Haftungsrecht des Straßenverkehrs 9783504386160

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Haftungsrecht des Straßenverkehrs
 9783504386160

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Greger/Zwickel

Haftung im Straßenverkehr

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Haftung im Straßenverkehr Schadensersatz · Regulierung Regress Bearbeitet von

Prof. Dr. Reinhard Greger Richter am Bundesgerichtshof a.D., Universitätsprofessor i.R. in Erlangen

und

Dr. Martin Zwickel Akademischer Oberrat in Erlangen

6., neu bearbeitete Auflage 2021

Zitierempfehlung: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, § …, Rz. …

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-47111-8 ©2021 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Das Recht der Verkehrsunfallhaftung kann in einem Kommentar der üblichen Art, d.h. mittels Erläuterung einzelner Gesetzesvorschriften, nur schwer abgebildet werden. Spezialgesetze, die eine verschuldensunabhängige Haftung begründen, überlagern das Deliktsrecht des BGB, Verkehrspflichten werden weithin aus der StVO und anderen Spezialnormen abgeleitet, das Recht der Kfz-Versicherung, aber auch Haftungsverlagerungen durch das Arbeits-, Produkthaftungs-, Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht greifen tief in die Schadensabwicklung ein. Zudem wurde das allgemeine Schadensersatzrecht in vielfacher Hinsicht für Verkehrsunfälle richterrechtlich überformt und nicht zuletzt stellen sich in diesen Verfahren spezielle Fragen des Vertrags-, des Amtshaftungs- und des Prozessrechts. Der vorliegende Kommentar erläutert die einschlägigen Normen daher nicht anhand ihres Standorts im Gesetz, sondern nach Sachzusammenhängen gegliedert. Dieser – mehr in Richtung eines Handbuchs gehende – Aufbau ermöglicht eine kohärentere Darstellung und trägt dem Umstand Rechnung, dass der Nutzer zumeist zu einem bestimmten Problem, seltener zu einer einzelnen Norm Informationen sucht. Die gesetzlichen Vorschriften bilden gleichwohl die Grundlage der Kommentierung und werden zu Beginn jedes Kapitels angeführt. Zahlreiche Querverweise und ein tief gegliedertes Sachregister erleichtern die Orientierung in dem vielschichtigen Aufbau. Zu den Sorgfaltspflichten im Straßenverkehr und den Sicherungspflichten für die Verkehrswege existiert eine kaum zu überblickende Rechtsprechung. Auch sie wird nach sachlichen Kriterien (Verkehrssituationen, Unfalltypen) aufbereitet. In gleicher Weise werden die bei der Unfallhaftung oft im Mittelpunkt stehenden Beweisfragen sowie die Bestimmung der Haftungsanteile behandelt. Der Kommentar gibt die aktuelle Rechtsprechung wieder (Stand: Ende Oktober 2020), nicht ohne diese bei gegebenem Anlass auch in Frage zu stellen und Alternativen aufzuzeigen sowie zu bisher nicht geklärten Fragen Stellung zu beziehen. Zahlreiche Rechtsänderungen aus der letzten Zeit bieten hierfür reichlich Anlass, so z.B. die neuen Vorschriften für automatisierte Fahrfunktionen, für neuartige Fortbewegungsmittel wie E-Bikes und E-Roller, die RadfahrerNovelle zur StVO, die Einführung des Hinterbliebenengelds und die Neuregelung des Rechts der sozialen Entschädigung im SGB XIV. Auch die kurz vor Erscheinen dieser Auflage erlassenen Gesetze zur Neuregelung der Haftung für Kfz-Anhänger sowie zum Angehörigenprivileg beim Regress von Sozialversicherungsträgern sind eingearbeitet; da sie teilweise nur für Unfälle nach ihrem Inkrafttreten gelten, für geraume Zeit aber noch Altfälle zu regulieren sein werden, wurden die Rechtslagen parallel kommentiert. Auch neue Tendenzen in der obergerichtlichen Rechtsprechung waren zu berücksichtigen, etwa zum erweiterten Betriebsbegriff in § 7 StVG, zur fiktiven Schadensberechnung, zur Schmerzensgeldbemessung, zur Eindämmung des Anscheinsbeweises und zur Beweisführung mittels Dashcam. Die Übernahme der vorliegenden sechsten Auflage in das Programm des Verlags Dr. Otto Schmidt bot den Anlass zu einer grundlegenden Modernisierung des Werks. Zahlreiche Abschnitte wurden völlig neu erstellt, bestehende Texte und Belege auf ihre Aktualität überprüft und ggf. bereinigt. Rechtsprechungszitate werden nunmehr mit Datum und Aktenzeichen angegeben, was ihre Auffindbarkeit, auch in Datenbanken, erleichtert. In der elektronischen Version kann auf Belege unmittelbar zugegriffen werden.

V

Vorwort

Für die Übernahme des Werks sagen die Verfasser dem Verlag, für die mit den Umgestaltungen verbundenen Mühen seinen Mitarbeitern in Lektorat und Herstellung besten Dank. Das Werk soll sowohl der verkehrsrechtlichen Praxis (insbesondere Richtern, Rechtsanwälten, Versicherungsjuristen) als auch der wissenschaftlichen Durchdringung des Haftungsrechts dienen. Über Rückmeldungen aus beiden Bereichen würden sich die Verfasser freuen.

VI

Prof. Dr. Reinhard Greger

Dr. Martin Zwickel

[email protected]

[email protected]

Inhaltsübersicht Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII

Einleitung Rz.

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1.1 1.1 1.6 1.26 1.39

1 1 3 9 12

§ 2 Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationales Zivilverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Hinweise zu ausländischen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . V. Internationale Haftungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 2.1 2.2 2.9 2.40 2.42

19 21 22 26 36 37

§ 3 Haftung des Kfz-Halters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erfasste Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unfall mit Personen- oder Sachschaden als konkreter Haftungsgrund . IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Halter als Ersatzpflichtiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1 3.1 3.13 3.28 3.56 3.173 3.214 3.258

43 46 48 52 60 88 96 106

§ 4 Haftung des Kfz-Führers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Führereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhältnis zu Halter und Eigentümer des geführten Kfz

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4.1 4.1 4.9 4.23 4.36

141 142 144 147 150

§ 1 Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung . . . . . . . . . I. Bedeutung und Funktion des Verkehrshaftungsrechts II. Zwecke und Prinzipien des Haftungsrechts . . . . . . . III. Systematik des Verkehrshaftungsrechts . . . . . . . . . . IV. Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil § 7 StVG Haftung ohne Verschuldensnachweis

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VII

Inhaltsübersicht Rz.

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§5 I. II. III. IV. V.

Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung des Bahnunternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung des Luftfahrzeughalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährdungshaftung bei Gewässerverunreinigung . . . . . . . . . . . . . Haftung des Betreibers von Leitungs-, Abbau- und Industrieanlagen

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5.1 5.1 5.7 5.40 5.46 5.50

153 155 156 164 166 167

§6 I. II. III. IV.

Haftung für Produktmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung nach dem ProdHaftG . . . . . . . . . . . . . . . . . Produkthaftung wegen Verletzung einer Verkehrspflicht Produkthaftung wegen Verletzung eines Schutzgesetzes .

§7 I. II. III.

Haftung für Verrichtungsgehilfen Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungstatbestand . . . . . . . . . . . Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . .

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§8 I. II. III.

Haftung für Aufsichtsbedürftige Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungstatbestand . . . . . . . . . . Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . .

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§9 I. II. III.

Haftung für Tiere . Überblick . . . . . . . Haftungstatbestände Entlastungsbeweis . .

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6.1 6.1 6.2 6.21 6.34

171 172 172 177 182

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7.1 7.1 7.11 7.15

183 183 185 186

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8.1 8.1 8.5 8.14

191 191 192 194

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9.1 9.1 9.7 9.21

199 199 201 206

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10.1 10.1 10.6 10.45 10.51 10.75

211 212 214 225 227 236

§ 11 Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11.1 11.1

239 239

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Zweiter Teil Haftung aus unerlaubter Handlung § 10 Haftung wegen Rechtsgutsverletzung I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen . III. Widerrechtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . IV. Subjektive Haftungsvoraussetzungen . . V. Billigkeitshaftung . . . . . . . . . . . . . . .

VIII

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II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11.4 11.62

240 252

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12.1 . 12.1 . 12.12 . . 12.36 . 12.60 . 12.73 . 12.101

255 256 259 266 272 276 284

§ 13 Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Träger der Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Umfang und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einzelne Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Mithaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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13.1 . 13.1 . . 13.14 . 13.31 . 13.55 . 13.164

287 288 293 299 308 345

§ 14 Verkehrspflichten im Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . I. Kfz-Halter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kfz-Führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schienenfahrzeugführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Radfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fußgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Inline-Skates, E-Scooter und ähnliche Fortbewegungsmittel VII. Führen und Treiben von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Sonstige Einwirkungen auf Verkehrsvorgänge . . . . . . . . .

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14.1 14.1 14.8 14.258 14.262 14.275 14.290 14.293 14.297

351 352 355 420 422 426 431 432 433

§ 15 Haftung des Haftpflichtversicherers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtliche Einordnung des Direktanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen des Direktanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Umfang des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhältnis zum Anspruch gegen den Versicherungsnehmer bzw. Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verhältnis zum Anspruch gegen Mitschädiger und deren Versicherer VI. Haftung des Versicherers trotz fehlender Leistungspflicht . . . . . . . . VII. Beeinflussung des Ersatzanspruchs durch Teilungsabkommen . . . . .

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15.1 15.1 15.4 15.17

441 444 445 451

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15.21 15.40 15.43 15.55

452 459 460 463

§ 12 Haftung wegen Amtspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB) III. Haftung des Staates (Art. 34 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Haftung für Angehörige ausländischer Streitkräfte . . . . . . VI. Haftung im Anstellungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dritter Teil Sonstige Haftungstatbestände

IX

Inhaltsübersicht

VIII. Unfälle mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Ansprüche bei fehlendem Versicherungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . X. Haftung wegen verzögerter Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz.

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15.68 15.72 15.80

468 469 471

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16.1 16.1 16.5 16.47 16.58

473 473 475 486 490

§ 17 Notstand, Geschäftsführung ohne Auftrag . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung aus Abwehr eines Notstands (§ 904 S. 2 BGB) III. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag . . . . . IV. Haftung des auftragslosen Geschäftsführers . . . . . . . .

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17.1 17.1 17.2 17.6 17.20

497 497 498 499 503

§ 18 Öffentlich-rechtliche Ausgleichsansprüche . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Umfang und Geltendmachung der Ansprüche

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18.1 18.1 18.3 18.6

505 505 506 507

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19.1 19.1 19.4 19.7

509 509 510 511

§ 20 Inhalt des Ersatzanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Schaden als Bemessungsgrundlage des Schadensersatzes . . . . . . . . II. Art des Schadensersatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20.1 20.1 20.22

517 517 522

§ 21 Anspruchsberechtigung . . . . . . . I. Gefährdungshaftung nach § 7 StVG II. Sonstige Ansprüche . . . . . . . . . . . III. Gesetzlicher Forderungsübergang . IV. Abtretung . . . . . . . . . . . . . . . . .

21.1 21.1 21.17 21.20 21.21

529 529 533 533 533

§ 16 Rechtsgeschäftliche Haftung I. Überblick . . . . . . . . . . . . . II. Vertragsverletzung . . . . . . . III. Schuldanerkenntnis . . . . . . . IV. Ansprüche aus Vergleich . . .

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Vierter Teil Reichweite, Inhalt und Inhaber des Ersatzanspruchs § 19 Zurechnung von Verletzungsfolgen . . I. Haftungsgrund und Haftungsausfüllung II. Allgemeine Zurechnungskriterien . . . . III. Spezielle Zurechnungsfragen . . . . . . . .

X

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Inhaltsübersicht

Fünfter Teil Ausschluss und Beschränkung der Haftung, Verjährung § 22 I. II. III. IV. V. VI.

Haftungsausschlüsse und -beschränkungen . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschluss der Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Haftungsausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsbeschränkungen im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung . . . . . . . . . . Ausschlüsse bei Versorgungsberechtigten und im öffentlichen Dienstrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz.

Seite

22.1 22.1 22.4 22.30 22.67 22.80

537 542 542 549 558 562

. . . . . . . 22.156

587

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§ 23 I. II. III. IV.

Höhenbegrenzung der Gefährdungshaftung Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsbegrenzung nach dem StVG . . . . . . Haftungsbegrenzung nach dem HaftpflG . . . . Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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23.1 23.1 23.7 23.26 23.29

589 590 591 596 597

§ 24 I. II. III. IV. V. VI. VII.

Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neubeginn der Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hemmung der Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährung von vor dem 1.1.2002 entstandenen Ansprüchen Rechtsgeschäftliche Einwirkungen auf die Verjährung . . . . . Unzulässige Rechtsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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24.1 . 24.1 . 24.3 . . 24.31 . 24.39 . 24.92 . 24.97 . 24.103

599 602 603 610 613 627 629 631

§ 25 I. II. III. IV. V.

Mitverantwortung des Geschädigten . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens . Anrechnung der Betriebsgefahr . . . . . . . . . . . . . Mitverschulden hinsichtlich des Schadensumfangs Haftungsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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25.1 . 25.1 . . 25.16 . 25.87 . 25.99 . 25.125

633 636 641 660 664 671

26.1 26.1 26.4

725 725 726

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Sechster Teil Ersatz des Sachschadens § 26 Totalschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art und Höhe der Ersatzleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

III. Einzelheiten der Schadensberechnung bei Totalschaden eines Kfz . . . . . IV. Besonderheiten bei Leasingfahrzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26.17 26.29

729 733

§ 27 Reparabler Sachschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Höhe der Reparaturkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Reaktionsmöglichkeiten und Ersatzansprüche beim Kfz-Schaden . IV. Wertminderung oder -steigerung durch die Reparatur . . . . . . . . V. Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Nebenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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27.1 27.1 27.44 27.58 27.78 27.90 27.96

735 736 750 756 765 770 773

§ 28 Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entgangener Gewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls IV. Abstrakte Nutzungsausfallentschädigung . . . . . V. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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28.1 28.1 28.2 28.10 28.49 28.62

775 775 776 778 797 805

§ 29 Kosten der Rechtsverfolgung . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gutachten, Kostenvoranschlag, Ermittlungsaufwand III. Rechtsanwaltskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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29.1 29.1 29.3 29.14 29.23

807 807 808 814 818

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30.1 30.1 30.6 30.16

821 821 822 825

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31.1 31.1 31.14 31.31 31.178 31.189

827 830 834 839 880 883

§ 32 Körperverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32.1 32.1

891 893

§ 30 Sonstige Vermögensnachteile, Zinsen I. Finanzierungskosten . . . . . . . . . . . . . II. Folgeschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zinsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siebter Teil Ersatz des Personenschadens § 31 Tötung . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . II. Beerdigungskosten . . . III. Entgangener Unterhalt IV. Entgangene Dienste . . V. Hinterbliebenengeld . .

XII

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Inhaltsübersicht

II. III. IV. V.

Heilungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . Ersatz vermehrter Bedürfnisse . . . . . . Nachteile für Erwerb und Fortkommen Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz.

Seite

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32.5 . . 32.32 . 32.57 . 32.189

894 903 910 953

§ 33 Schmerzensgeld . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . III. Bemessungsfaktoren . . . . . . . . . . . . IV. Höhe und Art der Entschädigung . . . V. Verfahrensrechtliche Besonderheiten .

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33.1 33.1 33.6 33.13 33.35 33.47

957 957 959 962 967 972

§ 34 Rentenleistungen . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zukunftsschäden . . . . . . . . . . . . III. Bereits entstandene Schäden . . . . IV. Einzelheiten der Rentengewährung V. Prozessrechtliche Fragen . . . . . . .

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34.1 34.1 34.4 34.13 34.22 34.26

973 974 974 978 979 980

§ 35 Regress der Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen des Forderungsübergangs . . . . . . . . III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung V. Übergang von Beitragsforderungen (§ 119 SGB X) . . . .

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35.1 985 . 35.1 989 . 35.6 991 . . 35.41 1000 . 35.110 1021 . 35.153 1039

§ 36 Regress der Träger Sozialer Fürsorge . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Forderungsübergang nach § 116 SGB X . . . . . . . . . . . . III. Forderungsübergang nach § 33 SGB II und § 93 SGB XII

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36.1 36.1 36.13 36.31

1045 1047 1050 1055

§ 37 Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren . . . . . . . . . III. Regress der Versorgungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Regress des Bundes nach § 179 Abs. 1a SGB VI . . . . . . . . .

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37.1 37.1 37.6 37.27 37.45

1063 1064 1066 1071 1077

. . . . . .

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Achter Teil Schadensregress

XIII

Inhaltsübersicht

§ 38 Regress der Privatversicherer . . . I. Überblick und Rechtsgrundlagen . . II. Sach- und Personenversicherung . . III. Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung .

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§ 39 Regress zwischen mehreren Haftpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausgleichsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz.

Seite

38.1 38.1 38.2 38.16

1079 1080 1081 1084

39.1 1089 39.1 1090 39.10 1092

Neunter Teil Verkehrshaftpflichtprozess . . . . . .

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40.1 40.1 40.6 40.32 40.40 40.47

1101 1102 1103 1110 1113 1115

§ 41 Sachverhaltsfeststellung im Prozess . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anforderungen an den Beweis . . . . . . . . . . . . . . V. Tatsachenfeststellung außerhalb des Zivilprozesses

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41.1 41.1 41.16 41.38 41.49 41.132

1117 1118 1125 1132 1136 1162

§ 40 Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . I. Örtliche und internationale Zuständigkeit II. Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischen- und Teilurteile . . . . . . . . . . . IV. Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . V. Weitere Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165

XIV

Abkürzungsverzeichnis 1. EheRG 2. SchRÄndG

Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts Zweites Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002

a.A. AAG

anderer Ansicht Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlungen (Aufwendungsausgleichsgesetz) am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Absatz Abschnitt abweichend Archiv für die civilistische Praxis Allgemeiner Deutscher Automobilclub Allgemeine Deutsche Spediteurbedingungen am Ende Allgemeines Eisenbahngesetz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz Amtsgericht Allgemeine Haftpflichtversicherungsbedingungen Arbeitskreis Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrversicherung allgemein allgemeine Meinung Alternative anderer Meinung amtliche anders Änderung Anhang Anlage Anmerkung Anwaltsblatt Abgabenordnung Allgemeine Ortskrankenkasse Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts (Arbeitsrechtliche Praxis) Automobil-Rundschau Arbeitsgericht Arbeitsrecht Archiv für das Post- und Fernmeldewesen Argument Artikel Asylbewerberleistungsgesetz

a.a.O. abgedr. abl. Abs. Abschn. abw. AcP ADAC ADSp a.E. AEG AEUV a.F. AFG AG AHB AK AKB allgem. allgM Alt. a.M. amtl. and. Änd. Anh. Anl. Anm. AnwBl AO AOK AP AR ArbG ArbR ArchivPF Arg. Art. AsylbLG

XV

Abkürzungsverzeichnis

AT AtomG AUB Aufl. AuR ausf. AuslPflVG AVK Az. b. BAB BAG BAGE BAnz BAT BayBgm BayFwG BayGemZ BayObLG BayObLGSt BayObLGZ BayPAG BayStrWG BayVGH BayZ BB BBahn BBahnG BBG BBhV Bd., Bde. BeamtStG BeamtVG BefBedV Begr., begr. Beil Bek Bem. ber. bes. betr. Betrieb BFH BFHE BFStrG BG XVI

Allgemeiner Teil Atomgesetz Allgemeine Unfallversicherungsbedingungen Auflage Arbeit und Recht, Zeitschrift für Arbeitsrechtspraxis ausführlich Gesetz über die Haftpflichtversicherung für ausländische Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger Allgemeine Versicherungsbedingungen der privaten Krankenversicherung Aktenzeichen bei Bundesautobahn Bundesarbeitsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanzeiger Bundesangestelltentarifvertrag Der Bayerische Bürgermeister (Zeitschrift) Bayerisches Feuerwehrgesetz Bayerische Gemeindezeitung Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Zivilsachen Bayerisches Polizeiaufgabengesetz Bayerisches Straßen- und Wegegesetz Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern Betriebs-Berater (Zeitschrift) Die Bundesbahn (Zeitschrift) Bundesbahngesetz Bundesbeamtengesetz Verordnung über Beihilfe in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen Band, Bände Beamtenstatusgesetz Beamtenversorgungsgesetz Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen Begründung, begründet Beilage Bekanntmachung Bemerkung berichtigt besonders, besonderer betreffend Der Betrieb (Zeitschrift) Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen und Gutachten des Bundesfinanzhofs Bundesfernstraßengesetz Berufsgenossenschaft (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis

BGB BGBl BGH BGHR BGHReport BGHSt BGHWarn BGHZ BhV bish. BKartA BKGG Blutalkohol BNatSchG BOKraft BOStrab BR-Drs BSG BSGE BSHG Bsp. BStBl. BT-Drs BtPrax BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BVG bzgl. bzw.

Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt, Teil I, II oder III Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung, Zivilsachen BGHReport, Schnelldienst zur Zivilrechtsprechung des BGH Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, soweit nicht in BGHZ enthalten, Fortsetzung von WarnR (seit 1961) Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Beihilfevorschriften bisher(ige) Bundeskartellamt Bundeskindergeldgesetz Blutalkohol (Zeitschrift) Bundesnaturschutzgesetz Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung Bundesrats-Drucksache Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bundessozialhilfegesetz Beispiel Bundessteuerblatt, Teil I, II oder III Bundestags-Drucksache Betreuungsrechtliche Praxis Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundesversorgungsgesetz bezüglich beziehungsweise

CMR

Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr vom 19. 5. 1956 (BGBl 1961 II 1120)

DAR ders. dgl. dh. dies. DIN DJ DJT DJZ DNotZ DÖV DR

Deutsches Autorecht (Zeitschrift) derselbe dergleichen das heißt dieselben Deutsche Industrienorm Deutsche Justiz (Zeitschrift) Deutscher Juristentag Deutsche Juristenzeitung Deutsche Notar-Zeitschrift Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Recht (Zeitschrift) XVII

Abkürzungsverzeichnis

DRiZ DRiZRspr DRZ DtZ DVBl

Deutsche Richterzeitung Rechtsprechung (Beilage zur DRiZ) Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt

E ebd. EBO EE

EurGRZ EvBl evtl. EVO EWiR

Entwurf ebenda Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung Eisenbahn- und verkehrsrechtliche Entscheidungen und Abhandlungen (1885–1935) Entgeltfortzahlungsgesetz Einführungsgesetz zum BGB Gesetz betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung Einführung Einleitung Elektrokleinstfahrzeuge-VO v. 6.6.2019 (BGBl. I 2019, 756) österr. Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz Europäische Kommission für Menschenrechte englisch Entscheidung entsprechend Entwurf Ergänzungsband Erläuterung(en) Gesetz über die erweiterte Zulassung von Schadenersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen vom 7.12.1943 Einkommensteuergesetz Europäischer Gerichtshof Übereinkommen der Europäischen Gemeinschaft über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (BGBl 1972 II 774) Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22.12.2000 (Amtsblatt EG 2001 Nr. L 12, S 1) Europäische Grundrechte-Zeitschrift Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen (Wien, seit 1934) eventuell Eisenbahn-Verkehrsordnung Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht

f., ff. FahrschAusbO FamRZ FeV FEVS Fn. FS

folgende(r) Fahrschüler-Ausbildungsordnung Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fahrerlaubnis-Verordnung Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte Fußnote Festschrift

EFZG EGBGB EGZPO Einf. Einl. eKFV EKHG EKMR engl. Entsch. entspr. Entw. ErgBd Erl ErwG EStG EuGH EuGVÜ

EuGVVO

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

GBl gem. Ges GewArch GG ggf. GKG GPR GrS GS GS Schl-H GüKG GV GVBl. GVG

Gesetzblatt gemäß Gesetz Gewerbearchiv (Zeitschrift) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Gerichtskostengesetz Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Großer Senat Preußische Gesetzessammlung Gesetzessammlung Schleswig-Holstein Güterkraftverkehrsgesetz Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz

HaftpflG Hs. HansGZ HansRGZ HansRZ Hdb. HessVGH HESt HEZ HGB HGrG HHG Hinw. h.L. h.M. HRR Hrsg., hrsg. Hs.

Haftpflichtgesetz Halbsatz Hanseatische Gerichtszeitung Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift Hanseatische Rechtszeitschrift Handbuch Verwaltungsgerichtshof des Landes Hessen Höchstrichterliche Entscheidungen in Strafsachen Höchstrichterliche Entscheidungen in Zivilsachen Handelsgesetzbuch Haushaltsgrundsätzegesetz Häftlingshilfegesetz Hinweis herrschende Lehre herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung Herausgeber, herausgegeben Halbsatz

i.d.F. i.d.R. i.d.S. i.E., i.Erg. i.e.S. IfSG insb. insg. IPR IPRax IPRspr

in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im Ergebnis in engerem Sinne Infektionsschutzgesetz insbesondere insgesamt Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift) Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des internationalen Privatrechts (Zeitschrift) im Sinne im Sinne der/des

i.S. i.S.d.

XIX

Abkürzungsverzeichnis

i.S.v. IVH i.V.m. i.w.S. i.Z.w.

im Sinne von Info-Letter Versicherungs- und Haftungsrecht in Verbindung mit in weiterem Sinne im Zweifel

JherJb JP JR JRPrV Jura JurBüro JurZentr JuS Justiz JW JZ

Jherings Jahrbücher der Dogmatik des bürgerlichen Rechts (1857–1942) Juristische Praxis (Zeitschrift) Juristische Rundschau Juristische Rundschau für die Privatversicherung Juristische Ausbildung Das juristische Büro (Zeitschrift) Mitteilungen der juristischen Zentrale des ADAC Juristische Schulung Die Justiz: Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg Juristische Wochenschrift Juristenzeitung

Kap. KF KFG

Kapitel Karlsruher Forum Kraftfahrzeuggesetz (Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3.5.1909, RGBl 437) Verordnung zur Kriegsopferfürsorge Kraftfahrzeug Kraftfahrzeug-Pflichtversicherungsverordnung Kammergericht KG-Report Berlin (Zeitschrift) Kommentar kritisch Kraftverkehrsordnung für den Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen vom 23.12.1958 (BAnz 1958, Nr 249) Kurzwiedergabe

KFürsV Kfz KfzPflVV KG KGR Komm krit. KVO KW LAG lfd. LFZG LG lit. Lit. Lkw LM LS LSG lt. LuftVG LugÜ LuK LZ XX

Landesarbeitsgericht laufend Lohnfortzahlungsgesetz Landgericht Buchstabe Literatur Lastkraftwagen Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, Loseblattsammlung herausgegeben von Lindenmaier, Möhring ua Leitsatz Landessozialgericht laut Luftverkehrsgesetz Luganer Übereinkommen v. 30.10.2007 (ABl EU 2007 L 399 S 3) Luft- und Kraftfahrt (Zeitschrift) Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht

Abkürzungsverzeichnis

m. mit abl. Anm. mit Anm. MdE MDR m.E. MedR Mio Mrd m.w.N.

mit mit ablehnender Anmerkung mit Anmerkung Minderung der Erwerbsfähigkeit Monatsschrift für Deutsches Recht meines Erachtens Medizinrecht (Zeitschrift) Million(en) Milliarde(n) mit weiteren Nachweisen

Nachw. NATO NdsRpfl NDV NeuBek n.F. NF NJ NJW NJWE-VHR NJW-RR Nr. NTS NTS-AG NuR NVwZ NZA NZS NZV

Nachweis(e) North Atlantic Treaty Organization Niedersächsische Rechtspflege (Zeitschrift) Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge Neubekanntmachung neue Fassung Neue Folge Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift NJW-Entscheidungsdienst Versicherungs-/Haftungsrecht Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport Nummer NATO-Truppenstatut vom 19.6.1951 (BGBl 1961 II 1190) Ausführungsgesetz zum NATO-Truppenstatut vom 18.8.1961 Natur und Recht (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht

o. O. o.a. o.ä. OEG o.g. OG OGH OGHSt OGHZ OHG o.J. ÖJZ OLG OLG-NL OLGR

oben Ordnung oben angegeben oder ähnlich Opferentschädigungsgesetz oben genannt Oberstes Gericht (DDR) Oberster Gerichtshof für die britische Zone (vgl. auch österr OGH) Entscheidungen des OGH in Strafsachen Entscheidungen des OGH in Zivilsachen Offene Handelsgesellschaft ohne Jahr Österreichische Juristenzeitung Oberlandesgericht OLG-Rechtsprechung Neue Länder OLG-Report

XXI

Abkürzungsverzeichnis

OLGSt OLGZ ÖRZ österr. österr. OGH OVG OWiG

Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Österreichische Richterzeitung österreichisch Oberster Gerichtshof für Österreich Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

PBefG PersVerk PflVG phG Pkw Pr allg LR ProdHaftG ProdSG Prot. PrOVG PrStHG

Personenbeförderungsgesetz Personenverkehr Pflichtversicherungsgesetz persönlich haftender Gesellschafter Personenkraftwagen Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 Produkthaftungsgesetz Produktsicherheitsgesetz Protokoll(e) Preußisches Oberverwaltungsgericht Preußisches Staatshaftungsgesetz vom 1.8.1909 (GS 691)

r+s RA RAussch RBerG RBHG

Recht und Schaden (Zeitschrift) Rechtsanwalt Rechtsausschuss Rechtsberatungsgesetz Gesetz über die Haftung des Reichs für seine Beamten vom 22.5.1910 (RGBl I 798) Recht der Arbeit (Zeitschrift) Rechtsdienstleistungsgesetz Das Recht des Kraftfahrers (Zeitschrift) Recht des Landwirtschaft (Zeitschrift) Rundschreiben Das Recht (Zeitschrift) Register Reichsgericht Reichsgesetzblatt Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen, hrsg von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft (1879–1888) Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, zitiert nach Band und Seite Rechtsprechung des Reichsgerichts, hrsg von Warneyer Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Reichshaftpflichtgesetz vom 7.6.1871 (RGBl 207) Recht der internationalen Wirtschaft Randnummer Reichsoberhandelsgericht Der deutsche Rechtspfleger (Zeitschrift) Rentenreformgesetz Rechtsprechung

RdA RDG RdK RdL Rdschr. Recht Reg. RG RGBl. RGRspr RGSt RGWarn RGZ RHaftpflG RIW Rn. ROHG Rpfleger RRG Rspr. XXII

Abkürzungsverzeichnis

RVG RVO Rz.

Rechtsanwaltsvergütungsgesetz Reichsversicherungsordnung Randziffer

s. S. s. a. s. o. s. u. SchlHA SchwbG SchwJZ schwSVG SeeArbG SeuffA

siehe Seite, Satz siehe auch siehe oben siehe unten Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schwerbehindertengesetz Schweizerische Juristenzeitung Schweizerisches Straßenverkehrsgesetz Seearbeitsgesetz J. A. Seufferts Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten Soldatengesetz Sozialgesetzbuch (mit Angabe des Buches in römischer Ziffer) Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgerichtsgesetz Süddeutsche Juristenzeitung Sammlung sogenannte(r) Schaden-Praxis (Zeitschrift) Spalte ständige Strafgesetzbuch Strafprozessordnung streitig Straßengesetz (Ländergesetze) Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz ständige Rechtsprechung Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrs-Ordnung Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung Soldatenversorgungsgesetz Straßenverkehrsrecht (Zeitschrift) Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs in Zivil- und Justizverwaltungssachen

SG SGB SGb SGG SJZ Slg sog. SP Sp. st. StGB StPO str. StrG StrRehaG st.Rspr. StVG StVO StVZO SVG SVR SZ

ThürPAG TÜV TVöD

(Thüringer) Polizeiaufgabengesetz Technischer Überwachungsverein Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst

u. u.ä. u.a. u.a.m. Übk

unten / und und ähnliche unter anderem, und andere und anderes mehr Übereinkommen XXIII

Abkürzungsverzeichnis

ü.M. umstr. unstr. unv. unzutr. UP

Urt. UStG usw. u.U. v. VAE Vers VersR VersRAI VerwArch VerwRspr VG VGH vgl. VGT

v.H. VkBl. VkRdsch VM VN VO Voraufl. Vorbem. VP VR VRS VV VV RVG VVG VW VwGO VwRehaG VwV-StVO VzKat WarnJ WarnRspr XXIV

überwiegende Meinung umstritten unstrittig unveröffentlicht unzutreffend Unterzeichnungsprotokoll zum Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut vom 3.8.1959 in der Fassung vom 18.5.1981 (BGBl 1961 II 1313; 1982 II 531) Urteil Umsatzsteuergesetz und so weiter unter Umständen von, vom Verkehrsrechtliche Abhandlungen und Entscheidungen Versicherung Versicherungsrecht (Zeitschrift) Versicherungsrecht Beilage Ausland Verwaltungsarchiv Verwaltungsrechtsprechung Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Deutscher Verkehrsgerichtstag (auch: Veröffentlichung der gehaltenen Referate und erarbeiteten Empfehlungen durch die Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft) vom Hundert Verkehrsblatt Verkehrsrundschau Verkehrsrechtliche Mitteilungen Der Versicherungsnehmer (Zeitschrift) Verordnung Vorauflage Vorbemerkung Die Versicherungspraxis (Zeitschrift) Verkehrsrechtliche Rundschau Verkehrsrechtssammlung, zitiert nach Band und Seite Verwaltungsvorschrift Vergütungsverzeichnis (Anlage 1) zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz Gesetz über den Versicherungsvertrag Versicherungswirtschaft (Zeitschrift) Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung Katalog der Verkehrszeichen Jahrbuch der Entscheidungen zum BGB und den Nebengesetzen, begr von Warneyer (1900–1938) siehe RGWarn

Abkürzungsverzeichnis

WHG WJ WM WzS ZA

ZAkDR z.B. ZBlSozVers ZBR ZDG ZEuP ZfF ZfS ZfSH ZfV ZGS Ziff. zit. ZMR ZPO ZRP z.T. zust. zutr. ZVersWiss ZVglRWiss ZVR zw. ZWE z.Z. ZZP

Wasserhaushaltsgesetz Informationen zum Versicherungs- und Haftpflichtrecht, hrsg von Wussow Wertpapiermitteilungen (Zeitschrift) Wege zur Sozialversicherung (Zeitschrift) Zusatzabkommen zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen vom 3.8.1959 in der Fassung vom 18.3.1993 (BGBl 1961 II 1218; 1973 II 1021; 1982 II 530; 1994 II 2594) Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht zum Beispiel Zentralblatt für Sozialversicherung Zeitschrift für Beamtenrecht Zivildienstgesetz Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für das Fürsorgewesen Zeitschrift für Schadensrecht Zeitschrift für Sozialhilfe Zeitschrift für Versicherungswesen Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht Ziffer zitiert Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil zustimmend zutreffend Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Verkehrsrecht (Österreich) zweifelhaft Zeitschrift für Wohnungseigentum zur Zeit Zeitschrift für Zivilprozess

Zu abgekürzt zitierter Literatur s. Literaturverzeichnis S. XVII.

XXV

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur AnwKomm/BGB, Dauner-Lieb/Heidel/Ring (Hrsg), Anwaltkommentar BGB, 2. Aufl. 2012 Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl. 2019 Berz/Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts (Loseblatt-Werk), Bd. 1 Zivilrecht, 41. Aufl. 2020 BHHJ, Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Aufl. 2020 Ch. Huber, s Huber, Christian Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl.1996 Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, 15. Aufl. 2020 Esser/Schmidt, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl.1995/2000 Filthaut/Piontek/Kayser, Haftpflichtgesetz, 10. Aufl. 2019 Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020 Hauck/Noftz Gesamtkommentar zum SGB II, Grundsicherung für Arbeitssuchende, 2018 Hauck/Noftz Gesamtkommentar zum SGB X, Verwaltungsverfahren, Schutz der Sozialdaten, Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten, 2018 Hauck/Noftz Gesamtkommentar zum SGB XII, Sozialhilfe, 2019 Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019 Huber, Christian, Das neue Schadensersatzrecht, 2003 Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 13. Aufl. 2016 Krumme, Straßenverkehrsgesetz, 1977 Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 13. Aufl. 2020 Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl. 2003 Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987; Band II Besonderer Teil 1. Halbband, 13. Aufl. 1986 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Band II Besonderer Teil 2. Halbband, 13. Aufl. 1994 MünchKomm-BGB, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 8. Aufl. 2019/ 2020 MünchKomm-StGB, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2016/2020 MünchKomm-StVR, Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, 2016/2019 MünchKomm-VVG, Münchener Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 2. Aufl. 2016/ 2017 MünchKomm-ZPO, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5./6. Aufl. 2016/2020 Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch 79. Aufl. 2020 Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 30. Aufl. 2018

XXVII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

RGRKomm, Reichsgerichtsrätekommentar zum BGB, 12. Aufl. 1976 ff. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018 Sanden/Völtz, Sachschadenrecht des Kraftverkehrs, 9. Aufl. 2011 Schloën/Steinfeltz, Regulierung von Personenschäden (1978) Soergel, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 12, 13. Aufl. 2005 Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bearbeitung 2003 ff. Stein/Jonas, Zivilprozessordnung, 23. Aufl. 2014 ff. Stiefel/Maier, Kraftfahrtversicherung. 19. Aufl. 2017 Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020

XXVIII

Einleitung §1 Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

I. Bedeutung und Funktion des Verkehrshaftungsrechts . . . . . . . . . . . II. Zwecke und Prinzipien des Haftungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Risikoabwälzung als Hauptzweck . . . . a) Risikozuständigkeit des Rechtsträgers . b) Formen der Risikoverlagerung . . . . . . 2. Prävention als Nebenzweck . . . . . . . . . 3. Versorgungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausgleichsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Prinzip der Totalreparation . . . . . . . . . 6. Dispositionsfreiheit des Geschädigten 7. Bereicherungsverbot . . . . . . . . . . . . . . 8. Mitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . III. Systematik des Verkehrshaftungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung nach dem StVG . . . . . . . . . . .

1.1 1.6 1.6 1.7 1.9 1.14 1.15 1.16 1.21 1.23 1.24 1.25 1.26 1.26

2. Verhältnis zum sonstigen Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenhang mit dem Privat- und Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . 4. Zusammenhang mit dem Beweisrecht IV. Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Verschuldens- zur Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausweitung der verschuldensunabhängigen Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weiterentwicklung zur no faultHaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Systemverbesserungen unter Beibehaltung der individuellen Verantwortung 5. Einflüsse des Europarechts . . . . . . . . .

1.31 1.33 1.38 1.39 1.39 1.39 1.41 1.49 1.53 1.55 1.56

Literatur: v Caemmerer Reform der Gefährdungshaftung (1971); Esser Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung (1941); Frommhold Grenzen der Haftung (2006); Güllemann Ausgleich von Verkehrsunfallschäden im Licht internationaler Reformprojekte (1969); v Hippel Schadensausgleich bei Verkehrsunfällen (1968); Ch Huber Fragen der Schadensberechnung (1995); Lenz Haftung ohne Verschulden in deutscher Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts (1995); Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999); Roussos Schaden und Folgeschaden (1992); Schiemann Argumente und Prinzipien bei der Fortbildung des Schadensrechts (1981); Stoll Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht (1993); Wagner Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts in Zimmermann Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts (2003), S 189 ff.; Weyers Unfallschäden (1971).

I. Bedeutung und Funktion des Verkehrshaftungsrechts Jedes Jahr ereignen sich in der Bundesrepublik Deutschland mehrere Millionen Straßenverkehrsunfälle.1 Jeder dieser Unfälle ist für den einzelnen Betroffenen ein Ereignis von einschnei-

1 2019 betrug allein die Zahl der polizeilich erfassten Unfälle rund 2,7 Mio (Statistisches Bundesamt, Fachserie 8 Reihe 7, 2019, S. 43, abrufbar unter https://www.destatis.de). Die deutschen Kfz-Haftpflichtversicherer haben 2019 rund 4 Millionen Schadensfälle bearbeitet (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Statistisches Taschenbuch 2020 Tab 65).

Greger | 1

1.1

§ 1 Rz. 1.1 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

dender Bedeutung. Auch wenn nur Sachschäden entstanden sind, erreichen diese zumeist eine Höhe, die das im Rahmen der privaten Lebensführung ohne weiteres Verkraftbare deutlich übersteigt. Ist es zu Personenschäden gekommen,2 so führen diese nicht selten zu schwerwiegenden Folgen für die gesamte Lebensführung des Opfers und seiner Angehörigen. Schon aus diesem Grund weist das Verkehrsunfallgeschehen ein hohes Konfliktpotential auf. Menschliche Wesenszüge, wie z.B. das Bedürfnis nach Genugtuung für die erlittene Unbill, das Verdrängen eigener Schuld, die gegenüber einem anonymen und potenten Schuldner (Haftpflichtversicherer) besonders ausgeprägten Begehrlichkeiten, schaffen zusätzliche Konflikte; ihnen stehen Organisationsstrukturen gegenüber, deren Repräsentanten bei der Vornahme der Schadensregulierung auch Kollektivinteressen (etwa der Versichertengemeinschaft oder der öffentlichen Hand) zu wahren haben und schon von daher den Einzelfall aus einer mehr generalisierenden Sicht betrachten.

1.2

All dies trägt dazu bei, dass der Verkehrsunfall sich trotz seiner Alltäglichkeit und Allgegenwärtigkeit als Ereignis von hoher Rechtsrelevanz darstellt. Aus diesem Grund wird bei der Schadensregulierung regelmäßig ein Rechtsanwalt in Anspruch genommen und hat die Rechtsschutzversicherung im Verkehrsbereich einen besonders hohen Verbreitungsgrad. Bei den AG sind 14,7 %, bei den LG 7,7 % aller erstinstanzlichen, gewöhnlichen Zivilprozesse Verkehrsunfallsachen.3

1.3

Das Verkehrshaftungsrecht hat aber nicht nur einen gewichtigen Stellenwert im Rechtsleben, sondern vor allem auch eine immense wirtschaftliche Bedeutung. Die Höhe der volkswirtschaftlichen Kosten durch Verkehrsunfälle in Deutschland belief sich nach Berechnungen der Bundesanstalt für Straßenwesen 2017 auf rund 34 Milliarden Euro, ca. 2 % des Bruttoinlandsprodukts.4 Die deutschen Kraftfahrt-Haftpflichtversicherer erbringen jährlich Schadensleistungen von rund 15 Milliarden Euro,5 die zum großen Teil den Institutionen der Gesundheitsfürsorge zufließen, aber auch für wichtige Wirtschaftszweige (Reparaturgewerbe, Autovermieter, Kraftfahrzeugsachverständige usw) einen erheblichen Teil des Umsatzes darstellen.

1.4

Finanziert werden diese Leistungen im Wesentlichen durch die Beiträge der Versicherungsnehmer. Deren Interesse an moderaten Prämien kollidiert mit dem verständlichen Wunsch des Unfallgeschädigten nach einer möglichst weit gehenden Schadloshaltung. Dies führt zwangsläufig zu Konflikten und Rechtsstreitigkeiten.

1.5

Als Massenphänomen bedarf die Unfallschadensregulierung jedoch einer möglichst einfachen und zügigen Abwicklung. Eine gewisse Pauschalierung ist hierbei unabdingbar; ohne Verzicht auf manche Besonderheit des Einzelfalles lässt sich das Schadensvolumen nicht vernünftig bewältigen.6 Leider trägt das Schadensrecht in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung diesem Erfordernis nur bedingt Rechnung; auch mit dem am 1.8.2002 in Kraft getretenen 2. SchRÄndG hat der Gesetzgeber nur Einzelfragen geregelt, die entscheidenden Probleme aber „für eine umfassendere Reform des Sachschadensrechts zurückgestellt“ und es „der Rechtsprechung …

2 2018: rund 384000 Verletzte, 3050 Getötete (Statistisches Bundesamt, wie Fn. 1, S. 44). 3 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 2019 Tab 2.1.2, 5.1.2. 4 Bundesanstalt für Straßenwesen, Volkswirtschaftliche Kosten von Straßenverkehrsunfällen in Deutschland, 2019, abrufbar unter http://www.bast.de/BASt_2017/DE/Statistik/statistik-node.html. 5 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Statistisches Taschenbuch 2020 Tab 61. 6 Steffen NJW 1995, 2057, 2059.

2 | Greger

II. Zwecke und Prinzipien des Haftungsrechts | Rz. 1.7 § 1

überlassen, das Sachschadensrecht zu konkretisieren und weiterzuentwickeln“.7 In der Praxis hat dies zur Folge, dass Instanzgerichte in tausendfach immer wiederkehrenden Fragen der Schadensregulierung jahrelang unterschiedlich judizieren können. Eine Rechtsvereinheitlichung durch den BGH war nach dem früheren Revisionsrecht nahezu ausgeschlossen. Mit dem seit der ZPO-Reform von 2002 nicht mehr streitwertabhängigen Zugang zur dritten Instanz hat sich dies zwar etwas gebessert, und der VI. Zivilsenat des BGH hat seither auch in mancher Frage schon die Gelegenheit ergriffen, der weiteren Vergeudung an Rechtspflegeressourcen durch ein klärendes Wort ein Ende zu setzen. Dennoch werden viele Einzelfragen noch auf lange Zeit streitig bleiben. Daher sollte die Praxis selbst die Initiative ergreifen. Durch freiwillige Selbstbindung an bestimmte Richtlinien, die z.B. auf Verbandsebene8 oder – wie im Unterhaltsrecht seit langem praktiziert9 – von den Gerichten erstellt werden, könnte mehr zur Rechtsverwirklichung und zum Rechtsfrieden bei der Schadensregulierung beigetragen werden als durch den Versuch, jeden Einzelfall nach individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen zu entscheiden.

II. Zwecke und Prinzipien des Haftungsrechts 1. Risikoabwälzung als Hauptzweck Die Normen des Haftungsrechts bestimmen, ob der Inhaber eines Rechtsguts das Risiko dessen Entwertung selbst zu tragen hat oder ob er es – in der Form eines Wiederherstellungs- oder Wertersatzanspruchs – auf einen anderen abwälzen kann. Der Hauptzweck des Haftungsrechts besteht also in der Regelung der Risikozuständigkeit.10 Seine Aufgabe ist es, die „Rechtskreise der Einzelnen“, ihre Freiheits- und Interessensphären, voneinander abzugrenzen.11

1.6

a) Risikozuständigkeit des Rechtsträgers Die grundsätzliche Risikozuständigkeit des Rechtsträgers ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit,12 die in dem überkommenen Grundsatz „casum sentit dominus“13 Ausdruck und in manchen ausländischen Rechtsordnungen sogar Eingang in das Gesetz gefunden hat.14 Dem deutschen Haftungsrecht liegt er als ungeschriebenes Prinzip zugrunde. Da für erlittenen Schaden ein anderer nur in Anspruch genommen werden kann, wenn hierfür eine gesetzliche Grundlage besteht und deren Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, verbleibt der Schaden in allen anderen Fällen automatisch beim Geschädigten. Dies wird, obgleich im Grunde banal und selbstverständlich, in der Praxis nicht immer beachtet. Wenn auch noch nicht so auf die Spitze getrieben wie z.B. in den USA, besteht auch hierzulande eine Tendenz, für jeden Schadensfall einen möglichst leistungsfähigen Ersatzpflichtigen zu finden, auf den

7 8 9 10 11 12 13 14

BT-Drucks. 14/7752 S 14. Greger NZV 1994, 11, 14. „Düsseldorfer Tabelle“ usw. Esser Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung (1941), S. 69 ff.; Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 65 f.; Deutsch JZ 1971, 244 f. So Prot II, 567. Larenz/Canaris § 75 I 2 a. Deutsch Rz. 1 f. Z.B. § 1311 österr ABGB.

Greger | 3

1.7

§ 1 Rz. 1.7 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

der Schaden abgewälzt werden kann. Überzogene Sicherungspflichten15 und Sorgfaltsanforderungen sowie exzessive Beweiserleichterungen sind Ausdruck eines die eigene Risikozuständigkeit verdrängenden Anspruchs- oder Versorgungsdenkens, welches von der unzutreffenden Prämisse ausgeht, dass es für jeden Schadensfall einen Ersatzpflichtigen geben muss. In das allgemeine Lebensrisiko16 fällt nicht nur die sog höhere Gewalt, sondern auch die Gefahr, durch einen Unfall betroffen zu werden, für den ein Verantwortlicher überhaupt nicht oder nicht mit der erforderlichen Sicherheit oder nicht mit der erwünschten Zahlungsfähigkeit haftbar gemacht werden kann.

1.8

Im Straßenverkehrsrecht besteht für übergesetzliche Risikoverschiebungen im Übrigen umso weniger Anlass, als bereits das geschriebene Recht die Schadenszuständigkeit des Geschädigten weiter als in anderen Bereichen reduziert, etwa durch die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung des Kraftfahrzeughalters, den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer und den Entschädigungsfonds für Unfallopfer nach § 12 PflVG. Wenn ein weitergehender Schutz von Unfallopfern erwünscht oder geboten sein sollte, wäre es Sache des Gesetzgebers, einen solchen – etwa durch eine allgemeine Unfallversicherung – zu schaffen. Für die Anwendung des geltenden Haftungsrechts ist und bleibt dagegen die gesetzliche Risikoverteilung maßgeblich, die die grundsätzliche Schadenszuständigkeit dem Träger des Rechtsguts zuweist und die Verlagerung dieses Risikos von normativen Voraussetzungen abhängig macht.

b) Formen der Risikoverlagerung 1.9

aa) Die Unrechtshaftung ist der wichtigste und älteste Fall einer gesetzlich angeordneten Schadensabnahme.17 Sie geht von dem Gedanken aus, dass es der Billigkeit entspricht, denjenigen, der durch unerlaubtes Verhalten schuldhaft einen Schaden an fremden Rechtsgütern verursacht hat, hierfür haftbar zu machen. Welches Verhalten unerlaubt, d.h. „rechtswidrig“ oder „widerrechtlich“ ist, bestimmt die Rechtsordnung.18 Entscheidender Anknüpfungspunkt für die Haftung aber ist das Verschulden. Der Geschädigte wird von seinem Schaden also nur dann entlastet, wenn er dem anderen wenigstens Fahrlässigkeit, d.h. Nichtbeachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 1 BGB) zur Last legen kann. Auch bei der Haftung für fremdes Fehlverhalten kommen Vorwerfbarkeitselemente zum Tragen (vgl. z.B. § 831 BGB).

1.10

bb) Ein anderer Zurechnungsgedanke liegt der Gefährdungshaftung zugrunde, die im Zuge der Entwicklung immer schwerer beherrschbarer Gefahrenpotentiale durch den technischen Fortschritt zunehmende Bedeutung erlangt hat. Er besteht darin, dass die Rechtsgemeinschaft von dem, der erlaubtermaßen ein solches Gefahrenpotential (Eisenbahn, Kraftfahrzeug, Pipeline, Kernkraftwerk) schafft, die Übernahme des Schadensrisikos unabhängig von einem Verschulden fordern kann.19 Die Gefährdungshaftung muss (fallgruppenbezogene) Ausnahme

15 Vgl. hierzu Larenz/Canaris § 76 III 7 b; Esser JZ 1953, 129 ff.; Foerste NJW 1995, 2605; BGH v. 11.10.1994 – VI ZR 303/93 mit Anm. Lieb MDR 1995, 992. 16 Vgl. hierzu Deutsch VersR 1993, 1041. 17 Deutsch Rz. 5 ff. 18 Larenz/Canaris § 75 I 2 b. 19 Esser/Schmidt § 8 II 3; Larenz/Canaris § 84 I 2; Esser Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung (1941), S. 111 ff.; Deutsch Rz. 9 ff.; Deutsch KF 1967, 2 ff.; Rohe AcP 201 (2001) 117, 137 ff.

4 | Greger

II. Zwecke und Prinzipien des Haftungsrechts | Rz. 1.14 § 1

bleiben, darf nicht zur Überwälzung des allgemeinen Lebensrisikos führen.20 Die angemessene Risikoverteilung kann auch eine Einschränkung, etwa durch den Ausschluss „höherer Gewalt“ oder durch eine summenmäßige Haftungsbegrenzung, erfordern. cc) Die Aufopferungshaftung hat demgegenüber vergleichsweise geringe Bedeutung. Sie geht davon aus, dass dann, wenn jemand aufgrund übergeordneter Einzel- oder Allgemeininteressen einen Eingriff in geschützte Rechtsgüter hinnehmen muss, eine Schadloshaltung geboten ist.21

1.11

dd) Bisher kaum als eigenständiger Zurechnungsgrund erkannt ist die Anscheinshaftung, die in kasuistischer Weise durch Rechtsfortbildung für die Fälle entwickelt worden ist, in denen es dem Geschädigten wegen undurchschaubarer Geschehensabläufe praktisch unmöglich ist, den Beweis einer schuldhaften Schädigung zu führen. Instrument der Risikoverlagerung ist in diesen Fällen das Beweisrecht: Dem Geschädigten werden unter im Einzelnen geregelten Voraussetzungen, die zumeist auf das Wahrscheinlichmachen einer schuldhaften Schädigung hinauslaufen, Beweiserleichterungen gewährt (Beweislastumkehr, Anscheinsbeweis, Beweis auf erste Sicht), als deren Folge nicht mehr ein erwiesener Sachverhalt, sondern bereits dessen Anschein die Haftung begründet. Das Beweisrecht ist jedoch nur Instrument dieser Risikoverlagerung, ihre Rechtfertigung muss sie in materiell-rechtlichen Wertungen finden (z.B. dass es unbillig wäre, einem Unfallopfer deliktische Ansprüche zu versagen, weil nicht geklärt werden kann, warum ein Kfz auf den Gehweg geriet, oder weil es mit Sinn und Zweck einer Kaskoversicherung nicht vereinbar wäre, vom Versicherungsnehmer den vollen Beweis des Autodiebstahls zu verlangen).22

1.12

ee) Versicherungsschutz ist (ebenso wie andere Möglichkeiten der Schadensweitergabe, z.B. Kostenumlage auf den Endverbraucher) kein Haftungszurechnungsgrund. Haftung knüpft an die Schadensentstehung an, nicht an die Möglichkeit der Schadensbewältigung. Die Möglichkeit der Schadenskollektivierung fließt lediglich mittelbar in die Ausgestaltung fehlverhaltensunabhängiger Haftungsnormen ein, allenfalls noch in die Ausfüllung von Haftungstatbeständen, die für Zumutbarkeitserwägungen offen sind (z.B. § 829 BGB). Ansonsten ist die Haftungsbegründung vom Versicherungsschutz strikt zu trennen (Trennungsprinzip; s. auch Rz. 1.36).23

1.13

2. Prävention als Nebenzweck Dem Haftungsrecht geht es also in erster Linie um die Verteilung von Schadensrisiken. Der Ausgleich des Schadens, nicht seine Verhinderung ist sein primäres Ziel.24 Dass die drohende Schadensersatzverpflichtung daneben auch präventive Wirkung entfaltet (bei versicherten Risiken wenigstens rudimentär in Form von Regressgefahren und Prämiennachteilen) ist ein bloßer, freilich erwünschter, beim primär durch Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht bewehrten Verkehrsverhalten eher unbedeutender Nebeneffekt.25 Der Schadensersatz mag aufgrund seiner mittelbar verhaltenssteuernden Wirkung pönale Elemente aufweisen; zu einer

20 21 22 23 24 25

Vgl. Rohe AcP 201 (2001) 117, 148 f. m.w.N. Näher Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 139 ff. m.w.N. Näher s. Rz. 41.56 ff. Zum Ganzen Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 143 ff. m.w.N. Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 75. Deutsch Rz. 18; Lange/Schiemann Einl III 2 b; Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 68 ff. Stärker betont wird der präventive Effekt von der ökonomischen Analyse des Rechts; vgl. Kötz/

Greger | 5

1.14

§ 1 Rz. 1.14 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

strafähnlichen Sanktion wird er dadurch nach dem modernen deutschen Rechtsverständnis, zu dem das Strafmonopol des Staates gehört, nicht;26 daran ändert auch die vom BGH anerkannte Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes27 nichts.28

3. Versorgungszweck 1.15

Verschiedene gesetzliche oder richterrechtliche Regelungen des Schadensrechts lassen sich nicht vollständig mit der Abnahme eines Integritätsrisikos erklären, sondern scheinen von dem Gedanken mitbestimmt zu sein, dass die durch den Schadensfall gefährdete Daseinsvorsorge des Opfers (oder seiner Angehörigen) durch den Schädiger sichergestellt werden soll.29 Dies gilt z.B. für die Ansprüche auf Ersatz vermehrter Bedürfnisse (§ 11 StVG, § 843 BGB), entgangenen Unterhalts (§ 10 StVG, § 844 Abs. 2 BGB) oder des Wertes der Haushaltsführung. Auch der Versorgungszweck ist aber letztlich nur ein Nebeneffekt der Risikoverlagerung. Das sonst vom Verletzten und seinen Angehörigen zu tragende Risiko, die materielle Lebensgrundlage durch ein zufälliges Ereignis zu verlieren, wird dem Schädiger auferlegt. Die Versorgung Bedürftiger wird im Sozialstaat auf andere Weise sichergestellt. Dem entspricht es, dass Schadensersatzleistungen der bezeichneten Art kaum jemals dem Verletzten zufließen, sondern im Regressweg auf Sozialleistungsträger übergeleitet werden. Auf diesem Weg vollzieht sich dann gleichfalls eine Risikozuweisung: Das Regressrecht entscheidet darüber, ob der Schaden letztlich vom Kollektiv der Sozialversicherten, von der Staatskasse, vom Arbeitgeber usw. zu tragen ist, oder ob er beim Schädiger bzw. der für ihn eintretenden Gemeinschaft der versicherten Kraftfahrer verbleibt.

4. Ausgleichsprinzip 1.16

Der Ausgleich des Schadens ist weniger Zweck als vielmehr Methode des Haftungsrechts. Die von ihm bezweckte Risikoabwälzung vollzieht sich in der Form des Schadensersatzes: Der Schadensersatzanspruch tritt bei Vorliegen seiner Voraussetzungen an die Stelle des beeinträchtigten Rechtsguts. Dabei kann sich der Schadensersatz in zwei Grundformen vollziehen, nämlich im Wege der Naturalrestitution (Wiederherstellung des früheren Zustands, § 249 BGB) oder im Wege der Kompensation (Wertersatz, § 251 BGB). Welcher dieser Wege im Einzelfall zum Tragen kommt, ist weitgehend vom Gesetz vorgezeichnet. Schuldet der Schädiger, wie i.d.R., Naturalrestitution, gibt das Gesetz dem Geschädigten aber die Wahl zwischen Herstellung in Natur (Reparation) und Zahlung des hierfür erforderlichen Geldbetrages (sog. Ersetzungsbefugnis, § 249 S. 2 BGB), so dass sich also letztlich drei Formen des Schadensausgleichs unterscheiden lassen:

26 27 28 29

Wagner Rz. 59 ff.; Thüsing ZEuP 2003, 745, 746 ff. m.w.N.; ebenso Katzenmeier VersR 2002, 1449, 1455 f. Ganz anders das US-amerikanische Recht, welches in der Form der punitive or exemplary damages eine Art Strafgewalt des privaten Geschädigten kennt. Vgl. zur Unvereinbarkeit solcher Urteile mit dem deutschen ordre public BGH v. 4.6.1992 – IX ZR 149/91, BGHZ 118, 312. BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149. S. dazu Rohe AcP 201 (2001) 117, 130 f. BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 293; BGH v. 5.10.2004 – VI ZR 255/03, NJW 2005, 215, 216. Eingehend zu diesem Versorgungsprinzip Schiemann Argumente und Prinzipien bei der Fortbildung des Schadensrechts (1981), S. 234 ff.; krit. Roussos Schaden und Folgeschaden (1992), S. 13 ff.

6 | Greger

II. Zwecke und Prinzipien des Haftungsrechts | Rz. 1.22 § 1

Reparation ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes durch den Schädiger (der Unfallfahrer richtet z.B. den umgefahrenen Gartenzaun wieder auf);

1.17

Restitution geschieht dadurch, dass der Geschädigte durch Zahlung eines Geldbetrages in den Stand gesetzt wird, den Schaden beseitigen zu lassen (z.B. der Haftpflichtversicherer des Unfallfahrers bezahlt die Kosten der Autoreparatur);

1.18

Kompensation soll einen Ausgleich für den nicht mehr (voll) behebbaren Schaden verschaffen (z.B. das Unfallopfer erhält eine Entschädigung für die nicht mehr behebbare Erwerbsminderung).

1.19

Bei welchen Vermögensnachteilen es sich um ausgleichspflichtige Schadenspositionen handelt, sagt das Gesetz – von punktuellen Regelungen wie in §§ 252, 843 ff. BGB abgesehen – nicht. Der Begriff des Schadens wird von ihm vorausgesetzt. Die Wissenschaft versucht seit jeher, diesen Begriff zu bestimmen und abzugrenzen; das Schrifttum hierzu ist kaum noch zu überblicken.30 Die Rechtsprechung hat auf die Herausarbeitung allgemeingültiger Kriterien verzichtet und wendet stattdessen einen normativen Schadensbegriff an, der mit Hilfe rechtlicher Wertungen über die Ersatzfähigkeit jeder einzelnen Position entscheiden soll.31 Damit hat das Schadensersatzrecht zwar den Anschluss an den Standard der Wertungsjurisprudenz gewonnen;32 da sich über Wertung aber trefflich streiten lässt, bietet es ein Bild der Uneinheitlichkeit und Unberechenbarkeit,33 wie es in anderen Rechtsgebieten kaum bekannt ist. Gefördert wird dies durch einen schier unerschöpflichen Einfallsreichtum beim Finden neuer Schadenspositionen und dadurch, dass die anzustellenden Wertungen auch von Seitenblicken auf die Praktikabilität und Finanzierbarkeit der Schadensregulierung beeinflusst werden.

1.20

5. Prinzip der Totalreparation § 249 BGB liegt die Vorstellung von einem vollständigen Ausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem zugrunde. Ob der Geschädigte auf die Ersatzleistung überhaupt angewiesen ist, ist dabei ebenso unerheblich wie die etwaige Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Schädigers durch die Höhe der Schadensersatzverbindlichkeit. Von den Fällen der Mitverantwortung des Geschädigten (Mitverschulden, mitwirkende Betriebsgefahr) abgesehen, gibt das Gesetz auch keine Möglichkeit, aus Billigkeitsgründen zu sog vermittelnden Entscheidungen zu gelangen; es folgt unerbittlich dem Alles-oder-nichts-Prinzip.34 Nur die Beteiligten selbst haben es in der Hand (und machen hiervon im Haftungsrecht weithin Gebrauch), dessen Härte durch eine vergleichsweise Regelung zu entgehen. Dabei kann die Vermittlung durch einen neutralen Dritten (Schlichter, Mediator, Schiedsgutachter) sehr hilfreich sein.

1.21

Wirtschaftliche Erwägungen haben in das Schadensersatzrecht jedoch insoweit Eingang gefunden, als nach § 251 Abs. 2 BGB kein Ersatz für unverhältnismäßige Aufwendungen zu leisten ist. „Unverhältnismäßig“ bezieht sich hierbei nicht etwa auf die Relation zwischen der Schadensersatzverbindlichkeit und dem Schuldnervermögen, sondern ausschließlich auf die

1.22

30 31 32 33

Vgl. Staudinger/Schiemann vor § 249 Rz. 35 ff. BGH v. 9.7.1968 – GSZ 2/67, BGHZ 50, 304, 306; zusammenfassend Steffen NJW 1995, 2057. Deutsch Rz. 786. Krit. zu dieser Begriffsbildung daher Staudinger/Schiemann vor § 249 Rz. 41 f.; MünchKommBGB/Oetker § 249 Rz. 23; Schiemann NZV 1996, 1. 34 Krit. Rohe AcP 201 (2001) 117, 154.

Greger | 7

§ 1 Rz. 1.22 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

Relation zwischen Herstellungsaufwand und Herstellungserfolg, wobei die „berechtigten“ Belange des Gläubigers den Maßstab für die Verhältnismäßigkeit liefern.

6. Dispositionsfreiheit des Geschädigten 1.23

Man könnte aus dem Ausgleichsprinzip ableiten, dass Schadensersatz nur insoweit geschuldet wird, als der Geschädigte an einem Ausgleich des eingetretenen Schadens, also an einer Wiederherstellung, überhaupt interessiert ist. Die Rechtsprechung35 versteht § 249 S. 2 BGB, der auf den zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag abstellt, jedoch dahin, dass der Schadensersatzanspruch auch dann in voller Höhe besteht, wenn der Geschädigte sich im Einzelfall mit einer nur teilweisen oder behelfsmäßigen Schadensbeseitigung abfindet oder von einer solchen ganz absieht, also etwa das Unfallfahrzeug im beschädigten Zustand weiter benutzt. Die damit anerkannte Dispositionsfreiheit des Geschädigten36 führt dazu, dass der Schadensausgleich in der Praxis weithin fiktiv, d.h. ohne tatsächliche Reparation, abgewickelt wird.37

7. Bereicherungsverbot 1.24

In negativer Abgrenzung ergibt sich aus der Zweckbestimmung des Haftungsrechts, Verluste abzunehmen und auszugleichen, dass der Schadensersatz nicht zu einer Besserstellung des Geschädigten führen soll.38 Eine über die Restitutionsverpflichtung hinausgehende Inanspruchnahme des Schädigers findet im Gesetz keine Stütze und hat daher zu unterbleiben. Die in der Praxis weithin anzutreffende Großzügigkeit bei der Zubilligung von Schadenspositionen (etwa für entgangene Nutzungsvorteile, für pauschalierte Auslagen oder für fiktive Aufwendungen) widerspricht diesem Bereicherungsverbot.39 Sie führt zur Aufblähung der Schadensersatzleistungen, die bei Kfz-Unfällen in erster Linie zu Lasten der Versichertengemeinschaft, d.h. auch der an dem Schadensfall überhaupt nicht beteiligten Kraftfahrer, gehen.

8. Mitverantwortung 1.25

Während das gemeine Recht und das englische common law dem mitwirkenden Verschulden eine haftungsausschließende Wirkung beilegten, hat der Gesetzgeber des BGB dem Richter in bewusster Abkehr von diesem starren Prinzip der Kulpakompensation eine Abwägung im Einzelfalle aufgetragen.40 Dieser Rechtsgedanke, der in der Praxis häufig zu einer prozentualen Herabsetzung des Ersatzanspruchs führt, kommt auch im Bereich der Gefährdungshaftung zum Tragen (vgl. § 9 StVG, § 4 HaftpflG), und zwar auch in der Weise, dass gegenüber einer Haftung aus Verschulden die mitwirkende Betriebsgefahr angerechnet wird (s. Rz. 25.87 ff.). Teilweise auf Treu und Glauben, teilweise auf den Gleichbehandlungsgrundsatz zurückgeführt, ist die Schadensquotelung über den gesetzlich geregelten Bereich hinaus zu einem selbstverständlichen Element unseres Haftungsrechts geworden. Vereinzelt wird allerdings nicht ohne Berechtigung und mit Verweis auf ausländische Vorbilder geltend gemacht, 35 Vgl. z.B. BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 27/73, BGHZ 61, 347 ff.; BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 241; BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, NZV 1989, 465 mit Anm. Hofmann. 36 Steffen NZV 1991, 1, 2 und NJW 1995, 2057, 2059. 37 S. Rz. 20.26 ff., auch zu den Schranken dieser Restitutionsform. 38 Vgl. Lange/Schiemann Einl III 2 a m.w.N.; Greger NZV 2020, 4 ff. 39 Nicht damit zu verwechseln ist die Frage, ob es im Versicherungsrecht ein allgemeines Bereicherungsverbot gibt (verneinend BGH v. 8.11.1995 – IV ZR 365/94, BGHZ 131, 157, 161). 40 Eingehend dazu Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999), S. 20 ff.

8 | Greger

III. Systematik des Verkehrshaftungsrechts | Rz. 1.28 § 1

dass die Gleichbehandlung von Schädiger und Geschädigtem durch dieses System häufig nur formal realisiert und das Ziel eines billigen Schadensausgleichs verfehlt wird.41 Während nämlich das Unfallopfer zusätzlich zu den (u.U. lebenslang spürbaren) persönlichen Unfallfolgen auch noch finanzielle Lasten tragen muss, führt die Anrechnung seiner Mitverantwortung auf der Schädigerseite i.d.R. nur zu einer Entlastung der Versichertengemeinschaft. Solange keine generelle Unfallversicherung eingeführt ist, werden sich solche Ungleichgewichtigkeiten zwar nicht ganz vermeiden lassen. Sie sollten bei der Haftungsabwägung aber bewusst gemacht werden und, von Fällen grober Eigengefährdung abgesehen, zu einer eher gemäßigten Belastung nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer führen. Wo es nur um die Schadensabwehr oder -beseitigung geht, ist grundsätzlich der, der die eigentliche Schadensursache gesetzt hat, deutlich stärker zu belasten als der Geschädigte.42

III. Systematik des Verkehrshaftungsrechts 1. Haftung nach dem StVG Wegen der zunehmenden Gefährlichkeit des Straßenverkehrs hat der Gesetzgeber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine verschärfte Haftung derjenigen begründet, die die wesentlichste Gefahrenquelle in diesem Bereich, nämlich die mit Motorkraft angetriebenen Fahrzeuge, beherrschen.43 Diese verschärfte Haftung des Kfz-Halters und -führers ist in den §§ 7 bis 20 StVG geregelt, wobei § 7 die Grundlage für die Halterhaftung, § 18 die Grundlage für die Führerhaftung ist. Die weiteren Vorschriften befassen sich im Wesentlichen mit der näheren Ausgestaltung dieser Haftung.

1.26

Bei Unfällen mit Kraftfahrzeugen wird der Geschädigte sich in aller Regel primär auf die genannten Vorschriften stützen, da sie den für ihn einfachsten Weg zur Entschädigung bieten. Um den Halter nach § 7 StVG in Anspruch nehmen zu können, braucht er nur nachzuweisen, dass der Unfall sich beim Betrieb dessen Kraftfahrzeugs ereignet hat; daneben kann er sich ohne weitere Beweisbelastung nach § 18 StVG an denjenigen halten, der das Kraftfahrzeug zum Unfallzeitpunkt geführt hat. In beiden Fällen ist es dann Sache des in Anspruch Genommenen, sich zu entlasten, wobei dieser Entlastungsbeweis unterschiedlich ausgestaltet ist: Der Halter kommt gegenüber nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern nur frei, wenn er höhere Gewalt, im Übrigen nur, wenn er die Unabwendbarkeit des Unfalls beweist (§ 7 Abs. 2, § 17 Abs. 3 StVG), der Führer nur, wenn er seine Schuldlosigkeit erfolgreich unter Beweis stellt (§ 18 StVG).

1.27

Beide Beweise sind typischerweise schwer zu führen. Dies liegt zum einen daran, dass der Beweis eines Negativums (z.B. Unabwendbarkeit, Nichtverschulden) immer besondere Schwierigkeiten bereitet, weil er die Widerlegung aller denkbaren Abläufe, aus denen sich ein Vorwurf ergeben könnte, bedingt. Zudem sind Verkehrsunfälle wegen ihres plötzlichen Eintritts und ihres dynamischen Ablaufs sehr häufig nicht exakt aufklärbar, so dass es zu der gegen den Halter oder Führer wirkenden non-liquet-Situation kommt. Schließlich trifft den Halter die zusätzliche Erschwernis, nicht nur das Aufwenden der erforderlichen Sorgfalt, sondern zumindest die Unabwendbarkeit des Unfallereignisses (§ 17 Abs. 3 StVG) nachweisen zu müssen, was noch höhere Anforderungen an den Grad der Sorgfalt stellt und kraft Gesetzes

1.28

41 Deutsch ZRP 1983, 137, 138. 42 BGH v. 20.6.2013 – III ZR 326/12, VersR 2013, 1322; Medicus 17. VGT (1979), S. 65. 43 Zur geschichtlichen Entwicklung s. Rz. 1.39 ff.

Greger | 9

§ 1 Rz. 1.28 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

bei manchen Abläufen, etwa technischen Defekten des Kraftfahrzeugs, zum Ausschluss jeglicher Entlastungsmöglichkeit führt (s. Rz. 3.267 ff.).

1.29

Ist der Geschädigte ebenfalls Halter oder Führer eines Kraftfahrzeugs, so wirkt diese Haftungs- und Beweisregelung aber zugleich – quasi spiegelbildlich – auch gegen ihn: er muss sich die Betriebsgefahr seines Kraftfahrzeugs anspruchsmindernd zurechnen lassen. § 17 StVG trifft nähere Anordnungen darüber, wie in einem solchen Fall die Haftungsabwägung vorzunehmen ist.

1.30

Bei Schädigung anderer Verkehrsteilnehmer steht dem Halter oder Führer selbstverständlich auch der Einwand des Mitverschuldens zu Gebote (§ 9 StVG). Auch insoweit trifft die Beweislast ihn. Hat er hierbei Erfolg, kommt es gleichfalls zu einer Abwägung der Haftungsanteile.

2. Verhältnis zum sonstigen Haftungsrecht 1.31

Der bei einem Kraftfahrtunfall Geschädigte ist aber nicht auf die Ansprüche nach §§ 7, 18 StVG beschränkt. Er kann sich vielmehr, was § 16 StVG ausdrücklich klarstellt, auch auf das gesamte sonstige Haftungsrecht, insbesondere § 823 Abs. 1 und 2 BGB, stützen. Zwar trifft ihn dann die Beweislast für die weitergehenden Haftungsvoraussetzungen der betreffenden Vorschrift, insbesondere für das Verschuldenserfordernis, aber diesen Beweis zu führen kann für ihn wegen des höheren Haftungsanteils von Interesse sein; von geringerer Bedeutung ist, dass das Deliktsrecht weiter gehende Ansprüche gewährt und keine Höhenbegrenzung der Haftung nach Art von § 12 StVG kennt (Rz. 10.5).

1.32

Üblicherweise legt der Geschädigte folglich die Voraussetzungen der Gefährdungshaftung nach §§ 7 ff. StVG und jene der Haftung aus §§ 823 ff. BGB nebeneinander dar. Je nach Lage des Falles kommen auch weitere Anspruchsgrundlagen in Betracht, z.B. – § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG (bei Schädigung durch einen Amtsträger bei Ausübung eines öffentlichen Amtes); – § 829 oder § 832 BGB (bei von einem Kind verursachten Unfall); – §§ 833, 834 BGB (bei von einem Tier verursachten Unfall); – § 1 ProdHaftG (wenn der Unfall auf einem technischen Mangel des Fahrzeugs beruht – eine Haftungsform, die infolge der zunehmenden Automatisierung des Fahrzeugbetriebs künftig größere Bedeutung haben wird); – § 781 BGB (wenn ein konstitutives Schuldanerkenntnis abgegeben wurde); – § 904 S. 2 BGB (wenn der Unfall auf die Abwehr einer Notlage zurückzuführen ist); – § 89 Abs. 2 S. 1 WHG (bei Gewässerverunreinigung); – § 280 Abs. 1 BGB (wenn der Unfallschaden im Rahmen eines Vertragsverhältnisses erlitten wird).

3. Zusammenhang mit dem Privat- und Sozialversicherungsrecht 1.33

In kaum einem anderen Gebiet wird das Haftungsrecht so stark von Regelungen der privaten und kollektiven Daseinsvorsorge überlagert wie bei der Regulierung von Verkehrsunfallschäden.

10 | Greger

III. Systematik des Verkehrshaftungsrechts | Rz. 1.37 § 1

Auf Seiten des Schädigers ist es vor allem die für Kraftfahrzeughalter obligatorische Haftpflichtversicherung, die – wirtschaftlich gesehen – zu einer Schadensverlagerung führt und – rechtlich gesehen – dem Geschädigten via Direktanspruch einen solventen Haftpflichtschuldner verschafft. Den versicherten Kraftfahrzeughalter und den (mitversicherten) Kraftfahrzeugführer trifft eine wirtschaftliche Belastung durch den Schadensfall nur dann, wenn es (z.B. wegen Obliegenheitsverletzung) zu einem Versichererregress kommt, wenn er durch Zurückstufung in der Schadensfreiheitsklasse einen Prämiennachteil erleidet oder wenn der Schaden die Deckungssumme der Haftpflichtversicherung übersteigt.

1.34

Aber auch auf der Seite des Geschädigten findet häufig eine Schadensverlagerung statt. Bei Bestehen einer Kaskoversicherung kann er seinen Fahrzeugschaden von dieser ersetzt verlangen. Personenschäden werden weitgehend durch die Träger der gesetzlichen Kranken-, Unfall- oder Rentenversicherung, durch einen privaten Krankenversicherer, durch den Dienstherrn des verletzten Beamten oder (in Form der Entgeltfortzahlung) durch den Arbeitgeber aufgefangen. Da diese Vorsorgesysteme aber im Regelfall nicht zur Entlastung des Schädigers gedacht sind, findet weithin ein Forderungsübergang auf den Eintretenden statt. Dem Geschädigten verbleiben dann nur die nicht durch deren Leistungen gedeckten („inkongruenten“) Bestandteile seines Schadensersatzanspruchs. Im Arbeits- und Dienstunfallrecht findet u.U. sogar ein völliger Haftungsausschluss statt (s. Rz. 22.67 ff.).

1.35

Als Konsequenz dieser Haftungsverlagerungen werden Haftpflichtprozesse oftmals nicht zwischen Geschädigtem und Schädiger, sondern zwischen Leistungsträgern und Haftpflichtversicherern geführt. Dieser Schadensausgleich wird zudem durch Teilungs- oder andere Regressabkommen in deutlicher Abkehr von den zivilrechtlichen Schadensersatzregelungen modifiziert.44 Aus alledem erhellt, dass eine Regulierung von Straßenverkehrsunfällen allein nach den BGB-Vorschriften nicht möglich ist, sondern die Regelungen des Privat- und Sozialversicherungsrechts mit zu berücksichtigen sind. Dies kann allerdings nicht bedeuten, dass dem Bestehen von Versicherungsschutz eine haftungsbegründende Wirkung beigelegt wird. Hier gilt vielmehr das sog Trennungsprinzip.45 Ob eine Haftung besteht, ist unabhängig von der versicherungsrechtlichen Lage nach den haftungsrechtlichen Normen zu bestimmen; das Versicherungsrecht entscheidet nur darüber, in welchem Umfang und wem gegenüber ein Versicherer für die daraus sich ergebenden Ansprüche einstehen muss.

1.36

Dass es in der Praxis gleichwohl – mehr oder weniger unterschwellige – Beeinflussungen des Haftungsrechts durch das Bestehen von Versicherungsschutz gibt, ist allerdings nicht zu leugnen. Sie äußern sich insbesondere in der relativ großzügigen Bemessung von Schadenspositionen46; aber auch die z.T. sehr hohen Anforderungen an Verkehrssicherungspflichten, elterliche Aufsichtspflichten usw. dürften von einem Seitenblick auf die Versicherungssituation mitbestimmt sein.

1.37

44 S. dazu Katzenmeier VersR 2002, 1449, 1454 m.w.N. und unten Rz. 15.55 ff. 45 S. dazu Armbrüster NJW 2009, 187; Seybold/Wendt VersR 2009, 455 ff. Zur Geltung bei der Billigkeitshaftung nach § 829 BGB s. Rz. 10.80, bei Gefälligkeitsverhältnissen s. Rz. 22.59. 46 Lange/Schiemann Einl II 3. Ähnlich Lieb in einer Anmerkung zu BGH v. 11.10.1994 – VI ZR 303/93, MDR 1995, 992; Katzenmeier VersR 2002, 1449, 1451 f. m.w.N., auch zu den Kritikern dieses Phänomens.

Greger | 11

§ 1 Rz. 1.38 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

4. Zusammenhang mit dem Beweisrecht 1.38

Das Beweisrecht regelt die gerichtliche Feststellung des Sachverhalts, der der Rechtsanwendung zugrunde zu legen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dem Beweisrecht etwa eine rein verfahrensrechtliche Bedeutung im Prozess zukäme. Nicht nur die Regeln über die Beweislast, sondern auch die mannigfachen Beweiserleichterungen, die die Rechtsprechung im Bereich des Haftungs- und Versicherungsrechts geschaffen hat – allen voran der Anscheinsbeweis – bewirken eine Verlagerung haftungsrechtlicher Risiken, die sich auch bei der außergerichtlichen Schadensregulierung auswirkt. Schon dies macht den engen Zusammenhang zwischen Haftungsrecht und Beweisrecht deutlich. Wird weiter bedacht, dass das gerichtliche Verfahren darauf gerichtet ist, die materielle Rechtslage zu erkennen, nicht etwa unabhängig vom materiellen Recht Ansprüche zu schaffen, so erweist sich, dass viele beweisrechtliche Instrumentarien in Wirklichkeit materiell-rechtliche Risikozuweisungen darstellen, also Modifizierungen des materiellen Haftungsrechts bewirken.47

IV. Entwicklungslinien 1. Von der Verschuldens- zur Gefährdungshaftung a) Grundgedanken 1.39

Der Gesetzgeber des StVG ist, indem er die Schadensersatzpflicht nicht an Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Schädigers anknüpfte, sondern an bestimmte Betätigungen, die per se, d.h. auch ohne Verschulden, in besonderem Maße gefahren- und damit schadensträchtig sind, einer modernen Rechtsidee gefolgt, für welche die Bezeichnung „Gefährdungshaftung“48 gebräuchlich geworden ist.

1.40

Wenn auch das römische Recht gewisse Formen einer verschuldensunabhängigen Haftung (z.B. des Tierhalters) kannte, kam es zur Entwicklung der modernen Gefährdungshaftung doch erst dadurch, dass die herkömmliche, an Rechtswidrigkeit und Verschulden orientierte Deliktshaftung den Besonderheiten des technischen Fortschritts nicht gewachsen war. Die Erfindung der Dampflokomotive ermöglichte es, Bewegungsenergien freizusetzen, die nur noch begrenzt beherrschbar waren. War der Betrieb einer Eisenbahn deshalb rechtswidrig? Verletzte er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt? Da an der Ausnutzung der mit der technischen Entwicklung einhergehenden Vorteile (z.B. Wirtschaftsbelebung, Massenverkehr, Mobilität, Energieversorgung) auch ein überragendes Allgemeininteresse bestand, konnten diese Segnungen des modernen Zeitalters trotz ihrer Risiken nicht verboten und musste ein Ausgleich für deren Zulassung gefunden werden. Die Kategorien der Rechtswidrigkeit und der Fahrlässigkeit erwiesen sich als unpassend.49 Die Haftung für die Verwirklichung der Gefahr musste vielmehr allein an die betreffende Betätigung angeknüpft werden, oder anders ausgedrückt: Die Zulassung der Gefahr wurde davon abhängig gemacht, dass ihre Verwirklichung durch Entschädigung ausgeglichen wird.50 Auch wenn die Entstehung der ersten Haftungsgesetze für technische Anlagen wenig zielgerichtet verlief und von unterschiedlichen Erwägungen ge-

47 Näher hierzu s. Rz. 41.67 ff. 48 Geprägt von Rümelin Die Gründe der Schadenszurechnung und die Stellung des deutschen BGB zur objektiven Schadensersatzpflicht (1896), S. 45. Weitere Nachweise s. Rz. 1.10. 49 Deutsch Rz. 9. 50 Deutsch Rz. 24; v Caemmerer Reform der Gefährdungshaftung (1971), S. 15.

12 | Greger

IV. Entwicklungslinien | Rz. 1.43 § 1

tragen war,51 lässt sie sich letztlich wohl auf diese Grundgedanken zurückführen.52 Hand in Hand mit der weiteren Verbreitung der Gefährdungshaftung ging die Entwicklung, durch Versicherung der technischen Risiken den Schaden auf die Allgemeinheit weiter zu verlagern, deren Interessen letztlich (auch) hinter der Zulassung der Gefahr stehen.

b) Gesetzgebung Der Gedanke, dass für besonders gefährliche Unternehmungen eine von Verschulden unabhängige, gesetzliche Haftpflicht zu begründen sei, kam erstmals in § 25 des preußischen Gesetzes über die Eisenbahnunternehmungen vom 3.11.1838 (GS S 505) zum Ausdruck, wonach die Gesellschaft zum Ersatz allen Schadens an beförderten Personen und Sachen und an anderen Personen und deren Sachen verpflichtet wurde; eine Entlastungsmöglichkeit bestand nur bei eigener Schuld des Beschädigten und bei unabwendbarem äußeren Zufall.53 Durch das Gesetz betr. die Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken etc. herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen vom 7.6.1871 (RGBl S 207; RHaftpflG) wurde die Haftung des Eisenbahnunternehmers für Personenschäden reichseinheitlich geregelt und dem Landesrecht entzogen. Nach § 1 dieses Gesetzes haftete der Unternehmer für entstandene Personenschäden bei dem Betrieb der Eisenbahn, sofern er nicht beweisen konnte, dass der Unfall durch höhere Gewalt oder eigenes Verschulden des Verletzten verursacht wurde. Die Haftung für Sachschäden blieb zunächst noch der landesrechtlichen Regelung vorbehalten (vgl. Art. 105, 3 EGBGB), soweit nicht (bei beförderten Sachen) Vertragsrecht eingriff.54

1.41

In enger Anlehnung an § 1 RHaftpflG lautete § 1 des Regierungsentwurfs von 1906 für ein Gesetz über die Haftpflicht für den bei dem Betriebe von Kraftfahrzeugen entstehenden Schaden:55

1.42

„Wird bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs ein Mensch getötet oder körperlich verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Betriebsunternehmer verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen … Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Verschulden des Verletzten verursacht worden ist. Im Falle der Beschädigung einer Sache steht das Verschulden desjenigen, welcher die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt, dem Verschulden des Verletzten gleich.“

Es sollte also nach dem Entwurf 1906 gehaftet werden bis zur höheren Gewalt, und die Haftpflicht sollte den Betriebsunternehmer treffen.

51 Eingehende Nachweise bei Lenz Haftung ohne Verschulden in deutscher Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts (1995), S. 57 ff. 52 Vgl. z.B. die von Lenz Haftung ohne Verschulden in deutscher Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts (1995), S. 67 wiedergegebene Begr. der Haftungsregelung im preußischen Eisenbahngesetz. 53 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte Lenz Haftung ohne Verschulden in deutscher Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts (1995), S. 57 ff. 54 Erst das Gesetz über die Haftpflicht der Eisen- und Straßenbahnen für Sachschaden v. 29.4.1940 (RGBl. I S 691) brachte auch insoweit die Rechtseinheit. Die beiden Reichsgesetze wurden 1978 durch das HaftpflG v. 4.1.1978 (BGBl. I 145) ersetzt. 55 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 11. Legislaturperiode II. Session erster Sessionsabschnitt, 4. Anlagenband Nr. 264 S. 3245 ff. Die Begr. ist wiedergegeben in der 3. Aufl. Vorbem. 6.

Greger | 13

1.43

§ 1 Rz. 1.44 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

1.44

Dieser Entwurf wurde nicht Gesetz. Der nicht mehr lediglich die Haftpflicht regelnde, sondern zu einem „Gesetz für den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“ erweiterte Entwurf 190856 wich hiervon ab, indem die Haftung nur für Verschulden (eigenes oder das des Personals) und für Fehler des Materials – mit Auferlegung der Beweislast an den Haftpflichtigen – vorgeschlagen und als Haftpflichtiger der Halter des Fahrzeugs bezeichnet wurde. Sein § 1 lautete: „Wird durch ein im Betriebe befindliches Fahrzeug ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter des Kraftfahrzeugs verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Schaden weder durch ein Verschulden des Fahrzeughalters oder einer von ihm zur Führung des Fahrzeugs bestellten oder ermächtigten Person noch durch fehlerhafte Beschaffenheit des Fahrzeugs oder Versagen seiner Verrichtungen verursacht worden ist.“

1.45

In erster Lesung erhielt die Vorschrift folgende Fassung: „Wird bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter des Kraftfahrzeugs verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen, es sei denn, dass der Unfall durch ein unabwendbares äußeres Ereignis oder durch eigenes Verschulden des Verletzten verursacht worden ist. Im Falle …“ (wie Entwurf von 1906).

1.46

Damit war der Begriff des „unabwendbaren äußeren Ereignisses“ eingeführt worden, „weil die Judikatur des RG über den Begriff ‚höhere Gewalt‘ teilweise als abwegig bezeichnet werden müsse. Das österreichische Gesetz und die Materialien dazu führten übrigens ausführlich aus, was unter unabwendbarem Ereignis zu verstehen sei: die höhere Gewalt im Sinne der herrschenden Theorie und Judikatur und ferner ein äußeres unabwendbares Ereignis. Der Begriff gehe also weiter als höhere Gewalt“.57

1.47

In zweiter Lesung erhielt die Entlastungsregelung dann die Gesetz58 gewordene, bis 31.7.2002 gültige Fassung. Damit sollte vermieden werden, dass die Judikatur des Reichsgerichts, die bei Anwendung des Begriffs „höhere Gewalt“ in einzelnen Fällen bedenklich weit gegangen sei, dennoch, obgleich dies die Absicht der Kommission nicht sei, hierher übernommen werden könnte. Deshalb habe man sich entschlossen, den Begriff des unabwendbaren Ereignisses noch näher zu umgrenzen.

1.48

Durch das 2. SchRÄndG v. 19.7.2002 (BGBl. I 2674), in Kraft getreten am 1.8.2002, wurde der Entlastungsgrund des „unabwendbaren Ereignisses“ dann doch durch den der „höheren Gewalt“ ersetzt (§ 7 Abs. 2 StVG n.F.), für Unfälle mit anderen Kfz, einem Tier oder einer Eisenbahn aber beibehalten (§ 17 Abs. 3, 4 StVG).

56 Verhandlungen des Reichstags XII. Legislaturperiode I. Session Bd. 248 Nr. 988, S. 5593. 57 Bericht der 29. Kommission, Verhandlungen des Reichstags XII. Legislaturperiode I. Session Bd. 253, S. 7582 f. 58 KFG v. 3.5.1909 (RGBl 439). Dieses Ges wurde mit verschiedenen Änderungen, aber unveränderten Bestimmungen über die Haftpflicht, unter der neuen Bezeichnung „Straßenverkehrsgesetz“ aufgrund Art. 8 des Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs v. 19.12.1952 (BGBl. I 832) neu bekannt gemacht.

14 | Greger

IV. Entwicklungslinien | Rz. 1.53 § 1

2. Ausweitung der verschuldensunabhängigen Haftung Als Ersatz für das dem Grundeigentümer durch § 905 BGB entzogene Verbietungsrecht billigte ihm das RG59 einen Anspruch auf Ersatz des Schadens zu, der durch die Betriebsgefahr des Luftverkehrs angerichtet worden ist, ohne dass etwa ein Verschulden des Unternehmers nachgewiesen zu werden brauchte. Dieser Rechtsentwicklung folgte dann auch der Gesetzgeber, indem er im Luftverkehrsgesetz vom 1.8.1922 (RGBl I S 681) – noch weit über das RHaftpflG hinaus – dem beim Betrieb eines Luftfahrzeugs durch Unfall Geschädigten einen Anspruch auf Schadensersatz auch dann gab, wenn höhere Gewalt vorliegt; lediglich für die beförderten Personen und Sachen wurde die Gefährdungshaftung durch die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises eingeschränkt (vgl. §§ 33, 44, 45 LuftVG).

1.49

Weitere Gefährdungshaftungstatbestände wurden geschaffen für die Haftung des Inhabers von Kernenergieanlagen (§ 25 i.V.m. § 7 AtomG), die Haftung für die Verursachung von Schäden, die einem anderen durch eine nachteilige Veränderung des Wassers entstehen (§ 22, seit 2009 § 89 WHG), die Produzentenhaftung (§ 1 ProdHaftG; s. Rz. 6.2 ff.), die Umwelthaftung (§ 1 UmweltHG), die Arzneimittelhaftung (§ 84 AMG) und die Haftung für gentechnische Anlagen (§ 32 GenTG).

1.50

Eine Ausdehnung der verschuldensunabhängigen Haftung auf andere Bereiche ist angesichts der fortschreitenden technischen Entwicklung diskutierbar und wird vielfach gefordert.60 Sie erfordert jedoch ein Tätigwerden des Gesetzgebers.61 Eine Gefährdungshaftung ohne gesetzliche Grundlage ist abzulehnen,62 ebenso die Schaffung einer Generalklausel für verschuldensunabhängige Haftung.63 Auch die Entwicklung zum automatisierten (oder sogar autonomen) Fahren erfordert keine Ausweitung verschuldensunabhängiger Haftung; Halter- und Produzentenhaftung decken den Ausgleich von Unfallschäden vollständig ab.64

1.51

Die Rechtsprechung hat einer Haftung ohne Verschuldensnachweis im Übrigen dadurch einen weiten Anwendungsbereich verschafft, dass sie rechtsfortbildend unter bestimmten Voraussetzungen einen wie eine (entkräftbare) Vermutung wirkenden Anscheinsbeweis zulässt (s. Rz. 41.69 ff.).

1.52

3. Weiterentwicklung zur no fault-Haftung Nach dem geltenden Recht der Gefährdungshaftung erhält das Unfallopfer zwar in vielen Fällen, aber keineswegs stets eine volle Entschädigung. Dem Unfallgegner steht der (unterschiedlich ausgeprägte) Entlastungsbeweis offen, zudem muss sich der Geschädigte eigenes Mitverschulden, ja sogar die eigene Betriebsgefahr anrechnen lassen (s. Rz. 25.87). Besonders bei schwerwiegenden Personenschäden wird es jedoch teilweise als unbillig empfunden, das Risiko der kollektiven Gefahreröffnung durch Kfz dem Geschädigten aufzuerlegen, statt es paral59 RG v. 1.7.1920 – VI 24/20, RGZ 100, 69. 60 v Caemmerer Reform der Gefährdungshaftung (1971), S. 18 f.; Deutsch VersR 1971, 1, 2; Kötz AcP 170 (1970) 1, 19 ff.; Weitnauer VersR 1970, 585, 598. 61 Wie z.B. in § 2 Abs. 1 S. 3 des aus formellen Gründen vom BVerfG für nichtig erklärten Staatshaftungsgesetzes v. 26.6.1981, BGBl. I 553, für das Versagen technischer Einrichtungen. 62 Vgl. BGH v. 15.10.1970 – III ZR 169/67, BGHZ 54, 332: kein Anspruch aus Gefährdungshaftung bei Versagen einer Lichtsignalanlage. 63 Rohe AcP 201 (2001) 117, 149. 64 König NZV 2017, 249, 251; Freise VersR 2019, 65, 68; VGT 2018 (AK II), NZV 2018, 69. Zu Einzelheiten der Haftung für automatisierte Fahrfunktionen s. Rz. 3.264, 3.287, 3.301, 4.31 ff., 6.6 ff.

Greger | 15

1.53

§ 1 Rz. 1.53 | Grundlagen der Verkehrsunfallhaftung

lel dazu kollektiv und effektiv abzusichern: Während für den Schädiger i.d.R. der Haftpflichtversicherer eintritt, wird der Verletzte durch seinen eigenen Haftungsanteil u.U. lebenslang belastet. Es besteht daher eine Tendenz, zumindest im Verhältnis von motorisierten zu „schwachen“ Verkehrsteilnehmern die Möglichkeit der Entlastung von der Gefährdungshaftung abzuschaffen oder einzuschränken.65 Eine uneingeschränkte Kausalhaftung stößt indessen an verfassungsrechtliche Schranken: Freiheitsgrundrecht und Willkürverbot sind verletzt, wenn der von einem Individuum erlittene Schaden ohne sachlichen Grund einem anderen auferlegt oder der Mitverschuldenseinwand gegenüber einer verschuldensunabhängigen Haftung völlig abgeschnitten wird.66

1.54

Die Möglichkeit, diesen Einwänden durch eine Kollektivierung des Schadensausgleichs zu begegnen, die hohe Belastung der Gerichte mit Verkehrsunfallprozessen67 (bei geringer Einzelfallgerechtigkeit in der Masse der Unfälle) sowie die hohen Kosten und Reibungsverluste in der Schadensregulierung führten zu weitergehenden Überlegungen, die individuelle Haftung im Straßenverkehr zugunsten einer Versicherungslösung zurückzudrängen.68 Nach diesem Prinzip einer Haftungsersetzung durch Versicherung wird der Geschädigte unabhängig von der (Mit-)Verschuldensfrage (daher auch „no fault-Prinzip“) von einem Unfallversicherer entschädigt (nach Art der Gesetzlichen Unfallversicherung bei Arbeitsunfällen; vgl. Rz. 22.80). Es ist – mit unterschiedlicher Ausprägung – in einigen Staaten der USA, Kanadas und Australiens, in Neuseeland, Finnland, Norwegen, Schweden und Polen verwirklicht.69 In Deutschland wird eine Einführung – nach Ansätzen Ende der 60er Jahre70 – gegenwärtig nicht verfolgt.71

4. Systemverbesserungen unter Beibehaltung der individuellen Verantwortung 1.55

Aufgrund der Erkenntnis, dass das Haftungsrecht als Mittel einer sachgerechten Zuordnung von Schadensrisiken beizubehalten, eine erwünschte Ausweitung des Schutzes vor (u.U. exis-

65 So z.B. in Frankreich (Art. 1382 ff. Code Civil i.V.m. Art. 1–6 des Gesetzes Nr. 85–677 v. 5.7.1985 (loi Badinter); s. dazu Schwarz NJW 1991, 2058, 2065; v Bar VersR 1986, 620 ff. und Belgien (Art. 1382 ff. Code Civil i.V.m. Art. 29 bis des Gesetzes v. 21.11.1989). Auch die Erschwerung des Entlastungsbeweises nach § 7 Abs. 2 StVG durch das 2. SchRÄndG (s. Rz. 1.48) geht in diese Richtung. Zu entspr. Tendenzen auf EU-Ebene s. Ch Huber 40. VGT (2002) S. 214 ff. 66 Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 217 ff. 67 Greger NZV 2001, 1 f. 68 Nachw bei Deutsch Rz. 751; Katzenmeier VersR 2002, 1449, 1455. In diese Richtung auch Rohe AcP 201 (2001) 117, 164. 69 Vgl. Cane in: Atiyah’s Accidents, Compensation and the Law, 6. Aufl. (1999), S. 395 ff.; Pfenningstorf Rechtsschutz in Europa (1984), S. 9 ff.; Bäumer Hat das deutsche Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungssystem eine Zukunft? (1982); Fleming/Hellner/v Hippel Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz (1980); v Hippel NZV 1999, 313 ff. Weitere Nachweise bei Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 63. 70 v Hippel Schadensausgleich bei Verkehrsunfällen (1968) und NJW 1967, 1729; Güllemann Ausgleich von Verkehrsunfallschäden im Licht internationaler Reformprojekte (1969); Weyers Unfallschäden (1971) u ZRP 1977, 292 ff. Weitere Nachweise bei Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 64. 71 Vgl. aber v Hippel NZV 1999, 313. Eingehend Frommhold Grenzen der Haftung (2006) S. 102 ff. (mit abl. Tendenz u Befürwortung von Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems); krit. auch Wagner in Zimmermann Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts (2003), S. 324 ff.; Katzenmeier VersR 2002, 1449, 1455 f. unter Hinweis auf die damit gänzlich verloren gehende Präventivfunktion des Haftungsrechts.

16 | Greger

IV. Entwicklungslinien | Rz. 1.56 § 1

tenzbedrohenden) Folgen aber von ihm nicht zu leisten ist, richtet sich der Blick verstärkt auf Möglichkeiten zur Eigenabsicherung von Schäden und auf Verbesserungen der Schadensregulierung. Der Schutz des Opfers vor Schäden, für die er selbst oder ein nicht bekannter oder nicht solventer Schädiger (mit)verantwortlich ist, lässt sich durch Ausbau der sozialversicherungsrechtlichen Systeme oder Förderung der privaten Vorsorge in Form von Kasko-, Lebens-, Unfall- und Berufsunfähigkeitsversicherungen („first party insurance“) erreichen.72 Das im Grunde sachgerechte System der Haftpflichtversicherung für die – nach den Maßgaben des Haftungsrechts – der Fremdverantwortung zugewiesenen Schäden könnte durch Erleichterungen bei der Schadensregulierung verbessert werden.73 Insofern werden – allerdings z.T. kontrovers – diskutiert: die Direktregulierung durch den eigenen Haftpflichtversicherer,74 das Schadensmanagement durch den (fremden) Haftpflichtversicherer,75 die Intensivierung des Schadensregresses76 und die Einrichtung von Schiedsstellen zur Beilegung von Streitigkeiten über die Regulierung von Unfallschäden.77

5. Einflüsse des Europarechts Durch mehrere Richtlinien78 hat der europäische Gesetzgeber sichergestellt, dass bei Kfz-Unfällen innerhalb der EU ein Haftpflichtversicherungsschutz besteht, der gewissen Mindeststandards genügt, und dass Ansprüche gegen Haftpflichtversicherer in einem anderen Mitgliedstaat erleichtert geltend gemacht werden können (s. dazu Rz. 2.44 ff.). Für die gerichtliche Geltendmachung grenzüberschreitender Ansprüche gilt die Brüssel Ia-VO (s. Rz. 2.4 ff.), für das in diesen Fällen anzuwendende Recht die Verordnung (EG) Nr. 864/2007 (Rom-II-VO; s. Rz. 2.15 ff.). Das Haftungsrecht als solches ist jedoch nicht europarechtlich determiniert. Die Richtlinien über die Gewährleistung des Haftpflichtversicherungsschutzes für Unfallopfer schließen auch nicht aus, dass deren Entschädigungsansprüche wegen der Zurechnung einer Mitverantwortung ausgeschlossen oder begrenzt werden können.79 Allerdings darf das Haftungsrecht nach der Rechtsprechung des EuGH die in der Kfz-Haftpflicht-Richtlinie angeordnete Schadensdeckung nicht praktisch unwirksam machen; Haftpflichtversicherungsschutz soll daher auch dann bestehen, wenn das nationale Recht einen Schadensersatz versagt.80 Dadurch wird in gewisser Weise das Trennungsprinzip (s. Rz. 1.36) durchbrochen.81 72 Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999), S. 176 f.; Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 283 f. 73 Aufschlussreich die vergleichende Untersuchung von Simsa Die gerichtliche und außergerichtliche Regulierung von Verkehrsunfällen in Deutschland und den Niederlanden (1995). 74 Sie wird bereits praktiziert in Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Schweden. Eingehend Schirmer VersR 2003, 401 ff.; abl. Diehl DAR 2001, 552 ff. und VGT 2003 (AK VI) VersR 2003, 306, 308; dafür Küppersbusch Neue Regulierungsverfahren in der Kfz-Haftpflichtversicherung (1998) und Greger NZV 2001, 1, 3. 75 Dafür Engelke NZV 1999, 225 ff.; dagegen Kuhn NZV 1999, 229 u VGT 1999 (AK IV) NZV 1999, 118, 119; zurückhaltend Graf v Westphalen DAR 1999, 295 ff. Einzelheiten zu Aktivitäten beim Personenschadenmanagement Lang NZV 2008, 19; Domes NZV 2008, 232. 76 S. Wagner in Zimmermann Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts (2003), S. 328 ff. mit Hinw. auf Erfahrungen in England. 77 Dafür Simsa (o. Fn. 73) S. 273; Greger NZV 2001, 1, 3 f. Zu den Schiedsstellen der Innungen des Kfz-Handwerks, die mit ihrer paritätischen Besetzung Vorbildfunktion haben könnten, s. Gottwald/Reichenberger/Wagner NZV 2000, 6. 78 Zusammenfassung durch Kfz-Haftpflicht-Richtlinie 2009/103/EG v 16.9.2009 (ABl L 263/11). 79 EuGH v. 9.6.2011 – C-409/09, VersRAl 2012, 2. 80 EuGH v. 17.3.2011 – C-484/09 (Carvalho) – VersRAl 2011, 34. 81 Lüttringhaus VersR 2014, 653 ff.

Greger | 17

1.56

§2 Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

I. II. 1. a) b) 2. a) b) III. 1. a) b) 2. a) b) c)

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationales Zivilverfahrensrecht Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsgeschichte des internationalen Zivilverfahrensrechts . . . . . . . . . Anwendungsbereiche der einzelnen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maßgebliche Zuständigkeitsregeln im Haftungsrecht des Straßenverkehrs . . . Klagen gegen den Halter bzw. den Fahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klagen gegen den ausländischen Haftpflichtversicherer . . . . . . . . . . . . . Internationales Privatrecht . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsgeschichte und Kodifizierung des Internationalen Deliktsrechts Anwendungsbereich und Grundzüge der Rom-II-Verordnung . . . . . . . . . . . Anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . Rechtswahl, Art. 14 Rom-II-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt, Art. 4 Abs. 2 Rom-II-Verordnung Erfolgsortprinzip, Art. 4 Abs. 1 Rom-II-Verordnung . . . . . . . . . . . . . .

2.1 2.2 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.9 2.9 2.12 2.17 2.18 2.19 2.22

d) Wesentlich engere Verbindung, Art. 4 Abs. 3 Rom-II-Verordnung . . . . . . . . . e) Renvoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Umfang der Rechtsanwendung . . . . . . a) Anwendungsbereich des Deliktsstatuts b) Eingriffsnormen, Art. 16 Rom-IIVerordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ordre public, Art. 26 Rom-II-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Direktanspruch gegen den Versicherer, Art. 18 Rom-II-Verordnung . . . . . IV. Hinweise zu ausländischen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Internationale Haftungssysteme . . . . 1. System Grüne Karte . . . . . . . . . . . . . . . 2. EU-Kfz-Haftpflichtrichtlinien . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . c) Internationaler Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schadensregulierungsverfahren auf Basis der KH-Richtlinien . . . . . . . . . . . 3. Zusammenspiel des Systems Grüne Karte und der KH-Richtlinien . . . . . .

2.27 2.29 2.30 2.30 2.35 2.36 2.38 2.40 2.42 2.43 2.44 2.44 2.45

2.46 2.47 2.48

2.25

Art. 4 Brüssel Ia-Verordnung (1) Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen. (2) Auf Personen, die nicht dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, angehören, sind die für Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats maßgebenden Zuständigkeitsvorschriften anzuwenden. Art. 7 Brüssel Ia-Verordnung Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden: 1. […] 2. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens

Zwickel | 19

§ 2 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht; 3. […] Art. 11 Brüssel Ia-Verordnung (1) Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden: a) vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, b) in einem anderen Mitgliedstaat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, oder c) falls es sich um einen Mitversicherer handelt, vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem der federführende Versicherer verklagt wird. (2) Hat der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats keinen Wohnsitz, besitzt er aber in einem Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung, so wird er für Streitigkeiten aus ihrem Betrieb so behandelt, wie wenn er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hätte. Art. 12 Brüssel Ia-Verordnung Bei der Haftpflichtversicherung oder bei der Versicherung von unbeweglichen Sachen kann der Versicherer außerdem vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist, verklagt werden. Das Gleiche gilt, wenn sowohl bewegliche als auch unbewegliche Sachen in ein und demselben Versicherungsvertrag versichert und von demselben Schadensfall betroffen sind. Art. 13 Brüssel Ia-Verordnung (1) Bei der Haftpflichtversicherung kann der Versicherer auch vor das Gericht, bei dem die Klage des Geschädigten gegen den Versicherten anhängig ist, geladen werden, sofern dies nach dem Recht des angerufenen Gerichts zulässig ist. (2) Auf eine Klage, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt, sind die Artikel 10, 11 und 12 anzuwenden, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist. (3) Sieht das für die unmittelbare Klage maßgebliche Recht die Streitverkündung gegen den Versicherungsnehmer oder den Versicherten vor, so ist dasselbe Gericht auch für diese Personen zuständig. Art. 4 Rom-II-Verordnung (1) Soweit in dieser Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, ist auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind. (2) Haben jedoch die Person, deren Haftung geltend gemacht wird, und die Person, die geschädigt wurde, zum Zeitpunkt des Schadenseintritts ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat, so unterliegt die unerlaubte Handlung dem Recht dieses Staates. (3) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass die unerlaubte Handlung eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen als dem in den Abs. 1 oder 2 bezeichneten Staat aufweist, so ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. Eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat könnte sich insbesondere aus einem bereits bestehenden Rechtsverhält-

20 | Zwickel

I. Einführung | Rz. 2.1 § 2 nis zwischen den Parteien – wie einem Vertrag – ergeben, das mit der betreffenden unerlaubten Handlung in enger Verbindung steht. Art. 14 Rom-II-Verordnung (1) Die Parteien können das Recht wählen, dem das außervertragliche Schuldverhältnis unterliegen soll: a) durch eine Vereinbarung nach Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses; oder b) wenn alle Parteien einer kommerziellen Tätigkeit nachgehen, auch durch eine vor Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses frei ausgehandelte Vereinbarung. Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Umständen des Falles ergeben und lässt Rechte Dritter unberührt. (2) Sind alle Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt des Eintritts des schadensbegründenden Ereignisses in einem anderen als demjenigen Staat belegen, dessen Recht gewählt wurde, so berührt die Rechtswahl der Parteien nicht die Anwendung derjenigen Bestimmungen des Rechts dieses anderen Staates, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. (3) Sind alle Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt des Eintritts des schadensbegründenden Ereignisses in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen, so berührt die Wahl des Rechts eines Drittstaats durch die Parteien nicht die Anwendung – gegebenenfalls in der von dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts umgesetzten Form – der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. Literatur: Bachmeier Regulierung von Auslandsunfällen, 2. Aufl. 2017; Czaplinski Das internationale Straßenverkehrsunfallrecht nach Inkrafttreten der Rom II-VO, 2015; Junker Internationales Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2016; Looschelders Abwicklung internationaler Verkehrsunfälle vor deutschen und österreichischen Gerichten – unter besonderer Berücksichtigung des Direktanspruchs, in FS Danzl 2017, S. 603 ff.; Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002; Rauscher Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Aufl. 2015; Reisinger Internationale Verkehrsunfälle 2011; Riedmeyer Rechtsprechung des EuGH zu den KH-Richtlinien über die Regulierung internationaler Verkehrsunfälle, in FS Danzl 2017, S. 629 ff.; Wittwer Interventions- und Regressklage der (Sozial-)Versicherung (am gewöhnlichen Aufenthalt des Geschädigten) im internationalen Schadensfall, in FS Danzl 2017, S. 669 ff.

I. Einführung Die Freizügigkeit des Straßenverkehrs bringt es mit sich, dass Unfälle zwischen Angehörigen verschiedener Staaten keine Seltenheit sind.1 Im diesem Bereich des internationalen Haftungsrechts existieren zahlreiche verschiedene Rechtssysteme, die teils miteinander verzahnt sind. Hierzu zählen die Bestimmungen des internationalen Zivilverfahrensrechts, die über das anzurufende Gericht entscheiden. Hiervon strikt zu trennen ist die Frage nach dem in der Sache anwendbaren Recht. Das anzuwendende (nationalstaatliche) Haftungsrecht richtet sich nach den maßgeblichen kollisionsrechtlichen Regelungen. Mangels einer Harmonisierung un-

1 Laut Hirsch DAR 2000, 504; Tomson EuZW 2009, 204 jährlich mindestens 500.000 Auslandsunfälle in Europa.

Zwickel | 21

2.1

§ 2 Rz. 2.1 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

terscheiden sich die nationalen Haftungsrechte auch innerhalb der EU erheblich. Vielfach wird das nationale Recht aber mittlerweile – im Verhältnis zwischen Geschädigtem und Haftpflichtversicherer des Schädigers – durch international-rechtliche Straßenverkehrshaftungssysteme wie z.B. das System „Grüne Karte“ oder die EU-Kfz-Haftpflichtrichtlinien überlagert, die zu einer staatenüberreifend weitgehend einheitlichen Haftungssituation führen.2

II. Internationales Zivilverfahrensrecht 1. Überblick 2.2

Ein dem Geschädigten günstiger Gerichtsstand gilt als bedeutsames Element einer gelungenen Abwicklung grenzüberschreitender Schadensfälle nach Verkehrsunfällen.3 Bei Auslandsunfällen bzw. Inlandsunfällen mit Ausländern stellt sich stets auch die Frage nach der sog. internationalen Zuständigkeit. Diese bestimmt sich mittlerweile in den allermeisten in der Praxis relevanten Fällen nach den Regeln des europäischen Zivilverfahrensrechts.

a) Entstehungsgeschichte des internationalen Zivilverfahrensrechts 2.3

Bereits seit 1968 existierte innerhalb der EG, mit dem Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zusammenarbeit (EuGVÜ), eine Rechtsgrundlage für gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Das EuGVÜ, einer der erfolgreichsten Rechtssetzungsakte der europäischen Gemeinschaft,4 wurde ab dem 1.3.2002 durch die EuGVVO5 ersetzt. Die Brüssel Ia-VO ist zum 10.1.2015 an die Stelle der EuGVVO getreten.6 Parallel zum EUGVÜ wurde Ende der 1980er Jahre für die EFTA-Staaten (Island, Norwegen, Schweiz) das inhaltlich fast wörtlich mit der EuGVÜ übereinstimmende Lugano-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (LugÜ) geschlossen, das Ende 2007 an den aktuellen Stand der EuGVVO angeglichen wurde. Durch die nunmehr per Brüssel Ia-VO erfolgte Reform der EuGVVO kann es in Einzelfällen zum Auseinanderfallen der Rechtslage nach LugÜ und Brüssel Ia-VO kommen.7

b) Anwendungsbereiche der einzelnen Vorschriften 2.4

Für den Bereich des internationalen Zivilverfahrensrechts existieren zahlreiche verschiedene Rechtsgrundlagen mit voneinander abzugrenzenden sachlichen und räumlichen Anwendungsbereichen.

Bachmeier/Bachmeier Regulierung von Auslandsunfällen, § 1 Rz. 3: „neue Form der Regulierung“. Bachmeier/Bachmeier Regulierung von Auslandsunfällen, § 4 Rz. 158. Luckey SVR 2014, 361, 362. VO (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 (ABl. EU Nr. L 12 v. 16.1.2001, S. 1) über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen. 6 Zur Reform s. Stadler/Klöpfer ZEuP 2015, 732. 7 S. hierzu MünchKomm-StVR/Staudinger IZVR/IPR, Rz. 4. 2 3 4 5

22 | Zwickel

II. Internationales Zivilverfahrensrecht | Rz. 2.6 § 2

Die Brüssel Ia-VO8 regelt als ab 10.1.2015 gültige Nachfolgevorschrift der EuGVVO für den Bereich der EU-Mitgliedsstaaten9 verbindlich die gerichtliche Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen. Das Lugano-Übereinkommen (LugÜ)10 findet Anwendung im Verhältnis zu den EFTAStaaten Norwegen, Island und Schweiz. Es beinhaltet, in seiner 2007 erfolgten Anpassung, Parallelvorschriften zur EuGVVO für nicht durch die europäischen Rechtsakte erfassten Staaten (Parallelkonvention).11 Sind beide Rechtsakte nicht einschlägig, so finden subsidiär die §§ 12 ff. ZPO und § 215 VVG Anwendung.12 Der zeitliche Anwendungsbereich der Vorschriften stellt sich wie folgt dar: Für am oder nach dem 10.1.2015 eingeleitete Verfahren gilt die Brüssel Ia-VO, für davor eingeleitete Verfahren bleibt es bei der Anwendung der EuGVVO (Art. 66 Abs. 1 Brüssel Ia-VO).

2. Maßgebliche Zuständigkeitsregeln im Haftungsrecht des Straßenverkehrs Für das internationale Straßenverkehrshaftungsrecht sind v.a. die internationalen Zuständigkeiten von Relevanz. Die nachfolgende Kommentierung beschränkt sich auf den praktisch relevanten Bereich der Brüssel Ia-VO sowie des parallel laufenden LugÜ.13

2.5

Hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit ist zwischen Klagen gegen Halter und Fahrer sowie den Haftpflichtversicherer zu unterscheiden.

a) Klagen gegen den Halter bzw. den Fahrer Für Beklagte mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat trifft Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO (für Island, Norwegen und die Schweiz Art. 5 Nr. 3 LugÜ) eine ausdrückliche, auf den Ort des schädigenden Ereignisses abstellende Regelung. Hier ist sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort (Ort des Primärschadens), nicht aber der Ort des Vermögensfolgeschadens maßgeblich.14 Für die Geltendmachung von (materiellen und immateriellen) Schäden durch Angehörige eines Getöteten (entgangener Unterhalt, entgangene Dienste i.S.d. §§ 844, 845 BGB, Angehörigenschmerzensgeld, Hinterbliebenengeld) bedeutet dies, dass diese am Ort der Erstschädigung vorzunehmen ist.15 Für sog. Schockschäden, bei denen es zu einer eigenen Ge8 VO (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 (ABl. EU Nr. L 351 v. 20.12.2012, S. 1) über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. (Brüssel Ia-VO). 9 Das nicht dem EuGVÜ beigetretene Dänemark hat durch Abkommen mit der EU die Anwendung der EuGVVO (ABl. EU Nr. L 94 v. 4.4.2007, S. 70) und der Brüssel Ia-VO erklärt (ABl. EU Nr. L 74 v. 21.3.2013, S. 4). Die entsprechenden Vorschriften finden daher auch auf Dänemark Anwendung. 10 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen, LugÜ) vom 30.10.2007. 11 MünchKomm-StVR/Staudinger IZVR/IPR, Rz. 4. 12 S. hierzu im Detail MünchKomm-StVR/Staudinger IZVR/IPR, Rz. 5 ff. 13 Für die §§ 12 ff. ZPO sowie § 215 VVG s MünchKomm-StVR/Staudinger IZVR/IPR, Rz. 5 ff. 14 EuGH v. 10.6.2004 – C-168/02, NJW 2004, 2441, 2442; Junker Internationales Zivilprozessrecht 2016, § 10 Rz. 16. 15 MünchKomm-ZPO/Gottwald Brüssel Ia-VO Art. 7 Rz. 61; Riedmeyer Rechtsprechung des EuGH zu den KH-Richtlinien über die Regulierung internationaler Verkehrsunfälle, in FS Danzl 2017, 635.

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2.6

§ 2 Rz. 2.6 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

sundheitsschädigung des mittelbar Betroffenen kommt, überzeugt dies aber nicht. Vielmehr ist in diesen Fällen der Ort der vom nahen Angehörigen erlittenen Rechtsgutsverletzung maßgeblich.16 Der besondere Gerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO erfasst konkurrierende vertragliche Ansprüche wegen der weitreichenden Wirkungen der internationalen Zuständigkeit nicht.17 Die culpa in contrahendo unterfällt im internationalen Zivilverfahrensrecht dem Deliktsrecht und damit Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO.18 Für Beklagte mit Wohnsitz in einem anderen Staat folgt i. R. d. Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO aus der örtlichen auch die internationale Zuständigkeit (Grundprinzip der Doppelfunktionalität). Daneben verbleibt dem Betroffenen stets die Klage am allgemeinen Gerichtsstand des Art. 4 Abs. 1 Brüssel Ia-VO (Gerichte im Mitgliedsstaat des Wohnsitzes des Schädigers). Art. 4 Brüssel Ia-VO regelt die örtliche Zuständigkeit nicht mit, so dass die lex fori über die örtliche Zuständigkeit bestimmt.

b) Klagen gegen den ausländischen Haftpflichtversicherer 2.7

Für den Direktanspruch gegen den ausländischen Haftpflichtversicherer stehen nach der Brüssel Ia-VO (Art. 13 Abs. 2 i.V.m. 11 Abs. 1 lit. a), 12 S. 1) und dem LugÜ (Art. 11 Abs. 2 i.V.m. 9 Abs. 1 lit. a), 10 S. 1) Gerichtsstände am Sitz des Haftpflichtversicherers und am Ort des schädigenden Ereignisses zur Verfügung. Darüber hinaus kann im Geltungsbereich von Brüssel Ia-VO (Art. 13 Abs. 2 i.V.m. 11 Abs. lit. b)19 und LugÜ (Art. 11 Abs. 2 i.V.m. 9 Abs. 1 lit. b))20 auch am Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten geklagt werden. Dies gilt auch soweit die lex causae fordert, dass der Schädiger (im Ausland) mit zu verklagen ist.21 Der Begriff des Geschädigten im Sinne dieser Vorschriften ist grundsätzlich weit auszulegen.22 Erfasst sind natürliche und juristische Personen,23 die unmittelbar bzw. mittelbar geschädigt wurden.24 Unter den Geschädigtenbegriff sind daher auch die Angehörigen des getöteten Unfallopfers etwa für die Geltendmachung von entgangenem Unterhalt und entgangenen Diensten (§§ 844, 845 BGB)25 sowie von Hinterbliebenengeld bzw. Angehörigenschmerzensgeld26 zu fassen. Der Direktanspruch ist dann nicht etwa

16 MünchKomm-StVR/Staudinger IZVR/IPR, Rz. 18. 17 BGH v. 28.2.1996 – XII ZR 181/93, BGHZ 132, 105, 112 f.; BGH v. 7.12.2004 – XI ZR 366/03, MDR 2005, 587; s. auch EuGH v. 27.9.1988 – 189/87, NJW 1988, 3088, 3089. 18 Zur Vorgängervorschrift nach dem EuGVÜ: EuGH v. 17.9.2002 – C-334/00, NJW 2002, 3159. 19 EuGH v. 13.12.2007 – C-463/06, NJW 2008, 819 mit Anm. Leible; ebenso BGH v. 6.5.2008 – VI ZR 200/05, BGHZ 176, 276; BGH v. 19.2.2013 – VI ZR 45/12, NZV 2013, 336. 20 BGH v. 23.10.2012 – VI ZR 260/11, NJW 2013, 472. 21 OLG Nürnberg v. 10.4.2012 – 3 U 2318/11. 22 A.A. Tereszkiewicz GPR 2018, 280. 23 Für GmbH: OLG Köln v. 9.3.2010 – 13 U 119/09, DAR 2010, 582; OLG Zweibrücken v. 29.9.2009 – 1 U 119/09, NZV 2010, 198; OLG Celle v. 27.2.2008 – 14 U 211/06, NJW 2009, 86; für Leasinggesellschaft: OLG Frankfurt v. 23.6.2014 – 16 U 224/13, NJW-RR 2014, 1339; a.A. LG Düsseldorf v. 3.11.2014 – 15 O 1/13, DAR 2015, 465 mit Anm. Laborde; gegen Erstreckung auf juristische Personen Laborde DAR 2010, 610. 24 EuGH v. 17.9.2009 – C-347/08, VersR 2009, 1512; 25 Staudinger/Czaplinski NJW 2009, 2249, 2252. 26 S. Rz. 31.204; Friesen r+s 2016, 195, 197.

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II. Internationales Zivilverfahrensrecht | Rz. 2.8 § 2

zwingend am Ort der Primärschädigung geltend zu machen,27 sondern am Wohnsitz des mittelbar Geschädigten.28 Eine objektiv-vergleichende Prüfung der Schutzbedürftigkeit der Klägers29 nimmt der EuGH30 nur in den Fällen der Geltendmachung eines übergegangenen bzw. abgetretenen Anspruchs und auch nur dann vor, wenn am Wohnsitzgerichtsstand des Klägers geklagt werden soll.31 Bei Anspruchsübergang oder Zession ist danach zu fragen, ob sich bei Zuordnung der Parteien zu „typisierten Fallgruppen“ eine Unterlegenheit einer der Parteien zeigt.32 Nur dieser Partei steht dann der Klägergerichtsstand zur Verfügung.33 So kann ein Sozialversicherungsträger, der beim (ausländischen) Haftpflichtversicherer Regress nehmen will, nicht am Gerichtsstand seines Niederlassungsortes klagen.34 Ein Bundesland35 bzw. eine öffentlich-rechtliche Körperschaft36 ist im Verhältnis zum Haftpflichtversicherer ebenfalls nicht schwächer. Auch eine natürliche Person, die sich gewerbsmäßig Forderungen von Verkehrsunfallgeschädigten zur Durchsetzung gegenüber den Haftpflichtversicherern abtreten lässt, kann sich nicht auf den Klägergerichtsstand berufen.37 Gewerbsmäßige Zessionare können sich mithin generell nicht auf den Wohnsitzgerichtsstand des Klägers berufen, es sei denn, sie dürfen nach Art. 8 Nr. 2 Brüssel Ia-VO am vom Erstgeschädigten eingeleiteten Verfahren teilnehmen.38 Für (Legal-)Zessionare in Deutschland oder Österreich scheidet dieser Interventionsgerichtsstand aber wegen eines nach Art. 65 Abs. 1 Brüssel Ia-VO angebrachten Vorbehalts aus.39 Nicht vom Klägergerichtsstand ausgeschlossen sind der entgeltfortzahlende Arbeitgeber einer im Ausland verunfallten Person, der typischerweise dem Haftpflichtversicherer unterlegen ist und daher als „Geschädigter“ im Inland gegen den ausländischen Kfz-Haftpflichtversicherer klagen kann40 oder die Erben41 des Getöteten.

27 So noch Staudinger/Czaplinski NJW 2009, 2249, 2252; Rauscher/Staudinger, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht 2015, Art. 13 Bruessel-Ia-VO, Rz. 6c. 28 Staudinger/Papadopoulos VersR 2018, 978; MünchKomm-StVR/Staudinger IZVR/IPR, Rz. 48. 29 A.A. Rauscher/Staudinger Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht 2015, Art. 13 BruesselIa-VO, Rz. 6b u. 6d (individuelle Schutzbedürftigkeit); für generelles Erfordernis der tatsächlichen Unterlegenheit: Tomson VersR 2009, 62; Tomson EuZW 2009, 204; kritisch zu Schutzbedürftigkeitserwägungen Mankowski VersR 2017, 1481, 1483. 30 EuGH v. 31.1.2018 – C-106/17, EuZW 2018, 213 = NZV 2018, 566 mit Anm. Nordmeier; EuGH v. 17.9.2009 – C-347/08, VersR 2009, 1512. 31 Staudinger/Papadopoulos VersR 2018, 978, 983. 32 Weller/Schmidt GPR 2018, 309, 310. 33 Nach LG Düsseldorf v. 3.11.2014 – 15 O 1/13, DAR 2015, 465 mit Anm. Laborde soll für die Beurteilung einer Abtretung allein auf den Zedenten abzustellen sein. 34 EuGH v. 17.9.2009 – C-347/08, VersR 2009, 1512; a.A. Wittwer ZEuP 2011, 636. 35 OLG Koblenz v. 15.10.2012 – 12 U 1528/11, DAR 2013, 30. 36 Riedmeyer, Rechtsprechung des EuGH zu den KH-Richtlinien über die Regulierung internationaler Verkehrsunfälle, in FS Danzl 2017,632. 37 EuGH v. 31.1.2018 – C-106/17, EuZW 2018, 213 = NZV 2018, 566 mit Anm. Nordmeier. 38 EuGH v. 21.1.2016 – C-521/14, DAR 2016, 79 mit krit. Anm. Staudinger. 39 Für Einzelheiten s. Wittwer Interventions- und Regressklage der (Sozial-)Versicherung (am gewöhnlichen Aufenthalt des Geschädigten) im internationalen Schadensfall, in FS Danzl 2017, 675. 40 EuGH v. 20.7.2017 – C-340/16, VersR 2017, 1481 mit Anm. Mankowski. 41 Lüttringhaus VersR 2010, 183, 185.

Zwickel | 25

2.8

§ 2 Rz. 2.8 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

Maßgeblich für das Bestehen des Gerichtsstands sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Klageerhebung, nicht zu dem der Schädigung.42 Trotz Konnexität mit der Klage gegen den Haftpflichtversicherer eröffnet Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO diesen Gerichtsstand am Wohnsitz des Klägers nicht für eine Klage gegen den Versicherten oder den Versicherungsnehmer, wenn dieser seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedsstaat als der Kläger hat. Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO setzt voraus, dass der sog. „Ankerbeklagte“ seinen Wohnsitz am Gerichtsort hat.43 Bei einem Unfall eines Deutschen in Belgien mit einer belgischen Unfallgegnerin, deren Fahrzeug bei einer belgischen Haftpflichtversicherung versichert ist, kann daher nur die Haftpflichtversicherung am Wohnsitz des Klägers verklagt werden.44

Die Klage gegen den ausländischen Haftpflichtversicherer am Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten kann nach der Rechtsprechung des EuGH45 unmittelbar dem inländischen Schadensregulierungsbeauftragten (s. Rz. 2.47) zugestellt werden. Der Schadensregulierungsbeauftragte ist aber nicht als passivlegitimiert anzusehen.46 Damit trägt der Schadensregulierungsbeauftragte auch das Insolvenzrisiko des ausländischen Versicherers, für den er tätig wird, nicht.47 Durch das parallele Bestehen mehrerer Gerichtsstände kann es zu gegenläufigen Prozessen wegen desselben Unfalls in verschiedenen Mitgliedstaaten kommen. Dies erfordert keine Aussetzung zur Klärung der Zuständigkeit für den gegen den Haftpflichtversicherer geführten Rechtsstreit nach Art. 29 Brüssel Ia-VO, da keine Parteiidentität in Bezug auf das von seinem Versicherungsnehmer geführte Verfahren besteht; das Gericht hat jedoch zu prüfen, ob wegen des Zusammenhangs der Klagen eine Aussetzung nach Art. 30 Brüssel Ia-VO angezeigt ist.48

III. Internationales Privatrecht 1. Überblick 2.9

Angesichts der erheblichen Unterschiede in den nationalen Haftungssystemen49 ist die Bestimmung des anzuwendenden Rechts bei Auslandsunfällen oder Inlandsunfällen mit Ausländerbeteiligung von erheblicher Bedeutung. Die in dieser Frage bisher bestehende Rechtsunsicherheit ist durch das Inkrafttreten des Gesetzes zum Internationalen Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und Sachen am 1.6.1999 erstmals abgeschwächt worden. Die am 20.8.2007 in Kraft getretene Rom-II-Verordnung50 hat ein europaweit einheitliches

42 Rauscher/Staudinger Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht 2015, Art. 13 Bruessel-IaVO, Rz. 6. 43 BGH v. 24.2.2015 – VI ZR 279/14, NJW 2015, 2429. 44 BGH v. 24.2.2015 – VI ZR 279/14, NJW 2015, 2429. 45 EuGH v. 10.10.2013 – C-306/12, NJW 2014, 44. 46 EuGH v. 15.12.2016 – C-558/15, IWRZ 2017, 77 mit Anm. Nimmesgern. 47 Riedmeyer Rechtsprechung des EuGH zu den KH-Richtlinien über die Regulierung internationaler Verkehrsunfälle, in FS Danzl 2017, 634; Buse DAR 2020, 2. 48 BGH v. 19.2.2013 – VI ZR 45/12, NZV 2013, 336. 49 Bachmeier SVR 2020, 1; Frese NZV 2020, 1. 50 VO (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (ABl. L 199 v. 31.7.2007, S. 40).

26 | Zwickel

III. Internationales Privatrecht | Rz. 2.13 § 2

Internationales Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse eingeführt. Von dieser Regelung ist auch das internationale Straßenverkehrshaftungsrecht betroffen.51 Die nunmehr geltenden Grundsätze werden in den Rz. 2.17 ff. dargestellt. Für Unfälle vor dem 1.6.1999 bleibt es bei der Gültigkeit des früheren Kollisionsrechts.52

2.10

Vor der Herstellung der Einheit Deutschlands am 3.10.1990 galten auch im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterschiedliche Haftungssysteme. Wegen der hierbei auftretenden Fragen wird auf die ausführliche Darstellung in Vorbem. 28 ff. der 3. Aufl. verwiesen. Für Schadensfälle ab 3.10.1990 gelten unabhängig vom Unfallort nur noch die Bestimmungen des BGB und der anderen bundesrechtlichen Haftungsnormen. Besonderheiten können sich bei Unfällen in der ehemaligen DDR noch ergeben, soweit Staatshaftung eingreift (s. hierzu Rz. 12.4 ff.) oder soweit übergangsweise fortbestehende Besonderheiten der Verkehrsvorschriften oder ermäßigte Anforderungen an die Straßenverkehrssicherungspflicht zu beachten waren.53

2.11

a) Entstehungsgeschichte und Kodifizierung des Internationalen Deliktsrechts Das Internationale Straßenverkehrshaftungsrecht war, wie das Internationale Deliktsrecht insgesamt, von Beginn an in Art. 38 EGBGB a.F. nur rudimentär geregelt. Diese älteste Norm54 des deutschen IPR überhaupt hat als europarechtswidriges55 „Fossil“56 und „skandalöses Kuriosum“57 das richterrechtlich ausgestaltete Deliktskollisionsrecht kaum beeinflusst.

2.12

Weitaus größere Bedeutung hat die VO über die Rechtsanwendung bei Schädigungen deutscher Staatsangehöriger außerhalb des Reichsgebietes v. 7.12.1942 (RGBl I 706) erlangt, deren Ausgestaltung zur allseitigen Kollisionsnorm die Auflockerung des Deliktsstatuts durch die Rspr. einleitete.58 Das Haager Übereinkommen über das auf Straßenverkehrsunfälle anzuwendende Recht v. 4.5.1971 ist von der Bundesrepublik Deutschland nicht gezeichnet worden.59 Wegen des Ausschlusses eines renvoi durch Art. 24 der Rom-II-VO kann das Haager Übereinkommen, anders als nach bisherigem Recht,60 in Deutschland nicht mehr zur Anwendung kommen.61

2.13

51 Zu den Neuerungen der Rom-II-VO s. Junker JZ 2008, 169; zur Anwendung der Rom-II-VO s. Beck SVR 2014, 136. 52 Insoweit wird auf die 3. Aufl. (Vorbem. Rz. 16 ff.) verwiesen. 53 Vgl. die Maßgaben zur StVO in Anlage 1 Kapitel XI Sachgebiet B Abschnitt III Nr. 14 zum Einigungsvertrag. 54 Schlosshauer-Selbach IPR 1989, Rz. 331. 55 Vogelsang NZV 1999, 498; Spickhoff NJW 1999, 2213. 56 Palandt/Heldrich, 56. Aufl. 1997, Vor Art. 38 EGBGB Rz. 1. 57 Ferid IPR, 3. Aufl. 1986, Rz. 6–205. 58 BGH v. 2.2.1961 – II ZR 163/59, BGHZ 34, 222, 224 f.; BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 97/70, BGHZ 57, 265, 268; ausf. Staudinger/v. Hoffmann (1998), Art. 38 EGBGB Rz. 126 ff.; mit Text der VO und Rz. 299 ff. 59 Looschelders VersR 1999, 1316. 60 LG Nürnberg-Fürth v. 31.1.1980 – 2 O 1119/79, VersR 1980, 955; Berz/Burmann/Grüneberg A. Rz. 116; Looschelders VersR 1999, 1323 f.; Rehm DAR 2001, 535; Spickhoff NJW 1999, 2212; a.A. Staudinger/v. Hoffmann (2001), Art. 40 EGBGB Rz. 178. 61 Staudinger SVR 2005, 441; Junker JZ 2008, 169; zur vergleichenden Bewertung von Haager Übereinkommen und Rom-II-VO s. Staudinger DAR 2019, 669.

Zwickel | 27

§ 2 Rz. 2.14 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

2.14

Mit dem am 1.6.1999 in Kraft getretenen Gesetz zum IPR für außervertragliche Schuldverhältnisse und Sachen hat auch das Internationale Deliktsrecht seinen Standort im EGBGB gefunden, weshalb die durch Art. 40 Abs. 2 EGBGB überflüssig gewordene VO aufgehoben werden konnte.62

2.15

Die zum 11.1.2009 in Kraft getretene Rom-II-VO vom 11.7.2007 ersetzt, im Bereich der Straßenverkehrsunfälle, das autonome deutsche Internationale Privatrecht völlig.63 Es behält nur für Altfälle seinen Anwendungsbereich.

2.16

Das Internationale Straßenverkehrshaftungsrecht ist auch nach der Rom-II-VO dem allgemeinen Deliktsstatut (Art. 4 Rom-II-VO) zu entnehmen. Die Verordnung enthält, anders als ein Vorschlag des Europäischen Parlaments, keine Sonderanknüpfung für Straßenverkehrsunfälle,64 insbesondere auch nicht i.S.d. Haager Übereinkommens.

b) Anwendungsbereich und Grundzüge der Rom-II-Verordnung 2.17

Zeitlich finden die Regelungen der Rom-II-VO auf schadensbegründende Ereignisse Anwendung, die nach ihrem Inkrafttreten eintreten (Art. 31 Rom-II-VO). Gem. Art. 32 gilt die VO ab dem 11.1.2009. Ihre Vorschriften finden daher nur für Schadensereignisse, die ab dem 11.1.2009 eingetreten sind, Anwendung.65 Für Altfälle bleibt es bei der Anwendung der Art. 40 ff. EGBGB.66 Die Rom-II-VO ist universell anwendbar. Sie gilt, bei Verbindung von Schadensfällen mit dem Recht verschiedener Staaten, auch dann, wenn es sich nicht um EUMitgliedsstaaten handelt. Sachlich ist die VO (mit Ausnahme der für das Straßenverkehrsrecht nur bedingt bedeutsamen Ausnahmen in Art. 1 Abs. 2 Rom-II-VO)67 auf alle außervertraglichen Schuldverhältnisse anzuwenden. Der Anwendungsbereich erfasst somit nur die nicht der Rom-I-VO68 unterfallenden Schuldverhältnisse.69 Der Begriff des außervertraglichen Schuldverhältnisses ist gemeinschaftsautonom auszulegen und schließt ausdrücklich auch Schuldverhältnisse aus Gefährdungshaftung mit ein.70 Ein Fall der nötigen Abgrenzung von Rom-I-VO und Rom-II-VO ergibt sich bei Gespannunfällen, wenn wie nach § 78 VVG (s. Rz. 15.6) eine Schadensteilung der Versicherer von Zugmaschine und Anhänger stattfindet. Nach dem EuGH71 richtet sich die Frage, ob eine Aufteilung der Schadensersatzpflicht erfolgt, nach dem nach der Rom-II-VO (Art. 19, 20 Rom-II-VO) anzuwendenden Recht. Das nach der Rom-I-VO zu bestimmende Versicherungsvertragsrecht (Art. 7 Rom-I-VO) entscheidet dann darüber, ob ein Regress gegen den anderen Versicherer stattfindet. Art. 7 Abs. 4 lit. a) der Rom-I-VO, führt im Bereich der

62 Vgl. Art. 4 des Ges zum IPR für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen v. 21.5.1999 (BGBl. I 1026); BT-Drucks. 14/343, S. 19. 63 Art. 3 EGBGB; Anwendungsvorrang des Europarechts (Art. 288 Abs. 2 AEUV). 64 Staudinger SVR 2005, 441. 65 EuGH v. 17.11.2011 – C-412/10, NJW 2012, 441, 442; Sujecki EuZW 2011, 815; v. Hein ZEuP 2009, 6; a.A. Glöckner IPrax 2009, 121. 66 S. hierzu die 4. Aufl. (§ 2 Rz. 10 ff.)). 67 Junker JZ 2008, 169. 68 VO (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (ABl L 177 v. 4.7.2008, S. 6). 69 BGH v. 18.3.2020 – IV ZR 62/19, VersR 2020, 614; Staudinger/Magnus Einleitung zur Rom IVO, Rz. 31. 70 Erwägungsgrund 11 der Rom-II-VO. 71 EuGH v. 21.1.2016 – C-359/14 u C-475/14, NJW 2016, 1005.

28 | Zwickel

III. Internationales Privatrecht | Rz. 2.18 § 2

Pflichtversicherungen zu einer Abweichung von der generellen Anknüpfung des Art. 7 Abs. 2 und 3 Rom-I-VO, wenn das Recht des Mitgliedsstaats, in dem das Risiko belegen ist, demjenigen des Mitgliedsstaats, der die Versicherungspflicht vorschreibt, widerspricht. Auf diesem Wege findet regelmäßig deutsches Versicherungsvertragsrecht Anwendung.72 Bei Anwendbarkeit deutschen Rechts erledigt sich durch die Reform der Anhängerhaftung (§ 19 Abs. 4 S. 2 StVG i.V.m. § 78 Abs. 3 VVG mit dem Grundsatz der Alleinhaftung des Versicherers des Zugfahrzeugs) durch Gesetz m.W.v. 17.6.2020 ein Großteil der Fälle, in denen nach der zweifelhaften bisherigen Rechtsprechung des BGH73 die Haftpflichtversicherer von Zugmaschine und Anhänger im Innenverhältnis stets zu gleichen Teilen haften sollten.74 Bei Verwirklichung einer höheren Gefahr durch den Anhänger kommt aber weiterhin eine Schadensteilung in Betracht (§ 19 Abs. 4 S. 3 StVG i.V.m. § 78 Abs. 3 VVG), so dass die vom EuGH entwickelten Grundsätze, freilich mit deutlich geringerer praktischer Bedeutung, fortgelten. Vereinbarungen zwischen dem Versicherer des Anhängers und seinem Versicherungsnehmer sind als Vertrag zu Lasten des Versicherers der Zugmaschine grundsätzlich unbedeutend.75 Bei Anwendbarkeit ausländischen Rechts kommt, auch unter zwei deutschen Haftpflichtversicherern, ein Gespannregress nach § 78 VVG nicht in Betracht.76 Die Grundanknüpfung bildet nach der Rom-II-VO das sog Erfolgsortprinzip. Nach Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO gelangt bei unerlaubten Handlungen nunmehr grds. das Recht des Staates zur Anwendung, in dem der Schaden eingetreten ist. Anders als nach dem bisherigen deutschen Recht ist das sog. Ubiquitätsprinzip (Anknüpfung sowohl an Handlungs- als auch an Erfolgsort) nicht mehr gültig.77 Neben dem Erfolgsort bilden der gemeinsame gewöhnliche Aufenthaltsort (Rz. 2.22) und die wesentlich engere Verbindung zum Recht eines Staates (Rz. 2.27) Anknüpfungspunkte, die eine flexible Berücksichtigung näherer und passenderer Umstände zur Ermittlung des richtigen Sachrechts ermöglichen. Die Möglichkeit einer Rechtswahl wurde, im Vergleich zu Art. 42 EGBGB, ausgeweitet (Rz. 2.19). Der Direktanspruch gegen den Versicherer ist auch unter Geltung der Rom-II-VO zusätzlich dem Versicherungsvertragsstatut unterstellt (Rz. 2.38). Die früher höchst umstrittene Frage der Zulässigkeit eines renvoi im Internationalen Deliktsrecht ist nunmehr zugunsten eines Ausschlusses jeglicher Rück- und Weiterverweisungen entschieden worden (Rz. 2.29).

2. Anwendbares Recht Zur Ermittlung des anwendbaren Sachrechts ist zunächst zu prüfen, ob eine (vor- bzw. nachträgliche) Rechtswahl (Rz. 2.19) vorliegt. Anderenfalls muss zunächst die Ausweichklausel des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts (Rz. 2.22) der Beteiligten im selben Staat berücksichtigt werden. Erst bei Nichteingreifen dieser Auflockerungsnorm ist die Erfolgsortregel (Rz. 2.25) maßgeblich. Nachrangig und restriktiv ist die allgemeine Auflockerungsnorm der wesentlich engeren Verbindung (Rz. 2.27) anzuwenden.78

72 OLG Bamberg v. 22.10.2019 – 5 U 40/19; OLG Schleswig v. 14.5.2020 – 7 U 181/19, FD-VersR 2020, 430092 mit Anm. Grams; für Einzelheiten s. Zwickel im Erscheinen in NZV 2020. 73 BGH v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08, BGHZ 187, 211; kritisch Langenick NZV 2014, 57. 74 Zum Gesetzentwurf s. Bauer-Gerland VersR 2020, 146 ff. 75 BGH v. 4.7.2018 – IV ZR 121/17, NJW 2018, 2958; LG Göttingen v. 23.5.2019 – 8 O 286/17, DAR 2020, 208. 76 OLG Celle v. 5.2.2020 – 14 U 163/19, NJW-RR 2020, 540; Luckhaupt NZV 2016, 497; Wilms DAR 2012, 561, 563. 77 Junker JZ 2008, 169. 78 Junker JZ 2008, 169; Leible/Lehmann RIW 2007, 721.

Zwickel | 29

2.18

§ 2 Rz. 2.19 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

a) Rechtswahl, Art. 14 Rom-II-Verordnung 2.19

Die Parteien können durch vertragliche Vereinbarung das Haftungsrecht einer beliebigen staatlichen Rechtsordnung79 als Rechtsgrundlage wählen. Nach Art. 14 Abs. 1 lit. a) Rom-IIVO ist eine Rechtswahl grundsätzlich erst nach Entstehung des gesetzlichen Schuldverhältnisses möglich. Eine, z.B. bei Personenbeförderung bzw. Fahrgemeinschaften80 auch im Bereich der Straßenverkehrshaftung beachtliche,81 antizipierte Rechtswahl ist gem. Art. 14 Abs. 1 lit. b) nur durch frei ausgehandelte Vereinbarung kommerziellen Tätigkeiten nachgehender Parteien zulässig.

2.20

Die Rechtswahlvereinbarung selbst unterliegt nicht der lex fori, sondern dem gewählten Recht (Art. 3 Abs. 5 i.V.m. Art. 10, 11 u. 13 Rom-I-VO analog).82 Einer besonderen Form bedarf die Vereinbarung nicht, sie kann nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 Rom-II-VO insbesondere auch stillschweigend getroffen werden, z.B. durch übereinstimmende Berufung auf die lex fori im Prozess83 oder durch ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung.84 Sie darf aber nicht vorschnell unter Berufung auf einen hypothetischen Parteiwillen fingiert werden.85 Die Rechtswahl kann sich auch nur auf Teilbereiche (z.B. Ersatz immaterieller Schäden)86 des außervertraglichen Schuldverhältnisses beziehen.87 Die Geltung der örtlichen Verkehrsvorschriften ist der Dispositionsbefugnis der Parteien in jedem Fall entzogen (Rz. 2.33).

2.21

Rechte Dritter werden nach Art. 14 Abs. 1 Rom-II-VO durch die Vereinbarung nicht beeinträchtigt, was insbesondere für den Haftpflichtversicherer (Rz. 2.38), aber auch für mittelbar Geschädigte (z.B. Unterhaltsberechtigte, Arbeitgeber, Sozialversicherungsträger), andere Schädiger und den Kfz-Halter gilt.88

b) Gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt, Art. 4 Abs. 2 Rom-II-Verordnung 2.22

Das Erfolgsortprinzip wird durch den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten verdrängt, Art. 4 Abs. 2 Rom-II-VO.

79 80 81 82 83

84 85 86 87 88

Leible RIW 2008, 257; v. Hein RabelsZ 64 (2000), 603; Vogelsang NZV 1999, 500. S. hierzu Rz. 16.3. Junker JZ 2008, 169; a.A. Staudinger SVR 2005, 441. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 14 Rz. 3; Leible RIW 2008, 257; MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 14 Rz. 26. BGH v. 7.7.1992 – VI ZR 1/92, BGHZ 119, 137; BGH v. 22.12.1987 – VI ZR 6/87, NJW-RR 1988, 534, 535; BGH v. 24.9.1986 – VIII ZR 320/85, BGHZ 98, 263, 274; Leible RIW 2008, 257; Dörner JR 1994, 12; krit. zu dieser Rspr. Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 459 ff. m.w.N.; krit. zur Fortgeltung für die Rom-II-VO Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 14 Rz. 6. Leible RIW 2008, 257; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 14 Rz. 6. Erwägungsgrund 31 der Rom-II-VO; MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 14 Rz. 29; St. Lorenz NJW 1999, 2216; Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 461. Junker JZ 2000, 477. Erwägungsgrund 7 der Rom-II-VO i.V.m. Art. 3 Abs. 1 S. 2 Rom-I-VO; MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 14 Rz. 37. Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 467 f.; Leible RIW 2008, 257.

30 | Zwickel

III. Internationales Privatrecht | Rz. 2.26 § 2

Gewöhnlicher Aufenthaltsort ist der objektive Lebensmittelpunkt, wo sich das Schwergewicht der beruflichen und familiären Bindungen befindet.89 Der Aufenthaltsort muss gem. Art. 4 Abs. 2 Rom-II-VO im Zeitpunkt des Schadenseintritts, nicht erst zur Zeit der Schadensregulierung der gemeinsame sein.

2.23

Bei Gesellschaften, Vereinen, juristischen Personen sowie allen weiteren Rechtssubjekten, die keinen gewöhnlichen Aufenthalt als natürliche Personen haben (rechtsfähige Personengesamtheiten und juristische Personen)90 tritt gem. Art. 23 Abs. 1 Rom-II-VO an die Stelle des gewöhnlichen Aufenthalts der Ort, an dem sich die Hauptverwaltung (Ort, an dem die Willensbildung und die eigentliche unternehmerische Leitung der Gesellschaft erfolgt)91 bzw. die Niederlassung befinden. Nach der Rechtsprechung des EuGH92 ist Niederlassung der Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit, der auf Dauer als Außenstelle eines Stammhauses hervortritt, eine Geschäftsführung hat und sachlich so ausgestattet ist, dass er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese, obgleich sie wissen, dass möglicherweise ein Rechtsverhältnis mit dem im Ausland ansässigen Stammhaus begründet wird, sich nicht unmittelbar an dieses zu wenden brauchen, sondern Geschäfte an dem Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit abschließen können, der dessen Außenstelle ist. Nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 Rom-II-VO ist auf den Ort der Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung nur abzustellen, wenn das schadensbegründende Ereignis oder der Schaden aus dem Betrieb der Niederlassung herrühren (Niederlassungsbezug). Liegen die Voraussetzungen der Niederlassung und des Niederlassungsbezugs vor, kann nicht mehr auf den Sitz der Hauptverwaltung abgestellt werden.93

2.24

c) Erfolgsortprinzip, Art. 4 Abs. 1 Rom-II-Verordnung Anders als noch Art. 40 Abs. 1 EGBGB (lex loci delicti als Regelanknüpfung) gilt nach Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO die lex loci damni als Regelanknüpfungspunkt. Eine alternative Anknüpfung an den Handlungsort sieht die Rom-II-VO nicht mehr vor. Das Ubiquitäts- oder Günstigkeitsprinzip hat keine Geltung mehr.

2.25

Grundsätzlich wird nur noch vom Erfolgsort, d.h. dem Ort, an dem der schädigende Erfolg (Rechtsgutsverletzung),94 eingetreten ist, ausgegangen. In welchem Staat das schadensbegründende Ereignis eingetreten oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind, ist unbeachtlich. Derartige indirekte Schadensfolgen sind, nach Auffassung des EuGH,95 auch von nahen Verwandten des getöteten Unfallopfers erlittene Schäden, wenn diese in einem anderen Mitgliedsstaat als dem Erfolgsort wohnhaft sind (z.B. Hinterbliebenengeld, Angehörigenschmerzensgeld und Schockschäden).96 Anwendbar ist damit das Recht des Unfallstaates. Dies gilt

2.26

89 BGH v. 29.10.1980 – IVb ZB 586/80, BGHZ 78, 293, 295 = NJW 1981, 520 ff.; ausf. Karczewski VersR 2001, 1206 ff., auch zum gewöhnlichen Aufenthalt von (ausländischen) Soldaten (s. auch OLG Hamburg v. 1.10.1999 – 14 U 136/99, VersR 2001, 996). 90 MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 23 Rz. 8 ff. 91 LG Nürnberg-Fürth v. 3.3.2009 – 14 S 6781/08, NJW-RR 2009, 1655; BAG v. 23.1.2008 – 5 AZR 60/07, NJW 2008, 2797. 92 EuGH v. 9.12.1987 – 218/86, NJW 1988, 625. 93 MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 23 Rz. 15; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/ Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 23 Rz. 3. 94 BGH v. 14.5.1969 – I ZR 24/68, BGHZ 52, 108. 95 EuGH v. 10.12.2015 – C-350/14, VersR 2016, 405 = NJW 2016, 466 mit Anm. Staudinger. 96 Kritisch in Bezug auf Schockschäden Czaplinski Das internationale Straßenverkehrsunfallrecht nach Inkrafttreten der Rom II-VO 2015, 253 ff.

Zwickel | 31

§ 2 Rz. 2.26 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

auch bei Unterlassungsdelikten. Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO ist auch in Fällen der Gefährdungshaftung anwendbar.

d) Wesentlich engere Verbindung, Art. 4 Abs. 3 Rom-II-Verordnung 2.27

Art. 4 Abs. 3 Rom-II-VO gestattet eine abweichende Anknüpfung des nach Art. 4 Abs. 1 oder 2 Rom-II-VO97 ermittelten Deliktsstatuts, wenn der Sachverhalt nach den gesamten Umständen eine wesentlich stärkere Beziehung zu einer anderen Rechtsordnung hat.98 Diese Ausweichklausel ist nachrangig und restriktiv anzuwenden.99 Wie das autonome deutsche IPR100 bietet Art. 4 Abs. 3 S 2 Rom-II-VO als eine Art Regelbeispiel101 die Möglichkeit der akzessorischen Anknüpfung an bereits bestehende rechtliche Beziehungen der Beteiligten. Diese, vor Inkrafttreten der Rom-II-VO von der Rechtsprechung abgelehnte Anknüpfung102 spielt im Haftungsrecht des Straßenverkehrs wohl nur eine untergeordnete Rolle: Vor allem das Bestehen eines Beförderungs- oder Transportvertrags103 kann als Anknüpfungsmoment einer rechtlichen Sonderbeziehung dienen. Dagegen werden familienrechtliche Beziehungen (Verlöbnis, Ehe, Verwandtschaft, eingetragene Lebenspartnerschaft, nichteheliche Lebensgemeinschaft) wenigstens im Straßenverkehr unberücksichtigt bleiben müssen.104 Eine wesentlich engere Verbindung könnte zudem aus einer gemeinsamen Gefälligkeits-105 oder Ausflugsfahrt106 hergeleitet werden, die auf den Ausgangspunkt der Reise als anzuwendendes Sachrecht hindeutet.107

2.28

Keine wesentlich engere Verbindung stellt regelmäßig die gemeinsame Versicherung und Zulassung von zwei beteiligten Fahrzeugen im selben Staat dar, anders soll es jedoch bei mehr als zwei derart beteiligten Fahrzeugen liegen.108 Da es sich in einem solchen Fall regelmäßig um einen Massenunfall109 handelt, muss jedoch berücksichtigt werden, dass dem Richter über die Ausweichklausel nur eine flexible, teleologische Korrekturmöglichkeit eröffnet ist.110 Auch im Schrifttum wird eine einheitliche Anknüpfung bei Massenunfällen nicht als zwingend erforderlich angesehen, so dass allein die Beteiligung von drei oder mehr im selben Staat versicherten und zugelassenen Fahrzeugen nicht die Anwendung des Art. 4 Abs. 3

97 Nicht jedoch von einer durch die Parteien getroffenen Rechtswahl gem. Art. 14 Rom-II-VO. 98 Erwägungsgrund 18 der Rom-II-VO. 99 Tomson EuZW 2009, 204; Leible/Engel EuZW 2004, 7; MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 4 Rz. 48. 100 Spickhoff NJW 1999, 2213. 101 MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 4 Rz. 50. 102 BGH v. 7.7.1992 – VI ZR 1/92, BGHZ 119, 137 = VersR 1992, 1237; Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 354 ff. 103 Junker JZ 2008, 169; Junker NJW 2007, 3675; Vogelsang NZV 1999, 500; Looschelders VersR 1999, 1321. 104 BGH v. 7.7.1992 – VI ZR 1/92, BGHZ 119, 137, 144 ff.; Looschelders VersR 1999, 1321; Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 393; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 4 Rz. 20; Junker JZ 2008, 169. 105 Looschelders VersR 1999, 1321; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 4 Rz. 20; abl. Junker JZ 2000, 484; Junker JZ 2008, 169 und Tomson EuZW 2009, 204. 106 Spickhoff IPrax 2000, 2. 107 Looschelders VersR 1999, 1321. 108 Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 4 Rz. 20; abl. Junker JZ 2008, 169. 109 Ausf. zum Massenunfall Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 417 ff. 110 Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 4 Rz. 12.

32 | Zwickel

III. Internationales Privatrecht | Rz. 2.30 § 2

Rom-II-VO nach sich ziehen muss.111 Insgesamt empfiehlt sich im Rahmen des deliktischen Straßenverkehrsrechts eine zurückhaltende Anwendung von Art. 4 Abs. 3 Rom-II-VO.112

e) Renvoi Die früher sehr umstrittene Frage der Zulässigkeit eines renvoi im internationalen Deliktsrecht113 wurde für den Anwendungsbereich der Rom-II-VO geklärt: Nach Art. 24 der RomII-VO enthält die VO nur Sachnormverweisungen, d.h. keine Verweisungen auf das ausländische IPR. Rück- und Weiterverweisungen (renvoi) sind damit, bei objektiver Anknüpfung, ausgeschlossen.114 Bei der im Straßenverkehrsrecht ohnehin seltenen Rechtswahl ist eine ausdrückliche Einbeziehung des ausländischen Kollisionsrechts denkbar, praktisch aber wohl kaum jemals relevant.115

2.29

3. Umfang der Rechtsanwendung a) Anwendungsbereich des Deliktsstatuts Das nach den vorstehenden Grundsätzen ermittelte Deliktsstatut entscheidet gem. Art. 15 Rom-II-VO möglichst umfassend über alle Fragen der Haftungsbegründung und des Haftungsumfangs.116 Dies sind insbesondere die Fragen der Delikts- und Gefährdungshaftung, der Haltereigenschaft, der Deliktsfähigkeit, der Rechtswidrigkeit, der Kausalität, des Verschuldens und des Mitverschuldens des Geschädigten (Art. 15 lit. a Rom-II-VO) sowie der gesetzlichen Haftungshöchstgrenzen und der Haftungsteilung zwischen mehreren Schädigern (Art. 15 lit. b Rom-II-VO). Zinsforderungen bezüglich eines der Rom-II-VO unterfallenden Anspruchs sind Art. 15 lit. a Rom II-VO zuzuordnen.117 Weiterhin bestimmt das Deliktsstatut auch über Vorliegen sowie die Art und die Bemessung des zu ersetzenden Schadens (Art. 15 lit. c Rom-IIVO). Haftungsausfüllender und haftungsbegründender Tatbestand sind nach der Rom-II-VO einheitlich anzuknüpfen. Bei der Schadens- und Schmerzensgeldbemessung118 im Falle von Personenschäden sind aber die Verhältnisse am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Geschädigten zu berücksichtigen.119 Dem Deliktsstatut unterfallen weiterhin die Fragen des Bestehens von Beseitigungs- bzw. Unterlassungsansprüchen und der Vererblichkeit sowie der Übertragbarkeit deliktsrechtlicher Ansprüche (Art. 15 lit. d und e Rom-II-VO). Auch bezeichnet das Deliktsstatut die Personen, die Anspruch auf Ersatz eines persönlich erlittenen Schadens haben (Art. 15 lit. f Rom-IIVO). Der Bestimmung kommt insbesondere für mittelbar Geschädigte (z.B. bei Unterhaltsschäden) und immaterielle Schäden (z.B. Angehörigenschmerzensgeld) Relevanz zu. Das De-

111 Junker JZ 2008, 169; Looschelders VersR 1999, 1322. 112 Junker JZ 2008, 169; zu Art. 41 Abs. 1 EGBGB: Rehm DAR 2001, 535; a.A. Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 334 ff. Zu Mietwagenunfällen Sieghörtner NZV 2003, 105 ff. 113 S. hierzu die 4. Aufl. m.w.N. 114 Staudinger/Hausmann Art. 4 EGBGB Rz. 160. 115 MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 24 Rz. 9; a.A. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007, Art. 24 Rz. 3. 116 MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 15, Rz. 5; Leible/Lehmann RIW 2007, 721. 117 A.A. OLG Saarbrücken v. 28.3.2019, DAR 2019, 683 (Zuordnung zu lit. b). 118 OLG Naumburg v. 23.12.2014 – 12 U 36/14, VersR 2016, 265. 119 Erwägungsgrund 33 der Rom-II-VO; MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 15 Rz. 16 f.; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 15 Rz. 6.

Zwickel | 33

2.30

§ 2 Rz. 2.30 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

liktsstatut ist zudem maßgeblich für die Haftung für andere (z.B. §§ 831, 832 BGB; Art. 15 lit. g Rom-II-VO) und Einwendungen und Einreden (z.B. Verjährung; Art. 15 lit. f Rom-II-VO).

2.31

Auch die Beweislast und gesetzliche (widerlegliche und unwiderlegliche) Vermutungen richten sich nach dem ermittelten Sachrecht (Art. 22 Abs. 1 Rom-II-VO).120 Die lex fori wird insoweit verdrängt. Entsprechendes muss – entgegen der h.M.121 – auch für die Anwendbarkeit eines Anscheinsbeweises122 und einer § 287 ZPO vergleichbaren Schadensschätzung123 gelten. Gem. Art. 22 Abs. 2 Rom-II-VO richten sich die Durchführung der Beweisaufnahme und die Zulässigkeit von Beweismitteln in jedem Fall nach dem Recht des angerufenen Gerichts (lex fori; s. Rz. 41.74).124

2.32

Vorfragen sind selbständig anzuknüpfen.125 Die im Rahmen von § 10 Abs. 2 StVG und § 844 Abs. 2 BGB relevante Vorfrage, ob der Getötete einem Dritten gegenüber unterhaltspflichtig war, richtet sich nach dem Unterhaltsstatut. Das Erbstatut bestimmt, wer die Kosten der Beerdigung zu tragen hat, das Deliktsstatut, in welchen Umfang der Schädiger die Kosten zu ersetzen hat.126 Zum Direktanspruch gegen den Versicherer s. auch Rz. 2.38.

2.33

Die für den Unfallort geltenden „örtlichen Verkehrsregeln und Sicherheitsvorschriften“ sind unabhängig von der Anknüpfung des Deliktsstatuts stets dem Recht des Handlungsortes zu entnehmen (Art. 17 Rom-II-VO).127 Auch bei einem Autounfall von zwei Deutschen in England bleibt also das Linksfahrgebot erhalten.128 Nach ihnen ist bei der Haftungsabwägung auch die Schwere des Verkehrsverstoßes zu beurteilen,129 während ansonsten für die Frage, ob ein Verstoß grob fahrlässig war, jedenfalls bei Bestehen von Beziehungen zwischen den Beteiligten das abweichende Deliktsstatut maßgeblich ist.130 Unklar ist die Linie innerhalb der Rechtsprechung, ob sich ein deutscher Beifahrer bei einem Verstoß gegen die Gurtanlegepflicht ein Mitverschulden anrechnen lassen muss131, wenn im Unfallstaat keine Gurtanlegepflicht besteht.132 120 OLG München v. 1.12.2017 – 10 U 2627/17, NJW-RR 2018, 82. 121 Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 22 Rz. 3; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht 2017, Rz. 776 m.w.N.; Eisner ZZP 80 (1967), 87; Thole IPRax 2010, 285; LG Saarbrücken v. 11.5.2015 – 13 S 21/15, NJW 2015, 2823. 122 Greger VersR 1980, 1091 ff.; AG Geldern v. 27.10.2010 – 4 C 356/10, NJW 2011, 686; Staudinger NJW 2011, 650; MünchKomm-StVR/Staudinger IZVR/IPR, Rz. 130 ff.; Zwickel IPRax 2015, 531. 123 LG Hanau v. 9.6.2011 – 4 O 28/09; Staudinger NJW 2011, 650. 124 Kuhnert, NJW 2011, 3347; MünchKomm/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 22 Rz. 12. 125 MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 15 Rz. 19; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/ Spickhoff VO (EG) 864/2007, Art. 15 Rz. 6. 126 OLG Frankfurt v. 11.3.2004 – 26 U 28/98, ZfS 2004, 452 mit Anm. Diehl; Junker JZ 2008, 169. 127 Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spickhoff VO (EG) 864/2007 Art. 4 Rz. 21; zu diesem Rechtsgedanken im bisherigen deutschen Recht s BT-Drucks. 14/343, S. 11; ausf. hierzu Sieghörtner in: Vieweg, Spektrum des Technikrechts 2002, S. 115 ff. 128 LG Mainz v. 17.8.1998 – 7 O 391/97, NJW-RR 2000, 31; vgl. auch LG Nürnberg-Fürth v. 31.1.1980 – 2 O 1119/79, VersR 1980, 955. 129 BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 97/70, BGHZ 57, 265; BGH v. 23.1.1996 – VI ZR 291/94, VersR 1996, 515. 130 Junker JZ 2008, 169; zum früheren Recht: BGH v. 21.2.1978 – VI ZR 58/77, VersR 1978, 541; vgl. auch BGH v. 23.1.1996 – VI ZR 291/94, NZV 1996, 273. 131 Ausf. Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 110 f. 132 So OLG Karlsruhe v. 3.10.1984 – 1 U 292/83, VersR 1985, 788; KG v. 30.11.1981 – 22 U 5430/ 80, VersR 1982, 1199; offen lassend OLG Hamm v. 26.11.1996 – 9 U 174/95, VersR 1998, 1040; vgl. auch Freyberger MDR 2001, 971.

34 | Zwickel

III. Internationales Privatrecht | Rz. 2.38 § 2

Für das unfallversicherungsrechtliche Haftungsprivileg (§ 104 SGB VII) besteht eine Sonderanknüpfung nach §§ 3 ff. SGB IV (vgl. Rz. 22.155); zur Anknüpfung hinsichtlich des Forderungsübergangs auf Sozialversicherungsträger Rz. 35.105 ff., auf öffentlich-rechtliche Leistungsträger Rz. 37.26.

2.34

b) Eingriffsnormen, Art. 16 Rom-II-Verordnung Art. 16 Rom-II-VO erlaubt, unabhängig vom nach der Rom-II-VO anwendbaren Recht, die Anwendung der Vorschriften der lex fori, die ohne Rücksicht auf das für das außervertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht den Sachverhalt zwingend regeln. Das Außerachtlassen der lex causae kommt, nach der Rspr. des EuGH nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Frage, wenn es sich um eine Vorschrift handelt, die zu Wahrung des öffentlichen Interesses des Staates zwingend anzuwenden ist (vgl. Art. 9 I Rom-I-VO.)133 Eine deutlich kürzere Verjährungsfrist (einjährige Verjährungsfrist in der spanischen lex causae, dreijährige Verjährungsfrist in der portugiesischen lex fori) stellt für sich alleine keinen Grund dar, die Bestimmung der lex fori als Eingriffsnorm zu qualifizieren,134 zumal die Verjährung durch Art. 15 lit. f Rom-II-VO der lex causae zugerechnet wird.

2.35

c) Ordre public, Art. 26 Rom-II-Verordnung Art. 26 Rom-II-VO sieht vor, dass die Anwendung des nach der Rom-II-VO ermittelten Rechts von Amts wegen135 versagt werden kann, wenn die Rechtsanwendung mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar wäre.

2.36

Art. 26 Rom-II-VO bezweckt in erster Linie den Ausschluss unangemessenen Schadensersatzes in Form von „multiple damages“ und von Strafschadensersatzansprüchen („punitive damages“ bzw. „astreinte“), wie sie insbesondere das US-amerikanische Recht kennt.136 Nicht verkannt werden darf in diesem Zusammenhang aber, dass auch der BGH137 dem Schmerzensgeld eine gewisse Präventionsfunktion beimisst, so dass Art. 26 Rom-II-VO nur bei gravierenden Widersprüchen zu Grundvorstellungen unseres Rechts Anwendung finden kann. Voraussetzung ist zudem eine besondere Inlandsbeziehung des Falls.138 Die Rom-II-VO schweigt zu den konkreten Rechtsfolgen eines ordre public-Verstoßes. Es ist aber davon auszugehen, dass die ordre public-widrige Norm nicht anzuwenden ist. Erforderlichenfalls fungiert die lex fori als Ersatzrecht.139

2.37

d) Direktanspruch gegen den Versicherer, Art. 18 Rom-II-Verordnung Art. 18 Rom-II-VO gestattet eine alternative Anknüpfung für das Bestehen eines direkt gegen den Versicherer gerichteten Anspruchs (wie nach § 115 VVG, s. Rz. 15.1 ff.). Neben die

EuGH v. 17.10.2013 – C-184/12, EuZW 2013, 956. EuGH v. 31.1.2019 – C-149/18, EuZW 2019, 134. Leible RIW 2008, 257; Leible/Lehmann RIW 2007, 721. Erwägungsgrund 32 der Rom-II-VO; Staudinger SVR 2005, 441; v. Hein ZEuP 2009, 6. BGH v. 19.12.1995 – VI ZR 15/95, BGHZ 131, 332 = NJW 1996, 1128. MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 26 Rz. 20; zur früheren Rechtslage s. Spickhoff NJW 1999, 2213. 139 Reisinger Internationale Verkehrsunfälle 2011, S. 75; Bamberger/Roth/Spickhoff VO (EG) 864/ 2007, Art. 26 Rz. 4; v. Hein ZEuP 2009, 6.

133 134 135 136 137 138

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2.38

§ 2 Rz. 2.38 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

Anknüpfung an das Deliktsstatut tritt wahlweise die Anknüpfung an das Versicherungsvertragsstatut. Der Geschädigte kann also dann den Haftpflichtversicherer unmittelbar in Anspruch nehmen, wenn entweder das anzuwendende Deliktsrecht oder das anzuwendende Versicherungsvertragsrecht einen Direktanspruch gewährt.140 Die Vorschrift regelt nur, nach welchem Recht sich bestimmt, ob der Geschädigte gegen den Versicherer des Ersatzpflichtigen vorgehen darf. Der Umfang des Direktanspruchs richtet sich nach dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht.141 Das Versicherungsstatut bestimmt also, ob der Versicherer Einwendungen aus dem Versicherungsvertrag dem geschädigten Dritten entgegenhalten kann.142 Art. 18 Rom-II-VO hat, aufgrund des Systems „Grüne Karte“ und der Kfz-Haftpflicht-Richtlinien,143 innerhalb der EU nur geringe Bedeutung.144 Zur Geltendmachung des Direktanspruchs gegen ausländische Versicherer s. Rz. 15.68.

2.39

Durch eine Rechtswahl können die Parteien nicht eine dem Versicherer nachteilige Rechtsordnung wählen, Art. 14 Rom-II-VO (Rz. 2.19).145 Eine Rechtswahlvereinbarung zwischen dem Geschädigten und dem Versicherer über das Versicherungsvertragsstatut wird von Art. 14 Rom-II-VO nicht berührt. Ihre Zulässigkeit richtet sich nach den Regeln des internationalen Versicherungsvertragsrechts (Art. 7 Rom-I-VO, Art. 46c EGBGB).146

IV. Hinweise zu ausländischen Rechtsordnungen 2.40

Auf Einzelheiten der Haftpflichtbestimmungen in anderen Ländern, die z.T. stark voneinander abweichen und deren Vereinheitlichung auch innerhalb Europas bisher ohne greifbare Erfolgsaussicht geblieben ist,147 kann hier nicht eingegangen werden. Nachfolgende Werke mit Überblicken über die Regelungen einzelner Länder können jedoch weiterführen: Bachmeier (Regulierung von Auslandsunfällen, 2. Aufl. 2017; Hering Der Verkehrsunfall in Europa, 2. Aufl. 2012; MünchKomm-StVR, Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht – Band 3: Internationales Straßenverkehrsrecht 2019; Neidhart/Nissen Verkehrsunfälle in Europa, 6. Aufl. 2016.

2.41

Folgende aktuelle Beiträge bieten Einblicke in Einzelfragen ausländischer Haftungsrechte: Allgemeines ADAC-Juristische Zentrale, Regulierung von Auslandsunfällen: Ersatz der fiktiven Reparaturkosten, DAR 2019, 551; Frese, Grenzüberschreitende Unfallregulierung in der EU, NZV 2020, 1.

140 Looschelders Abwicklung internationaler Verkehrsunfälle vor deutschen und österreichischen Gerichten – unter besonderer Berücksichtigung des Direktanspruchs, in FS Danzl 2017, 620 ff.; Wagner/Berentelg MDR 2010, 1353; zur künftigen Ausgestaltung des Direktanspruchs de lege ferenda s. Staudinger DAR 2011, 691; für Art. 40 Abs. 4 EGBGB: BGH v. 1.3.2016 – VI ZR 437/ 14, NJW 2016, 1648 mit Anm. Luckey. 141 Reisinger Internationale Verkehrsunfälle 2011 S. 89; MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/ 2007, Art. 18 Rz. 14; Wagner/Berentelg MDR 2010, 1353. 142 Staudinger SVR 2005, 441. 143 S. hierzu Riedmeyer AnwBl. 2008, 17. 144 Wagner/Berentelg MDR 2010, 1353; Tomson EuZW 2009, 204. 145 Leible/Lehmann RIW 2007, 721. 146 Gruber VersR 2001, 21. 147 Vgl. Bachmeier SVR 2020, 1; Renger VersR 1992, 653.

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V. Internationale Haftungssysteme | Rz. 2.42 § 2

Frankreich Duranel/Brenner, Kfz-Schadenregulierung Frankreich: Überblick zur rechtlichen Grundlage, Entwicklungen bei Körperschäden und neuerer Rechtsprechung, DAR 2016, 685; Kronenberg, Die Ersatzfähigkeit des Personenschadens im französischen Schadensrecht, VersR 2018, 135; Nitzsche, Die Regulierungspraxis französischer KH-Versicherer nach einem Verkehrsunfall in Frankreich, DAR 2018, 548.

Großbritannien Bouwmann, Verkehrsrechtliche Auswirkungen des Brexit, DAR 2018, 250.

Italien

Buse, Regulierung von Straßenverkehrsunfällen nach italienischem Recht – Eine Zusammenschau, DAR 2016, 557.

Österreich

Ch. Huber, Entscheidungen zum österreichischen Verkehrsrecht – Privatversicherungsrecht, NZV 2017, 257; Ch. Huber, Schadenersatz nach österreichischem Recht – Wo kann man sich aus erster Hand informieren?, NZV 2015, 325.

Polen Margonski, Polnisches Schadensersatzrecht: Erstattung der Umsatzsteuer in grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten auch bei fiktiver Reparaturkostenabrechnung, NZV 2017, 213; Perzanowski, Das Bußgeldverfahren und der Verkehrsunfall in Polen, DAR 2014, 569.

V. Internationale Haftungssysteme Die Bestimmungen der einzelnen Länder werden aber – im Verhältnis von Geschädigtem und Haftpflichtversicherern – durch zwei internationale Systeme („Grüne Karte“ und EU-KfzHaftpflichtrichtlinien) überlagert. Die beiden Systeme sind dabei nicht völlig unabhängig voneinander. Es handelt sich vielmehr um aufeinander bezogene Rechtsinstitute.148 Gedankliche Ausgangspunkte beider Systeme sind Versicherungsschutz und Schadenersatzleistung nach dem materiellen Recht des Staates, in dem sich der Unfall ereignet hat. Die EU-Haftpflichtrichtlinien ergänzen dabei das System „Grüne Karte“ durch einen Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer in einem anderen Land sowie ein außergerichtliches Schadensregulierungsverfahren. Ziel beider Systeme ist es, dem Geschädigten den Schadenersatz bei einem solventen Dritten zu ermöglichen.149 Die Regulierung von Verkehrsunfällen mit ausländischen Militärfahrzeugen richtet sich in vielen Fällen nach dem NATO-Truppenstatut.150 Für Einzelheiten s. Rz. 12.73 ff. Zur deutschen Implementierung der beiden Haftungssysteme in PflVG, AuslPflVG und VAG s. Rz. 15.68 ff.

148 Buse DAR 2020, 2; Buse DAR 2020, 184; MünchKomm-StVR/Buse Grüne Karte etc., Rz. 4. 149 Sieghörtner Internationales Straßenverkehrsunfallrecht 2002, S. 100 f.; Looschelders Abwicklung internationaler Verkehrsunfälle vor deutschen und österreichischen Gerichten – unter besonderer Berücksichtigung des Direktanspruchs, in FS Danzl 2017,S. 606. 150 S. hierzu ausführlich Dumbs VersR 2019, 138; Bachmeier/Bachmeier, Regulierung von Auslandsunfällen 2017, § 3.

Zwickel | 37

2.42

§ 2 Rz. 2.43 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

1. System Grüne Karte 2.43

Das System der Grünen Karte beruht auf einer UN-Empfehlung vom 25.1.1949.151 Durch einen einheitlichen Versicherungsnachweis, die Grüne Karte, soll vermieden werden, dass Opfer eines Straßenverkehrsunfalls alleine wegen der Unfallbeteiligung eines ausländischen Fahrzeugs schlechter stehen und dass an der Grenze für einen Versicherungsschutz des Reiselandes gesorgt werden muss.152 Die Funktionsweise des Systems Grüne Karte richtet sich nach den Internal Regulations. Diese binden und berechtigen aber nur die Grüne-Karte-Büros. In einem Urteil aus dem Jahr 2017 hat es der EuGH abgelehnt, eine Auslegung der Internal Regulations des Grüne-Karte-Systems vorzunehmen.153 Die von den Haftpflichtversicherungen der einzelnen Länder errichteten nationalen Büros geben die grünen Karten aus und regulieren entstandene Schäden beim ausländischen Büro, das sich mit Schadenersatzansprüchen gegen Versicherte aus seinem Land zu befassen hatte (zahlendes Büro). Grüne Karten werden generell nur dann ausgegeben, wenn ein Versicherungsvertrag besteht. Die Karte bleibt aber gedeckt, wenn ihre Geltungsdauer nicht mit der Laufzeit des Versicherungsvertrages übereinstimmt oder es zu Leistungsstörungen/Ausschlüssen im Versicherungsverhältnis kommt. Der formal gültigen Grünen Karte kommt damit Garantiefunktion zu.154 Die nationalen Büros regulieren aber auch den Unfall eines Inhabers der Grünen Karte in ihrem Land so, wie wenn er dort nach den gesetzlichen Bestimmungen haftpflichtversichert wäre (handelndes Büro).155 Zentrales Merkmal der Grünen Karte ist ein Ausgleichsanspruch unmittelbar gegen das handelnde Büro. Das im Inland ansässige Büro übernimmt dann die Pflichten eines Haftpflichtversicherers (§ 2 Abs. 1 lit. v AuslPflVG) nach den Regeln seines nationalen Pflichtversicherungsrechts.156 Zuständig ist für den Inlandsunfall mit Ausländerbeteiligung in Deutschland der Verein „Deutsches Büro Grüne Karte e.V.“157

2. EU-Kfz-Haftpflichtrichtlinien a) Überblick 2.44

Seit 1972 hat die EG insgesamt fünf Kfz-Haftpflichtrichtlinien (KH-Richtlinien) erlassen. Die kodifizierte KH-Richtlinie vom 16.9.2009158 führt die Inhalte dieser fünf KH-Richtlinien in einem Rechtsakt zusammen.159 Wichtige haftungsrechtliche Elemente der EU-Kfz-Haftpflichtrichtlinien sind die Harmonisierung der Vorschriften über die Versicherungspflicht, ein internationaler Direktanspruch des Geschädigten sowie die Einführung eines spezifischen, europäischen Schadensabwicklungsverfahrens.

151 Empfehlung Nr. 5 des Unterausschusses für Straßenverkehr des Binnenverkehrsausschusses der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa vom 25.1.1949. 152 MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007, Art. 18 Rz. 15. 153 EuGH v. 15.6.2017 – C-587/15, EuZW 2018, 176. 154 OLG Hamm v. 29.5.1979 – 9 U 85/78, VersR 1979, 926; MünchKomm-BGB/Junker VO (EG) 864/2007 Art. 18 Rz. 20. 155 Luckey SVR 2014, 361, 368. 156 BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 97/70, NJW 1972, 387. 157 www.gruene-karte.de (Stand: 8.6.2020). 158 RL 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht. 159 Riedmeyer/Bouwmann NJW 2015, 2614.

38 | Zwickel

V. Internationale Haftungssysteme | Rz. 2.47 § 2

Die KH-Richtlinien verfolgen dabei allesamt nicht das Ziel, das nationale Haftungsrecht zu harmonisieren. Vielmehr soll ein Mindeststandard für den Bereich der Haftpflichtversicherungen durch Vorgaben zur Versicherungspflicht von Kraftfahrzeugen und zu den abzudeckenden Schäden sowie durch Mindestdeckungssummen gesetzt werden.160

b) Versicherungspflicht Voraussetzung einer Haftung nach den KH-Richtlinien ist das Bestehen einer Versicherungspflicht. Art. 3 Abs. 1 der kodifizierten KH-Richtlinie ordnet hierzu an, dass sämtliche Mitgliedsstaaten161 eine Versicherungspflicht für die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland vorsehen. Die Versicherungspflicht erfasst dabei alle Sach- und Personenschäden, die durch „Benutzung eines Fahrzeugs“ entstehen. Das letztgenannte Merkmal fehlt zwar in der deutschen Sprachfassung, wird aber vom EuGH aus einer Gesamtschau der Sprachfassungen hergeleitet.162 Die Versicherungspflicht wird vom EuGH, v.a. in Bezug auf den Ort der Fahrzeugnutzung, weit ausgelegt. Ein Bewegen des Fahrzeugs im öffentlichen Verkehrsraum ist gerade nicht erforderlich.163

2.45

c) Internationaler Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers Auswirkungen auf das Haftungsrecht der EU-Mitgliedsstaaten ergeben sich besonders durch den in Art. 18 der kodifizierten Richtlinie vorgesehenen Direktanspruch. Nach dieser Vorschrift hat jeder Mitgliedsstaat sicherzustellen, dass Geschädigte eines Unfalls mit einem durch eine Haftpflichtversicherung gedeckten Fahrzeug, einen Direktanspruch gegen das zuständige Versicherungsunternehmen hat. Seit der 5. KH-Richtlinie 2005 erfasst der Direktansprüche Inlands- und Auslandsunfälle gleichermaßen.

2.46

Inhaltlich richtet sich der Direktanspruch ausschließlich nach dem nationalen Recht des Unfalllandes.164

d) Schadensregulierungsverfahren auf Basis der KH-Richtlinien Der erwähnte Direktanspruch (Rz. 2.46) kann in einem außergerichtlichen Verfahren zur Schadensregulierung geltend gemacht werden (Art. 22 der kodifizierten KH-Richtlinie). Ist dem Geschädigten der zuständige Versicherer nicht bekannt, kann er sich, zur Ermittlung des zuständigen Versicherers, an die nach Art. 23 der kodifizierten KH-Richtlinie zuständige Auskunftsstelle im Unfallland wenden, von der er die für die Geltendmachung seines Anspruchs notwendigen Daten (Haftpflichtversicherer, Schadensregulierungsbeauftragter, Fahrzeughal-

160 MünchKomm-StVR/Buse Grüne Karte etc., Rz. 27 und 36. 161 Die KH-Richtlinien gelten auch für die EWR-Staaten. Der Nicht-EWR-Staat Schweiz versucht die durch die Nichtanwendbarkeit der KH-Richtlinien entstehende Lücke durch Besucherschutz-Abkommen und Nachvollzug der RL-Bestimmungen zu schließen (s. hierzu ausführlich MünchKomm-StVR/Buse Grüne Karte etc., Rz. 26 ff. 162 EuGH v. 4.9.2014 – C-162/13, NJW 2014, 3631. 163 Fahrzeugbenutzung: EuGH v. 4.9.2014 – C-162/13, NJW 2014, 3631 (Scheune eines Bauernhofes); EuGH v. 20.12.2017 – C-334/16, NJW 2018, 285 (freies Gelände); keine Fahrzeugbenutzung: EuGH v. 28.11.2017 – C-514/16, r+s 2018, 94 (Traktor zum Antrieb einer Pumpe). 164 MünchKomm-StVR/Buse Grüne Karte etc., Rz. 36.

Zwickel | 39

2.47

§ 2 Rz. 2.47 | Internationales Haftungsrecht, internationales Verfahrensrecht

ter, Nummer der Grünen Karte) erhält.165 In Deutschland wird diese Aufgabe vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (Zentralruf der Autoversicherer) wahrgenommen. Den Anspruch kann der Geschädigte sodann wahlweise beim Versicherer oder beim Schadensregulierungsbeauftragten166 desselben geltend machen. Aufgabe des Schadensregulierungsbeauftragten ist nach Art. 21 der kodifizierten KH-Richtlinie die Bearbeitung und Regulierung der Ansprüche in Verkehrsunfallsachen in der/den Amtssprache/n des Geschädigten. Er kann für mehrere Versicherungsunternehmen tätig werden. Im Prozess kann die Klage gegen den ausländischen Versicherer dem Schadensregulierungsbeauftragten zwar zugestellt werden,167 er ist aber nicht passivlegitimiert.168 Der Versicherer bzw. der Schadensregulierungsbeauftragte müssen innerhalb von drei Monaten nach dem Tag, an dem der Geschädigte seinen Schadenersatzanspruch angemeldet hat, ein begründetes und mit einer Bezifferung des Schadens versehenes Schadenersatzangebot vorlegen. Ist dies nicht möglich, so ist innerhalb derselben Frist eine mit Gründen versehene Antwort zu erteilen. Form und Rechtsnatur dieses Angebots bestimmen sich nach dem anwendbaren Sachrecht.169 Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Frist des Art. 22 der kodifizierten KH-Richtlinie nicht bedeutet, dass diese vom Versicherer bzw. Schadensregulierungsbeauftragten stets ausgeschöpft werden darf.170 Sollte dieses Verfahren nicht zu einem Ergebnis führen, kann der Geschädigte sich an die Entschädigungsstelle im eigenen Land (Art. 24 der kodifizierten KH-Richtlinie) wenden und von dort eine Entschädigung erhalten. Die zahlende Entschädigungsstelle wiederum kann bei der Entschädigungsstelle im Land des Schädigers Regress nehmen. Ihr kommt eine Legalzession der Ansprüche des Geschädigten gegen den Unfallversicherer bzw. dessen Haftpflichtversicherer zu Gute (Art. 24 Abs. 2 der kodifizierten KH-Richtlinie). In Deutschland ist Entschädigungsstelle der Verein Verkehrsopferhilfe e.V. (VOH).171 Die Entschädigungsstelle soll aber, nach der ratio legis der kodifizierten KH-Richtlinie, nur absichern, dass das Schadensregulierungsverfahren im vorgeschriebenen Sinn abläuft. Stellt das ordnungsgemäß erteilte Schadensersatzangebot den Geschädigten nicht zufrieden, muss dieser den Klageweg (gegen den ausländischen Versicherer oder den Schädiger) beschreiten. Die Entschädigungsstelle selbst ist nur dann im gerichtlichen Verfahren passivlegitimiert, wenn sie zuvor außergerichtlich angerufen worden war.172

3. Zusammenspiel des Systems Grüne Karte und der KH-Richtlinien 2.48

Das System Grüne Karte und das Schadensregulierungsverfahren nach der kodifizierten KHRichtlinie funktionieren dort, wo sich ihre territorialen Anwendungsbereiche überschneiden, parallel nebeneinander. Wegen der Sachnähe der jeweils Schadensregulierenden zum i.d.R.

165 Lemor NJW 2002, 3666. 166 Riedmeyer Rechtsprechung des EuGH zu den KH-Richtlinien über die Regulierung internationaler Verkehrsunfälle, in FS Danzl 2017, S. 632. 167 EuGH v. 10.10.2013, 6 C 306/12, NJW 2014, 44. 168 Buse DAR 2015, 445; a.A. Italienischer Kassationsgerichtshof v. 18.5.2015, Nr. 10124 (R.G.N. 25422.2011), DAR 2015, 474. 169 MünchKomm-StVR/Buse Grüne Karte etc., Rz. 44 f. 170 MünchKomm-StVR/Buse Grüne Karte etc., Rz. 47. 171 www.verkehrsopferhilfe.de (Stand: 8.6.2020). 172 EuGH v. 17.1.2013 – C-541/11, ABl. EU 2013, Nr. C 79, 2.

40 | Zwickel

V. Internationale Haftungssysteme | Rz. 2.48 § 2

anwendbaren materiellen Haftungsrecht, wird es – auch nach Erstreckung des Direktanspruchs auf Inlandsunfälle durch die 5. KH-Richtlinie – regelmäßig beim Praxisgrundsatz bleiben, dass sich das System Grüne Karte für Inlandsunfälle mit Ausländerbeteiligung und das Schadensregulierungsverfahren nach der kodifizierten KH-Richtlinie für den Auslandsunfall mit Inländerbeteiligung eignet.173

173 Buse DAR 2020, 2; Lemor NJW 2002, 3666, 3667.

Zwickel | 41

Erster Teil § 7 StVG Haftung ohne Verschuldensnachweis §3 Haftung des Kfz-Halters

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Betriebsgefahr als Grundlage der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die gesetzliche Regelung . . . . . . . . . a) Grundschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftungsbegründende Merkmale . . . c) Haftungsausschlüsse . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis zu anderen Haftungsnormen; prozessuale Bedeutung . . . II. Erfasste Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . 1. Kraftfahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Landfahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewegung durch Maschinenkraft . . . d) Keine Gleisbindung . . . . . . . . . . . . . . e) Zulassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anhänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unfall mit Personen- oder Sachschaden als konkreter Haftungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Plötzlichkeit des Schadensereignisses b) Personen- oder Sachschaden . . . . . . . c) Absichtlich herbeigeführte Schadensfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mit Willen des Geschädigten herbeigeführte Schadensfälle . . . . . . . . . . . . 3. Personenschaden . . . . . . . . . . . . . . . a) Tötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Körper- oder Gesundheitsverletzung aa) Leibesfrucht . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bereits vorhandene Leiden . . . . . cc) Krankhafte Anlage . . . . . . . . . . . dd) Psychische Auswirkungen . . . . . ee) Verdacht einer Gesundheitsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1 3.1 3.5 3.5 3.6 3.7 3.10 3.11 3.13 3.13 3.14 3.15 3.16 3.18 3.22 3.23 3.24

3.28 3.28 3.30 3.31 3.32 3.33 3.34 3.37 3.38 3.39 3.40 3.41 3.42 3.43 3.48

Sachschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschränkung der Nutzbarkeit . . . . Beeinträchtigung eines Rechts . . . . . Das Merkmal „bei dem Betrieb“ . . Betrieb des Kfz . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . Abgrenzungsfragen . . . . . . . . . . . . . . aa) Örtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Teilnahme am Verkehr . . . . . . . . cc) Arbeitsgerät . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kraftfahrzeugspezifische Gefahr ee) Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zurechnungszusammenhang . . . . . a) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzzweck der Norm . . . . . . . . . . . c) Adäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Allgemeines Lebensrisiko . . . . . . . . . e) Zeitlicher und örtlicher Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Spezielle Kausalitätsprobleme . . . . a) Überholende Kausalität . . . . . . . . . . . b) Mittelbare Verursachung . . . . . . . . . aa) Eigenes Verhalten des Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhalten eines Dritten . . . . . . . cc) Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Leblose Sachen . . . . . . . . . . . . . . ee) Sichtbeeinträchtigung . . . . . . . . . ff) Folgeunfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mit- und Teilursächlichkeit . . . . . . . d) Alternative Kausalität . . . . . . . . . . . . 4. Einzelfragen zum Merkmal „bei dem Betrieb“ (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Halter als Ersatzpflichtiger . . . 1. Bedeutung des Halterbegriffs . . . . . 2. Grundsätzliches zum Halterbegriff

4. a) b) c) IV. 1. a) b)

3.49 3.51 3.53 3.54 3.56 3.56 3.56 3.59 3.59 3.60 3.62 3.64 3.65 3.66 3.67 3.67 3.70 3.71 3.72 3.75 3.76 3.76 3.79 3.81 3.92 3.94 3.96 3.98 3.99 3.100 3.101

3.103 3.172 3.173 3.173 3.174

Greger | 43

§ 3 | Haftung des Kfz-Halters Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . Gebrauch des Kfz . . . . . . . . . . . . . . . Kostentragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfügungsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . Vertretung des Halters . . . . . . . . . . Mehrheit von Haltern . . . . . . . . . . . Fehlen eines Halters . . . . . . . . . . . . Anzeichen für das Vorliegen der Haltereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . a) Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zulassung und Haftpflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tatsächlicher Gebrauch . . . . . . . . . . d) Tragen der Aufwendungen . . . . . . . . 8. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich des § 7 Abs. 3 StVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorübergehende Gebrauchsanmaßung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Benutzung des Kfz . . . . . . . . . . . . . . c) Ohne Wissen und Willen . . . . . . . . . 3. Haftung des unbefugten Benutzers a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Passivlegitimation . . . . . . . . . . . . . . . c) Haftungsausschluss bei Exzess des befugten Benutzers . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anstellung für den Betrieb des Kfz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Überlassung des Kfz . . . . . . . . . . dd) Weiterüberlassung . . . . . . . . . . . ee) Ungewollte Benutzung . . . . . . . . ff) Überlassungsende . . . . . . . . . . . . 4. Haftung des Halters . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schuldhaftes Ermöglichen der unbefugten Benutzung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschuldensmaßstab . . . . . . . . cc) Keine Verschuldenszurechnung dd) Kausalzusammenhang . . . . . . . . c) Einzelheiten zur gebotenen Sorgfalt . aa) Abstellen des Kfz . . . . . . . . . . . . bb) Umgang mit Fahrzeugschlüsseln d) Exzess des befugten Benutzers . . . . . aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. a) b) c) d) 4. 5. 6. 7.

44 | Greger

3.178 3.179 3.180 3.181 3.182 3.184 3.185 3.188 3.189 3.189 3.190 3.191 3.192 3.193 3.214 3.214 3.218 3.218 3.219 3.220 3.223 3.223 3.224 3.227 3.227 3.229 3.232 3.234 3.235 3.236 3.237 3.237 3.238 3.238 3.239 3.240 3.241 3.242 3.242 3.246 3.251 3.251

bb) Überlassung des Kfz durch Vertrauensperson . . . . . . . . . . . . cc) Eigenmächtige Benutzung . . . . . 5. Haftung des früheren Halters . . . . 6. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entlastung wegen höherer Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG) . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begriff der höheren Gewalt . . . . . . . aa) Einwirkung von außen . . . . . . . . bb) Außergewöhnlichkeit . . . . . . . . . cc) Unabwendbarkeit . . . . . . . . . . . . 3. Entlastung wegen unabwendbaren Ereignisses (§ 17 Abs. 3 StVG) . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unfallursächliches Ereignis . . . . . . . aa) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unabwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sorgfaltsmaßstab . . . . . . . . . . . . cc) Rechtmäßiges Verhalten . . . . . . dd) Zurechnung des Verhaltens Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zurechnungszusammenhang zwischen Sorgfaltsverletzung und Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schutzzweck . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das für den Halter unabwendbare Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Das für den Führer unabwendbare Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidender Zeitpunkt . . . . . cc) Plötzliche Gefahrenlage . . . . . . . dd) Ungünstige Straßen- und Witterungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . ee) Verkehrswidriges Verhalten des Verletzten oder eines Dritten . . g) Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs und Versagen seiner Vorrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung der Regelung . . . . . . bb) Fehler in der Beschaffenheit . . . cc) Versagen einer Vorrichtung . . . dd) Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . ee) Äußere Einwirkungen . . . . . . . . ff) Verschulden Dritter . . . . . . . . . .

3.253 3.254 3.255 3.256 3.258 3.258 3.262 3.262 3.263 3.264 3.265 3.266 3.267 3.267 3.268 3.268 3.269 3.273 3.273 3.274 3.276 3.277

3.278 3.278 3.279 3.281 3.284 3.284 3.285 3.286 3.288 3.289

3.291 3.291 3.292 3.293 3.294 3.295 3.296

Haftung des Kfz-Halters | § 3 gg) Natürliche Abnutzung . . . . . . . . 3.297 hh) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.298 h) Einzelheiten zu technischen Mängeln (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . . . 3.299

i) Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.312 4. Rechtsprechungsüberblick zur Unabwendbarkeit in bestimmten Verkehrssituationen . . . . . . . . . . . . 3.315

§ 7 StVG (1) Wird bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. (2) Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wird. (3) Benutzt jemand das Kraftfahrzeug ohne Wissen und Willen des Fahrzeughalters, so ist er anstelle des Halters zum Ersatz des Schadens verpflichtet; daneben bleibt der Halter zum Ersatz des Schadens verpflichtet, wenn die Benutzung des Kraftfahrzeugs durch sein Verschulden ermöglicht worden ist. Satz 1 findet keine Anwendung, wenn der Benutzer vom Fahrzeughalter für den Betrieb des Kraftfahrzeugs angestellt ist oder wenn ihm das Fahrzeug vom Halter überlassen worden ist. § 17 StVG (1) Wird ein Schaden durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht und sind die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet, so hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. (2) Wenn der Schaden einem der beteiligten Fahrzeughalter entstanden ist, gilt Absatz 1 auch für die Haftung der Fahrzeughalter untereinander. (3) Die Verpflichtung zum Ersatz nach den Absätzen 1 und 2 ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wird, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Kraftfahrzeugs noch auf einem Versagen seiner Vorrichtungen beruht. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Der Ausschluss gilt auch für die Ersatzpflicht gegenüber dem Eigentümer eines Kraftfahrzeugs, der nicht Halter ist. (4) Die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 sind entsprechend anzuwenden, wenn der Schaden durch ein Kraftfahrzeug und ein Tier oder durch ein Kraftfahrzeug und eine Eisenbahn verursacht wird. § 19 StVG (1) Wird bei dem Betrieb eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, ist der Halter des Anhängers verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Die Regelungen zur Haftung des Halters eines Kraftfahrzeugs nach § 7 Absatz 2 und 3, § 8 Nummer 2 und 3 sowie den §§ 8a bis 16 gelten entsprechend. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht, wenn der Unfall durch einen Anhänger verursacht wurde, der im Unfallzeitpunkt mit einem Kraftfahrzeug verbunden war, das auf ebener Bahn mit keiner höheren Geschwindigkeit als 20 Kilometer in der Stunde fahren kann. (2) Wird der Schaden eines anderen durch ein Zugfahrzeug mit Anhänger (Gespann) verursacht, haftet der Halter jedes dieser Fahrzeuge dem anderen für die Betriebsgefahr des gesamten Gespanns als Gesamtschuldner. Die Ersatzpflicht des gesamtschuldnerisch haftenden Halters ist auf die Höchstbeträge der §§ 12 und 12a beschränkt.

Greger | 45

§ 3 Rz. 3.1 | Haftung des Kfz-Halters (3) Wird ein Schaden durch ein Gespann und ein weiteres Kraftfahrzeug verursacht und sind die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet oder ist der Schaden einem der beteiligten Fahrzeughalter entstanden, gilt für die Ersatzpflichten im Verhältnis der Halter von Zugfahrzeug und Anhänger zu dem Halter des weiteren beteiligten Kraftfahrzeugs § 17 Absatz 1 bis 3 entsprechend. (4) Ist in den Fällen der Absätze 2 und 3 der Halter des Zugfahrzeugs oder des Anhängers zum Ersatz des Schadens verpflichtet, kann er nach § 426 des Bürgerlichen Gesetzbuchs von dem Halter des zu dem Gespann verbundenen anderen Fahrzeugs Ausgleich verlangen. Im Verhältnis dieser Halter zueinander ist nur der Halter des Zugfahrzeugs verpflichtet. Satz 2 gilt nicht, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein; in diesem Fall hängt die Verpflichtung zum Ausgleich davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem Zugfahrzeug oder dem Anhänger verursacht worden ist. Das Ziehen des Anhängers allein verwirklicht im Regelfall keine höhere Gefahr. Der Ersatz für Schäden der Halter des Zugfahrzeugs und des Anhängers richtet sich im Verhältnis zueinander nach den allgemeinen Vorschriften. (5) Die Absätze 3 und 4 sind entsprechend anzuwenden, wenn der Schaden durch ein Gespann und ein Tier oder durch ein Gespann und eine Eisenbahn verursacht wird. (6) Wird ein Schaden eines Dritten oder eines beteiligten Kraftfahrzeughalters durch einen Anhänger verursacht, der im Unfallzeitpunkt nicht mit einem Zugfahrzeug verbunden war, oder ist der Schaden an einem solchen Anhänger entstanden, ist § 17 entsprechend anzuwenden.

I. Überblick 1. Die Betriebsgefahr als Grundlage der Haftung 3.1

Die Haftung des Kfz-Halters ist in § 7 StVG als Gefährdungshaftung ausgestaltet.1 Sie knüpft an die vom Betrieb eines Kfz ausgehende Gefahr an; auf ein Verschulden oder auch nur objektiv verkehrswidriges Verhalten kommt es nicht an. Ganz rein ist das Prinzip der Gefährdungshaftung allerdings nicht durchgehalten. Der Halter kann sich vielmehr (in bestimmten Grenzen) durch den Nachweis einer Verursachung durch höhere Gewalt von der Haftung befreien, im Verhältnis zu anderen Kfz-Haltern durch den Nachweis eines unabwendbaren Ereignisses (s. Rz. 3.267 ff.). Weitere Ausnahmen enthält § 8 StVG (s. Rz. 22.4 ff.).

3.2

Die Haftung knüpft an die abstrakte Betriebsgefahr an, d.h. die besondere Gefahr, die das Kfz schlechthin, also jedes Kfz ohne Rücksicht auf die Begleitumstände des Einzelfalls, für andere Verkehrsteilnehmer mit sich bringt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich eine für Kfz typische Gefahr verwirklicht hat. Anknüpfungspunkt ist allein der Betrieb des Kfz. Der Halter ist für alle Schäden verantwortlich, die mit ihm in ursächlichem Zusammenhang stehen, auch wenn die Tatsache, dass es sich um ein Kfz handelte, nach menschlicher Erfahrung ohne Bedeutung für Entstehung und Höhe des Schadens war.

3.3

Auf die im Einzelfall manifest gewordene konkrete Betriebsgefahr kommt es hingegen bei der Abwägung nach §§ 9, 17 StVG, § 254 BGB an. Nach diesen Vorschriften führt die Betriebsgefahr zu einer Reduktion eigener Schadensersatzansprüche des Halters aus dem Unfall; sie ist auf seine Ansprüche „anzurechnen“ (s. Rz. 25.87 ff.). Dabei kann die abstrakte Betriebsgefahr durch besondere Umstände (z.B. besonders gefahrträchtiges Fahrzeug, risikobehafteter

1 S. hierzu und zur Entstehungsgeschichte Rz. 1.36 ff.

46 | Greger

I. Überblick | Rz. 3.10 § 3

Verkehrsvorgang, Verschulden des Führers) vergrößert sein („erhöhte Betriebsgefahr“), was bei der Bemessung der Haftungsquoten zu Buche schlägt (näher Rz. 25.133 ff.). Der Grad der Gefährlichkeit des Fahrzeugs für den Insassen oder Fahrer hat außer Betracht zu bleiben. Der Umstand, dass das Fahren auf einem Motorrad, Kleinkraftrad oder Fahrrad mit Hilfsmotor bei Zusammenstößen mit schwereren Fahrzeugen i.d.R. zu gravierenderen Verletzungen führt als das Fahren im Kraftwagen, stellt keine Erhöhung der Betriebsgefahr dar und bleibt bei der Abwägung außer Betracht.

3.4

2. Die gesetzliche Regelung a) Grundschema § 7 Abs. 1 StVG enthält die vom Geschädigten zu beweisenden haftungsbegründenden Merkmale, § 7 Abs. 2 StVG den vom Kfz-Halter zu beweisenden Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt (sog. „Entlastungsbeweis“). Für den besonderen Fall einer unbefugten Nutzung des Kfz regelt § 7 Abs. 3 StVG die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit. Für den Halter eines Anhängers oder eines Kfz mit Anhänger gilt für Unfälle ab 17.7.2020 die (bis auf den Innenausgleich unveränderte) Regelung in § 19 StVG n.F.

3.5

b) Haftungsbegründende Merkmale Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG trifft den Halter (zum Begriff Rz. 3.174 ff.) eines Kfz (Rz. 3.13 ff.), bei dessen Betrieb (Rz. 3.56 ff.) es zu einem Unfall (Rz. 3.30 ff.) gekommen ist, der entweder zu einem Personenschaden (Rz. 3.37 ff.) oder zu einem Sachschaden (Rz. 3.49 ff.) geführt hat. Diese Merkmale hat der Geschädigte zu beweisen.

3.6

c) Haftungsausschlüsse Abgesehen von dem praktisch schwer zu führenden Entlastungsbeweis nach § 7 Abs. 2 und § 17 Abs. 3 StVG (dazu Rz. 3.258 ff.) kommen nach dem StVG folgende (gleichfalls in die Beweislast des Halters fallende) Einwendungen gegen die Haftung des Kfz-Halters in Betracht:

3.7

– Geschwindigkeit des Kfz nicht höher als 20 km/h auf ebener Bahn (§ 8 Nr. 1 StVG; s. Rz. 22.4 ff.);

3.8

– Tätigsein des Verletzten beim Betrieb des Kfz (§ 8 Nr. 2 StVG; s. Rz. 22.9 ff.); – Beförderung der beschädigten Sache durch das Kfz (§ 8 Nr. 3 StVG; s. Rz. 22.13 ff.); – erheblich überwiegendes Mitverschulden des Verletzten (§ 9 StVG; s. Rz. 25.129 ff.); – Verjährung (§ 14 StVG; s. Rz. 24.3 ff.); – nicht rechtzeitige Anzeige des Unfalls (§ 15 StVG; s. Rz. 22.19 ff.); – erhebliches Überwiegen der mitwirkenden Betriebsgefahr des anderen unfallbeteiligten Kfz (§ 17 Abs. 1, 2 StVG; s. Rz. 25.157).

Zu weiteren Haftungsausschlussgründen (z.B. Freistellungsvereinbarungen, Begrenzung der Arbeitnehmerhaftung, Unfallversicherungsschutz) s. Rz. 22.30 ff.

3.9

d) Rechtsfolge Rechtsfolge der Haftung nach § 7 StVG ist die Verpflichtung zum Ersatz des aus der Körperverletzung oder Sachbeschädigung entstehenden Schadens. Was darunter zu verstehen ist,

Greger | 47

3.10

§ 3 Rz. 3.10 | Haftung des Kfz-Halters

wird im StVG ebenso wenig wie im BGB oder anderen deutschen Haftungsgesetzen definiert.2 An die Stelle einer allgemeinen Begriffsbestimmung haben Rechtsprechung und Rechtslehre eine wertende Betrachtung des jeweils geltend gemachten Nachteils gesetzt (vgl. Rz. 1.20). Für den Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Schadensfolge gelten die Regeln der haftungsausfüllenden Kausalität (s. Rz. 19.1 ff.). Die Art und Weise des Schadensausgleichs richtet sich nach §§ 249 ff. BGB (wegen der Einzelheiten hierzu s. Rz. 20.22 ff.). Für Unfälle, die sich nach dem Inkrafttreten von § 11 Satz 2 StVG am 1.8.2002 ereignet haben, kann auch eine immaterielle Entschädigung beansprucht werden (s. Rz. 33.1 ff.), für Unfälle ab 22.7.2017 auch eine Entschädigung für das seelische Leid von Hinterbliebenen (s. Rz. 31.189 ff.).

3. Verhältnis zu anderen Haftungsnormen; prozessuale Bedeutung 3.11

Eine etwaige Haftung aus unerlaubter Handlung (§ 823 BGB) oder aufgrund anderer Anspruchsgrundlagen steht völlig unabhängig neben der Haftung nach § 7 StVG (§ 16 StVG). Dies gilt auch beim Zusammentreffen mit öffentlich-rechtlichen Ersatzansprüchen, z.B. aufgrund der Straßengesetze,3 oder mit Staatshaftung.4 Im Prozess werden die Schadensersatzansprüche des Geschädigten in erster Linie auf § 7 StVG gestützt, weil dieser keinen Verschuldensnachweis erfordert und in den Rechtsfolgen nicht maßgeblich hinter der deliktischen Haftung zurücksteht. Dass im Verkehrsunfallprozess dennoch sehr oft Verschuldensfragen virulent werden, liegt daran, dass der Einwand von Mitverursachung oder mitwirkender Betriebsgefahr eine Abwägung der konkreten Betriebsgefahr erfordert (s. Rz. 25.87 ff.).

3.12

Für die Direkthaftung des Kfz-Haftpflichtversicherers nach § 115 VVG kommt es nicht auf den Betrieb, sondern auf den Gebrauch des Kfz an (s. § 1 PflVG, Nr. A 1.1.1 AKB 2015). Der Begriff ist weiter; er umfasst stets den Betrieb, geht aber darüber hinaus (s. Rz. 15.5).

II. Erfasste Fahrzeuge 1. Kraftfahrzeuge 3.13

Nach § 1 Abs. 2 StVG gelten als Kfz – auch i.S.d. Haftungsbestimmungen des StVG – Landfahrzeuge, die durch Maschinenkraft bewegt werden, ohne an Bahngleise gebunden zu sein.

a) Fahrzeuge 3.14

Fahrzeuge sind Einrichtungen zur Fortbewegung ohne Rücksicht auf deren Art (Räder, Ketten, Kufen) und den Zweck der Ortsveränderung. Die Beförderung von Personen oder Lasten ist kein Begriffsmerkmal; auch fahrende Arbeitsmaschinen können Kfz sein, z.B. Pistenraupen5 oder Aufsitzrasenmäher,6 desgleichen motorgetriebene Kleinstfahrzeuge wie z.B. Go Carts,7 sowie die in der Elektrokleinstfahrzeuge-VO v. 6.6.2019 (BGBl. I 2019, 756) geregelten Fortbewegungsmittel (z.B. Segways, Elektroroller, E-Scooter), unabhängig davon, ob sie als 2 Anders § 1293 österr. ABGB: „Schaden heißt jeder Nachteil, welcher jemandem an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefügt worden ist.“ 3 BGH v. 15.10.2013 – VI ZR 528/12, NZV 2014, 163. 4 BGH v. 5.7.1988 – VI ZR 346/87, BGHZ 105, 65. 5 LG Waldshut-Tiengen v. 19.3.1985 – 2 O 175/84, VersR 1985, 1170. 6 LG Osnabrück v. 20.10.1983 – 2 O 285/83, VersR 1984, 254; Ternig DAR 2014, 487. 7 LG Karlsruhe v. 9.12.1975 – 7 O 400/74, VersR 1976, 252.

48 | Greger

II. Erfasste Fahrzeuge | Rz. 3.17 § 3

Kfz für den Straßenverkehr zugelassen sind. Auch die (mangels Lenk- oder Haltestange) nicht zugelassenen Hoverboards und elektrischen Einräder (Monowheeler) gelten daher als Fahrzeuge.8 Stets muss es sich aber um selbständige Fahrgeräte handeln. Daher stellt z.B. eine Seiloder Schwebebahn ebenso wenig ein Fahrzeug dar wie der Schlittschuhläufer, der sich von einem auf dem Rücken getragenen Propeller treiben lässt, oder der an einer Deichsel geführte Elektrowagen (sog. Ameise).9 Zu Anhängern s. Rz. 3.24 ff. Die erreichbare Geschwindigkeit ist für die Eigenschaft als Fahrzeug ohne Belang, kann jedoch den Haftungsausschluss nach § 8 Nr. 1 StVG begründen; s Rz. 21.4 ff.).

b) Landfahrzeuge Landfahrzeuge sind solche, die zur Fortbewegung von einem Punkt der Erdoberfläche zu einem anderen durch Bewegung auf der Erdoberfläche geeignet und bestimmt sind. Damit scheiden Wasser- und Luftfahrzeuge grundsätzlich aus. Sind sie aber ihrer technischen Einrichtung nach geeignet, auch als Kfz auf den Straßen zu verkehren, so gelten sie für die Dauer solchen Verkehrs als Kfz. Die mit Abflug und Landung notwendig verbundenen Bewegungen eines Luftfahrzeugs auf dem Erdboden machen dieses jedoch nicht zum Kfz; dies gilt auch für den Fall einer Notlandung auf einer Straße.

3.15

c) Bewegung durch Maschinenkraft Nur die durch Maschinenkraft bewegten Landfahrzeuge sind Kfz. Darunter sind vor allem die durch Umsetzung von Wärme oder Elektrizität in Bewegungsenergie gewonnenen Antriebskräfte (im Gegensatz zu Naturkräften, menschlicher oder tierischer Kraft) zu verstehen. Fahrräder mit Elektroantrieb (E-Bikes, Pedelecs) gelten nach § 1 Abs. 3 StVG dann als Fahrräder und nicht als Kfz, wenn sie mit einem elektromotorischen Hilfsantrieb mit einer maximalen Nenndauerleistung von 0,25 kW ausgestattet sind, dessen Unterstützung sich mit zunehmender Fahrzeuggeschwindigkeit progressiv verringert und beim Erreichen einer Geschwindigkeit von 25 km/h oder wenn der Fahrer im Treten einhält, unterbrochen wird. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, gilt das E-Bike als Kfz. Die Elektrokleinstfahrzeuge (s. Rz. 3.14) sind Kfz, allerdings wegen ihrer geringen Geschwindigkeit nach § 8 Nr. 1 StVG von der Gefährdungshaftung ausgenommen.

3.16

Die Maschine muss Bestandteil des Fahrzeugs sein. Keine Kfz sind daher die mit Hilfe einer Seilwinde von einem stationären Motor oder von einem anderen Kfz aus in Bewegung gesetzten Geräte oder durch Anstoßen in Bewegung gesetzte Wagen. Auch das Fahrrad, das mit Hilfe eines auf den Rücken des Fahrers geschnallten Propellermotors fortbewegt wird, ist kein Kfz.10 Ob das Fahrzeug auch die zur Energiespeicherung benötigten Einrichtungen oder Materialien (Treibstoff, Akkumulatoren) mit sich führt, ist ohne Belang. Daher ist z.B. auch der Obus, dem die elektrische Kraft von außen durch Stromleitungen und Stromabnehmer zugeführt wird, Kfz.11 Wird der Motor außer Betrieb gesetzt, so verliert das Fahrzeug hierdurch noch nicht seine Eigenschaft als Kfz. Erst wenn die bestimmungsgemäße Verwendung des

3.17

8 Zum verkehrsrechtlichen Fahrzeugbegriff s. auch § 24 Abs. 1 StVO, § 16 Abs. 2 StVZO; zu selbstbalancierenden E-Boards (Hoverboards) Huppertz NZV 2016, 513. 9 OLG Hamm v. 14.3.1984 – 20 U 316/83, VersR 1984, 883; offen lassend BGH v. 26.3.1986 – IVa ZR 86/84, NJW-RR 1986, 900, 901; OLG Köln v. 6.12.2018 – 3 U 49/18, NJW-RR 2019, 595. 10 A.A. OLG Oldenburg v. 3.5.1999 – Ss 105/99, NZV 1999, 390 mit abl. Anm. Grunewald NZV 2000, 384. 11 Filthaut NZV 1995, 52, 53.

Greger | 49

§ 3 Rz. 3.17 | Haftung des Kfz-Halters

Fahrzeugs geändert wird (z.B. Verschrottung), hört es auf, Kfz zu sein;12 andernfalls bleibt auch ein (ab)geschleppter Pkw Kfz i.S.d. § 7 StVG,13 desgleichen ein im Pedalbetrieb fortbewegtes Moped.

d) Keine Gleisbindung 3.18

Bindung an Bahngleise schließt die Kfz-Eigenschaft aus. Darunter ist jede Spurführung zu verstehen, der das Fahrzeug zwangsläufig folgen muss, sei es auch nur mit einigen Rädern.

3.19

Ist nur der Anhänger gleisgebunden, nicht aber das ziehende Fahrzeug (z.B. Zugmaschine rangiert einen Güterwagen), so wird die Eigenschaft des Zugfahrzeugs als Kfz nicht aufgehoben, denn dieses hat einen gewissen Spielraum zu seitlicher Abweichung.

3.20

Dauernde Bindung ans Gleis ist nicht erforderlich. Das gleiche Fahrzeug kann vielmehr zeitweilig Schienenfahrzeug und zeitweilig Straßenfahrzeug sein.14 In diesen Fällen ist das Fahrzeug für die Dauer der Verwendung auf den Schienen nicht Kfz i.S.d. StVG; für die Haftung gilt das HaftpflG (s. Rz. 5.7). Mit Aufhebung der Schienengebundenheit wird das Fahrzeug wieder zum Kfz. Bloßes Entgleisen macht ein Schienenfahrzeug jedoch nicht zum Kfz.

3.21

Die Beförderung von Schienenfahrzeugen auf der Straße mittels Straßenroller (vgl. § 49a Abs. 9 Nr. 2 StVZO) unterfällt dem StVG, denn das Schienenfahrzeug steht in diesem Fall zwar auf den Schienen des Untersatzes, ist aber nur Gegenstand einer mit Straßenfahrzeugen auf der Straße durchgeführten Beförderung.

e) Zulassung 3.22

Die Zulassung des Fahrzeugs (§ 1 Abs. 1 StVG) ist für die Haftpflicht grundsätzlich bedeutungslos. Auch abgemeldete,15 vorschriftswidrig nicht zugelassene oder vom Zulassungszwang freigestellte Fahrzeuge stehen in der Haftpflicht den zugelassenen gleich. Zulassung ist die Ermächtigung zum Betrieb; die gesetzliche Haftpflicht gründet sich aber auf die Tatsache des Betriebs unabhängig von der Frage der Ermächtigung. Zur Frage, ob die Benutzung eines nicht zugelassenen Kfz neben der Haftung nach § 7 StVG auch eine solche nach § 823 BGB begründen kann, s. Rz. 11.48.

f) Fahrer 3.23

Die Bedienung der Funktionen durch einen Fahrer ist für die Einordnung als Kfz unerheblich. Daher fallen auch automatisierte, autonome und ferngesteuerte Fahrzeuge unter diesen Begriff.16

2. Anhänger 3.24

Durch das 2. SchRÄndG vom 19.7.2002 wurde die Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1 StVG auf den Halter eines Kfz-Anhängers erstreckt, da auch von diesem eine straßenverkehrsspe12 BayObLG v. 8.5.1956 – 2 St 829/55, VRS 11, 155. 13 S. Rz. 3.103. Abw. Qualifizierung im Straf- und Fahrerlaubnisrecht OLG Frankfurt v. 26.11.1984 – 2 Ss 412/84, NJW 1985, 2961; Blum NZV 2008, 547 ff. 14 Z.B. der sog. DUO-Bus, s. Filthaut NZV 1995, 52, 53. 15 OLG Düsseldorf v. 23.10.1995 – 1 U 183/94, NZV 1996, 193. 16 Lutz/Tang/Lienkamp NZV 2013, 57, 60; von Bodungen/Hoffmann NZV 2016, 449, 450; a.A. Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 316: Fahrzeug muss durch mitfahrenden Führer bedienbar sein.

50 | Greger

II. Erfasste Fahrzeuge | Rz. 3.27 § 3

zifische Betriebsgefahr ausgeht. Zudem sollte das Unfallopfer auch dann geschützt werden, wenn das am Unfall beteiligte Zugfahrzeug nicht ermittelbar ist. Zweifelsfragen beim Innenausgleich zwischen den Haltern von Zugfahrzeug und Anhänger veranlassten den Gesetzgeber, die Anhängerhaftung durch Gesetz vom 10.7.2020 (BGBl. I 2020, 1653) in § 19 StVG gesondert zu regeln. Zu Fragen der Haftungszurechnung s. Rz. 3.112 ff., zur Bemessung der Haftungshöchstsumme s. Rz. 23.13, zu Haftungsausschlüssen s. Rz. 22.7, 22.9, 22.14, zur Haftung im Innenverhältnis s. Rz. 21.15 sowie Rz. 39.2, zum Ausgleich zwischen den Haftpflichtversicherern s. Rz. 15.6. Die neuen Vorschriften gelten für Unfälle nach Inkrafttreten des Gesetzes am 17.7.2020 (§ 65 StVG). Anhänger sind Fahrzeuge, die nicht mit eigener Motorkraft bewegt werden können, sondern dazu bestimmt sind, von einem Kfz gezogen zu werden. § 19 Abs. 1 Satz 1 StVG n.F. weicht damit etwas vom Wortlaut des § 2 Nr. 2 FZV ab („zum Anhängen an ein Kraftfahrzeug bestimmte und geeignete Fahrzeuge“). Im Ergebnis folgen daraus aber keine Unterschiede. Das zum Anhängen bestimmte Fahrzeug bleibt im haftungsrechtlichen Sinn auch dann Anhänger, wenn es beim Unfall nicht gezogen, sondern, z.B. beim Rangieren, geschoben wird. Zur Haftung für die Betriebsgefahr des abgekuppelten Anhängers s. Rz. 3.116.

3.25

Auch Sattelauflieger sind Anhänger i.S.v. § 7 Abs. 1 StVG a.F. bzw. § 19 Abs. 1 StVG n.F., nicht aber (ab)geschleppte Kfz (s. Rz. 3.103, 3.153). Arbeitsmaschinen (z.B. landwirtschaftliche Geräte), die zum stationären Einsatz bestimmt, aber zwecks gelegentlicher Verbringung an einen anderen Einsatzort mit Rädern ausgestattet sind, fallen nicht unter den Anhängerbegriff, wohl aber solche Geräte, die wegen der Verwendung an wechselnden Arbeitsorten als Anhänger konstruiert sind.17 Dasselbe gilt für fahrbare Verkaufsstände, Jahrmarktbuden u.Ä. Ein zum Anhängen an ein Fahrrad bestimmter Anhänger löst auch dann keine Gefährdungshaftung aus, wenn er unerlaubtermaßen an ein Kfz angekoppelt wird. Über die Bestimmung entscheidet nicht der Verwender, sondern die Bauart (das Merkmal ergäbe sonst keinen Sinn).18 Bei Fahrradanhängern bereitet dies Schwierigkeiten, weil sie ohne bauliche Veränderung auch an E-Bikes angehängt werden können, die als Kfz gelten (s. Rz. 3.16). Hier wird (wie in § 2 Nr. 14 FZV) an die überwiegende Zweckbestimmung anzuknüpfen sein, die – von Spezialanfertigungen abgesehen – in der Koppelung mit einem gewöhnlichen Fahrrad liegen wird und somit eine Gefährdungshaftung ausschließt.

3.26

Auf die Zulassungspflicht kommt es (wie bei Kfz) nicht an. Erfasst werden daher auch die in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FZV aufgeführten Anhänger für landwirtschaftliche Zwecke u. Ä. Da bei fehlender Zulassungspflicht auch keine Versicherungspflicht besteht (§ 2 Abs. 1 Nr. 6c PflVG), kann es hier zu Deckungslücken kommen,19 insb. bei abgekuppelten Anhängern (s. Rz. 3.116); zu versicherungsrechtlichen Fragen s. Rz. 15.6; zum Haftungsausschluss bei langsam fahrendem Zugfahrzeug s. Rz. 22.7.

3.27

17 Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 30. 18 Zweifelnd Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 25. 19 S. hierzu Ch Huber § 4 Rz. 92 ff.; Stahl/Jahnke NZV 2010, 57, 58; Lang/Stahl/Suchomel NZV 2003, 441, 443; Lemcke ZfS 2002, 318 f. Verfassungsrechtliche Bedenken bei Frommhold Grenzen der Haftung (2006), S. 224.

Greger | 51

§ 3 Rz. 3.28 | Haftung des Kfz-Halters

III. Unfall mit Personen- oder Sachschaden als konkreter Haftungsgrund 1. Bedeutung 3.28

Die Haftung nach § 7 StVG greift nur ein, wenn ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wurde. Der Personen- oder Sachschaden muss, wie sich aus § 7 Abs. 2 und § 15 StVG, insbesondere aber aus dem Schutzzweck der Gefährdungshaftung ergibt, durch einen Unfall entstanden sein;20 andere Einwirkungen durch den Betrieb eines Kfz werden von dieser Vorschrift nicht erfasst (s. Rz. 3.31).

3.29

Der Unfall bildet den sog. konkreten Haftungsgrund,21 das Verbindungsglied zwischen der Haftungsbegründung und der Haftungsausfüllung: Zwischen dem Betrieb des Kfz und dem Unfall besteht der sog. haftungsbegründende, zwischen dem Unfall und dem geltend gemachten Schaden der sog haftungsausfüllende Kausalzusammenhang. Das Auseinanderhalten der beiden Zurechnungsrelationen ist schon aus beweisrechtlichen Gründen unerlässlich (Rz. 41.52). Zudem stellen sich für den haftungsbegründenden Zusammenhang (Betrieb des Kfz – Primärverletzung durch den Unfall) spezifische Zurechnungsfragen aufgrund der Besonderheiten der Gefährdungshaftung (Rz. 3.67 ff.), während die Bestimmung des infolge der Primärverletzung zu ersetzenden Schadens den allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen folgt. Vor allem bei mittelbar verursachten Schäden (s. Rz. 19.7 ff.) kommt dieser Differenzierung erhebliche Bedeutung zu.

2. Unfall 3.30

Ein Unfall i.d.S. ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das Schaden an Menschen oder Sachen verursacht.22 Einwirkungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, fallen nicht darunter.23

a) Plötzlichkeit des Schadensereignisses 3.31

Keine Plötzlichkeit und damit keine Haftung nach § 7 StVG ist z.B. gegeben, wenn eine Straße durch häufiges Befahren mit dem Kfz abgenützt oder zerstört wird, wenn angrenzende Gebäude durch fortgesetzte Erschütterungen seitens des Kfz beschädigt werden,24 wenn durch dauernde Einwirkung von Motorenlärm die Nutzbarkeit eines Nachbargrundstücks beeinträchtigt wird, wenn durch Lärm, Erschütterungen und Abgase von Manöverfahrzeugen Bienenvölker zugrunde gehen25 oder wenn sich ein Lkw-Fahrer durch monatelange Einwirkung des Motorengeräusches eine Ohrenkrankheit zuzieht. Führt der plötzliche Verlust von Öl, Kraftstoff oder dgl. zu einer Verunreinigung der Fahrbahn, so ist diese Sachbeschädigung (s. Rz. 3.52) als Unfall zu bewerten, nicht dagegen bei allmählicher Verschlechterung der Straßenbeschaffenheit durch schmutzende Bau- oder Erntefahrzeuge.26 20 Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 6; s. auch BGHZ 37, 313; BGHZ 71, 339; a.A. Schneider/Schneider MDR 1986, 991. 21 Zu diesem Begriff Rosenberg/Schwab/Gottwald § 115 Rz. 12 ff.; Arens ZZP 88 (1975), 1; Stoll AcP 176 (1976), 145. 22 BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, 313 (sub 2 b). 23 Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 6. 24 Anders, wenn der Gebäudeschaden durch einen konkreten Verkehrsvorgang hervorgerufen wird; OLG Frankfurt v. 13.11.1986 – 1 U 208/84, VersR 1988, 1026; Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 76. 25 Österr. OGH, ZVR 1989, 151 mit Anm. Karollus. 26 OLG Köln v. 16.4.1982 – 19 U 288/81, VersR 1983, 287, 289.

52 | Greger

III. Unfall mit Personen- oder Sachschaden als konkreter Haftungsgrund | Rz. 3.34 § 3

b) Personen- oder Sachschaden Die Beschränkung auf Personen- und Sachschäden ergibt sich aus dem Unfallbegriff, aber auch ausdrücklich aus § 7 Abs. 1 StVG. Reine Vermögensschäden können daher eine Haftung nach dieser Vorschrift nicht begründen, wie etwa ein infolge eines Verkehrsstaus entgangener Verdienst oder der Gewinnausfall einer Raststätte wegen unfallbedingter Sperre der Autobahn.27 Liegt aber ein Unfall mit Personen- oder Sachschaden vor, so sind auch dessen vermögensrechtliche Auswirkungen auf den Geschädigten – nach Maßgabe der für die Haftungsausfüllung geltenden Regeln (s. Rz. 19.3) – zu ersetzen. Auch Personen- oder Sachschäden nicht am Unfall selbst Beteiligter, also nur mittelbar Geschädigter, sowie die vermögensrechtlichen Auswirkungen dieser Schädigungen werden von § 7 StVG erfasst, nicht dagegen reine Vermögensbeeinträchtigungen bei mittelbar Geschädigten. Daher sind z.B. zu ersetzen Schäden eines Angehörigen des Unfallopfers infolge des beim Übermitteln der Unfallnachricht erlittenen Nervenzusammenbruchs (s. Rz. 3.46), nicht dagegen Verdienstausfälle des Arbeitgebers des Unfallopfers wegen dessen Arbeitsunfähigkeit. Näher zu den Begriffen Personen- und Sachschaden Rz. 3.37 ff.

3.32

c) Absichtlich herbeigeführte Schadensfälle Sie sind, wenn sie die vorstehenden Merkmale erfüllen, ebenfalls Unfälle i.S.d. § 7 StVG,28 denn der Schutzzweck dieser Vorschrift umfasst auch solche Gefahren, die der Benutzer eines Kfz bewusst und gewollt gegen einen anderen ausspielt, etwa beim absichtlichen Zufahren auf den Geschädigten in Verletzungs- oder Tötungsabsicht.29 Für den Beweis der absichtlichen Herbeiführung eines Unfalls (z.B. bei den aus betrügerischen Motiven provozierten Kollisionen) gelten die zu den einvernehmlich gestellten Unfällen entwickelten Grundsätze des Indizienbeweises (s. Rz. 41.53) entsprechend.30 Zur Zurechnung zum Betrieb des Kfz s. Rz. 3.168 f.; zum Ausschluss des Direktanspruchs gegen den Haftpflichtversicherer s. Rz. 15.15.

3.33

d) Mit Willen des Geschädigten herbeigeführte Schadensfälle Diese sind dagegen keine Unfälle.31 In diesen Fällen entsteht zwar ein Schaden, der Träger des beschädigten Rechtsguts wird aber nicht von einem Schadensereignis betroffen, weil er die Beeinträchtigung selbst gewollt hat. Deshalb liegt z.B. kein eine Haftung nach § 7 StVG begründender „Unfall“ vor, wenn ein Polizeifahrzeug zum Stoppen eines Flüchtenden gezielt in dessen Fahrspur gelenkt und gerammt wird32 oder wenn ein Zusammenstoß gemäß Verabredung zwischen den Beteiligten zum Zweck eines Versicherungsbetrugs absichtlich herbeigeführt wird33 (allenfalls wenn es hierbei über den verabredeten Sachschaden hinaus zu einem

BGH v. 9.12.2014 – VI ZR 155/14, NJW 2015, 1174. BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, 313; Filthaut NZV 1998, 89, 90. BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, 316. BGH v. 28.3.1989 – VI ZR 232/88, NZV 1989, 468; OLG Hamm v. 13.1.1994 – 6 U 173/93, NZV 1994, 227. 31 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 206/75, BGHZ 71, 339, 346; OLG München v. 18.12.1990 – 5 U 3889/90, NZV 1991, 427; OLG Köln v. 10.7.1974 – 2 U 1783/73, VersR 1975, 959; OLG Köln v. 26.5.1975 – 1 U 102/73, VersR 1975, 1128; a.A. OLG Frankfurt v. 6.6.1977 – 23 U 188/75, VersR 1978, 260. 32 OLG München v. 15.11.1996 – 10 U 3260/92, OLGR München 1997, 162. Verkannt von BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 43/11, NJW 2012, 1951 (s. auch Rz. 10.49). 33 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 206/75, BGHZ 71, 339, 346. 27 28 29 30

Greger | 53

3.34

§ 3 Rz. 3.34 | Haftung des Kfz-Halters

unbeabsichtigten Personenschaden kommt, kann insoweit wieder von einem Unfall die Rede sein; desgleichen dann, wenn die Manipulation nur mit dem Fahrer, nicht auch mit dem Eigentümer des geschädigten Fahrzeugs verabredet ist; vgl. Rz. 10.48).

3.35

Die Beweislast für das Vorliegen eines Unfalls – ein den Anspruch nach § 7 StVG begründendes Merkmal – trifft den Geschädigten. IdR bereitet dieser Beweis auch keine Schwierigkeiten, weil schon das äußere Bild des Schadensereignisses eindeutig auf einen Unfall in vorstehendem Sinne hindeutet. Seit sich die Fälle häufen, in denen Schadensfälle zum Zweck des Versicherungsbetruges fingiert werden, wird jedoch vom beklagten Haftpflichtversicherer nicht selten die Unfreiwilligkeit des Unfalls bestritten. Der dem Kläger damit aufgebürdete Beweis der Unfreiwilligkeit aber ist, wie jeder Beweis subjektiver Merkmale, u.U. schwierig. Dem Geschädigten werden oftmals keine Beweismittel zur Verfügung stehen, um nachzuweisen, dass er den Unfall nicht mit dem Gegner verabredet hatte. Der BGH hat daher entschieden, es sei nicht Sache des aus § 7 StVG klagenden Geschädigten, den Beweis eines unfreiwillig erlittenen Unfalls zu führen; vielmehr müsse der in Anspruch genommene Beklagte beweisen, dass der Kläger mit diesem „Unfall“ einverstanden gewesen war.34 Den Beweisschwierigkeiten des Beklagten (i.d.R. der Haftpflichtversicherer des „Unfallgegners“) trägt die Rechtsprechung weithin dadurch Rechnung, dass sie bei besonders auffallenden Umständen des Unfallablaufs einen Anscheinsbeweis35 oder – was eher zutrifft (s. Rz. 41.65) – einen Indizienbeweis eingreifen lässt.

3.36

Diese Beweisregelung vermag jedoch nicht zu überzeugen. Sie verstößt gegen den allgemeinen Beweislastgrundsatz, dass der Kläger die anspruchsbegründenden Merkmale zu beweisen hat, ohne dass dies durch übergeordnete Gesichtspunkte gerechtfertigt wäre. Es sollte nicht übersehen werden, dass die Beweisproblematik für den Kläger erst akut wird, wenn der Beklagte hinreichend verdächtige Umstände36 vorträgt, die entgegen dem äußeren Bild für eine gewollte Selbstschädigung sprechen.37 In diesem Fall aber kann dem Kläger durchaus angesonnen werden, die Verdachtsmomente auszuräumen38 bzw., wenn ihm dies nicht gelingt, auf die Vorteile der Gefährdungshaftung zu verzichten und den Beklagten aus unerlaubter Handlung in Anspruch zu nehmen. Er muss ihm dann zwar ein Verschulden nachweisen, braucht aber nicht den Beweis eines „Unfalls“ zu führen, sondern kann es dem Beklagten überlassen, sein (des Klägers) Einverständnis mit der Schädigung als Rechtfertigungsgrund39 zu beweisen (vgl.

34 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 206/75, BGHZ 71, 339, 345; BGH v. 6.3.1978 – VI ZR 269/76, VersR 1979, 514; OLG Frankfurt v. 25.2.1986 – 8 U 6/85, VersR 1987, 756; OLG Hamm v. 16.3.1987 – 6 U 110/86, NJW-RR 1987, 1239; OLG Karlsruhe v. 24.6.1988 – 10 U 89/87, VersR 1988, 1287; a.A. OLG Köln v. 10.7.1974 – 2 U 1783/73, VersR 1975, 959; OLG Köln v. 26.5.1975 – 1 U 102/ 73, VersR 1975, 1128. 35 BGH v. 6.3.1978 – VI ZR 269/76, VersR 1979, 514; OLG Celle v. 16.6.1988 – 5 U 199/87, VersR 1988, 1286; OLG Hamm v. 30.11.1992 – 6 U 50/92, VersR 1993, 1418. Für Beschränkung auf Ausnahmefälle BGH v. 1.10.2019 – VI ZR 164/18, MDR 2020, 26, 27 m.w.N. 36 Vgl. hierzu Rz. 41.53 m. Nachw. 37 Vgl. für die entsprechende Problematik bei der Unfallversicherung RG v. 12.11.1937 – VII 22/37, RGZ 156, 113, 118; BGH v. 22.12.1971 – IV ZR 63/70, VersR 1972, 244. 38 Entspr. Beweisanträge dürfen auch bei verdächtigen Umständen nicht übergangen werden; BGH v. 13.3.2018 – VI ZR 281/16, NJW 2018, 2133. 39 BGH v. 4.3.1957 – GSZ 1/56, BGHZ 24, 27. Wegen der unterschiedlichen Beweislast besitzt die Einordnung des Einverständnisses entgegen MünchKomm-StVR/Engel § 7 StVG Rz. 7 durchaus Relevanz.

54 | Greger

III. Unfall mit Personen- oder Sachschaden als konkreter Haftungsgrund | Rz. 3.39 § 3

Rz. 10.47, 41.53). Im Übrigen kann die Frage der Unfreiwilligkeit bzw. der Einwilligung oftmals dahingestellt bleiben, weil dem Kläger wegen nicht zusammenpassender Schadensbilder schon der Nachweis nicht gelingt, dass der geltend gemachte Schaden bei dem behaupteten Unfallereignis entstanden ist.40

3. Personenschaden Die Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1 StVG greift (übereinstimmend mit § 823 Abs. 1 BGB) ein bei der Tötung eines Menschen oder der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit eines Menschen.

3.37

a) Tötung Die Tötung, d.h. die Vernichtung eines Menschenlebens, kann unmittelbar durch das Unfallereignis oder als Folge einer zunächst erlittenen Körperverletzung herbeigeführt sein (zu Fragen des Zurechnungszusammenhangs s. Rz. 19.7 ff.). Für die Todesfolge ist auch zu haften, wenn es zu ihr nur wegen einer besonderen Konstitution des Verletzten kommen konnte (s. auch Rz. 19.27 ff.).

3.38

Keine Tötung ist das unfallbedingte Absterben einer Leibesfrucht; hier ist lediglich eine Körperverletzung in der Person der Mutter gegeben (s. Rz. 3.40). Dies gilt auch, wenn das Kind infolge der Unfallschädigung bei der Geburt stirbt.41

b) Körper- oder Gesundheitsverletzung Körperverletzung ist die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit, der „Eingriff in die Integrität der körperlichen Befindlichkeit“.42 Hierfür reicht bereits eine anormale Symptomatik (z.B. starke Kopf- oder Nackenschmerzen).43 Eine Gesundheitsverletzung liegt vor bei Hervorrufen oder Steigern eines von den normalen körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden Zustandes44 durch Störung der inneren Lebensvorgänge,45 gleich ob somatischer oder psychischer Art (s. dazu Rz. 3.43) und unabhängig davon, ob Schmerzzustände auftreten oder bereits eine tiefgreifende Veränderung der Befindlichkeit eingetreten ist.46 Auch diese Veränderungen brauchen nicht unmittelbar nach dem schädigenden Ereignis in Erscheinung zu treten, wenn sie nur die adäquate Folge des Unfalls sind. Zu Folgewirkungen einer Primärverletzung s. Rz. 19.22 ff.

40 Sog. So-nicht-Unfall; s. OLG Dresden v. 15.8.2014 – 7 U 1421/13, NZV 2015, 80; OLG Frankfurt v. 25.5.1990 – 2 U 259/89, VersR 1992, 717; OLG Köln v. 24.6.1994 – 19 U 272/93, NJW-RR 1995, 546; OLG Hamm v. 18.4.1994 – 6 U 116/93, NZV 1994, 483; Laumen MDR 2018, 1153, 1154. 41 BGH v. 11.1.1972 – VI ZR 46/71, BGHZ 58, 48. 42 BGH v. 18.3.1980 – VI ZR 247/78, VersR 1980, 558, 559; BGH v. 17.9.2013 – VI ZR 95/13, NZV 2014, 23, 24. 43 BGH v. 23.6.2020 – VI ZR 435/19 Rz. 20, NJW 2020, 3176 mit Anm. Almeroth. 44 BGH v. 30.4.1991 – VI ZR 178/90, NJW 1991, 1948, 1949. 45 BGH v. 20.12.1952 – II ZR 141/51, BGHZ 8, 243, 248. 46 BGH v. 30.4.1991 – VI ZR 178/90, NJW 1991, 1948, 1949.

Greger | 55

3.39

§ 3 Rz. 3.40 | Haftung des Kfz-Halters

aa) Leibesfrucht

3.40

Wird eine Leibesfrucht geschädigt und infolgedessen ein Mensch mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen geboren, so kann dieser hierfür Schadensersatz nach § 7 StVG verlangen.47 Dies wird konsequenterweise auch dann zu gelten haben, wenn die Mutter selbst die haftpflichtige Kfz-Halterin ist.48 Wird die Leibesfrucht getötet, so liegt in der dadurch bedingten Störung der physiologischen Abläufe zugleich eine Gesundheitsbeeinträchtigung der Mutter.49 bb) Bereits vorhandene Leiden

3.41

Solche schließen den Eintritt einer Körper- oder Gesundheitsverletzung nicht aus. Wird das bestehende Leiden durch den Unfall verschlimmert, so erfasst die Haftung die dem Verletzten hierdurch entstehenden Mehraufwendungen bzw. -beeinträchtigungen.50 Das Gleiche gilt bei der durch den Unfall verursachten Beschleunigung des Verlaufs eines beim Unfall vorhandenen Leidens.51 cc) Krankhafte Anlage

3.42

Kommt es zu der Verletzung nur infolge einer krankhaften Anlage bei dem Verletzten, so berührt dies die Haftung nicht. § 7 StVG greift daher auch ein, wenn ein latenter Krankheitszustand durch den Unfall in ein akutes Stadium übergeführt wird,52 z.B. wenn ein herzleidender Kfz-Führer durch den Unfallschock ein Herzversagen erleidet53 (vgl. auch Rz. 19.27 ff.). Die Grenze der Zurechnung wird auch insoweit durch das Merkmal der Adäquanz gezogen.54 dd) Psychische Auswirkungen

3.43

Psychische Auswirkungen des Unfalls (z.B. ein Schock) sind als Gesundheitsschäden anzusehen, sofern sie Krankheitswert besitzen, d.h. pathologisch fassbar sind.55 Sie können als Primärverletzung unmittelbar durch den Unfall oder sein Miterleben56 (s. Rz. 3.45) oder mittelbar durch die Nachricht vom Unfall einer nahestehenden Person (s. Rz. 3.46) ausgelöst werden, 47 BGH v. 11.1.1972 – VI ZR 46/71, BGHZ 58, 48; BGH v. 5.2.1985 – VI ZR 198/83, NJW 1985, 1390 mit Anm. Deubner = MedR 1985, 275 mit Anm. Dunz; OLG Celle v. 2.11.2000 – 14 U 17/ 00, OLGR Celle 2001, 104; Stoll JZ 1972, 365. 48 Vgl. die in NZV 1992, 435 referierte Entscheidung des Supreme Court of New South Wales. 49 OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 5 U 22/91, NJW 1991, 2355; a.A. OLG Düsseldorf v. 9.11.1987 – 8 W 56/87, NJW 1988, 777. 50 BGH v. 2.4.1968 – VI ZR 156/66, VersR 1968, 648. 51 BGH v. 8.11.1965 – III ZR 114/64, VersR 1966, 162. 52 BGH v. 22.3.1966 – VI ZR 233/64, VersR 1966, 637; BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 42/67, VersR 1968, 804. 53 BGH v. 11.6.1974 – VI ZR 37/73, VersR 1974, 1030. 54 Sehr eng aber OLG Hamm v. 2.10.2001 – 27 U 41/01, MDR 2002, 334: keine Zurechnung, wenn HWS so weit vorgeschädigt war, dass Beschwerden auch ohne den Unfall alsbald durch beliebiges Alltagsereignis ausgelöst worden wären. 55 BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 344 m.w.N. Eingehend Schneider/Nugel NJW 2014, 2977; Quaisser NZV 2015, 465, 466 ff.; Burmann/Jahnke NZV 2012, 505; Eschelbach/Geipel NZV 2010, 481, 486; Halm/Staab DAR 2009, 677. 56 BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 548/12, NJW 2015, 1451 mit Anm. Thora; dazu auch Zwickel NZV 2015, 214 u. Burmann/Heß NJW 2016, 200.

56 | Greger

III. Unfall mit Personen- oder Sachschaden als konkreter Haftungsgrund | Rz. 3.47 § 3

aber auch als Folgewirkung von körperlichen Verletzungen auftreten57 (zu Letzterem s. Rz. 19.23; zu Beweisfragen s. Rz. 41.54). Die Rspr. ist in diesem Bereich – bei allem Verständnis für die Abwehr überzogener Entschädigungsforderungen – vielfach zu restriktiv: Der BGH erkennt zwar traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert als Verletzung des geschützten Rechtsguts Gesundheit an, verlangt hierfür aber grundsätzlich eine direkte Unfallbeteiligung, d.h. ein Betroffensein durch das Unfallgeschehen als solches.58 Als maßgeblich für diese Einschränkung sieht er an, dass der Schädiger dem psychisch Geschädigten die Rolle eines unmittelbaren Unfallbeteiligten aufgezwungen hat, liefert für diese Voraussetzung aber keine Begründung. Deshalb versagte er zwei Polizeibeamten, die nach einem Geisterfahrerunfall das Verbrennen der Fahrzeuginsassen hilflos mit ansehen mussten, die Entschädigung für eine hierdurch erlittene posttraumatische Belastungsstörung.

3.44

Psychische Belastungen, die durch das Miterleben eines Unfalls ausgelöst werden, begründen nach der Rspr. lediglich dann eine Ersatzpflicht, wenn zu dem Verunglückten eine „enge personale Verbundenheit“ bestand.59 Selbst bei schwerer Verletzung eines Kindes stellte der BGH aber hohe Anforderungen an das Vorliegen eines ersatzfähigen Gesundheitsschadens, weil die unter schweren psychischen Folgen leidende Mutter den Unfall selbst nicht miterlebt hat, sondern erst zu dem verunglückten Kind gerufen wurde.60

3.45

Psychische Beeinträchtigungen, die (ohne Konfrontation mit dem Unfallgeschehen selbst) durch die Nachricht vom Unfalltod oder einer schweren Verletzung61 eines nahen Angehörigen ausgelöst werden, erkennt die Rspr. dann als ersatzfähige Gesundheitsverletzungen an, wenn sie über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom tödlichen Unfall eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind.62 Durch die Einführung des Hinterbliebenengeldes (§ 10 Abs. 3 StVG) hat sich am Anspruch wegen eigener Gesundheitsverletzung des Angehörigen nichts geändert; ein Schmerzensgeldanspruch wegen eigener Verletzung geht vor.63

3.46

Die Tendenz der Rspr. verdient insoweit Zustimmung, als nicht jede durch einen Unfall – mittelbar oder unmittelbar – ausgelöste seelische Erschütterung als haftungsbegründende Gesundheitsverletzung anerkannt werden kann. Wegen der individuell sehr unterschiedlichen

3.47

57 BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 344. 58 BGH v. 22.5.2007 – VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 = NJW 2007, 2764 mit zust. Anm. Elsner = JZ 2007, 1154 mit krit. Anm. Teichmann; OLG Schleswig v. 1.8.2019 – 7 U 14/18, MDR 2019, 1379 (Traumatisierung eines Rettungssanitäters durch Explosion des Unfallfahrzeugs, nicht aber durch Miterleben der Verletzung befreundeter Kollegen). 59 BGH v. 20.3.2012 – VI ZR 114/11, NJW 2012, 1730 m.w.N. (zu Recht verneint bei tödlicher Verletzung eines Hundes; OLG Schleswig v. 1.8.2019 – 7 U 14/18, MDR 2019, 1379 (freundschaftliches oder kollegiales Verhältnis genügt nicht); a.A. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 191; BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 548/12, NJW 2015, 1451 mit Anm. Thora (zu Recht bejaht bei unmittelbarem Miterleben des tödlichen Unfalls der Ehefrau). 60 BGH v. 10.2.2015 – VI ZR 8/14, NJW 2015, 2246 = NZV 2015, 281 mit Anm. Burmann. 61 So zu Recht BGH v. 5.2.1985 – VI ZR 198/83, NJW 1985, 1390 mit Anm. Deubner = MedR 1985, 275 mit Anm. Dunz. 62 BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 548/12, NJW 2015, 1451 m.w.N.; BGH v. 10.2.2015 – VI ZR 8/14, NJW 2015, 2246 = NZV 2015, 281 mit Anm. Burmann; OLG Karlsruhe v. 8.10.2011 – 1 U 28/11, NZV 2012, 41 (getrennt lebende Ehefrau). 63 Wagner NJW 2017, 2641, 2645.

Greger | 57

§ 3 Rz. 3.47 | Haftung des Kfz-Halters

Anfälligkeit gegenüber psychischen Einwirkungen und zur Vermeidung uferloser Haftung sind Beeinträchtigungen des psychischen Allgemeinempfindens, die erfahrungsgemäß mit schockierenden Erlebnissen verbunden sind und nach allgemeiner Anschauung nicht als Gesundheitsverletzung betrachtet werden, hiervon auszuschließen, auch wenn sie mit einer depressiven Verstimmung oder vorübergehenden körperlichen Symptomen (wie Zittern, Weinen, Kreislaufbeschwerden) einhergehen. Dagegen kann eine psychisch vermittelte Gesundheitsschädigung bejaht werden bei bleibenden psychosomatischen Beschwerden oder bei psychopathologischen Auswirkungen (insb. Neurose, Psychose, Depression, posttraumatisches Belastungssyndrom). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn es zu dem krankhaften Zustand durch Fehlverarbeitung infolge einer abnormen psychischen Disposition gekommen ist (vgl. Rz. 19.23). Handelt es sich bei dem Schadensereignis jedoch um eine Bagatelle, die üblicherweise nicht zu einer nachhaltigen Beeindruckung führt, ist die Zurechenbarkeit zu verneinen. – Bei der psychischen Beeinträchtigung einer Schwangeren, die zur Schädigung des Ungeborenen führt, kommt es nicht auf den Grad ihrer persönlichen Beeinträchtigung an, sondern darauf, ob der Gesundheitsschaden, der das Ungeborene getroffen hat, den Rahmen dessen übersteigt, was ein Kind im Mutterleib durch die Teilnahme am Lebensschicksal und der jeweiligen Befindlichkeit der Mutter erleidet. – Bei der Schädigung durch Miterleben eines besonders schockierenden Unfalls oder seiner Folgen sollte die Beschränkung auf nahe Angehörige aufgegeben werden, denn auch völlig fremde Personen können durch solche Erlebnisse einen Gesundheitsschaden erleiden. Von professionellen Unfallhelfern wird das Verkraften hierbei eher zu erwarten sein als bei Zufallszeugen. – Zum Ausschluss der Haftung für sog. Renten- oder Begehrensneurosen s. Rz. 19.24. ee) Verdacht einer Gesundheitsverletzung

3.48

Ist nach dem Unfallbild oder aufgrund von Symptomen der Verdacht einer Gesundheitsverletzung begründet, besteht ein Anspruch auf Ersatz von Untersuchungskosten auch dann, wenn keine Verletzung festgestellt wird.64 Führt der Verdacht dazu, dass der untersuchende Arzt eine falsche Diagnose stellt, die beim Unfallbeteiligten psychische Beeinträchtigungen auslöst, fehlt es allerdings an der Zurechenbarkeit.65

4. Sachschaden 3.49

Abweichend von § 823 Abs. 1 BGB knüpft die Gefährdungshaftung nach § 7 StVG nicht an eine Verletzung des Eigentums, sondern an die Beschädigung einer Sache an. Die Rechtsprechung zur deliktischen Haftung, die eine Ersatzpflicht auch bei bloßen Nutzungsbeeinträchtigungen bejaht, kann daher nicht ohne weiteres auf die verschuldensunabhängige Haftung übertragen werden (dazu s. Rz. 3.53). Wer derartige, u.U. sehr weit gehende Ansprüche geltend machen will, muss den Nachweis einer deliktischen Verantwortung erbringen.

3.50

In den Schutz der Gefährdungshaftung einbezogen sind grundsätzlich nur Sachen außerhalb des Kfz. Für beförderte Sachen gilt sie nur unter den Voraussetzungen des § 8 Nr. 3 Halbsatz 2 StVG (s. Rz. 22.13 ff.). Ob es sich um bewegliche oder unbewegliche Sachen handelt, ist un-

64 Ebenso im Erg. KG v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, NZV 2003, 281; a.A. BGH v. 17.9.2013 – VI ZR 95/13, NZV 2014, 23 mit abl. Anm. Huber. Nach BGH v. 23.6.2020 – VI ZR 435/19 Rz. 20, NJW 2020, 3176 mit Anm. Almeroth können allerdings auch die Symptome schon eine Körperverletzung darstellen (s. Rz. 3.39). 65 OLG Hamm v. 8.9.2005 – 6 U 185/04, DAR 2007, 705.

58 | Greger

III. Unfall mit Personen- oder Sachschaden als konkreter Haftungsgrund | Rz. 3.53 § 3

erheblich. Umfasst sind daher auch schädliche Einwirkungen auf ein Grundstück, z.B. durch auslaufenden Kraftstoff, sowie Beschädigungen der Fahrbahndecke, von Verkehrseinrichtungen oder Bäumen. Tiere sind Sachen i.S. dieser Bestimmung (§ 90a Satz 3 BGB). Auch Körperersatzteile fallen unter Sach-, nicht unter Personenschaden.66

a) Beschädigung Unter Beschädigung ist die nachteilige Einwirkung auf eine Sache zu verstehen. In der Regel wird diese in einem Eingriff in die Sachsubstanz bestehen. Analog zur erweiternden Auslegung des § 304 StGB in der Rechtsprechung der Strafgerichte sind aber auch körperliche Einwirkungen auf die Sache, durch die ihre bestimmungsgemäße (technische) Brauchbarkeit nachhaltig gemindert wird,67 unter diesen Begriff zu fassen. Daher können auch durch den Unfall verursachte Verunreinigungen der Straßenoberfläche darunterfallen (näher s. Rz. 3.52). Die völlige Vernichtung und der unwiederbringliche Besitzverlust (z.B. von nicht mehr auffindbaren Gegenständen) sind ihr gleichzustellen.68 Ein bloßer, nicht auf eine Veränderung der Sache zurückgehender Vermögensnachteil (z.B. wegen verspäteter Ankunft von Ladegut) wird nicht von § 7 StVG erfasst. Die Kosten der Untersuchung einer Sache auf mögliche Beschädigungen sind jedoch zu ersetzen, wenn nach dem Unfallbild ein begründeter Schadensverdacht besteht.69

3.51

Die Verunreinigung der Straße, z.B. durch auslaufende Betriebsstoffe oder verlorene Ladung, ist eine Sachbeschädigung i.S.d. § 7 StVG, sofern in ihre Substanz eingegriffen oder ihre bestimmungsgemäße Brauchbarkeit nachhaltig gemindert wird,70 also z.B., wenn Öl ausgelaufen ist und mit Einsatz chemischer Mittel aus dem Straßenbelag entfernt werden muss, oder wenn die Fahrbahndecke verfärbt, verformt oder verkratzt wurde. Oberflächliche Verunreinigungen, die durch Abkehren oder -spritzen beseitigt werden können, sind nur dann als Sachbeschädigung zu qualifizieren, wenn sie die Nutzung der Straße als Verkehrsweg nicht nur unerheblich gemindert haben.

3.52

b) Einschränkung der Nutzbarkeit Die bloße, d.h. nicht mit einer physischen Einwirkung auf die Sache verbundene Beeinträchtigung der Nutzbarkeit ist – anders als bei § 823 Abs. 1 BGB (s. Rz. 3.49) – keine Beschädigung i.S.d. § 7 StVG.71 Hierunter lässt sich zwar noch die völlige, endgültige Besitzentziehung, nicht aber die bloße Nutzungsbeeinträchtigung subsumieren. Wird daher z.B. durch ein Unfallfahrzeug der Eingang zu einem Ladengeschäft blockiert, eine Straße vorübergehend durch Fahrzeugtrümmer oder verlorene Ladung blockiert, die Zufahrt zu einer Autobahnraststätte verhindert oder ein Kfz im unfallbedingten Stau festgehalten, sind hieraus erwachsende Beeinträchtigungen des Eigentums nicht nach § 7 StVG zu ersetzen (zur deliktischen Haftung s. Rz. 10.14 f.).

66 67 68 69

RG JW 1924, 1870. BGH v. 12.2.1998 – 4 StR 428/97, BGHSt 44, 34 = NJW 1998, 2149, 2150. Für den Fall der Ausplünderung vgl. RG VAE 1939, 278. Vgl. zur vertraglichen Haftung BGH v. 24.5.2000 – I ZR 84/98, VersR 2001, 127; BGH v. 11.7.2002 – I ZR 36/00, TranspR 2002, 440. 70 BGH v. 6.11.2007 – VI ZR 220/06, NZV 2008, 83, 84; BGH v. 28.6.2011 – VI ZR 184/10, NZV 2011, 595, 596. 71 Geigel/Schmidt Kap. 1 Rz. 12; Schirmer DAR 1992, 11, 17.

Greger | 59

3.53

§ 3 Rz. 3.54 | Haftung des Kfz-Halters

c) Beeinträchtigung eines Rechts 3.54

Die Beeinträchtigung eines Besitzrechts an der Sache kann ebenso wie in § 823 Abs. 1 BGB eine Haftung begründen. Zwar sind anders als dort die „sonstigen Rechte“ nicht als Schutzobjekte genannt, die Erstreckung der Haftung auf Besitzrechte (z.B. des Mieters, Pächters, Nießbrauchers, Leasingnehmers) folgt aber daraus, dass § 7 StVG nicht auf das Eigentum, sondern auf die Beschädigung einer Sache abstellt. Liegt eine solche vor, so kann auch der Besitzberechtigte Ersatz eines ihm entstandenen Schadens, welcher freilich nicht Substanz-, sondern nur Nutzungs- oder Haftungsschaden sein kann, verlangen.72

3.55

Ebenso zu beurteilen ist die Beeinträchtigung eines Aneignungsrechts. Wird daher z.B. ein jagdbares Tier durch die Kollision mit einem Kfz getötet, kann der Jagdberechtigte Ersatz für die Vereitelung seines Aneignungsrechts nach § 1 Abs. 1 BJagdG verlangen. Darauf, dass das Tier zum Zeitpunkt des Unfalls noch herrenlos war (§ 960 Abs. 1 BGB), kommt es nicht an, da § 7 StVG nicht auf das Eigentum abstellt.73 Der Wert des Aneignungsrechts ist nach § 287 ZPO zu schätzen.

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ 1. Betrieb des Kfz a) Begriffsbestimmung 3.56

Um die verschuldensunabhängige Haftung des Kfz-Halters sachgerecht einzugrenzen, beschränkt § 7 Abs. 1 StVG diese auf solche Unfallschäden, die bei dem Betrieb des Kfz entstanden sind. Dieses Tatbestandsmerkmal enthält ein deskriptives und ein kausales Element. Die Präposition „bei“ bringt das Erfordernis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Betrieb und Unfall zum Ausdruck und wirft damit die von der Verschuldenshaftung her bekannte Frage auf, ob jeder Kausalzusammenhang (i.S.d. Äquivalenztheorie) ausreicht oder ob es einer Selektion nach bestimmten Zurechnungskriterien bedarf (dazu s. Rz. 3.67 ff.). Aber auch das deskriptive Merkmal „Betrieb eines Kfz“ bereitet gravierende Abgrenzungsprobleme. Seine Auslegung hat sich selbst in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundlegend gewandelt und ist bis heute umstritten.

3.57

Einigkeit besteht lediglich darin, dass es nicht technisch, sondern normativ, nach Sinn und Zweck der Halterhaftung – und damit eher weit – auszulegen ist. Der BGH verlangt eine wertende Betrachtung, ob es sich bei dem Schaden um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll; maßgeblich sei demnach, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kfz steht.74

72 BGH v. 18.11.1980 – VI ZR 215/78, VersR 1981, 161; BGH v. 29.1.2019 – VI ZR 481/17, NJW 2019, 1669 (die Frage des Substanzschadens offen lassend). 73 A.A. Weimar WM 1981, 636. 74 BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173 = NZV 2017, 176 mit Anm. Quaisser = DAR 2017, 135 mit Anm. Schneider 268; MünchKomm-StVR/Engel § 7 StVG Rz. 13.

60 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.60 § 3

Diese (sehr offene) Formel lässt, wie die reiche Kasuistik (s. Rz. 3.103 ff.) zeigt, viel Spielraum für wertende Betrachtungen.75 Fest steht jedenfalls, dass dem Zweck des Gesetzes, einen Ausgleich für die Gefahren des Kfz-Betriebs zu schaffen, mit der bei Erlass des Gesetzes im Jahre 1906 herrschenden motortechnischen Betrachtung angesichts der Entwicklung des Straßenverkehrs nicht mehr genügt werden kann. Entgegen der älteren Rechtsprechung kommt es deshalb nach heutiger Auffassung nicht mehr darauf an, ob das Kfz zum Unfallzeitpunkt durch Motorkraft bewegt wurde oder für wie lange und aus welchem Grund es mit abgeschaltetem Motor auf der Straße stand.76 Vielmehr müssen auch die Gefahren, die vom ruhenden Verkehr hervorgerufen werden, in den Schutz der Gefährdungshaftung einbezogen werden. Mit einer Entscheidung aus dem Jahre 2014 hat der BGH jedoch jeglichen Verkehrsbezug des Betriebsbegriffs aufgegeben und auch die Selbstentzündung eines seit längerer Zeit in der Garage stehenden Kfz einbezogen.77 Zu Recht hat diese Entscheidung im Schrifttum durchwegs Ablehnung erfahren.78 Sie ist mit der auf die Kompensation von Verkehrsgefahren gerichteten Ratio des § 7 StVG79 nicht mehr vereinbar; für eine richterliche Rechtsfortbildung fehlt es an tragfähigen Gründen.

3.58

b) Abgrenzungsfragen aa) Örtlichkeit Keine Rolle spielt für den Betriebsbegriff, ob sich das Kfz im öffentlichen Verkehrsraum befindet. § 7 StVG beschränkt (anders als § 1 Abs. 1 StVG für die Zulassungspflicht) seine Geltung nicht auf öffentliche Verkehrsflächen. Sein Schutzzweck gebietet vielmehr die Erstreckung auf Schäden, die durch den auf Privatgrund durchgeführten Betrieb eines Kfz verursacht worden sind.80 Vorauszusetzen ist allerdings, dass dort überhaupt ein Verkehr stattfindet. Dass der haftungsbegründende Betrieb nach neuerer Rechtsprechung des BGH nicht einmal dann enden soll, wenn das Kfz in einer privaten Sammelgarage abgestellt wird, erscheint allerdings verfehlt.81 Die vom BGH geforderte „wertende Betrachtung“ darf nicht so weit gehen, dass jede Anknüpfung an die vom Kfz als Verkehrsmittel ausgehende Gefahr aufgegeben wird.82

3.59

bb) Teilnahme am Verkehr Richtigerweise muss die Gefahr in unmittelbarem Zusammenhang mit der Teilnahme des Kfz am Verkehr stehen. 75 Zu Recht kritisch gegenüber dieser Formel Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 314. 76 BGH v. 9.1.1959 – VI ZR 202/57, BGHZ 29, 163 entgegen RGZ 122, 270. 77 BGH v. 21.1.2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377. Ihm folgend OLG Hamm v. 19.2.2019 – 9 U 192/17, NJW-RR 2019, 666. 78 BHHJ/Burmann, § 7 StVG Rz. 9; Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 319; Herbers NZV 2014, 208; Schwab DAR 2014, 197; Lemcke r+s 2014, 195. Abl. auch österr. OGH v. 23.2.2017 – 2 Ob 188/ 16k, ZVR 2017, 204. 79 Diese betont in st. Rspr. auch der BGH; vgl. BGH v. 26.3.2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227 m.w.N. u. Anm. Herbers. 80 BGH v. 7.4.1952 – III ZR 363/51, BGHZ 5, 318, 320 (Rennbahn); BGH v. 20.11.1980 – III ZR 122/79, VersR 1981, 252 (Kasernengelände); BGH v. 25.10.1994 – VI ZR 107/94, NZV 1995, 19, 20 (abgestelltes Kfz auf Trabrennbahn); BAG v. 28.9.1989 – 8 AZR 120/88, VersR 1990, 545, 546 (Betriebshof); Grüneberg NZV 2001, 109, 110; a.A. Schwab DAR 2011, 11, 15. 81 So BGH v 21.1.2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377 = NZV 2014, 207 mit abl. Anm. Herbers = r+s 2014, 194 mit abl. Anm. Lemcke = DAR 2014, 196 mit abl. Anm. Schwab. S. auch Rz. 3.58. 82 Zu Recht kritisch daher Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 319 zur vorgenannten Entscheidung.

Greger | 61

3.60

§ 3 Rz. 3.61 | Haftung des Kfz-Halters

3.61

Deshalb ist z.B. ein Schadensereignis, welches dadurch ermöglicht wurde, dass eine Person per Kfz an einen bestimmten Ort gelangt ist, nicht deswegen dem Betrieb dieses Kfz zuzurechnen. Ebenso fehlt es an der notwendigen Verknüpfung, wenn allein die Tatsache eines Verkehrsunfalls (nicht dessen reale Auswirkungen wie Fahrbahnverschmutzung oder Hindernisbereitung) Auslöser für ein weiteres, eigenständiges Schadensereignis war, z.B. das Verunglücken eines zur Unfallstelle fahrenden Einsatzfahrzeugs oder die Schädigung eines Dritten durch den Selbsttötungsversuch eines verunglückten Kraftfahrers.83 Der Sturz eines Fußgängers auf einem mangelhaft geräumten Gehweg kann aus demselben Grund nicht dem Betrieb der Zugmaschine zugerechnet werden, mit deren Hilfe die Räumung vorgenommen wurde,84 ebenso wenig der Schaden, der durch ein Metallteil ausgelöst wird, welches sich von einem landwirtschaftlichen Arbeitsgerät gelöst hat, als es von einem Traktor über eine Wiese gezogen wurde.85 Zu bejahen ist der Zusammenhang dagegen, wenn der Fahrer eines Lkw sein Fahrzeug auf dem Seitenstreifen der BAB abstellt, sich auf den Mittelstreifen begibt, um von dort aus verstreute Papiere einzusammeln und es wegen der hierdurch veranlassten Ausweichmanöver zu einer Kollision zwischen zwei Pkw kommt.86

cc) Arbeitsgerät

3.62

Wird das Kfz im Unfallzeitpunkt nicht als Verkehrsmittel, sondern als Arbeitsgerät betrieben, greift bei einem durch diese Funktion, nicht durch seine Fortbewegungs- und Transportfunktion verursachten Schaden § 7 StVG nicht ein.87 Dies gilt auch dann, wenn die Maschine zwar bewegt wird, dies aber lediglich dem Bestellen einer landwirtschaftlichen Fläche dient.88 Verrichtet das Kfz seine Arbeit hingegen während der Fahrt auf einem Verkehrsweg, liegt ein Betriebsvorgang vor. Beim stehenden Kfz kommt es darauf an, ob es sich beim Unfall um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn des § 7 StVG schadlos gehalten werden soll.

3.63

Daher gehört es zwar zum Betrieb des Kfz, wenn beim Entladen eines Tankwagens ein Schaden dadurch entsteht, dass Öl aus einem undichten Schlauch auf die Straße läuft oder jemand über den Schlauch stolpert89, nicht dagegen, wenn der Öltank im Hause beim Ladevorgang wegen Überfüllung überläuft90 oder wegen eines defekten Einfüllstutzens am Haus Öl ins Erdreich gelangt.91 Bei einer auf der Autobahn eingesetzten Arbeitsmaschine, die ihre Funktion (Durchführung oder Sicherung von Mäharbeiten) während langsamer Fahrt verrichtet, ist der Zusammenhang mit der Eigenschaft als Verkehrsmittel zu bejahen.92 Blockiert ein Polizeifahrzeug die Autobahn, um einen künstlichen Stau aufzubauen, ist ein Auffahrunfall am Stauende ebenfalls seinem Betrieb zuzurechnen.93 Verliert ein Kreiselschwader oder -mäher beim Arbeiten auf der Wiese ein Metallteil oder schleudert er einen Stein auf ein angrenzendes Grundstück, handelt es sich nicht um einen Betriebsvorgang i.S.v. § 7 StVG.94

83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

OLG Frankfurt [Kassel] v. 3.7.1990 – 14 U 43/89, NZV 1990, 395. Österr. OGH, ZVR 1989, 155. BGH v. 24.3.2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681. OLG Hamm v. 24.11.2008 – 6 U 105/08, NZV 2009, 187. BGH v. 24.3.2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681 m.w.N. BGH v. 24.3.2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681, 1682 f.; OLG Düsseldorf v. 7.4.2020 – 1 U 155/18, MDR 2020, 985. BGH v. 8.12.2015 – VI ZR 139/15, NJW 2016, 1162. BGH v. 23.5.1978 – VI ZR 150/76, BGHZ 71, 212. BGH v. 14.6.1993 – III ZR 135/92, NJW 1993, 2740. BGH v. 13.12.1990 – III ZR 14/90, NZV 1991, 185; BGH v. 18.1.2005 – VI ZR 115/04, NZV 2005, 305, 306. OLG Bamberg v. 6.4.2006 – 5 U 289/05, NZV 2007, 241. BGH v. 24.3.2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681; OLG Düsseldorf v. 7.4.2020 – 1 U 155/18, MDR 2020, 985. Zu Mäharbeiten am Straßenrand s. aber Rz. 3.121.

62 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.67 § 3

dd) Kraftfahrzeugspezifische Gefahr Unerheblich ist, ob sich eine aus den Merkmalen eines Kfz resultierende Gefahr verwirklicht hat oder ob es auch dann zum Unfall gekommen wäre, wenn an dem Geschehen anstatt des Kfz ein nicht motorisiertes Fahrzeug beteiligt gewesen wäre.95 Die unter diesem Aspekt etwas willkürlich erscheinende Beschränkung der Gefährdungshaftung auf Kfz lässt sich damit rechtfertigen, dass ihre Betriebsgefahr für das erhöhte Gefahrenpotential des modernen Straßenverkehrs verantwortlich ist. Daraus ergibt sich zugleich, dass nicht jeder aus dem Vorliegen eines kraftfahrzeugtypischen Gefahrenmoments (z.B. dem Mitführen brennbaren Kraftstoffs) erwachsende Schadensfall dem Betrieb des Kfz zugerechnet werden darf. Die in diese Richtung tendierende neuere Rechtsprechung des BGH96 führt in eine uferlose Gefährdungshaftung.97

3.64

ee) Berührung Keine Rolle spielt schließlich auch, ob es zu einer Berührung mit dem Kfz gekommen ist. Die Halterhaftung kann auch dann eingreifen, wenn der Unfall mittelbar durch das Kfz verursacht worden ist, z.B. durch eine Abwehr- oder Ausweichreaktion des Geschädigten oder eines Dritten (s. Rz. 3.81 ff., 3.124, 3.160). Die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kfz an der Unfallstelle reicht jedoch für eine Haftung nicht aus. So wird z.B. der Halter eines überholten Kfz nicht deswegen haftpflichtig, weil das überholende Fahrzeug bei diesem Vorgang von der Straße abkommt. Das Kfz muss vielmehr durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen haben.98

3.65

ff) Fallgruppen

3.66

Wegen der Abgrenzung bei einzelnen Fallgestaltungen s. Rz. 3.103 ff.

2. Zurechnungszusammenhang a) Kausalität Mit der Formulierung „bei dem Betrieb“ bringt das Gesetz das Erfordernis einer kausalen Verknüpfung zwischen dem Betrieb des Kfz und der Verletzung bzw. Schädigung des Anspruchsberechtigten zum Ausdruck. Eine Haftung des Kfz-Halters wird nicht allein dadurch begründet, dass sich sein Fahrzeug zum Zeitpunkt eines Unfalls (zufällig) in unmittelbarer Nähe befand; der Betrieb dieses Fahrzeugs muss vielmehr zum Entstehen des Unfalls beigetragen haben.99 Der Nachweis dieser haftungsbegründenden Kausalität bereitet dem Geschädigten u.U. erhebliche Schwierigkeiten, wenn keine Kollision mit dem Kfz, aber eine mittelbare Beeinflussung des Unfallgeschehens stattgefunden hat (wegen Beweiserleichterungen s. Rz. 3.172) oder wenn es darum geht, Fernwirkungen des Unfallgeschehens in die Gefähr-

Vgl. RG v. 9.12.1929 – VI 217/29, RGZ 126, 333, 336. So aber BGH v. 21.1.2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377; s. dazu Rz. 3.58. Ebenso Herbers NZV 2014, 208. BGH v. 19.4.1988 – VI ZR 96/87, NJW 1988, 2802; BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173 = NZV 2017, 176 mit Anm. Quaisser = DAR 2017, 135 mit Anm. Schneider 268. Rspr.-Überblick bei Rebler MDR 2018, 125. 99 BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173 = NZV 2017, 176 mit Anm. Quaisser = DAR 2017, 135 mit Anm. Schneider 268. 95 96 97 98

Greger | 63

3.67

§ 3 Rz. 3.67 | Haftung des Kfz-Halters

dungshaftung einzubeziehen (zu speziellen Zurechnungsfragen bei der Haftungsbegründung s. Rz. 3.76 ff., bei der Haftungsausfüllung s. Rz. 19.8 ff.).

3.68

Bei der deliktischen Haftung ist Grundlage der Zurechnung der naturwissenschaftliche Kausalitätsbegriff der Äquivalenzlehre, demzufolge alle Bedingungen als (äquivalente) Ursachen der Rechtsgutsverletzung anzusehen sind, die zu ihrer Entstehung beigetragen haben (s. Rz. 10.21 ff.). Um ein Ausufern der zivilrechtlichen Haftung und eine Abwälzung allgemeiner Lebensrisiken zu vermeiden, wird die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen dort allerdings durch die ungeschriebenen Kriterien der Adäquanz und des Normzwecks begrenzt (s. Rz. 10.26 ff.).

3.69

Auf die Gefährdungshaftung nach § 7 StVG können diese Zurechnungskriterien nicht ohne weiteres übertragen werden. Hier ergibt sich bereits aus dem Tatbestandsmerkmal „bei dem Betrieb“, dass nur die aus der spezifischen Betriebsgefahr erwachsene Schädigung dem KfzHalter zugerechnet wird, d.h. der Unfall, der auf der Verwendung des Kfz als Verkehrsmittel beruht (vgl. Rz. 3.56 ff.). Zu Recht legt der BGH dieses Merkmal weit aus. Da die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG dem Ausgleich dafür diene, dass durch die Verwendung eines Kfz erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird, müsse sie alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden sei demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kfz ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kfz (mit) geprägt worden ist.100 Für die Beurteilung dieser Prägung zieht der BGH auch das (wenig taugliche) Merkmal eines nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Schadensursache und einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kfz heran (dazu s. Rz. 3.75).

b) Schutzzweck der Norm 3.70

Wie bei der deliktischen Haftung ist auch bei § 7 StVG nicht auf den naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriff der Äquivalenzlehre, sondern auf den Zweck der Haftungsnorm abzustellen. Dieser besteht bei der Gefährdungshaftung darin, den Verkehr für die spezifischen Auswirkungen der durch den Kfz-Betrieb hervorgerufenen Gefahren schadlos halten.101 Ist eine Schädigung auf die Teilnahme eines Kfz am Verkehr zurückzuführen (s. Rz. 3.67), ist sie folglich vom Schutzzweck des § 7 StVG umfasst. Lediglich bei der Zurechnung von Haftungsfolgen, also der haftungsausfüllenden Kausalität (s. Rz. 19.5), sowie beim Entlastungsbeweis des Halters (Abs. 2) oder der mitwirkenden Betriebsgefahr (§ 17 Abs. 3 StVG) können weiter gehende Schutzzweckerwägungen zum Tragen kommen (vgl. hierzu Rz. 3.279 f., 25.135).

c) Adäquanz 3.71

Ob dieses für die deliktische Haftung entwickelte Zurechnungskriterium auch bei der Gefährdungshaftung eingesetzt werden kann, ist streitig,102 die Rspr. uneinheitlich.103 Zwar werden Schädigungen, zu denen es nur bei ganz ungewöhnlichem Verlauf der Dinge kommen kann, 100 BGH v. 26.3.2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227 m.w.N. u. Anm. Herbers. 101 BGH v. 3.7.1990 – VI ZR 33/90, NZV 1990, 425, 426; BGH v. 26.2.2013 – VI ZR 116/12, NJW 2013, 1679, 1680 m.w.N. 102 Dafür Stoll 25 Jahre KF, 1983, 184 ff.; dagegen Lange/Schiemann § 3 VII 2; Deutsch Rz. 148. 103 Bejahend z.B. BGH v. 27.5.1975 – VI ZR 95/74, NJW 1975, 1886, 1887; verneinend BGH v. 27.1.1981 – VI ZR 204/79, BGHZ 79, 259, 262; BGH v. 13.7.1982 – VI ZR 113/81, NJW 1982,

64 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.73 § 3

meist nicht mehr auf die Verwendung eines Kfz als Verkehrsmittel zurückzuführen sein und damit von vornherein außerhalb des Schutzbereichs des § 7 StVG liegen. Da aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass von § 7 StVG umfasste Betriebsgefahren in Einzelfällen außerhalb jeder Erfahrung liegende Unfallereignisse hervorrufen (z.B. bei mittelbarer Kausalität, Rz. 3.79 ff.), sollte das Kriterium der Adäquanz zur Selektion derartiger Kausalabläufe auch hier zur Verfügung stehen.104 Da es sich bei der Adäquanz um ein objektives Zurechnungskriterium handelt, bestehen keine dogmatischen Hindernisse für ihre Heranziehung bei der Gefährdungshaftung. In Österreich ist für die dem § 7 StVG entsprechende Vorschrift des § 1 EKHG in Rspr. und Lehre anerkannt, dass zwischen Betrieb und Unfall ein adäquater Zusammenhang bestehen muss.105

d) Allgemeines Lebensrisiko Vereinzelt arbeitet der BGH zudem mit den Kriterien eines eigenständigen Gefahrenkreises oder des allgemeinen Lebensrisikos des Geschädigten. So hat er z.B. in einem Fall,106 in dem sich die unfallbedingte Erregung eines Beteiligten durch das Verhalten des Schädigers bei der Unfallaufnahme zu einer Gehirnblutung mit Schlaganfall steigerte, zunächst bejaht, dass die Gesundheitsverletzung bei dem Betrieb des Kfz erfolgt ist, dann aber die Zurechnung deswegen verneint, weil sich nicht die „von dem Kfz als solchem ausgehenden Gefahren aktualisiert haben“, sondern ein eigenständiger, dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnender Gefahrenkreis. Den Sturz wegen Glatteis beim Aussteigen aus dem Unfallfahrzeug hat er hingegen anders als das Berufungsgericht dem Unfallverursacher zugerechnet.107 Die Abgrenzung nach Gefahrenkreisen ist, wie die geschilderten Fälle zeigen, schwer objektivierbar. Kann die geltend gemachte Schädigung von dem Verkehrsgeschehen als solchem abgekoppelt und allein den Vorkommnissen nach dem Unfall zugeordnet werden, dann fehlt es bereits am Merkmal „bei dem Betrieb“. Ist sie dagegen durch eine durchgängige Kausalkette mit dem Verkehrsvorgang verknüpft, was in den genannten Fällen zu bejahen sein dürfte,108 so steht die Zurechenbarkeit grundsätzlich fest und es ist allenfalls noch die Frage der Adäquanz zu prüfen (die in den Beispielsfällen zu bejahen sein dürfte).

3.72

Eine besondere Ausprägung hat der Gedanke eines die Zurechenbarkeit hindernden „eigenständigen Gefahrenkreises“ des Geschädigten in einem Fall erfahren, in dem einem Schweinezüchter dadurch Schaden entstanden war, dass seine Tiere durch das Geräusch eines Verkehrsunfalles in Panik geraten waren.109 Der BGH ging zwar davon aus, dass sich in diesem Lärm Gefahren des Kfz-Verkehrs verwirklichten und dass die Reaktion der Tiere mit dieser Lärmentwicklung und damit mit dem Betrieb des unfallverursachenden Kfz ursächlich zusammenhing, verneinte aber gleichwohl die Zurechenbarkeit mit der Begründung, in dem Schadensfall habe sich „in erster Linie ein Risiko verwirklicht, das der Kläger dadurch selbst geschaffen hat, dass er seine Schweine unter Bedingungen aufgezogen hat,

3.73

104 105 106 107 108 109

2669. S. hierzu Dunz VersR 1984, 600 und die Kritik von Stoll 25 Jahre KF, 1983, 185 und VersR 1984, 1133. Ebenso MünchKomm-StVR/Engel § 7 StVG Rz. 13, jedoch ohne klare Abgrenzung vom Normzweckgedanken; ähnlich Schünemann NJW 1981, 2796 unter Vermengung mit beweisrechtlichen Erwägungen; a.A. Lange NZV 1990, 426, 427. Österr. OGH, ZVR 1995, 310 m.w.N. BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 241/88, BGHZ 107, 359 = JZ 1989, 1069 mit Anm. v Bar = JR 1990, 112 mit Anm. Dunz. Abl. zu dieser Entscheidung auch Börgers NJW 1990, 2535. BGH v. 26.2.2013 – VI ZR 116/12, NJW 2013, 1679. Zu BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 241/88, BGHZ 107, 359 ebenso Börgers NJW 1990, 2537; a.A. v Bar JZ 1990, 1072. BGH v. 2.7.1991 – VI ZR 6/91, BGHZ 115, 84.

Greger | 65

§ 3 Rz. 3.73 | Haftung des Kfz-Halters die sie für Geräusche, wie sie der Straßenverkehr mit sich bringt, besonders anfällig macht“. Der Kläger habe dadurch für seinen Betrieb einen gegenüber der Kfz-Betriebsgefahr eigenständigen Gefahrenkreis geschaffen, dessen Risiken er selbst tragen müsse; eine Haftung für derartige Schäden werde vom Schutzzweck des § 7 StVG nicht mehr erfasst. Auch gegenüber dieser Entscheidung ist einzuwenden, dass sie die an sich klaren Grenzen des Schutzbereichs von § 7 StVG (s. Rz. 3.69) mit Überlegungen verwässert, die richtigerweise bei der Prüfung der Adäquanz oder einer Mithaftung aus mitwirkender Tiergefahr anzusiedeln wären.110

3.74

Ähnliche Fragen stellen sich in den Fällen, in denen Personen geschädigt werden, die an dem Unfallereignis als solchem überhaupt nicht beteiligt waren, sondern z.B. durch eine Schreckreaktion,111 die Erschütterung durch das Miterleben des Unfalls112 oder den Schock infolge der Unfallnachricht (s. Rz. 3.43) körperliche Schäden erleiden. Hier zieht die Rechtsprechung vielfach den Ausschlussgrund des allgemeinen Lebensrisikos heran. Näher zu den Fällen mittelbarer Schädigung Dritter s. Rz. 19.15 ff.

e) Zeitlicher und örtlicher Zusammenhang 3.75

Zur Auslegung des Merkmals „bei dem Betrieb“ wird in der Rechtsprechung standardmäßig auch darauf abgestellt, ob zwischen Betrieb und Schaden ein zeitlicher und örtlicher Zusammenhang besteht.113 Diesem Merkmal kommt jedoch neben dem Schutzzweckgedanken keine eigene Bedeutung zu; es ist eher geeignet, Missverständnisse hervorzurufen, denn dem Betrieb eines Kfz ist auch der Unfall zuzurechnen, der durch Verschmutzung oder verlorene Fahrzeugteile zu einem Zeitpunkt hervorgerufen wird, als sich das betreffende Kfz schon lange von der späteren Unfallstelle entfernt hat.114 Das Kfz braucht zum Zeitpunkt des Unfalls nicht einmal mehr in Betrieb zu sein.115 Der nahe zeitliche und örtliche Zusammenhang muss nämlich nicht zwischen Betriebsvorgang und Schadensfolge bestehen, sondern zwischen Betriebsvorgang und Schadensursache.116 Das wird aber in allen vom Schutzzweck der Norm umfassten Abläufen der Fall sein, so dass das Merkmal entbehrlich ist.

3. Spezielle Kausalitätsprobleme a) Überholende Kausalität 3.76

Die überholende Kausalität, auch hypothetischer Ursachenzusammenhang genannt, ist kein in den Fragenkreis der Verursachung fallendes Problem.117 Die Kausalität des Betriebs eines Kfz für einen Unfall wird nicht dadurch aufgehoben, dass der nämliche Schaden durch eine

110 Kritisch zu der Entscheidung auch Kötz NZV 1992, 218, dessen ökonomischem, auf die Ortsüblichkeit der schadensbegünstigenden Tätigkeit abstellendem Lösungsansatz aber ebenfalls nicht zugestimmt werden kann. Deutsch JZ 1992, 97 begrüßt die Entscheidung hingegen als Beginn einer Neuordnung der haftungsrechtlichen Zuordnung, die sich von den herkömmlichen Instrumentarien löst. 111 OLG Stuttgart v. 7.8.2012 – 13 U 78/12, NZV 2013, 349. 112 BGH v. 22.5.2007 – VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 = NJW 2007, 2764 mit Anm. Elsner. 113 S. nur BGH v. 26.2.2013 – VI ZR 116/12, NJW 2013, 1679 m.w.N. 114 BGH v. 13.7.1982 – VI ZR 113/81, NJW 1982, 2669. 115 Vgl. RG v. 1.7.1942 – III 2/42, RGZ 170, 1, 16. 116 BGH v. 26.3.2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227 m.w.N. u. Anm. Herbers (aufgrund der beim Unfall beschädigten Fahrzeugelektrik entsteht zwei Tage später ein Brand). 117 BGH v. 7.6.1988 – IX ZR 144/87, NJW 1988, 3265, 3266; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 208; Lange/Schiemann § 4 III.

66 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.81 § 3

andere Ursache herbeigeführt worden wäre, wenn es nicht zu dem betriebsursächlichen Unfall gekommen wäre. Ist z.B. bei einem Serienauffahrunfall auf der Autobahn bewiesen, dass das Kfz des Geschädigten mit einem in seinen Fahrstreifen ragenden Unfallfahrzeug kollidiert ist, so kommt es für den Kausalzusammenhang zwischen dem Betrieb dieses Fahrzeugs und dem Schaden nicht darauf an, ob der Geschädigte in anderer Weise in den Auffahrunfall verwickelt worden wäre, wenn das genannte Fahrzeug ihm nicht im Weg gewesen wäre.118

3.77

Bedeutung kann die hypothetische Schadensursache aber für den Schadensumfang haben;119 bei der Berechnung entgangenen Gewinns, bei der Ermittlung des Schadens aus fortwirkenden Erwerbsminderungen oder ähnlichen über längere Zeit sich erstreckenden Einbußen sind spätere Ereignisse und ihre hypothetische Einwirkung auf den Ablauf der Dinge u.U. zu berücksichtigen (arg §§ 249, 252, 844 BGB; s. hierzu Rz. 20.7 f.). Von Bedeutung können hypothetische Abläufe auch in den Fällen sein, in denen bereits bei der Schädigung vorliegende Anlagen in dem betroffenen Gut alsbald denselben Schaden verursacht hätten (s. Rz. 20.9 ff.).

3.78

b) Mittelbare Verursachung Im Gegensatz zu zahlreichen ausländischen Rechtssystemen kommt es nach deutschem Recht nicht darauf an, ob der Unfall unmittelbar oder nur mittelbar durch den haftungsrelevanten Vorgang (hier: den Betrieb des Kfz) verursacht worden ist, ob also erst Zwischenglieder die schädigende Wirkung unmittelbar ausgelöst haben. Der Schaden kann nach deutschem Recht auch dann durch den Betrieb des Kfz verursacht sein, wenn dieses nicht körperlich auf den Verletzten oder auf die beschädigte (oder zerstörte) Sache eingewirkt hat. Dem Betrieb zurechenbar ist ein Schaden insbesondere auch dann, wenn er dadurch entstanden ist, dass entweder der Betroffene selbst oder eine dritte Person von dem auf Schadensersatz in Anspruch Genommenen zu einem selbstgefährdenden bzw. schädigenden Verhalten veranlasst worden ist. Veranlasst z.B. die Fahrweise eines Kfz den entgegenkommenden Fahrer zur Fahrt in den Straßengraben, so hat sich der Unfall beim Betrieb des diese Reaktion verursachenden Kfz ereignet.

3.79

Für den Kausalzusammenhang kommt es nicht darauf an, ob die zu einem schädigenden Verhalten veranlasste Person den Schaden schuldlos, fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt hat.120 Auch der zeitliche und räumliche Zusammenhang (s. dazu Rz. 3.75) bietet allein kein Abgrenzungskriterium.121 Die Rechtsprechung stellt eine wertende Betrachtung an und schließt eine Zurechnung aus, wenn der Kfz-Betrieb nicht mehr als ein äußerer Umstand war, der lediglich die Motivation für ein eigenmächtiges Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer abgab.122 Für einzelne Fallgruppen wurden folgende Grundsätze entwickelt:

3.80

aa) Eigenes Verhalten des Geschädigten Führt ein eigenes Verhalten des Geschädigten zu dem Unfall, so kann dieser dem Halter eines anderen Kfz jedenfalls zugerechnet werden, wenn der Geschädigte durch dessen Betrieb zu

118 119 120 121 122

BGH v. 1.7.1975 – VI ZR 35/74, VersR 1975, 1026. BGH v. 22.1.1959 – III ZR 148/57, BGHZ 29, 207, 215. BGH v. 16.2.1972 – VI ZR 128/70, BGHZ 58, 162. Dafür aber MünchKomm-StVR/Engel § 7 StVG Rz. 20. BGH v. 16.2.1972 – VI ZR 128/70, BGHZ 58, 162, 165 m.w.N.

Greger | 67

3.81

§ 3 Rz. 3.81 | Haftung des Kfz-Halters

seinem selbstgefährdenden Verhalten nicht nur veranlasst wurde, sondern sich geradezu herausgefordert fühlen konnte (sog psychische Kausalität),123 und wenn sich in dem Unfall die gesteigerte Gefahrenlage ausgewirkt hat.124 Die Umstände, aus denen sich ergibt, dass er sich herausgefordert fühlen durfte, hat der Geschädigte zu beweisen;125 ein Anscheinsbeweis kommt hier mangels Typizität des Geschehensablaufs i.d.R. nicht in Betracht.126

3.82

(1) Eine die Zurechenbarkeit begründende Herausforderung kann insbesondere darin bestehen, dass sich der Verletzte als Verkehrsteilnehmer zu einer bestimmten Reaktion auf das Fahrverhalten des Kfz veranlasst gesehen hat.

3.83

Bejaht wurde der Zurechnungszusammenhang z.B., wenn der Geschädigte auf schmaler Straße einem entgegenkommendes Fahrzeug ausweicht und dabei in den Straßengraben gerät,127 wenn er durch dichtes Auffahren auf der Überholspur veranlasst wird, in eine zu enge Lücke auf der rechten Spur einzuscheren,128 wenn ein Fußgänger vor einem schleudernden Kfz wegläuft und dabei stürzt,129 wenn ein Kraftfahrer eine Vorfahrtverletzung begeht, weil er von einem anderen bedroht, verfolgt und zur Flucht genötigt wird.130

3.84

Verneint wurde ein Zurechnungszusammenhang z.B. zwischen dem Einfahren eines Pkw auf die Autobahn und der Kollision eines Lkw, der trotz fehlender Kollisionsgefahr auf die Überholspur gelenkt wird, mit einem dort fahrenden Kfz.131

3.85

Dass es sich um eine objektiv unnötige oder fehlerhafte Reaktion (z.B. aus Schreck) gehandelt hat, ist unerheblich, wenn der Betriebsvorgang des Kfz bei Eintritt der kritischen Verkehrslage132 zu einer solchen Reaktion bei verständiger Betrachtung Anlass geben konnte.133 Nicht maßgeblich ist die (objektive oder subjektive) Erforderlichkeit der Reaktion.134

3.86

Die Zurechenbarkeit ist daher z.B. zu bejahen, – wenn ein Pkw-Fahrer auf der BAB an die Mittelleitplanke gerät, weil er befürchtet, dass ein vorausfahrender, links blinkender Lastzug auf die Überholspur zieht;135 – wenn ein Pkw-Fahrer wegen eines vor ihm auf die Überholspur fahrenden Lkw bremsen muss und gegen den überholten Lkw prallt;136 – wenn ein auf dem rechten Fahrstreifen der Autobahn fahrendes Kfz unmotiviert plötzlich bremst und ein im selben Moment überholender Pkw infolgedessen ebenfalls scharf abgebremst wird und ins Schleudern kommt;137

123 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 125/70, BGHZ 57, 25, 31; BGH v. 16.2.1972 – VI ZR 128/70, BGHZ 58, 162, 165. 124 BGH v. 4.5.1993 – VI ZR 283/92, VersR 1993, 843. 125 BGH v. 4.11.1980 – VI ZR 231/79, NJW 1981, 570. 126 KG v. 29.4.1999 – 12 U 1297/98, NZV 2000, 43. 127 OLG Schleswig v. 13.8.1997 – 9 U 135/96, VersR 1998, 473. 128 BGH v. 23.4.1968 – VI ZR 17/67, VersR 1968, 670. 129 OLG Hamm v. 13.6.1996 – 27 U 43/96, NZV 1997, 78. 130 LG Lüneburg v. 7.1.1999 – 4 S 331/98, NZV 1999, 384. 131 KG v. 29.4.1999 – 12 U 1297/98, NZV 2000, 43. 132 BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173 = NZV 2017, 176 mit Anm. Quaisser = DAR 2017, 135 mit Anm. Schneider 268. 133 BGH v. 26.4.2005 – VI ZR 168/04, NJW 2005, 2081. 134 BGH v. 21.9.2010 – VI ZR 263/09, NJW 2010, 3713. 135 BGH v. 29.6.1971 – VI ZR 271/69, VersR 1971, 1060. 136 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 2/70, NJW 1971, 2030. 137 A.A. OLG München v. 11.3.1965 – 10 U 1670/64, VRS 29, 446.

68 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.87 § 3 – wenn ein auf dem linken Fahrstreifen der BAB langsam mit Blaulicht fahrendes Polizeifahrzeug auf den Mittelstreifen fährt und ein nachfolgendes Kfz über den Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn gerät;138 – wenn ein Vorfahrtberechtigter durch das rasche Heranfahren des Wartepflichtigen an die Kreuzung zu übermäßigem Bremsen veranlasst wird und ins Schleudern kommt;139 – wenn ein Vorfahrtberechtigter durch Anfahren des Wartepflichtigen zu einem abrupten Bremsen veranlasst wird und infolgedessen ein Dritter auffährt;140 – wenn ein Kfz mit mäßiger Geschwindigkeit sehr nah an einem Unfallfahrzeug vorbeifährt und ein entgegenkommendes Fahrzeug eine Notbremsung vornimmt, obwohl ein ungehindertes Begegnen möglich gewesen wäre;141 – wenn ein ohne Einweiser zurücksetzendes Müllfahrzeug einen dahinter Wartenden veranlasst, in einer Überreaktion ebenfalls zurückzusetzen, so dass es zur Kollision mit einem Dritten kommt;142 – wenn ein Rad- oder Mofafahrer durch ein überholendes Großfahrzeug unsicher wird und stürzt;143 dass der Überholvorgang zum Zeitpunkt des Sturzes bereits beendet war, steht der Zurechnung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn es sich um ein außergewöhnliches, auch durch sein Betriebsgeräusch bedrohlich wirkendes Fahrzeug (z.B. Radlader) handelt;144 – wenn ein Fußgänger oder Radfahrer durch die Fahrweise eines Kfz verunsichert wird, zur Seite springt und dabei stürzt;145 – wenn ein Radfahrer durch ein auf schmaler, unübersichtlicher Straße entgegenkommendes Kfz verunsichert wird und bei einer (wenngleich objektiv nicht erforderlichen) Ausweichreaktion stürzt146 oder eine Fahrbewegung macht, die ein anderer Verkehrsteilnehmer missdeutet;147 – wenn ein Radfahrer infolge einer scharfen Bremsung stürzt, weil er befürchtet, ein schnell herannahendes Fahrzeug werde ihm die Vorfahrt nehmen;148 – wenn ein den Gehweg befahrender Radfahrer einem aus einer Grundstücksausfahrt zurückstoßenden Pkw auf die Straße ausweicht und beim Wiederauffahren auf den Gehweg zu Fall kommt;149 – wenn ein Kfz-Führer durch einen Schlenker des in einer Tiefgaragenausfahrt entgegenkommenden Kfz irritiert wird und gegen die Wand fährt.150

(2) Bewusste Selbstgefährdung des Verletzten ist dann als vom Betrieb des anderen Kfz „herausgefordert“ anzusehen, wenn dieser bei dem Verletzten eine wenigstens im Ansatz billigenswerte Motivation hierzu gesetzt hatte, die z.B. auf Pflichterfüllung, Abwehr oder Nothilfe beruhen kann. Der Unfall muss auch auf die falltypische Risikoerhöhung zurückzuführen sein.151 Davon kann keine Rede sein, wenn sich ein Radfahrer von einem Motorradfahrer auf 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151

A.A. KG v. 24.4.1997 – 12 U 8659/95, VersR 1998, 778. BGH v. 22.10.1968 – VI ZR 178/67, VersR 1969, 58 (dort aber nicht bewiesen). OLG Celle v. 15.5.2018 – 14 U 175/17, DAR 2018, 683. A.A. BGH v. 6.7.1965 – VI ZR 58/64, VersR 1965, 999. LG Saarbrücken v. 22.12.2017 – 13 S 93/17, NJW 2018, 1108. BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 86/71, VersR 1972, 1074. A.A. Österr. OGH, ZVR 1995, 310. BGH v. 10.10.1972 – VI ZR 104/71, NJW 1973, 44. BGH v. 19.4.1988 – VI ZR 96/87, NZV 1988, 63; OLG Karlsruhe v. 20.10.2010 – 13 U 46/10, NZV 2011, 196. OLG Hamm v. 13.6.1988 – 3 U 319/87, NZV 1989, 274. S. auch Rz. 3.124. OLG Brandenburg v. 14.9.2017 – 12 U 12/17, NJW-RR 2019, 65. OLG Hamm v. 28.5.2019 – 9 U 90/18, NJW 2019, 3082. BGH v. 26.4.2005 – VI ZR 168/04, NJW 2005, 2081. BGH v. 12.3.1996 – VI ZR 12/95, BGHZ 132, 164, 166; kritisch Strauch VersR 1992, 932, 936.

Greger | 69

3.87

§ 3 Rz. 3.87 | Haftung des Kfz-Halters

hohe Geschwindigkeit anschieben lässt und kurz nach dem Loslassen des Motoradfahrers stürzt.152

3.88

Der BGH hat dies für Fälle vorwerfbaren Verhaltens des Schädigers (z.B. Unfallflucht, Verhinderung polizeilicher Kontrolle oder Festnahme), das zu gefährlicher Verfolgung herausfordert, mehrfach entschieden,153 für die Gefährdungshaftung kann aber nichts anderes gelten.154 Bemerkt z.B. ein Verkehrsteilnehmer, dass ein anderes Kfz Ladung zu verlieren droht, und verunglückt er infolge des Versuchs, dieses zu stoppen, so ist der Unfall kausal mit dem Betrieb des anderen Kfz verknüpft.

3.89

Demgegenüber hat der BGH155 die Zurechenbarkeit in einem Fall verneint, in dem ein Polizeifahrzeug ein anderes Kfz wegen starker Geräuschentwicklung und eines defekten Rücklichts verfolgte (was dessen Fahrer möglicherweise nicht erkannte) und infolge Straßenglätte und hoher Geschwindigkeit von der Fahrbahn abkam. Dieser Unfall ist jedoch nicht durch das bloße Vorhandensein des anderen Kfz, sondern dadurch hervorgerufen worden, dass ein verkehrswidriger Zustand dieses Fahrzeugs die Polizeibeamten zu einem gefahrerhöhenden Einschreiten unmittelbar veranlasst hat. Damit hat sich in dem Unfall eine Gefahr aus dem Risikopotential niedergeschlagen, mit welchem der Betrieb des verfolgten Kfz den Straßenverkehr belastete.

3.90

Die Zurechenbarkeit fehlt, wenn die Risiken der Verfolgung außer Verhältnis zu deren Zweck stehen.156 Sie endet, sobald die typische Verfolgungssituation aufhört, also z.B. wenn der Verfolger das andere Fahrzeug an einer Abzweigung aus den Augen verliert.157 Ob der Verfolgte dies erkannt hat, spielt dagegen keine Rolle.158 Zum absichtlichen Abdrängen oder Rammen des Fluchtfahrzeugs zum Zweck des Stoppens s. Rz. 3.34.

3.91

Hat sich der Verletzte in Gefahr begeben, um Unfallhilfe oder Gefahrabwehr zu leisten (z.B. verlorene Ladung von der Straße zu schaffen), so ist der hierbei erlittene Unfall dem Betrieb des die Kausalkette auslösenden Fahrzeugs zuzurechnen.159 Hierbei ist unerheblich, ob der Dritte aus freien Stücken oder aus beruflicher Verpflichtung (Sanitäter, Feuerwehr) eingesprungen ist und ob die Hilfeleistung dem Ersatzpflichtigen selbst oder einem anderen Unfallopfer galt. Ein erkennbar besonders riskanter Rettungsversuch ist jedenfalls dann zurechenbar, wenn der Retter in einer extrem bedrohlichen Situation seine Hilfsmöglichkeiten überschätzt.160

152 A.A. OLG Koblenz v. 19.8.2019 – 12 U 1444/18, r+s 2019, 726. Hier käme allenfalls deliktische Haftung mit hohem Mitverschuldensanteil in Betracht. 153 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 125/70, BGHZ 57, 31; BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 168/73, BGHZ 63, 189, 191; BGH v. 18.11.1980 – VI ZR 215/78, VersR 1981, 161; BGH v. 12.3.1996 – 12.3.1996, VersR 1996, 715 (auch zur Frage des Mitverschuldens). S. auch OLG München v. 9.5.2003 – 10 U 1546/03, DAR 2004, 150. 154 BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 43/11, BGHZ 192, 261. 155 BGH v. 3.7.1990 – VI ZR 33/90, NZV 1990, 425 mit zust. Anm. Lange; s. auch Strauch VersR 1992, 932 u. Kunschert NZV 1996, 485, 486 f. 156 BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 43/11, BGHZ 192, 261. 157 Kunschert NZV 1996, 485, 486. 158 Kunschert NZV 1996, 485, 487; a.A. OLG Nürnberg v. 20.12.1995 – 4 U 2540/95, NZV 1996, 411. 159 BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 286/09, NJW 2011, 292, 295 (versuchte Rettung eines auf Bahngleis steckengebliebenen Kraftfahrers trotz herannahenden Zuges). Zu sonstigen Schäden des Dritten s. Rz. 19.15 ff. 160 OLG Düsseldorf v. 22.4.1994 – 14 U 112/93, NZV 1995, 280.

70 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.98 § 3

bb) Verhalten eines Dritten Kam es zu dem Unfall durch das Verhalten eines Dritten, so reicht es aus, dass dessen Tun durch dem Kfz-Halter unmittelbar zurechenbare Umstände lediglich begünstigt worden ist; eine „Herausforderung“ wird nicht verlangt.161

3.92

Dem Betrieb zurechenbar ist daher z.B. ein Unfall, der darauf zurückzuführen ist, dass der Insasse eines auf der Standspur der BAB liegen gebliebenen Kfz auf die Fahrbahn tritt, um andere Fahrzeuge anzuhalten.162 Ob der Dritte rechtmäßig oder pflichtwidrig handelt, ist unerheblich.163 Greift er aber in völlig ungewöhnlicher Weise in das Geschehen ein, kann die Zurechenbarkeit entfallen.164 Dies ist nicht der Fall, wenn ein flüchtiger Straftäter, von einem Polizeifahrzeug mit hoher Geschwindigkeit verfolgt, auf das letzte Fahrzeug eines von einem anderen Polizeiwagen verursachten künstlichen Staus auffährt; dieser Unfall ist dem Betrieb der beiden Polizeifahrzeuge zuzurechnen.165 Zur mittelbaren Verursachung von Folgeschäden s. Rz. 19.7 ff.

3.93

cc) Tier Unter die Haftung des Kfz-Halters fallen auch Schäden, die ein Tier angerichtet hat, wenn nur die Bedingungskette adäquat ist.

3.94

Das ist z.B. der Fall, wenn ein Pferd, erschreckt durch das Betriebsgeräusch des Kfz, im Durchgehen einen Menschen verletzt oder wenn ein Hund infolge eines Unfallereignisses in Panik aus dem Unfallwagen auf die Straße springt und dadurch einen weiteren Unfall verursacht.166

3.95

dd) Leblose Sachen Auch leblose Sachen können Zwischenglied eines mittelbaren Ursachenzusammenhangs sein.

3.96

Wirft z.B. ein Kfz einen Baum oder einen Zaun um, wodurch ein Mensch verletzt wird, so ist dieser Schaden ebenso beim Betrieb entstanden, wie wenn das Fahrzeug den Menschen durch unmittelbare Einwirkung verletzt hätte,167 ebenso wenn durch den Luftsog eines Lkw ein abbruchgefährdeter Ast herunterbricht.168

3.97

ee) Sichtbeeinträchtigung Kommt es infolge einer Sichtbeeinträchtigung durch ein Kfz zum objektiv fehlerhaften Verhalten des Geschädigten oder eines Dritten, so ist der hierauf beruhende Unfall durch den Betrieb des Kfz verursacht.169

161 162 163 164 165 166 167 168 169

Zur deliktischen Haftung s. BGH v. 3.10.1978 – VI ZR 253/77, NJW 1979, 712, 713. OLG Frankfurt v. 25.9.2003 – 12 U 18/02, NZV 2004, 262. BGH v. 26.3.2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227, 2228 mit Anm. Herbers. BGH v. 10.12.1996 – VI ZR 14/96, NJW 1997, 865, 866; BGH v. 26.3.2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227, 2228 mit Anm. Herbers; OLG Düsseldorf v. 22.6.1987 – 1 U 136/86, NZV 1989, 114. OLG Bamberg v. 6.4.2006 – 5 U 289/05, NZV 2007, 241 = DAR 2007, 82 mit Anm. MüllerRath. BGH 9.2.1988 – VI ZR 168/87, NZV 1988, 17. RG VAE 1939, 166. OLG Hamm v. 30.3.2007 – 13 U 62/06, NZV 2009, 31. KG v. 12.5.1980 – 12 U 2615/79, VersR 1981, 485; a.A. OLG Frankfurt v. 12.3.1965 – 3 U 251/ 64, NJW 1965, 1334 mit Anm. Rother.

Greger | 71

3.98

§ 3 Rz. 3.99 | Haftung des Kfz-Halters

ff) Folgeunfall

3.99

Wegen mittelbarer Verursachung eines Folgeunfalls s. Rz. 3.161 ff., 19.7 ff.

c) Mit- und Teilursächlichkeit 3.100

Wurde der Schaden durch das Zusammenwirken mehrerer Ursachen hervorgerufen (z.B. die Betriebsgefahr mehrerer Kfz, ein Kfz und ein Tier), besteht nach allgemeinen Grundsätzen Haftung für den gesamten Schaden, außer wenn die Schadensbeiträge klar voneinander abgegrenzt werden können.170 Daraus folgt z.B., dass bei einem zurechenbaren Folgeunfall (s. Rz. 3.161; 19.7) der Zweitschädiger nicht für abgrenzbare Schäden aus dem Erstunfall haftet.

d) Alternative Kausalität 3.101

Nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB ist bei einer von mehreren Personen begangenen unerlaubten Handlung jeder der Beteiligten für den Schaden verantwortlich, wenn sich nicht ermitteln lässt, wer von ihnen den Schaden durch seine Handlung verursacht hat. Dies gilt (zumindest entsprechend) auch für die Haftung aus §§ 7, 18 StVG, da der Gesetzeszweck (Überwindung von Beweisschwierigkeiten) auch dann zutrifft, wenn der Geschädigte den mehreren (potentiellen) Schädigern kein schuldhaftes Handeln nachweisen kann, er aber nachweislich durch die Betriebsgefahr mehrerer Kfz betroffen worden ist.171 Ein solches Betroffensein muss aber feststehen, um die Gefährdungshaftung nicht ins Uferlose, etwa auf jeden den Ort eines unaufklärbaren Unfalls passierenden Kraftfahrer auszudehnen.172 Beteiligter i.S.d. § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB ist nur derjenige, dessen Tatbeitrag zu einer rechtswidrigen Gefährdung der Schutzsphäre des Betroffenen geführt hat und zur Herbeiführung der Verletzung geeignet war. Ein solcher Eingriff in die Schutzsphäre des Betroffenen liegt auch im Falle der Gefährdungshaftung noch nicht allein in dem – abstrakt gefährlichen – Verhalten, an das der jeweilige Gefährdungstatbestand anknüpft, wie etwa dem Halten eines Kfz im Rahmen von § 7 StVG, mag der Betroffene auch im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit diesem Verhalten verletzt worden sein. Erforderlich ist vielmehr eine darüber hinausgehende, konkrete Gefährdung des Betroffenen, die geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen.173

3.102

In Betracht kommt eine Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB z.B., wenn eine auf der Straße liegende Person von mehreren Kfz überrollt wurde, aber ungeklärt ist, welches von ihnen das erste war, wenn ein Fußgänger durch das Motorengeräusch mehrerer vorbeifahrender Krafträder erschreckt wird und stürzt oder wenn die Fahrzeuge eines Hochzeitskonvois durch gemeinsame Lärmerzeugung das Durchgehen eines Pferdes auslösen.174 Es darf aber nicht feststehen, dass einer der Beteiligten, z.B. nach den Grundsätzen der mittelbaren Verursachung (Rz. 3.79 ff.), für den vollen Schaden haftet. Im Einzelnen s. Rz. 10.35 ff.

170 BGH v. 20.5.2014 – VI ZR 187/13, VersR 2014, 1130. 171 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 121/69, BGHZ 55, 96; BGH v. 23.9.1969 – VI ZR 37/68, VersR 1969, 1023; Weimar MDR 1960, 463, 464; Bauer JZ 1971, 4, 10; Schantl VersR 1981, 105, 106; a.A. Adam VersR 1995, 1291. 172 Dadurch dürfte den Bedenken von Adam VersR 1995, 1291, 1292 Rechnung getragen sein. 173 BGH v. 24.4.2018 – VI ZR 25/17, NJW 2018, 3439. 174 LG Köln v. 31.7.1997 – 21 O 267/95, VersR 1999, 633 = MDR 1997, 935 mit Anm. Siller.

72 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.106 § 3

4. Einzelfragen zum Merkmal „bei dem Betrieb“ (alphabetisch geordnet) Abschleppen Beim Abschleppen eines betriebsunfähigen Kfz bleibt dieses „in Betrieb“, solange von ihm eigene Verkehrsgefahren ausgehen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn es noch gesteuert und anderweitig bedient werden muss.175 Wird das abzuschleppende Fahrzeug dagegen (teilweise) aufgeladen oder „auf den Haken genommen“, kommt während dieses Zustands nur die Betriebsgefahr des Schleppfahrzeugs zum Tragen.176 Von diesem Fall abgesehen ist auch eine Beschädigung des Zugfahrzeugs durch das abgeschleppte Kfz dessen Betriebsgefahr zuzurechnen,177 und zwar unabhängig davon, ob der Unfall vom Fahrer des Schleppfahrzeugs verschuldet wurde;178 Letzteres ist nur für die Abwägung nach § 17 Abs. 1 Satz 2 StVG von Bedeutung. Zum Schleppen eines betriebsfähigen Kfz s. Rz. 3.153. Zur Haftung des Zugfahrzeughalters für Schäden am (ab)geschleppten Kfz s. Rz. 21.15. Abstellen Bei dem Betrieb eines Kfz entstanden ist der Unfall eines anderen Verkehrsteilnehmers auch dann, wenn das Kfz sich in Ruhe befand, aber in seiner Eigenschaft als Verkehrsmittel einen Kausalbeitrag zu dem Unfall geleistet hat (etwa durch Fahrbahnverengung oder Sichtbehinderung). Die bloße Anwesenheit auf der Straße genügt nicht.179 Hat das abgestellte Kfz aber zu dem Unfallgeschehen beigetragen, kann die Kausalität nicht mit der Begründung verneint werden, ein anderer dort abgestellter Gegenstand hätte dieselbe Wirkung gehabt (s. Rz. 3.64).

3.103

3.104

Ob das Kfz im Rechtssinne hält oder parkt ist hierbei ebenso unerheblich wie die Dauer des Abstellens.180 Dies folgt daraus, dass auch das stehende Kfz im heutigen Straßenverkehr eine erhebliche Gefahrenquelle darstellt.

3.105

Nicht entscheidend ist auch der Ort des Abstellens. Auch dem auf einem Parkplatz oder Parkstreifen abgestellten Kfz kann – unter der eingangs genannten Voraussetzung – eine Betriebsgefahr zuzurechnen sein.181 Ob es „ordnungswidrig“ abgestellt war, kann allenfalls für den Entlastungsbeweis nach § 17 Abs. 3 StVG eine Rolle spielen. Zu verallgemeinernd ist auch die (beiläufige) Formulierung des BGH,182 erst das von der Fahrbahn gezogene und außerhalb des allgemeinen Verkehrs abgestellte Kfz sei nicht mehr in Betrieb. Entscheidend für die Zurechnungsfrage ist, welche Art von Gefahr sich verwirklicht hat. In einer späteren Entscheidung183 hat der BGH daher auch ein im Ausfahrbereich einer Trabrennbahn abgestelltes Arbeitsfahrzeug, gegen das ein durchgehendes Pferd gerannt war, als im Betrieb befindlich

3.106

175 OLG Köln v. 7.3.1986 – 6 U 183/85, DAR 1986, 321; OLG Koblenz v. 6.1.1986 – 12 U 447/85, VersR 1987, 707; LG Hannover v. 9.11.1977 – 11 S 238/77, NJW 1978, 430 mit zust. Anm. Darkow NJW 1978, 2202; LG Nürnberg-Fürth v. 19.10.1992 – 2 O 5006/92, DAR 1993, 232; Geigel/ Kaufmann Kap. 25 Rz. 62; a.A. BGH v. 30.10.1962 – VI ZR 4/62, NJW 1963, 251; offen lassend BGH v. 11.7.1978 – VI ZR 138/76, VersR 1978, 1070. 176 OLG Karlsruhe v. 28.8.2014 – 13 U 15/14, NZV 2015, 76; Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 62. 177 OLG Hamm v. 9.9.2008 – 9 U 73/08, NZV 2009, 456. 178 So aber BGH v. 11.7.1978 – VI ZR 138/76, VersR 1978, 1070. 179 Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 315. 180 BGH v. 9.1.1959 – VI ZR 202/57, BGHZ 29, 163, 167; BGH v. 25.10.1994 – VI ZR 107/94, NZV 1995, 19, 20. 181 Schopp MDR 1990 884; Hentschel/König/Dauer § 7 StVG Rz. 5; a.A. Schneider MDR 1984, 906, 907. 182 BGH v. 9.1.1959 – VI ZR 202/57, BGHZ 29, 163, 169. 183 BGH v. 25.10.1994 – VI ZR 107/94, NZV 1995, 19, 20 (sehr weit gehend).

Greger | 73

§ 3 Rz. 3.106 | Haftung des Kfz-Halters

angesehen. Umgekehrt ist ein Unfall, der keinen Bezug zum Verkehrsgeschehen hat, auch dann nicht dem Betrieb des Kfz zuzurechnen, wenn dieses sich auf öffentlichem Verkehrsgrund befand (vgl. zu Arbeitsmaschinen Rz. 3.117 ff., zu Fahrzeugbrand Rz. 3.128).

3.107

Unerheblich ist des Weiteren der Zweck des Abstellens. Ob das Kfz im Unfallzeitpunkt zur (späteren) Benutzung als Verkehrsmittel oder aus anderen Gründen (z.B. Verkauf, Reparatur, Lichtquelle184) auf der Straße stand, ist ohne Bedeutung. Auch ein in Arbeit befindlicher, auf Stützen abgestellter Autokran kann i.S.d. § 7 StVG in Betrieb sein.185 Selbst für ein geradezu verkehrsfeindliches Abstellen des Kfz auf der Straße – etwa als Hindernis – greift die Haftung nach § 7 StVG ein.186

3.108

Stets muss sich aber eine Gefahr ausgewirkt haben, die von dem abgestellten Kfz selbst ausgeht. Der Halter braucht sich daher z.B. keine mitwirkende Betriebsgefahr anrechnen zu lassen, wenn sein geparktes Kfz durch eine Dachlawine beschädigt wird,187 und er haftet nicht, wenn eine Markise beim Ausfahren gegen sein Kfz stößt188 oder wenn ein Passant, vom Fahrer des stehenden Kfz angesprochen, unachtsam auf die Fahrbahn tritt.189 Ebenso ist es nicht mehr dem Betrieb des Kfz zuzurechnen, wenn ein Autofahrer als Fußgänger zur Entstehung eines Verkehrsunfalls beiträgt, nachdem er sein Kfz auf dem Seitenstreifen der BAB abgestellt hat und 200 m zurückgegangen ist, um einen von ihm verursachten Unfallschaden in Augenschein zu nehmen,190 oder wenn sich der Fahrer nach Abstellen des Kfz vorsätzlich vor einen herannahenden Lkw wirft.191

3.109

Schließlich muss es sich um eine Verkehrsgefahr handeln. Das Umkippen eines längere Zeit abgestellten Motorrads löst daher keine Haftung nach § 7 StVG aus, wenn es sich nicht auf den fließenden Verkehr auswirkt, sondern z.B. nur eine Hauswand oder ein daneben abgestelltes Fahrzeug beschädigt wird.192 Nicht der Kfz-Betriebsgefahr zurechenbar ist es, wenn ein abgestellter Anhänger durch Windeinwirkung gegen ein anderes Fahrzeug geschoben wird,193 wenn ein Pferd von dem durch einen abgestellten Pkw reflektierten Sonnenlicht geblendet wird und scheut,194 wenn ein Kaufinteressent sich bei der Besichtigung des Kfz verletzt195 oder ein Polizeibeamter bei der Unfallaufnahme über die Ladeschiene eines Abschleppwagens stolpert.196 Wird ein abgestelltes Kfz durch Brandstiftung in Brand gesetzt und dabei ein danebenstehendes Fahrzeug beschädigt, greift die Haftung nach § 7 StVG eben-

184 A.A. BGH v. 10.1.1961 – VI ZR 57/60, VersR 1961, 263 mit abl. Anm. Böhmer 369. 185 OLG Düsseldorf v. 22.6.1987 – 1 U 136/86, NZV 1989, 114. 186 S. OLG Bamberg v. 6.4.2006 – 5 U 289/05, NZV 2007, 241 für Straßenblockade durch Polizeifahrzeug. 187 BGH v. 25.3.1980 – VI ZR 61/79, VersR 1980, 740. 188 OLG Karlsruhe v. 29.6.2005 – 1 U 247/04, NZV 2005, 474. 189 OLG Düsseldorf v. 13.6.1988 – 1 U 78/87, VersR 1990, 1403. 190 OLG Frankfurt v. 22.9.1994 – 1 U 73/93, VersR 1995, 599. 191 LG Münster v. 27.4.1995 – 2 O 100/95, NZV 1996, 154. 192 LG Tübingen v. 31.5.2010 – 7 S 11/09, NJW 2010, 2290; a.A. LG Nürnberg-Fürth v. 25.4.1990 – 2 S 1708/90, NZV 1990, 396; LG Bochum v. 5.3.2004 – 5 S 195/03, NZV 2004, 366. 193 LG Nürnberg-Fürth v. 26.10.1990 – 8 O 6002/90, NZV 1991, 476; a.A. BGH v. 11.2.2020 – VI ZR 286/19, MDR 2020, 855. 194 Im Erg. ebenso LG Oldenburg v. 14.1.1991 – 7 O 3153/90, ZfS 1991, 367. 195 OLG Hamm v. 21.9.1998 – 6 U 125/98, VersR 1999, 882. 196 OLG Karlsruhe v. 14.8.1998 – 10 U 113/98, NZV 2000, 86.

74 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.115 § 3

falls nicht ein;197 anders jedoch, wenn sich das Kfz infolge der Inbrandsetzung in Bewegung setzt und dabei Schäden verursacht198 (s. auch Rz. 3.128 ff.). Für den Kausalzusammenhang reicht es nicht aus, dass sich der Unfall im räumlichen Zusammenhang mit dem abgestellten Kfz ereignet hat. Dieses muss den zum Unfall führenden Verkehrsvorgang beeinflusst haben, was z.B. dann zu bejahen ist, wenn es einen anderen Verkehrsteilnehmer zum Ausscheren auf die andere Fahrbahnhälfte veranlasst hat.199

3.110

Setzt sich ein abgestelltes Kfz selbsttätig in Bewegung, ist der dadurch herbeigeführte Unfall seinem Betrieb zuzurechnen,200 ohne dass es auf den Ort der Abstellung ankommt.201

3.111

Anhänger Der Anhänger eines Kfz ist selbst kein Kfz, aber in § 7 Abs. 1 Satz 1 StVG a.F. bzw. (für Unfälle ab 17.7.2020) § 19 Abs. 1 Satz 1 StVG n.F. haftungsrechtlich einem solchen gleichgestellt (s. Rz. 3.24 ff.). Dies hat erhebliche, teilweise problematische Konsequenzen:

3.112

Bei Verbindung mit einem Zugfahrzeug bildet dieses mit dem Anhänger eine Betriebseinheit (Gespann i.S.v. § 19 Abs. 2 Satz 1 StVG n.F.), denn der Führer des Zugfahrzeugs ist zugleich Führer des Anhängers.202 Die Halter beider Fahrzeuge haften daher für die Betriebsgefahr des gesamten Gespanns als Gesamtschuldner, unabhängig davon, ob das Vorhandensein des anderen Fahrzeugs einen Unfallbeitrag geleistet hat.203 Zum Ausgleich im Innenverhältnis s. Rz. 39.2; zum Ausgleich zwischen den Haftpflichtversicherern von Zugfahrzeug und Anhänger s. Rz. 15.6; zur Schädigung durch einen eigenen, an ein Fremdfahrzeug gekuppelten Anhänger s. Rz. 25.92). Die Haftpflicht trifft auch den Halter eines nicht versicherungspflichtigen Anhängers i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 6 lit. c PflVG, § 3 Abs. 2 FZV, der allerdings nach A 1.1.5 AKB 2015 an der Haftpflichtversicherung des Zugfahrzeugs teilhat.204

3.113

Für Schäden am anderen Fahrzeug des Gespanns besteht keine Gefährdungshaftung; § 7 Abs. 1 StVG (§ 19 Abs. 2 StVG n.F.) wirkt nur im Verhältnis zu Dritten. § 19 Abs. 4 Satz 5 StVG n.F. verweist für die Haftung der Halter untereinander auf die allgemeinen Vorschriften des Delikts- oder Vertragsrechts. Zur abweichenden Rechtslage beim Abschleppen oder Schleppen eines Kfz s. Rz. 3.103, 3.153.

3.114

Der Unfall mit einem abgekuppelten Anhänger ist dem Betrieb des (letzten) Zugfahrzeugs dann noch zuzurechnen, wenn es den Anhänger in die verkehrsgefährdende Lage gebracht hat. Hieran hat die Einführung der Gefährdungshaftung des Anhängerhalters durch das

3.115

197 BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 210/06, NZV 2008, 285; OLG Hamburg v. 10.9.1993 – 14 U 154/93, VersR 1994, 1441. 198 OLG Düsseldorf v. 23.10.1995 – 1 U 183/94, NZV 1996, 113; OLG Saarbrücken v. 3.9.1997 – 5 U 359/97, NZV 1998, 327. 199 Bedenklich daher OLG Düsseldorf v. 7.12.1981 – 1 U 45/81, VersR 1982, 1200. 200 OLG Köln v. 7.6.1994 – 3 U 282/92, VersR 1994, 1442; OLG Saarbrücken v. 3.9.1997 – 5 U 359/ 97, NZV 1998, 327. 201 Grüneberg NZV 2001, 109, 110. 202 BGH v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08, BGHZ 187, 211 = NJW 2011, 447; BT-Drucks. 19/17964, 13. 203 Dies folgt für Unfälle ab 17.7.2020 aus § 19 Abs. 2 Satz 1 StVG n.F. (§ 65 StVG). Zum früheren Recht s. BGH v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08, BGHZ 187, 211 = NJW 2011, 447, 448; OLG Hamm v. 2.4.2015 – 6 U 173/14, NZV 2016, 219. 204 Wilms DAR 2012, 68, 69.

Greger | 75

§ 3 Rz. 3.115 | Haftung des Kfz-Halters

2. SchRÄndG (s. Rz. 3.24) nichts geändert;205 es wurde dadurch lediglich die zusätzliche Gefährdungshaftung des (möglicherweise personenverschiedenen) Anhängerhalters begründet (dazu s. Rz. 3.116). Der Halter des Zugfahrzeugs haftet daher nicht nur, wenn sich der Anhänger unbeabsichtigt von diesem gelöst hat,206 sondern z.B. auch, wenn nach dem Abstellen auf Verkehrsgrund ein anderes Fahrzeug auffährt, der abgekuppelte Anhänger auf abschüssigem Gelände ins Rollen geraten ist207 oder durch Rangieren per Hand in die endgültige Stellung gebracht werden soll208. Der Zugfahrzeughalter wird von der Haftpflicht nach § 7 StVG lediglich dann nicht erfasst, wenn sich eine außerhalb des Schutzzwecks von der Norm liegende Gefahr verwirklicht hat, z.B. wenn der Anhänger außerhalb von Verkehrsflächen abgestellt wurde209 oder wenn sich der Schaden infolge einer Verwendung als Arbeitsmaschine ereignet hat (vgl. Rz. 3.62). Ohne Bedeutung sind dagegen Grund und Dauer des Abstellens. Auch der betriebsunfähig auf der Straße abgestellte oder nach Abkuppeln vom Zugfahrzeug dort geparkte Anhänger kann folglich noch eine Gefährdungshaftung des Halters des Zugfahrzeugs begründen.210 Ob das Zugfahrzeug selbst zum Zeitpunkt des Unfalls noch in Betrieb ist, ist ohne Belang. Die normative Auslegung des Betriebsbegriffs (vgl. Rz. 3.56 f.) ermöglicht es zwanglos, die durch den abgestellten Anhänger hervorgerufenen Verkehrsgefahren dem Zugfahrzeug, welches den Anhänger in die betreffende Lage gebracht hat, auch dann noch zuzurechnen, wenn dieses schon längst in seiner Garage steht. Etwas anderes mag gelten, wenn der Anhänger von Hand in den Verkehrsraum geschoben oder gezogen wird.211 Wird der vom Zugfahrzeug auf Verkehrsgrund abgestellte Anhänger von einem Unbefugten in Bewegung gesetzt, so besteht mit dem Betrieb des ursprünglichen Zugfahrzeugs kein Zurechnungszusammenhang mehr.212

3.116

Entsprechend abzugrenzen ist die verschuldensunabhängige Haftung, die nach § 19 Abs. 1 StVG n.F. den Halter des abgekuppelten Anhängers trifft. Die Vorschrift stellt auf die Zweckbestimmung des Anhängers, nicht auf die Verwendung im Unfallzeitpunkt ab (was durch § 19 Abs. 6 StVG n.F. bestätigt wird, wonach auch der Halter des abgekuppelten Anhängers sich dessen Betriebsgefahr anrechnen lassen muss). Auch hier muss aber über das Merkmal „bei dem Betrieb“ der verkehrsrechtliche Bezug der Gefährdungshaftung gewahrt werden. Ob der Anhänger im privaten oder öffentlichen Verkehrsraum abgestellt wurde, ist ohne Bedeutung.213 § 19 Abs. 1 StVG greift jedoch nicht ein, wenn der Anhänger sich vollständig außerhalb des Verkehrsraums befand, z.B. auf einem Volksfestplatz.214 Auch wenn er durch Windeinwirkung gegen ein anderes Fahrzeug gedrückt (nicht etwa ins Rollen gebracht) oder mit Tier- oder Menschenkraft auf die Straße verbracht wurde, fehlt der Bezug zur straßenver-

205 Hentschel NZV 2002, 433. 206 So aber tendenziell BT-Drucks. 19/17964, 18. 207 KG v. 17.6.1991 – 22 U 2243/90, NZV 1992, 113; OLG München v. 19.12.1997 – 10 U 2963/97, NZV 1999, 124. 208 OLG Koblenz v. 16.5.1994 – 12 U 366/93, VRS 87, 326. 209 BGH v. 11.2.2020 – VI ZR 286/19, MDR 2020, 855; KG v. 17.6.1991 – 22 U 2243/90, NZV 1992, 113; OLG Karlsruhe v. 13.12.2019 – 14 U 108/19, MDR 2020, 347 (als Unterkunft genutzter Wohnanhänger auf gemietetem Stellplatz). 210 BGH v. 21.3.1961 – VI ZR 88/60, VersR 1961, 473. 211 Zu weitgehend österr. OGH VersR 1982, 910. 212 KG v. 17.6.1991 – 22 U 2243/90, NZV 1992, 113, 114. 213 BGH v. 11.2.2020 – VI ZR 286/19, MDR 2020, 855. 214 OLG Nürnberg v. 8.4.2014 – 1 U 1206/13, NJW 2014, 2963; OLG Saarbrücken v. 3.11.2009 – 4 U 238/09-64, NJW 2010, 945.

76 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.124 § 3

kehrsrechtlichen Gefährdungshaftung.215 Außerdem entstünden gefährliche Haftungsfolgen bei fehlender Versicherungspflicht für den Anhänger (s. Rz. 3.27). Arbeitsmaschine § 7 StVG greift aufgrund seiner Zweckbestimmung nicht ein, wenn der Unfall nicht in Zusammenhang mit der Bestimmung des Kfz als Beförderungsmittel im Verkehr steht, sondern auf einem anderweitigen Einsatz seiner Betriebseinrichtungen beruht.216

3.117

Dies ist z.B. der Fall, wenn sich jemand an einer auf dem Lkw angebrachten Arbeitsmaschine (z.B. Kreissäge, Teerkocher) verletzt, wenn durch einen vom Motor des Kfz betriebenen Kompressor Futter in einen Silo eingeblasen und dabei dessen Wand durchschlagen wird,217 wenn der Betrieb eines Mähdreschers einen Brand auf dem angrenzenden Getreidefeld hervorruft,218 bei der Feldbestellung ein Teil verloren oder weggeschleudert wird219 oder wenn beim Einpumpen von Öl der Tank im Haus überläuft.220

3.118

Dagegen greift die Gefährdungshaftung ein, wenn bei dem Entladevorgang der Verkehr auf der Straße betroffen wird, z.B. durch auf die Fahrbahn gelangendes Öl (s. auch Rz. 3.125 ff.).

3.119

Ein auf der Autobahn eingesetzter Lkw mit Warntafel zur Absicherung von Mäharbeiten ist an einem Auffahrunfall in seiner Eigenschaft als Verkehrsmittel beteiligt.221

3.120

Ebenso verhält es sich, wenn ein Räumfahrzeug einen Schneewall in die Fahrbahn eines anderen Fahrzeugs schiebt,222 wenn durch den von einem Streufahrzeug ausgeworfenen Splitt Schäden an anderen Kfz verursacht werden223 oder wenn eine fahrbare Mähmaschine Steine vom Randstreifen auf die Fahrbahn schleudert.224

3.121

Aussteigen S. hierzu Rz. 3.132 ff.

3.122

Ausweichen S. hierzu Rz. 3.124 und 3.85 f.

3.123

Begegnung Die Haftung nach § 7 StVG setzt nicht voraus, dass sich das Kfz mit dem verunglückten Fahrzeug berührt hat. Kommt ein Fahrzeug während eines Begegnungsvorgangs von der Fahrbahn ab, so haftet der Halter des anderen aber nur, wenn ein Ursachenzusammenhang mit dem Betrieb seines Kfz festgestellt werden kann225 (zur Beweisfrage s. Rz. 3.172). Dies kann bejaht 215 A.A. für das Verschieben durch Wind BGH v. 11.2.2020 – VI ZR 286/19, MDR 2020, 855, weil Seitenwind eine typische Gefahrenquelle des Straßenverkehrs sei. 216 BGH v. 24.3.2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681. 217 BGH v. 27.5.1975 – VI ZR 95/74, VersR 1975, 945. 218 OLG Brandenburg v. 8.2.2010 – 12 U 142/09, NZV 2011, 193. 219 BGH v. 24.3.2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681; OLG Düsseldorf v. 7.4.2020 – 1 U 155/18, MDR 2020, 985. 220 BGH v. 23.5.1978 – VI ZR 150/76, BGHZ 71, 212. Zum abweichenden Begriff des Gebrauchs i.S.v. § 1 PflVG s. aber BGH v. 26.6.1979 – VI ZR 122/78, BGHZ 75, 45. 221 BGH v. 13.12.1990 – III ZR 14/90, NZV 1991, 185. 222 OLG Düsseldorf v. 3.12.1992 – 18 U 119/92, VersR 1993, 1417. 223 BGH v. 5.7.1988 – VI ZR 346/87, BGHZ 105, 65 = NZV 1989, 18 mit Anm. Kuckuk. 224 BGH v. 18.1.2005 – VI ZR 115/04, NZV 2005, 305, 306; OLG Stuttgart v. 25.6.2003 – 4 U 41/03, VersR 2003, 1275. 225 OLG Hamm v. 2.9.2016 – 9 U 14/16, NJW-RR 2017, 281.

Greger | 77

3.124

§ 3 Rz. 3.124 | Haftung des Kfz-Halters

werden, wenn der Geschädigte durch das Entgegenkommen eines großen Fahrzeugs auf schmaler Fahrbahn zum Ausweichen an den äußersten rechten Fahrbahnrand veranlasst wird, selbst wenn ein Überschreiten der Fahrbahnmitte nicht feststellbar ist, oder wenn ein Radfahrer einem auf dem Radweg entgegenkommenden Pkw auf den Grünstreifen ausweicht und beim Zurückfahren auf den Radweg stürzt.226 Ob das Ausweichen objektiv erforderlich war oder auf einem Erschrecken vor der unerwarteten Begegnung beruht, ist unerheblich.227 Zu Unfällen beim Überholen s. Rz. 3.160.

3.125

Be- und Entladen Bei dem Betrieb des Kfz entstanden ist ein Unfall stets dann, wenn ein anderes Fahrzeug auf das zum Zweck des Be- oder Entladens abgestellte Kfz auffährt oder wenn sonst die Anwesenheit des Kfz auf der Straße zu einem Unfall führt (vgl. Rz. 3.104 ff.). Auswirkungen, die vom Ladegeschäft als solchem ausgehen, sind aber ebenfalls dem Betrieb des Kfz zuzurechnen, sofern sich in ihnen eine von dem Kfz als Verkehrsmittel ausgehende Betriebsgefahr verwirklicht hat. Schäden, die in keinem Zusammenhang mit Verkehrsvorgängen stehen, werden deshalb von § 7 StVG nicht erfasst. Ob bei dem Ladevorgang die Motorkraft des Kfz mitgewirkt hat, ist ohne Bedeutung, ebenso die Tatsache, dass das Kfz während des Ladevorgangs nicht fahrfähig war.228

3.126

Beim Betrieb des Kfz entstanden ist daher z.B. ein Unfall, zu dem es dadurch kommt, dass beim Entladen eines Tankwagens Öl auf die Straße läuft, ein Fußgänger über den Abfüllschlauch stolpert;229 ein Pkw beim Rangieren vor dem Aufladen auf einen Autotransporter mit einem anderen zusammenstößt230 oder ein Einkaufswagen während des Umladens wegrollt und mit einem vorbeifahrenden Fahrzeug kollidiert.231

3.127

Nicht dem Betrieb des Kfz zuzurechnen ist es dagegen z.B., wenn der Öltank im Haus überläuft, weil ihm die Pumpe des Tankfahrzeugs zu viel Öl zuführt,232 beim Einblasen von Futter in einen Silo durch einen vom Motor des Lkw angetriebenen Kompressor der Silo und weitere Sachen des Empfängers beschädigt werden,233 durch herabstürzendes Ladegut beim Kippen eines Lkw ein Arbeiter verletzt wird,234 chemische Mittel oder Staub auf Nachbargrundstücke verweht werden;235 durch platzenden Schlauch eines Entladekrans Öl auf ein angrenzendes Grundstück gespritzt wird;236 beim Transport von Paletten mittels einer sog Elektroameise zu dem auf einem Betriebsgelände abgestellten Lkw ein dort Beschäftigter angefahren wird.237

226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237

OLG Frankfurt v. 19.3.2019 – 16 U 57/18, NJW-RR 2019, 601. OLG Karlsruhe v. 20.10.2010 – 13 U 46/10, NZV 2011, 196. OLG Köln v. 21.9.2018 – 14 U 26/18, MDR 2019, 547 (ausgefahrene Stützen). BGH v. 23.5.1978 – VI ZR 150/76, BGHZ 71, 212, 215. LG Bremen v. 18.6.2013 – 6 S 48/13, VersR 2014, 259. Anders, wenn nur ein danebenstehendes Fahrzeug beschädigt wird; AG München v. 5.2.2014 – 343 C 28512/12, DAR 2015, 655. Zur Frage, ob die Kfz-Haftpflichtversicherung wegen „Gebrauchs“ des Kfz eintrittspflichtig ist, s. Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 320 und Rz. 15.5. BGH v. 23.5.1978 – VI ZR 150/76, BGHZ 71, 212. BGH v. 27.5.1975 – VI ZR 95/74, VersR 1975, 945. A.A. BGH v. 27.4.1956 – VII ZR 23/55, VersR 1956, 420, 422; dem könnte lediglich für den Fall der Verletzung eines anderen Verkehrsteilnehmers gefolgt werden. OLG Hamm v. 10.10.1995 – 34 U 25/95, NZV 1996, 234; Schimikowski VersR 1992, 923, 930 f.; a.A. OLG Hamm v. 22.9.1999 – 13 U 134/98, NZV 2001, 84. A.A. OLG Köln v. 21.2.2019 – 14 U 26/18, MDR 2019, 547. A.A. OLG Köln v. 6.12.2018 – 3 U 49/18, NJW-RR 2019, 595.

78 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.130 § 3

Brand Gerät ein Kfz (z.B. durch einen Kurzschluss) in Brand, ist die Zurechnung von dadurch hervorgerufenen Drittschäden (z.B. beim Übergreifen auf andere Fahrzeuge, Grundstücke oder durch Beschädigung der Fahrbahn) unproblematisch, wenn dies während der Teilnahme des Kfz am Verkehr geschieht, sei es auch infolge eines selbsttätigen Ingangsetzens des Fahrzeugs.238 Ebenfalls zuzurechnen ist ein Brand, der dadurch entsteht, dass das bei einem Verkehrsunfall (Betrieb!) beschädigte Kfz in eine Werkstatt verbracht und dort die Batterie nicht abgeklemmt wird, so dass die Unfallschäden eineinhalb Tage später einen Kurzschluss auslösen können.239 Fraglich ist jedoch, ob dies auch dann gelten kann, wenn der Brand von einem parkenden Kfz auf ein daneben stehendes übergreift,240 denn hier fehlt jeglicher Bezug zum Verkehrsgeschehen. Nicht mehr vertretbar ist die Zurechnung jedenfalls, wenn der Brand nach dem Abstellen des Kfz außerhalb des Verkehrsraums, z.B. in einer privaten Sammelgarage, Werkstatthalle o.Ä., entsteht.241 In solchen Fällen verwirklicht sich keine Verkehrsgefahr; dass der Betrieb des Kfz das Mitführen brennbarer Stoffe erfordert, kann angesichts des Schutzzwecks von § 7 StVG (s. Rz. 3.56 ff.) nach beendetem Betrieb keine Rolle spielen.242

3.128

Nach einer umstrittenen Entscheidung des BGH soll jedoch sogar der durch Selbstentzündung eines seit vielen Stunden in der Tiefgarage geparkten Pkw verursachte Schaden am danebenstehenden Fahrzeug nach § 7 StVG zuzurechnen sein.243 Obwohl es sich hierbei um eine den Gesetzeswortlaut übersteigende Rechtsfortbildung handelt, wird zur Begründung lediglich ausgeführt, dass ansonsten die Haftung in all den Fällen leer liefe, in denen unabhängig von einem Betriebsvorgang allein ein technischer Defekt einer Betriebseinrichtung den Schaden verursacht. Ob es gerechtfertigt ist, die Gefährdungshaftung nach § 7 StVG entgegen dem ursprünglichen Gesetzeszweck auf das sowohl maschinen- als auch verkehrstechnisch außer Betrieb gesetzte Kfz zu erstrecken, wird nicht näher erläutert, sondern abweichend von der bisherigen Rechtsprechung allein auf das Mitwirken einer Betriebseinrichtung abgestellt. Die Schadensverantwortung wird dadurch auf die Eigenschaft des Kfz als technisches Gerät (Sachgefahr) zurückgeführt, die bei anderen gefahrträchtigen Maschinen keine Gefährdungshaftung auslöst. Die Entscheidung wird daher zu Recht vielfach kritisiert.244

3.129

Keine Zurechnung erfolgt auch nach der neuen Rechtsprechung des BGH, wenn das Kfz vorsätzlich in Brand gesetzt wird245 oder wenn der Brand von einem Gerät ausgeht, welches nicht

3.130

238 OLG Düsseldorf v. 23.10.1995 – 1 U 183/94, NZV 1996, 113; OLG Saarbrücken v. 3.9.1997 – 5 U 359/97, NZV 1998, 327. 239 BGH v. 26.3.2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227 mit Anm. Herbers. 240 So OLG Karlsruhe v. 9.3.2015 – 9 W 3/15, NZV 2015, 440. Abl. zu Recht Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 319. 241 OLG Nürnberg v. 3.7.1997 – 8 U 390/97, NZV 1997, 482; OLG München v. 11.11.2003 – 30 U 110/03, NZV 2004, 205; OLG Düsseldorf v. 14.9.2010 – 1 U 6/10, NZV 2011, 190; anders OLG Düsseldorf v. 15.6.2010 – 1 U 105/09, NZV 2011, 195 (wegen Entzündung einer Matte durch noch heißes Auspuffrohr als Nachwirkung des Betriebs). S. aber Rz. 3.129. 242 OLG Hamm v. 18.2.2013 – 6 U 35/12, NZV 2013, 596; a.A. Grüneberg NZV 2001, 109, 111. 243 BGH v. 21.1.2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377 = NZV 2014, 207 mit Anm. Herbers = DAR 2014, 196 mit Anm. Schwab. 244 BHHJ/Burmann § 7 StVG Rz. 9; Burmann/Jahnke DAR 2016, 313, 319; Herbers NZV 2014, 208; Schwab DAR 2014, 196; Lemcke r+s 2014, 195 und 2016, 483. Österr. OGH v. 23.2.2017 – 2 Ob 188/16k, ZVR 2017, 204 u. LG Köln v. 5.10.2017 – 2 O 372/16, DAR 2018, 31 verweigern dem BGH mit zutr. Begründung die Gefolgschaft. 245 BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 210/06, NZV 2008, 285; bestätigt von BGH v. 21.1.2014 – VI ZR 253/13 Rz. 6, BGHZ 199, 377.

Greger | 79

§ 3 Rz. 3.130 | Haftung des Kfz-Halters

der Teilnahme am Straßenverkehr, sondern Wohnzwecken dient.246 Dagegen soll die Betriebshaftung eingreifen, wenn der Brand durch einen Marderbiss247 oder durch Abstellen des Kfz über einem nicht ausgeglühten Einweggrill248 ausgelöst wird. Zu brennender Ladung s. Rz. 3.144.

3.131

3.132

Einsatzfahrzeug Wird ein Fahrzeug wegen eines die Kreuzung bei Rotlicht querenden Einsatzfahrzeugs abrupt abgebremst und fährt daher ein anderes auf, ist dieser Unfall dem Betrieb des Einsatzfahrzeugs zuzurechnen.249 Ein- und Aussteigen Ein zur Begründung der Haftung ausreichender Zusammenhang mit dem Kfz als Verkehrsmittel, also mit Verkehrsvorgängen, besteht bei Unfällen, die sich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verlassen oder Besteigen des Kfz ereignen, z.B. infolge unachtsamen Öffnens der Tür250 oder beim Betreten der Fahrbahn,251 auch wenn es nicht zu einer Kollision, sondern zu einem Ausweichen oder Abbremsen kommt.252

3.133

Unfälle vor oder nach dem eigentlichen Ein- oder Aussteigevorgang sind dagegen nicht dem Betrieb des Kfz zuzurechnen, so z.B. beim Weggehen des Fahrers vom abgestellten Kfz,253 Überschreiten der Fahrbahn durch einen ausgestiegenen Insassen254 oder beim Wegräumen eines vom Kfz weggeschleuderten Pfostens von der Fahrbahn,255 desgleichen ein Sturz infolge des Gedränges an einer Bushaltestelle,256 sofern es nicht zu einer Verletzung durch den Bus selbst kommt.257 Ebenso fehlt Zurechenbarkeit, wenn ein gehbehinderter Fahrgast nach dem Aussteigen ausrutscht und durch das Anfahren des Busses die Möglichkeit verliert, sich festzuhalten.258 Zur Zurechnung von Verletzungen nach dem Aussteigen wegen eines Unfalls s. Rz. 3.162.

3.134

Fraglich ist die Zuordnung in den Fällen, in denen ein Fahrgast beim Ein- oder Aussteigen am Fahrzeug selbst verletzt wird, z.B. weil er an der Tür oder auf dem Trittbrett zu Sturz kommt. Wenngleich sich hier nicht eigentlich Verkehrsgefahren verwirklichen, ist der Zu-

246 247 248 249 250 251 252 253 254

255 256 257 258

OLG Karlsruhe v. 13.12.2019 – 14 U 108/19, MDR 2020, 347 (Fernsehgerät in Wohnanhänger). OLG Karlsruhe v. 9.3.2015 – 9 W 31/15, NZV 2015, 440. LG Saarbrücken v. 23.12.2019 – 13 S 177/19, NJW-RR 2020, 216. KG v. 30.8.2010 – 12 U 175/09, SVR 2011, 228. OLG Saarbrücken v. 9.10.2007 – 4 U 80/07, NZV 2008, 202; OLG Nürnberg v. 24.8.2000 – 8 U 682/00, VersR 2001, 1042. RG v. 9.12.1929 – VI 217/29, RGZ 126, 333. BGH v. 16.9.1986 – VI ZR 151/85, VersR 1986, 1231. OLG Hamm v. 5.4.2018 – 6 U 163/17, VersR 2018, 1084. BGH v. 10.7.1980 – IV a ZR 17/80, BGHZ 78, 52; BayObLG v. 30.7.1954 – RevReg. 1 Z 39/53, NJW 1955, 105; OLG Hamm v. 31.5.1983 – 27 U 74/83, DAR 1984, 20; KG v. 26.9.1985 – 22 U 3234/84, VM 1986, 20 mit abl. Anm. Booß; a.A. LG Osnabrück v. 24.10.1986 – 11 S 259/86, NJW-RR 1987, 152. A.A. OLG Köln v. 25.2.1987 – 2 U 95/86, VersR 1987, 1226. LG Freiburg v. 2.3.1982 – 9 S 332/81, VersR 1982, 1083. So der Sachverhalt in BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 219/80, VersR 1982, 270. OLG Köln v. 11.11.1988 – 20 U 32/88, 20 U 49/88, NZV 1989, 237.

80 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.141 § 3

sammenhang des Unfalls mit der Nutzung des Kfz als Verkehrsmittel doch so eng, dass er als „bei dem Betrieb“ geschehen anzusehen ist.259 Explosion S. hierzu die Nachweise zu Brandschäden (Rz. 3.128).

3.135

Fahrleitung Die Rechtsprechung, die Stromschäden aus Fahrleitungen dem Betrieb der Eisenbahn zurechnet, kann wegen des weiteren Betriebsbegriffs nach § 1 HaftpflG auf den Obus-Betrieb nicht übertragen werden.260 In solchen Fällen kann aber § 2 HaftpflG eingreifen. Fahrzeugteile Schäden durch Ablösen von Teilen des Kfz sind beim Betrieb des Kfz entstanden, wenn sie in Zusammenhang mit einem Verkehrsvorgang stehen,261 also z.B. beim Verlust eines Reifens, Auspuffs oder sonstigen Teils während der Fahrt. Unerheblich ist, ob das verlorene Teil sogleich zu einem Unfall führt oder ob erst geraume Zeit später ein anderes Kfz auf dieses auffährt.

3.136

3.137

Fehlreaktionen S. hierzu Rz. 3.85 f.

3.138

Folgeunfall S. hierzu Rz. 3.161 ff.

3.139

Geräusche Ein Unfall, der durch das Betriebsgeräusch eines Kfz hervorgerufen wird (etwa durch Verunsicherung eines anderen Verkehrsteilnehmers), ist grundsätzlich dessen Betrieb zuzurechnen. Für überempfindliche Reaktionen ist aber die Adäquanz zu verneinen.262 Aus demselben Grund sind Panikreaktionen von Tieren auf übliche Kfz-Betriebsgeräusche nicht zuzurechnen,263 wohl aber bei außergewöhnlicher Geräuschentwicklung, z.B. durch einen Lautsprecherwagen.264 Zur Zurechenbarkeit tierischer Reaktionen auf ein Unfallgeräusch s. Rz. 3.73, 3.166.

259 BGH v. 12.10.1956 – VI ZR 175/55, VersR 1956, 765; OLG Nürnberg v. 24.5.1989 – 4 U 77/89, NZV 1989, 354 (Automatiktür); vgl. auch österr. OGH ZVR 1992, 218 (Handverletzung an scharfkantigem Fahrzeugteil). 260 A.A. Filthaut NZV 1995, 52, 53 f. 261 RG v. 8.3.1939 – VI 239/38, RGZ 160, 129, 131. 262 Vgl. österr. OGH ZVR 1995, 310, wo sie wohl zu Unrecht verneint wurde. 263 OLG Hamm v. 11.12.1996 – 13 U 121/96, MDR 1997, 350 (Hühner); sehr weit gehend aber OLG Celle v. 20.1.2016 – 14 U 128/13, VersR 2017, 567. 264 RG v. 8.3.1939 – VI 239/38, RGZ 160, 129. S. auch LG Köln v. 31.7.1997 – 21 O 267/95, VersR 1999, 633 = MDR 1997, 935 mit Anm. Siller (Hupen und Blechbüchsen eines Hochzeitskonvois).

Greger | 81

3.140

3.141

§ 3 Rz. 3.142 | Haftung des Kfz-Halters

3.142

3.143

3.144

3.145

3.146

3.147

Hochschleudern Das Hochschleudern von Gegenständen, insbesondere Steinen, von der Fahrbahn ist dem Betrieb des Kfz zuzurechnen.265 Zu Arbeitsmaschinen s. Rz. 3.117 ff. Laden S. hierzu Rz. 3.125 ff. Ladung Beim Herabfallen oder Herabwehen von Ladung gilt dasselbe wie bei Fahrzeugteilen,266 auch wenn es durch das Auffahren eines Dritten ausgelöst wurde.267 Auch hier entfällt die Zurechnung nicht dadurch, dass es erst Stunden nach dem Verlust der Ladung zum Unfall kommt.268 Gerät während der Fahrt die Ladung in Brand, so sind dadurch verursachte Schäden an einem Anliegergrundstück oder der Fahrbahn gleichfalls dem Betrieb des Kfz zuzurechnen.269 Einem aufgeladenen Kfz kommt keine eigene Betriebsgefahr zu (s. Rz. 3.103). Liegenbleiben Kommt es durch ein Kfz, welches infolge eines Defekts oder wegen Treibstoffmangels innerhalb des Verkehrsraums liegengeblieben ist, zu einem Unfall, so ist dieser „bei dem Betrieb“ des Kfz entstanden.270 Das oben für abgestellte Fahrzeuge Ausgeführte gilt für diese Fälle entsprechend. Es kommt demnach (entgegen der älteren Rspr.271) nicht darauf an, wie lange das Liegenbleiben währt272 und ob das Kfz wieder in Betrieb gesetzt werden kann. Auch von einem nach einem Unfall auf dem Seitenstreifen der BAB liegen gebliebenen Kfz kann noch eine Betriebsgefahr ausgehen;273 bei ordnungsgemäßer Absicherung kann aber der adäquate Zusammenhang mit einem Folgeunfall zu verneinen sein.274 Luftzug Insbesondere durch größere Kfz können Sogwirkungen entstehen. Fällt nach Durchfahrt eines Lkw ein abbruchgefährdeter Ast herunter, kann der dadurch verursachte Unfall daher dem Kfz-Betrieb zugerechnet werden.275 Mähfahrzeug S. hierzu Rz. 3.117 ff.

265 Vgl. BGH v. 11.6.1974 – VI ZR 37/73, NJW 1974, 1510; LG München I v. 4.5.1966 – 15 S 528/ 65, VersR 1967, 914. 266 OLG Düsseldorf v. 9.4.2019 – 1 U 170/16, MDR 2019, 1058. 267 LG Flensburg v. 13.7.1989 – 1 S 49/89, NZV 1989, 397. 268 A.A. LG Berlin v. 16.6.1972 – 2 S 112/72, VersR 1974, 274. 269 OLG Köln v. 20.6.1991 – 7 U 31/91, NZV 1991, 391; OLG Dresden v. 29.1.2014 – 7 U 792/13, MDR 2014, 402. 270 BGH v. 9.1.1959 – VI ZR 202/57, BGHZ 29, 163; BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 286/09, NJW 2011, 292, 295. 271 Vgl. z.B. RG v. 12.11.1928 – VI 173/28, RGZ 122, 270. 272 BGH v. 9.1.1959 – VI ZR 202/57, BGHZ 29, 163. 273 BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 286/09, NJW 2011, 292, 295. 274 BGH v. 20.6.1969 – VI ZR 32/68, VersR 1969, 895. 275 OLG Hamm v. 30.3.2007 – 13 U 62/06, NZV 2009, 31.

82 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.158 § 3

Panne S. hierzu Rz. 3.145 f.

3.148

Parken S. hierzu Rz. 3.104 ff.

3.149

Pedalbetrieb Betrieb i.S.d. § 7 StVG ist auch bei einem Moped oder Mofa gegeben, welches zur Unfallzeit nur durch Treten der Pedale vorwärts bewegt wurde. Reparatur S. hierzu Rz. 3.170.

3.150

3.151

Rollen, Schieben Da es auf den Einsatz der Motorkraft nicht ankommt, ist ein Kfz auch dann in Betrieb i.S.d. § 7 StVG, wenn es auf abschüssiger Straße rollt oder auf Verkehrsgrund geschoben wird. Dies gilt nicht nur, wenn ein betriebsunfähiges Kfz als „Nachwirkung“ vorangegangenen Betriebs geschoben276 wird, sondern auch dann, wenn das Kfz gefahren werden könnte. Schleppen Das Schleppen eines betriebsfähigen Kfz277 ist haftungsrechtlich dem Abschleppen (s. Rz. 3.103) gleichzustellen; hier liegt es sogar noch näher, die Betriebsgefahr auch im Verhältnis zwischen den beiden Kfz wirken zu lassen anstatt von einer Betriebseinheit wie beim Anhänger (s. Rz. 3.113 f.) auszugehen. Schäden durch den Absturz eines Drachenfliegers, der von einem Kfz angeschleppt wurde, sind nicht dessen Betrieb zuzurechnen.278 Schreckreaktionen S. hierzu Rz. 3.85.

3.152

3.153

3.154

3.155

Sportveranstaltungen § 7 StVG gilt auch bei Autorennen, Rallyes, Geschicklichkeitsfahrten u.Ä., gleich ob sie auf öffentlichen Straßen oder Privatgelände stattfinden.279 Zum Haftungsausschluss zwischen Teilnehmern s. Rz. 22.63 f.

3.156

Steine S. hierzu Rz. 3.142.

3.157

Streufahrzeug S. hierzu Rz. 3.117 ff.

3.158

276 BGH v. 24.5.1960 – VI ZR 119/59, VersR 1960, 804; BGH v. 22.3.1977 – VI ZR 80/75, VersR 1977, 624. 277 Zur Abgrenzung vom Abschleppen betriebsunfähiger Kfz Huppertz VD 2017, 31. 278 BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 256/79, VersR 1981, 988. 279 OLG Braunschweig v. 15.4.1975 – 5 U 181/74, VersR 1976, 81.

Greger | 83

§ 3 Rz. 3.159 | Haftung des Kfz-Halters

3.159

3.160

3.161

Tanken S. hierzu Rz. 3.170. Überholen Kommt es im Zusammenhang mit einem Überholvorgang zu einem Unfall, ohne dass das verunglückte Kfz mit dem überholenden in Berührung gekommen ist, so findet eine Zurechnung zum Betrieb dieses Kfz nur statt, wenn das Fahrverhalten seines Fahrers jenes des Verunglückten in irgendeiner Art und Weise beeinflusst hat (s. Rz. 3.65). Dies wurde in der Rechtsprechung z.B. bejaht, wenn ein Lastzug auf der Autobahn ein Fahrverhalten zeigt, welches vom nachfolgenden Verkehr als Beginn oder Ankündigung des Überholvorgangs aufgefasst werden kann,280 wenn ein von einem Sattelschlepper überholter Motorradfahrer unsicher wird und stürzt,281 wenn ein Entgegenkommender durch ein riskantes Überholmanöver zu einer objektiv nicht erforderlichen Ausweichreaktion veranlasst wird282 oder wenn durch das überholende Kfz der Verkehrsraum für einen entgegenkommenden Radfahrer zu eng zu werden droht und dieser bei einem Ausweichmanöver stürzt.283 Nicht zugerechnet wird dagegen der Sturz eines Motorradfahrers beim Versuch, einen vorausfahrenden, überholenden Motorradfahrer in zweiter Reihe zu überholen.284 Unfall (weiterer) Kommt es als Folge des Unfalls zu einem weiteren Unfall i.S.v. § 7 StVG, so kann der hierdurch Geschädigte, am Erstunfall nicht Beteiligte (auch) dessen Verursacher haftbar machen, sofern es sich nicht nach den Regeln des Zurechnungszusammenhangs (Rz. 3.67 ff.) um einen davon losgelöst zu betrachtenden Geschehensablauf handelt. Wird z.B. eine Autobahn wegen eines Unfalls ganz oder teilweise gesperrt, so kann auch die Betriebsgefahr der für die Sperrung ursächlichen Fahrzeuge fortwirken, bis die Unfallstelle geräumt, ausreichend abgesichert oder jedenfalls soweit wieder befahrbar ist, dass keine besonderen Gefahren des Unfallgeschehens für nachfolgende Fahrer mehr bestehen.285 Zurechenbar sind Kollisionen mit verunglückten286 oder unfallbedingt anhaltenden287 Fahrzeugen oder Unfälle durch Ausweichen vor solchen.288 Ebenso verhält es sich, wenn durch den Erstunfall ein Weidezaun beschädigt wurde und entlaufende Tiere einen weiteren Unfall verursachen.289 Gerät durch den Unfall ein Hindernis (Fahrzeugteil, Leitplanke)290 oder ein aus dem Unfallfahrzeug entwichener Hund291 auf die Fahrbahn und kommt es dadurch zu einem Unfall, ist dieser dem Erst280 BGH v. 29.6.1971 – VI ZR 271/69, VersR 1971, 1060. 281 BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 86/71, NJW 1972, 1808; OLG Hamburg v. 5.6.2013 – 14 U 84/12, NZV 2013, 541; enger OLG Koblenz v. 23.2.2015 – 12 U 892/13, DAR 2015, 460 mit Anm. Schneider. 282 OLG Schleswig v. 24.3.2017 – 7 U 73/16, NZV 2017, 486. 283 BGH v. 19.4.1988 – VI ZR 96/87, NJW 1988, 2802. 284 BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173 = NZV 2017, 176 mit Anm. Quaisser = DAR 2017, 135 mit Anm. Schneider 268. 285 BGH v. 10.2.2004 – VI ZR 218/03, NJW 2004, 1375, 1376. 286 BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 79/71, NJW 1972, 1804; OLG Düsseldorf v. 14.12.1998 – 1 U 42/98, SP 1999, 117; OLG Celle v. 22.1.2020 – 14 U 150/19, NJW-RR 2020, 533. 287 BGH v. 9.3.1965 – VI ZR 218/63, BGHZ 43, 178. 288 Zu eng OLG Karlsruhe v. 31.5.1990 – 9 U 224/88, NZV 1991, 269. 289 OLG Celle v. 26.4.1965 – 5 U 6/65, VersR 1965, 903. 290 OLG Koblenz v. 11.1.1999 – 12 U 1526/97, NZV 1999, 129; OLG Hamm v. 8.11.2019 – 9 U 10/ 19, NJW 2020, 1006 mit Anm. Gail. 291 BGH v. 9.2.1988 – VI ZR 168/87, NZV 1988, 17.

84 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.164 § 3

unfall zurechenbar. Für einen durch Ablenkung oder Schaulust verursachten Unfall auf der Gegenfahrbahn ist die Zurechenbarkeit dagegen zu verneinen, ebenso wenn es zu dem Zweitunfall nur deshalb kommt, weil ein Verkehrsteilnehmer durch ein außerhalb des Verkehrsraums292 zum Liegen gekommenes Unfallfahrzeug oder das Winken dessen ausgestiegenen Fahrers293 abgelenkt wurde oder weil er infolge grober Unaufmerksamkeit in die ordnungsgemäße, ein gefahrloses Passieren der Unfallstelle ermöglichende Absperrung fuhr.294 Erleidet der bereits beim Erstunfall Geschädigte durch ein damit adäquat kausal zusammenhängendes, aber selbständiges Schadensereignis eine erneute Verletzung, haftet der Halter des Unfallfahrzeugs auch hierfür,295 so z.B. wenn ein Dritter unaufmerksam in die Unfallstelle hineinfährt.296 Hat der Geschädigte durch eine eigene Handlung zu der Verletzung beigetragen, scheitert die Zurechnung nicht daran, dass er unter dem Eindruck des Unfallgeschehens unrichtig gehandelt hat. Sie ist jedoch zu verneinen, wenn die Reaktion des Geschädigten als unangemessen und unvernünftig zu bewerten ist, wenn die Gefahrenlage im Zeitpunkt des Handelns bereits abgeschlossen war oder wenn sich in dem durch den zweiten Unfall entstandenen Gesundheitsschaden nur ein allgemeines Lebensrisiko des Geschädigten verwirklicht hat.297 Zurechnung wurde daher z.B. bejaht bei einem Folgeunfall, den der Geschädigte im unmittelbaren Anschluss an den Erstunfall deswegen erleidet, weil er infolge Schocks298 oder weil er eine Unfallflucht des Gegners befürchtet299 unbedacht die Fahrbahn betritt. Verneint wurde sie, wenn ein beim Erstunfall entwichener Hund in erheblichem zeitlichen und räumlichen Abstand überfahren wird.300

3.162

Zurechenbar ist ein Zweitunfall, den der Verletzte beim Transport ins Krankenhaus erleidet, weil der Rettungswagen wegen hoher Geschwindigkeit und Ausübung seiner Sonderrechte besonderen Gefahren ausgesetzt ist, nicht aber der Unfall, der ihm beim Heimweg vom Krankenhaus zustößt. Der Gesichtspunkt der Gefahrerhöhung ist entscheidend auch bei Unfällen, die in einem inneren Zusammenhang mit der Reparatur des Unfallfahrzeugs stehen. Daher sind z.B. Unfälle, die bei der die Unfallreparatur abschließenden Testfahrt infolge eines übersehenen Defekts geschehen, in den Grenzen der Adäquanz zurechenbar, nicht aber ein Unfall, den der Überbringer des reparierten Fahrzeugs bei einer unerlaubten „Spritztour“ verursacht.301

3.163

Ein Unfall im Zusammenhang mit der Bergung eines verunglückten Kfz ist, sofern keine völlig unvernünftige Vorgehensweise vorliegt, ebenfalls dessen Betrieb zuzurechnen.302 Zur Schädigung eines Unfallhelfers s. Rz. 3.91. Zu Folgeschäden, die nicht durch einen Unfall, sondern z.B. durch selbstschädigendes Verhalten des Verletzten oder Maßnahmen eines

3.164

292 LG Schweinfurt v. 16.10.1992 – 1 S 39/92, NJW-RR 1993, 220, allerdings den Straßengraben noch zum Verkehrsraum rechnend. 293 Vgl. OLG Hamm v. 16.8.1999 – 6 U 227/98, NZV 1999, 469. 294 BGH v. 10.2.2004 – VI ZR 218/03, NJW 2004, 1375. 295 Filthaut NZV 2017, 265 ff. (Rspr.-Überblick). 296 BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 79/71, NJW 1972, 1804; OLG Saarbrücken v. 27.8.1998 – 3 U 1018/ 97, NZV 1999, 510. 297 Filthaut NZV 2017, 265, 269. 298 BGH v. 28.10.1969 – VI ZR 61/68, VersR 1970, 61 (hier allerdings aus tatsächlichen Gründen verneint). 299 BGH v. 25.1.1977 – VI ZR 166/74, VersR 1977, 430. 300 LG Hamburg v. 16.1.2018 – 302 S 14/17, NZV 2018, 191. 301 OLG Düsseldorf v. 9.6.1994 – 10 U 187/93, NZV 1995, 20. 302 OLG Hamm v. 18.5.1976 – 9 U 197/75, VersR 1977, 261.

Greger | 85

§ 3 Rz. 3.164 | Haftung des Kfz-Halters

Dritten verursacht werden, s. Rz. 19.8 ff., zur Verschlimmerung der Unfallfolgen durch einen weiteren, vom Erstunfall unabhängigen Unfall s. Rz. 19.12.

3.165

Die Zurechnung eines Folge- oder Zweitunfalls kann insbesondere dann Bedeutung erlangen, wenn der für das spätere Ereignis mithaftende Schädiger nicht greifbar oder nicht liquide ist303 oder wenn unterschiedliche Mithaftungsquoten bestehen (dazu s. Rz. 25.5, 25.141). Hat der Betrieb des Kfz sich bei den beiden Unfällen unterschiedlich ausgewirkt, ist es möglich, dass der Kfz-Halter sich für den Erstunfall entlasten kann oder nur eine geringe Haftungsquote tragen muss, für den zweiten aber strenger haftet (z.B. bei ungenügender Absicherung der Unfallstelle). Für die Folgen ein und desselben Betriebsvorgangs kann die Zweitschädigung aber keine höhere Haftung auslösen. Mehrere für den Erstunfall Verantwortliche haften dem beim Zweitunfall Geschädigten, ggf. unter Anrechnung der beim Zweitunfall mitwirkenden Betriebsgefahr seines Kfz, als Gesamtschuldner; die Aufteilung der Haftung zwischen diesen findet lediglich beim Innenausgleich statt.304

3.166

Unfallgeräusch Auch das mit einer Kollision verbundene Unfallgeräusch ist eine Ausprägung der spezifischen Betriebsgefahr.305

3.167

Verschmutzung Führt die Verschmutzung der Straße durch die Reifen oder Ketten eines Kfz zu einem Unfall, so ist dieser bei dem Betrieb des Kfz verursacht. Welche Zeitspanne zwischen der Verschmutzung und dem Unfall liegt, ist ohne Bedeutung.306

3.168

3.169

Vorsatz Auch vorsätzliche Schädigungen mittels des Kfz fallen, sofern es im Verkehr eingesetzt wird, unter das Merkmal „bei dem Betrieb“ und begründen eine Haftung nach § 7 StVG.307 Dessen Schutzzweck umfasst auch solche Gefahren, die der Benutzer des Kfz bewusst und gewollt gegen einen anderen ausspielt, z.B. beim Zufahren auf den anderen in Tötungsabsicht. Dasselbe gilt, wenn von einem fahrenden Kfz aus Gegenstände auf andere Verkehrsteilnehmer geworfen werden.308 In solchen Fällen haftet (neben dem selbstverständlich aus unerlaubter Handlung verantwortlichen Täter) also auch der Halter. Anders liegt es aber, wenn das Kfz völlig verkehrsfremd als Werkzeug zur Ausführung eines Terrorakts verwendet wird.309 Zum Anspruch gegen den Haftpflichtversicherer s. Rz. 15.15. Fährt ein Kraftfahrer auf einen vor dem Kfz stehenden Fußgänger zu, um diesen zum Beiseitetreten zu nötigen, und schlägt dieser sodann mit der Faust auf die Motorhaube, verwirklicht

303 So in der Sache BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 79/71, NJW 1972, 1804. 304 OLG Hamm v. 8.11.2019 – 9 U 10/19, NJW 2020, 1006 mit Anm. Gail. 305 BGH v. 2.7.1991 – VI ZR 6/91, BGHZ 115, 84, wo allerdings die Zurechenbarkeit einer Panikreaktion von Zuchtschweinen nicht überzeugend verneint wurde; vgl. hierzu Rz. 3.73. 306 BGH v. 13.7.1982 – VI ZR 113/81, NJW 1982, 2669. 307 BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311; OLG München v. 16.6.2000 – 10 U 5480/99, NZV 2001, 220; AG Mainz v. 9.6.1997 – 81 C 46/97, VersR 1997, 1117 mit Anm. Lorenz; Filthaut NZV 1998, 89 ff. 308 LG Bayreuth v. 13.1.1988 – S 47/87, NJW 1988, 1152. A.A. für Schüsse aus dem Kfz heraus Burmann/Jahnke DAR 2020, 128, 133. 309 Burmann/Jahnke DAR 2020, 128, 133 f.; BHHJ/Burmann § 7 StVG Rz. 8.

86 | Greger

IV. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ | Rz. 3.172 § 3

sich die Betriebsgefahr des Kfz, so dass es zur Mithaftung des Halters kommt.310 Kommt es im Anschluss an einen Verkehrsvorgang zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten, ist diese nicht mehr dem Kfz-Betrieb zuzurechnen.311 Wartung Bei Schädigungen im Zusammenhang mit Wartungsarbeiten oder dem Auftanken des Kfz realisieren sich im Regelfall keine Verkehrsgefahren. Kommt etwa ein Mechaniker beim Hantieren an dem Kfz in der Werkstatt durch das Kfz zu Schaden, so liegt kein Anwendungsfall des § 7 StVG vor.312 Anders ist es hingegen, wenn sich eine mit dem Kfz als Verkehrsmittel verbundene Betriebsgefahr während des Aufenthalts an einer Tankstelle oder in einem Reparaturbetrieb realisiert (z.B. das Kfz rollt während des Tankens zurück; vergossenes Öl führt zum Sturz eines Kradfahrers; bei der Einfahrt in die Werkstatt wird ein Mitarbeiter angefahren). Waschanlage Nicht bei dem Betrieb des Kfz entstanden ist ein Unfall in einer Waschanlage, in der das Kfz ausschließlich durch eine Transportkette fortbewegt wird.313 Das muss auch gelten, wenn sich das Kfz während des Schleppvorgangs selbsttätig in Bewegung setzt, weil die Zündung eingeschaltet war314 oder wenn es wegen Bremsens zum Aufschieben eines nachfolgenden Fahrzeugs kommt.315 Bei erwiesenem Fehlverhalten greift aber deliktische Haftung ein.

3.170

3.171

5. Beweisfragen Der Kläger hat zu beweisen, dass der Unfall „bei dem Betrieb“ des Kfz des Beklagten entstanden ist. Dies umfasst den (adäquaten) Kausalzusammenhang zwischen Betrieb und Unfall (s. Rz. 3.67 ff.). Es genügt nicht, dass das Kfz des Beklagten zur Unfallzeit an der Unfallstelle war, vielmehr muss der Kläger beweisen, dass der Betrieb dieses Fahrzeugs zum Entstehen des Unfalls beigetragen hat, d.h. dass es ohne den betreffenden Betriebsvorgang nicht zu dem Unfall gekommen wäre. Dieser Beweis ist oftmals schwierig, weil sich hypothetische Geschehensabläufe (was wäre geschehen, wenn das Kfz nicht dort gefahren wäre?) menschlicher Erkenntnis und damit auch einem gesicherten Nachweis entziehen. Vom Kläger kann daher – auch wenn kein typischer Geschehensablauf im Sinne eines Anscheinsbeweises vorliegt (s. Rz. 41.59) – kein hundertprozentiger Beweis der Betriebsursächlichkeit verlangt werden. Es muss vielmehr genügen, wenn der Kläger so viel beibringt, dass nach allgemeiner Erfahrung von der Ursächlichkeit des Betriebs für den Unfall auszugehen ist, also eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Kausalität besteht (allgemein zum Kausalitätsbeweis s. Rz. 41.68). Fliegt z.B. ein Stein gegen die Windschutzscheibe eines Pkw, während ein Lkw in einem Baustellenbereich mit erheblicher Geschwindigkeit entgegenkommt, so kann der ursächliche Zusammenhang mit dem Betrieb des Lkw als erwiesen angesehen werden.316 Bloße Vermutungen

AG Ludwigshafen v. 13.9.2017 – 2 h C 42/17, NJW 2018, 411 mit Anm. Filthaut. Burmann/Jahnke DAR 2020, 128, 133. Vgl. österr. OGH ZVR 1999, 166. KG v. 28.3.1977 – 12 U 2468/75, VersR 1977, 626; OLG Koblenz v. 3.7.2019 – 12 U 57/19, MDR 2019, 1312. Zur Beendigung dieses Vorgangs LG Kleve v. 23.12.2016 – 5 S 146/15, r+s 2017, 212. 314 A.A. OLG Celle v. 18.9.1975 – 5 U 145/74, DAR 1976, 72. 315 A.A. OLG Celle v. 20.11.2019 – 14 U 172/18, DAR 2020, 26. 316 BGH v. 11.6.1974 – VI ZR 37/73, NJW 1974, 1510.

310 311 312 313

Greger | 87

3.172

§ 3 Rz. 3.172 | Haftung des Kfz-Halters

genügen allerdings nicht; insbesondere können sie nicht die bestmögliche Aufklärung des Unfallhergangs ersetzen.317 Lässt sich die Möglichkeit eines vom Betrieb des Kfz unabhängigen Unfallgeschehens demnach nicht ausschließen, scheidet eine Zurechnung aus.318 Steht dagegen die Ursächlichkeit des Betriebs fest und ist lediglich nicht feststellbar, welcher von zwei möglichen Betriebsvorgängen den Unfall verursacht hat (z.B. Hochschleudern oder Herabfallen eines Gegenstands), haftet der Halter.319

V. Der Halter als Ersatzpflichtiger 1. Bedeutung des Halterbegriffs 3.173

Als Rechtsfolge des einem Kfz-Betrieb zuzurechnenden Unfalls ordnet § 7 StVG an, dass der Halter des Kfz den durch den Unfall verursachten Schaden zu ersetzen hat. Die haftungsrechtliche Bedeutung des Halterbegriffs ist seit der Einführung des Direktanspruchs gegen den Haftpflichtversicherer im Jahre 1965 deutlich zurückgegangen (die dazu vorhandene Rechtsprechung daher zumeist älteren Datums). Der Direktanspruch knüpft an die Haftung des Versicherungsnehmers und der mitversicherten Personen i.S.v. § 2 Abs. 2 KfzPflVV an. Wer Versicherungsnehmer ist, ergibt sich aus dem Versicherungsvertrag. Ist durch den Gebrauch des versicherten Kfz ein Schadensersatzanspruch begründet worden, haftet der Versicherer folglich unabhängig davon, wer dessen Halter ist (zur möglichen Personenverschiedenheit s. Rz. 3.189 ff.). Nur bei von der Versicherungspflicht befreiten Haltern (§ 2 PflVG) sowie bei fehlendem oder gestörtem Versicherungsverhältnis kommt es darauf an, den Halter zu identifizieren. Außerdem muss der Geschädigte, wenn er neben dem Versicherer den Halter mitverklagen will, darauf achten, dass er die richtige Person verklagt; die Klage müsste sonst als teilweise unbegründet abgewiesen werden.

2. Grundsätzliches zum Halterbegriff 3.174

Aus dem Aufbau des Gesetzes ergibt sich, dass jedes Kfz mindestens einen Halter hat,320 und zwar von dem Augenblick an, in dem es erstmals in Betrieb gesetzt wird, bis zu dem Zeitpunkt, in dem der letzte Betrieb endet (zum Begriff „Betrieb“ s. Rz. 3.56 ff.). Der Begriff „Halter“ hat im ganzen StVG dieselbe Bedeutung,321 es wäre daher verfehlt, ihn aus haftungsrechtlichen Billigkeitserwägungen zu extensiv auszulegen und damit ungerechtfertigte Verantwortlichkeiten in straf- und bußgeldrechtlicher Hinsicht zu schaffen.

3.175

Die Pflicht zum Ersatz des beim Betrieb eines Kfz entstandenen Schadens trifft diejenige Person, die zum Zeitpunkt des Unfalls Halter des Kfz war. Darauf, ob sie auch noch Halter war, als der Schaden entstand (z.B. der Tod des Verletzten eintrat), kommt es nicht an.

317 318 319 320 321

BGH v. 12.1.1982 – VI ZR 269/80, VersR 1982, 274. Vgl. z.B. OLG Schleswig v. 24.3.2017 – 7 U 73/16, NZV 2017, 486. OLG Düsseldorf v. 9.4.2019 – 1 U 170/16, MDR 2019, 1058. RG v. 24.11.1942 – VI 32/42, RGZ 170, 182, 184. BVerwG v. 20.2.1987 – 7 C 14/84, NJW 1987, 3020; OVG Lüneburg v. 30.1.2014 – 12 M.E. 243/ 13, NZV 2014, 485; OLG Hamm v. 11.2.1954 – (2) 2a Ss 1200/53, NJW 1955, 1162; OLG Bremen v. 4.5.1955 – Ss 25/55, NJW 1955, 1163 mit Anm. Bruns. Anders wohl österr. OGH ZVR 1990, 239 für § 5 Abs. 1 EKHG.

88 | Greger

V. Der Halter als Ersatzpflichtiger | Rz. 3.180 § 3

Ereignet sich der Unfall nach dem Tod des (bisherigen) Halters, haftet der Erbe persönlich, soweit er die Haltereigenschaft im nachstehenden Sinn bereits übernommen hatte; ansonsten richtet sich der Ersatzanspruch allein gegen den Nachlass, so dass der Erbe seine persönliche Haftung nach den allgemeinen Regeln §§ 1943 ff., 1975 ff., 1999 f. BGB) ausschließen kann.322

3.176

Die Haltereigenschaft hängt vom Vorliegen bestimmter tatsächlicher Gegebenheiten ab (s. Rz. 3.178 ff.), beruht nicht auf einem rechtsgeschäftlich begründeten Rechtsverhältnis. Sie kann daher nicht Gegenstand einer Feststellungsklage (§ 256 ZPO) sein. Die zugrunde liegenden Tatsachen können mit bindender Wirkung gem. § 288 ZPO zugestanden werden, nicht aber die Rechtsstellung als solche. Entscheidend (und ggf. vom Anspruchsteller zu beweisen) ist die tatsächliche Situation, nicht ein etwaiger Rechtsschein.323

3.177

3. Begriffsbestimmung Nach der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Definition ist Halter, wer das Fahrzeug nicht nur ganz vorübergehend für eigene Rechnung in Gebrauch hat und die Verfügungsgewalt darüber besitzt, die ein solcher Gebrauch voraussetzt.324 Entscheidend ist nicht die rechtliche Situation, sondern eine wirtschaftliche Betrachtungsweise, bei der es vor allem auf die Intensität der tatsächlichen Beziehung zum Betrieb des Kfz im Einzelfall ankommt. Wer danach tatsächlich und wirtschaftlich der eigentlich Verantwortliche für den Einsatz des Kfz im Verkehr ist, schafft die vom Fahrzeug ausgehenden Gefahren, für die er haftungsrechtlich einzustehen hat.325

3.178

a) Gebrauch des Kfz Ein Kfz in Gebrauch haben bedeutet so viel wie Nutzen aus ihm ziehen. Insbesondere macht Gebrauch vom Kfz, wer an dem Betrieb ein wirtschaftliches Interesse hat.326 Das ist nicht nur diejenige Person, die ihren Wagen aus beruflichen Gründen oder zu ihrem Vergnügen selbst fährt, sondern auch jeder, der seinen Wagen einem anderen zum Gebrauch überlässt, sofern er nur von der Überlassung irgendeinen Vorteil hat. Dieser Vorteil wird häufig in dem Anspruch auf ein laufendes Entgelt (Mietzins) liegen, kann aber auch ideeller Art sein, z.B. der Pflege einer Beziehung dienen327 oder die Erfüllung öffentlicher Aufgaben unterstützen.328

3.179

b) Kostentragung Das Merkmal „für eigene Rechnung“ bedeutet, dass Halter nur derjenige sein kann, der zumindest teilweise die Kosten des Betriebes bestreitet. Beim Eigentümer liegt es stets vor, weil ihn die durch den Betrieb des Kfz und den Zeitablauf entstehende Wertminderung des Kfz trifft; zu Nichteigentümern s. Rz. 3.193 ff.

322 Staudinger/Eberl-Borges § 833 BGB Rz. 122; MünchKomm-BGB/Wagner § 833 Rz. 39; eingehend Eberl-Borges VersR 1996, 1070, 1072 f. (jeweils zur insoweit vergleichbaren Position des Tierhalters). 323 LG München I v. 15.11.1983 – 17 O 2110/83, VersR 1984, 95. 324 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, NJW 1992, 900, 902 m.w.N. 325 BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 199/06, NJW 2007, 3120 mit Anm. Weber. 326 OLG Hamm v. 10.1.1977 – 1 Ss OWi 1569/76, VRS 53, 313. 327 RG v. 24.11.1942 – VI 32/42, RGZ 170, 182, 183 f. 328 RG v. 19.11.1917 – VI 237/17, RGZ 91, 269, 271.

Greger | 89

3.180

§ 3 Rz. 3.181 | Haftung des Kfz-Halters

c) Dauer 3.181

Der Gebrauch darf nicht nur ganz vorübergehend sein. Halten ist nicht eine augenblickliche Benutzung, sondern ein Vorgang von einiger Dauer. Wer ein Kfz für einige Fahrten oder einen eng begrenzten Zeitraum (z.B. einen Tag) mietet oder leiht, wird deshalb nicht zum Halter329 (näher hierzu Rz. 3.194 ff.).

d) Verfügungsgewalt 3.182

Mit Verfügungsgewalt ist nicht die Befugnis zur Eigentumsübertragung gemeint, sondern die tatsächliche Möglichkeit, den Einsatz des Kfz zu bestimmen. Da eine rechtsgeschäftliche Verfügungsbefugnis nicht erforderlich ist, kann auch ein Minderjähriger Halter sein.330 Halter ist mithin nur, wer – wenigstens in groben Umrissen – tatsächlich bestimmen kann, wann, wo, durch welchen Führer und zu welchem Zweck das Kfz in Betrieb gesetzt werden soll. Er muss nicht alle Einzelheiten der durchzuführenden Fahrten kennen; es genügt, dass er in der Lage ist, Einfluss auf die Durchführung der Fahrten zu nehmen.

3.183

Verlust der Verfügungsgewalt führt nicht in jedem Falle zum Verlust der Haltereigenschaft. Da dem Begriff „Halter“ eine gewisse Dauerhaftigkeit innewohnt (s. Rz. 3.181) und jedes betriebsbereite Kfz einen Halter haben muss (s. Rz. 3.180), verbietet es sich, ein Ende der Haltereigenschaft anzunehmen, wenn das Kfz nur für eine Fahrt oder für einige Stunden nicht mehr der Verfügungsgewalt des bisherigen Halters untersteht (s. Rz. 3.196) Zu den Fällen des Diebstahls und der Gebrauchsentziehung s. Rz. 3.211.

4. Vertretung des Halters 3.184

Der Halter kann sich bei der Ausübung seiner Rechte und Pflichten durch eine andere Person vertreten lassen. Handelt der Vertreter im Rahmen einer solchen Ermächtigung, so übt er die Verfügungsgewalt für den anderen aus und nur der andere ist – sofern die übrigen Merkmale vorliegen – Halter. Dieselbe Person kann auch zugleich als Vertreter einem anderen die Halterstellung vermitteln und selbst Halter sein. Dies ist z.B. der Fall, wenn sie zeitweise das Kfz im eigenen Interesse und auf eigene Rechnung gebraucht (s. Rz. 3.186).

5. Mehrheit von Haltern 3.185

Die vorstehend geschilderten Merkmale (nicht nur vorübergehender Gebrauch, auf eigene Rechnung, Verfügungsgewalt) können bezüglich eines Fahrzeugs auf mehrere Personen zutreffen.331 Dies ist z.B. der Fall, wenn sie die zum Betrieb des Kfz erforderlichen Anordnungen gemeinsam treffen oder sich einig sind, dass jeder das Kfz für sich in dem Zeitraum benutzen darf, in dem der andere es nicht benötigt, und dass man Überschneidungen durch Vereinbarung oder durch Absprache im Einzelfall vermeidet.332 In letzterem Falle, der häufig bei Ehegatten oder beim privaten Car-Sharing vorkommen wird, ist also nicht etwa abwechselnd der eine und der andere Verfügungsbefugte stunden- oder tageweise Halter; denn ein solch

329 BGH v. 10.11.1977 – III ZR 79/75, VersR 1978, 231, 233. 330 Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 47. Für analoge Anwendung von § 828 BGB Fischinger/Seibl NJW 2005, 2886, 2888; ein halterloses Kfz darf es aber nicht geben. 331 BGH v. 29.5.1954 – VI ZR 111/53, BGHZ 13, 351. 332 BGH v. 29.5.1954 – VI ZR 111/53, BGHZ 13, 351, 355.

