menschen gut zurecht. 5. Freunde: Ich habe viele Freunde. 6. Freizeit: Ich bin zufrieden mit meiner Freizeit. 7. Beruf: Ich bin mit meiner Arbeit und meinem Beruf zufrieden. 8. Sexualität: Ich bin mit meiner Sexualität zufrieden. 9. Körper: Ich bin mit meinem Körper zufrieden. 10. Wirtschaftliche Situation: Ich bin mit meiner wirtschaftlichen Situation zufrieden. 11. Wohnsituation: Ich bin mit meiner Wohnsituation zufrieden.

8.3.6 Veränderung von Aspekten körperlichen Befindens Zu allen Erhebungszeitpunkten von Eingang, Abschluss und Katamnese wurde der Patient auch nach Aspekten seiner körperlichen Befindlichkeit befragt. Auf einer

8.4 Rücklauf der Stichproben im Vergleich

219

Prozentskala 0 = „trifft überhaupt nicht zu“ bis 100 = „trifft voll und ganz zu“, sollte der Patient bezüglich 6 relevanter Statements beurteilen, inwieweit diese auf seine eigene Person zutreffen: 1 . Ich leide häufig unter Verspannungen. 2. Ich leide häufig unter körperlichen Erschöpfungszuständen. 3. Ich kann meinen Körper häufig nicht akzeptieren. 4. Ich kann meinen Körper häufig nicht spüren. 5. Ich bewege mich gerne. 6. Ich bin sportlich aktiv. Während sich die ersten vier Statements auf die subjektiv erlebte Beeinträchtigung des Patienten in Bezug auf körperliches Unwohlsein und Körperwahrnehmung beziehen, messen die Items 5 und 6 das Ausmaß körperlicher Aktivität des Patienten. Eine Reduktion der Skalenwerte bei den ersten vier Items kann damit als Abnehmen der Beeinträchtigung interpretiert werden und wird somit als positiver Indikator für den Therapieerfolg gesehen. Die letzten beiden Statements sind umgekehrt gepolt. Mit zunehmender körperlicher Aktivität nehmen auch die Skalenwerte und damit der Therapieerfolg zu. Um eine eventuelle Veränderung der körperlichen Befindlichkeit zwischen den drei Testzeitpunkten festzustellen, wurden die jeweiligen Skalenmittelwerte der verschiedenen Testzeitpunkte mit dem Wilcoxon-Test für abhängige Stichproben verglichen (p