90 | Greger

V. Der Halter als Ersatzpflichtiger | Rz. 3.189 § 3

„geradezu schaukelhafter Wechsel“ widerspräche dem Halterbegriff, dem eine gewisse Dauerhaftigkeit innewohnt.333 Mithalterschaft liegt daher z.B. auch dann vor, wenn ein Angestellter oder Beamter sein Kfz im Interesse des Arbeitgebers (Dienstherrn) fährt, aber das Recht hat, es auch zu Privatfahrten zu verwenden, und beide einen Teil der Betriebskosten (sei es auch nur die Wertminderung) tragen.334 Mehrere Halter hat das Kfz ferner, wenn es im Eigentum einer nicht rechtsfähigen Personenmehrheit steht (z.B. Erbengemeinschaft, Gütergemeinschaft) und der Betrieb des Kfz im gemeinsamen Interesse („auf Rechnung der Personenmehrheit“) und auf Grund einer von allen Beteiligten erteilten Vertretungsmacht durchgeführt wird. Auch wenn Car-Sharing in Form einer Miteigentümergemeinschaft betrieben wird, sind alle Beteiligten Halter; beim gewerblichen Car-Sharing hingegen verhält es sich wie bei der Vermietung (s. Rz. 3.196 ff.).

3.186

Mehrere Halter haften als Gesamtschuldner.335 Sie können nicht nach außen wirksam vereinbaren, dass nur einer von ihnen haften solle. Zum Ausgleich im Innenverhältnis s. Rz. 39.2.

3.187

6. Fehlen eines Halters Es sind Fälle denkbar, in denen sich keine Person feststellen lässt, auf die alle oben bezeichneten Begriffsmerkmale zutreffen, so z.B. bei dem von seinem Eigentümer betriebsbereit aufgegebenen Kfz oder bei einer Kfz-Nutzung, bei welcher derjenige, der die Kosten ausschließlich trägt, sich jeglicher Verfügungsgewalt über das Kfz begeben hat. Da aber jedes Kfz vom ersten bis zum letzten Betrieb einen Halter haben muss, ist die Verantwortlichkeit des letzten Halters in solchen Fällen als fortbestehend anzusehen. Der letzte Halter des aufgegebenen Kfz haftet also z.B., wenn durch das im Verkehrsraum abgestellte Kfz ein Unfall entsteht. Verteilen sich die Haltermerkmale auf mehrere, so trifft, falls keine Mithalterschaft angenommen werden kann (s. Rz. 3.185), die Verantwortlichkeit denjenigen, auf dessen Verfügungsgewalt dieses Auseinanderfallen zurückzuführen ist, also den, der trotz Tragens der Aufwendungen die Verfügungsgewalt einem anderen übertragen hat. Auf denjenigen abzustellen, bei dem die „Eigenschaften des Halters in größerem Umfang“ vorhanden sind als bei den anderen,336 ist zu unbestimmt.

3.188

7. Anzeichen für das Vorliegen der Haltereigenschaft a) Eigentum Da i.d.R. der Eigentümer die Macht hat, den Einsatz eines Kfz zu bestimmen und ihn mindestens in Form der durch Nutzung und Zeitablauf hervorgerufenen Wertminderung stets auch „Kosten“ treffen, ist das Eigentum ein gewichtiges Indiz für die Haltereigenschaft.337

333 RG v. 27.1.1930 – VI 186/29, RGZ 127, 174, 176; BGH v. 29.5.1954 – VI ZR 111/53, BGHZ 13, 351, 359; a.A. Louis JW 1934, 3128. 334 BGH v. 29.5.1954 – VI ZR 111/53, BGHZ 13, 351. 335 OLG Hamm v. 1.2.1955 – 3 U 221/54, VersR 1956, 131. 336 So RG v. 24.11.1942 – VI 32/42, RGZ 170, 182, 184. 337 RG v. 19.11.1917 – VI 237/17, RGZ 91, 269; RG v. 9.2.1928 – VI 373/27, RGZ 120, 154.

Greger | 91

3.189

§ 3 Rz. 3.190 | Haftung des Kfz-Halters

b) Zulassung und Haftpflichtversicherung 3.190

Auf wen das Kfz zugelassen ist und von wem der Versicherungsvertrag abgeschlossen wurde, hat keine wesentliche Bedeutung für die Halterstellung.338 Zwar ist nach § 1 PflVG der Halter verpflichtet, für die Verwendung seines Kfz auf öffentlichen Wegen oder Plätzen eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Dessen Versicherungspflicht kann jedoch auch durch eine andere Person erfüllt werden; er ist dann Mitversicherter nach § 2 Abs. 2 KfzPflVV.339 Wird ein Kfz daher, etwa zur Erlangung einer günstigeren Versicherungsprämie, für einen anderen als den tatsächlichen Nutzer zugelassen und versichert, ist für die Halterstellung die tatsächliche Verfügungsgewalt entscheidend.340

c) Tatsächlicher Gebrauch 3.191

Guten Aufschluss darüber, wer der Halter ist, kann i.d.R. die Feststellung geben, wer das Kfz tatsächlich in Gebrauch hat, d.h. mit dem Kfz selbst fährt, mitfährt oder zumindest Güter befördert. Ist eine solche Person Eigentümer des Kfz, kann – soweit nicht gewichtige Anzeichen dagegen sprechen – davon ausgegangen werden, dass sie Halter des Kfz ist. Zu beachten ist aber, dass zum tatsächlichen Gebrauch die übrigen Haltermerkmale (insbesondere „für eigene Rechnung“ und Verfügungsgewalt) hinzukommen müssen und dass umgekehrt ein tatsächlicher Gebrauch i.S. körperlicher Anwesenheit nicht Voraussetzung für die Halterstellung ist.

d) Tragen der Aufwendungen 3.192

Das Tragen der laufenden Aufwendungen (Kfz-Steuer, Versicherung, Reparaturen usw.) kann Aufschluss darüber geben, wer der Halter ist. Weniger von Bedeutung ist, wer den Treibstoff für die einzelne Fahrt bezahlt. Bei entsprechender Verfügungsgewalt kann allerdings Halter auch derjenige sein, der nur die Treibstoffkosten eines Kfz trägt.341

8. Einzelfälle 3.193

Kauf eines Kfz. Maßgebender Zeitpunkt für den Übergang der Haltereigenschaft auf den Erwerber ist weder der Abschluss des Kaufvertrags noch der Eigentumsübergang oder die Zulassung auf den Käufer;342 entscheidend ist vielmehr der Zeitpunkt, zu dem für den Erwerber der Gebrauch auf eigene Rechnung und die Verfügungsgewalt beginnen. Ohne Bedeutung ist daher ein vereinbarter Eigentumsvorbehalt,343 während die Übergabe des Fahrzeugs, der Schlüssel und Papiere ausschlaggebend sein kann.344 Verkauft ein Taxiunternehmer ein Taxi unter Eigentumsvorbehalt und beschäftigt er zunächst den Käufer im Rahmen der ihm verbliebenen Genehmigung weiter, bis der Käufer eine eigene Genehmigung erhält, so fährt der Käufer in Vertretung des Verkäufers und letzterer bleibt Halter.345 Für die Inzahlungnahme

338 BGH v. 29.5.1954 – VI ZR 111/53, BGHZ 13, 351; BGH v. 11.7.1969 – VI ZR 49/68, VersR 1969, 907. 339 Prölss/Martin/Klimke § 1 PflVG Rz. 2. 340 OLG Hamm v. 10.5.1990 – 3 Ss OWi 459/90, NZV 1990, 363; MünchKomm-StVR/Engel § 7 StVG Rz. 24. 341 OLG Hamm v. 16.7.1965 – 1 Ss 651/65, VRS 29, 378. 342 BGH v. 11.7.1969 – VI ZR 49/68, VersR 1969, 907. 343 RG v. 8.7.1915 – VI 79/15, RGZ 87, 137, 141. 344 OLG Köln v. 23.6.1995 – 19 U 48/95, DAR 1995, 485. 345 RG v. 8.7.1915 – VI 79/15, RGZ 87, 137, 141.

92 | Greger

V. Der Halter als Ersatzpflichtiger | Rz. 3.197 § 3

des Altwagens des Erwerbers gelten vorstehende Grundsätze gleichermaßen.346 Die Haltereigenschaft während einer Überführungsfahrt hängt von den getroffenen Vereinbarungen ab.347 Probefahrt. Wer das Kfz einem Anderen für kürzere Zeit zur Probe überlässt, bleibt Halter, denn „Halten“ ist nicht schon die vorübergehende Benutzung, sondern ein Vorgang von einiger Dauer.348 Eine starre zeitliche Grenze lässt sich nicht angeben. Neben der Zeitdauer kommt es auch auf die Intensität und die Selbständigkeit der Benutzung an.

3.194

Sicherungsübereignung, Verpfändung sind ohne Einfluss auf die Halterstellung, denn der Pfandnehmer erhält zwar den Besitz (der Sicherungsnehmer das Eigentum), nicht aber das Recht, das Kfz in Betrieb zu nehmen. Wer sein Kfz einem anderen zur Sicherheit übereignet, fährt i.d.R. nicht im Namen und für Rechnung des neuen Eigentümers weiter, sondern in eigener Verfügungsgewalt.349 Anders verhält es sich jedoch, wenn der Sicherungsnehmer das Kfz für seine eigenen Zwecke einsetzt, von eigenen Leuten fahren lässt und für die Betriebskosten aufkommt; dann wird er – ggf. neben dem Sicherungsgeber – Halter, und zwar auch dann, wenn nicht das Volleigentum, sondern nur eine Anwartschaft auf das Eigentum auf ihn überging.350 Zu dem Sonderfall, dass der Sicherungsgeber Handelsvertreter des Sicherungsnehmers ist, s. Rz. 3.203.

3.195

Leihe, Miete, Car-Sharing. Der Vermieter oder Verleiher eines Kfz bleibt Halter, wenn es sich nur um eine ganz vorübergehende Gebrauchsüberlassung handelt. In diesem Fall verliert er zwar die Verfügungsgewalt, doch steht das dem Halterbegriff innewohnende Merkmal einer „gewissen Dauerhaftigkeit“ (s. Rz. 3.181) dem Verlust der Haltereigenschaft entgegen.351 Es ist nicht möglich, eine scharfe zeitliche Grenze zu setzen, bei deren Überschreitung die Haltereigenschaft erlischt (s. Rz. 3.198). Beim gewerblichen Car-Sharing verhält es sich entsprechend (zu anderen Formen gemeinsamer Fahrzeugnutzung s. Rz. 3.185).

3.196

Der Vermieter oder Verleiher bleibt allerdings auch bei längerer Gebrauchsüberlassung dann Halter, wenn er sich einen Einfluss auf die Gestaltung der Fahrten vorbehält (und ausübt) oder wenn er sich das Recht vorbehält, entweder nach einem vorher abgestimmten Plan, nach einer im Einzelfall zu treffenden Vereinbarung oder auf einseitige Anforderung hin das Kfz selbst benutzen oder für eigene Zwecke einsetzen zu dürfen. So bleibt z.B. der Vater Halter, der sein Fahrzeug dem Sohn zum Gebrauch überlässt, aber jederzeit noch darüber verfügen kann,352 nicht aber der Bruder, der das Fahrzeug seiner Schwester für längere Zeit zu alleiniger Benützung zur Verfügung stellt.353 Der Vermieter bleibt insbesondere dann Halter, wenn er den Fahrer stellt und dieser den Wünschen des Entleihers zwar entsprechen darf, dessen Weisungen aber nicht unterworfen ist.354 Der Vermieter bleibt aber nicht schon deshalb Halter, weil ihn die durch Zeitablauf verursachte Wertminderung des Kfz trifft und er andererseits den Mietzins kassiert und die hierfür erforderliche Verfügungsmacht besitzt; hat er kei-

3.197

Vgl. hierzu BayObLG v. 10.9.1958 – RevReg. 1 St 502/57, BayObLGSt 1958, 205, 207. RG v. 15.1.1912 – VI 324/11, RGZ 78, 179. BGH v. 10.11.1977 – III ZR 79/75, VersR 1978, 231, 233. RG v. 18.9.1933 – VI 164/33, RGZ 141, 400, 404. OLG Hamm v. 1.2.1955 – 3 U 221/54, VersR 1956, 131. RG v. 27.1.1930 – VI 186/29, RGZ 127, 174, 176; BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, BGHZ 116, 200, 202. 352 OLG Koblenz v. 9.6.1983 – 1 Ss 246/83, VRS 65, 475. 353 OLG Hamm v. 16.7.1975 – 2 Ss OWi 657/75, DAR 1976, 25. 354 RG v. 9.2.1928 – VI 373/27, RGZ 120, 154, 160. 346 347 348 349 350 351

Greger | 93

§ 3 Rz. 3.197 | Haftung des Kfz-Halters

nerlei Möglichkeit mehr, auf das Kfz einzuwirken, ist er nicht mehr Halter.355 Stellt die Bundesrepublik Deutschland ein in ihrem Eigentum stehendes Krankentransport- und Rettungsfahrzeug im Rahmen des Zivilschutzes einem Bundesland zur Verfügung, wird dieses Halter; gibt es seinerseits das Fahrzeug an eine Hilfsorganisation weiter, so verliert es seine Halterstellung (ungeachtet des Rückrufrechts im Katastrophenfall) an diese.356

3.198

Der Mieter oder Entleiher wird in zahlreichen Fällen Halter, ohne dass die Haltereigenschaft des Vermieters oder Verleihers untergeht, so wenn er die tatsächliche Verfügung über das Kfz frei ausüben kann.357 Hinzukommen muss allerdings, dass er das Kfz auf eigene Rechnung gebraucht – hieran kann es fehlen, wenn dem Entleiher keinerlei Unkosten aus den Fahrten erwachsen – und dass der Gebrauch nicht nur ganz vorübergehend ist. Ist ihm das Kfz nur zu einer Fahrt überlassen, so wird er nicht Halter;358 bei einer Überlassung für wenige Tage wird es an der erforderlichen Dauerhaftigkeit fehlen. Im Übrigen ist die Frage von Fall zu Fall auch unter Berücksichtigung der Intensität und der Selbständigkeit der Nutzung zu beantworten.

3.199

Nießbrauch. Der Nießbraucher ist Halter, wenn er das Kfz für eigene Rechnung gebraucht und die umfassende Verfügungsgewalt hierüber besitzt.359

3.200

Leasing. Bei der üblichen Vertragsgestaltung trägt der Leasingnehmer die Betriebskosten und übt die uneingeschränkte tatsächliche Verfügungsgewalt über das Kfz aus. Er wird daher mit Übergabe des Kfz Halter, während der Leasinggeber, obwohl er Eigentümer bleibt, die Halterstellung verliert.360 Ausnahmsweise bleibt er Mithalter, wenn ihm Weisungsbefugnisse hinsichtlich des Einsatzes des Fahrzeugs und der einzelnen Fahrten vertraglich zugestanden wurden und er in der Lage war, diese auszuüben.361

3.201

Reparatur, Aufbewahrung. Während des Aufenthalts in der Werkstatt ändert sich an der Halterstellung nichts. Probefahrten, die mit dem Kfz durchgeführt werden, werden in Vertretung des Bestellers ausgeführt. Weder der Angestellte oder Arbeiter, der die Fahrt ausführt, ist Halter, noch der Inhaber der Werkstatt.362

3.202

Dienstwagen. Arbeitnehmer fahren die dem Unternehmen gehörenden Kfz allenfalls in Vertretung des Unternehmers. Mithin ist allein dieser Halter (Rz. 3.184). Er ist auch dann Halter, wenn der Angestellte oder Arbeiter das Recht hat, das dem Unternehmen gehörende Kfz auch zu Privatfahrten zu benutzen;363 er ist dann ggf. neben dem Unternehmer Halter des Kfz. Dasselbe gilt, wenn der Arbeitnehmer ein ihm gehörendes Kfz mit Billigung des Unternehmers teilweise für Zwecke des Unternehmers (insoweit also in Vertretung des Unternehmers) fährt.364

355 Zu weitgehend daher RG v. 27.6.1918 – VI 124/18, RGZ 93, 222, 224; wie hier OLG Zweibrücken v. 8.3.1979 – 1 Ss 69/79, VRS 57, 375. 356 A.A. KG v. 17.9.2009 – 12 U 217/08, NZV 2010, 463. 357 RG v. 27.1.1930 – VI 186/29, RGZ 127, 174, 176; OLG Hamm v. 24.11.1989 – 20 W 71/88, VersR 1991, 220. 358 BGH v. 23.5.1960 – II ZR 132/58, BGHZ 32, 331, 334. 359 RG v. 15.1.1912 – VI 324/11, RGZ 78, 179, 182. 360 BGH v. 22.3.1983 – VI ZR 108/81, BGHZ 87, 133, 136; BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 199/06, NJW 2007, 3120, 3121. 361 BayObLG v. 29.1.1985 – 1 Ob OWi 363/84, DAR 1985, 227. 362 RG v. 30.1.1936 – VI 383/35, RGZ 150, 134-, 137. 363 OLG Düsseldorf v. 18.9.1974 – 15 U 68/73, VersR 1976, 1049; OVG Berlin-Brandenburg v. 30.6.2010 – OVG 1 N 42.10, NJW 2010, 2743. 364 BGH v. 29.5.1954 – VI ZR 111/53, BGHZ 13, 351, 358.

94 | Greger

V. Der Halter als Ersatzpflichtiger | Rz. 3.210 § 3

Handelsvertreter sind i.d.R. unter Ausschluss des Geschäftsherrn Halter der von ihnen beruflich benutzten Kfz auch dann, wenn diese im Eigentum des Geschäftsherrn stehen. Wegen ihrer relativ selbständigen Stellung können Handelsvertreter i.d.R. nicht als „Vertreter“ des Geschäftsherrn angesehen werden.

3.203

Für Beamte gelten dieselben Grundsätze wie für Arbeitnehmer. Verwendet ein Beamter sein Dienstfahrzeug nur für Dienstfahrten, so ist ausschließlich die Behörde Halter; verwendet er es auch für Privatfahrten, so wird er hierdurch neben seinem Dienstherrn Halter, auch wenn das Kfz seinem Dienstherrn gehört. Dasselbe gilt für ein „beamteneigenes“ Kfz und für ein „anerkannt privateigenes“ Kfz.365 Benützt der Beamte ein ihm gehörendes Kfz mit Zustimmung des Dienstherrn für eine bestimmte Dienstfahrt, so behält er die alleinige Halterstellung, auch wenn der Dienstherr Kilometergeld zahlt.366

3.204

Juristische Personen, Gesellschaften. Auch eine juristische Person, OHG oder KG kann Halter sein, ebenso im Rahmen ihrer richterrechtlich begründeten Rechtsfähigkeit367 die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts. Die Gesellschafter sind – ebenso wie bei der GmbH oder AG – nicht (Mit-)Halter, außer wenn sie ein Kfz der Gesellschaft auch für Privatfahrten benutzen (s. Rz. 3.185).

3.205

Öffentlich-rechtliche Körperschaften. Leitet das Land im Rahmen der Auftragsverwaltung den Einsatz der dem Bund gehörenden Kfz, so liegt die Verfügungsgewalt ausschließlich beim Land und nur dieses ist Halter.368

3.206

Ein durch Verwaltungsakt in Anspruch genommenes oder beschlagnahmtes Kfz wechselt den Halter nicht, solange es von der Behörde nicht in Betrieb genommen wird. Geschieht dies, so wird diejenige Person oder öffentliche Körperschaft allein Halter, deren Verwaltungsaufgaben durch den Betrieb des Kfz erfüllt werden.369 Die Polizei, die einen Wagen wegen Trunkenheit des Fahrers sicherstellt, wird nicht Halter.370

3.207

Zwangsvollstreckung. Die Pfändung eines Kfz durch den Gerichtsvollzieher macht weder diesen oder den Staat noch den Vollstreckungsgläubiger zum Halter. Die bisherige Halterstellung bleibt vielmehr erhalten, auch wenn das Kfz nicht mehr benutzt werden kann, denn einen halterlosen Zustand darf es nicht geben. Mit der Übergabe an den Ersteigerer geht dann auch die Halterstellung auf diesen über.

3.208

Testamentsvollstrecker. Der Testamentsvollstrecker, der ein Handelsgeschäft treuhänderisch für den Erben betreibt, wird Mithalter des zur Betriebseinrichtung gehörenden Kfz.371

3.209

Ehegatten, eingetragene Lebenspartner. Ob einer von ihnen Halter ist oder ob sie Mithalter sind, hängt von der jeweiligen Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses ab. Trägt z.B. der Ehemann allein die Kosten des Kfz und stellt er es seiner Frau nur zu gelegentlichen Fahrten zu Verfügung, ist nur er Halter. Anders ist es hingegen, wenn beide für die Kosten aufkom-

3.210

Vgl. OLG Celle v. 4.4.1960 – 5 U 101/59, VersR 1960, 764. BGH v. 8.12.1958 – III ZR 235/56, BGHZ 29, 38, 43. BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341. OLG München VkBl 1957, 308. RG v. 4.4.1941 – III 58/40, RGZ 167, 1, 12; OLG Frankfurt VRS 1, 110. Auf § 7 Abs. 3 StVG abstellend dagegen LG Mühlhausen v. 5.4.2001 – 1 S 332/2000, NVwZ 2001, 1325. 370 BGH v. 26.1.1956 – III ZR 157/54, VersR 1956, 219. 371 BGH v. 16.10.1974 – IV ZR 3/73, NJW 1974, 54, 55.

365 366 367 368 369

Greger | 95

§ 3 Rz. 3.210 | Haftung des Kfz-Halters

men und das Kfz abwechselnd nutzen; es sind dann beide Halter, und zwar durchgehend, d.h. nicht nur während der von ihnen ausgeführten Fahrten. Wird ein Kfz nur im Geschäftsbetrieb der Ehefrau genutzt, ist diese allein Halter auch dann, wenn das Kfz vom Ehemann gefahren wird.372 Ist dagegen das auf Namen und Rechnung des einen Ehegatten laufende Kfz dem anderen zu völlig freier Verfügung überlassen, so ist letzterer Halter (s. Rz. 3.182). Bei Getrenntleben ist Halter, wem das Kfz gem. § 1361a BGB zugewiesen wurde.373

3.211

Unbefugter Gebrauch. Halter wird auch, wer ein fremdes Kfz, ohne hierzu befugt zu sein, für eigene Zwecke und nicht nur ganz vorübergehend in Betrieb setzt (zur vorübergehenden Gebrauchsanmaßung s. Rz. 3.215 ff.). Der Dieb wird mithin in dem Augenblick Halter, in dem er dem bisherigen Halter mit Zueignungsabsicht die Verfügungsgewalt entzieht.374 Dagegen wird derjenige, der sich ohne Zueignungsabsicht nur vorübergehend den Gebrauch eines Kfz anmaßt oder der das Fahrzeug nur zum Zweck des Ausschlachtens entwendet,375 nicht Halter. Dementsprechend erlischt die Haltereigenschaft des bisherigen Halters nicht, wenn sich eine unbefugte Person nur vorübergehend in den Besitz des Kfz setzt (für einen Tag oder einige Tage), um das Kfz dem bisherigen Halter nach Gebrauch wieder zukommen zu lassen, während bei einer auf Dauer angelegten Entziehung durch einen Dieb die Halterstellung verloren geht.376

3.212

Zur Frage des Fortbestands der Halterhaftung, wenn der Halter den Diebstahl durch sein Verschulden ermöglicht hat, s Rz. 3.255.

3.213

Der Veranstalter einer Motorsportveranstaltung wird nicht zum Halter der teilnehmenden Fahrzeuge.377

VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung 1. Überblick 3.214

Wird durch eine ohne Wissen und Willen des Halters erfolgende Kfz-Benutzung ein Wechsel der Halterstellung herbeigeführt, weil sie mit einem länger dauernden Entzug der Verfügungsmacht verbunden ist (s. Rz. 3.211) oder weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Beschlagnahme handelt (s. Rz. 3.207), so ist für einen danach geschehenen Unfall ausschließlich der neue Halter verantwortlich. Dies ergibt sich bereits aus § 7 Abs. 1 StVG.

3.215

Für die Fälle einer vorübergehenden Gebrauchsanmaßung (für die sich der Begriff „Schwarzfahrt“ eingebürgert hat) trifft § 7 Abs. 3 StVG dagegen eine differenzierende Sonderregelung.

372 KG VRS 45, 220. 373 OLG Koblenz v. 18.3.1991 – 11 UF 204/91, NJW 1991, 3224. 374 OLG Hamm v. 19.1.1995 – 6 U 98/94, NZV 1995, 320; a.A. Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 221 f. (sobald Dieb nicht mehr mit polizeilichen Ermittlungen rechnen muss); Clauß VersR 2002, 1074, 1075 (sobald er das Kfz regulär benutzt). 375 KG v. 9.3.1989 – 12 U 2502/88, NZV 1989, 273. 376 BGH v. 26.11.1996 – VI ZR 97/96, NJW 1997, 660. Im Erg. ebenso Clauß VersR 2002, 1074, 1075. 377 Vgl. österr. OGH ZVR 1989, 231 unter Aufgabe der früheren Rspr. und Darstellung der abweichenden Rechtslage in der Schweiz.

96 | Greger

VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung | Rz. 3.219 § 3

Sie ist schwer verständlich und lückenhaft, was sich aus der wechselvollen Entwicklungsgeschichte erklärt.378 Das Gesetz unterscheidet drei Fallgruppen: – die Schwarzfahrt geschah ohne Zutun des Halters: dann trifft die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG nur den Schwarzfahrer (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StVG); – der Halter hat die Schwarzfahrt schuldhaft ermöglicht: dann haftet er neben dem unbefugten Benutzer (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG); – das Kfz war vom Halter einem anderen anvertraut worden, der es dann in unberechtigter Weise benutzt: in diesem Fall haftet nur der Halter (§ 7 Abs. 3 Satz 2 StVG).

Die Begrenzung des Anwendungsbereichs von § 7 Abs. 3 StVG auf die Fälle, in denen kein Halterwechsel eingetreten ist, folgt daraus, dass die Vorschrift in allen Alternativen den Halter dem unbefugten Benutzer gegenüberstellt, d.h. von einer Personenverschiedenheit im Zeitpunkt des Unfalls ausgeht. Wer seine Halterstellung durch andauernden Entzug der Verfügungsgewalt verloren hat, ist damit auch dann nicht haftbar, wenn er das Kfz einem anderen überlassen hatte; dies gilt auch, wenn der neue Halter unbekannt ist.379 Zur Frage einer fortbestehenden Haftung des früheren Halters in den Fällen, in denen er die dauernde Gebrauchsentziehung schuldhaft ermöglicht hat (Fall des § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG) s. Rz. 3.255.

3.216

Neben der Haftung aus § 7 Abs. 3 StVG kommt die Haftung des Fahrers gem. § 18 StVG und § 823 BGB sowie die deliktische Haftung desjenigen in Betracht, der durch fahrlässiges Unterlassen der vorgeschriebenen Sicherungsmaßnahmen die unbefugte Benutzung verursacht hat; zwischen diesem Unterlassen und dem Unfall muss allerdings ein Kausalzusammenhang bestehen (s. Rz. 3.241 und Rz. 10.21 ff.). Der (nicht selbst steuernde) Teilnehmer an einer Schwarzfahrt kann nach § 7 Abs. 3 Satz 1 StVG haftbar sein, wenn er (wegen seines Eigeninteresses) als Benutzer anzusehen ist (s. Rz. 3.219), ansonsten ggf. nach § 823 i.V.m. § 830 Abs. 2 BGB.

3.217

2. Anwendungsbereich des § 7 Abs. 3 StVG a) Vorübergehende Gebrauchsanmaßung Zur Beschränkung auf die vorübergehende Gebrauchsanmaßung, die nicht zu einem Wechsel der Halterstellung führt, s. Rz. 3.214 f.

3.218

b) Benutzung des Kfz Eine solche liegt vor, wenn das Kfz im eigenen Interesse fortbewegt wird (s. Rz. 3.224 f.). Eine anderweitige Verwendung, etwa zum Nächtigen oder Ausschlachten, reicht nicht aus.380 Auf die Länge der Fahrtstrecke kommt es nicht an; es muss aber die Motorkraft zum Einsatz kommen.381 Auch das Inbrandsetzen eines Kfz fällt nicht darunter, selbst wenn dieses dazu führt,

378 S. dazu Greger Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 3. Aufl. 1999, § 7 Rz. 278. Die Amtl. Begr. der letzten Änderung ist abgedr. in DJ 1939, 1771. 379 BGH v. 26.11.1996 – VI ZR 97/96, NJW 1997, 660. 380 Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 224. 381 BGH v. 4.12.1956 – VI ZR 161/55, BGHZ 22, 293; BGH v. 9.12.1953 – VI ZR 121/52, NJW 1954, 392.

Greger | 97

3.219

§ 3 Rz. 3.219 | Haftung des Kfz-Halters

dass sich das Fahrzeug selbsttätig in Bewegung setzt.382 Für die unbefugte Benutzung eines Anhängers gilt § 7 Abs. 3 StVG entsprechend (§ 19 Abs. 1 Satz 2 StVG n.F.).

c) Ohne Wissen und Willen 3.220

Entscheidendes Merkmal ist der Wille.383 An der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 3 Satz 1 StVG ändert sich daher – entgegen wortgetreuer Auslegung – nichts, wenn der Halter zufällig von der gegen seinen Willen erfolgenden Benutzung weiß (z.B. weil das Kfz vor seinen Augen entwendet wird). Wenn das Kfz willentlich überlassen, dann aber abweichend vom Willen des Halters benutzt wird, trifft die Haftung nach § 7 StVG gem. dessen Abs. 3 Satz 2 allein den Halter.

3.221

Nachträgliches Einverständnis des Halters mit der Benutzung durch den Unbefugten macht diesen zum befugten Benutzer. Darauf, ob der Halter sein Einverständnis mit der Unfallfahrt vor oder nach dem Unfall erklärt, kommt es nicht an.384 Eine Genehmigung der Benutzung des Kfz durch den Unbefugten für die Zukunft kann darin gesehen werden, dass der Halter von der Benutzung erfährt und, obwohl ihm dies möglich wäre, nichts unternimmt, sie für die Zukunft zu verhindern. Im Übrigen kommt ein stillschweigendes Einverständnis des Halters mit der Fahrt nur in Frage, wenn er von der Absicht des Benutzers Kenntnis hatte.385

3.222

Bei Mithalterschaft genügt das Einverständnis eines der Halter, um eine unbefugte Benutzung auszuschließen. Auch ein Vertreter des Halters kann das Einverständnis erklären.386 Bei langfristiger Gebrauchsüberlassung, etwa eines Mietfahrzeugs, kann die Halterstellung übergegangen sein, so dass dann das Einverständnis des neuen Halters, z.B. des Mieters, entscheidet (s. Rz. 3.196 ff.).

3. Haftung des unbefugten Benutzers a) Überblick 3.223

Bei Übergang der Halterstellung (s. Rz. 3.183) ergibt sich die Haftung unmittelbar aus § 7 Abs. 1 StVG. Wird der unbefugte Benutzer dagegen nicht zum Halter (insbesondere bei nur vorübergehender Benutzung), so greift Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 ein, der den Benutzer haftungsrechtlich einem Halter gleichstellt. Ausgeschlossen ist die Gefährdungshaftung des unbefugten Benutzers aber nach Abs. 3 Satz 2, wenn er für den Betrieb des Kfz angestellt ist oder wenn ihm das Kfz vom Halter überlassen worden ist („Exzess des befugten Benutzers“; s. Rz. 3.251 ff.).

b) Passivlegitimation 3.224

Die Haftung trifft denjenigen, in dessen Interesse die unbefugte Benutzung (s. Rz. 3.219 ff.) geschieht. Nicht entscheidend ist, wer das Kfz führt.387

3.225

Keine unbefugte Benutzung liegt mithin z.B. dann vor, wenn der vom Halter mit der Durchführung einer Fahrt beauftragte Fahrer einem anderen ohne Erlaubnis des Halters die Lenkung des Kfz über-

382 383 384 385 386 387

OLG Saarbrücken v. 3.9.1997 – 5 U 359/97, NZV 1998, 327. § 6 Abs. 1 österr. EKHG stellt allein auf diesen ab. RG RdK 1928, 332. RG VAE 1939, 33. BGH v. 17.2.1955 – II ZR 241/53, BGHZ 16, 292. BGH v. 4.12.1956 – VI ZR 161/55, BGHZ 22, 293; Rebler MDR 2015, 869.

98 | Greger

VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung | Rz. 3.230 § 3 lässt, ohne dass der Zweck der Fahrt geändert würde.388 Umgekehrt ist Benutzer, wer es einem anderen überlässt, das Kfz für sich zu führen.389 Wer nur bei einem anderen mitfährt, ohne entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Fahrt auszuüben, ist nicht Benutzer des Kfz.390 Hat der Fahrgast allerdings den anderen erst dazu bestimmt, das Kfz unbefugt zu benutzen, so ist i.d.R. auch der Fahrgast unbefugter Benutzer geworden. Es kann deshalb sogar der Fall eintreten, dass ein unbefugter Benutzer (unter Vorspiegelung eines in Wirklichkeit nicht bestehenden Einverständnisses des Halters) den vom Halter für den Betrieb des Kfz Angestellten beauftragt, eine Fahrt auszuführen.391

Bei Zusammenwirken mehrerer zum Zweck der unbefugten Benutzung eines fremden Kfz sind diese sämtlich unbefugte Benutzer und haften als Gesamtschuldner.

3.226

c) Haftungsausschluss bei Exzess des befugten Benutzers aa) Allgemeines § 7 Abs. 3 Satz 2 StVG hat nicht nur die Funktion, die Haftung des Halters bei Schwarzfahrten von Angestellten und sonstigen berechtigten Benutzern entgegen Satz 1 aufrechtzuerhalten (dazu s. Rz. 3.251 ff.), sondern er bewirkt zugleich, dass die bezeichneten Benutzer von der haltergleichen Gefährdungshaftung freigestellt werden.392

3.227

Dies ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut der Vorschrift, die einer Korrektur durch restriktive Interpretation insoweit nicht bedarf. Es ist kein Grund ersichtlich, der es erfordern würde, den Benutzer neben dem Halter der strengen Haftung nach § 7 StVG zu unterwerfen. Sinn des Satzes 2 ist, bei gewollter Gebrauchsüberlassung den Halter nicht aus seiner Gefährdungshaftung zu entlassen, weil er durch Auswahl seiner Vertrauensperson das Risiko zu beeinflussen vermag, während bei der von vornherein unberechtigten und nicht schuldhaft ermöglichten Gebrauchsanmaßung der Halter von dieser Haftung nach Satz 1 frei werden soll. Im letzteren Fall bedarf es, um gleichwohl einen nach § 7 StVG Verantwortlichen zu schaffen, der Konstituierung der haltergleichen Haftung des Benutzers nach Satz 1, im Fall des Satzes 2 hingegen besteht ein solches Bedürfnis nicht.

3.228

bb) Anstellung für den Betrieb des Kfz Eine Anstellung für den Betrieb des Kfz liegt bei jedem vor, der vom Halter oder seinem Vertreter beauftragt ist, entweder das Kfz selbst zu lenken oder den Einsatz des Kfz im Einzelnen zu bestimmen. Auf den arbeitsrechtlichen Charakter der „Anstellung“ kommt es nicht an.

3.229

Dagegen gehört zu diesem Personenkreis nicht ohne weiteres jede Person, die vom Halter oder seinem Vertreter beauftragt ist, sonstige betriebsbezogene Verrichtungen (z.B. Beladen, Abladen, Abkuppeln des Anhängers) vorzunehmen, insbesondere nicht der Beifahrer. Dieser ist für den Betrieb des Kfz nur dann angestellt, wenn er den Fahrer abzulösen393 oder ihm Weisungen für den Einsatz des Kfz zu geben hat.394 Wer vom Halter nicht beauftragt ist, das Kfz regelmäßig, aushilfsweise oder unter besonderen Umständen (z.B. nach Reparaturarbei-

3.230

388 389 390 391 392 393 394

RG DAR 1931, 379; österr. OGH ZVR 1997, 191. BGH v. 24.1.1961 – VI ZR 80/60, VersR 1961, 348. Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 232. Vgl. OLG Dresden VAE 1938, 151. Krumme S. 39. BGH v. 9.12.1953 – VI ZR 121/52, NJW 1954, 392. OLG Celle DAR 1951, 159.

Greger | 99

§ 3 Rz. 3.230 | Haftung des Kfz-Halters

ten) zu fahren, ist nicht „für den Betrieb angestellt“ (wie z.B. der Wagenwäscher, Garagenwächter, Schaffner), denn der Begriff des „für den Betrieb Angestellten“ deckt sich nicht mit dem Begriff des „bei dem Betrieb Beschäftigten“ i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG a.F.395 Der Wagenwäscher ist aber z.B. dann „angestellt“, wenn er die Autoschlüssel erhält, um den Wagen zum Waschen zu fahren.

3.231

Ein für den Betrieb Angestellter behält diese Eigenschaft auch dann, wenn er die Lenkung des Kfz einem anderen überlässt, der in seinem Interesse oder im Interesse des Halters die Fahrt fortsetzt oder eine weitere Fahrt unternimmt. Sind für einen Halter mehrere Kfz im Einsatz, so ist jeder für den Betrieb eines dieser Kfz Angestellte auch für den Betrieb der anderen angestellt, selbst wenn es ihm verboten ist, sie zu fahren.396 cc) Überlassung des Kfz

3.232

Überlassung des Kfz bedeutet, dass der Halter einer anderen Person die tatsächliche Benutzungsmöglichkeit eingeräumt hat, ohne dass der andere Halter wird. Es handelt sich vor allem um manche Fälle der Leihe und Miete und diejenigen, in denen der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer die Befugnis einräumt, ein Kfz des Halters für sich zu benutzen. Schließlich gehören hierher auch alle Fälle, in denen sich der Halter eines „Vertreters“ (s. Rz. 3.184) bedient; auch diesem ist das Kfz „überlassen“. Hat der Halter bei der Überlassung Anordnungen dahin getroffen, dass der Berechtigte das Kfz nur benutzen dürfe, wenn es von einem bestimmten Fahrer gelenkt werde, so ist dies in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.397 Dasselbe gilt, wenn der Halter die Benutzung des Kfz nur auf einer bestimmten Strecke gestattet hat.398 „Überlassung“ bedeutet Gestatten der Benutzung. Auf den Umfang und die Dauer der gestatteten Benutzung kommt es hierbei nicht an, auch nicht darauf, ob sie entgeltlich oder unentgeltlich erfolgt.

3.233

Einzelfälle: Keine Überlassung liegt vor, wenn der Halter eine befreundete Person beauftragt, einen Gegenstand aus dem Wagen zu holen oder den Wagen zu öffnen, damit er, mit einem Kleinkind nachkommend, sofort einsteigen kann.399 Die Überlassung eines Kfz an eine Reparaturwerkstatt in Kenntnis des Umstands, dass eine Probefahrt ausgeführt werden wird, ist Überlassung an den Inhaber der Werkstatt und die von diesem mit der Probefahrt Beauftragten.400 Wer dem Betreiber einer Sammelgarage oder Werkstatt oder einem Gastwirt die Autoschlüssel zum Rangieren des Wagens aushändigt, überlässt das Kfz.401

dd) Weiterüberlassung

3.234

Bei Weiterüberlassung des Kfz an einen Dritten verbleibt es bei der Haftungsbefreiung der Vertrauensperson. Begeht der Dritte seinerseits einen Exzess, ist nunmehr er unbefugter Benutzer i.S.d. § 7 Abs. 3 StVG. Da ihm das Kfz aber von der Vertrauensperson des Halters überlassen wurde, gilt das Haftungsprivileg des Satzes 2 für ihn als Vertrauensperson zweiten Grades, ohne dass es darauf ankommt, ob der andere zu der Weiterüberlassung berechtigt war oder nicht. 395 396 397 398 399 400 401

BGH v. 26.10.1955 – VI ZR 180/54, VRS 10, 2. OLG Köln v. 5.7.1957 – 9 U 18/57, VersR 1958, 112. BGH v. 10.3.1952 – III ZR 235/51, BGHZ 5, 273. A.A. MünchKomm-StVR/Engel § 7 StVG Rz. 54. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 74/68, VersR 1970, 66. BGH v. 31.3.1967 – VI ZR 148/65, VersR 1967, 659. OLG Karlsruhe v. 9.12.1959 – 2 U 9/59, VersR 1960, 565.

100 | Greger

VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung | Rz. 3.239 § 3

ee) Ungewollte Benutzung Bei ungewollter Benutzung des Kfz durch einen Dritten ist die Vertrauensperson nicht, der Benutzer aber nach § 7 Abs. 3 Satz 1 StVG verantwortlich; Satz 2 ist auf diesen Fall nicht anwendbar.

3.235

ff) Überlassungsende Ende der Überlassung ist erst die Beseitigung der tatsächlichen Möglichkeit, das Kfz zu benutzen. Die bloße Weisung des Halters, die Benutzung zu beenden, hat ebenso wenig Wirkung wie der Ablauf des Vertragsverhältnisses zwischen Halter und Benutzer.402

3.236

4. Haftung des Halters a) Überblick Ist die Halterstellung trotz der unbefugten Benutzung bei Bestand geblieben (s. Rz. 3.215 f.), so kommt eine Haftung des Halters für einen während der Schwarzfahrt geschehenen Unfall in Betracht

3.237

– neben dem Schwarzfahrer, wenn der Halter die Schwarzfahrt schuldhaft ermöglicht hat (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG; s. Rz. 3.238 ff.); – anstelle des Schwarzfahrers, wenn er diesen zum Betrieb des Kfz angestellt oder ihm das Kfz überlassen hatte (§ 7 Abs. 3 Satz 2 StVG, der Satz 1 ausschließt und damit § 7 Abs. 1 StVG zur Anwendung bringt; s. Rz. 3.251 ff.).

b) Schuldhaftes Ermöglichen der unbefugten Benutzung aa) Grundlagen Sinn der Regelung in § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG ist es, die Haftungsbefreiung des Halters dann nicht eintreten zu lassen, wenn er die unbefugte Benutzung durch sein Verschulden ermöglicht hat. Er haftet dann für den bei der Schwarzfahrt eingetretenen Unfall neben dem Benutzer, d.h. als Gesamtschuldner.

3.238

bb) Verschuldensmaßstab Dem Halter muss mindestens Fahrlässigkeit anzulasten sein, d.h. Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt in Bezug auf die Sicherung des Kfz vor unbefugter Benutzung (vgl. hierzu § 14 Abs. 2 Satz 2 StVO, § 38a StVZO). Ein höheres Maß von Sorgfalt wird von ihm aber nicht gefordert403 (s. auch Rz. 3.257 zur Beweislast). Hinsichtlich des Verschuldenserfordernisses deckt sich § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG also mit dem in diesen Fällen ebenfalls einschlägigen § 823 Abs. 1 und 2 BGB. Er geht aber über die deliktische Haftung insoweit hinaus, als er die Haftung des Halters für jeden Unfall begründet, der nicht auf höherer Gewalt beruht (Abs. 2), während im Anwendungsbereich des § 823 BGB der Geschädigte nachweisen muss, dass der Unfall durch das Verschulden des Halters adäquat verursacht wurde404 (s. Rz. 14.7). 402 OLG Düsseldorf VRS 3, 96. 403 Zu streng RG v. 2.1.1928 – VI 180/27, RGZ 119, 347, 352; OLG Oldenburg v. 29.4.1998 – 2 U 264/97, NZV 1999, 294, 295 („bis zur Grenze des unabwendbaren Zufalls“). 404 BGH v. 14.12.1965 – VI ZR 156/64, VersR 1966, 166.

Greger | 101

3.239

§ 3 Rz. 3.240 | Haftung des Kfz-Halters

cc) Keine Verschuldenszurechnung

3.240

Nur eigenes Verschulden begründet die Haftung des Halters nach § 7 Abs. 3 Satz 1 StVG; das Verschulden eines Angestellten oder einer sonstigen Hilfsperson wird ihm mangels einer einschlägigen Zurechnungsnorm nicht angelastet.405 § 278 BGB greift nicht ein, weil zwischen Halter und späterem Geschädigten noch kein Schuldverhältnis besteht.406 dd) Kausalzusammenhang

3.241

Das Verschulden muss für die unbefugte Benutzung kausal geworden sein. Daher haftet der Halter nicht nach § 7 Abs. 3 StVG, der sein Kfz mit einer unversperrten Tür auf der Fahrbahn stehen ließ, wenn der Benutzer eine andere Tür aufgebrochen hat.407 Dagegen kann mit der Behauptung, der Schwarzfahrer hätte auch bei ordnungsgemäßer Sicherung Mittel gefunden, um das Fahrzeug in Betrieb zu setzen, die Kausalität nicht ausgeräumt werden: Es genügt, wenn die Mängel der Fahrzeugsicherung die unbefugte Benutzung jedenfalls nicht unerheblich erleichtert haben.408

c) Einzelheiten zur gebotenen Sorgfalt aa) Abstellen des Kfz

3.242

Grundsätzlich sind alle vorgeschriebenen Sicherungen gegen unbefugte Benutzung (vgl. § 14 Abs. 2 Satz 2 StVO, § 38a StVZO) zu betätigen,409 auch bei kurzzeitigem Verlassen.410

3.243

Es sind also Türen und Fenster zu verschließen, der Zündschlüssel aus dem Fahrzeug zu entfernen sowie die vorhandenen Wegfahrsperren zu aktivieren. Ein Schwenkfenster muss verschließbar sein; andernfalls haftet der Halter, auch wenn die Türen versperrt waren.411 Türen und Fenster sind auch dann zu verschließen, wenn eine Zündunterbrechung betätigt wird.412 Bei Wagen ohne abschließbares Führerhaus genügt es, wenn sie ohne Benutzung spezieller Schlüssel nicht in Gang gesetzt werden können.413 Ob Pkw, die ohne Verdeck benutzt werden dürfen (z.B. Kabrioletts), auch so abgestellt werden dürfen, hängt von Dauer und Örtlichkeit ab.414 Die Türen müssen aber auch bei offenem Fahrzeug verschlossen werden, weil die unbefugte Benutzung sonst erheblich erleichtert würde.415 Bei Krafträdern und Mopeds müssen Zündung und Lenkung abgeschlossen sein;416 das Abziehen des Zündkabels reicht nicht.417 Besondere Maßnahmen, wie z.B. Ausbau der Batterie, müssen nur dann ergriffen werden, wenn andere Sicherungsvorrichtungen gebrauchsunfähig sind.418 Das Zu-

405 BGH v. 9.12.1953 – VI ZR 121/52, NJW 1954, 392. § 6 Abs. 1 österr. EKHG stellt dagegen das Verschulden von Personen, die mit Willen des Halters beim Betrieb tätig sind, dem Halterverschulden gleich. 406 BGH v. 9.12.1953 – VI ZR 121/52, NJW 1954, 392. 407 OLG Köln v. 13.3.1959 – 9 U 178/58, VersR 1959, 652. 408 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, VersR 1981, 40. 409 OLG Köln v. 14.8.1995 – 16 W 42/95, MDR 1995, 1121. 410 OLG Hamm v. 26.10.1990 – 20 U 163/90, NZV 1991, 195. 411 Österr. OGH ZVR 1969, 240. 412 AG Offenbach v. 2.11.1987 – 201 OWi 41 Js 96 309.0/87, NJW-RR 1988, 472. 413 OLG Frankfurt v. 20.10.1982 – 17 U 223/81, VersR 1983, 464. 414 Vgl. LG Aachen v. 19.12.1991 – 2 O 261/91, ZfS 1992, 126; LG Bonn v. 1.2.1990 – 6 S 422/89, VersR 1991, 221; AG Münster v. 23.1.1991 – 29 C 612/90, VersR 1991, 994. 415 A.A. OLG Düsseldorf v. 23.12.1985 – 5 Ss OWi 401/85-318/85 I, VersR 1987, 798. 416 BGH v. 16.1.1959 – VI ZR 28/58, NJW 1959, 629. 417 OLG Köln v. 14.8.1995 – 16 W 42/95, MDR 1995, 1121. 418 RG JW 1933, 828, 1404 mit Anm. Peters; LG Ulm v. 3.6.1959 – 1 S 10/59, VersR 1960, 94.

102 | Greger

VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung | Rz. 3.246 § 3 rücklassen von Zweitschlüsseln im Wagen ist nicht nur objektiv pflichtwidrig, sondern in aller Regel auch fahrlässig.419 Bleibt eine zuverlässige Person beim Fahrzeug, können sich derartige Vorkehrungen erübrigen.420 Dagegen genügt es nicht, dass der Halter in der Nähe bleibt und das Kfz im Auge behält; in solchen Fällen ist zumindest der Zündschlüssel abzuziehen.421 Dies gilt z.B. auch während des Bezahlens an einer Tankstelle. Schuldhaft handelt ferner, wer sich angetrunken im verschlossenen Fahrzeug schlafen legt, den Schlüssel aber sichtbar im Fahrzeug hängen lässt.422

3.244

Beim Abstellen auf einem Privatgrundstück sind entsprechende Sicherungsmaßnahmen erforderlich, wenn damit gerechnet werden muss, dass das Fahrzeug durch einen unbefugten Benutzer in den öffentlichen Verkehr gebracht wird, insb. wenn der Kraftwagen von der Straße aus ohne weiteres erreicht, infolge unzureichender Verriegelung ohne Schwierigkeit geöffnet und leicht in Gang gesetzt werden kann.423 Je nach den Umständen des Einzelfalls können aber geringere Vorkehrungen als ausreichend erachtet werden,424 z.B. bei geschlossenem Tor und regelmäßigen Kontrollgängen.425 Ist die Batterie ausgebaut, braucht bei einem in einem verschlossenen Schuppen abgestellten Kfz nicht zusätzlich der Zündschlüssel abgezogen und das Fahrzeug abgeschlossen zu werden.426 Auf einem Betriebs- oder Baustellengelände kann, wenn ein Kfz z.B. wechselweise von verschiedenen Mitarbeitern gefahren wird, ein großzügigerer Maßstab angelegt werden.427 Fahrlässig ist es jedoch, wenn der Zündschlüssel über das Wochenende in einem Fahrzeug belassen wird, das in einer ungenügend gesicherten Halle steht,428 ausreichend hingegen die Aufbewahrung des Schlüssels im verschlossenen Wandschrank eines verschlossenen Bauwagens auf einem eingefriedeten Betriebsgelände.429 Das ungesicherte Abstellen eines Kfz an einer Reparaturwerkstätte oder in einer Sammelgarage (zum Zwecke des Rangierens durch das Personal) dürfte, sofern dortiger Übung entsprechend, nicht schuldhaft sein, fällt aber, da das Kfz überlassen wird, unter § 7 Abs. 3 Satz 2 StVG.

3.245

bb) Umgang mit Fahrzeugschlüsseln Um unbefugte Benutzung zu vermeiden, sind die Schlüssel (ggf. auch zur Garage) so aufzubewahren, dass sie unzuverlässigen Personen nicht zugänglich sind. Dies können auch Familienangehörige oder sonstige Mitbewohner sein (auch minderjährige), jedoch nur, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie zu unbefugter Benutzung des Kfz neigen.430 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430

BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, NJW 1981, 113. OLG Stuttgart VkBl 1959, 275; zur Zuverlässigkeit s. OLG Bamberg VM 1975, Nr. 7. Vgl. BGH v. 3.11.1960 – III ZR 131/59, MDR 1961, 123. OLG Hamm v. 16.9.1970 – 20 U 50/70, VersR 1971, 165. BGH v. 12.11.1963 – VI ZR 160/62, VersR 1964, 300; OLG Nürnberg v. 8.6.1955 – 4 U 35 u. 36/ 55, NJW 1955, 1757 mit Anm. Hartung. OLG Köln v. 19.12.1966 – 10 U 78/66, VersR 1968, 561. KG v. 22.6.1981 – 12 U 430/81, VersR 1982, 45. OLG Karlsruhe v. 4.8.1992 – 18a U 81/92, NZV 1992, 485. BGH v. 22.6.1971 – VI ZR 39/70, VersR 1971, 1019; s. auch OLG Frankfurt v. 14.1.1982 – 1 U 30/81, VersR 1983, 497: Vorführwagen auf nicht allgemein zugänglichem Betriebsgrundstück; LG Berlin v. 27.10.1993 – 17 O 364/93, VersR 1994, 1060 (strenger). OLG Nürnberg v. 23.2.1983 – 4 U 2274/82, VersR 1984, 948. A.A. KG v. 17.6.1991 – 12 U 4660/90, VM 1992, Nr. 102 für den Fall, dass das Kfz auf öffentlicher Straße steht. Vgl. BGH v. 13.2.1968 – VI ZR 171/66, VersR 1968, 575; OLG Düsseldorf v. 13.2.1984 – 1 U 83/83, VersR 1984, 895; OLG Hamm v. 26.6.1985 – 13 U 277/82, VersR 1987, 205; OLG Frank-

Greger | 103

3.246

§ 3 Rz. 3.247 | Haftung des Kfz-Halters

3.247

Mit der Wegnahme der in der Wohnung abgelegten Schlüssel durch einen vorher nie entsprechend auffällig gewordenen Bekannten braucht der Halter nicht zu rechnen,431 wohl aber bei Teilnahme eines bekanntermaßen suizidgefährdeten Bekannten an einer privaten Feier mit erheblichem Alkoholkonsum.432 Während des Aufenthalts in einer Gaststätte dürfen die Schlüssel nicht in der Tasche des Mantels bleiben, der frei zugänglich aufgehängt wird,433 wohl aber bei Abgabe an der Garderobe.434 Auch wer die ausgezogene Jacke mit Schlüsseln und Papieren im Lokal vergisst, ermöglicht die unbefugte Benutzung schuldhaft.435 Vor einem Beifahrer oder Fahrgast ist der Kfz-Schlüssel auch bei nur kurzzeitiger Abwesenheit in Obhut zu nehmen, wenn Anhaltspunkte für Unzuverlässigkeit bestehen, z.B. bei Trunkenheit436 oder einem gänzlich Unbekannten (Anhalter). Ob der Lkw-Fahrer bei einer Fahrtunterbrechung die Schlüssel vor dem Beifahrer in Verwahrung nehmen muss, wenn er diesen nicht näher kennt,437 wird von den Umständen des Einzelfalls abhängen. Sorgfaltswidrig ist es, die Schlüssel des auf dem unbewachten Gelände eines Autohauses abgestellten Fahrzeugs in den ungesicherten Briefkasten zu werfen.438 Zu Fahrzeugen auf Privatgrundstücken s. Rz. 3.245.

3.248

Überlassen der Schlüssel an eine andere Person begründet nur dann kein Verschulden, wenn der Halter an der Zuverlässigkeit keine Zweifel zu haben braucht.439 Ein ausdrückliches Verbot, das Kfz zu benutzen, ist bei zuverlässigen Personen nicht erforderlich, während es bei unzuverlässigen i.d.R. nutzlos sein wird und den Halter daher auch nicht entlastet.440 Werden die Schlüssel zum Zwecke der Benutzung des Kfz überlassen, greift § 7 Abs. 3 Satz 2 StVG ein.

3.249

Nicht schuldhaft wird es i.d.R. sein, wenn der Halter seine nicht fahrkundige Braut mit dem Schlüssel vorausschickt, damit diese für ihn und die Kinder aufschließe.441 Gibt der Halter die Schlüssel einer zuverlässigen Person mit dem Auftrag, sie an eine bestimmte Person weiterzugeben, so trifft ihn kein Verschulden an der unbefugten Benutzung durch einen Boten, den der Beauftragte ohne sein Wissen eingeschaltet hat.442

3.250

Sind die Schlüssel unter Umständen abhanden gekommen, die die Gefahr einer unbefugten Benutzung nahelegen, so ist der Halter zu besonderen Schutzvorkehrungen, z.B. Austausch des Zündschlosses, verpflichtet.443

d) Exzess des befugten Benutzers aa) Grundlagen

3.251

Für die Schwarzfahrt einer Person, die er für den Betrieb des Kfz angestellt oder der er das Kfz überlassen hat (Vertrauensperson) greift die Gefährdungshaftung des Halters ein, weil § 7

431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443

furt v. 13.3.1985 – 19 U 167/83, VersR 1987, 54; zu restriktiv in einer Strafsache BayObLG v. 15.10.1982 – RReg.1 St 257/82, NJW 1983, 637. OLG Hamm v. 20.4.1977 – 3 U 215/76, VersR 1978, 949. OLG Oldenburg v. 29.4.1998 – 2 U 264/97, NZV 1999, 294. OLG Düsseldorf v. 31.10.1988 – 1 U 7/88, VersR 1989, 638. A.A. LG Berlin v. 16.5.1966 – 7 S 6/66, VersR 1967, 788. OLG Saarbrücken v. 9.7.1993 – 3 U 135/91, ZfS 1993, 295 mit Anm. Diehl. BGH v. 16.1.1958 – 4 StR 616/57, VRS 14, 197; OLG Hamm v. 25.1.1983 – 5 Ss 1254/82, NJW 1983, 2456. So BGH v. 12.4.1960 – VI ZR 65/59, VersR 1960, 736. OLG Köln v. 31.10.2000 – 9 U 65/00, MDR 2001, 449. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 74/68, VersR 1970, 66. Vgl. OLG Karlsruhe v. 2.11.1977 – 1 U 76/77, VersR 1978, 262. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 74/68, VersR 1970, 66. OLG Celle v. 5.1.1961 – 5 U 122/60, VersR 1961, 739. OLG Hamm v. 2.10.1989 – 32 U 45/88, NZV 1990, 470.

104 | Greger

VI. Ersatzpflicht bei unbefugter Kfz-Benutzung | Rz. 3.255 § 3

Abs. 3 Satz 2 StVG den durch Satz 1 bewirkten Ausschluss von der Verantwortlichkeit nach Abs. 1 aufhebt. Dies gilt allerdings nur, solange der Halter nicht durch den Exzess des befugten Benutzers seine Halterstellung verliert444 (s. Rz. 3.183).

3.252

Zu den Begriffen der Anstellung und Überlassung s. Rz. 3.229 ff. bb) Überlassung des Kfz durch Vertrauensperson Bei Überlassung des Kfz durch die Vertrauensperson an einen Dritten bleibt die Haftung des Halters für eine Schwarzfahrt nach § 7 Abs. 3 Satz 2 StVG unabhängig davon bestehen, ob die Fahrt im Interesse der Vertrauensperson445 oder im Interesse des Dritten446 durchgeführt wurde. Die Überlassung des Fahrzeugs an den Dritten zu dessen eigener Benutzung stellt nicht anders als die persönliche Schwarzfahrt einen Exzess der Vertrauensperson dar, für den der Halter, der durch die Bestellung der unzuverlässigen Vertrauensperson das Risiko der Schwarzfahrt geschaffen hat, einstehen muss (s. auch Rz. 3.234).

3.253

cc) Eigenmächtige Benutzung Bei eigenmächtiger Benutzung des einer Vertrauensperson überlassenen Kfz durch einen Dritten greift § 7 Abs. 3 Satz 2 StVG nicht ein (s. Rz. 3.235). Es gilt vielmehr allein Satz 1, wonach der Halter nicht haftet, es sei denn er hätte die unbefugte Benutzung schuldhaft ermöglicht, z.B. durch eine Weisung an die Vertrauensperson, das Kfz beim Abstellen nicht vollständig zu sichern, oder durch das Unterlassen der Reparatur einer defekten Sicherungsvorrichtung. Auch wenn die Vertrauensperson das Fahrzeug einem Dritten überlassen hatte, der dann fahrlässig die unbefugte Benutzung durch einen anderen ermöglichte, haftet der Halter nicht.447

3.254

5. Haftung des früheren Halters Ist es infolge der unbefugten Benutzung (wie i.d.R. beim Diebstahl) zur Beendigung der bisherigen Halterstellung gekommen, so haftet der frühere Halter für einen späteren Unfall nicht (s. Rz. 3.214). Dies muss auch im Fall des schuldhaften Ermöglichens der Entwendung gelten.448 § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG im Gegensatz zum sonstigen Inhalt dieser Norm auch auf den Fall des Halterwechsels anzuwenden, ist systemwidrig. Allerdings ergibt sich ein gewisser Wertungswiderspruch daraus, dass der Halter, der die unbefugte Benutzung seines Kfz schuldhaft ermöglicht hat, für einen dabei geschehenen Unfall verschuldensunabhängig haftet, wenn es nur zur Gebrauchsanmaßung, nicht aber, wenn es zum Diebstahl gekommen ist. Darin schlägt sich aber nur die gesetzgeberische Grundentscheidung nieder, den Halter, solange er Halter ist, der Haftung aus § 7 StVG auch für Unfälle bei schuldhaft herbeigeführten Schwarzfahrten einstehen zu lassen, ihm also die Haftungsbefreiung nach dem ersten Halbsatz des Abs. 3 vorzuenthalten. Wer nicht (mehr) Halter des Unfallfahrzeugs ist, haftet allenfalls deliktisch (s. Rz. 14.6). Die nur für den Halter geltende Sondervorschrift des § 7 StVG kann auf ihn nicht angewendet werden. Es besteht deshalb auch kein Anlass für eine 444 BGH v. 26.11.1996 – VI ZR 97/96, NZV 1997, 116. 445 BGH v. 24.1.1961 – VI ZR 80/60, VersR 1961, 348. 446 A.A. OLG Karlsruhe v. 9.12.1959 – 2 U 9/59, VersR 1960, 565; offengelassen in BGH v. 24.1.1961 – VI ZR 80/60, VersR 1961, 348. 447 A.A. OLG Hamm v. 23.2.1984 – 27 U 13/83, VersR 1984, 1051. 448 Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 233; a.A. RG v. 17.11.1932 – VI 251/32, RGZ 138, 320; Clauß VersR 2002, 1074, 1076.

Greger | 105

3.255

§ 3 Rz. 3.255 | Haftung des Kfz-Halters

erweiternde Auslegung449 oder entsprechende Anwendung des § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG i.S. einer Gefährdungshaftung des früheren Halters.

6. Beweislast 3.256

Will der Verletzte den unbefugten Benutzer in Anspruch nehmen, hat er die Voraussetzungen der Halterhaftung (Rz. 3.6) mit der Maßgabe zu beweisen, dass an die Stelle der Haltereigenschaft des Beklagten die Eigenschaft als unbefugter Benutzer i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 StVG tritt. Der Benutzer ist beweisrechtlich in derselben Situation wie ein Halter. Will er geltend machen, dass er wegen Anstellung zum Betrieb des Kfz oder Überlassung des Kfz durch den Halter nicht haftet (s. Rz. 3.227 ff.), so hat er diese Umstände zu beweisen.

3.257

Ist der Halter verklagt, so obliegt ihm, wenn er sich auf die Haftungsbefreiung wegen unbefugter Benutzung (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StVG) berufen will, der Beweis, dass das Kfz ohne sein Wissen und Wollen benutzt wurde.450 Gelingt ihm dieser Beweis, muss der Anspruchsteller neben den allgemeinen Voraussetzungen der Halterhaftung (s. Rz. 3.6) die schuldhafte Ermöglichung der Schwarzfahrt (s. Rz. 3.238 ff.) beweisen.451 Dabei können den Halter gesteigerte Darlegungspflichten treffen; weitere Erleichterungen iS eines Anscheinsbeweises kommen mangels typischen Geschehensablaufs nicht in Betracht.452 Beruft sich der Verletzte auf den Wegfall der Haftungsbefreiung des Halters nach § 7 Abs. 3 Satz 2 StVG (vgl. Rz. 3.251 ff.), so hat er für die dort genannten Voraussetzungen (Anstellung des Benutzers zum Betrieb des Kfz bzw. Überlassung des Kfz) Beweis zu erbringen.

VII. Entlastungsbeweis 1. Überblick 3.258

Die Entlastung von der Gefährdungshaftung des Kfz-Halters ist durch das 2. SchRÄndG mit Wirkung vom 1.8.2002 neu geregelt worden. Nach § 7 Abs. 2 StVG kann sich der Halter durch den Nachweis höherer Gewalt von der Haftung befreien, während zuvor der Nachweis eines unabwendbaren Ereignisses ausreichte. Ziel der Änderung war, schwache Verkehrsteilnehmer haftungsrechtlich besser zu schützen.

3.259

Für die Haftung zwischen den Haltern oder Führern mehrerer unfallbeteiligter Kfz verblieb es jedoch nach § 17 Abs. 3, § 18 Abs. 3 StVG bei der Möglichkeit, den Unabwendbarkeitsbeweis zu führen, ebenso für Unfälle, an denen neben dem Kfz ein Tier oder eine Eisenbahn beteiligt ist (§ 17 Abs. 4, § 18 Abs. 3 StVG); für den Halter eines Anhängers gilt dies nach § 19 Abs. 3, 5 und 6 StVG n.F. entsprechend. § 17 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4 StVG erstrecken diese Regelung auf Ansprüche der (vom Halter verschiedenen) Eigentümer von Kfz und Tieren. Durch diese erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingeführte, wenig systemgerechte Aufspaltung

449 Offen lassend BGH v. 26.11.1996 – VI ZR 97/96, NZV 1997, 116. 450 OLG Nürnberg v. 17.5.2011 – 3 U 188/11, NZV 2011, 538. 451 BGH v. 9.12.1953 – VI ZR 121/52, NJW 1954, 392; BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 74/68, VersR 1970, 66, 67; eine Beweislastumkehr entspr. § 7 Abs. 2 StVG erwägend BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, NJW 1981, 113, 114. 452 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, NJW 1981, 113, 114; a.A. MünchKomm-StVR/Engel § 7 StVG Rz. 50.

106 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.264 § 3

des Entlastungsbeweises sollte vermieden werden, dass es häufiger als bisher zu einer Anspruchskürzung wegen mitwirkender Betriebsgefahr kommt.453 An der Möglichkeit, die mitwirkende Betriebsgefahr des Kfz bei grobem Eigenverschulden des Verletzten zurücktreten zu lassen, hat die Neufassung des § 7 Abs. 2 StVG nichts geändert.454

3.260

Für Unfälle vor dem 1.8.2002 ist nach Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB weiterhin § 7 Abs. 2 StVG a.F. maßgeblich. Auf den Zeitpunkt des Eintritts einzelner Schadensfolgen kommt es hierbei nicht an.

3.261

2. Entlastung wegen höherer Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG) a) Allgemeines Wenn der Kfz-Halter nachweisen kann, dass der Unfall auf höherer Gewalt beruht, ist er in jedem Fall haftungsfrei (§ 7 Abs. 2 StVG). Gegenüber den Ansprüchen von anderen Kfz-Haltern und -Führern, Tierhaltern und Eisenbahnunternehmern kann er sich aber auch durch den weniger strengen Beweis der Unabwendbarkeit nach § 17 Abs. 3, 4 StVG entlasten (s. Rz. 3.267 ff.). Der Anwendungsbereich von § 7 Abs. 2 StVG beschränkt sich daher im Wesentlichen auf die Haftung gegenüber nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern.

3.262

b) Begriff der höheren Gewalt Nach den Materialien zum 2. SchRÄndG sollte der Begriff mit der aus der Rechtsprechung zu § 1 HaftpflG bekannten Bedeutung (s. Rz. 5.23 ff.) übernommen werden.455 Höhere Gewalt ist demnach ein von außen (durch Naturereignisse oder durch Handlungen betriebsfremder Personen) auf den Betrieb einwirkendes Ereignis, das so außergewöhnlich ist, dass der Haftpflichtige mit seinem Eintritt nicht zu rechnen braucht, und das weder durch wirtschaftlich tragbare Einrichtungen noch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt verhütet oder unschädlich gemacht werden kann.

3.263

aa) Einwirkung von außen Nur ein betriebsfremdes, außerhalb des Kfz-Betriebs liegendes, nicht verkehrstypisches Ereignis kann die Haftung ausschließen. In Betracht kommen insbesondere Naturereignisse (z.B. Blitzschlag, Erdrutsch, Lawine), technische Katastrophen (z.B. Explosion, Flugzeugabsturz), tierisches Verhalten, aber auch menschliche Handlungen, die von außen in den Verkehrsablauf eingreifen (z.B. nicht verhinderbare Sabotageakte,456 Selbsttötungsversuche,457 Werfen von Gegenständen,458 Gewalteinwirkung gegen den Fahrer459). Dagegen scheiden Handlun453 BT-Drucks. 14/8780, 22. Zur Fragwürdigkeit dieser Regelung Ch Huber § 4 Rz. 58 ff., 75 ff.; ihr zust. Wagner NJW 2002, 2049, 2061. 454 BT-Drucks. 14/7752, 30; OLG Nürnberg v. 23.11.2004 – 3 U 2818/04, NZV 2005, 422; OLG Celle v. 3.3.2004 – 14 W 65/03, OLGR Celle 2004, 269. 455 BT-Drucks. 14/7752, 30. 456 BGH v. 12.7.1988 – VI ZR 256/87, BGHZ 105, 135, 136; RG JW 1904, 577 (Sprengstoff, nicht aber Hindernis). 457 Eingehend Filthaut NZV 2015, 161, 163 f. 458 BGH v. 10.3.1987 – VI ZR 123/86, NJW 1987, 2445. 459 So Ch Huber § 4 Rz. 34.

Greger | 107

3.264

§ 3 Rz. 3.264 | Haftung des Kfz-Halters

gen der beim Betrieb des Kfz tätigen Personen ebenso aus wie technische Mängel des Kfz. Dies gilt auch für das Versagen automatisierter Fahrfunktionen,460 selbst bei einem Eingriff von außen (Hacking),461 denn dagegen muss das System geschützt sein (s. Rz. 6.8). Auch das plötzliche körperliche oder geistige Versagen des Kfz-Führers oder einer anderen auf den Verkehrsvorgang einwirkenden Person462 begründet keine höhere Gewalt,463 sofern es nicht seinerseits durch ein äußeres Ereignis hervorgerufen wurde, ebenso wenig eine vorsätzliche Unfallverursachung oder ein dem Verkehrsgeschehen immanenter Regelverstoß. bb) Außergewöhnlichkeit

3.265

Auch äußere Ereignisse schließen die Haftung nicht aus, wenn sie im Kfz-Verkehr nicht ungewöhnlich sind (z.B. starker Regen, Glatteis, Ölspur, Wildwechsel, entlaufenes Weidevieh, unvorsichtiges Betreten der Fahrbahn). Höhere Gewalt liegt nicht vor, wenn es sich um ein Ereignis handelt, welches häufiger vorkommt und auf welches sich der Verkehrsteilnehmer daher einzurichten hat.464 Das Ereignis muss vielmehr so ungewöhnlich sein, dass es in seinem Ausnahmecharakter einem elementaren Ereignis gleichkommt.465 Auch ein von vielen Zufälligkeiten geprägter Unfallablauf beruht folglich nicht auf höherer Gewalt, wenn sich in ihm letztlich ein verkehrstypisches Risiko verwirklicht hat.466 cc) Unabwendbarkeit

3.266

Liegt ein Ereignis der vorstehend beschriebenen Art vor, muss zusätzlich nachgewiesen werden, dass der Schaden auch bei Aufbietung der äußersten, wirtschaftlich tragbaren Sorgfaltsmaßnahmen nicht hätte vermieden werden können. Dies ist z.B. nicht der Fall, wenn eine vorübergehende Einstellung des Kfz-Betriebs möglich und geboten gewesen wäre.467

3. Entlastung wegen unabwendbaren Ereignisses (§ 17 Abs. 3 StVG) a) Allgemeines 3.267

Eine weiter gehende Entlastungsmöglichkeit besteht gegenüber den Ansprüchen von anderen Kfz- oder Anhänger-Haltern, -Führern und -Eigentümern, Tierhaltern und Bahnunternehmern (§ 17 Abs. 3, 4, § 18 Abs. 3, § 19 Abs. 3 StVG). Für diese Fälle sollte es nach dem Willen des Gesetzgebers ungeachtet der Haftungsverschärfung durch das 2. SchRÄndG bei der bisherigen Rechtslage verbleiben, d.h. der Halter sich durch den Nachweis eines unabwendbaren Ereignisses, das nicht auf einem Versagen des Kfz beruht, entlasten können. Die dadurch bewirkte Aufspaltung des Entlastungsbeweises (vgl. Rz. 3.259) erschwert die Rechtsanwendung und führt zu ungereimten Ergebnissen, wenn bei einem Unfall sowohl motorisierte als auch

460 Greger NZV 2018, 1. 461 Freise VersR 2019, 65, 69. 462 OLG Koblenz v. 3.6.2019 – 12 U 1071/18, NJW 2019, 3084 (Beifahrerin fällt infolge eines Schwächeanfalls dem Fahrer ins Steuer). 463 RG v. 7.4.1927 – IV 745/26, RGZ 117, 12 = JW 1927, 2201 mit zust. Anm. Matthiessen; BGH v. 15.1.1957 – VI ZR 135/56, NJW 1957, 674. 464 OLG Hamburg v. 19.12.1978 – 7 U 62/78, VersR 1979, 549. 465 BGH v. 23.10.1952 – III ZR 364/51, BGHZ 7, 338. 466 Vgl. OLG Celle v. 12.5.2005 – 14 U 231/04, DAR 2005, 677: Bus überrollt Radfahrerin, die durch Anrempeln eines Kindes an der Haltestelle zu Fall gebracht wurde. 467 Vgl. zum Eisenbahnbetrieb RG v. 13.12.1920 – VI 455/20, RGZ 101, 94.

108 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.271 § 3

andere Verkehrsteilnehmer geschädigt werden. So kann sich u.U. ein Kfz-Halter dem Fahrer des anderen Unfall-Kfz gegenüber entlasten, nicht aber gegenüber einem mitgeschädigten Fußgänger oder im Kfz mitfahrenden Personen; ein Regress wegen der an den Mitgeschädigten erbrachten Leistungen ist dann ausgeschlossen; es muss also derjenige endgültig den Schaden tragen, den der Mitgeschädigte in Anspruch genommen hat. Ch Huber468 möchte dieses „absurde Ergebnis“ durch eine teleologische Reduktion des § 17 Abs. 3 StVG vermeiden. Dem ist zuzustimmen (vgl. Rz. 39.24), nicht aber der a.a.O. ebenfalls vertretenen Ansicht, wonach die Entlastung nach § 17 Abs. 3 StVG auch dann ausgeschlossen sein soll, wenn Sachschäden an beiden beteiligten Kfz zu regulieren sind und beide Halter sich auf Unabwendbarkeit berufen können. Dass in diesem Fall jeder Halter seinen eigenen Schaden tragen muss, ist auch bei unterschiedlicher Schadenshöhe nicht offenkundig ungerecht und noch vom Regelungszweck des § 17 Abs. 3 StVG gedeckt.

b) Unfallursächliches Ereignis aa) Begriff § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG unterscheidet zwischen dem Unfall und dem dafür ursächlich gewordenen „unabwendbaren Ereignis“. Das Ereignis, d.h. ein mit dem Betrieb des Kfz in Zusammenhang stehender äußerer Vorgang, kann faktisch mit dem Unfall zusammenfallen, wie bei einer Kollision im Begegnungsverkehr, es kann aber auch lediglich durch eine Verursachungskette (s. Rz. 3.269) mit ihm verbunden sein, z.B. wenn es durch verlorene Ladung mit zeitlichem Abstand zu einem Unfall kommt. Für die Tatbestandsvoraussetzung „bei dem Betrieb“ kommt es auf den Zeitpunkt des Ereignisses, nicht den des Unfalls an.

3.268

bb) Kausalität Das Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG, d.h. der Vorgang, dessen Unabwendbarkeit zu beweisen ist, muss (falls es nicht mit diesem ohnehin zusammentrifft) für den Unfall ursächlich geworden sein. Da es hier nicht um haftungsbegründende Zurechnung geht, wird man insoweit von einem naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriff (s. Rz. 3.68) ausgehen können. Es kommt daher nicht darauf an, ob der Unfall unmittelbar oder ob er mittelbar durch das Ereignis verursacht worden ist (vgl. Rz. 3.79 ff.).

3.269

Die Haftungsbefreiung setzt lediglich voraus, dass der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde. Liegt diese Voraussetzung vor, so ist der Halter von der Haftung nach § 7 StVG auch dann frei, wenn er die Entstehung einer bestimmten Schadensfolge, die sich (nachträglich) aus dem unabwendbaren Unfall ergeben hat, nicht abgewendet hat. In solchen Fällen kommt allenfalls eine deliktische Haftung (z.B. für schuldhafte Unterlassung einer Hilfeleistung) in Betracht.

3.270

Der Halter ist auch dann von der Gefährdungshaftung entlastet, wenn der als solcher unabwendbare Unfall bei optimalem Verhalten weniger schwere Folgen gehabt hätte (zur deliktischen Haftung in diesen Fällen s. Rz. 10.31). Der Entlastungsbeweis bezieht sich auf das unabwendbare Ereignis, nicht auf die Schadensfolge. Der Halter darf nicht für einzelne Unfallfolgen deswegen haftbar gemacht werden, weil er nicht beweisen kann, dass er auch diese nicht hätte vermeiden können, d.h. dass der Unfall bei idealem Verhalten dieselben Folgen gehabt hätte. Ein solcher Beweis wäre praktisch kaum zu führen. Es käme im Ergebnis zu ei-

3.271

468 § 4 Rz. 83.

Greger | 109

§ 3 Rz. 3.271 | Haftung des Kfz-Halters

ner nahezu uneingeschränkten Erfolgshaftung des Kfz-Halters. Da diese im Gesetz keine Stütze findet, bestehen Bedenken gegen die in der Rechtsprechung anzutreffende Formulierung, der Halter müsse nachweisen, dass es auch bei idealer Fahrweise zu dem Unfall „mit vergleichbar schweren Folgen“ gekommen wäre.469

3.272

Kommt es z.B. auf der Autobahn zu einem unverschuldeten Unfall und hat der Fahrer davor die Richtgeschwindigkeit überschritten, führt dieser Umstand dann nicht zur Haftung nach § 7 StVG, wenn der Unfall auch bei 130 km/h nicht vermeidbar gewesen wäre; auf die hypothetische Frage, welche Schäden in diesem Fall entstanden wären, kommt es dann nicht an.

c) Unabwendbarkeit aa) Definition

3.273

Um sich entlasten zu können, muss der Halter beweisen, dass sowohl er als auch der Führer seines Kfz jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat (§ 17 Abs. 3 Satz 2 StVG). Diese Regelung ist – anders als in dem für Unfälle vor 1.8.2002 geltenden § 7 Abs. 2 StVG a.F. – abschließend („nur dann“ statt „insbesondere“). Durch sie ist allen Überlegungen hinsichtlich einer analogen oder einschränkenden Anwendung des Ausschlusstatbestandes die Grundlage entzogen.470 Ein plötzliches körperliches oder geistiges Versagen des Kfz-Führers z.B. ist nur dann nicht als unabwendbares Ereignis zu werten, wenn es (für Halter oder Führer) vorhersehbar war, etwa bei einer bekannten Krankheit oder Behinderung des Führers. War es auch bei größter Sorgfalt nicht vorhersehbar, ist der Halter haftungsfrei.471 Die Sorgfaltspflichtverletzung eines Dritten hindert auch dann den Haftungsausschluss nicht, wenn der Dritte beim Betrieb des Kfz beschäftigt war, es sei denn auch den Halter oder Führer treffe ein Vorwurf, z.B. hinsichtlich Auswahl oder Überwachung (s. Rz. 3.282). bb) Sorgfaltsmaßstab

3.274

Mit der von § 276 Abs. 2 BGB abweichenden Formulierung wird klargestellt, dass die Anforderungen an den Haftungsausschluss bei der Gefährdungshaftung höher sind als bei der Verschuldenshaftung.472 Während dort auf die im Verkehr erforderliche Sorgfalt abgestellt wird, d.h. auf das Maß an Sorgfalt, welches nach dem Urteil besonnener und gewissenhafter Angehöriger des betreffenden Verkehrskreises von den in seinem Rahmen Handelnden zu verlangen ist (s. Rz. 10.54), fordert § 17 Abs. 3 Satz 2 StVG die im konkreten Fall größtmögliche Sorgfalt.

3.275

Zur Konkretisierung dieses Sorgfaltsmaßstabs bedient sich die Rechtsprechung eines Idealtyps, nämlich der Vorstellung von einem denkbar besten Halter bzw. Führer,473 der mit der Gabe ausgestattet ist, alle erkennbaren Gefahrenmomente überblicken und das nach der Ge469 Vgl. BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337; BGH v. 9.2.1982 – VI ZR 59/80, VersR 1982, 441; OLG Köln v. 22.7.1992 – 11 U 104/92, VersR 1992, 1366. 470 S. zum früheren Recht Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 3 Rz. 412 ff. 471 A.A. OLG Hamm v. 29.10.2013 – 26 U 12/13, DAR 2014, 30; BHHJ/Burmann StVG § 7 Rz. 21 im Gefolge des zum früheren Recht ergangenen Urteils des BGH v. 15.1.1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90. 472 BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337; BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 136/85, VersR 1987, 158, 159. 473 BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337 = VersR 1992, 714 mit Anm. Reiff = DAR 1992, 257 mit Anm. Ludovisy 278 und Gebhardt 295 = LM § 7 StVG Nr. 68 mit Anm. Berz; BGH v.

110 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.277 § 3

samtlage beste Verhalten geistesgegenwärtig wählen zu können. Dabei darf sich die Prüfung nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Situation optimal reagiert hat, sondern es ist auch zu fragen, ob ein Idealfahrer überhaupt in eine solche Gefahrenlage gekommen wäre.474 Von diesem idealen Verkehrsteilnehmer darf allerdings nicht gefordert werden, was ein Mensch nicht zu leisten vermag: „Unabwendbar“ bedeutet nicht, dass das schadensstiftende Ereignis absolut unvermeidbar war. Da ein objektiver, idealtypischer Maßstab anzulegen ist, kommt es auf besondere persönliche Eigenschaften nicht an: für den Fahranfänger ist die Unabwendbarkeit genauso zu beurteilen wie für den Berufskraftfahrer. Wegen Einzelheiten zu den Sorgfaltspflichten von Halter und Führer s. Rz. 3.281 ff. sowie den Rechtsprechungsüberblick in Rz. 3.315 ff. cc) Rechtmäßiges Verhalten Rechtmäßiges Verhalten schließt, wenngleich vermeidbar, Unabwendbarkeit nicht aus. Der Halter ist daher z.B. auch dann entlastet, wenn der Fahrer den Unfall zur Abwehr der Gefahr eines größeren Schadens herbeigeführt hat.475 Der Halter eines Streufahrzeugs, durch dessen Auswurf andere Kfz beschädigt wurden, kann seine Haftung aber nicht allein unter Berufung auf die im Allgemeininteresse liegende Erfüllung seiner Streupflicht ausschließen; er haftet nur dann nicht, wenn sich der Schaden auch bei vorsichtigem Streuen nicht hätte vermeiden lassen.476

3.276

dd) Zurechnung des Verhaltens Dritter § 17 Abs. 3 Satz 2 StVG verhindert die Entlastung des Halters nur, wenn der Führer des Kfz den Sorgfaltsanforderungen nicht genügt hat (s. Rz. 3.284 ff.), nicht wenn eine andere Person im Zusammenhang mit dem Betrieb des Kfz einen Schaden hervorgerufen hat. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Kfz-Insasse den Fahrer ablenkt, in die Steuerung eingreift oder unvorsichtig die Tür öffnet. Auch Personen, die beim Reparieren, Flottmachen, Be- oder Entladen Hilfe leisten, können einen von § 7 StVG erfassten Schadensfall auslösen. Nach der früheren Regelung des Entlastungsbeweises in § 7 Abs. 2 StVG a.F. konnte sich der Halter „insbesondere“ durch den Nachweis entlasten, dass der Unfall ausschließlich „auf das Verhalten des Verletzten, eines nicht bei dem Betrieb beschäftigten Dritten oder eines Tieres zurückzuführen ist“. Inwieweit der Sorgfaltsverstoß eines beim Betrieb beschäftigten Dritten die Gefährdungshaftung des Halters begründet, war bereits damals umstritten477 und ist seit dem Wegfall dieser Regelung im Zuge der Novelle von 2002 vollends unklar. Der Rechtsausschuss des Bundestags, auf den die Änderung zurückgeht, hat hierzu keine Begründung gegeben; er ging offenbar davon aus, dass die Neuformulierung die bestehende, freilich unklare, Rechtslage nicht

474 475

476 477

28.5.1985 – VI ZR 258/83, VersR 1985, 864; BGH v. 17.2.1987 – VI ZR 75/86, VersR 1987, 1035. BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91 (s. vorstehend); BGH v. 13.12.2005 – VI ZR 68/04, NZV 2006, 191, 193; OLG Düsseldorf v. 31.3.2020 – 1 U 101/19, NJW-RR 2020, 728. OLG Hamm v. 7.10.1987 – 11 U 40/87, NJW 1988, 1096 und OLG Koblenz v. 22.4.1996 – 12 U 849/95, NZV 1997, 180: Kollision eines Polizeifahrzeugs mit verfolgtem Fluchtfahrzeug; im Erg. ebenso, jedoch mit abw. Begr. OLG München v. 15.11.1996 – 10 U 3260/92, OLGR München 1997, 162; OLG Celle v. 2.11.2000 – 14 U 281/99, OLGR Celle 2001, 118, 119. BGH v. 5.7.1988 – VI ZR 346/87, BGHZ 105, 65 = NZV 1989, 19 mit Anm. Kuckuk = JZ 1988, 1136 mit Anm. Baumgärtel. S. dazu Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 3 Rz. 417 f.

Greger | 111

3.277

§ 3 Rz. 3.277 | Haftung des Kfz-Halters

ändern würde.478 Dies kann jedoch schon deswegen nicht zutreffen, weil die bisher nur beispielhafte Regelung („insbesondere“) in eine abschließende („nur dann“) verwandelt wurde, Da es an einer Zurechnungsnorm nach Art von §§ 278, 831 BGB fehlt, ist der Halter nach dem nunmehr eindeutigen Wortlaut von § 17 Abs. 3 Satz 2 StVG entlastet, wenn weder ihm (s. Rz. 3.281 ff.) noch dem Fahrer, sondern ausschließlich dem Dritten eine Verletzung der größtmöglichen Sorgfalt vorgeworfen werden kann.479 Eine solche kann allerdings darin liegen, dass der Fahrer den Insassen nicht darauf hinweist, beim Öffnen der Fahrzeugtür besonders achtsam zu sein (z.B. bei Anhalten neben einem Radweg, auf enger Straße oder in enger Parklücke) oder dass er einem Kind das selbständige Aussteigen erlaubt (näher s. Rz. 3.325; zur versicherungsrechtlichen Situation s. Rz. 15.8).

d) Zurechnungszusammenhang zwischen Sorgfaltsverletzung und Ereignis aa) Kausalität

3.278

Bei der Prüfung der Unabwendbarkeit ist zu beachten, dass sie nur durch eine für das Ereignis (und damit den Unfall) kausale Sorgfaltsverletzung ausgeschlossen wird (zur Beweislast s. Rz. 3.312). Unterlässt z.B. der Führer ein akustisches Warnsignal und stellt sich heraus, dass der zu Warnende taub war, so war das Unterlassen für den Unfall nicht ursächlich.480 Zur Frage der zeitlichen und räumlichen Vermeidbarkeit bei Kollisionsunfällen s. Rz. 10.23. bb) Schutzzweck

3.279

Es reicht aber andererseits nicht jeder Kausalzusammenhang aus, um Unabwendbarkeit zu verneinen. Unabwendbar im Rechtssinn kann ein Ereignis vielmehr auch dann sein, wenn ein besonders sorgfältiger Fahrer zwar nicht in der für den Unfall ursächlich gewordenen Weise gefahren wäre, dies aber nur im Hinblick auf eine andere Gefahr als die, die sich verwirklicht hat.481 Hat der Kraftfahrer nur gegenüber einem anderen Verkehrsteilnehmer, nicht aber gegenüber demjenigen, bei dem sich die Gefahr verwirklicht hat, die Pflichten eines Idealkraftfahrers verletzt, kann sich der Geschädigte (als gewissermaßen zufällig Begünstigter) hierauf nicht berufen.482 Es kommt also (wie beim Schutzzweck der Verkehrsvorschriften im Bereich der deliktischen Haftung; s. Rz. 11.6) auf den Schutzzweck der betreffenden Sorgfaltsanforderung an.

3.280

Deshalb ist der Halter nicht schon deswegen an der Geltendmachung von Unabwendbarkeit gehindert, weil sein Kfz nur wegen einer vorangegangenen Geschwindigkeitsüberschreitung zur Unfallsekunde am Kollisionsort war, weil es verbotswidrig eine nur für Anlieger freigegebene Straße befuhr483 oder weil er wegen einer anderen als der sich realisierenden Gefahr langsamer hätte fahren müssen.484 Steht fest, dass sich die durch den Verkehrsverstoß geschaffene Gefahrerhöhung im Augenblick des Unfalls bereits wieder neutralisiert hatte und deshalb nicht im Unfall wirksam geworden ist, dann hindert der Verkehrsverstoß nicht die 478 479 480 481

S. BT-Drucks. 14/8780, 22. Gegenteilige Rechtsprechung und Literatur beziehen sich auf die Rechtslage vor 2002. RG Recht 1913, Nr. 2185. BGH v. 4.5.1976 – VI ZR 193/74, VersR 1976, 927; BGH v. 21.2.1985 – III ZR 205/83, VersR 1985, 637, 639. 482 BGH v. 28.5.1985 – VI ZR 258/83, VersR 1985, 864, 865. 483 OLG Köln v. 26.4.1989 – 13 U 296/88, VersR 1989, 1059 LS. 484 BGH v. 21.2.1985 – III ZR 205/83, VersR 1985, 637, 639; BGH v. 28.5.1985 – VI ZR 258/83, VersR 1985, 864, 865.

112 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.284 § 3

Feststellung, dass der Unfall für den Kraftfahrer unabwendbar gewesen ist.485 Ein Folgeunfall ist aber, unabhängig von dessen Unabwendbarkeit, zuzurechnen, wenn der Erstunfall nicht unabwendbar war.486

e) Das für den Halter unabwendbare Ereignis Wird das Kfz von einer anderen Person als dem Halter gefahren, so sind die dem Halter zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, den Unfall abzuwenden, gering. Im Wesentlichen beschränkt sich seine Sorgfaltspflicht auf die Auswahl eines zuverlässigen Fahrers, dessen Aufklärung über für die Verkehrssicherheit wichtige Besonderheiten des Kfz, z.B. nicht allgemein übliche Fahrerassistenzsysteme,487 u.U. auch die Beaufsichtigung des Fahrers,488 auf die Überwachung der Instandhaltung des Kfz sowie auf die Sicherung des Kfz gegen Diebstahl und unbefugte Benutzung. Während für den letztgenannten Fall wegen § 7 Abs. 3 StVG besondere Regeln gelten (s. Rz. 3.238 ff.), ist für die übrigen Fälle zu beachten, dass der Halter ein gesteigertes Maß an Sorgfalt, nämlich jede nach den Umständen des Falles gebotene (und nicht nur die im Verkehr erforderliche), beobachten muss, um sich entlasten zu können (vgl. zu dem Sorgfaltsmaßstab Rz. 3.274 f.).

3.281

Derartige Sorgfaltsverstöße des Halters haben jedoch kaum praktische Bedeutung. Hat der Halter nämlich eine ungeeignete Person mit dem Betrieb des Kfz betraut (oder eine geeignete Person nicht genügend beaufsichtigt) und war der Unfall für diese Person auch bei Anlegung des vom Gesetz vorgeschriebenen strengen Maßstabes unabwendbar, so war die Pflichtverletzung des Halters für den Unfall nicht ursächlich und seine Haftung ist ausgeschlossen.489 Hätte der Fahrer den Unfall bei Anwendung der äußersten Sorgfalt abwenden können, so tritt die Gefährdungshaftung des Halters schon aus diesem Grunde ein, ohne dass es auf dessen Pflichtverletzung bei der Auswahl des Fahrers noch ankommt. Bedeutung kann jedoch erlangen, dass der Halter bei Auswahl eines beim Betrieb des Kfz beschäftigten Dritten (z.B. eines Beifahrers, Schaffners, eines zum Beladen oder Entladen eingesetzten Arbeiters) oder bei dessen Beaufsichtigung die äußerste nach den Umständen gebotene Sorgfalt nicht beobachtet hat. Außerdem kann die Verantwortlichkeit des Halters dann ins Gewicht fallen, wenn bei Wartung und Pflege des Kfz Versäumnisse unterlaufen sind. Dann wird es allerdings i.d.R. zu einem Versagen von Vorrichtungen des Kfz kommen, bei dem der Entlastungsbeweis durch § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG ohnehin ausgeschlossen wird (s. Rz. 3.291 ff.).

3.282

War der Halter zugleich Führer des Kfz, so ist auf die von einem Führer zu erwartende Sorgfalt (s. Rz. 3.284 ff.) abzustellen.

3.283

f) Das für den Führer unabwendbare Ereignis aa) Grundsätze Die Haftung des Halters, der beim Unfall das Kfz nicht selbst gefahren hat, entfällt – abgesehen vom Fall der Schwarzfahrt nach § 7 Abs. 3 StVG (Rz. 3.237 ff.) – nur, wenn das Ereignis auch für den Führer des Kfz unabwendbar war. Zum Begriff des Führers s. Rz. 4.9 ff., zum Sorgfaltsmaßstab des „Idealfahrers“ s. Rz. 3.274 f.). sowie den Rechtsprechungsüberblick in 485 486 487 488 489

BGH v. 7.4.1987 – VI ZR 30/86, NJW 1988, 58. Unzutr. daher BGH v. 4.5.1976 – VI ZR 193/74, VersR 1976, 927. Vogt NZV 2003, 153, 156. BGH v. 6.10.1964 – VI ZR 102/63, VersR 1964, 1241. BGH v. 9.3.1955 – VI ZR 3/54, VRS 9, 109.

Greger | 113

3.284

§ 3 Rz. 3.284 | Haftung des Kfz-Halters

Rz. 3.315 ff. Allein die Beachtung der Verkehrsvorschriften (StVO, StVZO usw.) besagt noch nichts über die Unabwendbarkeit. Der Entlastungsbeweis kann wegen der gesteigerten Sorgfaltsanforderungen vielmehr auch in Fällen versagen, in denen sich weder der Fahrer noch der Halter verkehrswidrig verhalten hat.490 Umgekehrt schließt ein Verstoß gegen Verkehrsvorschriften die Annahme eines unabwendbaren Ereignisses aus, wenn der Verstoß für den Unfall ursächlich war (s. Rz. 3.278 ff.). Dies gilt nicht, wenn für den Verstoß ein Rechtfertigungsgrund bestand (Rz. 3.276). bb) Entscheidender Zeitpunkt

3.285

Ein unabwendbares Ereignis wird nicht schon durch die (rückschauende) Feststellung ausgeschlossen, der Unfall wäre bei einem anderen Verhalten des Führers möglicherweise vermieden worden, vielmehr ist von der Sachlage vor dem Unfall auszugehen und zu prüfen, ob der Kraftfahrer in dieser Lage die äußerste nach den Umständen zumutbare Verkehrssorgfalt beobachtet hat.491 Hat der Fahrer die Gefahrenlage dadurch verursacht, dass er sich nicht selbst wie der denkbar beste Fahrer verhalten hat, so ist das Ereignis für ihn auch dann nicht unabwendbar, wenn in der nunmehr entstandenen Gefahrenlage der Unfall unvermeidbar geworden war.492 cc) Plötzliche Gefahrenlage

3.286

Bei unerwartet auftretenden Ereignissen ist auch bei der Prüfung der Unabwendbarkeit dem Fahrer zusätzlich zur Reaktions- und Bremsansprechzeit, die bei einem unvermuteten Vorgang mit ca. 1 Sekunde bemessen werden kann,493 eine Schreckzeit zuzubilligen, sofern ihm daraus, dass ihn das Ereignis unerwartet trifft, kein Vorwurf zu machen ist.494 Die Dauer der zuzugestehenden Schreckzeit hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (konkrete Verkehrssituation, Erfordernis einer Blickzuwendung, Notwendigkeit einer Wahlentscheidung, Sichtbehinderung u.v.a).495 I.d.R. wird es sich um Bruchteile einer Sekunde handeln; die vielfach gebrauchte Bezeichnung „Schrecksekunde“ ist irreführend. Aus den konkreten Umständen (insb. bei Notwendigkeit einer Blickzuwendung) können sich auch höhere Werte ergeben.496 Da der Beweis der Unabwendbarkeit vom Halter zu führen ist, kann – anders als etwa im Strafverfahren – nicht im Zweifel zugunsten des Fahrers von einer längeren Vorbremszeit ausgegangen werden.

3.287

Ist sachwidriges Handeln in plötzlicher Gefahrenlage nicht immer als Verschulden i.S.d. § 276 Abs. 2 BGB anzusehen, so wird es dem Führer doch häufig als Mangel der ihm nach § 17 Abs. 3 StVG obliegenden Sorgfalt auszulegen sein; allerdings kann auch dem denkbar 490 BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 86/71, NJW 1972, 1808; BGH v. 10.10.1972 – VI ZR 104/71, NJW 1973, 44. 491 BGH v. 20.9.1966 – VI ZR 16/65, VersR 1966, 1076; österr. OGH ZVR 1995, 139. 492 BGH v. 30.1.1962 – VI ZR 122/61, VRS 22, 425. 493 BGH v. 18.9.1973 – VI ZR 192/72, VersR 1974, 138 m.w.N.; BGH v. 27.6.2000 – VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; BHHJ/Heß § 1 StVO Rz. 53 ff. 494 BGH v. 28.11.1961 – VI ZR 89/61, VersR 1962, 164; BHHJ/Heß § 1 StVO Rz. 57 ff.; Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 125. 495 Vgl. hierzu Hentschel/König/Dauer § 1 StVO Rz. 29 ff.; Engels DAR 1982, 360; Spiegel DAR 1982, 366; Dannert DAR 1987, 477. 496 Vgl. OLG Hamm v. 16.5.1994 – 6 U 207/91, VersR 1995, 1326 (Revision vom BGH nicht angenommen); Engels DAR 1982, 360.

114 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.291 § 3

besten Fahrer kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er bei einer ohne sein Verschulden plötzlich auftretenden erheblichen Gefahr, zu schnellem Handeln gezwungen, eine (rückblickend betrachtet) falsche Maßnahme trifft, um der Gefahr zu entgehen.497 Auf das Eingreifen eines Fahrerassistenzsystems (z.B. automatische Bremsung, Blockierverhinderung, elektronische Stabilisation) muss der Fahrer, ggf. vom Halter, vorbereitet sein; es kann auch gegen das Gebot größtmöglicher Sorgfalt verstoßen, ein vorhandenes Assistenzsystem nicht zu aktivieren498 oder dessen Warnmeldungen zu ignorieren499 (zum Kausalitäts- und Schutzzweckerfordernis s. aber Rz. 3.278 f.). dd) Ungünstige Straßen- und Witterungsverhältnisse Die Teilnahme am Straßenverkehr trotz erhöhter Gefahren durch widrige Sicht- oder Straßenverhältnisse wie z.B. bei Nebel, Schneegestöber, Glatteis, Starkregen, Steinschlag- oder Lawinengefahr, schadhafte Fahrbahn, stellt noch keinen Verstoß gegen die „äußerste“ Sorgfalt dar. Anders liegt es, wenn eine spezielle Ausrüstungspflicht besteht (Winterreifen nach § 2 Abs. 3a StVO; Schneeketten nach Zeichen 268 Anl. 2 StVO) oder für den Kraftfahrer ohne weiteres erkennbar ist, dass die Straße für das von ihm gelenkte Fahrzeug unbefahrbar geworden ist. Ansonsten genügt es, die geeigneten Maßnahmen (z.B. Anlegen von Schneeketten) zu ergreifen und die Fahrweise den Verhältnissen anzupassen.

3.288

ee) Verkehrswidriges Verhalten des Verletzten oder eines Dritten Auch im Rahmen des § 17 Abs. 3 StVG gilt der sog Vertrauensgrundsatz (s. Rz. 14.12). Der Führer eines Kfz kann grundsätzlich darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer sich verkehrsgerecht verhalten. Legen die Umstände jedoch die Möglichkeit nahe, dass sich andere Verkehrsteilnehmer unrichtig oder ungeschickt verhalten, so gehört zur äußersten Sorgfalt auch, dass der Fahrer hierauf Rücksicht nimmt.500 Mit unbedachtem oder ungeschicktem Verhalten muss z.B. gerechnet werden, wenn alte Leute oder Kinder sich auf der Fahrbahn befinden oder sich anschicken, diese zu betreten. In allen Fällen muss damit gerechnet werden, dass ein durch den Führer des Kfz in Gefahr gebrachter Verkehrsteilnehmer sich aus Angst oder Schrecken unzweckmäßig und kopflos verhält.

3.289

Zur Zurechnung des Verhaltens einer Person, die eine mit dem Betrieb des geführten Kfz verbundene Tätigkeit ausführt (z.B. Türöffnen, Entladen) s. Rz. 3.277.

3.290

g) Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs und Versagen seiner Vorrichtungen aa) Bedeutung der Regelung Für einen Unfall, der auf einem technischen Mangel des Fahrzeugs beruht, soll die Gefährdungshaftung des Halters auch dann eingreifen, wenn er und der Führer des Kfz die äußerste, nach den Umständen gebotene Sorgfalt beobachtet haben (§ 17 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG). Dies gilt auch, wenn der Mangel nur bei der Entstehung des Unfalls mitgewirkt hat, die „Hauptursache“ aber eine andere (ein Tier, ein unbeteiligter Dritter usw.) gewesen ist. Hat 497 498 499 500

BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 136/87, VersR 1987, 159 m.w.N. Vogt NZV 2003, 153, 156 f. Berz/Dedy/Granich DAR 2000, 545, 546. BGH v. 15.5.1973 – VI ZR 62/72, VersR 1973, 765.

Greger | 115

3.291

§ 3 Rz. 3.291 | Haftung des Kfz-Halters

der technische Fehler zwar den Umfang des Schadens vergrößert, hätte sich aber der Unfall auch ohne diesen – wenn auch nicht in so schwerer Form – ereignet, so bleibt er außer Betracht, da die Vorschrift nur auf die Verursachung des Unfalls, nicht aber auf die Verursachung des Schadens abstellt (s. Rz. 3.270 f.). Den Beweis, dass der Unfall nicht auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs und nicht auf einem Versagen der Vorrichtungen beruht, muss der Schädiger führen (s. Rz. 3.313). bb) Fehler in der Beschaffenheit

3.292

Hierunter sind die auf der Konstruktion und auf der Bauausführung, aber auch mangelhafter Unterhaltung des Fahrzeugs und seiner Teile beruhenden Mängel zu verstehen. Eigenschaften, die bei einem Kfz der betreffenden Art dem Stand der Technik entsprechen, fallen nicht darunter. cc) Versagen einer Vorrichtung

3.293

Ein solches liegt vor, wenn ein Fahrzeugteil die Funktion, die ihm im Zusammenwirken aller Teile zukommt, nicht oder nicht ordnungsmäßig erfüllt, ohne dass dies auf Konstruktionsoder Baumängel zurückzuführen ist.501 dd) Maßgeblicher Zeitpunkt

3.294

Die Haftungsbefreiung des Halters entfällt nur, wenn das Kfz den technischen Mangel schon vor dem Unfall aufwies. Werden erst durch den Unfall Teile des Kfz (Lenkung, Bremsen, Räder) beschädigt und ruft das Kfz wegen dieser Beschädigung weitere Schadensfolgen hervor (z.B. indem es Fußgänger auf dem Bürgersteig überfährt), so ist der Unfall nicht durch Fehler in der Beschaffenheit des Kfz oder durch Versagen seiner Vorrichtungen verursacht. ee) Äußere Einwirkungen

3.295

Wird das technische Versagen durch höhere Gewalt, z.B. ein Naturereignis, ausgelöst, bleibt die Entlastungsmöglichkeit nach § 7 Abs. 2 StVG bestehen. Dies muss auch gelten, wenn es durch eine sonstige äußere Einwirkung hervorgerufen wird (z.B. der Reifen verliert wegen eines überfahrenen Nagels Luft), denn nach Sinn und Zweck des § 17 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVG soll der Halter für solche Unfälle uneingeschränkt haftbar sein, die auf einen technischen Defekt seines Kfz zurückgehen. Dies gilt auch, wenn zwischen der Beschädigung des Fahrzeugteils und dem Unfall ein zeitlicher Abstand besteht (z.B. ein durch ein Schadensereignis in Mitleidenschaft gezogener Reifen wird erst anlässlich einer besonderen Beanspruchung luftlos). Fährt der Fahrer allerdings trotz einer Beschädigung, die er kannte oder bei Anwendung größtmöglicher Sorgfalt kennen musste, weiter, kann der Halter den Entlastungsbeweis nicht mehr führen. ff) Verschulden Dritter

3.296

Ob das Versagen der Vorrichtung auf einem schuldhaften Verhalten einer anderen Person (z.B. Hersteller, Monteur, Wartungspersonal) beruht, ist für den Ausschluss der Entlastungsmöglichkeit ohne Belang. 501 Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 106.

116 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.301 § 3

gg) Natürliche Abnutzung Natürlicher Verschleiß und Materialermüdung sind zwar keine Fehler, führen aber zum Versagen der betreffenden Vorrichtungen und schließen damit die Haftungsbefreiung des Halters aus, wenn sie einen Unfall verursachen.502

3.297

hh) Kausalität Trotz Vorliegens eines technischen Defekts ist der Halter entlastet, wenn der Defekt für den Unfall nicht ursächlich war. Da der Halter beweisen muss, dass der Unfall nicht auf einem technischen Versagen beruht (s. Rz. 3.313), gehen diesbezügliche Unklarheiten zu seinen Lasten. Wie auch in anderen Bereichen der Haftungszurechnung genügt nicht jeder (natürliche) Kausalzusammenhang; die Unfallgefahr muss vielmehr gerade durch das technische Versagen erhöht, der Schadenseintritt begünstigt worden sein. Daher ist Kausalität z.B. zu verneinen, wenn ein Kfz wegen einer Motorpanne innerhalb einer geschlossenen Ortschaft ordnungsgemäß am Straßenrand abgestellt und dort sodann in einen Unfall verwickelt wird. Zu bejahen ist sie hingegen, wenn das Kfz auf der Überholspur der Autobahn liegenbleibt und ein anderes auffährt. Aber auch das Liegenbleiben auf der Standspur der Autobahn ist noch derart gefahrerhöhend, dass die Kausalität zwischen dem Versagen und einem Auffahrunfall zu bejahen ist. Ein Unfall, der auf den besonderen Gefahren des Abschleppens beruht, ist nicht mehr dem technischen Versagen zuzurechnen.

3.298

h) Einzelheiten zu technischen Mängeln (alphabetisch geordnet) Anhänger Zu den Teilen des Kfz, deren Versagen die Haftungsbefreiung ausschließt, gehören auch alle Teile des Anhängers und der Kupplung zwischen Zugmaschine und Anhänger.503 Ausspuren des Anhängers ist als solches kein Versagen einer Vorrichtung; die Haftungsbefreiung kann jedoch dann entfallen, wenn es auf einem Konstruktionsmangel oder auf dem Versagen der Bremsen beruht. Dagegen kann ein unabwendbares Ereignis vorliegen, wenn das Ausspuren auf anderen Ursachen beruht, z.B. wenn der Straßenrand einbricht.504 Kein Versagen der Vorrichtungen liegt auch vor, wenn sich der Anhänger auf einer Gefällstrecke wegen Glatteis querstellt;505 hier wird vielmehr regelmäßig eine Sorgfaltsverletzung des Führers gegeben sein (s. Rz. 3.339 f.). Automatische Regelungssysteme Das Versagen eines Regelungssystems zur automatischen Geschwindigkeits- oder Abstandsregulierung schließt die Haftungsbefreiung nach § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG aus.506 Hat das System ordnungsgemäß gewirkt, der Fahrer aber darauf unsachgemäß reagiert, versagt der Ent-

502 OLG Naumburg v. 7.3.1933 – 7 U 363/32, JW 1933, 2159; OLG Düsseldorf v. 17.3.1959 – 4 U 244/58, VersR 1959, 912. 503 OLG Naumburg v. 30.8.1938 – 7 U 100/38, JW 1938, 3053. 504 BGH v. 14.4.1958 – III ZR 186/56, VRS 15, 14, 17. 505 OLG Naumburg RdK 1939, 9; a.A. OLG Braunschweig v. 31.3.1953 – 1 U 3/53, NJW 1953, 1513; beiläufig auch BGH v. 14.4.1958 – III ZR 186/56, VRS 15, 14, 17. 506 Janker DAR 1995, 472, 477; Berz/Dedy/Granich DAR 2000, 545, 546; Vogt NZV 2003, 153, 156; Greger NZV 2018, 1, 2.

Greger | 117

3.299 3.300

3.301

§ 3 Rz. 3.301 | Haftung des Kfz-Halters

lastungsbeweis aus diesem Grund oder wegen der mangelhaften Einweisung des Fahrers durch den Halter.

3.302

Fahrtrichtungsanzeiger Der Ausfall eines Fahrtrichtungsanzeigers ist Versagen einer Vorrichtung; darauf, ob seine Aufgabe in anderer Weise, z.B. durch Herausstrecken des Arms, erfüllt werden kann, kommt es nicht an.507

3.303

Fenster Löst sich ein Fenster eines Omnibusses schon bei geringem Druck aus seiner Verankerung und stürzt ein Fahrgast infolgedessen aus dem Bus, so beruht dieser Unfall auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Kfz.508 S. auch Rz. 3.311.

3.304

Kraftstoffzufuhr Das Liegenbleiben wegen Aussetzens der Kraftstoffzufuhr kann ein unabwendbares Ereignis sein, beruht aber dann stets auf einem Versagen der Vorrichtungen.509

3.305

Ölspur Für das Hinterlassen einer Ölspur kann sich der Halter in keinem Fall entlasten, da dieses immer auf einem technischen Defekt beruht.510

3.306

3.307

3.308

Reifen Das Zerplatzen oder allmähliche Luftloswerden eines Reifens stellt ein Versagen einer Vorrichtung dar.511 Beruht das Luftloswerden jedoch auf einer äußeren Einwirkung (z.B. Überfahren eines Nagels, Steines o. Ä.), so kann sich der Halter bei einem durch den Reifenschaden verursachten Unfall u.U. auf Unabwendbarkeit berufen512 (s. Rz. 3.295). Diese Möglichkeit scheidet selbstverständlich aus, wenn es zu der Beschädigung des Reifens nur deshalb kommen konnte, weil er unzulässig stark abgefahren war.513 Hat ein Reifen weniger als die nach § 36 StVZO erforderliche Profiltiefe, so liegt ein Fehler in der Beschaffenheit vor. Er wird für einen Unfall auf trockener, griffiger Fahrbahn allerdings i.d.R. nicht ursächlich sein,514 ebenso wenn Wasser mehr als 2 mm hoch auf der Fahrbahn steht.515 Schleudern Schleudern des Kfz (zum Anhänger s. Rz. 3.300) ist als solches kein Versagen seiner Vorrichtungen. Es kann zwar auf einem solchen Versagen (etwa der Lenkung oder der Bremsen) beruhen, ebenso gut aber auf einem Fehler des Fahrers. Der Ausschluss der Entlastungsmöglich-

507 508 509 510 511 512 513 514

A.A. OLG Kiel HRR 1935, 123. Österr. OGH ZVR 1991, 116. OLG Bamberg v. 12.1.1950 – 2 U 51/49, DAR 1951, 80. OLG Bamberg v. 3.12.1985 – 5 U 125/85, VRS 72, 88. Österr. OGH ZVR 1990, 241. OLG Celle RdK 1949, 44. KG VAE 1937, 463. BGH v. 26.6.1968 – IV ZR 513/68, VersR 1968, 785; OLG München v. 21.3.1966 – 10 U 2507/ 64, VersR 1966, 945. 515 OLG Zweibrücken v. 9.12.1966 – 1 U 92/66, DAR 1967, 300.

118 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.313 § 3

keit greift daher nur ein, wenn ein zugrunde liegender technischer Defekt feststeht; andernfalls kommt es auf den dem Halter obliegenden Nachweis einer Beobachtung der erforderlichen Sorgfalt an.516 Tür Die automatische Bremsung eines Omnibusses beim Öffnen der Tür während der Fahrt ist kein Versagen i.S.d. § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG.517 Warndreieck, Warnleuchte Versagen die beim Halten in der Nacht hinter dem Fahrzeug aufgestellten Warnleuchten oder Fackeln oder fällt ein wegen einer Panne aufgestelltes Warndreieck um, so handelt es sich nicht um ein Versagen von Vorrichtungen, da keine Teile des Kfz betroffen sind (anders dagegen bei Ausfall der eingebauten Warnblinkanlage). Windschutzscheibe Zersplittert die Windschutzscheibe wegen eines herabgefallenen Astes oder eines hochgeschleuderten Steins und kommt es durch die Sichtbeeinträchtigung zu einem Unfall, so liegt kein Versagen von Vorrichtungen vor, da Ursache des Unfalls eine Einwirkung von außen ist.518

3.309

3.310

3.311

i) Beweisführung Die Beweislast für die Unabwendbarkeit des Unfalls trägt, da sie als haftungsausschließendes Merkmal ausgestaltet ist, der Halter. Er wird daher verurteilt, wenn der Kläger bewiesen hat, dass er durch einen Unfall beim Betrieb des Kfz des Beklagten geschädigt wurde (s. Rz. 3.172 ff.), und sich der Unfallhergang durch die Beweisaufnahme nicht völlig klären lässt, so dass die Möglichkeit einer Abwendbarkeit offen bleibt. Der Halter muss z.B. beweisen, dass der Führer des Kfz alle Möglichkeiten zur Verhinderung des Unfalls erschöpft hat, oder dass, soweit Möglichkeiten ungenutzt geblieben sind, diese auch für einen äußerst gewandten Fahrer trotz äußerster Sorgfalt nicht erkennbar waren. Hat der Führer den Unfall durch fahrtechnische Maßnahmen verursacht, so obliegt es dem Halter, zu beweisen, dass sie notwendig waren. Sind Pflichtwidrigkeiten erwiesen, die für den Unfall ursächlich sein können, z.B. Trunkenheit des Fahrers, so hat der Halter zu beweisen, dass keine Ursächlichkeit vorliegt.519

3.312

Es ist zunächst Sache des Halters, darzulegen und unter Beweis zu stellen, dass der Unfall auf einem bestimmten unabwendbaren Ereignis beruht. Der Kläger kann sodann bestreiten, dass dieses Ereignis unabwendbar war. Er kann aber auch behaupten, dass ein anderes, von ihm zu benennendes und nicht unabwendbares Ereignis Ursache des Unfalls war. Der Halter ist sodann gezwungen, diesen Vortrag zu widerlegen. Dem Halter ungünstige Möglichkeiten des Geschehensablaufs, deren Vorliegen der Verletzte nicht behauptet hat, bleiben nach dem Beibringungsgrundsatz der ZPO aber außer Betracht. Der Halter ist darüber hinaus auch nicht gezwungen zu beweisen, dass alle vom Verletzten als möglich bezeichneten Geschehensabläufe nicht in Betracht kommen; Geschehensabläufe, die der Verletzte nur als möglich bezeichnet und für deren Vorliegen er keine Anhaltspunkte angeben kann, darf das Gericht außer Be-

3.313

516 517 518 519

BGH v. 26.1.1960 – VI ZR 203/58, VersR 1960, 403. LG Regensburg v. 8.4.1986 – 4 O 61/86, VRS 71, 169. Vgl. LG Kiel DAR 1952, 119. BGH v. 16.2.1982 – VI ZR 292/80, VersR 1982, 442.

Greger | 119

§ 3 Rz. 3.313 | Haftung des Kfz-Halters

tracht lassen. Diese Grundsätze gelten auch, wenn der Verletzte behauptet, Vorrichtungen des Kfz hätten versagt (s. Rz. 3.291 ff.).

3.314

Von einem Anscheinsbeweis sollte im Zusammenhang mit dem Entlastungsbeweis nicht gesprochen werden.520 Der Anwendungsbereich des sog Anscheinsbeweises ist auf die Feststellung von Kausalität und Verschulden zu beschränken (s. Rz. 41.58 ff.). Ob ein Unfall wirklich unabwendbar war, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Sind diese festgestellt, bedarf es des Anscheinsbeweises nicht, sind sie es nicht, so kann auch die Heranziehung typischer Geschehensabläufe nicht weiterhelfen. Es kann auch nicht etwa daraus, dass für ein Verschulden des einen Unfallbeteiligten ein Anscheinsbeweis spricht, auf die Unabwendbarkeit des Unfalls für den anderen geschlossen werden.521

4. Rechtsprechungsüberblick zur Unabwendbarkeit in bestimmten Verkehrssituationen 3.315

3.316

3.317

3.318

Ergänzend zu der nachstehenden, alphabetisch geordneten Rechtsprechungsübersicht können die Nachweise in § 14 herangezogen werden, da bei schuldhafter Verletzung von Verkehrspflichten Unabwendbarkeit selbstverständlich ausscheidet. Umgekehrt bedeutet die Anführung in nachstehender Übersicht nicht, dass in diesen Fällen nicht auch Verschulden bejaht werden kann. Abbiegen S. Linksabbiegen (Rz. 3.357), Grundstückseinfahrt (Rz. 3.341). Abstand Zum Abstand vom vorausfahrenden Fahrzeug s. Auffahrunfall (Rz. 3.323); zum Seitenabstand s. Rz. 3.369 f. Alkohol Dass das Fahren unter Alkoholeinfluss mit den Anforderungen an einen gewissenhaften Kraftfahrer unvereinbar ist, liegt auf der Hand. Problematisch ist in diesen Fällen nur die Kausalitätsfrage. War die Fahruntüchtigkeit (mit) unfallursächlich, so scheidet unabhängig von der Höhe der Blutalkoholkonzentration die Annahme von Unabwendbarkeit aus.522 Fehlt es jedoch an der Kausalität, weil der Unfall auch für den nüchternen Fahrer unvermeidbar gewesen wäre, so begründet selbst die (ab 1,1‰ als bewiesen anzusehende) absolute Fahruntauglichkeit (s. Rz. 41.77) keine Haftung nach § 17 StVG. Eine solche lässt sich nicht etwa daraus herleiten, dass der Fahrer in seinem Zustand überhaupt nicht hätte fahren dürfen, denn es fehlt dann an dem erforderlichen Zurechnungszusammenhang (s. Rz. 3.279 f.). Da der Halter die Unabwendbarkeit beweisen muss, gehen Zweifel hinsichtlich der Feststellung, dass ein nüchterner Fahrer den Unfall hätte abwenden können, zu seinen Lasten.523 Wegen der Schwierigkeit dieses Beweises ist die Trunkenheitsfahrt mit einem gesteigerten Haftungsrisiko verbunden, was wegen der besonderen Gefährlichkeit derartiger Fahrten aber auch gerechtfertigt erscheint.

520 521 522 523

So aber z.B. OLG Zweibrücken v. 24.4.1987 – 1 U 81/85, VersR 1988, 1191. OLG Naumburg v. 21.7.1994 – 4 U 64/94, NZV 1995, 73. OLG Braunschweig v. 11.8.1966 – 4 W 7/66, VersR 1967, 813: 0,44‰. OLG Bamberg v. 18.3.1986 – 5 U 235/85, VersR 1987, 909.

120 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.323 § 3

Ampel S. Lichtzeichen (Rz. 3.352 ff.), Anhalten (Rz. 3.322).

3.319

Anfahren Unabwendbar ist es für den Kraftfahrer, wenn er beim Anfahren einen soeben ausgestiegenen Mitfahrer überrollt, der von ihm unbemerkt vor dem Fahrzeug zu Fall gekommen und für ihn nicht wahrnehmbar ist.524

3.320

Anhänger Das Ausbrechen eines Anhängers infolge zu scharfen Bremsens ist nicht unabwendbar.525 Abgestellte Anhänger sind gegen Wegrollen zu sichern; die Verwendung der gem. § 41 Abs. 14 StVZO mitzuführenden Unterlegkeile ist aber nur bei Gefälle geboten.526

3.321

Anhalten Plötzliches oder unnötiges Anhalten vermeidet der mit äußerster Sorgfalt fahrende Führer eines Kfz nach Möglichkeit, außer wenn er sich vergewissert hat, dass kein anderes Fahrzeug nachfolgt. Dies gilt ganz besonders bei schwierigen Verkehrsbedingungen, z.B. Schneetreiben und Schneematsch.527 Nicht vorwerfbar ist es, wenn er vor einer Kreuzung wegen eines nahenden Sonderrechtsfahrzeugs anhält, obwohl nach der von diesem angezeigten Abbiegeabsicht ein Zusammenstoß nicht zu befürchten ist.528 Schaltet eine Ampel so kurz vor ihm von Grün auf Gelb um, dass er nur durch eine scharfe, den Hintermann gefährdende Bremsung vor der Ampel zum Stehen kommen kann, während er die Ampel noch bei Gelb passieren könnte, so sieht er vom Anhalten ab.529 Im Übrigen wird er vor dem Anhalten, außer wenn es durch eine Verkehrsstauung hervorgerufen wird, stets rechts heranfahren530 und durch Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers auf sein Vorhaben aufmerksam machen. Anhalten auf der Autobahn wegen einer Verkehrsstauung ist unvermeidbar; es kann jedoch eine Warnung der Nachfolgenden durch Warnblinken oder wiederholtes Aufleuchtenlassen der Bremslichter geboten sein.531 Zu den Sicherungsmaßnahmen im Falle einer Panne s. Rz. 3.355 f. Auffahrunfall Zum Auffahren auf Hindernisse s. Rz. 3.343. Im fließenden Verkehr hält der „denkbar beste Fahrer“ von seinem Vordermann so großen Abstand, dass er nicht auffährt, wenn der Vordermann plötzlich scharf bremsen muss. Er braucht sich jedoch grundsätzlich nicht darauf einzustellen, dass der Vordermann auf ein Hindernis auffährt, das für ihn (den Hinterherfahrenden) nicht sichtbar war, und dadurch plötzlich zum Halten kommt.532 Etwas anderes kann allerdings gelten, wenn aufgrund der Fahrweise des Vordermannes mit einem solchen Zwischenfall gerechnet werden muss, z.B. weil er zu geringen Abstand zu seinem Vordermann hält oder weil er für die Sichtverhältnisse zu schnell fährt. Grundsätzlich muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug die Strecke deutlich übersteigen, die der Nachfol524 525 526 527 528 529 530 531 532

OLG Saarbrücken v. 22.2.1991 – 3 U 48/90, VersR 1992, 843. BGH v. 18.6.1973 – III ZR 207/71, VersR 1973, 941. BGH v. 11.2.2020 – VI ZR 286/19, NJW 2020, 2116. BGH v. 7.1.1986 – VI ZR 198/84, VersR 1986, 489. AG Kulmbach v. 2.11.1982 – C 335/82, VersR 1983, 741. A.A. OLG Karlsruhe v. 9.1.1987 – 10 U 208/86, VRS 72, 168. OLG Hamburg VkBl 1950, 327. BGH v. 7.1.1986 – VI ZR 203/84, VersR 1986, 490. OLG Hamm v. 28.4.1986 – 3 Ss OWi 493/86, VRS 71, 212.

Greger | 121

3.322

3.323

§ 3 Rz. 3.323 | Haftung des Kfz-Halters

gende in der Reaktions- und Bremsansprechzeit zurücklegt.533 Ereignet sich der Unfall zwar nicht durch Auffahren auf den Vordermann, aber dadurch, dass der Fahrer – um ein Auffahren zu vermeiden – ohne Rücksicht auf den übrigen Verkehr am haltenden Fahrzeug vorbeizufahren versucht, so liegt kein unabwendbares Ereignis vor.534 Wird der Auffahrende seinerseits durch ein hinter ihm fahrendes Kfz aufgeschoben, ist dies für den Fahrer des aufgeschobenen Fahrzeugs nur dann unabwendbar, wenn er den Beweis dafür führen kann, dass sein Fahrzeug ohne den Anstoß nicht auf das vordere Fahrzeug aufgefahren, sondern noch rechtzeitig zum Stehen gekommen wäre.535 Bremst der Vordermann, so bremst der „denkbar beste Fahrer“ so vorsichtig, wie es ohne Auffahren auf den Vordermann möglich ist. Fährt trotzdem sein Hintermann auf, so liegt ein unabwendbares Ereignis vor, das auch den Schaden umfasst, der dadurch entsteht, dass das eigene Kfz auf den Vordermann geschleudert wird; dass der Fahrer mit einem nur sehr geringen Abstand vom Vordermann gehalten hat, als sein Hintermann auffuhr, stellt keine Pflichtwidrigkeit dar, da es beim Halten keinen Sicherheitsabstand gibt.536 Unabwendbar ist das Auffahren auch, wenn das Fahrzeug beim Abbremsen auf einer nicht rechtzeitig erkennbaren Ölspur ins Rutschen gerät.537 Im Großstadtverkehr darf ein mit 30 km/h fahrender Omnibus auf 7 m an seinen Vordermann heranfahren; hält der Vordermann überraschend, weil sich ein anderer Wagen vor ihm in eine Lücke drängt, so ist das Auffahren für den Omnibusfahrer ein unabwendbares Ereignis.538

3.324

Unabwendbar kann das Auffahren insbesondere im Falle eines Spurwechsels des Vordermannes mit anschließendem abrupten Anhalten sein, weil sich hierdurch der Bremsweg ohne Zutun des Auffahrenden verkürzt. So ist z.B. für den Fahrer einer Straßenbahn das Auffahren auf einen Kraftwagen unabwendbar, der sich unmittelbar vor der Straßenbahn nach links auf das Gleis einordnet und dort anhält.539 Für den Fahrer eines überholenden Kfz ist ein Unfall unabwendbar, der sich dadurch ereignet, dass das überholte Fahrzeug ohne Ankündigung nach links einschwenkt;540 dies gilt freilich nur, wenn kein besonderer Anlass zum Einschwenken erkennbar war.541 Für den Vorausfahrenden ist ein Auffahrunfall dann nicht unabwendbar, wenn wegen besonderer Umstände (Schwer-Lkw mit nur 25 km/h bei Dämmerung an Steigungsstrecke der BAB) mit Auffahren gerechnet werden muss und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dieses durch Warnblinken oder Ausweichen auf Seitenstreifen vermieden worden wäre.542

3.325

Aussteigen Der Fahrer muss sich vor dem Türöffnen vergewissern, dass sich weder von hinten noch von vorne ein Fahrzeug mit geringem Seitenabstand nähert.543 Mitfahrer muss er auf wahrgenommene Gefahrenlagen aufmerksam machen, z.B. beim Anhalten unmittelbar neben einem Rad533 BGH v. 3.11.1967 – VI ZR 90/66, VersR 1968, 51 u. 894 mit Anm. Förste. 534 BGH v. 12.11.1959 – III ZR 155/58, NJW 1960, 243. 535 OLG Celle v. 28.3.2012 – 14 U 156/11, DAR 2012, 457, wo allerdings Zurechenbarkeit verneint wurde, wenn der Anstoß so heftig war, dass der Angestoßene selbst bei Einhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands aufgeschoben worden wäre. 536 OLG Köln v. 26.3.1958 – 2 U 178/57, VRS 15, 325. 537 OLG Hamm v. 9.11.1984 – 9 U 39/84, VersR 1985, 1095 LS. 538 BGH v. 3.11.1967 – VI ZR 90/66, VersR 1968, 51 (zw.). 539 BGH v. 3.11.1961 – VI ZR 35/61, DAR 1962, 53. 540 BGH v. 20.3.1962 – VI ZR 68/61, VersR 1962, 566. 541 BGH v. 3.11.1964 – VI ZR 190/63, VersR 1965, 82. 542 OLG Frankfurt v. 19.3.1998 – 15 U 184/97, VersR 1999, 771. 543 BGH v. 24.2.1981 – VI ZR 297/79, VersR 1981, 533.

122 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.329 § 3

weg544 oder in beengten Verhältnissen.545 Wenn es sich beim Fahrgast um ein Kind oder einen Hilfsbedürftigen handelt, muss der Fahrer besondere Sicherungsmaßnahmen ergreifen, z.B. die Tür von außen öffnen.546 Ausweichen Wer auf ein Bankett, einen Parkstreifen oder eine Busparkbucht ausweicht, muss berücksichtigen, dass andere Verkehrsteilnehmer dort nicht mit fließendem Verkehr rechnen.547 Bei reflexartigem Ausweichen wegen eines plötzlich die Fahrbahn betretenden Kindes ist die Berührung mit einem daneben fahrenden Fahrzeug unabwendbar.548 S. auch Rz. 3.335. Bewusstseinsstörung S. hierzu Rz. 3.273.

3.327

Engstelle Nähern sich zwei Kfz einer Engstelle von entgegengesetzter Richtung, so kann derjenige Fahrer, der die Engstelle deutlich eher erreicht, sich darauf verlassen, dass der andere vor der Engstelle anhält. Dagegen fährt bei etwa gleichzeitigem Erreichen der Engstelle der besonders sorgfältige Kraftfahrer auch dann, wenn in seiner Fahrtrichtung das Zeichen 308 der StVO („Vorrang vor dem Gegenverkehr“) angebracht ist, erst in die Engstelle ein, wenn er sicher sein kann, dass der andere seinen Vorrang beachtet. Kommt dem Fahrer eines Lkw auf schmaler, mit Schneematsch bedeckter Straße ein anderer Lkw entgegen, so hat er sofort zu bremsen.549 Nicht optimal verhält sich der Fahrer eines Lastzugs, der auf einer engen und unübersichtlichen Straße an einem haltenden Lkw so langsam vorbeifährt, dass ein entgegenkommender Pkw, dessen Führer die Situation erst auf 65 m erkennen kann, frontal auffährt; der Lkw-Fahrer hätte einen Warnposten aufstellen müssen.550 Auch der Fahrer eines überbreiten Ackerschleppers darf nicht ohne deutliche Warnung des Gegenverkehrs auf eine unübersichtliche, enge Kurve zufahren.551 Fahrtrichtungsanzeiger Bei der Wahl des Zeitpunkts zum Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers bemüht sich der äußerst sorgfältige Fahrer, naheliegende Missverständnisse anderer Verkehrsteilnehmer (z.B. bei kurz aufeinanderfolgenden Einmündungen) zu vermeiden. Auch bei Vorhandensein einer automatischen Rückstelleinrichtung vergewissert er sich, dass der Anzeiger unmittelbar nach Beendigung des Abbiegens zurückgenommen wird. Ein Kraftfahrer, der an einer Kreuzung, an der die von ihm benutzte Vorfahrtstraße nach links abknickt, geradeaus fahren will und deshalb seinen rechten Blinker einschaltet, kann sich nicht auf ein unabwendbares Ereignis berufen, wenn durch das Blinken ein anderer Kraftfahrer irritiert wird und es dadurch zu einem Unfall kommt.552 Zum Vertrauen auf den gesetzten Fahrtrichtungsanzeiger s. Rz. 14.163.

544 545 546 547 548 549 550 551 552

3.326

OLG Hamm v. 20.8.1999 – 9 U 9/99, NJW-RR 2000, 1473. LG Saarbrücken v. 20.11.2015 – 13 S 117/15, NJW-RR 2016, 356. Lemcke r+s 2011, 176. OLG Düsseldorf v. 4.6.1984 – 1 U 151/83, VersR 1984, 1153. KG v. 27.11.1986 – 12 U 990/86, VersR 1987, 590; s. auch Kinder (Rz. 3.345 ff.). OLG Stuttgart v. 22.6.1965 – 13 U 5/64, VersR 1965, 1110 LS. BGH v. 14.5.1968 – VI ZR 31/67, VersR 1968, 847. OLG Köln v. 13.4.1988 – 2 U 141/87, NZV 1989, 113. OLG Frankfurt v. 18.2.1977 – 2 U 149/76, MDR 1977, 671.

Greger | 123

3.328

3.329

§ 3 Rz. 3.330 | Haftung des Kfz-Halters

3.330

Fußgänger Da der Halter sich diesen gegenüber nicht auf Unabwendbarkeit des Unfalls berufen kann, sind die nachstehenden Grundsätze nur von Bedeutung, wenn in den Unfall auch ein weiteres Kfz verwickelt wurde (s. Rz. 3.267). Allgemein zu Verkehrspflichten gegenüber Fußgängern s. Rz. 14.221 ff.

3.331

Bei einem unvorhersehbaren verkehrswidrigen Verhalten von Fußgängern kann ein unabwendbares Ereignis vorliegen, z.B. wenn ein Fußgänger im Laufschritt nachts eine Straße überquert, obwohl von beiden Seiten Kfz herannahen;553 wenn er trotz roter Fußgängerampel auf die Fahrbahn tritt;554 wenn nachts Fußgänger nebeneinander auf der Fahrbahn gehen und durch eine Bewegung nach rechts zu erkennen geben, das Kfz solle sie links überholen, im letzten Augenblick aber wieder nach links springen;555 wenn ein Fußgänger nachts vor einem herannahenden Motorrad die Straße überquert, plötzlich in der Mitte der Straße stehen bleibt und zurück in die Bahn des Motorrads läuft.556 Außerhalb von geschlossenen Ortschaften braucht auch der vorsichtigste Fahrer nicht damit zu rechnen, dass eine alte Frau langsam die Straße überquert557 oder ein rechts gehender Fußgänger trotz großen Sicherheitsabstands in seine Fahrspur gerät.558 Ebenso liegt ein unabwendbares Ereignis vor, wenn eine Person, die neben einem Pkw auf dem Seitenstreifen der BAB steht, sich plötzlich vor ein herannahendes Fahrzeug wirft559 oder wenn ein Arbeiter an der BAB-Baustelle während der zwangsläufig sehr dichten Vorbeifahrt eines Lkw stürzt.560

3.332

In Wohngebieten muss verstärkt damit gerechnet werden, dass Fußgänger die Fahrbahn überqueren. Der Fahrer muss daher die gesamte Fahrbahn, auch den für die Gegenrichtung vorgesehenen Teil, beobachten,561 ebenso den Bereich unmittelbar neben der Fahrbahn. Dass ein auf dem Bankett gehender Fußgänger auf die Fahrbahn treten werde, ist nicht generell, aber z.B. in der Nähe eines Weinfestes zu gewärtigen.562 Auch in der Silvesternacht ist wegen des gehäuften Auftretens betrunkener oder übermüdeter Fußgänger besondere Vorsicht geboten,563 ebenso an Stellen, an denen sich erfahrungsgemäß Fußgänger auf der Fahrbahn befinden.564

3.333

Der „denkbar beste Fahrer“ gibt bei der Annäherung an einen die Fahrbahn überquerenden Fußgänger nie ein unnötiges Warnsignal, das diesen verwirren kann.565 Im Übrigen gibt er aber ein Warnzeichen, wenn Anhaltspunkte dafür gegeben sind, ein Fußgänger wolle mit der Überquerung der Fahrbahn vor dem Kfz beginnen. Das gilt vor allem, wenn er nachts be-

BGH v. 22.12.1959 – VI ZR 215/58, VersR 1960, 183. KG VM 1987, Nr. 21. OLG Düsseldorf DAR 1954, 108. AG Essen MDR 1959, 660. OLG Hamm v. 11.1.1967 – 13 U 174/66, VersR 1967, 1056. OLG Hamm v. 16.3.1999 – 27 U 71/98, NZV 1999, 374. OLG Hamm v. 17.6.1992 – 13 U 236/91, VersR 1993, 1168 LS. OLG Celle v. 10.5.1995 – 3 U 181/94, NZV 1996, 31. BGH v. 24.2.1987 – VI ZR 19/86, NJW 1987, 2377. BGH v. 10.1.1989 – VI ZR 99/88, NZV 1989, 265 mit Anm. Kääb. BGH v. 21.5.1968 – VI ZR 128/67, VersR 1968, 897. Z.B. Autobahntankstellen, OLG Frankfurt v. 25.11.1981 – 19 U 186/80, 19 U 33/81, VersR 1982, 1204. 565 BGH v. 10.1.1967 – VI ZR 85/65, VersR 1962, 360; zur Lichthupe BGH v. 15.2.1977 – VI ZR 71/6, VersR 1977, 434. 553 554 555 556 557 558 559 560 561 562 563 564

124 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.337 § 3

merkt, dass mehrere Fußgänger von links her die Fahrbahn zu überqueren beginnen. Er darf nicht davon ausgehen, sie würden in der Straßenmitte stehen bleiben.566 Überquert ein von rechts kommender Fußgänger vor dem Kfz die Fahrbahn, versucht der Idealfahrer, hinter dem Fußgänger vorbeizukommen, statt nach links auszuweichen,567 anders, wenn er von links kommt568 oder wenn Anzeichen bestehen, dass er stehenbleiben oder zurückgehen wird.569 Gesteigerte Sorgfaltsanforderungen bestehen gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen (vgl. § 3 Abs. 2a StVO und Rz. 3.289, 3.345 ff.). Gegenstände auf der Fahrbahn S. Hindernisse auf der Fahrbahn (Rz. 3.343).

3.334

Gegenverkehr Ohne erkennbare Anzeichen braucht auch der denkbar beste Fahrer nicht damit zu rechnen, dass ein entgegenkommendes Fahrzeug auf seine Fahrbahnseite gerät, z.B. abgedrängt wird,570 grob verkehrswidrig überholt571 oder ins Schleudern gerät.572 Muss der Fahrer aber aufgrund einer Anomalie im Bewegungsablauf damit rechnen, dass das entgegenkommende Fahrzeug von seiner Fahrlinie abkommt, hat er sich hierauf nach Möglichkeit durch Bremsen oder Ausweichen einzurichten.573 Unabwendbar ist es, wenn der Fahrer infolge des plötzlich auf seine Fahrbahnseite geratenen Fahrzeugs bremst anstatt ungebremst auf die Gegenfahrbahn auszuweichen, wo mit Schleudergefahr zu rechnen ist,574 wenn es gerade durch einen an sich sachgerechten Ausweichvorgang zum Unfall kommt575 oder wenn es ihm nicht gelingt, einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden, weil das auf seiner Fahrbahnhälfte entgegenkommende Kfz ihm nur noch einen Abstand von wenigen Zentimetern zum Fahrbahnrand belässt.576 Auf voll ausgebauter Autobahnstrecke braucht auch der gewissenhafteste Fahrer nicht mit Gegenverkehr zu rechnen.577 Zum Verhalten an Engstellen s. Rz. 3.328. Geschwindigkeit Die Einhaltung einer den jeweiligen Verkehrs-, Wetter- und Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit ist fundamentale Pflicht jedes Fahrzeugführers (§ 3 Abs. 1 StVO). Er kann sich deshalb nicht auf Unabwendbarkeit berufen, wenn er infolge nicht angepasster Geschwindigkeit auf verkehrswidriges Verhalten eines anderen oder Hindernisse (s. Rz. 3.343)

566 BGH v. 21.5.1968 – VI ZR 19/67, VersR 1968, 848; OLG Karlsruhe v. 24.4.1987 – 10 U 219/86, VersR 1988, 59. 567 BGH v. 24.11.1959 – VI ZR 213/58, VersR 1960, 495. 568 BGH v. 19.5.1970 – VI ZR 40/69, VersR 1970, 1808. 569 BGH v. 13.7.1965 – VI ZR 68/64, VersR 1965, 1054. 570 OLG Koblenz v. 18.7.1983 – 12 U 1666/82, VersR 1984, 896 LS. 571 BGH v. 14.5.1974 – VI ZR 106/73, VersR 1974, 997; zum Erfordernis des Fahrens auf Sicht vgl. BGH v. 9.11.1982 – VI ZR 151/81, VersR 1983, 153 und OLG Karlsruhe v. 21.11.1985 – 4 U 89/ 84, VersR 1987, 692. 572 OLG Nürnberg v. 7.2.1966 – 5 U 122/65, VersR 1968, 78; OLG Celle v. 27.7.1978 – 10 U 120/ 76, VersR 1979, 264. 573 OLG Frankfurt v. 8.1.1998 – 15 U 3/97, VersR 1999, 770. 574 OLG Frankfurt v. 20.6.1985 – 1 U 160/84, VersR 1987, 469. 575 BGH v. 20.9.1966 – VI ZR 16/65, VersR 1966, 1076. 576 OLG Zweibrücken v. 24.4.1987 – 1 U 81/85, NZV 1988, 22. 577 LG Darmstadt v. 24.11.1965 – 8 O 54/65, VersR 1966, 1144.

Greger | 125

3.335

3.336

3.337

§ 3 Rz. 3.337 | Haftung des Kfz-Halters

nicht sicher reagieren konnte.578 Dasselbe gilt bei Überschreiten einer angeordneten Geschwindigkeitsbegrenzung. Verliert der Fahrer infolge eines (nicht vorwerfbaren) Reflexes auf eine plötzliche Gefahrenlage die Kontrolle über sein Fahrzeug, kann der Entlastungsbeweis nicht geführt werden, wenn nicht feststellbar ist, wie das Geschehen bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit abgelaufen wäre.579

3.338

3.339

Der denkbar beste Kraftfahrer beachtet auch die lediglich empfohlene Richtgeschwindigkeit auf den Autobahnen von 130 km/h (VO v 21.11.1978, BGBl. I 1978, 1824).580 Unabwendbar ist ein Autobahnunfall deshalb nur dann, wenn der Halter beweist, dass keine Überschreitung dieser Geschwindigkeit zu ihm beigetragen hat, etwa weil der Unfall sich auch bei deren Einhaltung ereignet hätte.581 Nicht entscheidend ist dagegen, ob der Unfallgegner auf die Einhaltung der Richtgeschwindigkeit durch den Auffahrenden vertraut hat.582 Glatteis Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt begründet Glatteis jedenfalls an Stellen, die erfahrungsgemäß zur Eisbildung neigen oder durch Warnzeichen kenntlich gemacht sind, kein unabwendbares Ereignis,583 wie z.B. auf Brücken, Brückenrampen, in Unterführungen, Waldstücken und überhöhten Kurven, bei denen an der Außenseite Schnee angehäuft ist (gefrierendes Tauwasser). Bei Erkennen von Glatteis ist die Geschwindigkeit so zu reduzieren, dass das Fahrzeug beherrschbar bleibt.584 Mit dem Sturz eines entgegenkommenden Kraftradfahrers muss der denkbar beste Fahrer auch bei glatter Straße nicht rechnen.585

3.340

Grundstücksausfahrt Bei fehlender Sicht auf die Straße, z.B. bei Rückwärtsausfahren, lässt sich der Idealfahrer einweisen.586 Beansprucht ein Lkw beim Einbiegen in die Fahrbahn deren gesamte Breite, so müssen bei Unübersichtlichkeit, insbesondere bei Dunkelheit, Warnposten aufgestellt wer-

578 OLG Frankfurt v. 20.12.1978 – 21 U 115/78, VersR 1981, 238. 579 OLG Schleswig v. 4.1.2018 – 7 U 146/15, SchlHA 2018, 98. 580 BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337 = VersR 1992, 714 mit Anm. Reiff = DAR 1992, 257 mit Anm. Ludovisy 278 und Gebhardt 295 = LM § 7 StVG Nr. 68 mit Anm. Berz = EWiR § 7 StVG 1/92, 597 mit Anm. v Bar/Grothe; OLG Koblenz v. 14.10.2013 – 12 U 313/13, NZV 2014, 84; OLG Schleswig v. 23.9.1992 – 9 U 18/91, NZV 1993, 152; OLG Nürnberg v. 9.9.2010 – 13 U 712/10, NJW 2011, 1155; Reiff VersR 1992, 291 f.; Greger NZV 1990, 270; einschr. Hentschel/König/Dauer § 3 StVO Rz. 55c; a.A. OLG Celle v. 28.6.1990 – 14 U 85/89, ZfS 1991, 150. Im Erg. (aber ohne Bezugnahme auf die RichtgeschwindigkeitsVO) ebenso OLG Köln v. 31.5.1991 – 20 U 293/90, NZV 1992, 34 und OLG Hamm v. 8.2.1991 – 9 U 277/89, NZV 1992, 33; anders OLG Hamm v. 22.1.1990 – 3 U 267/88, NZV 1990, 269. Weitere Nachweise, auch zur Haftungsabwägung, s. Rz. 25.172. 581 BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337 = VersR 1992, 714 (s. vorstehend); OLG Köln v. 22.7.1992 – 11 U 104/92, VersR 1992, 1366 mit Anm. Reiff; OLG Hamm v. 8.9.1999 – 13 U 35/99, NZV 2000, 42. 582 Unzutr. OLG Hamm v. 21.12.2017 – 7 U 39/17, NJW-RR 2018, 474. 583 BGH v. 21.6.1979 – III ZR 58/78, VersR 1979, 1055. 584 OLG Hamm v. 5.3.1997 – 13 U 160/96, OLGR Hamm 1997, 118 (15 km/h). 585 BGH v. 24.2.1959 – VI ZR 41/58, VersR 1959, 455. 586 KG VM 1987, Nr. 53.

126 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.343 § 3

den.587 Dies generell bei Sichtbehinderung an der Ausfahrt zu fordern,588 geht zu weit; auch hier muss ein vorsichtiges Hineintasten zugelassen werden.589 Grundstückseinfahrt Wenn der Kraftfahrer wegen zu geringer Breite der Fahrbahn nicht in einem Bogen in das Grundstück einfahren kann, sondern unter völligem Blockieren der Fahrbahn nochmals zurückstoßen muss, muss er, wenn er nur so eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausschließen kann, eine Hilfsperson zuziehen, die ihn einweist und die Straße absichert; auf einen völlig unaufmerksamen Verkehrsteilnehmer, der das Verkehrsgeschehen überhaupt nicht verfolgt und trotz des rechtzeitig und deutlich sichtbaren Hindernisses nicht anhält, braucht sich der Abbieger jedoch nicht einzustellen.590 Haltestelle Der Fahrer eines Omnibusses, der an einer Haltestelle gehalten hat, darf nur mit größter Rücksicht auf den fließenden Verkehr wieder anfahren;591 die Pflicht der anderen Verkehrsteilnehmer, ihm das Abfahren von der Haltestelle zu ermöglichen (§ 20 Abs. 5 StVO), ändert hieran nichts. Beim Vorbeifahren an einem haltenden Linien- oder Schulbus sind die besonderen Anforderungen des § 20 Abs. 4 StVO zu beachten.592 Zu Unfällen mit Fahrgästen (denen gegenüber der Unabwendbarkeitsbeweis nicht möglich ist) s. Rz. 14.228. Hindernisse auf der Fahrbahn Der „denkbar beste Kraftfahrer“ fährt – auch in der Nacht – immer „auf Sicht“, d.h. nur so schnell und so aufmerksam, dass er vor einem etwaigen Hindernis, z.B. verlorener Ladung oder einem unbeleuchteten Pannenfahrzeug, anhalten oder diesem ausweichen kann.593 Dies gilt auch auf der Autobahn; § 18 Abs. 6 StVO entbindet hiervon nicht.594 Die Fahrgeschwindigkeit muss so eingerichtet sein, dass auch der durch Erschrecken vor einem auftauchenden Hindernis verlängerte Anhalteweg noch innerhalb der Sichtweite liegt.595 Auf ein durch den Vordermann verdecktes und erst durch dessen plötzliches Ausweichen sichtbar werdendes Hindernis braucht man sich nur dann einzustellen, wenn aufgrund der Fahrweise des Vordermanns (z.B. unangepasste Geschwindigkeit) eine solche Reaktion nicht außerhalb des Erwartbaren liegt. Im Schnellverkehr, insbesondere auf Autobahnen, kann es unvermeidbar sein, über einen auf der Fahrbahn liegenden Gegenstand hinwegzufahren, weil ein Bremsoder Ausweichversuch noch größere Gefahren hervorrufen kann; wird durch das Hochschleudern dieses Gegenstands ein anderer Verkehrsteilnehmer geschädigt, handelt es sich

BGH v. 24.9.1968 – VI ZR 243/67, VersR 1968, 1162. So LG Düsseldorf v. 22.8.1979 – 2 O 478/78, VersR 1981, 290. Vgl. BayObLG v. 7.8.1981 – RReg. 1 St 164/81, VRS 61, 386. BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 146/78, VersR 1979, 532. BGH v. 13.7.1956 – VI ZR 106/55, VRS 11, 246. Vgl. BGH v. 9.4.1968 – VI ZR 27/67, VersR 1968, 702 (vor Inkrafttreten des § 20 Abs. 4 StVO). BGH v. 8.12.1987 – VI ZR 82/87, NZV 1988, 57 (unbeleuchteter Lkw); BGH v. 23.6.1987 – VI ZR 188/86, VersR 1987, 1241 (Panzer mit Tarnanstrich); OLG Frankfurt v. 31.5.1990 – 16 U 73/89, NZV 1991, 270 (abgelöster Reifen); BGH v. 5.4.1960 – VI ZR 49/59, VersR 1960, 636 (Splitthaufen); zu einem Extremfall (nachts in den Luftraum über der Straße ragende Stange) BGH v. 27.6.1972 – VI ZR 184/71, VersR 1972, 1067 (Verschulden verneinend). 594 BGH v. 15.5.1984 – VI ZR 161/82, NJW 1984, 2412; OLG Celle v. 22.1.2020 – 14 U 150/19, NJW-RR 2020, 533. 595 BGH v. 17.11.1964 – VI ZR 188/63, VersR 1965, 88.

587 588 589 590 591 592 593

Greger | 127

3.341

3.342

3.343

§ 3 Rz. 3.343 | Haftung des Kfz-Halters

um ein unabwendbares Ereignis.596 Bei eingeschaltetem Warnblinklicht muss man auch mit Gefahren rechnen, die nicht von dem blinkenden Fahrzeug ausgehen, und die Geschwindigkeit so herabsetzen, dass man vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis (z.B. Unfallfahrzeug) anhalten kann.597

3.344

3.345

Hochschleudern von Gegenständen S. Räumfahrzeug (Rz. 3.365), Steine (Rz. 3.373 f.). Kinder Da der Halter sich diesen gegenüber nicht auf Unabwendbarkeit des Unfalls berufen kann, sind die nachstehenden Grundsätze nur von Bedeutung, wenn in den Unfall auch ein weiteres Kfz verwickelt wurde (s. Rz. 3.267). Allgemein zur Haftung für Kinderunfälle s. Rz. 14.243 ff.

3.346

Befinden sich Kinder auf dem Gehsteig oder am Straßenrand, so rechnet der sorgfältige Kraftfahrer damit, dass sie unbedacht in die Fahrbahn laufen, und stellt seine Fahrweise darauf ein. Das gilt unabhängig von einer starren Altersgrenze stets dann, wenn nach den erkennbaren Umständen (Körpergröße, Verhalten) mit einer unbedachten Handlungsweise gerechnet werden muss.598 Solange bei einem ca. 10-Jährigen keine Anzeichen für ein Betreten der Fahrbahn bestehen, genügt Bremsbereitschaft.599 Kann der Fahrer nicht sicher sein, dass ein für ihn sichtbares Kind sein Fahrzeug wahrgenommen hat, gibt er ein Warnzeichen oder fährt mit einer Geschwindigkeit oder einer Distanz an dem Kind vorbei, die eine Gefährdung ausschließt.600 Setzt ein Kind vor dem herannahenden Kfz zum Überqueren der Fahrbahn an, so kann es je nach den Umständen geboten sein, ein Warnzeichen zu unterlassen und stattdessen abzubremsen.601 Dass ein auf der Fahrbahn befindliches Kleinkind stehen bleiben und ihn durchfahren lassen würde, darf der ideale Kraftfahrer nicht erwarten,602 auch dann nicht, wenn sich das Kleinkind unter unmittelbarer Aufsicht eines Erwachsenen befindet.603 Fährt ein Kind in einer von rechts einmündenden steilen Seitenstraße schnell mit dem Roller herab, so muss der Kraftfahrer davon ausgehen, es werde nicht rechtzeitig anhalten.604

3.347

Radfahrenden Kindern gegenüber ist der Vertrauensgrundsatz ebenfalls eingeschränkt. So muss z.B. mit einer Gefährdung gerechnet werden, wenn Kinder auf der linken Fahrbahnseite605 oder auf schmalem Gehweg mit Rädern entgegenkommen606 oder nebeneinander-

596 LG Hof v. 27.9.2001 – 12 O 383/01, NZV 2002, 133 (Kantholz auf der BAB); AG Frankfurt/M v. 24.10.1996 – 30 C 1036/96, NJWE-VHR 1997, 132 (Holzbrett). 597 OLG Köln v. 11.12.1984 – Ss 671/84, Ss 672/84, VRS 68, 354; OLG Celle v. 22.1.2020 – 14 U 150/19, NJW-RR 2020, 533; einschr. bei fließendem Autobahnverkehr und blinkendem Fahrzeug auf der Standspur BayObLG v. 26.7.1985 – RReg.2 St 96/85, NJW-RR 1986, 773 und LG Bielefeld v. 24.9.1990 – 22 O 180/90, NZV 1991, 235. 598 OLG Schleswig v. 16.1.1986 – 7 U 82/84, VersR 1987, 825; a.A. OLG München v. 31.5.1983 – 5 U 5289/82, VersR 1984, 395: Vollendung des 14. Lebensjahres. 599 OLG Celle v. 8.7.2004 – 14 U 125/03, NZV 2005, 261. 600 BGH v. 2.2.1968 – VI ZR 167/66, VersR 1968, 475. 601 Vgl. BGH v. 30.1.1962 – VI ZR 122/61, VersR 1962, 360. 602 OLG Frankfurt v. 8.12.1983 – 1 U 164/81, VersR 1985, 71 LS. 603 OLG Karlsruhe v. 3.6.1981 – 13 U 150/80, VersR 1982, 450. 604 BGH v. 5.11.1968 – VI ZR 179/67, VersR 1969, 79. 605 OLG München v. 8.5.1987 – 10 U 5721/86, NZV 1988, 66. 606 BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 22/84, VersR 1985, 1088; OLG Hamm v. 27.8.1990 – 6 U 54/90, NZV 1991, 152.

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VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.350 § 3

fahren;607 ebenso bei knapp schulpflichtigen Kindern, die mit Kinderfahrrädern auf einer Kreisstraße entgegenkommen, wenn auf der gegenüberliegenden Straßenseite Grundstückseinfahrten zu sehen sind.608 Fährt ein Kind mit dem Fahrrad auf einem nur 80 cm breiten Gehweg, noch dazu mit einem Eis in einer Hand, so muss ein nachfolgender Busfahrer von einem Vorbeifahren absehen, wenn er wegen geringer Breite der Straße keinen vergrößerten Sicherheitsabstand einhalten kann.609 Der Kraftfahrer muss auch den an die Straße angrenzenden Bereich daraufhin beobachten, ob ein Kind auf die Straße laufen oder fahren könnte.610 Das Nichtwahrnehmen wahrnehmbarer Kinder schließt ein unabwendbares Ereignis aus.611

3.348

War ein Kind zu dem Zeitpunkt, zu dem ein rechtzeitiges Anhalten unter Berücksichtigung der Schreckzeit (s. Rz. 3.286) noch möglich war, für den Fahrer nicht sichtbar, so liegt ein unabwendbares Ereignis vor, wenn das Kind plötzlich vor sein Fahrzeug läuft.612 Auch unter der Geltung des § 3 Abs. 2a StVO braucht sich der Kraftfahrer nicht darauf einzustellen, dass jederzeit, z.B. zwischen geparkten Autos, ein Kind auftauchen kann,613 es sei denn, er hätte bei gehöriger Beobachtung schon vor der Sichtbehinderung durch das geparkte Fahrzeug erkennen können, dass das Kind sich auf die Fahrbahn zu bewegt.614 Er braucht auch nicht damit zu rechnen, dass aus einer privaten Grundstücksausfahrt hinter einem Rad fahrenden Kind ein weiteres, für ihn nicht erkennbares herausfahren würde.615

3.349

Wenn jedoch konkrete Anhaltspunkte für das mögliche Auftauchen eines Kindes bestehen, kann der sich hierauf nicht einstellende Kraftfahrer den Unabwendbarkeitsbeweis nicht führen, z.B. wenn eine junge Frau so an einem haltenden Wagen hantiert, als helfe sie einem Kind heraus,616 wenn sich auf einer bekanntermaßen zum Spielen benutzten Straße andere Kinder auf der gegenüberliegenden Seite befinden,617 wenn gerade Kindergarten- oder Schulschluss ist618 oder wenn ein Schulbus soeben anfährt.619 Dasselbe gilt, wenn zwischen den parkenden Fahrzeugen zwar nicht das Kind, aber das Vorderrad eines Kleinkinderfahrrades sichtbar war; der Kraftfahrer darf nicht darauf vertrauen, dass das Rad von einem Erwachsenen geschoben wird.620 Das Warnzeichen „Kinder“ kann je nach den örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten

3.350

607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620

BGH v. 31.3.1967 – VI ZR 148/65, VersR 1967, 659. OLG Oldenburg v. 19.12.1978 – 4 U 28/78, VersR 1980, 340. BGH v. 17.2.1987 – VI ZR 75/86, NJW 1987, 2375. BGH v. 16.2.1965 – VI ZR 270/63, VersR 1965, 501; BGH v. 19.5.1970 – VI ZR 54/69, VersR 1970, 820. BGH v. 9.2.1982 – VI ZR 59/80, VersR 1982, 441; OLG Köln v. 20.3.1991 – 2 U 206/89, NZV 1992, 233. BGH v. 26.2.1985 – VI ZR 124/83, VersR 1985, 639; KG v. 2.2.1981 – 12 U 2830/80, VersR 1981, 885; KG v. 3.3.1988 – 12 U 5392/87, NZV 1988, 104; OLG Köln v. 5.1.1979 – 14 U 172/78, VersR 1980, 338; OLG Hamm v. 17.3.1992 – 27 U 12/92, VersR 1993, 711. Scheffen VersR 1987, 122. OLG Hamm v. 6.12.1990 – 27 U 134/90, NZV 1991, 194. BGH v. 28.5.1985 – VI ZR 258/83, VersR 1985, 864; a.A. Scheffen DAR 1991, 121, 122 und MDR 1992, 224, 225. BGH v. 26.2.1985 – VI ZR 124/83, VersR 1985, 639. BGH v. 21.3.1964 – VI ZR 172/65, VersR 1967, 607, 608. OLG Karlsruhe v. 9.10.1987 – 14 U 229/85, NZV 1989, 188. OLG Oldenburg v. 9.7.1987 – 8 U 10/87, NZV 1988, 103, 104. BGH v. 16.6.1981 – VI ZR 3/80, VersR 1981, 1054.

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§ 3 Rz. 3.350 | Haftung des Kfz-Halters

Anlass geben, mit dem Auftauchen vorher nicht zu sehender Kinder zu rechnen,621 so dass dem Fahrer lediglich eine Reaktionszeit von 0,8 sec. zugebilligt werden kann.622 Diese Warnfunktion besteht unabhängig davon, ob der Kraftfahrer zur betr. Tageszeit mit Kindern rechnet;623 sie entfällt allenfalls während der Nacht.624 Der (ohnehin schwer erkennbare) Umstand, dass es sich um eine kinderreiche Gegend handelt, reicht nicht aus, konkrete Anhaltspunkte für das plötzliche Auftauchen von Kindern zu begründen,625 ebenso wenig das Befahren eines Wohngebiets mit am Straßenrand geparkten Autos.626 Ist nur ein Kind sichtbar und läuft dann ein anderes vor das herannahende Kfz, ohne dass der Fahrer mit dessen Auftauchen rechnen musste, so ist der Unfall unabwendbar, weil sich nicht die die gesteigerte Sorgfaltspflicht auslösende Gefahr verwirklicht hat (s. Rz. 3.279);627 anders liegt es jedoch, wenn das Verhalten des sichtbaren Kindes auf das mögliche Auftauchen eines weiteren hindeutete.628

3.351

3.352

Ladung Die Ladung muss so verstaut und befestigt sein, dass sie auch bei ungünstigsten Verhältnissen (Sturm, unebenes Gelände, scharfes Bremsen) weder ihre Lage gefahrbringend verändern noch herabstürzen kann.629 Zum Überladen s. Rz. 3.386. Lichtzeichen Einer ampelgeregelten Kreuzung darf sich auch der denkbar beste Fahrer mit der vollen zugelassenen Geschwindigkeit nähern, wenn die Kreuzung frei ist und die Ampel für ihn Grün zeigt. Kann er beim Umschalten auf Gelb nicht mehr vor der Kreuzung anhalten, so verhält er sich nicht sorgfaltswidrig, wenn er noch über die Kreuzung fährt;630 dies kann zur Vermeidung eines gefährlichen scharfen Abbremsens sogar geboten sein (s. auch Anhalten [Rz. 3.322]). Der Zusammenstoß mit einem aus der Querstraße schon bei Gelb in die Kreuzung einfahrenden Fahrzeug ist kein unabwendbares Ereignis, wenn ein besonders umsichtiger und geistesgegenwärtiger Fahrer die Verkehrswidrigkeit des anderen noch so rechtzeitig erkannt hätte, dass ein Anhalten vor dem Anprall geglückt wäre.631 Zum Verhalten beim Linksabbiegen s. Rz. 3.357.

3.353

Nach dem Umschalten der Ampel auf Grün fährt der sorgfältige Fahrer erst in die Kreuzung ein, wenn er sich vergewissert hat, dass sie von Nachzüglern des Querverkehrs (z.B. aufgehaltenen Abbiegern, langsamen Fußgängern) frei ist.632

3.354

Ist für den Fahrer erkennbar, dass es wegen Ausfalls einer Lichtzeichenanlage zu gefährlichen Situationen auf einer Kreuzung kommt, so ist er nicht entlastet, wenn er sich nicht auf das

621 BGH v. 21.7.1967 – 4 StR 203/67, VRS 33, 350; BGH v. 17.2.1972 – 4 StR 499/71, VRS 42, 362; OLG Köln v. 26.10.1988 – 13 U 123/88, VersR 1989, 206. 622 BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 246/92, NJW 1994, 941. 623 BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 246/92, NJW 1994, 941. 624 OLG Frankfurt v. 14.7.1981 – 17 U 252/80, VersR 1982, 152. 625 Strenger OLG Hamm v. 5.2.2001 – 6 U 120/00, NZV 2001, 302; AG Köln v. 2.4.1982 – 266 C 427/81, VersR 1982, 1178. 626 A.A. OLG Hamm v. 15.6.1989 – 27 U 355/88, NZV 1990, 474. 627 A.A. OLG Düsseldorf v. 5.12.1985 – 12 U 263/81, VRS 72, 29, 31. 628 OLG Hamm v. 25.11.1996 – 6 U 79/96, NJWE-VHR 1997, 108 (Spielsituation). 629 OLG Düsseldorf v. 2.4.1984 – 1 U 116/83, VersR 1985, 478. 630 OLG Köln v. 4.3.1965 – 7 U 202/63, VersR 1965, 906. 631 Vgl. BGH v. 17.5.1966 – VI ZR 214/64, VersR 1966, 829. 632 KG v. 9.10.1969 – 12 U 2388/68, VersR 1970, 164.

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VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.360 § 3

plötzliche Abbremsen seines Vordermanns einstellt. Zeigt eine Ampel wegen eines Defekts Dauerrot, so darf auch der denkbar beste Fahrer nach gehöriger Wartezeit das Signal missachten; er hat sich beim Einfahren in die Kreuzung aber so umsichtig zu verhalten, dass eine Gefährdung des Querverkehrs ausgeschlossen ist. Liegenbleiben des Fahrzeugs Der denkbar beste Fahrer versucht, ein Liegenbleiben innerhalb einer besonderen Gefahrenzone (z.B. in Kurve, hinter Kuppe, auf Überholspur), zu vermeiden. Ggf. muss er das Fahrzeug bei einem Reifenschaden bis zu einem geeigneten Abstellplatz ausrollen lassen, auch wenn dabei Reifen und Felge Schaden nehmen.633 Kann das Pannenfahrzeug nicht vollständig von der Fahrbahn gebracht werden, so ist es unverzüglich durch Warnmittel abzusichern; an unübersichtlichen Stellen ggf. zusätzlich durch Warnposten, auch für den Gegenverkehr. Linksabbiegen Vor dem Linksabbiegen hat der Kraftfahrer auch darauf Bedacht zu nehmen, dass er nicht durch Radfahrer oder Fußgänger oder einen Stau in der Seitenstraße gehindert wird, die Fahrspur des Gegenverkehrs rechtzeitig vor einem herannahenden Fahrzeug freizumachen. Wenn dem Linksabbieger durch einen Grünpfeil die Sperrung des Gegenverkehrs angezeigt wird, darf er grundsätzlich darauf vertrauen, dass er gefahrlos abbiegen kann.634 Zu weitgehend erscheint – zumindest für den Regelfall – die Ansicht, der ordentliche Kraftfahrer überquere auch in einem solchen Fall die Gegenfahrbahn erst, wenn der Gegenverkehr auf allen Fahrstreifen zum Stehen gekommen sei;635 etwas anderes gilt aber dann, wenn der Linksabbieger erkennen musste, dass ein entgegenkommendes Fahrzeug noch in die Kreuzung einfahren würde. Besteht keine Regelung durch Grünpfeil, biegt der äußerst vorsichtige Fahrer erst dann ab, wenn auf allen Fahrspuren des Gegenverkehrs kein möglicherweise durchfahrendes Fahrzeug mehr naht. Auch ein besonders sorgfältiger Fahrer darf davon ausgehen, dass ein entgegenkommender Wagen, der links blinkt und sich nach links einordnet, auf der Kreuzung anhält, bis diese freigeworden ist.636 Lücke in Kolonne S. Vorbeifahren an stehender Kolonne (Rz. 3.391).

3.356

3.357

3.358

3.359

Nebel Ist für den Kraftfahrer erkennbar, dass er in eine Nebelbank einfahren muss, so reduziert er seine Geschwindigkeit so rechtzeitig, dass er bereits bei Erreichen des Nebels auf Sicht fährt. Besonders gefährliche Fahrmanöver nimmt der äußerst sorgfältige Fahrer bei Nebel, wenn überhaupt, nur unter größten Sicherheitsvorkehrungen vor. Will er z.B. mit einem Lastzug bei starkem Nebel und Glatteis aus einem Nebenweg in eine Hauptstraße einbiegen, so stellt er Warnleuchten an der Hauptstraße auf.637

633 634 635 636 637

3.355

BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 218/76, VersR 1979, 323. BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 98/91, NZV 1992, 108. So aber KG bei Darkow DAR 1972, 146. Offen lassend BGH v. 29.19.1968 – VI ZR 136/67, VersR 1969, 75. OLG Oldenburg v. 21.12.1960 – 2 U 156/60, DAR 1961, 310.

Greger | 131

3.360

§ 3 Rz. 3.361 | Haftung des Kfz-Halters

3.361

3.362

3.363

Ölspur Allein das Vorhandensein einer Ölspur macht das Abkommen auf die Gegenfahrbahn nicht zu einem unabwendbaren Ereignis; der Halter muss vielmehr alle in Betracht kommenden Fahrfehler (grundloses Bremsen, überhöhte Geschwindigkeit, Übersehen der Ölspur) ausschließen.638 Parkplatz Auf der Fahrspur zwischen den Parkboxen eines Parkplatzes sind ständige Bremsbereitschaft und Schrittgeschwindigkeit einzuhalten, weil immer mit rangierenden Fahrzeugen zu rechnen ist.639 Im Parkhaus ist so zu fahren, dass jederzeit auf kürzeste Distanz angehalten werden kann.640 Polizeibeamter Weisungen oder Zeichen eines Polizeibeamten befreien den „denkbar besten Fahrer“ nicht von der Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer. Wird die Fahrtrichtung durch Handzeichen freigegeben und ereignet sich ein Unfall, weil sich ein anderer Verkehrsteilnehmer noch in der Kreuzung befindet oder verkehrswidrig in diese einfährt, so liegt kein unabwendbares Ereignis vor, wenn das verkehrswidrige Verhalten rechtzeitig zu erkennen war.641 Zum Verhalten gegenüber und mit Sonderrechtsfahrzeugen s. Rz. 3.371.

3.364

Radfahrer Da der Halter sich im Verhältnis zu Radfahrern nicht auf Unabwendbarkeit des Unfalls berufen kann, sind die ihnen gegenüber bestehenden Verhaltenspflichten (s. Rz. 3.370, Rz. 14.216 ff.) nur von Bedeutung, wenn in den Unfall auch ein weiteres Kfz verwickelt wurde (s. Rz. 3.267).

3.365

Räumfahrzeug Der Unfall durch einen auf die Gegenfahrbahn der BAB geschleuderten Eisbrocken ist nicht unabwendbar, wenn eine ordnungsgemäße Räumung auch ohne deren Inanspruchnahme möglich gewesen wäre.642

3.366

3.367

Rechtsfahrgebot Auch auf einer breiten Fernstraße ist möglichst weit rechts, d.h. i.d.R. mit maximal 1 m Abstand vom rechten Fahrbahnrand zu fahren. Verstößt ein Kraftfahrer hiergegen, so ist er auch dann nicht entlastet, wenn er einen Abstand von 1 m zur Mittellinie eingehalten hat, aber mit einem entgegenkommenden Überholer zusammenstößt.643 Zum Schutzzweck des Rechtsfahrgebots bei Vorfahrtverletzungen s. Rz. 3.279 i.V.m. Rz. 11.10. Regen Fahren auf regennasser Fahrbahn erfordert bei entsprechend gefährlichem Untergrund (insbesondere Kopfsteinpflaster) ähnliche Sorgfalt wie Glatteis (s. Rz. 3.339). Auf die Gefahr von Aquaplaning stellt sich der sorgfältige Kraftfahrer bei der Wahl seiner Geschwindigkeit ein.

638 639 640 641 642 643

OLG Köln v. 20.10.1993 – 2 U 48/93, NZV 1994, 230. OLG Oldenburg v. 26.3.1982 – 11 U 74/81, VersR 1983, 1043. KG v. 22.11.1982 – 12 U 1819/82, VersR 1983, 250. OLG Köln JW 1931, 893. OLG Koblenz v. 9.9.2013 – 12 U 95/12, NJW 2013, 3731. BGH v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, VersR 1979, 528.

132 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.371 § 3

Schnee Zur Geschwindigkeit bei Schneeglätte s. Rz. 3.339. Bei Schneematsch fährt der denkbar beste Fahrer besonders sorgfältig. Er beachtet vor allem, dass ein Kfz, das in einer ausgefahrenen Spurrille fährt, nur schwer aus dieser herausgelenkt werden kann, ferner dass in überhöhten Kurven das Kfz dazu neigt, in Richtung zum Kurvenmittelpunkt zu rutschen.644 Seitenabstand Soweit die Verkehrslage es erlaubt, hält der denkbar beste Fahrer einen solchen Sicherheitsabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, dass der andere sich unter den gegebenen Bedingungen nicht als bedrängt fühlen muss. Mehr als 1 m Abstand zu halten, ist grundsätzlich nur bei besonders schlechter Straße, Glatteis und Sturm erforderlich. Solange ein genügender Sicherheitsabstand nicht gewahrt oder beibehalten werden kann, nimmt der „denkbar beste Fahrer“ vom Überholen Abstand. Dies gilt auch bei einer baustellenbedingten Fahrstreifenverengung auf der Autobahn; hier ist versetzt zu fahren. Hat sich ein Motorradfahrer zwischen zwei Kfz oder zwischen ein Kfz und den Straßenrand gezwängt, bemüht sich der „denkbar beste Fahrer“, von sich aus den nötigen Sicherheitsabstand wiederherzustellen. Der Überholende muss darauf achten, dass ein angemessener Seitenabstand auch bei sich ändernder Verkehrssituation gewahrt bleibt.645 Beim Überholen eines Lkw mit Anhänger muss er damit rechnen, dass dieser leicht aus der Spur gerät.646 Beim Überholen von Radfahrern647 ist mit deren Ausschwenken zu rechnen, grundsätzlich ist daher ein Abstand von mindestens 1,50 bis 2 m einzuhalten.648 Handelt es sich bei den Radfahrern um Kinder oder um unsicher fahrende alte Leute, so vergrößert der Kraftfahrer den Sicherheitsabstand oder unterlässt das Überholen, wenn ein der Gefahr entsprechender Abstand nicht eingehalten werden kann. Dies gilt vor allem dann, wenn der kindliche oder unsichere Radfahrer (z.B. ein mit schwerer Last beladenes Rad) während des Überholvorgangs auf einen Teil der Fahrbahn oder des Banketts ausweicht, der wegen seiner Beschaffenheit (grobe Steine, Schlaglöcher) die Unsicherheit des Radfahrers verstärken muss. In solchen Fällen kann u.U. sogar ein Sicherheitsabstand von 2 m noch zu gering sein, jedenfalls dann, wenn ohne weiteres eine günstigere Stelle zur Überholung des Radfahrers hätte abgewartet werden können.649 Während eines Sturmes berücksichtigt der denkbar beste Fahrer, dass ein überholter Radfahrer oder Motorradfahrer während des Überholvorgangs durch Windeinwirkung oder Windschatten aus seiner bisherigen Fahrtrichtung geraten kann. Er hält deshalb auch bei Radfahrern, die nicht unsicher wirken, einen seitlichen Abstand von mehr als 1,50 m ein.650 Sonderrechtsfahrzeuge Führer anderer Fahrzeuge haben sich bei Annähern eines Sonderrechtsfahrzeugs mit Blaulicht und Signalhorn nicht nur auf dieses, sondern auch auf zu befürchtende anomale Fahr-

BGH v. 11.7.1958 – VI ZR 140/57, VersR 1958, 646. BGH v. 26.11.1974 – VI ZR 10/74, NJW 1975, 312. Vgl. BGH v. 29.5.1979 – VI ZR 128/77, VersR 1979, 841. Nur noch von Bedeutung, soweit in den Unfall ein weiteres Kfz verwickelt wurde (s. Rz. 3.267). KG v. 12.9.2002 – 12 U 9590/00, NZV 2003, 30. Ab 28.4.2020 ausdrücklich vorgeschrieben durch § 5 Abs. 4 Satz 3 StVO. 649 BGH v. 14.6.1957 – VI ZR 105/56, VersR 1957, 587. 650 BGH RdK 1953, 29 mit Anm. Pohle; Gaisbauer VersR 1967, 1034. 644 645 646 647 648

Greger | 133

3.368

3.369

3.370

3.371

§ 3 Rz. 3.371 | Haftung des Kfz-Halters

manöver anderer Verkehrsteilnehmer, die sofort freie Bahn schaffen wollen, einzustellen,651 desgleichen auf Schreckreaktionen von Fußgängern.652

3.372

3.373

3.374

3.375

Auch der Halter des Sonderrechtsfahrzeugs selbst kann sich nur durch den Nachweis größtmöglicher Sorgfalt seines Fahrers entlasten. Der Sorgfaltsmaßstab ist nach den speziellen Umständen des Einsatzes des Fahrzeugs und der Verkehrssituation zu bestimmen (zu Verfolgungsfahrten s. Rz. 3.388). So darf z.B. trotz Martinshorn nicht mit 100 km/h an einem haltenden Bus vorbeigefahren werden.653 An die Absicherung eines Mähfahrzeugs auf der Autobahn sind hohe Anforderungen zu stellen.654 Steine Von den Rädern weggeschleuderte Steine können ein unabwendbares Unfallereignis begründen.655 Liegt diese Gefahr jedoch aufgrund besonderer Umstände nahe (unbefestigte Straße, Baustelle) so ist die Geschwindigkeit zu ermäßigen.656 Hat ein Fahrzeug Zwillingsreifen, so können sich Steine zwischen die beiden Reifen klemmen und später weggeschleudert werden. Auf schlechten Straßen lässt sich dies nicht vermeiden. Der Führer des Kfz muss aber seine Zwillingsreifen in dieser Hinsicht überprüfen, wenn er die schlechte Straße verlässt und sich auf eine Straße mit festem Belag begibt, auf der er mit wesentlich höherer Geschwindigkeit weiterzufahren gedenkt. Dies gilt vor allem beim Verlassen von Kiesgruben, von Baugelände und von anderem nichtbefestigten Gelände.657 Ohne einen solchen konkreten Anlass besteht jedoch keine Verpflichtung zu einer Untersuchung vor Fahrtbeginn.658 Das Hochschleudern von Steinen durch eine Mähmaschine ist unabwendbar, wenn alle zumutbaren Schutzvorkehrungen659 getroffen worden sind.660 Steinschlag Wenn erkennbare Steinschlaggefahr besteht (weil schon frisch heruntergefallene Steine auf der Fahrbahn liegen) oder ein entsprechendes Warnzeichen aufgestellt ist, darf der Führer des Kfz mit besonderer Vorsicht weiterfahren. In diesem Fall liegt ein unabwendbares Ereignis vor, wenn ein Stein in solcher Nähe vor dem Kfz herabrollt, dass ein Ausweichen oder rechtzeitiges Anhalten nicht möglich ist, vorausgesetzt, dass die Geschwindigkeit des Kfz schon vorher dieser Gefahr entsprechend herabgesetzt worden war.

651 652 653 654 655 656 657 658 659 660

OLG Düsseldorf v. 9.2.1987 – 1 U 212/85, VersR 1987, 1140 LS. OLG Hamm v. 27.1.1998 – 9 U 152/97, OLGR Hamm 1998, 129. OLG Hamm v. 27.1.1998 – 9 U 152/97, OLGR Hamm 1998, 129. BGH v. 13.12.1990 – III ZR 14/90, BGHZ 113, 164 = NZV 1991, 185 mit Anm. Kunschert und abl. Bespr. Lippold NZV 1992, 63. LG Lüneburg v. 15.6.1961 – 1 S 116/61, MDR 1961, 1014; LG Münster v. 17.11.1981 – 28 C 457/81, VersR 1982, 1012 LS. BGH v. 11.6.1974 – VI ZR 37/73, VersR 1974, 1030. OLG Frankfurt VM 1958, 34. AG Halle-Saalekreis v. 21.3.1995 – 95 C 29/95, VersR 1996, 211. S. dazu (differenzierend) BGH v. 28.11.2002 – III ZR 122/02, NZV 2003, 125 (Parkplatz) und BGH v. 18.1.2005 – VI ZR 115/04, NZV 2005, 305, 306 (BAB); OLG Celle v. 25.3.2004 – 5 U 7/ 04, OLGR Celle 2004, 325, 327. OLG Stuttgart v. 25.6.2003 – 4 U 41/03, VersR 2003, 1275; OLG Hamm v. 3.7.2015 – 11 U 169/ 14, NZV 2016, 125.

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VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.383 § 3

Straßenglätte S. Glatteis (Rz. 3.339 f.), Regen (Rz. 3.367), Schnee (Rz. 3.368), Verschmutzung der Straße (Rz. 3.389). Streufahrzeug Die Ladefläche eines Streufahrzeugs muss so abgesichert sein, dass weder Erschütterungen noch Luftzug zu Gefährdungen anderer Verkehrsteilnehmer durch herabfallenden Sand oder Splitt führen können. Beim Streuvorgang sind Schäden durch ausgeworfenes Streugut nicht völlig vermeidbar; ein Auswurf unmittelbar gegen parkende Fahrzeuge ist jedoch zu unterlassen.661 Sturm Der denkbar beste Fahrer achtet darauf, dass das Fahrverhalten durch Böen oder wechselnden Windschatten instabil werden kann. Er stellt sich im Rahmen des Möglichen darauf ein, dass Äste oder ganze Bäume auf die Straße stürzen können. Ein Abbruch der Fahrt ist aber nur bei extremen Bedingungen geboten. Sturz eines anderen Verkehrsteilnehmers Bremst der Kraftfahrer und entsteht dabei ein nicht mit dem Fahrzeug zusammenhängendes Geräusch, weil ein nachfolgender Mopedfahrer neben dem Kfz gestürzt ist, so liegt ein unabwendbares Ereignis vor, wenn der Fahrer des Kfz nicht sofort hält und der Wagen daher über den Fuß des Mopedfahrers rollt.662 Damit, dass ein entgegenkommender Kradfahrer stürzt, muss auch der denkbar beste Fahrer, auch bei schneeglatter Straße, nicht rechnen.663 Tiere Durch das Verhalten eines Tieres verursachte Unfälle sind für den Führer eines Kfz unabwendbar, wenn das Tier erst in sein Blickfeld trat, als der Unfall trotz Anwendung zweckmäßiger Maßnahmen (Bremsen, Ausweichen) nicht mehr vermieden werden konnte oder wenn das Tier zwar vorher zu sehen war, mit einem das Kfz gefährdenden Verhalten aber nicht gerechnet zu werden brauchte. Beim Überholen oder bei der Begegnung mit einer Herde ist so langsam zu fahren, dass beim Ausbrechen eines Tieres sofort angehalten werden kann. Zu Wildwechsel s. Rz. 3.401.

3.376

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3.380

Trunkenheitsfahrt S. Alkohol (Rz. 3.318).

3.381

Türöffnen S. Aussteigen (Rz. 3.325).

3.382

Überholen Der denkbar beste Fahrer überholt nur, wenn dadurch kein Gegenverkehr gefährdet werden kann. Bemerkt er, dass auch im Gegenverkehr überholt wird, so dass sich die zum Überholen

661 BGH v. 5.7.1988 – VI ZR 346/87, BGHZ 105, 65 = NZV 1989, 18 mit Anm. Kuckuk = JZ 1988, 1136 mit Anm. Baumgärtel. 662 BGH v. 3.12.1965 – VI ZR 162/64, VersR 1966, 146. 663 BGH v. 24.2.1959 – VI ZR 41/58, VersR 1959, 455.

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3.383

§ 3 Rz. 3.383 | Haftung des Kfz-Halters

freie Strecke für ihn verkürzt, so bricht er den Überholvorgang ab.664 Er achtet auch darauf, dass sich vor dem zu überholenden kein langsameres, das Einscheren hinderndes Fahrzeug befindet und auch keine Seitenstraße vorhanden ist, auf der ein solches Fahrzeug herannahen und sich vor den zu Überholenden setzen665 oder die zum Überholen benötigte Fahrbahnhälfte sperren könnte.666 Er vermeidet auch auf einer Bundesstraße ausreichender Breite mit hoher Geschwindigkeit zwischen zwei sich begegnenden Lastzügen hindurchzufahren, so dass ein Wartepflichtiger ihn vorübergehend nicht bemerken kann.667 Die irrige Annahme, die Bundesstraße setze sich geradeaus fort, während sie einen für den Überholenden zunächst nicht erkennbaren Knick nach links macht, aus dem Gegenverkehr auftaucht, entlastet auch einen ortsunkundigen Fahrer nicht.668 Wer hinter einem anderen Kfz eine langsame Militärkolonne überholt, muss auf schmaler Straße damit rechnen, dass sein Vordermann wegen Gegenverkehrs plötzlich bremst, um sich nach rechts in die Kolonne einzuordnen.669

3.384

Vor Einleitung des Überholvorgangs und nochmals unmittelbar vor dem Ausscheren vergewissert sich der Fahrer, dass kein nachfolgendes Fahrzeug zum Überholen ansetzt.670 Er sieht vom Überholen ab, wenn er nach den Umständen (z.B. dicht auffahrender, blinkender Nachfolger, schnell herankommendes Motorrad) damit rechnen muss, seinerseits, sei es auch verkehrswidrig, überholt zu werden. Hat er sich an einer Autobahneinfahrt soeben erst in den Verkehr auf der Normalspur eingegliedert, so darf er nicht im selben Zug auf die Überholspur überwechseln, sondern muss zunächst das Verkehrsgeschehen hinter sich beobachten.671

3.385

Für den Fahrer eines überholenden Kfz ist ein Unfall unabwendbar, der sich dadurch ereignet, dass das überholte Fahrzeug ohne Ankündigung nach links schwenkt;672 dies gilt freilich nur, wenn kein besonderer Anlass zum Einschwenken erkennbar war.673 Auf der Autobahn muss der Überholende einen auf dem rechten Fahrstreifen dicht hinter einem anderen Fahrzeug Fahrenden mit erhöhter Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft beobachten674 (zur Bedeutung der Richtgeschwindigkeit s. Rz. 3.338). Der in einer Kolonne nach Beendigung eines Überholverbots an dritter Stelle Fahrende darf nicht sogleich zum Überholen ansetzen, sondern muss zunächst seinem Vordermann die Chance eines Überholens einräumen; nützt dieser sie nicht, so kann auch der Idealfahrer die beiden voranfahrenden Fahrzeuge in einem Zug überholen.675 Der auf der Überholspur Fahrende muss es bemerken, wenn ein Wohnwagengespann über eine längere Strecke Schlingerbewegungen ausführt, und von einem Überholen absehen.676 Zum Seitenabstand s. Rz. 3.369 f.

664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676

OLG München v. 30.1.1975 – 24 U 926/74, VersR 1976, 1143. BGH v. 25.6.1968 – VI ZR 158/76, VersR 1968, 1041. OLG Düsseldorf VkBl 1950, 159. BGH v. 13.6.1967 – VI ZR 21/66, VersR 1967, 883. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 60/68, VersR 1970, 62. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 71/68, VersR 1970, 63. Vgl. BGH v. 25.6.1968 – VI ZR 158/76, VersR 1968, 1041. BGH v. 26.11.1985 – VI ZR 149/84, VersR 1986, 170. BGH v. 20.3.1962 – VI ZR 68/61, VersR 1962, 566; OLG Frankfurt v. 27.3.1992 – 25 U 105/91, VersR 1993, 1500; AG Hildesheim v. 27.6.1984 – 18 C 190/84, VersR 1984, 1179. BGH v. 3.11.1964 – VI ZR 190/63, VersR 1965, 82. OLG Köln v. 22.7.1992 – 11 U 104/92, VersR 1992, 1366 mit Anm. Reiff. BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 46/85, VersR 1987, 156; krit. Schirmer AnwBl. 1988, 89. OLG Köln v. 29.5.1995 – 19 U 235/94, DAR 1995, 484.

136 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.392 § 3

Überladen Überschreiten des Höchstgewichts oder der Achslast schließt ein unabwendbares Ereignis aus, solange nicht erwiesen ist, dass es auf das Entstehen des Unfalls nicht eingewirkt haben kann.677 Unfall Unabhängig davon, ob der Erstunfall ein unabwendbares Ereignis darstellt, kann sich der Kraftfahrer für einen Zweitunfall nicht auf Unabwendbarkeit berufen, wenn er das Unfallfahrzeug unnötigerweise in gefährlicher Position belassen hat, z.B. an einer vereisten Stelle, obwohl es trotz Beschädigung noch bedingt fahrfähig war.678 Verfolgungsfahrt Bei einer rechtmäßigen Verfolgungsfahrt kann die Kollision zwischen Polizei- und Fluchtfahrzeug auch bei riskanter Fahrweise des Polizeibeamten für diesen unabwendbar sein. Nicht unabwendbar ist aber die bewusst herbeigeführte Kollision zum Stoppen des Fluchtfahrzeugs.679 Verschmutzung der Straße Zum Verhalten bei Ölspur s. Rz. 3.361. Der Kraftfahrer muss auch die Gegenfahrbahn daraufhin beobachten, ob sich dort Verschmutzungen (Schlamm, Ölspur u. Ä.) befinden, und sich ggf. auf ein Übergreifen auf die eigene Fahrbahnhälfte einstellen.680 Bei einer Warnung vor Schleudergefahr (Zeichen 114 der Anl. 1 zur StVO) entspricht eine Geschwindigkeit von 80 km/h auf regennasser Fahrbahn nicht dem Gebot äußerster Sorgfalt.681 Vorbeifahren an stehendem Fahrzeug Es gelten dieselben Grundsätze wie beim Überholen. Das Vorbeifahren ist nur gestattet, wenn der Fahrer sicher sein kann, dass der Gegenverkehr nicht gefährdet wird. Vorbeifahren an stehender Kolonne Der Idealkraftfahrer achtet auf Lücken in der Kolonne, durch die Fahrzeugen des Querverkehrs ein Einfahren ermöglicht werden könnte, und stellt sich hierauf durch Ermäßigung der Geschwindigkeit, Bremsbereitschaft und, soweit möglich, vergrößerten Seitenabstand ein. Der Unabwendbarkeitsbeweis verlangt hierbei mehr als die aus § 1 StVO abgeleitete „Lückenrechtsprechung“ (s. Rz. 14.174), die teilweise an einer Grundstücksausfahrt keinen schuldhaften Verstoß annimmt.682 Vorfahrt Gibt die örtliche Situation zu Zweifeln über die Vorfahrt Anlass, so muss der Kraftfahrer von der Regelung ausgehen, die ihm ungünstiger ist und ihm eine höhere Sorgfalt abverlangt.683 677 BGH v. 25.4.1961 – VI ZR 141/60, VersR 1961, 615. 678 OLG Stuttgart v. 28.1.1977 – 2 U 143/76, VersR 1977, 1016. 679 A.A. BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 43/11, NJW 2012, 1951, 1953 mit Hilfe der Konstruktion einer „rechtlichen Unabwendbarkeit“; dagegen auch Mäsch JuS 2012, 1029, 1031. 680 BGH v. 23.4.1964 – III ZR 140/63, VersR 1964, 925, 926. 681 BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 166/71, VersR 1974, 265. 682 Vgl. KG v. 25.5.1992 – 12 U 4397/91, NZV 1992, 486; KG v. 12.2.1998 – 12 U 5603/96, NZV 1998, 376. S. auch Rz. 14.197. 683 BGH v. 5.10.1976 – VI ZR 256/75, VersR 1977, 58; BGH v. 14.10.1986 – VI ZR 139/85, VersR 1987, 307, 308; BGH v. 23.6.1987 – VI ZR 296/86, VersR 1988, 79, 80.

Greger | 137

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§ 3 Rz. 3.392 | Haftung des Kfz-Halters

Dies gilt insbesondere an Einmündungen mit abgesenktem Bordstein (vgl. § 10 Satz 1 StVO). Dass die Einmündung nur schwer zu erkennen ist,684 entlastet den Wartepflichtigen nicht. Aber auch den tatsächlich Bevorrechtigten trifft in solcher Situation eine gesteigerte Sorgfaltspflicht: Er muss sich darauf einstellen, dass andere Verkehrsteilnehmer die unklare Lage missdeuten könnten.685

3.393

Auch der denkbar beste Fahrer darf sich, wenn er an einer unübersichtlichen Einmündung wartepflichtig ist, vorsichtig in die bevorrechtigte Straße hineintasten, bis er die nötige Übersicht hat; er muss dabei so langsam fahren, dass er beim Ansichtigwerden eines Vorfahrtberechtigten auf der Stelle anhalten kann.686 Dies ist ihm auch gestattet, wenn er zunächst vor der Einmündung angehalten hatte. Lässt sich der Vorfahrtberechtigte durch dieses Verhalten zu kopflosen Reaktionen hinreißen, so liegt für den Fahrer des wartepflichtigen Fahrzeugs ein unabwendbares Ereignis vor.687 Ist die Sicht in die vorfahrtsberechtigte Straße aber nur vorübergehend, z.B. durch einen einbiegenden Lkw behindert, so sieht der sorgfältige Fahrer von einem Hineintasten ab und wartet, bis die Sichtbehinderung behoben ist.688 Mit einem langen und schwerfälligen Fahrzeug darf an einer unübersichtlichen Stelle nur nach Aufstellen eines Warnpostens in die bevorrechtigte Straße eingefahren werden.689

3.394

An einer bevorrechtigten Einbahnstraße genügt es für den Ausschluss einer Abwendbarkeit des Unfalls nicht, wenn der Wartepflichtige nur in die Richtung blickt, aus der erlaubtermaßen Fahrzeuge kommen können. Dass das in falsche Richtung fahrende Fahrzeug kein Vorfahrtsrecht hat,690 ändert hieran nichts. Ist die an sich bevorrechtigte Straße gesperrt, so kann nur dann darauf vertraut werden, dass aus ihr kein Fahrzeug kommt, wenn es sich um eine vollständige Absperrung durch entsprechende Vorrichtungen handelt; eine Sperrung durch Zeichen 250 allein genügt nicht.691 Wer nach rechts in eine bevorrechtigte Straße einbiegen will, auf der sich von rechts mehrere Fahrzeuge nähern, muss nur bei besonderen Anzeichen damit rechnen, dass eines dieser Fahrzeuge zum Überholen auf die Gegenfahrbahn ausschert.692

3.395

Der Vorfahrtberechtigte kann auf die Beachtung seiner Vorfahrt grundsätzlich vertrauen; dies gilt nur dann nicht, wenn die besondere örtliche Verkehrslage Anlass gibt, hieran zu zweifeln.693 Ein unabwendbares Ereignis liegt auch dann nicht vor, wenn ein besonders umsichtiger und geistesgegenwärtiger Fahrer die drohende Verletzung seines Vorrechts so rechtzeitig erkannt hätte, dass er den Unfall durch eine sofortige Reaktion hätte abwenden können.694 In

684 Z.B. gänzlich unbedeutendes Altstadtgässchen, vgl. OLG Frankfurt v. 26.1.1981 – 22 U 31/80, VersR 1981, 579. 685 BGH v. 5.10.1976 – VI ZR 256/75, VersR 1977, 58; BGH v. 14.10.1986 – VI ZR 139/85, VersR 1987, 307, 308. 686 BGH v. 11.1.1977 – VI ZR 268/74, VersR 1977, 524. 687 OGH v. 24.6.1949 – Iib ZS 19/49, VRS 1, 291; OLG Nürnberg v. 10.6.1958 – 2 U 11/58, VRS 15, 257. 688 BGH v. 11.1.1977 – VI ZR 268/74, VersR 1977, 524. 689 BGH v. 18.9.1984 – VI ZR 289/82, VersR 1984, 1147, 1148. 690 Vgl. BGH v. 6.10.1981 – VI ZR 296/79, VersR 1982, 94. 691 BayObLG v. 17.3.1983 – RReg.1 St 6/83, VRS 65, 154. 692 Strenger OLG Düsseldorf v. 20.10.1980 – 1 U 37/80, VersR 1981, 578. Näher hierzu Rz. 14.162. 693 BGH v. 11.1.1977 – VI ZR 268/74, VersR 1977, 524; BGH v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757. 694 BGH v. 17.5.1966 – VI ZR 214/64, VersR 1966, 829.

138 | Greger

VII. Entlastungsbeweis | Rz. 3.399 § 3

diesem Fall muss der Vorfahrtberechtigte beweisen, dass keine besonderen Umstände auf die bevorstehende Vorfahrtverletzung so rechtzeitig hindeuteten, dass er hätte anhalten können. Der Grundsatz, dass der Vorfahrtberechtigte ohne gegenteilige Anhaltspunkte nicht mit einer Verletzung seines Vorrechts zu rechnen braucht, gilt auch, wenn er den Wartepflichtigen nicht sehen kann, z.B. weil er durch einen einbiegenden Lkw verdeckt ist,695 und grundsätzlich auch dann, wenn ihm das Vorfahrtsrecht deshalb zusteht, weil er von rechts kommt696 (s. aber auch Rz. 3.398). An einer unübersichtlichen Kreuzung oder Einmündung muss der Vorfahrtberechtigte mit dem zulässigen „Hineintasten“ eines Wartepflichtigen (s. Rz. 3.393) rechnen; er muss daher einen entsprechenden Abstand zum Fahrbahnrand halten und stets reaktionsbereit sein.697 Bei dichtem Nebel muss er sich darauf einstellen, dass der Wartepflichtige sein Herannahen bei zu großer Geschwindigkeit nicht rechtzeitig wahrnehmen kann.698 Sehr weitgehend erscheint die Ansicht, dass der Vorfahrtberechtigte sich bei Annäherung an eine verkehrsreiche Einmündung darauf einstellen muss, ein wartender Kraftfahrer werde versuchen, sich rasch in eine Lücke der Fahrzeugkolonnen auf der Vorfahrtstraße hineinzudrängen.699 Ein für den Vorfahrtberechtigten unabwendbares Ereignis liegt vor, wenn er wegen erkennbar drohender Vorfahrtsverletzung durch den Wartepflichtigen so scharf bremsen muss, dass der Hintermann auffährt oder ein Insasse verletzt wird.700

3.396

Ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot steht der Annahme von Unabwendbarkeit grundsätzlich nicht entgegen, da dieses Gebot nicht dem Schutz des Querverkehrs dient (s. Rz. 3.279 i.V.m. Rz. 11.10).

3.397

An einer Kreuzung, an der mangels besonderer Regelung der Grundsatz „rechts vor links“ gilt, vertraut jeder Verkehrsteilnehmer darauf, dass ein etwa von rechts Kommender nur mit mäßiger Geschwindigkeit herankommt, weil er seinerseits auf etwaige bevorrechtigte Fahrzeuge achten muss. Daher ist im Falle eines Zusammenstoßes der von rechts Kommende nur entlastet, wenn er beweisen kann, dass der Unfall nicht auch auf eine diesen Umständen nicht angepasste Geschwindigkeit zurückzuführen ist.701 Zu weitgehend hielt der BGH einen mit unverminderter Geschwindigkeit von 52 km/h in die (für den Wartepflichtigen unübersichtliche) Kreuzung einfahrenden Kradfahrer deswegen für entlastet, weil er freie Sicht in die für ihn von rechts kommende Straße hatte.702

3.398

Wer auf einer Autobahn fährt, verletzt die äußerste Sorgfalt nicht, wenn er nicht in Rechnung stellt, dass der sich auf einer Zufahrt nähernde Lastzug beim Einfahren in die Autobahn nicht nur die Normalspur, sondern auch die Überholfahrbahn sperren wird.703 Dagegen wurde Unabwendbarkeit für einen Lastzugfahrer verneint, der auf einen sich unter Verletzung der Vorfahrt einfädelnden Lastzug auffuhr, weil er eine Ausgleichsbremsung unterließ.704

3.399

695 BGH v. 11.1.1977 – VI ZR 268/74, VersR 1977, 524. 696 BGH v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, VersR 1985, 784, 785. 697 BGH v. 11.12.1980 – III ZR 34/79, VersR 1981, 336; OLG Frankfurt v. 29.4.1994 – 10 U 82/93, OLGR Frankfurt 1994, 99. 698 OLG Nürnberg v. 28.10.1988 – 1 U 1144/88, VersR 1989, 405. 699 So BGH v. 18.11.1975 – VI ZR 221/73, VersR 1976, 343. 700 OLG Köln v. 4.10.1959 – 2 U 60/59, NJW 1960, 727. 701 BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 97/76, VersR 1977, 917. 702 BGH v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, VersR 1985, 784, 785. 703 BGH v. 21.2.1956 – VI ZR 231/54, VRS 10, 327, 330. 704 OLG Hamm v. 9.3.1993 – 9 U 181/92, NZV 1993, 436.

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§ 3 Rz. 3.400 | Haftung des Kfz-Halters

3.400

3.401

3.402

Nicht auf Unabwendbarkeit berufen kann sich der Vorfahrtberechtigte, der durch Betätigen der Lichthupe den Eindruck eines Vorfahrtverzichts hervorruft, dann aber zügig weiterfährt.705 Wildwechsel Das Zeichen 142 zur StVO („Wildwechsel“) veranlasst den sorgfältigen Kraftfahrer zu erhöhter Reaktionsbereitschaft; auch für den denkbar besten Fahrer kann jedoch der Zusammenstoß mit einem kurz vor dem Fahrzeug auf die Straße tretenden Wild unvermeidbar sein. Ist kein Warnzeichen aufgestellt, so ist der Zusammenstoß mit Wild dennoch nicht unabwendbar, wenn Ort und Zeit (z.B. Waldrand vor Beginn der Tagesdämmerung) die Gefahr eines Wildwechsels nahelegen. Der ideale Fahrer muss dann im Rahmen seiner Sichtmöglichkeiten auch das angrenzende Gelände beobachten, um sich möglichst schnell auf nahendes Wild einstellen zu können. Nur wenn ein Tier, das auch bei aufmerksamster Beobachtung nicht zu erkennen war, plötzlich in kürzester Entfernung in die Fahrbahn läuft, ist dem Kraftfahrer auch im Rahmen der Entlastung nach § 17 Abs. 3 StVG eine falsche Reaktion im ersten Schrecken zuzubilligen.706 Eine Geschwindigkeit von 90 km/h auf einer nicht mit Zeichen „Wildwechsel“ gekennzeichneten BAB-Strecke durch Waldgebiet ist nicht zu hoch,707 80 km/h bei Fahren auf einer Landstraße mit Abblendlicht kann bereits zu schnell sein.708 Bleibt Wild auf der Fahrbahn stehen, so ist sofort abzublenden. Springt ein Reh über die Fahrbahn, so ist mit dem Auftauchen weiterer Tiere zu rechnen. Es ist daher auch dann abzubremsen, wenn das sichtbare Tier die Straße noch gefahrlos vor dem Kfz überqueren konnte.709 Bei einem Kleintier und hoher Geschwindigkeit des Fahrzeugs ist ein Ausweichversuch i.d.R. zu unterlassen.710 Wölbung der Straße. Der sorgfältige Kraftfahrer erkennt sofort, wenn infolge starker Wölbung der Straße das Kfz nicht mehr senkrecht steht und seine Aufbauten daher ein Vordach oder eine Markise herunterreißen werden.711

705 706 707 708 709 710 711

OLG Koblenz v. 3.6.1991 – 12 U 80/90, NZV 1991, 428. BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 136/85, VersR 1987, 158. KG v. 15.2.1993 – 12 U 6437/91, NZV 1993, 313. OLG Celle v. 29.4.2004 – 14 U 214/03, MDR 2004, 1352. BGH v. 25.11.1980 – VI ZR 53/80, VersR 1981, 289. OLG Karlsruhe v. 13.7.1987 – 1 U 288/86, VersR 1988, 138. OLG Celle RdK 1940, 141.

140 | Greger

§4 Haftung des Kfz-Führers

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konzept der Regelung . . . . . . . . . . . . . 2. Haftungsvoraussetzungen und -ausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftungsumfang und -abwägung . . . . 4. Haftung aus sonstigen Rechtsgründen II. Führereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mehrere Führer eines Kfz . . . . . . . . . . 3. Dauer der Verantwortlichkeit . . . . . . . 4. Fahrschulfahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Haftung des Fahrlehrers . . . . . . . . . . . b) Haftung des Fahrschülers . . . . . . . . . .

4.1 4.1 4.3 4.4 4.8 4.9 4.9 4.18 4.19 4.20 4.20 4.21

Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstand des Beweises . . . . . . . . . . . Anforderungen an den Beweis . . . . . . Maß der Sorgfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zu Halter und Eigentümer des geführten Kfz . . . . . . . . . . . . 1. Haftung gegenüber Dritten und Regress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung für Schäden des Halters . . . . 3. Haftung gegenüber dem Eigentümer des geleasten Kfz . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. 1. 2. 3. 4. IV.

4.23 4.23 4.25 4.26 4.27 4.36 4.36 4.38 4.39

§ 18 StVG (1) In den Fällen des § 7 Abs. 1 ist auch der Führer des Kraftfahrzeugs zum Ersatz des Schadens nach den Vorschriften der §§ 8 bis 15 verpflichtet. Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Schaden nicht durch ein Verschulden des Führers verursacht ist. (2) Die Vorschrift des § 16 findet entsprechende Anwendung. (3) Ist in den Fällen des § 17 auch der Führer eines Kraftfahrzeugs zum Ersatz des Schadens verpflichtet, so sind auf diese Verpflichtung in seinem Verhältnis zu den Haltern und Führern der anderen beteiligten Kraftfahrzeuge, zu dem Tierhalter oder Eisenbahnunternehmer die Vorschriften des § 17 entsprechend anzuwenden. § 19a StVG (1) Der Führer eines Gespanns haftet wie der Führer eines Kraftfahrzeugs. § 18 Absatz 1 und 2 ist entsprechend anzuwenden. (2) Ist in den Fällen des § 19 Absatz 3 und 5 auch der Führer des Gespanns zum Ersatz des Schadens verpflichtet, ist im Verhältnis zu den Haltern und Führern der weiteren beteiligten Kraftfahrzeuge, zu dem Tierhalter oder zu dem Eisenbahnunternehmer § 17 entsprechend anzuwenden. Ist der Führer des Gespanns in den Fällen des § 19 Absatz 2, 3 und 5 zum Ersatz des Schadens verpflichtet, kann er von den Haltern des Zugfahrzeugs und des Anhängers nach § 426 des Bürgerlichen Gesetzbuchs Ausgleich verlangen. Der Ersatz für Schäden des Führers des Gespanns richtet sich im Verhältnis zu den Haltern des Zugfahrzeugs und des Anhängers nach den allgemeinen Vorschriften. (3) Im Fall des § 19 Absatz 6 haftet der Führer eines Anhängers wie der Führer eines Kraftfahrzeugs.

Greger | 141

§ 4 Rz. 4.1 | Haftung des Kfz-Führers

I. Überblick 1. Konzept der Regelung 4.1

Der Führer eines Kfz, Gespanns (Zugfahrzeug mit Anhänger) oder Kfz-Anhängers (dazu s. Rz. 4.3) haftet ebenso wie dessen Halter für Schäden, die durch einen Unfall beim Betrieb hervorgerufen werden. Unterschiedlich geregelt ist jedoch (wohl aufgrund fehlender Anpassung im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens1) die Haftungsentlastung. Während der Halter beweisen muss, dass der Unfall durch höhere Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG) bzw. ein unabwendbares Ereignis (§ 17 Abs. 3 Satz 1 StVG) verursacht wurde, braucht der Führer nur zu beweisen, dass ihn an der Herbeiführung des Schadens kein Verschulden trifft (§ 18 Abs. 1 Satz 2 bzw. § 19a Abs. 1 StVG), d.h. dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat (§ 276 BGB). Da Halter und Führer, sofern nicht ohnehin personengleich, nebeneinander haften und der Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer beide Schadensersatzpflichten abdeckt, ist die Differenzierung für die Beteiligten ohne Bedeutung: Kann der Halter den schwierigeren Entlastungsbeweis nicht führen, spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob der Führer seine Schuldlosigkeit beweisen kann. Wird der Führer mitverklagt, muss diese Frage aber in einer unter Umständen sehr aufwendigen Beweisaufnahme geklärt werden. Besonders deutlich wird dies bei Unfällen mit Kindern, bei denen sich der Halter weder auf höhere Gewalt noch auf Mitverschulden berufen kann und der genaue Unfallhergang mithin für seine Haftung und die des Versicherers unerheblich ist.

4.2

§ 18 StVG wirkt wie eine Beweislastumkehr oder Vermutung hinsichtlich der Fahrlässigkeit bei § 823 BGB. Gleichwohl ist er als eigenständige Haftungsnorm, nicht etwa als bloße Beweisregel anzusehen. Er knüpft wie § 7 StVG eine von sonstigen Anspruchsgrundlagen losgelöste Haftung an die Betriebsgefahr des Kfz an. Ob auch insoweit von einer „Gefährdungshaftung“ gesprochen werden soll, ist nur eine Frage des Ausdrucks. Jedenfalls begründet § 18 StVG eine neben der deliktischen Haftung stehende Verantwortlichkeit dessen, der ein am Unfall beteiligtes (auch fremdes) Kfz geführt hat.

2. Haftungsvoraussetzungen und -ausschlüsse 4.3

Der Schaden muss wie bei § 7 Abs. 1 StVG dem Betrieb des Kfz oder Anhängers zurechenbar sein (s. dazu Rz. 3.56 ff.). Bei einem Gespann ist der Führer des Kfz zugleich Führer des Anhängers, so dass § 19 Abs. 1 StVG n.F. keine eigene Bedeutung hat. § 19a Abs. 3 i.V.m. § 19 Abs. 6 StVG n.F. erstreckt die Gefährdungshaftung aber (klarstellend) auf den Führer eines nicht mit einem Kfz verbundenen, aber hierzu bestimmten Anhängers (dazu s. Rz. 3.116, 4.9). Wie bei der Haftung des Halters ist auch hier erforderlich, dass der Geschädigte dem Führer den Schaden rechtzeitig anzeigt (§ 15 StVG). Auch für die Verjährung (§ 14 StVG) gelten dieselben Regeln. Der Lauf der Fristen ist allerdings gesondert zu beurteilen, d.h. er beginnt und endet nicht unbedingt gleichzeitig mit den für den Halter desselben Kfz laufenden Fristen. Auch die Haftungsausschlüsse nach § 8 StVG sowie die Beschränkungen der Haftungsfreizeichnung nach § 8a StVG gelten für den Führer in gleicher Weise.

3. Haftungsumfang und -abwägung 4.4

Der Umfang entspricht jenem bei der Haftung des Halters, auch hinsichtlich der Höhenbegrenzung nach § 12 StVG. 1 S. 5. Aufl., § 4 Rz. 1.

142 | Greger

I. Überblick | Rz. 4.8 § 4

Bei der Mitverschuldensabwägung greift die Beweislastumkehr nach § 18 StVG nicht unmittelbar ein, denn die für die Abwägung entscheidenden Umstände müssen von demjenigen bewiesen werden, der sich auf sie beruft (s. Rz. 25.11).

4.5

Nach § 18 Abs. 3 StVG kann es aber zu einer Anrechnung der Betriebsgefahr des geführten Kfz kommen. Die Verweisung auf § 17 StVG besagt, dass der Führer beim Innenausgleich mit für andere Gefahrquellen Haftpflichtigen die Betriebsgefahr des von ihm gefahrenen Kfz gegen sich gelten lassen muss. Das muss er auch dann, wenn er selbst bei einem Unfall verletzt worden ist und einen anderen Verkehrsteilnehmer oder den Verkehrssicherungspflichtigen, gleich auf welcher Rechtsgrundlage, auf Schadensersatz in Anspruch nimmt2 (s. Rz. 25.89) oder wenn er vom Halter des von ihm geführten Kfz Ersatz für die Beschädigung einer eigenen Sache begehrt3 (s. a Rz. 22.10). Für den Führer eines Anhängers gilt die Anrechnungspflicht nach § 17 StVG seit der Änderung des § 18 Abs. 3 StVG durch Gesetz v. 10.7.2020 (s. Rz. 3.24) nicht mehr, wohl aber für den (damit in der Regel identischen) Führer eines Gespanns (§ 19a Abs. 2 Satz 1 StVG n.F.). Er muss sich die Betriebsgefahr des gesamten Gespanns (Zugfahrzeug und Anhänger) anrechnen lassen.4 Zum Innenausgleich zwischen Halter und Führer s. Rz. 4.36.

4.6

Der Führer eines Kfz muss sich in all diesen Fällen die Betriebsgefahr des von ihm gefahrenen Kfz aber nur dann bei der Abwägung entgegenhalten lassen, wenn es ihm nicht geglückt ist, die Vermutung des § 18 StVG zu widerlegen.5 Hat er sie widerlegt, so bekommt er, falls er selbst verletzt ist, seinen Schadensersatz in vollem Umfang; hat er einen anderen Verletzten entschädigt, kann er von den anderen für den Unfall Verantwortlichen vollen Ausgleich verlangen. Den Beweis, dass ihn kein Verschulden an dem Unfall treffe, kann der Führer des Kfz aber nicht etwa allein durch den Nachweis führen, dass einen anderen Unfallbeteiligten ein Verschulden trifft oder dass der Führer eines anderen am Unfall beteiligten Kfz die gegen ihn sprechende Schuldvermutung nicht hat widerlegen können.6 Erleidet der Führer eines Kfz auf einer in Ausübung hoheitlicher Gewalt ausgeführten Fahrt einen verschuldeten Unfall und wird er dabei verletzt, so muss er sich, wenn er von dem Führer oder Halter eines anderen am Unfall beteiligten Kfz Schadensersatz fordert, die Betriebsgefahr des eigenen Kfz bei der Abwägung entgegenhalten lassen, obwohl er seinerseits wegen Art. 34 GG nicht schadensersatzpflichtig ist.7

4.7

4. Haftung aus sonstigen Rechtsgründen Durch die Verweisung des § 18 Abs. 2 auf § 16 StVG ist klargestellt, dass der Verletzte nicht gehindert ist, einen über § 12 StVG hinausgehenden Schaden geltend zu machen, wenn er die Voraussetzungen anderer Anspruchsgrundlagen, insbesondere § 823 BGB, nachweist. Auch die Haftung aus Amtspflichtverletzung mit der Folge des Eintritts der Körperschaft des öffent-

2 BGH v. 24.6.1953 – VI ZR 319/52, DAR 1953, 156. 3 Greger NZV 1988, 108; a.A. Kunschert NZV 1989, 62. Vgl. auch OLG München v. 10.11.1978 – 10 U 3346/78, VRS 57, 5. 4 BT-Drs. 19/17964, 19. 5 BGH v. 17.11.2009 – VI ZR 58/08, NJW 2010, 927 m.w.N.; BGH v. 17.11.2009 – VI ZR 64/08, VersR 2010, 268 mit Anm. Looschelders. 6 BGH v. 5.2.1962 – III ZR 221/60, NJW 1962, 796. 7 BGH v. 24.2.1959 – VI ZR 66/58, JZ 1960, 174, 175 mit Anm. Schröer.

Greger | 143

4.8

§ 4 Rz. 4.8 | Haftung des Kfz-Führers

lichen Rechts (Art. 34 GG) bleibt bestehen; sie schließt allerdings eine unmittelbare Inanspruchnahme des Führers auch unter dem Gesichtspunkt des § 18 StVG aus.8

II. Führereigenschaft 1. Begriffsmerkmale 4.9

(a) Führer eines Kfz ist, wer es in eigener Verantwortlichkeit bewegt. Ein bewegungsunfähiges (z.B. auf einem Sockel aufsitzendes) Kfz wird nicht „geführt“,9 ebenso wenig ein (mit laufendem Motor) abfahrbereites, aber noch nicht in Bewegung gesetztes.10 Wer als früherer Führer den Diebstahl des später verunglückten Fahrzeugs ermöglicht, hat, fällt nicht unter die Vorschrift.11 Für den Unfall, der durch den Betrieb (s. Rz. 3.56 ff.) eines nicht mit einem Zugfahrzeug verbundenen Kfz-Anhängers verursacht wird (§ 19a Abs. 3 i.V.m. § 19 Abs. 6 StVG n.F.) haftet, da ein solcher Anhänger nicht geführt wird, sondern sich entweder selbständig (z.B. auf abschüssiger Straße), durch menschliche oder tierische Einwirkung oder überhaupt nicht bewegt, derjenige, der den Anhänger in die unfallursächliche Situation gebracht hat. Der Führer des Zugfahrzeugs, der den Anhänger im Verkehrsraum abgestellt hat, lässt sich allerdings auch schon über § 19a Abs. 1 Satz 1 StVG n.F. (bzw. § 18 Abs. 1 StVG a.F.) haftbar machen, so dass § 19a Abs. 3 StVG n.F. nur einen äußerst geringen Anwendungsbereich hat.

4.10

(b) Der Bewegungsvorgang muss willentlich erfolgen. Setzt sich das Kfz selbsttätig oder durch versehentliches Lösen der Handbremse in Bewegung, wird es nicht geführt;12 ebenso wenn das Kfz durch Betätigen des Anlassers bei eingelegtem Gang unbeabsichtigt in Bewegung gerät.13

4.11

(c) Führer eines Kfz kann nur sein, wer die tatsächliche Herrschaft über das Kfz innehat, nicht wer fahren lässt. Die tatsächliche Herrschaft übt auch aus, wer diese nur aus Gefälligkeit übernommen hat (zu bloßen Hilfsdiensten s. aber Rz. 4.13). Unerheblich ist, ob er zur Führung befugt war,14 auch auf Delikts- oder Geschäftsfähigkeit kommt es nicht an. Überlässt der Führer das Steuer einem anderen, so ist der andere Führer geworden, auch wenn der bestellte Führer sich etwa innerlich vorbehalten hat, erforderlichenfalls einzugreifen und die Führung wieder an sich zu nehmen.15 Dies muss auch gelten, wenn Lenken und Gasgeben einem Kind überlassen werden und der bisherige Fahrer sich nur einsatzbereit hält.16 Zur Sonderregelung für Fahrschulfahrten s. Rz. 4.20 ff., zum Eingreifen des Beifahrers s. Rz. 4.18.

8 9 10 11 12 13 14 15 16

BGH v. 24.2.1958 – III ZR 184/56, NJW 1958, 868. Vgl. auch Rz. 12.7. BayObLG v. 17.2.1986 – RReg.1 St 364/85, NJW 1986, 1822, 1823. BGH v. 27.10.1988 – 4 StR 239/88, NZV 1989, 32, 33. RG v. 17.11.1932 – VI 251/32, RGZ 138, 320, 326. BayObLG v. 6.5.1970 – 1 St 9/70, VRS 39, 206. Zur evtl. Haftung des früheren Führers s. aber Rz. 4.9. OLG Frankfurt v. 23.2.1990 – 3 Ss 465/89, NZV 1990, 277; OLG Düsseldorf v. 28.11.1991 – 77/ 91, NZV 1992, 197. BGH v. 29.9.1954 – VI ZR 206/53, DAR 1954, 298. RG v. 16.4.1917 – VI 41/17, RGZ 90, 157, 159. A.A. OLG Braunschweig v. 10.8.1956 – Ss 114/56, VRS 11, 451, 452. Schon der anschließende Unfall bestätigt jedoch das Fehlen der tatsächlichen Herrschaft.

144 | Greger

II. Führereigenschaft | Rz. 4.17 § 4

(d) Die Art der Bewegung ist unerheblich. Es genügt, wenn das Kfz von anderen Personen geschoben wird17 oder auf einer Gefällstrecke abwärts rollt;18 darauf, ob durch das Abrollenlassen der Motor in Gang gebracht werden soll, kommt es nicht an.19 Ein bloßes Schieben oder Ziehen des Fahrzeugs ohne Ausüben einer Steuerungsfunktion oder Ausnützen der Motorkraft ist kein Führen. Geführt wird aber ein Kraftrad, das durch Treten der Pedale oder Abstoßen mit den Füßen bewegt wird20 oder das unter Zuhilfenahme der Motorkraft geschoben wird.21 Ein abgeschlepptes Fahrzeug wird dann „geführt“, wenn es eigens gelenkt und gebremst werden muss.22

4.12

(e) Führer ist nicht, wer dem Führer bloße Hilfsdienste leistet oder ihn lediglich anleitet oder lotst, z.B. in Anwesenheit des Führers einen Gang einlegt,23 den Wagen schiebt,24 eine Wagentür öffnet, die Handbremse anzieht oder die Zündung einschaltet. Wer ein Kfz lenkt, das bei Versagen des Anlassers angeschoben wird, um den Motor in Gang zu setzen, führt das Kfz, da es sich in diesem Stadium bereits in Betrieb befindet. Folgt er jedoch bedingungslos den Anweisungen des sein stehengebliebenes Fahrzeug schiebenden Fahrers hinsichtlich des Einschlagens des Steuerrads, so ist er nur „Werkzeug“ des Führers und führt selbst nicht.25

4.13

(f) Der Begleiter im Rahmen des begleiteten Fahrens nach § 6e StVG haftet nicht nach § 18 StVG, sondern allenfalls nach § 823 Abs. 1 BGB, bei Verstoß gegen § 48a Abs. 6 FeV auch nach § 823 Abs. 2 BGB.26

4.14

(g) Überlassung an einen Dritten. Führer ist nicht, wer zwar vom Halter die Erlaubnis hat, das Kfz zu führen, von dieser Erlaubnis aber keinen Gebrauch macht, sondern die Führung einer dritten Person überlässt.27

4.15

(h) Fernsteuerung. Der Führer muss sich nicht im Fahrzeug befinden. Wird das Kfz von außen gesteuert (was im öffentlichen Straßenverkehr derzeit nicht zulässig ist28), gilt § 18 StVG für denjenigen, der die Steuerung bedient (Operator).

4.16

(i) Automatisiertes Fahren. Ein vollständig autonomes Fahren, bei dem das Fahrzeug sämtliche Fahraufgaben völlig selbständig übernimmt und kein Führer mehr kontrollierend oder steuernd eingreift, ist auf öffentlichen Straßen bisher weder technisch noch rechtlich möglich. Nach Art. 8 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über den Straßenverkehr vom 8.11.1968 muss jedes Fahrzeug, wenn es in Bewegung ist, einen Führer haben. § 1a StVG i.d.F. des Gesetzes v. 16.6.2017 (BGBl. I 1648) ermöglicht jedoch den Betrieb von Kfz mittels hoch- oder

4.17

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

BGH v. 22.3.1977 – VI ZR 80/75, VersR 1977, 624, 625. BGH v. 29.3.1960 – 4 StR 55/60, BGHSt 14, 185. A.A. OLG Hamm VRS 15, 134, 135. OLG Düsseldorf v. 29.9.1981 – 2 Ss 426/81-219/81 II, VRS 62, 193 (wo allerdings für § 24a StVG Führen eines Kfz verneint wird). Vgl. BayObLG v. 30.11.1983 – RReg.1 St 225/83, VRS 66, 202, 203. Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 316. KG v. 27.12.1956 – 1 Ss 399/56, VRS 12, 110. OLG Oldenburg v. 17.12.1974 – 1 Ss 134/74, VRS 48, 356. BGH v. 22.3.1977 – VI ZR 80/75, VersR 1977, 624. Geigel/Kaufmann Kap. 25 Rz. 318; Fischinger/Seibl NJW 2005, 2888; Lang/Stahl/Huber NZV 2006, 452. Vgl. auch BT-Drucks. 15/5315, 8 sowie Rz. 14.300, 14.315. RG v. 16.4.1917 – VI 41/17, RGZ 90, 157, 158. Lutz/Tang/Lienkamp NZV 2013, 57 ff.

Greger | 145

§ 4 Rz. 4.17 | Haftung des Kfz-Führers

vollautomatisierter Fahrfunktion.29 Bei dieser Stufe der Automatisierung wird die Fahrzeugsteuerung einschließlich Längs- und Querführung von der technischen Ausrüstung selbständig übernommen, sie bleibt aber von einem Fahrzeugführer übersteuerbar und deaktivierbar (§ 1a Abs. 2 StVG). Führer i.S.d. § 18 StVG ist daher auch, wer, ohne das Kfz eigenhändig zu steuern, eine hoch- oder vollautomatisierte Fahrfunktion aktiviert und zur Fahrzeugsteuerung verwendet (§ 1a Abs. 4 StVG). Er behält diese Eigenschaft auch dann, wenn er sich vom Verkehrsgeschehen abwendet (zu den hierbei zu beachtenden Pflichten s. Rz. 4.33).

2. Mehrere Führer eines Kfz 4.18

Teilen sich zwei Personen die Bedienung des Kfz (etwa indem der eine lenkt, der andere Gas gibt), so sind beide gemeinschaftlich Führer des Kfz,30 sofern es nicht nur um die Leistung von Hilfsdiensten (Rz. 4.13) geht. Betätigt ein des Fahrens Unkundiger Lenkrad und Gaspedal und hält sich der Beifahrer lediglich zum Eingreifen bereit, kann nicht von einem gemeinsamen Führen ausgegangen werden.31 Das kurze Eingreifen des Beifahrers in die Lenkung ist kein Führen.32 Zum Fahrlehrer s. Rz. 4.20 f.

3. Dauer der Verantwortlichkeit 4.19

Sie beginnt, sobald das Kfz in Bewegung gesetzt wird, und endet mit dem Betrieb oder mit der Übernahme der Führung durch einen anderen. Das abgestellte Kfz kann zwar i.S.d. § 7 Abs. 1 StVG noch „in Betrieb“ sein; einen Führer hat es jedoch nicht mehr. Denkbar sind allerdings Nachwirkungen der Führereigenschaft: So kann der Führer auch für einen Unfall haftbar sein, der sich lange nach Beendigung der Fahrt aufgrund unterwegs verlorener Ladung ereignet. Auch der Führer eines Gespanns, der den Anhänger im Verkehrsraum abgestellt hat, bleibt verantwortlich.

4. Fahrschulfahrten a) Haftung des Fahrlehrers 4.20

Nach § 2 Abs. 15 Satz 2 StVG gilt bei Übungs-, Prüfungs- und Begutachtungsfahrten, bei denen der tatsächliche Führer des Kfz keine entsprechende Fahrerlaubnis besitzt, nicht dieser, sondern der Fahrlehrer oder Fahrlehreranwärter als Führer i.S.d. § 18 StVG.33 Dies gilt auch auf nicht öffentlichen Straßen und auch bei der Motorradausbildung durch einen vorausfahrenden Lehrer: dieser ist also im haftungsrechtlichen Sinn gleichzeitig Führer zweier Fahrzeuge.34

b) Haftung des Fahrschülers 4.21

Der Übende ist nicht „Führer“ i.S.d. § 18 StVG; die Gefährdungshaftung des StVG trifft ihn also nicht. Allerdings kann er bei schuldhaftem Verhalten nach allgemeinen Verschuldens29 30 31 32

Zur Abgrenzung und zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen s. § 1a StVG. BGH v. 9.7.1959 – 2 StR 240/59, BGHSt 13, 226. A.A. OLG Braunschweig v. 10.8.1956 – Ss 114/56, VRS 11, 451, 452. OLG Hamm v. 21.4.1969 – 4 Ss 227/69, NJW 1969, 1975, 1976; Hofmann NZV 1999, 153 (auch zur versicherungsrechtlichen Situation). 33 Zur fehlenden Führereigenschaft im straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sinn s. BGH v. 23.9.2014 – 4 StR 92/14, BGHSt 59, 311. 34 Vgl. auch zur versicherungsrechtlichen Situation OLG Köln v. 6.7.1989 – 5 U 260/88, NZV 1990, 313.

146 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 4.26 § 4

grundsätzen haftpflichtig werden, auch zusammen mit dem Halter (und dem Begleiter, d.h. dem „Führer“) mitverantwortlich und im Innenverhältnis diesem allein verantwortlich sein. Zum Verschuldensmaßstab bei der deliktischen Haftung s. Rz. 10.55; zur Haftung aus dem Ausbildungsvertrag s. Rz. 16.45. Inhaber einer Fahrerlaubnis nach § 6e StVG i.V.m. § 48a FeV („Begleitetes Fahren ab 17“) sind keine Fahrschüler im vorstehenden Sinn; sie können sich auch nicht wegen eines fehlerhaften Ratschlags des Begleiters entlasten.35

4.22

III. Entlastungsbeweis 1. Gegenstand des Beweises Um die durch § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG begründete Vermutung (s. Rz. 4.2) zu entkräften, hat der Führer zu beweisen, dass ihn kein Verschulden i.S.d. § 276 BGB, also weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit, trifft. Er muss demnach, anders als der Halter, nicht beweisen, dass höhere Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG oder ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG vorliegt. Seine Haftung entfällt auch dann, wenn der Unfall durch einen Fehler in der Beschaffenheit des Kfz oder durch ein Versagen seiner Vorrichtungen entstanden ist; jedoch muss er dann beweisen, dass ihn am Nichterkennen oder -beheben der Mängel vor dem Unfall kein Verschulden trifft.

4.23

Der Entlastungsbeweis wird dadurch geführt, dass der tatsächliche Ablauf der zum Unfall führenden Umstände und Ereignisse zur Überzeugung des Gerichts dargelegt und im Falle des Bestreitens unter Beweis gestellt wird. Ergibt sich daraus, dass dem Führer kein schuldhaft verkehrswidriges Verhalten vorgeworfen werden kann (s. dazu Rz. 4.27 ff.) oder dass zwar ein solches vorliegt, für den eingetretenen Schaden aber nicht kausal wurde (s. Rz. 10.21 ff.), so entfällt die Haftung des Führers. Bleibt unklar, wie sich der Unfall ereignet hat, so hat der Führer zu beweisen, dass ihn bei keinem der möglichen Geschehensabläufe ein Verschulden träfe.36 Ansonsten bleibt die Vermutung zu seinen Ungunsten bestehen.

4.24

2. Anforderungen an den Beweis Bei der Beweiswürdigung ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass es bei der Beschränkung der Mittel menschlichen Erkennens schwierig ist, das Fehlen eines Verschuldens oder eines Kausalzusammenhangs zu beweisen (sog. Negativbeweis). Bei typischen Geschehensabläufen können die Grundsätze des Anscheinsbeweises (s. Rz. 41.56 ff.) zum Tragen kommen.

4.25

3. Maß der Sorgfalt Der Führer des Kfz hat die Schuldvermutung des § 18 StVG widerlegt, wenn er bewiesen hat, dass er sich so verhalten hat, wie dies jeder andere ordentliche Kfz-Führer (nicht der „denkbar beste“ wie bei der Halterhaftung) unter den gegebenen Umständen auch getan hätte. Er muss die Beachtung derjenigen Sorgfalt beweisen, die man auch dann, wenn man die vom Straßenverkehr ausgehenden erheblichen Gefahren im Auge behält, bei einer Verkehrslage der hier vorliegenden Art allgemein für ausreichend erachtet. Mithin ist der Umstand, dass der Führer

35 Fischinger/Seibl NJW 2005, 2886, 2888; Lang/Stahl/Huber NZV 2006, 449, 451. 36 BGH v. 11.6.1974 – VI ZR 37/73, VersR 1974, 1030, 1031.

Greger | 147

4.26

§ 4 Rz. 4.26 | Haftung des Kfz-Führers

eine ungewöhnliche Verkehrssituation nicht meistern konnte, noch kein Anzeichen für mangelnde Sorgfalt. Reagiert er unrichtig auf das verkehrswidrige Verhalten eines anderen, so ist das nicht schuldhaft, wenn er ohne eigenes Verschulden in die Gefahrenlage gekommen ist und keine Zeit mehr zu ruhiger Überlegung hatte.37 Für die Haftung kommt es nicht darauf an, ob der Schädiger nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage war, die Gefahr richtig abzuschätzen. Maßgebend ist vielmehr, was von ihm objektiv an Sorgfalt erwartet werden konnte; die Beobachtung der üblichen Sorgfalt reicht nicht. Andererseits wird nicht die für den Entlastungsbeweis nach § 17 Abs. 3 StVG erforderliche äußerste Sorgfalt verlangt. Auf die Haftungsprivilegierung nach §§ 708, 1359 und 1664 BGB kann sich der Führer auch hier nicht berufen (s. Rz. 10.57).38

4. Einzelfälle 4.27

Verstöße gegen StVO und StVZO. Der Führer muss beweisen, dass er nicht gegen Vorschriften der StVO und der StVZO verstoßen hat, d.h. er muss Beweis für einen Unfallhergang erbringen, bei dem ihn kein entsprechender Vorwurf trifft. Wegen der Sorgfaltspflichten im Einzelnen s. Rz. 14.8 ff.

4.28

Alkohol. Der Führer muss nicht beweisen, dass er zum Unfallzeitpunkt nicht unter Alkoholeinfluss stand, wenn dafür keine Anhaltspunkte bestehen. Aber selbst wenn Anzeichen für (absolute oder relative) Fahruntüchtigkeit vorliegen, kann er sich durch den Nachweis fehlender Kausalität für das Unfallgeschehen entlasten.39

4.29

Fahrlehrer. Bei ihm liegt der haftungsbegründende Verstoß (außer bei fehlerhaftem Eingreifen in die Fahrzeugführung) nicht im eigenen verkehrswidrigen Verhalten beim Lenken des Fahrzeugs, sondern nur im pflichtwidrigen Nichtverhindern entsprechender Fahrfehler des Übenden. An die Stelle der Unaufmerksamkeit als Fahrer tritt beim Fahrlehrer die Unaufmerksamkeit als Begleiter und Überwacher des Fahrschülers.40 Um sich zu entlasten, muss der Fahrlehrer also beweisen, dass er den Schüler nicht nur ständig im Auge behalten, sondern auch seine Fahrweise sorgfältig überwacht hat. Er muss in der Lage sein, sofort einzugreifen.41

4.30

Unbefugte Benutzung des Kfz. Kommt es bei unberechtigter Benutzung eines Kfz zu einem Unfall, so kann nicht nach § 18 StVG vermutet werden, der letzte berechtigte Führer habe die Schwarzfahrt schuldhaft ermöglicht; dies müsste vielmehr bewiesen werden. § 18 StVG soll seinem Sinn und Zweck nach nur für solche Pflichtwidrigkeiten die Beweislast umkehren, die mit dem Führen des Kfz in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Auch würde der Führer sonst bei Schwarzfahrt wesentlich schärfer haften als der Halter (vgl. § 7 Abs. 3 Satz 1 StVG).

4.31

Automatisiertes Fahren. Der Fahrer (zur Führereigenschaft s. Rz. 4.17) ist entlastet, wenn er nachweisen kann, dass der Unfall auf einem für ihn nicht erkenn- und beherrschbaren Fehler des Systems beruht (zur Haftung des Halters in solchen Fällen s. Rz. 3.301, zur Herstellerhaftung s. Rz. 6.6 ff.). Ist von der ordnungsgemäßen Funktion der Automatik auszugehen, muss der Führer nachweisen, dass er die Funktion bestimmungsgemäß (z.B. nicht bei laut Systembeschreibung ausgenommenen Verkehrs- oder Wetterlagen) verwendet hat (§ 1a Abs. 1

37 38 39 40 41

BGH v. 15.6.1971 – VI ZR 195/69, VersR 1971, 909. Kunschert NJW 2003, 950, 951. BGH v. 10.1.1995 – VI ZR 247/94, NZV 1995, 145. BGH v. 15.3.1972 – IV ZR 17/71, NJW 1972, 869, 870. BGH v. 16.9.1969 – VI ZR 80/68, VersR 1969, 1037, 1038.

148 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 4.33 § 4

StVG).42 Ist auch dies gegeben, muss er zur Entkräftung der Schuldvermutung des Weiteren beweisen, dass er nicht unsachgemäß in die Steuerung eingegriffen, etwa bei Erkennen der Gefahrenlage einen Brems- oder Ausweichvorgang eingeleitet hat, statt die Reaktion dem System zu überlassen, bzw. dass er bei berechtigter Übernahme der Steuerung verkehrsgerecht agiert hat. Hierbei kommt es auf die Gefahrenlage im Zeitpunkt der Übernahme der Steuerfunktion an; er haftet daher z.B. nicht für das Anfahren eines Fußgängers, welches nachweisbar bei fortwährender Beobachtung des Verkehrsgeschehens, aber nicht mehr bei Übernahme der Steuerung vermeidbar gewesen wäre.43 Ein Verschulden des Führers kann aber auch darin liegen, dass er nicht in die Steuerung eingegriffen hat. Nach § 1b Abs. 2 Nr. 1 StVG ist er verpflichtet, unverzüglich die Steuerung zu übernehmen, wenn er vom System dazu aufgefordert worden war. Hat es vor dem Unfall eine solche Aufforderung gegeben (was vom System nach § 63a Abs. 1 StVG dokumentiert wird), muss er beweisen, dass der Unfall auch durch sein Eingreifen nicht verhindert worden wäre. Auch ohne eine solche Aufforderung ist der Führer aber verpflichtet, die Steuerung unverzüglich wieder zu übernehmen, wenn er erkennt oder auf Grund offensichtlicher Umstände erkennen muss, dass die Voraussetzungen für eine bestimmungsgemäße Verwendung der Automatik nicht mehr vorliegen (§ 1b Abs. 2 Nr. 2 StVG). In solchen Fällen, d.h. bei Auffälligkeiten des Fahrverhaltens oder bei Auftreten von Situationen, für die das System nach der Beschreibung des Herstellers nicht vorgesehen ist (z.B. besondere Verkehrslagen, Wetteroder Straßenverhältnisse) kann er sich nur durch den Nachweis entlasten, dass er die offenkundigen Umstände trotz ständiger Wahrnehmungsbereitschaft und gebotener Sorgfalt (§ 122 Abs. 2 i.V.m. § 276 Abs. 2 BGB) nicht erkennen oder auf das Erkennen nicht mehr unfallvermeidend reagieren konnte.

4.32

Das Gesetz stellt damit Anforderungen an das Verhalten des Führers, die mit den Erwartungen an die Vorzüge des automatisierten Verfahrens schwer zu vereinbaren sind.44 Trotz der in § 1b Abs. 1 StVG zugestandenen Befugnis, sich vom Verkehrsgeschehen abzuwenden, muss er nach dessen Halbs. 2 derart wahrnehmungsbereit bleiben, dass er bei Eintritt der vorgenannten Voraussetzungen „jederzeit“ seiner Pflicht zur Übernahme der Steuerung „unverzüglich“ nachkommen kann. Kann er dies nicht beweisen, greift die Haftung nach § 18 StVG ein, sofern er nicht den Nachweis fehlender Kausalität führen kann. Wegen ihrer Unbestimmtheit ruft die Regelung erhebliche Rechtsunsicherheit hervor. Mit der ständigen Wahrnehmungsbereitschaft sicher nicht zu vereinbaren ist es, wenn der Fahrer sich dem Schlaf hingibt, den Fahrersitz in Liegeposition bringt oder ganz verlässt. Aber auch Aktivitäten, die seine Aufmerksamkeit erheblich ablenken, wie z.B. die Zuwendung zu Kindern auf dem Rücksitz, der Austausch von Zärtlichkeiten, der Wechsel von Kleidungsstücken, das Betrachten eines Videos oder das Lesen von Akten, stellen die ständige Wahrnehmungsbereitschaft in Frage. Kritisch wird es beim Bedienen eines fahrzeugfremden Geräts (z.B. Smartphone, Tablet) oder bei der beidhändigen Einnahme einer Mahlzeit.45

4.33

42 Auf die damit verbundenen, sehr hohen Anforderungen an das Vertrautmachen mit den Herstellervorgaben weisen Lüdermann/Sutter/Vogelpohl NZV 2018, 411, 412 f. zu Recht kritisch hin. 43 Greger NZV 2018, 1, 2; Freise VersR 2019, 65, 75; Buck-Heeb/Diekmann NZV 2019, 113, 119. 44 Nach Schirmer NZV 2017, 253, 256 bereitet sie den Weg zu einer Erfolgshaftung des Fahrers. Näher Greger NZV 2018, 1, 3; Armbrüster ZRP 2017, 83 f.; König NZV 2017, 249, 251; optimistischer Buck-Heeb/Diekmann NZV 2019, 113, 119. 45 Greger NZV 2018, 1, 3; eingehend, auch aus verkehrspsychologischer Sicht Lüdermann/Sutter/Vogelpohl NZV 2018, 411, 413 ff. Auf die konkrete Verkehrssituation abstellend Buck-Heeb/Diekmann NZV 2019, 113, 117 ff.

Greger | 149

§ 4 Rz. 4.34 | Haftung des Kfz-Führers

4.34

Technischer Mangel. Ist der Unfall auf einen solchen (z.B. unzureichende Wirkung der Bremsen) zurückzuführen, muss der Führer nachweisen, dass er diesen nicht kannte. Dies wird bei auffälligen Störungen im Fahrverhalten46 nicht gelingen.

4.35

Autorennen. Bei Rennen auf geschlossener Bahn ist auf die unter Rennfahrern übliche Sorgfalt abzustellen.47 Die Rennfahrer dürfen aber nicht solche Risiken eingehen, die für sie ersichtlich zu einer Schädigung von Zuschauern führen können.48

IV. Verhältnis zu Halter und Eigentümer des geführten Kfz 1. Haftung gegenüber Dritten und Regress 4.36

Führer und Halter desselben Fahrzeugs oder Gespanns (s. Rz. 3.113) haften, sofern sich der Führer nicht durch Nachweis seiner Schuldlosigkeit entlasten kann, gegenüber Dritten gesamtschuldnerisch im Rahmen einer Haftungseinheit (s. Rz. 39.31). Der Innenausgleich zwischen Halter und Führer fällt nicht unter § 18 Abs. 3, § 17 StVG, denn die Betriebsgefahr ist in diesem Ausgleichsverhältnis kein sinnvolles Abwägungselement.49 Er richtet sich nach § 426 BGB (was § 19a Abs. 2 Satz 2 StVG n.F. für das Verhältnis zwischen Halter und Führer eines Gespanns ausdrücklich klarstellt50). Bei Fehlen anderweitiger Regelung hat daher – im Rahmen der Haftung nach dem StVG – im Innenverhältnis grundsätzlich jeder die Hälfte des Schadens zu tragen (§ 426 Abs. 1 BGB).51 Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn (nur) einem von ihnen ein schuldhaftes Handeln nachgewiesen werden kann; dieser ist dann im Innenverhältnis allein verpflichtet (s. § 840 Abs. 3 BGB). Da der Führer in der Kfz-Haftpflichtversicherung mitversichert ist, hat die Frage kaum praktische Bedeutung. Soweit Schadensersatzansprüche des Verletzten aus unerlaubter Handlung die Grenzen der im StVG gesetzten Regelung überschreiten, ist auch im Außenverhältnis der schuldhaft handelnde Führer alleiniger Schuldner.

4.37

Ist der Führer Arbeitnehmer des Halters und wurde die Fahrt im Rahmen des Arbeitsverhältnisses ausgeführt, so gelten die arbeitsrechtlichen Sondervorschriften (Rz. 22.67 ff.).52 Der Arbeitgeber ist mithin i.d.R. verpflichtet, den Arbeitnehmer von Schadensersatzansprüchen aus einem Unfall, der durch dessen verkehrswidriges Verhalten entstanden ist, ganz oder teilweise freizustellen. Beruht allerdings der Unfall darauf, dass der Arbeitnehmer seine Pflichten aus dem Dienstvertrag gröblich verletzt hat (z.B. durch Vernachlässigen der Verkehrssicherheit des Kfz), hat im Innenverhältnis der Arbeitnehmer den Schaden zu tragen. Ist der Führer Beamter und der Halter sein Dienstherr, so schließt die Haftung der Körperschaft nach Art. 34 GG eine Haftung des Beamten nach § 18 aus (Rz. 4.8); der Rückgriff richtet sich nach den beamtenrechtlichen Vorschriften.

46 47 48 49 50 51 52

Vgl. OLG Düsseldorf v. 5.5.1969 – 12 U 59/68, VersR 1970, 67. BGH v. 7.4.1952 – III ZR 363/51, VRS 4, 332. BGH v. 4.12.1990 – VI ZR 300/89, VersR 1991, 1033. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 71/68, VersR 1970, 63, 64; Langenick NZV 2011, 577, 579. Vgl. BT-Drs. 19/17964, 20. OLG Frankfurt v. 13.1.1982 – 13 U 117/80, VersR 1983, 926. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 71/68, VersR 1970, 63, 64.

150 | Greger

IV. Verhältnis zu Halter und Eigentümer des geführten Kfz | Rz. 4.39 § 4

2. Haftung für Schäden des Halters Für solche Schäden haftet der Führer nicht nach § 18 StVG.53 Dies folgt aus der Bezugnahme auf § 7 StVG (kein Anspruch des Halters bei Schädigung durch sein eigenes Kfz; s. Rz. 21.9). In Betracht kommen jedoch deliktische Ansprüche. Auf diese braucht sich der Halter wegen der spiegelbildlichen Anwendung des § 8 Nr. 2 StVG die Betriebsgefahr des eigenen Kfz nicht anrechnen zu lassen (s. Rz. 25.94), sofern es sich nicht um die Beschädigung einer zufällig in den Gefahrenkreis des Kfz gelangten anderen Sache des Halters handelt (s. Rz. 22.10). Zu der umstrittenen Frage, ob der Halter einen Direktanspruch gegen seinen Haftpflichtversicherer hat, s. Rz. 15.11.

4.38

3. Haftung gegenüber dem Eigentümer des geleasten Kfz Für die an § 7 StVG anknüpfende Fahrerhaftung gilt das zur entsprechenden Frage bei der Halterhaftung (s. Rz. 21.15) Ausgeführte sinngemäß.54

53 OLG Hamm v. 2.4.2015 – 6 U 173/14, NZV 2016, 219, 220; Hentschel/König/Dauer § 18 StVG Rz. 3; offenlassend BGH v. 27.2.2018 – VI ZR 109/17 Rz. 11, VersR 2018, 624. 54 Nugel NZV 2009, 313, 315; Schiemann NZV 2010, 5, 6.

Greger | 151

4.39

§5 Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung des Bahnunternehmers . . . . 1. Begriff der Schienen- oder Schwebebahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ . . . . a) Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beendigung des Betriebs . . . . . . . . . . . c) Kausalität des Betriebs . . . . . . . . . . . . . d) Keine Beschränkung auf typische Bahngefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Einzelfälle (mit Bezug zum Straßenverkehr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ersatzpflichtige . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausschluss der Haftung des Bahnunternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Allgemeiner Entlastungsbeweis wegen höherer Gewalt (§ 1 Abs. 2 HaftpflG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Besonderer Entlastungsbeweis wegen Unabwendbarkeit (§ 13 Abs. 3, 4 HaftpflG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . aa) Örtliche Voraussetzung . . . . . . . . bb) Persönliche Voraussetzung . . . . . . b) Anforderungen an den Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1 5.7 5.7 5.11 5.11 5.12 5.13 5.14 5.15 5.17 5.18 5.20

5.23 5.23 5.24

5.26 5.26 5.27 5.30

c) III. 1. 2. a) b) 3. 4. IV. 1. 2. 3. 4. V.

1. 2. 3. a) b) c) 4. 5.

Einzelfälle (s. auch Rz. 14.258 ff.) . . . . Haftung des Luftfahrzeughalters . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . . Betrieb eines Luftfahrzeugs . . . . . . . . . Unfall beim Betrieb des Luftfahrzeugs Ersatzpflichtiger . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährdungshaftung bei Gewässerverunreinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsgebiet und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . Ersatzberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung des Betreibers von Leitungs-, Abbau- und Industrieanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des § 2 HaftpflG . . . . . . . Schäden durch Stromleitungen . . . . . Schäden durch Wasserleitungen . . . . Wirkungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . Zustandshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsbeschränkung . . . . . . . . . . . . Sonstige Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des § 3 HaftpflG . . . . . . .

5.35 5.40 5.40 5.41 5.41 5.42 5.44 5.45 5.46 5.46 5.47 5.48 5.49

5.50 5.50 5.51 5.54 5.54 5.56 5.57 5.58 5.59

5.33

§ 1 HaftpflG (1) Wird bei dem Betrieb einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Betriebsunternehmer dem Geschädigten zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. (2) Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht ist. (3) Die Ersatzpflicht ist ferner ausgeschlossen, wenn eine 1. zur Aufbewahrung angenommene Sache beschädigt wird; 2. beförderte Sache beschädigt wird, es sei denn, dass ein Fahrgast sie an sich trägt oder mit sich führt.

Greger | 153

§ 5 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen § 2 HaftpflG (1) Wird durch die Wirkungen von Elektrizität, Gasen, Dämpfen oder Flüssigkeiten, die von einer Stromleitungs- oder Rohrleitungsanlage oder einer Anlage zur Abgabe der bezeichneten Energien oder Stoffe ausgehen, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Inhaber der Anlage verpflichtet, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Das Gleiche gilt, wenn der Schaden, ohne auf den Wirkungen der Elektrizität, der Gase, Dämpfe oder Flüssigkeiten zu beruhen, auf das Vorhandensein einer solchen Anlage zurückzuführen ist, es sei denn, dass sich diese zur Zeit der Schadensverursachung in ordnungsmäßigem Zustand befand. Ordnungsmäßig ist eine Anlage, solange sie den anerkannten Regeln der Technik entspricht und unversehrt ist. (2) Abs. 1 gilt nicht für Anlagen, die lediglich der Übertragung von Zeichen oder Lauten dienen. (3) Die Ersatzpflicht nach Abs. 1 ist ausgeschlossen, 1. wenn der Schaden innerhalb eines Gebäudes entstanden und auf eine darin befindliche Anlage (Abs. 1) zurückzuführen oder wenn er innerhalb eines im Besitz des Inhabers der Anlage stehenden befriedeten Grundstücks entstanden ist; 2. wenn ein Energieverbrauchgerät oder eine sonstige Einrichtung zum Verbrauch oder zur Abnahme der in Abs. 1 bezeichneten Stoffe beschädigt oder durch eine solche Einrichtung ein Schaden verursacht worden ist; 3. wenn der Schaden durch höhere Gewalt verursacht worden ist, es sei denn, dass er auf das Herabfallen von Leitungsdrähten zurückzuführen ist. § 3 HaftpflG Wer ein Bergwerk, einen Steinbruch, eine Gräberei (Grube) oder eine Fabrik betreibt, haftet, wenn ein Bevollmächtigter oder ein Repräsentant oder eine zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommene Person durch ein Verschulden in Ausführung der Dienstverrichtungen den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen herbeigeführt hat, für den dadurch entstandenen Schaden. § 13 HaftpflG (1) Sind nach den §§ 1, 2 mehrere einem Dritten zum Schadensersatz verpflichtet, so hängt im Verhältnis der Ersatzpflichtigen untereinander Pflicht und Umfang zum Ersatz von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden überwiegend von dem einen oder dem anderen verursacht worden ist. (2) Wenn der Schaden einem der nach §§ 1, 2 Ersatzpflichtigen entstanden ist, gilt Abs. 1 auch für die Haftung der Ersatzpflichtigen untereinander. (3) Die Verpflichtung zum Ersatz nach den Abs. 1 und 2 ist für den nach § 1 zum Schadensersatz Verpflichteten ausgeschlossen, soweit die Schienenbahn innerhalb des Verkehrsraumes einer öffentlichen Straße betrieben wird und wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht ist, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit der Fahrzeuge oder Anlagen der Schienenbahn noch auf einem Versagen ihrer Vorrichtungen beruht. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Betriebsunternehmer als auch die beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet haben. Der Ausschluss gilt auch für die Ersatzpflicht gegenüber dem Eigentümer einer Schienenbahn, der nicht Betriebsunternehmer ist. (4) Die Abs. 1 bis 3 gelten entsprechend, wenn neben den nach den §§ 1, 2 Ersatzpflichtigen ein anderer für den Schaden kraft Gesetzes verantwortlich ist.

154 | Greger

I. Überblick | Rz. 5.3 § 5 § 33 LuftVG (1) Wird beim Betrieb eines Luftfahrzeugs durch Unfall jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter des Luftfahrzeugs verpflichtet, den Schaden zu ersetzen. Für die Haftung aus dem Beförderungsvertrag gegenüber einem Fluggast sowie für die Haftung des Halters militärischer Luftfahrzeuge gelten die besonderen Vorschriften der §§ 44 bis 54. Wer Personen zu Luftfahrern ausbildet, haftet diesen Personen gegenüber nur nach den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften. (2) Benutzt jemand das Luftfahrzeug ohne Wissen und Willen des Halters, so ist er an Stelle des Halters zum Ersatz des Schadens verpflichtet. Daneben bleibt der Halter zum Ersatz des Schadens verpflichtet, wenn die Benutzung des Luftfahrzeugs durch sein Verschulden ermöglicht worden ist. Ist jedoch der Benutzer vom Halter für den Betrieb des Luftfahrzeugs angestellt oder ist ihm das Luftfahrzeug vom Halter überlassen worden, so ist der Halter zum Ersatz des Schadens verpflichtet; die Haftung des Benutzers nach den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften bleibt unberührt. § 89 WHG (1) 1Wer in ein Gewässer Stoffe einbringt oder einleitet oder wer in anderer Weise auf ein Gewässer einwirkt und dadurch die Wasserbeschaffenheit nachteilig verändert, ist zum Ersatz des daraus einem anderen entstehenden Schadens verpflichtet. 2Haben mehrere auf das Gewässer eingewirkt, so haften sie als Gesamtschuldner. (2) 1Gelangen aus einer Anlage, die bestimmt ist, Stoffe herzustellen, zu verarbeiten, zu lagern, abzulagern, zu befördern oder wegzuleiten, derartige Stoffe in ein Gewässer, ohne in dieses eingebracht oder eingeleitet zu sein, und wird dadurch die Wasserbeschaffenheit nachteilig verändert, so ist der Betreiber der Anlage zum Ersatz des daraus einem anderen entstehenden Schadens verpflichtet. 2Abs. 1 Satz 2 gilt entsprechend. 3Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Schaden durch höhere Gewalt verursacht wird.

I. Überblick Bei Straßenverkehrsunfällen kann auch die Gefährdungshaftung nach dem HaftpflG, dem LuftVG und dem WHG zum Tragen kommen. Sie steht ggf. neben gleichfalls gegebenen Ansprüchen aus unerlaubter Handlung oder Vertrag (vgl. § 12 HaftpflG, § 42 LuftVG).

5.1

(1) Das HaftpflG1 kann zur Anwendung kommen, wenn an einem Verkehrsunfall eine Schienen- oder Schwebebahn beteiligt ist (§ 1 HaftpflG). Die in § 2 HaftpflG begründete verschuldensunabhängige Haftung für Anlagen zur Übermittlung oder Abgabe von Energie oder Stoffen kann (z.B. bei herabhängenden Stromleitungen, unterspülten Fahrbahnen oder abgehobenen Kanaldeckeln) ebenfalls Bedeutung für das Verkehrshaftungsrecht erlangen. Auch von den in § 3 HaftpflG genannten Abbau- und Industrieanlagen können im Einzelfall Auswirkungen auf den Straßenverkehr ausgehen (s Rz. 5.59).

5.2

Die Haftung ist ausgeschlossen, wenn der Unternehmer beweist, dass der Unfall durch höhere Gewalt (s. Rz. 5.23 ff.) verursacht wurde (§ 1 Abs. 2, § 2 Abs. 3 Nr. 2 HaftpflG), unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 HaftpflG schon beim Nachweis der Unabwendbarkeit (s. Rz. 5.33 ff.). Von der Haftung für das Vorhandensein einer Anlage i.S.d. § 2 HaftpflG kann sich der Inhaber durch den Nachweis des ordnungsgemäßen Zustands entlasten; für das He-

5.3

1 Zur Entstehungsgeschichte s. 3. Aufl. vor § 1 HaftpflG Rz. 1 f.

Greger | 155

§ 5 Rz. 5.3 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

rabfallen von Leitungsdrähten (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 HaftpflG) und in den Fällen des § 3 HaftpflG muss jedoch ohne Entlastungsmöglichkeit gehaftet werden (s. Rz. 5.52, 5.59). Ausgeschlossen ist die Haftung des Weiteren für beförderte Sachen, die nicht von einem Fahrgast mitgeführt werden (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 HaftpflG; zum gleichlautenden § 8 Nr. 3 StVG s. Rz. 22.13 ff.). Zu sonstigen Haftungsausschlüssen s. § 22, zum Mitverschuldenseinwand (§ 4 HaftpflG) s. § 25.

5.4

Die Ersatzpflicht nach dem HaftpflG ist für Personenschäden unabdingbar (§ 7 Satz 1 HaftpflG; s. Rz. 22.35). Im Übrigen greifen z.T. haftungsbegrenzende Rechtsverordnungen ein (s. Rz. 22.2).

5.5

(2) Auch durch Luftfahrzeuge können Unfälle im Straßenverkehr verursacht werden, sei es durch unmittelbare oder durch mittelbare Einwirkung (Beispiele: Kollision mit Drohne, Rettungshubschrauber oder notlandendem Flugzeug, Unfall durch herabfallende Teile, Unfall durch Erschrecken über Fluglärm). Die Haftung für Unfälle durch Luftfahrzeuge ist durch §§ 33 ff. LuftVG als Gefährdungshaftung ähnlich jener nach dem StVG ausgestaltet; für den Halter des Luftfahrzeugs besteht jedoch nicht die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises.

5.6

(3) Eine Haftung nach § 89 Abs. 2 S 1 WHG kommt in Betracht, wenn bei einem Tankwagenunfall ein Gewässer verunreinigt wird. Der Halter haftet hierfür vorbehaltlich des Nachweises höherer Gewalt.

II. Haftung des Bahnunternehmers 1. Begriff der Schienen- oder Schwebebahnen 5.7

(a) Grundlegendes Merkmal der Schienenbahn ist die Bindung an eine Schiene, gleich aus welchem Werkstoff (z.B. Metall, Beton). Nicht unter § 1 HaftpflG fallen daher Kfz von Eisenbahnunternehmern (auch im Schienenersatzverkehr) oder Obusse2 (s. Rz. 3.17). Spurgebundene Busse (Dual-Mode-Busse) sowie durch eine elektronische oder optische Spurführung gesteuerte Fahrzeuge sind, solange die Spurbindung besteht, als Schienenbahnen, nach Verlassen der Spur als Kfz anzusehen.3 Rolltreppen und Rollsteige fallen nicht unter § 1 HaftpflG.4

5.8

(b) Weitere Voraussetzung ist, dass die Bahn der Beförderung von Personen oder Sachen über längere Strecken dient; schienengeführte Kräne,5 Zwei-Wege-Bagger, die innerhalb einer Gleisbaustelle Material aufnehmen und entladen6 oder Bahnen, die auf Vergnügungsplätzen im Kreise fahren, fallen daher nicht unter § 1 HaftpflG, wohl aber sog Museumsbahnen, Kleinbahnen in Ausstellungsgeländen u.Ä., denen neben der Unterhaltungs- auch eine Transportfunktion zukommt.7 Auch Bahnen in einem Industriewerk sind Schienenbahnen. Wodurch der Antrieb erfolgt, ist ohne Belang; es genügt daher auch der (alleinige) Einsatz von menschlicher Muskeltätigkeit oder die Bewegung durch Ausnutzung der Schwerkraft.8 2 Filthaut NZV 1995, 52, 53. 3 Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 24 f. 4 LG Hamburg v. 6.1.1978 – 81 S 56/77, VersR 1979, 922 mit zust. Anm. Klimke; Kunz, MDR 1982, 186; Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 8. 5 OLG Düsseldorf v. 14.1.1994 – 22 U 196/93, NZV 1995, 149; OLG Koblenz v. 16.9.2002 – 12 U 1802/00, NJW-RR 2003, 243 ff. 6 OLG Dresden v. 28.5.1998 – 4 U 3588/97, NZV 1999, 244. 7 Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 12. 8 RG v. 17.3.1879 – I 23/80, RGZ 1, 247, 252.

156 | Greger

II. Haftung des Bahnunternehmers | Rz. 5.13 § 5

(c) Steuerung durch einen Fahrzeugführer ist kein Wesensmerkmal. Auch führerlose Bahnen unterfallen dem HaftpflG.9

5.9

(d) Für Schwebebahnen gelten die vorstehenden Kriterien entsprechend mit dem einzigen Unterschied, dass die Fahrzeuge sich nicht auf erdgebundenen Schienen, sondern an Schienen oder Seilen schwebend fortbewegen. Auch Sessellifte fallen darunter,10 Schlepplifte11 und Kleinseilbahnen auf Spielplätzen12 dagegen nicht.

5.10

2. Das Merkmal „bei dem Betrieb“ a) Betrieb Er umfasst alle technischen Betriebsvorgänge, die unmittelbar zur Beförderung von Personen oder Sachen dienen einschließlich der sie unmittelbar vorbereitenden oder abschließenden Handlungen.13 Entscheidend ist der Zusammenhang mit dem Fahrbetrieb, denn aus ihm erwachsen die typischen Gefahren, die mit der Gefährdungshaftung abgedeckt werden sollen.14 Deshalb werden Unfälle nicht erfasst, die nur durch das Vorhandensein oder den Zustand einer Bahnanlage verursacht wurden,15 wie z.B. der Sturz eines Radfahrers auf einem Bahnübergang16 oder der Unfall durch Herabfallen einer Oberleitung.17 Bei Anlagen, die der Stromzuführung dienen, kommt aber u.U. Haftung aus § 2 HaftpflG in Betracht.

5.11

b) Beendigung des Betriebs Entsprechend den bei § 7 StVG angestellten normativen Wertungen (s. Rz. 3.56 ff.) ist nur das endgültig außerhalb des Verkehrsraums abgestellte Schienenfahrzeug als nicht mehr in Betrieb befindlich anzusehen;18 dagegen bleibt die Haftung nach § 1 HaftpflG bestehen, wenn etwa ein Straßenbahnwagen während der nächtlichen Betriebsruhe auf einer Straße abgestellt wird.19 Setzt sich ein abgestelltes Schienenfahrzeug von selbst in Bewegung, so fällt ein hierdurch verursachter Unfall unter § 1 HaftpflG, weil er auf die Vorhaltung von Fahrzeug und Fahrweg und die typische Verkehrsgefahr der Bahn zurückzuführen ist.

5.12

c) Kausalität des Betriebs Verursachung „bei dem Betrieb“ bedeutet prägende Kausalität eines Betriebsvorgangs für den Unfall (s. Rz. 3.67 ff., auch zur Bedeutung des örtlichen und zeitlichen Zusammenhanges).

9 Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 22. 10 Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 20; a.A. OLG Zweibrücken v. 31.5.1974 – 1 U 41/74, VersR 1975, 1013. 11 BGH v. 29.4.1960 – VI ZR 113/59, NJW 1960, 1345; BT-Drucks. 8/108, S 10. 12 OLG Hamm v. 30.11.1983 – 13 U 191/82, VersR 1985, 294. 13 BGH v. 11.12.1950 – III ZR 154/50, BGHZ 1, 17; BGH v. 5.3.1963 – VI ZR 15/62, NJW 1963, 1107. 14 Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 67. 15 Geigel/Kaufmann Kap. 26 Rz. 24. 16 OLG Hamm v. 16.6.1997 – 13 U 13/97, NZV 1998, 154. 17 A.A. RG JW 1900, 158; OLG Hamm v. 19.6.1995 – 6 U 55/94, NZV 1996, 30; beiläufig BGH v. 14.3.1995 – VI ZR 34/94, NZV 1995, 272, 274. 18 BGH v. 1.6.1976 – VI ZR 224/74, VersR 1976, 963. 19 OLG Düsseldorf VkBl 1952, 195.

Greger | 157

5.13

§ 5 Rz. 5.13 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

Durch Verschulden des Geschädigten oder eines Dritten wird der Kausalzusammenhang nicht unterbrochen (s. Rz. 3.79 ff.).

d) Keine Beschränkung auf typische Bahngefahren 5.14

Die Zurückführung eines Unfalls auf den Betrieb einer Bahn kann nicht mit dem Argument ausgeschlossen werden, dass sich der Unfall in gleicher Weise mit einem anderen Fahrzeug (z.B. Omnibus) hätte ereignen können. Ebenso wie sich die Haftung aus dem StVG nicht auf Gefahren beschränkt, die im Allgemeinen nur durch Kfz hervorgerufen werden (s. Rz. 3.64), beschränkt sich diejenige aus dem HaftpflG nicht auf ausschließlich bahnspezifische Gefahren.

e) Einzelfälle (mit Bezug zum Straßenverkehr) 5.15

Beim Betrieb entstanden sind nach der Rspr. neben Zusammenstößen mit Schienenfahrzeugen z.B. Unfälle durch Scheuen von Tieren vor dem fahrenden Zug,20 durch Erschrecken über das rasche Herannahen eines Bahnfahrzeugs,21 wegen Sichtbeeinträchtigung durch Dampf einer Lokomotive,22 durch Hineinfahren in eine geschlossene Bahnschranke23 oder durch aus dem fahrenden Zug geworfene Gegenstände.24

5.16

Nicht dem Betrieb zuzurechnen ist z.B. das Hängenbleiben eines Zweirads in Bahngleisen, die auf öffentlicher Straße verlaufen,25 oder der Zusammenstoß eines Kfz mit einem Fußgänger auf dem Weg von der oder zur Straßenbahn.26

3. Unfall 5.17

Wie bei § 7 StVG muss es sich um einen Personen- oder Sachschaden (s. Rz. 3.32) handeln, der auf einem Unfall (s. Rz. 3.30 f.) beruht (arg. § 1 Abs. 2 HaftpflG).27

4. Ersatzpflichtige 5.18

Die Ersatzpflicht nach § 1 HaftpflG trifft den Betriebsunternehmer, d.h. denjenigen, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Bahnbetrieb hat und die Bahn für eigene Rechnung betreibt.28 Dass die Bahnanlagen und Betriebsmittel im Eigentum des Betreffenden stehen, ist nicht erforderlich.29 Bei Trennung von Bahnbetrieb und -infrastruktur (§ 2 AEG) haften grundsätzlich beide Unternehmen (z.B. die DB Netz AG als Infrastruktur- und die DB Regio AG als Verkehrsunternehmen) als Gesamtschuldner, weil der Bahnbetrieb nur durch ihr Zu-

RG v. 11.12.1905 – VI 73/05, RGZ 62, 145. RG v. 30.1.1911 – VI 615/09, RGZ 75, 284, 285. BGH v. 21.11.1953 – VI ZR 82/52, BGHZ 11, 170. BGH v. 5.3.1963 – VI ZR 15/62, NJW 1963, 1107. BGH v. 10.3.1987 – VI ZR 123/86, VersR 1987, 781. BGH v. 8.4.1954 – III ZR 326/52, VRS 7, 20. BGH v. 13.11.1954 – VI ZR 199/53, VRS 8, 117. Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 124. BGH v. 8.1.1981 – III ZR 157/79, BGHZ 80, 1; BGH v. 23.4.1985 – VI ZR 154/83, VersR 1985, 765; Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 32 ff. 29 Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 31; Filthaut VersR 2001, 1348, 1350 m.w.N.

20 21 22 23 24 25 26 27 28

158 | Greger

II. Haftung des Bahnunternehmers | Rz. 5.22 § 5

sammenwirken möglich wird.30 Im Innenverhältnis richtet sich die Haftung nach der Verantwortung für die konkrete Gefahrenquelle. Das Verkehrsunternehmen kann das Infrastrukturunternehmen auch als Geschädigter aus § 1 HaftpflG in Anspruch nehmen, wenn die den Unfall auslösenden Ursachen dessen Risikobereich zuzuordnen sind.31 Keine Betriebsunternehmer sind mangels Verfügungsgewalt die Eigentümer, Halter und Einsteller von Waggons, die im Betrieb eines anderen Unternehmens befördert werden.32 Bei geteiltem Betrieb auf Gemeinschaftsanlagen ist verantwortlicher Unternehmer nur das für die betreffende Fahrt nach dem Plan zuständige Unternehmen.33 Haben dagegen mehrere Personen gemeinsam die Verfügungsbefugnis, so sind bei jeder Fahrt alle Personen (Mit-)Unternehmer. Der Betreiber eines Anschlussgleises haftet als Eisenbahninfrastrukturunternehmen nach § 1 HaftpflG.34

5.19

5. Ausschluss der Haftung des Bahnunternehmers Die Ersatzpflicht nach § 1 HaftpflG tritt ein, wenn der Geschädigte nachweist, dass derjenige, den er in Anspruch nimmt, Unternehmer einer Bahn ist, bei deren Betrieb durch Unfall ein Personen- oder Sachschaden entstanden ist, und dass die geltend gemachten Ersatzansprüche Schadensfolgen betreffen, die mit diesem Schaden zusammenhängen. Ist dieser Nachweis geführt, so ist es Sache des Unternehmers, den Entlastungsbeweis zu führen.

5.20

Die Anforderungen an diesen Entlastungsbeweis sind durch das 2. SchRÄndG der für die Kfz-Halterhaftung getroffenen, abgestuften Regelung in § 7 Abs. 2, § 17 Abs. 3 StVG angeglichen worden. Als Grundsatz gilt wie nach früherem Recht, dass die Haftung des Bahnunternehmers nur entfällt, wenn er nachweist, dass der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wurde (§ 1 Abs. 2 HaftpflG; dazu Rz. 5.23 ff.). Für Bahnen, die im Verkehrsraum einer öffentlichen Straße betrieben werden, also insbesondere Straßenbahnen, genügt jedoch gegenüber anderen Beteiligten, die ebenfalls einer Gefährdungshaftung unterworfen sind, der Beweis eines unabwendbaren Ereignisses (§ 13 Abs. 3, 4 HaftpflG; dazu Rz. 5.26 ff.). Bis zum 2. SchRÄndG galt dieser erleichterte Entlastungsbeweis bei allen Unfällen mit Schienenbahnen im öffentlichen Straßenraum (§ 1 Abs. 2 HaftpflG).

5.21

Im Übrigen kann die Haftung des Unternehmers, auch wenn er den Entlastungsbeweis nicht führen konnte, im Wege der Abwägung nach § 4 HaftpflG i.V.m. § 254 BGB, § 13 HaftpflG und § 17 StVG entfallen, sofern er einen weit überwiegenden Verursachungsbeitrag des Geschädigten beweist.

5.22

30 BGH v. 17.2.2004 – VI ZR 69/03, BGHZ 158, 130 = NZV 2004, 245, 246 mit Anm. Filthaut NZV 2004, 399; OLG Hamm v. 11.6.2015 – 6 U 145/14, NJW 2016, 332 (nicht geschlossene Schranke); Geigel/Kaufmann Kap. 26 Rz. 14; Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 56; Filthaut VersR 2001, 1351; Tavaloki Privatisierung und Haftung der Eisenbahnen, 2001, S. 212 f. 31 BGH v. 16.10.2007 – VI ZR 173/06, NZV 2008, 79 mit Anm. Greger (Versperrung des Fahrwegs durch einen Gegenstand oder ein Tier). 32 Österr. OGH ZVR 1999, 45; Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 40. 33 BGH v. 14.2.1963 – II ZR 19/61, VersR 1963, 745; Filthaut/Piontek/Kayser§ 1 Rz. 43. 34 Tavaloki Privatisierung und Haftung der Eisenbahnen, 2001, S. 214 f.; auf den Inhalt des Gleisanschlussvertrages abstellend dagegen BGH v. 23.4.1985 – VI ZR 154/83, VersR 1985, 764; Filthaut/Piontek/Kayser § 1 Rz. 46 ff.; Geigel/Kaufmann Kap. 26 Rz. 9.

Greger | 159

§ 5 Rz. 5.23 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

6. Allgemeiner Entlastungsbeweis wegen höherer Gewalt (§ 1 Abs. 2 HaftpflG) a) Begriff 5.23

Zur Begriffsbestimmung im Allgemeinen s. Rz. 3.263 ff.

b) Einzelfälle 5.24

In Betracht kommen insbesondere Unfälle durch Naturereignisse, die am Ort des Geschehens außergewöhnlich sind und durch zumutbare Maßnahmen nicht abgewendet werden können.35 Auch außergewöhnliche menschliche Handlungen (z.B. Sabotageakte, Selbsttötungen) können höhere Gewalt darstellen, wenn sie auch durch die äußerste, vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden können.36

5.25

Keine höhere Gewalt liegt – mangels Außergewöhnlichkeit – im Allgemeinen in folgenden Fällen vor: bei Zusammenstößen mit anderen Verkehrsteilnehmern,37 auch nach Durchbrechen der Bahnschranke;38 bei Zusammenstößen mit Weidevieh;39 bei Hinauswerfen von Gegenständen aus fahrenden Zügen;40 bei Verletzung eines Fahrgastes infolge einer Notbremsung.41

7. Besonderer Entlastungsbeweis wegen Unabwendbarkeit (§ 13 Abs. 3, 4 HaftpflG) a) Anwendungsbereich 5.26

Der erleichterte Entlastungsbeweis steht dem Bahnunternehmer nur dann offen, wenn die Schienenbahn zum Unfallzeitpunkt im Verkehrsraum einer öffentlichen Straße betrieben wurde (örtliche Voraussetzung) und wenn es um die Haftung gegenüber einem ebenfalls der Gefährdungshaftung unterliegenden Beteiligten geht (persönliche Voraussetzung). Letzteres ist der – missglückten – Vorschrift nicht klar zu entnehmen, folgt aber aus dem Sinnzusammenhang (s. Rz. 5.30). Der Gesetzgeber des 2. SchRÄndG bezweckte mit ihr die haftungsrechtliche Gleichbehandlung von Kfz und Bahnen im öffentlichen Verkehrsraum.42 Der KfzHalter wird durch § 17 Abs. 3, 4, § 19 Abs. 3 StVG bei der Haftung gegenüber einem anderen Kfz-, Anhänger- oder Tierhalter (bzw. -eigentümer) oder Bahnunternehmer insofern begünstigt, als er sich auch auf Unabwendbarkeit des Unfallereignisses berufen kann; damit sollte vor allem vermieden werden, dass es aufgrund der Umstellung des Entlastungsbeweises auf „höhere Gewalt“ vermehrt zu „Quotenfällen“ kommt, d.h. auch der Idealfahrer sich die Betriebsgefahr seines Kfz anrechnen lassen muss.43

35 Zur vorübergehenden Betriebseinstellung s. RG v. 13.12.1920 – VI 455/20, RGZ 101, 94. 36 BGH v. 1.6.1976 – VI ZR 224/74, VersR 1976, 963, 964. 37 BGH v. 15.11.1966 – VI ZR 280/64, VersR 1967, 138; BGH v. 15.3.1988 – VI ZR 115/87, NZV 1988, 100. 38 RG v. 30.5.1918 – VI 86/18, RGZ 93, 66. 39 BGH v. 16.10.2007 – VI ZR 173/06, NZV 2008, 79, 80. 40 BGH v. 10.3.1987 – VI ZR 123/86, VersR 1987, 781. 41 OLG Köln v. 23.11.1987 – 8 U 37/86, NZV 1989, 73. 42 BT-Drucks. 14/8780 S. 23. 43 BT-Drucks. 14/8780 S. 22.

160 | Greger

II. Haftung des Bahnunternehmers | Rz. 5.30 § 5

aa) Örtliche Voraussetzung Entscheidend sind die Verhältnisse am Unfallort, denn Bahngleise können streckenweise innerhalb, streckenweise außerhalb des Straßenraumes liegen.44 Innerhalb des Verkehrsraums einer öffentlichen Straße wird die Bahn dann betrieben, wenn ihr Gleiskörper seiner baulichen Gestaltung nach von Straßenverkehrsteilnehmern mitbenutzt werden kann. Daran fehlt es, wenn die Gleise von der Fahrbahn durch Randsteine, Geländer oder sonstige bauliche Einrichtungen derart getrennt sind, dass den anderen Verkehrsteilnehmern ein Befahren oder Begehen des von den Gleisen eingenommenen Raums nicht nur untersagt, sondern auch faktisch erheblich erschwert ist (§ 58 Abs. 1, § 16 Abs. 6 Satz 1 BOStrab). Das Vorhandensein weißer nicht unterbrochener Linien zwischen Fahrbahn und Gleis oder einer Schwelle von geringer Höhe, die (z.B. bei Ausweichmanövern) leicht überfahren werden kann, reicht nicht aus. Ist der Gleiskörper zum Befahren durch Fahrzeuge bestimmter Art (z.B. Omnibusse) freigegeben, so gehört er zum Verkehrsraum der Straße.45 Die Bahn liegt auch dann nicht außerhalb desselben, wenn sie zwar vom Kfz-Verkehr, nicht aber vom Fußgänger- oder Radfahrverkehr baulich abgesondert ist. Allein die Abschotterung des in der Straßenmitte verlaufenden Gleiskörpers oder seine Abtrennung durch eine Hecke oder ein häufig unterbrochenes Geländer46 reicht hierfür nicht aus.

5.27

An Kreuzungen zwischen Gleiskörper und Straße ist entscheidend, ob es sich der baulichen Gestaltung nach um einen Bahnübergang handelt oder ob die Bahn am Verkehr auf der Kreuzung wie ein Straßenfahrzeug teilnimmt. Straßenbahnen, die auf eigenem Gleiskörper in der Straßenmitte verlaufen, erhalten i.d.R. an Straßenkreuzungen keine Andreaskreuze (vgl. Ziff VI.2 der VwV zu Zeichen 201 der StVO); damit wird klargestellt, dass sie auf der Kreuzung am allgemeinen Straßenverkehr teilnehmen. Dasselbe gilt, wenn im Kreuzungsbereich abbiegende Kfz den Gleisbereich mitbenutzen. In solchen Fällen liegt das Gleis auf der Kreuzung im Verkehrsraum der öffentlichen Straße. Verlaufen die Gleise jenseits der Kreuzung nicht mehr auf eigenem Bahnkörper, so kann durch Aufstellung von Andreaskreuzen der Raum, auf dem das Gleis im Kreuzungsbereich verläuft, wirksam als noch zum Bahnkörper gehörig bezeichnet werden.47 Das Verkehrszeichen 205 (Vorfahrt gewähren!) reicht hierfür nicht aus.

5.28

Einzelne Überwege über eine ansonsten auf abgesonderter Trasse verlaufende Bahnstrecke ändern nichts an deren Lage außerhalb des Straßenraums. Anders kann es sich hingegen verhalten, wenn der Bahnkörper kurz hintereinander so viele Überwege und Überfahrten (z.B. zu Grundstücken) aufweist, dass die Eigenständigkeit gegenüber dem Straßenverkehr völlig zurücktritt.48

5.29

bb) Persönliche Voraussetzung Der erleichterte Entlastungsbeweis gilt – anders als bei Unfällen vor dem 1.8.2002 gem. § 1 Abs. 2 HaftpflG – nur in besonderen Haftungsbeziehungen. Zwar erstreckt § 13 Abs. 4 HaftpflG die Geltung des Abs. 3, der nach seinem Satz 1 lediglich den Innenausgleich und die Haftung zwischen mehreren nach §§ 1 und 2 HaftpflG Haftpflichtigen regelt, auf alle Fälle, in denen auch „ein anderer“ für den Unfallschaden verantwortlich ist. Bei wortlautgetreuer

44 45 46 47 48

Filthaut/Piontek/Kayser § 13 Rz. 28. A.A. Filthaut/Piontek/Kayser § 13 Rz. 25. BGH v. 6.11.1984 – VI ZR 26/83, VersR 1985, 86. BGH v. 12.1.1960 – VI ZR 220/58, DAR 1960, 137. Vgl. BGH v. 3.11.1961 – VI ZR 35/61, VersR 1962, 48 = 133 mit Anm. Böhmer; Filthaut/Piontek/ Kayser § 13 Rz. 27.

Greger | 161

5.30

§ 5 Rz. 5.30 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

Anwendung würde der erleichterte Entlastungsbeweis aber auch gegenüber unvorsichtigen Fußgängern oder Radfahrern gelten und damit in Widerspruch geraten mit dem vom 2. SchRÄndG verfolgten Ziel, schwächere Verkehrsteilnehmer haftungsrechtlich besser zu stellen; die Novellierung des § 1 Abs. 2 HaftpflG hätte an der bestehenden Rechtslage nichts geändert und verlöre ihren Sinn. Der Begriff des „anderen“ i.S.v. § 13 Abs. 4 HaftpflG ist daher teleologisch zu reduzieren auf die auch von §§ 17, 19 StVG erfassten Unfallbeteiligten; nur dies entspricht der gesetzgeberischen Absicht, die Anforderungen an den Entlastungsbeweis im StVG und im HaftpflG gleichzustellen (vgl. Rz. 5.26).

5.31

Die frühere Ansicht, die in § 17 Abs. 2 StVG a.F. eine den § 13 Abs. 2 HaftpflG a.F. verdrängende Sonderregelung sah,49 bezog sich lediglich auf die Abwägung der Betriebsgefahren; für die ganz andere Frage nach den Anforderungen an den Entlastungsbeweis, die jeweils gesondert – beim Kfz-Halter nach dem StVG, beim Bahnunternehmer nach dem HaftpflG – bestimmt werden müssen, kann sie nicht herangezogen werden.50

5.32

Die Berufung auf ein unabwendbares Ereignis steht dem Bahnunternehmer somit nur offen gegenüber – anderen Bahnunternehmern oder -eigentümern (§ 13 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 1 HaftpflG), – den Betreibern von Anlagen i.S.v. § 2 HaftpflG (§ 13 Abs. 3 Satz 2 HaftpflG),51 – den Haltern und Eigentümern von Kfz, Anhängern und Tieren (§ 13 Abs. 4 Satz 3 HaftpflG in StVG-konformer Auslegung; s. Rz. 5.30), – den Führern von Kfz oder nicht mit einem Zugfahrzeug verbundenen Anhängern (gem. dem Rechtsgedanken von § 18 Abs. 3, § 19a Abs. 3 StVG).

Gegenüber dem Führer eines anderen Schienenfahrzeugs verbleibt es dagegen bei der strengen Haftung nach § 1 Abs. 2 HaftpflG, weil dieser nicht in das auf Betriebsgefahren abstellende Haftungssystem einbezogen ist. Dasselbe gilt gegenüber anderen („nicht motorisierten“) Verkehrsteilnehmern sowie gegenüber Fahrgästen. In diesen Fällen kann sich ein Haftungsausschluss nur aus § 4 HaftpflG, § 254 BGB ergeben (s. Rz. 25.89 f., 25.262 ff.).

b) Anforderungen an den Entlastungsbeweis 5.33

Der Unternehmer muss – wie der Kfz-Halter nach § 17 Abs. 3 StVG – beweisen, dass der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde (§ 13 Abs. 3 Satz 1 HaftpflG). Die Rspr. zu § 17 Abs. 3 StVG (Rz. 3.284 ff.) kann mithin herangezogen werden.

5.34

Fehler in der Beschaffenheit von Fahrzeugen oder Anlagen oder Versagen ihrer Vorrichtungen führen, wenn hierauf der Unfall beruht, stets zur Haftung des Unternehmers (§ 13 Abs. 2 Satz 1 HaftpflG). Auch dies entspricht der Regelung in § 17 Abs. 3 StVG (hierzu s. Rz. 3.291 ff.), geht jedoch insofern weiter, als nicht nur ein Versagen von Teilen der Fahrzeuge hierher zu rechnen ist, sondern auch ein Versagen der Stromzufuhr, der Signalanlagen52 oder der Gleise und Weichen. Ein Versagen von Vorrichtungen liegt auch dann vor, wenn ein auf dem Gleis liegender Metallbolzen einen Straßenbahnwagen zum Entgleisen bringt.53

49 50 51 52 53

BGH v. 18.11.1993 – III ZR 178/92, NZV 1994, 146, 147; Weber DAR 1984, 65. A.A. Filthaut NZV 2003, 163 Fn. 28. Hierzu Filthaut NZV 2003, 163. OLG Celle v. 16.12.1999 – 14 U 41/99, OLGR Celle 2000, 239. BGH v. 11.6.1963 – VI ZR 190/62, NJW 1963, 1831.

162 | Greger

II. Haftung des Bahnunternehmers | Rz. 5.38 § 5

Ist das Versagen von Vorrichtungen jedoch auf Einwirkungen von außerhalb der Bahnanlage zurückzuführen (z.B. Sturz eines Felsbrockens oder Baumes auf Gleis oder Fahrdraht), so greift der Ausschluss der Entlastungsmöglichkeit nicht ein.54

c) Einzelfälle (s. auch Rz. 14.258 ff.) Grundsätzlich muss die Straßenbahn zu vorausfahrenden Fahrzeugen einen so großen Sicherheitsabstand einhalten, dass auch bei plötzlichem Anhalten ein Auffahren vermieden werden kann. Bei besonderen Verkehrslagen (dichter Großstadtverkehr, einsehbare Strecke) darf der Abstand geringfügig verringert werden; ein Auffahren infolge eines unvorhersehbaren abrupten Abbremsens kann dann unabwendbar sein.55

5.35

Der Straßenbahnführer darf grundsätzlich auf das ihm durch § 2 Abs. 3, § 9 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 StVO eingeräumte Durchfahrtrecht, insbesondere gegenüber Abbiegern, vertrauen, denn dieses trägt auch dem Umstand Rechnung, dass es für ihn schwieriger ist, auf Blockierungen seines Fahrwegs unfallvermeidend zu reagieren. Daher kann ein unabwendbares Ereignis vorliegen, wenn ein Lkw kurz vor der Straßenbahn nach rechts über das Gleis in ein Grundstück einbiegt56 oder wenn ein Kraftwagen unmittelbar vor der Straßenbahn in den Gleisbereich einfährt und anhält.57

5.36

Auf eine mögliche Missachtung seines Vorrechts muss sich der Straßenbahnfahrer jedoch einstellen, wenn die Fahrbahn durch abgestellte Fahrzeuge oder andere Hindernisse so verengt ist, dass der Kfz-Verkehr beim Ausweichen den Schienenraum benutzen muss.58 Auch darf er trotz seines Vorrechts nicht darauf vertrauen, dass ein auf den Gleisen zum Stehen gekommenes Kfz diese rechtzeitig verlässt, sondern muss seine Geschwindigkeit vorsorglich reduzieren.59 Ebenso beobachtet er nicht die äußerste ihm zuzumutende Sorgfalt, wenn er bei einer Lichtsignalanlage, von der er weiß, dass sie eine kurze für Kfz und die Straßenbahn gemeinsame Grünphase aufweist, in die Kreuzung einfährt, ohne dem in den Schienenbereich einfahrenden Kfz-Verkehr Aufmerksamkeit zuzuwenden.60 Hat der Straßenbahnführer durch Verlangsamen den Anschein erweckt, er werde an einer Haltestelle vor der Kreuzung anhalten, so muss er, falls er doch durchfährt, berücksichtigen, dass sich andere Verkehrsteilnehmer bereits auf sein Verhalten eingerichtet haben könnten.61

5.37

Innerhalb des Verkehrsraums einer öffentlichen Straße muss auch der Straßenbahnfahrer auf Sicht fahren und mit unvermuteten, auch unbeleuchteten Hindernissen rechnen.62

5.38

54 55 56 57 58 59 60 61 62

Filthaut/Piontek/Kayser § 13 Rz. 42; vgl. OLG Wien VAE 1938, 388. OLG Frankfurt v. 8.5.1967 – 1 U 225/65, VersR 1967, 851. BGH v. 3.11.1961 – VI ZR 351/61, VersR 1962, 48 = 133 mit Anm. Böhmer. OLG Braunschweig v. 28.11.1967 – 4 U 42/67, VersR 1969, 1048; anders wegen Nichtfeststellbarkeit des Abstands OLG Braunschweig v. 22.12.1971 – 3 U 112/71, VersR 1972, 493; wegen besonderer Situation an der Unfallstelle OLG Düsseldorf v. 26.5.1986 – 1 U 78/85, VersR 1988, 90. OLG Düsseldorf v. 30.1.1964 – 1 U 209/63, VersR 1966, 764; OLG Düsseldorf v. 16.12.1968 – 1 U 130/68, VersR 1969, 1026; OLG Dresden v. 9.7.2019 – 4 U 333/19, VRS 136, 253. BGH v. 10.3.1998 – VI ZR 30/97, NZV 1998, 281, 282. OLG Celle v. 24.11.1965 – 9 U 85/65, VersR 1967, 289. OLG Stuttgart v. 21.2.1958 – 1 Ss 32/58, VRS 15, 273. BGH v. 5.11.1974 – VI ZR 91/73, VersR 1975, 258; OLG Düsseldorf v. 4.3.1968 – 1 U 53/67, VersR 1968, 675.

Greger | 163

§ 5 Rz. 5.39 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

5.39

Beim Passieren eines neben dem Gleis stehenden Kraftwagens an einer Kurve muss der sorgfältige Straßenbahnfahrer auf ein Ausschwenken seines Wagens Bedacht nehmen.63

III. Haftung des Luftfahrzeughalters 1. Allgemeines 5.40

Verkehrsunfälle können auf unterschiedliche Weise durch Luftfahrzeuge verursacht werden (z.B. durch Absturz, Notlandung, eine tieffliegende Drohne oder einen Rettungshubschrauber). § 33 LuftVG begründet für solche Unfälle eine verschuldensunabhängige, an den Betrieb des Luftfahrzeugs anknüpfende Gefährdungshaftung. Einen Entlastungsbeweis wie bei der Kfz- und der Bahnhaftung kennt das LuftVG nicht. Halter und unbefugte Benutzer haften bis zu den Höchstgrenzen nach § 37 LuftVG selbst für von ihnen in keiner Weise beeinflussbare Schadensfolgen des Betriebs.

2. Haftungsvoraussetzungen a) Betrieb eines Luftfahrzeugs 5.41

Die darunter fallenden Geräte sind in § 1 Abs. 2 LuftVG aufgezählt. Auch nicht motorbetriebene Geräte wie Hängegleiter, Flugdrachen, Fallschirme sind davon erfasst, desgleichen unbemannte Fluggeräte wie Modellflugzeuge und Drohnen, unabhängig davon, ob sie von einem Menschen ferngesteuert werden oder autonom fliegen.64 Ausgenommen sind nur solche unbemannte Fluggeräte, die zu Zwecken des Sports oder der Freizeitgestaltung betrieben werden (§ 1 Abs. 2 Satz 3 LuftVG).

b) Unfall beim Betrieb des Luftfahrzeugs 5.42

Zum Unfallbegriff s. Rz. 3.30 ff., allgemein zum Zusammenhang zwischen Betrieb und Unfall Rz. 3.67 ff. Ohne Bedeutung ist, ob sich das Luftfahrzeug im Zeitpunkt des Unfalls in der Luft oder wenigstens in Bewegung befand; entscheidend ist vielmehr allein, ob sich bei dem Unfall gerade die Gefahren ausgewirkt haben, die typischerweise von Luftfahrzeugen ausgehen und hinsichtlich derer der Verkehr daher nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll.65 Daher ist auch ein Unfall, der durch die Turbulenzen bei der Landung eines Hubschraubers66 oder durch Schreckreaktionen (auch von Tieren67) auf den Lärm eines tief fliegenden Düsenflugzeugs oder einen Überschallknall hervorgerufen wird, dem Betrieb des Flugzeugs zuzurechnen;68 die ursächliche Zurechnung wäre allerdings dann zu verneinen, wenn eine bei objektiver Betrachtung ungefährliche Geräuschentwicklung nur infolge einer

63 OLG München v. 28.1.1966 – 10 U 2074/65, VersR 1966, 786; KG v. 25.4.1994 – 12 U 6280/93, VRS 88, 115. 64 Eingehend Schaefer, VersR 2017, 849 ff. 65 BGH v. 27.1.1981 – VI ZR 204/79, BGHZ 79, 263; BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 111/80, NJW 1982, 1046, 1047. 66 Österr. OGH ZVR 1992, 225: Sturz eines Radfahrers. 67 OLG Düsseldorf v. 16.3.1998 – 1 U 114/97, NZV 1998, 329 (Brennergeräusch eines Heißluftballons). 68 BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 111/80, NJW 1982, 1046.

164 | Greger

III. Haftung des Luftfahrzeughalters | Rz. 5.45 § 5

außergewöhnlichen Empfindlichkeit des Geschädigten zu einer Schädigung geführt hätte, die ebenso gut durch eine andere Lärmquelle hätte erzeugt werden können.69 Auch Schäden durch herabfallende Ladung oder ein herunterhängendes Schleppseil sind dem Betrieb zuzurechnen.70 Da auch der ruhende Verkehr nach obiger Begriffsbestimmung noch zum Betrieb des Luftfahrzeugs gehören kann,71 greift die Haftung nach § 33 LuftVG z.B. auch ein, wenn ein notgelandetes oder über die Landebahn hinaus geratenes Flugzeug oder ein Rettungshubschrauber72 im Verkehrsraum einer Straße abgestellt ist und hierdurch ein Verkehrsunfall hervorgerufen wird; dagegen würde es an jedem Zusammenhang mit den für ein Luftfahrzeug typischen Gefahren fehlen, wenn etwa ein zusammengelegter Hängegleiter oder Flugdrachen beim Abtransport in den Verkehrsraum gelangen würde.

5.43

3. Ersatzpflichtiger Die Ersatzpflicht nach § 33 LuftVG trifft den Halter des Luftfahrzeugs. Der Halterbegriff deckt sich mit dem des StVG (s. Rz. 3.178 ff.). Für den Fall der unbefugten Benutzung eines Luftfahrzeugs („Schwarzflug“) trifft § 33 Abs. 2 LuftVG eine dem § 7 Abs. 3 StVG entsprechende Regelung. Hat sich z.B. ein Unbefugter infolge unzureichender Sicherung des Steuerungselements einer Drohne bemächtigt und mit dieser einen Unfall verursacht, haftet neben dem Nutzer auch der Halter.73 Für Stoßwellen- oder Lärmschäden, die von Militärflugzeugen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verursacht werden, haften die Vertragsparteien des NATO-Truppenstatuts gesamtschuldnerisch, wenn als Verursacher nur Streitkräfte der Vertragsparteien in Betracht kommen, jedoch ein bestimmter Verursacher nicht zu ermitteln ist (vgl. Art VIII Abs. 5 e (ii) und (iii) NTS).74

5.44

4. Haftungsumfang Wie bei § 7 StVG bezieht sich die Gefährdungshaftung nach § 33 LuftVG auf den Fall der Tötung, der Körper- oder Gesundheitsverletzung und der Sachbeschädigung. Die Vorschriften über den Umfang und die nähere Ausgestaltung der Ersatzpflicht (§§ 34 bis 41 LuftVG) entsprechen ebenfalls denen des StVG. Wie dort ist auch hier die Gefährdungshaftung der Höhe nach begrenzt (§ 37 LuftVG) und ist klargestellt, dass Ansprüche aus anderen Rechtsgrundlagen unberührt bleiben (§ 42 LuftVG). Für Halter militärischer Luftfahrzeuge ist die Haftpflicht in § 53 LuftVG durch Angleichung an die deliktische Haftung erweitert.

69 RG v. 4.7.1938 – V 17/38, RGZ 158, 34; BGH v. 27.1.1981 – VI ZR 204/79, BGHZ 79, 263 (sub II 2 b). 70 Schaefer, VersR 2017, 849, 852. 71 OLG Brandenburg v. 7.4.2005 – 12 U 137/04, VersR 2006, 411. 72 Zur Kollision zwischen Rettungshubschrauber und Feuerwehrfahrzeug auf wegen Unfalls gesperrter Landstraße s. OLG Frankfurt v. 23.4.1992 – 1 U 185/90, TranspR 1993, 301. 73 Schaefer, VersR 2017, 849, 853. 74 BGH v. 30.10.1975 – III ZR 79/73, VersR 1976, 276; BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 111/80, NJW 1982, 1046.

Greger | 165

5.45

§ 5 Rz. 5.46 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

IV. Gefährdungshaftung bei Gewässerverunreinigung 1. Anwendungsgebiet und Voraussetzungen 5.46

Wird bei einem Tankwagenunfall das Grundwasser (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 WHG)75 oder ein oberirdisches Gewässer durch auslaufendes Transportgut verunreinigt, so kommt auch eine Haftung des Halters nach § 89 Abs. 2 Satz 1 WHG in Betracht. Der Tankkraftwagen ist eine Anlage iS dieser Vorschrift,76 nicht aber jedes Kfz wegen des mitgeführten Treibstofftanks oder ein als Ladegut transportiertes ölhaltiges Gerät.77 Inhaber ist (ähnlich wie der Halter i.S.d. StVG), wer die Anlage für eigene Rechnung in Gebrauch hat und die Verfügungsgewalt besitzt, die ein solcher Gebrauch voraussetzt; dies kann auf mehrere Beteiligte zugleich zutreffen.78 Der Inhaber haftet auch ohne Verschulden und ohne Höhenbegrenzung (vgl. jedoch zum Einwand des Rechtsmissbrauchs Rz. 22.66).

2. Entlastungsbeweis 5.47

Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Schaden durch höhere Gewalt verursacht ist (§ 89 Abs. 2 Satz 3 WHG). Der Begriff deckt sich mit dem in § 7 Abs. 2 StVG und § 1 Abs. 2 HaftpflG (s. hierzu Rz. 5.23 ff. und Rz. 3.262 ff.). Das Eingreifen höherer Gewalt muss der Halter beweisen.

3. Ersatzberechtigung 5.48

Ersatzberechtigt ist außer dem Grundstückseigentümer, wer sonst durch die Verunreinigung des Wassers unmittelbar betroffen ist. So kann z.B. der Betreiber des Wasserwerks, in dessen Einzugsbereich das verschmutzte Grundwasser liegt, vom Halter des Tankwagens alle Aufwendungen verlangen, die im Zeitpunkt der Verunreinigung zur Behebung der Verunreinigung geboten erschienen.79

4. Umfang 5.49

Vorsorgeaufwendungen (z.B. Ausbaggern des Erdreichs, um Verunreinigung des Grundwassers zu verhindern) werden vom Wortlaut des § 89 Abs. 2 WHG nicht erfasst, weil zum Zeitpunkt ihres Entstehens noch keine Verunreinigung des Wassers vorliegt. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift ist die Gefährdungshaftung jedoch auf solche Aufwendungen zu erstrecken, die zur Abwendung eines sicher bevorstehenden Gewässerschadens erforderlich waren.80

75 Vgl. hierzu BGH v. 21.1.1988 – III ZR 180/86, NJW 1988, 1593 = JZ 1988, 560 mit Anm. Marburger. 76 BGH v. 23.12.1966 – V ZR 144/63, BGHZ 47, 1. 77 OLG Hamm v. 17.3.1992 – 7 U 103/91, NJW-RR 1993, 915. 78 BGH v. 8.1.1981 – III ZR 157/79, BGHZ 80, 1. 79 BGH v. 23.12.1966 – V ZR 144/63, BGHZ 47, 1. 80 BGH v. 8.1.1981 – III ZR 157/79, BGHZ 80, 1.

166 | Greger

V. Haftung des Betreibers von Leitungs-, Abbau- und Industrieanlagen | Rz. 5.53 § 5

V. Haftung des Betreibers von Leitungs-, Abbau- und Industrieanlagen 1. Bedeutung des § 2 HaftpflG Die Vorschrift begründet eine Gefährdungshaftung des Inhabers bestimmter Anlagen zur Übermittlung und Abgabe von Energien oder Stoffen. Nach Abs. 1 Satz 1 haftet der Inhaber, wenn durch die Wirkungen von Elektrizität, Gasen, Dämpfen oder Flüssigkeiten, die von der Anlage ausgehen, ein Schaden entsteht. Satz 2 lässt ihn darüber hinausgehend haften für Schäden, die durch das Vorhandensein der Anlage hervorgerufen werden. Im letzteren Fall kann sich der Inhaber durch den Nachweis entlasten, dass die Anlage sich in ordnungsgemäßem Zustand befand, in jedem Fall – außer beim Herabfallen von Leitungsdrähten – auch durch den Nachweis höherer Gewalt (Abs. 3 Nr. 3).

5.50

2. Schäden durch Stromleitungen a) Ein Fall der Wirkungshaftung nach Abs. 1 Satz 1 ist gegeben, wenn ein Verkehrsteilnehmer mit einer stromführenden Leitung in Berührung kommt und hierdurch einen elektrischen Schlag erhält. Dagegen handelt es sich um einen Fall der Zustandshaftung nach Abs. 1 Satz 2, wenn eine heruntergefallene oder herabhängende Leitung nicht durch die Wirkung der Elektrizität, sondern durch mechanische Wirkung oder infolge eines Ausweichversuchs einen Unfall verursacht.81 Auch Schäden durch umstürzende Leitungsmasten fallen unter S. 2, selbst wenn durch einen kriminellen Anschlag verursacht.82 Es muss sich jedoch um Stromübertragungsleitungen handeln; Fernmeldeleitungen und Antennenanlagen sind durch Abs. 2 ausgenommen. Auch der Fahrdraht einer elektrisch betriebenen Bahn ist eine Stromleitungsanlage i.S.d. § 2 Abs. 1 HaftpflG. Der Ansicht, dass es sich hierbei nicht um eine Anlage zur Abgabe der Energie, sondern bereits um einen Teil der Verbrauchseinrichtungen handelt, ist nicht zuzustimmen.83

5.51

b) Ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt (zu diesem Begriff s. Rz. 5.23 ff.) kommt nach Abs. 3 Nr. 3 nicht in Betracht, wenn der Schaden auf das Herabfallen von Leitungsdrähten zurückzuführen ist. Ein Herabfallen erfordert kein Lösen der Stromleitung von ihrem Träger84 und keine Berührung des Bodens; es liegt z.B. auch dann vor, wenn der Draht infolge eines Defekts der Aufhängevorrichtung zu tief hängt.85

5.52

c) Ein ordnungsgemäßer Zustand (dessen Nachweis zur Entlastung von der Zustandshaftung führt; s. Rz. 5.50) muss im Zeitpunkt der Schadensverursachung bestehen. Daran fehlt es auch dann, wenn ein Stromleitungsmast durch ein Kfz zum Umstürzen gebracht wird und auf ein anderes Kfz fällt.86

5.53

81 82 83 84 85 86

Filthaut NZV 1989, 460, 462. BGH v. 12.7.1988 – VI ZR 256/87, VersR 1988, 1150. Filthaut/Piontek/Kayser § 2 Rz. 18; Filthaut NZV 1995, 54 m.w.N. BGH v. 12.7.1988 – VI ZR 256/87, VersR 1988, 1150. Vgl. OLG Oldenburg v. 17.2.1960 – 2 U 188/57, VersR 1960, 1126. A.A. Filthaut NZV 1989, 460, 462: nur wenn Kfz gegen den schon einige Zeit auf der Fahrbahn liegenden Masten fährt.

Greger | 167

§ 5 Rz. 5.54 | Haftung für Bahnen, Luftfahrzeuge und gefährliche Anlagen

3. Schäden durch Wasserleitungen a) Wirkungshaftung 5.54

Verkehrsunfälle, die durch den Austritt von Wasser aus Wasserleitungen oder aus der Kanalisation87 hervorgerufen werden (z.B. durch Schleudern wegen Überflutung, Einsinken wegen Unterspülung), werden grundsätzlich von § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftpflG erfasst. Es muss sich jedoch um den Austritt aus einer Rohrleitung handeln. Offene Gräben oder Kanäle sind nicht erfasst, teilweise offene Leitungen nur dann, wenn die schadensursächliche Stelle verrohrt ist.88 Entsteht ein Überschwemmungsschaden oder ein Glätteunfall dadurch, dass Wasser nicht in ein Rohr gelangen kann, weil dieses oder sein Einlauf verstopft ist oder die Kapazität nicht ausreicht, greift die Haftung nach § 2 HaftpflG nicht ein.89 Einzelfälle aus der Rechtsprechung

5.55

Einbrechen eines Kfz in unterspülte Fahrbahn (OLG Naumburg NZV 1995, 362; LG Bielefeld NJWRR 1988, 860); Eisbildung infolge Wasserrohrbruchs (OLG Frankfurt VersR 1983, 786; OLG Hamm NJW-RR 1989, 1505); Erdlawine infolge ausgetretener Wassermassen (LG Karlsruhe VersR 1988, 694); Abheben eines Kanaldeckels infolge starken Regens (OLG Schleswig VRS 72, 426); Hochschleudern eines Teils eines von Starkregen abgehobenen Kanaldeckels durch Kfz (OLG Karlsruhe NZV 2010, 352).

b) Zustandshaftung 5.56

Wird ein Unfall durch eine Vertiefung in der Fahrbahnoberfläche hervorgerufen, die auf das Einstürzen einer baufälligen Rohrleitungsanlage zurückzuführen ist, so greift Abs. 1 Satz 2 ein. Dasselbe gilt für den Unfall infolge eines fehlenden90 (vgl. aber Rz. 5.55 a.E.), schadhaften91 oder gefährlich herausragenden Kanaldeckels.92 Dagegen wird der Sturz eines Fußgängers oder Radfahrers über einen wegen Wartungsarbeiten zur Seite gelegten Kanaldeckel vom Schutzumfang des § 2 HaftpflG nicht erfasst.93 Das Regenfallrohr einer Autobahnbrücke ist keine Rohrleitungsanlage i.S.d. § 2 HaftpflG.94

c) Haftungsbeschränkung 5.57

In allen vorgenannten Fällen kommt ein Haftungsausschluss bei Nachweis höherer Gewalt (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 HaftpflG; zu diesem Begriff s. Rz. 5.23 ff.) in Betracht, im Fall der Zustandshaftung auch beim Nachweis des ordnungsgemäßen Zustands zur Zeit der Schadensverursachung (§ 2 Abs. 1 Satz 2, 3 HaftpflG). Auch ein außergewöhnlich starker Regen begründet

87 Vgl. hierzu BGH v. 7.7.1983 – III ZR 119/82, VersR 1984, 38; BGH v. 22.4.2004 – III ZR 108/03, MDR 2004, 875. 88 Filthaut/Piontek/Kayser § 2 Rz. 10; BGH v. 11.3.2004 – III ZR 274/03, BGHZ 158, 263; s. auch BGH v. 14.7.1988 – III ZR 225/87, VersR 1988, 1041: mit dem Kanalnetz verbundener Rohrdurchlass unter einer Straße. 89 Vgl. BGH v. 5.10.1989 – III ZR 66/88, BGHZ 109, 8; BGH v. 6.6.1991 – III ZR 149/90, BGHZ 114, 380. 90 OLG Celle v. 20.2.1991 – 9 U 235/89, NZV 1992, 239. 91 OLG Celle v. 11.7.1990 – 9 U 197/89, VersR 1992, 189; OLG Jena v. 25.6.2008 – 7 U 800/07, DAR 2008, 705. 92 LG München II v. 24.6.1986 – 1 O 2057/85, NJW-RR 1987, 865. 93 OLG Celle v. 6.10.1999 – 9 U 37/99, OLGR Celle 2000, 87; Filthaut NZV 1989, 460, 462. 94 BGH v. 5.4.1990 – III ZR 4/89, VersR 1991, 72.

168 | Greger

V. Haftung des Betreibers von Leitungs-, Abbau- und Industrieanlagen | Rz. 5.59 § 5

nicht ohne weiteres höhere Gewalt;95 die Grenze wird erst bei einem sog. Katastrophen- oder Jahrhundertregen erreicht.96 Höhere Gewalt kann vorliegen, wenn Unbefugte einen Kanaldeckel abheben.97 Außerdem kann die Haftung ausgeschlossen oder beschränkt sein wegen Mitverschuldens (§ 4 HaftpflG) oder anzurechnender Betriebsgefahr (§ 13 Abs. 2 HaftpflG; s. Rz. 25.87 ff.).

4. Sonstige Fälle Als Fall einer Wirkungshaftung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftpflG kommt noch in Betracht, dass die Explosion einer Gasleitung oder eines Dampfkessels schädigende Auswirkungen auf den Straßenverkehr hat. Nicht von § 2 HaftpflG erfasst werden Unfälle mit Fahrzeugen, in denen Gase oder Flüssigkeiten befördert werden, sowie Unfälle infolge des Niederschlags aus Kraftwerkskühltürmen.98 In diesen Fällen handelt es sich nicht um Leitungsanlagen.

5.58

5. Bedeutung des § 3 HaftpflG Die Vorschrift kann für den Straßenverkehr kaum Bedeutung erlangen. Denkbar wäre allenfalls, dass sich Sprengarbeiten in einem Steinbruch, Vertiefungen durch ein Bergwerk oder die Explosion in einer Fabrik auf die Benutzer benachbarter Straßen auswirken. In solchen Fällen haftet der Betreiber ohne Entlastungsmöglichkeit für das Verschulden seiner Aufsichtspersonen.

95 BGH v. 5.10.1989 – III ZR 66/88, NJW 1990, 1167, 1168. 96 BGH v. 22.4.2004 – III ZR 108/03, BGHZ 159, 19. Zu dessen Definition s. Nachw. der uneinheitlichen Rspr. bei Filthaut/Piontek/Kayser § 2 Rz. 74. 97 OLG Celle v. 20.2.1991 – 9 U 235/89, NZV 1992, 239. 98 BGH v. 14.3.1985 – III ZR 206/83, VersR 1985, 641.

Greger | 169

5.59

§6 Haftung für Produktmängel

I. II. 1. a) b)

c) 2. 3. 4. 5.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung nach dem ProdHaftG . . . . . Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . . Personen- oder Sachschaden . . . . . . . . Produktfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verantwortungsbereich des Herstellers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einrichtungen zum automatisierten Fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftpflichtige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitverschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsausschlüsse . . . . . . . . . . . . . .

6.1 6.2 6.2 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.11 6.12 6.13 6.15 6.16

6. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Unabdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Verjährung und Erlöschen des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Produkthaftung wegen Verletzung einer Verkehrspflicht . . . . . . . . . . . . . 1. Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . . a) Schädigung eines Rechtsguts . . . . . . . . b) Schuldhafte Verletzung einer Verkehrspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftpflichtige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Produkthaftung wegen Verletzung eines Schutzgesetzes . . . . . . . . . . . . . .

6.18 6.19 6.20 6.21 6.21 6.21 6.22 6.27 6.31 6.34

§ 1 ProdHaftG (1) Wird durch den Fehler eines Produkts jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Hersteller des Produkts verpflichtet, dem Geschädigten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Im Falle der Sachbeschädigung gilt dies nur, wenn eine andere Sache als das fehlerhafte Produkt beschädigt wird und diese andere Sache ihrer Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt und hierzu von dem Geschädigten hauptsächlich verwendet worden ist. (2) Die Ersatzpflicht des Herstellers ist ausgeschlossen, wenn 1. er das Produkt nicht in den Verkehr gebracht hat, 2. nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als der Hersteller es in den Verkehr brachte, 3. er das Produkt weder für den Verkauf oder eine andere Form des Vertriebs mit wirtschaftlichem Zweck hergestellt noch im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit hergestellt oder vertrieben hat, 4. der Fehler darauf beruht, dass das Produkt in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller es in den Verkehr brachte, dazu zwingenden Rechtsvorschriften entsprochen hat, oder 5. der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte. (3) Die Ersatzpflicht des Herstellers eines Teilprodukts ist ferner ausgeschlossen, wenn der Fehler durch die Konstruktion des Produkts, in welches das Teilprodukt eingearbeitet wurde, oder durch die Anleitungen des Herstellers des Produkts verursacht worden ist. Satz 1 ist auf den Hersteller eines Grundstoffs entsprechend anzuwenden. (4) Für den Fehler, den Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden trägt der Geschädigte die Beweislast. Ist streitig, ob die Ersatzpflicht gem. Abs. 2 oder 3 ausgeschlossen ist, so trägt der Hersteller die Beweislast.

Greger | 171

§ 6 Rz. 6.1 | Haftung für Produktmängel

I. Überblick 6.1

Wird ein Verkehrsunfall durch einen technischen Mangel eines beteiligten Fahrzeugs hervorgerufen, so stellt sich die Frage nach einer Verantwortlichkeit des Herstellers gegenüber dem Unfallgeschädigten. Da vertragliche Beziehungen zwischen Geschädigtem und Produzent in aller Regel nicht bestehen,1 kommt in erster Linie eine Haftung aus unerlaubter Handlung, nämlich Verletzung der Verkehrspflicht, fehlerhafte und schadensträchtige Produkte nicht in den Verkehr zu bringen, in Betracht. Seit dem Inkrafttreten des Produkthaftungsgesetzes (ProdHaftG; BGBl. 1989 I 2198) am 1.1.1990 wird diese deliktische Haftung durch eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung2 überlagert. Für die (teilweise weiter gehende, nach § 15 ProdHG daneben bestehende) Produzentenhaftung wegen Verletzung von Verkehrspflichten oder Schutzgesetzen hat die Rspr. jedoch Beweiserleichterungen geschaffen, die dem Geschädigten in erheblichem Umfang den Nachweis eines Verschuldens ersparen (s. Rz. 6.32). Dadurch kommt es trotz der unterschiedlichen rechtlichen Herleitung (nach § 3 ProdHG: der allgemeinen Sicherheitserwartung nicht entsprechender Zustand des Produkts; nach § 823 Abs. 1, 2 BGB: Verletzung von Verkehrspflichten oder Schutznormen) zu einem weitgehenden Gleichlauf der Haftungssysteme. In der Rechtspraxis kommt dem ProdHaftG daher nur eine geringe Bedeutung zu. Unterschiede bestehen insbesondere bei Schäden an der fehlerhaften Sache selbst (Rz. 6.2) sowie bei der Produktbeobachtungspflicht (Rz. 6.25 f.). Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich auf Produkthaftungsfragen im Zusammenhang mit Unfällen im Straßenverkehr. Durch die aufkommende Automatisierung von Kfz werden diese zunehmende Bedeutung erlangen. Zu erwarten ist eine Haftungsverschiebung von der Kfz-Haftpflichtversicherung zu den Herstellern bzw. deren Haftpflichtversicherern.3

II. Haftung nach dem ProdHaftG 1. Haftungsvoraussetzungen a) Personen- oder Sachschaden 6.2

Ein Personen- oder Sachschaden muss entstanden sein (§ 1 Abs. 1 ProdHaftG), ausgeschlossen sind also Vermögensschäden und immaterielle Schäden. Zur Abgrenzung der Personenschäden (Tötung, Körper- oder Gesundheitsverletzung) s. Rz. 3.37 ff. Ob der Verletzte ein Endabnehmer des Produzenten oder ein unbeteiligter Dritter ist, spielt keine Rolle. Der Begriff des Sachschadens hingegen ist in § 1 Abs. 1 Satz 2 ProdHaftG einschränkend definiert: anders als bei der deliktischen Haftung4 werden nur Schäden an anderen Sachen (also nicht an dem fehlerhaften Produkt selbst) erfasst; zudem muss die beschädigte Sache ihrer Art nach zum privaten Gebrauch bestimmt und auch hauptsächlich verwendet worden sein. Die Beschädigung eines Kfz, das hauptsächlich zu beruflichen oder gewerblichen Zwecken eingesetzt wird, ist durch das ProdHaftG also nicht geschützt, ebenso wenig der Schaden, der am Fahrzeug selbst durch ein fehlerhaftes Einzelteil entsteht.5 1 Zu vertraglichen Ansprüchen des Käufers eines Kfz gegen den Verkäufer s. Rz. 16.15 ff. 2 Erman/Wilhelmi vor § 1 ProdHaftG Rz. 2. Wegen des Einflusses von Verschuldenselementen, insb, beim Entlastungsbeweis, wird ihr vielfach der Charakter einer reinen Gefährdungshaftung abgesprochen; s. MünchKomm-BGB/Wagner Einl ProdHaftG Rz. 18 ff. 3 Lutz NJW 2015, 119 ff. Zu Regressfragen Koch VersR 2018, 901 ff. 4 Zu dieser Diskrepanz Landscheidt NZV 1989, 169, 170 f. 5 von Westphalen NJW 1990, 83, 84; Mayer VersR 1990, 691, 693.

172 | Greger

II. Haftung nach dem ProdHaftG | Rz. 6.4 § 6

b) Produktfehler Nach § 3 ProdHaftG ist wesentliches Merkmal, dass das Produkt nicht die berechtigterweise zu erwartende Sicherheit bietet. Das Sicherheitsdefizit kann auf fehlerhafter Konstruktion, mangelhafter Fabrikation oder auf unzulänglicher Instruktion des Geschädigten beruhen (zu den diesbezüglichen Anforderungen s. Rz. 6.22 ff.).

6.3

aa) Maßstab Berechtigte Sicherheitserwartung ist nicht die subjektive Einschätzung des jeweiligen Benutzers, sondern der nach allgemeiner Verkehrsanschauung für erforderlich gehaltene Grad an Sicherheit.6 Totale Sicherheit kann vom Verkehr nicht erwartet werden. Erforderlich sind die Sicherungsmaßnahmen, die nach dem im Zeitpunkt des Inverkehrbringens vorhandenen neuesten Stand von Wissenschaft und Technik konstruktiv möglich sind und als geeignet und genügend erscheinen, um Schäden zu verhindern.7 Allein aus einer späteren Verbesserung der Produktreihe darf nicht auf Fehlerhaftigkeit der älteren Produkte geschlossen werden (§ 3 Abs. 2 ProdHaftG); dies schließt es jedoch nicht aus, eine Produktveränderung als Indiz für eine Fehlerhaftigkeit der früheren Produktgestaltung zu werten.8 Was technisch bereits machbar ist, sich in der Verkehrserwartung aber noch nicht voll durchgesetzt hat, begründet keinen Sicherheitsstandard im vorstehenden Sinn. Die Zumutbarkeit einer technisch möglichen Sicherungsmaßnahme ist unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (Größe der Gefahr; wirtschaftliche Auswirkungen).9 Lassen sich mit der Verwendung eines Produkts verbundene Gefahren nach dem Stand von Wissenschaft und Technik durch konstruktive Maßnahmen nicht vermeiden oder sind konstruktive Gefahrvermeidungsmaßnahmen dem Hersteller nicht zumutbar und darf das Produkt trotz der von ihm ausgehenden Gefahren in den Verkehr gebracht werden, so ist der Hersteller grundsätzlich verpflichtet, die Verwender des Produkts vor denjenigen Gefahren zu warnen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch oder nahe liegendem Fehlgebrauch drohen und die nicht zum allgemeinen Gefahrenwissen des Benutzerkreises gehören.10 Bei einem hohen Schadensrisiko ist von der Markteinführung einer technisch möglichen Innovation, z.B. voll automatisierten Fahrsystemen, abzusehen.11 Da es für die Sicherheitserwartung auch auf die „Darbietung“ des Produkts durch den Hersteller ankommt (§ 3 Abs. 1 lit. a ProdHaftG), muss er sich auch an durch seine Werbung und seine Preisgestaltung geweckten Erwartungen festhalten lassen.12 Bei automatisierten Fahrsystemen wird die Sicherheitserwartung auch durch die in § 1a Abs. 2 Satz 2 StVG vorgeschriebene Erklärung des Herstellers zur Erfüllung der Anforderungen nach Satz 1 bestimmt.13 Auf einen nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht erkennbaren Entwicklungsfehler kann sich der Hersteller nicht berufen, wenn entsprechende Erkenntnisse zwar bei ihm nicht vorhanden, aber objektiv verfügbar waren.14

6 7 8 9 10 11 12 13 14

BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253. Zur Stabilität eines Motorradhelms OLG Brandenburg v. 14.12.2015 – 1 U 8/13, NZV 2016, 237. v Westphalen NJW 1990, 83, 89. BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 (Fehlauslösung von Airbags). BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08 Rz. 23, BGHZ 181, 253. v Bodungen/Hoffmann NZV 2018, 97, 98. Vgl. v Westphalen NJW 1990, 83, 88. Schrader DAR 2018, 314, 318 f. BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253.

Greger | 173

6.4

§ 6 Rz. 6.5 | Haftung für Produktmängel

bb) Verantwortungsbereich des Herstellers

6.5

Dass der Produktfehler im Verantwortungsbereich des Herstellers seine Wurzel hat, braucht der Geschädigte für die Haftung nach dem ProdHaftG – anders als bei der deliktischen Produzentenhaftung – nicht darzutun; es ist vielmehr Sache des Herstellers, sich auf den Haftungsausschluss nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG zu berufen (s. Rz. 6.16). Dasselbe gilt für den Einwand, der Fehler sei nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht erkennbar gewesen (§ 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG). Eine Produktbeobachtungspflicht statuiert das ProdHaftG nicht; hier kann aber die deliktische Haftung eingreifen (s. Rz. 6.25).15 cc) Einrichtungen zum automatisierten Fahren

6.6

Hier ergibt sich die für den Fehlerbegriff maßgebliche Verkehrserwartung aus der Definition des hoch- oder vollautomatisierten Kfz in § 1a Abs. 2 Satz. 1 StVG. Demnach muss das System in der Lage sein, „den an die Fahrzeugführung gerichteten Verkehrsvorschriften zu entsprechen“ (womit selbstverständlich nur solche Vorschriften zu verstehen sind, die den Fahrvorgang betreffen, nicht etwa das Aufstellen des Warndreiecks u.Ä.16). Das menschliche Leistungsvermögen übersteigende Fähigkeiten erwartet der Verkehr nicht.17 Als Maßstab kann der des Idealfahrers i.S.d. Rspr. zu § 7 StVG (s. Rz. 3.275) dienen.18

6.7

Durch die Systembeschreibung (§ 1a Abs. 2 Satz 2 StVG) kann der Hersteller die bestimmungsgemäße Nutzung i.S.v. § 1a Abs. 1 StVG (also z.B. den Einsatz ausschließlich auf der Autobahn) festlegen. Bei entsprechender, klarer Instruktion des Nutzers haftet er nicht für ein Versagen des Systems bei nicht bestimmungsgemäßer Nutzung.19 Der Hersteller kann aber nicht durch eine einschränkende Systembeschreibung bewirken, dass die Beachtung einzelner Verkehrsvorschriften in der alleinigen Verantwortung des Fahrzeugführers verbleibt.20 So kann er zwar bestimmen, dass ein Staupilot nur im Kolonnenverkehr mit geringer Geschwindigkeit eingesetzt werden darf; im Rahmen dieser Anwendung muss die Automatik aber alle Verkehrsvorschriften befolgen können und auch das Ende des Einsatzbereichs anzeigen.21 Zu Recht wird gefordert, dass die Systembeschreibung auf (noch zu erlassenden) amtlichen Vorgaben (in der StVZO oder für alle Hersteller verbindlichen „Lastenheften“) basieren muss22 und den Fahrer nicht durch Umfang oder Komplexität überfordern darf.23

6.8

Zur Ordnungsmäßigkeit des Systems gehört auch, dass es die Notwendigkeit eines Eingreifens des Fahrzeugführers mit ausreichendem Zeitvorlauf24 anzeigt und dass es sachgerechte Vorkehrungen für den Fall trifft, dass der Führer der Übernahmeaufforderung nicht unverzüglich nachkommt.25 Das System muss mindestens den an einen menschlichen Fahrer zu 15 Wagner VersR 2014, 905, 907; v Westphalen NJW 1990, 83, 85. 16 A.A. Lutz/Tang/Lienkamp NZV 2013, 57, 60. 17 Greger NZV 2018, 1, 4; a.A.Gomille JZ 2016, 77; von Bodungen/Hoffmann NZV 2016, 503, 505 (nur Untergrenze). 18 Freise VersR 2019, 65, 70. 19 von Bodungen/Hoffmann NZV 2018, 97, 99. 20 von Bodungen/Hoffmann NZV 2018, 97, 100 f. 21 von Bodungen/Hoffmann NZV 2018, 97, 101. 22 Freise VersR 2019, 65, 71. 23 Lüdermann/Sutter/Vogelpohl NZV 2018, 411, 413. 24 S. hierzu, auch aus verkehrspsychologischer Sicht, Lüdermann/Sutter/Vogelpohl NZV 2018, 411, 415 f. 25 von Bodungen/Hoffmann NZV 2018, 97, 101 f.

174 | Greger

II. Haftung nach dem ProdHaftG | Rz. 6.12 § 6

stellenden Sicherheitserwartungen entsprechen und ausreichend gegen Cyberattacken durch Dritte geschützt sein.26 Unzulässig wäre es jedenfalls, das System so zu programmieren, dass es in einer unvermeidbaren Unfallsituation Menschen ausweicht und dadurch andere Menschen in Lebensgefahr bringt.27 Wegen des komplexen Zusammenspiels von Mensch und Maschine sind hohe Anforderungen an die Einweisung in das System zu stellen; eine Beschreibung in der allgemeinen Gebrauchsanleitung des Kfz reicht i.d.R. nicht aus.28 Es ist zu berücksichtigen, dass die besonderen Anforderungen, die das (teil)automatisierte Fahren stellt, im allgemeinen Fahrunterricht nicht behandelt werden und nicht zum üblichen Erfahrungswissen eines Kraftfahrers gehören.29

6.9

Beruht das Versagen des automatischen Steuerungssystems auf einem Fehler einer Leiteinrichtung (z.B. Sendeantenne), kommt neben der Haftung des Anlagenbetreibers auch eine Produkthaftung des Herstellers in Betracht.30

6.10

c) Kausalität Der geltend gemachte Schaden muss durch den Produktfehler entstanden sein. Er muss nach den allgemeinen Regeln über den Kausalzusammenhang (s. Rz. 3.67 ff.) vom Schutzzweck der Haftungsnorm umfasst sein.31

6.11

2. Haftpflichtige Die verschuldensunabhängige Haftung trifft den Hersteller32 des Schaden stiftenden Produkts sowie denjenigen, der das für den Schaden ursächliche Grundmaterial oder Teilprodukt33 hergestellt hat oder sich als Hersteller ausgibt (§ 4 Abs. 1 ProdHaftG). Nach § 4 Abs. 2 ProdHaftG gilt aber auch derjenige als Hersteller, der das Produkt zum Zwecke des gewerblichen Vertriebs in den Bereich des EWR eingeführt hat. Darunter fällt auch der Reimporteur.34 Subsidiär (bei Nichtfeststellbarkeit des Herstellers bzw. Importeurs im Zeitpunkt des Inverkehrbringens35) haftet der Lieferant, insb. also der Verkäufer (§ 4 Abs. 3 ProdHaftG). Anders als bei der unerlaubten Handlung nach § 823 Abs. 1 BGB trifft die Haftung unmittelbar den jeweiligen Unternehmensträger;36 es bedarf also keiner Haftungszurechnung nach § 31 oder § 831 BGB; Mitarbeiter des Herstellers trifft die Haftung nach dem ProdHaftG nicht.37

26 von Bodungen/Hoffmann NZV 2016, 503, 505. 27 Freise VersR 2019, 65, 75 unter Berufung auf den Bericht der Ethikkommission „Autonomes und vernetztes Fahren“, abrufbar unter https://www.bmvi.de. 28 von Bodungen/Hoffmann NZV 2016, 503, 505. 29 Lutz/Tang/Lienkamp NZV 2013, 57, 61; Schrader DAR 2016, 242, 243. 30 Lutz/Tang/Lienkamp NZV 2013, 57, 61. 31 MünchKomm-BGB/Wagner § 1 ProdHaftG Rz. 21. 32 Endmontage genügt; OLG Dresden v. 23.5.1996 – 7 U 1317/95, VersR 1998, 59. 33 Für die Haftung des Teileherstellers vgl. den Haftungsausschluss nach § 1 Abs. 3 ProdHaftG. Hierzu von Westphalen NJW 1990, 83, 86. 34 MünchKomm-BGB/Wagner § 4 ProdHaftG Rz. 45. 35 OLG Düsseldorf v. 7.4.2000 – 14 U 293/99, MDR 2000, 1075. 36 MünchKomm-BGB/Wagner § 4 ProdHaftG Rz. 8 f. 37 Erman/Wilhelmi § 4 ProdHaftG Rz. 1. Zur deliktischen Haftung s. Rz. 6.27 ff.

Greger | 175

6.12

§ 6 Rz. 6.13 | Haftung für Produktmängel

3. Haftungsumfang 6.13

Für Personenschäden haftet der Hersteller wie nach §§ 10, 11 StVG (§§ 7 ff. ProdHaftG). Gem. § 8 S. 2 ProdHaftG besteht (entspr. der Regelung des § 253 Abs. 2 BGB) ein Anspruch auf Schmerzensgeld, sofern das Produkt nach dem Inkrafttreten dieser Regelung (31.7.2002) in Verkehr gebracht worden ist.38 Sind Personenschäden durch ein Produkt oder durch gleiche Produkte mit demselben Fehler verursacht worden, so ist die Haftung auf insgesamt € 85 Millionen beschränkt (§ 10 Abs. 1 ProdHaftG). Abs. 2 trifft eine dem § 12 StVG entsprechende Regelung für den Fall der unzureichenden Haftungssumme bei mehreren Geschädigten.

6.14

Bei Sachschäden hat der Geschädigte einen Selbstbehalt von € 500 zu tragen (§ 11 ProdHaftG).

4. Mitverschulden 6.15

Die Anrechnung eines mitwirkenden Verschuldens des Geschädigten ist analog § 9 StVG geregelt (§ 6 Abs. 1 ProdHaftG; s. dazu Rz. 25.16 ff.). Mitverursachung durch einen Dritten, etwa einen anderen Verkehrsteilnehmer, führt nicht zu einer Minderung der Verantwortlichkeit des Herstellers gegenüber dem Geschädigten (§ 6 Abs. 2 ProdHaftG); der Ausgleich zwischen mehreren Schädigern vollzieht sich wie bei § 17 StVG (§ 6 Abs. 2 Satz 2, § 5 Satz 2 ProdHaftG; s. dazu Rz. 39.10 ff.).

5. Haftungsausschlüsse 6.16

Abweichend von anderen Gefährdungshaftungstatbeständen kann sich der Hersteller zu seiner Entlastung nicht auf Unabwendbarkeit oder höhere Gewalt berufen. § 1 Abs. 2 ProdHaftG zählt jedoch eine ganze Reihe von Entlastungsmöglichkeiten auf, deren Voraussetzungen der Haftpflichtige zu beweisen hat. Nach Nr. 2 kann sich der Hersteller dadurch von der Haftung befreien, dass er die Fehlerfreiheit des Produkts im Zeitpunkt des Inverkehrbringens nachweist. Die Beweisführung ist ihm hierbei erleichtert: Er muss nicht die Fehlerfreiheit, sondern nur für sie sprechende Umstände beweisen.39 Nr. 5 enthält einen Haftungsausschluss für Entwicklungsrisiken. Dieser gilt nur bei Konstruktions- und Instruktions-, nicht bei Fabrikationsfehlern,40 und setzt voraus, dass der Fehler nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht erkannt werden konnte. Entscheidend sind nicht die Kenntnisse des Herstellers, aber auch nicht die Ergebnisse neuester wissenschaftlicher Forschung, sondern das im wissenschaftlichen und technischen Bereich vorhandene, allgemein anerkannte Wissen.41

6.17

Der Hersteller eines Teilprodukts kann sich nach § 1 Abs. 3 ProdHaftG durch den Nachweis entlasten, dass der Fehler des Endprodukts durch dessen Konstruktion oder die Anleitungen dessen Herstellers verursacht worden ist. Unter Anleitungen sind verbindliche Vorgaben zu 38 BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 unter Berufung auf Art. 229 § 8 Abs. 1 Nr. 9 EGBGB. 39 Näher hierzu Landscheidt NZV 1989, 169, 172. 40 BGH v. 9.5.1995 – VI ZR 158/94, BGHZ 129, 353; BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rz. 27; MünchKomm-BGB/Wagner § 1 ProdHaftG Rz. 53 ff. Zu den Anforderungen an die Vermeidung von Entwicklungsfehlern bei automatisierten Fahrsystemen s. von Bodungen/Hoffmann NZV 2016, 503, 506. 41 MünchKomm-BGB/Wagner § 1 ProdHaftG Rz. 56; BT-Drucks. 11/2447, 15.

176 | Greger

III. Produkthaftung wegen Verletzung einer Verkehrspflicht | Rz. 6.21 § 6

verstehen; allgemeine Vorgaben, die dem Teilproduzenten die nähere Ausgestaltung überlassen, genügen nicht.42 Auf die Erkennbarkeit der von den Anleitungen des Endherstellers ausgehenden Gefahren durch den Teilprodukthersteller kommt es nicht an.43

6. Beweislast Der Geschädigte muss lediglich die in Rz. 6.2 ff. behandelten Fragen beweisen; ein Verschuldensnachweis ist nicht erforderlich. Die entlastenden Umstände (s. Rz. 6.15 ff.) muss der Hersteller beweisen (§ 1 Abs. 4 ProdHaftG). Wird das Sicherheitsdefizit des Produkts auf unzulängliche Instruktion zurückgeführt, muss der Geschädigte beweisen, dass Anlass zu entsprechenden Hinweisen bestanden hat und dass er diese befolgt hätte.44 Die Erleichterungen für den Kausalitätsnachweis (s. Rz. 41.59, 41.68) gelten auch hier.45

6.18

7. Unabdingbarkeit Die Ersatzpflicht des Herstellers nach dem ProdHaftG kann nicht im Voraus durch Parteivereinbarung ausgeschlossen oder beschränkt werden (§ 14 ProdHaftG).

6.19

8. Verjährung und Erlöschen des Anspruchs Die Verjährung nach § 12 ProdHaftG entspricht den allgemeinen Verjährungsregeln des § 199 Abs. 1 BGB. § 13 Abs. 1 ProdHaftG normiert zusätzlich eine von Amts wegen zu beachtende Ausschlussfrist: Zehn Jahre nach dem Inverkehrbringen erlischt der Anspruch, sofern noch kein Rechtsstreit oder Mahnverfahren anhängig ist. Anhängigkeit tritt bereits mit Einreichung von Klage oder Mahnantrag ein.46 Ein Prozesskostenhilfeantrag muss wegen der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichstellung wirtschaftlich schwacher Parteien ebenfalls genügen, wenn der Antragsteller alles unternimmt, damit die Klagezustellung „demnächst“ i.S.v. von § 167 ZPO erfolgen kann.47

6.20

III. Produkthaftung wegen Verletzung einer Verkehrspflicht 1. Haftungsvoraussetzungen a) Schädigung eines Rechtsguts Es muss ein Rechtsgut i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB verletzt sein. In Betracht kommen vor allem Tötungen, Körper- oder Gesundheitsverletzungen sowie Beschädigungen fremden Eigentums infolge des Inverkehrbringens eines mangelhaften Produkts. Ob es sich um ein Rechtsgut des Erwerbers des Produkts, eines Benutzers oder eines Dritten handelt, ist ohne Belang. Auch der an dem fehlerhaften Produkt selbst eintretende Schaden kann von der Produkthaftung 42 43 44 45

MünchKomm-BGB/Wagner § 1 ProdHaftG Rz. 73. Staudinger/Oechsler § 1 ProdHaftG Rz. 142; MünchKomm-BGB/Wagner § 1 ProdHaftG Rz. 74. Staudinger/Oechsler § 1 ProdHaftG Rz. 165; Erman/Wilhelmi § 1 ProdHaftG Rz. 12. Staudinger/Oechsler § 1 ProdHaftG Rz. 165; Erman/Wilhelmi § 1 ProdHaftG Rz. 12; i. Erg. (tatsächliche Vermutung) auch BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08 Rz. 33, BGHZ 181, 253; LG Flensburg v. 31.7.1997 – 1 S 95/96, VersR 1998, 66, 67; MünchKomm-BGB/Wagner § 1 ProdHaftG Rz. 84. 46 MünchKomm-BGB/Wagner § 13 ProdHaftG Rz. 9. 47 So BGH v. 1.10.1986 – IVa ZR 108/85, BGHZ 98, 295 zu § 12 Abs. 3 VVG a.F.; Mayer VersR 1990, 691, 698; a.A. Palandt/Sprau § 13 ProdHaftG Rz. 3; Erman/Wilhelmi § 13 ProdHaftG Rz. 3.

Greger | 177

6.21

§ 6 Rz. 6.21 | Haftung für Produktmängel

erfasst werden.48 Der Schaden darf in diesem Fall allerdings nicht stoffgleich sein mit dem „Mangelunwert“, der dem Produkt bereits im Augenblick des Eigentumsübergangs anhaftet.49 Diese Stoffgleichheit fehlt i.d.R., wenn ein Defekt an einem funktionell abgrenzbaren Teil geeignet ist, das Gesamtprodukt zu zerstören oder zu beschädigen, z.B. wenn eine fehlerhafte Bereifung50 oder ein hängenbleibender Gasseilzug51 zu einem Unfall und dieser zur Beschädigung des ganzen Autos führt. Ebenso verhält es sich, wenn ein automatisiertes Kfz infolge eines Versagens der Automatik einen Unfallschaden erleidet.

b) Schuldhafte Verletzung einer Verkehrspflicht 6.22

Der Hersteller muss zumindest fahrlässig gegen eine ihm beim Inverkehrbringen des Produkts obliegende Sorgfaltspflicht zum Schutze des Verkehrs verstoßen haben. Dies kann der Fall sein, wenn bereits bei der Konstruktion der Grund für das spätere Schadensereignis gelegt wurde, obwohl dies nach dem Stand von Technik und Wissenschaft vermeidbar gewesen wäre.52 Dabei können die Pflichten des Herstellers das gesetzlich vorgeschriebene Maß überschreiten.53 Über den jeweiligen Entwicklungsstand hat sich der Hersteller auch durch Beobachtung der Mitbewerber auf dem Laufenden zu halten.54 Sind bestimmte mit der Produktnutzung einhergehende Risiken nach dem maßgeblichen Stand von Wissenschaft und Technik nicht zu vermeiden, ist unter Abwägung von Art und Umfang der Risiken, der Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung und des mit dem Produkt verbundenen Nutzens zu prüfen, ob das gefahrträchtige Produkt überhaupt in den Verkehr gebracht werden darf.55 Bei erheblichen Gefahren für Leben und Gesundheit von Menschen sind dem Hersteller weitergehende Maßnahmen zumutbar als in Fällen, in denen nur Eigentums- oder Besitzstörungen oder nur kleinere körperliche Beeinträchtigungen zu befürchten sind. Maßgeblich für die Zumutbarkeit sind darüber hinaus die wirtschaftlichen Auswirkungen der Sicherungsmaßnahme, im Rahmen derer insbesondere die Verbrauchergewohnheiten, die Produktionskosten, die Absatzchancen für ein entsprechend verändertes Produkt sowie die Kosten-Nutzen-Relation zu berücksichtigen sind.56

6.23

Ebenso haftet der Hersteller für Fehler bei der Fabrikation, die sich durch ordnungsgemäße Organisation und Überwachung hätten vermeiden lassen, nicht aber für unvermeidbare „Ausreißer“.57 Auch Erzeugnisse von Zulieferern müssen vor der Verarbeitung im Rahmen des Möglichen kontrolliert werden.58 48 BGH v. 24.11.1976 – VIII ZR 137/75, BGHZ 67, 359; a.A. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 285 f.; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 124 ff. 49 BGH v. 18.1.1983 – VI ZR 310/79, BGHZ 86, 256; BGH v. 14.5.1985 – VI ZR 168/83, NJW 1985, 2420; eingehend Staudinger/Hager § 823 Rz. B 110 ff. S. auch Kullmann NZV 2002, 1. 50 BGH v. 5.7.1978 – VIII ZR 172/77, NJW 1978, 2241. 51 BGH v. 18.1.1983 – VI ZR 310/79, BGHZ 86, 256. 52 BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79, BGHZ 80, 186; vgl. LG Frankfurt/M v. 28.4.1989 – 2/10 O 377/87, NZV 1990, 34 zur Konstruktion eines Fahrradlenkers. 53 BGH v. 7.10.1986 – VI ZR 187/85, NJW 1987, 372, 373. 54 BGH v. 17.10.1989 – VI ZR 258/88, VersR 1989, 1307. 55 BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08 Rz. 17, BGHZ 181, 253. 56 BGH v. 16.6.2009 – VI ZR 107/08 Rz. 17, BGHZ 181, 253. Eingehend MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 970 ff. 57 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 976. Im Ausschluss dieses Einwands liegt eine wesentliche Besserstellung des Geschädigten bei der Haftung nach dem ProdHaftG; vgl. BGH v. 9.5.1995 – VI ZR 158/94, NJW 1995, 2162, 2163. 58 BGH v. 5.7.1960 – VI ZR 130/59, VersR 1960, 855.

178 | Greger

III. Produkthaftung wegen Verletzung einer Verkehrspflicht | Rz. 6.26 § 6

Soweit erforderlich, muss der Hersteller auch durch sachgemäße Instruktion des Produktanwenders auf die Vermeidung sonst drohender Gefahren hinwirken.59 Über die produktspezifischen Gefahren ist nicht nur aufzuklären; vor ihnen muss auch hinlänglich gewarnt werden.60 In Warnhinweisen über Produktgefahren muss die Art der drohenden Gefahr deutlich herausgestellt werden; jedenfalls dann, wenn erhebliche Körper- oder Gesundheitsschäden durch eine Fehlanwendung des Produkts entstehen können, muss aus dem Warnhinweis auch erkennbar sein, warum das Produkt gefährlich werden kann.61 Hierbei dürfen die Anforderungen aber nicht (wie dies in der US-amerikanischen Rechtsprechung geschehen ist) überspannt werden; vor Missbräuchen und Gefahren, die jedem Verständigen unmittelbar einleuchten, braucht der Hersteller nicht zu warnen.62

6.24

Schließlich kann den Produzenten aber auch eine Pflicht zur Produktbeobachtung treffen,63 aus der sich, wenn Gefahren erkennbar werden, eine Verpflichtung zu Konstruktions-, Fabrikations- oder Instruktionsänderungen sowie zwischenzeitlichen Warnhinweisen64 ergeben kann. Besteht Grund zu der Annahme, dass es trotz der Warnung zur Gefährdung Dritter kommt, weil Benutzer des Produkts ihr Verhalten nicht darauf einrichten werden, kann der Hersteller auf Grund seiner Sicherungspflichten aus § 823 Abs. 1 BGB verpflichtet sein, dafür Sorge zu tragen, dass bereits ausgelieferte gefährliche Produkte möglichst effektiv aus dem Verkehr gezogen oder nicht mehr benutzt werden.65 Wie weit diese Gefahrabwendungspflicht geht, lässt sich nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entscheiden; eine Verpflichtung des Herstellers, bereits im Verkehr befindliche fehlerhafte Produkte nicht nur zurückzurufen, sondern das Sicherheitsrisiko durch Nachrüstung oder Reparatur auf seine Kosten zu beseitigen, lässt sich deliktsrechtlich nur begründen, wenn Produktgefahren, die durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgütern der Benutzer oder unbeteiligter Dritter drohen, anders nicht effektiv abzuwehren sind.66

6.25

Die Beobachtungspflicht beschränkt sich nicht auf die Bewährung des eigenen Produkts. Sie kann sich auf die Gesamtentwicklung der Technik auf dem betreffenden Gebiet, einschließlich der Produktentwicklung bei den wichtigsten Mitbewerbern,67 sowie auch darauf beziehen, Gefahren aufzudecken, die aus der Kombinierung des Produkts mit Erzeugnissen ande-

6.26

59 BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79, BGHZ 80, 186; OLG Hamm v. 29.1.1993 – 9 U 249/91, NZV 1993, 310; OLG Düsseldorf v. 29.11.1996 – 22 U 72/96, NJW 1997, 2333 (Fahrrad mit Schnellspanner für Vorderradnabe); OLG Nürnberg v. 20.5.2014 – 4 U 206/14, NZV 2014, 523 (Mountainbike). 60 BGH v. 9.6.1998 – VI ZR 238/97, BGHZ 139,79; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 114. 61 BGH v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60. 62 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 983; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 118 m.w.N. 63 BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 286/78, BGHZ 80, 199; eingehend Wagner VersR 2014, 905 ff.; insbes. bezogen auf Kfz Birkmann DAR 1990, 124 u 2000, 435; aus Sicht des Kfz-Sachverständigen Burckhardt NZV 1990, 11. Zur Produktbeobachtungspflicht des Importeurs s. BGH v. 7.12.1993 – VI ZR 74/93, VersR 1994, 319. Für Fahrradhersteller: LG Berlin v. 18.10.1996 – 26 O 337/95, MDR 1997, 246. 64 BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79, BGHZ 80, 186, 193; OLG Frankfurt v. 24.10.1995 – 22 U 100/ 94, NZV 1996, 147; MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 997 f. m.w.N. 65 Zur umstrittenen Rückrufpflicht des Herstellers s. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 1000 ff.; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 119. 66 Grundlegend BGH v. 16.12.2008 – VI ZR 170/07, BGHZ 179, 157 = JZ 2009, 905 mit Anm. Wagner; Molitoris NJW 2009, 1049. 67 BGH v. 17.10.1989 – VI ZR 258/88, VersR 1989, 1307.

Greger | 179

§ 6 Rz. 6.26 | Haftung für Produktmängel

rer Hersteller (Zubehör) entstehen können.68 Software erfordert wegen der besonderen, oftmals erst im Betrieb erkennbar werdenden Fehleranfälligkeit besondere Beobachtung; dies gilt für die Steuerung automatisierter Kfz in besonderem Maße.69 Der Softwarehersteller muss hierfür auch Nutzerbeschwerden auswerten und ggf. Tests veranlassen, bei erkannter Störanfälligkeit Updates zur Verfügung stellen.70 Die Produktbeobachtungspflicht ist als solche zeitlich nicht limitiert;71 der Zeitfaktor kann allenfalls die aus ihr zu folgernden Maßnahmen (s. Rz. 6.25) beeinflussen.

2. Haftpflichtige 6.27

Die deliktische Produzentenhaftung trifft denjenigen, der das Produkt in den Verkehr gebracht hat. Dies ist in erster Linie der (tatsächliche) Hersteller des fehlerhaften End- oder Teilprodukts.72 Bei anderen in den Produktions- oder Absatzprozess Eingeschalteten unterscheidet der BGH nach der aus der jeweiligen Funktion abzuleitenden Pflichtenstellung:

6.28

Der Zulieferer eines Einzelteils haftet nur für dessen Fehlerhaftigkeit bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, ggf. gemeinsam mit dem Endhersteller, soweit dieser eine Überprüfungspflicht verletzt hat.73

6.29

Ein Vertriebshändler oder Importeur ist nicht verantwortlich für Fehler bei der Konstruktion oder Fabrikation. Dies gilt auch, wenn er „wie ein Hersteller“ auftritt und das Produkt mit einem eigenen Markenzeichen in den Verkehr gibt.74 Ihn kann aber eine Produktbeobachtungs- und Instruktionspflicht treffen.75 Allein durch das Anbringen von Marken oder Unternehmenskennzeichen entsteht keine Gefahrabwendungspflicht.76 Zu einer Überprüfung der vertriebenen Fahrzeuge auf Sicherheitsmängel ist der Händler grundsätzlich, d.h. wenn nicht aufgrund besonderer Umstände (z.B. bereits bekannten Schadensfälle) ein Anlass hierzu besteht, nicht verpflichtet;77 für Fehler, die ohne Überprüfung erkannt werden können, ist er jedoch verantwortlich.78 Die vorstehenden Grundsätze gelten auch, wenn es sich beim Vertriebshändler um ein Tochterunternehmen des Herstellers handelt; allerdings können hier höhere Anforderungen gestellt werden, wenn ihm aufgrund seiner Verflechtungen Produktoder Kontrollmängel bekannt sind.79 Vom Vertragshändler eines Automobilherstellers erwartet der Verkehr, dass er gebrauchte Fahrzeuge nur wieder in den Verkehr bringt, wenn er sich 68 BGH v. 9.12.1986 – VI ZR 65/86, BGHZ 99, 167 = JR 1988, 241 mit zust. Anm. Schmitz = BB 1987, 721 mit Anm. Schmidt-Salzer; Kullmann BB 1987, 1957. Zur Rechtslage nach Inkrafttreten des ProdHaftG Landscheidt NZV 1989, 169, 172 f. 69 von Bodungen/Hoffmann NZV 2016, 503, 505; Schrader DAR 2018, 314, 316 f. 70 Schrader DAR 2016, 242, 244. 71 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 989. 72 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 925. 73 BGH v. 14.5.1996 – VI ZR 158/95, NJW 1996, 2224. Zur Bedeutung von Qualitätssicherungsvereinbarungen s. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 928; von Bodungen/Hoffmann NZV 2016, 503, 507 f. (insb. zu Fahrautomatiksystemen). 74 Anders insoweit die Haftung nach § 4 ProdHaftG. 75 BGH v. 7.12.1993 – VI ZR 74/93, NJW 1994, 517; MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 930 f. 76 BGH v. 11.12.1979 – VI ZR 141/78, NJW 1980, 1219. 77 BGH v. 11.12.1979 – VI ZR 141/78, NJW 1980, 1219 m.w.N. 78 BGH v. 5.1.1960 – VI ZR 130/59, VersR 1960, 855, 856. S. auch BGH v. 14.6.1977 – VI ZR 247/ 75, VersR 1977, 839 zu der Frage, inwieweit dies für einen Händler gilt, der noch eine Endmontage durchzuführen hat (Autokran); MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 930. 79 BGH v. 5.5.1981 – VI ZR 280/79, NJW 1981, 2250.

180 | Greger

III. Produkthaftung wegen Verletzung einer Verkehrspflicht | Rz. 6.32 § 6

vergewissert hat, dass das Fahrzeug noch den Zulassungsvorschriften entsprach und nicht in Einzelteilen so verändert war, dass die Betriebserlaubnis erloschen war.80 Bei Anhaltspunkten für eine Überalterung der montierten Reifen muss der Händler deren Alter anhand der DOTNummer überprüfen.81 Außerdem kann sich eine Haftung des Händlers daraus ergeben, dass er Instruktionen des Herstellers nicht an den Kunden weitergibt und dadurch eine unfallursächliche Fehlbedienung hervorruft82 oder dass er seine Kenntnis von einem Rückruf des Herstellers nicht sicherstellt,83 ferner aus Eingriffen oder Einwirkungen in seinem Herrschaftsbereich, z.B. fehlerhafter Lagerung. Daher haftet ein Reifenhändler, wenn er einen überalterten Reifen verkauft.84 Ein Betriebsangehöriger, der nicht Herr des Organisationsbereiches ist, haftet nur dann, wenn er aufgrund einer besonderen Stellung im Betrieb als Repräsentant des Unternehmens betrachtet werden kann.85

6.30

3. Beweislast Der Geschädigte muss beweisen, dass sein Schaden durch einen Produktfehler verursacht worden ist, der aus dem Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Herstellers stammt (zu Letzterem s. aber Rz. 6.33). Zur Beweislast bei Verletzung der Instruktionspflicht s. Rz. 6.32. Für den Kausalitätsnachweis gelten die allgemeinen Erleichterungen (s. Rz. 41.59, 41.68). Dies gilt auch für die Frage, ob der Geschädigte sich einem Warnhinweis entsprechend verhalten hätte (keine Umkehr der Beweislast,86 aber u.U. Anscheinsbeweis, auch wenn in der Rspr. verschiedentlich von tatsächlicher Vermutung die Rede ist).87

6.31

Ein Verschulden muss der Geschädigte dem Produzenten nicht nachweisen. Die Beweislast hierfür hat der BGH rechtsfortbildend dem Produzenten auferlegt.88 Dieser muss beweisen, dass ihn an dem (vom Geschädigten nachgewiesenen, aus seinem Organisationsbereich stammenden, schadensursächlichen) Produktfehler kein Verschulden trifft. Er hat sich also hinsichtlich der Erfüllung seiner Organisations- und Überwachungspflichten, der Beachtung der erforderlichen Sorgfalt durch seine Bediensteten, der Nichterkennbarkeit von Mängeln oder Instruktionsbedürfnissen usw. zu entlasten. Bei Konstruktions- und Fabrikationsmängeln bezieht sich dies sowohl auf die „äußere Sorgfalt“ (kein pflichtwidriges Handeln) als auch auf die subjektive Seite der Fahrlässigkeit (s. Rz. 10.53).89 Dies gilt auch bei Verletzung einer bereits bei Inverkehrgabe des Produkts bestehenden Informationspflicht.90 Bei behaupteter Verletzung einer nachträglich entstandenen Warnpflicht ist dagegen vom Kläger zu beweisen,

6.32

80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

BGH v. 5.7.1978 – VIII ZR 172/77, NJW 1978, 2241 (unzulässige Bereifung). BGH v. 11.2.2004 – VIII ZR 386/02, NJW 2004, 1032. Vgl. OLG München v. 20.11.1979 – 27 U 437/79, VersR 1980, 1052. OLG Karlsruhe v. 21.11.1980 – 1 Ss 97/80, NJW 1981, 1054. OLG Düsseldorf v. 21.2.1997 – 22 U 160/96, VersR 1999, 64. Zur Prüfpflicht OLG Nürnberg v. 5.2.2002 – 3 U 3149/01, VersR 2003, 385. BGH v. 19.11.1991 – VI ZR 171/91, BGHZ 116, 104, 113 f. Zum Herstellungsleiter BGH v. 7.10.1986 – VI ZR 187/85, NJW 1987, 372; BGH v. 3.6.1975 – VI ZR 192/73, NJW 1975, 1827. BGH v. 7.10.1986 – VI ZR 187/85, VersR 1987, 102, 105; a.A. Staudinger/Hager § 823 Rz. F 41 f. BGH v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91 Rz. 41, BGHZ 116, 60; BGH v. 11. 7. 1972 – VI ZR 194/70, NJW 1972, 2217, 2221; MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 1022; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 122. S. auch Rz. 6.18. BGH v. 26.11.1968 – VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91. BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79 Rz. 31, BGHZ 80, 186. BGH v. 12.11.1991 – VI ZR 7/91 Rz. 39, BGHZ 116, 60.

Greger | 181

§ 6 Rz. 6.32 | Haftung für Produktmängel

dass nach dem Stand der Wissenschaft, der Technik usw. die Gefahr erkennbar war und zumutbare Möglichkeiten der Gefahrenabwehr vorhanden waren, während für die Frage, ob der Hersteller die entsprechenden Erkenntnismöglichkeiten hatte oder sich hätte verschaffen müssen, die Beweislast diesen trifft.91 Diese Beweislastregeln gelten auch für den im Produktionsbereich verantwortlichen Geschäftsleiter.92

6.33

Für den Beweis, dass der Fehler im Verantwortungsbereich des Herstellers entstanden ist, kommen dem Geschädigten u.U. die Regeln der sekundären Darlegungslast zu Hilfe.93 Ihnen zufolge ist der nicht beweisbelastete Beklagte im Rahmen des Zumutbaren verpflichtet, nähere Angaben (z.B. zu seinen Kontrollmaßnahmen) zu machen, wenn dies dem primär darlegungspflichtigen, aber außerhalb des darzulegenden Geschehensablaufes stehenden Gegner nicht möglich ist.94 Zu weit gehend leitet der BGH – unter bestimmten Umständen – eine Beweislastumkehr zu Lasten des Herstellers aus der Verletzung einer Befundsicherungspflicht ab.95 Dies kommt in Betracht, wenn der Hersteller aufgrund seiner dem Verbraucher gegenüber bestehenden Sicherungspflicht als verpflichtet anzusehen ist, seine Produkte unter Sicherung des Befundes zu überprüfen. Kommt er dieser Befundsicherungspflicht nicht nach, soll der Hersteller – was kaum je möglich sein wird – den Beweis führen müssen, dass es sich im konkreten Schadensfall nicht um einen Produktfehler aus seinem Bereich gehandelt hat. Auf den Beweis, dass der Schaden durch einen Mangel verursacht wurde, vor dem der Hersteller im Rahmen seiner Produktbeobachtungspflicht (s. Rz. 6.25) hätte warnen müssen, ist diese Beweislastumkehr nicht anwendbar.96

IV. Produkthaftung wegen Verletzung eines Schutzgesetzes 6.34

Eine Haftung des Herstellers kann sich auch daraus ergeben, dass er durch das Inverkehrbringen des fehlerhaften Produktes gegen eine zum Schutz des Verkehrs vor der betreffenden Gefahr erlassene Rechtsvorschrift verstößt. In Betracht kommen hier vor allem Verstöße gegen § 3 ProdSG97 sowie gegen technische Ausstattungsvorschriften der StVZO.98 Näher zur Haftung wegen Verletzung eines Schutzgesetzes unten § 11.

BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 191/79 Rz. 33, BGHZ 80, 186; krit. Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 122. BGH v. 3.6.1975 – VI ZR 192/73, NJW 1975, 1827. Dazu ausführlich Zöller/Greger vor § 284 Rz. 34 ff. BGH v. 8.12.1992 – VI ZR 24/92, NJW 1993, 528; Staudinger/Hager § 823 Rz. F 39. BGH v. 7.6.1988 – VI ZR 91/87, BGHZ 104, 323 = NJW 1988, 2611 mit Anm. Reinelt = VersR 1988, 930 mit Anm. Foerste. Zur Anwendbarkeit dieser Grundsätze im Kfz-Bereich Birkmann DAR 1989, 281 ff. Zur berechtigten Kritik an dieser Rspr. s. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 1019. 96 Vgl. BGH v. 9.12.1986 – VI ZR 65/86, BGHZ 99, 181. Zweifelnd Birkmann DAR 1990, 124, 129 f. 97 Eingehend Wagner VersR 2014, 905, 913 ff. 98 Kullmann NZV 2002, 1, 8. 91 92 93 94 95

182 | Greger

§7 Haftung für Verrichtungsgehilfen

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Norm . . . . . . . . . . . . . . Inhalt der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfragen zum Haftungsgrund . . . . Einzelheiten zur Beweisregelung . . . . . Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . Bestellung zur Ausführung einer Verrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schädigung in Ausführung der Verrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. 1. 2. 3. 4. 5. II. 1.

7.1 7.1 7.2 7.4 7.7 7.10 7.11 7.11

III. Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenstand des Entlastungsbeweises . 2. Sorgfaltsanforderungen bei der Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sorgfaltsanforderungen bei der Beaufsichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sorgfaltsanforderungen bei der Beschaffung von Vorrichtungen . . . . . 5. Fehlende Kausalität . . . . . . . . . . . . . . .

7.15 7.15 7.16 7.21 7.25 7.26

7.13

§ 831 BGB (1) Wer einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Geschäftsherr bei der Auswahl der bestellten Person und, sofern er Vorrichtungen oder Gerätschaften zu beschaffen oder die Ausführung der Verrichtung zu leiten hat, bei der Beschaffung oder der Leitung die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde. (2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher für den Geschäftsherrn die Besorgung eines der im Abs. 1 Satz 2 bezeichneten Geschäfte durch Vertrag übernimmt.

I. Überblick 1. Bedeutung der Norm Sie begründet eine vom Nachweis eines Verschuldens unabhängige Haftung in den Fällen, in denen der Schaden durch eine Person verursacht wurde, die zur Ausführung der Schaden stiftenden Handlung von einem anderen bestellt worden war, also z.B. einen angestellten Fahrer oder einen mit der Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht beauftragten Mitarbeiter. War die Person beim Betrieb eines Kfz tätig, hat die Regelung wegen § 7 StVG kaum Bedeutung. Ansonsten bietet sie dem Geschädigten die Möglichkeit, einen deliktischen, also nicht den Schranken der Gefährdungshaftung unterliegenden Anspruch gegen den (oftmals solventeren) Arbeitgeber geltend zu machen, ohne einen Verschuldensnachweis führen zu müssen. In der Regelung kommt der Gedanke des Einstehens für ein Betriebsrisiko zum Ausdruck.1 Letztlich geht es um eine Haftung für die Verletzung von Verkehrspflichten.2

1 BGH v. 4.3.1957 – GSZ 1/56, BGHZ 24, 21, 30. 2 Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 2.

Greger | 183

7.1

§ 7 Rz. 7.2 | Haftung für Verrichtungsgehilfen

2. Inhalt der Regelung 7.2

Nach § 831 BGB haftet derjenige, der einen anderen für sich tätig werden lässt (Geschäftsherr), für den Schaden, den der andere (Verrichtungsgehilfe) einem Dritten widerrechtlich zufügt. Der Grund für diese Haftung liegt nicht im Verschulden des Verrichtungsgehilfen, sondern im Verschulden des Geschäftsherrn bei der Auswahl oder Beaufsichtigung des Gehilfen oder bei der Beschaffung seiner Vorrichtungen oder Gerätschaften. Dieses Verschulden wird nach § 831 BGB vermutet. Es ist Sache des Geschäftsherrn, diese Vermutung zu entkräften. Das Wesen des § 831 BGB liegt somit in einer Umkehrung der Beweislast hinsichtlich des Verschuldens desjenigen, der den anderen zu der Verrichtung bestellt hat.

7.3

§ 831 BGB stellt darüber hinaus noch eine zweite Vermutung auf, nämlich die, dass der Mangel der Sorgfalt des Geschäftsherrn für den Schaden ursächlich gewesen sei. Diese Vermutung kann der Geschäftsherr entkräften, indem er nachweist, dass der Schaden auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt entstanden wäre.

3. Einzelfragen zum Haftungsgrund 7.4

Da es beim Verrichtungsgehilfen nicht auf ein Verschulden ankommt, spielt auch die Frage der Schuldfähigkeit bei ihm keine Rolle. Wohl aber haftet der Geschäftsherr nur, wenn er selbst deliktsfähig ist oder die Voraussetzungen des § 829 BGB vorliegen.3

7.5

Verursacht der Verrichtungsgehilfe den Schaden im Zustand der Handlungsunfähigkeit (z.B. Bewusstlosigkeit), so ist § 831 BGB nicht anwendbar.4

7.6

Das Merkmal der Widerrechtlichkeit hat bei § 831 BGB (anders als bei § 823 BGB; s. Rz. 10.45) besondere Bedeutung, weil nach der h.L. vom Erfolgsunrecht5 die Verletzung geschützter Rechtsgüter stets widerrechtlich ist, wenn nicht ein besonderer Rechtfertigungsgrund vorliegt. Während bei § 823 BGB das Erfordernis der fahrlässigen Verkehrspflichtverletzung sicherstellt, dass nicht auch für solche Rechtsgutsverletzungen gehaftet werden muss, die durch ein verkehrsrichtiges Verhalten hervorgerufen werden, fehlt dieses Korrektiv bei § 831 BGB. Müsste der Geschäftsherr demnach auch für solche Schäden deliktisch haften, die durch das von einem angestellten Kraftfahrer gelenkte Kfz trotz beanstandungsfreier Fahrweise verursacht wurden, ginge die Haftung aus § 831 BGB noch weit über eine Gefährdungshaftung hinaus. Die vom Großen Senat des BGH6 entwickelte Lösung mit Hilfe eines „Rechtfertigungsgrundes des verkehrsrichtigen Verhaltens“ hat allerdings kaum Zustimmung gefunden.7 Für eine derartige Rechtsfortbildung besteht auch kein Anlass. Hat sich nämlich der Verrichtungsgehilfe richtig verhalten, so wäre der Schaden auch dann entstanden, wenn der Geschäftsherr selbst an seiner Stelle gewesen wäre. Es fehlt also an der Kausalität zwischen mangelhafter Gehilfenauswahl oder -beaufsichtigung und dem rechtswidrigen Erfolg.8

3 KG v. 31.10.1994 – 12 U 4031/93, NZV 1995, 109, 110. 4 BGH v. 12.2.1963 – VI ZR 70/62, BGHZ 39, 103, 106 f.; BGH v. 10.10.1078 – VI ZR 98/77, 99/77, VersR 1978, 1163. 5 S. dazu Staudinger/Bernau § 831 Rz. 110 ff. 6 BGH v. 4.3.1957 – GSZ 1/56, BGHZ 24, 21, 23 ff. 7 Vgl. Staudinger/Bernau § 831 Rz. 121; MünchKomm-BGB/Wagner § 831 Rz. 36 ff.; Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 13. 8 RG JW 1936, 2394, 2396; Staudinger/Bernau § 831 Rz. 121; Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 13 (kein „sinnvoller Verantwortungszusammenhang“); s. auch Rz. 7.26.

184 | Greger

II. Haftungstatbestand | Rz. 7.11 § 7

4. Einzelheiten zur Beweisregelung Der Verletzte braucht i.d.R. nur darzulegen, dass ihm durch eine zu der Verrichtung bestellte Person widerrechtlich ein Schaden zugefügt wurde.9 Die Person des Schadensverursachers muss nicht namentlich benannt werden;10 es genügt vielmehr, wenn der Geschädigte den Unfall nach Art, Zeit und Umständen so bezeichnet, dass sich das Tätigwerden einer Hilfsperson ergibt.11

7.7

Der Geschäftsherr hat etwaige Rechtfertigungsgründe zu beweisen.12 Kann er die Widerrechtlichkeit nicht ausräumen, so kann er sich entlasten, indem er nachweist, dass ihn kein Verschulden hinsichtlich der Auswahl oder Leitung des Gehilfen oder der Beschaffung seiner Vorrichtungen und Gerätschaften trifft (s. Rz. 7.15 ff.). Schließlich bleibt ihm noch die Möglichkeit, den Beweis zu erbringen, dass ein derartiges Verschulden nicht ursächlich für den Schaden war, d.h. dass dieser auch bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt eingetreten wäre (s. Rz. 7.26).

7.8

Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn der Gehilfe sich bei der Schädigung verkehrsrichtig verhalten hat, weil ein etwaiges Auswahlverschulden dann ohne Auswirkung geblieben ist (s. Rz. 7.6). Kommen nach den Angaben des Geschädigten mehrere Gehilfen als Schädiger in Betracht, muss sich der Geschäftsherr hinsichtlich aller entlasten.13

7.9

5. Konkurrenzen Trifft den Verrichtungsgehilfen eine persönliche Haftung (z.B. aus § 823 BGB oder § 18 StVG), so kann er neben dem Geschäftsherrn als Gesamtschuldner (§ 840 Abs. 1 BGB) in Anspruch genommen werden; für das Innenverhältnis gilt § 840 Abs. 2 BGB. Zum Einfluss von Haftungsfreistellungen s. Rz. 39.16 ff. Kann dem Geschäftsherrn ein schuldhafter Organisationsmangel oder eine eigene Verkehrspflichtverletzung nachgewiesen werden, haftet er unmittelbar aus § 823 BGB, so dass es einer Heranziehung des § 831 BGB nicht bedarf.

7.10

II. Haftungstatbestand 1. Bestellung zur Ausführung einer Verrichtung Verrichtungsgehilfe ist derjenige, dem von einem anderen, von dessen Weisungen er abhängig ist, eine Tätigkeit übertragen worden ist.14 Die Bestellung braucht nicht durch ein Rechtsgeschäft zu erfolgen; es genügt auch eine nur tatsächliche Betrauung.15 Die Bestellung zum Verrichtungsgehilfen kann auch durch eine hierzu befugte Mittelsperson geschehen,16 z.B. durch einen anderen Verrichtungsgehilfen. Keine Verrichtungsgehilfen sind die satzungsmäßig berufenen Vertreter einer Körperschaft (§ 31 BGB) oder eines nicht rechtsfähigen Vereins.17

9 10 11 12 13 14 15 16 17

Vgl. hierzu BGH v. 21.6.1994 – VI ZR 215/93, NJW 1994, 2756. BGH v. 19.6.1973 – VI ZR 178/71, NJW 1973, 1602; Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 14. RG v. 11.3.1909 – VI 109/08, RGZ 70, 379. Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 29. Zur Einordnung des verkehrsrichtigen Verhaltens s. Rz. 7.6. Staudinger/Bernau § 831 Rz. 146. BGH v. 30.6.1966 – VII ZR 23/65, BGHZ 45, 311, 313. BGH v. 22.11.1963 – VI ZR 264/62, FamRZ 1964, 84; Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 8. Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 9. MünchKomm-BGB/Wagner § 831 Rz. 20.

Greger | 185

7.11

§ 7 Rz. 7.12 | Haftung für Verrichtungsgehilfen

7.12

Einzelheiten: Nicht Verrichtungsgehilfe ist grundsätzlich der selbständige Unternehmer (auch Subunternehmer),18 der im Auftrag eines anderen handelt, denn er ist für sein Handeln selbst verantwortlich.19 Etwas anderes kann aber gelten, wenn er bei der Ausführung der ihm übertragenen Aufgaben in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Auftraggeber steht und dessen Weisungen unterworfen ist.20 Angestellte sind Verrichtungsgehilfen, sofern sie den betr. Aufgabenbereich nicht selbständig und eigenverantwortlich erfüllen, so dass sie nach der Rspr. dem § 31 BGB unterfallen.21 Wer einen Wagen zur Benützung mit der Auflage erhalten hat, für den verkehrssicheren Zustand zu sorgen, ist insoweit Verrichtungsgehilfe.22 Nicht Verrichtungsgehilfe ist die Hilfsperson, die bei einer ohnehin durchzuführenden Privatfahrt mit einer Besorgung für ihren Vorgesetzten betraut wurde.23 Die Gesellschafter einer Personengesellschaft sind im Verhältnis zueinander keine Verrichtungsgehilfen.24

2. Schädigung in Ausführung der Verrichtung 7.13

Der Schaden muss in Ausführung der übertragenen Aufgabe, nicht nur gelegentlich derselben, zugefügt sein. In Ausführung der Verrichtung begangen ist jede Handlung, die in den Kreis der dem Verrichtungsgehilfen übertragenen Tätigkeit fällt und hiermit in innerem Zusammenhang steht; dies gilt auch dann, wenn der Verrichtungsgehilfe seine Befugnisse im Einzelfall (irrtümlich oder eigenmächtig) überschritten hat.25

7.14

Der innere Zusammenhang fehlt, wenn der Gehilfe ein Kfz des Geschäftsherrn unbefugt nutzt26 oder bei angewiesener Güterbeförderung verbotswidrig einen Fahrgast mitnimmt;27 er bleibt jedoch grundsätzlich bestehen, wenn er bei befugter Fahrt weisungswidrig einen Anhänger mitführt28 oder von der vorgegebenen Strecke abweicht. Eine verkehrsübliche Hilfeleistung steht, selbst wenn der Geschäftsherr solche Tätigkeit allgemein untersagt hat, in Zusammenhang mit dem Aufgabenbereich des angestellten Fahrers.29

III. Entlastungsbeweis 1. Gegenstand des Entlastungsbeweises 7.15

Der Geschäftsherr muss nachweisen, dass der Verrichtungsgehilfe bei der Bestellung zu der Verrichtung einem sorgfältigen Menschen nach Lage der Umstände als tüchtig und zuverlässig erscheinen musste (s. Rz. 7.16 ff.), dass er in der Zwischenzeit zwischen Bestellung und Unfall ausreichend beaufsichtigt wurde, ohne dass ihm Nachteiliges bekannt geworden ist (s.

18 BGH v. 21.6.1994 – VI ZR 215/93, NJW 1994, 2756; OLG Stuttgart v. 13.1.2000 – 7 U 208/99, VersR 2002, 587. 19 MünchKomm-BGB/Wagner § 831 Rz. 16. 20 BGH v. 29.6.1956 – I ZR 129/54, NJW 1956, 1715; Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 6. 21 Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 3. Zu § 31 BGB s. BGH v. 6.12.1983 – VI ZR 60/82, NJW 1984, 921. 22 BGH v. 1.10.1969 – IV ZR 642/68, VersR 1969, 1025, 1026. 23 BGH v. 24.6.1958 – VI ZR 153/57, NJW 1958, 1774. 24 BGH v. 30.6.1966 – VII ZR 23/65, BGHZ 45, 311, 313. 25 BGH v. 30.10.1967 – VIII ZR 82/65, BGHZ 49, 19, 23; BGH v. 6.10.1970 – VI ZR 56/69, NJW 1971, 31, 32. 26 BGH v. 6.10.1970 – VI ZR 56/69, NJW 1971, 31, 32. 27 BGH v. 3.11.1964 – VI ZR 82/64, NJW 1965, 391, 392. 28 BGH v. 6.10.1970 – VI ZR 56/69, NJW 1971, 31, 32. 29 OLG Nürnberg v. 17.12.1963 – 3 U 157/63, VersR 1965, 70; enger OLG Köln v. 13.12.1994 – 22 U 148/94, VersR 1996, 523, 524 und OLG Hamburg v. 20.7.1973 – 8 U 58/73, VersR 1974,52, 53 für Hilfe des Kraftfahrers beim Abladen.

186 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 7.19 § 7

Rz. 7.21 ff.) und dass, falls ein Mangel des Kfz oder einer sonstigen Vorrichtung den Unfall herbeigeführt haben könnte, entweder kein Mangel vorlag oder den Geschäftsherrn an seinem Vorliegen kein Verschulden trifft (s. Rz. 7.25). Schließlich kann sich der Geschäftsherr auch noch dadurch entlasten, dass er die fehlende Kausalität seines (vermuteten) Versagens für den Unfall beweist (s. Rz. 7.26). Ob der Entlastungsbeweis geführt ist, hängt stark vom Einzelfall ab;30 die nachfolgende Übersicht kann daher nur Anhaltspunkte liefern.

2. Sorgfaltsanforderungen bei der Auswahl Die Rechtsprechung stellt insbesondere bei Kfz-Führern strenge Anforderungen,31 die bei der Einstellung als Omnibusfahrer noch gesteigert sind.32

7.16

Die Einsichtnahme in Zeugnisse genügt nicht; neben einem eingehenden Einstellungsgespräch kann die Einholung von Referenzen geboten sein.33 Bei erneuter Einstellung muss sich der Arbeitgeber von der Fortdauer der Tauglichkeit vergewissern.34 Er hat sein Augenmerk auch auf die körperlichen und charakterlichen Eigenschaften des Führers zu richten, da diese beim Erwerb der Fahrerlaubnis nicht geprüft werden. Bei einem Anfänger ist eine besonders gründliche Prüfung veranlasst.35 Ein mehrfach wegen Fahrens mit einem nicht zugelassenen Kfz Geahndeter darf nicht als Lastzugführer beschäftigt werden.36 Im Werksverkehr mit Gabelstaplern sind die Auswahlanforderungen geringer.37

7.17

Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Auswahlmangel und Unfall wird nicht gefordert. Der Schaden muss also nicht gerade durch diejenige Eigenschaft des Bestellten verursacht worden sein, die seine sorgfältige Auswahl in Frage stellt:38 Ein zu Trunkenheit neigender Fahrer führt die Haftung seines Dienstherrn aus § 831 auch bei einem Unfall herbei, den er in nüchternem Zustand verursacht hat.39 Der Schutzzweck des § 831 BGB wird somit weiter gefasst als es den allgemeinen Grundsätzen der deliktischen Zurechnung entspräche.40 Zu weiteren Kausalitätsfragen s. Rz. 7.26.

7.18

Ist der Verrichtungsgehilfe durch eine Mittelsperson (z.B. einen leitenden Angestellten) bestellt worden, so muss der Geschäftsherr sich nur für diese entlasten, d.h. beweisen, dass er bei der Auswahl der Mittelsperson durch sorgfältige Prüfung zu der Überzeugung gelangen konnte, dass sie nur geeignete und zuverlässige Personen mit einer Verrichtung betrauen werde (dezentraler Entlastungsbeweis).41 Der Unternehmer wird dadurch aber nicht der Pflicht enthoben, durch allgemeine Arbeitsanweisungen eine Organisation zu schaffen, welche die ordnungsgemäße Auswahl und Überwachung der unteren Gehilfen gewährleistet.42

7.19

30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

BGH v. 30.1.1996 – VI ZR 408/04, NZV 1996, 191. S. z.B. BGH v. 15.11.1983 – VI ZR 57/82, VersR 1984, 67. BGH v. 20.1.1970 – VI ZR 132/68, VersR 1970, 327. OLG Köln v. 21.6.1996 – 19 U 2/96, VersR 1997, 847. RG DAR 1930, 362. OLG Hamm v. 9.12.2008 – 9 U 20/08, NJW 2009, 2685. BGH v. 7.6.1966 – VI ZR 130/65, VersR 1966, 929, 930. OLG Düsseldorf v. 2.7.2001 – 1 U 113/00, NZV 2002, 91. BGH v. 27.6.1961 – VI ZR 257/60, VersR 1961, 848, 849; BGH v. 14.3.1978 – VI ZR 213/76, NJW 1978, 1681, 1682. Staudinger/Bernau § 831 Rz. 143. MünchKomm-BGB/Wagner § 831 Rz. 54. BGH v. 25.10.1951 – III ZR 95/50, BGHZ 4, 1. BGH v. 17.10,1967 – VI ZR 70/66, NJW 1968, 247, 248; Staudinger/Bernau § 831 Rz. 176. Die Figur des dezentralen Entlastungsbeweises für entbehrlich haltend daher Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 21; krit. auch MünchKomm-BGB/Wagner § 831 Rz. 50 f.

Greger | 187

§ 7 Rz. 7.20 | Haftung für Verrichtungsgehilfen

7.20

Mängel bei der Auswahlentscheidung (z.B. fehlende Anknüpfungspunkte bei einem Berufsanfänger) sind durch verstärkte Überwachung auszugleichen.43 Der Entlastungsbeweis kann auch durch den – allerdings schwierigen – Nachweis geführt werden, dass das Ergebnis einer sorgfältigen Prüfung die Tauglichkeit des Gehilfen ergeben hätte, wenn diese durchgeführt worden wäre.44 Zum Kausalitätsbeweis im Übrigen s. Rz. 7.26.

3. Sorgfaltsanforderungen bei der Beaufsichtigung 7.21

Zwar haftet der Halter nach § 831 BGB, wenn er entweder bei der Auswahl des Kfz-Führers oder bei dessen Beaufsichtigung („Leitung der Verrichtung“) nicht mit ausreichender Sorgfalt verfahren ist. Hinsichtlich des zu fordernden Ausmaßes der Sorgfalt herrschen aber gewisse Wechselbeziehungen. Bei mangelnder Sorgfalt in der Auswahl tritt Haftung auch bei bester Aufsicht ein, wenn nur ein kurzer Zeitraum zwischen Einstellung des Führers und dem Unfall vergangen ist.45 War eine Überwachung erforderlich, so ist der Entlastungsbeweis nur geführt, wenn erwiesen ist, dass der Unternehmer hierbei keinen Anlass gefunden hat, an der Eignung des Fahrers zu zweifeln.46 Die Anforderungen an die Zumutbarkeit der Maßnahmen dürfen nicht überspannt werden.47

7.22

Grundsätzlich ist eine unauffällige Beobachtung der Fahrweise erforderlich, um den strengen Anforderungen an die Überwachung eins angestellten Kraftfahrers zu genügen.48 Eine Beobachtung durch Kontrollfahrten ist bei einem sorgfältig ausgewählten, langjährig unfall- und beanstandungsfrei fahrenden Mitarbeiter aber nicht mehr erforderlich.49 Geboten ist sie dagegen, wenn Verkehrsverstöße bekannt werden. Besonders zu überwachen ist im Fernlastverkehr die Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten; dazu gehören über die Auswertung des Fahrtschreibers hinaus Kontrollen über Ortungssysteme bzw. Mobiltelefon oder Rückfragen bei den Empfängern der Fracht.50

7.23

Einzelanweisungen sind bei langjährig erprobten Fahrern nicht erforderlich;51 bei ihnen kann sich die Aufsicht auf gelegentliche Stichproben beschränken.52 Ist ein Fahrer sorgfältig ausgewählt und überwacht und hat er sich bewährt, so braucht der Halter ihn nicht auf die Einhaltung bestimmter Verkehrsvorschriften besonders aufmerksam zu machen.53 Ein Fuhrunternehmer muss seine Gehilfen allgemein anweisen, seine Kfz regelmäßig zu überprüfen, auch wenn keine Mängel hervorgetreten sind.54

7.24

Besondere Sorgfalt ist erforderlich beim Fahrer eines Krankentransportwagens,55 einem Fahrlehrer,56 einem Baggerführer, der bereits verbotswidrig auf öffentlichem Verkehrsgrund gefahren ist,57 dem

43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Erman/Wilhelmi § 831 Rz. 17. RG JW 1921, 526; Staudinger/Bernau § 831 Rz. 167. RG v. 18.2.1939 – VI 228/38, RGZ 159, 312, 314. BGH v. 24.5.1963 – VI ZR 148/62, VersR 1963, 955, 956. BGH v. 15.11.1983 – VI ZR 57/82, VersR 1984, 67. BGH v. 25.1.1966 – VI ZR 154/64, VersR 1966, 364; BGH v. 1.7.1997 – VI ZR 205/96, NJW 1997, 2756, 2757. BGH v. 25.1.1966 – VI ZR 190/64, VersR 1966, 490 (bei laufender Überwachung durch Vertreter des Dienstherrn). Zu streng BGH v. 15.11.1983 – VI ZR 57/82, VersR 1984, 67. OLG Hamm v. 9.12.2008 – 9 U 20/08, NJW 2009, 2685. RG v. 2.11.1938 – VI 111/38, RGZ 158, 352, 356. BGH v. 3.5.1983 – VI ZR 143/81, VersR 1983, 668, 669. BGH v. 26.1.1960 – VI ZR 4/59, VersR 1960, 328, 329. BGH v. 21.4.1956 – VI ZR 35/55, VersR 1956, 382. BGH v. 16.11.1962 – VI ZR 11/62, VersR 1963, 239, 240. KG v. 4.7.1966 – 12 U 173/66, VersR 1966, 1036, 1037 = 1967, 44 mit Anm. Gaisbauer = 1967, 85 mit Anm. Schmidt. BGH v. 20.9.1966 – VI ZR 258/64, VersR 1966, 1074, 1075 f.

188 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 7.26 § 7 Lenker eines Pferdefuhrwerks58 oder einem mit dem Befüllen von Benzintanks betrauten Tankwagenfahrer, der bisher nur Lastkraftwagen gefahren hat.59 Für Führer einer Zugmaschine, die nicht mehr als 20 km/h fahren kann, gelten keine geringeren Anforderungen.60 Fahrer von Linienbussen oder Straßenbahnen müssen gelegentlich unvermutet und unauffällig durch Personen kontrolliert werden, die sie nicht kennen.61 Die Notwendigkeit einer ärztlichen Überprüfung des Fahrers besteht nur, wenn für den Halter des Kfz Grund dafür besteht, an der körperlichen Tauglichkeit des Fahrers zum Führen von Fahrzeugen zu zweifeln; für Führer öffentlicher Verkehrsmittel können aber strengere Maßstäbe angelegt werden.62

4. Sorgfaltsanforderungen bei der Beschaffung von Vorrichtungen Hierunter fällt auch die Verpflichtung des Kfz-Halters, für verkehrssicheren Zustand des Fahrzeugs zu sorgen. Der Halter muss daher beweisen, dass kein unfallursächlicher Mangel vorgelegen hat oder dass er ihn vor dem Unfall nicht bemerken konnte, obwohl er in dieser Richtung alles ihm Zumutbare getan, insbesondere regelmäßige Inspektionen veranlasst hat.63

7.25

5. Fehlende Kausalität Kann der Geschäftsherr sich nicht nach den vorstehenden Grundsätzen entlasten, so hat er die Möglichkeit, die fehlende Kausalität seines (vermuteten) Versagens unter Beweis zu stellen. Er muss dann nachweisen, dass der nämliche Schaden auch bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt im vorgenannten Sinne entstanden wäre (nicht nur die Möglichkeit einer solchen Entwicklung). Dies kann z.B. durch den Nachweis geschehen, dass nach den pflichtgemäß eingeholten Unterlagen auch ein sorgfältiger Geschäftsherr den Betreffenden eingestellt hätte, insb. aber auch durch den Nachweis eines verkehrsrichtigen Verhaltens des Gehilfen, denn besser hätte sich auch der optimal ausgewählte und überwachte Gehilfe nicht verhalten können.64 Dagegen genügt nicht der Nachweis, dass nicht derjenige Mangel in der Person des Verrichtungsgehilfen den Schaden verursacht hat, der bei der Auswahl pflichtwidrig unberücksichtigt blieb (s. Rz. 7.18).

BGH v. 13.10.1964 – VI ZR 126/63, VersR 1965, 37. BGH v. 3.4.1973 – VI ZR 84/72, VersR 1973, 713, 714. BGH v. 8.7.1969 – VI ZR 260/67, VersR 1969, 906. BGH v. 18.2.1969 – VI ZR 238/67, VersR 1969, 518, 519; KG v. 2.9.2002 – 12 U 1969/00, NZV 2003, 416, 418. 62 LG Stuttgart v. 8.5.1998 – 24 O 517/97, NJW-RR 1998, 1401. 63 BGH v. 15.2.1966 – VI ZR 201/64, VersR 1966, 564. 64 BGH v. 14.1.1954 – III ZR 221/52, BGHZ 12, 94; BGH v. 29.10.1985 – VI ZR 85/84, NJW 1986, 776, 777. 58 59 60 61

Greger | 189

7.26

§8 Haftung für Aufsichtsbedürftige

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . 1. Widerrechtliche Schädigung durch Aufsichtsbedürftigen . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufsichtspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertraglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.1 8.5 8.5 8.7 8.7 8.9

c) d) III. 1. 2. a) b)

Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragung der Aufsicht . . . . . . . . . . Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an die Aufsicht . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfälle aus der Rspr . . . . . . . . . . . .

8.11 8.12 8.14 8.14 8.15 8.15 8.16

§ 832 BGB (1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde. (2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht durch Vertrag übernimmt.

I. Überblick Wer kraft Gesetzes oder Vertrags die Aufsicht über eine Person ausübt, die wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist nach § 832 BGB zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der Beaufsichtigte einem Dritten widerrechtlich zufügt. Das Gesetz stellt für diese Fälle die Vermutungen auf, dass der Aufsichtspflichtige seine Aufsichtspflicht verletzt habe und dass dies die Ursache des Schadens sei. Der Geschädigte braucht also weder dem Schadensverursacher noch dem Aufsichtspflichtigen ein Verschulden nachzuweisen.

8.1

Hinsichtlich beider Vermutungen ist die Führung eines Entlastungsbeweises zulässig. Dieser bezieht sich – im Gegensatz zu § 831 BGB – nicht darauf, ob der Aufsichtspflichtige seine Pflichten im Allgemeinen erfüllt hat, sondern darauf, ob er hinsichtlich der Vermeidung des den Schaden verursachenden Ereignisses alles getan hat, was ihm seine Pflicht vorschreibt.1 Außerdem kann sich der Aufsichtspflichtige auch durch den Nachweis fehlender Ursächlichkeit seiner Pflichtverletzung für den Schaden entlasten. Die bloße Möglichkeit, dass der Unfall sich auch bei der Erfüllung der Aufsichtspflicht ereignet hätte, genügt hierfür nicht.2

8.2

Eine Haftung gegenüber dem Aufsichtsbedürftigen selbst ergibt sich aus § 832 BGB nicht3 (hierzu s. Rz. 14.316).

8.3

1 BGH v. 24.11.1964 – VI ZR 163/63, VersR 1965, 137. 2 RG Recht 1922, Nr. 1154; Staudinger/Bernau § 832 Rz. 188. 3 OLG Hamm v. 20.1.1992 – 6 U 183/91 NJW 1993, 542.

Greger | 191

§ 8 Rz. 8.4 | Haftung für Aufsichtsbedürftige

8.4

Eine Haftung des Aufsichtsbedürftigen kann sich bei Schuldfähigkeit und im Falle des § 829 BGB ergeben. Er haftet dann gesamtschuldnerisch neben dem Aufsichtspflichtigen. Im Innenverhältnis haftet ausschließlich der zu Beaufsichtigende, bei § 829 BGB der Aufsichtspflichtige (§ 840 Abs. 2 BGB). Schädigt der unzureichend Beaufsichtigte den Aufsichtspflichtigen selbst, so muss Letzterer sich das Aufsichtsverschulden anrechnen lassen.4

II. Haftungstatbestand 1. Widerrechtliche Schädigung durch Aufsichtsbedürftigen 8.5

Aufsichtsbedürftig sind alle Minderjährigen,5 Volljährige nur, wenn sie wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen der Beaufsichtigung bedürfen.6

8.6

Widerrechtlichkeit der Schadenszufügung (s. Rz. 10.45) ist erforderlich und ausreichend; auf Verschulden und Schuldfähigkeit kommt es nicht an.

2. Aufsichtspflicht a) Gesetzlich 8.7

Kraft Gesetzes zur Aufsicht verpflichtet (§ 832 Abs. 1 BGB) sind bei Minderjährigen die Inhaber des Personensorgerechts, also die Eltern (§ 1626 Abs. 1 BGB, bei nicht verheirateten Eltern nach Maßgabe des § 1626a BGB), und der Vormund (§§ 1793, 1800 BGB). Bei Volljährigen gibt es keine gesetzliche Aufsichtspflicht; Betreuer (§ 1896 BGB) und Pfleger (§ 1909 BGB) werden für die Besorgung bestimmter Angelegenheiten des Betroffenen, nicht für seine Beaufsichtigung bestellt.7 Dies gilt auch für den Umgangsbegleiter nach § 1684 Abs. 4 S. 3, 4 BGB.8

8.8

Keine gesetzliche Aufsichtspflicht haben Ehegatten untereinander, der Stiefvater, die Stiefmutter, das Vormundschaftsgericht, der Beistand und der Gegenvormund. Dasselbe gilt für Eltern, denen das Personensorgerecht entzogen wurde, und zwar auch dann, wenn der Vormund oder Pfleger das Kind bei ihnen belässt.9 Auch Ausbilder, Vorgesetzte oder Dienstherrn trifft keine gesetzliche Aufsichtspflicht; für sie kommt allenfalls eine Haftung aus Verletzung einer Verkehrspflicht (s. Rz. 8.11) sowie bei Amtsträgern und Lehrern aus § 839 BGB in Betracht (s. Rz. 12.16).

b) Vertraglich 8.9

Vertraglich zur Aufsicht verpflichtet (§ 832 Abs. 2 BGB) sind Kindermädchen, Pflegeeltern10 sowie die Träger von privaten Kindergärten, Horten, Schulen, Heimen und Heilanstalten für

OLG Zweibrücken v. 25.8.1999 – 1 U 199/98, NZV 1999, 509. RG v. 23.6.1902 – VI 116/02, RGZ 52, 73. BGH v. 15.4.1958 – VI ZR 87/57, NJW 1958, 1775. Bernau/Rau/Zschieschack NJW 2008, 3756 ff.; Bauer/Knieper BtPrax 1998, 124 f.; a.A. für den Fall der Übertragung der gesamten Personensorge auf den Betreuer LG Bielefeld v. 26.5.1998 – 20 S 48/98, NJW 1998, 2682; MünchKomm-BGB/Wagner § 832 Rz. 17. 8 Bernau DAR 2018, 429, 430 f.; a.A. OLG Karlsruhe FamRZ 2014, 1476, 1477 f. 9 OLG Düsseldorf v. 9.6.1959 – 4 U 283/59, NJW 1959, 2120. 10 OLG Köln v. 13.8.2015 – 8 U 67/14, NZV 2016, 276 (Bereitschaftspflegemutter). 4 5 6 7

192 | Greger

II. Haftungstatbestand | Rz. 8.12 § 8

Kinder und Jugendliche.11 Bei Kindergärten in städtischer Trägerschaft12 und geschlossener Anstalt einer Körperschaft des öffentlichen Rechts greift dagegen Amtshaftung ein; ebenso bei Lehrern an öffentlichen Schulen (s. Rz. 12.16). Ohne Bedeutung ist, wem gegenüber die vertragliche Aufsichtspflicht begründet wurde.13 § 832 BGB ist daher auch anwendbar auf den Inhaber eines privaten Heims, der durch Vertrag mit dem Stadtjugendamt die Aufsicht übernommen hat14 sowie auf verantwortliche Bedienstete einer der oben genannten Einrichtungen.15 Die Leitung eines Altersheims trifft keine Aufsichtspflicht hinsichtlich des Verhaltens der Heimbewohner im Straßenverkehr.16 Dulden zwei Elternpaare die gegenseitigen Besuche ihrer Kinder, so liegt der Beaufsichtigung des fremden Kindes kein Vertrag zugrunde.17 Auch bei Aufnahme eines nicht ehelichen Kindes in den ehelichen Haushalt kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Ehepartner durch stillschweigenden Vertrag eine Aufsichtspflicht übernimmt.18 In solchen Fällen greifen vielmehr die in Rz. 8.11 wiedergegebenen Gesichtspunkte ein.

8.10

c) Sonstige Aufsichtspflichten, die weder auf Vertrag noch auf Gesetz beruhen, führen in keinem Fall zu der in § 832 BGB enthaltenen Beweisregelung. Die Vorschrift ist nicht analogiefähig.19 Allerdings kann sich bei einer nur faktischen Übernahme der Aufsicht, z.B. aus Gefälligkeit, eine Haftung aus Verletzung der allgemeinen Verkehrspflicht ergeben, wonach derjenige, der eine Gefahrenlage geschaffen hat, die daraus für andere entstehenden Gefahren zu verhüten hat; bei Pflichtverletzung tritt Haftung nach § 823 BGB mit voller Beweislast des Geschädigten ein (s. Rz. 10.1 ff.).

8.11

d) Übertragung der Aufsicht Der kraft Gesetzes Aufsichtspflichtige muss die Aufsicht nicht persönlich ausüben. Gibt er das Kind in ein Heim oder Internat, so hat er eine Aufsichtspflicht nur während der Zeit, in der sich das Kind nicht dort befindet (Ferien, Wochenenden). Im Übrigen beschränkt sich seine Pflicht auf leitende Anordnungen. Überhaupt wird der Aufsichtspflichtige seiner Pflicht durch die Übertragung nie ganz ledig.20 Eltern genügen ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie in der Zeit ihrer Abwesenheit eine vertrauenswürdige Person mit der Aufsicht über das Kind beauftragen und ihnen hierbei kein Auswahl- oder Kontrollverschulden vorgeworfen werden

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

BGH v. 19.1.1984 – III ZR 172/82, VersR 1984, 460. OLG Düsseldorf v. 12.10.1995 – 18 U 225/94, VersR 1996, 710. Staudinger/Bernau § 832 Rz. 33. BGH v. 27.10.1964 – VI ZR 146/63, VersR 1965, 48. OLG Köln OLGZ 34, 121: leitender Arzt. Für aus § 823 Abs. 1 BGB abgeleitete Verkehrssicherungspflicht aber OLG Celle v. 13.10.1960 – 1 U 185/59, NJW 1961, 223. BGH v. 2.7.1968 – VI ZR 135/67, NJW 1968, 1874. A.A. OLG Düsseldorf v. 23.11.1990 – 22 U 189/90, NJW-RR 1992, 857. BGH v. 15.4.1958 – VI ZR 87/57, NJW 1958, 1775; Staudinger/Bernau § 832 Rz. 55; Erman/Wilhelmi § 832 Rz. 4. MünchKomm-BGB/Wagner § 832 Rz. 21 f. lässt dagegen die faktische Aufgabenübernahme genügen. BGH v. 11.6.1968 – VI ZR 144/67, VersR 1968, 903.

Greger | 193

8.12

§ 8 Rz. 8.12 | Haftung für Aufsichtsbedürftige

kann;21 nach ihrer Rückkehr müssen sie sich über das Verhalten des Kindes in der Zwischenzeit berichten lassen und danach die weiteren Maßnahmen einrichten.22

8.13

Wer die Aufsichtspflicht vertraglich übernommen hat (z.B. als Träger einer Einrichtung) haftet für das Verhalten seines hierfür eingesetzten Personals nach § 831 BGB, ggf. auch nach §§ 31, 89 BGB.23 Ob derjenige, der die Aufsicht tatsächlich ausübt, dies vertraglich übernommen hat, ist für seine eigene Haftung von Bedeutung (s. Rz. 8.9), nicht aber für die Haftung desjenigen, der ihm die Aufsicht übertragen hat.

III. Entlastungsbeweis 1. Beweislast 8.14

Wenn der Geschädigte beweist, dass ihm durch eine Person, für die der Anspruchsgegner im vorstehenden Sinne aufsichtspflichtig ist, Schaden zugefügt wurde, muss der Aufsichtspflichtige zur Entlastung von der verschuldensunabhängigen Haftung nach § 832 BGB beweisen, dass er seiner Pflicht genügt hat oder dass die Kausalität zwischen seiner Pflichtverletzung und dem Schaden fehlt (§ 832 Abs. 1 S. 2 BGB). Die fehlende Kausalität ist auch dann erwiesen, wenn sich ergibt, dass sich der Aufsichtsbedürftige verkehrsrichtig verhalten hat.24

2. Anforderungen an die Aufsicht a) Allgemeines 8.15

Das Ausmaß der Aufsicht richtet sich nicht nach starren Altersgrenzen, sondern nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falles.25 Maßgeblich sind insbesondere Alter, Eigenart und Charakter der Aufsichtsbedürftigen, das örtliche Umfeld, das Ausmaß der drohenden Gefahren, die Voraussehbarkeit des schädigenden Verhaltens sowie die Zumutbarkeit der Aufsichtsmaßnahme für den Aufsichtspflichtigen.26 Keinesfalls ist der Aufsichtspflichtige gehalten, den Beaufsichtigten ständig im Auge zu behalten;27 unter Umständen kann eine Belehrung genügen.28 Entscheidend ist, was verständige Aufsichtspersonen nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter durch das Kind zu vermeiden.29 Das Maß der Aufsicht muss aber auch mit dem Erziehungsziel, die Fähigkeit des Kindes zu selb-

21 22 23 24 25

26 27 28 29

OLG Hamm v. 29.10.1996 – 27 U 63/96, NJW-RR 1997, 344. BGH v. 11.6.1968 – VI ZR 144/67, VersR 1968, 903. BGH v. 19.1.1984 – III ZR 172/82, VersR 1984, 460 (Leiter einer Landesklinik). Pardey DAR 2001, 1, 2; Haberstroh VersR 2000, 806, 814; Fuchs NZV 1998, 7, 8. BGH v. 11.6.1968 – VI ZR 144/67, VersR 1968, 903; BGH v. 7.7.1987 – VI ZR 176/86, VersR 1988, 84; OLG Hamm v. 9.6.2000 – 9 U 225/99, NZV 2001, 42. Zu den Anforderungen bei älteren, insb. psychisch auffälligen Jugendlichen BGH v. 19.1.1984 – III ZR 172/82, VersR 1984, 460, 462; OLG Hamm v. 27.4.1989 – 27 U 38/89, VersR 1990, 743; näher zum Umfang der elterlichen Aufsichtspflicht Pardey DAR 2001, 1, 2 ff. BGH v. 13.12.2012 – III ZR 226/12, NZV 2013, 235 mit Anm. Bernau u.w.N. BGH v. 19.3.1957 – VI ZR 29/56, VersR 1957, 340; BGH v. 19.11.1963 – IV ZR 96/63, FamRZ 1964, 84; LG Kiel VersR 1957, 812 mit Anm. Schmalzl. Vgl. Schmid VersR 1982, 822. BGH v. 27.11.1979 – VI ZR 98/78, VersR 1980, 278.

194 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 8.17 § 8

ständigem, verantwortungsbewusstem Handeln einzuüben, in Einklang gebracht werden.30 Die Anhebung des Deliktfähigkeitsalters auf 10 Jahre für Unfälle mit einem Kfz, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn (§ 828 Abs. 2 BGB) durch das 2. SchRÄndG hat hieran nichts geändert;31 die daraus erwachsende Belastung des Geschädigten oder der Allgemeinheit hat der Gesetzgeber gesehen und für vertretbar gehalten.32 Wurde dem Minderjährigen nach den Vorschriften für „Begleitetes Fahren ab 17“ gem. § 6e StVG, § 48a FeV eine Fahrerlaubnis erteilt, begründet dies für die Eltern allenfalls insoweit eine besondere Aufsichtspflicht, als sie ein Führen des Kfz ohne die vorgeschriebene Begleitperson verhindern müssen (s. Rz. 8.21); ist ein Elternteil dagegen selbst Begleitperson, haftet er nur nach allgemeinen Grundsätzen (s. Rz. 14.300, 14.315).33

b) Einzelfälle aus der Rechtsprechung34 Der Aufsichtspflichtige muss sicherstellen, dass Kleinkinder nicht unbeaufsichtigt, etwa durch offene Wohnungs- oder Gartentüren, auf Verkehrsflächen gelangen.35

8.16

Nimmt der Aufsichtspflichtige mit dem Kind am Straßenverkehr teil, so bestimmt sich das gebotene Maß der Aufsicht nach der konkreten Gefahrensituation. Eine allgemeine Belehrung des Kindes genügt dann nicht, wenn das Alter des Kindes noch so gering ist, dass es allein – an der in Frage kommenden Straßenstelle – nicht dem Straßenverkehr überlassen werden dürfte.36 Der Aufsichtspflichtige braucht das Kind, von besonders gefährlichen Situationen abgesehen, nicht an der Hand zu führen, wenn dieses sich daran gewöhnt hat, seine Anordnungen im Straßenverkehr zu befolgen. Dies kann bei einem Zweieinhalbjährigen aber noch nicht vorausgesetzt werden.37 Es ist auch zu bedenken, dass Einzelanordnungen erforderlich sind, weil erfahrungsgemäß Kinder in Begleitung Erwachsener weniger auf den Straßenverkehr achten, als wenn sie allein unterwegs sind. Außerdem ist die Gefahr unbedachten Verhaltens durch Ablenkung in Rechnung zu stellen38 und bei ungewohnten und schwierigen Vorgängen der unmittelbare Einfluss zu verstärken.39 Pflichtwidrig handeln Kindergärtnerinnen, die erst unmittelbar vor der zu überquerenden Straße für ein geordnetes Verhalten der Kindergruppe sorgen.40

8.17

30 OLG Celle v. 27.5.1987 – 9 U 155/86, NJW-RR 1988, 216; OLG Celle v. 19.2.2020 – 14 U 69/19, NJW-RR 2020, 407, 411; Haberstroh VersR 2000, 806, 810 ff. 31 OLG Hamm v. 9.6.2000 – 9 U 225/99, NZV 2001, 42; OLG Oldenburg v. 4.11.2004 – 1 U 73/04, MDR 2005, 631; Bernau NZV 2005, 234 ff.; Friedrich NZV 2004, 227, 230; Lang NZV 2013, 214, 215 f.; a.A. (deutliche Verschärfung) Schmarsli PVR 2002, 355; vermittelnd Ch Huber Das neue Schadensersatzrecht (2003) § 3 Rz. 68 ff. 32 BT-Drucks. 14/7752, S 16. 33 A.A. Sapp NJW 2006, 408, 409; wohl wie hier Brock DAR 2006, 63, 64. 34 Umfangreiche Nachw. auch bei Lang NZV 2013, 214 ff. sowie Bernau DAR 2012, 174, DAR 2015, 192, DAR 2018, 429. 35 OLG Düsseldorf v. 21.11.1988 – 1 U 136/87, r+s 1990, 372. 36 OLG Celle v. 2.12.1965 – 5 U 127/65, FamRZ 1966, 107. 37 OLG Düsseldorf v. 15.11.1991 – 14 U 16/91, VersR 1992, 1233. 38 LG Münster v. 19.6.1991 – 1 S 119/91, NZV 1991, 396: Blumenpflücken unmittelbar neben der Fahrbahn. 39 OLG Hamm v. 26.9.1994 – 13 U 76/94, OLGR Hamm 1994, 245: Überqueren eines Fußgängerüberwegs durch Vierjährigen mit Roller. 40 OLG Schleswig v. 22.6.1994 – 9 U 95/93, NZV 1995, 24.

Greger | 195

§ 8 Rz. 8.18 | Haftung für Aufsichtsbedürftige

8.18

Es ist aber unter bestimmten Voraussetzungen auch zulässig, Kinder allein am Straßenverkehr teilnehmen zu lassen. Vor allem kommt es hierbei auf die örtlichen Verhältnisse, z.B. auf die Verkehrsbedeutung der Straße, sowie auf das Alter des Kindes an.41

8.19

Unbeaufsichtigtes Spielen im Freien kann Kindern zwischen vier und sechs Jahren grundsätzlich gestattet werden, jedoch bedarf es regelmäßiger Kontrollen.42 Bei älteren Kindern genügt, dass die Eltern sich über das Tun und Treiben in großen Zügen einen Überblick verschaffen, sofern nicht konkreter Anlass zu besonderer Aufsicht besteht.43 Spielen auf der Fahrbahn, außer auf Spielstraßen, ist zu unterbinden.44 Überlässt ein Vater seinem vierjährigen Sohn einen Roller, so muss er ihn darauf hinweisen, dass er nicht auf der Fahrbahn fahren darf.45 Das Rollerfahren auf der Gehbahn ist nicht zu beanstanden, sofern das Kind stichprobenweise daraufhin überwacht wird, dass es nicht zu nahe an Fußgängern vorbeifährt.46 Das Überqueren der Fahrbahn mit einem Kickboard darf einem knapp 7-Jährigen nicht überlassen werden.47

8.20

Radfahren darf einem etwa 8-jährigen Kind, welches sein Fahrrad sicher beherrscht, über die Verkehrsregeln eingehend unterrichtet ist und sich bereits gewisse Zeit im Verkehr bewährt hat, auch ohne Aufsicht gestattet werden.48 Auf welchen Straßen dies vertretbar ist, hängt von Alter, Unterrichtung und Erfahrung ab.49 Eine stichprobenweise Überwachung (durch heimliches Beobachten oder Erkundigung bei Dritten) ist geboten.50 Bleiben Eltern untätig, obwohl im Verkehrskreis des Kindes Fahrradwettfahrten auf der Straße unternommen werden und damit zu rechnen ist, dass sich das Kind daran beteiligen werde, so genügen sie ihrer Aufsichtspflicht nicht,51 ebenso wenn sich das Rad des Kindes in gefahrträchtigem Zustand befindet.52 Bei Kindern unter 7 Jahren darf die unbeaufsichtigte Teilnahme am Straßenverkehr mit dem Fahrrad im Allgemeinen nicht gestattet werden.53 Etwas anderes kann jedoch für das dem Kind vertraute Radeln auf einem nahe der Wohnung gelegenen Rad- und Fußweg gelten.54 Ob ein Kind in Begleitung eines erwachsenen Radfahrers auf einer Straße ohne Gehweg fahren darf (sonst gilt § 2 Abs. 5 StVO), richtet sich nach den Umständen (Alter, Erfahrung, Verkehrsdichte, Gefährlichkeit); auf einer wenig befahrenen Anliegerstraße genügt Ermahnung des 5-jährigen Kindes zu vorsichtigem Verhalten und Beaufsichtigung durch Ver-

41 Vgl. BGH v. 19.3.1957 – VI ZR 29/56, VersR 1957, 340; OLG Celle v. 8.4.1968 – 5 U 1/68, VersR 1969, 333; OLG Hamm v. 9.6.2000 – 9 U 225/99, NZV 2001, 42 (Spielstraße). 42 BGH v. 24.3.2009 – VI ZR 51/08, NJW 2009, 1952; OLG Hamm v. 29.10.1996 – 27 U 63/96, NJW-RR 1997, 344 (15 bis 30 Minuten). 43 BGH v. 24.3.2009 – VI ZR 51/08, NJW 2009, 1952, 1954 (7 Jahre). 44 BGH v. 19.9.1961 – VI ZR 233/60, VersR 1961, 998. 45 BGH v. 3.12.1957 – VI ZR 265/56, VersR 1958, 85. 46 BGH v. 5.12.1967 – VI ZR 100/66, VersR 1968, 301. 47 LG Köln v. 11.2.2014 – 11 S 462/12, NZV 2015, 43: auch in verkehrsberuhigtem Bereich. 48 OLG Nürnberg v. 9.11.1961 – 3 U 113/61, VersR 1962, 1116; OLG Oldenburg v. 4.11.2004 – 1 U 73/04, VersR 2005, 807. Überblick bei Bernau DAR 2005, 604 ff. und 2012, 174 ff. 49 LG Saarbrücken v. 13.2.2015 – 13 S 153/14, NZV 2015, 386 (8 ½ Jahre, allgemein belehrt, verkehrsberuhigter Bereich). 50 BGH v. 23.3.1965 – VI ZR 271/63, VersR 1965, 606. 51 BGH v. 25.6.1961 – VI ZR 202/60, VersR 1961, 838. 52 LG Wuppertal v. 17.10.2017 – 16 S 19/17, NJW-RR 2018, 84 (fehlender Kettenschutz). 53 OLG Köln v. 5.4.1968 – 9 U 211/67, VersR 1969, 44; AG Detmold v. 5.12.1996 – 6 C 424/96, NJW 1997, 1788 (bis 8 Jahre). 54 OLG Celle v. 27.5.1987 – 9 U 155/86, VersR 1988, 1240; OLG Hamm v. 8.2.2013 – 9 U 202/12, MDR 2013, 655.

196 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 8.21 § 8

wandten.55 I.d.R. muss der Aufsichtspflichtige hinter dem Kind fahren (zur Gehwegbenutzung s. § 2 Abs. 5 S. 3 StVO), da er nur so die Möglichkeit zu ständiger Überwachung und Einwirkung hat, in bestimmten Situationen kann jedoch auch Vorausfahren geboten bzw. nicht vorwerfbar sein.56 Einem 5-jährigen, auf dem Bürgersteig radelnden Kind muss lediglich in Rufweite gefolgt werden.57 Nebeneinanderfahren begründet besondere Kollisionsgefahr.58 Nach längeren Radtouren ist mit gesteigerter Risikobereitschaft zu rechnen.59 Die Verantwortung für ein besonderes Fahrverhalten bei einer gemeinsamen Radtour kann nicht mit dem Hinweis darauf in Abrede gestellt werden, dass Kinder dieses Alters auf vertrauten Wegen bereits alleine am Straßenverkehr teilnehmen dürfen.60 Bezüglich der Kfz-Benutzung durch Minderjährige sind besondere Anforderungen zu stellen. Die Aufsichtspflicht bezieht sich auch darauf, dass der Minderjährige, der noch keinen Führerschein hat, das elterliche Kfz nicht benützen kann.61 Wissen die Eltern aus früheren Vorfällen, dass der Minderjährige zum Fahren ohne Fahrerlaubnis neigt, müssen sie einschneidende Vorkehrungen (insb. Wegsperren der Schlüssel) treffen.62

55 OLG Hamm v. 16.9.1999 – 6 U 92/99, VersR 2001, 386. 56 Vgl. LG Nürnberg-Fürth v. 20.4.1995 – 2 S 5891/94, NZV 1996, 153; LG Mönchengladbach v. 14.10.2003 – 5 S 75/03, NJW-RR 2003, 1604. 57 OLG Koblenz v. 24.8.2011 – 5 U 433/11, NZV 2012, 181. 58 Vgl. OLG Zweibrücken v. 25.8.1999 – 1 U 199/98, NZV 1999, 509. 59 KG v. 3.3.1997 – 22 U 1221/96, MDR 1997, 840. 60 BGH v. 7.7.1987 – VI ZR 176/86, VersR 1988, 84. 61 BGH v. 21.5.1952 – III ZR 90/51, VRS 4, 404. 62 OLG München v. 10.4.1984 – 5 U 4658/83, MDR 1984, 757. S. auch BGH v. 26.1.1955 – VI ZR 253/53, VersR 1955, 184.

Greger | 197

8.21

§9 Haftung für Tiere

I. 1. 2. 3. 4. II. 1. a) b) c) d)

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Anrechnung der Tiergefahr . . . . . . . . . 9.3 Haftung von Tierhalter und Tierhüter 9.5 Zusammentreffen mit Kfz-Halterhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Haftungstatbestände . . . . . . . . . . . . . 9.7 Die Haftung des Tierhalters . . . . . . . . 9.7 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7 Begriff des Tierhalters . . . . . . . . . . . . . 9.9 Selbsttätiges Tierverhalten . . . . . . . . . . 9.13 Kausalzusammenhang zwischen Tierverhalten und Unfall . . . . . . . . . . . 9.16

e) 2. a) b) III. 1. 2. a) b) 3.

Schutzumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Haftung des Tierhüters . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tierhüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderregelung für Nutztiere . . . . . . . Begriff des Haustiers . . . . . . . . . . . . . . Zweckbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an den Entlastungsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9.18 9.19 9.19 9.20 9.21 9.21 9.22 9.22 9.23 9.26 9.26 9.28

§ 833 BGB Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde. § 834 BGB Wer für denjenigen, welcher ein Tier hält, die Führung der Aufsicht über das Tier durch Vertrag übernimmt, ist für den Schaden verantwortlich, den das Tier einem Dritten in der im § 833 bezeichneten Weise zufügt. Die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er bei der Führung der Aufsicht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.

I. Überblick 1. Geltungsbereich Wird ein Verkehrsunfall durch ein Tier verursacht, so wird der Geschädigte u.U. haftungsrechtlich insofern begünstigt, als er dem für das Tier Verantwortlichen nach §§ 833, 834 BGB kein Verschulden nachzuweisen braucht. Folgte das Tier bei dem unfallursächlichen Verhalten der Leitung durch einen Menschen, dann haftet dieser (unabhängig von der Stellung als Halter oder Hüter) nach allgemeinen deliktsrechtlichen Grundsätzen (s. Rz. 14.293 ff.).

Greger | 199

9.1

§ 9 Rz. 9.2 | Haftung für Tiere

9.2

Für Wildunfälle besteht grundsätzlich keine Haftung. Der Jagdberechtigte ist weder Tierhalter noch Tierhüter, auch das BJagdG sieht keine Haftung vor.1 Wird ein Reh von einem Jagdhund auf eine Straße gehetzt, so kann allerdings der Hundehalter nach § 833 BGB haften.2 Zur Haftung aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 13.162.

2. Anrechnung der Tiergefahr 9.3

Kommt der Halter selbst bei einem Unfall zwischen seinem Tier und einem Verkehrsteilnehmer zu Schaden (auch in Form einer Verletzung des Tieres), so muss er sich gegenüber dem Mitschädiger die Tiergefahr anrechnen lassen (analog zur Anrechnung der Betriebsgefahr; s. Rz. 25.87 ff.), sofern er sich nicht nach § 833 Satz 2 BGB entlasten kann. Hierbei ist auch der Rechtsgedanke des § 840 Abs. 3 BGB heranzuziehen, d.h. bei Zusammentreffen mit einer Verschuldenshaftung des Mitverantwortlichen unterbleibt die Anrechnung der Tiergefahr.3 Dies gilt jedoch nicht, wenn der Mitverantwortliche Halter oder Führer eines Kfz ist; hier richtet sich die Haftung zwischen den Unfallbeteiligten nach dem Maß ihrer Verursachungsbeiträge4 (§ 17 Abs. 2, 4, § 18 Abs. 3 StVG; s. Rz. 25.7). Auch eine „umgekehrte analoge Anwendung“ des § 840 Abs. 3 BGB auf den Fall, dass den vom Tier Geschädigten ein Mitverschulden trifft, kommt nicht in Betracht,5 denn hier geht es nicht um eine Mithaftung, sondern um die originäre Haftung des Tierhalters. Zu beachten ist allerdings, dass sich der Kfz-Halter gegenüber dem Tierhalter nach § 17 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 StVG durch den Beweis größtmöglicher Sorgfalt entlasten kann.6

9.4

Wird der Tierhüter selbst verletzt, ist sein Verursachungsbeitrag gegen den des Tierhalters abzuwägen; bei schuldhaftem Handeln des Hüters wird letzterer allerdings i.d.R. zurücktreten.7

3. Haftung von Tierhalter und Tierhüter 9.5

Für einen Schadensfall können Tierhalter (§ 833 BGB) und Tierhüter (§ 834 BGB) neben einander haften. Gesamtschuldnerische Haftung tritt ein, wenn sich beide nicht nach Rz. 9.21 ff. entlasten konnten. Gegenüber dem mitverantwortlichen Geschädigten haften sie auf eine einheitliche Quote.8 Fällt einem von ihnen ein nachgewiesenes Verschulden zur Last, während der andere nur aus §§ 833 f. BGB haftet, wird der Schuldige beim Innenausgleich i.d.R. den vollen Schaden zu tragen haben. Dasselbe wird zugunsten des Halters zu gelten haben, wenn ihm nur ein Beaufsichtigungsmangel anzulasten ist.9

1 OLG Hamm v. 7.11.1956 – 3 W 181/56, VersR 1957, 472 = 732 mit zust. Anm. Weimar. 2 LG Mosbach v. 9.11.1954 – O 76/54, VersR 1955, 383. 3 BGH v. 25.10.1994 – VI ZR 107/94, NZV 1995, 19, 20; OLG Schleswig v. 29.6.1989 – 16 U 201/88, NJW-RR 1990, 470. Krit. Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 139. 4 Wohl übersehen in BGH v. 25.10.1994 – VI ZR 107/94, NZV 1995, 19, 20. 5 OLG Hamm v. 25.2.2002 – 6 U 139/01, OLGR Hamm 2003, 131, 133; a.A. Lemcke r+s 1995, 55. 6 Dieser Gesichtspunkt blieb unbeachtet in BGH v. 13.1.2015 – VI ZR 204/14, NJW 2015, 1311 = r+s 2015, 154 mit Anm. Lemcke. Zutr. LG Krefeld v. 20.2.2020 – 3 S 8/19, NJW-Spezial 2020, 171 (Überfahren unter dem Auto sitzender Katze). 7 OLG Celle v. 6.7.1991 – 5 U 109/88, r+s 1993, 299 LS. 8 OLG Hamm v. 25.4.2006 – 9 U 7/05, NZV 2007, 143. 9 Vgl. BGH v. 22.4.1980 – VI ZR 134/78, NJW 1980, 2348; KG v. 10.10.1994 – 22 U 5514/93, KGReport Berlin 1994, 255.

200 | Greger

II. Haftungstatbestände | Rz. 9.8 § 9

4. Zusammentreffen mit Kfz-Halterhaftung Wird bei einem Unfall zwischen einem Kfz und einem Tier ein Dritter geschädigt (z.B. ein Fahrzeuginsasse, Fußgänger, Reiter oder Tierführer, der nicht zugleich Tierhalter ist), kann dieser die Halter von Kfz und Tier analog § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner in Anspruch nehmen.10 Der Tierhalter kann sich nur im Falle von § 833 Satz 2 BGB entlasten, der KfzHalter nach § 17 Abs. 2, 3, 4 StVG, sofern es sich beim Drittgeschädigten ebenfalls um einen Kfz- oder Tierhalter handelt, ansonsten nach § 7 Abs. 2 StVG nur im unwahrscheinlichen Falle höherer Gewalt. Zur Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Dritten s. Rz. 25.141 ff.; zum Innenausgleich zwischen den Haftpflichtigen s. Rz. 39.24; zur Anrechnung der Tiergefahr bei Schädigung des Tierhalters s. Rz. 9.3.

9.6

II. Haftungstatbestände 1. Die Haftung des Tierhalters a) Allgemeines Der Tierhalter haftet im Regelfall nach § 833 Satz 1 BGB ohne die Möglichkeit einer Entlastung, wenn durch sein Tier ein Mensch getötet oder verletzt wird oder eine Sache beschädigt wird. Die Haftung ist, wenngleich Gefährdungshaftung, der Höhe nach nicht begrenzt und umfasst auch Schmerzensgeld. Sie ist von der Schuldfähigkeit des Halters unabhängig; daher kann auch ein Minderjähriger als Halter haften, wenn er die Kriterien der Halterstellung erfüllt, also ihm z.B. von den Eltern die Entscheidungsgewalt über das Tier übertragen wurde oder er nach seinem Reifegrad in der Lage war, von sich aus die Verantwortung über das Tier zu übernehmen.11 Die Haftung besteht auch gegenüber einer Person, die sich – wie z.B. ein Reiter – freiwillig der Tiergefahr ausgesetzt hat12 (s. auch Rz. 9.18), nicht aber gegenüber einem Mithalter.13 Ein Entlastungsbeweis ist nur bei Haustieren und nur in den in Rz. 9.21 ff. dargelegten Fällen zugelassen. Kann ein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden, ergibt sich die Haftung auch aus § 823 Abs. 1 BGB oder § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 28 StVO.

9.7

Der Halter haftet nur, wenn die Unfallbeteiligung seines Tieres feststeht. Dieser dem Geschädigten obliegende Beweis bereitet oft Schwierigkeiten, wenn das Tier selbst durch den Unfall nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, sondern z.B. nur Verkehrsreaktionen hervorgerufen hat, oder wenn es nicht eindeutig identifizierbar ist. Auf bloße Vermutungen (etwa weil der Hund des Beklagten häufig in der betreffenden Gegend streune) kann eine Verurteilung nicht gestützt werden. § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB ist jedoch auch auf die Tierhalterhaftung anwendbar.14 Waren daher die Tiere verschiedener Halter an einem einheitlichen Gefährdungsvorgang beteiligt (s. Rz. 3.101, 10.35 ff.), kann der Geschädigte jeden der Halter in Anspruch nehmen, ohne beweisen zu müssen, dass gerade dessen Tier den Schaden verursacht hat. Diese Beweiserleichterung greift z.B. dann ein, wenn mehrere Pferde gemeinsam durch-

9.8

10 MünchKomm-BGB/Wagner § 840 Rz. 8. 11 Staudinger/Eberl-Borges § 833 Rz. 115; a.A. Canaris NJW 1964, 1987, 1991 (Erwerb der Halterstellung analog §§ 104 ff. BGB); MünchKomm-BGB/Wagner § 833 Rz. 42 (§§ 828 f. BGB analog). 12 BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 49/91, NJW 1992, 2474. 13 OLG Köln v. 12.2.1999 – 19 U 118/98, VersR 2000, 861. 14 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 121/69, BGHZ 55, 96; BGH v. 24.4.2018 – VI ZR 25/17, NJW 2018, 3439.

Greger | 201

§ 9 Rz. 9.8 | Haftung für Tiere

gehen und hierbei Schaden anrichten15 oder wenn Hunde einander jagend umhertollen und einer von ihnen einen Radfahrer zu Fall bringt.16 Wenn dagegen aus einem ungenügend gesicherten Pferch nur eines von mehreren Schafen verschiedener Halter entweicht und nach Schadensverursachung zu den anderen zurückkehrt, fehlt es an der gemeinsamen Verwirklichung der spezifischen Tiergefahr, so dass die Halter nicht nach § 833 BGB, sondern allenfalls nach § 823 i.V.m. § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB haftbar gemacht werden können.17 Allein der Nachweis, dass Tiere des Beklagten in zeitlicher und räumlicher Nähe zu einem Unfall entwichen waren, reicht keinesfalls für eine Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB; zu ihr gelangt man auch nicht mit Hilfe der Erwägung, es könnten in der Umgebung der Unfallstelle zur selben Zeit auch noch Tiere anderer Halter entwichen sein.18 Zu dem ebenfalls vom Geschädigten zu beweisenden Kausalzusammenhang zwischen Tierverhalten und Schaden s. Rz. 9.16.

b) Begriff des Tierhalters 9.9

Tierhalter ist, wer die Bestimmungsmacht über das Tier hat, aus eigenem Interesse für seine Kosten aufkommt und das wirtschaftliche Risiko seines Verlustes trägt.19 Entscheidend ist also, in wessen Gesamtinteresse das Tier gehalten wird und wessen Wirtschaftsbetrieb oder Haushalt es dient.20 Auf Eigentum und unmittelbaren Besitz kommt es nicht an,21 sie sind aber Indizien für Eigeninteresse und Bestimmungsmacht.22 Ob der Ehegatte Mithalter ist, richtet sich nach den konkreten Umständen.23 Zu Minderjährigen s. Rz. 9.7. Auch bei länger dauernder Überlassung des Tieres an einen Dritten, z.B. im Wege der Vermietung, Verwahrung oder Leihe, bleibt die Tierhaltereigenschaft bestehen, solange die eingangs genannten Voraussetzungen vorliegen.24 Dass der Dritte das Tier auch für eigene Zwecke nutzt, steht nicht entgegen, solange sich nicht der Schwerpunkt der Nutzung des Tieres auf den Dritten verlagert.25

9.10

Der Viehhändler und der Metzger werden mit Erwerb des Tieres Tierhalter,26 dagegen ist weder der Tierarzt Halter noch der Kauflustige, der mit dem Pferd einen Proberitt unternimmt, oder der Gerichtsvollzieher, der ein Pferd gepfändet hat.27 Der Tierschutzverein wird nicht schon dadurch Halter, dass er sich eines entlaufenen Hundes annimmt,28 wohl aber durch Begründung von Eigentum und Obhut.29 Entsprechendes gilt für eine Privatperson: Die vorübergehende Aufnahme eines Tieres be-

15 BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 467/13, VersR 2015, 592, 594; BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 121/69, BGHZ 55, 96. Ähnlich OLG Koblenz v. 10.5.2012 – 2 U 573/09, VersR 2013, 328. 16 Zu eng OLG München v. 23.6.2017 – 10 U 4540/16, NJW 2017, 3664. 17 Kruse VersR 2012, 1360, 1364; a.A. OLG München v. 19.4.2012 – 14 U 2687/11, VersR 2012, 1267. 18 A.A. OLG Köln v. 17.5.1990 – 7 U 191/89, NZV 1990, 351. 19 Näher W Lorenz Die Gefährdungshaftung des Tierhalters nach § 833 Satz 1 BGB (1992) S. 179 ff. 20 BGH v. 19.1.1988 – VI ZR 188/87, VersR 1988, 609. 21 BGH v. 6.3.1990 – VI ZR 246/89, NZV 1990, 305, 306: Mutter als Halterin des der 13-jährigen Tochter gehörenden Pferdes. 22 W Lorenz Die Gefährdungshaftung des Tierhalters nach § 833 Satz 1 BGB (1992) S. 227. 23 LG Wuppertal v. 7.7.1993 – 2 O 481/92, MDR 1993, 1064. 24 BGH v. 20.3.1990 – VI ZR 127/89, NZV 1990, 306; BGH v. 25.3.2014 – VI ZR 372/13, NJW 2014, 2434, 2435 (Übergabe an Hundepension). 25 BGH v. 19.1.1988 – VI ZR 188/87, VersR 1988, 609 mit ausf. Nachw. der älteren Rspr. 26 OLG Düsseldorf v. 21.4.1982 – 3 U 137/81, VersR 1983, 543. 27 OLG Hamm v. 14.4.1994 – 6 U 2/94, VersR 1996, 237. 28 LG Mönchengladbach v. 18.4.1966 – 2 O 47/66, VersR 1967, 486. 29 LG Hanau v. 16.1.2003 – 1 O 1130/02, VersR 2003, 873.

202 | Greger

II. Haftungstatbestände | Rz. 9.14 § 9 gründet noch keine Halterstellung;30 wer eine zugelaufene Katze längere Zeit betreut und versorgt, wird aber Halter,31 ebenso der Landwirt, der ein fremdes Pferd auf seinen Hof nimmt, um es im eigenen Interesse zu nutzen.32

Derjenige, dem ein Tier entlaufen ist, ist für alle Schäden verantwortlich, die das Tier von nun an verursacht, auch wenn dem Halter jede Einwirkungsmöglichkeit verloren gegangen ist.33 Dieser für den Tierhalter ungünstige Zustand endet erst, wenn sich ein anderer das Tier angeeignet hat. Hat sich ein Dritter ohne Wissen und Wollen des Halters des Tieres bemächtigt, so kann § 7 Abs. 3 StVG entsprechend angewendet werden.34

9.11

Tiere in freier Wildbahn haben keinen Halter (zum Wildunfall s. Rz. 9.2). Auch für die Anwendung des § 833 Satz 1 BGB kommen mithin im Wesentlichen nur Haustiere in Betracht, daneben Bienen, gezähmte Tiere, wilde Tiere nur im zoologischen Garten, Gehege,35 Zirkus oder in der Tierhandlung.

9.12

c) Selbsttätiges Tierverhalten Die Haftung nach § 833 BGB umfasst nur Fälle, in denen das Verhalten des Tieres nicht auf den Willen und die Leitung eines Menschen zurückgeht; entspricht das Verhalten der Leitung eines Menschen, so gilt dieser allein als der Handelnde.36 Dies ist z.B. auch der Fall, wenn eine Schafherde unter Führung des Schäfers eine Straße überquert.37 Auch wenn das Tier unter Leitung eines Menschen steht, z.B. ein Pferd unter der des Kutschers oder Reiters, fallen jedoch willkürliche Bewegungen des Tieres (Durchgehen, Hochsteigen, Ausschlagen, Beißen, ein Sprung zur Seite) unter § 833 BGB,38 ebenso das Nichtbefolgen der Lenkvorgaben.39 Wird ein Tier von Dritten vorsätzlich auf eine Straße getrieben, so entfällt die Haftung des Halters nur dann, wenn es durch die menschliche Einwirkung gezwungen war, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen, nicht wenn es nur weggejagt und dann sich selbst überlassen wurde.40

9.13

Soweit in der Rechtsprechung. gefordert wird, es müsse sich um typisches Tierverhalten, um die Manifestation tierischer Unberechenbarkeit handeln,41 ist dies missverständlich.42 Zwar kommt eine Anwendung des § 833 BGB nicht in Betracht, wenn der Unfall auf die bloße An-

9.14

30 LG Düsseldorf v. 21.1.1966 – 8 O 529/64, VersR 1968, 99; a.A. AG Duisburg v. 14.4.1999 – 49 C 399/98, NJW-RR 1999, 1628. 31 LG Paderborn v. 27.4.1995 – 5 S 35/95, NJW-RR 1996, 154. 32 OLG Köln v. 7.2.2018 – 5 U 128/16, VersR 2019, 183. 33 BGH v. 28.9.1965 – VI ZR 94/64, VersR 1965, 1102; OLG Karlsruhe v. 21.12.2000 – 4 U 94/99, OLGR Karlsruhe 2001, 169 (Ausbruch aus Rotwildgehege). 34 Deutsch JuS 1987, 674, 676. 35 OLG Karlsruhe v. 21.12.2000 – 4 U 94/99, OLGR Karlsruhe 2001, 169. 36 BGH v. 20.12.2005 – VI ZR 225/04, VersR 2006, 416 m.w.N. 37 LG Nürnberg-Fürth v. 16.3.1994 – 2 S 10225/93, NZV 1994, 282. 38 BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 49/91, NJW 1992, 2474; OLG Düsseldorf v. 28.1.1994 – 22 U 161/93, VersR 1995, 186; OLG Hamburg v. 8.11.2019 – 1 U 155/18, SVR 2020, 220 mit Anm. Siegel (Hund läuft gegen vorbeifahrendes Fahrrad). 39 BGH v. 20.12.2005 – VI ZR 225/04, VersR 2006, 416 m.w.N. 40 BGH v. 20.3.1990 – VI ZR 127/89, NZV 1990, 306; s. auch OLG Düsseldorf v. 18.2.1994 – 22 U 170/93, VersR 1995, 232. 41 Vgl. BGH v. 6.7.1976 – VI ZR 177/75, BGHZ 67, 129; BGH v. 25.3.2014 – VI ZR 372/13, NJW 2014, 2434. 42 Vgl. MünchKomm-BGB/Wagner § 833 Rz. 15 ff.; Erman/Wilhelmi § 833 Rz. 4.

Greger | 203

§ 9 Rz. 9.14 | Haftung für Tiere

wesenheit des Tieres zurückzuführen ist, z.B. ein Radweg durch ein Reitpferd verengt wird,43 oder wenn ein äußeres Ereignis nur mechanisch auf das Tier einwirkt, z.B. ein Pferd durch den Anprall eines Kfz umgeworfen wird und auf einen Fußgänger fällt.44 Führt jedoch ein als Hindernis auf der Fahrbahn befindlicher Tierkörper zu einem Unfall, so greift § 833 BGB ein, wenn er durch ein vorangegangenes Bewegungsverhalten des Tieres dorthin gelangt ist.45 Ein selbsttätiges Tierverhalten liegt auch dann vor, wenn ein äußeres Ereignis anreizend auf das Tier einwirkt (z.B. Scheuen eines Pferdes wegen eines herannahenden Kfz).46

9.15

Die Beweislast für willkürliches Tierverhalten trägt der Geschädigte.47 Hiervon will der BGH dann eine Ausnahme machen, wenn sich der Tierhalter darauf beruft, ein Dritter habe das Tier in eine solche Zwangssituation versetzt, dass es sich nur in der den Schaden verursachenden Weise verhalten konnte.48 Dies erscheint mit allgemeinen Beweislastgrundsätzen kaum vereinbar. Allerdings kann den Halter eine sekundäre Behauptungslast49 treffen.

d) Kausalzusammenhang zwischen Tierverhalten und Unfall 9.16

Vom Geschädigten zu beweisende Haftungsvoraussetzung ist, dass der Schaden durch das Tier verursacht wurde. Der Halter haftet nicht, wenn eine vom Verhalten seines Tieres unabhängige Unfallursache nicht ausgeschlossen werden kann.50 Mitverursachung reicht aber aus.51 Ein unmittelbarer Kontakt zwischen Tier und Geschädigtem ist nicht erforderlich. Es genügt eine Einwirkung des Tieres auf ein anderes Tier oder auf einen Menschen, wenn das andere Tier oder der Mensch infolge der Einwirkung einen Schaden hervorruft (zur mittelbaren Kausalität s. auch Rz. 3.79 ff., zur Anwendbarkeit von § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB s. Rz. 9.8).

9.17

Der Halter haftet daher auch, wenn das Tier einen Fahrzeugführer zu unfallursächlichem Bremsen oder Ausweichen veranlasst,52 wenn ein Hund eine Schafherde in panische Flucht versetzt53 oder wenn ein Hund ein Reh auf die Fahrbahn eines Kfz treibt.54 Schreckreaktionen auf ein aus Sicht des Betroffenen aggressives Tierverhalten sind adäquat; nur für nicht mehr nachvollziehbare Überreaktionen ist Kausalität zu verneinen.55

43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

LG Bonn v. 17.12.1993 – 1 O 293/93, NZV 1994, 363. A.A. Deutsch JuS 1987, 674, 675 f. OLG Celle v. 3.12.1979 – 1 U 25/79, VersR 1980, 430. RG v. 31.3.1913 – VI 16/13, RGZ 82, 112, 113. Enger Lehmann/Auer VersR 2011, 846: keine Haftung für Reaktion des Tieres auf einen bewusst gesetzten Außenreiz. BGH v. 11.1.1956 – VI ZR 296/54, VersR 1956, 127; OLG Düsseldorf v. 26.8.1969 – 4 U 26/69, VersR 1970, 333; Honsell MDR 1982, 798, 799; a.A. Baumgärtel in 25 Jahre KF, 86. BGH v. 6.3.1990 – VI ZR 246/89, NZV 1990, 306. Ebenso MünchKomm-BGB/Wagner § 833 Rz. 76. S. hierzu Zöller/Greger vor § 284 Rz. 34. S. z.B. OLG München v. 23.7.1999 – 21 U 6185/98, DAR 1999, 456. BGH v. 20.12.2005 – VI ZR 225/04, VersR 2006, 416 m.w.N. BGH v. 18.1.1957 – VI ZR 303/55, VersR 1957, 167; OLG Düsseldorf v. 22.11.1991 – 22 U 22/91, NJW-RR 1992, 475; OLG Hamm v. 5.11.1998 – 1 U 51/98, VersR 1999, 1293. OLG München v. 29.7.1983 – 8 U 4947/82, VersR 1984, 1095. OLG Nürnberg v. 29.1.1959 – 3 U 275/58, VersR 1959, 573; LG Mosbach v. 9.11.1954 – O 76/54, VersR 1955, 383. OLG Brandenburg v. 17.1.2008 – 12 U 94/07, DAR 2008, 647. Fragwürdig dagegen RG JW 1908, 41 (Anspringen durch gutartigen Hund), OLG Koblenz v. 7.7.1997 – 12 U 1312/96, VersR 1999, 508 (Vollbremsung eines Radfahrers wegen eines auf ihn zulaufenden Hundes).

204 | Greger

II. Haftungstatbestände | Rz. 9.20 § 9

e) Schutzumfang Ein Haftungsausschluss gegenüber Personen, die sich freiwillig der Tiergefahr ausgesetzt haben (insbesondere Reitern), ist nicht aus dem Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr abzuleiten.56 Dies gilt auch bei Überlassung aus Gefälligkeit; § 599 BGB oder § 8 Nr. 2 StVG ist nicht entsprechend anwendbar.57 Bei besonderer Gefahrerhöhung (z.B. wenn ein Reiter im Einzelfall Risiken übernommen hat, die über die gewöhnlichen Gefahren des Reitens hinausgehen58) greifen aber die Grundsätze des Mitverschuldens ein.59

9.18

2. Die Haftung des Tierhüters a) Allgemeines Nach § 834 BGB tritt die Haftung des Tierhüters neben diejenige des Halters (sofern dieser sich nicht nach Rz. 9.21 ff. entlastet hat). Es ist keine Gefährdungshaftung wie beim Halter nach § 833 Satz 1 BGB, sondern eine Haftung aus vermutetem Verschulden, also mit Entlastungsmöglichkeit wie beim Halter eines Nutztiers nach § 833 Satz 2 BGB (s. Rz. 9.21). Voraussetzung ist auch hier, dass der Unfall auf ein selbsttätiges Tierverhalten zurückgeht (s. Rz. 9.13). Der Hüter haftet daher nur nach § 823 BGB, d.h. bei nachgewiesenem Verschulden, wenn er Vieh über die Straße treibt, dagegen nach § 834 BGB, wenn ein einzelnes Tier durchgeht.

9.19

b) Tierhüter Tierhüter ist, wer die Aufsicht durch Vertrag mit dem Halter oder einem Dritten übernommen hat, wie z.B. beim Ausreiten eines gemieteten Pferdes60 oder beim Vermieten von Stallboxen an Pferdehalter.61 Die Aufsicht braucht nicht Hauptpflicht aus dem Vertrag zu sein, eine bloß tatsächliche Übernahme der Beaufsichtigung, z.B. durch einen Familienangehörigen,62 genügt aber nicht. Der Hufschmied und der Tierarzt sind auch für die Dauer der Behandlung des Tieres keine Tierhüter, ebenso weisungsgebundene Bedienstete wie angestellte Reitlehrer,63 Stallburschen, Kutscher usw. oder der Gerichtsvollzieher bzgl. eines gepfändeten Pferdes.64 Derjenige, der nach § 22a BJagdG verpflichtet ist, ein Tier zu töten, ist nicht aus diesem Grund Tierhüter.65 Für Personen, die nicht als Tierhüter i.S.v. § 834 BGB zu qualifizieren sind, aber eine allgemeine Pflicht zum Schutz des Verkehrs vor einer Tiergefahr verletzt haben, kommt eine Haftung aus § 823 Abs. 1 oder 2 BGB in Betracht.66

56 So im Grundsatz auch der BGH, der aber Ausnahmen zulassen will (BGH v. 25.3.2014 – VI ZR 372/13, NJW 2014, 2434; BGH v. 20.12.2005 – VI ZR 225/04, VersR 2006, 416 m.w.N.); s. auch BGH v. 24.6.1986 – VI ZR 202/85, VersR 1986, 1207 = JR 1987, 108 mit Anm. Dunz; a.A. Deutsch NJW 1978, 1998; Dunz JZ 1987, 63 ff. Vgl. auch Rz. 22.63 f. 57 BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 49/91, NJW 1992, 2474; a.A. Westerhoff JR 1993, 497 ff. 58 OLG Hamm v. 20.9.2000 – 13 U 78/98, MDR 2001, 31. 59 BGH v. 20.12.2005 – VI ZR 225/04, VersR 2006, 416 m.w.N. 60 BGH v. 30.9.1986 – VI ZR 161/85, NJW 1987, 949. 61 OLG Hamm v. 25.4.2006 – 9 U 7/05, NZV 2007, 143. 62 OLG Nürnberg v. 9.4.1991 – 3 U 239/91, NJW-RR 1991, 1500. 63 OLG Hamm v. 24.1.2000 – 13 U 166/99, OLGR Hamm 2001, 259. 64 OLG Hamm v. 14.4.1994 – 6 U 2/94, VersR 1996, 237. 65 OLG Karlsruhe v. 21.12.2000 – 4 U 94/99, OLGR Karlsruhe 2001, 1691. 66 OLG Hamm v. 3.2.2015 – 9 U 91/14, MDR 2015, 511 (gleichzeitiges Ausführen mehrerer großer Hunde aus Gefälligkeit).

Greger | 205

9.20

§ 9 Rz. 9.21 | Haftung für Tiere

III. Entlastungsbeweis 1. Überblick 9.21

Die Haftung des Tierhalters ist im Grundsatz eine Gefährdungshaftung ohne Entlastungsmöglichkeit. Durch den im Jahre 190867 angefügten, nicht mehr zeit-, aber noch verfassungsgemäßen68 § 833 S. 2 BGB wurde sie jedoch zugunsten des Halters eines Nutztieres (d.h. eines Haustiers, welches dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist), in eine Haftung aus vermutetem Verschulden umgewandelt: Der Halter solcher Tiere wird von der Haftung frei, wenn er den Nachweis führt, dass er bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden wäre. Mit demselben Nachweis kann sich der Tierhüter von der Haftung nach § 834 BGB entlasten.

2. Sonderregelung für Nutztiere a) Begriff des Haustiers 9.22

Darunter sind diejenigen in der Hauswirtschaft zur dauernden Nutzung oder Dienstleistung gezüchteten oder gehaltenen zahmen Tiere zu verstehen, die der Beaufsichtigung und dem beherrschenden Einfluss des Halters unterstehen,69 insb. Pferde, Rinder, Schafe, Hunde und, Katzen, nicht aber gezähmte Wildtiere,70 Kamele71 und Bienen.72

b) Zweckbestimmung 9.23

Das Haustier ist nur dann dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt, wenn eine dieser Funktionen wesentliche Bedeutung hat. Tiere, die nur zum Sport oder zur Annehmlichkeit gehalten werden, scheiden von vorneherein aus. Die Haltung muss darauf angelegt und von der Absicht getragen sein, Gewinn zu erzielen; es muss zumindest im Ansatz die realistische Möglichkeit bestehen, dass der Tierhalter auf Dauer gesehen aus seiner Tätigkeit Gewinne erwirtschaftet.73

9.24

Daher fällt nicht unter § 833 Satz 2 BGB das Trabrennpferd eines nicht in erheblichem Umfang zu Erwerbszwecken betriebenen Gestüts74 sowie das Reitpferd eines Idealvereins,75 während sich ein Reitverein, der seine Pferde überwiegend oder jedenfalls in einem so erheblichen Umfang wie ein wirtschaftliches Unternehmen zu Erwerbszwecken nutzt, auf § 833 Satz 2 BGB berufen kann.76 Das Gleiche gilt bei einem Veranstalter gewerblicher Kutschfahrten,77 einem Trabertrainer, der das Pferd

67 Ges v 30.5.1908, RGBl. 1908, 313. 68 BGH v. 30.6.2009 – VI ZR 266/08, NJW 2009, 3233. Kritisch gegenüber der Sonderbehandlung MünchKomm-BGB/Wagner § 833 Rz. 3. 69 RG v. 19.11.1938 – VI 127/38, RGZ 158, 388, 391. 70 OLG Nürnberg v. 9.4.1991 – 3 U 239/91, NJW-RR 1991, 1500. 71 OLG Stuttgart v. 7.6.2018 – 13 U 194/17, MDR 2019, 1183. 72 RG v. 19.11.1938 – VI 127/38, RGZ 158, 388, 391; a.A. Rohde VersR 1968, 227. 73 BGH v. 14.2.2017 – VI ZR 434/15, VersR 2017, 702. 74 OLG Düsseldorf v. 28.1.1994 – 22 U 161/93, VersR 1995, 186. 75 BGH v. 21.12.2010 – VI ZR 312/09, NJW 2011, 1961; BGH v. 12.1.1982 – VI ZR 188/80, VersR 1982, 366. 76 BGH v. 26.11.1985 – VI ZR 9/85, VersR 1986, 345, 346 = JR 1986, 240 mit Anm. Haase; krit. zu dieser Diskrepanz Deutsch JuS 1987, 674, 679. 77 OLG Karlsruhe v. 6.12.1995 – 7 U 21/95, NZV 1997, 230.

206 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 9.27 § 9 bei Trabrennen einsetzen wollte,78 sowie bei Pferdehaltern, die ihre Tiere zum Ausritt vermieten,79 solange dies nicht nur gelegentlich geschieht.80 Durch die gelegentliche Vermietung eines Pferdes an Reitschüler wird keine Nutztiereigenschaft begründet.81 Umgekehrt entfällt sie nicht dadurch, dass ein für forstwirtschaftliche Zwecke genutztes Pferd gelegentlich auch zum Reiten und für Festumzüge verwendet wird; dies gilt auch dann, wenn der Schaden bei einem Festumzug entstanden ist.82 Auch ein Polizeipferd fällt unter § 833 Satz 2 BGB,83 desgleichen ein Polizeihund.84 Im Übrigen fallen Hunde dann unter die Vorschrift, wenn sie für die Bewachung von Gewerbebetrieben85 oder besonders schutzbedürftigen86 landwirtschaftlichen Anwesen bestimmt sind, oder wenn sie einem Jäger als Jagdhund87 oder einem Blinden zum Führen dienen, nicht wenn sie aus allgemeinem Sicherheitsbedürfnis gehalten werden.88 Bei Katzen kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an;89 dienen sie, wie i.d.R. in landwirtschaftlichen Anwesen, dem Schutz von Vorräten, lässt sich ihre Eigenschaft als Erwerbstier bejahen.90

Entscheidend ist die Zweckbestimmung, ggf. die hauptsächliche.91 Ob das Nutztier auch im Zeitpunkt des Unfalls als solches eingesetzt wurde, ist unerheblich. Daher fallen Arbeitspferde auch dann unter § 833 Satz 2 BGB, wenn sie als Zugtiere bei einem Umzug verwendet werden.92

9.25

3. Anforderungen an den Entlastungsbeweis a) Allgemeines Der Nutztierhalter oder Tierhüter muss entweder die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt oder die fehlende Kausalität eines Sorgfaltsmangels beweisen. Bleibt unklar, worauf das Schaden stiftende Tierverhalten zurückzuführen ist, geht dies zu seinen Lasten.93 Für das Maß der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gibt § 28 StVO Anhaltspunkte.94 An den Entlastungsbeweis sind strenge Anforderungen zu stellen. Ein Landwirt muss nicht alle theoretisch denkbaren, von dem Tier ausgehenden Gefahren durch Sicherungsmaßnahmen abwenden; ein absoluter Schutz vor jeder möglichen Gefahr wird nicht verlangt.95

9.26

Übergibt der Tierhalter das Tier einem Tierhüter, so hat er den Entlastungsbeweis dahin zu führen, dass er bei der Auswahl und Beaufsichtigung des Tierhüters die nötige Sorgfalt beobachtet hat, dass er ihm die erforderlichen Weisungen erteilt und ihn mit den erforderlichen

9.27

78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95

OLG Düsseldorf v. 13.12.1991 – 22 U 289/90, VersR 1993, 115. BGH v. 27.5.1986 – VI ZR 275/85, VersR 1986, 1077. OLG Düsseldorf v. 22.11.1991 – 22 U 22/91, NJW-RR 1992, 475: Pony eines Landwirts. OLG Hamm v. 25.4.2006 – 9 U 7/05, NZV 2007, 143. OLG Nürnberg v. 21.12.2009 – 14 U 1474/09, NJW-RR 2010, 1248. OLG Frankfurt v. 7.6.1984 – 1 U 288/83, VersR 1985, 646. OLG Brandenburg v. 13.10.2008 – 1 U 2/08, MDR 2009, 633. BGH v. 3.5.2005 – VI ZR 238/04, NZV 2005, 466, 467. Verneint von OLG Köln v. 5.11.1998 – 1 U 51/98, VersR 1999, 1293 bei Hof in Ortslage. OLG Bamberg v. 20.2.1990 – 5 U 41/89, NJW-RR 1990, 735. OLG Frankfurt v. 9.9.2004 – 26 U 15/04, MDR 2005, 273. LG Ravensburg v. 18.3.1985 – 2 O 1640/84, VersR 1986, 823. LG Bielefeld v. 31.3.1982 – 1 S 24/82, VersR 1982, 1083; LG Kiel v. 8.5.1984 – 14 S 75/83, NJW 1984, 2297. BGH v. 3.5.2005 – VI ZR 238/04, NZV 2005, 466. OLG Koblenz v. 8.5.1991 – 5 U 1812/90, NZV 1992, 76. OLG Koblenz v. 8.5.1991 – 5 U 1812/90, NZV 1992, 76. Umfassender Rspr.-Überblick bei Siegel SVR 2015, 445. OLG Jena v. 2.7.2002 – 8 U 1247/01, NZV 2002, 464, 465.

Greger | 207

§ 9 Rz. 9.27 | Haftung für Tiere

Gerätschaften ausgestattet hat.96 Darauf, ob der Tierhüter den Unfall rechtswidrig oder schuldhaft verursacht hat, kommt es bei der Haftung des Tierhalters nicht an.

b) Einzelfälle 9.28

An den Halter, der Pferde zum Ausritt im Straßenverkehr vermietet, sind strenge Anforderungen zu stellen. Er darf das Pferd nur einem Reiter überlassen, der ausreichend auf das Tier einwirken kann und Erfahrung mit den Gegebenheiten des Straßenverkehrs hat.97 Als Zugtiere dürfen Pferde nur eingesetzt werden, wenn sie ausreichend auf diese Aufgabe vorbereitet wurden.98 Ein Durchgehen von Kutschpferden als Reaktion auf einen angreifenden Hund ist aber nicht vermeidbar.99 Ein Reitpferd darf bei der Rast auf einer Wiese nicht frei herumlaufen.100

9.29

Auch ein friedfertiger Hund darf nicht unbeaufsichtigt auf der Straße herumlaufen,101 ein Jagdhund nicht unangeleint zur Nachsuche auf ein angeschossenes Wild angesetzt werden, wenn die Gefahr besteht, dass der Hund in den öffentlichen Straßenverkehr gelangt.102 Ob ein Hund auf öffentlichem Verkehrsgrund an der Leine zu führen ist, richtet sich nach ortsrechtlichen Vorschriften103 (die zugleich als Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB fungieren), ansonsten nach den Umständen: § 28 Abs. 1 Satz 2 StVO verlangt „ausreichende Einwirkungsmöglichkeiten“. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch Hunde, die ansonsten aufs Wort gehorchen, unter den Einflüssen des Verkehrsgeschehens zu unkontrolliertem Verhalten veranlasst werden können; ist der Hund unkontrolliert auf die Fahrbahn gelaufen oder hat er einen Radfahrer angesprungen, wird es dem Halter schwerfallen, die erforderliche Sorgfalt zu beweisen. Hat ein Hund sich losgerissen und die Fahrbahn überquert, muss der Halter ebenfalls die Fahrbahn überqueren, um zu verhindern, dass der Hund über die Straße zu ihm zurückkehrt.104 Das Führen eines Hundes vom Fahrrad aus ist nach § 28 Abs. 1 Satz 4 StVO gestattet; es muss allerdings tier- und sachgerecht ausgeführt werden, was bei mehrfach um den Lenker gewickelter Leine nicht der Fall ist.105

9.30

Katzen können nicht daran gehindert werden, sich auf die Fahrbahn zu begeben;106 dasselbe gilt in ländlichen Gemeinden auch für Hühner und anderes Geflügel.

9.31

Weidetiere müssen daran gehindert werden, die Weide eigenmächtig zu verlassen,107 insbesondere durch einen ausreichend hohen und stabilen Zaun. Bei Pferdekoppeln wurde z.B. ein 125 cm hoher, vierfacher Stacheldrahtzaun108 oder ein mindestens 120 cm hoher Weidezaun mit oberer Begrenzung durch eine gut sichtbare Elektrolitze109 als ausreichend angesehen; bei Rindern wird i.d.R. eine Höhe

96 BGH v. 10.3.1954 – VI ZR 123/52, VersR 1954, 531; OLG Düsseldorf v. 27.6.1967 – 4 U 8/67, VersR 1967, 1100. 97 BGH v. 27.5.1986 – VI ZR 275/85, VersR 1986, 1077, 1079. 98 OLG Koblenz v. 8.5.1991 – 5 U 1812/90, NZV 1992, 76. 99 OLG Karlsruhe v. 6.12.1995 – 7 U 21/95, NZV 1997, 230. 100 BGH v. 18.9.1964 – VI ZR 21/64, VersR 1964, 1197. 101 RG JW 1933, 832. 102 OLG Bamberg v. 20.2.1990 – 5 U 41/89, NJW-RR 1990, 735. 103 OLG Hamm v. 26.6.2001 – 27 U 6/01, NZV 2002, 461; LG Tübingen v. 12.5.2015 – 5 O 218/14, NZV 2015, 599. 104 OLG Hamm v. 10.1.2000 – 6 U 202/99, NZV 2001, 36. 105 OLG Köln v. 13.8.2002 – 9 U 185/00, NJW-RR 2003, 884. 106 OLG Oldenburg v. 11.7.1957 – 3 U 15/57, VersR 1957, 742 = 1958, 332 mit zust. Anm. Weimar; für Einzelfallprüfung Siegel SVR 2015, 445, 447. 107 BGH v. 9.6.1959 – VI ZR 132/58, VersR 1959, 759. Zu Einzelheiten s. auch Siegel SVR 2015, 445, 447 ff. 108 OLG Hamm v. 14.4.1994 – 6 U 2/94, OLGR Hamm 1994, 210. 109 OLG Celle v. 26.1.2000 – 9 U 130/99, NJW-RR 2000, 1194.

208 | Greger

III. Entlastungsbeweis | Rz. 9.32 § 9 von 110 bis 120 cm verlangt;110 weniger als 1 m reicht jedenfalls nicht aus.111 Die Sicherung des Weidetores durch eine bloße Hanf- oder Drahtschlaufe genügt nicht, wenn die nahe liegende Gefahr besteht, dass unbefugte Dritte das Tor öffnen und nicht wieder ordnungsgemäß verschließen, so dass die Tiere auf eine Straße laufen können; hier ist vielmehr die Sicherung durch ein Schloss erforderlich.112 Auf entlegenen Weiden, etwa im Gebirge, sind die Anforderungen geringer.113 Nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit, das Weidetor zu öffnen, sondern auch hinsichtlich der Standfestigkeit des Weidezaunes114 und der Abwehrkraft eines elektrischen Weidezaunes115 sind angesichts der durch Vieh dem Verkehr drohenden Gefahr strenge Anforderungen zu stellen.116 Sie richten sich auch nach den örtlichen Gegebenheiten. In der Nähe verkehrsbedeutender Straßen sind Weidezäune täglich zu kontrollieren.117 Je nach den örtlichen Verhältnissen bietet ein bloßer Elektrozaun keine ausreichende Sicherheit.118 Die Stabilität von Pfosten ist sorgfältig, nicht nur optisch, zu prüfen.119 Die zu geringe Größe einer Koppel kann dazu beitragen, dass eine in Panik geratene Herde sich nicht auslaufen kann und deshalb die Umzäunung durchbricht.120 Schafe müssen, wenn sie von einem Hirten mit geeignetem Hütehund bewacht werden, nicht durch einen Weidezaun gegen Entweichen gesichert werden.121 Ist ein viel befahrener Verkehrsweg in der Nähe, müssen auch Vorkehrungen für den Fall einer Panik unter den Schafen getroffen werden.122 Bei einem Ausbruch von Nutztieren aus einer umfriedeten Weide endet die Aufsichtspflicht des Tierhalters nicht mit dem Kontrollverlust über die Tiere, sondern umfasst alle Maßnahmen, die im Zeitpunkt eines Unfalls zu dessen Vermeidung erforderlich waren, z.B. die Verständigung der Polizei.123 Ein Stall entspricht nicht den Anforderungen, wenn beim Öffnen der Stalltür die Gefahr unkontrollierten Entlaufens von Rindern besteht.124 Muss nach den örtlichen Gegebenheiten damit gerechnet werden, dass Stalltore von Unbefugten geöffnet werden und die Tiere auf Verkehrswege gelangen, sind Schlösser anzubringen.125 Wird im Winter ein Rind über den Hof geführt und stürzt es, weil nicht gestreut war, so haftet der Halter, wenn es nach dem Sturz entweicht und einen Unfall verursacht.126

110 OLG Köln v. 2.12.1992 – 13 U 114/92, VersR 1993, 616. Nach österr. OGH ZVR 1999, 373 genügt ein Elektrozaun i.H.v. 70–90 cm. 111 OLG Düsseldorf v. 28.2.2000 – 1 U 131/99, VersR 2001, 1038; OLG Hamm v. 12.11.1996 – 27 U 83/96, VersR 1997, 1542. 112 BGH v. 3.5.1966 – VI ZR 216/64, VersR 1966, 758 = 849 mit Anm. Schmidt; BGH v. 27.6.1967 – VI ZR 13/66, VersR 1967, 906; BGH v. 6.3.1990 – VI ZR 246/89, NZV 1990, 305. 113 Sehr streng aber österr. OGH ZVR 1993, 364 bei Pferden auf einer Bergweide. 114 Vgl. OLG Hamm v. 7.10.1980 – 9 U 281/79, VersR 1982, 1009. 115 Hierzu OLG Frankfurt v. 6.10.1981 – 8 U 96/80, VersR 1982, 908. 116 OLG Nürnberg v. 6.7.1965 – 7 U 25/65, VersR 1966, 42; LG Flensburg v. 14.1.1986 – 2 O 359/ 85, VersR 1987, 826. 117 OLG Hamm v. 16.12.1988 – 9 U 24/88, NZV 1989, 234. 118 BGH v. 14.2.2017 – VI ZR 434/15, VersR 2017, 702, 704; BGH v. 14.6.1976 – VI ZR 212/75, VersR 1976, 1086; OLG Jena v. 2.7.2002 – 8 U 1247/01, NZV 2002, 464. 119 LG Ravensburg v. 6.3.1984 – 4 O 1297/83, VersR 1986, 452. 120 BGH v. 30.6.2009 – VI ZR 266/08, VersR 2009, 1275 = NJW 2009, 3233, 3235. 121 BGH v. 15.6.1953 – VI ZR 79/52, VersR 1953, 308. 122 OLG München v. 22.9.1989 – 10 U 5548/87, NZV 1991, 189. Zur Richthöhe von Zäunen für Schafweiden in Straßennähe s. OLG Schleswig v. 9.5.2013 – 7 U 71/12, NZV 2014, 32. 123 BGH v. 30.6.2009 – VI ZR 266/08, NJW 2009, 3233, 3235. 124 OLG Oldenburg v. 22.6.1999 – 5 U 36/99, NJW-RR 1999, 1627. 125 BGH v. 6.3.1990 – VI ZR 246/89, NZV 1990, 305; OLG Brandenburg v. 25.3.1997 – 2 U 66/96, OLGR Brandenburg 1998, 3; OLG Nürnberg v. 6.4.2004 – 9 U 3987/03, MDR 2004, 996 (Pferdestall). 126 OLG München v. 18.5.1966 – 10 U 1662/65, VersR 1966, 1083; OLG Oldenburg v. 9.1.1990 – 5 U 71/89, NZV 1991, 115.

Greger | 209

9.32

Zweiter Teil Haftung aus unerlaubter Handlung § 10 Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Vorschrift im Verkehrshaftungsrecht . . . . . . . . . . . 2. Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verletzung einer Verkehrspflicht . . 3. Rechtsgutsverletzung . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leben, Körper, Gesundheit . . . . . . . . c) Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beschränkte dingliche Rechte . . . . . . e) Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb . . . . . . . . . . . . f) Besitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zurechnungszusammenhang . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bezugspunkt der Kausalitätsbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Adäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutzzweck der Norm . . . . . . . . . . . e) Rechtmäßiges Alternativverhalten . . f) Mittelbar verursachte Folgen . . . . . . . g) Hypothetische Kausalität . . . . . . . . . . 5. Haftung für potenzielle Kausalität (§ 830 Abs. 1 Satz 2 BGB) . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Widerrechtlichkeit . . . . . . . . . . . . . .

10.1 10.1 10.4 10.5 10.6 10.6 10.8 10.11 10.11 10.12 10.13 10.18 10.19 10.20 10.21 10.21 10.22 10.26 10.29 10.30 10.33 10.34 10.35 10.35 10.38 10.44 10.45

1. 2. a) b) c) IV. 1. 2. 3. a) b) c) d) 4. 5. a) b) c)

V. 1. 2. a) b) c) 3. 4. 5.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . Notstand, Notwehr . . . . . . . . . . . . . . Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehrsrichtiges Verhalten des Schädigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektive Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sorgfaltsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährdungsausschluss . . . . . . . . . . . Schuldausschluss durch Irrtum . . . . Schuldunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewusstlosigkeit oder Geistesstörung Minderjährige . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Deliktsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . cc) Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . Billigkeitshaftung . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . Keine Haftung Aufsichtspflichtiger . . Keine Entziehung des Unterhalts . . . Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt des Anspruchs . . . . . . . . . . . . Verfahrensrechtliches . . . . . . . . . . . Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.45 10.46 10.46 10.47 10.50 10.51 10.51 10.52 10.53 10.53 10.54 10.57 10.58 10.59 10.62 10.62 10.63 10.66 10.67 10.69 10.74 10.75 10.75 10.77 10.77 10.78 10.79 10.82 10.83 10.85

§ 823 BGB (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

Greger | 211

§ 10 Rz. 10.1 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung (2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein. § 827 BGB Wer im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er für einen Schaden, den er in diesem Zustand widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne Verschulden in den Zustand geraten ist. § 828 BGB (1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. (2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kfz, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat. (3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Abs. 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. § 829 BGB Wer in einem der in den §§ 823 bis 826 bezeichneten Fälle für einen von ihm verursachten Schaden auf Grund der §§ 827, 828 nicht verantwortlich ist, hat gleichwohl, sofern der Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann, den Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum angemessenen Unterhalt sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflichten bedarf. § 830 BGB (1) Haben mehrere durch eine gemeinschaftlich begangene unerlaubte Handlung einen Schaden verursacht, so ist jeder für den Schaden verantwortlich. Das Gleiche gilt, wenn sich nicht ermitteln lässt, wer von mehreren Beteiligten den Schaden durch seine Handlung verursacht hat. (2) Anstifter und Gehilfen stehen Mittätern gleich.

I. Überblick 1. Bedeutung der Vorschrift im Verkehrshaftungsrecht 10.1

Die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB greift ein, wenn eines der dort genannten absoluten Rechte oder Rechtsgüter durch eine „unerlaubte Handlung“, d.h. widerrechtlich und schuldhaft, verletzt wird. Sie tritt neben die Gefährdungshaftung nach dem StVG, wie dessen § 16 ausdrücklich klarstellt. Bedeutung hat dies insbesondere für den Umfang der Haftung (s. Rz. 10.5).

212 | Greger

I. Überblick | Rz. 10.5 § 10

Hinsichtlich des Haftungsgrunds unterscheiden sich Delikts- und Gefährdungshaftung in folgenden Punkten:

10.2

– während § 7 StVG eine Sachbeschädigung, Tötung oder Verletzung des Körpers oder der Gesundheit voraussetzt, stellt § 823 Abs. 1 BGB auf die Verletzung eines absoluten Rechts oder Rechtsguts ab; hieraus können sich bei der Beschädigung von Sachen Unterschiede ergeben (s. Rz. 10.13); – das Merkmal der Widerrechtlichkeit spielt bei § 7 StVG keine Rolle (s. Rz. 10.45); – wer Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB herleiten will, muss – anders als bei § 7 StVG – ein Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) beweisen (s. Rz. 10.51); – hieraus ergeben sich auch Unterschiede für die Zurechnung im Rahmen des Kausalzusammenhangs (s. Rz. 10.21 ff.). Außerdem begründet § 823 Abs. 1 BGB eine Haftung für die vom StVG nicht erfassten Verkehrsteilnehmer sowie für Personen, die durch Verletzung einer Verkehrs(sicherungs)pflicht (s. Rz. 13.1) einen Verkehrsunfall verursacht haben. Andere Tatbestände des Deliktsrechts (insb. § 823 Abs. 2, § 829, § 830 Abs. 1 Satz 2, §§ 831 ff. BGB) können eingreifen, wenn ein Tatbestandsmerkmal des § 823 Abs. 1 BGB nicht vorliegt oder nicht beweisbar ist oder wenn eine andere als die unmittelbar schädigende Person belangt werden soll.

10.3

2. Haftungsvoraussetzungen § 823 Abs. 1 BGB setzt eine Handlung (s. Rz. 10.6 ff.) voraus, durch die ein absolut geschütztes Rechtsgut (s. Rz. 10.11 ff.) in zurechenbarer Weise (Rz. 10.21 ff.) verletzt worden ist. Die hierdurch indizierte Widerrechtlichkeit darf nicht durch einen Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen sein (s. Rz. 10.46 ff.). Der Schädiger muss vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben (s. Rz. 10.51 ff.) und es darf kein besonderer Schuldausschließungsgrund (s. Rz. 10.59 ff.) vorliegen. Schließlich muss der geltend gemachte Schaden auf diese Verletzung in zurechenbarer Weise zurückzuführen sein (s. Rz. 19.3 ff.). Für Verhaltensweisen, die nicht unmittelbar auf eine Rechtsgutsverletzung gerichtet sind, stellt die Rspr. auf das ungeschriebene Erfordernis der Verletzung einer Verkehrspflicht ab. In ihm verbindet sich die Begründung von Handlungs- bzw. Unterlassungspflichten mit dem Sorgfaltserfordernis des Fahrlässigkeitsbegriffs (§ 276 Abs. 2 BGB). Die dogmatische Einordnung ist daher sehr unklar,1 für die praktische Rechtsanwendung aber auch unerheblich (s. Rz. 10.8 f.).

10.4

3. Rechtsfolgen Die Schadensersatzpflicht nach § 823 BGB ist (anders als jene nach StVG und HaftpflG) nicht auf einen Höchstbetrag begrenzt (s. Rz. 23.1 ff.). Sie umfasst unter bestimmten Voraussetzungen auch Ersatz für entgangene Dienstleistungen (§ 845 BGB; s. Rz. 31.178 ff.) sowie entgangenen Gewinn (s. Rz. 32.189 ff.). Bei der Abwägung mit Verursachungsbeiträgen anderer Verkehrsteilnehmer schlägt sie stärker zu Buche als die reine Gefährdungshaftung (s. Rz. 25.129).

1 Ausführlich hierzu MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 66 ff.

Greger | 213

10.5

§ 10 Rz. 10.6 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen 1. Handlung 10.6

Deliktische Verantwortung nach § 823 Abs. 1 BGB setzt – wie sich schon aus dem Verschuldenserfordernis ergibt – ein menschliches Handeln, ein vom Willen gesteuertes Verhalten voraus.2 Betätigungen, die unter physischem Zwang oder als unwillkürlicher Reflex durch fremde Einwirkungen ausgelöst werden, können deshalb keine Haftung nach dieser Vorschrift begründen. Dies würde auch für Aktionen im Zustand der Bewusstlosigkeit gelten, § 827 BGB trifft hier jedoch eine besondere Anordnung, wonach lediglich die subjektive Vorwerfbarkeit der Handlung entfallen soll3 (näher dazu s. Rz. 10.62 ff.) So kann z.B. die Lenkbewegung nach der Kollision mit einem Reh ein unwillkürlicher Reflex ohne Handlungsqualität sein, während beim Abkommen auf die Gegenfahrbahn infolge einer plötzlichen Bewusstseinsstörung lediglich die Verantwortlichkeit ausgeschlossen ist. Bedeutung hat dies für die Beweislast: Der Geschädigte trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Handlungsqualität,4 während die (ausnahmsweise) fehlende Verantwortlichkeit vom Schädiger zu beweisen ist.5

10.7

Ein Unterlassen steht dem Handeln dann gleich, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln bestanden hat. Beim Verhalten im Straßenverkehr gehen positives Tun und unterlassene Gefahrenabwehr ohnehin vielfach ineinander über. So kann z.B. ein Unfall ebenso auf zu schnelles Fahren wie auf ungenügende Fahrbahnbeobachtung zurückzuführen sein; wäre in einer Gefahrensituation ein Warnsignal erforderlich gewesen, so kann der Unfall in gleicher Weise auf dessen Unterlassen wie auf das gefährdende Weiterfahren zurückgeführt werden. Derartige Unterscheidungen sind aber unnötig. In den sog. Verkehrspflichten (s. Rz. 10.8 f.) konkretisiert sich das gebotene Verhalten unabhängig von diesen Kategorien: Entscheidend ist in diesen Fällen nicht das Tun (das Autofahren), sondern das Unterlassen der gebotenen Gefahrabwendungsmaßnahmen (auf Sicht fahren, Fahrbahn beobachten, Warnzeichen geben usw.).6

2. Verletzung einer Verkehrspflicht 10.8

Die Entwicklung dieses den Aufbau des Deliktstatbestands überformenden, ungeschriebenen Merkmals der Fahrlässigkeitshaftung (s. Rz. 10.4) geht auf die Rechtsprechung des RG zurück. Dieses hatte schon kurz nach Inkrafttreten des BGB aus einem Grundsatz des gemeinen Rechts eine sog. Verkehrssicherungspflicht hergeleitet, der zufolge derjenige, der Räume oder Örtlichkeiten der Allgemeinheit zugänglich macht – mithin einen Verkehr für andere eröffnet – für die verkehrssichere Beschaffenheit der Sache verantwortlich ist.7 Hieraus entwickelte sich der gewohnheitsrechtliche Rechtssatz, dass jeder, der im Verkehr eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zum Schutze anderer zu treffen hat.8 Er beschränkt sich längst nicht mehr auf die Sicherung von Verkehrswegen und 2 BGH v. 12.2.1963 – VI ZR 70/62, BGHZ 39, 103, 106; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 74a. 3 BGH v. 1.7.1986 – VI ZR 294/85, BGHZ 98, 135, 137 f. = JZ 1987, 40 mit Anm. Baumgärtel. 4 BGH v. 12.2.1963 – VI ZR 70/62, BGHZ 39, 103, 107 ff.; OLG Naumburg v. 27.1.2003 – 1 U 101/ 02, NJW-RR 2003, 676; Staudinger/Hager § 823 H 3; a.A. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 68. 5 BGH v. 1.7.1986 – VI ZR 294/85, BGHZ 98, 135, 138 = JZ 1987, 40 mit Anm. Baumgärtel; Erman/ Wilhelmi § 823 Rz. 74a. 6 Ähnlich Staudinger/Hager § 823 H 7; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 74a. 7 RG v. 23.2.1903 – VI 349/02, RGZ 54, 53. 8 St. Rspr; vgl. nur BGH v. 18.12.1972 – III ZR 121/70, BGHZ 60, 54, 55. Näher Larenz/Canaris § 76 III.

214 | Greger

II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen | Rz. 10.9 § 10

sonstigen allgemein zugänglichen Örtlichkeiten, sondern umfasst – in Gestalt der sog Verkehrspflichten – sämtliche potentielle Gefahrenquellen. So kann z.B. der Verkäufer von verkehrsunsicheren Reifen für den Schaden haftbar sein, der aus einem dadurch verursachten Unfall entsteht.9 In der umfangreichen Rechtsprechung zu den Verkehrs- und Verkehrssicherungspflichten (s. unten §§ 13, 14) verbindet sich die Zuweisung von Verantwortlichkeiten mit der Bestimmung von Sorgfaltsmaßstäben. Trotz dieses Mitschwingens von Fahrlässigkeitselementen („äußere Sorgfalt“, s. Rz. 10.56) erscheint es gerechtfertigt, sie beim objektiven Tatbestand zu verorten.10 Das Merkmal der Verkehrspflichtverletzung wird vom BGH in st. Rspr. wie folgt konkretisiert:11 „Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Sie kann sich auch auf Gefahren erstrecken, die erst durch den unerlaubten und schuldhaften Eingriff eines Dritten entstehen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr daher erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zuzumuten sind. Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muss der Geschädigte – so hart dies im Einzelfall sein mag – den Schaden selbst tragen.“

Entscheidend sind also: – Schaffung einer Situation, aus der sich die naheliegende Gefahr einer Schädigung Anderer ergibt; – Unterlassen von Vorkehrungen, die ein verständiger Mensch zur Abwehr der Gefahr ergreifen würde; – Zumutbarkeit dieser Vorkehrungen.

9 BGH v. 11.2.2004 – VIII ZR 386/02, NJW 2004, 1032, 1033; OLG Nürnberg v. 5.2.2002 – 3 U 3149/01, VersR 2003, 385. 10 S. auch Larenz/Canaris § 76 III 2d; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 75 f. 11 BGH v. 6.2.2007 – VI ZR 274/05, NJW 2007, 1683; BGH v. 25.2.2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104, 2106.

Greger | 215

10.9

§ 10 Rz. 10.10 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

10.10

Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften sind wichtige Anhaltspunkte für die Bestimmung von Verkehrspflichten, auch außerhalb des Versicherungsverhältnisses.12

3. Rechtsgutsverletzung a) Überblick 10.11

Durch § 823 Abs. 1 BGB geschützte Rechtsgüter sind: Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum sowie sonstige absolute Rechte. Als „sonstiges Recht“ kommen im Bereich der Verkehrshaftung u.U. das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb sowie das Recht zum Besitz in Betracht. Kein „sonstiges Recht“ ist der Gemeingebrauch an einer Straße.13 Wird aber durch einen Unfall die Nutzbarkeit eines Verkehrsmittels vereitelt, kommen Ansprüche aus Verletzung des Eigentums hieran in Betracht (s. Rz. 10.14).

b) Leben, Körper, Gesundheit 10.12

Bei Personenschäden ergeben sich keine Abweichungen von der Gefährdungshaftung (s. Rz. 3.37 ff.).

c) Eigentum 10.13

Bei Sachschäden unterscheidet sich der Schutzumfang des § 823 BGB von dem der Gefährdungshaftung nach § 7 StVG. Letzterer setzt die Beschädigung einer Sache voraus (s. Rz. 3.49 ff.), während nach § 823 Abs. 1 BGB auch andere Eingriffe in das Eigentum die Haftung auslösen können (s. Rz. 10.14 ff.). Auf der anderen Seite ist die deliktische Haftung bei Sachschäden insofern enger als die Gefährdungshaftung, als letztere nicht nur dem Eigentümer Schadensersatzansprüche verschafft (s. Rz. 3.54 f.). Allerdings wird dieser Unterschied dadurch relativiert, dass auch das Recht zum Besitz als von § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Recht angesehen wird (s. Rz. 10.20). Im Übrigen bewirkt die Vermutung des § 1006 BGB, dass der unmittelbare Besitzer sein Eigentum grundsätzlich nicht nachweisen muss (s. Rz. 41.41).

10.14

Eine Eigentumsverletzung liegt nicht nur bei einer physischen Beeinträchtigung der Sache vor; es genügt vielmehr, wenn die Benutzbarkeit der Sache durch eine sonstige die Eigentümerbefugnisse treffende tatsächliche Einwirkung objektiv verhindert wird.14 Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB kann daher auch dann eintreten, wenn lediglich die Bewegungsmöglichkeit eines Fahrzeugs vereitelt worden ist15 oder wenn ein Grundstück infolge einer polizeilichen Anordnung, die wegen Explosionsgefahr nach einem Unfall erlassen worden ist, vorübergehend nicht benutzt werden kann.16 Zur Abgrenzung von reinen Vermögensnachteilen einerseits, immateriellen Einbußen andererseits muss aber verlangt werden, dass die Störung gerade die wertbestimmende Funktion der Sache betrifft, also etwa die Eigenschaft des Fahrzeugs als Transportmittel für nicht unerhebliche Zeit aufhebt.17 Auszuklammern sind Beein-

12 Felz NZV 2017, 117, 119 ff. S.auch. Rz. 11.5. 13 BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 58/76, NJW 1977, 2264, 2265. 14 BGH v. 21.6.2016 – VI ZR 403/14 Rz. 17 ff., NZV 2017, 25 mit umfassender Wiedergabe der Rspr. 15 BGH v. 21.12.1970 – II ZR 133/68, BGHZ 55, 153, 159. 16 BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 58/76, NJW 1977, 2264, 2265. 17 Nachw. zu unterschiedlichen Abgrenzungskriterien in der Literatur bei MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 273.

216 | Greger

II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen | Rz. 10.18 § 10

trächtigungen, die eine Vielzahl von Personen gleichermaßen betreffen und im Rahmen dessen liegen, was im gesellschaftlichen Zusammenleben hinzunehmen ist.18 Beim Blockieren eines Verkehrswegs durch einen Unfall kann daher der Eigentümer eines Fahrzeugs, der dieses auf dem betreffenden Verkehrsweg zeitweise nicht nutzen kann, hieraus resultierende Schäden (z.B. Verdienstausfall, Kosten eines zur Schadensminderung oder im öffentlichen Interesse gebotenen Ersatzverkehrs, Kosten für den Einsatz von Dieselloks wegen Beschädigung der Oberleitung) vom Unfallschuldigen nicht ersetzt verlangen.19 Auch für den Eigentümer der Straße löst die vorübergehende Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit keinen Schadensersatzanspruch aus.20 Der bloße Zeitverlust durch einen unfallbedingten Verkehrsstau ist kein ersatzfähiger Schaden, auch wenn er zu einem echten Vermögensnachteil (etwa Versäumung eines Geschäftsabschlusses) geführt hat; die vorübergehende Hinderung am Gemeingebrauch einer öffentlichen Straße ist entschädigungslos hinzunehmen.21

10.15

Auch mittelbare Eigentumsverletzungen werden von § 823 Abs. 1 BGB erfasst, z.B. wenn durch den Unfall die Stromleitung eines Energieversorgungsunternehmens beschädigt wird und der Stromausfall zum Verderb von Eiern in den Brutapparaten eines angeschlossenen Betriebs führt.22 Es ist aber genau zu prüfen, ob bei dem mittelbar Geschädigten tatsächlich eine Eigentumsverletzung und nicht nur eine Vermögensschädigung eingetreten ist. Die bloße Betriebsunterbrechung ist keine Eigentumsverletzung.23 Ein Unternehmer, der seine Produktion auf sog just-in-time-Lieferungen eingestellt hat, hat daher keinen Anspruch auf Ersatz für Produktionsausfälle, die auf eine unfallbedingte Lieferverzögerung zurückzuführen sind. Auch der Eigentümer einer Tankstelle oder Raststätte, dem durch die unfallbedingte Straßensperrung Einnahmen entgehen, hat keinen Ersatzanspruch gegen den Unfallverursacher.24

10.16

Schließlich kann eine Eigentumsverletzung auch in einem Schadensverdacht liegen, wenn dieser hinreichend begründet ist und die Sache allein aufgrund des Verdachts nicht mehr bestimmungsgemäß verwendet werden kann oder darf, insbesondere wenn sie aufgrund ihres Verwendungszwecks in besonders hohem Maß Sicherheitsanforderungen genügen muss.25

10.17

d) Beschränkte dingliche Rechte Beschränkte dingliche Rechte (z.B. Hypothek, Grundschuld, Dienstbarkeit) sind zwar „sonstige Rechte“ i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, begründen jedoch nur bei grundstücksbezogenen Eingriffen einen Ersatzanspruch. Wird durch die Einwirkung auf das Grundstück die Ausübung einer Dienstbarkeit behindert, ist ein solcher Fall gegeben.26 Die Tötung des Schuldners der

18 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 276. 19 BGH v. 11.1.2005 – VI ZR 34/04, NZV 2005, 359, 360; LG Frankenthal v. 31.1.1990 – 2 S 273/89, ZfS 1990, 336. 20 BGH v. 28.9.2011 – IV ZR 294/10, NZV 2012, 34. 21 BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 58/76, NJW 1977, 2264, 2265. 22 BGH v. 4.2.1964 – VI ZR 25/63, BGHZ 41, 123. 23 BGH v. 9.12.1958 – VI ZR 199/57, BGHZ 29, 65; MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 278. 24 BGH v. 9.12.2014 – VI ZR 155/14, NJW 2015, 1174 mit Bespr. Picker NJW 2015, 2304 = JZ 2015, 680 mit Bespr. Wagner. 25 Vgl. BGH v. 24.5.2000 – I ZR 84/98, VersR 2001, 127 und TranspR 2002, 440 (zum Begriff der Sachbeschädigung i.S.v. § 429 Abs. 1 HGB a.F.). 26 BGH v. 7.2.2012 – VI ZR 29/11, NZV 2012, 481 (Nutzung einer Gasleitung).

Greger | 217

10.18

§ 10 Rz. 10.18 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

dinglich gesicherten Forderung, z.B. eines Leibgedings, führt dagegen nicht zu einem Schadensersatzanspruch des Berechtigten.27

e) Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb 10.19

Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist ebenfalls als „sonstiges Recht“ i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB anerkannt. Bei Haftpflichtfällen im Straßenverkehr wird hieraus allerdings in aller Regel kein Anspruch hergeleitet werden können, weil dieser eine unmittelbar gegen den Gewerbebetrieb als solchen gerichtete, betriebsbezogene Beeinträchtigung voraussetzt.28 Hieran fehlt es z.B., wenn der Betrieb mittelbar dadurch beeinträchtigt wird, dass die Stromzufuhr29 oder der Fernsprechanschluss30 unterbrochen oder dass der Inhaber oder ein Angestellter verletzt oder getötet wird.31 Auch Störungen des Bahnverkehrs durch Verkehrsunfälle sind i.d.R. nicht als unmittelbar betriebsbezogene Eingriffe anzusehen,32 desgleichen das unbeabsichtigte Blockieren einer Zufahrt.33

f) Besitz 10.20

Nach der Rechtsprechung ist auch der berechtigte Besitz an einer Sache von § 823 Abs. 1 BGB geschützt.34 Soll er dazu dienen, eine bestimmte Nutzung der Sache zu ermöglichen, so stellt es eine Rechtsgutsverletzung im Sinne dieser Vorschrift dar, wenn der Besitzer an eben dieser Nutzung durch einen rechtswidrigen Eingriff in relevanter Weise gehindert wird. Der deliktsrechtliche Schutz des berechtigten Besitzers (z.B. Mieters, Pächters) gegen Beeinträchtigungen der Nutzbarkeit der Sache geht jedoch nicht weiter als der des Eigentümers (s. Rz. 10.13 ff.).35 Bei der Straßenverkehrshaftung hat vor allem das Besitzrecht des Leasingnehmers Bedeutung (s. Rz. 21.3).

4. Zurechnungszusammenhang a) Allgemeines 10.21

Zwischen dem schuldhaften Verhalten und der Rechtsverletzung muss ein kausaler Zusammenhang bestehen. Dabei ist allgemein anerkannt, dass der naturwissenschaftliche Kausalitätsbegriff, der alle Bedingungen als (äquivalente) Ursachen ansieht, die zur Entstehung eines bestimmten Zustandes beigetragen haben, zu einem Ausufern der zivilrechtlichen Haftung und zu einer Verschiebung allgemeiner Lebensrisiken vom Betroffenen auf andere führen würde. Denjenigen, der lediglich eine entfernte Bedingung für die Entstehung des Schadens gesetzt hat, auf (u.U. vollen) Ersatz des Schadens haften zu lassen, wird als unbillig und un-

27 28 29 30 31 32 33 34 35

BGH v. 21.11.2000 – VI ZR 231/99, NJW 2001, 971. BGH v. 9.12.1958 – VI ZR 199/57, BGHZ 29, 165. BGH v. 12.7.1977 – VI ZR 136/76, VersR 1977, 1006. OLG Oldenburg v. 21.11.1974 – 3 U 82/74, VersR 1975, 866. BGH v. 19.6.1952 – III ZR 295/51, BGHZ 7, 30, 36; BGH v. 21.11.2000 – VI ZR 231/99, NJW 2001, 971, 972; BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 40/16, VersR 2017, 304. Grüneberg ZfS 1991, 254, 255; a.A. Kunz VersR 1982, 25, 26. AG Rheinbach v. 20.3.1985 – 3 C 39/85, VersR 1986, 1131. BGH v. 4.11.1997 – VI ZR 348/96, BGHZ 137, 89, 98; BGH v. 21.6.2016 – VI ZR 403/14 Rz. 20, NZV 2017, 25 m.w.N. BGH v. 9.12.2014 – VI ZR 155/14, NJW 2015, 1174 mit Bespr. Picker NJW 2015, 2304 = JZ 2015, 680 mit Bespr. Wagner.

218 | Greger

II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen | Rz. 10.24 § 10

zumutbar angesehen. Lehre und Rechtsprechung haben deshalb verschiedene Kriterien für rechtlich zurechenbare Kausalverläufe entwickelt.

b) Bezugspunkt der Kausalitätsbetrachtung Als Ursache kann auch im Rechtssinne nur eine Tatsache (ein Ereignis, eine Handlung, eine Unterlassung) angesehen werden, die nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (condicio sine qua non). Was nach dieser Äquivalenz- oder Bedingungstheorie als Ursache ausscheidet, kann auch nach anderen Lehren nicht Ursache sein. Die Prüfung nach der Äquivalenzlehre muss mithin jeder anderen Prüfung vorausgehen.36 Kann der Geschädigte schon die natürliche Kausalität nicht beweisen, scheidet eine Haftung von vornherein aus. Anknüpfungspunkt ist hierbei nicht der äußere Lebensvorgang (also z.B. das Anfahren des die Fahrbahn überquerenden Fußgängers), sondern die Pflichtwidrigkeit (z.B. die Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit, das Unterlassen einer Ausweichreaktion).37 Fahren ohne Führerschein oder entgegen einem Fahrverbot ist für einen auf der Fahrt entstandenen Unfall noch nicht deshalb ursächlich, weil der Unfall sich nicht ereignet hätte, wenn die Fahrt unterblieben wäre; es fehlt am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß und einem unverschuldeten Unfall.38 Eine Unterlassung ist für den Erfolg nur dann kausal, wenn pflichtgemäßes Handeln den Eintritt des Schadens verhindert hätte.39 Zur davon zu unterscheidenden Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens s. Rz. 10.30 ff.

10.22

Diese Vermeidbarkeitsbetrachtung muss bei Verkehrsunfällen der Dynamik des Geschehensablaufs Rechnung tragen. So muss z.B., wenn die Kausalität zwischen dem Fahrverhalten eines Kraftfahrers und der Kollision mit einem querenden Fußgänger geprüft wird, nicht nur die „räumliche Vermeidbarkeit“ (hätte ein sorgfältiger Fahrer den Pkw noch vor der Unfallstelle anhalten können?), sondern auch die „zeitliche Vermeidbarkeit“ (hätte der Fußgänger bei rechtzeitigem Abbremsen des Pkw den Gefahrenbereich vor dessen Eintreffen verlassen können?) untersucht werden.40 Für die Feststellung der Vermeidbarkeit wird auf den Eintritt der kritischen Verkehrssituation abgestellt. Diese beginnt dann, wenn die erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann.41 Zu den zuzubilligenden Reaktionszeiten s. Rz. 3.286, zur Vermeidbarkeit schwererer Unfallfolgen s. Rz. 10.31.

10.23

Haben mehrere Ursachen beim Zustandekommen des Schadens zusammengewirkt, so beruht dieser auf jeder dieser Ursachen.42 Die Frage, welche von mehreren Ursachen die wesentliche war, kann bei der Unfallversicherung eine Rolle spielen, nicht aber im Zivilrecht.43 Hier werden vielmehr die für die Haftungsfrage „unwesentlichen“ Ursachen durch das Kriterium der Adäquanz ausgeschieden.

10.24

BGH v. 11.5.1951 – I ZR 106/50, BGHZ 2, 138; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 104. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 71. BGH v. 30.10.1970 – IV ZR 1109/68, VersR 1971, 117. BGH v. 17.10.2002 – IX ZR 3/01, NJW 2003, 295 m.w.N. BGH v. 18.11.2003 – VI ZR 31/02, NJW 2004, 1772 m.w.N. S. auch Rz. 11.14 f. BGH v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, NJW 2003, 1929 m.w.N.; OLG Karlsruhe v. 12.8.2008 – 15 U 46/08, VersR 2009, 1419. 42 BGH v. 19.5.1970 – VI ZR 8/69, VersR 1970, 814; OLG München v. 11.7.1989 – 5 U 4042/88, NJW-RR 1990, 41. 43 BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 42/67, VersR 1968, 804.

36 37 38 39 40 41

Greger | 219

§ 10 Rz. 10.25 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

10.25

Zur Bedeutung von Reserveursachen, die denselben Erfolg herbeigeführt hätten, wenn das wegzudenkende Ereignis nicht stattgefunden hätte, s. Rz. 3.76 f.

c) Adäquanz 10.26

Nach ständiger Rechtsprechung und verbreiteter Meinung im Schrifttum muss die im Sinne der naturwissenschaftlichen Äquivalenzlehre festgestellte Kausalität zunächst den Filter der Adäquanz durchlaufen.44 Nach der Rechtsprechung des BGH ist eine Handlung (oder Unterlassung) nur dann adäquat ursächlich, wenn sie im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung des Erfolges geeignet ist.45 Bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit ist von der Situation zum Zeitpunkt des die Haftung begründenden Verhaltens auszugehen; jedoch sind nicht nur die damals dem Ersatzpflichtigen bekannten Umstände zu berücksichtigen, sondern auch jene, die einem erfahrenen Beobachter damals bereits erkennbar waren oder mit deren Vorliegen er nach der Lebenserfahrung zu rechnen hatte („objektive nachträgliche Prognose“).46 Verschiedentlich wird die Adäquanzformel auch positiv dahingehend formuliert, ob die Bedingung nach den bekannten Umständen die objektive Möglichkeit des eingetretenen Erfolgs nicht unerheblich erhöht hat.47 Die Zumutbarkeit der Haftung ist zwar die ratio der Adäquanztheorie, aber kein neben der Adäquanz zu prüfender Gesichtspunkt.

10.27

In der Lehre wird das Kriterium der Adäquanz teilweise als entbehrlich aufgegeben,48 teilweise auf den Bereich der Haftungsausfüllung beschränkt.49 Der BGH hat die Frage offengelassen.50

10.28

Bejaht wurde Adäquanz z.B. bei Herztod eines Kraftfahrers nach Zerstörung der Windschutzscheibe durch einen hochgeschleuderten Stein51 oder nach einem Beinahe-Zusammenstoß mit einem auf die Fahrbahn laufenden Kind.52

d) Schutzzweck der Norm 10.29

Auch die Adäquanzprüfung reicht nach Rspr. und h.L. nicht aus, um die Zurechnung von Kausalabläufen sachgerecht einzugrenzen; die Schädigung müsse vielmehr auch innerhalb des Schutzbereichs der verletzten Norm liegen.53 Damit entscheidet letztlich eine normative Ge44 Grundlegend BGH v. 23.10.1951 – I ZR 31/51, BGHZ 3, 261 mit Bezugnahme auf die Rspr. des RG; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 119; Deutsch Rz. 133 ff.; Lange/Schiemann § 3 VI 5. Unklar BGH v. 8.12.1981 – VI ZR 164/80, NJW 1982, 572: Verzicht auf Erfordernis der Adäquanz bei „allgemein zu vermeidender Gefahr“? 45 BGH v. 23.10.1951 – I ZR 31/51, BGHZ 3, 261, 267; ähnlich österr. OGH ZVR 1995, 312. 46 BGH v. 23.10.1951 – I ZR 31/51, BGHZ 3, 261, 267. 47 BGH v. 25.9.1952 – III ZR 322/51, BGHZ 7, 198, 204. 48 Esser/Schmidt § 33 II; v Caemmerer Das Problem des Kausalzusammenhangs im Privatrecht (1956); Stoll 25 Jahre KF 186. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen beiden Abgrenzungen Gottwald KF 1986, 12. 49 Larenz § 27 III b Fn. 65; Sourlas 88 ff. 50 BGH v. 4.5.1993 – VI ZR 283/92, VersR 1993, 843. 51 BGH v. 11.6.1974 – VI ZR 37/73, VersR 1974, 1030. 52 OLG Düsseldorf v. 15.11.1991 – 14 U 16/91, VersR 1992, 1233. 53 BGH v. 22.4.1958 – VI ZR 65/57, BGHZ 27, 137; BGH v. 3.2.1976 – VI ZR 235/74, VersR 1976, 639; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 120 ff.; Larenz § 27 IIIb 2; Deutsch Rz. 315; Lange/Schiemann § 3 IX 3, 12.

220 | Greger

II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen | Rz. 10.31 § 10

samtwürdigung über die Zurechnung.54 Durch Auslegung der verletzten Norm wird ermittelt, ob sie auch zur Verhütung bzw. Ausgleichung eines Schadens der eingetretenen Art geschaffen wurde.55 Die Haftung entfällt daher z.B. für solche Schadensfolgen, die dem Schadensereignis gegenüber zwar adäquat, bei wertender Betrachtung aber dem allgemeinen Lebensrisiko des Verletzten zuzurechnen oder durch ein Eigen- oder Drittverschulden verursacht sind, für welches das Schadenereignis nur äußerer Anlass war.56 Dabei dehnt der BGH den Schutzzweck teilweise sehr weit aus.57 Eingehend zum Schutzzweck der einzelnen Verkehrsvorschriften s. Rz. 11.7 ff., zur Bedeutung bei der Haftungsausfüllung, insb. bei Folgeschäden, s. Rz. 19.5 f.

e) Rechtmäßiges Alternativverhalten Auch die Problematik des sog. rechtmäßigen Alternativverhaltens ist vom Schutzzweck der jeweiligen Verhaltensnorm aus zu beurteilen.58 Damit sind jene Fälle gemeint, in denen der Schädiger geltend macht, der Schaden wäre (möglicherweise) auch dann eingetreten, wenn er sich rechtmäßig verhalten hätte, seine Haftung aber nicht schon mangels Kausalität nach der Bedingungslehre (Rz. 10.22) entfällt. So verhält es sich z.B., wenn er wegen eines Unfalls in Anspruch genommen wird, der auf verbotswidriges Parken seines Kfz zurückzuführen ist, und wenn er behauptet, die gleiche Unfallsituation hätte sich auch aufgrund eines zulässigen Haltens seines Kfz ergeben können. In diesem Fall ist Kausalität im Sinne der Äquivalenztheorie gegeben, der Schädiger macht jedoch geltend, ein anderes, rechtmäßiges Verhalten hätte denselben Schaden herbeiführen können. Die Beachtlichkeit derartiger Einwände richtet sich danach, ob (und inwieweit) der Schaden gleichwohl vom Schutzzweck der verletzten Norm erfasst wird. Im Beispielsfall wäre die Haftung zu bejahen (d.h. der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens als unbeachtlich anzusehen): Schutzzweck der Parkverbote ist (auch) die Freihaltung der Fahrbahn im Interesse der Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs; dass die StVO, um einem Bedürfnis nach der Zulassung kurzfristigen Verweilens Rechnung zu tragen, unter bestimmten Voraussetzungen das bezeichnete Interesse des fließenden Verkehrs zurücktreten lässt und das Risiko von Störungen des Verkehrsablaufs im Rahmen einer Interessenabwägung in Kauf nimmt, ändert hieran nichts, denn der Parkende hat den Bereich dieses ausnahmsweise in Kauf genommenen Risikos verlassen und damit den Schutzzweck der Grundnorm verletzt.59

10.30

Wäre es auch bei rechtmäßigem Verhalten (z.B. Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) zu dem Unfall gekommen, hätte dieser dann jedoch weniger schwere Folgen gehabt, so beurteilt sich die Verantwortlichkeit für die bei normgerechtem Verhalten ausgebliebenen Folgen gleichfalls nach dem Schutzzweckgedanken (zur entsprechenden Problematik bei der Gefährdungshaftung s. Rz. 3.271). Besteht der Zweck der übertretenen Vorschrift gerade auch darin, besonders schwere Folgen eines Unfalls zu vermeiden, so sind solche Folgen – aber nur

10.31

54 BGH v. 26.2.2013 – VI ZR 116/12, NJW 2013, 1679. 55 Näher Larenz § 27 IIIb 2; Esser/Schmidt § 33 III. 56 Vgl. BGH v. 16.2.1972 – VI ZR 128/70, BGHZ 58, 162; BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 1/67, NJW 1968, 2287; BGH v. 10.2.2004 – VI ZR 218/03, NZV 2004, 243. 57 S. z.B. BGH NZV 2013, 1679: Sturz des Autofahrers wegen Glatteis beim Aussteigen aus dem Unfallfahrzeug wird Unfallverursacher zugerechnet. 58 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 221; Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 102 f.; Lange/Schiemann § 4 XII 5. 59 Österr. OGH ZVR 1990, 328. Im Erg. ebenso (ohne nähere Begr.) OLG Hamm v. 6.6.1990 – 13 U 164/89, NZV 1991, 271.

Greger | 221

§ 10 Rz. 10.31 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

diese – dem Übertretenden auch dann anzulasten, wenn der Unfall als solcher ihm nicht zuzurechnen ist.60 Bei Geschwindigkeitsvorschriften wird ein solcher Schutzzweck regelmäßig zu bejahen sein: sie sollen nicht nur Unfälle überhaupt verhüten, sondern im Falle eines auf anderer Ursache (etwa der Unvorsichtigkeit eines Fußgängers) beruhenden Unfalls auch dessen Folgen mindern. Die Feststellung, welche Schadensfolgen (auch) bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wären, ist zwar, da hypothetischer Natur, schwer zu treffen; dem ist jedoch mit § 287 ZPO, nicht im Wege einer Quotelung des Gesamtschadens abzuhelfen.61

10.32

Ist der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens ausnahmsweise beachtlich, müssen seine tatsächlichen Voraussetzungen vom Schädiger bewiesen werden.62

f) Mittelbar verursachte Folgen 10.33

Für die Zurechnung mittelbar verursachter Folgen gelten die in Rz. 3.79 ff. dargestellten Grundsätze, soweit nicht nach Rz. 10.29 eine abweichende Wertung geboten ist.

g) Hypothetische Kausalität 10.34

Für die Problematik der hypothetischen Kausalität („Reserveursachen“) kann ebenfalls auf die Erläuterungen bei der Gefährdungshaftung (Rz. 3.76 ff.) Bezug genommen werden.

5. Haftung für potenzielle Kausalität (§ 830 Abs. 1 Satz 2 BGB) a) Allgemeines 10.35

Nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB ist bei von mehreren begangenen unerlaubten Handlungen jeder der Beteiligten für den Schaden verantwortlich, wenn sich nicht ermitteln lässt, wer von ihnen den Schaden durch seine Handlung verursacht hat. Für diese Schadenszurechnung hat sich die Bezeichnung „alternative Kausalität“ eingebürgert (weil entweder der eine oder der andere Beteiligte die Schadensursache gesetzt hat), aber treffender wäre wohl von einer Haftung aufgrund potenzieller Kausalität zu sprechen: Der neben einem anderen unerlaubt Handelnde haftet schon für die Möglichkeit, dass gerade sein Tatbeitrag den Schaden verursacht hat. Ihre Rechtfertigung findet diese Zurechnung darin, dass es unbillig erschiene, den Betroffenen leer ausgehen zu lassen, weil jeder der Täter die Kausalität seiner unerlaubten Handlung in Abrede stellt und der Geschädigte den oftmals schwierigen Beweis, wer von den Tätern den Schaden verursacht hat, nicht führen kann.63 Während über die Legitimation und die Voraussetzungen der Vorschrift weitgehend Einigkeit besteht, ist ihre rechtliche Einordnung umstritten. So wird die Vorschrift teilweise als Anspruchsgrundlage64 und teilweise als Be-

60 Im Erg. ebenso, aber zu allgemein BGH v. 27.6.2000 – VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; BGH v. 18.11.2003 – VI ZR 31/02, NJW 2004, 772, 773. 61 So aber KG v. 24.11.2005 – 12 U 188/04, NJW 2006, 1677; OLG Frankfurt v. 15.4.2014 – 16 U 213/13, VersR 2014, 1471, 1472; OLG Saarbrücken v. 14.8.2014 – 4 U 150/13, NJW 2015, 639 mit Anm. Fölsch. Zu Recht spricht dagegen BGH v. 27.6.2000 – VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069, 3070 von Haftung „für einen Teil“ der Verletzungen. 62 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 224; Erman/Ebert vor § 249 Rz. 81. 63 RG v. 12.7.1928 – VI 94/28, RGZ 121, 400, 402; BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355, 358. 64 BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355, 358; BGH v. 22.6.1976 – VI ZR 100/75, BGHZ 67, 14, 17; BGH v. 11.1.1994 – VI ZR 41/93, NJW 1994, 932, 934.

222 | Greger

II. Objektive Tatbestandsvoraussetzungen | Rz. 10.40 § 10

weiserleichterung65 verstanden. Treffender ist die Deutung als Kausalitätsfiktion, bei der sich die Beklagten nicht durch einen Gegenbeweis entlasten können.66 Die Vorschrift ist nicht nur anwendbar, wenn ungeklärt ist, welcher Beteiligte den Schaden verursacht hat (sog. Urheberzweifel), sondern auch in den Fällen, in denen zweifelhaft bleibt, ob der einzelne am Verletzungserfolg Beteiligte für den gesamten Erfolg oder nur für einen Anteil einzustehen hat (sog. Anteilszweifel oder ungeklärte kumulative Kausalität).67 Dies gilt aber nur, wenn sich die Verursachungsbeiträge nicht nach § 287 ZPO zuordnen lassen.68

10.36

Auf die Gefährdungshaftung ist die Vorschrift entsprechend anwendbar (vgl. Rz. 3.101), nicht aber um bei feststehender Gefährdungshaftung mehrerer eine Haftung der Haftpflichtversicherer für deliktische (etwa die Höchstgrenzen des § 12 StVG übersteigende) Ansprüche darauf zu stützen, dass einer der Fahrer schuldhaft gehandelt haben muss.69 Zur Tierhalterhaftung s. Rz. 9.8.

10.37

b) Voraussetzungen Voraussetzungen für die Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB sind:

10.38

(1) Beweis eines anspruchsbegründenden Verhaltens jedes Beteiligten, abgesehen vom Nachweis der Ursächlichkeit. Es muss feststehen, dass jeder der Beteiligten rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat.70 War einer der Beteiligten deliktsunfähig nach §§ 827, 828 BGB, so scheidet eine Haftung der anderen potenziellen Schädiger aus.71

10.39

(2) Beweis der Verursachung des Schadens durch einen der Beteiligten, d.h. Ausschluss einer anderen Ursache. Kann neben dem potenziellen Verursacher ein nicht anspruchsbegründender Anlass, z.B. ein Naturereignis, ein haftungsrechtlich irrelevantes Verhalten dritter Personen oder eine dem Geschädigten selbst zuzurechnende Ursache, den Schaden herbeigeführt haben, ist § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht anwendbar.72 Die Vorschrift ist hingegen anwendbar, wenn den Geschädigten nur ein Mitverschulden trifft. Dies ist dann bei der Haftungsquote zu berücksichtigen.73 Analoge Anwendung findet die Vorschrift, wenn mehrere Kausalketten

10.40

65 BGH v. 15.11.1960 – VI ZR 7/60, BGHZ 33, 286, 290; BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 51/70, BGHZ 55, 86, 92; BGH v. 16.1.2001 – X ZR 69/99, NJW 2001, 2538, 2539. 66 Deutsch Rz. 528; a.A. RG v. 12.7.1928 – VI 94/28, RGZ 121, 400, 402; BGH v. 16.1.2001 – X ZR 69/99, NJW 2001, 2538, 2539; MünchKomm-BGB/Wagner § 830 Rz. 49 (widerlegbare Kausalitätsvermutung). 67 BGH v. 11.1.1994 – VI ZR 41/93, NJW 1994, 932, 934; Staudinger/Eberl-Borges § 830 Rz. 70. 68 BGH v. 27.5.1987 – V ZR 59/86, BGHZ 101, 106, 113; OLG Celle v. 2.11.2000 – 14 U 277/99, VersR 2002, 1300, 1302; Larenz/Canaris § 82 II 2 e. 69 Dunz VersR 1985, 820 u Weber VersR 1985, 1004 gegen Fuchs-Wissemann VersR 1985, 219. 70 BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 358; BGH v. 22.5.1979 – VI ZR 82/78, VersR 1979, 822; MünchKomm-BGB/Wagner § 830 Rz. 60. 71 OLG Schleswig v. 24.5.1983 – 6 U 1/83, MDR 1983, 1023; MünchKomm-BGB/Wagner § 830 Rz. 62; a.A. RGRKomm/Steffen § 830 Rz. 17 m.w.N.; offen lassend BGH v. 11.5.1971 – VI ZR 211/69, NJW 1972, 40. 72 BGH v. 30.1.1973 – VI ZR 14/72, BGHZ 60, 177, 181 f.; OLG Bamberg v. 24.6.2003 – 5 U 21/02, NZV 2004, 30, 32; Looschelders Die Mitverantwortung des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 325 ff.; a.A. unter Anwendung von § 254 BGB OLG Celle v. 13.7.1950 – 5 U 83/50, NJW 1950, 951, 952; Larenz/Canaris § 82 II 3 c; Deutsch Rz. 527 jeweils m.w.N. 73 BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 309/80, VersR 1982, 878 = NJW 1982, 2307; Frommhold Jura 2003, 403, 409.

Greger | 223

§ 10 Rz. 10.40 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

durch denselben Schädiger hervorgerufen werden, jedoch nicht, wenn ein haftungsbegründendes und ein nicht haftungsbegründendes Verhalten desselben Schädigers als potentielle Ursachen zusammentreffen.74 Steht neben den am einheitlichen Vorgang beteiligten Alternativtätern ein (für einen gesonderten Schadensbeitrag verantwortlicher) Dritter als Nebentäter i.S.v. § 840 Abs. 1 BGB (Beispiel: der Verletzte fällt, von zwei Personen angestoßen, infolge des einen [welchen?] der Stöße in einen vom Dritten nicht gesicherten Kanalschacht), ist auf die Alternativtäter § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB anzuwenden, denn es müsste, auch wenn der wahre Hergang ersichtlich wäre, in jedem Fall einer von ihnen neben dem Dritten haften.75

10.41

(3) Unaufklärbarkeit, welcher der potenziellen Verursacher den Schaden tatsächlich verursacht hat. Hieran fehlt es, wenn einer der Schädiger für den gesamten Schaden haftet, weil feststeht, dass er ihn, wenn auch nur mittelbar, verursacht hat. Wird z.B. ein Radfahrer vom Pkw des A angefahren und sodann, weil er auf der Fahrbahn liegen bleibt, noch vom Pkw des B überrollt, und ist nunmehr streitig, ob bereits der erste oder erst der zweite Unfall den Tod des Radfahrers verursacht hat, so liegt kein Anwendungsfall des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB vor.76 Der Erstschädiger haftet nämlich nach den Grundsätzen der mittelbaren Verursachung (s. Rz. 3.79 ff.) in jedem Falle für die Tötung des Angefahrenen, und Sinn des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB ist es nicht, dem Geschädigten einen zusätzlichen Schuldner zu verschaffen.77 Dies gilt auch, wenn der Erstschädiger (z.B. wegen Unfallflucht) unbekannt oder wenn er insolvent ist; ebenso wenn der andere Beteiligte in größerem Umfang haften würde. Kann der Geschädigte in einem solchen Fall nicht beweisen, dass der Schaden vom Zweitschädiger verursacht wurde, dass also z.B. der Tod erst infolge des Zweitunfalls eintrat, so verwirklicht sich lediglich ein den Schadensersatzkläger typischerweise treffendes Beweisrisiko; er befindet sich nicht in dem für § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB charakteristischen „Alternativdilemma“,78 dass dem Geschädigten mehrere an der Gefährdungshandlung Beteiligte gegenüberstehen, er aber den Schadensverursacher nicht herauszufinden vermag.79

10.42

(4) Eignung des Verursachungsbeitrags eines jeden Beteiligten, den gesamten Schaden, für den er haftbar gemacht werden soll, herbeizuführen.80

10.43

(5) Verbindung der einzelnen Verursachungsbeiträge zu einem nach den Anschauungen des täglichen Lebens einheitlichen Vorgang.81 Die Einheitlichkeit wird in der Rechtsprechung 74 Wohl verkannt von BGH v. 16.1.2001 – X ZR 69/99, NJW 2001, 2538. Vgl. dazu Eberl-Borges NJW 2002, 949; Henne VersR 2002, 685; Frommhold Jura 2003, 403 ff.; Müller JuS 2002, 432. 75 BGH v. 22.6.1976 – VI ZR 100/75, BGHZ 67, 14, 20; BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355, 359. 76 BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355 = NJW 1979, 544, 1202 mit abl. Anm. Fraenkel; BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 309/80, VersR 1982, 878 = JR 1983, 62 mit Anm. Schneider; anders noch BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 51/70, BGHZ 55, 86, 89 f.; krit. Deutsch NJW 1981, 2731; Hartung VersR 1981, 696, 699; Gottwald KF 1986, 20. 77 BGH v. 22.6.1976 – VI ZR 100/75, BGHZ 67, 14; BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355, 358; krit. hierzu Bydlinski in FS Beitzke 18; vgl. auch 19. VGT (1981) S. 10. 78 BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355, 362. 79 Zu den Auswirkungen dieser Rspr. bei Massenauffahrunfällen s. Hartung VersR 1981, 696. 80 BGH v. 11.1.1994 – VI ZR 41/93, NJW 1994, 932, 934; MünchKomm-BGB/Wagner § 830 Rz. 76; abw. Benicke Jura 1996, 127, 132. 81 BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355, 359; gegen ein solches Erfordernis MünchKomm-BGB/Wagner § 830 Rz. 77 und Müller NJW 2002, 2841, 2842; offen lassend BGH v. 27.5.1987 – V ZR 59/86, BGHZ 101, 106, 112.

224 | Greger

III. Widerrechtlichkeit | Rz. 10.46 § 10

weit gefasst; dabei ist die Gleichartigkeit der Gefährdung von besonderer Bedeutung.82 Nicht erforderlich ist, dass die Gefährdungshandlungen sich gleichzeitig abspielen oder dass ein subjektiver Zusammenhang zwischen den Haftenden besteht; sachlicher, räumlicher und zeitlicher Zusammenhang genügt.83

c) Umfang Die Haftung nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB geht, wenn für die Alternativtäter unterschiedliche Haftungsquoten zum Tragen kämen, stets nur bis zur geringsten hypothetischen Haftungsquote, da nur erwiesene Verursachungsbeiträge in die Abwägung eingesetzt werden dürfen.84

10.44

III. Widerrechtlichkeit 1. Allgemeines Ein wesentlicher Unterschied zu der an die Betriebsgefahr des Kfz anknüpfenden Haftung nach § 7 StVG (s. Rz. 3.1) besteht darin, dass nur die widerrechtliche Verletzung des fremden Rechtsguts zur deliktischen Haftung führt. Allerdings wird von der die Rechtsprechung85 beherrschenden, im Schrifttum86 vielfach modifizierten Lehre vom Erfolgsunrecht jede den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB erfüllende Rechtsgutsverletzung als widerrechtlich angesehen, sofern nicht ein spezieller Rechtfertigungsgrund eingreift; nicht haftungswürdige Schadensfälle werden bei dieser Sicht erst auf der Verschuldensebene, d.h. mittels des Fahrlässigkeitsmerkmals, ausgeschieden. Für die nur mittelbar zur Rechtsgutsverletzung führenden Handlungen oder Unterlassungen stellt die Rechtsprechung auf die Verletzung einer Verkehrspflicht ab.87 Einer modernen, europäisch orientierten Sichtweise entspricht es, den Deliktstatbestand einheitlich dahingehend zu strukturieren, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit zusammen mit der Schutzbereichs- oder Rechtsgutsverletzung den Tatbestand konstituieren, der als rechtswidrig zu qualifizieren ist, falls nicht ausnahmsweise ein Rechtfertigungsgrund (s. Rz. 10.46 ff.) eingreift.88

10.45

2. Rechtfertigungsgründe a) Notstand, Notwehr Eine Rechtfertigung durch Notstand kann gelegentlich praktische Bedeutung haben; sie greift z.B. ein, wenn jemand, um der Verletzung durch ein Fahrzeug zu entgehen, dieses (§ 228 BGB) oder eine andere Sache, z.B. den Gartenzaun beim Ausweichmanöver (§ 904 BGB), be-

82 BGH v. 15.11.1960 – VI ZR 7/60, BGHZ 33, 286, 292; BGH v. 27.5.1987 – V ZR 59/86, BGHZ 101, 106, 112. 83 BGH v. 23.9.1969 – VI ZR 37/68, NJW 1969, 2136. 84 BGH v. 7.11.1978 – VI ZR 128/76, BGHZ 72, 355, 363; BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 309/80, VersR 1982, 878 = JR 1983, 62 mit Anm. Schneider. 85 Vgl. BGH (GrS) v. 4.3.1957 – GSZ 1/56, BGHZ 24, 21, 24. 86 Übersichtlicher Nachweis bei MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 5 ff. 87 Zu deren dogmatischer Einordnung s. Rz. 10.8; zu den Verkehrspflichten im Einzelnen §§ 13, 14. 88 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 26.

Greger | 225

10.46

§ 10 Rz. 10.46 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

schädigt. Notwehr (§ 227 BGB) kommt in Betracht, wenn ein Kraftfahrer in seinem Fahrzeug bedroht wird und beim Fluchtversuch einen Angreifer anfährt.89

b) Einwilligung 10.47

Eine gewisse Bedeutung hat in letzter Zeit der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung erlangt, da in nicht unerheblichem Umfang fingierte Fahrzeugkollisionen zum Zwecke des Versicherungsbetruges herbeigeführt werden. Die Einwilligung muss der in Anspruch genommene Versicherer beweisen (s. hierzu Rz. 41.53; zum Ausschluss der Gefährdungshaftung bei Nichtvorliegen eines echten Unfalls s. Rz. 3.34 ff.; zu den prozessrechtlichen Fragen, die sich aus dem Interessenkonflikt mit dem Versicherungsnehmer ergeben, s. Rz. 15.37).

10.48

Der in Rechtsprechung und Schrifttum verschiedentlich erörterte Fall, dass lediglich dem Fahrer, nicht aber dem Eigentümer des beschädigten Fahrzeugs die Verabredung des „Unfalls“ nachgewiesen werden kann, dürfte bei sachgerechter und lebensnaher Beweiswürdigung90 kaum vorkommen (immerhin ist der Eigentümer i.d.R. der Nutznießer der Aktion). Muss gleichwohl von Gutgläubigkeit des Eigentümers ausgegangen werden, so kann sich der Haftpflichtversicherer i.d.R. wegen der vorsätzlichen Schadensherbeiführung auf den Risikoausschluss des § 103 VVG berufen (wegen etwaiger Ansprüche gegen die Verkehrsopferhilfe s. § 12 Abs. 1 Nr. 3 PflVG; hierzu s. Rz. 15.72 ff.). Ist jedoch auch auf der Schädigerseite der Fahrzeughalter gutgläubig (z.B. weil, wie häufig, ein Mietwagen benutzt wird), so kommt eine Eintrittspflicht für die Halterhaftung nach § 7 StVG in Betracht,91 die i.d.R. zu einer Schadensteilung nach § 17 Abs. 2 StVG führen wird.92 § 9 StVG ist hier nicht anwendbar und würde im Übrigen ebenfalls nur eine Reduzierung, keinen Ausschluss der Haftung bewirken.93 Für eine Zurechnung der Einwilligung des Fahrers zu Lasten des Eigentümers besteht keine Rechtsgrundlage.94

10.49

Auch zivilrechtliche Ansprüche wegen des Rammens eines Polizeifahrzeugs, das zum Stoppen eines Fluchtwagens in dessen Fahrspur gelenkt wurde, scheitern am Merkmal der Einwilligung.95 Soweit der BGH einen Anspruch aus § 823 BGB bejaht,96 übergeht er diesen Aspekt und stellt den Fall mit jenen gleich, in denen verfolgende Polizeibeamte ungewollt in einen Unfall verwickelt werden. Dies ist nicht nur rechtlich angreifbar, sondern auch im Ergebnis verfehlt: Es handelt sich um Aufwendungen zur Erfüllung hoheitlicher Sicherheitsaufgaben; 89 OLG Zweibrücken v. 14.6.2006 – 1 U 92/05, VersR 2007, 1088. 90 Vgl. OLG Celle v. 16.6.1988 – 5 U 199/87, NZV 1988, 182; Dannert NZV 1993, 13, 15 (allerdings unter unzutr. Heranziehung des Anscheinsbeweises, vgl. Rz. 41.65). Auch die Eigentümerstellung wird in solchen Fällen kritisch zu prüfen sein; vgl. OLG Hamm v. 25.3.1993 – 6 U 199/92, r+s 1993, 444; Lemcke r+s 1993, 121. 91 Vgl. BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 97/69, NJW 1971, 459; Dannert NZV 1993, 13, 14; s. auch Rz. 15.15. 92 OLG Hamm v. 28.9.1992 – 6 U 45/92, NZV 1993, 68; OLG Schleswig v. 15.11.1994 – 9 U 85/93, NZV 1995, 114. 93 Übersehen von OLG Stuttgart v. 19.1.1990 – 2 U 306/88, NZV 1990, 314; zutr. OLG Hamm v. 28.9.1992 – 6 U 45/92, NZV 1993, 68, 69 f. 94 Dafür aber (ohne Angabe einer Vorschrift) OLG Celle v. 26.7.1990 – 5 U 119/89, NZV 1991, 269 und Dannert NZV 1993, 13, 15; bei einem Repräsentanten vergleichbarer Stellung des Fahrers OLG Hamm v. 26.1.1998 – 13 U 128/97, OLGR Hamm 1998, 151. 95 OLG München v. 15.11.1996 – 10 U 3260/92, OLGR München 1997, 162, 163. 96 BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 43/11, NJW 2012, 1951; dazu krit. Mäsch JuS 2012, 1029 und aus versicherungsrechtlicher Sicht Schwab DAR 2012, 490 ff.

226 | Greger

IV. Subjektive Haftungsvoraussetzungen | Rz. 10.52 § 10

diese können nicht auf die Gemeinschaft der versicherten Kraftfahrer abgewälzt werden, sondern sind nach den sicherheitsrechtlichen Kostenvorschriften (Störerhaftung) geltend zu machen, hilfsweise vom Staat zu tragen.

c) Verkehrsrichtiges Verhalten des Schädigers Dieses ist entgegen einer Entscheidung des Großen Senats des BGH, die in Lehre und Rspr. kaum Gefolgschaft gefunden hat,97 kein Rechtfertigungsgrund für eine „an sich“ widerrechtliche Schädigung.98 Hier fehlt es i.d.R. bereits am objektiven Tatbestand (Verkehrspflichtverletzung, s. Rz. 10.8), jedenfalls am Verschulden. Zur Auswirkung dieser dogmatischen Einordnung bei der Haftung für Verrichtungsgehilfen s. Rz. 7.6.

10.50

IV. Subjektive Haftungsvoraussetzungen 1. Überblick Die Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB setzt eine vorsätzliche oder fahrlässige Pflichtwidrigkeit voraus. Der Theorienstreit darüber, ob diese Voraussetzung bereits beim Unrechtstatbestand (s. Rz. 10.45) oder erst auf einer eigenen Verschuldensebene zu prüfen ist, hat kaum praktische Bedeutung; mit der Anerkennung der Verkehrspflichten sind beide Kategorien ohnehin miteinander verschmolzen (s. Rz. 10.8). Siedelt man Vorsatz oder Fahrlässigkeit – beide sind im Zivilrecht gleichermaßen haftungsbegründend – auf der Tatbestandsebene an, ist auf der Verschuldensebene lediglich zu prüfen, ob besondere Schuldausschließungsgründe vorliegen (s. Rz. 10.59 ff.).

10.51

2. Vorsatz Im Verkehrshaftungsrecht spielt die Haftung für vorsätzliche, d.h. bewusste und gewollte Herbeiführung des schädigenden Ereignisses eine geringe Rolle, da § 823 Abs. 1 BGB an die fahrlässige Begehungsweise dieselbe Rechtsfolge knüpft. Anders verhält es sich, wenn die Haftung aus einem Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB abgeleitet und in diesem Vorsatz vorausgesetzt wird (s. Rz. 11.2). Außerdem kann das Vorliegen von Vorsatz eine Rolle für das Eingreifen eines Haftungsausschlusses spielen, z.B. nach § 276 Abs. 3 BGB (s. Rz. 22.30), § 105 Abs. 1 SGB VII (s. Rz. 22.141), § 103 VVG (s. Rz. 15.15). Wo Vorsatz gefordert wird, reicht bedingter Vorsatz, d.h. das bewusste Inkaufnehmen, aus;99 dass der Täter die Verursachung des Unfalls hätte erkennen können oder sogar müssen (etwa bei grob verkehrswidrigem Verhalten), genügt jedoch nicht, solange er davon ausgegangen ist, dass es nicht zu einem Unfall kommt.100 Selbstgefährdung schließt bedingten Vorsatz nicht aus.101 Der Vorsatz braucht 97 BGH (GrS) v. 4.3.1957 – GSZ 1/56, BGHZ 24, 21 = NJW 1957, 986 mit Anm. Bettermann; ausf. Wiethölter Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens (1960). 98 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 25; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 8; Larenz/Canaris § 79 III 2 c; offengelassen in BGH v. 28.4.1987 – VI ZR 66/86, VersR 1987, 906. 99 Seit RG v. 21.12.1933 – VI 196/33, RGZ 142, 48, 51 ständige Rspr.; Nachw. bei MünchKommBGB/Wagner § 826 Rz. 28. 100 Staudinger/Caspers § 276 Rz. 23. 101 Zu den hierbei anzustellenden Erwägungen s. BGH v. 6.8.2019 – 4 StR 255/19, NStZ-RR 2019, 343; BGH v. 1.3.2018 − 4 StR 399/17, NJW 2018, 1621, 1623; Burmann/Jahnke DAR 2020, 128, 129; Schneider NStZ 2018, 528 ff.

Greger | 227

10.52

§ 10 Rz. 10.52 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

sich nur auf die Rechtsgutsverletzung zu beziehen; nicht erforderlich ist, dass der Täter den Unfall in allen Einzelheiten, insbesondere auch Art und Umfang der Schadensfolgen, vorhergesehen hat.102 Zum Vorsatz gehört auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit103 (zum Verbotsirrtum s. Rz. 10.59).

3. Fahrlässigkeit a) Definition 10.53

Sie liegt nach § 276 Abs. 2 BGB bei demjenigen vor, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Hierbei darf nicht allein auf den objektiven Verstoß gegen eine Verhaltenspflicht, auch Verletzung der äußeren Sorgfalt genannt, abgestellt werden (s. Rz. 10.56). Es muss vielmehr ein subjektives Moment, das Außerachtlassen der inneren Sorgfalt, das Hinwegsetzen über Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit der Tatbestandsverwirklichung, hinzutreten,104 so z.B. dass der Pflichtenträger sich der Pflichtwidrigkeit nicht bewusst war, obwohl sie ihm bewusst werden konnte, oder dass er sich keine Gedanken gemacht hat.105 Häufig wird sich zwar die innere Fahrlässigkeit schon anhand des äußeren Sorgfaltsverstoßes feststellen lassen. Es geht aber zu weit, wenn der BGH106 ausführt, die Verletzung der äußeren Sorgfalt indiziere entweder die der inneren oder es spreche ein Anscheinsbeweis für die Verletzung der inneren Sorgfalt. Eine solche Gleichschaltung verkennt, dass in vielen Fällen die Vorwerfbarkeit eines Pflichtenverstoßes nur aufgrund von Umständen beurteilt werden kann, die sich einer typisierenden Betrachtungsweise entziehen.

b) Sorgfaltsmaßstab 10.54

Für die Prüfung von Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit ist nicht auf das Können, die Geistesgegenwart und die Entschlussfähigkeit der wegen Schadensersatz in Anspruch genommenen Person abzustellen, sondern ein objektiver Maßstab anzulegen, der auf einen besonnenen, gewissenhaften Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises (z.B. Kraftfahrer, Fußgänger, Halter) abstellt.107 Zwar sind an diesen angesichts der Gefährlichkeit des Straßenverkehrs strenge Anforderungen zu stellen; doch darf dies nicht dazu führen, jeden objektiven Verstoß gegen Verkehrsregeln als schuldhaft zu bezeichnen. Zu fordern ist nicht „jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt“ wie in § 17 Abs. 3 Satz 2 StVG, sondern nur die gewöhnliche Sorgfalt (zu dem allerdings nicht sehr erheblichen Unterschied s. Rz. 14.13). Das Unterlassen jeder denkmöglichen Sicherheitsmaßnahme stellt noch kein Verschulden dar; es genügt, dass ein Sicherheitsgrad erreicht wird, der nach der im betreffenden Bereich herrschenden Verkehrsauffassung für erforderlich erachtet wird.108 Maßstab bei der Haftung aus unerlaubter Handlung ist nicht der ideale Fahrer, der an alle Möglichkeiten denkt und in je-

102 Burmann/Jahnke DAR 2020, 128, 130 m.w.N. 103 Grundlegend RG v. 29.9.1909 – I 310/08, RGZ 72, 4, 6; s. auch BGH v. 16.6.1977 – III ZR 179/ 75, BGHZ 69, 128, 142 m.w.N.; Staudinger/Caspers § 276 Rz. 25 f.; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 152. 104 Larenz § 20 IV; Deutsch Rz. 385 ff. und JZ 1988, 993; v Bar Verkehrspflichten (1980) S. 175; Greger NJW 1992, 3267, 3270. 105 BGH v. 20.6.1978 – VI ZR 18/77, VersR 1978, 870; v Bar Verkehrspflichten (1980) S. 175. 106 BGH v. 12.3.1986 – IVa ZR 183/84, VersR 1986, 766. 107 BGH v. 31.5.1994 – VI ZR 233/93, NJW 1994, 2232; Staudinger/Caspers § 276 Rz. 32 ff.; Deutsch Rz. 403 ff.; v Bar Verkehrspflichten (1980) S. 177 f. 108 BGH v. 16.2.1972 – VI ZR 111/70, VersR 1972, 559.

228 | Greger

IV. Subjektive Haftungsvoraussetzungen | Rz. 10.57 § 10

der Situation optimal reagiert, sondern derjenige, der sein Verhalten auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausrichtet. Hierbei darf grundsätzlich auf verkehrsgerechtes Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer vertraut werden (sog. Vertrauensgrundsatz, s. Rz. 14.12). Eingerissene Verkehrsunsitten entlasten den Schädiger nicht.109 Dagegen begründen Fahrfehler und Fehlreaktionen infolge unvermuteter Gefahrensituationen nicht den Vorwurf der Fahrlässigkeit.110 Besondere persönliche Eigenschaften (etwa Sehschwäche, geringe Intelligenz) entlasten den Schädiger nicht.111 Bei Jugendlichen kann zwar grundsätzlich eine gruppenspezifische Betrachtung angestellt werden112 (s. Rz. 10.67); von älteren Kraftfahrern ist aber zu verlangen, dass sie Anzeichen für nachlassende Fahrtüchtigkeit erkennen und sich, ggf. mittels ärztlicher Beratung, vor Eintritt einer Fahrt vergewissern, ob sie das Defizit durch Erfahrung, Routine und Achtsamkeit ausgleichen können.113 Einem Fahrschüler ist Fahrlässigkeit nur anzulasten, wenn er richtige Maßnahmen unterlassen hat, obwohl er zu ihnen nach dem Grade seiner Ausbildung schon befähigt war und ihm eine geistige Hemmung, hervorgerufen durch die begründete Befürchtung, die erforderliche Maßnahme nicht richtig ausführen zu können, nicht mehr zugutezuhalten ist. Wer durch ein Kfz verletzt wurde, das von einem Fahrschüler gelenkt wurde, kann diesen also nur dann nach § 823 BGB in Anspruch nehmen, wenn er beweist, dass der für den Unfall ursächliche Fahrfehler nicht auf mangelhaftem Wissen oder Können beruht.114

10.55

Unter äußerer Sorgfalt, der zweiten Komponente des Fahrlässigkeitsbegriffs, ist das „sachgemäße“ Verhalten zu verstehen, d.h. das einer tatbestandlichen Verhaltensnorm oder den allgemeinen Anforderungen zum Schutz eines Rechtsguts vor Gefahren entsprechende Verhalten115 (z.B. die zweite Rückschau vor dem Linksabbiegen, die Einhaltung eines Sicherheitsabstands beim Überholen, die Abgabe eines Warnzeichens bei unklarem Verhalten eines Fußgängers). Dieses Fahrlässigkeitselement – eigentlich das grundlegende, denn auf die innere Sorgfalt kommt es nur an, wenn eine Verletzung der äußeren feststeht – stimmt überein mit den von der Rechtsprechung herausgearbeiteten „Verkehrspflichten“116 (näher hierzu s. Rz. 10.8).

10.56

c) Sonderfälle Abweichende Fahrlässigkeitsmaßstäbe können im Hinblick auf die ausdrückliche und abschließende Regelung in § 276 Abs. 2 BGB nur durch den Gesetzgeber begründet werden. Dies ist z.B. geschehen für das Verhältnis zwischen Ehegatten (§ 1359 BGB), zwischen El109 Deutsch Rz. 377 f. unter Bezugnahme auf die Prot. der Kommission für die II. Lesung des Entw. des BGB S. 604. 110 BGH v. 16.3.1976 – VI ZR 62/75, NJW 1976, 1504 (Reifenplatzen) m.w.N.; OLG Hamm v. 30.8.1983 – 9 U 46/83, VersR 1984, 1076 (plötzlich auftauchender Hund); OLG Hamm v. 21.1.1992 – 27 U 159/91, NZV 1992, 186 (Aufschaukeln eines Wohnanhängers); OLG Hamm v. 17.4.1996 – 13 U 197/95, NZV 1996, 410 (Ausweichen vor Rehen). S. auch Erman/Ulber § 276 Rz. 21 u. Rz. 14.40 ff. 111 BGH (GrS) v. 4.3.1957 – GSZ 1/56, BGHZ 24, 21, 27; BGH v. 9.6.1967 – VI ZR 11/66, VersR 1967, 808; Deutsch Rz. 399 f. 112 BGH v. 21.5.1963 – VI ZR 254/62, BGHZ 39, 281, 286; Deutsch Rz. 399 f. 113 BGH v. 20.10.1987 – VI ZR 280/86, NJW 1988, 909; Staudinger/Caspers § 276 Rz. 37; Erman/ Ulber § 276 Rz. 20. 114 OLG Düsseldorf v. 12.10.1965 – 4 U 166/65, NJW 1966, 736, 737. 115 Deutsch Rz. 390; U. Huber in FS E. R. Huber S. 265; Krit. Larenz § 20 IV. 116 v Bar Verkehrspflichten (1980) S. 175.

Greger | 229

10.57

§ 10 Rz. 10.57 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

tern117 und Kindern (§ 1664 Abs. 1 BGB) sowie zwischen Gesellschaftern (§ 708 BGB) durch Abstellen auf die Sorgfalt wie in eigenen Angelegenheiten: Hier wird der objektiv-typisierende Maßstab der inneren Fahrlässigkeit (s. Rz. 10.54) durch einen subjektiven ersetzt.118 Diese Haftungsprivilegierung gilt jedoch nach der Rechtsprechung nicht für die Haftung als Teilnehmer am Straßenverkehr. Hier greift der Grundsatz ein, dass die Sorgfaltsanforderungen bei allen Teilnehmern am Verkehr gleich sein müssen; niemand soll sich darauf berufen können, er verletze gewöhnlich die Verkehrsvorschriften119 (s. aber zu der evtl. eingreifenden Stillhaltepflicht zwischen Angehörigen Rz. 22.65). Kommt ein Kind jedoch im Straßenverkehr durch eine Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht (s. Rz. 14.316), also nicht durch unmittelbare Einwirkung eines Verkehrsverstoßes (etwa beim Führen eines Kfz) zu Schaden, soll das Haftungsprivileg des § 1664 Abs. 1 BGB nach h.M. in der OLG-Rechtsprechung zur Anwendung kommen.120 Dies führt zu Wertungswidersprüchen, weil in diesen Fällen zumeist auch andere Verkehrsteilnehmer geschädigt oder mit Haftungsfolgen belastet werden, und ist daher abzulehnen. Eine verkehrsbezogene Verhaltenspflicht ist in Bezug auf den Verschuldensvorwurf im Verhältnis zum Kind nicht anders zu qualifizieren als im Verhältnis zu einem sonstigen Verkehrsteilnehmer.

d) Gefährdungsausschluss 10.58

In der Rechtsprechung findet sich häufig die Formulierung, bei bestimmten Verkehrsvorgängen schulde der Kraftfahrer eine gesteigerte Sorgfalt, oft auch als „höchstmögliche“, „äußerste“ Sorgfalt o.ä. bezeichnet.121 Gestützt wird dies darauf, dass in den entsprechenden Vorschriften der StVO (z.B. über das Wenden [§ 9 Abs. 5] oder über das Ausfahren aus einem Grundstück [§ 10]) vom Kraftfahrer verlangt wird, sich so zu verhalten, „dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist“.122 Formulierungen in der amtlichen Begründung zur StVO 1970 und zu den durch spätere Änderungen eingefügten Vorschriften legen tatsächlich die Annahme nahe, dass der Verordnungsgeber einen von § 276 Abs. 2 BGB abweichenden Sorgfaltsmaßstab normieren wollte.123 Dies ist jedoch wegen des Vorrangs des Gesetzes nicht möglich. Die „Gefährdungsausschlusstatbestände“ der StVO können daher nur so verstanden werden, dass sie den Kraftfahrer in den betreffenden Verkehrssituationen zu besonders umsichtigem Verhalten aufrufen sollen. Der Kraftfahrer schuldet auch in diesen Fällen nicht mehr als die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ des § 276 Abs. 2 BGB; ihm soll

117 Nicht übertragbar auf andere Personen; BGH v. 17.10.1995 – VI ZR 358/94, NZV 1996, 64. 118 Vgl. Deutsch Rz. 429 ff. 119 BGH v. 11.3.1970 – IV ZR 772/68, BGHZ 53, 352; BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 110/86, NJW 1988, 1208. 120 OLG Hamm v. 20.1.1992 – 6 U 183/91, NJW 1993, 542; OLG Hamm v. 17.8.1993 – 27 U 144/ 92, NZV 1994, 68; OLG Karlsruhe v. 3.5.2012 – 1 U 186/11, NJW 2012, 3043; OLG Bamberg v. 14.2.2012 – 5 U 149/11, NJW 2012, 1820 mit abl. Anm. Werkmeister; Staudinger/Heilmann § 1664 Rz. 33; MünchKomm-BGB/Huber § 1664 Rz. 12; a.A. OLG Stuttgart v. 28.3.1980 – 2 U 178/79, VersR 1980, 952; Sundermann JZ 1989, 927, 933 ff.; Lang NZV 2013, 214, 216 ff. m.w.N. 121 Z.B. BGH v. 25.4.1985 – III ZR 53/84, VersR 1985, 835; OLG Karlsruhe v. 9.10.1987 – 14 U 229/85, VersR 1989, 925; OLG Hamm v. 14.6.1978 – 3 U 121/78, VersR 1979, 266; OLG München v. 4.4.1989 – 5 U 5254/88, NZV 1990, 274. Weitere Nachw. bei Greger NJW 1992, 3267, 3269. 122 Weitere Vorschriften dieser Art: § 2 Abs. 3a, § 3 Abs. 2a, § 5 Abs. 4, § 7 Abs. 5, §§ 14, 20 Abs. 2 StVO. 123 Näher Greger NJW 1992, 3267, 3268.

230 | Greger

IV. Subjektive Haftungsvoraussetzungen | Rz. 10.61 § 10

nur, gewissermaßen mittels „psychologischer Schockwirkung“,124 verdeutlicht werden, dass hierzu in den genannten Verkehrssituationen ein besonders umsichtiges Verhalten gehört. Gegen eine solche Normtechnik bestehen Bedenken. Beim Wort genommen verlangen die betreffenden Vorschriften etwas Unmögliches, denn bei der Komplexität des heutigen Verkehrsgeschehens kann eine Gefährdung anderer kaum jemals völlig ausgeschlossen werden. Es bleibt also unklar, welches Verhalten die Vorschriften anordnen. Damit verstoßen sie gegen das Bestimmtheitsgebot125 (s. Rz. 14.112, 14.192). In der Rechtsprechung werden sie häufig zur Begründung eines Anscheinsbeweises für schuldhaftes Handeln und eine daraus abgeleitete Alleinhaftung wegen erhöhter Betriebsgefahr herangezogen; dies ist fehlerhaft, soweit hierbei vom Erfordernis des typischen Geschehensablaufs abgesehen wird (s. Rz. 41.56).

4. Schuldausschluss durch Irrtum Irrte der Schädiger über die Tatbestandsverwirklichung oder über die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens, so kann ihm grundsätzlich kein Vorsatz angelastet werden (s. Rz. 10.52). Handelt es sich allerdings um die Verletzung eines Schutzgesetzes (§ 823 Abs. 2 BGB) aus dem Strafoder Ordnungswidrigkeitenrecht, so erfasst der dort geltende Grundsatz, dass nur der unvermeidbare Verbotsirrtum entlastet (§ 17 StGB, § 11 Abs. 2 OWiG), auch die zivilrechtliche Haftung.126 Die Beweislast für den Verbotsirrtum trägt der, der sich darauf beruft.

10.59

Ist der Vorsatz wegen Verbotsirrtums zu verneinen, kommt gleichwohl Haftung wegen Fahrlässigkeit in Betracht. Vom Fahrlässigkeitsvorwurf entlasten kann nur der Irrtum, der entschuldbar ist, d.h. nicht seinerseits auf Fahrlässigkeit beruht.127

10.60

Zur erforderlichen Sorgfalt i.S.d. § 276 Abs. 2 BGB gehört es auch, die Rechtmäßigkeit des eigenen Verhaltens zu überprüfen und sich hierüber zu informieren. Daher entlastet nur der entschuldbare Rechtsirrtum den Schädiger auch vom Fahrlässigkeitsvorwurf.128 An die Entschuldbarkeit sind hierbei strenge Anforderungen zu stellen. Die für ihn geltenden Verkehrsvorschriften muss jeder Verkehrsteilnehmer kennen, über Änderungen muss er sich auf dem Laufenden halten. Grundsätzlich muss er auch über die Konkretisierung der Verkehrsvorschriften durch die Rechtsprechung Bescheid wissen,129 doch dürfen die Anforderungen hier nicht überspannt werden. Kann sich der Schädiger für seine Rechtsansicht auf die Entscheidung eines Kollegialgerichts berufen, so wird sein Irrtum i.d.R. zu entschuldigen sein, es sei denn, es wäre für ihn erkennbar gewesen, dass es sich bei der Entscheidung um eine allgemein für unvertretbar gehaltene Abweichung von der h.M. gehandelt hat. Bei zweifelhafter Rechtslage darf er sich nicht seine eigene Rechtsanschauung zurechtlegen; vielmehr muss er sich so verhalten, dass Gefahren möglichst vermieden werden.

10.61

124 Mühlhaus DAR 1975, 233, 244; ähnlich Krümpelmann in FS Lackner (1987) S. 302. 125 Näher Greger NJW 1992, 3267, 3272 f. 126 BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 222/82, NJW 1985, 135; BGH v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 381; BGH v. 15.5.2012 – VI ZR 166/11, NJW 2012, 3177, 3180; a.A. Mayer-Maly AcP 170 (1970), 133, 159 ff.; Dörner JuS 1987, 522, 527; Deutsch VersR 2004, 137, 140. S. auch Rz. 11.66. 127 Vgl. Deutsch Rz. 409. 128 Erman/Ulber § 276 Rz. 26 m.w.N. 129 Krit. hierzu Westerhoff NJW 1985, 457.

Greger | 231

§ 10 Rz. 10.62 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

5. Schuldunfähigkeit a) Überblick 10.62

Nicht zurechnungsfähig sind Bewusstlose oder krankhaft Geistesgestörte, die sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befinden (§ 827 BGB; zur Bedeutung der Norm im Deliktsaufbau und zur Beweislast s. Rz. 10.6), sowie Kinder, die das siebente Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 828 Abs. 1 BGB). Sonderregeln für Taubstumme bestehen nicht mehr. Ihre besondere Situation ist nach den allgemeinen Regeln bei der Beurteilung des Verschuldens objektiv gruppenbezogen zu berücksichtigen.130 Zum Erfordernis der Schuldfähigkeit bei der Anrechnung von Mitverschulden s. Rz. 25.24 ff., zur Möglichkeit einer Billigkeitshaftung bei Deliktsunfähigkeit s. Rz. 10.75 ff.

b) Bewusstlosigkeit oder Geistesstörung 10.63

Diese Schuldausschlussgründe nach § 827 Satz 1 BGB können durch Krankheit oder krankhafte Erscheinungen (Blutdruckschwankungen, Fieber, Epilepsie u.a.), aber auch durch Medikamente, Alkohol oder andere Rauschmittel herbeigeführt werden.131 Die bloße Minderung der Verstandes- oder Willenskraft stellt keinen die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand dar. Deshalb kann ein wegen einer Krankheit oder Behinderung unter Betreuung Stehender (§ 1896 BGB) schuldfähig sein. Auch der Unfall selbst kann einen Unfallschock hervorrufen, der zur Bewusstseinsstörung führt, so dass der Betroffene für im Schock vorgenommene Handlungen nicht verantwortlich ist. Eine solche Gesundheitsfolge des Unfalls ist aber nur in außergewöhnlichen Fällen denkbar.132

10.64

Für die alkoholbedingte Unzurechnungsfähigkeit gibt es keine bestimmte Promillegrenze; Fahruntüchtigkeit genügt nicht.133 Suizid beruht in hohem Maße auf krankheitsbedingter Beeinträchtigung der Willensbestimmung.134

10.65

Trotz Bewusstseinsstörung haftet der Unfallverursacher, wenn er durch Alkohol oder sonstige berauschende Mittel schuldhaft in diesen Zustand geraten ist (§ 827 Satz 2 BGB). Auch ansonsten kann sich eine Verantwortlichkeit für den im Zustand der Schuldunfähigkeit verursachten Unfall daraus ergeben, dass sich der Schädiger nicht über seine Fahrtüchtigkeit vergewissert hat (s. Rz. 14.8 f.). Während der Schädiger beweisen muss, dass er sich in einem schuldausschließenden Zustand (§ 827 Satz 1 BGB) befunden hat, muss der Geschädigte beweisen, dass dieser diesen Zustand hätte erkennen können (§ 827 Satz 2 BGB).135

130 Geigel/Haag Kap. 16 Rz. 15. 131 Nach AG Dortmund v. 18.4.1991 – 118 C 7309/90, NZV 1992, 325 auch durch einen Hustenanfall wegen Verschluckens eines Bonbons. 132 BGH v. 27.1.1966 – II ZR 5/64, VersR 1966, 458. 133 OLG Köln v. 7.6.1994 – 9 U 70/94, VersR 1995, 205; OLG Frankfurt v. 14.4.1999 – 7 U 87/98, VersR 2000, 883 (selbst 3–3,3‰); OLG Oldenburg v. 13.7.1994 – 2 U 92/94, r+s 1996, 509 (Fußgänger mit mehr als 2 ‰). 134 Harrer/Mitterauer VersR 2007, 579 ff. m.w.N. 135 OLG Saarbrücken v. 12.2.1998 – 3 U 529/96-88, VersR 2000, 1427.

232 | Greger

IV. Subjektive Haftungsvoraussetzungen | Rz. 10.69 § 10

c) Minderjährige Bei Kindern und Jugendlichen ist – auch für die Beweisführung – die Frage des Verschuldens (Fahrlässigkeit/Vorsatz, § 276 BGB) von der Frage der Deliktsfähigkeit (§ 828 BGB) zu unterscheiden.

10.66

aa) Verschulden Der Verschuldensnachweis obliegt dem Kläger. Er hat zu beweisen, dass der Jugendliche nach den Maßstäben des § 276 BGB schuldhaft gehandelt hat, d.h. dass er die konkrete Gefährlichkeit seines Verhaltens erkennen konnte. Zwar ist das Maß der erforderlichen Sorgfalt, die der Täter beobachtet haben muss, um frei von Haftung zu sein, nach objektiven Maßstäben zu bemessen. Hierbei muss aber das jugendliche Alter berücksichtigt werden.136 Fährlässigkeit liegt also nur vor, wenn ein Angehöriger der betreffenden Altersgruppe die Gefährlichkeit seines Tuns unter den zurzeit der Tat gegebenen Umständen hätte erkennen müssen.137 Da es nur auf die Merkmale der Altersgruppe ankommt, haben die individuelle Willensfähigkeit des Jugendlichen und sein persönliches Hemmungsvermögen außer Betracht zu bleiben.

10.67

Beispiele (teilweise zum Mitverschulden): Ein über 7 Jahre altes, normal entwickeltes Kind kann erkennen, dass es gefährlich ist, wenn es ohne Beachtung des Fahrverkehrs eine verkehrsreiche Straße überquert.138 Dagegen kann von ihm nicht das Bewusstsein erwartet werden, dass es falsch ist, die Straße schräg zu überqueren, um den Abstand zum herannahenden Verkehr zu vergrößern.139 Ein Achtjähriger weiß, dass das Abspringen von einem Lkw gefährlich ist140 und dass es gefahrträchtig ist, während einer Vorwärtsfahrt mit dem Rad nach rückwärts zu schauen.141

10.68

bb) Deliktsfähigkeit Die Verantwortlichkeit des Minderjährigen für seine schuldhaft begangene Handlung richtet sich nach § 828 BGB, der bei Unfällen ab 1.8.2002 drei Altersstufen unterscheidet: – Kinder, die noch nicht das 7. Lebensjahr vollendet haben, sind auch weiterhin nicht deliktsfähig (§ 828 Abs. 1 BGB); – Kinder zwischen dem 7. und 10. Lebensjahr haften bei einem Unfall mit einem Kfz,142 einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn grundsätzlich nicht (§ 828 Abs. 2 BGB; näher Rz. 10.71); – Minderjährige, die das 10. Lebensjahr schon vollendet haben, oder für deren Haftungsfall Abs. 2 keine Anwendung findet, sind nach Abs. 3 nicht verantwortlich, wenn sie bei Begehung der schädigenden Handlung nachweislich nicht die erforderliche Einsichtsfähigkeit

136 BGH v. 16.6.1964 – VI ZR 68/63, VersR 1964, 1023. 137 BGH v. 22.11.1966 – VI ZR 58/65, VersR 1967, 158; BGH v. 27.1.1970 – VI ZR 157/68, VersR 1970, 374; Überblick bei Geigel/Haag Kap. 16 Rz. 14. 138 BGH v. 3.6.1966 – VI ZR 191/64, VersR 1966, 831; OLG Stuttgart v. 12.7.1991 – 2 U 190/90, NZV 1992, 185. 139 OLG Schleswig v. 12.5.1993 – 9 U 39/92, NZV 1993, 471. 140 KG v. 25.10.1965 – 12 U 2296/64, VersR 1966, 297. 141 OLG Celle v. 19.2.2020 – 14 U 69/19, NJW-RR 2020, 407, 409. 142 Nicht bei Kollision mit einem Radfahrer; krit. Ch. Huber NZV 2013, 6, 9. Zur Einordnung der Elektrofahrräder s. Rz. 3.16.

Greger | 233

10.69

§ 10 Rz. 10.69 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

hatten. Bei Unfällen vor dem 1.8.2002 galt dies bereits ab Vollendung des 7. Lebensjahrs (§ 828 Abs. 2 BGB a.F., Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB).143

10.70

Die Darlegungs- und Beweislast für diesen Ausschlussgrund trägt der Minderjährige; die Neufassung des § 828 Abs. 2 BGB hat hieran für Unfälle vor 1.8.2002 nichts geändert.144

10.71

Das Haftungsprivileg für Kinder zwischen dem 7. und 10. Lebensjahr (§ 828 Abs. 2 BGB) ist jedoch dann nicht gerechtfertigt, wenn sich im konkreten Fall keine typische Überforderung durch die Gefahren des motorisierten Verkehrs bzw. des Bahnverkehrs145 realisiert hat.146 Der BGH hat deshalb im Wege einer teleologischen Reduktion Unfälle im ruhenden Verkehr grundsätzlich von dem Haftungsprivileg ausgenommen: Beschädigt das Kind ein ordnungsgemäß geparktes Kfz, muss es haften.147 Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt: So kann sich etwa dann, wenn sich Personen an den geöffneten Türen des geparkten Pkw befunden haben, eine verkehrstypische Gefahrenlage für das auf dem Fahrrad herankommende Kind ergeben,148 ebenso wenn das geparkte Fahrzeug etwas in den vom Kind mit dem Rad befahrenen Gehweg ragt149 oder verkehrswidrig auf der linken Fahrbahnseite steht.150 Erst recht handelt es sich dann, wenn das Kind mit seinem Fahrrad gegen ein verkehrsbedingt haltendes Kfz fährt, um eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, Komplexität und Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr; darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten, kommt es dann für seine Haftungsbefreiung nicht an.151 Ebenso greift die Privilegierung ein, wenn das Kind auf dem Bürgersteig sein Fahrrad loslässt, damit es von alleine weiterrollt, und das führungslose Fahrrad auf die Fahrbahn gegen das zu diesem Zeitpunkt vorbeifahrende Kfz rollt; ob das Kind überhaupt damit gerechnet hat, dass das führungslose Fahrrad auf die Straße rollen kann, ist unerheblich.152 Auch wenn der Jugendliche Insasse eines der in § 828 Abs. 2 BGB genannten Fahrzeuge war, ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine typische Überforderung vorlag.153

10.72

Den Beweis eines Sachverhalts, bei dem sich die typische Überforderungssituation durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs nicht realisiert hat, muss der Geschädigte führen, der sich auf diese Ausnahme von der Haftungsfreistellung nach § 828 Abs. 2 BGB beruft.154 – Nach § 828 Abs. 2 Satz 2 BGB entfällt die Haftungsfreistellung, wenn die Verlet143 Zu pauschal daher OLG Schleswig v. 18.12.2002 – 9 U 63/01, NZV 2003, 188, 189. 144 BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 181/04, NZV 2005, 460; OLG Celle v. 17.7.2003 – 14 U 190/02, NZV 2004, 360. 145 Dazu Filthaut NZV 2003, 161 ff. 146 BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 335/03, BGHZ 161, 180. Dazu Ch. Huber DAR 2005, 171; Oechsler NJW 2009, 3185 ff. 147 BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 335/03, BGHZ 161, 180, 185; BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 365/03, NJW 2005, 356; BGH v. 21.12.2004 – VI ZR 276/03, NZV 2005, 185. Weiter gehend Jaklin/Middendorf VersR 2004, 1104 ff. 148 BGH v. 11.3.2008 – VI ZR 75/07, NZV 2009, 77. 149 BGH v. 30.6.2009 – VI ZR 310/08, NJW 2009, 3231. 150 LG Saarbrücken v. 20.11.2009 – 13 S 133/09, NJW 2010, 944. 151 BGH v. 17.4.2007 – VI ZR 109/06, BGHZ 172, 83. 152 BGH v. 16.10.2007 – VI ZR 42/07, NJW 2008, 147. 153 Vgl. Pardey DAR 2004, 499, 505 f.; a.A. für Bahnfahrzeuge Filthaut NZV 2003, 161, 162. 154 BGH v. 30.6.2009 – VI ZR 310/08, NJW 2009, 3231. Krit. hierzu Oechsler NJW 2009, 3185, 3187.

234 | Greger

IV. Subjektive Haftungsvoraussetzungen | Rz. 10.74 § 10

zung vorsätzlich herbeigeführt wurde. Um den vom Gesetzgeber bezweckten Schutz des Minderjährigen zu gewährleisten, muss sich dieser Vorsatz auch auf den Verletzungserfolg und nicht nur auf die Verletzungshandlung beziehen.155 – Soweit das Haftungsprivileg nach Abs. 2 nicht eingreift, richtet sich die Verantwortlichkeit der 7- bis 10-Jährigen nach Abs. 3 (Rz. 10.73). Der Minderjährige über 10 Jahre (bei Unfällen vor 1.8.2002 sowie außerhalb des motorisierten Verkehrs: über 7 Jahre; s. Rz. 10.69) muss für die Haftungsbefreiung nach § 828 Abs. 3 BGB nachweisen, dass er die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht nicht besessen hat.156 Hier kommt es auf die Eigenschaften des Täters an, vor allem die, in denen er sich von seinen Altersgenossen unterscheidet.157 Maßgebend ist hier nicht, ob er den schädlichen Erfolg seines Tuns oder Unterlassens vorhersehen konnte, sondern lediglich, ob er das Unrecht seines Tuns oder Unterlassens erkennen konnte.158 Im Allgemeinen hat ein Minderjähriger Unrechtseinsicht, wenn er die Gefährlichkeit seines Verhaltens kennt159 oder wenn er fähig gewesen wäre, sie zu erkennen. Beim Führen eines Kfz im Rahmen des Modellversuchs „Begleitetes Fahren ab 17“ (§ 6e StVG) oder als Schwarzfahrer entsprechenden Alters kann die Einsichtsfähigkeit vorausgesetzt werden.160 Hatte der Minderjährige zwar die erforderliche Einsicht, war er aber nicht in der Lage, dieser Einsicht entsprechend zu handeln, so entfällt seine Haftung nicht.161

10.73

cc) Haftungsumfang Liegen Verschulden und Deliktsfähigkeit vor, so haftet der Jugendliche uneingeschränkt. Eine Begrenzung bei leichter Fahrlässigkeit, Existenzgefährdung des Jugendlichen und Versicherungsschutz des Opfers ist weder aus dem Gesetz noch aus der Verfassung abzuleiten162 (allgemein zum Übermaßverbot s. Rz. 22.66). Erst recht ist es nicht möglich, die „Wertungen und Zielsetzungen des Jugendstrafrechts“ als Argumente für eine Haftungsbeschränkung he-

155 So auch Pardey DAR 2004, 499, 506. 156 BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 181/04, NZV 2005, 460 m.w.N. Für Umkehr der Beweislast bis zum 14. Lebensjahr de lege ferenda und für „einfühlsamere“ Rspr. auf Basis verkehrspsychologischer Gutachten Ch. Huber NZV 2013, 6, 8 f. Kritik an zu schematischer Rspr. auch bei Lang NZV 2013, 161, 164 ff. 157 Zu den medizinischen und psychologischen Grundlagen der Entscheidung über die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit s. Neuhaus, VGT 1991, 72 ff. 158 BGH v. 20.1.1987 – VI ZR 182/85, NJW 1987, 1947; MünchKomm-BGB/Wagner § 828 Rz. 11. 159 BGH v. 28.2.1984 – VI ZR 132/82, NJW 1984, 1958; MünchKomm-BGB/Wagner § 828 Rz. 12. Sehr weitgehend OLG Celle v. 19.2.2020 – 14 U 69/19, NJW-RR 2020, 407, 408 (unvorsichtig radfahrende 8-Jährige). 160 Fischinger/Seibl NJW 2005, 2886, 2887; einschr. Brock DAR 2006, 63, 64. 161 BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 335/03, BGHZ 161, 180, 187; BGH v. 10.3.1970 – VI ZR 182/68, NJW 1970, 1038; MünchKomm-BGB/Wagner § 828 Rz. 10. 162 Pardey DAR 2013, 2 f.; a.A. OLG Celle v. 26.5.1989 – 4 U 53/88, VersR 1989, 709 mit Anm. Lorenz; LG Dessau v. 25.9.1996 – (6) 8 O 853/96, VersR 1997, 242 (unzulässige Vorlage; s. dazu BVerfG v. 13.8.1998 – 1 BvL 25/96, VersR 1998, 1289). Ähnlich LG Bremen v. 15.2.1991 – 6 O 2866/89, 6 O 1218/90, NJW-RR 1991, 1432: Regressklage des Versicherers sei wegen Rechtsmissbrauchs zurzeit unbegründet. BerlVerfGH v. 14.12.2009 – VerfGH 31/09, NJW-RR 2010, 1141 verlangt eine dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit des Jugendlichen Rechnung tragende Anwendung des Haftungs- und Prozessrechts.

Greger | 235

10.74

§ 10 Rz. 10.74 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

ranzuziehen.163 Demgegenüber wird zu Recht geltend gemacht, dass sich das Problem der existenzgefährdenden Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht nur bei Jugendlichen stellt.164

V. Billigkeitshaftung 1. Anwendungsbereich 10.75

Nach § 829 BGB kann derjenige, der auf Grund Deliktsunfähigkeit gem. §§ 827, 828 BGB von der Haftung für eine gem. §§ 823 bis 826 BGB begangene Handlung befreit ist, zu einer Haftung aus Gründen der Billigkeit herangezogen werden. Dies gilt auch bei der Feststellung eines Mitverschuldens nach § 254 BGB (s. Rz. 25.26).

10.76

Die Rechtsprechung befürwortet eine entsprechende Anwendung für den Fall, dass ein Jugendlicher zwar einsichtsfähig ist, aber aus altersgruppenbedingten Gründen nicht fahrlässig gehandelt hat (s. Rz. 10.67).165 Dem ist nicht zuzustimmen.166 Der vom Gesetzgeber bewusst eng gefasste § 829 BGB würde sonst über den Bereich der Schuldunfähigkeit hinaus auf Fälle fehlender Fahrlässigkeit erstreckt und müsste dann konsequenterweise stets angewendet werden, wenn dem Schädiger kein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann. Verursacht dagegen ein Kfz-Führer infolge plötzlicher Bewusstlosigkeit einen Schaden, für den er aus diesem Grunde nicht verantwortlich ist, so kann die Billigkeit es erfordern, ihn zum teilweisen Ersatz des Schadens heranzuziehen.167 Die Billigkeitshaftung kann neben die Gefährdungshaftung treten, sofern die Billigkeit einen über diese hinausgehenden Schadensausgleich erfordert.168

2. Voraussetzungen a) Keine Haftung Aufsichtspflichtiger 10.77

Die Gründe, warum von einem Aufsichtspflichtigen kein Ersatz erlangt werden kann, können auf tatsächlichem (Fehlen eines Aufsichtspflichtigen; Vermögenslosigkeit des Aufsichtspflichtigen) oder rechtlichem Gebiet liegen.

b) Keine Entziehung des Unterhalts 10.78

Handelt es sich um ein unterhaltsberechtigtes Kind, so werden ihm die Mittel zu standesgemäßem Unterhalt nicht entzogen, soweit es den Unterhalt von seinen Eltern erhält. Zu berücksichtigen sind nur solche Kosten des standesgemäßen Unterhalts, deren Entstehung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.169

163 So Kuhlen JZ 1990, 273 (sogar zu Lasten des nicht versicherten Opfers). 164 Lorenz VersR 1989, 711, 712; Canaris JZ 1990, 679. Gesetzgeberischen Handlungsbedarf verneinend auch die Bundesregierung in BT-Drucks. 11/6628. 165 BGH v. 21.5.1963 – VI ZR 254/62, BGHZ 39, 281 = JZ 1964, 99 mit Bespr. Deutsch JZ 1964, 86; OLG Braunschweig v. 23.12.1953 – 2 U 60/53, VersR 1954, 460; ebenso MünchKomm/Wagner § 829 Rz. 8; Geigel/Haag Kap. 16 Rz. 22. 166 Wilts VersR 1963, 1098; Böhmer MDR 1964, 278. 167 BGH v. 15.1.1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90. 168 BGH v. 15.1.1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90; RGRKomm/Steffen § 829 Rz. 4. 169 OLG Stuttgart v. 13.10.1960 – 2 U 95/60, VersR 1961, 455.

236 | Greger

V. Billigkeitshaftung | Rz. 10.83 § 10

c) Billigkeit Die Billigkeit muss die Ersatzpflicht erfordern, nicht nur erlauben.170 Für die (angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift hoch anzusetzende) Erforderlichkeit sind insbesondere die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung bedeutsam; es muss ein „wirtschaftliches Gefälle“ zugunsten des Schädigers vorliegen.171 Außerdem sind die gesamten Umstände des Falles zu berücksichtigen, etwa die Besonderheiten der die Schadensersatzpflicht auslösenden Handlung sowie Anlass, Hergang und Folgen der Tat, ggf. auch eine Selbstaufopferung des Geschädigten.172

10.79

Das Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung kann für sich allein eine Billigkeitshaftung nicht begründen.173 Für den Bereich der Pflichtversicherung hat der BGH indessen unter Hinweis auf deren zugleich opferschützende Funktion eine Durchbrechung des versicherungsrechtlichen Trennungsprinzips zugelassen: Hier soll eine Berücksichtigung des Versicherungsschutzes im Rahmen der wirtschaftlichen Verhältnisse möglich sein, wenn dies im Einzelfall aus Gründen der Billigkeit geboten ist.174 Dies sollte nur angenommen werden, wenn hierdurch bei im Übrigen gegebener Billigkeitshaftung der Ausschlussgrund des Entzugs der zum Unterhalt benötigten Mittel ausgeräumt wird.175

10.80

Tritt auf Seiten des Verletzten ein Unfall- oder Sozialversicherer ein, besteht für eine Billigkeitshaftung nach § 829 BGB kein Anlass.176

10.81

3. Inhalt des Anspruchs Für Art und Höhe des Ersatzes ist zunächst § 249 BGB maßgebend. Daneben entscheidet aber auch insoweit die Billigkeit. Dies gilt auch für die Frage, ob aufgrund von § 829 BGB ein Schmerzensgeld zugesprochen werden kann.177 Es kann auch die Zahlung einer Rente geschuldet sein.

10.82

4. Verfahrensrechtliches Ist die Klage gegen einen Jugendlichen darauf gestützt, dieser habe die zur Kenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen (§ 828 BGB), und ergibt sich, dass dies nicht der Fall ist, kann – ohne Änderung des Streitgegenstands – die Klage auf § 829 BGB umge-

170 BGH v. 11.10.1994 – VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186, 192. 171 BGH v. 29.11.2016 – VI ZR 606/15, DAR 2017, 137, 138; BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 8/78, NJW 1979, 2096. 172 BGH v. 29.11.2016 – VI ZR 606/15, DAR 2017, 137, 139. 173 BGH v. 15.1.1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90; BGH v. 18.12.1979 – VI ZR 27/78, BGHZ 76, 279; BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 8/78, NJW 1979, 2096 = JR 1980, 18 mit Anm. Knütel; BGH v. 29.11.2016 – VI ZR 606/15, DAR 2017, 137, 138 m.w.N.; Staudinger/Oechsler § 829 Rz. 52; a.A. MünchKomm-BGB/Wagner § 829 Rz. 20 f. 174 BGH v. 11.10.1994 – VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186 = LM § 829 BGB Nr. 10 mit zust. Anm. Schiemann = MDR 1995, 992 mit abl. Anm. Lieb. Gegen die Begr. des BGH auch E. Lorenz in FS Medicus (1999) S. 353, 361 f.; Seybold/Wendt VersR 2009, 455, 461 ff. Für weiter gehende Berücksichtigung des Versicherungsschutzes Erman/Wilhelmi § 829 Rz. 5. 175 Ähnlich E. Lorenz in FS Medicus (1999) S. 353, 364. 176 MünchKomm-BGB/Wagner § 829 Rz. 23 m.w.N. 177 MünchKomm-BGB/Wagner § 829 Rz. 25; s. auch (zum früheren Recht) BGH v. 11.10.1994 – VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186.

Greger | 237

10.83

§ 10 Rz. 10.83 | Haftung wegen Rechtsgutsverletzung

stellt werden. Der Kläger muss hierfür aber neben den sonstigen Anspruchsvoraussetzungen die Umstände vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich das Erfordernis einer billigen Entschädigung ergibt.178 Auf den Schlüssigkeitsmangel hat das Gericht ggf. hinzuweisen (§ 139 Abs. 2 ZPO).179

10.84

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Billigkeit ist die letzte mündliche Tatsachenverhandlung. Sind jedoch Änderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen absehbar, die eine Billigkeitsentschädigung künftig als gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, kann der Kläger die Feststellung begehren, dass der Schädiger den Schaden ganz oder teilweise zu ersetzen habe, wenn und soweit die Billigkeit es erfordere und ihm nicht die Mittel zum eigenen Unterhalt und zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsansprüche entzogen würden.180 Wurde eine Rente zugesprochen, kommt auch eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO in Betracht.181

5. Verjährung 10.85

Die Verjährungsfrist beginnt nicht zu laufen, solange der Verletzte nicht weiß, dass es an einer Verantwortlichkeit des Täters fehlt.182

178 RG v. 30.6.1910 – VI 534/09, RGZ 74, 143, 146. 179 A.A. BGH v. 8.1.1965 – VI ZR 230/63, VersR 1965, 385, 386; MünchKomm-BGB/Wagner § 829 Rz. 26. 180 BGH v. 13.6.1958 – VI ZR 109/57, NJW 1958, 1630. 181 Staudinger/Oechsler § 829 Rz. 74. 182 RG v. 9.12.1918 – VI 252/18, RGZ 94, 220, 222.

238 | Greger

§ 11 Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Vorschrift im Verkehrshaftungsrecht . . . . . . . . . . . . 2. Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff des Schutzgesetzes . . . . . . . . . 2. Begrenzung der Haftung durch den Schutzzweck der Norm . . . . . . . . . . .

11.1 11.1 11.2 11.3 11.4 11.4 11.6

3. Einzelfälle zum Schutzzweck (nach Paragraphen geordnet) . . . . . . III. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verschuldensgrad . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fahrlässigkeitsmaßstab . . . . . . . . . . . 4. Inhalt der Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . 5. Verbotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11.7 11.62 11.62 11.63 11.64 11.65 11.66 11.67

§ 823 Abs. 2 BGB s. vor § 10

I. Überblick 1. Bedeutung der Vorschrift im Verkehrshaftungsrecht § 823 Abs. 2 BGB begründet eine deliktische Haftung, die nicht von der Verletzung eines absoluten Rechtsguts abhängig ist. Sie greift ein, wenn ein „den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz“ verletzt worden ist, und gibt dem Geschützten einen Anspruch auf Ersatz desjenigen Schadens, der vom Schutzzweck der Norm umfasst ist, ggf. also auch eines reinen Vermögensschadens. Die Vorschriften der StVO dienen in erster Linie der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, einzelne Normen auch dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums der Verkehrsteilnehmer;1 Vermögensinteressen werden jedoch durch sie im Allgemeinen nicht geschützt2 (s. Rz. 11.6). § 823 Abs. 2 BGB hat daher im Verkehrshaftungsrecht kaum eigenständige Bedeutung. In den meisten Fällen begründet er lediglich eine weitere Anspruchsgrundlage.3 Vorteile können sich für den Geschädigten jedoch daraus ergeben, dass die Rechtsprechung bei gewissen Normverstößen Beweiserleichterungen eingreifen lässt (s. Rz. 11.67). Außerdem braucht sich die Fahrlässigkeit nicht auf die Rechtsgutsverletzung, sondern nur auf den Gesetzesverstoß zu beziehen (s. Rz. 11.65).

11.1

2. Haftungsvoraussetzungen § 823 Abs. 2 BGB setzt eine Handlung (s. Rz. 10.6) voraus, durch die gegen ein Schutzgesetz (s. Rz. 11.4 f.) verstoßen wurde. Die durch die Gesetzesverletzung indizierte Widerrechtlich-

1 BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 185/04, NZV 2005, 457, 458 m.w.N. 2 BGH v. 18.11.2003 – VI ZR 385/02, NJW 2004, 356, 357. 3 Näher dazu Deutsch VersR 2004, 137, 138.

Greger | 239

11.2

§ 11 Rz. 11.2 | Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

keit darf nicht durch einen Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen sein (s. Rz. 10.46 ff.). Den Schädiger muss der nach dem Schutzgesetz zu fordernde Verschuldensvorwurf, mindestens aber der der Fahrlässigkeit (s. Rz. 10.53 ff.) treffen (Abs. 2 Satz 2) und es darf kein besonderer Schuldausschließungsgrund (s. Rz. 10.59 ff.) vorliegen. Schließlich muss der geltend gemachte Schaden auf den Gesetzesverstoß zurückzuführen sein; hierfür gelten die allgemeinen Regeln über die sog haftungsausfüllende Kausalität (s. Rz. 19.3 ff.). Zu Beweisfragen s. Rz. 41.39 ff., 41.59.

3. Rechtsfolgen 11.3

Sie bestimmen sich wie bei § 823 Abs. 1 BGB (s. Rz. 10.5).

II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand 1. Begriff des Schutzgesetzes 11.4

Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ist eine Rechtsnorm (§ 2 EGBGB), die zumindest auch dazu dienen soll, dem Geschädigten oder dem Personenkreis, zu dem der Geschädigte gehört, einen besonderen, individuellen Schutz gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu verleihen. Der Umstand, dass eine Norm bestimmten Personen zum Vorteil gereicht, genügt mithin nicht. Maßgebend ist, ob der Gesetzgeber diesen Individualschutz (als einzigen Zweck des Gesetzes oder neben anderen Zwecken) gewollt und diesen Willen zum Ausdruck gebracht hat.4 Die Schutzwirkung des Gesetzes muss im Aufgabenbereich der Norm liegen und darf sich nicht nur als Reflexwirkung eines in seiner Hauptrichtung anders gerichteten Zweckes ergeben.5 Oft ergibt sich die Absicht des Gesetzgebers, an die Verletzung der von ihm geschützten Interessen auch deliktische Schadensersatzansprüche zu knüpfen, erst aus umfassender Würdigung des Zusammenhangs, in den er die Norm gestellt hat.6 Zur Begründung der Haftung genügt es somit nicht, dass ein Gesetz allgemein betrachtet als Schutzgesetz qualifiziert werden kann. Erforderlich ist vielmehr, dass es – in persönlicher und sachlicher Hinsicht – gerade den Schutz gewähren will, den der Verletzte im konkreten Fall in Anspruch nimmt (s. Rz. 11.6). Dass das Gesetz, um die ihm innewohnende Schutzwirkung zu entfalten, noch der Konkretisierung durch einen Verwaltungsakt bedarf, ändert am Schutzgesetzcharakter nichts.7

11.5

Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften sind keine Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB,8 können jedoch für die Konkretisierung von Verkehrs(sicherungs)pflichten9 (s. Rz. 10.10) und als Grundlage eines Anscheinsbeweises10 (s. Rz. 41.59) von Bedeutung sein.11

4 5 6 7 8 9 10 11

BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 185/04, NZV 2005, 457, 458 m.w.N.; Knöpfle NJW 1967, 697. BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 185/04, NZV 2005, 457, 458 m.w.N. BGH v. 4.4.1978 – VI ZR 238/76, VersR 1978, 609. BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 185/04, NZV 2005, 457, 458 m.w.N. St. Rspr. seit RG v. 13.3.1919 – VI 5/19, RGZ 95, 180, 182. Staudinger/Hager § 823 Rz. G 14 m.w.N. S. z.B. BGH v. 20.6.1978 – VI ZR 15/77, NJW 1978, 2032. Eingehend zur Rechtsnatur der Unfallverhütungsvorschriften Felz NZV 2017, 117, 119.

240 | Greger

II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand | Rz. 11.8 § 11

2. Begrenzung der Haftung durch den Schutzzweck der Norm Wer gegen ein Schutzgesetz verstößt und hierdurch einen Schaden hervorruft, ist zum Schadensersatz nur verpflichtet, wenn der Schaden an einem Rechtsgut eingetreten ist, das die Schutzvorschrift sichern will, und durch eine Gefahr, vor der sie das Rechtsgut bewahren will.12 Verkehrsvorschriften wollen zumeist nicht vor allen, sondern jeweils nur vor bestimmten Gefahren des Straßenverkehrs schützen, so dass die Verletzung einer solchen Norm nicht in jedem Falle zur Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB führt (Einzelfälle: s. Rz. 11.7 ff.). Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Art der Gefahrverwirklichung, sondern auch hinsichtlich der Person des Verletzten oder der Art der Rechtsgutsverletzung. Daher haftet z.B. der Kraftfahrer einem Kind, das für ihn vor dem Unfall nicht erkennbar war, nicht deswegen, weil er in Bezug auf ein anderes Kind vorsichtiger hätte fahren müssen,13 und kann derjenige, der ein fremdes Fahrrad eigenmächtig benutzt, den Eigentümer nicht für dessen verkehrsunsicheren Zustand haftbar machen.14 Die Verletzung einer Norm, die nur Leib, Leben und Sachwerte schützen will, kann nicht zur Haftung für einen reinen Vermögensschaden führen (zur Frage, ob der Schutzzweckgedanke auch auf Vermögensfolgeschäden anderer Rechtsgutsverletzungen anzuwenden ist, s. Rz. 19.5). So kann etwa der Arbeitgeber des Verletzten den durch dessen unfallbedingten Ausfall entstandenen Verlust oder der durch eine unfallbedingte Verkehrsstockung aufgehaltene Kraftfahrer seine hierdurch hervorgerufenen Vermögenseinbußen nicht unter Berufung auf einen Verstoß des Schädigers gegen die StVO ersetzt verlangen.15

11.6

3. Einzelfälle zum Schutzzweck (nach Paragraphen geordnet)16 § 21 StVG Die Strafvorschrift über das Zulassen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG) ist Schutzgesetz im Verhältnis zu anderen Verkehrsteilnehmern,17 auch gegenüber dem Beifahrer, aber nicht gegenüber dem unberechtigten Fahrer.18 § 1 Abs. 2 StVO Diese Generalklausel für das Verhalten im Straßenverkehr ist Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB,19 denn Zweck dieser Vorschrift ist es, die Schädigung anderer zu vermeiden. Wird daher in einem konkreten Fall ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO bejaht, so ist damit zugleich die Aussage über die Verletzung seines Schutzzwecks getroffen (vgl. das Beispiel in Rz. 11.9). Auch eine mittelbare Schädigung (z.B. das Angefahrenwerden an der Unfallstelle durch einen Dritten) kann noch vom Schutzzweck des § 1 Abs. 2 StVO erfasst sein.20

12 BGH v. 4.12.1956 – VI ZR 161/55, BGHZ 22, 293, 296; BGH v. 15.10.1974 – VI ZR 181/73, NJW 1975, 47 m.w.N. 13 BGH v. 25.9.1990 – VI ZR 19/90, NJW 1991, 292. 14 OLG Braunschweig v. 14.11.1990 – 3 U 95/90, NZV 1991, 152. 15 BGH v. 18.11.2003 – VI ZR 385/02, NJW 2004, 356, 357. 16 S. auch die Zusammenstellung bei Berz/Burmann/Grüneberg Bd. 1 4 A Rz. 95 ff. 17 BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 73/78, NJW 1979, 2309. 18 BGH v. 16.10.1990 – VI ZR 65/90, NZV 1991, 109. 19 BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 79 u 80/71, NJW 1972, 1804, 1806; AG Frankfurt/M. v. 7.10.1994 – 32 C 2225/94-19, NJW-RR 1995, 728 (Bespritzen eines Fußgängers). 20 BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 79 u 80/71, NJW 1972, 1804, 1806.

Greger | 241

11.7

11.8

§ 11 Rz. 11.9 | Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

11.9

§ 2 StVO Das Verbot der Gehwegbenutzung (§ 2 Abs. 1 StVO) mit Fahrzeugen (auch Fahrrädern) schützt nur den Fußgängerverkehr, nicht z.B. einen Kraftfahrer, der aus einer Grundstücksausfahrt kommend den Gehweg überqueren will.21 In diesen Fällen kann sich jedoch eine Haftung des Radfahrers aus § 1 Abs. 2 StVO ergeben, denn dieser muss, wenn er schon verbotenerweise auf dem Gehweg fährt, besonders in Rechnung stellen, dass ein etwa aus einer Ausfahrt Kommender nicht mit seinem Auftauchen rechnet, und so langsam fahren, dass er sofort anhalten kann.22 Hat der Verletzte seinerseits ebenfalls unbefugt den Gehweg befahren, ist er nicht in den Schutzbereich des Verbots einbezogen.23

11.10

Das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) dient nur dem Schutz der Verkehrsteilnehmer, die sich in Längsrichtung auf derselben Straße bewegen, also dem Gegen- und Überholverkehr.24 Es dient also nicht auch dem Schutz derer, die diese Straße, auch als Fußgänger, überqueren25 oder in sie einbiegen26 oder aus dem Gegenverkehr nach links abbiegen wollen.27 Ein Schutz des Seitenverkehrs kann sich jedoch an unübersichtlichen Einmündungen aus § 1 Abs. 2 StVO ergeben, weil der bevorrechtigte Verkehr sich dort auf ein Hineintasten von Wartepflichtigen einstellen muss (s. Rz. 14.171).

11.11

Die Radwegbenutzungspflicht (§ 2 Abs. 4 Satz 2 StVO) dient der Unfallverhütung durch Trennung von Kfz- und Radfahrverkehr („Verkehrsentmischung“). Daher ist, wenn es bei bestehender Benutzungspflicht zu einer Kollision zwischen Kfz und Radfahrer auf der Fahrbahn kommt, der Schutzzweck dieser Vorschrift betroffen, und zwar auch bei Unfall mit einem stehenden Kfz.28

11.12

Das Verbot, nicht hierfür freigegebene Radwege entgegen der Fahrtrichtung zu benutzen (§ 2 Abs. 4 Satz 4 StVO), will ausschließlich den Gegen- und Überholverkehr auf dem Radweg schützen, nicht den Quer- und Einbiegeverkehr.29

11.13

§ 3 StVO § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO, wonach der Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit insbesondere den Sichtverhältnissen anzupassen hat, ist Schutzgesetz zugunsten der Verkehrsteilnehmer, die sich im Sichtbereich befinden oder mit deren Auftauchen im Sichtbereich gerechnet werden 21 Haarmann NZV 1992, 175, 176; a.A. OLG Hamburg v. 18.10.1991 – 14 U 12/91, NZV 1992, 281 mit abl. Anm. Grüneberg; Hentschel/König/Dauer § 2 StVO Rz. 29. 22 Grüneberg NZV 1992, 282, 283. 23 OLG Frankfurt v. 7.7.1995 – 24 U 396/93, VersR 1996, 1122 mit zust. Anm Looschelders; Haarmann NZV 1992, 175, 176; Greger NZV 1997, 39, 40; offenlassend BGH v. 21.5.1996 – VI ZR 283/95, NJWE-VHR 1996, 114; übersehen von OLG Düsseldorf v. 26.4.1995 – 15 U 53/94, NZV 1997, 37. 24 BGH v. 30.10.1962 – VI ZR 204/61, VersR 1963, 163 und st. Rspr.; eingehend mit zahlr. Nachweisen Haarmann NZV 1993, 374. 25 BGH v. 16.6.11964 – VI ZR 98/63, VersR 1964, 1069; BGH v. 19.9.1974 – III ZR 73/72, VersR 1975, 37. 26 BGH v. 30.10.1962 – VI ZR 204/61, VersR 1963, 163. 27 Denn diese dürfen sich nicht über die Fahrbahnmitte hinaus einordnen; BGH v. 19.5.1981 – VI ZR 8/80, VersR 1981, 837; a.A. OLG Schleswig v. 20.9.1989 – 9 U 99/87, r+s 1990, 233. 28 Hentschel/König/Dauer § 2 StVO Rz. 67; a.A. LG München I v. 14.11.1991 – 190 S 1568/91, DAR 1992, 346 mit abl. Anm. Berr. 29 BGH v. 15.7.1986 – 4 StR 192/86, NJW 1986, 2651; OLG Saarbrücken v. 22.1.2015 – 4 U 69/14, NZV 2015, 435.

242 | Greger

II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand | Rz. 11.16 § 11

muss; dagegen ist ein Unfall nicht zurechenbar, der darauf beruht, dass der Geschädigte sich in nicht vorherzusehender Weise in den bei Fahren auf Sicht beherrschbaren Bereich begeben hat.30 Nicht mehr vom Schutzzweck des § 3 Abs. 1 StVO erfasst ist auch ein Unfall, zu dem es dadurch kommt, dass ein infolge überhöhter Geschwindigkeit ins Schleudern geratenes Fahrzeug auf dem Seitenstreifen der BAB liegen bleibt und später ein gleichfalls wegen überhöhter Geschwindigkeit schleuderndes Fahrzeug gegen dieses prallt.31 Geschwindigkeitsbegrenzungen haben nicht den Zweck, zu verhindern, dass sich ein bestimmtes Fahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle befindet. Daher genügt die bloße Tatsache, dass ein Kraftfahrer verbotswidrig zu schnell gefahren war, mithin bei Beachtung der Verkehrsvorschriften noch nicht an der Stelle gewesen wäre, an welcher er dann mit dem Verletzten zusammengestoßen ist, nicht für die Begründung eines Zurechnungszusammenhangs. Entscheidend ist vielmehr, ob sich die zu hohe Geschwindigkeit auf die Vermeidbarkeit des Unfalls ausgewirkt hat, d.h. der Kraftfahrer die kritische Situation ohne Unfall hätte meistern können, wenn er zum Zeitpunkt der Erkennbarkeit der Gefahr die erlaubte Geschwindigkeit eingehalten hätte.32 Für die Berechnung der Stelle, an der der Fahrer die Gefahr erkennen konnte, ist hierbei auf die tatsächlich gefahrene, nicht auf die an sich zulässige Höchstgeschwindigkeit abzustellen.33 Es ist also z.B. zunächst rückzurechnen, wo sich der Fahrer befand, als das auf die Straße laufende Kind für ihn sichtbar wurde; sodann ist zu ermitteln, ob der Zusammenstoß vermieden worden wäre, wenn der Fahrer an dieser Stelle die zulässige Geschwindigkeit eingehalten hätte (s. Rz. 10.23).

11.14

Ohne Bedeutung ist es hierbei nach einer umstrittenen Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH,34 wenn der Unfall dann nur dank der eigenen Fortbewegung des anderen Verkehrsteilnehmers vermieden worden wäre. Dem ist zuzustimmen. Der Schutzzweck von Geschwindigkeitsbeschränkungen würde zu sehr verengt, wenn die Haftung davon abhängig gemacht würde, dass der andere Verkehrsteilnehmer sein Verhalten am Vertrauen auf die Einhaltung der zugelassenen Geschwindigkeit orientiert hat.35 Wie der BGH in der genannten Entscheidung ausführt, dient § 3 StVO dem Schutz anderer Verkehrsteilnehmer vor den Gefahren hoher Geschwindigkeiten. Diese Gefahren verwirklichen sich auch dann, wenn der Fahrzeugführer infolge überhöhter Geschwindigkeit nicht mehr so bremsen kann, dass der andere noch die Chance hat, einer Kollision zu entgehen. Die Erwägung,36 bei einer anderen Konstellation der Bewegungsabläufe hätte es gerade infolge vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit zum Unfall kommen können, stellt auf rein hypothetische Vorgänge ab und kann daher die Rechtsansicht des BGH nicht erschüttern.

11.15

Bei einer räumlich begrenzten Geschwindigkeitsbeschränkung, z.B. innerhalb geschlossener Ortschaft, einer durch Verkehrszeichen angeordneten Verbotsstrecke oder einer Engstelle, ist

11.16

30 BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 79 u. 80/71, NJW 1972, 1804, 1806. 31 OLG Braunschweig v. 18.3.1994 – 5 U 69/93, VersR 1995, 977; anders in der Tendenz wohl BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 79 u. 80/71, NJW 1972, 1804, 1806. 32 BGH v. 11.1.1977 – VI ZR 268/74, VersR 1977, 524. 33 OLG Bremen v. 9.9.1987 – 3 U 89/87, NZV 1988, 142. 34 BGH v. 6.11.1984 – 4 StR 72/84, BGHSt 33, 61; krit. hierzu Streng NJW 1985, 2809, Ebert JR 1985, 356, Puppe JZ 1985, 295. Zur Auffassung des 4. Strafsenats neigend auch OLG Bremen v. 9.9.1987 – 3 U 89/87, NZV 1988, 142. 35 So Streng NJW 1985, 2809. 36 Streng NJW 1985, 2809.

Greger | 243

§ 11 Rz. 11.16 | Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

die Schutzwirkung jedoch grundsätzlich auf den Geltungsbereich beschränkt.37 Ein Fußgänger, der kurz hinter dem Ortsende von einem bereits innerorts mehr als 50 km/h fahrenden Kfz erfasst wird, kann sich deshalb nur dann auf den Schutz des § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO berufen, wenn er sich auf die Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit durch den Kraftfahrer eingerichtet hatte. Die allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 StVO) schützt jeden Verkehrsteilnehmer, auch den Querverkehr.38

11.17

Die Geschwindigkeitsbegrenzung für bestimmte Arten von Kfz hat auch den Zweck, solche Fahrzeuge von einem gefahrvollen Überholen auszuschließen.39 Dass sie auch einem bei Gegenverkehr Überholenden das schnellere Wiedereinscheren ermöglichen soll,40 erscheint fragwürdig.

11.18

Das aus § 3 Abs. 2a StVO herzuleitende Gebot, bei Anwesenheit von Kindern, alten und hilflosen Menschen besonders aufmerksam, mit verringerter Geschwindigkeit und erhöhter Bremsbereitschaft zu fahren, schützt nur denjenigen, der diese Pflichten im konkreten Fall selbst ausgelöst hat, nicht einen anderen, mit dessen Anwesenheit der Kraftfahrer nicht rechnen musste.41

11.19

Zu der Frage, ob Geschwindigkeitsbeschränkungen auch den Zweck haben, besonders schwere Unfallfolgen zu vermeiden, s. Rz. 10.31.

11.20

11.21

§ 4 StVO Das Gebot, vom Vorausfahrenden angemessenen Abstand zu wahren, bezweckt auch, dem Fahrer die Übersicht über die Fahrbahn zu verbessern und ihm eine Reaktion auf plötzlich auftauchende Gefahren zu ermöglichen; es dient damit auch dem Schutz von Fußgängern auf der Fahrbahn.42 § 5 StVO Ein Überholverbot dient nicht nur der Sicherung des Gegenverkehrs, sondern auch der des Nachfolgeverkehrs; ereignet sich bei einem Zuwiderhandeln ein Unfall, so kann auch derjenige seine Ansprüche hierauf stützen, der selbst verbotswidrig überholt hat.43 Der aus einem Grundstück Ausfahrende oder vom Fahrbahnrand Anfahrende wird durch ein Überholverbot nicht geschützt,44 ebenso wenig ein Fußgänger, der außerhalb eines Überwegs die Fahrbahn überquert.45 Die Vorschrift, dass ein links eingeordnetes Fahrzeug rechts zu überholen ist (§ 5 Abs. 7 Satz 1 StVO), dient nicht dem Schutz eines von links kommenden Wartepflichtigen.46

37 BGH v. 21.2.1985 – VI ZR 205/83, VersR 1985, 637, 638; OLG Düsseldorf v. 25.11.1991 – 1 U 150/90, NZV 1992, 238. 38 BGH v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, NJW 2003, 1929. 39 BGH v. 1.7.1969 – VI ZR 26/68, VersR 1969, 900. 40 So österr. OGH ZVR 1996, 316. 41 BGH v. 25.9.1990 – VI ZR 19/90, NJW 1991, 292; OLG Köln v. 21.4.1995 – 11 U 232/94, VersR 1996, 210. 42 OLG München v. 5.5.1967 – 10 U 2051/66, NJW 1968, 653. 43 BGH v. 27.2.1968 – VI ZR 173/66, VersR 1968, 578. 44 KG v. 4.1.2006 – 12 U 202/05, NZV 2006, 369. 45 KG v. 7.7.2008 – 12 U 138/08, NZV 2009, 343. 46 A.A. österr. OGH ZVR 1995, 264.

244 | Greger

II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand | Rz. 11.28 § 11

§ 6 StVO Die Regelung für das Vorbeifahren an Hindernissen dient dem Schutz des bevorrechtigten Gegenverkehrs.47 § 7 StVO § 7 Abs. 3c Satz 3 StVO, wonach Lkw auf Straßen mit drei oder mehr Fahrstreifen den linken Fahrstreifen nur zum Zweck des Einordnens zum Linksabbiegen benützen dürfen, dient nur der Erhaltung des Verkehrsflusses, nicht dem Schutz eines Spurwechslers.48 § 7 Abs. 5 StVO dient nicht dem Schutz des Gegenverkehrs, insbesondere wenn er einen gesperrten Fahrstreifen benutzt.49 § 8 StVO Das Gebot, an eine nicht durch Verkehrszeichen geregelte Kreuzung nur mit mäßiger Geschwindigkeit heranzufahren, dient auch dem Schutz des Wartepflichtigen,50 nicht aber dem eines die Fahrbahn querenden Fußgängers.51 Auch das Stoppschild dient nicht dem Schutz eines jenseits der Kreuzung die Fahrbahn querenden Fußgängers.52 § 9 StVO Die Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO schützt auch den Fahrer eines Fahrzeugs, das einem zum Überholen ansetzenden Fahrzeug unmittelbar und damit für den abbiegenden Fahrer möglicherweise nicht sichtbar folgt.53 Die besonderen Schutzpflichten beim Abbiegen in ein Grundstück, Wenden und Rückwärtsfahren (Abs. 5) beziehen sich nicht ausschließlich auf den fließenden Verkehr, sondern auf alle Verkehrsteilnehmer.54 Geschützt wird z.B. auch ein Grundstücksausfahrer vor der durch einen Rückwärtsfahrer geschaffenen Gefahrenlage.55 Nicht geschützt werden dagegen Personen auf dem Grundstück gegenüber einem in dieses Einfahrenden.56

11.22

11.23

11.24

11.25

11.26

§ 10 StVO Die Regelung für das Ein- und Anfahren dient dem Schutz des fließenden Verkehrs und der Fußgänger.57

11.27

§ 12 StVO In erster Linie bezwecken Park- und Haltverbote die Freihaltung der Fahrbahn im Interesse der Sicherheit und Flüssigkeit des Durchgangsverkehrs.58 Daher wird ein Unfall, der auf die

11.28

47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Berz/Burmann/Grüneberg Bd. 1, 4 A Rz. 95. OLG Düsseldorf v. 6.2.2018 – 1 U 102/17, NJW-RR 2018, 471. KG v. 21.6.1979 – 22 U 54/79, VersR 1979, 1031. BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 97/76, VersR 1977, 917. A.A. OLG Celle v. 26.11.1974 – 1 Ss 265/74, VRS 49, 25. A.A. OLG Düsseldorf v. 2.2.1978 – 12 U 149/77, VersR 1978, 744. OLG Karlsruhe v. 27.2.1987 – 10 U 57/86, VersR 1988, 413. BGH v. 15.5.2018 – VI ZR 231/17, NJW 2018, 3095. OLG Köln v. 16.5.1991 – 7 U 170/90, VersR 1992, 332. OLG Düsseldorf v. 28.12.1992 – 5 Ss 363/90-146/90 I, NZV 1993, 198. Berz/Burmann/Grüneberg Bd. 1, 4 A Rz. 95. BGH v. 7.10.1986 – VI ZR 3/86, VersR 1987, 259; OLG Hamm v. 6.6.1990 – 13 U 164/89, NZV 1991, 271; österr. OGH ZVR 1990, 328.

Greger | 245

§ 11 Rz. 11.28 | Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

Anwesenheit des Fahrzeugs im Verbotsbereich, etwa die hierdurch bedingte Fahrbahnverengung, zurückzuführen ist, vom Schutzzweck des Verbots umfasst. Für das Parkverbot im verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1 Nr. 4 der Anlage 3 zur StVO) gilt dies aber nicht.59 Die zum 28.4.2020 eingeführte Vorschrift des § 12 Abs. 3 Nr. 1 StVO dient dem Schutz des Radverkehrs (BR-Drs. 591/19 S. 77). Wurde gegen ein eingeschränktes Haltverbot, ein Parkverbot oder das Verbot des Linksparkens (§ 12 Abs. 4 StVO) verstoßen, so kann sich der betreffende Fahrer nicht darauf berufen, dass der Unfall sich bei einem erlaubten Halten ebenso hätte ereignen können, denn sein Verhalten hat jedenfalls eine unfallkausale Gefahrerhöhung bewirkt.60

11.29

Die Verbote dienen aber auch dem Schutz der die Fahrbahn überquerenden Fußgänger.61 Der haftungsbegründende Kausalbeitrag wird in diesen Fällen regelmäßig in einer Sichtbehinderung liegen.62

11.30

Sonderfälle: Einbezogen in den Schutzbereich sind weiterhin die Ein- und Ausfahrenden an einer gegenüberliegenden Grundstücksausfahrt.63 Der Schutzzweck des Parkverbots auf Vorfahrtstraßen außerhalb geschlossener Ortschaften (Zeichen 306 der Anlage 3 zur StVO) umfasst den fließenden Verkehr in beiden Richtungen.64 Das Verbot, vor Lichtzeichen und negativen Vorfahrtzeichen so zu halten, dass diese verdeckt werden, dient auch dem Schutz des Querverkehrs.65 Das Verbot des Parkens auf Gehwegen bezweckt auch, Fußgänger davor zu schützen, dass sie sich auf dem Gehweg an einem Fahrzeug verletzen,66 nicht aber das Anfahren des neben dem Fahrzeug stehenden Fahrers zu verhindern.67 Auch auf einen verbotswidrig den Gehweg benutzenden Radfahrer erstreckt sich der Schutz nicht.68 Ein Baustellenhaltverbot dient nicht dem Schutz von Vermögensinteressen des Straßenbauunternehmers.69 Ist ein Parkplatz durch ein entsprechendes Zusatzschild zum Zeichen 314 einer bestimmten Fahrzeugart (z.B. nur Pkw) vorbehalten, so kann das dadurch begründete Verbot einer Benutzung durch andere Fahrzeuge auch dem Schutz der zugelassenen Fahrzeuge dienen; ob dies allerdings auch gilt, wenn ein Pkw einen Lkw-Parkplatz benutzt,70 ist zu bezweifeln.

11.31

§ 14 StVO Die Regelung für das Ein- und Aussteigen (§ 14 Abs. 1 StVO) dient dem Schutz des vorbeifahrenden Verkehrs und der Fußgänger.71

59 LG Saarbrücken v. 1.4.2015 – 13 S 164/14, NZV 2015, 387. 60 BGH v. 7.10.1986 – VI ZR 3/86, VersR 1987, 259, 260; OLG Hamm v. 6.6.1990 – 13 U 164/89, NZV 1991, 271 (Halten in zweiter Reihe); für das Linksparken a.A. OLG Jena v. 15.4.2009 – 7 U 744/08, NZV 2009, 455; wie hier OLG Karlsruhe v. 27.10.1989 – 10 U 125/89, NZV 1990, 189. 61 BGH v. 25.1.1983 – VI ZR 212/80, VersR 1983, 438 (zum absoluten Haltverbot): OLG München v. 18.12.1984 – 5 U 1951/84, VersR 1985, 869; a.A. OLG Schleswig v. 23.5.1990 – 9 U 14/89, NZV 1991, 188. 62 Hieran fehlte es z.B. in OLG Köln v. 3.6.1992 – 26 U 50/91, VersR 1993, 122. 63 OLG Köln v. 15.1.1987 – 7 U 300/86, VersR 1988, 725; AG Witten v. 28.11.2002 – 3 C 375/02, VersR 2004, 622. 64 BGH v. 7.10.1986 – VI ZR 3/86, VersR 1987, 259. 65 OLG Köln v. 13.9.1989 – 13 U 100/89, NZV 1990, 268. 66 LG Karlsruhe v. 9.1.1987 – 9 S 474/86, VersR 1987, 673. 67 OLG Karlsruhe v. 18.5.2012 – 9 U 128/11, NZV 2012, 593, 594. 68 LG Nürnberg-Fürth v. 26.7.2007 – 8 O 2722/07, DAR 2007, 709 mit Anm. Köck. 69 BGH v. 18.11.2003 – VI ZR 385/02, NJW 2004, 356; LG Stuttgart v. 21.6.1985 – 6 S 397/84, NJW 1985, 3028. 70 So OLG Köln v. 19.12.1990 – 2 U 91/90, NZV 1991, 471. 71 Berz/Burmann/Grüneberg Bd. 1, 4 A Rz. 95.

246 | Greger

II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand | Rz. 11.38 § 11

Die vorgeschriebenen Maßnahmen gegen unbefugte Benutzung (§ 14 Abs. 2 Satz 2 StVO) bezwecken auch den Schutz vor Verkehrsverstößen während der Schwarzfahrt72 sowie vor Unfällen bei der Verfolgung des unbefugten Benutzers.73 Der unbefugte Fahrer ist in die Schutzwirkung aber nicht einbezogen.74

11.32

§ 15 StVO Der Verstoß gegen die Pflicht zur Absicherung liegengebliebener Fahrzeuge ist ein solcher gegen ein Schutzgesetz.75

11.33

§ 17 StVO Die Beleuchtungspflicht bei haltenden Fahrzeugen (Abs. 4) dient dem Schutz des fließenden Verkehrs.76

11.34

§ 18 StVO Das Verbot des Anhaltens auf der Standspur einer Autobahn (§ 18 Abs. 8 StVO) dient nicht dem Schutz von Verkehrsteilnehmern, die durch eigenes Verschulden von der Fahrbahn abkommen.77

11.35

§ 20 StVO Das Gebot, an haltenden Omnibussen des Linienverkehrs, Straßenbahnen oder Schulbussen nur vorsichtig vorbeizufahren, dient nur dem Schutz der ausgestiegenen oder zum Verkehrsmittel strebenden Fahrgäste.78 Dies folgt aus dem speziellen Regelungszweck des § 20 StVO, der in Abs. 2 und 4 auch ausdrücklich angesprochen ist. Andere Fußgänger werden nicht von dieser Norm, wohl aber von der allgemeinen Sorgfaltspflicht gegenüber Fußgängern geschützt.79

11.36

§ 21a StVO Das Anschnallgebot dient nicht dazu, Beschädigungen des Kfz durch einen bei starkem Bremsen gegen die Frontscheibe prallenden Fahrgast zu vermeiden.80

11.37

§ 25 StVO Die Vorschrift, dass Fußgänger die Gehwege zu benützen haben, dient in erster Linie dem Schutz der Fußgänger.81 Dasselbe gilt für Fußgängerüberwege; diese schützen nicht den eine Vorfahrtstraße kreuzenden Fahrzeugverkehr.82

11.38

72 BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311; BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 97/69, NJW 1971, 459; OLG Jena v. 8.7.2003 – 5 U 177/03, NZV 2004, 312. 73 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, VersR 1981, 40. 74 Vgl. BGH v. 16.10.1990 – VI ZR 65/90, NZV 1991, 109, 110. 75 BGH v. 20.6.1969 – VI ZR 32/68, VersR 1969, 895. 76 BGH v. 20.6.1969 – VI ZR 32/68, VersR 1969, 895, 896 zu § 23 der früheren StVO. 77 OLG Celle v. 22.2.2002 – 14 W 48/01, VersR 2003, 658. 78 LG München I v. 3.12.1999 – 17 O 20457/98, NZV 2000, 473 mit Anm. Bouska; a.A. BGH v. 28.3.2006 – VI ZR 50/05, NJW 2006, 2110; OLG Köln v. 9.4.2002 – 3 U 166/01, VersR 2002, 998; Hentschel/König/Dauer § 20 StVO Rz. 6. 79 Bouska NZV 2000, 474. Hilfsweise auch OLG Köln v. 9.4.2002 – 3 U 166/01, VersR 2002, 998, 999. 80 LG Frankfurt/M. v. 16.2.1994 – 2/1 S 327/93, NJW-RR 1994, 924. 81 BGH v. 11.7.1969 – VI ZR 52/68, VersR 1969, 1022. 82 KG v. 11.10.1976 – 12 U 2014/76, VersR 1977, 377.

Greger | 247

§ 11 Rz. 11.39 | Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

11.39

11.40

§ 32 StVO Das Verbot von Fahrbahnverschmutzungen und Verkehrshindernissen dient fraglos dem Schutz des fließenden Verkehrs,83 nicht aber dem Schutz spielender Kinder vor herumliegenden Gegenständen.84 Das Aufstellen von Blumenkästen, Pollern, Metallschwellen u.a. auf der Fahrbahn zum Zweck der Verkehrsberuhigung verstößt gegen § 32 StVO, wenn dadurch der Verkehr gefährdet oder erschwert werden kann.85 Dies ist außerhalb verkehrsberuhigter Zonen (Zeichen 325/326 der StVO)86 zu bejahen, so dass die bezeichneten Maßnahmen nur mit einer Ausnahmegenehmigung der Straßenverkehrsbehörde (§ 46 Abs. 1 Nr. 8 StVO) vorgenommen werden dürfen.87 Dagegen fallen bauliche Maßnahmen zur Geschwindigkeitshemmung (Fahrbahnverengungen, Aufpflasterungen) nicht unter den Begriff „Gegenstände“ i.S.v. § 32 StVO.88 Zu den Anforderungen der Verkehrssicherungspflicht in diesen Fällen s. Rz. 13.69 ff. § 37 StVO Das Gebot, bei „Rot“ vor der Kreuzung zu halten, dient auch dem Schutz des entgegenkommenden Verkehrsteilnehmers, der nach links abbiegen will.89 Eine Fußgänger-Bedarfsampel dient jedoch nicht dem Schutz des Querverkehrs oder von entgegenkommenden Linksabbiegern im dahinter liegenden Einmündungsbereich.90

11.41

§ 38 StVO Die Warnung durch ein gelbes Blinklicht (§ 38 Abs. 3 StVO) an einem Reinigungsfahrzeug bezieht sich nur auf Gefahren, die von dem Fahrzeug bzw. von diesem ausgeführten Arbeiten ausgehen.91

11.42

§ 40 StVO Das Warnzeichen „Kinder“ (Zeichen 136) dient nur deren Schutz, nicht dem Schutz der Insassen eines Kfz.92

11.43

§ 41 Abs. 2 StVO Ein Haltegebot (Zeichen 206) dient nicht dem Schutz eines jenseits der Kreuzung die Fahrbahn querenden Fußgängers.93

83 BGH v. 17.2.1961 – VI ZR 116/60, VersR 1961, 442; OLG Frankfurt v. 10.9.1991 – 14 U 244/89, NZV 1991, 469; OLG Karlsruhe v. 16.7.2019 – 14 U 60/16, MDR 2019, 987 (über Radweg gespanntes Band). 84 OLG Düsseldorf v. 19.3.1957 – 4 W 53/57, NJW 1957, 1153. 85 OLG Frankfurt v. 10.9.1991 – 14 U 244/89, NZV 1991, 469; Hentschel/König/Dauer § 32 StVO Rz. 14; a.A. OLG Hamm v. 31.5.1994 – 9 U 39/94, NZV 1994, 400. 86 Hierzu Berr DAR 1991, 281; Stollenwerk VersR 1995, 21. 87 OLG Frankfurt v. 10.9.1991 – 14 U 244/89, NZV 1991, 469, 470; Gall NZV 1991, 135. 88 A.A. Gall NZV 1991, 135. 89 BGH v. 19.5.1981 – VI ZR 8/80, VersR 1981, 837. 90 BGH v. 2.3.1982 – VI ZR 230/80, VersR 1982, 701; a.A. österr. OGH ZVR 1999, 411; LG Lüneburg v. 5.11.1998 – 4 S 194/98, NJW-RR 1999, 176. Zur Frage des Vertrauensschutzes für den anderen Verkehrsteilnehmer s. § Rz. 14.126, 14.163. 91 OLG Düsseldorf v. 19.12.1990 – 15 U 173/88, NZV 1992, 188. 92 OLG Hamburg v. 14.10.1975 – 7 U 107/75, VersR 1976, 945. 93 OLG Düsseldorf v. 2.2.1978 – 12 U 149/77, VersR 1978, 744.

248 | Greger

II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand | Rz. 11.47 § 11

Die Einrichtung von Sonderwegen (Rad-, Reit-, Gehwege, Fußgängerzone, Fahrradstraße; Zeichen 237 ff.) dient auch dem Schutz der zugelassenen Benutzer (insbesondere Fußgänger und Radfahrer) vor solchen Gefahren, die durch die nicht oder nur mit den beim betr. Zeichen genannten Beschränkungen zugelassenen Verkehrsteilnehmer hervorgerufen werden. Nicht zuzustimmen ist daher der Ansicht, der Sturz eines Radfahrers wegen des plötzlichen Auftauchens eines Reitpferdes auf dem Radweg bei Dunkelheit sei nicht vom Schutzweck des Benutzungsverbotes erfasst.94 Der Schutzzweck eines Sonderfahrstreifens für Linienomnibusse (Zeichen 245) besteht dagegen nur darin, einen flüssigen Linien- und Taxiverkehr zu gewährleisten.95

11.44

Die Missachtung eines Verkehrsverbots (Nr. 6) kann ein Verstoß gegen ein Schutzgesetz sein.96 Dies gilt jedoch nicht, wenn der Schaden unabhängig von der Gefahr, vor der das Verbot schützen soll, eingetreten ist. So haftet z.B. der Fahrer eines Pkw, der verbotswidrig in eine nur für Anlieger freigegebene Straße einfährt, seinen Insassen bei einem Begegnungszusammenstoß nicht schon wegen der Missachtung des Verbots.97 Der Schutzzweck des Verkehrsverbots durch Zeichen 262 besteht in erster Linie darin, Fahrzeuge fernzuhalten, für die die Tragfähigkeit der Straße auf Dauer nicht ausreicht, nicht aber darin, Unfälle mit entgegenkommenden Fahrern, die trotz des Verkehrsverbots mit der Begegnung von voluminösen Fahrzeugen rechnen müssen, zu verhindern.98 Die Höhenbegrenzung (Zeichen 265) soll nicht nur das zu unterquerende Bauwerk, sondern auch die Verkehrsteilnehmer schützen, die es ohne das Verbot im Vertrauen auf die übliche Durchfahrtshöhe unterfahren würden.99 Das Zeichen 268 („Schneeketten sind vorgeschrieben“) dient auch dem Zweck, Unfälle durch hängenbleibende Fahrzeuge, auch anlässlich ihrer Bergung, zu vermeiden.100 Dagegen dient es nicht dazu, das Erreichen einer über 50 km/h liegenden Geschwindigkeit zu verhindern.101

11.45

Aus welchem Grund ein Streckenverbot (Nr. 7), insbesondere eine Geschwindigkeitsbeschränkung angeordnet wurde, ist für seinen Schutzumfang unerheblich. Ist ein Unfall durch zu hohe Geschwindigkeit verursacht worden, kann der Verursacher also nicht geltend machen, die Begrenzung diene einem anderen Zweck (z.B. Lärmschutz) als der Verhütung eines Unfalls der konkreten Art.102

11.46

§ 41 Abs. 3 StVO Ununterbrochene Mittellinie (Nr. 3) und Sperrfläche (Nr. 6) dienen in erster Linie dem Schutz des Gegenverkehrs.103 Sie schützen aber dort, wo sie sich wegen der Enge der Fahrbahn faktisch wie ein Überholverbot auswirken, auch das Vertrauen des Vorausfahrenden, nicht mit

94 So LG Bonn, 17.12.1993 – 1 O 293/93, NZV 1994, 363. 95 KG v. 2.7.1981 – 12 U 492/81, VersR 1982, 583. 96 BGH v. 26.1.1955 – VI ZR 251/53, VersR 1955, 183 (Schutz der Teilnehmer an einem Markt); s. auch BGH v. 14.12.1956 – VI ZR 280/55, VersR 1957, 102. 97 BGH v. 9.12.1969 – VI ZR 101/68, VersR 1970, 159; s. auch OLG Köln v. 16.4.1980 – 13 U 178/ 79, VersR 1982, 154. 98 OLG Hamm v. 17.10.1989 – 9 U 139/89, VersR 1991, 1259. 99 BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 185/04, NZV 2005, 457, 459. 100 Vgl. österr. OGH NZV 1991, 262. 101 Vgl. österr. OGH NZV 1992, 479. 102 Vgl. österr. OGH NZV 1991, 262. 103 OLG Hamm v. 28.8.1959 – 3 Ss 410/59, NJW 1959, 2323; OLG Düsseldorf v. 30.12.1975 – 12 U 43/75, DAR 1976, 214.

Greger | 249

11.47

§ 11 Rz. 11.47 | Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

einem Überholtwerden rechnen zu müssen,104 desgleichen den auf die Gegenfahrbahn einbiegenden Verkehr.105

11.48

11.49

11.50

11.51

11.52

11.53

§ 3 FZV Darauf, dass ein unfallbeteiligtes Kfz nicht zum Verkehr zugelassen war, beruht der Unfall i.d.R. nicht.106 § 13 FZV Veräußert jemand sein Kfz, ohne die Veräußerung gem § 13 Abs. 4 FZV der Zulassungsstelle mit Namen und Anschrift des Erwerbers anzuzeigen, so kann er aus Verletzung dieser Vorschrift haftbar sein, wenn der Erwerber mit dem nicht zugelassenen Fahrzeug fährt, nicht aber wegen Verletzung von § 1 PflVG, denn diese Vorschrift trifft nur den Inhaber der Sachherrschaft.107 § 25 FZV Die in § 25 Abs. 3 FZV geregelten Pflichten des Halters dienen nach h.M. nicht dem Verkehrsschutz.108 Zu § 25 Abs. 4 FZV s. Rz. 12.27. §§ 20 ff. StVZO Keine Schutzgesetze sind die Vorschriften über die Betriebserlaubnis.109 § 36 StVZO Die Vorschrift über die Mindesttiefe des Reifenprofils (§ 36 Abs. 2 Satz 4 StVZO) ist ein Schutzgesetz.110 Ihre Verletzung führt jedoch nur dann zur Haftung des Fahrers und des Halters, wenn diese nicht den Nachweis führen, dass der Unfall sich auch bei ausreichendem Profil in gleicher Weise ereignet hätte.111 Wer als Halter oder Fahrer wegen des schlechten Zustands eines Reifens damit rechnen muss, dass dieser platzt, hat auch dafür einzustehen, dass er nach dem Platzen des Reifens auf der Autobahn langsam fahren muss und dass deshalb ein anderes Kfz auf seinen Wagen auffährt.112 § 142 StGB Die Strafvorschrift für unerlaubtes Entfernen vom Unfallort bezweckt primär den Schutz von Vermögensinteressen, nämlich des Interesses des bei einem Verkehrsunfall Geschädigten an der Erhaltung der Beweismöglichkeiten zur Durchsetzung seiner Ersatzansprüche.113 Ihr

104 BGH v. 28.4.1987 – VI ZR 66/86, VersR 1987, 908. 105 OLG Köln v. 26.10.1989 – 7 U 13/89, NZV 1990, 72; OLG München v. 15.3.2019 – 10 U 2655/ 18, r+s 2019, 285; LG Aachen v. 6.6.1990 – 4 O 9/90, VersR 1992, 333; a.A. OLG Düsseldorf v. 5.2.1982 – 5 Ss OWi 634/81 I, VRS 63, 60. 106 BGH v. 4.10.1966 – VI ZR 19/65, VersR 1966, 1156; vgl. auch österr. OGH VersR 1985, 199. 107 BGH v. 21.2.1974 – VI ZR 234/72, VersR 1974, 754. 108 BGH v. 5.2.1980 – VI ZR 169/79, VersR 1980, 457; Schlosser JuS 1982, 657, 660; erwidernd Cypionka JuS 1983, 23. 109 BGH v. 17.10.1978 – VI ZR 236/75, VRS 56, 100. 110 BGH v. 1.10.1969 – IV ZR 642/68, VersR 1969, 1025. 111 BGH v. 25.3.1969 – VI ZR 269/67, VersR 1969, 615. 112 BGH v. 27.9.1968 – VI ZR 163/67, VersR 1968, 1165. 113 BGH v. 18.11.1980 – VI ZR 215/78, VersR 1981, 161.

250 | Greger

II. Schutzgesetzverletzung als Haftungstatbestand | Rz. 11.59 § 11

Schutzzweck umfasst auch Schäden, die ein Dritter erleidet, weil er im Interesse des Geschädigten den flüchtenden Schädiger verfolgt.114 § 248b StGB schützt zwar den Berechtigten gegen unbefugten Gebrauch seines Kfz, nicht aber andere Verkehrsteilnehmer.115

11.54

§ 317 StGB ist kein Schutzgesetz zugunsten der einzelnen Telekommunikationsteilnehmer. Erleiden diese daher durch eine unfallbedingte Unterbrechung der Fernmeldeverbindung einen Vermögensschaden, so haben sie keinen Ersatzanspruch gegen den Unfallverursacher.116

11.55

§ 323c StGB Die Strafvorschrift über unterlassene Hilfeleistung zielt auch darauf ab, Schäden von Individualrechtsgütern, die in Gefahr geraten sind, abzuwenden, und ist daher Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB.117

11.56

§ 6 PflVG ist Schutzgesetz, setzt aber „Gestattung“ des Betriebs des nicht versicherten Fahrzeugs voraus; hieran fehlt es, wenn der Halter das Fahrzeug unversichert veräußert hat und der Erwerber später damit fährt118 oder wenn eine vom Halter erteilte Erlaubnis zur Benutzung des Fahrzeugs auf nicht öffentlichen Wegen dazu missbraucht wird, das Fahrzeug auch auf öffentlichen Wegen zu benutzen.119 Außerdem schützt die Vorschrift den Geschädigten nur davor, seine Ansprüche nicht realisieren zu können, nicht vor der Schädigung als solcher.120 Es entspricht nicht dem Schutzzweck des § 6 PflVG, den Überlasser des nicht versicherten Fahrzeugs nach § 823 Abs. 2 BGB für die Verletzung einer Person haftbar zu machen, die in dem Pkw mitfuhr, nachdem die Entleiherin des Wagens diesen einem Dritten überlassen hatte.121 Die Gefahrgutverordnung Straße Eisenbahn und Binnenschifffahrt (GGVSEB) ist Schutzgesetz zugunsten geschädigter Grundeigentümer.122 § 64 EBO Das Verbot von Beschädigungen der Bahn und betriebsstörenden Handlungen schützt die Gesundheit und das Eigentum des Eisenbahnunternehmers und der anderen vom Eisenbahnverkehr unmittelbar berührten Personen. Das Vermögen als solches, z.B. die Nutzbarkeit einer Bahnstrecke, wird aber nicht geschützt.123

114 115 116 117 118 119 120 121 122 123

Offenlassend BGH v. 18.11.1980 – VI ZR 215/78, VersR 1981, 161. BGH v. 4.12.1956 – VI ZR 161/55, BGHZ 22, 293; Deutsch VersR 2004, 137, 138. BGH v. 25.1.1977 – VI ZR 29/75, VersR 1977, 616. BGH v. 14.5.2013 – VI ZR 255/11, BGHZ 197, 225. BGH v. 21.2.1974 – VI ZR 234/72, VersR 1974, 754; BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 73/78, VersR 1979, 766. BGH v. 7.6.1988 – VI ZR 203/87, NZV 1988, 140; zum Irrtum über die Öffentlichkeit des Weges s. OLG Zweibrücken v. 22.9.1989 – 1 U 211/88, NZV 1990, 476. BGH v. 5.2.1980 – VI ZR 169/79, VersR 1980, 457. A.A. OLG Nürnberg v. 5.11.1992 – 8 U 3084/91, NZV 1993, 273. OLG Hamm v. 17.3.1992 – 7 U 103/91, NJW-RR 1993, 914 (zur früheren GGVS). BGH v. 11.1.2005 – VI ZR 34/04, NZV 2005, 359.

Greger | 251

11.57

11.58

11.59

§ 11 Rz. 11.60 | Haftung wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz

11.60

Bauordnungen der Länder Auf sie können Ersatzansprüche desjenigen, der durch einen Unfall von der Stromversorgung abgeschnitten wird und hierdurch einen Vermögensschaden erleidet, nicht gestützt werden.124

11.61

Verordnungen über den Anleinzwang sollen auch vor Unfällen von Verkehrsteilnehmern mit frei herumlaufenden Hunden schützen.125

III. Verschulden 1. Allgemeines 11.62

Für das Verschuldenserfordernis gelten dieselben Grundsätze wie bei § 823 Abs. 1 BGB (s. Rz. 10.51 ff.). Es bestehen aber einige Besonderheiten:

2. Verschuldensgrad 11.63

Der für die Haftungsbegründung erforderliche Verschuldensgrad richtet sich nach der Regelung in dem betreffenden Schutzgesetz: Verlangt es Vorsatz, so kann auch ein Anspruch nach § 823 Abs. 2 BGB nur bei Vorsatz entstehen, ansonsten genügt Fahrlässigkeit.126 Kann gegen ein Schutzgesetz auch ohne Verschulden verstoßen werden (im Verkehrshaftpflichtrecht kaum praktisch), so ist nach § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB zur Begründung der Haftung gleichwohl mindestens Fahrlässigkeit erforderlich.

3. Fahrlässigkeitsmaßstab 11.64

Auch wenn es sich bei dem Schutzgesetz um eine strafrechtliche Norm handelt, ist für die Haftungsfolge der zivilrechtliche, objektive Fahrlässigkeitsbegriff (s. Rz. 10.54) maßgeblich.127 Dass Haftung und Ahndung damit auseinanderfallen können, ist angesichts der unterschiedlichen Zwecke dieser Rechtsfolgen unproblematisch.128

4. Inhalt der Fahrlässigkeit 11.65

Sie braucht sich nur auf den Gesetzesverstoß, nicht auch auf die Schädigung zu beziehen (sofern diese nicht selbst Tatbestandsvoraussetzung des Schutzgesetzes ist).129 Bewusstsein der Schadensentstehung braucht der Täter daher nicht zu haben.130

BGH v. 8,6.1976 – VI ZR 50/75, BGHZ 66, 388. OLG Hamm v. 21.7.2008 – 6 U 60/08, NZV 2008, 564. BGH v. 29.4.1966 – V ZR 147/63, BGHZ 46, 17, 21; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 159. BGH v. 16.1.1968 – VI ZR 134/66, VersR 1968, 378, 379; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 159; Deutsch VersR 2004, 137, 141; Dörner JuS 1987, 522, 527. 128 A.A. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 611 f. 129 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 97/69, VersR 1971, 239, 241; MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 607; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 159. 130 BGH v. 1.12.1982 – VI ZR 35/83, VersR 1984, 270, 271; MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 607.

124 125 126 127

252 | Greger

III. Verschulden | Rz. 11.67 § 11

5. Verbotsirrtum Während nach allgemeinen zivilrechtlichen Regeln der Verbotsirrtum den Vorsatz entfallen lässt (Rz. 10.59), wendet die Rechtsprechung bei Schutzgesetzen aus dem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht den dort geltenden Grundsatz, dass nur der unvermeidbare Verbotsirrtum entlastet (§ 17 StGB, § 11 Abs. 2 OWiG), auch auf die zivilrechtliche Haftung an.131

11.66

6. Beweislast Das Verschulden muss der Geschädigte beweisen; die Rechtsprechung gewährt aber Beweiserleichterungen. Bei typischen Geschehensabläufen kommt ein Anscheinsbeweis in Betracht (s. Rz. 41.60). Darüber hinaus hat nach sehr weitgehender Ansicht des BGH bei feststehender Verletzung eines Schutzgesetzes der Verletzer in aller Regel Umstände darzulegen und zu beweisen, die geeignet sind, die daraus folgende Annahme seines Verschuldens auszuräumen.132 Zu Recht wird dies allenfalls dann für vertretbar gehalten, wenn das Gesetz das geforderte Verhalten so konkret umschreibt, dass die Verwirklichung des objektiven Tatbestands den Schluss auf die Schuld nahe legt.133 Geht es um Abläufe im ausschließlichen Wahrnehmungsbereich des Schädigers, greifen die Grundsätze der sekundären Darlegungslast (s. Rz. 41.3) ein.

131 BGH v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 381; BGH v. 15.5.2012 – VI ZR 166/11, NJW 2012, 3177, 3180. Zur Gegenansicht s. Rz. 10.59. 132 BGH v. 13.12.1984 – III ZR 20/83, NJW 1985, 1774, 1775. 133 Staudinger/Hager § 823 Rz. G 40; Erman/Wilhelmi § 823 Rz. 159.

Greger | 253

11.67

§ 12 Haftung wegen Amtspflichtverletzung

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . a) Persönliche Haftung und Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonderheit in den neuen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnis zu sonstigen Anspruchsgrundlagen . . . . . . . . . . 3. Mithaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB) . . . . . 1. Beamteneigenschaft . . . . . . . . . . . . 2. Verletzung einer Amtspflicht gegenüber dem Geschädigten . . . . a) Teilnahme am Straßenverkehr . . . . b) Vorschriftswidrige Benutzung von Dienstfahrzeugen . . . . . . . . . . . . . . . c) Aufsichtspflichten . . . . . . . . . . . . . . d) Verkehrsregelung . . . . . . . . . . . . . . . e) Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zulassungsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . g) Technische Überwachungsvereine . h) Straßenbaulast . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Rentenversicherungsträger . . . . . . . j) Amtspflichten gegenüber Trägern öffentlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . 3. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Haftung des Staates (Art. 34 GG) . 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausübung eines öffentlichen Amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verkehrssicherungspflicht und Verkehrsregelungspflicht . . . . . . . . . c) Dienstfahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sonstige Fälle hoheitlicher Tätigkeit 3. Verbürgung der Gegenseitigkeit bei Ausländern . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haftende Körperschaft . . . . . . . . . . a) Maßgeblichkeit der Anstellung . . . .

12.1 12.1 12.1 12.4 12.6 12.9 12.10 12.11 12.12 12.12 12.13 12.14 12.15 12.16 12.17 12.25 12.27 12.28 12.29 12.30 12.31 12.33 12.36 12.36 12.38 12.38 12.44 12.45 12.54 12.55 12.56 12.56

b) Bedeutung der Aufgabenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Haftung mehrerer Körperschaften . IV. Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unanwendbarkeit des Verweisungsprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verkehrsteilnahme . . . . . . . . . . . . . b) Verkehrssicherungspflicht . . . . . . . . c) Sonstige Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begriff des anderweitigen Ersatzes 4. Unmöglichkeit anderweitigen Ersatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Partielle Anspruchskonkurrenz . . 6. Beweis- und prozessrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Haftung für Angehörige ausländischer Streitkräfte . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Behandlung außerhalb des Dienstes verursachter Unfälle . . . . 3. NATO-Truppen . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . b) Geltungsbereich des NATO-Truppenstatuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entsendestaaten . . . . . . . . . . . . bb) Schadensgebiet . . . . . . . . . . . . . c) Grundzüge der Regelung . . . . . . . . . d) Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen die Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erfasste Ansprüche . . . . . . . . . . bb) Nachweis der Dienstbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anzuwendendes Recht . . . . . . . dd) Schuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Geltendmachung der Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Fristversäumung . . . . . . . . . . . . gg) Einfluss der Fristversäumung auf Gesamtschuldnerausgleich . hh) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Bindungswirkung . . . . . . . . . . .

12.57 12.59 12.60 12.60 12.61 12.61 12.62 12.63 12.64 12.68 12.70 12.71 12.73 12.73 12.74 12.78 12.78 12.79 12.79 12.80 12.81

12.83 12.84 12.87 12.88 12.89 12.90 12.95 12.97 12.98 12.99

Greger | 255

§ 12 Rz. 12.1 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung 4. Truppen anderer Staaten . . . . . . . 12.100 VI. Haftung im Anstellungsverhältnis 12.101 1. Rückgriff gegen Beamte . . . . . . . . 12.101

2. Rückgriff gegen sonstige Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.103 3. Haftung für Eigenschaden der Anstellungskörperschaft . . . . . . . . 12.104

§ 839 BGB (1) Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag. (2) Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er für den daraus entstehenden Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. Auf eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amts findet diese Vorschrift keine Anwendung. (3) Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Art. 34 GG Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. Bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit bleibt der Rückgriff vorbehalten. Für den Anspruch auf Schadensersatz und für den Rückgriff darf der ordentliche Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden.

I. Überblick 1. Rechtsgrundlagen a) Persönliche Haftung und Staatshaftung 12.1

Hat ein Beamter (i.S.d. Beamtenrechts) den Unfall durch Verletzung einer dem Geschädigten gegenüber bestehenden Amtspflicht verursacht, so folgt seine persönliche Haftung nicht aus § 823, sondern aus § 839 BGB, unabhängig davon, ob er im hoheitlichen oder im fiskalischen Funktionsbereich seiner Behörde tätig geworden ist. Eine Rechtsgutsverletzung i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB ist demnach nicht vorausgesetzt; es kann auch die Zufügung bloßen Vermögensschadens genügen, sofern er vom Schutzzweck der verletzten Amtspflicht umfasst wird (für den Bereich des Straßenverkehrs s. Rz. 12.14). Die Haftung des Beamten ist auf der anderen Seite aber dadurch eingeschränkt, dass sie bei Fahrlässigkeit hinter anderweitigen Ersatzmöglichkeiten zurücktritt (§ 839 Abs. 1 Satz 2 BGB; zu den erheblichen Einschränkungen dieser Subsidiaritätsklausel durch die jüngere Rechtsprechung s. Rz. 12.61 ff.). Ist der Beamte hoheitlich tätig geworden, wird seine persönliche Haftung durch die Staatshaftung nach Art. 34 GG ersetzt (s. Rz. 12.3). Im fiskalischen Funktionskreis der öffentlichen Verwaltung bleibt es bei der Eigenhaftung des Beamten.1 Diese entfällt jedoch gem. § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB, wenn der

1 BGH v. 10.5.2001 – III ZR 111/99, NJW 2001, 2626, 2629.

256 | Greger

I. Überblick | Rz. 12.5 § 12

Geschädigte sich aufgrund einer anderen Zurechnungsnorm, z.B. § 831 BGB, an den Dienstherrn halten kann.2 Nicht beamtete Amtsträger (z.B. Angestellte im öffentlichen Dienst) haften nach § 823 BGB; haben sie hoheitliche Funktion ausgeübt, wird ihre persönliche Haftung aber ebenfalls durch Art. 34 GG verdrängt.

12.2

Die Haftung des Staates (oder der sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaft) tritt nach Art. 34 GG an die Stelle der persönlichen Haftung des Bediensteten, sofern dieser in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt hat. Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 34 GG („jemand“) ergibt, spielt der Beamtenstatus hierbei keine Rolle. Bei Ausübung privatrechtlicher Verwaltungsfunktionen kommt eine Haftung nach § 831 BGB in Betracht.

12.3

b) Besonderheit in den neuen Bundesländern Hier besteht seit dem Beitritt der DDR am 3.10.1990 eine Konkurrenz zweier Staatshaftungssysteme.3 Der Einigungsvertrag4 ließ das StHG der DDR5 mit bestimmten Modifizierungen als Landesrecht weiter gelten. In der Folgezeit wurden seine Regelungen in einigen Ländern aufgehoben,6 in anderen modifiziert.7 Da die Regelungsgegenstände nicht identisch sind – das Bundesrecht normiert eine zivilrechtliche Amtswalterhaftung, die vom Staat übernommen wird, das Landesrecht eine unmittelbare öffentlich-rechtliche Haftung des Staates – sind für die Haftung von Ländern und Kommunen beide Regelungen nebeneinander anwendbar,8 während sich die Haftung für Bedienstete des Bundes selbstverständlich nur nach § 839 BGB, Art. 34 GG richtet. Zur Haftung für Verletzung der Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 13.3.

12.4

Gegen die Wirksamkeit der Überleitung des StHG in das Recht der neuen Länder bestehen keine Bedenken,9 gegen ihre Sachgerechtigkeit sehr wohl.10 In der guten Absicht, ein gegenüber dem im Reformansatz stecken gebliebenen Staatshaftungsrecht der Bundesrepublik vermeintlich fortschrittlicheres Recht am Leben zu erhalten, dürfte nicht ausreichend bedacht worden sein, dass die Übernahme der auf eine ganz andere Gesellschafts- und Eigentumsord-

12.5

2 Vgl. BGH v. 10.5.2001 – III ZR 111/99, NJW 2001, 2626, 2629; Erman/Mayen § 839 Rz. 26. 3 Zur Rechtslage und -entwicklung in der SBZ bzw. DDR seit 1945 s. Janke NJ 1993, 444, zur Entwicklung seit 1990 Lühmann NJW 1998, 3001. 4 Art. 9 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 i.V.m. Anl. II Kap. III B III Nr. 1 (BGBl. II 1990, 889, 1168). 5 Ges. v. 12.5.1969 (GBl. I 34), geändert durch Ges. v. 14.12.1988 (GBl. I 329). Text und Erläuterung bei Geigel/Brodöfel Kap. 20 Rz. 295 ff. 6 In Berlin durch Ges v. 21.9.1995 (GVBl. 607) mit Wirkung v. 29.9.1995, in Sachsen durch § 2 Abs. 1 RechtsbereinigungsG v. 17.4.1998 (GVBl. 151) mit Wirkung v. 1.5.1998, in MecklenburgVorpommern durch Ges. v. 12.3.2009 (GVOBl. 2009, 281) mit Wirkung v. 26.3.2009. 7 In Brandenburg durch Ges. v. 14.6.1993 (GVBl. 198; zur Fortgeltung s. auch Ges. v. 3.9.1997, GVBl. I 104), in Thüringen gem. NeuBek v. 2.10.1998 (GVBl. 336), in Sachsen-Anhalt gem. NeuBek v. 2.1.1997 (GVBl. LSA 17). 8 OLG Jena v. 1.7.1998 – 4 U 768/97, OLG-NL 1999, 8; OLG Brandenburg v. 20.6.1995 – 2 U 13/ 94, DtZ 1996, 381. 9 OLG Jena v. 1.7.1998 – 4 U 768/97, OLG-NL 1999, 8; Lörler DtZ 1992, 135; a.A. Schullan VersR 1993, 283, 287; kompetenzrechtliche Bedenken auch bei Ossenbühl NJW 1991, 1201, 1203. Der BGH wendet beide Rechtsgrundlagen nebeneinander an (z.B. BGH v. 10.4.2003 – III ZR 38/02, VersR 2004, 604). 10 Vgl. Krohn VersR 1991, 1085, 1092 f.; Schullan VersR 1993, 283 ff.; Lörler DtZ 1992, 135. Bejahend dagegen Büchner-Uhder NJ 1991, 153.

Greger | 257

§ 12 Rz. 12.5 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

nung zugeschnittenen Normen eine Dimension der Staatshaftung eröffnete, die weit über die Reformziele hinausging,11 insbesondere durch Begründung einer reinen Erfolgshaftung. Die spätere Landesgesetzgebung hat dies teilweise abgemildert.

2. Verhältnis zu sonstigen Anspruchsgrundlagen 12.6

Ansprüche gegen den Beamten nach allgemeinem Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) sind ausgeschlossen.12 § 839 BGB ist insoweit lex specialis. Ist der Beamte Kfz-Halter, bleibt seine Haftung nach § 7 StVG unberührt;13 dagegen haftet er nicht neben dem Dienstherrn als Kfz-Führer nach § 18 StVG14 (s. Rz. 12.7). Zu § 110 SGB VII s. Rz. 35.147 f.

12.7

Eine Haftung des Dienstherrn für den Beamten nach §§ 89, 30, 31 oder § 831 BGB kommt nur bei Tätigwerden im privatrechtlichen Geschäftskreis in Betracht. Hat der Beamte in Ausübung öffentlicher Gewalt gehandelt, haftet der Staat nach § 839 BGB, Art. 34 GG ohne Entlastungsmöglichkeit.15 Ist der Dienstherr auch Halter des Kfz, mit dem der Beamte den Unfall verursacht hat, so haftet er auch nach § 7 StVG.16 Die Haftung für vermutetes Verschulden nach § 18 StVG geht auf den Dienstherrn über, wenn der Beamte die Unfallfahrt in Ausübung öffentlicher Gewalt unternommen hat.17 In diesem Fall muss also der Dienstherr fehlendes Verschulden des Beamten beweisen; die Haftung geht jedoch nicht weiter als nach dem StVG.18

12.8

Aus Spezialgesetzen können sich auch öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche ergeben (s. Rz. 18.1 ff.), zB bei Maßnahmen der Polizei oder Einsatzfahrten der Feuerwehr.19 Zur Aufsichtspflichtverletzung s. Rz. 8.8 f.

3. Mithaftung 12.9

Auch bei der Amtshaftung muss sich der Geschädigte ein Mitverschulden (§ 254 BGB) oder eine mitwirkende Betriebsgefahr (Rz. 25.3) anrechnen lassen. Hierbei gilt jedoch der Grundsatz, dass der Bürger nicht klüger zu sein braucht als die mit der Angelegenheit befassten Beamten.20 Dies enthebt den Kraftfahrer allerdings nicht der Verpflichtung zu umsichtigem Handeln bei einer erkennbar fehlerhaften Verkehrsregelung. Auch einer polizeilichen Weisung darf er nicht blindlings folgen.21

4. Verjährung 12.10

Die für den Beginn der Verjährung erforderliche Kenntnis (§ 199 BGB) liegt vor, wenn der Verletzte die tatsächlichen Umstände kennt, die eine schuldhafte Amtspflichtverletzung als so 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Eingehend Lörler DtZ 1992, 135, 136 f.; Krohn VersR 1991, 1085, 1092 f. BGH v. 30.9.1970 – III ZR 81/67, NJW 1971, 43 m.w.N. BGH v. 8.12.1958 – III ZR 235/56, BGHZ 29, 38, 43. BGH v. 24.2.1958 – III ZR 184/56, NJW 1958, 868; BGH v. 24.2.1959 – VI ZR 66/58, NJW 1959, 985 = JZ 1960, 174 mit Anm. Schröer. BGH v. 27.1.1977 – III ZR 173/74, BGHZ 68, 217, 219. RG v. 17.9.1934 – VI 108/34, RGZ 145, 177, 181. BGH v. 17.2.1983 – III ZR 147/81, VersR 1983, 461. OLG Schleswig v. 26.3.1997 – 9 U 87/96, VersR 1998, 241 mit Anm. Schmalzl 981. S. dazu Bernstrauch NZV 2020, 243. BGH v. 29.3.1990 – III ZR 145/88, VersR 1990, 789, 790. Vgl. OLG Köln v. 14.5.1992 – 7 U 21/92, NZV 1993, 64.

258 | Greger

II. Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB) | Rz. 12.13 § 12

naheliegend erscheinen lassen, dass eine Klageerhebung zumutbar ist.22 Dass er aus den ihm bekannten Tatsachen auch die zutreffenden rechtlichen Schlüsse zieht, ist nicht erforderlich; nur soweit Besonderheiten des Amtshaftungsrechts eine Klage wegen zweifelhafter Rechtslage, z.B. bezüglich der Passivlegitimation, unzumutbar machen, kann Rechtsunkenntnis den Verjährungsbeginn hinausschieben (s. Rz. 24.8).

5. Beweislast Der Verletzte muss beweisen, dass eine schuldhafte Amtspflichtverletzung vorliegt, die den geltend gemachten Schaden verursacht hat (s. Rz. 41.38 ff.). Die Beweisführung kann allenfalls nach den Regeln des Anscheinsbeweises, nicht durch eine Umkehr der Beweislast erleichtert sein.23 Die gesetzlichen Verschuldensvermutungen nach §§ 832, 833 BGB gelten jedoch für § 839 BGB entsprechend.24 Zu § 836 BGB s. Rz. 13.4, 13.10; zu §§ 7, 18 StVG s. Rz. 12.6 f. Die Beweiserleichterung des § 287 ZPO kommt dem Geschädigten erst zugute, wenn Amtspflichtverletzung und Verschulden feststehen (s. Rz. 41.52). Zur Beweislastverteilung bzgl. des anderweitigen Ersatzes i.S.v. § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB s. Rz. 12.71.

12.11

II. Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB) 1. Beamteneigenschaft Maßgeblich ist die Stellung als Beamter im beamtenrechtlichen Sinn,25 d.h. die förmliche Ernennung zum Beamten (§ 10 BBG, § 8 BeamtStG). Sonstige Amtsträger haften ggf. nach § 823 BGB (s. Rz. 12.2). Die nachstehenden Erläuterungen zu den Amtspflichten gelten für sie entsprechend. Zur Ersetzung der persönlichen Haftung durch die Haftung des Staates s. Rz. 12.36 ff.

12.12

2. Verletzung einer Amtspflicht gegenüber dem Geschädigten Der Unfall muss darauf beruhen, dass der Beamte (oder sonstige Amtsträger) eine Dienstpflicht verletzt hat, die ihm gerade dem Geschädigten als „Dritten“, nicht nur der Allgemeinheit oder seiner Behörde gegenüber oblag. Ob der Geschädigte i.S.d. § 839 Abs. 1 BGB „Dritter“ ist, richtet sich danach, ob die Amtspflicht – wenn auch nicht notwendig allein, so doch auch – den Zweck hat, gerade sein Interesse wahrzunehmen. Nur wenn sich aus den die Amtspflicht begründenden und sie umreißenden Bestimmungen sowie aus der besonderen Natur des Amtsgeschäfts ergibt, dass der Geschädigte zu dem Personenkreis zählt, dessen Belange nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt und gefördert werden sollen, besteht ihm gegenüber bei schuldhafter Pflichtverletzung eine Schadensersatzpflicht. Hingegen ist anderen Personen gegenüber, selbst wenn die Amtspflichtver22 BGH v. 11.1.2007 – III ZR 302/05, BGHZ 170, 260, 271. S. auch Rz. 24.27 ff. 23 Vgl. BGH v. 1.6.1970 – III ZR 210/68, NJW 1970, 1877, 1879 zu insoweit missverständlichen Äußerungen in früheren Entscheidungen betr. Verletzungen der Verkehrssicherungspflicht; unzutr. OLG Karlsruhe v. 22.12.1989 – 14 U 159/88, MDR 1990, 722. 24 BGH v. 26.6.1972 – III ZR 32/70, VersR 1972, 1047 (zu § 833); BGH v. 13.12.2012 – III ZR 226/ 12, NJW 2013, 1233 mit Bespr. Förster 1201 = JZ 2013, 362 mit zust. Anm. Schneider = NZV 2013, 235 mit zust. Anm. Bernau (zu § 832 unter Aufgabe von BGHZ 13, 25); OLG Köln v. 20.5.1999 – 7 U 5/99, MDR 1999, 997 mit zust. Anm. Mertens; Staudinger/Bernau § 832 Rz. 211. 25 BGH v. 16.4.1964 – III ZR 182/63, BGHZ 42, 176, 178.

Greger | 259

12.13

§ 12 Rz. 12.13 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

letzung sich für sie mehr oder weniger nachteilig ausgewirkt hat, eine Ersatzpflicht nicht begründet. Es muss mithin eine besondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten „Dritten“ bestehen. Dabei muss eine Person, der gegenüber eine Amtspflicht zu erfüllen ist, nicht in allen ihren Belangen immer als „Dritter“ anzusehen sein. Vielmehr ist jeweils zu prüfen, ob gerade das im Einzelfall berührte Interesse nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt werden soll. Es kommt demnach auf den Schutzzweck der Amtspflicht an.26

a) Teilnahme am Straßenverkehr 12.14

Die Verkehrsregeln zu beachten und Schädigungen der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter zu vermeiden, ist Amtspflicht gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern.27 Sie kann auch gegenüber einer juristischen Person des öffentlichen Rechts (z.B. als Eigentümerin eines beschädigten Kfz) bestehen,28 nicht aber gegenüber einem Dritten, der durch den Unfall lediglich einen Vermögensschaden erleidet.29 Außerdem ist auch hier die Schutzwirkung der betreffenden Verkehrsvorschrift zu beachten: die genannte Amtspflicht besteht nur demjenigen Verkehrsteilnehmer gegenüber, der von der konkret in Rede stehenden Vorschrift geschützt werden soll,30 also z.B. nicht gegenüber dem Eigentümer des vom Beamten benützten Kfz.31

b) Vorschriftswidrige Benutzung von Dienstfahrzeugen 12.15

Eine solche zu verhindern, ist Amtspflicht gegenüber den gefährdeten Verkehrsteilnehmern.32

c) Aufsichtspflichten 12.16

Aufsichtspflichten, z.B. von Lehrern oder Fürsorgern, bestehen nicht nur gegenüber den Schutzbefohlenen (insoweit werden Schadensersatzansprüche wegen § 105 Abs. 1 SGB VII i.d.R. nicht in Betracht kommen; s. Rz. 22.144 ff.), sondern auch gegenüber Dritten, auf die sich das zu beaufsichtigende Verhalten auswirken kann, also auch Verkehrsteilnehmern, die, z.B. durch ausgelassene Spiele, gefährdet werden.33 § 832 BGB ist daneben nicht anwendbar; die dortige Beweisregelung gilt jedoch entsprechend (s. Rz. 12.11).

d) Verkehrsregelung 12.17

Die Straßenverkehrsbehörden sind gegenüber den Verkehrsteilnehmern verpflichtet, durch sachgerechte Verkehrsregelung, insb. Anbringung von Verkehrszeichen und -einrichtungen (§ 44 Abs. 1, § 45 Abs. 3, 4, 9 StVO), für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zu sor-

26 BGH v. 12.12.1991 – III ZR 10/91, NJW 1992, 1227, 1229. 27 BGH v. 21.2.1985 – III ZR 205/83, NJW 1985, 1950. 28 BGH v. 7.11.2013 – III ZR 263/12, BGHZ 198, 374 (zur Schädigung eines Kfz des Bundes durch einen in Bundesauftragsverwaltung tätigen Landesbediensteten). 29 BGH v. 18.12.1972 – III ZR 40/70, NJW 1973, 463. 30 BGH v. 21.2.1985 – III ZR 205/83, NJW 1985, 1950. 31 BGH v. 12.12.1991 – III ZR 10/91, NJW 1992, 1227. 32 BGH v. 17.3.1983 – III ZR 170/81, VersR 1983, 638. 33 RG v. 25.6.1929 – III 492/28, RGZ 125, 85, 86; BGH v. 15.3.1954 – III ZR 333/52, BGHZ 13, 25, 26; MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani § 839 Rz. 316; Pardey DAR 2001, 1; a.A. OLG Celle v. 21.2.1995 – 16 U 120/94, OLGR Celle 1995, 131.

260 | Greger

II. Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB) | Rz. 12.20 § 12

gen34 (zur hiervon zu unterscheidenden, grundsätzlich bürgerlich-rechtlichen Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 12.44 u. unten § 13, zur Verkehrsregelung an Baustellen Rz. 13.101 ff.). Die Amtspflicht besteht auch gegenüber einem Verkehrsteilnehmer, der ein nicht mehr zum Verkehr zugelassenes Kfz benützt.35 Der Inhalt der Verkehrsregelungspflicht bestimmt sich nach ihrem Zweck, den Verkehr zu erleichtern und Verkehrsgefahren zu verhüten. Innerhalb dieses Rahmens steht die Regelung des Verkehrs im Ermessen der Behörde. Sie braucht nur solche Maßnahmen zu ergreifen, die objektiv erforderlich und zumutbar sind;36 nicht erforderliche Beschilderungen werden ihr durch § 45 Abs. 9 StVO sogar untersagt. Die Erforderlichkeit fehlt, wenn der Verkehrsteilnehmer mit der gebotenen Sorgfalt etwaige Gefahren selbst abwenden kann.37 Daher ist die Behörde grundsätzlich nicht gehalten, die Vorfahrt an Kreuzungen abweichend von „Rechts vor Links“ durch Verkehrszeichen zu regeln;38 bei hoher Verkehrsbelastung oder Gefährlichkeit der Kreuzung kann darin jedoch ein Ermessensfehler liegen. Einzelheiten zur Verkehrsregelung enthält die VwV-StVO.

12.18

Verkehrszeichen und -einrichtungen sind so zu gestalten, dass sie für einen mit den Verkehrsvorschriften vertrauten, durchschnittlich aufmerksamen, weil durch das Verkehrsgeschehen in Anspruch genommenen Verkehrsteilnehmer deutlich erkennbar sind.39 Ein gewisses Maß von Umsicht muss aber vom Verkehrsteilnehmer, insbesondere wenn er sich erst in den fließenden Verkehr eingliedern will, erwartet werden. Es ist daher z.B. nicht geboten, eine Einbahnstraße an jeder Stelle, an der von einer angrenzenden Fläche in sie eingefahren werden kann (Tankstelle, Grundstücksausfahrt), als solche zu kennzeichnen, sofern die Verkehrsregelung bei sorgfältiger Beobachtung des Umfeldes hinreichend klar zutage tritt.40

12.19

Einzelfälle aus der Rechtsprechung: Bei einer Änderung der Verkehrsregelung, z.B. durch Umstellung von Lichtsignalen, ist die Straßenverkehrsbehörde nicht stets zu besonderen Warnhinweisen verpflichtet,41 bei der Umkehrung einer Vorfahrtregelung aber kann dies für eine Übergangszeit durchaus geboten sein.42 Wird die Fahrtrichtung einer Einbahnstraße umgekehrt, kann es sich als erforderlich erweisen, die Anwohner zu informieren.43 Fahrbahnmarkierungen, die aus Anlass einer Baustelle aufgebracht wurden, sind bei deren Aufhebung so deutlich zu entfernen, dass dies durch einen beiläufigen Blick unzweifelhaft erkennbar ist.44 Dagegen soll es nicht nötig sein, nach Einbau einer Verkehrsinsel die vorhandene Mittellinie (Zeichen 340) zu entfernen.45 Eine ungewöhnliche Verkehrsführung (z.B., Straßenbahngegenverkehr in einer Einbahnstraße) kann eine Hinweispflicht

12.20

34 35 36 37

38 39 40 41 42 43 44 45

BGH v. 11.12.1980 – III ZR 34/79, VersR 1981, 336. BGH v. 26.5.1966 – III ZR 59/64, NJW 1966, 1456. BGH v. 24.3.1988 – III ZR 104/87, NZV 1988, 58. BGH v. 24.3.1988 – III ZR 104/87, NZV 1988, 58 (Vorfahrt der Straßenbahn bei Verlassen einer Fußgängerzone); OLG Stuttgart v. 8.12.1989 – 2 U 326/88, NZV 1990, 268 (Höhenunterschied zwischen Fahrbahn und Bankett); OLG Düsseldorf v. 30.11.1995 – 18 U 75/95, NZV 1996, 366 (Verkehrsinsel auf Leitlinie [Zeichen 340]; zw.). BGH v. 27.10.1958 – III ZR 133/57, VersR 1959, 33. BGH v. 27.2.1967 – III ZR 210/64, VersR 1967, 602. BGH v. 25.4.1985 – III ZR 53/84, VersR 1985, 836. BGH v. 15.3.1990 – III ZR 149/89, NZV 1991, 148; OLG Frankfurt v. 5.5.1983 – 1 U 204/82, VersR 1984, 393; OLG Stuttgart v. 18.11.1988 – 1 U 197/88, VersR 1989, 627. LG Marburg v. 10.1.1997 – 2 O 93/96, DAR 1997, 279. LG Bonn v. 22.1.1992 – 1 O 303/91, NZV 1993, 34. OLG Düsseldorf v. 2.4.1981 – 18 U 225/80, VersR 1981, 960. OLG Düsseldorf v. 30.11.1995 – 18 U 75/95, NZV 1996, 366 (zw.).

Greger | 261

§ 12 Rz. 12.20 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung begründen.46 Wird die Vorfahrt abweichend vom Grundsatz „Rechts vor Links“ geregelt, muss die Regelung dem Straßencharakter, der Verkehrsbelastung, der übergeordneten Verkehrslenkung und dem optischen Eindruck der Straßenbenutzer entsprechen.47 An der Einmündung eines Radwegs in eine Ortsverbindungsstraße ist eine ausdrückliche Vorfahrtsregelung durch Verkehrszeichen zu treffen oder ein Warnzeichen anzubringen, wenn die Vorfahrtberechtigung des Radwegs leicht zu übersehen ist.48 Die Anbringung eines Verkehrsspiegels gehört nicht zur Verkehrsregelung, sondern zur Verkehrssicherung.49

12.21

Fehlerhafte Verkehrsregelung begründet die Haftung für hierdurch verursachte Unfälle, so z.B. bei Fehlen eines notwendigen Verkehrszeichens50 oder bei Anbringung irreführender bzw. widersprüchlicher Verkehrszeichen.51 Auch eine fehlerhafte Programmierung von Lichtsignalanlagen gehört hierher;52 die ordnungsgemäße Wartung von Signalanlagen gehört hingegen zur Verkehrssicherungspflicht (s. Rz. 12.44).

12.22

Nicht fehlerhaft ist es, wenn eine Ampel so geschaltet wird, dass sie für die Gegenrichtungen zeitversetzte Grünphasen hat;53 ob dies auch für eine Fußgängerampel gilt, wenn in der Nähe eine untergeordnete Straße einmündet, so dass für Einbiegende durch das für sie sichtbare Rotlicht der falsche Eindruck einer Sperrung des aus der Gegenrichtung kommenden Verkehrs entstehen kann, muss indes bezweifelt werden.54 Grünlicht für Fußgängerüberweg zu mittig gelegener Haltestelleninsel ist nicht fehlerhaft, wenn das Kommen der Bahn durch ein gelb blinkendes Warnlicht angezeigt wird.55 Besondere Vorkehrungen sind dagegen zu treffen, dass nichtverträgliche Verkehrsströme gleichzeitig oder ohne ausreichende Zwischenzeit freigegeben werden (sog feindliches Grün).

12.23

Der Fehler muss verschuldet sein (zur Haftung bei rechtmäßigen Polizeimaßnahme oder Versagen technischer Einrichtungen s Rz. 18.2). Ob bezüglich des Verschuldens eine tatsächliche Vermutung eingreifen kann56 muss bezweifelt werden; erst recht abzulehnen ist eine Umkehr der Beweislast.57

12.24

Verkehrsregelungspflicht und Verkehrssicherungspflicht (zu den Begriffen Rz. 12.44) können sich im Einzelfall überschneiden, denn auch der Verkehrssicherungspflichtige ist unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt und verpflichtet, Gefahrzeichen aufzustellen (s. Rz. 13.37, 13.46 ff.) oder auf die Änderung einer gefahrbringenden Regelung hinzuwirken.58 In solchen Fällen können Ansprüche gegen beide Pflichtenträger als Gesamtschuldner beste-

46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

LG Heidelberg v. 1.7.1981 – 3 O 73/81, VersR 1982, 1156. BGH v. 24.3.1988 – III ZR 104/87, NZV 1988, 58, 59. OLG München v. 4.4.2013 – 1 U 4266/12, NZV 2014, 221. Offen lassend OLG Saarbrücken v. 4.5.2010 – 4 U 272/09, NJW 2010, 3104. OLG München v. 22.10.1992 – 1 U 2708/92, NVwZ 1993, 505. BGH v. 15.6.2000 – III ZR 302/99, NZV 2000, 412 = LM § 839 (Fm) Nr. 53 mit Anm. Greger; OLG Karlsruhe v. 18.1.1984 – 1 U 30/83, VersR 1984, 1077; OLG Hamm v. 24.1.1995 – 9 U 149/ 94, NZV 1995, 275. BGH v. 22.9.1966 – III ZR 262/64, VersR 1966, 1080; BGH v. 27.2.1967 – III ZR 210/64, VersR 1967, 602; BGH v. 13.7.1972 – III ZR 98/70, NJW 1972, 1806. Österr. OGH ZVR 1995, 364. So aber BGH v. 15.3.1990 – III ZR 149/89, NZV 1991, 147 mit abl. Anm. Menken. OLG Hamm v. 16.1.2001 – 9 U 146/00, NZV 2001, 379. Vgl. auch OLG Köln v. 11.1.2001 – 7 U 103/00, VersR 2002, 1424. So BGH v. 27.2.1969 – III ZR 157/66, VersR 1969, 539. A.A. OLG Düsseldorf v. 20.5.1976 – 18 U 160/73, MDR 1976, 842. BGH v. 15.6.2000 – III ZR 302/99, NZV 2000, 412 = LM § 839 (Fm) Nr. 53 mit Anm. Greger; OLG Saarbrücken v. 4.5.2010 – 4 U 272/09, NJW 2010, 3104.

262 | Greger

II. Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB) | Rz. 12.27 § 12

hen.59 Keiner von ihnen kann geltend machen, er habe sich auf die Pflichterfüllung durch den anderen verlassen.60 Es besteht aber keine generelle Amtspflicht des Straßenbaulastträgers, die Bestimmung der Straßenbaubehörde, wo ein Verkehrszeichen anzubringen ist, zu überprüfen61 oder die Aufstellung von Verkehrszeichen anzuregen.62 Vorrang hat die Verkehrsregelungspflicht der Straßenverkehrsbehörde; der Straßenbaulastträger hat dieser aber bei erkannten besonderen Gefahrenlagen Hinweise zu geben.63 Ist der Verkehrssicherungspflichtige eine Privatperson, so muss sich der Geschädigte wegen des Verweisungsprivilegs des § 839 Abs. 1 S 2 BGB primär an diese halten; die Rechtsprechung des BGH zur Unanwendbarkeit des Verweisungsprivilegs bei Haftung aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht (s. Rz. 12.62) lässt sich auf diesen Fall nicht übertragen.64 Obliegt jedoch auch die Verkehrssicherungspflicht einer Behörde, so kann der Geschädigte beide Pflichtenträger wahlweise in Anspruch nehmen, weil § 839 Abs. 1 S. 2 BGB im Verhältnis zwischen zwei Verwaltungsträgern nicht eingreift (s. Rz. 12.67).

e) Polizei Die Polizei ist den Verkehrsteilnehmern gegenüber verpflichtet, die zur Gefahrenabwehr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, und zwar auch dann, wenn ein anderer, etwa aufgrund einer Pflicht zur Verkehrssicherung oder zur Wegereinigung, zur Beseitigung der Gefahrenquelle verpflichtet ist.65 Diese Verpflichtung geht aber nicht über die Verkehrssicherungspflicht des eigentlich Verantwortlichen hinaus; es besteht daher keine Rechtspflicht der Polizei, anlässlich der Aufnahme glatteisbedingter Unfälle auch die nicht streupflichtigen Glättestellen an die für die Winterwartung zuständigen Behörden zu melden.66 Wegen der Subsidiarität dieser Haftung nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB s. Rz. 12.63.

12.25

Nach OLG Celle v. 11.11.1996 – 16 W 19/96, NZV 1997, 354 soll die Polizei einem Unfallgeschädigten gegenüber zur Aufnahme der Personalien eines potentiellen Unfallverursachers verpflichtet sein (zw.).

12.26

f) Zulassungsstelle Nach § 25 Abs. 4 FZV hat die Zulassungsstelle, sobald sie erfährt, dass ein Kfz nicht (mehr) haftpflichtversichert ist, unverzüglich dafür zu sorgen, dass das Fahrzeug nicht mehr in den Verkehr kommt, indem sie den Fahrzeugschein einzieht und das Kennzeichen entstempelt.67

59 OLG München v. 22.10.1992 – 1 U 2708/92, VersR 1993, 1357; Rebler MDR 2016, 245, 248. 60 BGH v. 11.7.1960 – III ZR 144/59, VersR 1960, 998. 61 OLG Saarbrücken v. 4.5.2010 – 4 U 272/09, NJW 2010, 3104; OLG Düsseldorf v. 30.11.1989 – 18 U 142/89, VersR 1990, 423. 62 Rinne NVwZ 2003, 9. 63 BGH v. 15.6.2000 – III ZR 302/99, NZV 2000, 412 = LM § 839 (Fm) Nr. 53 mit Anm. Greger; BGH v. 8.4.1957 – III ZR 66/56, VersR 1957, 375; Rebler MDR 2016, 245, 247 f. 64 OLG Hamm v. 24.1.1995 – 9 U 149/94, NZV 1995, 275. 65 BGH v. 23.4.1964 – III ZR 140/63, VersR 1964, 925: Ölspur; OLG Hamm v. 10.11.1992 – 9 U 17/ 92, VersR 1994, 726 = NZV 1993, 192: Granulat zum Abdecken einer Ölspur; OLG Koblenz v. 1.3.1993 – 12 U 167/92, NZV 1994, 108: Absicherung einer Unfallstelle; OLG Frankfurt v. 19.9.2003 – 24 U 71/03, VersR 2004, 1561: Fahrbahnhindernis auf einer Autobahn. 66 OLG Hamm v. 4.5.1993 – 9 U 192/92, NVwZ-RR 1994, 70. 67 Einzelheiten mit Rspr.Nachw. bei Lang VersR 1988, 324, 326 und Skauradszun VersR 2009, 330, 331; zum Umfang der erforderlichen Aktivitäten auch OLG München v. 17.11.1988 – 1 U 3883/ 88, DAR 1989, 423; OLG Düsseldorf v. 11.3.1993 – 18 U 176/92, VersR 1994, 859.

Greger | 263

12.27

§ 12 Rz. 12.27 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

Diese Amtspflicht obliegt der Zulassungsstelle nicht nur der Allgemeinheit, sondern auch den Verkehrsteilnehmern oder Mitfahrern gegenüber, die durch ein nicht versichertes Fahrzeug zu Schaden kommen können. Infolgedessen können diese als „Dritte“ i.S.d. § 839 BGB vom Träger der Zulassungsstelle Ersatz verlangen,68 und zwar auch bei Standortverlegung des Fahrzeugs von der Zulassungsstelle, die das Kennzeichen erteilt hat.69 Diese Haftung hat der BGH unter Aufgabe früherer Rspr. auf die Mindestversicherungssumme nach § 4 Abs. 2 PflVG beschränkt.70 Die Amtspflicht der Zulassungsstelle zum unverzüglichen Handeln soll die Verkehrsteilnehmer nicht vor Unfallschäden überhaupt, sondern nur vor denjenigen Nachteilen schützen, die ihnen dadurch entstehen können, dass sie durch ein nicht versichertes Kfz geschädigt werden und deshalb ihre Ansprüche auf Ersatz der ihnen durch ein solches Kfz zugefügten Schäden nicht in dem durch das PflVG gewährleisteten Umfang realisieren können. Der Schutzbereich dieser Amtspflicht umfasst daher nur den Schaden, den ein Verkehrsteilnehmer dadurch erleidet, dass er nicht aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtversicherung von einem Versicherer Ersatz seines Unfallschadens erlangen kann. Dem Schutz des Halters des nicht versicherten Fahrzeugs dient die genannte Amtspflicht nicht.71 Zur Passivlegitimation bei Amtspflichtverletzung der Zulassungsstelle s. Rz. 12.57 f.

g) Technische Überwachungsvereine 12.28

Deren Überwachungspflichten dienen dem Schutz der Allgemeinheit vor Gefährdung durch den Betrieb verkehrsunsicherer Kfz, also potentieller Verkehrsopfer,72 nicht auch dem Schutz des Fahrzeugeigentümers oder -erwerbers vor Vermögensschäden.73

h) Straßenbaulast 12.29

Die aus der Straßenbaulast sich ergebenden Unterhaltungspflichten bestehen lediglich der Allgemeinheit gegenüber.74 Sie überschneiden sich aber häufig mit der (fakultativ ebenfalls öffentlich-rechtlichen) Verkehrssicherungspflicht (s. Rz. 13.14).

i) Rentenversicherungsträger 12.30

Diese haben gegenüber dem Unfallopfer eine Amtspflicht zu sachgerechter Beratung.75

j) Amtspflichten gegenüber Trägern öffentlicher Gewalt 12.31

Auch diesen gegenüber können Amtspflichten i.S.d. § 839 BGB bestehen. „Dritter“ i.S.d. Amtshaftungsrechts ist die andere Körperschaft aber nur dann, wenn der Beamte ihr bei Erledigung seiner Dienstgeschäfte in einer Weise gegenübertritt, wie sie für das Verhältnis zwischen

68 BGH v. 15.1.1987 – III ZR 17/85, BGHZ 99, 326; OLG Düsseldorf v. 11.3.1993 – 18 U 176/92, VersR 1994, 859. 69 BGH v. 2.7.1981 – III ZR 63/80, VersR 1981, 1154, auch zur Haftung der um Amtshilfe ersuchten Zulassungsstelle am neuen Standort. 70 BGH v. 17.5.1990 – III ZR 191/88, BGHZ 111, 272. 71 OLG Düsseldorf v. 7.1.1987 – 18 U 176/86, VersR 1988, 852; OLG Köln v. 23.3.1992 – 7 W 7/92, VersR 1993, 319. 72 OLG Koblenz v. 2.9.2002 – 12 U 266/01, NJW 2003, 297. 73 BGH v. 30.9.2004 – III ZR 194/04, NZV 2005, 40; Hübner VersR 1985, 701, 703. 74 BGH v. 20.3.1967 – III ZR 29/65, NJW 1967, 1325. 75 BGH v. 6.2.1997 – III ZR 241/95, VersR 1997, 745.

264 | Greger

II. Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB) | Rz. 12.34 § 12

ihm und seinem Dienstherrn einerseits und dem Staatsbürger andererseits charakteristisch ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Dienstherr des Beamten und die andere Körperschaft bei der Erfüllung einer ihnen gemeinschaftlich übertragenen Aufgabe derart zusammenwirken, dass sie im Rahmen dieser Aufgabe als Teil eines einheitlichen Ganzen erscheinen.76 Keinen Amtshaftungsanspruch hatte daher das Deutsche Rote Kreuz als anerkannte Beschäftigungsstelle nach dem ZDG gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der Beschädigung eines ihrer Fahrzeuge durch einen Zivildienstleistenden.77 Dagegen ist es zu weitgehend, den Beamten des Jugendamts, der die Aufsicht über Sport treibende Minderjährige ausübt, und einen Streife fahrenden Polizeibeamten deswegen, weil beide letztlich der Verkehrssicherheit dienen, als „Teile eines einheitlichen Ganzen“ anzusehen.78

12.32

3. Verschulden Die Amtspflichtverletzung muss vorsätzlich oder fahrlässig begangen sein. Fahrlässig handelt, wer bei Beobachtung der für einen Beamten erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können, dass er einer Amtspflicht zuwiderhandelt (vgl. Rz. 10.53 ff.). Hat ein mit mehreren Berufsrichtern besetztes Gericht aufgrund sorgfältiger Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Amtshandlung für rechtmäßig erklärt, ist nach der Rechtsprechung i.d.R. ein Verschulden des handelnden Bediensteten zu verneinen.79 Auf Entscheidungen in anderen Fällen kann sich der Beamte aber nicht berufen.80 Der Grundsatz gilt auch nicht, wenn es sich um eine einfache, leicht zu beantwortende Rechtsfrage handelt,81 das Kollegialgericht das Verhalten des Amtsträgers aus Gründen billigt, die dieser selbst nicht erwogen hat82 oder wenn es eine gesetzliche Bestimmung „handgreiflich falsch“ ausgelegt, für die Beurteilung des Falls wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen oder bereits in seinem rechtlichen Ausgangspunkt eine rechtlich verfehlte Betrachtungsweise angestellt hat.83 Umgekehrt trifft einen Beamten, der seine vertretbare, wenn auch in einem späteren Rechtsstreit missbilligte Rechtsmeinung aufgrund sorgfältiger rechtlicher und tatsächlicher Prüfung gewonnen hat, auch dann nicht ohne weiteres der Vorwurf der Fahrlässigkeit, wenn er sich in der Folgezeit einer gegen seine Behörde ergangenen nicht rechtskräftigen Entscheidung nicht beugt.84

12.33

Erhöhte Sorgfalt ist bei Einsatz einer besonders gefährlichen Maschine (z.B. Schneepflug, Streufahrzeug, Kehrmaschine, Mähmaschine) aufzuwenden.85 Bei Mäharbeiten mit Freischneidern kann die Aufstellung einer mobilen Plane geboten sein.86 Ein zur Sicherung des Verkehrs eingesetzter Polizei-

12.34

76 BGH v. 7.5.1973 – III ZR 47/71, BGHZ 60, 371 m.w.N. 77 BGH v. 16.5.1983 – III ZR 78/82, BGHZ 87, 253 = JZ 1983, 764 mit abl. Anm. Papier; OLG Köln v. 15.7.1997 – 7 U 215/96, VersR 1998, 1375. 78 So aber OLG Düsseldorf v. 23.5.1991 – 18 U 256/90, VersR 1992, 825. 79 BGH v. 29.5.1958 – III ZR 38/57, BGHZ 27, 338; BGH v. 9.7.2020 – III ZR 245/18, VersR 2020, 1185 m.w.N.; BVerwG v. 9.8.1990 – 1 B 94/90, NVwZ 1991, 270. 80 BGH v. 28.11.2002 – III ZR 122/02, NZV 2003, 125. 81 BGH v. 28.2.1963 – III ZR 192/61, VersR 1963, 628, 630. 82 BGH v. 21.2.2019 – III ZR 115/18, NJW 2019, 1374, 1376. 83 BGH v. 6.2.1997 – III ZR 241/95, VersR 1997, 745. Zu Recht krit. Zu dieser Rspr. Schmidt NJW 1993, 1630 f. 84 BGH v. 17.3.1994 – III ZR 27/93, NJW 1994, 3158. 85 BGH v. 3.3.1966 – III 12/65, VersR 1966, 589 (Kehrmaschine auf Autobahn; nicht überzeugend); BGH v. 28.11.2002 – III ZR 122/02, NZV 2003, 125 (Mähmaschine). 86 BGH v. 4.7.2013 – III ZR 250/12, NZV 2013, 588.

Greger | 265

§ 12 Rz. 12.34 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung beamter handelt sorgfaltswidrig, wenn er trotz erkennbarer Gefahrenlage einen Pkw-Fahrer zur Weiterfahrt auffordert.87

12.35

Unzurechnungsfähigkeit des Beamten (z.B. Bewusstlosigkeit) führt auch hinsichtlich der Amtshaftung nach § 827 BGB zur Haftungsfreiheit. Die Anwendung des § 829 BGB kommt bei der Amtshaftung nicht in Betracht.

III. Haftung des Staates (Art. 34 GG) 1. Grundsatz 12.36

Die Haftung des Amtsträgers entfällt und wird durch die Haftung der Anstellungskörperschaft ersetzt, wenn zu den vorstehenden Voraussetzungen hinzukommt, dass der Schädiger in Ausübung eines öffentlichen Amtes, also hoheitlich, gehandelt hat. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um einen Beamten im Sinne des Beamtenrechts handelt (s. Rz. 12.2). Eine persönliche Außenhaftung des Amtsträgers besteht demnach nur im fiskalischen Funktionskreis der öffentlichen Verwaltung. Auch dort entfällt sie jedoch, wenn § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB anwendbar ist und der Geschädigte sich aufgrund einer anderen Zurechnungsnorm, z.B. § 831 BGB, an die Anstellungskörperschaft halten kann.88 Zum Rückgriff im Innenverhältnis s. Rz. 12.101 ff.

12.37

Die Regelung begründet eine befreiende Schuldübernahme kraft Verfassungsrechts.89 Inhaltlich bleibt die Haftung gleich; die auf die persönliche Haftpflicht des Amtsträgers zugeschnittenen Haftungsmilderungen kommen, ebenso wie seine Einbeziehung in den Schutz einer Kfz-Haftpflichtversicherung, auch dem Staat zugute.90

2. Ausübung eines öffentlichen Amtes a) Begriff 12.38

Entscheidend ist, ob die Zielsetzung, die mit der schadensauslösenden Tätigkeit des Beamten verfolgt wurde, dem Bereich der hoheitlichen Verwaltung zuzurechnen ist und ob bejahendenfalls zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls noch als dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss.91 In Fällen, in denen es um die Amtshaftung für eingeschaltete Hilfspersonen geht, ist darauf abzustellen, ob die Tätigkeit der Hilfsperson unmittelbar in den hoheitlichen Aufgabenbereich der haftenden Körperschaft fällt.92 Ob dies für den Geschädigten oder sonstige Dritte erkennbar ist, ist ohne Belang.93

OLG Köln v. 14.5.1992 – 7 U 21/92, NZV 1993, 64. Vgl. BGH v. 10.5.2001 – III ZR 111/99, NJW 2001, 2626, 2629; Erman/Mayen § 839 Rz. 26. Geigel/Brodöfel Kap. 20 Rz. 3. BGH v. 15.2.2001 – III ZR 120/00, BGHZ 146, 385. BGH v. 21.3.1991 – III ZR 77/90, NZV 1991, 347; BGH v. 12.12.1991 – III ZR 10/91, NZV 1992, 148 m.w.N. 92 BGH v. 21.3.1991 – III ZR 77/90, NZV 1991, 347 m.w.N. 93 BGH v. 4.6.1992 – III ZR 93/91, BGHZ 118, 304, 310.

87 88 89 90 91

266 | Greger

III. Haftung des Staates (Art. 34 GG) | Rz. 12.42 § 12

Die Rechtsbeziehung zwischen der öffentlich-rechtlichen Körperschaft und der handelnden Person kann auch privatrechtlicher Natur sein.94 Einer förmlichen Beleihung des Privaten bedarf es nicht; es genügen bloße Hilfstätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Verwaltung als sog. Verwaltungshelfer.

12.39

Die Staatshaftung kann daher z.B. auch eingreifen für angestellte Kraftfahrer einer Behörde,95 Angehörige der freiwilligen Feuerwehr,96 zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben herangezogene Mitarbeiter von Hilfsorganisationen97 oder von Unternehmen, die mit dem Aufstellen von Verkehrszeichen gem. Beschilderungsplan beauftragt sind,98 Zivildienstleistende,99 Fahrer eines Abschleppfahrzeugs,100 ein mit Mäharbeiten101 oder dem Winterdienst beauftragter Mitarbeiter,102 Sachverständige des TÜV,103 TÜV-Angestellte, die Kfz im polizeilichen Auftrag zur Untersuchungsstelle fahren,104 und Schülerlotsen.105 Zur Übertragung der Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 13.15.

12.40

Bei der Beurteilung der Rechtsstellung selbständiger privater Unternehmer, die der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben durch privatrechtlichen Vertrag heranzieht, kommt es maßgeblich auf den Charakter der wahrgenommenen Aufgabe, die sachliche Nähe der übertragenen Tätigkeit zu dieser Aufgabe sowie den Grad der Einbindung des Unternehmers in den behördlichen Pflichtenkreis an. Je stärker der hoheitliche Charakter der Aufgabe in den Vordergrund tritt, je enger die Verbindung zwischen der übertragenen Tätigkeit und der von der Behörde zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe und je begrenzter der Entscheidungsspielraum des Unternehmers (als „verlängerter Arm“ der Behörde) ist, desto näher liegt es, ihn als Beamten im haftungsrechtlichen Sinn anzusehen.106

12.41

Hoheitliche Verwaltung liegt nicht nur beim Einsatz staatlicher Zwangsmittel vor, sondern auch bei der sog. schlichten Hoheitsverwaltung, etwa der öffentlich-rechtlich organisierten Daseinsvorsorge. Zu dieser gehören auch die Straßenbautätigkeit der öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sofern es sich nicht um die selbständige Ausführung von Bauarbeiten durch private Unternehmer handelt,107 die Unterhaltung öffentlicher Verkehrswege,108 die Betätigung einer Verkehrseinrichtung109 sowie der öffentlich-rechtlich organisierte Rettungsdienst

12.42

94 BGH v. 21.6.1951 – III ZR 134/50, BGHZ 2, 350; BGH v. 16.9.2004 – III ZR 246/03, NJW 2005, 429, 430; OLG Hamm v. 28.4.1972 – 11 U 269/71, NJW 1972, 2088. 95 OLG München HRR 1942, 648. 96 BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 235/06, NZV 2008, 289, 291 m.w.N. 97 OLG Düsseldorf v. 11.5.1970 – 1 U 167/69, VersR 1971, 185. S. auch Rz. 12.50. 98 BGH v. 6.6.2019 – III ZR 124/18, NJW-RR 2019, 1163 = NZV 2020, 195 LS mit Anm. Kalscheuer/Schmedemann. 99 BGH v. 4.6.1992 – III ZR 93/91, BGHZ 118, 304 = VersR 1992, 1397. 100 BGH v. 21.1.1993 – III ZR 189/91, BGHZ 121, 161. 101 OLG Nürnberg v. 30.7.2010 – 4 U 949/10, VersR 2011, 802. 102 BGH v. 9.10.2014 – III ZR 68/14, NJW 2014, 3580. 103 BGH v. 30.11.1967 – VII ZR 34/65, BGHZ 49, 108; BGH v. 11.1.1973 – III ZR 32/71, VersR 1973, 317. 104 OLG München v. 31.3.1994 – 1 U 6250/93, VersR 1995, 1054. 105 OLG Köln v. 19.1.1968 – 2 U 11/67, NJW 1968, 655. 106 BGH v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12, NJW 2014, 2577 (Abschleppunternehmer); BGH v. 6.6.2019 – III ZR 124/18, NJW-RR 2019, 1163 = NZV 2020, 195 LS mit Anm. Kalscheuer/Schmedemann (mit Anbringen von Verkehrszeichen beauftragtes Unternehmen). 107 BGH v. 24.5.1973 – III ZR 178/70, NJW 1973, 1650. Näher s. Rz. 13.25. 108 BGH v. 4.6.1956 – III ZR 264/54, BGHZ 21, 48, 50; = BGH v. 13.12.1990 – III ZR 14/90, BGHZ 113, 164 = NZV 1991, 185 mit Anm. Kunschert. 109 OLG Düsseldorf v. 5.12.1996 – 18 U 96/96, VersR 1997, 1234 (bewegliche Polleranlage).

Greger | 267

§ 12 Rz. 12.42 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

(s. Rz. 12.50). Auszuscheiden sind dagegen Tätigkeiten in Wahrnehmung bürgerlich-rechtlicher Belange der Körperschaft. Darauf, ob der Beamte verpflichtet war, die hoheitliche Tätigkeit auszuüben, kommt es nicht an.110 Zur Ausübung öffentlicher Gewalt gehört auch die sie unmittelbar vorbereitende oder sie bestimmungsgemäß abschließende Benutzung öffentlicher Straßen;111 es muss ein engerer Zusammenhang zwischen der Fahrt und der hoheitlichen Betätigung bestehen.112 Hierfür ist nicht Voraussetzung, dass die hoheitliche Tätigkeit die Verwendung eines Kfz zwingend erfordert. Es genügt, wenn zwischen der Fahrt und der geplanten hoheitlichen Tätigkeit am Zielort ein so enger innerer Zusammenhang gegeben ist, dass diese sich bei natürlicher Betrachtungsweise in den Bereich hoheitlicher Tätigkeit einfügt und nicht nur in einer äußeren, zeitlichen und gelegenheitsmäßigen Beziehung zu der hoheitlichen Betätigung steht.113

12.43

Der BGH hat dies bejaht für die Fahrt einer Lehrerin in ein Schullandheim.114 Nicht darunter fällt dagegen die Fahrt eines Beamten zwischen Wohnung und Dienststelle. Desgleichen ist der Zusammenhang mit der Amtsausübung dann als aufgelöst zu betrachten, wenn der Beamte die Fahrt nach einer mehrstündigen Unterbrechung und erheblichem Alkoholgenuss fortsetzt.115 Ob auf der Fahrt Hoheitsrechte in Anspruch genommen werden, ist nach st. Rspr. ohne Belang.116

b) Verkehrssicherungspflicht und Verkehrsregelungspflicht 12.44

Die öffentlich-rechtliche Körperschaft kann wählen, ob sie ihre Verkehrssicherungspflicht in privatrechtlicher oder in hoheitlicher Form erfüllt (s. Rz. 13.2). Bei Wahrnehmung der Pflicht zur Verkehrsregelung handelt die Körperschaft hingegen stets hoheitlich117 (s. auch Rz. 12.17). Die beiden Pflichten unterscheiden sich dadurch, dass es bei der Verkehrssicherung um die Abwehr von Gefahren geht, die der Zustand einer Sache (insb. der Straße) hervorruft, während durch die Verkehrsregelung die aus dem Verkehr auf der Straße sich ergebenden Gefahren vermieden werden sollen.118 So ist z.B. beim Betrieb einer Lichtzeichenanlage der fehlerhafte Schaltplan ein Verstoß gegen die Verkehrsregelungspflicht, der Defekt infolge mangelhafter Unterhaltung ein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht.119 Wegen Einzelheiten zur Verkehrssicherungspflicht s. § 13, zur Verkehrsregelungspflicht s. Rz. 12.17 ff.

c) Dienstfahrten 12.45

An der Eigenschaft einer Fahrt als Ausübung hoheitlicher Gewalt ändert die Tatsache nichts, dass der Beamte nicht einen Dienstwagen benützt, sondern ein privateigenes Kfz.120

110 BGH v. 9.2.1961 – III ZR 155/59, VersR 1961, 438. 111 BGH v. 30.11.1959 – III ZR 120/58, VersR 1960, 258; BGH v. 16.5.1963 – III ZR 210/61, VersR 1963, 971. 112 BGH v. 16,4,1964 – III ZR 182/63, BGHZ 42, 176; BGH v. 2.11.1978 – III ZR 183/76, VersR 1979, 225. 113 BGH v. 12.12.1991 – III ZR 10/91, NZV 1992, 148. 114 BGH v. 12.12.1991 – III ZR 10/91, NZV 1992, 148. 115 BGH v. 15.3.1988 – VI ZR 163/87, NZV 1988, 176 mit Anm. Drees. 116 A.A. OLG Stuttgart v. 10.7.1963 – 1 U 71/63, NJW 1964, 727 mit Anm. Isele. 117 BGH v. 11.12.1980 – III ZR 34/79, VersR 1981, 336. 118 Näher Rebler MDR 2016, 245 ff. 119 BGH v. 14.6.1971 – III ZR 120/68, VersR 1971, 867; BGH v. 24.4.1972 – III ZR 117/70, VersR 1972, 788. 120 BGH v. 8.12.1958 – III ZR 235/56, BGHZ 29, 38; BGH v. 2.11.1978 – III ZR 183/76, VersR 1979, 225; BGH v. 12.12.1991 – III ZR 10/91, NZV 1992, 148.

268 | Greger

III. Haftung des Staates (Art. 34 GG) | Rz. 12.50 § 12

In Ausübung öffentlicher Gewalt werden nahezu alle Fahrten der Bundeswehr und der NATO-Streitkräfte unternommen, auch wenn sie nur Übungszwecken dienen.121 (s. auch Rz. 12.73 ff.).

12.46

Dienstfahrten eines Soldaten mit einem Dienstkraftwagen dienen stets auch der Erprobung, Erhaltung oder Stärkung der Fahrsicherheit oder Fahrfähigkeit von Fahrer und Wagen.122 Auch eine dienstlich angeordnete Fahrt mit dem Privatwagen eines Soldaten ist eine Dienstfahrt,123 nicht aber eine unerlaubte Privatfahrt mit dem dienstlich anvertrauten Fahrzeug.124

12.47

Fahrten der Polizei finden in aller Regel in Ausübung öffentlicher Gewalt statt, auch soweit sie der Fahrausbildung125 oder der Beförderung von Polizeibeamten zu einer Übung, Besprechung o. dgl. dienen.126 Auch die Mitnahme des Besuchers eines von der Polizei veranstalteten „Tages der offenen Tür“ im Beiwagen eines Polizeimotorrads fällt in den hoheitlichen Tätigkeitsbereich, weil durch die Veranstaltung die Einsatzfähigkeit der Polizei demonstriert werden sollte,127 desgleichen die Ausübung des Dienstsports, da dieser der Erhaltung der Einsatzfähigkeit dient.128

12.48

Fahrten der Feuerwehr, auch der freiwilligen Feuerwehr, sind ebenfalls in der Regel Ausübung öffentlicher Gewalt,129 und zwar auch dann, wenn es sich nur um Probefahrten oder um Fahrten zu Ausbildungszwecken handelt.130 Anders verhält es sich dagegen bei einer Probefahrt anlässlich des Ankaufs eines Wagens.131 Dass die Fahrt zum Gerätehaus oder zum Einsatzort mit einem Privat-Pkw durchgeführt wurde, ist unerheblich.132

12.49

Der Rettungs- und Notarztdienst ist in den Ländern teilweise öffentlich-rechtlich, teilweise privatrechtlich organisiert.133 Im ersteren Fall ist die Wahrnehmung der rettungsdienstlichen Aufgaben sowohl im Ganzen wie im Einzelfall der hoheitlichen Betätigung zuzurechnen. Die notärztliche Versorgung am Unfallort und das Führen des Rettungswagens im rettungsdienstlichen Einsatz stellen sich mithin als Ausübung eines öffentlichen Amts i.S.d. Art. 34 Satz 1

12.50

121 BGH v. 16.4.1964 – III ZR 182/63, BGHZ 42, 176; BGH v. 29.1.1968 – III ZR 111/66, NJW 1968, 696, 697. 122 BGH v. 3.3.1969 – III ZR 97/68, VersR 1969, 569. 123 BGH v. 26.5.1981 – VI ZR 52/80, VersR 1981, 753. 124 BGH v. 25.11.1968 – III ZR 18/68, NJW 1969, 421. 125 Vgl. BGH v. 29.1.1968 – III ZR 111/66, BGHZ 49, 267, 274; BGH v. 15.3.1988 – VI ZR 163/87, NZV 1988, 176 mit Anm. Drees. 126 RG v. 18.4.1929 – VI 382/28, RGZ 125, 98; RG v. 16.3.1933 – VI 19/33, RGZ 140, 415, 417; RG v. 29.6.1937 – III 182/36, RGZ 155, 186, 188. 127 BGH v. 20.11.1980 – III ZR 122/79, VersR 1981, 252. 128 OLG Celle v. 5.2.2002 – 14 U 53/02, NZV 2003, 179. 129 BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 235/06, NZV 2008, 289, 291 m.w.N. 130 BGH v. 23.4.1956 – III ZR 299/54, NJW 1956, 1633; OLG Naumburg v. 9.8.2010 – 10 W 4/10, NZV 2011, 189. 131 BGH v. 12.7.1962 – III ZR 93/61, MDR 1962, 803. 132 BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 235/06, NZV 2008, 289, 291. Zur Inanspruchnahme von Sonderrechten bei solchen Fahrten s. Rz. 14.207. 133 S. zu Nordrhein-Westfalen BGH v. 21.3.1991 – III ZR 77/90, NZV 1991, 347, zu Bayern BGH v. 9.1.2003 – III ZR 217/01, NJW 2003, 1184; BGH v. 16.9.2004 – III ZR 346/03, NJW 2005, 429, zu Baden-Württemberg BGH v. 4.6.1992 – III ZR 93/91, BGHZ 118, 306, zu Hessen BGH v. 17.12.2009 – III ZB 47/09, MDR 2010, 278, zu Thüringen BGH v. 12.1.2017 – III ZR 312/16, BGHZ 213, 270, zu Sachsen BGH v. 15.11.2018 – III ZR 69/17, MDR 2019, 162.

Greger | 269

§ 12 Rz. 12.50 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

GG dar. Dies gilt auch dann, wenn der Kfz-Führer dem Träger des Rettungsdienstes von einer freiwilligen Hilfsorganisation zur Verfügung gestellt worden ist.134.

12.51

In Bauangelegenheiten ist die Dienstfahrt eines Beamten, die der Bauberatung oder -aufsicht dient, hoheitliche Aufgabe,135 ebenso i.d.R. der Transport von Baumaterial durch die Bediensteten eines Straßenbauamts.136 Wegen Fahrten in Wahrnehmung der Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 13.4.

12.52

Im Post- und Fernmeldewesen scheidet seit der Privatisierung zum 1.1.1995 eine Staatshaftung aus. Der Betrieb der Bahn war schon vor der Privatisierung keine Ausübung öffentlicher Gewalt.137 Dies gilt auch für das Schließen der Bahnschranken.138

12.53

Weitere Fälle hoheitlicher Fahrten: Kurierfahrten zur Beförderung der Dienstpost;139 Dienstfahrt von Beamten des Wasserwirtschaftsamtes zur Funktionsprüfung eines Speichersees140 oder zur Erfüllung der Straßenunterhaltungspflicht;141 Fahrt eines Richters zu einem Ortstermin;142 Müllabfuhr;143 Dienstfahrt eines Justizvollzugsbediensteten zu Schießübungsplatz;144 Streudienst;145 Mähfahrzeug;146 Verbringung eines polizeilich sichergestellten Kfz zur Untersuchungsstelle durch TÜV-Angestellten.147

d) Sonstige Fälle hoheitlicher Tätigkeit 12.54

Soweit für die Haftung im Straßenverkehr von Bedeutung, kommen z.B. in Betracht: Das Veranlassen des Abschleppens eines Fahrzeugs seitens der Polizei;148 das Abschleppen eines verbotswidrig geparkten Pkw im Auftrag der Stadt;149 das Bergen und Abschleppen eines Unfallfahrzeugs durch einen von der Polizei beauftragten Unternehmer;150 die Tätigkeit des Angestellten der Autobahnmeisterei bei Entgegennahme der Anrufe von Notrufsäulen und Veranlassung von Hilfe;151 die Prüftätigkeit der TÜV-Sachverständigen;152 die Beaufsichti-

134 BGH v. 21.3.1991 – III ZR 77/90, NZV 1991, 347; OLG München v. 14.6.2002 – 23 U 5512/01, VersR 2003, 68. Entgegen Bloch NJW 1993, 1513 kommt es daher nicht darauf an, ob auch die Hilfsorganisation Träger von Hoheitsrechten ist. 135 BGH v. 4.6.1956 – III ZR 264/54, BGHZ 21, 48. 136 BGH v. 5.2.1962 – III ZR 221/60, NJW 1962, 796. 137 RG v. 6.10.1939 – III 2/39, RGZ 161, 341; RG v. 18.1.1940 – III 75/39, RGZ 162, 364. 138 BGH v. 3.12.1953 – III ZR 281/52, VersR 1954, 36. 139 BGH v. 28.11.1955 – III ZR 306/54, VersR 1956, 50. 140 LG Weiden v. 19.12.1969 – 1 O 352/69, VersR 1970, 190. 141 BGH v. 4.6.1956 – III ZR 264/54, BGHZ 21, 48. 142 A.A. BGH v. 27.9.1965 – III ZR 43/65, VersR 1965, 1101. 143 BGH v. 17.2.1983 – III ZR 147/81, VersR 1983, 461; OLG Frankfurt v. 10.10.1985 – 1 U 184/84, VersR 1986, 1028; OLG Hamm v. 14.5.1996 – 9 U 218/95, NZV 1996, 453. 144 LG Duisburg v. 18.5.1982 – 1 O 21/82, VersR 1983, 93 mit Anm. Schultz. 145 KG v. 2.11.1987 – 12 U 1251/87, VersR 1988, 914. 146 BGH v. 13.12.1990 – III ZR 14/90, BGHZ 113, 164 (auf Autobahn); nach OLG Nürnberg v. 30.7.2010 – 4 U 949/10, VersR 2011, 802 auch auf Grünfläche neben der Straße (zw.). 147 OLG München v. 31.3.1994 – 1 U 6250/93, VersR 1995, 1054. 148 BGH v. 11.7.1978 – VI ZR 138/76, NJW 1978, 2502. 149 BGH v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12, NJW 2014, 2577. 150 BGH v. 21.1.1993 – III ZR 189/91, BGHZ 121, 161. 151 OLG Celle v. 24.4.1963 – 9 U 202/62, DAR 1964, 215. 152 BGH v. 30.11.1967 – VII ZR 34/65, BGHZ 49, 108; BGH v. 10.4.2003 – III ZR 266/02, VersR 2003, 1537.

270 | Greger

III. Haftung des Staates (Art. 34 GG) | Rz. 12.57 § 12

gung von Kindern in einer in öffentlicher Trägerschaft stehenden Einrichtung.153 Ebenso liegt Ausübung eines öffentlichen Amtes vor, wenn ein Privatunternehmen im Auftrag der Gemeinde zur Beseitigung von Schäden auf einem Gehweg Wurzeln eines Baumes entfernt und dieser später mangels hinreichender Verankerung umfällt.154

3. Verbürgung der Gegenseitigkeit bei Ausländern Gegenüber Ausländern wurde die Haftung des Staates früher durch reichs- und landesrechtliche Vorschriften teilweise von der Verbürgung der Gegenseitigkeit abhängig gemacht. Die landesrechtlichen Regelungen wurden mittlerweile abgeschafft,155 der Haftungsausschluss für den Bund von einer (bisher nicht erlassenen) Rechtsverordnung abhängig gemacht (§ 7 Abs. 1 RBHG).

12.55

4. Haftende Körperschaft a) Maßgeblichkeit der Anstellung Nach Art. 34 GG haftet in den Fällen der übergeleiteten Haftung die Körperschaft, von der der Beamte das Amt, bei dessen Wahrnehmung es zu der Amtspflichtverletzung gekommen ist, übertragen bekommen hat.156 Dies ist i.d.R. die Körperschaft, die ihn angestellt hat und folglich auch besoldet. Dass der Beamte im konkreten Einzelfall Aufgaben einer anderen Körperschaft wahrgenommen hat, ändert hieran nichts.157 Nur wenn der Beamte (wie im Falle einer Abordnung) bei Durchführung der ihm anvertrauten Aufgaben voll und ganz in den Tätigkeitsbereich einer ersuchenden anderen Körperschaft eingebunden war, und diese unter Ausübung des Direktionsrechts uneingeschränkt über die Dienste des insoweit weisungsgebundenen Beamten verfügen konnte, geht die Haftung auf sie über.158

12.56

b) Bedeutung der Aufgabenübertragung Versagt die Anknüpfung an die Anstellung, weil der Amtsträger keinen oder mehrere Dienstherren hat, so ist darauf abzustellen, wer ihm die Aufgabe, bei deren Erfüllung es zu der Pflichtverletzung gekommen ist, übertragen hat.159 Bei Notärzten im Rettungsdienst kann dies z.B. der Landkreis bzw. Zweckverband160 oder die Kassenärztliche Vereinigung161 sein. Bei Beamten mit Doppelstellung haftet die Körperschaft, deren Aufgaben im Einzelfall wahrgenommen worden sind; keine Doppelstellung in diesem Sinn haben aber die Bediensteten

153 154 155 156 157 158 159 160 161

BGH v. 13.12.2012 – III ZR 226/12, NZV 2013, 235. OLG Celle v. 14.5.2009 – 8 U 191/08, NZV 2010, 86. MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani § 839 Rz. 405. BGH v. 12.2.1970 – III ZR 231/68, BGHZ 53, 217; BGH v. 14.12.1989 – III ZR 68/89, VersR 1990, 521; BGH v. 12.1.2017 – III ZR 312/16, BGHZ 213, 270. BGH v. 21.6.1951 – III ZR 134/50, BGHZ 2, 350; BGH v. 15.1.1981 – III ZR 18/80, VersR 1981, 353. BGH v. 28.11.1960 – III ZR 200/59, BGHZ 34, 20, 23; OLG München v. 7.6.2001 – 1 W 1307/ 01, OLGR München 2002, 45. BGH v. 11.5.2000 – III ZR 258/99, NZV 2000, 503; BGH v. 12.1.2017 – III ZR 312/16, BGHZ 213, 270 m.w.N. BGH v. 15.11.2018 – III ZR 69/17, MDR 2019, 162 (zu Sachsen). BGH v. 12.1.2017 – III ZR 312/16, BGHZ 213, 270 (zu Thüringen).

Greger | 271

12.57

§ 12 Rz. 12.57 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

der Kreisverwaltung, die staatliche Aufgaben (z.B. der Straßenverkehrszulassungsbehörde) wahrnehmen; für sie haftet der Landkreis als Anstellungskörperschaft,162 sofern nicht das Landeskommunalrecht ausdrücklich die Haftung des Staates begründet163 oder eine Haftung des Staates daraus folgt, dass den in seinem Dienste stehenden Leiter der Verkehrsabteilung ein Organisationsverschulden trifft.164

12.58

Für Angestellte gilt das Vorstehende entsprechend.165 Für TÜV-Sachverständige haftet das Land.166

c) Haftung mehrerer Körperschaften 12.59

Sind für einen Schaden mehrere Fahrer verantwortlich, die von verschiedenen öffentlichrechtlichen Körperschaften beschäftigt sind, so haften letztere als Gesamtschuldner. Dasselbe gilt, wenn neben der verkehrsregelungspflichtigen auch die verkehrssicherungspflichtige Körperschaft haftet (s. Rz. 12.24)167 oder für Versäumnisse der Zulassungsstelle (s. Rz. 12.27) neben Bediensteten des Landkreises auch solche des Landes verantwortlich sind.168 Der Ausgleich zwischen ihnen erfolgt nach §§ 840, 426 BGB.169

IV. Subsidiarität 1. Grundsätze 12.60

Nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB haftet der Beamte bzw. der Staat dann nicht, wenn der Schaden fahrlässig herbeigeführt wurde und der Verletzte auf andere Weise Ersatz erlangen kann. Dieses „Verweisungsprivileg“ gilt nur für die Amtshaftung, nicht für etwaige konkurrierende Ansprüche,170 es gilt aber sowohl für die persönliche Haftung des Beamten nach § 839 BGB als auch für die Staatshaftung nach Art. 34 GG.171 Durch deren Einführung hat sich der ursprüngliche Zweck des Subsidiaritätsprinzips, den Beamten vor übermäßigen, seine Entschlussfreunde und Tatkraft lähmenden Haftungsrisiken aus der fahrlässigen Verletzung von Amtspflichten zu schützen, gewandelt: Die Regelung dienst jetzt dem Interesse der Allgemeinheit an einer möglichst weitgehenden Entlastung der öffentlichen Hand.172 In Anbetracht dieser (durchaus fragwürdigen) Zweckbestimmung hat die neuere Rechtsprechung den Anwendungsbereich der Vorschrift erheblich eingeschränkt, insbesondere im Bereich der Haftung im Straßenverkehr.

162 BGH v. 21.4.1983 – III ZR 2/82, BGHZ 87, 202; BGH v. 15.1.1987 – III ZR 17/85, BGHZ 99, 326. 163 MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani § 839 Rz. 422 m.w.N. 164 BGH v. 17.5.1990 – III ZR 191/88, BGHZ 111, 272, 275. 165 BGH v. 5.6.1952 – III ZR 151/51, BGHZ 6, 215. 166 BGH v. 30.11.1967 – VII ZR 34/65, BGHZ 49, 108, 115. 167 OLG München v. 22.10.1992 – 1 U 2708/92, VersR 1993, 1357. 168 Offengelassen in BGH v. 17.5.1990 – III ZR 191/88, BGHZ 111, 272, 276. 169 BGH v. 19.2.1953 – III ZR 31/51, BGHZ 9, 65. 170 BGH v. 20.11.1980 – III ZR 122/79, BGHZ 79, 26, 27 f. 171 BGH v. 30.11.1982 – VI ZR 77/81, NJW 1983, 1374, 1378. 172 BGH v. 12.4.1954 – GSZ 1/54, BGHZ 13, 88, 100.

272 | Greger

IV. Subsidiarität | Rz. 12.63 § 12

2. Unanwendbarkeit des Verweisungsprivilegs a) Verkehrsteilnahme Hat der Amtsträger bei der dienstlichen Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr einen Unfall verschuldet, so hat nach der Rspr. des BGH die Subsidiarität der Amtshaftung gegenüber dem Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer zurückzutreten.173 Dies gilt auch hinsichtlich der Verletzung eines Wageninsassen,174 nicht jedoch (da insoweit keine Gleichheit besteht), wenn der Amtsträger erkennbar175 Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 oder 5a StVO in Anspruch genommen hatte.176 Von diesem Ausnahmefall abgesehen kann der Geschädigte den Staat also auch dann in Anspruch nehmen, wenn er daneben Ersatzansprüche, z.B. gegen einen Zweitschädiger oder eine Versicherung, hat. Mag diese Rechtsprechung auch im Ergebnis befriedigen, so muss sie als sehr weitgehende Rechtsfortbildung contra legem doch Bedenken begegnen. Wenn man sie aber bejaht, muss man sie konsequenterweise auch auf den Fall der persönlichen Haftung des Beamten nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB erstrecken, d.h. auch bei einer nicht dem hoheitlichen Bereich zuzuordnenden Dienstfahrt kann der Geschädigte nicht auf anderweitige Ersatzmöglichkeiten verwiesen werden.177

12.61

b) Verkehrssicherungspflicht Unanwendbar ist die Subsidiaritätsklausel nach der Rechtsprechung des BGH auch bei Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht.178 Zur Begründung dient auch hier der Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung. Die Pflicht, für die Sicherheit der Straßen zu sorgen, entspreche auch bei öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung als Amtspflicht der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht; zudem stehe sie in engem Zusammenhang mit den Pflichten, die einem Amtsträger als Teilnehmer am allgemeinen Straßenverkehr obliegen. Konsequenterweise muss dies auch insoweit gelten, als es um die Verpflichtung geht, die Einhaltung der auf die Anlieger übertragenen Pflichten zu überwachen und erforderlichenfalls zu erzwingen (s. Rz. 13.77).179

12.62

c) Sonstige Fälle Anwendbar ist das Verweisungsprivileg dagegen im Rahmen der Haftung der Zulassungsstelle (s. Rz. 12.27);180 desgleichen bei der Haftung wegen Verletzung der Verkehrsregelungspflicht

173 BGH v. 27.1.1977 – III ZR 173/74, BGHZ 68, 217; BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 235/06, NZV 2008, 289, 292. 174 OLG Köln v. 20.4.1998 – 7 U 178/97, NZV 1999, 83. 175 S. dazu Bernstrauch NZV 2020, 243, 244. 176 BGH v. 28.10.1982 – III ZR 206/80, BGHZ 85, 225; BGH v. 13.12.1990 – III ZR 14/90, BGHZ 113, 164 = NZV 1991, 185 mit Anm. Kunschert. 177 Ebenso Geigel/Brodöfel Kap. 20 Rz. 199; Kunschert NZV 1991, 186 f.; LG Köln v. 15.2.1989 – 10 S 413/88, VersR 1990, 285; a.A. Haarmann VersR 1991, 159, 162. 178 BGH v. 12.7.1979 – III ZR 102/78, BGHZ 75, 134; BGH v. 1.7.1993 – III ZR 167/92, BGHZ 123, 102; BGH v. 29.11.1979 – III ZR 154/78, VersR 1980, 282. 179 BGH v. 11.6.1992 – III ZR 134/91, BGHZ 118, 368. 180 BGH v. 2.7.1981 – III ZR 63/80, VersR 1981, 1154. Näher hierzu Skauradszun VersR 2009, 330, 332.

Greger | 273

12.63

§ 12 Rz. 12.63 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

(s. Rz. 12.17 ff.),181 im Rahmen der Gefahrenabwehr durch die Polizei182 oder bei Fehlentscheidungen anlässlich der behördlich angeordneten Polizeibegleitung eines Schwertransports.183 Es fehlt in diesen Fällen an der inhaltlichen Übereinstimmung der Rechte und Pflichten des Amtsträgers mit denen aller übrigen Verkehrsteilnehmer bzw. Verkehrssicherungspflichtigen.

3. Begriff des anderweitigen Ersatzes 12.64

Grundsätzlich schließt jeder auf Ersatz desselben Schadens gerichtete Anspruch gegen einen Dritten die Amtshaftung aus. Es bestehen jedoch folgende Ausnahmen:

12.65

(a) Wenn der Verletzte die andere Ersatzmöglichkeit unter Aufwendung eigener Mittel oder durch von ihm verdiente Leistungen Dritter erlangt hat, kann der Staat ihn nach der neueren Rspr. des BGH nicht auf die Inanspruchnahme dieser Leistungen verweisen.184

12.66

Kein anderweitiger Ersatz i.S.d. § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB sind demnach die Leistungen der gesetzlichen Unfall- oder Rentenversicherung,185 der gesetzlichen Krankenversicherung,186 der privaten Krankenversicherung,187 der Feuerversicherung188 und der Kaskoversicherung.189 Auch gegenüber dem Lohnfortzahlungsanspruch190 und dem Anspruch auf Grundrente nach dem BVG191 wurde die Subsidiarität der Amtshaftung verneint. Leistungen des Haftpflichtversicherers des Schädigers sind aber, da nicht vom Verletzten erkauft, anderweitiger Ersatz.192 Nachrangig sind Ansprüche gegen den Entschädigungsfonds (§ 12 Abs. 1 Satz 3 PflVG).

12.67

(b) Handelt es sich bei dem anderweitigen Anspruch um einen Amtshaftungsanspruch gegen einen anderen Amtsträger (z.B. bei Mithaftung mehrerer Beamter) oder einen Verwaltungsträger, kann § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zur Anwendung kommen, weil es sonst zu einer wechselseitigen Verweisung käme.193 Dies gilt aber nicht für Ansprüche gegen einen Verwaltungsträger, die auf andere Grundlagen gestützt sind und folglich keiner Subsidiaritätsklausel unterliegen. Daher kann z.B. der bei nicht hoheitlicher Betätigung persönlich haftende

181 OLG Hamm v. 24.1.1995 – 9 U 149/94, NZV 1995, 275. 182 BGH v. 5.4.1984 – III ZR 19/83, BGHZ 91, 48; OLG Koblenz v. 1.3.1993 – 12 U 167/92, NZV 1994, 108; OLG Hamm v. 10.11.1992 – 9 U 17/92, NZV 1993, 192, wo die Unanwendbarkeit allerdings daraus abgeleitet wurde, dass die Polizei anstelle des eigentlich Verkehrssicherungspflichtigen hätte tätig werden müssen; fragwürdig. 183 OLG Düsseldorf v. 8.12.1988 – 18 U 221/88, NZV 1989, 236. 184 Für die Eigenhaftung des Beamten offen lassend BGH v. 20.11.1980 – III ZR 122/79, BGHZ 79, 26. 185 BGH v. 10.11.1977 – III ZR 79/75, BGHZ 70, 7; BGH v. 17.3.1983 – III ZR 170/81, VersR 1983, 638. 186 BGH v. 20.11.1980 – III ZR 122/79, BGHZ 79, 26. 187 BGH v. 20.11.1980 – III ZR 31/78, BGHZ 79, 35. 188 BGH v. 24.2.1983 – III ZR 82/81, VersR 1983, 462. 189 BGH v. 28.10.1982 – III ZR 89/81, BGHZ 85, 230; BGH v. 18.11.1999 – III ZR 63/98, VersR 2000, 356; OLG Hamm v. 3.4.1981 – 11 U 276/80, VersR 1982, 795. 190 BGH v. 20.6.1974 – III ZR 27/73, BGHZ 62, 380. 191 BGH v. 4.7.1974 – III ZR 63/72, BGHZ 62, 394. 192 BGH v. 5.4.1984 – III ZR 19/83, BGHZ 91, 48, 54. Zum Zusammentreffen mit seinerseits subsidiärem Direktanspruch nach §§ 115, 117 VVG s. Backhaus VersR 1984, 16. 193 BGH v. 12.4.1954 – GSZ 1/54, BGHZ 13, 88, 104.

274 | Greger

IV. Subsidiarität | Rz. 12.71 § 12

Beamte das Verweisungsprivileg geltend machen, wenn die Anstellungskörperschaft nach §§ 31, 89 oder 831 BGB oder wegen eines Organisationsverschuldens haftet.194

4. Unmöglichkeit anderweitigen Ersatzes Die Subsidiarität des Amtshaftungsanspruchs entfällt, wenn die Möglichkeit eines anderweitigen Ersatzes zwar besteht, aber im konkreten Fall aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht oder nicht in voller Höhe realisiert werden kann, z.B. wegen Mittellosigkeit des anderen Schuldners, aus Beweisgründen, oder weil Prozesskostenhilfe zur Verfolgung des Anspruchs versagt wurde.195 Nicht auf Unmöglichkeit berufen kann sich der Verletzte, wenn er eine früher vorhandene Ersatzmöglichkeit schuldhaft versäumt196 oder freiwillig, etwa im Vergleichswege, aufgegeben hat.197 Beruht die Versäumung jedoch auf fehlender Kenntnis von der Schadensentstehung, ist die Amtshaftung auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Unkenntnis verschuldet war.198

12.68

Die Ausnutzung anderweitiger Ersatzmöglichkeiten muss dem Geschädigten zumutbar sein.199 Er braucht sich nicht auf Ersatzansprüche verweisen zu lassen, die er nicht oder jedenfalls nicht in absehbarer und angemessener Zeit durchsetzen kann. Auch weitläufige oder unsichere Wege des Vorgehens gegen Dritte braucht er nicht einzuschlagen. Besteht ein anderweitiger Ersatzanspruch gegen einen Schädiger im Ausland, so kann Unmöglichkeit bejaht werden, wenn die Verfolgung des Anspruchs einschließlich eventueller Zwangsvollstreckung schwierig und langwierig wäre.200 Unzumutbar kann die Inanspruchnahme des Dritten auch sein, wenn es sich um einen nahen Angehörigen handelt, so z.B. bei Schädigung durch einen Beamten und den Ehegatten des Verletzten.201

12.69

5. Partielle Anspruchskonkurrenz Haftet der Beamte wegen Mitverschuldens des Verletzten nur für eine Quote des Schadens, muss sich der Verletzte eine anderweitige Ersatzmöglichkeit auf die Quote anrechnen lassen.202 Kann der Geschädigte nur für einen Teil des Schadens auf andere Weise Ersatz erlangen, kann er im Übrigen den Amtshaftungsanspruch geltend machen.

12.70

6. Beweis- und prozessrechtliche Fragen Der Kläger muss darlegen und ggf. beweisen, dass aus dem vorgetragenen Sachverhalt sich ergebende anderweitige Ersatzmöglichkeiten nicht realisierbar sind;203 dem Beklagten steht es 194 BGH v. 16.11.1965 – VI ZR 107/64, VersR 1962, 262, 264; BGH v. 30.11.1982 – VI ZR 77/81, NJW 1983, 1374, 1378. 195 BGH v. 23.10.1958 – III ZR 91/57, MDR 1959, 107. 196 BGH v. 23.5.1960 – III ZR 66/59, VersR 1960, 663. 197 BGH v. 11.6.1992 – III ZR 134/91, BGHZ 118, 368, 370. 198 RG v. 7.7.1934 – V 102/34, RGZ 145, 258 (zw.). 199 BGH v. 5.11.1992 – III ZR 91/91, BGHZ 120, 124. 200 BGH v. 26.4.1976 – III ZR 26/74, NJW 1976, 2074. 201 BGH v. 18.6.1973 – III ZR 207/71, BGHZ 61, 101. 202 BGH v. 9.11.1967 – III ZR 58/65, VersR 1968, 71; OLG Köln v. 10.2.1966 – 7 U 113/65, NJW 1966, 887; BayObLG v. 9.10.1990 – RReg. 2 Z 438/89, NVwZ-RR 1991, 228, 230. 203 BGH v. 13.12.1990 – III ZR 14/90, BGHZ 113, 164, 167; zu den (maßvoll zu handhabenden) Beweisanforderungen s. BGH v. 15.12.1977 – III ZR 100/75, VersR 1978, 252; Staudinger/Wöstmann § 839 BGB Rz. 299 ff.

Greger | 275

12.71

§ 12 Rz. 12.71 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

frei, weitere Ersatzansprüche aufzuzeigen.204 Entscheidend sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Erhebung der Amtshaftungsklage;205 auf eine erst im Laufe des Rechtsstreits eintretende Ersatzmöglichkeit kann der Geschädigte nicht verwiesen werden206

12.72

Der Verletzte ist nicht verpflichtet, zunächst gegen den Dritten gerichtlich vorzugehen; er kann die Unmöglichkeit der Ersatzerlangung im Prozess gegen den Beamten bzw. Staat nachweisen.207 Gelingt dieser Nachweis nicht, so wird die Amtshaftungsklage als zurzeit unbegründet abgewiesen,208 sie kann also in unverjährter Zeit wiederholt werden, wenn sich später herausstellt, dass ein anderweitiger Ersatzanspruch nicht besteht oder nicht durchsetzbar ist.209 Der Verletzte kann gegen die Körperschaft und den Dritten auch gleichzeitig Klage erheben; über den Amtshaftungsanspruch kann dann erst entschieden werden, wenn die Frage der Haftung des Dritten geklärt ist; davor darf die Amtshaftungsklage nicht mit dem Hinweis auf die noch nicht geklärte Ersatzpflicht des Streitgenossen durch Teilurteil abgewiesen werden.210

V. Haftung für Angehörige ausländischer Streitkräfte 1. Überblick 12.73

Ist ein Unfall durch ein Mitglied in Deutschland stationierter ausländischer Streitkräfte (einschließlich des zivilen Gefolges211) verursacht worden, so gelten nach dem kollisionsrechtlichen Erfolgsortprinzip (s. Rz. 2.25 f.) grundsätzlich die Regeln des StVG und des BGB, wenn sich der Unfall im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ereignet hat.212 Für die Geltendmachung der Ansprüche gelten aber Besonderheiten. Hierbei ist zu unterscheiden, ob es sich um Truppen aus Signatarstaaten des NATO-Truppenstatuts (NTS; hierzu s. Rz. 12.78 ff.) oder aus anderen Staaten handelt (dazu s. Rz. 12.100).

2. Behandlung außerhalb des Dienstes verursachter Unfälle 12.74

Die besonderen Vorschriften über die Geltendmachung von Truppenschäden beziehen sich auf dienstlich verursachte Unfälle. Bei nicht in Ausübung des Dienstes verursachten Unfällen kann gegen den Schädiger oder gegen den Halter des schädigenden Kfz unmittelbar vor deutschen Gerichten vorgegangen und auch vollstreckt werden (Art. VIII Abs. 6 lit. d und Abs. 9 NTS); eine Klage gegen die Bundesrepublik wäre unbegründet. Für das Verfahren gelten einige Besonderheiten: vgl. zur Befreiung von der Sicherheitsleistung für Prozesskosten Art. 31 ZA, zu Zustellungen Art. 32 und 36 ZA, zu Ladungen Art. 37 ZA, zur Säumnis Art. 33 ZA und zur Zwangsvollstreckung Art. 34 f ZA sowie Art. 5 NTS-AG.

204 205 206 207 208 209 210 211 212

BGH v. 21.1.1969 – VI ZR 150/67, Betrieb 1969, 788. BGH v. 5.11.1992 – III ZR 91/91, BGHZ 120, 124. Staudinger/Wöstmann § 839 BGB Rz. 300. BGH v. 23.5.1960 – III ZR 66/59, VersR 1960, 663. BGH v. 12.7.1962 – III ZR 87/61, BGHZ 37, 375, 377. BGH v. 22.2.1973 – VI ZR 2/72, VersR 1973, 443. BGH v. 8.12.1992 – VI ZR 349/91, BGHZ 120, 376, 380. Zum Begriff Art. I Abs. 1 lit. b NTS. Zur kollisionsrechtlichen Behandlung von Schadensersatzansprüchen zwischen Truppenangehörigen s. OLG Hamburg v. 1.10.1999 – 14 U 136/99, VersR 2001, 996; Karczewski VersR 2001, 1204.

276 | Greger

V. Haftung für Angehörige ausländischer Streitkräfte | Rz. 12.80 § 12

Ein Vorgehen gegen das Truppenmitglied scheidet aber aus, wenn dem Geschädigten eine freiwillige Zahlung des Entsendestaates (ex gratia payment) angeboten und diese von ihm als volle Befriedigung angenommen wurde (Art. VIII Abs. 6 lit. b bis d NTS). Ein solcher Anspruch geht in keinem Fall auf den Träger der Sozialversicherung über. Dieser kann aber nach Bereicherungsgrundsätzen vom Verletzten den Betrag herausverlangen, der – wenn man die Leistungen der Sozialversicherung hinzurechnet – den Gesamtschaden übersteigt.213

12.75

Art. VIII Abs. 7 NTS stellt klar, dass Schädigungen, die sich aus der unbefugten Benutzung von Armeefahrzeugen ergeben, als außerdienstliche Handlungen gelten. Dies gilt nach der genannten Vorschrift aber dann nicht, wenn die Truppe oder das zivile Gefolge selbst haftbar ist, z.B. wegen schuldhaften Ermöglichens der Schwarzfahrt oder aufgrund der Halterhaftung nach § 7 Abs. 3 StVG.

12.76

Über die Frage, ob die schädigende Handlung in Ausübung des Dienstes geschah oder ob die Fahrzeugbenutzung unbefugt war, erteilt die Truppe nach Art. 41 Abs. 11 ZA eine Bescheinigung (s. Rz. 12.87 f.).

12.77

3. NATO-Truppen a) Rechtsgrundlagen Die nach dem 30.6.1963 verursachten Schäden beurteilen sich nach dem NATO-Truppenstatut vom 19.6.1951 (NTS), nach dem Zusatzabkommen zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen vom 3.8.1959 (ZA), nach dem Unterzeichnungsprotokoll zum Zusatzabkommen vom 3.8.1959 (UP) und nach dem Gesetz zum NATO-Truppenstatut und den Zusatzvereinbarungen vom 18.8.1961 (NTS-AG). Nur auf diese Schäden beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen.

12.78

b) Geltungsbereich des NATO-Truppenstatuts aa) Entsendestaaten Das NTS gilt im Verhältnis zu Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Portugal, Großbritannien und Nordirland, den USA, der Türkei, Griechenland, Spanien, Ungarn, Litauen, Lettland, Slowakei und Slowenien.214 Das ZA und das UP gelten im Verhältnis zu Belgien, Kanada, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und Nordirland und den USA.

12.79

bb) Schadensgebiet Das NTS erfasste ursprünglich Schadensfälle in den alten Bundesländern ohne Berlin. Nach Herstellung der deutschen Einheit und Souveränität wurde seine Geltung aufgrund von Notenwechseln im Verhältnis zu einzelnen Entsendestaaten auf Berlin und die neuen Bundeslän213 BGH v. 16.11.1967 – VII ZR 148/65, VersR 1968, 170. 214 Für die BRD im Verhältnis zu den ursprünglichen Signatarstaaten in Kraft getreten am 1.7.1963 gem. Bek v. 16.6.1963 (BGBl. II 745), für Spanien am 9.9.1987 gem. Bek v. 8.1.1988 (BGBl. II 105), für Ungarn am 20.2.2000 gem. Bek v. 22.1.2001 (BGBl. II 194), für Lettland am 1.9.2004, Litauen am 20.8.2004, Slowakei am 13.10.2004 und Slowenien am 28.10.2004 gem. Bek v. 17.11.2004 (BGBl. II 1683).

Greger | 277

12.80

§ 12 Rz. 12.80 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

der erstreckt.215 Entscheidend für die Zuordnung ist der Deliktsort, nicht der Ort des Schadenseintritts.216

c) Grundzüge der Regelung 12.81

Die Streitkräfte der Entsendestaaten unterstehen ebenso wenig wie diese selbst der deutschen Gerichtsbarkeit. Nach Art. VIII Abs. 5 NTS und den hierzu ergangenen weiteren Vorschriften können zwar Schadensersatzansprüche gegen sie geltend gemacht werden; Rechtsstreitigkeiten hierüber führt aber die Bundesrepublik Deutschland für den betreffenden Entsendestaat.

12.82

Dagegen unterstehen die Mitglieder der Truppe (Art. I Abs. 1 lit. a NTS) und die Mitglieder des zivilen Gefolges (a.a.O. lit. b) persönlich zwar der deutschen Gerichtsbarkeit. Gegen sie darf aber aus einem Urteil, das in der Bundesrepublik in einer aus der Ausübung des Dienstes herrührenden Angelegenheit ergangen ist, nicht vollstreckt werden (Art. VIII Abs. 5 lit. g NTS). Infolge dieser Vorschrift führt das an sich zulässige Vorgehen gegen solche Personen vor den deutschen Gerichten nicht zu dem gewünschten Erfolg.217

d) Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen die Bundesrepublik Deutschland 12.83

Der Ersatz von Drittschäden, also Schäden, die einem anderen als dem Entsendestaat oder der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, kann gegen die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht werden, wenn der Schaden durch Handlungen oder Unterlassungen von Mitgliedern einer Truppe oder eines zivilen Gefolges in Ausübung des Dienstes oder durch eine andere Handlung, Unterlassung oder Begebenheit in der Bundesrepublik Deutschland verursacht ist, für welche die Truppe oder das zivile Gefolge eines Entsendestaates rechtlich verantwortlich ist (Art. VIII Abs. 5 NTS, Art. 41 ZA, Art. 6 ff. NTS-AG).218 Die Geltendmachung unterliegt aber besonderen Regeln (s. Rz. 12.90 ff.). aa) Erfasste Ansprüche

12.84

In dem vorgenannten Verfahren können nur Ansprüche aus Gefährdungshaftung und unerlaubter Handlung geltend gemacht werden, ferner z.B. auch Ansprüche der Polizei wegen Ersatzvornahme bei einem Unfall eines Lkw, bei dem Öl auslief.219 Des Weiteren fallen unter die Vorschriften des NTS Ausgleichsansprüche zwischen Gesamtschuldnern (§ 426 BGB) wegen Inanspruchnahmen vorstehender Art220 sowie der Bereicherungsanspruch des Haftpflichtversicherers eines neben dem Truppenangehörigen an dem Unfall Beteiligten, der lediglich aufgrund eines Teilungsabkommens (s. Rz. 15.66) in Anspruch genommen wurde,221 nicht aber vertragliche Ansprüche, also auch nicht Ansprüche aus Beförderungsvertrag oder Dienstvertrag (UP Abs. 1 zu Art. 41 ZA). Solche Ansprüche sind vielmehr im Zivilprozess ohne weiteres gegen das Mitglied der Truppe oder des zivilen Gefolges zu verfolgen, mit dem 215 Vgl. BGBl. II 1990, 1250 ff., 1274; 1994 II 26; 1994 II 3714; 1997 II 222, 226; 1999 II 506; 2000 II 782. 216 BGH v. 30.5.1983 – III ZR 195/81, BGHZ 87, 321, 326. 217 BGH v. 14.10.1963 – III ZR 30/63, NJW 1964, 104. 218 Eingehend Dumbs/Hartl VersR 2013, 1095 ff. 219 BGH v. 27.4.1970 – III ZR 49/69, BGHZ 54, 21. 220 BGH v. 28.5.1979 – III ZR 83/77, VersR 1979, 838. 221 BGH v. 25.9.1980 – III ZR 4/79, VersR 1981, 76.

278 | Greger

V. Haftung für Angehörige ausländischer Streitkräfte | Rz. 12.87 § 12

der Vertrag geschlossen wurde; zu beachten sind freilich die Vorschriften der Art. 31 bis 39 ZA über Ladung, Zustellung und Zwangsvollstreckung. Ausgeschlossen sind von der Prozessstandschaft der Bundesrepublik ferner Ansprüche aus Schwarzfahrten, wenn die Benutzung eines Fahrzeugs der Streitkräfte des Entsendestaates unbefugt war und die Truppe oder das zivile Gefolge für sie rechtlich nicht verantwortlich ist (Art. VIII Abs. 7 NTS). Hat ein bei den NATO-Streitkräften beschäftigter deutscher Arbeitnehmer einen Drittschaden (den Schaden eines anderen als der Bundesrepublik oder des Entsendestaats) verursacht, so ist der Schaden nicht nach Art. VIII Abs. 5 Alt. 1 NTS gegen die Bundesrepublik geltend zu machen, da er nicht zum zivilen Gefolge der Truppe (Art. I Abs. 1 lit. b NTS) gehört. Der Arbeitnehmer haftet dem Verletzten persönlich. Aus dem Urteil kann ohne weiteres gegen ihn vollstreckt werden. Auch zivile Arbeitnehmer, die staatenlos sind oder einem Staate angehören, der nicht Vertragsstaat der NATO ist, gehören nicht zum zivilen Gefolge und haften daher nur persönlich. Eine Haftung der Bundesrepublik für den Entsendestaat kann aber in solchen Fällen eintreten, wenn der Entsendestaat für dienstliche Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitnehmers „rechtlich verantwortlich“ ist (Art. VIII Abs. 5 Alt. 2 NTS). Diese Verantwortlichkeit ist gegeben, wenn entweder die Voraussetzungen der §§ 89, 31 i.V.m. §§ 823 ff. BGB vorliegen oder diejenigen des § 831 BGB. Unberührt bleibt der evtl. Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen (s. Rz. 16.41).

12.85

Ansprüche von Mitgliedern der Truppe oder ihres zivilen Gefolges gegen ihren eigenen Staat können nicht gegenüber der Bundesrepublik geltend gemacht werden, wenn die Ansprüche auf einem Schaden beruhen, den Mitglieder ihrer eigenen Truppe oder ihres zivilen Gefolges verursacht haben.222 Dies gilt nicht, wenn der Schaden einem deutschen Zivilangestellten der Streitkräfte von einem Angehörigen der Truppe oder ihres zivilen Gefolges zugefügt wurde.223

12.86

bb) Nachweis der Dienstbezogenheit Der Nachweis, dass die Handlung oder Unterlassung, die den Schaden verursacht hat, in Ausübung des Dienstes begangen worden ist (Art. VIII Abs. 5 NTS) und dass die Benutzung des Kfz nicht unbefugt war (Art. VIII Abs. 7 NTS), ist durch Bescheinigung der Truppe zu führen, zu der der Schädiger oder das schädigende Kfz im Zeitpunkt der Verursachung gehörte. Bei Meinungsverschiedenheiten kann die Entscheidung eines Schiedsrichters herbeigeführt werden (Art. VIII Abs. 8 NTS), und zwar unter den Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 5 NTSAG auch auf Antrag des deutschen Gerichts. Den deutschen Gerichten ist eine eigene Entscheidung über diese Tatfragen versagt.224 – Ist die Klage erhoben, ehe die Bescheinigung eingeholt wurde, so ist die Klage unzulässig; sie kann aber zulässig werden, wenn die deutsche Behörde die Entschließung bei zügiger Bearbeitung noch vor der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht hätte herbeiführen können.225 Liegen die Voraussetzungen für eine Geltendmachung nicht vor (entweder keine in Ausübung des Dienstes begangene Handlung oder Unterlassung, oder unbefugte Benutzung bei der Schwarzfahrt), so kann der Entsendestaat unmittelbar nach Billigkeitsgrundsätzen freiwillige Zahlungen, sog „ex-gratia“Leistungen, erbringen (Art. VIII Abs. 6 und 7 NTS; s. Rz. 12.75). Ein Anspruch hierauf besteht nicht. Bei Schwarzfahrten, für die die Truppe oder das zivile Gefolge eines Entsendestaa222 223 224 225

OLG Zweibrücken v. 23.11.1984 – 1 U 76/83, NJW 1985, 1298. LG Kaiserslautern v. 16.2.2018 – 3 O 103/17, DAR 2019, 576 mit Anm. Weigel. Zum Umfang der Bindungswirkung: BGH v. 14.3.1968 – III ZR 170/67, VersR 1968, 596. BGH v. 16.12.1968 – III ZR 109/68, VersR 1969, 284.

Greger | 279

12.87

§ 12 Rz. 12.87 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

tes verantwortlich ist, kann jedoch gegen diese auf dem eingangs erwähnten Weg wegen unerlaubter Handlung vorgegangen werden (Art. VIII Abs. 7 NTS). cc) Anzuwendendes Recht

12.88

Die Ansprüche des Verletzten richten sich nach deutschem Recht, soweit nicht NTS, ZA, UP und NTS-AG Sonderregelungen bringen. Der Fall ist materiell-rechtlich so zu behandeln, als habe die Bundeswehr oder einer ihrer Angehörigen oder Kraftwagen den Schaden verursacht (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG; §§ 823 ff. BGB; §§ 89, 31 BGB; §§ 7 ff. StVG). Maßgebend sind i.d.R. die Grundsätze der Amtshaftung (§ 839 BGB, Art. 34 GG) und die Gefährdungshaftung nach § 7 StVG, denn die Haftung der Bundesrepublik würde sich nach diesen Vorschriften richten, wenn der Unfall von einem Soldaten der Bundeswehr verursacht worden wäre.226 Das Verweisungsprivileg nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB ist auch hier nicht anwendbar, wenn sich der Unfall bei Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr ereignet227 (s. Rz. 12.61). Dass die Truppen oder ihr ziviles Gefolge von bestimmten Verhaltensvorschriften des deutschen Rechts befreit sind (vgl. insb. Art. 57 Abs. 4, 5 ZA), schließt für die Handlungen ihrer Mitglieder die Rechtswidrigkeit nicht aus (Art. 41 Abs. 8 Satz 1 ZA). Die Streitkräfte müssen sich also haftungsrechtlich so behandeln lassen, als ob die Befreiungsvorschrift nicht bestünde.228 Dies gilt nicht für Befreiungen, die in gleicher Weise auch die Bundeswehr für sich in Anspruch nehmen könnte (z.B. § 35 StVO). In solchen Fällen steht dem Verletzten ein Anspruch also nur zu, wenn ein Mitglied der Bundeswehr, hätte es unter gleichen Umständen den Unfall verursacht, einen Schadensersatzanspruch ausgelöst hätte. dd) Schuldner

12.89

Schuldner des Anspruchs ist in allen Fällen der Entsendestaat. Der Anspruch wird aber von der Bundesrepublik Deutschland für den Entsendestaat erfüllt, die gegen diesen gewisse Ersatzansprüche hat (Art VIII Abs. 5 NTS). Wird im Wege der Klage vorgegangen, so ist diese gegen die Bundesrepublik zu richten (Art. 12 Abs. 1 NTS-AG); diese führt den Rechtsstreit im eigenen Namen für den Entsendestaat (Prozessstandschaft). Das Urteil hat auf Leistung „für den Entsendestaat“ zu lauten (Art. 25 NTS-AG). ee) Geltendmachung der Ansprüche

12.90

Die Ansprüche müssen zunächst fristgerecht bei der zuständigen Behörde angemeldet werden, und zwar innerhalb von 3 Monaten (Art. 6 Abs. 1 NTS-AG). Die Anmeldung des Verletzten wahrt auch die Frist für den Regress eines Sozialversicherungsträgers.229 Eine Klage ist grundsätzlich erst nach Abschluss des behördlichen Anerkennungsverfahrens zulässig (s. Rz. 12.93 f.). Der Antrag hat die geltend gemachten Ansprüche dem Grunde und – soweit möglich – der Höhe nach zu bezeichnen und soll alle für die Bearbeitung wesentlichen Angaben unter Hinweis auf die Beweismittel enthalten (Art. 9 Abs. 2 NTS-AG). Die Anmeldung muss zumindest soviel enthalten, dass es der Behörde möglich ist, sich ein ungefähres Scha-

226 BGH v. 13.7.1972 – III ZR 107/69, VersR 1972, 1017. 227 BGH v. 30.10.1980 – III ZR 132/79, VersR 1981, 134. 228 BGH v. 17.9.1962 – III ZR 187/61, BGHZ 38, 21; BGH v. 22.5.1980 – III ZR 121/79, VersR 1980, 939. 229 OLG Oldenburg v. 3.12.2004 – 6 U 54/04, NJW-RR 2005, 617.

280 | Greger

V. Haftung für Angehörige ausländischer Streitkräfte | Rz. 12.93 § 12

densbild zu machen und die voraussichtlich zu erbringenden Ersatzleistungen zu überschauen.230 Die Frist für den Antrag beträgt 3 Monate; sie beginnt, wenn der Verletzte von dem Schaden und den Umständen Kenntnis (s. Rz. 24.7) erlangt, aus denen sich ergibt, dass die Truppe oder das zivile Gefolge eines Entsendestaats für den Schaden rechtlich verantwortlich ist oder dass ein Mitglied oder ein Bediensteter einer Truppe oder eines zivilen Gefolges den Schaden verursacht hat (Art. 6 Abs. 1 NTS-AG). Für Ansprüche, die im Augenblick des Schadensereignisses auf den Sozialversicherungsträger übergehen, beginnt sie, sobald dieser die erforderliche Kenntnis erlangt,231 während es für den nach § 86 VVG auf den Haftpflichtversicherer übergegangenen Ausgleichsanspruch des Versicherungsnehmers auf dessen Kenntnis ankommt.232 Nach Ablauf von zwei Jahren seit dem Unfall kann der Anspruch nicht mehr geltend gemacht werden. War der Schaden allerdings vor Ablauf dieser Frist nicht erkennbar, so beginnt sie erst mit dem Zeitpunkt zu laufen, in dem der Geschädigte bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt von dem Schaden hätte Kenntnis erlangen können (Art. 6 Abs. 4 NTS-AG).

12.91

Die Geltendmachung hat schriftlich bei der zuständigen deutschen Behörde zu erfolgen, doch gilt die Frist auch als gewahrt, wenn der Anspruch innerhalb der Frist bei einer Dienststelle der Truppe oder des zivilen Gefolges geltend gemacht worden ist, die allgemein für die Behandlung von Entschädigungsansprüchen zuständig ist oder der an dem Schadensfall beteiligte Mitglieder oder Bedienstete der Truppe oder des zivilen Gefolges unterstehen (Art. 6 Abs. 2 NTS-AG). Zuständig sind die Schadensregulierungsstellen des Bundes (SRB) der Verteidigungslastenverwaltung (Bundesanstalt für Immobilienaufgaben; Art. 8 NTS-AG; BAnz Nr. 23 v. 3.2.2005).233

12.92

Die Behörde kann entweder gem. Art. 11 Abs. 3 NTS-AG mit dem Antragsteller eine vertragliche Vereinbarung über die ihm zu gewährende Entschädigung schließen (diese ist wie ein Vergleich nach § 779 BGB zu behandeln234) oder ihm durch einseitige Entschließung nach Art. 11 Abs. 1 NTS-AG mitteilen, ob und inwieweit sie den geltend gemachten Schadensersatzanspruch anerkennt. Diese Entschließung hat inhaltlich die Bedeutung eines Anerkenntnisses. Es handelt sich nicht um ein Vertragsangebot, sondern um eine mit Hoheitsgewalt getroffene Entscheidung, der ähnlich einem Urteil Bestandskraft zukommt.235 Zur Bindungswirkung s. Rz. 12.99. Die Mitteilung, dass der Schadensfall nach dem NTS abgewickelt wird, stellt, auch wenn zugleich eine Vorauszahlung geleistet wird, noch keine bindende Entschließung dar.236

12.93

230 Sehr weitgehend BGH v. 28.5.1979 – III ZR 83/77, VersR 1979, 838 für etwaige Ausgleichsansprüche nach § 426 BGB. 231 BGH v. 26.7.1967 – III ZR 154/66, NJW 1967, 2208. 232 BGH v. 28.5.1979 – III ZR 83/77, VersR 1979, 838. 233 BGBl. II 2002, 2482, 2483; zur örtlichen Zuständigkeit s. https://www.bundesfinanzministerium. de (Suchbegriff: SRB). 234 BGH v. 31.1.1963 – III ZR 117/62, BGHZ 39, 60, 67; BGH v. 20.11.1969 – III ZR 93/69, VersR 1970, 518, 519. 235 BGH v. 8.12.2011 – III ZR 72/11, VersR 2012, 768, 769. Eingehend zur (dem deutschen Recht sonst fremden) Rechtsnatur BGH v. 20.11.1969 – III ZR 93/69, VersR 1970, 518; BGH v. 20.11.1969 – III ZR 234/68, VersR 1970, 665. 236 BGH v. 8.12.2011 – III ZR 72/11, VersR 2012, 768, 769 f.

Greger | 281

§ 12 Rz. 12.94 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

12.94

Wird der Anspruch nicht anerkannt, kann der Antragsteller innerhalb von 2 Monaten nach Zustellung der Entschließung Klage vor den ordentlichen Gerichten gegen die Bundesrepublik Deutschland erheben (Art. 12 Abs. 1, 3 NTS-AG). Diese Klagefrist wird auch in Lauf gesetzt, wenn die Behörde den Anspruch schon dem Grunde nach ablehnt, ohne zur Höhe des Schadens Stellung zu nehmen.237 Hat die Behörde 5 Monate nach Eingang des Antrags bei ihr noch keine Entschließung mitgeteilt, so kann ebenfalls Klage gegen die Bundesrepublik erhoben werden (Art. 12 Abs. 4 NTS-AG). ff) Fristversäumung

12.95

Die Anmeldefrist nach Art. 6 NTS-AG ist eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, deren Nichteinhaltung von Amts wegen zu beachten ist. Ihre Versäumung führt zum Verlust des Anspruchs, nicht zum Entstehen eines Prozesshindernisses. Eine trotz Versäumung der Anmeldefrist erhobene Klage ist daher nicht unzulässig, sondern unbegründet. Die Klagefrist nach Art. 12 Abs. 3 NTS-AG stellt hingegen eine vorprozessuale Ausschlussfrist dar, deren Ablauf zur Unklagbarkeit des Anspruchs führt und somit den Rechtsweg vollständig und endgültig verschließt.238 Bei der Klagefrist nach Art. 12 Abs. 3 NTS-AG handelt es sich also um eine von Amts wegen zu prüfende und nicht der Disposition der Parteien unterliegende Prozessvoraussetzung; für die Fristwahrung gilt § 167 ZPO239 (hierzu s. Rz. 24.81). Die Frist ist auch gewahrt, wenn innerhalb der Frist ein unzuständiges Gericht angerufen wurde und die Sache später an das zuständige Gericht gelangt ist240 oder wenn ein beim Prozessgericht zugelassener Rechtsanwalt die Einreichung der Klage durch einen nicht postulationsfähigen Anwalt vor Fristablauf genehmigt.241 Vom Geschädigten zunächst übersehene Schadenspositionen (z.B. die steuerliche Belastung einer Unterhaltsrente) können nicht mehr nachträglich geltend gemacht werden.242

12.96

Auf beide Fristen sind die Vorschriften der ZPO über Notfristen entsprechend anzuwenden (Art. 6 Abs. 3, Art. 12 Abs. 3 Satz 2 NTS-AG). Es kann daher dem Verletzten von der Behörde, bei der der Schadensersatz zu beantragen ist, bzw. vom Gericht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für die jeweils versäumte Frist gewährt werden. Voraussetzung ist nach § 233 ZPO, dass der Verletzte ohne Verschulden gehindert worden ist, die Frist einzuhalten. Mangelnde Kenntnis der Anmeldefrist entlastet den Anspruchsteller nicht.243 Eine Versäumung, die in dem Verschulden eines Vertreters (gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten) ihren Grund hat, ist nicht unverschuldet (§ 85 Abs. 2 ZPO). Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden, die mit dem Tage beginnt, an dem das Hindernis wegfällt (§ 234 Abs. 1 und 2 ZPO). Nach Ablauf eines Jahres, vom Ende der versäumten Frist an, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden (§ 234 Abs. 3 ZPO). Der Antrag ist bei Versäumung der Anmeldefrist nach Art. 6 NTS-AG bei der zustän-

237 BGH v. 8.11.1984 – III ZR 138/83, VersR 1985, 88. 238 BGH v. 19.10.1995 – III ZR 2/95, NZV 1996, 193. 239 BGH v. 5.4.1979 – III ZR 33/78, VersR 1979, 738; OLG Karlsruhe v. 7.6.1989 – 1 U 19/89, NZV 1990, 28. 240 BGH v. 6.2.1961 – III ZR 13/60, BGHZ 34, 230; BGH v. 5.4.1979 – III ZR 33/78, VersR 1979, 738. 241 BGH v. 7.6.1990 – III ZR 142/89, BGHZ 111, 339 mit Anm. Vollkommer EWiR 78 ZPO 1/90, 1025. 242 BGH v. 6.11.1986 – III ZR 193/85, VersR 1987, 409. 243 OLG Karlsruhe v. 25.8.1989 – 10 U 83/89, NZV 1990, 73.

282 | Greger

V. Haftung für Angehörige ausländischer Streitkräfte | Rz. 12.99 § 12

digen Behörde (s. Rz. 12.92) zu stellen; lehnt diese den Antrag ab, so prüft das ordentliche Gericht, ob er begründet war.244 gg) Einfluss der Fristversäumung auf Gesamtschuldnerausgleich Ist dem Verletzten neben dem Angehörigen der Streitkräfte ein weiterer Schädiger verantwortlich und hat er diesen in Anspruch genommen, die Anmelde- oder die Klagefrist nach dem NTS dagegen verstreichen lassen, so hat er zwar seinen eigenen Anspruch gegen die Bundesrepublik verloren, der Zweitschädiger (bzw. aufgrund Anspruchsübergangs nach § 86 VVG sein Haftpflichtversicherer) ist jedoch dadurch nicht gehindert, seinen Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 BGB gegen die Bundesrepublik geltend zu machen,245 sofern für ihn die Frist des Art. 6 Abs. 1 NTS-AG gewahrt ist.246

12.97

hh) Verjährung Die Verjährungsvorschriften des deutschen Rechts (§ 195 BGB, § 14 StVG) werden durch die Vorschriften des NTS und des NTS-AG nicht berührt. Die Verjährung wird durch die Anmeldung der Ansprüche gehemmt (§ 204 Abs. 1 Nr. 12 BGB), und zwar für alle Ansprüche, auf die sich die Anmeldung erstreckt hat.247

12.98

ii) Bindungswirkung Hat die Regulierungsstelle durch Entschließung nach Art. 11 Abs. 1 NTS-AG entschieden, ist sie ab deren Erlass hieran grundsätzlich gebunden; die Bindung entfällt aber, wenn es nicht mit Treu und Glauben vereinbar wäre, die Bundesrepublik an der Entscheidung festzuhalten, etwa weil der Geschädigte Tatsachen verschwiegen hat, die zu einer völlig anderen Würdigung des Sachverhalts führen.248 Ebenso kann die Bindungswirkung entfallen, wenn der Schaden noch nicht endgültig abgewickelt ist, z.B. bei Zubilligung einer laufenden Rente, die unter mehreren Berechtigten unrichtig aufgeteilt wurde,249 die sich aufgrund der neuen Rechtsprechung zum Verweisungsprivileg nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB (s. Rz. 12.61) als zu niedrig erweist250 oder für die sich nachträglich die Notwendigkeit einer Anrechnung auf andere Ansprüche ergibt.251 Auf die Geltendmachung von Ansprüchen durch die ausländischen Streitkräfte (z.B. gegen andere Unfallbeteiligte) erstreckt sich die Bindungswirkung nicht.252

244 BGH v. 30.5.1968 – III ZR 54/67, VersR 1968, 947. 245 BGH v. 30.10.1980 – III ZR 132/79, VersR 1981, 134. 246 BGH v. 28.5.1979 – III ZR 83/77, VersR 1979, 838; BGH v. 30.10.1980 – III ZR 132/79, VersR 1981, 134. 247 BGH v. 24.3.1977 – III ZR 19/75, VersR 1977, 646. 248 BGH v. 8.7.1976 – III ZR 109/74, VersR 1976, 1156. 249 BGH v. 18.1.1979 – III ZR 72/77, VersR 1979, 423. 250 BGH v. 18.10.1979 – III ZR 137/78, VersR 1980, 257. 251 OLG Hamm v. 25.4.1986 – 9 U 154/81, VersR 1987, 1223. 252 OLG Köln v. 21.11.1991 – 7 U 130/91, NZV 1993, 194.

Greger | 283

12.99

§ 12 Rz. 12.100 | Haftung wegen Amtspflichtverletzung

4. Truppen anderer Staaten 12.100

Für Schäden, die von Streitkräften anderer Staaten während eines vorübergehenden Aufenthalts in Deutschland verursacht werden, gilt das Streitkräfteaufenthaltsgesetz v. 20.7.1995.253 Bilaterale Abkommen bestehen u.a. mit Polen, Tschechien und Österreich.254

VI. Haftung im Anstellungsverhältnis 1. Rückgriff gegen Beamte 12.101

Wenn der Staat nach Art. 34 Satz 1 GG Schadensersatz für eine Amtspflichtverletzung im Bereich hoheitlicher Tätigkeit (s. Rz. 12.36 ff.) leisten musste, kann er hierfür beim Beamten Rückgriff nehmen, falls er diesem Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit nachweisen kann (Art. 34 Satz 2 GG i.V.m. § 75 Abs. 1 BBG bzw. § 48 BeamtStG und den landesrechtlichen Vorschriften; Soldaten: § 24 Abs. 1 SG). Dies gilt auch, wenn der Dienstherr für eine Pflichtverletzung im privatrechtlichen Funktionskreis des Beamten nach § 831 BGB haftet.255 Eine auch nur teilweise Abstandnahme vom Regress kann der Beamte nur verlangen, wenn er durch ihn in ungewöhnlich schwerer Weise getroffen würde.256 Sind mehrere Beamte regresspflichtig, haften sie als Gesamtschuldner. Der Anspruch ist vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen; sachlich zuständig sind die LG (§ 72 Abs. 2 Nr. 2 GVG).

12.102

Haftet der Staat für den Unfall mit einem Dienst-Kfz, für welches gem. § 2 PflVG keine Haftpflichtversicherung besteht, kann er gegen den Fahrer nur im selben Umfang Rückgriff nehmen wie ein Haftpflichtversicherer, nämlich bei vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls (§ 2 Abs. 2 Satz 5 PflVG, § 103 VVG)257 sowie dann, wenn bei grob fahrlässiger Verursachung die Schadensersatzleistungen die Mindestversicherungssummen des PflVG übersteigen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 PflVG).258

2. Rückgriff gegen sonstige Amtsträger 12.103

Für unselbständige Verwaltungshelfer (s. Rz. 12.39 f.) gilt die Haftungsbeschränkung nach Art. 34 Satz 2 GG entsprechend,259 nicht aber für mit Staatsaufgaben betraute selbständige Unternehmer260 oder Beliehene261 (s. Rz. 12.41). Hier richtet sich der Regress nach den für das verwaltungsrechtliche Schuldverhältnis geltenden Regelungen. Zum Regress gegen Arbeitnehmer s. Rz. 22.67 ff.

253 BGBl. II 1995, 554. 254 Verordnungen v. 23.8.2000 (BGBl. II 2001, 178); v. 17.12.2003 (BGBl. II 1975); v. 6.11.2007 (BGBl. II 2008, 1290). 255 Erman/Mayen § 839 BGB Rz. 103. 256 BGH v. 28.10.1993 – III ZR 67/92, BGHZ 124, 15. 257 Geigel/Brodöfel Kap. 20 Rz. 357. 258 BGH v. 26.9.1985 – III ZR 61/84, BGHZ 96, 50; Staudinger/Wöstmann § 839 BGB Rz. 394; Geigel/Brodöfel Kap. 20 Rz. 357. 259 Zu Angehörigen der freiwilligen Feuerwehr s. Bernstrauch NZV 2020, 243, 245. 260 BGH v. 14.10.2004 – III ZR 169/04, BGHZ 161, 6. 261 BVerwG v. 26.8.2010 – 3 C 35/09, NVwZ 2011, 368.

284 | Greger

VI. Haftung im Anstellungsverhältnis | Rz. 12.104 § 12

3. Haftung für Eigenschaden der Anstellungskörperschaft Fügt der Beamte dem Dienstherrn einen unmittelbaren Schaden zu, etwa durch Beschädigung überlassener Sachen, gelten ebenfalls die beamtenrechtlichen Vorschriften (s. Rz. 12.101). Dieser (nicht amtshaftungs-, sondern dienstrechtliche) Anspruch schließt eine deliktische Haftung aus und kann durch Verwaltungsakt geltend gemacht werden, der der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt.262 Nicht beamtete Amtsträger haften ggf. beschränkt nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen (s. Rz. 22.67 ff.).

262 BGH v. 9.4.2009 – III ZR 200/08, MDR 2009, 804.

Greger | 285

12.104

§ 13 Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtliche Einordnung . . . . . . . . . a) Verkehrssicherungspflicht und allgemeine Verkehrspflichten . . . . . b) Verkehrssicherungspflicht und Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umfang der Haftung . . . . . . . . . . . a) Ersatzfähige Schäden . . . . . . . . . . . . b) Persönlicher Schutzumfang . . . . . . . c) Schutzzweckzusammenhang . . . . . . 3. Haftungsausschluss . . . . . . . . . . . . 4. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Potenzielle (alternative) Kausalität . II. Träger der Pflicht . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eilzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bundesfernstraßen . . . . . . . . . . . . . . b) Landes- und Kreisstraßen . . . . . . . . c) Gemeindestraßen . . . . . . . . . . . . . . . d) Private Verkehrsflächen . . . . . . . . . . e) Straßenkreuzungen, Einmündungen, Bahnübergänge . . . . . . . . . . . . . f) Umleitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Einwirkungen auf den Straßenzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Baustellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Straßenbahn- und Busbetriebe . . . . j) Sondernutzungsberechtigte . . . . . . . k) Anlieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Sonstige Verursacher von Gefahren m) Tatsächliche Übung . . . . . . . . . . . . . III. Umfang und Inhalt . . . . . . . . . . . . . 1. Umfang der Pflicht . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Maßgeblichkeit des Verkehrsaufkommens und der Verkehrsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erkennbarkeit der Gefahr . . . . . . . . d) Räumliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . e) Zumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit

13.1 13.1 13.1 13.2 13.6 13.6 13.7 13.8 13.9 13.10 13.11 13.12 13.13 13.14 13.14 13.15 13.17 13.18 13.18 13.19 13.20 13.21 13.22 13.23 13.24 13.25 13.26 13.27 13.28 13.29 13.30 13.31 13.31 13.31

13.33 13.37 13.39 13.41

f) Einfluss von Vorschriften und technischen Regelwerken . . . . . . . . . . . . g) Einfluss vertraglicher Beziehungen . h) Umwelt- und Landschaftsschutz . . . 2. Inhalt der Pflicht . . . . . . . . . . . . . . a) Warnung oder Beseitigung . . . . . . . b) Verhältnis zur Verkehrsregelungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Überwachungspflicht . . . . . . . . . . . . d) Organisationspflicht . . . . . . . . . . . . e) Bauliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . f) Sperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einzelne Fallgruppen . . . . . . . . . . . 1. Anlage des Verkehrswegs . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . . 2. Bauliche Beschaffenheit des Verkehrswegs . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . . 3. Verkehrsberuhigende Maßnahmen a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelne Gestaltungen . . . . . . . . . . . 4. Verschmutzung . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umfang der Verkehrssicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verursacherhaftung . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . . 5. Schnee- und Eisglätte . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Träger der Räum- und Streupflicht . c) Inhalt und Umfang der Räum- und Streupflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Fahrbahnen innerhalb geschlossener Ortslage . . . . . . . bb) Fahrbahnen außerhalb geschlossener Ortslage . . . . . . . cc) Gehwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Radwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zeitliche Begrenzungen . . . . . . ff) Art des Streuens . . . . . . . . . . . .

13.43 13.44 13.45 13.46 13.46 13.50 13.51 13.52 13.53 13.54 13.55 13.55 13.55 13.56 13.57 13.57 13.58 13.69 13.69 13.70 13.71 13.71 13.72 13.73 13.74 13.75 13.75 13.76 13.82 13.83 13.86 13.87 13.88 13.89 13.92

Greger | 287

§ 13 Rz. 13.1 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht gg) Glatteiswarnung . . . . . . . . . . . . hh) Durch das Räumen oder Streuen hervorgerufene Gefahren . . ii) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . 6. Dunkelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dauer und Art der Beleuchtung . . . c) Überwachungspflicht . . . . . . . . . . . d) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . . 7. Baustellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . . 8. Bäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . .

13.93 13.94 13.95 13.96 13.96 13.97 13.99 13.100 13.101 13.101 13.103 13.104 13.104

9. Gefahren, die von angrenzenden Grundstücken ausgehen . . . . . . . . a) Pflichten des für die Straße Verkehrssicherungspflichtigen . . . . . . . b) Pflichten des Grundstückseigentümers oder -besitzers . . . . . . . . . . . c) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . 10. Sonstige Verkehrsgefahren (alphabetisch geordnet) . . . . . . . . . 11. Rennveranstaltungen . . . . . . . . . . . V. Mithaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfälle zur Haftungsverteilung a) Mitverschulden von Kraftfahrern . . b) Mitverschulden von Radfahrern . . . c) Mitverschulden von Fußgängern . .

13.111 13.111 13.113 13.118 13.119 13.163 13.164 13.164 13.169 13.169 13.179 13.180

13.110

Literatur: Manssen (Hrsg) Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003).

I. Überblick 1. Rechtliche Einordnung a) Verkehrssicherungspflicht und allgemeine Verkehrspflichten 13.1

Die Verkehrssicherungspflicht ist nicht umfassend gesetzlich geregelt. Das Rechtsinstitut ist vielmehr von der Rechtsprechung geschaffen worden. Das RG, das den Begriff im Wesentlichen geprägt hat, stützte sich auf einen Satz des gemeinen Rechts, der besagte: Wer Räume oder Örtlichkeiten der Allgemeinheit zugänglich macht – mithin einen Verkehr für andere eröffnet – ist für die verkehrssichere Beschaffenheit der Sache verantwortlich.1 Hieraus entwickelte sich der gewohnheitsrechtliche Rechtssatz, dass jeder, der im Verkehr eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zum Schutze anderer zu treffen hat.2 Er beschränkt sich längst nicht mehr auf die Sicherung von Verkehrswegen und sonstigen allgemein zugänglichen Örtlichkeiten, sondern umfasst auch sonstige potentielle Gefahrenquellen. Ein Ausschluss jeglicher denkbaren Gefahr wird von ihm jedoch nicht verlangt; erforderlich ist, dass bei sachkundiger Beurteilung die naheliegende Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung besteht3 (zur dogmatischen Verortung s. Rz. 10.8 f.). Im Folgenden wird nur auf die Verkehrssicherungspflicht im engeren Sinne (für Straßen, Wege, Plätze) eingegangen; zu den Verhaltenspflichten im Straßenverkehr s. Rz. 14.1 ff.

1 RG v. 23.2.1903 – VI 349/02, RGZ 54, 53. 2 BGH v. 30.4.1953 – III ZR 377/51, BGHZ 9, 373 = NJW 1953, 1297, 1625 mit Anm. Frisius u. st. Rspr. Eingehend v Bar JZ 1979, 32 ff. 3 BGH v. 2.10.2012 – VI ZR 311/11, BGHZ 195, 30 m.w.N.

288 | Greger

I. Überblick | Rz. 13.3 § 13

b) Verkehrssicherungspflicht und Amtshaftung Die Verkehrspflichten gehören dem bürgerlichen Recht an. Die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht führt somit grundsätzlich zur Haftung nach § 823 BGB,4 und zwar auch dann, wenn sie sich bei Gelegenheit einer hoheitlichen Tätigkeit ereignet.5 Dem öffentlichen Recht gehört jedoch die in Landesgesetzen den Gemeinden übertragene polizeiliche Straßenreinigungs- und/oder -beleuchtungspflicht (s. Rz. 13.49, 13.71) an, die auch den Winterdienst umfassen kann (s. Rz. 13.76),6 desgleichen die Pflicht der Straßenverkehrsbehörden zur (sachgerechten) Verkehrsregelung7 (zu Inhalt und Abgrenzung s Rz. 12.17 ff.). Außerdem haben die öffentlich-rechtlichen Körperschaften nach der Rechtsprechung des BGH die Möglichkeit, die Erfüllung der Straßenverkehrssicherungspflicht für öffentliche Straßen hoheitlich zu organisieren und den im Dienste der Körperschaft stehenden Personen die Verkehrssicherungspflicht als Amtspflicht gegenüber den Verkehrsteilnehmern aufzuerlegen; es greift dann die Amtshaftung nach § 839 BGB, Art. 34 GG ein,8 allerdings nach neuerer Rechtsprechung ohne das Verweisungsprivileg nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB (s. Rz. 12.62). Personen oder Unternehmen, derer sich die Behörde zur Erfüllung ihrer Verkehrssicherungspflicht bedient, haften ungeachtet ihres dienst- oder vertragsrechtlichen Status als Träger eines öffentlichen Amtes i.S.v. Art. 34 S. 1 GG im Außenverhältnis nicht.9

13.2

Die hoheitliche Ausgestaltung kann durch verlautbarten Organisationsakt erfolgen,10 wobei allerdings die bloße Übertragung der Überwachung der Straßensicherheit auf das Straßenbauamt einer Stadt und die Veröffentlichung dieser Übertragung in der Tagespresse nicht ausreichen.11 Inzwischen wird i.d.R. durch ausdrückliche Vorschriften des Landesrechts bestimmt, dass die Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich der öffentlichen Straßen (auch der Bundesfernstraßen12) in Ausübung eines öffentlichen Amtes wahrgenommen wird, so z.B. in Baden-Württemberg,13 in Bayern,14 in Berlin,15 in Brandenburg (§ 10 Abs. 1 StrG), in Bremen (§ 9 StrG), in Hamburg (§ 5 WegeG), in MecklenburgVorpommern (§ 10 Abs. 1 StrG), in Niedersachsen,16 in Nordrhein-Westfalen,17 in Rheinland-Pfalz,18 im Saarland (§ 9 Abs. 3a StrG), in Sachsen (§ 10 Abs. 1 StrG), in Sachsen-Anhalt (§ 10 Abs. 1 StrG),

13.3

4 BGH v. 30.4.1953 – III ZR 377/51, BGHZ 9, 373. A.A. Bartlsperger Das Gefahrenrecht öffentlicher Straßen (1994) 179 f, der die Straßenverkehrssicherungspflicht aus einer Amtspflicht zur Bereitstellung der Straße in einem dem widmungsmäßigen Gemeingebrauchsrecht entspr. gefahrlosen Zustand ableitet. Eingehend zu dieser Streitfrage MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani § 839 Rz. 229 ff. 5 OLG Karlsruhe v. 18.11.1993 – 13 U 318/91, NJW 1994, 1291 (Glätte als Folge von Fernmeldebauarbeiten). 6 S. zu § 1 StraßenreinigungsG NRW BGH v. 5.7.1990 – III ZR 217/89, BGHZ 112,74; umfassend Staudinger/Wöstmann § 839 Rz. 705 f. 7 BGH v. 11.12.1980 – III ZR 34/79, VersR 1981, 336. 8 BGH v. 30.4.1953 – III ZR 377/51, BGHZ 9, 373, 387 ff.; BGH v. 18.12.1972 – III ZR 121/70, BGHZ 60, 54; BGH v. 9.10.2014 – III ZR 68/14, NJW 2014, 3580. 9 BGH v. 9.10.2014 – III ZR 68/14, NJW 2014, 3580;. 10 BGH v. 30.4.1953 – III ZR 377/51, BGHZ 9, 373; BGH v. 20.3.1967 – III ZR 29/65, NJW 1967, 1325. 11 BGH v. 30.9.1968 – III ZR 96/66, VersR 1969, 35. 12 MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani § 839 Rz. 234. 13 § 59 StrG; BGH v. 15.2.1979 – III ZR 172/77, VersR 1979, 542. 14 Art. 72 BayStrWG; BGH v. 20.12.1990 – III ZR 21/90, VersR 1991, 665. 15 § 7 Abs. 6 StrG; BGH v. 1.7.1993 – III ZR 167/92, BGHZ 123, 102; BGH v. 5.7.2012 – III ZR 240/ 11, NZV 2012, 533 = DAR 2012, 572 mit Anm. Heinrichs. 16 § 10 Abs. 1 NStrG; BGH v. 10.3.1983 – III ZR 1/82, VersR 1983, 636; BGH v. 4.3.2004 – III ZR 225/03, NJW 2004, 1381. 17 § 9a StrG; BGH v. 18.11.1993 – III ZR 178/92, NZV 1994, 146. 18 § 48 Abs. 2 StrG; BGH v. 24.1.2002 – III ZR 103/01, VersR 2002, 1040.

Greger | 289

§ 13 Rz. 13.3 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Schleswig-Holstein (§ 10 Abs. 4 StrWG) und in Thüringen (§ 10 Abs. 1 StrG). In Hessen ist die allgemeine Straßenverkehrssicherungspflicht privatrechtlich ausgestaltet.19

13.4

Auch im Fall hoheitlicher Wahrnehmung der Verkehrssicherungspflicht durch Bedienstete tritt die Haftung der Körperschaft nur an die Stelle der sonst bestehenden Haftung nach §§ 823, 831 BGB. Der Umfang der Pflicht ändert sich nicht;20 auch die bei Übertragung der Verkehrssicherungspflicht, z.B. auf Anlieger, bestehen bleibende Überwachungspflicht ist dann Amtspflicht.21 Die privatrechtliche Verpflichtung der Körperschaft, für eine ordnungsgemäße Organisation der Verkehrssicherung zu sorgen, bleibt aber bestehen. Wird diese Verpflichtung verletzt, d.h. überhaupt keine Organisation zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht bzw. der polizeilichen Wegereinigungspflicht (s. Rz. 13.2) geschaffen, so haftet die Körperschaft nach §§ 823, 31, 89 BGB.22 Unberührt bleibt auch § 836 BGB, wenn die Amtspflichtverletzung zugleich diesen Tatbestand verwirklicht (s. Rz. 13.10). Wird die Erfüllung der hoheitlich organisierten Verkehrssicherungspflicht auf ein Privatunternehmen übertragen, gelten § 839 BGB, Art. 34 GG; anstelle des Unternehmens haftet dann der Staat,23 ebenso wenn sich bei einer Fahrt, die der Erfüllung einer solchen Pflicht dient, ein Unfall ereignet.24

13.5

Ist die öffentlich-rechtliche Körperschaft als Anliegerin (s. Rz. 13.77) oder als Eigentümerin einer nicht dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Fläche sicherungspflichtig, so haftet sie stets privatrechtlich., ebenso, wenn sie die Verkehrssicherungspflicht für eine Privatstraße durch Vertrag mit dem Eigentümer übernimmt.25

2. Umfang der Haftung a) Ersatzfähige Schäden 13.6

Für reine Vermögensschäden besteht keine Ersatzpflicht. Dies ergibt sich bei der bürgerlichrechtlichen Haftung aus dem eingeschränkten Rechtsgüterschutz nach § 823 Abs. 1 BGB, bei der Amtshaftung daraus, dass die zugrunde liegende Amtspflicht nur den Inhalt hat, die Straßenbenutzer vor Gefahren für Leben, Gesundheit, Eigentum oder sonstige absolute Rechte zu bewahren, nicht aber vor jedem Vermögensschaden.26 Eine Gleichstellung der Verkehrssicherungspflichten mit Schutzgesetzen i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB27 ist abzulehnen.28

19 BGH v. 14.1.1982 – III ZR 58/80, VersR 1982, 577; OLG Frankfurt v. 1.3.2004 – 1 U 187/03, DAR 2004, 701; OLG Frankfurt v. 7.4.2017 – 1 U 141/14, juris. Zur Räum- und Streupflicht s. aber BGH v. 15.1.1998 – III ZR 124/97, NZV 1998, 199. 20 BGH v. 10.7.1980 – III ZR 58/79, NJW 1980, 2194. 21 BGH v. 11.6.1992 – III ZR 134/91, BGHZ 118, 368, 369. 22 BGH v. 19.5.1958 – III ZR 211/56, BGHZ 27, 278 = NJW 1958, 1234, 1819 mit Anm. Nedden; BGH v. 30.5.1960 – III ZR 77/59, BGHZ 32, 352; BGH v. 30.9.1970 – III ZR 81/67, NJW 1971, 43. Vgl. auch BGH v. 18.12.1972 – III ZR 121/70, BGHZ 60, 54, 62. 23 BGH v. 9.10.2014 – III ZR 68/14, NJW 2014, 3580. 24 BGH v. 4.6.1956 – III ZR 264/54, BGHZ 21, 48. 25 Vgl. OLG Köln v. 7.12.1989 – 7 U 75/89, VersR 1990, 321. 26 BGH v. 18.12.1972 – III ZR 40/70, NJW 1973, 463; BGH v. 14.6.1976 – III ZR 35/74, BGHZ 66, 398. 27 So v Bar Verkehrspflichten (1980), S. 157 ff. 28 MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 554.

290 | Greger

I. Überblick | Rz. 13.10 § 13

b) Persönlicher Schutzumfang Grundsätzlich besteht die Verkehrssicherungspflicht nur gegenüber befugten Benutzern des Verkehrswegs bzw. Grundstücks (hierzu und zu Ausnahmen s. Rz. 13.36).

13.7

c) Schutzzweckzusammenhang Wer eine Sicherungsmaßnahme, die wegen einer bestimmten Gefahr geboten war, unterlassen hat, kann seine Verantwortung für einen Schaden, der bei Ergreifen dieser Maßnahme nicht eingetreten wäre, nicht mit der Begründung verneinen, dass sich eine andere Gefahr verwirklicht hat, die ihn wegen ihrer Außergewöhnlichkeit nicht zum Handeln verpflichtet hätte; es genügt, dass sich der Unfall innerhalb des Gefahrenkreises ereignet hat, der ihn zu jener Sicherungsmaßnahme hätte veranlassen müssen.29 Ist die unterbliebene Schutzmaßnahme aber nur zugunsten bestimmter Personenkreise geboten (z.B. Kinder, Behinderte, Blinde), können sich andere Verkehrsteilnehmer im Schadensfall nicht darauf berufen.30

13.8

3. Haftungsausschluss Durch einseitigen Aushang (z.B. Schild, Anschlag) kann sich der Pflichtige nicht von der Haftung für die Verletzung grundlegender Verkehrssicherungspflichten freizeichnen.31 Liegt der Benützung des Verkehrswegs ein Vertrag zugrunde (z.B. bei Mautstraße, Privatparkplatz), so kann die Haftung für Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch allgemeine Geschäftsbedingungen nicht unter das sich aus dem Deliktsrecht ergebende Maß herabgesetzt werden, denn es wäre eine unangemessene Benachteiligung i.S.d. § 307 BGB, wenn der Schutz bei entgeltlicher Verkehrsteilnahme geringer wäre als bei unentgeltlicher.32

13.9

4. Beweislast Der Geschädigte hat die schuldhafte Verletzung der Verkehrssicherungspflicht und deren Kausalität für seine Schädigung zu beweisen, im Falle einer Übertragung auf einen Dritten (s. Rz. 13.15 f.) also auch, dass die dem Pflichtigen obliegende Überwachung den Schaden verhindert hätte.33 Beruht die Schädigung auf der Ablösung eines Bauwerkteiles, so regelt sich die Beweislast auch dann nach § 836 BGB, wenn die mangelhafte Unterhaltung des Bauwerks eine Amtspflichtverletzung darstellt.34

29 BGH v. 21.2.1961 – VI ZR 94/60, VersR 1961, 465; BGH v. 4.7.1978 – VI ZR 104/77, VersR 1978, 961, 962. 30 OLG Düsseldorf v. 23.2.2000 – 22 W 81/99, MDR 2000, 1133; BayObLG v. 10.9.2001 – 5 Z RR 209/00, NJW-RR 2002, 1249, 1250; Burmann NZV 2003, 20, 21; a.A. Staudinger/Hager § 823 BGB, E 41. 31 BGH v. 16.2.1982 – VI ZR 149/80, NJW 1982, 1144; OLG Karlsruhe v. 22.9.2004 – 7 U 94/03, VersR 2006, 135. 32 Zur Rechtslage in Österreich s. Hoffer DAR 2001, 571 ff. 33 OLG Hamm v. 6.3.2009 – 9 U 153/08, NZV 2009, 453; OLG Hamm v. 16.1.2012 – 6 U 206/11, MDR 2012, 465. 34 BGH v. 5.4.1990 – III ZR 4/89, VersR 1991, 72.

Greger | 291

13.10

§ 13 Rz. 13.11 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

a) Kausalität 13.11

Für den Kausalitätsbeweis sind die generell angezeigten Erleichterungen zu gewähren, ggf. also der sog. Anscheinsbeweis (s. Rz. 41.56 ff., insb. 41.87, 41.89). Auf die Grundvoraussetzung jedes Anscheinsbeweises, den „typischen Geschehensablauf“ kann aber auch hier nicht verzichtet werden. Ein Erfahrungssatz, wonach sich die zu bannende Gefahr bei pflichtgemäßem Verhalten nicht verwirklicht hätte, kann im Bereich der Verkehrssicherung keine allgemeine Geltung beanspruchen; entscheidend ist immer der konkrete Hergang, nicht eine abstrakte Verhaltensnorm. Erst recht gilt dies für die Überwachungspflicht (s. Rz. 13.51): Der Sturz auf einem vereisten Bürgersteig ist keine typische Folge deren Verletzung, wenn sie lediglich stichprobenartige Kontrollen in mehrtägige Abständen gebietet.35 Die vereinzelt in der Rechtsprechung. des BGH36 zur Verletzung von Beratungspflichten anzutreffende Ansicht, bei der Amtshaftung sei bereits die Amtspflichtverletzung konkreter Haftungsgrund und die Frage der Verursachung des Schadens durch diese Pflichtverletzung daher der Haftungsausfüllung, d.h. dem Anwendungsbereich des beweiserleichternden § 287 ZPO zuzuordnen, ist ebenso wie eine Umkehr der Beweislast abzulehnen,37 jedenfalls nicht auf Fälle der Verkehrssicherungspflichtverletzung zu übertragen. Lediglich die Darlegungslast liegt hinsichtlich der dem Einblick des Geschädigten entzogenen Abläufe (z.B. Organisation des Streudienstes, Überwachung des Beauftragten) beim Sicherungspflichtigen.38

b) Verschulden 13.12

Für den Beweis des Verschuldens, d.h. der vorwerfbaren Pflichtverletzung, muss es im Grundsatz bei der vollen Beweislast des Anspruchstellers verbleiben; die Grundsätze des Anscheinsbeweises sind hier nicht anwendbar.39 Eine Modifizierung nach Gefahrenbereichen ist abzulehnen (s. Rz. 40.39). Für Einzelaspekte gewährt die Rechtsprechung. dem Geschädigten allerdings Erleichterungen.40

c) Potenzielle (alternative) Kausalität 13.13

§ 830 Abs. 1 S. 2 BGB, der eine Haftung des an einer unerlaubten Handlung Beteiligten auch dann eingreifen lässt, wenn die Kausalität seines Tatbeitrags nicht feststellbar ist (s. Rz. 10.35 ff.), ist auch bei der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten anwendbar. Daher haften z.B. Unternehmer, die auf einem Festplatz ungesicherte Versorgungsleitungen verlegt haben, auch dann für den Sturz eines Fußgängers, wenn sich nicht feststellen lässt, über welche von mehreren in Betracht kommenden er gestolpert ist.41

OLG Hamm v. 16.1.2012 – 6 U 206/11, MDR 2012, 465. BGH v. 5.3.1974 – VI ZR 222/72, VersR 1974, 782. Ebenso BGH v. 26.11.1964 – III ZR 5/64, VersR 1965, 91. OLG Brandenburg v. 5.8.2008 – 2 U 15/07, VersR 2009, 221. BGH v. 20.6.2013 – III ZR 326/12, VersR 2013, 1322. S. auch Rz. 41.131. Vgl. BGH v. 4.4.1967 – VI ZR 98/65, VersR 1967, 685 wonach bei feststehendem Verstoß gegen die Streupflicht der Verantwortliche beweisen muss, dass er alles Zumutbare getan hat, um die Beachtung der Streupflicht zu sichern. Vgl. weiter BGH v. 7.6.2005 – VI ZR 219/04, NZV 2005, 578 (Nutzlosigkeit des Streuens). 41 OLG Hamm v. 24.3.2015 – 9 U 114/14, MDR 2015, 588. 35 36 37 38 39 40

292 | Greger

II. Träger der Pflicht | Rz. 13.15 § 13

II. Träger der Pflicht 1. Grundsatz Für den verkehrssicheren Zustand einer Straße haftet diejenige (natürliche oder juristische42) Person, welche die tatsächliche Möglichkeit und privatrechtliche Befugnis hat, auf den Straßenzustand einzuwirken, also für die Verwaltung und Unterhaltung der Straße zuständig ist.43 Dies ist, soweit eine Verkehrssicherungspflicht öffentlich-rechtlicher Körperschaften in Betracht kommt, in der Regel die Straßenbaubehörde. Es haftet mithin diejenige Körperschaft, der die für den Streckenabschnitt zuständige Straßenbaubehörde unterstellt ist. Häufig wird diese verkehrssicherungspflichtige Körperschaft mit dem Träger der Straßenbaulast identisch sein. Diese Identität ist gegeben, wenn der Träger der Baulast selbst verpflichtet ist, nicht nur die Mittel für den Bau und den laufenden Unterhalt der Straße bereitzustellen, sondern auch die Pflicht hat, den Bau und die Instandhaltung der Straße selbst durchzuführen. Dies ist jedoch durchaus nicht immer der Fall.44 Bei Mautstraßen haftet der Betreiber.45 Zu Privatwegen, Parkplätzen und anderen für den Verkehr freigegebenen Flächen s. Rz. 13.21.

13.14

2. Übertragung Die Verkehrssicherungspflicht kann durch Gesetz oder Satzung übertragen werden. Sie kann einem Dritten auch durch Vereinbarung überlassen werden.46 Dessen Einstandspflicht nach § 823 oder § 839 BGB47 beruht dabei auf der von ihm durch die faktische Übernahme der Verkehrssicherung mitveranlassten neuen Zuständigkeitsverteilung, nicht auf dem Vertrag.48 Auf die Rechtswirksamkeit des Übernahmevertrags kommt es daher nicht an.49 Der Übertragende bleibt verpflichtet, die Ausführung zu überwachen.50 Er haftet bei Verletzung dieser Pflicht aus § 823 bzw § 839 BGB, kann sich also nicht nach § 831 BGB exkulpieren.51 Oftmals wird ohnehin der Vertrag dahin auszulegen sein, dass der Übernehmer die Pflicht nur zusätzlich zu dem bisher Verpflichteten übernimmt. Dies gilt vor allem bei einem Vertrag mit einem Bauunternehmer.52 In jedem Fall bedarf es einer klaren, ausdrücklichen Abmachung, um von der unmittelbaren Sicherungspflicht frei zu werden.53

42 Zur persönlichen Haftung von deren Organen s. Rz. 13.52. 43 BGH v. 9.6.1952 – III ZR 128/51, BGHZ 6, 195; BGH v. 30.9.1968 – III ZR 96/66, VersR 1969, 35 m.w.N. Zu den Fällen der Organleihe s. BGH v. 2.2.2006 – III ZR 159/05, VersR 2006, 803. 44 BGH v. 15.4.1957 – III ZR 246/55, BGHZ 24, 124, 130. 45 Vgl. österr. OGH ZVR 1990, 57 u. NZV 1990, 303: Autobahn-AG. Für privat finanzierte und betriebene Bundesfernstraßen ebenso Schmidt NVwZ 1995, 38, 39. 46 BGH v. 22.7.1999 – III ZR 198/98, BGHZ 142, 227; BGH v. 6.10.1958 – III ZR 175/57, NJW 1959, 34; Staudinger/Hager § 823 E 95. 47 Bei hoheitlicher Ausgestaltung der Verkehrssicherungspflicht; s. Rz. 13.2. 48 BGH v. 17.1.1989 – VI ZR 186/88, VersR 1989, 526; BGH v. 22.1.2008 – VI ZR 126/07, NJW 2008, 1440. 49 BGH v. 17.1.1989 – VI ZR 186/88, VersR 1989, 526; OLG Schleswig v. 28.2.2012 – 11 U 137/11, NZV 2012, 545. 50 BGH v. 11.6.1992 – III ZR 134/91, BGHZ 118, 368, 372; BGH v. 22.7.1999 – III ZR 198/98, BGHZ 142, 227; BGH v. 14.1.1982 – III ZR 58/80, VersR 1982, 576; OLG Hamm v. 9.6.1998 – 9 U 129/97, VersR 2000, 643;. Zum Winterdienst s. auch Rz. 13.77 ff. 51 Vgl. LG Göttingen v. 17.12.1980 – 8 O 197/79, VersR 1981, 760 mit Anm. v Bar. 52 BGH v. 14.1.1982 – III ZR 58/80, NJW 1982, 2187. S. auch Rz. 13.25. 53 BGH v. 8.12.1987 – VI ZR 79/87, VersR 1988, 516.

Greger | 293

13.15

§ 13 Rz. 13.16 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

13.16

Ob eine nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften erforderliche Anzeige der Übertragung gegenüber der zuständigen Behörde erfolgt ist, spielt keine Rolle.54 Die tatsächliche Durchführung verkehrssichernder Maßnahmen für sich allein bewirkt keinen Übergang der Verkehrssicherungspflicht; für Fehler bei der Durchführung der Maßnahmen kann der Handelnde jedoch neben dem Verkehrssicherungspflichtigen haftbar werden.55 Wer als Hauswart, Reinigungsunternehmen oder als Angestellter eines solchen Unternehmens die Verkehrssicherungspflicht für einen anderen übernimmt, haftet selbst, wenn er die übernommene Pflicht verletzt,56 und zwar auch gegenüber dem Übertragenden.57 Voraussetzung ist jedoch eine rechtliche oder faktische Übernahme der Verkehrssicherungspflicht; ohne eine solche haftet z.B. der weisungsgebundene Mitarbeiter des Verantwortlichen nicht persönlich.58 Eine wirksame Delegation kann auch nicht angenommen werden, wenn einem Rentner pauschal die – praktisch nicht erfüllbare – Betreuung von 20 großen Objekten übertragen wird.59 Zur Übernahme hoheitlicher Verkehrssicherungspflichten durch sog. Verwaltungshelfer s. Rz. 13.25, 13.76.

3. Eilzuständigkeit 13.17

Aus der Verpflichtung der Polizei zur Gefahrenabwehr kann sich ergeben, dass diese bei erkannter Gefahr Sofortmaßnahmen zur Verkehrssicherung ergreifen, insbesondere vor der Gefahrenstelle warnen muss.60 Dadurch tritt sie aber nicht an die Stelle des Verkehrssicherungspflichtigen, sondern erfüllt nur ihre eigene Aufgabe (wichtig wegen des Verweisungsprivilegs, s. Rz. 12.62).

4. Einzelheiten a) Bundesfernstraßen 13.18

Autobahnen und Bundesstraßen wurden bisher von den Ländern als Auftragsangelegenheit verwaltet (Art. 90 Abs. 2 GG a.F.); verkehrssicherungspflichtig war mithin das Land, weil sich allein beim Land die tatsächliche Möglichkeit und die rechtliche Befugnis vereinigten, die von der Straße ausgehenden Gefahren zu mindern.61 Ab 1.1.2021 (Art. 143e Abs. 1 GG) werden die Autobahnen jedoch nach Art. 90 Abs. 2 GG n.F. in der Verwaltung des Bundes geführt. Die Verwaltung wurde durch Gesetz vom 14.8.2017 (BGBl. I 3122) einer Infrastrukturgesellschaft übertragen (Autobahn GmbH des Bundes); sie wurde durch Verordnung v. 23.3.2020 (BGBl. I 743) auch mit den Aufgaben der Straßenbaulast gem. § 3 Abs. 1, 2 FStrG beliehen. Für sonstige Bundesfernstraßen bleibt es bei der Auftragsverwaltung durch die Länder; auf Antrag des Landes kann die Verwaltung vom Bund übernommen werden (Art. 90 Abs. 4 GG). Eine Haftung der Bundesrepublik kommt im Übrigen in Betracht, wenn Bundesorgane unsachgemäße Weisungen erteilen62 oder im Einzelfall ihre Aufsichtspflicht verletzen.63

BGH v. 22.1.2008 – VI ZR 126/07, NJW 2008, 1440. OLG Düsseldorf v. 17.2.1994 – 18 U 175/93, VersR 1995, 960. BGH v. 14.10.1969 – VI ZR 55/68, VersR 1970, 38. BGH v. 17.1.1989 – VI ZR 186/88, VersR 1989, 526: Wohnungseigentümer. Staudinger/Hager § 823 E 65. Zur Haftung des Organs einer juristischen Person s. Rz. 13.52. OLG Celle v. 12.8.2010 – 8 U 15/10, MDR 2011, 100. Vgl. OLG Hamm v. 10.11.1992 – 9 U 17/92, NZV 1993, 192: mit Granulat abgestreute Ölspur (auch zur Verneinung einer Haftung der Feuerwehr, die das Abstreuen vorgenommen hat); KG v. 8.3.2011 – 9 U 165/09, VersR 2011, 1283 (beschädigte Absicherung einer Mittelinsel). 61 BGH v. 30.12.1954 – III ZR 102/53, BGHZ 16, 95. 62 BGH v. 30.12.1954 – III ZR 102/53, BGHZ 16, 95, 98. 63 BGH v. 19.4.1956 – III ZR 227/54, NJW 1956, 1028.

54 55 56 57 58 59 60

294 | Greger

II. Träger der Pflicht | Rz. 13.21 § 13

b) Landes- und Kreisstraßen Für sie ist die Verwaltungszuständigkeit in den unterschiedlichen Straßengesetzen der Länder geregelt.64

13.19

c) Gemeindestraßen Hier obliegt die Verkehrssicherungspflicht außerorts wie innerorts den Gemeinden, ggf. Verbandsgemeinden.65 Dies gilt auch für sonstige öffentliche Straßen (z.B. öffentliche Feld- und Waldwege), die in der Straßenbaulast der Gemeinde stehen.66 Entscheidend sind die jeweiligen landesrechtlichen Regelungen. Die Verkehrssicherungspflicht der Gemeinde erstreckt sich auch auf den Bürgersteig;67 die Reinigungs-, Räum- und Streupflichten werden allerdings häufig auf die Anlieger übertragen (s. Rz. 13.71, 13.77). Kann die Gemeinde ihre Pflicht wegen fehlender Finanzausstattung nicht erfüllen, hat sie die Aufsichtsbehörde zu unterrichten.68

13.20

d) Private Verkehrsflächen Für Privatstraßen (Eigentümerwege) und für den Verkehr freigegebene Grundstücke ist der Eigentümer oder der Verfügungsberechtigte verkehrssicherungspflichtig.69 So ist für das Gelände einer Tankstelle der Pächter, für ein vermietetes Betriebsgrundstück der Mieter,70 für einen öffentlichen Parkplatz der Eigentümer, jedoch – wenn es sich um Verkehrsgrund der Gemeinde handelt – diese verantwortlich. Entsprechendes gilt für Feld- und Forstwege, soweit sie nicht Gemeindewege (s. Rz. 13.20) sind. Auf ihnen trifft die Verkehrssicherungspflicht denjenigen, durch dessen Feld oder Wald sie führen.71 Handelt es sich um mehrere Personen, so hat jeder von ihnen die volle Verkehrssicherungspflicht. Auf tatsächlich öffentlichen, also nicht eigens gewidmeten Wegen besteht eine Verkehrssicherungspflicht, sofern der Eigentümer die allgemeine Nutzung zulässt72 oder infolge eines naturschutzrechtlichen Betretungsrechts gestatten muss,73 auch bei sog Trampelpfaden.74 Die Anforderungen sind hier allerdings geringer, weil mit erhöhter Sorgfalt der Benutzer gerechnet werden darf. Den Waldbesitzer

64 S. Rz. 13.3 sowie die Zusammenstellung bei Geigel/Wellner, Kap. 14 Rz. 67. 65 Vgl. zur Rechtslage in Rheinland-Pfalz BGH v. 3.5.1984 – III ZR 34/83, VersR 1984, 890; OLG Koblenz v. 20.1.1982 – 1 U 235/81, MDR 1982, 848, in Niedersachsen OLG Celle v. 12.1.2000 – 9 U 119/99, VersR 2001, 1440. 66 BGH v. 23.4.2020 – III ZR 251/17, NJW 2020, 3106, 3107. 67 BGH v. 30.10.1980 – III ZR 116/79, VersR 1981, 335. 68 Herber NZV 2011, 161, 166. 69 OLG Düsseldorf v. 16.6.1982 – 18 U 32/82, VersR 1983, 544; OLG Oldenburg v. 1.2.1988 – 9 U 84/87, NJW 1989, 305. 70 OLG Hamm v. 14.12.2004 – 9 U 32/04 – 9 U 32/04, NZV 2006, 35. 71 OLG Köln v. 11.5.1987 – 7 U 308/86, VersR 1988, 1181. Eingehend Orf NZV 1997, 201 ff. m.w.N. 72 OLG Oldenburg v. 1.2.1988 – 9 U 84/87, NJW 1989, 305; OLG Brandenburg v. 11.7.1995 – 2 U 53/95, VersR 1996, 478 (ehemaliger Postenweg an Grenzanlage der DDR); a.A. OLG München NJW 1954, 1452. 73 S. dazu Otto NZV 2011, 175 f.; a.A. OLG Hamm v. 21.10.1983 – 9 U 106/83, VersR 1985, 597. 74 OLG Hamm v. 16.5.2013 – 6 U 178/12, NZV 2014, 129 (geduldeter Abkürzungspfad); OLG Düsseldorf v. 14.5.1992 – 18 U 259/91, NZV 1993, 152; OLG Brandenburg v. 23.1.1996 – 2 U 117/95, NZV 1997, 77; a.A. Edenfeld VersR 2002, 272, 273.

Greger | 295

13.21

§ 13 Rz. 13.21 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

trifft keine Pflicht, den Verkehr auf Waldwegen gegen waldtypische Gefahren zu sichern;75 dies gilt auch, wenn der Weg besonders als Wanderweg ausgewiesen ist.76 Auf Privatgrund kann eine Verkehrssicherungspflicht gegenüber Mietern, Besuchern und Lieferanten bestehen;77 diese erstreckt sich nicht auf den anschließenden Teil des öffentlichen Gehwegs.78 Bei Gastwirten erstreckt sich die Pflicht auf den gesamten Außenbereich einschließlich Zugänge und Parkplätze.79 Sie umfasst nach Ansicht des BGH80 auch Personen, die nicht die Absicht haben, das Lokal zu besuchen. Zur Schutzwirkung gegenüber Unbefugten s. Rz. 13.36.

e) Straßenkreuzungen, Einmündungen, Bahnübergänge 13.22

Hierfür gelten die Bestimmungen der BundesfernstraßenkreuzungsVO v. 2.12.1975,81 der Landesstraßengesetze82 und des EisenbahnkreuzungsG i.d.F. v. 21.3.1971.83 Für die Beseitigung einer Sichtbeeinträchtigung können die Baulastträger beider Straßen gesamtschuldnerisch haftbar sein.84 Übernimmt einer von ihnen entsprechende Maßnahmen (z.B. Anbringen eines Spiegels), trägt er jedenfalls im Innenverhältnis die Verantwortung für deren fortbestehende Wirksamkeit.

f) Umleitungen 13.23

Für Umleitungsstrecken wegen Sperrung einer Straße ist verkehrssicherungspflichtig, wer es für die gesperrte Strecke ist.85 Für Bahnübergänge bleibt aber der Bahnbetreiber verkehrssicherungspflichtig.86

g) Einwirkungen auf den Straßenzustand 13.24

Wenn ein nicht originär für den Zustand des Verkehrswegs Verantwortlicher dessen Zustand in gefahrbringender Weise verändert, kann für ihn eine Pflicht zur Abwehr dieser Gefahr entstehen, so z.B. wenn von einem Fernmeldeunternehmen im Straßenkörper Fernsprechkabel verlegt werden,87 wenn nach der Beendigung von Fernmeldebauarbeiten der Gehweg instand zu setzen ist88 oder wenn der Deckel eines Kabelschachts in die Gehbahn ragt.89 Des Weiteren 75 BGH v. 2.10.2012 – VI ZR 311/11, BGHZ 195, 30; OLG Frankfurt v. 30.10.2017 – 13 U 111/17, VersR 2018, 503. 76 Eingehend dazu Schneider VersR 2018, 257 ff. 77 OLG Naumburg v. 1.8.2013 – 2 U 159/12, NJW 2014, 475 (schwer erkennbare Geländestufe im Hof eines Getränkemarkts). 78 BGH v. 21.2.2018 – VIII ZR 255/16, VersR 2018, 756. 79 BGH v. 20.11.1984 – VI ZR 169/83, NJW 1985, 482; OLG Düsseldorf v. 30.12.1982 – 3 U 55/82, VersR 1983, 925. 80 BGH v. 27.1.1987 – VI ZR 114/86, NJW 1987, 2671. 81 BGBl. I 2984; OLG Celle v. 26.7.1989 – 9 U 154/88, VersR 1989, 1194. 82 OLG Zweibrücken v. 9.6.1999 – 1 U 94/98, OLGReport Zweibrücken 2000, 208. 83 BGBl. I 337. 84 OLG Nürnberg v. 8.11.1989 – 4 U 2353/89, VersR 1991, 1420; OLG Saarbrücken v. 4.5.2010 – 4 U 272/09, NJW 2010, 3104 (Verkehrsspiegel). 85 KG VAE 1938, 187. S. auch OLG Saarbrücken v. 23.9.2003 – 4 U 749/02, OLGR Saarbrücken 2004, 126 (Feldweg als Umleitungsstrecke). 86 Vgl. OLG München v. 23.10.1998 – 10 U 5994/97, NZV 2000, 206. 87 BGH v. 11.11.1958 – VI ZR 201/57, VersR 1959, 68. 88 BGH v. 7.10.1982 – III ZR 42/81, VersR 1982, 1198. 89 OLG München ArchivPF 1956, 258 mit Anm. Aubert.

296 | Greger

II. Träger der Pflicht | Rz. 13.25 § 13

haftet, wer auf der Straße sonstige Arbeiten vornimmt, z.B. den Deckel eines Gullys entfernt,90 (näher zu Baustellen s. Rz. 13.25) oder wer die Straße verschmutzt (s. Rz. 13.73) oder ein Kabel über einen Gehweg legt.91 Der Betreiber eines Lkw-Parkplatzes kann für eine „Eisfalle“ haftbar sein, die dadurch entsteht, dass beim Ausfahren auf die Straße Niederschlagswasser von den Planen schwappt und gefriert.92 Oftmals bleibt aber eine Mitverantwortung der Körperschaft, die die Straße verwaltet.93 Deshalb hat der für die Straße Verkehrssicherungspflichtige auch für die Tragfähigkeit eines in die Fahrbahn eingelassenen Schachtdeckels einzustehen, den ein anderer dort befugterweise angebracht hat.94

h) Baustellen Neben dem Straßenbaulastträger obliegt die Verkehrssicherungspflicht demjenigen, der im öffentlichen Straßenraum Arbeiten ausführt oder ausführen lässt,95 denn er eröffnet eine eigene Gefahrenquelle,96 ist also nicht bloßer Verwaltungshelfer, der sich auf die Haftungsübernahme durch den Staat (Art. 34 S. 1 GG) berufen könnte.97 Die Straßenbaubehörde hat insbesondere die Pflicht, sachgerechte Anordnungen nach § 45 Abs. 6 StVO zu treffen und die Wahrung der Verkehrssicherheit durch den Bauunternehmer zu überwachen. Diese Pflicht verbleibt auch dann bei ihr, wenn sie die Verkehrssicherungspflicht für die Baustelle (unnötigerweise) durch Vertrag dem Bauunternehmen überträgt.98 Für die Sicherheit vor Ort ist in erster Linie der verantwortlich, dem die Bauleitung übertragen ist.99 Außerdem ist der Bauunternehmer verpflichtet, während der Dauer des Baus die Baustelle so abzusichern, dass erkennbare Gefahren von Dritten ferngehalten werden.100 Hat der Bauunternehmer die Baustelle geräumt, sei es auch nur wegen einer Unterbrechung der Bauarbeiten mit zwischenzeitlicher Wiedereröffnung des Verkehrs, so trifft die Verkehrssicherungspflicht nicht mehr ihn, sondern nur noch den für die Straße Verantwortlichen.101 Desgleichen endet seine Verkehrssicherungspflicht, wenn er die Fortführung der Arbeiten einem anderen Bauunternehmer

90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

BGH v. 30.1.1961 – III ZR 226/59, VersR 1961, 371. OLG Hamm v. 24.3.2015 – 9 U 114/14, MDR 2015, 588. Österr. OGH ZVR 1996, 47. BGH v. 30.9.1957 – III ZR 62/56, VersR 1957, 776 für eine von der Zollverwaltung errichtete Straßensperre; BGH v. 30.11.1959 – III ZR 157/58, VersR 1960, 511 für eine von der Gemeinde betriebene Waage mit Abweisstein. BGH v. 25.9.1967 – III ZR 95/66, VersR 1967, 1155. Eingehend Reitenspiess NZV 2003, 504, 505 mit Bezugnahme auf dazu ergangene Verwaltungsvorschriften. BGH v. 25.2.2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104, 2106. A.A. unter unzutr. Berufung auf BGH NJW 2014, 3580 (dort ging es um die Übertragung des Winterdienstes auf ein Privatunternehmen) OLG Hamm v. 29.7.2015 – 11 U 32/14, DAR 2016, 26 mit abl. Anm. Engel. BGH v. 14.1.1982 – III ZR 580, NJW 1982, 2187. BGH v. 8.2.1977 – VI ZR 217/74, VersR 1977, 543; BGH v. 13.3.2007 – VI ZR 178/05, VersR 2007, 948; OLG Hamm v. 29.9.1995 – 9 U 48/95, VersR 1997, 124. BGH v. 8.2.1977 – VI ZR 217/74, VersR 1977, 543, 544; BGH v. 14.1.1982 – III ZR 580, NJW 1982, 2187; BGH v. 25.4.1989 – VI ZR 146/88, VersR 1989, 731; OLG Köln v. 20.5.1994 – 19 U 225/93, NZV 1995, 22. OLG Hamm v. 25.6.1987 – 6 U 436/86, NJW-RR 1987, 1507; OLG Hamm v. 8.1.1993 – 9 U 146/91, VersR 1993, 1369; OLG München v. 13.11.1997 – 1 U 5498/95, OLGR München 1999, 236; einschr. OLG Schleswig v. 8.12.1981 – 11 W 34/81, MDR 1982, 318; OLG Düsseldorf v. 17.3.2000 – 22 U 169/99, OLGR Düsseldorf 2000, 310.

Greger | 297

13.25

§ 13 Rz. 13.25 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

überträgt.102 Er bleibt jedoch so lange sicherungspflichtig, bis der andere die Sicherung tatsächlich und ausreichend übernommen hat.103 Den Bauherrn trifft dann eine Verkehrssicherungspflicht, wenn sich ihm das Vorhandensein besonderer Gefahren aufdrängen muss oder wenn er Anlass zu Zweifeln hat, ob der Unternehmer oder der Bauleiter seinen Verpflichtungen nachkommt und wenn er zur Abhilfe durch eigene Anordnungen in der Lage ist.104 Zu den gebotenen Maßnahmen s. Rz. 13.101 ff.

i) Straßenbahn- und Busbetriebe 13.26

Für einwandfreie Beschaffenheit der Straßendecke in der Gleiszone (zwischen den Schienen und am äußeren Rand derselben) ist das Straßenbahn- oder Bahnunternehmen verantwortlich, das die Gleise benützt.105 Den Straßenbaulastträger trifft aber u.U. eine Überwachungspflicht.106 Das Verkehrsunternehmen ist auch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Fahrgäste ungefährdet ein- und aussteigen können.107 Ggf. hat er die wegeunterhaltspflichtige Behörde aufzufordern, die notwendigen Maßnahmen zu veranlassen.

j) Sondernutzungsberechtigte 13.27

Auch ein Sondernutzungsrecht kann eine Verkehrssicherungspflicht begründen. Das gilt vor allem für jeden, der einen Mast auf dem Bürgersteig (oder gar auf der Fahrbahn) aufstellen darf.108 Befindet sich eine Waage auf öffentlichem Verkehrsgrund, so muss derjenige, der sie betreibt, sie auch sichern.109 Verkehrssicherungspflichtig ist auch der Veranstalter eines Radrennens.110

k) Anlieger 13.28

Der Eigentümer eines an einer öffentlichen Straße liegenden Grundstücks hat schädliche Einwirkungen zu vermeiden, die von seinem Grundstück ausgehen und die Verkehrsteilnehmer gefährden (s. Rz. 13.113 ff.). Ihn kann auch, kraft Übertragung, die Streupflicht oder Reinigungspflicht für den Gehweg treffen (s. Rz. 13.71, 13.77 ff.). Der Betreiber eines Geschäfts ist für seinen Zu- und Abgangsbereich auch verantwortlich, soweit dieser eine nicht in seinem Eigentum stehende, öffentliche Verkehrsfläche ist.111 Zu Wohnungseigentümern s. Rz. 13.78 f.

102 OLG Schleswig v. 8.12.1981 – 11 W 34/81, MDR 1982, 318. 103 OLG Jena v. 21.12.2005 – 4 U 803/04, NZV 2006, 248; OLG Saarbrücken v. 5.8.2015 – 1 U 31/ 15, NZV 2016, 329 (unterlassene Wiederherstellung des Gehwegbelags). 104 Vgl. BGH v. 17.5.1960 – VI ZR 117/59, VersR 1960, 824; BGH v. 11.5.1976 – VI ZR 210/73, MDR 1976, 1010. 105 BGH v. 20.1.1961 – VI ZR 63/60, VersR 1961, 236. 106 OLG Düsseldorf v. 17.12.1987 – 18 U 195/87, VersR 1988, 1296 LS. 107 LG Krefeld v. 2.7.1988 – 5 O 507/86, DAR 1988, 165 (Glätte). 108 BGH v. 22.11.1957 – VI ZR 242/56, VersR 1958, 51. 109 BGH v. 30.11.1959 – III ZR 157/58, VersR 1960, 511. 110 BGH v. 29.4.1986 – VI ZR 227/85, VersR 1986, 705 (Abpolstern von Leitplanken). 111 BGH v. 16.9.1975 – VI ZR 156/74, MDR 1976, 134; BGH v. 19.12.1989 – VI ZR 182/89, NJW 1990, 1236; OLG Köln v. 22.6.1999 – 13 U 64/99, VersR 1999, 1297: alle zu Schachtabdeckungen in öffentlichen Verkehrsflächen. Einschr. OLG Köln v. 31.5.1995 – 2 U 1/95, NJW-RR 1996, 277: keine Haftung des Gaststättenbetreibers für Risiken aus der baulichen Anlage des Verkehrswegs.

298 | Greger

III. Umfang und Inhalt | Rz. 13.31 § 13

l) Sonstige Verursacher von Gefahren Der Jagdpächter ist verantwortlich für eine ungesicherte Drahtabsperrung, mit der eine Ruhezone für Wild geschaffen werden soll.112 Auch aus einem gar nicht auf den Verkehrsweg bezogenen Handeln kann eine Sicherungspflicht gegenüber dem Straßenverkehr entstehen. So hat z.B. derjenige, der in der Nähe einer Straße Sprengarbeiten ausführt113 oder Nebelmunition abschießt,114 ungesicherte Einkaufswagen (s. Rz. 13.124) oder ein nicht gegen Umfallen gesichertes Fahrrad abstellt,115 den Gefahren entgegenzuwirken, die hieraus für die Straßenbenutzer entstehen können. Entsprechendes soll für Gartenarbeiten gelten.116 Für Schäden durch geschützte Bäume haften die Eigentümer, nicht die eine Fällgenehmigung versagende Baumschutzbehörde.117 Werden Fußgänger durch Ablagern von Gegenständen auf dem Gehweg oder überhängende Zweige zum Betreten der Fahrbahn veranlasst, haftet der hierfür Verantwortliche bereits aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 32 StVO oder ortsrechtlichen Vorschriften.118 Zu Werbeanlagen s. Rz. 13.117.

13.29

m) Tatsächliche Übung Langdauernde faktische Wahrnehmung der Verkehrssicherung kann eine entsprechende Pflicht begründen. Streiten zwei Körperschaften über die Rechtsfrage, welche von beiden auf einer Straße bei Winterglätte zu streuen hat, so ist die Körperschaft, die tatsächlich jahrelang gestreut hat, verpflichtet, solange weiter zu streuen, bis die unter ihnen bestehenden Zweifel ausgeräumt sind.119 Wer eine Straße laufend streut, ist für die ordnungsgemäße Ausführung des Streuens verantwortlich, auch wenn er zum Streuen gar nicht verpflichtet war.120

13.30

III. Umfang und Inhalt 1. Umfang der Pflicht a) Grundsätze Die Verkehrssicherungspflicht darf nicht missverstanden werden als Pflicht zur völligen Gefahrloshaltung der Verkehrswege. Allein daraus, dass die Beschaffenheit des Verkehrswegs einen Unfall (mit)verursacht hat, folgt keine Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist vielmehr genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor

112 113 114 115 116 117 118 119 120

BGH v. 23.4.2020 – III ZR 251/17, NJW 2020, 3106, 3108. BGH v. 14.10.1958 – VI ZR 189/57, VersR 1958, 850. OLG Frankfurt v. 9.5.1985 – 1 U 92/84, VersR 1986, 1124. LG Köln v. 25.8.2015 – 11 S 387/14, NZV 2016, 331. LG Bielefeld v. 24.11.1995 – 4 O 292/95, NVwZ 1996, 727: Hochschleudern von Splitt durch Rasenmäher; s. auch Rz. 13.118 zu Mäharbeiten. Otto NJW 1996, 356 ff. Zu Mülltonnen auf dem Gehweg s. OLG Hamm v. 27.8.1990 – 6 U 54/90, NZV 1991, 152. BGH v. 12.11.1959 – III ZR 127/58, BGHZ 31, 219. BGH v. 7.5.1973 – III ZR 65/71, VersR 1973, 825.

Greger | 299

13.31

§ 13 Rz. 13.31 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zuzumuten sind.121 Die Verkehrssicherungspflicht beginnt demnach erst dort, wo die Vermeidung der Gefahr nicht vom Verkehrsteilnehmer selbst erwartet werden kann; sie reicht so weit, wie das Vertrauen des Verkehrsteilnehmers in die Sicherheit des Verkehrsweges Schutz verdient. Gefahrenquellen, auf die sich der Benutzer nach allgemeiner Anschauung einstellen muss, braucht der für den Straßenzustand Verantwortliche nicht zu beseitigen. Allerdings kann der für einen verkehrswidrigen Zustand Verantwortliche sich nicht ohne weiteres dadurch entlasten, dass der Geschädigte bei größerer Sorgfalt die Gefahr hätte erkennen können; hier kommt allenfalls eine Anrechnung von Mitverschulden in Betracht.

13.32

Aus Vorstehendem folgt, dass der Umfang der Verkehrssicherungspflicht in hohem Maße von den Umständen des Einzelfalles und der Bewertung des Vertrauensschutzes abhängig ist. Die ausgeprägte Kasuistik der Rechtsprechung zur Verkehrssicherungspflicht (s. Rz. 13.55 ff.) findet hierin ihre Erklärung. Einige allgemeine Grundsätze lassen sich jedoch aufstellen: – Die Sicherheitserwartung des Benutzers ist in hohem Maße von der Art des Verkehrswegs, insbesondere seiner Verkehrsbestimmung und -bedeutung abhängig (näher s. Rz. 13.33). – Die Erkennbarkeit der Gefahr spielt eine wesentliche Rolle (s. Rz. 13.37; zu der damit zusammenhängenden Frage, inwieweit eine Warnung vor der Gefahr ausreicht, s. Rz. 13.46 ff.). – Die Gesichtspunkte der Zumutbarkeit (im Hinblick auf den finanziellen Aufwand) und der Verhältnismäßigkeit (in Bezug auf das Ausmaß der drohenden Gefahr) beeinflussen die Intensität der Sicherungspflicht (s. Rz. 13.41). – Rechtsvorschriften und technische Regelwerke können für die Abgrenzung der schutzwürdigen Sicherheitserwartung von Bedeutung sein, ohne verbindliche Vorgaben für den Einzelfall zu liefern (s. Rz. 13.43).

b) Maßgeblichkeit des Verkehrsaufkommens und der Verkehrsbestimmung 13.33

Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht wird von Art und Häufigkeit der Benutzung des Verkehrswegs maßgebend bestimmt;122 er ist daher auf einem Wanderweg123 oder auf einer Privatstraße, auf der der Eigentümer öffentlichen Verkehr lediglich duldet, geringer als auf einer öffentlichen Straße, auf einer Schnellverkehrsstraße größer als auf einem wenig und mit geringer Geschwindigkeit befahrenen Gemeindeverbindungsweg, auf einem Kundenparkplatz größer als auf einer öffentlichen Parkfläche.124 Dass ein Weg vor allem von älteren Personen benutzt wird, kann ebenfalls eine Rolle spielen.125

13.34

Begrenzt wird die Verkehrssicherungspflicht auch durch die erkennbare Verkehrsbestimmung. Maßgeblich ist das äußere Erscheinungsbild, nicht die Beschilderung nach der StVO.126 Ist erkennbar, dass eine Straße von einer bestimmten Stelle an nicht mehr für Lastkraftwagen benutzbar ist, so endet an dieser Stelle die Pflicht, die Straße in einem für Lastkraftwagen be-

121 BGH v. 25.2.2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104, 2105 mit treffender Unterscheidung zwischen Unglück und Unrecht. Allgemein zur Begrenzung der Verkehrspflichten s. auch Rz. 10.9. 122 BGH v. 10.7.1980 – III ZR 58/79, NJW 1980, 2194. 123 OLG Düsseldorf v. 13.4.1995 – 18 U 203/94, OLGR Düsseldorf 1995, 287. 124 OLG Düsseldorf v. 10.9.1999 – 22 U 53/99, VersR 2000, 1381. 125 BGH v. 5.7.2012 – III ZR 240/11, NZV 2012, 533 = DAR 2012, 572 mit Anm. Heinrichs. 126 BGH v. 15.12.1988 – III ZR 112/87, VersR 1989, 847.

300 | Greger

III. Umfang und Inhalt | Rz. 13.36 § 13

nutzbaren Zustand zu erhalten.127 Das Gleiche gilt, wenn eine Straße – z.B. ein Gemeindeverbindungsweg – in ihrem ganzen Verlauf für schwere Fahrzeuge ungeeignet ist und dies jedem Straßenbenutzer ohne weiteres – auch bei Nacht – erkennbar ist.128 Der Grundsatz ist auch auf andere nur für bestimmte Verkehrsarten errichtete Verkehrswege anzuwenden, vor allem für Radfahrwege, Gehwege129 und Fußpfade, auch wenn auf ihnen der übrige Verkehr nicht durch Verbotszeichen ausgeschlossen ist, desgleichen für Parkplätze.130 Aber auch hinsichtlich einzelner Teile ein und derselben Straßen können aufgrund der unterschiedlichen Zweckbestimmung unterschiedliche Anforderungen bestehen, z.B. geringere für einen Parkstreifen131 oder für das Bankett (näher s. Rz. 13.58). Bei einer erkennbar nur provisorisch eingerichteten Verkehrsfläche ist die Verkehrssicherungspflicht reduziert,132 auch für verkehrsberuhigte Bereiche und Fußgängerzonen gelten besondere Maßstäbe.133

13.35

Grundsätzlich besteht keine Verkehrssicherungspflicht gegenüber Personen, die einen öffentlichen Weg außerhalb seiner erkennbaren Widmung oder Freigabe benutzen,134 einen gesperrten Baustellenbereich befahren,135 einen abseits des regulären Wanderwegs liegenden Steg betreten136 oder sich unbefugt auf Privatgrund begeben,137 denn diesen kann i.d.R. keine schutzwürdige Sicherheitserwartung zugebilligt werden. Dies gilt auch, wenn eine Verkehrsfläche auf eine Art und Weise genutzt wird, für die sie erkennbar nicht bestimmt ist.138 Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn sich eine Gefahr verwirklicht hat, die von der Verbotswidrigkeit der Benutzung unabhängig war (also z.B. der Unfall des einen Radweg benutzenden Kradfahrers sich ebenso bei Benutzung eines Fahrrades hätte ereignen können, ein Fußgänger auf einem Parkplatz stürzt, den er lediglich überqueren wollte139 oder der Verunglückte die nur für Anlieger freigegebene Straße nicht hätte befahren dürfen140), wenn der Sicherungspflichtige die Benutzung duldet141 oder wenn es ihm zuzumuten war, sich auf eine nahelie-

13.36

127 BGH v. 19.1.1959 – III ZR 168/57, VersR 1959, 275. 128 OLG Nürnberg v. 16.1.1959 – 4 U 32/58, BB 1959, 1277; LG Hechingen v. 16.9.1958 – O 75/58, VersR 1959, 440. 129 OLG Celle v. 28.4.1999 – 9 U 267/98, MDR 1999, 1323; OLG Koblenz v. 10.1.2001 – 1 U 881/ 99, NJW-RR 2001, 1392; OLG Koblenz v. 18.12.2002 – 1 U 1100/02, VersR 2003, 1592 (Inlineskater auf Gehweg). 130 OLG Dresden v. 17.1.1996 – 6 U 1372/95, OLG-NL 1996, 222. 131 OLG Hamm v. 27.3.1992 – 9 U 204/91, NJW-RR 1992, 1442. 132 BGH v. 4.3.1986 – VI ZR 221/84, VersR 1986, 704 (Anrampung an Straßenbaustelle); OLG Koblenz v. 14.9.1981 – 12 U 182/81, VersR 1982, 780 (Parkplatz); LG Koblenz v. 18.12.1984 – 1 O 236/84, VersR 1986, 497 (Gehweg). 133 Vgl. Ruf Die Gemeinde 1988, 616. 134 BGH v. 12.7.1971 – III ZR 126/68, VersR 1971, 1061; OLG Jena v. 10.11.2004 – 4 U 432/04, NZV 2005, 192. 135 OLG Hamm v. 29.10.2013 – 9 U 135/13, NZV 2015, 446. 136 OLG Bamberg v. 17.3.2008 – 4 U 179/07, MDR 2008, 1272. 137 OLG München v. 4.10.1990 – 1 U 3362/90, VersR 1992, 210; OLG Nürnberg v. 17.1.1996 – 4 U 3820/95, NZV 1997, 353 (wilder Parkplatz auf Baugelände). 138 S. z.B. BGH v. 15.12.1988 – III ZR 112/87, VersR 1989, 847 (erkennbar nicht tragfähiges Bankett); OLG Koblenz v. 8.2.2012 – 5 U 109/12, NZV 2012, 482 (Rennrad mit extrem schmalen Reifen auf Werksgelände). 139 OLG Celle v. 13.4.1988 – 9 U 114/87, NJW-RR 1989, 1419. 140 Insoweit unzutr. daher OLG Hamm v. 29.10.2013 – 9 U 135/13, NZV 2015, 446. 141 OLG Hamm v. 11.1.2005 – 9 U 173/04, NZV 2005, 473; OLG Hamm v. 16.5.2013 – 6 U 178/12, NZV 2014, 129; OLG Frankfurt v. 2.2.2001 – 24 U 21/99, OLGR Frankfurt 2001, 188; OLG Ol-

Greger | 301

§ 13 Rz. 13.36 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

gende und erkennbare Fehlnutzung des Weges142 bzw. Grundstücks143 oder die Missachtung einer Baustellenabsperrung144 einzustellen. Insbesondere von Kindern kann die Beachtung von Verboten nicht ohne weiteres erwartet werden.145

c) Erkennbarkeit der Gefahr 13.37

Öffentliche Verkehrswege müssen so angelegt sein und in einem solchen Zustand erhalten werden, dass sie keine Gefahrenstellen aufweisen, mit denen ein sorgfältiger Benutzer nach dem äußeren allgemeinen Erscheinungsbild nicht zu rechnen braucht.146 Potentielle Gefahrenquellen, die bei üblicher Aufmerksamkeit ohne weiteres erkennbar sind, brauchen nicht beseitigt zu werden;147 der Benutzer muss die Straße grundsätzlich so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet.148 Insbesondere darf er nur mit einem Sicherheitsstandard rechnen, der auf einer Straße der betreffenden Art üblich ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Sicherungspflichtige sich mit dem Hinweis darauf seiner Verantwortung entziehen kann, der schlechte Zustand des Verkehrswegs sei evident gewesen; es muss für den Geschädigten auch die Möglichkeit bestanden haben, sich hierauf in zumutbarer Weise einzurichten.149 Es entlastet den Pflichtigen daher nicht, wenn sich der Weg in einem so desolaten Zustand befindet, dass zur Vermeidung von Gefahren nur das Absehen von der Benutzung oder ein extrem langsames Befahren möglich ist.150 Ebenso wird der Pflichtige bei ungewöhnlichen Gefahrenquellen nicht dadurch völlig haftungsfrei, dass sie bei besonderer Aufmerksamkeit erkennbar sind.151 Zur Erhöhung der Erkennbarkeit durch Warnzeichen oder ähnliche Einrichtungen s. Rz. 13.46 ff.

13.38

Zwar kann sich der Sicherungspflichtige auf den sorgfältigen, aufmerksamen, die Verkehrsvorschriften beachtenden Verkehrsteilnehmer einstellen. Auf eine naheliegende Möglichkeit unvorsichtigen oder vorschriftswidrigen Verhaltens von Straßenbenutzern ist freilich Bedacht zu nehmen.152 Insbesondere dann, wenn bereits geringe Unaufmerksamkeiten, Gewöhnungseffekte oder typische Fehlreaktionen erhebliche Gefahren heraufbeschwören können, kann eine Abwendungspflicht bestehen.153 Keinesfalls braucht aber der Verkehrssicherungs-

142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153

denburg v. 1.2.1988, NJW 1989, 305; OLG Brandenburg v. 11.7.1995 – 2 U 53/95, VersR 1996, 478. Vgl. OLG Düsseldorf v. 4.12.1997 – 18 U 95/97, VersR 1998, 1021 mit Anm. Jaeger: Radfahrer auf Fußgängerbrücke. Vgl. OLG Köln v. 13.6.1991 – 7 U 163/90, VersR 1992, 71: Abkürzung in Grünanlage. OLG Hamm v. 29.10.2013 – 9 U 135/13, NZV 2015, 446. BGH v. 22.10.1974 – VI ZR 149/73, VersR 1975, 88; OLG München v. 11.2.1988 – 1 U 5125/87, VersR 1988, 961; Möllers VersR 1996, 153, 157. BGH v. 10.7.1980 – III ZR 58/79, NJW 1980, 2194. Näher Staab VersR 2003, 689, 690 f. MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rz. 635. BGH v. 10.7.1980 – III ZR 58/79, NJW 1980, 2194. BGH v. 5.7.2012 – III ZR 240/11, NZV 2012, 533 = DAR 2012, 572 mit Anm. Heinrichs. BGH v. 5.7.2012 – III ZR 240/11, NZV 2012, 533. Bedenklich daher die Hauptbegründung von OLG Brandenburg v. 3.6.2008 – 2 U 18/05, NZV 2008, 568 (keine Haftung für Sandstreifen in einer Kurve). Allenfalls die Hilfserwägung (Mitverschulden) trägt das Urteil. BGH v. 28.2.1963 – III ZR 207/61, VersR 1963, 652; BGH v. 29.1.1968 – III ZR 127/65, VersR 1968, 399; OLG Hamm v. 7.8.1995 – 9 W 26/95, NJW 1996, 733. BGH v. 21.2.1978 – VI ZR 202/76, VersR 1978, 561. Dass der Kfz-Führer wegen unangepasster Geschwindigkeit durch Anprall gegen ein gefährliches Straßengeländer verletzt wurde, hätte daher entgegen OLG Koblenz v. 11.3.2020 – 12 U 463/19, MDR 2020, 602 nicht zur Klageabwei-

302 | Greger

III. Umfang und Inhalt | Rz. 13.40 § 13

pflichtige auf alle denkbaren Verstöße von Verkehrsteilnehmern gegen Sorgfaltspflichten Rücksicht zu nehmen; insbesondere braucht er das Verhalten völlig Unaufmerksamer, ganz Unverständiger oder Betrunkener nicht einzuplanen.154 Gegenüber Kindern, die sich unbefugt in einen Gefahrenbereich begeben, können Sicherungspflichten aber auch dann bestehen, wenn der Gefahrenbereich einen besonderen Anreiz ausübt und die damit verbundenen Gefahren für Kinder nicht ohne weiteres erkennbar sind.155

d) Räumliche Grenzen Gegenstand der Verkehrssicherungspflicht sind alle Örtlichkeiten, die nach dem Willen des Verfügungsberechtigten von anderen Personen als dem Besitzer betreten oder befahren werden sollen, also in erster Linie Fahrbahnen, Gehwege usw. Die Pflicht bezieht sich jedoch nicht nur auf die Beschaffenheit der Verkehrsfläche, sondern ganz allgemein auf die Abwehr derjenigen Gefahren, die den Verkehrsteilnehmern aus der Benutzung der Straße drohen.156 Diese können auch von nicht zum Befahren oder Betreten bestimmten Flächen oder Einrichtungen ausgehen wie z.B. Banketten, Durchlässen, Dämmen, Gräben, Entwässerungsanlagen, Böschungen, Stützmauern oder Mittelstreifen, ferner auch von Verkehrszeichen, Verkehrseinrichtungen und Bepflanzung (Einzelheiten s. Rz. 13.55 ff.). Der Verkehrssicherungspflichtige hat daher auch zu bedenken, dass der Fahrer geringfügig von der eigentlichen Fahrbahn abkommen kann,157 dass geparkte Fahrzeuge oftmals über die befestigte Stellfläche hinausragen158 oder dass Fußgänger an bestimmten Stellen der Straßenböschung bei einem Gewitter Schutz suchen.159 Bei unbefestigten Seitenstreifen, Banketten usw sind die Sicherheitsanforderungen aber, der geringeren Sicherheitserwartung des Benutzers entsprechend, niedriger.160 Das überwucherte Gelände neben einem landwirtschaftlichen Weg braucht nicht von Hindernissen freigehalten zu werden.161

13.39

Auf an die Straße angrenzende Privatgrundstücke bezieht sich die Verkehrssicherungspflicht nur, wenn von ihnen gefährdende Einwirkungen auf Verkehrsteilnehmer ausgehen können (z.B. Hineinragen oder -fallen von Gegenständen), nicht wenn Verkehrsteilnehmer allein aufgrund ihrer Lage (z.B. Höhenunterschied zur Straße) zu Schaden kommen.162 Geht eine Gefahr von dem Privatgrundstück aus (z.B. morscher Baum, sichtbehindernde Hecke), so ist der für die Straße Verkehrssicherungspflichtige ggf. neben dem Grundeigentümer verantwortlich;163 näher s. Rz. 13.111 ff.

13.40

154 155 156 157 158 159 160 161 162 163

sung wegen fehlender Pflichtverletzung, sondern allenfalls wegen Mitverschuldens führen dürfen. BGH v. 29.1.1968 – III ZR 127/65, VersR 1968, 399. BGH v. 14.3.1995 – VI ZR 34/94, VersR 1995, 672; BGH v. 4.5.1999 – VI ZR 379/98, NJW 1999, 2364; weitergehend Möllers VersR 1996, 153 ff. BGH v. 17.4.1961 – III ZR 218/59, MDR 1961, 753. BGH v. 28.1.1965 – III ZR 33/64, VersR 1965, 483; OLG Zweibrücken v. 9.6.1999 – 1 U 94/98, OLGReport Zweibrücken 2000, 208 (Entwässerungsgraben neben Straße). Bedenklich daher die Begründung von OLG Saarbrücken v. 9.9.2008 – 4 U 114/08, NZV 2009, 293, wonach die an eine Parkbucht angrenzende Fläche nicht von Hindernissen freizuhalten ist. BGH v. 28.5.1962 – III ZR 38/61, BGHZ 37, 165; sehr weitgehend. OLG Düsseldorf v. 21.1.1993 – 18 U 185/92, VersR 1994, 574; OLG Brandenburg v. 17.7.2002 – 3 U 267/01, NZV 2002, 563. OLG Karlsruhe v. 26.5.1989 – 10 U 290/88, DAR 1989, 465. BGH v. 15.4.1957 – III ZR 246/55, BGHZ 24, 124. BGH v. 10.7.1980 – III ZR 58/79, NJW 1980, 2194.

Greger | 303

§ 13 Rz. 13.41 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

e) Zumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit 13.41

Stets ist zu beachten, dass Verkehrssicherheit, die jeden Unfall ausschließt, nicht erreicht werden kann. Daher muss nicht jeder abstrakten Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen begegnet werden. Vielmehr bedarf es nur solcher Sicherungsmaßnahmen, die ein verständiger und vorsichtiger Mensch für ausreichend halten darf, um andere vor Schäden zu bewahren, und die ihm zuzumuten sind.164 Nicht zumutbar ist eine Gefahrenabwehr, die übermäßige Kosten verursacht oder die finanziellen Möglichkeiten des Pflichtigen übersteigt.165 Die Berufung auf eine schlechte Haushaltslage kann jedoch ein jahrelanges Aufrechterhalten eines verkehrswidrigen Zustands nicht rechtfertigen.166 Ist eine sofortige Behebung nicht möglich, besteht zumindest eine Warnpflicht.167 Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit spielt das Ausmaß der drohenden Gefahr, d.h. die Wahrscheinlichkeit eines Schadens und sein zu erwartender Umfang, eine maßgebliche Rolle. Im Haftungsprozess muss ggf. der Sicherungspflichtige darlegen, dass die Absenkung des Sicherheitsstandards trotz effektiver Ausschöpfung der Mittel und richtiger Prioritätensetzung unumgänglich war.168

13.42

Die Zumutbarkeit setzt auch dem Sicherheitsinteresse besonders schutzbedürftiger Personen Grenzen.169 Auf Passanten mit Sehbehinderung braucht sich der Verkehrssicherungspflichtige nur einzustellen, wenn ihm bekannt ist, dass solche an der fraglichen Stelle häufiger auftreten.170 Bei besonders tückischen Gefahrenstellen, insbesondere Baugruben auf dem Gehweg, ist es allerdings i.d.R. zumutbar, für eine feste Absperrung (statt bloßer Warnschilder oder Leitkegel) zu sorgen.171 Auch gegenüber Kindern, bei denen Warn- oder Verbotsschilder häufig wirkungslos bleiben, hat der Pflichtige bei besonders nahe liegendem Gefahrenpotential gesteigerte Schutzvorkehrungen zu treffen.172 Hierauf können sich nur die Angehörigen des betreffenden Personenkreises berufen (s. Rz. 13.8).

f) Einfluss von Vorschriften und technischen Regelwerken 13.43

Sie liefern Anhaltspunkte für die Verkehrserwartung, aber keine verbindlichen oder abschließenden Vorgaben für den Einzelfall.173 Eine Haftung aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht kann ihre Missachtung ohnehin nur begründen, wenn der Zweck der Vorschrift auf den Schutz des verletzten Verkehrsteilnehmers gerichtet ist.174 Vorschriften über die bauliche

164 BGH v. 16.9.1975 – VI ZR 156/74, VersR 1976, 149. Näher Staab VersR 2003, 689, 690 f.; Burmann NZV 2003, 20, 21. 165 Eingehend hierzu und zur Frage einer durch die Wirtschaftslage bedingten Absenkung des Sicherheitsstandards Rinne NVwZ 2003, 9, 13 und Herber NZV 2011, 161, 165 f. 166 BGH v. 5.7.2012 – III ZR 240/11, NZV 2012, 533 = DAR 2012, 572 mit Anm. Heinrichs. 167 Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 45; Herber NZV 2011, 161, 162 f. mit Rspr-Nachw. Unzutr. daher OLG Oldenburg v. 29.4.2011 – 6 U 17/11, DAR 2011, 329. 168 Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 44 f. 169 Rinne NVwZ 2003, 9, 11 (in Abgrenzung zu BGH v. 23.10.1984 – VI ZR 85/83, NJW 1985, 620). 170 Etwa in der Nähe einer Blindenanstalt; KG v. 18.11.1975 – 9 U 825/75, VersR 1976, 862. 171 A.A. LG Heidelberg v. 14.12.1988 – 3 O 187/87, VersR 1989, 1106. 172 Burmann NZV 2003, 20, 21 m.w.N. 173 S. zu den Richtlinien für die Sicherung von Arbeitsstellen an Straßen (RSA) BGH v. 25.2.2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104, 2106. 174 BGH v. 5.7.2012 – III ZR 240/11, NZV 2012, 533 = DAR 2012, 572 mit Anm. Heinrichs zu § 7 Berl StrG.

304 | Greger

III. Umfang und Inhalt | Rz. 13.46 § 13

Gestaltung von Straßen dienen häufig anderen Zwecken, wie z.B. Umweltschutz, Schutz vor Straftaten, Förderung des gemeindlichen Zusammenlebens.175 Auch solche Vorschriften können jedoch mittelbaren Einfluss auf den Umfang der Verkehrssicherungspflicht haben, denn sie können eine entsprechende Verkehrserwartung begründen, auf die sich der Sicherungspflichtige einstellen muss, oder Anhaltspunkte für die Beurteilung der Zumutbarkeit liefern. Dasselbe gilt für technische Regelwerke (z.B. DIN).176 Eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht kann also nicht allein aus der Nichtbeachtung technischer Straßenbauvorschriften hergeleitet werden.177 Umgekehrt kann die Einhaltung solcher Regeln und Empfehlungen eine schuldhafte Sorgfaltspflicht ausschließen, z.B. wenn sich der Straßenbaulastträger bei einer Aufpflasterung nach den Empfehlungen des Versichererverbandes richtet.178

g) Einfluss vertraglicher Beziehungen Bei entgeltlicher Straßenbenutzung (Mautstraße) kann sich aus dem Straßenbenutzungsvertrag eine über das allgemeine Maß hinausgehende Verpflichtung zur Verkehrssicherung ergeben,179 z.B. zu einem durchgängigen Abstreuen der Straße auch außerorts. Zur Haftungsfreizeichnung s. Rz. 13.9.

13.44

h) Umwelt- und Landschaftsschutz Umwelt- und Landschaftsschutz können der Verkehrssicherungspflicht nur in Randbereichen, d.h. bei nicht allzu großer Gefahr, Grenzen setzen, da Leben und körperliche Unversehrtheit höherwertige Rechtsgüter sind. Bei extremer Glätte wird auf Salzstreuung nicht verzichtet werden können, ansonsten mögen Sand und Splitt ausreichenden Schutz bieten.180 Die Beseitigung von gesunden Alleebäumen kann grundsätzlich nicht gefordert werden;181 bei besonderen Unfallschwerpunkten können Schutzplanken Abhilfe bieten.

13.45

2. Inhalt der Pflicht a) Warnung oder Beseitigung Grundsätzlich ist die Gefahrenquelle zu beseitigen. Ein Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften, die dem Schutz vor Verletzungen dienen, kann nicht ohne weiteres durch Warnschilder kompensiert werden.182 Eine Warnung kann jedoch ausreichen, wenn die Beseitigung unzumutbar ist183 oder wenn die Gefahr allein durch den Hinweis (bei Zugrundelegung obiger Grundsätze) ausreichend gebannt wird. Die unverzügliche Beseitigung der Gefahrenquelle durch Straßenbaumaßnahmen kann dagegen geboten sein, wenn trotz des vorhandenen Warn175 Vgl. etwa BGH v. 22.2.1971 – III ZR 205/67, MDR 1971, 649. 176 OLG Hamm v. 5.5.1995 – 9 U 14/95, NZV 1995, 484; Marburger Die Regeln der Technik im Recht (1979), S. 441 ff.; Graf v Westphalen Betrieb 1987 Beil Nr. 11; Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 48 f. 177 OLG Frankfurt v. 3.11.1983 – 1 U 5/83, VersR 1984, 473; Edenfeld VersR 2002, 272, 274. 178 OLG Celle v. 26.5.1999 – 9 U 253/98, MDR 2000, 156 mit Anm. Peglau MDR 2000, 452. 179 So z.B. österr. OGH ZVR 1990, 54 u. NZV 1990, 303 zur Kompletträumung einer Mautautobahn, ZVR 2001, 328 zur Glatteisgefahr. Näher Hoffer DAR 2001, 571, bes. zur Vignettenmaut. 180 Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 45 f. 181 Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 47. 182 BGH v. 14.1.2020 – X ZR 110/18, MDR 2020, 781, 782. 183 BGH v. 11.7.1960 – III ZR 144/59, VersR 1960, 998; LG Berlin v. 18.8.1994 – 13 O 160/94, VersR 1996, 603.

Greger | 305

13.46

§ 13 Rz. 13.46 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

zeichens ein sorgfältig fahrender und das Warnzeichen beachtender Fahrer der Gefahr zum Opfer fallen kann,184 z.B. weil mit einer Unterschätzung der Gefahr gerechnet werden muss. Zumindest ist in solchen Fällen eine deutliche Warnung erforderlich.185 Auch kann sich eine Gemeinde nicht ihrer Haftung für Verletzungen der Streupflicht durch Hinweise auf unterbleibenden Winterdienst entziehen.186

13.47

Die Befugnis der Straßenbaubehörden zur Anbringung von Warnschildern ergibt sich aus § 45 Abs. 3 S. 3 u. Abs. 2 StVO; jedoch gehen Maßnahmen der Straßenverkehrsbehörden vor. Letztere handeln hoheitlich (s. Rz. 12.17). Der Verkehrssicherungspflichtige darf sich nicht darauf verlassen, dass der Verkehrsregelungspflichtige tätig wird und umgekehrt.187 Zugelassen sind nur die Gefahrzeichen und sonstigen Verkehrseinrichtungen nach der StVO (§ 45 Abs. 4 StVO).

13.48

Besteht lediglich eine Pflicht zur Aufstellung von Warnzeichen, so ist deren Verletzung nicht kausal für einen Unfall, wenn der Verunglückte die Gefahr gekannt oder in vorwerfbarer Weise nicht gekannt hat.

13.49

Gefahrenquellen, deren Beseitigung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, die aber bei Dunkelheit allein aufgrund eines Warnschildes nicht ausreichend abgesichert werden, sind zu beleuchten. Auch die Beleuchtungspflicht ist Ausfluss der (im Prinzip privatrechtlichen) Verkehrssicherungspflicht. Sie ist zu unterscheiden von der in einigen Landesstraßengesetzen normierten öffentlich-rechtlichen Straßenbeleuchtungspflicht, die in erster Linie polizeilichen, aber auch wirtschaftlichen und sozialen Zwecken dient;188 näher s. Rz. 13.96 ff.

b) Verhältnis zur Verkehrsregelungspflicht 13.50

Für die Abwehr von Gefahren, die von anderen Verkehrsteilnehmern oder unsachgemäßer Verkehrsregelung ausgehen, ist nicht der Verkehrssicherungspflichtige, sondern der Verkehrsregelungspflichtige verantwortlich. Anders verhält es sich jedoch, wenn durch Verhalten von Verkehrsteilnehmern bleibende Gefahrenquellen entstanden sind, z.B. durch Unfälle, Verschmutzung oder auf die Straße gebrachte Gegenstände, oder wenn sich dem Verkehrssicherungspflichtigen die Notwendigkeit von Maßnahmen gegen eine gefahrträchtige Verkehrsregelung geradezu aufdrängt.189

c) Überwachungspflicht 13.51

Die Wahrnehmung der Verkehrssicherungspflicht bedingt eine laufende Kontrolle der Straße; der Verkehrssicherungspflichtige muss sie daher in angemessenen Zeitabständen begehen oder sonst überprüfen lassen.190 Die Häufigkeit richtet sich nach der Verkehrsbedeutung der

184 BGH v. 4.7.1968 – III ZR 35/66, VersR 1968, 1090. 185 OLG Brandenburg v. 25.7.2000 – 2 U 73/99, VersR 2001, 1259 (Geschwindigkeitsbeschränkung reicht nicht); dazu Staab VersR 2003, 689, 691 f. 186 Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 42. 187 BGH v. 11.7.1960 – III ZR 144/59, VersR 1960, 998. 188 Berz DAR 1988, 2. 189 BGH v. 15.6.2000 – III ZR 302/99, NZV 2000, 412 = LM § 839 (Fm) Nr. 53 mit Anm. Greger. 190 BGH v. 18.10.1956 – III ZR 100/55, VRS 11, 408; OLG Nürnberg v. 19.9.1956 – 4 U 79/56, VersR 1958, 171; OLG Frankfurt v. 27.1.1983 – 1 U 92/82, DAR 1984, 19. S. auch Kärger DAR 2003, 5, 6 m.w.N.

306 | Greger

III. Umfang und Inhalt | Rz. 13.52 § 13

Straße. Bei einer Landesstraße ist ein dreitägiger Turnus nicht zu beanstanden,191 bei innerörtlichen Straßen genügt in der Regel eine monatliche Prüfung,192 bei Gehwegen193 und Straßen geringerer Verkehrsbedeutung194 eine gelegentliche Kontrolle. Übernimmt eine Behörde die Verwaltung einer Straße von einer anderen Stelle, so muss sie sich sogleich über den Straßenzustand unterrichten.195 Unfallhäufung an bestimmten Stellen muss zum Anlass für verstärkte Beobachtung, Ursachenforschung und ggf. Abhilfemaßnahmen genommen werden.196 Eine Haftung kann aus einer Verletzung der Überwachungspflicht aber nur abgeleitet werden, wenn der Geschädigte beweisen kann, dass der Unfall bei ihrer Erfüllung nicht geschehen wäre. Kann nicht ausgeschlossen werden, dass der verkehrsgefährdende Umstand auch bei der gebotenen Routinekontrolle nicht entdeckt worden wäre197 oder dass er erst nach der letzten gebotenen Kontrolle eingetreten ist,198 entfällt die Verantwortlichkeit; ein Anscheinsbeweis ist nicht möglich (s. Rz. 13.11). Steht dagegen fest, dass der gefährliche Zustand bereits länger als das angemessene Kontrollintervall andauert und bei der gebotenen Form der Überprüfung hätte entdeckt werden müssen, ist der Beweis der Pflichtverletzung auch ohne Anscheinsbeweis geführt.199

d) Organisationspflicht Öffentlich-rechtliche Körperschaften und sonstige juristische Personen sind für ausreichende Organisation der Erfüllung ihrer Verkehrssicherungspflicht verantwortlich. Sie haben die geeigneten Anordnungen zu treffen, um die regelmäßige Unterhaltung und Beaufsichtigung des Straßenwesens zu gewährleisten, den Vollzug, die Angemessenheit und das Zureichen dieser Anordnungen zu sichern, ferner deren stete Übereinstimmung mit den sich schnell ändernden Verkehrsbedürfnissen. Schließlich haben sie die Einrichtung ihrer Organisation, deren Arbeit und die Tätigkeit der dafür bestellten Bediensteten zu beaufsichtigen200 (s. auch Rz. 13.4). Die Verantwortlichkeit für die einer juristischen Person zuzurechnende Schädigung kann auch die zu ihrem Organ bestellten Personen treffen, wenn die Ursache für die Schädigung in Versäumnissen bei der ihnen übertragenen Organisation und Kontrolle zu suchen ist.201

191 OLG Karlsruhe v. 30.10.1987 – 14 U 77/86, NZV 1988, 20, 21. 192 OLG Saarbrücken v. 18.5.2017 – 4 U 146/16, NJW 2017, 2689 mit Anm. Mergner. 193 BayObLG v. 15.10.1998 – 2Z RR 370/98, BayObLGR 1999, 24: Begehung alle 2 bis 3 Wochen genügt; OLG Hamm v. 15.10.2003 – 11 U 34/03, NZV 2004, 141: auch nach heftigem Regen keine Wochenendkontrolle in Kurpark; OLG Schleswig v. 5.7.2007 – 11 U 29/07, MDR 2007, 1371: bei Gehweg auf Sportplatz soll gelegentliches Kehren genügen (zw.). 194 OLG Jena v. 24.6.2009 – 4 U 67/09, MDR 2009, 1391 (2 Wochen nicht zu lang). 195 BGH v. 14.4.1958 – III ZR 186/56, VersR 1958, 380. 196 Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 43. 197 OLG Saarbrücken v. 4.5.2010 – 4 U 272/09, NJW 2010, 3104: geringfügige Verstellung des Blickwinkels eines Verkehrsspiegels. 198 OLG Hamm v. 24.3.1995 – 9 U 207/94, NZV 1995, 353. 199 So i. Erg. auch OLG Saarbrücken v. 18.5.2017 – 4 U 146/16, NJW 2017, 2689 mit Anm. Mergner. 200 BGH v. 19.5.1958 – III ZR 211/56, BGHZ 27, 278 = NJW 1958, 1234, 1819 mit Anm. Nedden. 201 BGH v. 5.12.1989 – VI ZR 335/88, NJW 1990, 976, 978; OLG Stuttgart v. 29.4.2008 – 5 W 9/08, NJW 2008, 2514.

Greger | 307

13.52

§ 13 Rz. 13.53 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

e) Bauliche Maßnahmen 13.53

Eine Verpflichtung zu baulichen Maßnahmen folgt aus der Verkehrssicherungspflicht im Allgemeinen nicht.202 So kann z.B. nicht die Beseitigung von Unebenheiten des Gehwegs verlangt werden, die zu Pfützen- und Glättebildung führen können.203 Ergeben sich aus dem Straßenzustand aber unvermutete Gefahren oder endet eine Ausbaustrecke, kann zumindest die Pflicht zur Aufstellung von Gefahrenzeichen bestehen (s. Rz. 13.46 ff.). Die Entscheidung darüber, in welcher Reihenfolge Ausbaumaßnahmen durchgeführt werden, steht im Ermessen des Baulastträgers; die Straßenbaulast aber begründet Pflichten nur gegenüber der Allgemeinheit, nicht gegenüber dem einzelnen Straßenbenutzer.204 Unzulässig ist es, aus andernorts getroffenen besonderen Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit (z.B. Linksabbiegerspur, Bahnunterführung) eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht abzuleiten.

f) Sperrung 13.54

Die Sperrung des Verkehrswegs kann bei extremen, nicht anders zu beseitigenden Gefahrenlagen geboten sein.205

IV. Einzelne Fallgruppen 1. Anlage des Verkehrswegs a) Allgemeines 13.55

Grundsätzlich hat der Benutzer den Verkehrsweg so hinzunehmen, wie er sich ihm erkennbar darbietet. Er kann den Verkehrssicherungspflichtigen z.B. nicht deswegen haftbar machen, weil die Straße an einem Steilhang entlangführt, Kurven, Kreuzungen oder ein starkes Gefälle aufweist. Eine allgemeine Pflicht zum Anbringen von Leitplanken neben Böschungen oder Abhängen besteht nicht; im Einzelfall kann es aber geboten sein, um nicht erkennbare Gefahren auszuräumen.206 Bei außergewöhnlichen Verhältnissen kann zumindest ein Hinweis geboten sein.

b) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) 13.56

Abgrund neben der Straße. BGHZ 24, 124; BGH DAR 1952, 133 mit Anm. Guelde (Wasserlauf neben Straße); BGH VersR 1959, 711 (Brückenauffahrt); BGH VersR 1959, 1043 (Uferpromenade); BGH VersR 1963, 950 (Fluss neben Straße); BGH VersR 1966, 562 (Autobahnparkplatz); OLG München VersR 1960, 211 (Dorfstraße); OLG Stuttgart DAR 1953, 236 (Straßengraben); OLG Düsseldorf VersR 1971, 967 (Steilhang); OLG Karlsruhe VersR 1973, 355 (Parkplatz). Einmündung. BGH VersR 1959, 33 (durch Wald verdeckte Einmündung).

202 203 204 205

Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 41. OLG Karlsruhe v. 6.10.2004 – 7 U 143/03, VersR 2006, 130. BGH v. 5.7.1990 – III ZR 217/89, BGHZ 112, 74, 75. Staab VersR 2003, 689, 692; Rinne NVwZ 2003, 9, 14 (nicht beherrschbare Steinschlaggefahr, Vorhandensein einer Alternativroute). S. auch BGH v. 8.3.1979 – III ZR 130/77, VersR 1979, 542. 206 BGH v. 17.4.1961 – III ZR 218/59, MDR 1961, 753; BGH v. 19.12.1991 – III ZR 1/91, BGHR BGB § 839 I 1 Verkehrssicherungspflicht 6.

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IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.58 § 13 Grundstücksausfahrt. BGH Betrieb 1965, 1740 (gefährliche Werksausfahrt); OLG Düsseldorf VersR 1978, 851. Gefälle. LG Wiesbaden NJW 1952, 1098 (unvermutetes starkes Gefälle).

2. Bauliche Beschaffenheit des Verkehrswegs a) Allgemeines Der Verkehrssicherungspflichtige hat die Straße – im Rahmen der.allgemein gezogenen Grenzen (s. Rz. 13.31 ff.) – in einen baulichen Zustand zu bringen bzw. in einem solchen Zustand zu halten, von dem keine Gefahren für den Benutzer ausgehen. Dazu gehört auch die Untersuchung des Straßenbelags auf Griffigkeit bei Nässe.207 Er darf die Straße auch nicht in der gutgemeinten Absicht der Verkehrsberuhigung in einen Zustand bringen, der Verkehrsgefahren heraufbeschwört (näher hierzu Rz. 13.69 ff.). Auf ungewöhnliche Nutzungen (z.B. Rennräder mit besonders dünner Bereifung, Skates, E-Scooter) braucht er den Straßenbelag nicht abzustellen; es ist Sache solcher Benutzer, auf entsprechende Gefahren zu achten.208 Rechtsprechungsüberblick zu einzelnen Ausprägungen dieser Verpflichtung s. Rz. 13.58 ff. Zur Kontrolldichte bei Mängeln der Beschaffenheit s. Rz. 13.51.

13.57

b) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) Bankett An die Tragfähigkeit sind nicht die gleichen Anforderungen wie bei der Fahrbahn zu stellen (BGH VersR 1962, 59; BGH VersR 1989, 848; OLG Hamm VersR 1983, 466). Der Fahrer kann dennoch grundsätzlich davon ausgehen, dass das Bankett langsam und vorsichtig befahrbar ist (BGH VersR 1969, 280; OLG Karlsruhe VersR 1978, 573; OLG Brandenburg, MDR 2002, 757; nicht bei untergeordneten Straßen: OLG Hamm VersR 1973, 379; auch durch schwere Fahrzeuge: OLG München VersR 1980, 293). Ist die mangelnde Tragfähigkeit ohne weiteres erkennbar, bedarf es keiner Warnung (BGH NJW 1957, 1396; BGH VersR 1965, 516; OLG Brandenburg NZV 2002, 563). Der Kraftfahrer darf auch nicht auf die gefahrlose Befahrbarkeit eines unbefestigten Seitenstreifens vertrauen (OLG Naumburg MDR 2014, 215). Ist bei enger, kurvenreicher Straße mit dem Befahren des Banketts durch schwere Fahrzeuge zu rechnen, müssen Vorkehrungen gegen ein Abrutschen getroffen werden (BGH VersR 1962, 574). Auf der engen Zufahrt zu einem Kieswerk muss das Bankett für ausweichende Lkw ausgelegt sein, nicht aber für einen überschweren Autokran (OLG Nürnberg NZV 2004, 363). Die Abgrenzung von der Fahrbahn muss bei schlechter Erkennbarkeit gekennzeichnet sein (BGH VersR 1958, 13; OLG Köln VRS 8, 81; OLG Celle VRS 9, 253). Dies gilt aber nicht, wenn diese nur auf Schneebelag beruht (OLG Celle VRS 78, 9; OLG Stuttgart NZV 1990, 268). Auf einen gefährlichen Höhenunterschied muss zumindest hingewiesen (BGH VersR 1959, 830: verneint bei 6,8 cm; OLG Hamm NZV 2005, 43: bejaht bei 15 cm hoher, scharfer Kante), eine gefährliche Abbruchkante beseitigt werden (OLG Schleswig NZV 1995, 153), ebenso eine durch Unterspülung verursachte Vertiefung von 10 cm in ansonsten befestigtem Bankett (OLG Nürnberg DAR 2013, 580). Bei einem unbefestigten Bankett kann aber nicht erwartet werden, dass ein Ausweichen und Wiederauffahren mit unverminderter Geschwindigkeit gefahrlos möglich ist (BGH NZV 2005, 255: keine Warnpflicht bei 5–8 cm hoher Kante). Hindernisse und das Ablagern von Gegenständen auf dem Bankett begründen nicht generell, sondern allenfalls bei schlechter Erkennbarkeit einen Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht (BGH 207 BGH v. 12.4.1973 – III ZR 61/71, VersR 1973, 637. Eingehend Wendrich NZV 2001, 503 ff. 208 OLG Koblenz v. 10.1.2001 – 1 U 881/99, MDR 2001, 748; OLG Braunschweig v. 19.5.2005 – 3 U 192/04, NZV 2005, 581.

Greger | 309

13.58

§ 13 Rz. 13.58 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht VRS 4, 178 [Kieshaufen]; OLG Bamberg VersR 1981, 960 [Erdhaufen]; OLG Düsseldorf VersR 1981, 358 [senkrechte Betonplatte]; OLG Jena NZV 1999, 206 [herausragender Kanaldeckel]; OLG Naumburg VersR 2013, 204 [Rohr]).

Bordsteinkante

13.59

Abgrenzung von Rad- und Gehweg: OLG Hamm NZV 1998, 500; OLG Celle VersR 2002, 505 (Radfahrer stürzt bei Ausweichen auf Gehweg). Gefährlicher Zustand: BGH VersR 1958, 531 (vorspringend); BGH VersR 1962, 665 (Wiederbeginn nach 25 m breiter Einfahrt); OLG Koblenz MDR 1999, 421 (Höhenversatz); OLG Saarbrücken NZV 2016, 325 (Lücke). Erkennbarkeit: OLG Hamburg VersR 1977, 970; OLG Düsseldorf VersR 1994, 574 (auf Seitenstreifen). Höhe: OLG Hamm NZV 2008, 405 (18 cm an Parkbox); s. auch Rz. 13.141.

Ende der Straße

13.60

Unvermutetes Ende der Straße: BGH NJW 1952, 1214; OLG Nürnberg VersR 1958, 632; OLG Koblenz VersR 2002, 863; OLG Hamm DAR 2001, 273 (Zufahrt zu einer abgebrochenen Kanalbrücke). Ende eines gemeinsamen Rad- und Fußweges: OLG Hamm VersR 2000, 788 (keine Kennzeichnungspflicht).

Oberflächenbelag (s. auch Rz. 13.67)

13.61

Blaubasalt: BGH VersR 1958, 262; BGH VersR 1959, 469. Natursteinpflaster: OLG Koblenz OLGR Koblenz 1999, 224 (Gehweg). Grobe Steine auf Gehweg: OLG München VersR 1989, 862. Geschliffene Betonsteinplatten: OLG Koblenz OLGR Koblenz 2001, 55 (Fußgängerzone). Holzbohlen: OLG Celle MDR 2001, 1168 (auf Fußgängerbrücke). Lockere Lavalithschicht: BGH VersR 1960, 712; LG Koblenz VersR 1986, 497 (provisorischer Fußweg). Fehlende Feinschicht: OLG Düsseldorf VersR 1989, 274. Sandbelag: OLG Düsseldorf NJWE-VHR 1997, 288 (Zweiradfahrer stürzt; Warnung mit Hinweisschild „Rollsplit“). Splitt: OLG Celle MDR 2000, 769. Aufgeweichter Teer: OLG Bamberg VersR 1970, 845; OLG Bamberg VersR 1979, 262; OLG Koblenz OLGR Koblenz 2000, 108. Rutschgefährliche Teerdecke: BGH VersR 1973, 637; OLG Hamm NZV 2016, 523. Belagwechsel: BGH VersR 1959, 435; OLG Koblenz VersR 1993, 1417 (Gehweg); OLG Hamm NJWRR 2009, 1324 (geringere Griffigkeit am Innenrand eines Kreisverkehrs).

Oberflächenschäden (s. auch Unebenheiten)

13.62

Ablösen von Asphalt: OLG Hamm VersR 2006, 284 (Kontrolldichte bei Netzrissen). Belagaufbruch an Schienenübergang: OLG Stuttgart NZV 2003, 572. Frostaufbrüche: BGH VersR 1960, 235 (Bundesstraße); OLG Nürnberg VersR 1958, 171 (Bundesstraße); OLG Oldenburg NdsRpfl 1958, 187 (entlang Straßenbahnschiene); OLG Frankfurt MDR 1959, 126; OLG Stuttgart VersR 1972, 868 (stark befahrene Bundesstraße); LG Aachen VersR 1987, 1100

310 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.65 § 13 (Anliegerstraße); OLG Koblenz MDR 1999, 39 (Bürgersteig); OLG Koblenz NZV 2008, 580 (Autobahn). Hitzeaufbrüche: OLG Celle VersR 1984, 1172; LG Darmstadt VersR 1989, 1210; LG Heidelberg VersR 1992, 703 (Autobahn). Schlagloch: BGH VersR 1959, 729 (Seitenstreifen einer Bundesstraße); OLG Nürnberg NZV 1996, 149 (Autobahnbaustelle); OLG Brandenburg NZV 1997, 479 (Landstraße mit Grobpflaster); OLG Rostock MDR 2000, 638 (unbefestigter Baustellenabschnitt); OLG Naumburg OLG-NL 1997, 27 (Gehweg); OLG Naumburg VM 2013 Nr. 16 (20 cm tiefes Schlagloch: Warnung genügt nicht); OLG Koblenz DAR 2001, 460 (einstweiliges Verfüllen mit Kaltmischgut); OLG Hamm VersR 2006, 425 (kein Schutz die Fahrbahn überquerender Fußgänger); OLG Celle NZV 2007, 569 (20 cm tiefes Schlagloch auf stark befahrener Straße mit 30 km/h-Begrenzung); OLG München NJOZ 2011, 404 (Radfahrer); OLG Saarbrücken DAR 2010, 23 (großes und tiefes Schlagloch in abschüssiger Kurve; Warnzeichen genügt nicht); OLG Köln DAR 2017, 582. Weitere Nachweise: Herber NZV 2011, 161, 163 f.; Scheidler NZV 2011, 422 ff.; Rebler DAR 2013, 129. Spurrillen: OLG Hamm DAR 2005, 627; LG Heidelberg VersR 1989, 970 (Waldweg). Parkstreifen: OLG Frankfurt OLGR Frankfurt 1994, 74. Pflaster: OLG Koblenz NJWE-VHR 1996, 126; OLG Düsseldorf VersR 1996, 518 u. OLG Rostock NZV 1998, 325 (lockere Stellen auf Gehweg); OLG Jena MDR 2006, 1289 (Gehweg an Parkplatz); OLG Schleswig MDR 2007, 1371 (keine ständige Untersuchung auf lockere Gehwegplatten); OLG Oldenburg DAR 2011, 329 (hochstehende Pflastersteine; Haftung wegen sehr hoher Anforderungen an Kraftfahrer verneint).

Quergefälle BGH VersR 1960, 237 (mit Blaubasalt); BGH VersR 1960, 998 (abschüssige Kurve); BGH VersR 1961, 162 (Ortsdurchfahrt von Landstraße).

13.63

Querrinne BGH VersR 1971, 475 (unvermutete Querrinne im Großstadtverkehr); OLG Schleswig VersR 1964, 1258 mit Anm. Böhmer und OLG Brandenburg VersR 1996, 517 (provisorisch zugeschüttet); OLG Düsseldorf VersR 1991, 1419 (Wirtschaftsweg); OLG Brandenburg VersR 1996, 478 (Privatstraße); OLG Köln DAR 2002, 315 (aufgepflasterte Entwässerungsrinne); LG Limburg NJW-RR 1990, 862 (Gefahr nur für Frontspoiler).

13.64

Schachtdeckel Tragfähigkeit: BGH VersR 1965, 483; BGH VersR 1967, 1155; OLG Hamm VersR 1977, 970; OLG Hamm NZV 2014, 351 (provisorische Abdeckung auf BAB). Herausragen: BGH VRS 12, 407 (12 mm über Bürgersteig); BGH VersR 1964, 746 (3 mm); OLG Koblenz OLGR Koblenz 1999, 199 (3 cm am Gehwegrand); OLG Hamm VersR 1979, 1033 (einige cm über Straßenbelag); OLG Karlsruhe MDR 1984, 54 (2 cm über Straßenbelag); OLG Karlsruhe VersR 1993, 332 mit Anm. Gaisbauer 849 (45 cm, wenig befahrene Sackgasse); OLG Düsseldorf VersR 1985, 397 (7 cm hohe Erhöhung der Fahrbahndecke rund um Kanaldeckel); OLG Zweibrücken OLGReport Zweibrücken 2000, 85 (14,5 cm über Bürgersteig); OLG München MDR 2012, 907 (Gullydeckel auf Fahrbahn muss nicht den Sicherheitserwartungen von Fußgängern entsprechen). – Auf einer noch nicht fertiggestellten Straße muss mit herausragenden Kanaldeckeln gerechnet werden (OLG Saarbrücken VersR 1972, 207; KG VersR 1977, 37; OLG München VersR 1977, 939 = 1978, 66 mit abl. Anm. Schulze; OLG Koblenz VersR 1993, 1246). Dasselbe gilt für Verkehrsflächen, die nicht für den allgemeinen Verkehr bestimmt sind (OLG Stuttgart DAR 1983, 355: Pkw fährt gegen 20 cm herausragenden, durch Gras verdeckten Kanaldeckel auf nur von landwirtschaftlichen Fahrzeugen benutztem Wiesenweg; LG Oldenburg VersR 1982, 1061: Radfahrer stürzt auf Sandweg neben Ladestraße über 10 cm herausragenden Deckel).

Greger | 311

13.65

§ 13 Rz. 13.65 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Hochdrücken: OLG Düsseldorf VersR 1988, 161 (durch starken Regen); OLG Köln VersR 1992, 1268 (in Überflutungsbereich). Hochkippen bei Belastung: OLG Hamm NZV 2005, 473. Schlitze parallel zur Fahrtrichtung: BGH VersR 1983, 39; OLG Düsseldorf VersR 1978, 768 (zu breit); OLG Stuttgart VersR 2003, 876 (verkehrsarme Straße, gute Erkennbarkeit); OLG Koblenz NZV 2012, 482 (Rennrad mit extrem schmalen Reifen auf Werksgelände). Sicherung gegen Abheben: BGH VersR 1976, 149; BGH VersR 1990, 498; OLG Celle NZV 1992, 239. Tiefliegend: OLG München VersR 1962, 994; OLG Schleswig MDR 1998, 104 (3 cm mit gleitendem Übergang); OLG Jena NZV 1998, 71 (10 cm am laubbedeckten Fahrbahnrand in neuen Bundesländern); OLG Frankfurt NZV 2008, 159 mit krit. Bespr. Bruns NZV 2008, 123 ff. (Kanaldeckel innerhalb Sperrfläche auf der Fahrbahn, nur für Fußgänger gefährlich).

Tragfähigkeit

13.66

BGH VersR 1958, 380 (zu schwacher Unterbau); BGH VersR 1958, 563 (Umleitungsstraße); BGH VersR 1964, 323 (Holzabfuhrweg); BGH VersR 1973, 126 (Überprüfung nach Bauarbeiten); BGH VersR 1983, 88 (Forstweg); BGH VersR 2006, 803 (nach Rohrverlegungsarbeiten); OLG Düsseldorf VersR 1992, 71; OLG Frankfurt OLGR Frankfurt 1998, 117 (Schwertransport).

Unebenheiten (s. auch Oberflächenschäden)

13.67

Absatz: OLG Jena DAR 2003, 69 (19 cm hoher Absatz zu neuem Straßenbelag quer zur Fahrbahn). Baumschutzscheibe: OLG Saarbrücken NZV 2016, 475. Bodenwelle: OLG Schleswig VersR 1980, 1150 (bei drei aufeinanderfolgenden Wellen, die letzte mit Sprungschanzeneffekt, genügt Warnschild nicht; Geschwindigkeitsbeschränkung erforderlich); OLG Hamm NZV 1996, 494 (Warnung bei Gefahr für Motorradfahrer); LG Limburg NJW-RR 1986, 192 (verkehrsberuhigter Bereich); LG Aachen NZV 2016, 323 (Sprungschanzeneffekt bei hoher Geschwindigkeit auf BAB). Bushaltestelle: BGH VersR 1970, 179. Fahrbahnrand: OLG Düsseldorf VersR 1982, 858 (Anliegerstraße). Fußgängerüberweg: OLG Celle VersR 1987, 315 (Straße mit Gleiskörper, mit Unebenheiten muss gerechnet werden). Gehweg: BGH NZV 2012, 533 (verwitterte Platten); BGH VersR 1967, 281; OLG Hamburg VersR 1978, 470; OLG Karlsruhe VersR 1978, 970; OLG Frankfurt VersR 1982, 449; OLG Schleswig VersR 1989, 627; OLG Hamm VersR 1988, 467 (Höhenunterschiede); OLG Hamm VersR 1986, 349 (Höhenunterschied zu Garagenzufahrt); OLG Oldenburg VersR 1995, 599 (zu Privatgrundstück); OLG Düsseldorf VersR 1993, 1416; OLG Frankfurt NJW-RR 1994, 348 (unebener Plattenbelag); BGH VersR 1969, 35 (schadhafte Platten); OLG Karlsruhe VersR 1959, 861 (Kopfsteinpflaster); OLG Düsseldorf VersR 1983, 349 LS (Platten wegen Baustelle vorübergehend entfernt); OLG Hamm VersR 1984, 292 LS (stufenförmige Unterteilung in Längsrichtung); OLG Hamm VersR 1993, 1030 LS (scharfkantige Höhendifferenz von 2,5 cm); OLG Hamm MDR 1996, 1131 (Höhendifferenz 5 cm bei Wechsel des Oberflächenbelags); OLG Köln ZfS 1991, 256 (mehr als 2 cm Niveauunterschied); OLG Celle MDR 1998, 1031 (geringer Höhenunterschied bei instabilem Pflasterstein); OLG Düsseldorf VersR 1996, 603 (6 cm tiefes Loch in Fußgängerzone); OLG Düsseldorf VersR 1995, 1440 (Gehwegplatten mit Höhendifferenz); OLG Düsseldorf VersR 1983, 542 (10 cm tiefes Loch auf Wanderweg); OLG München MDR 1999, 161 (breite Verfugung um Lichtschacht am Gehwegrand); OLG Düsseldorf NJWE-VHR 1997, 287 (Wurzelwerk); OLG Köln VersR 2001, 596 (Steinplatten im Innenbereich eines Einkaufszentrums); OLG Schleswig MDR 2005, 29 (Pflasterunebenheit nach Bauarbeiten); OLG Hamm NZV 2007, 140 (30 × 30 cm großes Loch vor Hauseingang); OLG Jena MDR 2011, 850 (fehlende Gehwegplatten, für Fußgänger erkennbar); OLG Jena NZV 2008, 525 (muldenartige Vertiefung

312 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.69 § 13 von 2,5 cm, gut zu erkennen und zu umgehen); OLG Jena MDR 2012, 645 (Kante von 4,5 cm an gut erkennbarem Wechsel des Belags). Weitere Nachweise bei Spitzlei NZV 2016, 556 ff. Hoffläche: LG Duisburg VersR 1983, 164. Hydrant: OLG München OLGR München 1997, 4 (Vertiefung um herausragenden Unterflurhydranten). Niveauunterschied: OLG Düsseldorf VersR 1994, 982 (Fußgängerbereich); OLG Düsseldorf NVwZRR 1994, 481 (zu Gleiskörper); OLG Jena DAR 2001, 311 (zu Gleisbett); OLG Hamm NZV 2005, 193 (makelloser Plattenbelag auf Marktplatz mit Vertiefungen zur Entwässerung); OLG Hamm NZV 2004, 142 (nicht farblich abgehobenes Podest zwischen Fahrbahn und Gehweg); OLG Celle DAR 2003, 34 (Fußgänger- und Fahrbereich in Parkhaus); OLG Hamm MDR 2013, 1458 (Versatzkante in Parkhaus); OLG Hamm VM 2006, 62 (Stufenanlage auf Marktplatz); OLG Frankfurt MDR 2008, 1396 (mit laubbedeckten Erhöhungen oder Vertiefungen ist zu rechnen). Pflaster: BVerfG NJW 2016, 3013 (Behindertenparkplatz); BGH VersR 1959, 435 (Mulde); BGH VersR 1966, 484 (Verkehrsknotenpunkt); OLG Oldenburg VRS 6, 82 (Nebenstraße); OLG Frankfurt VersR 1959, 506 (Steine durch Kinder entfernt); OLG Koblenz VersR 2018, 1405 (erkennbar unebenes historisches Pflaster); OLG Koblenz VersR 1985, 844 (rustikales Pflaster in Fußgängerbereich); OLG Hamm NZV 1991, 471 (Fußgängerzone); OLG Köln NZV 1992, 365 (Fußgängerzone; Mulde mit 2,5 cm hoher Kante); OLG Köln VersR 1994, 1321 (Absenkung im Gleisbereich der Straßenbahn auf vielbegangenem Platz); OLG Düsseldorf VersR 1995, 1440 (baumbestandener Parkplatz). Radweg: OLG Braunschweig NZV 2002, 93 u. KG DAR 2011, 135 (Aufwölbung); OLG Celle NZV 2005, 472 (gefrorene Spurrillen); OLG Celle VersR 1988, 857 (10 cm tiefer Absatz am Rand); OLG Hamm NZV 2015, 393 (5 cm hohe Asphaltkante im 450-Winkel). Schienen: OLG München ZfS 1990, 295 (4 cm herausragende Straßenbahnschienen). S. auch Rz. 13.121. Vertiefung: BGH NZV 2012, 533 (verwitterte Gehwegplatten); BGH VersR 1962, 326 (durch Wasserrohrbruch); OLG Braunschweig VRS 26, 295 (Betonstraße); OLG Düsseldorf VersR 1982, 1076 (durch Nachsacken des Erdreichs nach Probebohrung); OLG Frankfurt VersR 1984, 394 (flache Mulde); OLG Celle NZV 1989, 72 (Loch in Fahrbahnmitte, Fußgänger stürzt); OLG Düsseldorf VersR 1993, 1125 (Aussparung in Fahrbahndecke); OLG Koblenz DAR 2001, 460 (rillenartige Vertiefung, Sturz eines Radfahrers); OLG München NZV 2013, 545 (vor abgesenktem Bordstein, Sturz eines Radfahrers); OLG Dresden OLG-NL 1996, 222 (Fußgänger stürzt auf Parkplatz); OLG Düsseldorf VersR 1997, 639 (Wirtschaftsweg); OLG Düsseldorf NJWE-VHR 1997, 286 (laubbedeckte Vertiefung); OLG Düsseldorf NJWE-VHR 1997, 287 (Fußgänger stürzt nachts auf Wanderweg); OLG Frankfurt VersR 2018, 503 (Waldweg); OLG Frankfurt OLGR Frankfurt 1997, 299 (Kiesweg); OLG Saarbrücken NZV 2016, 329 (auf Gehweg nach Bauarbeiten); LG Aschaffenburg NJW-RR 1991, 1129 (Überwachung nach Behebung eines Rohrbruchs); LG Trier NJW-RR 2003, 1605 (10 cm tiefes Loch auf in Bau befindlicher Straße).

Verengung BGH VersR 1958, 531; BGH VersR 1963, 652 (plötzlich); BGH VersR 1958, 563 (Umleitung zu eng); BGH VersR 1960, 349 (durch Straßenbahn); OLG Oldenburg VRS 15, 322 (Seitenstreifen endet); OLG Nürnberg VersR 1965, 1037 (Parkstreifen endet); OLG Karlsruhe VersR 1977, 971 (Bachbrücke).

13.68

3. Verkehrsberuhigende Maßnahmen a) Allgemeines Geschwindigkeitshemmende Hindernisse sind nur dann mit der Verkehrssicherungspflicht vereinbar, wenn sie von allen Verkehrsteilnehmern (auch Zweiradfahrern und Fahrzeugen Greger | 313

13.69

§ 13 Rz. 13.69 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

mit geringer Bodenfreiheit) gefahrlos passiert werden können, wenn sie ausreichend kenntlich gemacht sind bzw. unübersehbar vor ihnen gewarnt wird und wenn sie auch bei in Rechnung zu stellenden Unaufmerksamkeiten oder Verkehrsverstößen keine unverhältnismäßigen Gefahren heraufbeschwören.209 Wird diesen Anforderungen nicht genügt, kommt auch eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 32 StVO in Betracht (s. Rz. 11.39).

b) Einzelne Gestaltungen 13.70

Mittelinseln sind am wenigsten problematisch. Hier reicht im Allgemeinen die Kennzeichnung durch Zeichen 222 der StVO.210 Seitliche Verengungen durch Bauminseln oder Pflanzbeete dürfen den Straßenbenutzer nicht überraschen. Er muss durch bauliche Maßnahmen, Warnbaken oder Markierungen auf die Verengung vorbereitet werden; ein erst an der Insel selbst angebrachter Pfahl, noch dazu ohne Reflektor, reicht keinesfalls.211 Vor einer zweiten Ausbuchtung innerhalb ein und derselben Engstelle braucht nicht besonders gewarnt zu werden.212 Für auf die Fahrbahn gesetzte Blumenkästen, Barrieren und Poller gilt dies in noch höherem Maße. Sie müssen mit eigener Lichtquelle, Warnbaken oder Reflektoren, die jedenfalls am Beginn des verkehrsberuhigten Bereichs deutlich ins Auge fallen müssen, versehen sein.213 Eine wenige Meter vor dem Hindernis beginnende Sperrfläche reicht keinesfalls.214 Innerhalb eines verkehrsberuhigten Bereichs (Zeichen 325/326 StVO) können die Anforderungen geringer sein, da dort ohnehin nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden darf.215 Für die Verschiebung eines Pollers durch Unbefugte haftet die Gemeinde nicht.216 Fahrbahnschwellen und Aufpflasterungen sind in Verbindung mit Geschwindigkeitsbeschränkungen und Warnschildern zulässig und müssen grundsätzlich so ausgestaltet sein, dass sie von allen zum Verkehr zugelassenen Fahrzeugen bei Einhaltung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit ohne Beschädigung passiert werden können.217 Dem allgemeinen innerstädtischen Verkehr dienende Straßen müssen auch für tiefliegende Omnibusse218 und für Fahrzeuge mit besonders geringer Bodenfreiheit gefahrlos passierbar sein;219 bei besonders ausgeschilderten verkehrsberuhigten Zonen

209 Rspr-Übersichten bei Landscheidt/Götker NZV 1995, 89 ff., Berr DAR 1991, 281 ff. und nachfolgend. Zu passiven Verkehrsschleusen s. Donath NZV 2013, 324. 210 OLG Düsseldorf v. 8.12.1988 – 18 U 226/88, VersR 1989, 208; vgl. auch LG Aachen v. 2.10.1991 – 4 O 168/90, VersR 1992, 1242 zu noch nicht fertiggestellten Inseln; s. auch Rz. 12.20. 211 OLG Hamm v. 8.3.1994 – 9 U 217/93, OLGR Hamm 1994, 110. 212 OLG Düsseldorf v. 26.10.1995 – 18 U 15/95, VersR 1996, 518. 213 OLG Nürnberg v. 21.2.1990 – 4 U 4041/89, NZV 1990, 433; OLG Hamm v. 31.5.1994 – 9 U 39/ 94, NZV 1994, 400; OLG Hamm v. 7.8.1995 – 9 W 26/95, NJW 1996, 733; OLG Saarbrücken v. 25.3.1999 – 3 U 863/98-86, MDR 1999, 1440; OLG Celle v. 18.7.1990 – 9 U 129/89, NZV 1991, 353; LG Koblenz DAR 1991, 456. 214 OLG Celle v. 18.7.1990 – 9 U 129/89, NZV 1991, 353; OLG Hamm v. 31.5.1994 – 9 U 39/94, NZV 1994, 400; a.A. OLG Düsseldorf v. 12.10.1995 – 18 U 38/95, NJW 1996, 731. 215 Vgl. LG Oldenburg ZfS 1990, 401; Berr DAR 1991, 281. 216 OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 1996, 16. 217 BGH v. 16.5.1991 – III ZR 125/90, NZV 1991, 385; OLG Hamm v. 30.6.1992 – 9 U 220/89, NZV 1992, 483; zu den Anforderungen an die Warnschilder OLG Koblenz v. 28.9.1999 – 1 U 406/98, MDR 2000, 451. 218 OLG Köln v. 9.1.1992 – 7 U 10/91, DAR 1992, 376 mit Anm. Berr; OLG Köln v. 2.4.1992 – 7 U 192/91, VersR 1992, 1262. 219 BGH v. 16.5.1991 – III ZR 125/90, NZV 1991, 385; OLG Düsseldorf v. 13.4.1995 – 18 U 213/94, VersR 1996, 602; Berr DAR 1991, 283 ff.; Edenfeld VersR 2002, 272, 275; a.A. OLG Hamm v.

314 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.72 § 13 sind dagegen Einschränkungen vertretbar.220 Lässt die Gemeinde in der verkehrsberuhigten Zone einen gewissen Lastverkehr zu, muss auch dieser die Rampen bei vorsichtiger Fahrweise gefahrlos passieren können.221 Auch für Zweiradfahrer müssen die Schwellen gefahrlos passierbar sein,222 zumindest muss vor ihnen gut sichtbar gewarnt werden;223 bei Aufbringung sog Kölner Teller muss für Radfahrer ein ausreichend breiter Fahrweg zur Verfügung stehen.224

4. Verschmutzung a) Allgemeines In den Straßengesetzen der Länder wird zumeist den Gemeinden eine Verpflichtung zur Straßenreinigung innerhalb der geschlossenen Ortslage auferlegt. Diese öffentlich-rechtliche, „polizeiliche“ Reinigungspflicht kann weiter gehen als die allgemeine Verkehrssicherungspflicht des Straßenbaulastträgers225 und Amtshaftungsansprüche begründen.226 Soweit Inhaltsgleichheit besteht, verdrängt sie die Pflicht des Straßenbaulastträgers zur „verkehrsmäßigen“ Reinigung;227 anderenfalls bleibt die verkehrssicherungspflichtige Körperschaft zur Ergänzung der Maßnahmen verpflichtet. Nach den einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften ist weitgehend die Übertragung dieser Wegereinigungspflicht auf die Anlieger vorgesehen; zur Überwachungspflicht der Gemeinde s. Rz. 13.77).

13.71

b) Umfang der Verkehrssicherungspflicht Eine allgemeine Pflicht, die Fahrbahnen frei von jeglicher Verschmutzung zu halten, besteht nicht. Außergewöhnliche und für den Kraftfahrer nicht vorhersehbare Verschmutzungen, die eine Schleuder- oder Rutschgefahr mit sich bringen, müssen jedoch vom Verkehrssicherungspflichtigen beseitigt werden (Einzelfälle s. Rz. 13.74; zur Haftung des Verursachers s. Rz. 13.73). Ihre Erkennbarkeit ändert daran nichts (s. Rz. 13.37). Das Ausmaß der Reinigungspflicht richtet sich nach der Verkehrsbedeutung der Straße. So kann z.B. auf Landstraßen oder in Dörfern eine mäßige Verschmutzung, mit der der Verkehrsteilnehmer rechnen muss, im Allgemeinen nicht beanstandet werden,228 desgleichen und erst recht auf einem der Landwirtschaft dienenden Wirtschaftsweg.229 Zur Feststellung gefährlicher Verschmutzungen bedarf es regelmäßiger Begehung der Straße. Sichtkontrolle vom Fahrzeug aus genügt.230 Im Herbst ist an Stra-

220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230

3.4.1990 – 9 U 220/89, NZV 1990, 352 (durch vorgenanntes BGH-Urteil aufgehoben); OLG Celle v. 23.9.1998 – 9 U 114/98, OLGR Celle 1998, 334. BGH v. 16.5.1991 – III ZR 125/90, NZV 1991, 385, 386; OLG Düsseldorf v. 15.10.1992 – 18 U 171/92, NJW 1993, 1017; OLG Hamm v. 11.12.1992 – 9 U 119/92, NZV 1993, 231. LG Aachen v. 15.11.1989 – 4 O 498/88, VersR 1990, 1118. OLG Hamm v. 19.4.1996 – 9 U 206/95, NZV 1996, 494; LG Aurich v. 11.8.1988 – 2 O 570/88, DAR 1989, 69 (Kunststoffschwellen); zu den Anforderungen in verkehrsberuhigten Bereichen OLG Köln v. 16.9.1993 – 7 U 91/93, VersR 1993, 1545. OLG Karlsruhe v. 28.11.1997 – 14 U 9/97, OLGR Karlsruhe 1998, 372. OLG Saarbrücken v. 23.10.1997 – 3 U 994/96, NZV 1998, 284; OLG Frankfurt v. 23.12.2002 – 1 U 50/01, OLGR Frankfurt 2003, 106. BGH v. 5.7.1990 – III ZR 217/89, BGHZ 112, 74. BGH v. 19.5.1958 – III ZR 211/56, BGHZ 27, 278; BGH v. 30.5.1960 – III ZR 77/59, BGHZ 32, 352. BGH v. 21.11.1996 – III ZR 28/96, NZV 1997, 169 zu § 17 LStrG Rh-Pf. OLG Stuttgart v. 11.2.1959 – 1 U 183/57, NJW 1959, 2065; Scheidler DAR 2014, 481, 482. OLG Düsseldorf v. 27.3.1980 – 12 U 182/79, VersR 1981, 659; Scheidler DAR 2014, 481, 482. OLG Hamm v. 24.3.1995 – 9 U 207/94, NZV 1995, 353.

Greger | 315

13.72

§ 13 Rz. 13.72 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

ßen, die mit Laubbäumen gesäumt sind, für regelmäßige231 (wenn auch nicht ständige) Beseitigung des Laubes zu sorgen. Erneuert sich die Verschmutzung an einer bestimmten Stelle (Zufahrt zu einer Baustelle, einer Kiesgrube) während eines gewissen Zeitabschnitts laufend, so muss der Verkehrssicherungspflichtige Warnzeichen aufstellen.232 Das Gleiche gilt (jedenfalls an Straßen mit größerer Verkehrsbedeutung), wenn an Strecken, über die regelmäßig Vieh getrieben wird, die kurzfristige Beseitigung des Unrats nicht gewährleistet ist233 oder wenn vom Verursacher nur eine grobe Erstreinigung erwartet werden kann. Unverzüglich hat die Beseitigung zu erfolgen (§ 32 Abs. 1 StVO), d.h. ohne schuldhafte Verzögerung (§ 121 Abs. 1 BGB). Der Verantwortliche darf den gefährlichen Zustand nicht andauern lassen, obwohl ihm die Beseitigung möglich und zumutbar wäre.234 Es ist nicht vorwerfbar, wenn die Reinigung erst nach Abschluss der verunreinigenden Tätigkeit vorgenommen wird, also nach Ende des Viehtriebs oder der ganztägigen Erntearbeit.235

c) Verursacherhaftung 13.73

Neben dem für die Straße Verkehrssicherungspflichtigen236 haftet auch der Verursacher der Verschmutzung als Verantwortlicher i.S.v. § 32 Abs. 1 StVO für einen durch diese verursachten Unfall, also z.B. der Fahrzeugführer, Anlieger, Bauleiter, Landwirt.237 Verursacher ist auch der Veranlasser, z.B. Auftraggeber der verunreinigenden Arbeiten.238 Ist der Verursacher selbst nicht zur Beseitigung in der Lage (z.B. bei einer Ölspur), muss er diese (durch Information von Straßenbaulastträger oder Polizei bzw Beauftragung einer Fachfirma) veranlassen. Aufstellen eines Warnschilds kann als Erstmaßnahme geboten sein, genügt jedoch nicht.239

d) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) 13.74

Ackererde: BGHZ 16, 95; OLG Oldenburg MDR 1958, 843; OLG Bamberg VRS 15, 174; OLG Neustadt MDR 1959, 758; OLG Koblenz VersR 1971, 745; OLG Schleswig NZV 1992, 31. Baustelle: BGH VersR 1959, 708; BGH VersR 1975, 714; BGH Betrieb 1966, 148 (Transport von Aushub). Frostschutzmittellösung: OLG Nürnberg VersR 2001, 999 (Glätte auf BAB). Holzbrücke: OLG Koblenz OLGR Koblenz 1999, 32 (Rad- und Wanderweg). Hundekot: OLG Hamm VersR 1980, 685. Landwirtschaft: OLG Oldenburg VRS 34, 244; OLG Düsseldorf VersR 1981, 659; OLG Celle OLGR Celle 2007, 43. Laub: OLG Nürnberg NZV 1994, 68; KG VersR 2006, 946 (Gehweg); OLG Hamm NZV 2006, 550 (Rad- und Gehweg); OLG Schleswig NZV 2014, 353 (Parkplatzzugang auf Klinikgelände); OLG Bremen NJW-RR 2018, 923 (Radweg). 231 S. dazu OLG Hamm v. 9.12.2005 – 9 U 170/04, NZV 2006, 550; OLG Bremen v. 13.4.2018 – 1 U 4/18, NJW-RR 2018, 923 (Radweg). 232 BGH v. 20.4.1959 – III ZR 233/57, VersR 1959, 708. 233 BGH v. 23.10.1961 – III ZR 122/60, NJW 1962, 34. 234 OLG Celle v. 30.11.2006 – 14 U 157/05, OLGR Celle 2007, 43. 235 OLG Koblenz v. 21.10.1970 – 1 U 745/69, VersR 1971, 745; Scheidler DAR 2014, 481, 483. 236 S. dazu BGH v. 18.12.1972 – III ZR 121/70, BGHZ 60, 54. 237 Hentschel/König/Dauer § 32 StVO Rz. 7. 238 OLG Celle v. 30.11.2006 – 14 U 157/05, OLGR Celle 2007, 43. 239 BGH v. 21.1.1975 – VI ZR 74/73, VersR 1975, 714 (Baustelle).

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IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.76 § 13 Militär: OLG Stuttgart NJW 1959, 2065; LG Hechingen VersR 1983, 94 mit Anm. Riecker. Ölspur: BGH VersR 1956, 778; BGH VersR 1958, 330; BGH VersR 1964, 925; OLG Hamm VersR 1994, 726; OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 1995, 6 (Ausführungsfehler bei Beseitigung durch an sich nicht unterhaltungspflichtige Stadt). Zu Abrechnungsfragen s. Schwab DAR 2010, 347 ff. Sand: OLG Brandenburg NZV 2008, 568 (keine Verantwortung für erkennbaren Sandstreifen in Kurve; zw.); OLG Düsseldorf VersR 1981, 387 (dünne Schicht); OLG Koblenz DAR 2002, 269. Schlamm: OLG Celle VersR 1955, 397; OLG Düsseldorf VersR 1985, 94 (von Trampelpfad auf Parkplatz); OLG Karlsruhe NZV 1988, 20 (von Feldweg eingeschwemmt); LG Kreuznach VersR 1965, 345 (Tauwetter). Splitt: BGH VersR 2003, 1451 (Streugut muss nicht sofort wieder entfernt werden); OLG Hamm NZV 1989, 235; OLG Celle MDR 2000, 769; OLG Koblenz DAR 2001, 362 (unzureichend gesäuberte Unfallstelle). Steine: OLG Düsseldorf VersR 1996, 602 LS (Schotter vom Fahrbahnrand); OLG Koblenz SP 1999, 371 (herabrollende Felsbrocken). Vieh: BGH NJW 1962, 34; OLG Köln VersR 1996, 207.

5. Schnee- und Eisglätte a) Allgemeines Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer allgemeinen Glätte und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen.240 Diese Voraussetzung muss der Geschädigte beweisen, wobei ein Anscheinsbeweis nicht in Betracht kommt;241 für die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht trägt der Verletzte die volle Darlegungs- und Beweislast (s. Rz. 13.10). Soweit der Umfang der Räum- und Streupflicht nicht durch Rechtsvorschriften präzisiert ist, gilt auch hier der allgemeine Grundsatz, dass nur besondere Gefahren, mit denen nicht gerechnet werden muss, zu beseitigen sind, und auch dies nur im Rahmen des Verhältnismäßigen und Zumutbaren. Unter Umständen kann eine Warnung ausreichend, aber auch geboten sein.

13.75

b) Träger der Räum- und Streupflicht Sie trifft grundsätzlich den für den Verkehrsweg Verkehrssicherungspflichtigen (s. Rz. 13.14 ff.). Soweit aber besondere landesrechtliche Regelungen bestehen, die die Räum- und Streupflicht den Gebietskörperschaften als öffentlich-rechtliche Last auferlegen, haften diese bei Nichterfüllung der Pflichten aus Amtshaftung. Die Haftung verdrängt andere auf §§ 823 und 839 BGB beruhende Ansprüche wegen Verletzung einer entsprechenden Verkehrssicherungspflicht.242 Unberührt bleibt aber eine Haftung wegen Herbeiführens einer besonderen Gefahrenlage, z.B. Verursachung einer Eisplatte.243 Bei Einschaltung eines Privatunternehmens bleibt die Körperschaft überwachungspflichtig (s. Rz. 13.15); der ausführende Mitarbeiter ist lediglich Verwaltungshelfer, für dessen Pflichtverletzung nach Art. 34 S. 1 GG der Staat ein-

240 BGH v. 12.6.2012 – VI ZR 138/11, NJW 2012, 2727 m.w.N. 241 BGH v. 26.2.2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302; OLG Naumburg v. 18.7.2013 – 1 U 151/12, NZV 2014, 354. 242 BGH v. 21.11.1996 – III ZR 28/96, NZV 1997, 169; BGH v. 11.7.1985 – III ZR 137/84, VersR 1985, 973. 243 OLG Naumburg v. 12.12.2013 – 2 U 25/13, NZV 2014, 471.

Greger | 317

13.76

§ 13 Rz. 13.76 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

zustehen hat.244 Streiten sich zwei Körperschaften darüber, wer von ihnen auf einer Straße zu streuen hat, so muss die Körperschaft, die bisher gestreut hatte, bis zur Klärung der Lage weiter streuen.245

13.77

Hinsichtlich der Gehwege246 ist die Pflicht weitgehend durch Rechtssatz auf die Anlieger übertragen.247 Diese haften ggf. im Rahmen der Übertragung privatrechtlich nach allgemeinen Grundsätzen;248 die Satzungen, die die Reinigungspflicht übertragen, sind zugleich Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2.249 Die übertragene Pflicht geht nicht weiter als die der Gemeinde, besteht also auch nur bei allgemeiner Glättebildung, so dass keine Haftung besteht, wenn sich auf dem Bürgersteig eine vereinzelte Glatteisfläche gebildet hat, mit deren Entstehung nicht gerechnet werden musste.250 Die Gemeinde bleibt überwachungspflichtig (Amtspflicht)251 und haftet auch, wenn sie eine unklare, unzureichende Regelung trifft.252 Ist die Gemeinde selbst Anliegerin, haftet sie nicht nach Amtshaftungs-, sondern nach allgemeinen privatrechtlichen Grundsätzen.253

13.78

Auch die Eigentümer von Schienengrundstücken sind in diesen Fällen streupflichtig,254 bei zwangsverwalteten Häusern der Zwangsverwalter.255 Miteigentümer sind gemeinsam mit der Streupflicht belastet;256 stürzt einer von ihnen, kann er die anderen nicht in Anspruch nehmen.257 Bei Wohnungseigentum ist zu differenzieren: Hinsichtlich des Gemeinschaftseigentums ist die (nach § 10 Abs. 6 WEG teilrechtsfähige) Eigentümergemeinschaft als Verband sowohl Dritten als auch Mitgliedern gegenüber verkehrssicherungspflichtig;258 die einzelnen Miteigentümer haften bei Schadensfällen in Höhe ihres Miteigentumsanteils akzessorisch (§ 10 Abs. 8 WEG). Hinsichtlich des Sondereigentums oder der einem Wohnungseigentümer zur Sondernutzung zugewiesenen Fläche haftet allein der berechtigte Miteigentümer. Im Verwaltervertrag kann die Verkehrssicherungspflicht dem Verwalter übertragen werden; die Eigentümer bleiben aber überwachungspflichtig.259 Bei Eigentumsübertragung 244 BGH v. 9.10.2014 – III ZR 68/14, NJW 2014, 3580. 245 BGH v. 12.11.1959, BGHZ 31, 219 = LM Nr. 75c zu § 823 (Dc) BGB mit Anm. Pagendarm. 246 Zur Abgrenzung von der Fahrbahn OLG Köln v. 27.8.1992 – 7 U 39/92, VersR 1993, 1286; OLG Frankfurt v. 30.3.2000 – 1 U 195/98, OLGR Frankfurt 2001, 112; OLG Dresden v. 19.2.2003 – 6 U 955/02, VersR 2003, 1414 (Fahrbahnstreifen, wenn kein Gehweg vorhanden). 247 Zum Umfang der übertragenen Streupflicht: OLG Dresden v. 5.6.2000 – 14 U 220/99, NZV 2001, 79, 80; OLG Hamm v. 16.8.2000 – 13 U 32/00, VersR 2001, 652 (Fahrbahn). 248 BGH v. 14.2.2017 – VI ZR 254/16, VersR 2017, 563; BGH v. 30.10.1961 – III ZR 137/60, VersR 1962, 70; MünchKomm-BGB/Wagner, § 823 Rz. 652; a.A. AG Neuruppin v. 8.6.2012 – 42 C 390/08, VersR 2013, 1588 mit Anm. Krafft VersR 2014, 465. 249 OLG Celle v. 6.8.1997 – 9 U 15/97, VersR 1998, 604. 250 BGH v. 14.2.2017 – VI ZR 254/16, VersR 2017, 563. 251 BGH v. 22.9.1966 – III ZR 166/64, NJW 1966, 2311; OLG Düsseldorf v. 23.10.1997 – 18 U 24/ 97, VersR 1999, 315 LS; OLG Brandenburg v. 5.8.2008 – 2 U 15/07, VersR 2009, 221; zum Verweisungsprivileg s. Rz. 12.62. 252 OLG Köln v. 26.11.1987 – 7 U 2/87, VersR 1988, 827. 253 BGH v. 5.12.1991 – III ZR 31/90, NZV 1992, 315; OLG Düsseldorf v. 22.6.1995 – 18 U 179/94, VersR 1996, 79; OLG Hamm v. 8.10.2002 – 9 U 47/02, NZV 2003, 234. 254 OLG München v. 11.4.1991 – 1 U 6080/90, VersR 1992, 591. 255 KG JW 1937, 1073. 256 BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 49/83, NJW 1985, 484 = JR 1985, 332 mit Anm. Baumgärtel. 257 OLG Hamm v. 19.9.2001 – 13 U 52/01, VersR 2002, 1299 (Miterbbauberechtigte). 258 OLG München v. 24.10.2005 – 34 Wx 82/05, NJW 2006, 1293, 1294 = ZMR 2006, 226 mit krit. Anm. Elzer; LG Würzburg v. 13.12.2005 – 64 O 1887/05, ZMR 2006, 400, 401; Fritsch ZWE 2005, 384. Zum Meinungsstand s. auch BGH v. 13.12.2019 – V ZR 43/19, NJW 2020, 1798 (zur Streupflicht). 259 OLG Karlsruhe v. 30.12.2008 – 14 U 107/07, NJW-RR 2009, 882.

318 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.82 § 13 geht die Streupflicht auch dann nicht vor der Umschreibung auf den Erwerber über, wenn ein vorzeitiger Übergang von „Nutzungen und Lasten“ vereinbart ist.260

Der Haus- oder Wohnungseigentümer kann seine Streupflicht auf die Mieter oder einen Hausmeister abwälzen.261 Dies muss durch eine klare und eindeutige Vereinbarung geschehen;262 Aufstellen und Bekanntgeben eines „Schneeräumplans“ genügen nicht.263 Den Vermieter trifft weiterhin eine Überwachungspflicht.264 Eine Wohnungseigentümergemeinschaft genügt ihrer Überwachungspflicht nicht schon durch die Bestellung eines für die Durchführung der Hausordnung verantwortlichen Verwalters.265 Überträgt der Streupflichtige die Ausführung einem Reinigungsunternehmen oder einer anderen Person, so trifft ihn eine gegenüber § 831 BGB erhöhte Überwachungspflicht.266

13.79

Wer wegen Alters, Krankheit oder sonstiger Verhinderung nicht streuen kann, muss dafür sorgen, dass ein anderer streut.267 Wer den Gehweg geräumt hat, ohne rechtlich hierzu verpflichtet zu sein, haftet, wenn er durch unsachgemäßes Vorgehen die Unfallgefahr noch gesteigert hat.268 Ein nicht räumpflichtiger Anlieger, der vor seinem Haus einen Streifen von Schnee freischaufelt, muss ihn, wenn nötig, auch streuen.269

13.80

Die Räum- und Streupflicht des Anliegers bezieht sich auf die gesamte Grundstücksfront, nicht nur auf die Teile des Gehwegs, von denen aus ein Zugang zu dem Grundstück möglich ist.270

13.81

c) Inhalt und Umfang der Räum- und Streupflicht Entscheidend sind nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung die Umstände des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht also nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt. Grundsätzlich muss sich der Straßenverkehr auch im Winter den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen. Der Sicherungspflichtige hat aber durch Schneeräumen und Bestreuen mit abstumpfenden Mitteln die Gefahren, die infolge winterlicher Glätte für den Verkehrsteilnehmer bei zweckgerechter Wegebenutzung und trotz Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bestehen, im Rahmen und nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze zu beseitigen.271 Dem ist durch eine entsprechende Organisation, insbesondere sachgerechte Streupläne und Warn260 BGH v. 3.10.1989 – VI ZR 310/88, NJW 1990, 111 mit Anm. Jerschke DNotZ 1991, 591; OLG Hamm v. 26.10.1988 – 13 U 96/86, NJW 1989, 839. 261 BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 49/83, NJW 1985, 484 = JR 1985, 332 mit Anm. Baumgärtel. 262 OLG Köln v. 12.1.2012 – 19 U 141/11, VersR 2013, 1542 (z.B. Schneekartensystem). 263 OLG Hamm v. 21.12.2012 – 9 U 38/12, NJW 2013, 1375. 264 BGH v. 2.10.1984 – VI ZR 125/83, NJW 1985, 270; BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 49/83, NJW 1985, 484 = JR 1985, 332 mit Anm. Baumgärtel; OLG Celle v. 6.8.1997 – 9 U 15/97, VersR 1998, 604; OLG Köln v. 17.11.1995 – 19 U 37/95, VersR 1996, 246. Zu den Anforderungen an die Überwachungspflicht s. OLG Celle v. 14.12.1988 – 9 U 47/87, VersR 1990, 169; OLG Hamm v. 16.1.2012 – 6 U 206/11, MDR 2012, 465. 265 BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 49/83, NJW 1985, 484 = JR 1985, 332 mit Anm. Baumgärtel. 266 BGH v. 27.1.1987 – VI ZR 114/86, NJW 1987, 2671. Von BGH v. 13.12.2019 – V ZR 43/19, NJW 2020, 1798 als erfüllt angesehen. 267 BGH v. 2.12.1969 – VI ZR 92/68, VersR 1970, 182; Horst MDR 2001, 187, 189. 268 OLG Braunschweig v. 13.7.1989 – 1 U 100/88, VersR 1990, 869. 269 BGH v. 11.7.1969 – VI ZR 52/68, VersR 1969, 1022. 270 OLG München v. 11.4.1991 – 1 U 6080/90, VersR 1992, 591: Böschung eines Bahngrundstücks. 271 BGH v. 5.7.1990 – III ZR 217/89, BGHZ 112, 74.

Greger | 319

13.82

§ 13 Rz. 13.82 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

systeme, Rechnung zu tragen.272 Durch Hinweisschilder wie „Kein Winterdienst“ kann sich der Sicherungspflichtige seiner Verantwortung nicht entledigen.273 aa) Fahrbahnen innerhalb geschlossener Ortslage

13.83

Innerhalb der zusammenhängenden, wenn auch nur einseitigen Wohnbebauung274 muss bei Auftreten von Glatteis an allen gefährlichen und verkehrswichtigen Stellen gestreut werden.275 Die vorausgesetzte Verkehrsbedeutung kann insbesondere bei Ortsdurchfahrten von Bundesstraßen sowie bei städtischen Hauptverkehrsstraßen bejaht werden.276 Sie erstreckt sich nicht auf den Einmündungsbereich von Nebenstraßen.277 „Gefährliche Stellen“ sind vor allem solche, an denen häufig gebremst werden muss, wie Kreuzungen278 und Lichtzeichenanlagen,279 aber auch scharfe Kurven,280 Engstellen und Gefällestrecken.281 Abzustellen ist auf den Kfz-Verkehr, nicht auf die besonderen Bedürfnisse von Radfahrern.282 Der Einstufung im Streuplan der Gemeinde kommt nur Indizwirkung zu; Rechtspflichten lassen sich aus ihr allein nicht ableiten.283 An besonders gefährlichen Stellen (zum Begriff s. Rz. 13.86) muss auch innerorts unabhängig von der Verkehrswichtigkeit gestreut werden,284 weil die Verkehrssicherungspflicht hier nicht geringer sein kann als außerhalb geschlossener Ortschaften. Eine gewisse Verkehrsbedeutung muss freilich vorausgesetzt werden, so dass z.B. reine Anliegerstraßen außer Betracht bleiben. Sie werden auch nicht dadurch verkehrswichtig, dass auf ihnen Linienbusse verkehren.285

13.84

Die Fahrbahn ist außerdem vorrangig dort zu streuen, wo sie von Fußgängern mitbenutzt werden muss, z.B. an belebten und unentbehrlichen Überwegen.286 Allerdings dürfen hierbei 272 OLG Hamm v. 13.9.2002 – 9 U 49/02, NZV 2003, 235. 273 Rinne NVwZ 2003, 9, 12. 274 Nicht entscheidend ist das Ortsschild; BGH v. 20.3.1967 – III ZR 50/65, VersR 1967, 504; OLG Köln v. 12.1.1984 – 7 U 53/83, VersR 1985, 789. 275 BGH v. 5.7.1990 – III ZR 217/89, BGHZ 112, 74; BGH v. 15.1.1998 – III ZR 124/97, NZV 1998, 199; OLG Saarbrücken v. 27.3.2012 – 4 U 151/11-48, MDR 2012, 967. 276 BGH v. 21.11.1963 – III ZR 148/62, BGHZ 40, 379, 380. Eingehend Schmid NJW 1988, 3177, 3179. 277 OLG Frankfurt v. 24.5.1988 – 14 U 20/87, NJW 1988, 2546; OLG Hamburg v. 3.6.1988 – 14 U 19/88, NJW 1988, 3212; OLG Saarbrücken v. 7.3.2006 – 4 U 19/05-70, MDR 2006, 1345; Schmid NJW 1988, 3177, 3180; a.A. OLG Stuttgart v. 16.12.1986 – 10 U 116/86, NJW 1987, 1831; OLG Karlsruhe v. 7.12.1988 – 1 U 214/88, VersR 1989, 158; OLG München v. 19.9.1991 – 1 U 6811/ 90, VersR 1992, 1371. 278 Nicht generell, sondern nur bei erschwerenden Umständen; vgl. OLG Celle v. 7.12.1988 – 9 U 264/87, VersR 1989, 158; OLG Karlsruhe v. 7.12.1988 – 1 U 214/88, VersR 1989, 158. 279 OLG Nürnberg v. 28.8.2003 – 4 U 1635/03, NZV 2004, 641 (wo zügige Fahrweise üblich). 280 BGH v. 21.11.1963 – III ZR 148/62, BGHZ 40, 379, 380. 281 BGH v. 15.1.1998 – III ZR 124/97, NZV 1998, 199; OLG Hamm v. 4.11.1988 – 9 U 55/88, NJW-RR 1989, 611. 282 OLG München v. 21.11.2012 – 1 U 3782/12, VersR 2013, 375. 283 OLG Hamburg v. 18.1.1989 – 14 U 162/88, NZV 1989, 235; OLG Brandenburg v. 22.8.1995 – 2 U 1/95, VersR 1995, 1439; weitergehend OLG Karlsruhe v. 30.12.1988 – 10 U 160/88, NZV 1989, 147, 148. 284 OLG Hamburg v. 3.6.1988 – 14 U 19/88, NJW 1988, 3212, 3213; a.A. Schmid NJW 1988, 3177, 3179. 285 OLG Hamm v. 6.3.2009 – 9 U 153/08, NZV 2009, 453. 286 BGH v. 23.7.2015 – III ZR 86/15, VersR 2016, 63 m.w.N.; zu Einzelheiten OLG Düsseldorf v. 16.11.1989 – 18 U 141/89, VersR 1990, 319.

320 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.86 § 13

keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Eine Streupflicht für die Fahrbahn oder einen Radweg besteht gegenüber Fußgängern nur dann, wenn die Benutzung des Gehwegs nicht möglich oder zumutbar ist.287 Eine generelle Verpflichtung, Fußgängern auch in Wohngebieten außerhalb des Ortskerns ein gefahrloses Überqueren der glatten Straße zu ermöglichen, besteht nicht.288 Etwas anderes kann gelten, wenn im Bereich einer Gefällstrecke das Erreichen einer Bushaltestelle oder das Aufsuchen von Geschäften zu ermöglichen ist.289 Es genügt dabei, wenn in einem bestimmten Bereich eine Möglichkeit zum gefahrlosen Überqueren der Straße geschaffen wird.290 Eine Verpflichtung, einen gestreuten Übergang zu schaffen, besteht auch nicht allein deswegen, weil ein Gehweg wegen Bauarbeiten gesperrt ist291 oder wegen einer nahe liegenden Gaststätte.292 Parkplätze werden nicht wie Fahrbahnen behandelt, brauchen also auch bei Verkehrswichtigkeit und Gefährlichkeit nicht vollständig bestreut zu werden; es genügt, eine Möglichkeit zum gefahrlosen Betreten und Verlassen des Parkplatzes sowie zum Erreichen der Fahrzeuge zu schaffen.293 Fehlt es hieran, kann der Gestürzte den Sicherungspflichtigen nur haftbar machen, wenn er beweisen kann, dass er eine solche Verbindung benutzt hätte.294 Auch hinsichtlich der Fahrspuren besteht eine Streupflicht nur, wenn sie von den Fahrzeuginsassen nicht nur wenige Schritte betreten werden müssen, um zum Ausgang zu gelangen, und wenn es sich um einen belebten Parkplatz handelt.295 Aufgrund der Verkehrserwartung sind an das Streuen von Kundenparkplätzen u.U. strengere Anforderungen zu stellen,296 bei Behördenparkplätzen außerhalb der Dienstzeiten geringere.297 Auch auf einem Kundenparkplatz kann aber nicht erwartet werden, dass auch zwischen den geparkten Fahrzeugen gestreut wird.298 Der Vermieter eines privaten Stellplatzes ist gegenüber dem Mieter nicht zum Winterdienst verpflichtet.299

13.85

bb) Fahrbahnen außerhalb geschlossener Ortslage Hier besteht eine Streupflicht nur an besonders gefährlichen Stellen, d.h. Stellen, deren Gefährlichkeit der Verkehrsteilnehmer trotz der auf Straßen im Herbst, Winter und Frühjahr zu fordernden schärferen Beobachtung des Straßenzustandes nicht rechtzeitig erkennen300 oder 287 288 289 290 291 292 293

294 295 296 297 298 299 300

OLG Celle OLGR Celle 2000, 184; OLG Köln v. 2.12.1999 – 7 U 112/99, OLGR Köln 2000, 335. BGH v. 20.12.1990 – III ZR 21/90, NZV 1991, 266; a.A. Schmid NJW 1988, 3177, 3181. BGH v. 15.11.1984 – III ZR 97/83, VersR 1985, 568, 570. BayObLG v. 18.6.1990 – RReg. 2 Z 255/89, VersR 1991, 666. BGH v. 20.12.1990 – III ZR 21/90, NZV 1991, 266. OLG Hamm v. 25.5.2004 – 9 U 208/03, NZV 2005, 258. BGH v. 22.11.1965 – III ZR 32/65, NJW 1966, 202; OLG Celle v. 23.7.1999 – 9 U 313/98, MDR 1999, 1327; OLG Celle v. 25.8.2004 – 9 U 109/04, VersR 2005, 273; OLG Zweibrücken v. 9.12.1998 – 1 U 17/98, MDR 1999, 612 (Krankenhausparkplatz); OLG Koblenz v. 10.1.2012 – 5 U 1418/11, NJW 2012, 1667; Müller/Rebler MDR 2019, 1221, 1224 f. KG v. 19.4.2016 – 9 U 56/14, NZV 2016, 474 (kein Anscheinsbeweis). BGH v. 22.11.1965 – III ZR 32/65, NJW 1966, 202; w. Nachw. bei Berr DAR 1989, 453, 454; s. auch Rz. 13.95. OLG Koblenz v. 19.7.2012 – 5 U 582/12, DAR 2013, 85; OLG Düsseldorf v. 3.4.1992 – 22 U 245/91, VersR 1992, 847; OLG Düsseldorf v. 10.9.1999 – 22 U 53/99, NJW-RR 2000, 696. OLG Nürnberg v. 11.2.2013 – 4 U 2428/12, MDR 2013, 592. BGH v. 2.7.2019 – VI ZR 184/18, MDR 2019, 1192. OLG Düsseldorf v. 19.5.2008 – 24 U 161/07, MDR 2008, 1208. BGH v. 1.10.1959 – III ZR 96/58, BGHZ 31, 73; OLG Köln v. 29.3.1990 – 7 U 176/89, DAR 1990, 346 mit Anm. Berr; OLG Celle v. 11.3.1998 – 9 U 142/97, OLGR Celle 1998, 191.

Greger | 321

13.86

§ 13 Rz. 13.86 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

trotz Kenntnis von der Gefahr und Anwendung höchster Sorgfalt nicht meistern kann, z.B. vereiste Strecken mit erheblichem Längs- oder Quergefälle.301 Die Streupflicht besteht außerhalb geschlossener Ortschaften mithin nur da, wo die dem Verkehrsteilnehmer im Hinblick auf die Witterungs- und Straßenverhältnisse zuzumutende Sorgfalt auch bei Beachtung allgemeiner Erfahrungssätze zum Erkennen und Bewältigen der Gefahr nicht ausreicht.302 Eine gewisse Verkehrsbedeutung (wenn auch nicht Verkehrswichtigkeit i.S.v. Rz. 13.83), muss allerdings hier ebenfalls gegeben sein.303 Die Regelung in § 3 Abs. 3 FStrG, wonach die Träger der Straßenbaulast die Bundesfernstraßen bei Schnee- und Eisglätte nach besten Kräften räumen und streuen sollen, begründet keine Rechtspflicht.304 cc) Gehwege

13.87

Soweit ihnen eine Erschließungsfunktion zukommt,305 sind Gehwege innerhalb geschlossener Ortschaften grundsätzlich allgemein zu streuen, d.h. nicht nur an gefährlichen und verkehrswichtigen Stellen, jedoch ist die Zumutbarkeit, z.B. infolge begrenzter Leistungsfähigkeit einer kleinen Gemeinde, zu beachten.306 Der Fußweg oder Bürgersteig braucht nicht in voller Breite bestreut zu werden.307 Es genügt, wenn zwei Fußgänger vorsichtig aneinander vorbeigehen können, was bei ca 100 bis 120 cm Breite gewährleistet ist.308 Ist kein Bürgersteig vorhanden, so ist die Fahrbahn in einer dem Fußgängerverkehr entsprechenden Breite zu streuen;309 das gilt sinngemäß auch in verkehrsberuhigten Bereichen (Zeichen 325/326 StVO) und Fußgängerzonen,310 bei vorübergehender Sperrung durch eine Baustelle jedoch nicht, wenn der „Fußgängerstreifen“ bis in die Fahrbahnmitte hineinreichen würde;311 hier besteht auch keine Verpflichtung des Bauunternehmers, einen Notweg einzurichten oder durch Bestreuen der Fahrbahn einen gefahrlosen Übergang zum gegenüberliegenden Gehweg zu schaffen.312 Bei einseitigem Gehweg genügt dessen Sicherung;313 Übergänge zu den gegenüberliegenden Grundstücken müssen aber nicht gestreut werden.314 Über den Gehweg geführte Grund301 OLG Nürnberg v. 10.10.1990 – 4 U 1834/90, NZV 1991, 311. 302 S. zu Brücken BGH v. 1.10.1959 – III ZR 96/58, BGHZ 31, 73; BGH v. 2.7.1970 – III ZR 45/67, VersR 1970, 904; zu Waldbestand BGH v. 4.10.1962 – III ZR 129/61, NJW 1963, 37; OLG Hamm v. 9.9.1980 – 27 U 95/80, VersR 1982, 556 LS; OLG Hamm v. 10.12.1999 – 9 U 159/99, OLGR Hamm 2000, 234; LG Heidelberg v. 13.5.1981 – 3 O 339/80, VersR 1982, 201; unterschiedliche Sonneneinstrahlung: OLG Hamm v. 12.8.2016 – 11 U 121/15, NZV 2016, 527. 303 Schmid NJW 1988, 3177, 3179. 304 BGH v. 26.3.1987 – III ZR 14/86, VersR 1987, 934. 305 Dazu OLG Hamm v. 30.9.2003 – 9 U 86/03, NZV 2004, 645. 306 BGH v. 1.10.1959 – III ZR 59/58, NJW 1960, 41; BGH v. 15.11.1984 – III ZR 97/83, VersR 1985, 569; OLG Jena v. 9.3.2005 – 4 U 646/04, NZV 2005, 578. 307 OLG Bamberg v. 27.5.1975 – 5 U 46/75, NJW 1975, 1787 m.w.N. 308 So BGH v. 9.10.2003 – III ZR 8/03, NZV 2003, 570, 572 gegen BGH v. 18.12.1970 – III ZR 216/ 67, VersR 1971, 416, 417 (80 cm); OLG München v. 29.4.1999 – 1 U 3655/98, OLGR München 1999, 332: 120 cm. 309 BGH v. 21.1.1969 – VI ZR 208/67, VersR 1969, 377; BayObLG v. 23.9.1963 – RReg. 1 Z 115/61, BayObLGZ 1963, 240, 253. 310 Näher Berr DAR 1991, 281, 285. 311 BGH v. 20.12.1990 – III ZR 21/90, NZV 1991, 265, 266. 312 BGH v, 25.2.2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104. 313 Offengelassen von BayObLG v. 18.6.1990 – RReg. 2 Z 255/89, VersR 1991, 666, 667. Nach BVerwG v. 25.7.1989 – 4 NB 21/89, NJW 1990, 265 soll es aber im Ermessen der Gemeinde liegen, alle Anlieger mit der Sicherungspflicht zu belasten. 314 BayObLG v. 18.6.1990 – RReg.2 Z 255/89, VersR 1991, 666.

322 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.89 § 13

stückszufahrten zählen zum Gehweg.315 An Haltestellen ist der Gehweg bis zum Randstein zu streuen.316 Auch Abkürzungswege über einen öffentlichen Platz, die sich von selbst gebildet haben, sind zu streuen,317 nicht dagegen unbedeutende Fußwege am Ortsrand318 oder in einer Parkanlage,319 Gehwege in unbebauten oder nur gewerblich genutzten Zwischenbereichen von Ortsteilen320 oder unbeleuchtete Abkürzungswege nach Einbruch der Dunkelheit.321 Wer eine besondere Gefahr schafft, z.B. durch Leiten von Wasser auf den Gehweg, muss diese beseitigen, zumindest vor ihr warnen.322 – Außerhalb geschlossener Ortschaften besteht für den Fußgängerverkehr allenfalls in ganz besonderen Ausnahmefällen eine Sicherungspflicht, etwa bei hohem Fußgängeraufkommen und besonderer Gefährlichkeit.323 dd) Radwege Für sie gelten innerorts dieselben Grundsätze wie für die Fahrbahnen (s. Rz. 13.83),324 außerorts diejenigen für Gehwege (s. Rz. 13.87 a.E.).325 Bei einem gemeinsamen Fuß- und Radweg (Zeichen 240 StVO) bestimmen sich Inhalt und Umfang der Räum- und Streupflicht zwar nach den Belangen der Fußgänger; ist ein Radfahrer aber nur deshalb gestürzt, weil nicht (oder auch für Fußgänger unzureichend) geräumt oder gestreut war, stehen ihm Ansprüche aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht auch dann zu, wenn der Weg als Radweg mangels Verkehrswichtigkeit und besonderer Gefährlichkeit nicht gesichert hätte werden müssen.326

13.88

ee) Zeitliche Begrenzungen Es muss keinesfalls ununterbrochen gestreut werden. Grundsätzlich besteht (außerorts wie innerorts) werktags zwischen 22 Uhr und 7 Uhr keine Streupflicht,327 es sei denn es handle sich um eine Stelle mit typischer Häufung von Fußgängerverkehr in der Nacht (Theater, Gaststätte, Bahnhof; Zentralhaltestelle)328 oder um eine extreme Gefahrensituation wegen ganz außer-

315 316 317 318 319 320 321 322 323 324

325 326 327

328

OLG Braunschweig v. 16.12.2015 – 3 U 13/15, NZV 2016, 528. BGH v. 13.7.1967 – III ZR 165/66, VersR 1967, 981. OLG Hamm VkBl 1950, 104. BayObLG v. 12.1.1966 – RReg. 1a Z 128/64, VersR 1967, 758. OLG Düsseldorf v. 13.7.1989 – 18 U 59/89, VersR 1989, 1090. OLG Düsseldorf v. 22.6.1995 – 18 U 179/94, VersR 1996, 79. BGH v. 28.3.1963 – III ZR 184/61, VRS 25, 242. OLG Naumburg v. 12.12.2013 – 2 U 25/13, NZV 2014, 471. BGH v. 20.10.1994 – III ZR 60/94, NZV 1995, 144; OLG München v. 8.6.1995 – 1 U 2007/95, OLGR München 1996, 30; weitergehend Schmid NJW 1988, 3177, 3181. Vgl. BGH v. 9.10.2003 – III ZR 8/03, NZV 2003, 570 (jedenfalls keine höheren Anforderungen); OLG Hamm v. 12.3.1993 – 9 U 193/92, NZV 1993, 394 für den Fahrradverkehr in verkehrsberuhigtem Bereich; LG Aachen v. 8.6.1988 – 4 O 96/88, VersR 1990, 323, das Erfordernis der Verkehrsbedeutung offen lassend; Bittner VersR 2004, 440, 441. BGH v. 20.10.1994 – III ZR 60/94, NZV 1995, 144. BGH v. 9.10.2003 – III ZR 8/03, NZV 2003, 570; dazu Bittner VersR 2004, 440, 442 ff. BGH v. 21.11.1963 – III ZR 148/62, BGHZ 40, 379 (Ortsdurchfahrt einer Bundesstraße); BGH v. 21.2.1972 – III ZR 134/68, VersR 1972, 563 (Schnellstraße); BGH v. 3.5.1984 – III ZR 34/83, VersR 1984, 891 (Durchgangsstraße, je nach örtlichen Gegebenheiten u.U. schon ab 20 Uhr); BGH v. 20.12.1984 – III ZR 19/84, VersR 1985, 271 (Bundesstraße außerorts). BGH v. 27.1.1987 – VI ZR 114/86, NJW 1987, 2671; BGH v. 11.7.1985 – III ZR 137/84, VersR 1985, 973.

Greger | 323

13.89

§ 13 Rz. 13.89 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

gewöhnlicher Umstände.329 Der Gehweg vor einer Betriebsstätte muss nicht wegen eines vorverlagerten Arbeitsbeginns bereits vor 7 Uhr gestreut sein.330 Die Streuarbeiten müssen aber morgens so frühzeitig einsetzen, dass der Hauptberufsverkehr bereits geschützt wird,331 an Sonntagen im Allgemeinen ab 9 Uhr.332 Für die Streupflicht des Anliegers gelten die Zeitbestimmungen in der sie begründenden Regelung.333 Für einen Glätteunfall, der sich außerhalb des Zeitraums ereignet, für den eine Streupflicht besteht, muss der Pflichtige dann haften, wenn der Unfall erwiesenermaßen darauf zurückzuführen ist, dass die Streupflicht schon zu dieser Zeit nicht erfüllt wurde.334 Hierfür besteht kein Anscheinsbeweis.335

13.90

I.d.R. ist nicht zumutbar, dass sogleich mit Beginn der Glätte alle Gefahrenstellen gestreut sind; eine angemessene Zeit ist zuzubilligen.336 Vorbeugendes Streuen ist allenfalls bei ganz besonderen Wetterlagen und Gefahrenstellen geboten.337 Eine Verpflichtung, im ganzen Stadtgebiet Temperaturmessgeräte zu unterhalten, besteht nicht, eine Pflicht zu Kontrollfahrten nur dann, wenn die Witterungsverhältnisse eine Glatteisbildung nahelegen.338 Auf ein als unzuverlässig bekanntes Frostwarngerät darf sich der Sicherungspflichtige bei solchen Wetterlagen nicht verlassen.339 Ist für die Streupflicht des Anliegers eine feste Zeit bestimmt, so hat er grundsätzlich (durch entsprechend früheren Beginn des Streuens) deren Einhaltung sicherzustellen.340

13.91

Während der maßgeblichen Zeit muss das Streuen wiederholt werden, wenn das Streugut durch den dichten Verkehr weggeschleudert wird oder witterungsbedingt seine Wirkung verliert.341 Wird die Streuung (z.B. infolge Dauerregens auf den gefrorenen Boden oder wegen Schneefalls) binnen kurzem wirkungslos, so kann sie unterbleiben,342 außer an besonderen 329 LG Frankfurt/M. v. 19.1.1983 – 2/4 O 269/82, VersR 1983, 892. Zu Grenzen des Zumutbaren bei nächtlichem Eisregen s. OLG Koblenz v. 17.5.1999 – 12 U 321/98, DAR 1999, 547. 330 A.A. OLG Koblenz v. 29.4.2015 – 5 U 1479/14, NZV 2015, 595. 331 BGH v. 20.12.1984 – III ZR 19/84, VersR 1985, 271; OLG Frankfurt v. 13.1.1994 – 1 U 49/92, VersR 1995, 45. 332 BGH v. 12.6.2012 – VI ZR 138/11, NJW 2012, 2727; OLG Oldenburg v. 28.9.2001 – 6 U 90/01, MDR 2002, 216; OLG Köln v. 13.7.1995 – 7 U 37/95, VersR 1997, 506. 333 OLG Hamm v. 30.11.1989 – 27 U 127/89, VersR 1991, 1419. 334 BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 98/82, VersR 1984, 40; KG v. 25.9.1992 – 9 U 5771/91, VersR 1993, 1369. 335 OLG Koblenz v. 13.2.2015 – 3 U 1261/14, MDR 2015, 1097. 336 BGH v. 12.6.2012 – VI ZR 138/11, NJW 2012, 2727; BGH v. 21.6.1979 – III ZR 58/78, VersR 1979, 1055; OLG München v. 13.1.1994 – 1 U 5659/93, VersR 1994, 983. 337 BGH v. 20.12.1984 – III ZR 54/84, VersR 1985, 189; BGH v. 11.7.1985 – III ZR 137/84, VersR 1985, 973; BGH v. 12.6.2012 – VI ZR 138/11, NJW 2012, 2727; OLG München v. 13.1.1994 – 1 U 5659/93, VersR 1994, 983; OLG Hamm v. 4.12.1992 – 9 U 78/92, VersR 1993, 1285; OLG Hamm v. 4.11.2003 – 9 U 118/03, NZV 2004, 646; OLG Celle v. 11.3.1998 – 9 U 199/97, OLGR Celle 1998, 205. 338 OLG Düsseldorf v. 21.10.1982 – 18 U 141/82, VersR 1983, 299 LS; OLG Hamm v. 16.6.1981 – 27 U 89/81, VersR 1982, 806. 339 Österr. OGH ZVR 1990, 340; vgl. auch NZV 1991, 106. 340 OLG Nürnberg v. 10.6.1964 – 4 U 127/62, VersR 1964, 1180; OLG Schleswig v. 8.5.2003 – 11 U 174/01, NJW-RR 2004, 171. 341 BGH v. 12.7.1968 – VI ZR 134/67, VersR 1968, 1161; BGH v. 13.3.1969 – III ZR 101/68, VersR 1969, 667; OLG Hamm v. 16.11.1998 – 6 U 98/98, OLGR Hamm 1999, 87. 342 OLG Brandenburg v. 28.9.1999 – 2 U 11/99, MDR 2000, 159; OLG Oldenburg v. 7.3.2000 – 9 U 95/99 VersR 2001, 117; OLG Hamm v. 1.12.1997 – 6 U 152/97, MDR 1998, 538; strenger OLG Hamburg v. 24.3.2000 – 11 U 45/98, NJW-RR 2000, 1697 LS.

324 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.95 § 13

Brennpunkten des Fußgängerverkehrs.343 Dies bedeutet aber nicht, dass bei Sprühregen oder drohendem Schneefall das Streuen stets unterbleiben dürfte.344 Ist erkennbar, dass das Streuen wieder wirksam ist, setzt die Räum- und Streupflicht nach einer angemessenen Wartezeit ein.345 Dass das Streuen ausnahmsweise unterbleiben konnte, muss der Streupflichtige beweisen.346 ff) Art des Streuens Es kann nicht verlangt werden, dass die Gehbahn an allen Stellen mit Streugut bedeckt ist. Hobelspäne eignen sich nicht als Streugut.347 Die Verwendung von Salz ist nicht generell geboten, teilweise sogar ortsrechtlich untersagt. An besonders gefährlichen Stellen, z.B. Gefällestrecken, kann jedoch Salzstreuung erforderlich sein,348 ebenso bei extremer Glättegefahr, z.B. Eisregen.349 Keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht wird dadurch begründet, dass infolge Salzstreuung getautes Wasser gefriert und von Schnee verdeckt wird.350

13.92

gg) Glatteiswarnung Die Pflicht, ein Warnzeichen anzubringen, besteht nur für solche Stellen, von denen unvermutete Gefahren ausgehen, mit denen auch der sorgfältige Kraftfahrer nicht zu rechnen braucht. Vor erfahrungsgemäß zur Glatteisbildung neigenden Stellen (z.B. Waldstücken, Brücken) braucht daher kein Warnzeichen angebracht zu werden.351

13.93

hh) Durch das Räumen oder Streuen hervorgerufene Gefahren Solche können eine eigene Gefahrabwendungspflicht begründen, so z.B. wenn Fußgänger an einer viel begangenen Straße durch den vom Räumfahrzeug angehäuften Schnee zur Benutzung der glatten Fahrbahn gezwungen werden.352 Dagegen liegt kein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht vor, wenn der Schneepflug auch teilweise den Bankettbereich freiräumt und ein Lkw bei dessen Befahren beschädigt wird.353 Wegen der Pflicht zur Entfernung des Streuguts s. Rz. 13.74.

13.94

ii) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet)

13.95

Abkürzungsweg: BGH VersR 1963, 661; OLG Hamm VkBl 1950, 104. 343 BGH v. 20.11.1984 – VI ZR 169/83, NJW 1985, 482 (Gastwirtschaft); BGH v. 1.7.1993 – III ZR 88/92, NZV 1993, 387 (Treppe eines Busbahnhofs bei gefrierendem Regen). 344 BGH v. 10.6.1963 – III ZR 60/62, VersR 1963, 1047; Schlund DAR 1988, 6, 10 f. 345 OLG Naumburg v. 6.10.1999 – 12 U 144/99, MDR 2000, 520; OLG Brandenburg v. 28.9.1999 – 2 U 11/99, MDR 2000, 159; OLG Celle v. 27.2.2004 – 9 U 220/03, NZV 2004, 643 (1 Stunde). 346 BGH v. 7.6.2005 – VI ZR 219/04, NZV 2005, 578. 347 OLG Hamm v. 24.11.2014 – NZV 2015, 304. 348 Vgl. OLG Hamm v. 4.11.1988 – 9 U 55/88, NJW-RR 1989, 611 (auch zur Art des Salzes); KG v. 26.5.1989 – 9 U 3299/88, NJW 1990, 1370. 349 OLG München v. 27.3.2003 – 19 U 5318/02, VersR 2004, 251. 350 OLG Koblenz v. 27.5.1981 – 1 U 1062/80, MDR 1981, 1017. 351 BGH v. 30.11.1959 – III ZR 177/58, NJW 1960, 432; OLG Frankfurt v. 1.3.2004 – 1 U 187/03, DAR 2004, 701. 352 OLG Karlsruhe (Freiburg) v. 29.9.1989 – 18 U 8/89, NJW-RR 1990, 1504. 353 OLG München v. 24.10.1991 – 1 U 3189/91, VersR 1992, 1491 LS.

Greger | 325

§ 13 Rz. 13.95 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Anliegerstraße: BGH VersR 1956, 68; OLG Koblenz VersR 1983, 568; OLG Düsseldorf VersR 1966, 247. Brücke: BGHZ 31, 73; BGH VersR 1970, 904; OLG Oldenburg DAR 1956, 129; OLG Karlsruhe VersR 1980, 538; OLG Düsseldorf VersR 1979, 57. Einmündung: OLG Stuttgart NJW 1987, 1831; OLG Frankfurt NJW-RR 1988, 154; OLG Hamburg NJW 1988, 3212; OLG Karlsruhe NZV 1989, 147; OLG München VersR 1992, 1371; OLG Zweibrücken MDR 1999, 1477. Eisbuckel: OLG Hamm VersR 1964, 1254. Eisplatte auf Gehweg: OLG Naumburg NZV 2014, 471 (Ableitung der Dachentwässerung); KG VersR 1966, 855 u. OLG München VersR 1989, 815 (Tropfwasser); LG Koblenz VersR 1982, 1085 (Wasserzufluss von Grundstück). Eisscholle: BGH NJW 1958, 1234 = 1819 mit Anm. Nedden. Eisstreifen auf Fahrbahn: OLG Köln VersR 1985, 789 (Hangwasser); OLG Düsseldorf VersR 1983, 274 (gefrierendes Tauwasser). Fußgängerüberweg: BGH VersR 1987, 989; BayObLGZ 1957, 161; OLG Hamburg VersR 1958, 33; OLG Nürnberg VersR 1970, 773; OLG Düsseldorf VersR 1990, 319; OLG Köln VersR 1989, 101. Fußgängerzone: OLG Karlsruhe VersR 1983, 188; OLG Frankfurt VersR 1995, 45. Fußweg: s. Gehweg. Gaststätte: BGH NJW 1985, 482 (Zugang und Parkplatz); BGH NJW 1987, 2671; BGH VersR 1988, 278; OLG München VersR 1987, 1120. Gefälle: BGH NJW 1952, 1087; OLG Köln VersR 1953, 403; OLG Nürnberg VersR 1958, 616; OLG Karlsruhe VersR 1979, 358. Gefrierender Regen: BGH NZV 1993, 387; BGH DAR 1992, 460; OLG Hamm VersR 1982, 645; OLG Hamm MDR 2000, 958 (leichter Nieselregen gefriert auf Rathausvorplatz). Gehweg (s. auch „Eisplatte“): BGH VersR 1971, 416; BGH VersR 1997, 840 (Vertiefung durch Baumaßnahmen); BGH NZV 1991, 265 (durch Baustelle gesperrt); BGH NZV 1995, 144; BayObLG VersR 1967, 758; OLG Bamberg NJW 1975, 1787; OLG Karlsruhe VersR 1976, 346; OLG Düsseldorf VersR 2000, 63; OLG Nürnberg NJW-RR 2002, 23 (Gehwegrand). Geldautomat: OLG Hamm MDR 1998, 538. Grundstückszugang: OLG Köln VersR 1954, 67; OLG Naumburg VersR 2013, 66. Haltestelle: BGH VersR 1983, 377; BGH VersR 1983, 637 (Schneewall); OLG Hamm VersR 2006, 134 (an Schulbushaltestelle ganze Länge zu räumen; auch Fahrer geschützt); OLG Schleswig MDR 2013, 476 (Busbahnhof mit glätteanfälligem Pflaster); OLG Düsseldorf NJW-RR 1988, 664; LG Krefeld DAR 1988, 165; LG Chemnitz NZV 2002, 187. Kanaldeckel: OLG München MDR 2001, 156 (Fußgänger stürzt). Kirchenvorplatz: OLG Düsseldorf VersR 1961, 642. Kraftwerk: BGH VersR 1985, 641; OLG Köln NZV 1995, 111 (Kondensation von Wasserdampf). Kreuzung: BGH VersR 1965, 690. Kurve: LG Aachen MDR 1960, 48. Nebel: BGH NJW 1963, 37. Parkhausausfahrt: OLG Köln VersR 1990, 321.

326 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.96 § 13 Parkplatz (s. auch Rz. 13.85): BGH NJW 1966, 202; BGH NJW 1985, 482 (Gaststätte); BGH MDR 2019, 1192 (Kundenparkplatz); OLG Düsseldorf VersR 1983, 564 (für Anwohner); OLG Celle VersR 1995, 598 (Sauna mit Barbetrieb); OLG Celle MDR 1999, 1327 (Betriebsparkplatz); OLG Hamm MDR 1997, 1028 (Privatparkplatz); OLG Dresden VersR 1996, 1428; OLG Frankfurt VersR 1986, 1030; OLG Karlsruhe VersR 1989, 45; OLG Karlsruhe OLGR Karlsruhe 2004, 451 (entgeltlicher Kundenparkplatz); OLG Koblenz OLGR Koblenz 1999, 337 (Wanderparkplatz); OLG Koblenz OLGR Koblenz 1999, 396 (privater, auch von Dritten benutzter Parkplatz); OLG Jena DAR 2000, 80; OLG München OLGR München 2000, 77 (auf Mittelstreifen); OLG Brandenburg v. 12.8.2014 – 2 U 12/14 (juris: Autobahnparkplatz). S. auch Berr DAR 1989, 453 ff. Parkweg: OLG Düsseldorf VersR 1989, 1090; OLG Hamm OLGR Hamm 2001, 244. Privatstraße: BGH VersR 1975, 349. Quellwasser: BGH MDR 1987, 560. Radweg: BGH NZV 1995, 144; OLG Celle NJW-RR 2001, 596; LG Aachen VersR 1990, 323. Schmelzwasser: OLG Hamm DAR 2007, 87 (vorhersehbares Überfrieren). Schneewall durch Straßenräumung: OLG Nürnberg NZV 1993, 231. Schnellstraße: BGH VersR 1972, 563 (nachts); BGH VersR 1979, 1055 (Ausfahrt). Stellenweise Glätte: OLG Rostock MDR 2008, 974 (überfrierende Nässe). Tankstelle: OLG Stuttgart NJW 1969, 1966 (Zufahrt); OLG Hamm OLGR Hamm 2001, 64; OLG Köln NZV 1994, 361 mit Anm. Landscheidt (mit Waschanlage). Treppe: BGH VersR 1984, 1190; BGH NZV 1993, 387 (Busbahnhof). Unterführung: BGH NJW 1966, 1162. Verkehrsberuhigter Bereich: OLG Hamburg VersR 1989, 45; OLG Hamm NZV 1993, 394; LG Aachen VersR 1987, 1232. Waschanlage: OLG Köln NZV 1999, 165; OLG Hamm MDR 1998, 1105. Wochenmarkt: OLG Düsseldorf VersR 1982, 1054.

6. Dunkelheit a) Allgemeines Die Verkehrssicherungspflicht begründet – auch für innerörtliche Straßen – keine generelle Beleuchtungspflicht.354 Eine solche besteht vielmehr nur dort, wo eine Gefahrenstelle infolge der Dunkelheit nicht ausreichend erkennbar ist und auch durch Warnzeichen nicht genügend abgesichert werden kann, sowie dann, wenn eine spezifische Verkehrsgefahr gerade durch die Dunkelheit heraufbeschworen wird.355 Aus der straßenverkehrsrechtlichen Beleuchtungspflicht lässt sich keine Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen ableiten, da sie eine andere Zweckbestimmung hat356 (s. Rz. 13.49). Es erscheint auch als zu weitgehend, allein darin, dass Fußgänger, Radfahrer usw in Ortschaften gehäuft auftreten, eine Gefahrerhöhung zu erblicken, die – unter dem Aspekt der Verkehrssicherungspflicht – eine durchgehende Beleuch354 BGH v. 21.12.1961 – III ZR 152/60, BGHZ 36, 237; BGH v. 22.2.1971 – III ZR 205/67, VersR 1971, 626; Berz DAR 1988, 2, 3; zu weitgehend BayObLG VRS 12, 193; Graf v Westphalen Betrieb 1987 Beil Nr. 11, 1, 9. 355 Manssen/Krause, Verkehrssicherheit und Amtshaftung (2003), S. 36 f. 356 BGH v. 22.2.1971 – III ZR 205/67, VersR 1971, 626.

Greger | 327

13.96

§ 13 Rz. 13.96 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

tung gebietet.357 Die Verkehrssicherungspflicht erfordert eine solche vielmehr nur dort, wo gerade die Dunkelheit besondere Gefahren hervorruft, etwa an einer vielbegangenen Ortsstraße ohne Gehsteig, an einer Treppe u. dgl. Die Ausleuchtung eines Gehwegs muss auch im Bereich von Pollern nicht so vorgenommen werden, dass durch geparkte Fahrzeuge keine dunklen Stellen entstehen können.358 Selbstverständlich dürfen nicht durch eine unsachgemäße Beleuchtung vermeidbare Verkehrsgefahren hervorgerufen werden, etwa durch Blendung oder das Sehvermögen unnötig beeinträchtigenden Wechsel zwischen beleuchteten und nicht beleuchteten Abschnitten.359

b) Dauer und Art der Beleuchtung 13.97

Wann der Verkehrsweg zu beleuchten ist, richtet sich nach den örtlichen Gegebenheiten und Verkehrsverhältnissen.360 Bei geringerer Verkehrsbedeutung der Straße kann es vertretbar sein, die Beleuchtung in der späten Nacht, wenn der Verkehr praktisch zum Erliegen gekommen ist, zu reduzieren oder abzuschalten.361 Eine Laterne, die nicht die ganze Nacht brennt, muss aber durch Zeichen 394 StVO gekennzeichnet sein; ansonsten besteht Haftung für einen Unfall infolge unterbliebener Eigenbeleuchtung eines abgestellten Fahrzeugs.362 Ein Grundstückszugang muss grundsätzlich nicht wegen des Zeitungszustellers vor 7 Uhr beleuchtet werden.363

13.98

Art und Intensität der Beleuchtung sind ebenfalls nach den konkreten Verhältnissen zu bestimmen. Technische Regelwerke (z.B. DIN EN 13201) mögen für die straßenrechtliche Beleuchtungspflicht (s. Rz. 13.49) Bedeutung haben; den Umfang der Verkehrssicherungspflicht präjudizieren sie nicht.364

c) Überwachungspflicht 13.99

Wie allgemein im Rahmen der Verkehrssicherungspflichten ist auch bzgl. der ordnungsgemäßen Beleuchtung eine ständige Kontrolle geboten. Die Häufigkeit richtet sich nach der Verkehrsbedeutung der Straße, dem Ausmaß der Gefahr und der Zumutbarkeit.365 Bei einem Fußweg von geringer Verkehrsbedeutung z.B. ist ein Intervall von fünf Tagen nicht zu groß.366

d) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) 13.100

Baustelle: BGH VersR 1966, 266; BGH VersR 1977, 543; OLG Celle VersR 1968, 76; OLG Köln VersR 1971, 324 (Fußgänger); OLG Stuttgart VersR 1974, 395 (Fußgänger).

357 358 359 360 361 362 363 364 365 366

A.A. Berz DAR 1988, 2, 3. OLG Düsseldorf v. 9.3.1995 – 18 U 172/94, NJW 1995, 2172. Berz DAR 1988, 2, 4. OLG Köln v. 29.1.1955 – 9 W 8/55, VersR 1955, 172; LG Tübingen v. 17.2.1965 – 1 S 134/64, VersR 1965, 1062. OLG Köln v. 29.1.1955 – 9 W 8/55, VersR 1955, 172; Berz DAR 1988, 2, 4 f. BGH v. 21.12.1961 – III ZR 152/60, BGHZ 36, 237. OLG Celle v. 22.12.2003 – 9 U 192/03, NZV 2004, 647. A.A. Graf v Westphalen Betrieb 1987 Beil Nr. 11, 1,10 ff.; nach Berz DAR 1995, 350, 352 liefern sie nur Anhaltspunkte. Näher Berz DAR 1995, 350, 352. OLG München v. 5.6.1975 – 1 U 1714/75, VersR 1976, 740.

328 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.101 § 13 Eisenbahnunterführung: OLG Hamm VersR 1997, 891 (Radfahrer stürzt wegen Oberflächenschaden). Fahrbahnteiler: BGH VRS 16, 241; OLG Hamm VersR 1978, 160. Gehweg: OLG Hamm VM 2006 Nr. 72 (schwer erkennbares Hindernis). Haltestelle: BGH VersR 1970, 179. Parkplatz: OLG Hamm NZV 2004, 648. Radweg: OLG Celle DAR 2000, 34.

7. Baustellen a) Allgemeines Der Verkehrssicherungspflichtige (zur Verantwortlichkeit s. Rz. 13.25) hat die Baustelle – im Rahmen des Zumutbaren – so abzusichern, dass ihm erkennbare Gefahren von Verkehrsteilnehmern ferngehalten werden.367 Auf die Baustelle ist durch Warnzeichen hinzuweisen; eine Warnung vor spezifischen Gefahren (z.B. Rollsplitt) ist dabei nicht erforderlich, wenn der Verkehr nach dem Gesamtbild (z.B. Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h) mit ihnen rechnen muss.368 Welche Maßnahmen zur Absicherung der Baustelle geboten sind, richtet sich nach den konkreten örtlichen Verhältnissen, der Art und Weise der Benutzung des betroffenen Verkehrsraums und der durch diese Umstände bedingten Gefahrenlage; die Richtlinien für die Sicherung von Arbeitsstellen an Straßen (RSA) liefern zwar Anhaltspunkte für die Verkehrsanschauung, stellen aber keine verbindliche oder abschließende Regelung für die Sicherungspflicht dar.369 Die Sicherungspflicht besteht auch, wenn die Baustelle außerhalb der Straße liegt, aber Gefahren für den Verkehr hervorruft, z.B. weil sie einen falschen Eindruck über den Verlauf der Straße erweckt.370 Der Bauunternehmer darf Absicherungen erst entfernen, wenn die Straßenbeschaffenheit einwandfrei ist oder anderweitige Maßnahmen zur Warnung vor der schlechten Beschaffenheit der Straße (einschließlich des Bürgersteigs) veranlasst worden sind.371 Er hat die Absicherungsmaßnahmen regelmäßig zu kontrollieren, auch bei Übertragung auf Dritte.372 Auf unbefugtes Befahren oder Betreten des abgesperrten Baustellenbereichs muss er sich nur dann einstellen, wenn nach den Umständen mit derartigen Verhaltensweisen gerechnet werden musste.373 Die Sicherungspflicht erstreckt sich auch auf eine vorübergehend verlegte Fahrbahn374 und auf den Zufahrtsweg zur Baustelle.375 Geringfügige Fahrbahnverschmutzungen müssen von den Verkehrsteilnehmern hingenommen werden.376

367 Näher Reitenspiess NZV 2003, 504, 505 ff. 368 OLG Saarbrücken v. 27.10.2009 – 4 U 96/09, NZV 2010, 356. 369 BGH v. 25.2.2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104, 2106; OLG Karlsruhe v. 26.1.2005 – 7 U 161/03, VersR 2006, 855. 370 BGH v. 14.1.1982 – III ZR 58/80, VersR 1982, 577; BGH v. 25.4.1989 – VI ZR 146/88, VersR 1989, 730, 731. 371 BGH v. 26.4.1960 – VI ZR 167/59, VersR 1960, 798. 372 Reitenspiess NZV 2003, 504, 507 m.w.N. 373 OLG Hamm v. 29.10.2013 – 9 U 135/13, NZV 2015, 446. 374 OLG Köln v. 20.5.1994 – 19 U 225/93, NZV 1995, 22. 375 OLG Hamburg v. 8.7.1954 – 6 U 98/54, VRS 9, 408; OLG Hamburg v. 17.2.1955 – 6 U 274/54, VRS 9, 410. 376 OLG Köln v. 7.3.1990 – 13 U 245/89, VersR 1992, 335.

Greger | 329

13.101

§ 13 Rz. 13.102 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

13.102

Der Unternehmer ist bei Arbeiten, die sich auf den Straßenverkehr auswirken, nach § 45 Abs. 6 StVO verpflichtet, vor Beginn der Arbeiten von der Straßenverkehrsbehörde bzw. der Straßenbaubehörde377 Anordnungen darüber einzuholen, wie die Arbeitsstellen abzusperren und zu kennzeichnen sind, ob und wie der Verkehr, auch bei teilweiser Straßensperrung, zu beschränken, zu leiten und zu regeln ist und ob und wie der Unternehmer die gesperrten Straßen und Umleitungen zu kennzeichnen hat.378 Die Ausführung der Anordnungen ist bürgerlich-rechtlicher Natur. Sind dagegen unzutreffende Anordnungen getroffen, so haftet in erster Linie die Behörde aus hoheitlicher Tätigkeit, neben ihr aber der Unternehmer bzw. Bauleiter, wenn sie erkannt haben oder unschwer erkennen konnten,379 dass die von der Behörde angeordneten Maßnahmen nicht ausreichen, und die Baustelle gleichwohl eröffneten.380 Amtshaftung tritt auch ein, wenn die Behörde die Ausführung ihrer zutreffenden Anordnungen unzureichend überwacht und sich wegen Zuwiderhandlung gegen die Anordnungen ein Unfall ereignet.381 In solchen Fällen tritt die Haftung der Behörde neben die bürgerlich-rechtliche Haftung des Unternehmers.

b) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) 13.103

Ablagerung von Baumaterial: OLG Düsseldorf NJW-RR 1993, 597 (auf Wirtschaftsweg); OLG Düsseldorf NJWE-VHR 1996, 161 (Bauschuttcontainer auf Fahrbahn). Absicherung: OLG Oldenburg NZV 1992, 405 (Asphaltarbeiten in Fahrbahnmitte; Leitkegel reicht nicht); OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 1995, 287 (Flatterband reicht bei geringem Niveauunterschied); OLG Hamm DAR 2002, 351 (weit entfernte Absperrbake bei Rohrleitung über Radweg); KG VM 2010 Nr. 40 (Warnbaken statt -hütchen vor 20 cm tiefer Baugrube in Straßenmitte); OLG München NJW-RR 2020, 153 (keine Vorwarnung vor Kurve, wenn Sperre selbst bei etwas überhöhter Geschwindigkeit rechtzeitig erkennbar). Absperreinrichtungen: BGH VersR 1962, 1158 (auf Fahrbahn zurückgelassen); OLG Hamm NZV 2000, 169 (als Hindernis). Ampelanlage: OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 2000, 401. Arbeitsgeräte: KG VersR 1977, 230 (Hineinragen in Verkehrsraum). Aufgrabung: BGH VersR 1962, 519; OLG Schleswig VRS 8, 84; OLG Hamm VersR 1955, 622; OLG Düsseldorf DAR 1983, 356 und OLG München VersR 1992, 702 (Baugrube im Bereich der Straßenbahngleise); OLG Nürnberg VersR 1962, 1191 (Einsinken in zugeschüttete Aufgrabung); OLG Bamberg VersR 1983, 61 (Kabelgraben; kein Übergang zu unbewohntem Haus); OLG Düsseldorf DAR 2006, 153 (nicht abgesicherte Überquerung für Fußgänger); LG München I NZV 1989, 195 (Behelfsbrücke). Autobahn: BGH VersR 1966, 266; OLG Celle DAR 2006, 267 (Wanderbaustelle); OLG Brandenburg VersR 1998, 912. Bagger: OLG Celle VersR 1961, 740. Beendete Bauarbeiten: BGH VersR 1960, 798; Hanseatisches OLG Bremen VersR 1978, 873; OLG Bamberg VersR 1981, 960; OLG Celle VersR 1989, 157.

377 378 379 380 381

Zur Zuständigkeit s. § 45 Abs. 1, 2 StVO; vgl. Berr DAR 1984, 6, 7. BGH v. 25.4.1989 – VI ZR 146/88, VersR 1989, 731. OLG München v. 12.11.1992 – 1 U 2190/92, VersR 1993, 1546. BGH v. 8.2.1977 – VI ZR 217/74, VersR 1977, 543. OLG Hamm v. 9.6.1998 – 9 U 129/97, VersR 2000, 643; OLG Celle v. 30.12.1997 – 9 U 132/97, NVwZ-RR 1998, 481; Clasen NJW 1972, 1930.

330 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.104 § 13 Beleuchtung: s. Rz. 13.100. Beschilderung: OLG Koblenz NJWE-VHR 1996, 70 (verdrehtes Warnschild; Überwachungspflicht); OLG Düsseldorf NZV 1997, 437 (versetzte Leitbaken; Überwachungspflicht); LG Nürnberg-Fürth NJW-RR 2018, 339 (Irreführung durch Schilder, die für Baustellenfahrzeuge gelten sollen). Fassadenarbeiten: OLG Nürnberg OLGR Nürnberg 2000, 349 (herabstürzende Platte verletzt Fußgänger). Gehweg: BGH VersR 1986, 704 (provisorisch hergerichtet); BGH NJW 2014, 2104 (Maßnahmen bei Sperrung im Winter); OLG Düsseldorf NJWE-VHR 1996, 20 (Unebenheit); OLG Stuttgart VersR 1967, 485 (Stahlgewebeplatte); KG VersR 1973, 1146 (blinder Fußgänger); OLG Celle VersR 1989, 157 (offene Baumscheibe); LG Frankfurt/M. NZV 1989, 117 (zugeschüttete Aufgrabung nicht gegen Befahren gesichert). Gerüst: OLG Nürnberg NZV 1992, 31 (auf Gehweg); OLG Hamm (in Fahrbahnbereich ragend). Markierungen: OLG Düsseldorf VersR 1981, 960 (Beseitigung nach Bauarbeiten). Rollsplitt: OLG Schleswig VersR 2015, 1563 (Warnschild zu früh entfernt); OLG Naumburg OLGNL 1997, 145. Splitthaufen: BGH VersR 1960, 636. Stahlplatte: OLG Karlsruhe VRS 78, 321 (als Abdeckung). Unebenheiten: OLG Düsseldorf MDR 1962, 52; OLG Hamm NJW-RR 1987, 1507 (Fehlen der letzten Asphaltdecke); OLG Karlsruhe VRS 79, 344 (abgefräste Fahrbahn, herausragender Hydrant); OLG Zweibrücken OLGReport Zweibrücken 2000, 189 (abgefräste Asphaltdecke, Fußgänger stürzt); OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 2001, 224 (ausgekofferte Fahrbahn mit hochstehendem Kanaldeckel); LG Köln NJW-RR 2003, 386 (Niveauunterschied zwischen Betonplatten auf Fußgängerüberweg). Verkehrsregelung: OLG Frankfurt VersR 1964, 1252 (halbseitige Sperrung, unübersichtlich: Ampel oder Posten); KG VersR 1978, 766 (Hinweis für Fußgänger, wenn bei halbseitiger Sperrung mit Fahrzeugverkehr aus beiden Richtungen gerechnet werden muss); OLG Brandenburg VersR 2002, 1238 (Hinweispflicht bei baustellenbedingter Änderung der Vorfahrtregelung); OLG Celle DAR 2006, 267 (Anordnung „Seitenstreifen befahren“ in Nähe einer Anschlussstelle). Verschleppen von Gegenständen auf die Fahrbahn: BGHZ 12, 124; OLG Düsseldorf VRS 5, 143; LG Saarbrücken NZV 1993, 236.

8. Bäume a) Allgemeines Der für die Straße Verkehrssicherungspflichtige ist auch für die von Straßenbäumen ausgehenden Gefahren verantwortlich.382 Erforderlich ist jedoch, dass der Baum nach der Verkehrsanschauung noch dem Straßenbereich zuzuordnen ist.383 Bei einem Baum, der „unauffällig im Wald steht“, ist dies nicht der Fall; erst wenn er auf die Straße gestürzt ist und der für diese Verkehrssicherungspflichtige hiervon Kenntnis haben konnte, greift dessen Verantwortlichkeit ein.384 Zur Haftung für Bäume auf angrenzenden Grundstücken s. Rz. 13.111 ff.

382 BGH v. 1.7.1993 – III ZR 167/92, NJW 1993, 2612. 383 OLG Brandenburg v. 12.1.1999 – 2 U 40/98, NVwZ 1999, 692. 384 BGH v. 19.1.1989 – III ZR 258/87, NZV 1989, 346 mit Anm. Steinert; OLG Brandenburg v. 12.1.1999 – 2 U 40/98, NVwZ 1999, 692.

Greger | 331

13.104

§ 13 Rz. 13.105 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

13.105

Da jeder Straßenbaum eine potentielle Gefahrenquelle darstellt, greift die Verantwortlichkeit erst ein, wenn Anzeichen verkannt oder übersehen worden sind, die auf eine besondere Gefahr durch den Baum hinweisen.385 So müssen Bäume, die standunsicher geworden sind und auf die Straße zu stürzen drohen, saniert oder beseitigt werden, desgleichen morsche Äste. Dies bedingt eine regelmäßige Überwachung der Straßenbäume (unabhängig vom Grundeigentum),386 an die jedoch keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen.387 Die Rechtsprechung verlangt vielfach eine zweimalige Überprüfung (belaubt und unbelaubt) pro Jahr;388 dies ist zu pauschal.389 Es braucht nicht jeder einzelne Baum fachmännisch untersucht, insbesondere abgeklopft zu werden;390 eine äußere Sichtprüfung in regelmäßigen Abständen reicht aus;391 Anzeichen für einen Verfall ist aber nachzugehen.392 Straßenwärter müssen entsprechend instruiert werden.393 Nach einem Unwetter sind zusätzliche Untersu-

385 BGH v. 21.1.1965 – III ZR 217/63, NJW 1965, 815; BGH v. 4.3.2004 – III ZR 225/03, NZV 2004, 248; OLG Hamm v. 24.9.2004 – 9 U 158/02, NZV 2005, 371. Ausf. auch zur Kontrollpflicht, Burmann NZV 2003, 20, 22. 386 OLG Oldenburg v. 4.1.1980 – 6 U 144/79, VersR 1980, 778; s a OLG Düsseldorf v. 25.4.1996 – 18 U 150/95, VersR 1997, 463. 387 Einzelheiten: OLG Düsseldorf v. 15.3.1990 – 18 U 228/89, VersR 1992, 467; OLG Düsseldorf v. 27.10.1994 – 18 U 70/94, NJW-RR 1995, 726 (auch zur Frage, ob schon in der Wahl der Baumart eine Pflichtverletzung liegen kann); OLG Düsseldorf v. 13.10.1994 – 18 U 55/94, OLGR Düsseldorf 1995, 148; OLG Köln v. 28.1.1993 – 7 U 136/92, NZV 1993, 434; OLG Köln v. 11.6.1992 – 7 U 44/92, VersR 1992, 1370 (Naturdenkmal); OLG Köln v. 24.5.1994 – 22 U 11/94, VersR 1994, 1489 (großkronige Pappel); OLG Zweibrücken v. 3.4.1992 – 1 U 261/90, DAR 1992, 302 mit Anm. Berr; OLG Frankfurt v. 22.2.1993 – 14 U 7/92, VersR 1993, 988; OLG Frankfurt v. 16.9.1999 – 1 U 107/98, OLGR Frankfurt 2000, 89 (Benagen durch Biber); OLG Hamm v. 26.1.1993 – 9 U 152/92, VersR 1994, 357; OLG Hamm v. 10.12.1996 – 9 U 128/96, VersR 1997, 1148 (Besonderheiten bei Kastanie); OLG Hamm v. 10.10.1997 – 9 U 106/97, VersR 1998, 188 mit Anm. Breloer; OLG Hamm v. 4.2.2003 – 9 U 144/02, VersR 2003, 1452 (Zwiesel); OLG Karlsruhe v. 16.1.1997 – 12 U 245/96, NJWE-VHR 97, 118 (Einsatz von Bohrtechnik); OLG Dresden v. 1.3.1995 – 6 U 1170/94, OLGR Dresden 1995, 72; OLG Dresden v. 28.2.2001 – 6 U 3035/00, VersR 2001, 1260 (Totholz); OLG München v. 20.10.1994 – 1 U 3118/94 OLGR München 1995, 101; OLG Celle v. 21.10.1998 – 9 U 143/98, OLGR Celle 1999, 42; OLG Brandenburg v. 7.3.2000 – 2 U 58/99, NJW-RR 2000, 1696; OLG Koblenz v. 25.2.2002 – 12 U 1214/00, DAR 2002, 218 (kahle Äste). Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die sog. VTA-Methode (Visual Tree Assessment) ausreicht, OLG Hamm v. 24.9.2004 – 9 U 158/02, NZV 2005, 371 u. OLG Hamm v. 24.9.2004 – 9 U 107/04, NZV 2005, 372. Eingehende Nachweise auch bei Orf NZV 1997, 201 ff., Landscheidt/Götker NZV 1995, 89 ff. u. Drees NuR 1989, 164. 388 Vgl. OLG Hamm v. 10.12.1996 – 9 U 128/96, VersR 1997, 1148; OLG Düsseldorf v. 15.3.1990 – 18 U 228/89, VersR 1992, 467; OLG Brandenburg v. 17.7.2001 – 2 U 99/00, VersR 2002, 504. 389 OLG Köln v. 29.7.2010 – 7 U 31/10, VersR 2010, 1328 (dazu Hilsberg VersR 2010, 1424,1426 f.); Otto VersR 2003, 1452, 1453. 390 BGH v. 21.1.1965 – III ZR 217/63, VersR 1965, 475. 391 OLG Saarbrücken v. 26.11.2015 – 4 U 64/14, NZV 2016, 281. 392 OLG Stuttgart v. 26.10.1973 – 2 U 47/73, VersR 1974, 681; OLG Oldenburg v. 3.2.1977 – 1 U 173/76, VersR 1977, 845; OLG Braunschweig v. 12.9.1979 – 3 U 38/79, MDR 1980, 312; OLG Köln v. 5.11.1990 – 7 U 38/90, NZV 1991, 190; OLG Köln v. 11.5.2017 – 7 U 29/15, DAR 2017, 583 (erhebliche Schädigung im Wurzelbereich); OLG Brandenburg v. 17.12.1996 – 2 U 56/96, VersR 1998, 383; OLG Hamm v. 11.7.2003 – 9 U 71/03, NZV 2004, 140 (Verdacht auf Wurzelfäule); OLG Jena v. 14.1.2009 – 4 U 818/07, MDR 2009, 324 (erkennbare Fäulnis); OLG Jena v. 24.6.2009 – 4 U 648/08, MDR 2009, 1339 (eingehende Untersuchung nach Astabbruch). 393 BGH v. 21.1.1965 – III ZR 217/63, VersR 1965, 475; OLG Hamm v. 5.11.2002 – 9 U 72/02, OLGR Hamm 2003, 113.

332 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.107 § 13

chungen geboten,394 ebenso nach Kanalarbeiten im Wurzelbereich umsturzgefährdeter Bäume.395 Wurden gebotene Untersuchungen nicht durchgeführt, ist dies für den Schaden nur dann kausal, wenn die Gefahr andernfalls entdeckt worden wäre.396 Dass zu Astabbruch neigende Bäume (z.B. Pappeln) von Parkplätzen generell zu beseitigen sind, geht zu weit;397 zu Recht hat der BGH entschieden, dass ein natürlicher Astbruch, für den vorher keine besonderen Anzeichen bestanden haben, auch bei hierfür anfälligeren Baumarten grundsätzlich zu den naturgebundenen und daher hinzunehmenden Lebensrisiken gehört.398 Die Unterschutzstellung eines Baumes durch die Naturschutzbehörde ändert nichts an der Verkehrssicherungspflicht; auch die Naturschutzbehörde trifft jedoch eine Überwachungspflicht.399 Wurde dem Verkehrssicherungspflichtigen das Fällen eines nicht mehr standsicheren Baumes von der Behörde untersagt, kann diese wegen Amtspflichtverletzung gegenüber einem geschädigten Verkehrsteilnehmer haftbar sein.400

13.106

Äste dürfen nicht in den Luftraum der Straße hineinragen,401 bei Durchgangsstraßen mit LkwVerkehr bis in die nach § 22 Abs. 2 StVO, § 32 Abs. 2 StVZO vorgegebene Höhe von 4 m.402 Im Übrigen entscheiden die örtlichen Verhältnisse (Verkehrsbedeutung, Breite, Geschwindigkeit).403 Bei geringer Verkehrsbedeutung kann eine passierbare Höhe von 3,60 m404 oder eine Warnung genügen.405 Vorübergehende Nutzung als Umleitungsstrecke ändert die Sicherheitserwartung nicht.406

13.107

394 LG Heidelberg v. 21.10.1981 – 3 O 140/81, VersR 1982, 810. 395 OLG Düsseldorf v. 17.1.2007 – 18 U 93/06, NZV 2007, 572. 396 Eingehend (auch zu Beweisfragen) BGH v. 4.3.2004 – III ZR 225/03, NZV 2004, 248; OLG Dresden v. 6.3.2013 – 1 U 987/12, MDR 2015, 387; OLG Köln v. 2.3.2017 – 7 U 134/16, VersR 2017, 771. 397 OLG Koblenz v. 2.3.1998 – 12 U 246/97, VersR 1998, 865. Ebenso Hilsberg VersR 2011, 928 u Bergmann DAR 2011, 30 f. in Anm. zu den divergierenden Entscheidungen OLG Saarbrücken v. 29.6.2010 – 4 U 482/09-140, VersR 2011, 926 u. OLG Karlsruhe v. 21.10.2010 – 12 U 103/10, VersR 2011, 925. 398 BGH v. 6.3.2014 – III ZR 352/13, NJW 2014, 1588. 399 BGH v. 21.12.1961 – III ZR 192/60; Otto VersR 2007, 1492 ff.; a.A. Schneider VersR 2007, 743, 754. 400 OLG Hamm v. 8.1.1993 – 9 U 100/92, NZV 1994, 27 mit abl. Anm. Otto 191; a.A. Otto NJW 1996, 356, 359 ff. 401 BGH v. 9.11.1967 – III ZR 98/67, VersR 1968, 72. 402 OLG Düsseldorf v. 25.4.1974 – 12 U 127/73, VersR 1974, 1114; Pfälzisches OLG v. 19.1.1994 – 1 U 213/92, VersR 1995, 111: OLG Dresden v. 2.10.1996 – 6 U 321/96, VersR 1997, 336. 403 OLG Celle v. 10.12.1997 – 9 U 137/97, MDR 1998, 598; OLG Brandenburg v. 16.5.1995 – 2 U 114/94, VersR 1995, 1051; OLG Hamm v. 17.5.1994 – 9 U 30/94, VersR 1995, 1206. Rechtsprechungsübersicht bei Herbst NZV 2018, 261 ff. 404 OLG Köln v. 1.8.1991 – 7 U 53/91, NZV 1991, 426; OLG Schleswig v. 7.4.1993 – 9 U 35/92, NZV 1994, 71; ebenso für breite innerstädtische Straße OLG Düsseldorf v. 1.12.1988 – 18 U 145/88, VersR 1989, 273. Nach OLG Düsseldorf v. 9.2.1995 – 18 U 134/94, VersR 1996, 602 ist es bei geringer Verkehrsdichte und -schnelligkeit nicht zu beanstanden, wenn der Stamm einer Platane in ca. 3,20 m Höhe um 20 cm ohne Warnung in den Luftraum ragt (zw.). S. auch Landscheidt/Götker NZV 1995, 89, 91. 405 OLG Hamm v. 4.10.1991 – 9 U 113/91, NZV 1992, 185 (Baumstamm in 3,4 m Höhe; schwer abschätzbar); OLG Naumburg v. 5.2.1997 – 5 U 235/96, DAR 1998, 18 (alter Baumbestand). 406 OLG Rostock v. 10.6.2004 – 1 U 168/02, MDR 2005, 31.

Greger | 333

§ 13 Rz. 13.108 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

13.108

Eine Sichtbehinderung durch Bäume oder Sträucher an einer Einmündung braucht nicht behoben zu werden, wenn bei vorsichtiger Fahrweise ein rechtzeitiges Erkennen vorfahrtberechtigter Fahrzeuge möglich ist.407 Eine Hecke auf dem Mittelstreifen einer Straße mit zwei getrennten Fahrbahnen muss jedoch an Durchfahrten in einer Höhe gehalten werden, die ernstliche Sichtbehinderungen beim Ein- und Abbiegen ausschließt.408

13.109

Nicht verantwortlich ist der Verkehrssicherungspflichtige für Laubfall, Sturmschäden, herabfallende Früchte409 und insbesondere für Gefahren, die beim Abkommen von der Fahrbahn drohen (s. auch Rz. 13.45).

b) Weitere Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) 13.110

Herabfallende Äste: BGH VRS 12, 1; OLG Oldenburg VersR 1958, 634; OLG München VersR 1984, 896; OLG Frankfurt VersR 1988, 519; OLG Koblenz NZV 1999, 165 (Eisbruch); zu neuen Erkenntnissen über den Aussagewert von Maßverhältnissen OLG Hamm NZV 2004, 456. Hineinragende Äste: BGH VersR 1959, 275 (Feldweg); BGH VersR 1968, 72; OLG Celle VersR 1959, 322 (Landstraße); OLG Oldenburg VersR 1963, 1234; OLG Düsseldorf VersR 1974, 1114; OLG Schleswig VersR 1977, 1037; OLG Köln VRS 59, 222; OLG Naumburg OLGR Naumburg 2001, 103; OLG München NJW-RR 2003, 1676 (Feldweg). Nähe zur Fahrbahn: OLG Köln VRS 22, 2; OLG Nürnberg VersR 1965, 1037. Umstürzender Baum: BGH VersR 1974, 88; BGH NZV 1989, 346; OLG Celle VersR 1958, 693; OLG München VersR 1959, 212; OLG München VersR 1959, 927 (Windbruch); OLG Köln VersR 1963, 738; OLG Düsseldorf VersR 1982, 202; OLG Nürnberg NZV 1996, 494; OLG Frankfurt OLGR Frankfurt 2000, 89 (Biberverbiss); OLG Celle NZV 2010, 86 (Wurzelbeschädigung bei Bauarbeiten); OLG Hamm NZV 2011, 139 (Wurzelfäule).

9. Gefahren, die von angrenzenden Grundstücken ausgehen a) Pflichten des für die Straße Verkehrssicherungspflichtigen 13.111

Er ist grundsätzlich nicht für Gefahren verantwortlich, die von Anliegergrundstücken ausgehen. Anders verhält es sich jedoch, wenn die Gefahr durch die Anlage der Straße bedingt ist. So ist etwa bei der Führung durch steinschlaggefährdetes Gelände Vorsorge gegen diese Gefahr zu treffen.410 Zwar ist der für die Straße Verantwortliche nicht gezwungen, Steinschlag oder Lawinen durch kostspielige Verbauungen oder Bauwerke von der Straße fernzuhalten oder an jeder Einmündung eines Feldwegs Sandfangrinnen zum Schutz gegen das Einschwemmen von Erdreich anzubringen.411 Er hat jedoch zumindest die Verkehrsteilnehmer durch Warnzeichen auf Stellen hinzuweisen, an denen in erhöhter Weise und für den Verkehrsteilnehmer nicht ohne weiteres erkennbar die Gefahr von Verschmutzung, Steinschlag oder Lawinen besteht. Für Schäden durch Steine oder andere Gegenstände, die nicht durch Natur407 OLG Düsseldorf v. 30.11.1989 – 18 U 142/89, NZV 1990, 310; OLG München v. 24.4.1997 – 1 U 1565/97, OLGR München 1998, 108; für Einmündung eines Fuß- und Radwegs OLG Düsseldorf v. 21.10.1993 – 18 U 64/93, NJW-RR 1994, 1443. 408 BGH v. 10.7.1980 – III ZR 58/79, NJW 1980, 2194. 409 OLG Stuttgart v. 30.10.2002 – 4 U 100/02, MDR 2003, 28; OLG Hamm v. 19.5.2009 – 9 U 219/ 08, NJW-RR 2010, 537. 410 BGH v. 16.10.1967 – III ZR 26/67, NJW 1968, 246; OLG Koblenz v. 4.8.2003 – 12 U 177/02, DAR 2003, 522; Rinne NVwZ 2003, 9, 14 (Netze, Gitter). 411 OLG Karlsruhe v. 30.10.1987 – 14 U 77/86, NZV 1988, 20.

334 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.114 § 13

kräfte, sondern von Menschenhand auf die Straße gelangen, ist der Straßenverkehrssicherungspflichtige nicht haftbar, da sie nicht durch die Anlage der Straße bedingt sind; er muss jedoch die Räumung der Straße veranlassen, sobald er die Gefahr erkannt hat oder bei ordnungsgemäßer Überwachung (s. Rz. 13.51) erkennen konnte.412 Die Beseitigung einer vom Anliegergrundstück ausgehenden Sichtbehinderung ist jedenfalls dann Sache des Straßenverkehrssicherungspflichtigen, wenn sie sich unmittelbar auf eine Verkehrseinrichtung auswirkt, also z.B. überhängende Zweige ein Verkehrsschild oder eine Ampel verdecken.413 Im Übrigen kann der Straßenbaulastträger nach den Straßengesetzen der Länder anordnen, dass der Anlieger eine gefahrträchtige Sichtbehinderung beseitigt bzw. deren Beseitigung duldet.414 Unterlässt er dies trotz erheblicher Verkehrsgefährdung (etwa an einer unübersichtlichen Einmündung) und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs, kommt eine Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Betracht. Er ist aber nicht verpflichtet, jegliche Sichtbehinderung durch eine zulässige Nutzung von Anliegergrundstücken (z.B. Stapeln von Holz oder Anbau von Mais im Bereich einer Kurve) zu unterbinden oder durch Warnzeichen kenntlich zu machen.415 Zu Gefahren durch Bäume neben der Straße s. Rz. 13.104 ff.

13.112

b) Pflichten des Grundstückseigentümers oder -besitzers Ihn trifft die Pflicht, erkennbare Gefahren für den Verkehr auf der Straße im Rahmen der Zumutbarkeit zu unterbinden. Genau genommen handelt es sich hierbei nicht um eine Verkehrssicherungspflicht, denn der Anlieger ist nicht für den Verkehrsweg als solchen verantwortlich, sondern um eine Ausprägung der allgemeinen Verkehrspflichten (Rz. 10.8). Die Anforderungen dürfen auch nicht überspannt werden. So kann z.B. keine turnusmäßige Überprüfung von Bäumen durch einen Fachkundigen verlangt werden; es genügt, wenn er sie selbst in regelmäßigen Abständen auf Schäden und Erkrankungen untersucht.416 An einer extrem unübersichtlichen Einmündung kann das Zurückschneiden einer Hecke geboten und zumutbar sein. Handelt der Anlieger einer behördlichen Anordnung zur Beseitigung einer Sichtbehinderung (s. Rz. 13.112) zuwider, kann die durch die Anordnung konkretisierte Verkehrspflicht ebenfalls zu einer Unfallhaftung führen. Vermietung oder Verpachtung befreit den Grundeigentümer nicht von seinen Pflichten; er haftet ggf. neben dem Besitzer.417 Bei einer Entziehung der tatsächlichen Verfügungsgewalt mittels einer hoheitlichen Maßnahme (z.B. Besitzeinweisung nach § 18f FStrG) besteht dagegen keine Sicherungs- oder Überwachungspflicht mehr.418

13.113

Bei Ablösung von Gebäudeteilen kann Haftung des Eigentümers, Besitzers oder Unterhaltungspflichtigen419 aus §§ 836 ff. BGB eingreifen; es gilt dann die dort geregelte Verschuldens-

13.114

OLG Düsseldorf v. 11.1.1988 – 1 U 241/86, MDR 1988, 496. OLG Koblenz v. 7.9.1998 – 12 U 1121/97, NZV 1999, 174. S. z.B. Art. 29 BayStrWG, § 30 StrWG NRW. OLG Koblenz v. 19.9.1961 – 6 U 165/61, NJW 1961, 2208. OLG Düsseldorf v. 23.7.2013 – 9 U 38/13, MDR 2014, 156. Zur Übertragung auf ein Baumpflegeunternehmen s. BGH v. 13.12.2019 – V ZR 43/19, NJW 2020, 1798. 417 OLG Zweibrücken v. 12.1.1994 – 1 U 178/92, VersR 1994, 1489. 418 BGH v. 13.6.2017 – VI ZR 395/16, NJW 2017, 2905. 419 Dazu gehört auch der Wohnungseigentumsverwalter, BGH v. 23.3.1993 – VI ZR 176/92, NJW 1993, 1782. 412 413 414 415 416

Greger | 335

§ 13 Rz. 13.114 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

vermutung.420 Dasselbe gilt, wenn ein mit dem Grundstück fest verbundenes „Werk“ oder ein Teil davon auf den Verkehrsraum fällt (z.B. im Boden fixiertes Hinweisschild,421 Mast,422 Laterne423). Voraussetzung ist aber, dass der Schaden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Umstürzen bzw. Ablösen steht, d.h. „mit der bewegend wirkenden Kraft“; dies ist dann nicht der Fall, wenn ein Fahrzeug auf das auf der Straße liegende Gebäudeteil auffährt, wohl aber dann, wenn das Teil so kurz vor das herannahende Fahrzeug fiel, dass dieses praktisch in das herabstürzende Hindernis hineinfuhr.424

13.115

Für Dachlawinen haftet der Hauseigentümer nur, wenn er die ortspolizeilich vorgeschriebenen, ortsüblichen425 oder nach den örtlichen Verhältnissen erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen unterlassen hat.426 Die Erforderlichkeit kann durch die Dachneigung,427 die konkreten Witterungsverhältnisse,428 die allgemeine Schneelage,429 die Beschaffenheit des Gebäudes430 und die Verkehrsfrequenz begründet werden. Zur Sicherung ausreichend ist das Anbringen eines Schneefanggitters auf dem Dach431 oder von Warnvorrichtungen. Ist die Gefahr klar erkennbar, bedarf es keines besonderen Hinweises.432

13.116

Die Sicherungspflicht des Waldeigentümers oder -besitzers433 bezieht sich nur auf Bäume im Fallbereich einer Straße, nicht auf alle „wilden“ Parkplätze.434 Gegenüber dem Erholungs-

420 BGH v. 5.4.1990 – III ZR 4/89, VersR 1991, 72; BGH v. 23.3.1993 – VI ZR 176/92, NJW 1993, 1782 (WEG-Verwalter); LG Duisburg v. 4.1.2013 – 6 O 142/11, NZV 2013, 590; LG Hanau v. 5.10.2012 – 9 O 280/12, NZV 2013, 593. 421 OLG Koblenz v. 9.2.2004 – 12 U 11/03, VersR 2005, 982. Näher zu Verkehrszeichen Petershagen NZV 2011, 528 ff. 422 OLG Karlsruhe v. 14.7.1987 – 18 U 51/87, VersR 1989, 82. 423 LG Aachen v. 25.5.1988 – 4 O 728/85, NZV 1989, 29. 424 BGH v. 5.4.1990 – III ZR 4/89, VersR 1991, 72, 73. 425 OLG Dresden v. 17.7.1996 – 8 U 696/96, DAR 1997, 492; OLG Hamm v. 23.7.2003 – 13 U 49/ 03, NZV 2004, 34. 426 BGH v. 8.12.1954 – VI ZR 289/53, NJW 1955, 300; OLG Hamm v. 14.8.2012 – 9 U 119/121, NJW-RR 2013, 25; OLG Jena v. 28.3.2012 – 4 U 966/11, MDR 2012, 913. S. auch OLG Frankfurt v. 27.4.2000 – 22 U 90/98, VersR 2000, 1514 (Hotelparkplatz); Gaisbauer VersR 1971, 199; Birk NJW 1983, 2911; Riedmaier VersR 1990, 1315, 1316 ff.; Schlund DAR 1994, 49; Hugger/Stallwanger DAR 2005, 665 ff. 427 LG Augsburg v. 29.4.1987 – 7 S 3451/86, VersR 1988, 46 LS; LG Duisburg v. 11.7.1986 – 4 S 126/86, NJW-RR 1986, 1405; AG Leutkirch v. 10.10.1997 – 2 C 228/97, NZV 1998, 331: ab 45 Grad regelmäßig geboten. 428 OLG Celle v. 20.1.1982 – 9 U 161/81, VersR 1982, 979; OLG Düsseldorf v. 10.6.1980 – 4 U 219/ 79, ZfS 1984, 1 (besonders starker Schneefall in schneearmem Gebiet); OLG Jena v. 18.6.2008 – 2 U 202/08, NJW-RR 2009, 168 (Tauwetter nach extrem starkem Schneefall). 429 OLG Saarbrücken v. 25.5.1984 – 4 U 13/83, VersR 1985, 299; OLG Hamm v. 11.11.1986 – 27 U 68/86, NJW-RR 1987, 412; OLG Düsseldorf v. 17.12.1992 – 13 U 87/92, OLGR Düsseldorf 1993, 131; OLG Zweibrücken v. 9.7.1999 – 1 U 181/98, OLGReport Zweibrücken 2000, 7; LG Karlsruhe v. 14.11.1997 – 9 S 306/97, MDR 1998, 161; LG Bautzen v. 10.3.1999 – 1 S 94/98, VersR 1999, 1254. 430 LG Memmingen v. 11.1.1989 – 1 S 1405/88, NJW-RR 1989, 986: Kirchturmkuppel. 431 LG Berlin v. 23.2.1966 – 54 S 5/66, VersR 1967, 69; LG Ravensburg v. 28.10.1980 – 3 O 1067/ 80, DAR 1981, 58 (Schneefanghaken); LG München I v. 29.10.1986 – 15 S 6130/86, DAR 1987, 56 (nicht, wenn am Vortag Lawinenabgang). 432 OLG Düsseldorf v. 6.6.2013 – 10 U 18/13, NZV 2014, 273. 433 Eingehend dazu Orf NZV 1997, 201 ff. m.w.N. 434 OLG Koblenz v. 5.12.1989 – 3 U 1528/88, NZV 1990, 391.

336 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.118 § 13

verkehr im Walde selbst ist er nur für atypische Gefahren, nicht für Vorkommnisse, wie sie sich typischerweise im Wald ereignen, verantwortlich.435 Wegen des Umfangs der Sicherungspflichten in Bezug auf Bäume s. Rz. 13.104 ff. Für Gefahren, die von einem Waldgrundstück ausgehen, kommt neben der Haftung der Kommune als Waldbesitzerin auch eine solche des Landes als Inhaber des forsttechnischen Betriebes in Betracht.436 Durch Übertragung des Revierdienstes auf staatliche Forstbeamte verliert die Gemeinde nicht ohne weiteres die Verkehrssicherungspflicht für ihr Waldgrundstück.437 Wer eine Werbeanlage (Hinweisschild) im Umfeld einer Straße aufstellt, hat dafür Sorge zu tragen, dass keine abgelösten Teile auf die Fahrbahn gelangen können und Verkehrsteilnehmer nicht behindert oder abgelenkt werden; weitergehende Sicherungsmaßnahmen, wie etwa eine Polsterung oder ein Fangzaun (für den Fall des Abkommens eines Kradfahrers von der Straße), sind nicht geboten.438

13.117

c) Rechtsprechungsnachweise (alphabetisch geordnet) 13.118

Bäume: s. Rz. 13.104 ff. Dachlawine: s. Rz. 13.115. Eisendorne: OLG Düsseldorf v. 28.2.1997 – 2 U 180/96, MDR 1997, 1124 (an Schaufenster in 70 cm Höhe). Eiszapfen: OLG Celle v. 28.10.1987 – 9 U 227/86, VersR 1989, 99 (an Dachrinne). Fallobst: LG Bochum v. 29.7.1990 – 5 S 36/90, ZfS 1990, 335. Gebäudeteile: BGH v. 23.3.1993 – VI ZR 176/92, NJW 1993, 1782 (Ablösung von Dachteilen bei Sturm); BGH v. 5.4.1990 – III ZR 4/89, VersR 1991, 72 (Fallrohr einer Autobahnbrücke); OLG Köln v. 31.7.1991 – 2 U 17/91, VersR 1992, 1018 (Kamin); OLG Frankfurt v. 5.7.1991 – 25 U 27/91, NJWRR 1992, 164 u. OLG Düsseldorf v. 20.3.1992 – 22 U 120/91, VersR 1993, 841 (Dachziegel); LG Ansbach v. 12.5.1995 – 1 S 250/95, NJW-RR 1996, 278 (Kirchturmziegel); AG Schweinfurt v. 22.10.1990 – C 699/90, NZV 1992, 412 (Dachhaut eines Hochhauses bei Orkan). Hausvorsprung: OLG Braunschweig v. 22.5.1962 – 1 U 27/62, VersR 1962, 1068; OLG Karlsruhe v. 19.6.1991 – 1 U 44/91, NVwZ-RR 1992, 340 (im Luftraum). Hecke: s Rz. 13.108. Holzfällarbeiten: OLG Hamm v. 10.3.1989 – 9 U 144/88, NZV 1989, 233. Mäharbeiten: BGH v. 28.11.2002 – III ZR 122/02, VersR 2003, 1274; OLG Brandenburg v. 17.7.2012 – 2 U 56/11, DAR 2012, 578 (sehr streng); enger OLG Stuttgart v. 11.9.2002 – 4 U 108/02, VersR 2002, 1572; OLG Stuttgart v. 25.6.2003 – 4 U 41/03, VersR 2003, 1275; OLG Rostock v. 9.5.2008 – 5 U 112/ 08, MDR 2008, 1101. Mauer: OLG Hamm v. 15.6.1999 – 9 U 31/99, NZV 1999, 467 (gelockerte Abdeckplatte); OLG Koblenz v. 15.12.2003 – 12 U 1392/02, OLGR Koblenz 2004, 370 (Vorsprung im Luftraum).

435 BGH v. 2.10.2012 – VI ZR 311/11, NJW 2013, 48; OLG Düsseldorf v. 9.1.2008 – 19 U 28/07, NZV 2009, 33; Duhme NJW 2013, 17; Drees NuR 1989, 164, 166 f. Eingehend Schneider VersR 2018, 257 ff. 436 OLG Frankfurt v. 27.1.1983 – 1 U 134/82, DAR 1984, 116. 437 Vgl. BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 275/87, VersR 1988, 957 und BGH v. 19.1.1989 – III ZR 258/87, NZV 1989, 346 (zur Rechtslage in Rheinland-Pfalz). 438 OLG Hamm v. 5.2.2016 – 9 U 134/15 (juris).

Greger | 337

§ 13 Rz. 13.118 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Quellwasser: BGH v. 13.11.1986 – III ZR 160/85, MDR 1987, 560 (Vereisung). Ruine: BGH v. 15.10.1953 – III ZR 1/52, NJW 1953, 1865 (Einsturz). Sichtbehinderung: BGH v. 29.10.1959 – III ZR 140/58, VersR 1960, 317, BGH v. 28.6.1965 – III ZR 78/64, VersR 1965, 1096 sowie OLG Koblenz v. 7.9.1998 – 12 U 1121/97, NZV 1999, 207 (Zweige verdecken Vorfahrtzeichen); BGH v. 3.10.1961 – VI ZR 255/60, VersR 1961, 1044 (Staub einer Schuttrutsche); OLG Koblenz v. 19.9.1961 – 6 U 165/61, NJW 1961, 2208 (Holzlager). Zu Bäumen oder Sträuchern s. Rz. 13.108. Sportplatz: BGH VRS 18, 48; OLG Brandenburg DAR 2002, 350 (Fußballtor ohne Ballschutzzaun); LG Aachen v. 13.1.1988 – 4 O 377/87, NJW-RR 1988, 665; LG Ellwangen v. 10.11.1989 – 2 O 334/8910, VersR 1991, 1265 (Ballschutzzaun). Sprengarbeiten: BGH VersR 1958, 850. Steinschlag: BGH NJW 1968, 246; BGH NJW 1985, 1773; OLG Zweibrücken v. 22.9.1989 – 1 U 60/ 88, VersR 1990, 401 (Haftung des Straßenbaulastträgers); OLG Köln v. 8.11.1989 – 13 U 115/89, VersR 1990, 401 (Haftung des Eigentümers); OLG Koblenz v. 12.6.1995 – 12 U 1386/94, NVwZ-RR 1995, 629; OLG München v. 14.9.2000 – 1 U 3254/00, OLGR München 2001, 194; OLG Jena v. 21.3.2000 – 3 U 653/99, DAR 2001, 166 (Kontrollpflicht). Tropfeis: OLG Hamm v. 7.11.1995 – 9 U 69/95, NJWE-VHR 1996, 44. Wurzelstock: OLG Frankfurt v. 27.1.1983 – 1 U 134/82, DAR 1984, 116.

10. Sonstige Verkehrsgefahren (alphabetisch geordnet) Ampel

13.119

BGH v. 24.4.1972 – III ZR 117/70, VersR 1972, 788 (Schaltungsdefekt); OLG Celle v. 17.11.1980 – 9 U 86/80, VersR 1982, 76; OLG Köln v. 17.4.1991 – 11 U 17/91, NZV 1992, 364 (Kontrollpflicht bei quarzuhrgesteuerter Engstellenampel); OLG Koblenz v. 8.11.1993 – 12 U 1939/92, NZV 1994, 192 (vom Wind verdrehter Ampelmast); LG Köln v. 24.4.1984 – 5 O 396/81, VersR 1985, 602; LG Bochum v. 19.8.1987 – 6 O 239/87, VersR 1988, 694 (fehlende Schute); LG Braunschweig v. 8.11.1000 – 2 O 702/00, NZV 2001, 262 (unangekündigtes abendliches Abschalten). Wegen fehlerhafter Programmierung der Ampel s. Rz. 12.21.

Arbeitsfahrzeuge

13.120

BGH VersR 1966, 589 (Kehrmaschine zur Splittentfernung auf Autobahn); BGH v. 26.3.1981 – III ZR 106/80, VersR 1981, 733 (bewegliche Baustelle auf Autobahn).

Bahnübergang

13.121

BGH VersR 1958, 644 (Anschlussgleis, fehlende Sicherung); BGH VersR 1964, 1024 (unbeschrankt); BGH VersR 1965, 84 (Straße kreuzt nicht rechtwinklig); BGH VersR 1967, 132 (Beleuchtung von Bahnschranken); BGH v. 18.11.1993 – III ZR 178/92, NZV 1994, 146 (Blinkanlage durch Laub verdeckt; vgl. hierzu auch das Berufungsurteil des OLG Hamm v. 30.6.1992 – 9 U 90/91, NZV 1993, 28 mit Anm. Filthaut); KG VersR 1967, 956 (Zugang zu öffentlichem Bad über Gleisanlage mit Rangierbetrieb); OLG Hamm v. 27.3.1981 – 9 U 234/78, VersR 1982, 557 (unbeschrankt); OLG Hamm v. 20.12.1993 – 6 U 151/93, NZV 1994, 437 (erst aus 30 m Entfernung sichtbar, keine Warnbaken); OLG Köln v. 20.2.1989 – 8 U 43/88, NZV 1990, 152 (Straßenkreuzung durchschneidend); OLG Frankfurt v. 30.9.1992 – 13 U 171/91, NZV 1994, 155 (Fuß- und Radweg); OLG Frankfurt v. 4.5.1994 – 7 U 133/92, VersR 1995, 1505 (über die EBO hinausgehende Anforderungen bei besonders unübersichtlichem Übergang); OLG Celle v. 14.10.1993 – 5 U 110/92, NZV 1994, 435 (kein Einbau von Halbschranken erforderlich); OLG München v. 17.11.2000 – 10 U 1721/98, NZV 2002, 43 (schneebedeckte Warneinrichtungen); OLG Naumburg v. 9.12.1997 – 11 U 1010/97, NZV 1998, 326 (Trampelpfad neben Schlängelgitter); OLG Koblenz v. 13.1.2003 – 12 U 461/02, VersR 2003, 1449 (Nicht-

338 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.129 § 13 unterbinden eines vielbenutzten Trampelpfads); OLG Hamm v. 16.6.1997 – 13 U 13/97, NZV 1998, 154, NZV 1998, 154 (Radfahrer stürzt bei Richtungswechsel auf Gleisanlage); OLG Naumburg v. 20.10.2014 – 12 U 38/14, NJW 2015, 1396 (Radfahrer, spitzwinklig verlaufende Gleisrillen); OLG Hamm v. 9.6.2016 – 6 U 35/16, VersR 2017, 770 (keine Haftung, wenn Rillen für Radfahrer gut erkennbar).

Böschung BGH v. 28.5.1962 – III ZR 38/61, BGHZ 37, 165 (Steinkreuz); OLG Düsseldorf VersR 1984, 1153 LS (eingelassene Treppe, Neigung); OLG Nürnberg v. 31.10.1990 – 4 U 2579/90, NZV 1991, 390 (durch Gras verdeckter Stein).

13.122

Brücke Ablösung von Teilen: BGH v. 5.4.1990 – III ZR 4/89, VersR 1991, 72 (Regenfallrohr).

13.123

Korrosion der Hängeseile: BGH v. 21.1.1988 – III ZR 66/86, NZV 1988, 97. Fehlendes bzw. schadhaftes Geländer: BGH v. 15.6.1954 – III ZR 125/53, BGHZ 14, 83; BGH VersR 1956, 768. Gefährliche Auffahrt: BGH VersR 1959, 228; BGH VersR 1959, 711. Beschränkte Durchfahrtshöhe: OLG Karlsruhe v. 24.4.1998 – 10 U 271/97, OLGR Karlsruhe 1999, 3; OLG Bamberg v. 26.10.1993 – 5 U 67/93, VersR 1994, 1470 u. OLG Stuttgart NZV 2004, 96 (Anforderungen an Kennzeichnung); OLG Dresden v. 9.8.1995 – 6 U 1721/94, OLGR Dresden 1995, 245 (Werksstraße); LG Coburg v. 2.12.1997 – 23 O 686/96, VersR 1999, 635 (Beschilderung eines Sicherungsgerüsts vor Brücke).

Einkaufswagen OLG Hamm v. 18.8.2015 – 9 U 169/14, NZV 2016, 278 (unzureichende Sicherung gegen unbefugte Verwendung); LG Marburg v. 20.3.1985 – 5 S 9/85, VersR 1986, 668; LG Augsburg v. 14.6.1989 – 7 S 5139/88, NJW-RR 1989, 1110; LG Nürnberg-Fürth v. 9.1.1990 – 13 S 6609/89, NZV 1990, 356; AG Osnabrück v. 6.3.1988 – 40 C 452/88, NZV 1989, 356 mit Anm. Greger; AG Schwandorf v. 28.11.1991 – C 53/91, VersR 1992, 1372 (abschüssiger Parkplatz); AG Augsburg ZfS 1991, 79 (abseits des Parkplatzes auf Straße stehend). S. auch Piepenbrock VersR 1989, 122; Grüneberg NZV 1992, 304; Müller/ Rebler MDR 2019, 1221, 1222.

13.124

Eiszapfen OLG Celle v. 28.10.1987 – 9 U 227/86, VersR 1989, 99; LG Wuppertal v. 29.1.1986 – 3 O 353/85, VersR 1986, 1110 LS (an Straßenlaterne).

13.125

Fahrband AG Berlin-Schöneberg v. 9.10.1995 – 8 C 393/95, NZV 1997, 46 (Fußgänger stürzt infolge Nässebildung).

13.126

Fähre OLG Karlsruhe v. 13.10.1992 – U 7/92 RhSch, NZV 1993, 153 (keine Absperrung der Landerampe).

13.127

Fliesen OLG Düsseldorf v. 25.9.1998 – 22 U 59/98, NJW-RR 1999, 671 (Glätte bei Nässe).

13.128

Freileitung OLG Köln v. 20.5.1994 – 19 U 225/93, NZV 1995, 22 (Durchfahrtshöhe bei Umleitungsstrecke).

Greger | 339

13.129

§ 13 Rz. 13.130 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

Gitterrost

13.130

BGH MDR 1976, 134 (Sicherung gegen unbefugtes Abheben); OLG Köln v. 15.6.1998 – 19 U 6/98, VersR 1999, 243 (Grobmaschiger Gitterrost vor Gaststätte); OLG Köln v. 22.6.1999 – 13 U 64/99, NJW-RR 2000, 1693 (10 × 10 cm großes Loch).

Glaswand

13.131

OLG Köln v. 16.9.1993 – 7 U 93/93, VersR 1994, 1317 (in Fußgängerbereich).

Gleise

13.132

OLG Hamm v. 6.5.1980 – 9 U 216/79, VersR 1981, 389 (Überwechseln von Trambahngleisen in Fahrbahn); OLG Hamm v. 1.10.2004 – 9 U 132/04, NZV 2005, 256 (Gleisverschwenkung in Fahrbahn); LG Düsseldorf v. 29.4.1992 – 23 S 435/91, NZV 1992, 368 (Nässe nach Reinigungsarbeiten).

Graben

13.133

OLG Oldenburg NdsRpfl 1994, 45 (offene Gräben in Ostfriesland); OLG Zweibrücken v. 9.6.1999 – 1 U 94/98, OLGReport Zweibrücken 2000, 208 (Absicherung von Straßengräben).

Grünfläche

13.134

OLG Düsseldorf v. 29.9.1988 – 18 U 107/88, NZV 1989, 117 (Findling); OLG Dresden v. 12.10.1994 – 6 U 695/94, OLGR Dresden 1995, 105 (Stein); OLG Saarbrücken v. 17.12.2002 – 4 U 169/02-22, OLGR Saarbrücken 2003, 89 (Eisenpflock unmittelbar neben Parkfläche); OLG Hamm MDR 2012, 761 (Baumstumpf auf schneebedeckter Fläche, die Eindruck einer weiteren Parkbox erweckt); OLG Hamm v. 24.11.2017 – 9 U 105/17, NJW 2018, 1890 (kein Schutz von Radfahrern, die in Park Grünfläche befahren).

Gully

13.135

OLG Hamm ZfS 1991, 41 u. OLG Hamm NZV 2006, 35 (für Radfahrer gefährliche Rillen).

13.136

Hindernisse Zu verkehrsberuhigenden Maßnahmen s. Rz. 13.69 f.; zu Bankett s. Rz. 13.58. Absperrvorrichtung: OLG Oldenburg VRS 31, 161 (Sperrbock). S. auch Kette, Poller, Schranke; zu Rasenschutzvorrichtungen Berr DAR 1991, 281, 282. Bauzaun: OLG Düsseldorf v. 4.12.1997 – 18 U 95/97, VersR 1998, 1021 mit Anm. Jaeger (zur Sperrung einer Fußgängerbrücke). Begrenzungsstein: OLG München VersR 1956, 581. Blumenkübel: OLG Koblenz v. 8.5.2000 – 12 U 519/99, NZV 2000, 378 (auf Parkplatz; unbefugt auf Fahrbahn verschoben). Draht: BGH v. 23.4.2020 – III ZR 251/17, NJW 2020, 3106 (Stacheldraht als Sperre eines Waldwegs); OLG Köln v. 23.1.1998 – 19 U 109/97, VersR 1998, 860 (als Wegabsperrung während Viehtriebs). Fahrradständer: LG Koblenz MDR 1989, 1099. Gerüst: BGH VRS 8, 172. Haufen: BGH VersR 1960, 636 (Splitt auf Dorfstraße); BGH VersR 1961, 442 (Sand vor Haus); OLG Celle VersR 1959, 859 (Sand auf Sommerweg); OLG Celle VersR 1965, 1083 (Splitt); OLG Nürnberg VersR 1971, 918 (Teer auf Autobahn). Kette: OLG Düsseldorf v. 27.5.1992 – 18 U 67/92, VersR 1993, 1108; OLG Hamm v. 19.2.2004 – 9 W 41/02, VersR 2005, 1259 u. OLG Hamm v. 3.2.2009 – 9 U 101/07, NZV 2009, 450 (zwischen Absperr-

340 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.136 § 13 pfosten); OLG Jena v. 10.11.2004 – 4 U 432/04, NZV 2005, 192 (unbefugtes Radfahren in Fußgängerzone). Markierungsstange: OLG Koblenz v. 14.9.1981 – 12 U 182/81, VersR 1982, 780 (schrägstehend). Mauer: AG Düsseldorf v. 4.6.1991 – 54 C 18320/90, NZV 1991, 435 (zu niedrige Begrenzungsmauer auf Tankstellengrundstück). Mittelinsel: KG v. 8.3.2011 – 9 U 165/09, VersR 2011, 1283 (nach Umfahren des Zeichens „Rechts vorbei“; auch Pflicht der Polizei). Passive Verkehrsschleusen (Vorrichtungen, die nur Fahrzeugen mit größerer Bodenfreiheit, z.B. Traktoren, Omnibussen, die Durchfahrt ermöglichen): s. dazu Donath NZV 2013, 324 ff. (Rspr. dazu bisher nicht bekannt). Pfähle, Pfosten, Poller (s. auch „Versenkbare Poller“): OLG Düsseldorf VersR 1983, 544 (Pfahl); OLG Düsseldorf VersR 1991, 927 (Betonpoller auf Gehweg neben Garageneinfahrt); OLG Düsseldorf VersR 1992, 893 (Pfosten auf Parkstreifen unterbrechender Bauminsel); OLG Düsseldorf v. 17.3.1994 – 18 U 148/93, OLGR Düsseldorf 1994, 280 (Pfostenstumpf auf Gehweg); OLG Köln v. 23.6.1993 – 2 U 198/92, VersR 1993, 1497 (Granitsteine auf Gehweg); OLG Hamm v. 30.11.1993 – 9 U 140/93, VersR 1994, 698 (umgeklappter Sperrpoller mit 13 cm Höhe); OLG Hamm NZV 2002, 129 (unbeleuchteter Sperrpfosten auf Radweg); OLG Brandenburg DAR 1999, 403 u. OLG Hamm OLGR Hamm 1999, 135 (Betonpoller auf Bürgersteig); OLG Koblenz v. 23.12.1997 – 5 U 930/97, NZV 1999, 293 (Baustahleisen auf Parkplatz); OLG Rostock v. 22.3.2001 – 1 U 144/99, VersR 2001, 1441 (Pfosten als Fahrbahnabsperrung); LG Hannover v. 26.4.1983 – 14 O 449/82, VersR 1984, 592 (Eisenpfahl); LG Duisburg ZfS 1991, 296 (Betonpoller); LG Aachen v. 14.12.1992 – 4 O 378/92, NZV 1994, 196 (Poller auf Fußweg). S. auch Berr DAR 1991, 282. Schlauch: OLG Düsseldorf v. 29.12.1993 – 18 U 110/93, NJW-RR 1994, 1444 (Überbrückung von Feuerwehrschlauch); OLG Koblenz v. 24.3.2009 – 5 U 76/09, NZV 2010, 88 (überlappende Gummimatte). Schranke: OLG Köln v. 21.6.1990 – 7 U 27/90, NZV 1991, 66 (am Ende eines Wirtschaftswegs); OLG Frankfurt VersR 1985, 149 LS (Beleuchtung); OLG Hamm v. 8.12.2000 – 9 U 112/00, DAR 2001, 458 (Stilschwenkschranke in verkehrsberuhigtem Bereich). Seil: BGH VersR 1967, 755 (Spannseil auf Werksgrundstück); OLG Stuttgart v. 27.6.1980 – 2 U 45/ 80, VersR 1981, 361 (von Kran herabhängend). Stein: OLG Nürnberg v. 31.10.1990 – 4 U 2579/90, NZV 1991, 390 (im Böschungsbereich); OLG Koblenz v. 3.8.1992 – 12 U 889/91, NZV 1993, 67 (2,5 m neben der Fahrbahn); OLG Hamm v. 30.1.1996 – 9 U 190/95, NZV 1996, 493 (Findling zum Schutz von Grünanlage). Tonne: OLG Hamm v. 27.8.1990 – 6 U 54/90, NZV 1991, 152 (Gehwegverengung durch Mülltonne); OLG Hamm v. 14.5.1996 – 9 U 218/95, NZV 1996, 453 (Mülltonnen auf Radweg); AG Kehl VersR 1960, 1149 (leere Teertonnen). Toranschlag: OLG München v. 2.2.1993 – 27 U 226/92, VersR 1994, 832 (keine Rücksicht auf tiefer gelegte Fahrzeuge). Umgestürzter Mast: BGH NJW 1954, 913; BGH VersR 1956, 320; BGH VersR 1958, 51; OLG Stuttgart VRS 7, 246; OLG Koblenz VersR 1989, 159. Umgestürztes Verkehrszeichen: LG Heidelberg VersR 1986, 351 LS. Verankerung: OLG Nürnberg VersR 1964, 348 (eines Telefonmasten auf Fußweg). Versenkbare Poller: OLG Nürnberg v. 8.7.2013 – 4 U 414/13, NZV 2014, 177; OLG Hamm v. 3.7.1998 – 9 U 36/98, NJW-RR 1999, 753; OLG Hamm v. 26.5.2009 – 9 U 107/07, NZV 2010, 353; OLG Brandenburg v. 17.2.2004 – 2 U 52/03, DAR 2004, 389; OLG Saarbrücken v. 15.5.2012 – 4 U 54/ 11, MDR 2012, 905.

Greger | 341

§ 13 Rz. 13.137 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

Kinder

13.137

BGH v. 21.4.1977 – III ZR 200/74, VersR 1977, 817 u. OLG Düsseldorf v. 18.12.1980 – 18 U 148/80, VersR 1982, 77 (Spielplatz; Absicherung zur Straße); OLG Düsseldorf v. 27.4.1981 – III ZR 47/80, VersR 1981, 849 (Schulbushaltestelle; Absicherung zur Straße).

Kran

13.138

OLG Koblenz v. 16.9.2002 – 12 U 1802/00, NJW-RR 2003, 243 (Lkw-Zufahrt über Schienenbereich eines Hafenkrans).

Leitplanke

13.139

OLG Celle v. 28.3.1990 – 9 U 65/89, NZV 1990, 432 (nicht abgerundete oder versenkte Holmenden).

Minen

13.140

BGH VersR 1957, 109 (im Grünstreifen neben der Straße).

Parkbucht

13.141

BGH v. 24.7.2014 – III ZR 550/13, NZV 2014, 450 (20 cm hoher Bordstein, erkennbar nicht zum Überhangparken geeignet); OLG Dresden v. 20.12.2000 – 6 U 1889/00, DAR 2001, 213 (zu hoher Bordstein des Überhangstreifens); OLG Hamm v. 9.11.2007 – 9 U 29/07, NZV 2008, 405 (18 cm hoher Bordstein); OLG Saarbrücken v. 9.9.2008 – 4 U 114/08, NZV 2009, 293 (Baumstumpf im Überhangbereich).

Parkhaus

13.142

AG Osnabrück v. 2.1.1989 – 14 C 494/88, NJW-RR 1990, 37 (kein Hinweis auf Gefahr für Frontspoiler durch Steigung der Rampe); LG Bochum v. 17.8.1990 – 5 S 30/90, VersR 1992, 844 (Funktionsweise einer Schrankenanlage).

Rolltor

13.143

OLG Düsseldorf v. 26.11.1999 – 22 U 80/99, OLGR Düsseldorf 2000, 122 (Werkshalle); LG Mönchengladbach v. 13.1.1981 – 5 S 159/80, VersR 1981, 1140 (Parkhaus); LG Köln v. 13.5.1981 – 19 S 366/80, VersR 1982, 609 (Parkhaus); AG Pforzheim v. 12.2.1985 – 3 C 264/84, VersR 1985, 1199 (Hotelgarage).

Rolltreppe

13.144

OLG Düsseldorf v. 21.10.1993 – 18 U 67/93, VersR 1995, 535 (Überwachung); OLG Frankfurt v. 22.10.2007 – 19 U 160/07, MDR 2008, 626 (keine besonderen Maßnahmen bei Abschaltung); OLG Oldenburg VersR 1964, 1234 mit Anm. Ruhkopf (unverzügliches Anhalten bei Notfall); zu Recht einschränkend Kunz MDR 1982, 186.

Schussgeräusche

13.145

BGH v. 15.2.2011 – VI ZR 176/10, VersR 2011, 546 (Scheuen eines Pferdes allenfalls bei unmittelbarer Nähe des Jägers); OLG Hamm v. 15.1.2013 – 9 U 84/12, MDR 2013, 520 (entspr. für Weidevieh).

Sichtbehinderung

13.146

OLG Karlsruhe v. 7.4.1982 – 1 U 14/81, VersR 1983, 188 (durch Wahlplakat); OLG Koblenz v. 23.1.1989 – 12 U 144/88, NZV 1989, 392 (hohes Gras auf der Böschung).

Steinkreuz

13.147

BGH v. 28.5.1962 – III ZR 38/61, BGHZ 37, 165 (an Böschung, fällt bei Berührung um).

342 | Greger

IV. Einzelne Fallgruppen | Rz. 13.155 § 13

Stufe LG Hannover v. 20.12.1988 – 17 O 335/87, VersR 1989, 627 (Wartehäuschen; 28 cm Niveauunterschied).

13.148

Treppe BGH v. 14.6.1982 – III ZR 129/81, VersR 1982, 854 (in Böschung); BGH v. 24.1.2002 – III ZR 103/01, NJW 2002, 1265 (freiliegende Metallkanten; dazu Rinne NVwZ 2003, 11); OLG Celle v. 28.6.1976 – 9 U 25/76, VersR 1977, 671 (Kinderwagenrampe nicht deutlich abgesetzt); OLG Bamberg v. 18.12.1979 – 5 U 135/79, VersR 1981, 356 (erste Stufe erhöht); OLG Düsseldorf v. 29.3.1984 – 18 U 184/83, VersR 1984, 1153 LS (in Straßenböschung); OLG Frankfurt v. 17.11.1983 – 1 U 66/82, ZfS 1985, 67 (Ausbröckelungen); OLG Frankfurt v. 25.6.1985 – 22 U 303/84, VersR 1987, 204 (zu kurzer Handlauf).

13.149

Überdachung OLG Schleswig v. 3.7.1996 – 9 U 88/94, NZV 1996, 495 (Tankstellendach unter 4 m); LG Tübingen v. 17.1.1986 – 5 O 294/85, VersR 1987, 827 u. AG Bottrop v. 21.8.2001 – 10 C 260/00, NJW-RR 2002, 385 (Tankstelle).

13.150

Überflutung BGH VersR 1961, 806 (Autobahn); BGH VersR 1968, 555 (verstopfter Entwässerungsgraben); BGH VersR 1970, 545; BGH VersR 1973, 254; OLG Koblenz VersR 1967, 480; OLG Saarbrücken VM 1973, 59; OLG München v. 26.7.1979 – 1 U 2056/79, VersR 1980, 197; OLG Frankfurt NVwZ 1987, 734; OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 1994, 203 (verstopfter Gully); OLG Celle v. 21.6.2000 – 9 U 9/00, OLGR Celle 2001, 36 (verstopfter Abwasserschacht auf BAB); OLG Brandenburg v. 25.7.2000 – 2 U 73/99, VersR 2001, 1259 (Autobahn; Sicherungspflicht nach Vorunfall); OLG Köln OLGR Köln 2000, 288 (Nässe durch Straßenreinigungsarbeiten); OLG Hamm v. 18.11.1999 – 27 U 97/99, VersR 2001, 507 (1 m tief überflutete Straßensenke); OLG Hamm v. 1.3.2002 – 9 U 205/00, DAR 2002, 313 (Überflutung in Unterführung); LG Fulda DAR 1964, 102 (fehlender Abfluss an Bundesstraße).

13.151

Unfallhäufung

13.152

BGH VersR 1966, 290; BGH VersR 1969, 80 (Fußgängerunfälle).

Unterspülung BGH VRS 10, 83; BGH VersR 1954, 414; BGH VersR 1962, 326; OLG Nürnberg VRS 29, 401.

13.153

Verkaufsstand

13.154

OLG Jena VersR 1998, 990 (Vordach ragt in Luftraum der Straße).

Verkehrseinrichtungen (s. auch Rz. 13.70)

13.155

Fahrbahnteiler: OLG Düsseldorf DAR 1968, 153. Richtungspfeil: OLG Hamm v. 18.9.1998 – 9 U 64/98, NZV 1999, 207 (Rutschigkeit nach Überstreichen). Spiegel: OLG Frankfurt v. 6.10.1988 – 1 U 175/87, NZV 1989, 191 (keine Vorkehrungen gegen Beschlagen oder Vereisen); OLG Saarbrücken v. 4.5.2010 – 4 U 272/09, NJW 2010, 3104 (Veränderung des Blickwinkels durch Beschädigung; Kontrollpflicht). Straßenlampe: LG Aachen v. 25.5.1988 – 4 O 728/85, NZV 1989, 29 (Herabfallen eines Aufsatzes). Verkehrsinsel: OLG Koblenz NZV 2005, 257 (vorübergehend fehlendes Hinweisschild). Wegweiser: OLG Köln v. 23.8.1990 – 7 U 62/90, VersR 1991, 77 (Scheibe löst sich).

Greger | 343

§ 13 Rz. 13.156 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

Verkehrszeichen

13.156

BGH v. 15.6.2000 – III ZR 302/99, NZV 2000, 412 (gefahrträchtige Falschbeschilderung kann auch Verantwortlichkeit des Verkehrssicherungspflichtigen auslösen); BGH v. 6.6.2019 – III ZR 124/18, NJW-RR 2019, 1163 = NZV 2020, 195 LS mit Anm. Kalscheuer/Schmedemann (nicht ordnungsgemäße Befestigung, Zurechnung zur hoheitlichen Verkehrsregelungspflicht); OLG Zweibrücken v. 7.12.1984 – 1 U 209/83, VersR 1986, 821 (Standrohr eines Verkehrszeichens hält Anstoß eines Pkw nicht stand und erschlägt Passanten); OLG Nürnberg v. 24.5.2000 – 4 U 60/00, NJW 2000, 3075 (mangelnde Standfestigkeit, Kontrollpflicht); OLG Koblenz v. 9.2.2004 – 12 U 11/03, VersR 2005, 982 (durch Orkan abgelöstes Verkehrsschild); LG Berlin v. 21.12.1998 – 13 O 357/98, NVwZ-RR 1999, 362 (Umstürzen eines mobilen Halteverbotschilds bei Sturm); LG Karlsruhe v. 9.7.1997 – 1 S 51/97, VersR 1998, 1391 LS (unbefugtes Versetzen eines mobilen Haltestellenschildes auf die Fahrbahn). Eingehend zu stürzenden Verkehrszeichen Petershagen NZV 2011, 528 ff.

Vermessungsarbeiten

13.157

OLG Köln VersR 1966, 834 (auf der Autobahn).

Waage

13.158

Abweisstein: BGH VersR 1960, 511. Tragfähigkeit: OLG Stuttgart VersR 1973, 260.

Wasserlauf

13.159

OLG Koblenz v. 21.10.1998 – 1 U 778/97, OLGR Koblenz 1999, 149 (offene Wasserrinne in Fußgängerzone).

Weidetiere

13.160

Zu den Sicherungspflichten des Tierhalters s. Rz. 9.31 f.). Sie treffen aber auch andere Personen als den Halter, z.B . den Vermieter eines Pferdestalls (vgl. BGH v. 6.3.1990 – VI ZR 246/89, NZV 1990, 305).

Werbeanlage

13.161

OLG Hamm v. 5.2.2016 – 9 U 134/15, juris (6 m neben der Straße); LG Bochum v. 18.6.2001 – 6 O 73/01, NZV 2001, 431 (Hineinragen in Parkstreifen).

Wildwechsel

13.162

OLG Braunschweig v. 24.6.1998 – 3 U 30/98, NZV 1998, 501 (Kennzeichnungspflicht); BGH v. 13.7.1989 – III ZR 122/88, BGHZ 108, 273 u. OLG Frankfurt v. 6.5.1988 – 22 U 243/87, VRS 75, 82 (keine Pflicht, an Kreisstraße Wildschutzzaun anzubringen).

11. Rennveranstaltungen 13.163

Go-Cart-Bahn: OLG Karlsruhe VersR 1986, 479. Motorradrennen: OLG Koblenz v. 7.5.1984 – 12 U 1321/82, VersR 1984, 1053; OLG Saarbrücken v. 2.2.1990 – 3 U 144/88, DAR 1991, 102 (Absichern der Leitplankenpfosten). Radrennen: BGH v. 29.4.1986 – VI ZR 227/85, VersR 1986, 705 u. OLG Karlsruhe v. 1.8.1985 – 4 U 37/84, VersR 1986, 662 (Abpolstern von Leitplanken); OLG Stuttgart v. 29.6.1983 – 1 U 52/83, VersR 1984, 1098 (Sicherung gegen querende Fußgänger).

344 | Greger

V. Mithaftung | Rz. 13.167 § 13

V. Mithaftung 1. Allgemeines Der aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Anspruch Genommene wendet häufig ein, der Verletzte habe den Unfall bei vorsichtigerem Verhalten vermeiden können und müsse daher wegen Mitverschuldens nach § 254 Abs. 1 BGB seinen Schaden vollständig oder teilweise selbst tragen. Ob dieser Einwand berechtigt ist, hängt in hohem Maße von den Umständen des Einzelfalles ab (Nachweise aus der Rechtsprechung nachstehend). Generell ist aber von einer Verpflichtung des Straßenbenutzers auszugehen, auf erkennbare Gefahrenstellen zu achten und sachgemäß zu reagieren, so dass der Mitverschuldenseinwand in diesen Fällen häufig durchgreift, insbesondere bei erkennbarer Glätte.439 Hat der Verletzte den Unfall weitaus überwiegend durch sein Verschulden herbeigeführt, kann ein Ersatzanspruch völlig entfallen.440 Dies kommt aber nur ausnahmsweise in Betracht:441 Der Verkehrssicherungspflichtige kann die Folgen seiner Pflichtverletzung in der Regel nicht vollständig auf den Geschädigten abwälzen. Gegenüber einem behinderten Menschen könnte darin ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG liegen.442 Eine Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen entfällt auch nicht schon deswegen, weil die Gefahrenquelle nur bei unangepasstem Verhalten des Verletzten virulent werden konnte; hier kommt nur der Mitverschuldenseinwand in Betracht (s. dazu Rz. 13.38).

13.164

Der geschädigte Halter oder Führer eines Kfz muss sich auch bei fehlendem Verschulden ggf. dessen Betriebsgefahr anrechnen lassen (s. Rz. 25.87 ff.). Bei Unfällen nach dem 31.7.2002 gilt dies selbst dann, wenn der Unfall für den Führer unabwendbar war, denn höhere Gewalt i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG n.F. liegt in der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht in aller Regel nicht. Hier kann es zu einer vollen Entschädigung also nur noch kommen, wenn die Betriebsgefahr wegen besonders groben Verschuldens des Verkehrssicherungspflichtigen bei der Abwägung außer Betracht bleibt.443

13.165

Dem Insassen eines Kfz, das infolge Verschuldens des Verkehrssicherungspflichtigen verunglückt ist, kann ein mitwirkendes Verschulden des Fahrers oder eine Betriebsgefahr aber nicht entgegengehalten werden. Ihm haften vielmehr der Verkehrssicherungspflichtige und der Fahrer als Gesamtschuldner (§ 840 BGB).

13.166

Ein Mitverschulden kann zum einen darin liegen, dass der Geschädigte ausdrücklich angeordneten Pflichten zuwiderhandelt, z.B. der Winterreifenpflicht nach § 2 Abs. 3a StVO oder dem Sichtfahrgebot nach § 2 Abs. 1 S. 4 StVO.444 Häufiger sind aber die Fälle, in denen der Geschädigte (im Sinne eines Verschulden gegen sich selbst, s. Rz. 25.18 ff.) nicht die zur Ver-

13.167

439 Vgl. OLG Naumburg v. 11.5.2012 – 10 U 44/11, VersR 2013, 66; OLG München v. 4.4.1996 – 1 U 5069/95, OLGR München 1997, 173. 440 BGH v. 26.3.1981 – III ZR 106/80, VersR 1981, 733; OLG München v. 29.9.1960 – 1 U 1053/60, VersR 1961, 383; OLG Düsseldorf v. 28.10.1965 – 1 U 10/65, VersR 1966, 370. S. auch Rz. 25.129. 441 BGH v. 10.5.2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211; BGH v. 20.6.2013 – III ZR 326/12, VersR 2013, 1322 („schlechthin unverständliche Sorglosigkeit“); verfehlt OLG Oldenburg v. 29.4.2011 – 6 U 17/11, DAR 2011, 329. 442 BVerfG v. 24.3.2016 – 1 BvR 2012/13, NJW 2016, 3013. 443 Krit. Kärger DAR 2003, 5. 444 S. dazu BGH v. 23.4.2020 – III ZR 251/17 Rz. 37 ff., NJW 2020, 3106 (kein Verstoß, wenn Radfahrer gegen schwer erkennbare Drahtabsperrung fährt).

Greger | 345

§ 13 Rz. 13.167 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

meidung eines Eigenschadens zuzumutenden Vorkehrungen trifft, obwohl er die Gefahr kennt oder mit ihr rechnen muss, also z.B. bei Glätte oder Glättegefahr nicht besonders langsam und vorsichtig fährt oder in einem Baustellenbereich nicht auf Vertiefungen achtet.445 Fehlreaktionen aus Schrecken über eine unerwartete Gefahrsituation begründen kein Mitverschulden.446

13.168

Wer ein Fahrzeug mit tief herabgezogenem Frontspoiler fährt, muss besonders auf Hindernisse447 und Fahrbahnunebenheiten achten448 und ggf. bestimmte Bereiche (Aufkantungen, Baustellenstraßen) meiden449 oder mit größter Vorsicht befahren (verkehrsberuhigte Zonen; s. auch Rz. 13.70). Kein Mitverschulden liegt zwar darin, dass mit einem tiefer gelegten, aber straßenverkehrsrechtlich zugelassenen Fahrzeug eine dem allgemeinen Verkehr gewidmete Straße befahren wird;450 auf die Höhe von Bordsteinkanten u.Ä. muss der Fahrer aber besonders achten.451 Auch die Mitverursachung durch eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit kann zur Mithaftung führen.452 Wer einen ersichtlich sehr glatten oder sonst sehr gefährlichen Weg ohne Notwendigkeit benutzt, kann für seinen Schaden mitverantwortlich gemacht werden;453 zu einer vollständigen Haftungsbefreiung kann es in solchen Fällen aber nur bei absolut unnötiger und unvertretbarer Eigengefährdung kommen, etwa wenn sich ein Fußgänger auf eine erkennbar spiegelglatte Eisfläche begibt und hierauf zu Fall kommt.454 Mit einer nassen Kleieschicht auf der Fahrbahn muss auch in ländlichen Gegenden bei Nacht nicht stets gerechnet werden.455 Dem Geschädigten ist auch nicht anzulasten, dass er beim Verlassen eines Hauses im Dunkeln in ein Loch auf dem Gehweg tritt, welches beim Betreten des Hauses im Tageslicht für ihn erkennbar war.456 Auf dem Gehweg einer Stadt besteht keine Verpflichtung, die Augen ständig nach unten zu richten; wenn der Fußgänger Unebenheiten in der Pflasterung übersieht, ist ihm der Vorwurf einer besonderen Unaufmerksamkeit auch dann nicht zu machen, wenn ihm bekannt war, dass auf dem Gehweg immer wieder Mosaiksteine herausgerissen werden.457 Ein Radfahrer muss seine Geschwindigkeit nicht auf Hindernisse einrichten, die erst auf eine Distanz von wenigen Metern erkennbar werden.458

445 OLG München v. 25.5.1994 – 1 U 5787/93, VersR 1995, 719. 446 BGH v. 23.4.2020 – III ZR 251/17 Rz. 44, NJW 2020, 3106; BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 286/09 Rz. 13, NJW 2011, 292 m.w.N. Vgl. Rz. 10.54 zum haftungsbegründenden Verschulden. 447 OLG München v. 2.2.1993 – 27 U 226/92, VersR 1994, 832: Toranschlag. 448 OLG Düsseldorf v. 25.3.1993 – 18 U 267/92, VersR 1993, 1167; OLG Hamm v. 7.4.1992 – 9 U 8/92, NZV 1993, 67; LG Limburg v. 8.2.1990 – 7 S 86/89, NJW-RR 1990, 863. 449 OLG Hamm v. 4.5.1993 – 9 U 204/92, OLGZ 1994, 301. 450 OLG Hamm v. 30.6.1992 – 9 U 220/89, NZV 1992, 483, 484. 451 BGH v. 24.7.2014 – III ZR 550/13, NZV 2014, 450, 451. 452 LG Aachen v. 1.10.2015 – 12 O 87/15, NZV 2016, 323. 453 OLG Düsseldorf v. 21.2.1991 – 13 U 177/90, VersR 1992, 1418; OLG Brandenburg v. 23.1.1996 – 2 U 117/95, NZV 1997, 77, 78 (Radfahrerin benutzt statt der Fahrbahn Trampelpfad mit behelfsmäßiger Brücke); OLG München v. 27.3.2003 – 19 U 5318/02, VersR 2004, 251 (Autofahrer kehrt ohne Not bei Eisregen zu seinem geparkten Kfz zurück). 454 BGH v. 20.6.2013 – III ZR 326/12, VersR 2013, 1322. 455 BGH v. 23.1.2007 – VI ZR 146/06, NZV 2007, 352. 456 OLG Hamm v. 7.2.2006 – 9 U 62/05, NZV 2007, 140. 457 BGH v. 10.5.2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211. 458 BGH v. 23.4.2020 – III ZR 251/17 Rz. 37, NJW 2020, 3106; OLG Karlsruhe v. 16.7.2019 – 14 U 60/16, MDR 2019, 987.

346 | Greger

V. Mithaftung | Rz. 13.173 § 13

2. Einzelfälle zur Haftungsverteilung a) Mitverschulden von Kraftfahrern Glätte

13.169

BGH VersR 1966, 1139 (Glatteis, gerade noch ausreichendes Profil); OLG Oldenburg DAR 1956, 75 (Verletzung der Streupflicht, fehlerhaftes Bremsen); OLG Düsseldorf VersR 1968, 806 (Befahren erkannter Glättestelle); OLG Hamm VersR 1982, 171 (Fahrer muss an nicht gestreutem Gefälle hinter Kuppe mit verunglückten Fahrzeugen rechnen); OLG Frankfurt VersR 1983, 498 LS (besondere Sorgfalt bei gefrierendem Regen); OLG Düsseldorf VersR 1990, 401 (ständige Benutzung eines vereisten Weges in Hotelgelände); OLG Hamm NJW-RR 1989, 611 (Lastzug an Gefällestrecke mit 8–12 km/h zu schnell); OLG München VersR 1989, 1092 (Gefälle, scharfe Kurve; ortskundiger Fahrer kann Gefahr vermeiden); OLG Hamm DAR 2007, 87 (überfrierende Nässe, unangepasste Geschwindigkeit); LG Mannheim VersR 1975, 937 (gefrorene Pfütze aus Wasserrohrbruch, Missachten eines Warnpostens); LG München I VersR 1983, 765 (Spiegeleis auf Parkplatz, nicht rechtzeitig gestreut).

Überflutung

13.170

OLG Köln VersR 1992, 1268 (hochgedrückter Kanaldeckel schlägt gegen Linienbus); LG Essen VersR 1983, 190 (Einfahren in überflutete Unterführung).

Verschmutzung OLG Karlsruhe VersR 1973, 972 LS (zu schnelles Fahren auf unbefestigtem Feldweg mit verschmutzter Fahrbahn);

13.171

OLG Schleswig NZV 1992, 31 (Feldarbeiten); OLG Düsseldorf NJWE-VHR 1997, 288 (Motorradfahrer stürzt wegen Sandbelag bei Warnung vor Rollsplitt).

Tragfähigkeit

13.172

OLG Stuttgart VersR 1973, 260 (Befahren einer Bodenwaage mit Lkw); LG Frankfurt NZV 1989, 117 (Befahren eines wegen Bauarbeiten unbefestigten Gehwegs).

Unebenheit

13.173

BGH VersR 1971, 475 (Querrinne); OLG Saarbrücken VersR 1972, 207 (herausragender Kanaldeckel auf unfertiger Straße); OLG Stuttgart VersR 1972, 868 (hoher Frostaufbruch); OLG Celle NZV 2007, 569 (tiefes Schlagloch, mit dem Fahrer rechnen musste); OLG Oldenburg DAR 2011, 329 (hochstehender Pflasterstein).

Greger | 347

§ 13 Rz. 13.174 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

Bankett

13.174

OLG Schleswig NZV 1995, 153 (Abbruchkante).

Bäume

13.175

OLG Köln VRS 22, 2 (zu nahe an Straße, Lkw bei Gegenverkehr zu schnell); KG VersR 1971, 183 (zu niedriger Ast); KG VersR 1973, 187 (geneigter Baum).

Baustelle

13.176

BGH VersR 1966, 779 (Verkehrsregler an Baustelle, überhöhte Geschwindigkeit); BGH VersR 1981, 733 (Sperranhänger eines Bautrupps auf Autobahn nicht ausreichend gesichert, aber gelbe Springlichter schon aus 1 km erkennbar); KG VM 2010 Nr. 40 (unzureichende Absicherung, unangepasste Geschwindigkeit); LG Nürnberg-Fürth NJW-RR 2018, 339 (Befolgen einer irreführenden Beschilderung, die erkennbar nur für Baufahrzeuge gilt).

Gefahren von angrenzendem Grundstück

13.177

BGH VersR 1980, 740, LG Karlsruhe VersR 1983, 788, AG Düren NJW-RR 1986, 191 u. AG Schönau MDR 2000, 583 (Dachlawine); OLG Hamm OLGR Hamm 2000, 56 (Schweißarbeiten).

Ampel

13.178

OLG Köln NZV 1992, 364 (feindliches Grün an Baustellenampel); OLG Koblenz NZV 1994, 192 (Rotlichtverstoß wegen schwer erkennbarer Ampel).

b) Mitverschulden von Radfahrern 13.179

OLG Celle VersR 1988, 858 (Seitenstreifen 10 cm tiefer, Radfahrer unaufmerksam); OLG Düsseldorf VersR 1991, 1153 (Radfahrer gegen Bauminsel); OLG Hamm NZV 1996, 453 (Mülltonnen auf Radweg); OLG Hamm NZV 1996, 495 (tiefes Loch in Unterführung; schlechte Beleuchtung); OLG Hamm NZV 1998, 500 (Niveauunterschied zwischen Rad- und Gehweg); OLG Hamm VersR 1999, 1416 (gefährliche Radwegkurve, zu hohe Geschwindigkeit); OLG Hamm NZV 2015, 393 (Asphaltkante, bei Dunkelheit nicht auf Sicht gefahren); OLG Hamm NZV 2006, 550 (Laubschicht auf Radweg); OLG Bremen NJW-RR 2018, 923 (mit Laub bedeckte Bordsteinkante); LG Oldenburg VersR 1982, 1061 (herausragender Kanaldeckel auf Sandweg neben Ladestraße; Radfahrerin stürzt); LG Aachen VersR 1990, 102 (Absackung; Rennradfahrer stürzt).

348 | Greger

V. Mithaftung | Rz. 13.184 § 13

c) Mitverschulden von Fußgängern Glätte BGH VersR 1970, 182 (Fußgänger benutzt glatte Fahrbahn statt gefrorenen Rasenstreifen am Straßenrand);

13.180

BGH VersR 1985, 90 (Kraftfahrer begibt sich auf eisglatten Parkplatz, um sein Kraftfahrzeug zu holen); BGH VersR 1985, 570 (Übersteigen eines Schneewalls); OLG Nürnberg VersR 1970, 773 (vereiste Fahrbahn voller Schlaglöcher, Fußgänger benutzt keinen Stock); OLG Hamm VersR 1984, 795 LS (Fußgänger hält sich nicht an Jägerzaun fest: kein Mitverschulden); OLG Hamm NJWE-VHR 1998, 269 (Begehen von Eisfläche auf Gehweg trotz Ausweichmöglichkeit); OLG Hamm NZV 1999, 127 (vermeidbares Begehen erkanntermaßen extrem glatten Weges); OLG Düsseldorf VersR 1990, 401 (Hotelgast hat Zugangsweg mehrere Tage benutzt, ohne die Glätte zu rügen; sehr weitgehend); OLG Jena NZV 2005, 578 (keine äußerste Sorgfalt trotz erkannter Vereisung des Gehwegs); OLG Brandenburg NZV 2014, 179 (Fußgänger benutzt ohne Notwendigkeit Gehweg in Kenntnis möglicher Glätte); OLG Bremen NZV 2014, 181 (Gehbehinderter rutscht bei Platzmachen für entgegenkommenden mit Rollator aus); LG Heidelberg VersR 1982, 402 (unbestreuter, unebener Weg, auf anderer Straßenseite ausgebauter Feldweg).

Unebenheit

13.181

BGH VersR 1969, 515 (Stolpern über Unebenheit im Pflaster); OLG Hamburg VersR 1962, 344 (Loch an Straße, dem Fußgänger bekannt); LG Berlin VersR 1973, 327 (Unebenheit auf unbefestigtem Gehweg); LG Heidelberg VersR 1973, 724 (aufgefüllter Graben).

Bahnübergang

13.182

OLG Frankfurt VersR 1995, 1505 (Verhalten eines Kindes bei Unübersichtlichkeit).

Baustelle

13.183

BGH VersR 1986, 704 (Benutzung eines provisorischen Gehwegs).

Hindernisse

13.184

OLG Stuttgart VersR 1967, 485 (Baustahlgewebe auf Fußweg); OLG Hamm VM 2006 Nr. 72 (Pflanzkübel bei Dunkelheit); LG Hamburg VersR 1972, 653 (Kellertreppe auf Gehsteig); LG Flensburg VersR 1973, 476 (Stolpern über Baumstumpf); LG Heidelberg VersR 1974, 688 (mangelhaft abgesicherte Abdeckung eines Wassereinlaufs).

Greger | 349

§ 13 Rz. 13.185 | Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht

Dunkelheit

13.185

OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 1996, 143 (Überqueren in Bau befindlicher Straße ohne Beleuchtung); OLG Koblenz MDR 1998, 1349 (keine Gewöhnung an Dunkelheit); OLG Saarbrücken NZV 2016, 329 (Joggen im Dunkeln).

350 | Greger

§ 14 Verkehrspflichten im Straßenverkehr

I. 1. 2. 3. II. 1. 2. 3. 4. a) b) c) d) e) f) g) h) i) 5. a) b) c) d) e) f) g) h) i) j) k) l) 6. a) b) c) d)

Kfz-Halter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zustand des Fahrzeugs . . . . . . . . . . Schutz vor ungeeignetem Fahrer . . Schutz vor unbefugter Benutzung . Kfz-Führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrtüchtigkeit, Fahrzeugbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutz vor unbefugter Benutzung . Allgemeines zum Verkehrsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generelle Anforderungen . . . . . . . Geschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Fahrbahnbeobachtung . . . . . . . . . . Reaktion auf plötzliche Ereignisse . Fahrbahnbenutzung . . . . . . . . . . . . Rückwärtsfahren . . . . . . . . . . . . . . Wenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absichern liegengebliebener Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrzeugzustand, Beleuchtung, Besetzung, Beladung . . . . . . . . . . . Ruhender Verkehr . . . . . . . . . . . . . Pflichten gegenüber dem gleichgerichteten Verkehr . . . . . . . . . . . . Anfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bremsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überholen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausscheren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebeneinanderfahren . . . . . . . . . . Fahrstreifenwechsel . . . . . . . . . . . . Verhalten gegenüber Sonderrechtsfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . Linksabbiegen . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsabbiegen . . . . . . . . . . . . . . . . Kreisverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbiegen in Grundstück . . . . . . . . Pflichten gegenüber dem Gegenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrbahnbenutzung . . . . . . . . . . . . Verhalten an Engstelle . . . . . . . . . . Überholen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Linksabbiegen . . . . . . . . . . . . . . . .

14.1 14.1 14.5 14.6 14.8 14.8 14.10 14.11 14.17 14.17 14.38 14.40 14.45 14.48 14.53 14.56 14.59 14.68 14.75 14.75 14.79 14.82 14.86 14.96 14.97 14.98 14.102 14.103 14.108 14.111 14.112 14.114 14.114 14.119 14.122 14.126

7. Pflichten gegenüber dem Querverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unklare Vorfahrtsituation . . . . . . . c) Grundsätzliches zum Verhalten des Wartepflichtigen . . . . . . . . . . . d) Grundsätzliches zum Verhalten des Vorfahrtberechtigten . . . . . . . . e) Besonderheiten bei Vorfahrt „rechts vor links“ . . . . . . . . . . . . . . f) Besonderheiten bei Regelung durch Verkehrszeichen . . . . . . . . . g) Besonderheiten bei Lichtzeichenanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Besonderheiten im Kreisverkehr . . i) Besonderheiten bei Grundstücksausfahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Besonderheiten bei Fahrzeugen mit Sonderrechten . . . . . . . . . . . . . k) Besonderheiten bei geschlossenen Verbänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Pflichten gegenüber Schienenfahrzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Pflichten gegenüber Radfahrern . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . 10. Pflichten gegenüber Fußgängern . a) Fußgängerüberwege . . . . . . . . . . . . b) Abbiegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Überfahren eines Gehwegs . . . . . . d) Anfahren aus Stillstand . . . . . . . . . e) Verhalten an Haltestellen . . . . . . . f) Unachtsames Betreten der Fahrbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Vorbeifahren an Fußgängern . . . . h) Ruhender Verkehr . . . . . . . . . . . . . 11. Pflichten gegenüber Kindern . . . . . 12. Pflichten gegenüber Tieren . . . . . . 13. Besondere Pflichtenstellung . . . . . III. Schienenfahrzeugführer . . . . . . . . 1. Pflichten gegenüber dem Kraftfahrzeugverkehr . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichten gegenüber Radfahrern und Fußgängern an Überwegen . .

14.137 14.137 14.138 14.159 14.171 14.179 14.183 14.186 14.190 14.191 14.202 14.208 14.209 14.216 14.216 14.217 14.221 14.221 14.225 14.226 14.227 14.228 14.229 14.236 14.242 14.243 14.252 14.253 14.258 14.258 14.259

Greger | 351

§ 14 Rz. 14.1 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr 3. IV. 1. 2. 3. 4. 5. 6. V. 1. 2. 3. 4. VI.

Pflichten an Haltestellen . . . . . . . . Radfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilnahme am Verkehr . . . . . . . . . Geschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . Fahrbahnbenutzung . . . . . . . . . . . Überholen, Vorbeifahren . . . . . . . Abbiegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fußgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benutzen der Fahrbahn . . . . . . . . . Überqueren der Fahrbahn . . . . . . Verkehrsuntüchtigkeit . . . . . . . . . Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inline-Skates, E-Scooter und ähnliche Fortbewegungsmittel . . VII. Führen und Treiben von Tieren . 1. Fuhrwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.261 14.262 14.263 14.264 14.265 14.269 14.272 14.274 14.275 14.276 14.280 14.287 14.288 14.290 14.293 14.293

2. Reiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vieh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Sonstige Einwirkungen auf Verkehrsvorgänge . . . . . . . . . . . . 1. Kfz-Insassen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriff in Verkehrsvorgänge . . . . 3. Verabreichen von Alkohol . . . . . . 4. Inverkehrbringen eines mangelhaften Fahrzeugs . . . . . . . . . . . . . . 5. Nichtverhindern gefahrträchtiger Kfz-Benutzung . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schutz von Kindern . . . . . . . . . . . 7. Verletzung von Obhutspflichten über Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Sport und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . 9. Sicherheit des Verkehrswegs . . . . . 10. Fehlerhafte Verkehrsregelung . . . .

14.295 14.296 14.297 14.297 14.301 14.302 14.304 14.309 14.316 14.318 14.319 14.321 14.322

Im Folgenden wird die umfangreiche Kasuistik zu den Sorgfaltsanforderungen im Straßenverkehr, geordnet nach Pflichtigen und nach Fallgestaltungen, wiedergegeben. Allgemein zu den Verkehrspflichten s. Rz. 10.8 f., 13.1 ff.

I. Kfz-Halter 1. Zustand des Fahrzeugs 14.1

Der Halter ist nach § 31 Abs. 2 StVZO für den verkehrssicheren Zustand des Kfz verantwortlich.1 Ein neues oder generalüberholtes Kfz braucht er aber zunächst nicht auf Betriebssicherheit untersuchen zu lassen; anders beim Kauf eines gebrauchten Kfz von Privat bzw. ohne Gewährleistung.2 Beim Erwerb eines Gebrauchtfahrzeugs im Kfz-Handel darf grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die aufgezogenen Reifen noch verkehrssicher sind;3 ebenso beim Kauf gebrauchter Reifen im Handel.4 Lässt der Halter eines Kfz durch eine Fachwerkstatt neue Reifen aufziehen, ist er nur dann verpflichtet, diese auf ihre Reifengröße hin zu überprüfen, wenn besondere Umstände eine solche Kontrolle angezeigt erscheinen lassen.5 Eine Pflicht zur Ausrüstung des Kfz mit einem vorschriftsmäßigen Reservereifen besteht 1 BGH v. 10.7.1958 – 4 StR 180/58, NJW 1958, 1980, 1982; BHHJ/Heß § 23 StVO Rz. 34; Hentschel/König/Dauer § 31 StVZO Rz. 6. Zu den besonderen Anforderungen in Bezug auf Fahrerassistenzsysteme s. Berz/Dedy/Granich DAR 2000, 548; Vogt NZV 2003, 156; zu teil- oder vollautomatisierten Kfz s. Rz. 6.6 ff. 2 BGH v. 9.5.1995 – VI ZR 128/94, NZV 1995, 310. 3 OLG Stuttgart v. 19.3.1990 – 5 U 113/89, NZV 1991, 68. Anders bei Rat des Verkäufers, die Reifen auszuwechseln, OLG München v. 5.3.1998 – 24 U 611/97, VersR 1999, 246. 4 OLG Frankfurt v. 2.3.1989 – 3 U 270/86, VRS 78, 174. Zum Umfang der Prüfpflicht bei Erwerb von Autoverwerter OLG Köln v. 22.1.2002 – 3 U 142/01, VersR 2003, 384. 5 BayObLG v. 12.3.1980 – 1 Ob OWi 55/80, VRS 59, 60; OLG Karlsruhe v. 15.3.1993 – 2 Ss 3/93, NZV 1993, 322.

352 | Greger

I. Kfz-Halter | Rz. 14.5 § 14

nicht.6 Der Halter ist nicht verpflichtet, sich fortlaufend vom vorschriftsmäßigen Zustand des Fahrzeugs zu überzeugen; er hat jedoch nach § 31 Abs. 2 StVZO die Inbetriebnahme zu untersagen, wenn ihm bekannt ist oder bekannt sein muss, dass das Fahrzeug einschließlich Ladung den Vorschriften nicht entspricht. Der unvorschriftsmäßige Zustand muss ihm nur dann bekannt sein, wenn ihn nach anderen Vorschriften eine Untersuchungspflicht trifft. Eine allgemeine Untersuchungspflicht besteht für den Halter nicht. Auch ein Busunternehmer ist nicht verpflichtet, das Fahrzeug trotz amtlicher Zulassung auf etwaige Konstruktionsmängel, etwa an der Türautomatik, zu untersuchen.7 Er soll jedoch nach recht weitgehenden Entscheidungen dafür verantwortlich sein, dass die Fahrgäste im Nachläufer eines Gelenkbusses nicht wegen der dort auftretenden Querbeschleunigungskräfte von den Sitzen rutschen können8 und dass die Reißfestigkeit der Halteschlaufen monatlich kontrolliert wird.9

14.2

Zur Erhaltung der Betriebssicherheit des Kfz kann sich der Halter einer Hilfsperson bedienen, die die zur Pflege des Wagens und Beurteilung der Betriebssicherheit erforderliche Sachkunde besitzt und von deren Tauglichkeit und Zuverlässigkeit er sich mit der erforderlichen Sorgfalt vergewissert hat10 (zu deren Verantwortlichkeit s. Rz. 14.307). Im Allgemeinen genügt es, den Wagen regelmäßig zur Inspektion in eine Fachwerkstatt zu bringen.11 Zeigen sich aber zwischendurch Mängel, muss er sie unverzüglich beheben lassen.12 Bei schlechtem Allgemeinzustand muss er mit verborgenen Mängeln rechnen.13 Allein aus der Untersuchung des Kfz nach § 29 StVZO darf der Halter nicht ohne weiteres den Schluss ziehen, dass keine Mängel vorhanden seien.14 Über Hinweise auf einen verkehrsunsicheren Zustand darf er sich nicht hinwegsetzen.15

14.3

Ist vorhersehbar, dass das Fahrzeug während der Überlassung an einen Dritten vorschriftswidrig wird (z.B. bei bereits weit abgefahrenen Reifen), so ist die Überlassung schuldhaft, wenn der Halter nicht sicher sein kann, dass der Dritte entweder den Mangel rechtzeitig beheben lassen oder das Fahrzeug nicht weiterbenutzen wird.16 Die Überlassung eines verkehrsunsicheren Fahrzeugs an einen Dritten begründet die deliktische Haftung auch diesem gegenüber, selbst wenn der Wunsch zur Fahrt von diesem selbst ausging.17

14.4

2. Schutz vor ungeeignetem Fahrer Der Halter handelt schuldhaft, wenn er das Kfz einer ungeeigneten, z.B. bekanntermaßen leichtsinnigen, Person anvertraut. Er hat sich über ihre Charaktereigenschaften, soweit möglich, vorher zu vergewissern. Überlassen an einen Betrunkenen begründet die Haftung für

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

BGH v. 3.7.1968 – IV ZR 531/68, NJW 1968, 2142; Hentschel/König/Dauer § 36 StVZO Rz. 9. OLG Köln v. 17.9.1982 – 3 U 235/81, VRS 64, 407. OLG Köln v. 17.4.1991 – 2 U 173/90, NZV 1992, 279. OLG Hamm v. 28.9.1999 – 9 U 82/99, NZV 2000, 208. BGH v. 14.10.1997 – VI ZR 404/96, NZV 1998, 23; OLG Frankfurt v. 22.9.1998 – 8 U 65/96, NZV 1999, 420. BGH v. 19.1.1965 – VI ZR 238/63, VersR 1965, 473; BGH v. 16.9.1975 – VI ZR 171/73, VersR 1976, 148 (Überprüfung der Anhängerkupplung). BGH v. 1.10.1969 – IV ZR 642/68, VersR 1969, 1025. BGH v. 16.9.1975 – VI ZR 171/73, VersR 1976, 148. BGH v. 19.1.1965 – VI ZR 238/63, VersR 1965, 473. BGH v. 6.3.2008 – 4 StR 669/07, NJW 2008, 1897. BayObLG v. 15.6.1990 – 2 Ob OWi 156/90, NZV 1990, 442. OLG Köln v. 9.4.1991 – 9 U 132/90, NZV 1992, 405.

Greger | 353

14.5

§ 14 Rz. 14.5 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

Unfälle, die auf der Fahruntauglichkeit beruhen.18 Setzt sich die unzuverlässige Person eigenmächtig ans Steuer, hat der Halter sie unmissverständlich und nachdrücklich zum Verlassen des Fahrersitzes aufzufordern.19 Der Halter muss sich auch vergewissern, dass der Fahrer die Fahrerlaubnis besitzt; i.d.R. muss er sich den Führerschein zeigen lassen.20 Die Haftung setzt allerdings voraus, dass der Eignungsmangel für den Unfall kausal war (s. Rz. 10.21 ff.). Der ungeeignete Fahrer selbst wird von der Schutzwirkung der vorgenannten Pflichten grundsätzlich nicht erfasst; eine Ausnahme mag bei Überlassung des Kfz durch einen Erwachsenen an einen Jugendlichen gelten.21

3. Schutz vor unbefugter Benutzung 14.6

Der Halter eines Kfz haftet für Unfälle, die sich auf einer Schwarzfahrt ereignen, nicht nur nach § 7 Abs. 3 StVG (s. Rz. 3.214 ff.), sondern u.U. auch aus unerlaubter Handlung (§ 823 BGB), denn er ist verpflichtet, alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um sein Kfz vor einer Benutzung durch Unbefugte zu bewahren.22 Wegen der Einzelheiten s. Rz. 3.242 ff. Anders als bei § 7 Abs. 3 StVG muss er sich bei der deliktischen Haftung aus Verkehrspflichtverletzung ggf. das Fehlverhalten eines Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB zurechnen lassen.23

14.7

Anders als bei § 7 Abs. 3 StVG muss der Verletzte, der sich auf deliktische Haftung berufen will, aber nachweisen, dass der Unfall (und nicht nur die Schwarzfahrt) durch das Verschulden des Halters adäquat verursacht wurde.24 Dies ist auch mit der in der Rechtsprechung. verschiedentlich anzutreffenden Formulierung gemeint, die Haftung aus unerlaubter Handlung trete nur ein, wenn sich das Verschulden des Halters nicht in der Ermöglichung der Schwarzfahrt erschöpft, sondern sich darüber hinaus darauf bezogen hat, dass das Kfz in verkehrsgefährlicher Weise benutzt worden ist.25 Es ist zwar eine allgemeine Erfahrungstatsache, dass Schwarzfahrer und Autodiebe die Achtung vor fremden Rechtsgütern vermissen lassen und daher durch rücksichtsloses Fahren häufig Unfälle verursachen,26 doch kann damit allein der Kausalitätsbeweis nicht geführt werden. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an.27 Der Ursachenzusammenhang fehlt, wenn sich der unbefugte Benutzer verkehrsgerecht verhalten und keiner Verkehrsvorschrift zuwidergehandelt hat (s. Rz. 10.22). Verursacht der Schwarzfahrer (z.B. Dieb) einen Unfall bei dem Versuch, sich durch Flucht mit dem Fahrzeug der Festnahme durch die Polizei zu entziehen, so ist der Zurechnungszusammenhang zu bejahen, weil durch die mangelhafte Sicherung des Fahrzeugs die Gefahr eines derartigen Verlaufs der Schwarzfahrt voraussehbar in nicht unerheblicher Weise erhöht wird.28 Der unbefugte Benutzer selbst wird von der Schutzwirkung der Vorschriften über die Sicherung des Kfz

18 BGH v. 5.1.1968 – 4 StR 365/67, VRS 34, 354. 19 BGH v. 19.9.1984 – IVa ZR 127/82, VersR 1984, 1152, 1153. 20 BGH v. 5.1.1968 – 4 StR 365/67, VRS 34, 354; OLG Hamm v. 30.11.1976 – 20 W 35/76, VersR 1977, 757. 21 BGH v. 16.10.1990 – VI ZR 65/90, NZV 1991, 109. 22 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, VersR 1981, 40 m.w.N. 23 Übersehen von OLG Jena v. 8.7.2003 – 5 U 177/03, NZV 2004, 312. 24 BGH v. 19.10.1965 – VI ZR 116/64, VersR 1966, 79; BGH v. 14.12.1965 – VI ZR 156/64, VersR 1966, 166. 25 BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 73/78, VersR 1979, 766. 26 RG v. 10.3.1932 – VI 9/32, RGZ 136, 4, 10; BGH v. 1.4.1958 – VI ZR 92/57, VersR 1958, 413. 27 RG v. 10.3.1932 – VI 9/32, RGZ 136, 4, 10. 28 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, VersR 1981, 40.

354 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.10 § 14

grundsätzlich nicht erfasst. Zur Kausalität zwischen mangelhafter Sicherung und Schwarzfahrt s. Rz. 3.241.

II. Kfz-Führer 1. Fahrtüchtigkeit, Fahrzeugbeherrschung Nicht nur während der Fahrt, sondern auch schon vor deren Antritt treffen den Führer (ggf. haftungsbegründende) Sorgfaltspflichten. Insbesondere ist er verpflichtet, sich stets zu vergewissern, ob er nach seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten überhaupt imstande ist, den Erfordernissen des Straßenverkehrs zu genügen. Er handelt schuldhaft, wenn er sich ein Nachlassen seiner Leistungsfähigkeit nicht bewusst macht, obwohl er es bei sorgfältiger Selbstkontrolle hätte bemerken können.29 Dass er für das Unfallgeschehen selbst infolge Bewusstseinsstörung nicht verantwortlich gemacht werden kann, entlastet ihn dann nicht. Er darf die Fahrt nicht antreten oder fortsetzen, wenn er bemerken muss, dass er das Kfz wegen mangelnder Erfahrung oder technischer Besonderheiten, z.B. eines neuartigen Fahrerassistenzsystems,30 nicht beherrscht.

14.8

Der BGH stellt an die Selbstprüfung hohe Anforderungen. Der Kraftfahrer braucht den genauen Grund für seine Beeinträchtigung nicht zu erkennen. Es genügt, dass er Ausfälle registrieren muss, die Anlass zu Zweifeln an der Fahrtüchtigkeit geben. Ebenso kann der Fahrer auch für einen plötzlichen, sich vorher nicht wahrnehmbar ankündigenden Ausfall verantwortlich gemacht werden, wenn besondere Mängel seiner körperlichen oder geistigen Gesundheit, von deren Vorhandensein er Kenntnis hat oder haben müsste, zu solchem Versagen führen können.31 Anlass zu besonders kritischer Selbstprüfung besteht bei vorangegangener Krankheit und fortgeschrittenem Lebensalter, ggf. noch verschärft durch erschwerende Fahrtumstände (z.B. schwülwarmes Wetter, lange Nachtfahrt). Der BGH32 hat zwar eine generelle Verpflichtung, sich ab Erreichen einer gewissen Altersstufe auf die Fahrtüchtigkeit untersuchen zu lassen, verneint, einen Kraftfahrer aber dann für verpflichtet gehalten, sich – ggf. unter Hinzuziehung eines Arztes – hierüber zu vergewissern, wenn er bei selbstkritischer Prüfung altersbedingte Auffälligkeiten erkennt oder erkennen muss, die sich auch nach laienhafter Beurteilung auf seine Fahrtüchtigkeit auswirken können.

14.9

2. Schutz vor unbefugter Benutzung Der Führer haftet ebenso wie der Halter für die Folgen eines Unfalls, den er in zurechenbarer Weise dadurch verursacht, dass er das Fahrzeug einer ungeeigneten Person überlässt oder die unbefugte Benutzung des Fahrzeugs, z.B. durch Unterlassen der vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen, ermöglicht (s. Rz. 14.6 f. und wegen Einzelheiten zu den einschlägigen Sorgfaltspflichten s. Rz. 3.242 ff.).33 Bei E-Bikes und E-Scootern mögen die Anforderungen geringer sein; sie dürfen aber auch nicht so abgestellt werden, dass eine gefahrträchtige Nutzung,

29 BGH v. 20.10.1987 – VI ZR 280/86, VersR 1988, 388 (altersbedingte Auffälligkeiten); BGH v. 9.6.1967 – VI ZR 11/66, VersR 1967, 808 = JZ 1968, 103 mit Anm. Deutsch (Sehvermögen); OLG Köln v. 18.1.1995 – 11 U 179/94, VersR 1996, 208 (Dauererkrankung). 30 Dazu Vogt NZV 2003, 153, 157; Berz/Dedy/Granich DAR 2000, 545, 549. 31 BGH v. 20.10.1987 – VI ZR 280/86, VersR 1988, 388, 389; weniger streng BGH v. 17.11.1994 – 4 StR 441/94, BGHSt 40, 341 = NZV 1995, 157 für die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Epileptikers ohne Krankheitseinsicht. 32 BGH v. 20.10.1987 – VI ZR 280/86, VersR 1988, 388, 389. 33 OLG Jena v. 8.7.2003 – 5 U 177/03, NZV 2004, 312, 313.

Greger | 355

14.10

§ 14 Rz. 14.10 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

z.B. durch Minderjährige, ermöglicht wird.34 Überlässt ein Jugendlicher bei einer Schwarzfahrt das Steuer einem mitfahrenden Jugendlichen, so ist er für einen von diesem verursachten Unfall mitverantwortlich. Wegen der eigenen Verletzungen kann der zweite Schwarzfahrer den ersten aber nicht haftbar machen, denn er hat sich aus eigenem Antrieb zu einem gesetzwidrigen und selbstgefährlichen Tun entschlossen.35

3. Allgemeines zum Verkehrsverhalten 14.11

Selbstverständliche Pflicht des Fahrzeugführers ist es, die in den einschlägigen Vorschriften (insb StVO und StVZO) niedergelegten Verkehrsregeln einzuhalten. Diesen ist jedoch nicht für jede denkbare Verkehrssituation eine eindeutige Handlungsanweisung zu entnehmen. Hier kommt es auf die richtige Ausfüllung von Generalklauseln (z.B. § 1 Abs. 2 StVO) und die sachgerechte Abgrenzung von Rechten und Pflichten an, die letztlich von der Rechtsprechung getroffen wird, aber auch dem einzelnen Verkehrsteilnehmer abverlangt werden muss. Darüber hinaus gebietet es die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ aber auch, erkennbar gefahrträchtige Situationen nach Möglichkeit zu entschärfen bzw. das Entstehen solcher Situationen überhaupt zu vermeiden. Dies kann im Einzelfall sogar dazu führen, Regeln der StVO außer Acht zu lassen, wenn gerade durch ihre Beachtung, z.B. infolge verkehrswidrigen Verhaltens anderer, eine Unfallgefahr heraufbeschworen würde.36

14.12

Begrenzt werden die Sorgfaltsanforderungen aber durch den sog Vertrauensgrundsatz. Nach diesem darf der Fahrer sich grundsätzlich auf verkehrsgerechtes Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer verlassen. Insbesondere muss er sich nicht auf grobe Verkehrsverstöße einstellen.37 Bestehen aber nach der konkreten Verkehrssituation Anhaltspunkte für verkehrswidriges Verhalten anderer, so muss das eigene Fahrverhalten hierauf eingestellt werden.38 Dies gilt in besonderem Maße solchen Personen gegenüber, von denen verkehrsrichtiges Verhalten nicht ohne weiteres erwartet werden kann wie z.B. Kinder, alte Menschen, Gebrechliche, Betrunkene;39 auch hier ist aber erforderlich, dass Auffälligkeiten erkennbar sind, die zu einer Gefährdung führen können.40 Nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann sich auch, wer selbst durch sein Verhalten eine schwierige oder unklare Verkehrslage geschaffen oder die dem Schutz des anderen dienenden Verkehrsregeln missachtet hat.41 Nicht jede Pflichtwidrigkeit hebt aber den Vertrauensgrundsatz auf; auch der gegen das Rechtsfahrgebot Verstoßende darf auf die Beachtung seiner Vorfahrt vertrauen.42

34 So Koch NJW 2020, 183 für das ungesicherte Abstellen in der Nähe von Kinderspielplätzen, Kindergärten oder Grundschulen. 35 BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 51/76, NJW 1978, 421. 36 BGH v. 21.6.1960 – VI ZR 69/59, VersR 1960, 925 (Ermöglichen von Überholen, nur bei besonderen Umständen); BGH v. 20.12.1962 – III ZR 155/61, VersR 1963, 282 (Inanspruchnahme der Vorfahrt). 37 BGH (Vereinigte Große Senate) v. 12.7.1954 – VGS 1/54, BGHZ 14, 232; BGH v. 25.1.1972 – VI ZR 164/70, VersR 1972, 459. 38 BGH v. 18.2.1969 – VI ZR 230/67, VersR 1969, 518; BGH v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540; BayObLG v. 24.10.1988 – 2 Ob OWi 264/88, NZV 1989, 121. 39 BGH v. 15.5.1973 – VI ZR 62/72, VersR 1973, 765. 40 BGH v. 1.7.1997 – VI ZR 205/96, NJW 1997, 2756; BGH v. 12.5.1998 – VI ZR 124/97, NJW 1998, 2816, 2817. 41 BGH v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, NJW 2003, 1929 m.w.N.; OLG Oldenburg v. 1.2.1985 – 11 U 51/84, VersR 1985, 1096; MünchKomm-StVR/Bender § 1 StVO Rz. 23. 42 BGH v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540.

356 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.18 § 14

Als Sorgfaltsmaßstab dürfen für die Begründung der deliktischen Haftung nicht die hohen Anforderungen der Rechtsprechung zu § 7 Abs. 2 StVG a.F. bzw. § 17 Abs. 3 StVG n.F. herangezogen werden. Entscheidend ist nach § 276 BGB die „im Verkehr erforderliche“, nicht die „äußerst mögliche“ Sorgfalt (s. Rz. 10.53 ff.). Allerdings darf der Unterschied auch nicht überschätzt werden. Die Anforderungen an den Idealfahrer (s. Rz. 3.275) und an die verkehrsnotwendige Sorgfalt i.S.d. § 276 Abs. 1 S. 2 BGB liegen nicht so weit auseinander, wie die oftmals erheblich differierenden Ergebnisse von Gefährdungs- und Verschuldenshaftung glauben machen könnten; hierfür ist in weit höherem Maße die unterschiedliche Beweislastregelung verantwortlich. Vielfach wird sich nur einzelfallbezogen feststellen lassen, ob der „denkbar beste“ Kraftfahrer sich anders verhalten hätte, als der seinen Verkehrspflichten genügende.

14.13

Nach der Rechtsprechung trifft den Kraftfahrer bei den Verkehrsvorgängen, für die die StVO einen Ausschluss der Gefährdung anderer verlangt (z.B. § 9 Abs. 5, § 10 StVO), eine Pflicht zu gesteigerter Sorgfalt. Dadurch wird jedoch kein besonderer Fahrlässigkeitsmaßstab begründet, sondern es werden lediglich in verfehlter, weil unbestimmter Weise, Verkehrspflichten begründet (s. Rz. 10.58, 14.112, 14.192).

14.14

Zu beachten ist, dass nicht jeder Verkehrsverstoß ohne weiteres zur Haftung für einen damit zusammenhängenden Unfall führt. Nach den Grundsätzen über den Zurechnungszusammenhang tritt die Haftung vielmehr nur dann ein, wenn die Vermeidung des betreffenden Unfallgeschehens von der Schutzwirkung der verletzten Verkehrsvorschrift erfasst wird (s. Rz. 10.29). So dient z.B. das Rechtsfahrgebot nur dem Schutz des Gegen- und Überholverkehrs, so dass ein hierauf beruhender Zusammenstoß mit einem querenden Fahrzeug von der Schutzwirkung nicht erfasst wird (weitere Einzelfälle s. Rz. 11.7 ff.).

14.15

Einzelheiten der Rechtsprechung zu den Verhaltenspflichten des Kraftfahrers sind nachstehend, geordnet nach Art und Umständen der Verkehrsbeteiligung, zusammengestellt (Übersicht vor Rz. 14.1).

14.16

4. Generelle Anforderungen a) Geschwindigkeit Fahrzeugbeherrschung muss stets gewährleistet sein. Auch bei plötzlich erforderlich werdender Notbremsung darf das Fahrzeug nicht ins Schleudern kommen oder auf die Gegenfahrbahn geraten.43 Auf technisches Versagen seines Fahrzeugs braucht sich der Fahrer allerdings nicht einzustellen, wenn er es in ordnungsgemäßem Zustand gehalten hat. Auf Besonderheiten seines Fahrzeugs (schwere Ladung;44 Anhänger mit Pferden;45 Linienbus, der wegen der Fahrgäste nicht scharf gebremst werden darf46) oder seiner Fahrweise (Motorrad auf einem Rad47) muss er sich einstellen, ebenso auf seine persönlichen Fähigkeiten.

14.17

Die Straßenverhältnisse sind stets zu berücksichtigen. Auch bei regennasser Fahrbahn muss sicheres Bremsen gewährleistet sein.48 Nach starkem Regen ist mit Aquaplaning zu rech-

14.18

43 44 45 46 47 48

OLG Celle v. 30.10.1975 – 5 U 30/75, DAR 1976, 130. OLG Düsseldorf JMBlNRW 1983, 104. OLG Düsseldorf v. 22.5.1992 – 22 U 176/91, NZV 1993, 312. KG v. 6.12.1976 – 2 Ws [B] 365/79, VRS 52, 298. BayObLG v. 24.4.1985 – 2 Ob OWi 28/85, NJW 1985, 2841. OLG Düsseldorf v. 6.11.1974 – 2 Ss 921/74, VM 1975, Nr. 110; OLG Düsseldorf v. 19.12.1975 – 3 Ss 1244/75, VM 1976, Nr. 86.

Greger | 357

§ 14 Rz. 14.18 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

nen;49 100 km/h sind dann auch auf autobahnmäßig ausgebauter Straße zu hoch.50 – Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt muss bei feuchter Fahrbahn mit plötzlichem Auftreten von Eisglätte gerechnet werden,51 auf trockener Fahrbahn nur bei besonderen Anzeichen.52 Dann ist so langsam zu fahren, dass gefahrloses Lenken und Anhalten möglich bleibt.53 – Mit Ölflecken auf der Fahrbahn braucht der Kraftfahrer nicht zu rechnen.54

14.19

Unbedingtes Gebot ist das Fahren auf Sicht: Der Fahrer muss stets innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten können (§ 3 Abs. 1 S. 4 StVO). Entscheidend ist hierbei die Übersicht über den in Anspruch genommenen Fahrstreifen; auf die ganze Fahrbahn braucht sie sich nicht zu erstrecken.55 Das Sichtfahrgebot gilt auf allen Straßen, auch Autobahnen,56 sowie bei allen Beleuchtungs- und Witterungsverhältnissen (für Nebel, Schneefall und Regen gilt die spezielle Regelung in § 3 Abs. 1 S. 3 StVO). Die Sichtfahrgeschwindigkeit darf er grundsätzlich voll ausnützen; auf ein Hindernis, das ihm auf seiner Fahrbahnhälfte entgegenkommt, braucht er sich nicht einzustellen,57 auch nicht in einer unübersichtlichen Rechtskurve.58

14.20

Auf schmalen Straßen, die kein gefahrloses Begegnen ermöglichen, muss dagegen die Bremswegverkürzung durch ein evtl. entgegenkommendes Fahrzeug berücksichtigt und auf halbe Sicht gefahren werden (§ 3 Abs. 1 S. 5 StVO). Auch wer mit seinem Fahrzeug selbst die Fahrbahnmitte nicht überschreitet, muss auf halbe Sicht fahren, wenn für den Gegenverkehr unter Berücksichtigung gebotener Sicherheitsabstände kein ausreichender Raum bleibt; mit dem Entgegenkommen bis zu 2,50 m breiter Fahrzeuge muss hierbei stets gerechnet werden.59

14.21

Wird dem Fahrer die Sicht durch Blendung genommen, muss er die Geschwindigkeit sofort so herabsetzen, dass er in dem vorher noch nicht überblickten Bereich wieder auf Sicht fährt oder zuvor zum Stehen kommt.60 Bei Sonnenblendung Annäherung an Fußgängerübergang erforderlichenfalls nur mit Schrittgeschwindigkeit (dazu Rz. 14.220).61

14.22

Bei Dunkelheit wird der Sichtbereich i.d.R. durch die Reichweite der Scheinwerfer auf der eigenen Fahrbahnseite bestimmt.62 Bei Fahren mit Abblendlicht können 60 km/h bereits zu 49 OLG Düsseldorf v. 5.9.1974 – 12 U 172/73, VersR 1975, 160. 50 OLG Nürnberg VM 1982, Nr. 14. 51 BGH v. 5.12.1967 – VI ZR 116/66, VersR 1968, 303; OLG Celle v. 10.10.1978 – 5 U 29/78, DAR 1979, 305. S a OLG Karlsruhe v. 28.11.1997 – 10 U 167/97, OLGR Karlsruhe 1998, 80. 52 BGH v. 6.7.1976 – VI ZR 18/76, VersR 1976, 995: niedrig über der Autobahn schwebender Polizeihubschrauber; OLG Hamm v. 23.1.1989 – 13 U 54/88, NZV 1989, 233: Unfallstelle; OLG Schleswig v. 11.9.1997 – 7 U 37/96, VersR 1999, 375 (kein Anzeichen). 53 BGH v. 20.9.1966 – VI ZR 18/65, VersR 1966, 1077; OLG Nürnberg v. 29.5.1992 – 8 U 494/92, NZV 1993, 149. 54 OLG Frankfurt VM 1975, Nr. 136. 55 BGH v. 21.2.1985 – III ZR 205/83, NJW 1985, 1950. 56 BGH v. 15.5.1984 – VI ZR 161/82, VersR 1984, 741: § 18 Abs. 6 StVO passt es lediglich den dort bestehenden Besonderheiten an. Zur Reichweite dieser Vorschrift s. OLG Bamberg v. 16.9.1999 – Ws 290/99, NZV 2000, 49; OLG Nürnberg v. 3.11.1999 – 4 U 2797/99, NZV 2000, 128. 57 BGH v. 9.11.1982 – VI ZR 151/81, VersR 1983, 153; OLG Karlsruhe v. 21.11.1985 – 4 U 89/84, VersR 1987, 694. 58 BayObLG v. 14.12.1979 – RReg 2 St 318/79, VRS 58, 366. 59 OLG Schleswig v. 10.7.1991 – 9 U 70/87, NZV 1991, 431. 60 BGH v. 21.10.1975 – VI ZR 137/73, NJW 1976, 288; BGH v. 24.2.1976 – VI ZR 61/75, VersR 1976, 729. 61 OLG Frankfurt v. 22.9.1976 – 2 Ss 359/76, VM 1977, Nr. 95. 62 BayObLG v. 5.3.1969 – RReg 1a St 392/68, DAR 1969, 221.

358 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.24 § 14

viel sein,63 auch auf der Autobahn, wenn die Voraussetzungen des § 18 Abs. 4 StVO nicht vorliegen.64 Allgemeingültige Werte können nicht angegeben werden; es kommt auf die Sichtund Lichtverhältnisse im Einzelfall an (Einstellung der Scheinwerfer, andere Lichtquellen, Straßenmarkierung, Blendung, Witterung65). Zu berücksichtigen ist auch die verkürzte Ausleuchtung bei Kurvenfahrt.66 Nach dem Abblenden muss für die noch nicht überblickte Strecke auf Sichtfahrgeschwindigkeit verlangsamt werden.67 Aus dem Sichtfahrgebot folgt, dass dem Kraftfahrer das Auffahren auf ein Hindernis auf der Fahrbahn (Gegenstand oder Person) in aller Regel zum Verschulden gereicht, auch wenn es ungewöhnlicher Art und schwer zu erkennen ist.68 Dies gilt jedoch nicht für außergewöhnlich schwer erkennbare Hindernisse69 sowie für Hindernisse, die unvermittelt von der Seite oder von oben her auf die Fahrbahn geraten,70 oder für völlig verkehrswidrig entgegenkommende Fahrzeuge (z.B. Geisterfahrer, unbeleuchtetes Fahrzeug bei Dunkelheit).71 Von einem unvermittelten Auftauchen, auf dessen Möglichkeit der Fahrer seine Geschwindigkeit nicht einzurichten braucht, kann aber nicht die Rede sein, wenn der Fahrer sich bei gehöriger Beobachtung des neben der Fahrbahn liegenden Raums rechtzeitig auf die Gefahr hätte einstellen können (s. Rz. 14.39), wenn er vor ihr gewarnt wurde oder aus sonstigen Gründen mit ihr hätte rechnen müssen (s. Rz. 14.24 ff.). Ragt z.B. ein Lkw von der Seite her in die Straße, muss mit einer als Einweiser fungierenden Person auf der Fahrbahn gerechnet werden.72

14.23

Allgemeine Gefahrzeichen (Zeichen 101–142 der Anl. 1 zur StVO) lösen keine generelle Pflicht zur Ermäßigung der Geschwindigkeit aus. Sie fordern den Verkehrsteilnehmer lediglich auf, der angegebenen Gefahrenquelle besonderes Augenmerk zu widmen und bei Anhaltspunkten für die Verwirklichung der Gefahr die Geschwindigkeit zu reduzieren bzw. mit Bremsbereitschaft zu fahren. Das Gefahrenzeichen „Kinder“ (StVO Anl. 2 Zeichen 136) weist den Kraftfahrer darauf hin, dass im Folgenden Straßenabschnitt (etwa wegen einer Schule oder Kindertagesstätte) vermehrt mit dem Auftreten von Kinder zu rechnen ist, so dass er den an die Fahrbahn angrenzenden Bereich verstärkt beobachten und sich auf gefahrvermei-

14.24

63 OLG Hamm v. 28.11.2003 – 9 U 95/02, NZV 2004, 356: 48 km/h. 64 OLG Frankfurt v. 21.6.1989 – 7 U 190/88, NZV 1990, 154. 65 Vgl. OLG Hamm v. 30.7.1976 – 3 Ss 427/76, DAR 1977, 23 (maximal 45 km/h auf nicht markierter Straße bei Regen); OLG Schleswig v. 28.10.1981 – 9 U 17/80, VersR 1983, 691 (45 km/h zu schnell); OLG Köln v. 11.10.2002 – 3 U 26/02, VersR 2003, 219 (nicht mehr als 40 km/h bei regennasser Fahrbahn). 66 OLG Saarbrücken v. 31.8.1977 – 3 U 261/76, VM 1978, Nr. 60. 67 OLG Köln v. 20.4.2010 – 1 RVs 71/10, DAR 2010, 337; einschr. für kurzes Abblenden OLG München v. 29.10.1965 – 10 U 987/65, DAR 1966, 132. 68 BGH v. 24.2.1976 – VI ZR 61/75, VersR 1976, 729 u. KG v. 16.10.1995 – 12 U 1541/94, NZV 1996, 235 (auf der Fahrbahn liegende Person); BGH v. 23.6.1987 – VI ZR 188/86, VersR 1987, 1241 (liegengebliebener unbeleuchteter Panzer); OLG Hamm v. 18.8.2003 – 6 U 198/02, VersR 2004, 1618 (unbeleuchtet liegengebliebene Fahrzeuge); OLG Koblenz v. 24.2.2003 – 12 U 1726/01, DAR 2003, 377 (Soldatengruppe in Tarnkleidung); OLG Frankfurt v. 16.8.2001 – 3 U 160/00, DAR 2002, 448 u. OLG Celle v. 22.1.2020 – 14 U 150/19, NJW-RR 2020, 533 (Unfallfahrzeug auf BAB); OLG Braunschweig v. 4.2.2002 – 7 U 67/01, NZV 2002, 176 (Räumfahrzeug auf BAB). 69 BGH v. 15.5.1984 – VI ZR 161/82, VersR 1984, 741 (Reserverad auf Autobahn bei Nacht und Regen); OLG Hamm v. 14.12.1989 – 27 U 170/89, NZV 1990, 231 (flaches Metallteil). 70 BGH v. 12.11.1982 – III ZR 159/81, VersR 1982, 854; BayObLG v. 10.10.1980 – RReg 2 St 249/ 80, VRS 60, 131; OLG Stuttgart v. 14.3.1990 – 1 U 82/89, DAR 1991, 179. 71 A.A. für Überholer BGH v. 22.2.2000 – VI ZR 92/99, NZV 2000, 291. Vgl. dazu Rz. 14.123. 72 OLG Schleswig v. 28.4.1994 – 7 U 109/90, NZV 1995, 445.

Greger | 359

§ 14 Rz. 14.24 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

dende Reaktionen (§ 3 Abs. 2a StVO) einstellen muss; ihm ist daher nur eine verkürzte Reaktionszeit von 0,8 sec zuzubilligen.73 Dies gilt grundsätzlich ohne Beschränkung auf bestimmte Tageszeiten.74 Eine entsprechende Vorwarnfunktion (ohne konkretes Gebot) erfüllen die Gefahrzeichen 142 „Wildwechsel“75 und 138 „Radfahrer kreuzen“76 sowie Hinweise auf verborgene Gefahrenquellen wie z.B. „Gefährliche Einmündungen“.77 Sofern kein Zusatzzeichen für die Länge der Gefahrstrecke (§ 40 Abs. 3 StVO) angebracht ist, erstreckt sich die Warnwirkung nicht über den Bereich von 250 m hinaus (§ 40 Abs. 1, 2 StVO). Eine bei Nacht abgeschaltete Fußgängerampel erfordert keine Geschwindigkeitsreduktion.78

14.25

In einem gekennzeichneten Baustellenbereich muss mit Hindernissen79 und plötzlich auf die Fahrbahn tretenden Personen80 gerechnet werden.

14.26

Auch ohne Warnzeichen kann für den Kraftfahrer Anlass bestehen, seine Geschwindigkeit so einzurichten, dass er auf eine plötzliche Gefahrensituation rechtzeitig reagieren kann.

14.27

Dies gilt insbesondere, wenn er unbeaufsichtigte Kinder am Straßenrand wahrnimmt (näher Rz. 14.243 ff.) oder sich einem in der Fahrbahnmitte stehenden älteren Menschen nähert81 (allgemein zu den Verhaltenspflichten gegenüber Fußgängern s. Rz. 14.221 ff.).

14.28

Bei der Annäherung an eine Unfallstelle muss mit Personen, Fahrzeugteilen uä auf der Fahrbahn gerechnet werden,82 bei einem querstehenden Pkw auf der Autobahn damit, dass er in die andere Fahrspur bewegt wird,83 bei Rauchentwicklung mit einem Pannenfahrzeug.84 Eine eingeschaltete Warnblinkanlage muss dem herannahenden Fahrzeugführer Anlass geben, sich auch auf eine nicht von dem blinkenden Fahrzeug allein ausgehende Gefahr einzustellen.85 Ist für den Herannahenden aber erkennbar, dass von dem am Rand der Gegenfahrbahn mit eingeschalteter Warnblinkanlage abgestellten Kfz oder seiner Umgebung keine Gefahr ausgeht, die eine besondere Reduktion der Geschwindigkeit erfordert, so haftet er nicht, wenn sich eine andere Gefahr verwirklicht, als die, vor der gewarnt werden sollte.86 Bei Warnung durch ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht muss damit gerechnet werden, dass die Straße in ihrer gesamten Breite von Unfallauswirkungen betroffen ist.87

73 BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 246/92, NZV 1994, 149 m.w.N. 74 BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 246/92, NZV 1994, 149; a.A. OLG Frankfurt v. 14.7.1981 – 17 U 252/80, VersR 1982, 152: nicht bei Dunkelheit im Winter. 75 OLG Köln v. 7.10.1975 – Ss 184/75, DAR 1976, 48. 76 OLG Hamm v. 9.12.2008 – 9 U 70/08, NZV 2009, 391; OLG Saarbrücken v 4.7.2013 – 4 U 65/12, SP 2014, 40; OLG Düsseldorf v. 23.6.1980 – 1 U 236/79, VersR 1981, 537. 77 OLG Saarbrücken v. 24.4.2012 – 4 U 131/11-40, NJW 2012, 3245. 78 OLG Düsseldorf v. 22.1.2001 – 1 U 290/99, NZV 2002, 90. 79 OLG Stuttgart v. 15.3.1988 – 12 U 212/87, VersR 1989, 1160. 80 OLG Hamm v. 9.8.1979 – 2 Ss 1228/79, VRS 58, 257. 81 OLG Karlsruhe v. 24.4.1987 – 10 U 219/86, VersR 1988, 59. 82 OLG Hamm v. 21.1.1992 – 27 U 161/91, NZV 1992, 407. 83 OLG Karlsruhe v. 11.1.1991 – 10 U 86/90, MDR 1991, 543. 84 KG v. 17.12.1973 – 12 U 514/73, VM 1974, Nr. 125. 85 OLG Stuttgart v. 29.11.2006 – 3 U 16/06, VRS 113, 86; OLG Köln v. 11.12.1984 – Ss 671/84, Ss 672/84, VRS 68, 354; einschr. für den Fall, dass das blinkende Fahrzeug auf dem Seitenstreifen der Autobahn steht und der Verkehr offenbar unbehindert daran vorbeifließt BayObLG v. 26.7.1985 – RReg.2 St 96/85, VRS 70, 139. 86 BGH v. 13.3.2007 – VI ZR 216/05, NZV 2007, 451 (unachtsames Aussteigen des Fahrers). 87 OLG Koblenz v. 5.1.2004 – 12 U 1352/02, NZV 2004, 525.

360 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.35 § 14

Überholt der Kraftfahrer eine stehende Kolonne unter Benutzung der Gegenfahrbahn, so muss er seine Geschwindigkeit der Erfahrungstatsache anpassen, dass querende Fußgänger ihr Augenmerk bei Erreichen der Fahrbahnmitte in erster Linie dem von rechts kommenden Verkehr zuwenden.88 Dies gilt erst recht, wenn er unter Missachtung einer ununterbrochenen Linie oder einer Sperrfläche überholt.89

14.29

Grundsätzlich gilt aber, dass auf verkehrsgerechtes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vertraut werden darf (s. Rz. 14.12).

14.30

Auf einer anderen Fahrspur des gleichgerichteten Verkehrs oder im Gegenverkehr darf deshalb an einer stehenden Kolonne vorbeigefahren werden, ohne dass die Geschwindigkeit auf ein plötzliches Ausscheren oder Queren anderer Verkehrsteilnehmer eingerichtet werden muss90 (zur Ausnahme bei den sog Lückenfällen s. Rz. 14.174, 14.230).

14.31

Beim Vorbeifahren an einem haltenden Linienbus muss nicht generell damit gerechnet werden, dass ausgestiegene Fahrgäste hinter dem Bus über die Fahrbahn laufen (anders bei Schulbus, s. Rz. 14.246); es genügt, sich vorsichtig (§ 20 Abs. 1 StVO) darauf einzustellen, dass sie zur Gewinnung der Übersicht ein wenig hinter dem Bus hervortreten;91 kann wegen beengter Verhältnisse kein hierfür ausreichender Seitenabstand (ca. 2 m)92 eingehalten werden, muss die Geschwindigkeit so weit herabgesetzt werden, dass sofortiges Anhalten möglich ist.93 Dies gilt auch bei Bussen, die in Gegenrichtung halten oder gerade wieder anfahren.94 Ist an dem Bus das Warnblinklicht eingeschaltet, gelten die besonderen Anforderungen des § 20 Abs. 4 StVO.

14.32

Auch das Vorbeifahren an Müllfahrzeugen95 und anderen Arbeitsfahrzeugen erfordert Vorsichtsmaßregeln zum Schutze der an diesen tätigen Personen.

14.33

Näher zu den Verhaltenspflichten gegenüber Fußgängern s. Rz. 14.221 ff.

14.34

Wo sich ruhender und fließender Verkehr vermengen, muss wegen des Rangier- und Fußgängerverkehrs so langsam gefahren werden, dass jederzeit sofort angehalten werden kann.96

14.35

88 KG v. 17.11.1977 – 12 U 1224/77, DAR 1978, 107. 89 OLG München v. 16.9.1994 – 10 U 1708/94, NZV 1996, 115. 90 BGH v. 21.2.1985 – III ZR 205/83, NJW 1985, 1950; a.A. (wenn Gegenverkehr zugleich stehenden Omnibus passiert) OLG Hamm v. 21.3.1991 – 27 U 181/90, NZV 1991, 467. 91 BGH v. 21.2.1967 – VI ZR 145/65, VersR 1967, 582; BGH v. 16.5.1972 – VI ZR 29/71, VersR 1972, 951, 952; KG v. 5.3.1987 – 22 U 4399/86, VM 1987, Nr. 101. 92 BGH v. 10.4.1968 – 4 StR 62/68, NJW 1968, 1532; OLG Düsseldorf v. 20.11.1975 – 12 U 224/74, DAR 1976, 190. 93 OLG Karlsruhe v. 5.10.1988 – 1 U 78/88, NZV 1989, 393; OLG Köln v. 9.4.2002 – 3 U 166/01, NZV 2003, 189. 94 OLG Köln v. 21.12.1982 – 3 Ss 732/82, VRS 64, 434; OLG Saarbrücken v. 17.7.2007 – 4 U 338/ 06-108, MDR 2008, 261. 95 OLG Hamm v. 11.11.1987 – 3 U 328/86, NJW-RR 1988, 866; OLG Zweibrücken v. 24.9.1981 – 1 Ss 263/81, VRS 62, 213. 96 Vgl. OLG Frankfurt v. 25.11.1981 – 19 U 186/80, 19 U 33/81, VersR 1982, 1204 (Autobahntankstelle); OLG Celle v. 1.7.1974 – 5 U 167/73, VersR 1975, 265 u. OLG Hamm v. 11.9.2012 – 9 U 32/12, NZV 2013, 123 (Parkplatz); KG v, 22.11.1982 – 12 U 1819/82, VersR 1983, 250 (Parkhaus); KG v. 4.2.2002 – 12 U 111/01, NZV 2003, 381 (große Parkanlage mit Vielzahl von Parkhäfen).

Greger | 361

§ 14 Rz. 14.36 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.36

Wo mit verkehrsbedingtem Anhalten zu rechnen ist, muss die Geschwindigkeit zur Vermeidung von Gefährdungen und Irritationen anderer Verkehrsteilnehmer so rechtzeitig reduziert werden, dass mit einer normalen, nicht zu scharfen Betriebsbremsung angehalten werden kann, also z.B. vor Einmündungen in bevorrechtigte Straßen, Engstellen, Fußgängerüberwegen. Vor Verkehrsampeln muss dagegen grundsätzlich nur die zugelassene Höchstgeschwindigkeit beachtet werden, weil die Dauer der Gelbphase auf diese abgestimmt ist97 (s. auch Rz. 14.187); Ausnahmen gelten für Fahrzeuge mit anormalem Bremsverhalten.98

14.37

Auch eine zu geringe Geschwindigkeit kann verkehrswidrig sein, insbesondere auf der Autobahn. Bei Unvermeidbarkeit ist der nachfolgende Verkehr, z.B. durch Warnblinken, zu warnen.99 Ein mit 15 km/h die Autobahn bei Dunkelheit befahrendes Räumfahrzeug ist durch Warnanstrich und Rundumlicht ausreichend abgesichert.100

b) Fahrbahnbeobachtung 14.38

Der Kraftfahrer muss seine Aufmerksamkeit während der Fahrt stets dem Verkehrsgeschehen zuwenden. Er darf sich nicht ablenken lassen, z.B. durch Neckereien der Beifahrerin,101 oder aus anderen Gründen den Blick von der Fahrbahn abwenden, z.B. indem er sich nach herabgefallenen Gegenständen bückt, sich zu Personen im Fond umdreht oder sich anders als von § 23 Abs. 1a StVO zugelassen mit einem elektronischen Gerät beschäftigt.102 Dazu zählt auch der zur Bedienung von Fahrzeugfunktionen fest eingebaute Berührungsbildschirm (Touchscreen).103

14.39

Die Beobachtungspflicht erstreckt sich auf die gesamte Fahrbahnbreite und den Bürgersteig.104 Auch der neben der Fahrbahn liegende Raum ist auf evtl Gefahrenquellen (z.B. Kinder, Tiere) zu kontrollieren.105 Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Fahrer nach solchen Gefahrenquellen eigens Ausschau halten und dazu z.B. seine an sich zulässige Geschwindigkeit reduzieren müsste. Er darf vielmehr grundsätzlich auf das Nichtvorhandensein ihm nicht erkennbarer Gefahren vertrauen, bei Nacht also auch solcher, die außerhalb seines Lichtkegels liegen. Ausnahmen gelten bei Anhaltspunkten für die Möglichkeit einer aus dem Seitenbereich auftauchenden Gefahr. So ist z.B. nach dem Zeichen 142 StVO Anl 2 (Wildwechsel) dem Bereich neben der Fahrbahn gesteigerte Aufmerksamkeit zu widmen.106 Ein Kind muss

97 OLG Karlsruhe v. 9.12.1974 – 1 Ss (B) 351/74, DAR 1975, 220. 98 KG v. 6.12.1976 – 2 Ws (B) 365/76, VRS 52, 298 (Linienbus); OLG Düsseldorf v, 26.1.1983 – 5 Ss (OWi) 9/83 I, JMBlNRW 1983, 104 (Schwerlaster). 99 OLG Frankfurt v. 14.12.1984 – 2 Ss 513/84, NJW 1985, 1353; OLG Celle v. 18.11.1976 – 5 U 200/75, VersR 1977, 454 (Militärkolonne); OLG Düsseldorf v. 2.10.1998 – 14 U 53/98, DAR 1999, 543 (Bagger); KG v. 31.7.2008 – 12 U 5/08, NZV 2009, 292 (Motordefekt). 100 OLG Braunschweig v. 4.2.2002 – 7 U 67/01, NZV 2002, 176 (Grenzfall; wegen der extrem niedrigen Geschwindigkeit wäre Vorwarnung angebracht). 101 OLG Hamm v. 18.10.1994 – 27 U 58/94, NZV 1995, 481. 102 Unabhängig von der bußgeldrechtlichen Frage (dazu Krumm NZV 2015, 374 f.; Gard/Singler NZV 2015, 569; Janker DAR 2015, 610) gilt dies auch für Handy-Uhr, Smartwatch u. dgl. 103 OLG Karlsruhe v. 27.3.2020 – 1 Rb 36 Ss 832/19, DAR 2020, 520 mit Anm. Engelbrecht; Will NZV 2020, 441 ff. 104 BGH v. 24.2.1987 – VI ZR 19/86, NJW 1987, 2377. 105 OLG Düsseldorf VM 1966, Nr. 153. 106 BGH v. 13.7.1989 – III ZR 122/88, NZV 1989, 390.

362 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.45 § 14

bei besonderer Gefahrenlage so lange wie möglich im Auge behalten werden.107 Zu der Verpflichtung, die Geschwindigkeit nach der einsehbaren Strecke einzurichten, s. Rz. 14.19 ff.

c) Reaktion auf plötzliche Ereignisse Der Kraftfahrer ist verpflichtet, stets seine volle Aufmerksamkeit dem Führen des Kfz zu widmen, um sofort auf plötzliche Gefahrenlagen reagieren zu können (zur hierbei zuzubilligenden Reaktionszeit s. Rz. 3.286).

14.40

Auf gewöhnliche Verkehrsvorgänge muss er so gefasst sein, dass er nicht durch Erschrecken an einer sofortigen und sachgerechten Reaktion gehindert wird, z.B. bei Umschalten einer Lichtzeichenanlage,108 bei einer Vorfahrtverletzung,109 wenn ein entgegenkommendes Fahrzeug in einer Kurve über die Fahrbahnmitte gerät,110 bei Wildwechsel in gekennzeichnetem Bereich.111

14.41

Bei ungewöhnlichen Ereignissen, d.h. einem Verhalten, auf dessen Unterbleiben vertraut werden darf, ist zwar eine Schreckzeit zuzubilligen,112 jedoch muss auch hier grundsätzlich eine sachgerechte Reaktion gefordert werden, denn der Kraftfahrer schuldet Geistesgegenwart und ständige Reaktionsbereitschaft.113 Er darf deshalb bei Auftauchen von Kleinwild nicht auszuweichen versuchen,114 bei Platzen eines Reifens nicht bremsen.115 UU kann in solchen Fällen aber eine Verantwortlichkeit daran scheitern, dass statt einer willensgesteuerten Handlung ein bloßer Reflex abläuft oder die subjektive Vorwerfbarkeit fehlt116 (s. auch Rz. 10.6, 10.53).

14.42

Verwirklicht sich eine selbstverschuldete Gefahr (z.B. Auftauchen von Gegenverkehr bei riskantem Überholmanöver, Störung durch betrunkenen Beifahrer), kann sich der Kraftfahrer nicht auf eine unverschuldete Fehlreaktion berufen. Hier liegt die haftungsbegründende Verkehrspflichtverletzung bereits im Hervorrufen der Gefahr.

14.43

Kommt es wegen eines Fahrzeugdefekts zu einem Unfall, so ist dieser verschuldet, wenn der Fahrer auf erste Anzeichen der Störung nicht richtig reagiert hat.117

14.44

d) Fahrbahnbenutzung Zum Rechtsfahrgebot s. Rz. 14.114 ff. Im Übrigen darf die Fahrbahn grundsätzlich in ihrer ganzen Breite benutzt werden, jedoch ist ein Sicherheitsabstand nach rechts je nach den ört-

107 BGH v. 5.5.1992 – VI ZR 262/91, NZV 1992, 360, 361. 108 OLG Köln v. 22.5.1973 – Ss 16/73, VRS 45, 358. 109 BGH v. 24.4.1964 – 4 StR 62/64, VRS 27, 70, 73; BayObLG v. 23.12.1964 – RevReg 1 b St 510/ 1964, BayObLGSt 1964, 182, 186. 110 BGH v. 5.4.1968 – 4 StR 63/68, VRS 35, 177. 111 Vgl. OLG Köln VM 1976, Nr. 26 mit Anm. Booß. 112 BGH v. 10.8.1962 – 4 StR 205/62, VRS 23, 375. 113 Hentschel/König/Dauer § 1 StVO Rz. 27. 114 OLG Hamm v. 23.3.1998 – 6 U 191/97, NZV 1998, 328; KG v. 24.1.2002 – 12 U 3217/00, NZV 2003, 91. 115 OLG Hamm v. 27.11.1974 – 3 U 79/74, VersR 1976, 667. 116 BGH v. 16.3.1976 – VI ZR 62/75, NJW 1976, 1504 (Revisionsurteil zu vorgenannter Entscheidung des OLG Hamm); Hentschel/König/Dauer § 1 StVO Rz. 28; BHHJ/Heß § 1 StVO Rz. 60 f. 117 KG VM 1974, Nr. 125.

Greger | 363

14.45

§ 14 Rz. 14.45 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

lichen Verhältnissen und der eingehaltenen Geschwindigkeit erforderlich, wenn sonst andere Verkehrsteilnehmer gefährdet werden könnten (im Allgemeinen 0,5 bis 1 m; zum Abstand von Fußgängern auf dem Gehweg s. Rz. 14.241). Dieser darf jedoch dann unterschritten werden, wenn ansonsten an unübersichtlicher Stelle die Fahrbahnmitte überschritten werden müsste.118 Auch zu geparkten Fahrzeugen ist ein situationsabhängiger Abstand einzuhalten; i.d.R. etwa 1 m;119 bei beengten Verhältnissen kann er geringer sein.120 Zum Seitenabstand von Radfahrern s. Rz. 3.370, von Reitern s. Rz. 14.252. – Durch Leitlinien (Zeichen 340) markierte Schutzstreifen für Radfahrer dürfen nur bei Bedarf, insb. um Gegenverkehr auszuweichen, überfahren, Radfahrer dürfen dabei nicht gefährdet werden (Erläuterung 2 zu Zeichen 340).

14.46

Fahrer hoher Fahrzeuge müssen auf evtl. Hindernisse im Luftraum über der Straße achten,121 ganz besonders bei Überschreiten der Beladungsgrenze.122

14.47

Benutzungsverbote sind einzuhalten, weil sich andere Verkehrsteilnehmer auf sie einstellen. So darf z.B. der Seitenstreifen der Autobahn nur in Notfällen befahren werden, desgleichen die Beschleunigungsspur an einer Autobahneinfahrt durch Fahrzeuge des durchgehenden Verkehrs123 oder der durch eine Fahrbahnbegrenzung (StVO Anl. 2 Zeichen 295) abgetrennte Straßenraum nach Maßgabe von Nr. 3 zu Zeichen 295. Auch das Befahren einer Sperrfläche (StVO Anl. 2 Zeichen 298) verletzt das schutzwürdige Vertrauen anderer Verkehrsteilnehmer.124 Das verbotswidrige Befahren einer Sonderfahrspur (z.B. für Busse und Taxis) begründet für sich genommen keine Haftung.125

e) Rückwärtsfahren 14.48

Der Rückwärtsfahrende muss sich so umsichtig verhalten, dass andere Verkehrsteilnehmer, sowohl des nachfolgenden als auch des Gegenverkehrs, auch ihrerseits an- oder rückwärtsfahrende, sowie Fußgänger,126 nicht gefährdet werden (§ 9 Abs. 5 StVO). Dies gilt auch für ein Reinigungsfahrzeug mit gelbem Blinklicht.127

14.49

Das Rechtsfahrgebot gilt auch hier, d.h. das Rückwärtsfahren hat auf der Fahrbahnseite zu geschehen, die bei Vorwärtsfahrt einzuhalten wäre, und zwar möglichst weit am Fahrbahnrand.128

14.50

Herannahende Verkehrsteilnehmer, die das Manöver möglicherweise nicht rechtzeitig erkennen können, sind zu warnen (z.B. Warnblinklicht); wo dies nicht möglich ist, muss das Rückwärtsfahren unterbleiben. Der Rückwärtsfahrer muss in Rechnung stellen, dass andere Ver118 OLG München v. 31.3.1983 – 24 U 632/82, VRS 65, 331. 119 Nach KG v. 3.11.2008 – 12 U 185/08, NZV 2009, 502 jedenfalls nicht unter 50 cm. 120 OLG München v. 26.5.1987 – 5 U 4956/86, VersR 1988, 859; OLG Hamm v. 27.11.1991 – 3 U 46/90, NZV 1993, 27. 121 OLG Hamm v. 4.3.1992 – 32 U 216/88, VersR 1993, 712; OLG Schleswig v. 26.7.1977 – 9 U 44/ 77, VersR 1977, 1037; OLG Köln v. 11.3.1980 – 1 Ss 159/80, VRS 59, 222. 122 OLG Hamm v. 4.3.1992 – 32 U 216/88, VersR 1993, 712. 123 OLG Frankfurt v. 4.6.1985 – 8 U 182/84, VersR 1986, 1195. 124 BGH v. 12.12.1991 – III ZR 10/91, NZV 1992, 148, 149 f.; OLG Köln v. 26.10.1989 – 7 U 13/89, NZV 1990, 72. 125 KG v. 2.7.1981 – 12 U 492/81, VersR 1982, 583. 126 BGH v. 15.5.2018 – VI ZR 231/17, NJW 2018, 3095. 127 OLG Düsseldorf v. 4.4.2017 – 1 U 125/16, DAR 2017, 463. 128 BayObLG v. 5.7.1966 – BReg. 2b St 99/66, VRS 31, 374.

364 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.53 § 14

kehrsteilnehmer, insbesondere solche des Querverkehrs und Fußgänger, oft nicht mit Verkehr aus der „falschen“ Richtung rechnen, und daher auch den Bereich neben der Fahrbahn ständig beobachten;129 ggf. muss er warten, bis eine Verständigung stattgefunden hat. Dies gilt ganz besonders in Einbahnstraßen130 und auf Richtungsfahrbahnen,131 auf Parkplätzen132 sowie im Bereich des Gefahrzeichens „Kinder“.133 Das (auch in diesem Fall bestehende) Vorfahrtrecht darf nur mit größter Vorsicht ausgeübt werden.134 Das Einfahren in eine Vorfahrtstraße erfordert, sofern die Einmündung nicht völlig übersichtlich ist, einen Einweiser.135

14.51

Der beschränkten Sicht nach hinten muss der Rückwärtsfahrer durch Langsamfahren und besondere Umsicht Rechnung tragen. Kann er sich nicht selbst davon überzeugen, dass der Raum hinter seinem Fahrzeug frei ist und für die gesamte Dauer der Rückwärtsfahrt frei bleiben wird, muss er sich einweisen lassen;136 dies gilt grundsätzlich auch auf Baustellen137 und in privaten Hofräumen.138 Die bloße Benutzung der Rückspiegel reicht wegen des toten Winkels nicht.139 Auf eine akustische Einparkhilfe darf er sich nicht allein verlassen.140 Der Fahrer eines Traktors bei Feldarbeiten muss sich jedenfalls beim Zurückstoßen auf einen öffentlichen Feldweg davon überzeugen, dass sich dort niemand aufhält.141

14.52

f) Wenden Das Wenden greift als außergewöhnlicher Betriebsvorgang in den fließenden Verkehr ein und ist daher nur zulässig, wenn sichergestellt wurde, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht durch ihn tangiert werden oder sich auf ihn eingestellt haben.142 Unzulässig ist das Wenden daher bei ungünstigen Sichtverhältnissen.143 Ist es im Einzelfall unumgänglich, so ist der Durchgangsverkehr durch Warnposten zu sichern,144 bei außergewöhnlicher Gefahr ganz zu sperren.145

129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145

Vgl. BayObLG v. 27.10.1976 – RReg. 1 St 227/76, VM 1977, Nr. 20. OLG Düsseldorf v. 15.12.1977 – 12 U 70/77, VRS 55, 412. KG v. 20.2.1992 – 22 U 1320/91, VersR 1993, 711. BGH v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, NJW 2016, 1100; OLG Hamm v. 11.9.2012 – 9 U 32/12, NZV 2013, 123. OLG Frankfurt v. 10.4.1997 – 15 U 77/96, NJW 1998, 548. BGH v. 4.2.1958 – VI ZR 55/57, VRS 14, 346. KG v. 15.8.1985 – 3 Ws (B) 298/85, VRS 69, 457. Zur Sorgfaltspflicht gegenüber dem Einweiser s. OLG Koblenz v. 25.6.1979 – 2 Ss 314/79, VRS 58, 256. OLG Düsseldorf v. 17.2.1994 – 5 Ss [OWi] 44/94 – 30/94 I, VM 1994, Nr. 82; OLG Celle NdsRpfl 1975, 250. OLG Karlsruhe v. 5.9.1974 – 1 Ss 95/74, VRS 48, 194. OLG Düsseldorf v. 15.4.1977 – 2 Ss 145/77, VRS 54, 219. OLG Nürnberg v. 15.12.1989 – 6 U 2012/89, NZV 1991, 67; OLG Oldenburg v. 9.6.2000 – 6 U 55/00, NZV 2001, 377. AG München v. 19.7.2007 – 275 C 15658/07, NZV 2008, 35. OLG Frankfurt v. 13.10.2014 – 3 U 97/14, MDR 2015, 276. Vgl. OLG Stuttgart v. 8.11.1974 – 2 U 82/74, VersR 1976, 73. OLG Saarbrücken v. 31.8.1977 – 3 U 261/76, VM 1978, Nr. 60; OLG Celle v. 12.10.2000 – 14 U 265/99, VRS 100, 289. OLG Koblenz v. 7.11.1974 – 1 Ss 230/74, VRS 49, 31. OLG Frankfurt v. 10.2.1994 – 1 U 114/90, VersR 1995, 796: Wenden eines Bergepanzers auf nächtlicher Landstraße.

Greger | 365

14.53

§ 14 Rz. 14.54 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.54

Wer auf einer Vorfahrtstraße unter Benutzung eines Mittelstreifendurchbruchs wendet, ist gegenüber einem Verkehrsteilnehmer, der aus einer dem Durchbruch gegenüberliegenden, untergeordneten Straße nach rechts einbiegen will, wartepflichtig.146

14.55

Das Vorbeifahren hinter einem wendenden Fahrzeug ist nur zulässig, wenn sichergestellt ist, dass der Wendende sich hierauf einstellt.147

g) Absichern liegengebliebener Fahrzeuge 14.56

Kommt ein Fahrzeug unfreiwillig und nicht durch die Verkehrslage bedingt148 auf der Fahrbahn zum Halten, so ist sofort Warnblinklicht einzuschalten, sofern das Fahrzeug nicht rechtzeitig als stehendes Hindernis erkannt werden kann (§ 15 S. 1 StVO). Bei einem Liegenbleiben auf dem Seitenstreifen der Autobahn wird dies am Tage nur in Ausnahmefällen erforderlich sein,149 bei Dunkelheit stets.

14.57

Ist eine Fortsetzung der Fahrt kurzfristig nicht möglich (wovon sich der Fahrer zunächst überzeugen darf150), so ist zusätzlich ein Warnzeichen (Warndreieck, Warnleuchte) in ausreichender Entfernung aufzustellen. Das Warnzeichen ist nicht auf der Fahrbahn, sondern an deren rechtem Rand aufzustellen.151 Vor dem Einholen des Warnzeichens nach Behebung der Fahrstörung muss der Fahrer prüfen, ob einer besonderen Verkehrsgefahr (Fahrzeug unmittelbar hinter Kurve) dadurch begegnet werden kann, dass er den Standort des Fahrzeugs etwas verändert.152

14.58

Besteht noch eine Möglichkeit, das Fahrzeug in eine weniger verkehrsgefährdende Position zu bringen, so muss diese wahrgenommen werden. Die Verkehrssicherheit geht einer Schadensminderung oder Beweissicherung vor. Ein Fahrzeug mit Reifenschaden muss daher noch so weit wie möglich von der Fahrbahn gefahren werden,153 desgleichen ein noch fahrfähiges Fahrzeug nach einer Kollision auf der Autobahn.154

h) Fahrzeugzustand, Beleuchtung, Besetzung, Beladung 14.59

Der Fahrzeugführer ist für den vorschriftsmäßigen Zustand seines Fahrzeugs verantwortlich (§ 23 Abs. 1, 2 StVO). Dazu gehört nicht nur, dass es den Ausrüstungsvorschriften der StVZO genügt, sondern auch, dass alle Ausrüstungen mangelfrei und benutzbar sind und bauartbedingte Beschränkungen, insbesondere der Geschwindigkeit, beachtet werden. Der gelegentliche Benutzer eines Kfz genügt seiner Verpflichtung durch eine äußerliche Kontrolle

146 147 148 149 150 151 152 153 154

OLG Hamburg v. 2.7.1981 – 2 Ss 121/81 OWi, DAR 1981, 327. KG VM 1992, Nr. 51. Keine Warnblinkpflicht bei Stau: OLG Zweibrücken v. 28.5.1997 – 1 U 55/96, NZV 1998, 24. OLG Hamm v. 9.11.1973 – 1 Ss OWi 1338/73, VRS 47, 65; OLG Düsseldorf v. 28.5.1979 – 1 Ss OWi 194/79-22/79 V, VRS 58, 281. Zur Erkennbarkeit s. auch OLG Hamm v. 11.4.2014 – 9 U 216/13, NZV 2014, 573. BayObLG v. 15.1.1986 – RReg. 1 St 300/85, VRS 70, 461; OLG Schleswig v. 22.4.1991 – 9 U 206/90, NZV 1992, 488. OLG Saarbrücken VM 1980, Nr. 51. OLG Hamm v. 27.10.1983 – 27 U 340/83, VersR 1984, 245. OLG Bamberg v. 22.3.1977 – 5 U 147/76, VersR 1978, 256. OLG Zweibrücken v. 1.3.2001 – 1 Ws 83/01, NZV 2001, 387. Zu Recht einschr. Hentschel NJW 2002, 722, 723; s. auch BGH v. 28.9.1976 – VI ZR 219/74, VersR 1977, 36.

366 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.62 § 14

(Reifen, Beleuchtung, Blinker usw.) und eine Prüfung der wichtigsten Funktionen (insbesondere Bremsen, Lenkung), während derjenige, dem die laufende Pflege des Kfz obliegt, auch für die rechtzeitige Entdeckung solcher Mängel verantwortlich ist, die nur bei eingehenderer Untersuchung erkannt werden können.155 IdR genügt hierfür die Durchführung der werkseitig vorgeschriebenen Inspektionen156 oder die ständige Wartung durch einen Kfz-Meister in einer Betriebswerkstätte;157 für Mängel, die mit zumutbarer Sorgfalt erkennbar sind, gilt dies jedoch nicht.158 Weiß der Fahrer, dass der Wartungsdienst schon seit längerer Zeit unterlassen wurde, muss er dafür sorgen, dass auch nicht ohne weiteres erkennbare Mängel behoben werden.159 Bei einem ordnungsgemäß gewarteten Fahrzeug ist der Fahrer nicht verpflichtet, Schrauben auf ihren festen Sitz hin zu überprüfen.160 Allein auf die Versicherung des Halters, es sei alles in Ordnung, darf sich der Fahrer nicht verlassen.161 Bei einem noch unbekannten Fahrzeug muss der Fahrer extreme Beanspruchungen, z.B. scharfes Bremsen, nach Möglichkeit vermeiden.162 Nach einem Eingriff in die Bremsanlage ist eine Bremsprobe durchzuführen.163 Eine Überprüfung des Fahrzeugs während der Fahrt ist nur bei besonderem Anlass (z.B. nach extremer Beanspruchung, bei Funktionsstörungen oder sonstigen Auffälligkeiten, Anblinken durch andere Verkehrsteilnehmer) geboten.

14.60

Die vorgeschriebene Beleuchtung (eingehend § 17 StVO) darf nicht durch Verschmutzung oder Verdecken beeinträchtigt sein. Bei Ausfall ist Fahrt zu unterbrechen und Verkehr zu sichern; bei Teilausfall ist Weiterfahrt bis zu unverzüglicher Reparatur zulässig, sofern Verkehr dadurch nicht gefährdet wird.164 Auch ein geschobenes Kraftrad muss beleuchtet sein.165

14.61

Besonderes Augenmerk ist der Bereifung zu widmen. Längeres Fahren mit zu geringem Reifendruck ist zu vermeiden. Ohne besonderen Anlass ist es jedoch nicht erforderlich, eine Druckprüfung vor jeder Fahrt oder bei jeder Fahrtunterbrechung166 vorzunehmen; regelmäßige Prüfung beim Tanken oder in der Werkstatt reicht aus.167 Mit überalterten Reifen darf nicht gefahren werden. Bei Anzeichen für Überalterung ist eine fachmännische Überprüfung zu veranlassen;168 vom Fahrer kann jedoch nicht verlangt werden, das Alter anhand der verschlüsselten Angaben auf dem Reifen zu ermitteln.169 Nach einer ungewöhnlichen Beanspruchung, z.B. Überfahren einer Kante, ist der Reifen auf Beschädigung zu untersuchen.

14.62

155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169

BHHJ/Heß § 23 StVO Rz. 6. BGH VM 1965, Nr. 31: die Hauptuntersuchung nach § 29 StVZO genügt nicht. OLG Oldenburg VM 1958, Nr. 10. BGH v. 26.6.1964 – 4 StR 180/64, NJW 1964, 1631. BGH v. 15.2.1966 – VI ZR 201/64, VersR 1966, 564. AG Berlin-Tiergarten v. 6.11.1989 – 322 OWi 1310/89, NZV 1990, 243. BGH v. 18.5.1962 – 4 StR 73/62, BGHSt 17, 277. BGH v. 18.11.1966 – 4 StR 363/66, NJW 1967, 211. BGH v. 21.4.1983 – 4 StR 90/83, VRS 65, 140. OLG München v. 25.3.1966 – 10 U 2754/65, VersR 1966, 858 (Ausfall einer Schlussleuchte). OLG Celle v. 13.3.1961 – 5 U 181/60, NJW 1961, 1169 (Moped); Hentschel/König/Dauer § 17 StVO Rz. 31; a.A. unter unzutr. Abstellen auf § 23 Abs. 2 Hs. 2 StVO OLG Oldenburg v. 26.6.1996 – 2 U 9/96, OLGR Oldenburg 1996, 269. OLG Stuttgart v. 12.10.2000 – 7 U 128/00, OLGR Stuttgart 2001, 5. BGH v. 25.1.1983 – VI ZR 101/82, VersR 1983, 399. OLG Celle v. 26.10.1995 – 14 U 206/93, NZV 1997, 270. OLG Stuttgart v. 19.3.1990 – 5 U 113/89, NZV 1991, 68.

Greger | 367

§ 14 Rz. 14.62 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

Mit nicht vorschriftsmäßigem Reservereifen darf er das Kfz nur auf kürzestem Weg aus dem Verkehr ziehen.170

14.63

Auch dem Insassen gegenüber ist der Fahrer für den vorschriftsmäßigen Zustand des Fahrzeugs verantwortlich, ebenso für das Vorhandensein der vorgeschriebenen Sicherheitseinrichtungen zum Schutze des Mitfahrers. Für das Anlegen des Sicherheitsgurts ist er einem erwachsenen Beifahrer gegenüber aber nur dann verantwortlich, wenn dieser bei Fahrtantritt schläft171 oder stark alkoholisiert ist.172

14.64

Anders verhält es sich bei der nach § 21 Abs. 1a StVO vorgeschriebenen Benutzung von Kinderrückhalteeinrichtungen.173 Die Vorschrift verbietet die Mitnahme ohne solche Einrichtungen, richtet sich also gerade an den Fahrer. Er haftet dem beförderten Kind daher für Verletzungen, die es wegen der unterbliebenen Benutzung solcher Einrichtungen erleidet.174 Das Mitnahmeverbot gilt – abgesehen von den ausdrücklich normierten Ausnahmen175 – für jede Beförderung eines Kindes unter 12 Jahren und 150 cm Körpergröße, auch für reine Gelegenheits-, Spontan- und Gefälligkeitsfahrten.176 Auch der mit Wirkung vom 16.5.2006 eingefügte § 21 Abs. 1b StVO über die Beförderung von Kindern in Fahrzeugen ohne Sicherheitsgurt normiert vom Fahrer zu beachtende Verbote. Falls das Kind während der Fahrt die Sicherung löst, muss der Fahrer im Rahmen des nach der Verkehrslage Möglichen und Zumutbaren für die Wiederherstellung der Sicherung sorgen.177 Zur Mithaftung der Eltern s. Rz. 14.316 f.

14.65

Die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs darf nicht durch seine Besetzung beeinträchtigt werden. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Fahrer durch die Zahl oder das Verhalten der Mitfahrer behindert wird. In einem solchen Fall muss er die Fahrt verweigern bzw. abbrechen. Die Mitnahme eines erkennbar stark Betrunkenen auf dem Beifahrersitz kann verkehrsgefährdend sein;178 desgleichen die eines ungesicherten Hundes im Fußraum neben dem Fahrer.179 Der Fahrer darf nicht zulassen, dass ein Beifahrer im Auto befindliche Feuerwerkskörper entzündet; er haftet sonst auch diesem gegenüber.180 Beugt sich ein Mitfahrer so weit aus dem Fenster, dass er hinauszustürzen droht, muss der Fahrer die Fahrt abbrechen.181 Einem Beifahrer, der ihm während der Fahrt ins Lenkrad greift, haftet der Fahrer jedoch dann nicht, wenn dieser trotz Alkoholisierung keine Auffälligkeiten zeigte, die mit einem solchen Verhal-

170 BGH v. 21.10.1976 – 4 StR 528/76, NJW 1977, 114. 171 OLG Karlsruhe v. 3.10.1984 – 1 U 292/83, VersR 1985, 788; hierzu Möllhoff MedR 1986, 313. 172 OLG Frankfurt v. 24.6.1986 – 8 U 174/85, MDR 1986, 945; OLG Hamm v. 21.6.1995 – 3 U 60/ 95, DAR 1996, 24; OLG Karlsruhe v. 30.1.2009 – 1 U 192/08, NJW 2009, 2608. 173 S. hierzu Schubert DAR 2006, 371 ff.; LG Tübingen v. 10.8.1989 – 1 S 82/89, VersR 1991, 707. 174 Etzel DAR 1994, 301, 303. 175 Eingehend hierzu Bromuth DAR 1993, 121, 122 f. Durch VO v 18.12.2006 (BGBl. I 3226) wurde § 21 Abs. 1 S. 2 und 3 StVO geändert. 176 Etzel DAR 1994, 301, 302. 177 Zutr., aber mit überzogenen Anforderungen, OLG Hamm v. 5.11.2013 – 5 RBs 153/13, NZV 2015, 199 mit Anm. Ternig. 178 OLG Köln v. 21.10.1966 – Ss 382/66, NJW 1967, 1240; OLG Hamm v. 29.9.1977 – 2 Ss 529/77, VRS 54, 197; LG Frankenthal v. 17.2.1999 – 2 S 437/98, VersR 2000, 721. 179 OLG Nürnberg v. 2.11.1989 – 8 U 1341/89, NZV 1990, 315; OLG Nürnberg v. 14.10.1993 – 8 U 1482/93, VersR 1994, 1291. 180 OLG Karlsruhe v. 27.3.1990 – 18a U 21/90, NZV 1991, 28 für den Fall eines jugendlichen Beifahrers. 181 OLG Karlsruhe v. 24.7.1998 – 10 U 24/98, NZV 1999, 292.

368 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.68 § 14

ten rechnen ließen.182 Mit einem ungeübten oder ungeschickten Sozius darf ein Kradfahrer Kurven nur langsam durchfahren.183 Auch die Position des Fahrers kann die Verkehrssicherheit beeinträchtigen.184 Ein Motorradfahrer darf nicht stark beschleunigen, wenn ihm bewusst ist, dass sein Sozius keinen sicheren Halt hat.185 Von der Ladung ausgehende Gefahren müssen, soweit bei verständiger Betrachtung erkennbar, unterbunden werden. Beim Verstauen (§ 22 StVO)186 muss auch auf eine mögliche Notbremsung Bedacht genommen werden.187 Bei Ladung, die verweht werden kann, ist Abdeckung erforderlich.188 Hohe und schwere Lasten, bei denen Kippgefahr besteht, dürfen nur auf Tiefladern transportiert werden.189 Bei gegebenem Anlass, z.B. nach Durchfahren schlechter Wegstrecken, ist auch während der Fahrt die Befestigung zu kontrollieren.190 Zu weit ginge es aber, beim Abstellen eines mit Heu beladenen Anhängers auf die Gefahr einer Selbstentzündung Bedacht zu nehmen.191 Auf Gewichtsangaben des Verladers darf sich der Fahrer – außer bei konkretem Anlass zu Zweifeln – grundsätzlich verlassen.192

14.66

Herausragende Ladung (zu den zulässigen Maßen s. § 22 Abs. 4, 5 StVO) muss entsprechend den genannten Vorschriften kenntlich gemacht werden, solange sich das Fahrzeug mit ihr im Verkehr befindet.193 Der Fahrer muss bedenken, dass die Kennzeichnung eine ausreichende Wirkung nur nach rückwärts entfaltet und dass es zu einer erheblichen Gefährdung des Verkehrs durch schwer erkennbare Ladungsteile kommen kann, wenn das Fahrzeug, etwa nach einer Abbiegung, in der Weise zum Stehen kommt, dass die Teile quer in die Fahrbahn ragen; er muss dann, wenn die Fahrt nicht sogleich fortgesetzt werden kann, für sofortige Absicherung sorgen.194

14.67

i) Ruhender Verkehr Halten und Parken darf ein Fahrzeugführer grundsätzlich überall, wo dies nicht durch § 12 StVO oder Schutzstreifen für Radfahrer (Zeichen 340) verboten ist; nur wenn es ausnahmsweise wegen besonderer Umstände zu einer unzumutbaren Behinderung des Durchgangsverkehrs195 oder zu naheliegenden Gefahren für Rechtsgüter Dritter196 käme, ist davon abzusehen. Fahrräder (und gem. § 11 Abs. 5 eKFV Elektrokleinstfahrzeuge wie E-Scooter), nicht aber Krafträder, dürfen außer auf Seitenstreifen oder am rechten Fahrbahnrand (§ 12 Abs. 4

182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196

AG Lübeck v. 21.12.1992 – 28 C 1389/92, NZV 1993, 316. BGH v. 19.2.1963 – VI ZR 52/62, VM 1963, Nr. 67. AG Menden VM 2000, 7 (Führen eines Fahrschulwagens vom Beifahrersitz aus). KG v. 11.5.1995 – 12 U 137/95, VersR 1997, 77. S. dazu die VDI-Richtlinie 2700 „Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen“ und BayObLG v. 30.7.2002 – 1 Ob OWi 15/02, VersR 2003, 746. OLG Düsseldorf v. 2.4.1984 – 1 U 116/83, VersR 1985, 478. OLG Köln v. 1.6.1994 – 11 U 217/93, NZV 1994, 484 LS. BGH v. 11.12.1958 – 4 StR 176/58, VRS 16, 192. BGH v. 9.4.1965 – 4 StR 143/65, VRS 29, 26. Ebenso BGH v. 6.2.2007 – VI ZR 274/05, NJW 2007, 1683. BayObLG v. 24.6.1969 – 1b Ws [B] 12/69, VRS 38, 226. BayObLG v. 7.11.1951 – III 475/51, VRS 4, 146. Österr. OGH ZVR 1994, 302. BGH v. 7.1.1986 – VI ZR 198/84, VersR 1986, 489. Z.B. wegen explosions- oder brandgefährdeter Ladung; vgl. BGH v. 6.2.2007 – VI ZR 274/05, NJW 2007, 1683.

Greger | 369

14.68

§ 14 Rz. 14.68 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

S. 1 StVO) auch auf dem Gehweg geparkt werden;197 bei Dunkelheit nur dort, sofern sie nicht über eine Beleuchtung verfügen (§ 17 Abs. 4 S. 4 StVO). Der Fußgängerverkehr darf aber durch sie nicht gefährdet oder behindert werden (§ 1 Abs. 2 StVO), so dass nur platzartige Flächen oder Gehwegverbreiterungen in Betracht kommen. Das häufig zu beobachtende Zuparken von Gehwegen durch quergestellte E-Roller begründet eine Haftung für dadurch verursachte Unfälle. Ein breites Fahrzeug darf auch dann auf einem Parkstreifen abgestellt werden, wenn es noch einen Teil der Fahrbahn in Anspruch nimmt.198 Der Fahrer eines Müllfahrzeugs verhält sich nicht verkehrswidrig, wenn er einsatzbedingt im absoluten Haltverbot stehenbleibt und hierbei ein Vorfahrtzeichen verdeckt.199 Zu sonstigen Sonderrechtsfahrzeugen s. § 35 Abs. 6, 7 und 7a StVO.200 Zum Schutzzweck von Halt- und Parkverboten s. Rz. 11.28 ff.

14.69

Von haltenden Fahrzeugen dürfen keine unerwarteten Zusatzgefahren ausgehen, ohne dass ausreichend vor ihnen gewarnt wird. Dies gilt insbesondere bei der Verwendung von Ladebordwänden (Hubladebühnen), die wegen ihrer extremen Gefährlichkeit im Straßenverkehr nur eingesetzt werden dürfen, wenn sie deutlich kenntlich gemacht sind.201 § 53b Abs. 5 StVZO regelt nur die technische Ausrüstung; die Verkehrssicherungspflicht kann darüber hinausgehen und bei beengten oder unübersichtlichen Verkehrsverhältnissen ein zusätzliches Absichern durch Posten oder Warnzeichen auf der Fahrbahn erfordern.202

14.70

Zur Beleuchtung haltender Fahrzeuge s. § 17 Abs. 4 StVO. Ob eine Eigenbeleuchtung nach Abs. 4 S. 2 Hs. 2 entbehrlich ist, richtet sich nicht nur nach der Art der Straßenbeleuchtung, sondern auch nach den zu erwartenden Witterungsverhältnissen und der Geschwindigkeit des durchgehenden Verkehrs.203

14.71

Für das Aussteigen (dazu gehören alle unmittelbar mit dem Verlassen des Fahrzeugs zusammenhängenden Verrichtungen204) gilt in Bezug auf den fließenden Verkehr die gesteigerte Sorgfaltspflicht nach § 14 Abs. 1 StVO. Sonderrechte nach § 35 StVO entbinden hiervon nicht.205 Vor dem Türöffnen muss sich der Fahrer durch Blick in den Rückspiegel und durch das Fenster vergewissern, dass er keinen von rückwärts oder von vorne kommenden Verkehrsteilnehmer gefährdet.206 Auch ein geringfügiges Öffnen der Tür ist nur zulässig, wenn er zuvor dieser Pflicht genügt hat und eine letzte Gewissheit nur durch einen Blick durch den

197 Kettler NZV 2003, 209, 211 f.; Koschmieder/Huß DÖV 2020, 81, 87; BHHJ/Heß § 12 StVO Rz. 57; s. auch OVG Lüneburg VRS 106, 144, 151; BR-Drs. 591/19 (Beschluss) S. 3 zum Widerspruch des Bundesrats gegen einen VO-Entwurf der Bundesregierung, wonach nur noch Lastenfahrrädern und Fahrrädern mit Anhänger das Parken auf der Fahrbahn gestattet werden sollte (BRDrs. 591/19 S. 78). 198 OLG Saarbrücken VM 1975, Nr. 80. 199 KG v. 15.3.1976 – 12 U 2717/75, VersR 1977, 722. 200 Rspr-Überblick bei Ternig DAR 2014, 105 ff. 201 OLG Hamm v. 18.10.1991 – 9 U 114/90, NZV 1992, 115 mit Anm. Greger. 202 Greger NZV 1992, 116; a.A. LG Bonn v. 16.10.2002 – 2 O 237/02, VersR 2004, 79. 203 Vgl. OLG Saarbrücken VM 1975, Nr. 80; OLG Celle v. 22.12.1981 – 1 Ss 584/81, VRS 63, 72; OLG Celle v. 19.5.1998 – 18 U 2/98, NZV 1999, 469 (Anhänger). 204 BGH v. 6.10.2009 – VI ZR 316/08, NJW 2009, 3791 = DAR 2010, 134 mit Anm. Ternig (Abschnallen der Kinder auf dem Rücksitz). 205 LG Saarbrücken v. 17.4.2014 – 13 S 24/14, NZV 2014, 412. 206 Umfassende Rspr.-Nachw. bei Rebler MDR 2020, 10 ff.

370 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.75 § 14

Türspalt gewonnen werden kann.207 Die Tür darf nicht länger als nötig offen gehalten werden.208 Verzögert sich der Aussteigevorgang (z.B. weil noch Sachen aus dem Auto geholt werden), so ist weiter darauf zu achten, ob der durchgehende Verkehr durch die geöffnete Tür gefährdet werden kann; ggf. ist sie kurzfristig wieder heranzuziehen,209 bei Annäherung großer Fahrzeuge mit Sogwirkung festzuhalten.210 Entsprechendes gilt für das Einsteigen. Die der Fahrbahn zugewandte Tür darf nicht geöffnet werden, wenn ein anderes Fahrzeug mit geringem Abstand vorbeifährt.211

14.72

Den Beifahrer an vorschriftswidrigem Aussteigen zu hindern, ist der Fahrzeugführer grundsätzlich nicht verpflichtet.212 Ausnahmen sind denkbar z.B. bei Kindern213 oder Taxis.214 Zur eigenen Verantwortlichkeit des Insassen s. Rz. 14.298.

14.73

Der Fahrer muss alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, dass das Fahrzeug sich nicht selbsttätig in Bewegung setzen kann (vgl. § 14 Abs. 2 S. 1 StVO und die Ausrüstungsvorschriften in § 41 StVZO). Auf abschüssigem Gelände muss er eine doppelte Sicherung (Bremse und gegenläufiger Gang;215 bei abgekuppeltem Anhänger zweite Bremse) in Wirksamkeit setzen oder sperrige Gegenstände unterlegen, bei besonders starkem Gefälle kann sogar eine dreifache Sicherung (Feststellbremse, Gang und Unterlegen oder zwei Bremsen und Unterlegen) geboten sein.216 Bei einem Lkw mit Dieselmotor ist die Feststellbremse anzuziehen, weil es durch das Auffahren eines anderen Lkw zum Anspringen des Motors kommen kann.217 Ein Anhänger muss auch bei nur kurzfristigem Abstellen auf abschüssiger Straße besonders gegen Wegrollen gesichert werden.218

14.74

5. Pflichten gegenüber dem gleichgerichteten Verkehr a) Anfahren Wer vom Fahrbahnrand aus anfahren will, darf dies nur tun, wenn hierdurch der fließende Verkehr nicht beeinträchtigt wird (§ 10 StVO; zur Bedeutung der dortigen Formulierung, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer müsse ausgeschlossen sein, s. Rz. 10.58). Dies gilt auch beim Einordnen in den fließenden Verkehr auf einem Tankstellengelände.219 Der Anfahrende muss damit rechnen, dass ein neben seinem Fahrzeug in zweiter Reihe zum Zwe-

207 BGH v. 24.2.1981 – VI ZR 297/79, VersR 1981, 533; OLG Düsseldorf v. 13.11.1975 – 12 U 204/ 74, DAR 1976, 215. 208 KG v. 3.11.2008 – 12 U 185/08, NZV 2009, 502. 209 BayObLG v. 30.6.1989 – RReg. 2 St 77/89, DAR 1990, 31; OLG Düsseldorf v. 28.12.1994 – 1 U 241/93, OLGR Düsseldorf 1995, 38. 210 BGH v. 6.10.2009 – VI ZR 316/08, NJW 2009, 3791 = DAR 2010, 134 mit Anm. Ternig. 211 KG v. 9.5.1985 – 12 U 3780/84, VersR 1986, 1123. 212 KG v. 26.9.1985 – 22 U 3234/84, VM 1986, Nr. 24. 213 OLG Hamm v. 20.11.1962 – 3 Ss 1035/62, DAR 1963, 306. 214 BayObLG VM 1961, Nr. 25. S. auch Rz. 14.256. 215 OLG Karlsruhe (Freiburg) v. 8.3.2007 – 19 U 127/06, NZV 2007, 473. 216 BGH v. 23.3.1962 – 4 StR 475/61, BGHSt 17, 181. 217 OLG Köln v. 7.6.1994 – 3 U 282/92, NZV 1995, 30. 218 A.A. LG Nürnberg-Fürth v. 13.10.1994 – 2 S 4718/94, NZV 1995, 284: nur bei Anzeichen dafür, dass jemand die Feststellbremse lösen könnte. 219 OLG Hamm v. 25.4.1977 – 3 U 2/77, VersR 1978, 261.

Greger | 371

14.75

§ 14 Rz. 14.75 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

cke des Beladens haltender Müllwagen seine Fahrt fortsetzt220 oder dass ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs den Fahrstreifen wechselt.221

14.76

Der Teilnehmer des fließenden Verkehrs braucht sich ohne besondere Anzeichen nicht darauf einzustellen, dass ein Fahrzeug plötzlich vom Fahrbahnrand anfährt. Dies gilt auch für das unvermittelte Einfahren eines Fahrzeugs vom Seitenstreifen einer Autobahn.222 Die „Lücken-Rechtsprechung“ (Rz. 14.174) gilt hier nicht.223

14.77

Linienbussen ist zwar das Abfahren von Haltestellen zu ermöglichen (§ 20 Abs. 5 StVO), dies ändert aber nichts daran, dass der Busfahrer erst anfahren darf, wenn er den Blinker gesetzt hat und absehen kann, dass der fließende Verkehr nicht gefährdet wird,224 insb. nicht stark abbremsen muss.225 Nicht in Rechnung zu stellen braucht er hierbei nach BGHSt 28, 218, dass es zwischen Fahrzeugen des fließenden Verkehrs zu einem Auffahrunfall kommen könnte, weil er durch sein Herausfahren den Verkehrsfluss behindert. Die in derselben Entscheidung getroffene Aussage, der Busfahrer dürfe sich „im Zweifel darauf verlassen“, dass der fließende Verkehr ihm den Vorrang einräumt, erscheint allerdings als zu weitgehend,226 ebenso die Erweiterung seines Vorrangs auf den Fall, dass der Busfahrer wegen eines Hindernisses auf seinem Fahrstreifen ausscheren will.227 Besonders sorgfältig muss der Busfahrer auf den nachfolgenden Verkehr achten, wenn er sogleich nach dem Ausfahren aus einer Haltebucht nach links in eine andere Straße einbiegen will.228

14.78

Bei Müllfahrzeugen muss damit gerechnet werden, dass sie beim Wiederanfahren etwas nach links ausscheren229 oder dass der Fahrer ein sich „vorbeiquetschendes“ und dabei zum Stehen gekommenes Fahrzeug übersieht.230

b) Abstand 14.79

Bei der Bemessung des Sicherheitsabstandes zum Vorausfahrenden (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO) muss mit folgenden Situationen gerechnet werden: – plötzliche Vollbremsung des Vorausfahrenden;231 220 221 222 223 224

225 226 227 228 229 230 231

KG v. 1.11.2007 – 12 U 20/07, VersR 2009, 234. KG v. 11.3.2004 – 12 U 285/02, NZV 2004, 632; Haarmann VersR 1989, 1161, 1162. OLG Frankfurt v. 12.6.1975 – 2 Ws (B) 149/75 OWiG, VM 1975, Nr. 134. KG v. 15.12.2005 – 12 U 165/05, NZV 2006, 371. BGH v. 6.12.1978 – 4 StR 130/78, BGHSt 28, 218; OLG Düsseldorf v. 28.1.1983 – 5 Ss OWi 35/ 83-40/83, VRS 65, 156; OLG Düsseldorf v. 23.1.1989 – 1 U 65/88, DAR 1990, 462; OLG Hamm v. 25.3.1977 – 2 Ss OWi 359/77, DAR 1978, 82; OLG Hamburg v. 18.2.1976 – 14 U 191/75, VersR 1976, 1138. KG v. 1.11.2018 – 22 U 128/17, MDR 2019, 286, 287 (auch zu den Verhaltenspflichten des Vorbeifahrenden). Bedenken auch bei Hentschel/König/Dauer § 20 StVO Rz. 12. So aber OLG Düsseldorf v. 24.7.1991 – 2 Ss 222/91-49/91 III, VersR 1993, 68. OLG Düsseldorf v. 8.3.1978 – 2 Ss 1071/77 – 415/77 III, VM 1979, Nr. 16. KG VM 1996, Nr. 21. OLG Braunschweig v. 25.11.2002 – 7 U 52/02, OLGR Braunschweig 2003, 105 (Warnzeichen nötig). BGH v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, NJW 1987, 1075; OLG Düsseldorf v. 13.3.1975 – 12 U 9/74, VersR 1978, 331; KG v. 11.7.2002 – 12 U 9923/00, NZV 2003, 41; für erhöhte Vorsicht bei vorausfahrendem Fahrschulwagen LG Saarbrücken v. 2.11.2018 – 13 S 104/18, NJW 2019, 263 mit Anm. Vuia.

372 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.83 § 14

– erneutes Anhalten des Vorausfahrenden im Stop-and-go-Verkehr232 oder nach dem Anfahren an einer Einmündung oder Ampel;233 s. auch Rz. 14.81.

14.80

Dagegen braucht nicht damit gerechnet zu werden, – dass das vorausfahrende Fahrzeug ruckartig, d.h. unter erheblicher Verkürzung des Bremsweges, zum Stehen kommt,234 außer bei Annäherung an eine erkennbare Unfallstelle mit liegengebliebenen Fahrzeugen;235 – dass es ohne Aufleuchten der Bremsleuchten plötzlich zum Stillstand abbremst;236 – dass es ohne zu bremsen unmittelbar vor einem zuvor verdeckten Hindernis die Fahrspur wechselt.237 Unter normalen Verhältnissen muss der Abstand etwa der in 1,5 Sekunden zurückgelegten Strecke entsprechen.238 Im geballten und kanalisierten Stadtverkehr kann er etwas kürzer bemessen werden, wenn auch die vor dem Vorausfahrenden liegende Fahrbahn als hindernisfrei erkannt werden kann und der verkürzte Abstand durch erhöhte Bremsbereitschaft kompensiert wird.239 Entsprechendes (kürzerer Abstand, aber stetige Bremsbereitschaft) gilt beim Anfahren in einer Kolonne nach dem Anhalten an einer Ampel.240 Hintereinander fahrende Motorradfahrer müssen auch dann ausreichenden Abstand halten, wenn sie 1,4 m seitlich versetzt fahren.241

14.81

c) Bremsen Zwingender Grund für ein starkes Bremsen i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 StVO liegt nur bei plötzlicher ernster Gefahr für Leib oder Leben von Menschen oder für bedeutende Sachwerte vor.242

14.82

Kein zwingender Grund ist:

14.83

– das Hereinlaufen eines Kleintiers;243

232 OLG Jena v. 10.10.2000 – 8 U 76/00, OLGR Jena 2003, 6. 233 OLG Bremen v. 30.6.1976 – 3 U 17/76, VersR 1977, 158; OLG Koblenz v. 28.1.1980 – 12 U 1137/78, VersR 1980, 753; LG Nürnberg-Fürth v. 24.5.1989 – 2 S 2609/89, VersR 1990, 286 mit Anm. Große-Streine. 234 BGH v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, NJW 1987, 1075 m.w.N.; OLG Hamm v. 28.4.1986 – 3 Ss OWi 493/86, VRS 71, 212; OLG Köln v. 19.1.1994 – 11 U 151/93, VRS 87, 172. 235 BGH v. 10.12.1974 – VI ZR 105/73, VersR 1975, 373, 374. 236 BayObLG v. 16.2.1982 – 1 Ob OWi 563/81, VRS 62, 380. 237 BGH v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, NJW 1987, 1075; KG v. 10.12.1987 – 12 U 1912/87, NZV 1988, 23. 238 KG v. 30.9.2002 – 12 U 52/01, NZV 2003, 97; Hentschel/König/Dauer § 4 StVO Rz. 7. 239 OLG Bremen v. 30.6.1976 – 3 U 17/76, VersR 1977, 158. 240 OLG Hamm v. 4.6.1998 – 6 U 150/97, NZV 1998, 464; OLG Karlsruhe v. 3.7.1987 – 10 U 38/ 87, VRS 73, 334; LG Nürnberg-Fürth v. 24.5.1989 – 2 S 2609/89, VersR 1990, 286 mit Anm. Große-Streine. 241 Österr. OGH ZVR 1996, 332. 242 KG v. 26.4.1993 – 12 U 2137/92, NZV 1993, 478. 243 OLG Karlsruhe v. 13.7.1987 – 1 U 288/86, VersR 1988, 138; OLG Köln v. 7.7.1993 – 11 U 63/ 93, VersR 1993, 1168; OLG Hamm v. 13.7.1993 – 27 U 66/93, NZV 1994, 28; einschr OLG Frankfurt v. 1.2.1984 – 1 Ws (B) 163/83 OWiG, DAR 1984, 157.

Greger | 373

§ 14 Rz. 14.83 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

– die kurzzeitige Sichtbehinderung durch Spritzwasser;244 – das Umschalten einer Ampel von Grün auf Gelb, wenn mit einer normalen Betriebsbremsung nicht mehr vor der Haltelinie angehalten werden kann;245 – die beabsichtigte Aufnahme eines Fahrgasts in ein Taxi;246 – Entdecken einer Parklücke oder Abbiegeabsicht.247

14.84

Wird der bevorstehende Lichtzeichenwechsel von Grün auf Gelb durch eine Vorampel angekündigt, ist es nicht verkehrsgerecht, bereits eine Bremsung einzuleiten.248

14.85

Unzulässig ist es, einen zu dicht Auffahrenden durch kurzes Antippen der Bremse auf sein Fehlverhalten aufmerksam zu machen, denn dies kann zu einer Fehlreaktion des anderen mit schweren Unfallfolgen führen.249

d) Überholen 14.86

Absehen vom Überholen muss der Kraftfahrer, wenn eine unklare Verkehrslage besteht (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn nach den Umständen damit gerechnet werden muss, dass der zu Überholende seinerseits überholen, ausscheren oder nach links abbiegen wird, also z.B. – wenn sich der Vorausfahrende kurz vor einer links befindlichen Einmündung ohne ein Zeichen zu geben zur Straßenmitte eingeordnet und seine Geschwindigkeit herabgesetzt hat;250 – wenn der Vorausfahrende ungewöhnlich langsam fährt und sein linker Fahrtrichtungsanzeiger durch ein nachfolgendes Kfz verdeckt ist;251 – wenn ein Fahrzeug am rechten Fahrbahnrand hält, links blinkt, und auf dem Mittelstreifen Parkflächen markiert sind;252 – wenn der zu Überholende schon so nahe an ein Hindernis herangefahren ist, dass er genötigt ist, entweder nach links auszuweichen oder scharf abzubremsen;253 – wenn überholt wird, obwohl in gleicher wie auch in entgegengesetzter Richtung Fahrzeuge angehalten haben, um einem anderen das Einparken zu ermöglichen;254

244 KG v. 12.6.1978 – 22 U 1010/78, VM 1979, Nr. 83. 245 OLG Düsseldorf v. 13.3.1975 – 12 U 9/74, DAR 1975, 303; KG v. 3.5.1982 – 12 U 123/82, VM 1983, Nr. 15. 246 KG v. 26.4.1993 – 12 U 2137/92, NZV 1993, 478. 247 KG v. 11.7.2002 – 12 U 9923/00, NZV 2003, 41; KG v. 22.11.2001 – 13 U 3682/00, NZV 2003, 42. 248 A.A. OLG Hamm v. 16.3.1994 – 13 U 210/93, NZV 1995, 25. 249 OLG Köln v. 13.5.1981 – 2 U 87/80, VersR 1982, 558; a.A. OLG Karlsruhe v. 11.1.1991 – 10 U 240/90, NZV 1991, 234. 250 OLG Hamm v. 16.11.1976 – 4 Ss OWi 1211/76, VRS 53, 211; OLG Oldenburg v. 29.12.2011 – 14 U 30/11, VersR 2012, 1052 (Radfahrer). 251 OLG Hamm v. 1.10.1974 – 5 Ss 504/74, VRS 48, 461. 252 A.A. OLG Stuttgart v. 14.2.1983 – 1 Ss 95/83, VRS 65, 66. 253 KG v. 21.7.1977 – 2 Ss 176/77, VRS 53, 271. 254 KG v. 14.5.2002 – 12 U 163/01, NZV 2004, 633.

374 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.88 § 14

– wenn der Vorausfahrende schon so nahe auf Radfahrer aufgeschlossen hat, dass mit Ausscheren zu rechnen ist;255 – wenn ein Pkw in unübersichtlicher Kurve hinter einem Mähdrescher herfährt;256 – wenn sich hinter einem Langsamfahrer eine Kolonne gebildet hat, eine Überholmöglichkeit entsteht und Vorausfahrer nicht durch ihr Verhalten deutlich machen, dass sie hinter dem langsamen Kfz bleiben wollen;257 s. aber auch Rz. 14.88.

14.87

Keine unklare Verkehrslage besteht dagegen allein deshalb, weil – der Vorausfahrende ungewöhnlich langsam fährt258 bzw seine Geschwindigkeit wesentlich herabsetzt,259 auch wenn er sich einer Abzweigung nähert;260 – ein Motorradfahrer auf der rechten Spur der BAB relativ weit links fährt;261 – der Vorausfahrende ohne zu blinken etwas zur Straßenmitte hin versetzt fährt, auch wenn er zugleich verlangsamt,262 sich links eine Einfahrt befindet263 oder ihn ein nachfolgendes Kfz nicht überholt;264 – am Ende einer Überholverbotsstrecke der Vordermann mit gleichbleibender Geschwindigkeit und ohne zu blinken hinter einem Lkw herfährt;265 – der Vorausfahrende sich einem noch langsameren Vordermann nähert;266 – der zu Überholende soeben vom Fahrbahnrand angefahren oder dort zurückgestoßen ist und sich links gegenüber eine Einfahrt befindet.267 Das Überholen mehrerer Fahrzeuge in einem Zug ist nicht generell verboten.268 Der in einer Kolonne Fahrende muss daher nicht das Überholen zurückstellen, bis die Vorausfahrenden überholt haben (Ausnahme: Entstehen einer Überholmöglichkeit bei Schlangenbildung hinter Langsamfahrer, s. Rz. 14.86 a.E.). Er muss aber, insbesondere bei verdecktem Fahrtrichtungs255 OLG München v. 14.4.1992 – 5 U 7176/91, NZV 1993, 232. 256 LG Kassel v. 30.6.1989 – 2 S 58/89, NZV 1990, 76. 257 OLG Celle v. 6.9.1978 – 2 Ss OWi 245/78, VRS 56, 125. Umgekehrt verlangt OLG Karlsruhe v. 8.6.2001 – 10 U 77/01, VersR 2002, 1434, dass Anzeichen für Einleitung eines Überholvorgangs bestehen. 258 OLG Karlsruhe v. 2.6.1977 – 3 Ss (B) 143/77, VRS 54, 68; BayObLG v. 2.10.1980 – 1 Ob OWi 495/80, VRS 61, 63; OLG Köln v. 15.4.1983 – 3 Ss 115/83 Bz, VRS 65, 392. 259 BayObLG v. 2.10.1980 – 1 Ob OWi 344/80, VRS 61, 61. 260 BayObLG v. 25.7.1980 – 1 Ob OWi 319/80, VRS 59, 295; OLG Koblenz v. 21.1.1986 – 2 Ss 571/ 85, VRS 70, 467; strenger OLG Schleswig v. 21.4.1993 – 9 U 18/92, NZV 1994, 30. 261 OLG Hamm v. 22.9.1994 – 6 U 56/94, NZV 1995, 194. 262 KG v. 4.6.1987 – 12 U 4540/86, VersR 1987, 1018; KG v. 7.10.2002 – 12 U 41/01, NZV 2003, 89, 90. 263 OLG Hamm v. 22.11.1976 – 4 Ss OWi 1344/76, VRS 53, 138. 264 OLG Zweibrücken v. 25.9.1974 – Ws (a) 287/74, VRS 48, 127; BayObLG v. 14.1.1987 – 1 Ob OWi 252/86, VRS 72, 295. 265 BayObLG v. 30.6.1986 – 2 Ob OWi 205/86, VRS 71, 382. 266 BayObLG v. 29.9.1982 – 1 Ob OWi 223/82, VRS 64, 55. 267 OLG Zweibrücken v. 29.12.1978 – Ss 375/78, VRS 57, 135; BayObLG v. 23.4.1980 – 1 Ob OWi 66/80, VRS 59, 225; BayObLG v. 1.10.1985 – 2 Ob OWi 285/85, VRS 70, 40. 268 KG v. 30.1.1995 – 12 U 2820/93, NZV 1995, 359; OLG Celle v. 19.6.2003 – 14 U 83/02, OLGR Celle 2004, 347; s. auch BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 46/85, NJW 1987, 322.

Greger | 375

14.88

§ 14 Rz. 14.88 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

anzeiger weiter vorne fahrender Kfz, die Aufmerksamkeit und die Geschwindigkeit so einrichten, dass er bei Erkennbarwerden einer beabsichtigten Fahrtrichtungsänderung noch rechtzeitig reagieren kann;269 ggf. ist der Blinkende zu warnen.270 Auf das unvermittelte Ausscheren eines Fahrzeugs aus einer Kolonne auf der Autobahn braucht der Überholende seine Geschwindigkeit nicht einzustellen.271 Nicht verkehrswidrig handelt auch der Motorradfahrer, der bei fehlendem Gegenverkehr eine im Stop-and-Go-Verkehr aufgestaute Kolonne vor einer Baustellenampel mit mäßiger Geschwindigkeit überholt.272

14.89

Beim Anschließen an einen anderen Überholer muss ein so großer Abstand eingehalten werden, dass Sicht auf das Verkehrsgeschehen auf der vorausliegenden Strecke gewährleistet ist.273

14.90

Die Beachtung des nachfolgenden Verkehrs vor dem Ausscheren zum Überholen (§ 5 Abs. 4 S. 1 StVO) erfordert, dass durch Blick in den Rückspiegel geprüft wird, ob ein Schnellerer mit Überholabsicht bereits so nahe herangekommen ist, dass er durch das Ausscheren gefährdet oder behindert würde;274 hierbei ist auch eine hohe Geschwindigkeit des Nachfolgenden in Betracht zu ziehen.275 Hat ein Nachfolgender bereits seinerseits den Überholvorgang begonnen, muss vom Überholen Abstand genommen werden.276 Zum Vertrauen auf Einhaltung eines Überholverbots s. Rz. 14.104.

14.91

Rechtsüberholen ist auch dann nicht ohne weiteres zulässig, wenn der andere (z.B. ein Radfahrer) verbotswidrig links fährt; hier ist zumindest ein Warnzeichen veranlasst.277 Ein zur Straßenmitte hin eingeordneter Lastzug darf nicht rechts überholt werden, wenn er nicht links blinkt und somit nicht ausgeschlossen werden kann, dass er zwecks Rechtsabbiegens ausholt.278

14.92

Beim Einfahren in eine Autobahn oder Schnellstraße darf nicht in einem Zug von der Beschleunigungsspur auf die Überholspur gefahren werden; zunächst muss sich der Einfahrende in den Verkehrsfluss auf der Normalspur einfügen und sich vergewissern, dass er durch den Wechsel auf die Überholspur niemanden gefährdet oder behindert.279 In einem Einmündungstrichter darf nicht überholt werden, wenn der Überholvorgang nicht deutlich vor dem Übergang in die Schnellstraße abgeschlossen werden kann.280

14.93

Der beim Einscheren nach dem Überholen einzuhaltende Abstand zum Überholten (§ 5 Abs. 4 S. 4 StVO) ist mit weniger als 20 m bei ca 80 km/h nicht gewahrt.281

269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281

OLG Celle v. 30.1.1979 – 18 U 68/78, VersR 1980, 195. OLG Karlsruhe v. 26.7.2001 – 9 U 195/00, NZV 2001, 473. KG v. 25.9.1978 – 12 U 977/78, VersR 1978, 1072. OLG Koblenz v. 10.2.2020 – 12 U 1134/19, MDR 2020, 483. OLG Braunschweig v. 27.7.1992 – 3 U 193/91, NZV 1993, 479, 480. OLG Düsseldorf v. 17.1.1977 – 1 U 87/76, VersR 1978, 429; KG v. 11.10.2001 – 12 U 1470/00, NZV 2002, 229; OLG Hamm v. 29.5.1985 – 13 U 101/84, VersR 1986, 1196. OLG Köln v. 9.2.1977 – 16 U 110/76, VersR 1978, 143. KG v. 30.1.1995 – 12 U 2820/93, NZV 1995, 359. OLG München (Augsburg) v. 26.9.1991 – 24 U 367/89, NZV 1992, 235. OLG Köln v. 13.10.1994 – 18 U 42/94, NZV 1995, 74. BGH v. 26.11.1985 – VI ZR 149/84, NJW 1986, 1044; OLG Hamm v. 25.2.1992 – 27 U 197/91, NZV 1992, 320. Haag in Anm. zu OLG München v. 9.6.1989 – 10 U 3687/86, NZV 1990, 25. OLG Düsseldorf v. 2.7.1982 – 24 U 84/82, VRS 64, 7, 9.

376 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.96 § 14

Der einzuhaltende Seitenabstand zum Überholten (§ 5 Abs. 4 S. 2 StVO) richtet sich nach den konkreten Umständen, insbesondere den Straßenverhältnissen sowie Art und Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge.282 Ein Überholen auf schmaler Straße mit einem deutlich unter 1 m liegenden Seitenabstand setzt Ankündigung und Verständigung voraus;283 der andere hat sich dann auf das Überholmanöver einzustellen.284 Beim Überholen eines großen Fahrzeugs vor einer Kurve ist dessen zu erwartendes Ausscheren zu berücksichtigen und das Überholen ggf. zurückzustellen.285 Für das Überholen von Fußgängern, Radfahrern, E-Rollern u. dgl. enthält der am 28.4.2020 in Kraft getretene § 5 Abs. 4 S. 3, 4 StVO eingehende Vorschriften.286 Besondere Sorgfalt ist geboten an Steigungen, gegenüber Kindern oder Jugendlichen287 (s. auch Rz. 14.250), und beim Überholen mit Schwerfahrzeugen.288 Das gilt auch, wenn das Rad geschoben wird.289 Bei Mofafahrern muss nicht ohne weiteres mit größeren Schwankungen gerechnet werden;290 hier reicht u.U. 1 m.291

14.94

Pflichten des zu Überholenden: Er darf bereits ab Beginn des Überholvorgangs nicht mehr beschleunigen292 (s. § 5 Abs. 6 S. 1 StVO). Bei besonderer Gefahrenlage, nicht aber generell beim Auftauchen von Gegenverkehr, muss er dem Überholer, ggf. durch Vermindern seiner Geschwindigkeit, ein Einscheren ermöglichen.293 Das Gebot, möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Abs. 2 StVO), verpflichtet den in einer langsamen Kolonne auf einer Bundesstraße fahrenden Pkw-Fahrer nicht, zur Ermöglichung eines vorschriftswidrigen Überholmanövers den äußerst rechten Rand einzuhalten, wenn die anderen Fahrzeuge der Kolonne sich auf der Mitte der rechten Fahrbahnhälfte bewegen.294 Muss der zu Überholende wegen einer Straßenbiegung und besonderer Größe seines Fahrzeugs die vom Überholer benutzte Fahrspur mitbenutzen, so muss er dem anderen ein gefahrloses Beenden des Überholvorgangs, z.B. durch Vermindern der Geschwindigkeit, ermöglichen.295

14.95

e) Ausscheren Nach § 6 S. 2 StVO ist beim Ausscheren vor einem Hindernis, z.B. einem stehenden Fahrzeug, auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und der Fahrtrichtungsanzeiger zu betätigen. Vom Ausscheren ist abzusehen, wenn ein nachfolgendes Fahrzeug bereits zum Überholen angesetzt hat.296 282 KG v. 21.2.2007 – 12 U 124/06, NZV 2007, 626; OLG Karlsruhe v. 14.10.1977 – 14 U 81/75, VersR 1978, 749. 283 OLG Saarbrücken v. 8.5.1981 – 3 U 49/80, VM 1981, Nr. 111. 284 OLG Bamberg v. 7.6.1977 – 5 U 25/77, VersR 1978, 351. 285 KG v. 13.11.1986 – 22 U 6332/85, VM 1987, Nr. 25; OLG Hamm v. 21.9.1994 – 13 U 105/94, r+s 1995, 56. 286 Zum früheren Recht s. OLG Saarbrücken v. 21.3.1980 – 3 U 141/79, VM 1980, Nr. 104; OLG Karlsruhe v. 25.11.1988 – 10 U 102/88, VersR 1989, 1309; OLG Hamm v. 18.12.2003 – 6 U 105/ 03, NZV 2004, 631. 287 OLG Frankfurt v. 30.9.1980 – 2 Ss 478/70, DAR 1981, 18. 288 BGH VRS 31, 407. 289 BGH VRS 18, 205. 290 OLG Düsseldorf v. 28.11.1974 – 1 Ss 979/74, VM 1975, Nr. 109. 291 BayObLG v. 13.3.1987 – RReg.2 St 52/87, MDR 1987, 784. 292 BayObLG v. 20.1.1978 – RReg 1 St 469/77, VRS 55, 142. 293 Vgl. BGH v. 21.6.1960 – VI ZR 69/59, VersR 1960, 925. 294 BGH v. 10.6.1980 – VI ZR 86/79, VersR 1980, 849. 295 KG v. 13.11.1986 – 22 U 6332/85, VM 1987, Nr. 25. 296 OLG Saarbrücken v. 16.11.2017 – 4 U 100/16, NJW-RR 2018, 347.

Greger | 377

14.96

§ 14 Rz. 14.97 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

f) Nebeneinanderfahren 14.97

Es ist nach § 7 Abs. 1 StVO auf Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen zulässig, auch wenn keine Fahrstreifenmarkierung besteht; entscheidend ist, dass Raum für mindestens zwei mehrspurige Fahrzeuge vorhanden ist.297 Hierbei muss ein ausreichender Sicherheitsabstand (ca. 50 cm zu beiden Seiten jedes Fahrzeugs) gewahrt sein.298

g) Fahrstreifenwechsel 14.98

Im mehrspurigen Verkehr darf darauf vertraut werden, dass ein im benachbarten Fahrstreifen Fahrender nicht plötzlich ausschert.299 Auch der dortige Verkehr ist aber ständig zu beobachten.300 Zeigt der Benutzer eines benachbarten Fahrstreifens die Absicht des Spurwechsels rechtzeitig an, muss sich der Nachfolgende darauf einstellen.301 Sind die Fahrstreifen durch Linien und Pfeile markiert (Zeichen 295, 297, 340 der StVO), muss an der folgenden Kreuzung oder Einmündung der angegebenen Fahrtrichtung gefolgt werden.302 Beim Einbiegen in eine Straße mit mehreren Fahrstreifen muss ein nachfolgender Fahrer abwarten, bis der vorausfahrende sich auf einen Streifen eingeordnet hat.303

14.99

Bei bogenförmigem Parallelfahren dürfen die Benutzer des inneren Fahrstreifens darauf vertrauen, dass die Fahrzeuge auf der äußeren Spur den Bogen so weit nehmen, dass sie ihnen den Weg nicht abschneiden.304 Anders verhält es sich bei großen Fahrzeugen, die hierzu nicht in der Lage sind.305 Zum parallelen Rechtsabbiegen s. Rz. 14.109.

14.100

Fahrstreifenwechsel ist nach § 7 Abs. 5 StVO nur mit äußerster Sorgfalt, d.h. Absicherung, dass der nachfolgende Verkehr eine ausreichende Lücke lässt, und nach Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers zulässig.306 Dies gilt auch bei nur teilweisem Hinüberfahren307 und auch dann, wenn der Spurwechsel im Zuge eines Überholvorgangs erfolgt.308 Ggf ist auch der Verkehr auf dem übernächsten Fahrstreifen zu beobachten, um ein gleichzeitiges Einschwenken auf den dazwischen liegenden Fahrstreifen zu vermeiden.309 Auch beim Hinüberfahren auf einen (z.B. wegen Bauarbeiten) gesperrten Fahrstreifen oder den Seitenstreifen einer Autobahn muss der Fahrer sich vergewissern, dass dort kein Fahrzeug naht.310 Auf die Einhaltung des Reißverschlussverfahrens (§ 7 Abs. 4 StVO), welches zudem erst unmittelbar vor der Ver-

297 298 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310

BGH v. 12.12.2006 – VI ZR 75/06, NZV 2007, 185. Haarmann DAR 1987, 139, 140. BayObLG v. 17.9.1984 – 2 Ob OWi 276/84, VRS 67, 461. KG v. 15.4.1965 – 1 Ss 36/65, VRS 29, 44, 46. BayObLG v. 22.12.1972 – 5 St 643/72 OWi, VRS 44, 453. BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 161/13, NJW 2014, 1181. KG v. 18.11.2019, 22 U 18/19, MDR 2020, 220. OLG Oldenburg v. 9.5.1962 – 2 U 15/62, DAR 1962, 338. KG v. 13.11.1986 – 22 U 6332/85, VM 1987, Nr. 25. KG v. 2.10.2003 – 12 U 53/02, VRS 106, 23; OLG Hamm v. 25.4.1991 – 6 U 142/90, VRS 81, 342. OLG Düsseldorf v. 2.6.1987 – 5 Ss (OWi) 195/87 – 138/87 I, VM 1987, Nr. 92. LG Saarbrücken v. 10.2.2017 – 13 S 140/16, NJW 2017, 3396; Haarmann DAR 1987, 139, 144 f.; a.A. Hentschel/König/Dauer § 7 StVO Rz. 17: §§ 5, 9 StVO gehen vor. BayObLG v. 11.12.1970 – 5 Ws (B) 110/70, VRS 40, 466 mit näheren Verhaltensregeln für diesen Fall. OLG Frankfurt v. 14.3.2016 – 1 U 248/13, NZV 2016, 426 (Einsatzfahrzeug); a.A. OLG Schleswig v. 26.8.1992 – 9 U 205/90, NZV 1993, 109 (Stau umfahrender Kradfahrer).

378 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.103 § 14

engung gilt, darf der Spurwechsler nicht blind vertrauen.311 Er darf die Spur auch nicht wechseln, wenn er erkennen kann, dass sich von hinten ein Motorradfahrer nähert, der verbotenermaßen zwischen den besetzten Fahrstreifen hindurchfährt.312 Bei Sichtbehinderung (z.B. toter Winkel durch Lkw-Aufbau) muss gewartet werden, bis im Außenspiegel erkennbar ist, dass der Verkehr im anderen Fahrstreifen sich auf den beabsichtigten Wechsel eingestellt hat.313 Der Abstand zwischen den Fahrzeugen auf dem anderen Fahrstreifen darf nicht in gefährlicher Weise verkürzt werden.314 Zum Fahrstreifenwechsel im Zusammenhang mit einem Einbiegevorgang s. Rz. 14.92. Bei Fahrbahnverengung ist das sog Reißverschlussprinzip (§ 7 Abs. 4 StVO) in der Weise zu beachten, dass der Verkehr auf dem weiterführenden Fahrstreifen zunächst den Vorrang hat.315 Dort nachfolgende Fahrer müssen zwar den weiter vorn befindlichen Fahrzeugen der wartepflichtigen Reihe das Einfädeln ermöglichen; deren Fahrer dürfen jedoch nicht ohne weiteres auf die Einräumung dieses Vortritts vertrauen, sondern müssen nach Rückschau und Abgabe von Richtungszeichen vorsichtig hinübersetzen.316

14.101

h) Verhalten gegenüber Sonderrechtsfahrzeug Einem nahenden Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn ist durch Ausweichen freie Bahn zu schaffen (§ 38 Abs. 1 S. 2 StVO). Ist dies nicht sogleich möglich, ist bis zur nächsten Ausweichstelle weiterzufahren; bremst der Fahrer stattdessen stark ab, trifft ihn die Verantwortung für ein Auffahren des Einsatzfahrzeugs.317 Dasselbe gilt, wenn er zunächst anhält und dann in den mittlerweile vom Einsatzfahrzeug eingeschlagenen Fahrweg lenkt.318

14.102

i) Linksabbiegen Rechtzeitiges Ankündigen der Abbiegeabsicht (§ 9 Abs. 1 S. 1 StVO) setzt voraus, dass mit dem Einordnen und Blinken zu einem Zeitpunkt begonnen wird, zu dem sich der nachfolgende Verkehr gefahrlos auf das Abbiegen einstellen kann; dieser ist von den örtlichen Verhältnissen und der gefahrenen Geschwindigkeit abhängig,319 auch vom Vorhandensein weiterer Einmündungen.320 Soll zweimal hintereinander links abgebogen werden, ist das Blinken zur Vermeidung von Irritationen deutlich zu unterbrechen.321 Auf deutliches Ankündigen der Abbiegeabsicht ist besonders zu achten, wenn aus einem Überholvorgang heraus nach links abgebogen werden soll.322

311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322

OLG Celle v. 20.5.2020 – 14 U 193/19, NJW-RR 2020, 1039. OLG Schleswig v. 26.11.1980 – 1 Ss OWi 746/80, VRS 60, 306. OLG Schleswig v. 24.5.1989 – 9 U 109/87, DAR 1991, 26. OLG Hamm v. 24.4.1990 – 27 U 18/90, VersR 1992, 624. KG v. 3.9.2009 – 12 U 136/09, MDR 2010, 691; KG v. 19.10.2009 – 12 U 227/08, NZV 2010, 507. KG v. 17.5.1979 – 22 U 702/79, VRS 57, 321. KG v. 26.2.2009 – 12 U 237/08, NZV 2010, 203. OLG Hamm v. 20.3.2009 – 9 U 187/08, MDR 2009, 1338. Vgl. BGH v. 9.8.1963 – 4 StR 281/63, VRS 25, 264; KG v. 13.8.2009 – 12 U 223/08, NZV 2010, 298. BayObLG v. 9.10.1968 – RReg 1b St 352/68, DAR 1969, 53. S. auch OLG Hamm v. 26.6.1996 – 13 U 57/96, OLGR Hamm 1996, 199 (versetzte Einmündung nach Ampel). KG v. 29.5.1978 – 22 U 310/78, VM 1979, Nr. 35. BayObLG v. 28.7.1986 – 2 Ob OWi 140/86, VRS 71, 380.

Greger | 379

14.103

§ 14 Rz. 14.104 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.104

Durch eine zweite Rückschau unmittelbar vor dem Beginn des Abbiegens323 hat sich der Abbiegende zu vergewissern, dass kein nachfolgender, evtl. zum Überholen ansetzender Verkehrsteilnehmer gefährdet werden kann (§ 9 Abs. 1 S. 4 StVO). Nicht erforderlich ist die zweite Rückschau, wenn dem Weg einer abknickenden Vorfahrtstraße gefolgt werden soll324 oder wenn mit einem Überholen nicht gerechnet zu werden braucht. Das Bestehen eines Überholverbotes reicht zur Begründung eines solchen Vertrauens nicht aus,325 bei Vorhandensein einer Fahrstreifenbegrenzung oder einer Sperrfläche (StVO Anl. 2 Zeichen 295, 298) soll sich der Kraftfahrer nach bedenklicher Ansicht des BGH326 grundsätzlich darauf verlassen können, dass er nicht unter Missachtung dieser Markierungen überholt wird. Zu Recht wird dieser Vertrauensgrundsatz aber für den Fall eingeschränkt, dass besondere Umstände eine Missachtung befürchten lassen, z.B. das Aufschließen eines schnellen Motorradfahrers,327 ein Verkehrsstau.328 Ein etwaiger toter Winkel ist durch Blick durch das Seitenfenster zu überwinden.329

14.105

Bemerkt der Abbiegewillige, dass ihn ein anderes Fahrzeug noch verbotswidrig links überholen will, so muss er das Abbiegen zurückstellen;330 dies kann (z.B. bei sehr langsamem Fahren) schon dann der Fall sein, wenn ein nachfolgendes Fahrzeug noch nicht nach links ausgeschert ist, aber sehr schnell aufschließt.331

14.106

Unter besonderen Umständen kann Anlass bestehen, auch noch nach Beginn des Abbiegevorgangs den rückwärtigen Verkehr zu beobachten, etwa wenn mit einem Treckergespann in einen schwer erkennbaren Feldweg abgebogen werden soll.332

14.107

Auf rechts überholende Fahrzeuge braucht der eingeordnete Linksabbieger nur dann Bedacht zu nehmen, wenn wegen der Länge seines Fahrzeugs oder überstehender Ladung mit einem Ausschwenken in deren Fahrraum zu rechnen ist,333 ansonsten ist die Einhaltung des erforderlichen Seitenabstandes Sache des Überholenden.334 Für paralleles Linksabbiegen gilt Rz. 14.109 vice versa.335

j) Rechtsabbiegen 14.108

Die Pflicht zur zweiten Rückschau unmittelbar vor dem Abbiegen (s. Rz. 14.104) gilt auch für den Rechtsabbieger, sofern er nicht wegen seines geringen Abstands zum Fahrbahnrand

323 Näher zum Zeitpunkt OLG Celle v. 5.12.1984 – 3 U 79/84, VersR 1986, 349. 324 OLG Koblenz v. 23.2.1978 – 1 Ss 109/76, VRS 55, 294. 325 OLG Stuttgart v. 10.1.1978 – 1 Ss 1094/77, VRS 55, 224; OLG Düsseldorf v. 9.3.1983 – 24 U 200/82, VersR 1984, 269; BayObLG v. 25.7.1974 – 1 St 563/74 OWi, VRS 47, 462. 326 BGH v. 28.4.1987 – VI ZR 66/86, VersR 1987, 906. 327 BayObLG v. 7.2.1980 – 2 St 478/79, VRS 58, 451. 328 BayObLG v. 21.7.1981 – 1 Ob OWi 59/81, VRS 61, 382; krit. Janiszewski NStZ 1981, 469, 473. 329 OLG Frankfurt v. 10.10.1977 – 2 Ws (B) 447/77 OWiG, VM 1978, Nr. 107. 330 BayObLG v. 21.2.1961 – RReg 2 St 19/61, VRS 21, 224. 331 OLG Frankfurt v. 10.10.1977 – 2 Ws (B) 447/77 OWiG, VM 1978, Nr. 107. 332 OLG Hamm v. 9.10.1992 – 9 U 14/92, NZV 1993, 396. 333 KG v. 19.4.2004 – 12 U 325/02, 2005, 420 (sehr hohe Anforderungen bei Sattelzug); KG v. 20.7.2009 – 12 U 192/08, NZV 2010, 206; s. auch BayObLG v. 17.2.1970 – 1b Ws B 105/69, VRS 39, 230. 334 Vgl. OLG Köln v. 23.3.1982 – 1 Ss 143/82, VRS 63, 142. 335 Eingehend Kuhnke NZV 2019, 223 ff.

380 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.111 § 14

ein Rechtsüberholtwerden, auch durch ein Zweirad, ausschließen kann,336 insbesondere also wenn er vor dem Abbiegen nach links ausholen muss.337 Besondere Vorsicht ist geboten beim Einbiegen in eine Parkbox.338 Zu den besonderen Verhaltenspflichten gegenüber Radfahrern s. Rz. 14.220. Beabsichtigt der Kraftfahrer ein paralleles Rechtsabbiegen (dh. links neben einem anderen Fahrzeug), so muss er sich vergewissern, dass das andere Fahrzeug tatsächlich nach rechts abbiegt, selbst wenn es den rechten Blinker gesetzt hat.339 Er muss den anderen Abbieger sorgfältig beobachten, darf ihn nicht behindern und muss ihm notfalls den Vortritt lassen.340 Wird das parallele Abbiegen in eine mehrspurige Straße durch Richtungspfeile (StVO Anl. 2 Zeichen 297) geboten, gilt kein Vortrittsrecht, sondern das Gebot zum Spurhalten,341 auch wenn sich die Markierung von gesonderten Fahrstreifen nicht fortsetzt.342

14.109

Der Fahrer eines längeren Fahrzeugs darf nur abbiegen, wenn es durch das Ausschwenken des Hecks nicht zur Gefährdung eines Verkehrsteilnehmers in der daneben liegenden Fahrspur kommen kann;343 dies gilt auch, wenn ein Schild „Anhänger schwenkt aus“ angebracht ist.344 Allerdings muss sich auch der andere im Rahmen des Möglichen auf diese Gefahr einstellen und ggf. zurückstehen.345

14.110

k) Kreisverkehr Hier gilt grundsätzlich das Rechtsfahrgebot,346 doch ist im Interesse des Verkehrsflusses ein mehrspuriges Fahren, bei dem sich der länger im Kreisel bleibende Verkehr nach links orientiert, nicht zu beanstanden.347 Vor der Ausfahrt ist rechts zu blinken und bei parallelem Abbiegen auf Benutzer der rechten Spur Rücksicht zu nehmen.348 Rückschau nach rechts ist unbedingt geboten; es darf nicht darauf vertraut werden, dass dort Fahrende den Spurwechsel und das Ausfahren nicht beeinträchtigen werden.349 Beim Vorhandensein von Pfeilmarkierungen (StVO Anl. 2 Zeichen 297) sind diese zu befolgen.350

336 OLG Bremen v. 2.4.1975 – 3 U 12/75, VM 1976, Nr. 33; BayObLG v. 18.12.1980 – RReg.1 St 326/80, VRS 60, 308. 337 OLG Oldenburg v. 7.12.1992 – 13 U 100/92, NZV 1993, 233; OLG Köln v. 13.10.1994 – 18 U 42/94, NZV 1995, 74. 338 OLG Hamm v. 8.11.2013 – 9 U 88/13, NZV 2014, 262. 339 KG v. 4.4.1985 – 3 Ws (B) 103/85, VRS 69, 305. 340 KG v. 17.12.1990 – 12 U 960/90, NZV 1991, 194; KG v. 28.6.2004 – 12 U 89/03, NZV 2005, 91; Kuhnke NZV 2019, 223, 224. 341 OLG München v. 1.12.2017 – 10 U 3025/17, NJW 2018, 960; Kuhnke NZV 2019, 223, 225. 342 BGH v. 12.12.2006 – VI ZR 75/06, NZV 2007, 185. 343 KG v. 13.12.1990 – 12 U 7168/89, NZV 1991, 193; OLG Hamm v. 16.12.1993 – 27 U 167/93, NZV 1994, 399. 344 KG v. 24.10.2002 – 12 U 50/01, NZV 2005, 419. 345 OLG Hamm v. 16.12.1993 – 27 U 167/93, NZV 1994, 399. 346 OLG Celle v. 22.2.1979 – 5 U 89/78, VersR 1980, 562; OLG Hamm v. 18.11.2003 – 27 U 87/03, NZV 2004, 574. 347 OLG Celle v. 24.2.1966 – 5 U 134/65, VM 1966, Nr. 83. 348 KG v. 27.8.2007 – 12 U 141/07, NZV 2008, 412; OLG Düsseldorf v. 12.12.1968 – 1 Ss 820/68, VRS 37, 303. 349 A.A. OLG Celle v. 24.2.1966 – 5 U 134/65, VM 1966, Nr. 83. 350 BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 161/13, NJW 2014, 1181; Kuhnke NZV 2019, 223, 226.

Greger | 381

14.111

§ 14 Rz. 14.112 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

l) Einbiegen in Grundstück 14.112

§ 9 Abs. 5 StVO, der vom Einbiegenden ein Verhalten verlangt, bei dem „eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist“, begründet für sich genommen keine erhöhten Sorgfaltsanforderungen, denn die StVO kann als Rechtsverordnung den Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 1 BGB nicht abändern (s. Rz. 10.58); Entscheidungen, die vom Einbiegenden das „äußerste Maß an Sorgfalt“ verlangen und ihm „die Verantwortung nahezu allein“ auferlegen,351 sind daher vom rechtlichen Ansatz her unzutreffend.352 Die Vorschrift kann vielmehr nur als Hinweis auf die besondere Gefährlichkeit des betreffenden Verkehrsvorgangs gewertet werden; konkrete Verhaltenspflichten sind nicht aus ihr, sondern wie sonst auch aus dem Begriff der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 1 BGB) abzuleiten, wobei lediglich zur Bestimmung des Erforderlichen auf die besondere Gefährlichkeit des Verkehrsvorgangs abzustellen ist.353

14.113

Dies bedeutet, dass der Einbiegende noch stärker als ein normaler Abbieger dafür Sorge tragen und sich vergewissern muss, dass der nachfolgende Verkehr seine Absicht erkennt und sich darauf einstellt. Da der Verkehr, insbesondere außerorts, mit einem Abbiegen außerhalb von Kreuzungen und Straßeneinmündungen im Allgemeinen nicht rechnet, muss der Grundstückseinfahrer noch zeitiger und deutlicher seine Absicht durch Blinken, Verlangsamen354 und ggf. Einordnen anzeigen.355 Einbiegen darf er erst, wenn er sich durch zweite Rückschau vergewissert hat, dass der nachfolgende Verkehr sich hierauf eingestellt hat.356 Dies gilt auch beim Einbiegen nach rechts,357 ganz besonders, wenn der Einbiegende hierzu nach links ausholt358 oder vom linken Fahrstreifen aus einbiegen will.359 Kann der Einbieger nicht sicher sein, dass sich die Nachfolger auf sein Vorhaben eingestellt haben, muss er notfalls warten, bis alle Nachfolgenden ihn passiert haben.360

6. Pflichten gegenüber dem Gegenverkehr a) Fahrbahnbenutzung 14.114

Durch Einhalten der rechten Fahrbahnseite ist dem Gegenverkehr Raum zum gefahrlosen Begegnen zu verschaffen. Das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO verlangt aber nicht in jedem Falle, äußerst rechts zu fahren. Es kommt auf die konkrete Verkehrssituation an.361 Hierbei ist außer dem Sicherheitsabstand zum rechten Fahrbahnrand auch von Bedeutung, ob der Kraftfahrer mit einer Inanspruchnahme seiner Fahrbahn durch Fahrzeuge des Gegenverkehrs 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361

Z.B. OLG Hamm v. 14.6.1978 – 3 U 121/78, VersR 1979, 266. Greger NJW 1992, 3267, 3270. Ebenso OLG Schleswig v. 29.11.1978 – 9 U 69/78, VersR 1979, 1036. OLG Hamm v. 29.11.1990 – 6 U 167/90, NZV 1991, 268 („Stotterbremse“). OLG Düsseldorf v. 14.10.1981 – 15 U 33/81, VersR 1983, 40. KG v. 5.10.1981 – 12 U 1308/81, VersR 1982, 374. Dies gilt auch bei Überholverbot (OLG Düsseldorf v. 10.4.2018 – 1 U 86/17, DAR 2018, 622); einschr. für den Fall, dass nicht mit Überholer zu rechnen ist, OLG Frankfurt v. 11.1.2017 – 16 U 116/16, NZV 2017, 438 (KW; zw.). BayObLG v. 16.11.1990 – RReg.1 St 203/90, NZV 1991, 162. OLG Saarbrücken v. 10.2.1978 – 3 U 60/77, VM 1978, Nr. 109; a.A. OLG Düsseldorf v. 26.11.1979 – 2 Ss 698/79-60/79 V, VRS 59, 49. KG VM 1985, Nr. 73. OLG Düsseldorf v. 14.10.1981 – 15 U 33/81, VersR 1983, 40; OLG Oldenburg v. 21.4.1978 – 6 U 209/77, VersR 1978, 1027. BGH v. 20.2.1990 – VI ZR 124/89, NZV 1990, 229; BGH v. 9.7.1996 – VI ZR 299/95, NZV 1996, 444.

382 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.118 § 14

rechnen muss, etwa wegen des Vorhandenseins von Hindernissen oder bei Kolonnenverkehr.362 Ist die Straße breit genug für die Begegnung zweier Fahrzeuge (insbesondere bei Vorhandensein einer Leitlinie), reicht es im Regelfall aus, einen Abstand von 50 cm zur Fahrbahnmitte einzuhalten.363 Ist dagegen wegen geringerer Fahrbahnbreite oder aufgrund der konkreten Verkehrssituation mit Gegenverkehr auf der eigenen Fahrbahnseite zu rechnen, muss möglichst weit rechts gefahren werden, auch unter Verringerung des Sicherheitsabstands zum Fahrbahnrand, die ggf. durch Reduzierung der Geschwindigkeit auszugleichen ist. Bei Unübersichtlichkeit ist auch das Sichtfahrgebot zu beachten (s. Rz. 14.19), auf schmaler Straße das Gebot des Fahrens auf halbe Sicht (s. Rz. 14.20). Das Rechtsfahrgebot behält aber auch in diesen Fällen seine Geltung.364 Aus dem Rechtsfahrgebot folgt, dass beim Linksabbiegen die gedachte Linie nicht überfahren werden darf, die die Fahrbahnmitte der bisher befahrenen Straße bei der Einfahrt in den Einmündungsbereich und die Fahrbahnmitte der anderen Straße bei Verlassen des Einmündungsbereichs verbindet (kein „Kurvenschneiden“).365 Dies gilt auch, wenn die Straße, in die eingebogen wird, trichterförmig verbreitert ist.366

14.115

Ist eine Inanspruchnahme der linken Fahrbahnseite unerlässlich, so muss sichergestellt werden, dass kein entgegenkommendes Fahrzeug gefährdet wird.367 Nötigenfalls ist ein Warnposten aufzustellen;368 zumindest muss „auf halbe Sicht“ gefahren werden.369 Ein überbreites Fahrzeug (z.B. Mähdrescher) muss besonders abgesichert werden.370

14.116

Eine Begegnung in zügiger Fahrt darf nur durchgeführt werden, wenn zwischen den sich begegnenden Fahrzeugen unter Berücksichtigung des nötigen Abstandes zum rechten Fahrbahnrand ein Seitenabstand von mindestens einem Meter eingehalten werden kann. Ist dies nicht möglich, muss die Geschwindigkeit von beiden herabgesetzt, ggf. angehalten und eine Verständigung gesucht werden.371

14.117

Wenn eine gefahrlose Begegnung anders nicht möglich ist, ist nach rechts auszuweichen, auch auf ein als tragfähig erkennbares Bankett.372 Von der Tragfähigkeit darf insbesondere der Führer eines schwereren Fahrzeugs nicht ohne weiteres ausgehen.373 Auch einem verkehrswidrig auf der falschen Fahrbahn Entgegenkommenden ist grundsätzlich nach rechts

14.118

362 BGH v. 20.2.1990 – VI ZR 124/89, NZV 1990, 229. 363 BayObLG v. 14.10.1980 – 1 Ob OWi 351/80, VRS 61, 55; OLG Karlsruhe v. 21.11.1985 – 4 U 89/84, VersR 1987, 692, 694. 364 BGH v. 9.7.1996 – VI ZR 299/95, NZV 1996, 444; a.A. BayObLG v. 17.10.1989 – 1 Ob OWi 328/89, NZV 1990, 122. 365 BayObLG v. 8.7.1976 – 1 Ob OWi 249/76, VRS 51, 373. 366 OLG Saarbrücken v. 29.3.2018 – 4 U 56/17, r+s 2018, 492. 367 Zu den Anforderungen bei nächtlicher Fahrt mit überbreitem Panzer BGH v. 7.11.1989 – VI ZR 267/88, NZV 1990, 112; vgl. auch BayObLG v. 15.4.1981 – 1 Ob OWi 69/81, VRS 61, 141: Omnibus in Spitzkehre; BayObLG v. 13.2.1980 – 2 St 9/80, VRS 58, 450: Vorbeifahren an haltendem Fahrzeug. 368 BGH v. 14.5.1968 – VI ZR 31/67, VersR 1968, 847: langes Fahrzeug in unübersichtlicher Kurve; OLG Schleswig v. 15.4.1992 – 9 U 176/90, NZV 1993, 113: Panzer in unübersichtlicher, enger Kurve. 369 OLG Hamburg v. 31.1.1992 – 14 U 5/90, VersR 1993, 1123. 370 OLG Hamm v. 12.7.2013 – 9 U 17/13, NZV 2014, 213. 371 OLG Hamm v. 7.6.2016 – 9 U 59/14, MDR 2016, 882. 372 OLG München v. 30.1.1975 – 24 U 926/74, VersR 1976, 1143. 373 OLG Saarbrücken v. 15.3.1974 – 3 U 25/73, VM 1975, Nr. 46: Omnibus.

Greger | 383

§ 14 Rz. 14.118 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

auszuweichen, nach links nur, wenn nur so Kollision vermieden werden kann374 (Fehlreaktion ist in dieser Situation allerdings oft nicht vorwerfbar).

b) Verhalten an Engstelle 14.119

Bei dauerhafter Fahrbahnverengung hatte bis zum Neuerlass der StVO mit Wirkung vom 1.4.2013 derjenige, der die Engstelle deutlich später erreicht, dem anderen den Vorrang zu gewähren.375 Seitdem gelten hierfür dieselben Regelungen wie bei vorübergehenden Hindernissen (§ 6 StVO; s. Rz. 14.120). Da dort nur die einseitige Verengung geregelt ist, gilt bei beidseitiger Verengung weiterhin das Prioritätsprinzip. Bei Unübersichtlichkeit ist beiderseits besondere Vorsicht geboten.376 Ist der Vorrang durch Zeichen 208 geregelt, muss der Wartepflichtige auch nach Passieren des Zeichens durch Beobachten des Gegenverkehrs und Anpassung der Geschwindigkeit dem Vorrang Rechnung tragen, sich ggf. mit dem anderen Fahrer über die Fortsetzung der Fahrt verständigen.377

14.120

Bei einem vorübergehenden Hindernis (abgestelltes Fahrzeug; Absperrung; Schneeverwehung)378 muss derjenige, der die Gegenfahrbahn benutzen muss, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen (§ 6 StVO). Das gilt auch, wenn diese die Fahrbahnhälfte des Behinderten in Anspruch nehmen.379 Bei Unübersichtlichkeit ist besonderes Einstellen auf möglichen Gegenverkehr erforderlich (Schrittgeschwindigkeit [Rz. 14.220], sofortiges Anhalten;380 ggf. Warnzeichen381). Der Versuch, bei Auftauchen von Gegenverkehr noch an dem Hindernis vorbeizukommen, ist i.d.R. nicht sachgerecht, da er auch dem Entgegenkommenden den Anhalteweg verkürzt.382 Ist in einer unübersichtlichen Kurve die Fahrbahn auf einer Seite durch parkende Fahrzeuge verengt, muss auch derjenige, dessen Fahrbahnhälfte frei ist, damit rechnen, dass ihm in seiner Hälfte Fahrzeuge entgegenkommen, und sich durch Herabsetzen der Geschwindigkeit darauf einstellen.383 Bei einer beidseitig beparkten Straße müssen die Führer entgegenkommender Fahrzeuge sich darauf einrichten, dass jedes der Fahrzeuge die Fahrbahn mindestens bis zur Mitte ausnutzen werde.384 Die Einhaltung eines ausreichenden Seitenabstands zu stehenden Fahrzeugen ist auch auf schmalen Straßen, für sich genommen, nicht verkehrswidrig.385

14.121

Wer sich bereits in der Engstelle befindet, muss sie für entgegenkommenden Verkehr möglichst rasch räumen; hierauf darf der Entgegenkommende aber nicht ohne weiteres vertrauen.386

374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386

Vgl. BayObLG v. 5.11.1981 – RReg 1 St 371/81, VRS 62, 211. BayObLG v. 2.11.1960 – RReg 1 St 329/60, NJW 1961, 281. OLG Hamm v. 15.10.1965 – 3 Ss 815/65, VRS 30, 376. OLG Schleswig v. 24.4.2020 – 7 U 225/19, NJW-RR 2020, 850. OLG Schleswig v. 18.1.1984 – 9 U 185/82, VersR 1985, 846. OLG Celle v. 21.5.1979 – 5 U 112/78, VersR 1980, 772; KG v. 26.6.1995 – 12 U 480/94, VersR 1997, 73. OLG Bamberg v. 7.4.1981 – 5 U 1/81, VersR 1982, 583. OLG Hamm v. 15.6.1970 – 4 Ss 143/70, DAR 1971, 111. Fragwürdig daher OLG Schleswig v. 19.7.1995 – 9 U 127/94, VM 1996, Nr. 20. OLG Hamm v. 9.9.1993 – 6 U 60/93, NZV 1995, 27. KG v. 8.12.1977 – 12 U 2038/77, VM 1978, Nr. 74. OLG Hamburg v. 31.1.1992 – 14 U 5/90, VersR 1993, 1123. OLG Koblenz v. 3.8.1992 – 12 U 1034/91, NZV 1993, 195.

384 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.126 § 14

c) Überholen Der Überholende muss sich zu Beginn des Überholvorgangs vergewissern, dass ihm der benötigte Überholweg hindernisfrei zur Verfügung steht. Dies gilt auch bei Dunkelheit; hier muss sich der Überholende ggf. durch kurzes Betätigen des Fernlichts Überblick verschaffen.387

14.122

Bei der Bemessung der übersehbaren Strecke (§ 5 Abs. 2 S. 1 StVO) ist auch die Strecke zu berücksichtigen, die ein potentieller Entgegenkommer bis zur Begegnung zurücklegen würde.388 Hierbei muss auch mit Geschwindigkeitsüberschreitungen, allerdings nicht mit grob unvernünftig überhöhter Geschwindigkeit, gerechnet werden.389 Mit dem Entgegenkommen eines unbeleuchteten Fahrzeugs braucht bei Dunkelheit390 nicht gerechnet zu werden.391 Der Zusammenstoß mit einem unbeleuchteten Fahrzeug des Gegenverkehrs beruht folglich nicht auf einem Verstoß gegen § 5 Abs. 2 S. 1 StVO, wenn sich das Fahrzeug beim Beginn des Überholvorgangs außerhalb des Sichtbereichs befand.392

14.123

Trotz Gegenverkehrs darf überholt werden, wenn für diesen genügend Platz bleibt und kein Anzeichen für verkehrsordnungswidriges Verhalten erkennbar ist.393 Dies gilt insbesondere auf dreispurigen Straßen; erkennt aber ein Kraftfahrer, der zuerst auf dem mittleren Fahrstreifen überholt, dass ein entgegenkommender Fahrer sein aus der Priorität abzuleitendes Vorrecht missachtet, muss er den Überholvorgang, wenn möglich, abbrechen.394 Darauf, dass der Entgegenkommende auf den Mehrzweckstreifen ausweichen werde, darf der Überholer nicht vertrauen.395

14.124

Vor einer Straßeneinmündung oder Kreuzung darf nicht überholt werden, wenn mit einem auf die Gegenfahrbahn einbiegenden Fahrzeug gerechnet werden muss (unklare Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO;396 s. auch Rz. 14.172).

14.125

d) Linksabbiegen Auf verkehrswidriges Verhalten des Entgegenkommenden muss sich der Abbieger grundsätzlich einstellen, z.B. auf überhöhte Geschwindigkeit, solange nicht grob unvernünftig;397 Überfahren einer der Kreuzung vorgelagerten Fußgängerampel;398 Fahren ohne Beleuchtung;399 zum Einfahren in die Kreuzung bei Rot s. Rz. 14.129. Er muss das Linksabbiegen vor einer Kurve aber nicht deswegen unterlassen, weil ein noch nicht sichtbares Fahrzeug entgegenkommen könnte, dessen Fahrer nicht auf Sicht fährt.400 Er darf auch darauf vertrauen, 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400

BGH v. 22.2.2000 – VI ZR 92/99, NZV 2000, 291. OLG Hamm v. 14.6.1966 – 3 Ss 182/66, VM 1966, 142. BGH v. 29.9.1955 – 4 StR 297/55, BGHSt 8, 200. Anders in der Dämmerung, OLG Hamm v. 28.7.1981 – 5 Ss 435/81, VRS 62, 214. OLG Hamm v. 12.1.1999 – 27 U 141/97, VersR 1999, 898 (aufgehoben von BGH v. 22.2.2000 – VI ZR 92/99, NZV 2000, 291). Dies übergeht BGH v. 22.2.2000 – VI ZR 92/99, NZV 2000, 291 (s. auch Rz. 14.23). OLG Düsseldorf v. 15.11.1973 – 1 Ss 809/73, VM 1974, 123. OLG Koblenz v. 13.10.1983 – 1 Ss 350/83, VRS 66, 219. OLG Hamm v. 7.2.1994 – 13 U 123/93, OLGR Hamm 1994, 86. BGH v. 26.9.1995 – VI ZR 151/94, NZV 1996, 27. BGH v. 14.2.1984 – VI ZR 229/82, VersR 1984, 440. A.A. BGH v. 2.3.1982 – VI ZR 230/80, VersR 1982, 701; einschr. aber wegen Möglichkeit zeitversetzter Phasierung BGH v. 15.3.1990 – III ZR 149/89, NZV 1991, 147, 148. BGH v. 11.1.2005 – VI ZR 352/03, NZV 2005, 249 (jedenfalls innerorts). OLG Koblenz v. 16.11.1998 – 12 U 270/97, r+s 1999, 502.

Greger | 385

14.126

§ 14 Rz. 14.126 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

dass ein Entgegenkommender, der eine durch ununterbrochene Linie markierte Linksabbiegespur benutzt, nicht geradeaus weiterfahren wird, sofern hierfür keinerlei Anzeichen bestehen.401

14.127

Bei fehlender Sicht auf den Gegenverkehr darf nicht abgebogen werden, z.B. bei Sichtbehinderung durch entgegenkommende Linksabbieger.402 Hier muss der Abbieger warten; allenfalls darf er sich behutsam zur Sichtgewinnung vortasten.403 Vorsichtiges Hineintasten in den nicht einsehbaren Teil der Gegenfahrbahn ist auch geboten bei Sichtbehinderung durch Pflanzen oder bauliche Anlagen404 und bei Passieren einer von stehenden Fahrzeugen des Gegenverkehrs freigelassenen Lücke.405 An einer ampelgeregelten Kreuzung muss jedoch das Umschalten abgewartet werden.406 Einer polizeilichen Weisung zum Räumen der Kreuzung darf auch dann Folge geleistet werden, wenn nicht voll übersehen werden kann, ob noch Gegenverkehr kommt.407

14.128

Auf einer mehrspurigen Straße darf der Abbieger nicht bis auf den linken Fahrstreifen des Gegenverkehrs vorfahren und dort den Gegenverkehr abwarten.408 Zur Situation bei breitem Mittelstreifen s. Rz. 14.149.

14.129

An ampelgeregelten Kreuzungen gelten, sofern kein besonderes Signal für den Linksabbieger vorhanden ist, die allgemeinen Grundsätze, d.h. es darf nur abgebogen werden, wenn feststeht, dass kein Gegenverkehr naht oder dass dieser vor der Ampel zum Stehen gekommen ist. Bei mehrspuriger Gegenfahrbahn darf aus dem Anhalten eines Fahrzeugs nicht darauf geschlossen werden, dass auch auf einem anderen Fahrstreifen keines mehr einfahren wird.409 Mit Rotlichtverstößen kurz nach Umschalten der Ampel muss gerechnet werden.410 Ist die Gegenrichtung dagegen schon längere Zeit gesperrt (erkennbar z.B. aus der Freigabe des Querverkehrs), muss nur noch bei besonderen Umständen mit einer Rotlichtmissachtung gerechnet werden.411

14.130

Bei gesondertem Signal für den Linksabbieger (grüner Pfeil vor oder hinter der Kreuzung) darf dieser auf die Sperrung des Gegenverkehrs vertrauen, d.h. auch bei fehlender Sicht auf diesen mit dem Abbiegen beginnen;412 nur bei konkretem Anlass, z.B. Vorhandensein von Nachzüglern in der Kreuzung, muss er auf Gegenverkehr Bedacht nehmen.413

OLG Hamm v. 15.7.1974 – 1 Ss OWi 313/74, VRS 48, 144. OLG Karlsruhe v. 13.5.1976 – 2 Ss 51/76, VRS 51, 376. OLG Celle v. 16.12.1993 – 5 U 232/92, NZV 1994, 193. BGH v. 11.1.2005 – VI ZR 352/03, NZV 2005, 249. OLG Düsseldorf v. 25.6.1979 – 1 U 212/78, VersR 1980, 634. KG v. 22.7.2002 – 12 U 9728/00, NZV 2003, 378. KG v. 7.4.1975 – 22 U 2853/74, VM 1976, 128. OLG Hamm v. 20.6.1994 – 13 U 41/94, NZV 1995, 29. OLG Hamm v. 30.5.2001 – 13 U 249/00, NZV 2001, 520. BGH v. 7.2.2012 – VI ZR 133/11, NJW 2012, 1953; OLG Düsseldorf v. 10.9.1986 – 5 Ss OWi 322/86-239/86 I, VRS 72, 125; OLG Zweibrücken v. 6.7.1983 – 1 Ss 6/83, VRS 66, 150; a.A. OLG Hamburg v. 25.5.1979 – 1 Ss 35/79 OWi, VRS 58, 58. 411 OLG Hamm v. 28.11.1979 – 13 U 246/78, VersR 1980, 722. 412 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 98/91, NZV 1992, 108; OLG Karlsruhe v. 9.4.1974 – 1 Ss 59/74, VRS 47, 464; KG v. 7.3.1974 – 22 U 2591/73, NJW 1975, 695. 413 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 98/91, NZV 1992, 108; s. auch KG v. 20.3.1980 – 3 Ws (B) 46/80, VRS 59, 367.

401 402 403 404 405 406 407 408 409 410

386 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.137 § 14

Ist der Linksabbieger bis zur Freigabe des Gegenverkehrs in der Kreuzung festgehalten worden, so muss ihm der Gegenverkehr ggf. durch Verzicht auf sein Vorrecht das Räumen der Kreuzung ermöglichen; der Abbieger darf auf die Beachtung dieses Vorrangs jedoch nicht vertrauen, sondern muss sich mit dem Entgegenkommenden verständigen (§ 11 Abs. 3 StVO).414

14.131

Der Linksabbieger muss auch dann, wenn für ihn kein Zeichen 237 (StVO Anl. 2) zu sehen ist, darauf achten, ob nicht zwischen Fahrbahn und Gehweg ein Radweg verläuft.415

14.132

Vor dem Abbiegen muss er sich vergewissern, ob er nicht durch Fußgänger gehindert wird, die Gegenfahrbahn rechtzeitig zu räumen.416

14.133

Beim Einbiegen in ein Grundstück gelten gegenüber dem Gegenverkehr dieselben Sorgfaltsanforderungen wie für das Linksabbiegen (zur Bedeutung des § 9 Abs. 5 StVO s. Rz. 14.112). Der Einbiegende muss auch sicherstellen, dass er nicht wegen eines Hindernisses in der Einfahrt am Räumen der Fahrbahn für den Gegenverkehr gehindert wird.417 Er darf sich nicht darauf verlassen, dass er sich bei mehrspurigem, auf der linken Spur stehendem Gegenverkehr durch eine Lücke vortasten kann.418

14.134

Ein geschlossener Verband ist auch beim Linksabbiegen nicht wartepflichtig.419 Näher s. Rz. 14.208.

14.135

Zum Verhalten bei Vorhandensein eines durch Verkehrsinsel abgetrennten Abbiegestreifens s. Rz. 14.150.

14.136

7. Pflichten gegenüber dem Querverkehr a) Allgemeines Besondere Verhaltenspflichten stellt das Verkehrsrecht für den gefahrträchtigen Fall auf, dass ein Fahrzeug sich von der Seite her in den Fahrweg eines anderen Fahrzeugs (querend oder einbiegend) hinein bewegen will. Hierbei sind folgende Fälle zu unterscheiden: – unbeschilderte Kreuzung oder Einmündung (§ 8 Abs. 1 S. 1 StVO; s. Rz. 14.179 ff.) – Kreuzung oder Einmündung mit Vorfahrtbeschilderung (§ 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO; s. Rz. 14.183 ff.) – Kreuzung oder Einmündung mit Lichtsignalanlage (§ 37 Abs. 1 StVO; s. Rz. 14.186 ff.) – Kreisverkehr (§ 8 Abs. 1a S. 1 StVO; s. Rz. 14.190) – Einmündung von Feld- oder Waldweg (§ 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StVO; s. Rz. 14.138 f.) – Ausfahrt von Grundstück u.ä. (§ 10 StVO; s. Rz. 14.140 ff., 14.191 ff.) – Sonderfälle (z.B. Einsatzfahrzeuge, geschlossene Verbände; s. Rz. 14.202 ff.). 414 OLG Hamm v. 9.1.1990 – 27 U 177/89, NZV 1991, 31; Hentschel NJW 1992, 1076, 1079. S. auch Rz. 14.186, 14.188. 415 BayObLG v. 21.6.1978 – 1 Ob OWi 343/77, VRS 56, 48. 416 KG v. 30.10.1975 – 22 U 1294/75, VM 1976, 27. 417 OLG Brandenburg v. 11.3.1997 – 2 U 175/95, OLGR Brandenburg 1997, 385. 418 KG v. 25.11.2002 – 12 U 110/01, VersR 2004, 254. 419 LG Rottweil v. 23.4.1986 – 2 O 256/86, VersR 1986, 1246.

Greger | 387

14.137

§ 14 Rz. 14.137 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

Im Einzelfall kann die Zuordnung zu diesen Fallgruppen sowie die Abgrenzung von anderen Regelungsbereichen unklar sein. Daher wird im Folgenden zunächst das Verhalten in solchen Zweifelsfällen behandelt. Sodann werden die allgemeinen Verhaltenspflichten des Wartepflichtigen und des Vorfahrtberechtigten dargestellt, abschließend die besonderen Verhaltenspflichten in den einzelnen Fallgruppen.

b) Unklare Vorfahrtsituation 14.138

Ob ein einmündender Weg ein Feld- oder Waldweg i.S.v. § 8 Abs. 1 Nr. 2 StVO ist (mit der Folge, dass die Pflicht zur Vorfahrtgewährung auf einer nicht als Vorfahrtstraße [Zeichen 306] gekennzeichneten Straße entfällt), richtet sich nicht nach seiner äußeren Beschaffenheit, sondern nach seiner Verkehrsbedeutung, d.h. der Weg muss (zumindest überwiegend) landoder forstwirtschaftlichen Zwecken dienen und darf keine überörtliche Bedeutung haben.420 Der äußere Eindruck ist aber entscheidend für die Anforderungen an das Verhalten der Verkehrsteilnehmer. Ist nämlich nicht zuverlässig zu erkennen, ob ein von rechts auf eine nicht als bevorrechtigt gekennzeichnete Straße einmündender Weg ein Feld- oder Waldweg ist, hat jeder der beteiligten Verkehrsteilnehmer seine Fahrweise auf die Möglichkeit einzustellen, dass er selbst wartepflichtig ist.421

14.139

Für unbedeutende Nebenwege, die keine Feld- oder Waldwege sind, gilt bei Fehlen einer Vorfahrtregelung im Prinzip die Regel „rechts vor links“.422 Sie gilt also z.B. auch für schmale Verbindungswege,423 Zufahrten zu Einzelgehöften,424 Altstadtgässchen,425 allgemeinen Verkehrszwecken dienende Privatstraßen,426 doch muss sich der Benutzer des Nebenwegs darauf einstellen, dass der andere sein Vorfahrtrecht nicht erkennt, insbesondere bei fehlender Einsehbarkeit.427

14.140

Ob eine Grundstücksausfahrt oder eine Straßeneinmündung vorliegt, entscheidet sich nach dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale, wobei ein wesentlicher Gesichtspunkt die Verkehrsbedeutung (fließender Verkehr oder Zugang zu Grundstück) ist.428 Ist die Ein-

420 BGH v. 18.11.1975 – VI ZR 172/74, VersR 1976, 365 mit abl Anm. Booß; OLG München v. 25.11.1980 – 5 U 3179/80, VersR 1981, 561; OLG Köln v. 10.1.1984 – 3 Ss 879/83, VRS 66, 378; OLG Düsseldorf v. 9.10.1980 – 12 U 44/80, VersR 1981, 862; OLG Rostock v. 23.2.2007 – 8 U 40/06, MDR 2007, 1129; a.A. OLG Hamm v. 17.12.1974 – 5 Ss 682/74, VRS 49, 147; Hentschel/ König/Dauer § 8 StVO Rz. 36. 421 BayObLG v. 25.2.1975 – 1 Ob OWi 4/75, VRS 49, 139; OLG Rostock v. 23.2.2007 – 8 U 40/06, MDR 2007, 1129; OLG Koblenz v. 13.5.1985 – 12 U 876/84, VersR 1986, 1197; OLG Karlsruhe v. 15.8.1997 – 10 U 105/97, OLGR Karlsruhe 1998, 63. 422 A.A. für Parzellenweg aus einem Kleingartengebiet OLG Bremen v. 18.12.1990 – 3 U 74/90, NZV 1991, 472; für nur dem Lieferverkehr offenstehende Zufahrtstraße zu BAB-Raststätte OLG Schleswig v. 11.12.1992 – 9 U 79/91, NZV 1993, 233; für noch nicht dem öffentlichen Verkehr freigegebene Erschließungsstraße in Baugebiet OLG Frankfurt v. 28.5.1993 – 24 U 115/92, NZV 1994, 280. 423 OLG Düsseldorf v. 9.10.1980 – 12 U 44/80, VersR 1981, 862. 424 OLG Düsseldorf v. 15.4.1987 – 2 Ss OWi 117/87-76/87 II, VRS 73, 299. 425 OLG Frankfurt v. 26.1.1981 – 22 U 31/80, VersR 1981, 579. 426 OLG Koblenz v. 19.3.1979 – 12 U 176/77, VersR 1979, 1156. 427 OLG Düsseldorf v. 15.4.1987 – 2 Ss OWi 117/87-76/87 II, VRS 73, 299; vgl. auch OLG Stuttgart v. 7.6.1985 – 1 Ss 290/85, VRS 69, 390. 428 BGH v. 14.10.1986 – VI ZR 139/85, VersR 1987, 306; BGH v. 23.6.1987 – VI ZR 296/86, VersR 1988, 79; OLG Köln v. 13.10.1993 – 11 U 89/93, NZV 1994, 279.

388 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.144 § 14

ordnung mangels eindeutiger Kriterien zweifelhaft, muss der Verkehrsteilnehmer besondere Vorsicht walten lassen;429 u.U. ist Verständigung geboten.430 Stellt sich eine Einmündung für den Betrachter wie eine Grundstücksausfahrt dar, muss der von dort Kommende sein Vorfahrtrecht zurücktreten lassen.431 Für den Fall der überführten (dh. über einen abgesenkten Bordstein432 geführten) Einmündung ergibt sich das fehlende Vorfahrtrecht aus § 10 StVO.433 Auch für das Einfahren von einem anderen Straßenteil gelten nicht die Vorfahrtregeln, sondern die Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO. Darunter fallen nur Verkehrsflächen, die keinem Durchgangsverkehr dienen. wie z.B. die von einer durchgehenden Straße abzweigende gemeinsame Zufahrt zu mehreren neben der Straße gelegenen Häusern,434 nicht aber ein gesperrtes Straßenstück, welches von Anliegern genutzt werden darf.435

14.141

Eine Parkplatzausfahrt steht einer Grundstücksausfahrt gleich,436 desgleichen die Ausfahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich (§ 10 i.V.m. StVO Anl. 2 Zeichen 325/326). Steht das genannte Zeichen nicht unmittelbar an der Einmündung, so gilt dies aber nur, wenn sich diese nach dem äußeren Erscheinungsbild als derartige Ausfahrt darstellt.437 Dies ist in der Regel zu bejahen, wenn das Zeichen 326 nicht mehr als 30 m vor der Einmündung oder Kreuzung aufgestellt ist und keine konkreten Anhaltspunkte eine abweichende Beurteilung rechtfertigen.438

14.142

Im Verhältnis zwischen einem Grundstücksausfahrer, der die am Grundstück entlangführende Straße überquert, um in eine gegenüber der Ausfahrt einmündende Straße zu gelangen, und einem Fahrzeugführer, der aus dieser Straße kommt und nach links einbiegen will, gelten die Regeln der Grundstücksausfahrt – nicht des Linksabbiegens – auch dann, wenn der Ausfahrer schon teilweise auf die zu überquerende Straße aufgefahren ist.439

14.143

Einem aus einem selbständigen Fußweg Einfahrenden steht selbst dann kein Vorfahrtrecht zu, wenn auf dem Fußweg beschränkter Fahrzeugverkehr zugelassen ist.440 Ob an der Einmündung eines Radwegs Vorfahrtregeln oder § 10 StVO gelten, hängt davon ab, ob sich der Radweg nach den örtlichen Verhältnissen als „anderer Straßenteil“ darstellt.441 Dass die einmündende Straße nur dem Fahrradverkehr gewidmet ist, ist für die Vorfahrt unerheblich.442 Für das Verhalten des Vorfahrtberechtigten gelten Rz. 14.138 ff. entsprechend.443

14.144

429 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443

BGH v. 23.6.1987 – VI ZR 296/86, VersR 1988, 79. OLG Köln v. 18.1.1993 – 27 U 94/92, VRS 85, 15. OLG Köln v. 30.4.1986 – 13 U 251/85, VersR 1987, 419. Zum Begriff Bouska DAR 1998, 385; Lamberz NZV 2010, 544, 547 f.; Rebler NZV 2020, 137. S. hierzu OLG Koblenz v. 25.11.2002 – 12 U 1429/01, VersR 2003, 1454; OLG Karlsruhe v. 10.12.1993 – 10 U 180/93, VersR 1994, 362 mit Anm. Frhr v Rosenberg. BayObLG v. 27.5.1983 – 1 Ob OWi 55/83, VRS 65, 223; OLG Saarbrücken v. 27.11.2014 – 4 U 21/14, NZV 2015, 492. OLG Karlsruhe v. 24.6.2015 – 9 U 18/14, NJW 2016, 1106. OLG Hamm v. 18.2.1975 – 9 U 190/74, VersR 1975, 1033. Vgl. OLG Celle v. 7.10.2004 – 14 U 147/03, OLGR Celle 2004, 607; LG Gießen v. 20.9.1995 – 1 S 216/95, NZV 1996, 456. BGH v. 20.11.2007 – VI ZR 8/07, NJW 2008, 1305. OLG Hamm v. 6.4.1978 – 4 Ss OWi 266/78, VRS 56, 62. BayObLG v. 26.6.1986 – 1 St 80/86, VRS 71, 304. Vgl. OLG Köln v. 7.10.1998 – 13 U 76/98, VersR 1999, 1255. OLG Karlsruhe v. 10.10.1997 – 10 U 113/97, OLGR Karlsruhe 1998, 37. Ebenso bei gemeinsamem Rad- und Gehweg OLG Karlsruhe v. 30.5.2012 – 1 U 193/11, NZV 2012, 437. OLG Karlsruhe v. 30.5.2012 – 1 U 193/11, NZV 2012, 437.

Greger | 389

§ 14 Rz. 14.145 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.145

Ein neben der Fahrbahn verlaufender Radweg – ob es sich um einen solchen oder um einen separaten Weg handelt, entscheidet das äußere Bild444 – nimmt grundsätzlich an deren Vorfahrt teil;445 für den Fall der Benutzung in falscher Richtung s. aber Rz. 14.163.

14.146

Radfahrer, die – verbotswidrig oder erlaubtermaßen (§ 2 Abs. 5 S. 1 StVO) – den Gehweg benutzen, haben kein Vorfahrtrecht.

14.147

Auf Plätzen und ähnlichen Verkehrsflächen (Parkplätze, Parkhäuser, Tankstellengelände, nicht öffentliche Gewerbefläche usw.) gelten die Vorfahrtregeln nicht; es herrscht das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme;446 der Vertrauensgrundsatz gilt hier nicht.447 Eine „Kreuzung“ oder „Einmündung“ i.S.v. § 8 Abs. 1 StVO liegt auch dann nicht vor, wenn auf dem Platz Fahrspuren (ohne bauliche Abtrennung) markiert sind;448 hier ist vielmehr Verständigung zwischen den Verkehrsteilnehmern nötig.449 Anders verhält es sich, wenn die angelegten Fahrspuren eindeutig Straßencharakter haben und sich bereits aus ihrer baulichen Anlage ergibt, dass sie nicht dem Suchen von Parkplätzen dienen, sondern der Zu- und Abfahrt der Fahrzeuge.450 Zwischen solchen Zufahrtstraßen gilt „rechts vor links“, im Verhältnis zu kleineren Verteilerfahrbahnen, die zu den einzelnen Parkplätzen führen, sind jedoch die Anforderungen des § 10 StVO einschlägig,451 im Verhältnis zwischen unselbständigen Fahrwegen gilt das Verständigungsgebot (s. oben).452 Zum Verhalten beim Verlassen eines Stellplatzes s. Rz. 14.201. – Auf einem Privatparkplatz kann der Eigentümer durch eine allen Benutzern bekannt gemachte Anordnung eine andere Regelung (z.B. „grundsätzlich rechts vor links“) treffen.453

14.148

Das Vorfahrtrecht gilt im gesamten Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich, d.h. auf der Schnittfläche der beteiligten Straßen, an trichterförmig erweiterten Einmündungen somit bis

444 OLG Frankfurt v. 23.1.2004 – 24 U 118/03, DAR 2004, 393; näher Rebler MDR 2019, 1483, 1484. 445 BGH v. 15.7.1986 – 4 StR 192/86, BGHSt 34, 127; a.A. OLG Bremen v. 11.2.1997 – 3 U 69/96, VersR 1997, 765. 446 KG v. 12.10.2009 – 12 U 233/08, NZV 2010, 461; OLG Köln v. 13.7.1994 – 2 U 36/94, NZV 1994, 438; OLG Frankfurt v. 16.12.1992 – 7 U 27/92, ZfS 1994, 5; Scheidler DAR 2012, 313, 316; Siegel NJW 2019, 2502 ff. m. Nachw. der uneinheitlichen Rechtsprechung. 447 OLG Köln v. 8.12.1994 – 18 U 117/94, NZV 1995, 401; Siegel NJW 2019, 2502, 2504. 448 OLG Koblenz v. 14.12.1998 – 12 U 1249/97, VersR 2000, 199; OLG München v. 27.5.2020 – 10 U 6767/19, r+s 2020, 476. 449 BGH v. 9.10.1962 – VI ZR 249/61, NJW 1963, 152 (Großmarkt); OLG Koblenz v. 6.6.1974 – 1 Ws [a] 272/74, VRS 48, 133 (Kaufhausparkplatz); OLG Düsseldorf v. 17.8.1988 – 5 Ss OWi 261/88-227/88 I, NZV 1988, 231 (Tankstellengelände); Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 31a; a.A. OLG Hamm v. 6.10.1993 – 13 U 91/93, r+s 1994, 52, OLG Köln v. 10.12.1974 – Ss [OWi] 167/74, VRS 48, 453, OLG Düsseldorf v. 18.8.1978 – 2 Ss OWi 666/78, VRS 56, 294 und OLG Düsseldorf v. 7.3.2017 – 1 U 97/16, VersR 2017, 1100 für den Fall, dass die Markierung oder Pflasterung einen „Straßencharakter“ hervorruft. 450 KG v. 12.10.2009 – 12 U 233/08, NZV 2010, 461; KG v. 9.7.2018 – 25 U 159/17, MDR 2018, 1435 nimmt dies auch für die Zusammenführung zweier Ausfahrspuren aus einem Parkhaus an (zw.). 451 KG v. 12.10.2009 – 12 U 233/08, NZV 2010, 461; OLG Köln v. 3.12.1998 – 1 U 73/98, MDR 1999, 675; OLG Celle v. 30.12.1999 – 14 U 45/99, DAR 2000, 216. 452 A.A. OLG Nürnberg v. 28.7.2014 – 14 U 2515/13, NZV 2014, 574 (rechts vor links). 453 OLG Köln v. 11.6.1992 – 12 U 240/91, VersR 1993, 589.

390 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.153 § 14

zu den Endpunkten des Trichters auf der Vorfahrtstraße,454 bei Vorhandensein eines Seitenstreifens auch für diesen.455 Vorfahrt hat bis zum Verlassen des Kreuzungsbereichs auch der Bus, der an eine unmittelbar dahinter liegende Haltestelle heranfährt und zu diesem Zweck die Fahrbahnbegrenzungslinie überfährt.456 Sind Richtungsfahrbahnen durch einen breiten Mittelstreifen getrennt, gelten für das Kreuzen des Gegenverkehrs die Vorfahrt-, nicht die Abbiegeregeln, sofern der Mittelstreifen so breit ist, dass der Linksabbieger für den Entgegenkommenden wie ein Benutzer der bevorrechtigten Querstraße erscheint.457

14.149

Sind Vorfahrtstraße und untergeordnete Straße durch einen mittels einer durch Verkehrsinsel abgetrennten Abbiegestreifen miteinander verbunden, so gelten für das Verhältnis zwischen einem aus der Vorfahrtstraße nach links und einem Entgegenkommenden, auf dem Abbiegestreifen nach rechts Abbiegenden die Vorfahrtregeln, nicht die Regeln des Linksabbiegens.458 Dasselbe gilt, wenn ein Wartepflichtiger nach links in die Vorfahrtstraße einbiegt und ein Fahrzeug aus dem Gegenverkehr nach rechts über einen Abbiegestreifen in diese einbiegen will.459

14.150

An einer Straßengabel, an der die Vorfahrt nicht geregelt und keine durchgehende Straßenführung erkennbar ist, gelten nur zwischen den Benutzern der Gabeläste die Vorfahrtregeln, im Verhältnis zu einem entgegenkommenden Benutzer des gemeinsamen Straßenstücks dagegen die Grundsätze des Begegnungsverkehrs.460

14.151

Laufen zwei baulich getrennte Richtungsfahrbahnen einer Straße zusammen, so handelt es sich nur dann um einen Vorfahrtfall, wenn sich die bisherigen Fahrbahnen nicht als Fahrstreifen fortsetzen; ansonsten greifen die Regeln über den Fahrstreifenwechsel (§ 7 Abs. 5 StVO) ein.

14.152

In einem gemeinsamen Einmündungsbereich mehrerer Nebenstraßen gilt zwischen deren Benutzern „rechts vor links“,461 nicht aber, wenn die Einmündungen mehrere Meter voneinander entfernt sind.462 Bilden die Nebenstraßen und eine abknickende Vorfahrtstraße eine platzartige Fläche, erstreckt sich die Vorfahrt des geradeaus die Vorfahrtstraße Verlassenden auch hierauf.463

14.153

454 455 456 457 458 459 460 461 462 463

OLG Hamm v. 28.6.1997 – 13 U 10/97, NZV 1998, 26. OLG Hamm v. 16.5.2018 – 7 U 2/18, NJW-RR 2018, 1178. BGH v. 27.5.2014 – VI ZR 279/13, NJW 2014, 3097. BGH v. 23.2.1960 – VI ZR 47/59, NJW 1960, 816; BGH v. 15.3.1961 – 4 StR 58/61, BGHSt 16, 19; OLG Nürnberg v. 3.11.2008 – 1 U 1841/08, NZV 2009, 290; BHHJ/Burmann § 9 StVO Rz. 27; a.A. Kullik DAR 1985, 334, 336. BayObLG DAR 1978, 282; Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 34. OLG Düsseldorf v. 2.4.1976 – 3 Ss (OWi) 1495/75, VM 1977, Nr. 6; für beide Fälle a.A. Kullik DAR 1985, 334, 337. BayObLG v. 25.7.1969 – 1a Ws [B] 37/69, VRS 38, 220; a.A. BGH v. 24.4.1964 – 4 StR 388/63, VRS 27, 74; OLG Koblenz v. 28.12.1981 – 1 Ss 608/81, VRS 62, 464. KG v. 6.2.2012 – 22 U 283/11, VersR 2012, 635; OLG Köln v. 7.2.1990 – 13 U 227/89, VersR 1992, 249; OLG Stuttgart v. 17.12.1993 – 2 U 89/93, NZV 1994, 440. OLG Bremen v. 30.3.1965 – 3 U 14/65, DAR 1965, 179. BGH v. 9.3.1971 – VI ZR 137/69, BGHZ 56, 1; OLG Hamm v. 7.5.1996 – 27 U 208/95, NZV 1997, 180 (s. aber Rz. 14.171).

Greger | 391

§ 14 Rz. 14.154 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.154

Das Einfahren von einem Beschleunigungsstreifen ist ein Vorfahrtfall, kein Fahrstreifenwechsel.464 Auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen hat auch ohne Beschilderung der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt (§ 18 Abs. 3 StVO). Das gilt auch im Verhältnis zwischen zwei Einfahrenden, von denen der hintere zügiger als der vordere auf die durchgehende Fahrbahn gewechselt ist; allerdings ist der nunmehr Bevorrechtigte zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet;465 muss er in dieser Situation bremsen, trifft ihn das Verschulden an einem Auffahrunfall.466 Der Einfahrende darf nicht darauf vertrauen, dass der Bevorrechtigte ihm durch Ausweichen auf den linken Fahrstreifen oder Abbremsen das Einfahren ermöglicht (wozu dieser auch nicht verpflichtet ist).467 Wer verbotenermaßen den Beschleunigungsstreifen benützt (z.B. in Fortsetzung einer Fahrt auf dem Seitenstreifen), genießt nicht das Vorrecht nach § 18 Abs. 3 StVO: hier gilt also gegenüber einem Einfahrenden „rechts vor links“.

14.155

Auch die Parallelfahrbahn eines Autobahnkreuzes („Verteilerfahrbahn“) ist keine „durchgehende Fahrbahn“; für Einmündungen in eine solche gilt somit – vorbehaltlich besonderer Regelung – ebenfalls „rechts vor links“.468 Der Ausfahrende muss also dem Einfahrenden den Vortritt lassen. Der Ansicht, dies sei nicht sachgerecht und stattdessen eine gegenseitige Verständigung zu fordern,469 ist nicht zu folgen: Der Vorrang des Einfahrenden entspricht vielmehr der Dynamik des Verkehrsvorgangs, denn der Einfahrende befindet sich in der Beschleunigungs-, der Ausfahrende in der Verzögerungsphase; das Abstellen auf individuelle Verständigung ist bei den hohen Autobahngeschwindigkeiten kaum möglich und jedenfalls gefahrträchtig. Wer von einem kombinierten Beschleunigungs- und Verzögerungsstreifen auf die durchgehende Fahrbahn wechseln will, muss die Vorfahrt eines noch dort befindlichen Ausfahrwilligen beachten; dieser darf jedoch nicht ohne Beachtung des auf der Beschleunigungsspur Fahrenden die Fahrtrichtung ändern.470

14.156

Kein Vorfahrtfall liegt vor, wenn das Fahrzeug aus der untergeordneten Straße zu einem Zeitpunkt eingebogen ist, zu dem das andere noch so weit entfernt war, dass es nicht behindert oder gefährdet worden ist.471 Kommt es in einem solchen Fall zu einer Kollision außerhalb des Einmündungsbereichs, so gelten für die Beurteilung des Verhaltens der Beteiligten ausschließlich die Regeln für Auffahr- bzw. Begegnungsunfälle. Ist die eingangs genannte Voraussetzung aber nicht erfüllt, so handelt es sich auch dann um einen Vorfahrtunfall, wenn der Kollisionsort (z.B. infolge erheblicher Geschwindigkeitsdifferenz oder Kurvenschneidens) außerhalb des sog Einmündungsvierecks liegt.472

464 KG v. 14.6.2007 – 12 U 98/06, NZV 2008, 244; OLG Köln v. 24.10.2005 – 16 U 24/05, NZV 2006, 420; Bouska NZV 2000, 31. 465 OLG Koblenz v. 27.2.1987 – 1 Ss 86/87, VRS 73, 65. 466 OLG Koblenz v. 3.8.1992 – 12 U 798/91, NZV 1993, 28. 467 OLG Köln v. 25.8.1964 – Ss 336/54, VRS 28, 143; OLG Koblenz v. 18.1.1993 – 12 U 1821/91, VersR 1994, 361. 468 Bouska NZV 2000, 26, 31. 469 So OLG Köln v. 30.11.2006 – 14 U 10/06, NZV 2007, 141. 470 I. Erg. ebenso LG Berlin v. 2.8.1999 – 58 S 446/98, NZV 2000, 45. 471 OLG Braunschweig v. 12.7.1990 – 2 U 34/90, VersR 1992, 841: langsam einbiegendes Treckergespann. 472 KG v. 8.1.1976 – 12 U 2472/75, VersR 1977, 82; OLG Karlsruhe v. 24.5.1989 – 1 U 303/88, VersR 1989, 925; fragwürdig OLG Köln v. 15.3.1989 – 13 U 222/88, NZV 1989, 437 (abstellend auf instabile Lage des einbiegenden Kradfahrers) u. OLG München v. 21.4.1989 – 10 U 3383/88, NZV 1989, 438 (Anscheinsbeweis für Vorfahrtverletzung).

392 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.161 § 14

Entsprechendes gilt, wenn sich die Kollision in der untergeordneten Straße außerhalb des Schnittfeldes der beiden Straßen ereignet (z.B. durch Kurvenschneiden des linkseinbiegenden Vorfahrtberechtigten; dazu s. Rz. 14.115).473

14.157

Ist die Vorfahrtregelung infolge fehlerhafter oder verdeckter Beschilderung nicht erkennbar, trifft den Wartepflichtigen nur dann ein Fahrlässigkeitsvorwurf, wenn die Kenntnis der bisherigen Regelung oder bestimmte Anzeichen Zweifel an seinem Vorrecht begründen mussten,474 also schwerlich, wenn er sich bisher auf einer Vorfahrtstraße (Zeichen 306 der Anlage 2 zur StVO) befand.475 Näher s. Rz. 14.183 f.

14.158

c) Grundsätzliches zum Verhalten des Wartepflichtigen Beim Heranfahren an die Einmündung muss der Wartepflichtige seine Geschwindigkeit so rechtzeitig und allmählich herabsetzen, dass er den Vorfahrtberechtigten nicht verwirrt und zu Schreck- oder Abwehrreaktionen herausfordert.476

14.159

Einfahren darf er nur, wenn er keinen Bevorrechtigten gefährdet oder wesentlich behindert (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO). Beim Rechtseinbiegen in eine schmale Straße ist auch eine Irritation des auf der Vorfahrtstraße von rechts Kommenden zu vermeiden.477 Keine wesentliche Behinderung liegt vor, wenn der andere noch so weit entfernt ist, dass er sich auf die Fahrweise des Einbiegers rechtzeitig und gefahrlos einstellen kann.478 War an einer – an sich übersichtlichen (sonst s. Rz. 14.164) – Einmündung der Bevorrechtigte zum Zeitpunkt des Einfahrens noch nicht sichtbar, liegt keine Vorfahrtverletzung vor.479

14.160

Wie die Beteiligten sich zu verhalten haben, wenn nach Beginn des Einfahrens ein an sich Vorfahrtberechtigter sichtbar wird, richtet sich nach der jeweiligen Situation. Kann der Einfahrende die Fahrbahn für den Herannahenden noch rechtzeitig freimachen, muss er den Einbiegevorgang so schnell wie möglich fortsetzen; ist dies (z.B. wegen der Länge oder Schwerfälligkeit seines Fahrzeugs) nicht möglich, muss er auch dann anhalten, wenn er dadurch die Straße ganz versperrt, denn dies vermindert die Gefahr von Fehlreaktionen des Vorfahrtberechtigten.480 Anhalten ist also nur dann fehlerhaft, wenn dadurch die Durchfahrt versperrt wird, obwohl ein Räumen noch möglich wäre.481

14.161

473 OLG Düsseldorf v. 15.6.1979 – 2 Ss OWi 459/79-44/79 V, VRS 58, 269; OLG Hamm v. 28.6.1997 – 13 U 10/97, NZV 1998, 26; OLG Saarbrücken v. 29.3.2018 – 4 U 56/17, r+s 2018, 492 (trichterförmige Einmündung). 474 Vgl. BGH v. 21.12.1976 – VI ZR 257/75, NJW 1977, 632 = VersR 1977, 426 mit Anm. Booß VersR 1977, 1052 (auch zur Verantwortlichkeit der Behörde); OLG München v. 18.9.1975 – 24 U 749/75, VersR 1976, 100. 475 Vgl. den Fall KG v. 15.3.1976 – 12 U 2717/75, VersR 1977, 722 (sichtbehinderndes Müllfahrzeug). 476 OLG Düsseldorf v. 7.4.1988 – 5 Ss OWi 118/88-97/88 I, NZV 1988, 111. 477 OLG Hamm v. 4.8.1999 – 13 U 64/99, DAR 2000, 63. 478 OLG Hamm v. 21.8.1973 – 5 Ss 874/73, DAR 1974, 108; OLG Braunschweig v. 12.7.1990 – 2 U 34/90, VersR 1992, 841. 479 BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903; BGH v. 25.1.1994 – VI ZR 285/92, NZV 1994, 184; OLG Celle v. 8.5.1978 – 5 U 87/77, VersR 1979, 380; OLG Hamm v. 18.10.1994 – 9 U 90/94, OLGR Hamm 1995, 3. 480 BGH v. 25.1.1994 – VI ZR 285/92, NZV 1994, 184. 481 OLG Hamm v. 18.10.1994 – 9 U 90/94, OLGR Hamm 1995, 3.

Greger | 393

§ 14 Rz. 14.162 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.162

Vertrauen darf der Wartepflichtige darauf, – dass aus einer für jeden Fahrverkehr (nicht nur für bestimmte Fahrzeuge oder Verkehrsarten) gesperrten Straße oder aus der falschen Fahrtrichtung einer Einbahnstraße oder Richtungsfahrbahn482 kein Fahrzeug kommt, auch kein rückwärts fahrendes483 (zur Situation bei Radwegen und bei erkennbar vorübergehender, z.B. baustellenbedingter Sperrung s. Rz. 14.163); – dass kein (bisher nicht sichtbarer) Vorfahrtberechtigter unter Einhaltung einer völlig überhöhten Geschwindigkeit herannaht (welche Überschreitung noch in Rechnung zu stellen ist, richtet sich nach den konkreten Gegebenheiten;484 auf einen erkennbaren Geschwindigkeitsverstoß muss er sich einstellen485); – dass keines der von rechts herankommenden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechseln werde, so dass er seinerseits nach rechts einbiegen kann,486 außer es bestünden hierfür Anzeichen wie Betätigung des linken Blinkers, geringe, zum Überholen herausfordernde Geschwindigkeit eines Vorausfahrenden, Hindernis wie geparktes Fahrzeug oder Fußgänger;487 dass ein – bisher nicht sichtbares – Fahrzeug hinter einem von rechts herankommenden zum Überholen ausscheren könnte, braucht der Einbiegende nicht in Rechnung zu stellen;488 – dass ein von links auf dem linken Fahrstreifen herannahender Vorfahrtberechtigter nicht auf den rechten Fahrstreifen wechseln wird, so dass der Wartepflichtige nach rechts auf diesen einbiegen kann;489 – dass dann, wenn ein vorfahrtberechtigter Fahrer bei Stocken des Verkehrs für ihn eine Lücke freilässt, ein für ihn nicht sichtbarer, die stehende Kolonne überholender Kraftfahrer ihm die Möglichkeit gibt, sich aus der Lücke heraus bis zur Sichtgewinnung vorzutasten490 (s. Rz. 14.174); – dass in der vorgenannten Situation ein in der Fahrbahnmitte liegender, durch Markierung abgetrennter Straßenbahngleisbereich nicht von anderen Fahrzeugen als Straßenbahnen befahren wird;491

482 BGH v. 6.10.1981 – VI ZR 296/79, VersR 1982, 94, 95: außer bei besonderen Umständen. 483 KG v. 10.3.1994 – 22 U 921/93, KGReport Berlin 1994, 98. 484 Vgl. BGH v. 14.2.1984 – VI ZR 229/82, VersR 1984, 440; OLG Nürnberg v. 2.10.1990 – 1 U 2067/90, NZV 1991, 353. 485 OLG Schleswig v. 7.11.1991 – 7 U 3/90, NZV 1993, 113. 486 BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903; OLG Köln v. 28.7.1993 – 11 U 42/93, VersR 1994, 191; Hentschel NJW 1991, 1267, 1272; a.A. OLG Düsseldorf v. 20.10.1980 – 1 U 37/80, VersR 1981, 578; OLG Oldenburg v. 11.11.1988 – 11 U 68/88, VRS 78, 25; OLG Hamm v. 21.5.2001 – 6 U 42/01, NZV 2001, 519 (Beobachtungspflicht). 487 BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903; OLG Köln v. 12.6.1980 – 1 Ss 408 Z/80, VRS 60, 61. 488 BayObLG v. 22.12.1975 – RReg 1 St 406/75, DAR 1976, 108 (Lastzüge); OLG Düsseldorf v. 20.8.2001 – 1 U 160/99, NZV 2002, 565 (Pkw); a.A. BGH v. 26.9.1995 – VI ZR 151/94, NZV 1996, 27 für den Fall, dass ein infolge Straßenkrümmung nicht sichtbarer Pkw einen mit 70– 80 km/h fahrenden Bus trotz fehlender Sicht auf die Kreuzung überholt. 489 BayObLG v. 31.7.1978 – 1 Ob OWi 282/78, VRS 56, 114; OLG Hamm v. 7.7.1980 – 1 Ss OWi 3164/79, VRS 60, 141: außer bei entgegenstehenden Anzeichen, z.B. Blockierung der linken Spur durch längere Kolonne vor einer Ampel. 490 BayObLG v. 25.2.1988 – 2 Ob OWi 12/88, NZV 1988, 77, 78. 491 BayObLG v. 18.1.1974 – RReg 1 St 657/73 OWi, VM 1974, Nr. 45.

394 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.163 § 14

– dass ein Vorfahrtberechtigter, der kein Richtungszeichen gibt, geradeaus weiterfährt;492 zur Situation bei fälschlich gesetztem Richtungsanzeiger s. Rz. 14.173.

14.163

Nicht vertrauen darf er darauf, – dass der Berechtigte die zulässige Höchstgeschwindigkeit einhält493 oder bei schlechten Sichtverhältnissen „auf Sicht“ fährt;494 zur Situation bei erheblicher Überschreitung s. Rz. 14.162; – dass aus einer erkennbar nur vorübergehend, z.B. aus Anlass einer Baustelle, für den Verkehr gesperrten Straße kein Fahrzeug einfahren werde,495 außer wenn dies z.B. wegen des Vorhandenseins von Absperrschranken, -baken o ä überhaupt nicht zu erwarten ist;496 – dass kein Teilnehmer des durchgehenden Verkehrs einen nicht durch bauliche Einrichtungen abgeschirmten Beschleunigungsstreifen befährt (z.B. wenn sich an einer Einfahrt der Seitenstreifen in nur durch Markierungen kenntlich gemachter Weise als Beschleunigungsstreifen fortsetzt);497 zur besonderen Vorfahrtsituation bei Autobahnen und Kraftfahrstraßen s. Rz. 14.154 f.; – dass ein parallel zur Vorfahrtstraße verlaufender Radweg nicht in unzulässiger Richtung (Rz. 14.265) benutzt wird;498 – dass sich beim Einbiegen nach rechts von dort kein Fahrzeug jenseits der Straßenmitte nähern werde,499 selbst bei Bestehen eines Überholverbots;500 zum Vertrauen auf das Rechtsbleiben herankommender Fahrzeuge s. Rz. 14.162; – dass das bevorrechtigte Fahrzeug entsprechend dem gesetzten Fahrtrichtungsanzeiger abbiegen wird, sofern keine zusätzlichen Anzeichen (z.B. Einordnen, Verringerung der Geschwindigkeit, Änderung der Fahrtrichtung) hierauf hindeuten501 (die häufig gebrauchte Formulierung, der Wartepflichtige dürfe auf den Fahrtrichtungsanzeiger vertrauen, solan492 BayObLG v. 29.1.1982 – 2 Ob OWi 523/81, VRS 63, 289; zu abknickender Vorfahrt s. aber Rz. 14.163. 493 OLG Frankfurt v. 23.12.1974 – 2 Ws (B) 244/74, VRS 49, 68; OLG Karlsruhe v. 14.2.1986 – 10 U 141/85, VRS 72, 420. 494 OLG Koblenz v. 11.4.1988 – 12 U 559/87, VersR 1989, 1310. 495 BGH v. 22.1.1963 – VI ZR 89/62, VersR 1963, 243; BayObLG v. 17.3.1983 – RReg 1 St 6/83, VRS 65, 154; OLG Karlsruhe v. 2.11.1967 – 1 Ss 229/67, VRS 35, 154; OLG Köln v. 31.8.1983 – 3 Ss 465/83-241, VRS 66, 51. 496 BayObLG v. 17.3.1983 – RReg 1 St 6/83, VRS 65, 154. 497 Abw. OLG Köln v. 23.12.1981 – 3 Ss 984/81, VRS 62, 303 und Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 34b, wonach i.d.R. auf Freihaltung vertraut werden dürfe. 498 BGH v. 6.10.1981 – VI ZR 296/79, VersR 1982, 94 (sogar in Einbahnstraße); OLG Hamm v. 10.3.1992 – 27 U 241/91, NZV 1992, 364; OLG Hamm v. 24.10.1996 – 6 U 68/96, NZV 1997, 123; i. Erg. ebenso BGH v. 15.7.1986 – 4 StR 192/86, BGHSt 34, 127, wo dem falsch fahrenden Radfahrer sogar ein Vorfahrtrecht zugebilligt wird (hierzu Rebler MDR 2019, 1483, 1484 f. m.w.N.), während die vorgenannte Entscheidung des VI. Zivilsenats nur auf die allgemeine Vorsichtspflicht abhebt; a.A. österr. OGH ZVR 1992, 327. 499 BGH v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540. 500 Unklar Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 53, 54a („u.U.“ bzw. „i.d.R.“). 501 OLG München v. 6.3.2009 – 10 U 4439/08, NZV 2009, 457; OLG Hamm v. 11.3.2003 – 9 U 169/02, NZV 2003, 414; OLG Düsseldorf v. 9.7.1975 – 15 U 213/74, VersR 1976, 546; OLG Düsseldorf v. 15.9.2015 – 1 U 168/14, DAR 2016, 648; KG v. 25.9.1989 – 12 U 4646/88, NZV 1990, 155; OLG Dresden v. 20.8.2014 – 7 U 1876/13, NZV 2015, 246.

Greger | 395

§ 14 Rz. 14.163 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

ge die Fahrweise des Bevorrechtigten keinen Anlass zu Zweifeln gebe,502 läuft wohl auf dasselbe hinaus503); jedoch besteht selbst bei Vorliegen solcher Anzeichen kein Vertrauensschutz, wenn im unmittelbaren Kreuzungsbereich mehrere Abbiegemöglichkeiten bestehen,504 sowie bezüglich richtiger Zeichengebung (Anl. 3 StVO Zeichen 2.1 Erl. 1) bei abknickender Vorfahrt;505 – dass ein von links kommendes, nach rechts abbiegendes Fahrzeug nicht von einem verdeckten Fahrzeug überholt wird; – dass ein Vorfahrtberechtigter, der vor der Kreuzung oder Einmündung wartet oder Blinkzeichen mit der Lichthupe gibt, auf sein Vorrecht verzichtet; nur bei eindeutiger Verständigung darf auf den Vorfahrtverzicht vertraut werden (§ 11 Abs. 3 Hs. 2);506 auch bei eindeutigem Verzicht muss der Wartepflichtige sich auf etwaige andere Vorfahrtberechtigte einstellen;507 – dass der Bevorrechtigte an einer vor der Kreuzung liegenden Fußgängerampel anhalten wird;508 – dass an einer abknickenden Vorfahrt der aus der anderen untergeordneten Straße, aber von rechts Kommende vor dem dort aufgestellten Stop-Schild anhalten werde.509

14.164

An einer unübersichtlichen Einmündung muss sich der Wartepflichtige langsam in die bevorrechtigte Straße vortasten, um die erforderliche Sicht in einer Weise zu gewinnen, die es einem herannahenden Kraftfahrer ermöglicht, noch rechtzeitig zu reagieren oder auf sich aufmerksam zu machen.510 Er darf darauf vertrauen, dass ein bevorrechtigtes Fahrzeug den hierzu erforderlichen Sicherheitsabstand einhält511 (vgl. Rz. 14.45). Hat er den einsehbaren Teil 502 Vgl. OLG Hamm v. 1.9.1978 – 3 Ss OWi 1915/78, VRS 56, 378; OLG Hamm v. 22.3.1991 – Ss OWi 230/91, DAR 1991, 270; KG v. 25.9.1989 – 12 U 4646/88, NZV 1990, 155; Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 54. 503 Weitergehend aber BGH v. 28.5.1974 – 4 StR 37/74, VM 1974, Nr. 89. 504 OLG Köln v. 11.1.1978 – 13 U 160/77, DAR 1978, 138. 505 BayObLG v. 24.7.1974 – RReg 1 St 101/74, DAR 1974, 302; OLG Zweibrücken v. 26.3.1974 – Ws (a) 40/74, MDR 1975, 77; a.A. OLG Rostock v. 1.3.2010 – 5 U 223/09, NZV 2011, 187; OLG Oldenburg v. 14.1.1999 – Ss 506/98, DAR 1999, 179; OLG Zweibrücken v. 6.7.1990 – 1 Ss 159/ 90, DAR 1991, 68 mit abl. Anm. Berr; Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 54, 43. 506 KG v. 9.2.2004 – 12 U 233/02, VersR 2005, 136; OLG Zweibrücken v. 22.5.1981 – 3 U 98/80, VM 1982 Nr. 4; OLG Koblenz v. 3.6.1991 – 12 U 80/90, NZV 1991, 428; OLG Koblenz v. 12.10.1992 – 12 U 1234/91, NZV 1993, 273; OLG Hamm v. 21.1.2000 – 9 U 88/99, OLGR Hamm 2001, 141. 507 Vgl. BGH v. 5.6.1956 – VI ZR 68/55, VRS 11, 171. 508 BayObLG v. 8.11.1979 – 1 Ob OWi 535/79, VRS 58, 150; OLG Stuttgart v. 10.5.1985 – 1 Ss (23) 251/85, VRS 69, 304; OLG Hamm v. 20.1.1992 – 6 U 271/91, NZV 1992, 409; Hentschel/König/ Dauer § 8 StVO Rz. 30 („i.d.R.“); a.A. BayObLG v. 17.2.1983 – 1 Ob OWi 2/83, VRS 64, 184, OLG Celle v. 23.12.1998 – 3 U 46/98, OLGR Celle 2000, 85 u. OLG Köln v. 6.2.2002 – 11 U 143/01, NZV 2003, 414 im Anschluss an die abzulehnende Entscheidung BGH v. 2.3.1982 – VI ZR 230/80, VersR 1982, 701 zur vergleichbaren Situation beim Linksabbiegen (s. Rz. 14.126 und zur Möglichkeit zeitversetzter Phasierung BGH v. 15.3.1990 – III ZR 149/89, NZV 1991, 147, 148). 509 BayObLG v. 17.2.1978 – RReg 1 St 1/78, VRS 55, 222. 510 OLG Düsseldorf v. 15.3.1976 – 1 U 178/75, VersR 1976, 1179; OLG Saarbrücken v. 13.2.1981 – 3 U 40/80, 3 U 45/80, VersR 1981, 580; OLG Hamm v. 5.5.1978 – 4 Ss OWi 1114/78, VRS 56, 200. 511 OLG Saarbrücken v. 31.10.1975 – 3 U 20/75, VM 1976, Nr. 62 LS.

396 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.168 § 14

als frei von bevorrechtigtem Verkehr erkannt, muss er möglichst zügig weiterfahren,512 anderenfalls sofort anhalten.513 Nur wenn auf diese Weise ein gefahrloses Einfahren nicht gewährleistet werden kann, muss sich der Wartepflichtige einweisen lassen514 oder Warnposten aufstellen.515 Unzulässig ist das Hineintasten, wenn der Wartepflichtige die Annäherung eines bevorrechtigten Fahrzeugs am Scheinwerferkegel erkennen kann,516 oder neben einem Fahrzeug, das sich seinerseits bereits vortastet517 (Ausnahme: s. Rz. 14.166). Bei bauartbedingter Sichtbehinderung (z.B. Sonderfahrzeug, Omnibus an spitzwinkliger Einmündung) muss der Fahrer sich, soweit diese nicht durch anderweitige Maßnahmen behebbar ist, einer zuverlässigen Person als Ausguck oder Einweiser bedienen; auf einen bloßen Zuruf aus dem Fahrgastraum darf er sich nicht ohne weiteres verlassen.518

14.165

Bei sonstigen Sichtbehinderungen muss, wenn diese vorübergehender Art sind, abgewartet werden.519 Dagegen ist es z.B. bei Nebel Sache des Vorfahrtberechtigten, auf Sicht zu fahren.520 Neben einem sichtbehindernden Fahrzeug darf nur eingefahren werden, wenn eine Abschirmung während der gesamten Dauer des Überquerens der Vorfahrtstraße gewährleistet ist.521

14.166

Bei übermäßig langer Blockierung der Vorfahrtstraße ist u.U. besondere Absicherung erforderlich.522 Dies gilt aber nicht, wenn die Vorfahrtstraße ausreichend weit einsehbar ist.523

14.167

Im mehrspurigen Verkehr ist Rechtseinbiegen trotz von links herannahenden Verkehrs zulässig, wenn dieser die linke Fahrspur einhält und der Wartepflichtige so auf die rechte Fahrspur einfährt, dass er dem Bevorrechtigten keinen Anlass gibt, eine Behinderung zu befürchten.524 Das Linkseinbiegen auf die linke Fahrspur ist dagegen ein so ungewöhnlicher Vorgang, dass grundsätzlich mit einer Irritation des von rechts auf der rechten Spur herannahenden Kraftfahrers gerechnet werden muss. Nur wenn durch Verkehrsinseln oder Markierungen eine Warte- und Einfädelspur in der Mitte der bevorrechtigten Straße eingerichtet ist, darf der Wartepflichtige trotz von rechts herannahenden Verkehrs einbiegen.525

14.168

512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522

523 524 525

OLG Hamm v. 4.11.1993 – 6 U 122/93, NZV 1994, 277. OLG Frankfurt v. 10.9.2015 – 22 U 73/14, NJW-RR 2016, 731. OLG Düsseldorf v. 25.9.1980 – 5 Ss OWi 527/80, VRS 60, 224. BGH v. 18.9.1984 – VI ZR 289/82, VersR 1984, 1147: Lastzug bei Dunkelheit vor Straßenkuppe. BayObLG v. 29.10.1975 – RReg. 1 St 331/75, VM 1976, Nr. 48. KG v. 12.11.1981 – 12 U 3170/80, VM 1982, Nr. 68. BayObLG v. 19.12.1980 – 1 Ob OWi 384/80, VRS 60, 305. BayObLG v. 15.6.1960 – 1 St 213/60, VRS 19, 312: haltendes Fahrzeug; OLG Celle v. 2.3.1978 – 5 U 168/77, VersR 1979, 190: heftiger Schauer. OLG Schleswig v. 22.6.1994 – 9 U 55/93, NZV 1994, 439. BayObLG v. 30.10.1985 – 1 Ob OWi 188/85, VRS 70, 33. OLG Karlsruhe v. 23.2.1990 – 10 U 222/89, VersR 1992, 332 (überlanger Sondertransport); OLG Koblenz v. 11.4.1988 – 12 U 559/87, VersR 1989, 1310 (Traktorgespann im Nebel); OLG Düsseldorf v. 11.1.1995 – 15 U 83/93, NZV 1996, 491 (Mähdrescher mit Anhänger bei Dunkelheit). BGH v. 25.1.1994 – VI ZR 285/92, NZV 1994, 184; in der Sache OLG Frankfurt v. 10.9.2015 – 22 U 73/14, NJW-RR 2016, 731 fraglich. OLG Hamm v. 20.12.1977 – 2 Ss OWi 2037/77, VRS 55, 144. Weitergehend OLG Köln v. 14.7.1975 – 1 U 184/74, VersR 1976, 395: wenn nach den örtlichen Verhältnissen Platz zum Stehenbleiben in der Fahrbahnmitte besteht.

Greger | 397

§ 14 Rz. 14.169 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.169

Beim Einfädeln auf eine mehrspurige Straße darf sich der Kraftfahrer nicht darauf verlassen, dass der durchgehende Verkehr auf die Überholspur ausweicht, auch wenn diese frei ist,526 oder dass er ihm durch Abbremsen das Einfädeln ermöglicht.527

14.170

Auf eine vorfahrtändernde Verkehrsregelung durch Polizeibeamte kann sich der Kraftfahrer verlassen; er darf aber, wenn er vor der Kreuzung durch einen Verkehrsposten angehalten und dann zur Weiterfahrt aufgefordert wurde, nicht darauf vertrauen, dass die Kreuzung frei ist.528

d) Grundsätzliches zum Verhalten des Vorfahrtberechtigten 14.171

Er kann grundsätzlich auf die Beachtung seines Vorfahrtrechts vertrauen, und zwar auch dann, wenn er (z.B. wegen Überholens) nicht die rechte Fahrbahnseite einhält529 oder wenn er die untergeordnete Straße nicht einsehen kann.530 Wenn allerdings konkrete Umstände Anlass zu der Befürchtung einer Vorfahrtverletzung geben, muss er sich hierauf einstellen.531 An unübersichtlichen Einmündungen muss er sich darauf einstellen, dass sich ein Wartepflichtiger langsam vortastet, und einen entsprechenden Seitenabstand einhalten.532 Verlässt er eine abknickende Vorfahrtstraße geradeaus über einen platzartigen Einmündungsbereich, darf er nicht blind auf die Beachtung seines Vorrechts vertrauen.533

14.172

Er darf nicht überholen, wenn die Sicht auf die Kreuzung oder Einmündung durch ein vorausfahrendes Fahrzeug und wegen einer Straßenkrümmung verdeckt ist, so dass er den Verkehrsraum vor sich nicht voll übersehen kann, denn er darf sich nicht darauf verlassen, dass wartepflichtige Verkehrsteilnehmer, die auf einer untergeordneten Straße herannahen, während des Überholvorganges nicht in die bevorrechtigte Straße einbiegen.534

14.173

Bei eigener Verkehrswidrigkeit kann er sich nicht ohne weiteres auf den Vertrauensgrundsatz berufen, insbesondere bei überhöhter Geschwindigkeit.535 Erweckt er durch Blinken und Verlangsamen den Eindruck, rechts abbiegen zu wollen, so muss er bei Fortsetzung der Geradeausfahrt besonders auf das Verhalten Wartepflichtiger achten.536

14.174

Beim Überholen (auch rechts537) einer zum Stillstand gekommenen Kolonne muss damit gerechnet werden, dass Lücken in der Kolonne dazu dienen sollen, dem Querverkehr eine

526 OLG Koblenz v. 18.1.1993 – 12 U 1821/91, VersR 1994, 361. 527 OLG Hamm v. 3.3.1993 – 3 U 248/91, VersR 1994, 952 (auch nicht bei Setzen des linken Blinkers). 528 KG v. 18.1.1979 – 12 U 3621/78, VM 1980, Nr. 9. 529 BGH v. 19.9.1974 – III ZR 73/72, VersR 1975, 37. 530 BGH (Vereinigte Große Senate) v. 12.7.1954 – VGS 1/54, BGHSt 7, 118; BGH v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757. 531 OLG Düsseldorf v. 22.4.1975 – 12 U 35/74, DAR 1975, 330; OLG Celle v. 30.1.1975 – 5 U 57/ 74, VersR 1976, 345; OLG Köln v. 21.12.1982 – 3 U 77/82, VersR 1984, 645. 532 BGH v. 11.12.1980 – III ZR 34/79, VersR 1981, 336, 337; Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 47. 533 OLG Hamm v. 7.5.1996 – 27 U 208/95, NZV 1997, 180. 534 BGH v. 26.9.1995 – VI ZR 151/94, NZV 1996, 27. 535 OLG Oldenburg v. 1.2.1985 – 11 U 51/84, VersR 1985, 1096. 536 KG v. 1.3.1979 – 22 U 4402/78, DAR 1980, 22; OLG Düsseldorf v. 20.10.1980 – 1 U 59/80, VersR 1981, 1130. 537 KG v. 19.12.1974 – 22 U 2221/74, VersR 1975, 524.

398 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.178 § 14

Durchfahrt zu ermöglichen.538 Die Fahrweise (Geschwindigkeit, Seitenabstand) ist also so einzurichten, dass auf querende Fahrzeuge rechtzeitig reagiert werden kann.539 Dies gilt an Kreuzungen und Einmündungen ebenso wie an für den Fahrer erkennbaren Grundstücksausfahrten (s. Rz. 14.197) und zum Wenden bestimmten Mittelstreifendurchbrüchen;540 bei entsprechend großen Lücken an Kreuzungen ist auch mit zügig einfahrenden Fahrzeugen, ansonsten nur mit sich langsam vortastenden zu rechnen. Dass die gesteigerte Sorgfaltspflicht an lichtzeichengeregelten Kreuzungen nicht gelten soll,541 überzeugt nicht, da dort – gerade bei Verkehrsstockungen – mit Nachzüglern gerechnet werden muss (s. Rz. 14.186). Auch Benutzer von Sonderfahrstreifen für Busse und Taxis müssen sie beachten.542 Sie greift aber nicht ein, wenn nur ein einzelnes Fahrzeug vor einer Einmündung wartet oder wenn sich die Lücke in einer Kolonne des Gegenverkehrs befindet.543 Der vorfahrtberechtigte Linksabbieger muss den Bogen so weit nehmen, dass er die Fahrlinie eines aus der untergeordneten Straße Kommenden nicht berührt.544

14.175

Rückwärtsfahren ändert nichts an der Vorfahrt, verpflichtet aber zu besonderer Umsicht.545

14.176

Befindet sich der Wartepflichtige bereits auf der Vorfahrtstraße, muss sich der Berechtigte im Rahmen des ihm Möglichen hierauf sachgerecht einstellen; er darf nicht versuchen, seinen Vorrang zu erzwingen546 (s. auch § 11 Abs. 3 StVO) oder im Vertrauen auf ein Anhalten des anderen noch vor diesem durchzufahren.547 Ebenso wenig darf er ohne weiteres davon ausgehen, der andere werde zügig weiterfahren, und hinter diesem vorbeizufahren versuchen.548 Auch bei Anhalten und Wiederanfahren des anderen Fahrzeugs darf er nicht damit rechnen, es werde die Kreuzung nun in einem Zuge räumen.549 Bei Einbiegen eines Lkw aus der untergeordneten Straße muss der herannahende Vorfahrtberechtigte damit rechnen, dass es sich um einen Zug handelt.550

14.177

Erweckt der Vorfahrtberechtigte durch Anhalten den Eindruck eines Vorfahrtverzichts, muss er sich auf ein entsprechendes Verhalten des anderen (s. Rz. 14.163) einstellen.551 Der Vorfahrtberechtigte ist grundsätzlich nicht verpflichtet, sicherzustellen, dass auch andere Verkehrsteilnehmer ein gefahrloses Einfahren des Wartepflichtigen ermöglichen; einen mögli-

14.178

538 Rspr-Überblick zu diesen Fällen bei Hagspiel NZV 2013, 115 ff. 539 KG v. 13.5.1976 – 22 U 167/76, VersR 1977, 157; OLG Nürnberg v. 19.4.1978 – 4 U 191/77, VersR 1978, 1046; OLG Düsseldorf v. 25.6.1979 – 1 U 212/78, VersR 1980, 634; OLG Düsseldorf v. 14.1.1980 – 1 U 135/79, MDR 1980, 406; BayObLG v. 25.2.1988 – 2 Ob OWi 12/88, NZV 1988, 77, 78. Rspr-Überblick bei Hagspiel NZV 2013, 115 ff. 540 KG v. 2.7.1981 – 12 U 492/81, VersR 1982, 583 (verneinend mangels Erkennbarkeit). 541 So KG v. 22.7.2002 – 12 U 9278/00, NZV 2003, 378; BHHJ/Heß § 6 StVO Rz. 8. 542 KG v. 25.5.1992 – 12 U 4397/91, NZV 1992, 486; Hentschel/König/Dauer § 8 StVO Rz. 47; a.A. OLG Saarbrücken v. 12.4.1991 – 3 U 96/90, NZV 1992, 234; BHHJ/Heß § 6 StVO Rz. 8. 543 KG v. 22.3.2001 – 12 U 8148/99, DAR 2001, 399. 544 OLG Düsseldorf v. 6.5.1976 – 12 U 165/75, VersR 1976, 1181; OLG Düsseldorf v. 11.5.1978 – 12 U 229/77, VersR 1979, 381; KG v. 1.4.1993 – 12 U 1862/92, VersR 1994, 1085. 545 BGH v. 4.2.1958 – VI ZR 55/57, VRS 14, 346; BGH v. 13.11.1959 – 4 StR 434/59, BGHSt 13, 368. 546 BGH v. 20.12.1962 – III ZR 155/61, VersR 1963, 282. 547 BGH v. 25.1.1994 – VI ZR 285/92, NZV 1994, 184. 548 OLG Hamm v. 18.10.1994 – 9 U 90/94, OLGR Hamm 1995, 3. 549 OLG Köln v. 14.7.1975 – 1 U 184/74, DAR 1976, 17. 550 A.A. OLG Köln v. 17.5.1979 – 7 U 6/79, VersR 1980, 685. 551 OLG Saarbrücken v. 22.5.1981 – 3 U 98/80, VM 1982, Nr. 4.

Greger | 399

§ 14 Rz. 14.178 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

cherweise gefährdenden Verzicht, insbesondere gegenüber Kindern, hat er aber zu unterlassen.552 Hat er gegenüber einem Wartepflichtigen verzichtet, muss er auf das Verhalten nachfolgender Wartepflichtiger achten.553

e) Besonderheiten bei Vorfahrt „rechts vor links“ 14.179

Auch an einer nicht durch Verkehrszeichen geregelten Kreuzung gilt der Vertrauensgrundsatz, d.h. der in sie Einfahrende darf sich grundsätzlich darauf verlassen, dass ein etwa von links Kommender, auch wenn er für ihn noch nicht sichtbar ist, seine Vorfahrt beachten werde.554

14.180

Da der Einfahrende jedoch gegenüber einem (etwa) von rechts Kommenden seinerseits wartepflichtig ist (sog. halbe Vorfahrt; s. Rz. 25.210), darf er sich der Kreuzung – entsprechend den Sichtverhältnissen555 – nur mit so mäßiger Geschwindigkeit nähern, dass er ggf. anhalten kann; auf solcherart angepasste Fahrweise darf auch der von links Kommende vertrauen.556

14.181

An einer T-förmigen Einmündung können die örtlichen Verhältnisse im Einzelfall Anlass geben, sich darauf einzustellen, dass ein die durchgehende Straße Benützender seine Wartepflicht nicht erkennt,557 insbesondere wenn der von rechts Kommende durch Anhalten an der Einmündung den falschen Eindruck noch verstärkt hat.558

14.182

Ist der rechte Straßenrand sehr zugewachsen (Büsche, hohes Gras), muss die Fahrweise darauf eingerichtet werden, dass einmündende Straßen erst kurz vor Erreichen der Einmündung erkennbar werden.559

f) Besonderheiten bei Regelung durch Verkehrszeichen 14.183

Ist nur die Vorfahrtstraße beschildert, während negative Vorfahrtzeichen fehlen, so kann dem an sich Wartepflichtigen kein Vorwurf gemacht werden, wenn er sich so verhalten hat, wie dies bei gänzlich fehlender Beschilderung geboten gewesen wäre.560 Etwas anderes mag gelten, wenn sich die Bevorrechtigung der anderen Straße nach den Umständen (Ausbau, Verkehrsdichte) förmlich aufdrängte. Eine generelle Pflicht, nach vorfahrtregelnden Zeichen an der anderen Straße Ausschau zu halten, besteht jedenfalls nicht; auch mit einem ausschließlich auf der linken Fahrbahnseite angebrachten Zeichen braucht der Verkehrsteilnehmer grundsätzlich nicht zu rechnen.561

552 553 554 555 556 557 558 559 560 561

OLG Düsseldorf v. 12.11.1984 – 1 U 109/84, VersR 1986, 471. OLG Köln v. 19.5.1993 – 13 U 21/93, OLGR Köln 1993, 228. BGH v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757. Dies gilt also nicht bei klarer Sicht auf die von rechts einmündende, freie Straße; OLG Hamm v. 15.3.1999 – 13 U 208/98, NZV 2000, 124. BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 97/76, VersR 1977, 917; OLG Nürnberg v. 27.11.1975 – 8 U 85/75, VersR 1976, 1147; OLG Saarbrücken v. 13.2.1981 – 3 U 40/80, 3 U 45/80, VersR 1981, 580. Vgl. OLG Koblenz v. 22.12.2003 – 12 U 985/02, DAR 2004, 272. OLG Hamm v. 14.9.1979 – 1 Ss 1443/79, VRS 58, 380, 382 f. OLG Frankfurt v. 27.4.1990 – 2 U 217/89, NZV 1990, 472. BGH v. 21.12.1976 – VI ZR 257/75, NJW 1977, 632 = VersR 1977, 1052 mit Anm. Booß. KG v. 28.3.1974 – 22 U 2623/73, VersR 1975, 452.

400 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.188 § 14

Beim Fehlen eines vorfahrtgewährenden Zeichens muss von fehlendem Vorfahrtrecht ausgegangen werden; dies gilt grundsätzlich auch, wenn ein für den Gegen- oder Querverkehr geltendes Zeichen (an seiner Form) erkennbar ist;562 insbesondere darf aus einem an der Verlängerung der benutzten Straße in Gegenrichtung aufgestellten Stop-Schild nicht auf abknickende Vorfahrt nach links geschlossen werden.563

14.184

Vorfahrtzeichen auf einem Privatgelände sind auch dann zu beachten, wenn sie ohne behördliche Anordnung vom Eigentümer aufgestellt wurden.564

14.185

g) Besonderheiten bei Lichtzeichenanlagen Bei Grünlicht darf darauf vertraut werden, dass die Fahrtrichtung des Querverkehrs gesperrt ist,565 nicht aber, dass die Kreuzung von Nachzüglern frei ist. Mit solchen muss besonders gerechnet werden, wenn mit fliegendem Start eingefahren wird.566 Bei Sichtbehinderung (insbesondere mehrspurigem Verkehr) ist daher entsprechende Herabsetzung der Geschwindigkeit geboten.567 Nachzüglern, d.h. in der Kreuzung steckengebliebenen Fahrzeugen des Querverkehrs, muss der Vorrang eingeräumt werden (§ 11 Abs. 3 StVO), auch bei Vorhandensein eines breiten Mittelstreifens.568

14.186

Auf mögliches Umschalten von Grün auf Gelb muss der Verkehrsteilnehmer seine Geschwindigkeit nicht einrichten569 (i.d.R. bestehen vor Ampeln ohnehin Geschwindigkeitsbeschränkungen570); anders bei witterungs- oder ladungsbedingter Bremswegverlängerung.571 Anhalten muss er nur, wenn dies mit einer normalen Betriebsbremsung (nicht über 4 m/sek2) möglich ist.572 Daran ändert das Vorhandensein einer Vorampel (gelbes Blinklicht) nichts.573 Vorwerfbar ist es aber, wenn der Kraftfahrer wegen überhöhter Geschwindigkeit nicht ohne Starkbremsung anhalten kann.

14.187

Bei Umschalten vor Räumen der Kreuzung darf weitergefahren werden, jedoch nur, wenn der Kreuzungskern (gebildet durch die Fluchtlinien der Fahrbahnränder) schon erreicht war574

14.188

562 563 564 565 566 567 568

569 570 571 572 573 574

BayObLG v. 5.8.1964 – RReg. 1b St 283/64, VRS 28, 117. LG Nürnberg-Fürth v. 11.8.1993 – 2 S 5298/93, DAR 1993, 436 mit Anm. Grußendorf. OLG Köln v. 23.6.1993 – 13 U 59/93, VRS 86, 9. BGH v. 27.2.1967 – III ZR 210/64, VersR 1967, 602. OLG Karlsruhe v. 14.3.1975 – 10 U 7/74, VersR 1976, 96; OLG Düsseldorf v. 20.6.1977 – 1 U 188/76, VersR 1978, 1173; OLG Köln v. 16.9.1996 – 8 U 17/96, NZV 1997, 269; OLG Hamm v. 26.8.2016 – 7 U 22/16, NJW-RR 2017, 478. BGH v. 20.12.1967 – 4 StR 382/67, VRS 34, 358. BGH v. 9.11.1976 – VI ZR 264/75, NJW 1977, 1394; OLG Köln v. 16.9.1996 – 8 U 17/96, NZV 1997, 269 (breiter Mittelstreifen mit nochmaligem Vorfahrtschild); KG v. 28.6.2004 – 12 U 94/ 03, NZV 2005, 95 (weiträumige Kreuzung); einschr. OLG Hamburg v. 18.2.2000 – 14 U 266/98, DAR 2001, 217 mit Anm. Burghart; a.A. Kuhnke NZV 2019, 503, 506. OLG Celle v. 29.1.1958 – 1 Ss 321/57, VRS 15, 219. Vgl. VwV zu § 37 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 StVO Nr. II. OLG Düsseldorf v. 7.11.1991 – 5 Ss OWi 451/91-OWi 180/91 I, DAR 1992, 109. BayObLG v. 23.12.1985 – 2 Ob OWi 397/85, VRS 70, 384; OLG Hamm v. 30.5.2016 – 6 U 13/ 16, DAR 2016, 653. BGH v. 26.4.2005 – VI ZR 228/03, NZV 2005, 407; a.A. OLG Hamm v. 16.5.2003 – 9 U 84/02, NZV 2003, 574 (Vorinstanz). OLG Düsseldorf v. 30.6.1997 – 1 U 185/96, NZV 1997, 481; OLG Koblenz v. 8.9.1997 – 12 U 1355/96, NZV 1998, 465; KG v. 13.6.2019 – 22 U 176/17, NJW-RR 2019, 1433; Kuhnke NZV 2019, 503.

Greger | 401

§ 14 Rz. 14.188 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

und unter besonderer Beachtung des einsetzenden Querverkehrs.575 Dieser muss zwar nach § 11 Abs. 3 StVO auf seinen Vorrang verzichten; der Kreuzungsräumer darf darauf aber nicht ohne weiteres vertrauen.576 Solange allerdings durch grünen Pfeil hinter der Kreuzung (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 StVO) die Sperrung des Gegenverkehrs angezeigt wird, darf auch darauf vertraut werden, dass der Querverkehr noch nicht freigegeben ist.577

14.189

Rechtsabbiegen bei Rot ist gestattet, wenn neben dem Lichtzeichen ein Schild mit grünem Pfeil auf schwarzem Grund angebracht ist, der Fahrzeugführer zunächst angehalten hat und andere Verkehrsteilnehmer nicht behindert oder gefährdet (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 8 StVO). – Bei Dauerrot wegen eines Ampeldefekts darf nach angemessener Wartezeit mit äußerster Vorsicht und möglichst nach Verständigung mit dem Querverkehr in die Kreuzung eingefahren werden;578 auch bei entsprechender Weisung durch einen Polizeibeamten.579

h) Besonderheiten im Kreisverkehr 14.190

Der Einfahrende ist nur wartepflichtig, wenn an der Einfahrt die Zeichen 215 (Kreisverkehr) und 205 (Vorfahrt gewähren) angebracht sind (§ 8 Abs. 1a StVO) und sich auf der Kreisfahrbahn ein Fahrzeug nähert, welches durch das Einfahren nicht nur unwesentlich behindert würde. Letzteres hängt von Geschwindigkeit und Entfernung dieses Fahrzeugs ab und kann u.U. schon dann gegeben sein, wenn es etwa gleichzeitig aus einer unmittelbar daneben liegenden Seitenstraße einbiegt.580 Bei fehlender Beschilderung gilt „rechts vor links“.

i) Besonderheiten bei Grundstücksausfahrten 14.191

Zu den Verhaltenspflichten bei Zweifeln über das Vorliegen einer Ausfahrt oder einer Einmündung s. Rz. 14.140.

14.192

Nach § 10 StVO muss sich der Grundstücksausfahrer so verhalten, „dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist“. Diese verfehlte Formulierung (s. Rz. 14.112 u. Rz. 10.58) verleitet dazu, aus der Tatsache eines Unfalls auf eine Verkehrswidrigkeit des Ausfahrers zu schließen. Die StVO kann jedoch auch von ihm keine höhere als die im Verkehr erforderliche Sorgfalt (§ 276 BGB) verlangen. Bei normalen Ausfahrvorgängen wird sich diese mit der Sorgfalt eines an einer Straßeneinmündung Wartepflichtigen decken. Ein Mehr an Umsicht kann von dem Ausfahrenden im Grunde nur dann gefordert werden, wenn sich gerade aus der Tatsache, dass er aus einem Grundstück und nicht aus einer anderen Straße einfährt, besondere Verkehrsgefahren ergeben, also z.B. daraus, dass er an einer Stelle in den fließenden Verkehr einbiegen will, an der dieser auf Querverkehr überhaupt nicht eingestellt ist,581 oder daraus, dass das Einbiegen wegen beengter Verhältnisse besonders viel Zeit in Anspruch nimmt.

575 OLG Köln v. 23.2.2012 – 7 U 163/11, NZV 2012, 276; OLG Hamm v. 18.2.1975 – 2 Ss OWi 140/75, VRS 49, 455; OLG Düsseldorf v. 20.6.1977 – 1 U 188/76, VersR 1978, 1173; OLG Hamm v. 26.8.2016 – 7 U 22/16, NJW-RR 2017, 478. 576 Kuhnke NZV 2019, 503, 506. 577 BayObLG v. 25.10.1979 – 1 Ob OWi 413/79, VRS 58, 147. 578 OLG Köln v. 29.4.1980 – 1 Ss 1037 B 7/79, VRS 59, 454. 579 OLG Köln v. 6.6.1966 – 12 U 208/65, VersR 1966, 1060. 580 Vgl. LG Detmold v. 22.12.2004 – 2 S 110/04, DAR 2005, 222. 581 OLG Zweibrücken v. 21.2.1986 – 1 Ss 1/86, VRS 71, 220.

402 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.199 § 14

Zumindest missverständlich ist daher die in der Rechtsprechung viel gebrauchte Formel von der „gesteigerten“, „höchstmöglichen“ oder „äußersten“ Sorgfalt des Ausfahrenden.582 Im Regelfall gelten auch hier die allgemeinen Verhaltenspflichten eines Wartepflichtigen (s. Rz. 14.159 ff.), desgleichen – nach Maßgabe der besonderen Situation an der Ausfahrt – der Grundsatz, dass auf verkehrsgerechtes Verhalten anderer vertraut werden darf (s. Rz. 14.12).583 Im Einzelnen gelten folgende Besonderheiten:

14.193

Das (an unübersichtlichen Einmündungen gestattete) Hineintasten in die bevorrechtigte Straße (s. Rz. 14.164) darf nur praktiziert werden, wenn der Ausfahrende nach den örtlichen Gegebenheiten damit rechnen kann, dass die Teilnehmer des fließenden Verkehrs sich rechtzeitig darauf einstellen, insbesondere nicht zu nahe am Straßenrand fahren.584

14.194

Eines Einweisers muss sich der Ausfahrende nur bedienen, wenn nach Vorstehendem ein Hineintasten nicht in Betracht kommt,585 oder bei einem Fahrzeug mit vorspringenden Teilen und erschwerter Manövrierbarkeit.586

14.195

Die besondere Warnpflicht bei langen Fahrzeugen (s. Rz. 14.167) mag bei Grundstücksausfahrten schon etwas eher eingreifen als an Einmündungen, wenn davon auszugehen ist, dass der Durchgangsverkehr noch weniger als dort mit solchen Hindernissen rechnet.587

14.196

Ob die Rechtsprechung zu den Lückenfällen (s. Rz. 14.174) auch an Grundstücksausfahrten gilt, ist umstritten.588 Die Frage ist zu bejahen (d.h. der Ausfahrende darf sich vorsichtig hindurchtasten; der Überholende muss auf die Lücken achten). Entscheidend ist allein, dass der Vorbeifahrende die Lücke als solche erkennen konnte;589 ob sich die Lücke vor einer Ausfahrt oder vor einer Einmündung befindet, ist für ihn oft gar nicht erkennbar, für die Gefahrenträchtigkeit der Situation aber auch unerheblich.

14.197

Zu den Anforderungen beim Überqueren eines Geh- oder Radwegs s. Rz. 14.219, 14.226.

14.198

Rückwärtsausfahren aus einem Grundstück ist zulässig, wenn der Ausfahrende die bevorrechtigte Straße in beiden Richtungen voll überblicken kann; nur wenn dies nicht der Fall ist,

14.199

582 Z.B. BayObLG v. 14.12.1971 – 6 St 130/71, BayObLGSt 1971, 225; OLG Koblenz v. 10.10.1974 – 1 Ss 223/74, VRS 48, 350; OLG Düsseldorf v. 13.10.1980 – 1 U 42/80, VersR 1981, 754; OLG München v. 4.4.1989 – 5 U 5254/88, NZV 1990, 274. 583 Vgl. BayObLG v. 9.8.1991 – 1 St 110/91, bei Bär DAR 1992, 361; OLG Celle v. 9.3.1976 – 2 Ss 203/76, VRS 51, 305; OLG Karlsruhe v. 25.1.1977 – 2 Ss (B) 1/77, DAR 1977, 109 (bzgl. Geschwindigkeitsüberschreitung); OLG Hamburg v. 25.1.1977 – 7 U 158/76, VersR 1977, 1033 (verneinend bzgl. Überfahren der Haltelinie vor einer Ampel). 584 OLG Stuttgart v. 26.5.1978 – 2 U 25/78, VersR 1978, 977; generell verneinend dagegen OLG Celle v. 1.3.1990 – 14 U 307/88, NZV 1991, 195. 585 BayObLG v. 7.8.1981 – RReg.1 St 164/81, VRS 61, 384; OLG Celle v. 9.3.1976 – 2 Ss 203/76, VRS 51, 305; OLG Zweibrücken v. 21.2.1986 – 1 Ss 1/86, VRS 71, 220. 586 BGH v. 13.11.1990 – VI ZR 15/90, NZV 1991, 187: Radlader. 587 Vgl. OLG Bamberg v. 1.7.1975 – 5 U 79/74, VersR 1977, 821; OLG Saarbrücken v. 13.6.1980 – 3 U 80/79, VM 1980, Nr. 116. 588 Bejahend OLG Düsseldorf v. 14.1.1980 – 1 U 135/79, VersR 1980, 774; OLG Hamm v. 24.9.1991 – 9 U 9/91, NZV 1992, 238; a.A. KG v. 12.2.1998 – 12 U 5603/96, VersR 1999, 1382; KG v. 4.3.1996 – 12 U 1032/95, NZV 1996, 365; BHHJ/Heß § 6 StVO Rz. 8 (mit Ausnahme für erkennbare Tankstellenausfahrt); Hentschel/König/Dauer § 5 StVO Rz. 41 („idR“). Weitere Rspr-Hinweise bei Hagspiel NZV 2013, 115, 117 f. 589 OLG Köln v. 19.8.2014 – 19 U 30/14, VersR 2015, 1135 („signifikante Einfahrt“).

Greger | 403

§ 14 Rz. 14.199 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

bedarf es eines Einweisers.590 Die Verzögerung, die dadurch entsteht, dass der rückwärts Ausfahrende auf der Fahrbahn die Fahrtrichtung ändern muss, ist bei der Beurteilung der Sichtverhältnisse in Rechnung zu stellen.

14.200

Im Verhältnis zwischen einem Ausfahrenden und einem in dasselbe Grundstück Einbiegenden kann nicht generell von einem Vorrang des letzteren ausgegangen werden.591 Auch wenn dieser bis kurz vor dem Zusammenstoß in der Ausfahrt noch zum fließenden Verkehr gehörte, durfte er doch erst einbiegen, wenn er die Ausfahrt als frei erkannt hat.

14.201

Beim Herausfahren aus einem quer zur Fahrbahn liegenden Abstellplatz (z.B. Parkbox) treffen den Kraftfahrer dieselben Pflichten gegenüber dem fließenden Verkehr und sonstigen Verkehrsteilnehmern592 wie bei einer Grundstücksausfahrt. Auf einem Parkplatz gilt dies jedoch für das Verhältnis zwischen einem ausparkenden und einem zwischen den Parkreihen hindurchfahrenden Fahrzeug nur eingeschränkt, denn dort muss jeder Verkehrsteilnehmer mit rangierenden Fahrzeugen rechnen. Der Ausparkende muss daher zwar den Vorrang des anderen beachten, darf aber darauf vertrauen, dass durchgehender Verkehr Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit auf derartige Fahrmanöver einrichtet.593 Daher ist z.B. auch bei Sichtbehinderung kein Einweisen erforderlich, sondern Hineintasten zulässig, wobei bei Rückwärtsfahrt allseits besondere Sorgfalt geboten ist.594 Handelt es sich nicht um das Herausfahren aus einer einzelnen Parklücke, sondern aus einer Zufahrt zu mehreren Abstellplätzen oder um das Herausfahren auf eine der Zu- oder Abfahrt dienende Fahrbahn mit Straßencharakter,595 gilt das Vorstehende nicht (zu diesen Fällen s. Rz. 14.147).

j) Besonderheiten bei Fahrzeugen mit Sonderrechten 14.202

Die Sonderrechte nach § 35 StVO ändern nichts an der Geltung der Vorfahrtregeln und rechtfertigen nicht die Gefährdung oder Schädigung anderer Verkehrsteilnehmer. Der nach der allgemeinen Regelung Vorfahrtberechtigte behält grundsätzlich sein Vorfahrtrecht. Er muss jedoch einem mit Blaulicht und Einsatzhorn nahenden Fahrzeug „freie Bahn“ schaffen (§ 38 Abs. 1 S. 2 StVO), ggf. also auf sein Vorfahrtrecht verzichten. Der an sich wartepflichtige Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs darf die Vorfahrt anderer Verkehrsteilnehmer daher nur missachten, wenn er sich davon überzeugt hat, dass diese ihn wahrgenommen und sich auf seine Absicht, die Kreuzung vor ihnen zu überqueren, eingestellt haben; erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf er darauf vertrauen, dass ihm nunmehr freie Fahrt gewährt wird.596

14.203

Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Wegerechts nach § 38 Abs. 1 StVO ist grundsätzlich der ordnungsgemäße Einsatz sämtlicher Warneinrichtungen, d.h. blaues Blinklicht 590 BayObLG v. 28.11.1984 – 1 Ob OWi 361/84, VRS 68, 295; OLG Zweibrücken v. 21.2.1986 – 1 Ss 1/86, VRS 71, 220; KG v. 15.12.1986 – 12 U 2317/86, VM 1987, Nr. 53. 591 So aber KG v. 26.5.1989 – 10 U 318/88, VersR 1989, 925. 592 Z.B. dem aus einem gegenüber liegenden Parkplatz Herausfahrenden: OLG Karlsruhe v. 8.10.2015 – 9 U 64/14, NZV 2016, 184. 593 OLG Stuttgart v. 19.1.1990 – 2 U 23/89, NJW-RR 1990, 670; OLG Düsseldorf v. 26.5.1981 – 2 Ss OWi 121/81-233/81 I, VRS 61, 455; OLG Oldenburg v. 26.3.1982 – 11 U 74/81, VRS 63, 99; OLG Oldenburg v. 12.12.1991 – 14 U 57/91, VersR 1993, 496. 594 OLG Hamm v. 11.9.2012 – 9 U 32/12, NZV 2013, 123. 595 OLG Hamm v. 29.8.2014 – 9 U 26/14, NJW 2015, 413. 596 BGH v. 17.12.1974 – VI ZR 207/73, BGHZ 63, 327, 329; KG v. 7.5.2007 – 12 U 129/06, NZV 2008, 149; OLG Jena v. 20.12.2006 – 4 U 259/05, MDR 2007, 884; OLG Brandenburg v. 13.7.2010 – 2 U 13/09, NZV 2011, 26; OLG Naumburg v. 21.8.2017 – 1 U 58/17, DAR 2018, 631.

404 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.207 § 14

und Martinshorn müssen zusammen und rechtzeitig eingesetzt werden,597 und zwar nicht nur vor der Kreuzung, sondern auch während des Überquerens.598 Setzt das Einsatzhorn vor dem Einfahren in die Kreuzung vorübergehend aus, während das blaue Blinklicht in Betrieb bleibt, dann muss der Führer des Einsatzfahrzeugs damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer irrtümlich glaubt, er wolle kein Vorrecht mehr in Anspruch nehmen.599 Jeder Verkehrsteilnehmer muss sicherstellen, dass er die Einsatzsignale rechtzeitig wahrnehmen kann.600 Ist dies, z.B. wegen lauten Motorengeräuschs, nicht gewährleistet, muss er die Beeinträchtigung durch besonders aufmerksame Beobachtung des Verkehrs ausgleichen.601 Bei Zivilfahrzeugen können wegen der geringeren Lautstärke des Horns u.U. andere Maßstäbe für die Wahrnehmbarkeit gelten.602

14.204

Der Führer des Einsatzfahrzeugs darf grundsätzlich nur dann bei Rotlicht in eine Kreuzung einfahren, wenn er sicher beurteilen kann, dass sämtliche bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer ihn bemerkt haben und freie Fahrt gewähren.603 Kann er sich dessen nicht sicher sein, muss er eine Geschwindigkeit einhalten, die ihm ein sofortiges Anhalten gestattet,604 ggf. anhalten und sich vortasten; dies gilt ganz besonders, wenn es sich um ein (unauffälligeres) Zivilfahrzeug handelt.605

14.205

Die übrigen Verkehrsteilnehmer dürfen in eine Kreuzung nicht einfahren, wenn unklar ist, aus welcher Richtung das Wegerechtsfahrzeug kommt,606 auch nicht bei Grünlicht.607 Auch der Gegenverkehr muss sich auf die Sondersituation einstellen, z.B. auf Fehlreaktionen anderer Verkehrsteilnehmer.608 Ob das Wegerecht berechtigt in Anspruch genommen wurde, ist für diese Verhaltenspflichten – schon mangels Erkennbarkeit – unerheblich; zum Einfluss auf die Haftungsquote s. Rz. 25.216.

14.206

Fahrzeuge von Straßenwartung, Straßenreinigung (auch Winterdienst609) oder Müllabfuhr sind von den Verkehrsvorschriften nicht generell befreit, sondern haben nach § 35 Abs. 6 StVO (bei entsprechender Kennzeichnung) nur das Recht, überall zu fahren und zu halten. Vorfahrtregeln und Lichtzeichen müssen sie beachten. Eine Kehrmaschine darf jedoch den Kehrvorgang im Kreuzungsbereich nach Umschalten der Ampel unter Beachtung des fließenden Verkehrs fortsetzen.610 Angehörige der freiwilligen Feuerwehr, die mit einem Privatfahr-

14.207

597 KG v. 4.11.2002 – 12 U 113/01, VersR 2004, 486; KG v. 3.2.1986 – 12 U 3774/85, VRS 70, 432; OLG Köln v. 26.10.1995 – 7 U 52/95, NZV 1996, 237; OLG Düsseldorf v. 10.1.2017 – 1 U 46/ 16, VersR 2017, 704. 598 KG v. 7.5.2007 – 12 U 129/06, NZV 2008, 149. 599 KG v. 29.6.1981 – 12 U 479/81, VM 1981, Nr. 119. 600 OLG Düsseldorf v. 28.5.1984 – 1 U 136/83, VersR 1985, 669. 601 OLG Nürnberg v. 16.2.1976 – 5 U 172/75, VersR 1977, 64. 602 KG v. 24.2.2003 – 12 U 200/01, NZV 2004, 85. 603 KG v. 30.4.1992 – (3) 1 Ss 47/92 (14/92), NZV 1992, 456; KG v. 7.5.2007 – 12 U 129/06, NZV 2008, 149; OLG Düsseldorf v. 11.11.1991 – 1 U 129/90, NZV 1992, 489; OLG Hamm v. 6.11.1995 – 13 U 94/95, VersR 1996, 1428. 604 OLG Braunschweig v. 24.1.1990 – Ws 175/89, NZV 1990, 198; KG v. 13.10.1988 – 12 U 6020/ 86, NZV 1989, 192. 605 KG v. 12.4.2001 – 12 U 14/99, NZV 2003, 126; KG v. 6.1.2003 – 12 U 138/01, NZV 2004, 86. 606 OLG Düsseldorf v. 11.11.1991 – 1 U 129/90, NZV 1992, 489. 607 OLG Hamm v. 13.12.1996 – 9 U 143/96, VersR 1997, 1547. 608 OLG Hamm v. 27.1.1998 – 9 U 152/97, OLGR Hamm 1998, 129. 609 VwV zu § 35 Abs. 6 StVO. 610 OLG Jena v. 10.8.1999 – 3 U 1357/97, NZV 2000, 210.

Greger | 405

§ 14 Rz. 14.207 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

zeug zum Einsatz fahren, sind, soweit dies dringend geboten und ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer realisierbar ist, nicht an die Vorschriften der StVO gebunden (§ 35 Abs. 1 StVO), dürfen insb. Geschwindigkeitsbegrenzungen maßvoll überschreiten;611 ein Wegerecht i.S.v. § 38 StVO steht ihnen aber nicht zu.

k) Besonderheiten bei geschlossenen Verbänden 14.208

Für sie gelten die allgemeinen Verkehrsregeln so, als handle es sich um ein Fahrzeug (vgl. § 27 Abs. 1 StVO). Ist daher das erste Fahrzeug berechtigt in eine Kreuzung oder Einmündung eingefahren, dürfen die weiteren folgen, auch wenn sie als Einzelfahrzeuge wartepflichtig wären.612 Voraussetzung ist jedoch, dass der Verband für die anderen Verkehrsteilnehmer als solcher erkennbar ist (näher § 27 Abs. 3 StVO); größere Lücken heben das Vorrecht auf.613 Das Vorrecht darf auch nicht ohne Rücksicht auf den übrigen Verkehr ausgeübt werden, insbesondere dann nicht, wenn damit gerechnet werden muss, dass andere Verkehrsteilnehmer es nicht erkennen oder nicht beachten.614

8. Pflichten gegenüber Schienenfahrzeugen 14.209

Ein Linksabbieger darf sich auf Straßenbahngleise nur einordnen, wenn sich keine Straßenbahn nähert (§ 9 Abs. 1 S. 3 StVO). Andernfalls muss er rechts neben den Schienen bleiben (mit ausreichendem Abstand615), ggf. den Gleisbereich nach rechts verlassen oder seine Abbiegeabsicht aufgeben.616 Ist er zunächst berechtigt auf die Gleise gefahren, muss er diese bei Annäherung einer Straßenbahn nicht räumen.617

14.210

Auch sonst ist vom Befahren des Gleisbereichs abzusehen, wenn damit gerechnet werden muss, dass er vor einer sich nähernden Straßenbahn nicht rechtzeitig geräumt werden kann, z.B. beim Abbiegen in ein Grundstück618 oder bei Kolonnenverkehr.619 Der Vorrang der Schienenbahn (§ 2 Abs. 3 StVO) gilt auch gegenüber dem Gegenverkehr.620

14.211

Vorrang hat die Straßenbahn auch dort, wo es durch die Gleisführung zu einem Hinüberwechseln in den vom Kraftfahrer benutzten Fahrbahnbereich kommt. Der Verlauf der Gleise ist daher genau zu beachten.621 Dies gilt aber nicht, wenn die Straßenbahn von einem besonderen Gleiskörper aus in den Straßenraum einfährt.622

611 Hentschel/König/Dauer § 35 StVO Rz. 3 f. mwN. 612 OLG Karlsruhe v. 8.11.1990 – 1 U 185/90, NZV 1991, 154, 155. 613 KG v. 14.9.2006 – 12 U 190/05, NZV 2007, 142; OLG Schleswig v. 31.7.1991 – 9 U 133/89, NZV 1992, 321. 614 OLG Karlsruhe v. 8.11.1990 – 1 U 185/90, NZV 1991, 154; OLG München v. 7.10.1986 – 5 U 1608/86, VersR 1987, 893. 615 BGH v. 11.5.1976 – VI ZR 170/74, VersR 1976, 932. 616 OLG Hamm v. 20.3.1981 – 9 U 171/80, VersR 1981, 961. 617 OLG München v. 28.1.1966 – 10 U 2074/65, VersR 1966, 786. 618 OLG Düsseldorf v. 14.10.1991 – 1 U 280/90, NZV 1992, 190. 619 OLG Düsseldorf v. 18.9.1975 – 12 U 57/73, DAR 1976, 191. 620 OLG Düsseldorf v. 5.7.1982 – 1 U 214/81, VersR 1983, 448. 621 OLG Hamm v. 6.5.1980 – 9 U 216/79, VersR 1981, 389. 622 LG Bochum v. 16.3.1984 – 5 S 372/83, VM 1984, Nr. 98; Hentschel/König/Dauer § 19 Rz. 7; Filthaut NZV 1992, 395, 397; a.A. Maur NZV 1990, 220.

406 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.216 § 14

Im kreuzenden Verkehr hängt der Vorrang davon ab, ob es sich um einen Bahnübergang handelt (dann Vorrang der Bahn nach § 19 StVO) oder um eine Kreuzung mit in der Fahrbahn verlegten Schienen (dann gelten die allgemeinen Vorfahrtregeln).623

14.212

Vor ungesicherten Bahnübergängen muss der Kraftfahrer seine Geschwindigkeit so herabsetzen, dass er vor dem Warnkreuz anhalten kann, solange er nicht die Bahnstrecke nach beiden Seiten als frei erkannt hat.624 Ist das während der Fahrt nicht möglich (z.B. wegen Nebels, Unübersichtlichkeit), muss er anhalten und sich vergewissern.625 Steht vor dem Übergang ein abfahrbereiter Zug, muss er seine Geschwindigkeit soweit herabsetzen, dass er bei dessen möglicher Abfahrt noch rechtzeitig anhalten kann;626 er darf sich nicht darauf verlassen, dass die Abfahrt durch einen Warnposten angezeigt wird.627 Der Übergang ist zügig zu überqueren (§ 19 Abs. 3 StVO). Ist dies nicht gewährleistet, etwa bei einem Stau, darf er nicht befahren werden.628 Ein schwerfälliges Fahrzeug, das den Übergang für längere Zeit blockieren würde, darf ihn u.U. erst nach Abstimmung mit den Bahndienststellen überqueren.629

14.213

Bei gesicherten Bahnübergängen darf der Kraftfahrer, wenn die Schranken geöffnet sind bzw. das Warnlicht nicht leuchtet, darauf vertrauen, dass kein Zug kommt.630 Er muss sich aber mit so mäßiger Geschwindigkeit nähern, dass er bei einem Senken der Schranke noch vor dieser anhalten kann; dies wird unter normalen Bedingungen bei ca. 50 bis 60 km/h der Fall sein.631

14.214

Zu den Pflichten des Schienenfahrzeugführers s. Rz. 14.258 ff.

14.215

9. Pflichten gegenüber Radfahrern a) Allgemeines Zunächst gelten die allgemein gegenüber dem Fahrzeugverkehr bestehenden Verkehrspflichten auch ihnen gegenüber (zum Überholen s. z.B. Rz. 14.94). Die besondere Art ihrer Verkehrsteilnahme und der verminderte Schutz bei Kollisionen erfordern jedoch zusätzliche Verhaltensmaßregeln.632 Die Erfahrungstatsache, dass Radfahrer häufig besonders undiszipliniert am Straßenverkehr teilnehmen, braucht der Kraftfahrer nur dann in Rechnung zu stellen, wenn er konkreten Anlass hat, mit einem Fehlverhalten zu rechnen (zu Kindern s. Rz. 14.250 f.). Ansonsten gilt auch Radfahrern gegenüber der Vertrauensgrundsatz (s. Rz. 14.12); der Umstand, dass Radfahrer ohne Fahrschulunterricht am Verkehr teilnehmen, ändert hieran nichts.633

623 Zu Einzelheiten der Abgrenzung Kürschner NZV 1992, 215; Filthaut NZV 1992, 395; zur Situation bei Ausfahrt aus einem Fußgängerbereich LG Karlsruhe v. 8.11.1991 – 9 S 207/91, NZV 1992, 241. 624 OLG Oldenburg v. 5.12.1961 – 1 SS 299/61, VRS 23, 150. 625 OLG Oldenburg v. 31.10.2001 – 2 U 159/01, VersR 2003, 647. 626 OLG Düsseldorf v. 28.8.1989 – 5 Ss (OWi) 332/89 – (OWi) 133/89 I, NZV 1989, 482 (Straßenbahn). 627 OLG Hamm v. 2.4.1971 – 3 Ss 207/71, VRS 41, 122. 628 OLG Frankfurt v. 7.2.1986 – 25 U 64/84, VersR 1988, 295. 629 BGH v. 7.10.1960 – VI ZR 171/59, VersR 1960, 1049. 630 BayObLG v. 15.2.1985 – 1 Ob OWi 421/84, NJW 1985, 1568. 631 Nachweise der uneinheitlichen Rspr. bei BHHJ/Hühnermann § 19 StVO Rz. 13 f. 632 Vgl. auch die ausf. Zusammenstellung bei Blumberg NZV 1994, 249, 254 ff. 633 A.A. Blumberg NZV 1994, 249, 254.

Greger | 407

14.216

§ 14 Rz. 14.217 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

b) Besonderheiten 14.217

Kommt ein Radfahrer auf der falschen Fahrbahnseite entgegen und ist seinem Verhalten nicht eindeutig zu entnehmen, dass er am (für ihn) linken Fahrbahnrand bleiben will, so muss der Kraftfahrer, soweit noch möglich, seine Geschwindigkeit so herabsetzen, dass er eine Kollision auch dann noch vermeiden kann, wenn der Radfahrer auf die für ihn rechte Fahrbahnseite zu gelangen versucht.634

14.218

Mit unbedachtem Queren der Fahrbahn durch den Radfahrer braucht der Kraftfahrer ohne besondere Anhaltspunkte nicht zu rechnen, auch nicht an einer ausgeschalteten Fußgängerampel635 oder einem Fußgängerüberweg.636 Das Zeichen 138 StVO Anl. 2 („Radverkehr“) gebietet aber besondere Aufmerksamkeit.637

14.219

Wegen des Vorfahrtrechts (auch bei falscher Radwegbenutzung) s. Rz. 14.145, 14.163, 14.171; zum Linksabbiegen s. Rz. 14.132; zum Seitenabstand beim Überholen s. Rz. 14.94. Grundstücksausfahrer müssen damit rechnen, dass ein zu querender Gehweg auch von Radfahrern,638 ein zu querender Radweg in beiden Richtungen benützt wird.639 Auf einem Gehweg braucht er aber nicht mit Radfahrern zu rechnen, die sich mit erheblich höherer als der bei Fußgängern üblichen Geschwindigkeit nähern.640

14.220

Eine besonders gefährliche Situation ergibt sich beim Zusammentreffen eines Rechtsabbiegers641 mit einem geradeaus fahrenden (und nach § 9 Abs. 3 S. 1 StVO bevorrechtigten) Radfahrer. Auf sie muss sich jeder Rechtsabbieger einstellen. Die zweite Rückschaupflicht (§ 9 Abs. 1 S. 4 StVO) gilt auch hier.642 Hat der Kraftfahrer kurz vor dem Abbiegen einen Radfahrer überholt, so muss er sich vergewissern, dass er gefahrlos vor ihm abbiegen kann. Musste er vor dem Abbiegen anhalten, so muss er damit rechnen, dass ein Radfahrer am rechten Fahrbahnrand oder auf einem dort verlaufenden Radweg aufgeschlossen hat und gleichzeitig mit ihm anfährt. Er muss diesen Bereich daher ständig im Auge behalten.643 Kann er den Raum rechts neben seinem Fahrzeug nicht einsehen (etwa bei einem Lkw trotz Anfahrspiegels nach § 56 Abs. 3 Nr. 2 StVZO), so muss er sich so langsam vortasten, dass ein etwa vorhandener Radfahrer sich auf sein Fahrmanöver einrichten und das abbiegende Fahrzeug notfalls auf der Stelle angehalten werden kann.644 Seit 28.4.2020 ordnet § 9 Abs. 6 StVO für rechtsabbiegende Kfz über 3,5 t zulässiger Gesamtmasse innerorts Schrittgeschwindigkeit an, wenn mit geradeausfahrendem Radverkehr auf oder neben der Fahrbahn zu rechnen ist. Nach der (teil-

634 BayObLG v. 16.3.1984 – RReg.1 St 47/84, VRS 67, 136. 635 OLG Oldenburg v. 19.10.1984 – 6 U 319/83, VersR 1986, 773. 636 OLG Hamm v. 30.3.1992 – 13 U 219/91, NZV 1993, 66; im konkreten Fall wurden allerdings Anhaltspunkte für die bevorstehende Verkehrswidrigkeit angenommen. S. auch OLG Hamm v. 27.5.2019 – 31 U 23/19, r+s 2019, 535: beim Rechtsabbiegen hätte Kraftfahrer auf den Radfahrer achten müssen. 637 OLG Oldenburg v. 18.6.1985 – 12 U 87/84, VersR 1987, 56. 638 OLG Düsseldorf v. 19.2.1982 – 5 Ss OWi 81/82 I, VRS 63, 66. 639 KG v. 29.11.1984 – 3 Ss 178/84-54/84, VRS 68, 284. 640 OLG Karlsruhe v. 14.12.1990 – 10 U 117/90, NZV 1991, 154. 641 Als solcher gilt auch, wer eine nach links abknickende Vorfahrtstraße geradeaus verlässt; BayObLG v. 30.1.21985 – 2 Ob OWi 291/85, DAR 1986, 126. 642 OLG Düsseldorf v. 8.11.1974 – 3 Ss 688/74, VRS 49, 29. 643 OLG Hamm v. 25.5.1987 – 2 Ss 546/87, VRS 73, 280. 644 OLG München v. 5.8.1988 – 10 U 5242/86, NZV 1989, 394; OLG Bremen v. 12.3.1991 – 3 U 126/90, NZV 1992, 35.

408 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.224 § 14

weise strengeren) Rechtsprechung ist darunter eine Geschwindigkeit von max. 10 km/h zu verstehen.645

10. Pflichten gegenüber Fußgängern a) Fußgängerüberwege An markierten Fußgängerüberwegen hat der Kraftfahrer Fußgängern, die erkennbar die Fahrbahn überschreiten wollen, Vorrang zu gewähren (§ 26 Abs. 1 StVO). Er muss zu diesem Zweck mit so mäßiger Geschwindigkeit an den Überweg heranfahren, dass er sich auf entsprechendes Verhalten eines Fußgängers ohne hartes Bremsen einstellen kann; 40 km/h sind unmittelbar vor dem Übergang zu hoch,646 Kann der Fahrer wegen Sonnenblendung einen Teil des Überwegs nicht übersehen, so darf er sich nur mit Schrittgeschwindigkeit (Rz. 14.220) herantasten.647

14.221

Damit der Kraftfahrer seiner Pflicht zur Vorranggewährung nachkommen kann, muss er den Bereich des Überwegs und der angrenzenden Gehwege sorgfältig beobachten. Geht ein Fußgänger auf den Überweg zu, muss mit Überquerungsabsicht gerechnet werden; solange er parallel zur Fahrbahn geht aber nur bei besonderen Anzeichen, z.B. Umdrehen.648 Stehen am rechten Fahrbahnrand Fußgänger, so darf der Kraftfahrer nicht darauf vertrauen, dass diese den Überweg – z.B. wegen durchfahrender Autos im Gegenverkehr – nicht betreten werden.649 Bei schlechten Sichtverhältnissen muss er sich auch auf plötzlich auftauchende Fußgänger einstellen.650 Er braucht jedoch nicht damit zu rechnen, dass jemand im Laufschritt aus einer Seitenstraße kommend den Überweg benutzen will.651

14.222

Auch wenn am Überweg wartende Fußgänger durch Zeichen auf ihren Vorrang verzichten, muss der Kraftfahrer den Überweg mit Anhaltegeschwindigkeit passieren, wenn er die an den Überweg angrenzenden Gehsteigflächen nicht voll einsehen kann.652 Der Verzicht gilt nur für den betreffenden Fußgänger und allenfalls ein von ihm beeinflusstes Kind.653 Das kurze Verharren eines Fußgängers am Fahrbahnrand oder auf einer Verkehrsinsel in der Fahrbahnmitte berechtigt den Kraftfahrer nicht zu der Annahme, der Fußgänger werde auf sein Vorrecht verzichten,654 ebenso ein Zurücktreten nach Beginn der Fahrbahnüberquerung.655

14.223

Der Kraftfahrer darf nicht darauf vertrauen, dass Fußgänger einen Überweg nur exakt an der markierten Stelle benützen; der Schutzbereich erstreckt sich einige Meter über den Zebra-

14.224

645 OLG Hamm v. 28.11.2019 – 1 RBs 220/19, NJW 2020, 351 mit Anm. Fromm; nach OLG Köln v. 22.1.1985 – 1 Ss 782/84, VRS 69, 382: 4 – 7 km/h. Eingehend Rebler MDR 2020, 834 ff. m.w.N. 646 OLG Düsseldorf v. 13.12.1973 – 12 U 32/73, DAR 1974, 160; KG v. 20.5.1976 – 12 U 325/76, VersR 1977, 1008. 647 OLG Frankfurt v. 22.9.1976 – 2 Ss 359/76, VM 1977, Nr. 95. 648 OLG Karlsruhe v. 13.9.1991 – 1 Ss 111/91, NZV 1992, 330; OLG Hamm v. 14.7.2003 – 6 U 39/ 03, NZV 2004, 577. 649 OLG Hamm v. 10.3.1975 – 4 Ss OWi 95/74, VRS 49, 397. 650 OLG Karlsruhe v. 7.12.1972 – 1 Ss 75/72, VRS 44, 370. 651 OLG Celle v. 18.2.1975 – 1 Ss 378/74, VRS 49, 217. 652 OLG Hamm v. 29.6.1977 – 4 Ss 171/77, VRS 54, 223. 653 OLG Düsseldorf v. 11.1.1982 – 5 Ss OWi 630/81-99/81 V, DAR 1982, 407. 654 OLG Köln v. 6.3.1974 – 2 U 97/73, DAR 1975, 17; OLG Hamm v. 15.3.1976 – 2 Ss OWi 279/76, VRS 51, 309. 655 BayObLG v. 19.3.1982 – RReg.1 St 31/82, VRS 62, 466.

Greger | 409

§ 14 Rz. 14.224 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

streifen hinaus.656 Der Kraftfahrer muss daher seine Fahrweise auch darauf einstellen, dass ein Fußgänger wenige Meter hinter dem Überweg in einer nicht ausgeleuchteten „Dunkelzone“ die Fahrbahn überquert, und seine Geschwindigkeit so einrichten, dass er vor einem plötzlich ins Scheinwerferlicht kommenden Hindernis anhalten kann.657

b) Abbiegen 14.225

Fußgänger, die im Bereich einer Kreuzung oder Einmündung die Fahrbahn überqueren wollen, haben gegenüber Fahrzeugen, die in die betreffende Straße abbiegen, Vorrang (§ 9 Abs. 3 S. 3 StVO). Die Verhaltensanforderungen an Fußgängerüberwegen gelten daher hier entsprechend. Der Abbiegende muss sich vergewissern, ob ein Fußgänger die Fahrbahn überqueren will, und anhalten, wenn Anzeichen hierfür bestehen.658 Bei Sichtbeeinträchtigung muss er so langsam abbiegen, dass er sich jederzeit auf einen mit üblicher Geschwindigkeit herankommenden Fußgänger einstellen kann.659 Aus welcher Richtung der Fußgänger kommt und ob sich die vom Kfz benutzte Straße jenseits der Einmündung fortsetzt, ist unerheblich.660 Bleiben Fußgänger am Fahrbahnrand stehen, obwohl die Ampel für sie bereits längere Zeit Grün zeigt, so darf ein Linksabbieger u.U. davon ausgehen, dass sie die Fahrbahn erst hinter ihm überqueren wollen.661 Zeigt die Fußgängerampel bereits Rot, braucht der Linksabbieger sich grundsätzlich nicht darauf einzustellen, dass Fußgänger noch mit dem Überqueren der Fahrbahn beginnen.662 Für Rechtsabbieger gelten die gegenüber Radfahrern bestehenden besonderen Sorgfaltspflichten (s. Rz. 14.220) entsprechend.

c) Überfahren eines Gehwegs 14.226

Hierzu kann es z.B. kommen an Grundstücksausfahrten, Zufahrten zu „anderen Straßenteilen“ und an Einmündungen, an denen die Fahrbahn mittels Bordsteinabsenkung über einen Gehweg geführt wird.663 An diesen Stellen besteht die Verpflichtung, dem fließenden Verkehr Vorrang einzuräumen (§ 10 StVO), auch gegenüber Fußgängern auf dem Gehweg. Der Kraftfahrer muss diese daher im Auge behalten und mit Schrittgeschwindigkeit (Rz. 14.220) fahren. Musste er wegen des fließenden Verkehrs quer zum Bürgersteig anhalten, so muss er damit rechnen, dass Fußgänger vorne um sein Fahrzeug herumgehen, und sicherstellen, dass sich niemand in einem etwaigen „toten Winkel“ befindet.664

d) Anfahren aus Stillstand 14.227

Der Kraftfahrer muss sich vor dem Anfahren vom Straßenrand oder im Stau665 davon überzeugen, dass sich kein Fußgänger vor seinem Fahrzeug aufhält oder im Begriffe ist, sich dort-

656 OLG Hamm v. 29.6.1977 – 4 Ss 171/77, VRS 54, 223: 4 m. Vgl. auch österr. OGH ZVR 2003, 191. 657 BGH v. 21.12.1976 – VI ZR 21/75, VersR 1977, 337, sehr weitgehend. 658 OLG Karlsruhe (Freiburg) v. 4.4.2013 – 9 U 118/12, NZV 2013, 544. 659 BayObLG v. 27.1.1989 – RReg.2 St 276/88, NZV 1989, 281. 660 OLG Hamm v. 6.8.2012 – 6 U 14/12, NZV 2013, 190. 661 BayObLG DAR 1978, 203 (bei Rüth). 662 BayObLG DAR 1980, 259 (bei Rüth). 663 Zu letzterem OLG Karlsruhe v. 10.12.1993 – 10 U 180/93, VersR 1994, 362 mit Anm. Frhr v Rosenberg. 664 OLG Düsseldorf v. 29.8.1977 – 2 Ss 513/77, VRS 54, 298. 665 KG v. 10.11.1997 – 12 U 5774/96, VersR 1999, 504.

410 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.229 § 14

hin zu begeben, desgleichen auf einem Tankstellengelände.666 Dies gilt auch, wenn seine Sicht fahrzeugbedingt beeinträchtigt ist; hier muss er sich entweder selbst den Überblick verschaffen oder sich einweisen lassen;667 wenn dies nicht möglich ist, muss er zumindest ein Warnzeichen geben.668 Mit einer vor seinem Fahrzeug liegenden Person braucht er jedoch grundsätzlich nicht zu rechnen.669 Ist mit einem Zurückrollen seines Fahrzeugs zu rechnen (Lkw an Steigung), muss er sich auch nach rückwärts vergewissern,670 erst recht natürlich, wenn ein Rangieren beabsichtigt ist.

e) Verhalten an Haltestellen An öffentlichen Verkehrsmitteln darf rechts nur unter Beachtung des Vorrangs der ein- und aussteigenden Fahrgäste nach § 20 Abs. 2 StVO vorbeigefahren werden. Dies gilt auch, wenn zwar eine Haltestelleninsel vorhanden ist, wegen starken Andrangs aber damit gerechnet werden muss, dass Ein- oder Aussteigende unachtsam auf die Fahrbahn treten.671 Auch wenn sich das Verkehrsmittel der Haltestelle erst nähert, kann Anlass bestehen, auf das Verhalten am Straßenrand wartender Personen besonders zu achten.672 Zur einzuhaltenden Geschwindigkeit und zum Überholverbot bei Einschalten des Warnblinklichts durch den Busfahrer s. § 20 Abs. 3, 4 StVO sowie Rz. 14.32).

14.228

f) Unachtsames Betreten der Fahrbahn Abgesehen von den Fällen mit Fußgängervorrang (s. Rz. 14.221 ff.) braucht der Kraftfahrer seine Fahrweise grundsätzlich nicht auf die Möglichkeit einzurichten, dass ein Fußgänger vor ihm auf die Fahrbahn treten wird.673 Es genügt, dass er die geltenden Geschwindigkeitsvorschriften einschließlich des Sichtfahrgebots (s. Rz. 14.19) sowie einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum Fahrbahnrand (s. Rz. 14.45) einhält. Dies gilt auch beim Vorbeifahren an parkenden oder sonst stehenden Fahrzeugen, an einer Verkehrsinsel mit Querungshilfe674 oder wenn von der Seite ein Fußweg einmündet.675 Selbst wenn ein Fußgänger in einer Parkbucht steht oder geht, braucht der Kraftfahrer nicht damit zu rechnen, dass er blindlings die Fahrbahn überqueren werde.676 Auch beim Einbiegen aus einem Grundstück darf der Kraftfahrer darauf vertrauen, dass ein Fußgänger, der außerhalb einer Kreuzung oder Einmündung die Straße überqueren will, seinen Vorrang beachtet.677 An Haltestellen bestehen besondere

666 OLG Naumburg v. 25.2.2016 – 1 U 99/15, VersR 2017, 247. 667 OLG Düsseldorf v. 20.12.1977 – 5 Ss 461/77-487/77 II, VM 1978, Nr. 69 (Müllfahrzeug); OLG München v. 25.6.1991 – 5 U 4935/90, NZV 1991, 390 (Bagger). 668 OLG München v. 12.7.1988 – 5 U 5554/87, NZV 1991, 389 (Linienbus). 669 OLG Saarbrücken v. 22.2.1991 – 3 U 48/90, VersR 1992, 843 = NZV 1992, 75. 670 OLG Saarbrücken v. 3.2.1978 – 3 U 271/76, VM 1979, Nr. 15. 671 BGH v. 24.1.1967 – VI ZR 79/65, NJW 1967, 981: nicht, wenn auf der Insel lediglich wartende Fahrgäste stehen. 672 OLG Hamm v. 10.6.1974 – 3 U 14/74, MDR 1974, 1018. 673 OLG Hamm v. 14.11.2006 – 9 U 115/06, NZV 2008, 411; OLG Düsseldorf v. 13.5.1975 – 12 U 89/73, DAR 1975, 331. 674 BGH v. 12.5.1998 – VI ZR 124/97, VersR 1998, 1128. 675 BGH v. 21.2.1985 – III ZR 205/83, NJW 1985, 1950. 676 OLG Köln v. 13.5.1978 – 1 Ss 187/78, VRS 56, 29. 677 OLG Hamm v. 25.8.1994 – 6 U 44/94, NZV 1995, 72.

Greger | 411

14.229

§ 14 Rz. 14.229 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

Sorgfaltspflichten nach § 20 StVO (s. Rz. 14.32).678 Auch der Gegenverkehr muss, selbst bei Vorhandensein einer Querungshilfe, die Geschwindigkeit reduzieren.679

14.230

Nur wenn triftige Umstände im Einzelfall die Annahme nahelegen, dass ein Fußgänger verkehrswidrig die Fahrbahn überqueren wird, muss der Kraftfahrer seine Fahrweise (insbesondere durch Ermäßigung der Geschwindigkeit) hierauf einstellen. Solche Umstände hat die Rechtsprechung z.B. bejaht, – wenn ein Kraftfahrer bei Schichtwechsel und eingeschränkter Sicht an einem Werksausgang vorbeifährt, während auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Linienbus wartet;680 – wenn sich im Bereich einer Haltestelle auf beiden Seiten der Fahrbahn Schüler befinden und in der Gegenrichtung gerade ein Bus einfährt;681 – wenn ein Kraftfahrer an einer haltenden Kolonne vorbeifährt, in der eine Lücke für Querverkehr freigelassen wurde682 oder wenn er eine solche Kolonne auf der Gegenfahrbahn überholt;683 ansonsten braucht er aber nicht generell, d.h. auch bei Fehlen einer Lücke, mit unvermittelt zwischen den haltenden Fahrzeugen auftauchenden Fußgängern zu rechnen,684 sondern nur bei besonderen Umständen;685 – bei Annäherung an eine ausgefallene Fußgängerampel, wenn andere Fahrzeuge bereits anhalten, um einem Fußgänger das Überqueren zu ermöglichen;686 – wenn ein Kraftfahrer schon vor Erreichen des Ortsendeschildes mit höherer als der innerorts zugelassenen Geschwindigkeit fährt und ein Fußgänger hinter dem Ortsende am Fahrbahnrand steht;687 – wenn ein Fußgänger neben der Fahrbahn auf dem Bankett geht: Hier soll der Kraftfahrer nach zu weit gehender Ansicht des BGH688 nicht darauf vertrauen dürfen, dass der Fußgänger nicht, etwa an zum Gehen weniger geeigneten Stellen, zur Seite auf die Fahrbahn tritt.

14.231

Eingeschränkt ist der Grundsatz, dass auf verkehrsgerechtes Verhalten von Fußgängern vertraut werden darf, weiterhin gegenüber Kindern (hierzu s. Rz. 14.243 ff.), Hochbetagten und Hilfsbedürftigen (vgl. § 3 Abs. 2a StVO). Der Kraftfahrer darf daher nicht erwarten, dass ein erkennbar betagter Fußgänger in der Fahrbahnmitte stehenbleiben und ihn passieren lassen werde.689 Wann er ansonsten mit unachtsamem Betreten der Fahrbahn durch einen älteren 678 Zu deren Grenzen s. KG v. 6.7.2009 – 12 U 122/08, NZV 2010, 200. 679 OLG Hamm v. 13.4.2010 – 9 U 62/08, NZV 2010, 566. 680 BGH v. 16.5.1972 – VI ZR 29/71, VersR 1972, 951; KG v. 22.11.1984 – 12 U 1512/84, VM 1985, Nr. 74. 681 OLG Celle v. 11.10.1990 – 5 U 135/89, NZV 1991, 228. 682 KG v. 1.10.1984 – 22 U 3858/83, VersR 1986, 659. 683 KG v. 29.5.1975 – 3 Ss 55/75, VRS 49, 262. 684 OLG Hamm v. 6.7.1992 – 32 U 259/91, NZV 1993, 314; OLG Celle v. 14.2.2002 – 14 U 94/01, NZV 2003, 44 (hinter Müllwagen). 685 OLG Köln v. 21.11.2000 – 15 U 91/00, VersR 2002, 1167 (Jogger, der erkennbar auf Querungsmöglichkeit bei anhaltender Kolonne wartet). 686 LG Hannover v. 21.12.1988 – 11 S 278/88, NZV 1989, 238. 687 BayObLG v. 7.12.1979 – RReg. 1 St 456/79, VRS 58, 221. 688 BGH v. 10.1.1989 – VI ZR 99/88, NZV 1989, 265 mit abl. Anm. Kääb. 689 OLG Hamburg v. 23.1.1979 – 2 Ss 235/78, VRS 57, 187; OLG Karlsruhe v. 24.4.1987 – 10 U 219/86, VersR 1988, 59.

412 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.233 § 14

Fußgänger rechnen muss, hängt von den Umständen des Falles, insbesondere der konkreten Verkehrssituation, ab;690 konkreter Anhaltspunkte für eine Verkehrsunsicherheit bedarf es jedoch nicht.691 Kann der Kraftfahrer erkennen, dass er einen Betrunkenen vor sich hat, so muss er sich auf unbesonnenes Verhalten einrichten.692 In der Nähe von Volksfesten u.ä. kann dies Anlass zu besonderer Vorsicht bieten.693 Überhöhte Geschwindigkeit begründet dann keinen Schuldvorwurf gegen den Kraftfahrer, wenn der Fußgänger so kurz vor ihm auf die Fahrbahn trat, dass der Unfall auch bei Einhaltung des zulässigen Tempos nicht mehr vermeidbar gewesen wäre694 (zu den bei der Vermeidbarkeitsbetrachtung anzustellenden Erwägungen s. Rz. 10.23; zu den zuzubilligenden Reaktionszeiten s. Rz. 3.286). Nach dem allgemeinen Gebot des Fahrens auf Sicht (§ 3 Abs. 1 S. 3 StVO) haftet der Kraftfahrer jedoch auch einem verkehrswidrig die Fahrbahn betretenden – und sogar einem auf der Fahrbahn liegenden695 – Fußgänger dann, wenn er bei Einhaltung der so bestimmten Geschwindigkeit noch rechtzeitig hätte anhalten oder ausweichen können.696 Dabei muss der Fahrer die gesamte Breite der Fahrbahn (insbesondere bei beabsichtigtem Fahrspurwechsel697) und, soweit dies möglich ist, auch den Bereich neben der Fahrbahn, insbesondere den Bürgersteig, beobachten.698 Bei gefahrdrohenden Vorgängen (z.B. Menschenansammlung nach Ende einer Veranstaltung) muss er die Geschwindigkeit herabsetzen,699 ebenso bei unklarer Verkehrslage.700 Bei Blendung durch ein entgegenkommendes Fahrzeug darf er nur so schnell weiterfahren, dass er am Ende der Fahrstrecke, die er vor der Blendung noch als hindernisfrei erkannt hatte, zum Stehen kommen kann.701 In einem Sonderfall – der Kraftfahrer war durch ein einbiegendes und blendendes Kraftfahrzeug zum Ausweichen genötigt worden, als ihm auf der Fahrbahn ein Fußgänger entgegenkam – hat der BGH allerdings von einem Schuldvorwurf abgesehen.702

14.232

Schließlich kann sich eine Haftung gegenüber dem unachtsamen Fußgänger auch daraus ergeben, dass der Kraftfahrer auf dessen Auftauchen nicht sofort und sachgerecht reagiert hat.703 Tritt der Fußgänger von rechts auf die Fahrbahn und kann nicht damit gerechnet werden, dass er das Fahrzeug passieren lässt (z.B. bei Sichtkontakt mit dem Fahrer oder Betreten der Fahrbahn zwischen stehenden Fahrzeugen zur Sichtgewinnung704), muss der Kraftfahrer sofort unfallverhütende Maßnahmen ergreifen, zumindest hupen. Kommt der Fußgänger von

14.233

690 BGH v. 19.4.1994 – VI ZR 219/93, NZV 1994, 273; BayObLG v. 2.9.1983 – RReg 1 St 238/83, VRS 65, 461. 691 BGH v. 19.4.1994 – VI ZR 219/93, NZV 1994, 273. 692 BGH v. 26.10.1999 – VI ZR 20/99, NJW 2000, 1040. 693 BGH v. 10.1.1989 – VI ZR 99/88, NZV 1989, 265 mit Anm. Kääb. 694 OLG Hamm v. 19.9.1988 – 6 U 300/87, VersR 1989, 1057. 695 BGH v. 24.2.1976 – VI ZR 61/75, VersR 1976, 729. 696 BGH v. 12.7.1983 – VI ZR 286/81, NJW 1984, 50. 697 OLG Hamm v. 4.5.1994 – 13 U 225/93, OLGR Hamm 1994, 160. 698 BGH v. 24.2.1987 – VI ZR 19/86, NJW 1987, 2377; OLG Düsseldorf v. 16.2.1978 – 12 U 162/77, VersR 1978, 768. 699 OLG Saarbrücken v. 21.9.1979 – 3 U 117/78, VM 1980, Nr. 41. 700 BGH v. 11.1.1994 – VI ZR 143/93, NZV 1994, 183 f.: Fußgänger bleibt auf der Fahrbahn stehen. 701 BGH v. 24.2.1976 – VI ZR 61/75, VersR 1976, 729. 702 BGH v. 21.10.1975 – VI ZR 137/73, VersR 1976, 189. 703 KG v. 3.6.1985 – 12 U 3792/84, VersR 1986, 870. 704 BayObLG v. 18.11.1970 – 5 St 140/70, VRS 40, 214.

Greger | 413

§ 14 Rz. 14.233 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

links, gilt dies ebenso, wenn die Straße schmal ist705 oder wenn damit gerechnet werden muss, dass der Fußgänger das Fahrzeug nicht bemerkt hat und nicht in der Fahrbahnmitte stehen bleiben wird.706 Auszuweichen ist nach Möglichkeit so, dass das Kfz hinter dem Fußgänger vorbeifährt.707 Dies kann in der konkreten Situation aber auch verfehlt sein, weil ein von links kommender Fußgänger irritiert und zum Zurücklaufen veranlasst werden kann, wenn ein Kfz beim Versuch des Linksausweichens aus der Sicht des Fußgängers auf diesen zufährt (s. auch Rz. 14.237).708 Bei einer Notreaktion auf verkehrswidriges Verhalten kann es am Schuldvorwurf fehlen.709

14.234

An Verkehrsampeln darf der Kraftfahrer grundsätzlich darauf vertrauen, dass kein Fußgänger unter Missachtung des Rotlichts die Fahrbahn betritt.710 Dies entbindet ihn aber nicht von der Pflicht, die vor ihm liegende Fahrbahn zu beobachten und sich auf Personen einzustellen, die sich, für ihn erkennbar, trotz der ihn bevorrechtigenden Ampelstellung auf der Fahrbahn befinden.711 Bei Einfahren kurz nach dem Umschalten auf Grün muss mit Nachzüglern gerechnet werden.712

14.235

Beim Ansprechen eines Passanten auf dem gegenüberliegenden Gehweg braucht ein Fahrzeugführer nicht darauf Bedacht zu nehmen, dass der Passant unachtsam auf die Fahrbahn laufen könnte, um zu ihm zu gelangen. Dies gilt auch bei einem älteren Menschen, nicht aber ohne weiteres bei einem Kind.713 Zur Haftung bei Vorrangverzicht durch ein Handzeichen s. Rz. 14.248 (Kind) und Rz. 14.223 (Erwachsener).

g) Vorbeifahren an Fußgängern 14.236

Bei einem in der Fahrbahnmitte stehenbleibenden Fußgänger, der erkennbar ein Überqueren der Fahrbahn in Etappen berücksichtigt, muss nicht damit gerechnet werden, dass er seinen Weg ohne Rücksicht auf den Fahrverkehr fortsetzen werde.714

14.237

Ob der Kraftfahrer ohne weitere Sicherheitsvorkehrungen hinter einem die Fahrbahn überquerenden Fußgänger vorbeifahren darf oder ob er sich auf ein Umkehren oder Zurücktreten einstellen muss, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.715 Fährt er mit überhöhter Geschwindigkeit, muss er mit einer solchen Reaktion rechnen,716 nicht dagegen, wenn er mit

705 BGH v. 21.5.1968 – VI ZR 19/67, VM 1968, Nr. 94. 706 BGH v. 18.10.1963 – 4 StR 382/63, VRS 26, 28. 707 BGH v. 3.6.1980 – VI ZR 41/79, VersR 1980, 868; BGH v. 24.2.1987 – VI ZR 19/86, NJW 1987, 2377, 2378. 708 OLG Düsseldorf v. 30.3.1978 – 12 U 56/75, VersR 1979, 649. 709 OLG Karlsruhe v. 21.5.1976 – 3 Ss 114/76, VRS 51, 433; OLG Hamm v. 16.5.1994 – 6 U 207/91, NZV 1995, 357. 710 LG Aachen v. 10.1.1975 – 11 O 369/74, VersR 1975, 1036. 711 KG v. 29.4.1976 – 12 U 1877/75, VM 1977, Nr. 49. 712 OLG Saarbrücken v. 22.6.1979 – 3 U 75/78, VM 1980, Nr. 35. 713 OLG Düsseldorf v. 13.6.1988 – 1 U 78/87, VersR 1990, 1403. 714 OLG Karlsruhe v. 3.6.1981 – 13 U 150/80, VersR 1982, 450; OLG Stuttgart v. 30.11.1982 – 11 U 144/82, VersR 1984, 271. 715 KG v. 5.11.1981 – 12 U 2035/81, VM 1982, Nr. 40 (dreispurige Straße); KG v. 22.11.1984 – 12 U 1512/84, VM 1985, Nr. 74. 716 OLG Hamm v. 6.12.1979 – 6 Ss 1907/79, VRS 59, 114.

414 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.242 § 14

40 km/h und einem Abstand von 1,50 m hinter einem Fußgänger vorbeifährt, der bereits die andere Fahrbahnhälfte erreicht hat.717 Das Betätigen der Lichthupe gegenüber einem Fußgänger, der auf der Fahrbahnmitte stehen geblieben ist, kann von diesem, da als Warnsignal überflüssig, als Aufforderung zum Weitergehen missverstanden werden und ist daher fahrlässig.718

14.238

Auch bei einem auf der Fahrbahn stehenden Fußgänger (z.B. an einem haltenden Fahrzeug) muss nicht ohne weiteres mit einem unachtsamen Zurücktreten gerechnet werden. Es ist aber ein Seitenabstand von mindestens 1 m einzuhalten.719

14.239

Gegenüber einem am Fahrbahnrand entgegenkommenden Fußgänger muss der Kraftfahrer, um dem Gebot des § 1 Abs. 2 StVO Rechnung zu tragen, einen Seitenabstand von 1 m einhalten,720 sofern dies von der Fahrbahnbreite her möglich ist.721 Ist es nicht möglich, muss er ggf. die Geschwindigkeit herabsetzen. Entsprechendes gilt beim Überholen. Bei Dunkelheit muss er auch mit einem unauffällig gekleideten Fußgänger rechnen.722

14.240

Auch gegenüber Fußgängern auf einem Gehweg ist i.d.R. der genannte Sicherheitsabstand einzuhalten,723 bei besonders lebhaftem Fußgängerverkehr sogar ein größerer.724 Beim Heranfahren an eine Haltestelle muss der Fahrer eines Omnibusses darauf achten, ob wartende Fahrgäste so nahe an der Bordsteinkante stehen, dass sie von dem Fahrzeug erfasst oder verunsichert werden könnten; ggf. muss er Warnzeichen geben oder mit Schrittgeschwindigkeit (Rz. 14.220) heranfahren.725 Glätte erfordert besondere Vorsicht.726 Wegen Schulbus s. Rz. 14.244.

14.241

h) Ruhender Verkehr Das (eingeschränkte oder absolute) Haltverbot dient auch dem Schutz der Fußgänger, die die Fahrbahn überqueren wollen, denn es soll auch eine bessere Übersicht über den Verkehrsablauf ermöglichen.727 Werden zwei durch Abschleppseil miteinander verbundene Fahrzeuge an einer Stelle abgestellt, an der mit querenden Fußgängern zu rechnen ist, so sind besondere Vorkehrungen nötig, um zu verhindern, dass ein Fußgänger über das Seil stolpert.728

717 OLG Hamm v. 26.5.1978 – 3 Ss 722/77, VRS 56, 27. 718 BGH v. 15.2.1977 – VI ZR 71/76, NJW 1977, 1057. 719 OLG Karlsruhe v. 18.5.2012 – 9 U 128/11, NZV 2012, 593; OLG Düsseldorf v. 9.8.1977 – 2 Ss 403/77-284/77 II, VM 1978, Nr. 42: 1,20 m Abstand von Begrenzungslinie bei unruhigen Personen auf dem Seitenstreifen einer Autobahn. 720 BayObLG v. 18.2.1980 – 1 St 551/79, VRS 58, 445. 721 OLG Köln v. 21.10.1975 – Ss 183/75, VRS 50, 193. 722 OLG München v. 2.6.2006 – 10 U 1685/06, VersR 2008, 799. 723 OLG Düsseldorf v. 12.11.1990 – 1 U 139/89, NZV 1992, 232. S. aber OLG Hamm v. 14.7.2003 – 6 U 39/03, NZV 2004, 577 (60 cm unter besonderen Umständen). 724 OLG Düsseldorf v. 27.9.1974 – 3 Ss 540/74, VM 1975, Nr. 108: Rosenmontag. 725 Vgl. OLG Saarbrücken v. 25.4.1980 – 3 U 131/78, VM 1980, Nr. 115. 726 OLG Düsseldorf v. 8.12.1992 – 5 Ss 317/92-100/92 I, DAR 1993, 151. 727 BGH v. 25.1.1983 – VI ZR 212/80, NJW 1983, 1326; OLG München v. 18.12.1984 – 5 U 1951/ 84, NJW 1985, 981. 728 KG v. 20.11.1978 – 12 U 2246/77, VM 1979, Nr. 103: an Tankstelle.

Greger | 415

14.242

§ 14 Rz. 14.243 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

11. Pflichten gegenüber Kindern 14.243

Auch gegenüber Kindern gilt grundsätzlich der Vertrauensgrundsatz (s. Rz. 14.12); nur wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten aufweist, die zu Gefährdungen führen können, werden vom Kraftfahrer besondere Vorkehrungen (wie Warnzeichen, Bremsbereitschaft, Verringerung der Geschwindigkeit) verlangt.729 Dies wird bei kleinen Kindern eher der Fall sein als bei älteren;730 feste Altersgrenzen lassen sich aber nicht ziehen, da es jeweils auf die Gesamtumstände ankommt. Entscheidend ist stets, wie sich die Situation dem Kraftfahrer erkennbar darstellt, nicht wie alt, verkehrserfahren usw. das Kind tatsächlich ist.731

14.244

Eine Gefahrensituation im vorstehenden Sinn hat die Rechtsprechung z.B. angenommen, – wenn vierjährige Kinder unbeaufsichtigt am Rand einer Dorfstraße stehen;732 – wenn ein vierjähriges Kind mit dem Rücken zur Fahrbahn am Fahrbahnrand steht, auch wenn ein Erwachsener in der Nähe ist;733 – wenn ein etwa fünf Jahre altes Kind sich auf dem Bürgersteig von seiner Aufsichtsperson entfernt;734 – wenn sich am Straßenrand eine Gruppe von Kindergartenkindern sammelt, die offensichtlich noch nicht voll unter Kontrolle der Begleitpersonen ist;735 – wenn Vorschulkinder auf dem Bürgersteig spielen736 oder zu beiden Seiten der Fahrbahn miteinander sprechen und gestikulieren;737 – wenn ein solches Kind eine seitliche Böschung hinunter in Richtung Fahrbahn läuft;738 – wenn ein siebenjähriges Kind an einem Zaun neben der Fahrbahn steht und in einen Vorgang hinter dem Zaun vertieft ist;739 – wenn ein achtjähriges Kind in der Fahrbahnmitte stehen bleibt;740 – wenn ein 10-Jähriger startbereit auf dem Sattel seines quer zur Fahrbahn stehenden Fahrrads sitzt und nur geradeaus schaut;741

729 BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 22/84, VersR 1985, 1088; BGH v. 5.5.1992 – VI ZR 262/91, NZV 1992, 360; OLG Köln v. 31.3.1981 – 15 U 168/80, VersR 1983, 188; OLG Köln v. 21.4.1995 – 11 U 232/94, VersR 1996, 210; OLG Frankfurt v. 12.1.2001 – 24 U 95/99, VersR 2002, 1120. 730 Vgl. OLG Stuttgart v. 11.11.1991 – 1 Ss 548/91, NZV 1992, 196. 731 OLG Schleswig v. 16.1.1986 – 7 U 82/84, VersR 1987, 825. 732 OLG Karlsruhe v. 28.5.1974 – 2 Ss 87/74, VRS 48, 90. 733 KG v. 9.11.1978 – 12 U 2099/78, VersR 1979, 137. 734 BGH v. 5.5.1992 – VI ZR 262/91, NZV 1992, 360. 735 OLG Schleswig v. 22.6.1994 – 9 U 95/93, NZV 1995, 24. 736 OLG Saarbrücken v. 9.11.1984 – 3 U 49/84, VersR 1986, 927. 737 OLG Koblenz v. 12.9.1974 – 1 Ss 192/74, VRS 48, 202. 738 OLG Köln v. 29.1.1985 – 1 Ss 504/85, VRS 70, 373. 739 OLG München v. 25.2.1975 – 5 U 1258/74, VersR 1975, 672. 740 OLG Hamm v. 22.2.1980 – 1 Ss 2880/79, VRS 59, 260. 741 OLG Hamm v. 12.9.1994 – 13 U 12/94, VersR 1996, 906.

416 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.246 § 14

– wenn ein Schulbus sich einer Haltestelle mit undisziplinierten, drängelnden Schülern nähert;742 – wenn auf schmaler Straße ohne Gehsteig mit einem breiten Fahrzeug an einer wandernden Schulklasse von 11-Jährigen vorbeigefahren werden muss;743 – wenn ein 11-Jähriger mit Roller am Straßenrand kauernd seine Schnürbänder richtet;744 – wenn eine 12-Jährige zusammen mit einem anderen Mädchen unterwegs ist, das kurz vor einem anderen Kraftfahrzeug die Straße überquert;745 – wenn eine Gruppe fast 14-jähriger Mädchen sich am Rand einer Bundesstraße aufhält.746 Dagegen braucht nicht mit einem unachtsamen Betreten der Fahrbahn gerechnet zu werden:

14.245

– bei einem 8-Jährigen Kind, das zusammen mit anderen an der Schulbushaltestelle wartet und in Richtung des herannahenden Pkw blickt;747 – bei einem 8-Jährigen, der mit dem Rücken zur Fahrbahn auf dem Bürgersteig steht;748 – beim Vorbeifahren an einem 9-jährigen Kind, das auf dem Gehweg geht;749 – bei der Annäherung eines Linienomnibusses an eine Haltestelle, wo ein 10-Jähriger in vorderster Reihe der Wartenden steht;750 – bei einem 13-Jährigen, der mit normaler Gehgeschwindigkeit vom Bürgersteig auf den Mehrzweckstreifen tritt, dort stehenbleibt und den Verkehr beobachtet.751 Voraussetzung für besondere Sorgfaltsanforderungen ist stets, dass der Kraftfahrer das gefährdete Kind rechtzeitig wahrnehmen konnte. Es muss nicht jederzeit und an jedem Ort mit dem plötzlichen Auftreten von Kindern gerechnet werden,752 auch nicht in ausgesprochenen Wohngebieten753 oder einem Gartengelände.754 Anders verhält es sich, wenn das Zeichen 136 StVO Anl. 2 („Kinder“) aufgestellt ist (s. Rz. 14.24). Auch kann die konkrete Situation Anlass geben, mit dem Auftauchen eines Kindes zu rechnen, etwa im Gefolge eines bereits sichtbaren anderen Kindes. Beim Vorbeifahren an einem haltenden Schulbus muss die Fahrweise darauf abgestellt werden, dass Kinder hinter dem Bus unachtsam auf die Fahrbahn laufen könnten

742 BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 219/80, VersR 1982, 270; OLG Köln v. 6.12.1989 – 13 U 120/89, VersR 1990, 434: Ausrollen mit weniger als Schrittgeschwindigkeit. 743 LG Nürnberg-Fürth v. 26.9.1990 – 2 S 5520/90, NZV 1991, 276. 744 OLG Hamm v. 15.6.2007 – 9 U 183/06, NZV 2008, 409. 745 OLG Hamburg v. 3.1.1989 – 7 U 39/88, NZV 1990, 71. 746 OLG Hamm v. 11.2.1993 – 27 U 182/92, NZV 1993, 397; zu streng. 747 OLG Hamm VP 1975, 21. 748 OLG Hamm v. 24.6.1985 – 13 U 252/84, VM 1986, Nr. 26. 749 OLG Karlsruhe v. 11.4.1986 – 10 U 245/85, VersR 1986, 770; ebenso für Zwölfjährigen OLG Hamm v. 15.2.1990 – 27 U 261/89, VersR 1992, 204. 750 OLG Bamberg v. 31.3.1992 – 5 U 48/91, NZV 1993, 268. 751 OLG Hamm v. 24.5.1995 – 13 U 45/95, NZV 1996, 70. 752 OLG Köln v. 19.9.1980 – 6 U 166/79, VersR 1982, 154; OLG Hamm v. 19.6.1989 – 32 U 54/88, NZV 1990, 473; OLG Oldenburg v. 14.2.1989 – 12 U 87/88, NZV 1990, 153. 753 BGH v. 13.2.1990 – VI ZR 128/89, NZV 1990, 227; OLG Düsseldorf v. 19.12.1990 – 15 U 173/ 88, NZV 1992, 188; OLG Köln v. 24.5.1989 – 13 U 308/88, VersR 1989, 1059; OLG Schleswig v. 7.5.1997 – 9 U 112/96, VersR 1999, 334. 754 OLG Stuttgart v. 22.3.1984 – 1 Ss 118/84, VRS 66, 470.

Greger | 417

14.246

§ 14 Rz. 14.246 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

(vgl. § 20 Abs. 4 StVO: bei Warnblinklicht Schrittgeschwindigkeit; s. Rz. 14.220); dies muss auch bei einem anderen Bus gelten, der erkennbar der Beförderung von Kindern dient.755

14.247

Das Wiederanfahren eines Schulbusses, der kurz vor der Haltestelle angehalten hatte und an dessen Türen sich bereits Kinder drängelten, ist nicht schuldhaft, wenn es sich um ein langsames Vorwärtsrollen handelt.756 Beim Anfahren auf einem Schulhof muss aber sichergestellt werden, dass sich kein Kind im toten Winkel befindet.757

14.248

Ein Vorrangverzicht gegenüber Kindern (z.B. durch Herüberwinken) darf nur vorgenommen werden, wenn sichergestellt ist, dass es nicht zu einer Gefährdung durch andere Verkehrsteilnehmer kommen kann.758

14.249

Vor dem Wegfahren von einem Ort, an dem sich ein unbeaufsichtigtes Kleinkind aufhielt (z.B. privates Hofgelände), muss der Kraftfahrer sicherstellen, dass es sich nicht im Gefahrenbereich, etwa unter dem Lkw, befindet.759

14.250

Auch gegenüber Rad fahrenden Kindern darf grundsätzlich auf verkehrsgerechtes Verhalten vertraut werden. Beim Überholen ist besonders auf ausreichenden Sicherheitsabstand zu achten.760 Von einem unauffällig am rechten Fahrbahnrand radelnden 9- oder 10-Jährigen muss nicht befürchtet werden, dass er plötzlich nach links schwenkt.761 Der Kraftfahrer darf aber nicht darauf vertrauen, dass ein Kind anhalten wird, das ohne erkennbare Anhalteabsicht auf die Fahrbahn zufährt.762 Zumindest ein Warnzeichen, ggf. Bremsbereitschaft und Herabsetzung der Geschwindigkeit, ist dagegen veranlasst, wenn das Kind sich verkehrswidrig verhält oder ersichtlich abgelenkt ist,763 wenn bei kleineren Kindern wegen geringer Straßenbreite ein knappes Überholen erforderlich wird,764 wenn auf einer Wohnstraße eine Gruppe von Kindern überholt werden soll, unter denen sich auch ein 3-jähriges mit Dreirad befindet765 oder wenn ein (auch älteres) Kind auf dem nur 0,5 m breiten Befestigungsstreifen zwischen der linken Fahrbahnbegrenzung und der Leitplanke fährt.766 Zu beachten ist auch, dass Kinder in bedrängenden Situationen eher als Erwachsene zu Fehlreaktionen neigen.767

14.251

Der Kraftfahrer muss auch auf Rad fahrende Kinder auf dem Gehweg achten. Wenn aufgrund der besonderen Verkehrssituation damit zu rechnen ist, dass sie auf die Fahrbahn gera-

755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767

OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 12 U 15/91, NZV 1991, 468. OLG Saarbrücken v. 26.1.1996 – 3 U 191/95, NZV 1996, 198. OLG Karlsruhe v. 28.1.1999 – 14 U 189/97, VersR 2000, 863. OLG Düsseldorf v. 12.11.1984 – 1 U 109/84, VersR 1986, 471. OLG Hamm v. 27.6.1988 – 3 U 304/87, NZV 1989, 473. OLG Frankfurt v. 30.9.1980 – 2 Ss 478/80, DAR 1981, 18. BayObLG v. 16.10.1981 – RReg 1 St 282/81, NJW 1982, 346; OLG Hamm v. 16.7.1974 – 5 Ss 152/74, VRS 48, 95; OLG Hamm v. 10.9.1974 – 5 Ss 434/74, VRS 48, 268; OLG Bamberg v. 2.4.1985 – 5 U 125/84, VersR 1986, 791. BGH v. 1.7.1997 – VI ZR 205/96, NJW 1997, 2756. BayObLG v. 16.10.1981 – RReg 1 St 282/81, NJW 1982, 346. OLG Oldenburg v. 19.12.1978 – Ss 577/78, VRS 57, 118. OLG Oldenburg v. 1.12.1992 – 12 U 33/92, VersR 1994, 116. OLG Koblenz v. 23.8.1979 – 1 Ss 343/79, VRS 58, 27. Vgl. OLG Hamm v. 11.4.1988 – 3 U 167/87, NZV 1989, 270: dichtes Auffahren mit dem Pkw während der Begegnung mit anderem Pkw auf schmaler Straße.

418 | Greger

II. Kfz-Führer | Rz. 14.255 § 14

ten, muss er sich auf diese Gefahr einstellen, so z.B., wenn sie auf schmalem Gehweg einem Passanten768 oder einer Mülltonne769 ausweichen müssen.

12. Pflichten gegenüber Tieren Der Kraftfahrer darf im Allgemeinen darauf vertrauen, dass Zugtiere, die im Straßenverkehr verwendet werden, an Kraftfahrzeuge gewöhnt sind.770 Er hat aber, soweit möglich, alles zu unterlassen, was zum Scheuen oder anderen Panikreaktionen führen kann, insbesondere unnötige Lärmentwicklung, z.B. durch Hupen. Zu Reitern muss er sowohl beim Überholen als auch im Begegnungsverkehr einen ausreichenden Seitenabstand, in der Regel 2 Meter, einhalten.771 Bemerkt er eine sich in Fahrbahnnähe bewegende Viehherde, muss er damit rechnen, dass Tiere auf die Fahrbahn laufen.772

14.252

13. Besondere Pflichtenstellung Beim Abschleppen (§ 15a StVO) muss eine beabsichtigte Richtungsänderung rechtzeitig in geeigneter Form (insbesondere Ausschalten des Warnblinkens) angezeigt werden, damit sich der Führer des abgeschleppten Fahrzeugs sowie weitere Verkehrsteilnehmer darauf einstellen können.773 Der Führer des abgeschleppten Fahrzeugs muss sich der Fahrweise des ziehenden Fahrzeugs anpassen und spurgerecht steuern.774 Die Zeitspanne zwischen dem Einholen des Warndreiecks und dem Wegfahren des Gespanns ist so kurz wie möglich zu halten; an einer unübersichtlichen Stelle muss das Gespann zunächst aus dem Gefahrenbereich gebracht werden, bevor das Warndreieck eingeholt wird.775 Bei schneeglatter Straße erfordert der Abschleppvorgang besondere Sorgfalt und ist ggf. aufzuschieben oder einem gewerblichen Abschleppunternehmen zu überlassen.776

14.253

Der Fahrer eines Schulbusses ist zwar verpflichtet, gegen ein ihm erkennbares, die Sicherheit beeinträchtigendes Verhalten der beförderten Schüler einzuschreiten, er ist aber nicht ohne weiteres verpflichtet, außerhalb seines Fahrzeugs die Ordnung an der Bushaltestelle aufrechtzuerhalten777 (zur gebotenen Sorgfalt beim Anfahren der Haltestelle s. Rz. 14.244).

14.254

Den Omnibusfahrer trifft keine Verpflichtung, ständig Laub aus dem Fahrgastraum zu entfernen; er ist auch nicht verpflichtet, mit dem Anfahren zu warten, bis ein zugestiegener Fahrgast Platz genommen hat,778 oder sich vorher zu vergewissern, dass alle Fahrgäste sicheren

14.255

768 BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 22/84, VersR 1985, 1088. 769 OLG Hamm v. 27.8.1990 – 6 U 54/90, NZV 1991, 152. 770 BGH v. 20.1.1961 – VI ZR 87/60, VersR 1961, 346; OLG Celle v. 20.1.2016 – 14 U 128/13, VersR 2017, 567, 569. 771 OLG Celle v. 10.4.2018 – 14 U 147/17, NJW-RR 2018, 728. 772 OLG München (Augsburg) v. 16.7.1992 – 24 U 189/92, VRS 84, 206. 773 OLG Hamm v. 25.7.2011 – 6 U 19/11, NZV 2012, 73. 774 OLG Hamm v. 25.7.2011 – 6 U 19/11, NZV 2012, 73; Hentschel/König/Dauer § 15a StVO Rz. 2 mit weiteren Einzelheiten zur Abstimmung zwischen den Fahrern. 775 OLG Hamm v. 27.10.1983 – 27 U 340/83, VersR 1984, 245. 776 OLG Schleswig v. 17.1.1991 – 7 U 22/89, NZV 1992, 319. 777 LG Freiburg v. 2.3.1982 – 9 S 332/81, VersR 1982, 1083. 778 OLG Düsseldorf v. 16.2.1998 – 1 U 125/97, VersR 2000, 70; LG Berlin v. 2.5.1983 – 24 O 507/ 82, VRS 65, 405.

Greger | 419

§ 14 Rz. 14.255 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

Halt gefunden haben.779 Etwas anderes gilt nur, wenn er bemerkt hat, dass ein schwer gehbehinderter oder blinder Fahrgast den Wagen bestiegen hat.780 Vor dem Anfahren muss er über den rechten Außenspiegel den Bereich vor dem rückwärtigen Einstieg beobachten, auch wenn er zugleich auf den fließenden Verkehr achten muss;781 bei einem toten Winkel im Bereich der Vordertür muss er prüfen, ob sich alle Ausgestiegenen von der Tür entfernt haben.782 Kann er nicht nahe am Bordstein halten, muss er die Fahrgäste darauf hinweisen.783 Das Ausfahren eines Rollstuhllifts an der Haltestelle erfordert besondere Sicherungsmaßnahmen.784

14.256

Den Taxifahrer trifft kein Verschulden, wenn er einem betrunkenen Fahrgast nach dem Aussteigen nicht über die Straße hilft.785 Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn der Fahrgast so alkoholisiert ist, dass er einem Hilfsbedürftigen i.S.v. § 3 Abs. 2a StVO gleichsteht; er darf den Fahrgast auch nicht in hilfloser Lage zurücklassen.786 Eine Verpflichtung, den Fahrgast zu besonderer Vorsicht beim Türöffnen zu ermahnen, besteht – abgesehen von besonders gefährlichen Situationen – nicht.787

14.257

Beim Führen eines großen Baustellenfahrzeugs (z.B. Radlader) ist auch außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums eine besonders umsichtige Fahrweise geboten.788 – Zum Fahrlehrer s. Rz. 14.313 f.

III. Schienenfahrzeugführer 1. Pflichten gegenüber dem Kraftfahrzeugverkehr 14.258

Die Vorschriften über das Fahren mit einer den Verkehrs- und Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 1 S. 2 StVO)789 sowie über die Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstands von vorausfahrenden Fahrzeugen (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO) gelten auch für den Führer einer am Straßenverkehr teilnehmenden Straßenbahn. Wegen des ihm in § 2 Abs. 3 StVO eingeräumten Vorrangs darf er aber im Allgemeinen darauf vertrauen, dass ein Ver-

779 OLG Bremen v. 9.5.2011 – 3 U 19/10, NZV 2011, 540; OLG Köln v. 19.3.1999 – 19 U 156/98, VersR 2000, 1120; OLG Oldenburg v. 6.7.1999 – 5 U 62/99, MDR 1999, 1321; OLG Celle v. 26.6.2018 – 14 U 70/18, NJW-RR 2018, 1231. 780 BGH v. 1.12.1992 – VI ZR 27/92, NZV 1993, 108; weitergehend OLG Köln v. 20.7.1990 – 11 U 17/90, VersR 1992, 210: Kontrollblick erforderlich; wegen Doppeldeckerbus s. LG Berlin v. 29.11.1988 – 13 O 54/88, NZV 1989, 278; vgl. auch den Rspr.-Überbl. von Filthaut NZV 1993, 300 ff. 781 OLG Düsseldorf v. 28.12.1994 – 1 U 264/93, VersR 1996, 345; OLG Saarbrücken v. 14.3.2000 – 4 U 192/99-139, OLGR Saarbrücken 2000, 452. 782 OLG Köln v. 27.2.1996 – Ss 687/95, NJW 1997, 2190 (Kind). 783 OLG Karlsruhe v. 27.7.1979 – 10 U 55/79, VersR 1981, 266. 784 AG Berlin-Mitte v. 19.4.1996 – 114 C 271/95, NZV 1997, 314. 785 OLG Hamm v. 31.5.1983 – 27 U 74/83, DAR 1984, 20. 786 Vgl. LG Zweibrücken v. 12.1.2000 – 1 Ks 4047 Js 2448/99, DAR 2000, 226 zur Strafbarkeit nach § 221 StGB. 787 OLG Hamm v. 20.8.1999 – 9 U 9/99, NZV 2000, 126, 127; OLG Köln v. 7.11.2019 – 15 U 113/ 19, r+s 2020, 534 (bei offensichtlichem Halt auf linker Fahrbahnseite). 788 OLG Karlsruhe v. 23.5.2012 – 1 U 8/12, NZV 2012, 435. 789 BGH v. 5.11.1974 – VI ZR 91/73, VersR 1975, 258; BGH v. 30.10.1990 – VI ZR 340/89, NZV 1991, 114.

420 | Greger

III. Schienenfahrzeugführer | Rz. 14.260 § 14

kehrsteilnehmer, den er vor sich auf den Gleisen in einem Abstand sieht, der dem Bremsweg der Bahn nahekommt, diese rechtzeitig vor der herannahenden Straßenbahn verlässt, so dass er seinetwegen noch nicht sogleich die Fahrgeschwindigkeit zu verringern oder anzuhalten braucht.790 Etwas anderes kann aber gelten, wenn der Straßenbahnführer erkennen kann, dass es im Kreuzungsbereich zu einem Rückstau gekommen ist.791 Zur Rechtslage beim Hinüberwechseln der Gleise in den Verkehrsraum von Kfz vgl. Rz. 14.211.

2. Pflichten gegenüber Radfahrern und Fußgängern an Überwegen Sobald der Gleiskörper einer Straßenbahn einen öffentlichen Verkehrsweg kreuzt, ist ihr Fahrer in gleicher Weise wie bei sonstiger Benutzung des Verkehrsraums öffentlicher Straßen an die Vorschriften der StVO gebunden, also auch an jene über die angepasste Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 1 StVO). Führer von Straßenbahnwagen dürfen daher auch dann, wenn sie einen besonderen Bahnkörper innerhalb des Verkehrsraums der öffentlichen Straße benutzen, bei Annäherung an Wegübergänge nur so schnell fahren, dass die Sichtweite stets größer ist als der Notbremsweg.792 Auf die Beachtung ihres Vorrangs, der auch an gekennzeichneten Fußgängerüberwegen besteht (§ 26 Abs. 1 StVO), dürfen Straßenbahnführer grundsätzlich vertrauen. Jedoch müssen sie an Überwegen, an denen den Fußgängern der Vorrang vor dem übrigen Verkehr zusteht, damit rechnen, dass diese Fußgänger den Vorrang der Schienenfahrzeuge übersehen oder nicht unbedingt beachten. Ist ein solcher Überweg für den Straßenbahnfahrer nicht voll einsehbar, gebietet § 1 StVO, zumindest entweder rechtzeitig vor Erreichen des Fußgängerüberwegs unter geringfügiger Ermäßigung der Geschwindigkeit ein Läutesignal zu geben oder die Geschwindigkeit deutlich herabzusetzen.793 Darauf, dass ein auf einer Fußgängerinsel an einem ampelgesicherten Übergang stehender Passant sich plötzlich in gefährliche Nähe zu dem herannahenden Zug begeben würde, braucht sich der Führer nicht einzustellen.794 Er kann auch darauf vertrauen, dass ein den Bahnübergang querender Fußgänger den Gleisbereich rechtzeitig vor der herannahenden Straßenbahn verlässt, und braucht daher nicht vorsorglich zu verlangsamen.795 Erkennt der Straßenbahnführer jedoch, dass der Fußgänger in einen Engpass zwischen den Gleisen und dem parallel dazu fließenden Kraftfahrzeugverkehr zu geraten droht, muss er abbremsen;796 ebenso wenn sich offensichtlich unaufmerksame Jugendliche auf den Gleisen aufhalten.797 Eine Verpflichtung zur Abgabe von Warnzeichen besteht nur bei konkreten Anzeichen für die Gefährdung eines Fußgängers.798

14.259

Gegenüber Kindern ist das Vertrauen auf verkehrsrichtiges Verhalten nach Maßgabe des § 3 Abs. 2a StVO nur mit Einschränkungen gerechtfertigt; entscheidend sind die konkreten Umstände wie Alter des Kindes und Schwierigkeit der Verkehrssituation.799 Mit völlig unbesonnenem Verhalten, z.B. plötzlichem Losrennen trotz Klingelzeichens, muss bei einem Schul-

14.260

790 791 792 793 794 795 796 797 798 799

BGH v. 22.10.1955 – VI ZR 168/54, VersR 1955, 714. OLG Karlsruhe v. 14.3.1990 – 1 U 227/89, VRS 79, 251, 252. BGH v. 5.11.1974 – VI ZR 91/73, VersR 1975, 258. BGH v. 25.5.1976 – VI ZR 101/75, VersR 1976, 960. OLG Frankfurt v. 3.10.1974 – 1 U 44/74, VersR 1976, 1135. BGH v. 5.11.1974 – VI ZR 91/73, VersR 1975, 258, 259. BGH v. 30.10.1990 – VI ZR 340/89, NZV 1991, 114. OLG Naumburg v. 26.9.1995 – 9 U 41/95, VersR 1996, 732, 733. OLG Köln v. 1.8.1991 – 7 U 97/91, NZV 1992, 32. Vgl. OLG Hamm v. 7.4.1981 – 9 U 190/80, VersR 1983, 669, 670; OLG Hamm v. 22.1.1992 – 32 U 251/90, NZV 1993, 112; KG v. 2.9.2002 – 12 U 1969/00, NZV 2003, 416, 417.

Greger | 421

§ 14 Rz. 14.260 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

kind nicht gerechnet werden.800 Erst recht braucht das Fahrverhalten an einem Überweg nicht auf die Möglichkeit des Auftauchens eines für den Fahrer nicht sichtbaren Kindes abgestellt zu werden.801

3. Pflichten an Haltestellen 14.261

Der Straßenbahnfahrer braucht sich bei Annäherung an eine Haltestelle nicht auf jede mögliche Unvorsichtigkeit von Fußgängern einzustellen, die sich unauffällig am Bahnsteig aufhalten; er darf vielmehr beim Fehlen von Anzeichen für eine Gefahr grundsätzlich auf deren verkehrsgerechtes Verhalten vertrauen.802 Vor dem Anfahren muss er sich durch einen Blick in den rechten Außenspiegel vergewissern, dass sich niemand in gefährlicher Nähe zur Straßenbahn befindet.803 Er braucht aber nicht damit zu rechnen, dass sich eine Person in den Zwischenraum zwischen Triebwagen und Anhänger begeben haben könnte.804 Fährt ein Straßenbahnführer an einer in der Gegenrichtung haltenden Straßenbahn vorbei und befindet sich unmittelbar hinter dieser ein Übergang über die Gleise, so muss er ein Klingelzeichen geben; weitergehende Anforderungen, insbesondere die Geschwindigkeit herabzusetzen, bestehen nicht.805 Der Straßenbahnführer darf nicht so anhalten, dass er mit einem Teil des Zuges auf dem Überweg zu stehen kommt.806

IV. Radfahrer 14.262

Für sie gelten die allgemeinen Ausführungen zu den Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (Rz. 14.8 ff.) entsprechend mit folgenden Besonderheiten:807

1. Teilnahme am Verkehr 14.263

Die Fahrzeugbeherrschung muss ständig gewährleistet sein. Freihändiges Fahren ist verboten (§ 23 Abs. 3 S. 3 StVO), einhändiges Fahren dann, wenn dadurch die Fahrsicherheit beeinträchtigt wird, etwa durch Halten eines sperrigen Gegenstandes in der anderen Hand.808 Zur Personenbeförderung s. den mit Wirkung v. 28.4.2020 geänderten § 21 Abs. 3 StVO. – Pflichtwidrig handelt auch. wer mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnimmt, obwohl seine Fahrtüchtigkeit – dazu gehört neben der Fahrzeugbeherrschung auch die Fähigkeit, sich auf das Verkehrsgeschehen sachgerecht einzustellen – infolge von Alkoholisierung beeinträchtigt ist. Dies ist von individuellen Gegebenheiten abhängig und erfordert eine kritische Selbstprüfung. Ab 1,6‰ ist nach h.M. jeder Radfahrer fahruntüchtig.809 OLG Stuttgart v. 11.11.1991 – 1 Ss 548/91, NZV 1992, 196. BayObLG v. 16.10.1990 – RReg.1 St 135/90, NZV 1991, 78. OLG Koblenz v. 21.12.1992 – 12 U 1444/91, VersR 1993, 1545. BGH v. 6.11.1984 – IV ZR 26/83, VersR 1985, 86, 87. BGH v. 6.11.1984 – IV ZR 26/83, VersR 1985, 86, 87. Offengelassen in BGH v. 27.6.1975 – VI ZR 42/74, VersR 1975, 1007. BGH v. 27.6.1975 – VI ZR 42/74, VersR 1975, 1007 mit allerdings bedenklichen Ausführungen zum Verschulden und zum Anscheinsbeweis der Kausalität. 807 Vgl. auch die ausf. Zusammenstellung bei Blumberg NZV 1994, 249, 254 ff. 808 Vgl. KG v. 23.3.1981 – 22 U 3467/80, VM 1981, Nr. 109. 809 OLG Hamm v. 19.11.1991 – 3 Ss 1030/91-3 Ws 484/91, NZV 1992, 198; OLG Celle v. 10.3.1992 – 1 Ss 55/92, NJW 1992, 2169; OLG Karlsruhe v. 28.7.1997 – 2 Ss 89/97, NZV 1997, 486; offenlassend BayObLG v. 28.2.1992 – 1 St RR 30/92, NZV 1992, 290. S. auch Bönke NZV 2015, 16 ff.; 800 801 802 803 804 805 806

422 | Greger

IV. Radfahrer | Rz. 14.265 § 14

2. Geschwindigkeit Auch Radfahrer dürfen nach § 3 Abs. 1 S. 1, 4 StVO nur so schnell fahren, dass sie ihr Fahrzeug ständig beherrschen und innerhalb der übersehbaren Strecke anhalten können. Neben den Verkehrs-, Fahrbahn-, Sicht- und Wetterverhältnissen sind hierfür auch die Beschaffenheit des Fahrrads und die Fähigkeiten des Fahrers ausschlaggebend. Auf ein überraschendes, schwer erkennbares Hindernis muss er sich nicht einstellen. 810 Den besonderen Anforderungen eines Fahrrads mit Elektro-Antrieb muss der Benutzer stets gewachsen sein; auf die geringere Verkehrssicherheit eines Rennrads (schmale, profillose Reifen, feste Verbindung der Füße mit den Pedalen, fehlende Klingel) muss er sich einstellen.811 Weil sie optisch und akustisch schwerer wahrnehmbar sind als Kfz müssen Radfahrer eine Geschwindigkeit einhalten, die den Erwartungen der anderen Verkehrsteilnehmer entspricht.812 Eine Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h ist auf einem 2,3 m breiten, neben parkenden Autos verlaufenden Radweg,813 auf einem schwer einsehbaren Radweg bei regem Fußgänger- und Radfahrverkehr,814 bei Dunkelheit auf einem gemeinsamen Fuß- und Radweg mit einer Ausleuchtung von nur 4 Metern815 sowie auf abschüssiger, gepflasterter Straße mit begrenzter Sicht816 zu hoch. Die Geschwindigkeitsbegrenzung für verkehrsberuhigte Bereiche (Zeichen 325.1 Anl. 3 StVO: Schrittgeschwindigkeit; s. Rz. 14.220) und Fahrradstraßen (Zeichen 244.1: 30 km/h) gilt auch für Radfahrer,817 desgleichen eine durch Verkehrszeichen angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzung (Zeichen 274, 274.1; Tempo 30-Zone).818 Auf eine unverschuldete Schreckreaktion (s. Rz. 14.42) kann der Radfahrer sich nicht berufen, wenn er sich nicht auf eine vorhersehbare Gefahr einstellt.819 Auf gemeinsamen Fuß- und Radwegen sowie bei zugelassener Benutzung von Gehwegen (z.B. nach § 2 Abs. 5 StVO oder durch Zusatzzeichen 1022-10 VzKat) ist auf Fußgänger besondere Rücksicht zu nehmen.820

14.264

3. Fahrbahnbenutzung Wo Radwege vorhanden sind, müssen sie von Radfahrern benutzt werden, soweit sie mit Zeichen 237, 240 oder 241 StVO Anl. 2 gekennzeichnet sind (§ 2 Abs. 4 S. 2 StVO), auch von Renn- und Liegeradfahrern.821 Eine Ausnahme besteht nur, wenn die Benutzung des Radwegs

810 811 812 813 814 815 816 817 818 819 820 821

Wandtner/Evers/Albrecht NZV 2015, 20 ff.; Empfehlung des Deutschen Verkehrsgerichtstags 2015, bei Born NZV 2015, 118, 119 f. Bei E-Bike-Fahrern kann die Grenze niedriger liegen. BGH v. 23.4.2020 – III ZR 251/17, NJW 2020, 3106 (Drahtabsperrung auf Waldweg); OLG Karlsruhe v. 16.7.2019 – 14 U 60/16, MDR 2019, 987 (über Radweg gespanntes Band). OLG Celle v. 5.2.2002 – 14 U 53/02, NZV 2003, 179; Scheidler DAR 2017, 14. OLG Karlsruhe v. 24.1.1990 – 1 U 94/89, NZV 1991, 25; Hentschel/König/Dauer § 3 StVO Rz. 12; a.A. Lorenz NZV 2014, 498, 500. KG v. 8.3.1984 – 12 U 2931/83, VM 1984, Nr. 103. OLG Celle v. 5.2.2002 – 14 U 53/02, NZV 2003, 179. OLG Nürnberg v. 7.4.2004 – 4 U 644/04, NZV 2004, 358. OLG Braunschweig v. 18.12.2002 – 3 U 135/02 Rz. 23, OLGR Braunschweig 2003, 185. Scheidler DAR 2017, 14; Lorenz NZV 2014, 498, 499. Lorenz NZV 2014, 498, 499. BGH v. 4.11.2008 – VI ZR 171/07, NZV 2009, 177 mit Anm. Schubert (Annäherung an abgelenkten Fußgänger am Radwegrand ohne Blickkontakt). OLG Oldenburg v. 9.3.2004 – 8 U 19/04, NZV 2004, 360; OLG Nürnberg v. 7.4.2004 – 4 U 644/ 04, NZV 2004, 358. BVerwG v. 31.5.2001 – 3 B 183.00, NZV 2001, 493.

Greger | 423

14.265

§ 14 Rz. 14.265 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

unmöglich ist822 (z.B. durch parkende Kraftfahrzeuge, Schnee, Eis, Löcher), nicht wenn sie nur beschwerlich ist oder das Erzielen höherer Geschwindigkeiten, etwa eines Rennradfahrers, hindert.823 Wird der Radfahrer auf der Fahrbahn in einen Unfall verwickelt, so wird in aller Regel ein Zurechnungszusammenhang mit dem Verstoß gegen die Benutzungspflicht bestehen.824 Bei entsprechender Anordnung muss auch ein links der Straße liegender Radweg benutzt werden (§ 2 Abs. 4 S. 2 StVO). Fehlt eine solche Anordnung und ist die Benutzung des linken Radwegs auch nicht durch ein Zusatzzeichen „Radverkehr frei“ gestattet, darf er nicht benutzt werden (§ 2 Abs. 4 S. 4 StVO), auch nicht bei Unbenutzbarkeit des rechten Radwegs;825 jedoch besteht die Zulassung bei Fehlen abweichender Beschilderung auch nach Beginn eines rechten Radwegs fort.826 Auch entgegen der Fahrtrichtung einer Einbahnstraße darf der Radweg nur bei entsprechender Beschilderung benutzt werden.827 Die unzulässige Benutzung des Radwegs ändert zwar nichts an der ggf. bestehenden Vorfahrt; der Radfahrer muss sich aber darauf einstellen, dass der wartepflichtige Kraftfahrer nicht mit ihm rechnet und in die andere Richtung blickt828 (s. Rz. 14.163).

14.266

Gehwege dürfen Radfahrer nur bei Kennzeichnung als gemeinsamer Fuß- und Radweg (Zeichen 240 StVO Anl. 2) benutzen; in diesem Fall muss auf Fußgänger Rücksicht genommen werden (zum Abstellen von Fahrrädern auf Gehwegen s. Rz. 14.68). Wo mit Fußgängern zu rechnen ist, darf daher nur mit mäßiger Geschwindigkeit gefahren werden.829 Ein knappes Vorbeifahren an einem Fußgänger ist nur zulässig, wenn der Radfahrer sicher sein kann, dass der Fußgänger sein Herankommen, ggf. nach einem Klingelzeichen, bemerkt hat oder wenn er so langsam fährt, dass er auf eine etwaige Seitenbewegung des Fußgängers (oder eines mitgeführten Hundes) rechtzeitig reagieren kann.830 Dies gilt auch beim Überholen von InlineSkatern.831 Zur Gehwegbenutzung durch Rad fahrende Kinder und ihre Begleiter s. § 2 Abs. 5 StVO.832 Auf Fußgängerüberwegen darf das Rad nur geschoben werden; anderenfalls besteht kein Vorrang des Radfahrers.833

14.267

Muss die Fahrbahn benutzt werden, so ist möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Abs. 2, 4 S. 1 StVO), zu einem neben der Fahrbahn verlaufenden Gehweg ist aber ein Sicherheitsabstand von ca. 75 cm angemessen.834 Nebeneinanderfahren ist nur zulässig, wenn dadurch der Ver822 OLG Naumburg v. 8.12.2011 – 1 U 74/11, NZV 2012, 180; s. auch BGH v. 20.10.1994 – III ZR 60/94, NZV 1995, 144 (für Gehweg); Kettler NZV 2006, 347 ff.; a.A. Schubert NZV 2006, 288, 292 (auch dann Fahrbahnbenutzungsverbot; Radfahrer müsse schieben). 823 OLG Düsseldorf v. 15.4.1992 – 5 Ss OWi 69/92-OWi 36/92 I, NZV 1992, 290, 291; a.A. OLG Köln v. 14.1.1994 – 19 U 208/93, NZV 1994, 278. 824 OLG Hamm v. 28.10.1993 – 6 U 91/93, NZV 1995, 26; zur Ausnahme bei Vorfahrtunfall OLG Köln v. 14.1.1994 – 19 U 208/93, NZV 1994, 278. S. auch Rz. 25.23. 825 OLG Naumburg v. 8.12.2011 – 1 U 74/11, NZV 2012, 180. 826 BGH v. 29.10.1996 – VI ZR 310/95, NZV 1997, 70. 827 BGH v. 6.10.1981 – VI ZR 296/79, NJW 1982, 334. 828 OLG Frankfurt v. 23.1.2004 – 24 U 118/03, DAR 2004, 393. 829 OLG Nürnberg v. 7.4.2004 – 4 U 644/04, NZV 2004, 358 („auf Sicht“). 830 OLG Oldenburg v. 9.3.2004 – 8 U 19/04, NZV 2004, 360; OLG Hamburg v. 8.11.2019 – 1 U 155/18, NJW-Spezial 2020, 11 (KW) = SVR 2020, 220 (KW) mit Anm. Siegel; weniger streng OLG Nürnberg v. 31.1.2019 – 2 U 1967/18, DAR 2019, 331. 831 OLG Düsseldorf v. 12.7.2011 – 1 U 242/10, NZV 2012, 129. 832 Erweiterung auf Begleitpersonen m.W.v. 14.12.2016 durch VO v. 30.11.2016, BGBl. I 2848. 833 OLG Hamm v. 27.5.2019 – 31 U 23/19, r+s 2019, 535 (wo allerdings nicht festgestellt ist, dass der Unfall dem Normverstoß zurechenbar war; vgl. Rz. 14.15). 834 BGH v. 26.4.1957 – VI ZR 66/56, VersR 1957, 413.

424 | Greger

IV. Radfahrer | Rz. 14.271 § 14

kehr nicht behindert wird (§ 2 Abs. 4 S. 1 StVO). Zur Beseitigung eines Mangels am Fahrrad muss der Radfahrer, soweit möglich, die Fahrbahn verlassen.835 Auch auf einem Radweg muss Entgegenkommenden rechts ausgewichen werden.836 Beim Wechsel der Fahrlinie, auch wenn er aus einer verkehrswidrigen Position in der Fahrbahnmitte nach rechts schwenkt, muss der Radfahrer auf nachfolgende Verkehrsteilnehmer achten,837 ebenso beim – unzulässigen – Ausweichen nach links auf einen abgetrennten Gehweg.838 Ganz besonders gilt dies, wenn der Radfahrer von einem Radweg aus auf die Fahrbahn einschwenkt.839 Wird im Rahmen einer organisierten Radwanderung im Pulk gefahren, soll ein leichtes Ausscheren ohne Rückschau und Ankündigung zulässig sein.840

14.268

4. Überholen, Vorbeifahren Beim Überholen eines anderen Radfahrers ist ein ausreichender Seitenabstand einzuhalten;841 dieser richtet sich nach den jeweiligen Verhältnissen und kann geringer sein als bei der Überholung durch ein Kraftfahrzeug.842 Auf einem 1,7 m breiten Radweg darf jedenfalls dann überholt werden, wenn dies durch mehrfaches Klingeln angezeigt wurde;843 bei einem ausreichend breiten Radweg ist ein Klingeln nicht geboten.844 Befindet sich neben dem Radweg ein durch eine durchgezogene Linie abgetrennter Gehweg, darf dieser zum Überholen nicht mitbenutzt werden.845 Der Überholende braucht grundsätzlich nicht damit zu rechnen, dass der andere ohne Handzeichen und Rückschau plötzlich nach links abbiegt;846 etwas anderes kann aber gelten, wenn links ein benutzungspflichtiger Radweg beginnt.847

14.269

Das Rechtsüberholen wartender Fahrzeuge ist nach § 5 Abs. 8 StVO zulässig, wenn ausreichender Raum (mindestens 1 m) vorhanden ist und der Radfahrer langsam und vorsichtig fährt, so dass er z.B. auf unbedachtes Öffnen der Beifahrertür reagieren kann. Zwischen stehenden Fahrzeug durchzwängen darf er sich nicht.848

14.270

Vorbeifahren an Kraftfahrzeug. Wird die linke Tür eines haltenden Kraftfahrzeugs geöffnet, so darf der Radfahrer nur mit ausreichendem Sicherheitsabstand (i.d.R. 1 m) vorbeifahren.849 Dies gilt nicht, wenn der Radfahrer keinen Anhalt für die Befürchtung haben konnte, die Tür könne plötzlich geöffnet werden, und wenn sie weiter geöffnet wurde, als zur Ausschau erfor-

14.271

835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849

BayObLG v. 12.11.1958 – 1 St 608/58, VRS 16, 307: nachts. OLG Hamm v. 15.2.1995 – 13 U 111/94, NZV 1995, 316. OLG München (Augsburg) v. 26.9.1991 – 24 U 367/89, NZV 1992, 234. OLG Hamm v. 15.2.1995 – 13 U 111/94, NZV 1995, 316. Vgl. BGH v. 28.11.1967 – VI ZR 84/66, VersR 1968, 256. OLG Düsseldorf v. 12.6.1995 – 1 U 213/94, NZV 1996, 236 (zw). OLG Karlsruhe v. 30.5.2016 – 9 U 115/15, NJW-RR 2017, 278. OLG Frankfurt v. 29.11.1989 – 17 U 129/88, NZV 1990, 188. OLG Frankfurt v. 29.11.1989 – 17 U 129/88, NZV 1990, 188; vgl. auch OLG München v. 18.5.1984 – 10 U 3728/83, VersR 1985, 769. KG v. 26.2.2018 – 22 U 146/16, VersR 2018, 1146. OLG Hamm v. 15.2.1995 – 13 U 111/94, NZV 1995, 316. OLG München v. 18.5.1984 – 10 U 3728/83, VersR 1985, 769; OLG München v. 24.4.2013 – 10 U 3820/12, NZV 2013, 542. LG Nürnberg-Fürth v. 7.12.1995 – 2 S 4512/95, NZV 1997, 44. OLG München v. 28.10.1994 – 10 U 4858/93, VersR 1996, 1036. OLG Oldenburg v. 17.1.1962 – 2 U 162/61, VersR 1963, 490; Rebler MDR 2020, 10, 12.

Greger | 425

§ 14 Rz. 14.271 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

derlich war.850 Dasselbe gilt, wenn er an einem Kraftfahrzeug vorbeifährt, das soeben vor ihm angehalten hat.851 Will er rechts an einem auf der Fahrbahn stehen gebliebenen Pkw vorbeifahren, muss er mit einem Öffnen der Beifahrertür rechnen.852 Ein Radfahrer, der an parkenden Wagen vorbeifährt, muss nicht damit rechnen, dass ihn eine von hinten kommende Straßenbahn trotz des zu engen Zwischenraums zu überholen versucht.853

5. Abbiegen 14.272

Beim Linksabbiegen kann der Radfahrer wählen, ob er sich wie ein Kraftfahrzeug (unter Beachtung des rückwärtigen Verkehrs) einordnet oder in der in § 9 Abs. 2 StVO beschriebenen Weise „indirekt“ abbiegt; im ersteren Fall gilt auch für ihn das Gebot der doppelten Rückschau.854 Von einem Radweg aus muss dann in der indirekten Weise abgebogen werden, wenn der Radweg sich jenseits der Kreuzung fortsetzt und dort eine Abzweigung für Linksabbieger eingerichtet ist („Radverkehrsführung“, § 9 Abs. 2 S. 3 StVO). Fehlt eine solche Wegführung, darf der Radfahrer vor der Kreuzung den Radweg verlassen und sich auf der Straße einordnen.855 Beim Verlassen des Radwegs ist der Vorrang des Fahrverkehrs nach § 10 StVO zu beachten.856

14.273

Die Abbiegeabsicht ist durch Armausstrecken anzuzeigen, welches nicht während des gesamten Abbiegevorgangs beizubehalten ist, sondern nur solange, bis der Radfahrer davon ausgehen kann, dass von seiner Absicht betroffene Verkehrsteilnehmer diese erkannt haben.857

6. Vorfahrt 14.274

Für Radfahrer gelten die für die benutzte Straße bestehenden Vorfahrtregeln. Sie beziehen sich auch auf neben der Fahrbahn verlaufende, über die Kreuzung bzw. Einmündung fortgeführte Radwege, sofern keine abweichende Beschilderung besteht (s. Rz. 14.145). Bei endenden Radwegen sowie auf isolierten Radwegen, auch Feldwegen und ähnlichen Trassen besteht kein Vorfahrtrecht. Der Radfahrer muss hier beim Einfahren auf eine Straße dem dortigen Verkehr Vortritt lassen (§ 10 StVO).858 Beim Zusammentreffen derartiger Wege ist wechselseitige Verständigung geboten.859

V. Fußgänger 14.275

Ihre Verhaltenspflichten – die vor allem bei der Mitverschuldensfrage Bedeutung gewinnen – sind in § 25 StVO eingehend geregelt. Im Grundsatz gilt, dass sie sich von der Fahrbahn fernBGH v. 23.9.1960 – VI ZR 2/60, VersR 1960, 1079. KG v. 26.1.1959 – 1 St 485/58, VRS 16, 361. KG v. 20.9.2010 – 12 U 216/09, r+s 2011, 174. BGH v. 19.3.1968 – VI ZR 195/66, VersR 1968, 582. OLG Oldenburg v. 29.12.2011 – 14 U 30/11, VersR 2012, 1052. OLG Hamm v. 8.6.1989 – 27 U 2/89, NZV 1990, 26 mit zust. Anm. Hentschel. OLG Hamm v. 8.1.2016 – 9 U 125/15, DAR 2016, 265. OLG Hamm v. 8.6.1989 – 27 U 2/89, NZV 1990, 26. KG v. 12.9.2002 – 12 U 9590/00, NZV 2003, 30; OLG Hamm v. 8.1.2016 – 9 U 125/15, DAR 2016, 265; OLG München v. 5.8.2016 – 10 U 4616/15, MDR 2017, 28. 859 S. auch AG Frankfurt/M. v. 5.12.2016 – 32 C 3057/15, NJW-RR 2017, 669 (Inline-Skater/Radfahrer). A.A. für kreuzende Radwege LG Wuppertal v. 6.11.2015 – 9 S 218/15, NZV 2016, 473.

850 851 852 853 854 855 856 857 858

426 | Greger

V. Fußgänger | Rz. 14.278 § 14

zuhalten haben. Nur wo dies unvermeidbar ist (bei fehlendem Gehweg oder zum Überqueren) dürfen sie die Fahrbahn betreten, müssen dann aber auf den Fahrverkehr achten. Nur unter bestimmten Voraussetzungen ist ihnen ein Vorrecht eingeräumt (s. Rz. 14.221 ff.). Im Einzelnen gilt folgendes:

1. Benutzen der Fahrbahn Ist ein Gehweg oder Seitenstreifen vorhanden, dürfen Fußgänger nur dann (entgegen § 25 Abs. 1 S. 2 StVO) auf der Fahrbahn gehen, wenn dessen Benutzung (z.B. wegen Glätte) unzumutbar ist.860 Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen. Unannehmlichkeiten wegen schlechten Zustands oder geringer Breite des Gehwegs reichen nicht,861 ebenso wenig die Notwendigkeit einer Fahrbahnüberquerung wegen nur einseitig vorhandenen Gehwegs.862 Bestehen andere zumutbare Möglichkeiten, das Begehen der Fahrbahn zu vermeiden (z.B. neben der Straße verlaufender Pfad oder Sommerweg), so ist hiervon Gebrauch zu machen.863

14.276

Benutzt der Fußgänger zulässigerweise die Fahrbahn, so muss er den Fahrverkehr besonders sorgfältig beobachten864 und jede vermeidbare Behinderung oder Gefährdung ausschließen.865 Zur einzuhaltenden Fahrbahnseite vgl. § 25 Abs. 1 S. 3 StVO.866 In erkennbaren Gefahrsituationen ist er verpflichtet, die Fahrbahn – soweit möglich – zu verlassen.867 Nähert sich bei Nebel oder Dunkelheit ein Kraftfahrzeug, muss er zumindest an den Fahrbahnrand herantreten.868

14.277

Das Nebeneinandergehen zweier Personen auf der Fahrbahn ist nur gestattet, wenn kein Fall des § 25 Abs. 1 S. 4 StVO vorliegt und die Fahrbahn so breit ist, dass trotzdem noch zwei Kraftfahrzeuge gut aneinander vorbeifahren können.869 Naht bei starkem Nebel ein Fahrzeug, so hat einer der beiden Fußgänger hinter den anderen zu treten.870 Dreierreihen sind – jedenfalls nachts – verboten.871 Ein erlaubtermaßen auf der Fahrbahn gehender Fußgänger muss, ehe er andere Fußgänger überholt, nach hinten blicken, ob ein Fahrzeug naht.872

14.278

860 861 862 863 864 865 866 867

868 869 870 871 872

BGH v. 20.10.1994 – III ZR 60/94, NZV 1995, 144. OLG Köln v. 15.4.1958 – Ss 66/58, DAR 1958, 333. BGH v. 20.11.1956 – VI ZR 207/55, VRS 12, 21. BGH v. 24.11.1959 – VI ZR 196/58, VersR 1960, 149; OLG Hamm v. 13.10.1971 – 4 Ss 889/71, VM 1972, Nr. 17; BHHJ/Heß § 25 StVO Rz. 2; a.A. Hentschel/König/Dauer § 25 StVO Rz. 12, 14. BGH v. 3.12.1955 – VI ZR 12/55, VersR 1956, 55; BGH v. 9.7.1968 – VI ZR 171/67, VersR 1968, 1093. BGH v. 26.4.1957 – VI ZR 66/56, VersR 1957, 413. Näher Hentschel/König/Dauer § 25 StVO Rz. 15 f. BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 105/70, VersR 1972, 258; OLG Düsseldorf v. 6.3.1957 – 12 U 153/ 74, VersR 1975, 1052; OLG Hamm v. 10.10.1994 – 6 U 334/91, NZV 1995, 483; OLG Celle v. 7.4.1983 – 5 U 173/82, DAR 1984, 124 mit Anm. Berr; a.A. BGH v. 21.3.1967 – VI ZR 152/65, VersR 1967, 706. BGH v. 19.3.1968 – VI ZR 4/67, VersR 1968, 603. BGH v. 3.12.1955 – VI ZR 12/55, VersR 1956, 55; BGH v. 9.7.1968 – VI ZR 171/67, VersR 1968, 1093. OLG Freiburg v. 31.1.1952 – 2 S 78/51, DAR 1952, 106. BGH v. 9.7.1968 – VI ZR 171/67, VersR 1968, 1093. BGH v. 10.3.1954 – VI ZR 93/53, DAR 1954, 109.

Greger | 427

§ 14 Rz. 14.279 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.279

Vor dem Heruntertreten vom Gehweg (wegen einer Baustelle usw.) auf die Fahrbahn oder beim Verlassen des Banketts (wegen eines dort haltenden Fahrzeugs) hat sich der Fußgänger zu vergewissern, dass er kein Fahrzeug gefährdet.873 Er darf nicht unachtsam hinter Bäumen oder zwischen parkenden Wagen hervor auf die Fahrbahn treten.874

2. Überqueren der Fahrbahn 14.280

Grundsätzlich steht es dem Fußgänger frei, wo er die Fahrbahn überqueren will. Es gelten jedoch folgende Ausnahmen:

14.281

Wenn die Verkehrsdichte, Fahrgeschwindigkeit, Sicht oder der Verkehrsablauf es erfordert, muss der Fußgänger eine erreichbare Kreuzung, Einmündung oder einen gesicherten Überweg (Querungshilfe, Zebrastreifen) aufsuchen (§ 25 Abs. 3 S. 2 StVO). Zum Verkehrsablauf ist auch die körperliche Disposition des Fußgängers zu rechnen.875 Umwege bis zu 50 m sind ohne weiteres zumutbar;876 bei besonders ungünstigen Verhältnissen müssen aber auch noch größere Umwege in Kauf genommen werden.877

14.282

Aus der allgemeinen Pflicht zur Gefahrenabwendung (§ 1 Abs. 2 StVO) kann sich auch unabhängig von § 25 Abs. 3 StVO das Gebot ergeben, das Überschreiten der Fahrbahn an einer bestimmten Stelle zu unterlassen, etwa außerorts zwischen zwei Kurven,878 auf einer breiten Ausfallstraße bei Vorhandensein einer Fußgängerunterführung879 oder – sofern man der vorstehend vertretenen weiten Auslegung des § 25 Abs. 3 S. 1 StVO nicht folgt – bei ungünstigen Sichtverhältnissen in unmittelbarer Nähe eines Überwegs.880

14.283

Ein Fußgänger, der den Gehweg oder den Straßenrand verlassen will, um die Fahrbahn zu überqueren, muss sich vergewissern, dass er hierdurch kein Fahrzeug behindert oder gefährdet.881 Auch während des Überschreitens muss er ständig den Fahrverkehr beobachten.882 Ganz besonders vorsichtig hat er sich in die Fahrbahn hineinzutasten, wenn er zwischen haltenden Fahrzeugen hindurch oder hinter ihnen hervortritt883 oder wenn er aus einem Gartentor unmittelbar auf die Fahrbahn einer nicht mit Bürgersteigen versehenen Straße tritt.884 Ein Zusammenstoß mit einem von links kommenden Kfz kann ihm nicht vorgeworfen werden,

873 OLG Karlsruhe v. 1.2.1956 – 1 U 111/55, VersR 1957, 169. 874 BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 42/67, VersR 1968, 804. 875 OLG Hamm v. 6.12.1974 – 4 Ss OWi 953/74, VRS 49, 297: weil sie über seine Verweildauer auf der Fahrbahn bestimmt. Offenlassend BGH v. 21.12.1976 – VI ZR 21/75, VersR 1977, 337 (jedenfalls Mitverschulden). 876 Vgl. BGH v. 27.6.2000 – VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; KG v. 7.7.2008 – 12 U 138/08, NZV 2009, 343. 877 OLG Celle v. 20.4.1989 – 5 U 26/88, VersR 1990, 911: 60 m bei dreispuriger Straße im Berufsverkehr bei Dunkelheit und Nässe. 878 KG v. 9.2.1978 – 22 U 4445/76, VM 1978, Nr. 64. 879 OLG München v. 8.6.1977 – 10 U 4033/76, VersR 1978, 928. 880 BGH v. 21.12.1976 – VI ZR 21/75, VersR 1977, 337. 881 BGH v. 7.2.1967 – VI ZR 132/65, VersR 1967, 457. 882 BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 2/61, VersR 1961, 856 mit Anm. Venzmer VersR 1961, 996; BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 237/61, VersR 1962, 1012. 883 BGH v. 5.1.1960 – VI ZR 211/58, VersR 1960, 323; KG v. 21.12.1978 – 12 U 2407/77, VersR 1980, 284; KG v. 7.7.2008 – 12 U 138/08, NZV 2009, 343; OLG Hamm v. 6.7.1992 – 32 U 259/91, NZV 1993, 314. 884 BGH v. 23.5.1967 – VI ZR 211/65, VersR 1967, 862.

428 | Greger

V. Fußgänger | Rz. 14.284 § 14

wenn dieses erst während der Beobachtung des von rechts kommenden Verkehrs in den Sichtbereich gekommen ist885 (s. auch Rz. 14.284). Das Warnzeichen eines Kraftfahrers (Hupe, Lichthupe) darf ein bereits auf der Fahrbahn befindlicher Fußgänger nur bei zusätzlichen Anzeichen (z.B. Anhalten, Handzeichen) als Aufforderung zum Weitergehen verstehen.886 – Auch an einem geschützten Übergang (Zebrastreifen, Ampel) darf der Fußgänger nicht blindlings darauf vertrauen, dass herankommende Kraftfahrer seinen Vorrang (§ 26 StVO) beachten. Er muss sich daher vor Betreten des Übergangs mindestens durch einen beiläufigen Blick nach den Seiten über die Verkehrslage vergewissern und bei erkennbarer Gefährdung abwarten.887 Auch wenn er sich schon auf dem gesicherten Übergang befindet, darf er sich nicht ohne weiteres auf verkehrsgerechtes Verhalten herannahender Kraftfahrer verlassen, wenn er durch einen beiläufigen Blick zur Seite eine konkrete Gefährdung für sich erkennen und noch abwenden kann.888 Wer nur extrem langsam gehen kann, muss dies – auch an einer Ampel – in Rechnung stellen und in besonderem Maße auf den Straßenverkehr achten.889 Der Vertrauensschutz ist eingeschränkt. Auf leicht erkennbare Geschwindigkeitsüberschreitungen von Kraftfahrzeugen müssen sich Fußgänger einstellen und den Vorrang des Fahrverkehrs beachten.890 Dagegen braucht der Fußgänger mit verbotswidrig schnellem Fahren eines für ihn noch nicht sichtbaren Kraftfahrzeugs nicht zu rechnen.891 Will er noch vor einem herannahenden Fahrzeug die Fahrbahn überqueren, so muss er, wenn diesem ein schneller fahrendes Kraftfahrzeug folgt, eine Gefährdung durch den sich abzeichnenden Überholvorgang in Rechnung stellen.892 An Einbahnstraßen oder Richtungsfahrbahnen darf er sich nicht darauf verlassen, dass Fahrzeuge nur aus einer Richtung kommen können.893 – Ein Fußgänger, der hinter einer Kreuzung oder Einmündung die Fahrbahn überqueren will, darf nicht blindlings darauf vertrauen, dass ein nahendes Kraftfahrzeug entsprechend dem gesetzten Blinker abbiegen wird; er darf zwar mit dem Überschreiten beginnen, muss das Fahrzeug aber im Auge behalten.894 Keinesfalls darf er annehmen, ein nicht blinkendes Fahrzeug werde dem Verlauf der abknickenden Vorfahrtstraße folgen.895 – Dagegen darf der Fußgänger hinter einem einparkenden Kraftfahrzeug auf die Fahrbahn treten, wenn das Fahrzeug bereits eine Position erreicht hat, in der die rechten Räder dicht am Bordstein stehen; dass der Motor noch läuft, ist unschädlich.896 – Er darf grundsätzlich auch darauf vertrauen, dass ein abbiegender Kraftfahrer seinen Vorrang nach § 9 Abs. 3 S. 3 StVO beachten wird.897 Ob dies auch dann noch gilt, wenn er die Fahrbahn ca 3 bis 5 m neben der Überwegmarkierung betritt,898 erscheint wegen § 25 Abs. 3 S. 3 StVO fraglich.899

885 BGH v. 3.6.1980 – VI ZR41/79, VersR 1980, 868. 886 BGH v. 15.2.1977 – VI ZR 71/76, VersR 1977, 434. 887 BGH v. 8.6.1982 – VI ZR 260/80, VersR 1982, 876; BGH v. 19.4.1983 – VI ZR 253/81, VersR 1983, 667. 888 BGH v. 8.6.1982 – VI ZR 260/80, VersR 1982, 876. 889 KG v. 29.4.1976 – 12 U 1877/75, VM 1977, Nr. 49 (zw.). 890 OLG Düsseldorf v. 20.11.1975 – 12 U 224/74, DAR 1976, 190. 891 BGH v. 3.6.1980 – VI ZR 41/79, VersR 1980, 868. 892 BGH v. 12.7.1983 – VI ZR 286/81, VersR 1983, 1037. 893 A.A. KG v. 25.4.2005 – 12 U 123/04, NZV 2005, 636 (Einsatzfahrzeug nur mit Blaulicht). 894 KG v. 1.3.1979 – 22 U 4402/78, VersR 1979, 1031. 895 OLG Oldenburg v. 3.12.1992 – 8 U 160/92, NZV 1994, 26. 896 KG v. 30.6.1975 – 22 U 831/75, VM 1975, Nr. 128. 897 KG v. 9.4.1981 – 12 U 4629/80, DAR 1981, 322. 898 So OLG Köln v. 6.5.1974 – 7 U 218/73, VersR 1975, 477 LS. 899 Ebenso Hentschel/König/Dauer § 9 StVO Rz. 43.

Greger | 429

14.284

§ 14 Rz. 14.285 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.285

Grundsätzlich ist die Fahrbahn zügig zu überqueren (§ 25 Abs. 3 S. 1 StVO). Plötzliches Zurücklaufen muss unterbleiben.900 Nur in Ausnahmefällen, z.B. bei breiter Fahrbahn, ist ein etappenweises Überqueren zulässig, bei dem der Fußgänger in der Mitte stehen bleibt, um in dem von rechts kommenden Verkehrsstrom eine Lücke abzuwarten,901 nicht aber auf einer schmalen, noch dazu schlecht ausgeleuchteten Straße außerhalb geschlossener Ortschaft,902 auf einer nur 7,2 m breiten, verkehrsreichen Ortsstraße bei Dunkelheit und Nässe903 oder bei Mitführen eines Fahrrads.904 Der Fußgänger muss berücksichtigen, dass überholende Kraftfahrzeuge von rechts905 oder von links nahen können.906 Ein Fußgänger, der die Straßenmitte erreicht hat, braucht jedoch nicht damit zu rechnen, dass ein von links kommendes Kraftfahrzeug unter Benutzung der anderen Fahrbahnhälfte versuchen werde, noch vor ihm vorbeizufahren.907

14.286

In jedem Fall muss die Fahrbahn auf dem kürzesten Weg (§ 25 Abs. 3 S. 1 StVO), d.h. rechtwinklig, überquert werden.908

3. Verkehrsuntüchtigkeit 14.287

Eine generelle Pflicht, nicht in alkoholisiertem Zustand am Straßenverkehr teilzunehmen, gibt es für Fußgänger nicht; auch ein Angetrunkener muss die Möglichkeit haben, nach Hause zu gelangen. Anders als für Fahrzeugführer gibt es daher weder einen Straftatbestand noch einen absoluten BAK-Grenzwert für die Verkehrsuntüchtigkeit betrunkener Fußgänger.909 Der Betrunkene ist aber für einen Unfall (mit)verantwortlich, den er durch einen Verstoß gegen allgemeine Verkehrspflichten (mit)verursacht hat (zu Beweisfragen s. Rz. 41.75 ff.). Auf Schuldunfähigkeit kann er sich nach § 827 S. 2 BGB nicht berufen (s. Rz. 10.65).

4. Sonderfälle 14.288

Ein Fußgänger, der in einer von ihm nicht verschuldeten Gefahrenlage weitergeht, statt stehen zu bleiben, handelt i.d.R. nicht schuldhaft.910 Wer aus Höflichkeit einen verkehrsunsicheren alten Fußgänger oder einen Blinden über die Fahrbahn führt, übernimmt ihm gegenüber die Sorgfaltspflicht.911 Eine Mutter, die ihr 2-jähriges Kind auf dem Bürgersteig nicht ständig an 900 OLG München v. 8.6.1977 – 10 U 4033/76, VersR 1978, 928; KG v. 29.5.1986 – 12 U 5278/85, VersR 1988, 90. 901 BGH v. 2.9.1960 – 4 StR 319/60, NJW 1960, 2255; OLG München v. 27.11.1992 – 10 U 3061/92, NZV 1994, 188; OLG Nürnberg v. 22.12.2000 – 6 U 3021/00, VersR 2001, 1303. 902 BGH v. 12.7.1983 – VI ZR 286/81, NJW 1984, 50. 903 OLG Hamm v. 30.11.1988 – 32 U 173/88, VRS 78, 5; s. auch OLG Celle v. 20.4.1989 – 5 U 26/ 88, DAR 1990, 179. 904 OLG Hamm v. 19.11.2002 – 27 U 86/02, NZV 2003, 181. 905 BGH v. 12.7.1983 – VI ZR 286/81, NJW 1984, 50. 906 Nach BGH v. 18.5.1956 – VI ZR 39/55, VersR 1956, 571 sogar bei bestehendem Überholverbot (sehr weitgehend). 907 BGH v. 4.10.1960 – VI ZR 160/59, VersR 1961, 84; OLG München v. 27.5.1959 – 5 U 576/59, VersR 1959, 1036. 908 OLG Neustadt v. 16.5.1955 – 1 U 183/54, RdK 1955, 104. 909 Vgl. BGH v. 24.2.1976 – VI ZR 61/75, VersR 1976, 729; OLG Dresden v. 24.5.2000 – 11 U 3252/99, NZV 2001, 378. Unklar OLG Jena v. 15.6.2017 – 1 U 540/16, NJW 2018, 77: „Obliegenheit zur Nichtteilnahme am Verkehr“. 910 BGH v. 21.7.1961 – 4 StR 164/61, VRS 21, 277. 911 OLG Hamm v. 21.9.1956 – 3 Ss 996/56, VRS 12, 45.

430 | Greger

VI. Inline-Skates, E-Scooter und ähnliche Fortbewegungsmittel | Rz. 14.292 § 14

der Hand hält und ihm, als es plötzlich auf die Fahrbahn läuft, reflexartig nachrennt, handelt nicht schuldhaft.912 Auf gemeinsamen Fuß- und Radwegen (StVO Anl. 2 Zeichen 240) können Fußgänger den von ihnen benutzten Wegteil frei wählen; sie brauchen nicht fortwährend nach herankommenden Radfahrern Umschau zu halten, sondern können darauf vertrauen, dass solche sich ggf. durch Klingeln bemerkbar machen.913 Wer auf der Fahrbahn stehend sich mit einem Fahrzeugführer unterhält, ist zu sorgfältiger Beobachtung des Verkehrs auf der Fahrbahn verpflichtet.914 Wer ein Kraftfahrzeug anschiebt, ist nicht verpflichtet, wie ein Fußgänger den Vorrang des Fahrverkehrs zu beobachten.915 Zur Absicherung marschierender Soldaten sind die einschlägigen Dienstvorschriften zu beachten.916

14.289

VI. Inline-Skates, E-Scooter und ähnliche Fortbewegungsmittel Für Skater gelten nach § 24 Abs. 1 S. 2 StVO die Regeln für Fußgänger.917 Sie haben also vorhandene Gehwege zu benutzen, müssen dort aber auf die Belange der Fußgänger Rücksicht nehmen, insbesondere ihre Geschwindigkeit anpassen. Wo weder ein Gehweg noch ein Seitenstreifen vorhanden ist, haben sie die Fahrbahn zu benutzen, und zwar außerorts grundsätzlich die linke Seite (§ 25 Abs. 1 S. 3 StVO).918 Das Fahren auf Radwegen ist nicht zulässig. Wird durch das Zusatzzeichen gem. § 31 Abs. 2 StVO die Benutzung von Fahrbahnen oder Radwegen ausnahmsweise zugelassen, müssen Skater sich mit äußerster Vorsicht und Rücksichtnahme auf den übrigen Verkehr am rechten Rand halten und Fahrzeugen das Überholen ermöglichen (§ 31 Abs. 2 S. 3 StVO). Auf einem zwar dem öffentlichen Verkehr eröffneten, aber sportlicher und spielerischer Betätigung dienenden Freizeitgelände gelten die Vorschriften der StVO über den Fließverkehr nur eingeschränkt; maßgeblich ist das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme.919

14.290

Für nicht motorgetriebene Tretroller, Skateboards, Kettcars o.ä. gelten die vorstehenden Regeln ebenfalls (§ 24 Abs. 1 StVO).

14.291

Für die Benutzung elektrisch betriebener Kleinfahrzeuge wie E-Scooter oder Segway-Roller (s. Rz. 3.14) auf öffentlichen Straßen gelten die Vorschriften der Elektrokleinstfahrzeuge-VO v. 6.6.2019 (eKFV; BGBl. I, 756), während E-Bikes – je nach Ausstattung – verkehrsrechtlich als Fahrräder oder Kfz behandelt werden (s. Rz. 3.16; zu den versicherungsrechtlichen Auswirkungen s. Rz. 15.4). Diese Fahrzeuge müssen den in § 2 eKFV genannten Anforderungen entsprechen und dürfen nur von Personen genutzt werden, die das 14. Lebensjahr vollendet haben. Verstöße hiergegen begründen die Haftung für vom Schutzzweck umfasste Unfälle. Mit diesen Fahrzeugen darf nicht auf Gehwegen, sondern nur auf den für Radfahrer bestimm-

14.292

912 OLG Saarbrücken v. 18.7.2006 – 4 U 239/05, NJW 2007, 1888. 913 KG v. 16.12.1976 – 22 U 3319/76, VersR 1977, 770; OLG Düsseldorf v. 12.7.2011 – 1 U 242/10, NZV 2012, 129 (Skater). 914 OLG Saarbrücken v. 9.3.1979 – 3 U 181/77, VM 1979, Nr. 104. 915 OLG Saarbrücken v. 19.3.1976 – 3 U 137/75, VM 1977, Nr. 93. 916 OLG Koblenz v. 24.2.2003 – 12 U 1726/01, DAR 2003, 377, 378. 917 So bereits vor dieser Regelung durch die VO v 5.8.2009 BGH v. 19.3.2002 – VI ZR 333/00, BGHZ 150, 201. 918 BGH v. 19.3.2002 – VI ZR 333/00 Rz. 18, BGHZ 150, 201; Scheidler DAR 2010, 174, 176. 919 KG v. 14.9.2017 – 22 U 174/16, VersR 2018, 504.

Greger | 431

§ 14 Rz. 14.292 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

ten oder besonders gekennzeichneten Verkehrsflächen gefahren werden; wo solche fehlen, darf auf Fahrbahnen oder in verkehrsberuhigten Bereichen gefahren werden (§ 10 eKFV). Die Pflicht, einen „baulich angelegten“ Radweg zu benutzen, besteht – anders als für Radfahrer (s. Rz. 14.265) – unabhängig von der Beschilderung.920 § 11 Abs. 4 eKFV verlangt Rücksichtnahme auf den Radfahrer- und Fußgängerverkehr; Fußgänger haben auf gemeinsamen Geh- und Radwegen Vorrang. Auf solchen Wegen muss der Rollerfahrer abbremsen, wenn er nicht sicher sein kann, dass ein möglicherweise in seinen Fahrweg geratender Fußgänger ihn bemerkt hat.921 Auf Gehwegen darf auch nicht ohne Motorantrieb gefahren werden;922 ggf. ist der Roller zu schieben. Nach § 11 Abs. 1 eKFV ist es verboten, nebeneinander oder freihändig zu fahren und sich an fahrende Fahrzeuge anzuhängen. Personenbeförderung ist gem. § 8 eKFV unzulässig; das (häufig zu beobachtende) Mitfahren einer weiteren Person begründet daher dieser gegenüber eine Haftung des Fahrers (sowie eine Mithaftung des Beifahrers), wenn es für den Unfall ursächlich geworden ist, z.B. durch die dadurch hervorgerufene Instabilität, nicht für von der Fehlnutzung unabhängige Unfallverläufe.923 Auf mehrspurigen Straßen darf nur äußerst rechts gefahren werden; die Ausnahme in § 7 Abs. 1 S. 1 StVO gilt nicht (§ 11 Abs. 2 eKFV). Ein Einordnen zum Linksabbiegen wird dadurch zwar nicht ausgeschlossen, dürfte aber schon deswegen nicht in Betracht kommen, weil der Scooterfahrer die beabsichtigte Fahrtrichtungsänderung nicht gefahrlos ankündigen kann, wenn der Roller, wie in der Regel, nicht über Blinker verfügt. Sieht er sich aus Gründen der Fahrsicherheit nicht in der Lage, das in § 11 Abs. 3 EKFV vorgesehene „deutliche Handzeichen“ zu geben (d.h. eine Hand vom Lenker zu nehmen),924 bleibt ihm nur die Möglichkeit indirekten Abbiegens (mit Absteigen vom Roller). Auch bei sonstigen Abbiegevorgängen hat er sich so zu verhalten, dass bei anderen Verkehrsteilnehmern kein Zweifel über seine Fahrtrichtung entstehen kann. Im Übrigen gelten die Verkehrszeichen (auch Lichtzeichen) für Radfahrer.925 Auch für das Abstellen (Parken) der Roller gelten die Regeln für Fahrräder (§ 11 Abs. 5 eKFV; s. dazu Rz. 14.68). Fahren unter Alkoholeinfluss ist zwar ab 0,5‰ ordnungswidrig (§ 24a StVG); bei niedriger BAK wird es aber am Kausalitätsnachweis mangeln.

VII. Führen und Treiben von Tieren 1. Fuhrwerk 14.293

Es gelten die für den Fahrverkehr bestehenden Verkehrsvorschriften. Den aus dem Tierverhalten und der geringen Geschwindigkeit erwachsenden Gefahren ist Rechnung zu tragen. Zur ordnungsgemäßen Bespannung s § 64 Abs. 2 StVZO. Pferde, die leicht scheuen, dürfen auf Straßen mit Kraftfahrzeugverkehr überhaupt nicht eingesetzt werden.926

14.294

Bei längerem Halten des Wagens müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, die üblich sind, um das Durchgehen der Pferde zu verhüten.927 Pferdegespanne dürfen mit 0,50 m Abstand zwischen Pferd und Gehsteig abgestellt werden, weil bei geringerem Abstand Fußgänger gefährdet werden könn-

920 921 922 923 924 925 926 927

Huppertz NZV 2019, 387, 391. OLG Koblenz v. 16.4.2019 – 12 U 692/18, DAR 2020, 36. Tomson/Wieland NZV 2019, 446, 447. Tomson/Wieland NZV 2019, 446, 448. Kritisch zu dieser Regelung Koehl SVR 2019, 415. Tomson/Wieland NZV 2019, 446, 447. BGH v. 29.5.1956 – VI ZR 79/55, VersR 1956, 502. RG HRR 1937, Nr. 1223.

432 | Greger

VIII. Sonstige Einwirkungen auf Verkehrsvorgänge | Rz. 14.297 § 14 ten.928 Bei der Bemessung des seitlichen Abstands von einem geparkten Fahrzeug muss berücksichtigt werden, dass es durch das Verhalten des Pferdes zu seitlichen Abweichungen kommen kann.929

2. Reiter Für Reiter und Führer von Pferden gelten die für den Fahrverkehr getroffenen Regelungen sinngemäß (§ 28 Abs. 2 StVO). Bei Dunkelheit ist sachgerechte Beleuchtung nach vorne und hinten geboten.930 Ein Pferd, das quer über die Straße geführt wird, muss jedenfalls dann nach beiden Seiten beleuchtet sein, wenn mit einem längeren Verweilen auf der Fahrbahn gerechnet werden muss.931

14.295

3. Vieh Für das Führen und Treiben von Vieh gelten neben den allgemeinen Verkehrsvorschriften die Sonderregeln über die Beleuchtung nach § 28 Abs. 2 StVO. Für das Queren einer Straße folgt die Pflicht zur ausreichenden Absicherung aus § 1 Abs. 2 StVO.932 Der Treiber einer Viehherde muss jederzeit in der Lage sein, auf jedes einzelne Tier ausreichend einzuwirken.933 Bei größeren Herden muss außer dem Treiber mindestens eine zweite Person für die Absicherung sorgen;934 bei Schafherden können neben dem Schäfer gute Hütehunde genügen.935 – Sinngemäß gilt auch das Rechtsfahrgebot, jedoch ist nicht erforderlich, dass die Tiere stets auf der rechten Fahrbahnseite gehalten werden können.936 Ist dies nicht möglich und nach den Sichtverhältnissen damit zu rechnen, dass Gegenverkehr die Herde nicht rechtzeitig wahrnimmt, muss ein Warnposten in ausreichendem Abstand vorangehen.937

14.296

VIII. Sonstige Einwirkungen auf Verkehrsvorgänge 1. Kfz-Insassen Der Fahrgast braucht sich, sofern nicht eine ihm in die Augen fallende außergewöhnliche Gefahrenlage besteht, zu deren Abwehr beizutragen er imstande ist, um die Führung des Kraftfahrzeugs nicht zu kümmern.938 Ihn trifft keine Pflicht, den Fahrer auf gewöhnliche im Straßenverkehr auftretende Gefahren (z.B. auf einen die Fahrbahn betretenden Fußgänger, auf ein die Vorfahrt missachtendes anderes Kraftfahrzeug) aufmerksam zu machen; er darf auch während der Fahrt schlafen.939 Unternimmt der Insasse gemeinsam mit dem Führer eine Schwarzfahrt, so darf er nicht mit dem Führer zusammen soviel trinken, dass dieser fahr928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939

OLG Nürnberg v. 19.2.1981 – 8 U 2891/80, VersR 1982, 174 LS. OLG Köln v. 25.4.1990 – 13 U 267/89, VersR 1991, 78. BHHJ/Hühnermann § 28 StVO Rz. 11: z.B. Leuchte an der linken Seite und Reflektoren. Vgl. KG v. 9.2.1978 – 22 U 4445/76, VM 1978, Nr. 64. MünchKomm-StVR/Asholt § 28 StVO Rz. 11 mit Rspr.-Nachw. OLG Hamm v. 27.5.1952 – 3 U 45/52, VersR 1952, 390. OLG Celle v. 3.3.1955 – 5 U 216/54, VRS 9, 412; OLG Nürnberg v. 19.9.1967 – 7 U 58/67, VersR 1968, 285 mit Anm. Schmidt; BayObLG v. 20.11.1972 – 1 St 598/72 OWi, VRS 44, 366. OLG Oldenburg v. 18.4.1956 – 2 U 18/56, DAR 1957, 16. BayObLG v. 23.4.1979 – 1 Ob OWi 156/79, VRS 57, 211. BayObLG v. 26.6.1989 – 2 Ob OWi 113/89, NZV 1989, 482. BGH v. 29.10.1959 – III ZR 140/58, VersR 1960, 317, 319; BGH v, 15.2.1966 – VI ZR 263/64, VersR 1966, 567. BGH v. 19.6.1979 – VI ZR 250/77, VersR 1979, 938.

Greger | 433

14.297

§ 14 Rz. 14.297 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

untüchtig wird; zumindest muss er dann die Weiterfahrt verhindern.940 Generell ist aber eine Verpflichtung des Mitfahrers, den betrunkenen Fahrer an der Fahrt zu hindern oder zum Abbruch der Fahrt zu veranlassen, nicht zu bejahen.941

14.298

Eine Haftung des Insassen besteht aber, wenn er eine Wagentür öffnet, ohne auf den Verkehr zu achten,942 dem Fahrer nach Übernahme der Verkehrsbeobachtung eine falsche Information erteilt943 oder aktiv in das Verkehrsgeschehen eingreift, z.B. indem er einen anderen Verkehrsteilnehmer durch Gesten, Beschimpfungen o.ä. ablenkt.944

14.299

Eine Pflicht, sich nach Weisung des Fahrers an der Absicherung des liegengebliebenen Kfz zu beteiligen, besteht nur bei offensichtlicher Gefahr und wenn die zu ergreifenden Maßnahmen jedermann geläufig sind.945 Muss ein liegengebliebenes Kfz wegen besonderer Gefahrenlage schnellstmöglich von der Straße geschafft werden, handelt der Beifahrer nicht vorwerfbar, der sich, obwohl er keine Fahrerlaubnis hat, auf Bitten des Fahrers ans Steuer setzt, um beim Wegschieben des Wagens behilflich zu sein; er schuldet in einer solchen Notsituation nur sein Bestes und ist nicht zu dem verpflichtet, was von einem Kraftfahrer im Verkehr an sich zu fordern ist.946 Strenger sind die Pflichten eines Berufskraftfahrers, der als Zweitfahrer im Lastzug mitfährt. Er hat unabhängig vom Erstfahrer die Sicherung des nachts liegengebliebenen Lastzugs unverzüglich durchzuführen.947

14.300

Die Begleitperson im Rahmen des Modellversuchs „Begleitetes Fahren ab 17“ (§ 6e StVG, § 48a FeV) hat nur beratende Funktion, aber keine gesteigerten Verkehrspflichten; sie haftet daher nur wie jeder Beifahrer, der gefahrbringend ins Verkehrsgeschehen eingreift.948 Zur Verpflichtung, eine gefährliche Fahrt zu verhindern, s Rz. 14.315.

2. Eingriff in Verkehrsvorgänge 14.301

Wer einen Fahrzeugführer durch Erschrecken, Hindernisbereiten, Bewerfen o.ä. zu plötzlichem Bremsen veranlasst, haftet für einen dadurch hervorgerufenen Unfall.949 Ebenso kommt eine deliktische Haftung desjenigen in Betracht, der durch ein falsches Winkzeichen einen Unfall hervorruft.950 Mit dem Vorrangverzicht gegenüber einem erwachsenen Verkehrsteilnehmer übernimmt der Kraftfahrer aber keine Gewähr für die Gefahrlosigkeit der

940 RG SeuffA 82, Nr. 49; s. auch BGH v. 8.1.1971 – VI ZR 127/69, VersR 1971, 350. 941 BGH v. 12.9.1952 – 1 StR 349/52, BGHSt 3, 175; BGH v. 15.2.1966 – VI ZR 263/64, VersR 1966, 565. 942 OLG Hamm v. 20.8.1999 – 9 U 9/99, NZV 2000, 126; OLG Hamm v. 8.9.1999 – 13 U 45/99, NZV 2000, 209, 210. 943 BGH v. 10.1.1961 – VI ZR 62/60, VRS 20, 161. 944 OLG Hamm v. 14.7.1986 – 3 U 183/85, VersR 1987, 670. 945 OLG München v. 25.3.1966 – 10 U 2754/65, VersR 1966, 858. 946 BGH v. 22.3.1977 – VI ZR 80/75, VersR 1977, 624. 947 BGH v. 28.11.1967 – VI ZR 101/66, VersR 1968, 199. 948 Fischinger/Seibl NJW 2005, 2886, 2888. Vgl. auch BT-Drucks. 15/5315 S. 9. 949 Vgl. z.B. LG Bonn v. 12.1.1982 – 15 O 273/81, VersR 1982, 1206: Schüler bewerfen Linienbus mit Schneebällen, Fahrgast stürzt wegen plötzlicher Bremsung. 950 Vgl. OLG Koblenz v. 27.3.1962 – 6 U 582/61, NJW 1962, 1515 mit zu Recht krit. Anm. Weitnauer; OLG Düsseldorf v. 12.11.1984 – 1 U 109/84, VersR 1986, 471; OLG Hamm v. 3.9.1998 – 6 U 58/98, OLGR Hamm 1999, 45; AG Hannover v. 5.3.1984 – 529 C 2789/83, VersR 1985, 351 mit Anm. Onnasch; AG Lahnstein v. 11.1.2000 – 2 C 955/98, NZV 2000, 379. Zur Frage einer vertraglichen Haftung s. Rz. 16.3.

434 | Greger

VIII. Sonstige Einwirkungen auf Verkehrsvorgänge | Rz. 14.305 § 14

Fahrbahnüberschreitung.951 – Der Veranstalter einer Treibjagd muss dafür Sorge tragen, dass hochgemachtes Wild nicht auf eine stark befahrene Straße springt (Treibrichtung, Postenkette, ggf. Warnposten).952 Wegen Sprengarbeiten, Holzfällarbeiten und dgl. s. Rz. 13.118.

3. Verabreichen von Alkohol Wer einem Kraftfahrer Alkohol verabreicht, obwohl er weiß, dass dieser seine Fahrt anschließend fortzusetzen gedenkt, macht sich gegenüber Verkehrsteilnehmern, die dann bei einem Unfall infolge der Alkoholisierung verletzt oder geschädigt werden, nur dann schadensersatzpflichtig (aus unerlaubter Handlung, § 823 BGB), wenn er erkennen musste, dass hierdurch die Fahrtüchtigkeit des Kraftfahrers erheblich beeinträchtigt wurde. Die Ersatzpflicht tritt allerdings nur ein, wenn die Trunkenheit des Gastes für den Verabreicher erkennbar war und dieser es unterlassen hat, die Fahrt mit allen ihm zu Gebote stehenden angemessenen und zumutbaren Mitteln zu verhindern.953 Unter dieser Voraussetzung besteht die Haftung auch dem Kraftfahrer selbst gegenüber.

14.302

Ist dem Bewirtenden nicht bekannt, dass der Gast mit einem Kraftfahrzeug gekommen ist, oder ist dieser in der Tat zu Fuß gekommen, so hat der Wirt nur dann Maßnahmen zu ergreifen, wenn der Gast beim Verlassen der Gaststätte aufgrund hochgradiger Alkoholisierung und der örtlichen Verhältnisse (z.B. verkehrsreiche Straße, Graben, Treppe) erkennbar in eine lebensbedrohliche Lage gerät.954 Er darf den nicht mehr Zurechnungsfähigen festhalten, bis er ihn einer zuverlässigen Person (Polizei, Taxifahrer, Angehöriger) übergeben kann; der entgegenstehende Wille des Betrunkenen ist unbeachtlich.955 Dies gilt für einen Gastwirt in gleicher Weise wie für einen privaten Gastgeber.956

14.303

4. Inverkehrbringen eines mangelhaften Fahrzeugs Zu den Verkehrspflichten des Herstellers, Importeurs und Vertriebshändlers, die zu einer neben die Gefährdungshaftung nach dem ProdHaftG tretenden deliktischen Haftung führen können, s. Rz. 6.22 ff.

14.304

Der Gebrauchtwagenhändler haftet für die Beschädigung des verkauften Fahrzeugs, wenn dieses infolge (für ihn erkennbar) falscher Bereifung verunglückt, nicht nur aus Vertrag, sondern auch aus § 823 Abs. 1 BGB, da der Mangel der Bereifung das Fahrzeug als solches nicht im Ganzen entwertet, sondern an der ansonsten mangelfreien Sache erst später einen zusätzlichen Schaden hervorgerufen hat.957 Er muss das Alter der Reifen prüfen, sofern hierfür ein besonderer Anlass besteht.958

14.305

951 OLG München v. 13.12.1996 – 10 U 4052/96, OLGR München 1997, 161. Zur abw. Lage bei Kindern s. Rz. 14.248. 952 BGH v. 10.2.1976 – VI ZR 160/74, VersR 1976, 593; LG Aachen v. 30.8.1990 – 6 S 176/90, VersR 1992, 74 mit Anm. Gaisbauer VersR 1992, 472. S. auch LG Rostock v. 6.9.2002 – 4 O 176/02, NJW-RR 2003, 522. 953 BGH v. 13.11.1963 – 4 StR 267/63, BGHSt 19,152. 954 BGH v. 5.12.1974 – 4 StR 529/74, BGHSt 26, 35; OLG München v. 11.2.1966 – 10 U 2121/65, NJW 1966, 1165. 955 Näher Molketin GewArch 1989, 255 ff. 956 BGH v. 5.12.1974 – 4 StR 529/74, BGHSt 26, 35, 39. 957 BGH v. 5.7.1978 – VIII ZR 172/77, NJW 1978, 2241. 958 BGH v. 11.2.2004 – VIII ZR 386/02, NJW 2004, 1032 (zur fehlerhaften Anwendung von § 278 BGB in dieser Entscheidung s. Kunz VersR 2004, 1332).

Greger | 435

§ 14 Rz. 14.306 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

14.306

Der Vermieter – er ist ohnehin i.d.R. der Halter des Fahrzeugs – und der Leasinggeber sind dafür verantwortlich, dass bei Übergabe des Kfz keine ihnen erkennbaren Sicherheitsmängel vorliegen.

14.307

Der Inhaber einer Reparaturwerkstatt bzw. Leiter der Betriebswerkstätte haftet für Unfälle, die auf Fehler bei der Instandsetzung zurückzuführen sind.959 Wegen der besonderen Gefährlichkeit solcher Fehler treffen ihn besonders strenge Organisationspflichten. Es genügt nicht, wenn er für die Ausführung der Arbeiten geeignete Personen bestellt, für deren Tätigkeit er sich nach § 831 BGB entlasten kann. Vielmehr muss er – ggf. durch Organe oder sonstige Vertreter i.S.d. §§ 30, 31 BGB – besondere Anordnungen erlassen, die eine ordnungsgemäße Ausführung der Reparaturen gewährleisten.960 Vor allem muss er die Anweisungen des Herstellerwerkes über Verwendung und Einbau von Ersatzteilen an die Monteure weitergeben und auf ihre Beachtung durch den für die Schlussabnahme zuständigen Meister hinwirken. Bei besonders kritischen Arbeiten, z.B. Verwechslungsgefahr bei bestimmten Ersatzteilen, muss er zusätzlich spezielle Anordnungen dahingehend treffen, dass die Mitarbeiter mit gesteigerter Sorgfalt zu Werke gehen.961

14.308

Die mit der Wartung betraute Werkstatt hat auch die Pflicht, Sicherheitsmängel aufzudecken und dem Kunden bekanntzugeben.962 Wegen weiterer Einzelheiten s. Rz. 16.12.

5. Nichtverhindern gefahrträchtiger Kfz-Benutzung 14.309

Ein Arzt, der einen Patienten anlässlich einer ambulanten Behandlung so stark sediert hat, dass seine Tauglichkeit für den Straßenverkehr für einen längeren Zeitraum erheblich eingeschränkt ist, muss sicherstellen, dass sich der Patient nicht unbemerkt entfernt.963

14.310

Der Verkäufer eines Kraftfahrzeugs ist nicht generell verpflichtet, die Fahrerlaubnis des Kunden zu überprüfen, bevor er ihm das Fahrzeug überlässt. Die Rechtsprechung bejaht eine solche Verpflichtung – im Rahmen des Zumutbaren – allerdings dann, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine verbotene oder gefährliche Benutzung bestehen, etwa bei jugendlichem Aussehen des Käufers oder bei Veräußerung eines stillgelegten Fahrzeugs.964 Diese Auffassung geht zu weit. Sie begründet eine Garantenstellung des Verkäufers, die diesen in Konflikt mit seiner vertraglichen Verpflichtung zur Übergabe der Kaufsache bringt.965 Nur in Extremfällen, bei einer mit Händen zu greifenden Gefahrenlage, kann der Verkäufer als verpflichtet angesehen werden, eine Benutzung des verkauften Kraftfahrzeugs durch den Erwerber zu verhindern bzw einen Kaufvertrag nur mit der Abrede abzuschließen, dass der Käufer für eine gefahrlose Verbringung des Kraftfahrzeugs zu sorgen hat. 959 Vgl. BGH v. 17.10.1961 – VI ZR 117/61, VersR 1962, 43 (Motorradlenker); BGH v. 10.1.1963 – VII ZR 174/61, VersR 1963, 385 (Bremsluftzufuhr); BGH v. 15.12.1992 – VI ZR 115/92, NZV 1993, 145 (Handbremse); OLG Düsseldorf v. 12.1.1996 – 22 U 203/95, NZV 1996, 197 (MopedHinterradmantel). 960 BGH v. 30.5.1978 – VI ZR 13/77, VersR 1978, 722 m.w.N. 961 BGH v. 30.5.1978 – VI ZR 13/77, VersR 1978, 722. 962 BGH v. 6.4.1967 – VII ZR 298/64, VersR 1967, 707; BGH v. 6.3.2008 – 4 StR 669/07, NJW 2008, 1897 (auch zu dem erforderlichen Nachdruck). 963 BGH v. 8.4.2003 – VI ZR 265/02, NJW 2003, 2309. 964 Vgl. BGH v. 16.5.1966 – II ZR 79/64, VersR 1966, 626; BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 73/78, VersR 1979, 766; OLG Köln v. 13.1.1969 – 10 U 97/68, VersR 1969, 741; OLG München v. 11.1.1980 – 10 U 2937/79, VersR 1982, 172. 965 Schmid MDR 1980, 47.

436 | Greger

VIII. Sonstige Einwirkungen auf Verkehrsvorgänge | Rz. 14.315 § 14

Die Reparaturwerkstatt ist verpflichtet, Gefahren abzuwenden, die sich durch eine unbefugte Benutzung des Kraftfahrzeugs, auch seitens des eigenen Personals, ergeben können.966

14.311

Ein Passant, der zufällig beobachtet, wie ein Betrunkener sich ans Steuer setzt, ist grundsätzlich nicht zum Einschreiten verpflichtet. Zur Haftung aus vorangegangenem Verabreichen von Alkohol s. Rz. 14.302 ff.

14.312

Der Fahrlehrer haftet sowohl anderen Verkehrsteilnehmern als auch dem Fahrschüler gegenüber, wenn er den Anforderungen an eine sorgfältige Überwachung967 nicht genügt oder wenn er Aufgaben stellt, die den Schüler nach Ausbildungsstand und Fähigkeiten überfordern, insbesondere bei der Motorradausbildung, bei der eine unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit fehlt968 (s. auch Rz. 4.29, 16.44). Die Nutzung des Mobiltelefons während der Ausbildungsfahrt fällt zwar nicht unter den Bußgeldtatbestand des § 23 Abs. 1a StVO,969 ist aber mit der Überwachungsaufgabe des Fahrlehrers ebenso wie jede sonstige Ablenkung nicht vereinbar und führt zur Haftung für einen durch sein nicht rechtzeitiges Eingreifen verursachten Unfall.

14.313

Einzelfälle: Der Fahrlehrer haftet für den Sturz des auf dem Krad nachfolgenden Schülers, der darauf zurückzuführen ist, dass die Blickverbindung durch zu schnelles Vorausfahren unterbrochen wurde.970 Im Regelfall wird man ihn auch dafür verantwortlich machen müssen, dass der Schüler beim Linksabbiegen dem Fahrschulwagen folgt, obwohl Gegenverkehr naht.971 Allenfalls bei einem schon fortgeschrittenen Schüler oder ausdrücklicher Vereinbarung größerer Selbständigkeit kann etwas anderes gelten. Keine Haftung besteht, wenn ein Motorradfahrschüler in der 16. Stunde beim Abbremsen auf einer nassen Fahrbahnmarkierung stürzt.972 Zwischen Lehrer und Schüler muss nach § 5 Abs. 9 S. 2 FahrschAusbO eine Funkverbindung bestehen, die es dem Fahrlehrer ermöglicht, den Schüler anzusprechen;973 daher haftet der Fahrlehrer, soweit der Unfall auf der fehlenden Einwirkungsmöglichkeit beruht.974

14.314

Die Begleitperson beim „Begleiteten Fahren ab 17“ (§ 48a FeV) trifft zwar keine einem Fahrlehrer vergleichbare Verantwortlichkeit; hat sie aber Grund, an der Fahrtauglichkeit des Fah-

14.315

966 Vgl. BGH v. 30.4.1962 – VIII ZR 242/61, VersR 1962, 644; OLG München v. 18.3.1958 – 5 U 1935/57, NJW 1959, 1226; OLG Köln v. 8.11.1972 – 2 U 81/72, VersR 1973, 1074. 967 Vgl. BGH v. 16.9.1969 – VI ZR 80/68, VersR 1969, 1037; OLG Hamm v. 23.6.1961 – 3 Ss 442/ 61, VRS 22, 300; OLG Düsseldorf v. 26.1.1987 – 1 U 109/86, NJW-RR 1988, 24; OLG Karlsruhe v. 10.11.1982 – 3 Ss 83/82, VRS 64, 153 u. OLG Hamm v. 27.4.1990 – 9 U 74/89, NZV 1991, 354 (gleichzeitiges Erteilen von praktischem Fahrunterricht für mehrere Kraftradfahrschüler). 968 OLG Frankfurt v. 14.7.1987 – 11 U 28/85, NJW-RR 1988, 26 u. OLG Schleswig v. 11.3.2016 – 17 U 112/14, NZV 2017, 34 (Überlandfahrt trotz mangelnder Fahrpraxis); OLG Hamm v. 27.9.1978 – 4 Ss 818/77, NJW 1979, 993 (Wiederholung einer missglückten Prüfungsaufgabe mit Gefährdungspotential); OLG Hamm v. 15.4.1997 – 27 U 247/96, VersR 1998, 910 u. OLG Celle v. 14.12.2000 – 14 U 134/00, OLGR Celle 2000, 115 (Überforderung in der ersten Fahrstunde); OLG Hamm v. 5.4.2004 – 9 U 41/03, NZV 2005, 637 (Bremsübungen); OLG Saarbrücken v. 17.7.1997 – 3 U 324/96-54, NZV 1998, 246 (Befahren stark verschmutzter Straße); OLG Jena v. 13.7.1999, NZV 2000, 171 (fehlende Überprüfung technischer Beherrschung des Kraftrads). 969 BGH v. 23.9.2014 – 4 StR 92/14, BGHSt 59, 311 = NZV 2015, 145 mit abl. Anm. Ternig. 970 LG Memmingen v. 19.12.1983 – 3 O 1276/83, VersR 1984, 1158. 971 A.A. OLG Hamm v. 25.1.1964 – 3 U 153/83, VersR 1985, 598. 972 KG v. 2.10.2003 – 12 U 58/02, NZV 2004, 93. 973 Übersehen von LG Karlsruhe v. 22.3.1994 – 5 S 493/93, VersR 1995, 977. Dagegen bejahte OLG München v. 20.11.1986 – 24 U 759/85, DAR 1988, 56 eine solche Notwendigkeit bereits vor Inkrafttreten einer entspr. Vorschrift. 974 Vgl. KG v. 2.10.2003 – 12 U 58/02, NZV 2004, 93 (Kausalität verneint).

Greger | 437

§ 14 Rz. 14.315 | Verkehrspflichten im Straßenverkehr

rers oder der Verkehrssicherheit des Fahrzeugs zu zweifeln, muss sie die Fahrt durch Verweigerung ihrer Mitwirkung verhindern.975

6. Schutz von Kindern 14.316

Eltern und sonstige Aufsichtspflichtige (Rz. 8.7 ff.) haften Dritten gegenüber aus § 832 BGB. Dem Kind selbst gegenüber können sie aber, ebenso wie andere Personen,976 aus dem Gesichtspunkt einer Verkehrspflichtverletzung (§ 823 BGB) haftpflichtig werden.977 Häufig korrespondiert diese Pflichtenstellung mit der Aufsichtspflicht nach § 832 BGB: So sind die Eltern z.B. auch dem Kind gegenüber verpflichtet, eine seine Fähigkeiten übersteigende Teilnahme am Straßenverkehr, ein Spielen auf der Fahrbahn oder eine Kraftfahrzeugbenutzung zu unterbinden (näher zum Inhalt der Aufsichtspflicht Rz. 8.15 ff.). Außerdem haften sie dem Kind – ebenso wie einem Dritten – aus § 823 BGB, wenn sie den Unfall durch eigenes verkehrswidriges Verhalten herbeigeführt haben, etwa unvorsichtiges Überschreiten der Fahrbahn zusammen mit dem Kind, Veranlassen zur Straßenüberquerung durch Zuruf,978 verbotswidrige Beförderung auf einem Fahrrad oder Fahrradanhänger, Mitnahme im Auto ohne Kindersicherung (Rz. 14.64). Die Aufsichtspflichtigen dürfen auch nicht zulassen, dass das Kind von einem ungeeigneten Fahrer oder in einem verkehrsunsicheren Fahrzeug mitgenommen wird. Wird das Kind mit ihrem Willen in einem fremden Fahrzeug mitgenommen, müssen sie dafür Sorge tragen, dass die vorgeschriebenen Rückhalteeinrichtungen benutzt werden.979 Eine Helmpflicht für Kinder im Fahrrad-Kindersitz besteht nicht.980

14.317

Zu der Frage, ob die Eltern sich bei der Verletzung verkehrsbezogener Aufsichtspflichten auf die Haftungsmilderung nach § 1664 BGB berufen können, s. Rz. 10.57; zu weiteren Fragen der Haftung im Eltern-Kind-Verhältnis s. Rz. 22.65; zur (i.d.R. ausgeschlossenen) Mithaftung des Kindes s. Rz. 25.24; zum Innenausgleich bei Mitverantwortung eines Dritten für die Schädigung des Kindes s. Rz. 39.7, 39.22. Ereignet sich der Unfall im Rahmen einer gesetzlich unfallversicherten Beziehung,981 so greift ggf. die Haftungsfreistellung nach § 106 SGB VII ein (s. Rz. 22.144 ff.; zum Einfluss auf die Haftung eines weiteren Unfallbeteiligten s. Rz. 22.87 ff.).

7. Verletzung von Obhutspflichten über Tiere 14.318

Wer die Obhut über ein Tier ausübt, haftet dafür, dass durch dieses keine Gefahren für den Straßenverkehr heraufbeschworen werden. Diese aus § 823 BGB abgeleitete Haftung steht neben der verschuldensunabhängigen Haftung des Tierhalters und des Tierhüters nach §§ 833, 834 BGB. Sie kann also auch andere Personen als den Halter und den durch Vertrag zur Aufsicht Verpflichteten treffen,982 setzt aber einen Verschuldensnachweis voraus. – Zu den Anforderungen an die sichere Verwahrung von Tieren, insbesondere auf der Weide, s. Rz. 9.31.

975 976 977 978 979 980 981 982

Sapp NJW 2006, 408, 409. Vgl. OLG Hamm v. 22.4.1997 – 27 U 22/97, VersR 1998, 898. BGH v. 16.1.1979 – VI ZR 243/76, BGHZ 73, 193. OLG Hamm v. 22.4.1997 – 27 U 22/97, VersR 1998, 898; OLG Naumburg v. 25.3.2013 – 1 U 114/12, NZV 2013, 605 (Kind rennt auf unbedachten Zuruf der Mutter gegen Radfahrerin). Etzel DAR 1994, 301, 303 f. OLG Celle v. 11.6.2008 – 14 U 179/07, NJW 2008, 2353. Z.B. Kindergartenausflug: vgl. OLG Schleswig v. 22.6.1994 – 9 U 95/93, NZV 1995, 24. Z.B. den Eigentümer eines nicht verschließbaren Stalls, BGH v. 6.3.1990 – VI ZR 246/89, NZV 1990, 305.

438 | Greger

VIII. Sonstige Einwirkungen auf Verkehrsvorgänge | Rz. 14.322 § 14

8. Sport und Spiel Derartige Betätigungen sind auf Fahrbahnen, Radwegen und Seitenstreifen verboten, soweit nicht durch Zusatzzeichen ausdrücklich zugelassen (§ 31 Abs. 1 StVO). Der Verstoß gegen dieses Verbot begründet die Haftung bzw Mithaftung für einen dadurch hervorgerufenen Unfall. Unter das Verbot fallen z.B. Ballspiele, Skifahren, Rodeln983 und Radrennfahren; dagegen ist es einem Rennradfahrer nicht verwehrt, zu Trainingszwecken mit einem vorschriftsmäßigen Fahrrad unter Beachtung der StVO auf öffentlichen Straßen zu fahren. Werden Sportgeräte als „Fortbewegungsmittel“ benutzt (z.B. Inline-Skates, Rollschuhe oder -bretter), gelten die Vorschriften für den Fußgängerverkehr (§ 24 Abs. 1 StVO; hierzu s. Rz. 14.290 f.).

14.319

Auf Gehwegen gilt nur der Grundsatz des § 1 Abs. 2 StVO, d.h. Sport und Spiel erlangen dort erst dann haftungsrechtliche Relevanz, wenn der Ausübende das allgemeine Gebot der Rücksichtnahme auf die anderen Verkehrsteilnehmer missachtet. Die sportliche Betätigung, z.B. als Jogger oder Inline-Skater, darf also nur so ausgeübt werden, dass sich andere Gehwegbenutzer rechtzeitig auf sie einstellen können.984

14.320

9. Sicherheit des Verkehrswegs Zu den Verkehrssicherungspflichten im engeren Sinn und zu den Einwirkungen auf die Sicherheit der Verkehrswege s. Rz. 13.55 ff.

14.321

10. Fehlerhafte Verkehrsregelung 14.322

Hierzu s. Rz. 12.17 ff.

983 OLG München v. 27.10.1983 – 24 U 253/83, DAR 1984, 89. 984 Scheffen NZV 1992, 385, 386 f.

Greger | 439

Dritter Teil Sonstige Haftungstatbestände § 15 Haftung des Haftpflichtversicherers

I. Rechtliche Einordnung des Direktanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen des Direktanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachlicher Geltungsbereich . . . . . . . 2. Persönlicher Geltungsbereich . . . . . 3. Internationaler Geltungsbereich . . . 4. Risikoausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Umfang des Anspruchs . . . . . . . . . 1. Reguläre Begrenzung . . . . . . . . . . . . 2. Begrenzung bei krankem Versicherungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhältnis zum Anspruch gegen den Versicherungsnehmer bzw. Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesamtschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtskrafterstreckung . . . . . . . . . . a) Klageabweisung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prozessführung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prozessführungsrecht und Vollmacht des Versicherers . . . . . . . . . . b) Anwaltliche Vertretung . . . . . . . . . . c) Interessenkollision . . . . . . . . . . . . . . d) Streitgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . e) Nebenintervention . . . . . . . . . . . . . . V. Verhältnis zum Anspruch gegen Mitschädiger und deren Versicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitschädiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versicherer anderer Schädiger . . . . VI. Haftung des Versicherers trotz fehlender Leistungspflicht . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15.1 15.4 15.4 15.11 15.14 15.15 15.16 15.17 15.17 15.20

15.21 15.21 15.21 15.22 15.27 15.27 15.31 15.32 15.32 15.33 15.37 15.38 15.39

15.40 15.40 15.42 15.43 15.43

2. Ausschluss des Direktanspruchs . . . 3. Kein Ausschluss des Direktanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Begrenzungen des isoliert bestehenden Direktanspruchs . . . . . . . . . a) Höhenbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . b) Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammentreffen beider Begrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Beeinflussung des Ersatzanspruchs durch Teilungsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wesen der Teilungsabkommen . . . . 2. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirkung gegenüber dem Haftpflichtversicherer . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wirkung gegenüber dem Versicherungsnehmer (Versicherten) . . . . . . 5. Wirkung bei Mehrheit von Schädigern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansprüche des Sozialversicherungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Innenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Wirkung gegenüber dem Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Unfälle mit Auslandsbezug . . . . . . 1. Inlandsunfälle mit Beteiligung von Ausländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unfälle im Ausland . . . . . . . . . . . . . IX. Ansprüche bei fehlendem Versicherungsschutz . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entschädigungsfonds für Schäden aus Kfz-Unfällen . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15.46 15.47 15.48 15.48 15.49 15.53 15.54

15.55 15.55 15.56 15.60 15.62 15.64 15.65 15.66 15.67 15.68 15.68 15.70 15.72 15.72 15.73 15.73 15.74 15.75

Greger | 441

§ 15 | Haftung des Haftpflichtversicherers d) Regress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.76 3. Entschädigungsstelle für Auslandsunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.77 a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 15.77

b) Regress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.79 X. Haftung wegen verzögerter Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.80

§ 115 VVG Direktanspruch (1) Der Dritte kann seinen Anspruch auf Schadensersatz auch gegen den Versicherer geltend machen, 1. wenn es sich um eine Haftpflichtversicherung zur Erfüllung einer nach dem Pflichtversicherungsgesetz bestehenden Versicherungspflicht handelt oder 2. wenn über das Vermögen des Versicherungsnehmers das Insolvenzverfahren eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen worden ist oder ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden ist oder 3. wenn der Aufenthalt des Versicherungsnehmers unbekannt ist. Der Anspruch besteht im Rahmen der Leistungspflicht des Versicherers aus dem Versicherungsverhältnis und, soweit eine Leistungspflicht nicht besteht, im Rahmen des § 117 Abs. 1 bis 4. Der Versicherer hat den Schadensersatz in Geld zu leisten. Der Versicherer und der ersatzpflichtige Versicherungsnehmer haften als Gesamtschuldner. (2) Der Anspruch nach Abs. 1 unterliegt der gleichen Verjährung wie der Schadensersatzanspruch gegen den ersatzpflichtigen Versicherungsnehmer. Die Verjährung beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem die Verjährung des Schadensersatzanspruchs gegen den ersatzpflichtigen Versicherungsnehmer beginnt; sie endet jedoch spätestens nach zehn Jahren von dem Eintritt des Schadens an. Ist der Anspruch des Dritten bei dem Versicherer angemeldet worden, ist die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt gehemmt, zu dem die Entscheidung des Versicherers dem Anspruchsteller in Textform zugeht. Die Hemmung, die Ablaufhemmung und der Neubeginn der Verjährung des Anspruchs gegen den Versicherer wirken auch gegenüber dem ersatzpflichtigen Versicherungsnehmer und umgekehrt. § 116 VVG Gesamtschuldner (1) Im Verhältnis der Gesamtschuldner nach § 115 Abs. 1 Satz 4 zueinander ist der Versicherer allein verpflichtet, soweit er dem Versicherungsnehmer aus dem Versicherungsverhältnis zur Leistung verpflichtet ist. Soweit eine solche Verpflichtung nicht besteht, ist in ihrem Verhältnis zueinander der Versicherungsnehmer allein verpflichtet. Der Versicherer kann Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er den Umständen nach für erforderlich halten durfte. (2) Die Verjährung der sich aus Abs. 1 ergebenden Ansprüche beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch des Dritten erfüllt wird. § 117 VVG Leistungspflicht gegenüber Dritten (1) Ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung dem Versicherungsnehmer gegenüber ganz oder teilweise frei, so bleibt gleichwohl seine Verpflichtung in Ansehung des Dritten bestehen. (2) Ein Umstand, der das Nichtbestehen oder die Beendigung des Versicherungsverhältnisses zur Folge hat, wirkt in Ansehung des Dritten erst mit dem Ablauf eines Monats, nachdem der Versicherer diesen Umstand der hierfür zuständigen Stelle angezeigt hat. Dies gilt auch, wenn das Versicherungsverhältnis durch Zeitablauf endet. Der Lauf der Frist beginnt nicht vor Beendigung des Versicherungsverhältnisses. Ein in den Sätzen 1 und 2 bezeichneter Umstand kann dem Dritten auch dann entgegengehalten werden, wenn vor dem Zeitpunkt des Schadensereignisses der

442 | Greger

Haftung des Haftpflichtversicherers | § 15 hierfür zuständigen Stelle die Bestätigung einer entsprechend den Rechtsvorschriften abgeschlossenen neuen Versicherung zugegangen ist. Die vorstehenden Vorschriften dieses Absatzes gelten nicht, wenn eine zur Entgegennahme der Anzeige nach Satz 1 zuständige Stelle nicht bestimmt ist. (3) In den Fällen der Abs. 1 und 2 ist der Versicherer nur im Rahmen der vorgeschriebenen Mindestversicherungssumme und der von ihm übernommenen Gefahr zur Leistung verpflichtet. Er ist leistungsfrei, soweit der Dritte Ersatz seines Schadens von einem anderen Schadensversicherer oder von einem Sozialversicherungsträger erlangen kann. (4) Trifft die Leistungspflicht des Versicherers nach Abs. 1 oder Abs. 2 mit einer Ersatzpflicht auf Grund fahrlässiger Amtspflichtverletzung zusammen, wird die Ersatzpflicht nach § 839 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Verhältnis zum Versicherer nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Voraussetzungen für die Leistungspflicht des Versicherers vorliegen. Satz 1 gilt nicht, wenn der Beamte nach § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuchs persönlich haftet. (5) Soweit der Versicherer den Dritten nach den Abs. 1 bis 4 befriedigt und ein Fall des § 116 nicht vorliegt, geht die Forderung des Dritten gegen den Versicherungsnehmer auf ihn über. Der Übergang kann nicht zum Nachteil des Dritten geltend gemacht werden. (6) Wird über das Vermögen des Versicherers das Insolvenzverfahren eröffnet, endet das Versicherungsverhältnis abweichend von § 16 erst mit dem Ablauf eines Monats, nachdem der Insolvenzverwalter diesen Umstand der hierfür zuständigen Stelle angezeigt hat; bis zu diesem Zeitpunkt bleibt es der Insolvenzmasse gegenüber wirksam. Ist eine zur Entgegennahme der Anzeige nach Satz 1 zuständige Stelle nicht bestimmt, endet das Versicherungsverhältnis einen Monat nach der Benachrichtigung des Versicherungsnehmers von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens; die Benachrichtigung bedarf der Textform. § 118 VVG Rangfolge mehrerer Ansprüche (1) Übersteigen die Ansprüche auf Entschädigung, die auf Grund desselben Schadensereignisses zu leisten ist, die Versicherungssumme, wird die Versicherungssumme nach folgender Rangfolge, bei gleichem Rang nach dem Verhältnis ihrer Beträge, an die Ersatzberechtigten ausgezahlt: 1. für Ansprüche wegen Personenschäden, soweit die Geschädigten nicht vom Schädiger, von einem anderen Versicherer als dessen Haftpflichtversicherer, einem Sozialversicherungsträger oder einem sonstigen Dritten Ersatz ihrer Schäden erlangen können; 2. für Ansprüche wegen sonstiger Schäden natürlicher und juristischer Personen des Privatrechts, soweit die Geschädigten nicht vom Schädiger, einem anderen Versicherer als dessen Haftpflichtversicherer oder einem Dritten Ersatz ihrer Schäden erlangen können; 3. für Ansprüche, die nach Privatrecht auf Versicherer oder sonstige Dritte wegen Personenund sonstiger Schäden übergegangen sind; 4. für Ansprüche, die auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind; 5. für alle sonstigen Ansprüche. (2) Ist die Versicherungssumme unter Berücksichtigung nachrangiger Ansprüche erschöpft, kann sich ein vorrangig zu befriedigender Anspruchsberechtigter, der bei der Verteilung nicht berücksichtigt worden ist, nachträglich auf Abs. 1 nicht berufen, wenn der Versicherer mit der Geltendmachung dieses Anspruchs nicht gerechnet hat und auch nicht rechnen musste. § 119 VVG Obliegenheiten des Dritten (1) Der Dritte hat ein Schadensereignis, aus dem er einen Anspruch gegen den Versicherungsnehmer oder nach § 115 Abs. 1 gegen den Versicherer herleiten will, dem Versicherer innerhalb von zwei Wochen, nachdem er von dem Schadensereignis Kenntnis erlangt hat, in Textform anzuzeigen; zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung.

Greger | 443

§ 15 Rz. 15.1 | Haftung des Haftpflichtversicherers (2) Macht der Dritte den Anspruch gegen den Versicherungsnehmer gerichtlich geltend, hat er dies dem Versicherer unverzüglich in Textform anzuzeigen. (3) Der Versicherer kann von dem Dritten Auskunft verlangen, soweit sie zur Feststellung des Schadensereignisses und der Höhe des Schadens erforderlich ist. Belege kann der Versicherer insoweit verlangen, als deren Beschaffung dem Dritten billigerweise zugemutet werden kann. § 120 VVG Obliegenheitsverletzung des Dritten Verletzt der Dritte schuldhaft die Obliegenheit nach § 119 Abs. 2 oder 3, beschränkt sich die Haftung des Versicherers nach den §§ 115 und 117 auf den Betrag, den er auch bei gehöriger Erfüllung der Obliegenheit zu leisten gehabt hätte, sofern der Dritte vorher ausdrücklich und in Textform auf die Folgen der Verletzung hingewiesen worden ist. § 121 VVG Aufrechnung gegenüber Dritten § 35 ist gegenüber Dritten nicht anzuwenden. § 124 VVG Rechtskrafterstreckung (1) Soweit durch rechtskräftiges Urteil festgestellt wird, dass dem Dritten ein Anspruch auf Ersatz des Schadens nicht zusteht, wirkt das Urteil, wenn es zwischen dem Dritten und dem Versicherer ergeht, auch zugunsten des Versicherungsnehmers, wenn es zwischen dem Dritten und dem Versicherungsnehmer ergeht, auch zugunsten des Versicherers. (2) Ist der Anspruch des Dritten gegenüber dem Versicherer durch rechtskräftiges Urteil, Anerkenntnis oder Vergleich festgestellt worden, muss der Versicherungsnehmer, gegen den von dem Versicherer Ansprüche auf Grund des § 116 Abs. 1 Satz 2 geltend gemacht werden, diese Feststellung gegen sich gelten lassen, es sei denn, der Versicherer hat die Pflicht zur Abwehr unbegründeter Entschädigungsansprüche sowie zur Minderung oder zur sachgemäßen Feststellung des Schadens schuldhaft verletzt. (3) Die Abs. 1 und 2 sind nicht anzuwenden, soweit der Dritte seinen Anspruch auf Schadensersatz nicht nach § 115 Abs. 1 gegen den Versicherer geltend machen kann. § 3 PflVG Ist der Versicherer gegenüber dem Versicherungsnehmer nicht zur Leistung verpflichtet, weil das Fahrzeug den Bau- und Betriebsvorschriften der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung nicht entsprach oder von einem unberechtigten Fahrer oder von einem Fahrer ohne die vorgeschriebene Fahrerlaubnis geführt wurde, kann der Versicherer den Dritten abweichend von § 117 Abs. 3 Satz 2 des Versicherungsvertragsgesetzes nicht auf die Möglichkeit verweisen, Ersatz seines Schadens von einem anderen Schadensversicherer oder von einem Sozialversicherungsträger zu erlangen. Soweit der Dritte jedoch von einem nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 von der Versicherungspflicht befreiten Fahrzeughalter Ersatz seines Schadens erlangen kann, entfällt die Leistungspflicht des Versicherers.

I. Rechtliche Einordnung des Direktanspruchs 15.1

Das Bestehen einer Haftpflichtversicherung ändert grundsätzlich nichts daran, dass der Geschädigte seine Ansprüche gegen den Schädiger zu richten hat; der Versicherer ist lediglich diesem gegenüber durch den Versicherungsvertrag verpflichtet, ihn von den Ansprüchen des Geschädigten freizustellen und unbegründete Ansprüche abzuwehren (§ 100 VVG). Für den bei der Verkehrsunfallhaftung bedeutsamsten Fall der Kfz-Haftpflichtversicherung wurde die Rechtsstellung des Geschädigten jedoch durch das PflVG von 1965 dadurch gestärkt, dass er 444 | Greger

II. Voraussetzungen des Direktanspruchs | Rz. 15.4 § 15

den Kfz-Haftpflichtversicherer im Wege eines Direktanspruchs unmittelbar in Anspruch nehmen kann. Bis zu dieser Neuregelung war der Geschädigte bei Scheitern außergerichtlicher Regulierungsverhandlungen mit dem Versicherer gezwungen, zunächst den Schädiger zu verklagen und gegen den zahlungsunwilligen Versicherer nach Pfändung und Überweisung des Deckungsanspruchs einen weiteren Prozess zu führen. Dieser Weg steht dem Geschädigten zwar nach wie vor offen. Er hat für ihn jedoch neben der Unannehmlichkeit, u.U. zwei Prozesse führen zu müssen, den Nachteil, dass bei etwaiger Leistungsfreiheit des Versicherers gegenüber dem Ersatzpflichtigen ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss gegenüber dem Versicherer ins Leere ginge. Dem seit 1.1.2008 (ohne wesentliche inhaltliche Änderung) in § 115 VVG geregelten Direktanspruch kann der Versicherer grundsätzlich nicht entgegenhalten, dass er dem Schädiger gegenüber nicht zur Leistung verpflichtet ist (§ 117 Abs. 1 VVG; Einzelheiten Rz. 15.43 ff.). Der Direktanspruch nach § 115 VVG ist kein vertraglicher Anspruch, wenngleich der Versicherungsvertrag für sein Bestehen und für seinen Umfang von entscheidender Bedeutung ist. Es handelt sich vielmehr um einen gesetzlich angeordneten Schuldbeitritt, der den Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger lediglich zu seiner leichteren und sichereren Durchsetzung verstärken soll, indem er dem Geschädigten in der Person des Versicherers einen weiteren Schuldner gibt.1 Er ist somit als bloßer Annex zum Haftpflichtanspruch überwiegend deliktischer Natur und akzessorisch, d.h. vom Bestand des Haftpflichtanspruchs abhängig.

15.2

Zu den Problemen, die das Nebeneinander von Direktanspruch und Anspruch gegen den oder die Ersatzpflichtigen aufwirft, s. Rz. 15.21 ff.; zum Einfluss des Angehörigenprivilegs bei Leistungen des Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgers s. Rz. 15.26, 35.80, 36.25; zu den Fragen, die den Umfang des Anspruchs betreffen, s. Rz. 15.17 ff.; zum Einfluss von Teilungsabkommen mit Sozialversicherern auf die Haftung des Haftpflichtversicherers s. Rz. 15.55 ff.; zur Inanspruchnahme des Versicherers bei Unfällen mit Ausländern oder im Ausland s. Rz. 2.7 ff.; zum Erwecken des Anscheins seiner Regulierungszuständigkeit s. Rz. 15.45. Kann ein Verkehrsopfer aus bestimmten Gründen keinen Anspruch gegen einen Haftpflichtversicherer geltend machen, greift u.U. der Entschädigungsfonds nach § 12 PflVG ein (s. Rz. 15.72 ff.). Zum Regress des Haftpflichtversicherers s. Rz. 38.16 ff.

15.3

II. Voraussetzungen des Direktanspruchs 1. Sachlicher Geltungsbereich § 115 VVG gewährt den Direktanspruch nur, wenn der Schädiger der Pflichtversicherung nach § 1 PflVG unterliegt, d.h. Halter eines Kfz oder Anhängers mit regelmäßigem Standort in Deutschland ist. Als Kfz gelten auch Elektrokleinstfahrzeuge wie E-Scooter (s. Rz. 3.14, 3.16), elektromotorisch unterstützte Fahrräder nur dann, wenn sie nicht die Kriterien des § 1 Abs. 3 StVG erfüllen.2 Ansprüche gegen andere Unfallverursacher (z.B. Fußgänger, Radfahrer, Fahrer von E-Bikes i.S.v. § 1 Abs. 3 StVG,3 Verkehrssicherungs- oder Aufsichtspflichtige) 1 BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 97/70, BGHZ 57, 265, 269; BGH v. 3.5.1977 – VI ZR 50/76, BGHZ 69, 153, 157. 2 Berechtigte Bedenken gegen die Ausnahme der E-Bikes von der Versicherungspflicht bei Koch NJW 2020, 183, 188. 3 Dazu Koch NJW 2020, 183, 186: kein Ausschluss wegen „ungewöhnlicher und gefährlicher Beschäftigung“.

Greger | 445

15.4

§ 15 Rz. 15.4 | Haftung des Haftpflichtversicherers

kann der Geschädigte auch bei Bestehen einer freiwillig abgeschlossenen Haftpflichtversicherung nur gegenüber dem Schädiger geltend machen (der allerdings mit Vollmacht gem. Nr. 5 AHB vom Versicherer außergerichtlich und gerichtlich vertreten wird). Gegen den Versicherer direkt kann er in diesen Fällen nur bei Insolvenz oder unbekanntem Aufenthalt des Versicherungsnehmers vorgehen (§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 VVG), ansonsten lediglich infolge einer Abtretung oder im Wege der Zwangsvollstreckung gegen den Haftpflichtigen durch Pfändung und Überweisung des Deckungsanspruchs. – Die nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 PflVG von der Versicherungspflicht befreiten Gebietskörperschaften und juristischen Personen haften selbst wie ein Haftpflichtversicherer (§ 2 Abs. 2 PflVG). Haben sie jedoch eine Kfz-Haftpflichtversicherung abgeschlossen, kann ein Geschädigter diese auch im Wege der Direktklage in Anspruch nehmen.4

15.5

Die Direktklage tritt nur neben solche Schadensersatzansprüche, die von der Kfz-Haftpflichtversicherung umfasst werden. Der Schaden muss demnach durch den Gebrauch des versicherten Fahrzeugs durch den Versicherungsnehmer oder eine mitversicherte Person entstanden sein,5 gleich ob innerhalb oder außerhalb öffentlichen Verkehrsraums.6 Der Begriff des „Gebrauchs“ geht über den des „Betriebs“ i.S.v. § 7 StVG hinaus; so ist z.B. das Entladen eines Tanklastzugs mittels einer auf ihm befindlichen Pumpe noch dem Gebrauch des Fahrzeugs zuzurechnen.7 Gedeckt sind jedoch nur solche Gefahren, die (noch) mit der Transportfunktion des Kfz zusammenhängen8 und nicht nur gelegentlich des Gebrauchs des Kfz entstanden sind, also entweder vom Kfz selbst oder von einer mit dem Kfz-Gebrauch typischer Weise verbundenen Tätigkeit ausgehen.9 Darunter fällt z.B. nicht der Unfall des ausgestiegenen Fahrers beim Überschreiten der Straße, wenn der eigentliche Aussteigevorgang beendet war und der Gang über die Straße nicht in Zusammenhang mit den Pflichten eines Kraftfahrers stand,10 oder der Unfall eines Fußgängers, der über eine breite Straße einem wartenden Taxi zustrebt.11 War der Fahrer dagegen ausgestiegen, um sich nach dem Weg zu erkundigen12 oder einen Defekt des Kfz zu beheben,13 wollte er zum Zweck von Unfallhilfe oder -aufnahme den Verkehr anhalten14 oder rollte der Einkaufswagen beim Umladen gegen ein anderes Fahrzeug,15 ist Verursachung durch den Gebrauch zu bejahen. Das Öffnen der Fahrzeugtür 4 BGH v. 17.2.1987 – VI ZR 75/86, NJW 1987, 2375. 5 Übersicht bei Staab DAR 2011, 181 ff.; auch zur Abgrenzung von der Allgemeinen Haftpflichtversicherung. 6 EuGH v. 4.9.2014 – C-162/13, NJW 2014, 3631; EuGH v. 20.12.2017 – C-334/16, NJW 2018, 285. § 2 Abs. 1 KfzPflVV geht insoweit über § 1 PflVG hinaus. Die aus der dortigen Definition der Versicherungspflicht hergeleiteten Bedenken gegen das Bestehen des Direktanspruchs (s. BHHJ/Burmann, § 115 VVG Rz. 13; Stiefel/Maier/Jahnke § 115 VVG Rz. 91 m.w.N.) erscheinen daher unbegründet. Den Direktanspruch in solchen Fällen bejahend z.B. BGH v. 21.1.2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377; OLG Hamm v. 19.2.2019 – 9 U 192/17, NJW-RR 2019, 666. 7 BGH v. 26.6.1979 – VI ZR 122/78, BGHZ 75, 45; BGH v. 8.12.2015 – VI ZR 139/15, BGHZ 208, 140. 8 Von EuGH v. 28.11.2017 – C-514/16, DAR 2018,16 mit Anm. Schwab verneint für lediglich zum Antrieb einer Pumpe verwendeten Traktor. 9 BGH v. 10.7.1980 – IVa ZR 17/80, BGHZ 78, 52, 55. 10 BGH v. 10.7.1980 – IVa ZR 17/80, BGHZ 78, 52, 56. 11 BGH v. 9.12.1981 – IVa ZR 222/80, VersR 1982, 281. 12 Stiefel/Maier A.1.1 AKB 2015 Rz. 39; a.A. LG Köln v. 24.3.1999 – 19 S 301/98, NZV 1999, 476. 13 BGH v. 10.7.1980 – IVa ZR 17/80, BGHZ 78, 52, 56. 14 OLG Hamm v. 16.8.1999 – 6 U 227/98, NZV 1999, 469, 470. 15 AG Bamberg v. 25.10.1990 – 1 C 1400/90, VersR 1992, 1460; a.A. LG Kassel v. 16.1.2003 – 1 S 402/02, ZfS 2003, 301 mit Anm. Rixecker; AG Bad Homburg v. 21.1.1992 – 2 C 2605/91, NJW-

446 | Greger

II. Voraussetzungen des Direktanspruchs | Rz. 15.6 § 15

durch einen Beifahrer begründet für den Anspruch gegen den Halter aus § 7 Abs. 1 StVG16 ebenfalls die Direkthaftung des Haftpflichtversicherers, und zwar auch auf einem privaten Parkplatz.17 Nach sehr weitgehender, aber verbindlicher Auslegung von Art. 3 der Richtlinie über die Kfz-Haftpflichtversicherung18 durch den EuGH ist auch die Standzeit des geparkten Kfz als Bestandteil der Verwendung des Fahrzeugs als Beförderungsmittel anzusehen, so dass sogar die Selbstentzündung eines seit 24 Stunden in einer Parkgarage abgestellten Pkw den Direktanspruch auslöst.19 Auch die Kollision eines Fluchtfahrzeugs mit dem zum Stoppen eingesetzten Polizeifahrzeug ist dem Gebrauch des Ersteren zuzurechnen.20 Die Versicherungspflicht nach § 1 PflVG gilt auch für Kfz-Anhänger (zur Gefährdungshaftung des Anhängerhalters s. Rz. 3.24 ff.). Ist an dem Unfall ein Zugfahrzeug mit Anhänger (Gespann) beteiligt, kann sich der Geschädigte bei unterschiedlichen Versicherungsverhältnissen an jeden der Haftpflichtversicherer halten. Für das Gespann in seiner Gesamtheit besteht eine Mehrfachversicherung i.S.v. § 78 VVG.21 Die Haftpflichtversicherer haften demnach gegenüber dem Geschädigten als Gesamtschuldner, im Innenverhältnis nach einer fragwürdigen Entscheidung des BGH grundsätzlich zu gleichen Anteilen,22 woran eine Subsidiaritätsvereinbarung des einen Haftpflichtversicherers mit seinem Versicherungsnehmer nichts zu ändern vermochte.23 Diese zu Verzerrungen beim Versicherungsschutz24 führende Rechtsprechung hat der Gesetzgeber m.W.v. 17.7.2020 durch Einfügung von § 78 Abs. 3 VVG dahingehend geändert, dass – wie beim Ausgleich nach § 426 BGB, § 19 Abs. 4 StVG – grundsätzlich den Halter des Zugfahrzeugs die volle Haftung treffen soll. Nur wenn sich durch den Anhänger, nicht dessen bloßes Ziehen, eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein, soll die Verpflichtung zum Ausgleich davon abhängen, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem Zugfahrzeug oder dem Anhänger verursacht worden ist. Ob die Neuregelung auch für Unfälle vor 17.7.2020 gilt, ist unklar, weil das Gesetz v. 10.7.2020 (BGBl I 1653) keine Übergangsbestimmung enthält. Damit würde die Neuregelung auch für die Abwicklung von Schadensregressen aus früheren Unfällen gelten. Man wird die Verweisung auf § 19 Abs. 4 StVG aber auf § 65 Abs. 6 StVG erstrecken können, der für den Ausgleich zwischen den Haltern die Anwendung der neuen Regeln auf Altunfälle ausschließt. Der Gleichlauf des Ausgleichs zwischen den Haltern und den Versicherern dürfte dem gesetzgeberischen Willen entsprechen.

16 17 18 19 20 21 22

23 24

RR 1992, 538. S. auch AG Lünen v. 28.6.1993 – 8 C 132/93, NJW-RR 1994, 26 (Wegrollen nach Abschluss der Beladung nicht mehr beim Gebrauch); LG Limburg v. 21.7.1993 – 3 S 263/92, NJW-RR 1994, 486 (ebenso vor Beginn der Beladung). Zum fehlenden Versicherungsschutz des Beifahrers selbst s. Rz. 15.8. EuGH v. 15.11.2018 – C-648/17, r+s 2019, 452 mit Anm. Maier. S. auch Rz. 15.5. Richtlinie 2009/103/EG v. 16.9.2009, ABl L 263 v. 7.10.2009, S. 11: „use of vehicles“ (die deutsche Übersetzung spricht nur von „Haftpflicht bei Fahrzeugen“). EuGH v. 20.6.2019 – C-100/18, VersR 2019, 1008. BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 43/11, NJW 2012, 1951. BGH v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08, BGHZ 187, 211; BGH v. 4.7.2018 – IV ZR 121/17, NJW 2018, 2958; Stahl/Jahnke NZV 2010, 57. BGH v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08, BGHZ 187, 211; OLG Celle v. 30.4.2013 – 14 U 191/12, MDR 2013, 775; Wilms DAR 2011, 71 ff.; krit. Langenick NZV 2011, 577 ff. u. NZV 2014, 57 ff. Rechenbeispiele für die Haftungsverteilung in besonderen Konstellationen Stahl/Jahnke NZV 2010, 57, 61 f. Zur Situation bei Leistungsfreiheit eines der Versicherer Schwab VersR 2016, 221. Zu internationalen Gespannunfällen s. Rz. 2.17; Luckhaupt NZV 2016, 497 ff. (auf der Basis des bisherigen Rechts). BGH v. 4.7.2018 – IV ZR 121/17, NJW 2018, 2958 mit Anm. Ebers. S. dazu BT-Drs. 19/17964, 8 f.

Greger | 447

15.6

§ 15 Rz. 15.7 | Haftung des Haftpflichtversicherers

15.7

Bei dem Ersatzanspruch muss es sich nicht um einen solchen aus Delikt oder Gefährdungshaftung handeln; auch vertragliche Schadensersatzansprüche (nicht: Erfüllungsansprüche) kommen in Betracht.25 Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag eröffnen die Direktklage nur dann, wenn es sich um Aufwendungsersatz mit schadensersatzähnlichem Charakter handelt. Dies ist z.B. der Fall, wenn sich jemand im Interesse des Verunglückten aufopfert und dabei selbst zu Schaden kommt26 (vgl. Rz. 17.6 ff.) oder wenn die Autobahnmeisterei in Erfüllung gesetzlicher Pflichten Sicherungs- und Absperrmaßnahmen vornimmt.27 Dagegen kommt § 115 VVG nicht demjenigen zugute, der reinen Aufwendungsersatz für ein Geschäft verlangt, das er für den Verunglückten geführt hat.28 Öffentlich-rechtliche Ansprüche (z.B. aus polizeirechtlicher Störerhaftung29 oder Kostenerhebung für Feuerwehreinsatz30) fallen nicht unter § 115 VVG (vgl. dazu Rz. 17.16; zur Amtshaftung Rz. 15.8). Aufwendungen, die zur Verhütung eines aus dem Unfall drohenden größeren Schadens gemacht werden, sind ggf. als Rettungskosten (§ 83 i.V.m. § 82 Abs. 1 VVG) vom Versicherer zu ersetzen.31

15.8

Der Ersatzanspruch muss sich gegen den Versicherungsnehmer oder eine mitversicherte Person richten. Ist der Versicherungsvertrag unwirksam oder beendet, kann es gleichwohl zu einer Haftung des Versicherers gegenüber dem Geschädigten kommen, wenn die Anzeige gegenüber der Zulassungsstelle nach § 117 Abs. 2 VVG unterblieben ist oder die dort genannte Nachhaftungsfrist zum Unfallzeitpunkt noch nicht abgelaufen war.32 Der Kreis der mitversicherten Personen ist in A.1.2 AKB 2015 geregelt. Tritt an die Stelle einer solchen Person infolge der Haftungsverlagerung nach Art. 34 S. 1 GG ein öffentlich-rechtlicher Dienstherr, so ist auch er als Mitversicherter anzusehen.33 Der Fahrer ist auch dann mitversichert, wenn er das Kfz unberechtigt führt, z.B. als Dieb.34 Beifahrer sind nur unter den Voraussetzungen von A.1.2 lit. d AKB 2015 mitversichert, d.h. wenn sie den berechtigten Fahrer im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses zu seiner Ablösung oder zur Vornahme von Lade- und Hilfsarbeiten nicht nur gelegentlich begleiten.35 Sonstige Mitfahrer sind nicht mitversichert, ebenso wenig Begleitpersonen im Rahmen des „Begleiteten Fahrens ab 17“ (§ 6e StVG), sofern sie nicht durch ausdrückliche Vereinbarung in den Versicherungsschutz einbezogen sind.36 Bei fehlendem Versicherungsschutz sind sie ggf. dem Rückgriff des Haftpflichtversicherers nach § 86 VVG ausgesetzt, wenn dieser für den mithaftenden Fahrer oder Halter eingetreten ist; allenfalls bei Bejahung eines Freistellungsanspruchs gegenüber dem Versicherten37 können sie dem entgehen (näher Rz. 15.41). Für nicht von der Kfz-Haftpflichtversicherung umfasste Mitfahrer tritt, soweit vorhanden, die private Haftpflichtversicherung ein.38 25 OLG Saarbrücken v. 17.7.1997 – 3 U 324/96-54, NZV 1998, 246 (Fahrschulvertrag); Stiefel/Maier A.1 AKB 2015 Rz. 6. 26 OLG Koblenz v. 24.6.1970 – 4 U 621/69, VersR 1971, 359; Stiefel/Maier A.1 AKB 2015 Rz. 7 m.w.N. 27 BGH v. 28.9.2011 – IV ZR 294/10, NZV 2012, 34; KG v. 8.7.2015 – 29 U 43/14, VersR 2016, 340. 28 BGH v. 4.7.1978 – VI ZR 95/77, BGHZ 72, 151: Ölschadendienst beseitigt übergelaufenes Öl. 29 OLG Nürnberg v. 5.8.1999 – 8 U 875/98, VersR 2000, 965, 966 (auch zum Konkurrenzproblem). 30 BGH v. 20.12.2006 – IV ZR 325/05, NJW 2007, 1205; VG Regensburg v. 16.1.2001 – RO – 11 K 99.2286, VersR 2001, 1274 mit Anm. Troidl. 31 BGH v. 20.12.2006 – IV ZR 325/05, NJW 2007, 1205; a.A. Schwab DAR 2015, 570, 572. 32 Näher dazu Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 9 ff.; Skauradszun VersR 2009, 330 f. 33 BGH v. 15.2.2001 – III ZR 120/00, BGHZ 146, 385; a.A. E. Lorenz VersR 2000, 1410. 34 BGH v. 27.2.2018 – VI ZR 109/17, NJW 2018, 1756 mit Anm. Jaeger. 35 Stiefel/Maier A.1 AKB 2015 Rz. 158. 36 Stiefel/Maier/Jahnke § 1 PflVG Rz. 27; Sapp NJW 2006, 408, 410. 37 Für die Begleitperson nach § 48a FeV bejaht von Sapp NJW 2006, 408, 410. 38 Stiefel/Maier A.1 AKB 2015 Rz. 157.

448 | Greger

II. Voraussetzungen des Direktanspruchs | Rz. 15.12 § 15

Auch Rückgriffsansprüche fallen grundsätzlich unter den Geltungsbereich des § 115 VVG, wie z.B. der Anspruch des Sozialversicherungsträgers nach § 110 SGB VII.39 Dagegen kann ein Mitschädiger, der als Gesamtschuldner in Anspruch genommen wurde, den Ausgleich nach § 426 BGB nicht im Wege der Direktklage geltend machen; die über die im Innenverhältnis zu tragende Haftungsquote hinausgehende Belastung mit dem Anspruch des Geschädigten ist kein Schaden i.S.d. § 115 VVG.40 Es bleibt hier nur der Weg über die Inanspruchnahme des Versicherten und die Abtretung oder Pfändung seines Deckungsanspruchs.

15.9

Kosten eines Vorprozesses gegen den Schädiger werden vom Anspruch gegen den Versicherer nicht umfasst.41

15.10

2. Persönlicher Geltungsbereich Die Vorschriften über die Direktklage gelten nach § 115 Abs. 1 S. 1 VVG für geschädigte Dritte. Dazu gehört auch der beim Gebrauch seines eigenen Kfz durch einen Mitversicherten geschädigte Halter.42 Dieser kann daher den eigenen Haftpflichtversicherer in Anspruch nehmen, nach A.1.5.6 AKB 2015 allerdings nur für Personenschäden43 und nur bei deliktischer Haftung (s. Rz. 21.9, 21.17). Für andere Versicherte (s. A.1.2 AKB 2015) gilt dies ebenso.44 Ist der Versicherer wegen gestörten Versicherungsverhältnisses leistungsfrei und könnte der Versicherer deshalb beim Halter Regress nehmen, steht der Direktklage jedoch die Einrede der Arglist (§ 242 BGB) entgegen.45 Dabei sind Beschränkungen der Leistungsfreiheit (§ 5 KfzPflVV) zu beachten; auch bei Obliegenheitsverletzungen ist die Direktklage daher nur in Höhe der Leistungsfreiheit ausgeschlossen.46 Den Einwand aus § 242 BGB kann der Versicherer auch einem Beifahrer entgegenhalten, der beim Gebrauch eines gemeinsam mit dem Fahrer entwendeten Kfz verletzt wird.47

15.11

Der Fahrer ist Dritter, soweit ihm nach dem Versicherungsvertrag ein Schadensersatzanspruch gegen den Versicherungsnehmer zusteht,48 nicht aber bzgl. eines Rückgriffs- oder Freistellungsanspruchs gegen diesen.49 Auch der Arbeitgeber, der vom Arbeitnehmer durch das Führen eines Kraftfahrzeugs geschädigt wird, ohne dessen Halter zu sein, kann vom Versicherer des Fahrzeugs Deckung verlangen50 (zum Ausschluss der Haftungsprivilegierung des Arbeit-

15.12

39 BGH v. 21.12,1971 – VI ZR 137/70, VersR 1972, 271; OLG Nürnberg v. 15.7.1992 – 4 U 2952/91, VersR 1993, 1425; Stiefel/Maier/Jahnke § 115 VVG Rz. 19. 40 BGH v. 1.7.2008 – VI ZR 188/07, BGHZ 177, 141; BGH v. 27.7.2010 – VI ZB 49/08, NZV 2010, 560; Prölss/Martin/Klimke § 115 VVG Rz. 5; a.A. (bei intaktem Versicherungsverhältnis) OLG Köln v. 6.3.1972 – 8 U 17/71, VersR 1972, 651. 41 BGH v. 3.5.1977 – VI ZR 50/76, BGHZ 69, 153. 42 EuGH v. 14.9.2017 – C-503/16, NJW 2018, 139; s. auch BGH v. 10.6.1986 – VI ZR 113/85, VersR 1986, 1010 mit Anm. Bauer. 43 BGH v. 25.6.2008 – IV ZR 313/06, NZV 2008, 509. 44 BGH v. 27.2.2018 – VI ZR 109/17, NJW 2018, 1756 mit Anm. Jaeger. 45 BGH v. 10.6.1986 – VI ZR 113/85, VersR 1986, 1010 mit Anm. Bauer; OLG Stuttgart v. 5.5.1994 – 7 U 8/93, NZV 1995, 31. 46 BGH v. 4.10.1995 – IV ZR 172/94, NZV 1996, 29 (zum Regressverzicht auf Grund geschäftsplanmäßiger Erklärung). 47 BGH v. 27.2.2018 – VI ZR 109/17, NJW 2018, 1756 mit Anm. Jaeger, auch zur unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einrede. 48 Prölss/Martin/Klimke § 115 VVG Rz. 3. 49 BGH v. 20.1.1971 – IV ZR 42/69, BGHZ 55, 281. 50 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, BGHZ 116, 200 = VersR 1992, 437.

Greger | 449

§ 15 Rz. 15.12 | Haftung des Haftpflichtversicherers

nehmers in diesen Fällen s. Rz. 22.73); ebenso der durch Verschulden des Fahrschülers verletzte Fahrlehrer.51 Der Eigentümer eines Fahrzeugs, das beim Abschleppen beschädigt worden ist, kann den Haftpflichtversicherer des schleppenden Fahrzeugs dann nicht direkt in Anspruch nehmen, wenn schleppendes und abgeschlepptes Fahrzeug (ausnahmsweise; s. Rz. 3.103) eine Betriebseinheit bilden.52 Dasselbe gilt, wenn ein Anhänger durch Verschulden des Fahrers des ziehenden Fahrzeugs beschädigt wird (s. Rz. 21.15).53

15.13

Auch der Staat kann den Direktanspruch geltend machen. wenn ihm ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch aus Gebrauch eines Kfz zusteht, z.B. wegen Beseitigung einer Ölspur.54

3. Internationaler Geltungsbereich 15.14

Der Versicherungsschutz ist nach A.1.4.1 AKB 2015 auf Unfälle beschränkt, die sich in Europa oder im außereuropäischen Geltungsbereich des EG-Vertrags ereignen. Er kann durch Aushändigung einer weitere Gebiete umfassenden „Grünen Versicherungskarte“ vertraglich erweitert werden. Maßgeblich für die Zuordnung zu den Erdteilen ist die geographische Sicht;55 für die Erstreckung auf den asiatischen Teil der Türkei bedarf es daher einer besonderen Vereinbarung.56 Bei einem Unfall außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Versicherungsschutzes kann es jedoch dann zu einem Direktanspruch des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer kommen, wenn das Fehlen des Versicherungsschutzes auf eine fehlerhafte oder pflichtwidrig unterlassene Aufklärung des Versicherungsnehmers durch den Versicherungsagenten zurückzuführen ist. In diesem Fall kann der Versicherer aufgrund einer (verschuldensunabhängigen) Erfüllungshaftung als verpflichtet angesehen werden, den Versicherungsnehmer so zu stellen, wie er bei einem Versicherungsvertrag mit dem von ihm gewünschten Inhalt stehen würde; nach Ansicht des BGH führt dies dazu, dass auch der Geschädigte seinen dann bestehenden Direktanspruch geltend machen kann.57 Zum Direktanspruch bei Unfällen mit Ausländerbeteiligung s. Rz. 2.38, 2.43 ff.

4. Risikoausschlüsse 15.15

Ein Direktanspruch besteht nicht, soweit ein Risikoausschluss nach VVG oder AKB eingreift. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Unfall vorsätzlich herbeigeführt worden ist (§ 103 VVG).58 Bedingter Vorsatz (s. Rz. 10.52) reicht aus.59 Er muss den Unfall als solchen (also

51 52 53 54 55 56 57 58

59

OLG Stuttgart v. 17.12.1998 – 7 U 138/98, NZV 1999, 470, 472. BGH v. 11.7.1978 – VI ZR 138/76, VersR 1978, 1070. BGH v. 18.12.1980 – IVa ZR 49/80, VersR 1981, 322. BGH v. 15.10.2013 – VI ZR 471/12, VersR 2013, 1544; a.A. Borchardt/Schwab DAR 2014, 75, 80; Schwab DAR 2015, 570, 574. BGH v. 4.7.1989 – VI ZR 217/88, BGHZ 108, 200. Einzelheiten BGH v. 28.10.1992 – IV ZR 326/91, NZV 1993, 105. Zu Nord-Zypern s. BGH v. 4.7.1989 – VI ZR 217/88, BGHZ 108, 200. BGH v. 4.7.1989 – VI ZR 217/88, BGHZ 108, 200; zust. Spickhoff IPRax 1990, 164, 166. BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 97/69, NJW 1971, 459; BGH v. 18.12.2012 – VI ZR 55/12 Rz. 16, NJW 2013, 1163; OLG Nürnberg v. 7.6.2011 – 3 U 188/11, NZV 2011, 538; OLG München v. 19.1.1990 – 10 U 5353/89, VersR 1990, 484; OLG Düsseldorf v. 26.3.1993 – 14 U 229/92, NJWRR 1993, 1375; a.A. OLG Frankfurt v. 23.5.1996 – 12 U 125/95, VersR 1997, 224 mit abl. Anm. Langheid VersR 1997, 348 und E. Lorenz VersR 1997, 349. BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 97/69, NJW 1971, 459.

450 | Greger

III. Umfang des Anspruchs | Rz. 15.17 § 15

auch die Schadensfolgen, nicht nur das unfallursächliche Verhalten) umfassen,60 allerdings nicht alle Einzelheiten des konkreten Geschehensablaufs.61 Das Wissen und Wollen der Schadensherbeiführung muss der Versicherer beweisen.62 Beruft sich der Geschädigte auf eine den Vorsatz ausschließende tiefgreifende Bewusstseinsstörung des Versicherten, trägt er hierfür die Beweislast.63 Hat nur der Fahrer vorsätzlich gehandelt, bleibt die Direkthaftung des Versicherers für gegen den Halter gerichtete Ansprüche (etwa aus der Halterhaftung oder schuldhaft unterlassener Sicherung des Kraftfahrzeugs gegen unbefugte Benutzung) unberührt;64 u.U. können Ansprüche gegen den Entschädigungsfonds nach § 12 PflVG geltend gemacht werden (s. Rz. 15.72 ff.). – Ausgeschlossen ist ferner die Haftung für Schäden bei Rennveranstaltungen und dazu gehörenden Übungsfahrten (A.1.5.2 AKB 2015).65 – Zu weiteren Ausschlüssen, insbesondere für Schäden am versicherten Fahrzeug sowie an beförderten Sachen s. Rz. 22.13 sowie A.1.5.3 ff. AKB 2015).

5. Beweislast Für die Verteilung der Beweislast gelten hinsichtlich des Direktanspruchs dieselben Grundsätze wie für den Haftpflichtanspruch gegen den Schädiger.66 Wegen der Beweisproblematik beim Verdacht eines zum Zweck des Versicherungsbetrugs fingierten Unfalls s. Rz. 3.35 f., zur Situation bei Leistungsfreiheit s. Rz. 15.54.

15.16

III. Umfang des Anspruchs 1. Reguläre Begrenzung Der Direktanspruch ist einmal durch die Höhe des Ersatzanspruchs, zum anderen durch die Höhe der Versicherungssumme (A.1.3.1 AKB 2015) begrenzt. Bestehen Rentenansprüche, ist die Versicherungssumme regelmäßig dann nicht ausreichend, um alle Direktansprüche zu befriedigen, wenn nach Abzug der Kapitalzahlungen auf Ansprüche, die keine Rentenansprüche sind, die verbleibende Versicherungssumme geringer ist als die Summe der Kapitalisierungswerte aller Rentenleistungen. Für die Frage, wann die Deckungssumme überschritten wird, kommt es bei Rentenschulden nicht auf die Summe der gezahlten Renten, sondern auf den Kapitalwert67 der Renten an (§ 8 KfzPflVV). Der Versicherer hat also von jeder Rate den Teil zu decken, der zur vollen Rate im selben Verhältnis steht wie die Versicherungssumme zum Kapitalwert der Rente. Hatte er mehr gezahlt, so kann er den überschießenden Teil nicht mit künftigen Raten verrechnen; es kommt insofern allenfalls eine Rückforderung wegen

60 BGH v. 17.6.1998 – IV ZR 163/97, VersR 1998, 1011; OLG Bamberg v. 8.8.2006 – 5 U 247/04, NZV 2007, 237. Ebenso BT-Drucks. 16/3945, 85. 61 OLG Nürnberg v. 2.12.2004 – 2 U 2712/04, NZV 2005, 267. 62 S. hierzu Burmann/Jahnke DAR 2020, 128, 130. 63 BGH v. 20.6.1990 – IV ZR 298/89, BGHZ 111, 372 = VersR 1990, 888. 64 BGH v. 18.12.2012 – VI ZR 55/12, NJW 2013, 1163; BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, VersR 1981, 40; OLG Köln v. 1.7.1981 – 16 U 25/81, VersR 1982, 383; OLG Nürnberg v. 14.9.2000 – 8 U 1855/00, NZV 2001, 261 (auch bei Repräsentantenstellung); Lemcke ZfS 2002, 318, 327. 65 S. dazu BGH v. 1.4.2003 – VI ZR 321/02, VersR 2003, 775, 777. 66 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 206/75, BGHZ 71, 339. 67 Zur Berechnung des Kapitalwerts BGH v. 28.11.1979 – IV ZR 83/78, VersR 1980, 132 (berichtigt 279); BGH v. 12.6.1980 – IVa ZR 9/80, VersR 1980, 817; BGH v. 22.1.1986 – IVa ZR 65/84, NJW-RR 1986, 650.

Greger | 451

15.17

§ 15 Rz. 15.17 | Haftung des Haftpflichtversicherers

ungerechtfertigter Bereicherung in Betracht. Keinesfalls kann er zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Rentenzahlungen mit der Begründung einstellen, dass die Versicherungssumme erschöpft sei. Hat der Versicherer die verbindliche Zusage einer die Deckungssumme ausschöpfenden Schadensersatzrente erteilt, so kann der Geschädigte nicht die Erfüllung nachgeschobener Kapitalforderungen wegen weiteren Schadens verlangen.68

15.18

Reicht die Versicherungssumme bei mehreren Geschädigten nicht aus, um alle Ersatzansprüche zu decken, richtet sich die Rangfolge nach § 118 VVG. Nicht ausreichend ist die Versicherungssumme regelmäßig dann, wenn nach Abzug der Kapitalzahlungen auf Ansprüche, die keine Rentenansprüche sind, die verbleibende Versicherungssumme geringer ist als die Summe der Kapitalisierungswerte aller Rentenleistungen.69

15.19

Die Beschränkung auf die Versicherungssumme wird im Zivilprozess nicht von Amts wegen, sondern nur auf Einwendung beachtet;70 im Vollstreckungsverfahren kann sie nicht mehr geltend gemacht werden.71 Ein Anerkenntnis des Versicherers ist auch ohne ausdrückliche Beschränkung dahin zu verstehen, dass es nur im Rahmen der Leistungspflicht abgegeben wird.72 In einem Feststellungsurteil empfiehlt es sich, die Beschränkung der Haftung auf die Deckungssumme in den Tenor aufzunehmen.73 Sie kann sich jedoch auch aus den Entscheidungsgründen ergeben; deshalb ist ein Versicherer nicht allein deshalb beschwert, weil die geltend gemachte Beschränkung nicht im Tenor ausgesprochen wurde.74 Er kann aber Urteilsergänzung gem. § 321 ZPO beantragen.75

2. Begrenzung bei krankem Versicherungsverhältnis 15.20

Haftet der Versicherer dem Dritten trotz Leistungsfreiheit (§ 117 Abs. 1 VVG), so ist seine Haftung auf die Mindestversicherungssumme nach § 114 Abs. 1 VVG beschränkt (§ 117 Abs. 3 VVG; s. Rz. 15.48). Ist in einem solchen Fall in einem rechtskräftigen Feststellungsurteil die Haftung des Versicherers nicht ausdrücklich, d.h. im Tenor, auf die Mindestversicherungssumme beschränkt, so kann er sich auf diese Einschränkung nicht mehr berufen, sondern muss ggf. über diese Summe hinaus leisten.76

IV. Verhältnis zum Anspruch gegen den Versicherungsnehmer bzw. Versicherten 1. Gesamtschuld a) Allgemeines 15.21

Versicherer, Versicherungsnehmer und Versicherter haften als Gesamtschuldner (§ 115 Abs. 1 S. 4 VVG). Der Geschädigte hat also die Wahl, ob er nur einen von ihnen oder alle gemeinOLG Düsseldorf v. 26.1.1987 – 1 U 234/85, VersR 1988, 485. BGH v. 10.10.2006 – VI ZR 44/05, NJW 2007, 370. BGH v. 21.1.1986 – VI ZR 63/85, VersR 1986, 565. BGH v. 25.5.1982 – VI ZR 203/80, BGHZ 84, 151. BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 300/95, NZV 1996, 408, 409. BGH v. 22.9.1981 – VI ZR 170/80, VersR 1981, 1180; BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 300/95, NZV 1996, 408, 409. 74 BGH v. 21.1.1986 – VI ZR 63/85, VersR 1986, 565. 75 BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 300/95, NZV 1996, 408. 76 BGH v. 23.1.1979 – VI ZR 199/77, VersR 1979, 272.

68 69 70 71 72 73

452 | Greger

IV. Verhältnis zum Anspruch gegen den VN bzw. Versicherten | Rz. 15.26 § 15

sam in Anspruch nimmt. Da Kosten eines Vorprozesses gegen den Schädiger vom Versicherer nicht ersetzt werden (Rz. 15.10), ist es i.d.R. angezeigt, sogleich den Versicherer in Anspruch zu nehmen. Häufig wird der Schädiger zugleich mitverklagt, um nicht als Zeuge zur Verfügung zu stehen (zu den beweisrechtlichen Konsequenzen dieses Vorgehens s. Rz. 41.45). Auf das Gesamtschuldverhältnis sind die §§ 421 ff. BGB anzuwenden, soweit keine Sonderregelungen eingreifen (s. Rz. 15.22 ff.). Zum Regress des Haftpflichtversicherers gegen Versicherungsnehmer oder Versicherten s. Rz. 38.17 ff.; zum (nicht den Gesamtschuldregeln unterfallenden) Verhältnis zwischen Haftpflichtversicherer und außerhalb des Versicherungsverhältnisses stehenden Mitverantwortlichen s. Rz. 15.40.

b) Besonderheiten Der Versicherer hat nur Geldersatz zu leisten, auch wenn der Geschädigte vom Schädiger Naturalrestitution verlangt (§ 115 Abs. 1 S. 3 VVG).

15.22

Für den Anspruch des Dritten gegen den Versicherer gilt dieselbe Verjährungsfrist und derselbe Verjährungsbeginn wie für den Anspruch des Dritten gegen den Versicherungsnehmer (§ 115 Abs. 2 S. 1, 2 VVG). Abweichend hiervon endet die Verjährungsfrist für den Direktanspruch jedoch spätestens in zehn Jahren von dem Eintritt des Schadens77 an (§ 115 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 VVG). Hemmung, Ablaufhemmung und Neubeginn der Verjährung des Direktanspruchs wirken auch für den Haftpflichtanspruch und umgekehrt (§ 115 Abs. 2 S. 4 VVG). Auch die Zehn-Jahres-Frist unterliegt der Hemmung bzw dem Neubeginn;78 sie erfasst nicht den Anspruch gegen den Schädiger.79 Zur Verjährungshemmung durch Anmeldung des Direktanspruchs beim Versicherer (§ 115 Abs. 2 S. 3 VVG) s. Rz. 24.40 ff.

15.23

Ein Erlass der Forderung gegen den Schädiger wirkt nicht in jedem Falle auch zugunsten des Versicherers, sondern nur dann, wenn dies dem Willen der Vertragsschließenden entsprach (§ 423 BGB).80

15.24

Erlischt der Haftpflichtanspruch durch Konfusion, weil der Geschädigte Alleinerbe des Schädigers wird, bleibt der Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer unberührt.81

15.25

Hat der Geschädigte einen Schadensersatzanspruch gegen einen Familienangehörigen, der mit Leistungen eines Sozialversicherungsträgers kongruent ist, aber gem. § 116 Abs. 6 SGB X nicht auf diesen übergeht (s. Rz. 35.76 ff.), kann der Geschädigte nach dem für Schadensfälle bis 31.12.2020 geltenden Recht ungeachtet der erlangten Sozialleistungen den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Angehörigen geltend machen;82 haftet jedoch neben dem angehörigen Schädiger ein Fremdschädiger für denselben kongruenten Schaden, so ist der Anspruch des Geschädigten gegen den angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer

15.26

77 78 79 80

Entscheidend ist, wann der Schaden offenbar wurde; BT-Drucks. 16/5862 S 99. OLG Düsseldorf v. 17.4.1989 – 1 U 110/88, NZV 1990, 191. BGH v. 9.1.2007 – VI ZR 139/06, NZV 2007, 187. Österr. OGH VersR 1976, 1197 (Auslegungsfrage); a.A. OLG Köln v. 30.10.1968 – 2 U 44/68, VersR 1969, 1027; Prölss/Martin/Knappmann § 115 VVG Rz. 20 (Beschränkung auf Umfang des Versicherungsschutzes aber möglich). 81 OLG Hamm v. 16.6.1994 – 6 U 227/93, NZV 1995, 276; Prölss/Martin/Knappmann § 115 VVG Rz. 8. 82 BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, BGHZ 216, 149 = NZV 2018, 133 mit abl. Anm. Martin; krit. auch Armbrüster NJW 2018, 1218, 1221; Lemcke r+s 2018, 50. Zur danach bestehenden Rechtslage (mit Erweiterung auf Haushaltsangehörige) s. Rz. 35.83 ff., insb. Rz. 35.88.

Greger | 453

§ 15 Rz. 15.26 | Haftung des Haftpflichtversicherers

gem. § 242 BGB auf das beschränkt, was er bei einem Erhalt der Leistungen von Seiten des angehörigen Schädigers analog § 430 BGB im Verhältnis zum Sozialversicherungsträger behalten dürfte. Der BGH leitet diese Rechtsfolge daraus ab, dass zwischen dem Geschädigten und dem Angehörigen bzw. dessen Haftpflichtversicherer auf der einen Seite, zwischen dem Sozialversicherungsträger und dem Fremdschädiger auf der anderen Seite infolge der Regelungen des § 116 Abs. 1 und Abs. 6 SGB X ein gesamtschuld- und gesamtgläubigerschaftähnliches Verhältnis entsteht, auf welches die Regelungen der §§ 422 Abs. 1 S. 1, 426, 430 BGB entsprechend anwendbar sind. Um zu vermeiden, dass der Geschädigte doppelt entschädigt wird und damit zugleich den Rückgriff des Sozialversicherungsträgers gegen den Fremdschädiger zum Erlöschen bringt, dadurch also eine sogleich wieder herauszugebende Bereicherung erlangt, sei die Geltendmachung des ihm verbliebenen Ersatzanspruchs als treuwidrig anzusehen.83

2. Rechtskrafterstreckung a) Klageabweisung 15.27

§ 124 Abs. 1 VVG sieht – in Abweichung von § 425 Abs. 2 BGB – eine Rechtskrafterstreckung vor, allerdings nur für ein die Klage des Geschädigten abweisendes Urteil. Hierbei muss es sich um eine Abweisung aus sachlichen, nicht nur prozessualen Gründen handeln. Die Rechtskrafterstreckung hat zur Folge, dass dann, wenn die Direktklage des Geschädigten wegen Nichtbestehens84 oder Verjährung85 des Ersatzanspruchs abgewiesen wurde, derselbe Anspruch auch gegen den Versicherungsnehmer nicht mehr geltend gemacht werden kann, auch nicht aus anderem Rechtsgrund.86 Dasselbe gilt umgekehrt, wenn zunächst über den Haftpflichtanspruch entschieden worden ist. Auch ein Geständnis des Beklagten kann die Rechtskraftwirkung nicht beseitigen.87

15.28

Zu beachten ist jedoch, dass es sich um denselben Ersatzanspruch handeln muss: Wurde bisher z.B. lediglich über den Anspruch gegen den versicherten Fahrer entschieden, so steht die Rechtskrafterstreckung des klageabweisenden Urteils einer Direktklage nicht entgegen, die auf den Ersatzanspruch gegen den Halter (Versicherungsnehmer) gestützt wird.88 Dies gilt auch bei Abweisung der Direktklage, sofern diese nur auf einen der Ersatzansprüche gestützt war, hinsichtlich des anderen.89 Auch wenn besondere Umstände vorliegen, die nur im Verhältnis zu einem der Beklagten Rechtsfolgen auslösen, greift die Bindungswirkung nicht ein. So hindert es z.B. die Verurteilung des Versicherungsnehmers nicht, wenn die Direktklage rechtskräftig abgewiesen wurde, weil sich der Versicherer auf einen Risikoausschluss § 103 VVG90 oder auf subsidiäre Haftung im kranken Versicherungsverhältnis (§ 117 Abs. 3 VVG) berufen konnte. Aus demselben Grund ist es z.B. auch möglich, gegen den Versicherungsnehmer ein Anerkenntnisurteil zu erlassen und die Klage gegen den Versicherer als unbegründet

83 BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, BGHZ 216, 149; eingehend hierzu, im Erg. zustimmend, Armbrüster NJW 2018, 1218 ff. 84 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 206/75, BGHZ 71, 339,. 85 BGH v. 24.6.2003 – VI ZR 256/02, VersR 2003, 1121. 86 OLG Frankfurt v. 18.5.1998 – 16 W 21/98, OLGR Frankfurt 1999, 275. 87 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 206/75, BGHZ 71, 339. 88 BGH v. 24.9.1985 – VI ZR 4/84, BGHZ 96, 18. 89 OLG Saarbrücken v. 17.11.2009 – 4 U 244/09, NJW-RR 2010, 326; MünchKomm-VVG/Schneider § 124 Rz. 9. 90 Vgl. KG v. 5.6.1989 – 12 U 4073/88, VersR 1989, 1188.

454 | Greger

IV. Verhältnis zum Anspruch gegen den VN bzw. Versicherten | Rz. 15.31 § 15

abzuweisen oder den einen Streitgenossen zu verurteilen, obwohl die Klage gegen den anderen als unzulässig abzuweisen ist.91 Für teilabweisende Urteile gilt die Rechtskrafterstreckung ebenfalls, wie sich aus der Formulierung „soweit“ ergibt.

15.29

Die Rechtskrafterstreckung ist auch dann zu beachten, wenn Versicherer und Versicherungsnehmer in einem Verfahren verklagt werden. Da sie keine notwendigen Streitgenossen sind (s. Rz. 15.38), ist es möglich, dass der Versicherte sich nicht gegen seine Haftung wendet, während der Versicherer eine vorsätzliche Herbeiführung des Unfalls einwendet (näher zur Prozessführung in diesen Fällen s. Rz. 15.37). § 124 Abs. 1 VVG lässt nicht zu, dass das Gericht die Klage gegen den einen Beklagten abweist und den anderen verurteilt.92 Die verschiedentlich vertretene Lösung, die Klage gegen den Versicherer durch Teilurteil abzuweisen und das Verfahren gegen den Versicherungsnehmer bis zur Rechtskraft dieses Teilurteils entsprechend § 148 ZPO auszusetzen,93 widerspricht dem Prozessrecht.94 Ist das Gericht vom Nichtbestehen des Direktanspruchs überzeugt (z.B. wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Schadensfalls), sind vielmehr beide Klagen abzuweisen. Ob das Urteil sogleich rechtskräftig wird, spielt dabei keine Rolle,95 denn auch wenn der Kläger die Abweisung der Klage gegen den einen Streitgenossen nicht anfechten würde, könnte der Klage gegen den anderen nicht mehr stattgegeben werden.

15.30

b) Verurteilung Ein der Klage des Geschädigten stattgebendes Urteil gegen einen der Gesamtschuldner hat keine Rechtskraftwirkung gegenüber dem anderen.96 Für eine solche besteht im Regelfall auch kein Bedürfnis. Hat der Geschädigte eine Verurteilung des Versicherers erstritten, so hat er an einer nachträglichen Inanspruchnahme des Versicherungsnehmers kein Interesse mehr.97 Wurde der Versicherungsnehmer verurteilt, kann der Geschädigte aus dem abgetretenen oder überwiesenen Deckungsanspruch gegen den Versicherer vorgehen. Dabei ist der Versicherer an die Feststellungen, die auch für seine Haftung relevant sind,98 grundsätzlich aufgrund des Versicherungsvertrags gebunden.99 Er kann aber ggf. Leistungsfreiheit wegen Vorsatzes nach

91 Liebscher NZV 1994, 215, 217. 92 BGH v. 14.7.1981 – VI ZR 254/79, VersR 1981, 1156; BGH v. 15.1.2008 – VI ZR 131/07, NZV 2008, 239 m.w.N.; Haarmann VersR 1989, 683, 684; zu einem Sonderfall, in dem die Klageabweisung eindeutig gesetzwidrig war und die Ausnutzung der Rechtskrafterstreckung durch den Versicherer daher missbräuchlich wäre, vgl. BGH v. 29.5.1979 – VI ZR 128/77, VersR 1979, 841. 93 OLG Celle v. 16.6.1988 – 5 U 199/87, VersR 1988, 1286; MünchKomm-VVG/Schneider Rz. 13. 94 OLG Karlsruhe v. 22.6.1989 – 9 U 340/87, VersR 1991, 539; OLG Koblenz v. 12.11.1991 – 12 W 626/91, VersR 1992, 1536; Reiff VersR 1990, 113, 117; Freyberger NZV 1992, 391. Dasselbe gilt für ein von Prölss/Martin/Klimke § 124 Rz. 16 befürwortetes „Abwarten“ der Rechtskraft des Teilurteils. 95 Offen lassend BGH v. 14.7.1981 – VI ZR 304/79, VersR 1981, 1158. S. auch OLG Köln v. 7.2.1992 – 19 U 163/91, VersR 1992, 1275. 96 BGH v. 30.4.1985 – VI ZR 110/83, VersR 1985, 849; Liebscher NZV 1994, 215, 217. 97 Prölss/Martin/Klimke § 124 Rz. 22. 98 BGH v. 18.2.2004 – IV ZR 126/02, NZV 2004, 566; BGH v. 8.12.2010 – IV ZR 211/07, NJW 2011, 610 („Voraussetzungsidentität“). 99 BGH v. 18.12.2012 – VI ZR 55/12, NJW 2013, 1163 (auch zur Ausnahme bei Verurteilung im Adhäsionsverfahren); OLG Karlsruhe v. 31.10.2019 – 9 U 77/17, VersR 2020, 472 (auch bei Verurteilung im Adhäsionsverfahren); Prölss/Martin/Klimke § 124 Rz. 19. Eingehend hierzu W Peters,

Greger | 455

15.31

§ 15 Rz. 15.31 | Haftung des Haftpflichtversicherers

§ 103 VVG einwenden, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn die Verurteilung im Haftungsprozess auf Fahrlässigkeit gestützt wurde.100 Nur wenn dort Vorsatz, auch in Bezug auf die Schadensfolgen, festgestellt oder ausgeschlossen wurde, kann über die Deckungspflicht nicht mehr anderweitig entschieden werden.101 § 124 Abs. 1 VVG hindert den Versicherungsnehmer auch nicht, trotz Verurteilung und Erfüllung seitens des Versicherers den Prozess durch ein Rechtsmittel weiter zu betreiben.102 Eine spätere Verneinung des Ersatzanspruchs gegen einen der Gesamtschuldner wird durch die bereits rechtskräftige Verurteilung des anderen nicht gehindert und hat auf diese keine Auswirkung.103

3. Prozessführung a) Prozessführungsrecht und Vollmacht des Versicherers 15.32

Nach E.1.2.4. AKB 2015 ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, dem Haftpflichtversicherer die Führung eines gegen ihn angestrengten Haftpflichtprozesses zu überlassen;104 dasselbe gilt nach F.1 AKB 2015 für mitversicherte Personen. Der Versicherer führt den Prozess im Namen des Haftpflichtigen, aber auf eigene Kosten; soweit er nach § 115 Abs. 1 VVG mitverklagt ist, führt er ihn zugleich im eigenen Namen. Er ist verpflichtet, sich beim Versicherungsnehmer und etwaigen Mitversicherten über das Unfallgeschehen zu informieren, bevor er sich zum Klagevorbringen einlässt; will er sich mit Nichtwissen erklären (§ 138 Abs. 4 ZPO), muss er darlegen, warum er sich auf der Grundlage der erteilten Auskünfte nicht dazu einlassen kann, ob das Vorbringen des Geschädigten zutrifft.105 Aufgrund A.1.1.4 AKB 2015 ist er bevollmächtigt, die für die Schadensregulierung zweckmäßig erscheinenden Erklärungen für den Versicherungsnehmer und die Mitversicherten106 abzugeben. Er kann also auch einen Vergleich mit Wirkung für und gegen den Versicherungsnehmer abschließen oder widerrufen107 und durch ein tatsächliches Verhalten diesem ungünstige Rechtsfolgen, z.B. eine Verjährungshemmung, auslösen.108 Dies gilt auch, wenn der Versicherungsvertrag zwischenzeitlich aufgelöst wurde.109 Auch bei Überschreitung der Versicherungssumme bleibt der Versicherer bevollmächtigt,110 jedoch bestehen hier im Innenverhältnis besondere Abstimmungspflichten.111 Bei Leistungsfreiheit ist der Haftpflichtversicherer nicht vertretungsberechtigt.112 Auf die Aktivvertretung des Versicherungsnehmers, d.h. die Geltendmachung eigener Ansprüche

100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112

Die Bindungswirkung von Haftpflichtansprüchen im Deckungsverhältnis (1985); Gottwald in FS Mitsopoulos (1994) S. 487. Zur Problematik der Bindungswirkung von Entscheidungen im Adhäsionsverfahren eingehend Höher/Mergner NZV 2013, 373 ff. Burmann/Jahnke DAR 2020, 128, 137. BGH v. 30.9.1992 – IV ZR 314/91, BGHZ 119, 276. OLG Frankfurt v. 27.10.1983 – 1 U 238/82, MDR 1985, 60. Prölss/Martin/Klimke § 124 Rz. 8. Bedenken gegen die Wirksamkeit dieser Bedingung bei Koch/Hirse VersR 2001, 405 ff. BGH v. 23.7.2019 – VI ZR 337/18, NJW 2019, 3788. BGH v. 3.6.1987 – IVa ZR 292/85, BGHZ 101, 276. OLG Rostock v. 13.1.1999 – 4 W 1/99, NZV 1999, 515. BGH v. 11.4.1978 – VI ZR 29/76, VersR 1978, 533. BGH v. 3.6.1987 – IVa ZR 292/85, BGHZ 101, 276. BGH v. 11.4.1978 – VI ZR 29/76, VersR 1978, 533. BGH v. 4.7.1957 – II ZR 142/56, VersR 1957, 502; BGH v. 17.3.1970 – VI ZR 148/68, VersR 1970, 549. BGH v. 3.6.1987 – IVa ZR 292/85, VersR 1987, 924; Stiefel/Maier A.1.1 AKB 2015 Rz. 102.

456 | Greger

IV. Verhältnis zum Anspruch gegen den VN bzw. Versicherten | Rz. 15.36 § 15

aus dem Unfall, erstreckt sich die Vollmacht nicht.113 Der Haftpflichtversicherer ist also ohne gesonderte Ermächtigung nicht berechtigt, eine Widerklage zu erheben114 oder Ansprüche des Versicherungsnehmers zur Aufrechnung zu stellen.115

b) Anwaltliche Vertretung Für Prozesshandlungen im Namen des Versicherungsnehmers bedarf der Versicherer auch im Parteiprozess anwaltlicher Vertretung, denn er hat keine Vertretungsbefugnis nach § 79 Abs. 2 ZPO.116

15.33

Zur Bestellung des Prozessbevollmächtigten (auch) im Namen des Versicherungsnehmers und des Mitversicherten ist der Haftpflichtversicherer nach E.1.2.4 AKB 2015 ermächtigt.117 Er kann sein Recht und seine Pflicht zur Prozessführung aber auch dadurch ausüben, dass er dem mitverklagten Versicherungsnehmer als Nebenintervenient beitritt:118 Es kann dann ein Versäumnisurteil gegen den Versicherungsnehmer nicht ergehen119 und der Haftpflichtversicherer kann alle Prozesshandlungen wirksam für ihn vornehmen (was die Bestellung eines Rechtsanwalts im Parteiprozess [s. Rz. 15.33] ersparen kann; zu widerstreitenden Erklärungen s. aber Rz. 15.37).

15.34

Wenn gegen den Versicherungsnehmer, der zuerst seine eigenen Ansprüche eingeklagt hat, Widerklage wegen der gegenläufigen Ansprüche erhoben wird, kann der hierfür eintrittspflichtige Haftpflichtversicherer – was freilich unüblich ist – einen eigenen Anwalt bestellen. Grundsätzlich gilt die Prozessvollmacht nach § 81 ZPO für Klage und Widerklage.120 Dies kann dann, wenn im Einzelfall auf beiden Seiten derselbe Haftpflichtversicherer einzutreten hat, zur Gefahr von Interessenkollisionen führen. In einem solchen Fall beziehen sich die Prozessvollmachten daher ausnahmsweise nur auf die Klage bzw. die Widerklage.121

15.35

Aus E.1.2.4 AKB 2015 folgt, dass die Bestellung eines eigenen Anwalts durch den Versicherungsnehmer nicht zulässig ist.122 Tut er es dennoch, ist die Vollmacht allerdings im Außenverhältnis wirksam. Hat der Haftpflichtversicherer für ihn ebenfalls einen Anwalt bestellt, be-

15.36

113 KG v. 7.1.2010 – 12 U 20/09, NZV 2011, 38; Stiefel/Maier A.1.1 AKB 2015 Rz. 97; Keilbar NZV 1991, 335 f. 114 BGH v. 23.10.1990 – VI ZR 105/90, BGHZ 112, 345. 115 Stiefel/Maier A.1.1 AKB 2015 Rz. 97; a.A. OLG Frankfurt v. 7.4.1972 – 3 U 172/71, VersR 1973, 968; Keilbar NZV 1991, 335, 336. 116 Musielak/Voit/Weth § 79 Rz. 16a; Schwill MDR 2015, 1161, 1162. Zur Wirksamkeit von Prozesshandlungen bis zur Zurückweisung durch das Gericht s. aber § 79 Abs. 3 S. 2 ZPO. 117 BGH v. 23.10.1990 – VI ZR 105/90, BGHZ 112, 345, 348. 118 BGH v. 15.9.2010 – IV ZR 107/09, NJW 2011, 377; BGH v. 29.11.2011 – VI ZR 201/10, VersR 2012, 434; Stiefel/Maier § 103 VVG Rz. 64; OLG Frankfurt v. 14.8.1995 – 15 W 20/95, VersR 1996, 212 mit Anm. Draschka; Gottwald/Adolphsen NZV 1995, 129, 131; Freyberger VersR 1991, 842, 843 ff. u. NZV 1992, 391, 393. Anders als bei Streitgenossenschaft steht dem Rechtsanwalt hier kein Mehrvertretungszuschlag zu; BGH v. 19.1.2010 – VI ZB 36/08, NJW 2010, 1377. 119 BGH v. 13.4.1994 – II ZR 196/93, NJW 1994, 2022, 2023. 120 BGH v. 23.10.1990 – VI ZR 105/90, BGHZ 112, 345, 348; a.A. Keilbar NZV 1991, 335, 336. 121 BGH v. 23.10.1990 – VI ZR 105/90, BGHZ 112, 345. 122 Keilbar NZV 1991, 335, 336; nach Stiefel/Maier E.2 AKB 2015 Rz. 213 nur, wenn dadurch die Prozessführung des Versicherers erschwert wird; dies offen lassend BGH v. 30.4.1981 – IVa ZR 129/80, NJW 1981, 1952; a.A. Liebscher NZV 1994, 215, 216.

Greger | 457

§ 15 Rz. 15.36 | Haftung des Haftpflichtversicherers

steht eine Mehrheit von Prozessbevollmächtigen i.S.v. § 84 ZPO.123 Wenn eine sachgerechte Prozessführung dadurch nicht möglich ist,124 muss der Versicherungsnehmer dem von ihm bestellten Anwalt das Mandat entziehen; auf die Reihenfolge der Bestellung kommt es dabei nicht an.125 Die Kosten des eigenen Anwalts sind mangels Notwendigkeit nicht erstattungsfähig, sofern nicht ausnahmsweise ein besonderer Grund für seine Bestellung besteht. Dabei reichen Meinungsverschiedenheiten über die Schadensregulierung nicht aus; sie sind ggf. in einem gesonderten Prozess auszutragen.126

c) Interessenkollision 15.37

Bei widerstreitendem Interesse (insbesondere beim Verdacht einer mit Einverständnis des Versicherungsnehmers bzw. Versicherten herbeigeführten Unfallmanipulation) ist der Haftpflichtversicherer nicht gehindert, der Direktklage mit einem von der Darstellung der Unfallbeteiligten abweichenden Vortrag entgegenzutreten127 oder als Nebenintervenient (s. Rz. 15.34, 15.39) die Abweisung der gegen den Versicherungsnehmer gerichteten Klage zu beantragen.128 Die Vertretung durch einen gemeinsamen Anwalt ist in diesen Fällen aber nicht möglich (§ 356 StGB). Der Versicherungsnehmer (Versicherte) kann einen eigenen Anwalt bestellen und erhält hierfür ggf. Prozesskostenhilfe.129 Verteidigt sich der Versicherungsnehmer (Versicherte) erfolgreich gegen den Vorwurf der Unfallmanipulation, hat der Versicherer auf Grund seiner vertraglichen Verpflichtung zur Rechtsverteidigung die Kosten dessen eigenen Anwalts zu tragen.130

d) Streitgenossenschaft 15.38

Wegen der begrenzten Rechtskrafterstreckung (s. Rz. 15.27 ff.) sind Versicherungsnehmer und Versicherer, wenn sie gemeinsam verklagt werden, keine notwendigen, sondern einfache Streitgenossen.131 Es findet also keine gegenseitige Vertretung in Bezug auf Fristen und Termine statt (§ 62 ZPO).

e) Nebenintervention 15.39

Tritt der Versicherer dem Versicherungsnehmer als Nebenintervenient bei (s. Rz. 15.33), ist er wegen der eingeschränkten Rechtskrafterstreckung kein streitgenössischer Nebenintervenient i.S.v. § 69 ZPO.132 Er kann sich also nicht in Widerspruch zu Prozesshandlungen und

123 Keilbar NZV 1991, 335 f. 124 Vgl. zu den Folgen einander widersprechender Handlungen oder Erklärungen Zöller/Althammer § 84 Rz. 3. 125 BGH v. 20.1.2004 – VI ZB 76/03, NZV 2004, 179, 180. 126 BGH v. 20.1.2004 – VI ZB 76/03, NZV 2004, 179, 180. 127 Prölss/Martin/Klimke § 124 VVG Rz. 15. 128 BGH v. 29.11.2011 – VI ZR 201/10, NZV 2012, 125; Laumen MDR 2018, 1153, 1159. 129 BGH v. 6.7.2010 – VI ZB 31/08, NJW 2010, 3522. 130 BGH v. 15.9.2010 – IV ZR 107/09, NJW 2011, 377 mit Anm. Kreierhoff. 131 BGH v. 10.7.1974 – IV ZR 212/72, BGHZ 63, 51; Zöller/Althammer § 62 Rz. 8a m.w.N.; a.A. Gerhardt in FS Henckel (1995) S. 282 ff. 132 Rosenberg/Schwab/Gottwald § 50 Rz. 47; Gottwald/Adolphsen NZV 1995, 129, 131 f.; a.A. BGH v. 29.11.2011 – VI ZR 201/10, NZV 2012, 125 (ohne nähere Begründung); Zöller/Althammer § 69 Rz. 2; Stein/Jonas/Jacoby § 69 Rz. 7 (auf die Gesetzesüberschrift abstellend).

458 | Greger

V. Verhältnis zum Anspruch gegen Mitschädiger und deren Versicherer | Rz. 15.42 § 15

Erklärungen des Versicherungsnehmers setzen (§ 67 ZPO).133 Erkennt z.B. der Versicherungsnehmer den Klageanspruch an, kann der Versicherer ein Anerkenntnisurteil gegen diesen nicht verhindern. Der Versicherer ist daran aber im Deckungsverhältnis nicht gebunden.

V. Verhältnis zum Anspruch gegen Mitschädiger und deren Versicherer 1. Mitschädiger Zu einem für den Unfall Mitverantwortlichen, für den er nicht kraft Versicherungsvertrags oder nach § 117 VVG einzutreten verpflichtet ist, steht der Versicherer nicht in einem Gesamtschuldverhältnis, denn der Direktanspruch ist lediglich ein Annex zum Haftpflichtanspruch gegen den Versicherungsnehmer bzw Versicherten.134 Dies hat für den Mitverantwortlichen zur Folge, dass er im Falle seiner Inanspruchnahme keinen Ausgleichsanspruch nach § 426 BGB gegen den Versicherer des anderen Schädigers hat; er ist auf den Ausgleichsanspruch gegen den anderen Schädiger selbst verwiesen, der auch nicht durch einen Direktanspruch gegen dessen Versicherer verstärkt wird (s. Rz. 15.9).

15.40

Umgekehrt kann auch der in Anspruch genommene Versicherer einen Mitschädiger nicht nach § 426 BGB, sondern allenfalls im Wege eines nach § 86 VVG auf ihn übergegangenen Ausgleichsanspruch seines Versicherungsnehmers, des Halters, belangen.135 Dieser Forderungsübergang findet auch statt, wenn der Versicherer wegen eines Leistungsverweigerungsrechts und der Haftung des Haftpflichtversicherers des Mitschädigers nicht zur Zahlung an den Geschädigten verpflichtet war (s. Rz. 15.43). Der Haftpflichtversicherer kann jedoch wegen unzulässiger Rechtsausübung nicht gem. § 86 VVG gegen den Dritten vorgehen, wenn dieser im Umfang seiner Inanspruchnahme einen Anspruch gegen den Versicherten hat, für den der Versicherer einstehen muss.136 Dies gilt auch beim gestörten Versicherungsverhältnis in dem Umfang, in dem der Versicherer durch eine geschäftsplanmäßige Erklärung oder die KfzPflVV an einem Rückgriff gegen den Versicherten gehindert ist, denn das Ziel dieser Regelungen würde verfehlt, wenn der Versicherer bei einem Dritten Regress nehmen könnte, der seinerseits gegen den durch die Erklärung Begünstigten Regress nehmen kann.137 All dies gilt aber nur insoweit, als der Regressgegner tatsächlich einen Rückgriffsanspruch gegen den Versicherten hat. In Höhe einer im Innenverhältnis von ihm selbst zu tragenden Quote steht ihm der Einwand unzulässiger Rechtsausübung nicht zu.138

15.41

2. Versicherer anderer Schädiger Nach der Rechtsprechung besteht zwischen den Versicherern mehrerer Schädiger ein Gesamtschuldverhältnis.139 Dies erscheint im Hinblick auf die Rechtsbeziehung zwischen den

133 Näher Freyberger NZV 1992, 391, 393; Lemcke VersR 1995, 989 f. 134 BGH v. 28.5.1979 – III ZR 83/77, VersR 1979, 838, 839; OLG Karlsruhe v. 13.1.1984 – 10 U 117/83, VersR 1986, 155. 135 BGH v. 5.2.1992 – IV ZR 340/90, BGHZ 117, 151, 158; BGH v. 30.10.1980 – III ZR 132/79, VersR 1981, 134; OLG Hamm v. 10.1.1991 – 27 U 206/90, VersR 1992, 249. 136 BGH v. 8.12.1971 – IV ZR102/70, NJW 1972, 440. 137 BGH v. 5.2.1992 – IV ZR 340/90, BGHZ 117, 151. 138 BGH v. 5.2.1992 – IV ZR 340/90, BGHZ 117, 151, 158. 139 BGH v. 13.6.1978 – VI ZR 166/76, VersR 1978, 843; OLG München v. 15.12.1999 – 7 U 4486/ 99, VersR 2002, 1289.

Greger | 459

15.42

§ 15 Rz. 15.42 | Haftung des Haftpflichtversicherers

Mitschädigern (s. Rz. 15.40) fragwürdig,140 soweit nicht zwischen den versicherten Fahrzeugen (z.B. Kfz-Anhänger und Zugmaschine; s. Rz. 15.6) eine Betriebseinheit und damit eine Mehrfachversicherung besteht (s. § 78 VVG).

VI. Haftung des Versicherers trotz fehlender Leistungspflicht 1. Übersicht 15.43

Das Verkehrsopfer wird durch § 117 Abs. 1, 2 VVG insofern geschützt, als es den Haftpflichtversicherer auch dann, wenn er gegenüber seinem ersatzpflichtigen Versicherungsnehmer oder einem Mitversicherten von der Verpflichtung zur Deckung frei ist, mit der Direktklage in Anspruch nehmen kann (s. Rz. 15.47). Dies gilt allerdings nicht in allen Fällen von Leistungsfreiheit (s. Rz. 15.46). Auch ist der Direktanspruch in den Fällen von Leistungsfreiheit in zweifacher Hinsicht (Mindestversicherungssumme als Höchstgrenze, Subsidiarität bei Bestehen bestimmter anderweitiger Ansprüche) begrenzt (§ 117 Abs. 3 VVG; s. Rz. 15.48 ff.). Die in § 117 Abs. 1, 2 VVG geregelte Vergünstigung für den Geschädigten greift aber nur ein, wenn er im Wege der Direktklage vorgeht. Der Weg über die Klage gegen den Ersatzpflichtigen und die Pfändung dessen Deckungsanspruchs gegen den Versicherer (s. Rz. 15.1) ist in den Fällen von Leistungsfreiheit nicht gangbar, weil die Pfändung ins Leere gehen würde.141

15.44

Hat der leistungsfreie Versicherer geleistet, so kann er unter Umständen beim Versicherungsnehmer (vgl. § 116 Abs. 1 S. 2 VVG) oder einem Mitversicherten Rückgriff nehmen (s. Rz. 38.17 ff.).

15.45

Die Rechtsprechung leitet ferner eine Vertrauenshaftung aus § 242 BGB ab: Demnach kann ein in keinerlei Rechtsbeziehung zum Schädiger stehender Haftpflichtversicherer, der beim Geschädigten in vorwerfbarer Weise den Eindruck erweckt und aufrechterhält, er sei für die Schadensregulierung zuständig, zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der dem Geschädigten dadurch entsteht, dass er seinen Anspruch gegen den richtigen Versicherer verjähren lässt.142 Wenn der unzuständige Versicherer den Geschädigten sogar darin bestärkt hat, den Schadensfall mit sich abzuwickeln, soll ihm darüber hinaus der Einwand fehlender Passivlegitimation versagt sein.143 In einer Regulierungszusage des Haftpflichtversicherers liegt ein den Versicherer wie den Versicherungsnehmer verpflichtendes deklaratorisches Anerkenntnis (s. Rz. 16.52 ff.) gegenüber dem Geschädigten.144

2. Ausschluss des Direktanspruchs 15.46

Ist der Versicherer aufgrund eines Risikoausschlusses von der Leistungspflicht befreit, so schließt dies auch den Direktanspruch des Geschädigten aus, denn der Versicherer haftet nur „im Rahmen … der von ihm übernommenen Gefahr“ (§ 117 Abs. 3 VVG). Ausgeschlossen ist der Direktanspruch daher bei vorsätzlicher Schadensherbeiführung (§ 103 VVG; näher

140 141 142 143 144

Für Analogie zu § 426 BGB aber Prölss/Martin/Klimke § 115 VVG Rz. 21. Einen pfändbaren Befreiungsanspruch bejahend aber Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 1. BGH v. 11.6.1996 – VI ZR 256/95, NZV 1996, 401. BGH v. 4.4.2000 – VI ZR 264/99, VersR 2000, 717. BGH v. 19.11.2008 – IV ZR 293/05, VersR 2009, 106, auch zur Haftung des vollmachtlos erklärenden Agenten.

460 | Greger

VI. Haftung des Versicherers trotz fehlender Leistungspflicht | Rz. 15.49 § 15

hierzu s. Rz. 15.15). In diesem Fall kommt ein Anspruch gegen den Verein Verkehrsopferhilfe eV in Betracht (s. Rz. 15.72 ff.).

3. Kein Ausschluss des Direktanspruchs Der Direktanspruch besteht unabhängig vom Ausschluss der Leistungspflicht des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer bzw. Versicherten in den Fällen des § 117 Abs. 1, 2 VVG. Hierunter fallen insbesondere

15.47

– Obliegenheitsverletzungen vor Eintritt des Versicherungsfalls (§ 28 VVG; s. D.1 und D.2 AKB 2015, z.B. unberechtigte Fahrzeugbenutzung,145 Fahren ohne Fahrerlaubnis146 oder im Zustand alkoholbedingter Fahrunsicherheit); – Obliegenheitsverletzungen nach Eintritt des Versicherungsfalls (s. E.1 und E.2 AKB 2015, z.B. Verletzung der Anzeige- oder Aufklärungspflicht); – Gefahrerhöhung (§ 23 VVG; z.B. unerlaubter Umbau des Fahrzeugs); – Prämienzahlungsverzug (§§ 37 f. VVG); – unterlassene Veräußerungsanzeige (§ 97 VVG); – Verletzung der Pflicht zur Wahrung der Regressmöglichkeit (§ 86 Abs. 2 VVG; s. Rz. 38.18); – Nichtbestehen oder Beendigung des Versicherungsverhältnisses, wenn das Schadensereignis innerhalb des in § 117 Abs. 2 VVG bezeichneten Zeitraums eingetreten ist.147

4. Begrenzungen des isoliert bestehenden Direktanspruchs a) Höhenbegrenzung Bei Leistungsfreiheit im Innenverhältnis (s. Rz. 15.47) ist die Haftung gegenüber dem Geschädigten zwar nicht ausgeschlossen, aber teilweise der Höhe nach begrenzt. Nach § 117 Abs. 3 S. 1 VVG beschränkt sie sich auf die Mindestversicherungssumme i.S.v. § 4 Abs. 2 PflVG. Bei teilweiser Leistungsfreiheit (z.B. nach § 5 Abs. 3 S. 1, § 6 KfzPflVV, § 28 Abs. 2 S. 2 VVG) gilt die Haftungsbegrenzung nur, soweit der nach Kürzung im Innenverhältnis fortbestehende Deckungsanspruch des Versicherungsnehmers die amtlich festgesetzte Mindestversicherungssumme unterschreitet.148 Die vereinbarte Versicherungssumme ist dann um den Betrag zu kürzen, der der Kürzung des Deckungsanspruchs entspricht.149

15.48

b) Subsidiarität Wenn der Geschädigte Ersatz seines Schadens von einem anderen Schadensversicherer150 (nicht Summenversicherer) oder von einem Sozialversicherungsträger oder von einem Selbstversicherer nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 PflVG erlangen kann, ist der trotz Leistungsfreiheit 145 146 147 148 149 150

Vgl. BGH v. 18.12.1980 – IVa ZR 56/80, VersR 1981, 323. Vgl. BGH v. 26.9.1979 – IV ZR 94/78, VersR 1979, 1120. Näher hierzu Hofmann NZV 1991, 409, 410. MünchKomm-VVG/Schneider § 117 Rz. 29. BGH v. 15.3.1983 – VI ZR 187/81, NJW 1983, 2197, 2198. Z.B. Haftpflicht-, Kasko-, Kranken-, Unfallversicherer (Einzelheiten bei Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 25 m.w.N.); auch ausländische (OLG Koblenz v. 11.7.2005 – 12 U 1602/03, VersR 2006, 110).

Greger | 461

15.49

§ 15 Rz. 15.49 | Haftung des Haftpflichtversicherers

bestehende Direktanspruch ausgeschlossen (§ 117 Abs. 3 S. 2 VVG). Entscheidend ist die Möglichkeit des anderweitigen Ersatzes, nicht die Geltendmachung oder tatsächliche Leistung.151 Die Verweisung auf einen anderen Schadensversicherer oder Sozialversicherungsträger ist jedoch ausgeschlossen, soweit die Leistungsfreiheit darauf beruht, dass das Fahrzeug den Bau- und Betriebsvorschriften der StVZO nicht entsprach oder von einem unberechtigten Fahrer oder einem Fahrer ohne die vorgeschriebene Fahrerlaubnis geführt wurde. Diese Aufzählung ist abschließend.152 Tritt eine weitere Obliegenheitsverletzung (z.B. Trunkenheitsfahrt) hinzu, verbleibt es bei dem Verweisungsprivileg.153 Die Subsidiaritätsklausel greift nicht nur dann ein, wenn der Schädiger doppelt gegen Haftpflicht versichert154 und nur eines dieser Versicherungsverhältnisse notleidend war, sondern auch dann, wenn neben dem Schädiger noch ein anderer haftet, der einen gültigen Versicherungsschutz genießt.155 Dem steht nicht entgegen, dass der Geschädigte diesen anderen Versicherer nicht mit der Direktklage, sondern nur mittelbar über den anderen Schädiger in Anspruch nehmen kann.156 Bei teilweiser Leistungsfreiheit steht dem Versicherer das Verweisungsprivileg nur in Höhe der Leistungsfreiheit zu.157

15.50

Ausgeschlossen ist der Direktanspruch auch, soweit Ansprüche gegen einen Träger der gesetzlichen Sozialversicherung (Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfallversicherung) im In- oder Ausland158 bestehen. Auch die Bundesagentur für Arbeit ist, soweit sie Arbeitslosengeld nach SGB III oder Rehabilitationsleistungen159 erbringt, Sozialversicherungsträger i.S.d. § 117 Abs. 3 S 2 VVG, nicht bei Leistungen der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II).160 Auf den Lohnfortzahlung leistenden Arbeitgeber ist die Vorschrift dagegen nicht (entsprechend) anzuwenden.161

15.51

Aufgrund der Subsidiaritätsklausel können auch auf einen leistungspflichtigen Sozialversicherungsträger übergegangene Ansprüche des Geschädigten nicht gegen den Haftpflichtversicherer erhoben werden.162 Zu der Frage, inwieweit der Sozialversicherungsträger in diesen Fällen beim Schädiger Regress nehmen kann, s. Rz. 35.96.

15.52

Trifft der Anspruch gegen den leistungsfreien Haftpflichtversicherer mit einem seinerseits subsidiären Amtshaftungsanspruch (§ 839 Abs. 1 S. 2 BGB) zusammen, kann der Geschädigte den Versicherer, nicht die für den Amtsträger haftende Körperschaft in Anspruch nehmen; der Versicherer kann aber bei dieser regressieren (§ 117 Abs. 4 S. 1 VVG).163 Bei persönlicher Haftung des Beamten gilt dies nach S. 2 der Vorschrift nicht.

151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163

Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 27. BGH v. 2.10.2002 – IV ZR 309/01, VersR 2002, 1501. OLG Stuttgart v. 15.11.2000 – 3 U 23/00, NJW-RR 2001, 965. Z.B. im Ausland; OLG München v. 24.2.1995 – 10 U 4079/93, NJW-RR 1996, 1179. BGH v. 4.4.1978 – VI ZR 238/76, VersR 1978, 609. BGH v. 4.4.1978 – VI ZR 238/76, VersR 1978, 609. Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 24. Zur österreichischen Krankenversicherung s. BGH v. 16.9.1986 – VI ZR 151/85, VersR 1986, 1231. OLG Frankfurt v. 30.11.1989 – 1 U 175/88, VersR 1991, 686. Stiefel/Maier/Jahnke, § 117 VVG Rz. 101 m.w.N. zur früheren Arbeitslosenhilfe. Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 31. Zum Beitragsrückgriff nach § 119 SGB X s. aber Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 31; Küppersbusch VersR 1983, 193, 211; Denck VersR 1984, 602, 607. Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 34.

462 | Greger

VII. Beeinflussung des Ersatzanspruchs durch Teilungsabkommen | Rz. 15.55 § 15

c) Zusammentreffen beider Begrenzungen Hat der Geschädigte von einem Sozialversicherungsträger Leistungen erhalten, welche die Mindestversicherungssumme übersteigen, wird die Leistung des Sozialversicherungsträgers nicht auf die Mindestversicherungssumme angerechnet (§ 118 Abs. 1 Nr. 1 VVG).164

15.53

5. Beweislast Der Geschädigte muss die Voraussetzungen für den (fiktiven) Deckungsanspruch des Versicherungsnehmers beweisen,165 der Versicherer ggf. die Möglichkeit der anderweitigen Ersatzerlangung.166 Der Geschädigte ist allerdings nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast verpflichtet vorzutragen, welche weiteren Versicherungen bestehen und welche Sozialleistungen er ggf. in Anspruch nehmen kann.167

15.54

VII. Beeinflussung des Ersatzanspruchs durch Teilungsabkommen 1. Wesen der Teilungsabkommen Der Rückgriff eines Sozialversicherungsträgers nach § 116 SGB X oder eines Privatversicherers nach § 86 VVG, der nach § 115 VVG gegen den Haftpflichtversicherer geltend gemacht wird (s. Rz. 15.9), wird häufig durch Teilungsabkommen, die zwischen den Versicherern abgeschlossen wurden, beeinflusst.168 Es handelt sich hierbei um Rahmenverträge zur vergleichsweisen Erledigung künftiger Schadensfälle, in denen sich der Haftpflichtversicherer verpflichtet, die Aufwendungen des anderen durch Zahlung einer bestimmten Quote auszugleichen, während sich der Vertragspartner verpflichtet, sich der Geltendmachung des Anspruchs gegenüber dem Versicherungsnehmer sowie der weitergehenden Geltendmachung des Anspruchs gegenüber dem Haftpflichtversicherer zu enthalten.169 Sinn solcher Abkommen ist es, die Kosten einer gerichtlichen oder außergerichtlichen Prüfung der Haftpflicht zu vermeiden, indem allen zwischen den Beteiligten vorzunehmenden Schadensregulierungen eine einheitliche, der Erfahrung nach als Durchschnittswert anzusehende Quote zugrunde gelegt wird. Dies führt dazu, dass der Rückgriff nehmende Versicherer auch in solchen Fällen nur die Quote (z.B. 50 %) erhält, in denen ganz klar volle Haftung des gegnerischen Versicherungsnehmers gegeben ist, während umgekehrt der Haftpflichtversicherer auch dann eintreten muss, wenn seinen Versicherungsnehmer an sich keine Schadenshaftung treffen würde. § 116 Abs. 9 SGB X lässt solche Pauschalierungen ausdrücklich zu (s. auch Rz. 35.57 ff.).

164 Prölss/Martin/Klimke § 117 VVG Rz. 32; a.A. zum früheren Recht BGH v. 30.4.1975 – IV ZR 190/73, VersR 1975, 558 u. 5. Aufl. 165 BGH v. 16.9.1986 – VI ZR 159/85, VersR 1987, 37, 39. 166 BGH v. 4.4.1978 – VI ZR 238/76, VersR 1978, 609; BGH v. 28.10.1982 – III ZR 206/80, NJW 1983, 1667. 167 MünchKomm-VVG/Schneider § 117 Rz. 48. 168 S. hierzu Deichl VersR 1985, 409; Marburger VersR 2000, 701 u. NZV 2012, 521; Lang/Stahl/Küppersbusch NZV 2006, 628. 169 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 14/76, NJW 1978, 2506 m.w.N.

Greger | 463

15.55

§ 15 Rz. 15.56 | Haftung des Haftpflichtversicherers

2. Geltungsbereich 15.56

Ob die im Teilungsabkommen vereinbarte Regulierung eingreift, hängt von dessen konkreter Ausgestaltung ab, die durch einzelfallbezogene Auslegung zu ermitteln ist.170 Sofern nichts anderes vereinbart ist, greift das Abkommen stets dann ein, wenn der Schadensfall mit dem Gefahrenbereich, für den der Versicherte und mutmaßliche Schädiger Haftpflichtversicherungsschutz genommen hat, in ursächlichem Zusammenhang steht.171 Im Bereich der KfzHaftpflichtversicherung wird folglich i.d.R. ein (adäquater) Kausalzusammenhang zwischen dem Schadensfall (dh. der zu Leistungen des Sozialversicherungsträgers führenden Schädigung) und dem Gebrauch eines Kfz vorausgesetzt;172 die bloße Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen Kfz-Gebrauch und Verletzung reicht nicht. Nicht erforderlich ist jedoch der Nachweis einer durch den Unfall verursachten Körperverletzung; erfasst werden auch Aufwendungen einer Krankenkasse auf Grund fehlerhafter Diagnose eines Schleudertraumas.173 Der Kausalzusammenhang muss ggf. nach den allgemeinen Grundsätzen vom Ersatz fordernden Sozialversicherungsträger bewiesen werden (s. Rz. 41.49 ff.).174 Ist vereinbart, dass der Haftpflichtversicherer von der Krankenkasse „im Zweifelsfall den Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Schadensfall und dem der Kostenanforderung zugrunde liegenden Krankheitsfall“ verlangen kann, ändert dies nichts daran, dass der Sozialversicherungsträger den Kausalzusammenhang zwischen Kfz-Gebrauch und Schädigung zu beweisen hat. Der Haftpflichtversicherer kann lediglich den Beweis des Ursachenzusammenhangs zwischen der Schädigung und den Aufwendungen für den konkreten Krankheitsfall von der Krankenkasse verlangen und auch dies nur, wenn er darlegt und erforderlichenfalls beweist, dass ein Zweifelsfall gegeben ist.175 Hierfür werden „sachliche und stichhaltige Gründe“ verlangt.176 Der im Abkommen vereinbarte Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage bezieht sich somit vor allem auf Verschulden,177 höhere Gewalt, Unabwendbarkeit,178 haftungsausfüllende Kausalität179 usw. Wurde die haftungsbegründende Kausalität nicht zur Voraussetzung der Anwendbarkeit erklärt (wie teilweise in älteren Abkommen), genügt ein innerer Zusam-

170 Zur revisionsgerichtlichen Überprüfbarkeit: BGH v. 28.5.1956 – II ZR 77/55, BGHZ 20, 385, 389; BGH v. 12.6.2007 – VI ZR 110/06, NZV 2007, 507 mit Anm. Küppersbusch. 171 BGH v. 28.5.1956 – II ZR 77/55, BGHZ 20, 385 (auch zur Abgrenzung von Betriebs- und KfzHaftpflichtversicherung); BGH v. 12.6.2007 – VI ZR 110/06, NZV 2007, 507 mit Anm. Küppersbusch. 172 Vgl. BGH v. 19.9.1979 – IV ZR 87/78, VersR 1979, 1093; OLG Zweibrücken v. 5.8.2010 – 1 U 31/10, NZV 2012, 295. Eingehend zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen Lang/Stahl/ Küppersbusch NZV 2006, 628 ff. 173 BGH v. 12.6.2007 – VI ZR 110/06, NZV 2007, 507 mit Anm. Küppersbusch; auch zur Bedeutung einer Regelung, wonach der Haftpflichtversicherer von der Krankenkasse den Nachweis eines Ursachenzusammenhangs zwischen Schadensfall und „Krankheitsfall“ verlangen kann (dazu Kunte VersR 2011, 307, 308). 174 BGH v. 12.6.2007 – VI ZR 110/06, NZV 2007, 507, 508 mit Anm. Küppersbusch; OLG Hamburg v. 3.11.2000 – 14 U 216/98, VersR 2003, 1588 mit Anm. Lang, OLG Köln v. 23.9.1982 – 5 U 51/ 82, VersR 1983, 980. 175 BGH v. 12.6.2007 – VI ZR 110/06, NZV 2007, 507, 508 mit Anm. Küppersbusch. 176 OLG Zweibrücken v. 5.8.2010 – 1 U 31/10, NZV 2012, 295. 177 Zur Auslegung eines Teilungsabkommens, in dem nur auf die Prüfung der Schuldfrage verzichtet wird, s. BGH v. 2.10.1980 – IVa ZR 19/80, VersR 1980, 1170; BGH v. 23.11.1983 – IVa ZR 4/82, VersR 1984, 225. 178 BGH v. 23.9.1963 – II ZR 118/60, VersR 1963, 1066. 179 OLG Köln v. 3.12.2010 – 20 U 35/10, NZV 2012, 294.

464 | Greger

VII. Beeinflussung des Ersatzanspruchs durch Teilungsabkommen | Rz. 15.60 § 15

menhang zwischen dem Schadensfall und dem Gefahrenbereich, für den der Versicherungsschutz begründet wurde.180 Nach § 242 BGB sind von der Anwendung des Teilungsabkommens aber solche Fälle (sog. Groteskfälle) ausgenommen, in denen schon aufgrund des unstreitigen Sachverhalts unzweifelhaft und offensichtlich eine Schadensersatzpflicht des Versicherungsnehmers nicht in Frage kommt.181

15.57

Daher braucht der Haftpflichtversicherer des Halters eines erst einige Zeit nach einem Begegnungszusammenstoß an die Unfallstelle kommenden Lastzugs auch dann nicht für die Folgen einer bei jenem Zusammenstoß hervorgerufenen Körperverletzung eines der Fahrer aufzukommen, wenn der später eintreffende Lastzug auf die beiden Unfallfahrzeuge auffährt und neue Sachschäden verursacht; er ist nur verpflichtet, sich anteilsmäßig am gesamten Sachschaden zu beteiligen.182 Ebenso wenig kann aus Teilungsabkommen der Haftpflichtversicherer eines ordnungsgemäß auf einem Seitenstreifen außerhalb der Fahrbahn abgestellten Pkw in Anspruch genommen werden, wenn ein Mopedfahrer 20 m entfernt in Fahrbahnmitte mit einem anderen Fahrzeug zusammenstößt und dadurch gegen den Pkw geschleudert wird.183

15.58

Voraussetzung für die Anwendung des Teilungsabkommens ist weiterhin, dass der Haftpflichtversicherer dem Versicherungsnehmer bzw. Versicherten gegenüber deckungspflichtig ist.184

15.59

3. Wirkung gegenüber dem Haftpflichtversicherer Der Haftpflichtversicherer ist verpflichtet, die im Teilungsabkommen vereinbarte Schadensquote ohne Prüfung der Sach- und Rechtslage zu ersetzen. Auf Verschulden oder Abwendbarkeit des Unfalls kommt es hierbei (vorbehaltlich abweichender Vereinbarung) ebenso wenig an wie auf ein etwaiges Mitverschulden des Geschädigten185 oder eine Haftungsfreistellung des Versicherungsnehmers nach §§ 104 ff. SGB VII.186 Ist in dem Teilungsabkommen auf die Prüfung des Rechtsübergangs bzw. den Einwand der mangelnden Übergangsfähigkeit verzichtet, erstreckt sich dieser Verzicht grundsätzlich auf das Fehlen der für den Regress vorausgesetzten Kongruenz zwischen einzelnen Schadenspositionen und den Versicherungsleistungen sowie auf das Eingreifen des Angehörigenprivilegs.187 Andererseits ist der Haftpflichtversicherer berechtigt – ebenfalls ohne Prüfung der Sach- und Rechtslage – die Zahlung eines höheren als des sich aus dem Abkommen ergebenden Betrages zu verweigern. Ist das Teilungsabkommen 180 BGH v. 23.11.1983 – IVa ZR 3/82, VersR 1984, 158; Prölss/Martin/Armbrüster § 86 Rz. 129. 181 BGH v. 28.5.1956 – II ZR 77/55, BGHZ 20, 385, 390; BGH v. 2.6.1966 – II ZR 45/64, VersR 1966, 817; BGH v. 11.7.1984 – IVa ZR 171/82, VersR 1984, 889; OLG Celle v. 25.10.1990 – 5 U 163/ 89, NZV 1992, 316. Weitere Nachweise bei Kunte VersR 2011, 307, 310 f. 182 OLG Köln v. 30.7.1964 – 10 U 127/64, VersR 1966, 372 = 856 mit Anm. Ebenhöch. 183 BGH v. 15.6.1983 – IVa ZR 209/81, NJW 1984, 41 mit Anm. Tschernitschek. 184 BGH v. 30.10.1970 – IV ZR 1109/68, VersR 1971, 117; BGH v. 1.10.2008 – IV ZR 285/06, VersR 2008, 1560. Zu Unfall mit gestohlenem Kfz OLG Hamm v. 12.4.2002 – 29 U 73/01, VersR 2003, 333. 185 LG Köln v. 8.11.1971 – 18 O 337/71, VersR 1972, 147; Prölss/Martin/Armbrüster § 86 Rz. 141. 186 BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 79/76, VersR 1978, 150, 153; zur Auslegung eines Abkommens, welches hierzu Sonderregelungen enthält, s. BGH v. 23.3.1993 – VI ZR 164/92, NZV 1993, 309; zur Unanwendbarkeit des § 108 SGB VII (Aussetzung des Rechtsstreits) in diesem Fall BGH v. 20.9.2005 – VI ZB 78/04, BGHZ 164, 117. 187 BGH v. 20.9.2011 – VI ZR 337/10, NZV 2012, 273.

Greger | 465

15.60

§ 15 Rz. 15.60 | Haftung des Haftpflichtversicherers

betragsmäßig limitiert, so regelt sich die Ersatzpflicht hinsichtlich des überschießenden Teils nach der konkreten Sach- und Rechtslage. Ist vereinbart, dass Ansprüche des Sozialversicherungsträgers gegen den Haftpflichtversicherer und dessen Versicherte nur innerhalb einer Ausschlussfrist geltend gemacht werden können,188 so erfasst der Ausschluss bei Fehlen abweichender Bestimmungen die Regressforderung auch insoweit, als sie das Abkommenslimit überschreitet; die Geltendmachung der Regressforderung bei einem Haftpflichtversicherer wahrt die Ausschlussfrist gegenüber anderen am Schadensfall beteiligten Haftpflichtversicherern nicht.189 Haben die Abkommenspartner vereinbart, dass die Frist auch gewahrt ist, wenn der Haftpflichtversicherer von den Ansprüchen „in anderer Weise Kenntnis erlangt“, so genügt auch die Anmeldung von Ansprüchen (z.B. Schmerzensgeld) durch den Geschädigten selbst.190 Hat der Haftpflichtversicherer an einen wegen Arbeitsunfalls unzuständigen Krankenversicherungsträger (§ 11 Abs. 4 SGB VII) aufgrund eines Abfindungsvergleichs Leistungen erbracht, kann er diese wegen Unwirksamkeit des Vergleichs (§ 779 BGB) vom Krankenversicherer gem. §§ 812 ff. BGB zurückfordern.191 Vgl. auch Rz. 35.58.

15.61

Bei Erschöpfung der Versicherungssumme richtet sich die Rangfolge nach § 118 VVG. Der Sozialversicherungsträger nimmt an der Verteilung nur mit seiner Quote teil.192

4. Wirkung gegenüber dem Versicherungsnehmer (Versicherten) 15.62

Das Teilungsabkommen begründet eine Stillhaltepflicht des Regress nehmenden Versicherungsträgers auch gegenüber dem Schädiger. Dieser kann daher entsprechende Ersatzleistungen verweigern. Ist das Teilungsabkommen betragsmäßig limitiert, so erfasst die Stillhaltepflicht auch den das Limit übersteigenden Schaden, solange die Aufwendungen des Sozialversicherungsträgers das Limit nicht erreicht haben; bis dahin ist deshalb die Verjährung eines Regressanspruchs gegen den Versicherungsnehmer nach § 205 BGB gehemmt.193 Bei unlimitierten Teilungsabkommen endet die Hemmung, wenn die Deckungssumme erreicht ist.194 Einen auch für den Fall des Überschreitens des Limits erklärten Verjährungsverzicht muss der Schädiger jedenfalls insoweit gegen sich gelten lassen, als die Versicherungssumme nicht überschritten wird.195 Kann sich der Haftpflichtversicherer auf Leistungsfreiheit berufen und ist er daher gem. § 117 Abs. 3 S. 2 VVG insoweit dem Sozialversicherungsträger nicht ersatzpflichtig, so kann dieser den entsprechenden Teil der Schadensersatzforderung vom Schädiger ersetzt verlangen; dieser Anspruch ist nicht entsprechend einer etwaigen Haftungsquote zu kürzen.196 Ist der Versicherungsnehmer, z.B. nach §§ 104 ff. SGB VII, von der Haftung freigestellt, so ändert die Leistungspflicht des Haftpflichtversicherers aufgrund des Teilungsabkommens hieran nichts.197 Ist in einem Teilungsabkommen zwischen Haftpflichtund Fahrzeugversicherer vorgesehen, dass letzterer in Fällen, in denen sich die in einen Unfall

188 Zum Beginn der Frist, wenn es auf Kenntnis des Sozialversicherungsträgers vom Schadensfall ankommt, s. BGH v. 27.3.2001 – VI ZR 12/00, NJW 2001, 2535. 189 BGH v. 2.10.1984 – VI ZR 314/82, VersR 1984, 1143. 190 Plagemann/Schafhausen NZV 1991, 49, 53. 191 BGH v. 8.7.2003 – VI ZR 274/02, NJW 2003, 3193, 3195. Vgl. auch Lemcke r+s 2002, 441, 443. 192 MünchKomm-VVG/Schneider § 118 Rz. 17; s. auch BGH v. 6.10.1982 – IVa ZR 54/81, VersR 1983, 26; BGH v. 26.6.1985 – IVa ZR 264/83, VersR 1985, 1054. 193 BGH v. 7.10.2003 – VI ZR 392/02, NZV 2003, 565, 566. 194 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 14/76, VersR 1978, 278. 195 BGH v. 7.10.2003 – VI ZR 392/02, NZV 2003, 565. 196 BGH v. 7.2.1984 – VI ZR 90/82, VersR 1984, 526; Plagemann/Schafhausen NZV 1991, 49, 54. 197 BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 79/76, VersR 1978, 150, 153.

466 | Greger

VII. Beeinflussung des Ersatzanspruchs durch Teilungsabkommen | Rz. 15.66 § 15

verwickelten Fahrzeuge nicht berührt haben, trotz Übergangs der Schadensersatzforderung gem. § 86 VVG auf Regressnahme verzichtet, so liegt hierin ein (vorweg vereinbarter) Erlass der Schadensersatzforderung, der nicht nur gegenüber dem Haftpflichtversicherer, sondern nach § 423 BGB auch zugunsten des Schädigers wirkt und zur Folge hat, dass eine Rückabtretung der Schadensersatzforderung vom Fahrzeugversicherer auf den Geschädigten nicht mehr wirksam erfolgen kann.198 Seinen Schadensfreiheitsrabatt verliert der Versicherungsnehmer allein wegen der Regulierung nach dem Teilungsabkommen nicht; entscheidend hierfür ist vielmehr, ob er tatsächlich haftpflichtig war.199

15.63

5. Wirkung bei Mehrheit von Schädigern Hat der Haftpflichtversicherer eines von mehreren Schädigern ein Teilungsabkommen mit dem Regress nehmenden Sozialversicherungsträger abgeschlossen, so fragt sich, inwieweit dies den Rückgriff des Sozialversicherungsträgers gegen andere Ersatzpflichtige sowie den Innenausgleich zwischen den Schädigern tangiert.

15.64

a) Ansprüche des Sozialversicherungsträgers Sind mehrere Versicherungsnehmer des Haftpflichtversicherers an dem Unfall beteiligt, so erhält der Sozialversicherungsträger die im Abkommen vorgesehene Quote nur einmal.200 Gegen andere Schädiger und deren Versicherer kann der Sozialversicherungsträger grundsätzlich ohne Rücksicht auf das Teilungsabkommen Rückgriff nehmen. Es kann aber vereinbart werden, dass er nicht gegen Dritte vorgehen darf, die dann ihrerseits vom Abkommenspartner oder dessen Versicherungsnehmer Ausgleich verlangen können; hierauf kann sich auch der in Anspruch genommene Dritte berufen.201

15.65

b) Innenausgleich Hat der Sozialversicherungsträger den Versicherer des nach Haftpflichtrecht nicht ersatzpflichtigen Unfallbeteiligten A aufgrund Teilungsabkommens in Anspruch genommen, so kann dieser vom ersatzpflichtigen Unfallbeteiligten B und dessen Haftpflichtversicherer Erstattung aus dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) verlangen.202 Schulden beide Haftpflichtversicherer, weil mit dem Sozialversicherungsträger durch Teilungsabkommen verbunden, dasselbe, so richtet sich der Innenausgleich nach § 426 BGB i.V.m. § 17 StVG.203 Sind A und B nebeneinander für den Schaden verantwortlich, so gilt für den Innenausgleich das in Rz. 15.41 f. Gesagte.204

BGH v. 25.5.1993 – VI ZR 272/92, NZV 1993, 385. Plagemann/Schafhausen NZV 1991, 49, 54. BGH v. 19.12.1973 – VI ZR 14/76, VersR 1974, 546. BGH v. 14.7.1976 – IV ZR 239/74, VersR 1976, 923; näher Plagemann/Schafhausen NZV 1991, 49, 53. 202 BGH v. 5.5.1969 – VII ZR 176/66, VersR 1969, 641; BGH v. 13.6.1978 – VI ZR 166/76, VersR 1978, 843; BGH v. 25.9.1980 – III ZR 4/79, VersR 1981, 76. 203 BGH v. 13.6.1978 – VI ZR 166/76, VersR 1978, 843. 204 Näher hierzu OLG Stuttgart v. 2.11.1988 – 11 U 72/88, NZV 1989, 112. 198 199 200 201

Greger | 467

15.66

§ 15 Rz. 15.67 | Haftung des Haftpflichtversicherers

6. Wirkung gegenüber dem Geschädigten 15.67

Ihm gegenüber wirkt das Teilungsabkommen nicht. Er ist nicht etwa verpflichtet, dem Haftpflichtversicherer dadurch die abkommensmäßigen Vorteile zu verschaffen, dass er die Heilbehandlungskosten über die Krankenkasse abrechnet (s. Rz. 32.28). Die Verfolgung der Ansprüche aus dem Teilungsabkommen durch den Sozialversicherungsträger und hierauf geleistete Zahlungen des Haftpflichtversicherers bewirken auch keine Hemmung bzw. keinen Neubeginn der Verjährung hinsichtlich der eigenen Ersatzansprüche des Geschädigten.205 Zur Verjährungshemmung durch die Stillhaltepflicht des Sozialversicherungsträgers s. Rz. 15.62.

VIII. Unfälle mit Auslandsbezug 1. Inlandsunfälle mit Beteiligung von Ausländern 15.68

Soweit – wie in der Regel – deutsches Haftungsrecht zur Anwendung kommt (s. Rz. 2.18 ff.), besteht auch der akzessorische Direktanspruch gegen den ausländischen Haftpflichtversicherer206 (s. Rz. 2.38). Ist der Ausländer im Besitz einer Versicherungsbescheinigung i.S.v. § 1 Abs. 2 AuslPflVG (Grüne Karte) oder ist er auf Grund einer VO nach § 8a AuslPflVG von diesem Erfordernis befreit,207 so hat der Geschädigte zusätzlich208 einen Direktanspruch gegen den Verein Deutsches Büro Grüne Karte eV (zu Einzelheiten s. Rz. 2.43 ff.)

15.69

Besonderheiten bestehen bei der Geltendmachung von Ansprüchen gegen Mitglieder ausländischer Streitkräfte, des zivilen Gefolges und deren Angehörige (s. Rz. 12.73 ff.). Das AuslPflVG gilt hier nicht (§ 1 Abs. 5 AuslPflVG).

2. Unfälle im Ausland 15.70

Ob ein Direktanspruch besteht, hängt wegen dessen akzessorischer Natur vom anzuwendenden Haftungsrecht ab (s. dazu Rz. 2.18 ff.). Nach § 40 Abs. 4 EGBGB bzw. Art. 18 Rom-IIVO kann sich ein Direktanspruch aber auch aus dem auf den Versicherungsvertrag anzuwendenden Recht ergeben (Rz. 2.38). Führen die beiden Anknüpfungsalternativen zu unterschiedlichen Rechtsordnungen, ist das für den Geschädigten im konkreten Einzelfall günstigere Recht anzuwenden.209

15.71

Zur Erleichterung der Schadensregulierung gegenüber einem ausländischen Versicherer wurden in den Mitgliedstaaten der EU aufgrund Art. 4 der Richtlinie 2000/26/EG v 16.5.2000210 Schadenregulierungsbeauftragte eingerichtet (s. § 163 VAG). Der Geschädigte kann seine Ansprüche dort anmelden (zur Verjährungshemmung s. Rz. 24.40 ff.), ist jedoch an einem unmittelbaren Vorgehen gegen den Unfallverursacher oder dessen Haftpflichtversicherer nicht gehindert (Art. 21 Abs. 4 S. 2 der Richtlinie 2009/103/EG). Hat das Versicherungsunternehmen oder sein Schadenregulierungsbeauftragter binnen drei Monaten keine mit Gründen 205 BGH v. 13.12.1977 – VI ZR 14/76, VersR 1978, 278; Plagemann/Schafhausen NZV 1991, 49, 51. 206 BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 97/70, BGHZ 57, 265; KG v. 19.12.1994 – 12 U 7053/92, VersR 1996, 1035. 207 S. hierzu OLG Karlsruhe v. 27.8.1997 – 14 W 16/97, NZV 1998, 287. 208 BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 97/70, BGHZ 57, 265, 271 ff. 209 BGH v. 1.3.2016 – VI ZR 437/14, NJW 2016, 1648 mit Anm. Luckey. S. auch EuGH v. 9.9.2015 – C-240/14, NJW 2016, 385. 210 Nunmehr Art. 21 der Richtlinie 2009/103/EG v. 16.9.2009 (ABl. Nr. L 263 S. 11).

468 | Greger

IX. Ansprüche bei fehlendem Versicherungsschutz | Rz. 15.73 § 15

versehene Antwort auf den Schadensersatzantrag erteilt und wurden noch keine gerichtlichen Schritte gegen den Versicherer eingeleitet, kann der Geschädigte seine Ansprüche bei der Entschädigungsstelle nach § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2, § 13a PflVG anmelden (Verkehrsopferhilfe eV Hamburg; s. Rz. 2.47).

IX. Ansprüche bei fehlendem Versicherungsschutz 1. Allgemeines Trotz des umfassenden Schutzes durch das PflVG verbleiben Fälle, in denen der bei einem Verkehrsunfall Geschädigte seinen Schaden nicht von einem Haftpflichtversicherer ersetzt verlangen kann, so z.B. wenn das schädigende Fahrzeug wegen Unfallflucht nicht ermittelt werden kann, wenn es nicht versichert ist (und nicht § 117 Abs. 2 VVG eingreift) oder wenn der Schaden vorsätzlich und widerrechtlich herbeigeführt wurde. Die in solchen Fällen bestehende Lücke im Schutz des Verkehrsopfers schließt § 12 PflVG, indem er unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch gegen einen Entschädigungsfonds gewährt. Die Aufgaben dieses Entschädigungsfonds nimmt der Verein Verkehrsopferhilfe eV wahr (§ 13 Abs. 2 PflVG i.V.m. § 1 der VO vom 14.12.1965211). Die Einzelheiten des Verfahrens sind in der Verordnung sowie in der Satzung des Vereins geregelt.212 Zur Verjährung des Anspruchs s. § 12 Abs. 3 PflVG.213 An Ausländer ohne festen Wohnsitz im Inland (z.B. Touristen, Flüchtlinge, Asylbewerber, über deren Antrag noch nicht entschieden ist) leistet der Fonds nur bei Verbürgung der Gegenseitigkeit (§ 11 der VO),214 bei Unfällen Deutscher im Ausland nach § 10 der VO nur subsidiär.215 Hat sich der Unfall nach dem 31.12.2002 in einem Mitgliedstaat der EU oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ereignet, kann der Schadensersatzanspruch unter bestimmten Voraussetzungen gegen den Verein Verkehrsopferhilfe eV als Entschädigungsstelle für Schäden aus Auslandsunfällen (§§ 12a, 13a PflVG) geltend gemacht werden (näher s. Rz. 15.77 ff.).

15.72

2. Entschädigungsfonds für Schäden aus Kfz-Unfällen a) Voraussetzungen Der Anspruch gegen den Fonds nach § 12 PflVG ist – ähnlich dem Direktanspruch nach § 115 VVG – akzessorisch zum Anspruch gegen den Schädiger. Grundvoraussetzung ist daher, dass dem Anspruchsteller ein Ersatzanspruch gegen den Schädiger zusteht. Der Geschädigte hat dies, also die haftungsbegründende Unfallbeteiligung eines anderen Kfz,216 darzutun und zu beweisen. Sodann muss einer der in § 12 Abs. 1 S. 1 PflVG genannten Umstände vorliegen, der den Geschädigten hindert, diesen Anspruch durchzusetzen.217 Eine besondere Bedürftigkeit setzt die Inanspruchnahme des Entschädigungsfonds nicht voraus. Scheitert die Feststellung des Fahrzeugs an vorwerfbarem Verhalten des Geschädigten (z.B. er verlegt die

211 BGBl. I 2093; zuletzt geändert durch VO v. 31.8.2015, BGBl. I 1474. 212 Abgedruckt bei Stiefel/Maier Teil 6 IV. Beschreibung des Verfahrens bei Lemor DAR 2014, 248, 254 f. 213 Näher Weber DAR 1987, 333, 362 f. 214 Zu Einzelheiten s. Stiefel/Maier/Jahnke § 14 PflVG Rz. 10 ff. 215 Stiefel/Maier/Jahnke § 14 PflVG Rz. 3 f. 216 OLG Dresden v. 14.5.2010 – 7 U 283/10, DAR 2012, 460. 217 Wegen der Einzelheiten vgl. Weber DAR 1987, 333, 336 ff.; Lemor DAR 2014, 248, 250.

Greger | 469

15.73

§ 15 Rz. 15.73 | Haftung des Haftpflichtversicherers

Niederschrift mit den Angaben des Unfallbeteiligten oder er stimmt dessen Entfernen vom Unfallort zu, ohne die möglichen Feststellungen durchzuführen), so kann der Fonds nicht in Anspruch genommen werden. Unbedachtes Verhalten unter dem Einfluss der Unfallsituation kann allerdings entschuldbar sein.218 Unterlässt der Geschädigte bei Unfallflucht die unverzügliche Anzeige bei der Polizei, kann er Ansprüche gegen den Fonds nur geltend machen, wenn er nachweist, dass auch diese nicht zur Feststellung des beteiligten Fahrzeugs geführt hätte.

b) Ausschluss 15.74

Der Anspruch besteht nur, wenn der Geschädigte weder vom Halter, Eigentümer oder Fahrer des schädigenden Fahrzeugs noch von einem Schadensversicherer Ersatz verlangen kann und soweit sein Schaden auch nicht durch Leistungen von dritter Seite (Sozialversicherungsträger, Lohnfortzahlung, Amtshaftung) ausgeglichen wird (§ 12 Abs. 1 S. 2 bis 4 PflVG).219 Ausgeschlossen sind ferner Ansprüche wegen der Beschädigung von Verkehrs-, Energieversorgungs- und Telekommunikationseinrichtungen (§ 12 Abs. 1 S. 5 PflVG), so dass z.B. für beschädigte Verkehrszeichen, Leitplanken, Leitungsmasten, Baustellenabsicherungen,220 Brückenbauwerke221 u. dgl. kein Ersatz verlangt werden kann.

c) Umfang 15.75

Zu ersetzen sind grundsätzlich alle Personen- und Sachschäden. Bei Schadensverursachung durch ein nicht zu ermittelndes Kfz (Unfallfluchtfälle) gelten aber Leistungsbeschränkungen (§ 12 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PflVG): Schmerzensgeld wird nur gewährt, wenn dies wegen besonders schwerer Verletzungen aus Billigkeitsgründen geboten ist; für Sachschäden besteht eine Eintrittspflicht nur für den 500 € übersteigenden Betrag; bei reinen Fahrzeugschäden muss zugleich eine erhebliche Verletzung beim Ersatzberechtigten oder einem Insassen vorliegen,222 wobei es nach dem Sinn der Vorschrift nicht darauf ankommt, ob dem Verletzten anderweitige Ersatzansprüche zustehen.223 Im Übrigen bestimmen sich die Ansprüche des Geschädigten nach den Vorschriften, die bei Bestehen einer Versicherung nach dem PflVG und Leistungsfreiheit des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer gelten (§ 12 Abs. 4 PflVG; vgl. hierzu Rz. 15.43 ff.).224

d) Regress 15.76

Die Ansprüche des Ersatzberechtigten gegen die Ersatzverpflichteten gehen auf die Verkehrsopferhilfe über, soweit diese Zahlungen geleistet hat (§ 12 Abs. 6 PflVG). Ob sie zu Recht in die Schadensregulierung eingetreten ist, spielt hierfür keine Rolle.225 Außerdem kann sie wie ein Beauftragter Ersatz der Regulierungskosten fordern (§ 12 Abs. 5 PflVG), d.h. soweit sie den Aufwand für erforderlich halten durfte.226 218 Weber DAR 1987, 333, 338. Sehr weitgehend OLG Celle v. 6.5.2015 – 14 U 181/14, NZV 2016, 130. 219 Eingehend Weber DAR 1987, 333, 344 ff. 220 BGH v. 5.4.1965 – VI ZR 192/76, BGHZ 69, 315. 221 BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 256/82, VersR 1985, 185. 222 Dazu Lemor DAR 2014, 248, 251 m.w.N. 223 OLG Celle v. 6.5.2015 – 14 U 181/14, NZV 2016, 130. 224 Wegen weiterer Einzelheiten s. Weber DAR 1987, 333, 357 ff. 225 OLG Braunschweig v. 9.4.2001 – 6 U 22/00, VersR 2003, 1567. 226 OLG Braunschweig v. 9.4.2001 – 6 U 22/00, VersR 2003, 1567, 1569.

470 | Greger

X. Haftung wegen verzögerter Regulierung | Rz. 15.80 § 15

3. Entschädigungsstelle für Auslandsunfälle a) Voraussetzungen Unter den Voraussetzungen des § 12a Abs. 1, 4 PflVG (s. Rz. 15.73) können Geschädigte mit Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland auch bei Auslandsunfällen Ansprüche gegen den Verein Verkehrsopferhilfe (§ 13a PflVG) geltend machen. Dies ist (abgesehen von Säumigkeit des Versicherers oder Schadenregulierungsbeauftragen) insbesondere der Fall, wenn entweder das schädigende Fahrzeug nicht ermittelt werden kann oder das ersatzpflichtige Versicherungsunternehmen nicht innerhalb von zwei Monaten nach dem Unfall feststellbar ist (§ 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 PflVG). Für die Nichtermittlung des Fahrzeugs kann auf die Anforderungen an das Geschädigtenverhalten (s. Rz. 15.73) Bezug genommen werden. Die zweite Alternative dürfte dank der in jedem Mitgliedstaat der EU eingerichteten Auskunftsstellen (§ 8a PflVG) keine praktische Bedeutung haben. Bei Beteiligung eines zwar bekannten, aber nicht versicherten Kfz kann sich der Geschädigte nur an den Garantiefonds im Unfallstaat halten.

15.77

Bestand und Höhe des Anspruchs richten sich nach den Vorschriften, die für die Inanspruchnahme des Garantiefonds im Unfallstaat gelten (§ 12a Abs. 3 S. 2 PflVG).

15.78

b) Regress Die Entschädigungsstelle, welche den Geschädigten im Wohnsitzstaat entschädigt hat, hat gegenüber der Entschädigungsstelle im Mitgliedstaat der Niederlassung des Versicherungsunternehmens, die die Versicherungspolice ausgestellt hat, Anspruch auf Erstattung des als Entschädigung gezahlten Betrags (Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2009/103/EG). Die Ansprüche des Geschädigten gegen den oder die Unfallverantwortlichen gehen in Höhe der erbrachten Leistungen zunächst auf die regulierende Entschädigungsstelle, dann auf den erstattenden Garantiefonds über (§ 12b PflVG).

15.79

X. Haftung wegen verzögerter Regulierung Eine vom akzessorischen Direktanspruch unabhängige deliktische Haftung des Haftpflichtversicherers gegenüber dem Geschädigten kann eingreifen, wenn er die Schadensregulierung vorsätzlich in schädigender Absicht verzögert und dadurch dem Geschädigten einen Vermögensschaden zufügt.227 Dies wird jedoch nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht kommen. Bei einer diesen Grad von Vorwerfbarkeit nicht erreichenden Regulierungsverzögerung reagiert die Rechtsprechung gelegentlich mit Zuschlägen beim Schmerzensgeld (s. Rz. 33.30). Dem Versicherer muss ausreichende Zeit zur Prüfung der Haftungsfrage eingeräumt werden.228 Wird vor Eintritt von Verzug Klage erhoben, können Kostenfolgen nach § 93 ZPO entstehen,229 nicht aber, wenn der Haftpflichtversicherer auf mehrere Anwaltsschreiben des Unfallgegners nicht reagiert.230

227 Österr. OGH ZVR 2007, 16 mit Anm. Huber. 228 Näher OLG Saarbrücken v. 10.11.2017 – 4 W 16/17, VersR 2018, 733. Zu starr (max. 4 Wochen) OLG Frankfurt v. 6.2.2018 – 22 W 2/18, VersR 2018, 928. 229 Zu den Verzugsvoraussetzungen Pott NZV 2015, 111 ff. 230 OLG Karlsruhe v. 27.9.2019 – 9 W 37/19, MDR 2020, 191.

Greger | 471

15.80

§ 16 Rechtsgeschäftliche Haftung

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung im System der Unfallhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung von Gefälligkeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertragsverletzung . . . . . . . . . . . . . . 1. Beförderungsvertrag . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis zu deliktischen Ansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reparaturvertrag . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sachverständigenvertrag . . . . . . . . . 5. Fahrzeugvermietung . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pflichten des Vermieters . . . . . . . . . . c) Pflichten des Mieters . . . . . . . . . . . . . aa) Anzeigepflicht . . . . . . . . . . . . . . . bb) Obhutspflicht . . . . . . . . . . . . . . . d) Haftungsbeschränkung . . . . . . . . . . . e) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fahrzeugleihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Haftung des Verleihers . . . . . . . . . . . b) Haftung des Entleihers . . . . . . . . . . . . c) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Veranstaltung eines Fahrzeugrennens oder -verbands . . . . . . . . . . 8. Einstellen von Fahrzeugen . . . . . . . . 9. Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16.1 16.1 16.3 16.5 16.5 16.5 16.8 16.10 16.11 16.11 16.12 16.15 16.15 16.16 16.22 16.23 16.23 16.24 16.25 16.25 16.26 16.27 16.28 16.29 16.29 16.30 16.31 16.32 16.33 16.35 16.37

a) Haftung des Arbeitnehmers . . . . . . . b) Haftung des Arbeitgebers auf Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Freistellungspflicht des Arbeitgebers 11. Fahrgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . 12. Fahrschulvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Abschleppvertrag . . . . . . . . . . . . . . . III. Schuldanerkenntnis . . . . . . . . . . . . . 1. Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abstrakter Anerkenntnisvertrag . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Willensmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deklaratorischer Anerkenntnisvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nicht rechtsgeschäftliches Anerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ansprüche aus Vergleich . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unwirksamkeit nach § 779 BGB . . . . b) Störung der Geschäftsgrundlage . . . . c) Einwand unzulässiger Rechtsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anpassung eines Rentenvergleichs . . e) Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Besonderheiten des Prozessvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16.37 16.39 16.41 16.43 16.44 16.46 16.47 16.47 16.48 16.48 16.49 16.50 16.51 16.52 16.52 16.53 16.55 16.56 16.58 16.58 16.59 16.61 16.65 16.66 16.67 16.68 16.69 16.70 16.71

I. Überblick 1. Bedeutung im System der Unfallhaftung Neben Gefährdungshaftung und deliktischer Haftung kommt bei Unfällen im Straßenverkehr auch eine Haftung aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Sonderbeziehung in Betracht. Dies ist insbesondere der Fall, wenn zwei oder mehr Personen miteinander in vertraglichen BeziehunGreger | 473

16.1

§ 16 Rz. 16.1 | Rechtsgeschäftliche Haftung

gen stehen und es zu den Vertragspflichten einer der beiden Personen gehört, für den Nichteintritt eines Unfallschadens zu sorgen (zu einzelnen Vertragstypen s. Rz. 16.5 ff.). Auch ein nicht am Vertrag beteiligter Geschädigter kann vertragliche Ansprüche geltend machen, wenn er in dessen Schutzwirkung einbezogen ist. Dies wird von der Rechtsprechung bejaht, wenn er mit der Hauptleistung nach dem Inhalt des Vertrags bestimmungsgemäß in Berührung kommen soll, ein besonderes Interesse des Gläubigers an der Einbeziehung des Dritten besteht, den Interessen des Schuldners durch Erkennbarkeit und Zumutbarkeit der Haftungserweiterung Rechnung getragen wird und der Dritte schutzbedürftig ist.1

16.2

Die vertragliche Haftung wegen Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) schließt die Haftung aus unerlaubter Handlung und die Haftung aus dem StVG nicht aus, sondern tritt neben sie (vgl. § 16 StVG). Sie ist teilweise enger (keine Anwendbarkeit der §§ 843–845 BGB), teilweise geht sie weiter (Ersatz von Vermögensschäden). Der Verletzte wird sich vor allem dann neben §§ 7, 18 StVG auf Vertrag stützen, wenn die Haftungsgrenzen des § 12 StVG überschritten werden. Weitere Vorteile für den Verletzten bietet die Vertragshaftung dadurch, dass den Schuldner die Beweislast für fehlendes Verschulden trifft (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB; s. aber Rz. 16.37 zur Arbeitnehmerhaftung) und dass er für schuldhafte Handlungen und Unterlassungen seiner Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB ohne Rücksicht auf eigene Schuldlosigkeit haftet. Ein Nachteil gegenüber der Gefährdungshaftung besteht für den Geschädigten darin, dass die vertragliche Haftung Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) des Schädigers oder seines Erfüllungsgehilfen voraussetzt (§ 276 Abs. 1 S. 1 BGB); dieser Nachteil wird jedoch durch die Beweislastregelung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB entschärft. Danach muss der Geschädigte zwar die Pflichtverletzung, der Verletze aber seine Schuldlosigkeit beweisen. Neben der Haftung für Pflichtverletzung spielt im Unfallhaftungsrecht aber auch die selbständige Begründung rechtsgeschäftlicher Verbindlichkeiten, insbesondere durch Schuldanerkenntnis oder Vergleich, eine erhebliche Rolle (s. Rz. 16.47 ff., 16.58 ff.).

2. Abgrenzung von Gefälligkeitsverhältnissen 16.3

Vertrag ist die von zwei oder mehr Personen erklärte Willensübereinstimmung über die Herbeiführung eines bestimmten rechtlichen Erfolges. Wesensmerkmal ist daher der Wille, eine rechtliche Bindung zu begründen. Hierbei entscheidet nicht der innere Wille, sondern es kommt darauf an, wie sich das Verhalten der Beteiligten bei Würdigung aller Umstände einem objektiven Beobachter darstellt.2 Kein Vertrag liegt daher bei Handlungen vor, die lediglich aus Gefälligkeit ohne rechtliche Verpflichtung erfolgen.3 Hierzu zählt i.d.R. die unentgeltliche Mitnahme im Kfz, z.B. als Anhalter. Keine Rolle spielt, ob der Halter oder Führer des Kfz den anderen zur Mitfahrt aufgefordert hat.4 Eine reine Gefälligkeit liegt auch dann vor, wenn der im Kfz Mitgenommene dem Fahrer ein Trinkgeld gibt, nicht aber bei einer vereinbarten Kostenbeteiligung. Auch bei der organisierten, aus wirtschaftlichen Gründen verabredeten Fahrgemeinschaft, z.B. von Arbeitskollegen (s. Rz. 16.43), ist von einer Vertragsbindung auszugehen;5 anders bei der spontanen Überlassung eines älteren Gebrauchtwagens zur kurz-

1 BGH v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12, BGHZ 200, 188 m.w.N. 2 BGH v. 22.6.1956 – I ZR 198/540, BGHZ 21, 102, 107; BGH v. 14.11.1991 – III ZR 4/91, NJW 1992, 498. 3 Zur deliktischen Haftung in diesen Fällen s. Rz. 22.52. 4 BGH v. 14.11.1991 – III ZR 4/91, NJW 1992, 498. 5 Köhler NZV 2011, 105 ff.; Mädrich NJW 1982, 859 ff.

474 | Greger

II. Vertragsverletzung | Rz. 16.6 § 16

zeitigen Benutzung.6 Wer einem anderen Verkehrsteilnehmer Winkzeichen gibt, die andeuten sollen, er könne vorbeifahren, haftet in keinem Falle aus Vertrag (aber u.U. deliktisch; s. Rz. 14.301), wenn der andere diesem Wink folgt und hierdurch einen Unfall verursacht.7 Eine analoge Anwendung vertragsrechtlicher Vorschriften auf die Haftung aus Gefälligkeitsverhältnissen ist mangels Regelungslücke abzulehnen.8 Wenn sich die Beteiligten dafür entscheiden, ihr Verhalten nicht den gesetzlichen Bestimmungen über Vertragspflichten zu unterstellen, können auch nicht einzelne Bestimmungen des Vertragsrechts auf ein lediglich dem Deliktsrecht unterfallendes Gefälligkeitsverhältnis übertragen werden.9 Näher läge eine Deutung des Gefälligkeitsverhältnisses als gesetzliches Schuldverhältnis nach Art der Geschäftsführung ohne Auftrag,10 für die allein entscheidende Frage nach der Begrenzung der Haftung für Schutzpflichtverletzungen bedarf es einer solchen Konstruktion jedoch nicht (s. Rz. 22.52 f.).

16.4

II. Vertragsverletzung 1. Beförderungsvertrag a) Allgemeines Bei diesem Vertrag (i.d.R. Werkvertrag) besteht neben der Pflicht, den anderen oder seine Sachen zu befördern, die weitere Pflicht, die Fahrt ohne Schaden für seine Gesundheit oder sein Eigentum durchzuführen.11 Für die meisten Erscheinungsformen des Beförderungsvertrages gelten Sonderregelungen, die den BGB-Vorschriften vorgehen.12

16.5

Für die Haftung des Spediteurs und des Frachtführers gelten die §§ 407 ff. HGB, für den grenzüberschreitenden, unimodalen13 Verkehr das Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR) v. 19.5.1956. Eine Abbedingung durch AGB ist nur in den Grenzen der §§ 449 bzw. 466 HGB zulässig; auch die CMR ist laut Art. 41 zwingendes Recht. §§ 425 ff. und §§ 461 ff. HGB begründen für den Schaden, der durch Verlust oder Beschädigung des Beförderungsgutes entsteht, eine grundsätzlich verschuldensunabhängige Obhutshaftung mit speziellen Entlastungsmöglichkeiten, die jedoch bei vorsätzlicher oder leichtfertiger Schadensverursachung nicht eingreifen (§§ 435, 461 HGB). Leichtfertigkeit ist z.B. zu bejahen, wenn der Fahrer sich bewusst über von ihm erkannte deutliche Anzeichen einer Übermüdung hinwegsetzt und am Steuer einnickt.14

16.6

6 7 8 9 10 11 12

13 14

OLG Karlsruhe v. 26.2.2003 – 17 U 121/02, OLGR Karlsruhe 2003, 270. OLG Frankfurt v. 12.3.1965 – 3 U 251/64, NJW 1965, 1334 mit Anm. Rother. BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 118/08, NJW 2010, 3087 m.w.N. BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 49/91, NJW 1992, 2474. So Grigoleit, VersR 2018, 769, 780 ff. Abl. BGH v. 23.7.2015 – III ZR 346/14, NJW 2015, 2880 mit Anm. Singbartl/Zintl. Staudinger/Peters Vor § 631 Rz. 77. S. z.B. § 14 der VO über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen v. 27.2.1970 (BGBl. I, 230); zur Haftung gegenüber Eisenbahnfahrgästen s. Art. 11 und Anhang I der VO (EG) Nr. 1371/2007 (ABl. Nr. L 315 v. 3.12.2007, S. 14 ff.). BGH v. 17.7.2008 – I ZR 181/05, NJW 2008, 2782. Für die Beförderung mit verschiedenartigen Beförderungsmitteln gilt das HGB. BGH v. 21.3.2007 – I ZR 166/04, NZV 2007, 566.

Greger | 475

§ 16 Rz. 16.7 | Rechtsgeschäftliche Haftung

16.7

Die Ansprüche aus dem Frachtvertrag kann, obwohl nicht Vertragspartner, auch der Empfänger gegen den Frachtführer15 geltend machen (§ 421 Abs. 1 S. 2 HGB). Besonderheiten gelten auch für die Schadensbemessung:16 Entscheidend ist nicht der Wiederherstellungsaufwand, sondern die Wertminderung (§ 429 Abs. 2, § 461 Abs. 1 HGB). Folgeschäden sind nicht zu ersetzen (§ 432 S. 2 HGB).17

b) Einzelfragen 16.8

Die Pflicht zur schadenverhütenden Verpackung des Ladeguts trifft den Absender (§ 411 HGB). Grundsätzlich ist auch das Verladen einschließlich des beförderungssicheren Befestigens der Ladung Sache des Absenders (§ 412 Abs. 1 S. 1 HGB). Der Frachtführer hat aber dafür zu sorgen, dass sicher verladen wird (§ 412 Abs. 1 S. 2 HGB), ggf. hat er die Beförderung abzulehnen.18 Betriebssichere Verladung bedeutet, dass das Beförderungsmittel während der Beförderung jeder Verkehrslage gewachsen ist, mit der nach den Umständen zu rechnen ist.19 Dazu gehören auch Notbremsungen, nicht aber Unfälle.20 – Der Versender gefährlicher Güter haftet dem Frachtführer bzw. dem Spediteur auch ohne Verschulden für den diesem durch jenes Gut entstandenen Schaden, wenn er es ihm ohne einen besonderen Hinweis auf seine Gefährlichkeit übergeben hatte (§ 414 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 bzw. § 455 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 HGB). Dieser Hinweis muss in Textform erfolgt sein (§ 410 Abs. 1, § 455 Abs. 1 S. 2 HGB), die Formanforderung ist aber abdingbar.21 Wenn der Spediteur oder Frachtführer ohnehin die Gefährlichkeit kannte, kann er sich nicht darauf berufen, dass der vorgeschriebene Hinweis unterblieben war.22 Eine über die vertraglich vereinbarte Wertgrenze hinausgehende Haftung des Transporteurs ist bei unterlassenem Hinweis des Versenders auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens in der Regel zu verneinen.23

16.9

Bei öffentlichen Verkehrsmitteln kommt ein Beförderungsvertrag (durch schlüssiges Verhalten) auch dann zustande, wenn der Fahrgast das Entgelt nicht bezahlen will.24 Will jemand aber nach Abfahrt der Straßenbahn aufspringen und misslingt ihm dies, so kommt kein Beförderungsvertrag zustande.25

c) Verhältnis zu deliktischen Ansprüchen 16.10

Nach § 434 Abs. 1 HGB und Art. 28 CMR gelten die Beschränkungen der Vertragshaftung des Frachtführers wegen Verlust oder Beschädigung auch für eine daneben bestehende außervertragliche Haftung, z.B. aus § 823 Abs. 1 BGB. Dies gilt auch für den Ausschluss von Folgeschäden (§ 432 S. 2 HGB).26 15 Auch Unterfrachtführer; BGH v. 14.6.2007 – I ZR 50/05, NJW 2008, 289 mit Anm. Ramming. 16 Zur Bestimmung des Schadensumfangs bei Geltung der CMR BGH v. 3.3.2005 – I ZR 134/02, NZV 2005, 364. 17 BGH v. 5.10.2006 – I ZR 240/03, NJW 2007, 58. 18 OLG Bamberg v. 9.4.2014 – 3 U 2/13, MDR 2014, 732. 19 BGH v. 20.3.1970 – I ZR 28/69, VersR 1970, 459. 20 Baumbach/Hopt/Merkt § 412 Rz. 1. 21 Baumbach/Hopt/Merkt § 410 Rz. 1. 22 BGH v. 26.10.1977 – I ZR 90/75, VersR 1978, 133 zu § 5b ADSp; s. auch Art. 22 CMR. 23 BGH v. 3.5.2007 – I ZR 109/04, NJW-RR 2008, 347. 24 Erman/Armbrüster vor § 145 Rz. 42 f.; vgl. auch BGH v. 14.7.1956 – V ZR 223/54, BGHZ 21, 319; a.A. Köhler JZ 1981, 464. 25 BGH v. 19.1.1962 – VI ZR 165/61, VersR 1962, 375. 26 BGH v. 5.10.2006 – I ZR 240/03, NJW 2007, 58, 59.

476 | Greger

II. Vertragsverletzung | Rz. 16.14 § 16

2. Reparaturvertrag a) Allgemeines Erfüllt der Reparaturunternehmer den Vertrag mangelhaft, kommt neben den anderen Rechten aus § 634 BGB auch ein Schadensersatzanspruch wegen Pflichtverletzung in Betracht (§ 634 Nr. 4 i.V.m. § 280 Abs. 1 BGB), z.B. für die Folgen eines Unfalls, der auf einen Reparaturfehler zurückzuführen ist. Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch ist, dass der Unternehmer den Mangel i.S.v. § 276 BGB zu vertreten hat; dies wird jedoch vermutet und wäre von ihm zu widerlegen (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB). Bei Übernahme einer Garantie haftet der Unternehmer auch ohne Verschulden (§ 276 Abs. 1 S. 1 BGB). Auch aus der Verletzung von Instruktionspflichten kann sich eine Haftung nach § 280 Abs. 1 BGB ergeben.27

16.11

b) Einzelfragen Der Unternehmer ist verpflichtet, nicht nur diejenigen Wartungs- und Reparaturarbeiten auszuführen, für die ihm ausdrücklich Auftrag erteilt wurde, sondern darüber hinaus den Auftraggeber auf alle Mängel des Kfz hinzuweisen, die er bei den Arbeiten bemerkt, die ihm hätten auffallen müssen oder auf die sich im Allgemeinen der Wartungsdienst erstreckt.28 Er ist nicht verpflichtet, das ganze Elektroniksystem zu überprüfen, wenn der Auftrag wegen Ausfalls eines einzelnen Instruments erteilt wird.29 Als Nebenpflicht schuldet er den Schutz des Fahrzeugs vor Entwendung.30

16.12

Der Monteur oder Tankwart, der die Motorhaube schließt, ohne sich zu überzeugen, dass der Verschluss eingerastet ist, haftet für einen Unfall, der sich wegen Aufklappens der Motorhaube durch den Fahrwind ereignet.31 Der Unternehmer, der nichts dagegen eingewendet hat, als sein Angestellter mit einem Kunden vereinbarte, er werde dessen Wagen nach der Reparatur zurückfahren, haftet nicht für die Folgen eines Unfalls, der sich auf dieser Fahrt ereignet.32 Wird bei einer Probefahrt, die ein im Reparaturunternehmen Beschäftigter mit dem Kundenfahrzeug ausführt, ein Dritter schuldhaft verletzt, so hat der Kunde einen vertraglichen Anspruch gegen den Inhaber der Werkstätte auf Freistellung von seiner Haftung aus § 7 StVG.33

16.13

Die Schutzwirkung des Reparaturvertrages erstreckt sich nicht auf einen Dritten, der das reparierte Fahrzeug vom Auftraggeber kauft; dem Dritten können jedoch deliktische Ansprüche zustehen, weil der Unternehmer, der durch fehlerhafte Bearbeitung oder Wartung einer Sache Gefahren schafft, aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht haftet34 (s. Rz. 14.307). Beauftragt das Reparaturunternehmen einen Abschleppunternehmer mit dem Verbringen des liegengebliebenen Kfz in die Werkstätte, kommt dem Abschleppvertrag auch Schutzwirkung zugunsten des Fahrzeugeigentümers zu; für einen Unfall, den der mit dem Abschleppen be-

16.14

27 LG Stuttgart v. 23.1.1998 – 25 O 652/97, NJW-RR 1998, 960 (Nachziehen der Befestigungsschrauben bei Alu-Felgen). 28 BGH v. 6.4.1967 – VII ZR 298/64, VersR 1967, 707; OLG Köln v. 5.4.1966 – Ss 602/65, NJW 1966, 1468. 29 OLG Koblenz v. 18.7.2019 – 1 U 242/19, NJOZ 2020, 571. 30 BGH v. 23.9.1982 – VII ZR 82/82, NJW 1983, 113. 31 OLG Oldenburg v. 23.11.1966 – 2 U 58/66, DAR 1967, 274; LG Essen v. 29.2.1968, VersR 1968, 562 mit Anm. Kampgens. 32 BGH v. 30.1.1968 – VI ZR 151/66, VersR 1968, 472. 33 RG v. 30.1.1936 – VI 383/35, RGZ 150, 134; vgl. auch – insb. zum Rückgriff des Haftpflichtversicherers gegen den Unternehmer – BGH v. 5.2.1992 – IV ZR 340/90, BGHZ 117, 151 und hierzu Gärtner BB 1993, 1454 ff. 34 BGH v. 15.12.1992 – VI ZR 115/92, NZV 1993, 145.

Greger | 477

§ 16 Rz. 16.14 | Rechtsgeschäftliche Haftung

auftragte Mitarbeiter schuldhaft herbeiführt, haftet das Abschleppunternehmen dem Eigentümer unmittelbar nach §§ 280, 278 BGB.35

3. Kaufvertrag a) Allgemeines 16.15

Als unfallursächliche Pflichtverletzung, die zu einem Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB führen kann, kommt sowohl die Lieferung einer mangelhaften Sache (§ 437 Nr. 3 BGB) als auch die Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht in Betracht. Zum Erfordernis des Vertretenmüssens und zur Beweislast s. Rz. 16.11. Zur Haftung bei Probefahrten s. Rz. 16.30 und Rz. 22.60 ff.

b) Einzelfragen 16.16

Kommt es infolge eines die Verkehrssicherheit beeinträchtigenden Mangels eines Kraftfahrzeugs zu einem Unfall, so haftet der gewerbliche Verkäufer, wenn er schuldhaft eine Untersuchungspflicht verletzt hat.

16.17

Bei einem fabrikneuen Fahrzeug hat der Kfz-Händler zwar eine Probefahrt mit Prüfung der Bremsen durchzuführen, im Übrigen aber keine umfassende Prüfpflicht.36 Dies gilt allerdings nicht für Mängel, die für ihn offensichtlich sind. Hat der Verkäufer vertraglich die Pflicht übernommen, den Wagen vor der Auslieferung prüfen zu lassen, und übersieht der vom Verkäufer beauftragte Kfz-Meister eine Delle an der Felge, die die Luft aus dem Reifen entweichen lässt, so haftet der Verkäufer für seinen Erfüllungsgehilfen, wenn sich ein Unfall ereignet.37 Bei Fabrikationsfehlern greift i.d.R. keine vertragliche Haftung ein, weil zwischen Käufer und Hersteller keine Vertragsbeziehung besteht und den Händler an der Auslieferung des mangelhaften Fahrzeugs kein Verschulden treffen wird. Es kann in diesen Fällen jedoch die Produzentenhaftung eingreifen (vgl. hierzu Rz. 6.1), ferner eine Haftung aus Garantieübernahme (§ 443 BGB), die jedoch keinen Schadensersatzanspruch gewährt.

16.18

Der Händler, der den Verkauf eines Gebrauchtwagens übernommen hat, ist verpflichtet, diesen auf solche Mängel hin zu untersuchen, mit deren Vorhandensein er bzw. seine Angestellten als Fachleute rechnen mussten, und etwa festgestellte Mängel dem Käufer zu offenbaren.38 Bestätigt ein Vertragshändler einer bestimmten Autofirma beim Verkauf eines Gebrauchtwagens der entsprechenden Marke, dass der Wagen sich in technisch einwandfreiem Zustand befindet, so haftet er wegen Übernahme der Betriebssicherheitsgarantie gem. § 434 Abs. 1 S. 1, § 437 Nr. 3, § 280 Abs. 1, § 276 Abs. 1 S. 1 BGB, wenn die aufgezogenen Reifen nicht der Betriebserlaubnis entsprechen und der Käufer daher mit dem Fahrzeug verunglückt; ein etwaiger Gewährleistungsausschluss würde diese Haftung gem. § 444 Alt. 2 BGB nicht ausschließen. Schadensersatzansprüche sind in den Grenzen der §§ 307 bis 309, 444 BGB abdingbar, auch beim Verbrauchsgüterkauf (§ 475 Abs. 3 BGB). Eine Haftung des Händlers kommt

35 36 37 38

OLG Koblenz v. 23.2.2006 – 12 U 230/05, NZV 2007, 463. BGH v. 15.3.1956 – II ZR 284/54, VersR 1956, 259. BGH v. 18.6.1969 – VIII ZR 148/67, VersR 1969, 834. BGH v. 21.1.1975 – VIII ZR 101/73, BGHZ 63, 382, 386; BGH v. 14.3.1979 – VIII ZR 129/78, NJW 1979, 1707. Zur Prüfung des Alters der Reifen s. BGH v. 11.2.2004 – VIII ZR 386/02, NJW 2004, 1032.

478 | Greger

II. Vertragsverletzung | Rz. 16.24 § 16

auch dann in Betracht, wenn er den Gebrauchtwagen als Vertreter des Eigentümers verkauft (§ 311 Abs. 2, 3; § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB).39 Besteht für das Fahrzeug kein Haftpflichtversicherungsschutz mehr, so muss der Händler den Käufer jedenfalls dann auf diesen Umstand hinweisen, wenn er erkennen kann, dass bei ihm insoweit Fehlvorstellungen bestehen. Er haftet sonst gem. § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB für die Ersatzansprüche, denen sich der Käufer infolge eines Unfalls mit dem nicht versicherten Fahrzeug ausgesetzt sieht.40

16.19

Gibt ein Kfz-Händler, der den Auftrag zur Vermittlung des Verkaufs eines Gebrauchtwagens übernommen hat, bei Abschluss des Vermittlungsvertrages keine Erklärung zum Versicherungsschutz für eine Probefahrt ab, so darf der Eigentümer des nicht vollkaskoversicherten Gebrauchtwagens die Annahme des Auftrags dahin verstehen, der Händler werde für eine Fahrzeugversicherung sorgen. Unterlässt der Händler dies, muss er den Eigentümer im Falle der Beschädigung des Fahrzeugs durch einen Probe fahrenden Kaufinteressenten gem. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB so stellen, als hätte er eine Vollkaskoversicherung für das in seine Obhut genommene Fahrzeug abgeschlossen.41 Ein Händler, der aufgrund der Sonderbedingungen für Kraftfahrzeughandel und -handwerk eine eingeschränkte Fahrzeugversicherung abgeschlossen hat, haftet dem Kunden wegen unrichtiger Auskunft ebenso, wenn er ihm rät, bei einer Fahrt zum Werk und zurück mit Überführungskennzeichen keinen eigenen Versicherungsvertrag abzuschließen.42

16.20

Ein Reifenhändler muss sicherstellen, dass er keine überalterten Reifen in den Verkehr bringt.43

16.21

4. Sachverständigenvertrag Der Sachverständige, der sich vertraglich zur Überprüfung der Verkehrssicherheit verpflichtet hat, hat alle nach dem Stand der Wissenschaft üblichen Methoden anzuwenden.

16.22

5. Fahrzeugvermietung a) Allgemeines Für Schäden, die sich aus einem Mangel des vermieteten Fahrzeugs ergeben, haftet der Vermieter dem Mieter gem. § 536a BGB ohne Verschulden, wenn der Mangel bereits bei Vertragsschluss vorlag, bei späterer Entstehung nur bei Verschulden. Außerdem kommt eine Haftung aus Verletzung vertraglicher Nebenpflichten in Betracht (s. Rz. 16.24).

16.23

b) Pflichten des Vermieters Er muss dem Selbstfahrer ein betriebstüchtiges und verkehrssicheres Fahrzeug übergeben. Auf besondere Gefahren (z.B. extreme Windempfindlichkeit eines Anhängers) muss er ihn

39 Vgl. BGH v. 14.3.1979 – VIII ZR 129/78, NJW 1979, 1707. 40 BGH v. 26.10.1988 – VIII ZR 230/87, NZV 1989, 107; BGH v. 31.10.1990 – VIII ZR 186/89, NZV 1991, 108. 41 BGH v. 8.1.1986 – VIII ZR 8/85, VersR 1986, 492. 42 BGH v. 14.3.1973 – IV ZR 168/71, VersR 1973, 411. 43 LG Frankfurt/M v. 14.12.1990 – 2/10 O 262/90, NZV 1992, 194. Zum Verschulden bei Runderneuerung OLG Koblenz v. 22.9.1988 – 5 U 249/88, VRS 77, 427. Zur Prüfpflicht anhand der DOT-Nummer OLG Nürnberg v. 5.2.2002 – 3 U 3149/01, NJW-RR 2002, 1247.

Greger | 479

16.24

§ 16 Rz. 16.24 | Rechtsgeschäftliche Haftung

hinweisen,44 auch auf ungewöhnliche, dem Mieter unbekannte versicherungsrechtliche Risiken.45 Bei Vermietung eines Fahrrads haftet der Vermieter, wenn der Lenkergriff infolge seiner Beschaffenheit oder eines Konstruktionsmangels nicht festsitzt.46

c) Pflichten des Mieters aa) Anzeigepflicht

16.25

Zeigt sich während der Mietzeit ein Mangel am Kraftfahrzeug, hat der Mieter dem Vermieter unverzüglich Anzeige zu machen (§ 536c BGB). Unterlässt er die Anzeige, macht er sich gegenüber dem Vermieter schadensersatzpflichtig und hat bei einem auf dem Mangel beruhenden Unfall keine Schadensersatzansprüche (§ 536c Abs. 2 Nr. 2 BGB). bb) Obhutspflicht

16.26

Der Mieter muss eine Beschädigung des Fahrzeugs, z.B. durch einen Unfall, vermeiden und haftet ansonsten auf Schadensersatz. Zu seiner vertraglichen Pflicht gehört es auch, sich so zu verhalten, dass dem Vermieter durch den Gebrauch des Fahrzeugs keine Belastung mit Schadensersatzpflichten entsteht. Verletzt er oder sein Erfüllungsgehilfe diese Vertragspflicht schuldhaft, macht er sich dem Vermieter gegenüber gem. § 280 Abs. 1 BGB schadensersatzpflichtig;47 ggf. hat er ihn von Ansprüchen Dritter freizustellen. Erleidet der Mieter selbst einen Schaden durch das Kraftfahrzeug (etwa, weil sein Erfüllungsgehilfe damit eine ihm gehörende Sache beschädigt), so ist er aus dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung gehindert, gegen den Vermieter Ansprüche aus dessen Halterhaftung zu erheben.48

d) Haftungsbeschränkung 16.27

Verspricht der gewerbliche Autovermieter dem Mieter, ihn gegen Zahlung eines Entgelts von der Haftung für Unfallschäden ohne Selbstbeteiligung freizustellen, so muss er diese Volldeckung nach dem Leitbild einer Vollkaskoversicherung ausgestalten.49 Versicherungsschutz muss daher auch bestehen für den Fall, dass der Mieter das Fahrzeug einem Dritten überlässt; eine entgegenstehende Klausel wäre nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksam.50 In der Vereinbarung der Volldeckung liegt zugleich ein Verzicht auf die Inanspruchnahme des Dritten wegen leicht fahrlässig verursachter Schäden.51 Unwirksam ist auch eine Klausel, wonach die gegen Entgelt gewährte Haftungsbefreiung im Fall grober Fahrlässigkeit (zu diesem Begriff s.

44 LG Konstanz v. 12.6.1998 – 6 S 9/98, NJW-RR 1999, 279. Zur Instruktion in die Bedienung eines Segway-Rollers LG Bonn v. 13.10.2017 – 15 O 332/16, NJW 2018, 319. 45 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 63/04, NZV 2007, 196 (haftpflichtversicherungsfreies Baufahrzeug). 46 BGH v. 22.9.1982 – VIII ZR 246/81, VersR 1982, 1145. 47 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, BGHZ 116, 200. 48 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, BGHZ 116, 200; krit. Gärtner BB 1993, 1454 ff. 49 BGH v. 29.10.1956 – II ZR 64/56, BGHZ 22, 109, 114; Nugel NZV 2011, 1, 2. Zur Auslegung einer entspr. Formularklausel BGH v. 19.1.2005 – XII ZR 107/01, NJW 2005, 1183; zur Ausnahme von Schäden wegen Fehleinschätzung der Durchfahrtshöhe OLG Karlsruhe v. 10.3.2008 – 1 U 15/08, NZV 2008, 404. 50 BGH v. 20.5.2009 – XII ZR 94/07, BGHZ 181, 179; BGH v. 17.12.1980 – VIII ZR 316/79, NJW 1981, 1211. 51 BGH v. 16.12.1981 – VIII ZR 1/81, NJW 1982, 987.

480 | Greger

II. Vertragsverletzung | Rz. 16.29 § 16

Rz. 35.121 ff.) entfällt; an ihre Stelle tritt der Grundgedanke des § 81 Abs. 2 VVG.52 Eine AGB-Klausel, wonach die Haftungsfreistellung uneingeschränkt entfällt, wenn der Mieter bei einem Unfall nicht die Polizei hinzuzieht, ist nach § 307 BGB unwirksam; stattdessen gilt § 28 Abs. 2, 3 VVG.53 Unwirksam ist auch die Klausel, wonach der Mieter die Beweislast dafür tragen soll, dass Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit nicht vorgelegen haben.54 Gibt der Mieter das Fahrzeug nach Ablauf der Mietdauer nicht zurück, besteht für die Zeit danach keine Haftungsbeschränkung mehr.55 Ist im Mietvertrag ausdrücklich Teilkaskoversicherung vereinbart, erfasst die Freistellung nur darunter fallende Schäden.56 – Bei Vereinbarung einer Haftungsbefreiung mit Selbstbeteiligung finden ebenfalls die Grundsätze der Kaskoversicherung, insb das Quotenvorrecht bei Mitverantwortung des Mieters, entsprechende Anwendung.57

e) Verjährung Die Ansprüche des Vermieters wegen Beschädigung des Mietwagens verjähren in sechs Monaten (§ 548 Abs. 1 S. 1 BGB). Diese kurze Frist gilt auch zugunsten eines Minderjährigen, der aufgrund eines von seinen Eltern ausdrücklich missbilligten und daher nichtigen Mietvertrags ein Kfz in Besitz genommen hatte.58 Sie wirkt sich auch zugunsten des Fahrers aus, den der Mieter mit dem Führen des Kfz beauftragt hat, obwohl es an einer unmittelbaren Vertragsbeziehung zu diesem fehlt.59 Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Vermieter das Kfz zurückerhält (§ 548 Abs. 1 S. 2 BGB). Liegt Totalschaden vor und wird das Wrack nicht zum Vermieter zurückgebracht, so beginnt die Verjährung, sobald der Vermieter in die Lage versetzt wird, über das Wrack tatsächlich zu verfügen. Abweichende Vereinbarungen sind im Rahmen des § 202 BGB möglich, in AGB nach Maßgabe von § 307 BGB.60

16.28

6. Fahrzeugleihe a) Haftung des Verleihers Das zur Haftung des Vermieters Gesagte gilt entsprechend mit der Maßgabe, dass der Verleiher nach § 599 BGB nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit61 haftet. Diese Beschränkung gilt auch gegenüber einer Person, die lediglich in die Schutzwirkung des Leihvertrages einbezogen ist, etwa gegenüber dem Mitfahrer auf einem geliehenen Motorrad62 und auch für die deliktische Haftung.63

52 BGH v. 11.10.2011 – VI ZR 46/10, BGHZ 191, 150; BGH v. 15.7.2014 – VI ZR 452/13, NZV 2014, 508. 53 BGH v. 14.3.2012 – XII ZR 44/10, NJW 2012, 2501. 54 BGH v. 1.10.1975 – VIII ZR 130/74, BGHZ 65, 118. 55 OLG Köln v. 12.3.1997 – 11 U 196/96, VersR 1997, 1238. 56 OLG Düsseldorf v. 28.7.1994 – 10 U 82/93, VersR 1996, 71. 57 BGH v. 25.11.2009 – XII ZR 211/08, NJW 2010, 677. 58 BGH 31.1.1967 – VI ZR 105/65, NJW 1967, 980, 1320 mit krit. Anm. Berg NJW 1967, 1320. 59 BGH v. 7.2.1968 – VIII ZR 179/65, BGHZ 49, 278. 60 Vgl. BGH v. 16.3.1994 – XII ZR 245/92, NJW 1994, 1788 (zum früheren Verjährungsrecht). 61 Verneint von OLG Stuttgart v. 29.5.1991 – 4 U 125/90, VersR 1993, 192 bei unterlassenem Hinweis auf möglichen Scheinwerferausfall am Motorrad. 62 Vgl. OLG Köln v. 4.6.1986 – 13 U 270/85, VersR 1988, 381. 63 OLG Stuttgart v. 29.5.1991 – 4 U 125/90, VersR 1993, 192.

Greger | 481

16.29

§ 16 Rz. 16.30 | Rechtsgeschäftliche Haftung

b) Haftung des Entleihers 16.30

Der Entleiher haftet aus § 280 Abs. 1 BGB für alle Schäden, die adäquat-kausal durch die unerlaubte Überlassung des Fahrzeugs an einen Dritten entstanden sind;64 sein Verschulden muss sich nur auf das vertragswidrige Verhalten, nicht auch auf den dadurch verursachten Schaden beziehen.65 – Eine Beschränkung der Haftung für Beschädigungen auf grobe Fahrlässigkeit kann sich aus den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen für Probefahrten66 (s. Rz. 22.60 ff.) oder aus einem schutzwürdigen Vertrauen auf das Bestehen einer Vollkaskoversicherung ergeben. So kann z.B. der Kraftfahrzeugverkäufer, der dem Käufer für die Dauer einer Garantiereparatur ein anderes Kraftfahrzeug leiht, für von diesem leicht fahrlässig verursachte Schäden keinen Ersatz verlangen, wenn er es unterlassen hat, den Käufer auf fehlenden Kaskoversicherungsschutz hinzuweisen, obgleich er wusste, dass dieser beim Kauf des jetzt von ihm zu reparierenden Fahrzeugs entscheidenden Wert auf Vollkaskoversicherung gelegt hatte.67 Dagegen kann der Kunde einer Reparaturwerkstatt, dem auf eigenen Wunsch für die Dauer der Reparatur ein Ersatzfahrzeug kostenlos zur Verfügung gestellt wird, nicht auf das Bestehen einer Vollkaskoversicherung vertrauen.68

c) Verjährung 16.31

Die mietrechtlichen Regelungen (s. Rz. 16.28) gelten entsprechend (§ 606 BGB). Der BGH wendet sie auch bei Überlassung eines Kfz zur Probefahrt an.69 Die Sechsmonatsfrist beginnt spätestens mit der Rückgabe des Wagens zu laufen, auch wenn der Wagen gar nicht als Kaufgegenstand in Aussicht genommen war.70

7. Veranstaltung eines Fahrzeugrennens oder -verbands 16.32

Der Veranstalter eines Rennens hat dafür zu sorgen, dass die Zuschauer nicht gefährdet werden.71 Die Rennfahrer sind bei diesem Vertrag seine Erfüllungsgehilfen, für deren Pflichtwidrigkeiten er daher nach § 278 BGB ebenso einzustehen hat72 wie für eine Pflichtwidrigkeit seines Rennleiters. Aufgrund der Vertragsbeziehungen mit Rennwageneigentümern und -fahrern schuldet er diesen die ordnungsgemäße Sicherung der Strecke und die fachgerechte Durchführung des Rennens.73 Auch gegenüber den Teilnehmern an einem Radfahrerverband (§ 27 StVO) treffen den Veranstalter Sicherungspflichten (z.B. wenn der Verband eine Vorfahrtstraße kreuzt); die Anforderungen dürfen aber nicht überzogen werden.74 Ein vertraglicher Haftungsverzicht ist üblich, in AGB aber nur wirksam, wenn § 309 Nr. 7 BGB beachtet wird. Zur Verkehrssicherungspflicht bei Rennveranstaltungen s. Rz. 13.163. 64 BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 88/61, BGHZ 37, 306, 309. 65 BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 118/08, NJW 2010, 3087. 66 OLG Hamm v. 12.2.1990 – 23 U 30/89, NZV 1990, 350: Überlassung eines Neufahrzeugs mit roten Kennzeichen, weil rechtzeitige Zulassung nicht mehr möglich war. 67 BGH v. 29.11.1978 – VIII ZR 7/78, VersR 1979, 280. Weitergehend OLG Hamm v. 3.2.1993 – 32 U 281/91, NZV 1993, 349; OLG Hamm v. 17.12.1999 – 29 U 54/99, VersR 2001, 376 mit abl. Anm. Wandt. 68 LG Nürnberg-Fürth v. 18.1.1996 – 2 S 9708/95, NZV 1996, 203. 69 BGH v. 18.2.1964 – VI ZR 260/62, NJW 1964, 1225. 70 BGH v. 21.5.1968 – VI ZR 131/67, VersR 1968, 777. 71 Zum Umfang der Sicherungspflichten s. BGH v. 26.11.1974 – VI ZR 164/73, VersR 1975, 329. 72 RG JW 1930, 2925 mit Anm. Endemann. 73 OLG Koblenz v. 24.3.1986 – 12 U 252/84, VersR 1987, 1148. 74 OLG Hamm v. 6.2.2014 – 6 U 80/13, NZV 2014, 359 betr. Nachzügler.

482 | Greger

II. Vertragsverletzung | Rz. 16.37 § 16

8. Einstellen von Fahrzeugen Bei einem bewachten Parkplatz liegt regelmäßig ein Verwahrungsvertrag vor.75 Beim Stellplatz in einer Sammel- oder Einzelgarage wird von der h.M. ein Mietvertrag angenommen.76 Ein Unternehmer, der eine Tiefgarage für Kunden betreibt, ist zu einer ständigen Bewachung der abgestellten Wagen nicht verpflichtet und haftet bei deren Beschädigung nicht, wenn er die parkenden Fahrzeuge im Umfang einer üblichen Vollkaskoversicherung mit der Maßgabe versichert hat, dass der Geschädigte einen unmittelbaren Anspruch gegen den Versicherer hat.77

16.33

Der Gastwirt haftet, wenn im Rahmen des Beherbergungsvertrages (sei es auch ohne gesonderte Berechnung eines Entgelts) ein Mietvertrag für das Abstellen des Fahrzeugs des Gastes auf einem Parkplatz oder in einer Sammelgarage abgeschlossen wurde, nach § 536a Abs. 1 BGB ohne Verschulden, wenn das Fahrzeug infolge eines Mangels der Abstellfläche (z.B. fehlende Sicherung gegen herabfallende Äste) beschädigt wird; die Haftung für solche Gefahren wird auch durch ein Schild „Parken auf eigene Gefahr“ nicht ausgeschlossen.78

16.34

9. Auftrag Wer einen anderen mit dem Führen seines Kfz beauftragt, haftet für das Bestehen von Haftpflichtversicherungsschutz. Wegen eines Schadens, den der Auftraggeber bei einer nicht versicherten Fahrt erleidet, haftet der Fahrer, außer bei besonders schwerem Verschulden, nicht, wenn hierfür der Versicherer hätte aufkommen müssen.79

16.35

Erleidet der Beauftragte bei der Durchführung des Auftrags unverschuldet einen Schaden oder wird er einem Dritten gegenüber haftpflichtig (z.B. aus Gefährdungshaftung), so hat er gegen den Auftraggeber, sofern ihm nicht Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, einen Ersatz- bzw. Freistellungsanspruch analog § 670 BGB.80 Dies gilt auch im Rahmen von Geschäftsbesorgungsverhältnissen,81 bei entgeltlichem Tätigwerden – sei es auch nur gegen eine Kostenpauschale – aber nur bei besonderer Vereinbarung.82

16.36

10. Arbeitsvertrag a) Haftung des Arbeitnehmers Der Arbeitnehmer haftet dem Arbeitgeber für verschuldete Schäden am überlassenen Kfz nicht nur aus Delikt, sondern auch aus Verletzung des Arbeitsvertrags.83 Die Beweislastumkehr bzgl. des Verschuldens (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB) greift hier jedoch nicht ein (§ 619a BGB). Die Ersatzpflicht umfasst auch den Prämienmehraufwand durch Rückstufung in der Haft-

OLG Köln v. 26.5.1993 – 27 U 216/92, VersR 1994, 693. LG Köln v. 17.3.1982 – 23 O 621/81, VersR 1983, 69; Geigel/Bacher Kap. 28 Rz. 304 m.w.N. BGH v. 15.11.1971 – VIII ZR 62/70, NJW 1972, 150. BGH v. 18.12.1974 – VIII ZR 187/73, BGHZ 63, 333. BGH v. 13.11.1968 – IV ZR 507/68, VersR 1969, 49. Vgl. BGH v. 30.10.1962 – VI ZR 4/62, NJW 1963, 251, 252 zu gefälligem Abschleppen. Z.B. zwischen einem Verein und seinem ehrenamtlichen Jugendleiter, BGH v. 5.12.1983 – II ZR 252/82, BGHZ 89, 153 = JZ 1984, 619, 620 mit Anm. Löwisch. 82 BGH v. 18.9.1984 – VI ZR 316/82, NJW 1985, 269. 83 BAG v. 12.11.1998 – 8 AZR 221/97, BAGE 90, 148 = DAR 1999, 182 mit Anm. Kärger. 75 76 77 78 79 80 81

Greger | 483

16.37

§ 16 Rz. 16.37 | Rechtsgeschäftliche Haftung

pflichtversicherung.84 Eine Beschränkung der Haftung kann sich aus einem mitwirkenden Organisationsverschulden des Arbeitgebers,85 aber auch aus den allgemeinen Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs (s. Rz. 22.67 ff.) ergeben.

16.38

Die Überlassung eines Dienstwagens auch zum privaten Gebrauch ist zwar Bestandteil der Vergütung; die mietrechtlichen Vorschriften über Sachmängel und Schadensersatz sind jedoch entsprechend anwendbar.86 Dies gilt auch für die kurze Verjährung nach § 548 BGB.87

b) Haftung des Arbeitgebers auf Schadensersatz 16.39

Bei schuldhafter Verletzung einer Schutz-, Fürsorge- oder Obhutspflicht kommt eine Haftung aus § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB in Betracht, so z.B. wenn der Arbeitgeber seinem Fahrer ein mit technischen Mängeln behaftetes und daher einen Unfall verursachendes oder ein nicht ausreichend versichertes Fahrzeug zur Verfügung stellt. Beruht ein Unfall auf einem Mangel des Fahrzeugs, von dem der Fahrer keine Kenntnis hatte, und wäre der Mangel bei Durchführung des vom Hersteller vorgeschlagenen Wartungsdienstes entdeckt worden, so beruht der Unfall auf dem pflichtwidrigen Unterlassen.88 Aus dem Arbeitsvertrag ergibt sich keine Pflicht des Arbeitgebers, für die Fahrzeuge, die Arbeitnehmer auf dem ihnen hierfür zur Verfügung gestellten Parkplatz abstellen, eine Schadensversicherung abzuschließen;89 zu Haftungsverzichtserklärungen in solchen Fällen s. Rz. 22.48.

16.40

Eine schuldlose Haftung des Arbeitgebers (hergeleitet aus entsprechender Anwendung des § 670 BGB) kommt in Betracht, wenn der Arbeitnehmer sein eigenes Fahrzeug mit Einwilligung und im Interesse des Arbeitgebers ohne besondere Vergütung in dessen Betätigungsbereich verwendet und das Fahrzeug hierbei beschädigt wird;90 der Ersatzanspruch umfasst außer dem reinen Sach- auch den Nutzungsausfallschaden.91 Um einen Einsatz im Betätigungsbereich des Arbeitgebers handelt es sich, wenn der Arbeitgeber anderenfalls ein eigenes Fahrzeug einsetzen müsste; auch eine Beschädigung während des Bereithaltens des Fahrzeugs zwischen zwei Dienstfahrten in der Nähe des Betriebs kann darunter fallen.92 Erhält der Arbeitnehmer lediglich eine der steuerrechtlichen Kilometerpauschale entsprechende Vergütung, so schließt dies den Anspruch nicht aus;93 ein durch Rückstufung in der Haftpflichtversicherung verursachter Vermögensschaden ist dadurch jedoch abgegolten.94 Ein etwaiges Mitverschulden des Arbeitnehmers an dem Unfall schließt seinen Schadensersatzanspruch nicht von vornherein aus, denn der Arbeitnehmer hat sich in den vorbezeichneten Fällen im Tätigkeitsbereich des Arbeitgebers in eine Situation begeben, in der auch verschuldete Unfälle oft vorkommen. Es müssen deshalb die Grundsätze über die beschränkte Haftung des Arbeit-

84 BAG v. 23.6.1981 – 3 AZR 648/79, VersR 1982, 480. 85 Vgl. BAG v. 12.11.1998 – 8 AZR 221/97, BAGE 90, 148 = DAR 1999, 182 mit Anm. Kärger (fehlende Freisprecheinrichtung); Krause NZA 2003, 577, 584. 86 Erman/Edenfeld § 611 Rz. 474. 87 LAG Baden-Württemberg v. 3.2.1978 – 7 Sa 150/77, Betrieb 1978, 703; LG Stuttgart v. 26.9.1990 – 5 S 135/90, VersR 1991, 667 (für beendigtes Arbeitsverhältnis); a.A. BAG v. 11.4.1984 – 7 AZR 115/81, NJW 1985, 759. 88 Vgl. BGH v. 15.2.1966 – VI ZR 201/64, VersR 1966, 564. 89 BAG v. 16.3.1966 – 1 AZR 340/65, NJW 1966, 1534. 90 BAG v. 8.5.1980 – 3 AZR 82/79, NJW 1981, 702. 91 BAG v. 7.9.1995 – 8 AZR 515/94, NZV 1996, 144. 92 BAG v. 14.12.1995 – 8 AZR 875/94, NJW 1996, 1301. 93 Schiefer NJW 1993, 966, 969. 94 BAG v. 30.4.1992 – 8 AZR 409/91, NZV 1993, 148; Schiefer NJW 1993, 966, 968.

484 | Greger

II. Vertragsverletzung | Rz. 16.44 § 16

nehmers (Rz. 22.67 ff.) auch hier eingreifen, mit der Folge, dass ein geringes Mitverschulden den Ersatzanspruch nicht mindert.95

c) Freistellungspflicht des Arbeitgebers Schädigt der Arbeitnehmer in Ausführung seiner Arbeit einen Dritten, so kann er im gleichen Maße, wie er bei einer Schädigung des Arbeitgebers diesem gegenüber von der Haftung frei würde (s. Rz. 22.67 ff.), vom Arbeitgeber verlangen, dass er ihn von seiner Haftung gegenüber dem Dritten freistellt.96 Der Befreiungsanspruch des Arbeitnehmers geht nicht dadurch verloren, dass er wegen Obliegenheitsverletzung seinen Versicherungsschutz verliert.97

16.41

Aufgrund seiner Fürsorgepflicht hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch von Rückgriffsansprüchen des leistungsfreien Haftpflichtversicherers freizustellen, wenn er ihm ein nicht versichertes oder nicht verkehrssicheres Kfz zur Benutzung im öffentlichen Verkehr überlassen oder wenn er ihn als Kraftfahrer im öffentlichen Verkehr eingesetzt hat, obwohl er wusste, dass er nicht die erforderliche Fahrerlaubnis besitzt.98 Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer auch nicht auf Ersatz der Zahlungen in Anspruch nehmen, die er im Wege des Regresses an den leistungsfreien Versicherer leisten muss.99 Der Freistellungsanspruch wird nicht dadurch eingeschränkt, dass der Arbeitnehmer den Unfall grob fahrlässig verursacht hat.100

16.42

11. Fahrgemeinschaft Soweit zwischen den Teilnehmern einer Fahrgemeinschaft (etwa zwischen Arbeitskollegen) überhaupt eine rechtsgeschäftliche Bindung besteht (s. Rz. 16.3 ff.), haftet der Fahrer für die Schädigung eines Mitfahrers bei schuldhafter Verletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) des (je nach Ausgestaltung der Gemeinschaft) Gesellschafts-, Beförderungs- oder Geschäftsbesorgungsvertrages.101 Auf die Haftungsbeschränkung des § 708 BGB („Sorgfalt wie in eigenen Angelegenheiten“) kann sich der Fahrer auch bei Vorliegen eines Gesellschaftsvertrages nicht berufen (s. Rz. 10.57). Zur Vereinbarung eines Haftungsausschlusses s. Rz. 22.36 ff. – Eine Eintrittspflicht des Teilnehmers für von ihm nicht verschuldete Schäden am benutzten Fahrzeug kommt nur nach gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen in Betracht, wenn das Fahrzeug gemeinschaftliches Vermögen darstellt. Bei den anderen Vertragsgestaltungen verbleibt es beim Grundsatz „casum sentit dominus“.102

16.43

12. Fahrschulvertrag Der Fahrlehrer haftet dem Schüler aus Verletzung des Ausbildungsvertrages, wenn er die Nebenpflicht verletzt, den Schüler vor vermeidbaren Schäden zu bewahren. Die Sorgfaltsanforderungen entsprechen denen der deliktischen Haftung (s. Rz. 14.313 f.). Ist er angestellter

95 BAG v. 8.5.1980 – 3 AZR 82/79, NJW 1981, 702. Zur entsprechenden Problematik bei Beamten vgl. OVG Koblenz v. 18.12.1985 – 2 A 43/85, NJW 1986, 1830. 96 BAG v. 18.1.1966 – 1 AZR 247/63, NJW 1967, 238. 97 OLG Düsseldorf v. 1.8.1967 – 4 U 232/66, VersR 1968, 82. 98 BAG v. 23.6.1988 – 8 AZR 300/85, NJW 1989, 854. 99 BAG v. 6.7.1964 – 1 AZR 17/64, NJW 1964, 2445. 100 BAG v. 23.6.1988 – 8 AZR 300/85, NJW 1989, 854. 101 Vgl. hierzu Mädrich NJW 1982, 859, 860. 102 Offengelassen von BGH v. 14.11.1991 – III ZR 4/91, NJW 1992, 498.

Greger | 485

16.44

§ 16 Rz. 16.44 | Rechtsgeschäftliche Haftung

Fahrlehrer, haftet er selbst nur deliktisch; die vertragliche Haftung trifft den Inhaber der Fahrschule.103

16.45

Eine vertragliche Haftung des Fahrschülers kommt in Betracht, wenn er dem Fahrlehrer bzw. dem Inhaber der Fahrschule schuldhaft einen Schaden zufügt. Dies ist nicht der Fall, wenn sein Versagen im Straßenverkehr im Hinblick auf den Ausbildungsstand nicht vorwerfbar ist.104

13. Abschleppvertrag 16.46

Der Eigentümer des abgeschleppten Fahrzeugs ist nicht in die Schutzwirkung des Vertrags einbezogen, den eine Verwaltungsbehörde mit einem privaten Abschleppunternehmer abschließt, denn ihm stehen ggf. Ansprüche aus Amtshaftung und öffentlich-rechtlicher Verwahrung zu.105 Zum Abschleppen im Rahmen eines Reparaturauftrags s. Rz. 16.14.

III. Schuldanerkenntnis 1. Formen 16.47

Erkennt ein Unfallbeteiligter seine Verantwortlichkeit für den Schadensfall an, kann es sich hierbei handeln um – ein konstitutives (abstraktes) Schuldanerkenntnis, durch welches eine gesonderte, von der gesetzlichen Haftpflicht unabhängige Verbindlichkeit geschaffen werden soll (eher ungewöhnlich; s. Rz. 16.48 ff.), – ein deklaratorisches (kausales) Schuldanerkenntnis, durch welches die bestehende Verbindlichkeit lediglich bestätigt werden soll (Rz. 16.52 ff.), – ein rein tatsächliches, nicht rechtsgeschäftliches Anerkenntnis, welches lediglich der Beweiserleichterung dient (Rz. 16.56 f.). Was im Einzelfall gewollt ist, ist durch Auslegung zu ermitteln.

2. Abstrakter Anerkenntnisvertrag a) Allgemeines 16.48

Die Haftung für die Folgen eines Verkehrsunfalls kann sich nicht nur aus dem Unfall als solchem (i.V.m. § 823 BGB, § 7 StVG, § 280 Abs. 1 BGB u.A.), sondern auch aus einem hiervon unabhängigen, abstrakten, mithin konstitutiv wirkenden Schuldanerkenntnisvertrag (§ 781 BGB) ergeben. Liegt ein solcher vor, gründet sich die Verbindlichkeit des Erklärenden allein auf ihn; auf die haftungsrechtliche Beurteilung des Unfalls kommt es nicht mehr an. Ein derartiges abstraktes Anerkenntnis ist bei Verkehrsunfällen jedoch die Ausnahme. Die Regulierungszusage des Haftpflichtversicherers ist kein abstraktes Schuldversprechen;106 dies gilt

103 Vgl. OLG Frankfurt v. 14.7.1987 – 11 U 28/85, NJW-RR 1988, 26; OLG Saarbrücken v. 17.7.1997 – 3 U 324/96-54, NZV 1998, 246. 104 OLG Düsseldorf v. 12.10.1965 – 4 U 166/65, NJW 1966, 736. 105 BGH v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12, BGHZ 200, 188. 106 BGH v. 19.11.2008 – IV ZR 293/05, VersR 2009, 106.

486 | Greger

III. Schuldanerkenntnis | Rz. 16.52 § 16

auch für die ausdrückliche Erklärung, er verpflichte sich, als Versicherer des Haftpflichtigen alle aus Anlass des tödlichen Unfalls entstandenen Aufwendungen zu ersetzen.107

b) Voraussetzungen Eine Erklärung, die die Haftung unabhängig vom Unfallverlauf begründen soll, bedarf der Schriftform (§§ 780, 781 BGB), sofern es sich nicht (wie bei Versicherungsunternehmen) um ein Handelsgeschäft handelt (§ 350 HGB).108 Es muss aus ihr hervorgehen, dass eine selbständige, vom Schuldgrund unabhängige Verpflichtung begründet werden soll.109 Sie muss vom anderen Teil angenommen worden sein, was allerdings auch stillschweigend erfolgen kann.

16.49

c) Verjährung Das Anerkenntnis bewirkt, dass die Verjährung des zugrunde liegenden Anspruchs neu beginnt (§ 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Der hinzutretende Anspruch aus dem abstrakten Schuldanerkenntnis unterliegt eigener Verjährung. An die Stelle der bisherigen 30-jährigen Verjährungsfrist nach § 195 BGB a.F. ist jedoch seit Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes am 1.1.2002 die allgemeine dreijährige Frist nach § 195 BGB n.F. getreten (wegen der Übergangsregelung für ältere Ansprüche s. Art. 229 § 6 EGBGB und Rz. 24.92 ff.; zur Möglichkeit verlängernder Vereinbarungen s. Rz. 24.97). Die Frist beginnt mit dem Abschluss des Jahres, in dem das Anerkenntnis abgegeben wurde (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB).

16.50

d) Willensmangel Das Anerkenntnis kann gem. § 812 Abs. 2 BGB im Wege des Bereicherungsanspruchs zurückgefordert und damit unwirksam werden, wenn ein Grundgeschäft, d.h. die Vereinbarung, eine abstrakte Forderung zu begründen, fehlt oder hinfällig geworden ist.110 Ggf. besteht auch die Möglichkeit, das Anerkenntnis wegen Willensmängeln anzufechten, z.B. mit der Behauptung, der Erklärende habe kein Anerkenntnis abgeben wollen (§ 119 BGB) oder er sei durch Täuschung oder Drohung zur Abgabe gezwungen worden (§ 123 BGB).

16.51

3. Deklaratorischer Anerkenntnisvertrag a) Allgemeines Durch die Erklärung eines Unfallbeteiligten, er erkenne seine Haftung für die Unfallfolgen an, kann ein schuldbestätigender Anerkenntnisvertrag zustande kommen, wenn der Verletzte sie entgegennimmt, ohne ihr zu widersprechen. Der Unterschied zum abstrakten Schuldanerkenntnis (s. Rz. 16.48) liegt darin, dass dort nach dem Willen der Parteien eine selbständige Verbindlichkeit begründet werden soll, während es ihnen hier nur darum geht, ein anderweitig entstandenes Rechtsverhältnis dem Streit oder der Ungewissheit zu entziehen und endgültig festzulegen.111 Dies ist aber auch erforderlich, um überhaupt das Zustandekommen eines schuldbestätigenden Anerkenntnisvertrages annehmen zu können; fehlt ein entsprechender

BGH v. 28.9.1965 – VI ZR 88/64, VersR 1965, 1153. BGH v. 19.11.2008 – IV ZR 293/05, VersR 2009, 106. OLG Zweibrücken v. 2.7.1965 – 1 U 79/65, OLGZ 1966, 20. BGH v. 16.4.1991 – XI ZR 68/90, NJW 1991, 2140, 2141; BGH v. 30.11.1998 – II ZR 238/97, NJW-RR 1999, 573. 111 BGH v. 10.1.1984 – VI ZR 64/82, VersR 1984, 383. 107 108 109 110

Greger | 487

16.52

§ 16 Rz. 16.52 | Rechtsgeschäftliche Haftung

Wille der Parteien, so liegt lediglich eine einseitige Erklärung (mit den in Rz. 16.56 f. geschilderten Folgen) vor.112 Die Annahme eines entsprechenden Willens setzt insbesondere voraus, dass die genannte Rechtsfolge der Interessenlage der Beteiligten, dem mit der Erklärung erkennbar verfolgten Zweck und der allgemeinen Verkehrsauffassung über die Bedeutung eines solchen Anerkenntnisses entspricht.113 Ob dies der Fall ist, unterliegt der tatrichterlichen Würdigung.114 Die Reparaturkostenübernahmeerklärung des Haftpflichtversicherers gegenüber einer Reparaturwerkstatt stellt kein Schuldanerkenntnis gegenüber dem Geschädigten dar,115 in der Mitteilung an den Geschädigten, man gehe nach Prüfung der Sach- und Rechtslage von einem Verschulden des Versicherungsnehmers aus, kann ein solches jedoch liegen.116 Eine Erklärung, die Haftung werde dem Grund nach anerkannt, ist idR auch dann als verbindlich anzusehen, wenn sie mit dem Zusatz „ohne Anerkenntnis einer Rechtspflicht“ versehen wird.117 Die Regulierungszusage gegenüber dem Geschädigten ist ein sowohl den Deckungs- als auch den Haftpflichtanspruch umfassendes, den Versicherer wie den Versicherungsnehmer verpflichtendes deklaratorisches Anerkenntnis gegenüber dem Geschädigten.118 Lässt sich der Unfallgegner (z.B. ein Verkehrsunternehmen) eine formularmäßige „Schuldanerkenntnis- und Verzichtserklärung“ unmittelbar nach dem Unfall und verbunden mit der Erklärung, dass dann auf die Zuziehung der Polizei verzichtet werde, unterschreiben, so kann dieser Vertrag schon nach § 307 BGB unwirksam sein.119

b) Wirkungen 16.53

Der Vertrag ist formlos gültig, kann also auch mündlich abgeschlossen werden. Er ist dahin auszulegen, dass der Anerkennende auf alle Einwendungen120 gegen den Anspruch des Verletzten verzichtet, die er zur Zeit des Abschlusses des Vertrages kannte oder mit denen er zumindest rechnete.121 Dieser Verzicht ist rechtswirksam und kann nicht kondiziert,122 sondern allenfalls nach den Vorschriften über Willensmängel (§§ 119, 123 BGB) angefochten werden. Das Anerkenntnis kann dahin eingeschränkt werden, dass es sich nur auf den Grund des Anspruchs beziehen soll.123 Es kann auch in anderer Weise eingeschränkt werden (z.B. auf den Ersatz des am Kfz entstandenen Schadens oder auf die Haftung für ein Drittel des Schadens). Ein vom Fahrer abgegebenes Anerkenntnis bindet den Fahrzeugeigentümer nicht.124

16.54

Ein Anerkenntnis des Versicherungsnehmers führt zwar nicht zur Leistungsfreiheit des Haftpflichtversicherers (§ 105 VVG), hat aber diesem gegenüber keine bindende Wirkung; es 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124

BGH v. 14.7.1981 – VI ZR 304/79, NJW 1982, 996, 998. BGH v. 10.1.1984 – VI ZR 64/82, VersR 1984, 383, 384. BGH v. 11.6.1986 – VIII ZR 153/85, NJW-RR 1987, 43. KG v. 27.2.1989 – 12 U 2732/88, NZV 1989, 232; OLG Hamm v. 25.6.1996 – 27 U 68/96, NZV 1997, 42. KG v. 10.11.1997 – 12 U 5774/96, VersR 1999, 504; vgl. auch OLG Hamm v. 9.1.1997 – 6 U 205/95, VersR 1998, 1538 (sehr weit gehend). OLG Karlsruhe v. 14.1.2019 – 1 U 25/18, DAR 2019, 571 mit Anm. Zell. BGH v. 19.11.2008 – IV ZR 293/05, VersR 2009, 106. OLG Karlsruhe v. 24.10.1990 – 1 U 101/90, NZV 1991, 30. Darunter ist hier auch das Fehlen anspruchsbegründender Tatsachen zu verstehen; vgl. Staudinger/Marburger § 781 Rz. 11 m.w.N. BGH v. 24.3.1976 – IV ZR 222/74, BGHZ 66, 250, 255; BGH v. 10.1.1984 – VI ZR 64/82, VersR 1984, 383 m.w.N. BGH v. 24.3.1976 – IV ZR 222/74, BGHZ 66, 250, 254. BGH v. 16.1.1973 – VI ZR 197/71, NJW 1973, 620. LG Freiburg v. 4.3.1982 – 3 S 228/81, NJW 1982, 1162.

488 | Greger

III. Schuldanerkenntnis | Rz. 16.56 § 16

führt also, falls tatsächlich kein Direktanspruch nach § 115 VVG besteht, zur persönlichen Haftung des Versicherungsnehmers.125 Das Anerkenntnis kann aber beweisrechtlich ein starkes Indiz für das Bestehen einer Haftungslage sein.126 Durch Abtretung des Befreiungsanspruchs gegenüber dem Haftpflichtversicherer nach § 100 VVG kann sich der Versicherungsnehmer zudem auch bei Nichtbestehen eines Direktanspruchs nach § 115 VVG die Stellung als Zeuge verschaffen.127

c) Verjährung Die Erklärung, die Haftung werde anerkannt, führt zum Neubeginn der Verjährung (§ 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Einem Anerkenntnis, dessen Auslegung ergibt, dass es nach übereinstimmendem Willen der Parteien wie ein rechtskräftiges Feststellungsurteil wirken soll (urteilsersetzendes Anerkenntnis), wurde bisher analog § 218 Abs. 1 BGB a.F. die Wirkung beigelegt, eine dreißigjährige Verjährungsfrist in Lauf zu setzen.128 Eine später dennoch erhobene Feststellungsklage war dann mangels Feststellungsinteresses unzulässig.129 Für diese bedenkliche Ausweitung der Sonderregelung für rechtskräftig festgestellte Ansprüche (jetzt § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB) besteht kein Anlass mehr, da nach Wegfall von § 225 BGB a.F. parteiautonome Verjährungsverlängerungen möglich sind und das Anerkenntnis ggf. als Vereinbarung der Höchstdauer von 30 Jahren ausgelegt werden kann (s. auch Rz. 24.98).

16.55

4. Nicht rechtsgeschäftliches Anerkenntnis In aller Regel werden Erklärungen, die nach einem Unfall von Beteiligten zur Schuldfrage abgegeben werden, nicht von dem Bewusstsein und dem Willen getragen, eine rechtsgeschäftliche Bindung in Form eines schuldbestätigenden oder gar schuldbegründenden Vertrages einzugehen. Lässt sich ein derartiger Verpflichtungswille nicht ausnahmsweise feststellen – wofür im Übrigen der Anspruchsteller die Beweislast trägt – so kann einer die Schuld am Unfall anerkennenden Erklärung nur im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung zukommen.130 Rückt der Anerkennende später von seiner Erklärung ab, so wird er, falls nicht auch das übrige Beweisergebnis gegen seine Schuld spricht, dem Richter plausibel machen müssen, weshalb er sich zu dem objektiv falschen Anerkenntnis hat bewegen lassen. Dies wird ihm umso schwerer fallen, je konkreter seine Erklärung war (z.B., wenn er zugab, ohne Licht gefahren zu sein oder das Rotlicht missachtet zu haben). All dies spielt sich jedoch im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung ab; eine Beweislastumkehr tritt infolge des Anerkenntnisses nicht ein.131 Dies gilt auch, wenn das Anerkenntnis zu einer Beeinträchtigung der Beweismöglichkeiten des Gegners geführt hat, z.B. weil er im Hinblick hierauf auf die Zuziehung der Polizei verzichtet hat. Die Gründe für schuldanerkennende Erklärungen durch einen Unfall-

125 BT-Drucks. 16/3945, S. 86; krit. dazu Langheid/Rixecker VVG, 6. Aufl. 2019, § 105 Rz. 5 ff. 126 BGH v. 14.7.1981 – VI ZR 304/79, NJW 1982, 996; LG Freiburg v. 20.10.1981 – 9 S 163/81, VersR 1982, 809. 127 S. dazu Langheid NJW 2007, 3745, 3746. 128 BGH v. 23.10.1984 – VI ZR 30/83, NJW 1985, 791; BGH v. 4.2.1986 – VI ZR 82/85, VersR 1986, 684. 129 OLG Karlsruhe v. 20.7.1990 – 14 U 172/89, NZV 1990, 428. 130 BGH v. 24.3.1976 – IV ZR 222/74, NJW 1976, 1259; BGH v. 10.1.1984 – VI ZR 64/82, VersR 1984, 383; OLG Bamberg v. 13.5.1986 – 5 U 219/85, VersR 1987, 1246; OLG Saarbrücken v. 1.3.2011 – 4 U 370/10, NJW 2011, 1820. 131 A.A. Künnell VersR 1984, 706, 711; beiläufig BGH v. 24.3.1976 – IV ZR 222/74, BGHZ 66, 250, 254; dahingestellt in BGH v. 10.1.1984 – VI ZR 64/82, VersR 1984, 383, 384.

Greger | 489

16.56

§ 16 Rz. 16.56 | Rechtsgeschäftliche Haftung

beteiligten können so mannigfach sein, dass sich sachgerechte Lösungen nur mittels des flexiblen Instruments der Beweiswürdigung erzielen lassen.

16.57

Die Erklärung eines Unfallbeteiligten, er sei schuld an dem Unfall, besagt im Übrigen nichts darüber, ob nicht auch den anderen Beteiligten ein Verschulden oder eine mitwirkende Betriebsgefahr trifft.132 Keinerlei Wirkung hat i.d.R. die Erklärung, der Unfall werde der Versicherung gemeldet, der Schaden sei durch die Versicherung gedeckt oder eine ähnliche Redewendung.133 Eine bloße Bestätigung, zur Unfallzeit am Unfallort gewesen zu sein, ist kein Schuldbekenntnis, sondern hat nur indizielle Bedeutung.134 Die Erklärung, es sei vielleicht seine Schuld gewesen, dass es zu der Kollision kam, beweist keinen Verstoß des Unfallbeteiligten gegen die StVO.135

IV. Ansprüche aus Vergleich 1. Allgemeines 16.58

Nicht ein Rechtsstreit, sondern eine Vereinbarung über die Abgeltung der vom Geschädigten erhobenen Ansprüche steht in den weitaus meisten Fällen am Ende der Regulierungsverhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer. Kommt es zu dieser Vereinbarung im Wege gegenseitigen Nachgebens, handelt es sich um einen Vergleich i.S.v. § 779 BGB; verzichtet der Geschädigte darin auf eine Geltendmachung weiterer Forderungen, spricht man von Abfindungsvergleich.136 Ob der Vergleich vor Gericht oder außergerichtlich geschlossen wird, ist bei Beteiligung eines Haftpflichtversicherers von untergeordneter Bedeutung, da eine Zwangsvollstreckung sich hier kaum als notwendig erweisen wird; im Übrigen kann ein vollstreckbarer Vergleich auch zwischen Anwälten (§ 796a ZPO) oder vor einer anerkannten Gütestelle (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) geschlossen werden. Zumeist lautet der Vergleich auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme (zu Kapitalisierungsfragen s. Rz. 34.5 ff.); selbstverständlich können aber auch fortlaufende Zahlungen vereinbart werden (Rentenvergleich).

2. Abschluss 16.59

Der Vergleich ist ein gegenseitiger Vertrag. Er kommt zustande durch Annahme eines entsprechenden Angebots. Die Einigung über eine Abfindungserklärung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass hinsichtlich einer Nebenforderung,137 z.B. hinsichtlich der Anwaltskosten, Meinungsverschiedenheiten verbleiben. Die von der Versicherungsaufsicht verlangte Schriftform von Abfindungsvergleichen ist kein gesetzliches Erfordernis.138 Die Annahme eines Vergleichsvorschlags kann daher auch stillschweigend durch schlüssige Handlung erklärt werden, z.B. dadurch, dass der Haftpflichtversicherer des Schädigers jahrelang die vom Verletzten vor-

132 OLG Karlsruhe v. 12.12.1957 – 5 U 40/57, VersR 1958, 112; OLG Frankfurt v. 21.2.1973 – 7 U 90/72, VersR 1974, 92. 133 OLG Karlsruhe v. 14.7.1965 – 7 U 37/65, VersR 1965, 1183. 134 Unzutr. OLG Saarbrücken v. 12.2.1998 – 3 U 991/96-158, OLGR Saarbrücken 1998, 380. 135 OLG Celle v. 20.5.2020 – 14 U 193/19, NJW-RR 2020, 1039. 136 Eingehend zum Abfindungsvergleich Köck DAR 2015, 557 ff.; Jahnke VersR 1995, 1145 ff.; Hoffmann/Schwab/Tolksdorf DAR 2006, 666 ff. m.w.N.; Engelbrecht DAR 2009, 447 ff. 137 BGH v. 23.9.1963 – III ZR 118/62, VersR 1963, 1206. 138 Köck DAR 2015, 557 Fn. 4.

490 | Greger

IV. Ansprüche aus Vergleich | Rz. 16.61 § 16

geschlagene Rente zahlt.139 In der widerspruchslos erfolgten Einlösung eines Schecks ist regelmäßig die Annahme eines Abfindungsangebots zu sehen, wenn der Scheck mit der Bestimmung übergeben wurde, dass er nur bei Annahme des Angebots eingelöst werden darf, und auf eine ausdrückliche Annahmeerklärung verzichtet wurde;140 bei krassem Missverhältnis zwischen Forderung und Schecksumme kann jedoch nicht von einem Annahmewillen ausgegangen werden.141 Macht das Gericht einen Vergleichsvorschlag und erklären beide Parteien in Schriftsätzen, die ausgetauscht werden, dass sie den Vorschlag annehmen, so kommt der Vergleich mit Zugang des letzten Schriftsatzes beim Gegner bindend zustande, sofern die Parteien die Wirksamkeit nicht ausdrücklich von der gerichtlichen Beurkundung abhängig machen;142 durch Herbeiführen eines Gerichtsbeschlusses gem. § 278 Abs. 6 S. 2 ZPO kann er, ebenso wie ein von den Parteien übereinstimmend dem Gericht unterbreiteter Vergleichsvorschlag, in einem rechtshängigen Verfahren zum Prozessvergleich i.S.v. § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO werden. Vertretung ist zulässig. Der Haftpflichtversicherer kann kraft seiner auf A.1.1.4 AKB 2015 beruhenden Vollmacht143 einen Vergleich nicht nur über den Direktanspruch, sondern auch über Ansprüche des Geschädigten gegen den Versicherungsnehmer oder mitversicherte Personen144 schließen, nicht aber über gegenläufige Ansprüche des Versicherungsnehmers oder Mitversicherten (s. Rz. 15.32). Der Betreuer oder Vormund kann für den Betreuten bzw. Mündel handeln, bedarf aber der Genehmigung des Betreuungs- bzw. Familiengerichts, außer wenn der streitige Betrag (nicht die vereinbarte Zahlung) 3000 € nicht übersteigt oder der Vergleich einem gerichtlichen Vorschlag entspricht (§ 1822 Nr. 12, § 1908i Abs. 1 S. 1 BGB).145 Die sorgeberechtigten Eltern können einen Vergleich für ihr Kind ohne gerichtliche Genehmigung abschließen, wie sich aus § 1643 Abs. 1 BGB ergibt. Ein bevollmächtigter Rechtsanwalt darf einen bindenden Abfindungsvergleich mit nicht unerheblicher Tragweite i.d.R. nur schließen, wenn sein Mandant hierüber belehrt ist und zugestimmt hat; andernfalls haftet der Anwalt dem Mandanten auf Ersatz eines durch den Vergleich entstandenen Schadens.146

16.60

3. Wirkung In der Regel lässt der Vergleich das ursprüngliche Rechtsverhältnis bestehen und gestaltet lediglich die hieraus sich ergebenden Rechtsfolgen.147 Beim Abfindungsvergleich verpflichtet sich der Schädiger bzw. Versicherer zu einer bestimmten Schadensersatzzahlung, während der Geschädigte auf etwaige weitergehende Ansprüche verzichtet. Ob sich der Verzicht auf

139 BGH v. 29.6.1965 – VI ZR 51/64, VersR 1965, 886. 140 BGH v. 18.12.1985 – VIII ZR 297/84, NJW-RR 1986, 415; BGH v. 6.2.1990 – X ZR 39/89, NJW 1990, 1656; OLG Düsseldorf v. 9.5.1990 – 19 U 45/89, MDR 1990, 920; einschr. BGH v. 28.3.1990 – VIII ZR 258/89, BGHZ 111, 97. 141 BGH v. 10.5.2001 – XII ZR 60/99, NJW 2001, 2324; weiter gehend Kleinschmidt NJW 2002, 346. 142 BAG v. 16.1.1997 – 2 AZR 35/96, NJW 1997, 1597. 143 Zu deren Reichweite, insb. bei gestörtem Versicherungsverhältnis und Überschreiten der Deckungssumme, eingehend Köck Rechtsfragen des schadensrechtlichen Abfindungsvergleichs (Diss. 2011), S. 60 ff. 144 Dazu BGH v. 3.6.1987 – IVa ZR 292/85, NJW 1987, 2586, 2588. 145 OLG Köln v. 12.10.2017 – 5 U 59/17, VersR 2018, 999: auch, wenn ein Elternteil Betreuer ist. 146 BGH v. 21.4.1994 – IX ZR 123/93, NZV 1994, 311; BGH v. 8.11.2001 – IX ZR 64/01, NZV 2002, 114. S. auch Empfehlung des VGT 2005, NZV 2005, 133. 147 BGH v. 7.3.2002 – III ZR 73/01, NJW 2002, 1503.

Greger | 491

16.61

§ 16 Rz. 16.61 | Rechtsgeschäftliche Haftung

unvorhersehbare Spätfolgen des Unfalls erstreckt, hängt von der Auslegung des Vergleichs ab, die sich an den Vorstellungen der Parteien bei Vergleichsabschluss orientieren muss.148 Grundsätzlich trägt das Risiko künftiger Verschlechterungen der Geschädigte; es wird zumeist durch einen Risikoaufschlag abgegolten; in krassen Fällen kommt der Einwand unzulässiger Rechtsausübung (s. Rz. 16.68) in Betracht. Zur Verjährungsproblematik s. Rz. 24.22. Im Zweifel umfasst der Abfindungsvergleich auch künftige Entgeltfortzahlungsansprüche wegen unfallbedingter Krankheiten.149 Eine Haftungsbegrenzung nach § 12 StVG kann sich auch ohne ausdrückliche Erwähnung durch Auslegung ergeben.150

16.62

Zugunsten anderer Gesamtschuldner wirkt der Abfindungsvergleich nur dann, wenn sich der Vereinbarung ein entsprechender Wille entnehmen lässt (§ 423 BGB).151 Dies kann i.d.R. angenommen werden, wenn der Schuldner auf die Gesamtwirkung erkennbar besonderen Wert gelegt hat, weil der Erlass anderenfalls durch den Regress des anderen Gesamtschuldners (teilweise) obsolet würde.152 Fehlt es an einer solchen Vereinbarung, so bleiben die Ausgleichsansprüche der anderen Gesamtschuldner, an die sich der Verletzte wegen seines Ausfalls gehalten hat, bestehen (§ 426 Abs. 1 BGB). Im Zweifel hat ein Vergleich also Einzelwirkung.153 Der Umstand, dass es zu keinem Forderungsübergang nach § 426 Abs. 2 BGB kommt, weil der Verletzte gegen den Schädiger, der ihn abgefunden hat, keine Forderungen mehr hat, steht dem nicht entgegen. Der formularmäßige Verzicht auf „weitergehende Ansprüche gegen jeden Dritten“ in einem Abfindungsvergleich benachteiligt den Geschädigten entgegen Treu und Glauben unangemessen.154

16.63

Auf die Ansprüche dritter Personen kann sich der Vergleich nur erstrecken, wenn diese dem Vergleich beitreten oder ihm zustimmen. Hieraus folgt, dass dann, wenn der Verletzte sich auch wegen der Ansprüche seiner Angehörigen für abgefunden erklärt, deren Ansprüche aus § 844 Abs. 2, § 845 BGB und § 10 StVG bestehen bleiben, sofern sie ihn nicht zu der Erklärung bevollmächtigt hatten, in einer Erklärung gegenüber dem Schädiger diesem Verzicht zustimmen oder dem Vergleich beitreten. Zu beachten ist bei einem Abfindungsvergleich aber, dass dadurch nicht ein Anspruchsübergang auf Dritte, die an den Geschädigten Leistungen zu erbringen haben, vereitelt wird. Dies ist lediglich dann unproblematisch, wenn der Anspruchsübergang bereits vor dem Vergleichsabschluss stattgefunden hat (zum Regress von Sozialversicherungs- und anderen Leistungsträgern s. Rz. 35.60 ff., 36.19 f., 36.48). Verzichtet der Geschädigte dagegen im Vergleich auf Ansprüche, die bei Erbringen kongruenter Leistungen nach § 86 Abs. 1 VVG auf einen Privatversicherer übergehen, verstößt er gegen das Aufgabeverbot nach § 86 Abs. 2 VVG, so dass der Versicherer bei vorsätzlichem Handeln dem Geschädigten gegenüber vollständig, bei grob fahrlässigem Handeln teilweise leistungs-

148 Vgl. OLG Frankfurt v. 6.2.1992 – 15 U 223/90, VersR 1993, 1147; OLG Oldenburg v. 19.7.1989 – 8 U 74/89, VRS 79, 161; OLG Hamm v. 28.10.1993 – 6 U 110/93, NZV 1994, 435. 149 OLG Saarbrücken v. 16.3.1984 – 3 U 17/83, VersR 1985, 298. 150 OLG München v. 8.3.2002 – 10 U 4648/01, VersR 2003, 1591. 151 Köck Rechtsfragen des schadensrechtlichen Abfindungsvergleichs (Diss. 2011), S. 89 f. 152 Vgl. OLG Düsseldorf v. 11.5.2000 – 8 U 105/99, NZV 2001, 470 zur möglichen Einbeziehung des die Unfallverletzung behandelnden Arztes in den Abfindungsvergleich; OLG München v. 19.12.2003 – 10 U 2660/03, IVH 2004, 39 zur Erstreckung eines Vergleiches auf die Schadensersatzansprüche aus verschiedenen Schadensereignissen gegen mehrere Versicherer. 153 So auch OLG Hamm v. 28.12.2001 – 6 W 59/01, VersR 2003, 472. 154 BGH v. 17.12.1985 – VI ZR 192/84, VersR 1986, 467.

492 | Greger

IV. Ansprüche aus Vergleich | Rz. 16.67 § 16

frei wird. An diesen subjektiven Voraussetzungen wird es beim Geschädigten in der Regel fehlen;155 Verschulden seines anwaltlichen Vertreters wird ihm nicht zugerechnet.156 Bei Gesamtgläubigerschaft, wie sie z.B. beim Regress zweier nebeneinander leistungspflichtiger Sozialversicherungsträger bestehen kann, betrifft der von einem der Gläubiger abgeschlossene Abfindungsvergleich i.d.R. nur den ihm im Innenverhältnis zum anderen zustehenden Anteil. Der andere Gesamtgläubiger kann dann nur noch das verlangen, was im Innenverhältnis ihm zusteht (eingeschränkte Gesamtwirkung).157

16.64

4. Abänderung Entsteht später bei beiden Vergleichsparteien der Wunsch, den Vergleich abzuändern, so ist dies ohne weiteres durch einen Vertrag möglich (auch beim Prozessvergleich, der freilich – bis zu einem auf den Abänderungsvertrag gestützten Urteil nach §§ 767, 795 ZPO – seine Vollstreckbarkeit behält). Erstrebt dagegen nur eine der beiden Parteien eine Abänderung und widerspricht die andere, so bestehen folgende Ansatzpunkte:

16.65

a) Unwirksamkeit nach § 779 BGB Sie kann nur geltend gemacht werden, wenn die Parteien sich bezüglich des bestehenden Sachverhalts in einem gemeinsamen Irrtum befanden.158 Gemeinsame irrige Erwartungen der Vergleichsschließenden, z.B. ein künftiges Ereignis werde eintreten oder ausbleiben, führen hingegen nicht zur Unwirksamkeit des Vergleichs.159 Ebenso wenig hat ein reiner Rechtsirrtum der Parteien ohne jeden Irrtum über Tatsachen die Unwirksamkeit des Vergleichs zur Folge.160 Wenn z.B. beide Parteien davon ausgingen, der Sachverhalt rechtfertige nur Ansprüche aus unerlaubter Handlung, während in Wirklichkeit auch vertragliche Ansprüche gegeben waren, beeinflusst dieser Irrtum den Abfindungsvergleich nicht.161

16.66

b) Störung der Geschäftsgrundlage Eine Anpassung des Vergleichs an veränderte Umstände (§ 313 Abs. 1 BGB) kommt nur in Betracht, wenn es sich um Änderungen handelt, die so überraschend sind, dass sie von ihnen bei Vergleichsabschluss weder ihrer Art noch ihrem Umfang nach als möglich hätten erwartet werden können. Dies kann z.B. der Fall sein bei einer überraschenden Änderung der Rechtsprechung162 oder einer grundlegenden Gesetzesänderung.163 Dagegen kann bei einem AbfinOLG Hamm v. 15.6.2016 – 20 U 164/15, VersR 2016, 1233. OLG Saarbrücken v. 2.10.2019 – 5 U 106/18, VersR 2020, 216. BGH v. 4.3.1986 – VI ZR 234/84, VersR 1986, 810. Erman/Müller, § 779 Rz. 27 ff. m.w.N. BGH v. 13.6.1961 – VI ZR 215/60, VersR 1961, 808. BGH v. 18.12.2007 – XI ZR 76/06, NJW-RR 2008, 643, 644; BAG v. 25.4.2013 – 8 AZR 453/12, NZA 2013, 1206, 1210. 161 BGH v. 7.6.1961 – VIII ZR 69/60, NJW 1961, 1460. 162 BGH v. 2.5.1972 – VI ZR 47/71, BGHZ 58, 355, 362: Rückgriff des Sozialversicherungsträgers gegen Zweitschädiger. 163 Zum PflegeversicherungG v. 26.5.1994 (BGBl. I 1014) s. OLG Saarbrücken v. 20.12.1996 – 3 U 439/95, NZV 1997, 271; zu dem am 1.1.1989 in Kraft getretenen GesundheitsreformG bejahend OLG München v. 14.9.1990 – 10 U 2342/90, ZfS 1992, 263, verneinend OLG Koblenz v. 18.2.1991 – 12 U 1646/89, VersR 1996, 232 mit krit. Anm. Gerner VersR 1996, 1080. Wegen des Zusammenhangs mit dem Anspruchsübergang auf Sozialversicherungsträger s. Rz. 35.60.

155 156 157 158 159 160

Greger | 493

16.67

§ 16 Rz. 16.67 | Rechtsgeschäftliche Haftung

dungsvergleich über zukünftigen Erwerbsschaden ein nachträgliches Abänderungsverlangen nicht auf eine unvorhergesehene strukturelle Besoldungsverbesserung oder die Einschränkung staatlicher Leistungen gestützt werden.164 Es gehört zum Wesen eines Abfindungsvergleichs, dass beide Parteien gewisse Unsicherheiten der zukünftigen Entwicklung in Kauf nehmen. Daher kommt ein Wegfall der Geschäftsgrundlage nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht. Bei nachträglichem Auftreten von Verletzungsfolgen scheidet ein Wegfall der Geschäftsgrundlage grundsätzlich aus.165 (zu krassen Fällen s. Rz. 16.68). Unter Umständen können die beiderseits irrigen Vorstellungen jedoch bei der Auslegung des Vergleichs zu beachten sein; lässt der Wortlaut des Vergleichs dies nicht zu, kommt bei einem gemeinsamen Irrtum über die Berechnungsgrundlagen von erheblicher Tragweite ein Anspruch auf Anpassung nach § 313 BGB in Betracht.166

c) Einwand unzulässiger Rechtsausübung 16.68

Gegenüber einem Abfindungsvergleich kann der Verletzte den Einwand unzulässiger Rechtsausübung erheben, wenn sich nach dem Auftreten unvorhergesehener, die Schadenshöhe betreffender Umstände ein so krasses Missverhältnis zwischen der Vergleichssumme und dem Schaden ergibt, dass der Schädiger gegen Treu und Glauben verstieße, wenn er am Vergleich festhalten wollte.167 Zu beachten ist, dass ein bloßes Missverhältnis oder das Entstehen einer Härte für den Verletzten nicht genügt. Es muss sich vielmehr um ein ganz ungewöhnliches, für den Geschädigten unerträgliches Missverhältnis handeln.168 Fallen die eingetretenen Veränderungen in den vom Geschädigten übernommenen Risikobereich, so muss dieser grundsätzlich auch bei erheblichen Opfern die Folgen tragen.169

d) Anpassung eines Rentenvergleichs 16.69

Verträge, die die Entschädigung für entgangenen Unterhalt durch Festsetzung einer laufenden Rente regeln, stehen regelmäßig unter der sog. clausula rebus sic stantibus: Bei einer wesentlichen Veränderung der bei Vergleichsabschluss bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse hat daher nach §§ 157, 242 BGB eine Anpassung der Leistungen stattzufinden, wenn sie erforderlich ist, um den mit dem Vertrag verfolgten Zweck zu erreichen.170 Im Hinblick auf den Versorgungszweck von Rentenvergleichen ist dies bei wesentlichen Veränderungen im Wirtschafts- und Preisgefüge regelmäßig zu bejahen.171 Ein Ausschluss der Anpassung müss-

164 BGH v. 12.7.1983 – VI ZR 176/81, VersR 1983, 1034; BGH v. 12.2.2008 – VI ZR 154/07, NZV 2008, 448 (Landesblindengeld; dazu Jaeger DAR 2008, 354 und Ch. Huber NZV 2008, 431). 165 OLG Hamm v. 5.8.1999 – 23 U 16/99, NZV 2000, 127; OLG Koblenz v. 29.9.2003 – 12 U 854/ 02, NJW 2004, 782. 166 BGH v. 16.9.2008 – VI ZR 296/07, NZV 2009, 75. 167 BGH v. 20.2.1961 – VI ZR 95/60, VersR 1961, 382; BGH v. 30.5.1967 – VI ZR 205/65, VersR 1967, 804; OLG Hamm v. 4.3.1985 – 13 U 244/83, VersR 1987, 389; OLG Köln v. 3.6.1987 – 13 U 230/86, MDR 1988, 230; OLG Schleswig v. 30.8.2000 – 4 U 158/98, VersR 2001, 983; OLG Oldenburg v. 28.2.2003 – 6 U 231/01, VersR 2004, 64; OLG Düsseldorf v. 22.1.2007 – 1 U 166/ 06, NZV 2008, 151. 168 BGH v. 12.7.1983 – VI ZR 176/81, VersR 1983, 1034, 1035. 169 BGH v. 19.6.1990 – VI ZR 255/89, VersR 1990, 984; OLG Koblenz v. 29.9.2003 – 12 U 854/02, NJW 2004, 782. 170 BGH v. 23.4.1986 – IVb ZR 30/85, NJW 1986, 2054; BGH v. 4.10.1988 – VI ZR 46/88, NJW 1989, 289 m.w.N.; OLG Karlsruhe v. 19.4.2001 – 19 U 201/00, VersR 2002, 1113. 171 Eingehend zur Frage der Wesentlichkeit BGH v. 4.10.1988 – VI ZR 46/88, NJW 1989, 289.

494 | Greger

IV. Ansprüche aus Vergleich | Rz. 16.74 § 16

te ausdrücklich vereinbart sein.172 Hierfür genügt es nicht, wenn nur die laufende Anpassung durch ein Gleitklausel ausgeschlossen oder die formularmäßige Klausel „zur Abgeltung aller Unterhaltsansprüche aus § 844 Abs. 2 BGB“ in den Vergleich aufgenommen wurde.173

e) Anfechtung Eine Anfechtung des Vergleichs wegen Irrtums (§ 119 BGB) scheidet aus, wenn sich der Irrtum auf den Gegenstand des Streits bezieht, der durch den Vergleich beigelegt werden sollte. Geht z.B. der Haftpflichtversicherer irrig von der Annahme aus, es bestehe eine Schadensersatzpflicht des Versicherten, so kann er den Vergleich nicht anfechten, wenn er später bemerkt, dass eine Schadensersatzpflicht überhaupt nicht in Betracht kam.174

16.70

5. Besonderheiten des Prozessvergleichs Der zur gänzlichen oder teilweisen Beilegung eines Rechtsstreits vor einem deutschen Gericht formgerecht, d.h. durch ordnungsgemäße Protokollierung gem. § 160 Abs. 3 Nr. 1, § 162 Abs. 1 ZPO oder Beschluss gem. § 278 Abs. 6 ZPO, zustande gekommene Vergleich hat eine Doppelnatur: Er ist zugleich privatrechtlicher Vertrag und Prozessvertrag.175 Er kann daher sowohl aus materiell-rechtlichen als auch aus prozessrechtlichen Gründen unwirksam sein, doch kann er im letzteren Fall u.U. als außergerichtlicher Vergleich Bestand haben.176

16.71

In den Prozessvergleich können nach richterlichem Ermessen auch Ansprüche einbezogen werden, die in einem anderen Verfahren oder überhaupt nicht rechtshängig sind, soweit sie in einem inneren Zusammenhang mit dem Rechtsstreit stehen.177 In ihm können auch Ansprüche für oder gegen Dritte, d.h. nicht am Prozess Beteiligte, tituliert werden (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Für einen Dritten, der dem Prozessvergleich beitritt, besteht kein Anwaltszwang.178 Wichtig ist, dass die Klageanträge vollständig, ggf. durch eine Abgeltungsklausel, erledigt werden, weil sonst die Rechtshängigkeit teilweise fortbesteht.179

16.72

Der Prozessvergleich kann widerruflich abgeschlossen werden. Der Widerrufsvorbehalt stellt i.d.R. eine aufschiebende Bedingung für die Wirksamkeit des Vergleichs dar.180 Der Widerruf kann, sofern nichts Abweichendes vereinbart ist, sowohl gegenüber dem Gericht als auch gegenüber dem Prozessgegner erklärt werden.181

16.73

Die Frage, ob ein gerichtlicher Vergleich nichtig (und somit der Prozess nicht beendigt) ist, ist durch Fortsetzung des bisherigen Rechtsstreits zu klären.182 Wird wegen behaupteten Wegfalls der Geschäftsgrundlage die Abänderung des Vergleichs begehrt, so ist dies in ei-

16.74

172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182

BGH v. 5.1.1968 – VI ZR 137/66, VersR 1968, 450, 451. BGH v. 4.10.1988 – VI ZR 46/88, VersR 1989, 154 = NJW 1989, 289. BGH v. 18.2.1965 – II ZR 159/62, VersR 1965, 449. BGH v. 14.7.2015 – VI ZR 326/14, BGHZ 206, 219 m.w.N.; Rosenberg/Schwab/Gottwald § 131 Rz. 37. BGH v. 24.10.1984 – IVb ZR 35/83, NJW 1985, 1962. BGH v. 3.8.2011 – XII ZB 153/10, BGHZ 191, 1. BGH v. 16.12.1982 – VII ZR 55/82, NJW 1983, 1433 = JR 1983, 369 mit Anm. Bergerfurth. Eingehend zur Vergleichspraxis Zöller/Greger § 278 Rz. 36 ff. BGH v. 27.10.1983 – IX ZR 68/83, NJW 1984, 312. BGH v. 30.9.2005 – V ZR 275/04, BGHZ 164, 190. BGH v. 29.9.1958 – VII ZR 198/57, BGHZ 28, 171.

Greger | 495

§ 16 Rz. 16.74 | Rechtsgeschäftliche Haftung

nem neuen Prozess geltend zu machen.183 Auch der Streit über die Auslegung eines Prozessvergleichs ist in einem neuen Prozess auszutragen.

16.75

Ist im Prozessvergleich eine laufende Rente vereinbart, so ist bei wesentlicher Veränderung der Verhältnisse eine Ermäßigung oder Erhöhung der Rentenzahlungen im Verfahren nach § 323a ZPO möglich. Für Umfang und Zeitpunkt der Abänderung ist allein das materielle Recht maßgeblich (§ 323a Abs. 2 ZPO).

183 BGH v. 6.6.1966 – II ZR 4/64, NJW 1966, 1658; BGH v. 5.2.1986 – VIII ZR 72/87, NJW 1986, 1348,1349; a.A. Rosenberg/Schwab/Gottwald § 131 Rz. 67.

496 | Greger

§ 17 Notstand, Geschäftsführung ohne Auftrag

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung aus Abwehr eines Notstands (§ 904 S. 2 BGB) . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftungsausschluss . . . . . . . . . . . . . . 3. Aktiv- und Passivlegitimation . . . . . . 4. Verhältnis zur Delikts- und Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufopferung zur Unfallvermeidung . a) Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . b) Ausschluss bei rechtlich gebotenem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17.1 17.2 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 17.6 17.6 17.9

c) Ausschluss bei eigenem Verschulden d) Ausschluss bei mitwirkender Betriebsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Umfang der Ansprüche . . . . . . . . . . . f) Verhältnis zu Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . g) Passivlegitimation . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tätigwerden zur Schadensminderung 3. Unfall bei Verkehrsteilnahme in Fremdinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Haftung des auftragslosen Geschäftsführers . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verschuldensmaßstab . . . . . . . . . . . .

17.10 17.11 17.12 17.13 17.14 17.15 17.19 17.20 17.20 17.21

§ 670 BGB Macht der Beauftragte zum Zwecke der Ausführung des Auftrags Aufwendungen, die er den Umständen nach für erforderlich halten darf, so ist der Auftraggeber zum Ersatz verpflichtet. § 683 BGB Entspricht die Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse und dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn, so kann der Geschäftsführer wie ein Beauftragter Ersatz seiner Aufwendungen verlangen. In den Fällen des § 679 steht dieser Anspruch dem Geschäftsführer zu, auch wenn die Übernahme der Geschäftsführung mit dem Willen des Geschäftsherrn in Widerspruch steht. § 904 BGB Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer kann Ersatz des ihm entstehenden Schadens verlangen.

I. Überblick Zu einer verschuldensunabhängigen Haftung kann es im Straßenverkehr auch dann kommen, wenn der Schaden durch den Versuch eines Verkehrsteilnehmers entstanden ist, eine (größere) Gefahr abzuwenden. Ist dieser Schaden einem Unbeteiligten entstanden, kommt ein Anspruch aus § 904 S. 2 BGB in Betracht (s. Rz. 17.2 ff.). Ein dem Gefahrabwender selbst entstandener Schaden kann u.U. nach §§ 683, 670 BGB liquidiert werden (s. Rz. 17.6 ff.). In Betracht kommt ein derartiger Anspruch auch, wenn die auftragslos übernommene Tätigkeit Greger | 497

17.1

§ 17 Rz. 17.1 | Notstand, Geschäftsführung ohne Auftrag

in einer Teilnahme am Straßenverkehr besteht und der Ausführende hierbei einen Unfall erleidet (s. Rz. 17.19). Zur Haftung des Geschäftsführers wegen schuldhafter Pflichtverletzung s. Rz. 17.20 f.

II. Haftung aus Abwehr eines Notstands (§ 904 S. 2 BGB) 1. Voraussetzungen 17.2

Die Schaden verursachende Einwirkung auf eine fremde Sache muss notwendig gewesen sein, um die gegenwärtige Gefahr eines unverhältnismäßig größeren Schadens für ein eigenes oder fremdes Rechtsgut abzuwenden. Dies kommt z.B. in Betracht, wenn ein Kraftfahrer sein Fahrzeug bei Bremsversagen vor einer Gefällstrecke gegen ein Hindernis lenkt. Weitere Voraussetzung ist, dass die Einwirkung auf die fremde Sache bewusst und gewollt geschieht. Der Handelnde muss sich die Schädigung der Sache zumindest als mögliche Folge seines Eingriffs in den fremden Rechtskreis vorgestellt und sie billigend in Kauf genommen haben.1 Daher haftet ein Fahrzeugführer nicht aus § 904 S. 2 BGB, wenn er zur Vermeidung einer Kollision ausweicht und dabei ein anderes Fahrzeug beschädigt, das er vorher nicht wahrgenommen oder an dem er vorbeizukommen gehofft hat.2

2. Haftungsausschluss 17.3

Der Geschädigte hat keinen Anspruch aus § 904 S. 2 BGB, wenn die abgewehrte Gefahr von seiner beschädigten Sache selbst ausging (sonst Fall des Verteidigungsnotstands nach § 228 BGB, der nur bei Verschulden des Handelnden einen Schadensersatzanspruch gegen diesen auslöst) oder vom Geschädigten schuldhaft verursacht wurde.3 Ist der Geschädigte zwar nicht für die Gefahrenlage verantwortlich, hat aber bei seiner durch die Abwehrhandlung entstandenen Schädigung ein Eigenverschulden oder eine zurechenbare Betriebsgefahr mitgewirkt, muss er sich dies nach § 254 BGB (analog) entgegenhalten lassen.

3. Aktiv- und Passivlegitimation 17.4

Der Anspruch steht dem Eigentümer der Sache zu, u.U. auch dem Besitzer.4 Die Person des Ersatzpflichtigen (Einwirkender oder Begünstigter) lässt das Gesetz offen; die Frage ist daher höchst streitig.5 Die besseren Gründe sprechen für die Haftung des Begünstigten, bei dem der Handelnde ohnehin aus Geschäftsführung ohne Auftrag Rückgriff nehmen kann.6 Die Gegenmeinung,7 die den Einwirkenden haften lässt (außer beim Handeln auf Weisung im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses) führt auch zu Unzuträglichkeiten bei Beteiligung Minderjähriger. Da die Haftung aus § 904 S. 2 BGB keine Deliktsfähigkeit voraussetzt, trifft sie auch Minderjährige. Beim Geretteten ist dies hinnehmbar, beim Retter nicht.

1 BGH v. 29.9.1954 – VI ZR 124/53, VersR 1955, 10, 11 m.w.N. 2 BGH v. 30.10.1984 – VI ZR 74/83, BGHZ 92, 357 = JZ 1985, 179 mit abl. Anm. Konzen; LG Erfurt v. 31.5.2001 – 1 S 22/01, VersR 2002, 454; LG Aachen v. 8.3.1989 – 4 O 476/88, VersR 1990, 101. 3 BGH v. 13.5.1952 – I ZR 147/51, BGHZ 6, 102, 110. 4 RG v. 27.11.1937 – V 138/37, RGZ 156, 187, 190. 5 Umfassender Nachweis des Meinungsstands bei Staudinger/Althammer § 904 Rz. 34 ff. 6 Staudinger/Althammer § 904 Rz. 38; Kraffert AcP 165 (1965), 453 ff. 7 BGH v. 13.5.1952 – I ZR 147/51, BGHZ 6, 102; Erman/Wilhelmi § 904 Rz. 10 m.w.N.

498 | Greger

III. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag | Rz. 17.7 § 17

4. Verhältnis zur Delikts- und Gefährdungshaftung Wird durch die Rettungshandlung eines Kraftfahrers das Eigentum eines Dritten verletzt, so hat dieser, wenn es sich um eine bewusste und gewollte Einwirkung handelt und ihn hinsichtlich der Gefahr kein Verschulden und keine Gefährdungshaftung trifft, folgende Ansprüche:

17.5

– Gegen den Geretteten aus § 904 S. 2 BGB, ohne dass es auf dessen Verschulden und Deliktsfähigkeit ankommt. – Gegen den Retter (Führer und Halter des einwirkenden Kfz) aus §§ 7, 18 StVG. Für den Ausgleich der gesamtschuldnerischen Haftung zwischen Retter und Gerettetem nach § 426 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB ist entscheidend, ob Regressansprüche des Retters aus Geschäftsführung ohne Auftrag bestehen (dazu Rz. 17.6 ff.). Handelt es sich bei der beschädigten Sache ebenfalls um ein Kfz oder um eine Schienenbahn, besteht kein Anspruch aus § 904 S. 2 BGB gegen den Geretteten, wenn die Betriebsgefahr zu dessen Gefährdung beigetragen hat (s. Rz. 17.3). Hat der Gerettete die zu der Schädigung führende Kausalkette aber schuldhaft (oder ebenfalls als Träger einer Gefährdungshaftung) ausgelöst, haftet er aus Delikt bzw. nach §§ 7, 18 StVG, § 1 HaftpflG mit den jeweiligen Entlastungsmöglichkeiten. In die Gesamtabwägung nach § 17 Abs. 2 bis 4, § 18 Abs. 3 StVG ist dann auch die Haftung von Führer und Halter des einwirkenden Kfz einzubeziehen.

III. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag 1. Aufopferung zur Unfallvermeidung a) Anspruchsvoraussetzungen Schädigt sich ein Verkehrsteilnehmer selbst, um in einer Gefahrensituation einen anderen vor Schaden zu bewahren (z.B. er lenkt sein Fahrzeug in den Straßengraben, weil ein Kind auf die Fahrbahn springt), so kann er Ersatz seines Schadens unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB) verlangen, denn er hat ein „Geschäft“ (hierzu zählen auch rein tatsächliche Handlungen) im Interesse des anderen besorgt. Zwar handelt es sich bei den Schäden, die der opferbereite Verkehrsteilnehmer, um den anderen zu retten, sich selbst und seinem Fahrzeug zufügt, streng genommen nicht um Aufwendungen i.S.d. § 683 BGB. Bei interessengerechter Auslegung gelangt man aber zu dem Ergebnis, dass dem Retter ein Anspruch gegen den Geretteten auf Ersatz des erlittenen Schadens zusteht.8 Dies muss auch gelten, wenn der Rettungsversuch misslingt.9

17.6

Als innerer Tatbestand genügt das Bewusstsein, das „Geschäft“ als fremdes zu besorgen. Es genügt also der Gedanke, dass die Maßnahme erforderlich ist, um den anderen Verkehrsteilnehmer zu retten. Ob dies die alleinige Triebfeder des Handelns ist, ist unerheblich; es genügt das Wissen und Wollen, auch im Interesse des anderen zu handeln. Bei objektiv fremden Geschäften, die schon ihrem Inhalt nach in einen fremden Rechts- und Interessenkreis eingrei-

17.7

8 BGH v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61, BGHZ 38, 270 = JZ 1963, 547 mit Anm. Lange; OLG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 1 U 31/10, NZV 2011, 393. 9 Für Berücksichtigung bei der Höhe des Ersatzanspruchs aber BGH v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61, BGHZ 38, 270, 279. S. auch OLG Hamm v. 25.9.2000 – 13 U 45/00, VersR 2002, 1254; OLG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 1 U 31/10, NZV 2011, 393.

Greger | 499

§ 17 Rz. 17.7 | Notstand, Geschäftsführung ohne Auftrag

fen, z.B. der Hilfe für einen Verletzten,10 der Abwendung der von einem unbeleuchteten Fahrzeug ausgehenden Gefahren,11 wird der Fremdgeschäftsführungswille vermutet.12

17.8

Dass die Geschäftsführung dem Interesse und Willen des anderen entsprach (§ 683 S. 1 BGB), kann bei Rettungshandlungen grundsätzlich angenommen werden. Anders liegt es aber, wenn der Geschädigte eine unsachgemäße Maßnahme vornimmt, die Dritte nicht unerheblich in Gefahr bringt und in Bezug auf das gefährdete Rechtsgut völlig unverhältnismäßig ist.13

b) Ausschluss bei rechtlich gebotenem Handeln 17.9

War der Kraftfahrer nach § 1 Abs. 2 StVO zu der Rettungsmaßnahme verpflichtet (etwa zu scharfem Bremsen, welches Schäden an seinen Reifen oder seiner Ladung hervorruft), scheidet ein Ersatzanspruch aus. Das Gefahrabwendungsgebot nach der StVO geht aber nicht so weit, dass der Kraftfahrer unter Gefährdung eigener Rechtsgüter von der Fahrbahn steuern muss.14

c) Ausschluss bei eigenem Verschulden 17.10

Hat der durch das eigene Ausweichmanöver geschädigte Verkehrsteilnehmer die Gefahrenlage verkehrswidrig – durch Unaufmerksamkeit, zu schnelles Fahren oder auf andere Weise – herbeigeführt, muss er den Schaden selbst tragen; der Gerettete haftet auch nicht nach § 254 BGB mit. Gegenüber dem Kfz-Führer greift hierbei die Beweislastregelung des § 18 StVG ein.15

d) Ausschluss bei mitwirkender Betriebsgefahr 17.11

Entsprechendes gilt, wenn der Geschädigte ein Kfz-Halter ist, den die Gefährdungshaftung nach § 7 StVG trifft. Kann der Halter des bei der Rettung eines anderen Verkehrsteilnehmers aus plötzlich entstandener Gefahr beschädigten Kfz den Entlastungsbeweis nach § 7 Abs. 2 bzw. § 17 Abs. 3 StVG nicht führen, so kann er keinen Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag gegen den Geretteten geltend machen, da durch die Rettungshandlung dann nur der von ihm selbst zu tragende Schaden abgewendet wurde.16 Da sich der Kfz-Halter gegenüber nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern nur noch bei höherer Gewalt entlasten kann, wird in diesen Fällen (insbesondere bei den durch Kinder verursachten Ausweichunfällen) ein Ersatzanspruch kaum noch in Betracht kommen.17 Zur Haftung gegenüber dem Kfz-Führer s. Rz. 17.10 a.E.

e) Umfang der Ansprüche 17.12

Liegt keiner der vorstehend genannten Fälle vor, kann der Geschädigte vollen Ersatz seiner „Aufwendungen“, d.h. der erlittenen Vermögensnachteile, vom Geretteten verlangen. Für eine

BGH v. 7.11.1960 – VII ZR 82/59, BGHZ 33, 251. BGH v. 16.3.1965 – VI ZR 210/64, BGHZ 43, 188. BGH v. 20.6.1963 – VII ZR 263/61, BGHZ 40, 28. OLG Stuttgart v. 20.11.2001 – 12 U 86/01, VersR 2003, 341. BGH v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61, BGHZ 38, 270, 275. Frank JZ 1982, 737, 739. BGH v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61, BGHZ 38, 270, 273 = JZ 1963, 547 mit Anm. Lange; OLG Köln v. 7.7.1993 – 13 U 45/93, r+s 1994, 13. 17 Vgl. Friedrich NZV 2004, 227, 228; Staudinger/Schmidt-Bendun Jura 2003, 441, 447. A.A. Ch. Huber § 3 Rz. 85.

10 11 12 13 14 15 16

500 | Greger

III. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag | Rz. 17.14 § 17

in der Rechtsprechung praktizierte Kürzung seiner Ansprüche nach richterlichem Ermessen18 besteht keine Grundlage.19 Schmerzensgeld kann, da es sich bei dem Anspruch aus §§ 670, 683 BGB analog nicht um einen Schadensersatzanspruch i.S.v. § 253 Abs. 2 BGB handelt, nicht beansprucht werden.20 Abzuziehen sind Schäden, die der Retter ohne die Rettungshandlung hätte hinnehmen müssen.21

f) Verhältnis zu Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung Nach § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII haben Personen, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten, Anspruch auf Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung (s. Rz. 22.153). Der Anspruch umfasst auch Sachschäden sowie Aufwendungen, die den Umständen nach für erforderlich gehalten werden durften, soweit kein anderweitiger öffentlich-rechtlicher Ersatzanspruch besteht (§ 13 S. 1 SGB VII). Derartige Leistungen sind auf den Ersatzanspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag anzurechnen. Ein Übergang des Aufwendungsersatzanspruches auf den Unfallversicherungsträger findet nur in Bezug auf Sachschäden statt (§ 13 S. 4 SGB VII; näher s. Rz. 35.115).

17.13

g) Passivlegitimation Schuldner des Ersatzes ist der Gerettete, denn die Rettungshandlung liegt in seinem Interesse und ist seinem Rechtskreis zuzuordnen.22 Bei einem Kind, welches altersmäßig der dauernden Obhut seiner Eltern im Straßenverkehr noch nicht entwachsen war, besorgt der Retter jedoch auch eine Angelegenheit der beiden Elternteile und kann daher von jedem von ihnen den Ersatz des vollen Schadens verlangen.23 Ob die Eltern sich nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren könnten, ist unerheblich, denn es geht hier nicht um die Haftung für einen Eingriff in Rechtsgüter eines Dritten, sondern um die Frage, ob die Rettungshandlung den Rechtskreis der Eltern betrifft.24 Das Kind und beide Elternteile sind Gesamtschuldner, doch hat im Innenverhältnis das Kind den Schaden zu tragen. Entsprechendes gilt ggf. für den Vormund. Ist der Gerettete gegen Haftpflicht versichert, so greift der Versicherungsschutz ein, da sein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag schadensersatzähnlichen Charakter trägt.25 Trifft der Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag mit der Gefährdungshaftung eines Dritten zusammen, besteht zwischen den Anspruchsgegnern ein Gesamtschuldverhältnis.26

18 BGH v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61, BGHZ 38, 270, 278 f.; OLG Hamm v. 25.9.2000 – 13 U 45/ 00, VersR 2002, 1254. 19 Ebenso Hagen NJW 1966, 1893; Frank JZ 1982, 737, 742. 20 BGH v. 19.5.1969 – VII ZR 9/67, BGHZ 52, 115, 117 (noch zu § 847 BGB a.F.); zum neuen Recht a.A. Ch. Huber § 2 Rz. 72; Friedrich NZV 2004, 227, 229. 21 OLG Oldenburg v. 22.6.1972 – 3 U 1/72, VersR 1972, 1178, 1179; Frank JZ 1982, 737, 742. 22 BGH v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61, BGHZ 38, 270, 280. 23 BGH v. 17.12.1957 – VI ZR 288/56, VersR 1958, 168; OLG Oldenburg v. 22.6.1972 – 3 U 1/72, VersR 1972, 1178; OLG Hamm v. 25.9.2000 – 13 U 45/00, VersR 2002, 1254; Frank JZ 1982, 737, 742; a.A. Canaris JZ 1963, 655, 660. 24 Friedrich NZV 2004, 227, 231; a.A. Canaris JZ 1963, 665, 660; Staudinger/Schmidt-Bendun Jura 2003, 441, 448. 25 MünchKomm-VVG/Littbarski § 100 Rz. 39 f m.w.N. 26 Zum Innenausgleich s OLG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 1 U 31/10, NZV 2011, 393 und Rz. 39.7 ff.

Greger | 501

17.14

§ 17 Rz. 17.15 | Notstand, Geschäftsführung ohne Auftrag

2. Tätigwerden zur Schadensminderung 17.15

Wer nach einem Unfall als nicht selbst Geschädigter27 dazu beiträgt, den Schaden zu beseitigen oder zu mindern, führt auch ein Geschäft des für den Unfall Verantwortlichen. Aufwendungsersatz nach §§ 683, 670 BGB kann daher z.B. der Jagdberechtigte verlangen, der nach einem Wildunfall den Tierkörper beseitigt.28 Aufwendungen, die Angehörigen des Verletzten für Krankenbesuche entstanden sind, können dagegen nur vom Verletzten selbst als Heilungskosten liquidiert werden (s. Rz. 32.9 f.), denn in diesen Fällen wird weder objektiv noch subjektiv ein fremdes Geschäft geführt.29

17.16

Dient die Maßnahme zugleich der Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zur Gefahrenabwehr, werden die §§ 683, 670 BGB i.d.R. durch spezialgesetzliche Kostenregelungen des Landesrechts verdrängt.30 Wurde z.B. das Technische Hilfswerk auf Anforderung der zuständigen Ordnungsbehörde nach einem Unfall zum Gewässerschutz eingesetzt, können die Kosten dieses Einsatzes nicht vom THW gegenüber dem Verursacher geltend gemacht werden, sondern sie sind in den Erstattungsanspruch der Ordnungsbehörde einzustellen.31 Auch ein von der Gemeinde mit Straßenreinigungsarbeiten beauftragter Privatunternehmer kann sich nicht aus Geschäftsführung ohne Auftrag an den Verursacher halten, denn er erfüllt seine vertragliche Verpflichtung.32 Für Absperr- und Sicherungsmaßnahmen der Autobahnmeisterei kann aber Aufwendungsersatz nach §§ 683, 670 BGB verlangt werden, weil insoweit keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften bestehen.33

17.17

Bei privaten Hilfeleistungen (z.B. eines Unternehmers oder Arztes) kommen neben §§ 677, 683 BGB34 ggf. auch Ansprüche aus Vertrag in Betracht.

17.18

Der Haftpflichtversicherer hat zu dem Unfallschaden nur eine mittelbare Beziehung. Die Behebung der Unfallfolgen (z.B. Beseitigung ausgelaufenen Öls nach einem Unfall) ist nicht sein „Geschäft“, so dass er nicht aus Geschäftsführung ohne Auftrag in Anspruch genommen werden kann.35 Eine Inanspruchnahme aus § 115 VVG kommt in Betracht, wenn der Aufwendungsersatzanspruch schadensersatzähnlichen Charakter hat und nicht durch öffentlichrechtliche Ansprüche (s. Rz. 17.16) verdrängt wird.36 In Betracht kommt zudem eine Ersatzpflicht des Versicherers für Aufwendungen zur Schadensminderung unter dem Aspekt der Rettungskosten (§ 83 i.V.m. § 82 Abs. 1 VVG).37 27 Zu dessen Anspruch auf Ersatz der Schadensminderungskosten s. Rz. 25.102. 28 AG Weilburg v. 17.11.1995 – 5 C 364/95, DAR 1997, 115; a.A. AG Gießen v. 6.5.1998 – 45 C 729/98, NZV 1998, 509; AG Siegburg v. 17.6.1999 – 3 C 115/99, MDR 1999, 1266. 29 Seidel VersR 1991, 1319, 1323; a.A. BGH v. 21.12.1978 – VII ZR 91/77, VersR 1979, 350. 30 BGH v. 13.11.2003 – III ZR 70/03, BGHZ 156, 394; BGH v. 20.12.2006 – IV ZR 325/05, NJW 2007, 1205 = DAR 2007, 142 mit Anm. Weinsdörfer; BGH v. 21.6.2012 – III ZR 275/11, NZV 2012, 535, 537. 31 BGH v. 19.7.2007 – III ZR 20/07, VersR 2007, 1707. 32 BGH v. 21.6.2012 – III ZR 275/11, NZV 2012, 535, 536; BGH v. 28.6.2011 – VI ZR 184/10, NZV 2011, 595, auch zur Möglichkeit der Abtretung öffentlich- und zivilrechtlicher Ansprüche der Ordnungsbehörde. 33 BGH v. 28.9.2011 – IV ZR 294/10, NZV 2012, 34. 34 Vgl. dazu BGH v. 10.10.1984 – IVa ZR 167/82, BGHZ 92, 270, 271 m.w.N. Zur Beschränkung auf Schäden aus der tätigkeitsspezifisch gesteigerten Gefahr BGH v. 4.5.1993 – VI ZR 283/92, VersR 1993, 843, 844. 35 BGH v. 22.5.1970 – IV ZR 1008/68, BGHZ 54, 157. 36 BGH v. 28.9.2011 – IV ZR 294/10, NZV 2012, 34. Näher Rz. 15.7. 37 BGH v. 20.12.2006 – IV ZR 325/05, NJW 2007, 1205.

502 | Greger

IV. Haftung des auftragslosen Geschäftsführers | Rz. 17.21 § 17

3. Unfall bei Verkehrsteilnahme in Fremdinteresse Der Unfallschaden kann dann als Aufwendung i.S.v. §§ 683, 670 BGB geltend gemacht werden, wenn er bei einer Tätigkeit eingetreten ist, die die Voraussetzungen einer Geschäftsführung ohne Auftrag (s. Rz. 17.6 ff.) erfüllt, also z.B., wenn sich jemand in den Straßenverkehr begibt, um mit dem entsprechenden Willen ein dem Anderen obliegendes Geschäft zu besorgen. Hierbei sind jedoch – wie bei der vertraglichen Haftung (s. Rz. 16.3 f.) – solche Maßnahmen auszuschließen, die sich als reine Gefälligkeitshandlungen darstellen. Zu Recht abgelehnt hat der BGH daher die Haftung eines Sportvereins für den Unfallschaden, den die Verwandte eines Vereinsmitglieds erlitt, als sie dieses zu einer Sportveranstaltung fahren wollte.38

17.19

IV. Haftung des auftragslosen Geschäftsführers 1. Rechtsgrundlage Durch Geschäftsführung ohne Auftrag entsteht ein gesetzliches Schuldverhältnis, welches auch Pflichten für den Geschäftsführer begründet (s. insb. §§ 677, 678, 681 BGB). Bei schuldhafter Pflichtverletzung haftet er demjenigen, dessen Geschäft er wahrgenommen hat, gem. § 280 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz. Hat er erkennbar dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Anderen zuwidergehandelt, haftet er bereits wegen der Übernahme der Geschäftsführung, auch wenn ihn bei deren Ausübung kein Verschulden trifft (§ 678 BGB).

17.20

2. Verschuldensmaßstab Grundsätzlich haftet der Geschäftsführer für Vorsatz und Fahrlässigkeit i.S.v. § 276 BGB, beim Handeln zur Abwehr einer dem Anderen drohenden dringenden Gefahr jedoch nicht für leichte Fahrlässigkeit (§ 680 BGB). Für die Anwendbarkeit des § 680 BGB kommt es nicht darauf an, ob das Eingreifen den mit ihm bezweckten Erfolg erreicht hat und ob sich die Gefahr, die Anlass zu dem Eingreifen gab, tatsächlich verwirklicht hat.39 Die Reduktion des Verschuldensmaßstabs gilt auch für die deliktische Haftung des Geschäftsführers40 sowie für die Anrechnung von Mitverschulden.41 Für einen konkurrierenden Amtshaftungsanspruch wegen Verschuldens eines berufsmäßig tätigen Nothelfers (z.B. Feuerwehrmann) lehnt der BGH eine analoge Anwendung des § 680 BGB ab.42 Ob dies generell für professionelle Nothelfer gilt, hat er bislang offen gelassen.43 Richtigerweise wird auch einem Arzt oder Sanitäter, der nicht im Rahmen seines Dienstes, sondern wegen zufälliger Anwesenheit mit der Gefahrenlage konfrontiert und für sein Tätigwerden nicht entgolten wird, die Haftungsvergünstigung zu gewähren sein.44

38 39 40 41 42 43 44

BGH v. 23.7.2015 – III ZR 346/14, NJW 2015, 2880 mit Anm. Singbartl/Zintl. BGH v. 16.3.1965 – VI ZR 210/64, BGHZ 43, 188, 193. BGH v. 30.11.1971 – VI ZR 100/70, NJW 1972, 475. BGH v. 16.3.1965 – VI ZR 210/64, BGHZ 43, 188. BGH v. 14.6.2018 – III ZR 54/1, NJW 2018, 2723 mit Anm. Singbartl/Zintl. BGH v. 24.10.1974 – VII ZR 223/72, BGHZ 63, 167, 175. Ebenso OLG München v. 6.4.2006 – 1 U 4142/05, NJW 2006, 1883; MünchKomm-BGB/Schäfer § 680 Rz. 9; Roth NJW 2006, 2814, 2816.

Greger | 503

17.21

§ 18 Öffentlich-rechtliche Ausgleichsansprüche

I. II. 1. 2. 3.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . Staatliche Maßnahme . . . . . . . . . . . . . Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderopfer, Rechtswidrigkeit . . . . . . .

18.1 18.3 18.3 18.4 18.5

III. Umfang und Geltendmachung der Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Passivlegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18.6 18.6 18.7 18.8

§ 39 NRWOBG (1) Ein Schaden, den jemand durch Maßnahmen der Ordnungsbehörden erleidet, ist zu ersetzen, wenn er a) infolge einer Inanspruchnahme nach § 19 oder b) durch rechtswidrige Maßnahmen, gleichgültig, ob die Ordnungsbehörden ein Verschulden trifft oder nicht, entstanden ist. (2) Ein Ersatzanspruch besteht nicht, a) soweit der Geschädigte auf andere Weise Ersatz erlangt hat oder b) wenn durch die Maßnahme die Person oder das Vermögen des Geschädigten geschützt worden ist. (3) Soweit die Entschädigungspflicht wegen rechtmäßiger Maßnahmen der Ordnungsbehörden in anderen gesetzlichen Vorschriften geregelt ist, finden diese Anwendung.

I. Überblick Geht aus einer von einem Hoheitsträger im Zuge der Hoheitsverwaltung geschaffenen Gefahrenlage ein Schaden hervor, so besteht ein Amtshaftungsanspruch nur bei schuldhaft rechtswidrigem Verhalten eines Amtsträgers (s. Rz. 12.33). Die Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder sehen eine Ersatzpflicht auch für Schäden vor, die einer nicht verantwortlichen Person durch rechtmäßige Inanspruchnahme zugefügt worden sind.1 Einige Landesgesetze gewähren einen Entschädigungs- oder Ausgleichsanspruch auch dann, wenn ein unbeteiligter Dritter durch eine rechtmäßige Maßnahme der Ordnungsbehörde oder der Polizei einen Schaden erleidet.2 Unabhängig vom Bestehen solcher Vorschriften leitet die Rechtsprechung aus dem in § 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten entwickelten Aufopferungsgedanken ab, dass bei rechtmäßigen beeinträchtigenden Eingriffen der Staats-

1 S. z.B. § 39 Abs. 1 lit. a i.V.m. § 19 NRWOBG (dazu BGH v. 12.3.1992 – III ZR 128/91, BGHZ 117, 303); § 80 Abs. 1 S. 1 NdsSOG (dazu BGH v. 3.3.2011 – III ZR 174/10, NJW 2011, 3157); § 59 Abs. 1 Nr. 1 BerlASOG (dazu BGH v. 11.7.1996 – III ZR 133/95, NJW 1996, 3151). 2 Z.B. Art 70 Abs. 2 BayPAG, § 59 Abs. 1 Nr. 2 BerlASOG, §§ 72 f. MVSOG, §§ 221 f. LVwG SH.

Greger | 505

18.1

§ 18 Rz. 18.1 | Öffentlich-rechtliche Ausgleichsansprüche

gewalt, die für den Betroffenen mit einem Sonderopfer verbunden sind, ein Entschädigungsanspruch gegen den Staat gegeben ist.3

18.2

Im Verkehrsrecht können Entschädigungsansprüche aufgrund spezialgesetzlicher Regelung in Betracht kommen, wenn es bei einer Einsatzfahrt,4 infolge einer rechtmäßigen Polizeimaßnahme5 oder der Fehlfunktion einer automatisch arbeitenden Verkehrsregelungsanlage, z.B. „feindliches Grün“ einer Verkehrsampel,6 zu einem Unfall kommt. Sie treten ggf. neben die Gefährdungshaftung des Halters für das unfallbeteiligte Kfz und damit auch neben den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer.

II. Voraussetzungen 1. Staatliche Maßnahme 18.3

Darunter fallen auch durch Automaten abgegebene Ge- oder Verbotszeichen, wie die von einer Verkehrsampel ausgestrahlten Signale7 oder automatisch bewegte Poller, die bestimmte Straßenbereiche absperren oder freigeben.8 Deren Anordnungen gehen auf ein zweckgerichtetes Verwaltungshandeln zurück; Ampeln sind im Grunde nur besondere Einrichtungen zur Bekanntgabe von Verwaltungsakten.9

2. Unmittelbarkeit 18.4

Für das Kriterium der Unmittelbarkeit kommt es auf eine wertende Zurechnung an.10 Die durch den Eingriff ausgelösten schädigenden Auswirkungen müssen aus der Eigenart der hoheitlichen Maßnahmen folgen. Kommen etwa Verkehrsteilnehmer dadurch zu Schaden, dass sie bei „feindlichem Grün“ in eine Kreuzung einfahren, so ist der Schaden als durch die fehlerhafte Verkehrsregelungsmaßnahme unmittelbar verursacht anzusehen.11 Nicht von einem unmittelbaren Eingriff kann dagegen die Rede sein, wenn die Ampel in der Weise gestört ist, dass sie in der einen Richtung Wechsellichtzeichen, in der anderen aber Dauerrot oder rotgelbes Dauerlicht zeigt.12 Im Fall des durch verkehrswidriges, aber rechtmäßiges Verhalten eines Polizeibeamten verursachten Auffahrunfalls ist ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Verwaltungshandeln und Schaden nur dann anzunehmen, wenn der Geschädigte aufgrund des plötzlichen Abbremsens des vorausfahrenden Pkw nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte.13 3 BGH v. 3.3.2011 – III ZR 174/10, NJW 2011, 3157 m.w.N. 4 S. dazu Bernstrauch NZV 2020, 243 ff. 5 Z.B. Rammen eines Fluchtfahrzeugs (BGH v. 3.3.2011 – III ZR 174/10, NJW 2011, 3157; s. Rz. 18.5); Auffahrunfall, weil Polizist bei Verfolgung eines Tatverdächtigen bei Rot über die Straße läuft (KG v. 3.1.2005 – 12 U 11/03, NZV 2005, 417). 6 BGH v. 18.12.1986 – III ZR 242/85, BGHZ 99, 249; OLG Karlsruhe v. 18.7.2013 – 9 U 23/12, NZV 2017, 266. 7 BGH v. 18.12.1986 – III ZR 242/85, BGHZ 99, 249. 8 OLG Köln v. 30.10.2003 – 7 U 79/03, NZV 2004, 95; a.A. OLG Naumburg v. 27.10.2011 – 1 U 53/11, DAR 2012, 523. 9 BGH v. 18.12.1986 – III ZR 242/85, BGHZ 99, 249, 252. 10 Ossenbühl JuS 1988, 193, 195. 11 BGH v. 18.12.1986 – III ZR 242/85, BGHZ 99, 249, 254. 12 OLG Düsseldorf v. 26.11.1987 – 18 U 105/87, VersR 1989, 58. 13 KG v. 3.1.2005 – 12 U 11/03, MDR 2005, 862.

506 | Greger

III. Umfang und Geltendmachung der Ansprüche | Rz. 18.7 § 18

3. Sonderopfer, Rechtswidrigkeit Muss in Ermangelung spezialgesetzlicher Regelungen auf die allgemeinen Grundsätze über die Aufopferung zurückgegriffen werden (s. Rz. 18.1), so muss auch das dort vorausgesetzte Merkmal des (enteignungsähnlichen) Sonderopfers erfüllt sein. Das Sonderopfer wird bejaht bei objektiver, also nicht an das Verhalten eines Amtsträgers abstellender Rechtswidrigkeit, wie sie z.B. in der Ausstrahlung einander widersprechender und damit nahezu zwangsläufig zu einem Unfall führender Lichtzeichen liegt.14 Entsprechendes gilt bei Beschädigung eines Kfz durch Hochfahren eines automatisch gesteuerten Pollers15 oder nicht angekündigtes Schließen einer automatischen Schranke.16 Bei auch objektiv rechtmäßigem Eingriff kann vom Abverlangen eines Sonderopfers nur dann die Rede sein, wenn das Verwaltungshandeln eine schwere Eigentumsbeeinträchtigung hervorruft, deren entschädigungslose Hinnahme unzumutbar ist.17 Zur Frage des Sonderopfers bei Verletzung durch den vorschriftsmäßig angelegten Sicherheitsgurt s. Rz. 25.86.

18.5

III. Umfang und Geltendmachung der Ansprüche 1. Umfang Es handelt sich nicht um einen auf Naturalrestitution gerichteten Schadensersatzanspruch, sondern um einen Anspruch auf angemessene Entschädigung, orientiert am Substanzverlust.18 Bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit billigt der BGH nunmehr in Abkehr von seiner früheren Rspr. auch eine immaterielle Entschädigung zu.19 Eine mitwirkende Betriebsgefahr oder ein Mitverschulden auf Seiten des Geschädigten ist anzurechnen.20

18.6

2. Passivlegitimation Passivlegitimiert ist stets der begünstigte Hoheitsträger, nicht die Körperschaft, die den Eingriff vornimmt.21 Die Pflicht, eine Lichtzeichenanlage ordnungsgemäß zu unterhalten und vor Funktionsstörungen zu bewahren, gehört zwar zur Verkehrssicherungspflicht und damit zur Verantwortung des Straßenbaulastträgers. Das Ausstrahlen der Lichtzeichen – ein Verwaltungsakt – stellt aber eine Maßnahme der Verkehrsregelung dar, die in den Zuständigkeitsbereich der Straßenverkehrsbehörde fällt und dieser zuzurechnen ist.22 Zu verklagen (nach 14 BGH v. 18.12.1986 – III ZR 242/85, BGHZ 99, 249, 253. Zu den hohen Beweisanforderungen in solchen Fällen OLG Hamm v. 14.6.1996 – 9 U 162/95, NZV 1997, 40; OLG Hamm v. 27.5.2003 – 9 U 116/02, NZV 2003, 577; OLG Celle v. 9.6.1998 – 16 U 196/97, NZV 1999, 244; Schwake VersR 2007, 1620, 1622 ff. 15 OLG Köln v. 30.10.2003 – 7 U 79/03, NZV 2004, 95. Zur Haftung bei schuldhafter Verkehrspflichtverletzung s. Rz. 13.136. 16 OLG Karlsruhe v. 9.5.2018 – 4 U 2/17, juris. 17 BGH v. 3.3.2011 – III ZR 174/10, NJW 2011, 3157: verneint, wenn gestohlenes Fahrzeug von Polizei durch Rammen gestoppt und beschädigt wird. 18 MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani, § 839 Rz. 51. 19 BGH v. 7.9.2017 – III ZR 71/17, NJW 2017, 3384 (abl. Singbartl/Zintl NJW 2017, 3386). 20 BGH v. 18.12.1986 – III ZR 242/85, BGHZ 99, 249, 255. 21 BGH v. 26.1.1984 – III ZR 216/82, NJW 1984 1169; MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani, § 839 Rz. 51. 22 BGH v. 18.12.1986 – III ZR 242/85, BGHZ 99, 249, 255; OLG Zweibrücken v. 28.4.1989 – 1 U 236/88, NZV 1989, 311.

Greger | 507

18.7

§ 18 Rz. 18.7 | Öffentlich-rechtliche Ausgleichsansprüche

§ 40 Abs. 2 S. 1 VwGO vor den ordentlichen Gerichten23) ist also die Körperschaft, der die Straßenverkehrsbehörde angehört.

3. Verjährung 18.8

Nach h.M. verjähren die öffentlich-rechtlichen Ausgleichsansprüche, soweit nicht ausdrücklich anders geregelt, in der regelmäßigen Verjährungsfrist nach §§ 195 ff. BGB analog.24

23 BGH v. 15.12.1994 – III ZB 49/94, NJW 1995, 964. 24 BGH v. 11.1.2007 – III ZR 302/05, NJW 2007, 830, 834; a.A. Mansel NJW 2002, 89, 91.

508 | Greger

Vierter Teil Reichweite, Inhalt und Inhaber des Ersatzanspruchs § 19 Zurechnung von Verletzungsfolgen

I. Haftungsgrund und Haftungsausfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Zurechnungskriterien . 1. Adäquate Kausalität . . . . . . . . . . . . . . 2. Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Spezielle Zurechnungsfragen . . . . . . 1. Mittelbar verursachte Schäden beim Unfallbeteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Folge- und Zweitunfälle . . . . . . . . . . .

19.1 19.4 19.4 19.5 19.7 19.7 19.7

b) Sonstige Folgeschäden . . . . . . . . . . . . 2. Mittelbar verursachte Schäden bei Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbständige Weiterentwicklung von Unfallfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schadensbegünstigende Konstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.8 19.15 19.15 19.16 19.22 19.27

I. Haftungsgrund und Haftungsausfüllung Haftungsnormen ordnen als Rechtsfolge des im Tatbestand umschriebenen Ereignisses (Verletzung eines bestimmten Rechtsguts, pflichtwidriges Verhalten) an, dass der daraus entstehende Schaden zu ersetzen ist. Wo genau die Trennlinie zwischen Haftungsgrund und Haftungsausfüllung verläuft, ist oftmals schwer zu bestimmen, so z.B. bei nachträglich eintretenden Verletzungsfolgen, bei schädlichen Auswirkungen auf Dritte oder bei Tatbeständen, die nicht an die Verletzung eines absoluten Rechts oder Rechtsguts anknüpfen (wie bei der Vertragsoder Amtspflichtverletzung). Die Unterscheidung ist jedoch schon beweisrechtlich von großer Bedeutung: Während die haftungsbegründenden Merkmale nach § 286 ZPO zur vollen Überzeugung des Richters nachgewiesen werden müssen, gelten für die Haftungsausfüllung die Erleichterungen des § 287 ZPO (s. Rz. 41.51 f.). Steht der Haftungsgrund, noch nicht aber der Umfang des zu leistenden Schadensersatzes fest, kann ein Grund-, u.U. auch ein Feststellungsurteil ergehen (s. Rz. 40.32 ff., 40.14 ff.).

19.1

Worin der konkrete Haftungsgrund besteht, der die Trennlinie zwischen Haftungsbegründung und Haftungsausfüllung markiert, richtet sich nach der jeweiligen Haftungsnorm. Bei §§ 7, 18 StVG ist Haftungsgrund der bei dem Betrieb des Kfz entstandene Unfall (s. Rz. 3.30 ff.), bei der deliktischen Haftung die Verletzung des geschützten Rechtsguts. Schadensfolgen, die sich aus dieser „Primärverletzung“ ergeben, sind der Haftungsausfüllung zuzurechnen. Bei der Vertrags- und Amtspflichtverletzung wird der konkrete Haftungsgrund von der Rechtsprechung bereits in der Pflichtwidrigkeit gesehen.1

19.2

In erster Linie stellt sich auch bei der Haftungsausfüllung die Frage der Zurechnung. Sie betrifft jetzt nicht mehr die Entscheidung, ob eine bestimmte Schädigung dem tatbestandsmäßi-

19.3

1 S. hierzu krit. Zöller/Greger § 287 Rz. 2.

Greger | 509

§ 19 Rz. 19.3 | Zurechnung von Verletzungsfolgen

gen Verhalten zuzurechnen ist (dazu s. Rz. 3.67 ff.), sondern welche wirtschaftlichen Auswirkungen der Schädigung als Schaden, d.h. als Differenz zwischen dem jetzigen Wert des Vermögens und jenem, der ohne die Schädigung bestehen würde,2 zu ersetzen sind (s. Rz. 19.4 ff.). Sodann ist – gleichfalls mit normativen Erwägungen – zu klären, welche Beeinträchtigungen überhaupt in diesen Vermögensvergleich einzustellen sind (s. Rz. 20.2 ff.); das StVG enthält dazu in den §§ 10 und 11 einige Vorgaben für den Personenschaden. Außerdem ist die Höhenbegrenzung nach § 12 StVG zu beachten, ggf. auch die ausnahmsweise vorgesehene Ersatzfähigkeit immaterieller Nachteile (§ 253 BGB, § 11 StVG, § 6 HaftpflG). Für die in §§ 249 ff. BGB geregelte Art und Weise des Schadensersatzes hat die Rechtsprechung sehr differenzierte Regeln entwickelt (s. Rz. 20.22 ff.).

II. Allgemeine Zurechnungskriterien 1. Adäquate Kausalität 19.4

Die Schadensfolge, für die Ersatz begehrt wird, muss kausal auf die Primärverletzung (z.B. Personen- oder Sachschaden durch Unfall i.S.v. § 7 StVG oder unerlaubte Handlung i.S.v. § 823 BGB) zurückzuführen sein (sog. haftungsausfüllende Kausalität).3 Die Beschränkung auf adäquate Kausalverläufe (s. Rz. 3.71) gilt auch (und gerade) hier: Schadensfolgen, die nur aufgrund eines ganz unwahrscheinlichen Geschehensablaufs durch den Unfall entstehen konnten, werden dem Schädiger nicht zugerechnet. Dies ist insbesondere in den Fällen mittelbarer Verursachung von Bedeutung (s. Rz. 19.7 ff.).

2. Normzweck 19.5

Ob der Schutzzweck der Haftungsnorm neben der Adäquanz als weiteres Korrektiv zur Ausscheidung billigerweise nicht zurechenbarer Schadensfolgen heranzuziehen ist, ist streitig.4 Während sich im Bereich der Haftungsbegründung eine solche Begrenzung in den Tatbestand hineinlesen lässt (s. z.B. Rz. 3.70 zu dem Merkmal „bei dem Betrieb“ in § 7 StVG), ordnen die Haftungsnormen auf der Rechtsfolgenseite lediglich den Ersatz des „daraus entstehenden Schadens“ an. Die aus der Tötung, Körperverletzung oder Sachbeschädigung entstehenden Schadensfolgen vermögensrechtlicher Art sind somit ohne bereits in der Haftungsnorm angelegte Begrenzungen zu ersetzen. Die Rechtsprechung nimmt daher sehr stark einzelfallbezogene Grenzziehungen vor.

19.6

Generell gilt aber, dass nur Folgen, die auf der Verletzung eines der in der Haftungsnorm geschützten Rechtsgüter beruhen, zugerechnet werden können. So kann z.B. aufgrund von § 7 StVG kein Ersatz von Strafverteidigerkosten verlangt werden, die der bei einem Unfall Verletzte nach einem Freispruch mangels Beweises bezüglich seiner eigenen Unfallbeteiligung

2 Zu dieser Differenzbetrachtung s. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 18 ff. m.w.N.; Staudinger/ Schiemann § 249 Rz. 4 ff. 3 BGH v. 13.12.1951 – IV ZR 123/51, BGHZ 4, 192, 196; BGH v. 18.6.1969 – VIII ZR 148/67, NJW 1969, 1708; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 105 ff. 4 Bejahend z.B. BGH v. 22.4.1958 – VI ZR 65/57, BGHZ 27, 137 = JZ 1958, 742 mit Anm. Boehmer; BGH v. 14.10.1971 – VII ZR 313/69, BGHZ 57, 137 = JZ 1972, 438 mit Anm. Lieb; MünchKommBGB/Oetker § 249 Rz. 119; abl. z.B. Larenz § 27 III b 2; Stoll Kausalzusammenhang und Normzweck im Deliktsrecht (1968), S. 27 f.

510 | Greger

III. Spezielle Zurechnungsfragen | Rz. 19.9 § 19

von dem Unfallgegner begehrte:5 allerdings nicht, wie der BGH argumentierte, weil diese Kosten außerhalb des Schutzbereichs des Gesetzes lägen, sondern weil es sich nicht um eine Folge der Verletzung des Anspruchstellers handelte (s. Rz. 29.23).

III. Spezielle Zurechnungsfragen 1. Mittelbar verursachte Schäden beim Unfallbeteiligten a) Folge- und Zweitunfälle Wenn der Geschädigte als Folge des Unfalls einen weiteren Unfall i.S.v. § 7 StVG, d.h. eine weitere selbständige Rechtsgutsverletzung, erleidet, also z.B. beim Betreten der Fahrbahn angefahren wird oder auf dem Transport ins Krankenhaus mit dem Rettungswagen verunglückt, handelt es sich nicht um eine Frage der Haftungsausfüllung. Zur Frage der Zurechenbarkeit solcher Folge- oder Zweitunfälle s. Rz. 3.161 ff.

19.7

b) Sonstige Folgeschäden Erleidet der Unfallgeschädigte eine weitere Rechtsgutsverletzung durch ein sonstiges, also keinen Folgeunfall im vorstehenden Sinn darstellendes Ereignis, so besteht – wie im Bereich der Haftungsbegründung (s. Rz. 3.79 ff.) – ein adäquater Zurechnungszusammenhang jedenfalls dann, wenn die Verschlimmerung durch ein herausgefordertes Verhalten des Geschädigten selbst oder ein begünstigtes Tätigwerden eines Dritten hervorgerufen wurde. Es greift aber die Beweiserleichterung des § 287 ZPO ein.

19.8

Dem Unfall zuzurechnen sind daher z.B. auch

19.9

– die durch unsachgemäße Hilfeleistung Dritter am Unfallort hervorgerufene Verschlimmerung des Schadens;6 – der durch die Unfallverletzung bedingte Selbstmord des Verletzten7 (bei grobem Missverhältnis zwischen dem Anlass und dem erlittenen Schaden wird die Bedingtheit allerdings zu verneinen sein); – ein Schlaganfall, den der Geschädigte dadurch erleidet, dass eine durch den Unfall hervorgerufene Erregung, die ihrerseits bereits den Grad einer (psychischen) Gesundheitsverletzung erreicht, durch das Verhalten des Schädigers bei der Unfallaufnahme infolge Bluthochdrucks zu einer Gehirnblutung führt;8 – die Folgen unrichtiger ärztlicher Behandlung des Verletzten, außer bei besonders grobem Kunstfehler des Arztes;9

5 BGH v. 22.4.1958 – VI ZR 65/57, BGHZ 27, 137. 6 OLG Hamm v. 24.1.2017 – 9 U 54/15 (juris). 7 BGH v. 10.6.1958 – VI ZR 120/57, NJW 1958, 1579; OLG Hamm v. 23.9.1996 – 6 U 70/94, r+s 1997, 65 (10 Jahre nach dem Unfall). 8 Anders BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 241/88, BGHZ 107, 359 = JZ 1989, 1069 mit Anm. v Bar = JR 1990, 112 mit Anm. Dunz, wo allerdings nach der etwas unklaren Begründung der Gesundheitsschaden „erst eigentlich“ durch die Vorkommnisse nach dem Unfall ausgelöst worden ist (näher hierzu s. Rz. 3.72). 9 BGH v. 12.2.1963 – VI ZR 181/62, NJW 1963, 1671, 1672; OLG Koblenz v. 24.4.2008 – 5 U 1236/ 07, NJW 2008, 3006; OLG Hamm v. 1.9.1994 – 6 U 71/94, VersR 1996, 585 und OLG Oldenburg v. 8.7.2015 – 5 U 28/15, VersR 2016, 664 (auch zur Frage des Innenausgleichs).

Greger | 511

§ 19 Rz. 19.9 | Zurechnung von Verletzungsfolgen – die Erblindung des Verletzten, wenn bei ihm durch eine Kopfverletzung eine schizophrene Psychose ausgelöst wurde und er sich in diesem Zustand die Augen verletzt hat;10 – die Sturzverletzung, die ein Autofahrer dadurch erleidet, dass er nach einem Auffahrunfall sein Fahrzeug verlässt, um den Schaden zu besichtigen, und auf Glatteis ausrutscht;11 – die Verletzung bei einem Sturz, der auf die unfallbedingte Verletzung zurückzuführen ist;12 – Verletzungen, die der Geschädigte bei einem zweiten Unfall nur deshalb erleidet, weil die Primärverletzungen noch nicht voll verheilt waren;13 – die Zeugungsunfähigkeit infolge Schädigung eines Hodens und späterer Verletzung des anderen;14 – der Tod des Verletzten durch Artilleriebeschuss, weil er infolge der unfallbedingten Beinamputation den Bunker nicht schnell genug erreichte.15

19.10

Nicht zuzurechnen ist dagegen z.B. – der Tod des Verletzten, wenn er durch eine nicht unfallbedingte Operation verursacht wurde, die gelegentlich der Behandlung der Unfallverletzung durchgeführt wurde;16 – der Tod des Verletzten infolge einer Grippeinfektion in der Klinik;17 – die Bypass-Operation, deren Notwendigkeit bei der Behandlung eines unfallbedingten Herzinfarkts festgestellt wurde;18 – der Impfschaden aus einer Tetanusimpfung, die bei der Behandlung der Unfallverletzungen nur vorbeugend für künftige Verletzungen vorgenommen wurde;19 – der Vermögensnachteil, den der Geschädigte dadurch erleidet, dass er bei einem Unfall mit dem Ersatzwagen infolge falscher Beratung durch den Autovermieter geringere Leistungen aus der Unfallversicherung erhält als er bei einem Unfall mit dem eigenen Wagen erhalten hätte;20 – die Sturzverletzung, die sich der vom Unfall selbst nicht körperlich betroffene Eigentümer des beschädigten Fahrzeugs bei der Schadensbesichtigung zuzieht.21

19.11

Zur reinen Verschlimmerung der Verletzungsfolgen (ohne neue Verletzung) s. Rz. 19.22 ff.

19.12

Der Erstschädiger haftet aber auch dann, wenn Verletzungsfolgen möglicherweise erst durch einen späteren selbständigen Unfall zum Dauerschaden verstärkt worden sind; kann die Mitursächlichkeit des zweiten Unfalls gem. § 287 ZPO erwiesen werden, haftet der Zweitschädiger nach schwer begründbarer Rechtsprechung des BGH gesamtschuldnerisch mit.22 Besteht allerdings der Beitrag des Erstunfalls zum endgültigen Schadensbild nur darin, dass eine anla-

10 BGH v. 26.11.1968 – VI ZR 176/67, VersR 1969, 160. 11 BGH v. 26.2.2013 – VI ZR 116/12, NJW 2013, 1679 (sehr weitgehend). 12 RG v. 5.12.1927 – VI 257/27, RGZ 119, 204, 206 f.; BGH v. 15.12.1970 – VersR 1971, 443; vgl. auch österr. OGH ZVR 1989, 223 (Knieverletzung). 13 OLG Hamm v. 29.8.1994 – 6 U 245/93, NZV 1995, 282: Refraktur des Unterschenkels. 14 OLG München v. 23.1.1997 – 24 U 804/93, VersR 1997, 577. 15 A.A. BGH v. 24.4.1952 – III ZR 100/51, NJW 1952, 1010; wie hier U. Huber JZ 1969, 677, 682; Kramer JZ 1976, 338, 344. 16 BGH v. 2.7.1957 – VI ZR 205/56, BGHZ 25, 86. 17 A.A. RG v. 13.10.1922 – III 453/22, RGZ 105, 264. 18 OLG Düsseldorf v. 30.11.1987 – 1 U 196/86, DAR 1991, 147. 19 BGH v. 12.2.1963 – VI ZR 181/62, NJW 1963, 1671. 20 OLG Frankfurt v. 24.3.1995 – 19 U 151/94, NZV 1995, 354. 21 LG Aachen v. 28.11.1984 – 4 O 300/84, VersR 1985, 1097 LS; s. aber BGH v. 26.2.2013 – VI ZR 116/12, NJW 2013, 1679. 22 BGH v. 20.11.2001 – VI ZR 77/00, NJW 2002, 504. Krit. auch T. Müller NJW 2002, 2841 f, der aber unter unzutr. Heranziehung von § 830 Abs. 1 S. 2 BGB zum selben Ergebnis kommt.

512 | Greger

III. Spezielle Zurechnungsfragen | Rz. 19.17 § 19

gebedingte Neigung des Geschädigten zu psychischer Fehlverarbeitung geringfügig verstärkt wird, reicht das nicht aus, um eine Haftung des Erstschädigers für die Folgen des Zweitunfalls zu begründen.23 Auch rechtswidriges Verhalten, zu dem sich Dritte aufgrund der durch den Unfall geschaffenen Lage verleiten lassen, kann in adäquat kausalem Zusammenhang mit dem Unfall stehen.

19.13

Der Halter haftet daher z.B. wenn Teile der Ladung aus einem nach Verkehrsunfall ungesichert liegengebliebenen Lkw entwendet werden24 oder wenn Tiere gestohlen werden, die nach der unfallbedingten Schädigung des Weidezauns entlaufen sind.25 Das Abhandenkommen von Wertsachen aus dem verschlossenen Handschuhfach,26 aus polizeilichem Gewahrsam27 oder während des Krankenhausaufenthalts28 ist dagegen nicht mehr zurechenbar.

19.14

2. Mittelbar verursachte Schäden bei Dritten a) Allgemeines Der Unfallverursacher haftet auch für Schäden, die infolge des Unfalls – in adäquater Weise – einem daran nicht unmittelbar beteiligten Dritten entstanden sind. Voraussetzung ist allerdings, dass bei dem Dritten eine Primärverletzung eingetreten ist, d.h. dass er nicht nur in seinem Vermögen, sondern in einem der in der Haftungsnorm genannten Schutzgüter betroffen ist. Erst wenn diese eigene Rechtsgutverletzung, der nach § 286 ZPO zu beweisende „konkrete Haftungsgrund“, feststeht, stellt sich die Frage nach der Ersatzfähigkeit einzelner Schadensfolgen.

19.15

b) Einzelfälle Zur Zurechnung von Schockschäden, d.h. zu der Frage, unter welchen Umständen es sich bei einer psychischen Beeinträchtigung durch das Miterleben eines Unfalls oder seiner Folgen oder durch den Erhalt einer Unfallnachricht um eine dem Unfallverursacher zurechenbare Gesundheitsschädigung, mithin eine nach § 286 ZPO zu beweisende Primärverletzung, handelt, s. Rz. 3.45 ff.

19.16

Bei der Beschädigung von Anliegergrundstücken (Gehweg, Radweg, Grünstreifen, Vorgarten oä), die nicht durch den Unfall selbst (z.B. ausgelaufenes Öl) hervorgerufen wird, sondern durch Fahrzeuge, die durch den Unfall an der Durchfahrt gehindert werden und die Unfallstelle unter Benützung angrenzender Flächen umfahren, lehnt der BGH eine Zurechnung ab, da diese Schäden nicht vom Schutzzweck des § 7 StVG und des § 823 BGB umfasst seien.29 Straßenschäden, die der zur Bergung eines Unfallfahrzeugs eingesetzte Kranwagen hervorruft, sind dagegen zuzurechnen.30

19.17

BGH v. 16.3.2004 – VI ZR 138/03, NJW 2004, 1945. BGH v. 10.12.1996 – VI ZR 14/96, NJW 1997, 865. BGH v. 3.10.1978 – VI ZR 253/77, NJW 1979, 712. KG v. 7.5.2001 – 12 U 6381/98, NZV 2002, 41. BGH v. 10.12.1996 – VI ZR 14/96, NJW 1997, 865. A.A. LG Mainz v. 22.1.1998 – 1 O 547/96, VersR 1999, 863. BGH v. 16.2.1972 – VI ZR 128/70, BGHZ 58, 162; ihm folgend Geigel/Schmidt Kap. 1 Rz. 33; Larenz § 27 III b 5, Esser/Schmidt § 33 II 2 b; i. Erg. auch MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 160 (es fehle an der Herausforderung zu diesem Verhalten). 30 LG Oldenburg v. 24.2.1992 – 7 O 3632/91, NZV 1993, 156. 23 24 25 26 27 28 29

Greger | 513

§ 19 Rz. 19.18 | Zurechnung von Verletzungsfolgen

19.18

Ein Unfall, der dem Helfer bei seiner (beabsichtigten) Hilfeleistung widerfährt, ist dem Erstunfall zuzurechnen (s. Rz. 3.91). Dies gilt aber auch für einen sonstigen Körper- oder Sachschaden (z.B. er verletzt sich beim Hinzueilen oder beim Bergen von Unfallopfern, seine Kleidung wird verschmutzt).31 Ob die Hilfeleistung erfolgreich oder auch nur erfolgversprechend war, ist ohne Belang; für völlig sinnlose Überreaktionen, mit denen vernünftigerweise nicht gerechnet werden kann, ist allerdings mangels Adäquanz nicht einzustehen. Ebenso besteht keine Zurechenbarkeit, wenn der Schaden nur zufällig bei Gelegenheit der Hilfeleistung eintritt, also nicht auf einem durch sie gesteigerten Risiko beruht.32 Ein Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen und dem durch die Hilfeleistung hervorgerufenen Schaden tangiert die Ersatzpflicht nur dann, wenn es voraussehbar und die Hilfeleistung damit unsinnig und inadäquat war.

19.19

Springt eine Mutter aus dem im Hochparterre gelegenen Küchenfenster, weil sie beobachtet, wie ihr spielendes Kind von einem rückwärtsfahrenden Pkw mitgeschleift wird, ist die Reaktion verständlich und die beim Sprung erlittene Verletzung zurechenbar.33 Macht sich der Helfer im Rahmen seiner Hilfeleistung einem Anderen gegenüber haftbar (z.B. indem er Decken von einer Wäscheleine nimmt, um Flammen zu ersticken), so umfasst die Haftpflicht auch diesen. Auch der Schaden, der dadurch entsteht, dass ein Rettungshubschrauber Weidetiere in Panik versetzt, ist daher dem Unfallverursacher zuzurechnen.34

19.20

Auch eine Organspende kann zurechenbar sein. Spendet z.B. eine Mutter zur Rettung ihres verletzten Kindes eine Niere, so hat sie einen eigenen Schadensersatzanspruch gegen den Verletzten,35 denn ihr Opfer wurde durch die Verletzung des Kindes „herausgefordert“.

19.21

Die Fernwirkung von Sachbeschädigungen ändert nichts an der Zurechenbarkeit. Sie liegt z.B. vor, wenn bei einem Unfall ein Schaltkasten zerstört wird und es infolge einer von den Stadtwerken fehlerhaft durchgeführten Notreparatur zu Störungen bei der Stromversorgung einer Gärtnerei und dadurch zu Schäden an Geräten und Pflanzen kommt.36. Auch der Brand, der dadurch entsteht, dass an einem in die Werkstatt verbrachten Kfz die Batterie nicht abgeklemmt wurde, so dass die Unfallschäden zu einem Kurzschluss führen konnten, ist dem Betrieb des Kfz zurechenbar.37

3. Selbständige Weiterentwicklung von Unfallfolgen 19.22

Für die selbständig, d.h. nicht durch Vermittlung eines neuen Ereignisses hervorgerufene Verschlimmerung körperlicher Beeinträchtigungen ist die Zurechnung, in den Grenzen der Adäquanz, zu bejahen, so z.B. wenn eine Augenverletzung zur Erblindung führt, ein geschädigtes Gelenk mangels Benutzbarkeit versteift oder an einer Wunde eine Infektionskrankheit auftritt. Für das Beweismaß gilt § 287 ZPO (s. Rz. 41.54).

31 RG v. 6.6.1940 – VIII 578/39, RGZ 164, 125; OLG Stuttgart v. 24.11.1964 – 5 U 91/64, NJW 1965, 112; OLG Karlsruhe v. 28.4.1989 – 10 U 298/88, VersR 1991, 353. 32 BGH v. 4.5.1993 – VI ZR 283/92, VersR 1993, 843 (Feuerwehrmann verstaucht sich beim Schlauchaufrollen den Fuß); OLG Köln v. 7.6.1989 – 24 U 56/88, VersR 1991, 1387: Stolpern auf dem Weg zur Notrufsäule. 33 OLG München v. 9.2.1993 – 5 U 5549/92, OLGReport München 1993, 243. 34 A.A. LG Hannover v. 30.10.1984 – 7 O 81/84, VersR 1986, 48. 35 BGH v. 30.6.1987 – VI ZR 257/86, VersR 1987, 1040 = JZ 1988, 152 mit Anm. Stoll = JR 1988, 199 mit Anm. Giesen; OLG Schleswig v. 3.10.1986 – 4 U 182/85, VersR 1987, 915. 36 OLG Hamburg v. 17.7.1990 – 7 U 1/90, NJW 1991, 849. 37 BGH v. 26.3.2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227 mit Anm. Herbers.

514 | Greger

III. Spezielle Zurechnungsfragen | Rz. 19.26 § 19

Führen die Unfallverletzungen zu psychischen Folgeschäden, so sind auch deren Auswirkungen grundsätzlich dem Unfallhaftpflichtigen zuzurechnen.38 Die Zurechnung solcher Folgen (z.B. Depressionen, Wesensveränderungen, Aktual-, Unfall- oder Konversionsneurosen) scheitert nicht daran, dass sie auf einer konstitutiven Schwäche des Verletzten beruhen,39 findet aber ihre Grenze dort, wo die psychische Reaktion, weil in einem groben Missverhältnis zum konkreten Anlass stehend, schlechterdings nicht mehr verständlich ist. Dies kommt insbesondere bei ganz geringfügigen, nicht speziell die Schadensanlage des Verletzten treffenden Primärverletzungen in Betracht,40 d.h. solchen, die üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken, weil er schon aufgrund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewöhnt ist, vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein.41 Zu Auswirkungen der besonderen Anfälligkeit auf die Schadenshöhe s. Rz. 19.30.

19.23

Für die sog Begehrensneurose (Rentenneurose), d.h. psychische Folgeschäden, die wesentlich durch eine Begehrenshaltung des Geschädigten (Aussicht auf Entschädigung und Rentenzahlung) geprägt sind, ist nach der Rechtsprechung des BGH unabhängig davon, ob dem Geschädigten eine Überwindung seiner Fehlhaltung möglich wäre, kein Ersatz zu leisten, weil es dem Sinn des Schadensersatzanspruchs widerspräche, wenn gerade durch die Tatsache seines Bestehens die Wiedereinführung in den sozialen Lebens- und Pflichtenkreis erschwert oder gar unmöglich gemacht würde.42 Für die hierzu erforderliche eingehende Würdigung der Persönlichkeit des Betroffenen bedarf es der Einschaltung ärztlicher Gutachter, die auf diesem Gebiet speziell ausgebildet und erfahren sind.43

19.24

Dagegen kann bei einer Konversionsneurose (Umwandlung eines seelischen Konflikts in körperliche Störungen), bei der das Unfallgeschehen unbewusst zum Anlass genommen wird, latente innere Konflikte zu kompensieren, eine Zurechnung nicht wegen Zweckwidrigkeit des Schadensersatzes verneint werden.44 Eine die Zurechenbarkeit ausschließende „unangemessene Fehlverarbeitung“ liegt aber vor, wenn der Unfall nur zufälliger, auswechselbarer Anlass war, sich letztlich also nur das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht hat.45

19.25

Zuzurechnen ist auch eine Drogensucht, die sich aus den schwerwiegenden Dauerfolgen einer Unfallverletzung entwickelt.46 Dagegen ist eine Zurechnung zu verneinen, wenn sich die Alkoholabhängigkeit einer Frau nach dem Unfalltod ihres Ehemannes nur deshalb verschlimmert, weil dieser nicht mehr stabilisierend auf sie einwirken kann.47

19.26

38 S. dazu aus medizinischer Sicht Stevens NZV 2008, 383. Eingehende Praxishinweise mit CheckListe bei Born/Rudolf/Becke NZV 2008, 1 ff.; zum Schadensmanagement bei Personenschäden Clemens/Hack/Schottmann/Schwab DAR 2008, 9 ff. 39 BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 345 m.w.N. 40 BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 346; BGH v. 11.11.1997 – VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142; BGH v. 11.11.1997 – VI ZR 146/96, NZV 1998, 110, 111 (HWS-Schleudertrauma fällt nicht generell darunter). 41 BGH v. 11.11.1997 – VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142, 147. 42 BGH v. 29.2.1956 – VI ZR 352/54, BGHZ 20, 137; BGH v. 10.7.2012 – VI ZR 127/11, NJW 2012, 2964 = VersR 2012, 1133 mit Anm. Mergner; einschr. Lange/Schiemann § 3 X 2 d; abw. Stürner JZ 1984, 412, 416. 43 BGH v. 10.7.2012 – VI ZR 127/11, NJW 2012, 2964, 2965. 44 BGH v. 11.11.1997 – VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142, 150. 45 BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341; BGH v. 12.11.1985 – VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 242 mit Anm. Dunz VersR 1986, 448; BGH v. 16.3.1992 – VI ZR 101/92, NZV 1993, 224, 225; OLG Hamm v. 10.10.1995 – 9 U 68/95, ZfS 1996, 51. 46 OLG Koblenz v. 11.10.2004 – 12 U 621/03, NZV 2005, 317; österr. OGH ZVR 1995, 181. 47 BGH v. 31.1.1984 – VI ZR 56/82, VersR 1984, 439; krit. hierzu Grunsky JZ 1986, 170, 172.

Greger | 515

§ 19 Rz. 19.27 | Zurechnung von Verletzungsfolgen

4. Schadensbegünstigende Konstitution 19.27

Die Zurechenbarkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass es zu einer bestimmten Schadensfolge oder zu dem gegebenen Ausmaß des Schadens nur infolge einer besonderen Schadensanfälligkeit der Person oder Sache gekommen ist48 (zum hiervon zu unterscheidenden Fall der überholenden Kausalität – ohne den Unfall hätte sich aufgrund einer Reserveursache derselbe Schaden ergeben – s. Rz. 20.7 f.). Der Kfz-Halter, der das haftungsbegründende Risiko geschaffen hat, kann sich nicht mit dem Hinweis auf die besondere Konstitution des verletzten Rechtsguts entlasten. Er hat es auch sonst so zu nehmen wie es ist, also z.B. je nach dem Wert der Sache oder dem Einkommen des Verletzten mehr oder weniger Schadensersatz zu leisten. Die Grenze der Zurechnung wird auch hier durch das Merkmal der Adäquanz gezogen.49 Eine „richtunggebende Verschlechterung“ (i.S.d. sozialgerichtlichen Rechtsprechung) wird für die haftungsrechtliche Zurechnung nicht gefordert; die Mitverursachung der Verschlimmerung reicht aus.50

19.28

Die Haftung erstreckt sich daher z.B. – auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit, die sich daraus ergibt, dass der Verletzte infolge eines bereits vorhandenen – bis dahin die Erwerbsfähigkeit nicht beeinträchtigenden – Leidens die unmittelbaren Unfallfolgen nicht auszugleichen vermag;51 – auf die Dauerfolgen eines Verrenkungsbruchs, die nur wegen einer früheren Beinverletzung aufgetreten sind;52 – auf die Zeugungsunfähigkeit wegen Verletzung des nach früherer Verletzung einzigen Hodens.53

19.29

Für Auswirkungen psychischer Konstitutionsmängel gilt Vorstehendes in gleicher Weise.54 Zuzurechnen sind daher grundsätzlich auch Verletzungsfolgen, die auf einer psychischen Anfälligkeit beruhen (s. Rz. 19.23).

19.30

Für die Höhe des Schadensersatzes kann die Schadensanlage aber eine Rolle spielen. Die auf der besonderen Anfälligkeit beruhenden Risiken können bei der Bemessung des Schmerzensgeldes55 sowie bei der Ermittlung künftigen Verdienstausfalls,56 ggf. in Form prozentualer Abschläge,57 Berücksichtigung finden. Ihre Grundlage findet diese Kürzung im Ermessen nach § 253 Abs. 2 BGB bzw in der Prognoseentscheidung nach § 252 BGB.58

48 BGH v. 29.2.1956 – VI ZR 352/54, BGHZ 20, 137, 139; BGH v. 11.6.1974 – VI ZR 37/73, NJW 1974, 1510; OLG Celle v. 18.7.1980 – 9 U 28/80, VersR 1981, 1057 mit Anm. Schulze. 49 Vgl. zu einem Fall ganz außergewöhnlicher Schadensanlagen OLG Frankfurt v. 23.9.1994 – 24 U 201/93, OLGR Frankfurt 1994, 242, wo allerdings mit dem Schutzzweck argumentiert wird. 50 BGH v. 19.4.2005 – VI ZR 175/04, NZV 2005, 461. 51 BGH v. 10.5.1966 – VI ZR 243/64, VersR 1966, 737. 52 BGH v. 22.10.1963 – VI ZR 187/62, VersR 1964, 49. 53 OLG München v. 23.1.1997 – 24 U 804/93, VersR 1997, 577, 579. 54 BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341; OLG Frankfurt v. 1.9.1981 – 14 U 181/78, JZ 1982, 201 mit Anm. Stoll; Lange/Schiemann § 3 X 1 a; a.A. Stoll Gutachten zum 45. DJT (1964) 20. 55 BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341; BGH v. 5.11.1996 – VI ZR 275/95, NJW 1997, 455. 56 BGH v. 11.11.1997 – VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142 = JZ 1998, 680 mit Anm. Schiemann. 57 Krit. Heß NZV 1998, 402, 403. 58 BGH v. 11.11.1997 – VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142 = JZ 1998, 680 mit insoweit abl. Anm. Schiemann, der auf § 254 BGB rekurriert.

516 | Greger

§ 20 Inhalt des Ersatzanspruchs

I. Der Schaden als Bemessungsgrundlage des Schadensersatzes . . . . . . . . . 1. Ermittlung des Vermögensschadens . 2. Affektionsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überholende Kausalität . . . . . . . . . . . 4. Schadensanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Nutzlos gewordene Aufwendungen . 6. Aufwendungen zur Schadensvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vorteilsausgleichung . . . . . . . . . . . . . II. Art des Schadensersatzes . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20.1 20.2 20.6 20.7 20.9 20.13 20.16 20.19 20.22 20.22

2. a) b) c) d) 3. a)

Naturalrestitution . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fiktive Abrechnung . . . . . . . . . . . . . . Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unmöglichkeit der Naturalherstellung (§ 251 Abs. 1 1. Alt BGB) . . . . . b) Unzulänglichkeit der Naturalherstellung (§ 251 Abs. 1 2. Alt BGB) . . . . . c) Unverhältnismäßige Aufwendungen (§ 251 Abs. 2 BGB) . . . . . . . . . . . . . .

20.23 20.24 20.26 20.30 20.31 20.32 20.33 20.35 20.36

I. Der Schaden als Bemessungsgrundlage des Schadensersatzes Wie in den meisten Rechtsordnungen ist Ausgangspunkt des deutschen Schadenersatzrechts der Grundsatz der Totalreparation.1 Nach diesem Prinzip ist vom Schädiger der gesamte entstandene Schaden zu ersetzen und der Zustand vor dem schädigenden Ereignis wiederherzustellen. Trotz der damit angeordneten klaren Trennung von Haftungsbegründung und Haftungsausfüllung erfolgt die Schadensbemessung nicht allein schematisch durch Ermittlung einer Vermögensdifferenz. Vielmehr werden in zahlreichen Fällen zusätzliche, für die Festlegung des zu ersetzenden Schadens maßgebliche Erwägungen mit einbezogen.

20.1

1. Ermittlung des Vermögensschadens Zentraler Ausgangspunkt für die Ermittlung der geschuldeten Totalreparation ist die sog. Differenzhypothese. Unter dem zu ersetzenden Schaden ist die aus der Beschädigung von Körper oder Sache folgende Einbuße auf Seiten des Geschädigten zu verstehen. Dabei geht es, sofern nicht ausnahmsweise die Ersatzfähigkeit immaterieller Einbußen gesetzlich angeordnet ist (vgl. § 253 Abs. 2 BGB, § 844 Abs. 3 BGB, § 11 S. 2 StVG), um Einbußen im Vermögensbestand, im Grundsatz also um die Differenz zwischen dem jetzigen Wert des Vermögens und jenem, der ohne die Schädigung bestehen würde (s. Rz. 19.1 ff.).

20.2

Diese Differenz kann nicht rein rechnerisch ermittelt werden. Ob eine Beeinträchtigung des Verletzten überhaupt als Vermögenseinbuße zu werten ist, erfordert oftmals wertende Entscheidungen. So lässt sich etwa die Frage, ob der vorübergehende Entzug der Gebrauchsmöglichkeit einer Sache einen „Schaden“ darstellt, allein aufgrund natürlicher Betrachtungsweise

20.3

1 S. hierzu Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 2; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Flume § 249 Rz. 43.

Zwickel | 517

§ 20 Rz. 20.3 | Inhalt des Ersatzanspruchs

nicht beantworten. Es ist deshalb im Prinzip allgemein anerkannt, dass bei der Abgrenzung des Schadensbegriffs auch rechtliche Wertungen zu berücksichtigen sind.2

20.4

Wenn insoweit von einem „normativen“ Schadensbegriff die Rede ist, sollte dieser allerdings nicht in einem Gegensatz zum Schadensbegriff i.S.d. Differenzhypothese gesehen werden. Auch für die Lehre vom normativen Schadensbegriff ist Grundlage der hypothetische Vermögensvergleich; sie beeinflusst diesen lediglich insoweit, als sie bestimmt, welche Positionen in den Vergleich einzubeziehen sind. Es handelt sich somit weniger um eine Korrektur als um eine Überformung oder Ergänzung der Differenzhypothese durch normative Wertungen.3

20.5

Die wichtigsten Fragestellungen aus diesem Bereich betreffen die Berücksichtigung subjektiver Wertschätzungen (sog. Affektionsinteresse, Rz. 20.6), hypothetischer Schadensverläufe (Rz. 20.7 ff.), nutzloser Aufwendungen (Rz. 20.13 f.), Vorsorgeaufwendungen (Rz. 20.15 ff.) sowie den Ausgleich von Vorteilen (Rz. 20.19 ff.). Aber auch bei einer Reihe von einzelnen Schadenspositionen bedarf es normativer Wertungen (vgl. z.B. zum Entzug von Gebrauchsvorteilen Rz. 28.49 ff., zur Einbuße von Freizeit und Urlaub Rz. 32.189, zum Aufwand für die Abwicklung des Schadens Rz. 29.27, zum Verdienstausfall bei Lohnfortzahlung Rz. 32.68 ff., zur Berücksichtigung überpflichtmäßiger Anstrengungen Rz. 31.87 u. Rz. 32.107, zum Ersatzanspruch bei Hinderung an der Haushaltsführung Rz. 32.143 ff.).

2. Affektionsinteresse 20.6

Ein besonderer Liebhaber- oder Erinnerungswert der Sache für den Geschädigten ist immaterieller Schaden und damit nach § 253 Abs. 1 BGB nicht zu ersetzen. Wo aber die Grenze zum erstattungsfähigen Vermögensschaden liegt, kann im Einzelfall, z.B. bei der Beeinträchtigung von Annehmlichkeiten, Genüssen oder der Gebrauchsmöglichkeit einer Sache, fraglich sein (vgl. Rz. 28.50 ff.). Auch bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Wiederherstellungskosten können immaterielle Werte eine Rolle spielen,4 so z.B. bei Verletzung eines Tieres (vgl. Rz. 27.33) oder im Falle eines Integritätsinteresses am eigenen Kfz (vgl. Rz. 27.21 ff.).

3. Überholende Kausalität 20.7

Wäre derselbe Schaden, der durch den Unfall entstanden ist, durch ein späteres Ereignis ebenfalls verursacht worden, so berührt dies die Ersatzpflicht dem Grunde nach nicht (vgl. Rz. 3.76 ff.). Es kann sich aber auf die Bemessung solcher Ersatzleistungen auswirken, bei denen der Zeitfaktor eine Rolle spielt, wie bei Erwerbsminderungen, entgangenen Gebrauchsvorteilen, Rentenzahlungen usw.5 Für den unmittelbaren Schaden an dem betroffenen Rechtsgut bleibt der Schädiger ersatzpflichtig6 (zum Ausnahmefall der sog. Schadensanlagen s. Rz. 20.9).

2 BGH v. 9.7.1968 – GSZ 2/67, BGHZ 50, 305 (GrS); BGH v. 26.11.1968 – VI ZR 189/67, BGHZ 51, 111; BGH v. 5.5.1970 – VI ZR 212/68, BGHZ 54, 47; Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 7; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 21. 3 Deutsch Rz. 785; Selb, KF 1964, 3; Steffen NJW 1995, 2057. 4 Grunsky 25 Jahre KF 101. 5 BGH v. 13.5.1953 – VI ZR 5/52, BGHZ 10, 6; BGH v. 1.2.1994 – VI ZR 229/92, BGHZ 125, 56; Larenz § 30 I; Deutsch Rz. 183 f.; Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 98; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Flume § 249 Rz. 319 f. 6 BGH v. 1.2.1994 – VI ZR 229/92, BGHZ 125, 56; BGH v. 29.5.1969 – III ZR 143/67, VersR 1969, 803; Larenz § 30 I; Deutsch Rz. 183 f.; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Flume § 249 Rz. 319; a.A. Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 100; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 213; Esser/Schmidt § 33 IV 1.

518 | Zwickel

I. Der Schaden als Bemessungsgrundlage des Schadensersatzes | Rz. 20.12 § 20

Es würde eine unangemessene Begünstigung des Schädigers darstellen, wenn die Einstandspflicht für den tatsächlich entstandenen Schaden durch das spätere Ereignis wieder entfiele. Ist also z.B. das bei einem Verkehrsunfall beschädigte und teilweise unbenutzbar gewordene Haus wenige Tage später durch eine (nicht unfallkausale) Explosion vollends zerstört worden, so haftet der Halter des Unfallfahrzeugs gleichwohl für den von ihm angerichteten Gebäudeschaden, für etwaige Mietausfälle aber nur bis zum Zeitpunkt der Explosion.

20.8

4. Schadensanlagen Wäre der durch den Unfall verursachte Schadenserfolg aufgrund eines bereits im Unfallzeitpunkt in dem betroffenen Rechtsgut angelegten Umstandes auch ohne den Unfall alsbald eingetreten, so ist dies zwar nicht bei der Schadenszurechnung (s. Rz. 3.67 ff.), wohl aber bei der Schadensbemessung zu berücksichtigen.7 War also der überfahrene Hund ohnehin kurz vor dem Verenden, die zum Einsturz gebrachte Mauer bereits baufällig oder der beschädigte Pkw schon vorher schrottreif, so ist der Ersatzanspruch des Geschädigten entsprechend geringer oder gänzlich ausgeschlossen. Dies folgt aus dem nach der Differenzhypothese anzustellenden Vermögensvergleich, in den das bereits mit einer Schadensanlage versehene Rechtsgut mit einem entsprechend verringerten Wert eingeht.

20.9

Bei Körper- und Gesundheitsverletzungen ist eine solche Betrachtungsweise nur begrenzt möglich. Trug der Verletzte bereits die Anlage einer künftigen Krankheit in sich, die dann infolge des Unfalls lediglich früher ausbrach, so sind ihm gleichwohl die Heilbehandlungskosten und sonstigen Einbußen bis zu dem Zeitpunkt zu ersetzen, zu dem die Krankheit ohnehin ausgebrochen wäre.8

20.10

Die Schadensanlage kann nur berücksichtigt werden, wenn feststeht, dass sie nach aller Erfahrung den nämlichen Erfolg wie der Unfall herbeigeführt hätte; die bloße Möglichkeit genügt nicht.9 Die (nach § 287 ZPO gemilderte) Beweislast hierfür trägt somit der Schädiger.10

20.11

Von den Fällen der Schadensanlage (dadurch gekennzeichnet, dass die Schadensfolge später ohnehin eingetreten wäre) sind die Fälle der schadensbegünstigenden Konstitution zu unterscheiden, in denen es zu einer Schadensfolge oder zu einer Erhöhung des Schadensumfangs nur deshalb kommt, weil der Unfall eine besonders veranlagte Person oder eine besonders beschaffene Sache betroffen hat. Hier geht es nicht um die Bewertung des beeinträchtigten Rechtsguts, sondern um die Frage, ob Schadensfolgen, zu denen es nur aufgrund einer diese begünstigenden Konstitution der unfallbetroffenen Person oder Sache kommen konnte, dem Schädiger zugerechnet werden können. Diese Frage ist, nach Maßgabe der durch das Adäquanzerfordernis gezogenen Grenzen, zu bejahen (vgl. Rz. 19.27 ff.). Auch bei psychischer Prädisposition des Geschädigten oder neurotischer Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens ist

20.12

7 RG v. 2.7.1930 – IX 17/30, RGZ 129, 316, 321; BGH v. 19.4.1956 – III ZR 26/55, BGHZ 20, 275, 280; Larenz § 30 I; Esser/Schmidt § 33 IV 2; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Flume § 249 Rz. 322. 8 A.A. OLG Frankfurt v. 7.7.1983 – 1 U 192/82, NJW 1984, 1409 mit dem geradezu makabren Ergebnis, dass die Heilkosten bei einer Vorverlagerung der Krankheit um ein Jahr und lebenslanger Behandlung nur für das letzte Jahr vor dem Ableben des Verletzten zu ersetzen sind. 9 BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 42/67, VersR 1968, 804; BGH v. 15.10.1968 – VI ZR 226/67, VersR 1969, 43. 10 OLG Hamm v. 27.8.2001 – 6 U 252/99, NZV 2002, 171, 172.

Zwickel | 519

§ 20 Rz. 20.12 | Inhalt des Ersatzanspruchs

der Zurechnungszusammenhang regelmäßig nicht durchbrochen.11 Im Einzelfall können freilich auch beide Gesichtspunkte zusammentreffen.12

5. Nutzlos gewordene Aufwendungen 20.13

Nutzlos gewordene Aufwendungen sind nach der sog Frustrationslehre13 als Schaden anzusehen und zu ersetzen, d.h. solche Ausgaben, die der Geschädigte vor dem Schadensfall getätigt oder für die er den Rechtsgrund vor dem Schadensfall gesetzt hat, die sich dann aber infolge des Schadensfalls als nutzlos erweisen, wie z.B. Vorhaltekosten für das beschädigte Fahrzeug; Vorbereitungen für eine vereitelte Reise; Eintrittskosten für einen vereitelten Theaterbesuch; der Lohn für den infolge Beschädigung einer Maschine beschäftigungslosen Arbeiter. Diese Lehre ist – mit der Rspr. – abzulehnen.14 Da die Aufwendungen nicht durch den Unfall bedingt sind, können sie schon mangels Kausalität nicht als Vermögensfolgeschaden definiert werden. Als ein solcher sind allenfalls die mit den Aufwendungen erkauften und infolge des Unfalls verlorenen Äquivalente anzusehen,15 also z.B. die Möglichkeit der Nutzung des Kfz, die Leistung des Reiseveranstalters, die Berechtigung zum Besuch der Vorstellung, die Möglichkeit zur Gewinnerzielung durch Einsatz des Arbeiters. Soweit diese Vorteile kommerzialisiert sind, ist der Geschädigte durch Ersatzleistung in den Stand zu setzen, sie sich erneut zu verschaffen; eine Abrechnung auf Basis seiner (früheren) Aufwendungen hingegen ist abzulehnen.

20.14

Wer also durch Beschädigung seines Kfz eine Theatervorstellung versäumt, kann den Preis für eine andere, gleichwertige Vorstellung ersetzt verlangen (selbst dann, wenn er eine Freikarte hatte). Ebenso sind die Kosten für einen Ersatzurlaub erstattungsfähig.16

20.15

Für die Vereitelung der (durch Aufwendungen erkauften) Nutzbarkeit eines Kfz ist nur in Form der Kosten eines Ersatzfahrzeugs, bzw. – wenn man mit der h.M. bereits die abstrakte Gebrauchsmöglichkeit kommerzialisiert – in Form einer Nutzungsausfallentschädigung Ersatz zu leisten (vgl. Rz. 28.49 ff.), für die Verhinderung der Produktivität eines Arbeiters durch Erstattung des entgangenen Gewinns.17 Nicht ersatzfähig sind somit die Aufwendungen, die ein Rennfahrer tätigt, um an einem Rennen teilnehmen zu können, wenn er durch unfallbedingte Verletzungen an der Teilnahme verhindert wird.18

11 OLG Brandenburg v. 22.12.2015 – 12 U 20/12, VersR 2016, 1391. 12 Vgl. OLG Frankfurt v. 7.7.1983 – 1 U 192/82, NJW 1984, 1409: Durch einen vom Schädiger veranlassten Sprung kommt es zur Verschlimmerung eines bereits vorhandenen Sanduhrneurinoms – Konstitutionsmangel; dieses hätte ein Jahr später zu denselben Krankheitsfolgen geführt – Schadensanlage. 13 Vgl. Köndgen AcP 177, 1 ff.; Mertens, Der Begriff des Vermögensschadens im bürgerlichen Recht 1967, S. 159; Deutsch Rz. 826 ff.; Löwe VersR 1963, 307 u. NJW 1964, 701. 14 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 120/69, BGHZ 55, 151; BGH v. 18.9.1975 – III ZR 139/73, BGHZ 65, 174; BGH v. 14.5.1976 – VI ZR 157/74, BGHZ 66, 280; BGH v. 21.4.1978 – V ZR 235/77, BGHZ 71, 237; Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 125; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 47; Lange/ Schiemann § 6 IV; Stoll JZ 1971, 593 u. 1976, 281; Küppers VersR 1976, 604. 15 So auch Esser/Schmidt § 31 III 2. 16 BGH v. 10.10.1974 – VII ZR 231/73, BGHZ 63, 98. 17 BGH v. 16.6.1977 – III ZR 179/75, VersR 1977, 961, 965. 18 OLG Hamm v. 5.2.1998 – 27 U 161/97, MDR 1998, 535.

520 | Zwickel

I. Der Schaden als Bemessungsgrundlage des Schadensersatzes | Rz. 20.19 § 20

6. Aufwendungen zur Schadensvorsorge Aufwendungen zur Schadensvorsorge können ebenso wie die nutzlos gewordenen Aufwendungen deswegen nicht als Schaden begriffen werden, weil sie nicht durch das schädigende Ereignis verursacht wurden.19

20.16

Eine für die Straßenverkehrshaftung wichtige Ausnahme hiervon macht die Rspr. jedoch für die Vorhaltekosten von Reservefahrzeugen. Der auf die Einsatzzeit eines solchen Fahrzeugs (z.B. für den öffentlichen Personenverkehr) entfallende Kapitalaufwand wird hier unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderung als erstattungspflichtiger Schaden angesehen, und zwar auch dann, wenn das Reservefahrzeug nicht nur für fremdverschuldete Ausfälle bereitgehalten wird.20 Diese Rspr. ist abzulehnen. Die Schadensvorsorge gehört in die Sphäre des Geschädigten, gleich ob er sie im eigenen Interesse an einem ungestörten Betriebsablauf oder – wie bei Verkehrsbetrieben – auf Grund gesetzlicher Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des Betriebs (§ 21 Abs. 1 PBefG) getätigt hat. Dass der Ersatzpflichtige, der sich einem derart vorsorgenden Gläubiger gegenüber sieht, hierdurch begünstigt wird – er braucht auch keinen Gewinnausfall zu ersetzen, da ein solcher nicht entstanden ist21 – vermag eine andere Beurteilung nicht zu rechtfertigen, denn der Grundsatz, dass der Schädiger den Geschädigten so zu nehmen hat, wie er ist, muss auch zugunsten des Schädigers gelten.22 Der Geschädigte wird bei einer Zuerkennung der Vorhaltekosten entgegen einem Grundprinzip des Schadensersatzrechts besser gestellt, als er ohne das schädigende Ereignis stünde.

20.17

In jedem Fall zu ersetzen sind dagegen Aufwendungen, die nach dem Schadensereignis zur Abwehr eines größeren Schadens getätigt wurden und die der Geschädigte oder ein Dritter, der ihn haftbar macht, nach Sachlage für erforderlich halten durfte23 (z.B. für die Bewachung eines Unfallwracks mit wertvoller Ladung; Erdaushub nach Tankwagenunfall; Entsorgung von fahrbahnverschmutzenden Substanzen). Dies ergibt sich schon daraus, dass der Geschädigte nach § 254 Abs. 2 BGB zur Schadensminderung verpflichtet ist, entsprechende Aufwendungen also in zurechenbarer Weise durch die Schädigung verursacht sind. Ob die Aufwendungen sich rückblickend als unnötig erweisen, ist ohne Bedeutung; entscheidend ist, ob sie aus der Sicht des Geschädigten für erforderlich gehalten werden durften.

20.18

7. Vorteilsausgleichung Aus der für die Schadensberechnung anzustellenden Differenzrechnung (Vermögensstand mit und ohne schädigendes Ereignis) folgt auch, dass Vermögensvorteile, die der Geschädigte durch das Schadensereignis erlangt – sie können auch in ersparten Aufwendungen bestehen24 – 19 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 198 ff.; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Flume § 249 Rz. 352. 20 BGH v. 10.1.1978 – VI ZR 164/75, BGHZ 70, 199; OLG Hamm v. 13.1.1994 – 6 U 173/93, NZV 1994, 227; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 201. Zur Berechnung der Vorhaltekosten BGH v. 10.1.1978 – VI ZR 175/76, VersR 1978, 375; AG Bonn v. 12.8.1997 – 15 C 119/97, NZV 1998, 118 (Straßenbahnwagen); Klimke, VersR 1982, 1024 u. 1985, 720; Danner/Echtler VersR 1978, 99; 1984, 820; 1986, 717; 1988, 335; 1990, 1066. 21 BGH v. 10.1.1978 – VI ZR 164/75, BGHZ 70, 199; BGH v. 10.1.1978 – VI ZR 175/76, VersR 1978, 375. 22 Lange/Schiemann § 6 VIII 4 a. 23 BGH v. 6.11.2007 – VI ZR 220/06, NZV 2008, 83, 84; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 179; v. Caemmerer VersR 1971, 973. 24 BGH v. 10.5.1963 – VI ZR 235/62, NJW 1963, 1399; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 229; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Flume § 249 Rz. 337.

Zwickel | 521

20.19

§ 20 Rz. 20.19 | Inhalt des Ersatzanspruchs

in Anrechnung zu bringen sind. Der Vorteil muss gerade durch die Verletzung des Anspruchstellers verursacht worden sein. Daher ist es z.B. auf den Schadensersatzanspruch des Verletzten ohne Einfluss, dass bei demselben Unfall sein Bruder getötet wurde und er daher Alleinerbe seiner Mutter wird.25

20.20

Bloßer Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Vorteil genügt allerdings nicht, um die Anrechenbarkeit zu begründen. Die Rspr. verlangt neben dem Merkmal der Adäquanz,26 welches hier nicht allein den Ausschlag geben kann,27 zu Recht eine an Sinn und Zweck der Ersatzpflicht orientierte Abwägung nach Zumutbarkeitskriterien.28 Diese kann im Einzelfall eine Kürzung des Ersatzanspruchs wegen eines zugleich erlangten Vorteils ungerechtfertigt erscheinen lassen, nämlich dann, wenn es mit dem Wesen des betreffenden Vorteils nicht vereinbar wäre, dass er eine Entlastung des Schädigers von seiner Ersatzpflicht bewirkt. Zumutbar soll die Kürzung des Anspruchs nur sein, wenn ein Zusammenhang zwischen Vorteil und Nachteil besteht, der beide zu einer Rechnungseinheit verbindet.29 Wegen Einzelheiten s. die Erläuterungen zu den einzelnen Schadenspositionen in §§ 26 bis 32

20.21

Die Beweislast für den auszugleichenden Vorteil trägt der Ersatzpflichtige.30

II. Art des Schadensersatzes 1. Allgemeines 20.22

Steht fest, für welche Einbußen Schadensersatz zu leisten ist, so bleibt noch zu klären, in welcher Form dies zu geschehen hat. In Betracht kommt ein Wertausgleich in Geld (Kompensation, s. Rz. 20.32 ff.) oder eine tatsächliche Wiederherstellung des vorherigen Zustands (Restitution, s. Rz. 20.23 ff.).

2. Naturalrestitution 20.23

Nach § 249 BGB ist Schadensersatz grundsätzlich durch Naturalrestitution zu leisten, d.h. es ist der Zustand herzustellen, der ohne das schädigende Ereignis bestünde.

a) Durchführung 20.24

Das Gesetz geht (in § 249 Abs. 1 BGB) von der Wiederherstellung in natura als Regelfall aus. Bei Beschädigung vertretbarer, insbesondere fabrikneuer Sachen, kommt jedoch auch die Beschaffung einer entsprechenden Ersatzsache als Naturalrestitution in Betracht;31 der BGH 25 Vgl. BGH v. 16.12.1975 – VI ZR 180/73, NJW 1976, 747. 26 BGH v. 15.1.1953 – VI ZR 46/53, BGHZ 8, 325, 328; BGH v. 17.6.1953 – VI ZR 113/53, BGHZ 10, 107, 108; BGH v. 16.12.1975 – VI ZR 180/73, NJW 1976, 747. 27 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 233; Lange/Schiemann § 9 III 2; Deutsch Rz. 842 ff.; Esser/ Schmidt § 33 V 3; Cantzler AcP 156 (1957), 51 ff. 28 BGH v. 15.1.1953 – VI ZR 46/53, BGHZ 8, 325, 328 f.; BGH v. 17.6.1953 – VI ZR 113/53, BGHZ 10, 107, 108; BGH v. 22.3.1979 – VII ZR 259/77, BGHZ 74, 113; BGH v. 16.5.1980 – V ZR 91/79, BGHZ 77, 151; BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 218/76, VersR 1979, 323. Zusammenfassend Pauge VersR 2007, 569 ff. 29 BGH v. 14.9.2004 – VI ZR 97/04, NZV 2005, 39. 30 BGH v. 29.9.1982 – IVa ZR 309/80, NJW 1983, 1053. 31 Vgl. Lange/Schiemann § 5 II 1.

522 | Zwickel

II. Art des Schadensersatzes | Rz. 20.27 § 20

rechnet sogar die „Wiederbeschaffung“ von Gebrauchtfahrzeugen hierher32 (näher hierzu u. zur Kritik an dieser Rspr. Rz. 27.9). Nach § 249 Abs. 1 BGB ist die Wiederherstellung Sache des Schädigers. Abs. 2 S. 1 begründet jedoch eine Ersetzungsbefugnis des Gläubigers: Er kann bei den – hier allein interessierenden – Personen- und Sachschäden statt der Naturalherstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen, die Herstellung also, statt sie dem Ersatzpflichtigen zu überlassen, selbst in die Hand nehmen. Geldersatz kann er ferner nach Ablauf der zur Naturalherstellung gesetzten Frist verlangen (§ 250 BGB).

20.25

b) Fiktive Abrechnung Aus der Regelung des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB, wonach der Geschädigte den zur Schadensbeseitigung „erforderlichen“ Geldbetrag verlangen kann, leitet die h.M.33 die (begrenzte) Zulässigkeit einer fiktiven Abrechnung ab: Auch solche Aufwendungen sind demnach grundsätzlich zu ersetzen, die der Geschädigte hätte machen dürfen, tatsächlich aber nicht gemacht hat, weil er auf eine (vollständige) Restitution verzichtet oder andere Formen des Schadensausgleichs gewählt hat. Diese mit erheblichen Abgrenzungs- und Abwicklungsproblemen behaftete Abrechnungsweise stößt vielfach auf Kritik.34 Bei der Beratung des 2. SchRÄndG hat sich der Rechtsausschuss des Bundestags das Ziel einer Eindämmung der fiktiven Schadensabrechnung zwar ausdrücklich zu eigen gemacht, mit der Einfügung des § 249 Abs. 2 S. 2 BGB aber nur eine Minimallösung verwirklicht.35 Weitergehende Regelungen wurden einer umfassenderen Reform des Schadensersatzrechts vorbehalten36 und damit auf unabsehbare Zeit verschoben.

20.26

In der Tat ist die der fiktiven Schadensabrechnung zugrunde liegende Auslegung des Tatbestandsmerkmals „erforderlich“ nicht zwingend.37 Mit den Materialien zu § 249 BGB a.F. lässt sich nur die Dispositionsfreiheit des Geschädigten, die beschädigte Sache nicht zu reparieren, sondern durch eine neue zu ersetzen,38 nicht aber der Anspruch auf fiktive Reparaturkosten belegen.39 Richtig ist auch, dass die von der realen Schadensbeseitigung losgelöste Schadens-

20.27

32 BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 61/71, VersR 1972, 1024, 1025; BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, NZV 1992, 67 mit krit. Anm. Lipp. 33 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 85; BGH v. 19.6.1973 – VI ZR 46/72, BGHZ 61, 58; BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 241; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 367 ff.; Palandt/Grüneberg § 249 Rz. 14; Grunsky NJW 1983, 2465 ff.; Karakatsanes AcP 189 (1989), 19 ff.; Weber VersR 1990, 934 ff. u 1992, 527 ff.; Steffen NZV 1991, 2 f.; abw. in der Begr. Lange/Schiemann § 5 IV 2. 34 Vgl. Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 225 ff.; Larenz § 28 I; Esser/Schmidt § 32 I 2a; Picker Die Naturalrestitution durch den Geschädigten 2003, S. 9 ff.; Köhler in FS Larenz 349 ff.; Honsell/Harrer JuS 1985, 162 ff. u. 1991, 443 ff.; Schiemann/Haug VersR 2006, 160 ff.; Schiemann in Heß (Hrsg.) Wandel der Rechtsordnung 2003, 103, 111; Otto NZV 2001, 336 f.; Knütel ZGS 2003, 17 f.; Greger NZV 2000, 1 ff. mit Vorschlägen de lege ferenda; aus jüngerer Zeit: Greger NZV 2020, 4 ff; Steinert SVR 2020, 121, 124. 35 BT-Drucks. 14/8780 S. 19. 36 BT-Drucks. 14/7752 S. 14. 37 Vgl. hierzu eingehend Picker Die Naturalrestitution durch den Geschädigten 2003, S. 22 ff.; Honsell/Harrer JuS 1985, 163 ff. 38 So Prot I 296. 39 Schiemann in Heß (Hrsg.), Wandel der Rechtsordnung 2003, 111; Ch. Huber DAR 2000, 22; Greger NZV 2000, 2; Otto NZV 1998, 436; a.A. Weber VersR 1992, 534.

Zwickel | 523

§ 20 Rz. 20.27 | Inhalt des Ersatzanspruchs

abrechnung mit dem schadensersatzrechtlichen Grundsatz des Bereicherungsverbots (Rz. 1.24) in Konflikt geraten kann: Das Schadensersatzrecht soll ausgleichen, nicht aber Gewinnchancen eröffnen,40 nicht zu einer Überkompensation führen.41 Der Dispositionsfreiheit des Geschädigten ist dadurch Rechnung getragen, dass er bei Verzicht auf die Wiederherstellung nicht etwa entschädigungslos bleibt, sondern die Minderung des Verkehrswerts seines beschädigten Gutes ersetzt bekommt.42 Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die fiktive Abrechnung zu einer Aufblähung der Schadensersatzleistungen43 führt, die weithin zu Lasten der Versichertengemeinschaft geht, dass sie Schwarzarbeit und sicherheitsgefährdende Billigreparatur begünstigt und eine wesentliche Ursache für das Ausufern des Versicherungsbetrugs darstellt.44

20.28

Im Übrigen führt die h.M. das Prinzip, dass der erforderliche Geldbetrag unabhängig vom tatsächlich gewählten Weg der Restitution zu ersetzen ist, nicht konsequent durch (was ihre Überzeugungskraft nicht eben erhöht). So ist anerkannt, dass die fiktive Schadensabrechnung nicht zu ungerechtfertigten Begünstigungen des Geschädigten führen darf, wie sie sich ergeben können, wenn für den Fall realer Restitution entwickelte Grundsätze (z.B. die Toleranzgrenze für über dem Wiederbeschaffungswert liegende Reparaturkosten, der abstrakte Nutzungsausfall) unkritisch übertragen werden (vgl. Rz. 27.21 ff., Rz. 28.49 ff.). Auch sei zu beachten, dass die Grenze zum Ersatz immaterieller Schäden nicht überschritten wird, weshalb fiktive Heilungskosten z.B. nicht beansprucht werden können (Rz. 32.22). Für Sachschäden schließt der mit dem 2. SchRÄndG eingefügte § 249 Abs. 2 S. 2 BGB bei Unfällen ab 1.8.2002 den Ersatz fiktiver Umsatzsteuer aus. Die Vorschrift setzt die Praxis der fiktiven Sachschadensabrechnung voraus, beinhaltet aber keine generelle Anerkennung derselben.45 All dies hat zu einer beklagenswerten Uneinheitlichkeit des Schadensersatzrechts, zu Reibungsverlusten in der Schadensabwicklung und zur Zunahme von Rechtsstreitigkeiten geführt.46

20.29

In jüngerer Zeit zeigt sich der BGH bemüht, den Umfang der fiktiven Abrechnung, mit Verweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot, etwas zurückzunehmen.47 So hat er beispielsweise dann, wenn die fiktiven Reparaturkosten zwischen Wiederbeschaffungswert und Wiederbeschaffungsaufwand (d.h. Wert abzgl. Restwert) liegen, diese nur dann zugesprochen, wenn das Fahrzeug in verkehrssicherem Zustand mindestens sechs Monate weitergenutzt wird.48 Zudem ist, bei fiktiver Abrechnung von Sachschäden auf Reparaturkostenbasis, unter bestimmten Vo-

40 Honsell/Harrer JuS 1991, 445. Zum Bereicherungsverbot s. auch Esser/Schmidt § 30 II 3 c; Lange/ Schiemann Einl III 2 a; Picker Die Naturalrestitution durch den Geschädigten 2003, S. 58 ff. 41 Diese Gefahr ist nach der Begr. des Entwurfs des 2. SchRÄndG, BT-Drucks. 14/7752, S. 13, aufgrund der bisherigen Rspr. gegeben. 42 Köhler in FS Larenz 368 f.; Honsell/Harrer JuS 1991, 445. Zu dem in der Rspr. des BGH anzutreffenden Fehlgebrauch des Aspekts der Dispositionsfreiheit s. Haug VersR 2000, 1471 ff. 43 Vgl. die Berechnungen bei Geier 34. VGT (1996), 181 u. Dornwald 38. VGT (2000), 108 ff. sowie Ch. Huber DAR 2000, 23. 44 Dornwald 38. VGT (2000), 108; Bollweg NZV 2000, 188. 45 BT-Drucks. 14/7752, S. 14 (Hinweis auf notwendige Weiterentwicklungen der Rspr.); Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 227. 46 Sehr kritisch Schiemann/Haug VersR 2006, 166; Schiemann 58. VGT (2020). Positive Aspekte dagegen bei Wagner NJW 2002, 2057 f. 47 A.A. Engel DAR 2019, 176, 177. 48 BGH v. 23.5.2006 – VI ZR 192/05, BGHZ 168, 43; BGH v. 23.11.2010 – VI ZR 35/10, MDR 2011, 223.

524 | Zwickel

II. Art des Schadensersatzes | Rz. 20.29 § 20

raussetzungen der Verweis auf die günstigeren Stundensätze einer nicht markengebundenen Fachwerkstatt zulässig.49 Die diesbezügliche Rspr. wurde nunmehr auch auf Ersatzteilkosten ausgeweitet.50 Auch die Entscheidungen zum Kombinationsverbot von fiktiver und konkreter Abrechnung (s. Rz. 27.42) deuten in diese Richtung.51 Solche verdienstvollen Klarstellungen und Beschränkungen der fiktiven Abrechnung führen freilich zu immer komplizierteren Verästelungen des Schadenersatzrechts bei Beschädigung von Kraftfahrzeugen.52 Seit 2018 lehnt der BGH, für das werkvertragliche Mängelrecht, den Ersatz fiktiver Kosten neuerdings vollständig ab.53 Wenngleich die Entscheidung des VII. Zivilsenats im Bereich des § 281 BGB spielt, der anders als § 249 Abs. 2 S. 1 BGB das Tatbestandsmerkmal „erforderlich“ nicht enthält und das Äquivalenzinteresse betrifft, sind einzelne Argumente durchaus allgemeiner Natur. Verwiesen wird vom VII. Zivilsenat insbesondere darauf, die fiktive Abrechnung führe zu einer „nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen nicht gerechtfertigten Bereicherung des Bestellers“.54 Der durch die fiktive Abrechnung begründeten Gefahr einer Überkompensation steht das genannte allgemeine schadenersatzrechtliche Bereicherungsverbot (s. Rz. 1.24) auch im straßenverkehrsrechtlichen Haftungsrecht entgegen. Zudem weist der VII. Zivilsenat zu Recht darauf hin, dass auch bei Schädigung anderer Rechtsgüter das Vermögen nicht in Höhe der fiktiven Aufwendungen vermindert ist.55 Angesichts dieser allgemeinen schadenersatzrechtlichen Erwägungen, die das Werkvertragsrecht und die §§ 249 ff. BGB gleichermaßen betreffen, wird man nur schwerlich davon ausgehen können, die Ausführungen des VII. Zivilsenats entfalteten keine Relevanz für das straßenverkehrsrechtliche Haftungsrecht.56 Einzelne Instanzgerichte haben die Entscheidung des VII. Zivilsenats daher auf das Deliktsrecht übertragen.57 Die rechtspolitische Debatte um die Angemessenheit einer fiktiven Schadensabrechnung ist zu Recht (erneut) entbrannt.58 Es ist denkbar, dass es – auch in Folge einer Anfrage des für das Kaufrecht zuständigen V. an den VII. Zivilsenat nach § 132 Abs. 3 S. 1 GVG zu dessen Rspr. zum Werkvertrag59 – künftig zu einer restriktiveren Recht-

49 BGH v. 29.4.2003 – VI ZR 398/02, NJW 2003, 2086; BGH v. 20.10.2009 – VI ZR 53/09, NJW 2010, 606; BGH v. 3.12.2013 – VI ZR 24/13, NJW 2014, 535. 50 BGH v. 25.9.2018 – VI ZR 65/18, NJW 2019, 852 mit Anm. Gall. 51 BGH v. 2.10.2018 – VI ZR 40/18, MDR 2018, 1488; BGH v. 24.1.2017 – VI ZR 146/16, NJW 2017, 1664 = NZV 2017, 223 mit Anm. Ch. Huber; BGH v. 30.5.2006 – VI ZR 174/05, NJW 2006, 2320. 52 Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 223: „schwer durchschaubares Mischsystem von konkret und fiktiv zu errechnenden Ersatzbeträgen“; Steinert SVR 2020, 121, 124. 53 Für das werkvertragliche Mängelrecht: BGH v. 22.2.2018 – VII ZR 46/17, NJW 2018, 1463. 54 BGH v. 22.2.2018 – VII ZR 46/17, NJW 2018, 1463 (Rz. 34). 55 BGH v. 22.2.2018 – VII ZR 46/17, NJW 2018, 1463 (Rz. 34). 56 Greger NZV 2020, 4; Seibel NZBau 2019, 81; a.A. OLG Frankfurt v. 8.11.2019 – 22 U 16/19, NJW 2020, 482 mit Anm. Syrbe; 58. VGT (2020), Empfehlung AK II Nr. 2; Syrbe SVR 2020, 5; differenzierend BGH v. 13.3.2020 – V ZR 33/19, ZIP 2020, 1073. 57 LG Darmstadt v. 25.9.2018 – 23 O 386/17, NZV 2019, 91 mit Anm. Pletter; LG Darmstadt v. 24.10.2018 – 23 O 357/17, DAR 2019, 47 mit Anm. Greger = r+s 2019, 173 mit Anm. Lemcke; LG Oldenburg v. 14.6.2019 – 1 O 2175/18, DAR 2020, 37. 58 Für fiktive Abrechnung im Haftungsrecht des Straßenverkehrs: Engel DAR 2019, 176, 177; Mäsch JuS 2018, 907; Pletter NZV 2019, 91; Syrbe SVR 2020, 5; Wessel DAR 2019, 182; Wessel DAR 2020, 6; 58. VGT (2020) Empfehlung AK II Nr. 1; Palandt/Grüneberg § 249 Rz. 14; kritische Betrachtung der fiktiven Abrechnung im Haftungsrecht des Straßenverkehrs: Greger DAR 2019, 47; Greger MDR 2019, R5; Greger NZV 2020, 4; Picker JZ 2018, 676, 680; Steinert SVR 2020, 121. 59 BGH v. 13.3.2020 – V ZR 33/19, ZIP 2020, 1073.

Zwickel | 525

§ 20 Rz. 20.29 | Inhalt des Ersatzanspruchs

sprechungslinie oder gar einer gesetzgeberischen Intervention im Bereich der fiktiven Schadensabrechnung kommt.60 Für den Bereich des straßenverkehrsrechtlichen Haftungsrechts setzt der VI. Zivilsenat aber bislang seine Rechtsprechung zur Weiterentwicklung der fiktiven Schadensabrechnung ohne Erwähnung der entgegenstehenden Auffassung des VII. Zivilsenats fort.61 Die Einzelheiten der Rechtsprechung zur fiktiven Sachschadensabrechnung werden bei den jeweiligen Schadensarten behandelt (für Totalschäden Rz. 26.19; für reparable Sachschäden Rz. 27.35).

c) Bindung 20.30

An die Wahl des Geldersatzanspruchs nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ist der Geschädigte gebunden, d.h. er kann nicht mehr auf die Wiederherstellung durch den Schädiger zurückgreifen.62 Hat er vom Schädiger Wiederherstellung verlangt, so kann er jedenfalls dann nicht mehr zum Geldersatzanspruch übergehen, wenn der Ersatzpflichtige bereits Dispositionen zur Herstellung getroffen hat.63 In diesem Fall bleibt ihm nur die Möglichkeit, den Weg des § 250 BGB zu beschreiten. Keine Ausübung der Ersetzungsbefugnis des § 249 Abs. 2 S. 1 liegt in der Wahl der fiktiven Abrechnung. Der Geschädigte kann daher, wegen der Zuordnung beider Abrechnungsarten zur Naturalrestitution, zunächst fiktiv abrechnen und zu einem späteren Zeitpunkt die tatsächlich entstandenen (höheren) Reparaturkosten geltend machen.64 Unzulässig ist demgegenüber eine Kombination von konkreter und fiktiver Schadensabrechnung.65

d) Reichweite 20.31

Ein gesetzlicher Forderungsübergang erfasst den Restitutionsanspruch im Ganzen. Er führt zum Verlust der Aktivlegitimation, so dass nicht etwa die Ersetzungsbefugnis beim Geschädigten verbleibt.66 Im Straßenverkehrsrecht ist diese Frage insbesondere für den Anspruchsübergang auf den leistenden Sozialversicherungsträger von Belang (s. §§ 35 ff.). Ebenso erfasst die Rechtskraft eines den Anspruch nach § 249 Abs. 1 BGB abweisenden Urteils auch den

60 Zu Unrecht kritisch zu einer Änderung der fiktiven Abrechnung per richterlicher Rechtsfortbildung OLG Frankfurt v. 8.11.2019 – 22 U 16/19, NJW 2020, 482 mit Anm. Syrbe; Steinert SVR 2020, 121, 123. 61 BGH v. 25.9.2018 – VI ZR 65/18, NJW 2019, 852; BGH v. 2.10.2018 – VI ZR 40/18, NJW-RR 2019, 144; BGH v. 29.1.2019 – VI ZR 481/17, NJW 2019, 1669; BGH v. 17.9.2019 – VI ZR 396/ 18, NJW 2020, 236; BGH v. 29.10.2019 – VI ZR 45/19, NJW 2020, 144; BGH v. 18.2.2020 – VI ZR 115/19, NJW 2020, 1795. 62 BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 246; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 361; einschr. Lange/Schiemann § 5 IV 5. 63 OLG Düsseldorf v. 30.5.1995 – 4 U 147/94, ZfS 1995, 456. 64 BGH v. 17.10.2006 – VI ZR 249/05, NJW 2007, 67. 65 BGH v. 2.10.2018 – VI ZR 40/18, MDR 2018, 1488; BGH v. 24.1.2017 – VI ZR 146/16, NJW 2017, 1664 = NZV 2017, 223 mit Anm. Ch. Huber; BGH v. 30.5.2006 – VI ZR 174/05, NJW 2006, 2320. 66 BGH v. 8.2.1952 – V ZR 122/50, BGHZ 5, 110; BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, BGHZ 216, 149; Lange/Schiemann § 5 IV 3.

526 | Zwickel

II. Art des Schadensersatzes | Rz. 20.36 § 20

Anspruch nach Abs. 2 S 1, es sei denn die Abweisung gründe sich gerade auf die Form der Naturalherstellung.67

3. Kompensation Ausnahmsweise – nicht wahlweise68 – kann der Geschädigte statt der Wiederherstellung eine Entschädigung für die in seinem Vermögen entstandene Wertdifferenz (zu deren Bestimmung s. Rz. 26.7 ff.) verlangen, wenn einer der in § 251 BGB geregelten Fälle vorliegt:

20.32

a) Unmöglichkeit der Naturalherstellung (§ 251 Abs. 1 1. Alt BGB) Es ist gleich, ob sie auf rechtlichen oder tatsächlichen Gründen beruht, ob sie von Anfang an bestand oder erst nachträglich eingetreten ist und von wem sie zu vertreten ist (bei vorwerfbarer Herbeiführung durch den Geschädigten kommt allerdings u.U. § 254 Abs. 2 BGB in Betracht).69 Sie ist z.B. gegeben bei reinen Vermögensschäden (Verdienstausfall) und bei Zerstörung einer nicht vertretbaren Sache, z.B. eines einmaligen Bastlerstücks70 oder FahrzeugUnikats,71 nach umstrittener Ansicht auch dann, wenn der Geschädigte auf eine Restitution verzichtet, z.B. durch ersatzlose Veräußerung der beschädigten Sache (dazu Rz. 27.5).

20.33

Auch subjektive Unmöglichkeit (Unvermögen zur Wiederherstellung) kann zum Anspruch nach § 251 Abs. 1 BGB führen, doch kann der Geschädigte hier auch nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB vorgehen.72

20.34

b) Unzulänglichkeit der Naturalherstellung (§ 251 Abs. 1 2. Alt BGB) Unzulänglichkeit der Naturalherstellung ist insbesondere gegeben bei Unzumutbarkeit der Reparatur, z.B. wegen des erheblichen Ausmaßes der Schäden (vgl. Rz. 27.13 ff.) oder zu langer Dauer.73

20.35

c) Unverhältnismäßige Aufwendungen (§ 251 Abs. 2 BGB) Wenn die Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich ist, kann der Ersatzpflichtige den Geschädigten wahlweise in Geld entschädigen. Unverhältnismäßig sind Aufwendungen dann, wenn sie unter Berücksichtigung berechtigter Belange des Gläubigers in keinem vernünftigen Verhältnis zum Herstellungserfolg stehen.74 Bei dieser Abwägung können auch immaterielle Interessen des Geschädigten zu Buche schlagen.75 Lehnt der Ersatzpflichtige den Herstellungsanspruch (berechtigt) ab, so kann der Geschädigte nur noch die Entschädigung, nicht etwa die Wiederherstellungskosten bis zur Grenze der Verhältnismäßigkeit beanspruchen.76

67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Lange/Schiemann § 5 IV 3. BGH v. 25.10.1996 – V ZR 158/95, NZV 1997, 117, 118. Lange/Schiemann § 5 VI 1. BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, BGHZ 92, 85 = JZ 1985, 39 mit Anm. Medicus. OLG Frankfurt/M. v. 24.3.2020 – 22 U 157/18, NJW-RR 2020, 1037. Lange/Schiemann § 5 VI 1. Lange/Schiemann § 5 VI 2. Lange/Schiemann § 5 VII 1. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Flume § 251 Rz. 24; MünchKomm-BGB/Oetker § 251 Rz. 38. BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 67/71, NJW 1972, 1800.

Zwickel | 527

20.36

§ 21 Anspruchsberechtigung

Gefährdungshaftung nach § 7 StVG 21.1 Begriff des Verletzten . . . . . . . . . . . . . 21.1 Mittelbar Geschädigte . . . . . . . . . . . . 21.6 Anspruchsberechtigung bei Bestehen anderweitiger Ansprüche . . . . . . . . . . 21.8 4. Ausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.9 a) Kfz-Halter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.9 b) Sonstige Geschädigte . . . . . . . . . . . . . 21.14 I. 1. 2. 3.

II. 1. 2. 3. III. IV.

Sonstige Ansprüche . . . . . . . . . . . . . Deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . . . Vertragliche Haftung . . . . . . . . . . . . . Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzlicher Forderungsübergang . Abtretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21.17 21.17 21.18 21.19 21.20 21.21

I. Gefährdungshaftung nach § 7 StVG 1. Begriff des Verletzten Verletzter i.S.d. § 7 StVG ist derjenige, der einen Personen- oder Sachschaden der dort genannten Art erlitten hat (dazu s. Rz. 3.37 ff.). Nur im Fall der Tötung kann auch ein nicht in eigener Person Geschädigter Ansprüche aus Gefährdungshaftung geltend machen (§ 10 StVG).

21.1

Bei der Sachbeschädigung ist hinsichtlich des Substanzschadens nur der Eigentümer aktiv legitimiert; ohne Bedeutung ist die Haltereigenschaft.1 Die Eigentumsvermutung zugunsten des Eigenbesitzers (§ 1006 BGB) gilt auch für Ansprüche wegen Beschädigung oder Zerstörung der Sache.2 In der Regel (Ausnahme z.B. bei Firmenfahrzeug) wird daher das Eigentum des Fahrers (als die tatsächliche Sachherrschaft Ausübenden) vermutet. Einfaches Bestreiten des Anspruchsgegners ändert hieran nichts, denn er hat die Beweislast für das Gegenteil (§ 292 ZPO); den Besitzer trifft allerdings die sekundäre Behauptungslast, d.h. er müsste dem Gegner, der begründeten Anlass hat, das Eigentum zu bezweifeln, nähere Angaben hierüber liefern.3

21.2

Der Miteigentümer kann in gesetzlicher Prozessstandschaft nach § 1011 BGB den gesamten Schaden zur Leistung an alle geltend machen.4 Der berechtigte Besitzer (z.B. Mieter, Pächter, Nießbraucher, Leasingnehmer, Erwerber unter Eigentumsvorbehalt) ist hinsichtlich der Beeinträchtigung seines Besitzrechts ebenfalls „Verletzter“ (s. Rz. 3.54). Der Leasingnehmer kann also z.B. Ersatz für den Ausfall der Nutzungsmöglichkeit (s. Rz. 28.47, 28.54) sowie für seinen Haftungsschaden (s. Rz. 30.7) beanspruchen (näher zu den Ansprüchen bei Beschädigung von Leasing-Fahrzeugen s. Rz. 26.29 f., 27.90 f.). Entsprechendes muss für den Siche-

21.3

1 Schauseil MDR 2012, 446. 2 OLG Karlsruhe v. 19.2.1981 – 12 U 94/80, VersR 1982, 485; OLG Köln v. 4.6.2018 – 15 U 7/18, NJW-Spezial 2018, 681 (KW). Zu den Anforderungen bei behauptetem mittelbaren Besitz OLG München v. 21.9.2018 – 10 U 1502/18, DAR 2019, 574. 3 OLG Hamm v. 11.10.2013 – 9 U 35/13, NJW 2014, 1894; OLG Düsseldorf v. 19.6.2018 – 1 U 164/ 17, NJW-RR 2018, 1365. Allg. zur sekundären Darlegungslast Zöller/Greger vor § 284 Rz. 34. 4 BGH v. 11.12.1992 – V ZR 118/91, NJW 1993, 727.

Greger | 529

§ 21 Rz. 21.3 | Anspruchsberechtigung

rungsgeber bei der Sicherungsübereignung gelten.5 Die Ersatzansprüche des nicht haltenden Sicherungseigentümers kann er mit dessen Ermächtigung im Wege gewillkürter Prozessstandschaft im eigenen Namen geltend machen.6

21.4

Gesundheitsverletzung kann auch die Schädigung eines Ungeborenen sein; daher hat das Kind einen Entschädigungsanspruch, welches infolge eines von der Mutter während der Schwangerschaft erlittenen Verkehrsunfalls oder Schockschadens geschädigt zur Welt kommt (s. Rz. 3.40).

21.5

Die Beeinträchtigung sonstiger Rechte (i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB) führt nicht zur Ersatzpflicht nach § 7 StVG; ebenso wenig ein reiner Vermögensschaden.

2. Mittelbar Geschädigte 21.6

Personen, die durch den Unfall nicht unmittelbar, sondern nur vermittels der Schädigung eines anderen betroffen werden, sind nur dann anspruchsberechtigt nach § 7 StVG, wenn auch in ihrer eigenen Person eine Verletzung im vorstehenden Sinne eingetreten ist (s. Rz. 19.15). Haben sie ausschließlich Vermögensnachteile erlitten, besteht (abgesehen von Ausnahmen bei Tötung und Körperverletzung; dazu s. Rz. 31.1, 32.4) keine Anspruchsberechtigung.

21.7

Der Unterschied zeigt sich z.B. bei der Beschädigung einer Stromleitung, die zu einem Stromausfall führt. Entsteht hierdurch einem Dritten ein Vermögensschaden, etwa weil sein Betrieb zeitweise nicht produzieren kann, so hat er keinen Ersatzanspruch;7 kommt es hingegen zu einem adäquat verursachten Sachschaden (z.B. Schädigung von Bruteiern in einer Geflügelfarm), kann er diesen ersetzt verlangen.8 Keinen eigenen Ersatzanspruch hat auch der Arbeitgeber des Verletzten wegen der für diesen vergeblich aufgewendeten Lohnkosten (vgl. aber Rz. 32.70) oder eines Verdienstausfalles,9 der Angehörige des Verletzten wegen der Ausgaben, die er zu dessen Betreuung getätigt hat (vgl. aber Rz. 32.9 ff.), der Betriebsinhaber oder Hauseigentümer, der die Schließanlage seines Hauses austauschen muss, weil dem Mitarbeiter oder Mieter beim Unfall unverschuldet die Hausschlüssel abhandengekommen sind10 oder der Vertragspartner des Geschädigten, der wegen der unfallbedingten Verspätung einer Lieferung eine Einbuße erleidet. Diesen mittelbar am Vermögen Geschädigten mutet § 7 StVG zu, den Verlust – auch soweit er materieller Verlust ist – als Schicksalsschlag selbst zu tragen. Der Angehörige, der infolge des Miterlebens des Unfalls oder infolge der Unfallnachricht einen Nervenschock erleidet, hat dagegen, da in seiner Gesundheit verletzt, selbst einen Anspruch auf Entschädigung (s. Rz. 3.45 ff.).

3. Anspruchsberechtigung bei Bestehen anderweitiger Ansprüche 21.8

Die Verletzteneigenschaft (und damit die Anspruchsberechtigung nach § 7 StVG) hängt lediglich davon ab, ob eine reale Verletzung eines der in § 7 StVG genannten Güter eingetreten ist; ob auch ein rechnerischer Schaden (Vermögensdifferenz) gegeben ist, ist hierfür dagegen

5 Vgl. LG München I v. 19.8.1999 – 19 S 6799/99, NZV 1999, 516 mit Anm. Kunschert. 6 BGH v. 7.3.2017 – VI ZR 125/16, NJW 2017, 2352 mit Anm. Herbers = DAR 2017, 460 mit Anm. Geiger, auch zur Anrechnung der Betriebsgefahr; dazu s. Rz. 25.91. 7 BGH v. 9.12.1958 – VI ZR 199/57, BGHZ 29, 65. 8 BGH v. 4.2.1964 – VI ZR 25/63, BGHZ 41, 123. 9 BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 40/16, VersR 2017, 304. 10 AG Moers v. 14.4.2014 – 562 C 30/14 mit Anm. Nugel.

530 | Greger

I. Gefährdungshaftung nach § 7 StVG | Rz. 21.12 § 21

unerheblich. „Verletzter“ ist daher auch, wer seinen Schaden durch Versicherungsleistungen oder freiwillige Leistungen Dritter ausgleichen konnte (vgl. zu dieser Einschränkung der Pflicht zur Vorteilsausgleichung Rz. 20.20). Ebenso verhält es sich mit dem Verdienstausfall von Arbeitnehmern, die Anspruch auf Lohn- oder Gehaltsfortzahlung haben; hier gilt allerdings die Besonderheit, dass der Ersatzanspruch kraft Gesetzes oder kraft Abtretung auf den Arbeitgeber übergeht (s. Rz. 32.176 ff.). Hat der Eigentümer einer beschädigten Sache deswegen keinen rechnerischen Schaden, weil er die Sache bereits an einen anderen verkauft hat und wegen vorzeitigen Gefahrübergangs (insbesondere bei Versendungskauf nach § 447 BGB) auch bei deren Untergang oder Beschädigung seinen Kaufpreisanspruch behält, so kann er nach h.M. den in Wirklichkeit beim Käufer eingetretenen Schaden geltend machen; die Ersatzleistung hat er an den Käufer herauszugeben, sofern er ihm nicht den Schadensersatzanspruch abtritt (sog Drittschadensliquidation).11 Hinsichtlich der Ansprüche aus dem meist zugrunde liegenden Frachtführervertrag besteht eine gesetzliche Verankerung dieser Grundsätze in § 421 Abs. 1 Satz 2, 3 HGB. – Auch ein öffentlich-rechtlicher Kostenerstattungsanspruch schließt Ansprüche aus § 7 StVG nicht aus; die Kosten der Reinigung einer im Eigentum der Gemeinde stehenden Straße können daher von dieser auch zivilrechtlich geltend gemacht werden.12

4. Ausschlüsse a) Kfz-Halter Ist der Halter durch sein eigenes Kfz verletzt oder sonst geschädigt worden, so hat er keinen Schadensersatzanspruch aus § 7 StVG (was wegen des Versicherungsschutzes13 sowie beim Vorhandensein eines weiteren Halters von Interesse sein könnte), denn Eigenschädigung ist kein Haftpflichttatbestand.14 Er muss sich vielmehr u.U. sogar die Betriebsgefahr seines Kfz nach § 17 Abs. 1 Satz 2 StVG auf seine Schadensersatzansprüche gegen andere Unfallbeteiligte anrechnen lassen (s. Rz. 25.87 ff.).

21.9

Bei Schädigung durch einen unbefugten Benutzer seines Kfz (§ 7 Abs. 3 StVG) ist zu unterscheiden:

21.10

Hat der Halter durch die unbefugte Benutzung seine Haltereigenschaft verloren (s. Rz. 3.214), so steht er dem Kfz in haftungsrechtlicher Hinsicht grundsätzlich wie ein Unbeteiligter gegenüber; er hat daher Ersatzansprüche nach § 7 StVG, wenn er beim Betrieb des Kfz geschädigt wird. Dies gilt aber dann nicht, wenn er die unbefugte Benutzung schuldhaft ermöglicht hat. Da seine Halterhaftung in diesem Fall erhalten bleibt (s. Rz. 3.238), kann er nicht seinerseits Ansprüche aus der Gefährdungshaftung haben.

21.11

Ist die Haltereigenschaft nicht auf den unbefugten Benutzer übergegangen, sondern beim bisherigen Halter verblieben, so greift § 7 StVG nicht ein, und zwar auch dann nicht, wenn der Fall des Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 nicht vorliegt, also die Benutzung nicht durch Schuld des Halters ermöglicht worden ist. Der Übergang der Ersatzpflicht auf den Benutzer („an Stelle des Halters“) nach Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 hat zur Voraussetzung, dass eine grundsätzliche

21.12

11 BGH v. 29.1.1968 – II ZR 18/65, BGHZ 49, 356; BGH v. 14.7.1972 – I ZR 33/71, VersR 1972, 1138; OLG Nürnberg v. 21.12.1995 – 8 U 2663/95, NZV 1996, 194; Lange/Schiemann § 8 III 6. 12 BGH v. 28.6.2011 – VI ZR 184/10, NZV 2011, 595 (auch zur dadurch eröffneten Möglichkeit einer Abtretung). 13 Zur Frage des Bestehens eines Direktanspruchs des geschädigten Halters s. Rz. 15.11. 14 Kunschert NZV 1999, 516.

Greger | 531

§ 21 Rz. 21.12 | Anspruchsberechtigung

Haftpflicht des Halters gegeben wäre; das ist aber bei Eigenschädigung des Halters nicht der Fall.

21.13

Hat der Halter sein Kfz mit einem von ihm geführten fremden Kfz beschädigt, kann er dessen Halter nicht aus § 7 StVG in Anspruch nehmen. Dies ergibt sich im Anwendungsbereich des Haftungsausschlusses nach § 8 Nr. 2 StVG (s. Rz. 22.9 ff.) aus diesem, ansonsten aus § 18 Abs. 3 i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 StVG.15

b) Sonstige Geschädigte 21.14

Der Fahrer und andere bei dem Betrieb des Kfz tätige Personen stehen zwar nicht von vornherein außerhalb des Schutzbereichs des § 7 StVG,16 haben aber wegen des Haftungsausschlusses nach § 8 Nr. 2 StVG i.d.R. keine Ansprüche aus Gefährdungshaftung gegen den Halter (s. aber auch Rz. 22.10). Für sonstige Insassen, auch für mitfahrende Angehörige oder Mitgesellschafter des Halters, gilt dies nicht.17

21.15

Der (vom Halter verschiedene) Eigentümer des Kfz, z.B. der Leasinggeber oder Sicherungseigentümer, kann den Halter (Leasingnehmer, Sicherungsgeber) nicht aus § 7 StVG wegen der Beschädigung des Kfz in Anspruch nehmen, weil hier das schädigende Fahrzeug zugleich die beschädigte Sache ist.18 Der Zweck der Gefährdungshaftung, andere Verkehrsteilnehmer vor von dem Kfz ausgehenden Gefahren zu schützen, kann hier nicht eingreifen; anders verhält es sich nur, wenn der Eigentümer durch das Kfz körperlich geschädigt wird.19 Für den Eigentümer eines mit dem Kfz verbundenen Anhängers sollte wegen der haftungsrechtlichen Betriebseinheit (s. Rz. 3.113 f.) dasselbe gelten.20 Dagegen müsste dem Eigentümer eines (ab-) geschleppten Kfz gegenüber, sofern es selbständig gelenkt wurde und damit Träger einer eigenen Betriebsgefahr ist (s. Rz. 3.103, 3.153), der Schutz des § 7 StVG wirken.21

21.16

Der Mieter kann gegen den Vermieter keine Ansprüche aus der Halterhaftung wegen eines Schadens geltend machen, der ihm selbst oder einem Rechtsvorgänger durch ein vertragswidriges Verhalten beim Gebrauch des Kfz entstanden ist. Da er hierfür dem Vermieter gegenüber selbst aus positiver Vertragsverletzung auf Schadensersatz oder Freistellung von den Ansprüchen Dritter haftet, stellt die Geltendmachung der Halterhaftung eine unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) dar.22

15 Greger NZV 1988, 108; Kunschert NZV 1999, 516, 517. Ebenso, aber gestützt auf § 9 StVG, AG Darmstadt v. 10.6.2002 – 300 C 161/01, NZV 2002, 568. 16 Hohloch VersR 1978, 19; a.A. LG Freiburg v. 16.12.1976 – 3 S 126/76, VersR 1977, 749. 17 Ebenso i. Erg. Kunschert NJW 2003, 950 f. 18 BGH v. 7.12.2010 – VI ZR 288/09, BGHZ 187, 379 = NJW 2011, 996 mit Anm. Reinking unter Aufgabe von BGH v. 22.3.1983 – VI ZR 108/81, BGHZ 87, 133; Hohloch NZV 1992, 1, 5; Schmitz NJW 1994, 301; Lemcke ZfS 2002, 318,327. 19 BGH v. 7.12.2010 – VI ZR 288/09, NJW 2011, 996, 997. 20 Offen lassend OLG Hamm v. 30.11.1998 – 6 U 136/98, NZV 1999, 243, 244. Für Unfälle ab 17.7.2020 s. § 19 Abs. 4 Satz 5 StVG. 21 OLG Celle v. 14.11.2012 – 14 U 70/12, NZV 2013, 292. 22 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, BGHZ 116, 200; krit. Gärtner BB 1993, 1454 ff.; s. auch Rz. 16.26.

532 | Greger

IV. Abtretung | Rz. 21.21 § 21

II. Sonstige Ansprüche 1. Deliktische Haftung Für die verschuldensabhängige Haftung aus unerlaubter Handlung (s. o. § 10) gilt I.1 entsprechend. Obwohl § 823 Abs. 1 BGB, anders als § 7 StVG, nicht nur eine Sachbeschädigung, sondern eine Eigentumsverletzung verlangt, ist (über die Alternative „sonstiges Recht“) auch der berechtigte Besitzer (z.B. Leasingnehmer; s. Rz. 10.20) aktiv legitimiert. Mittelbar geschädigten Dritten können Ansprüche nach §§ 844 f. BGB zustehen. Die in Rz. 21.9 ff. angeführten Ausschlüsse der Halterhaftung greifen bei der deliktischen Haftung nicht ein. Der Fahrer kann also auch den Halter in Anspruch nehmen, wenn er diesem eine schuldhafte Unfallverursachung nachweisen kann.

21.17

2. Vertragliche Haftung Die Anspruchsberechtigung ergibt sich hier aus der Stellung als Vertragspartei. Besonderheiten bestehen bei der Beschädigung von Frachtgut (s. Rz. 16.7) und beim von dritter Seite beauftragten Abschleppen s. Rz. 16.14, 16.46.

21.18

3. Amtshaftung Hier ist anspruchsberechtigt derjenige, dem gegenüber die verletzte Amtspflicht ihre Schutzwirkung hatte (s. Rz. 12.13 ff.).

21.19

III. Gesetzlicher Forderungsübergang Die Anspruchsberechtigung entfällt in vielen Fällen dadurch, dass die Schadensersatzforderung kraft besonderer gesetzlicher Vorschrift auf einen anderen übergeleitet wird. Der Übergang vollzieht sich teilweise bereits im Zeitpunkt des Schadensereignisses, teilweise mit dem Erbringen von Leistungen des Zessionars. Im Wesentlichen ist ein solcher Forderungsübergang vorgesehen zugunsten von:

21.20

– Sozialversicherungsträgern (s. Rz. 35.6 ff.) – Trägern der Sozialen Fürsorge (s. Rz. 36.13 ff.) – Versorgungsträgern (s. Rz. 37.27 ff.) – Dienstherren von Beamten (s. Rz. 37.7 ff.) – Arbeitgebern (s. Rz. 32.176 ff.) – Privatversicherern (insb. Fahrzeug- und Krankenversicherern, s. Rz. 38.1 ff.).

IV. Abtretung Schadensersatzansprüche können nach den allgemeinen Regeln (§§ 398 ff. BGB) durch Vertrag abgetreten werden und stehen dann ausschließlich dem neuen Gläubiger zu. Die Abtretung an ein Unternehmen ohne Erlaubnis zum Erbringen von Rechtsdienstleistungen (z.B. Reparaturwerkstatt, Autovermieter) ist aber nach § 3 RDG i.V.m. § 134 BGB nichtig, wenn Greger | 533

21.21

§ 21 Rz. 21.21 | Anspruchsberechtigung

auf diesem Wege die Einziehung einer Forderung übertragen werden soll, die eine rechtliche Prüfung erfordert (§ 2 Abs. 1 RDG) oder als eigenständiges Geschäft betrieben wird (§ 2 Abs. 2 RDG). Das Erfordernis einer rechtlichen Prüfung ist zu bejahen, wenn die Unfallschadenregulierung von der Ermittlung von Haftungs- oder Mitverschuldensquoten abhängen kann23 oder wenn Schäden geltend gemacht werden, die in keinem Zusammenhang mit der Haupttätigkeit stehen.24 Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Übernahme der Einziehung von Reparatur-, Mietwagen- bzw. Gutachterkosten durch die Reparaturwerkstatt, den Kfz-Vermieter bzw. den Sachverständigen jedoch dann als Nebenleistung nach § 5 RDG zulässig, wenn allein deren Höhe streitig ist;25 dass zum Zeitpunkt der Abtretung noch nicht absehbar war, wie sich der Unfallgegner einlassen wird, ist dabei unerheblich.26 Dass die Ansprüche nach dem Wortlaut des Abtretungsvertrages zur Sicherung der Ansprüche des Zessionars gegen den Geschädigten übertragen werden, steht der Nichtigkeit im Übrigen nicht entgegen, wenn es sich nach den Gesamtumständen bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise um eine Abtretung zur Verfolgung und Durchsetzung der Ansprüche des Geschädigten handelt.27 Wenn der Unternehmer im Wesentlichen die ihm eingeräumte Sicherheit verwirklicht, d.h. die abgetretene Schadensersatzforderung des Geschädigten einzieht, weil seine Forderung gegen diesen fällig und notleidend geworden ist, handelt es sich hingegen um eine zulässige Besorgung eigener Angelegenheiten, die nicht unter das RDG fällt.28

21.22

Die formularmäßige Abtretungserklärung kann jedoch als überraschende Klausel nach § 305c Abs. 1 BGB unwirksam sein, so z.B. wenn der Geschädigte zur Sicherung des Sachverständigenhonorars seine Ansprüche auf Ersatz der Positionen Sachverständigenkosten, Wertminderung, Nutzungsausfall, Nebenkosten und Reparaturkosten in dieser Reihenfolge und in Höhe des Honoraranspruchs an den Sachverständigen abtritt, wobei der Anspruch auf Ersatz einer nachfolgenden Position nur abgetreten wird, wenn der Anspruch auf Ersatz der zuvor genannten Position nicht ausreicht, um den gesamten Honoraranspruch des Sachverständigen zu decken.29 Wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot aus § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB musste der BGH eine Klausel für unwirksam erklären, wonach die Ansprüche des Sachverständigen gegen den Auftraggeber nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung beim Unfallgegner Zug um Zug gegen Verzicht auf die Rechte aus der Abtretung gegen ihn geltend gemacht werden können, wobei auf demselben Formular eine Weiterabtretung des Schadensersatzanspruchs vom Sachverständigen an eine zu Inkassodienstleistungen berechtigte Verrechnungsstelle vorgesehen war.30 Desgleichen wurde eine erfüllungshalber erklärte Abtre23 BT-Drucks. 16/3655, 46. Ebenso zum früheren RBerG BGH v. 18.3.2003 – VI ZR 152/02, NJW 2003, 1938; BGH v. 26.4.1994 – VI ZR 305/93, NZV 1994, 353 mit eingehenden Nachw. aus der BGH-Rspr; ausf. Prütting/Nerlich NZV 1995, 1; zur Nichtigkeit der Mandatierung eines mit einem Unfallhelfer zusammenwirkenden Rechtsanwalts s. BGH v. 20.6.2006 – VI ZB 75/05, NJW 2006, 2910. 24 BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 143/11, BGHZ 192, 270. 25 BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 143/11, BGHZ 192, 270; BGH v. 11.9.2012 – VI ZR 296/11, NZV 2013, 31; BGH v. 24.10.2017 – VI ZR 504/16, NJW 2018, 455 mit Anm. Wittschier (auch zur Weiterübertragung an eine Verrechnungsstelle). 26 BGH v. 5.3.2013 – VI ZR 245/11, NZV 2013, 383. 27 BGH v. 22.6.2004 – VI ZR 272/03, NJW 2004, 2516; BGH v. 26.4.1994 – VI ZR 305/93, NZV 1994, 353; OLG Schleswig v. 24.3.1993 – 9 U 73/91, NZV 1994, 74; OLG Nürnberg v. 25.2.1992 – 11 U 2704/91, NZV 1992, 366; Chemnitz ZfS 1993, 325. 28 BGH v. 20.9.2005 – VI ZR 251/04, NJW 2005, 3570 m.w.N.; Prütting/Nerlich NZV 1995, 1, 3 ff. Zu Kfz-Sachverständigen s. Wortmann NZV 1999, 414 ff. 29 BGH v. 21.6.2016 – VI ZR 475/15, VersR 2016, 1330. 30 BGH v. 17.7.2018 – VI ZR 274/17, VersR 2018, 1460.

534 | Greger

IV. Abtretung | Rz. 21.24 § 21

tung für unwirksam erklärt, zu der die AGB folgende Regelung enthielten: „Das Sachverständigenbüro kann die Ansprüche gegen mich [geschädigter Auftraggeber] geltend machen, wenn und soweit der regulierungspflichtige Versicherer keine Zahlung oder lediglich eine Teilzahlung leistet. In diesem Fall erhalte ich die Forderung zurück, um sie selbst gegen die Anspruchsgegner durchzusetzen.“31 Die Abtretung an ein Unternehmen, welches gegen hohe Erfolgsbeteiligung die Prüfung und Geltendmachung der Schadensersatzansprüche des Geschädigten übernimmt, verstößt auch dann gegen das RDG, wenn das Unternehmen als Inkassodienstleister nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registriert ist.32 Dasselbe gilt, wenn die Ansprüche auf Veranlassung des Mietwagenunternehmens an ein nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 RDG zugelassenes Inkassobüro33 oder zunächst an ein solches und von diesem an das Mietwagenunternehmen abgetreten werden.34

21.23

Missbrauch wird auch mit der Gestaltungsform des Factoring getrieben: Tritt der Sachverständige die an ihn abgetretene Forderung des Geschädigten auf Erstattung von Sachverständigenkosten an ein Factoring-Unternehmen ab, das nicht über eine Registrierung als Inkassodienstleister nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG verfügt, ist die Abtretung wegen Verstoßes gegen § 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 RDG i.V.m. § 3 RDG gem. § 134 BGB nichtig, wenn das Factoring-Unternehmen entgegen der Rechtslage beim Factoring nicht das volle wirtschaftliche Risiko der Beitreibung der Forderung übernimmt.35

21.24

31 BGH v. 18.2.2020 – VI ZR 135/19, NJW 2020, 1888 mit Anm. Ullenboom. 32 Greger MDR 2018, 897 ff. Für großzügige, am Schutzzweck des RDG orientierte Würdigung der Umstände des Einzelfalls dagegen BGH v. 27.11.2019 – VIII ZR 285/18, NJW 2020, 208 (zur Rückforderung überhöhter Wohnungsmiete). 33 BGH v. 22.6.2004 – VI ZR 272/03, NJW 2004, 2516. 34 BGH v. 18.3.2003 – VI ZR 152/02, NJW 2003, 1938. 35 BGH v. 21.10.2014 – VI ZR 507/13, NJW 2015, 397.

Greger | 535

Fünfter Teil Ausschluss und Beschränkung der Haftung, Verjährung § 22 Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausschluss der Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Langsam fahrende Kraftfahrzeuge a) Normzweck und Bedeutung . . . . . . b) Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bei dem Betrieb Tätige . . . . . . . . . . a) Normzweck und Bedeutung . . . . . . b) Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschädigung beförderter Sachen . a) Normzweck und Bedeutung . . . . . . b) Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Versäumung der Anzeigefrist (§ 15 StVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normzweck und Bedeutung . . . . . . b) Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fristberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Inhalt und Form der Anzeige . . . . . e) Person des Anzeigenden . . . . . . . . . f) Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Wirkung der Versäumung . . . . . . . . h) Unschädlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . i) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Allgemeine Haftungsausschlüsse . 1. Ausdrückliche Vereinbarung . . . . . a) Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . aa) Bahn- oder Anlagenbetreiber . . bb) Entgeltliche und geschäftsmäßige Beförderung . . . . . . . . . c) Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stillschweigender Haftungsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.1 22.4 22.4 22.4 22.6 22.8 22.9 22.9 22.10 22.11 22.12 22.13 22.13 22.14 22.16 22.18 22.19 22.19 22.20 22.21 22.22 22.23 22.24 22.25 22.26 22.29 22.30 22.30 22.30 22.34 22.35 22.36 22.44 22.47 22.49

a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.49 b) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.54 aa) Gefälligkeitsfahrt . . . . . . . . . . . . 22.56 bb) Probefahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.60 3. Bewusste Selbstgefährdung, Handeln auf eigene Gefahr . . . . . . 22.63 4. Haftungsausschluss zwischen Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.65 5. Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . 22.66 IV. Haftungsbeschränkungen im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . 22.67 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.67 2. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . 22.69 a) Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . 22.69 b) Betriebliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . 22.70 c) Keine schwere Schuld . . . . . . . . . . . 22.72 3. Einfluss von Versicherungsschutz 22.73 a) Haftpflichtversicherung . . . . . . . . . . 22.73 b) Kaskoversicherung . . . . . . . . . . . . . . 22.74 4. Wirkung der Haftungsmilderung . 22.75 a) Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.75 b) Schädigungen Dritter . . . . . . . . . . . . 22.78 c) Gesamtschuldnerausgleich . . . . . . . 22.79 V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . 22.80 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.80 2. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . 22.83 3. Haftungsausschluss zugunsten des Unternehmers bei Arbeitsunfall . . 22.84 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.84 b) Umfang des Haftungsausschlusses . 22.86 c) Wirkung im Gesamtschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.87 d) Einfluss der Haftpflichtversicherung 22.92 e) Begriff des Unternehmers . . . . . . . . 22.93 f) Erfasste Personen . . . . . . . . . . . . . . . 22.95 g) Erfasste Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . 22.97 h) Arbeitsunfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.111 i) Feststellung des Arbeitsunfalls . . . . 22.112

Greger | 537

§ 22 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen aa) Vorrang des Versicherungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bindungswirkung . . . . . . . . . . . j) Ausnahme vom Haftungsprivileg bei Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Ausnahmen vom Haftungsprivileg bei Wegeunfällen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haftungsausschluss bei Verletzung eines Arbeitskollegen . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Persönlicher Geltungsbereich . . . . . aa) Tätigkeit im selben Betrieb . . . bb) Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte . . . . . . . . . . cc) Versicherteneigenschaft des Schädigers . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Versicherteneigenschaft des Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . c) Erfasste Unfälle . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Betriebliche Tätigkeit . . . . . . . . bb) Wegeunfälle . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorsätzliche Schädigung . . . . . d) Feststellung der Voraussetzungen .

22.112 22.113 22.115 22.116 22.122 22.122 22.124 22.124 22.125 22.128 22.129 22.134 22.134 22.135 22.141 22.142

5. Haftungsausschluss zwischen Mitarbeitern von Hilfsdiensten . . 6. Haftungsausschluss im Schul-, Kindergarten- und Ausbildungsbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Persönlicher Geltungsbereich . . . . . c) Betriebsunfall . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Haftung gegenüber Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Haftungsausschluss für Unfälle bei Hilfeleistungen . . . . . . . . . . . . . a) Unfallhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pannenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Internationales Recht . . . . . . . . . . VI. Ausschlüsse bei Versorgungsberechtigten und im öffentlichen Dienstrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . 3. Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.143

22.144 22.144 22.146 22.149 22.150 22.152 22.153 22.153 22.154 22.155

22.156 22.156 22.158 22.160

§ 8 StVG Die Vorschriften des § 7 gelten nicht, 1. wenn der Unfall durch ein Kraftfahrzeug verursacht wurde, das auf ebener Bahn mit keiner höheren Geschwindigkeit als 20 Kilometer in der Stunde fahren kann, 2. wenn der Verletzte bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig war oder 3. wenn eine Sache beschädigt worden ist, die durch das Kraftfahrzeug befördert worden ist, es sei denn, dass eine beförderte Person die Sache an sich trägt oder mit sich führt. § 8a StVG Im Fall einer entgeltlichen, geschäftsmäßigen Personenbeförderung darf die Verpflichtung des Halters, wegen Tötung oder Verletzung beförderter Personen Schadensersatz nach § 7 zu leisten, weder ausgeschlossen noch beschränkt werden. Die Geschäftsmäßigkeit einer Personenbeförderung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Beförderung von einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts betrieben wird. § 15 StVG Der Ersatzberechtigte verliert die ihm auf Grund der Vorschriften dieses Gesetzes zustehenden Rechte, wenn er nicht spätestens innerhalb zweier Monate, nachdem er von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erhalten hat, dem Ersatzpflichtigen den Unfall anzeigt. Der Rechtsverlust tritt nicht ein, wenn die Anzeige infolge eines von dem Ersatzberechtigten nicht zu vertretenden Umstands unterblieben ist oder der Ersatzpflichtige innerhalb der bezeichneten Frist auf andere Weise von dem Unfall Kenntnis erhalten hat.

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Haftungsausschlüsse und -beschränkungen | § 22 § 7 HaftpflG Die Ersatzpflicht nach den §§ 1 bis 3 dieses Gesetzes darf, soweit es sich um Personenschäden handelt, im voraus weder ausgeschlossen noch beschränkt werden. Das gleiche gilt für die Ersatzpflicht nach § 2 dieses Gesetzes wegen Sachschäden, es sei denn, dass der Haftungsausschluss oder die Haftungsbeschränkung zwischen dem Inhaber der Anlage und einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, einem öffentlich-rechtlichen Sondervermögen oder einem Kaufmann im Rahmen eines zum Betriebe seines Handelsgewerbes gehörenden Vertrages vereinbart worden ist. Entgegenstehende Bestimmungen und Vereinbarungen sind nichtig. § 8 SGB VII (1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. (2) Versicherte Tätigkeiten sind auch 1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit, 2. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um a) Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder b) mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen, 3. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, dass die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden, 4. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben, 5. das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt. (3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels. § 104 SGB VII (1) Unternehmer sind den Versicherten, die für ihre Unternehmen tätig sind oder zu ihren Unternehmen in einer sonstigen die Versicherung begründenden Beziehung stehen, sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 versicherten Weg herbeigeführt haben. Ein Forderungsübergang nach § 116 des Zehnten Buches findet nicht statt. (2) Abs. 1 gilt entsprechend für Personen, die als Leibesfrucht durch einen Versicherungsfall i.S.d. § 12 geschädigt worden sind. (3) Die nach Abs. 1 oder 2 verbleibenden Ersatzansprüche vermindern sich um die Leistungen, die Berechtigte nach Gesetz oder Satzung infolge des Versicherungsfalls erhalten.

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§ 22 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen § 105 SGB VII (1) Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, sind diesen sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 versicherten Weg herbeigeführt haben. Satz 1 gilt entsprechend bei der Schädigung von Personen, die für denselben Betrieb tätig und nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 versicherungsfrei sind. § 104 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3 gilt entsprechend. (2) Abs. 1 gilt entsprechend, wenn nicht versicherte Unternehmer geschädigt worden sind. Soweit nach Satz 1 eine Haftung ausgeschlossen ist, werden die Unternehmer wie Versicherte, die einen Versicherungsfall erlitten haben, behandelt, es sei denn, eine Ersatzpflicht des Schädigers gegenüber dem Unternehmer ist zivilrechtlich ausgeschlossen. Für die Berechnung von Geldleistungen gilt der Mindestjahresarbeitsverdienst als Jahresarbeitsverdienst. Geldleistungenwerden jedoch nur bis zur Höhe eines zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs erbracht. § 106 SGB VII (1) In den in § 2 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 8 genannten Unternehmen gelten die §§ 104 und 105 entsprechend für die Ersatzpflicht 1. der in § 2 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 8 genannten Versicherten untereinander, 2. der in § 2 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 8 genannten Versicherten gegenüber den Betriebsangehörigen desselben Unternehmens, 3. der Betriebsangehörigen desselben Unternehmens gegenüber den in § 2 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 8 genannten Versicherten. (2) Im Fall des § 2 Abs. 1 Nr. 17 gelten die §§ 104 und 105 entsprechend für die Ersatzpflicht 1. der Pflegebedürftigen gegenüber den Pflegepersonen, 2. der Pflegepersonen gegenüber den Pflegebedürftigen, 3. der Pflegepersonen desselben Pflegebedürftigen untereinander. (3) Wirken Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder Unternehmen des Zivilschutzes zusammen oder verrichten Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte, gelten die §§ 104 und 105 für die Ersatzpflicht der für die beteiligten Unternehmen Tätigen untereinander. (4) Die §§ 104 und 105 gelten ferner für die Ersatzpflicht von Betriebsangehörigen gegenüber den nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 Versicherten. § 108 SGB VII (1) Hat ein Gericht über Ersatzansprüche der in den §§ 104 bis 107 genannten Art zu entscheiden, ist es an eine unanfechtbare Entscheidung nach diesem Buch oder nach dem Sozialgerichtsgesetz in der jeweils geltenden Fassung gebunden, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist. (2) Das Gericht hat sein Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung nach Abs. 1 ergangen ist. Falls ein solches Verfahren noch nicht eingeleitet ist, bestimmt das Gericht dafür eine Frist, nach deren Ablauf die Aufnahme des ausgesetzten Verfahrens zulässig ist. § 46 BeamtVG (1) Der verletzte Beamte und seine Hinterbliebenen haben aus Anlass eines Dienstunfalles gegen den Dienstherrn nur die in den §§ 30 bis 43a geregelten Ansprüche. Ist der Beamte nach dem

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Haftungsausschlüsse und -beschränkungen | § 22 Dienstunfall in den Dienstbereich eines anderen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn versetzt worden, so richten sich die Ansprüche gegen diesen; das Gleiche gilt in den Fällen des gesetzlichen Übertritts oder der Übernahme bei der Umbildung von Körperschaften. Satz 2 gilt in den Fällen, in denen der Beamte aus dem Dienstbereich eines öffentlich-rechtlichen Dienstherrn außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes zu einem Dienstherrn im Geltungsbereich dieses Gesetzes versetzt wird, mit der Maßgabe, dass dieses Gesetz angewendet wird. (2) Weitergehende Ansprüche auf Grund allgemeiner gesetzlicher Vorschriften können gegen einen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn im Bundesgebiet oder gegen die in seinem Dienst stehenden Personen nur dann geltend gemacht werden, wenn der Dienstunfall 1. durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung einer solchen Person verursacht worden oder 2. bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist. Im Fall des Satzes 1 Nr. 2 sind Leistungen, die dem Beamten und seinen Hinterbliebenen nach diesem Gesetz gewährt werden, auf die weitergehenden Ansprüche anzurechnen; der Dienstherr, der Leistungen nach diesem Gesetz gewährt, hat keinen Anspruch auf Ersatz dieser Leistungen gegen einen anderen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn im Bundesgebiet. (3) Ersatzansprüche gegen andere Personen bleiben unberührt. (4) Auf laufende und einmalige Geldleistungen, die nach diesem Gesetz wegen eines Körper-, Sach- oder Vermögensschadens gewährt werden, sind Geldleistungen anzurechnen, die wegen desselben Schadens von anderer Seite erbracht werden. Hierzu gehören insbesondere Geldleistungen, die von Drittstaaten oder von zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Einrichtungen gewährt oder veranlasst werden. Nicht anzurechnen sind Leistungen privater Schadensversicherungen, die auf Beiträgen der Beamten oder anderen Angehörigen des öffentlichen Dienstes beruhen; dies gilt nicht in den Fällen des § 32. § 81 BVG Erfüllen Personen die Voraussetzungen des § 1 oder entsprechender Vorschriften anderer Gesetze, die eine entsprechende Anwendung dieses Gesetzes vorsehen, so haben sie wegen einer Schädigung gegen den Bund nur die auf diesem Gesetz beruhenden Ansprüche; jedoch finden die Vorschriften der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge, das Gesetz über die Erweiterte Zulassung von Schadenersatzansprüchen bei Dienstunfällen in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2030-2-19, bereinigten Fassung, und § 82 des Beamtenversorgungsgesetzes Anwendung. § 91a SVG (1) Die nach diesem Gesetz versorgungsberechtigten Personen haben aus Anlass einer Wehrdienstbeschädigung oder einer gesundheitlichen Schädigung i.S.d. §§ 81a bis 81d gegen den Bund nur die auf diesem Gesetz beruhenden Ansprüche. Sie können Ansprüche nach allgemeinen gesetzlichen Vorschriften, die weitergehende Leistungen als nach diesem Gesetz begründen, gegen den Bund, einen anderen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn im Bundesgebiet oder gegen die in deren Dienst stehenden Personen nur dann geltend machen, wenn die Wehrdienstbeschädigung oder die gesundheitliche Schädigung i.S.d. §§ 81a bis 81f durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung einer solchen Person verursacht worden ist. Dies gilt nicht in Fällen der Übernahme der Zahlung nach § 31a des Soldatengesetzes. (2) § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 des Beamtenversorgungsgesetzes gilt entsprechend. (3) Ersatzansprüche gegen andere Personen bleiben unberührt.

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§ 22 Rz. 22.1 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

I. Überblick 22.1

Die Gefährdungshaftung des Kfz-Halters nach § 7 StVG wird durch § 8 StVG für bestimmte Fahrzeugarten und Unfallkonstellationen ausgeschlossen (s. Rz. 22.4 ff.). Für die verschuldensunabhängige Haftung des Kfz-Führers nach § 18 StVG gelten diese Vorschriften entsprechend. Weniger weit gehende Haftungsausschlüsse gelten nach § 1 Abs. 3 HaftpflG für die Gefährdungshaftung des Bahnunternehmers (s. Rz. 22.13). Zur Haftungsentlastung durch Beweis von Unabwendbarkeit bzw. höherer Gewalt s. Rz. 3.258 ff., 5.20 ff. Schließlich kann die Gefährdungshaftung nach dem StVG auch dadurch entfallen, dass der Geschädigte den Unfall nicht rechtzeitig dem Ersatzpflichtigen anzeigt (§ 15 StVG; s. Rz. 22.19 ff.). Ansprüche aus anderen Haftungsgründen werden durch die speziellen Ausschlusstatbestände von StVG und HaftpflG nicht berührt.

22.2

Allgemeine Haftungsausschlüsse kommen insbesondere bei der Beförderung von Personen oder Sachen in Betracht. Sie können sich aus Rechtsvorschriften, z.B. § 14 BefBedV,1 oder einer vertraglichen Übereinkunft zwischen Schädiger und Geschädigtem ergeben. Solche sind im Bereich der Verkehrsunfallhaftung insbesondere bei Beförderungsvorgängen von praktischer Bedeutung (s. Rz. 22.30 ff.), für die Gefährdungshaftung aber weitgehend ausgeschlossen (vgl. § 8a StVG, § 7 HaftpflG; s. Rz. 22.34 ff.). Ob auch ein haftungsrechtliches Übermaßverbot zu einer Haftungsreduktion führen kann, ist streitig (s. Rz. 22.66). Zur Verjährung s. u. § 24.

22.3

Besondere Haftungsausschlüsse gewährt die Rspr. Arbeitnehmern, die wegen schuldhafter Schädigung ihres Arbeitgebers belangt werden (s. Rz. 22.67 ff.). Wichtige Haftungsfreistellungen ergeben sich schließlich aus dem Unfallversicherungs- bzw. Versorgungsrecht (s. Rz. 22.80 ff.).

II. Ausschluss der Gefährdungshaftung 1. Langsam fahrende Kraftfahrzeuge a) Normzweck und Bedeutung 22.4

Der Ausschluss langsam fahrender Kraftfahrzeuge von der Gefährdungshaftung durch § 8 Nr. 1 StVG hat seinen Grund darin, dass mit den Haftpflichtbestimmungen des KFG von 1909 den Folgen der „Autoraserei“ begegnet werden sollte und die Besorgnis herrschte, bei einer Einbeziehung langsamer Fahrzeuge würde der Kraftverkehr gegenüber den gleich schnellen Fuhrwerken übermäßigen Belastungen ausgesetzt.2 Die Regelung ist durch die Entwicklung langsam fahrender Arbeitsmaschinen mit erheblichem Gefährdungspotential (Mähdrescher, Radlader, Planierraupen usw.) fragwürdig geworden.3 Auch rufen gerade langsame Kfz (z.B. landwirtschaftliche Gespanne) besondere Gefahren für den fließenden Verkehr hervor. Im Übrigen misst die Rechtsprechung den „schnellen“ Kfz auch dann eine haftungs-

1 Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen v 27.2.1970 (BGBl. I 1970, 230). Näher dazu Filthaut NZV 2001, 238 ff. 2 Vgl. BR-Drucks. 7/1906. 3 Greger LM § 8 StVG Nr. 5. Für Streichung Schwab DAR 2011, 129 ff.; krit. auch BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 156/96, BGHZ 136, 69.

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II. Ausschluss der Gefährdungshaftung | Rz. 22.9 § 22

begründende Betriebsgefahr zu, wenn sie sich in Ruhe befinden (s. Rz. 3.104 ff.); dadurch ist ein gravierender Wertungswiderspruch entstanden.4 Die Vorschrift stellt die Halter und Führer langsamer Kfz nicht nur von der verschuldensunabhängigen Haftung frei, sondern hat auch zur Folge, dass sich der selbst geschädigte Halter bzw. Führer eines solchen Fahrzeugs keine mitwirkende Betriebsgefahr anrechnen zu lassen braucht (s. Rz. 25.95).

22.5

b) Geltungsbereich § 8 Nr. 1 StVG erfasst solche Kfz, bei denen entweder die Bauart oder der tatsächliche Zustand schon ohne weiteres ausschließt, dass sie schneller als 20 km/h fahren, oder an denen vom Hersteller Vorrichtungen angebracht wurden, die eine Überschreitung dieser Grenze verhindern. Ob durch eine Manipulation an diesen Vorrichtungen (z.B. Aufziehen größerer Reifen) eine höhere Geschwindigkeit des Fahrzeugs erreicht werden könnte, ist unerheblich; erst wenn die Veränderung tatsächlich vorgenommen wurde, scheidet der Haftungsausschluss aus.5 Es kommt nicht darauf an, ob das Kraftfahrzeug wegen besonderer Umstände gerade im Zeitpunkt des Unfalls nicht schneller als 20 km/h fahren konnte. Maßgebend ist vielmehr, ob es unter anderen Umständen, z.B. ohne Ladung oder ohne Anhänger, eine höhere Geschwindigkeit erreichen könnte.6

22.6

Für einen Anhänger (s. Rz. 3.24 ff.) ist die Halterhaftung ausgeschlossen, wenn dieser im Unfallzeitpunkt mit einem Kfz der vorgenannten Art verbunden war. Dies folgt für Unfälle vor 17.7.2020 aus § 8 Nr. 1 StVG a.F., für spätere aus § 19 Abs. 1 Satz 3 StVG. Da es sinnwidrig wäre, den Halter eines Anhängers strenger haften zu lassen als den Halter eines Kfz, muss dies aber auch für einen abgekuppelten Anhänger gelten, wenn sein Betrieb (s. Rz. 3.116) durch ein von der Gefährdungshaftung ausgenommenes Kfz begründet wurde.7

22.7

c) Beweislast Der Halter oder Fahrer, der behauptet, sein Kraftfahrzeug sei ein langsam fahrendes i.S.d. § 8 StVG, hat dies darzulegen und zu beweisen.8 Die Vorlage von Herstellerangaben reicht nicht, da es auf die tatsächlichen Gegebenheiten im Unfallzeitpunkt ankommt; lässt sich aber eine von der Klassifizierung des Fahrzeugs abweichende Beschaffenheit im Unfallzeitpunkt nicht feststellen, bleibt es beim Haftungsausschluss.9

22.8

2. Bei dem Betrieb Tätige a) Normzweck und Bedeutung Der Haftungsausschluss gegenüber beim Betrieb des Kfz oder Anhängers Tätigen (§ 8 Nr. 2 bzw. § 19 Abs. 1 Satz 2 StVG) beruht auf der Erwägung, dass sich solche Personen freiwillig 4 Medicus DAR 2000, 442, 443. 5 BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 156/96, BGHZ 136, 69 = LM § 8 StVG Nr. 5 mit Anm. Greger; BGH v. 30.9.1997 – VI ZR 347/96, VersR 1997, 1525 mit Anm. Lorenz (zur Befreiung von der Versicherungspflicht). Zur Entwicklung der Rspr. Brötel NZV 1997, 381. 6 BGH NZV 2005, 305, 306 (Unimog mit Mähvorrichtung). 7 Ch. Huber § 4 Rz. 121. 8 OLG Köln v. 6.8.1986 – 13 U 55/86, VersR 1988, 194. 9 BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 156/96, BGHZ 136, 69, 75.

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22.9

§ 22 Rz. 22.9 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

in Gefahr begeben. Ihr Schutzbedürfnis wird daher geringer geachtet.10 Dieser Rechtsgedanke spricht dafür, den Haftungsausschluss auch im Verhältnis zwischen einem beim Betrieb des Anhängers Tätigen und dem Halter des Zugfahrzeugs (und umgekehrt) eingreifen zu lassen (obwohl dies anders als nach § 8 Nr. 2 StVG in der bis 16.7.2020 geltenden Fassung nicht mehr ausdrücklich normiert ist).11

b) Geltungsbereich 22.10

Entscheidendes Abgrenzungsmerkmal für das Tätigsein beim Betrieb ist, dass die betreffende Person durch ihre nahe Beziehung zum Betrieb des Kfz oder Anhängers der Gefährdung besonders ausgesetzt ist.12 Es genügt daher nicht, wenn der Geschädigte die Betriebstätigkeit lediglich veranlasst hat (etwa als Arbeitgeber des Fahrers), faktisch aber in den Tätigkeitsbereich und seine Gefahren nicht einbezogen war.13 Der Haftungsausschluss greift auch nicht ein, wenn der beim Betrieb Tätige, insbesondere der Fahrer, eine eigene Sache beschädigt, die nicht infolge der Betriebstätigkeit, sondern nur zufällig in den Gefahrenkreis des Kfz geraten ist (Beispiel: Fahrer eines fremden Kfz fährt auf ein eigenes auf).14 Darauf, ob der Halter oder der Fahrer das Recht hatte, dem beim Betrieb Tätigen Weisungen zu erteilen, kommt es nicht an,15 ebenso wenig darauf, ob es sich um eine Dauerbeziehung oder eine ganz kurzzeitige Tätigkeit handelt.16 Bei gelegentlicher Hilfeleistung einer an dem Betrieb sonst unbeteiligten Person kann der Haftungsausschluss jedoch nur angenommen werden, wenn sie in einer so nahen und unmittelbaren Beziehung zu den Triebkräften des Kfz steht, dass der Tätige nach der Art seiner Tätigkeit den besonderen Gefahren des Kfz-Betriebs mehr ausgesetzt ist als die Allgemeinheit.17 Beim Betrieb kann auch derjenige tätig sein, der kein Entgelt erhält und auch derjenige, der in keinen vertraglichen Beziehungen zum Halter, zum Vertreter des Halters oder zum Fahrer steht.18 Auch wer sich ohne Willen des Halters und Fahrers am Kfz zu schaffen macht, verliert den Haftungsschutz.19 Entscheidend ist aber, dass die Tätigkeit im Zeitpunkt des Unfalls entfaltet wurde. Ereignet sich der Unfall auch nur einige Sekunden nach dem Abschluss der Tätigkeit (z.B. derjenigen des Beladens des Kfz oder des Heranschiebens eines Anhängers an den Lkw), so kommt der Haftungsausschluss nicht mehr zum Zug.20 Zu dem Begriff „bei dem Betrieb“ s. Rz. 3.56 ff.

10 Zu Recht krit. Kötz in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts Bd. II (1981) 1814. 11 S. dazu Bauer-Gerland VersR 2020, 146. Nach BT-Drucks. 19/17964, 11 sollte die bestehende Rechtslage nicht geändert werden. 12 BGH v. 16.12.1953 – VI ZR 131/52, NJW 1954, 393; BGH v. 7.7.1956 – VI ZR 157/55, VersR 1956, 640. 13 BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, BGHZ 116, 200, 205. 14 OLG Hamm v. 25.6.1996 – 27 U 68/96, NZV 1997, 42; LG München I v. 19.8.1999 – 19 S 6799/ 99, NZV 1999, 516 mit Anm. Kunschert; AG Darmstadt v. 10.6.2002 – 300 C 161/01, NZV 2002, 568; Hohloch VersR 1978, 19; Greger NZV 1988, 108; a.A. LG Freiburg v. 16.12.1976 – 3 S 126/ 76, VersR 1977, 749; Kunschert NZV 1989, 61, 62. 15 BGH v. 13.3.1962 – VI ZR 83/61, VersR 1962, 540. 16 BGH v. 7.7.1956 – VI ZR 157/55, VersR 1956, 640; a.A. OLG München (Augsburg) v. 25.1.1990 – 24 U 618/89, NZV 1990, 393. 17 BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 286/09, NJW 2011, 292. 18 BGH v. 16.12.1953 – VI ZR 131/52, NJW 1954, 393. 19 OLG Düsseldorf RdK 1928, 110. 20 RG HRR 1934, Nr. 950.

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II. Ausschluss der Gefährdungshaftung | Rz. 22.13 § 22

c) Einzelfälle Selbstverständlich fällt unter § 8 StVG der Führer des Kfz, auch wenn er noch Fahrschüler ist.21 Dagegen greift der Haftungsausschluss bei einem Unfall zwischen den Krädern von Fahrlehrer und Fahrschüler nicht ein, wenn der verletzte Schüler die Fahrschule wegen der Betriebsgefahr des Lehrerkrades in Anspruch nimmt,22 während umgekehrt der Fahrlehrer als Betriebstätiger auch hinsichtlich des Schülerkrades angesehen werden muss. Der zur Ablösung des Fahrers mitfahrende Beifahrer ist während der Zeit, in der er nicht auf den Betrieb einwirkt, nicht beim Betrieb tätig.23 Ein Insasse ist beim Betrieb tätig, wenn er die Wagentüre öffnet,24 nicht aber beim Ausrutschen auf dem Trittbrett.25 Ein Wagenwäscher ist beim Betrieb des Kfz nur tätig, solange er den Wagen mit Motorkraft bewegt. Dagegen ist beim Betrieb tätig, wer den von einer unbefugten Person in Gang gesetzten Pkw durch Entgegenstemmen aufzuhalten versucht,26 wer anstelle des Halters während einer Fahrt Anweisungen erteilt oder sogar Handreichungen leistet, wer beim Beladen oder Entladen mitwirkt27 oder auf einem Aufstellplatz oder in einer Großgarage das Kfz mit Motorkraft rangiert. Es genügt auch schon, wenn der Geschädigte sich dadurch der Betriebsgefahr des Kfz in gesteigertem Maße aussetzt, dass er es durch Winkzeichen einweist28 oder beim Anschieben des wegen Schnee oder Eisglätte liegengebliebenen Kfz hilft.29 Nicht ausreichend ist es dagegen, wenn ein Unfallhelfer verunglückt, während er das Warndreieck aus dem Kofferraum des Unfallfahrzeugs holt.30

22.11

d) Beweislast Der Halter ist beweispflichtig für seine Behauptung, der Verletzte sei im Zeitpunkt des Unfalls beim Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig gewesen.31

22.12

3. Beschädigung beförderter Sachen a) Normzweck und Bedeutung Der Schutz der Gefährdungshaftung soll sich nach § 8 Nr. 3 StVG, § 1 Abs. 3 Nr. 2 HaftpflG nur auf Sachen außerhalb des Kraft- oder Bahnfahrzeugs beziehen, nicht auf seine Ladung. Gegenstände, die ein (von den Haftungsnormen des StVG oder HaftpflG geschützter) Insasse an sich trägt oder mit sich führt, sollen aber an diesem Schutz teilhaben (s. Rz. 22.16). Der Haftungsausschluss gegenüber der beförderten Person selbst (§ 8a StVG a.F.) wurde durch das 2. SchRÄndG abgeschafft.

21 KG v. 27.6.1988 – 12 U 7102/87, NZV 1989, 150 mit Anm. Kunschert; OLG Saarbrücken v. 17.7.1997 – 3 U 324/96-54, NZV 1998, 246. 22 Kunschert NZV 1989, 152; verkannt von KG v. 26.10.1988 – 12 U 7102/87, NZV 1989, 150. 23 A.A. BAG Betrieb 1964, 409. 24 OLG München v. 24.6.1966 – 10 U 866/66, VersR 1966, 987. 25 BGH v. 12.10.1956 – VI ZR 175/55, VersR 1956, 765. 26 OLG Jena v. 4.2.1999 – 1 U 425/98, NZV 1999, 331. 27 OLG Celle v. 17.2.2000 – 14 U 32/99, NZV 2001, 79. 28 Verneint von BGH v. 16.12.1953 – VI ZR 131/52, NJW 1954, 393. 29 OLG Düsseldorf v. 31.3.2015 – 1 U 87/14, NZV 2015, 383; a.A. OLG München (Augsburg) v. 25.1.1990 – 24 U 618/89, NZV 1990, 393. 30 BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 286/09, NJW 2011, 292, 295. 31 RG v. 7.4.1930 – VI 400/29, RGZ 128, 149, 152; Bomhard VersR 1962, 1140.

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22.13

§ 22 Rz. 22.14 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

b) Geltungsbereich 22.14

Der Haftungsausschluss gilt nur für beförderte Sachen. Anhänger und abgeschleppte Fahrzeuge fallen nicht darunter32 (zur Behandlung dieser Fälle s. Rz. 21.15). Er gilt nur für die beförderte Sache selbst, nicht für Schäden, die dadurch entstehen, dass Ladegut beseitigt werden muss, weil es die Straße verunreinigt hat.33 Bei einem Gespann aus Zugfahrzeug und Anhänger muss der Haftungsausschluss auch für die im jeweils anderen Fahrzeug beförderten Sachen gelten. Dies war in § 8 Nr. 3 StVG a.F. so geregelt; die Neuregelung der Anhängerhaftung (§ 8 Nr. 3 und § 19 Abs. 1 Satz 2 StVG in der ab 17.7.2020 geltenden Fassung) sollte daran nichts ändern.34

22.15

Unter Beförderung i.S.d. § 8 Nr. 3 StVG ist ein zielgerichtet zu einer Ortsveränderung der Sache führender Vorgang zu verstehen.35 Dass die Sache an dem anderen Ort verbleibt, ist nicht erforderlich; befördert wird eine Sache auch, wenn sie ein Mitfahrer während der Fahrt bei sich haben und wieder an den Ausgangsort zurückbringen will.36 Daher kann es sich auch bei einer Rundfahrt, bei der Ausgangsort und Zielort identisch sind, oder bei einer ganz kurzen Strecke um eine Beförderung handeln, nicht aber, wenn die Sache unabsichtlich bei einem Fahrvorgang mitgenommen wird.37 Es genügt, wenn irgendeine Person den Willen hat, dass die Sache befördert wird; Halter und Fahrer müssen davon nichts wissen.38 Beginn und Ende der Beförderung fallen mit dem Zeitpunkt der körperlichen Verbindung von Sache und Kfz zusammen; der Ladevorgang gehört dazu.

c) Ausnahme 22.16

Für die von einer beförderten Person getragenen oder mitgeführten Sachen greift die Haftung nach §§ 7, 18 StVG, § 1 HaftpflG dagegen ein. Dies sind nicht nur Gegenstände, die der Insasse am Körper trägt (z.B. Kleidung, Schmuck, Brille, Prothese) oder unmittelbar zur Hand hat (z.B. Tasche mit Inhalt, Notebook, Kamera), sondern auch solche im Kofferraum, auf dem Dach (z.B. Fahrrad) oder im Gepäckanhänger eines Reisebusses. Die Personenbeförderung muss aber im Vordergrund stehen, die Sache darf nur Begleitgegenstand sein. Dient die Fahrt gerade der Beförderung der Sache und ist der Insasse nur Begleitperson, so verbleibt es beim Haftungsausschluss für die Ladung des Kfz, ebenso dann, wenn die Beförderung der Sache Gegenstand eines eigenen Vertrages ist (z.B. bei Aufgabe als Reisegepäck). In wessen Eigentum die Sachen stehen, ist ohne Belang; vom Fahrer mitgeführte Sachen fallen allerdings nicht unter den Haftungsschutz, denn der Fahrer ist nicht „beförderte Person“; er fällt vielmehr unter den Ausschluss nach Nr. 2.39 Die Beförderung endet grundsätzlich mit dem Aussteigen; für eine kurze Unterbrechung des beabsichtigten Beförderungsvorgangs gilt dies aber nicht.40 32 A.A. OLG Hamm v. 30.11.1998 – 6 U 136/98, NZV 1999, 243. 33 BGH v. 6.11.2007 – VI ZR 220/06, VersR 2008, 230. 34 BT-Drucks. 19/17964, 11. Bauer-Gerland VersR 2020, 146 geht von gesetzgeberischem Versehen aus. 35 BGH v. 29.6.1994 – IV ZR 229/93, NZV 1994, 355. S a BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, 318 zu ungewollter Mitnahme einer Person. 36 Prölss/Martin/Klimke AKB 2015 A.1.5 Rz. 15; a.A. LG Dessau-Roßlau v. 7.8.2014 – 5 S 201/13, DAR 2015, 463. 37 BGH v. 29.6.1994 – IV ZR 229/93, NZV 1994, 355. 38 RG v. 22.1.1931 – VI 294/30, RGZ 131, 190, 191 (zu Personenbeförderung). 39 KG v. 27.6.1988 – 12 U 7102/87, NZV 1989, 150 mit Anm. Kunschert. 40 A.A. OLG Celle v. 18.3.1999 – 14 U 90/98, NZV 1999, 332 (unter dem umgekehrten Vorzeichen des § 8a StVG a.F.).

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II. Ausschluss der Gefährdungshaftung | Rz. 22.22 § 22

Anders als für Personenschäden (§ 8a StVG, § 7 HaftpflG) kann die Haftung für mitgeführte Sachen abbedungen werden. Dies kann für die versicherungsrechtliche Situation von Bedeutung sein, denn der Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des befördernden Kfz besteht nur bei Beschädigung von Sachen, die von Insassen „üblicherweise“ mitgeführt werden (A.1.5.5 Abs. 2 Satz 1 AKB 2015, § 4 Nr. 3 KfzPflVV). Dies ist bei der hier gebotenen objektiven Betrachtungsweise z.B. bei einem Mobiltelefon der Fall, bei einem Computer fraglich.41 Bei einer Fahrt, die überwiegend der Personenbeförderung i.S.d. PBefG dient, kommt es darauf an, ob Sachen der betr. Art42 von Reisenden üblicherweise zum Zwecke des persönlichen Gebrauchs mitgeführt werden (z.B. Reisegepäck, Reiseproviant; A.1.5.5 Abs. 2 Satz 2 AKB 2015). Der Halter genießt damit bei Gegenständen, die von einem Insassen in obigem Sinn mitgeführt werden, aber nicht zu den üblicherweise mitgeführten Gegenständen zählen, keinen Versicherungsschutz.43 – Zur Höhenbegrenzung s. § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StVG).

22.17

d) Beweislast Für das Vorliegen einer Beförderung ist der Halter bzw. Führer beweispflichtig, für das Ansichtragen oder Mitsichführen der Geschädigte.

22.18

4. Versäumung der Anzeigefrist (§ 15 StVG) a) Normzweck und Bedeutung Die Anzeigepflicht soll dem Kfz-Halter bzw. -führer das Führen des Entlastungsbeweises erleichtern. Es handelt sich nicht um eine nur auf Einrede hin zu beachtende Verjährungs-, sondern um eine Ausschlussfrist.

22.19

b) Geltungsbereich Die Vorschrift gilt nur für Ansprüche aufgrund von §§ 7, 18 StVG, nicht für Schadensersatzansprüche aus anderen Haftungsgründen und nicht für Ausgleichsansprüche, z.B. nach § 17 StVG.44

22.20

c) Fristberechnung Die Zweimonatsfrist beginnt, sobald der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat (s. Rz. 24.21 ff.). Für die Berechnung der Frist gelten §§ 187, 188 BGB.

22.21

d) Inhalt und Form der Anzeige Eine besondere Form ist nicht vorgeschrieben. Die Anzeige kann also auch telefonisch oder mündlich erstattet werden. Letzteres wird häufig unmittelbar nach dem Unfall am Unfallort erfolgen. Mitzuteilen ist der Unfall, nicht der entstandene Schaden. Auch wenn nach längerer Zeit unvorhergesehene Spätfolgen auftreten, entsteht keine neue Anzeigepflicht, sofern die

41 Verneinend LG Erfurt v. 29.11.2012 – 1 S 101/12, NZV 2013, 400 mit Anm. Ch. Huber; zu Bejahung neigend Prölss/Martin/Klimke AKB 2015 A.1.5 Rz. 20. 42 Stärker individualisierend Prölss/Martin/Klimke AKB 2015 A.1.5 Rz. 21. 43 Stiefel/Maier AKB 2015 Rz. 253. Nach Ch. Huber NZV 2013, 401 eine bedenkliche Schutzlücke. 44 BGH v. 21.11.1953 – VI ZR 82/52, BGHZ 11, 170, 173.

Greger | 547

22.22

§ 22 Rz. 22.22 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

Anzeige vom Unfall rechtzeitig erfolgt war. Hierzu genügt die Angabe von Ort, Zeit und Art des Unfalls. Der Ersatzpflichtige muss in die Lage versetzt werden, Feststellungen zum Sachverhalt zu treffen.

e) Person des Anzeigenden 22.23

Anzeigepflichtig ist, wer Ersatzansprüche geltend machen will. Wegen § 15 Satz 2 Halbsatz 2 StVG ist es aber gleichgültig, durch wen die Anzeige erstattet wird. Bei Schädigung mehrerer Personen genügt daher auch die Anzeige durch eine von ihnen.

f) Zugang 22.24

Die Anzeige muss dem Ersatzpflichtigen innerhalb der Zweimonatsfrist zugehen (§ 130 BGB); Kenntnisnahme ist unerheblich. Zu richten ist die Anzeige an die Person, von der nach dem StVG Schadensersatz gefordert werden soll, also an den Halter (§ 7 Abs. 1 StVG), Fahrer (§ 18 StVG) oder unbefugten Benutzer (§ 7 Abs. 3 StVG). Die Anzeige kann auch an den Haftpflichtversicherer des Ersatzpflichtigen gerichtet werden, da dieser bevollmächtigt ist, alle in Abwicklung des Schadenfalles erforderlichen Erklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. Zur Vollmacht des Versicherungsvermittlers s §§ 69, 72 VVG. Ist der Ersatzpflichtige minderjährig, so muss die Anzeige dem gesetzlichen Vertreter erstattet werden. Bei juristischen Personen, die mehrere verfassungsmäßige Vertreter haben, genügt der Zugang an einen von diesen. Bei Körperschaften des öffentlichen Rechts sind die Verordnungen zu beachten, die deren Vertretung regeln.

g) Wirkung der Versäumung 22.25

Ansprüche nach dem StVG erlöschen; andere Ansprüche bleiben unberührt. Auf erloschene Ansprüche Geleistetes kann als ungerechtfertigte Bereicherung zurückgefordert werden.

h) Unschädlichkeit 22.26

Wenn der Ersatzberechtigte das Unterbleiben der rechtzeitigen Anzeige nicht zu vertreten hat (i.S.v. § 276 Abs. 1 BGB), bleiben ihm die Ansprüche erhalten. § 278 BGB ist nicht direkt anwendbar, da es sich nicht um eine Verbindlichkeit, sondern um eine Obliegenheit handelt.45 Der Normzweck (s. Rz. 22.19) gebietet es jedoch, dem Ersatzpflichtigen eine Berufung auf den Haftungsausschluss dann zu versagen, wenn die Anzeige durch ein Verschulden des gesetzlichen Vertreters oder eines vom Ersatzberechtigten zum Zwecke der Schadensregulierung Bevollmächtigten, insbesondere eines Rechtsanwalts, unterblieben ist.46

22.27

Eine Nachholung der schuldlos versäumten Anzeige nach Wegfall des Hinderungsgrundes schreibt § 15 StVG nicht ausdrücklich vor. Die Verpflichtung, den Ersatzpflichtigen unverzüglich über die beabsichtigte Inanspruchnahme aus Gefährdungshaftung zu informieren, ergibt sich aber aus dem Sinn der Vorschrift und § 242 BGB.

22.28

Erlangt der Ersatzpflichtige innerhalb der Frist anderweitig Kenntnis von den in Rz. 24.21 ff. genannten Umständen, kann er sich nicht auf die Fristversäumung berufen (§ 15 Satz 2 Halbsatz 2 StVG). 45 Vgl. dazu BGH v. 4.5.1955 – VI ZR 37/54, BGHZ 17, 199, 205. 46 Ähnliche Erwägungen in BGH v. 4.5.1955 – VI ZR 37/54, BGHZ 17, 199, 206 f.

548 | Greger

III. Allgemeine Haftungsausschlüsse | Rz. 22.32 § 22

i) Beweislast Zur Geltendmachung des Haftungsausschlusses muss der Ersatzpflichtige beweisen, dass der Ersatzberechtigte in einem Zeitpunkt Kenntnis erlangt hat, der mehr als zwei Monate vor der Anzeige liegt. Ist dies bewiesen oder unbestritten dargelegt, so hat der Ersatzberechtigte zu beweisen, dass er während des gesamten Laufs der zwei Monate ohne Verschulden außerstande war, die Anzeige zu erstatten.47 Stattdessen kann er auch beweisen, dass der Ersatzpflichtige innerhalb dieser zwei Monate vom Unfall Kenntnis erlangt hat.

22.29

III. Allgemeine Haftungsausschlüsse 1. Ausdrückliche Vereinbarung a) Wirksamkeit Ein vertraglicher Haftungsausschluss für Fahrlässigkeit ist grundsätzlich zulässig (vgl. § 276 Abs. 3 BGB), in AGB (also z.B. in Beförderungsbedingungen oder bei Verwendung vorgedruckter Formulare) jedoch nur nach Maßgabe von § 309 Nr. 7 BGB,48 hinsichtlich der Gefährdungshaftung nur nach Maßgabe von § 8a StVG bzw. § 7 HaftpflG (s. Rz. 22.34 ff.). Er bezieht sich nicht nur auf die Haftung aus Vertrag, sondern auch auf diejenige aus anderen Rechtsgründen und kann auch zugunsten Dritter erklärt werden.49 Zu Freistellungsvereinbarungen bei Fahrzeugmiete s. Rz. 16.27; zur stillschweigenden Haftungsfreistellung s. Rz. 22.49 ff.

22.30

Geschäftsfähigkeit der Beteiligten ist Voraussetzung der Wirksamkeit des Haftungsausschlussvertrags. Auf Seiten des Führers des Kfz genügt – da der Vertrag ihm nur einen Vorteil bringt – beschränkte Geschäftsfähigkeit, nicht aber auf Seiten des Mitfahrenden.50 Sein gesetzlicher Vertreter kann jedoch den Haftungsausschluss nachträglich genehmigen oder schon vor der Fahrt einwilligen. Die Einwilligung ist nicht ohne weiteres in der Erteilung der Erlaubnis zur Teilnahme an der Fahrt zu sehen, auch wenn es sich um eine Gefälligkeitsfahrt (s. Rz. 22.56 ff.) handelt. Der gesetzliche Vertreter ist nach § 1629 Abs. 2, § 1795 Abs. 2, § 181 BGB nicht in der Lage, einen Haftungsausschluss mit sich selbst zu vereinbaren, wenn er selbst das Kfz führt. In der Regel kann die Einwilligung von einem Elternteil allein erklärt werden, weil sich die Eltern gegenseitig ermächtigen, Verträge ihres Kindes, die dem täglichen Leben angehören, ohne Mitwirkung des anderen Elternteils zu genehmigen.51 Ist der Mitfahrende während der Fahrt geschäftsunfähig, z.B. sinnlos betrunken,52 so ist zu prüfen, ob er auch schon geschäftsunfähig war, als er mit dem Führer des Kfz vereinbarte, dass er gegen Haftungsverzicht mitfahren dürfe.

22.31

Eine Anfechtung des Haftungsverzichts kann, da es sich um eine Willenserklärung handelt, wegen Irrtums (§ 119 BGB) oder wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) erfolgen. Dies

22.32

47 RG Recht 1923, Nr. 793. 48 Jahnke VersR 1996, 294, 299. Die auf Verordnung (EVO, BefBedV) beruhenden Haftungsregelungen werden hiervon nicht erfasst; Filthaut NZV 2001, 238, 239 m.w.N. 49 OLG Karlsruhe v. 27.1.2014 – 1 U 158/12, NZV 2015, 126 (Rennveranstaltung). 50 BGH v. 25.3.1958 – VI ZR 13/57, NJW 1958, 905. 51 BGH v. 28.6.1988 – VI ZR 288/87, BGHZ 105, 45, 48 f.; Erman/Döll § 1629 Rz. 3, § 1627 Rz. 2 ff. 52 RG DAR 1930, 136; OLG Oldenburg v. 28.11.1951 – 2 U 256/51, VRS 4, 4.

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§ 22 Rz. 22.32 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

kommt z.B. in Betracht, wenn der Mitfahrer nicht gewusst hat, dass das Kfz nicht verkehrssicher ist.53

22.33

Begrenzung auf nicht durch Haftpflichtversicherung gedeckte Ansprüche ist wirksam.54 Der Versicherer wird hierdurch nicht unbillig belastet, da er ohne die Vereinbarung ohnedies voll eintreten müsste.

b) Zwingendes Recht 22.34

Die Vereinbarung eines Haftungsverzichts ist wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig (§ 134 BGB) in folgenden Fällen: aa) Bahn- oder Anlagenbetreiber

22.35

Die Gefährdungshaftung für Schienen- und Schwebebahnen sowie für Anlagen gem. §§ 2, 3 HaftpflG kann, soweit sie sich auf Personenschäden bezieht, nicht abbedungen werden (§ 7 Satz 1, 3 HaftpflG). bb) Entgeltliche und geschäftsmäßige Beförderung

22.36

§ 8a StVG verbietet Vereinbarungen, durch die die Gefährdungshaftung des Kfz-Halters nach § 7 StVG oder die Haftung des Kfz-Führers nach § 18 StVG für die Tötung oder Verletzung entgeltlich und geschäftsmäßig beförderter Personen ausgeschlossen oder beschränkt wird. Dies garantiert dem Mitfahrer ein Maß an Ersatzforderungen, welches die Unsittlichkeit des Abbedingens anderer Ansprüche im Allgemeinen ausschließen wird. Zum Begriff der Beförderung s. Rz. 22.15. Entgeltlichkeit und Geschäftsmäßigkeit müssen kumulativ gegeben sein;55 daher ist z.B. bei unentgeltlicher Mitnahme in einem Taxi ein Haftungsausschluss möglich.

22.37

Entgeltlich ist eine Beförderung auch dann, wenn sie nur mittelbar dem wirtschaftlichen Interesse des Eigentümers des Kraftfahrzeugs, des Halters, des Fahrers oder desjenigen, der sonst die Beförderung übernommen hat,56 dient, wie dies z.B. bei der Beförderung von Geschäftspartnern der Fall sein kann.57

22.38

Entgeltliche Beförderung liegt mithin vor, wenn ein Handelsvertreter mit seinem Wagen eine Kolonne von Untervertretern an ihren Einsatzort fährt, auch wenn den Untervertretern die Fahrt nicht in Rechnung gestellt wird.58 Unerheblich ist, ob der Mitfahrer selbst das Entgelt leistet oder ein Dritter für ihn.59

22.39

Wird dem Halter oder Fahrer ein Zuschuss zu den Betriebskosten gewährt oder bilden mehrere Personen eine Fahrgemeinschaft, in dem sie sich abwechselnd in ihren Fahrzeugen mitnehmen, liegt eine entgeltliche Beförderung i.S.d. § 8a StVG vor, denn die damit erstrebte Kostenersparnis stellt ein wirtschaftliches Interesse dar. Liegt auch die Geschäftsmäßigkeit, d.h. Wiederholungsabsicht (s. Rz. 22.43),

53 54 55 56 57 58 59

BGH v. 3.7.1952 – III ZR 342/51, VersR 1952, 350. BGH v. 26.4.1960 – VI ZR 97/59, VersR 1960, 549. BGH v. 14.5.1981 – VI ZR 233/79, BGHZ 80, 303. BGH v. 28.5.1991 – VI ZR 291/90, NZV 1991, 348. BGH v. 14.5.1981 – VI ZR 233/79, BGHZ 80, 303. OLG Düsseldorf v. 5.1.1961 – 4 W 267/60, VersR 1961, 286. BGH v. 14.5.1981 – VI ZR 233/79, BGHZ 80, 303, 306.

550 | Greger

III. Allgemeine Haftungsausschlüsse | Rz. 22.45 § 22 vor, ist daher ein Ausschluss der Gefährdungshaftung als unwirksam anzusehen.60 Gegen die Verwendungsklausel in D.1.1.1 AKB 2015 verstößt ein derartiger Gebrauch des Kfz nicht.61 Die Fahrt in einem Krankentransportwagen des Roten Kreuzes oder einer anderen Einrichtung ist trotz des caritativen Charakters entgeltlich i.S.d. § 8a StVG, da sie, wenn sie in Rechnung gestellt wird, der betreffenden Einrichtung auch einen wirtschaftlichen Vorteil bringt.62

22.40

Die Höhe des Entgelts ist ohne Bedeutung (zum Fahrtkostenzuschuss s. Rz. 22.39). Ein bloßes Trinkgeld macht aber, jedenfalls wenn es nicht vor Vereinbarung der Beförderung zugesagt war, die Beförderung nicht zu einer entgeltlichen (ebenso wie Sachleistungen, z.B. Zigaretten, Einladung zum Essen), weil es hier am wirtschaftlichen Interesse fehlt.63

22.41

Bezahlt der Beförderte lediglich die Beförderung von Gütern und fährt er zur Begleitung seiner Sachen selbst – wenn auch ohne gesonderte Berechnung – mit, so liegt i.d.R. entgeltliche Personenbeförderung vor.64 Das Gleiche gilt für die Mitfahrt im Abschleppwagen bei entgeltlichem Abschleppen.

22.42

Geschäftsmäßig ist die Personenbeförderung, wenn beabsichtigt ist, sie in gleicher Art zu wiederholen und sie dadurch zu einer dauernden oder wenigstens wiederkehrenden Beschäftigung zu machen.65 Es wird mithin weder vorausgesetzt, dass die wiederholten Fahrten die Erzielung eines Gewinnes bezwecken, noch dass sie einen Gewerbebetrieb darstellen oder einem solchen dienen; S 2 ist daher überflüssig. Schon die erste entgeltliche Fahrt ist geschäftsmäßig, wenn derjenige, der sie durchführt, beabsichtigt, in Zukunft mehrere solche Fahrten auszuführen. Beabsichtigt er nur, eine weitere derartige Fahrt in Zukunft auszuführen, so ist die entgeltliche Fahrt nicht geschäftsmäßig.66 Nimmt ein Kraftfahrzeughalter häufig Personen in seinem Fahrzeug unentgeltlich mit, so tritt die Haftung nach StVG auch dann nicht ein, wenn er ausnahmsweise einmal hierfür ein Entgelt erhält.

22.43

c) Reichweite Ob der Haftungsverzicht auf einzelne Ansprüche beschränkt ist, ist Frage der Vertragsgestaltung oder -auslegung im Einzelfall. Sie ist ggf. durch interessengerechte Auslegung zu ermitteln und wird häufig dahin gehen, dass der Mitfahrer nur auf solche Ansprüche verzichtet, die nicht durch die Haftpflichtversicherung des Fahrers gedeckt sind (s. Rz. 22.59).

22.44

Eine Beschränkung des Haftungsausschlusses auf leichte Fahrlässigkeit ist möglich, kann aber in den Verzichtsvertrag nicht ohne weiteres hineininterpretiert werden. Entscheidend ist auch hier die Interessenlage im konkreten Fall. Auszugehen ist allerdings davon, dass vertragliche Haftungsmilderungen im Zweifel eng und gegen den, der sich freizeichnen will, auszulegen sind.

22.45

60 OLG Köln v. 1.2.1978 – 16 U 70/77, NJW 1978, 2556; a.A. (basierend auf § 8a a.F.) BGH v. 14.5.1981 – VI ZR 233/79, BGHZ 80, 303. Ihm weiterhin folgend Hentschel/König/Dauer § 8a StVG Rz. 3. 61 Prölss/Martin/Klimke AKB 2015 § D.1 Rz. 8. 62 A.A. zur früheren Gesetzesfassung BGH v. 5.4.1957 – VI ZR 68/56, VRS 13, 18. 63 Unzutr. OGH v. 22.9.1950 – II ZS 124/49, DAR 1951, 24, wonach es nicht auf den Zeitpunkt der Zusage, sondern auf Art und Höhe des Trinkgelds ankomme. 64 OGH v. 4.11.1949 – II b ZS 66/49, NJW 1950, 143. 65 BGH v. 14.5.1981 – VI ZR 233/79, BGHZ 80, 303; BGH v. 28.5.1991 – VI ZR 291/90, NZV 1991, 348, 349 (auch zur diesbezüglichen Darlegungslast des Verletzten). 66 BGH v. 26.11.1968 – VI ZR 205/67, VersR 1969, 161.

Greger | 551

§ 22 Rz. 22.46 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

22.46

Der Haftungsverzicht kann auch Wirkung auf Ansprüche Dritter haben. So setzen z.B. die Ansprüche Dritter wegen Unterhalts (§ 844 Abs. 2 BGB) und wegen entgangener Dienste (§ 845 BGB) das Bestehen einer Ersatzpflicht gegenüber dem Verletzten voraus. Hat dieser die Haftung ganz oder teilweise vertraglich abbedungen, so sind auch die Ansprüche Dritter in gleichem Maße eingeschränkt.67 Zur Wirkung auf Ausgleichsansprüche bei Mehrheit von Schädigern s. Rz. 39.16 ff.

d) Sonderfälle 22.47

Ein Haftungsausschluss durch Aushang oder sonstigen Hinweis im Fahrzeug hat in der Regel keine Wirkung. Liegt der Beförderung des Fahrgastes ein Vertrag zugrunde, so kann einer solchen Erklärung (z.B. „Mitfahrt auf eigene Gefahr“), solange sie nicht zum Abschluss eines gesonderten Verzichtsvertrages führt, i.d.R. schon deswegen keine Bedeutung zukommen, weil der Beförderungsvertrag bereits vorher zustande gekommen ist. Zudem darf im widerspruchslosen Mitfahren keine Annahme i.S.v. § 151 BGB gesehen werden. Bei bloßer Mitnahme ohne vertragliche Grundlage führt die einseitige Erklärung daher ebenfalls nicht zu einer Haftungsfreistellung. Im Übrigen greift u.U. § 309 Nr. 7 BGB ein (s. Rz. 22.30). Zum einseitigen Haftungsausschluss bei der Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 13.9.

22.48

Eine vertragliche Einheitsregelung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern (z.B. Haftungsausschluss bei Benutzung des Betriebsparkplatzes) ist nur dann wirksam, wenn sie den beiderseitigen Interessen angemessen Rechnung trägt; dies hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.68

2. Stillschweigender Haftungsausschluss a) Allgemeines 22.49

Ein Haftungsverzichtsvertrag kann auch durch schlüssige Handlungen (stillschweigend) geschlossen werden. Maßgebend für den Inhalt ist – wenn keine ausdrückliche Vereinbarung geschlossen wurde – das gesamte Verhalten der Beteiligten, aus welchem sich entsprechende Willenserklärungen ableiten lassen.69 Bei der Annahme eines konkludenten Haftungsverzichts ist aber Zurückhaltung geboten. Es darf nicht ohne weiteres angenommen werden, dass auf deliktische Ansprüche aus schuldhaftem Verhalten eines anderen im Vorhinein verzichtet wird, zumal wenn dieser haftpflichtversichert ist (s. Rz. 22.59).

22.50

Nur wenn das Verhalten der Beteiligten aus besonderen Gründen eindeutig dahingehend zu verstehen ist, dass sie sich über die Nichterhebung von Ersatzansprüchen im Falle eines Schadenseintritts einig waren, darf von einem Haftungsausschluss ausgegangen werden.70 Ob der Verzicht auch grob verkehrswidriges Verhalten umfassen soll, ist zusätzlich zu prüfen.71 Denkbar ist auch eine Quotelung analog § 86 Abs. 2 Satz 3 VVG.72

22.51

Im Wege ergänzender Vertragsauslegung kann ein Haftungsverzicht nur dann zum Inhalt eines zwischen Schädiger und Geschädigtem abgeschlossenen Überlassungs-, Gesellschafts67 68 69 70 71 72

BGH v. 13.6.1961 – VI ZR 224/60, VersR 1961, 846. BAG v. 28.9.1989 – 8 AZR 120/88, VersR 1990, 545. BGH v. 17.5.1951 – III ZR 57/51, BGHZ 2, 159. BGH v. 13.7.1993 – VI ZR 278/92, NJW 1993, 3067, 3068 m.w.N. OLG Frankfurt v. 13.1.1982 – 13 U 117/80, VersR 1983, 927. S. hierzu MünchKomm-BGB/Wagner vor § 823 Rz. 104.

552 | Greger

III. Allgemeine Haftungsausschlüsse | Rz. 22.53 § 22

oder Dienstleistungsvertrags werden, wenn sich bei umfassender Würdigung der Umstände und der beiderseitigen Vertragsmotive ergibt, dass der Vertrag in diesem Punkt lückenhaft und der hypothetische Wille beider Parteien auf eine Haftungsfreistellung gerichtet ist.73 Bejaht wurde dies z.B. bei einer Vereinbarung gemeinsamer Mietwagennutzung durch Arbeitskollegen im Auslandseinsatz.74 Bestand zwischen Geschädigtem und Schädiger kein Vertrags-, sondern ein bloßes Gefälligkeitsverhältnis (s. Rz. 16.3), kann eine stillschweigende Haftungsfreistellung (zumindest für leichte Fahrlässigkeit) nicht aus einem Verzichtsvertrag abgeleitet werden, da die Beteiligten gerade keine rechtsgeschäftliche Bindung eingehen wollten. Der Verzicht käme einer Fiktion gleich,75 für die es an der rechtlichen Grundlage fehlt.76 Eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Haftungsreduktion bei unentgeltlichen Verträgen scheitert schon an deren Uneinheitlichkeit (Ausschluss leichter Fahrlässigkeit bei der Leihe: § 599 BGB; diligentia quam in suis bei der Verwahrung: § 690 BGB; keine Reduktion beim Auftrag).77 Die Rechtsprechung stellt daher auf Billigkeitserwägungen (§ 242 BGB) ab, betont aber, dass die Unentgeltlichkeit der Überlassung und der mit einer Gefälligkeit verbundene Altruismus für sich allein die Geltendmachung von Ansprüchen aus Delikt oder Gefährdungshaftung nicht als treuwidrig oder gar rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen. Dazu bedürfe es vielmehr des Hinzutretens besonderer Umstände, die im Einzelfall dem Schadensersatzbegehren des Geschädigten ein treuwidriges Gepräge geben, so z.B., wenn die Gewährung der Gefälligkeit im besonderen Interesse des Geschädigten lag oder ein gesteigertes Haftungsrisiko barg, und dieser sich deshalb einem ausdrücklichen Ansinnen eines Haftungsverzichtes, wäre es an ihn gestellt worden, billigerweise nicht hätte verschließen können.78 Dabei wird auch dem Bestehen von Versicherungsschutz Bedeutung beigemessen (s. Rz. 22.59), wobei aber das versicherungsrechtliche Trennungsprinzip – der Versicherungsschutz folgt aus der Haftung, nicht umgekehrt – Beachtung verdient.79

22.52

Vorzug vor Vertragsfiktionen oder einer reinen Billigkeitsjudikatur verdient eine klare Rechtsfortbildung, für die die Rechtsprechung des BAG zum innerbetrieblichen Schadensausgleich (s. Rz. 22.67 ff.) als Vorbild dienen könnte:80 Auch dort wird eine Haftungsreduktion aus der nicht entgoltenen Übernahme eines fremden Schadensrisikos abgeleitet. Der Ausschluss einer Haftung des uneigennützig in fremdem Interesse Tätigen für leichte Fahrlässigkeit könnte mit diesen Begründungen auf § 276 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB gestützt werden.

22.53

73 Für Zurückhaltung auch BGH v. 13.7.1993 – VI ZR 278/92, NJW 1993, 3067 m.w.N. Allgemein zur ergänzenden Vertragsauslegung Erman/Arnold § 133 Rz. 20 ff. m.w.N. 74 BGH v. 10.2.2009 – VI ZR 28/08, NZV 2009, 279. 75 BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 49/91, NJW 1992, 2474, 2745. 76 Littbarski VersR 2004, 950, 953. 77 S. dazu Grigoleit VersR 2018, 769, 771 ff., der dennoch für eine generelle Begrenzung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit plädiert. Ähnlich Littbarski VersR 2004, 950, 956. 78 BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 49/91, NJW 1992, 2474, 2745 m.w.N.; OLG Celle v. 14.11.2012 – 14 U 70/12, NZV 2013, 292. 79 Grigoleit VersR 2018, 769, 784; Littbarski VersR 2004, 950, 956 ff. Für Haftungsprivilegierung bei freiwilliger Haftpflichtversicherung MünchKomm-BGB/Wagner vor § 823 Rz. 103. 80 So auch BGH v. 5.12.1983 – II ZR 252/82, BGHZ 89, 153 für das ehrenamtlich mit Betreuungsaufgaben beauftragte Vereinsmitglied.

Greger | 553

§ 22 Rz. 22.54 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

b) Einzelfälle 22.54

Im Straßenverkehr kommt der Gedanke eines stillschweigenden Haftungsausschlusses insbesondere bei den Gefälligkeits- und Probefahrten zum Tragen.

22.55

Zu weiteren Fällen s. Rz. 16.27 ff.; zur Haftungsreduktion bei Maßnahmen der Nothilfe s. Rz. 17.21. aa) Gefälligkeitsfahrt

22.56

Allein die Tatsache, dass der Fahrer die Unglücksfahrt im Interesse eines anderen und aus Gefälligkeit ihm gegenüber unternommen hat, rechtfertigt es grundsätzlich nicht, einen stillschweigenden Haftungsverzicht dieses anderen anzunehmen.81 Der Fahrer haftet daher auch dann für die verschuldete Verletzung eines Insassen, wenn er diesen unentgeltlich und gefälligkeitshalber mitgenommen hat; ebenso hat er i.d.R. für die schuldhafte Beschädigung eines Kfz einzustehen, das er für den Eigentümer aus Gefälligkeit an einen anderen Ort überführen oder abschleppen82 wollte. Dieser Grundsatz wird von der Rechtsprechung aber unter Hinweis auf Besonderheiten des Einzelfalles vielfach durchbrochen (zur Kritik und abweichenden Lösungsansätzen, insb. Beschränkung auf gesteigertes Verschulden, s. Rz. 22.52):

22.57

Besondere Umstände, die die Annahme eines stillschweigenden Haftungsverzichts rechtfertigen können, wurden z.B. angenommen, wenn – ein Kolonnenführer einen ihm unterstellten Arbeitskollegen beauftragt, bei der gemeinsamen Heimfahrt von der Arbeitsstelle das Steuer seines Kraftfahrzeugs zu übernehmen;83 – Halter und Fahrer sich auf der Rückfahrt aus dem gemeinsam verbrachten Urlaub am Steuer des Kraftwagens abgewechselt haben;84 – der Halter den Fahrer aus eigenem Interesse nachdrücklich mit der Führung seines Kraftfahrzeugs beauftragt, obwohl letzterer erst seit kurzem die Fahrerlaubnis besitzt und den Wagen nicht kennt;85 – Teilnehmer an einer Jeep-Safari sich auf Veranlassung des Veranstalters bereit erklären, das gemeinsam benutzte Fahrzeug statt eines vom Veranstalter gestellten Fahrers abwechselnd selbst zu steuern;86 – sich ein Mitglied einer Reisegruppe im Ausland bereit erklärt, nach dem Ausfall des vom Reiseveranstalter zu stellenden Busses einen Geländewagen zu fahren, um vorgesehene Ausflugsziele zu erreichen;87

81 BGH v. 13.7.1993 – VI ZR 278/92, NJW 1993, 3067; OLG Hamm v. 14.3.2004 – 13 U 194/04, NZV 2006, 85; Jahnke VersR 1996, 294, 300; a.A. OLG Frankfurt v. 24.6.1986 – 8 U 174/85, VersR 1987, 912 (für Sachschäden); Hoffmann AcP 167 (1967), 394. 82 OLG Celle v. 14.11.2012 – 14 U 70/12, NZV 2013, 292. 83 BGH v. 14.2.1978 – VI ZR 216/76, VersR 1978, 625 unter Abstellen auf die zum Einsatz gelangte dienstliche Autorität. 84 BGH v. 14.11.1978 – VI ZR 178/77, VersR 1979, 136 unter Abstellen auf ein gesellschaftsähnliches Verhältnis zwischen beiden, das auch in der Teilung der Unkosten seinen Ausdruck gefunden habe; einschr. OLG Celle v. 11.11.1987 – 9 U 288/86, NZV 1988, 141. 85 BGH v. 15.1.1980 – VI ZR 191/78, VersR 1980, 384; OLG Celle v. 30.1.1992 – 14 U 195/90, NZV 1993, 187; OLG München v. 17.7.1996 – 27 W 97/96, DAR 1998, 17; OLG Jena v. 11.3.1999 – 1 U 1250/98, OLG-NL 1999, 153. Sehr weitgehend OLG Saarbrücken v. 14.8.1997 – 3 U 718/96111, OLGR Saarbrücken 1998, 144. 86 OLG Hamm v. 8.6.1999 – 26 U 21/99, NZV 1999, 421. 87 OLG Köln v. 19.9.2001 – 26 U 24/01, MDR 2002, 150.

554 | Greger

III. Allgemeine Haftungsausschlüsse | Rz. 22.61 § 22 – Fahrer und Beifahrer für die gemeinsame Urlaubsfahrt in einem Land mit Linksverkehr abwechselndes Führen des Kfz verabredet hatten, der Beifahrer aber den Linksverkehr nicht bewältigen konnte und deshalb von dem Führen des Fahrzeugs Abstand nahm;88 – Mitglieder einer Festgesellschaft unentgeltlich auf dem Anhänger eines Traktors zum Veranstaltungsort befördert werden.89 Nicht ausreichend für die Annahme eines Haftungsausschlusses ist eine freundschaftliche90 oder familiäre Verbundenheit91 zwischen Fahrer und Geschädigtem (zur Stillhaltepflicht zwischen Angehörigen s. aber Rz. 22.65).

22.58

Das Bestehen von Haftpflichtversicherungsschutz – er greift bei der obligatorischen KfzHaftpflichtversicherung auch bei der Verletzung im Kfz mitgenommener Personen, nur eingeschränkt bei der Beschädigung beförderter Sachen oder eines abgeschleppten Fahrzeugs und überhaupt nicht bei der Beschädigung des versicherten Fahrzeugs oder seines Anhängers ein92 – wird als gegen einen stillschweigenden Haftungsverzicht sprechender Gesichtspunkt gewertet,93 während sein Fehlen als Argument für einen solchen angeführt wird.94 Wegen des versicherungsrechtlichen Trennungsprinzips kann der Umstand des bestehenden Versicherungsschutzes allein kein entscheidender Gesichtspunkt sein; er kann allenfalls dann Berücksichtigung finden, wenn mit Teilen der Rechtsprechung darauf abgehoben werden soll, ob sich der Geschädigte dem Wunsch des Schädigers nach einem Haftungsverzicht billigerweise hätte widersetzen können (s. Rz. 22.52). – Zum Einwand des Rechtsmissbrauchs bei bestehender Kaskoversicherung s. Rz. 25.110.

22.59

bb) Probefahrt Beschädigt der Kaufinteressent das ihm zur Probefahrt überlassene Fahrzeug eines gewerblichen Händlers, so haftet er diesem nicht, wenn nur leichte Fahrlässigkeit vorliegt und die Beschädigung in Zusammenhang mit den einer Probefahrt eigentümlichen Gefahren steht.95 Zur Begründung wird mit Recht auf einen vom Händler geschaffenen Vertrauenstatbestand verwiesen.96 Für die Verletzung des mitfahrenden Händlers hat der BGH im Hinblick auf den damals nicht bestehenden Versicherungsschutz und die Möglichkeit des Händlers, sich selbst zu versichern, einen Haftungsausschluss bejaht.97

22.60

Bei der Probefahrt mit einem Gebrauchtwagen, dessen Verkauf der Händler lediglich für den Eigentümer vermittelt, hat der BGH den Haftungsausschluss daraus hergeleitet, dass der Händler den Kaufinteressenten trotz dessen Widerstandes und offenkundiger Unsicherheit dazu gedrängt hatte, sich

22.61

88 OLG Koblenz v. 11.10.2004 – 12 U 1197/03, NZV 2005, 635 (sehr weitgehend). 89 OLG Frankfurt v. 21.6.2005 – 14 U 120/04, MDR 2006, 330; OLG Hamm v. 14.5.2007 – 13 U 34/ 07, VersR 2008, 1219 (sehr weitgehend). 90 OLG Celle v. 26.2.2016 – 14 U 148/15, DAR 2016, 463 mit Anm. Spallino. 91 BGH v. 8.1.1965 – VI ZR 234/63, BGHZ 43, 72, 76; Jahnke VersR 1996, 294, 300 m.w.N. 92 Zu Einzelheiten s. A.1.5.3 ff. AKB 2015. 93 BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 49/91, NJW 1992, 2474. Nach BGH v. 13.7.1993 – VI ZR 278/92, NJW 1993, 3067 ändert hieran auch der beschränkte Regress des Versicherers (z.B. bei Schwarzfahrt) nichts; krit. Hofmann ZfS 1993, 344; Littbarski VersR 2004, 950. 956. 94 Vgl. z.B. OLG Saarbrücken v. 14.8.1997 – 3 U 718/96-111, OLGR Saarbrücken 1998, 144. 95 BGH v. 7.6.1972 – VIII ZR 35/71, VersR 1972, 863; OLG Köln v. 26.6.1991 – 13 U 2/91, NZV 1992, 279; OLG Koblenz v. 13.1.2003 – 12 U 1360/01, NJW-RR 2003, 1185, 1186. 96 Jox NZV 1990, 53 ff. m.w.N. 97 BGH v. 18.12.1979 – VI ZR 52/78, NJW 1980, 1681.

Greger | 555

§ 22 Rz. 22.61 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen selbst ans Steuer des Wagens zu setzen.98 Sehr weitgehend hat das OLG Karlsruhe eine Wirkung des stillschweigenden Haftungsverzichts auch gegenüber einem Dritten bejaht, der sein Fahrzeug einem Händler für Vorführfahrten mit Kaufinteressenten zur Verfügung gestellt hat.99 Zur Haftung des vermittelnden Händlers gegenüber seinem Auftraggeber s. Rz. 16.20.

22.62

Wird die Probefahrt vom privaten Verkäufer eines Gebrauchtwagens gewährt, so kann, von außergewöhnlichen Fallgestaltungen abgesehen, ein Haftungsausschluss nicht bejaht werden;100 hier fährt der Interessent, wenn er bei einer Probefahrt selbst steuern will, auf eigenes Risiko. Ein Vertrauenstatbestand wie beim gewerblichen Verkäufer besteht hier nicht.101

3. Bewusste Selbstgefährdung, Handeln auf eigene Gefahr 22.63

Die Haftung eines Fahrers kann u.U. dadurch ausgeschlossen oder gemindert sein, dass der verletzte Mitfahrer sich freiwillig und bewusst einer besonders gesteigerten Unfallgefahr ausgesetzt hat (z.B. bei Mitfahren auf dem Dach des Pkw102 sowie insbesondere bei Mitfahrt trotz Trunkenheit des Fahrers). Diese Haftungsmilderung ergibt sich jedoch nicht aus einem stillschweigend vereinbarten Haftungsverzicht und – entgegen der früher in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung103 – auch nicht aus einer fingierten Einwilligung in die mögliche Verletzung, sondern ggf. aus § 254 BGB104 (Einzelheiten hierzu s. Rz. 25.47 ff.) oder aus dem Verbot eines treuwidrigen Selbstwiderspruchs (§ 242 BGB). Als widersprüchliches Verhalten kann es z.B. angesehen werden, dass der Geschädigte sich bewusst einem gesteigerten Risiko aussetzt und für dessen Verwirklichung dann einen Anderen in Anspruch nehmen will105 oder dass er bei gemeinsamen Unternehmungen mit erheblichem Gefahrenpotential (z.B. Autorennen, Trainingsfahrt im Pulk) einen Teilnehmer wegen einer leichten Fahrlässigkeit haftbar machen will, obwohl er ebenso gut in die Rolle des Schädigers hätte geraten können.106

22.64

Allein aus der Benutzung eines Verkehrsübungsplatzes107 oder der Teilnahme an einem Fahrerlehrgang108 oder an einer Motorradrallye109 kann jedenfalls ein Haftungsverzicht nicht abgeleitet werden. Eine Haftung ist dagegen zu verneinen zwischen den Teilnehmern eines Wettkampfes (z.B. eines Auto- oder Radrennens) mit nicht unerheblichem Gefahrenpotential, bei dem typischerweise auch bei Einhaltung der Wettkampfregeln oder bei geringfügiger Regelverletzung die Gefahr gegenseitiger

98 BGH v. 10.1.1979 – VIII ZR 264/76, NJW 1979, 643; krit. Stöfer NJW 1979, 2553. 99 OLG Karlsruhe v. 12.6.1987 – 14 U 283/85, DAR 1987, 380. 100 OLG Schleswig v. 3.6.1981 – 9 U 201/80, VersR 1982, 585; OLG Zweibrücken v. 27.4.1990 – 1 U 188/89, NZV 1990, 466; OLG Köln v. 20.11.1995 – 16 U 32/95, NZV 1996, 313; Rebler MDR 2014, 816, 820. 101 Jox NZV 1990, 53, 55 f. 102 OLG Koblenz v. 25.11.1991 – 12 U 1016/90, NZV 1993, 193. 103 Vgl. BGH v. 25.3.1958 – VI ZR 13/57, NJW 1958, 905 m.w.N. 104 BGH v. 14.3.1961 – VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355; BGH v. 28.3.1961 – VI ZR 170/60, VersR 1961, 518; österr. OGH v. 14.7.1999 – 7 Ob 196/99w, VersR 2001, 790, 792. Dagegen Dunz JZ 1987, 63, 65 ff: Handeln auf eigene Gefahr als Reduktion der deliktischen Verkehrspflichten des anderen. 105 BGH v. 20.12.2005 – VI ZR 225/04, VersR 2006, 416. 106 BGH v. 1.4.2003 – VI ZR 321/02, BGHZ 154, 316, 324; BGH v. 29.1.2008 – VI ZR 98/07, NJW 2008, 1591; OLG Frankfurt v. 18.8.2015 – 22 U 39/14, NJW 2015, 3522 mit Anm. Born; AG Nordhorn v. 7.5.2015 – 3 C 219/15, NJW 2015, 3524. 107 LG Fulda v. 28.1.1988 – 2 O 388/86, NZV 1988, 145. 108 OLG Karlsruhe v. 23.8.1989 – 1 U 353/88, VersR 1990, 1405. 109 OLG Koblenz v. 28.3.1994 – 12 U 845/93, NZV 1995, 21.

556 | Greger

III. Allgemeine Haftungsausschlüsse | Rz. 22.66 § 22 Schadenszufügung besteht110 ohne dass der Schutz einer Haftpflichtversicherung besteht.111 Bei einem (verbotenen) privaten Autorennen auf öffentlicher Straße fehlt es i.d.R. an der Vereinbarung von Wettkampfregeln,112 hier wird eine Haftung untereinander aber nach § 254 BGB zu verneinen sein.113 Entsprechendes gilt zwischen Motorradfahrern, die mit überhöhter Geschwindigkeit und verkürztem Sicherheitsabstand im Pulk fahren.114

4. Haftungsausschluss zwischen Angehörigen Auch Ehegatten und sonstige Angehörige haften einander grundsätzlich nach den allgemeinen Vorschriften (zum Verschuldensmaßstab s. Rz. 10.57; zur Verjährungshemmung s. Rz. 24.91). Der BGH hat jedoch aus § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB die Rechtspflicht eines Ehegatten abgeleitet, einen Schadensersatzanspruch gegen den anderen nicht geltend zu machen, solange dieser sich um einen anderweitigen Ausgleich des Schadens bemüht.115 Der Inanspruchnahme des Haftpflichtversicherers nach § 115 VVG steht dies nicht entgegen; zur Rechtslage bei Vorhandensein eines Mitschädigers s. Rz. 39.23. Die Stillhaltepflicht besteht nicht, wenn die Ehegatten schon zum Zeitpunkt des Schadensereignisses getrennt lebten.116 Trennen sich die Eheleute nach dem Schadensereignis, so entfällt sie nicht ohne weiteres.117 Für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern lässt sich eine entsprechende Haftungsbeschränkung aus § 1618a BGB herleiten;118 zudem greift u.U. die Erhöhung des Verschuldensmaßstabs nach § 1664 BGB Platz (s. Rz. 10.57).

22.65

5. Übermaßverbot Nach vereinzelt vertretener Ansicht119 kann die Geltendmachung außerordentlich hoher Schadensersatzforderungen gegen das aus der Verfassung abzuleitende Übermaßverbot verstoßen. In solchen Fällen komme daher der Rechtsmissbrauchseinwand gem. § 242 BGB in Betracht.120 Dem kann jedoch nur für extreme Fälle von Unbilligkeit zugestimmt werden, so z.B. wenn der Geschädigte auf die Schadensersatzzahlung des Schädigers nicht angewiesen ist, dieser durch sie aber in seiner wirtschaftlichen Existenz ruiniert wird. Der Schutz des Schuldners vor einer Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz ist im Allgemeinen durch den Vollstreckungsschutz gewährleistet. Außer bei vorsätzlichen Schädigungen i.S.v. § 302 Nr. 1

110 BGH v. 1.4.2003 – VI ZR 321/02, BGHZ 154, 316, 324; OLG Stuttgart v. 14.2.2006 – 1 U 106/ 05, NZV 2007, 623. 111 Sonst fehlt es nach BGH v. 29.1.2008 – VI ZR 98/07, NJW 2008, 1591 an der Treuwidrigkeit. Dagegen Seybold/Wendt VersR 2009, 455, 463 f. 112 OLG Karlsruhe v. 23.2.2012 – 9 U 97/11, NZV 2012, 585. Für stillschweigende Unterwerfung unter die bei organisierten Rennen geltenden Regeln dagegen OLG Hamm v. 12.5.1997 – 13 U 198/96, NZV 1997, 515. 113 Für anteilige Haftung bei grobem Fehlverhalten des Unfallverursachers aber OLG Karlsruhe v. 23.2.2012 – 9 U 97/11, NZV 2012, 585. 114 OLG Brandenburg v. 28.6.2007 – 12 U 209/06, NZV 2008, 246. 115 BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 110/86, NJW 1988, 1208 m.w.N. Zust. Bern NZV 1991, 449, 453. 116 BGH v. 11.3.1970 – IV ZR 772/68, BGHZ 53, 352, 356 f. 117 BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 110/86, NJW 1988, 1208; Bern NZV 1991, 449, 453. 118 Diederichsen in 25 Jahre KF (1983) S. 144. 119 Canaris JZ 1987, 993 ff.; Baumann BB 1994, 1300, 1305 ff. 120 Canaris JZ 1990, 679, 681; Goecke NJW 1999, 2305 ff.

Greger | 557

22.66

§ 22 Rz. 22.66 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

InsO121 besteht auch die Möglichkeit der Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff. InsO. Bei der Feststellung der Rechtsmissbräuchlichkeit darf auch die Präventivfunktion des Schadensersatzrechts nicht außer Acht gelassen werden. Eine generelle Haftungsreduktion bei besonders hohen Schäden wäre Sache des Gesetzgebers. Zu Recht wird die Ableitung einer Haftungsermäßigung aus der Verfassung daher im Schrifttum zumeist abgelehnt.122 In der Rechtsprechung ist die Frage noch nicht abschließend geklärt. Das BAG neigt einer Haftungsbeschränkung aus verfassungsrechtlichen Gründen zu,123 während sie der BGH ablehnt.124 Das BVerfG neigt dazu, die Lösung im einfachen Recht zu suchen.125

IV. Haftungsbeschränkungen im Arbeitsverhältnis 1. Allgemeines 22.67

Die Rechtsprechung hat aus dem Gedanken einer billigen Risikoabwägung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unabdingbare126 Grundsätze über eine Einschränkung der Haftung des Arbeitnehmers entwickelt. Die zugrunde liegende Erwägung besteht darin, dass der Arbeitnehmer das Risiko, durch leichtes Verschulden Schäden zu verursachen, die zu seiner Vergütung außer Verhältnis stehen, nicht allein tragen soll, wenn er dieses Risiko auf Veranlassung und im Interesse des Arbeitgebers übernommen hat. Zunächst war die Haftungsbeschränkung auf sog gefahrgeneigte Tätigkeiten beschränkt worden.127 Seit der Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 27.9.1994 gilt sie jedoch für alle Arbeiten, die durch den Betrieb veranlasst sind und aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden.128 Dogmatisch abgeleitet wird diese Rechtsfortbildung aus einer entsprechenden Anwendung des § 254 Abs. 1 BGB: Dem Arbeitgeber wird das Betriebsrisiko als Abwägungsgesichtspunkt bei der Haftungsverteilung zugerechnet.129 Das SchuldrechtsmodernisierungsG und das 2. SchRÄndG haben an dieser Sonderbehandlung der Arbeitnehmerhaftung nichts geändert.130

22.68

Die Haftungsmilderung gilt für Sach-, Personen- und Vermögensschäden. Sie gilt nicht nur für den vertraglichen Anspruch, sondern auch für den Anspruch aus unerlaubter Handlung.131

121 Darunter fällt nach BGH v. 21.6.2007 – IX ZR 29/06, NJW 2007, 2854 nicht die vorsätzliche Trunkenheitsfahrt nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 3 Nr. 1 StGB. 122 Vgl. Medicus AcP 192 (1992), 35, 66 ff.; Krause JR 1994, 494 ff. 123 BAG v. 27.9.1994 – GS 1/89 (A), NJW 1995, 210, 212. 124 BGH v. 19.9.1989 – VI ZR 349/88, BGHZ 108, 305, 309; BGH v. 16.12.1993 – VII ZR 115/92, NJW 1994, 856; BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 103/93, NZV 1994, 143, 144. 125 BVerfG v. 13.8.1998 – 1 BvL 25/96, VersR 1998, 1289, 1291. 126 BAG v. 5.2.2004 – 8 AZR 91/03, BAGE 109, 279. 127 St. Rspr. seit BAG (GrS) v. 25.9.1957 – GS 4/56, GS 5/56, BAGE 5, 1. 128 BAG v. 27.9.1994 – GS 1/89 (A), BAGE 78, 56; vgl. auch den Vorlagebeschluss des BAG an den GmS-OGB v. 12.6.1992 – GS 1/89, NJW 1993, 1732 und die zust. Äußerung des BGH v. 21.9.1993 – GmS-OGB 1/93, NJW 1994, 856. 129 Weiter gehende Herleitung bei Sandmann Die Haftung von Arbeitnehmern, Geschäftsführern und Leitenden Angestellten (2001) S. 51 ff. (Vertrauensschutz, Fürsorgepflicht, verfassungsrechtlich gebotene Inhaltskontrolle); ausf. Krause NZA 2003, 577 ff. 130 Richardi NZA 2002, 1004, 1009; Krause NZA 2003, 577, 578. 131 BAG v. 30.8.1966 – 1 AZR 456/65, VersR 1967, 169.

558 | Greger

IV. Haftungsbeschränkungen im Arbeitsverhältnis | Rz. 22.72 § 22

2. Voraussetzungen a) Arbeitsverhältnis Zwischen Schädiger und Geschädigtem muss ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis bestehen. Eine Aushilfstätigkeit geringen Umfangs reicht aus.132 Für beschäftigtenähnliche Personen i.S.d. § 2 Abs. 2 SGB VII sind die arbeitsrechtlichen Grundsätze der Haftungsmilderung bei Schadensersatzansprüchen des Arbeitgebers gegen Arbeitnehmer entsprechend anzuwenden.133 Nicht erfasst wird dagegen ein selbständiges Dienstverhältnis,134 also auch nicht der Geschäftsführer einer juristischen Person.135 Für Beamte gelten § 75 BBG und § 48 BeamtStG, die einen Regress des Dienstherrn nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zulassen. Ein Dritter, dem der Arbeitnehmer das Fahrzeug des Arbeitgebers überlassen hat, kann sich auf die Haftungsmilderung nicht berufen.136

22.69

b) Betriebliche Tätigkeit Der Arbeitnehmer muss den Schaden im Rahmen seiner betrieblichen Tätigkeit verursacht haben. Betrieblich veranlasst sind solche Tätigkeiten des Arbeitnehmers, die ihm arbeitsvertraglich übertragen worden sind oder die er im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb ausführt.137

22.70

Dies ist z.B. nicht der Fall, wenn der Arbeitnehmer eigenmächtig seine Arbeitspflicht überschreitet, es sei denn, dass er unverschuldet eine akute Notsituation annimmt, die sein Einspringen erforderlich macht.138 Weicht ein Kraftfahrer von der vorgeschriebenen Route ab, so verlässt er grundsätzlich den Bereich der betrieblichen Tätigkeit.139 Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn die Abweichung dazu diente, wegen Überschreitens der Höchstlenkzeit eine Erholungspause in der eigenen Wohnung einzulegen.140 Die Heimfahrt von der Arbeitsstelle ist im Regelfall keine betriebliche Tätigkeit.141

22.71

c) Keine schwere Schuld Die Haftungsmilderung greift nicht ein, wenn der Arbeitnehmer in Bezug auf Pflichtverstoß, Rechtsgutverletzung und Schaden vorsätzlich gehandelt hat.142 Grobe Fahrlässigkeit ist dagegen nach neuerer Rechtsprechung143 nur noch ein Abwägungsgesichtspunkt bei der Verteilung der Haftung (s. auch Rz. 22.75). Bei besonders grober („gröbster“) Fahrlässigkeit soll je-

132 OLG Köln v. 25.4.1990 – 13 U 267/89, VersR 1991, 78. 133 BSG v. 24.6.2003 – B 2 U 39/02 R, NJW 2004, 966, 967; krit. Waltermann NJW 2004, 901, 904; vgl. auch Krause NZA 2003, 577, 582. Zur Abgrenzung dieses Personenkreises s. Möhlenkamp VersR 2019, 200 ff. 134 BGH v. 1.2.1963 – VI ZR 271/61, NJW 1963, 1100 mit abl. Anm. Isele. 135 BGH v. 27.2.1975 – II ZR 112/72, VersR 1975, 612; a.A. Pollen BB 1984, 989; differenzierend zwischen Organisations- und Tätigkeitsrisiko Sandmann Die Haftung von Arbeitnehmern, Geschäftsführern und Leitenden Angestellten (2001) S. 338 ff. 136 LAG Köln v. 27.9.1989 – 7 Sa 264/89, VersR 1990, 1373. 137 BAG v. 5.2.2004 – 8 AZR 91/03, BAGE 109, 279. 138 BGH v. 11.9.1975 – 3 AZR 561/74, NJW 1976, 1229. 139 LAG München v. 6.7.1989 – 4 Sa 42/89, NZV 1990, 477. 140 BAG v. 21.10.1983 – 7 AZR 488/80, BAGE 44, 170. 141 Vgl. für eine Ausnahme LAG München v. 24.8.1988 – 7 (8) Sa 763/86, VersR 1989, 1170. 142 Vgl. BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 348/01, BAGE 101, 107. 143 Seit BAG v. 12.10.1989 – 8 AZR 276/88, BAGE 63, 127. S. auch BAG v. 16.3.1995 – 8 AZR 898/ 93, NZV 1995, 396; 1997, 352; LAG Nürnberg v. 18.4.1990 – 3 Sa 38/90, NZV 1991, 196.

Greger | 559

22.72

§ 22 Rz. 22.72 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

doch selbst bei sehr hohem Schaden keine Milderung möglich sein.144 In allen Fällen muss sich der Schuldvorwurf auch auf den Schadenseintritt beziehen.145

3. Einfluss von Versicherungsschutz a) Haftpflichtversicherung 22.73

Ob der Arbeitnehmer den Schutz einer Haftpflichtversicherung genießt, ist für die Haftungsmilderung – wie auch im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 254 BGB (s. Rz. 25.140) – ohne Bedeutung.146 Die Rechtsprechung lässt allerdings für den Bereich der Kfz-Pflichtversicherung die Haftungsmilderung entfallen,147 und zwar sogar dann, wenn der Arbeitnehmer nur Begünstigter aus einem geschäftsplanmäßigen Regressverzicht ist.148 Es handelt sich hierbei um einen weiteren Fall, in dem das versicherungsrechtliche Trennungsprinzip149 – die Versicherung richtet sich nach der Haftung, nicht die Haftung nach der Versicherung – von der Rechtsprechung für den Bereich der Kfz-Pflichtversicherung eingeschränkt wird (s. auch Rz. 10.80).

b) Kaskoversicherung 22.74

Bei Bestehen einer Kaskoversicherung für das vom Arbeitnehmer beschädigte Kfz des Arbeitgebers ist letzterer verpflichtet, vorrangig deren Leistungen in Anspruch zu nehmen. Bei grober Fahrlässigkeit kann der Versicherer allerdings in Höhe des gem. § 86 Abs. 1 VVG auf ihn übergegangenen (ermäßigten) Schadensersatzanspruchs des Arbeitgebers Rückgriff nehmen. – Das Nichtbestehen einer Kaskoversicherung kann bei der Schadensabwägung zu Lasten des Arbeitgebers ins Gewicht fallen und dazu führen, dass der Arbeitnehmer nur in Höhe einer Selbstbeteiligung haftet, die bei Abschluss einer Kaskoversicherung zu vereinbaren gewesen wäre.150 Bei grober Fahrlässigkeit kann dieser Abwägungsgesichtspunkt jedoch nicht zum Tragen kommen, weil in diesen Fällen der Regress des Versicherers nach § 86 Abs. 1 VVG die auf ihn gestützte Haftungsmilderung obsolet machen würde.

4. Wirkung der Haftungsmilderung a) Abwägung 22.75

Nach der früheren Rechtsprechung richtete sich der Umfang der Haftungsmilderung nach dem Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers. Bei grober Fahrlässigkeit sollte er i.d.R. voll, bei ganz leichter Fahrlässigkeit überhaupt nicht und im Bereich dazwischen quotenmäßig haften.151 Auch diese „Haftungstrias“ hat der Große Senat des BAG im Beschluss vom 27.9.1994152 aufgegeben: Ob und ggf. in welchem Umfang der Arbeitnehmer an den Schadensfolgen zu be-

144 145 146 147 148 149 150 151 152

BAG v. 25.9.1997 – 8 AZR 288/96, NZA 1998, 310. BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 348/01, BAGE 101, 107; krit. Halm/Steinmeister DAR 2005, 482 f. BAG v. 25.9.1997 – 8 AZR 288/96, NZA 1998, 310. BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 378/90, BGHZ 116, 200; BAG v. 11.1.1966 – 1 AZR 361/65, VersR 1966, 571. BGH v. 5.2.1992 – IV ZR 340/90, BGHZ 117, 151. Vgl. hierzu v Bar AcP 181 (1981) 289 ff.; Gärtner BB 1993, 1454 ff. BAG v. 24.11.1987 – 8 AZR 66/82, NJW 1988, 2820. BAG (GrS) v. 25.9.1957 – GS 4/56, GS 5/56, BAGE 5, 1. BAG v. 27.9.1994 – GS 1/89 (A), BAGE 78, 56; bestätigt in BAG v. 16.3.1995 – 8 AZR 898/93, NZV 1995, 396. Vgl. auch Hanau/Rolfs NJW 1994, 1439, 1441.

560 | Greger

IV. Haftungsbeschränkungen im Arbeitsverhältnis | Rz. 22.78 § 22

teiligen ist, soll allein im Rahmen einer Abwägung der Gesamtumstände, insbesondere von Schadensanlass und Schadensfolgen, nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten ermittelt werden. Zu den Umständen, denen je nach Lage des Einzelfalles ein unterschiedliches Gewicht beizumessen ist und die im Hinblick auf die Vielfalt möglicher Schadensursachen auch nicht abschließend bezeichnet werden können, gehören der Grad des dem Arbeitnehmer zur Last fallenden Verschuldens, die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Höhe des Schadens, ein vom Arbeitgeber einkalkuliertes oder versicherbares Risiko, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb und die Höhe des Arbeitsentgelts sowie eine möglicherweise darin enthaltene Risikoprämie. Auch können u.U. die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers, wie die Dauer seiner Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse und sein bisheriges Verhalten, zu berücksichtigen sein.

22.76

Eine summenmäßige Begrenzung der Haftung (etwa in Bezug auf das Monatseinkommen) wird zwar im Schrifttum verschiedentlich befürwortet und bei den Instanzgerichten möglicherweise auch unausgesprochen praktiziert;153 mit der Forderung des BAG nach einer Gesamtabwägung ist sie indessen nicht vereinbar.154 Bei deutlichem Missverhältnis zwischen Verdienst und Schadensrisiko kann auch bei grober Fahrlässigkeit eine Haftungserleichterung angezeigt sein.155

22.77

b) Schädigungen Dritter Bei Schädigung eines Dritten bleibt die Haftung des Arbeitnehmers unberührt.156 Er haftet daher voll, wenn er ein vom Arbeitgeber geleastes Fahrzeug157 oder Transportgut eines Dritten beschädigt.158 Dies gilt im Grundsatz auch bei der Verletzung einer Verkehrs- oder Verkehrssicherungspflicht159 (s. Rz. 13.16). Ggf. kann sich der Arbeitnehmer jedoch auf haftungsbeschränkende Geschäftsbedingungen oder eine ergänzende Vertragsauslegung im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Drittem berufen.160 Außerdem hat er einen Freistellungsanspruch gegen den Arbeitgeber (s. Rz. 16.41). Diesen kann der Geschädigte im Wege der Zwangsvollstreckung pfänden und sich überweisen lassen; er verwandelt sich dann in einen Zahlungs-

153 Vgl. hierzu Hanau/Rolfs NJW 1994, 1442 unter Hinweis auf LAG Nürnberg v. 18.4.1990 – 3 Sa 38/90, NZV 1991, 196, 197. 154 So auch BAG v. 16.3.1995 – 8 AZR 260/94, NZV 1995, 397; BAG v. 23.1.1997 – 8 AZR 893/95, NZV 1997, 352; Halm/Steinmeister DAR 2005, 482, 483. 155 BAG v. 23.1.1997 – 8 AZR 893/95, NZV 1997, 352. 156 BGH v. 19.9.1989 – VI ZR 349/88, BGHZ 108, 305 BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 103/93, NZV 1994, 143 mit umfangreichem Nachweis der Gegenstimmen im Schrifttum; Lepa NZV 1997, 137, 140; Sandmann Die Haftung von Arbeitnehmern, Geschäftsführern und Leitenden Angestellten (2001), S. 156 ff. Im Grundsatz ebenso mit Vorschlägen zur Abmilderung Krause VersR 1995, 752 ff. 157 BGH v. 19.9.1989 – VI ZR 349/88, BGHZ 108, 305. 158 BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 103/93, NZV 1994, 143 gegen OLG Celle v. 28.1.1993 – 5 U 2/92, NZV 1993, 395. 159 Zu möglichen Einschränkungen Sandmann Die Haftung von Arbeitnehmern, Geschäftsführern und Leitenden Angestellten (2001) S. 214 ff. 160 BGH v. 19.9.1989 – VI ZR 349/88, BGHZ 108, 305; BGH v. 21.12.1993 – VI ZR 103/93, NZV 1994, 143. Eingehend hierzu Baumann BB 1994, 1300, 1302; Krause VersR 1995, 752, 753.

Greger | 561

22.78

§ 22 Rz. 22.78 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

anspruch gegen den Arbeitgeber.161 Dass der Arbeitnehmer bei Insolvenz des Arbeitgebers u.U. voll verhaftet bleibt, ist unbefriedigend, aber de lege lata nicht zu umgehen.162

c) Gesamtschuldnerausgleich 22.79

Zur Wirkung der Haftungsbeschränkung bei Mithaftung eines nicht privilegierten Schädigers s. Rz. 39.20.

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung 1. Allgemeines 22.80

Das auf den individuellen Schadensausgleich gerichtete Haftungsrecht wird in weiten Bereichen durch ein sozialstaatliches Versorgungssystem, die Gesetzliche Unfallversicherung nach SGB VII, überlagert. Dieses soll sicherstellen, dass das Unfallopfer vollständig, kurzfristig und ohne den Aufwand und die Risiken eines Vorgehens gegen den Schädiger von den bei Körperschäden oft existenzbedrohenden Unfallfolgen entlastet wird. Die Sozialleistungen sollen jedoch weder dem Geschädigten eine doppelte Entschädigung163 noch dem Schädiger eine ungerechtfertigte Entlastung verschaffen.164 Eine Lösung dieses Problems über den Rechtsgedanken des Vorteilsausgleichs wäre wenig systemgerecht, da die teilweise durch Beiträge des Geschädigten oder seines Arbeitgebers finanzierten Sozialleistungen nicht der Entlastung des Schädigers zu dienen bestimmt sind.

22.81

Der Gesetzgeber hat die Konkurrenz der beiden Entschädigungssysteme durch einen gesetzlichen Übergang der Schadensersatzforderung auf den Leistungsträger geregelt (s. Rz. 35.110 ff.). Der Geschädigte kann dadurch den Schädiger nicht unmittelbar in Anspruch nehmen, sondern ist auf die Leistungen dieses kollektiven, u.U. auch vom potentiell Ersatzpflichtigen mitfinanzierten Entschädigungssystems beschränkt. Die Regelung wirkt sich damit als Haftungsprivileg für den Schädiger und – da auch durch die Unfallversicherung nicht abgedeckte Schadenspositionen abgeschnitten werden – zu Lasten des Geschädigten aus. Nur in Grenzbereichen wird diese fragwürdige Regelung abgemildert: So bleiben bei vorsätzlicher Schadensverursachung sowie bei versicherten Wegeunfällen u.U. die Ansprüche gegen den Ersatzpflichtigen erhalten (s. Rz. 22.85), und bei vorsätzlicher bzw. grob fahrlässiger Herbeiführung des Unfalls relativiert sich das Haftungsprivileg insofern, als der Schädiger dem Regress des Versicherungsträgers ausgesetzt bleibt (s. Rz. 35.120 ff.).

22.82

Der Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz kommt im Bereich der Straßenverkehrshaftung erhebliche Bedeutung zu, weil die Teilnahme am Straßenverkehr in weitem Umfang unter dem Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung steht: Nicht nur beruflich bedingte

161 BGH v. 22.1.1954 – I ZR 34/53, BGHZ 12, 136, 141; BAG v. 18.1.1966 – 1 AZR 247/63, AP 37 zu § 611 BGB-Haftung des Arbeitnehmers mit Anm. Hueck. 162 Ebenso Gitter NZV 1990, 415; der von ihm aufgezeigte Weg, den Arbeitgeber durch Zurückhalten der Arbeitsleistung zum Abschluss einer Versicherung zu bewegen, erscheint wenig praktikabel. 163 Zum Überentschädigungsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz des deutschen Schadensrechts s. Rz. 1.24. 164 BGH (GrS) v. 30.3.1953 – GSZ 1 bis 3/53, BGHZ 9, 179 mit eingehender Dokumentation der Gesetzesmaterialien.

562 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.84 § 22

Fahrten (s. Rz. 22.84 ff.), sondern auch solche im schulischen (s. Rz. 22.144 ff.) oder gemeinnützigen (s. Rz. 22.143) Bereich, selbst zu privaten Hilfeleistungen (z.B. bei Unglücksfällen, zum Blutspenden oder zu Selbsthilfearbeiten am Familienheimbau) und ebenso die Pannenhilfe zwischen Autofahrern (s. Rz. 22.154) fallen darunter165 (zum weiten Unternehmerbegriff des Unfallversicherungsrechts s. Rz. 22.93). Jeder Unfallverletzte (im Fall der Unfallhilfe sogar der nur an Sachwerten Geschädigte166) muss sich daher die Frage stellen, ob er nicht wegen des besonderen Anlasses des Unfallereignisses Ansprüche gegen die Gesetzliche Unfallversicherung erworben hat. Diese sind meist leichter zu realisieren und verschaffen oft eine höhere Entschädigung als das Vorgehen gegen einen anderen Unfallbeteiligten. Zudem könnte sich der Unfallgegner u.U. auf den gesetzlichen Ausschluss seiner Haftung (s. Rz. 22.84 ff.) berufen, ein Mitverantwortlicher auf seine Haftungsermäßigung nach den Regeln des gestörten Gesamtschuldverhältnisses (s. Rz. 22.87) Die unterlassene Prüfung von Ansprüchen gegen die Gesetzliche Unfallversicherung führt nicht selten auch zu deren Verjährung (§ 45 SGB I), so dass sich die Frage eines Regresses gegen den auf Basis des Haftungsrechts regulierenden Rechtsanwalt stellt.

2. Rechtsgrundlagen Die unfallversicherungsrechtliche Haftungsersetzung war ursprünglich in §§ 636 ff. RVO geregelt. Durch Gesetz vom 7.8.1996 (BGBl. I 1996, 1254 ff.) wurde die Regelung mit Wirkung vom 1.1.1997 in §§ 104 ff. SGB VII übernommen.167

22.83

3. Haftungsausschluss zugunsten des Unternehmers bei Arbeitsunfall a) Überblick § 104 Abs. 1 SGB VII schließt die Haftung des Unternehmers (Arbeitgebers) für die bei einem Arbeitsunfall erlittenen Personenschäden aus. Derartige Schäden sollen allein durch die Gesetzliche Unfallversicherung abgedeckt werden, die einen von Verschulden und (durch Abstellen auf die abstrakte Minderung der Erwerbsfähigkeit) weithin auch vom konkreten Schadensnachweis unabhängigen Anspruch gewährt. Wenngleich hinter dieser Regelung das gesetzgeberische Motiv steht, die Arbeitnehmer durch Einräumung eines Anspruchs gegen einen stets zahlungsfähigen Schuldner vor den wirtschaftlichen Folgen von Arbeitsunfällen zu schützen,168 wirkt die von ihr bewirkte Haftungsersetzung doch auch zu Lasten der Geschädigten, z.B. indem sie auch dann eingreift, wenn kein Anspruch auf Rente aus der Gesetzlichen Unfallversicherung besteht oder wenn der Arbeitnehmer einen – dem Unfallversicherungsrecht unbekannten – Anspruch auf Schmerzensgeld hätte. Die Regelung wird daher auch mit dem Zweck gerechtfertigt, Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu verhindern. Zusätzlich wird auf die Erwägung abgestellt, dass die Arbeitgeber durch ihre alleinige Beitragspflicht die Gesetzliche Unfallversicherung finanzieren und damit kollektiv für einen Schadensausgleich sorgen.169 Ob diese weithin Unverständnis auslösende Regelung, die häufig unnötige, weil nur um die Passivlegitimation des Schädigers geführte Prozesse ver-

165 Vgl. § 2 Abs. 1 SGB VII bzw § 539 Abs. 1 RVO a.F. Eingehend hierzu Krasney NZV 1989, 369; zur Reichweite der Gesetzlichen Unfallversicherung Waltermann NJW 2004, 901 ff.; Jahnke NZV 1996, 297; zur Unfall- und Pannenhilfe Dornwald DAR 1992, 54. 166 § 13 SGB VII bzw § 765a RVO a.F. 167 Zu der für Altfälle fortgeltenden Rechtslage nach §§ 636 RVO s. 5. Aufl. 168 Lepa VersR 1985, 8, 9 m.w.N. der Gesetzesmaterialien. 169 BT-Drucks. IV/120, 62.

Greger | 563

22.84

§ 22 Rz. 22.84 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

ursacht, noch zeitgemäß ist, darf bezweifelt werden.170 Ihre Verfassungsmäßigkeit (im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG) wurde vom BVerfG bejaht, weil das Ausgleichssystem der Gesetzlichen Unfallversicherung mit anderen Schadensersatzregelungen nicht vergleichbar ist .171 Nach Ansicht des BGH172 kommt ihr so großes Gewicht zu, dass ein den Haftungsausschluss übergehendes ausländisches Urteil wegen Verstoßes gegen den ordre public nicht anerkennungsfähig ist. Durch § 105 Abs. 2 SGB VII wurde sie gegenüber dem früheren Recht (in Bezug auf Schäden des Arbeitgebers) noch ausgeweitet.

22.85

Eingeschränkt ist der Haftungsausschluss, wenn der Unternehmer den Arbeitsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat (vgl. Rz. 22.115) sowie bei bestimmten Wegeunfällen (§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII; s. hierzu Rz. 22.116 ff.). In diesen Fällen ist die Haftung lediglich in der Höhe ausgeschlossen, in der die Sozialversicherung dem Verletzten (oder seinen Angehörigen oder Hinterbliebenen) Ersatz leistet (§ 104 Abs. 3 SGB VII); für den darüber hinausgehenden Schaden, insbesondere für das Schmerzensgeld, haftet der Unternehmer dem Verletzten und den übrigen Schadensersatzberechtigten. Ein Übergang dieser Ansprüche auf den Sozialversicherer nach § 116 SGB X findet nicht statt (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).173 Im Übrigen ist der Schädiger bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit dem Rückgriff des Sozialversicherers nach § 110 SGB VII ausgesetzt (s. Rz. 35.110 ff.).

b) Umfang des Haftungsausschlusses 22.86

Der (unbeschränkte) Haftungsausschluss erfasst alle aus dem Arbeitsunfall erwachsenen Ansprüche des Verletzten sowie seiner Angehörigen und Hinterbliebenen (s. Rz. 22.95) aus Personenschaden, d.h. Verletzung oder Tötung des Versicherten.174 Schockschäden Angehöriger fallen nicht darunter,175 wohl aber mittelbare Vermögensschäden wie z.B. Verdienstausfall,176 Aufwendungen für Pflegeleistungen und Krankenbesuche durch Angehörige,177 Beerdigungskosten178 sowie Ansprüche aus ausländischem Recht.179 Es ist gleich, ob die Ansprüche auf Delikt, Vertrag oder Gefährdungshaftung beruhen. Ausgeschlossen sind auch Ansprüche auf Schmerzensgeld180 oder Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB,181 desgleichen Ansprüche für Zeiträume, für die eine Rente noch nicht gewährt wird.182 Der Haftungsausschluss greift sogar dann ein, wenn der Verletzte keine Rente erhält, z.B. weil seine Erwerbsfähigkeit um weniger als 20 % gemindert ist (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).183 Lediglich solche Ansprüche sind nicht ausgeschlossen, die sich auf Schäden oder Schadensgruppen beziehen, die das 170 Für Abschaffung Fuchs in FS Gitter (1995) S. 256. 171 BVerfG v. 7.11.1972 – 1 BvL 4/71, BVerfGE 34, 118; BVerfG v. 8.2.1995 – 1 BvR 753/94, NJW 1995, 1607. 172 BGH v. 16.9.1993 – IX ZB 82/90, BGHZ 123, 268. Abl. hierzu Haas ZZP 108 (1995) 219, 224 ff. 173 BGH v. 25.10.2005 – VI ZR 334/04, VersR 2006, 221. 174 BAG v. 10.10.2002 – 8 AZR 103/02, VersR 2003, 740. 175 BGH v. 6.2.2007 – VI ZR 55/06, NZV 2007, 453. 176 BGH v. 8.3.2012 – III ZR 191/11, VersR 2012, 724. 177 OLG Stuttgart v. 2.3.1998 – 5 U 190/97, OLGR Stuttgart 1998, 159. 178 BAG v. 24.5.1989 – 8 AZR 240/87, NJW 1989, 2838. 179 BGH v. 16.9.1993 – IX ZB 82/90, BGHZ 123, 268. 180 BGH v. 25.10.1951 – III ZR 165/50, BGHZ 3, 298; BAG v. 8.12.1970 – 1 AZR 81/70, VersR 1971, 528. Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung BVerfG v. 7.11.1972 – 1 BvL 4/71, BVerfGE 34, 118; für Neubeurteilung aufgrund § 253 Abs. 2 BGB n.F. Richardi NZA 2002, 1004, 1009. 181 Burmann/Jahnke, NZV 2017, 401, 408. 182 Geigel/Wellner Kap. 31 Rz. 15. 183 Geigel/Wellner Kap. 31 Rz. 19.

564 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.88 § 22

Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung überhaupt nicht regeln will. Insbesondere kann der Versicherte seinen Sachschaden gegen den Unternehmer geltend machen.184 Davon ausgenommen sind aber Schadensersatzansprüche wegen einer Beschädigung von Körperersatzstücken und orthopädischen Hilfsmitteln (Gebiss, Prothese ua), wenn diese bei der versicherten Tätigkeit (nicht notwendigerweise während ihrer Benutzung) erfolgt ist,185 denn auch insoweit hat der Sozialversicherungsträger aufzukommen.186 Den Haftungsausschluss muss ein Sozialversicherungsträger, auf den die Schadensersatzansprüche des Geschädigten übergegangen sind (§ 116 SGB X), gegen sich gelten lassen.187

c) Wirkung im Gesamtschuldverhältnis Ist neben dem Unternehmer ein weiterer Schädiger gesamtschuldnerisch für den Schaden verantwortlich, so darf die Privilegierung nicht dadurch hinfällig werden, dass der Geschädigte sich beim Zweitschädiger schadlos hält und dieser anteilig Regress nach § 426 BGB beim Arbeitgeber nimmt. In der Rechtsprechung ist daher seit langem anerkannt, dass die Haftungsfreistellung auch dem Regress des Mitschädigers entgegengehalten werden kann (s. Rz. 39.19).188 Die Konsequenz dieser Rechtsprechung war jedoch, dass der Zweitschädiger, obwohl nur Gesamtschuldner, den Schaden endgültig voll tragen musste. Der BGH beseitigte sie zunächst für den Fall, dass der Ersatzanspruch des Verletzten auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen war, indem er dessen Anspruch entsprechend kürzte.189 Nunmehr gilt grundsätzlich, dass der Zweitschädiger dem Geschädigten nur auf den Betrag haftet, der im Verhältnis zum privilegierten Erstschädiger auf ihn entfiele, wenn der Ausgleich nach § 426 BGB nicht durch das Haftungsprivileg verhindert würde (gestörter Gesamtschuldnerausgleich).190 Jedoch ist zu beachten, dass die Grundsätze über den gestörten Gesamtschuldnerausgleich dann nicht zur Anwendung kommen können, wenn Geschädigter und privilegierter Erstschädiger als Zurechnungseinheit (s. Rz. 25.146) für denselben Verursachungsbeitrag verantwortlich sind.191 Ob ein versicherter Arbeitsunfall vorliegt, ist auch dann, wenn es um die mittelbare Auswirkung auf die Haftung des Zweitschädigers geht, gem. § 108 SGB VII (s. Rz. 22.112) im Sozialverwaltungs- bzw. -gerichtsverfahren zu entscheiden.192

22.87

Besteht zwischen den Gesamtschuldnern eine vertragliche Abrede, wonach der privilegierte Teil den anderen von einer etwaigen Haftung freizustellen hat, so kann dies nach vorstehenden Grundsätzen dazu führen, dass der Geschädigte völlig leer ausgeht.193 Dies hält der BGH indessen zu Recht nur dann für hinnehmbar, wenn die vertragliche Haftungsverteilung „Ausdruck der nach den Verhältnissen gegebenen Haftungszuständigkeiten der Beteiligten ist“, es sich also um eine Vereinbarung handelt, „durch die die Rollen der Beteiligten in Bezug auf die Schadensverhütung und damit die Gewichte ihres Beitrags an der Schadensentstehung

22.88

184 185 186 187 188 189 190 191 192 193

BGH v. 19.5.1969 – VII ZR 9/67, BGHZ 52, 115. BT-Drucks. 13/2204, 77. § 27 Abs. 1 Nr. 4, §§ 31, 8 Abs. 3 SGB VII. BGH v. 10.12.1974 – VI ZR 73/73, BGHZ 63, 313, 315. BGH v. 10.1.1967 – VI ZR 77/65, VersR 1967, 250. BGH v. 29.10.1968 – VI ZR 137/67, BGHZ 51, 37; BGH v. 2.5.1972 – VI ZR 47/71, BGHZ 58, 355. BGH v. 12.6.1973 – VI ZR 163/71, BGHZ 61, 51; BGH v. 18.11.2014 – VI ZR 47/13, BGHZ 203, 224. BGH v. 16.4.1996 – VI ZR 79/95, NZV 1996, 359, 360. BGH v. 30.5 2017 – VI ZR 501/16, VersR 2017, 1014. Vgl. BGH v. 17.2.1987 – VI ZR 81/86, NJW 1987, 2669.

Greger | 565

§ 22 Rz. 22.88 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

verteilt“ werden,194 etwa in einem Fall zulässiger Übertragung der Verkehrssicherungspflicht. Fehlt es an einer solchen Konkordanz mit der tatsächlichen Pflichtenstellung, soll also der Zweitschädiger ausschließlich von den Folgen seiner Haftung freigestellt werden, so muss einer solchen Freistellungsabsprache eine Wirkung gegenüber dem Geschädigten im gestörten Gesamtschuldverhältnis abgesprochen werden.195

22.89

Geht die Abrede zwischen den Schädigern hingegen dahin, dass der (nicht privilegierte) Zweitschädiger allein haften soll, so kann er nicht unter Berufung auf die Privilegierung des anderen eine Kürzung seiner Schadensersatzpflicht gegenüber dem Geschädigten geltend machen, denn seine volle Haftung beruht hier nicht auf den Besonderheiten des gestörten Gesamtschuldverhältnisses, sondern auf der von ihm eingegangenen Absprache.196

22.90

Ist neben dem Unternehmer auch ein gem. § 105 SGB VII haftungsprivilegierter Mitarbeiter für den Schaden verantwortlich, kann sich aufgrund der BGH- Rechtsprechung zur gemeinsamen Betriebsstätte gem. § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII (Rz. 22.125 ff.) die Situation ergeben, dass sich im Außenverhältnis nur der Arbeitnehmer, nicht der Unternehmer, auf Haftungsbefreiung berufen kann (s. Rz. 22.128). Nach den dargestellten Grundsätzen kann es dann zu einer Kürzung der Ansprüche des Geschädigten gegen den Unternehmer kommen, die – bei alleiniger Verantwortung des Mitarbeiters im Innenverhältnis – zum vollen Haftungsausschluss führt.197 Dass der Arbeitgeber nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs den Arbeitnehmer von seiner Haftung (wäre sie nicht nach § 105 SGB VII ausgeschlossen) frei zu stellen hätte (s. Rz. 16.41), muss hierbei außer Betracht bleiben, da der Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers nur die interne Schadensabnahme betrifft.198 Die Rechtsprechung des BGH zum Nichteingreifen des Haftungsprivilegs nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII beim nicht selbst auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätigen Unternehmer (s. Rz. 22.128) wird dadurch nicht relativiert, da dessen Haftung im Rahmen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses regelmäßig in den Fällen erhalten bleibt, in denen ihn nicht nur eine Haftung wegen vermuteten Auswahl- und Überwachungsverschuldens nach § 831 BGB, sondern eine eigene „Verantwortlichkeit“ zur Schadensverhütung (z.B. wegen Verkehrssicherungspflichtverletzung oder Organisationsverschuldens) trifft.199 Die Haftungsfreistellung des nicht selbst auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätigen Unternehmers wegen Störung des Gesamtschuldverhältnisses mit einem nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII privilegierten Verrichtungsgehilfen setzt daher voraus, dass der Verrichtungsgehilfe nachweislich schuldhaft gehandelt hat.200

22.91

Die Inanspruchnahme einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts bei Schädigung durch einen auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätigen Gesellschafter, für welchen die Haftungsprivilegie-

BGH v. 23.1.1990 – VI ZR 209/89, BGHZ 110, 114 = JZ 1990, 384 mit Anm. Selb. S. auch Denck NZA 1988, 265, 266 ff. BGH v. 23.1.1990 – VI ZR 209/89, BGHZ 110, 114 = JZ 1990, 384 mit Anm. Selb. BGH v. 11.11.2003 – VI ZR 13/03, BGHZ 157, 9; BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 25/04, BGH NZV 2005, 515; BGH v. 30.5.2017 – VI ZR 501/16 Rz. 21, VersR 2017, 1014. Eingehend Stöhr VersR 2004, 809, 814. 198 BGH v. 11.11.2003 – VI ZR 13/03, BGHZ 157, 9; BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 25/04, NZV 2005, 515; Imbusch VersR 2001, 1485, 1488 ff.; a.A. Otto NZV 2002, 10, 15. 199 BGH v. 11.11.2003 – VI ZR 13/03, BGHZ 157, 9; BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 25/04, NZV 2005, 515; Otto NZV 2002, 10, 16; Imbusch VersR 2001, 1485, 1488. 200 BGH v. 10.5.2005 – VI ZR 366/03, NJW 2005, 2309.

194 195 196 197

566 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.95 § 22

rung nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII greift, kann ebenfalls nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses ausgeschlossen sein.201

d) Einfluss der Haftpflichtversicherung Der Haftungsausschluss gilt auch dann, wenn der Ersatzpflichtige haftpflichtversichert ist.202 Haben Haftpflichtversicherer ein Schadenteilungsabkommen geschlossen und ist darin vereinbart, dass die Teilung ohne Prüfung der Haftungsfrage zu erfolgen hat, so ist auch nicht zu prüfen, ob §§ 104 f. SGB VII anzuwenden sind (s. Rz. 15.60). Dasselbe gilt für eine Abrede, wonach der „Einwand der mangelnden zivilrechtlichen Übergangsfähigkeit zulässig“ sein soll.203

22.92

e) Begriff des Unternehmers Unternehmer i.S.d. § 104 SGB VII ist diejenige natürliche oder juristische Person oder rechtsfähige Personenvereinigung oder -gemeinschaft, der das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht (§ 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII). Dabei versteht das SGB unter Unternehmen nicht nur Betriebe, Verwaltungen oder Einrichtungen, sondern auch Tätigkeiten wie z.B. das Halten eines Kfz (§ 128 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII). Auch Privatpersonen können demnach Unternehmer sein, sofern ihre Tätigkeit mit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses erbrachten Arbeiten vergleichbar ist (s. Rz. 22.110).

22.93

Mehrere Personen sind nur dann Unternehmer, wenn sie am Gewinn und Verlust teilnehmen; bei Kommanditgesellschaften sind dies nur die persönlich haftenden Gesellschafter.204 Die juristische Person ist selbst Unternehmer, nicht ihr gesetzlicher Vertreter; jedoch kann ein Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH wie ein Unternehmer tätig sein.205 Ist der Betrieb verpachtet, so ist der Pächter Unternehmer. Beruht ein Unfall auf einer Pflichtwidrigkeit des Unternehmers, der sein Unternehmen schon vor dem Unfall veräußert hatte, so tritt der Haftungsausschluss nicht ein.206 Im Übrigen wird auch über die Frage, wer Unternehmer ist, im Bescheid des Versicherungsträgers bzw. im Urteil des Sozialgerichts nach § 108 SGB VII bzw. § 638 Abs. 1 RVO a.F. mit Bindungswirkung für den Schadensersatzprozess entschieden (s. Rz. 22.113).

22.94

f) Erfasste Personen Vom Haftungsausschluss erfasste Verletzte sind die nach § 2 SGB VII gesetzlich Unfallversicherten, Personen, auf die die Satzung der Berufsgenossenschaft die Versicherungspflicht ausgedehnt hat, sowie der freiwillig versicherte Unternehmer.207 Versicherungsfreie Personen nach §§ 4, 5 SGB VII gehören nicht dazu. Einbezogen in den Haftungsausschluss sind auch die Hinterbliebenen des Versicherten, d.h. Witwe bzw. Witwer (§ 65 SGB VII), frühere Ehe-

201 202 203 204 205 206 207

BGH v. 24.6.2003 – VI ZR 434/01, BGHZ 155, 205. BGH v. 29.1.1963 – VI ZR 67/62, NJW 1963, 654 mit Anm. Seydel. BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 79/76, VersR 1978, 150. BGH v. 19.9.2017 – VI ZR 497/16, VersR 2017, 1533. BSG v. 29.6.1972 – 2 RU 238/68, NJW 1973, 167. BGH v. 11.1.1966 – VI ZR 185/64, NJW 1966, 653. BGH v. 17.6.2008 – VI ZR 257/06, BGHZ 177, 97 = NJW 2008, 2916 mit Bespr. Waltermann 2895.

Greger | 567

22.95

§ 22 Rz. 22.95 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

gatten (§ 66 SGB VII), Waisen (§ 67 SGB VII) und Eltern (§ 69 SGB VII), sowie Angehörige, denen nach dem Haftungsrecht Ansprüche zustünden (z.B. nach § 845 BGB).

22.96

Die Versicherteneigenschaft muss im Unfallzeitpunkt bestanden haben;208 eine frühere Zugehörigkeit zur Gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund einer Tätigkeit im selben Unternehmen kann keinen Haftungsausschluss begründen, auch nicht beim Regress eines Sozialversicherungsträgers.209

g) Erfasste Tätigkeiten 22.97

Unter den Unfallversicherungsschutz (und damit das Haftungsprivileg des Unternehmers) fällt jede ernstliche, dem Unternehmen dienende Tätigkeit, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen210 des Unternehmers entspricht und in einem inneren oder ursächlichen Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit steht.211 Unerheblich ist, ob ein objektiver Nutzen aus der Arbeit entstanden ist.212 Der Unternehmer des Unfallbetriebs braucht von ihr keine Kenntnis zu haben.213 Auf eine Weisungsbefugnis des Unternehmers kommt es nicht an.214

22.98

Unter die Vorschrift fällt z.B. auch der Ehemann einer Heimarbeiterin, der ihre Produkte zum Arbeitgeber fährt,215 sowie ein Freigänger;216 nicht aber ein Schüler im Rahmen eines Betriebspraktikums217 (s. aber Rz. 22.147) und nicht ein frei praktizierender Arzt, der sich im Rahmen eines unabhängigen Dienstvertrags zu Einsätzen im Rettungsdienst verpflichtet hat.218 Die Vorschrift schließt auch Ansprüche verbotswidrig Beschäftigter aus, z.B. von Kindern.219 Dies gilt sogar dann, wenn der Unternehmer von der Mithilfe des Jugendlichen in seinem Betrieb nichts wusste, dieser aber vorübergehend in den Betrieb eingegliedert war.220

22.99

Es genügen bereits vorübergehende, selbst spontane Hilfeleistungen,221 sofern sie für das betreffende Unternehmen typisch sind und sich nicht etwa im Bereich allgemeiner Nothilfe bewegen222 oder aus rein eigenwirtschaftlichem Interesse erbracht werden.223

22.100

Der Verletzte muss sich dem Unfallbetrieb aber in gewisser Weise eingegliedert haben, damit er „wie“ dessen Beschäftigter i.S.d. § 2 Abs. 2 SGB VII behandelt werden kann. Es reicht nicht, wenn er sich nur in loser Form in dessen Arbeitsvorgänge einschaltet, z.B. als zuschauender oder minimale Handreichungen leistender Kunde,224 oder wenn er eine Gefälligkeitshandlung BGH v. 21.6.1983 – VI ZR 276/81, VersR 1983, 859. BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 288/96, BGHZ 136, 78. BSG v. 28.5.1957 – 2 RU 150/55, VersR 1958, 337. BSG v. 30.4.1985 – 2 RU 24/84, BSGE 58, 76; BSG v. 20.1.1987 – 2 RU 27/86, VersR 1988, 1254. BGH v. 16.12.1958 – VI ZR 251/57, VersR 1959, 109. BGH v. 14.12.1965 – VI ZR 153/64, VersR 1966, 182. BGH v. 9.7.1996 – VI ZR 155/95, NZV 1996, 405. OLG Hamm v. 4.2.1993 – 6 U 152/92, r+s 1993, 380, 381. BGH v. 9.11.1982 – VI ZR 87/81, VersR 1983, 261. BGH v. 3.4.1984 – VI ZR 288/82, VersR 1984, 652. BGH v. 21.3.1991 – III ZR 77/90, NZV 1991, 347. BGH v. 29.1.1980 – VI ZR 125/79, NJW 1980, 1796. LSG Schleswig v. 5.9.1967 – L 5 U 85/66, VersR 1968, 147. BGH v. 21.4.1983 – III ZR 2/82, VersR 1983, 856; BGH v. 28.10.1986 – VI ZR 181/85, VersR 1987, 384; BGH v. 11.10.1988 – VI ZR 67/88, NZV 1989, 70. 222 BGH v. 19.5.1969 – VII ZR 9/67, BGHZ 52, 115, 121; BGH v. 20.11.1980 – III ZR 31/78, NJW 1981, 626; BGH v. 15.5.1990 – VI ZR 266/89, NZV 1990, 345. 223 BGH v. 8.3.1994 – VI ZR 141/93, NZV 1994, 225. 224 BGH v. 8.3.1994 – VI ZR 141/93, NZV 1994, 225. 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221

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V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.104 § 22

von ganz untergeordneter Bedeutung vornimmt.225 An der Eingliederung mangelt es, wenn der Verletzte unwiderlegt erklärt, er sei nicht zu unternehmensdienlichen Zwecken, sondern wegen intendierter Hilfe bei gemeiner Gefahr tätig geworden.226 Beim Auftrag zur Instandsetzung eines Kfz beginnt der Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 2 SGB VII und infolge dessen die Haftungsprivilegierung bereits mit der Durchführung einer Probefahrt und nicht erst mit der eigentlichen Reparatur.227

22.101

An der Eingliederung fehlt es auch, wenn ein Arbeitnehmer nur im Rahmen der Tätigkeit für einen anderen Arbeitgeber mit dem Unfallbetrieb in Berührung gekommen ist.228 Dies gilt auch dann, wenn der Stammbetrieb des Verunglückten für den Unfallbetrieb tätig wird, der Verunglückte aber nur eigene Aufgaben seines Betriebs besorgt.229 Es genügt für den Haftungsausschluss nicht, wenn der Verletzte nur deshalb von dem Unfallereignis betroffen wird, weil seine (einem anderen Unternehmen zuzurechnende) Arbeitsstelle im Einflussbereich des Unfallbetriebs liegt, mag dies auch auf gemeinsame Aufgaben zurückzuführen sein, wie z.B. bei Beteiligung mehrerer Unternehmer an einem Bauvorhaben.230 Die Erstreckung des Haftungsausschlusses auf Tätigkeiten auf gemeinsamer Betriebsstätte durch § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII gilt nur für die dort Tätigen, nicht generell auch zugunsten der beteiligten Unternehmer231 (näher, auch zum Ausnahmefall des selbst auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätigen Unternehmers, s. Rz. 22.128).

22.102

Dagegen kommt es zum Haftungsausschluss, wenn der Verunglückte von seinem Stammbetrieb als Leiharbeiter in den Unfallbetrieb entsandt wurde und die schadenstiftende Tätigkeit dem Aufgabenbereich des Unfallbetriebes und nicht des Stammbetriebes zuzuordnen ist.232 Der BGH hat dies z.B. für einen Krankenhausarzt bejaht, der einem Rettungsdienstträger als Notarzt zur Verfügung gestellt wurde.233

22.103

Entsprechendes gilt, wenn der aushelfende Arbeitnehmer nicht durch sein Stammunternehmen entsandt worden ist, sondern aufgrund eigenen Entschlusses dem Unfallbetrieb Hilfe leistet, weil er gerade zur Stelle war, etwa beim Be- oder Entladen eines Fahrzeugs234 oder beim Ankuppeln eines Anhängers an den Lastwagen eines Lieferanten.235 Hierbei ist allerdings sorg-

22.104

225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235

BGH v. 15.5.1990 – VI ZR 266/89, NZV 1990, 345. OLG Düsseldorf v. 15.1.2002 – 4 U 116/01, NZV 2003, 383. OLG Hamm v. 20.3.2002 – 13 U 229/01, VersR 2003, 192. BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 79/79, VersR 1978, 150; BGH v. 30.4.2013 – VI ZR 155/12, NJW 2013, 2031. BGH v. 31.1.1961 – VI ZR 100/60, VersR 1961, 358; BGH v. 8.4.1986 – VI ZR 61/85, VersR 1986, 868. BGH v. 7.1.1966 – VI ZR 165/64, VersR 1966, 387; OLG Köln v. 18.6.1986 – 13 U 300/85, VersR 1987, 791; ebenso für Subunternehmer BGH v. 5.7.1988 – VI ZR 299/87, NZV 1988, 217; BAG v. 13.4.1983 – 7 AZR 650/79, VersR 1984, 475 = JZ 1984, 286 mit Anm. Hanau. BGH v. 3.7.2001 – VI ZR 284/00, BGHZ 148, 214; Otto NZV 2002, 10, 12 ff.; a.A. Imbusch VersR 2001, 547, 552 ff. u. VersR 2001, 1485, 1486 f.; Klumpp EWiR 2002, 123. Für Gesetzesänderung Arbeitskreis VI des VGT 2001, NZV 2001, 120. BGH v. 18.11.2014 – VI ZR 47/13 Rz. 24 ff., BGHZ 203, 224. BGH v. 14.7.1987 – III ZR 183/86, VersR 1987, 1135 LS. BGH v. 7.6.1977 – VI ZR 99/76, VersR 1977, 959; BGH v. 5.7.1983 – VI ZR 273/81, VersR 1983, 855; OLG Köln v. 27.6.1997 – 19 U 16/97, VersR 1998, 78. BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 79/76, VersR 1978, 150.

Greger | 569

§ 22 Rz. 22.104 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

fältig zu prüfen, ob sich die Tätigkeit für den fremden Betrieb tatsächlich wie ein Ausleihen der Arbeitskraft darstellt oder ob die Arbeitskraft nicht doch für eigene Aufgaben des Stammunternehmens eingesetzt wird

22.105

Handelt es sich um ein Tätigwerden in der Sphäre des Unfallbetriebs, so scheitert die Annahme einer Eingliederung in diesen nicht daran, dass die Tätigkeit zugleich für den Stammbetrieb nützlich war.236 Bei einer objektiv mehreren Betrieben nützlichen Tätigkeit wird aber dem Arbeitnehmer i.d.R. unterstellt, dass er subjektiv die Interessen des Beschäftigungsbetriebs verfolgt.237 Die Abgrenzung ist in diesen Fällen äußerst schwierig, denn die Übergänge sind fließend. Zweifel am Sinngehalt der bestehenden Regelung sind durchaus angebracht.238 Bei nur vorübergehenden Hilfeleistungen ist zu prüfen, ob die Eingliederung in den Unfallbetrieb zum Zeitpunkt des Unfalls nicht schon beendet war.239

22.106

Ein Arbeitnehmer kann somit durchaus mehreren Betrieben (i.S.d. Gesetzlichen Unfallversicherung) angehören und damit auch mehrfachen Unfallversicherungsschutz (mit der Folge entsprechenden Haftungsausschlusses) genießen.240 Auch wenn die Versicherungsbeiträge vom Stammunternehmen geleistet werden, kann für einen bei der Tätigkeit für das andere Unternehmen erlittenen Unfall der Haftungsausschluss eingreifen, unabhängig von der Anerkennung als Arbeitsunfall durch die für das Stammunternehmen nach § 133 Abs. 2 SGB VII zuständige Berufsgenossenschaft; es besteht insoweit keine Bindung nach § 108 SGB VII.241

22.107

Dient die Hilfeleistung nicht den Belangen des Unfallbetriebs, sondern handelt der Helfer zur Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit, so ist er zwar auch gesetzlich versichert (§ 2 Abs. 1 Nr. 13 lit. a SGB VII), verliert aber nicht etwaige Schadensersatzansprüche gegen den Betrieb, von dem die Gefahr ausgeht (s. Rz. 22.153).242 Entscheidend ist nicht, ob tatsächlich eine solche Gefahr bestand, sondern wie sich die Situation für den Helfer darstellte und welche Absicht er mit seinem Eingreifen verfolgte.243 Eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit scheidet auch dann aus, wenn die betriebsbezogenen Motive von so untergeordneter Bedeutung sind, dass die Beseitigung gemeiner Gefahr i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 13 lit. a SGB VII ganz im Vordergrund stand.244

22.108

Ein selbständiger Unternehmer wird nur dann für einen anderen Unternehmer im Rahmen des § 2 Abs. 2 SGB VII tätig, wenn die Tätigkeit nicht auch zu dem Kreis der Arbeiten gehört,

236 BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 79/76, VersR 1978, 150; BAG v. 28.2.1991 – 8 AZR 521/89, VersR 1991, 902; OLG Frankfurt v. 9.11.1988 – 7 U 239/87, VersR 1990, 997; OLG Oldenburg v. 25.11.1987 – 2 U 145/87, VersR 1988, 1253; vgl. auch OLG Karlsruhe v. 2.11.1988 – 1 U 100/88, VersR 1989, 110 mit abl. Anm. Bayer. 237 BGH v. 9.7.1996 – VI ZR 155/95, NZV 1996, 405; Otto NZV 1996, 473, 476 m.w.N. 238 Vgl. Entschließung des VGT 1989, Arbeitskreis IV, NZV 1989, 103; Deutschländer VersR 1989, 340, 345. Gegen die Rspr. auch Fuchs in FS Gitter (1995) S. 262. 239 Vgl. z.B. BGH v. 5.7.1983 – VI ZR 273/81, VersR 1983, 855. 240 BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 79/76, VersR 1978, 150. 241 BGH v. 18.11.2014 – VI ZR 47/13, BGHZ 203, 224 Tz. 27 ff. S. auch Rz. 22.114. 242 BGH v. 19.5.1969 – VII ZR 9/67, BGHZ 52, 115, 122; BGH v. 24.1.2006 – VI ZR 290/04, BGHZ 166, 42; BGH v. 20.3.1979 – VI ZR 14/78, VersR 1979, 668; BGH v. 20.11.1980 – III ZR 31/78, NJW 1981, 626; BGH v. 15.5.1990 – VI ZR 266/89, NZV 1990, 345; OLG Düsseldorf v. 20.3.1992 – 22 U 222/91, NJW-RR 1992, 1443. 243 BGH v. 15.5.1990 – VI ZR 266/89, NZV 1990, 345. 244 BSG v. 29.9.1992 – 2 RU 44/91, NJW 1993, 1030.

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V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.111 § 22

die den Gegenstand seines eigenen Unternehmens bilden.245 Im Regelfall ist davon auszugehen, dass die Hilfeleistung allein der Förderung der Belange des eigenen Unternehmens gedient hat; erst wenn die Tätigkeit nicht mehr als Wahrnehmung einer Aufgabe des eigenen Unternehmens bewertet werden kann, kann ein Versicherungsschutz gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII gegeben sein.246 Es genügt nicht, dass die Tätigkeit des Verletzten dem Unfallbetrieb nützlich war.247 Die Mitarbeit von Familienangehörigen im Unternehmen gehört nicht hierher, wenn familienrechtliche oder ethische Verpflichtungen die alleinige Grundlage bilden. Insbesondere ist die dadurch geprägte Mitarbeit auf landwirtschaftlichen Anwesen keine versicherungspflichtige Tätigkeit und schließt daher die Haftung des Schädigers aus unerlaubter Handlung nicht aus. Anders ist es, wenn betriebliche Interessen im Vordergrund stehen.248

22.109

Im Verhältnis zu Privatpersonen, die als Unternehmen gelten, also insbesondere Kfz-Haltern (s. Rz. 22.93), bereitet die Abgrenzung der versicherten Tätigkeiten besondere Probleme. Die Rspr. bejaht eine solche bei der Pannenhilfe249 oder bei einer Testfahrt zum Zweck der Feststellung eines Defekts durch einen anderen Kraftfahrer.250 Hilfsdienste, die der Abwehr einer gemeinen Gefahr i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 13 lit. a SGB VII dienen, scheiden jedoch auch hier aus (s. Rz. 22.107). Das Gleiche gilt für den ebenfalls von der Gesetzlichen Unfallversicherung erfassten Fall, dass die Hilfeleistung in der Rettung eines Verunglückten, gleich ob aus eigenem Antrieb oder auf dessen Bitte hin, besteht,251 sowie für das Aufspringen eines Passanten auf einen führerlos anrollenden Lkw.252 Näher zum Haftungsausschluss bei Hilfeleistungen s. Rz. 22.153 f.

22.110

h) Arbeitsunfall Arbeitsunfall ist ein plötzliches, im Rahmen der Tätigkeit für einen Unternehmer verursachtes Ereignis, durch das ein Versicherter eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erleidet (vgl. auch die den Stand der Rechtsprechung übernehmende Legaldefinition in § 8 Abs. 1 SGB VII). Der Unfall muss sich bei einer versicherten Tätigkeit (§§ 2, 3, 6 SGB VII) ereignen (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Ausgeweitet wird dies auf die Verwahrung, Beförderung, Instandhaltung und Erneuerung von Arbeitsgerät und Schutzausrüstung, auch wenn sie vom Arbeitnehmer gestellt sind, sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt (§ 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII). Unfälle auf Wegen nach und von dem Tätigkeitsort sind zwar auch dann versichert, wenn die Beförderung nicht dem betrieblichen Bereich zuzurechnen ist (§ 8 Abs. 2 Nr. 1–4 SGB VII); § 104 Abs. 1 SGB VII nimmt diese Fälle jedoch von der Haftungsbefreiung aus (s. Rz. 22.116 ff.). Unfälle, die auf Trunken-

245 BGH v. 30.1.1959 – VI ZR 6/58, VersR 1959, 429; BGH v. 3.12.1963 – VI ZR 22/63, VersR 1964, 237; BGH v. 11.10.1988 – VI ZR 67/88, NZV 1989, 70; OLG Hamm v. 19.11.1985 – 27 U 179/ 85, VersR 1986, 974. 246 BGH v. 23.3.2004 – VI ZR 160/03, VersR 2004, 1045. 247 BGH v. 28.10.1986 – VI ZR 181/85, VersR 1987, 384. 248 OLG München v. 14.9.1990 – 14 U 115/90, VersR 1991, 444. 249 BSG v. 25.1.1973 – 2 RU 55/71, BSGE 35, 140; BSG v. 31.5.1978 – 2 RU 5/78, BSGE 46, 233; BGH v. 16.12.1986 – VI ZR 5/86, VersR 1987, 202; OLG Jena v. 29.6.2004 – 8 U 1153/03, NZV 2004, 466. S. auch Rz. 22.154. 250 OLG Hamm v. 20.3.2002 – 13 U 229/01, VersR 2003, 192. 251 BGH v. 2.12.1980 – VI ZR 265/78, VersR 1981, 260 mit Anm. Denck SGb 1981, 238. 252 OLG Köln v. 27.1.1982 – 2 U 76/81, VersR 1982, 1098.

Greger | 571

22.111

§ 22 Rz. 22.111 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

heit als allein wesentliche Ursache zurückzuführen sind, fallen nach st. Rspr. der Sozialgerichte nicht unter den Schutz der Unfallversicherung.253 Ob im Einzelfall ein Arbeitsunfall vorliegt, dürfen die ordentlichen Gerichte nicht selbst prüfen (s. Rz. 22.112).

i) Feststellung des Arbeitsunfalls aa) Vorrang des Versicherungsverfahrens

22.112

Die Feststellung, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, obliegt primär den Versicherungsträgern und den Sozialgerichten (§ 108 SGB VII).254 Das Zivilgericht muss daher, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass der Unfall, auf den die Ansprüche gestützt werden, ein Arbeitsunfall war, sein Verfahren so lange nach § 148 ZPO aussetzen, bis die Entscheidung in dem Verfahren nach SGB VII oder SGG ergangen ist (§ 108 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Wenn ein solches Verfahren noch nicht eingeleitet wurde, ist eine Frist zu bestimmen, nach deren fruchtlosem Ablauf die Aufnahme des ausgesetzten Verfahrens zulässig ist (§ 108 Abs. 2 Satz 2 SGB VII). Die Aussetzung steht nicht im Ermessen des Gerichts; Unterlassen ist Grund für die Aufhebung des Urteils.255 Das Verfahren über die auf Schadensersatz gerichtete Klage darf erst fortgesetzt werden, wenn ein bestandskräftiger Bescheid des Versicherungsträgers (§ 77 SGG) vorliegt oder das Verfahren vor dem Sozialgericht rechtskräftig entschieden ist. Die Bestandskraft fehlt, wenn der Unternehmer an dem Rentenverfahren nicht in der gebotenen Weise beteiligt worden ist;256 dies ist, ggf. nach erneuter Aussetzung, nachzuholen,257 sofern es sich dabei nicht um eine bloße Förmelei handeln würde.258 Was für die Frage gilt, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, gilt grundsätzlich auch für die Frage, in welchem Umfang und von welchem Träger der Unfallversicherung die Leistungen zu gewähren sind (s. auch Rz. 22.114). Zur Anwendbarkeit bei mittelbarer Auswirkung des Haftungsprivilegs auf die Haftung eines Gesamtschuldners s. Rz. 22.87. bb) Bindungswirkung

22.113

Die sozialrechtliche Entscheidung bindet das Zivilgericht in Bezug auf das Vorliegen eines Arbeitsunfalls, die Zuordnung des Unfalls zu einem Unternehmen (s. aber Rz. 22.114) und den Umfang der Versicherungsleistungen (selbst wenn die Entscheidung erst nach Einlegung der Revision im Zivilverfahren ergeht).259 Von der Bindungswirkung wird auch der die Versicherungspflichtigkeit auslösende Tatbestand erfasst, also die Entscheidung darüber, ob der Geschädigte den Arbeitsunfall als Versicherter gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, als „Wie“-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII oder als Nothelfer gem. § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII erlitten hat.260 253 BSG v. 30.6.1960 – 2 RU 86/56, BSGE 12, 242; BSG v. 6.4.1989 – 2 RU 69/87, NZV 1990, 45; BSG v. 25.11.1992 – 2 RU 40/91, NZV 1993, 267; Krasney NZV 1989, 369. 375 f.; Fuchs NZV 1993, 422. 254 Ausführlich dazu Horst/Katzenstein VersR 2009, 165 ff. 255 BGH v. 20.4.2004 – VI ZR 189/03, BGHZ 158, 394. 256 BGH v. 4.4.1995 – VI ZR 327/93, BGHZ 129, 195, 200 ff. = VersR 1995, 682 (ber. 812) mit Anm. Frahm 1004 u. H. Müller 1209; BGH v. 20.4.2004 – VI ZR 189/03, BGHZ 158, 394, 397. Zu den Anforderungen an die Beteiligung s. BGH v. 20.11.2007 – VI ZR 244/06, NJW 2008, 1877. 257 BGH v. 12.6.2007 – VI ZR 70/06, VersR 2007, 1131. 258 BGH v. 30.4.2013 – VI ZR 155/12, NJW 2013, 2031. 259 BGH v. 19.10.1993 – VI ZR 158/93, VersR 1993, 1540. 260 BGH v. 24.1.2006 – VI ZR 290/04, BGHZ 166, 42.

572 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.117 § 22

Die Bindungswirkung bezieht sich grundsätzlich auch darauf, in welchem Betrieb sich der Arbeitsunfall ereignet hat, wer im Augenblick des Unfalls Unternehmer war und ob der Verletzte zu den versicherten Personen gehört.261 Der Unfall darf keinem anderen Unternehmer oder Versicherungsträger zugerechnet werden.262 Die Entscheidung, ob der Unfall sich auf einer gemeinsamen Betriebsstätte i.S.v. § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII (s. Rz. 22.125 ff.) zugetragen hat, obliegt dagegen dem Zivilgericht.263 Dasselbe gilt für die Frage, ob bei der erlaubten Arbeitnehmerüberlassung der Unfall haftungsrechtlich dem Unternehmen des Entleihers zuzuordnen ist.264

22.114

j) Ausnahme vom Haftungsprivileg bei Vorsatz Gem. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist die Ersatzpflicht von Unternehmern bei Verursachung eines Arbeitsunfalls nicht ausgeschlossen, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt haben. Bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz muss aber auch den Verletzungserfolg umfassen.265 Die vorsätzliche Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften genügt daher nicht, solange der Täter darauf vertraut, der als möglich vorausgesehene Erfolg werde nicht eintreten.266

22.115

k) Ausnahmen vom Haftungsprivileg bei Wegeunfällen Der Haftungsausschluss entfällt auch, wenn sich der Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg i.S.v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII ereignet hat (§ 104 Abs. 1 Satz 1 a.E. SGB VII). Ansprüche gegen einen Sozialversicherungsträger muss sich der Geschädigte jedoch anrechnen lassen (§ 104 Abs. 3 SGB VII); der Arbeitgeber haftet nur für darüber hinausgehende, ggf. auch immaterielle Schäden. Der Sozialversicherungsträger kann hieraus keinen Forderungsübergang nach § 116 SGB X ableiten; ihm steht nur der Regressanspruch nach § 640 Abs. 1 RVO a.F. zu (s. auch Rz. 35.110).

22.116

Nicht unter diese Ausnahme vom Haftungsausschluss fallen Unfälle, die sich auf einem Betriebsweg ereignen, d.h. bei einem Verkehrsvorgang, der dem innerbetrieblichen Bereich zuzuordnen ist. Sie sind Teil der den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit und damit bereits gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII versichert, da sie der Betriebsarbeit gleichstehen.267 Nur die gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1–4 SGB VII zusätzlich versicherten, mit der betrieblichen Tätigkeit lediglich „zusammenhängenden“ Wegeunfälle sollen, weil bei ihnen betriebliche Risiken keine Rolle spielen, von der Haftungsbefreiung ausgenommen werden. Bezüglich der Frage, ob es sich um einen versicherten Weg nach § 8 Abs. 2 SGB VII oder einen Betriebsweg nach § 8 Abs. 1 SGB VII handelt, ist auf den Geschädigten und nicht den

22.117

261 BGH v. 5.1.1968 – VI ZR 125/66, VersR 1968, 272 mit Anm. Schmalzl VersR 1968, 768. 262 BGH v. 19.5.2009 – VI ZR 56/08, BGHZ 181, 160 = NJW 2009, 3235 m.w.N. zur früheren gegenteiligen Rspr. S. auch BGH v. 4.4.1995 – VI ZR 327/93, BGHZ 129, 195 = VersR 1995, 682 (ber. 812) mit Anm. H. Müller VersR 1995, 1209 zur Einordnung als Arbeitsunfall oder Unfall bei Unfallhilfe; krit. von Koppenfels-Spies, SGb 2013, 373; Burmann/Jahnke NZV 2014, 5, 10. 263 BGH v. 22.1.2013 – VI ZR 175/11, VersR 2013, 460 mit Anm. Höher. 264 BGH v. 18.11.2014 – VI ZR 47/13, BGHZ 203, 224 = NJW 2015, 940 mit Anm. Kampen. 265 BGH v. 11.2.2003 – VI ZR 34/02, BGHZ 154, 11 = VersR 2003, 595 mit Anm. Deutsch; BAG v. 10.10.2002 – 8 AZR 103/02, VersR 2003, 740 entgegen Rolfs NJW 1996, 3177; Otto NZV 1996, 473, 477. 266 BGH v. 8.3.2012 – III ZR 191/11, VersR 2012, 724 m.w.N. 267 BSG v. 7.11.2000 – B 2 U 39/99 R, NJW 2002, 84.

Greger | 573

§ 22 Rz. 22.117 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

Schädiger abzustellen.268 Die Abgrenzung ist unter Berücksichtigung des Unfallortes, des Zusammenhangs mit dem Betrieb und der Tätigkeit des Versicherten sowie der Frage vorzunehmen, ob der Arbeitsunfall Ausdruck der betrieblichen Verbindung ist.269

22.118

Kein allein maßgebliches Kriterium liefert allerdings der Unfallort: Der Haftungsausschluss wegen Vorliegens eines Betriebsweges nach § 8 Abs. 1 SGB VII kann auch für außerhalb des Betriebsgeländes erlittene Unfälle gelten,270 wogegen Wegeunfälle nach § 8 Abs. 2 SGB VII auf dem Werksgelände nicht denkbar sind.271 Eine mit der Fahrt verbundene Förderung des betrieblichen Interesses reicht für die Annahme eines Betriebsweges nicht aus; die Fahrt selbst muss als Teil des innerbetrieblichen Organisations- und Funktionsbereichs erscheinen,272 wobei es nicht darauf ankommt, ob der Unfallort der Organisationsmacht des Arbeitgebers unterliegt.273 Die Sperrwirkung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII greift ein, sobald sich der Versicherte in die betriebliche Sphäre als einen der Organisation des Unternehmers unterliegenden Bereich begibt.274

22.119

Einzelfälle:275 Ein Betriebsweg nach § 8 Abs. 1 SGB VII liegt vor, wenn der Arbeitnehmer mit einem Firmenwagen von der Betriebsstätte zu einer auswärtigen Beschäftigungsstelle unterwegs ist (unabhängig davon, ob die Fahrt als Arbeitszeit vergütet wird);276 ebenso wenn der Arbeitgeber zum Zwecke der Beförderung der Arbeitnehmer von der Wohnung zu einer auswärtigen Arbeitsstelle und zurück (sog Sammeltransport) ein Betriebsfahrzeug und einen Fahrer zur Verfügung stellt277 bzw der Arbeitgeber selbst den firmeneigenen oder auf Betriebskosten gemieteten Pkw steuert.278 Eine Anordnung des Unternehmers, die angebotene Fahrtmöglichkeit zu nutzen, ist nicht notwendig.279 Ein Betriebsweg liegt auch vor, wenn ein Versicherter seine Arbeit ständig auf einer ausgelagerten Betriebsstätte verrichtet und er vom Unternehmen dorthin unterwegs ist, da die Arbeitsstätte dann der ausgelagerte Bereich ist,280 ebenso bei der Fahrt mit einem von einem Arbeitskollegen gesteuerten firmeneigenen Fahrzeug von einer auswärtig gelegenen Arbeitsstelle zu einer vom Arbeitgeber ange-

268 269 270 271 272 273 274 275

276 277 278 279 280

BAG v. 30.10.2003 – 8 AZR 548/02, VersR 2004, 1047, 1048; Ricke VersR 2002, 413 f. BGH v. 25.10.2005 – VI ZR 334/04, VersR 2006, 221. Näher Dahm NZV 2009, 70 ff. BAG v. 30.10.2003 – 8 AZR 548/02, VersR 2004, 1047, 1048. BAG v. 14.12.2000 – 8 ZR 92/00, NJW 2001, 2039. BGH v. 12.10.2000 – III ZR 39/00, BGHZ 145, 311; BGH v. 2.12.2003 – VI ZR 349/02, BGHZ 157, 159. BGH v. 25.10.2005 – VI ZR 334/04, VersR 2006, 221. BAG v. 30.10.2003 – 8 AZR 548/02, VersR 2004, 1047, 1049. Die Entscheidungen betreffen z.T. das Merkmal „Teilnahme am allgemeinen Verkehr“ aus dem bis 31.12.1996 geltenden § 636 Abs. 1 RVO, sind aber weiter verwertbar, weil mit dessen Ersetzung durch § 104 Abs. 1 SGB VII keine inhaltliche Änderung beabsichtigt war; BGH v. 12.10.2000 – III ZR 39/00, BGHZ 145, 311 unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung, BTDrucks. 13/2204, 100; so auch BSG v. 7.11.2000 – B 2 U 39/99 R, NJW 2002, 84; a.A. Rolfs NJW 1996, 3177, 3179. Zur Abgrenzung der Wegearten eingehend (mit Alternativvorschlag) Ricke VersR 2003, 540 ff. u. (krit. zur Rspr.) NZV 2019, 506, 509 f. BAG v. 24.6.2004 – 8 AZR 292/03, DAR 2004, 727. S. auch OLG Celle v. 25.9.2018 – 14 W 34/ 18, NJW-RR 2019, 412 (gemeinsame Fahrt von Arbeitskollegen im Firmenwagen zu Kundenbesuch). BGH v. 2.12.2003 – VI ZR 349/02, BGHZ 157, 159; BGH v. 2.12.2003 – VI ZR 348/02, DAR 2004, 344; BAG v. 30.10.2003 – 8 AZR 548/02, VersR 2004, 1047; dies soll auch gelten, wenn der Arbeitsablauf nur gelegentliche Fahrten erfordert. OLG Köln v. 14.2.1991 – 18 U 67/90, NZV 1992, 116; OLG Stuttgart v. 12.9.2001 – 4 U 258/00, VersR 2003, 71. BGH v. 2.12.2003 – VI ZR 349/02, BGHZ 157, 159. BGH v. 25.10.2005 – VI ZR 334/04, VersR 2006, 221, 222 zur gemeinsamen Tätigkeit von Reinigungskräften auf einem Hotelparkplatz.

574 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.121 § 22 mieteten Unterkunft. Um betrieblichen Verkehr handelt es sich selbstverständlich für die Lenker von Fahrzeugen und für die beim Betrieb der Fahrzeuge Beschäftigten, wenn die berufliche Tätigkeit gerade in der Lenkung des Fahrzeugs, in der Mitfahrt als Begleitpersonal oder in der Mitarbeit beim Beladen oder Entladen besteht.281

Auch ein Unfall, der sich bei einer Beförderung im Rahmen des betrieblichen Verkehrs ereignet, ist aber dann dem allgemeinen Verkehr zuzuordnen, wenn die Haftung des Unternehmers ihren Grund nicht in dieser Beförderung hat, sondern wenn sich ein anderer Verkehrsvorgang mehr oder weniger zufällig auf die betrieblich veranlasste Fahrt ausgewirkt hat. Schadensersatzansprüche gegen den Arbeitgeber sind daher nicht ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer auf einer betrieblich veranlassten Fahrt im öffentlichen Verkehr durch ein anderes Fahrzeug des Arbeitgebers geschädigt wurde.282 Hiervon mag eine Ausnahme dann gemacht werden, wenn die Unfallfahrzeuge einander nicht zufällig begegneten, sondern aufgrund eines einheitlichen Auftrags unterwegs waren;283 zu weit geht es aber, den Haftungsausschluss schon dann eingreifen zu lassen, wenn zwischen den Fahrzeugen nur dienstliche Berührungspunkte bestehen.284 Umgekehrt wird eine betriebsbezogene Fahrt nicht dadurch zur Teilnahme am allgemeinen Verkehr, dass die Mitfahrt letztlich auf privaten Motiven beruhte.285

22.120

Der Weg zur Arbeitsstätte und zurück ist im Normalfall allgemeiner Verkehr. Sobald sich der Arbeitnehmer jedoch in den zur Organisationsaufgabe seines Unternehmens gehörenden Gefahrenkreis begibt (z.B. das abgeschlossene Werksgelände,286 auch den nicht durch besondere Vorkehrungen abgesperrten Behördenparkplatz287), erleidet er einen Verkehrsunfall innerhalb dieses Gefahrenkreises nicht mehr als „normaler Verkehrsteilnehmer“, sondern im Rahmen der betrieblichen Bindung zu dem Unternehmer.288 Außerdem ist die Fahrt zur Arbeit dann dem innerbetrieblichen Verkehr zuzuordnen, wenn sie sich im Rahmen des sog Werksverkehrs oder Sammeltransports abspielt, d.h. wenn ausschließlich Betriebsangehörige auf Anordnung des Unternehmers in dessen eigenen oder angemieteten Fahrzeugen befördert werden.289 Die Beförderung Betriebsangehöriger im firmeneigenen Kraftfahrzeug zur Arbeitsstelle und zurück ist betriebliche Tätigkeit auch dann, wenn der Unternehmer nur einen Teil der Beförderungskosten trägt und gelegentlich – anstelle des nicht betriebsfähigen firmeneigenen Kraftfahrzeugs – der Fahrer seinen eigenen Wagen einsetzt.290 Dass die Fahrt durch eine private oder familienrechtliche Beziehung zum Unternehmer mitveranlasst ist, ändert nichts an der Betriebsbezogenheit,291 desgleichen ein kleiner Umweg, den der Unternehmer im Rahmen der betriebsbezogenen Fahrt macht292 oder die Mitnahme eines Angehörigen in der Ab-

22.121

281 BGH v. 25.10.1951 – III ZR 165/50, BGHZ 3, 298, 304; BGH v. 21.11.1958 – VI ZR 255/57, VersR 1959, 52; BGH v. 14.7.1987 – III ZR 183/86, 1987, 1135 LS (Notarzt im Rettungswagen). 282 BGH v. 21.12.1988 – III ZR 40/88, VersR 1989, 650; BGH v. 2.11.1989 – III ZR 133/88, NZV 1990, 115; Hartung 25 Jahre KF (1983), S. 113 f. 283 So BAG v. 14.3.1967 – 1 AZR 310/66, VersR 1967, 656. 284 BGH v. 19.10.1978 – III ZR 59/77, VersR 1979, 32; wie hier Hartung 25 Jahre KF (1983), S. 114. 285 A.A. OLG Hamm v. 18.12.1989 – 32 U 83/89, NZV 1991, 72. 286 BAG v. 14.12.2000 – 8 ZR 92/00, NJW 2001, 2039. 287 BGH v. 9.2.1995 – III ZR 164/94, NZV 1995, 186. 288 BGH v. 19.1.1988 – VI ZR 199/87, NZV 1988, 18. 289 BGH v. 16.1.1953 – VI ZR 161/52, BGHZ 8, 330; OLG Frankfurt v. 14.7.1982 – 17 U 222/81, VersR 1983, 955. 290 BGH v. 22.10.1968 – VI ZR 173/67, VersR 1968, 1193. 291 OLG Frankfurt v. 14.7.1982 – 17 U 222/81, VersR 1983, 955. 292 OLG Hamm v. 4.11.1982 – 27 U 176/82, VersR 1984, 183.

Greger | 575

§ 22 Rz. 22.121 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

sicht, die betriebsbezogene Fahrt später als Privatreise fortzusetzen.293 Keine Teilnahme am allgemeinen Verkehr liegt auch vor, wenn eine Versicherte mit Duldung ihres für den Heimtransport vertraglich verantwortlichen Betriebsinhabers nach Betriebsschluss vom Ehegatten des Inhabers nach Hause gefahren wird.294 Die nicht vom Arbeitgeber organisierte gemeinsame Heimfahrt von einer Betriebsfeier ist ebenfalls kein Betriebsweg,295 wohl aber der auf Anordnung des Unternehmers aus fürsorglichen Gründen durchgeführte Heimtransport von Betriebsangehörigen.296

4. Haftungsausschluss bei Verletzung eines Arbeitskollegen a) Überblick 22.122

Der von der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers, der bei seiner betrieblichen Tätigkeit einem Dritten gegenüber haftpflichtig wurde, gegen den Arbeitgeber (s. Rz. 16.41) erforderte eine Ausdehnung des unfallversicherungsrechtlichen Haftungsprivilegs auf Arbeitnehmer, die einen im selben Betrieb tätigen Arbeitskollegen verletzt haben: Der Arbeitgeber wäre sonst entgegen den Zielen der §§ 636 ff. RVO auf dem Umweg über die Haftung des Mitarbeiters doch für den Arbeitsunfall in seinem Betrieb ersatzpflichtig geworden. Die Haftungsbefreiung wurde daher durch Gesetz vom 30.4.1963 (BGBl. I 1963, 241) auf Ersatzansprüche wegen Personenschäden zwischen Betriebsangehörigen erweitert (§ 637 RVO). Für Unfälle ab 1.1.1997 wurde die Regelung mit einigen Modifikationen in § 105 SGB VII übernommen.297 Zur Rechtfertigung wird auch der Gesichtspunkt der Gefahrengemeinschaft der Arbeitnehmer untereinander angeführt.298

22.123

Die Haftungsprivilegierung zwischen Angehörigen desselben Betriebs greift ein, wenn ein Arbeitsunfall (s. Rz. 22.111) durch eine betriebliche Tätigkeit und ohne Vorsatz verursacht wurde und es sich dabei nicht um einen außerbetrieblichen Wegeunfall (s. Rz. 22.135) handelt. Eine Haftpflichtversicherung des Schädigers lässt den Haftungsausschluss nicht entfallen299 (s. Rz. 22.92). Zum Regress des Versicherungsträgers bei grober Fahrlässigkeit s. Rz. 35.121 ff.

b) Persönlicher Geltungsbereich aa) Tätigkeit im selben Betrieb

22.124

Abweichend vom früheren Recht stellt der für Unfälle seit 1.1.1997 geltende § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII für den Haftungsausschluss nicht mehr auf die gemeinsame Betriebsangehörigkeit, sondern darauf ab, dass die unfallversicherten Personen eine betriebliche Tätigkeit im selben Betrieb ausüben. Durch diese vom Gesetzgeber beabsichtigte300 Erweiterung sind nunmehr insbesondere die kurzfristig „wie“ Beschäftigte Tätigen (§ 2 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) nicht nur in der potentiellen Geschädigteneigenschaft, sondern auch als Schädiger

293 294 295 296 297 298 299 300

OLG Karlsruhe v. 4.3.1987 – 1 U 214/86, VersR 1988, 815. BGH v. 13.1.1976 – VI ZR 58/74, NJW 1976, 673. OLG Dresden v. 19.3.2008 – 7 U 1753/07, NZV 2009, 87. BGH v. 23.11.1955 – VI ZR 193/54, BGHZ 19, 114. Gesetz v. 7.8.1996 (BGBl. I S 1254). Zu der für Altfälle fortgeltenden Rechtslage s. 5. Aufl. Waltermann NJW 2002, 1225, 1228 m.w.N.; krit. Tischendorf VersR 2003, 1361 ff. BGH v. 2.3.1971 – VI ZR 146/69, VersR 1971, 564. Vgl. Regierungsentwurf BT-Drucks. 13/2204, 100.

576 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.125 § 22

den übrigen Versicherten gleichgestellt. Tätigkeit für dasselbe Unternehmen bei verschiedenen Betrieben reicht jedoch weiterhin nicht.301 bb) Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte Es reicht für den Haftungsausschluss aus, wenn Schädiger und Geschädigter, die verschiedenen Unternehmen angehören, vorübergehend eine betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte, z.B. einer Baustelle oder in einem Kfz,302 ausüben (§ 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII). Dafür sind – über die Fälle der Arbeitsgemeinschaft hinaus – betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen ausreichend, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun geschieht.303 Ein zufälliges Zusammentreffen im Rahmen gesonderter Betriebsabläufe genügt hierfür nicht;304 erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf, ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken305 bei der Erfüllung einer gemeinsamen unternehmerischen Aufgabe,306 z.B. eine Verständigung über den Arbeitsablauf oder über beiderseitige Vorsichtsmaßnahmen.307 Ein lediglich einseitiger Bezug reicht nicht aus.308 Die Versicherten müssen sich bei Verrichtung ihrer Tätigkeiten „ablaufbedingt in die Quere kommen“.309 Sie müssen ein gemeinsames Ziel i.w.S. verfolgen, was nicht angenommen werden kann, wenn lediglich parallele Tätigkeiten ausgeführt werden und es dabei zufällig zu einem Unfall kommt.310 Nicht erforderlich ist die gemeinsame Durchführung eines Arbeitsvorgangs; es reicht aus, dass es sich um ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken i.S. einer gegenseitigen Ergänzung handelt.311 Das Zusammenwirken, bei dem jeder der Beteiligten zum Schädiger oder zum Geschädigten werden kann,312 muss in der konkreten Unfallsituation stattfinden; es genügt nicht, dass es bei anderen Konstellationen zu einer solchen

301 Rolfs NJW 1996, 3177, 3180. 302 Leube VersR 2013, 1091. 303 BGH v. 17.10.2000 – VI ZR 67/00, BGHZ 145, 331, 336; BAG v. 12.12.2002 – 8 AZR 94/02, NJW 2003, 1891. Dazu eingehend Stöhr VersR 2004, 809 ff.; Otto NZV 2002, 10; Imbusch VersR 2001, 547 m.w.N.; Waltermann NJW 2002, 1225, 1229. 304 Vgl. BGH v. 17.10.2000 – VI ZR 67/00, BGHZ 145, 331: Wagenreiniger eines Drittunternehmens wird auf Bahngelände von Rangierlok erfasst; KG v. 9.7.2001 – 12 U 1397/00, NZV 2002, 33: Lkw erfasst Platzmeister, der mit Einweisung eines anderen Lkw beschäftigt ist. 305 BGH v. 14.9.2004 – VI ZR 32/04, VersR 2004, 1604. Verneint von BGH v. 23.1.2001 – VI ZR 70/00, NZV 2001, 168 für Unfall zwischen Lkw-Fahrern auf Ladehof eines Dritten, von OLG Hamm v. 7.2.2001 – 13 U 154/00, r+s 2001, 195 zwischen Lkw-Fahrer und Zufahrt zu Betriebsgelände ermöglichendem Bediensteten. 306 Zu diesem Erfordernis Otto NZV 2002, 10, 11 unter Hinweis auf BGH v. 17.10.2000 – VI ZR 67/00, BGHZ 145, 331, 336. 307 BGH v. 8.4.2003 – VI ZR 251/02, NZV 2003, 374. 308 BGH v. 16.12.2003 – VI ZR 103/03, BGHZ 157, 213. Unzutr. daher OLG Hamm v. 14.3.2011 – 6 U 186/10, VersR 2011, 1448, wo ein Beteiligter nichts vom Eingreifen des anderen wusste; s. auch Berg VersR 2011, 1495, 1497. 309 BGH v. 16.12.2003 – VI ZR 103/03, BGHZ 157, 213, 217; BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 25/04, NZV 2005, 515, 516. 310 OLG Hamm v. 15.12.1999 – 13 U 116/99, VersR 2001, 339. 311 OLG Karlsruhe v. 24.5.2002 – 10 U 253/01, VersR 2003, 506. 312 Hierfür genügt es nach BGH v. 22.1.2008 – VI ZR 17/07, NJW 2008, 2116, wenn eine wechselseitige Gefährdung zwar eher fern liegt, aber auch nicht völlig ausgeschlossen ist.

Greger | 577

22.125

§ 22 Rz. 22.125 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

Verbindung kommt.313 Dabei kommt es allerdings nicht auf den Moment der Schädigung an, entscheidend ist der Gesamtzusammenhang der Tätigkeiten im Sinne einer Gefahrgemeinschaft.314 Die Verletzung muss auf der Zusammenarbeit beruhen, so dass die Privilegierung ausscheidet, wenn der Geschädigte Opfer einer ganz andersartigen Pflichtverletzung wird.315

22.126

In folgenden mit Verkehrsvorgängen zusammenhängenden Fällen sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt: – Schädigung eines JVA-Bediensteten, der einem Lkw-Fahrer lediglich das Tor aufgeschlossen, sich aber weder an der Fahr- noch an der Ladetätigkeit beteiligt hat;316 – bloße Anwesenheit des Mitarbeiters des Beladebetriebs zur Ausführung des in Aussicht genommenen Befüllvorgangs;317 – Unfall zwischen Lastwagenfahrern im Anlieferverkehr auf fremdem Firmengelände;318 – Unfall zwischen zur Beladung aufplanendem Lkw-Fahrer und nicht mit der Beladung beschäftigtem Gabelstaplerfahrer;319 – Unfall zwischen Gabelstaplerfahrer eines Baumarkts und Fahrer eines Kunden, der die Ware abholen soll;320 – Unfall beim Ausweichen vor einem zurückstoßenden Lkw, mit dessen Fahrer der Geschädigte auf der Baustelle an anderem Ort zusammenarbeitet;321 – zwischen Beifahrer und Fahrer eines im Straßenverkehr für Kundenbesuch genutzten Fahrzeuges;322 – Unfall beim Aussteigen des Arbeitnehmers aus dem von Mitarbeiter des beauftragten Busunternehmens gefahrenen Werksbus;323 – Sturz wegen Eisglätte auf Betriebsgelände, für die Mitarbeiter eines vom Arbeitgeber mit dem Winterdienst beauftragten Unternehmens verantwortlich waren.324

22.127

Bejaht wurden sie von der Rspr. (außer in den in Rz. 22.125 angeführten Fällen) für folgende Konstellationen: – Gemeinsames Tätigwerden bei einem koordinierten Abladevorgang;325 – Tätigwerden mehrerer Handwerksunternehmen auf einer Baustelle, auch im Verhältnis zwischen Generalunternehmer und Subunternehmer;326

BGH v. 22.1.2013 – VI ZR 175/11, VersR 2013, 460 mit Anm. Höher. Möhlenkamp VersR 2016, 224, 230 f. OLG Hamm v. 2.7.2002 – 9 W 1/02, VersR 2003, 905. OLG Hamm v. 7.2.2001 – 13 U 154/00, VersR 2002, 1108. BGH v. 23.9.2014 – VI ZR 483/12, VersR 2014, 1395. OLG Hamm v. 15.12.1999 – 13 U 116/99, VersR 2001, 339. OLG Köln v. 2.8.2001 – 8 U 19/01, VersR 2002, 575. BGH v. 10.5.2011 – VI ZR 152/10, NJW 2011, 3298. BGH v. 22.1.2013 – VI ZR 175/11, VersR 2013, 460. OLG Stuttgart v. 14.10.2004 – 7 U 96/04, NZV 2005, 319; a.A, Leube, VersR 2013, 1091, 1094. BGH v. 30.4.2013 – VI ZR 155/12, NJW 2013, 2031. BGH v. 8.6.2010 – VI ZR 147/09, NJW 2011, 449. OLG Karlsruhe v. 24.5.2002 – 10 U 253/01, VersR 2003, 506; OLG Schleswig r+s 2017, 220 mit Anm. Lemcke. 326 OLG Dresden v. 17.10.2000 – 3 U 1761/00, NJW-RR 2001, 747. 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325

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V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.130 § 22 – Mitfahrt als Weglotse für einen Auftragnehmer auf Anweisung des Auftraggebers;327Abladen einer Getreidelieferung durch einen selbständigen Landwirt bei einer vom Verletzten geführten Landhandelsgesellschaft.328

cc) Versicherteneigenschaft des Schädigers Bei einem Unfall im Betrieb des gemeinsamen Arbeitgebers kommt es nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nicht darauf an, ob auch der Schädiger gesetzlich unfallversichert ist.329 Bei einer Schädigung durch einen Unternehmensfremden auf einer gemeinsamen Betriebsstätte wird jedoch von § 106 Abs. 3 SGB VII dessen Versicherteneigenschaft vorausgesetzt. Die Haftungsbefreiung kann daher in diesem Fall nicht zum Tragen kommen, wenn es sich beim Schädiger um einen Beamten oder Soldaten handelt.330 Einem versicherten Unternehmer kommt sie dann zugute, wenn er selbst auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätig ist und dabei den Versicherten eines anderen Unternehmens verletzt.331 Haftet der nicht selbst auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätige (und daher nicht haftungsprivilegierte) Unternehmer neben seinem nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII haftungsprivilegierten Verrichtungsgehilfen nach §§ 831, 823, 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner, kann er aber nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses von der Haftung freigestellt sein (s. Rz. 22.90). Mit dieser Begründung hat der BGH auch die Haftung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts für ihren auf gemeinsamer Betriebsstätte tätigen Gesellschafter verneint.332

22.128

dd) Versicherteneigenschaft des Geschädigten Vom Haftungsausschluss erfasste Verletzte sind in erster Linie die Versicherten desselben Betriebs sowie deren Angehörige und Hinterbliebene (§ 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Zu Schockschäden Dritter s. Rz. 22.86.

22.129

Bei Verletzung des Unternehmers durch seinen Arbeitnehmer greift nach dem seit 1.1.1997 geltenden § 105 Abs. 2 Satz 1 SGB VII der Haftungsausschluss unabhängig davon ein, ob der Unternehmer unfallversichert ist.333 Die reduzierte Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Unternehmer war lt Regierungsentwurf334 ein Hauptziel der Neukodifikation. Zum Ausgleich für den Verlust seiner Ersatzansprüche erhält der nicht versicherte Unternehmer Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung, allerdings nur, sofern kein zivilrechtlicher Haftungsausschluss (nach Vertrag, Gesetz oder den Regeln des innerbetrieblichen Schadens-

22.130

OLG Koblenz v. 5.3.2001 – 12 U 1355/99, VersR 2002, 574. OLG Koblenz v. 19.4.2004 – 12 U 544/03, NZV 2005, 102. OLG Düsseldorf v. 15.6.1973 – 12 W 21/73, MDR 1973, 932. BGH v. 27.6.2002 – III ZR 234/01, BGHZ 151, 198. BGH v. 3.7.2001 – VI ZR 198/00, BGHZ 148, 209, 212; BGH v. 3.7.2001 – VI ZR 284/00, BGHZ 148, 214, 216; BGH v. 25.6.2002 – VI ZR 279/01, VersR 2002, 1107; BGH v. 29.10.2002 – VI ZR 283/01, VersR 2003, 70; BGH v. 14.9.2004 – VI ZR 32/04, NZV 2005, 37. Für Einbeziehung auch des nicht tätigen Unternehmers Imbusch VersR 2001, 547, 552 f.; Jahnke NJW 2000, 265; Risthaus VersR 2000, 1203, 1204; dagegen Otto NZV 2002, 10 ff. 332 BGH v. 24.6.2003 – VI ZR 434/01, BGHZ 155, 205. 333 BGH v. 17.6.2008 – VI ZR 257/06, BGHZ 177, 97 = NJW 2008, 2916 mit Bespr. Waltermann NJW 2008, 2895; Otto NZV 1996, 473, 476; Waltermann NJW 2002, 1225, 1227. 334 BT-Drucks. 13/2204, 73. 327 328 329 330 331

Greger | 579

§ 22 Rz. 22.130 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

ausgleichs) eingreift und begrenzt auf den Mindestjahresarbeitsverdienst sowie den fiktiven Schadensersatzanspruch (§ 105 Abs. 2 Satz 2–4 SGB VII).335

22.131

Bei Schädigung auf gemeinsamer Betriebsstätte mit einem anderen Unternehmen (s. Rz. 22.125) muss sich auch ein versicherter Unternehmer, der von einem Versicherten des anderen Unternehmens verletzt wird, die Haftungsfreistellung entgegenhalten lassen.336 Ist er nicht unfallversichert, greift der Haftungsausschluss nach dem klaren Wortlaut des § 106 Abs. 3 SGB VII („Versicherte“) nicht ein.337

22.132

Versicherungsfreie Personen, die der Unfallfürsorge nach Beamtenrecht unterliegen, werden nach dem seit 1.1.1997 geltenden Recht ebenfalls vom Haftungsausschluss erfasst (§ 105 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Für die Verletzung auf gemeinsamer Betriebsstätte (Rz. 22.131) gilt dies nicht, da es an einer entsprechenden Einbeziehung durch den Gesetzgeber fehlt.338 Bei Dienstunfällen greifen jedoch Sonderregelungen ein (s. Rz. 22.156 ff.).

22.133

Wegen des weiten Unternehmerbegriffs (Rz. 22.93) können auch Privatpersonen von Schadensersatzansprüchen gegen Hilfspersonen ausgeschlossen sein, ohne dass ihnen ein Anspruch gegen die Gesetzliche Unfallversicherung zusteht.339

c) Erfasste Unfälle aa) Betriebliche Tätigkeit

22.134

Der Begriff ist weit zu fassen (s. Rz. 22.97 ff.). Auch wenn die Tätigkeit, bei deren Ausübung der Arbeitsunfall verursacht wurde, nicht zum eigentlichen Aufgabenbereich des Arbeitskollegen gehörte, tritt der Haftungsausschluss ein, wenn die Tätigkeit betriebsbezogen war, also im betrieblichen Interesse ausgeführt wurde.340 Die Abgrenzung ist insbesondere bei Verkehrsunfällen schwierig (s. Rz. 22.135 ff.). bb) Wegeunfälle

22.135

Der Arbeitskollege kann sich nicht auf den vollen Haftungsausschluss berufen, wenn der Unfall sich als Wegeunfall i.S.v. § 105 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB VII darstellt (zur Bestimmung der dem Geschädigten in diesen Fällen nach § 105 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 104 Abs. 3 SGB VII verbleibenden Ansprüche und zum Ausschluss eines Forderungsübergangs nach § 116 SGB X s. Rz. 22.85). Maßgebend für die Qualifikation als Wegeunfall ist, ob der Versicherte den Unfall als normaler Verkehrsteilnehmer oder als Betriebsangehöriger er-

335 Krit. hierzu Waltermann NJW 2004, 903 f.; Otto NZV 1996, 473, 475 f.; Plagemann NZV 2001, 233, 237 (Verstoß gegen Art. 3 GG). 336 BGH v. 17.6.2008 – VI ZR 257/06, BGHZ 177, 97 = NJW 2008, 2916 mit Bespr. Waltermann NJW 2008, 2895. 337 BGH v. 27.6.2002 – III ZR 234/01, BGHZ 151, 198, 202; OLG Hamm v. 7.2.2001 – 13 U 154/00, VersR 2002, 1108, 1109; a.A. LSG Stuttgart v. 3.8.2001 – L 1 U 5070/00, NJW 2002, 1290, 1291; s. auch Otto NZV 2002, 10, 17. 338 OLG Hamm v. 7.2.2001 – 13 U 154/00, VersR 2002, 1108, 1109; zweifelnd Otto NZV 2002, 10, 12 Fn. 39. 339 S. den Fall BSG v. 24.6.2003 – B 2 U 39/02 R, NJW 2004, 966. Krit. dazu Waltermann NJW 2004, 903 f. 340 BGH v. 2.3.1971 – VI ZR 146/69, VersR 1971, 564, 565; BAG v. 9.8.1966 – 1 AZR 426/65, NJW 1967, 220.

580 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.138 § 22

litten hat, weil die Durchführung der Unglücksfahrt durch die betriebliche Organisation geprägt war (hierzu mit umfangreichen Rechtsprechungsnachweisen s. Rz. 22.117 ff.). Weitere Einzelfälle: Dem betrieblichen Bereich zuzuordnen ist z.B. die Mitnahme auf einer Dienstfahrt zur Erledigung von Dienstgeschäften341 oder die Mitfahrt bei einem Arbeitskollegen, der mit einem betriebseigenen oder angemieteten Fahrzeug Gerätschaften und Material vom Betriebsgelände zum auswärtigen Beschäftigungsort transportiert.342 Bei Mitfahrt in einem Firmenfahrzeug aus dienstlichem Anlass ist auch die Rückfahrt vom Ort der Erledigung zur Betriebsstätte kein Nachhause-, sondern Betriebsweg.343 Bei einem Gütertransport sind die Hinfahrt zum Ort der Güteraufnahme und die Rückfahrt vom Zielort zur Betriebsstätte aufgrund ihrer Verbundenheit einheitlich als Betriebsweg einzuordnen.344 Betriebsbezogen ist die Mitfahrt als Weglotse für einen Auftragnehmer auf dessen Bitte hin.345 Eine betriebsbezogene Verkehrsteilnahme liegt auch dann vor, wenn zwei Testwagenfahrer desselben Autoherstellers bei einer Testfahrt im öffentlichen Straßenverkehr zusammenstoßen.346

22.136

Der Weg von der Wohnung zur Arbeitsstelle ist grundsätzlich dem privaten Bereich zuzuordnen.

22.137

Keine betriebliche Tätigkeit (und demnach nicht vom Haftungsausschluss umfasst) ist daher die privat organisierte Mitnahme von Kollegen von der Wohnung zur Arbeitsstelle oder von dort nach Hause,347 zum auswärtigen Beschäftigungsort,348 einem Lehrgangsort349 oder einer Betriebsversammlung,350 desgleichen die Heimfahrt von einem Richtfest (außer wenn der Mitgenommene volltrunken ist oder wegen einer Erkrankung nicht allein nach Hause gelangen kann)351 oder die Mitnahme von Spielern und Trainer einer Sportmannschaft nach einem auswärtigen Turnier durch den Betreuer.352 Anders verhält es sich beim Transport zwischen Wohnung und Arbeitsstelle im firmeneigenen Fahrzeug353 oder aufgrund einer vom Arbeitgeber finanzierten und organisierten Fahrgemeinschaft mit Arbeitnehmerfahrzeugen;354 die Zahlung einer Mitnahmevergütung reicht hierfür nicht.355 Können Betriebsangehörige auswärtige Dienstgeschäfte nicht an einem Tag erledigen und fahren sie, statt am Arbeitsort zu übernachten, den Weisungen des Arbeitgebers entsprechend abends nach Hause zurück, so fällt diese Fahrt unter die betriebliche Tätigkeit.356

22.138

341 BGH v. 2.11.1971 – VI ZR 50/70, VersR1972, 146; OLG Köln v. 31.1.2002 – 12 U 145/01, VersR 2002, 1109 (Vermittlung von Ortskunde). 342 BGH v. 9.3.2004 – VI ZR 439/02, NZV 2004, 347 (Auszubildender); s. auch OLG Brandenburg v. 18.5.2017 – 12 U 192/06, r+s 2017, 555 (Prospektverteiler). 343 OLG Köln v. 31.1.2002 – 12 U 145/01, VersR 2002, 1109. 344 OLG Köln v. 31.1.2002 – 12 U 145/01, VersR 2002, 1109. 345 OLG Koblenz v. 5.3.2001 – 12 U 1355/99, VersR 2002, 574. 346 AG Bad Mergentheim v. 10.3.1992 – 2 C 536/91, NZV 1992, 413. 347 BGH v. 18.11.1980 – VI ZR 147/78, VersR 1981, 251; KG v. 7.12.1981 – 12 U 5131/80, VersR 1983, 175; OLG Celle v. 23.2.1989 – 5 U 310/87, VersR 1990, 681. 348 BGH v. 14.2.1978 – VI ZR 216/76, VersR 1978, 625. 349 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 20/91, BGHZ 116, 30. 350 BGH v. 11.5.1993 – VI ZR 279/92, VersR 1994, 332; OLG München v. 16.9.1986 – 10 U 3107/ 86, VersR 1988, 197. 351 BGH v. 26.4.1966 – VI ZR 238/64, VersR 1966, 665. 352 OLG Stuttgart v. 15.5.1991 – 3 U 159/90, VersR 1992, 855. 353 Vgl. BGH v. 8.5.1973 – VI ZR 148/72, VersR 1973, 736; OLG Dresden v. 24.7.2013 – 7 U 2032/ 12, MDR 2013, 1289. 354 BGH v. 14.2.1978 – VI ZR 216/76, BGH VersR 1978, 625; s. auch OLG Frankfurt v. 4.1.1984 – 13 U 143/82, VersR 1985, 277. 355 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 20/91, BGHZ 116, 30. 356 BGH v. 2.11.1971 – VI ZR 50/70, VersR 1972, 145.

Greger | 581

§ 22 Rz. 22.139 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

22.139

Betriebsbezogen ist der Verkehr innerhalb des Betriebsgeländes, so dass bei einem Unfall zwischen Betriebsangehörigen auf dem Weg zwischen Werkstor und Arbeitsplatz oder auf dem firmeneigenen Mitarbeiterparkplatz357 der Haftungsausschluss eingreift.

22.140

Eine betriebliche Tätigkeit im Sinn der Vorschrift liegt auch dann vor, wenn der Schädiger bei der Verrichtung der ihm aufgetragenen Arbeit fehlerhaft und leichtsinnig verfährt.358 Auch Trunkenheit des schädigenden Kollegen schließt die Bejahung einer Betriebsbezogenheit nicht aus.359 cc) Vorsätzliche Schädigung

22.141

Vorsätzliche Schädigung lässt das Haftungsprivileg ebenfalls entfallen (§ 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Der Vorsatz muss sich nicht nur auf die Handlung selbst, sondern auch auf die Verletzungsfolgen erstrecken360 (vgl. auch Rz. 22.115).

d) Feststellung der Voraussetzungen 22.142

Für die Entscheidung darüber, ob der auf Schadensersatz vor dem ordentlichen Gericht in Anspruch Genommene ein Arbeitskollege des Klägers i.S.v. § 105 SGB VII war, gelten die für die Feststellung des Unternehmers (oben Rz. 22.114) aufgestellten Regeln. Die Bindung nach § 108 SGB VII bzw. § 638 RVO a.F. besteht mithin nur in dem dort angegebenen Umfang.

5. Haftungsausschluss zwischen Mitarbeitern von Hilfsdiensten 22.143

Die Haftungsausschlüsse zugunsten von Unternehmern und Mitarbeitern gelten nach § 106 Abs. 3 SGB VII auch für Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen (z.B. Rettungsdienst, Feuerwehr, Katastrophen- und Zivilschutz). Hierunter fallen nicht nur Unfälle bei Einsätzen, sondern z.B. auch solche bei Übungen. Die Fahrt zum Einsatzort ist, auch wenn sie mit dem Privat-Pkw geschieht, betriebliche Tätigkeit.361 Dagegen greift der Haftungsausschluss nicht ein, wenn ein Hilfeleistender einen anderen nach dem Einsatz gefälligkeitshalber nach Hause bringt.362

6. Haftungsausschluss im Schul-, Kindergarten- und Ausbildungsbetrieb a) Allgemeines 22.144

Auch für den pädagogischen Bereich wurde die Schadensersatzhaftung durch Ansprüche gegen die Gesetzliche Unfallversicherung ersetzt. Dieser Haftungsausschluss, für den die oben dargestellten Grundsätze entsprechend gelten, ist für Unfälle nach dem 1.1.1997363 in § 106 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nrn 2, 3, 8 SGB VII geregelt. Er kann auch für den Bereich des Straßenverkehrsrechts Bedeutung erlangen, insbesondere beim Transport von Schülern in Kfz.

357 358 359 360 361 362 363

OLG Saarbrücken v. 19.12.2000 – 4 U 941/99-289, OLGR Saarbrücken 2001, 172. BAG v. 14.3.1967 – 1 AZR 310/66, VersR 1967, 656. BGH v. 19.12.1967 – VI ZR 6/66, VersR 1968, 353. OLG Hamm v. 6.5.2002 – 13 U 224/01, VersR 2003, 506. BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 235/06, NZV 2008, 289. OLG Karlsruhe v. 14.6.1985 – 10 U 7/85, VersR 1987, 110. Zur Rechtslage bei Altunfällen s. 5. Aufl.

582 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.147 § 22

Eine Haftungsfreistellung der Gemeinde als Schulträger kommt ferner in Betracht, wenn sie wegen eines Schulunfalls aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für Gemeindestraßen in Anspruch genommen wird.364 Da die Bestimmungen über den Haftungsausschluss auf die Arbeitswelt zugeschnitten sind, ist die Auslegung den Besonderheiten des Schulbetriebes so anzupassen, dass deren Zweckbestimmung hinreichend zum Tragen kommt.365 Trotz des durch die Haftungsersetzung bewirkten Verlustes von Schmerzensgeldansprüchen hält der BGH die Regelung für verfassungsgemäß.366

22.145

b) Persönlicher Geltungsbereich 22.146

Ausgeschlossen ist die Haftung – des Unternehmers (z.B. Schulträgers) gegenüber im Unternehmen Beschäftigten (z.B. Lehrer) schon nach § 104 Abs. 1 SGB VII oder den beamtenrechtlichen Vorschriften (s. Rz. 22.156 ff.), – des Unternehmers gegenüber den Kindern bzw. Lernenden (§ 104 Abs. 1 SGB VII), – der Betriebsangehörigen (z.B. Lehrer, Angestellte) untereinander nach § 105 Abs. 1 SGB VII oder den beamtenrechtlichen Vorschriften, – der Betriebsangehörigen gegenüber den Kindern bzw. Lernenden nach § 106 Abs. 1 Nr. 3 SGB VII,367 – der Schüler untereinander (§ 106 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII), sofern sie (räumlich, nicht unbedingt organisatorisch gesehen) derselben Einrichtung angehören,368 – der Schüler gegenüber den Beschäftigten derselben Einrichtung (§ 106 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII), auch gegenüber beamteten Lehrern (§ 105 Abs. 1 Satz 2, § 106 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Betriebsangehörige im vorstehenden Sinne können auch solche Personen sein, die sich nur vorübergehend in die Organisation der Einrichtung eingliedern. Eine Anstellung ist hierzu nicht erforderlich; es genügt, dass sie nach Art eines Arbeitnehmers, d.h. weisungsgebunden, im Schulbetrieb tätig werden.369 Dies kann z.B. bei freiwilligen Helfern bei einem Schulfest370 sowie beim Inhaber und den Mitarbeitern eines Betriebs, dem Schüler im Rahmen eines sog Betriebspraktikums zugewiesen sind,371 der Fall sein. Als Betriebsangehörige sind auch alle mit der Vorbereitung und Durchführung eines ausgelagerten Schulunterrichts (z.B. auf einer vom Schulträger betriebenen Sportstätte) befassten Mitarbeiter zu betrachten.372 Der Busunternehmer, der aufgrund vertraglicher Abmachung Schulbusfahrten durchführt sowie sein 364 BGH v. 10.3.1983 – III ZR 1/82, VersR 1983, 636, 637. 365 BGH v. 25.9.1979 – VI ZR 184/78, VersR 1980, 43, 44. 366 BGH v. 4.6.2009 – III ZR 229/07, NJW 2009, 2956: „jedenfalls für Unfälle im Kindergartenbereich“; BGH v. 8.3.2012 – III ZR 191/11, VersR 2012, 714. A.A. Fuhlrott NZS 2007, 237, 241 f.; Richardi NZA 2002, 1004, 1009. 367 BGH v. 16.9.1993 – IX ZB 82/90, BGHZ 123, 268 (zum früheren Recht). 368 BGH v. 14.7.1987 – VI ZR 18/87, VersR 1988, 167. 369 BGH v. 25.9.1979 – VI ZR 184/78, VersR 1980, 43 = SGb 1980, 127 mit Anm. Sieg. 370 BGH v. 25.9.1979 – VI ZR 184/78, VersR 1980, 43; BGH v. 3.2.1981 – VI ZR 178/79, VersR 1981, 428. 371 BGH v. 3.4.1984 – VI ZR 288/82, VersR 1984, 652. 372 BGH v. 26.11.2002 – VI ZR 449/01, VersR 2003, 348.

Greger | 583

22.147

§ 22 Rz. 22.147 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

Fahrer sind nicht in den Schulbetrieb eingegliedert;373 der Busunternehmer kann auch nicht etwa als „Mitunternehmer“ hinsichtlich der Schule angesehen werden.374

22.148

Für Auszubildende gelten im Rahmen der betrieblichen Ausbildung die Regeln für Arbeitnehmer, nicht für Schüler.375

c) Betriebsunfall 22.149

Der Haftungsausschluss greift (wie auch sonst im Unfallversicherungsrecht) nur ein, wenn es sich um einen betriebsbezogenen Unfall handelt, d.h. wenn es zu dem Unfall nicht nur bei Gelegenheit des Besuchs der pädagogischen Einrichtung, sondern im Zusammenhang mit einer schulbezogenen Tätigkeit kommt. Dies ist z.B. zu bejahen beim Sportunterricht auf einer vom Sachkostenträger der Schule betriebenen Sportstätte,376 bei der gemeinsamen Motorradfahrt von Studenten zu einer Universitätsexkursion377 oder bei einer Klassenfahrt;378 auch bei einem von der Schule organisierten Auslandsaufenthalt.379 Durch die typische Schulsituation bedingte Neckereien, Raufereien und Verfolgungsjagden unter Mitschülern sind, auch außerhalb des Schulgeländes, vom Haftungsausschluss umfasst.380 Bei Verkehrsunfällen auf dem Schulweg fehlt im Allgemeinen die Schulbezogenheit;381 anders bei einem vom Schulträger organisierten Fahrdienst382 oder bei der Fahrt zu einer auswärtigen Lehr- oder Prüfungsveranstaltung (s. Rz. 22.151).

d) Ausnahmen 22.150

Der Haftungsausschluss greift (wie in den anderen Fällen der unfallversicherungsrechtlichen Haftungsersetzung) nicht ein, wenn die Verletzung vorsätzlich zugefügt wurde (s. Rz. 22.115) oder wenn es sich um einen der normalen Verkehrsteilnahme zuzurechnenden Wegeunfall383 handelt (§ 106 Abs. 1 i.V.m. § 104 Abs. 1, § 105 Abs. 1, § 8 Abs. 2 Nr. 1-4 SGB VII). Für den Wegeunfall ist nicht entscheidend, ob er sich auf öffentlicher Straße ereignet hat, sondern ob der Verletzte ihn als normaler Verkehrsteilnehmer oder gerade als Schulangehöriger erlitten hat, d.h. in dem Gefahrenkreis, für den seine Zugehörigkeit zum Organisationsbereich der Schule im Vordergrund steht. Hierbei ist maßgeblich auf die Beziehung zu dem in Anspruch genommenen Schädiger abzustellen.384

373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384

BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 219/80, VersR 1982, 270; Gitter VGT 1987, S. 297. BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 219/80, VersR 1982, 270. BSG v. 19.3.2015 – 8 AZR 67/14, NZA 2015, 1057. BGH v. 26.11.2002 – VI ZR 449/01, VersR 2003, 348. OLG Braunschweig v. 24.10.1986 – 2 U 95/86, NJW 1988, 920. BGH v. 10.3.1987 – VI ZR 123/86, VersR 1987, 781. BGH v. 16.9.1993 – IX ZB 82/90, BGHZ 123, 268; BSG v. 25.2.1993 – 2 RU 11/92, NJW 1993, 2006. BGH v. 12.10.1976 – VI ZR 271/75, BGHZ 67, 279; BGH v. 15.7.2008 – VI ZR 212/07, NJW 2009, 681. OLG Oldenburg v. 5.11.1984 – 13 U 70/84, VersR 1986, 57. BGH v. 12.10.2000 – III ZR 39/00, BGHZ 145, 311. Hierzu eingehend Leube VersR 2001, 1215 ff. BGH v. 27.4.1981 – III ZR 47/80, VersR 1981, 849; BGH v. 22.2.1989 – III ZR 234/88, VersR 1990, 404.

584 | Greger

V. Ausschlüsse bei Gesetzlicher Unfallversicherung | Rz. 22.153 § 22 Schulbezogenheit ist vom BGH z.B. bejaht worden beim Unfall eines Schülers an der Schulbushaltestelle, der auf eine infolge mangelnder Aufsicht entstandene Drängelei zurückzuführen war.385 Dagegen hat der BGH386 eine Teilnahme am allgemeinen Verkehr und damit die Haftung des Schulträgers angenommen bei einem gleichartigen Unfall, der auf eine Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht durch die (mit dem Schulträger identische) Gemeinde zurückging. Verhaltensweisen, die in der gemeinsamen Schulbusfahrt ihren Grund finden (z.B. Rangelei beim Aussteigen), rechnet der BGH ebenfalls dem allgemeinen Verkehr zu.387 Für den Transport zur Einrichtung und zurück kommt es darauf an, ob er privat oder als Teil des Schulbetriebs organisiert ist.388 Die gemeinsame Fahrt von Studenten zu einer obligatorischen auswärtigen Lehrveranstaltung wurde als betriebsbezogen angesehen.389

22.151

e) Haftung gegenüber Sozialversicherungsträger Zur Haftung gegenüber dem Sozialversicherungsträger bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit (§ 110 SGB VII) sowie zum Ausschluss eines Forderungsübergangs auf diesen nach § 116 SGB X s. Rz. 35.110 ff.

22.152

7. Haftungsausschluss für Unfälle bei Hilfeleistungen a) Unfallhilfe Bei privater Hilfeleistung in Unglücksfällen oder bei gemeiner Gefahr390 genießt jedermann den Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung (§ 2 Abs. 1 Nr. 13 lit. a SGB VII), sogar für Sachschäden (§ 13 SGB VII).391 Dies gilt z.B. auch für das Ausweichmanöver eines Kraftfahrers, das wesentlich von der Absicht mitbestimmt und objektiv geeignet ist, eine andere Person aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten.392 Ein Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII bzw. § 636 RVO a.F. greift im Verhältnis zwischen Retter und Gerettetem jedoch grundsätzlich nicht ein, da die Nothilfe keine versicherungsbegründende Tätigkeit i.S.d. § 104 SGB VII darstellt, nicht der Zwecksetzung des Haftungsausschlusses unterliegt (Wahrung des Betriebsfriedens, unternehmerische Finanzierung als Ausgleich für die Haftungsfreistellung)393 und der Gerettete auch bei weitester Auslegung nicht als „Unternehmer“ angesehen werden kann, so dass eine Haftung aus Geschäftsführung

385 BGH v. 27.4.1981 – III ZR 47/80, VersR 1981, 849; ebenso OLG Koblenz v. 3.12.2012 – 12 U 1472/11, NZV 2013, 246. 386 BGH v. 10.3.1983 – III ZR 1/82, VersR 1983, 636. 387 BGH v. 28.4.1992 – VI ZR 284/91, VersR 1992, 854; zw. 388 BGH v. 12.10.2000 – III ZR 39/00, BGHZ 145, 311; zust. Plagemann NZV 2001, 233, 236; abl. Hebeler VersR 2001, 951. 389 OLG Braunschweig v. 24.10.1986 – 2 U 95/86, NJW 1988, 920. Anders OLG Celle v. 12.5.2010 – 14 U 166/09, r+s 2010, 483 (mit abl. Anm. Lemcke; krit. auch Ricke NZV 2014, 201 f.) für gemeinsame Fahrt zu auswärtigem Prüfungstermin. 390 Z.B. Entfernen eines verkehrsgefährdenden Gegenstands von der Fahrbahn: BSG v. 27.3.2012 – B 2 U 7/11 R, NZS 2012, 866. 391 Einzelheiten zu den versicherungs- und zivilrechtlichen Ansprüchen in diesen Fällen bei Dornwald DAR 1992, 54; Leube NZV 2011, 277. Für einen weitergehenden Aufopferungsanspruch Stuckenberg DAR 1993, 17. 392 BSG v. 30.11.1982 – 2 RU 70/81, VersR 1983, 368; BSG v. 8.12.1988 – 2 RU 31/88, NJW 1989, 2077. 393 BGH v. 24.1.2006 – VI ZR 290/04, BGHZ 166, 42, 47.

Greger | 585

22.153

§ 22 Rz. 22.153 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

ohne Auftrag (s. Rz. 17.6 ff.) in Betracht kommt.394 Dies gilt auch dann, wenn die Hilfeleistung selbst einem Unternehmer zugute kam.395 Anders verhält es sich nur, wenn es sich bei der Hilfeleistung um eine einem Unternehmer dienende Tätigkeit handelt und der Helfer sich diesem Unternehmen wie ein Arbeitnehmer eingliedert (s. Rz. 22.100 ff.), denn dann liegt bereits eine Versicherungspflicht nach § 2 Abs. 2 SGB VII vor; insoweit gelten die allgemeinen Regelungen für Arbeitsunfälle.396 Leistungen der Unfallversicherung muss sich der Helfer anrechnen lassen. Ein Forderungsübergang auf den Versicherer findet nur beim Sachschadensersatz statt397 (s. auch Rz. 35.115).

b) Pannenhilfe 22.154

Hier kann es infolge der Einbeziehung in die Gesetzliche Unfallversicherung (s. Rz. 22.110) nach § 104 Abs. 1 bzw. § 105 Abs. 2 SGB VII zu einem Ausschluss der Haftung zwischen Hilfsbedürftigem (als „Unternehmer“) und Helfer (als für ihn tätigem Versicherten) für Personenschäden kommen.398 Dies gilt sowohl zugunsten des Halters als auch zugunsten des Helfers (wenn er den mit ihm zusammenwirkenden Halter verletzt; s. Rz. 22.130).399 Auch in diesen Fällen ist die Feststellung eines Versicherungsfalls nach § 108 SGB VII von der Sozialverwaltung zu treffen.400

8. Internationales Recht 22.155

Die sozialrechtlichen Haftungsprivilegien sind nicht dem materiellen Deliktsrecht zuzuordnen, sondern dem Recht der sozialen Sicherheit.401 Bei Auslandsbezug sind demnach grundsätzlich die Vorschriften des internationalen Sozialrechts nach §§ 3 ff. SGB IV maßgeblich. Die Vorschriften des deutschen Rechts gelten somit, soweit sie eine Beschäftigung voraussetzen, für alle Personen, die im Inland beschäftigt sind, soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit nicht voraussetzen, für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben (§ 3 SGB IV). Innerhalb der EU sind nach Art. 85 Abs. 2 VO (EG) 883/2004402 die Haftungsbefreiungsvorschriften des Mitgliedstaats anzuwenden, in dem Leistungen für einen Schaden gewährt werden, der sich aus einem in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen Ereignis ergibt.

394 BGH v. 19.5.1969 – VII ZR 9/67, BGHZ 52, 115, 122. 395 BGH v. 24.1.2006 – VI ZR 290/04, BGHZ 166, 42, 45; OLG Dresden v. 8.9.1999 – 8 U 2048/99, VersR 2001, 1035, 1038; OLG Düsseldorf v. 15.1.2002 – 4 U 116/01, NJW-RR 2002, 1678, 1679. 396 Vgl. BGH v. 19.5.1969 – VII ZR 9/67, BGHZ 52, 115, 121. 397 BGH v. 10.10.1984 – IVa ZR 167/82, NJW 1985, 492 = JZ 1985, 390 mit zust. Anm. Gitter. 398 OLG Düsseldorf v. 12.6.2012 – 1 W 12/12, NZV 2012, 581; OLG Jena v. 29.6.2004 – 8 U 1153/ 03, NZV 2004, 466. A.A. für spontane Pannenhilfe an Ort und Stelle Stöber NZV 2007, 57, 60 f. 399 Die Kritik von Ricke NZV 2014, 200, 204 an OLG Düsseldorf v. 12.6.2012 – 1 W 12/12, NZV 2012, 581 trifft daher insoweit nicht zu. 400 Wohl übersehen von OLG Oldenburg v. 14.10.2015 – 5 U 46/15, r+s 2016, 372 mit krit. Anm. Lemcke. 401 BGH v. 15.7.2008 – VI ZR 105/07, NJW 2009, 916; BGH v. 7.11.2006 – VI ZR 211/05, NJW 2007, 1754 m.w.N. 402 ABl L 166, 1, zuletzt geändert durch VO v. 20.6.2019 ABl L 186, 21.

586 | Greger

VI. Ausschlüsse bei Versorgungsberechtigten und im öffentlichen Dienstrecht | Rz. 22.158 § 22

VI. Ausschlüsse bei Versorgungsberechtigten und im öffentlichen Dienstrecht 1. Allgemeines Für Dienstunfälle von Beamten und Wehrdienstbeschädigungen von Soldaten gelten teilweise Sondervorschriften. Nur wenn der Unfall des Beamten oder Soldaten durch eine im selben Betrieb tätige, aber nicht beamtete Person verursacht wurde, greift der Haftungsausschluss nach § 105 Abs. 1 SGB VII ein (s. Rz. 22.132) mit der Folge, dass der verletzte Beamte ausschließlich auf die beamtenrechtliche Unfallfürsorge angewiesen ist und ein Anspruchsübergang auf den Dienstherrn nicht stattfindet.403 Richtet sich der Schadensersatzanspruch eines Beamten oder Soldaten jedoch gegen einen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn (den eigenen oder einen anderen) oder gegen einen öffentlich Bediensteten, werden die §§ 104, 105 SGB VII durch die speziellen Regelungen des § 46 BeamtVG bzw. § 91a SVG verdrängt.404 Ansprüche, die über die dienstrechtliche Unfallfürsorge hinausgehen, können nach § 46 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG bzw. § 91a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 SVG nur geltend gemacht werden, wenn die Verletzung durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung oder bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr (dazu s. Rz. 22.160 f.) verursacht wurde. Die Fürsorgeleistungen sind auf diese Ansprüche anzurechnen (§ 46 Abs. 2 Satz 2 BeamtVG bzw. § 91a Abs. 2 SVG). In anderen Fällen kann es dazu kommen, dass dem Verletzten überhaupt kein Anspruch, z.B. auf das im Versorgungsrecht nicht vorgesehene Schmerzensgeld, verbleibt.405 Ansprüche gegen Dritte (z.B. den Halter des vom unfallverursachenden Beamten oder Soldaten geführten Kfz und dessen Haftpflichtversicherer) bleiben aber unberührt (§ 46 Abs. 3 BeamtVG bzw. § 91a Abs. 3 SVG).406

22.156

Versorgungsberechtigte nach dem BVG und den das BVG für anwendbar erklärenden Gesetzen haben nach § 81 Hs. 1 BVG gegen den Bund nur die Ansprüche nach dem BVG. § 81 Hs. 2 BVG lässt jedoch die Geltendmachung von weiter gehenden Schadensersatzansprüchen wegen eines Unfalls bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr (s. Rz. 22.160 f.) gegen eine öffentliche Verwaltung oder ihre Dienstkräfte zu.

22.157

2. Anwendungsbereich Die Haftungsbeschränkung nach § 46 BeamtVG gilt nur, wenn der Schädiger in seiner Eigenschaft als öffentlich-rechtlicher Bediensteter, nicht als Privatperson, sondern in ursächlichem Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis, gehandelt hat.407 Bei Versorgungsberechtigten muss die Schädigung durch einen anerkannten Versorgungsfall (z.B. militärische Dienstverrichtung nach § 1 BVG, Wehrdienstverrichtung gem. § 1 SVG oder Zivildienstableistung i.S.d. § 1 ZDG) herbeigeführt worden sein (zu den Regelungsbereichen der Versorgungsgesetze s. Rz. 37.3). Dies ist nur der Fall, wenn der Unfall eng mit den besonderen Gegebenheiten des

403 BGH v. 19.3.2013 – VI ZR 174/12, NJW 2013, 2351, 2352. 404 So BGH v. 19.3.2013 – VI ZR 174/12, NJW 2013, 2351, 2352. 405 BGH v. 12.11.1992 – III ZR 19/92, BGHZ 120, 176, 182. Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung BVerfG v. 22.6.1971 – 2 BvL 10/69, BVerfGE 31, 212; BVerfG v. 8.1.1992 – 2 BvL 9/88, BVerfGE 85, 176. 406 BGH v. 19.3.2013 – VI ZR 174/12, NJW 2013, 2351, 2354. Zum gestörten Gesamtschuldverhältnis bei Unfallverursachung durch einen Beamten und einen Nichtbeamten s. BGH v. 23.4.1985 – VI ZR 91/83, BGHZ 94, 173. 407 BGH v. 29.3.1977 – VI ZR 52/76, VersR 1977, 649.

Greger | 587

22.158

§ 22 Rz. 22.158 | Haftungsausschlüsse und -beschränkungen

Dienstes verknüpft ist.408 Für einen Verkehrsunfall auf dem Kasernengelände bei der Rückkehr von einer privat veranlassten Fahrt ist dies, sofern keine wehrdiensttypischen Besonderheiten hinzutreten, zu verneinen.409

22.159

Eine Bindung an Verwaltungsakte oder Gerichtsentscheidungen zum Vorliegen eines Dienstunfalls bzw. eines Versorgungsfalles ist – anders als nach § 108 SGB VII – nicht gesetzlich vorgesehen;410 dessen Rechtsgedanke ist jedoch entsprechend anzuwenden und ein zivilgerichtliches Verfahren ggf. nach § 148 ZPO auszusetzen.411

3. Ausnahmen 22.160

Der Geschädigte kann uneingeschränkt gegen den ersatzpflichtigen Dienstherrn bzw Bediensteten vorgehen, wenn der Dienstunfall bzw. Versorgungsfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist (§ 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BeamtVG, § 91a Abs. 2 SVG, § 47 ZDG i.V.m. § 81 Hs. 2 BVG). Dies ist der Fall, wenn der Verletzte den Unfall nicht in dem Gefahrenkreis erlitten hat, für den seine Zugehörigkeit zum Organisationsbereich des für den Unfall verantwortlichen Dienstherrn oder Versorgungsträgers im Vordergrund steht, sondern wenn der Unfall nur in einem losen, äußerlichen Zusammenhang mit dem dienstlichen Organisationsbereich steht, der Verletzte also „wie ein normaler Verkehrsteilnehmer“ verunglückt ist412 (s. auch Rz. 22.117 ff.). Der dienstliche Zweck einer Fahrt genügt für sich alleine nicht zur Verneinung einer Teilnahme am allgemeinen Verkehr; sie muss vielmehr als Teil des Dienstbetriebs erscheinen.413

22.161

Zum allgemeinen Verkehr zählt z.B. die gemeinsame Fahrt von aus dem Urlaub zurückkehrenden Soldaten zum Dienst414 oder ein Unfall auf dem Weg von zu Hause zur Arbeitsstelle,415 sofern sich der Unfall nicht im räumlichen Organisationsbereich der Dienststelle ereignet.416 Nicht bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr ereignet sich dagegen ein Unfall auf dem Kasernengelände.417 Waren Schädiger und Geschädigter aus unterschiedlichen dienstlichen Anlässen unterwegs, also nur zufällig zusammengetroffen, so greift der Haftungsausschluss nicht ein.418

408 Bejaht von OLG Naumburg v. 7.4.1995 – 6 U 20/95, VersR 1995, 1333 bei Beschaffung von Verpflegung durch Soldaten in Wachbereitschaft; verneint von OLG München v. 10.7.1998 – 10 U 6104/97, NZV 1998, 507 bei privat motivierter Motorradfahrt auf Kasernengelände. 409 BGH v. 9.2.1993 – VI ZR 23/92, NZV 1993, 227 in Abgrenzung von BGH v. 8.2.1972 – VI ZR 173/70, VersR 1972, 491; a.A. OLG München v. 26.11.1991 – 5 U 2179/91, NZV 1992, 155 (Berufungsurteil). 410 OLG Naumburg v. 7.4.1995 – 6 U 20/95, VersR 1995, 1333. 411 BGH v. 14.1.1993 – III ZR 33/88, BGHZ 121, 131, 134 f.; a.A. OLG München v. 26.4.1988 – 5 U 5971/87, VersR 1989, 379 mit abl. Anm. Riecker. 412 BGH v. 14.1.1993 – III ZR 33/88, BGHZ 121, 131, 136; BGH v. 27.11.2003 – III ZR 54/03, VersR 2004, 473 m.w.N. 413 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 20/91, BGHZ 116, 30. 414 BGH v. 29.3.1977 – VI ZR 52/76, VersR 1977, 649. 415 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 20/91, BGHZ 116, 30, 34. 416 BGH v. 27.11.2003 – III ZR 54/03, VersR 2004, 473. 417 BGH v. 8.2.1972 – VI ZR 173/70, VersR 1972, 491; nach OLG München v. 26.4.1988 – 5 U 5971/87, NZV 1989, 26 auch bei gemeinsamer Heimfahrt von Diskothekenbesuch; hier ist jedoch schon die Dienstbezogenheit fraglich. 418 BGH v. 2.11.1989 – III ZR 133/88, NZV 1990, 115; Hartung 25 Jahre KF (1983), S. 114; a.A. OLG Frankfurt v. 15.10.1981 – 15 U 230/80, VersR 1982, 778 für Verletzung eines marschierenden Soldaten durch Bundeswehrbus.

588 | Greger

§ 23 Höhenbegrenzung der Gefährdungshaftung

I. 1. 2. II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. a)

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . Haftungsbegrenzung nach dem StVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen- und Sachschaden . . . . . . . Mehrere Schadensposten . . . . . . . . . . Mithaftung des Verletzten . . . . . . . . . Gespanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalbetrag und Rente . . . . . . . . . . Gesetzlicher Forderungsübergang . . . Künftige Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrere Verletzte . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.1 23.1 23.4 23.7 23.7 23.11 23.12 23.13 23.14 23.15 23.17 23.19 23.19

b) c) 9. a) b) c) d) III. 1. 2. 3. IV.

Einheitliches Schadensereignis . . . . . Aufteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Automatisierte Fahrzeuge . . . . . . . . . Geschäftsmäßige Personenbeförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefahrguttransporte . . . . . . . . . . . . . Gepanzerte Gleiskettenfahrzeuge . . . Haftungsbegrenzung nach dem HaftpflG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenschäden . . . . . . . . . . . . . . . . Sachschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.20 23.21 23.22 23.22 23.23 23.24 23.25 23.26 23.26 23.27 23.28 23.29

§ 12 StVG (1) Der Ersatzpflichtige haftet 1. im Fall der Tötung oder Verletzung eines oder mehrerer Menschen durch dasselbe Ereignis nur bis zu einem Betrag von insgesamt fünf Millionen Euro, bei Verursachung des Schadens auf Grund der Verwendung einer hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktion gemäß § 1a nur bis zu einem Betrag von insgesamt zehn Millionen Euro; im Fall einer entgeltlichen, geschäftsmäßigen Personenbeförderung erhöht sich für den ersatzpflichtigen Halter des befördernden Kraftfahrzeugs bei der Tötung oder Verletzung von mehr als acht beförderten Personen dieser Betrag um 600.000 € für jede weitere getötete oder verletzte beförderte Person; 2. im Fall der Sachbeschädigung, auch wenn durch dasselbe Ereignis mehrere Sachen beschädigt werden, nur bis zu einem Betrag von insgesamt einer Million Euro, bei Verursachung des Schadens auf Grund der Verwendung einer hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktion gemäß § 1a nur bis zu einem Betrag von insgesamt zwei Millionen Euro. Die Höchstbeträge nach Satz 1 Nr. 1 gelten auch für den Kapitalwert einer als Schadensersatz zu leistenden Rente. (2) Übersteigen die Entschädigungen, die mehreren auf Grund desselben Ereignisses zu leisten sind, insgesamt die in Abs. 1 bezeichneten Höchstbeträge, so verringern sich die einzelnen Entschädigungen in dem Verhältnis, in welchem ihr Gesamtbetrag zu dem Höchstbetrag steht. § 12a StVG (1) Werden gefährliche Güter befördert, haftet der Ersatzpflichtige 1. im Fall der Tötung oder Verletzung eines oder mehrerer Menschen durch dasselbe Ereignis nur bis zu einem Betrag von insgesamt zehn Millionen Euro, 2. im Fall der Sachbeschädigung an unbeweglichen Sachen, auch wenn durch dasselbe Ereignis mehrere Sachen beschädigt werden, nur bis zu einem Betrag von insgesamt zehn Millionen Euro,

Greger | 589

§ 23 Rz. 23.1 | Höhenbegrenzung der Gefährdungshaftung sofern der Schaden durch die die Gefährlichkeit der beförderten Güter begründenden Eigenschaften verursacht wird. Im Übrigen bleibt § 12 Abs. 1 unberührt. (2) Gefährliche Güter im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe und Gegenstände, deren Beförderung auf der Straße nach den Anlagen A und B zu dem Europäischen Übereinkommen vom 30.9.1957 über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR) (BGBl. 1969 II S. 1489) in der jeweils geltenden Fassung verboten oder nur unter bestimmten Bedingungen gestattet ist. (3) Abs. 1 ist nicht anzuwenden, wenn es sich um freigestellte Beförderungen gefährlicher Güter oder um Beförderungen in begrenzten Mengen unterhalb der im Unterabschnitt 1.1.3.6. zu dem in Abs. 2 genannten Übereinkommen festgelegten Grenzen handelt. (4) Abs. 1 ist nicht anzuwenden, wenn der Schaden bei der Beförderung innerhalb eines Betriebs entstanden ist, in dem gefährliche Güter hergestellt, bearbeitet, verarbeitet, gelagert, verwendet oder vernichtet werden, soweit die Beförderung auf einem abgeschlossenen Gelände stattfindet. (5) § 12 Abs. 2 gilt entsprechend. § 12b StVG Die §§ 12 und 12a sind nicht anzuwenden, wenn ein Schaden bei dem Betrieb eines gepanzerten Gleiskettenfahrzeugs verursacht wird. § 9 HaftpflG Der Unternehmer oder der in § 2 bezeichnete Inhaber der Anlage haftet im Falle der Tötung oder Verletzung eines Menschen für jede Person bis zu einem Kapitalbetrag von 600.000 € oder bis zu einem Rentenbetrag von jährlich 36.000 €. § 10 HaftpflG (1) Der Unternehmer oder der in § 2 bezeichnete Inhaber der Anlage haftet für Sachschäden nur bis zum Betrag von 300.000 €, auch wenn durch dasselbe Ereignis mehrere Sachen beschädigt werden. (2) Sind auf Grund desselben Ereignisses an mehrere Personen Entschädigungen zu leisten, die insgesamt den Höchstbetrag von 300.000 € übersteigen, so verringern sich die einzelnen Entschädigungen in dem Verhältnis, in dem ihr Gesamtbetrag zu dem Höchstbetrag steht. (3) Die Abs. 1 und 2 gelten nicht für die Beschädigung von Grundstücken.

I. Überblick 1. Allgemeines 23.1

Bei der Einführung der Gefährdungshaftung für Kfz im Jahre 1909 wurde als Ausgleich für die Erweiterung der Haftung auf unverschuldete Schadensereignisse eine summenmäßige Haftungsbegrenzung vorgesehen. Der schuldlose Kraftfahrer sollte dadurch bei Schadensfällen, die die Deckungssumme der Haftpflichtversicherung übersteigen, vor existenzbedrohenden Verbindlichkeiten bewahrt werden. Weiteres Ziel war, die Versicherungsprämien für die Haftpflichtversicherung in erträglichen Grenzen zu halten. Die Haftungshöchstgrenzen blieben daher weit hinter den für Bahnunternehmer geltenden zurück.

23.2

Die Haftungssummen wurden aus Gründen der Geldwertentwicklung und infolge der Erstreckung der Gefährdungshaftung auf die Insassen öffentlicher Verkehrsmittel wiederholt geän590 | Greger

II. Haftungsbegrenzung nach dem StVG | Rz. 23.7 § 23

dert. Durch das am 1.8.2002 in Kraft getretene 2. SchRÄndG wurden zudem höhere Beträge für Gefahrguttransporte und eine unbegrenzte Haftung für gepanzerte Gleiskettenfahrzeuge eingeführt (§§ 12a, 12b StVG; s. Rz. 23.24 f.). Die bislang letzte Änderung durch Gesetz v. 16.6.20171 setzte die Haftungshöchstbeträge für Kfz mit hoch- oder vollautomatisierter Fahrfunktion herauf. Bei Änderungen der Haftungssummen bleibt die im Unfallzeitpunkt bestehende Regelung maßgeblich. Zu erheblichen Komplikationen kann es kommen, wenn durch ein Ereignis mehrere Personen geschädigt wurden. Im Grundsatz erhöht sich dadurch die Höchstsumme nicht (zur Ausnahme bei geschäftsmäßiger Personenbeförderung s. Rz. 23.23). Die Verteilung einer dann u.U. unzureichenden Haftungsmasse auf die einzelnen Berechtigten kann Schwierigkeiten bereiten (s. Rz. 23.19 ff.).

23.3

2. Anwendungsbereich Die Höchstbeträge nach § 12 StVG gelten für die Haftung des Halters oder Führers eines Kfz oder Kfz-Anhängers nach §§ 7, 18, 19 Abs. 1 Satz 2, § 19a Abs. 1 StVG (zur Sonderregelung für Gespanne aus Zugfahrzeug und Anhänger s. Rz. 23.13). Limitiert ist des Weiteren die Gefährdungshaftung des Bahnunternehmers (§ 1 HaftpflG) nach Maßgabe von §§ 9, 10 HaftpflG sowie des Luftfahrtunternehmers nach § 37 LuftVG. Zur Produzentenhaftung s. Rz. 6.13. Die Begrenzungen gelten aber nicht, soweit der Anspruch des Verletzten auch aus einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt, insbesondere unerlaubter Handlung, begründet ist. Keine Höhenbegrenzung kennen auch die Gefährdungshaftungstatbestände der §§ 833, 834 BGB und § 89 WHG.

23.4

Bei Ausgleichsansprüchen nach § 17 Abs. 1 StVG gilt § 12 StVG ebenfalls.2 Wird mithin der Halter oder Führer eines Kfz von einem anderen Unfallbeteiligten, der die Ansprüche des Verletzten erfüllt hat, auf teilweisen Ersatz der Aufwendungen in Anspruch genommen, so braucht er, soweit er nur aus § 7 oder § 18 StVG haftet, nie mehr als den Haftungshöchstbetrag zu zahlen.3

23.5

Nach der Rechtsprechung des RG und des BGH soll die Verpflichtung des geschädigten Halters, aufgrund mitwirkender Betriebsgefahr auch bei schuldloser Mitverantwortung einen Teil des Schadens mitzutragen (s. Rz. 25.3, 25.87 ff.), nicht auf die Höchstgrenzen des § 12 StVG begrenzt sein.4 Gegen diese Ansicht bestehen Bedenken (s. Rz. 25.97). Bei den heute geltenden, sehr hohen Grenzen dürfte sie aber kaum noch Bedeutung haben.

23.6

II. Haftungsbegrenzung nach dem StVG 1. Personen- und Sachschaden Der Höchstbetrag wegen eines Personenschadens (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 StVG) umfasst sämtliche durch den Tod oder die Verletzung einer Person entstandenen Ansprüche, also neben dem

1 2 3 4

BGBl. I 2017, 1648. In Kraft seit 21.6.2017. BGH v. 21.12.1956 – VI ZR 297/55, DAR 1957, 129. BGH v. 14.7.1964 – VI ZR 129/63, NJW 1964, 1898. RG v. 14.11.1935 – VI 256/35, RGZ 149, 213, 215; BGH v. 13.4.1956 – VI ZR 347/54, BGHZ 20, 259, 262.

Greger | 591

23.7

§ 23 Rz. 23.7 | Höhenbegrenzung der Gefährdungshaftung

Unterhaltsschaden der Witwe auch die Kosten der versuchten Heilung und die Beerdigungskosten.5 Zur Begrenzung bei Schädigung mehrerer Personen s. Rz. 23.19 ff.

23.8

Bei Sachschäden werden zur Ermittlung der Haftungsgrenze nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 StVG die Schäden an allen durch dasselbe Ereignis (s. Rz. 23.20) beschädigten Sachen addiert, auch wenn sie verschiedenen Personen gehören (s. Rz. 23.19). Eine Sonderregelung für durch das Kfz beförderte Sachen besteht nicht.

23.9

Beim Zusammentreffen beider Schadensarten tritt der Höchstbetrag für den Ersatz von Sachschäden neben den Höchstbetrag für Personenschäden. Der für den Ersatz von Personenschäden zur Verfügung stehende Betrag mindert sich mithin nicht, wenn ein Unfall außer Personenschäden auch Sachschäden hervorgerufen hat.

23.10

Rechtsverfolgungskosten, die dem Geschädigten nach § 7 StVG zu ersetzen sind (s. Rz. 29.1 ff.), sind in die Höchstbeträge nach § 12 StVG nicht einzurechnen, sondern ggf. zusätzlich zu erstatten. Es wäre sinnwidrig, Kosten, die dem Geschädigten zur Rechtsverfolgung zwangsläufig entstehen, mittels Kürzung seiner Ersatzansprüche zu seinen Lasten gehen zu lassen.6 Der Höchstbetrag erhöht sich dagegen nicht um Zinsen für Rücklagen, die der Ersatzpflichtige zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit gebildet hat.7

2. Mehrere Schadensposten 23.11

Setzt sich der Schaden aus mehreren Posten zusammen, ist aber nur eine Person geschädigt, so kann diese nicht nach ihrem Belieben einen oder mehrere der Schadensposten bis zur Erschöpfung des Höchstbetrages geltend machen und auf die Geltendmachung der übrigen verzichten (woran u.U. wegen eines gesetzlichen Forderungsübergangs ein Interesse bestehen kann). Die Normierung der Höchstbeträge in § 12 StVG bewirkt vielmehr eine verhältnismäßige Kürzung jedes einzelnen Schadenspostens, und zwar in dem Verhältnis, in dem die Haftungshöchstsumme zum Gesamtbetrag des Schadens steht.8 Der Schädiger, der dartut, dass der Geschädigte Anspruch auf Ersatz weiterer Schadensposten hat, muss daher auch deren Höhe dartun, wenn er die geltend gemachten Posten teilweise zu Fall bringen will.

3. Mithaftung des Verletzten 23.12

Trifft den Verletzten ein mitwirkendes Verschulden (oder eine mitwirkende Verantwortung nach § 17 Abs. 2 StVG), so wird der Höchstbetrag nicht etwa im Verhältnis des mitwirkenden Verschuldens verringert. Vielmehr erhält der Verletzte den vollen ihm unter Berücksichtigung seiner Mithaftung zustehenden Schadensersatz, wenn dieser sich innerhalb der Höchstgrenzen des § 12 StVG hält. Übersteigt die Forderung den Höchstbetrag, so ist nur dieser geschuldet. Haben sich mehrere Verletzte den Höchstbetrag zu teilen (s. Rz. 23.19 ff.), so nimmt jeder mit dem Betrag an der Verteilung teil, der ihm unter Beachtung seiner Mitverantwortung zusteht.9

5 BGH v. 16.12.1968 – III ZR 179/67, BGHZ 51, 226. 6 BGH v. 29.9.1969 – III ZR 149/68, VersR 1969, 1042 für die im Verwaltungsverfahren nach dem NTS und dem hierzu ergangenen Gesetz entstandenen Kosten; Nixdorf VersR 1995, 257. 7 BGH v. 24.9.1996 – VI ZR 315/95, NZV 1997, 36, 37. 8 BGH v. 27.6.1968 – III ZR 63/65, BGHZ 50, 271, 276. 9 RG v. 20.12.1915 – VI 273/15, RGZ 87, 402, 404; RG JW 1930, 2943 mit Anm. Fromherz; BGH v. 28.4.1954 – VI ZR 56/53, NJW 1954, 1197.

592 | Greger

II. Haftungsbegrenzung nach dem StVG | Rz. 23.18 § 23

4. Gespanne Ist am Unfall ein Kfz mit Anhänger beteiligt, haften die Halter der beiden Fahrzeuge zwar gesamtschuldnerisch; ihre Haftung ist jedoch nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StVG auf die Höchstbeträge der §§ 12, 12a StVG begrenzt. Diese Begrenzung bezieht sich nach der nicht eindeutigen Fassung der Vorschrift auf die Haftung des Gespanns als Ganzes.10 Bei Unfällen vor Inkrafttreten dieser Regelung (17.7.2020; s. § 65 Abs. 6 StVG) bleibt es dagegen bei der durch § 12 StVG a.F. hervorgerufenen Verdoppelung der Haftung.11 Für den Führer des Gespanns folgt die Reduktion auf den einmaligen Höchstbetrag aus § 19a Abs. 1 Satz 1 StVG.

23.13

5. Kapitalbetrag und Rente Abweichend vom früheren Recht gelten seit 18.12.2007 keine gesonderten Höchstbeträge für Kapital- und Rentenansprüche mehr. Nunmehr ist der als Kapitalbetrag festgelegte Haftungshöchstbetrag auch für eine etwaige Rentenzahlungsverpflichtung maßgeblich. Daher muss der Kapitalwert der Rente im Einzelfall ermittelt werden. Der bis 2007 in § 12 StVG festgeschriebene Zinsfuß von 6 % ist jetzt nicht mehr verbindlich festgelegt, kann aber, da nach § 9 HaftpflG fortgeltend, als Richtwert angesehen werden.12

23.14

6. Gesetzlicher Forderungsübergang Zu den Auswirkungen der Höhenbegrenzung auf den gesetzlichen Forderungsübergang vgl. für den Regress der Sozialversicherungsträger Rz. 35.64 ff., der Sozialhilfeträger Rz. 36.22 f., der Versorgungsträger Rz. 37.39 und der Dienstherren Rz. 37.19 ff. Zur Rentenhöhe s. Rz. 34.19.

23.15

Die dem Verletzten verbliebenen Ansprüche sind anteilsmäßig (s. Rz. 23.11) zu berechnen und vom Höchstbetrag abzuziehen, damit sich der dem Leistungsträger zustehende Restbetrag der Haftungssumme ergibt.13

23.16

7. Künftige Schäden Beim Zusammentreffen bezifferbarer Schäden mit in Zukunft zu erwartenden, ihrer Höhe nach nicht feststehenden Schäden sind, wenn nur eine Person beim Unfall einen Schaden erlitten hat (und auch nicht mehrere Hinterbliebene anspruchsberechtigt sind), dieser alle geltend gemachten Ansprüche in zeitlicher Reihenfolge so lange zuzusprechen, bis der Höchstbetrag erschöpft ist.14 Bei mehreren Anspruchsberechtigten kann sich je nach Schadensentwicklung ein nachträglicher Ausgleich als erforderlich erweisen.15

23.17

Wird in einem Urteil dem Verletzten ein bestimmter Betrag oder eine laufende Rente zugesprochen und daneben die Ersatzpflicht des Schädigers für Zukunftsschäden festgestellt, so ist im feststellenden Teil des Urteils die Beschränkung auf den von § 12 StVG gesetzten Rahmen auszusprechen (näher hierzu und zu den Folgen der Unterlassung s. Rz. 23.29; zum Fehlen der Beschränkung in einem Vergleich s. Rz. 16.61).

23.18

10 11 12 13

BT-Drucks. 19/17964, 13. S. hierzu Bauer-Gerland VersR 2020, 146, 147. S. 5. Aufl. § 20 Rz. 4. BHHJ/Jahnke § 12 StVG Rz. 22. Vgl. für die Kaskoversicherung BGH v. 20.3.1967 – III ZR 100/66, BGHZ 47, 196; BGH v. 27.6.1968 – III ZR 63/65, BGHZ 50, 271. 14 BGH v. 15.12.1961 – VI ZR 45/61, VRS 22, 189, 190. 15 S. dazu BGH v. 16.12.1968 – III ZR 179/67, BGHZ 51, 226, 233 ff.

Greger | 593

§ 23 Rz. 23.19 | Höhenbegrenzung der Gefährdungshaftung

8. Mehrere Verletzte a) Überblick 23.19

Die Höchstbeträge nach § 12 StVG gelten grundsätzlich (Ausnahme s. Rz. 23.23) auch für den Fall, dass bei einem Unfall mehrere Personen Sach- oder Personenschäden erlitten haben und der Halter diesen nach § 7 StVG haftet. Verletzte mit Ansprüchen aus unerlaubter Handlung bleiben für die Ermittlung des Haftungshöchstbetrages außer Betracht. Liegt der Gesamtschaden über der Grenze, müssen die Ersatzleistungen auf die Geschädigten verteilt werden.

b) Einheitliches Schadensereignis 23.20

Eine Pflicht zur Teilung entsteht nur, wenn die Ansprüche der mehreren Verletzten durch dasselbe Ereignis ausgelöst wurden. Unter Ereignis ist der tatsächliche Vorgang zu verstehen, der den Unfall hervorgerufen hat (s. Rz. 3.268). Hat ein Ereignis mehrere Unfälle verursacht, so sind alle dabei Verletzten zur Haftungsgemeinschaft zusammengefasst und müssen sich die Höchsthaftungssummen teilen. Das gilt vor allem bei sog Serienunfällen, wie sie nicht selten entstehen, wenn ein Kfz nach einem Unfall auf der Autobahn liegen bleibt und weitere auffahren. Eine zeitliche Grenze besteht nicht. Die Haftungsgemeinschaft dehnt sich auch noch auf die Insassen und den Halter eines nach Stunden auffahrenden oder durch Ausweichbewegung von der Fahrbahn abkommenden Kfz aus, sofern der erste Unfall hierfür ursächlich war. Andererseits ist zu beachten, dass keine Haftungsgemeinschaft entsteht, wenn ein Kfz auf einer Fahrt mehrere Unfälle erleidet. Dies gilt auch dann, wenn die Unfälle auf einem fortwährenden Dauerzustand (z.B. Trunkenheit des Fahrers oder Funktionsuntüchtigkeit der Bremsen) beruhen. Ein solcher Zustand ist kein Ereignis i.S.d. § 12 StVG.

c) Aufteilung 23.21

Übersteigt der Gesamtschaden den Summenhöchstbetrag, so ist die jedem einzelnen zu leistende Entschädigung verhältnismäßig zu kürzen (Abs. 2). Da ein Verteilungsverfahren nicht vorgesehen ist, entsteht für den Verletzten bei Vorhandensein mehrerer Anspruchsberechtigter die Schwierigkeit, bei der Bezifferung seines Klageantrags die möglicherweise zum Überschreiten des Summenhöchstbetrags führenden Ansprüche der anderen in Rechnung zu stellen. Noch schwieriger ist die Situation des Ersatzpflichtigen, der die Anspruchsminderung nach § 12 StVG zu beweisen hat.16 Für den Verletzten wird, wenn es nicht möglich ist, das Vorgehen gegen den Schädiger mit den anderen Verletzten zu koordinieren und die Haftungssumme entsprechend aufzuteilen, in Betracht zu ziehen sein, zunächst eine Klage auf Feststellung der Ersatzpflicht mit Vorbehalt der Begrenzung nach § 12 Abs. 2 StVG zu erheben. Auf Seiten des Ersatzpflichtigen ist bei Inanspruchnahme durch einen Verletzten an die Möglichkeit einer Streitverkündung (§ 72 ZPO) zu denken. Eine Hinterlegung des Haftungsbetrags nach § 372 BGB scheidet dagegen aus, weil es sich nicht um eine Forderung handelt, die von mehreren in Anspruch genommen wird, sondern um mehrere Forderungen.17

16 BGH v. 23.5.1972 – VI ZR 186/70, NJW 1972, 1466. 17 Wussow NJW 1959, 563.

594 | Greger

II. Haftungsbegrenzung nach dem StVG | Rz. 23.25 § 23

9. Sonderfälle a) Automatisierte Fahrzeuge Mit Gesetz v. 16.6.2017 wurden in § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG höhere Haftungssummen für Unfälle festgesetzt, die sich auf Grund der Verwendung einer hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktion ereignen (zu diesen Begriffen s. Rz. 4.17). Es reicht hierfür nicht aus, dass das unfallbeteiligte Kfz mit entsprechenden Funktionen ausgerüstet ist; der Unfall muss auch auf deren Verwendung zurückzuführen sein, Es muss sich um ein Systemversagen handeln, für welches der Führer nicht nach § 18 StVG, § 823 BGB haftbar gemacht werden kann.18 Da die Mindestversicherungssumme nicht entsprechend angepasst wurde, besteht (zumindest für theoretische Konstellationen) ein bedenkliches Risiko persönlicher Haftung für den Kfz-Halter.19

23.22

b) Geschäftsmäßige Personenbeförderung Für Ansprüche entgeltlich und geschäftsmäßig beförderter Personen i.S.v. § 8a StVG sieht § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Hs. 2 StVG eine Erhöhung des Haftungslimits vor, wenn mehr als acht beförderte Personen getötet oder verletzt wurden. Pro Person erhöht sich der insgesamt zu leistende Betrag um 600.000 €. Dadurch soll sicher gestellt werden, dass wie im früheren Recht für jede beförderte Person mindestens eine Haftungssumme von 600.000 € zur Verfügung steht.20 Werden bei dem Schadensereignis auch Personen außerhalb des Verkehrsmittels geschädigt, führt dies nicht zur Erhöhung der Gesamtsumme. Ggf. sind dann für die Ansprüche beförderter und nicht beförderter Personen gesonderte Berechnungen anzustellen.

23.23

c) Gefahrguttransporte Die besonderen Höchstbeträge nach § 12a StVG gelten nur, wenn sich in dem Unfall das gesteigerte Schadensrisiko des Gefahrguts realisiert hat (§ 12a Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz StVG). Der Anwendungsbereich lehnt sich eng an die Definition des Transports gefährlicher Güter im Sicherheitsrecht (GGBefG) an (vgl. Abs. 2 und die Ausnahmen in Abs. 3 und 4).21

23.24

d) Gepanzerte Gleiskettenfahrzeuge Kfz, die auf endlosen Ketten oder Bändern laufen (§ 34b StVZO) und gegen ballistische Geschosse besonders geschützt sind oder als Trägerfahrzeuge eines Waffensystems dienen,22 sind nach § 12b StVG von der Haftungslimitierung des § 12 StVG vollständig ausgenommen. Dies gilt, soweit der Unfall dem Panzerfahrzeug als Verkehrsmittel zugerechnet werden kann, auch außerhalb des öffentlichen Straßenverkehrs (s. Rz. 3.59), etwa auf dem Gelände eines Truppenübungsplatzes, wie aus dem Fehlen einer § 12a Abs. 4 StVG entsprechenden Ausnahmevorschrift zu schließen ist.

18 19 20 21 22

BT-Drucks. 18/11300, 24. Ch. Huber NZV 2017, 545 ff. BT-Drucks. 16/5551, 18. Näher BT-Drucks. 14/7752, 33 f. BT-Drucks. 14/7752, 35.

Greger | 595

23.25

§ 23 Rz. 23.26 | Höhenbegrenzung der Gefährdungshaftung

III. Haftungsbegrenzung nach dem HaftpflG 1. Überblick 23.26

Die Gefährdungshaftung des Bahnunternehmers bzw. des Anlagenbetreibers nach §§ 1, 2 HaftpflG ist weniger weit eingeschränkt als die nach dem StVG. Es gibt insbesondere keinen globalen Höchstbetrag bei Verletzung mehrerer Personen. Die Haftungsbegrenzungen gelten nicht für Ansprüche aus anderen Rechtsgrundlagen.

2. Personenschäden 23.27

§ 9 HaftpflG begrenzt Kapitalansprüche auf 600.000 €, Rentenansprüche auf jährlich 36.000 €; die Höchstbeträge gelten pro verletzte Person, so dass auch bei mehreren Verletzten jeder bis zu dieser Grenze entschädigt wird. Treffen Ansprüche auf Kapitalersatz und Rente (z.B. Heilungskosten und Verdienstausfall) zusammen, muss jeder einzelne Schadensposten in dem Verhältnis gekürzt werden, in dem der Gesamtschaden zu dem Höchstbetrag steht.23 Zur Ermittlung des geschuldeten Rentenbetrags sind demnach sämtliche Schadensposten zu ermitteln und zusammenzurechnen. Dabei ist die Rente nach dem in § 9 HaftpflG zugrunde gelegten Maßstab von 6 % auf Kapital umzurechnen.24 Dies gilt jedenfalls, wenn aus der Verletzung oder Tötung eines Menschen mehrere Personen anspruchsberechtigt sind. Stehen Kapital und Rente ausschließlich einem Gläubiger zu, kann auch der Kapitalanspruch vorab und der Rentenanspruch nur aus dem verbleibenden Rest befriedigt werden.25 Soweit dem Verletzten ein Wahlrecht zwischen Kapital und Rente zusteht (s. Rz. 34.13 ff.), ist auf diese Auswirkungen der Haftungsbegrenzung Bedacht zu nehmen.26

3. Sachschäden 23.28

Wegen der Regelung in § 10 Abs. 1 und 2 HaftpflG kann auf die Erläuterungen zu der gleich lautenden Bestimmung des StVG (s. Rz. 23.8 ff.) Bezug genommen werden. Wird dagegen ein Grundstück beschädigt, so haftet der Unternehmer nach Abs. 3 in unbegrenzter Höhe. Zum Grundstück gehören auch seine wesentlichen Bestandteile (§ 94 BGB). In Betracht kommt vor allem die Beschädigung oder Zerstörung von Gebäuden oder Gebäudeteilen, Einfriedungen und Pflanzen, vor allem auch Nutzpflanzen (Getreide auf dem Halm, nicht aber geschnittenes Getreide, auch wenn es noch auf dem Feld liegt).27 Werden außer einem Grundstück durch denselben Unfall auch bewegliche Sachen beschädigt, so sind die Ersatzansprüche für die Beschädigung des Grundstücks nicht auf den Höchstbetrag von 300.000 € anzurechnen. Die Beschädigung von Grundstückszubehör (§ 97 BGB) ist keine Beschädigung des Grundstücks, sondern eine solche beweglicher Sachen.28

BGH v. 16.12.1968 – III ZR 179/67, BGHZ 51, 226, 231. BGH v. 16.12.1968 – III ZR 179/67, BGHZ 51, 226, 235 f. BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 185/61, VersR 1962, 829. S. dazu BGH v. 19.10.1956 – VI ZR 181/55, VersR 1956, 17; BGH v. 17.3.1964 – VI ZR 15/63, VersR 1964, 638. 27 BGH v. 17.2.1956 – VI ZR 334/54, BGHZ 20, 85, 87. 28 BGH v. 17.2.1956 – VI ZR 334/54, BGHZ 20, 85.

23 24 25 26

596 | Greger

IV. Prozessuales | Rz. 23.31 § 23

IV. Prozessuales Im Feststellungsurteil muss die Haftungsbeschränkung im Tenor zum Ausdruck kommen; sie kann andernfalls in einem nachfolgenden Leistungsprozess nicht mehr geltend gemacht werden.29 Das Fehlen eines solchen Ausspruchs begründet aber weder eine Rechtskraftwirkung noch eine Beschwer, wenn der Schaden des Klägers den Höchstbetrag offensichtlich nicht überschreiten wird oder wenn sich die Beschränkung eindeutig aus dem Zusammenhang von Urteilsformel und Tatbestand oder Entscheidungsgründen ergibt.30

23.29

Ein Feststellungsinteresse ist – trotz an sich möglicher Leistungsklage – gegeben, wenn durch Ansprüche anderer Geschädigter eine Begrenzung der klägerischen Ansprüche auf die Gesamthaftungssumme eintreten kann. In diesem Fall kann Antrag auf Feststellung der Zahlungspflicht des Beklagten „vorbehaltlich einer Herabsetzung der Ansprüche des Klägers gem. § 12 Abs. 2 StVG“ begehrt werden.31

23.30

Im Grundurteil (s. Rz. 40.32 ff.) kommt die Haftungsbeschränkung dadurch zum Ausdruck, dass das Gericht den Anspruch nur „im Rahmen des § 12 StVG“ für gerechtfertigt erklärt. Wird ein solches Grundurteil rechtskräftig, so kann im nachfolgenden Betragsverfahren die Frage der höhenmäßigen Begrenzung der Haftung nicht mehr zur Entscheidung gestellt werden. Enthält hingegen die Entscheidung über den Haftungsgrund keine Aussage über eine höhenmäßige Haftungsbegrenzung, kann diese gleichwohl im Betragsverfahren geltend gemacht werden, wenn sich aus den Gründen ergibt, dass die Haftung auf dem StVG bzw. HaftpflG beruht.32

23.31

29 BGH v. 23.1.1979 – VI ZR 199/77, NJW 1979, 1046, 1047 (zu § 3 Nr. 4, 6 PflVG a.F.). 30 BGH v. 22.9.1981 – VI ZR 170/80, VersR 1981, 1180; BGH v. 21.1.1986 – VI ZR 63/85, VersR 1986, 565, 566. 31 BGH v. 9.10.1961 – III ZR 118/60, BGHZ 36, 38. 32 Geigel/Bacher Kap. 38 Rz. 78.

Greger | 597

§ 24 Verjährung

I. II. 1. 2. 3. 4. a) b) c) d) e) 5. a) b) c) III. 1. 2. a) b) c) IV. 1. 2. a) b) c) d) e) 3. a) b) c) d) e) f) g) 4. a)

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . Dauer und Beginn . . . . . . . . . . . . . Entstehung des Anspruchs . . . . . . Subjektive Voraussetzungen . . . . . Inhaber der Kenntnis . . . . . . . . . . . Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzliche Vertretung . . . . . . . . . . Wissensvertretung . . . . . . . . . . . . . . Gesetzlicher Forderungsübergang . . Gesamtrechtsnachfolge . . . . . . . . . . Inhalt der Kenntnis . . . . . . . . . . . . Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruchsbegründende Tatsachen . Neubeginn der Verjährung . . . . . . Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anerkennen des Anspruchs . . . . . . Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hemmung der Verjährung . . . . . . Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmeldung beim Haftpflichtversicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an die Anmeldung . Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrheit von Geschädigten . . . . . . Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhandlungen über den Schadensfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkung der Verhandlungen . Person des Verhandelnden . . . . . . . Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zum Neubeginn . . . . . . . Rechtsverfolgung . . . . . . . . . . . . . . Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Klageerhebung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . .

24.1 24.3 24.3 24.6 24.7 24.11 24.11 24.12 24.14 24.16 24.20 24.21 24.21 24.25 24.27 24.31 24.31 24.32 24.32 24.34 24.36 24.39 24.39 24.40 24.41 24.42 24.43 24.44 24.46 24.51 24.51 24.52 24.53 24.55 24.56 24.62 24.63 24.64 24.64

bb) Zustellung eines Mahnbescheids (§ 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB) . . . . . cc) Güteantrag (§ 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Prozessaufrechnung (§ 204 Abs. 1 Nr. 5 BGB) . . . . . . . . . . . ee) Streitverkündung (§ 204 Abs. 1 Nr. 6 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Beweisverfahren (§ 204 Abs. 1 Nr. 7 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Antrag auf Vorentscheidung einer Behörde (§ 204 Abs. 1 Nr. 12 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . hh) Bestimmung des zuständigen Gerichts (§ 204 Abs. 1 Nr. 13 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Prozesskostenhilfeantrag (§ 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB) . . . . b) Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Leistungsverweigerungsrecht . . . . 6. Höhere Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Familienrechtliche Beziehungen . V. Verjährung von vor dem 1.1.2002 entstandenen Ansprüchen . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fristberechnung . . . . . . . . . . . . . . . a) Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Neubeginn, Hemmung . . . . . . . . . . VI. Rechtsgeschäftliche Einwirkungen auf die Verjährung . . . . . . . . . . . . . 1. Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einseitiger Verzicht . . . . . . . . . . . . 3. Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . VII. Unzulässige Rechtsausübung . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unzulässige Berufung auf Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24.70 24.71 24.72 24.73 24.74 24.75 24.76 24.77 24.78 24.81 24.83 24.87 24.89 24.91 24.92 24.92 24.93 24.93 24.94 24.95 24.97 24.97 24.99 24.102 24.103 24.103 24.104 24.104 24.107 24.108

24.65

Greger | 599

§ 24 | Verjährung § 14 StVG Auf die Verjährung finden die für unerlaubte Handlungen geltenden Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechende Anwendung. § 11 HaftpflG Auf die Verjährung finden die für unerlaubte Handlungen geltenden Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechende Anwendung. § 195 BGB Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre. § 199 BGB (1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem 1. der Anspruch entstanden ist und 2. der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. (2) Schadensersatzansprüche, die auf der Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an. (3) Sonstige Schadensersatzansprüche verjähren 1. ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an und 2. ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an. Maßgeblich ist die früher endende Frist. (3a) Ansprüche, die auf einem Erbfall beruhen oder deren Geltendmachung die Kenntnis einer Verfügung von Todes wegen voraussetzt, verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Entstehung des Anspruchs an. (4) Andere Ansprüche als die nach den Abs. 2 bis 3a verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an. (5) Geht der Anspruch auf ein Unterlassen, so tritt an die Stelle der Entstehung die Zuwiderhandlung. § 203 BGB Schweben zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände, so ist die Verjährung gehemmt, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Die Verjährung tritt frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung ein. § 204 BGB (1) Die Verjährung wird gehemmt durch 1. die Erhebung der Klage auf Leistung oder auf Feststellung des Anspruchs, auf Erteilung der Vollstreckungsklausel oder auf Erlass des Vollstreckungsurteils,

600 | Greger

Verjährung | § 24 1a. die Erhebung einer Musterfeststellungsklage für einen Anspruch, den ein Gläubiger zu dem zu der Klage geführten Klageregister wirksam angemeldet hat, wenn dem angemeldeten Anspruch derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt wie den Feststellungszielen der Musterfeststellungsklage, 2. die Zustellung des Antrags im vereinfachten Verfahren über den Unterhalt Minderjähriger, 3. die Zustellung des Mahnbescheids im Mahnverfahren oder des Europäischen Zahlungsbefehls im Europäischen Mahnverfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (ABl. EU Nr. L 399 S. 1), 4. die Veranlassung der Bekanntgabe eines Antrags, mit dem der Anspruch geltend gemacht wird, bei einer a) staatlichen oder staatlich anerkannten Streitbeilegungsstelle oder b) anderen Streitbeilegungsstelle, wenn das Verfahren im Einvernehmen mit dem Antragsgegner betrieben wird; die Verjährung wird schon durch den Eingang des Antrags bei der Streitbeilegungsstelle gehemmt, wenn der Antrag demnächst bekannt gegeben wird, 5. die Geltendmachung der Aufrechnung des Anspruchs im Prozess, 6. die Zustellung der Streitverkündung, 6a. die Zustellung der Anmeldung zu einem Musterverfahren für darin bezeichnete Ansprüche, soweit diesen der gleiche Lebenssachverhalt zugrunde liegt wie den Feststellungszielen des Musterverfahrens und wenn innerhalb von drei Monaten nach dem rechtskräftigen Ende des Musterverfahrens die Klage auf Leistung oder Feststellung der in der Anmeldung bezeichneten Ansprüche erhoben wird, 7. die Zustellung des Antrags auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens, 8. den Beginn eines vereinbarten Begutachtungsverfahrens, 9. die Zustellung des Antrags auf Erlass eines Arrests, einer einstweiligen Verfügung oder einer einstweiligen Anordnung, oder, wenn der Antrag nicht zugestellt wird, dessen Einreichung, wenn der Arrestbefehl, die einstweilige Verfügung oder die einstweilige Anordnung innerhalb eines Monats seit Verkündung oder Zustellung an den Gläubiger dem Schuldner zugestellt wird, 10. die Anmeldung des Anspruchs im Insolvenzverfahren oder im Schifffahrtsrechtlichen Verteilungsverfahren, 11. den Beginn des schiedsrichterlichen Verfahrens, 12. die Einreichung des Antrags bei einer Behörde, wenn die Zulässigkeit der Klage von der Vorentscheidung dieser Behörde abhängt und innerhalb von drei Monaten nach Erledigung des Gesuchs die Klage erhoben wird; dies gilt entsprechend für bei einem Gericht oder bei einer in Nr. 4 bezeichneten Gütestelle zu stellende Anträge, deren Zulässigkeit von der Vorentscheidung einer Behörde abhängt, 13. die Einreichung des Antrags bei dem höheren Gericht, wenn dieses das zuständige Gericht zu bestimmen hat und innerhalb von drei Monaten nach Erledigung des Gesuchs die Klage erhoben oder der Antrag, für den die Gerichtsstandsbestimmung zu erfolgen hat, gestellt wird, und 14. die Veranlassung der Bekanntgabe des erstmaligen Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe oder Verfahrenskostenhilfe; wird die Bekanntgabe demnächst nach der Einreichung des Antrags veranlasst, so tritt die Hemmung der Verjährung bereits mit der Einreichung ein.

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§ 24 Rz. 24.1 | Verjährung (2) Die Hemmung nach Abs. 1 endet sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens. Die Hemmung nach Absatz 1 Nummer 1a endet auch sechs Monate nach der Rücknahme der Anmeldung zum Klageregister. Gerät das Verfahren dadurch in Stillstand, dass die Parteien es nicht betreiben, so tritt an die Stelle der Beendigung des Verfahrens die letzte Verfahrenshandlung der Parteien, des Gerichts oder der sonst mit dem Verfahren befassten Stelle. Die Hemmung beginnt erneut, wenn eine der Parteien das Verfahren weiter betreibt. (3) Auf die Frist nach Abs. 1 Nr. 6a, 9, 12 und 13 finden die §§ 206, 210 und 211 entsprechende Anwendung. § 209 BGB Der Zeitraum, während dessen die Verjährung gehemmt ist, wird in die Verjährungsfrist nicht eingerechnet. § 212 BGB (1) Die Verjährung beginnt erneut, wenn 1. der Schuldner dem Gläubiger gegenüber den Anspruch durch Abschlagszahlung, Zinszahlung, Sicherheitsleistung oder in anderer Weise anerkennt oder 2. eine gerichtliche oder behördliche Vollstreckungshandlung vorgenommen oder beantragt wird. (2) Der erneute Beginn der Verjährung infolge einer Vollstreckungshandlung gilt als nicht eingetreten, wenn die Vollstreckungshandlung auf Antrag des Gläubigers oder wegen Mangels der gesetzlichen Voraussetzungen aufgehoben wird. (3) Der erneute Beginn der Verjährung durch den Antrag auf Vornahme einer Vollstreckungshandlung gilt als nicht eingetreten, wenn dem Antrag nicht stattgegeben oder der Antrag vor der Vollstreckungshandlung zurückgenommen oder die erwirkte Vollstreckungshandlung nach Abs. 2 aufgehoben wird. § 115 Abs. 2 VVG s bei § 15

I. Überblick 24.1

Im Zuge der Schuldrechtsreform1 wurde die Sonderregelung der Verjährung von Ansprüchen aus Delikt (§ 852 BGB a.F.) und Gefährdungshaftung (§ 14 StVG a.F., § 11 HaftpflG a.F.) beseitigt. Damit gelten für die Verjährung von Haftpflichtansprüchen aus Unfällen ab 1.1.2002 die allgemeinen Vorschriften der §§ 195 ff. BGB; desgleichen für Ausgleichsansprüche nach § 426 BGB.2 Für vor diesem Zeitpunkt begründete Ansprüche traf Art. 229 § 6 EGBGB eine differenzierte Überleitungsregelung.3 Besondere Verjährungsvorschriften sind für den Bereich der Kfz-Haftpflichtversicherung bei Bestand geblieben (§ 3 Nr. 3 PflVG a.F., jetzt § 115 Abs. 2 VVG; s. Rz. 15.23). Für die Verjährung der Rückgriffsansprüche in der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 110 f. SGB VII) gelten nach § 113 SGB VII die §§ 195, 199 Abs. 1 und 2 sowie § 203 BGB entsprechend; der Beginn der Verjährung ist jedoch besonders geregelt (s. Rz. 24.5).

1 Gesetz v 26.11.2001, BGBl. I 2001, 3138. 2 Heß NZV 2002, 65. Zur Verjährung beim Gesamtschuldnerregress s. auch Rz. 39.14. 3 S. dazu 5. Aufl. Rz. 90 ff.

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II. Verjährungsfrist | Rz. 24.6 § 24

Die nachfolgende Darstellung konzentriert sich auf die bei der Verjährung von Schadensersatzansprüchen aus Verkehrsunfällen nach dem 1.1.2002 zu beachtenden Besonderheiten. Zur Ablaufhemmung bei nicht voll Geschäftsfähigen und bei Erbfolge s. §§ 210 f. BGB. Zu der Frage, ob gegen einen noch nicht verjährten Anspruch Verwirkung eingewendet werden kann, s. Rz. 24.108. Zur Konkurrenz des deliktischen Anspruchs mit vertraglichen Ansprüchen, für die eine kürzere Verjährung angeordnet ist, s. Rz. 16.28, 16.31.

24.2

II. Verjährungsfrist 1. Dauer und Beginn Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre (§ 195 BGB) und beginnt nach § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in welchem der Anspruch entstanden ist und der Verletzte (s. Rz. 24.11 ff.) von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Ersatzpflichtigen (s. Rz. 24.21 ff.) Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (s. Rz. 24.7 ff.). Eine zusätzliche Überlegungsfrist ist insoweit nicht eingeräumt. Bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen läuft die Verjährung für jede Teilleistung gesondert; sie beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem die Teilleistung verlangt werden kann.4 Unabhängig von Kenntnis oder Kennenmüssen läuft eine Höchstfrist für die Verjährung von 30 Jahren ab Unfall bei Personenschäden, von 10 Jahren ab Entstehung, spätestens 30 Jahren ab Unfall bei sonstigen Schäden (§ 199 Abs. 2, 3 BGB).

24.3

Rechtskräftig festgestellte Ansprüche verjähren grundsätzlich in 30 Jahren, desgleichen Ansprüche aus vollstreckbaren Vergleichen (§ 197 Abs. 1 Nr. 3, 4 BGB; Beginn: § 201 BGB). Die Rechtskraftwirkung erstreckt sich auch auf den Rechtsnachfolger (§ 325 ZPO). Ergeben sich aus dem Titel Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen, verjähren diese aber unabhängig von der Festschreibung des Stammrechts in der regelmäßigen Frist von drei Jahren ab Schluss des Jahres, in dem die jeweilige Einzelleistung fällig wurde (§ 197 Abs. 2 BGB). Um Zukunftsschäden, die nach mehr als 30 Jahren auftreten, vor Verjährung zu schützen, kann der Geschädigte – unter Durchbrechung der prozesshindernden Wirkung der materiellen Rechtskraft – wiederholt auf Feststellung der Schadensersatzpflicht klagen; der Ersatzpflichtige kann dies vermeiden, indem er den Anspruch anerkennt (§ 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB) oder auf die Einrede der Verjährung verzichtet.5

24.4

Bei Rückgriffsansprüchen nach §§ 110 f. SGB VII ist die Verjährungsfrist nach § 113 SGB VII – unabhängig von der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis des Gläubigers – taggenau ab der bindenden Feststellung der Leistungspflicht zu berechnen.6

24.5

2. Entstehung des Anspruchs Schadensersatzansprüche entstehen i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB, wenn alle Voraussetzungen der Haftungsnorm einschl. des Eintritts eines Schadens erfüllt sind. Nach dem Grundsatz der Schadenseinheit (s. Rz. 24.21 ff.) genügt das Vorliegen einer ersten Schadensfolge; auch für erst später eintretende Folgen läuft die Verjährung grundsätzlich von diesem Zeitpunkt an. 4 Erman/Schmidt-Räntsch § 199 Rz. 5. 5 BGH v. 22.2.2018 – VII ZR 253/16, NJW 2018, 2056. 6 BGH v. 25.7.2017 – VI ZR 433/16, NJW 2017, 3510. Zu den Anforderungen an die bindende Feststellung s. BGH v. 8.12.2015 – VI ZR 37/15, VersR 2016, 551.

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24.6

§ 24 Rz. 24.6 | Verjährung

Dies gilt z.B. auch für den Ersatz bzw. die Erstattung von Steuerschulden, obwohl deren Höhe erst im Steuerbescheid festgestellt wird.7 Zur daraus folgenden Notwendigkeit, bei Möglichkeit von Zukunftsschäden Feststellungsklage zu erheben, s. Rz. 40.14 ff.; zu Ausnahmen bei völlig unvorhersehbaren Folgen s. Rz. 24.22 f.

3. Subjektive Voraussetzungen 24.7

Die den Lauf der Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB auslösende Kenntnis des Geschädigten muss sich auf die Person des Haftpflichtigen und alle dessen Haftung begründende Tatsachen beziehen (s. Rz. 24.26 ff.). Absolut gesicherte Kenntnis ist nicht erforderlich; es genügt, dass der Ersatzberechtigte die für eine erfolgversprechende Klage – und zwar wenigstens eine Feststellungsklage – erforderlichen Tatsachen vortragen könnte.8 Es darf daher nicht bis zum Abschluss polizeilicher Ermittlungen gewartet werden, wenn sich bei dem gegebenen Kenntnisstand zumindest eine Mitverantwortlichkeit für den Schaden ergibt.9 Hat der Anspruchsteller jedoch, z.B. als Hinterbliebener des Unfallopfers, den Unfall selbst nicht miterlebt, kann sich eine ausreichende Kenntnis u.U. erst aus der Einsicht in die Unfallanzeige der Polizei ergeben.10 – Für die Kenntnis des Sozialversicherungsträgers (s. Rz. 23.17) ist es ausreichend, wenn ihm die Umstände bekannt sind, aus denen sich eine, wenn auch nur entfernte, Möglichkeit ergibt, dass er dem Verletzten Leistungen zu gewähren haben wird.11

24.8

Auf die zutreffende rechtliche Würdigung der bekannten Tatumstände kommt es nicht an. Es ist nicht erforderlich, dass der Verletzte von der haftungsrechtlichen Verantwortung des Anspruchsgegners überzeugt ist.12 Soweit der BGH hiervon Ausnahmen bei zweifelhafter Rechtslage zulässt,13 ist dies auf Fälle zu beschränken, in denen wegen Besonderheiten des Amtshaftungsrechts unklar ist, gegen wen die Ansprüche des Geschädigten zu richten sind; das Institut der Verjährung würde sonst vollständig aus den Angeln gehoben.14

24.9

Auswirkungen der Unfallverletzung können die Kenntnis (zeitweise) ausschließen, so wenn der Geschädigte infolge einer retrograden Amnesie keine Erinnerung an das Geschehen hat15 oder wegen schwerer Kopfverletzungen gehindert ist, sich sogleich ein für die Erhebung einer Klage ausreichendes Bild vom Schaden und der Person des Schädigers zu machen.16

24.10

Grob fahrlässige Unkenntnis steht seit der Neuregelung des Verjährungsrechts der Kenntnis gleich (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB). Die Verjährungsfrist beginnt also auch dann zu laufen, wenn die Unkenntnis auf einer besonders schweren Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt beruht. Allerdings hat die Rechtsprechung dem Geschädigten schon früher die Berufung auf Unkenntnis versagt, wenn er naheliegende Erkenntnismöglichkeiten nicht genutzt hat (i.E. s. Rz. 24.26, 24.28). 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

OLG München v. 14.10.2016 – 10 U 2269/16, r+s 2017, 273; Quaisser NZV 2017, 94. BGH v. 31.10.2000 – VI ZR 198/99, NJW 2001, 885, 886 m.w.N. BGH v. 19.12.1989 – VI ZR 57/89, VersR 1990, 497. BGH v. 25.11.1969 – VI ZR 100/68, VersR 1970, 89. BGH v. 30.5.1969 – VI ZR 34/68, VersR 1969, 921. BGH v. 20.9.1983 – VI ZR 35/82, VersR 1983, 1158, 1160; BGH v. 3.6.1986 – VI ZR 210/85, VersR 1986, 1080, 1081. S. auch Rz. 24.27 ff. Vgl. BGH v. 9.6.1952 – III ZR 128/51, BGHZ 6, 195, 202; BGH v. 29.4.1982 – III ZR 163/80, VersR 1982, 898; BGH v. 16.9.2004 – III ZR 346/03, BGHZ 160, 216, 231 f. Bitter/Alles NJW 2011, 2081 ff. BGH v. 4.12.2012 – VI ZR 217/11, NJW 2013, 939. BGH v. 12.11.1963 – VI ZR 210/62, VersR 1964, 302.

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II. Verjährungsfrist | Rz. 24.14 § 24

4. Inhaber der Kenntnis a) Grundsatz a) Die Kenntnis (bzw. grobe Fahrlässigkeit) muss beim Ersatzberechtigten vorliegen (§ 199 Abs. 1 Nr. 2: Gläubiger). Zu Ansprüchen Hinterbliebener (z.B. § 10 StVG) s. Rz. 24.24).

24.11

b) Gesetzliche Vertretung Bei fehlender oder beschränkter Geschäftsfähigkeit kommt es auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters an.17 Bei Minderjährigen genügt Kenntnis des Elternteils, dem die Wahrung der Belange des Kindes im Zusammenhang mit dem Schadensfall überlassen war.18 Hat das durch den Unfall elternlos gewordene Kind keinen gesetzlichen Vertreter mehr, beginnt der Lauf der Frist erst, wenn ein Vormund bestellt worden ist und dieser Kenntnis von den Ersatzansprüchen und vom Ersatzverpflichteten erhält. Wird der Verletzte durch den Unfall geschäftsunfähig, so beginnt die Verjährung erst, wenn ihm ein Betreuer mit die Schadensregulierung umfassendem Aufgabenkreis bestellt ist und dieser Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt (s. auch § 210 BGB). Hat der Verletzte inzwischen einen Vergleich mit dem Schädiger abgeschlossen, so beginnt die Verjährungsfrist erst, wenn der Betreuer erfahren hat, dass der Betreute schon beim Abschluss des Vergleichs geschäftsunfähig war.19 War allerdings zunächst vorläufige Betreuung angeordnet und auf dieser Grundlage ein Betreuer bestellt gewesen, der von den anspruchsbegründenden Tatsachen wusste, so läuft die Verjährungsfrist schon von dessen Kenntnis an. Hieran ändert die Aufhebung der vorläufigen Betreuung nichts.20 Wird bei einem Unfall ein Kind im Mutterleib verletzt, so beginnt die Verjährung mit der Kenntnis des gesetzlichen Vertreters des Kindes, frühestens jedoch mit der Geburt des Kindes. Ebenso ist es, wenn der Erzeuger eines Kindes vor dessen Geburt bei einem Unfall getötet wird, hinsichtlich der Ersatzansprüche wegen entgehenden Unterhalts.

24.12

Bei juristischen Personen ist grundsätzlich die Kenntnis des Organs maßgebend; ist dieses nicht selbst mit der Fallbearbeitung beschäftigt, kommt es auf die Kenntnis des damit Beauftragten (als Wissensvertreter, s. Rz. 24.15) an. Ansprüche, die einer Erbengemeinschaft zustehen, sind, wenn der Erblasser die Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen nicht mehr hat erwerben können (s. Rz. 24.20), erst dann dem Beginn der Verjährung ausgesetzt, wenn jeder der Miterben die erforderliche Kenntnis erlangt.21

24.13

c) Wissensvertretung Die Kenntnis eines Dritten ist dem Verletzten in Heranziehung des Rechtsgedankens von § 166 BGB dann zuzurechnen, wenn er den Dritten mit der Verfolgung des Anspruchs in eigener Verantwortung betraut hat.22 Dies gilt insbesondere, wenn er den anderen, z.B. einen Rechtsanwalt, mit den erforderlichen Tatsachenermittlungen,23 der Einsicht in die staats-

17 18 19 20 21 22 23

BGH v. 6.5.1989 – VI ZR 251/88, NJW 1989, 2323 m.w.N. BGH v. 20.1.1976 – VI ZR 15/74, NJW 1976, 2344. BGH v. 27.9.1968 – VI ZR 201/66, VersR 1968, 1165. BGH v. 27.9.1968 – VI ZR 201/66, VersR 1968, 1165. OLG Celle v. 10.1.1964 – 9 W 62/63, NJW 1964, 869. BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, NJW 1996, 2508, 2510. BGH v. 29.1.1968 – III ZR 118/67, VersR 1968, 453.

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24.14

§ 24 Rz. 24.14 | Verjährung

anwaltschaftlichen Ermittlungsakten24 oder der Geltendmachung der Schadensersatzansprüche beauftragt hat. Bloße Hilfstätigkeiten bei der Abwicklung von Schadensfällen, wie sie z.B. der Kompaniechef für die Wehrbereichsverwaltung leistet,25 reichen jedoch nicht. Eine weiter gehende Wissenszurechnung, wie sie die Rechtsprechung bei arbeitsteiligen Organisationsformen im rechtsgeschäftlichen Verkehr aus Gründen des Verkehrsschutzes vorgenommen hat, findet bezüglich der verjährungsbegründenden Kenntnis von Schädigungen nicht statt.26

24.15

Bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts ist nach st. Rspr. grundsätzlich nur der für die Verfolgung des Anspruchs, zumindest die vorbereitende Klärung27 zuständige Bedienstete Wissensvertreter.28 Die Kenntnis anderer Stellen innerhalb der Behörde begründet keinen Verjährungsbeginn,29 selbst wenn diese angewiesen sind, die Akte bei Anhaltspunkten für eine Verantwortlichkeit Dritter an die Regressabteilung weiterzuleiten.30 Da das novellierte Verjährungsrecht auch die grob fahrlässige Unkenntnis genügen lässt, ist eine Wissenszurechnung aber dann zu bejahen, wenn die für den Regress zuständige Organisationseinheit ohne weiteres hätte erkennen können, dass ein Regress veranlasst sein kann oder wenn sie nicht in geeigneter Weise behördenintern sicherstellt, dass sie frühzeitig von Umständen Kenntnis erhält, die einen Regress begründen können.31 Zur Kenntnis in den Fällen von Forderungsübergang s. auch Rz. 24.17.

d) Gesetzlicher Forderungsübergang 24.16

Hier ist für die Frage, auf wessen Kenntnis es für den Beginn der Verjährungsfrist ankommt, zu unterscheiden, ob der Forderungsübergang kraft Gesetzes bereits im Zeitpunkt des Schadensfalls oder erst später eingetreten ist. Ob dem Geschädigten (wie beim Übergang auf Sozialhilfeträger möglich; s. Rz. 36.19, 36.28) eine Einziehungsermächtigung verbleibt, ist unerheblich.32

24.17

Vollzieht sich der Übergang im Zeitpunkt des Unfalls (z.B. auf einen Sozialversicherungsträger nach § 116 SGB X oder den Dienstherrn eines Beamten nach § 76 BBG; s. Rz. 35.43, 37.16), so ist allein die Kenntnis des Zessionars maßgebend für den Beginn der Verjährungsfrist hinsichtlich der übergegangenen Ansprüche oder Teile von Ansprüchen; auf die Kenntnis des Verletzten kommt es insoweit überhaupt nicht an,33 ebenso wenig auf die Kenntnis eines anderen Leistungsträgers.34 Entscheidend ist die Kenntnis des für die Vorbereitung und Verfolgung der Regressansprüche zuständigen Bediensteten der verfügungsbefugten Dienst24 BGH v. 22.11.1983 – VI ZR 36/82, VersR 1984, 160, 161; OLG Hamburg v. 2.3.1990 – 14 U 9/89, VersR 1991, 1263. 25 BGH v. 19.3.1985 – VI ZR 190/83, VersR 1985, 735. 26 BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, NJW 1996, 2508, 2510. 27 BGH v. 18.1.1994 – VI ZR 190/93, VersR 1994, 491. 28 BGH v. 4.2.1997 – VI ZR 306/95, BGHZ 134, 343; BGH v. 15.3.2011 – VI ZR 162/10, NJW 2011, 1799; BGH v. 28.11.2006 – VI ZR 196/05, NZV 2007, 131 m.w.N. 29 BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 133/91, VersR 1992, 627. 30 BGH v. 9.3.2000 – III ZR 198/99, VersR 2000, 1277 mit Anm. Stückrad/Wolf VersR 2000, 1506; BGH v. 28.2.2012 – VI ZR 9/11, NJW 2012, 1789. 31 BGH v. 17.4.2012 – VI ZR 108/11, BGHZ 193, 67 = NJW 2012, 2644 mit Anm. Schultz = NZV 2013, 25 mit Anm. Küppersbusch. 32 BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, NZV 1996, 402. 33 BGH v. 10.7.1967 – III ZR 78/66, BGHZ 48, 181; BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 243/80, VersR 1983, 536. 34 OLG Köln v. 31.10.1991 – 1 U 20/91, MDR 1992, 652.

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II. Verjährungsfrist | Rz. 24.21 § 24

stelle.35 Sind, wie üblich, für Leistungen und Regress unterschiedliche Abteilungen des Sozialversicherungsträgers zuständig, löst die Kenntnis der Leistungsabteilung noch keinen Verjährungsbeginn aus (s. Rz. 24.15, auch zur Ausnahme bei Organisationsmangel). Bei Schadensfällen von Soldaten kommt es nicht auf die Kenntnis des Dienstvorgesetzten, sondern auf die der für die Abwicklung zuständigen Wehrbereichsverwaltung an.36 Bei späterem Übergang (z.B. nach § 86 Abs. 1 VVG, bei einem zum Unfallzeitpunkt noch nicht sozialversicherten Verletzten oder bei einer Systemänderung [s. Rz. 35.45 f.] im Sozialversicherungsrecht37) muss es der Erwerber der Forderung gegen sich gelten lassen, wenn der Verletzte vor dem Übergang Kenntnis erlangte (§§ 404, 412 BGB). Der Erwerber der Forderung wird so behandelt, als habe er in jenem Zeitpunkt selbst Kenntnis erlangt.38 Hatte der Verletzte vor dem Übergang keine Kenntnis, so kommt es für den übergegangenen Teil der Forderung nur noch auf die Kenntnis des Erwerbers an; hatte der Versicherungsträger schon vor dem Übergang Kenntnis, der Verletzte dagegen nicht, so zählt der Zeitpunkt, zu dem der Versicherungsträger Kenntnis erlangte.39

24.18

Bei Wechsel des leistenden Sozialversicherungsträgers ist § 404 BGB ebenfalls anzuwenden, so dass der zweite die während der Gläubigerschaft des ersten verstrichene Verjährungsfrist gegen sich gelten lassen muss.40 Zu Verjährungshemmung s. Rz. 24.54, zu Verjährungsverzicht s. Rz. 24.100.

24.19

e) Gesamtrechtsnachfolge Für Ansprüche, die in der Person des Erblassers entstanden sind, kommt es auf dessen Kenntniserlangung an, hat eine solche nicht mehr stattgefunden, auf die der Miterben (s. Rz. 24.13). Bei originären Ansprüchen der Hinterbliebenen (z.B. § 10 StVG) entscheidet allein deren Kenntnis (s. Rz. 24.24).

24.20

5. Inhalt der Kenntnis a) Schaden Um zu vermeiden, dass sich der Gesamtschaden in viele Einzelposten mit jeweils eigenem Verjährungsschicksal aufspaltet, geht die Rechtsprechung seit jeher vom Grundsatz der Schadenseinheit aus.41 Der Verletzte muss lediglich allgemeine Kenntnis vom Eintritt eines Schadens haben, d.h. wissen, dass eigene Sachen beim Unfall beschädigt wurden bzw. er selbst an seinem Körper irgendeine Verletzung erlitten hat. Für den Beginn der Verjährung genügt es,

35 BGH v. 19.3.1985 – VI ZR 190/83, VersR 1985, 735; BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, NJW 1996, 2508; BGH v. 28.11.2006 – VI ZR 196/05, NZV 2007, 131. 36 BGH v. 19.3.1985 – VI ZR 190/83, VersR 1985, 735; OLG Schleswig v. 5.6.1981 – 9 U 93/80, VersR 1982, 1058 mit Anm. Perkuhn. 37 BGH v. 13.4.1999 – VI ZR 88/98, VersR 1999, 1126. 38 BGH v. 2.3.1982 – VI ZR 245/79, VersR 1982, 546; BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 194/81, VersR 1984, 136. 39 RG v. 3.8.1936 – VI 77/36, RGZ 152, 115, 117 f. 40 BGH v. 4.4.1978 – VI ZR 252/76, VersR 1978, 660. 41 RG v. 5.12.1927 – VI 257/27, RGZ 119, 204, 207 f.; BGH v. 3.11.1987 – VI ZR 176/87, NJW 1988, 965; BGH v. 3.6.1997 – VI ZR 71/96, NJW 1997, 2448, 2449; Lepa VersR 1986, 303; a.A. Staudinger/Peters/Jacoby BGB § 199 Rz. 47; Peters JZ 1983, 121.

Greger | 607

24.21

§ 24 Rz. 24.21 | Verjährung

wenn er die (möglichen) schädigenden Folgen des Unfalls im Allgemeinen kennt, auch wenn er über Einzelheiten noch nicht Bescheid weiß.42 Die Verjährung umfasst, sofern der Verletzte erkannt hat, dass er körperlich verletzt worden ist, alle Schadensfolgen, die er als möglich voraussehen kann.43 Dasselbe gilt für alle als möglich erkennbaren Folgen eines dem Verletzten bekannten Sachschadens. Der Verletzte muss daher bei Vorhersehbarkeit noch nicht bezifferbarer Schadensfolgen Feststellungsklage erheben, um dem Verjährungsrisiko zu entgehen (s. Rz. 40.14 ff.). Wächst die Kenntnis von der Möglichkeit einer Schadensfolge in den Fachkreisen erst nachträglich heran, bleibt es bei der Maßgeblichkeit der Kenntnis des Geschädigten.44

24.22

Ausgenommen vom einheitlichen Verjährungsbeginn sind nur unvorhersehbare Schadensfolgen. Verschlimmert sich eine Gesundheitsstörung nachträglich in völlig unerwarteter Weise, stellt sich heraus, dass die körperlichen Beeinträchtigungen nicht, wie anfangs angenommen, vorübergehender Art, sondern ein Dauerleiden sind oder treten weitere bis dahin nicht vorhersehbare unfallbedingte Schäden auf, so beginnt hinsichtlich dieser Unfallfolgen die Verjährung erst in dem Zeitpunkt, in dem der Verletzte davon erfährt.45 Dass im Gefolge einer beim Unfall erlittenen schweren Kopfverletzung wegen einer hierbei erlittenen Hirnschädigung nach Jahren epileptische Anfälle auftreten, ist iS dieser Rechtsprechung nicht unvorhersehbar.46 Sind alle Beteiligten, einschließlich der behandelnden Ärzte, von nur vorübergehenden Verletzungsfolgen ausgegangen, so fehlt Vorhersehbarkeit auch dann, wenn die später aufgetretenen Folgen alsbald nach dem Unfall in medizinischen Fachkreisen vorhersehbar gewesen sind.47 Treten unvorhergesehene Spätfolgen nach einem Abfindungsvergleich ein, so beginnt die Verjährung für die weiteren Ansprüche zu laufen, sobald für den Verletzten erkennbar wird, dass die weitere Schadensentwicklung ein so krasses und unzumutbares Missverhältnis zwischen Schaden und Abfindungssumme ergibt, dass der Schädiger sich nach Treu und Glauben nicht mehr auf den Abschluss des Vergleichs berufen kann.48 Sind Ersatzansprüche eines verletzten Beamten wegen seines Verdienstausfalls auf seinen Dienstherrn übergegangen und muss der Beamte wegen des unfallbedingten Leidens in den Ruhestand versetzt werden, so beginnt die Verjährungsfrist für denjenigen Teil der Ansprüche, der das Ruhegehalt betrifft, sobald der Dienstherr weiß, dass die ihm bekannten Unfallfolgen zur Pensionierung führen können.49 Weiß der Verletzte nicht, ob das Leiden, das ihn befallen hat, auf den Unfall zurückzuführen ist, so beginnt die Verjährung erst, wenn ein Arzt ihn darüber aufklärt, dass höchstwahrscheinlich eine unfallbedingte Verletzung die Ursache ist.50 Hat der Verletzte kurz nach dem Unfall einen weiteren Unfall mit Körperverletzung erlitten, so ist

42 BGH v. 30.1.1973 – VI ZR 4/72, VersR 1973, 371 m.w.N.; OLG Koblenz v. 12.7.1993 – 12 U 915/ 92, VersR 1994, 866. Zu steuerlichen Folgen s. OLG München v. 14.10.2016 – 10 U 2269/16, r+s 2017, 273; Quaisser NZV 2017, 94. 43 BGH v. 20.4.1982 – VI ZR 197/80, VersR 1982, 703. 44 BGH v. 3.6.1997 – VI ZR 71/96, NZV 1997, 395; BGH v. 16.11.1999 – VI ZR 37/99, NZV 2000, 204. 45 RG v. 5.12.1927 – VI 257/27, RGZ 119, 204, 208; BGH v. 27.9.1968 – VI ZR 26/67, VersR 1968, 1163; OLG Köln v. 2.11.1992 – 2 W 111/92, NJW-RR 1993, 601. 46 BGH v. 8.5.1979 – VI ZR 207/77, VersR 1979, 646. 47 So (allerdings unter Berufung auf § 242 BGB) BGH v. 27.11.1990 – VI ZR 2/90, NZV 1991, 143 mit abl. Anm. Peters. 48 BGH v. 27.9.1968 – VI ZR 201/66, VersR 1968, 1165. 49 BGH v. 16.2.1965 – VI ZR 247/63, NJW 1965, 908, 909; BGH v. 14.2.1967 – VI ZR 107/65, VersR 1967, 496. 50 BGH v. 29.5.1959 – VI ZR 76/58, VersR 1959, 994.

608 | Greger

II. Verjährungsfrist | Rz. 24.27 § 24

dies auf den Lauf der Verjährungsfrist für vorhersehbare Folgeschäden auf Grund des Erstunfalls ohne Einfluss.51 Erhöht sich bei Anspruch auf wiederkehrende Leistungen der Schaden durch Ansteigen der Lebenshaltungskosten, so beginnt für den dadurch begründeten Anspruch auf Erhöhung der Rente die Verjährung erst in dem Zeitpunkt, zu welchem der Verletzte die Kenntnis erlangt hat, dass es sich um eine nachhaltige Entwicklung handelt.52

24.23

Die Verjährung der Ersatzansprüche von Hinterbliebenen eines beim Unfall Getöteten setzt Erlangung der Kenntnis vom Tod des Unterhaltsverpflichteten durch den einzelnen Ersatzberechtigten voraus. Die Kenntnis davon, dass der Unterhaltsverpflichtete beim Unfall verletzt wurde, setzt die Frist noch nicht in Gang.53 Gegen eine Witwe, die ihren durch Wiederverheiratung ganz oder teilweise weggefallenen Unterhaltsersatzanspruch nach Auflösung der neuen Ehe wieder (ungeschmälert) geltend machen will (vgl. Rz. 31.164), läuft die Verjährungsfrist erst vom Auflösungszeitpunkt an.54

24.24

b) Schädiger Kenntnis vom Ersatzpflichtigen erfordert Kenntnis der Personalien (Rz. 24.26) und der anspruchsbegründenden Tatsachen (Rz. 24.27 ff.). Bei Mehrheit potentieller Ersatzpflichtiger läuft hinsichtlich jeder Person eine eigene Verjährungsfrist55 (zu Unklarheit bei alternativer Verantwortlichkeit s. Rz. 24.29).

24.25

Weiß der Verletzte, wer den Schaden verursacht hat, so kennt er gleichwohl die Person des Ersatzpflichtigen erst, wenn er seinen Namen und seine ladungsfähige Anschrift kennt56 oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kennt, z.B. weil er eine sich ohne weiteres anbietende, auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht wahrnimmt.57 Da es in Verkehrshaftungsfällen i.d.R. ohne großen Aufwand möglich ist, den Ersatzpflichtigen zu ermitteln, z.B. über den Zentralruf der Haftpflichtversicherer, wird die Berufung auf Unkenntnis hier nur selten gelingen.

24.26

c) Anspruchsbegründende Tatsachen I.d.R. reicht es für den Verjährungsbeginn aus, wenn der Verletzte die tatsächlichen Umstände kennt, aufgrund derer er mit einiger Erfolgsaussicht gegen eine bestimmte Person eine Klage (zumindest eine Feststellungsklage) erheben kann (s. Rz. 24.7 ff., auch zur Bedeutung rechtlicher Zweifel). Bei Ansprüchen aus unerlaubter Handlung muss der Geschädigte auch Kenntnis von Umständen erlangen, aus denen sich ein Verschulden des Ersatzpflichtigen ergibt.58

51 52 53 54 55 56 57 58

BGH v. 10.7.1979 – VI ZR 24/77, VersR 1979, 1106. BGH v. 17.10.1978 – VI ZR 213/77, VersR 1979, 55. OLG Koblenz v. 20.9.1966 – 6 U 111/66, VersR 1967, 668. BGH v. 17.10.1978 – VI ZR 213/77, VersR 1979, 55; KG v. 30.10.1980 – 12 U 1229/80, VersR 1981, 1080. Rölle DAR 1959, 311. BGH v. 16.12.1997 – VI ZR 408/96, NJW 1998, 988. BGH v. 5.2.1985 – VI ZR 61/83, VersR 1985, 367; BGH v. 8.10.2002 – VI ZR 182/01, NZV 2003, 27 (zu § 852 BGB a.F., der noch positive Kenntnis verlangte). BGH v. 15.3.1960 – VI ZR 28/59, VRS 18, 330.

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24.27

§ 24 Rz. 24.28 | Verjährung

24.28

Der Geschädigte ist nicht verpflichtet, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Verjährungsbeginn eigene Initiativen zur Erlangung der Kenntnis über Schadenshergang und Person des Schädigers zu entfalten; lediglich auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeiten muss er wahrnehmen.59 Insofern hat sich durch das neue Verjährungsrecht, welches die grob fahrlässige Unkenntnis der Kenntnis gleichstellt, nichts Wesentliches geändert (s. Rz. 24.10).

24.29

Kommen mehrere Personen als Ersatzpflichtige in Betracht, beginnt die Verjährungsfrist erst mit dem Zeitpunkt, in dem begründete Zweifel darüber, wer von ihnen den Schadensersatz schuldet, nicht mehr bestehen.60 Dies muss nicht immer erst nach Abschluss eines Rechtsstreits gegen eine der alternativ in Betracht kommenden Personen der Fall sein;61 ggf. ist die Verjährung gegen den anderen potentiellen Verantwortlichen durch Streitverkündung zu hemmen.62 Bei einem Unfall, an dem zahlreiche Fahrzeuge beteiligt waren, kann es durchaus sein, dass dem Verletzten die Einsicht in die Strafakten noch nicht die Kenntnis verschafft hat, auch der später Beklagte komme als Schädiger in Betracht,63 wohl aber erhält er sie bei Kenntnis der Anklageschrift.64

24.30

Die Wirkung der Kenntnis wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass der Verletzte weiß oder befürchtet, der Schädiger werde Einwendungen (z.B. einen vereinbarten Haftungsausschluss, ein haftungsausschließendes Mitverschulden) vorbringen, sobald der Anspruch geltend gemacht wird.65 Auch der Umstand, dass der Schädiger in der Lage ist, wirksam aufzurechnen und dadurch die Forderung zunichte zu machen, hindert die Verjährung nicht. Solange der Ersatzberechtigte ernsthafte Zweifel haben kann, dass das Schädigerfahrzeug mehr als 20 km/ h fahren konnte (§ 8 Nr. 1 StVG), läuft die Verjährungsfrist nicht.66

III. Neubeginn der Verjährung 1. Bedeutung 24.31

Einen Neubeginn der Verjährung (früher als Unterbrechung bezeichnet) kennt das neue Recht nur noch bei Anerkenntnis (s. Rz. 24.32 ff.) und Vollstreckungshandlungen (§ 212 BGB). Er kann nur eintreten, wenn die Verjährung bereits zu laufen begonnen hat67 und solange sie noch nicht abgelaufen ist. Während einer Hemmung der Verjährung (s. Rz. 24.39 ff.) kommt es nicht zum Neubeginn; er tritt erst mit Wegfall des Hemmungsgrundes ein.68

59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

BGH v. 18.1.2000 – VI ZR 375/98, NJW 2000, 953. BGH v. 11.5.1964 – VII ZR 177/62, VersR 1964, 927. So aber OLG Hamm v. 3.12.1992 – 27 U 194/91, NZV 1993, 270. OLG Köln v. 14.3.1990 – 2 U 210/89, VersR 1992, 334. BGH v. 14.3.1978 – VI ZR 244/75, VersR 1978, 564. BGH v. 21.12.1982 – VI ZR 7/81, VersR 1983, 273. BGH v. 9.12.1958 – VI ZR 272/57, VersR 1959, 274. RG v. 8.4.1929 – VI 635/28, RGZ 124, 111, 114. BGH v. 8.1.2013 – VIII ZR 344/12, NJW 2013, 1430. BGH v. 23.11.1989 – VII ZR 313/88, BGHZ 109, 220; MünchKomm-BGB/Grothe § 212 Rz. 23; a.A, Derleder/Kähler NJW 2014, 1617, 1620.

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III. Neubeginn der Verjährung | Rz. 24.33 § 24

2. Anerkennen des Anspruchs a) Begriff Unter „Anerkennen“ i.S.d. § 212 BGB ist nicht nur das ausdrückliche Schuldanerkenntnis des Schädigers (s. Rz. 16.47 ff.), sondern jedes tatsächliche Verhalten gegenüber dem Geschädigten zu verstehen, aus dem sich ein Bestätigen des Anspruchs unzweideutig ergibt,69 insbesondere eine Zahlung (auch nach Forderungsübergang auf den Sozialversicherungsträger;70 zur Teilzahlung s. Rz. 24.37), aber u.U. auch eine Auskunftserteilung.71 Ein Anerkenntnis dem Grunde nach reicht aus.72 Es handelt sich beim Anerkenntnis i.S.d. § 212 BGB nicht um eine Willenserklärung i.S.d. bürgerlichen Rechts. Daher braucht das Verhalten nicht in einer positiven Handlung zu bestehen.73 Das tatsächliche Verhalten des Schuldners gegenüber dem Gläubiger muss aber klar ergeben, dass er sich der Verpflichtung bewusst ist.74

24.32

Dies ist z.B. bei einer Bitte um Stundung der Fall,75 nicht aber bei einer Erklärung, man werde sich um die Sache kümmern76 oder bei der Zahlung einer Geldauflage im Strafverfahren.77 Die Anfrage des Haftpflichtversicherers, mit welcher Abfindung sich der Verletzte zufriedengeben würde, enthält kein Anerkenntnis,78 ebenso wenig der Vergleichsvorschlag eines Rechtsanwalts im Rahmen außergerichtlicher Verhandlungen.79 Ob die Erklärung der Aufrechnung mit einer bestrittenen Forderung gegen eine unbestrittene Forderung ein Anerkenntnis i.S.d. § 212 BGB darstellt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.80 Die Beifügung der Worte „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ schließt ein Bewusstsein des Bestehens der Forderung nicht ohne weiteres aus;81 vgl. aber Rz. 24.37. Dasselbe gilt für die Erklärung, der Versicherer behalte sich sämtliche Einwendungen vor für den Fall, dass eine außergerichtliche Einigung nicht erzielt werden könne, jedenfalls dann, wenn die Verhandlungen nur über die Höhe geführt wurden.82 Näher zu Vergleichsverhandlungen s. Rz. 24.38. Vom Anerkenntnis zu unterscheiden ist der Verzicht auf das Erheben der Verjährungseinrede (dazu s. Rz. 24.99).

24.33

69 BGH v. 28.2.1969 – VI ZR 250/67, VersR 1969, 567; BGH v. 25.1.2972 – VI ZR 10/71, VersR 1972, 398. 70 BGH v. 17.6.2008 – VI ZR 197/07, VersR 2008, 1350 = NJW 2008, 2776. 71 BGH v. 27.6.1990 – IV ZR 115/89, FamRZ 1990, 1107. 72 BGH v. 17.9.1965 – VI ZR 227/64, VersR 1965, 1149. 73 BGH v. 6.4.1965 – V ZR 272/62, NJW 1965, 1430. 74 BGH v. 24.1.1972 – VII ZR 171/70, BGHZ 58, 103; BGH v. 25.1.2972 – VI ZR 10/71, VersR 1972, 398. 75 BGH v. 27.4.1978 – VII ZR 219/77, NJW 1978, 1914. 76 OLG Koblenz v. 3.11.1988 – 5 U 787/88, NJW-RR 1990, 61. 77 OLG Düsseldorf v. 6.3.1990 – 4 U 91/89, NJW-RR 1990, 1178; zu Ratenzahlungen aufgrund einer Bewährungsauflage s LAG Frankfurt v. 8.2.1966 – 5 Sa 420/64, NJW 1966, 1678. 78 BGH v. 1.2.1966 – VI ZR 192/64, VersR 1966, 536. 79 OLG Hamburg v. 23.2.1989 – 6 U 245/88, VersR 1990, 899. 80 Vgl. BGH v. 8.6.1989 – X ZR 50/88, NJW 1989, 2469 gegenüber BGH v. 24.1.1972 – VII ZR 171/ 70, BGHZ 58, 103. 81 BGH v. 25.1.2972 – VI ZR 10/71, VersR 1972, 398. 82 BGH v. 11.1.1972 – VI ZR 46/71, VersR 1972, 372.

Greger | 611

§ 24 Rz. 24.34 | Verjährung

b) Wirkung 24.34

Sie besteht darin, dass eine (noch nicht abgelaufene83) Verjährungsfrist mit dem Tag, der auf das Anerkenntnis folgt,84 vollständig neu zu laufen beginnt. Eine weitergehende Wirkung kann dem Anerkennen zukommen, wenn es sich um ein konstitutives Schuldanerkenntnis nach § 781 BGB (s. Rz. 16.48) oder um ein Anerkenntnis handelt, welches nach dem Parteiwillen ein Feststellungsurteil ersetzen soll (s. Rz. 24.98).

24.35

Erklärungen und Zahlungen des Haftpflichtversicherers wirken sich auch auf die Verjährung von Ansprüchen gegen Halter und Fahrer aus,85 auch dann, wenn diese über die Deckungssumme86 oder über die Höchstsumme nach § 12 StVG hinaus87 persönlich in Anspruch genommen werden, außer der Versicherer bringt erkennbar zum Ausdruck, dass er über die Deckungssumme hinausgehende Ansprüche nicht anerkennen will.88 Bei teilweisem Forderungsübergang wirkt ein vorher abgegebenes Anerkenntnis für beide nun selbständig gewordenen Teile der Forderung; ein Anerkenntnis des Schädigers nach dem Forderungsübergang wirkt dagegen nur hinsichtlich des Teils der Forderung, der demjenigen zusteht, dem gegenüber anerkannt wurde.89 Sind zwei Personen bei einem Unfall verletzt worden und sind ihre Ansprüche auf denselben Versicherungsträger übergegangen, so wirkt ein auf eine der Forderungen beschränktes Anerkenntnis des Schädigers nicht auch für die andere Forderung.90

c) Sonderfälle 24.36

Das Anerkenntnis kann wirksam auf einen abgrenzbaren Teil der Ansprüche beschränkt werden, z.B. auf die lediglich aus der Haftung nach dem StVG berechtigten Ansprüche, oder auf einen bestimmten Bruchteil aller in Frage kommenden Ansprüche.91 Hat mithin der Schädiger vorgebracht, er habe wegen hohen Mitverschuldens des Verletzten nur ein Drittel des Schadens zu ersetzen, so verjähren alle Ansprüche in Höhe der restlichen zwei Drittel, wenn sie nicht rechtzeitig gerichtlich geltend gemacht werden. Erkennt der Haftpflichtversicherer an, dass der Witwe Ansprüche wegen entgehenden Unterhalts zustehen, soweit nicht ein Forderungsübergang wegen einer noch zu berechnenden Sozialrente erfolgt, so beginnt hinsichtlich dieses noch zu berechnenden Unterschiedsbetrags die Verjährung auch dann neu, wenn der Haftpflichtversicherer später zu der Ansicht gelangt, wegen der Arbeitspflicht der Witwe bestehe kein derartiger Unterschiedsbetrag.92 83 BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 87/14, NJW 2015, 1589 Tz. 11 m.w.N. 84 BGH v. 15.8.2012 – XII ZR 86/11, NJW 2012, 3633, 3635; MünchKomm-BGB/Grothe § 212 Rz. 23. 85 BGH v. 25.9.1964 – VI ZR 128/63, VersR 1964, 1199; BGH v. 11.1.1972 – VI ZR 46/71, VersR 1972, 372. 86 BGH v. 17.3.1970 – VI ZR 148/68, VersR 1970, 549; BGH v. 25.1.2972 – VI ZR 10/71, VersR 1972, 398; einschränkend OLG Braunschweig v. 10.2.1989 – 2 U 155/88, NJW-RR 1989, 799 für den Fall, dass der Versicherer ausdrücklich erklärt, nur im Rahmen des bestehenden Deckungsschutzes regulieren zu wollen. 87 BGH v. 12.12.1978 – VI ZR 159/77, VersR 1979, 284. 88 BGH v. 22.7.2004 – IX ZR 482/00, NZV 2004, 623. 89 OLG Düsseldorf v. 22.3.1962 – 4 UH 1/62, VersR 1962, 1213; OLG Oldenburg v. 15.12.1966 – 1 U 69/66, VersR 1967, 384. 90 BGH v. 30.5.1969 – VI ZR 34/68, VersR 1969, 921. 91 BGH v. 12.7.1960 – VI ZR 163/59, VersR 1960, 831; OLG Stuttgart v. 31.1.1967 – 11 U 62/66, VersR 1967, 888. 92 BGH v. 20.11.1962 – VI ZR 6/62, VersR 1963, 187.

612 | Greger

IV. Hemmung der Verjährung | Rz. 24.39 § 24

Wie ein ausdrückliches Anerkenntnis wirkt die (in § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB eigens genannte) Teilzahlung (Abschlagszahlung).93 Bezieht sie sich nur auf eine bestimmte Gruppe von Schäden (z.B. nur auf das Schmerzensgeld), so bewirkt sie keinen Neubeginn der Verjährung anderer Schadensgruppen;94 die Begrenzung auf einzelne Schadensarten muss aber eindeutig zum Ausdruck gebracht werden.95 Wird die Überweisung mit der Bemerkung versehen, die Zahlung erfolge ohne Haftungsanerkenntnis, liegt kein über den gezahlten Betrag hinausgehendes Anerkenntnis vor.96 Dagegen wird durch den bloßen Vermerk des Versicherers, dass eine Abschlagszahlung „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ erfolge, das Bewusstsein der Verpflichtung nicht ausgeschlossen.97 Ein Vorschuss unter Vorbehalt der Rückforderung enthält i.d.R. keine endgültige Aussage zur Haftungsfrage.98

24.37

Erklärungen bei Vergleichsverhandlungen können dann als Anerkenntnis zu werten sein, wenn sich aus ihnen ergibt, dass der Ersatzpflichtige seine Haftung dem Grunde nach einräumt und Verhandlungen daher nur über die Höhe der Ansprüche gepflogen werden. Durch Auslegung ist zu ermitteln, ob das Anerkenntnis auch für den Fall wirken soll, dass der Vergleich nicht zustande kommt.99 Lässt der Schädiger oder sein Haftpflichtversicherer bei den Verhandlungen die Frage, ob überhaupt etwas geschuldet ist, offen, so greift lediglich die Hemmung nach § 203 BGB ein.

24.38

IV. Hemmung der Verjährung 1. Bedeutung Das neue Verjährungsrecht hat viele Unterbrechungs- in Hemmungstatbestände umgewandelt und damit die Verjährung im Erg. beschleunigt, denn die Hemmung bewirkt nur, dass während ihrer Dauer die Verjährungsfrist nicht weiterläuft (§ 209 BGB). Nach Beendigung der Hemmung verbleibt lediglich der vor der Hemmung noch nicht verbrauchte Rest der Frist (Ausnahme: § 203 Satz 2 BGB, der sie nach dem Ende von Verhandlungen noch mindestens drei Monate laufen lässt). Die wesentlichsten Hemmungsgründe beim Unfallschadensersatz sind Anmeldung beim Haftpflichtversicherer (§ 115 Abs. 2 Satz 3 VVG; s. Rz. 24.40 ff.), Verhandlungen über den Anspruch (§ 203 BGB; s. Rz. 24.51 ff.), Rechtsverfolgungsmaßnahmen (§ 204 BGB; s. Rz. 24.64 ff.), vereinbartes Leistungsverweigerungsrecht (§ 205 BGB; s. Rz. 24.87 f.), höhere Gewalt (§ 206 BGB; s. Rz. 24.89 f.), sowie familienrechtliche Beziehungen (§ 207 BGB; s. Rz. 24.91). Das Eingreifen eines Hemmungstatbestands setzt voraus, dass die

93 BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 87/14, NJW 2015, 1589 mit Hinw. zur Auslegung entspr. Verhaltens. 94 So bei Zahlung der Heilungskosten: RG Recht 1914, Nr. 464; bei der Zahlung von Schmerzensgeld: OLG Oldenburg v. 15.12.1966 – 1 U 69/66, VersR 1967, 384; für das Verhältnis vermehrte Bedürfnisse/Haushaltsführungsschaden OLG Koblenz v. 7.10.1993 – 5 U 521/93, VersR 1994, 1438; bei Teilvergleich: OLG Stuttgart v. 31.1.1967 – 11 U 62/66, VersR 1967, 888. 95 BGH v. 5.12.1967 – VI ZR 99/66, VersR 1968, 277; BGH v. 29.10.1985 – VI ZR 56/84, VersR 1986, 96, 97. 96 OLG Köln v. 27.10.1966 – 10 U 56/66, VersR 1967, 463. 97 BGH v. 25.1.1972 – VI ZR 10/71, VersR 1972, 398. 98 OLG Hamm v. 4.12.1997 – 6 U 118/97, r+s 1998, 107. 99 BGH v. 8.7.1999 – III ZR 159/97, NJW 1999, 3332, 3334. Nach BGH v. 23.1.1970 – I ZR 37/68, WM 1970, 548 und Staudinger/Peters/Jacoby § 212 Rz. 12 soll hiervon in der Regel nicht auszugehen sein.

Greger | 613

24.39

§ 24 Rz. 24.39 | Verjährung

Verjährung bereits begonnen hat.100 Werden mehrere Hemmungstatbestände nacheinander oder gleichzeitig verwirklicht (z.B. bei außergerichtlichen Verhandlungen neben Klage oder Streitverkündung), laufen die hierfür anzusetzenden Zeiträume unabhängig voneinander.101

2. Anmeldung beim Haftpflichtversicherer 24.40

Nach § 115 Abs. 2 Satz 3 VVG, der als Sonderregelung den allgemeinen Hemmungstatbeständen vorgeht,102 wird die Verjährung des Haftpflichtanspruchs dadurch gehemmt, dass der Geschädigte seinen Direktanspruch gegen den Versicherer (§ 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG; s. Rz. 15.23) bei diesem anmeldet. Die Hemmung beginnt mit dem Zugang der erstmaligen103 Anmeldung beim Versicherer und dauert bis zum Eingang dessen schriftlicher Entscheidung beim Anspruchsteller (näher s. Rz. 24.46 ff.). Eine weitere Hemmung ist nach den allgemeinen Vorschriften möglich.104

a) Anforderungen an die Anmeldung 24.41

Da das VVG keine bestimmte Form vorschreibt, genügt eine formlose Anmeldung, mit der der Geschädigte unter Hinweis auf ein bestimmtes Schadensereignis einen Schaden geltend macht.105 Aus der Anmeldung muss lediglich hervorgehen, dass gegen den Haftpflichtigen aus einem bestimmten Ereignis Ersatzansprüche erhoben werden; die einzelnen Ansprüche brauchen noch nicht näher bezeichnet und beziffert zu werden.106 Das Versäumen der Anmeldefrist nach § 119 Abs. 1 VVG ist für die Hemmungswirkung ohne Einfluss.107 Es kommt auch nicht darauf an, ob sich an die Anmeldung Regulierungsverhandlungen oder sonstige Erklärungen des Versicherers anschließen.108

b) Adressat 24.42

Die Anmeldung muss dem Haftpflichtversicherer des Schädigers zugehen. Dieselbe Wirkung hat die Anmeldung bei der Stelle, die die Pflichten des Haftpflichtversicherers bei Beteiligung eines ausländischen Kfz übernimmt (§ 6 Abs. 1 AuslPflVG; dazu s. Rz. 15.68),109 bei Unfällen in einem anderen Mitgliedstaat der EU auch die Anmeldung beim zuständigen Schadensregulierungsbeauftragten (s. Rz. 15.71), da er den Haftpflichtversicherer vertritt. Für die subsidiär eintretende Entschädigungsstelle nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 lit. b der Richtlinie (vgl. § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PflVG) muss nach dem Schutzgedanken der Regelung dasselbe gelten. Im Falle des Art. 7 der Richtlinie (Nichtermittlung des Fahrzeugs oder Versicherers; vgl. § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 PflVG) hat die Anmeldung bei der Entschädigungsstelle dagegen keine verjährungsrechtliche Bedeutung für den originären Haftpflicht- bzw. Direktanspruch, denn die

100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

BGH v. 25.4.2017 – VI ZR 386/16, NJW 2017, 3144. Staudinger/Peters/Jacoby § 203 Rz. 3. BGH v. 5.11.2002 – VI ZR 416/01, BGHZ 152, 298, 300. BGH v. 5.11.2002 – VI ZR 416/01, BGHZ 152, 298. Vgl. BGH v. 5.11.2002 – VI ZR 416/01, BGHZ 152, 298, 302. BGH v. 12.6.1979 – VI ZR 192/78, BGHZ 74, 395; Prölss/Martin/Knappmann § 115 VVG Rz. 28 m.w.N. BGH v. 20.4.1982 – VI ZR 311/79, VersR 1982, 675. BGH v. 19.11.1974 – VI ZR 205/73, VersR 1975, 279 zu § 3 Nr. 7 PflVG a.F.; MünchKommVVG/Schneider § 115 Rz. 33. BGH v. 7.4.1987 – VI ZR 55/86, VersR 1987, 937. Vgl. OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00, VersR 2002, 564 (zur Klageerhebung).

614 | Greger

IV. Hemmung der Verjährung | Rz. 24.46 § 24

Entschädigungsstelle wird nicht in Vertretung, sondern anstelle des Versicherers im Rahmen eines gesetzlichen Schuldverhältnisses110 tätig (zur entsprechenden Rechtslage beim Anspruch gegen den Entschädigungsfonds nach § 12 PflVG s. Rz. 15.72).

c) Mehrheit von Geschädigten Bei Mehrheit von Geschädigten muss jeder seinen Ersatzanspruch anmelden, um in den Genuss der Hemmung zu kommen, denn nach § 115 Abs. 2 Satz 3 VVG ist nicht der Unfall, sondern der Anspruch anzumelden.111 Eine Ausnahme lässt der BGH112 jedoch wegen der engen Verknüpfung der Ansprüche dann zu, wenn nur der hinterbliebene Ehegatte seinen Anspruch angemeldet hat, außer ihm aber auch noch ein hinterbliebenes und vom Anmeldenden gesetzlich vertretenes Kind anspruchsberechtigt ist.

24.43

d) Reichweite Die Hemmung erfasst nicht nur den Direktanspruch gegen den Versicherer, sondern auch den Ersatzanspruch gegen den Schädiger selbst (§ 115 Abs. 2 Satz 4 VVG).113 Dies gilt auch dann, wenn der Ersatzanspruch die Deckungsverpflichtung des Versicherers übersteigt,114 und unabhängig davon, ob sich der Geschädigte auf eine gesamtschuldnerische Haftung beruft.115 Will der Versicherer demgegenüber die Verhandlungsführung (mit Auswirkung auf die Verjährungshemmung) beschränken, muss er dies eindeutig zum Ausdruck bringen.116

24.44

Die Hemmung bezieht sich auf alle Ansprüche, die dem Anmeldenden aus dem Unfall erwachsen sind, auch wenn sie in der Meldung noch nicht näher bezeichnet wurden (s. Rz. 24.41) und auch soweit sie auf eintrittspflichtige Leistungsträger übergegangen sind.117 Ist der Haftpflichtversicherer gegenüber dem Versicherungsnehmer wegen Obliegenheitsverletzung von der Leistungspflicht teilweise frei, so wird die Verjährung des auf einen Sozialversicherungsträger übergegangenen Schadensersatzanspruchs auch hinsichtlich des unter der Leistungsfreigrenze liegenden Sockelbetrags gehemmt.118

24.45

e) Ende Nach § 115 Abs. 2 Satz 3 VVG endet die Hemmung (mit der Folge, dass die Verjährungsfrist weiterläuft) mit dem Eingang der Entscheidung des Versicherers in Textform (§ 126b BGB). Eine Entscheidung im Sinn dieser Vorschrift liegt nur dann vor, wenn das Schreiben eindeutig erkennen lässt, dass die mit dem Anspruchsteller geführten Verhandlungen als beendet betrachtet werden, und zwar entweder im ablehnenden oder im stattgebenden Sinn.119 Das 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119

Pamer Neues Recht der Schadensregulierung bei Verkehrsunfällen im Ausland (2003) S. 50. BGH v. 12.6.1979 – VI ZR 192/78, BGHZ 74, 393. BGH v. 12.6.1979 – VI ZR 192/78, BGHZ 74, 393, 398. BGH v. 23.3.1982 – VI ZR 144/80, VersR 1982, 651; OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00, VersR 2002, 564 (Ausländer). BGH v. 2.3.1982 – VI ZR 245/79, VersR 1982, 546; BGH v. 16.2.1984 – III ZR 208/82, VersR 1984, 441. OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00, VersR 2002, 564. Vgl. BGH v. 22.11.1988 – VI ZR 20/88, NZV 1989, 145. BGH v. 20.4.1982 – VI ZR 311/79, VersR 1982, 674. BGH v. 6.12.1983 – VI ZR 212/81, VersR 1984, 226. BGH v. 30.4.1991 – VI ZR 229/90, BGHZ 114, 299; BGH v. 28.1.1992 – VI ZR 114/91, NZV 1992, 231; BGH v. 5.12.1995 – VI ZR 50/95, NZV 1996, 142.

Greger | 615

24.46

§ 24 Rz. 24.46 | Verjährung

Erfordernis der Textform besteht auch bei positiver Entscheidung.120 Das Schreiben muss dem Geschädigten die Sicherheit geben, dass auch künftige Forderungen aus dem Schadensfall bei ausreichendem Beleg freiwillig bezahlt werden.121 Ohne schriftlichen Bescheid endet die Hemmung jedenfalls mit Abschluss eines Abfindungsvergleichs;122 das gilt auch für dort vorbehaltene Ansprüche.123 Auch ein Vergleichsangebot kann eine „Entscheidung“ sein,124 eine Überweisung allenfalls unter ganz besonderen Umständen.125 Bei bloßer Zahlung fehlt die Schriftlichkeit.126 Zu Ausnahmen vom Formerfordernis bei Ablehnung s. Rz. 24.49.

24.47

Die Äußerung des Versicherers muss jedoch in jedem Fall eindeutig und endgültig sein.127 Es genügt nicht, wenn der Versicherer in seinem Schreiben zwar Einwendungen gegen den Anspruch erhebt, ihn jedoch nicht ablehnt, sondern zum Ausdruck bringt, dass er um eine weitere Klärung des Sachverhalts bemüht ist;128 anders, wenn er – vorerst – ablehnt, weil wegen fehlender Unterlagen eine sachliche Prüfung noch nicht möglich sei.129 Auch die bloße Erklärung, auf die Einrede der Verjährung verzichten zu wollen, führt nicht zur Beendigung der Hemmung.130

24.48

Die Entscheidung muss auch umfassend sein.131 Sie muss dem Geschädigten zweifelsfreie Klarheit über alle Forderungen aus dem Unfall verschaffen. Eine positive Entscheidung des Versicherers beendet die Verjährungshemmung deshalb nur dann, wenn der Geschädigte aufgrund dieser Entscheidung sicher sein kann, dass auch künftige Forderungen aus dem Schadensfall, sofern sie der Höhe nach ausreichend belegt sind, freiwillig bezahlt werden.132 Dass Einzelpositionen anerkannt werden und der Anspruchsgrund nicht bestritten wird, reicht hierfür nach Ansicht des BGH133 nicht aus. Auch ein Teilvergleich, der Zukunftsschäden ausklammert, beendet die Hemmung nicht.134

24.49

Durch ein Verhalten des Geschädigten kann die Beendigung der Verjährungshemmung nicht herbeigeführt werden;135 dies würde dem auf Schutz des Geschädigten vor Verjährung seiner

120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135

BGH v. 28.1.1992 – VI ZR 114/91, NZV 1992, 231. BGH v. 14.3.2017 – VI ZR 226/16, NJW 2017, 2271. BGH v. 8.12.1998 – VI ZR 318/97, NZV 1999, 158. BGH v. 29.1.2002 – VI ZR 230/01, NJW 2002, 1878, 1880; OLG Koblenz v. 30.1.2012 – 12 U 1178/10, NZV 2012, 233; a.A. OLG Frankfurt v. 20.2.2002 – 17 U 15/01, VersR 2002, 1142. Zu eng OLG München v. 15.3.1988 – 10 U 4114/87, NZV 1989, 193. So aber OLG München v. 22.1.1991 – 5 U 3964/90, NZV 1992, 283. BGH v. 5.12.1995 – VI ZR 50/95, NZV 1996, 141, 142. BGH v. 13.7.1982 – VI ZR 281/80, VersR 1982, 1006; BGH v. 16.10.1990 – VI ZR 275/89, NZV 1991, 151; OLG Köln v. 12.8.1982 – 16 U 62/80, VersR 1983, 959; a.A. OLG München v. 20.12.1991 – 10 U 4375/91, NZV 1992, 322: nur eindeutig, nicht endgültig. BGH v. 26.9.1979 – IV ZR 94/78, VersR 1979, 1120, 1122. OLG Karlsruhe v. 23.1.1987 – 14 U 184/85, VersR 1988, 351. BGH v. 17.1.1978 – VI ZR 116/76, VersR 1978, 423. BGH v. 30.4.1991 – VI ZR 229/90, BGHZ 114, 299, 303; BGH v. 28.1.1992 – VI ZR 114/91, NZV 1992, 231. BGH v. 5.12.1995 – VI ZR 50/95, NZV 1996, 141, 142; OLG Hamm v. 25.6.2001 – 13 U 32/01, NZV 2002, 39. BGH v. 5.12.1995 – VI ZR 50/95, NZV 1996, 141, 142. Nichtannahmebeschluss des BGH v. 11.7.1995 – VI ZR 395/94 zu OLG Hamm v. 9.11.1994 – 32 U 114/94, VersR 1996, 78. Z.B. Bestätigung der mündlichen Ablehnung des Versicherers in Schreiben des Geschädigten; BGH v. 18.2.1997 – VI ZR 356/95, NZV 1997, 227.

616 | Greger

IV. Hemmung der Verjährung | Rz. 24.52 § 24

Ansprüche gerichteten Zweck des § 115 Abs. 2 Satz 3 VVG zuwiderlaufen.136 Daher endet die Hemmung nicht etwa deswegen, weil der Geschädigte sich trotz Schweigens des Versicherers längere Zeit, selbst jahrelang, nicht mehr meldet.137 Allerdings kann es gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen, wenn der Geschädigte aufgrund des Verhaltens des Versicherers, z.B. seiner Zahlungen, keinen Anlass hatte, noch auf einen schriftlichen Bescheid zu warten und erst nach Jahren mit neuen Forderungen an den Versicherer herantritt; in diesem Fall kann sich der Versicherer ggf. auf den Ablauf der Verjährungsfrist berufen.138 Gegenüber dem Schädiger (s. Rz. 24.44) wirkt die Hemmung auch dann weiter, wenn der Versicherer ihm den Versicherungsschutz entzieht.139

24.50

3. Verhandlungen über den Schadensfall a) Begriff Unter verjährungshemmenden Verhandlungen i.S.v. § 203 BGB sind nicht nur solche zu verstehen, die auf eine außergerichtliche Erledigung hinzielen; es reicht vielmehr jeder Meinungsaustausch zwischen dem Ersatzberechtigten und dem Ersatzverpflichteten (oder dessen Haftpflichtversicherer) über den Schadensfall,140 sofern der Ersatzverpflichtete oder sein Versicherer nicht sofort mitteilt, dass er jeden Schadensersatz (und damit Verhandlungen hierüber) ablehne.141 Verhandlungen schweben daher schon dann, wenn der in Anspruch Genommene Erklärungen abgibt, die dem Geschädigten die Annahme gestatten, er lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung von Schadensersatzansprüchen ein. Die formularmäßige Bestätigung des Empfangs einer Forderungsanmeldung reicht zwar nicht, es genügt aber, wenn der Haftpflichtversicherer erkennen lässt, er werde die Berechtigung des Anspruchs jedenfalls prüfen.142 Nicht erforderlich ist, dass der Geschädigte konkrete Ansprüche anmeldet; auch vom Schädiger initiierte Verhandlungen hemmen die Verjährung.143 Wird der nicht rechtshängige Anspruch in einem gerichtlichen Widerrufsvergleich miterledigt, ist seine Verjährung bis zum Widerruf gehemmt.144

24.51

b) Beschränkung der Verhandlungen Grundsätzlich erstreckt sich die Hemmung auf den gesamten Anspruch. Nur wenn die Verhandlungen ausdrücklich auf einen von mehreren abtrennbaren Anspruchskomplexen be-

136 BGH v. 15.11.1977 – VI ZR 250/76, VersR 1978, 93. 137 BGH v. 15.11.1977 – VI ZR 250/76, VersR 1978, 93. 138 BGH v. 14.12.1976 – VI ZR 1/76, NJW 1977, 674; BGH v. 17.1.1978 – VI ZR 116/76, VersR 1978, 423; OLG Düsseldorf v. 14.7.1989 – 15 U 205/88, NZV 1990, 74; OLG Düsseldorf v. 17.4.1989 – 1 U 110/88, NZV 1990, 191, 192 f. Extremfall (28 Jahre Untätigkeit): OLG Hamm v. 18.1.2013 – 9 U 23/12, NJW 2013, 1458. 139 OLG Hamm v. 17.3.1992 – 7 U 103/91, NJW-RR 1993, 914, 917. 140 BGH v. 13.5.1997 – VI ZR 181/96, NJW 1997, 3447: auch die Bekundung der Bereitschaft, ein Gespräch über die Verjährungsfrage zu führen. 141 BGH v. 26.10.2006 – VII ZR 194/05, NJW 2007, 587 mit Anm. Neuenfeld m.w.N. 142 BGH v. 26.9.2006 – VI ZR 124/05, NJW 2007, 64, 65. 143 BGH v. 20.2.2001 – VI ZR 179/00, NJW 2001, 1723. 144 BGH v. 4.5.2005 – VIII ZR 93/04, NJW 2005, 2004.

Greger | 617

24.52

§ 24 Rz. 24.52 | Verjährung

schränkt werden, tritt auch die Hemmung nur insoweit ein.145 Hinsichtlich verschiedener konkurrierender Anspruchsgrundlagen besteht keine Abtrennbarkeit der Verhandlungen.146

c) Person des Verhandelnden 24.53

Zu Vergleichsverhandlungen befugt ist nicht nur der Ersatzberechtigte oder -verpflichtete selbst (oder sein gesetzlicher Vertreter), sondern auch eine von ihm bevollmächtigte Person (z.B. ein Rechtsanwalt). Der Haftpflichtversicherer ist nach A.1.1.4 AKB 2015 zu Regulierungsverhandlungen bevollmächtigt, so dass auch seine Verhandlungen die Verjährung hemmen. Dies gilt auch dann, wenn die Ansprüche des Geschädigten, deretwegen der Versicherer mit ihm verhandelt hat, die Deckungssumme übersteigen.147 Bei Selbstversicherung nach § 2 Abs. 2 PflVG beziehen sich Verhandlungen mit dem Fahrzeughalter auch auf den Ersatzanspruch gegen den Fahrer.148

24.54

Bei Forderungsübergang auf einen Dritten (z.B. auf einen Versicherer oder auf den Dienstherrn), ist dieser allein in der Lage, Verhandlungen mit verjährungshemmender Wirkung zu führen. Verhandlungen, die der Verletzte mit dem Ersatzpflichtigen führt, hemmen die Verjährung desjenigen Teils der Ersatzansprüche nicht, der auf den Sozialversicherer übergegangen ist.149 Kommt es zu einem Wechsel des leitungserbringenden Sozialversicherungsträgers, kann die Verjährung des auf diesen übergehenden Ersatzanspruchs nur durch Verhandlungen, die er selbst mit dem Ersatzpflichtigen führt, gehemmt werden; nur die bis zum Rechtsübergang durch Verhandlungen seines Rechtsvorgängers bewirkte Hemmung bleibt bei Bestand.150

d) Beginn 24.55

Lässt sich der Anspruchsgegner auf ein Verhandeln im vorstehenden Sinne ein, tritt die Hemmung bereits mit dem Zeitpunkt der Anspruchsanmeldung ein.151

e) Ende 24.56

Die Hemmung endet, wenn der Schädiger sinngemäß, aber unmissverständlich erklärt, er lehne jede Ersatzleistung oder weitere Verhandlungen hierüber ab.152 Auch der Geschädigte kann die Verhandlungen abbrechen, indem er kompromisslos auf Erfüllung beharrt und das weitere Gespräch verweigert.153 Ohne Bedeutung für die Hemmung der Verjährung ist die Erklärung, auf die Einrede der Verjährung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt verzichten zu wollen.154

145 BGH v. 19.11.1997 – IV ZR 357/96, NZV 1998, 108; BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 285/12, NJWRR 2014, 981, 982. 146 OLG Hamburg v. 2.3.1990 – 14 U 9/89, VersR 1991, 1263. 147 BGH v. 11.4.1978 – VI ZR 29/76, VersR 1978, 533. 148 BGH v. 1.12.1964 – VI ZR 193/63, MDR 1965, 198. 149 OLG Frankfurt v. 4.2.1966 – 3 U 233/65, VersR 1966, 1056. 150 BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226. 151 BGH v. 19.12.2013 – IX ZR 120/11, VersR 2014, 597 m.w.N. 152 BGH v. 30.6.1998 – VI ZR 260/97, NJW 1998, 2819. 153 Staudinger/Peters/Jacoby § 203 Rz. 11. 154 BGH v. 17.2.2004 – VI ZR 429/02, NZV 2004, 239.

618 | Greger

IV. Hemmung der Verjährung | Rz. 24.63 § 24

Das Ende der Verhandlungen tritt auch ein, wenn der Ersatzverpflichtete auf eine Anfrage oder einen Vorschlag des Anspruchstellers keine Antwort mehr gibt (sog. Einschlafen lassen). Maßgebend ist der Zeitpunkt, zu dem eine Antwort spätestens zu erwarten gewesen wäre.155

24.57

Wurden vorläufige Zahlungen geleistet, so beendet die Einstellung der Zahlungen die Hemmung. Dem Verletzten steht es allerdings frei, noch ein Schreiben an den Schädiger zu richten und nach dem Grund der Zahlungseinstellung zu fragen. Dann endet die Verjährung zu dem Zeitpunkt, in dem nach allgemeiner Lebenserfahrung mit einer Antwort spätestens zu rechnen gewesen wäre.

24.58

Die Verhandlungen enden aber auch, wenn der Ersatzberechtigte sich nicht mehr äußert, obwohl eine Äußerung nach Sachlage zu erwarten gewesen wäre. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem eine Antwort auf die letzte Anfrage des Ersatzpflichtigen spätestens zu erwarten gewesen wäre, falls die Regulierungsverhandlungen mit verjährungshemmender Wirkung hätten fortgesetzt werden sollen.156

24.59

Wurde für die außergerichtliche Regulierung von Schäden eines schwerverletzten Kindes mit dem Haftpflichtversicherer eine Verhandlungspause vereinbart, um die weitere Entwicklung des Kindes abzuwarten, ist es grundsätzlich Sache des Haftpflichtversicherers, die Initiative wegen einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zu ergreifen, wenn er die Hemmung einer Verjährung der Ersatzansprüche beenden will.157 Haben die Parteien sich darauf verständigt, dass ein bestimmtes Ereignis abgewartet werden soll, z.B. der Ausgang eines Musterprozesses oder eines Strafverfahrens, muss der Gläubiger zur Fortdauer der Hemmung, binnen angemessener Zeit die Initiative ergreifen, wenn die Hemmung fortdauern soll.158

24.60

Werden bereits beendete Verhandlungen wieder aufgenommen, kommt es zu einer erneuten Hemmung.159 Eine Rückwirkung auf den Beginn der ursprünglichen Verhandlungen findet nicht statt.160

24.61

f) Nachfrist Um zu verhindern, dass eine schon fast abgelaufene Verjährungsfrist kurz nach Abbruch der Verhandlungen endet, ordnet § 203 Satz 2 BGB an, dass die Verjährung frühestens drei Monate nach Ende der Hemmung eintreten kann.

24.62

g) Verhältnis zum Neubeginn Bei Vergleichsverhandlungen kann es auch zu einem Neubeginn der Verjährung durch Anerkenntnis kommen (s. Rz. 24.38). Die neue Verjährungsfrist läuft dann ab dem Ende der Verhandlungen.161 155 BGH v. 5.11.2002 – VI ZR 416/01, BGHZ 152, 298, 303; BGH v. 7.1.1986 – VI ZR 203/84, NJW 1986, 1337 m.w.N. 156 BGH v. 6.11.2008 – IX ZR 158/07, NJW 2009, 1806; BGH v. 6.3.1990 – VI ZR 44/89, NZV 1990, 226, 227. 157 BGH v. 7.1.1986 – VI ZR 203/84, NJW 1986, 1337. 158 Staudinger/Peters/Jacoby § 203 Rz. 13. 159 BGH v. 28.3.1985 – III ZR 20/84, VersR 1985, 642, 644; OLG Frankfurt v. 16.9.2009 – 7 U 257/ 08, MDR 2010, 326. 160 BGH v. 15.12.2016 – IX ZR 58/16, BGHZ 213, 213. 161 Staudinger/Peters/Jacoby § 203 Rz. 3. S. auch Rz. 24.31.

Greger | 619

24.63

§ 24 Rz. 24.64 | Verjährung

4. Rechtsverfolgung a) Tatbestände 24.64

Klageerhebung (und die in § 204 BGB gleichgestellten Maßnahmen) führen nach neuem Verjährungsrecht nicht mehr zum Neubeginn, sondern nur noch zur Hemmung der Verjährung. Zum Übergangsrecht s. Rz. 24.95. Für das Haftpflichtrecht sind insbesondere folgende Maßnahmen zur Rechtsverfolgung von Bedeutung: aa) Klageerhebung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB)

24.65

Hemmende Wirkung hat jede Klage auf Befriedigung oder Feststellung des Anspruchs sowie auf Erteilung der Vollstreckungsklausel oder Erlass des Vollstreckungsurteils, auch die Widerklage,162 nicht dagegen die negative Feststellungsklage oder die Verteidigung gegen sie.163 Die Geltendmachung des Anspruchs im Strafverfahren gegen den Schädiger (Adhäsionsverfahren) steht der Erhebung der Klage gleich (§ 404 Abs. 2 StPO), desgleichen die Klageerweiterung im Wege der Anschlussberufung.164 Auch der hilfsweise gestellte Klageantrag hemmt die Verjährung.165

24.66

Mängel der Klageerhebung beeinträchtigen die Unterbrechungswirkung nicht in jedem Falle. Die Klageerhebung muss wirksam, d.h. durch Zustellung166 einer den wesentlichen Erfordernissen des § 253 ZPO entsprechenden Klageschrift167 oder in der Form des § 261 Abs. 2 ZPO erfolgt sein. Eine falsche Bezeichnung des Beklagten ist unschädlich, wenn er aufgrund der Bezeichnung ohne weiteres feststellbar ist.168 Auf die Zulässigkeit der Klage kommt es dagegen nicht an.169 Auch die Erhebung bei einem unzuständigen Gericht bewirkt Hemmung;170 ebenso die Feststellungsklage bei Fehlen des Feststellungsinteresses nach § 256 Abs. 1 ZPO.171 Unerheblich sind Schlüssigkeit und ausreichende Substantiierung,172 jedoch muss der Streitgegenstand genügend individualisiert sein.173

24.67

Teilklagen hemmen die Verjährung nur hinsichtlich des eingeklagten Teils (s. Rz. 24.78). Ist dieser nicht eindeutig abgegrenzt (s. Rz. 40.19 ff.), muss dies im Laufe des Prozesses nachgeholt werden, da sonst mit rechtskräftigem Abschluss des Prozesses die bis dahin auflösend bedingte Rechtshängigkeit und mit ihr die Verjährungshemmung entfällt.174

162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174

RG v. 16.11.1935 – I 59/35, RGZ 149, 321, 326. BGH v. 15.8.2012 – XII ZR 86/11, NJW 2012, 3633. BGH v. 20.12.2018 – III ZR 17/18, MDR 2019, 366. BGH v. 8.1.2014 – XII ZR 12/13, NJW 2014, 920. Zur Heilung von Zustellungsmängeln s. Zöller/Greger § 253 Rz. 26a. Dazu Zöller/Greger § 253 Rz. 7 ff. BGH v. 16.5.1983 – VIII ZR 34/82, NJW 1983, 2448. BGH v. 3.7.1980 – IVa ZR 38/80, BGHZ 78, 1, 5. RG v. 17.12.1926 – VI 446/26, RGZ 115, 135, 140 = JW 1927, 658 mit Anm. Reichel; BGH v. 22.2.1978 – VIII ZR 24/77, NJW 1978, 1058. BGH v. 22.5.1963 – VIII ZR 49/62, BGHZ 39, 287, 291. BGH v. 2.3.1979 – I ZR 29/77, VersR 1979, 764. Zöller/Greger § 262 Rz. 3. BGH v. 22.5.1967 – II ZR 87/65, VersR 1967, 855 = ZZP 82, 141 mit Anm. Arens; BGH v. 22.5.1984 – VI ZR 228/82, VersR 1984, 782, 783; BGH v. 6.5.2014 – II ZR 217/13, NJW 2014, 3298 m.w.N.

620 | Greger

IV. Hemmung der Verjährung | Rz. 24.71 § 24

Klageerhebung im Ausland hemmt die Verjährung nur, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung des Urteils im Inland (nach § 328 ZPO oder den europarechtlichen Vorschriften) gegeben sind.175

24.68

Die Klage eines Nichtberechtigten hemmt grundsätzlich nicht. Anders verhält es sich jedoch, wenn der Kläger vom Anspruchsinhaber zur Prozessführung ermächtigt war (gewillkürte Prozessstandschaft176), und zwar unabhängig davon, ob er das nach Prozessrecht für die Zulässigkeit der Prozessstandschaft erforderliche Eigeninteresse hat.177 Die Klage eines vollmachtlosen Vertreters bzw. die Zustellung an einen solchen kann vom Berechtigten rückwirkend genehmigt werden.178 Nach gesetzlichem Forderungsübergang kann nur noch die Klage des neuen Gläubigers die Hemmung bewirken.179 Stand dem Kläger die Forderung bei Klageerhebung nicht zu, kann die Hemmungswirkung nicht rückwirkend durch Abtretung herbeigeführt werden.180

24.69

bb) Zustellung eines Mahnbescheids (§ 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB) Die Hemmung der Verjährung setzt voraus, dass die im Mahnbescheid genannte Forderung durch ihre Kennzeichnung von anderen Forderungen unterschieden und abgegrenzt werden kann. Sie muss daher im Mahnantrag entsprechend individualisiert werden.181 Hierfür kann die Bezugnahme auf ein dem Schuldner bekanntes Schreiben genügen.182 Die Nachholung der Individualisierung im späteren Streitverfahren bewirkt keine rückwirkende Hemmung der Verjährung.183 Zu fehlender Anspruchsberechtigung des Antragstellers s. Rz. 24.69.

24.70

cc) Güteantrag (§ 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB) Die Verjährung wird auch gehemmt durch die Veranlassung der Bekanntgabe eines Güteantrags durch eine staatlich anerkannte (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 15a Abs. 1 EGZPO) oder eine sonstige, von den Parteien einvernehmlich angerufene Gütestelle i.S.v. § 15a Abs. 3 EGZPO. Die Verjährung wird schon durch den Eingang des Antrags bei der Streitbeilegungsstelle gehemmt, wenn der Antrag demnächst bekannt gegeben wird (§ 204 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2); auf den Zugang beim Antragsgegner kommt es nicht an.184 Fehlende örtliche Zuständigkeit der Gütestelle ist unschädlich.185 Der Antrag muss jedoch den formalen Anforderungen der

175 RG v. 8.7.1930 – II 542/29, RGZ 129, 385, 390; Erman/Schmidt-Räntsch § 204 Rz. 10a; a.A. MünchKomm-BGB/Grothe § 204 Rz. 9 m.w.N. 176 BGH v. 29.11.1966 – VI ZR 38/65, VersR 1967, 162. 177 BGH v. 3.7.1980 – IVa ZR 38/80, NJW 1980, 2461. 178 RG v. 19.2.1915 – III 406/14, RGZ 86, 245. 179 BGH v. 30.3.1965 – VI ZR 244/63, VersR 1965, 610. 180 BGH v. 26.11.1957 – VIII ZR 70/57, NJW 1958, 338; BGH v. 29.11.1966 – VI ZR 38/65, VersR 1967, 162. 181 BGH v. 17.12.1992 – VII ZR 84/92, NJW 1993, 862. Näher Zöller/Seibel § 693 Rz. 3a. Zur Aufschlüsselung bei Mehrheit von Forderungen s. Rz. 40.19. 182 BGH v. 10.10.2013 – VII ZR 155/11, NJW 2013, 3509 Tz. 14 m.w.N. 183 BGH v. 21.10.2008 – XI ZR 466/07, NJW 2009, 56. 184 BT-Drucks. 14/7052, 181. 185 BGH v. 6.7.1993 – VI ZR 306/92, BGHZ 123, 337.

Greger | 621

24.71

§ 24 Rz. 24.71 | Verjährung

einschlägigen Verfahrensordnung entsprechen.186 Die Forderung muss ausreichend individualisiert sein und zumindest eine Größenordnung erkennen lassen.187 dd) Prozessaufrechnung (§ 204 Abs. 1 Nr. 5 BGB)

24.72

Greift die Aufrechnung durch, so erlischt die Forderung; die Vorschrift hat daher Bedeutung nur für die Fälle, in denen die erklärte Aufrechnung wirkungslos ist, weil sie vom Gericht als unzulässig angesehen oder, da nur hilfsweise geltend gemacht, nicht berücksichtigt wird.188 Sind mehrere Forderungen in dieser Weise hilfsweise zur Aufrechnung gestellt worden, so tritt die Hemmung für alle ein, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob im Zivilprozess eine Reihenfolge dieser Forderungen angegeben war oder nicht.189 ee) Streitverkündung (§ 204 Abs. 1 Nr. 6 BGB)

24.73

Es genügt Erklärung im selbständigen Beweisverfahren.190 Die Streitverkündung muss nach § 72 ZPO zulässig sein.191 Hierfür reicht es allerdings aus, wenn der Streitverkündende in diesem Augenblick lediglich annimmt, einen Anspruch auf Schadloshaltung gegen denjenigen zu haben, dem er den Streit verkündet, oder diesen alternativ zu dem Beklagten in Anspruch nehmen zu können.192 Mangels Zulässigkeit der Streitverkündung tritt dagegen keine Hemmung ein bei gesamtschuldnerischer Haftung von Beklagtem und Streitverkündetem.193 Der Ausgang des Prozesses ist unerheblich.194 ff) Beweisverfahren (§ 204 Abs. 1 Nr. 7 BGB)

24.74

Der Antrag auf ein selbständiges Beweisverfahren bewirkt nunmehr (anders als nach früherem Recht) eine Hemmung auch bei Haftpflichtansprüchen, soweit er vom Gläubiger gestellt wird.195 Die Verjährung wird auch dann gehemmt, wenn der Antragsgegner den Antrag auf Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens lediglich aufgrund einer formlosen Übersendung durch das Gericht erhalten hat; auf den fehlenden Willen des Gerichts, eine förmliche Zustellung vorzunehmen, kommt es nicht an.196

186 BGH v. 9.11.2007 – V ZR 25/07, NJW 2008, 506 Tz. 11 f. 187 BGH v. 18.6.2015 – III ZR 198/14, BGHZ 206, 41 = NJW 2015, 2407 m. Anm. Gilberg = JZ 2015, 1106 mit Anm. Antorno; May/Moeser NJW 2015, 1637. 188 BGH v. 26.3.1981 – VII ZR 160/80, BGHZ 80, 222. 189 BayObLG v. 20.10.1966 – RReg. 1 a Z 228/64, BayObLGZ 1966, 353. 190 BGH v. 5.12.1996 – VII ZR 108/95, BGHZ 134, 190; BT-Drucks. 14/6040, 114. 191 BGH v. 6.12.2007 – IX ZR 143/06, NJW 2008, 519. 192 BGH v. 13.11.1952 – III ZR 72/52, BGHZ 8, 72, 80. 193 Vgl. OLG Hamm v. 16.5.1986 – 9 U 84/85, MDR 1986, 1031 für das Zusammentreffen von deliktischer Haftung eines Verkehrsteilnehmers mit Amtshaftung aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht. 194 BGH v. 18.12.1961 – III ZR 181/60, BGHZ 36, 212, 214 = LM Nr. 11 zu § 209 BGB mit Anm. Kreft. 195 BGH v. 4.3.1993 – VII ZR 148/92, NJW 1993, 1916. 196 BGH v. 27.1.2011 – VII ZR 186/09, BGHZ 188, 128.

622 | Greger

IV. Hemmung der Verjährung | Rz. 24.78 § 24

gg) Antrag auf Vorentscheidung einer Behörde (§ 204 Abs. 1 Nr. 12 BGB) Hängt die Zulässigkeit des Rechtswegs von vorhergehender Entscheidung einer Behörde ab, so wirkt die Einreichung des Gesuchs bei der Behörde wie die Klage, sofern innerhalb von drei Monaten nach Erledigung des Gesuchs Klage erhoben wird. Dies gilt z.B. für den Entschädigungsantrag nach Art. 8 Abs. 6 und 7 des Finanzvertrags für durch Kfz der Stationierungsstreitkräfte verursachte Schäden.197

24.75

hh) Bestimmung des zuständigen Gerichts (§ 204 Abs. 1 Nr. 13 BGB) Die Hemmung tritt auch ein beim Antrag auf Bestimmung eines gemeinsamen Gerichtsstands nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO,198 sowie auch dann, wenn der Antrag erfolglos bleibt.199

24.76

ii) Prozesskostenhilfeantrag (§ 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB) Verjährungshemmend wirkt auch die Veranlassung der Bekanntgabe des erstmaligen Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe. Das Gesetz verlangt keinen ordnungsgemäß begründeten Antrag, jedoch wird bei unzureichenden Anträgen i.d.R. keine Bekanntgabe erfolgen. In jedem Fall müssen in dem Antrag die Parteien und die von der Hemmung zu erfassenden Ansprüche individualisierbar bezeichnet werden.200

24.77

b) Wirkung Der Umfang der Hemmung wird durch den Inhalt der Klageanträge begrenzt; der für den Umfang der Kenntnis maßgebliche Grundsatz der Schadenseinheit (Rz. 24.21) gilt hier nicht.201 Klagt der Verletzte (ausdrücklich oder verdeckt) nur einen Teilbetrag ein, so verjähren ggf. die restlichen Ansprüche.202 Liegt zunächst nur ein nicht aufgegliederter Antrag wegen verschiedener Teilansprüche vor, so wird die Verjährung für jeden Teilanspruch in Höhe der Gesamtsumme gehemmt, nicht aber hinsichtlich des weiteren die Gesamtsumme übersteigenden Teils der Einzelansprüche.203 Bei der Klage auf Zahlung einer dauernden Rente wird auch hinsichtlich späterer Erhöhungen des Schadens die Verjährung gehemmt,204 desgleichen bei einer betragsmäßigen Anpassung des Klageantrags an die fortschreitende Schadensentwicklung bzw die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse.205 Erhebt der Verletzte zulässigerweise eine unbezifferte Klage, so wird die Verjährung auch insoweit gehemmt, als der Verletzte die ursprünglich angegebene Größenordnung erhöht.206 Eine Feststellungsklage reicht aus, die Verjährung für alle von ihr erfassten Ansprüche zu hemmen, auch soweit sie erst nach Rechtskraft des Urteils fällig werden.207 Wird sie aber ausdrücklich auf einen 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207

BGH v. 24.3.1977 – III ZR 19/75, VersR 1977, 646. Staudinger/Peters/Jacoby § 204 Rz. 109. BGH v. 28.9.2004 – IX ZR 155/03, BGHZ 160, 259.2267. Staudinger/Peters/Jacoby § 204 Rz. 116. BGH v. 3.11.1987 – VI ZR 176/87, NJW 1988, 965 m.w.N. BGH v. 2.5.2002 – III ZR 135/01, BGHZ 151, 1. BGH v. 19.11.1987 – VII ZR 189/86, NJW-RR 1988, 692. Zur nicht aufgegliederten Teilklage s. auch Rz. 24.67. BGH v. 30.6.1970 – VI ZR 242/68, NJW 1970, 1682. BGH v. 19.2.1982 – V ZR 251/80, NJW 1982, 1809, 1810; BGH v. 26.6.1984 – VI ZR 232/82, VersR 1984, 868. BGH v. 10.10.2002 – III ZR 205/01, NZV 2002, 557. BGH v. 25.2.1988 – VII ZR 348/86, BGHZ 103, 298 Tz. 13.

Greger | 623

24.78

§ 24 Rz. 24.78 | Verjährung

Teil des Schadens beschränkt (z.B. den materiellen Schaden), so hemmt sie nur insoweit.208 Der Übergang von einem Zahlungs- auf einen Freistellungsantrag lässt die Identität des Anspruchs im verjährungsrechtlichen Sinne unberührt.209 Die verjährungshemmende Wirkung eines Hilfsantrags bleibt bestehen, auch wenn dem Hauptantrag stattgegeben wird.210

24.79

Die Hemmung wirkt grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen den Klageparteien. Eine Klage gegen den Halter hemmt mithin nicht die Verjährung gegenüber dem Fahrer desselben Fahrzeugs. Entsprechendes gilt bei teilweisem Übergang der Forderung auf einen anderen. Hier hemmt die Klageerhebung nur hinsichtlich des Teils der Forderung, der dem Kläger zusteht. Klagt mithin der Sozialversicherungsträger auf Erfüllung des Teils der Ansprüche, der auf ihn übergegangen ist, so wird die Verjährung hinsichtlich desjenigen Teils der Ansprüche nicht gehemmt, der beim Verletzten verblieben ist. Die Hemmung der Verjährung des Direktanspruchs gegen den Haftpflichtversicherer wirkt jedoch auch gegenüber dem ersatzpflichtigen Versicherungsnehmer und umgekehrt (§ 115 Abs. 2 Satz 4 VVG); dies gilt auch für die Klage gegen den inländischen Versicherer, der gem. § 2 Abs. 1 lit. b AuslPflVG die Pflichten eines ausländischen Haftpflichtversicherers übernommen hat (§ 6 Abs. 1 AuslPflVG).211

24.80

Bei der Prozessaufrechnung wird die Verjährung nur hinsichtlich des zur Aufrechnung verwendeten Teils der Forderung gehemmt, also nicht über die Klageforderung hinaus.212

c) Beginn 24.81

Bei Klageerhebung ist maßgeblich die Zustellung der Klageschrift (§ 253 Abs. 1 ZPO). Diese wirkt jedoch auf den Zeitpunkt des Eingangs der ordnungsgemäßen Klageschrift bei Gericht zurück, sofern die Zustellung der Klageschrift „demnächst“ – ab Ablauf der Verjährungsfrist213 – erfolgt (§ 167 ZPO). Damit die Zustellung als „demnächst“ bezeichnet werden kann, darf den Kläger (oder seinen Anwalt; § 85 Abs. 2 ZPO) kein Verschulden an der Verzögerung treffen und dürfen der Rückwirkung keine schutzwürdigen Belange des Schuldners entgegenstehen.214 Für den Mahnbescheid gilt Entsprechendes.

24.82

Bei Zurückweisung des Antrags aus formellen Gründen bietet § 691 Abs. 2 ZPO eine Möglichkeit zur Erhaltung der Fristwahrung. Bei der Aufrechnung kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Erklärung gegenüber dem Kläger, sondern auf den der Geltendmachung im Prozess an. Zur Streitverkündung s. §§ 73, 167 ZPO.

d) Ende 24.83

Dieses tritt nicht unmittelbar mit dem Wegfall des Hemmungstatbestands ein. § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB gewährt vielmehr eine Nachlauffrist von sechs Monaten. Erst nach deren Ablauf läuft der noch offene Rest der Verjährungsfrist weiter. Die Nachlauffrist gilt in allen Fällen des § 204 Abs. 1 BGB. Sie beginnt, wenn das zur Hemmung führende Verfahren durch eine 208 BGH v. 25.2.1988 – VII ZR 348/86, BGHZ 103, 298 Tz. 13; OLG München v. 27.10.1994 – 24 U 364/89, VersR 1996, 63 für nicht vom Feststellungsantrag umfasste immaterielle Schäden. 209 BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 38/83, VersR 1985, 238. 210 Erman/Schmidt-Räntsch § 204 Rz. 39; zum früheren Recht BGH v. 17.1.1968 – VIII ZR 207/65, NJW 1968, 692. 211 Näher hierzu OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00, VersR 2002, 564. 212 BGH v. 20.3.2009 – V ZR 208/07, NJW-RR 2009, 1169. 213 BGH v. 25.11,1985 – II ZR 236/84, NJW 1986, 1347. 214 Einzelheiten bei Zöller/Greger § 167 Rz. 10 ff.

624 | Greger

IV. Hemmung der Verjährung | Rz. 24.86 § 24

rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen wird, sechs Monate nach dem Eintritt der formellen Rechtskraft (§ 705 ZPO). Bei anderweitiger Beendigung (z.B. durch Klagerücknahme, Vergleich, Erledigung der Hauptsache) läuft sie an, sobald die entsprechende Erklärung wirksam geworden ist. Beim selbständigen Beweisverfahren kommt es, sofern keine abschließende Entscheidung (z.B. Antragszurückweisung) ergeht, auf die sachliche Erledigung (z.B. Zugang des Gutachtens) an.215 Bei einem Stillstand des Verfahrens ist zu unterscheiden: Beruht er auf einem gesetzlichen Grund (Unterbrechung oder Aussetzung nach §§ 239 ff. ZPO) oder einer gerichtlichen Aussetzungsentscheidung (z.B. § 148 ZPO), bleibt die Hemmung bestehen.216 Im Falle einer Aussetzung nach §§ 148 f. ZPO endet die durch die Klageerhebung eingetretene Hemmung der Verjährung mit der Erledigung des anderen Verfahrens.217 Ohne Einfluss auf die Hemmung ist es auch, wenn das Verfahren vom Gericht nicht weiterbetrieben wird, obwohl ihm von Amts wegen Fortgang zu geben wäre,218 so z.B. wenn die Parteien Auflagen, die ihnen in einem Beweisbeschluss gemacht wurden, nicht erfüllen219 oder wenn nach Rechtskräftigwerden eines Grundurteils des Berufungsgerichts kein Termin zur Fortsetzung des Rechtsstreits im Betragsverfahren bestimmt wird.220 Nur wenn der Prozess – ohne triftigen Grund221 – von den Parteien nicht weiterbetrieben wird, endet die Hemmung der Verjährung (z.B. bei beantragtem Ruhen des Verfahrens nach § 251 ZPO oder beiderseitiger Säumnis nach § 251a Abs. 1, 3 ZPO). Für den Beginn der 6-Monats-Frist ist dann die letzte Prozesshandlung der Parteien oder des Gerichts (z.B. Ruhensbeschluss nach §§ 251, 251a Abs. 3 ZPO) maßgebend (§ 204 Abs. 2 Satz 2 BGB).

24.84

Nach Ansicht des BGH stellt es keinen triftigen Grund dar, wenn das Verfahren wegen außergerichtlicher Vergleichsverhandlungen einvernehmlich nicht weiter betrieben wird, so dass die mit der Klageerhebung eingetretene Hemmung der Verjährung sechs Monate nach Eintritt des Stillstands endet.222 Wenn die Parteien tatsächlich verhandeln, bleibt die Verjährung aber nach § 203 BGB gehemmt. U.U. kann in ihrem Verhalten auch eine Vereinbarung über die Verlängerung der Verjährungsfrist nach § 202 Abs. 2 BGB gesehen werden.

24.85

Wird der in Stillstand geratene Prozess von einer Partei weiterbetrieben, so wird die Verjährung hierdurch wie bei Klageerhebung erneut gehemmt (§ 204 Abs. 2 Satz 3 BGB). Unter den Begriff des Weiterbetreibens fällt jede Prozesshandlung, die dazu bestimmt und geeignet ist, den stillstehenden Prozess wieder in Gang zu bringen.223 Sie braucht kein der Klageerhebung vergleichbares Gewicht zu haben; es genügt ein (auch erfolgloser)224 Antrag, aus dem sich ergibt, dass die Partei sich um die Fortführung des Prozesses kümmert, z.B. ein Antrag auf Ter-

24.86

215 216 217 218 219 220 221 222 223 224

BGH v. 3.12.1992 – VII ZR 86/92, NJW 1993, 851. RG v. 20.11.1909 – I 506/09, RGZ 72, 185; BGH v. 2.7.1963 – VI ZR 299/62, NJW 1963, 2019. BGH v. 24.1.1989 – XI ZR 75/88, BGHZ 106, 295. BGH v. 7.2.1013 – VII ZR 263/11, NJW 2013, 1666. BGH v. 19.9.1978 – VI ZR 141/77, VersR 1978, 1142; BGH v. 13.4.1994 – VIII ZR 50/93, NJWRR 1994, 889. BGH v. 10.7.1979 – VI ZR 81/78, NJW 1979, 2307. BGH v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, NJW 2009, 1598, 1600 m.w.N. zum früheren Recht. BGH v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, NJW 2009, 1598. Allerdings ist in diesen Fällen die Verjährung nach § 203 BGB gehemmt (Zöller/Greger § 251 Rz. 1; Erman/Schmidt-Räntsch § 204 Rz. 55b; wohl übersehen von BGH NJW 2009, 1598). BGH v. 23.11.1978 – VII ZR 41/78, BGHZ 73, 8. BGH v. 23.11.1978 – VII ZR 41/78, BGHZ 73, 8, 11.

Greger | 625

§ 24 Rz. 24.86 | Verjährung

minsbestimmung,225 ein Aussetzungsantrag226 oder ein Antrag auf Verweisung an das zuständige Gericht,227 desgleichen die Zahlung der Verfahrensgebühr.228

5. Leistungsverweigerungsrecht 24.87

Bei Vereinbarung eines vorübergehenden Rechts zur Leistungsverweigerung (nicht bei gesetzlichen Leistungsverweigerungsrechten) lässt § 205 BGB ebenfalls eine Hemmung der Verjährung eintreten. Im Hauptanwendungsfall der Stundung kommt es i.d.R. zugleich zu einem Neubeginn der Verjährung, da sie ein Anerkenntnis der Forderung enthält (s. Rz. 24.33). Die neu beginnende Verjährungsfrist wird dann zugleich in ihrem Lauf gehemmt, läuft also erst ab Ende der Stundungsfrist.229

24.88

Auch ein zeitlich begrenztes pactum de non petendo, d.h. eine Vereinbarung, den Anspruch nicht gerichtlich geltend zu machen, führt zur Hemmung der Verjährung nach § 205 BGB. Eine solche Vereinbarung kann auch konkludent abgeschlossen werden.230 In Betracht kommt z.B. eine Vereinbarung, der Verletzte solle erst den Abschluss der Ermittlungen des Schuldners231 oder die weitere Entwicklung des Schadens abwarten232 oder zunächst versuchen, einen Dritten auf Ersatz des Schadens in Anspruch zu nehmen,233 in der gemeinsamen Beauftragung eines Rechtsanwalts zur Inanspruchnahme eines Dritten wegen des Schadensfalls234 oder in der Vereinbarung eines Schiedsgutachtens.235 Zur Stillhaltepflicht aufgrund eines Teilungsabkommens s. Rz. 15.62. Kein pactum de non petendo liegt vor, wenn der Haftpflichtversicherer des Schädigers dem Verletzten im Laufe der Regulierungsverhandlungen eine Prüfung zusagt und ihn um Geduld bittet;236 insoweit kann aber § 203 BGB eingreifen (s. Rz. 24.51). Wird bei einem außergerichtlichen Vergleich ein Punkt ausgeklammert, über den man sich nicht einigen konnte, so liegt insofern kein pactum de non petendo vor.237

6. Höhere Gewalt 24.89

Höhere Gewalt hemmt die Verjährung, wenn sie den Verletzten innerhalb der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist hindert, seine Ansprüche durch Klage geltend zu machen (§ 206 BGB). Höhere Gewalt liegt nur vor, wenn das hindernde Ereignis oder der die Klageerhebung unmöglich machende Zustand vom Kläger auch durch die äußerste ihm zumutbare Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können. Dabei muss sich der Kläger das Verschulden seines 225 226 227 228 229 230 231

232 233 234 235 236 237

BGH v. 21.1.1971 – VII ZR 137/69, BGHZ 55, 212. BGH v. 20.10.1987 – VI ZR 104/87, VersR 1988, 390. BGH v. 17.10.1975 – I ZR 3/75, VersR 1976, 36. BGH v. 31.3.1969 – VII ZR 35/67, BGHZ 52, 47. Staudinger/Peters/Jacoby § 205 Rz. 6. BGH v. 28.11.1972 – VI ZR 126/71, NJW 1973, 316. BGH v. 20.2.1958 – III ZR 175/56, MDR 1958, 490; BGH v. 28.11.1972 – VI ZR 126/71, NJW 1973, 316. S. auch OLG Düsseldorf v. 9.2.2001 – 22 U 171/00, OLGR Düsseldorf 2001, 294 zu konkludentem Stillhalteabkommen zwischen Sozialversicherungsträger und Haftpflichtversicherer. BGH v. 7.1.1986 – VI ZR 203/84, NJW 1986, 1337. BGH v. 31.3.1960 – III ZR 159/58, MDR 1960, 650. OLG Hamm v. 4.6.1992 – 6 U 13/92, NJW-RR 1993, 215. RG v. 20.11.1933 – IV 255/33, RGZ 142, 258, 263; OLG Hamm v. 26.4.1982 – 6 U 223/81, OLGZ 1982, 450. OLG München v. 30.9.1966 – 10 U 1237/66, VersR 1967, 565. OLG Nürnberg v. 9.10.1969 – 2 U 45/69, VersR 1970, 92.

626 | Greger

V. Verjährung von vor dem 1.1.2002 entstandenen Ansprüchen | Rz. 24.93 § 24

Prozessbevollmächtigten grundsätzlich als eigenes zurechnen lassen.238 Ist der Ersatzberechtigte erkrankt, so wird die Verjährung nur gehemmt, wenn ihm die Besorgung seiner Angelegenheiten unmöglich wird und er nicht einmal mehr in der Lage ist, einen anderen mit der Wahrnehmung zu beauftragen.239 Da Verjährungshemmung nunmehr über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe erreicht werden kann (s. Rz. 24.77), ist Mittellosigkeit kein Fall höherer Gewalt mehr.240 Ein Irrtum über die tatsächliche oder rechtliche Lage hemmt die Verjährung grundsätzlich nicht.241 Etwas anderes kann allenfalls bei einem trotz größter Sorgfalt nicht vermeidbaren Irrtum gelten, der die Rechtsverfolgung vorübergehend ganz aussichtslos erscheinen lässt.242 Auch eine dem geltend gemachten Anspruch entgegenstehende ständige Rechtsprechung begründet grundsätzlich keine Hemmung.243

24.90

7. Familienrechtliche Beziehungen Die Hemmung der Verjährung während des Bestehens der in § 207 BGB aufgeführten familienrechtlichen Beziehungen gilt auch für Ansprüche zwischen Ehegatten aus Straßenverkehrsunfällen.244

24.91

V. Verjährung von vor dem 1.1.2002 entstandenen Ansprüchen 1. Überblick Die Neuregelung der Verjährung durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz gilt uneingeschränkt nur für die am 1.1.2002 oder später entstandenen Ansprüche. Da sich die Entwicklung und/oder Regulierung von Unfallschäden oft über lange Zeiträume hinzieht, hat Art. 229 § 6 EGBGB für Altansprüche, die am 1.1.2002 noch nicht verjährt waren, Übergangsbestimmungen getroffen. Diese können noch immer von Bedeutung sein und werden daher im Folgenden kurz dargestellt.245

24.92

2. Fristberechnung a) Dauer Grundsätzlich gilt ab dem 1.1.2002 auch für die noch nicht verjährten Altansprüche neues Recht (Art. 229 § 6 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). Da die kenntnisabhängige Frist für haftungsrechtliche Ansprüche unverändert drei Jahre beträgt, besteht insofern im Normalfall kein Bedürfnis für das von der Grundregel abweichende schuldnerschützende Günstigkeitsprinzip der BGH v. 4.5.1955 – VI ZR 37/54, BGHZ 17, 199, 204. BGH v. 13.11.1962 – VI ZR 228/60, VersR 1963, 93. Vgl. zur früheren Rspr. BGH v. 19.1.1978 – II ZR 124/76, BGHZ 70, 235. BGH v. 10.4.1968 – V ZR 13/65, NJW 1968, 1381. BGH v. 18.1.1972 – VI ZR 204/70, VersR 1972, 394. BAG v. 6.12.1961 – 4 AZR 297/60, NJW 1962, 1077; Staudinger/Peters/Jacoby § 206 Rz. 8 (auch mit Nachw. vereinzelt anerkannter Ausnahmen). 244 BGH v. 25.11.1986 – VI ZR 148/86, VersR 1987, 561; Staudinger/Peters/Jacoby § 207 Rz. 8; a.A. Salje VersR 1982, 922. 245 Ausführlicher Heß NJW 2001, 253, 256 ff.; Gsell NJW 2002, 1297 ff.; Schulte-Nölke/Hawxwell NJW 2005, 2117 ff. 238 239 240 241 242 243

Greger | 627

24.93

§ 24 Rz. 24.93 | Verjährung

Abs. 3 und 4.246 Entsprechendes gilt für die kenntnisunabhängige dreißigjährige Verjährung von Personenschäden nach § 199 Abs. 2 BGB. Zum Tragen kommt Art. 229 § 6 Abs. 4 EGBGB allerdings hinsichtlich der absoluten Verjährungsfrist von Sachschäden nach § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB: Gem. Art. 229 § 6 Abs. 4 EGBGB gilt ab dem 1.1.2002 die zehnjährige Frist des neuen Rechts, soweit nicht die längere alte Frist zuvor endet.247

b) Beginn 24.94

Gem. Art. 229 § 6 Abs. 1 Satz 2 EGBGB bestimmt sich der Beginn der Verjährung für den Zeitraum vor dem 1.1.2002 nach altem Recht. Ist nach dem für die Dauer maßgeblichen neuen Recht (s. Rz. 24.93) der Beginn von subjektiven Merkmalen (Kenntnis, grob fahrlässige Unkenntnis) abhängig, die vor dem 1.1.2002 noch nicht vorlagen, tritt Verjährung aber nicht vor dem Zeitpunkt ein, der sich ergibt, wenn die kürzere Frist des neuen Rechts vom Zeitpunkt der Kenntniserlangung an läuft; die Höchstfrist wird ab 1.1.2002 berechnet.248

c) Neubeginn, Hemmung 24.95

Sieht das neue Recht für einen bisher zur Unterbrechung der Verjährung führenden Umstand lediglich deren Hemmung vor, so gilt die nach altem Recht eingetretene Unterbrechung gem. Art. 229 § 6 Abs. 2 EGBGB mit dem Ablauf des 31.12.2001 als beendigt. Die damit anlaufende neue Frist untersteht neuem Recht und wird sofort gehemmt.249 Relevant wird dies vor allem bei über den Stichtag fortdauernder gerichtlicher Geltendmachung i.S.d. § 209 BGB a.F.250 Hemmungstatbestände, die dem alten Recht unbekannt waren, greifen ab dem 1.1.2002 (z.B. über den Stichtag fortdauernde Verhandlungen gem. § 203 BGB außerhalb des bereits von § 852 Abs. 2 BGB a.F. erfassten Bereichs).251

24.96

Eine Abweichung von der Grundregel enthält Art. 229 § 6 Abs. 1 Satz 3 EGBGB. Bei der Verjährungsunterbrechung ist auch nach dem 31.12.2001 altes Recht insoweit anzuwenden, als eintretende Umstände zu einem Wegfall oder Wiederaufleben der nach altem Recht verwirklichten Unterbrechung geführt hätten. Dies betrifft z.B. die Fälle, dass die Unterbrechung durch Klageerhebung infolge von Klagerücknahme oder Prozessurteil unwirksam wird (§ 212 Abs. 1 BGB a.F.) bzw. durch erneute Klage innerhalb von sechs Monaten wieder auflebt (§ 212 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F.) oder dass die Unterbrechungswirkung der Streitverkündung durch den Fristablauf nach § 215 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F. entfällt.252 Der Gesetzgeber hielt den Zusammenhang mit der vor dem Stichtag erfolgten Unterbrechung für entscheidend.253 Wurde z.B. eine Klage 2002 zurückgenommen, so entfielen rückwirkend die Unterbrechungs- bzw. Hemmungswirkungen des Art. 229 § 6 Abs. 2 EGBGB; sie konnten aber durch erneute Klage innerhalb von sechs Monaten rückwirkend wieder hergestellt werden.

246 Vgl. dazu Gsell NJW 2002, 1297, 1302. 247 Vgl. Heß NJW 2002, 253, 257 f. 248 BGH v. 23.1.2007 – XI ZR 44/06, BGHZ 171, 1 = VersR 2007, 1090. S. dazu auch Gsell NJW 2002, 1297 ff.; Heß NJW 2002, 257, 258. 249 BT-Drucks. 14/7052, 207. 250 Vgl. Heß NJW 2002, 257. 251 Heß NJW 2002, 257. 252 BGH v. 7.3.2007 – VIII ZR 218/06, NJW 2007, 2034; Heß NJW 2002, 257. 253 BT-Drucks. 14/7052, 207.

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VI. Rechtsgeschäftliche Einwirkungen auf die Verjährung | Rz. 24.99 § 24

VI. Rechtsgeschäftliche Einwirkungen auf die Verjährung 1. Vereinbarung Anders als nach früherem Recht sind nach § 202 BGB in der ab 1.1.2002 gültigen Fassung sowohl Verkürzungen als auch Erschwerungen der Verjährung im Rahmen der allgemeinen Vertragsfreiheit (§ 311 Abs. 1 BGB) grundsätzlich zulässig. Ausgenommen sind nach § 202 Abs. 1 BGB Vereinbarungen, die die Verjährung der Haftung wegen Vorsatzes im Voraus erleichtern, und nach § 202 Abs. 2 BGB Vereinbarungen, die einen späteren Verjährungseintritt als 30 Jahre nach gesetzlichem Beginn der Verjährung zur Folge hätten. Sie sind nach § 134 BGB nichtig. An ihre Stelle treten die Vorschriften der §§ 194 ff. BGB, sofern nicht (außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 307 ff. BGB) eine Reduktion auf das zulässige Höchstmaß als dem Parteiwillen entsprechend vorgenommen werden kann.254

24.97

Unter der Geltung des früheren Rechts, welches verjährungserschwerende Abreden ausschloss, wurde vielfach über mittelbare Regelungen derselbe Erfolg erzielt, z.B. über eine Stundung oder ein pactum de non petendo (s. Rz. 24.88), einen konstitutiven Schuldanerkenntnisvertrag (s. Rz. 16.48) oder eine die Wirkung eines Feststellungs- oder Anerkenntnisurteils ersetzende Vereinbarung (titelersetzendes Anerkenntnis).255 Eine Vereinbarung der letztgenannten Art bejahte der BGH bereits dann, wenn sich aus einem Anerkenntnis des Schuldners ergab, dass durch dieses die Erhebung einer Feststellungsklage des Geschädigten vermieden werden sollte;256 er ließ es aber z.B. nicht genügen, dass der Haftpflichtversicherer des Unfallgegners einen auf Zukunftsschäden gerichteten Vorbehalt in einer Abfindungserklärung des Geschädigten akzeptierte.257 Nach neuem Recht besteht für derartige Konstruktionen kein Anlass mehr, weil § 202 BGB die Möglichkeit zu jeglicher dem Einzelfall angemessener Verjährungsregelung bietet;258 vereinbaren Parteien nach wie vor ein „urteilsersetzendes Anerkenntnis“, wird es in diesem Sinne auszulegen sein.

24.98

2. Einseitiger Verzicht Ein Verzicht auf die Einrede der Verjährung war nach § 225 BGB a.F. nur möglich, wenn die Verjährung bereits eingetreten war.259 Das neue Recht enthält eine derartige Regelung nicht mehr; ein Verzicht durch einseitige Erklärung kann daher auch schon vor Eintritt der Verjährung erklärt werden.260 Eine konkludente Erklärung ist möglich, jedoch wird der Erklärungsempfänger nicht von einem Verzichtswillen ausgehen können, wenn für ihn ersichtlich ist, dass der Schuldner seinen Anspruch fälschlich für noch nicht verjährt hält.261 Der Ver-

254 Ebenso i. Erg. Staudinger/Peters/Jacoby § 202 Rz. 20; Erman/Schmidt-Räntsch § 202 Rz. 11. 255 BGH v. 23.10.1984 – VI ZR 30/83, NJW 1985, 791; BGH v. 23.6.1998 – VI ZR 327/97, NZV 1998, 456 (mit Auslegung in Bezug auf rückständige wiederkehrende Leistungen). Zu Recht kritisch gegenüber dieser Rechtsschöpfung Grunsky NJW 2013, 1336 ff. 256 BGH v. 23.10.1984 – VI ZR 30/83, NJW 1985, 791; BGH v. 4.2.1986 – VI ZR 82/85, VersR 1986, 684. 257 BGH v. 26.5.1992 – VI ZR 253/91, NZV 1992, 356; s. auch OLG Hamm v. 30.11.1992 – 6 U 85/ 92, VersR 1993, 363. 258 Grunsky NJW 2013, 1336, 1340. 259 BGH v. 4.11.1997 – VI ZR 375/96, NJW 1998, 902, 903. 260 BGH v. 18.9.2007 – XI ZR 447/06, VersR 2008, 366. 261 BGH v. 22.4.1982 – VII ZR 191/81, BGHZ 83, 382, 389; a.A. für das neue Recht Erman/ Schmidt-Räntsch § 202 Rz. 15.

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24.99

§ 24 Rz. 24.99 | Verjährung

zicht kann für einen bestimmten Zeitraum – innerhalb der Grenze des § 202 Abs. 2 BGB262 – erklärt werden. Diese Erklärung hemmt oder verhindert nicht den Eintritt der Verjährung, sondern ist im Zweifel dahin auszulegen, dass dem Gläubiger die gerichtliche Geltendmachung (Einreichung der Klage unter Beachtung von § 167 ZPO) ermöglicht werden soll;263 überschreitet der Verletzte diese Frist auch nur geringfügig, so kann der Ersatzpflichtige mit Fug und Recht Verjährung einwenden.264 Alternative Gestaltungsmöglichkeiten (z.B. Vereinbarungen über Verjährungsfrist oder -hemmung, Anerkenntnis, pactum de non petendo) können daher vorzugswürdig sein.265 Der unbefristete Verzicht ist regelmäßig dahin zu verstehen, dass er die Grenzen des § 202 Abs. 2 BGB einhält, soweit sich aus der Auslegung der Erklärung nichts Abweichendes ergibt.266

24.100

Der Haftpflichtversicherer kann kraft seiner Regulierungsvollmacht mit Wirkung gegen den von ihm vertretenen Ersatzpflichtigen auf die Einrede verzichten.267 Bei Rechtsnachfolge wirkt eine Verzichtserklärung, die gegenüber dem Rechtsvorgänger abgegeben wurde, grundsätzlich nur diesem gegenüber;268 nur unter besonderen Umständen (Schaffung eines besonderen Vertrauenstatbestands) kann die Berufung auf Verjährung gegenüber dem Rechtsnachfolger rechtsmissbräuchlich sein (s. Rz. 24.104 ff.). Der gegenüber einem Gesamtgläubiger erklärte Verzicht kann im Zweifel nicht dahin ausgelegt werden, dass er auch das Verhältnis zu anderen Gesamtgläubigern betrifft.269

24.101

Ein freier Widerruf des Verzichts ist nicht möglich.270 Wurde er ausdrücklich vorbehalten, kann der Schuldner der hierauf erhobenen Verjährungseinrede den Einwand unzulässiger Rechtsausübung (s. Rz. 24.104 ff.) entgegenhalten, wenn ihm kein angemessener Zeitraum verbleibt, um die nunmehr gebotene Hemmung der Verjährung herbeizuführen.271

3. Übergangsrecht 24.102

Auslegung und Wirksamkeit von verjährungsregelnden Abreden aus der Zeit vor 1.1.2002 richten sich weiterhin nach dem alten Recht.272

262 MünchKomm-BGB/Grothe § 202 Rz. 13; a.A. Erman/Schmidt-Räntsch § 202 Rz. 15. 263 BGH v. 7.5.2014 – XII ZB 141/13, NJW 2014, 2267. 264 BGH v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, NJW 2009, 1598, 1600. S. auch BGH v. 21.12.1989 – IX ZR 234/88, NJW-RR 1990, 1532 (Fristende fällt auf Feiertag). 265 Dazu Windorfer NJW 2015, 3329, 3332 f. 266 BGH v. 18.9.2007 – XI ZR 447/06, VersR 2008, 366; MünchKomm-BGB/Grothe § 202 Rz. 13; a.A. Erman/Schmidt-Räntsch § 202 Rz. 15; Windorfer NJW 2015, 3329, 3330: Verzicht wirkt wie Anerkenntnis. 267 Stiefel/Maier AKB 2015 A.1 Rz. 95; a.A. OLG Köln NJW 1955, 713 mit abl. Anm. Lent. S. auch Schirmer VersR 1970, 112. 268 BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226 (Wechsel des Sozialversicherungsträgers). 269 BGH v. 8.12.2015 – VI ZR 37/15, VersR 2015, 551 Tz. 22. 270 MünchKomm-BGB/Grothe § 202 Rz. 15; Windorfer NJW 2015, 3329, 3330. 271 Vgl. MünchKomm-BGB/Grothe vor § 194 Rz. 19 f. 272 Heß NZV 2002, 65, 68.

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VII. Unzulässige Rechtsausübung | Rz. 24.106 § 24

VII. Unzulässige Rechtsausübung 1. Überblick Die Berufung des Schuldners auf Verjährung kann unter besonderen Umständen gegen das Verbot missbräuchlicher Rechtsausübung nach § 242 BGB verstoßen (s. Rz. 24.104 ff.), ebenso aber auch die Berufung des Geschädigten auf eine Hemmung der Verjährung (s. Rz. 24.49). Schließlich kann bei alten, aber noch nicht verjährten Ansprüchen die Durchsetzung des Anspruchs unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung an § 242 BGB scheitern (s. Rz. 24.108).

24.103

2. Unzulässige Berufung auf Verjährung a) Voraussetzungen Die Berufung auf die Einrede der Verjährung kann treuwidrig sein, wenn der Schuldner bei dem Gläubiger den Eindruck erweckt oder aufrechterhalten hat, dessen Ansprüche befriedigen oder doch nur mit sachlichen Einwendungen bekämpfen zu wollen, und den Gläubiger dadurch von der rechtzeitigen Erhebung einer Klage abgehalten hat.273 Dass die Verjährung im Einzelfall zu einem das Opfer sehr belastenden Ergebnis führt, gehört hingegen zu ihrem Wesen und begründet keine unzulässige Rechtsausübung.274

24.104

Eine solche liegt z.B. vor, wenn der Schuldner die Verjährungseinrede unter Berufung auf einen unwirksamen oder widerrufenen Verjährungsverzicht erhebt, ohne dem Gläubiger eine angemessene Frist zur Klageerhebung einzuräumen,275 wenn der Gläubiger aus dem gesamten Verhalten des Schuldners für diesen erkennbar das Vertrauen gewinnen konnte, es würden lediglich sachliche Einwendungen, nicht aber Verjährung geltend gemacht,276 wenn der Ersatzpflichtige durch bewusste Verschleierung seiner Wohnverhältnisse seine rechtzeitige Inanspruchnahme vereitelt hat277 oder wenn der Ersatzberechtigte infolge der falschen Auskunft eines bei der schadensersatzpflichtigen Körperschaft tätigen Beamten die Klage verspätet erhoben hat.278 Der Umstand, dass der auf Schadensersatz in Anspruch Genommene die Einrede der Verjährung erst zu einem späten Zeitpunkt erhebt, begründet für sich allein auch dann noch nicht die Gegeneinrede der unzulässigen Rechtsausübung, wenn er einer Klageerweiterung zuvor nicht widersprochen hat.279 Hat der Ersatzpflichtige oder sein Haftpflichtversicherer sich auf Regulierungsverhandlungen mit dem Verletzten eingelassen, braucht der Arglisteinwand nicht bemüht zu werden, weil in solchen Fällen die Verjährung gehemmt wird (§ 203 BGB; s. Rz. 24.51 ff.).

24.105

Dem Schuldner ist es nicht verwehrt, sich auf Verjährung zu berufen, wenn der Verletzte von einer Klage deswegen Abstand genommen hat, weil er mit Rücksicht auf das Ansehen des Schuldners mit einer pünktlichen Erfüllung seiner Forderungen rechnen konnte.280 Ebenso ist es nicht per se treuwidrig, wenn der Ersatzpflichtige gegenüber einem Gläubiger auf den

24.106

273 BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226 m.w.N. 274 Verfehlt daher BGH v. 27.11.1990 – VI ZR 2/90, NZV 1991, 143 mit abl. Anm. Peters. 275 BGH v. 18.12.1981 – V ZR 220/80, VersR 1982, 365; BGH VersR v. 8.5.1984 – VI ZR 143/82, VersR 1984, 689; OLG Hamm v. 13.7.1982 – 27 U 33/82, VersR 1983, 787. 276 BGH v. 25.2.1982 – III ZR 26/81, VersR 1982, 444. 277 BGH v. 14.9.2004 – XI ZR 248/03, MDR 2005, 81. 278 BGH v. 7.2.1967 – VI ZR 101/65, VersR 1967, 704. 279 BGH v. 25.5.1988 – IVa ZR 14/87, VersR 1988, 953. 280 BAG v. 29.7.1966 – 3 AZR 20/66, NJW 1967, 174.

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§ 24 Rz. 24.106 | Verjährung

Verjährungseinwand verzichtet, ihn gegenüber einem anderen, auf den ein Teil der Ansprüche übergegangen ist, aber erhebt.281 Dass der Schuldner gegen Haftpflicht versichert ist, nimmt ihm nicht etwa das Recht, sich auf Verjährung zu berufen.282 Hat jedoch der Schädiger den Verletzten ausdrücklich an seine Haftpflichtversicherung verwiesen, so kann eine Berufung auf die anschließend eintretende Verjährung rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Versicherer den Deckungsschutz verneint und Verhandlungen ablehnt.283

b) Wirkung 24.107

Sie besteht nicht in einer Unterbrechung oder Hemmung der Verjährung. Der aus § 242 BGB abzuleitende Vertrauensschutz gilt vielmehr nur so lange, wie die den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung begründenden tatsächlichen Umstände fortdauern. Ändert sich die Sachlage dahin, dass der Verletzte nicht mehr erwarten darf, sein Schuldner werde die Einrede der Verjährung nicht erheben, oder war der Verzicht von vorneherein befristet, so muss er seine Ansprüche alsbald gerichtlich geltend machen. Nutzt er eine für die Vorbereitung der Klage erforderliche angemessene Übergangsfrist, die je nach den Umständen auf einige Wochen, allenfalls auch auf wenige Monate bemessen werden kann, nicht zur Klageerhebung, so ist der Schuldner nicht mehr gehindert, sich auf die Verjährung zu berufen.284 Das gilt auch dann, wenn die Parteien rechtswirksam vereinbart hatten, die Verjährung vom Eintritt eines bestimmten Ereignisses an als gehemmt zu betrachten, über ein Ende der Hemmung aber nichts verabredet wurde.285

3. Verwirkung 24.108

Der Ersatzpflichtige kann dem Geschädigten dann die Verwirkung eines unverjährten Anspruchs entgegenhalten, wenn der Berechtigte ein Recht längere Zeit nicht geltend macht, obwohl er dazu in der Lage wäre, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde.286 Im Haftpflichtrecht hat dies kaum praktische Bedeutung. Bei der kurzen Verjährungsfrist von drei Jahren ist davon auszugehen, dass dieser Zeitraum dem Geschädigten für die Geltendmachung seiner Ansprüche grundsätzlich ungeschmälert erhalten bleiben soll.287 Dass der Geschädigte zunächst nur den Haftpflichtversicherer in Anspruch genommen hat, berechtigt den Schädiger nicht, seiner späteren persönlichen Inanspruchnahme, die durch die Hemmungswirkung nach § 115 Abs. 2 Satz 4 VVG ermöglicht wird, den Verwirkungseinwand entgegenzusetzen.288 Auch bei langer Verjährungsfrist (z.B. nach § 199 Abs. 2, 3 BGB) darf der Verwirkungseinwand nicht maßgeblich auf die zunehmenden Beweisschwierigkeiten gestützt werden. Das durch Richterrecht geschaffene Institut der Verwirkung darf in seiner Anwendung nicht dazu führen, dass die gesetzliche Verjährungsregelung in weitem Maße unterlaufen wird.289 BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226 Tz. 42. BGH v. 6.7.1965 – VI ZR 71/64, VersR 1965, 1000. BGH v. 4.2.1969 – VI ZR 213/67, VersR 1969, 451. BGH v. 20.2.1986 – VII ZR 142/85, NJW 1986, 1861. BGH v. 16.1.1962 – VI ZR 96/61, VersR 1962, 372. BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 709/80, NJW 1982, 1999; OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00, VersR 2002, 564. 287 BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 133/91, NZV 1992, 274, 275. 288 Vgl. OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00, VersR 2002, 564. 289 BGH v. 26.5.1992 – VI ZR 230/91, NZV 1992, 356.

281 282 283 284 285 286

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§ 25 Mitverantwortung des Geschädigten

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundgedanken . . . . . . . . . . . . . . . a) Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitwirkende Gefährdungshaftung . c) Mitverantwortung für Folgeschäden d) Mitverantwortung für Umfang des Schadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anzuwendende Vorschriften . . . . . 3. Tatbestandselemente . . . . . . . . . . . a) Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitwirkende Betriebsgefahr . . . . . . c) Verursachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Darlegungs- und Beweislast . . . . . . 5. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . 2. Verschuldensbegriff . . . . . . . . . . . . 3. Zurechenbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schuldfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zurechnung des Verschuldens eines Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaber der tatsächlichen Gewalt über die beschädigte Sache . . . . . . . b) Mitberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hilfspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gesetzliche Vertreter . . . . . . . . . . . . e) Mittelbare Schädigung . . . . . . . . . . . 6. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhaltenspflichten im Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fehlende Verkehrstauglichkeit . . . . c) Selbstüberschätzung . . . . . . . . . . . . . d) Selbstgefährdendes Verhalten des Verkehrsteilnehmers . . . . . . . . . . . . e) Selbstgefährdung des Mitfahrers . . . f) Besonderes Verletzungsrisiko . . . . . g) Erkennbarkeit als Fußgänger . . . . . . h) Nichttragen von Schutzhelm oder Schutzkleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Motorradfahrer . . . . . . . . . . . . . bb) Radfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Inline-Skater, Roller . . . . . . . . .

25.1 25.1 25.1 25.3 25.5 25.6 25.7 25.8 25.8 25.9 25.10 25.11 25.12 25.16 25.16 25.18 25.23 25.24 25.27 25.27 25.29 25.30 25.32 25.36 25.38 25.38 25.39 25.40 25.41 25.47 25.57 25.58 25.59 25.59 25.66 25.68

i) Nichtanlegen des Sicherheitsgurts . . aa) Geltungsbereich der Gurtpflicht bb) Beweis des Verstoßes . . . . . . . . cc) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Haftungsquote . . . . . . . . . . . . . j) Nichtbenutzen von Kinderrückhalteeinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . 7. Schaden durch Schadensabwehrmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anrechnung der Betriebsgefahr . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . 3. Hypothetische Haftung des Geschädigten als Voraussetzung der Anspruchsminderung . . . . . . . . . . a) Grundgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftungsausschlüsse . . . . . . . . . . . . c) Ausschließlich bei deliktischer Haftung gegebene Ansprüche . . . . . d) Haftungsbegrenzung nach § 12 StVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Mitverschulden hinsichtlich des Schadensumfangs . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . 2. Inhalt der Schadensminderungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zurechnung des Verschuldens eines Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kosten der Schadensminderung . . a) Ersatzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unnötiger Aufwand . . . . . . . . . . . . . c) Vorteilsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . 5. Warnungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ursächlichkeit des Verstoßes . . . . . 6. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kreditaufnahme durch den Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inanspruchnahme der Kaskoversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inanspruchnahme eines Mietfahrzeugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Durchführung der Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung . . . . . . . . . . . . . .

25.69 25.69 25.79 25.80 25.83 25.85 25.86 25.87 25.87 25.88

25.94 25.94 25.95 25.96 25.97 25.98 25.99 25.99 25.100 25.101 25.102 25.102 25.103 25.104 25.105 25.105 25.107 25.108 25.108 25.109 25.111 25.112

Greger | 633

§ 25 | Mitverantwortung des Geschädigten e) Heilbehandlung und Operation . . . f) Inanspruchnahme der Krankenkasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Einsatz der Arbeitskraft des Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Einsatz der Arbeitskraft des hinterbliebenen Ehegatten . . . . . . . . . . . . V. Haftungsverteilung . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kriterien und Grundsätze für die Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Maß der Verursachung . . . . . . . . . . b) Maß des Verschuldens . . . . . . . . . . c) Betriebsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sonstige Umstände . . . . . . . . . . . . . 3. Abwägung bei Mehrheit von Ersatzpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . a) Beteiligung mehrerer Ersatzpflichtiger an einer Schädigung . . . . . . . . b) Beteiligung mehrerer Ersatzpflichtiger an einer einheitlichen Schadensursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beteiligung eines oder mehrerer Schädiger und des Geschädigten an einer einheitlichen Schadensursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Alternativtäterschaft . . . . . . . . . . . . e) Einfluss von Haftungsfreistellungen 4. Beweis der Abwägungskriterien . . a) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wahlfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . d) Haftungsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bezifferung der Quote . . . . . . . . . . 6. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unfälle zwischen Kfz im gleichgerichteten Verkehr . . . . . . . . . . . . . b) Unfälle zwischen Kfz im Begegnungsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unfälle zwischen Kfz im Querverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unfälle zwischen Kfz beim Rückwärtsfahren oder Wenden . . . . . . .

25.113 25.122 25.123 25.124 25.125 25.125 25.127 25.128 25.129 25.133 25.140 25.141 25.141

25.145

25.146 25.148 25.149 25.150 25.150 25.152 25.153 25.154 25.155 25.160 25.160 25.186 25.201 25.226

e) Unfälle mit Kfz im ruhenden Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Kfz-Unfälle durch Ladung, Fahrzeugteile oä . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Unfälle zwischen Kfz und Schienenbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gleichgerichteter Verkehr . . . . bb) Gegenverkehr . . . . . . . . . . . . . . cc) Kreuzender Verkehr . . . . . . . . dd) Sonstige Fälle . . . . . . . . . . . . . . h) Kfz-Unfälle mit Beteiligung von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unbeaufsichtigte Tiere . . . . . . . bb) Tiere unter menschlicher Leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Unfälle zwischen Kfz und Radfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Unfälle zwischen Kfz und Fußgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gehen auf der Straße . . . . . . . . bb) Überqueren der Straße . . . . . . . cc) Sonstige Unfälle mit Personen auf der Fahrbahn . . . . . . . . . . . k) Unfälle zwischen Kfz und InlineSkater, E-Roller u.ä. . . . . . . . . . . . . . l) Kfz-Unfälle mit Kindern . . . . . . . . . aa) Kind als Fußgänger . . . . . . . . . bb) Kind als Radfahrer . . . . . . . . . . m) Sonstige Kfz-Unfälle . . . . . . . . . . . . n) Unfälle zwischen Schienenfahrzeugen und nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern . . . . . . . . . . . aa) Fußgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Radfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . o) Unfälle zwischen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern . . . . . . . . aa) Fahrrad gegen Fahrrad . . . . . . . bb) Radfahrer gegen Fußgänger . . . cc) Sonstige Radfahrerunfälle . . . . dd) Sonstige Fußgängerunfälle . . . . ee) Unfälle mit Tieren . . . . . . . . . . p) Mitverschulden von Kfz-Insassen . aa) Privatfahrzeuge . . . . . . . . . . . . . bb) Öffentliche Verkehrsmittel . . .

25.229 25.234 25.236 25.237 25.240 25.241 25.245 25.246 25.246 25.248 25.249 25.251 25.253 25.254 25.255 25.256 25.257 25.259 25.260 25.261

25.262 25.262 25.263 25.264 25.265 25.266 25.267 25.268 25.269 25.270 25.271 25.271 25.272

§ 254 BGB (1) Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.

634 | Greger

Mitverantwortung des Geschädigten | § 25 (2) Dies gilt auch dann, wenn sich das Verschulden des Beschädigten darauf beschränkt, dass er unterlassen hat, den Schuldner auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens aufmerksam zu machen, die der Schuldner weder kannte noch kennen musste, oder dass er unterlassen hat, den Schaden abzuwenden oder zu mindern. Die Vorschrift des § 278 findet entsprechende Anwendung. § 9 StVG Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt, so finden die Vorschriften des § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit der Maßgabe Anwendung, dass im Fall der Beschädigung einer Sache das Verschulden desjenigen, welcher die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt, dem Verschulden des Verletzten gleichsteht. § 17 StVG (1) Wird ein Schaden durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht und sind die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet, so hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. (2) Wenn der Schaden einem der beteiligten Fahrzeughalter entstanden ist, gilt Abs. 1 auch für die Haftung der Fahrzeughalter untereinander. (3) Die Verpflichtung zum Ersatz nach den Abs. 1 und 2 ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wird, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Kraftfahrzeugs noch auf einem Versagen seiner Vorrichtungen beruht. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Der Ausschluss gilt auch für die Ersatzpflicht gegenüber dem Eigentümer eines Kraftfahrzeugs, der nicht Halter ist. (4) Die Vorschriften der Abs. 1 bis 3 sind entsprechend anzuwenden, wenn der Schaden durch ein Kraftfahrzeug und ein Tier oder durch ein Kraftfahrzeug und eine Eisenbahn verursacht wird. § 19 StVG (1) Wird bei dem Betrieb eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, ist der Halter des Anhängers verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Die Regelungen zur Haftung des Halters eines Kraftfahrzeugs nach § 7 Absatz 2 und 3, § 8 Nummer 2 und 3 sowie den §§ 8a bis 16 gelten entsprechend. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht, wenn der Unfall durch einen Anhänger verursacht wurde, der im Unfallzeitpunkt mit einem Kraftfahrzeug verbunden war, das auf ebener Bahn mit keiner höheren Geschwindigkeit als 20 Kilometer in der Stunde fahren kann. (2) Wird der Schaden eines anderen durch ein Zugfahrzeug mit Anhänger (Gespann) verursacht, haftet der Halter jedes dieser Fahrzeuge dem anderen für die Betriebsgefahr des gesamten Gespanns als Gesamtschuldner. Die Ersatzpflicht des gesamtschuldnerisch haftenden Halters ist auf die Höchstbeträge der §§ 12 und 12a beschränkt. (3) Wird ein Schaden durch ein Gespann und ein weiteres Kraftfahrzeug verursacht und sind die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet oder ist der Schaden einem der beteiligten Fahrzeughalter entstanden, gilt für die Ersatzpflichten im Verhältnis der Halter von Zugfahrzeug und Anhänger zu dem Halter des weiteren beteiligten Kraftfahrzeugs § 17 Absatz 1 bis 3 entsprechend. (4) Ist in den Fällen der Absätze 2 und 3 der Halter des Zugfahrzeugs oder des Anhängers zum Ersatz des Schadens verpflichtet, kann er nach § 426 des Bürgerlichen Gesetzbuchs von dem Hal-

Greger | 635

§ 25 Rz. 25.1 | Mitverantwortung des Geschädigten ter des zu dem Gespann verbundenen anderen Fahrzeugs Ausgleich verlangen. Im Verhältnis dieser Halter zueinander ist nur der Halter des Zugfahrzeugs verpflichtet. Satz 2 gilt nicht, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein; in diesem Fall hängt die Verpflichtung zum Ausgleich davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem Zugfahrzeug oder dem Anhänger verursacht worden ist. Das Ziehen des Anhängers allein verwirklicht im Regelfall keine höhere Gefahr. Der Ersatz für Schäden der Halter des Zugfahrzeugs und des Anhängers richtet sich im Verhältnis zueinander nach den allgemeinen Vorschriften. (5) Die Absätze 3 und 4 sind entsprechend anzuwenden, wenn der Schaden durch ein Gespann und ein Tier oder durch ein Gespann und eine Eisenbahn verursacht wird. (6) Wird ein Schaden eines Dritten oder eines beteiligten Kraftfahrzeughalters durch einen Anhänger verursacht, der im Unfallzeitpunkt nicht mit einem Zugfahrzeug verbunden war, oder ist der Schaden an einem solchen Anhänger entstanden, ist § 17 entsprechend anzuwenden. § 4 HaftpflG Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt, so gilt § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuchs; bei Beschädigung einer Sache steht das Verschulden desjenigen, der die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt, dem Verschulden des Geschädigten gleich. § 13 HaftpflG (1) Sind nach den §§ 1, 2 mehrere einem Dritten zum Schadensersatz verpflichtet, so hängt im Verhältnis der Ersatzpflichtigen untereinander Pflicht und Umfang zum Ersatz von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden überwiegend von dem einen oder dem anderen verursacht worden ist. (2) Wenn der Schaden einem der nach §§ 1, 2 Ersatzpflichtigen entstanden ist, gilt Abs. 1 auch für die Haftung der Ersatzpflichtigen untereinander. (3) Die Verpflichtung zum Ersatz nach den Abs. 1 und 2 ist für den nach § 1 zum Schadensersatz Verpflichteten ausgeschlossen, soweit die Schienenbahn innerhalb des Verkehrsraumes einer öffentlichen Straße betrieben wird und wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht ist, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit der Fahrzeuge oder Anlagen der Schienenbahn noch auf einem Versagen ihrer Vorrichtungen beruht. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Betriebsunternehmer als auch die beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet haben. Der Ausschluss gilt auch für die Ersatzpflicht gegenüber dem Eigentümer einer Schienenbahn, der nicht Betriebsunternehmer ist. (4) Die Abs. 1 bis 3 gelten entsprechend, wenn neben den nach den §§ 1, 2 Ersatzpflichtigen ein anderer für den Schaden kraft Gesetzes verantwortlich ist. Literatur: Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden (1990); Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999).

I. Überblick 1. Grundgedanken a) Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens 25.1

Wäre es ohne einen vorwerfbaren Verursachungsbeitrag des Geschädigten nicht zu seinem Schaden gekommen, könnte man ihm bei strenger Anwendung des casum-sentit-dominus636 | Greger

I. Überblick | Rz. 25.3 § 25

Prinzips (s. Rz. 1.7) und der condicio-sine-qua-non-Formel (s. Rz. 10.22) einen Schadensersatz ganz versagen. Zu diesem Ergebnis führte in der Tat das gemeinrechtliche Prinzip der Culpa-Kompensation.1 Im BGB findet diese Sichtweise noch in einigen Sonderbestimmungen Ausdruck (z.B. § 122 Abs. 2, § 179 Abs. 3 Satz 1, § 839 Abs. 3). Für das allgemeine Haftungsrecht ist sie jedoch durch das Prinzip der Schadensteilung abgelöst worden: Nach § 254 Abs. 1 BGB soll es bei mitwirkendem Verschulden des Geschädigten von einer Abwägung der Verursachungsanteile abhängen, ob und in welcher Höhe Schadensersatz beansprucht werden kann. Hierbei handelt es sich entgegen verbreiteter Meinung nicht um eine Ausprägung von „Treu und Glauben“, sondern um die Zurechnung von Verantwortlichkeit.2 Dieses Prinzip wurde auch auf die Gefährdungshaftung übertragen (§ 9 StVG, § 4 HaftpflG mit einer Erstreckung der Mithaftung auf Mitverschulden bestimmter Dritter; s. Rz. 25.27 ff.). Der Fall unterlassener Schadensabwendung wird in § 254 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 und 2 BGB der Mitverursachung nach Abs. 1 gleichgestellt.3 Hierher gehören die im Verkehrsrecht wichtigen Fälle des Selbstschutzes durch Sicherheitsgurt, Sturzhelm usw. (näher s. Rz. 25.18 ff.). Zur Frage, ob durch Erfüllung der Schadensabwendungspflicht entstandene Nachteile ersatzpflichtig sind, s. Rz. 25.86.

25.2

b) Mitwirkende Gefährdungshaftung Die Rechtsprechung hat in erweiternder Anwendung dieses Rechtsgedankens § 254 BGB auf die Fälle ausgedehnt, in denen den Verletzten kein mitwirkendes Verschulden trifft, in denen er aber, wäre nicht ihm, sondern einem anderen ein Schaden entstanden, aus Gefährdungshaftung in Anspruch genommen werden könnte, d.h. sie rechnet über den Wortlaut des § 254 BGB hinaus auch eine mitwirkende Betriebsgefahr an.4 Die ursprüngliche Beschränkung auf die Fälle, in denen auch der Schädiger nur aus Betriebsgefahr haftet, hat der BGH aufgegeben, weil die Billigkeit es erfordere, die Mithaftung für den Eigenschaden mit der Haftung für Fremdschäden in Einklang zu bringen.5 Auch § 17 Abs. 2 StVG, der i.V.m. Abs. 1 u. 4 eine Sondervorschrift für die Abwägung zwischen mehreren aus Betriebsgefahr Haftenden enthält (s. Rz. 25.7), spreche für einen allgemeinen Rechtsgedanken dieser Art. Gegen europarechtliche Vorgaben zum Schutz der Verkehrsopfer verstoßen Regelungen nicht, die den Schadensersatzanspruch eines schuldlos in einen Unfall Verwickelten wegen Anrechnung einer Betriebsgefahr reduzieren.6 Nach anfänglichem Widerstand in der Literatur hat die Anrechnung der mitwirkenden Gefährdungshaftung inzwischen allgemeine Anerkennung gefunden;7 streitig sind jedoch nach wie vor Einzelfragen zum Umfang der Anrechnung (s. Rz. 25.87 ff.).

1 Eingehend dazu Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 20 ff. 2 Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 140 f. 3 Zum Verhältnis zwischen Abs. 1 und 2 s. BGH v. 19.9.2019 – I ZR 116/18, NJW 2020, 766; Lange/ Schiemann § 10 II 2. 4 St. Rspr. seit BGH v. 23.6.1952 – III ZR 297/51, BGHZ 6, 319 = NJW 1952, 1015 mit abl. Anm. Berchtold. 5 BGH v. 23.6.1952 – III ZR 297/51, BGHZ 6, 319, 323 m. Nachw. der abw. Rspr. des RG. Zustimmend MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 14 m.w.N. 6 EuGH v. 17.3.2011 – C-484/09, NJW 2011, 2633. 7 Umfassende Nachw. MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 13; Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 135.

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25.3

§ 25 Rz. 25.4 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.4

Keine Anrechnung einer Betriebsgefahr gibt es zu Lasten des Kfz-Insassen, der das Kfz nicht führt (s. Rz. 25.90; 39.6), wohl aber zu Lasten des Kfz-Führers (s. Rz. 25.89). Zur Frage, ob der geschädigte Kfz-Eigentümer, der mit dem Halter nicht identisch ist, sich die Betriebsgefahr seines Kfz anrechnen lassen muss, s. Rz. 25.91. Der Führer eines Schienenfahrzeugs haftet mangels einer dem § 18 StVG entsprechenden Vorschrift im HaftpflG nicht für die Betriebsgefahr der Bahn. Der durch einen seinem eigenen Tier zurechenbaren Unfall selbst geschädigte Tierhalter muss sich nach der Rechtsprechung zur erweiternden Auslegung von § 254 BGB (s. Rz. 25.87 ff.) ggf. die Tiergefahr anrechnen lassen,8 nach § 840 Abs. 3 BGB jedoch dann nicht, wenn der andere Ersatzpflichtige aus unerlaubter Handlung haftet9 (näher s. Rz. 9.3).

c) Mitverantwortung für Folgeschäden 25.5

Bei einem dem Schädiger zuzurechnenden Folgeschaden (s. Rz. 3.161 ff.), beschränkt sich die Anwendung des § 254 BGB ggf. auf diesen. Dies gilt auch für die Berücksichtigung einer mitwirkenden Betriebsgefahr: Wird z.B. durch den Betrieb eines Kfz ein Fußgänger verletzt und erleidet dieser später bei einem Unfall mit seinem eigenen Kfz infolge der Primärverletzungen weitergehende Schäden, muss er sich auf den weitergehenden Schaden die Betriebsgefahr seines Kfz anrechnen lassen.10

d) Mitverantwortung für Umfang des Schadens 25.6

§ 254 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 BGB ordnet ebenfalls eine Reduktion des Schadensersatzanspruchs an, gründet sich jedoch – jedenfalls aus heutiger Sicht11 – auf einen völlig anderen Rechtsgedanken. Er lässt aus dem durch die Schädigung bereits begründeten gesetzlichen Schuldverhältnis eine Verpflichtung entstehen, die Schadensfolgen zu begrenzen (im Einzelnen Rz. 25.99 ff.). Damit berührt er sich mit § 249 Abs. 2 BGB, demzufolge der Geschädigte (nur) die zur Restitution „erforderlichen“ Kosten ersetzt verlangen kann (dazu s. Rz. 20.25 ff.). Die Abgrenzung zwischen den beiden Regelungen ist wichtig, denn die Erforderlichkeit der vom Schädiger begehrten Wiederherstellungskosten hat der Geschädigte zu beweisen, während für die Verletzung der Schadensminderungspflicht der Ersatzpflichtige die Beweislast trägt. Entscheidend sind die unterschiedlichen Regelungsebenen: § 254 Abs. 2 BGB regelt, für welchen Schadensumfang der Ersatzpflichtige aufkommen muss; § 249 Abs. 2 BGB betrifft nur die Bemessung des Geldbetrags, den der Geschädigte zur Beseitigung des sonach bestimmten Schadens aufzuwenden hat.12

2. Anzuwendende Vorschriften 25.7

Grundnorm ist, soweit es um die Mitverantwortung für die Entstehung des Schadens geht, § 254 Abs. 1 BGB. Sie wird jedoch im Bereich der Verkehrsunfallhaftung, soweit die Gefährdungshaftung nach StVG oder HaftpflG oder die Tierhalterhaftung nach §§ 833 f. BGB eingreift, durch eine Reihe von Sondervorschriften verdrängt. So gilt 8 Vgl. BGH v. 5.3.1985 – VI ZR 1/84, VersR 1985, 665, 666 m.w.N. 9 BGH v. 25.10.1994 – VI ZR 107/94, NZV 1995, 19, 20; OLG Schleswig v. 29.6.1989 – 16 U 201/ 88, NJW-RR 1990, 470. Krit. Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S.139. 10 OLG Hamm v. 29.8.1994 – 6 U 245/93, NZV 1995, 282. 11 Zur Sichtweise des Gesetzgebers s. Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 164 f. 12 Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 491.

638 | Greger

I. Überblick | Rz. 25.9 § 25

– § 17 Abs. 1, 2 StVG für Ansprüche zwischen den Haltern mehrerer Kfz, – § 17 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 StVG für Ansprüche zwischen einem Kfz-Halter und einem Tierhalter oder Eisenbahnunternehmer, – § 18 Abs. 3 i.V.m. § 17 StVG für Ansprüche eines Kfz-Führers in den vorgenannten Fällen, – § 19 Abs. 3, 6 i.V.m. § 17 Abs. 1, 2 StVG für Ansprüche zwischen einem Kfz-Halter und einem Anhängerhalter, – § 19 Abs. 5 i.V.m. § 17 Abs. 2 StVG für Ansprüche zwischen einem Anhängerhalter und einem Tierhalter oder Eisenbahnunternehmer, – § 19a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 17 StVG für Ansprüche zwischen einem Gespannführer und den Haltern oder Führern weiterer Kfz, einem Tierhalter oder Eisenbahnunternehmer, – § 13 Abs. 1, 2 HaftpflG für Ansprüche zwischen Bahnunternehmern bzw. Anlagenbetreibern nach § 2 HaftpflG, – § 13 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 HaftpflG für Ansprüche des Bahnunternehmers gegen einen Unfallverantwortlichen, – § 9 StVG i.V.m. § 254 Abs. 1 BGB für Ansprüche sonstiger Verletzter (z.B. Radfahrer, Fußgänger) gegen Kfz-Halter oder -Führer, – § 4 HaftpflG i.V.m. § 254 Abs. 1 BGB für Ansprüche sonstiger Verletzter (z.B. Radfahrer, Fußgänger) gegen Bahnunternehmer und Anlagenbetreiber. § 254 Abs. 1 BGB unmittelbar kommt damit nur zur Anwendung, wenn der Verkehrsunfall zwischen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern stattgefunden hat oder wenn ein Tierhalter, Tierhüter oder Verkehrssicherungspflichtiger für ihn verantwortlich ist. Für die von StVG und HaftpflG Erfassten kann er dann Geltung erlangen, wenn sich die Haftung bzw Mithaftung im konkreten Fall nicht aus diesen Vorschriften, sondern (z.B. wegen Überschreitens der Haftungshöchstbeträge) aus § 823 BGB ergibt. Für die Mitverantwortung bezüglich des Schadensumfangs (Schadensminderungspflicht) gilt generell § 254 Abs. 2 BGB.

3. Tatbestandselemente a) Verschulden Dieser Begriff hat in § 254 BGB eine weiter gehende Bedeutung als in den haftungsbegründenden Tatbeständen. Er umfasst hier auch Verhaltensweisen, die nicht zum Schutz fremder Rechtsgüter, sondern im eigenen Interesse an Unversehrtheit oder an der Geringhaltung von Beeinträchtigungen geboten sind (s. Rz. 25.18 ff.). Das Verschulden muss feststehen; gesetzliche Verschuldensvermutungen bleiben hier außer Betracht (s. Rz. 25.150 f.). Zum Erfordernis der Schuldfähigkeit s. Rz. 25.24 f, zur Zurechnung des Verschuldens Dritter s. Rz. 25.27 ff.

25.8

b) Mitwirkende Betriebsgefahr Soweit die Mithaftung statt an ein Verschulden an eine Betriebsgefahr angeknüpft ist (s. Rz. 25.3 f.), wird vorausgesetzt, dass den Geschädigten in derselben Situation eine Gefährdungshaftung für einen etwa verursachten Fremdschaden treffen würde. Zu den Fragen, die sich aus diesem Erfordernis einer Spiegelbildlichkeit der Betriebsgefahr ergeben, s. Rz. 25.94 ff.

Greger | 639

25.9

§ 25 Rz. 25.10 | Mitverantwortung des Geschädigten

c) Verursachung 25.10

Auch für die Mithaftung muss Kausalität zwischen dem das Verschulden bzw. die Betriebsgefahr auslösenden Verhalten und der Schädigung (§ 254 Abs. 1 BGB; s. Rz. 25.23) bzw. der Schadensfolge (§ 254 Abs. 2 BGB; s. Rz. 25.99 ff.) gegeben sein. Dabei genügt eine natürliche Kausalität nicht, sondern es bedarf auch hier einer wertenden Zurechnung (s. Rz. 25.23).

4. Darlegungs- und Beweislast 25.11

§ 254 BGB begründet eine Einwendung gegen die Schadensersatzpflicht bzw. deren Höhe. Die vorstehend genannten Voraussetzungen sind daher grundsätzlich vom Ersatzpflichtigen darzulegen und zu beweisen (zu Modifizierungen bei der Darlegungslast s. Rz. 32.109). Für die Geltendmachung mitwirkender Betriebsgefahr muss der Ersatzpflichtige nur den betr. Gefährdungshaftungstatbestand beweisen; der Entlastungsbeweis (§ 7 Abs. 2, § 17 Abs. 3, § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG) obliegt dem Geschädigten. Die Betriebsgefahr erhöhende Umstände dürfen aber nur berücksichtigt werden, wenn sie positiv festgestellt werden (Rz. 25.151). Daran hat die Neuregelung des Entlastungsbeweises durch das 2. SchRÄndG nichts geändert.13

5. Rechtsfolgen 25.12

§ 254 BGB reduziert den Schadensersatzanspruch auf das Maß, welches bei einer Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge (Rz. 25.125 ff.) der Verantwortung des Schädigers entspricht. Dies kann natürlich nur im Wege einer groben Schätzung (besser: Wertung) geschehen und bereitet erhebliche Schwierigkeiten, wenn mehr als zwei Personen an einem Schadensereignis beteiligt sind (s. Rz. 25.141 ff.). In Ausnahmefällen,14 insbesondere bei besonders grobem Mitverschulden des Geschädigten, kann die Haftung des Schädigers auch völlig entfallen (s. Rz. 25.129).

25.13

Mit dem Abwägungsgebot durchbricht § 254 BGB das haftungsrechtliche Alles-oder-NichtsPrinzip. Damit entspricht er modernen Gerechtigkeitsvorstellungen, befrachtet das Haftungsrecht aber auch mit erheblicher Rechtsunsicherheit. Die von ihm vorgeschriebene Haftungsabwägung verlangt Bewertungen des Einzelfalls, die wegen der gegenläufigen Interessenlage oft das Eingreifen eines neutralen Streitentscheiders erfordern. Unzählige Haftungsprozesse werden ausschließlich oder hauptsächlich um diese Frage geführt. Andererseits signalisieren § 254 BGB und die Abwägungsnormen der Gefährdungshaftungsgesetze im Verein mit § 287 ZPO, dass eine exakte Festsetzung von Schadensersatzbeträgen kaum jemals möglich ist. Auch eine noch so stark ausdifferenzierte Haftungsquotelung liefert nur Scheingerechtigkeit. Die Praxis trägt dem durch den verbreiteten Abschluss von Regulierungsvergleichen Rechnung. Es ist aber zu fragen, warum solche Vergleiche oft erst im gerichtlichen Verfahren, nicht selten gar in zweiter Instanz, zustande kommen. Eine gewisse Pauschalierung der Schadensabrechnung und der stärkere Einsatz von Schlichtung könnten den Kosten- und Verfahrensaufwand erheblich reduzieren.15

25.14

Hat das Verschulden des Geschädigten nicht zur Herbeiführung des Unfalls selbst, aber zur Verschlimmerung seiner Folgen beigetragen, kann er nur hierfür anteilig haftbar gemacht

13 OLG Nürnberg v. 23.11.2004 – 3 U 2818/04, NZV 2005, 422. 14 So BGH v. 20.6.2013 – III ZR 326/12, VersR 2013, 1322; BGH v. 28.4.2015 – VI ZR 206/14, VersR 2015, 767. 15 Näher Greger NZV 2001, 1 ff.

640 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.18 § 25

werden. Beweisschwierigkeiten ist mithilfe von § 287 ZPO, nicht durch Quotelung des Gesamtschadens zu begegnen (zur entspr. Frage bei der Haftungsbegründung s. Rz. 10.31). Beim Unterlassen von Schutzvorkehrungen (z.B. Anlegen von Sicherheitsgurt oder Schutzhelm) kann den Geschädigten auch ein zweifaches Mitverschulden treffen: sowohl in Bezug auf den Unfall als auch auf die daraus entstandenen Verletzungsfolgen (dazu s. Rz. 25.83, 25.126). Zur prozessualen Behandlung des Mitverschuldenseinwands s. Rz. 40.18, 40.35, 40.41.

25.15

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens 1. Rechtsgrundlagen § 254 Abs. 1 BGB gilt im Verkehrshaftungsrecht nur, wenn der Verkehrsunfall zwischen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern stattgefunden hat oder wenn ein Tierhalter, Tierhüter oder Verkehrssicherungspflichtiger für ihn verantwortlich ist. Richtet sich der Ersatzanspruch eines nicht motorisierten Verkehrsteilnehmers gegen einen Kfz-Halter oder -Führer, gilt § 9 StVG, der (mit einer Erweiterung bei der Zurechnung von Drittverschulden) auf § 254 Abs. 1 BGB verweist. Eine entsprechende Sondervorschrift für die Bahn- und Anlagenhaftung enthält § 4 HaftpflG, für die Produkthaftung § 6 Abs. 1 ProdHaftG.

25.16

Für Ansprüche gegen Personen, die einer im StVG oder HaftpflG geregelten Haftung unterliegen (Kfz-Halter und -Führer, Anhängerhalter, Gespann- und Anhängerführer, Bahnunternehmer) enthalten § 17 Abs. 1, 2, § 18 Abs. 3, § 19 Abs. 3, 5, § 19a Abs. 2 Satz 1, Abs. 6 StVG und § 13 Abs. 1, 2 HaftpflG Sondervorschriften (s. Rz. 25.7). Wo sie eingreifen, sind die vorgenannten Vorschriften nicht (direkt) anwendbar. Die Haftungsabwägung richtet sich nach dem Gewicht der jeweiligen Betriebsgefahr, welches durch besondere Umstände, insbesondere schuldhaftes Verkehrsverhalten, erhöht sein kann (s. Rz. 25.134).

25.17

2. Verschuldensbegriff § 276 BGB passt hier nicht unmittelbar, weil der Geschädigte kein Schuldner ist, der eine anderen gegenüber bestehende Pflicht verletzt.16 Er verstößt vielmehr gegen ein Gebot des eigenen Interesses.17 Ein solcher Verstoß liegt zum einen stets dann vor, wenn der Verletzte vorwerfbar (s. Rz. 25.21) gegen Rechtsvorschriften (z.B. der StVO) verstoßen und hierdurch die Entstehung des Schadens mitverursacht hat. So verhält es sich z.B., wenn ein Vorfahrtunfall auf dem Zusammenwirken der Vorfahrtverletzung mit überhöhter Geschwindigkeit oder einem Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot auf Seiten des Bevorrechtigten beruht. Mögen die vom Geschädigten verletzten Normen auch (primär) dem Schutz der anderen dienen, muss er sich doch seinen Verursachungsanteil auf den eigenen Schaden anrechnen lassen. Wie sich auch aus § 254 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BGB ergibt, ist darüber hinaus ein Mitverschulden aber auch dann zu bejahen, wenn der Verletzte vorwerfbar gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Rechtspflicht verstoßen hat, die in erster Linie seinen eigenen Schutz bezweckt. Dieser Zurechnungsgrund wird untechnisch, aber anschaulich, vielfach als „Verschulden gegen sich selbst“ bezeichnet.18 16 MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 3. 17 BGH v. 3.7.1951 – I ZR 44/50, BGHZ 3, 46, 49. 18 MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 3; Lange/Schiemann § 10 VI 1 e; Larenz § 31 I a. Krit. Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 190 ff. Dazu eingehend BGH v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, BGHZ 74, 25.

Greger | 641

25.18

§ 25 Rz. 25.19 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.19

Beispiele für geschriebene Normen dieser Art sind § 21a StVO (Gurt- und Helmpflicht) sowie § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraft (Festhaltepflicht für Fahrgäste). Aber auch aus berufsgenossenschaftlichen Unfallverhütungsvorschriften (z.B. Tragen von Schutzkleidung), Verwaltungsanordnungen, vertraglichen Abmachungen oder vorangegangenem Tun können sich Rechtspflichten ergeben, deren Verletzung zur Anwendung des § 254 Abs. 1 BGB führt.

25.20

Ungeschriebene Verhaltensmaßregeln19 ergeben sich aus dem in § 254 BGB zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedanken, dass vollständiger Schadensersatz nur erlangt werden kann, wenn der Geschädigte seinerseits die für eine angemessene Steuerung von Schadensrisiken allgemein anerkannten Anforderungen der Gefahrenabwehr beachtet hat. Er greift vor allem dort ein, wo sich Schädiger und Geschädigter im Rahmen eines sozialüblichen, mit Schadensrisiken behafteten Kontakts gegenübergetreten sind, also insbesondere im Straßenverkehr oder im Rahmen einer Verkehrssicherungspflicht. Hier hat derjenige, der für die Unfallrisiken etwa eines Kfz oder eines öffentlichen Wegs einzustehen hat, ein schutzwürdiges Interesse daran, dass andere, die durch ihre Verkehrsteilnahme dieses Risiko aktualisieren, die allgemein anerkannten Maßregeln zur Unfallverhütung beachten. Den Verkehrsteilnehmer trifft also eine aus seiner Sozialbezogenheit herzuleitende Rechtspflicht zum Selbstschutz.

25.21

Der BGH hat diesen Rechtsgedanken zwar in seiner Entscheidung zur Rechtfertigung der bußgeldbewehrten Gurtpflicht20 herangezogen, als generelle Grundlage des selbstschädigenden Mitverschuldens ist er in der Rechtsprechung bisher aber nicht herausgearbeitet worden. Dort wird zumeist auf die objektive Seite der Pflichtwidrigkeit überhaupt nicht eingegangen und Mitverschulden rein unter dem Aspekt der Vorwerfbarkeit definiert als Außerachtlassen derjenigen Sorgfalt, die ein verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.21 Dabei wird, wie bei § 276 BGB, ein objektiver Maßstab angelegt22 und bei einer verständlichen Schreckreaktion die Vorwerfbarkeit verneint (s. Rz. 10.54).23 Vielfach wird der Mitverschuldensvorwurf auch auf den Gesichtspunkt von Treu und Glauben gestützt,24 was bei der deliktischen Haftungsbegründung systemfremd ist und zu einer unbefriedigenden, weil unberechenbaren Kasuistik führt. Zu Recht werden hiergegen auch verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht.25 Die Zurechnung eines Haftungsanteils erfordert eine normative Grundlage, die insbesondere in einer gesetzlich (wie z.B. in § 21a StVO) oder vertraglich begründeten Pflicht liegen oder bei Vorliegen von Regelungslücke und Vergleichbarkeit aus einer Gesetzesanalogie gefolgert werden kann.26 Diese Eingrenzung würde auch der gelegentlich zu beobachtenden Tendenz der Gerichte entgegensteuern, in zu weitem Umfang eine Mitverantwortlichkeit des Geschädigten zu bejahen (insb. bei Verletzung der Verkehrssicherungspflicht, s. Rz. 13.164).

19 Eingehend zur rechtstheoretischen Einordnung dieser Verhaltensnormen Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 178 ff. 20 BGH v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, BGHZ 74, 25. 21 BGH v. 29.4.1953 – VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316, 318; BGH v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, BGHZ 74, 25, 28; BGH v. 20.1.1998 – VI ZR 59/97. NZV 1998, 148. In diesem Sinn auch Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden (1990) S. 68 f., der „Verschulden“ durch „Nachlässigkeit“ ersetzt. 22 MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 35. 23 OLG Karlsruhe v. 7.1.2015 – 9 U 9/14, NZV 2015, 443. 24 BGH v. 18.4.1997 – V ZR 28/96, BGHZ 135, 235, 240 m.w.N.; Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden (1990) S. 60. Krit. hierzu MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 4; Esser/Schmidt § 35 I 2; Larenz § 31 I a; Greger NJW 1985, 1130, 1132; Hilpert-Janßen MDR 2014, 688, 692. 25 Hilpert-Janßen MDR 2014, 688, 692 f. 26 Hilpert-Janßen MDR 2014, 688, 692 f.; in diese Richtung auch Greger NJW 1985, 1130, 1132.

642 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.24 § 25

Nach Vorstehendem kommt es nicht darauf an, ob der Verletzte für sein Verhalten seinerseits einem anderen haftpflichtig wäre. Dies zeigt sich auch im Bereich der Staatshaftung. Handelte der Verletzte nämlich für einen Träger öffentlicher Gewalt, so unterliegen seine Ansprüche ggf. der Kürzung wegen Mitverschuldens, obwohl für den durch ihn verursachten Schaden eines anderen nach Art. 34 GG nicht er, sondern der Träger öffentlicher Gewalt einzustehen hat.27

25.22

3. Zurechenbarkeit Auch ein für die Schadensentstehung kausales Mitverschulden ist nur zurechenbar im Rahmen von Adäquanz28 und Normzweck29 (hierzu s. Rz. 3.68 ff., 10.21). Hat der Geschädigte z.B. eine besondere Schutzvorkehrung unterlassen, die wegen eines gefahrenträchtigen körperlichen Gebrechens geboten war, so führt dies nur dann zu seiner Mitverantwortung, wenn sich gerade die Gefahr verwirklicht hat, die die Pflicht zu der Schutzmaßnahme begründete, nicht aber dann, wenn sich das Fehlen des Schutzes nur wegen eines ganz außergewöhnlichen Geschehensablaufs verhängnisvoll auswirken konnte.30 Aus demselben rechtlichen Gesichtspunkt kann sich auch der Abschleppunternehmer, der ein verbotswidrig geparktes Kfz beim Abschleppen beschädigt, nicht darauf berufen, der Geschädigte habe den Schaden durch sein falsches Parken mitverschuldet.31 Wird ein Radfahrer, der trotz vorhandenen Radwegs die Fahrbahn benutzt, durch einen Vorfahrtverletzer angefahren, so fehlt es ebenfalls am Zurechnungszusammenhang, denn die Pflicht zur Radwegbenutzung dient nicht der Verhütung derartiger Unfälle.32 Anders liegt es, wenn er wegen der beengten Fahrbahnverhältnisse angefahren wird (s. Rz. 11.11). Der Verstoß gegen die Abstandsvorschrift des § 4 Abs. 1 StVO ist bei der Mitverschuldensabwägung zwischen einem Auffahrenden und demjenigen, der durch unvorsichtiges Ausfahren aus einem Grundstück das scharfe Bremsen des Vorausfahrenden verursacht hat, zu berücksichtigen, denn die Vorschrift soll nicht nur Auffahrunfälle vermeiden, sondern bezweckt auch, die Übersicht des Kraftfahrers über die Fahrbahn zu verbessern und ihm eine ausreichende Reaktionszeit zur Begegnung von Gefahren zu ermöglichen.33 Auch alkoholbedingte Verkehrsunsicherheit wirkt sich nur bei Bestehen eines Zurechnungszusammenhangs anspruchsmindernd aus (s. Rz. 25.39).

25.23

4. Schuldfähigkeit Bei der Begründung eines Mitverschuldens ist deliktische Verantwortlichkeit i.S.d. §§ 827, 828 BGB (dazu s. Rz. 10.62 ff.) ebenso erforderlich wie beim Verschulden im Rahmen der Haftungsbegründung34 (zur Zurechnung eines Verschuldens des gesetzlichen Vertreters s.

27 Vgl. BGH v. 24.2.1959 – VI ZR 66/58, NJW 1959, 985 = JZ 1960, 174 mit Anm. Schröer. 28 BGH v. 3.7.1951 – I ZR 44/50, BGHZ 3, 46, 47. 29 BGH v. 11.7.1978 – VI ZR 138/76, NJW 1978, 2502, 2503; BGH v. 8.10.1985 – VI ZR 114/84, BGHZ 96, 98. 101. 30 Im Ergebnis ebenso BGH v. 22.9.1981 – VI ZR 144/79, NJW 1982, 168, allerdings unter Abheben auf Treu und Glauben; dazu Greger NJW 1985, 1130. 31 BGH v. 11.7.1978 – VI ZR 138/76, NJW 1978, 2502, 2503. 32 OLG Köln v. 14.1.1994 – 19 U 208/93, NZV 1994, 278; a.A. ohne Eingehen hierauf LG Schwerin v. 15.8.2003 – 6 S 144/03, NZV 2004, 581. 33 BGH v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, NZV 2007, 354. 34 BGH v. 29.4.1953 – VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316, 317; KG v. 31.10.1994 – 12 U 4031/93, NZV 1995, 109; eingehend Grüneberg NJW 2013, 2705 ff.

Greger | 643

25.24

§ 25 Rz. 25.24 | Mitverantwortung des Geschädigten

Rz. 25.32 ff.). Bei Kindern unter 7 Jahren (bei Unfällen im motorisierten Straßenverkehr bis zu 10 Jahren) scheidet daher eine Anspruchskürzung aus. Bei Minderjährigen i.S.d. § 828 Abs. 3 BGB ist darauf abzustellen, ob der Verletzte die zur Erkenntnis der Gefährlichkeit (für sich selbst) erforderliche Einsicht gehabt hat; diesbezüglich kann die Altersgrenze anders liegen als für die Erkenntnis der Verantwortlichkeit für eine Fremdschädigung, da Gefahren für sich selbst meist früher wahrgenommen werden als Gefahren für andere.35 Die Erkenntnis des Nutzens von Kindersicherungen (§ 21 Abs. 1a, 1b StVO) kann von Minderjährigen grundsätzlich nicht erwartet werden.36 Zur Haftungsabwägung s. Rz. 25.130, 25.257.

25.25

Auch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit i.S.v. § 827 Satz 1 BGB kann die Anrechnung eines Mitverschuldens ausschließen, so z.B. wenn die Unvorsichtigkeit des Geschädigten durch den Schock ausgelöst worden war, den er durch den Unfall erlitten hatte.37 Die entsprechende Anwendung von § 827 Satz 2 BGB ist geboten, wenn der Verletzte sich in Volltrunkenheit versetzt hat und sich in unzurechnungsfähigem Zustand von einem fahruntüchtigen Fahrer hat befördern lassen.38 Eine (dem Haftungsrecht an sich unbekannte) „verminderte Schuldfähigkeit“ kann sich bei der Abwägung der Haftungsanteile auswirken (s. Rz. 25.130).

25.26

Die Billigkeitshaftung des Schuldunfähigen nach § 829 BGB ist auch im Rahmen des § 254 BGB zu beachten,39 dürfte sich allerdings nur in Ausnahmefällen auswirken. Voraussetzung für eine Berücksichtigung der durch den Unzurechnungsfähigen gesetzten Unfallursache ist, dass die Billigkeit die Anrechnung erfordert; dass sie die Anrechnung lediglich rechtfertigt, genügt nicht.40 Bei der Gefährdungshaftung nach § 7 StVG, die ohnehin auf Höchstbeträge beschränkt ist und im Regelfall von der Pflichtversicherung des Schädigers abgedeckt wird, wird regelmäßig kein Anlass zur Anwendung von § 829 BGB bestehen,41 ebenso wenn der Geschädigte sozialversichert ist.42 Bei späterer Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse kann unter den Voraussetzungen des § 323 ZPO Abänderungsklage erhoben werden. Möglich ist auch, ein die Ersatzpflicht des Schädigers feststellendes Urteil mit dem Vorbehalt des Einwandes der Mithaftung aufgrund spiegelbildlicher Anwendung des § 829 BGB zu versehen; doch ist hierfür kein Raum, wenn eine grundlegende Veränderung der für die Billigkeitsentscheidung wesentlichen wirtschaftlichen Verhältnisse nach Sachlage nicht zu erwarten ist.43 Näher zur Billigkeitshaftung s. Rz. 10.75 ff.

35 OLG Celle v. 20.6.1968 – 5 U 37/68, NJW 1968, 2146; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 34. 36 Gegen eine Mithaftung auch Etzel DAR 1994, 301, 304, allerdings unter unzutr. Berufung auf den Schutzzweck der Norm. 37 BGH v. 25.1.1977 – VI ZR 166/74, VersR 1977, 430. 38 OLG Hamm v. 6.10.1995 – 9 U 70/95, MDR 1996, 149; OLG Karlsruhe v. 30.1.2009 – 1 U 192/ 08, NJW 2009, 2608. 39 BGH v. 10.4.1962 – VI ZR 63/61, BGHZ 37, 102 = VersR 1962, 823 mit Anm. Böhmer; Larenz § 31 I a; Lange/Schiemann § 10 VI 4; a.A. Böhmer MDR 1962, 778. 40 BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 15/68, NJW 1969, 1762; BGH v. 26.6.1973 – VI ZR 47/72, VersR 1973, 925. 41 BGH v. 16.1.1979 – VI ZR 243/76. BGHZ 73, 190, 192; BGH v. 9.2.1982 – VI ZR 59/80, VersR 1982, 441; OLG Karlsruhe v. 24.11.1989 – 1 U 95/89, VRS 78, 166; KG v. 31.10.1994 – 12 U 4031/93, NZV 1995, 110. 42 BGH v. 26.6.1973 – VI ZR 47/72, NJW 1973, 1795. 43 OLG Karlsruhe v. 9.10.1087 – 14 U 229/85, VersR 1989, 925.

644 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.30 § 25

5. Zurechnung des Verschuldens eines Dritten a) Inhaber der tatsächlichen Gewalt über die beschädigte Sache Bei der Haftung nach StVG und HaftpflG wird nach § 9 StVG bzw. § 4 HaftpflG das Verschulden desjenigen, der zur Zeit des Unfalls (als Besitzer oder Besitzdiener, §§ 854, 855 BGB) die tatsächliche Gewalt über die beschädigte Sache innehatte, dem Mitverschulden des Verletzten gleichgestellt. Diese Sonderregelung für die Gefährdungshaftung ist auf konkurrierende deliktische Ansprüche, auch aus § 831 BGB, nicht (analog) anwendbar.44 Sie greift auch nicht ein, wenn sich der Haftungsausgleich aus der Anrechnung einer Betriebs- oder Tiergefahr (§ 17 Abs. 2, 4 StVG) ergibt (s. Rz. 25.7), also z.B. nicht bei Unfällen zwischen Kfz oder zwischen einem Kfz und einem Kfz-Anhänger.45 Dagegen muss sich z.B. der Eigentümer eines Fuhrwerks oder Fahrrads das Mitverschulden des Kutschers bzw. Fahrers anrechnen lassen. Hat der Eigentümer eines Kfz durch dessen Entwendung seine Halterstellung verloren (s. Rz. 3.211 f.) und wird das Fahrzeug sodann bei einem Unfall beschädigt, so muss sich der Eigentümer, der den anderen Unfallbeteiligten aus Gefährdungshaftung in Anspruch nimmt, das Verschulden des Entwenders anrechnen lassen.46

25.27

Bei Leasing und Sicherungsübereignung ist der Eigentümer des Fahrzeugs (der Leasinggeber) nicht dessen Halter (s. Rz. 3.195, 3.200), so dass § 17 Abs. 2 StVG nicht eingreift. Auch hier wird aber über § 9 StVG das Verschulden des Inhabers der tatsächlichen Gewalt über das Fahrzeug, i.d.R. also des Fahrers, dem geschädigten Eigentümer zugerechnet (nicht aber die Betriebsgefahr; s. Rz. 25.91, auch zur Situation bei deliktischen Ansprüchen).

25.28

b) Mitberechtigte Können Miteigentümer wegen der Beschädigung von Sachen, die in ihrem gemeinsamen Eigentum stehen, Schadensersatz beanspruchen, dann mindert sich regelmäßig der Schadensersatzanspruch, wenn einem der Miteigentümer ein Mitverschulden bei der Beschädigung zur Last fällt. Die Minderung richtet sich nach dem Verhältnis der Verantwortungsanteile und der Größe des betreffenden Miteigentumsanteils: Bei Miteigentum von 50 % und einer Mitverantwortung von 50 % ist der Gesamtanspruch also um 25 % zu kürzen.47 Dies gilt allerdings nur für den gemeinschaftsbezogenen Schaden, den jeder Miteigentümer nach § 1011 BGB insgesamt geltend machen kann; wenn einem Berechtigten wegen des Entzugs der Sache ein besonderer Folgeschaden entsteht, den der andere nicht hat, kommt es auf die individuelle Mitverantwortung an. Bei Beteiligung an einem Sondervermögen (z.B. Stiftung oder Personenhandelsgesellschaft) kann das Mitverschulden über § 31 BGB zugerechnet werden.48

25.29

c) Hilfspersonen Nach § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB hat der Verletzte auch für das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) einzustehen, und zwar nach der erweiternden Auslegung dieser Vorschrift in der Rspr. auch dann, wenn sich das Verschulden auf die Schadensentstehung (§ 254

44 45 46 47 48

BGH v. 11.6.2013 – VI ZR 150/12, VersR 2013, 1013. Übersehen von OLG Hamm v. 2.4.2015 – 6 U 173/14, NZV 2016, 219. OLG Hamm v. 19.1.1995 – 6 U 98/94, NZV 1995, 320. BGH v. 7.1.1992 – VI ZR 17/91, VersR 1992, 455. BGH v. 3.3.1977 – III ZR 10/74, BGHZ 68, 142,151.

Greger | 645

25.30

§ 25 Rz. 25.30 | Mitverantwortung des Geschädigten

Abs. 1 BGB) bezieht.49 Voraussetzung hierfür ist jedoch nach h.M. das Bestehen einer schuldrechtlichen Sonderbeziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem im Zeitpunkt des Schadensereignisses.50 Im Anwendungsbereich der Gefährdungshaftung nach dem StVG ist eine solche wohl nur im Rahmen der entgeltlichen Personenbeförderung denkbar. Jedenfalls muss sich die verletzte Beifahrerin das Verschulden ihres das Kfz führenden Ehemannes nicht zurechnen lassen.51

25.31

Bestand zwischen Schädiger und Geschädigten vor dem Unfall keine schuldrechtliche Verbindung, so kommt nur eine Haftung für Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB – mit der dort vorgesehenen Entlastungsmöglichkeit – in Betracht52 (s. Rz. 7.2 ff.). Zu beachten ist, dass ein Entlastungsbeweis des geschädigten Halters eines Kfz für dessen Fahrer nach § 831 BGB in keinem Fall möglich ist, da hier nicht § 9 StVG i.V.m. § 254 Abs. 1 BGB, sondern § 17 Abs. 2 StVG gilt (s. Rz. 25.7) und der Halter sich folglich die durch das Verschulden seines Fahrers erhöhte Betriebsgefahr anrechnen lassen muss.53

d) Gesetzliche Vertreter 25.32

Wie beim Erfüllungsgehilfen (s. Rz. 25.30) ist auch das Verschulden des gesetzlichen Vertreters dann nicht zurechenbar, wenn vor dem Unfall keine Rechtsbeziehung zwischen dem Schädiger und dem Verletzten bestand und sich das Verschulden nur auf die Entstehung des Schadens bezieht.54 Der Fall einer bereits vor dem Unfall bestehenden Sonderrechtsbeziehung ist im Bereich des § 9 StVG vor allem bei entgeltlicher Beförderung im Kfz gegeben. Trifft z.B. die Eltern des verletzten Kindes an einem Schaden im Rahmen solcher Beförderung ein Mitverschulden, etwa wegen mangelnder Beaufsichtigung, so muss sich das Kind dies anrechnen lassen.55 Es kann der ihm ungünstigen Anwendung des § 278 BGB auch nicht etwa dadurch entgehen, dass es seine Ansprüche lediglich auf § 7 StVG, § 1 HaftpflG oder § 823 BGB stützt.56 Ein vertragsähnliches Verhältnis zwischen dem Kind und dem Beförderer, das zur Anwendung des § 278 BGB zwingt, besteht auch dann, wenn die Eltern lediglich einen Beförderungsvertrag zugunsten des Kindes (als eines Dritten) abgeschlossen haben.

25.33

Das Verschulden des gesetzlichen Vertreters kann aber dem Vertretenen nur dann entgegengehalten werden, wenn die Handlung oder Unterlassung des gesetzlichen Vertreters gerade in Ausübung der gesetzlichen Vertretung in Bezug auf das Mitverschulden des Vertretenen ge49 BGH v. 8.3.1951 – III ZR 65/50, BGHZ 1, 248, 249; Staudinger/Schiemann § 254 Rz. 95; Larenz § 31 I d; a.A. Esser/Schmidt § 35 III 1. 50 BGH v. 16.1.1979 – VI ZR 243/76, BGHZ 73, 190, 192; BGH v. 1.3.1988 – VI ZR 190/87, BGHZ 103, 338, 342; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 129 m.w.N.; Staudinger/Schiemann § 254 Rz. 99; a.A. Larenz § 31 I d. 51 OLG München v. 12.1.2018 – 10 U 2718/15, NJW-Spezial 2018, 106. 52 BGH v. 8.3.1951 – III ZR 65/50, BGHZ 1, 248, 249; BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 159/73, VersR 1975, 133; Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 518; a.A. Larenz § 31 I d. 53 BGH v. 20.1.1954 – VI ZR 118/52, BGHZ 12, 124. 54 BGH v. 8.3.1951 – III ZR 65/50, BGHZ 1, 248; BGH v. 29.4.1953 – VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316, 319; BGH v. 16.1.1979 – VI ZR 243/76, BGHZ 73, 192; BGH v. 20.5.1980 – VI ZR 185/78, VersR 1980, 938. Zum Meinungsstand in der Literatur s. Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 502 f. 55 BGH v. 29.4.1953 – VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316, 319. 56 BGH v. 29.4.1953 – VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316, 319; BGH v. 28.5.1957 – VII ZR 136/56, BGHZ 24, 325.

646 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.37 § 25

schah,57 also z.B. nicht, wenn Eltern eine eigene Obhutspflicht gegenüber dem Kind verletzen und es durch das hinzutretende Verschulden eines Dritten verunglückt. In diesem Fall sind gesetzlicher Vertreter und Dritter Nebentäter, die dem Kind gesamtschuldnerisch haften,58 soweit nicht die Grundsätze des BGH über die Zurechnungseinheit (s. Rz. 25.146 f.) zum Tragen kommen. Zur Eigenhaftung der Aufsichtspflichtigen s. auch Rz. 14.316 f. Da die gesetzliche Vertretung von beiden Elternteilen gemeinschaftlich wahrzunehmen ist, hat ein vom Vater oder von der Mutter allein geschlossener Beförderungsvertrag an sich nur dann Wirkung zum Vorteil oder Nachteil des Kindes, wenn der andere Elternteil zugestimmt hatte; nach der Erfahrung des Lebens kann aber eine solche Zustimmung allgemein als erteilt gelten, so dass sich das Kind Nachlässigkeiten eines Elternteils bei der Beförderung als Mitverschulden anrechnen lassen muss. Allerdings erstreckt sich die allgemein von dem anderen Elternteil erteilte Ermächtigung nicht auf eine Fahrt, die dem Zweck dient, das Kind zu entführen und dem anderen Elternteil vorzuenthalten.59

25.34

Das Verschulden anderer Aufsichtspersonen ist dem Verletzten (unter den Voraussetzungen von Rz. 25.32, 25.30) dann zuzurechnen, wenn diese mit Willen des gesetzlichen Vertreters tätig geworden sind; auf ein etwaiges Auswahlverschulden kommt es nicht an.60

25.35

e) Mittelbare Schädigung Nach § 846 BGB müssen sich Personen, die, obwohl nicht in eigenen Rechtsgütern betroffen, nach §§ 844, 845 BGB ausnahmsweise einen Ersatzanspruch gegen den Schädiger haben (insbesondere die Hinterbliebenen im Falle der Tötung), ein Mitverschulden des unmittelbar Geschädigten zurechnen lassen. Dies gilt, trotz Fehlens einer entsprechenden gesetzlichen Regelung, auch für die Ansprüche Dritter nach §§ 10, 11, 13 StVG.61 Ein Eigenverschulden (etwa mangelhafte Aufsicht) müssen sie sich ohnehin entgegenhalten lassen; trifft ein solches mit einer Mithaftung des unmittelbar Geschädigten zusammen, so mindert sich der Ersatzanspruch um beide Anteile.62

25.36

Auf den Fall der mittelbaren Schädigung Dritter an eigenen Rechtsgütern (z.B. bei gesundheitsschädigendem Schock wegen des Unfalls eines Angehörigen; s. Rz. 3.45 f.) ist § 846 BGB nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar.63 Der BGH gelangt jedoch zum selben Ergebnis, indem er das Mitverschulden des Erstgeschädigten dem mittelbar Geschädigten nach § 242 BGB mit der Begründung zurechnet, die psychisch vermittelte Schädigung beruhe nur auf einer besonderen persönlichen Bindung an den unmittelbar Verletzten.64 Dem ist nicht zuzustimmen. Abgesehen von der fragwürdigen Begründung (die zudem versagt, wenn die mittelbare Schädigung nicht auf der Verletzung eines nahen Angehörigen beruht; s. Rz. 3.47),

25.37

57 BGH v. 30.3.1955 – VI ZR 23/54, VersR 1955, 342; Böhmer JZ 1955, 699; Böhmer MDR 1956, 401; a.A. Staks JZ 1955, 606. 58 BGH v. 30.3.1955 – VI ZR 23/54, VersR 1955, 342, 344. 59 Einen solchen Fall betrifft BGH v. 30.3.1955 – VI ZR 23/54, VersR 1955, 342. 60 BGH v. 28.5.1957 – VII ZR 136/56, BGHZ 24, 325, 328. 61 BGH v. 27.6.1961 – VI ZR 205/60, NJW 1961, 1966. 62 OLG Köln v. 16.10.1990 – 15 U 46/90, VersR 1992, 894. 63 BGH v. 11.5.1971 – VI ZR 78/70, BGHZ 56, 163; a.A. RG v. 15.1.1938 – VI 168/37, RGZ 157, 11, 13; Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 541 ff.; Lange/Schiemann § 10 XI 6 l. 64 BGH v. 11.5.1971 – VI ZR 78/70, BGHZ 56, 163.

Greger | 647

§ 25 Rz. 25.37 | Mitverantwortung des Geschädigten

erscheint das gewonnene Ergebnis auch nicht als Gebot der Billigkeit.65 Der mittelbar Geschädigte hat, da in eigenen, durch das Haftpflichtrecht geschützten Rechten verletzt, einen eigenen, vom Anspruch des Erstgeschädigten unabhängigen Anspruch gegen den Schädiger. Er braucht sich hierauf mangels einer Zurechnungsnorm ein Drittverschulden (hier: des Erstgeschädigten) ebenso wenig anrechnen zu lassen wie das verletzte Kind i.d.R. für ein Mitverschulden seiner Eltern einzustehen hat66 (s. Rz. 25.32). Etwas anderes gilt nur, wenn Eltern, die aus Erschütterung über den Tod ihres Kindes einen Gesundheitsschaden erlitten haben, an dem Unfall wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht (s. Rz. 8.7 ff.) mitschuldig sind; hier handelt es sich aber um die Anrechnung eigenen Mitverschuldens.

6. Einzelfälle a) Verhaltenspflichten im Straßenverkehr 25.38

Häufig ergibt sich ein Mitverschulden daraus, dass der Geschädigte seinerseits gegen Verhaltenspflichten im Straßenverkehr (z.B. nach StVO, StVZO) verstoßen hat. Diese sind in § 14 ausführlich dargestellt, verkehrstypische Fälle von Verschulden gegen sich selbst (s. Rz. 25.18) in Rz. 25.41 ff. Die gegen § 23 Abs. 1a, 1b StVO verstoßende Benutzung von elektronischen Geräten (z.B. Mobiltelefon, Navigationsgerät) während der Fahrt67 begründet, sofern sie einen Kausalbeitrag zu dem Unfall geleistet hat, als grob fahrlässiges Verhalten (s. Rz. 35.121 ff.) eine erhebliche Mithaftung.68

b) Fehlende Verkehrstauglichkeit 25.39

Ein Mitverschulden des Geschädigten kann schon darin gesehen werden, dass er am Straßenverkehr in einem Zustand teilnahm, der ihn außerstande setzte, auf Gefahrensituationen geistesgegenwärtig zu reagieren. Verkehrsunsicherheit des Verletzten führt jedoch nicht in jedem Fall zu einer Mitverantwortung für den Schaden. Erforderlich ist vielmehr auch hier die Feststellung eines Kausalzusammenhangs (s. Rz. 3.318). Der Schädiger muss also beweisen, dass die Beeinträchtigung durch Alkohol, Drogen, Medikamente usw. sich auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat, der Verletzte in nüchternem Zustand nicht verunglückt wäre.69 Dass er in seinem Zustand gar nicht in der konkreten Form am Verkehr hätte teilnehmen dürfen, genügt nicht. Entscheidend ist, ob ihm hinsichtlich des konkreten Unfallablaufs ein alkoholbedingtes Fehlverhalten anzulasten ist. Bei typischen Geschehensabläufen kommt allerdings ein Anscheinsbeweis in Betracht (s. Rz. 41.75 ff.)

c) Selbstüberschätzung 25.40

Wer (z.B. als Fahranfänger oder älterer Mensch) auf bestimmte Verkehrssituationen nicht angemessen zu reagieren vermag, muss nach Möglichkeit das Entstehen derartiger Situationen, z.B. durch Einhalten geringerer Geschwindigkeit oder größeren Sicherheitsabstands, vermei-

65 OLG Hamm v. 27.3.1981 – 9 U 234/78, VersR 1982, 557 hat daher – allerdings unter Berufung auf besonders krasse Umstände des Einzelfalles – eine Anrechnung abgelehnt. 66 Abl. bzw. krit. gegenüber BGHZ 56, 163 auch Staudinger/Röthel § 846 Rz. 8; Deubner JuS 1971, 622; Selb JZ 1972, 124; Schünemann VersR 1978, 116. 67 Zur Reichweite des Verbots und seiner Ausnahmen s. Will NJW 2019, 1633 ff. 68 Hentschel/König/Dauer § 23 StVO Rz. 40; Hufnagel NJW 2005, 3665, 3668. 69 OLG Schleswig v. 12.2.1974 – 9 U 64/73, VersR 1975, 290. S. auch BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 207/ 64, VersR 1966, 585; BGH v. 24.2.1976 – VI ZR 61/75, VersR 1976, 729.

648 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.44 § 25

den. Auch von einem Fahrschüler verlangt die Rspr., dass er Übungen, die ihn erkennbar überfordern, verweigert.70

d) Selbstgefährdendes Verhalten des Verkehrsteilnehmers Der Aufenthalt auf der Fahrbahn ruft für nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer besondere Gefahren hervor. Wo sich diese in zumutbarer Weise hätten vermeiden lassen, kann bei Verwirklichung einer solchen Gefahr ein Mitverschuldensvorwurf begründet sein. Daher trifft i.d.R. den Radfahrer, der entgegen § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO einen gekennzeichneten Radweg nicht benutzt und deshalb auf der Fahrbahn angefahren wird, ein Mitverschulden71 (zum Zurechnungszusammenhang zwischen Verstoß und Unfall s. aber Rz. 25.23). Zur Pflicht des Fußgängers, von einem Gehen auf der Fahrbahn bei Vorhandensein anderer Möglichkeiten abzusehen, s. Rz. 14.276.

25.41

Bei Unfällen oder Pannen werden von der Rechtsprechung – über die Verhaltenspflichten nach § 34 StVO hinaus – Maßnahmen zur Eigensicherung verlangt. Hierbei ist aber in Rechnung zu stellen, dass der Kraftfahrer in diesen Ausnahmesituationen nach §§ 15, 34 StVO auch zur Absicherung bzw. Beseitigung der Verkehrsstörung verpflichtet ist und bei der somit erforderlichen Abwägung leicht Fehleinschätzungen unterlaufen können.72 Nur besonders unbesonnene Verhaltensweisen sollten daher zu einer Mithaftung des Unfallopfers führen.

25.42

Halten sich Fahrzeuginsassen nach einem Unfall ohne Not oder größte Achtsamkeit auf dem Mittelstreifen der BAB auf, begründet dies i.d.R. eine Mithaftung bei der Schädigung durch einen Folgeunfall.73 Nach einer Panne auf der Autobahn muss der Aufenthalt auf der dem fließenden Verkehr zugewandten Seite auf das Nötigste beschränkt und größtmögliche Vorsicht aufgewendet werden.74 Die nach § 53a Abs. 2 Nr. 3 StVZO mitzuführende Warnweste ist anzulegen. Bei ausreichender Absicherung des Pannenfahrzeugs kann eine Mitverantwortung entfallen.75

25.43

Wer bei einem Unfall oder einer Panne Hilfe leistet, muss sich im eigenen Interesse so umsichtig verhalten, dass die Gefahr, seinerseits zu Schaden zu kommen, nicht unnötig erhöht wird.76 Erleidet er gleichwohl einen Schaden, so kann der für den Erstunfall Verantwortliche ihm jedoch ein Mitverschulden nur entgegenhalten, wenn unter Berücksichtigung der gesamten Umstände ein anderes Verhalten zu erwarten gewesen wäre. Es ist in Rechnung zu stellen, dass der Unfallhelfer in der konkreten Situation unter Umständen nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Schutze der eigenen Person widmen kann77 und in der unerwarteten Ge-

25.44

70 OLG Hamm v. 5.4.2005 – 9 U 41/03, NZV 2005, 637 (sehr weitgehend). 71 OLG Hamm v. 28.10.1993 – 6 U 91/93, NZV 1995, 26; LG Schwerin v. 15.8.2003 – 6 S 144/03, NZV 2004, 581; vgl. auch Rz. 14.265 sowie Bouska NZV 1991, 129, 132, der (zu weitgehend) bei Verstößen im innerörtlichen Bereich von einem Mitverschuldensvorwurf absehen will. 72 Sehr weitgehend daher OLG Hamm v. 29.3.1994 – 27 U 219/93, NZV 1994, 394, wo einem Verunglückten wegen besonders gefährlicher Verhältnisse angelastet wurde, dass er das Warndreieck aus dem Kofferraum holen wollte. 73 BGH v. 28.9.1976 – VI ZR 219/74, VersR 1977, 36; einschr. OLG München v. 12.4.1996 – 10 U 6179/95, NZV 1997, 231. 74 OLG Hamm v. 16.3.1999 – 27 U 279/98, OLGR Hamm 1999, 270; OLG Hamm v. 8.12.1999 – 13 U 84/99, DAR 2000, 162. 75 OLG Jena v. 22.5.1997 – 1 U 1474/96, VersR 1998, 250. 76 BGH v. 28.9.1976 – VI ZR 219/74, VersR 1977, 36; BGH v. 2.12.1980 – VI ZR 265/78, VersR 1981, 260. 77 BGH v. 2.12.1980 – VI ZR 265/78, VersR 1981, 260.

Greger | 649

§ 25 Rz. 25.44 | Mitverantwortung des Geschädigten

fahrenlage aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert.78 Ein Mitverschulden zu bejahen ist allerdings bei einem Pannenhelfer, der sich trotz fehlender Absicherung eines auf der BAB liegen gebliebenen Kfz in dem bei einem Auffahrunfall besonders gefährlichen Bereich zu schaffen macht.79

25.45

Kommt es bei der Verfolgung eines anderen Verkehrsteilnehmers, die dieser durch sein Verhalten herausgefordert hat (s. Rz. 3.88 ff.), zu einem auf das gesteigerte Risiko zurückzuführenden Unfall, so kann dem Verfolgenden ein Mitverschulden nur entgegengehalten werden, wenn das für ihn erkennbare Ausmaß des Risikos zum Zwecke der Verfolgung außer Verhältnis steht.80

25.46

Zur Benutzung unsicherer Verkehrswege (z.B. trotz Eisglätte) s. Rz. 13.164 ff.

e) Selbstgefährdung des Mitfahrers 25.47

Einem Mitfahrer kann grundsätzlich nicht vorgeworfen werden, er habe sich darum kümmern müssen, ob der Fahrer den Anforderungen der Verkehrslage Rechnung trägt; für die Führung des Kfz trägt vielmehr im Grundsatz allein der Fahrer die Verantwortung.81 Es kann daher von einem Fahrgast z.B. im Allgemeinen nicht verlangt werden, den Fahrer zu langsamerem Fahren,82 zum Absehen von einem Überholvorgang oder dergleichen aufzufordern bzw bei riskantem Fahrstil des Fahrers sein Fahrzeug zu verlassen.

25.48

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ergibt sich jedoch in den Fällen der Selbstgefährdung, d.h. wenn der Fahrgast weiß oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können (wegen des Maßstabs des zum Selbstschutz Gebotenen s. Rz. 25.18 ff.), dass er sich durch den Antritt der Fahrt bzw. deren Fortsetzung in erhebliche, naheliegende Gefahr begibt.

25.49

Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Mitfahrer weiß, dass der Fahrer alkoholbedingt fahruntüchtig ist oder wenn sich ihm Zweifel an dessen Fahrtüchtigkeit nach den Umständen aufdrängen mussten.83 Allein die Kenntnis, dass der Fahrer alkoholische Getränke zu sich genommen hatte, reicht hierbei nicht;84 dies gilt auch, wenn die Fahrt erst spät in der Nacht

78 BGH v. 5.10.2010 – VI ZR 286/09, NJW 2011, 292 (unnötige Sicherungsmaßnahme bei ausreichend abgesichertem Pkw auf BAB-Seitenstreifen). 79 BGH v. 17.10.2000 – VI ZR 313/99, NZV 2001, 75; ähnlich OLG Dresden v. 27.6.1996 – 7 U 792/96, NZV 1997, 309. OLG Braunschweig v. 18.9.2000 – 6 U 4/00, NZV 2001, 517 hält dagegen das Schieben eines Pannen-Kfz auf dem Standstreifen einer nächtlichen BAB für nicht schuldhaft. 80 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 125/70, BGHZ 57, 25, 31; BGH v. 18.11.1980 – VI ZR 215/78, VersR 1981, 161, 162. 81 So im Grundsatz BGH v. 27.6.1961 – VI ZR 205/60, BGHZ 35, 317, 320, hier jedoch bedenkliche Ausnahme bejahend. 82 OLG Hamm v. 20.5.1999 – 6 U 24/99, NZV 2000, 167. 83 BGH v. 14.3.1961 – VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355; BGH v. 14.3.1961 – VI ZR 115/60, MDR 1961, 404; BGH v. 9.2.1971 – VI ZR 151/69, VersR 1971, 473; BGH v. 19.6.1979 – VI ZR 250/77, VersR 1979, 938; OLG Celle v. 10.2.2005 – 14 U 132/04, NZV 2005, 421; OLG Hamm v. 16.3.2000 – 6 U 239/99, NZV 2001, 86 (gemeinsame Zech- und Diebestour); Kraft NZV 2014, 245. 84 BGH v. 21.4.1970 – VI ZR 13/69, VersR 1970, 624; OLG Koblenz v. 1.7.1991 – 12 U 193/90, NZV 1992, 278; OLG Hamm v. 14.3.2004 – 13 U 194/04, NZV 2006, 85.

650 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.54 § 25

begann85 oder wenn der Fahrer, nach Alkohol riechend, aus einer Diskothek kam.86 Alkoholgeruch allein ist kein Umstand, der den Schluss auf Fahruntüchtigkeit aufdrängt.87 Nur wenn der Fahrgast weiß, dass der Fahrer erhebliche Mengen Alkohol zu sich genommen hat, oder wenn Ausfallserscheinungen wahrzunehmen sind, ist eine Mitverantwortung zu bejahen und – soweit möglich – auch ein Abbruch der Mitfahrt zu verlangen.88 Eigene Trunkenheit des Mitfahrers entlastet diesen grundsätzlich nicht, auch nicht jugendliches Alter.89 Nach Ansicht des BGH ist er auch bei einer BAK von 1,89 ‰ noch in der Lage, die Fahruntüchtigkeit des Fahrers zu erkennen.90 Bei Volltrunkenheit ist § 827 Satz 2 BGB entsprechend anzuwenden (vgl. Rz. 25.25). Hat der Mitfahrer erkannt oder hätte er erkennen müssen, dass der Fahrer übermüdet ist und die Gefahr des Einschlafens naheliegt, so muss er ebenfalls Konsequenzen ziehen.91 Allerdings kann von ihm nicht verlangt werden, bei einer nächtlichen Fahrt nach mäßigem Alkoholgenuss selbst wachzubleiben, um den Fahrer am Einschlafen hindern zu können.92

25.50

Weiß der Mitfahrer, dass der Fahrer keine Fahrerlaubnis hat, so gereicht ihm dies nur dann zum Verschulden, wenn sich ihm infolge zusätzlicher Umstände (z.B. Fehlen jeglicher Fahrpraxis, jugendliches Alter, gravierende Charaktermängel) die gesteigerte Selbstgefährdung aufdrängen musste.93

25.51

Entsprechendes gilt bei technischen Mängeln des Fahrzeugs; nur wenn sie die Gefährlichkeit der Fahrt, dem Mitfahrer ohne weiteres erkennbar, erheblich erhöhen, ist ein anrechenbares Mitverschulden zu bejahen. Bei Mitfahrt auf dem Rücksitz eines Pkw mit ausgebautem Vordersitz wurde dies nach den im Jahre 1975 herrschenden Anschauungen verneint.94

25.52

Das Verbleiben in einem verunglückten Fahrzeug kann, insbesondere auf nächtlicher Autobahn, ein erhebliches Mitverschulden hinsichtlich der bei einem Folgeunfall erlittenen Verletzungen begründen.95

25.53

Ebenso rechtfertigt das Mitfahren bei einem nicht genehmigten Autorennen eine erhebliche Anspruchskürzung.96

25.54

85 86 87 88 89 90 91 92 93

94 95 96

BGH v. 19.6.1979 – VI ZR 250/77, VersR 1979, 938. OLG Frankfurt v. 1.7.1986 – 8 U 106/85, VersR 1987, 1142. OLG Frankfurt v. 12.11.1987 – 1 U 220/86, NZV 1989, 111, 112. KG v. 3.10.1988 – 12 U 291/88, VersR 1988, 1302; OLG Oldenburg v. 26.6.1997 – 8 U 210/96, VersR 1998, 1390. OLG Schleswig v. 7.12.1994 – 9 U 17/94, NZV 1995, 357; a.A. (ohne Begr.) OLG Brandenburg v. 12.12.2001 – 14 U 50/01, VersR 2002, 863. BGH v. 27.2.1985 – IVa ZR 96/83, NJW 1985, 2534. BGH v. 28.3.1961 – VI ZR 170/60, VersR 1961, 518. BGH v. 19.6.1979 – VI ZR 250/77, VersR 1979, 938; strenger OLG Düsseldorf v. 20.12.1967 – 12 U 122/67, VersR 1968, 852. OLG Köln v. 7.12.1998 – 16 U 14/98, VersR 1999, 1299. Vgl. auch BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 68/ 84, VersR 1985, 965; OLG Köln v. 8.2.1984 – 13 U 154/83, VersR 1984, 545; OLG Bamberg v. 26.3.1985 – 5 U 200/84, VersR 1985, 786; OLG Hamm v. 26.6.1985 – 13 U 277/82, VersR 1987, 205. OLG Celle v. 8.11.1979 – 5 U 236/78, VersR 1981, 81. AG Wiesbaden v. 29.3.1994 – 97 C 2068/93, NZV 1995, 492. OLG Rostock v. 25.4.1996 – 1 W 237/95, OLG-NL 1996, 222.

Greger | 651

§ 25 Rz. 25.55 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.55

Hat der Mitfahrer den Fahrer selbst zu riskantem Fahren angehalten, etwa zu besonderer Eile getrieben, so trifft ihn, bei Ursächlichkeit für den Unfall, eine Mitverantwortung. Das Gleiche gilt, wenn er den Fahrer erschreckt, irritiert (z.B. durch Nachahmen eines Martinshorns), vorsätzlich oder fahrlässig falsch informiert (z.B. „rechts frei“), ablenkt (z.B. durch Neckereien während der Fahrt97) oder ihm ins Steuer greift. Reine Schreckreaktionen (z.B. Aufschrei bei plötzlicher Gefahr, der den Fahrer zu Fehlreaktion veranlasst) können ihm allerdings nicht angelastet werden.

25.56

Der Fahrgast eines Verkehrsmittels muss während der Fahrt stets sicheren Halt suchen,98 wegen des unvermeidbaren Anfahrrucks auch bei der Platzsuche nach dem Einsteigen.99 Er darf bereits bei Annäherung an eine Haltestelle aufstehen, muss sich aber festhalten.100 Beim Aussteigen ist besondere Sorgfalt geboten.101

f) Besonderes Verletzungsrisiko 25.57

ii) Wusste der Geschädigte, dass er wegen eines Konstitutionsmangels im Falle einer Verletzung besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sein würde, so kann es ihm als Mitverschulden angelastet werden, wenn er Schutzvorkehrungen unterlassen hat, mit deren Vornahme nach allgemeiner Anschauung im sozialen Verkehr gerechnet werden kann (s. Rz. 25.18 ff.). Bei besonderer Verletzlichkeit der Bauchdecke z.B. muss eine Leibbinde getragen werden.102 Hat sich jedoch ein vom Schutzumfang der betreffenden Vorkehrung nicht umfasstes Risiko verwirklicht, so entfällt die Zurechenbarkeit der Mitverursachung (s. Rz. 25.23). Dass sich der mit einem Konstitutionsmangel Behaftete überhaupt in eine gefahrträchtige Situation begeben hat, kann ebenfalls nur dann zu einer Mithaftung führen, wenn dies gegen die allgemein akzeptierten (ungeschriebenen) Normen des Selbstschutzes verstieß und der eingetretene Schadensfall innerhalb des Schutzzwecks dieser Normen liegt.103 Einem Bluter kann z.B. nicht angelastet werden, dass er überhaupt auf einem Mokick mitgefahren ist.104

g) Erkennbarkeit als Fußgänger 25.58

Einem Fußgänger, der beim ordnungsgemäßen Überqueren der Straße angefahren wurde, kann nicht angelastet werden, dass er dunkle Kleidung getragen hat.105 Bei einem erkennbar gefährlichen Verhalten (z.B. Straßenüberquerung in Etappen) muss er jedoch seine schlechte Erkennbarkeit in Rechnung stellen,106 beim Gehen auf nächtlicher Landstraße eine Lampe oder Reflektoren tragen.

97 Beispiel: OLG Hamm v. 18.10.1994 – 27 U 58/94, NZV 1995, 481 (zu hohe Haftungsquote des massiv abgelenkten Fahrers). 98 Vgl. OLG Stuttgart v. 22.7.1970 – 1 U 62/70, VersR 1971, 674; OLG Düsseldorf v. 16.11.1984 – 1 W 42/84, VersR 1986, 64; OLG Hamm v. 25.3.1993 – 6 U 156/91, r+s 1993, 335; OLG München v. 2.3.2006 – 24 U 617/05, NZV 2006, 477 (unsicherer Sitzplatz). Weitere Beispiele: Rz. 25.272. 99 OLG Celle v. 2.5.2019 – 14 U 183/18, MDR 2019, 934. 100 OLG Hamm v. 27.5.1998 – 13 U 29/98, NZV 1998, 463. 101 OLG Frankfurt v. 12.7.1972 – 13 U 241/71, VersR 1975, 381. 102 BGH v. 22.9.1981 – VI ZR 144/79, NJW 1982, 168. 103 Zu weitgehend z.B. OLG Celle v. 18.7.1980 – 9 U 28/80, VersR 1981, 1057, 1058 mit abl. Anm. Schulze (Veranlagung zu Psoriasis). 104 OLG Koblenz v. 5.5.1986 – 12 U 894/85, VersR 1987, 1225. 105 OLG München v. 30.6.2017 – 10 U 4244/16, ZfS 2018, 257. 106 KG v. 21.1.2010 – 12 U 29/09, MDR 2010, 1049.

652 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.63 § 25

h) Nichttragen von Schutzhelm oder Schutzkleidung aa) Motorradfahrer Führer von Krafträdern (auch Trikes und Quads, nicht aber Leicht-Mofas107) mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h und ihre Beifahrer müssen während der Fahrt geeignete108 Schutzhelme tragen,109 sofern keine vorgeschriebenen Sicherheitsgurte angelegt werden (§ 21a Abs. 2 StVO)110.

25.59

Für Verletzungen, die durch Verstoß gegen diese Vorschrift verursacht werden, sind sie mitverantwortlich. Dies kann insoweit zu einer Kürzung des Schadensersatzanspruchs führen, die je nach Verursachungsbeitrag und Verschuldensgrad des Ersatzpflichtigen von 20 % bis 100 % gehen kann.111

25.60

Unzumutbarkeit der Helmbenutzung – die im Falle einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Nr. 5b StVO eine vorwerfbare Selbstgefährdung entfallen lässt – kann nur bei Vorliegen besonderer, insbesondere körperlicher oder gesundheitlicher Gründe bejaht werden.

25.61

Brillentragen fällt nicht darunter, wenn mit Hilfe einer Sportbrille zumutbare Abhilfe möglich ist,112 ebenso wenig das Beachten religiöser Bekleidungsvorschriften.113 Wer das Tragen eines Helms als unzumutbar empfindet, muss grundsätzlich auf das Motorradfahren verzichten; ob ein unabweisbares Bedürfnis hierfür besteht, hat die Genehmigungsbehörde zu entscheiden.114

25.62

Eine besondere Schutzkleidung ist nicht vorgeschrieben. Es lässt sich daher nicht generell sagen, dass der Motorradfahrer fremdverschuldete Verletzungen entschädigungslos hinnehmen muss, die er durch widerstandsfähigere Kleidung hätte verhindern können.115 Dass das Tragen leichter Stoffbekleidung durch Kraftradfahrer den allgemein anerkannten Anforderungen des Selbstschutzes nicht entspricht,116 dürfte jedoch zutreffen. Motorradstiefel werden hingegen nicht gefordert.117 Kein Mitverschulden begründet das Fahren eines Leichtkraftrads mit Turnschuhen.118

25.63

107 S. § 2 Leichtmofa-AusnahmeVO v. 26.3.1993 (BGBl. I 1993, 394). 108 S. dazu Begründung zur ÄndVO v. 22.12.2005, VkBl 2006, 43; BHHJ/Hühnermann § 21a StVO Rz. 11; Scholten NJW 2012, 2993, 2994. 109 Zur Ordnungsmäßigkeit der Befestigung s. OLG Hamm v. 20.3.2000 – 6 U 184/99, MDR 2000, 1190. 110 Zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift s. BVerfG v. 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80, NJW 1982, 1276. 111 Vgl. OLG Nürnberg v. 10.5.1988 – 1 U 4202/87, DAR 1989, 296 mit Anm. Berr (30 %). Weitere Bsp. in der nach Unfalltypen geordneten Übersicht Rz. 25.159 ff. 112 BGH v. 25.1.1983 – VI ZR 92/81, VersR 1983, 440. 113 BVerwG v. 4.7.2019 – 3 C 24/17, NJW 2019, 3466. 114 BVerwG v. 4.7.2019 – 3 C 24/17, NJW 2019, 3466. 115 OLG Düsseldorf v. 24.9.2019 – 1 U 82/18, MDR 2020, 219; LG Frankfurt/M. v. 7.6.2018 – 2-01 S 118/17, NJW 2019, 531; Rebler MDR 2014, 1187 ff., auch zur Differenzierung zwischen den Arten von Krafträdern. 116 So OLG Brandenburg v. 23.7.2009 – 12 U 29/09, NZV 2010, 409; zweifelnd Hentschel/König/ Dauer § 21a StVO Rz. 23. 117 OLG Nürnberg v. 9.4.2013 – 3 U 1897/12, VersR 2013, 1016. 118 OLG München v. 19.5.2017 – 10 U 4256/16, NJW 2017, 2838 mit Anm. Schroeder.

Greger | 653

§ 25 Rz. 25.64 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.64

Nur bei Kausalität für die Verletzungsfolge kann das Nichttragen des Schutzhelms als haftungsminderndes Mitverschulden gewertet werden. Der Anspruchsgegner muss also beweisen, dass die geltend gemachte Folge durch den Helm vermieden worden wäre. Bei typischen Geschehensabläufen gelten die Regeln des sog. Anscheinsbeweises (s. Rz. 41.56 ff.).

25.65

Erleidet ein Kraftradfahrer bei einem Unfall Kopfverletzungen, vor denen der Helm allgemein schützen soll, so ist nach diesen Regeln die Kausalität der unterlassenen Helmbenutzung zu bejahen.119 bb) Radfahrer

25.66

Für Radfahrer besteht keine gesetzliche Helmpflicht. Es entspricht auch (noch) nicht allgemeiner Überzeugung, dass für diese Verkehrsteilnehmer das Tragen eines Schutzhelms geboten ist;120 die ausdrücklich auf Kfz beschränkte Regelung in § 21a Abs. 2 StVO lässt auch keine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung zu.121 Eine Mitverantwortung aus diesem Gesichtspunkt ist daher abzulehnen.

25.67

Vertretbar erscheint eine Analogie allenfalls bei Elektro-Fahrrädern mit einer Geschwindigkeit über 25 km/h.122 Besondere Anforderungen sind auch bei sportlicher, d.h. auf Geschwindigkeitserzielung gerichteter Fahrweise vertretbar, da sich für die Ausübung gefährlicher Sportarten allgemein anerkannte Regeln des Selbstschutzes entwickelt haben.123 cc) Inline-Skater, Roller

25.68

Inline-Skater sollen nach den „Goldenen Regeln“ der GISA,124 die allerdings keinen Normcharakter haben, die übliche Schutzausrüstung (Helm, Knie-, Ellenbogen- und Handgelenkschutz) tragen, wenn sie am Straßenverkehr teilnehmen. Für Elektrokleinstfahrzeuge i.S.d. VO v. 6.6.2019 (BGBl. I 2019, 756), z.B. E-Roller, bestehen keine besonderen Ausrüstungsvorschriften.

i) Nichtanlegen des Sicherheitsgurts aa) Geltungsbereich der Gurtpflicht

25.69

§ 21a Abs. 1 StVO schreibt (mit bestimmten Ausnahmen) das Anlegen der für das betreffende Fahrzeug vorgeschriebenen Sicherheitsgurte vor. Der Verstoß hiergegen ist als Verschulden

119 BGH v. 25.1.1983 – VI ZR 92/81, VersR 1983, 440. 120 BGH NZV 2009, 177 mit Anm. Schubert = DAR 2009, 81 mit Anm. Rebler 386; BGH v. 17.6.2014 – VI ZR 281/13, NJW 2014, 2493 mit Anm. Kettler = DAR 2014, 520 mit Anm. Scholten; OLG Celle v. 11.6.2008 – 14 U 179/07, NJW 2008, 2353; OLG Celle v. 12.2.2014 – 14 U 113/13, NZV 2014, 305; OLG Düsseldorf v. 14.8.2006 – 1 U 9/06, NZV 2007, 38 mit Anm. Kettler (Kind); OLG Düsseldorf v. 18.6.2007 – 1 U 278/06, NZV 2007, 614; a.A. OLG Schleswig v. 5.6.2013 – 7 U 11/12, DAR 2013, 470 (vom BGH aufgehoben); Meier/Jocham VersR 2014, 1167 ff. Eingehend (auch de lege ferenda) Ch. Huber NZV 2014, 489 ff. 121 Hilpert-Janßen MDR 2014, 688, 693. 122 LG Bonn v. 11.12.2014 – 18 O 388/12, NZV 2015. 395; eingehend Scholten NJW 2012, 2993 f. 123 OLG Düsseldorf v. 12.2.2007 – 1 U 182/06, NZV 2007, 619 mit Anm. Schiffler = DAR 2007, 458 mit Anm. Hufnagel; dazu Kettler NZV 2007, 603; Ch. Huber NZV 2014, 489, 494. 124 Vgl. „Goldene Regeln“ der GISA, abgedr. bei Vieweg NZV 1998, 1, 2.

654 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.72 § 25

gegen sich selbst zu werten mit der Folge einer Mithaftung des Geschädigten für die Verletzungen, die durch den Gurt vermieden worden wären.125 Es handelt sich um ein Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens, nicht um einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 BGB, weil es um die Verursachung einzelner Verletzungen geht.126 Auch dem Insassen des eigenen Kfz kann der in Anspruch genommene Halter oder Fahrer den Mitverschuldenseinwand wegen Nichtanlegens des Gurtes entgegenhalten. Dass sich der Fahrer selbst nicht angeschnallt hat, steht dem nicht entgegen;127 lediglich wenn er den Fahrgast dazu veranlasst hatte, den Gurt nicht zu benutzen, oder wenn ihn ausnahmsweise eine besondere Fürsorgepflicht traf (s. Rz. 14.63), kann etwas anderes gelten.

25.70

Ausnahmen von der Gurtanlegepflicht kommen nur in den in § 21a Abs. 1 Satz 2 StVO ausdrücklich geregelten Fällen sowie dann in Betracht, wenn eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO erteilt wurde oder auf Antrag erteilt worden wäre; dies ist nur bei Gefahr ernsthafter Gesundheitsschäden, denen auf anderem Wege nicht vorgebeugt werden kann, der Fall.128 Die Ausnahme für Lieferanten (§ 21a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2) gilt nur für langsame Fahrten über kürzeste Entfernungen.129 Fahrten in Schrittgeschwindigkeit (§ 21a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3) sind nur ausgenommen, wenn es sich um Fahrvorgänge handelt, die ähnlich ungefährlich sind wie die dort beispielhaft genannten,130 also nicht im „Stop and Go“Verkehr.131 Zur Gurtpflicht in Omnibussen s. § 21a Abs. 1 Satz 2 Nrn. 4–6 StVO i.V.m. § 35a StVZO. Außerhalb des Nahverkehrs besteht demnach grundsätzlich Anschnallpflicht.132

25.71

Generelle Ausnahmen für Jugendliche,133 Fahrlehrer134 oder Frauen bestehen nicht.135 Auch bei Schwangeren bringt der Gurt wesentlich mehr Vorteile als Gefahren.136 Zur Sicherung von Kindern s. Rz. 25.85. Geringfügige subjektive Beschwerden rechtfertigen es nicht, von der Benutzung abzusehen.137 Vergessen infolge Erregung kann das Unterlassen des Anschnallens allenfalls in extremen Ausnahmesituationen entschuldigen. Dagegen trifft den Beifahrer kein Mitverschulden, wenn er infolge Alkoholisierung vor dem Angurten einschläft (zur Verantwortung des Fahrers in solchen Fällen s. Rz. 14.63. – Ein Airbag ersetzt den Sicherheitsgurt nicht.138

25.72

125 BGH v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, BGHZ 74, 25; BGH v. 29.9.1992 – VI ZR 286/91, BGHZ 119, 268 m.w.N. 126 BGH v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, BGHZ 74, 25, 36; BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 213/79, NJW 1981, 287. 127 Offengelassen von BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 83/78, VersR 1979, 532. 128 BGH v. 29.9.1992 – VI ZR 286/91, BGHZ 119, 268. 129 Vgl. Begr. zur VO v. 27.11.1975, VkBl 1975, 675; OLG Zweibrücken v. 9.3.1989 – 1 Ss 36/89, DAR 1989, 349; OLG Düsseldorf v. 26.9.1991 – 2 Ss OWi 363/91-OWi 71/91 II u.a., NZV 1992, 40. 130 OLG Stuttgart v. 27.9.1985 – 3 Ss 653/85, VRS 70, 49. 131 OLG Düsseldorf v. 6.11.1986 – 5 Ss (OWi) 307/86-236/86 I, VRS 72, 211. 132 Näher Kreuter-Lange/Schwab DAR 2015, 67, 70. 133 OLG Celle v. 28.1.1982 – 5 U 163/80, VersR 1983, 463 LS. 134 OLG Köln v. 20.5.1985 – Ss 187/85, VRS 69, 307. 135 BGH v. 10.3.1981 – VI ZR 236/79, VersR 1981, 548. 136 Vgl. Sefrin Deutsches Ärzteblatt 1983, 44. 137 OLG Frankfurt v. 4.6.1986 – 17 U 160/82, NJW-RR 1988, 574. 138 OLG Celle v. 2.11.1989 – 3 Ss OWi 229/89, NZV 1990, 81.

Greger | 655

§ 25 Rz. 25.73 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.73

Im stehenden Fahrzeug besteht nach dem Wortlaut des § 21a Abs. 1 Satz 1 StVO („während der Fahrt“) keine Anschnallpflicht, sofern es sich nicht um kurze, verkehrsbedingte Fahrtunterbrechungen handelt.139 Generell ausgenommen von § 21a StVO ist lediglich der ruhende Verkehr. Der in einem parkenden Auto sitzende oder Startversuche in seinem liegengebliebenen Fahrzeug vornehmende Fahrer140 wird von der Vorschrift daher nicht erfasst. Auch wer längere Zeit im Stau steht, darf den Gurt lösen. Gleichwohl kann in besonders gefährlichen Verkehrssituationen die allgemeine Pflicht zur Schadensverhütung ein Anlegen der Gurte gebieten.141

25.74

Das nicht ordnungsgemäße Anlegen der Gurte steht dem Nichtanlegen gleich,142 ebenso das Fahren mit defektem Gurt.143 Vorwerfbar ist es auch, wenn der Gurt seine Funktion nicht erfüllen kann, weil sich der Beifahrer während der Fahrt in den Fußraum beugt.144

25.75

Soweit für Altfahrzeuge nach den zum Zeitpunkt ihrer Zulassung bestehenden Vorschriften (§ 72 Abs. 1 StVZO) Sicherheitsgurte nicht vorgeschrieben sind, besteht laut BGH auch dann keine Anschnallpflicht, wenn die Fahrzeuge freiwillig mit Gurten ausgerüstet wurden.145 Gleichwohl sollte ein Mitverschulden in solchen Fällen bejaht werden.146 Die Freistellung von der Nachrüstungspflicht will lediglich den technischen Schwierigkeiten Rechnung tragen, die dem Einbau von Gurten bei älteren Fahrzeugen vielfach entgegenstehen; sie kann jedoch für Benutzer eines solchen Fahrzeugs bei Möglichkeit des Einbaus keine Ausnahme von der Erkenntnis begründen, dass das Anlegen des Sicherheitsgurts zur Schadensverhütung geboten ist. Mitverschuldenseinwand und die Regelung in § 21a StVO brauchen keineswegs völlig konform miteinander zu gehen; § 254 BGB kann vielmehr auch bei einem nicht gesetzlich geregelten Verschulden gegen sich selbst eingreifen.147

25.76

Für Mitfahrer auf den Rücksitzen eines Pkw besteht eine Anschnallpflicht erst seit Inkrafttreten der Änderungsverordnung vom 6.7.1984 (1.8.1984). Zuvor bestand keine allgemeine Überzeugung, die die Annahme eines Verschuldens gegen sich selbst begründen könnte.148 Die Ausrüstungspflicht für Neufahrzeuge (§ 35a Abs. 7 Satz 2 StVZO damaliger Fassung) änderte hieran nichts.

25.77

Ist ein Fahrzeug vorschriftswidrig nicht mit Gurten ausgerüstet, so trifft laut BGH den Beifahrer ein Mitverschulden nicht schon deswegen, weil er von der Mitfahrt nicht Abstand ge-

139 BGH v. 12.12.2000 – VI ZR 411/99, NZV 2001, 130 m.w.N. zu der früheren Streitfrage; krit. Hentschel NJW 2001, 1471. 140 OLG Bamberg v. 20.12.1983 – 5 U 125/83, VersR 1985, 345. 141 Hentschel NJW 2001, 1471, 1472. 142 KG v. 7.12.1981 – 12 U 5131/80, VersR 1983, 175; OLG Hamm v. 12.7.1985 – 6 Ss OWi 699/85, NJW 1985, 3087; OLG Hamm v. 10.9.1985 – 4 Ss OWi 980/85, NJW 1986, 267; OLG Düsseldorf v. 24.10.1990 – 5 Ss OWi 326/90-OWi 142/90 I, NZV 1991, 241; AG Braunschweig v. 27.3.1985 – 545 Js 4864/85, NJW 1985, 3088. 143 BayObLG v. 16.5.1990 – 1 Ob OWi 382/89, VRS 79, 382. 144 OLG München v. 12.1.2018 – 10 U 2718/15, NJW-Spezial 2018, 106. 145 BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 83/78, VersR 1979, 532. 146 Ebenso OLG Karlsruhe v. 17.9.1982 – 10 U 20/82, VersR 1984, 195. 147 Ebenso Fuchs-Wissemann DRiZ 1983, 312; vgl. auch BGH v. 1.4.1980 – VI ZR 40/79, VersR 1980, 824, wo nur unterstützend mit § 21a StVO argumentiert wird. 148 OLG Koblenz v. 7.2.1983 – 12 U 797/82, VersR 1983, 568; OLG Celle v. 19.7.1984 – 5 U 266/83, VersR 1985, 787; LG Würzburg v. 19.12.1984 – 1 O 614/83, VersR 1985, 1151.

656 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.81 § 25

nommen hat.149 Dies wird indes von den Umständen des Falles abhängen; häufig wird eine Weigerung zumutbar sein.150 Der BGH hat auch einschränkend ausgeführt, die obige Auffassung gelte jedenfalls für einen Unfallzeitpunkt im Februar 1978, d.h. kurz nach dem Stichtag für die Nachrüstung. Nicht vorwerfbar ist eine Mitfahrt in einem Oldtimer ohne Gurte.151 Bei einem Auslandsunfall ist einem Deutschen, der den Gurt nicht angelegt hat, aus den in Rz. 25.75 angestellten Erwägungen auch dann ein Mitverschulden vorzuwerfen, wenn am Unfallort kein Gurtzwang besteht.152 Zu ausländischen Kfz s. § 31d Abs. 2 StVZO.

25.78

bb) Beweis des Verstoßes bb) Den Beweis, dass der Verletzte nicht angeschnallt war, muss der Schädiger führen. Die erlittenen Verletzungen können hierbei Beweisanzeichen sein, sind jedoch mit Vorsicht zu würdigen. Selbst wenn der Beifahrer aus dem Fahrzeug geschleudert wurde, bedarf es einer individuellen Beweiswürdigung.153 Bei bestimmten typischen Gruppen von Unfallverletzungen lässt der BGH gleichwohl einen Anscheinsbeweis dafür zu, dass ein verletzter Pkw-Insasse den Sicherheitsgurt nicht benutzt hat.154

25.79

cc) Kausalität Der Schädiger muss beweisen, dass das pflichtwidrige Nichtanlegen des Gurtes für die erlittene Verletzung ursächlich war. Wie stets beim Kausalitätsbeweis genügt auch hier, dass die Ursächlichkeit nach der – regelmäßig durch medizinische Gutachten zu erhärtenden – Lebenserfahrung anzunehmen, d.h. wahrscheinlich ist (s. Rz. 41.68). Die Rechtsprechung behilft sich auch hier mit dem sog. Anscheinsbeweis155 (s. Rz. 41.56 ff.), kommt dabei aber mit dem Erfordernis des typischen Geschehensablaufs in Konflikt.156

25.80

Bei einem zweiaktigen Unfallgeschehen (Beklagter fährt auf klägerischen Pkw auf, der durch selbstverschuldeten Unfall liegengeblieben ist) kann das Nichtanlegen des Gurts nicht zu einer Mithaftung führen, weil der Beklagte für die Folgen des Erstunfalls ohnehin nicht haftet und der Fahrer nach diesem berechtigt gewesen wäre, den Gurt zu lösen.157 Bei sehr heftigen Kollisionen kann es auch bei angelegtem Gurt zu schweren Verletzungen kommen.158

25.81

149 BGH v. 2.11.1982 – VI ZR 295/80, VersR 1983, 150. 150 Vgl. KG v. 19.2.1987 – 12 U 5137/86, VM 1987, Nr. 91 für den Fall defekter Gurte im Jahr 1984. 151 LG Köln v. 8.11.2007 – 2 O 497/06, DAR 2008, 707. 152 KG v. 30.11.1981 – 22 U 5430/80, VersR 1982, 1199; OLG Hamm v. 26.11.1996 – 9 U 174/95, VersR 1998, 1040 mit Anm. Wandt. 153 OLG Koblenz v. 1.7.1991 – 12 U 193/90, NZV 1992, 278. 154 BGH v. 3.7.1990 – VI ZR 239/89, NJW 1991, 230 m.w.N. 155 Vgl. BGH v. 1.4.1980 – VI ZR 40/79, VersR 1980, 824; OLG Bamberg v. 12.7.1982 – 5 U 107/ 82, VersR 1982, 1075; OLG Hamm v. 26.6.1985 – 13 U 277/82, VersR 1987, 205; OLG Zweibrücken v. 22.11.1991 – 1 U 190/89, VersR 1993, 454; Händel NJW 1979, 2289, 2290; Ludolph NJW 1982, 2595. 156 Landscheidt NZV 1988, 7, 8. 157 BGH v. 28.2.2012 – VI ZR 10/11, NJW 2012, 2027. 158 OLG Naumburg v. 27.2.2008 – 6 U 71/07, MDR 2008, 1031.

Greger | 657

§ 25 Rz. 25.82 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.82

Behauptet der Verletzte, dieselben Verletzungen wären auch mit angelegtem Gurt entstanden, so bestreitet er die – vom Schädiger zu beweisende – Kausalität zwischen Verstoß gegen die Anschnallpflicht und Verletzung. Demgegenüber stellt die Behauptung, bei angelegtem Gurt wären andere Verletzungen entstanden, eine Berufung auf einen hypothetischen Kausalablauf dar, für den der Verletzte beweispflichtig ist.159 Auch kann mit dieser Behauptung nur die Mitverantwortung für solche Schadensfolgen abgewendet werden, bei denen der Zeitfaktor eine Rolle spielt, also z.B. für Verdienstausfall während eines bestimmten Zeitraums, nicht für die Heilungskosten (s. Rz. 20.7). dd) Haftungsquote

25.83

Soweit ein kausales Mitverschulden wegen Nichtangurtens zu bejahen ist, hat das Gericht für die hiervon betroffenen Schadensfolgen – und nur für diese160 – eine besondere Haftungsquote festzusetzen. Ein Einfluss des unterlassenen Anschnallens auf die Entstehung von Sachschäden dürfte kaum denkbar sein, so dass eine Kürzung des Schadensersatzanspruchs regelmäßig nur in Bezug auf Personenschäden (und deren vermögensrechtliche Folgen) in Betracht kommt.161 Die Verantwortung des Schädigers für die fragliche Verletzung entfällt im Regelfall nicht gänzlich, weil er die haftungsbegründende Ursache für den Unfall gesetzt hat. Trifft den Verletzten auch an der Entstehung des Unfalls ein Mitverschulden, sind mithin für die einzelnen Schadensfolgen unterschiedliche Haftungsquoten zu bilden (s. Rz. 25.126). Für die Bemessung der Quote sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls ausschlaggebend. Es wäre daher nicht richtig, in den fraglichen Fällen die Ansprüche des Verletzten pauschal um 20 % zu kürzen.162 Hat das Unterlassen des Gurtanlegens gegenüber dem Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Schädigers erhebliches Gewicht, können durchaus Kürzungen von 50 % oder höher gerechtfertigt sein.163 Umgekehrt kann bei außergewöhnlich hoch zu bewertendem Verschulden des Unfallgegners von einer Kürzung ganz abgesehen werden.164 Der Fahrer kann dem verletzten Beifahrer nur eine geringere Mitverantwortungsquote anrechnen, wenn ihn der zusätzliche Vorwurf trifft, nicht auf die Einhaltung des Gurtzwangs geachtet zu haben.165

25.84

Wenngleich die Bemessung der Mithaftungsquote ganz von den Umständen des Einzelfalles, insbesondere auch von der Schwere des den Schädiger treffenden Vorwurfs, abhängt, kann die nachstehende Rechtsprechungsübersicht (geordnet nach der den Verletzten treffenden Mithaftung) Anhaltswerte liefern.166

159 I. Erg. ebenso BGH v. 1.4.1980 – VI ZR 40/79, VersR 1980, 824; OLG Karlsruhe v. 23.8.1989 – 1 U 347/88, NZV 1989, 470. 160 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 213/79, NJW 1981, 287; OLG München v. 14.12.1978 – 24 U 433/78, VersR 1979, 1157. 161 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 213/79, NJW 1981, 287. 162 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 213/79, NJW 1981, 287. 163 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 213/79, NJW 1981, 287; KG v. 7.12.1981 – 12 U 5131/80, VersR 1983, 175, 176; für höhere Quoten (bis zu 100 % bei Zusammentreffen mit reiner Betriebsgefahr) Landscheidt NZV 1988, 7, 10. 164 BGH v. 20.1.1998 – VI ZR 59/97, NZV 1998, 148; OLG Karlsruhe v. 6.11.2009 – 14 U 42/08, NZV 2010, 26. 165 KG v. 30.11.1981 – 22 U 5430/80, VersR 1982, 1199, 1200. 166 Weitere Nachweise bei Berr DAR 1990, 343 ff.

658 | Greger

II. Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens | Rz. 25.86 § 25 0:

BGH NJW 1998, 1137 (Schädiger gerät mit 1,83 ‰ und überhöhter Geschwindigkeit auf Gegenfahrbahn) OLG Braunschweig VersR 1978, 627 (Schädiger grob fahrlässig)

20 %:

OLG Frankfurt ZfS 1986, 1 (Schädiger grob fahrlässig) OLG Karlsruhe NZV 1999, 422 (Mitfahrt in Sportwagen zwischen zwei Rücksitzen)

30 %:

OLG Düsseldorf DAR 1985, 59 (Schlüsselbein- und Lendenwirbelbruch) OLG Frankfurt VersR 1987, 670 (Schädiger grob fahrlässig) OLG Hamm DAR 1996, 24 (Gesichtsverletzungen; Fahrer und Beifahrerin alkoholisiert) OLG München ZfS 2020, 200 (Knieverletzung, unverschuldeter Unfall)

1/3:

OLG Celle VersR 1983, 463 LS (15-jähriger Beifahrer) OLG Karlsruhe NZV 1990, 151 (alkoholisierter Fahrer) OLG Karlsruhe NJW 2009, 2608 (Fahrer und Beifahrer betrunken) OLG Koblenz NZV 2020, 528 KW (Fahrer eingeschlafen, Beifahrer tödlich verletzt)

40 %:

LG Saarbrücken DAR 1984, 323 (völlige Erblindung) LG Bielefeld VersR 1986, 98 (schwere Augenverletzungen)

50 %:

OLG München VersR 1985, 868 (Gesichtsverletzungen einer Kosmetikerin; zw) OLG Saarbrücken VersR 1987, 774 (völlige Erblindung) LG Darmstadt VersR 1980, 342 (Knieprellung, Platzwunden) KG VRS 62, 247 (schwere Augenverletzungen)

60 %:

BGH VersR 1981, 548 (Schädelpressung)

2/3:

OLG Bamberg VersR 1985, 786 (Mitfahren bei Fahrer ohne Führerschein) LG Ravensburg DAR 1988, 166 (hinausgeschleuderter Beifahrer)

100 %:

OLG Hamm VRS 59, 5 (Platzwunde an der Stirn) OLG Frankfurt r+s 1980, 124 (nur Gefährdungshaftung)

j) Nichtbenutzen von Kinderrückhalteeinrichtungen Obwohl sich § 21 Abs. 1a, 1b StVO nur gegen den Fahrer richtet, kann es als Mitverschulden des Kindes angesehen werden, wenn es in einem Auto ohne solche Einrichtungen mitfährt, vorhandene Einrichtungen nicht benutzt oder während der Fahrt außer Funktion setzt. In der Regel wird jedoch die Verschuldensfähigkeit fehlen (s. Rz. 25.24). Zur Haftung der Eltern in solchen Fällen s. Rz. 14.316.

25.85

7. Schaden durch Schadensabwehrmaßnahme Erleidet das Unfallopfer einen Schaden gerade dadurch, dass es eine ihm nach den vorstehenden Grundsätzen abverlangte Maßnahme zur Abwendung eines Schadens ergriffen hat (Hauptbeispiel: Gurtverletzung), so ist dieser Schaden dem schädigenden Ereignis zuzurechnen, also vom hierfür Verantwortlichen zu ersetzen. Ist ein solcher Verantwortlicher nicht vorhanden (Unfall ohne Fremdbeteiligung) oder nicht feststellbar (Unfallflucht), so muss der Greger | 659

25.86

§ 25 Rz. 25.86 | Mitverantwortung des Geschädigten

Geschädigte den Schaden, falls nicht ein Anspruch gegen die Verkehrsopferhilfe (s. Rz. 15.72 ff.) in Betracht kommt, selbst tragen. Dies gilt auch, wenn die Maßnahme, wie beim Sicherheitsgurt, vom Staat unter Sanktionsandrohung angeordnet ist. Ein Aufopferungsanspruch kommt nicht in Betracht, da die Maßnahme im Wesentlichen dem Einzelnen und nicht dem Allgemeinwohl dient.167

III. Anrechnung der Betriebsgefahr 1. Allgemeines 25.87

Wer für einen fremden Schaden aus Betriebsgefahr einzustehen hätte (z.B. als Kfz-Halter nach § 7 StVG, als Bahnunternehmer nach § 1 HaftpflG), muss sich diese Betriebsgefahr auf eigene Schadensersatzansprüche mindernd anrechnen lassen. Dies folgt aus analoger Anwendung von § 254 BGB sowie für die Ansprüche zwischen mehreren aus StVG oder HaftpflG Haftenden aus § 17 Abs. 2 StVG bzw. § 13 Abs. 2 HaftpflG (näher s. Rz. 25.3). Bei dem vom Geschädigten zu tragenden Haftungsanteil kann es sich um die reine Betriebsgefahr handeln, deren Anrechnung sich aus dem Nichtgelingen des Entlastungsbeweises (§ 7 Abs. 2 StVG, § 1 Abs. 2 HaftpflG) ergibt, oder um die erhöhte Betriebsgefahr, die den Nachweis erschwerender Umstände, insbesondere eines Verschuldens, durch den Gegner voraussetzt (näher zur Abwägung der Betriebsgefahren Rz. 25.133 ff., zur Beweislast Rz. 25.151). Die Anrechnung entfällt, wenn der Halter bzw. Unternehmer den ihm eröffneten Entlastungsbeweis führen kann.168 Demnach muss sich die eigene Betriebsgefahr anrechnen lassen: (a) der Kfz-Halter auf Ansprüche gegen – andere Kfz-Halter oder -Eigentümer, wenn er nicht den Beweis der Unabwendbarkeit des Unfalls führen kann (§ 17 Abs. 2, 3 StVG), – Tierhalter oder -hüter sowie Eisenbahnunternehmer unter derselben Voraussetzung (§ 17 Abs. 4, 3 StVG), – Halter von Kfz-Anhängern (§ 19 Abs. 3 bzw. [bei abgekuppeltem Anhänger] Abs. 6, jeweils i.V.m. § 17 Abs. 2 StVG), – sonstige Ersatzpflichtige, wenn er nicht höhere Gewalt nachweisen kann (§ 7 Abs. 2 StVG). Dies gilt auch für Ansprüche gegen Leitungsbetreiber i.S.v. § 2 HaftpflG; die auf § 13 Abs. 4 gestützte Gegenmeinung169 übersieht, dass die Anforderungen an den Entlastungsbeweis dem für den Beweisführer maßgeblichen Gesetz, für den Kfz-Halter also dem StVG, zu entnehmen sind; (b) der Anhängerhalter auf Ansprüche gegen – unfallbeteiligte Kfz-Halter, wenn er nicht den Beweis der Unabwendbarkeit des Unfalls führen kann (§ 19 Abs. 3 bzw. [bei abgekuppeltem Anhänger] Abs. 6, jeweils i.V.m. § 17

167 Hentschel/König/Dauer § 21a StVO Rz. 27; a.A. Müller NJW 1983, 593; Allgaier VersR 1993, 676. 168 Zu Einzelheiten s. Rz. 3.258 ff (Kfz-Halter), Rz. 5.23 ff. (Bahnunternehmer), Rz. 5.52 f. (Stromleitungen), Rz. 5.57 (Wasserleitungen). 169 OLG Jena v. 25.6.2008 – 7 U 800/07, DAR 2008, 705; Filthaut NZV 2003, 161, 163; Holwitt DAR 2013, 356, 357.

660 | Greger

III. Anrechnung der Betriebsgefahr | Rz. 25.90 § 25

Abs. 2, 3 StVG), nicht aber im Verhältnis zum Halter des Zugfahrzeugs (§ 19 Abs. 4 Satz 5 StVG; s. Rz. 3.114), – Tierhalter oder -hüter sowie Eisenbahnunternehmer bei Misslingen des Entlastungsbeweises (§ 19 Abs. 5, 3 i.V.m. § 17 Abs. 2, 3 StVG), – sonstige Ersatzpflichtige, wenn er nicht höhere Gewalt nachweisen kann (§ 19 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 7 Abs. 2 StVG); (c) der Bahnunternehmer auf Ansprüche gegen – andere Bahnunternehmer bei Unfällen im Verkehrsraum öffentlicher Straßen, wenn er nicht den Beweis der Unabwendbarkeit des Unfalls führen kann (§ 13 Abs. 3 HaftpflG), – andere aus Gefährdungshaftung Ersatzpflichtige unter denselben Voraussetzungen (§ 13 Abs. 3, 4 HaftpflG; s. dazu Rz. 5.30), – Ersatzpflichtige in allen anderen Fällen, wenn er nicht höhere Gewalt nachweisen kann (§ 1 Abs. 2 HaftpflG); (d) der Leitungsbetreiber (§ 2 HaftpflG) – bei Unfällen durch Herabfallen von Leitungsdrähten ohne Entlastungsmöglichkeit (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 Hs. 2 HaftpflG), – bei allen anderen durch das Vorhandensein der Anlage verursachten Unfällen, wenn er deren ordnungsmäßigen Zustand nicht nachweisen kann (§ 2 Abs. 1 Satz 3 HaftpflG), – ansonsten, wenn er eine Verursachung durch höhere Gewalt nicht nachweisen kann (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 Hs. 1 HaftpflG).

2. Anwendungsbereich Die Betriebsgefahr kann sämtlichen Ersatzansprüchen des Kfz-Halters aus dem Unfall, für den er nicht seinerseits den Entlastungsbeweis führen kann, entgegengehalten werden, also auch Ansprüchen aus Personenschäden (die er als Insasse seines Kfz erleidet) und Ansprüchen aus unerlaubter Handlung.170 Zur Voraussetzung der „spiegelbildlichen“ Haftung und zur Problematik bei Ansprüchen, die nur aus unerlaubter Handlung abgeleitet werden können, s. aber Rz. 25.94 ff. Für den Bahnunternehmer als Geschädigten folgt dasselbe aus § 13 HaftpflG.

25.88

Der Kfz-Führer muss sich auf seine Schadensersatzansprüche gem. § 18 Abs. 3 StVG ebenfalls die Betriebsgefahr des von ihm geführten Kfz anrechnen lassen, jedoch nur wenn sie durch sein vermutetes Verschulden erhöht ist (s. Rz. 4.6 f.). Gegenüber dem Führer eines Schienenfahrzeugs findet keine Anrechnung statt, da er nicht nach dem HaftpflG haftet.

25.89

Einem sonstigen Insassen kann weder der Halter des benutzten Kfz171 noch der eines anderen Kfz172 die Betriebsgefahr entgegenhalten. Erst recht gilt dies für den Fahrgast einer Schienenbahn.

25.90

170 BGH v. 23.6.1952 – III ZR 297/51, BGHZ 6, 319, 323. 171 OLG Celle JW 1937, 1074 mit Anm. Müller. 172 OLG Celle v. 3.11.1994 – 14 U 174/93, NZV 1996, 114; OLG Naumburg v. 12.12.2008 – 6 U 106/08, NZV 2009, 227; OLG Nürnberg v. 26.1.2012 – 4 U 2222/11, DAR 2012, 462.

Greger | 661

§ 25 Rz. 25.91 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.91

Dem Eigentümer des Kfz, der nicht zugleich sein Halter ist (z.B. dem Leasinggeber oder Sicherungseigentümer), kann die Betriebsgefahr grundsätzlich nicht anspruchsmindernd entgegengehalten werden, denn nach §§ 7, 17 Abs. 2 StVG haftet für diese nur der Halter. § 9 StVG gilt nur für die Zurechnung von Verschulden auf Ansprüche aus Gefährdungshaftung (s. Rz. 25.28). Daher muss sich der Leasinggeber gegenüber einem deliktischen Anspruch wegen Verletzung seines Eigentums am Leasingfahrzeug weder ein Mitverschulden des Leasingnehmers oder des Fahrers des Leasingfahrzeugs noch dessen Betriebsgefahr anspruchsmindernd zurechnen lassen, gegenüber seinem Anspruch aus § 7 StVG gem. § 9 StVG nur ein Mitverschulden, nicht eine mitwirkende Betriebsgefahr.173 Dies führt zu der unbefriedigenden, die Schadensregulierung erschwerenden und prozessvermehrenden Situation, dass der Schädiger dem Leasinggeber voll haftet und nur dann beim Leasingnehmer im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs Rückgriff nehmen kann, wenn dieser dem Leasinggeber gegenüber gleichfalls haftet,174 was bei bloßer Gefährdungshaftung in der Regel175 nicht der Fall ist (s. Rz. 21.15).176 Dass der Leasingnehmer den Schadensersatzanspruch des Eigentümers im Wege gewillkürter Prozessstandschaft geltend macht, ändert hieran nichts.177 Das Ergebnis dieser stark am Gesetzeswortlaut haftenden Judikatur befriedigt nicht. Eine Gesetzeskorrektur erscheint angezeigt.178

25.92

Wurde der Halter eines Kfz durch einen eigenen, an ein Fremdfahrzeug gekuppelten Anhänger geschädigt, konnte er Halter und Fahrer der Zugmaschine nach bisherigem Recht nur anteilig in Anspruch nehmen, da §§ 7, 17 StVG nicht auf Schäden durch das eigene Fahrzeug anwendbar sind (s. Rz. 21.9). Für die Höhe des Anspruchs war nach § 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2, 4 StVG a.F. entscheidend, inwieweit der Schaden von dem einen oder dem anderen Teil des Gespanns verursacht worden ist.179 Bei Unfällen ab 17.7.2020 (§ 65 StVG) muss sich der geschädigte Halter die Betriebsgefahr seines Anhängers grundsätzlich nicht anrechnen lassen, weil der Halter des Zugfahrzeugs für die Betriebsgefahr des gesamten Gespanns haftet (§ 19 Abs. 2 Satz 1 StVG); nur wenn sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein, kommt eine Anspruchskürzung in Betracht, weil der Zugfahrzeughalter beim Anhängerhalter Regresses nach § 19 Abs. 4 StVG nehmen könnte.

25.93

Für mittelbar Geschädigte, die aus der Verletzung des Halters eigene Ansprüche ableiten können (insbesondere Erben und Unterhaltsberechtigte nach § 844 Abs. 2 BGB, § 10 StVG), gilt hinsichtlich der Anrechnung der Betriebsgefahr dasselbe wie für den Verletzten selbst.180 173 BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 199/06, BGHZ 173, 182 = NJW 2007, 3120 mit Anm. Weber = NZV 2007, 610 mit Anm. Heß = JZ 2008, 153 mit Anm. Armbrüster; OLG Karlsruhe v. 2.12.2013 – 1 U 74/13, NJW 2014, 1392. Zum Sicherungseigentum ebenso BGH v. 7.3.2017 – VI ZR 125/16, NJW 2017, 2352 mit Anm. Herbers = DAR 2017, 460 mit Anm. Geiger. 174 BGH v. 7.12.2010 – VI ZR 288/09, NJW 2011, 996. 175 Zur Möglichkeit abweichender vertraglicher Vereinbarungen s. Tomson NZV 2009, 577, 578; Nugel NJW 2013, 193, 196. 176 Becker ZGS 2008, 415, 422; Armbrüster JZ 2008, 154 ff. Die dazu angestellten Erwägungen in BGH v. 7.12.2010 – VI ZR 288/09, NJW 2011, 996 gehen zu Unrecht davon aus, dass in diesem Fall § 9 StVG eingreift; s. Reinking NJW 2011, 998. 177 OLG Karlsruhe v. 2.12.2013 – 1 U 74/13, NJW 2014, 1392. Zum Sicherungseigentum ebenso BGH v. 7.3.2017 – VI ZR 125/16, NJW 2017, 2352. 178 Ebenso Armbrüster JZ 2008, 154, 156; Reinking NJW 2011, 998; Schiemann NZV 2019, 5, 8; Empfehlung des 57. VGT 2019 (Arbeitskreis III), NZV 2019, 87. 179 OLG Hamm v. 2.4.2015 – 6 U 173/14, NZV 2016, 219 gelangt durch Anwendung des von § 17 Abs. 1, 2, 4 StVG verdrängten § 9 StVG (s. Rz. 25.27) zu hälftiger Haftung. 180 BGH v. 15.1.1957 – VI ZR 48/56, VersR 1957, 198.

662 | Greger

III. Anrechnung der Betriebsgefahr | Rz. 25.97 § 25

3. Hypothetische Haftung des Geschädigten als Voraussetzung der Anspruchsminderung a) Grundgedanke Die Betriebsgefahr des eigenen Kfz kann dem geschädigten Halter nur dann anspruchsmindernd entgegengehalten werden, wenn er (bei gedachter Schädigung des Anspruchsgegners) diesem gegenüber aus § 7 StVG ersatzpflichtig wäre.181 Hat er einen Unfall als Fußgänger und einen Zweitunfall mit (dem ersten zurechenbaren) Folgeverletzungen als Kfz-Halter erlitten, muss er sich die Betriebsgefahr (nur) hinsichtlich der Folgeverletzungen anrechnen lassen.182

25.94

b) Haftungsausschlüsse Zu einer Anrechnung kommt es deshalb nicht, wenn das Kfz wegen geringer Geschwindigkeit nach § 8 Nr. 1 StVG von der Gefährdungshaftung ausgenommen war.183 Ebenso braucht der Halter sich infolge des Haftungsausschlusses nach § 8 Nr. 2 StVG gegenüber einer beim Betrieb des Kfz tätigen Person (z.B. dem Fahrer) die Betriebsgefahr nicht anrechnen zu lassen.184 Unberührt bleibt aber die Möglichkeit einer Anspruchsminderung nach § 254 BGB bei deliktischem Verschulden, z.B. wegen Übergabe eines verkehrsunsicheren Fahrzeugs.185

25.95

c) Ausschließlich bei deliktischer Haftung gegebene Ansprüche Seit der Einführung von Schmerzensgeld bei der Gefährdungshaftung m.W.v. 1.8.2002 hat die Frage, ob eine mitwirkende Betriebsgefahr auch gegenüber rein deliktischen Ansprüchen anzurechnen ist, nur noch beim Ersatz für entgangene Dienste nach § 845 BGB Bedeutung. Die h.M. hat sie für den Schmerzensgeldanspruch bejaht.186 Für den Anspruch aus § 845 BGB bietet sich die entsprechende Anwendung von § 846 BGB an.

25.96

d) Haftungsbegrenzung nach § 12 StVG Die Rechtsprechung, wonach der Halter sich die Betriebsgefahr auch über die für die Gefährdungshaftung geltenden Höchstbeträge hinaus anrechnen lassen muss, ist abzulehnen (s. Rz. 23.6). Der ursprüngliche Zweck der Haftungshöchstgrenzen, das Risiko aus der Gefährdungshaftung versicherbar zu halten, würde durch eine unlimitierte Mithaftung des Geschädigten aus Betriebsgefahr zwar nicht tangiert; für eine solche der Gefährdungshaftung fremde Risikozuweisung wäre aber eine gesetzliche Grundlage zu fordern.

BGH v. 30.5.1972 – VI ZR 38/71, NJW 1972, 1415; Geigel/Horst Kap. 2 Rz. 19. OLG Hamm v. 29.8.1994 – 6 U 245/93, NZV 1995, 282. Böhmer MDR 1960, 732; a.A. RG JW 1937, 1769; Busse MDR 1961, 660. BGH v. 30.5.1972 – VI ZR 38/71, NJW 1972, 1415; OLG Frankfurt v. 14.1.1994 – 10 U 60/93, NZV 1995, 25; Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden (1990) S. 62. 185 BGH v. 30.5.1972 – VI ZR 38/71, NJW 1972, 1415, 1416. 186 BGH v. 13.4.1956 – VI ZR 347/54, BGHZ 20, 259 = JZ 1956, 491 mit Anm. Böhmer = LM Nr. 9 zu 17 StVG mit Anm. Hauß; Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 403 ff.

181 182 183 184

Greger | 663

25.97

§ 25 Rz. 25.98 | Mitverantwortung des Geschädigten

e) Amtshaftung 25.98

Gegenüber dem Schadensersatzanspruch eines Beamten, der auf einer Dienstfahrt verletzt wurde, kann Anrechnung der Betriebsgefahr geltend gemacht werden. Hier fehlt es zwar an der hypothetischen Haftung des Verletzten, weil die öffentlich-rechtliche Körperschaft haften würde (Art. 34 GG), wenn der Beamte eine andere Person verletzt hätte. Da aber der vom Beamten in Anspruch Genommene keine Möglichkeit hätte, den auf den Beamten treffenden Schadensanteil gegen dessen Dienstherrn geltend zu machen, wird ihm von der Rechtsprechung aus Billigkeitsgründen der Einwand der Ausgleichung gegenüber der Forderung des Beamten gewährt.187

IV. Mitverschulden hinsichtlich des Schadensumfangs 1. Rechtliche Grundlagen 25.99

Während sich § 254 Abs. 1 BGB auf das Mitverschulden bei der Entstehung eines Schadens (i.S. einer realen Schädigung) bezieht, betrifft Abs. 2 Satz 1 dieser Vorschrift (jedenfalls die 2. und 3. Alternative) die Situation nach Eintritt einer solchen Schädigung, d.h. die Pflicht des Geschädigten, vermeidbare Folgeschäden oder Weiterungen (des Schadens im realen wie auch im vermögensrechtlichen Sinn; s. Rz. 20.2) abzuwenden. Zu dieser sog. Schadensminderungspflicht und ihrem Verhältnis zur Schadensbemessung s. auch Rz. 25.6; zur Beachtlichkeit im Feststellungsverfahren s. Rz. 40.41.

2. Inhalt der Schadensminderungspflicht 25.100

§ 254 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2, 3 BGB setzt eine Verpflichtung des Geschädigten zur Begrenzung des in Gang gekommenen Schadensverlaufs voraus und ordnet für den Fall einer schuldhaften Verletzung dieser Pflicht an, dass der Geschädigte für den dadurch verursachten Teil des Schadens keinen Ersatz erhält. Die Verpflichtung und ihr Umfang ergeben sich aus dem gesetzlichen Schuldverhältnis, das durch den Haftungsfall zwischen Schädiger und Geschädigtem entstanden ist. Im Rahmen dieser Rechtsbeziehung hat der Geschädigte im zumutbaren Umfang auch die Interessen des Haftpflichtigen zu wahren. Er darf nicht im Vertrauen auf seinen Ersatzanspruch einem Ausufern des Schadens tatenlos zusehen, wenn es ihm möglich und zumutbar ist, dem entgegenzuwirken. Der Umfang dieser Pflicht ist nach den Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere nach dem Maßstab der Zumutbarkeit, zu bestimmen; einer Heranziehung von § 242 BGB bedarf es hierbei (ebenso wie im Falle des Abs. 1, s. Rz. 25.21) nicht.188 Zu Einzelheiten s. Rz. 25.108 ff.

3. Zurechnung des Verschuldens eines Dritten 25.101

Nach § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB ist auf die Erfüllung der Schadensminderungspflicht § 278 BGB entsprechend anzuwenden. Ein Mitverschulden von gesetzlichen Vertretern oder Hilfspersonen in Bezug auf diese Verpflichtung muss sich der Geschädigte also zurechnen lassen. Nicht jede in die Schadensbeseitigung eingeschaltete Person ist aber Erfüllungsgehilfe des Geschädigten: So wird z.B. der den Verletzten operierende Arzt oder der mit der Reparatur des 187 BGH v. 24.2.1959 – VI ZR 66/58, NJW 1959, 985 = JZ 1960, 174 mit Anm. Schröer. 188 So aber BGH v. 13.12.1951 – III ZR 83/51, BGHZ 4, 170, 174; Larenz § 31 I c. Näher hierzu Greger NJW 1985, 1130, 1134.

664 | Greger

IV. Mitverschulden hinsichtlich des Schadensumfangs | Rz. 25.105 § 25

Unfallwagens beauftragte Monteur nicht in Erfüllung einer Verbindlichkeit des Geschädigten tätig, wenn er durch Fehler Mehraufwendungen verursacht. Für diese hat der Schädiger aufzukommen, sofern er dem Geschädigten nicht ein Auswahl- oder sonstiges Eigenverschulden nachweisen kann (s. Rz. 27.47) oder wegen besonders grober Fehlleistungen der Zurechnungszusammenhang zu verneinen ist (s. Rz. 19.4 ff.). Auch der Sachverständige, der durch fehlerhafte Begutachtung des Schadens überhöhte Aufwendungen hervorruft, ist nicht Erfüllungsgehilfe;189 anders kann es jedoch liegen, wenn dem Sachverständigen die Koordination der gesamten Schadensbeseitigung übertragen wurde.190 Zur Schadensminderungspflicht des regressierenden Sozialversicherungsträgers s. Rz. 35.55.

4. Kosten der Schadensminderung a) Ersatzpflicht Den Ersatz der bei der Niedrighaltung entstehenden Unkosten schuldet der Schädiger als Ersatz des durch den Unfall entstandenen Schadens, und zwar sogar dann, wenn die ergriffenen Maßnahmen dem ausdrücklich erklärten Willen des Schädigers widersprochen haben. Es sind also nicht die Grundsätze der Geschäftsführung ohne Auftrag (s. Rz. 17.6 ff.) anzuwenden. Der Schädiger hat vielmehr durch den Unfall die Aufwendungen verursacht und muss sie nach den Bestimmungen, aus denen sich seine Haftung ergibt, und in den durch diese Bestimmungen gezogenen Grenzen ersetzen.191 Die Kosten der Vorhaltung von Ersatzfahrzeugen sind nicht durch den Unfall verursacht und daher (entgegen der Rechtsprechung) nicht als Schadensminderungskosten erstattungspflichtig (s. Rz. 20.16 f.). Zu den Aufwendungen zwecks Geringhaltung von Erwerbsschäden s. Rz. 32.108.

25.102

b) Unnötiger Aufwand Ein Fehlgreifen in den zu ergreifenden Maßnahmen wirkt sich nur dann zum Nachteil des Verletzten aus, wenn es ihm als Fahrlässigkeit anzurechnen ist, wenn er also bei gehörigem Nachdenken hätte erkennen können, dass die Maßnahmen entweder unverhältnismäßige Aufwendungen erfordern werden oder ungeeignet sind, den Schaden so niedrig zu halten, wie es durch andere naheliegende Maßnahmen ohne weiteres möglich gewesen wäre.

25.103

c) Vorteilsausgleich Entsteht dem Verletzten aus den Maßnahmen ein Vorteil, hat er ihn sich anrechnen zu lassen, soweit anzunehmen ist, dass er sich ihn einmal – wenn auch zu einem anderen Zeitpunkt – freiwillig verschafft hätte, oder er sich in Geld realisieren lässt.

25.104

5. Warnungspflicht a) Bedeutung Die Pflicht, den Ersatzpflichtigen auf die Gefahr der Entstehung eines besonders hohen Schadens hinzuweisen (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 BGB) kann im Einzelfall auch für die Haftungs189 LG Köln v. 16.10.1974 – 13 S 134/74, NJW 1975, 57. 190 OLG Hamm v. 17.3.1992 – 7 U 103/91, NJW-RR 1993, 914: ölverseuchtes Grundstück. 191 RG v. 15.3.1939 – VI 254/38, RGZ 160, 119, 121 f.; BGH v. 10.5.1960 – VI ZR 35/59, BGHZ 32, 280, 285; BGH v. 1.4.1993 – I ZR 70/91, BGHZ 122, 172, 179; Erman/Ebert § 254 Rz. 54; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 69.

Greger | 665

25.105

§ 25 Rz. 25.105 | Mitverantwortung des Geschädigten

begründung Bedeutung haben,192 wird jedoch zumeist relevant, wenn es um Folgen einer bereits eingetretenen Schädigung geht. Sie entsteht z.B., wenn es dem Verletzten wegen der erlittenen Körperverletzung, wegen Fehlens der erforderlichen wirtschaftlichen Mittel oder aus einem anderen Grund unmöglich ist, die zur Niedrighaltung des Schadens erforderlichen Maßnahmen unverzüglich zu ergreifen, oder wenn es ihm zwar möglich wäre, sie zu ergreifen, sie ihm aber unter den gegebenen Umständen wegen der für ihn entstehenden Nachteile nicht zuzumuten sind. Ebenso kann ein Hinweis geboten sein, wenn der Geschädigte annehmen muss, dass von einer Hilfestellung des Schädigers eine wirtschaftlichere Schadensbeseitigung zu erwarten ist und der Geschädigte sich auf diese Art der Schadensbeseitigung einlassen müsste.193 Kein Mitverschulden trifft den Geschädigten, wenn die drohende Schadenshöhe für ihn selbst nicht vorhersehbar war.194

25.106

Beispiele: Der wichtigste Fall der Hinweispflicht ist der, dass der Verletzte nicht die erforderlichen Mittel besitzt, um die Reparatur des beschädigten Wagens zu bezahlen oder sich anstelle des zerstörten Wagens einen anderen Wagen anzuschaffen, und hieraus wirtschaftliche Nachteile erwachsen. Diese können darin bestehen, dass der Verletzte seinen Beruf nicht mehr ausüben kann oder dass er einen Bankkredit aufnehmen oder seine Kaskoversicherung in Anspruch nehmen muss (wodurch er seinen Anspruch auf Beitragsermäßigung wegen Schadensfreiheit verliert; näher dazu – auch zu Besonderheiten bei nur anteiliger Haftung – s. Rz. 30.10). Dass der Verletzte, dessen Wagen repariert werden muss oder der sich einen anderen Wagen kaufen muss, weil sein Wagen zerstört ist, in der Zwischenzeit mit dem Taxi fährt oder ein Mietfahrzeug in Anspruch nimmt, ist selbstverständlich und voraussehbar. Der Hinweis an den Schädiger wird nur erforderlich, wenn sich die Reparatur oder die Wiederbeschaffung ungewöhnlich verzögert und der Schädiger Abhilfe leisten könnte. Hinweisen muss der Verletzte auch darauf, dass sein Gewerbebetrieb zum Erliegen kommt, weil er durch die erlittene Körperverletzung die Leitung und die erforderlichen Arbeiten nicht mehr ausführen kann und finanziell nicht in der Lage ist, eine Ersatzkraft anzuwerben und zu besolden.

b) Ursächlichkeit des Verstoßes 25.107

Verstößt der Verletzte gegen seine Hinweispflicht, so bekommt er nur den Schaden ersetzt, der auch entstanden wäre, wenn der Schädiger von dem drohenden hohen Schaden Kenntnis gehabt hätte. Hätte der Schädiger ebenfalls nichts gegen die Entstehung tun können, so hat er trotz Unterlassens der Warnung den vollen Schaden zu ersetzen;195 desgleichen, wenn er die Warnung – was der Geschädigte zu beweisen hat – unbeachtet gelassen hätte.196

6. Einzelfälle Zu einzelnen Schadenspositionen s. auch deren Erläuterung in §§ 26 ff.

192 Vgl. BGH v. 1.12.2005 – I ZR 265/03, TranspR 2006, 208 (größere Vorsicht bei Hinweis auf besonderen Wert des beförderten Guts). 193 BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 86/84, NJW 1985, 2637. 194 BGH v. 2.6.1964 – VI ZR 71/63, VersR 1964, 950. 195 BGH v. 19.9.1995 – VI ZR 226/94, VersR 1996, 380. 196 BGH v. 26.5.1988 – III ZR 42/87, NJW 1989, 290, 292; BGH v. 1.12.2005 – I ZR 265/03, TranspR 2006, 208; OLG Karlsruhe v. 8.8.2011 – 1 U 54/11, NZV 2011, 546.

666 | Greger

IV. Mitverschulden hinsichtlich des Schadensumfangs | Rz. 25.110 § 25

a) Kreditaufnahme durch den Verletzten Der Verletzte darf unter bestimmten Voraussetzungen zur Regulierung des Unfallschadens einen Kredit aufnehmen und die Finanzierungskosten als Unfallschaden – nicht etwa nur nach Mahnung als Verzugsschaden – dem Schädiger in Rechnung stellen (näher s. Rz. 30.1 ff.). Eine Pflicht zur Kreditaufnahme hat aber nur derjenige Verletzte, der das benötigte Kfz im Rahmen eines Gewerbebetriebes oder Berufes benötigt und gefahren hat.197 Vom privaten Kfz-Nutzer kann der Schädiger hingegen grundsätzlich nicht verlangen, dass er für die Reparatur oder Ersatzbeschaffung Verpflichtungen eingeht ohne zu wissen, ob er die entstehenden Unkosten vom Schädiger ersetzt bekommt.198 Droht wegen der Finanzierungsfrage eine den Schaden erheblich vergrößernde Restitutionsverzögerung, muss der Geschädigte den Schädiger hierauf hinweisen.199 Das Unterlassen einer solchen Warnung ist aber unschädlich, wenn – etwa bei nachdrücklichem Bestreitens der Haftpflicht – nicht von ihrer Befolgung ausgegangen werden kann.200 Näher zur Warnpflicht s. Rz. 25.105 ff.

25.108

b) Inanspruchnahme der Kaskoversicherung Hierzu ist der Eigentümer eines kaskoversicherten Kfz nur dann verpflichtet, wenn er auf andere Weise die Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung nicht finanzieren könnte, der Schädiger die sofortige Finanzierung ablehnt und durch die Verzögerung der Restitution erhebliche wirtschaftliche Nachteile für den Ersatzpflichtigen entstünden.201 Könnte der Geschädigte die Kosten der Schadensbeseitigung auch durch einen Kredit finanzieren, so muss er prüfen, auf welchem Wege geringere Kosten entstehen. Hierbei sind den zu erwartenden Kreditkosten die Nachteile durch Rückstufung in der Kaskoversicherung (s. Rz. 30.10) gegenüberzustellen.202 Verzögert der Ersatzpflichtige die Regulierung trotz klarer Rechtslage, ist der Geschädigte nicht zu derartigen Bemühungen um Vorfinanzierung verpflichtet.203

25.109

Richtet sich der Schadensersatzanspruch gegen den berechtigten Fahrer des beschädigten Fahrzeugs oder eine sonstige von dessen Haftpflichtversicherung umfasste Person, gegen den Mieter oder Entleiher, so kann dieser Schuldner ein erhebliches Interesse daran haben, dass der Geschädigte die Kaskoversicherung in Anspruch nimmt, da diese gegen ihn nach Maßgabe von A.2.8 AKB 2015 keinen Rückgriff nehmen könnte. Eine Verpflichtung des Geschädigten hierzu lässt sich jedoch aus § 254 Abs. 2 BGB nicht herleiten, weil der Schaden nicht gemindert, sondern nur verlagert würde. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Inanspruchnahme des Schädigers anstatt der Kaskoversicherung jedoch unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) sein, so wenn der Geschädigte dem Fahrer vor Antritt der Fahrt erklärt hat, der Wagen sei kaskoversichert oder wenn der Fahrer sich auf Bitten des Eigentümers und in dessen Interesse ans Steuer gesetzt hat.204

25.110

197 Vgl. BGH v. 5.7.1963 – VI ZR 218/62, VersR 1963, 1161. 198 BGH v. 26.5.1988 – III ZR 42/87, NJW 1989, 290; OLG Köln v. 20.3.2012 – 15 U 170/11, DAR 2012, 333. 199 OLG Schleswig v. 11.10.1966 – 1 U 27/66, VersR 1967, 68. 200 BGH v. 26.5.1988 – III ZR 42/87, NJW 1989, 290, 292. 201 OLG München v. 24.1.1966 – 10 U 1976/63, VersR 1966, 668; Schmalzl VersR 1992, 677 m.w.N. 202 OLG München v. 2.3.1984 – 10 U 3850/83, VersR 1984, 1054. 203 LG Limburg v. 14.2.1997 – 4 O 252/95, NZV 1997, 444. 204 BGH v. 18.3.1986 – VI ZR 213/84, NJW 1986, 1813; LG Osnabrück v. 6.10.1993 – 6 S 59/93, DAR 1994, 33.

Greger | 667

§ 25 Rz. 25.111 | Mitverantwortung des Geschädigten

c) Inanspruchnahme eines Mietfahrzeugs 25.111

Hierzu kann der Verletzte dann, wenn sein Einkommen oder Gewerbebetrieb bei Fehlen eines Kfz wirtschaftlich nachteilig beeinflusst werden würde, für die Zeit bis zum Abschluss der Reparatur oder dem Eintreffen des Ersatzfahrzeugs verpflichtet sein (s. Rz. 28.4). Sind Gütertransporte auszuführen und ist das hierfür vom Unternehmer eingesetzte Fahrzeug betriebsunfähig geworden, so sind die Dienste eines Güterbeförderungsunternehmens in Anspruch zu nehmen. Einzelheiten zur Schadensminderungspflicht bei Inanspruchnahme eines Mietwagens s. Rz. 28.14.

d) Durchführung der Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung 25.112

Der Geschädigte ist nicht verpflichtet, die Restitution dem Schädiger zu überlassen, auch wenn dies, z.B. wegen dessen Berechtigung zum Vorsteuerabzug, wirtschaftlicher wäre.205 Verzögert er die Wiederherstellung, geht dies i.d.R. schon deswegen zu seinen Lasten, weil er nur den zur Herstellung erforderlichen Betrag verlangen kann (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB). Er darf das Unfallfahrzeug auch bei einer Meinungsverschiedenheit mit dem Haftpflichtversicherer über den richtigen Reparaturweg nicht längere Zeit unrepariert herumstehen lassen.206 Keinen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht stellt es aber dar, wenn der Geschädigte eine angemessene Überlegungsfrist hinsichtlich der Art des Schadensausgleichs (Reparatur oder Ersatzbeschaffung) in Anspruch nimmt (s. Rz. 28.23). Kein Kraftfahrer ist verpflichtet, die Reparatur selbst durchzuführen, außer wenn er den Wartungsdienst und Reparaturen an seinen Fahrzeugen selbst vorzunehmen pflegt und hierfür eine eigene Werkstätte unterhält, in der auch die durch den Unfall hervorgerufenen Schäden ohne Schwierigkeit behoben werden können (s. Rz. 27.49 f.). Für Pflichtwidrigkeiten der Reparaturwerkstätte bei der Ausführung des Reparaturauftrags hat der Geschädigte nicht einzustehen; § 278 BGB ist nicht anwendbar (s. Rz. 27.47). Die erforderlichen Sachverständigenkosten kann der Geschädigte i.d.R. durch Vorlage der Rechnung mit indizieller Wirkung darlegen; um eine Verletzung der Schadensminderungspflicht geltend zu machen, müsste der Haftpflichtige darlegen, dass der Geschädigte Maßnahmen unterlassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Schadensminderung ergriffen hätte.207

e) Heilbehandlung und Operation 25.113

Der Verletzte hat sich nach dem Unfall unverzüglich in ärztliche Behandlung zu begeben, sofern die Körperschäden nicht ganz geringfügig sind.208 Tut er das nicht, so bekommt er Schadensersatz, auch Ersatz für Mehraufwendungen durch Pflegebedürftigkeit und Ersatz des Verdienstausfalls nur für Schäden und Behinderungen, die trotz der ärztlichen Behandlung entstanden oder verblieben wären.

25.114

Von dem Verletzten muss verlangt werden, dass er, soweit er dazu imstande ist, zur Heilung oder Besserung seiner Krankheit oder Schädigung die nach dem Stande der ärztlichen Wissenschaft sich darbietenden Mittel anwendet; er darf i.d.R. nicht anders handeln, als ein verständiger Mensch, der die Vermögensnachteile selbst zu tragen hat, es bei gleicher Gesund-

205 206 207 208

BGH v. 18.3.2014 – VI ZR 10/13, NJW 2017. 2874. KG v. 2.2.1995 – 12 U 2903/93, NZV 1995, 311. BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, NJW 2014, 1947. BGH v. 4.10.1963 – VI ZR 109/62, VersR 1964, 94.

668 | Greger

IV. Mitverschulden hinsichtlich des Schadensumfangs | Rz. 25.118 § 25

heitsstörung tun würde.209 Allerdings muss – will der Schädiger den Schadensersatzanspruch des Verletzten mindern – im Einzelfall bewiesen sein, dass eine Maßnahme gesundheitsfördernd gewesen wäre, die Schmerzen oder die Entstellung gemindert oder die Bewegungsfähigkeit des Verletzten gebessert hätte. Die Beweislast hierfür trägt der Schädiger;210 hierbei kommen ihm die für den Kausalitätsbeweis geltenden Erleichterungen (sog. Anscheinsbeweis; s. Rz. 41.56 ff.) zugute. Auch medizinisch indizierte Behandlungsweisen, die mit Unannehmlichkeiten oder Risiken behaftet sind, sind nach Maßgabe obiger Grundsätze vom Verletzten hinzunehmen, wie z.B. Streckverband, Gips, Bestrahlungen, Elektroschock, Hormonbehandlung, Antibiotika. Unzumutbar sind lediglich Behandlungen, die so große Schmerzen oder Risiken hervorrufen, dass ein verständiger Mensch sich ihnen auch bei Fehlen eines Ersatzpflichtigen nicht unterziehen würde. Als unzumutbar hat der BGH211 auch das lebenslange Tragen einer Augenklappe angesehen, das zeitweilige Tragen nur dann, wenn es mit nachhaltigen Gesundheitsgefahren für den Verletzten verbunden ist.

25.115

Einer Operation muss sich der Verletzte unterziehen, wenn sie erhebliche Aussicht auf weitgehende Wiederherstellung oder jedenfalls Besserung bietet und nicht mit unverhältnismäßigen Gefahren oder Schmerzen verbunden ist,212 ein gewisses Restrisiko muss freilich, da mit jeder Operation verbunden, hingenommen werden.213 Medizinische Indikation allein reicht nicht.214

25.116

Auch die Behandlung in einer geschlossenen Anstalt (Nervenheilanstalt) ist zumutbar, wenn sie eine Besserung des Gesundheitszustands bewirkt;215 ebenso der Aufenthalt in einem Rehabilitationszentrum.216

25.117

Nur bei Verschulden des Verletzten kann die Ablehnung einer indizierten Heilbehandlung zur Minderung von Schadensersatzansprüchen führen.217 Befindet sich der Verletzte in schlechter körperlicher Verfassung, so ist die hierdurch bedingte Verringerung seiner Entschlusskraft zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, und zwar nicht nur, wenn sie unfallbedingt ist.218 Bei unterschiedlichen Auffassungen zwischen mehreren Ärzten kann dem Verletzten aus seiner Entscheidung gegen eine der strittigen Behandlungsweisen in aller Regel kein Vorwurf gemacht werden.219 Das Gleiche gilt, wenn er sich, ärztlich beraten, einer im Ergebnis wirkungslosen Behandlung unterzogen hat; auch deren Kosten sind also zu ersetzen.

25.118

209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219

RG v. 13.2.1905 – VI 226/04, RGZ 60, 147, 149. A.A. RG v. 13.2.1905 – VI 226/04, RGZ 60, 147, 152 f. (Beweislastumkehr). BGH v. 14.3.1989 – VI ZR 136/88, NZV 1989, 305. BGH v. 4.11.1986 – VI ZR 12/86, VersR 1987, 408 = 559 mit Anm. Deutsch; BGH v. 15.3.1994 – VI ZR 44/93, NZV 1994, 271; OLG Oldenburg v. 28.2.1985 – 1 U 49/83, VersR 1986, 1220; OLG Frankfurt v. 22.10.1992 – 3 U 146/91, NZV 1993, 471 (Zweitoperation). OLG Düsseldorf v. 19.12.1974 – 12 U 174/72, VersR 1975, 1031. BGH v. 15.3.1994 – VI ZR 44/93, NZV 1994, 271. RG v. 13.2.1905 – VI 226/04, RGZ 60, 147, 150. BGH v. 4.12.1969 – III ZR 138/67, VersR 1970, 272. RG v. 12.7.1930 – IX 54/30, RGZ 129, 398, 401 = JW 1931, 1463 mit Anm. Feuchtwanger; dazu Homberger JW 1931, 3268; BGH v. 13.5.1953 – VI ZR 78/52, BGHZ 10, 18. RG v. 15.12.1932 – VIII 425/32, RGZ 139, 131, 135. RG v. 12.7.1930 – IX 54/30, RGZ 129, 398.

Greger | 669

§ 25 Rz. 25.119 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.119

Die Kosten einer Operation oder sonstigen Behandlung müssen, sofern hierfür nicht die Krankenversicherung des Geschädigten (mit der Möglichkeit des Rückgriffs) zunächst aufkommt, vom Ersatzpflichtigen übernommen bzw vorgestreckt werden; andernfalls kann das Unterbleiben einer kostspieligen Maßnahme dem Verletzten nicht als Mitverschulden angerechnet werden.220

25.120

Der Verstoß gegen ärztliche Verhaltensmaßregeln (z.B. Bettruhe, Unterlassen von Rauchen, Sport usw.) begründet ein Verschulden des Verletzten hinsichtlich dadurch hervorgerufener weiterer Gesundheitsbeeinträchtigungen und führt insoweit zum Ausschluss der Verantwortlichkeit des Schädigers. Droht eine die Unfallfolgen verschlimmernde Gewichtszunahme des Verletzten, so hat dieser durch Diätkost und Bewegung sein Gewicht niedrig zu halten.221

25.121

Entsteht aus dem Unfall eine neurotische Fehlhaltung bei dem Verletzten (zur Zurechnungsproblematik s. Rz. 19.23 ff.), so greift § 254 Abs. 2 BGB ein, sofern diese Fehlhaltung durch zumutbaren Willensakt oder geeignete Rehabilitationsmaßnahmen überwunden werden könnte.222 Daran fehlt es, wenn der Geschädigte gerade wegen der Anlage, die zu den psychischen Folgeschäden geführt hat, nicht für eine Therapie motivierbar ist223 oder wenn nachvollziehbare Gründe zur Beendigung der Therapie geführt haben.224 Die Besorgnis beruflicher Nachteile sollte dagegen nicht entschuldigen.225

f) Inanspruchnahme der Krankenkasse 25.122

Hierzu ist der Verletzte dem Schädiger gegenüber im Allgemeinen nicht verpflichtet, denn sie bewirkt für den Schädiger i.d.R. keine Ersparnis, weil die Ersatzansprüche des Verletzten nicht erlöschen, sondern auf den Versicherer übergehen (bei der privaten Krankenversicherung nach § 86 VVG, bei der Sozialversicherung nach § 116 Abs. 1 SGB X).

g) Einsatz der Arbeitskraft des Verletzten 25.123

Der Verletzte ist dem Schädiger gegenüber verpflichtet, die ihm nach dem Unfall verbliebene Arbeitskraft zwecks Minderung seines Verdienstausfalls einzusetzen, soweit ihm dies zugemutet werden kann. Eingehend hierzu s. Rz. 32.102 ff.

h) Einsatz der Arbeitskraft des hinterbliebenen Ehegatten 25.124

Eine Witwe, deren Mann den Familienunterhalt allein bestritten hatte, muss, wenn der Mann durch den Unfall ums Leben gekommen ist, zur Minderung ihrer Ansprüche nach § 10 Abs. 2 StVG eine Arbeit nur dann annehmen, wenn ihr dies nach Alter, Vorbildung und sozialer Stellung zuzumuten ist und sich ihre Pflichten im Haushalt durch den Tod erheblich vermindert haben (Einzelheiten s. Rz. 31.87 ff.).

220 BGH v. 24.10.1961 – VI ZR 23/61, VersR 1961, 1125. 221 OLG Hamm v. 15.6.1959 – 3 U 92/58, VersR 1960, 859. 222 BGH v. 28.11.1961 – VI ZR 42/61, VersR 1962, 280; BGH v. 4.12.1969 – III ZR 138/67, VersR 1970, 272. 223 OLG Hamm v. 1.10.1996 – 27 U 25/95, NZV 1997, 272. 224 BGH v. 10.2.2015 – VI ZR 8/14, NJW 2015, 2246, 2247 (Trennung von den Kindern). 225 A.A. OLG Hamm v. 5.3.1998 – 27 U 59/97, NZV 1998, 413.

670 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.128 § 25

V. Haftungsverteilung 1. Allgemeines Ergibt sich aus den vorstehenden Grundsätzen die Notwendigkeit einer Haftungsteilung, so müssen im nächsten Schritt die Haftungsquoten ermittelt werden. Dies geschieht in der Weise, dass zunächst die für die Gewichtung des Haftungsanteils maßgeblichen Umstände (s. Rz. 25.127 ff.) festgestellt (zu Beweisfragen s. Rz. 25.150 ff.) und sodann gegeneinander abgewogen werden (zu diesem Vorgang der Quotelung s. Rz. 25.155 ff.; Beispiele aus der Rspr. s. Rz. 25.160 ff.).

25.125

Wenn eine kausale Mitverantwortung nur für einzelne Schadensfolgen besteht, ist statt einer Quote für den Gesamtschaden eine gesonderte Quote für die betr. Positionen zu bilden226 (zur Quotelung der Sachverständigenkosten s. Rz. 29.3). Besondere Bedeutung hat dies bei Verstößen gegen die Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB227 oder dann, wenn eine bestimmte Schädigung auf das Unterlassen gebotener Schutzvorkehrungen des Verletzten (z.B. Anlegen des Sicherheitsgurts zurückzuführen ist (s. Rz. 25.83).228 Die zusätzlichen Schadensfolgen gehen freilich nicht unbedingt allein zu Lasten des Verletzten, denn sie sind, vom Fall fehlender Adäquanz abgesehen, durch das haftungsbegründende Ereignis mitverursacht. Es ist dann insoweit gem. § 287 ZPO eine Gesamtquote zu bilden, die beide Mitverantwortungsanteile berücksichtigt und demnach höher ist als die Quote bei den anderen Schadensfolgen; bei Verstößen gegen die Schadensminderungspflicht kann das Mitverschulden sogar derart überwiegen, dass die Haftung des Schädigers für die betr. Verletzungsfolge im Ergebnis völlig entfällt.229

25.126

2. Kriterien und Grundsätze für die Abwägung Nach § 254 BGB richtet sich die Aufteilung (Quotelung) des Schadens in erster Linie danach, inwieweit der Schaden durch den Schädiger oder durch den Verletzten verursacht worden ist. Des Weiteren ist insbesondere das Verschulden der Beteiligten maßgeblich; ggf. sind auch sonstige Begleitumstände in die Waagschale zu werfen. Die Abwägungskriterien müssen feststehen, ggf. also bewiesen werden (s. Rz. 25.151; zur Eventualfeststellung s. Rz. 25.153).

25.127

a) Maß der Verursachung Entscheidend für die Schadensquotelung ist nach § 254 Abs. 1 BGB, inwieweit der Schaden von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (zur Kausalität des Mitverschuldens s. Rz. 25.10), d.h. wessen Verursachungsbeitrag den Schadenseintritt in höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat.230 Bei der Aufstellung der für diese Abwägung erforderlichen Ursachenkette ist nicht etwa auf den Idealfall abzustellen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer

226 Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 560 m.w.N. 227 BGH v. 26.6.1979 – VI ZR 122/78, VersR 1979, 956, 960. 228 BGH v. 12.6.1979 – VI ZR 80/78, VersR 1979, 1104; BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 213/79, NJW 1981, 287. 229 OLG Bremen v. 20.11.1975 – 2 U 31/75, VersR 1976, 558; Lange/Schiemann § 10 XII 6 g; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 107. 230 BGH v. 12.7.1988 – VI ZR 283/87, VersR 1988, 1238 m.w.N.; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 108 f.; Staudinger/Schiemann § 254 Rz. 112 f.; Lange/Schiemann § 10 XII 1; a.A. Rother VersR 1983, 793, der allein auf das Maß des Verschuldens abstellen will.

Greger | 671

25.128

§ 25 Rz. 25.128 | Mitverantwortung des Geschädigten

völlig verkehrsgerecht verhalten, sondern darauf, wie sich der Verkehr nach der Lebenserfahrung im Allgemeinen abzuspielen pflegt.

b) Maß des Verschuldens 25.129

Wenngleich bei der Schadensabwägung nach § 254 BGB in erster Linie vom Maß der Verursachung auszugehen ist, bedarf das hierdurch gewonnene Ergebnis doch der Korrektur bei unterschiedlichem Grad des beiderseitigen Verschuldens.231 Trifft besonders grobes Verschulden mit leichter Fahrlässigkeit zusammen, kann die Mitverantwortung auch völlig entfallen; dies gilt erst recht beim Zusammentreffen von erheblichem Verschulden mit bloßer Betriebsgefahr (s. Rz. 25.157). Nur ein nachgewiesenes und als unfallursächlich erwiesenes Verschulden ist bei der Abwägung als solches zu berücksichtigen,232 nicht also vermutetes Verschulden des Fahrzeugführers (§ 18 StVG) oder beim Einsatz eines Gehilfen nach § 831 BGB (s. Rz. 25.151). Ein nachgewiesenes Verschulden des Führers233 oder eines sonstigen Dritten, für den der Geschädigte einzustehen hat (s. Rz. 25.27 ff.), fällt jedoch ins Gewicht, bei einem Folgeunfall (z.B. Kollision mit einem unfallbedingt liegengebliebenen Unfallfahrzeug) auch das zum Erstunfall führende Verschulden.234

25.130

Besondere persönliche Umstände, wie z.B. die beschränkte Einsichtsfähigkeit bei Jugendlichen, Kindern oder Behinderten, sind bei der Bewertung des Verschuldens zu beachten.235 Das Mitverschulden Minderjähriger ist i.d.R. geringer zu bewerten als das entsprechende Mitverschulden Erwachsener (näher s. Rz. 25.257). Eine völlige Freistellung des Unfallgegners von der Gefährdungshaftung wegen grob verkehrswidrigen Verhaltens des Minderjährigen ist daher nur angemessen, wenn der Sorgfaltsverstoß altersspezifisch auch subjektiv besonders vorwerfbar ist.236 Von einem minderjährigen Mofa-Fahrer ist allerdings aufgrund der durchlaufenen Ausbildung (§ 5 FeV) die Beherrschung der grundlegenden Fahrregeln zu erwarten.237

25.131

Bei grober Fahrlässigkeit eines Beteiligten wird dieser (gleich ob Schädiger oder Geschädigter) den Schaden allein zu tragen haben, wenn sie mit minderschwerem Verschulden des anderen (oder bloßer Betriebsgefahr) zusammentrifft und nicht Verursachungsbeitrag oder besonders hohe Betriebsgefahr eine Aufteilung gebieten.238 Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wird, wenn also das nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste, und wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt wurden.239 Hierbei sind – anders

231 BGH v. 29.1.1969 – I ZR 18/67, NJW 1969, 789, 790; BGH v. 20.1.1998 – VI ZR 59/97, NJW 1998, 1137; BGH v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, NJW 2003, 1929, 1931; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 110; Lange/Schiemann § 10 XII 2. 232 BGH v. 24.6.1975 – VI ZR 159/74, VersR 1975, 1121 u. st. Rspr. 233 BGH v. 11.6.2013 – VI ZR 150/12, VersR 2013, 1013. 234 OLG Celle v. 5.8.2020 – 14 U 37/20, r+s 2020, 600. Zur Zurechenbarkeit s. Rz. 3.161. 235 BGH v. 23.10.1952 – III ZR 364/51, NJW 1953, 184; OLG Celle v. 11.10.1990 – 5 U 135/89, NZV 1991, 228. 236 BGH v. 18.11.2003 – VI ZR 31/02, NZV 2004, 187; Grüneberg NJW 2013, 2705, 2708. 237 OLG Saarbrücken v. 3.8.2017 – 4 U 156/16, NJW 2018, 315. 238 Beispiele: BGH VersR 1961, 357; VersR 1963, 438; VersR 1969, 713; VersR 1969, 738. S. auch Erman/Ebert § 254 Rz. 96 f. 239 BGH v. 11.5.1953 – IV ZR 170/52, BGHZ 10, 14, 16. Umfangreiche Rechtsprechungsnachweise s. Rz. 35.124 ff.

672 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.134 § 25

als beim Fahrlässigkeitsbegriff im Allgemeinen – auch subjektive Besonderheiten zu berücksichtigen.240 Grobe Fahrlässigkeit kann z.B. entfallen, wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung und verständliche Verärgerung die Aufmerksamkeit beeinträchtigten.241 Das grobe Mitverschulden und seine Ursächlichkeit muss der Schädiger beweisen.242 Besteht die Pflichtverletzung des Geschädigten nur darin, dass er es unterlassen hat, die Unfallfolgen durch besondere Schutzvorkehrungen abzumildern, darf die Haftung des Unfallverursachers nicht allein deswegen völlig ausgeschlossen werden; primär ist entscheidend, wer die haftungsbegründende Ursache gesetzt hat.243

25.132

c) Betriebsgefahr Sofern es im Einzelfall zu einer Anrechnung der Betriebsgefahr kommt (s. Rz. 25.3 f., 25.87 ff.), ist diese ebenfalls zu gewichten und in Bezug zu den übrigen Kriterien der Haftungsabwägung zu setzen. Dabei kommt es auf die konkrete Betriebsgefahr an, die von dem Kfz bzw. Bahnbetrieb im Augenblick des Unfalls ausging. Das Ausmaß der Betriebsgefahr ist also nicht abstrakt-generell, sondern situationsbezogen zu bestimmen: Der Schwerlastkraftwagen mag im fließenden Verkehr eine größere Betriebsgefahr haben als ein Pkw; ist er aber ordnungsgemäß abgestellt, so geht von ihm eine geringere Gefahr aus als von einem bei Nacht unbeleuchtet auf einer Schnellstraße abgestellten Pkw. Entscheidend ist die Gefahr, die der Betrieb für Dritte hervorruft; bei Motorrädern kann daher eine höhere Betriebsgefahr zwar aus deren Instabilität und Sturzgefahr, nicht aber aus der geringeren Eigensicherung des Fahrers hergeleitet werden.244

25.133

Die Betriebsgefahr fällt bei der Abwägung stärker ins Gewicht, wenn sie durch bestimmte Umstände erhöht wird. Die reine, allein durch die Beteiligung an einem Unfall und das Nichtgelingen des Entlastungsbeweises zum Tragen kommende Betriebsgefahr eines Kfz kann im Einzelfall insbesondere durch folgende Faktoren (Unfallursächlichkeit stets vorausgesetzt) erhöht sein:

25.134

– nachweisbar verkehrswidriges Verhalten des Kraftfahrzeugführers245 (es genügt nicht, dass ein solches lediglich nach § 18 StVG vermutet wird, s. Rz. 25.151); – Fehlverhalten eines bei dem Betrieb des Kfz beschäftigten Dritten – technische Mängel des Kfz; – Eignungsmängel beim Fahrer, z.B. fehlende Fahrerlaubnis;246

240 BGH v. 11.5.1953 – IV ZR 170/52, BGHZ 10, 14, 17; BGH v. 30.11.1971 – VI ZR 100/70, NJW 1972, 475, 476; Sanden VersR 1967, 1013. 241 BGH v. 14.12.1971 – VI ZR 70/70, VersR 1972, 197. 242 BGH v. 24.9.2013 – VI ZR 255/12, NJW 2014, 217. 243 BGH v. 20.6.2013 – III ZR 326/12, VersR 2013, 1322. 244 BGH v. 1.12.2009 – VI ZR 221/08, NZV 2010, 293; LG Hamburg v. 14.9.2018 – 306 O 15/18, NZV 2019, 150 (KW). 245 BGH v. 11.6.2013 – VI ZR 150/12, VersR 2013, 1013. 246 BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 68/84, VersR 1985, 965.

Greger | 673

§ 25 Rz. 25.134 | Mitverantwortung des Geschädigten

– Beschaffenheit des Kfz (z.B. Breite,247 Masse, Erkennbarkeit, gefährliche Anbauten248 oder Besonderheiten bei Elektroantrieb249); – Geschwindigkeit des Kfz (sowohl hohe als auch extrem niedrige, die das Fahrzeug zu einem unerwarteten Verkehrshindernis macht); – langer Bremsweg (vor allem bei Schienenfahrzeugen); – gefahrenträchtiges Fahrmanöver, z.B. Einfahren in bevorrechtigte Schnellstraße,250 Wenden oder Linksabbiegen an unübersichtlicher Stelle.251

25.135

Von Bedeutung sind gefahrerhöhende Umstände nur dann, wenn sie sich nachgewiesenermaßen bei dem Unfall ausgewirkt haben.252 Fährt jemand z.B. ein verkehrsunsicheres Kfz, so hat dieser Umstand außer Betracht zu bleiben, wenn sich der Unfall in gleicher Weise mit einem in Ordnung befindlichen Kfz ereignet hätte;253 desgleichen bleiben alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit und Fahren ohne Fahrerlaubnis unberücksichtigt, wenn sie ohne Auswirkung auf den Unfall geblieben sind.254 Bei Verstößen gegen die StVO kommt es zwar für die Verschuldenszurechnung darauf an, dass der Unfallhergang vom Schutzzweck der Norm erfasst wird (s. Rz. 10.29; 11.7 ff.); die Betriebsgefahr kann jedoch unabhängig davon erhöht sein, sofern nur die Kausalität des Verstoßes für den Unfall gegeben ist. Selbst ein zulässiges Fahrverhalten kann den Haftungsanteil erhöhen, wenn darin besondere, die allgemeine Gefahr des Fahrens mit einem Kfz übersteigende Gefahrenmomente liegen, die zu dem Unfall beigetragen haben.255

25.136

Bei Schienenfahrzeugen ist schon die allgemeine Betriebsgefahr aufgrund des größeren Gefährdungspotentials (erhebliche Masse, langer Bremsweg, Gleisgebundenheit) i.d.R. höher zu bewerten als bei einem Kfz; sie kann zudem durch besondere Umstände, insbesondere Verschulden des Führers, erhöht sein (hierzu s. Rz. 25.236 ff.). Der allgemeinen Betriebsgefahr zuzurechnende Umstände dürfen bei der konkreten Bemessung allerdings nicht nochmals verwertet werden.256

25.137

Beispiele für anlagebedingt gefahrerhöhende Umstände: Zweigleisiger Betrieb ist Regelfall, erhöht daher die Betriebsgefahr nicht; dies gilt auch dann, wenn ein Fußgänger zwischen zwei sich begegnende Züge gerät.257 Die Betriebsgefahr ist aber erhöht, wenn bei eingleisiger Strecke die Schienen nahe dem Gehsteig liegen,258 wenn bei zweigleisiger Anlage die Stra247 OLG Celle v. 4.3.2020 – 14 U 182/19, NJW-RR 2020, 602 (überbreites landwirtschaftliches Gespann). 248 OLG Hamm v. 30.9.1996 – 6 U 63/96, NZV 1997, 230 (Frontbügel). 249 S. dazu Hammel, VersR 2014, 428 ff. 250 OLG Hamm v. 5.2.1997 – 32 U 94/96, MDR 1997, 834. 251 BGH v. 11.1.2005 – VI ZR 352/03, NJW 2005, 1351. 252 BGH v. 10.1.1995 – VI ZR 247/94, NZV 1995, 145. 253 BGH v. 13.5.1958 – VI ZR 102/57, VersR 1958, 541. 254 BGH v. 21.11.2006 – VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; BGH v. 10.1.1995 – VI ZR 247/94, NZV 1995, 145; OLG Saarbrücken v. 17.6.1994 – 3 U 951/93, NZV 1995, 23; OLG Saarbrücken v. 29.7.2003 – 3 U 691/02-68, VersR 2004, 621; OLG Hamm v. 22.11.1993 – 6 U 154/93, NZV 1994, 319; Berger VersR 1992, 168, 169; a.A. OLG Celle v. 10.3.1988 – 5 U 24/87, VersR 1988, 608; OLG Hamm v. 8.3.1990 – 27 U 368/89. NZV 1990, 393; zur Beweisproblematik s. Rz. 25.151. 255 BGH v. 11.1.2005 – VI ZR 352/03, NJW 2005, 1351; Nugel NJW 2013, 193, 195. 256 BGH v. 16.10.2007 – VI ZR 173/06, NZV 2008, 79 mit Anm. Greger. 257 BGH v. 30.4.1963 – VI ZR 158/62, VersR 1963, 874 = 1964, 88 mit Anm. Böhmer. 258 BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 203/60, VersR 1961, 908.

674 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.140 § 25 ßenbahn in einer Einbahnstraße auch in der Gegenrichtung fährt,259 wenn bei einem Schwenk der Gleise auf die Fahrbahn die Abschirmung des dortigen Verkehrs durch eine Ampel bei Durchfahren der davor liegenden Haltestelle nicht ausgelöst wird,260 wenn ein Gleis am rechten Fahrbahnrand so in der Fahrbahn liegt, dass ein Kraftfahrer, der die Gefährlichkeit der Stelle nicht kennt, nachts mit der entgegenkommenden Straßenbahn frontal zusammenprallt261 oder wenn die Straßenbahn den Mittelpunkt eines Kreisverkehrs durchquert und durch Verkehrszeichen die Vorfahrt vor dem Kreisverkehr erhalten hat.262 Erhöht wird die Betriebsgefahr der Straßenbahn auch durch Gefälle oder durch Schlüpfrigkeit der Schienen.263 Der Vorrang der Straßenbahn nach § 9 Abs. 3 StVO muss an ampelgeregelten Kreuzungen nicht durch gesonderte Lichtzeichen für Linksabbieger abgesichert werden.264

Bei Eisenbahnen wirken Bahnübergänge ohne Sicherung (Schranken, Blinklicht) oder Beleuchtung gefahrerhöhend, sofern sich der Mangel im konkreten Fall ausgewirkt hat.265 Weitere Beispiele: Sichthindernisse an einem ungesicherten Bahnübergang;266 mangelhaft beleuchtete Schranke;267 hohe Hecke am Bahndamm;268 sehr starker Verkehr auf der die Bahn kreuzenden Straße.269

25.138

Außerhalb des Bereichs der Gefährdungshaftung gibt es auch keine anrechenbare Betriebsgefahr. Bei der Abwägung bleibt also die „Betriebsgefahr“ eines Fahrrads oder Pferdefuhrwerks auch dann unberücksichtigt, wenn sie entscheidend den Unfallablauf bestimmt hat. Dasselbe gilt für Kfz, die nicht schneller als 20 km/h fahren können und für die daher nach § 8 StVG die Gefährdungshaftung nach § 7 StVG nicht eingreift.270

25.139

d) Sonstige Umstände Sonstige Umstände, wie z.B. verwandtschaftliche Beziehungen, Gefälligkeit, Übernahme einer besonderen Gefahr im Interesse des Schädigers,271 können allenfalls in Ausnahmefällen bei der Schuldabwägung Berücksichtigung finden. Kein Raum ist bei der Haftungsaufteilung nach § 254 BGB aber für bloße Billigkeitserwägungen. So dürfen z.B. die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten, die Unfallfolgen oder das Bestehen von Versicherungsschutz nicht als Abwägungskriterien herangezogen werden.272 Auszugehen ist von dem Grundsatz, dass für Begründung oder Ausschluss einer Mithaftung keine anderen Kriterien gelten können als 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272

BGH v. 23.9.1966 – VI ZR 20/65, VersR 1966, 1142. OLG Hamm v. 12.8.1999 – 6 U 56/99, NZV 2000, 212. BGH v. 17.1.1960 – VI ZR 74/60, VersR 1961, 234. A.A. OLG Hamburg v. 29.3.1966 – 7 U 363/65, VersR 1967, 411; s. auch BGH v. 15.11.1966 – VI ZR 280/64, VersR 1967, 138. OLG Hamburg v. 5.12.1967 – 7 U 104/67, VersR 1968, 975. OLG Hamm v. 13.4.2018 – 7 U 36/17, NJW-RR 2018, 1427. BGH v. 5.5.1956 – VI ZR 47/55, VersR 1956, 490; BGH v. 11.1.1957 – VI ZR 233/55, VersR 1957, 166. RG VAE 1936, 561. RG VR 1935, 325. RG VAE 1938, 195. RG DAR 1929, 396. S. aber BGH v. 16.1.1953 – VI ZR 60/52, NJW 1953, 579 LS; BGH v. 22.10.1955 – VI ZR 203/ 54, VRS 9, 427 zu Kleinkrafträdern. OLG Hamm v. 25.2.1981 – 11 U 128/80, VersR 1983, 275. BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 51/76, NJW 1978, 421, 422; Erman/Ebert § 254 Rz. 91; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 116; Lange/Schiemann § 10 XII 5; Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden (1990) S. 76 f.; teilweise a.A. Schlierf NJW 1965, 676; Böhmer MDR 1962, 442.

Greger | 675

25.140

§ 25 Rz. 25.140 | Mitverantwortung des Geschädigten

für Begründung oder Ausschluss einer Haftung nach außen. Der Umstand, dass der Unfall bei rechtmäßigem Alternativverhalten weniger schwere Folgen gehabt hätte, ist nicht im Wege einer quotenmäßigen Aufteilung des Gesamtschadens, sondern gem. § 287 ZPO zu berücksichtigen (s. Rz. 10.31).

3. Abwägung bei Mehrheit von Ersatzpflichtigen a) Beteiligung mehrerer Ersatzpflichtiger an einer Schädigung 25.141

Ist der Verletzte durch den Betrieb mehrerer Kfz oder durch ein Kfz und einen anderen Schädiger gleichzeitig geschädigt worden, so kann er die Kfz-Halter, wenn sie den Entlastungsbeweis nicht führen können, und ggf. den weiteren Schädiger als Gesamtschuldner auf vollen Schadensersatz in Anspruch nehmen (§ 840 Abs. 1 BGB analog). Die Abwägung nach § 9 StVG, § 254 BGB bereitet dann u.U. Schwierigkeiten, weil der Verursachungsbeitrag des Verletzten im Verhältnis zum einen Schädiger höher oder geringer sein kann als im Verhältnis zum anderen oder im Verhältnis zur Gesamtheit der Schädiger (zum Sonderfall der Haftungseinheit zwischen mehreren Schädigern s. Rz. 25.145). Ist die Schädigung durch die mehreren Ersatzpflichtigen nicht gleichzeitig erfolgt (sog. Nebentäterschaft), sondern bei aufeinanderfolgenden Ereignissen, wie sie bei Serien- oder Folgeunfällen gegeben sind, haftet der Zweitschädiger nur für den Schaden, der durch seinen Beitrag noch zusätzlich hervorgerufen wurde; der Verletzte kann von ihm daher nur den Zusatzschaden ersetzt verlangen und hat diesen, sofern der Erstschädiger nicht nach den Regeln der adäquaten Kausalität als Gesamtschuldner mithaftet, gesondert mit ihm abzurechnen und ggf. auch eine gesonderte Mitverschuldensabwägung durchzuführen (s. Rz. 3.165; zum Innenausgleich s. Rz. 39.25).

25.142

Nach Rechtsprechung und h.L. ist die Gewichtung des Mitverschuldens bei der Nebentäterschaft nicht durch Einzelabwägung (im Verhältnis Geschädigter – einzelner Schädiger), sondern i.V.m. einer Gesamtschau (Verhältnis Geschädigter – die Schädiger) vorzunehmen273 (zu den prozessualen Auswirkungen s. Rz. 40.39). Der Unterschied zwischen beiden Methoden liegt darin, dass z.B. bei gleich großem Verursachungsbeitrag der zwei Schädiger und des Geschädigten dieser bei Einzelabwägung die Hälfte, bei Gesamtschau aber zwei Drittel seines Schadens ersetzt bekommt. Dies ist allerdings nur die Quote, die ihm i. Erg. insgesamt zustehen soll; den einzelnen Schädiger soll er nach dieser Ansicht gleichwohl höchstens bis zu dem Betrag in Anspruch nehmen können, der sich bei Einzelabwägung ergäbe. Im Beispielsfall könnte er also vom Schädiger A maximal 50 % verlangen, während er sich wegen der restlichen 16⅔ % (Differenz zu zwei Dritteln) an B halten könnte. Ein Gesamtschuldverhältnis zwischen den Schädigern wird bei dieser Konstruktion nicht angenommen werden können, weil sonst die Leistung des einen Schädigers die Schuld des anderen nach § 422 BGB zum Erlöschen bringen würde, also nicht zu erklären wäre, wieso dieser den überschießenden Betrag zu leisten hat.274 Rechtsprechung und h.L. begegnen diesem Einwand mit einer Aufspaltung der von jedem Schädiger zu erbringenden Leistung in einen Gesamtschuld- und einen Einzelschuldanteil,275 doch erscheinen derartige Versuche, die jeder gesetzlichen Grundlage

273 BGH v. 16.6.1959 – VI ZR 95/58, BGHZ 30, 203; BGH v. 13.12.2005 – VI ZR 68/04, NJW 2006, 896 = r+s 2006, 169 mit Anm. Lemcke; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 119 ff.; Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden (1990) S. 85 ff.; Eibner JZ 1978, 50; Kirchhoff NZV 2001, 361. 274 Vgl. Lange/Schiemann § 10 XIII 3 b. A.A. BGH v. 16.6.1959 – VI ZR 95/58, BGHZ 30, 203, 212. 275 So BGH v. 29.6.1959 – II ZR 3/58, VersR 1959, 608; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 120; Steffen DAR 1990, 41, 43; vgl. auch Eibner JZ 1978, 50. In BGH v. 16.10.1990 – VI ZR 65/90, NZV 1991, 109 wurde von der Aufspaltung abgesehen.

676 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.145 § 25

entbehren, als mehr oder weniger willkürliche Hilfskonstruktionen, die lediglich dazu dienen, die Konsequenzen einer verfehlten Ausgangsposition auszuräumen.276 Richtigerweise ist das Außenverhältnis der Nebentäter daher stets nach einer einheitlichen, nach Gesamtabwägung zu ermittelnden Haftungsquote zu bestimmen, auf die jeder als Gesamtschuldner in Anspruch genommen werden kann.277 Die Bedenken des BGH (die wohl den Anlass für die oben dargestellte Rechtsansicht gebildet haben), dass es bei Nebentäterschaft – anders als bei gewollter Mittäterschaft – nicht vertretbar sei, den Schädigern ihre Tatbeiträge wechselseitig zuzurechnen278 und sie das Risiko der Insolvenz eines von ihnen beim Innenausgleich tragen zu lassen, erscheinen unbegründet. Bei fehlender Mitverantwortung des Geschädigten ist anerkannt, dass Nebentäter grundsätzlich als Gesamtschuldner haften,279 also jeder auf den vollen Betrag mit dem Risiko, den Ausgleichsanspruch gegen die Mitschädiger realisieren zu können. Die Tatsache, dass den Geschädigten eine Mitverantwortung an dem Schaden trifft, verändert die Situation nicht so entscheidend, dass diese Konsequenz nunmehr unerträglich wäre. Es erscheint nicht gerechtfertigt, den Geschädigten gleichsam einem weiteren Nebentäter gleichzustellen und an dem Risiko der Insolvenz eines der Schädiger zu beteiligen.280 Immerhin ist er durch ein Ereignis, zu dem jeder der Nebentäter eine Bedingung gesetzt hat, geschädigt worden; das ihn treffende Mitverschulden aber kann mit einem haftungsbegründenden Verschulden nicht auf eine Stufe gestellt werden. Es erscheint daher auch nicht geboten, den Geschädigten im Falle der Insolvenz eines Nebentäters in den Gesamtschuldnerausgleich einzubeziehen und proportional zu seiner Quote zu beteiligen.281 Der mitverantwortliche Geschädigte braucht vielmehr außer der Kürzung seines Ersatzanspruchs keine weiteren Nachteile hinzunehmen.

25.143

Im oben genannten Beispielsfall haften die beiden Schädiger folglich auf ⅔ des Schadens als Gesamtschuldner; die Zurückführung ihrer Haftung auf je ⅓ vollzöge sich ausschließlich im Wege des Innenausgleichs nach § 426 BGB. Nach h.M. würden die Beklagten dagegen zur Zahlung von 50 % des Schadens als Gesamtschuldner und weiteren 16⅔ % je als Einzelschuldner verurteilt.282

25.144

b) Beteiligung mehrerer Ersatzpflichtiger an einer einheitlichen Schadensursache Bei der Gesamtabwägung des Mithaftungsanteils des Verletzten gegen die Beiträge mehrerer Schädiger ist zu berücksichtigen, dass nicht in jedem Fall für jeden einzelnen Ersatzpflichtigen eine eigene Quote anzusetzen ist. Dies wäre nämlich, da mit zunehmender Zahl der Nebentäter der vom Geschädigten selbst zu tragende Haftungsanteil immer geringer wird, dann unangemessen, wenn die Mitverantwortlichkeit einzelner Nebentäter sich auf ein und denselben

276 Kritisch zur Rspr. des BGH auch Lange/Schiemann § 10 XIII 3 c; Keuk AcP 168, 175 ff.; Ries AcP 177, 543, 551; Koch NJW 1967, 181; Reinelt JR 1971, 177. 277 Lange/Schiemann § 10 XIII 3 c; Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 626 ff. 278 Vgl. BGH v. 13.12.1994 – VI ZR 283/93, VersR 1995, 427, 428. 279 BGH v. 13.5.1955 – I ZR 137/53, BGHZ 17, 214, 221; BGH v. 16.6.1959 – VI ZR 95/58, BGHZ 30, 203, 208; Erman/Schiemann § 840 Rz. 4. 280 So aber Steffen DAR 1990, 41, 42; a.A. Keuk AcP 168, 175 ff.; Koch NJW 1967, 181 ff. 281 A.A. Lange/Schiemann § 10 XIII 3 c m.w.N. 282 Zu weiteren Berechnungsbeispielen s. Erman/Ebert § 254 Rz. 103; Steffen DAR 1990, 41, 45.

Greger | 677

25.145

§ 25 Rz. 25.145 | Mitverantwortung des Geschädigten

Verursachungsbeitrag bezieht, wie dies z.B. im Verhältnis zwischen Geschäftsherrn und Verrichtungsgehilfen283, zwischen Halter und Fahrer eines Kfz,284 zwischen dem türöffnenden Insassen sowie Halter und Fahrer des Kfz285 oder zwischen den Haltern von Anhänger und Zugfahrzeug286 der Fall ist, nach fragwürdiger Rechtsprechung auch zwischen Tätern, die eine einheitliche Schadensursache geschaffen haben, bevor sie mit dem Beitrag des Ersatzberechtigten zusammentraf.287 Es liegt auf der Hand, dass in diesen Fällen der Haftungsanteil des Geschädigten nicht davon abhängen kann, wie viele Personen für die Schaffung der einheitlichen Gefahr verantwortlich sind. Diese Personen sind daher zu einer Haftungseinheit zusammenzufassen, die in die Gesamtschau nur mit einer Quote eingeht. Es handelt sich hierbei aber nur um eine Frage der richtigen Quotierung innerhalb der Gesamtschau nach Rz. 25.142 ff.288 Ansonsten gelten für die Haftung die dort dargestellten Grundsätze in gleicher Weise. Auch nach dem zwischen gesamt- und einzelschuldnerischer Haftung differenzierenden Konzept der Rechtsprechung haften die Mitglieder der Haftungsgemeinschaft für ihre gemeinsame Quote – aber entgegen der hier vertretenen Meinung (s. Rz. 25.143) nur für diese289 – stets als Gesamtschuldner. Zu den Ausgleichsansprüchen zwischen ihnen s. Rz. 39.31.

c) Beteiligung eines oder mehrerer Schädiger und des Geschädigten an einer einheitlichen Schadensursache 25.146

In diesem Fall soll nach der Rechtsprechung des BGH eine Zurechnungseinheit zwischen dem oder den Ersatzpflichtigen und dem Geschädigten bestehen, weil diese für einen einheitlichen Verursachungsbeitrag gemeinsam verantwortlich sind. Folge hiervon ist, dass dieser Beitrag bei der Gesamtschau nur einmal angesetzt werden kann, d.h. im Verhältnis zu dem oder den außerhalb der Zurechnungseinheit stehenden Schädiger(n) gestaltet sich die Haftung so, als würde der Tatbeitrag des anderen Mitschädigers dem Geschädigten zugerechnet; zwischen diesen muss ein gesonderter Ausgleich innerhalb der Einheit stattfinden.290 Eine Gesamtschuld kann hierbei nur innerhalb und außerhalb der Zurechnungseinheit angenommen werden, nicht aber zwischen dem (den) zur Einheit gehörenden und dem (den) außenstehenden Schädiger(n).291 Damit widerspricht die Lehre von der Zurechnungseinheit § 840 Abs. 1 BGB und ist abzulehnen.292 Es ist deshalb auch in diesen Fällen eine Gesamtabwägung

283 BGH v. 25.4.1989 – VI ZR 146/88, NZV 1989, 349, 351. 284 BGH v. 26.4.1966 – VI ZR 221/64, NJW 1966, 1262; BGH v. 13.12.2005 – VI ZR 68/04, NJW 2006, 896, 897. 285 A.A. Lemcke r+s 2011, 176. 286 BGH v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08, BGHZ 187, 211 Tz. 18, 27 ff. 287 Vgl. BGH v. 29.9.1970 – VI ZR 74/69, BGHZ 54, 283: mehrere Personen waren dafür verantwortlich, dass der Anhänger, auf den der Verletzte auffuhr, nachts unbeleuchtet auf der Straße stand; BGH v. 22.4.1980 – VI ZR 134/78, VersR 1980, 770: ein Schädiger hat ein Seil über die Straße gespannt, der zweite unterlassen, es zu kennzeichnen. Bedenken gegen das Verschmelzen an sich selbständiger Tatbeiträge mehrerer Schädiger bei Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 627 f. m.w.N. 288 Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 627 m.w.N. 289 Vgl. BGH v. 13.12.1994 – VI ZR 283/93, VersR 1995, 427, 428. 290 BGH v. 18.9.1973 – VI ZR 91/71, BGHZ 61, 213; BGH v. 18.4.1978 – VI ZR 81/76, VersR 1978, 735. 291 BGH v. 16.4.1996 – VI ZR 79/95, NZV 1996, 359. 292 S. auch Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 628 ff. m.w.N.

678 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.149 § 25

mit gesamtschuldnerischer Haftung der Schädiger (s. Rz. 25.143) vorzunehmen. Zum Ausgleichsanspruch zwischen den Schädigern s. Rz. 39.32.

25.147

Beispiele für die Annahme einer Zurechnungseinheit aus der Rechtsprechung: Ein Polizeibeamter steht mit einem betrunkenen Kraftfahrer, den er soeben gestellt hat und der Widerstand leistet, auf der Straße (einheitlicher Verursachungsbeitrag) und wird dort von einem unaufmerksamen Fahrer erfasst;293 ein Pkw-Fahrer veranlasst die später Geschädigte, sein unbeleuchtetes Pannenfahrzeug bei Dunkelheit auf der Straße zu schieben, ein anderer fährt auf;294 ein Kind wird durch Verschulden eines Kraftfahrers und eines Aufsichtspflichtigen verletzt (Aufsichtspflichtiger und Kind bilden eine Zurechnungseinheit);295 Zusammenstoß zwischen einem Pkw und einem Kind, das, mit einem Spielkameraden durch ein Seil verbunden, von diesem über die Straße gezogen wurde (die beiden Kinder bilden eine Zurechnungseinheit).296 Auch beim Serienauffahrunfall sind entsprechende Konstellationen denkbar (s. Rz. 25.171). Zu Unrecht wurde dagegen eine Zurechnungseinheit in folgendem Fall297 angenommen: Mehrere Pkw waren mit einem auf der Autobahn stehenden Lkw kollidiert und in der Nähe liegengeblieben. Anschließend fuhr ein anderer Lkw auf den Lkw auf; in dieses Unfallgeschehen wurden auch die liegengebliebenen Pkw verwickelt. In diesem Fall lagen gesonderte Unfallereignisse vor. Die Auffahrunfälle mit dem Pkw hatten lediglich dazu geführt, dass diese sich noch im Bereich der Unfallstelle befanden; sie hatten aber keinen Verursachungsbeitrag zu dem Auffahrunfall des Lkw geleistet. Daher bestand kein Anlass, zwischen den Pkw-Fahrern und dem Halter des stehenden Lkw eine Zurechnungseinheit anzunehmen.298

d) Alternativtäterschaft Nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB, der auch im Bereich der Gefährdungshaftung gilt, kann das Gericht, wenn sich mehrere in anspruchsbegründender Weise verhalten haben, aber nicht festzustellen ist, wessen Verhalten für den Unfall kausal war, jeden der Beteiligten zum Schadensersatz verurteilen (s. Rz. 3.101, 10.35 ff.). Trifft in einem solchen Fall den Geschädigten ein Mitverschulden, so kann es sein, dass dieses gegenüber den (gedachten) Verursachungsbeiträgen der Alternativschädiger unterschiedlich ins Gewicht fällt. Es kann aber jeder nur zu der geringsten (hypothetischen) Haftungsquote verurteilt werden (s. Rz. 10.44). Zur Möglichkeit einer Wahlfeststellung bei feststehender, im Einzelnen aber nicht aufklärbarer Verantwortlichkeit s. Rz. 25.153.

25.148

e) Einfluss von Haftungsfreistellungen Zu der Frage, ob sich eine Haftungsprivilegierung bei einem der Schädiger auf den Ersatzanspruch des Geschädigten gegen den anderen auswirkt, s. Rz. 39.16 ff.

293 BGH v. 18.9.1973 – VI ZR 91/71, BGHZ 61, 213. 294 BGH v. 16.4.1996 – VI ZR 79/95, NZV 1996, 359. 295 BGH v. 18.4.1978 – VI ZR 81/76, VersR 1978, 735; OLG Stuttgart v. 12.7.1991 – 2 U 190/90, NZV 1992, 185; krit. Sundermann JZ 1989, 927, 930. 296 BGH v. 5.10.1982 – VI ZR 72/80, VersR 1983, 131 = 634 mit Anm. Hartung. 297 OLG Frankfurt v. 18.9.1986 – 1 U 124/85, VersR 1988, 750. 298 So in einem ähnlichen Fall auch OLG Hamm v. 31.8.1998 – 6 U 15/98, NZV 1999, 128.

Greger | 679

25.149

§ 25 Rz. 25.150 | Mitverantwortung des Geschädigten

4. Beweis der Abwägungskriterien a) Beweislast 25.150

Für ein behauptetes Mitverschulden des Geschädigten trägt der Ersatzpflichtige die Beweislast. Er muss auch den Verursachungsbeitrag des Geschädigten nach Grund und Gewicht beweisen.299

25.151

Die für die Erhöhung der mitwirkenden Betriebsgefahr maßgeblichen Umstände hat der Gegner, der sich darauf beruft, zu beweisen,300 desgleichen ihre Ursächlichkeit für den Unfall.301 Ist der Unfallhergang ungeklärt, hätte sich ein erhöhender Faktor (z.B. Verkehrsunsicherheit des Kfz, Alkoholisierung des Fahrers) aber nur bei einer der möglichen Varianten ausgewirkt, so kann er nicht berücksichtigt werden.302 Auch ein lediglich vermutetes Verschulden (z.B. § 831 BGB, § 18 StVG) reicht nicht,303 wohl aber das durch Anscheinsbeweis (s. Rz. 41.56 ff.) erwiesene Verschulden. Die Darlegungs- und Beweislast für diese Umstände trägt der jeweilige Unfallgegner unabhängig davon, ob er sich in der Position des Anspruchstellers oder des in Anspruch Genommenen befindet.

b) Beweismaß 25.152

Die für die Haftungsverteilung als Grundlage herangezogenen Tatsachen müssen feststehen, d.h. im Prozess nach § 286 ZPO bewiesen sein;304 Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten oder Unterstellungen genügen nicht. Auch die Beweiserleichterung nach § 287 ZPO greift insoweit nicht ein. Ein Anscheinsbeweis (s. Rz. 41.56 ff.) kommt dann in Betracht, wenn bei entsprechender Sachlage im Bereich der Haftungsbegründung ein solcher eingreifen würde, also nicht für die Feststellung grober Fahrlässigkeit (s. Rz. 41.64), wohl aber u.U. für die Frage, ob das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts für eine Verletzung ursächlich war (s. Rz. 25.80). Für den Kausalitätsbeweis gelten die auch sonst zuzubilligenden Erleichterungen, d.h. die Beschränkung auf den Nachweis der nach der Lebenserfahrung anzunehmenden Kausalität (s. Rz. 41.68). § 287 ZPO ist hingegen, wie bei der haftungsbegründenden Kausalität (s. Rz. 41.52), nicht auf die Frage anwendbar, ob ein Mitverschulden des Geschädigten zu dessen Primärschädigung beigetragen hat,305 sondern erleichtert nur die Feststellung, wie es sich auf die daraus erwachsenen Schadensfolgen ausgewirkt hat. Bei Verletzung der Schadensminderungspflicht kann § 287 ZPO auf die Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen der Obliegenheitsverletzung und der Erhöhung des Schadensumfangs angewendet werden.306

299 BGH v. 24.9.2013 – VI ZR 255/12, NJW 2014, 217; MünchKomm-BGB/Oetker § 254 Rz. 145 m.w.N. zur st. Rspr. 300 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 2/70, NJW 1971, 2030, 2031; BGH v. 27.6.2000 – VI ZR 126/99, NZV 2000, 466, 468. 301 BGH v. 10.1.1995 – VI ZR 247/94, NZV 1995, 145; BGH v. 2.7.6.2000 – VI ZR 126/99, NZV 2000, 466, 468. 302 A.A. OLG Celle v. 10.3.1988 – 5 U 24/87, VersR 1988, 608. 303 BGH v. 20.3.2012 – VI ZR 3/11, NJW 2012, 2425. A.A. Staudinger/Schiemann § 254 Rz. 122; Looschelders Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999) S. 584 f.; Belling/Riesenhuber ZZP 108 (1995) 455 ff: Ersatzpflichtiger muss sich auch hinsichtlich des Gewichts seines Beitrags (graduell) entlasten. 304 BGH v. 7.2.1968 – VIII ZR 139/66, VersR 1968, 646; Erman/Ebert § 254 Rz. 115 m.w.N. 305 So aber BGH v. 7.2.1968 – VIII ZR 139/66, NJW 1968, 985. 306 BGH v. 24.6.1986 – VI ZR 222/85, VersR 1986, 1208.

680 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.155 § 25

c) Wahlfeststellung Beruht die Inanspruchnahme des Schädigers auf einer Wahlfeststellung (d.h. es kann nicht festgestellt werden, welche von mehreren ausschließlich in Betracht kommenden Verhaltensweisen er verwirklicht hat, jede von ihnen begründet aber seine Haftung), so kann für die Gewichtung eines Mitverschuldens des Verletzten entsprechend oben genannter Beweislastverteilung nur von demjenigen Geschehensablauf ausgegangen werden, der ihn weniger belasten würde. Umgekehrt darf jedoch der Verursachungsbeitrag des Schädigers nicht auf der Grundlage dieses nur unterstellten Unfallverlaufs bemessen werden, denn auch ihm darf nur sein erwiesener Tatbeitrag zur Last gelegt werden, d.h. die für ihn günstigere Alternative.307 Hier müssen bei der Abwägung demnach zweierlei Schadensabläufe zugrunde gelegt werden, die sich tatsächlich nicht miteinander vereinbaren lassen; es werden Größen zueinander in Beziehung gesetzt, zwischen denen keine reale Beziehung besteht. In solchen Fällen gleichwohl einen „gemeinsamen Nenner“ zu finden, wird nur durch einen vermittelnden Schadensausgleich nach Billigkeit möglich sein. Dies ist unbefriedigend, aber unausweichliche Folge der Zulassung einer Alternativfeststellung zum Haftungsgrund (zur ähnlichen Problematik bei § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB s. Rz. 25.148).

25.153

d) Haftungsquote Für die Bestimmung der Haftungsquote kann ein voller Beweis nicht verlangt werden. So wie dem Verletzten nicht zugemutet werden kann, den Betrag seines Schadens mathematisch exakt zu beweisen, kann auch vom Ersatzpflichtigen nicht verlangt werden, den Haftungsanteil des Verletzten auf einzelne Prozente genau nachzuweisen.

25.154

5. Bezifferung der Quote Ist die Abwägung nach vorgenannten Grundsätzen vollzogen, so setzt das Gericht die Haftungsquoten ziffernmäßig fest, und zwar i.d.R. in Bruchteilen oder in Prozenten (zur abweichenden Praxis beim Schmerzensgeld s. Rz. 33.19). Das Gericht hat hier – wie bei der Schadensbezifferung nach § 287 ZPO – einen gewissen Ermessensspielraum und kann auch zu einer Schätzung greifen.308 Mit Berufung oder Revision kann nur zur Überprüfung gestellt werden, ob die Vorinstanz alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat.309 Bei der Quotelung ist eine gewisse Pauschalierung unabdingbar; allzu feine Abstufungen oder die geringfügige Abänderung vertretbarer Quoten durch das Berufungsgericht würden das Wesen einer Ermessensentscheidung verschleiern und eine unerreichbare mathematische Präzision vortäuschen. Die Quote braucht nicht für alle Schadenspositionen gleich zu sein (s. Rz. 25.126). Für die wechselseitigen Ansprüche aus einem Unfall wird üblicherweise dieselbe Quotierung zugrunde zu legen sein, Ausnahmen sind aber – z.B. aus prozessualen Gründen – möglich.310 Quoten unter 20 % sollten schon deswegen nicht festgesetzt werden, weil ohnehin nur Annäherungswerte gefunden werden können und weil bei derart geringen Haftungsanteilen die

307 BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 51/76, NJW 1978, 421, 422; Lange/Schiemann § 10 XIX. 308 BGH v. 7.2.1968 – VIII ZR 139/66, NJW 1968, 985; Lange/Schiemann § 10 XIX; Klauser JZ 1968, 167, 169; Arens ZZP 88 (1975) 1, 44. 309 BGH NJW 2018, 3095 m.w.N.; OLG Hamm v. 13.5.2003 – 9 U 13/03, NZV 2003, 584; Staudinger/Schiemann § 254 Rz. 119 m.w.N. 310 BGH v. 12.12.2006 – VI ZR 4/06, NJW 2007, 1466, 1467.

Greger | 681

25.155

§ 25 Rz. 25.155 | Mitverantwortung des Geschädigten

Mithaftung völlig hinter dem überwiegenden Verursachungsbeitrag der anderen Seite zurücktreten sollte.311

25.156

Ist der Unfallhergang ungeklärt, lässt sich also keinem Beteiligten ein Verschulden nachweisen und kann auch (beim beiderseitigen Kfz-Unfall) kein Beteiligter den Entlastungsbeweis führen, ergibt sich im Normalfall eine Haftungsquote von 50 % zu Lasten jedes Beteiligten, sofern nicht wegen eines im Unfallgeschehen zur Wirkung kommenden312 gesteigerten Gefahrenpotentials bei einem Fahrzeug eine höhere Quote anzusetzen ist.313 Ist ein nicht mit Gefährdungshaftung Belasteter (z.B. Fußgänger, Radfahrer) beteiligt, dem kein kausales Mitverschulden nachgewiesen werden kann, trifft (abgesehen vom kaum vorkommenden Fall der Entlastung wegen höherer Gewalt, § 7 Abs. 2 StVG) den Kfz-Halter die volle Haftung.314

25.157

Die reine Betriebsgefahr wird gegenüber einer durch Verschulden erhöhten des anderen Unfallbeteiligten üblicherweise mit 20 % angesetzt, bei größeren, schwereren Kfz (Lkw, Busse), soweit dieser Umstand Einfluss auf das Unfallgeschehen hatte, auch höher. Bei grobem Verschulden des Verletzten hat sie i.d.R. völlig zurückzutreten (s. Rz. 25.131). Daran hat die Verschärfung des Entlastungsbeweises nach § 7 Abs. 2 StVG nichts geändert (s. Rz. 3.260). Es ist nicht Sinn der Gefährdungshaftung, dem Verkehrsteilnehmer, der sich selbst grob verkehrswidrig verhalten hat, Schadensersatzansprüche gegen einen anderen zu verschaffen, der lediglich den Entlastungsbeweis nicht zu führen vermag oder nicht optimal auf sein verkehrswidriges Verhalten reagiert hat. Dem durch grobes Eigenverschulden verletzten Verkehrsteilnehmer kann vielmehr angesonnen werden, dem in Anspruch genommenen Kraftfahrzeughalter bzw. -führer ein Verschulden nachzuweisen oder den Schaden zur Gänze selbst zu tragen. Ob ein schwerwiegendes Fehlverhalten vorliegt, bestimmt sich bei einem Unfall im Ausland nach den dort geltenden Verkehrsvorschriften und fällt daher in den irrevisiblen Bereich der Anwendung ausländischen Rechts.315 Ein ganz leichtes Verschulden des Verletzten kann umgekehrt hinter der Betriebsgefahr völlig zurücktreten, wenn deren Verursachungsbeitrag wesentlich überwiegt.

25.158

Bei nachgewiesenem Verschulden beider Beteiligter oder bei sonstigen Unterschieden im Ausmaß der Betriebsgefahr muss individuell gequotelt werden. Die Praxis versucht sich zunehmend mit Quotentabellen für bestimmte Unfallsituationen zu behelfen,316 doch sind solche Zusammenstellungen nur mit Vorbehalten zu gebrauchen, weil sie nicht die Bewertung der individuellen Gegebenheiten des Einzelfalles vereiteln dürfen.317 Immerhin liefern solche Tabellen aber nützliche Anhaltspunkte für die Regulierungs- und Spruchpraxis und können zur Vereinheitlichung und zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten beitragen.

25.159

Derartige Anhaltspunkte soll auch die nachfolgende Rechtsprechungsübersicht liefern. 311 OLG Hamm v. 18.12.1970 – 20 U 114/70, VersR 1971, 914; Staudinger/Schiemann § 254 Rz. 119. 312 Dazu s. BGH v. 27.5.2014 – VI ZR 279/13, VersR 2014, 894, 895 m.w.N. 313 Z.B. OLG Köln v. 30.1.2004 – 19 U 74/03, VersR 2005, 851: Lkw 70 %, Pkw 30 %; eingehend Rebler MDR 2017, 55. 314 BGH v. 19.8.2014 – VI ZR 308/13, NJW 2014, 3300. 315 BGH v. 23.1.1996 – VI ZR 291/94, NZV 1996, 272. 316 Eingehend Grüneberg Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 15. Aufl. 2017; Kuhn Schadensverteilung bei Verkehrsunfällen, 10. Aufl. 2019. Weitere Quotenvorschläge bei Nugel DAR 2008, 548; 2009, 105; 2009, 346; 2009, 721; 2010, 256. 317 Vgl. das Mehrheitsvotum des Arbeitskreises V beim 23. VGT 1985; hierzu Bursch/Jordan VersR 1985, 512, 519.

682 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.162 § 25

6. Einzelfälle a) Unfälle zwischen Kfz im gleichgerichteten Verkehr Anfahren vom Straßenrand Aufgrund der aus § 10 StVO abgeleiteten Sorgfaltsanforderungen gewährt die Rechtsprechung dem Teilnehmer des fließenden Verkehrs, der mit einem vom Straßenrand Anfahrenden kollidiert, i.d.R. volle Entschädigung.318 Eine Mithaftung wird aber z.B. dann bejaht, wenn ihm wesentlich überhöhte Geschwindigkeit nachgewiesen werden kann319 oder wenn er gleichzeitig aus zweiter Reihe anfährt.320 Der Fahrstreifenwechsel eines herankommenden Lastzugs kann zwar auch eine Mithaftung begründen; zu weit geht es aber, dem aus einem Parkstreifen heraus Anfahrenden in einem solchen Fall ⅔ seines Schadens zuzusprechen, zumal wenn er vor dem Anfahren nicht geblinkt hat.321 War das Anfahren für den Spurwechsler nicht erkennbar, haftet der Anfahrende allein.322 Kommt es zum Zusammenstoß mit einem Linienomnibus, der von einer gekennzeichneten Haltestelle anfährt, so ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, weil der Busfahrer trotz seines Vorrechts nach § 20 Abs. 5 StVO auf den fließenden Verkehr zu achten hat.323 Fährt der Omnibus an, ohne zu blinken, kann ihn die volle Haftung treffen.324 Ist ungeklärt, ob der Vorbeifahrende den Vorrang missachtet oder ob der Busfahrer ohne zu blinken oder unachtsam angefahren ist, trifft wegen der höheren Betriebsgefahr des anfahrenden Busses dessen Halter der höhere Haftungsanteil (z.B. ⅔). Auffahren auf vorausfahrendes Fahrzeug Den Auffahrenden trifft die volle Haftung, wenn sich nicht feststellen lässt, dass der Vorausfahrende eine Veranlassung für das Auffahren gegeben hat.325 Auch bei starkem, verkehrsbedingtem Abbremsen des Vorausfahrenden haftet i.d.R. der Auffahrende allein.326 Zur Mit318 BGH VersR 1963, 358 (rückwärtsausfahrender Pkw gegen Moped); OLG Saarbrücken OLGR Saarbrücken 1999, 2 (BAB-Standspur); OLG Köln NZV 2011, 606 (Zurücksetzen aus Parktasche); KG MDR 2018, 209 (auch bei unbefugter Benutzung der Busspur); LG Weiden VersR 1972, 1036 (ohne Blinken). Unverständlich OLG Frankfurt VersR 1999, 864: 75 % bei reiner Betriebsgefahr des anderen Kfz. 319 KG VersR 1985, 478 LS (50 % bei 50 % Überschreitung); s. auch OLG Düsseldorf VersR 1987, 909 (anfahrender und wendender Pkw gegen Kleinkraftrad). 320 KG KGR Berlin 2001, 27 (Müllfahrzeug). 321 So aber OLG Köln VersR 1986, 666 mit abl. Anm. Haarmann. Vgl. dagegen LG Köln VersR 1989, 1161: nur 30 % für geradeaus anfahrendes Taxi bei Kollision mit hinter dem Taxenstand einscherendem Pkw. 322 KG NZV 2008, 413. 323 OLG Düsseldorf VRS 65, 336 (überhöhte Geschwindigkeit, 1:1); OLG Düsseldorf DAR 1990, 462 (Bus nur 20 %, da Pkw sich bei nasser Fahrbahn mit 100 km/h und ohne Bremsreaktion näherte; war bei Anfahren des Busses noch 195 m entfernt); LG Bonn VersR 1996, 1292 (zu spätes Blinken, 1:1). 324 KG NJW 1980, 1856. 325 OLG Düsseldorf NJW 2015, 3586; OLG Karlsruhe VersR 1975, 668; OLG Zweibrücken VersR 1973, 166. Zum Anscheinsbeweis s. Rz. 41.96 ff. 326 OLG Hamm NZV 1998, 464 (nach Anfahren an Ampelkreuzung wegen Wahrnehmung eines Einsatzhorns); OLG Köln VersR 1985, 372 (wegen Unfalls auf der Autobahn); OLG Frankfurt VersR 1987, 1140; OLG Düsseldorf VersR 1988, 1034; LG Regensburg VersR 1985, 172 LS; LG Landau NZV 1989, 76; a.A. OLG Düsseldorf VersR 1977, 160 (Stau auf Autobahn: 20 %); OLG Hamm NZV 1993, 435 (25 %, da starkes Bremsen Betriebsgefahr erhöhe).

Greger | 683

25.160

25.161

25.162

§ 25 Rz. 25.162 | Mitverantwortung des Geschädigten

haftung des Verursachers der Verkehrsstörung s. Rz. 25.181 (Spurwechsler), Rz. 25.195 (Überholer), Rz. 25.215 (Einsatzfahrzeug), Rz. 25.227 (Wendender), Rz. 25.247 (Tierhalter), Rz. 25.249 (Radfahrer).

25.163

Eine Mithaftung ist aber z.B. angebracht, wenn der andere – schlecht erkennbar – extrem langsam fuhr, insbesondere auf der Autobahn,327 mit defekten Bremsleuchten fuhr,328 wegen Motorausfalls auf den rechten Fahrstreifen wechselte und verlangsamte, ohne den nachfolgenden Verkehr zu warnen,329 unerwartet und ohne dies hinreichend deutlich zu machen anhielt,330 ohne Anlass abrupt abbremste,331 auf Glatteis ins Schleudern geriet332 oder ruckartig, d.h. mit ungewöhnlich verkürztem Bremsweg, zum Stehen kam,333 z.B. weil er seinerseits auf ein Hindernis oder anderes Fahrzeug auffuhr (s. auch Rz. 25.168 ff.). Die Bremswegverkürzung führt aber nur dann zur Mithaftung, wenn sie für das Auffahren ursächlich war.334 Alleinhaftung des Auffahrenden kommt auch bei Mitverursachung durch den Unfallgegner in Betracht, wenn das Auffahren auf überhöhte Geschwindigkeit oder besondere Unaufmerksamkeit zurückzuführen ist.335 Ebenso wurde auf volle Haftung erkannt beim ungebremsten Auffahren auf ein auf innerstädtischer Straße geschobenes Kfz.336

25.164

Bremsen ohne ausreichenden Grund – hierzu rechnet die Rechtsprechung zu Recht auch das abrupte Bremsen wegen eines kleineren Tieres337 oder eines Defekts338 – begründet Mithaftung des Vorausfahrenden,339 Bremsen in Nötigungs- oder Disziplinierungsabsicht u.U.

327 BGH VersR 1966, 148; OLG München VersR 1967, 691 (⅓); OLG Celle VersR 1973, 352 (55 %); OLG Celle VersR 1976, 50 (⅓); OLG Stuttgart NZV 1992, 34 (⅓); LG Gießen NZV 1993, 115 (mit 60 km/h und unbeleuchtet: 80 %). Mithaftung verneinend aber LG Köln NZV 2005, 418 (Lkw mit 40 km/h). 328 OLG Karlsruhe VersR 1982, 1205; LG Berlin VM 2000, Nr. 97. 329 KG NZV 2009, 292 (⅔). 330 BGH VersR 1986, 489 (Mokick auf anhaltenden Lkw, 25 %); OLG Hamm NZV 1994, 28 (50 % bei Anhalten wegen einer Taube; sehr hoch); LG Nürnberg-Fürth VersR 1990, 286 mit Anm. Große-Streine (⅔ bei Absterben des Motors beim Anfahren in Kolonne); LG Darmstadt NZV 1999, 385 (70 % bei Anfahren an Ampel). 331 OLG Karlsruhe NJW 2013, 1968 (50 %); KG NZV 2013, 80 (volle Haftung bei grundlosem Bremsen nach Ampelstart); LG Saarbrücken v. 2.11.2018 – 13 S 104/18, NJW 2019, 263 mit Anm. Vuia (Fahrschulwagen: 30 %). 332 OLG Karlsruhe VRS 76, 414. 333 Vgl. OLG Hamm VRS 71, 212, OLG Koblenz NJW-RR 1999, 175. 334 OLG Karlsruhe NZV 2010, 76. 335 OLG Oldenburg VersR 1990, 1406; OLG Frankfurt NZV 1994, 108 LS (schlecht beleuchteter Militär-Lkw in Kolonnenfahrt auf nächtlicher BAB). 336 KG VersR 1972, 279. 337 OLG München DAR 1974, 19 (Igel, ⅔); OLG Stuttgart NJW-RR 1986, 1286 (Katze, ⅔); OLG Karlsruhe VersR 1988, 138 (Wildente, 40 %); OLG Saarbrücken DAR 1988, 382 mit Anm. Berr (Wildente, ⅓); OLG Köln VersR 1993, 1168 (Taube: 40 %). A.A. OLG Nürnberg VersR 1960, 956 (Katze); LG Hildesheim VersR 1985, 460 LS (Katze); AG Ulm VersR 1988, 726 (Dackel). 338 OLG Frankfurt VersR 1986, 1086 (schadhafter Reifen, 50 %). 339 KG VersR 2002, 1571, 1572, KG NZV 2003, 41, 42 u. KG NZV 2003, 42, 43 (⅓), KG DAR 2006, 506 (Verwechslung von Bremse mit Kupplung bei Automatik, 50 %); OLG Koblenz VRS 68, 251 (auf Überholspur der Autobahn, mindestens 60 % Mithaftung); LG Itzehoe VersR 1980, 436 (bei Grünlicht, 50 %); LG Heidelberg VersR 1974, 504 (ausgeschaltete Ampel, 25 %); LG Hannover VersR 1982, 201 (nach Anfahren an Ampel, 50 %); a.A. OLG Karlsruhe VRS 73, 334 (nach Anfahren an Ampel).

684 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.168 § 25

sogar die alleinige Haftung.340 Beweisen muss das nicht gerechtfertigte Bremsen der Auffahrende.341 Wurde das Bremsen durch ein anderes, nicht in die Kollision verwickeltes Kfz ausgelöst, haftet dessen nicht von der Betriebsgefahr entlasteter Halter mit.342 Zur Haftungsverteilung beim Kettenunfall s. Rz. 25.168 ff.

25.165

Zum Auffahren im Zusammenhang mit einem Spurwechsel s. Rz. 25.178 f. Zum Anscheinsbeweis s. Rz. 41.99.

25.166

Auffahren auf stehendes Fahrzeug Die grundsätzlich anzunehmende Alleinhaftung des Auffahrenden343 kann insbesondere ermäßigt sein, wenn das stehende Fahrzeug nicht ausreichend beleuchtet344 oder abgesichert,345 verbotswidrig abgestellt,346 seinerseits durch einen Unfall oder eine Panne in eine gefahrträchtige Lage gebracht worden347 oder wenn seine Betriebsgefahr sonst erhöht war.348 Mehrfaches Auffahren Sind an einem Auffahrunfall mehr als zwei Fahrzeuge beteiligt, so gelten zwischen den unmittelbar Kollisionsbeteiligten die in Rz. 25.162 ff. dargestellten Grundsätze. Diese führen aber oft nicht zu voller Schadloshaltung. Schon auf der Primärstufe, erst recht aber für den Regress, 340 OLG Celle VersR 1973, 280; LG Mönchengladbach NZV 2002, 375; vgl. auch OLG Köln VersR 1982, 558 (Betätigen der Bremsleuchten nach vorheriger Nötigung durch Auffahrenden: ⅓). 341 Unklar OLG Hamm NZV 1993, 435. 342 OLG Celle NZV 2014, 82 (Reifenplatzen löst Schreckreaktion aus: 20 %). 343 BGH VersR 1965, 362; BGH VersR 1969, 713 (in Kurve gut erkennbar abgestellter Lkw); OLG Koblenz NZV 1992, 408 mit Anm. Greger (trotz durch vorausfahrendes Gespann verdeckter Sicht); OLG Nürnberg MDR 2014, 1140 (Lkw kollidiert mit Pkw auf Standstreifen); LG Koblenz DAR 1977, 325 (verbotswidriges Abstellen zwecks Hilfeleistung, ordnungsgemäße Beleuchtung). 344 BGH VersR 1987, 1242 (liegengebliebener Panzer mit Tarnanstrich: deutlich unter 50 %); OLG Schleswig VersR 1967, 717 (innerorts, auf ca. 50 m zu erkennen, 25 %); OLG Karlsruhe VersR 1983, 90 (in Fahrbahn ragender Anhänger, Auffahrender alkoholisiert, ⅓); OLG Hamm VersR 1987, 491 (Moped gegen in Fahrbahn ragenden Anhänger: ⅓). 345 OLG Karlsruhe VersR 1992, 67 (Sattelschlepper auf BAB-Seitenstreifen, kein Warndreieck: ⅓); OLG Nürnberg VersR 1994, 1083 (liegengebliebener Panzer auf BAB bei Nacht: 25 %); OLG Celle OLGR Celle 2000, 117 (in Baustellenbereich auf BAB: ⅓). 346 OLG Nürnberg NZV 2007, 301 (auf enger Gemeindeverbindungsstraße entgegen der Fahrtrichtung unbeleuchtet abgestellter landwirtschaftlicher Anhänger; Motorrollerfahrer verstößt gegen Sichtfahrgebot: 30 %). 347 OLG Köln NZV 1993, 271 (Auffahren auf verunfalltes Fahrzeug auf BAB bei Dunkelheit infolge überhöhter Geschwindigkeit: 60 %); OLG Celle NJW-RR 2020, 533 (Mithaftung bei entspr. Unfall nur 30 % wegen gravierenden Verschuldens des Verursachers des Erstunfalls); OLG Celle r+s 2020, 600 (⅔ zu Lasten des Verursachers des Erstunfalls wegen gravierenden Verkehrsverstoßes und mangelhafter Absicherung des Unfallfahrzeugs gegenüber leichtem Verschulden des Auffahrenden); OLG Frankfurt NZV 2016, 222 (Verstoß gegen Sichtfahrgebot: 25 %); OLG Hamm NZV 1998, 115 (volle Haftung des nach Schleudern auf der Überholspur Liegengebliebenen); strenger OLG Hamm NJWE-VHR 1996, 210 (volle Haftung des Auffahrenden wegen Verstoßes gegen Sichtfahrgebot). 348 OLG Celle NJW-RR 1986, 1476 (geparkter Lkw außerorts bei Dunkelheit und Regen: 50 %); OLG Stuttgart VersR 1988, 1159 (erlaubt in zweiter Reihe haltendes Postfahrzeug: Mithaftung ⅓); OLG Stuttgart NZV 1993, 436 (auf BAB-Parkplatz außerhalb markierter Parkflächen abgestellter Lkw: Mithaftung ⅓).

Greger | 685

25.167

25.168

§ 25 Rz. 25.168 | Mitverantwortung des Geschädigten

ist daher von Bedeutung, dass Ansprüche gegen die Halter aller Kfz in Betracht kommen, deren Betrieb sich auf den Schaden des Anspruchstellers ausgewirkt hat. Diese Voraussetzung muss nachgewiesen werden. Die bloße Beteiligung an einem Serienunfall reicht hierfür nicht.349 Es können aber Ansprüche gegen mehrere Beteiligte bestehen, was zu schwierigen Abwägungsfragen führt.350 Dies wird im Folgenden für unterschiedliche Fallkonstellationen bei Auffahrunfällen mit drei Beteiligten dargestellt, wobei V für den Halter des vorderen, M für den des mittleren und H für den des hinteren Kfz steht. Die dabei aufgezeigten Grundsätze lassen sich aber auch auf Serienunfälle mit einer größeren Zahl von Beteiligten übertragen. Bei Massenfällen wenden die Versicherer wegen der typischerweise gegebenen Unaufklärbarkeit des genauen Ablaufs ein vereinfachtes Schadensregulierungsverfahren an. Fahrer beteiligter Fahrzeuge können sich bei einer Massenkarambolage direkt an ihren Kfz-Haftpflichtversicherer wenden. Dieser übernimmt die Personen- und Sachschäden des Fahrers und der Insassen sowie die Schäden am Auto zu 100 %. Voraussetzung hierfür ist, dass die Polizei keinen Unfallverursacher feststellt, mindestens 40 Fahrzeuge (bei schwierigen Fällen mindestens 20) beteiligt sind und ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang des Unfallgeschehens besteht.351

25.169

(1) M kommt noch rechtzeitig zum Stehen, wird aber von H auf V aufgeschoben. Kann M diesen Unfallhergang beweisen, so trifft ihn keine Haftung, denn der Unfall war für ihn unabwendbar. H haftet dem M in voller Höhe, desgleichen dem V, es sei denn dieser müsse sich eine Mitverantwortung (etwa wegen unnötigen Abbremsens im Kolonnenverkehr) entgegenhalten lassen. In diesem Fall ist auch V dem M (gesamtschuldnerisch mit H) verantwortlich. Für die Quotelung im Verhältnis V-H gilt das in Rz. 25.162 ff. Gesagte entsprechend.

25.170

(2) Sowohl M als auch H fahren auf. Kann V nachweisen, dass der Unfall für ihn unabwendbar war, so haftet ihm M auf vollen Ersatz, denn auch der Zweitunfall ist dem Betrieb seines Kfz zurechenbar. Zusätzlich kann V den H hinsichtlich eines etwaigen erst durch den zweiten Aufprall entstandenen Zusatzschadens voll in Anspruch nehmen, sofern H sich nicht (etwa durch den Nachweis einer außergewöhnlichen Bremswegverkürzung durch den Erstunfall) entlasten kann. M und H wären insoweit Gesamtschuldner. Im Verhältnis zwischen ihnen wäre eine Quotelung352 vorzunehmen, nach welcher sich der Ersatzanspruch des H, der Anspruch des M auf Ersatz der erst durch den Zweitunfall entstandenen Schäden sowie der Gesamtschuldnerausgleich bezüglich der Entschädigung des V richten. Die Feststellung, welcher zusätzliche Schaden durch das Auffahren des H auf das bereits entwertete Fahrzeug des M entstanden ist, ist nach § 287 ZPO notfalls im Wege der Schätzung zu treffen.353

25.171

Kann V sich hingegen nicht entlasten, muss er sich gegenüber M und (hinsichtlich des Zusatzschadens) H eine Mithaftung (s. Rz. 25.164) anrechnen lassen. Da hier aber jeder Beteiligte zugleich Schädiger und Geschädigter ist und zwischen V und M nach der Rechtsprechung des BGH eine „Zurechnungseinheit“ (s. Rz. 25.146, 39.32) besteht (denn sie schufen

349 OLG Frankfurt VRS 75, 258. 350 Näher hierzu Greger NZV 1989, 58 ff. 351 Information des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., https://www. gdv.de/de/medien/services/glossar(Stichwort Massenunfall). 352 Vgl. hierzu OLG Hamburg VersR 1967, 478 (50 %); OLG Frankfurt VersR 1972, 261 (50 %); OLG Celle VersR 1974, 669 (20 % zu Lasten des M); LG Köln VersR 1981, 990 (volle Haftung des H bei zu dichtem Auffahren auf Autobahn); LG Oldenburg VersR 1989, 1311 (50 %). 353 BGH NJW 1973, 1283; OLG Karlsruhe VersR 1981, 739; OLG Karlsruhe VersR 1982, 1150; OLG Schleswig NZV 1988, 228. Näher Greger NZV 1989, 58, 59.

686 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.176 § 25

gemeinsam die erste Bedingung für das Entstehen des Zusatzschadens, bevor der Verursachungsbeitrag des H hinzutrat), kommt aber keine Gesamtschuld zwischen M und H, sondern nur eine Einzelabwägung in Betracht. Das heißt, dass für die aus dem zweiten Unfallereignis herrührenden Schäden von V und M eine einheitliche Quote gegenüber H festzulegen354 und hiervon gesondert der Schadensausgleich zwischen V und M vorzunehmen ist. Ist z.B. den Pkw-Fahrern V und M ein etwa gleich großes, je für sich nur leichtes Verschulden anzulasten, während der Schwerlastzug des H infolge überhöhter Geschwindigkeit und grober Unachtsamkeit auffuhr, so könnte die Haftungsverteilung wie folgt aussehen:

25.172

V kann von M 50 % seines beim Erstunfall entstandenen Schadens verlangen, desgleichen M von V. Ihre Zusatzschäden können V und M je zu 70 % von H beanspruchen, während sie die restlichen 30 % je zur Hälfte, also zu je 15 %, untereinander ausgleichen müssen. H schließlich kann von V und M als Gesamtschuldner 30 % seines Schadens ersetzt verlangen; diese haben sich dann im Innenverhältnis hälftig auszugleichen. Trifft den H hingegen nur die mit 20 % zu bewertende Betriebsgefahr, während V und M für den Erstunfall wiederum zu gleichen Teilen haften, so ergibt sich für die Zweitschäden folgende Verteilung:

25.173

H haftet gegenüber V und M jeweils zu 20 %, während Letztere gegenseitig je 40 % auszugleichen haben. Insgesamt erhalten V und M also je 60 % ihrer beim Zweitunfall erlittenen Schäden ersetzt, davon 20 % von H, der seinerseits von ihnen Schadensersatz auf der Basis von 80 % beanspruchen kann.355 Hat V den Erstunfall durch abruptes, nicht verkehrsbedingtes Bremsen verschuldet, so haftet er dem infolge Bremswegverkürzung auffahrenden H auf vollen Schadensersatz.356

25.174

(3) Es ist nicht aufklärbar, ob M aufgefahren ist oder erst von H aufgeschoben wurde. Kann sich V entlasten, so haftet M ihm, da der Unfall ungeachtet seines genauen Hergangs jedenfalls beim Betrieb seines Kfz geschehen ist, voll auf Ersatz des gesamten Schadens.357 Um auch H in Anspruch nehmen zu können, müsste ihm V die Schadensursächlichkeit des Betriebs seines Kfz nachweisen. Dies bereitet Schwierigkeiten, da ja nach Beweislage nicht auszuschließen ist, dass die Fahrzeuge von V und M bereits vorher kollidiert waren. Da aber die Unfallschädigung als solche außer Frage steht und nur das Schadensausmaß festzustellen ist, kommt dem Geschädigten die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zugute.358 Für die auf diese Weise festgestellten Zusatzschäden haftet H dem (entlasteten) V in voller Höhe und als Gesamtschuldner neben M. Entlasten kann sich H nicht, da er wegen der Unaufklärbarkeit des Unfallhergangs den Beweis nach § 7 Abs. 2 StVG nicht führen kann.

25.175

Auch M kann von H die Schäden ersetzt verlangen, die dem Auffahren des H zuzuordnen sind, vor allem also den Heckschaden und etwaige Zusatzbeschädigungen im Frontbereich (festzustellen wiederum nach § 287 ZPO; haben Heck- und Frontschaden zusammen zum Totalschaden geführt, ist eine quotenmäßige Aufteilung vorzunehmen359). Anders als V wird M diese Schäden allerdings nicht zur Gänze ersetzt verlangen können, denn angesichts der Unaufklärbarkeit des Unfallhergangs wird es ihm nicht gelingen, den Unabwendbarkeitsbeweis zu führen. Dann aber muss er sich nach § 17 Abs. 2 StVG die Betriebsgefahr des eige-

25.176

354 355 356 357 358 359

A.A. OLG Hamm NZV 1994, 109. Vgl. OLG Düsseldorf DAR 1977, 188. OLG Hamm NZV 1993, 68. OLG Hamm NZV 2002, 175 (Entlastung von V allerdings fragwürdig). BGH NJW 1973, 1283; Lehr VGT 1986, 150 ff. OLG Hamm NJW 2014, 3790.

Greger | 687

§ 25 Rz. 25.176 | Mitverantwortung des Geschädigten

nen Kfz anrechnen lassen.360 Kann H kein Verschulden angelastet werden (ein Anscheinsbeweis scheidet hier wegen fehlender Typizität aus), ist hälftige Haftung für den Heckschaden des M angezeigt.361 Wird M von V wegen der (dem Fahrzeug des H zuzuordnenden) Zusatzschäden in die Haftung genommen, so kann er insoweit ebenfalls unter Abzug des eigenen Verursachungsanteils bei H Rückgriff nehmen (§ 17 Abs. 1 StVG). Nach der gleichen Quote kann auch H den M wegen seiner Unfallschäden bzw. im Rahmen des Gesamtschuldnerregresses in Anspruch nehmen.

25.177

25.178

Trifft V hingegen eine Mithaftung für den Unfall, so ist hinsichtlich des Schadensteiles, der der Beteiligung des H zuzurechnen ist, wiederum nach den Grundsätzen der Zurechnungseinheit abzurechnen (vgl. Rz. 25.171 f.), denn M haftet für diesen Schadensteil auch bei geklärtem Unfallhergang maximal in dieser Höhe.362 Die anderen, nicht dem H zurechenbaren Schäden sind zwischen V und M auf der Grundlage der jeweiligen Betriebsgefahr zu verteilen. H schließlich kann seinen Schaden unter Anrechnung der eigenen Betriebsgefahr gegenüber M und V als Gesamtschuldnern geltend machen.363 Spurwechsel, Ausscheren, Fahrbahnverengung Wer die Fahrspur wechselt, obwohl sich von hinten ein anderes Fahrzeug nähert, haftet für den sich daraus ergebenden Zusammenstoß grundsätzlich allein.364 Eine erhöhte Betriebsgefahr beim Benutzer der anderen Spur, z.B. erheblich zu hohe Geschwindigkeit,365 Missachtung einer Pfeilmarkierung,366 verbotswidrige Benutzung des Seitenstreifens367 oder verspätete Reaktion,368 kann jedoch zu Buche schlagen. Schon die (unfallkausale) Überschreitung der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen kann zur Mithaftung führen (s. Rz. 3.338); sie muss allerdings erheblich sein, um neben einem groben Verschulden des Spurwechslers zum Tragen zu kommen.369 Ist ungeklärt, ob der Spurwechsel zu knapp vor dem Herannahenden 360 Vgl. OLG Stuttgart VersR 1980, 391 (25 %); OLG Karlsruhe VersR 1981, 739 (20 %). A.A. (Betriebsgefahr tritt zurück) OLG Düsseldorf NZV 1995, 485 mit abl. Anm. Greger. 361 OLG Hamm NJW 2014, 3790. 362 Näher Greger NZV 1989, 58. 61. 363 Die Klageabweisung in OLG Köln NZV 1993, 194 beruht offenbar auf Besonderheiten des dortigen Tatsachenvortrags. 364 OLG Hamm NZV 2010, 79; KG MDR 2003, 1228; OLG Schleswig VersR 1986, 977; OLG Karlsruhe VersR 1987, 1020 LS; OLG Düsseldorf VersR 1988, 813 (Spurwechsel vor Einsatzfahrzeug); OLG Jena NZV 2006, 147 (Spurwechsel bei Kolonnenverkehr auf BAB); OLG Celle NJW-RR 2020, 1039 (wegen Verengung); OLG Frankfurt NZV 2016, 426 (Spurwechsler gerät auf Seitenstreifen der BAB, wo Einsatzfahrzeug mit mäßiger Geschwindigkeit und Blaulicht naht); OLG Naumburg VersR 2016, 1586 (Verbandsfahrzeug weicht vor Einfahrendem auf linke Spur aus); LG Freiburg NZV 2013, 345 (auch bei möglicher Geschwindigkeitsüberschreitung). 365 OLG Hamm VersR 1999, 1166 (100 % bei Kradfahrer, der sogleich nach Rechtsüberholen eines Pkw auf linke Spur wechselt); KG NZV 2009, 240 (50 % bei 80 km/h statt 50 km/h); OLG Nürnberg r+s 1993, 373 LS mit Anm. Lemcke (30 % bei 234–260 km/h und Geschwindigkeit des Ausscherenden von 130 km/h); OLG Köln VersR 1991, 1188 (25 %: 200 km/h bei Dunkelheit); OLG Stuttgart VersR 1982, 1155 (Überholen einer Lkw-Kolonne auf Steigungsstrecke der Autobahn mit 170 km/h: ¼); OLG Hamm NZV 1994, 484 (unvorsichtige Annäherung an Stau auf BAB: ¼); OLG Köln VersR 1991, 1301 (Missachtung der Beschränkung an BAB-Baustelle: ½). 366 LG Saarbrücken NJW-RR 2019, 145 (⅓). 367 LG Bochum NZV 2016, 427 (⅓). 368 OLG Stuttgart NZV 1989, 437 (20 %); OLG Zweibrücken OLGR Zweibrücken 1999, 395 (100 %; zw). 369 OLG Koblenz NZV 2014, 84 (40 % bei 200 km/h und doppeltem Spurwechsel des Gegners); OLG Düsseldorf MDR 2018, 274 (30 % bei 200 km/h); OLG Hamm 1994, 193 (25 % bei

688 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.182 § 25

stattgefunden hat, fuhr dieser aber mit deutlich höherer als der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h, hat er den größeren Schadensanteil zu tragen.370 Eine Schadensteilung kommt auch in Betracht, wenn der Fahrstreifenwechsel auf einer Verengung oder Blockierung einer Fahrspur beruht und wenn der nach dem Reißverschlussprinzip an sich bevorrechtigte Fahrer seine Geschwindigkeit nicht vermindert hat oder gleichzeitig mit dem anderen angefahren ist, obwohl er mit dem Ausscheren des anderen rechnen musste.371 Hat der Spurwechsler aber rechts unter Überfahren einer Sperrfläche überholt, ist dem Auffahrenden eine Mithaftung nur anzulasten, wenn er auf das erkennbare Fahrmanöver falsch, insb. ohne Herabsetzen der Geschwindigkeit, reagiert hat.372

25.179

Mithaftung ist zu bejahen, wenn nach den Umständen damit gerechnet werden muss, dass ein vorausfahrendes Fahrzeug seinerseits zum Überholen ansetzt.373 Voll zurücktreten kann die Betriebsgefahr des Spurwechslers, wenn er mit einem zwischen stehenden Kolonnen hindurchfahrenden Krad kollidiert.374

25.180

Zwingt der Spurwechsler einen anderen zu abruptem Bremsen und fährt ein Dritter infolgedessen auf diesen auf, so trifft ihn gegenüber dem Dritten die überwiegende Haftung.375

25.181

Mehrspuriger Verkehr Kommt es zur Kollision zwischen nebeneinander fahrenden Fahrzeugen, weil eines von ihnen, z.B. in einer Kurve, wegen seiner Länge teilweise auf den benachbarten Fahrstreifen gelangt, so ist i.d.R. Schadensteilung angezeigt,376 volle Schadenstragung dagegen, wenn ein besonders langes und weit ausschwenkendes Fahrzeug (Sattelzug) nach links abbiegt, ohne dass

370 371 372 373 374 375 376

180 km/h); OLG Hamm NZV 1995, 194 (20 % bei 190 km/h); OLG Hamm NZV 2011, 248 (20 % bei mindestens 160 km/h); OLG Stuttgart NZV 2010, 346 (20 % bei mindestens 170 km/h in Dunkelheit); OLG NJW 2011, 1155 (20 % bei mindestens 160 km/h); OLG Schleswig NZV 1993, 152 (75 % bei 210 km/h gegenüber 110 km/h des Spurwechslers); zu weitgehend OLG Celle NZV 2019, 640 (KW) und OLG Köln VersR 1992, 1366 mit abl. Anm. Reif (20 % bei 140 km/ h); Mithaftung verneinend OLG Hamm NZV 2002, 373 (160 km/h); OLG Hamm NJW-RR 2018, 474 (150 km/h); OLG Jena NZV 2010, 29 (170 km/h; Einfahrender wechselt mit leistungsschwachem Kfz sogleich auf Überholspur); OLG Nürnberg ZfS 1991, 78 (170 km/h); OLG Celle ZfS 1991, 150 (160–180 km/h); OLG Hamm NZV 1990, 269 mit abl. Anm. Greger (200 km/h). S. auch Gebhardt DAR 1992, 295, 297: Mithaftung ab Überschreitung um 20 %; Rebler MDR 2017, 855 ff.: nicht bei 150 km/h, jedenfalls ab 180 km/h. OLG Oldenburg NZV 2012, 440. KG VersR 1986, 60 (50 %); KG NZV 2010, 507 (¾ zu Lasten des Spurwechslers); OLG Düsseldorf VRS 63, 339 (Autobahn, ⅔ zu Lasten des Spurwechslers); OLG Frankfurt VRS 72, 40 (Autobahn, Wechsel auf Beschleunigungsstreifen wegen Unfalls auf der Überholspur: 50 %). OLG Saarbrücken NJW-RR 2019, 1436. LG Kassel NZV 1990, 76 (Pkw hinter langsamem Mähdrescher; überholender Kradfahrer haftet mit mindestens 30 %). OLG Hamm NZV 1995, 399 lässt den Nachfolgenden aus reiner Betriebsgefahr mit ⅓ haften (zw.). OLG Hamm NZV 1988, 105 (Krad fuhr mit 50 km/h). KG NZV 1990, 187 (¾); KG VM 1993, Nr. 35 (100 % bei Unfall kurz nach Anfahren an Ampel); LG Karlsruhe NZV 1992, 323 (80 % bei Unfall kurz nach Anfahren an Ampel). OLG Hamm NZV 1994, 399; KG VM 1987, Nr. 25 (Linkskurve, Bus trägt ¾); KG NZV 2005, 419 (Rechtskurve, Sattelschlepper trägt 75 %); LG Berlin VersR 1981, 643 (Rechtsabbiegen, Bus trägt ⅓); LG Frankfurt/M. NZV 1994, 235 (Rechtskurve, Sattelschlepper trägt 80 %); LG München I NZV 1998, 74 (keine Haftung, da Pkw trotz erkennbarer Abbiegeabsicht dicht neben Bus gefahren war).

Greger | 689

25.182

§ 25 Rz. 25.182 | Mitverantwortung des Geschädigten

eine Gefährdung rechts vorbeifahrender Fahrzeuge ausgeschlossen wird.377 Bei einer Streifkollision im Baustellenbereich mit verengten Fahrspuren ist hälftige Teilung auch dann angezeigt, wenn es sich beim überholten Fahrzeug um einen breiten Lkw handelt und keinem der Fahrer ein Verschulden nachgewiesen werden kann,378 z.B. weil der Überholende den für sein Fahrzeug erkennbar zu schmalen Fahrstreifen befährt (s. auch Rz. 25.183). Kollidiert ein Pkw beim Rechtsabbiegen mit einem verbotswidrig die Busspur benutzenden Pkw, trifft Letzteren eine Mithaftung.379 Zum Spurwechsel im Zusammenhang mit dem Einfahren auf die mehrspurige Vorfahrtstraße s. Rz. 25.222.

25.183

25.184

Überholen Kommt es infolge nicht ausreichenden Seitenabstands zu einem Unfall, so haftet grundsätzlich der Überholende allein.380 Eine Mithaftung des Überholten kommt aber in Betracht, wenn er nicht unerheblich von seiner Fahrspur abgewichen ist.381 Führt er eine bewusste Lenkbewegung nach links aus, um den Überholversuch eines Kradfahrers zu unterbinden, haftet er auch dann allein, wenn es davor schon zu wechselseitigen Überholmanövern gekommen ist.382 Ein leichtes Ausscheren kann indes vernachlässigt werden, wenn der andere grob verkehrswidrig eine Kolonne überholt hat383 oder aufgrund einer Überreaktion von der Fahrbahn abkommt.384 Beim Überholen eines erkennbar instabil gewordenen Wohnwagengespanns auf der BAB haftet der Überholer zu 20 % mit.385 Zum Ausscheren beim Überholvorgang s. auch Rz. 25.178, 25.180. Kommt es beim Einscheren zur Kollision mit dem überholten Kfz, haftet der ohne ausreichende Sicht auf den Gegenverkehr Überholende auch dann allein, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit durch den Überholten vermieden worden wäre.386 Bei verbotswidrigem Rechtsüberholen haftet der Überholende, der (z.B. infolge Schleuderns oder beim Wiedereinscheren387) mit dem anderen Fahrzeug kollidiert, i.d.R. alleine. Dies gilt auch, wenn es sich um ein (nur) mit Blaulicht fahrendes Einsatzfahrzeug handelt, welches an einem auf der linken Fahrspur der Autobahn fahrenden Kfz ohne zwingenden Grund, insbesondere ohne sich ausreichend bemerkbar gemacht zu haben, vorbeifahren wollte.388 Ist der andere, ohne dies anzuzeigen, nach rechts abgebogen, haftet er aber überwiegend,389 erst recht, wenn er zunächst nach links geblinkt hat und ausgeschert ist.390 Fällt ihm lediglich ein Verstoß gegen die Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO zur Last, kann eine Haftung von ⅓ angemessen sein.391 Bei der Kollision eines rechts in eine Parkbox Einbiegenden mit

377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391

KG NZV 2005, 420. OLG Oldenburg NZV 2013, 344. KG VM 2000, Nr. 87 (⅓); KG VM 2010 Nr. 55 = NZV 2010, 345 LS (⅔). OLG Köln VersR 1988, 277 (Kräder). OLG Hamm VersR 1987, 692 (1 m: ⅓); OLG Celle DAR 1999, 453 (Überholter zieht blinkend zur Fahrbahnmitte). OLG Saarbrücken NJW-RR 2017, 350. OLG Köln VRS 72, 13. OLG Hamm OLGR Hamm 1997, 89. OLG Köln DAR 1995, 484. OLG Celle DAR 2007, 152. Nach OLG Köln VersR 1997, 982 nur 75 % wegen Unaufklärbarkeit des genauen Hergangs. OLG Karlsruhe VersR 1987, 790. OLG Frankfurt VersR 1990, 912: 60 %. OLG Oldenburg NZV 1993, 233. OLG Köln NZV 1995, 74.

690 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.186 § 25

einem rechts überholenden Rollerfahrer kann hälftige Haftung angezeigt sein,392 ebenso bei der Kollision an einer Straßengabelung, wenn ein Fahrzeug von der mittleren Fahrspur auf den rechten Ast abbiegt und das andere rechts überholt.393 Überholen und Linksabbiegen394 Volle Haftung des Linksabbiegers kann eingreifen, wenn er unerwartet, z.B. ohne zu blinken oder sich einzuordnen, oder unter Verstoß gegen die Pflicht zur erneuten Rückschau abgebogen ist, obwohl ein anderer zum Überholen angesetzt hatte.395 Dies gilt in besonderem Maße beim Linkseinbiegen in eine Grundstückseinfahrt oder einen Wirtschaftsweg, weil der nachfolgende Verkehr dort noch weniger als sonst mit einem Abbiegen rechnet.396 Der Überholende haftet aber mit, wenn er trotz erkennbarer Abbiegeabsicht oder unklarer Lage überholt hat,397 erheblich zu schnell fuhr398 oder wenn der Hergang ungeklärt ist.399 Bei besonderer Verkehrswidrigkeit kommt sogar seine weit überwiegende400 oder alleinige Haftung in Betracht.401 Auch bei Überholen im Überholverbot haftet der Linksabbieger aber mit, wenn er nicht geblinkt hat.402

25.185

b) Unfälle zwischen Kfz im Begegnungsverkehr Verstoß gegen Rechtsfahrgebot Das Verschulden des Fahrers, der die Fahrbahnmitte erheblich überschritten hat, überwiegt i.d.R. so stark, dass die Betriebsgefahr des Entgegenkommenden voll zurücktritt.403 Daher haftet z.B. auch derjenige, der eine Kurve schneidet, in voller Höhe, selbst wenn der andere

392 OLG Hamm NZV 2014, 262. 393 OLG Hamm NJW-RR 2017, 19. 394 Zu Regulierungsverhalten und Rspr. bei diesem Unfalltyp s. die empirische Untersuchung von Bärnhof VersR 1996, 948. 395 BGH VersR 1967, 903; OLG Düsseldorf DAR 1974, 217; OLG Frankfurt VersR 1977, 772 (auch bei geringfügiger Geschwindigkeitsüberschreitung); OLG Frankfurt NZV 2000, 211; OLG Nürnberg NZV 2003, 89 (Blinken nicht bewiesen); KG NZV 2003, 89, 90; OLG Saarbrücken MDR 2015, 647; a.A. OLG Nürnberg VersR 1981, 288 (nur ¾). 396 OLG Düsseldorf VersR 1983, 40; KG VRS 73, 336; OLG Koblenz MDR 2020, 483. 397 OLG Hamm NZV 2014, 125 (75 %); OLG Hamm NZV 1993, 313 (⅔); OLG Saarbrücken NZV 2016, 82 (⅔); OLG Köln VersR 1977, 262 (60 %); OLG Karlsruhe NZV 1999, 166 (50 %); KG NZV 1993, 272 (50 %); OLG Schleswig MDR 2006, 202 (50 %); OLG Braunschweig NZV 1993, 479 (40 %); OLG Düsseldorf r+s 2020, 101 (40 %); OLG Düsseldorf VersR 1995, 1504 (⅓); OLG Schleswig NZV 1994, 30 (25 %). 398 OLG Düsseldorf NZV 1998, 502. 399 OLG Koblenz VersR 1978, 676 (überwiegende Haftung des Abbiegers). 400 OLG Celle OLGR Celle 2004, 347 (Sattelzug überholt mit überhöhter Geschwindigkeit Wohnmobil und vor diesem abbiegendes landwirtschaftliches Gespann: 75 %); OLG Koblenz NZV 2005, 413 (Motorradfahrer überholt zwei links eingeordnete Kfz, von denen eines blinkt: ⅔); KG NZV 2009, 390 (Überholen eines eingeordneten und blinkenden Linksabbiegers: ¾). 401 OLG Frankfurt NZV 2017, 438 (Überholverbot); OLG Frankfurt NZV 2015, 438 (unübersichtliche Stelle; umfangreiche Rspr.-Nachw.); OLG Frankfurt NZV 1989, 155 (Überholen von sechs hinter einem Linksabbieger fast zum Stehen gekommenen Fahrzeugen); OLG Düsseldorf NZV 1998, 72 (verkehrswidrig überholender Motorradfahrer). 402 OLG Nürnberg DAR 1995, 330 (50 %). 403 BGH VersR 1969, 738; OLG Oldenburg VersR 1974, 40; OLG Celle VersR 1979, 264; OLG Nürnberg VersR 1981, 790; OLG Stuttgart NZV 1991, 393 (30 cm über Mittellinie ragender Lkw-Aufbau); OLG Düsseldorf VersR 1983, 348; OLG Hamm OLGR Hamm 1995, 161.

Greger | 691

25.186

§ 25 Rz. 25.186 | Mitverantwortung des Geschädigten

auf seiner Fahrbahnseite nicht äußerst rechts fuhr404 oder nicht gut erkennbar war.405 Bei geringfügigem Überschreiten der Mittellinie, das auf verständlichen Gründen beruht (z.B. schwer manövrierbarer Lastzug), kann eine Mithaftung des Entgegenkommenden in Betracht kommen, der durch Abbremsen und Ausbrechen seines Fahrzeugs eine Kollision herbeiführt.406

25.187

Haben beide Kfz die Fahrbahnmitte überschritten oder lässt sich nicht klären, auf wessen Fahrbahnhälfte der Zusammenstoß geschah, so ist grundsätzlich im Verhältnis 50:50 zu quoteln. Bei stark unterschiedlicher Betriebsgefahr kann auch ein anderes Verhältnis angemessen sein.407 Kann bei ungeklärtem Unfallhergang nicht festgestellt werden, ob das andere Fahrzeug links fuhr oder (verbotswidrig) stand, so haftet dessen Halter mit der höheren Quote, da auf seiner Seite in jedem Fall eine Verkehrswidrigkeit vorliegt; dass er dort in der anderen Fahrtrichtung hätte stehen dürfen, entlastet ihn nicht.408

25.188

Muss ein Fahrzeug wegen Überbreite die Gegenfahrbahn teilweise in Anspruch nehmen und kommt es wegen zu hoher Geschwindigkeit eines Entgegenkommenden an unübersichtlicher Stelle zur Kollision, ist eine die reine Betriebsgefahr übersteigende Mithaftung gerechtfertigt.409

25.189

25.190

25.191

Geschwindigkeit auf schmaler Fahrbahn Sind beide Beteiligte nicht „auf halbe Sicht“ gefahren (s. Rz. 14.20), ist die Haftung i.d.R. hälftig zu verteilen. Dasselbe gilt, wenn beide Kfz in Anbetracht ihrer Größe und der Straßenverhältnisse zu schnell gefahren sind und eines von ihnen beim Ausweichen von der Fahrbahn abrutscht.410 Hat jedoch einer der Fahrer unnötig die Fahrbahnmitte überschritten, während dem anderen nur zur Last liegt, „auf Sicht“ statt „auf halbe Sicht“ gefahren zu sein, trägt ersterer den überwiegenden Anteil.411 Schleudern Gegenüber einem durch Schleudern auf die falsche Fahrbahnseite geratenden Kfz kommt eine Mithaftung des Entgegenkommenden in Betracht, wenn er trotz Erkennens der Gefahr nicht sofort bremst412 oder wenn er für die gegebenen Verhältnisse (z.B. Glätte) ebenfalls zu schnell gefahren war.413 Die reine Betriebsgefahr tritt dagegen voll zurück.414 Vorbeifahren an Hindernis Wer vor einem Hindernis (z.B. Baustelle, stehendes Fahrzeug, Pfütze) auf die Gegenfahrbahn ausweicht, trägt bei Kollision mit einem Entgegenkommenden grundsätzlich die volle Haf-

404 BGH VersR 1968, 698; OLG Nürnberg VersR 1972, 76; OLG Jena DAR 2018, 628. Zu streng OLG Hamm VRS 72, 423 (25 % Mithaftung). 405 LG Münster VersR 1988, 47 (schwaches Licht eines Mofas). 406 OLG Karlsruhe VersR 1987, 695 (20 %, Mokickfahrer). 407 OLG Oldenburg VersR 1978, 1148 (4:1 bei Pkw gegen Mofa). 408 OLG Karlsruhe NZV 1990, 189: 70 %. 409 OLG Schleswig NZV 1993, 114: ⅓ (Kollision zwischen Panzer und Lkw); OLG Celle NJW-RR 2020, 602: 30 % (überbreites landwirtschaftliches Gespann gegen nicht äußerst rechts fahrenden Pkw). 410 OLG Schleswig VersR 1998, 473. 411 OLG Hamburg VRS 84, 169; OLG Schleswig NZV 1991, 431: 60 %. 412 OLG München VersR 1976, 1096 (25 %). 413 OLG Oldenburg DAR 1988, 273 (⅓). 414 OLG Hamm NZV 1994, 277.

692 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.195 § 25

tung.415 Eine Mithaftung des anderen kommt insbesondere bei unangepasster Geschwindigkeit (z.B. wegen Unübersichtlichkeit) in Betracht.416 Hat der Entgegenkommende angehalten, um das Durchfahren zu ermöglichen, haftet er zu ¼ mit, wenn er nicht äußerst rechts herangefahren ist und der Ausweichende ihn aus Unachtsamkeit anfährt.417 Hält er im Bereich des Hindernisses wegen des nahenden Gegenverkehrs an, statt die Engstelle zu räumen, sollte den in den verengten Bereich Einfahrenden die größere Verantwortung treffen.418 Vorrang an Engstelle Grundsätzlich trifft den Fahrer, der den Vorrang des Gegenverkehrs missachtet hat, die volle Haftung. Befindet sich ein Fahrzeug bereits in der Engstelle und kann das andere infolge zu hoher Geschwindigkeit oder Unaufmerksamkeit nicht mehr rechtzeitig anhalten, so trifft dessen Fahrer die überwiegende Verantwortung.419 Handelt es sich um eine besondere Verkehrslage i.S.d. § 11 Abs. 2 StVO, so trifft den an sich bevorrechtigten Gegenverkehr auch eine ins Gewicht fallende Mithaftung.420 Überholen Beim Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Kfz tritt dessen Betriebsgefahr i.d.R. völlig zurück.421 Zu einer Schadensteilung kann es kommen, wenn der Entgegenkommende schwer erkennbar war422 oder seine Geschwindigkeit trotz Erkennens der Gefahr nicht herabgesetzt423 oder sonst schadensvermeidend reagiert hat.424 Überholt ein Motorradfahrer unter Benutzung der Linksabbiegerspur mit überhöhter Geschwindigkeit an einer Ampel anfahrende Kfz und kollidiert er mit einem in Gegenrichtung vom linken Gehsteig aus auf die Straße einfahrenden und diese überquerenden Lkw, trifft ihn eine Mithaftung von ⅓.425 Veranlasst ein Überholender den Fahrer eines entgegenkommenden Kfz zu abruptem Bremsen und fährt infolgedessen ein anderes auf dieses auf, haftet der Überholende anteilig für diesen Unfall.426 Dasselbe gilt, wenn es infolge einer Ausweichreaktion des Entgegenkommenden zur Kollision mit einem Dritten kommt.427 415 416 417 418 419

420 421 422 423 424 425 426 427

OLG Nürnberg VersR 1960, 912; OLG Düsseldorf VersR 1988, 1190. OLG Bamberg VersR 1982, 583 (25 %); OLG Hamm NZV 1995, 28 (25 %). OLG Bremen VersR 1979, 1059 (zw). A.A. OLG Koblenz NZV 1993, 195, wonach der zuerst Eingefahrene zu ⅔ für die Kollision haften soll. Vgl. auch Rz. 25.193. OLG Bamberg VersR 1983, 958 (Pkw gegen Schneepflug in enger, unübersichtlicher, aber mit Spiegel versehener Kurve: 3:1). Für Halbteilung dagegen OLG Düsseldorf VersR 1970, 1160; desgleichen OLG Karlsruhe DAR 1989, 106 trotz erheblicher Verkehrswidrigkeit des später Kommenden. Für volle Haftung des später Einfahrenden OLG Brandenburg OLGR Brandenburg 1998, 171. AG Siegburg VersR 1984, 432 (polizeiliche Absperrung an Unfallstelle: 40 %). OLG Koblenz VersR 1996, 1427; OLG München NJW 1966, 1270; VersR 1978, 285; OLG Celle NZV 1993, 437 (auch bei überhöhter Geschwindigkeit). OLG München VRS 55, 409 (unzureichend beleuchtetes Moped: 25 %). BGH VersR 1968, 577 (25 %). OLG Köln MDR 2015, 389 (20 %). OLG München NZV 1990, 394. OLG Naumburg NZV 2016, 318 (schon bei Ausscheren zum Überholversuch: 60 %). OLG Schleswig r+s 2017, 658 (Überholen einer Kolonne; Ausweichreaktion u.U. unnötig: 60 %).

Greger | 693

25.192

25.193

25.194

25.195

§ 25 Rz. 25.196 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.196

25.197

Linksabbiegen In der Regel tritt die Betriebsgefahr des entgegenkommenden Kfz hinter dem Verschulden des sein Vorrecht missachtenden Linksabbiegers zurück.428 Eine Mithaftung kommt aber vor allem bei überhöhter Geschwindigkeit,429 unbefugtem Rechtsüberholen,430 Vorbeifahren an einem Stau unter Benutzung der Busspur,431 Rotlichtverstoß (s. Rz. 25.197 f.), Nichtbeachtung eines Kreuzungsräumers,432 irreführendem Blinken433 oder mangelhafter Beleuchtung434 in Betracht. Die überwiegende Haftung trifft auch dann in aller Regel den Abbieger.435 Bremst der Entgegenkommende, obwohl der Abbieger rechtzeitig anhält,436 oder streift er letzteren, weil er zu weit links fährt,437 trifft ihn die weit überwiegende Haftung. Tastet sich der Abbieger langsam vor, weil ihm durch einen linksabbiegenden Lkw im Gegenverkehr die Sicht genommen ist, trägt ein den Lkw rechts überholender Kradfahrer ⅔ der Haftung.438 Bei grob rücksichtslosem Überholen unter Benützung der Linksabbiegerspur kann sogar alleinige Haftung angezeigt sein.439 War dem Linksabbieger durch besonderes Lichtzeichen (Grünpfeil) Vorrang eingeräumt, so ist er gegenüber einem bei Rot durchfahrenden Fahrzeug des Gegenverkehrs grundsätzlich haftungsfrei.440 Lässt sich nicht feststellen, ob der Grünpfeil zum Unfallzeitpunkt geleuchtet hat, so ist die Haftung grundsätzlich hälftig zu verteilen.441 Ein höherer Haftungsanteil des abbiegenden Kfz, wie er teilweise befürwortet wird,442 lässt sich nicht mit dessen gesteigerter 428 BGH VersR 1964, 514; BGH VersR 1965, 899; BGH VersR 1969, 75; OLG Stuttgart VersR 1980, 383; OLG Schleswig VersR 1981, 89; OLG Düsseldorf VersR 1983, 1164 LS (auch bei vermeintlichem Verzicht auf das Vorrecht); KG VM 1982, Nr. 69 (auch bei „fliegendem Start“); OLG Köln OLGR Köln 1995, 164; OLG Hamm NZV 1995, 29. Für Mithaftung von 20 % aus Betriebsgefahr dagegen OLG Brandenburg NZV 2009, 554, weil Motorradfahrer schwer wahrnehmbar. 429 BGH VersR 1984, 441 (⅔ bei Überschreitung um 100 %); OLG Bamberg VersR 1975, 813 (25 %); KG VersR 1978, 872 (25 %); KG NZV 2009, 458 (50 % bei 70 km/h innerorts); KG KGR Berlin 2001, 42 (⅔ bei 100 km/h innerorts); OLG Schleswig NZV 1988, 179 (20 %); OLG Hamm VRS 76, 253 (Krad, 87 statt 50 km/h: ⅔); OLG Hamm NZV 1994, 318 (Krad, 95 statt 50 km/h: ¾); LG Karlsruhe VersR 1987, 290 (Krad, innerorts mindestens 70 km/h: 40 %). Zu weitgehend OLG Karlsruhe VersR 1980, 1148 (Alleinhaftung des Gegenverkehrs bei innerorts um 30 km/h überhöhter Geschwindigkeit). 430 KG NZV 2008, 297. 431 KG VersR 2016, 205 (⅓, aber Kausalität fraglich). 432 OLG Hamm DAR 2016, 652 (30 %: Sattelzug war bei Gelblicht der Linksabbiegerampel abgebogen, Rollerfahrer mit fliegendem Start eingefahren). 433 OLG Celle ZfS 1995, 86. 434 OLG Saarbrücken NJW-RR 2018, 86 (50 %); OLG Köln VersR 1988, 751 (unbeleuchtetes Mofa: 70 %). 435 BGH NJW 2012, 1953. Für Haftung des Bevorrechtigten von ⅔ wegen Geschwindigkeitsüberschreitung von 100 % aber BGH VersR 1984, 441. 436 OLG Nürnberg NJW-RR 1986, 1153 (80 %). 437 OLG Nürnberg VRS 76, 260 (80 %). 438 OLG Celle NZV 1994, 193. 439 OLG Hamm NJW-RR 2019, 990. 440 KG NZV 1991, 271. 441 BGH NZV 1992, 108; BGH NZV 1996, 231; BGH NZV 1997, 350; OLG Schleswig VersR 1984, 1098; OLG Schleswig SchlHA 1993, 67; OLG München DAR 1985, 382; OLG Hamm NZV 1990, 189; OLG Düsseldorf NZV 1995, 311; OLG Frankfurt NZV 2000, 212; KG NZV 2003, 291; OLG Zweibrücken NZV 2017, 80; Menken DAR 1989, 55. 442 KG NZV 1995, 312; Klimke DAR 1987, 321 (⅔ zu Lasten des Linksabbiegers); KG VM 1987, Nr. 41 (Alleinhaftung des Linksabbiegers).

694 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.201 § 25

Betriebsgefahr begründen, denn bei Abschirmung des Abbiegevorgangs durch eine eigene Grünphase unterscheidet er sich hinsichtlich seiner Gefährlichkeit nicht mehr vom Kreuzungsverkehr, für den bei Unaufklärbarkeit der Ampelstellung allgemein eine Haftung zu gleichen Teilen zugrunde gelegt wird. Bleibt bei einer Ampel ohne Linksabbiegerpfeil die Ampelstellung ungeklärt, regelt sich die Haftungsverteilung nach den in Rz. 25.196 dargestellten Grundsätzen, denn es fehlt hier an einem besonderen Vertrauenstatbestand zugunsten des Abbiegers.443 Dasselbe gilt, wenn er das Aufleuchten des vorhandenen Grünpfeils nachweislich nicht abgewartet hat oder wenn für den Linksabbieger nach gelb blinkendem Pfeil volles Grünlicht angezeigt wird.444 Auch gegenüber einem noch bei spätem Gelb Entgegenkommenden trifft ihn die volle Haftung,445 während hälftige Haftung angemessen ist, wenn er in später Gelbphase oder beginnender Rotphase an anderen, auf einem parallelen Fahrstreifen bereits haltenden Fahrzeugen vorbei in den Kreuzungsbereich eingefahren ist.446 Volle Haftung des Linksabbiegers greift auch dann ein, wenn er sich beim Umschalten der Lichtzeichen bereits in der Kreuzung befindet und vor einem entgegenkommenden Fahrzeug abbiegt, das im fliegenden Start (aber mit mäßiger Geschwindigkeit) einfährt.447

25.198

Beim Linksabbiegen durch eine Lücke im stehenden Gegenverkehr kommt hälftige Schadensteilung in Betracht, wenn der Unfallgegner mit überhöhter Geschwindigkeit den rechten Fahrstreifen des Gegenverkehrs448 oder unzulässigerweise den Seitenstreifen449 befuhr. An ampelgeregelten Kreuzungen und Grundstückseinfahrten trifft den Linksabbieger die höhere oder sogar volle Haftung, weil er hier kein Lückenprivileg genießt (s. Rz. 14.127, 14.134).450

25.199

Sonderrechtsfahrzeug Beim Zusammenstoß mit einer auf der falschen Fahrbahnseite entgegenkommenden, ordnungsgemäß gekennzeichneten Kehrmaschine trifft den unachtsamen Pkw-Fahrer die volle Haftung.451

25.200

c) Unfälle zwischen Kfz im Querverkehr Regelung durch Lichtzeichen Wer das Rotlicht missachtet, haftet grundsätzlich allein für den daraus erwachsenden Schaden.452 Dies muss auch gelten, wenn die Ampel unmittelbar nach dem Umschalten von Gelb auf Rot passiert wird, denn es besteht angesichts ausreichend langer Gelbphasen keinerlei Anlass, Rotlichtsünder zu begünstigen. Deshalb sollte auch dann keine Mithaftung des kreuzenden Verkehrsteilnehmers angenommen werden, wenn er mit fliegendem Start bei Grün in die

443 444 445 446 447 448 449 450 451 452

A.A. KG KGR Berlin 2000, 295, 296 (⅓ Mithaftung des Bevorrechtigten). OLG Hamm NJW-RR 2020, 217. A.A. OLG Hamm NZV 2001, 520 (⅔). BGH NJW 2012, 1953; OLG Hamm NZV 1989, 191; KGReport Berlin 1995, 85 (50 %). S. auch OLG Düsseldorf NZV 2003, 379 (40 %). OLG Düsseldorf VRS 59, 408; KG VM 1982, Nr. 69; vgl. auch OLG Hamm NZV 1991, 31 (nicht unter 50 %). OLG Karlsruhe NZV 1989, 473. LG Bielefeld NZV 1997, 523. KG NZV 2007, 524. OLG Hamm OLGR Hamm 1995, 219. OLG München DAR 1968, 268; OLG Hamm VersR 1984, 195 LS.

Greger | 695

25.201

§ 25 Rz. 25.201 | Mitverantwortung des Geschädigten

Kreuzung eingefahren ist.453 Fuhr das eine Fahrzeug bei Rot, das andere bei Rot-Gelb ein, so erscheint eine Haftungsverteilung im Verhältnis 3:1 zu Lasten des ersteren vertretbar.454

25.202

Lässt sich die Ampelstellung nicht mehr aufklären, so haften die Unfallbeteiligten grundsätzlich im Verhältnis 1:1.455

25.203

Kollidiert der bei Grün Einfahrende mit Nachzüglern des Querverkehrs, die bei Grün eingefahren waren, aber die Kreuzung noch nicht verlassen konnten, so trifft ihn grundsätzlich die überwiegende Haftung.456 Bei pflichtwidrigem Verhalten des Nachzüglers, z.B. zu langsamem oder unvorsichtigem Räumen, liegt es umgekehrt.457 Hatte der Nachzügler beim Wechsel der Lichtzeichen noch nicht den Kernbereich der Kreuzung (s. Rz. 14.188) erreicht, kann ihn die alleinige Haftung treffen.458

25.204

25.205

Regelung durch Vorfahrtzeichen Grundsätzlich trifft den die alleinige Haftung, der das Vorfahrtrecht missachtet hat.459 Das gilt (wegen des andersgearteten Schutzzwecks; s. Rz. 11.10) grundsätzlich auch dann, wenn der andere nicht die rechte Seite der Vorfahrtstraße eingehalten hat.460 Eine Mithaftung des Bevorrechtigten ist jedoch anzunehmen, wenn er durch eigenes Verschulden zu dem Unfall – nachweislich kausal461 – beigetragen hat, insbesondere wenn er erheblich zu schnell gefahren ist. Bei einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um weniger als 20 % wird dies i.d.R. nicht in Betracht kommen.462 Dagegen wird z.B. in der Rechtsprechung eine Mithaftung von ¼ bis ⅓ bejaht, wenn der Vorfahrtberechtigte die zulässige Geschwindigkeit um ca. 20 bis 40 % überschritten hat.463 Bei darüber liegenden Geschwindigkeitsüberschreitungen werden Haftungsquoten bis hin zur alleinigen Haftung des Vorfahrtberechtigten vertreten.464 453 454 455 456

457 458 459 460 461 462

463

464

OLG Schleswig VersR 1975, 674. KG VersR 1979, 356; OLG München VersR 1975, 268. OLG Frankfurt NJW-RR 2013, 664; KG DAR 1974, 225. OLG Hamm NZV 2003, 573 (80 %); OLG Karlsruhe NZV 2013, 188 (⅔); KG NZV 2010, 568 (⅔); KG DAR 2003, 515, 516 m.w.N. u. Abweichung für dortigen Sonderfall (großer Kreisverkehr); a.A. OLG Zweibrücken VersR 1981, 581 (25 %). S. auch OLG Hamm NZV 2005, 411 u. OLG Köln NZV 2012, 276 (50 %, wenn ungeklärt ist, ob Nachzügler im inneren Kreuzungsbereich aufgehalten wurde). OLG Hamm NJW-RR 2017, 478 (20 %); LG Heidelberg NJW-RR 2017, 538 (volle Haftung, wenn Unfall für Gegner unabwendbar). KG NJW-RR 2019, 1433. KG VersR 1973, 749; OLG München NJW-RR 1986, 1154; OLG Köln VersR 1992, 977; OLG Karlsruhe VersR 2009, 1419. BGH VersR 1963, 163; a.A. OLG Köln NZV 1989, 437 (80 %); OLG Köln NZV 1991, 429 (75 %); OLG Köln OLGR Köln 2000, 367 (70 %); KG NZV 2007, 406 (75 %). Vgl. dazu KG NZV 2000, 377; OLG Karlsruhe VersR 2009, 1419. KG VM 1985, Nr. 97; OLG Köln VersR 1992, 110; zu weitgehend OLG Stuttgart VersR 1982, 782 (25 % Mithaftung bei Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 5 km/ h) u OLG Hamm NZV 1994, 277 (40 % bei 115 statt 100 km/h, obwohl Wartepflichtiger für Sichtverhältnisse zu langsam anfuhr). OLG Koblenz VersR 1974, 671; OLG Zweibrücken VersR 1977, 1059; OLG Köln VersR 1991, 1416; OLG Köln NZV 1994, 320; KG VersR 1978, 872; OLG Karlsruhe VRS 72, 420; OLG Stuttgart DAR 1997, 26. Für hälftige Mithaftung bei 23 % OLG Oldenburg DAR 1994, 29, bei 20 % OLG Hamm OLGR Hamm 1995, 3. OLG Stuttgart DAR 1989, 387 (50 %); OLG Düsseldorf MDR 2015, 1295 (50 % bei Überschreitung um 58 %); OLG Naumburg DAR 2015, 146 (50 % bei Überschreitung um 50 % und guter

696 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.208 § 25

Für die richtige Bemessung der Quote sollte jedoch nicht allein auf den Prozentsatz der Geschwindigkeitsüberschreitung abgestellt werden.465 Entscheidend sind vielmehr auch die Art der beteiligten Fahrzeuge, die Lage der Unfallstelle (innerorts, Schnellstraße), die Sichtverhältnisse466 usw. Fuhr der Bevorrechtigte mit derart überhöhter Geschwindigkeit, dass er bei Beginn des Einfahrens für den Wartepflichtigen möglicherweise noch nicht sichtbar war, ist es verfehlt, dem Wartepflichtigen deshalb eine Mithaftung aufzuerlegen, weil er nicht beweisen kann, sich nach Beginn des Einfahrens optimal über etwa herannahenden Verkehr auf der Vorfahrtstraße vergewissert zu haben.467 Je nach Schutzwürdigkeit des von ihm erzeugten Vertrauens kann der Vorfahrtberechtigte zu teilweisem oder vollem Schadensersatz verpflichtet sein, wenn er durch Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers und Verlangsamen den Anschein erweckt hat, nach rechts in die untergeordnete Straße abbiegen zu wollen.468 Des Weiteren kommt volle Haftung bei Fahren ohne Licht zur Nachtzeit in Betracht.469 Das Überfahren des Rotlichts einer der Einmündung vorgelagerten Fußgängerampel führt dagegen aus Schutzzweck- und Vertrauensschutzerwägungen (s. dazu Rz. 11.40, 14.163) i.d.R. nicht zu einer Mithaftung des Vorfahrtberechtigten.470

25.206

Kommt es nach dem Rechtseinbiegen in die bevorrechtigte Straße zum Zusammenstoß mit einem von dort entgegenkommenden Kfz, das zum Überholen auf die linke Fahrbahnhälfte ausgeschert ist, so trifft die überwiegende Haftung den Überholenden, wenn es für den Einbiegenden kein Anzeichen für einen bevorstehenden Überholvorgang gab,471 ansonsten den Einbiegenden.472

25.207

Konnte der Fahrer eines langsamen Fahrzeugs (Traktor mit Anhänger) beim Einfahren auf die Vorfahrtstraße einen Vorfahrtberechtigten noch nicht erkennen, hätte er ihm aber beim Sichtbarwerden noch durch sofortiges Anhalten die Durchfahrt ermöglichen können, ist seine hälftige473 oder überwiegende474 Haftung angebracht.

25.208

465 466 467 468

469 470 471 472 473 474

Sicht); OLG Köln VersR 1995, 676 (50 % bei Überschreitung der 50 km/h um 100 %, aber zusätzlichem Fahrfehler des Wartepflichtigen); KG DAR 2004, 524 (50 % bei 47 statt 30 km/h); OLG Celle VersR 1973, 1147 (75 %); OLG Hamm NJW-RR 2016, 1123 (70 % für Motorradfahrer mit 121 statt 50 km/h); OLG Karlsruhe VersR 1980, 1148 (100 %); KG DAR 1992, 433 (100 %); KG MDR 2020, 95 (100 % bei über 100 km/h innerorts); OLG Hamm NZV 2000, 171 (100 %). Zu schematisch daher Böhm DAR 1988, 33, 34. OLG Schleswig NZV 1994, 439: 70 % Mithaftung des Vorfahrtberechtigten wegen Verstoßes gegen Sichtfahrgebot bei Nebel; KG NZV 1999, 85: 75 %, wenn er an unübersichtlicher Kreuzung die Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 100 % überschreitet. So aber OLG Köln NZV 1999, 126 mit abl. Anm. Molketin (⅓). KG NZV 1990, 155 u. OLG Düsseldorf DAR 1977, 270 (100 %); OLG Dresden VersR 1995, 234 (70 %); OLG Karlsruhe DAR 2001, 128 (50 %); OLG Hamm NZV 2003, 414 (⅓); OLG Düsseldorf DAR 2016, 648 (⅓); OLG München NZV 2009, 457 (35 % bei Blinken ohne Verlangsamen); OLG Dresden NZV 2015, 246 (30 %). Weitere Rspr.-Nachw. bei Rebler MDR 2020, 579, 580 ff. KG VersR 1983, 839. A.A. OLG Hamm NJW 2010, 3790 (25 %); OLG Hamm NZV 1998, 246 (⅔); OLG Köln NZV 2003, 414 (⅔). BGH VersR 1982, 903: mindestens 50 %. A.A. OLG Hamm NZV 2001, 519 (25 %). KG KGR Berlin 1994, 257 (75 %); OLG Hamburg VersR 1976, 893 (100 %); OLG Karlsruhe VersR 1977, 673 mit Anm. Haertlein (100 %); OLG Oldenburg VRS 78, 25 (80 %). BGH NZV 1994, 184. OLG Frankfurt NJW-RR 2016, 731 (80 %).

Greger | 697

§ 25 Rz. 25.209 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.209

25.210

Kommt es im Zusammenhang mit dem Einfahren auf eine bevorrechtigte Straße zu einem Unfall und kann keinem der beteiligten Fahrer ein Fahrfehler nachgewiesen werden, so kommt wegen der höheren Betriebsgefahr eine Haftungsverteilung zu Lasten des Einbiegenden in Betracht.475 Dies gilt erst recht, wenn der Wartepflichtige durch eine irritierende Fahrweise den Vorfahrtberechtigten zu einer unfallursächlichen Reaktion veranlasst hat.476 Rechts vor links Bei Zusammenstößen an Kreuzungen und Einmündungen ohne besondere Vorfahrtregelung rechnet die Rechtsprechung im Allgemeinen auch dem nach dem Grundsatz „rechts vor links“ bevorrechtigten Fahrer eine Mithaftung an.477 Der Grund hierfür wird in einer besonderen Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes gesehen: der wartepflichtige Verkehrsteilnehmer dürfe grundsätzlich davon ausgehen, dass der an sich Vorfahrtberechtigte seine Geschwindigkeit herabsetzt, um ggf. seiner Wartepflicht gegenüber einem für ihn von rechts kommenden Kfz zu genügen (sog. halbe Vorfahrt; s. Rz. 3.398 zum Unabwendbarkeitsbeweis). Folgerichtig wird dem Vorfahrtberechtigten voller Schadensersatz zugebilligt, wenn für ihn eine solche Wartepflicht nach Sachlage nicht in Frage kam, etwa weil es sich um eine einseitige Einmündung oder eine nach rechts wegführende Einbahnstraße handelte478 oder weil die von rechts einmündende Straße für ihn ohne weiteres als frei erkennbar war.479

25.211

Diese im Ansatz richtige Betrachtungsweise sollte jedoch nicht schematisch gehandhabt werden. Der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer kann sich grundsätzlich auch an unbeschilderten Kreuzungen darauf verlassen, dass andere sein Vorfahrtsrecht beachten. Eine Mithaftung wegen erhöhter Betriebsgefahr ist daher im Allgemeinen nicht gerechtfertigt.480 Sie kommt nur unter gefahrerhöhenden Umständen in Betracht, insbesondere bei unangepasster Geschwindigkeit,481 Linksfahren482 oder Kurvenschneiden in trichterförmiger Einmündung,483 Vorhandensein eines Verkehrsspiegels,484 aber auch bei einer den örtlichen Verhältnissen nicht angepassten oder irritierenden Fahrweise (s. Rz. 14.179 ff.).

25.212

Bei einer Straßeneinmündung mit abgesenktem Bordstein gelten nach § 10 Satz 1 StVO die Grundsätze für Grundstücksausfahrten (s. Rz. 25.214). Zur Geltung auf Parkplätzen und deren Zufahrten s. Rz. 14.147.

475 OLG Hamm OLGR Hamm 1997, 145 (2:1). 476 LG Aachen v. 10.5.2016 – 3 S 162/15, NJW 2016, 3669 (Rollerfahrer stürzt, weil Pkw nach Warten an Stop-Schild etwas vorfährt: 75 %). 477 BGH VersR 1977, 917 (¼); OLG Zweibrücken VersR 1977, 1059 (¼); OLG Oldenburg VersR 1982, 1154 (unübersichtliche Kreuzung, ¼); OLG Hamm NZV 2003, 377 (¼); OLG Frankfurt NJW-RR 2018, 660 (unangemessene Geschwindigkeit, 30 %); OLG Saarbrücken VersR 1981, 580 (versetzte Kreuzung, ⅓); eingehend Rebler MDR 2015, 622. 478 Vgl. Krumbholz/Paul/Brüseken NZV 1988, 170; einschr. OLG Koblenz DAR 2004, 272. 479 BGH VersR 1988, 79, 80; OLG Hamm NZV 2000, 124. 480 OLG Karlsruhe NZV 2012, 229. 481 KG DAR 1984, 85 u KG NZV 1988, 65 (Linksfahren, zu hohe Geschwindigkeit auf Parkplatz: ⅔); KG NZV 2003, 381 (zu schnell in Parkanlage mit Vielzahl von Parkhäfen: ⅓); OLG Karlsruhe DAR 1988, 26 (zu schnell in verkehrsberuhigtem Bereich: 30 %); OLG Karlsruhe DAR 1996, 56 (zu schnell an unübersichtlicher Kreuzung: 25 %). 482 KG NZV 2010, 255 (50 %); OLG Hamm r+s 2020, 536 (25 %). Zu berechtigterweise nicht ganz rechts fahrendem Müllfahrzeug s. aber OLG Saarbrücken NZV 2014, 27. 483 KG NZV 1998, 26 (50 %). 484 LG Saarbrücken NZV 2014, 30.

698 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.215 § 25

Bei Einmündungen von Feld- oder Waldwegen kommt eine Mithaftung des (ungeachtet der Rechts-vor-Links-Regel vorfahrtberechtigten) Straßenbenutzers nur in Betracht, wenn er die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich überschritten und dem Einbiegenden dadurch ein rechtzeitiges Erkennen unmöglich gemacht485 oder sich nicht auf eine nach den Umständen zu erwartende Verletzung seines Vorfahrtrechtes eingestellt hat. Sie wird im letzteren Fall angesichts des Verschuldens des anderen Fahrers kaum über 20 % hinausgehen.486 Grundstücksausfahrten Die gesteigerte Gefahrabwendungspflicht des Ausfahrenden (§ 10 StVO) rechtfertigt es oftmals, diesem die alleinige Haftung aufzuerlegen, wenn es zu einer Kollision mit durchgehendem Verkehr kommt.487 Dies gilt insbesondere bei Rückwärtsausfahren.488 Bei überhöhter Geschwindigkeit oder anderer Verkehrswidrigkeit des Bevorrechtigten489 kommt aber – wie in den Vorfahrtfällen – eine Mithaftung in Betracht.490 Dessen Alleinhaftung ist vertretbar bei Befahren der Straße in gesperrter Richtung.491 Bei Kollision zwischen Aus- und Einfahrer wird häufig hälftige Haftung angezeigt sein.492 Sonderrechtsfahrzeuge Konnte der an sich bevorrechtigte Kfz-Führer das mit Blaulicht und Martinshorn in die Kreuzung eingefahrene Einsatzfahrzeug rechtzeitig erkennen, so kann im Falle einer Kollision seine Alleinhaftung angemessen sein.493 Beachtete jedoch der Fahrer des Sonderrechtsfahrzeugs beim Einfahren in die Kreuzung – insbesondere bei Rotlicht – nicht die erforderliche Sorgfalt, kommt eine erhebliche bis überwiegende Mithaftung in Betracht,494 auch für einen dadurch

485 OLG Nürnberg NZV 1991, 353. 486 Zu streng OLG Koblenz VersR 1986, 1197: 40 %. 487 OLG Rostock NZV 2011, 289; OLG Hamm VRS 72, 344; OLG Saarbrücken NJW 2018, 315 (minderjähriger Mofa-Fahrer); OLG Bamberg VersR 1987, 1137 (obwohl der bevorrechtigte Kradfahrer auf der Fahrbahnmitte fuhr); LG Düsseldorf VersR 1981, 290 (obwohl der andere wegen eines Hindernisses links fuhr). 488 OLG Hamm OLGR Hamm 1996, 50. S. auch Rz. 25.228. 489 BGH NZV 2007, 354 (Auffahren auf Pkw, der wegen Ausfahrers abrupt bremsen muss, infolge zu geringen Sicherheitsabstands: 50 %). 490 OLG Karlsruhe VersR 1982, 807 (25 % bei 20%iger Überschreitung); OLG Hamm NZV 1994, 230 (Überfahren einer Sperrfläche: 25 %); OLG Saarbrücken NZV 2015, 492 (wegen eingeschränkter Sicht Geschwindigkeit von 30 km/h zu hoch: 50 % – sehr streng); OLG Karlsruhe NZV 1989, 116 (50 statt 30 km/h auf Parkplatzerschließungsstraße: 50 %); KG VM 1987, Nr. 53 (50 % trotz Rückwärtsausfahrens des anderen, da zu schnell und zu dicht an geparkten Fahrzeugen). 491 OLG Oldenburg NZV 1992, 487. 492 So OLG Düsseldorf NZV 1991, 392; OLG Hamm NZV 1994, 154. 493 KG VersR 1976, 193; OLG Köln DAR 1977, 324. 494 OLG Naumburg DAR 2018, 631 (Missachtung der Vorfahrt eines noch weiter entfernten Berechtigten: 20 %; sehr niedrig); OLG Hamm MDR 2017, 1241 (Rotlicht, besondere Unachtsamkeit des Gegners: ⅓); OLG Frankfurt VersR 1979, 1127 (Rotlicht: 40 %); OLG Brandenburg NZV 2011, 26 (Rotlicht: 50 %); OLG Schleswig VersR 1996, 1095 (Rotlicht, unübersichtliche Kreuzung: 60 %); OLG Düsseldorf VersR 1985, 669 u NZV 1992, 489 (Rotlicht: ⅔); KG NZV 2004, 84 (Rotlicht, ca 40 km/h: ⅔); KG VRS 88, 321 (70 km/h in später Rotphase: 75 %); OLG Köln VersR 1985, 372 (Rotlicht: 80 %); OLG Naumburg DAR 2013, 468 (Rotlicht: 80 %); OLG Düsseldorf (43 km/h bei Rotlicht: 80 %); LG Itzehoe DAR 1999, 316 (Rotlicht, 40 km/h, kein Mitverschulden des anderen: 100 %).

Greger | 699

25.213

25.214

25.215

§ 25 Rz. 25.215 | Mitverantwortung des Geschädigten

verursachten Auffahrunfall zwischen anderen Fahrzeugen.495 Alleinhaftung des Sonderrechtsfahrzeugs ist angezeigt, wenn es wegen nicht ordnungsgemäßen Betätigens der Signaleinrichtungen oder aus sonstigen Gründen für den nach den allgemeinen Regeln bevorrechtigten Verkehr nicht rechtzeitig erkennbar war.496

25.216

Dass das Wegerecht unberechtigt in Anspruch genommen wurde, hat keinen Einfluss auf das konkrete Unfallgeschehen und ist daher nicht haftungserhöhend zu berücksichtigen.497

25.217

Beim Zusammenstoß mit einem Panzer, der im geschlossenen Verband eine bevorrechtigte Straße kreuzt, kann Schadenshalbteilung angemessen sein.498

25.218

Sonderfälle Fährt der Vorfahrtberechtigte an einer unübersichtlichen Einmündung so nahe am Fahrbahnrand, dass dem Wartepflichtigen die Möglichkeit des vorsichtigen Hineintastens genommen wird, so kann ihn eine Mithaftung treffen.499

25.219

Werden beim Einbiegen eines langen Fahrzeugs die nötigen Sicherheitsvorkehrungen unterlassen, trifft den Einbiegenden auch bei überhöhter Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten die alleinige bis überwiegende Haftung.500

25.220

Bei der Kollision eines Kfz, welches durch eine vom bevorrechtigten, aber ins Stocken geratenen Verkehr freigelassene Lücke in die Vorfahrtstraße einfährt, mit einem die stehende Kolonne überholenden Kfz trifft das letztere trotz seines Vorfahrtrechts eine ins Gewicht fallende Mithaftung.501 Sogar die überwiegende Haftung kann denjenigen treffen, der zunächst den Anschein eines Verzichts auf die Vorfahrt erweckt, dann aber gleichwohl in die Kreuzung einfährt,502 oder der einen Sonderfahrstreifen unbefugt benutzt503 oder eine Sperrfläche überfährt.504 Alleinhaftung des Vorfahrtberechtigten kommt in Betracht, wenn er einen Vorausfahrenden überholt, der verlangsamt, um an einer unübersichtlichen Einmündung einem anderen das Einbiegen zu ermöglichen, und beim Versuch, auch noch das einbiegende Fahr-

495 KG SVR 2011, 228. 496 KG VersR 1987, 822, OLG Köln NZV 1996, 237 u. OLG Naumburg NJW 2012, 1232 (Rotlicht, kein Martinshorn); KG NZV 1989, 192 (Rotlicht, 70 km/h, Signale nicht rechtzeitig wahrnehmbar); OLG Hamm DAR 1996, 93 (Rotlicht, 65 km/h, nicht rechtzeitig wahrnehmbar); KG NZV 2004, 86 (Zivilfahrzeug, Rotlicht, 79 km/h). 497 KG VM 1982, Nr. 41; a.A. OLG Dresden VersR 2002, 116; OLG Hamm NJW-RR 2018, 989. 498 OLG München VRS 72, 170. 499 OLG Frankfurt OLGR Frankfurt 1994, 99 (25 %). 500 BGH VersR 1984, 1147 (Lastzug, kein Warnposten: 70 %); OLG Hamm NZV 1997, 267 (Trecker mit 2 Anhängern aus Feldweg: 100 %). 501 KG VersR 1974, 370 (25 %); OLG Düsseldorf VersR 2018, 694 (25 %); OLG Hamm NZV 2014, 176 (⅓); LG Halle NZV 1999, 171 (50 %); OLG Köln VersR 2015, 1135 (Tankstellenausfahrt: 50 %); OLG Koblenz VersR 1981, 1136 (Kasernenausfahrt, Kradfahrer bei Überholverbot: ⅔); OLG Köln VersR 1989, 98 LS (Überholverbot und überhöhte Geschwindigkeit: ⅔). S. aber KG NZV 2003, 575: keine Mithaftung, da Erkennbarkeit der Lücke nicht dargelegt. 502 OLG Hamm NZV 1988, 24 (Freilassen einer Lücke, Lichthupe: ⅔). 503 KG NZV 1992, 486 (⅔). 504 OLG Hamm NZV 1992, 238 (75 %); LG Aachen VersR 1992, 333 (⅔). S. auch OLG Schleswig NZV 1993, 398 LS: 100 %.

700 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.226 § 25

zeug zu überholen, mit diesem kollidiert;505 desgleichen bei exorbitanter Geschwindigkeitsüberschreitung.506 Der auf eine Autobahn unter Nichtbeachtung des durchgehenden Verkehrs Einfahrende haftet i.d.R. voll; eine Mithaftung desjenigen, der es unterlassen hat, durch kurze Verzögerung oder Spurwechsel ein Einfädeln zu ermöglichen, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht.507 Kommt es infolge des verkehrswidrigen Einfahrens zu einem Auffahrunfall zwischen Lkw auf der Autobahn, kann das Nichteinhalten des gebotenen Sicherheitsabstandes durch den auffahrenden Lkw doppelt so schwer bewertet werden wie das sorgfaltswidrige Einfahren.508

25.221

Bei sofortigem Fahrspurwechsel des auf eine mehrspurige Straße Einfahrenden haftet dieser grundsätzlich allein,509 bei überhöhter Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten überwiegend.510

25.222

Auf Parkplätzen ist auch der zwischen den Parkreihen Hindurchfahrende zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet (s. Rz. 14.201) und haftet daher bei einer Kollision mit, sofern er nicht größtmögliche Sorgfalt beweisen kann.511 Zu Unfällen beim Rückwärtsausfahren aus einer Parkbox s. Rz. 25.226.

25.223

Erweckt der Bevorrechtigte den falschen Eindruck eines Vorfahrtverzichts, bleibt die Haftung zwar im Wesentlichen beim Wartepflichtigen, da dieser nur auf eindeutigen Verzicht vertrauen darf; den anderen trifft aber eine Mithaftung512 (s. auch Rz. 25.220 zum „Lückenunfall“). Aus bloßem Abstoppen vor der Kreuzung darf aber nicht auf Vorfahrtverzicht geschlossen werden; hier haftet der Wartepflichtige voll.513

25.224

Gerät der vorfahrtberechtigte Linksabbieger, weil er in zu flachem Bogen fährt, außerhalb des engeren Kreuzungsbereichs in die Fahrlinie eines auf der untergeordneten Straße Herankommenden, trägt er i.d.R. die alleinige Haftung.514

25.225

d) Unfälle zwischen Kfz beim Rückwärtsfahren oder Wenden Beim Zusammenstoß eines rückwärtsfahrenden Kfz mit einem Teilnehmer des durchgehenden Verkehrs greift i.d.R. Alleinhaftung des ersteren ein.515 Eine Quotelung kann jedoch bei

505 OLG Hamm VersR 1982, 250 LS. 506 OLG Stuttgart NZV 1994, 194 (88 statt 50 km/h). 507 Bejaht von OLG Naumburg NZV 2008, 25 (30 %), OLG Hamm NZV 1993, 436 (20 %); OLG Hamm NZV 2001, 85 (25 %); für volle Haftung des Bevorrechtigten OLG Karlsruhe NZV 1996, 319 (fragwürdig). 508 KG MDR 2008, 1269. 509 OLG Hamm NZV 1994, 229; OLG Naumburg NZV 2008, 618. 510 OLG Hamm OLGR Hamm 1999, 255 (⅔). Anders nach OLG Köln OLGR Köln 2001, 163, wenn Einfahrvorgang möglicherweise bereits abgeschlossen war: 30 %. 511 OLG Oldenburg VersR 1983, 1043 (20 %); OLG Oldenburg VersR 1993, 496 (50 %). 512 OLG Koblenz NZV 1991, 428 (Lichthupe, 20 %). 513 OLG Hamm v. 23.11.2018 – 7 U 35/18, SVR 2019, 342 (KW). 514 KG VersR 1994, 1085 (ausnahmsweise 75 %). 515 BGH VersR 1963, 358; KG VM 1988, Nr. 30 LS; OLG Saarbrücken NZV 2015, 240 (Kundenparkplatz); OLG Düsseldorf MDR 2018, 522 (Grundstücksausfahrt).

Greger | 701

25.226

§ 25 Rz. 25.226 | Mitverantwortung des Geschädigten

überhöhter Geschwindigkeit oder grober Unachtsamkeit des anderen angezeigt sein.516 Dies gilt insb. dort, wo mit rangierenden Fahrzeugen gerechnet werden muss (Parkfläche, Parkhaus);517 hier kommt sogar Alleinhaftung des zu schnell Fahrenden in Betracht.518 Bei Kollision von zwei rückwärts fahrenden Kfz, insb. bei beidseitigem Ausparken, ist, sofern nicht einem der Beteiligten ein alleiniges Fehlverhalten nachgewiesen werden kann (s. Rz. 41.117), hälftige Haftung angezeigt.519 Steht fest, dass ein Fahrzeug bei der Kollision stand, kommt lediglich dessen Mithaftung aus Betriebsgefahr in Betracht.520

25.227

Auch beim Wenden trifft im Allgemeinen denjenigen, der das gefahrenträchtige Fahrmanöver vornimmt, die volle Haftung.521 Dies setzt aber voraus, dass der Unfall auf die Gefährlichkeit des Wendevorgangs zurückzuführen ist. Fährt ein anderer auf ein stehendes Kfz auf, haftet er auch dann voll, wenn dessen Fahrer ein Wenden beabsichtigte.522 Mithaftung des Unfallgegners kommt in Betracht, wenn diesen ebenfalls ein unfallursächliches Verschulden oder zumindest eine deutlich erhöhte Betriebsgefahr trifft.523 Wer einen anderen durch ein unzulässiges Wendemanöver zum Bremsen zwingt, haftet einem Dritten, der infolge Unaufmerksamkeit auf diesen auffährt, im Verhältnis 2:1.524 Bleibt ungeklärt, wie lange das Kfz bereits zum Wenden schräg im Mittelstreifendurchbruch stand, bevor das andere auffuhr, ist der Schaden hälftig zu teilen.525

516 OLG Frankfurt VersR 1973, 968 (7:3 zu Lasten eines mit überhöhter Geschwindigkeit auf einen Einparkenden auffahrenden Pkw); LG Heidelberg NJW-RR 2015, 480 (⅔ bei unvorsichtigem Rückwärtsfahren). 517 OLG Stuttgart NJW-RR 1990, 670 (Mithaftung ⅓); LG Nürnberg-Fürth NZV 1991, 357 (Mithaftung 40 %); Freymann DAR 2018, 242, 244. 518 KG VersR 1983, 250 LS (Parkhaus). 519 BGH NJW 2017, 1175; BGH NJW 2018, 3095, 3096. OLG Hamm NZV 2013, 123 lässt hierfür bereits engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Zurücksetzen genügen. 520 OLG Saarbrücken NJW-RR 2019, 1435 (20 %); LG Karlsruhe NJW-RR 2016, 1305 (25 %). 521 OLG Düsseldorf VersR 1982, 553; OLG Köln NZV 1995, 400; OLG Köln VersR 1999, 993; OLG Koblenz NZV 1992, 406; OLG Hamm NZV 1997, 438; KG NZV 2009, 598; OLG Düsseldorf DAR 2017, 463 (Kehrmaschine mit gelbem Blinklicht). 522 OLG Saarbrücken NZV 2013, 489. 523 OLG München VersR 1982, 173 (Vorbeifahrt an stehender Doppelkolonne, aus der heraus der andere durch eine Lücke wendet: 20 %); KG VM 1992, Nr. 51 (Versuch hinter dem querstehenden Wendenden durchzufahren: 25 %); OLG Hamm MDR 1994, 781 (75 km/h mit Abblendlicht: 25 %); OLG Schleswig VersR 1995, 1329 (Rettungswagen, dem der Wendende freie Fahrt schaffen wollte: 25 %); OLG Saarbrücken VersR 2004, 621 (Überholen bei unklarer Verkehrslage: 25 %); OLG Saarbrücken MDR 2005, 1287 (Motorrad mit 13,5 km/h zu hoher Geschwindigkeit: 25 %); OLG Dresden NJW-RR 2020, 730 (58 statt 50 km/h: 25 %); OLG Celle OLGR Celle 2004, 298 (grob verkehrswidriges Wenden eines Pkw; Motorrad 30 % zu schnell: 30 %); OLG Düsseldorf NZV 2016, 429 (Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 15 km/h: ⅓); OLG Köln MDR 1995, 475 (75 km/h innerorts: 40 %); OLG Köln DAR 2000, 120 (Geschwindigkeitsüberschreitung um mindestens 50 %: ⅓); OLG Düsseldorf VersR 2016, 675 (Abbremsen zum Wenden an ungeeigneter Stelle, Auffahren wegen zu geringen Abstands: 50 %); OLG Hamm OLGR Hamm 1994, 65 (Geschwindigkeitsüberschreitung und verspätete Reaktion: 50 %); OLG Celle OLGR Celle 2001, 107 (Geschwindigkeitsüberschreitung um fast 50 %: 75 %). 524 OLGR Hamm 1994, 100. 525 KG NZV 2010, 513.

702 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.230 § 25 Sonderfälle: In Einbahnstraße bzw. auf Richtungsfahrbahn rückwärts Fahrender trägt ¾526 bis 100 %527 bei Kollision mit Grundstücksausfahrer, 100 % bei Kollision mit Wendendem528 oder Anfahrendem.529 Rückwärts aus Grundstück Ausfahrender trägt 60 % bei Zusammenstoß mit auf der Straße rückwärts Fahrendem,530 ⅔ bei Zusammenstoß mit einem innerorts mit überhöhter Geschwindigkeit Überholenden,531 ⅓, wenn der andere über eine Sperrfläche fuhr.532 Rückwärts bei Dunkelheit und Regen in Grundstückseinfahrt rangierenden Lastzug trifft volle Haftung gegenüber mit nicht zu beanstandender Geschwindigkeit von 70 km/h herankommendem Pkw.533 Haftungsteilung ist jedoch angezeigt, wenn der Herankommende für die Sichtverhältnisse zu schnell oder unaufmerksam fuhr.534 Vorbeifahren mit unverminderter Geschwindigkeit hinter einem auf der Überholspur querstehenden, rangierenden Fahrzeug: ⅓.535

25.228

e) Unfälle mit Kfz im ruhenden Verkehr Hat ein verkehrswidrig abgestelltes Kfz zu einem Verkehrsunfall beigetragen, so haftet dessen Halter je nach Höhe seines Verursachungsbeitrags und nach dem Maß des Verschuldens der anderen Verkehrsteilnehmer mit.536

25.229

Einzelfälle (angegeben ist der Haftungsanteil des stehenden Kfz):

25.230

25 %: verbotswidrig und verkehrsgefährdend geparkter Pkw wird bei Dunkelheit angefahren (OLG Frankfurt NJW-RR 2018, 863); im absoluten Haltverbot gegenüber einer Grundstücksausfahrt abgestelltes Kfz wird von anderem angefahren, welches wegen der Verengung einem ausfahrenden Kfz nicht ausweichen kann (OLG Köln VersR 1988, 725); 30 %: in Ausfahrt zu BAB-Parkplatz verbotswidrig abgestellter Lastzug, überhöhte Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit des Auffahrenden (OLG Düsseldorf VersR 2019, 503); 1/3: in enger Kurve geparktes Kfz verursacht Begegnungszusammenstoß (OLG Schleswig VersR 1975, 384); zu nahe an Einmündung geparkter Pkw wird von rechtsabbiegendem Omnibus angefahren (KG VersR 1978, 140); 40 %: schwer erkennbares Sonderfahrzeug ohne Schlussleuchten, Geschwindigkeit des Auffahrenden nicht auf Sicht (OLG Hamm r+s 2019, 221); geparkter Pkw verdeckt Vorfahrtzeichen (OLG Köln VersR 1990, 100); Vorfahrtunfall wegen sichtbehindernden Parkens an Einmündung (OLG Karlsruhe NZV 1992, 408; anders (25 %) LG Gießen ZfS 1989, 224; 50 %: sichtbehinderndes und fahrbahnverengendes Parken eines Lkw vor Tankstellenausfahrt (AG Heilbronn VersR 1991, 1072); 60 %: unbeleuchtet und ohne Warnhinweis auf Landstraße abgestellter Lkw-Anhänger (OLG Celle OLGR Celle 2004, 327).

526 527 528 529 530 531 532 533 534

OLG Köln VersR 1992, 332. KG KGReport Berlin 1994, 98. KG VersR 1993, 711. OLG Düsseldorf DAR 2018, 204. OLG Köln NZV 1994, 321. OLG Hamm ZfS 1993, 261. OLG Köln NZV 1990, 72. OLG Hamm VersR 1994, 1252. OLG Karlsruhe VersR 1989, 1058 (Mithaftung ¼); OLG München NZV 1994 106 (Leichtkraftradfahrer bei Nebel: Mithaftung ⅓); OLG München NZV 2017, 52 KW (rückwärts über Gegenfahrbahn in Feldweg rangierender Lastzug: 50 %; zw.). 535 OLG Karlsruhe MDR 1991, 543. 536 Umfassende Zusammenstellung bei Berr DAR 1993, 418 ff.

Greger | 703

§ 25 Rz. 25.231 | Mitverantwortung des Geschädigten

25.231

Zum Auffahren auf ein abgestelltes oder liegengebliebenes Kfz s. Rz. 25.167.

25.232

Bei einem Unfall, der auf unvorsichtiges Türöffnen und einen deutlich zu geringen Seitenabstand des anderen Kfz zurückzuführen ist, kann eine Haftungsquote von 50 % als Richtwert dienen.537 Hält der Vorbeifahrende zu geringen Abstand ein, obwohl die Tür bereits geöffnet ist, trifft ihn die weit überwiegende Haftung.538 Die einfache Betriebsgefahr tritt jedoch hinter einem groben Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht beim Ein- oder Aussteigen (§ 14 Abs. 1 StVO) zurück.539

25.233

Fährt ein Pkw gegen die ohne Absicherung 2 m weit in den Verkehrsraum ragende, waagerecht angehobene Ladebordwand eines in zweiter Reihe parkenden Lkw, so tritt die Betriebsgefahr des Pkw vollständig hinter die erhöhte Betriebsgefahr des Lkw zurück.540

f) Kfz-Unfälle durch Ladung, Fahrzeugteile oä 25.234

In diesen Fällen ist die Quotierung ganz besonders von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Eine Mithaftung des Geschädigten sollte hier nur bei deutlich erhöhter Betriebsgefahr seines Kfz bejaht werden.

25.235

Alleinhaftung des Verursacherfahrzeugs hat die Rechtsprechung dementsprechend angenommen, wenn ein anderes Kfz auf eine verlorene Warntafel541 oder eine abgelöste Reifenlauffläche542 aufgefahren oder wenn ein Krad auf einer Ölspur ausgerutscht ist.543 Dagegen wurde dem Kraftfahrer (zu weit gehend) eine Mithaftung auferlegt, der bei Nacht auf einen Lkw-Anhänger aufgefahren war, der sich vom Zugfahrzeug gelöst hatte und unbeleuchtet die Autobahn blockierte,544 der auf einen nachts auf der BAB liegenden Reifen auffuhr545 oder der infolge nicht angepasster Geschwindigkeit gegen einen von einem Holzrückfahrzeug gezogenen Baumstamm546 oder gegen das über die Fahrbahn gespannte Seil eines Bergungsfahrzeugs prallte.547 Bei deutlicher Überschreitung der Richtgeschwindigkeit wurde zu Recht eine Mithaftung von 30 % bei Kollision mit einem verlorenen Reifen ausgesprochen.548 Schadenshalbteilung wurde bejaht, wenn ein zum Überholen eines mit Bauschutt

537 KG VersR 1986, 1123; OLG Frankfurt NZV 2009, 499 (daneben einparkendes Fahrzeug); vgl. auch LG Mainz VersR 1983, 789: ⅔ zu Lasten des stehenden Kfz; LG Hannover NZV 1991, 36: nur 20 %, wenn leicht geöffnete Tür von Sogwirkung eines vorbeifahrenden Lkw mitgerissen wird. 538 OLG Bremen NZV 2008, 575. Nach BGH NJW 2009, 3791 u. OLG Frankfurt NZV 2014, 454 können 50 % angemessen sein. Bedenklich KG NZV 2009, 502: volle Haftung des Parkenden, obwohl Vorbeifahrender trotz bereits geöffneter Fahrertür nur 55 cm Abstand einhielt. Sonderfall OLG Celle NJW-RR 2017, 990 (Lieferwagen mit überbreitem Anhänger fährt neben Pkw an; dessen Fahrer lässt die Tür trotz der erkennbaren Gefahr teilweise offen und haftet daher zu 75 %). 539 OLG Düsseldorf VersR 2014, 1390; a.A. OLG Düsseldorf NJW-RR 2020, 728, 730, wenn mit Öffnen der Tür zu rechnen war. 540 OLG Hamm NZV 1992, 115 mit Anm. Greger. Nach KG NZV 2010, 299 LS ⅔ Mithaftung bei zu geringem Seitenabstand. 541 OLG Hamm NZV 1988, 64. 542 KG NZV 1988, 23. 543 OLG Bamberg VersR 1987, 465. 544 OLG Braunschweig VersR 1983, 157: 20 %. 545 OLG Frankfurt NZV 1991, 270: 20 %. 546 OLG Zweibrücken NZV 1993, 153: ⅓. 547 BGH NZV 1993, 224: ⅓ nicht beanstandet. 548 OLG Jena DAR 2007, 29.

704 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.238 § 25 beladenen Lkw ansetzendes Kfz durch herabfallende Steine beschädigt wird,549 sogar volle Haftung des Geschädigten, wenn er nach einer Baustelle keinen ausreichenden Abstand zum Vordermann einhält und sein Fahrzeug daher von Steinen getroffen wird, die an dessen Reifen haften geblieben waren.550

g) Unfälle zwischen Kfz und Schienenbahn Die Betriebsgefahr der Schienenbahn ist infolge ihres fehlenden Ausweichvermögens, ihrer großen Bewegungsenergie und der begrenzten Bremsfähigkeit generell höher zu bewerten als die eines Kfz.551 Dies schlägt auf die Haftungsverteilung aber nur dann durch, wenn sich diese besonderen Umstände auf das konkrete Unfallgeschehen auch tatsächlich ausgewirkt haben. Außerdem kann sich der a priori höhere Haftungsanteil der Schienenbahn dadurch (u.U. bis auf null) verringern, dass den Kraftfahrer ein unfallursächliches Verschulden trifft. Zu allgemein gefahrerhöhenden Umständen des Bahnbetriebs s. Rz. 25.136 ff.; zu Bahnunfällen mit nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern s. Rz. 25.262 ff.).

25.236

aa) Gleichgerichteter Verkehr Auffahren der Straßenbahn auf Kraftfahrzeug Beim Auffahren auf ein im Gleisbereich anhaltendes Kfz kommt eine Schadensaufteilung im Verhältnis 2:1 zu Lasten der Straßenbahn in Betracht,552 doch ist, insbesondere wenn dem Straßenbahnführer mangelnde Aufmerksamkeit vorgeworfen werden kann oder besondere Gründe für das Anhalten des Kraftfahrers im Gleisbereich vorlagen, der Anteil des Straßenbahnunternehmers zu erhöhen.553 Umgekehrt trifft den Kraftfahrer ein höherer Anteil, wenn er erst kurz vor der Straßenbahn554 oder zum Zwecke verbotswidrigen Abbiegens555 oder zum Wenden556 auf das Gleis gewechselt ist. In solchen Fällen kann die Betriebsgefahr der Tram u.U. ganz zurücktreten.557 Linksabbiegendes Kraftfahrzeug Biegt ein Kfz unmittelbar vor der von hinten herannahenden Straßenbahn nach links ab, trifft i.d.R. den Kraftfahrer die alleinige Haftung.558 Dasselbe gilt, wenn es zu einer Kollision des

549 550 551 552 553 554 555 556 557 558

AG Köln VersR 1986, 1130. LG Kiel VersR 1982, 275 (zw.). OLG Düsseldorf DAR 1975, 330; KG NZV 2005, 416. BGH VersR 1970, 1049; OLG Hamm VersR 1967, 984; OLG Hamm VRS 80, 258; OLG Düsseldorf VersR 1981, 784; OLG Hamburg VersR 1980, 172; für 50 % bei ungeklärtem Auffahrunfall dagegen OLG Hamm NZV 1991, 313. OLG Hamburg VersR 1967, 563 (60 %); OLG Hamburg VersR 1974, 38 (70 %); OLG Düsseldorf VersR 1975, 243 (75 %). BGH VersR 1964, 1241 (50 %); OLG Hamburg VersR 1965, 1182 (50 %); OLG Celle VersR 1974, 980 (50 %); OLG Hamm VersR 1981, 961 (50 %); OLG Koblenz VersR 1979, 1035 (⅔). OLG Hamm VersR 1992, 108 (⅔); KG NZV 2005, 416 (Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 3 StVO: 50 %). OLG Brandenburg NZV 2009, 497 (70 %). OLG Düsseldorf VersR 1970, 91; OLG Düsseldorf VersR 1988, 90; OLG Düsseldorf NZV 1994, 29, 30; OLG Hamm VRS 73, 338; OLG Hamm NZV 2005, 414; OLG Hamm NJW-RR 2018, 1427. OLG Düsseldorf VersR 1965, 1158; OLG Düsseldorf VersR 1976, 499; OLG Düsseldorf VersR 1981, 785; OLG Koblenz NZV 1993, 476 (Kreuzung durch Andreaskreuz und Lichtsignalanlage gesichert, Lichtsignal aber ausgefallen).

Greger | 705

25.237

25.238

§ 25 Rz. 25.238 | Mitverantwortung des Geschädigten

ausschwenkenden Sattelzugaufliegers mit einer auf der Nebenspur fahrenden Straßenbahn kommt.559

25.239

Seitliche Berührung Hat der Kraftfahrzeugführer seinen Wagen zu nahe am Straßenbahngleis abgestellt und verschätzt sich der Straßenbahnfahrer im Abstand, so trifft letzteren eine ins Gewicht fallende Mitverantwortung. Die Quotelung im Einzelfall hängt dann davon ab, welcher Vorwurf dem Kraftfahrer zu machen ist.560 Missachtet ein LKW-Fahrer an einer Verengung den Vorrang der Straßenbahn, haftet deren Führer gleichwohl zu 30 % mit, wenn er nach den Umständen nicht auf die Beachtung des Vorrangs vertrauen durfte.561 bb) Gegenverkehr

25.240

Fährt ein entgegenkommender Linksabbieger kurz vor der Straßenbahn in deren Gleisbereich ein, tritt ihre Betriebsgefahr zurück.562 cc) Kreuzender Verkehr

25.241

Regelung durch Lichtzeichen Bei der Kollision zwischen einer Straßenbahn, die schon vor dem Umschalten des Sperrsignals in die Kreuzung einfuhr, und einem noch bei später Gelbphase einfahrenden Kfz kommt eine Haftung im Verhältnis 3:1 zu Lasten der Straßenbahn in Betracht.563 Stößt ein unaufmerksam bei Grün in die Kreuzung einfahrender Kraftfahrer mit einer Straßenbahn zusammen, die als Nachzüglerin vorsichtig die Kreuzung räumen will, so ist es gerechtfertigt, dem Kraftfahrer die volle Haftung aufzuerlegen.

25.242

Regelung durch Vorfahrtzeichen Gegenüber dem schweren Verschulden eines die Gleise trotz Wartepflicht kreuzenden Kraftfahrers bleibt die Betriebsgefahr der Straßenbahn außer Ansatz.564

25.243

Grundstücksein- und -ausfahrt Beim Zusammenstoß eines ausfahrenden Kfz mit einer rechtzeitig erkennbaren Straßenbahn haftet der Halter des Kfz voll.565

25.244

Bahnübergang Beruht der Zusammenstoß zwischen einem Kfz und einem Zug an einem unbeschrankten Bahnübergang auf grober Unachtsamkeit des Kraftfahrers, so lässt die Rechtsprechung zu

559 OLG Celle NJW-RR 2019, 217. 560 OLG Düsseldorf VersR 1974, 390 (Straßenbahn 80 %); OLG Düsseldorf VRS 66, 333 (⅔); KG VRS 88, 115 (100 % bei ausscherendem Heck). 561 OLG Dresden VRS 136, 253. 562 BGH VersR 1969, 82. A.A. OLG Braunschweig VersR 1972, 493 (25 % Mithaftung); OLG Köln VersR 1971, 1069 (⅓). 563 OLG Hamm VersR 1988, 1054. 564 OLG Düsseldorf VersR 1987, 823; a.A. OLG Bremen VersR 1967, 1161 (50 %, weil Gefährlichkeit der Kreuzung bekannt; zw.). 565 OLG Celle VersR 1982, 1200.

706 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.246 § 25

Recht die Gefährdungshaftung der Bahn weithin völlig zurücktreten.566 Dies gilt natürlich erst recht, wenn der Kraftfahrer das rote Blinklicht missachtet hat567 oder wenn er den Bahnübergang verschuldetermaßen nicht zügig räumt.568 Hat das Verschulden des Kraftfahrers geringeres Gewicht (hatte er z.B. zunächst angehalten und die Lage lediglich falsch eingeschätzt), so kommt eine Schadensteilung bis zur Hälftelung in Betracht.569 Überwiegende Haftung der Bahn ist anzunehmen, wenn nicht festgestellt werden kann, ob das Blinklicht in Betrieb war570 oder wenn der Zustand von Bahneinrichtungen zu dem Unfall beigetragen hat.571 Wurden Schranken nicht geschlossen oder vorzeitig geöffnet, ist grundsätzlich volle Haftung der Bahn zugrunde zu legen.572 dd) Sonstige Fälle Bei der Kollision mit einem Kfz, welches durch Verschulden des Fahrers von der Straße abgekommen und auf den Bahnkörper geraten ist, tritt die Bahnbetriebsgefahr i.d.R. zurück.573 Ragt die Schaufel eines manövrierunfähig gewordenen Baggers in den Gleisbereich, haftet die Bahn zu ⅓.574 Bei Kollision einer Straßenbahn mit einer im Kreuzungsbereich arbeitenden Kehrmaschine haftet die Bahn trotz Grünlicht zu 75 %.575 Volle Haftung der Bahn greift ein, wenn ein Rangierzug, der in einem Betriebsgelände zunächst vor einem im Gleisbereich abgestellten Autokran angehalten hatte, sich infolge eines Fehlverhaltens ihres Personals wieder in Bewegung setzt und mit dem Kfz kollidiert.576

25.245

h) Kfz-Unfälle mit Beteiligung von Tieren aa) Unbeaufsichtigte Tiere Trifft bei einem Unfall die Tierhalterhaftung (§ 833 BGB; dazu oben § 9) mit der Gefährdungshaftung des Kraftfahrzeughalters zusammen, so ist erstere keineswegs von vornherein geringer zu veranschlagen. Von einem Tier auf der Fahrbahn kann vielmehr eine erhebliche 566 BGH VersR 1964, 870; BGH VersR 1964, 1024; OLG Hamburg VersR 1979, 549; OLG Nürnberg VersR 1985, 891; OLG Frankfurt VersR 1985, 94; OLG München VersR 1993, 242; OLG Stuttgart VRS 80, 410. 567 OLG Celle VersR 1966, 833; OLG Frankfurt VersR 1986, 707; OLG Hamm NZV 1993, 70; OLG Hamburg VersR 1979, 549; OLG Köln NZV 1997, 477; OLG Koblenz NZV 2002, 184. A.A. OLG Hamm VersR 1983, 465 (Bahn 20 % wegen möglicher Sonnenblendung); OLG Oldenburg NZV 1999, 419 (⅓, weil gefährlicher Übergang trotz mehrerer Unfälle nicht besser gesichert wurde). 568 OLG Celle NZV 1988, 22. OLG Frankfurt VersR 1988, 295 erlegte der Bahn in einem solchen Fall – nicht überzeugend – 25 % Mithaftung auf, OLG Köln NZV 1990, 152 sogar ⅔ wegen besonders gefahrenträchtiger Anlage des Bahnübergangs auf einer Kreuzung. 569 BGH VersR 1966, 291 (Bahn 25 %); s. auch BGH VersR 1967, 1197 (50 %); OLG Saarbrücken NZV 1993, 31 (Sichtbehinderung 25 %). 570 OLG Stuttgart VersR 1979, 1129 (60 %); OLG Hamburg VersR 1983, 740 (60 %). 571 BGH VersR 1966, 65 (verschneite Warnbaken); BGH VersR 1967, 132 (unbeleuchtete Schranke; allerdings ⅔-Haftung des Kradfahrers); OLG Hamm NZV 1994, 437 (Bahnübergang erst aus 30 m Entfernung erkennbar, keine Warnbaken, aber Rotlicht: maximal 75 % für Kraftfahrer). 572 BGH VRS 3, 217; BGH VRS 4, 503. S. aber BGH VersR 1961, 950 (Zusammenstoß von Mopedfahrer mit deutlich sichtbarem Zug: 3:1 zu Lasten des Mopedfahrers). 573 OLG Hamm VersR 1985, 843. 574 OLG Hamm VersR 1995, 1457. 575 OLG Jena NZV 2000, 210. 576 OLG Düsseldorf NZV 1989, 114.

Greger | 707

25.246

§ 25 Rz. 25.246 | Mitverantwortung des Geschädigten

Gefahr ausgehen, die, insbesondere wenn noch ein Verschulden des Tierhalters hinzukommt, dessen überwiegende oder sogar alleinige Haftung rechtfertigen kann.577

25.247

Einzelfälle Die Angabe in der Klammer bezeichnet den Haftungsanteil des Tierhalters bzw -hüters.578 Hund: OLG Hamm VM 1985, Nr. 108 (Schäferhund auf Autobahn: 100 %); OLG Bamberg NZV 1991, 30 (frei laufender Jagdhund: 100 %); AG Bad Kreuznach NZV 2015, 600 (nicht angeleinter Hund springt aus Pkw vor anderen Pkw: 100 %); KG VM 1993, Nr. 119 (Hund gegen Krad auf Straßenabschnitt mit 10 km/h Höchstgeschwindigkeit: 50 %). Bei einem durch den Hund verursachten Auffahrunfall kann dessen Halter gegenüber dem Auffahrenden zu ½ (OLG Saarbrücken OLGR Saarbrücken 1998, 420) oder ⅓ (LG Köln NJW-RR 1986, 1152) haftbar sein. Katze: LG Krefeld NJW-Spezial 2020, 171 KW (unter Pkw liegende Katze wird beim Anfahren verletzt: 100 %) Pferd: BGH VersR 1966, 186 u. OLG Celle DAR 2005, 623 (frei umherlaufend auf Bundesstraße bei Dunkelheit: 100 %); OLG Koblenz VersR 1995, 928 (bei Dunkelheit und Regen auf Landesstraße: 100 %); OLG Hamm NZV 2007, 143 (ausgebrochene Pferde nachts auf Landstraße: ⅔); OLG Hamm NZV 2003, 423 131 (bei Dunkelheit aus Hof auf Straße laufende Pferde veranlassen Pkw-Fahrer zur Vollbremsung; Kläger fährt auf: 60 %); OLG Celle DAR 2004, 701 (überhöhte Geschwindigkeit und Trunkenheit des Kfz-Führers: ⅓). Rind: OLG Oldenburg NZV 1991, 115 (auf BAB: 100 %); OLG Hamm NZV 1989, 234 (auf BAB: 75 %); OLG Düsseldorf NZV 1988, 21 (Zusammenstoß mit Krad: ⅔); OLG Düsseldorf VersR 1995, 232 (nach Unfall von Polizei in Nebenstraße getrieben, dort Kollision mit Pkw: ⅔); OLG Koblenz NZV 1991, 471 (Zusammenstoß mit Pkw auf nächtlicher Landesstraße: ⅔); OLG Hamm VersR 1997, 1542 (Pkw mit Abblendlicht und 95 km/h: ⅔); OLG Hamm NZV 2001, 348 (50 % in ähnlichem Fall; Abweichung nicht überzeugend begründet). Schafherde: OLG Schleswig NZV 2014, 32 (ausgebrochene Herde nachts auf Kreisstraße: 80 %)

bb) Tiere unter menschlicher Leitung

25.248

In diesen Fällen kommt nur eine deliktische Mithaftung des für das Tier Verantwortlichen in Betracht,579 sofern nicht ein selbsttätiges Tierverhalten (s. Rz. 9.1) den Unfall herbeigeführt hat.580 Führt die verkehrswidrige Fahrweise eines Kraftfahrers zu einem solchen Tierverhalten, ist i.d.R. dessen überwiegende Haftung angezeigt. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Reitpferd wegen zu dichten Vorbeifahrens581 oder einer vorwerfbaren Notbremsung des Kfz scheut,582 nicht wenn dies bei einem ordnungsgemäßen Überholvorgang geschieht.583

577 Vgl. OLG Frankfurt VersR 1982, 908. 578 Zu deren Haftung mit einheitlicher Quote s. OLG Hamm NZV 2007, 143. 579 Von OLG Frankfurt NZV 1989, 149 verneint bei Reiten auf der linken Straßenseite und Kollision mit nicht auf Sicht fahrendem Kraftfahrer. 580 OLG Celle VersR 2017, 567 (beiderseits nur Gefährdungshaftung bei Ausbrechen eines an Hand geführten Pferdes infolge Geräuschentwicklung des Kfz: 50 %). 581 OLG Hamm NZV 1994, 190 (⅔); OLG Celle NJW-RR 2018, 728 (50 % wegen Mitverschuldens der Reiterin). 582 OLG Köln NZV 1992, 487 (80 %). 583 OLG Brandenburg NZV 2011, 609 (Pony läuft gegen Lastzuganhänger: ⅔).

708 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.250 § 25

i) Unfälle zwischen Kfz und Radfahrer Eine Schadensquotelung kommt hier nur in Betracht, wenn dem Radfahrer eine schuldhafte Mitverursachung des Unfalls nachgewiesen werden kann. Bei grob verkehrswidrigem Verhalten des Radfahrers kann die Betriebsgefahr des Kfz völlig zurücktreten. Verursacht der Radfahrer durch verkehrswidriges Verhalten einen Auffahrunfall zwischen Kfz, haftet er neben dem Auffahrenden.584 Zu Radfahrunfällen mit Kindern s. Rz. 25.260. Einzelfälle In der nachstehenden Rechtsprechungsübersicht585 bezeichnet die Angabe in der Klammer den Haftungsanteil des Kraftfahrzeughalters. Abgestelltes Kfz: OLG Hamm NZV 1990, 312 (½) u. OLG Hamm NZV 1992, 445 (⅔; betreffen denselben Unfall: Radfahrer fährt nachts bei Regen gegen unbeleuchtet abgestellten Lkw). Ausweichen: OLG Karlsruhe NZV 2011, 196 (Radfahrer fährt abschüssige Straße mit unangepasster Geschwindigkeit hinab und kommt beim Ausweichen vor einem aus einer Kurve entgegenkommenden Bus zu Fall: 0); AG Darmstadt NZV 1992, 369 (Radfahrer weicht auf dem Radweg abgestelltem Pkw auf den Gehweg aus und stürzt wegen des Höhenunterschiedes: 0 [fragwürdig]). Gehwegbenutzung durch Radfahrer: OLG Hamm VersR 1987, 1246 u. OLG Celle MDR 2001, 1236 (Kollision mit Kfz aus untergeordneter Straße: 0). S. auch Grundstücksausfahrt; Rz. 11.11. Grundstücksausfahrt: Radfahrer auf Gehweg: OLG Karlsruhe NZV 1991, 154 (0); OLG Hamburg NZV 1992, 281 mit Anm. Grüneberg (nicht mehr als 70 %); OLG Hamm NZV 1995, 152 (0); OLG Dresden NZV 2013, 389 (0). – Radfahrer auf Radweg: OLG Hamm OLGR Hamm 1998, 354 (100 %). – Radwegbenutzung in falscher Richtung: OLG Saarbrücken NZV 2015, 435 (rückwärts einbiegender Lkw); KG DAR 1993, 257 (¾); OLG Köln NZV 1994, 279 (70 %). – Radfahrer auf Busspur in falscher Richtung: OLG Frankfurt NJW 2012, 3249 (0). Kreisverkehr: OLG Hamm NJW-RR 2017, 864 (Kfz-Fahrer übersieht beim Einfahren vorfahrtverletzenden Radfahrer: 40 %). Lichtzeichen: OLG Hamm NZV 2003, 574 (Radfahrer fährt bei Rot, Lieferwagen bei Gelb nach Warnung durch Vorampel ein: 50 %). Linksabbiegen des Kfz: OLG Frankfurt MDR 2010, 690 (unbeleuchteter, aber bei gebührender Sorgfalt erkennbarer Radfahrer (70 %); OLG Oldenburg VersR 1965, 909 (Krad: 75 %); OLG Celle OLGR Celle 2000, 84 (Radfahrer auf Fußgängerfurt: 50 %). Linksabbiegen des Radfahrers: BGH VersR 1955, 57 (Überholen trotz kurzen Armausstreckens: ⅔); BGH VersR 1963, 438 (von Gehweg aus: 0); OLG Hamm NZV 1991, 466 (kein Handzeichen, Kollision mit überholendem Krad: 0); OLG Saarbrücken DAR 2013, 644 (Abbiegen während Überholtwerdens: 0); OLG Saarbrücken OLGR Saarbrücken 1998, 212 (Überholen trotz unklarer Verkehrslage und mit 107 statt 60 km/h: 100 %). Radwegbenutzung an Vorfahrtstraße in falscher Richtung: BGH VersR 1982, 94 (Radweg an Einbahnstraße; aus untergeordneter Straße kommender Pkw kollidiert mit Moped: 1/4); OLG Hamm NZV 1992, 364 (Radweg an Straße mit geteilten Richtungsfahrbahnen: mindestens 50 %); OLG Hamm NZV 1999, 86 (50 %); OLG Frankfurt DAR 2004, 393 (⅔); OLG Hamm ZfS 2018, 14 (⅔); LG Nürnberg-Fürth NZV 1993, 442 (Sichtbehinderung für den aus der untergeordneten Straße kommenden Pkw-Fahrer: 0). S. auch Grundstücksausfahrt. Radwegbenutzungspflicht: OLG Frankfurt NZV 2012, 179 (Sturz wegen Ölspur eines Pkw auf der verbotswidrig befahrenen Straße: 50 %); s. auch Rz. 25.23. 584 OLG Köln MDR 2001, 687. 585 Vgl. auch die umfassende Zusammenstellung bei Blumberg NZV 1994, 249.

Greger | 709

25.249

25.250

§ 25 Rz. 25.250 | Mitverantwortung des Geschädigten Radwegende: LG Münster ZfS 2006, 79 (unachtsames Einfahren auf Fahrbahn: 100 %); KG NZV 2020, 203 KW (Einfahren auf Schutzstreifen für Radverkehr [Zeichen 340 StVO]: 50 %). Rechtsabbiegen des Kfz: KG NZV 2010, 254 (alkoholisierter Radfahrer auf Fußgängerüberweg: 50 %); OLG Hamm NZV 1996, 449 (Radfahrer auf Fußgängerfurt: ⅔); OLG Hamm r+s 2019, 535 (Radfahrer auf Fußgängerüberweg: 50 %). Sturz: BGH VersR 1966, 39 (beim Aufsteigen infolge Alkohols: 0); OLG Celle ZGS 2005, 278 (durch Anrempeln bei Durchfahrt zwischen Bus und an Haltestelle wartenden Schülern: ⅔). Türöffnen: OLG Schleswig DAR 2013, 470 (80 % wegen nicht getragenen Schutzhelms); LG Mönchengladbach NZV 1990, 195 mit Anm. Greger (jugendlicher Radfahrer fuhr vor Inkrafttreten des § 5 Abs. 8 StVO an wartendem Fahrzeug rechts vorbei: 50 %). Überholen: KG NZV 2009, 237 (Radfahrer überholt anfahrenden Bus: 0); BGH VersR 1967, 880 (Radfahrer zu weit links: 80 %); OLG München (Augsburg) NZV 1992, 234 (Rechtsüberholen eines verkehrswidrig links fahrenden Radfahrers durch Krad: 75 %); OLG Stuttgart VersR 1992, 205 (versuchtes Rechtsüberholen eines Lkw auf abschüssiger Straße: 0); OLG Hamm NZV 1995, 26 (zu geringer Seitenabstand, Mitverschulden des Radfahrers wegen Nichtbenutzen des Radwegs: 75 %); LG Stuttgart VersR 1978, 1151 (Radfahrer schert aus: 20 %). Überqueren der Straße: BGH VersR 1965, 294 (mit geschobenem Rad: 30 %); BGH NZV 1990, 385 (beim Verlassen eines linken Radwegs Kollision mit Kradfahrer, der aus derselben Richtung mit überhöhter Geschwindigkeit auf der linken Fahrbahnseite herankommt: Zurückverweisung zu neuer Abwägung); OLG Köln VRS 78, 348 (Radfahrer wie vorstehend, aber Kollision mit zu schnell entgegenkommendem Pkw: ¾); OLG Oldenburg NZV 1994, 74 (unbesonnenes Verhalten eines Jugendlichen: ⅓); OLG Schleswig MDR 2011, 846 (Radfahrer fährt plötzlich vom Radweg auf Fahrbahn: 0); OLG Hamm MDR 2018, 792 (mit Pedelec auf Fußgängerüberweg; Kraftfahrer verstößt gegen § 1 Abs. 2 StVO: ⅓); LG Frankfurt/O. DAR 2015, 468 (Radfahrerin quert auf Fußgängerfurt ohne abzusteigen und zu schnell: 0). Vorfahrtverletzung durch Radfahrer: BGH VersR 1958, 612 (Lkw zu weit links: 25 %); BGH VersR 1969, 571 (0); OLG Düsseldorf VersR 1971, 650 (0); OLG Oldenburg DAR 2015, 94 (0); OLG Oldenburg VersR 1999, 74 (Überschreitung der angemessenen 90 km/h um 23 km/h: ⅓); OLG Nürnberg VersR 1999, 247 (Überschreitung der zulässigen 80 km/h um 15 %: ⅓); OLG Saarbrücken SP 2014, 40 (Unachtsames Einbiegen aus Feldweg, kein Verschulden des Lkw-Fahrers: ⅓); OLG Hamm NJWEVHR 1996, 212 (Überschreitung der 50 km/h-Grenze um 80 %: 100 %); LG Bochum VersR 1991, 1189 LS (Fahrrad unbeleuchtet: 0). Vorfahrtverletzung durch Kraftfahrer: OLG Karlsruhe NZV 2012, 437 (unübersichtliche Einmündung eines gemeinsamen Geh- und Radwegs: 20 % Mithaftung des Radfahrers). Wenden: BGH VersR 1968, 369 (Radweg versperrt: ⅓).

j) Unfälle zwischen Kfz und Fußgänger 25.251

Bei grob verkehrswidrigem Verhalten des (erwachsenen) Fußgängers, der auf der Straße angefahren wird, sollte den Kraftfahrer auch dann keine anteilige Haftung treffen, wenn er den Entlastungsbeweis nach § 7 Abs. 2 StVG nicht führen kann (zur abweichenden Beurteilung bei Kinderunfällen s. Rz. 25.257). Kann der Unfall dagegen auch auf eine bloße Unaufmerksamkeit oder Fehleinschätzung seitens des Fußgängers zurückzuführen sein, so erscheint eine je nach den Umständen des Einzelfalles abgestufte Haftungsverteilung angezeigt. Bei grobem Verschulden des Kraftfahrers kommt auch dessen volle Haftung in Betracht.

25.252

Die Kasuistik ist bei diesem Unfalltypus nahezu unübersehbar.586 Im Folgenden wird versucht, durch Bildung bestimmter Fallgruppen und Aufgliederung nach Haftungsquoten mit 586 Überblick bei Dörr MDR 2012, 503 ff.

710 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.253 § 25

Angabe von Besonderheiten des Einzelfalles einen gewissen Überblick zu geben.587 Mehr noch als bei den anderen Unfallarten ist aber angesichts der Vielgestaltigkeit der Fußgängerunfälle vor einer schematischen Übernahme der Quoten zu warnen. Zu Unfällen mit Kindern s. Rz. 25.258 f. aa) Gehen auf der Straße Die meisten (veröffentlichten) Urteile in dieser Fallgruppe gelangen zu einer vollen oder deutlich überwiegenden Haftung des Kfz-Halters. Dies findet seinen berechtigten Grund darin, dass der Aufenthalt des Fußgängers auf der Straße bei diesen Unfällen zumeist nicht zu beanstanden ist (etwa beim Fehlen eines Gehsteigs). Die Rechtsprechung bietet folgendes Bild (angegeben ist der Haftungsanteil des Kfz): 100 %: BGH VersR 1968, 1093 (alkoholisierter Kraftfahrer fährt nachts innerorts in Fußgängergruppe) OLG Celle VersR 1979, 451 (Gehweg nicht begehbar) OLG Celle DAR 1984, 124 (Kraftfahrer überholt, obwohl Fußgänger auf linker Fahrbahn) OLG Köln VersR 1983, 929 (Kleinkrad gegen Läufer am linken Fahrbahnrand) OLG Frankfurt VersR 1992, 509 (Fußgänger wird auf Seitenstreifen angefahren) OLG Karlsruhe VRS 76, 248 (betrunkener Kraftfahrer; Fußgänger benutzt Gehweg wegen Hilfeleistung für einen anderen nicht) OLG München VersR 2008, 799 (dunkel gekleideter Fußgänger wird außerorts bei Dunkelheit am Fahrbahnrand gehend angefahren) OLG Köln DAR 2001, 223 (Fußgänger wird auf für Lieferfahrzeuge freigegebener Zuwegung von rückwärts fahrendem Kfz von hinten angefahren) 80 %:

OLG Oldenburg VersR 1987, 1150 (Fußgänger auf linker Fahrbahn, beide alkoholisiert)

75 %:

OLG Düsseldorf VersR 1975, 1052 (entgegenkommender Fußgänger, äußerst links, schmale Straße, Blendung) OLG Hamm NZV 1995, 483 (schmale Landstraße ohne Seitenstreifen, Dunkelheit)

70 %:

OLG Hamm VersR 2002, 728 (Fußgänger weicht in der Dunkelheit entgegenkommendem Kfz nicht neben die Fahrbahn aus)

2/3:

BGH VersR 1968, 1092 (Fußgänger alkoholisiert und gehbehindert, Gehweg vorhanden) OLG Hamm VersR 1985, 357 (schmale Straße, Dunkelheit, Schnee, Fußgänger weicht nicht nach links aus)

60 %:

BGH VersR 1964, 1203 (Fußgänger benützt linken Gehweg nicht)

50 %:

BGH VersR 1967, 862 (Kraftfahrer weicht geblendet aus)

40 %:

BGH VersR 2007, 263 (Betrunkener mitten auf Fahrbahn; Sichtfahrgebot verletzt)

1/3:

BGH VersR 1965, 712 (in gleiche Richtung gehender Fußgänger)

0:

OLG Karlsruhe VersR 1989, 302 (Betrunkener mitten auf Fahrbahn) OLG Jena NJW 2018, 77 (Betrunkener nachts in dunkler Kleidung auf Landstraße; keine erhöhte Betriebsgefahr)

587 S. auch Greger NZV 1990, 413 ff.

Greger | 711

25.253

§ 25 Rz. 25.254 | Mitverantwortung des Geschädigten

bb) Überqueren der Straße

25.254

In dieser Fallgruppe kommt es zu sehr unterschiedlichen Haftungssituationen. Den Haftungsanteil des Fußgängers vergrößernde Umstände sieht die Rechtsprechung insbesondere im Überqueren besonders verkehrsreicher Straßen an nicht hierfür geeigneten Stellen (z.B. in der Nähe von Überwegen), im Hervortreten zwischen parkenden Fahrzeugen, im Zurücklaufen auf der Fahrbahn und in Trunkenheit des Fußgängers. Dem Kraftfahrer wird vor allem erschwerend angerechnet: zu hohe Geschwindigkeit, Überholen stehender Kolonnen, Alkoholisierung. Im Einzelnen vgl. nachstehende Entscheidungen (angegeben ist die Haftungsquote zu Lasten des Kfz-Halters). 100 %:

BGH VersR 1966, 660 (Überweg bei Rot überfahren) BGH VersR 1969, 1115 (Kfz fährt auf Fußgänger in Straßenmitte zu, Schreckreaktion) BGH NZV 1990, 150 (Fußgänger quert 3 m jenseits der Fußgängerfurt) KG VersR 1969, 1047 (beleuchteter Überweg, Kfz ohne Licht) KG VersR 1976, 1047 (Überweg bei Rot überfahren) KG VersR 1980, 284 (Fußgänger zwischen haltenden Fahrzeugen, Krad überholt) KG DAR 1981, 322 (Bus biegt links ein, Grün für Fußgänger) KG VRS 74, 257 (Motorrad gegen Fußgänger auf Fußgängerfurt) OLG Düsseldorf VersR 1976, 1049 (obwohl Fußgänger leicht schräg überquert) OLG Frankfurt VersR 1982, 1204 (Bereich einer Autobahntankstelle) OLG Düsseldorf VRS 83, 100 (Fußgänger hatte schon fast gegenüberliegenden Gehweg erreicht) OLG München NZV 1994, 399 (Kfz befährt wegen Staus Seitenstreifen der BAB und kollidiert mit Pkw-Insassen, der zu Notrufsäule will) OLG Hamm NZV 1995, 234 (stark befahrene Bundesstraße, Überweg 16 m neben der Unfallstelle; auf Seiten des Kraftfahrers aber erhebliche Alkoholisierung, überhöhte Geschwindigkeit und Verstoß gegen Überholverbot) OLG Hamm OLGR Hamm 1996, 51 (Fußgänger überquert in Kurve bei Raureif, wird von schleuderndem Fahrzeug erfasst) OLG Hamm DAR 1998, 274 (rückwärts fahrender Pkw gegen auf Fahrbahn stehen bleibende Seniorin) OLG München NZV 1996, 115 (Pkw überholt vor Ampel wartende Kolonne unter Missachtung der durchgezogenen Linie auf der Gegenfahrbahn, Fußgänger betritt diese durch die stehenden Autos) OLG Dresden NZV 2016 181 (linksabbiegender Lkw missachtet Vorrang des bei Grün die Fahrbahn überquerenden Fußgängers)

80 %:

OLG Hamm VersR 1969, 139 (Fußgänger beachtet an Überweg herannahendes Kfz nicht) LG Essen VersR 1984, 994 (Fußgänger verursacht durch Betreten der Fahrbahn Auffahrunfall) OLG Frankfurt OLGR Frankfurt 2000, 13 (ältere Fußgängerin versucht siebenspurige Straße zu überqueren, Pkw fährt zugelassene 60 km/h; Quotierung unverständlich)

712 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.254 § 25 OLG Koblenz NZV 2012, 177 (Fußgänger aus 40 m Entfernung erkennbar, hat andere Straßenseite fast erreicht, so dass geringes Abbremsen oder Ausweichen den Unfall verhindert hätte) 75 %:

OLG Karlsruhe VersR 1971, 1177 (Fußgänger im Umfeld eines Überwegs angefahren) KG VersR 1977, 1008 (Fußgänger beachtet an Überweg herannahendes Kfz nicht) KG DAR 1977, 70 (schlechte Sicht, Überweg in der Nähe) KG VersR 1979, 1031 (Kfz fährt trotz Rechtsblinkens geradeaus) OLG Hamm OLGR Hamm 2000, 131 (unachtsames Überqueren durch erkennbar Gebrechliche) OLG Köln NZV 2002, 131 (Fahrstreifenwechsel in Richtung eines der Fahrbahn zustrebenden Fußgängers) OLG Hamm NZV 2013, 190 (Fahrer beachtet Vorrang des Fußgängers beim Linksabbiegen nicht)

70 %:

BGH VersR 1983, 667 (Fußgänger beachtet an Überweg herannahendes Kfz nicht) OLG Hamburg VersR 1972, 867 (Fußgänger unachtsam) OLG Frankfurt VersR 1979, 920 (20 m neben Überweg, beide alkoholisiert) OLG Braunschweig VersR 1983, 667 (Fußgänger beachtet an Überweg herannahendes Kfz nicht) OLG Karlsruhe VersR 1982, 1149 (Kraftfahrer alkoholisiert und zu schnell) OLG München NZV 1991, 390 (anfahrender Bagger erfasst unmittelbar davor stehenden Fußgänger) OLG München OLGR München 1995, 3 (Kraftfahrer fährt innerorts in Kurve mit stark überhöhter Geschwindigkeit, gerät beim Abbremsen auf rechte Fahrbahnseite und erfasst dort von rechts in die Fahrbahn laufenden, alkoholisierten Fußgänger)

2/3:

KG DAR 1978, 107 (Fußgänger quert haltende Kolonne, Kfz überholt, Überweg in der Nähe) KG VersR 1982, 978 (Kfz überholt vor Fußgänger haltende Fahrzeuge, Fußgänger schaut nicht nach links) KG VM 1987, Nr. 100 (Kfz zu schnell, Fußgänger alkoholisiert) KG KGR Berlin 2001, 43 (Fußgänger achtet nicht auf Verkehr, Kraftfahrer konnte dies erkennen) OLG Stuttgart VRS 66, 92 (Fußgänger bleibt in Fahrbahnmitte stehen, läuft dann weiter) OLG Frankfurt VersR 1982, 1008 (Bus überholt Kolonne vor Ampel) OLG Hamm VersR 1989, 268 (Fußgänger gegen gut erkennbaren, nicht zu schnell fahrenden Motorroller; Quote erscheint sehr hoch) OLG Hamm NZV 1997, 123 (etappenweises Überqueren bei hoher Verkehrsdichte) OLG Köln ZfS 1993, 258 (innerörtliche Straße bei Dunkelheit, Überqueren von links nach rechts) OLG Celle NZV 1991, 228 (Pkw nähert sich Haltestellenbereich an Schule; auf beiden Seiten der Fahrbahn sind Schülergruppen; geistig behinderter Jugendlicher überquert Fahrbahn, als in Gegenrichtung Bus einfährt)

Greger | 713

§ 25 Rz. 25.254 | Mitverantwortung des Geschädigten OLG Dresden NZV 1999, 293 (Kfz erfasst bei Anfahren an trichterförmiger Einmündung unachtsam querende Seniorin) 60 %:

OLG Hamburg VRS 64, 257 (Fußgänger will vor abfahrbereitem Linienbus überqueren) OLG Karlsruhe VersR 1988, 59 (Motorrad gegen Fußgänger) LG München I VersR 1977, 51 (Kfz zu schnell, Fußgänger alkoholisiert)

50 %:

BGH VersR 1965, 958 (Fußgänger hinter abgestelltem Pkw) KG VersR 1968, 259 (Fußgänger schaut nicht) KG VersR 1975, 140 (Kfz zu schnell, Fußgänger alkoholisiert) KG VersR 1981, 263 (Fußgänger überquert bei Dunkelheit, kurz vor Pkw) KG VersR 1986, 659 LS (Kfz überholt Kolonne mit Lücke) KG VRS 69, 417 (Fußgänger zwischen parkenden Fahrzeugen, verspätete Reaktion des Kraftfahrers) OLG Hamm VersR 1972, 1060 (beleuchteter Übergang in der Nähe) OLG Celle VersR 1977, 1131 (Fußgänger unachtsam) OLG Celle VersR 1985, 1072 LS (Fußgänger achtet nicht auf Rechtsabbieger) OLG Düsseldorf VRS 56, 2 (Fußgänger unachtsam) OLG Karlsruhe VersR 1979, 384 (Fußgänger unachtsam) OLG Hamm VRS 78, 6 (Fußgänger will stark befahrene, nasse und künstlich beleuchtete Straße in Etappen überqueren; Busfahrer übersieht den in der Fahrbahnmitte Stehenden) OLG DAR 1989, 185 (Fußgänger alkoholisiert und unachtsam) LG Hannover NZV 1989, 238 (ausgefallene Ampel an Fußgängerfurt an vierspuriger Straße; andere Kraftfahrer halten an, um älterer Fußgängerin Überqueren zu ermöglichen) KG KGR Berlin 1995, 50 (Motorradfahrer gegen von links kommende Fußgängerin bei Dunkelheit) KG VM 1992, Nr. 30 (Fußgänger quert unachtsam bei starkem Verkehr, 22 m von Ampel entfernt) OLG Hamm DAR 2002, 165 (unterlassene Vollbremsung bei erkennbarem Fehlverhalten des Fußgängers) OLG Köln VersR 2002, 1167 (Überholen einer vor Ampel stehenden Kolonne, obwohl auf Möglichkeit zum Überqueren wartender Jogger am Fahrbahnrand steht) OLG Hamm NZV 2004, 356 (Überqueren einer Bundesstraße außerorts; Verstoß gegen Sichtfahrgebot) OLG Karlsruhe NZV 2013, 544 (Fußgängerin betritt Fahrbahn unmittelbar vor an sich wartepflichtigem Linksabbieger)

40 %:

BGH VersR 1965, 816 (Fußgänger unachtsam) OLG Oldenburg NZV 1994, 26 (unachtsames Überschreiten bei Dunkelheit an breitester Stelle der Fahrbahn)

35 %:

OLG München NZV 1991, 389 (anfahrender Bus erfasst besonders kleine Fußgängerin)

714 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.254 § 25 1/3:

BGH VersR 1967, 608 (Fußgänger bei Dunkelheit unachtsam) OLG München VersR 1968, 480 (gehbehinderter Fußgänger, Ampel in der Nähe) OLG München VersR 1978, 928 (alte Frau quert trotz Unterführung breite Ausfallstraße, kehrt um) OLG Karlsruhe VersR 1982, 657 (Kfz fährt an stehender Kolonne vorbei, Fußgänger quert 20 m neben Überweg) OLG Stuttgart VRS 66, 92 (breite Straße, 20 m neben Überweg) OLG VRS 64, 250 (Fußgänger quert bei schlechter Sicht kurz vor Kfz) OLG Köln VersR 1987, 513 (Fußgänger alkoholisiert, schlechte Sicht) KG VM 1986, Nr. 40 (Krad fährt zulässigerweise ganz links) OLG Celle VersR 1990, 911 (Überqueren einer dreispurigen Straße bei starkem Verkehr, Dunkelheit und Nässe 60 m von Ampelübergang entfernt) OLG Celle OLGR Celle 1998, 219 (40 km/h innerorts bei schlechten Sichtverhältnissen, Fußgänger grob unaufmerksam) OLG Hamm NZV 1994, 276 (Rotlichtverstoß eines betrunkenen Fußgängers, unfallkausale Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h um 10 km/h) OLG OLGR Köln 1995, 21 (Fußgänger läuft unachtsam bei Dunkelheit aus Wald auf Fahrbahn) OLG Hamm NZV 2001, 41 (Pkw-Fahrer stellt Fahrweise nicht auf bereits auf Fahrbahn befindlichen Fußgänger ein) OLG Hamm NZV 2010, 566 (aus Linienbus ausgestiegener Fahrgast wird von Pkw des Gegenverkehrs angefahren, der trotz Querungshilfe die Gegenfahrbahn ohne Beachtung des Verkehrs betritt) OLG Hamm NJW-RR 2017, 988 (zu hohe Geschwindigkeit und zu späte Reaktion des Motorradfahrers, mangelnde Vorsicht des Fußgängers) OLG Hamm NJW-RR 2018, 1233 (Pkw-Fahrer fährt zu schnell oder reagiert zu spät, wodurch schwerere Unfallfolgen verursacht werden)

30 %:

BGH VersR 1965, 294 (Fußgänger schiebt Rad bei Dunkelheit unaufmerksam über Straße) BGH VersR 1975, 858 (Fußgänger bei Rot)

25 %:

OLG Koblenz VersR 1975, 286 (Fußgänger bei Dunkelheit unaufmerksam) OLG Karlsruhe VersR 1978, 160 (Fußgänger wegen Trunkenheit gestürzt) OLG Hamm NZV 1995, 72 (Fußgänger achtet beim Überqueren der Fahrbahn nicht auf Kfz, das aus Grundstücksausfahrt einbiegt)

20 %:

OLG Bremen VersR 1966, 962 (Fußgänger quert schräg) OLG Hamm VersR 1983, 643 (Fußgänger zwischen parkenden Autos) OLG Hamm VersR 1989, 97 (breite innerstädtische Straße) OLG Düsseldorf VersR 2018, 1210 (Fußgänger tritt kurz vor Pkw von rechts auf die Fahrbahn; keine erhöhte Betriebsgefahr)

0:

BGH VersR 1960, 183 (Fußgänger im Laufschritt, unmittelbar vor Begegnung zweier Kfz) BGH VersR 1961, 357 (unmittelbare Nähe einer gerade umschaltenden Ampel)

Greger | 715

§ 25 Rz. 25.254 | Mitverantwortung des Geschädigten BGH VersR 1961, 592 (Fußgänger erheblich alkoholisiert auf Großstadtstraße) BGH VersR 1964, 168 (unachtsames Betreten der Fahrbahn) BGH VersR 1964, 1069 (Fußgänger tritt kurz vor Kfz auf Fahrbahn) BGH VersR 1966, 877 (Fußgänger zwischen parkenden Kfz) BGH VersR 1975, 1121 (Fußgänger tritt plötzlich auf Fahrbahn) OLG Hamm VersR 1971, 1177 LS (Fußgänger erheblich alkoholisiert, stößt von links gegen Kfz) OLG Hamm DAR 1999, 170 (anfahrender Pkw erfasst kriechenden Fußgänger) KG VersR 1972, 104 (Fußgänger grob unaufmerksam, Kraftfahrer alkoholisiert) KG VersR 1979, 355 (Nähe eines Überwegs, Dunkelheit, lebhafter Verkehr) DAR 1986, 323 (Fußgänger läuft auf Fahrbahn zurück) OLG Düsseldorf VersR 1973, 40 (Fußgänger tritt unaufmerksam auf Fahrbahn) OLG Düsseldorf VersR 1976, 152 (Fußgänger tritt plötzlich auf Großstadtstraße) OLG Köln VersR 1976, 1095 (Fußgänger bei Rot, Regen und lebhaftem Verkehr) OLG Köln OLGR Köln 1996, 245 (unvermitteltes Betreten der Fahrbahn, nicht unfallkausale Alkoholisierung des Fahrers) OLG Stuttgart VersR 1980, 243 (unmittelbare Nähe von Überweg mit Rotlicht) OLG Hamm VersR 1989, 1057 (Fußgänger tritt plötzlich aus Gebüsch auf die Straße) OLG Hamm VersR 1991, 1187 (unachtsames Überqueren innerstädtischer Straße bei diffusen Lichtverhältnissen) OLG Bamberg VersR 1992, 1531 (unachtsames Betreten stark befahrener Straße zwischen geparkten Fahrzeugen) OLG Hamm NZV 1993, 314 (Vorbeifahrt mit 47 km/h an gestauter Kolonne, aus der Fußgänger unvermittelt hervortritt) KG VersR 1993, 201 (völlig unbedachtes Überqueren ca 35 m von Ampelüberweg entfernt) OLG Düsseldorf NZV 1994, 70 (53 km/h innerorts) OLG Hamm NZV 2000, 371 (zwischen wie im Stau stehenden Lkw auf angrenzenden Fahrstreifen) OLG Dresden NZV 2001, 378 (alkoholisierter Fußgänger läuft plötzlich auf verkehrsreiche städtische Straße) KG NZV 2003, 380 (grobe Fahrlässigkeit des Fußgängers; reine Betriebsgefahr) KG NZV 2010, 149 (Überqueren mehrspuriger Straße bei regem Verkehr; Kollision auf linkem Fahrstreifen) KG NZV 2010, 200 (jugendlicher Fußgänger rennt vor einem bereits mindestens 20 m von der Haltestelle abgefahrenen Linienbus trotz Rotlichts der Fußgängerampel über die Straße und wird von einem den bereits fahrenden Bus überholenden Pkw erfasst) KG MDR 2011, 27 (beim Rückwärtseinparken erfasst ausschwenkende linke Fahrzeugseite 16-Jährigen Fußgänger, der Straße an verbotener Stelle überqueren will)

716 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.255 § 25 OLG Köln MDR 2012, 906 (bei Rotlicht querender Fußgänger kollidiert mit Kleintransporter) OLG Hamm NZV 2012, 595 (mehrspurige Straße) OLG Dresden NJW-RR 2017, 1303 (Fußgänger läuft zwischen Fahrzeugen des Gegenverkehrs vor das Kfz des Bekl.) OLG Brandenburg SVR 2019, 220 (Fußgänger tritt unmittelbar vor Bus auf die Fahrbahn)

cc) Sonstige Unfälle mit Personen auf der Fahrbahn Berührung eines Linienbusses mit Fußgänger, der an einer Haltestelle nur 20 cm von der Gehwegkante entfernt steht: Haftung für Bus nur 25 % (OLG Hamm VersR 1978, 876). Einfahren in Busbahnhof bei winterlichen Verhältnissen mit 12 bis 15 km/h; auf Bus zulaufender Jugendlicher rutscht aus (OLG Schleswig VRS 82, 278: 50 %). Fußgänger, der sich in Gefahrenbereich eines kippenden Lkw begibt, trägt volle Haftung (KG VRS 73, 175). Anfahren von Personen, die an einer Unfallstelle auf der Fahrbahn stehen: Alleinhaftung des Kfz (OLG Frankfurt NZV 1989, 149). Beifahrer begibt sich nach leichtem Auffahrunfall auf der Autobahn zur Besichtigung des Blechschadens zwischen die Fahrzeuge und wird durch einen mit hoher Geschwindigkeit auffahrenden weiteren Pkw eingequetscht (OLG Karlsruhe NZV 2014, 404, 406: Mithaftung 20 %). Anfahren einer an der Fahrertür ihres Wagens stehenden Person infolge zu geringen Seitenabstands (OLG Karlsruhe NZV 2012, 593: volle Haftung). Anfahren eines Fußgängers, der rechts neben einem mit geöffneter Beifahrertür auf dem mittleren Fahrstreifen stehenden Pkw steht, durch alkoholisierten Kraftfahrer (OLG München NZV 1994, 107: volle Haftung). Fahrer geht nach Ausladevorgang um seinen Transporter herum zurück zur Fahrertür und wird von entgegenkommendem Pkw erfasst; Transporter verengte unnötig die Fahrbahn; Entgegenkommenden traf trotz 1,3 ‰ kein unfallursächliches Verschulden (OLG Zweibrücken VersR 1995, 429). Arbeiter kniet auf Betriebsgelände vor Lieferwagen; dieser fährt an: Mithaftung des Verletzten 30 % (OLG Schleswig NZV 1996, 68). Soldat steht bei Dunkelheit ungesichert auf Fahrbahn, um Lkw in Einfahrt zu dirigieren; wird von nicht auf Sicht fahrendem Pkw erfasst: Mithaftung von ⅔ (OLG Schleswig NZV 1995, 445). Anfahren eines neben seinem Fahrrad auf der Straße hockenden Mannes bei Dunkelheit und Verstoß gegen Sichtfahrgebot: 50 % (OLG Hamm NZV 1998, 202). Aufenthalt hinter Tanklastzug, mit dessen Rückwärtsfahren zu rechnen war (OLG Oldenburg NZV 2001, 377). Aufenthalt auf Standstreifen der Autobahn im Bereich der Seitenlinie (OLG Hamm NZV 2001, 260). Am Fahrbahnrand statt auf Gehsteig wartender, nicht auf Verkehr achtender Jugendlicher wird von Pkw angefahren (OLG Brandenburg DAR 2008, 520: keine Haftung des Kraftfahrers). Fußgänger steht Zeitung lesend auf Fahrbahnmitte und weicht auch auf Hupzeichen nicht, Kraftfahrer fährt gleichwohl weiter und erfasst den Fußgänger (KG DAR 2009, 333: 50 %).

Greger | 717

25.255

§ 25 Rz. 25.255 | Mitverantwortung des Geschädigten Stark Betrunkener stützt sich an langsam vorwärts rollendem Sattelzug ab und gerät zwischen die Achsen des Aufliegers (OLG Hamm NZV 2015, 537: keine Haftung). Anfahren eines Fußgängers auf Tankstellengelände (OLG Naumburg VersR 2017, 247: 50 %)

k) Unfälle zwischen Kfz und Inline-Skater, E-Roller u.ä. 25.256

Verstößt der Skater gegen die für ihn geltenden Regeln des Fußgängerverkehrs (§ 24 Abs. 1 StVO) oder vernachlässigt er deutlich die zur Gefahrenabwehr gebotenen Verhaltensmaßregeln, erscheint beim Zusammentreffen mit reiner Betriebsgefahr des Kfz oder leichtem Verschulden seines Führers eine weit überwiegende Eigenhaftung gerechtfertigt.588 Umgekehrt sollte bei klarem Verkehrsverstoß des Kraftfahrers der Skater nicht allein deswegen mithaften, weil er sich auf die Verkehrswidrigkeit durch Verzicht auf sein eigenes Vorrecht hätte einstellen können.589 Für die Führer von E-Rollern und anderen Elektrokleinstfahrzeugen können die zur Mithaftung von Radfahrern entwickelten Grundsätze entsprechend herangezogen werden.590

l) Kfz-Unfälle mit Kindern 25.257

Bei Unfällen zwischen Kfz und Kindern ist dem Kraftfahrzeughalter, der – wie i.d.R. – den Beweis höherer Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG) nicht führen kann, i.d.R. eine Mithaftung aufzuerlegen. Der Grundsatz, dass bei einem grob verkehrswidrigen Verhalten des Geschädigten die Betriebsgefahr des Kfz voll zurücktritt, ist bei noch nicht 10 Jahre alten Kindern infolge von § 828 Abs. 2 BGB überhaupt nicht, im Übrigen dann nicht anwendbar, wenn das Verhalten des Kindes auf seine fehlende Eingewöhnung und Erfahrung im Straßenverkehr zurückzuführen ist.591 Der BGH hat bereits vor dem Inkrafttreten des § 828 Abs. 2 BGB (1.8.2002; s. Rz. 25.130, 10.69) aus dem Zweck der Gefährdungshaftung abgeleitet, dass die aus diesen Gegebenheiten erwachsenden Gefahren und Schadenslasten dem Kraftfahrzeugbetrieb zuzurechnen sind,592 und daher gegenüber gerade erst deliktsfähig gewordenen Kindern eine Haftungsfreistellung nur in Ausnahmefällen in Betracht gezogen, z.B. wenn – gemessen an dem altersspezifischen Verhalten von Kindern – auch subjektiv ein besonders vorwerfbarer Sorgfaltsverstoß vorliege.593 Das objektive Gewicht des Unfallbeitrags des Kindes gewinnt dagegen in der Abwägung mit der Betriebsgefahr immer mehr an Bedeutung, je stärker Kinder vom Alter her in den Straßenverkehr integriert sein müssen.594 Bei sehr starker Vorwerfbarkeit kann es auch bei einem Verkehrsunfall wenige Tage nach Vollendung des 10. Lebensjahrs zum vollständigen Zurücktreten der Halterhaftung kommen.595 Ist das Kind unter 10 Jahre alt und damit deliktisch noch nicht verantwortlich, so haftet der (nicht entlastete) Kraftfahrer 588 OLG Hamm NJW-RR 2014, 411 (Skater in unübersichtlicher Kurve auf der Fahrbahnmitte: 75 %). 589 So aber OLG Karlsruhe NZV 1999, 44 mit der ohnehin schwer verständlichen Mithaftungsquote von 15 %. 590 Tomson/Wieland NZV 2019, 446, 448. 591 OLG Nürnberg VersR 1999, 1035. 592 BGH NZV 1990, 227. 593 Zum neuen Recht ebenso OLG Karlsruhe NJW 2012, 3042; Grüneberg NJW 2013, 2705, 2707 f. 594 Vgl. OLG Braunschweig NZV 1998, 27 u OLG Nürnberg NZV 2007, 205 (mit Nichtzulassungsbeschluss des BGH v 30.5.2006 – VI ZR 184/05): Betriebsgefahr tritt voll zurück bei grob verkehrswidrigem Verhalten eines 12-jährigen Radfahrers. 595 OLG Hamm NZV 2010, 464 (mit Nichtzulassungsbeschluss des BGH v 9.3.2010 – VI ZR 296/ 09).

718 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.259 § 25

voll; eine reziproke Anwendung des § 829 BGB (s Rz. 25.26) lehnt die Rechtsprechung in diesen Fällen regelmäßig ab.596 In Betracht kommt hier allenfalls eine Mithaftung des Aufsichtspflichtigen597 (s. Rz. 25.147, 14.316). Rechtsprechungsübersicht zur Haftungsabwägung zwischen Kind und Kraftfahrzeughalter (angegeben ist dessen Haftungsquote). Bei älteren Entscheidungen ist die Änderung des § 828 BGB (s. Rz. 25.257) zu beachten.

25.258

aa) Kind als Fußgänger 100 %:

BGH VersR 1967, 1157 (Kind auf Randstreifen von Außenspiegel getroffen) OLG Düsseldorf VersR 1986, 471 (Kraftfahrer gibt Handzeichen, obwohl zweite Fahrspur nicht frei) OLG Oldenburg DAR 1989, 186 (Kraftfahrer erfasst bei verbotswidrigem Überholen nach Warnzeichen „Kinder“ auf linker Fahrbahnseite gehenden 12-Jährigen)

85 %:

OLG Köln VersR 1989, 206 (Verkehrszeichen „Kinder“, knapp 8-jähriges Kind quert Fahrbahn)

80 %:

OLG Frankfurt VersR 1984, 1093 (11-Jähriger mit Rollschuhen, Kfz mit überhöhter Geschwindigkeit)

75 %:

BGH VersR 1959, 615 (Lastzug nicht sofort gebremst, als 7¾-jähriges Kind loslief) BGH VersR 1968, 475 (knapp 8-jähriges Kind allein auf Gehweg, Kfz gibt kein Warnzeichen) OLG Hamm NZV 1991, 467 (schmale Durchfahrt zwischen Omnibus an Haltestelle und in Gegenrichtung stehender Kolonne; Pkw fährt mit 55 km/h erheblich zu schnell; 8-Jähriger läuft durch Lücke in der Kolonne) OLG Hamm OLGR Hamm 1999, 256 (13-Jährige überquert innerorts Fahrbahn, PkwFahrer 70 statt 50 km/h) OLG Koblenz NZV 2014, 31 (an haltendem Schulbus mit 20 km/h vorbeifahrender Pkw erfasst zum Bus eilenden Schüler)

2/3:

OLG Karlsruhe VersR 1979, 478 (7-jähriges Kind hüpft vor Pkw auf Fahrbahn) OLG Hamm NZV 1990, 473 (spielendes Kind in Wohnstraße) OLG Hamm NZV 2000, 259 (8-Jähriger löst sich aus Kindergruppe auf Gehweg; Pkw mit 45 km/h zu schnell) OLG Düsseldorf NJW-RR 2018, 1039 (10-Jährige betritt bei Rotlicht die Fahrbahn, PkwFahrer reagiert verspätet)

50 %:

OLG Karlsruhe VersR 1983, 252 (7-jähriges Kind, Hergang ungeklärt) OLG München VersR 1984, 395 (12-Jähriger läuft im Schutzbereich des Zeichens „Kinder“ vor Pkw) OLG München VersR 1985, 869 (7-jähriges Kind, Kfz steht sichtbehindernd im Haltverbot) OLG Saarbrücken VersR 1991, 707 (7-jähriges Kind; kein Verschulden des Kraftfahrers bewiesen)

596 Vgl. BGHZ 73, 190, 192; BGH VersR 1982, 441, 442. 597 Vgl. OLG Karlsruhe VersR 1982, 450 (Mutter mit Kind bleibt in Fahrbahnmitte stehen, Kind läuft weiter: ⅓).

Greger | 719

25.259

§ 25 Rz. 25.259 | Mitverantwortung des Geschädigten 1/3:

OLG Karlsruhe NJW 2012, 3042 (knapp 11-Jährige läuft zwischen stehenden Autos hindurch unachtsam auf Gegenfahrbahn) OLG Stuttgart DAR 2017, 709 (12-Jährige läuft nachts hinter Bus auf die Fahrbahn und wird von mit 40 km/h vorbeifahrendem Motorrad erfasst)

30 %:

OLG Celle VersR 1987, 360 (8-Jähriger rennt zwischen parkenden Fahrzeugen auf Fahrbahn)

25 %:

OLG Frankfurt VersR 1981, 240 (9-Jähriger, für Pkw-Fahrer verdeckt) OLG Hamm VersR 1986, 557 LS (plötzlich über die Fahrbahn laufendes Kind) OLG Karlsruhe VersR 1986, 770 (9-jähriges Kind läuft unachtsam auf Fahrbahn) OLG Düsseldorf NZV 1992, 188 (9-jähriges Kind läuft beim Spiel auf die Fahrbahn; von langsam fahrendem Reinigungsfahrzeug für überholenden Kraftfahrer verdeckt) OLG Hamm NZV 1996, 70 (unachtsamer 13-Jähriger; kein Verschulden des Führers) OLG Saarbrücken ZfS 1995, 406 (unachtsamer 14-Jähriger; kein Verschulden des Führers)

0

OLG Hamm NZV 2010, 464 (Junge läuft wenige Tage nach 10. Geburtstag zwischen stehenden Autos hindurch unachtsam auf Gegenfahrbahn) OLG Naumburg NZV 2013, 244 (11-Jähriger läuft bei Dunkelheit trotz Warnung zwischen parkenden Kfz vor herannahenden Pkw; zu Recht krit. Grüneberg NJW 2013, 2705, 2708)

bb) Kind als Radfahrer

25.260

100 %:

OLG Frankfurt VersR 1984, 1047 (Begegnung mit Bus an Engstelle) OLG Hamm NZV 1997, 230 (Pkw in verkehrsberuhigtem Bereich zu schnell) LG Bonn NZV 1991, 74 (Kradfahrer nähert sich innerorts mit 78 km/h einer Gruppe von Kindern, von denen eines bereits die Fahrbahn überquert hat; 8-Jähriger folgt diesem und wird erfasst) OLG Oldenburg DAR 2004, 706 (10½-jähriges Kind. gravierender Sorgfaltsverstoß bei Annäherung an Kindergruppe)

80 %:

OLG München NZV 1989, 154 (durch Hindernis verdecktes Kind quert Fahrbahn) OLG Braunschweig DAR 1994, 277 (Vorfahrtverletzung durch 8-Jährigen; Pkw innerorts 68 km/h)

75 %:

OLG Köln NZV 1992, 233 (8½-Jähriger fährt aus schwer einsehbarem Wirtschaftsweg auf Landesstraße; 100 km/h für Örtlichkeit zu schnell) OLG Saarbrücken OLGR Saarbrücken 1998, 100 (12-Jähriger kommt mit hoher Geschwindigkeit auf abschüssigem Wirtschaftsweg entgegen)

2/3:

OLG Düsseldorf VRS 63, 257 (Kind von 7¾ Jahren überquert außerorts Fahrbahn; Pkw ca 100 km/h)

50 %:

OLG Bamberg VersR 1980, 285 (Vorfahrtverletzung durch 9-Jährigen) OLG Saarbrücken NJW 2012, 3245 (Vorfahrtverletzung durch 12-Jährigen, kein Verschulden des Kfz-Führers)

720 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.261 § 25 40 %:

LG Osnabrück VersR 1992, 466 (Vorfahrtverletzung durch 9-Jährigen)

1/3:

OLG Nürnberg VersR 1992, 1533 (Vorfahrtverletzung durch 8-jähriges Kind; Pkw etwas zu schnell) OLG Hamm NZV 1991, 69 (12-Jähriger fährt von Gehweg auf Fahrbahn) OLG Oldenburg VersR 1998, 1004 (11½-Jähriger befährt Zebrastreifen ohne Beachtung des Verkehrs)

30 %:

OLG Oldenburg VersR 1984, 590 (Kind fährt beim Linksabbiegen gegen Pkw des Gegenverkehrs)

25 %:

OLG Nürnberg VersR 1999, 1035 (fast 10-Jähriger fährt von Feldweg auf Ortsverbindungsstraße)

20 %

OLG Bremen DAR 1989, 305 (Kind fährt von Gehweg auf Straße)

0:

OLG Köln NZV 1992, 320 (10-Jähriger fährt blindlings aus verkehrsberuhigtem Bereich heraus) OLG Braunschweig NZV 1998, 27 (12-Jähriger fährt blindlings über Bordstein auf Bundesstraße) OLG Nürnberg NZV 2007, 205 (12-Jähriger biegt mit hoher Geschwindigkeit und Kurve schneidend in nicht einsehbaren Weg ein)

m) Sonstige Kfz-Unfälle Zum Zusammentreffen mit einer Haftung aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 13.164 ff., zur Amtshaftung s. Rz. 12.9, zum Zusammentreffen mit Mitverschulden eines Fahrgastes s. Rz. 25.271 f. Vgl. ferner zum Zurücktreten der Betriebsgefahr eines unfallbedingt auf der Autobahn liegengebliebenen Kfz, wenn ein anderes Kfz wegen grober Unaufmerksamkeit ungebremst auf ein die Unfallstelle ordnungsgemäß absicherndes Fahrzeug oder einen gut erkennbaren Rettungshubschrauber auffährt BGH NZV 2004, 243, 244 u. OLG Köln VM 2006 Nr. 71; zur Kollision zwischen Kfz und Kranausleger in Hafenbereich OLG Düsseldorf VersR 1983, 785; zum Mitverschulden eines zur Verkehrsregelung eingesetzten, alkoholisierten Feuerwehrmannes OLG Nürnberg VersR 1984, 948; zur Alleinhaftung gegenüber einem auf der linken Fahrbahnseite entgegenkommenden Reiter OLG Frankfurt (Kassel) NZV 1989, 149; zur hälftigen Schadensteilung bei Kollision zwischen abgeschlepptem und abschleppendem Kfz auf abschüssiger Straße, wenn keinem der Fahrer Verschulden anzulasten ist, OLG Hamm NZV 2009, 456; zur hälftigen Schadensteilung bei Beschädigung eines abgeschleppten Lkw, wenn dessen Fahrer ebenso wie den des Abschleppfahrzeugs Vorwurf mangelnder Sorgfalt trifft, OLG Celle NZV 2013, 292.

Greger | 721

25.261

§ 25 Rz. 25.262 | Mitverantwortung des Geschädigten

n) Unfälle zwischen Schienenfahrzeugen und nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern598 aa) Fußgänger

25.262

BGH VersR 1961, 475: Überschreiten der Schienen kurz vor Zug (0); BGH VersR 1961, 908: 11-jähriger Schüler, Verschulden des Straßenbahnfahrers (⅔); BGH VersR 1963, 874: Überschreiten der Gleise kurz vor Zug (0); BGH VersR 1966, 1142: Überschreiten der Gleise, Straßenbahnverkehr entgegen der Einbahnstraße (50 %); BGH VersR 1976, 960: Mitverschulden des Straßenbahnfahrers (50 %); OLG München VersR 1967, 236: rechtsabbiegende Straßenbahn beachtet Fußgängerverkehr nicht (50 %); OLG Düsseldorf VersR 1968, 652: Dreizehnjährige läuft vor Straßenbahn über das Gleis (0); OLG Frankfurt VersR 1976, 1135: auf Fußgängerinsel stehende Passantin wird während der Vorbeifahrt einer Straßenbahn von dieser erfasst (0); OLG Hamm VersR 1983, 669: 11-jähriges Kind, unklare Regelung (100 %); OLG Düsseldorf VersR 1983, 861: Überschreiten der Gleise auf Überweg trotz Umlaufschranke und Warnschild (30 %); OLG Düsseldorf VRS 67, 1: Fußgänger zu nahe am Gleis (0); OLG Naumburg VersR 1996, 732: unaufmerksame Jugendliche auf Bahnübergang, Straßenbahnführer gibt nur Warnzeichen, statt sogleich zu verlangsamen (50 %); OLG Nürnberg NZV 2002, 127: verbotswidriges Überqueren der Gleise auf Trampelpfad (0); OLG Köln NZV 2002, 369: Überqueren der Straßenbahngleise bei Rot im Laufschritt (0); OLG Dresden, NZV 2010; 518: 81-Jähriger stolpert auf Gehweg neben dem Gleisbett und stürzt gegen Straßenbahn (0).

bb) Radfahrer

25.263

BGH VersR 1957, 296: wartepflichtiger Radfahrer, Straßenbahn fährt an Haltestelle vor Kreuzung ohne Warnsignal durch (⅓); BGH VersR 1967, 138: Verschulden des Radfahrers, Dunkelheit und Regen (20 %); OLG Nürnberg VersR 1967, 815: rangierende Eisenbahn gegen Radfahrer auf unbeschranktem Übergang (50 %); BGH VersR 1968, 582: Straßenbahn überholt Radfahrer mit zu geringem Seitenabstand (100 %); BGH VersR 1975, 258: 12-jähriger Radfahrer, Unfall auf Überweg (50 %); OLG Hamm VersR 1992, 510: übersichtlicher und durch Springlicht gesicherter Übergang über Straßenbahngleise (0) OLG Celle NJW 2008, 2353; Radfahrer windet sich trotz herannahender Straßenbahn durch Drängelgitter (0).

598 Angegeben ist Haftungsquote des Bahnunternehmers.

722 | Greger

V. Haftungsverteilung | Rz. 25.268 § 25

cc) Tiere OLG Hamm NJW 1958, 346: scheuendes Pferd wirft seinen Führer vor entgegenkommende Straßenbahn (100 %);

25.264

OLG Celle VersR 1976, 763: Kuh auf ungesichertem Bahnübergang (⅓).

o) Unfälle zwischen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern In diesen die Rechtsprechung nicht sehr häufig beschäftigenden Fällen lassen sich nur schwer allgemeine Aussagen zur Haftungsverteilung treffen. Noch mehr als in den Kfz-Unfällen kommt es hier ganz auf die genauen Umstände des Einzelfalles an; von einer Wiedergabe der Haftungsquoten wird daher abgesehen.

25.265

aa) Fahrrad gegen Fahrrad Überholen: OLG Hamm NZV 1995, 316 (Ausscheren auf abgetrennten Gehweg während Überholvorgangs); OLG Karlsruhe NJW-RR 2017, 278 (zu geringer Seitenabstand).

25.266

Kreuzungszusammenstoß: BGH VersR 1971, 909 (Radfahrer verletzt Kurve schneidend Vorfahrt des anderen auf Radweg, dieser weicht falsch aus); OLG Hamm NZV 2015, 188 (Radfahrer kollidiert bei Ausfahren aus verkehrsberuhigtem Bereich mit Radfahrer, der Radweg entgegen der Fahrtrichtung benutzt). Linksabbiegen: OLG München VersR 1985, 769 LS (Kollision mit Überholendem). Gegenverkehr: BGH VersR 1988, 85 (radfahrendes Kind stößt auf Gehweg mit erwachsener Radfahrerin zusammen); BGH NZV 1992, 318 (Zusammenstoß zwischen stark alkoholisiertem und Radweg in falscher Richtung befahrendem Radfahrer); OLG Hamburg ZfS 2018, 78 (berührungsloser Sturz wegen Schreckreaktion auf Radfahrer ohne Beleuchtung).

bb) Radfahrer gegen Fußgänger Betreten der Fahrbahn: BGH DAR 1957, 211 (Fußgänger tritt von Gehweg auf Fahrbahn); BGH VersR 1967, 179 (Fußgänger zwingt Radfahrer durch Zurücktreten in die zunächst freigegebene Fahrbahn zu Ausweichbewegung); BGH VersR 1968, 804 (Fußgänger tritt in Morgendämmerung zwischen parkenden Fahrzeugen auf die Straße); OLG Karlsruhe NZV 1991, 25 (Rennradfahrer); KG NZV 2003, 483 (Sturz bei Notbremsung); OLG Koblenz NZV 2013, 248 (Radfahrer bremst stark, weil Mädchen auf die Fahrbahn tritt, nachfolgender Radfahrer fährt trotz Ausweichmöglichkeit auf ihn auf); OLG München NZV 2014, 360 (Fußgänger bringt durch Ausweichbewegung von hinten kommenden Radfahrer zu Fall, der verbotenermaßen den Platz befuhr: keine Haftung).

25.267

Queren des Radwegs: BGH NZV 1999, 418 (unachtsames Betreten des farblich markierten Radwegs zwischen parkenden Fahrzeugen); OLG Celle NZV 2003, 179 (Rennradfahrer und Jogger); OLG Frankfurt NZV 2013, 388 (gemeinsamer Geh- und Radweg; Fußgänger kommt aus Hofeingang); KG NZV 2015, 187 (Betreten des Radwegs an Bushaltestelle); OLG Hamm NJW-RR 2018, 408 (Betreten eines farblich markierten, um Lichtzeichenanlage herumführenden Radwegs). Kind: BGH VersR 1962, 635; OLG Nürnberg VersR 1962, 1116.

cc) Sonstige Radfahrerunfälle Das Mitfahren auf dem Gepäckträger aus jugendlichem Leichtsinn kann zur völligen Haftungsfreiheit des das Fahrrad lenkenden Spielgefährten führen (OLG Braunschweig NZV 1991, 152).

Greger | 723

25.268

§ 25 Rz. 25.268 | Mitverantwortung des Geschädigten Bei Kollision mit einem Hund auf einem gemeinsamen Geh- und Radweg haftet Radfahrer mit, wenn er ohne Warnzeichen zu nahe am Hundeführer vorbeifährt (OLG Hamburg NJW-Spezial 2020, 11; dazu Koehl SVR 2020, 19).

dd) Sonstige Fußgängerunfälle

25.269

BGH NJW 1961, 1622, BGH VersR 1968, 301 (rollerfahrendes Kind fährt Fußgänger an); OLG Koblenz DAR 2020, 36 (Segwayfahrer gegen Fußgänger); LG Berlin VersR 1972, 56 (Fußgänger stolpert über von spielenden Kindern gezogenen Gummifaden).

ee) Unfälle mit Tieren

25.270

OLG Düsseldorf NJW-RR 1992, 475 (Radfahrerin fährt auf Radweg weiter, obwohl sie Unruhe eines entgegenkommenden Pferdes bemerkt).

p) Mitverschulden von Kfz-Insassen aa) Privatfahrzeuge

25.271

Ablenkung des Fahrers: OLG Hamm NZV 1995, 481 (mit sehr hoher Haftungsquote des massiv abgelenkten Fahrers). Mitfahren bei Fahrer ohne Fahrerlaubnis: BGH VersR 1985, 965; OLG Köln VersR 1984, 545; OLG Bamberg VersR 1985, 786; OLG Hamm VersR 1987, 205; LG Stuttgart VersR 1985, 150. Mitfahren bei Fahruntüchtigem: BGH VersR 1969, 380; BGH VersR 1971, 473; OLG Celle NZV 2005, 421; OLG München VersR 1986, 925; OLG Koblenz VersR 1989, 405; OLG Frankfurt NZV 2007, 525; OLG Hamm NZV 2001, 86; OLG Naumburg NZV 2011, 448; OLG Karlsruhe NJW 2009, 2608 (Fahrer und Beifahrer betrunken, nicht angegurtet). Nichtangurten: s. Rz. 25.84. Kraftradbeifahrer ohne Helm: OLG Nürnberg DAR 1989, 296 mit Anm. Berr.

bb) Öffentliche Verkehrsmittel

25.272

Nicht ausreichende Sicherung: OLG Frankfurt NZV 2011, 199; OLG Bremen NZV 2011, 540; OLG Düsseldorf NZV 2011, 393; OLG Naumburg NZV 2012, 76; KG NZV 2013, 78; OLG Dresden MDR 2014, 897; OLG Dresden NZV 2018, 76 mit Anm. Filthaut; OLG Hamm NJW 2017, 2356 mit Anm. Freymann = NZV 2017, 377 mit Anm. Filthaut; OLG Celle NJW-RR 2018, 1231; OLG Celle MDR 2019, 934. Sturz beim Aussteigen: OLG Frankfurt VersR 1975, 381.

724 | Greger

Sechster Teil Ersatz des Sachschadens § 26 Totalschaden

Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art und Höhe der Ersatzleistung . . Restitution nach § 249 BGB . . . . . . . . Kompensation nach § 251 BGB . . . . Absehen von Ersatzbeschaffung . . . . Wiederbeschaffungswert . . . . . . . . . . Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abzug des Restwerts . . . . . . . . . . . . . Steuerliche Nachteile . . . . . . . . . . . . . Einzelheiten der Schadensberechnung bei Totalschaden eines Kfz . . . 1. Wiederbeschaffungskosten . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art der Wiederbeschaffung . . . . . . . .

I. II. 1. 2. 3. a) b) 4. 5. III.

26.1 26.4 26.4 26.7 26.13 26.13 26.14 26.15 26.16 26.17 26.17 26.17 26.18

c) d) e) f) 2. 3. a) b) c) IV.

Bemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsteuerabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . Lange Lieferfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . Restwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiko- oder Zweithandzuschlag . . . . Fahrzeugwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei Leasingfahrzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ansprüche des Leasinggebers . . . . . . 2. Ansprüche des Leasingnehmers . . . .

26.19 26.21 26.22 26.24 26.25 26.26 26.26 26.27 26.28 26.29 26.29 26.30

Bei Verkehrsunfällen kommt es vielfach zu Sachschäden an den beteiligten Fahrzeugen.1 Wird das Fahrzeug vollständig zerstört, greifen besondere Regeln für den Schadenersatz (§ 26). In der Mehrzahl der Fälle liegt aber, nicht zuletzt auch aufgrund einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der entsprechenden Normen (s. Rz. 27.2), ein reparabler Sachschaden vor (§ 27). Unfallbedingt kommt es schließlich oft zu einem Entfall bzw. einer Einschränkung der Nutzungsmöglichkeit (§ 28).

I. Begriff Ein Totalschaden im eigentlichen Sinn (technischer Totalschaden) liegt vor, wenn eine Sache vollständig zerstört ist (d.h. so, dass eine Wiederherstellung objektiv unmöglich ist) oder wenn sie abhanden gekommen ist (zum hiervon zu unterscheidenden wirtschaftlichen Totalschaden – Wiederherstellung möglich, aber nicht wirtschaftlich – s. Rz. 27.2, Rz. 27.10). Ob Wiederherstellung möglich ist, entscheidet nicht allein der Geschädigte, sondern die – ggf. vom Richter festzustellende – allgemein bewährte technische und wirtschaftliche Verkehrsanschauung.2 Bei der Zerstörung eines Gebäudes ist für die Frage der Wiederherstell-

1 2015 waren ca. 2,2 Mio. Unfälle mit reinen Sachschäden zu verzeichnen (Scholten DAR 2016, 631). 2 BGH 19.4.1977 – VI ZR 34/75, VersR 1977, 743.

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26.1

§ 26 Rz. 26.1 | Totalschaden

barkeit nicht allein auf dieses, sondern auf das bebaute Grundstück insgesamt abzustellen (vgl. Rz. 27.92).

26.2

Zeigt sich erst nach Reparaturversuchen, dass eine Wiederherstellung nicht gelingt, so hat der Ersatzpflichtige neben dem Totalschaden auch die Kosten der fehlgeschlagenen, aus ursprünglicher Sicht aber sinnvollen Reparatur zu tragen.3

26.3

Kommt es erst durch das Zusammenwirken mehrerer aufeinanderfolgender Schädigungen, die für sich genommen nur reparable Schäden hervorgerufen hätten, zum Totalschaden, so haftet, falls keine gesamtschuldnerische Haftung eingreift, der frühere Schädiger auf die gedachten Reparaturkosten, während der letzte Schädiger zwar Totalschadensersatz schuldet, jedoch nur auf der Basis des Wertes, den die beschädigte Sache zum Zeitpunkt seines Schadensbeitrags noch hatte (vgl. zu dieser hauptsächlich beim wirtschaftlichen Totalschaden auftretenden Situation Rz. 27.86).

II. Art und Höhe der Ersatzleistung 1. Restitution nach § 249 BGB 26.4

Da beim Totalschaden eine Wiederherstellung begrifflich ausgeschlossen ist, kommt als Grundlage für die Ersatzansprüche des Geschädigten primär nicht § 249 BGB, sondern § 251 Abs. 1 BGB in Betracht. Bei vertretbaren Sachen wird jedoch auch die Ersatzbeschaffung als Form der Naturalrestitution angesehen und Schadensersatz nach § 249 BGB zugesprochen. Wird also eine noch völlig ungebrauchte oder jedenfalls nach der Verkehrsanschauung neuwertige Sache so beschädigt, dass eine Wiederherstellung nicht möglich ist, muss der Ersatzpflichtige nach Wahl des Geschädigten entweder einen gleichartigen Ersatz liefern oder den zur Beschaffung einer entsprechenden neuen Sache erforderlichen Geldbetrag zahlen.

26.5

Bei der Zerstörung von gebrauchten Sachen wendet die Rspr. – obwohl sie wegen der individuellen Gebrauchsspuren nicht vollkommen restituierbar sind – ebenfalls § 249 BGB an, sofern die Beschaffung eines gleichartigen Ersatzes – wie insbesondere bei gebrauchten Kfz – ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich ist (Nachweise u. Kritik Rz. 27.8 f.). Der Ersatz der Wiederbeschaffungskosten ist daher beim Totalschaden von Kfz die übliche Form des Schadensersatzes (näher Rz. 26.17 ff.).

26.6

Kann Ersatz nur durch eine neue Sache geleistet werden, ist grundsätzlich ein Abzug „neu für alt“ vorzunehmen, der den Wertunterschied ausgleicht; das gilt auch für langlebige Wirtschaftsgüter.4 Der Abzug kann unterbleiben, wenn die wirtschaftliche Lage des Geschädigten so ungünstig ist, dass ihm die Bezahlung des Unterschiedsbetrags nicht zuzumuten ist,5 oder sofern bei wertender Betrachtung nicht von einer ins Gewicht fallenden Vermögensmehrung auszugehen ist.6

3 4 5 6

BGH v. 2.12.1975 – VI ZR 249/73, VersR 1976, 389. BGH v. 24.3.1959 – VI ZR 90/58, BGHZ 30, 29. BGH v. 24.3.1959 – VI ZR 90/58, BGHZ 30, 29, 33. Bsp.: Ersatz einer Kieferprothese (AG Landshut v. 10.5.1989 – 1 C 278/89, NJW 1990, 1537). Dagegen wurde Abzug bejaht für Brille (LG Freiburg v. 4.11.1988 – 9 S 203/87, VersR 1989, 636 LS) und Kleidung (AG Ludwigshafen v. 13.11.1984 – 2a C 166/84, ZfS 1985, 75).

726 | Zwickel

II. Art und Höhe der Ersatzleistung | Rz. 26.10 § 26

2. Kompensation nach § 251 BGB Diese Form der Ersatzleistung kommt somit nur zum Zuge, wenn eine unvertretbare und nicht mit verhältnismäßigem Aufwand substituierbare Sache zerstört wird.7 In diesem Fall ist eine Entschädigung für die Wertminderung zu leisten, die das Vermögen des Geschädigten durch das Schadensereignis erlitten hat.

26.7

Dieses Wertinteresse entspricht i.d.R. dem Verkehrswert der zerstörten Sache.8 Entscheidend ist der Geldbetrag, mit dem die Sache in eine Vermögensbilanz des Geschädigten einzustellen wäre, i.d.R. also der Marktpreis.9 Bei nicht marktgängigen Gegenständen ist im Rahmen freier Schätzung nach § 287 ZPO zu ermitteln, welchen Wert die Sache (unter Ausschluss immaterieller Werte) im Zeitpunkt der Zerstörung für den Geschädigten hatte.10 In der Regel ist auf den Veräußerungswert11 abzustellen, nicht auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten.12 Besteht jedoch für die beschädigte Sache kein Markt, kann der Neupreis abzgl. einer an der vorgesehenen Nutzungsdauer orientierten Abschreibung zugrunde gelegt werden.13 Liegen alle Voraussetzungen für eine Sonderzulassung vor, so ist gem. § 287 ZPO davon auszugehen, dass das Fahrzeug die Zulassung erhalten hätte. In einem solchen Fall kann daher die noch nicht erfolgte Zulassung bereits als werterhöhend berücksichtigt werden.14 Umsatzsteuer umfasst die nach § 251 BGB zu leistende Entschädigung nicht;15 soweit sie bei einer Veräußerung überhaupt anfiele, müsste sie vom Geschädigten abgeführt werden.

26.8

Ein Affektionsinteresse, etwa für die mit der Sache (Schmuckstück, Fotoalbum) verbundenen persönlichen Erinnerungen, ist nicht zu ersetzen.16

26.9

Bei Bäumen, Gehölzen u.ä. besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Naturalrestitution, sondern nur auf Ersatz der Wertminderung des Grundstücks, dessen wesentlicher Bestandteil der Baum war.17 Zur Berechnung des Schadensersatzes hat sich das sog. Sachwertverfahren durchgesetzt.18

26.10

7 BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, BGHZ 92, 85, 87 f = JZ 1985, 39 mit Anm. Medicus (einmaliges Bastlerstück); OLG Frankfurt/M. v. 24.3.2020 – 22 U 157/18, NJW-RR 2020, 1037; s. auch BTDrucks. 14/7752, S. 13. 8 BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, BGHZ 92, 85, 90 = JZ 1985, 39 mit Anm. Medicus. 9 BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, BGHZ 92, 85, 93 = JZ 1985, 39 mit Anm. Medicus. 10 OLG Frankfurt/M. v. 24.3.2020 – 22 U 157/18, NJW-RR 2020, 1037; OLG Stuttgart v. 20.7.1966 – 1 U 36/66, NJW 1967, 252. 11 Ch. Huber Fragen der Schadensberechnung 2. Aufl. 1995, S. 156 ff.; Ch. Huber NZV 2004, 108; Picker S. 121 ff.; Knütel ZGS 2003, 18; dagegen zu Unrecht Unterreitmeier NZV 2004, 331 f. 12 BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, BGHZ 92, 85, 92 = JZ 1985, 39 mit Anm. Medicus; hierzu krit. E. Schmidt JuS 1986, 517 ff. 13 Vgl. OLG Koblenz v. 12.6.1989 – 12 U 330/87, VersR 1991, 1188 (Straßenbahnzug); OLG Düsseldorf v. 16.9.1996 – 22 U 73/96, VersR 1997, 623 = NZV 1997, 120 (Eisenbahnwaggon). 14 OLG Frankfurt/M. v. 24.3.2020 – 22 U 157/18, NJW-RR 2020, 1037. 15 Knütel ZGS 2003, 19; a.A. Palandt/Grüneberg § 251 Rz. 10; Heß NZV 2004, 5. 16 OLG Köln v. 19.12.1972 – 9 U 66/72, OLGZ 1973, 7. 17 BGH v. 27.1.2006 – V ZR 46/05, NJW 2006, 1424; BGH v. 13.5.1975 – VI ZR 85/74, VersR 1975, 1047 = 1102 mit Anm. Koch; Koch NJW 1979, 2601, VersR 1984, 110 u. 1986, 1160; Breloer VersR 1985, 322; a.A. Kappus VersR 1984, 1021. 18 Vgl. Palandt/Grüneberg § 251 Rz. 12; Koch Aktualisierte Gehölzwerttabellen; Breloer Was ist mein Baum wert?, 5. Aufl. 2007; Koch VersR 1984, 110; 1985, 213; 1986, 1160; 1990, 573; OLG München v. 18.11.1988 – 21 U 5260/87, VersR 1990, 670 mit Anm. Breloer. Gegen Ausschließlichkeit dieses Verfahrens Fleckenstein VersR 1987, 236; krit. hierzu Breloer VersR 1987, 436.

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§ 26 Rz. 26.11 | Totalschaden

26.11

Der Verlust von Tieren ist nach § 251 Abs. 1 BGB und vorstehenden Grundsätzen zu entschädigen. Es kann nicht der volle Anschaffungspreis verlangt werden;19 das Alter des Tieres muss berücksichtigt werden.

26.12

Werden durch den Unfall Daten bzw. Datenträger unbrauchbar, ist (bis zur Grenze des § 251 Abs. 2 S. 1 BGB) der zur Wiederherstellung der verlorenen Daten erforderliche Aufwand zu ersetzen.20 Bei der Schadensbewertung ist zudem zu berücksichtigen, inwieweit das Fehlen der Daten zu einer Störung bzw. Erschwerung von Betriebsabläufen führt.21

3. Absehen von Ersatzbeschaffung a) Wiederbeschaffungswert 26.13

Soweit der Geschädigte Ersatz der Wiederbeschaffungskosten nach § 249 BGB verlangen kann (s. Rz. 26.4 ff.), ist sein Anspruch nach st. Rspr. nicht davon abhängig, dass er tatsächlich eine Ersatzsache anschafft (näher Rz. 20.26). Er kann in jedem Fall die vom Sachverständigen geschätzten Wiederbeschaffungskosten, vermindert um den Restwert (Rz. 26.15) verlangen. Für Schadensfälle nach dem 1.8.200222 gilt § 249 Abs. 2 S. 2 BGB, wonach nur noch tatsächlich angefallene Umsatzsteuer zu ersetzen ist. Zum Vorsteuerabzug s. Rz. 26.22 f.; zur Frage von Nachforderungen bei späterer Ersatzbeschaffung s. Rz. 27.77. Bei Unfällen vor dem 1.8.2002 wurde ihm auch die fiktive Umsatzsteuer zugesprochen23 (Einzelheiten s. Rz. 26.21).

b) Entschädigung 26.14

Hat der Geschädigte dagegen Anspruch auf Entschädigung nach § 251 BGB (s. Rz. 27.7 ff.), kommt es auf die Durchführung einer Ersatzbeschaffung überhaupt nicht an.

4. Abzug des Restwerts 26.15

Hat die beschädigte Sache noch einen Restwert (Schrottwert), ist dieser bei der Ermittlung des Wiederbeschaffungsaufwands bzw. der Vermögensminderung in Abzug zu bringen,24 sofern nicht – wozu der Geschädigte jedenfalls bei voller Haftung25 auch dem Haftpflichtversicherer gegenüber berechtigt,26 aber nicht verpflichtet ist27 – die Restteile dem Schädiger zur Verfügung gestellt werden.28 Näher zur Bemessung des Restwerts Rz. 27.71 ff. 19 A.A. AG Frankfurt/M. v. 14.6.2000 – 29 C 2234/99-69, NJW-RR 2001, 17. 20 LG Kaiserslautern v. 18.3.1999 – 2 O 966/97, DAR 2001, 225 (auch zum Mitverschulden wegen unterlassener Datensicherung). 21 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066. 22 Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB. 23 BGH VersR 1982, 758 = 1074 mit abl. Anm. Martin; Offerhaus DAR 1988, 374; Kullmann VersR 1993, 390 f.; a.A. OLG Hamm v. 23.2.1979 – 20 U 233/78, VersR 1979, 613; Koch DAR 1980, 355; Kääb/Grube NZV 1989, 342. 24 BGH v. 12.3.1985 – VI ZR 182/83, VersR 1985, 595; BGH v. 26.3.1985 – VI ZR 267/83, VersR 1985, 736, 737. 25 Nach OLG Köln v. 12.11.1992 – 7 U 88/92, VersR 1993, 374 nicht bei Mithaftung. 26 BGH v. 14.6.1983 – VI ZR 213/81, VersR 1983, 758; zweifelnd Fleischmann ZfS 1989, 4. 27 KG v. 26.5.1986 – 22 U 2843/85, NJW-RR 1987, 16; LG Gießen v. 3.2.1988 – 1 S 558/87, DAR 1988, 424; Fleischmann ZfS 1989, 4. 28 BGH v. 29.6.1965 – VI ZR 36/64, NJW 1965, 1756.

728 | Zwickel

III. Einzelheiten der Schadensberechnung bei Totalschaden eines Kfz | Rz. 26.19 § 26

5. Steuerliche Nachteile Solche können sich für den Geschädigten daraus ergeben, dass er anstelle eines bereits (weitgehend) abgeschriebenen Wirtschaftsguts eine Schadensersatzleistung erhält, die als steuerpflichtiger Gewinn zu Buche schlägt.29 Dieser Nachteil dürfte allerdings kaum ausgleichbar und daher vom Geschädigten hinzunehmen sein.30

26.16

III. Einzelheiten der Schadensberechnung bei Totalschaden eines Kfz 1. Wiederbeschaffungskosten a) Allgemeines Bei Totalschaden eines Kfz billigt die Rspr. dem Geschädigten grundsätzlich die Kosten zu, die (i.S.v. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB) erforderlich sind, um ein gebrauchtes Kfz gleicher Art und Güte zu erwerben (s. Rz. 26.4).31 Diese sind höher als der Zeitwert des Kraftfahrzeugs, weil in ihnen auch die Unkosten und die Gewinnspanne des Gebrauchtwagenhändlers enthalten sind.32 Ist eine Wiederbeschaffung nicht möglich (z.B. bei nicht marktgängigem Oldtimer oder Eigenbau), ist die durch den Totalverlust entstandene Vermögensdifferenz zu ersetzen (§ 251 Abs. 1 BGB; hierzu Rz. 26.7).

26.17

b) Art der Wiederbeschaffung Der Geschädigte kann beanspruchen, dass ihm die Wiederbeschaffungskosten beim Kauf eines werkstattgeprüften Wagens vom Fachhändler erstattet werden;33 er braucht sich nicht auf den evtl. preisgünstigeren Kauf von Privat verweisen zu lassen. Schafft er als Ersatzfahrzeug einen Neuwagen oder ein höherwertiges Gebrauchtfahrzeug an, kann er den dafür aufgewendeten Kaufpreis bis zur Höhe des (Brutto-)Wiederbeschaffungswerts des Unfallfahrzeugs, unter Abzug seines Restwerts, ersetzt verlangen (näher dazu Rz. 27.70).

26.18

c) Bemessung Seit der impliziten Anerkennung einer fiktiven Abrechnung beim Sachschadensersatz durch das 2. SchRÄndG (vgl. Rz. 27.35) ist nicht mehr zu bestreiten, dass die Wiederbeschaffungskosten nicht nur konkret (anhand der Rechnung), sondern auch fiktiv (auf Basis eines Schätzgutachtens) berechnet werden können, unabhängig davon, ob der Geschädigte überhaupt eine Ersatzbeschaffung vorgenommen hat und in welcher Form. Das Gutachten legt den Ersatzbetrag jedoch nicht verbindlich fest, sondern hat nur indizielle Wirkung, ebenso wie der Kaufvertrag oder die Rechnung im Falle tatsächlicher Ersatzbeschaffung (näher hierzu Rz. 27.55;

29 Vgl. hierzu Lange/Schiemann § 6 XIII 4 d. 30 Kullmann VersR 1993, 387 f. 31 BGH v. 17.5.1966 – VI ZR 252/64, NJW 1966, 1454 mit Anm. Schmidt 2159 u. Allway 1807; OLG Stuttgart v. 20.7.1966 – 1 U 36/66, NJW 1967, 252 mit Anm. Hohenester. 32 BGH v. 24.3.1959 – VI ZR 90/58, BGHZ 30, 29; Henrichs NJW 1967, 1940; Halbgewachs NZV 1993, 380. 33 BGH v. 17.5.1966 – VI ZR 252/64, VersR 1966, 830; BGH v. 7.3.1978 – VI ZR 237/76, VersR 1978, 664.

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26.19

§ 26 Rz. 26.19 | Totalschaden

zur daraus resultierenden Vorlagepflicht Rz. 27.56). Hat der Geschädigte von Privat gekauft, kann er wegen überobligationsmäßigen Verzichts (s. Rz. 26.18) gleichwohl den Händlerverkaufspreis berechnen (zum Ersatz der Umsatzsteuer s. aber Rz. 26.21). Anhaltspunkte für die aktuellen Händlerpreise liefern die publizierten Markterhebungen (z.B. DAT-Tabellen, Schwacke-Bericht).

26.20

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bemessung der fiktiven Wiederbeschaffungskosten ist im Prozess – wie im Rahmen der fiktiven Abrechnung von Reparaturkosten34 – der der letzten mündlichen Verhandlung; Preissteigerungen seit dem Unfall gehen folglich zu Lasten des Schädigers.35 Umgekehrt kann der Geschädigte (bei Preisverfall) nicht mehr verlangen als im maßgeblichen Zeitpunkt zur Ersatzbeschaffung erforderlich ist.36 Dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz, dass der Umfang des Schadensersatzes sich aus den im Zeitpunkt der Erfüllung der Schadensersatzpflicht (nicht: der Schädigung) bestehenden Verhältnissen ergibt.37 Gegen die (bei Wertverfall) eintretende Konsequenz, dass die Verzögerung der Ersatzleistung dem Schädiger zugutekommt, kann sich der Geschädigte schützen, indem er den Ersatzpflichtigen in Verzug setzt.38

d) Umsatzsteuer 26.21

Für Unfälle ab 1.8.2002 schließt § 249 Abs. 2 S. 2 BGB die Erstattung fiktiver Umsatzsteuer, wie etwa beim Kauf von privat,39 aus (s. Rz. 26.13; Rz. 27.70). Bei Schadensfällen vor dem 1.8.2002 kann der Geschädigte Umsatzsteuer auf die vom Sachverständigen ermittelten Wiederbeschaffungskosten nach der Rspr. auch dann in Rechnung stellen, wenn er das Ersatzfahrzeug aus privater Hand, also umsatzsteuerfrei, gekauft hat.40 Zu beachten ist hierbei aber, dass der Geschädigte nicht etwa den tatsächlich bezahlten Kaufpreis plus fiktiver Mehrwertsteuer, sondern (nur) den fiktiven Händlerpreis inkl. Mehrwertsteuer verlangen kann, die nach § 25a UStG nur auf die Marge des Händlers zu entrichten ist.41

e) Vorsteuerabzug 26.22

Ist der Geschädigte zum Vorsteuerabzug berechtigt (§ 15 UStG) und gehörte die beschädigte Sache zum Betriebsvermögen, so kann der Geschädigte die Umsatzsteuer, da er sie im Ergeb-

34 BGH v. 18.2.2020 – VI ZR 115/19, NJW 2020, 1795 mit Anm. Heßeler. 35 OLG Hamm v. 22.1.1990 – 3 U 267/88, NZV 1990, 269; OLG Köln v. 12.11.1992 – 7 U 88/92, VersR 1993, 374; Lange/Schiemann § 1 IV 2; Zwickel NZV 2019, 616. 36 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 319; Lange/Schiemann § 1 IV 2 b aa; a.A. OLG Düsseldorf v. 30.6.1997 – 1 U 212/96, VersR 1998, 864; Erman-BGB/Kuckuk § 249 Rz. 92. 37 BGH v. 18.2.2020 – VI ZR 115/19, NJW 2020, 1795; BGH v. 23.1.1981 – V ZR 200/79, BGHZ 79, 249, 258; BGH v. 21.4.1998 – VI ZR 230/97, VersR 1998, 995, 997; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 314 m.w.N. 38 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 312; Lange/Schiemann § 1 IV 2 b aa. 39 BGH v. 2.7.2013 – VI ZR 351/12, DAR 2013, 571. 40 BGH v. 4.5.1982 – VI ZR 166/80, VersR 1982, 758 = 1074 mit abl. Anm. Martin. 41 Näher hierzu Greger NZV 1991, 18; Freikamp BB 1990, 898; Widmann Betrieb 1990, 1057; BTDrucks. 14/7752, S. 24; Auswirkungen auf das Haftungsrecht verneinend Reinking DAR 1991, 160 u. KG v. 13.1.1994 – 12 U 5502/93, NZV 1995, 225, 226.

730 | Zwickel

III. Einzelheiten der Schadensberechnung bei Totalschaden eines Kfz | Rz. 26.25 § 26

nis nicht zu tragen hat, nicht beanspruchen.42 Der Geschädigte ist aber nicht verpflichtet, ein regelbesteuertes Fahrzeug zu beschaffen, damit dem Schädiger der Vorsteuerabzug zugutekommt.43 Wird die Sache auch privat genutzt, so erhält der Geschädigte die Mehrwertsteuer insoweit ersetzt, als sie auf den privaten Nutzungsanteil entfällt.44 Ein Landwirt, bei dem die Vorsteuer pauschaliert wird, hat Anspruch auf Ersatz des vollen Mehrwertsteuerbetrags.45 Zur Frage der Mehrwertsteuerbefreiung von US-Armee-Angehörigen s. LG Mannheim v. 5.8.1988 – 1 S 25/ 88, NJW-RR 1989, 418 u. AG Bitburg v. 19.5.1988 – 5 C 142/88, VersR 1990, 984.

26.23

f) Lange Lieferfrist Auch bei sehr langer Lieferfrist kann der Geschädigte nicht mit der Begründung die Kosten für ein höherwertiges Fahrzeug berechnen, dass dieses in kürzerer Frist als ein gleichwertiges lieferbar ist und dem Ersatzpflichtigen somit höhere Mietwagenkosten erspart würden.46 Der Geschädigte würde sonst auf Kosten des Schädigers eine Vermögensmehrung erfahren, was den Grundgedanken des Schadensersatzrechts widerspräche. Etwas anderes mag in Extremfällen gelten, wo sich besonders lange Lieferfristen und nicht allzu erhebliche Wertüberschreitung gegenüberstehen; ansonsten ist an die Anschaffung eines Interimsfahrzeugs zu denken (Rz. 28.25).

26.24

2. Restwert Der von den Wiederbeschaffungskosten abzuziehende Restwert (Rz. 26.15) hat beim echten Totalschaden nur geringe Bedeutung. Soweit für das Unfallwrack noch ein Erlös erzielt werden konnte, ist er gutzubringen; oftmals werden jedoch für die Beseitigung sogar Kosten anfallen (hierzu Rz. 26.27). Eine zum Unfallzeitpunkt bereits bewilligte oder nach dem Unfall beantragte Umweltprämie („Abwrackprämie“) ist dem Schädiger nicht anzurechnen, sofern der Restwert diese nicht übersteigt.47

42 BGH (VI. Senat) v. 6.6.1972 – VI ZR 49/71, NJW 1972, 1460; OLG Düsseldorf v. 28.4.1995 – 17 U 229/94, NJW-RR 1996, 498; Giesberts NJW 1973, 181; Mayer NJW 1973, 1674; Offerhaus DAR 1988, 374; Kullmann VersR 1993, 390; Ch. Huber Der Kfz-Sachverständige 2006, 21; zweifelnd BGH (X. Senat) v. 22.5.1989 – X ZR 25/88, NJW-RR 1990, 33. Krit. Kääb/Grube NZV 1989, 344; Hofmann DAR 1983, 374. Der BFH (BFH v. 6.3.1990 – VII E 9/89, NJW 1991, 1702) hat die Praxis bei der Schadensabrechnung (beiläufig) gebilligt. 43 BGH v. 25.11.2008 – VI ZR 245/07, NZV 2009, 134. 44 OLG Stuttgart v. 2.11.1970 – 5 U 67/70, BB 1971, 634; zur Berechnung bei nach dem Inkrafttreten des SteuerentlastungsG 1999/2000/2002 (BGBl. 1999 I 402) am 1.4.1999 gekauften Kfz s. Behnke DAR 2000, 60. 45 OLG Hamburg v. 17.7.1990 – 7 U 1/90, NJW 1991, 849; OLG Hamm v. 28.6.1997 – 13 U 10/97, NZV 1998, 26; eingehend Kullmann VersR 1993, 390 f.; a.A. Schmalzl VersR 1998, 1564 u. 2002, 818. 46 A.A. OLG Celle VersR 1962, 187. 47 Steiner VersR 2010, 1156; Buck NZV 2010, 122; a.A. für zum Unfallzeitpunkt bereits bewilligte Prämien: Voit/Geck NJW 2010, 117.

Zwickel | 731

26.25

§ 26 Rz. 26.26 | Totalschaden

3. Nebenkosten a) Risiko- oder Zweithandzuschlag 26.26

Auf einen Risiko- oder Zweithandzuschlag hat der Geschädigte keinen Anspruch,48 ebenso wenig auf die (fiktiven) Kosten einer Begutachtung49 oder Werkstattgarantie.50 Seine Interessen sind dadurch ausreichend gewahrt, dass er die Kosten für einen werkstattgeprüften Gebrauchtwagen verlangen kann.

b) Fahrzeugwechsel 26.27

Mit dem Fahrzeugwechsel verbundene Kosten, insbesondere die Gebühren für An- und Abmeldung, sind dem Geschädigten zu ersetzen; allerdings nur, wenn sie tatsächlich angefallen und konkret dargelegt sind.51 Dies gilt auch für das Umlackieren auf Taxi-Farbe.52 Eine Pauschalierung kommt, aufgrund der klaren Bezifferbarkeit dieser Kosten, nicht in Betracht.

c) Sonstige Kosten 26.28

Ebenso sind zu erstatten etwaige Aufwendungen für die Bergung (z.B. durch die Feuerwehr)53 und Verschrottung des Wracks. Standgelder/Verwahrkosten (z.B. bis zu einer Begutachtung) sind im Rahmen des Erforderlichen ersatzfähig. Die erforderliche Standzeit richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Der Geschädigte ist aber gehalten, das Fahrzeug schnellstmöglich begutachten zu lassen bzw. zu verwerten.54 Zubehör (z.B. Verbandskasten, Warndreieck und Warnweste) ist, soweit möglich und wirtschaftlich sinnvoll, aus dem Altfahrzeug zu übernehmen.55 Die Aufwendungen hierfür (z.B. Radioumbau) sind zu ersetzen, bei Eigenleistung gilt Rz. 27.48.56 Der im Tank des Unfallfahrzeugs befindliche Kraftstoff ist zu ersetzen.57 Ein Auspumpen des Kraftstoffes ist nicht zumutbar, wenn die hierfür anfallenden Kosten den Wert des Kraftstoffes überschreiten.58 48 BGH v. 17.5.1966 – VI ZR 252/64, NJW 1966, 1454 mit Anm. Schmidt NJW 1966, 2159 u. Allway NJW 1966, 1807; BGH v. 7.3.1978 – VI ZR 237/76, VersR 1978, 664; Halbgewachs NZV 1993, 381. 49 OLG Bamberg v. 12.10.1976 – 5 U 41/76, VersR 1977, 724; OLG Düsseldorf v. 15.12.1976 – 15 U 77/76, NJW 1977, 719; OLG Saarbrücken v. 7.7.1989 – 3 U 40/88, NZV 1990, 186; Halbgewachs NZV 1993, 381; Jahnke VersR 1987, 645; a.A. OLG Frankfurt v. 29.11.1989 – 12 U 32/89, ZfS 1990, 48; OLG Stuttgart v. 20.7.1966 – 1 U 36/66, NJW 1967, 252 mit Anm. Hohenester. 50 Halbgewachs NZV 1993, 382. 51 KG v. 31.1.2019 – 22 U 211/16, r+s 2019, 347 mit abl. Anm. Rogler; OLG München v. 10.7.2017 – 10 U 304/17, SVR 2017, 427; LG Koblenz v. 2.5.2017 – 5 O 63/16, SVR 2017, 470 (keine Pauschale für An- und Abmeldekosten); Balke SVR 2019, 446; Halbgewachs NZV 1993, 382.; a.A.: AG Mettmann v. 2.6.2016 – 20 C 96/14 (Pauschale für Fahrzeugwechsel v. 75 €). 52 OLG Frankfurt v. 19.2.1986 – 17 U 4/85, VersR 1987, 1043: kein Ersatz bei Erwerb eines neuen Taxis; a.A. OLG Karlsruhe v. 29.4.1994 – 1 U 260/93, NZV 1994, 393. Nach LG Arnsberg v. 14.8.2001 – 5 S 99/01, NZV 2002, 134 kein Verweis auf Folienbeschichtung. 53 Haus/Krumm/Quarch/Kuhnert Gesamtes Verkehrsrecht, 2017, § 249 Rz. 117. 54 AG Wiesbaden v. 16.3.2010 – 91 C 4877/09 (Standgebühr für 30 Tage unangemessen); AG Bruchsal v. 8.8.2018 – 1 C 144/17, NJW-RR 2019, 22 (Standgebühr für 40 Tage angemessen). 55 A.A. AG Tostedt v. 12.4.2018 – 18 C 170/18, NZV 2018, 385 mit zust. Anm. Pletter. 56 A.A. OLG München ZfS 1988, 264: Berücksichtigung beim Wiederbeschaffungswert. 57 LG Regensburg v. 25.11.2003 – 1 O 348/03, NZV 2005, 49; AG Solingen v. 1.4.2015 – 11 C 631/ 14, NJW-RR 2015, 1375. 58 AG Solingen v. 1.4.2015 – 11 C 631/14, NJW-RR 2015, 1375.

732 | Zwickel

IV. Besonderheiten bei Leasingfahrzeugen | Rz. 26.30 § 26

IV. Besonderheiten bei Leasingfahrzeugen 1. Ansprüche des Leasinggebers Er kann an sich den Substanzwert ersetzt verlangen, denn er ist Eigentümer des Fahrzeugs geblieben. Zu berücksichtigen ist aber, dass in den Leasingverträgen die Sach- und Gegenleistungsgefahr üblicherweise auf den Leasingnehmer abgewälzt wird.59 Leistet der Leasingnehmer die vertraglich vereinbarte Entschädigung an den Leasinggeber, steht diesem kein Anspruch auf Ersatz der Wiederbeschaffungskosten mehr gegen den Schädiger zu.60 Das bloße Bestehen des Entschädigungsanspruchs hindert die Inanspruchnahme des Schädigers durch den Leasinggeber dagegen nicht.61 Zum Anspruch auf Ersatz entgangenen Gewinns, wenn die Fortzahlung der Leasingraten abbedungen ist, vgl. Rz. 28.9.

26.29

Auch für die Frage der Erstattungsfähigkeit der Mehrwertsteuer ist, bei Abschluss einer Kaskoversicherung durch den Leasingnehmer, ausschließlich auf den Leasinggeber abzustellen. Aufgrund der i.d.R. gegebenen Vorsteuerabzugsberechtigung des Leasinggebers bleibt die Mehrwertsteuer dann bei der Schadensberechnung außer Betracht (s. Rz. 26.22).62 Für die Berechnung des Restwerts ist auf die Markverhältnisse am Sitz bzw. Wohnort des Leasinggebers als Geschädigtem abzustellen.63

2. Ansprüche des Leasingnehmers Er hat keinen eigenen Anspruch auf Ersatz des Substanzwertes oder auf Finanzierung eines Ersatz-Leasingfahrzeugs.64 Je nach Vertragsgestaltung kann er die auf ihn übergegangenen Ansprüche des Leasinggebers geltend machen. Zum Ersatz eines etwaigen Haftungsschadens s. Rz. 30.7, zum Ersatz für die entgangene Gebrauchsmöglichkeit Rz. 28.47, Rz. 28.54.

59 Vgl. BGH v. 23.11.1976 – VI ZR 191/74, VersR 1977, 227. Zur Wirksamkeit entspr. AGB s. BGH v. 27.9.2006 – VIII ZR 217/05, NZV 2007, 35, 36. 60 BGH v. 31.10.1990 – VIII ZR 186/89, NZV 1991, 108. 61 Hohloch NZV 1992, 7. 62 OLG Dresden v. 26.5.2020 – 4 U 2522/19, VersR 2020, 1178; OLG Hamm v. 1.2.2012 – 20 U 207/11, NZV 2012, 551. 63 A.A. OLG Düsseldorf v. 15.3.2018 – 1 U 55/17, NJW 2018, 2964. 64 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 145/91, BGHZ 116, 22 = NZV 1992, 227 mit Anm. Hohloch NZV 1992, 227; offen gelassen in BGH v. 29.1.2019 – VI ZR 481/17, VersR 2019, 499; Schnauder JuS 1992, 825.

Zwickel | 733

26.30

§ 27 Reparabler Sachschaden

I. 1. 2. 3. a) b) 4. 5. a)

b)

c) 6. a) b) c) d) e) f) II. 1. 2. a) b) c) 3. a) b) 4. a) b) c) 5. III. 1.

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung vom Totalschaden . . . . Restitution und Kompensation . . . . Mögliche Restitutionsformen . . . . . Wiederherstellung . . . . . . . . . . . . . . . Ersatzbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftlichkeitsgebot . . . . . . . . . Ausnahmen vom Wirtschaftlichkeitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unzumutbarkeit der Reparatur . . . . . aa) Grundgedanke . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integritätsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundgedanke . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonderheiten bei Kfz . . . . . . . . Verletzung eines Tieres . . . . . . . . . . . Fiktive Schadensabrechnung . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berechnungsgrundlagen . . . . . . . . . . Maßgeblicher Berechnungszeitpunkt bei der fiktiven Abrechnung . . . . . . . Wirtschaftlichkeitspostulat . . . . . . . . Konkrete und fiktive Abrechnung . . . Darlegungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höhe der Reparaturkosten . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdreparatur . . . . . . . . . . . . . . . . Ordnungsgemäße Reparatur in einem Fachbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz wirtschaftlicher Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkstattverschulden . . . . . . . . . . . . Reparatur in eigener Regie . . . . . . . Selbstreparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instandsetzung im eigenen Betrieb . . Nebenpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschleppkosten . . . . . . . . . . . . . . . . Probefahrt und Fahrzeugreinigung . . Nachweis der Reparaturkosten . . . . Reaktionsmöglichkeiten und Ersatzansprüche beim Kfz-Schaden . . Vollständige fachgerechte Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27.1 27.1 27.4 27.7 27.7 27.8 27.10 27.13 27.13 27.13 27.14 27.21 27.21 27.22 27.33 27.35 27.35 27.36 27.37 27.38 27.42 27.43 27.44 27.44 27.45 27.45 27.46 27.47 27.48 27.48 27.49 27.51 27.51 27.52 27.54 27.55 27.58 27.60

a) Unterhalb des Wiederbeschaffungsaufwands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterhalb des Wiederbeschaffungswerts, aber oberhalb des Wiederbeschaffungsaufwands . . . . . . . . . . . . c) Oberhalb des Wiederbeschaffungswerts, aber unterhalb von 130 % des Wiederbeschaffungswerts . . . . . . 2. Unvollständige oder nicht fachgerechte Reparatur . . . . . . . . . . . . . . a) Unterhalb des Wiederbeschaffungsaufwands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zwischen Widerbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert . c) Höher als der Wiederbeschaffungswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ersatzbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatsächlich aufgewendeter Kaufpreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fiktiver Wiederbeschaffungsaufwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Restwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Restitutionsverzicht . . . . . . . . . . . . . a) Reparatur oder Ersatzbeschaffung . . b) Nachträglicher Entschluss zur Restitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wertminderung oder -steigerung durch die Reparatur . . . . . . . . . . . . . 1. Technischer Minderwert . . . . . . . . . 2. Merkantiler Minderwert . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Höhe des Minderwerts . . . . . . . . . . . c) Bereits verkaufter Unfallwagen . . . . . d) Ausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Steuerersparnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wertsteigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschädigung vorbeschädigter Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Leasingfahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftlicher Totalschaden . . . . . b) Teilbeschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gebäude, Gebäudeteile, Anpflanzungen, Grundstücke . . . . . . . . . . . .

27.61

27.62

27.63 27.64 27.65 27.66 27.67 27.68 27.69 27.70 27.71 27.75 27.75 27.77 27.78 27.78 27.79 27.79 27.80 27.81 27.82 27.83 27.84 27.84 27.86 27.90 27.90 27.90 27.91 27.92

Zwickel | 735

§ 27 Rz. 27.1 | Reparabler Sachschaden a) Gebäude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.92 b) Gebäudeteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.93 c) Anpflanzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.94

d) Straßen, Grundstücke . . . . . . . . . . . . 27.95 VI. Nebenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.96

I. Grundlagen 1. Abgrenzung vom Totalschaden 27.1

Ein echter („technischer“) Totalschaden liegt in den seltenen Fällen vor, in denen die Sache vollständig zerstört wurde (etwa durch Explosion), so dass allenfalls eine Neu-, aber keine Wiederherstellung möglich wäre (näher Rz. 26.1 ff.; zu Gebäuden s. Rz. 27.92).

27.2

Ist die Wiederherstellung technisch möglich, aber wegen unverhältnismäßigen Aufwandes unwirtschaftlich („wirtschaftlicher Totalschaden“), muss nach den für Totalschäden geltenden Grundsätzen abgerechnet werden, d.h. bei ersetzbaren Sachen hat der Schädiger die Kosten einer Ersatzbeschaffung zu tragen (§ 249 Abs. 2 BGB), bei nicht ersetzbaren eine Entschädigung nach § 251 Abs. 1 BGB zu leisten (s. Rz. 26.7 ff.). Zur Frage, wann ein solcher Fall vorliegt, s. Rz. 27.10 ff.

27.3

Einen unechten Totalschaden, der ebenfalls zur Abrechnung auf Basis einer Neubeschaffung berechtigt, bejaht die Rspr. wenn eine Reparatur zwar technisch möglich und wirtschaftlich vertretbar wäre, dem Geschädigten aber aus besonderen Gründen nicht zugemutet werden soll (z.B. bei Beschädigung eines noch sehr neuen Pkw). Näher dazu Rz. 27.13 ff.

2. Restitution und Kompensation 27.4

Bei behebbaren Sachschäden gilt der Grundsatz der Naturalrestitution nach § 249 BGB: Der Schädiger schuldet Wiederherstellung oder – nach Wahl des Geschädigten (sog. Ersetzungsbefugnis) – die hierfür erforderlichen Finanzmittel. Nur unter den Voraussetzungen des § 251 BGB hat der Geschädigte einen Anspruch auf Ausgleich (Kompensation) der schädigungsbedingten Vermögensminderung (s. dazu Rz. 20.32 ff.).

27.5

Zu einer Unmöglichkeit der Herstellung i.S.v. § 251 Abs. 1 BGB kann es auch dadurch kommen, dass die beschädigte Sache ohne Beschaffung einer gleichartigen Ersatzsache (sonst gilt Rz. 27.8) entsorgt oder verkauft wird. Der BGH hat bei Beschädigung von Immobilien entsprechend entschieden,1 während er bei Unfallfahrzeugen ungeachtet der Entäußerung § 249 BGB anwendet (Rz. 27.75).2 Diese Unterscheidung überzeugt indes nicht.3 Auch bei Kfz wird mit dem endgültigen Restitutionsverzicht der Anwendungsbereich des § 249 BGB verlassen.4 Der Geschädigte sollte daher auch in diesen Fällen nach § 251 BGB entschädigt werden (s. hierzu Rz. 26.7 ff.).

1 BGH v. 2.10.1981 – V ZR 147/80, BGHZ 81, 385; BGH v. 4.5.2001 – V ZR 435/99, BGHZ 147, 320, 322 (mit Ausnahme für den Fall der Abtretung des Anspruchs an den Erwerber vor Eigentumsübergang); BGH v. 5.3.1993 – V ZR 87/91, NJW 1993, 1793. 2 BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 239; BGH v. 5.3.1985 – VI ZR 204/83, NJW 1985, 2469. 3 Krit. auch Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 223. 4 Wie hier Larenz § 28 I; Köhler in FS Larenz (80. Geburtstag), S. 360 ff.; Schwarz/Esser NJW 1983, 1409. Für gesetzgeberische Klarstellung Ch. Huber DAR 2000, 27; Greger NZV 2000, 3.

736 | Zwickel

I. Grundlagen | Rz. 27.9 § 27

Wird allerdings der Schadensersatzanspruch spätestens mit der Übereignung der beschädigten Sache an den Erwerber abgetreten, kann dieser die Wiederherstellungskosten nach § 249 BGB abrechnen,5 d.h. die Geltendmachung der Umsatzsteuer durch den Zessionar richtet sich in diesem Fall danach, ob und in welchem Umfang dieser umsatzsteuerpflichtige Maßnahmen zur Wiederherstellung ergreift.6

27.6

3. Mögliche Restitutionsformen a) Wiederherstellung Der Ersatzpflichtige schuldet nach § 249 Abs. 1 BGB die Wiederherstellung des vorherigen Zustands, d.h. er hat die Instandsetzung zu veranlassen oder – nach Wahl des Geschädigten (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) – diesem die hierzu erforderlichen Kosten zu ersetzen. Der Geldersatzanspruch ist nicht von der Wiederherstellung in natura abhängig, also ggf. fiktiv zu berechnen (s. hierzu Rz. 27.35 ff.); es handelt sich nicht etwa um einen Vorschussanspruch, über den nach durchgeführter Reparatur abgerechnet werden müsste.7

27.7

b) Ersatzbeschaffung Bei Beschädigung einer vertretbaren Sache lässt die Rspr. jedoch auch deren Austausch gegen eine gleichartige Sache in unbeschädigtem Zustand als Restitutionsweg zu.8 Der Geschädigte, der i.d.R. die Restitution selbst in die Hand nimmt und den Ersatz der Kosten nach § 249 Abs. 2 BGB verlangt,9 kann daher innerhalb der nachstehend (Rz. 27.10 ff.) zu erörternden Grenzen frei wählen, ob er repariert oder austauscht.

27.8

Dieser Rspr. ist jedenfalls im Ausgangspunkt zuzustimmen.10 Zu Recht wird allerdings kritisiert,11 dass der BGH sie auch auf gebrauchte Kfz anwendet.12 Bei diesen handelt es sich nicht um vertretbare Sachen i.S.d. § 91 BGB, da es fast ausgeschlossen ist, ein völlig gleichartiges Gebrauchtfahrzeug zu finden;13 auch setzt sich diese Einstufung mit der Rspr. zum Integritätsinteresse (Rz. 27.21 ff.) in Widerspruch, welche die Individualität des gebrauchten Fahrzeugs betont.14 Der BGH hat deshalb (unter dem Schlagwort der subjektbezogenen Schadensbetrachtung) das Gleichartigkeitserfordernis völlig aufgegeben und sieht selbst die Be-

27.9

5 BGH v. 4.5.2001 – V ZR 435/99, BGHZ 147, 320. 6 BT-Drucks. 14/7752, S 24; Schirmer/Marlow DAR 2003, 443. Zweifelnd Lemcke r+s 2002, 273. 7 BGH v. 25.10.1996 – V ZR 158/95, NZV 1997, 117; a.A. Picker Die Naturalrestitution durch den Geschädigten 2003, S. 209 ff. Zur nachträglichen Aufdeckung fehlerhafter Begutachtung s. Rz. 27.77. 8 BGH v. 22.5.1985 – VIII ZR 220/84, NJW 1985, 2413, 2414; BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, NZV 1992, 67 mit Anm. Lipp JZ 1992, 477 mit Anm. Lange. 9 Ausnahmefall: OLG Düsseldorf v. 30.5.1995 – 4 U 147/94, VersR 1996, 983 (Schädiger übernimmt Reparatur des beschädigten Lkw). 10 A.A. Haug NZV 2003, 552 f. mit Hinweis auf die Prot. zur Beratung des BGB. 11 MünchKomm-BGB/Oetker § 251 Rz. 10 f.; Lange/Schiemann § 6 XIV 5 f cc; A. Roth JZ 1994, 1092; Schiemann NZV 1996, 5; Reiff NZV 1996, 426 f.; Unterreitmeier NZV 2004, 329 ff. je m.w.N. 12 BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 61/71, VersR 1972, 1024, 1025; BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, NZV 1992, 67 und 69 mit Anm. Lipp. 13 Vgl. (aus Sachverständigensicht) Queiser ZfS 2003, 485. 14 Ebenso Haug VersR 2000, 1332 Fn. 35.

Zwickel | 737

§ 27 Rz. 27.9 | Reparabler Sachschaden

schaffung eines Neufahrzeugs als Naturalrestitution an.15 Dies ist mit § 249 Abs. 1 BGB jedoch nicht zu vereinbaren. Richtigerweise wäre bei gebrauchten Kfz wie bei anderen unvertretbaren Sachen allein die Instandsetzung als gesetzlich vorgesehene Restitutionsform anzuerkennen und bei deren Unverhältnismäßigkeit oder Unmöglichkeit (auch infolge Veräußerung; s. Rz. 27.5) nach § 251 BGB zu regulieren (s. hierzu Rz. 26.7 ff. u. Rz. 20.32 ff.). Im Folgenden wird jedoch die gefestigte Rspr. des BGH zugrunde gelegt.

4. Wirtschaftlichkeitsgebot 27.10

Der BGH schränkt das von ihm grundsätzlich anerkannte Recht des Geschädigten, bei vertretbaren Sachen und gebrauchten Kfz zwischen den Restitutionsformen der Instandsetzung und der Ersatzbeschaffung zu wählen (Rz. 27.7 f.), dadurch ein, dass er aus dem Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit nach § 249 Abs. 2 BGB ein Wirtschaftlichkeitspostulat16 ableitet. Hieraus – nicht erst aus der Verhältnismäßigkeitsgrenze nach § 251 Abs. 2 BGB – soll sich ergeben, dass der Geschädigte von den beiden Wegen zur Naturalrestitution grundsätzlich denjenigen zu wählen (d.h. abzurechnen) hat, der den geringeren Aufwand erfordert.17 Ein Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot führt nicht zwingend zum Wegfall der Ersatzfähigkeit tatsächlich angefallener Umsatzsteuer: Wählt der Geschädigte den falschen Weg, ist ihm angefallene Umsatzsteuer bis zu dem Betrag zu ersetzen, der bei Wahl des wirtschaftlichsten Weges angefallen wäre.18

27.11

Für die (wenigen) Fälle, in denen ein solches Wahlrecht des Geschädigten anzuerkennen ist, d.h. bei Beschädigung vertretbarer Sachen, kann dem zugestimmt werden. So ist es z.B. bei sehr hohen Reparaturkosten ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft und damit aus dem Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit in § 249 Abs. 2 S. 1 BGB abzuleiten, dass von einer Reparatur abzusehen und auf Ersatzbeschaffungsbasis abzurechnen ist, wenn der letztere Weg geringeren Aufwand verursacht (sog. wirtschaftlicher Totalschaden; es gelten dann die in Rz. 26.17 ff. dargestellten Grundsätze).

27.12

Aufgrund ihres verfehlten Ausgangspunktes (s. Rz. 27.9) wendet die Rspr. diese Grundsätze aber auch auf gebrauchte Kfz an, wobei sie dann inkonsequenterweise unter Anerkennung eines sog „Integritätsinteresses“ des Geschädigten u.U. eine bis zu 30 % teurere Reparatur zulässt (Rz. 27.22 ff.). Unter engen Voraussetzungen können auch höhere Ersatzbeschaffungskosten zugesprochen werden („unechter Totalschaden“; s. Rz. 27.13 ff.); eine allgemeine Toleranzgrenze gibt es hier nicht.19 Besonderheiten bestehen auch bei Verletzung eines Tieres (s. Rz. 27.33) und bei Beschädigung eines Gebäudes (Rz. 27.92 f.) sowie bei Bäumen und anderen Pflanzen (Rz. 27.94). Zur fiktiven Abrechnung s. Rz. 27.35 ff.

15 BGH v. 1.3.2005 – VI ZR 91/04, BGHZ 162, 270, 275. 16 Kritisch zu diesem Begriff A. Roth JZ 1994, 1093 f. Zur Abgrenzung des Wirtschaftlichkeitspostulats von der Schadensminderungspflicht gem. § 254 Abs. 2 S. 1 BGB s. Fricke VersR 2011, 966. 17 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, NZV 1992, 67 mit Anm. Lipp = JZ 1992, 477 mit Anm. Lange; BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 226/91, VersR 1992, 710 = NZV 1992, 273. 18 BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 363/11, NJW 2013, 1151 mit Anm. Seibel; a.A. LG Paderborn v. 3.7.2008 – 5 S 14/08, SP 2008, 442. 19 Offenlassend OLG Hamm v. 9.9.1993 – 6 U 60/93, NZV 1995, 27.

738 | Zwickel

I. Grundlagen | Rz. 27.15 § 27

5. Ausnahmen vom Wirtschaftlichkeitsgebot a) Unzumutbarkeit der Reparatur aa) Grundgedanke Wenn die Instandsetzung der beschädigten Sache zwar technisch möglich und auch noch wirtschaftlich wäre, dem Geschädigten aber aus besonderen Gründen nicht zuzumuten ist („unechter Totalschaden“), kann er ausnahmsweise wie bei einem Totalschaden abrechnen, d.h. vom Ersatzpflichtigen den Wiederbeschaffungswert abzgl. Restwert der Sache verlangen (vgl. Rz. 26.17 ff.).

27.13

bb) Einzelfälle Ein Kraftfahrzeughändler, dessen zum Verkauf bestimmter Neuwagen beschädigt wird, kann nicht auf eine Reparatur desselben verwiesen werden; er kann vielmehr den Händlerpreis unter Anrechnung des Restwerts bzw. Überlassung des beschädigten Wagens beanspruchen.20

27.14

Bei erheblicher Beschädigung eines neuwertigen Kfz kann eine Schadensregulierung auf Neukaufbasis vertretbar sein,21 d.h. der Geschädigte erhält den Betrag, den er zum Kauf eines gleichartigen Neuwagens aufwenden muss. Das Wirtschaftlichkeitspostulat gebietet aber nach der Rspr. des BGH in diesem Fall, dass nur dann auf Neuwagenbasis abgerechnet werden kann, wenn tatsächlich ein fabrikneues Ersatzfahrzeug beschafft wurde.22 Die Beschaffung des Neufahrzeuges muss dabei zeitnah nach Abschluss der Schadensregulierung erfolgen.23 An der Abrechnung auf Neuwagenbasis wird der Geschädigte nicht deswegen gehindert, weil die Neubeschaffung zu einem längeren Nutzungsausfall und damit höheren Aufwendungen des Haftpflichtigen führt.24 Hat er günstige Bezugsmöglichkeiten, etwa als Großkunde oder Werksangehöriger, kann er nur die entsprechend ermäßigten Preise berechnen,25 denn es handelt sich hierbei nicht um eine Zuwendung aus Anlass des Unfalls, deren Anrechnung interessenwidrig wäre. Der Restwert des Unfallwagens ist abzuziehen, sofern das Fahrzeug nicht dem Schädiger zur Verfügung gestellt wird (vgl. hierzu Rz. 26.15). Ein Abzug „neu für alt“ er-

27.15

20 BGH v. 29.6.1965 – VI ZR 36/64, NJW 1965, 1756. 21 BGH v. 4.3.1976 – VI ZR 14/75, NJW 1976, 1203; OLG Celle v. 19.6.2003 – 14 U 268/02, NZV 2004, 586; OLG Hamm v. 3.7.2001 – 9 U 49/01, NZV 2001, 478; HW Schmidt DAR 1965, 2; Maase VersR 1968, 527; Rechtsprechungsübersicht: Berr DAR 1990, 313 und Ch. Huber VersR 2009, 1336. Zur Anerkennung der Abrechnung auf Neuwagenbasis durch den OGH Österreich s. Ch. Huber ZVR 2008, 92. 22 BGH v. 29.9.2020 – VI ZR 271/19, ZIP 2020, 2188; BGH v. 9.6.2009 – VI ZR 110/08, VersR 2009, 1092 = NJW 2009, 3022; abl. Gsell NJW 2009, 2994. 23 OLG Stuttgart v. 21.12.2017 – 2 U 136/17, NZV 2018, 286 mit Anm. Exter (Weiternutzung für mehr als 6 Monate nach Abschluss der Schadensregulierung). 24 OLG Karlsruhe v. 25.10.1993 – 1 U 137/92, DAR 1994, 26. 25 OLG München v. 5.7.1974 – 10 U 1449/74, NJW 1975, 170; OLG Karlsruhe v. 9.12.1988 – 10 U 144/88, VersR 1989, 1276; Lange/Schiemann § 6 XIV 5 f dd m.w.N.; s. a. BGH v. 11.12.1974 – IV ZR 169/73, VersR 1975, 127 (zur Neupreisentschädigung in der Kaskoversicherung); a.A. OLG Celle v. 26.3.1992 – 5 U 243/90, VersR 1993, 624; OLG Frankfurt v. 17.6.1994 – 19 U 104/93, VersR 1995, 1450.

Zwickel | 739

§ 27 Rz. 27.15 | Reparabler Sachschaden

scheint wegen der hier vorausgesetzten Neuwertigkeit nicht gerechtfertigt;26 ggf. ist ein pauschaler Abzug für die bisherige Nutzung vorzunehmen.27

27.16

Als erheblich wird eine Beschädigung i.d.R. nur angesehen, wenn die Reparaturkosten mindestens 30 % des Neupreises betragen28 oder der Schaden nicht durch Auswechseln von Teilen folgenlos zu beheben ist.29 Reine Blechschäden ohne Arbeiten an tragenden Teilen scheiden aus;30 bei Schäden an tragenden Teilen ist eine großzügigere Betrachtung vertretbar.31

27.17

Die Grenze der Neuwertigkeit wird im Allgemeinen bei ca. 1.000 km Fahrleistung und einer Nutzungsdauer von etwa einem Monat gezogen.32 Der BGH hat aber darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nur um eine Faustregel handelt: entscheidend sei, ob bei objektiver Beurteilung der frühere Zustand durch eine Reparatur auch nicht annähernd wiederhergestellt werden kann.33 Dies kann nach zutreffender Ansicht des BGH nicht nur bei Beschädigung sicherheitsrelevanter Teile, sondern auch bei Zurückbleiben erheblicher Schönheitsfehler der Fall sein. Dass das Fahrzeug vor der Auslieferung an den Käufer baulich verändert wurde (Sonderausstattungen, Tuning), ändert nichts an der Neuwageneigenschaft.34

27.18

Bei Nutzfahrzeugen scheidet eine Abrechnung auf Neupreisbasis aus,35 bei Beschädigung eines Wohnwagens ist sie nicht ohne weiteres anwendbar,36 bei einem nur wenige Tage alten Fahrrad37 oder E-Bike38 kommt sie in Betracht.

26 BGH v. 14.6.1983 – VI ZR 213/81, VersR 1983, 758, 759; a.A. OLG Schleswig v. 19.9.1984 – 9 U 210/83, VersR 1985, 373; Klimke VersR 1984, 1125. 27 Vgl. BGH v. 22.6.1983 – VIII ZR 91/82, NJW 1983, 2194 (0,67 % vom Kaufpreis je 1000 km); OLG München v. 30.12.1982 – 24 U 339/82, DAR 1983, 79 (1 %); OLG Zweibrücken v. 4.7.1984 – 4 U 62/82, VersR 1985, 601 (1 %). 28 Vgl. OLG Frankfurt v. 21.6.1979 – 15 U 159/78, VersR 1980, 235; OLG München v. 16.9.1980 – 5 U 1110/80, DAR 1982, 70. 29 BGH v. 9.6.2009 – VI ZR 110/08, NJW 2009, 3022; OLG Nürnberg v. 15.8.2008 – 5 U 29/08, NZV 2008, 559; OLG Hamm v. 3.7.2001 – 9 U 49/01, NZV 2001, 478; LG Mönchengladbach v. 25.10.2005 – 5 S 53/05, NJW-RR 2006, 244. 30 BGH v. 9.6.2009 – VI ZR 110/08, NJW 2009, 3022. 31 OLG Zweibrücken v. 21.4.1989 – 1 U 228/88, NZV 1989, 355; OLG Hamm v. 16.12.1988 – 9 U 73/88, DAR 1989, 188. 32 OLG Celle v. 16.5.1980 – 5 U 121/79, VersR 1981, 67; OLG Hamm v. 4.11.1980 – 27 U 153/80, VersR 1981, 788; OLG Hamm v. 11.4.1994 – 6 U 247/93, VersR 1995, 930; KG v. 4.9.1980 – 22 U 2463/80, VersR 1981, 553; KG v. 29.4.1991 – 12 U 1992/90, NZV 1991, 389; OLG Nürnberg v. 15.8.2008 – 5 U 29/08, NZV 2008, 559; OLG Celle v. 29.2.2012 – 14 U 181/11, NZV 2013, 85. 33 BGH v. 3.11.1981 – VI ZR 234/80, VersR 1982, 163; BGH v. 29.3.1983 – VI ZR 157/81, VersR 1983, 658. 34 OLG Hamm v. 16.1.1996 – 27 U 148/95, NZV 1996, 312. 35 OLG Naumburg v. 27.10.1999 – 6 U 62/99, OLGR Naumburg 2000, 423; OLG Stuttgart v. 19.1.1982 – 6 U 180/81, VersR 1983, 92. 36 OLG Köln v. 4.11.1987 – 16 U 42/87, VersR 1989, 377; OLG Hamm v. 9.1.1989 – 13 U 257/88, NJW-RR 1989, 1433; OLG Bremen v. 5.9.1989 – 3 U 56/89, VersR 1990, 1403. 37 LG Frankenthal v. 23.11.1990 – 2 S 119/90, NJW-RR 1991, 352; weitergehend AG Warendorf v. 30.10.1990 – 5 C 194/90, NJW-RR 1991, 669: 1 Monat, 100 km. 38 A.A.: AG Nordhorn v. 2.5.2017 – 3 C 1180/16, SVR 2017, 430 mit Anm. Siegel.

740 | Zwickel

I. Grundlagen | Rz. 27.22 § 27

Ist das Risiko verborgener Mängel aufgrund der konkreten Beschädigung so groß, dass auch unter Berücksichtigung des Alters des Fahrzeugs die Weiterbenutzung nicht zumutbar ist,39 kann ebenfalls ein „unechter Totalschaden“ anerkannt werden.

27.19

Der besondere Verwendungszweck eines Kfz (z.B. als Taxi, Fahrschulwagen) reicht dagegen bei der heutigen Perfektion der Reparaturtechnik i.d.R. nicht aus, um einem Geschädigten diesen Abrechnungsmodus zuzugestehen.40

27.20

b) Integritätsinteresse aa) Grundgedanke Nach der Rspr. soll der Geschädigte die Kosten einer an sich unwirtschaftlichen Reparatur auch dann beanspruchen können, wenn er ein schutzwürdiges, die finanziellen Interessen des Ersatzpflichtigen überwiegendes Interesse daran hat, dass seine beschädigte Sache wiederhergestellt und nicht durch eine andere ersetzt wird. So besteht z.B. bei einer stark auf seine individuellen Bedürfnisse abgestimmten Sache ein höheres Reparaturinteresse41 als bei einer Massenware. Auch immaterielle Interessen des Geschädigten können dann in begrenztem Umfang berücksichtigt werden.42

27.21

bb) Besonderheiten bei Kfz Hier lässt es die Rspr. in Anerkennung eines solchen Integritätsinteresses und im Rahmen des Ermessens nach § 287 ZPO zu, die Kosten einer tatsächlich ausgeführten Reparatur auch dann noch in Rechnung zu stellen, wenn sie den Wiederbeschaffungswert um nicht mehr als 30 % übersteigen.43 Dies soll bei gewerblichen Kfz jedenfalls dann gelten, wenn sie nur von einem überschaubaren Kreis ausgewählter und vertrauenswürdiger Fahrer benutzt werden.44 Zu Leasingfahrzeugen s. Rz. 27.90 f. Der merkantile Minderwert (s. Rz. 27.79 ff.) ist, als unmittelbarer Sachschaden,45 in die Berechnung mit einzubeziehen.46

39 OLG Bremen v. 10.6.1970 – 3 U 20/70, VersR 1970, 1159; OLG Bremen v. 14.7.1971 – 7 O 226/ 71, VersR 1971, 912; OLG Karlsruhe v. 7.10.1971 – 4 U 114/70, VersR 1973, 471; OLG München v. 12.7.1974 – 10 U 1723/74. VersR 1975, 163; OLG Stuttgart v. 8.11.1974 – 2 U 82/74, VersR 1976, 73; weitergehend KG v. 15.2.1971 – 12 U 2087/70, DAR 1971, 184. 40 A.A. OLG München v. 3.12.1959 – 5 U 1813/59, VersR 1960, 671 für das Fahrzeug eines Kraftfahrzeughändlers oder -vertreters. 41 Vgl. AG Lahr v. 12.6.1989 – 4 C 155/89, NZV 1990, 356: Fahrzeug mit Sondereinrichtung für Behinderten. 42 Lange/Schiemann § 5 VII 1. 43 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364 = NZV 1992, 66 u 68 mit Anm. Lipp. Zur Berechnung bei einer Schadensbehebung in Teilschritten s. BGH v. 5.4.1990 – III ZR 213/88, VersR 1990, 982. 44 Von BGH v. 8.12.1998 – VI ZR 66/98, NZV 1999, 159 mit Anm. Völtz bejaht für Taxi und von OLG Celle v. 2.12.2009 – 14 U 123/09, NZV 2010, 249 für Lkw-Anhänger mit Sonderausstattung, offen gelassen für Mietwagen. Für generelle Geltung OLG Dresden v. 4.4.2001 – 6 U2824/00, NZV 2001, 346; a.A. OLG Celle v. 10.2.2000 – 14 U 70/99, OLGR Celle 2001, 238; abl. auch Korch VersR 2015, 542, 544 und Korch/Ort VersR 2016, 1027. 45 Vuia NJW 2012, 3057. 46 So auch Ch. Huber Der Kfz-Sachverständige 2006, 21.

Zwickel | 741

27.22

§ 27 Rz. 27.23 | Reparabler Sachschaden

27.23

Diese den Verhältnismäßigkeitsaspekt von § 251 Abs. 2 BGB auf § 249 BGB verlagernde Rspr. erscheint fragwürdig (zum richtigen Lösungsansatz s. Rz. 27.32).47 Wenn der BGH ein Interesse des Geschädigten an der Erhaltung des ihm vertrauten Fahrzeugs anerkennt, so steht dies zum einen in Widerspruch zu der von ihm in anderem Zusammenhang vorgenommenen Gleichstellung gebrauchter Fahrzeuge mit vertretbaren Sachen (vgl. Rz. 27.9). Zum anderen gerät diese Rspr. in Konflikt mit § 253 Abs. 1 BGB48 und führt zu einer auch unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigenden Sonderbehandlung von Kraftfahrzeugen. Die Anerkennung eines rein immateriellen Interesses an der Erhaltung des vertrauten Fahrzeugs erscheint angesichts des heutigen Stands der Autotechnik, der verbreiteten Gepflogenheit häufigen Modellwechsels und des gewandelten Gebrauchtwagenmarkts mit umfassender Gewährleistung auch für vom Händler gekaufte Gebrauchtfahrzeuge,49 nicht mehr zeitgemäß. Wegen der durch den Gesetzgeber in § 253 Abs. 1 BGB angeordneten generellen Versagung des Ersatzes von Nichtvermögensschäden ist es rechtlich unerheblich, ob sich der dem Affektionsinteresse nahestehende Integritätszuschlag mit dem sog Besitztumseffekt aus der Verhaltensökonomie begründen lässt.50 Zudem belastet die 130 % – Rspr. letztlich die Solidargemeinschaft der Versicherten, reizt zu manipulativem Verhalten bei der Schadensbeseitigung an und trägt als systemwidriger Fremdkörper prozessvermehrende Unsicherheiten in die Regulierungspraxis.

27.24

Ausgangspunkt für die Berechnung der 130 %-Grenze sind die (vom Sachverständigen zu ermittelnden) Wiederbeschaffungskosten. Der Restwert des beschädigten Fahrzeugs wird dabei außer Betracht gelassen,51 wodurch unwirtschaftliche Reparaturen in noch größerem Umfang akzeptiert werden.52 Den Wiederbeschaffungskosten werden sodann die Brutto-Reparaturkosten (einschließlich des etwaigen merkantilen Minderwerts)53 ohne Abzug „neu für alt54 gegenübergestellt. Der Abzug „neu für alt“ stellt sich als eine nachträgliche Korrektur der feststehenden Brutto-Reparaturkosten im Rahmen der Schadensbemessung dar und ist daher für die 130 % – Grenze auch nicht zu berücksichtigen (s. Rz. 27.84).

27.25

Der BGH55 betont, dass die 130 %-Grenze nicht starr ist. Es können auch andere Positionen (z.B. Mietwagenkosten; Zollgebühren56) berücksichtigt werden, wenn diese, insbesondere wenn die 130 % – Grenze schon erreicht ist, zu krassen Verzerrungen des Verhältnisses von Reparaturkosten und Wiederbeschaffungskosten führen. Dies kann z.B. bei langen Reparaturdauern der Fall sein. Streitig ist auf dieser Basis, ob bei besonders ausgeprägtem Integritätsinteresse, wie etwa bei nicht mehr auf dem Markt erhältlichen Fahrzeugen (Young- bzw. Oldtimer), auch Reparaturkosten, die über der 130 % – Grenze liegen, ersatzfähig sein können.57 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Abl. auch Schiemann NZV 1996, 1, 5; Grunsky JZ 1992, 807. Grunsky JZ 1992, 807. Vgl. auch Sanden/Völtz Rz. 67: „gewisse Affektionen“. Zum Ganzen s. Eggert in FS Danzl 2017, S. 30. So aber Korch VersR 2015, 542 und empirisch Korch/Ort VersR 2016, 1027. BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364 = NZV 1992, 66 mit Anm. Lipp = JZ 1992, 477 mit Anm. Lange. Dem OGH Österreich sind 15 % schon zu hoch (ZVR 1975, 163; hierzu Steiner/Witt-Dörring ZVR 1991, 359). BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, NJW 1992, 302. OLG Bamberg v. 6.9.2017 – 5 U 74/17, DAR 2018, 24 mit abl. Anm. Kuhnert. BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364 = NZV 1992, 66 mit Anm. Lipp = JZ 1992, 477 mit Anm. Lange. OLG Hamm v. 9.9.1993 – 6 U 60/93, NZV 1995, 27 (bei Neuwagenkauf durch Ausländer). Kuhnert DAR 2019, 113; a.A. LG München I v. 25.9.2018 – 20 O 15681/16, DAR 2019, 99; AG Kerpen v. 19.12.2008 – 24 C 103/08, SVR 2009, 310.

742 | Zwickel

I. Grundlagen | Rz. 27.26 § 27

Der BGH58 sieht den Integritätszuschlag als ausnahmsweise gültige „Opfergrenze“ an. Es wäre daher widersprüchlich, den Ausnahmefall durch weitere Ausnahmekonstellationen noch weiter auszudehnen. Nach Sinn und Zweck des Integritätszuschlags ist er allenfalls bei einer vollständigen, fachgerechten Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands59 und anschließender Eigennutzung60 für einen längeren Zeitraum (i.d.R. 6 Monate) gerechtfertigt,61 also nicht bei einer bloßen Teil-, Not- oder Behelfsreparatur oder wenn das Fahrzeug gleich nach der Reparatur veräußert wird. Die Regelfrist von 6 Monaten ist dabei aber keine Fälligkeitsvoraussetzung für die Zahlung der Reparaturkosten, sondern Indiz für das bestehende Integritätsinteresse.62 Vollständig ist die Reparatur, wenn sie den Zustand wiederherstellt, den der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat;63 kleinere Abweichungen bei der Reparaturausführung, z.B. die Verwendung von gebrauchten statt der vom Sachverständigen angesetzten neuen Ersatzteile, sind aber als unschädlich anzusehen, sofern noch eine vollständige Herstellung des früheren Zustands bejaht werden kann.64 Unter dieser Voraussetzung kann auch eine vollwertige Reparatur in eigener Regie (Rz. 27.48) das Integritätsinteresse realisieren;65 der Geschädigte kann in diesem Fall also die vom Sachverständigen ermittelten Repara-

58 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364. 59 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 70/04, BGHZ 162, 161 = NZV 2005, 243 mit Anm. Heß. Nach OLG München v. 29.7.1998 – 20 U 3498/98, NJW-RR 1999, 909 u OLG Oldenburg v. 16.1.2004 – 6 U 155/03, DAR 2004, 226 soll Zuschlag schon vor der Reparatur verlangt werden können, wenn diese an Eigenmitteln scheitert; bedenklich. 60 OLG Saarbrücken v. 4.6.1998 – 3 U 752/97-39, OLGR Saarbrücken 1998, 361: nicht bei monatelanger Stilllegung; OLG Hamm v. 19.1.2000 – 13 U 141/99, NZV 2001, 349: nicht bei anschließender Veräußerung. Zu weitgehend OLG Düsseldorf v. 17.3.2003 – 1 U 140/02, VersR 2004, 1620 u. OLG Düsseldorf v. 17.12.2019 – 1 U 162/18, NJW-RR 2020, 491, die bereits den Weiterbenutzungswillen bei Reparaturbeginn genügen lassen. Nach BGH v. 5.12.2006 – VI ZR 77/06, VersR 2007, 372, schadet Veräußerung während der Reparatur nicht, wenn die Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert (ohne Abzug des Restwerts) nicht übersteigen. 61 BGH v. 13.11.2007 – VI ZR 89/07, NJW 2008, 437; BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 56/07, NJW 2008, 439; BGH v. 22.4.2008 – VI ZR 237/07, NJW 2008, 2183; OLG Düsseldorf v. 11.2.2008 – 1 U 181/07, NZV 2008, 295; a.A. OLG Celle v. 22.1.2008 – 5 W 102/07, NJW 2008, 928. 62 BGH v. 18.11.2008 – VI ZB 22/08, NJW 2009, 910; LG Köln v. 14.7.2017 – 11 S 444/16, NZV 2018, 192 mit Anm. Balke; Wittschier NJW 2008, 898; krit. Hirsch VersR 2009, 756; Ch. Huber DAR 2009, 252; a.A. Kallweit VersR 2008, 895. 63 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 70/04, BGHZ 162, 161 = NZV 2005, 243 mit Anm. Heß; KG v. 14.12.2017 – 22 U 241/13, VersR 2018, 439. 64 BGH v. 2.6.2015 – VI ZR 387/14, NZV 2015, 591; OLG Düsseldorf v. 25.4.2001 – 1 U 9/00, NZV 2001, 475; OLG Oldenburg v. 20.3.2000 – 11 92/99, NZV 2000, 469; AG Marburg v. 16.12.2014 – 9 C 759/13, NZV 2015, 550; a.A. wohl KG v. 14.12.2017 – 22 U 241/13, VersR 2018, 439 (Unvollständigkeit der Reparatur bei jeder Abweichung vom Gutachten); vgl. auch Ch. Huber MDR 2003, 1338 f. 65 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 70/04, BGHZ 162, 161 = NZV 2005, 243 mit Anm. Heß; BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 226/91, VersR 1992, 710 = NZV 1992, 273 = JZ 1992, 806 mit Anm. Grunsky; OLG Hamm v. 17.12.2001 – 13 U 132/01, NZV 2002, 272; OLG München v. 21.3.1989 – 10 U 2646/88, NZV 1990, 69; OLG Dresden v. 18.8.1995 – 5 U 599/95, DAR 1996, 54; LG Gießen v. 13.12.1995 – 1 S 423/95, DAR 1996, 95 (auch zum Nachweis); Lemcke r+s 2002, 271; a.A. OLG Düsseldorf v. 31.8.1988 – 1 U 111/87, NJW 1989, 1041; Lipp NJW 1990, 104 u. NZV 1996, 11; Krumbholz NZV 1990, 219 f.; Imbach VersR 1996, 425.

Zwickel | 743

27.26

§ 27 Rz. 27.26 | Reparabler Sachschaden

turkosten (bei Schadensfällen ab 1.8.2002 ohne MwSt.) beanspruchen, ohne ihre Entstehung im Einzelnen belegen zu müssen.66

27.27

Außerdem müssen nach der Rspr. die tatsächlichen Reparaturkosten in dem genannten Toleranzbereich liegen; der Geschädigte könne nicht etwa eine noch unwirtschaftlichere Reparatur durchführen und sich dann 130 % des bei Totalschadensabrechnung aufzuwendenden Betrags erstatten lassen; in solchem Fall könne er vielmehr nur die Wiederbeschaffungskosten (ohne MwSt.)67 verlangen.68

27.28

Dies erscheint inkonsequent, weil es den Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit oder Verhältnismäßigkeit mit dem des Integritätsinteresses vermengt: Man kann letzteres nicht bei Mehrkosten bis zu 30 % anerkennen und bei höheren Kosten plötzlich auf Null herabsetzen.69 Liegen die Reparaturkosten laut Gutachten über der 130 %-Grenze, gelingt es dem Geschädigten aber, die Kosten der in Eigenregie durchgeführten, gleichwohl vollständigen Reparatur unterhalb dieser Marge zu halten, so müsste man ihm nach den vom BGH aufgestellten Kriterien wegen objektiver Unwirtschaftlichkeit der Reparatur den Ersatz dieser Kosten verweigern,70 während bei Abstellen auf das Verhältnis zwischen Integritätsinteresse und Belastung des Schädigers das gegenteilige Ergebnis gerechtfertigt wäre.71 Letztlich belegt auch diese Widersprüchlichkeit, wie fragwürdig die Anerkennung des Integritätsinteresses ist.

27.29

Hat der Geschädigte in Fehleinschätzung der entstehenden Kosten die Sache reparieren lassen und werden hierdurch die Kosten, die bei einer Ersatzbeschaffung angefallen wären, erheblich (auch über 30 %) überschritten, so kann er gleichwohl Ersatz der Reparaturkosten verlangen, wenn ihn an der Fehleinschätzung kein Verschulden trifft.72

27.30

Die von der Rspr.73 gemachte Einschränkung, dass das Prognoserisiko in Anwendung des Rechtsgedankens des § 251 Abs. 2 BGB dann vom Geschädigten zu tragen ist, wenn die Kosten bereits nach dem Voranschlag über den Wert des Fahrzeugs hinausgingen, erscheint inkonsequent. Solange sich die veranschlagten Kosten innerhalb des Toleranzbereichs von 30 % halten, „darf“ der Geschädigte reparieren lassen; das Prognoserisiko muss daher wie im Regelfall den Schädiger treffen.74 Bloße Zweifel an einer Einhaltbarkeit der 130 % – Grenze können 66 BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 226/91, VersR 1992, 710 = JZ 1992, 806 mit Anm. Grunsky. 67 BGH v. 20.4.2004 – VI ZR 109/03, BGHZ 158, 388. Der dort beiläufig erwähnte Fall einer umsatzsteuerpflichtigen Reparatur dürfte wegen der Deckelung durch die fiktiven (und damit umsatzsteuerfreien) Ersatzbeschaffungskosten nicht vorkommen; vgl. auch BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 172/04, BGHZ 162, 170, 175 = NZV 2005, 245, 246 mit Anm. Heß, wonach eine Kombination von konkreter und fiktiver Abrechnung nicht möglich ist. 68 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 67/91, BGHZ 115, 375 = BGH NZV 1992, 68 mit Anm. Lipp; a.A. OLG Nürnberg v. 10.11.1967 – 1 U 108/67, VersR 1969, 289; OLG Hamburg v. 16.3.1971 – 7 U 144/70, VersR 1971, 944; A. Roth JZ 1994, 1094; für den Fall der Einräumung unklarer Rabatte s. LG Bielefeld v. 10.7.2019 – 22 S 236/18, NZV 2020, 317. 69 A. Roth JZ 1994, 1094 f. 70 So LG Bremen v. 2.7.1998 – 6 S 224/98, NZV 1999, 253; Lemcke r+s 2002, 269. 71 So OLG Dresden v. 4.4.2001 – 6 U 2824/00, NZV 2001, 346; A. Roth JZ 1994, 1095. 72 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364, 370 = NZV 1992, 66, 67 mit Anm. Lipp; OLG Frankfurt v. 11.10.2000 – 7 U 203/98, NZV 2001, 348 (falsches Gutachten); KG v. 16.8.2004 – 12 U 115/03, NZV 2005, 46 (nicht vorwerfbare Nichtberücksichtigung eines Minderwertes). 73 BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 61/71, VersR 1972, 1024; OLG Celle v. 7.11.2017 – 14 U 24/17, NZV 2018, 143 mit Anm. Bachmor. 74 Ebenso – jedenfalls für neuere Fahrzeuge – OLG München v. 8.1.1991 – 5 U 3782/90, NZV 1991, 267.

744 | Zwickel

I. Grundlagen | Rz. 27.34 § 27

daher erst Recht nicht zu einer Verlagerung des Prognoserisikos auf den Geschädigten führen.75 Entsprechendes muss gelten, wenn der Geschädigte in nicht vorwerfbarer Weise (z.B. aufgrund eines Sachverständigengutachtens) zu Unrecht davon ausging, dass die beschädigte Sache nicht mehr reparaturwürdig ist und sich daher für eine unwirtschaftlichere Ersatzbeschaffung entschied, d.h. er kann dann diese abrechnen.76

27.31

Nicht nur wegen der vorstehend dargestellten Zweifelsfragen und Unstimmigkeiten, sondern schon aus dogmatischen Gründen (s. Rz. 27.23) ist die Rspr. zum Integritätszuschlag bei Kfz abzulehnen. Bei gebrauchten Kfz sollte der Reparaturkostenersatz ohnehin als einzig mögliche Form der Restitution anerkannt werden. Hierfür spricht, neben den in Rz. 27.9 dargestellten Argumenten, auch der Gebrauchtwagenmarkt, der sich bei älteren Fahrzeugen kaum mehr für eine Ersatzbeschaffung vom Händler anbietet.77 Bei Reparaturkosten, die den Wert des Unfallwagens erheblich übersteigen, kann der Ersatzpflichtige jedoch den Einwand der Unverhältnismäßigkeit nach § 251 Abs. 2 BGB erheben.78 Wann eine Wertüberschreitung in diesem Sinne erheblich ist, sollte zur Erleichterung der Schadensregulierung durch einen pauschalen Regelsatz (§ 287 ZPO) festgelegt werden. Dieser sollte aus den in Rz. 27.23 angestellten Erwägungen jedenfalls unterhalb der vom BGH gebilligten 30 %-Grenze liegen;79 vertretbar erscheint aber auch, bereits den Brutto-Wiederbeschaffungswert (also ohne Abzug des Restwerts) als Obergrenze zu nehmen,80 denn dem Geschädigten verbleibt in diesem Fall immer noch ein „Zuschlag“ in Höhe des Restwerts.

27.32

c) Verletzung eines Tieres Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht (1.9.1990) ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in diesen Fällen besonders ausgestaltet. Nach dem durch dieses Gesetz eingefügten § 251 Abs. 2 BGB sind Heilaufwendungen nicht schon deswegen als unverhältnismäßig anzusehen, weil sie den (materiellen) Wert des Tieres erheblich übersteigen. Es ist vielmehr nach den jeweiligen Umständen zu entscheiden, ob der Heilungsaufwand jeder wirtschaftlichen Vernunft entbehrt und nur durch ein – nach wie vor nicht ersatzfähiges – Affektionsinteresse gerechtfertigt sein kann. Vor dieser Gesetzesänderung ist die Rspr. über § 242 BGB zu entsprechenden Ergebnissen gelangt und hat eine Überschreitung der 30 %-Grenze nach den Umständen des Einzelfalles zugelassen.81

27.33

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist jedoch, wie sich aus der Fassung der Vorschrift („nicht bereits dann…“) ergibt, auch für diese Fälle nicht vollständig aufgehoben. Lässt der Eigen-

27.34

75 A.A. OLG Celle v. 7.11.2017 – 14 U 24/17, NZV 2018, 143 mit Anm. Bachmor. 76 BGH v. 25.1.1966 – VI ZR 189/64, VersR 1966, 490; LG Siegen v. 30.5.1995 – 2 O 324/93, NZV 1996, 153. 77 Eggert in FS Danzl 2017, S. 32. 78 Ebenso Eggert in FS Danzl 2017, S. 38; Lange/Schiemann § 6 XIV 5 c; Reiff NZV 1996, 426 ff.; früher auch der BGH (s z.B. BGH v. 17.11.1961 – VI ZR 66/61, VersR 1962, 138) und die st. Rspr. der Instanzgerichte (z.B. KG v. 10.3.1975 – 12 U 1768/74, VersR 1976, 391). 79 Für Angemessenheit dieser Grenze auch unter dem Aspekt des § 251 Abs. 2 BGB aber Reiff NZV 1996, 430; Eggert in FS Danzl 2017, S. 38. 80 So Schiemann NZV 1996, 5 f. 81 Vgl. LG München I v. 21.6.1978 – 34 S 19183/77, NJW 1978, 1862; LG München I v. 3.8.1988 – 14 S 7755/88, NZV 1989, 238; LG Lüneburg v. 9.2.1984 – 1 S 384/83, NJW 1984, 1243; zu pauschal (50 % nach § 242 BGB) LG Traunstein v. 10.8.1983 – 5 S 1658/83, NJW 1984, 1244.

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§ 27 Rz. 27.34 | Reparabler Sachschaden

tümer des Tieres eine erkennbar unverhältnismäßige Heilung82 (oder einen entsprechenden Versuch) durchführen, so hat er die den Wiederbeschaffungswert übersteigenden Kosten selbst zu tragen. Wird der überhöhte Aufwand erst im Laufe der Behandlung erkennbar, gilt dies für die Kosten, die ab Erreichen der Verhältnismäßigkeitsschwelle anfallen.83

6. Fiktive Schadensabrechnung a) Allgemeines 27.35

Die Rspr. lässt beim Sachschadensersatz (anders als bei anderen Schadensarten; vgl. z.B. Rz. 32.22) eine fiktive Abrechnung zu: Der Geschädigte soll die Kosten, die laut Schätzgutachten zur Wiederherstellung erforderlich wären, auch dann ersetzt verlangen können, wenn er von einer Reparatur abgesehen oder hierfür weniger aufgewendet hat.84 Diese umstrittene Auslegung des Merkmals „erforderlich“ in § 249 Abs. 2 S. 1 BGB hat der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 249 BGB durch das 2. SchRÄndG85 indirekt bestätigt, indem er in dem neuen Abs. 2 S 2 lediglich die Umsatzsteuer – in Abkehr von der bisherigen Rspr.86 – von der fiktiven Abrechnung ausgenommen hat. Von ihr ist deshalb trotz verbreiteter Kritik (s. hierzu Rz. 20.26) und der mit ihr verbundenen Missbrauchsgefahr auszugehen. Sie gilt für das gesamte Schadensrecht,87 hat ihre Hauptbedeutung aber bei der Kfz-Schadensregulierung (Einzelheiten hierzu Rz. 27.58 ff.).

b) Berechnungsgrundlagen 27.36

Aus der grundsätzlichen Zulassung der fiktiven Schadensabrechnung werden teilweise zu weitgehende Konsequenzen abgeleitet. In der Praxis herrscht die Ansicht, der Geschädigte könne ohne weiteres eine Abrechnung auf Gutachtenbasis verlangen. Wie der BGH88 zu Recht betont, legt das Schätzgutachten jedoch nicht etwa den geschuldeten Ersatzbetrag bindend fest: Der Ersatzpflichtige kann hiergegen konkrete Einwände vorbringen, der Richter nach § 287 ZPO pauschale Abschläge vornehmen.89 Solche Einwände lassen sich vor allem daraus ableiten, dass das Gebot wirtschaftlicher Reparatur (Rz. 27.46) nicht genügend beachtet wird. So verhält es sich etwa, wenn das Gutachten eine Ganzlackierung vorsieht, wo sich der Geschädigte mit einer Teillackierung zufriedengeben müsste, oder wenn wegen geringfügiger Schönheitsfehler der Austausch ganzer Fahrzeugteile berechnet wird. Eine Beilackierung von Teilen, die nicht unmittelbar durch den Unfall betroffen waren, kann mit zur Beseitigung des Unfallschadens gehören und ist daher nicht von vornherein aus der fiktiven

82 LG Bielefeld v. 15.5.1997 – 22 S 13/97NJW 1997, 3320 (max. 3.000 DM für Katze); nach AG Idar-Oberstein v. 20.4.1999 – 3 C 618/98, VersR 2000, 66 waren 5.000 DM für einen Mischlingshund noch verhältnismäßig. 83 LG Bielefeld v. 15.5.1997 – 22 S 13/97, NJW 1997, 3320, 3321. 84 BGH v. 29.4.2003 – VI ZR 398/01, BGHZ 155, 1 = DAR 2003, 373 m.w.N. u. Anm. Reitenspiess. 85 Ges. v. 19.7.2002, BGBl. I 2674; dazu Ch. Huber DAR 2000, 22 ff.; Bollweg NZV 2000, 187 f.; Otto NZV 2001, 335; Greger NZV 2002, 385 ff.; Hentschel NZV 2002, 442 f.; Steiger DAR 2002, 377 ff.; Schiemann JR 2004, 25 f. 86 BGH v. 19.6.1973 – VI ZR 46/72, BGHZ 61, 56. 87 OLG Hamm v. 18.8.1998 – 9 U 81/98, NZV 1999, 45 (Trockenmauer). 88 BGH v. 3.12.2013 – VI ZR 24/13, NJW 2014, 535; BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, NZV 1989, 465 mit Anm. Hofmann. 89 Zum Fall eines vom Beklagten vorgelegten Gegengutachtens vgl. LG Saarbrücken v. 23.1.2015 – 13 S 199/14, NZV 2015, 545.

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I. Grundlagen | Rz. 27.39 § 27

Abrechnung auszuschließen.90 Voraussetzung einer fiktiven Abrechnung muss aber die vorab eindeutig feststellbare Notwendigkeit einer Beilackierung sein.91 Auch die Grundsätze der Vorteilsausgleichung müssen im Gutachten berücksichtigt sein, also insbesondere der Abzug „neu für alt“ (Rz. 27.84), desgleichen etwaige Vorbeschädigungen des Kfz (Rz. 27.86).

c) Maßgeblicher Berechnungszeitpunkt bei der fiktiven Abrechnung Maßgeblicher Zeitpunkt für die Berechnung des fiktiven Schadensersatzes ist im Prozess der der letzten mündlichen Verhandlung;92 Preissteigerungen seit dem Unfall gehen folglich zu Lasten des Schädigers.93 Umgekehrt kann der Geschädigte (bei Preisverfall) nicht mehr verlangen als im maßgeblichen Zeitpunkt zur Ersatzbeschaffung erforderlich ist.94 Dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz, dass der Umfang des Schadensersatzes sich aus den im Zeitpunkt der Erfüllung der Schadensersatzpflicht (nicht: der Schädigung) bestehenden Verhältnissen ergibt.95 Gegen die (bei Wertverfall) eintretende Konsequenz, dass die Verzögerung der Ersatzleistung dem Schädiger zugutekommt, kann sich der Geschädigte schützen, indem er den Ersatzpflichtigen in Verzug setzt.96

27.37

d) Wirtschaftlichkeitspostulat Das Wirtschaftlichkeitspostulat ist bei der fiktiven Abrechnung besonders zu beachten. Sie darf nicht zu einer Bereicherung des Geschädigten führen, sondern muss sich nach dem günstigsten Weg der Restitution richten.97 Zu der hierbei anzustellenden Vergleichsrechnung beim Kfz-Schaden s. Rz. 27.76.

27.38

Bei schon stark abgenutzten Fahrzeugen, ganz besonders bei Nutzfahrzeugen, muss in Erwägung gezogen werden, dass ein verständiger Eigentümer sich bei nicht sicherheitsrelevanten Schäden mit Ausbesserungen oder der Verwendung von Gebrauchtteilen einverstanden erklären würde. Nicht notwendig anfallende Kosten des Reparaturmanagements (z.B. Verbringungskosten in eine Lackierwerkstatt) sollten, da sie von der tatsächlich gewählten Art der Reparaturdurchführung abhängen, nicht fiktiv berechnet werden können.98 Das Gutachten

27.39

90 BGH v. 17.9.2019 – VI ZR 396/18, VersR 2020, 44 mit Anm. Zwickel; a.A. Balke SVR 2017, 349. 91 Zwickel VersR 2020, 44; wie hier OLG Hamm v. 28.3.2017 – 26 U 72/16, SVR 2017, 349; LG Köln v. 10.5.2016 – 11 S 360/15, SVR 2016, 386; LG Bielefeld v. 19.5.2014 – 20 S 109/13, SP 2014, 412; AG Ratingen v. 7.1.2016 – 10 C 75/15, SVR 2016, 172; a.A. AG Brandenburg v. 8.1.2016 – 31 C 111/15, NJW-RR 2016, 283; AG Stuttgart-Bad Cannstatt v. 1.7.2015 – 4 C 1052/14, SVR 2015, 422. 92 BGH v. 18.2.2020 – VI ZR 115/19, NJW 2020, 1795 mit Anm. Heßeler = NZV 2020, 465 mit Anm. Moser. 93 OLG Hamm v. 22.1.1990 – 3 U 267/88, NZV 1990, 269; OLG Köln v. 12.11.1992 – 7 U 88/92, VersR 1993, 374; Lange/Schiemann § 1 IV 2; Zwickel NZV 2019, 616. 94 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 311 f.; Lange/Schiemann § 1 IV 2 b aa; a.A. OLG Düsseldorf v. 30.6.1997 – 1 U 212/96, VersR 1998, 864; Erman-BGB/Ebert § 249 Rz. 28 f. 95 BGH v. 18.2.2020 – VI ZR 115/19, NJW 2020, 1795; BGH v. 23.1.1981 – V ZR 200/79, BGHZ 79, 249, 258; BGH v. 21.4.1998 – VI ZR 230/97, VersR 1998, 995, 997; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 314 m.w.N. 96 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 312; Lange/Schiemann § 1 IV 2 b aa. 97 BGH v. 7.6.2005 – VI ZR 192/04, NZV 2005, 453 mit Anm. Sermond. 98 AG Brackenheim v. 11.5.2016 – 1 C 16/15, SVR 2016, 267; AG Überlingen v. 23.3.1995 – 4 C 1420/94, DAR 1995, 296; einschränkend auch Ch. Wagner NZV 1999, 358 f.; a.A. AG Dinslaken v. 29.4.1997 – 9 C 14/98, NJW-RR 1998, 1719; Wortmann NZV 1999, 503 f. Auf die örtlichen Ver-

Zwickel | 747

§ 27 Rz. 27.39 | Reparabler Sachschaden

darf nach der Rspr. des BGH grds. von den Stundenverrechnungssätzen einer markengebundenen Fachwerkstatt ausgehen.99 Sind dem Geschädigten von markengebundenen Fachwerkstätten Großkundenrabatte für die Fahrzeugreparaturen eingeräumt worden, so sind die ermäßigten Stundensätze zugrunde zu legen.100 Ausschließlich bei der fiktiven Abrechnung101 kommt aber nach der Rspr. eine Verweisung auf die Stundenverrechnungssätze einer markenunabhängigen Werkstatt in Betracht.102

27.40

In den vergangenen Jahren hat der BGH Anwendungsbereich und Reichweite der Rspr. zum sog. Werkstattverweis bei fiktiver Abrechnung sukzessive ausgedehnt. Es gelten nunmehr folgende Grundsätze: – Der Anwendungsbereich der Rechtsprechung zum Werkstattverweis ist auch dann eröffnet, wenn das vom Geschädigten in Auftrag gegebene Gutachten bereits auf den mittleren, ortsüblichen Stundensätzen nicht markengebundener Werkstätten basiert.103 Der Verweis erstreckt sich nur auf ältere Kfz. Für Kfz bis zu einem Alter von drei Jahren ab Erstzulassung104 ist die Verweisung ausgeschlossen. – Für ältere Kfz gelten folgende Voraussetzungen: Die Verweisung auf Stundenverrechnungssätze einer markenunabhängigen Werkstatt kommt nur in Betracht, wenn die Werkstatt mühelos und ohne weiteres zugänglich ist,105 die Verweisung nicht unzumutbar ist und die günstigere Reparatur qualitativ gleichwertig ist.106 – Eine Unzumutbarkeit der Verweisung liegt i.d.R. vor, wenn die günstigeren Stundenverrechnungssätze auf Vereinbarungen zwischen Versicherung und der markenunabhängigen Werkstatt beruhen107 bzw. das Kfz, unter Einhaltung der Wartungsintervalle,108 in der Vergangenheit stets in einer Markenwerkstatt repariert und (!) gewartet

99 100 101 102

103 104 105 106 107 108

hältnisse abstellend OLG Düsseldorf v. 25.6.2001 – 1 U 126/00, NZV 2002, 87; LG Saarbrücken v. 11.10.2013 – 13 S 23/13, DAR 2014, 35 mit Anm. Engel; AG Amberg v. 30.4.2014 – 2 C 397/ 13, DAR 2014, 649 mit Anm. Heinrich. Rechtsprechungsübersicht bei Kuhn DAR 1999, 379 ff. BGH v. 20.10.2009 – VI ZR 53/09, NJW 2010, 606; BGH v. 29.4.2003 – VI ZR 398/01, BGHZ 155, 1 = DAR 2003, 373 mit Anm. Reitenspiess; kritisch („Abrechnung de luxe“) Ch. Huber MDR 2003, 1210 f. BGH v. 29.10.2019 – VI ZR 45/19, NJW 2020, 144; Scholten DAR 2020, 352. Wellner NJW 2012, 7; a.A. Zschieschack NZV 2008, 326. BGH v. 13.7.2010 – VI ZR 259/09, NJW 2010, 2941; BGH v. 22.6.2010 – VI ZR 302/08, NJW 2010, 2727; BGH v. 22.6.2010 – VI ZR 337/09, NJW 2010, 2725; BGH v. 23.2.2010 – VI ZR 91/09, NJW 2010, 2118; BGH v. 20.10.2009 – VI ZR 53/09, NJW 2010, 606; OLG Düsseldorf v. 27.3.2012 – 1 U 139/11, NJW 2012, 2044; LG Potsdam v. 23.1.2008 – 13 S 102/07, NJW 2008, 1392; Metz NZV 2010, 119; Ullmann NZV 2010, 489; a.A. KG v. 30.6.2008 – 22 U 13/08, NJW 2008, 2656; LG Essen v. 23.10.2007 – 13 S 103/07, NJW 2008, 1391; Zschieschack NZV 2008, 326. BGH v. 25.9.2018 – VI ZR 65/18, VersR 2019, 120; a.A. OLG München v. 13.9.2013 – 10 U 859/13, DAR 2014, 30; LG Düsseldorf v. 13.1.2017 – 22 S 157/16, DAR 2017, 200; AG München v. 10.8.2018 – 342 C 23638/17, SVR 2019, 187 mit Anm. Balke. LG Lübeck v. 7.5.2010 – 1 S 117/09, NJW-RR 2010, 1255. OLG Düsseldorf v. 17.12.2019 – 1 U 84/19, NZV 2020, 526 mit Anm. Syrbe (Unzumutbarkeit bei Entfernung von 38 km zur freien Fachwerkstatt und 6 km zur markengebundenen Fachwerkstatt und unter Berücksichtigung des Berufsverkehrs). BGH v. 22.6.2010 – VI ZR 302/08, NJW 2010, 2727; BGH v. 23.2.2010 – VI ZR 91/09, NJW 2010, 2118 mit Anm. Figgener; BGH v. 20.10.2009 – VI ZR 53/09, NJW 2010, 606, 608; Figgener VersR 2012, 290. Kritisch hierzu Kappus NJW 2010, 582. BGH v. 22.6.2010 – VI ZR 337/09, NJW 2010, 2725. LG Freiburg v. 9.5.2017 – 9 S 6/17, NJW-RR 2018, 28.

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I. Grundlagen | Rz. 27.42 § 27

wurde. Wurden nur die Reparaturen in einer markengebundenen Fachwerkstatt durchgeführt, ist die Verweisung auf die Stundenverrechnungssätze einer markenunabhängigen Werkstatt zumutbar.109 Unerheblich ist, das Argument, das Fahrzeug sei stets in die gleiche freie Werkstatt verbracht worden.110 Die Unzumutbarkeit hat der Geschädigte darzulegen und zu beweisen.111 – Kriterien für die Beurteilung der Gleichwertigkeit sind z.B. das Vorliegen einer Meisterwerkstatt und eine eventuelle Zertifizierung, Erfahrungen mit der Reparatur von Unfallfahrzeugen und die Verwendung von Originalersatzteilen.112 Die qualitative Gleichwertigkeit der Reparaturarten hat der Schädiger darzulegen und zu beweisen.113 – Die erstmalige Verweisung auf niedrigere Stundensätze einer anderen markengebundenen oder freien Fachwerkstatt kann auch noch im Rechtsstreit erfolgen soweit nicht prozessuale Gründe (z.B. Präklusion gem. §§ 296, 296a ZPO) entgegenstehen.114 Die oben dargestellten Grundsätze gelten auch für die fiktive Abrechnung von Ersatzteilkosten. Maßstab für die erforderlichen Reparaturkosten sind auch diesbezüglich die Preise der markengebundenen Fachwerkstätten auf dem regionalen Markt. Ist bei diesen Werkstätten die Berechnung von Ersatzteilzuschlägen (UPE-Aufschläge) üblich, kann auch der Sachverständige solche in sein Gutachten einstellen.115 Ist eine Verweisung des Geschädigten auf die Stundenverrechnungssätze einer markenunabhängigen Werkstatt nach dem oben Gesagten zulässig und sind UPE-Aufschläge bei freien Werkstätten auf dem örtlich relevanten Markt unüblich, schuldet diese der Schädiger nicht.116 Maßgeblich sind dann die um die UPE-Aufschläge gekürzten Ersatzteilpreise der örtlich relevanten, nicht markengebundenen Werkstätten.

27.41

e) Konkrete und fiktive Abrechnung Eine Kombination von konkreter und fiktiver Abrechnung ist unzulässig.117 Vielmehr ist der Geschädigte an die gewählte Abrechnungsart gebunden. So kann nicht die Abrechnung (höherer) fiktiver Ersatzbeschaffungskosten zum Netto-Wiederbeschaffungswert laut Gutachten erfolgen und die für die dennoch erfolgte tatsächliche Ersatzbeschaffung angefallene Um109 BGH v. 7.2.2017 – VI ZR 182/16, NJW 2017, 2182 mit Anm. Heßeler u. NZV 2017, 374 mit Anm. Almeroth. 110 LG Saarbrücken v. 17.11.2017 – 13 S 45/17, NJW 2018, 876. 111 LG Lübeck v. 7.5.2010 – 1 S 117/09, NJW-RR 2010, 1255, 1256; Wenker VersR 2012, 290. 112 OLG Düsseldorf v. 27.3.2012 – 1 U 139/11, NJW 2012, 2044. 113 BGH v. 7.2.2017 – VI ZR 182/16, NJW 2017, 2182 mit Anm. Heßeler u. NZV 2017, 374 mit Anm. Almeroth. 114 BGH v. 15.7.2014 – VI ZR 313/13, NJW 2014, 3236; BGH v. 14.5.2013 – VI ZR 320/12, NJW 2013, 2817 mit zust. Anm. Witt. 115 OLG Düsseldorf v. 16.6.2008 – 1 U 246/07, DAR 2008, 523; OLG Düsseldorf v. 25.6.2001 – 1 U 126/00, NZV 2002, 87, 89; LG Saarbrücken v. 19.7.2013 – 13 S 61/13, DAR 2013, 520; LG Aachen v. 7.4.2005 – 6 S 200/04, NZV 2005, 649; AG Ratingen v. 7.1.2016 – 10 C 75/15, SVR 2016, 172; AG Berlin-Mitte v. 27.11.2007 – 111 C 3246/06, NJW 2008, 529; Fischer NZV 2003, 262 ff. m.w.N. 116 BGH v. 25.9.2018 – VI ZR 65/18, VersR 2019, 120; LG Saarbrücken v. 19.7.2013 – 13 S 61/13, DAR 2013, 520. 117 BGH v. 2.10.2018 – VI ZR 40/18, NJW-RR 2019, 144; BGH v. 13.9.2016 – VI ZR 654/15, NJW 2017, 1310; BGH v. 3.12.2013 – VI ZR 24/13, NJW 2014, 535; BGH v. 30.5.2006 – VI ZR 174/ 05, NJW 2006, 2320.

Zwickel | 749

27.42

§ 27 Rz. 27.42 | Reparabler Sachschaden

satzsteuer zusätzlich in Rechnung gestellt werden.118 Ebenso unzulässig ist es, im Rahmen der gewählten fiktiven Schadensabrechnung den Brutto-Wiederbeschaffungswert zu verlangen, wenn eine günstigere Ersatzbeschaffung tatsächlich erfolgt ist. Auch eine Reparaturbestätigung für die trotz gewählter fiktiver Abrechnung erfolgte Reparatur ist nicht ersatzfähig.119 Ein nachträglicher Wechsel zur konkreten Abrechnung ist, auch nach Rechtskraft des Urteils über die fiktiven Reparaturkosten,120 möglich, wenn die konkreten Kosten der tatsächlich vorgenommenen Ersatzbeschaffung (inkl. MwSt.) höher als der bei fiktiver Abrechnung zustehende Ersatzbetrag sind.121

f) Darlegungslast 27.43

Die Darlegungslast für die Grundlagen der Schadensbemessung liegt beim Anspruchsteller. Die Vorlage eines Reparaturkostengutachtens oder -voranschlags genügt hierfür nicht in jedem Fall. Um bestimmte Positionen (z.B. MwSt.) geltend machen zu können, muss er vortragen, welchen Weg der Schadensbeseitigung er tatsächlich gewählt hat. Außerdem muss er ggf. die für die Ermittlung des wirtschaftlichsten Wegs erforderlichen Vergleichsdaten liefern. Damit das Gericht Einwänden gegen das Schätzgutachten nachgehen kann, muss er die Rechnung über eine tatsächlich durchgeführte Reparatur vorlegen und ggf. erklären, weshalb deren Kosten hinter dem Schätzbetrag zurückbleiben (näher Rz. 27.55).

II. Höhe der Reparaturkosten 1. Allgemeines 27.44

Der Ersatzpflichtige hat grundsätzlich die Kosten der vollständigen Wiederherstellung der Sache zu ersetzen, und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich eine (volle) Reparatur durchgeführt wurde (vgl Rz. 27.35 ff.). Er darf mit der Durchführung der Reparatur aber nicht gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot (Rz. 27.10 ff.) verstoßen. Hat er reparieren lassen, obwohl die Kosten hierfür höher sind als der Aufwand bei einer Ersatzbeschaffung, erhält er grundsätzlich nur letzteren ersetzt. Ausnahmen: Rz. 27.21 ff. Bleibt trotz der Wiederherstellung ein Minderwert, ist dieser auszugleichen (Rz. 27.78 ff.).

2. Fremdreparatur a) Ordnungsgemäße Reparatur in einem Fachbetrieb 27.45

Der Geschädigte kann die ordnungsgemäße Reparatur in einem Fachbetrieb beanspruchen. Die hierfür tatsächlich angefallenen Kosten sind i.d.R. als der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag i.S.d. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB anzusehen. Der Geschädigte braucht sich – vom Fall eines Auswahlverschuldens abgesehen – nicht entgegenhalten zu lassen, dass eine andere Werkstatt die Reparatur billiger ausgeführt hätte. Er ist auch, soweit nicht Treu und Glauben ausnahmsweise anderes gebieten, nicht verpflichtet, die Reparatur in einer vom Schädiger bezeichneten Werkstatt vornehmen zu lassen. Die Rspr. des BGH zur Ersatzfähigkeit der höhe118 119 120 121

BGH v. 13.9.2016 – VI ZR 654/15, DAR 2017, 21; kritisch dazu Freymann DAR 2017, 607. BGH v. 24.1.2017 – VI ZR 146/16, NZV 2017, 223 mit Anm. Ch. Huber. LG Hamburg v. 15.4.2019 – 331 S 65/17, NJW 2019, 3463. BGH v. 2.10.2018 – VI ZR 40/18, NJW-RR 2019, 144; BGH v. 13.9.2016 – VI ZR 654/15, NJW 2017, 1310.

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II. Höhe der Reparaturkosten | Rz. 27.46 § 27

ren Stundensätze in markengebundenen Fachwerkstätten bezieht sich nur auf die fiktive Schadensabrechnung (s. Rz. 27.35 ff.).122 Nur bei der fiktiven Abrechnung wird der Dispositionsgrundsatz durch ein besonders ausgeprägtes Wirtschaftlichkeitspostulat überlagert (s. Rz. 27.38). Liegen die in Rechnung gestellten Kosten aber exorbitant über den von Sachverständigen prognostizierten, so muss der Geschädigte die Diskrepanz nachvollziehbar erklären.123 Liegen sie darunter, kann der Geschädigte, auch bei Reparatur im Ausland,124 nur die tatsächlich aufgewendeten Brutto-Reparaturkosten verlangen, wenn die nach dem Gutachten notwendigen Reparaturen durchgeführt wurden.125 Ersparnisse aufgrund überobligationsmäßiger Anstrengungen kommen dem Geschädigten zugute.126 Keine überobligationsmäßige Anstrengung ist die Inanspruchnahme allgemein zugänglicher Rabatte, z.B. eines Werksangehörigenrabatts auf die Werkstattrechnung.127 An eben dieser allgemeinen Zugänglichkeit des Rabatts fehlt es aber bei Nachweis einer sog. Drittschädigerklausel, die die Rabattgewährung für den Fall des Vorhandenseins eines Drittschädigers ausschließt.128 Zur unvollständigen Reparatur s. Rz. 27.64 ff., zur Reparatur in Eigenregie s. Rz. 27.48 ff.

b) Grundsatz wirtschaftlicher Vernunft Der Grundsatz wirtschaftlicher Vernunft ist zu beachten. Der Schädiger braucht für solche Maßnahmen nicht aufzukommen, die ein verständiger Eigentümer in der Lage des Geschädigten zur Beseitigung des Schadens niemals treffen würde.129 Bei Lackschäden an Kfz kann daher grundsätzlich nur Teillackierung verlangt werden, auch wenn geringfügige Farbabweichungen verbleiben,130 bei kleinen Hagel-, Kastanien- oder Parkbeulen nur eine Beseitigung nach der „lackschadenfreien Ausbeultechnik“(smart repair), wenn diese aus technischer Sicht mit einer vollständigen Reparatur vergleichbar ist.131 Ein Ausweichen auf weniger aufwendige aber gleichwertige smart-repair-Reparaturverfahren kann auch bei Glasreparatur oder reinen Lackschäden (Spotlackierung) geboten sein.132 Nicht technisch gleichwertig dürften in aller Regel Scheinwerfer-Reparatursätze sein, durch die die sonst vorhandene Sollbruchstelle nicht wiederhergestellt wird.133 Die vorsorgliche Auswechslung der Sicherheitsgurte nach einem

122 Wellner NJW 2012, 7; a.A. (gegen Differenzierung zwischen fiktiver und konkreter Abrechnung): LG Essen v. 23.10.2007 – 13 S 103/07, NJW 2008, 1391; Zschieschack NZV 2008, 326. 123 Vgl. OLG Oldenburg v. 27.10.1988 – 14 U 47/88, NZV 1989, 148: 21.000 statt 16.000 DM. Entgegen dieser Entscheidung ist dies aber keine Frage der Schlüssigkeit der Klage, sondern der Beweisführung. Zu großzügig LG Itzehoe v. 21.12.1989 – 4 S 159/89, ZfS 1990, 49: 32 % teurere Reparatur in Tankstellenwerkstatt. 124 OLG Stuttgart v. 30.6.2013 – 5 U 28/14, NZV 2015, 139. 125 BGH v. 3.12.2013 – VI ZR 24/13, NJW 2014, 535. 126 A.A. Picker Die Naturalrestitution durch den Geschädigten 2003, S. 222 ff. 127 BGH v. 18.10.2011 – VI ZR 17/11, NJW 2012, 50; zur Anrechnung von Rabatten s. Armbrüster VersR 2009, 1154. 128 Wellner NZV 2020, 418, 419. 129 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 85; BGH v. 30.5.1978 – VI ZR 199/76, VersR 1978, 838; BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, NJW 1975, 160; AG Ibbenbüren v. 1.2.1991 – 3 C 1098/ 90, NZV 1991, 316 (Kratzer an der Stoßstange). 130 OLG München v. 23.8.1973 – 10 U 1539/73, VersR 1974, 65; OLG Düsseldorf v. 13.12.1982 – 1 U 89/82, VersR 1985, 69. 131 OLG Karlsruhe v. 21.8.2003 – 19 U 57/03, NJW 2003, 3208; LG Düsseldorf v. 13.1.2017 – 22 S157/16, DAR 2017, 200; LG Saarbrücken v. 24.9.2010 – 13 S 216/09, NJW-RR 2011, 249. 132 Nugel NZV 2015, 12. 133 Pichler-Gieser SVR 2017, 411.

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27.46

§ 27 Rz. 27.46 | Reparabler Sachschaden

schweren Unfall ist jedoch geboten.134 Auf eine Reparatur unter Verwendung gebrauchter Ersatzteile (sog. zeitwertgerechte Reparatur) muss sich der Geschädigte nur verweisen lassen, wenn hierbei der vorherige Zustand des Unfallfahrzeugs voll wiederhergestellt wird.135

c) Werkstattverschulden 27.47

Mehrkosten durch Werkstattverschulden (z.B. unwirtschaftliche oder unsachgemäße Maßnahmen) hat der Schädiger zu tragen, sofern und soweit den Geschädigten hieran kein eigenes Verschulden – z.B. bei der Auswahl der Werkstatt – trifft: Die Werkstatt ist nicht Erfüllungsgehilfe des Geschädigten bzgl. dessen Schadensminderungspflicht.136 Etwaige Ansprüche gegen die Werkstatt, z.B. aus Vertragspflichtverletzung, muss der Geschädigte dem Ersatzpflichtigen abtreten.137 Für betrügerische Machenschaften des Reparateurs (Abrechnung gar nicht durchgeführter Arbeiten) braucht der Ersatzpflichtige nicht einzustehen; der dadurch verursachte Schaden ist dem Unfall nicht mehr zuzurechnen.138

3. Reparatur in eigener Regie a) Selbstreparatur 27.48

Bei Selbstreparatur (z.B. durch Heimarbeit oder mit Hilfe von Bekannten) kann der Geschädigte nach der Rspr139 die fiktiven Kosten einer Werkstattreparatur ersetzt verlangen (vgl. hierzu Rz. 20.26 ff.). Solange die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert (ohne Abzug des Restwerts) nicht übersteigen, gilt dies, solange das Fahrzeug in einen verkehrssicheren Zustand gebracht wird,140 unabhängig von der Qualität der Reparatur;141 ansonsten gelten die in Rz. 27.26 wiedergegebenen Grundsätze. Bei Unfällen ab 1.8.2002 kann Umsatzsteuer nach § 249 Abs. 2 S. 2 BGB nur noch insoweit angesetzt werden, wie sie tatsächlich angefallen ist, bei der Selbstreparatur also z.B. für den Kauf von Ersatzteilen. Rechnet der Geschädigte aber fiktiv ab, kann er nicht zusätzlich MwSt. ersetzt verlangen, auch nicht in der Höhe, die bei einer Ersatzbeschaffung angefallen wäre; eine Kombination von konkreter und fiktiver Schadensabrechnung ist nicht zulässig.142

134 AG Goslar v. 27.9.1983 – 4 C 501/83, DAR 1984, 295. 135 Vgl. Empfehlung des 37. VGT, NZV 1999, 120; Reinking VGT 1999, 312 f.; Walter NZV 1999, 19 ff.; Budel ZfS 2000, 89; Pamer DAR 2000, 150 ff. 136 BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, BGHZ 63, 182.; LG Bad Kreuznach v. 25.7.2014 – 3 O 28/12, NJW-RR 2015, 227; AG Neuss v. 9.8.2016 – 77 C 1425/16, DAR 2016, 589 mit Anm. Engel. 137 BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, BGHZ 63, 182: als Vorteilsausgleich. 138 A.A. OLG Hamm v. 31.1.1995 – 9 U 168/94, NZV 1995, 442; AG Nürnberg v. 22.6.2018 – 18 C 1662/18, DAR 2018, 522. 139 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 87; BGH v. 19.6.1973 – VI ZR 46/72, BGHZ 61, 58 = JR 1974, 103 mit Anm. Gitter; OLG Koblenz v. 11.5.2015 – 12 U 911/14, DAR 2015, 462; a.A. Schulz VersR 1967, 383; Köhler in FS Larenz 352; 20. VGT (1982) 10; de lege ferenda auch Greger NZV 2000, 3. 140 BGH v. 23.11.2010 – VI ZR 35/10, NJW 2011, 667; BGH v. 29.4.2008 – VI ZR 220/07, NJW 2008, 1941; BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 56/07, NJW 2008, 439, BGH v. 29.4.2003 – VI ZR 393/02, NJW 2003, 2085. 141 BGH v. 29.4.2003 – VI ZR 393/02, BGHZ 154, 395 = DAR 2003, 372 mit Anm. Reitenspiess = JR 2004, 20 mit Anm. Schiemann. 142 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 172/04, BGHZ 162, 170, 175 = NZV 2005, 245, 246 mit Anm. Heß.

752 | Zwickel

II. Höhe der Reparaturkosten | Rz. 27.51 § 27

b) Instandsetzung im eigenen Betrieb Bestand für den Geschädigten (etwa ein Verkehrsunternehmen) die Möglichkeit einer Instandsetzung im eigenen Betrieb, so sind nach der Rspr. folgende Fälle zu unterscheiden:

27.49

– War der Betrieb ausgelastet, so dass der Geschädigte während der Instandsetzungszeit Fremdaufträge hätte ausführen können, so kann er die Kosten ersetzt verlangen, die bei Fremdreparatur entstanden wären;143 – War der Betrieb nicht durch Fremdaufträge ausgelastet, so können neben den Materialkosten nur die anteiligen Gemeinkosten für die Unterhaltung der Werkstatt (Selbstkosten) beansprucht werden;144 – Ist der Betrieb ohnehin nur zu Reparaturen für das eigene Unternehmen bestimmt (z.B. Betriebswerkstätten von Verkehrsunternehmen), so können ebenfalls lediglich die Selbstkosten berechnet werden;145 – War im letztgenannten Fall die eigene Werkstatt jedoch so ausgelastet, dass sie bei Instandsetzung der beschädigten Sache andere Arbeiten an fremde Firmen abgeben müsste, so kann der Geschädigte die Kosten einer Fremdreparatur ersetzt verlangen.146 Diese Grundsätze gehen auf die Erwägung zurück, dass der Geschädigte zu der kostengünstigeren Reparatur im eigenen Betrieb dann verpflichtet ist, wenn sie ihm zumutbar ist; sie kommen daher nicht zur Anwendung, wenn es sich um betriebsfremde Arbeiten handelt.147 Die Beteiligung des Schädigers an den Gemeinkosten des Betriebs (die dem Geschädigten auch ohne den Unfall erwachsen wären) lässt sich ebenfalls nur mit Zumutbarkeitserwägungen rechtfertigen: Niemand soll gehalten sein, kostensparende eigene Reparaturleistungen ohne eine angemessene Beteiligung des Ersatzpflichtigen an den Gemeinkosten zur Verfügung zu stellen.148

27.50

4. Nebenpositionen a) Umsatzsteuer Zu den Reparaturkosten gehört auch die „tatsächlich angefallene“ (d.h. dem Geschädigten zu Recht in Rechnung gestellte149) Umsatzsteuer (§ 249 Abs. 2 S. 2 BGB). Dies gilt auch, wenn Geschädigter der Staat ist, dem auch die Steuer zufließt.150 Etwas anderes gilt nur, wenn im konkreten Fall die übliche und zumutbare Form der Wiederherstellung in der Eigenreparatur

143 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 87; BGH v. 8.12.1977 – II ZR 189/75, VersR 1978, 243; OLG Frankfurt v. 24.1.2012 – 16 U 100/11, NJW 2012, 2977 zur Erstattungsfähigkeit eines Zuschlags „Wagnis und Gewinn“; zur Beweislast vgl. AG Kassel v. 23.7.2013 – 423 C 315/13, NZV 2014, 182. 144 BGH v. 26.2.1980 – VI ZR 53/79, BGHZ 76, 216. 145 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 88; OLG Zweibrücken v. 6.3.2002 – 1 U 209/00, VersR 2002, 1566; a.A. bei Kfz LG Bochum v. 3.4.1986 – 10 S 4/86, VersR 1987, 78. 146 OLG München v. 24.1.1966 – 10 U 1976/63, VersR 1966, 668. 147 BGH v. 30.6.1997 – II ZR 186/96, NJW 1997, 2879, 2880. 148 Lange/Schiemann § 6 VIII 5. 149 Vgl. Stellungnahme des Bundesrats in BT-Drucks. 14/7752, S. 49 und Zustimmung der Bundesregierung, a.a.O., S. 55; Lemcke r+s 2002, 271 f. Für Anspruch auf Vorschuss auf die Umsatzsteuer Knütel ZGS 2003, 20. 150 BGH v. 14.9.2004 – VI ZR 97/04, NZV 2005, 39; Ch. Huber NJW 2005, 950 ff.

Zwickel | 753

27.51

§ 27 Rz. 27.51 | Reparabler Sachschaden

besteht.151 Zum Nachweis der angefallenen Mehrwertsteuer Rz. 27.57, zum Vorsteuerabzug Rz. 26.22 f.; zur fiktiven Abrechnung Rz. 27.35 ff.

b) Abschleppkosten 27.52

Die Abschleppkosten zur Werkstatt gehören in dem notwendigen Umfang ebenfalls zum erstattungspflichtigen Schaden.152 Lässt der Geschädigte das Fahrzeug nicht in die nächste, sondern in eine weiter entfernte Vertragswerkstatt schleppen, so sind die Mehrkosten nur zu ersetzen, wenn sie nicht allzu erheblich sind und der Geschädigte vernünftige Gründe hierfür hat (z.B. Vertragswerkstatt, die das Fahrzeug ständig wartet).153 Bei schweren Schäden (nicht bei Totalschäden), muss dies, wegen der besonderen Bedeutung ordnungsgemäßer Reparaturausführung, erst Recht gelten.154 Zu Begutachtungskosten s. Rz. 29.3 ff.

27.53

Bei der Überführung eines beschädigten Schienenfahrzeugs in das Ausbesserungswerk gehören zu den erstattungspflichtigen Herstellungskosten auch die für die Überführungsfahrt und die Rückführung zum Einsatzort anfallenden Kosten für Personal, Beförderung und Fahrwegbenutzung (soweit hierfür ausscheidbare Kosten entstanden sind) sowie diesbezüglich aufgewendete Verwaltungskosten, nicht aber die fiktiven Fahrtkosten für Personal, welches mit eigenen planmäßigen Transportmitteln zur Unfallstelle befördert wurde.155

c) Probefahrt und Fahrzeugreinigung 27.54

Die Durchführung einer Probefahrt, die der Eigenkontrolle der Werkstatt dient, kann nicht gesondert in Rechnung gestellt werden.156 Auch eine gutachterliche Begleitung der Reparatur (gutachterliche Beihilfe) ist i.d.R. nicht erforderlich.157 Zusätzliche Kosten für die Fahrzeugreinigung sind nur dann ersatzfähig, wenn diese über die allgemeinen Lästigkeiten einer Unfallreparatur hinausgehen, die bereits mit der allgemeinen Auslagenpauschale (s. Rz. 29.29) abgegolten sind.158 Dies kann dann der Fall sein, wenn die spezifische Reparatur zu einer besonderen Verschmutzung des Kfz führt.159

151 BGH v. 19.6.1973 – VI ZR 46/72, BGHZ 61, 58. 152 Für Einzelheiten s. Balke SVR 2015, 253. 153 OLG Köln v. 19.6.1991 – 2 U 1/91, VersR 1992, 719; AG Ahlen v. 6.11.2015 – 30 C 494/14, SVR 2016, 432; AG Dillenburg v. 14.11.2014 – 50 C 271/14, SVR 2015, 308; AG Stade v. 4.5.2015 – 61 C 233/15, SVR 2015, 343; a.A. wohl für zweiten Abschleppvorgang AG Halle-Saalkreis v. 11.6.2014 – 102 C 1948/12, SVR 2014, 431 mit abl. Anm. Balke. 154 AG Mühlheim/Ruhr v. 26.2.2015 – 23 C 1690/14, SVR 2016, 176 mit abl. Anm. Balke; a.A. Balke SVR 2015, 253. 155 BGH v. 31.5.1983 – VI ZR 241/79, VersR 1983, 755; zur Schadensberechnung OLG München v. 27.6.1986 – 10 U 3632/83, VersR 1987, 36 mit Anm. Kunz. 156 AG Recklinghausen v. 15.1.2018 – 51 C 232/17, SVR 2018, 391 mit zust. Anm. Balke; AG Kassel v. 8.2.2018 – 435 C 4137/17, NJW-RR 2018, 730. 157 AG Kassel v. 8.2.2018 – 435 C 4137/17, NJW-RR 2018, 730. 158 AG Überlingen v. 19.9.2019 – 3 C 96/19, SVR 2020, 192 mit Anm. Balke; AG Tuttlingen v. 26.6.2019 – 3 C 683/18, SVR 2020, 113 mit Anm. Balke. 159 AG Recklinghausen v. 15.1.2018 – 51 C 232/17, SVR 2018, 391 mit Anm. Balke; AG Kassel v. 8.2.2018 – 435 C 4137/17, BeckRS 2018, 1874.

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II. Höhe der Reparaturkosten | Rz. 27.57 § 27

5. Nachweis der Reparaturkosten Er kann am besten durch Vorlage der Reparaturrechnung geführt werden. Soweit der Geschädigte zulässigerweise fiktiv abrechnet (s. Rz. 27.35 ff.), müssen die Kosten auf der Basis eines Schadensgutachtens geschätzt werden. Weder Rechnung noch Gutachten legen den Schadensbetrag aber verbindlich fest; insbesondere ist es dem Ersatzpflichtigen unbenommen, die Unfallbedingtheit oder Erforderlichkeit einzelner Positionen sowie die vom Sachverständigen geschätzten Aufwendungen zu bestreiten.160 Im Prozess wird der zuzusprechende Betrag nach richterlichem Ermessen (§ 287 ZPO) bestimmt. Die Schätzungsgrundlagen hat der Anspruchsteller beizubringen.

27.55

Ob eine Verpflichtung zur Vorlage der Rechnung besteht, ist bei der Regulierung von KfzSchäden (obwohl in anderen Bereichen selbstverständliche Übung) hoch umstritten.161 Obgleich lautere Motive zur Vorenthaltung dieses aussagekräftigsten Erkenntnismittels162 nicht zu erkennen sind, wird vielfach die Ansicht vertreten, dass der Geschädigte das Recht hat, ausschließlich „auf Gutachtenbasis“ abzurechnen.163 Dabei wird aber die Frage der Zulässigkeit einer fiktiven Schadensabrechnung (dazu Rz. 26.19) mit der Konkretisierung der Darlegungslast vermengt. Für die Anspruchshöhe ist der Gläubiger beweis- und darlegungspflichtig; er hat dem Gericht die zur Ausübung seines Schätzungsermessens nach § 287 ZPO erforderlichen Erkenntnismittel zu verschaffen. Kann er dem Gericht nicht plausibel machen, weshalb er ihm gerade das beste dieser Erkenntnismittel vorenthält, kann es hieraus negative Schlüsse ziehen und pauschale Abstriche von den Schätzkosten vornehmen.164 Nimmt eine Partei auf die Rechnung Bezug, kann das Gericht von Amts wegen die Vorlage anordnen (§ 142 ZPO).165

27.56

Da Umsatzsteuer auf die Reparaturkosten nach dem am 1.8.2002 in Kraft getretenen § 249 Abs. 2 S. 2 BGB nur noch beansprucht werden kann, wenn sie tatsächlich angefallen ist, muss der Geschädigte im Bestreitensfall die Rechnung mit Mehrwertsteuer-Ausweis nach § 14 UStG vorlegen.166 Eine Verweigerung der Vorlage kann vom Richter frei gewürdigt werden und zur Reduzierung des Schadensersatzbetrags führen. Ähnliche Konsequenzen ergeben sich, wenn der Geschädigte trotz durchgeführter Reparatur nur den Nettobetrag laut Gutachten geltend macht: Da sich hier der Verdacht zu hoher Schätzkosten aufdrängt, kann vom Anspruchsteller nähere Darlegung verlangt werden. Legt er nicht dar, welchen Weg der Restitution er gewählt hat und wie hoch im Falle durchgeführter Reparatur seine tatsächlichen Aufwendungen waren, so kann sich das Gericht im Rahmen des § 287 ZPO auf die Zuerken-

27.57

160 BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, NZV 1989, 465 mit Anm. Hofmann. 161 Verpflichtung zur Vorlage der Rechnung: LG Berlin v. 19.10.1989 – 2 S 462/88, NZV 1990, 119, 120; LG Bochum v. 19.1.1990 – 5 S 469/89, NJW-RR 1990, 859; AG München v. 21.1.2004 – 345 C 25508/03, NZV 2004, 591; keine Verpflichtung zur Vorlage der Rechnung: KG v. 14.12.2017 – 22 U 177/15, VersR 2018, 758; LG Potsdam v. 26.8.2002 – 13 S 51/02, NZV 2002, 515. 162 So auch BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, NZV 1989, 465 mit Anm. Hofmann. 163 S. z.B. Berz/Burmann/Schneider 5.B. Rz. 70; Gebhardt DAR 2002, 396; Steffen NZV 1991, 3. Nach BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, VersR 1989, 1056 darf die Rechnungsvorlage jedenfalls nicht zur Voraussetzung einer Schadensersatzleistung gemacht werden. 164 BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, NZV 1989, 465 f mit Anm. Hofmann. 165 Näher hierzu Greger NJW 2002, 1477. Entgegen Gebhardt DAR 2002, 398 kommt es auf eine Beweiserheblichkeit der Urkunde bei § 142 ZPO nicht an. 166 BT-Drucks. 14/7752, S. 23; Wagner NJW 2002, 2059. Zu den Konsequenzen im Einzelnen Greger NZV 2002, 385 ff.

Zwickel | 755

§ 27 Rz. 27.57 | Reparabler Sachschaden

nung eines Mindestschadens beschränken (die Klage allerdings nicht etwa ganz abweisen167). Ergibt sich, dass steuerpflichtige Leistungen unversteuert erbracht wurden, ist das Gericht zur Mitteilung an die Steuerbehörde verpflichtet (§ 116 AO).168 Der fälschliche Ausweis von Mehrwertsteuer in der Rechnung begründet zwar die Pflicht zur Abführung an das Finanzamt nach § 14 Abs. 3 UStG, lässt Mehrwertsteuer aber nicht „anfallen“; in diesem Fall besteht daher keine Erstattungspflicht (vgl. Rz. 27.51). Ebenso wenig fällt Mehrwertsteuer schon durch das Erteilen eines umsatzsteuerpflichtigen Auftrags an;169 es bedarf vielmehr der Erteilung einer entsprechenden Rechnung.

III. Reaktionsmöglichkeiten und Ersatzansprüche beim Kfz-Schaden 27.58

Wie sich aus Vorstehendem ergibt, hat der BGH für die Regulierung von Kfz-Schäden Besonderheiten entwickelt, die auf den Parametern der Dispositionsfreiheit, der Wirtschaftlichkeit und des Integritätsinteresses beruhen. Die Reaktionsmöglichkeiten des Geschädigten lassen sich überblicksartig und stark vereinfacht wie folgt darstellen:

27.59

Nr.

Reaktionsmöglichkeit

Kosten der Reparatur/Ersatzbeschaffung

Abrechnung

1

Vollständige, fachgerechte Reparatur

1.1

Reparaturkosten < Wiederbeschaffungsaufwand

Tatsächlich entstandene Brutto-Reparaturkosten: (+) Fiktive Netto-Reparaturkosten nach Gutachten: (+)

1.2

Reparaturkosten zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert

Brutto-Reparaturkosten: (+) Fiktive Netto-Reparaturkosten nach Gutachten: (+), bei mindestens 6-monatiger Weiternutzung

1.3

Reparaturkosten > WiederTatsächlich entstandene beschaffungswert, aber < 130 % Brutto-Reparaturkosten für des Wiederbeschaffungswerts Vollreparatur (!) soweit innerhalb des Toleranzbereichs von 30 %: (+), bei mindestens 6-monatiger Weiternutzung (Integritätsinteresse!) Fiktive Netto-Reparaturkosten nach Gutachten: (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswertes nach 1.2

167 So das Berufungsgericht in dem von BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, VersR 1989, 1056 entschiedenen Fall. 168 Vgl. Greger NZV 2002, 386. 169 A.A. Schirmer/Marlow DAR 2003, 444.

756 | Zwickel

III. Reaktionsmöglichkeiten und Ersatzansprüche beim Kfz-Schaden | Rz. 27.59 § 27 Nr.

Reaktionsmöglichkeit

Kosten der Reparatur/Ersatzbeschaffung

Abrechnung

Reparaturkosten > 130 % des Wiederbeschaffungswerts

Reparatur wirtschaftlich unvernünftig; wird dennoch repariert: Abrechnung nur bis Fall 1.2

2.1

Reparaturkosten < Wiederbeschaffungsaufwand

Tatsächlich entstandene Brutto-Reparaturkosten (+) Fiktive Netto-Reparaturkosten nach Gutachten (+)

2.2

Reparaturkosten zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert

Tatsächlich entstandene Brutto-Reparaturkosten (+) Fiktive Netto-Reparaturkosten nach Gutachten (+), bei mindestens 6-monatiger Weiternutzung und verkehrssicherer Reparatur

2.3

Reparaturkosten > Wiederbeschaffungswert [130 %-Rspr. greift bei nicht vollständiger Reparatur nicht]

Tatsächliche Brutto-Reparaturkosten (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts nach 2.2 Fiktive Netto-Reparaturkosten nach Gutachten: (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands nach 2.1

3.1

Kosten < Wiederbeschaffungsaufwand

Tatsächliche Wiederbeschaffungskosten (+), aber Umsatzsteuer nur, wenn angefallen. Fiktive Wiederbeschaffungskosten (+), aber ohne Umsatzsteuer.

3.2

Kosten zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert

Tatsächliche Wiederbeschaffungskosten (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands Fiktive Wiederbeschaffungskosten (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands

1.4

2

3.

Unvollständige/nicht fachgerechte Reparatur

Ersatzbeschaffung [nur möglich, soweit die voraussichtlichen Reparaturkosten den Wiederbeschaffungsaufwand nicht unterschreiten]

Zwickel | 757

§ 27 Rz. 27.59 | Reparabler Sachschaden Nr.

Reaktionsmöglichkeit

Kosten der Reparatur/Ersatzbeschaffung

Abrechnung

Kosten > Wiederbeschaffungswert

Tatsächliche Wiederbeschaffungskosten (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands Fiktive Wiederbeschaffungskosten (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands

4.1

Reparaturkosten < Wiederbeschaffungsaufwand

Fiktive Netto-Kosten nach Gutachten (+)

4.2

Reparaturkosten zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert

Fiktive Netto-Kosten nach Gutachten: (+), bei mindestens 6-monatiger Weiternutzung

4.3

Reparaturkosten > Wiederbeschaffungswert

Fiktive Netto-Kosten nach Gutachten: (-), nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands nach 4.1

3.3

4.

Restitutionsverzicht

Für die jeweiligen Reaktionsmöglichkeiten des Geschädigten gelten im Einzelnen folgende Maßgaben:

1. Vollständige fachgerechte Reparatur 27.60

Eine solche liegt vor, wenn die Wiederherstellung vorgenommen wurde, die der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat.170 Kleinere Abweichungen bei der Reparaturausführung, z.B. die Verwendung von altersentsprechenden und funktionsfähigen gebrauchten statt der vom Sachverständigen angesetzten neuen Ersatzteile, sind dann als unschädlich anzusehen, wenn noch eine vollständige Herstellung des früheren Zustands bejaht werden kann.171

a) Unterhalb des Wiederbeschaffungsaufwands 27.61

Liegen in einem solchen Fall die geschätzten Reparaturkosten (einschließlich eines etwa verbleibenden Minderwerts172) unterhalb des Wiederbeschaffungsaufwands (Wiederbeschaffungswert abzügl. Restwert), kann der Geschädigte entweder die Kosten abrechnen, die ihm tatsächlich entstanden sind, oder die fiktiven Kosten nach dem Schätzgutachten (Einzelheiten hierzu Rz. 27.35 ff., Rz. 27.55 ff.).173 Umsatzsteuer kann er bei Unfällen ab 1.8.2002174 in jedem

170 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 70/04, BGHZ 162, 161 = NZV 2005, 243 mit Anm. Heß. 171 BGH v. 2.6.2015 – VI ZR 387/14, NZV 2015, 591; AG Marburg v. 16.12.2014 – 9 C 759/13, NZV 2015, 550; vgl. dazu auch Ch. Huber MDR 2003, 1338 f. 172 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364 = NZV 1992, 66, 67 mit Anm. Lipp. 173 BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 56/07, NJW 2008, 439. 174 Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB.

758 | Zwickel

III. Reaktionsmöglichkeiten und Ersatzansprüche beim Kfz-Schaden | Rz. 27.63 § 27

Fall nur insoweit in Rechnung stellen, als sie tatsächlich angefallen ist (§ 249 Abs. 2 S. 2 BGB; s. dazu Rz. 26.21) und keine Vorsteuerabzugsberechtigung (Rz. 26.22 f.) besteht, also nicht, wenn er die fiktive Abrechnung wählt. Er kann in letzterem Fall auch nicht teilweise konkret abrechnen, also nicht zusätzlich MwSt. (z.B. für gekaufte Ersatzteile) berechnen.175

b) Unterhalb des Wiederbeschaffungswerts, aber oberhalb des Wiederbeschaffungsaufwands Liegen die Reparaturkosten zwar unterhalb des Wiederbeschaffungswerts, aber oberhalb des Wiederbeschaffungsaufwands, kann der Geschädigte die tatsächlichen Reparaturkosten auch dann abrechnen, wenn er das Kfz sogleich veräußert.176 Fiktiv kann der Geschädigte nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands abrechnen, sofern er nicht das Fahrzeug für mindestens 6 Monate weiternutzt.177 Er realisiert durch den Verkauf den Restwert des Kfz und muss sich diesen anrechnen lassen. Der Schädiger kann, bei fiktiver Abrechnung, gegen die Schätzung Einwände erheben, was einen Abgleich mit den tatsächlichen Reparaturkosten erfordern kann (s. Rz. 27.36 ff.). Ein Anspruch auf höhere Schätzkosten besteht dann nur, wenn die Abweichung nicht auf einem Prognosefehler, sondern auf überobligationsmäßigen Anstrengungen des Geschädigten beruht178 (zur Teilreparatur s. Rz. 27.64 ff.).

27.62

c) Oberhalb des Wiederbeschaffungswerts, aber unterhalb von 130 % des Wiederbeschaffungswerts Liegen die geschätzten Bruttoreparaturkosten179 oberhalb des Wiederbeschaffungswerts aber unterhalb von 130 % des (nicht um den Restwert gekürzten180) Wiederbeschaffungswerts, kann der Geschädigte sie grundsätzlich ersetzt verlangen (s. Rz. 27.22 ff., auch zu den Ausnahmen). Er muss aber nachweisen, dass er tatsächlich eine Vollreparatur hat durchführen lassen (sonst Rz. 27.64 ff.), deren Gesamtkosten innerhalb des Toleranzbereichs liegen und ein Integritätsinteresse besteht (vgl. Rz. 27.26).181 Die bei Reparaturkosten bis zum Wiederbeschaffungswert von der Rspr. nur für die fiktive Schadensabrechnung geforderte Eigennutzung des Kfz für weitere 6 Monate ist, als Voraussetzung des Integritätsinteresses, in den 130 %-Fällen Voraussetzung für eine Abrechnung auf Basis tatsächlich angefallener Kosten.182 Eine fiktive Abrechnung ist, auch bei Unikaten, nur bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts möglich.183 Nachdem das Gutachten nur Schätzgrundlage i.S.d. § 287 ZPO ist (s. Rz. 27.55) kann der Geschädigte auch dann auf Basis der konkreten Reparaturkosten abrechnen, wenn es ihm gelingt, die auf über 130 % des Wiederbeschaffungswerts geschätzten Reparaturkosten unter Berücksichtigung der o.g. Voraussetzungen innerhalb der 130 %-Grenze

175 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 172/04, BGHZ 162, 170, 175 = NZV 2005, 245, 246 mit Anm. Heß; a.A. Wagner NJW 2002, 2058. 176 BGH v. 5.12.2006 – VI ZR 77/06, VersR 2007, 372. 177 BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 56/07, NJW 2008, 439; OLG Karlsruhe v. 12.5.2009 – 4 U 173/07, NJW-RR 2010, 96. 178 Ebenso Wagner NJW 2002, 2059 unter Hinweis auf die damit verbundene Erschwerung der Schadensregulierung. 179 BGH v. 3.3.2009 – VI ZR 100/08, VersR 2009, 654. 180 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364 = NZV 1992, 66 mit Anm. Lipp. 181 BGH v. 8.12.2009 – VI ZR 119/09, VersR 2010, 363. 182 BGH v. 13.11.2007 – VI ZR 89/07, NJW 2008, 437. 183 BGH v. 2.3.2010 – VI ZR 144/09, NJW 2010, 2121.

Zwickel | 759

27.63

§ 27 Rz. 27.63 | Reparabler Sachschaden

zu halten.184 Dies gilt nicht, wenn nur eine Rabattgewährung der Werkstatt zur Unterschreitung der 130 %-Grenze führt.185 Wenn die prognostizierten Reparaturkosten die 130 %-Grenze übersteigen und auch keine günstigere Reparatur erfolgt, kann der Geschädigte nur auf Totalschadensbasis (fiktive Wiederbeschaffungskosten abzgl. Restwert; keine MwSt.) abrechnen (s. Rz. 27.27).

2. Unvollständige oder nicht fachgerechte Reparatur 27.64

Wird das Unfallfahrzeug zwar repariert, aber nicht in dem Umfang oder der Qualität, die der Sachverständige zur vollen Wiederherstellung für erforderlich hielt (s. Rz. 27.60), so ist zu unterscheiden:

a) Unterhalb des Wiederbeschaffungsaufwands 27.65

Liegen laut Gutachten die Kosten der ordnungsgemäßen Reparatur unterhalb des Wiederbeschaffungsaufwands, werden sie vollständig ersetzt; der Restwert des Fahrzeugs ist hierbei nicht zu berücksichtigen, weil er vom Geschädigten nicht realisiert wurde und sich somit in der Schadensbilanz nicht niederschlägt.186

b) Zwischen Widerbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert 27.66

Liegen die im Gutachten ausgewiesenen Reparaturkosten zwischen Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzügl. Restwert) und Wiederbeschaffungswert, so werden tatsächlich angefallene Reparaturkosten vollständig ersetzt. Eine fiktive Abrechnung bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts ist nur dann zulässig, wenn der Geschädigte das Kfz tatsächlich verkehrssicher reparieren lässt und mindestens 6 Monate weiternutzt.187 Ein Nachweis der entstandenen Reparaturkosten ist in diesem Fall nicht erforderlich.188

c) Höher als der Wiederbeschaffungswert 27.67

Sind die Kosten der ordnungsgemäßen Reparatur laut Gutachten höher als der Wiederbeschaffungswert, kann der Geschädigte fiktiv Schadensersatz nur in Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands, d.h. Kosten der Ersatzbeschaffung abzgl. Restwert,189 berechnen, denn die unvollständige Reparatur spricht für ein fehlendes Integritätsinteresse. Dem Geschädigten steht aber der Nachweis konkret angefallener, den Wiederbeschaffungsaufwand übersteigen184 OLG München v. 13.11.2009 – 10 U 3258/08, NZV 2010, 400; Wellner NJW 2012, 7. Für Kosten, die den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen BGH v. 14.12.2010 – VI ZR 231/09, NJW 2011, 669. 185 BGH v. 8.2.2011 – VI ZR 79/10, NJW 2011, 1435; LG Bielefeld v. 10.7.2019 – 22 S 236/18, NZV 2020, 317. 186 BGH v. 29.4.2003 – VI ZR 393/02, BGHZ 154, 395 = DAR 2003, 372 mit Anm. Reitenspiess = JR 2004, 20 mit krit. Anm. Schiemann. 187 BGH v. 23.11.2010 – VI ZR 35/10, NJW 2011, 667; BGH v. 29.4.2008 – VI ZR 220/07, NJW 2008, 1941; BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 56/07, NJW 2008, 439; BGH v. 29.4.2003 – VI ZR 393/02, NJW 2003, 2085; BGH v. 23.5.2006 – VI ZR 192/05, NJW 2006, 2179; OLG Stuttgart v. 25.1.2010 – 7 U 217/09, NZV 2011, 82; LG Berlin v. 12.4.2018 – 41 O 41/17, NJW-RR 2018, 1236. 188 KG v. 14.12.2017 – 22 U 177/15, VersR 2018, 758. 189 BGH v. 8.12.2009 – VI ZR 119/09, VersR 2010, 363; BGH v. 27.11.2007 – VI ZR 56/07, NJW 2008, 439; BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 217/06, NJW 2007, 2918; BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 172/04, BGHZ 162, 170, 175 = NZV 2005, 245 mit Anm. Heß. Zur Höhe des Restwerts s. Rz. 27.71 ff.

760 | Zwickel

III. Reaktionsmöglichkeiten und Ersatzansprüche beim Kfz-Schaden | Rz. 27.69 § 27

der Kosten, offen.190 Er kann dann bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts abrechnen. Die 130 %-Grenze gilt bei Teilreparatur nicht.191 Mehrwertsteuer kann der Geschädigte gem. § 249 Abs. 2 S. 2 BGB nicht beanspruchen, wenn er auf der Basis der fiktiven Ersatzbeschaffung abrechnet; für die Behelfsreparatur angefallene Mehrwertsteuer bleibt außer Betracht, da deren Kosten nicht in Rechnung gestellt werden und eine Kombination von konkreter und fiktiver Schadensabrechnung nicht zulässig ist.192 Zur Nachholung der zunächst unterbliebenen Restarbeiten s. Rz. 27.77.

3. Ersatzbeschaffung Der Geschädigte kann grds. von einer Reparatur des beschädigten Kfz absehen und ein Ersatzfahrzeug anschaffen. Hierin liegt nach Ansicht des BGH193 auch dann eine Naturalrestitution i.S.d. § 249 BGB, wenn ein höherwertiger Gebrauchtwagen oder ein Neufahrzeug angeschafft wird (zur Beschaffung eines geringwertigeren Ersatzes s. Rz. 27.75 f.). Wird das neue Fahrzeug nicht (wie das beschädigte) zu Eigentum erworben, sondern geleast, kommt es nicht zu einer Naturalrestitution; es gelten daher ebenfalls die Grundsätze in Rz. 27.75 f.194 Die Ersatzbeschaffung scheidet, aufgrund des Wirtschaftlichkeitsgebots (s. Rz. 27.10), aus, wenn die voraussichtlichen Reparaturkosten den Wiederbeschaffungsaufwand unterschreiten.195

27.68

a) Tatsächlich aufgewendeter Kaufpreis Erwirbt der Geschädigte ein Ersatzfahrzeug zu einem Preis, der dem im Gutachten ausgewiesenen (Brutto-)Wiederbeschaffungswert entspricht oder diesen übersteigt, kann er den tatsächlich aufgewendeten Kaufpreis bis zur Höhe des (Brutto-)Wiederbeschaffungswerts, abzgl. des Restwerts des Unfallfahrzeugs (s. dazu Rz. 27.71 ff.), ersetzt verlangen.196 Allgemein zugängliche Rabatte (z.B. einen Herstellernachlass für Menschen mit Behinderung) muss sich der Geschädigte anspruchsmindernd anrechnen lassen.197 Ob und in welcher Höhe in dem im Gutachten ausgewiesenen Wiederbeschaffungswert und in dem vom Geschädigten aufgewendeten Kaufpreis Umsatzsteuer enthalten ist, hat keine Bedeutung, da der Geschädigte hier nicht fiktiv abrechnet, sondern die Wiederherstellung durch konkrete Ersatzbeschaffung betreibt.198 Wählt der Geschädigte die Ersatzbeschaffung, obwohl er nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot nur einen Anspruch auf Reparaturkosten gehabt hätte (s. Rz. 27.10), kann er den Teil der im Rahmen der Ersatzbeschaffung angefallenen Umsatzsteuer verlangen, der

190 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 70/04, BGHZ 162, 161, 168 = NZV 2005, 243 mit Anm. Heß. 191 BGH v. 15.11.2011 – VI ZR 30/11, NJW 2012, 52; BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 258/06, NJW 2007, 2917. 192 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 172/04, BGHZ 162, 170, 175 = NZV 2005, 245, 246 mit Anm. Heß. 193 BGH v. 1.3.2005 – VI ZR 91/04, BGHZ 162, 270, 275 = VersR 2005, 994. Zur Kritik an dieser Rspr. s. Rz. 27.9. 194 Unzutreffend daher AG Berlin-Mitte v. 20.11.2003 – 13 C 3125/03, NZV 2004, 301: Ersatz der MwSt. auf die Leasing-Sonderzahlung. 195 Wellner NJW 2012, 7. 196 BGH v. 1.3.2005 – VI ZR 91/04, BGHZ 162, 270 = NZV 2005, 512 mit Bespr. v. Ch. Huber JR 2006, 373. 197 BGH v. 14.7.2020 – VI ZR 268/19, VersR 2020, 1118; zu sog. Drittschädigerklauseln s. Rz. 27.45. 198 BGH v. 2.7.2013 – VI ZR 351/12, NJW 2013, 3719; BGH v. 1.3.2005 – VI ZR 91/04, BGHZ 162, 270; Zum Vorgehen bei der Berechnung in den einzelnen Fällen s. Tomson NJW 2013, 3690.

Zwickel | 761

27.69

§ 27 Rz. 27.69 | Reparabler Sachschaden

bei Reparatur angefallen wäre.199 Eine fiktive Abrechnung höherer Reparaturkosten scheidet in jedem Falle aus, weil der Geschädigte sich bei Ersatzbeschaffung nicht auf ein geschütztes Integritätsinteresse (s. Rz. 27.21) berufen kann;200 der verbreiteten Ansicht,201 dass der Restwert außer Betracht bleiben soll, wenn die Reparaturkosten 70 % des Wiederbeschaffungswerts nicht übersteigen, ist der BGH dabei nicht gefolgt.

b) Fiktiver Wiederbeschaffungsaufwand 27.70

Will der Geschädigte den fiktiven Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzgl. Restwert) laut Gutachten abrechnen (z.B., weil er ein gleichwertiges Ersatzfahrzeug zu einem besonders günstigen Preis erworben hat), gelten die Grundsätze in Rz. 27.60 ff. entsprechend. Besteht, z.B. für Taxen oder Sonderfahrzeuge, kein Markt für Gebrauchtfahrzeuge mit entsprechender Ausrüstung, sind die (verhältnismäßigen) fiktiven Umrüstkosten bei der Ermittlung des Wiederbeschaffungswerts zu berücksichtigen. Derartige Kosten sind damit grundsätzlich auch auf Gutachtenbasis ersatzfähig.202 Auch bei Abrechnung auf Basis fiktiver Ersatzbeschaffung kann der Geschädigte gem. § 249 Abs. 2 S. 2 BGB immer nur den Nettobetrag (ohne Mehrwertsteuer) ansetzen.203 Weist das Gutachten den Nettobetrag nicht aus, muss geklärt werden, ob Kfz von der Art des Unfallwagens üblicherweise nach § 10 UStG regelbesteuert, nach § 25a UStG differenzbesteuert oder umsatzsteuerfrei von Privat angeboten werden.204 Der Tatrichter darf sich dabei an der überwiegenden Wahrscheinlichkeit orientieren, mit der das Fahrzeug auf dem Gebrauchtwagenmarkt gehandelt wird (§ 287 ZPO).205 Die Mehrwertsteuer ist vom vollen, nicht um den Restwert gekürzten Wiederbeschaffungswert abzuziehen.206 Nebenkosten der tatsächlich getätigten Ersatzbeschaffung kann der Geschädigte nicht zusätzlich zum fiktiven Wiederbeschaffungsaufwand beanspruchen.207

c) Restwert 27.71

Der Restwert des Unfallfahrzeugs ist von den Wiederbeschaffungskosten abzuziehen, da er dem Geschädigten als Vermögenswert verbleibt (vgl. Rz. 26.15). Für seine Bemessung kann grundsätzlich vom Gutachten eines Sachverständigen ausgegangen werden.208 Anderes gilt 199 BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 363/11, NJW 2013, 1151 mit Anm. Seibel. 200 BGH v. 7.6.2005 – VI ZR 192/04, NZV 2005, 453, 454 mit Bespr. v. Ch. Huber JR 2006, 426. 201 Nachw. in BGH v. 7.6.2005 – VI ZR 192/04, NZV 2005, 453, 454. Vgl. auch Empfehlungen des VGT in NZV 1990, 103 u. 2002, 77. 202 BGH v. 23.5.2017 – VI ZR 9/17, VersR 2017, 1089. 203 BGH v. 2.10.2018 – VI ZR 40/18, NJW-RR 2019, 144; BGH v. 22.9.2009 – VI ZR 312/08, NJW 2009, 3713; BGH v. 20.4.2004 – VI ZR 109/03, BGHZ 158, 388, 392 = NZV 2004, 341, 342 mit Bespr. von Unterreitmeier NZV 2004, 329; BGH v. 18.5.2004 – VI ZR 267/03, NZV 2004, 395. 204 Vgl. hierzu OLG Köln v. 5.12.2003 – 19 U 85/03, NZV 2004, 297; Tomson NJW 2013, 3690; Heß NZV 2004, 6 mit Hinweis auf die Schwacke-Liste Regel- und Differenzbesteuerung; Heinrich NJW 2004, 1916 ff. mit Hinweis auf die BVSK-Richtlinie zum Wiederbeschaffungswert u. beiläufig BGH v. 20.4.2004 – VI ZR 109/03, BGHZ 158, 388, 393 f. Für Pauschalierung Schneider NZV 2003, 555 ff. 205 BGH v. 13.9.2016 – VI ZR 654/15, NJW 2017, 1310; BGH v. 9.5.2006 – VI ZR 225/05, NJW 2006, 2181. 206 Heß NZV 2004, 6; Lemcke r+s 2003, 441. 207 BGH v. 30.5.2006 – VI ZR 174/05, NJW 2006, 2320, 2321. 208 BGH v. 30.11.1999 – VI ZR 219/98, BGHZ 143, 189; BGH v. 21.1.1992 – VI ZR 142/91, NZV 1992, 147; 1993, 305; zu den Vorgehensmöglichkeiten des Geschädigten bei der Realisierung des Restwerts Pott NZV 2016, 562.

762 | Zwickel

III. Reaktionsmöglichkeiten und Ersatzansprüche beim Kfz-Schaden | Rz. 27.72 § 27

nur dann, wenn dem Geschädigten bei der Beauftragung des Sachverständigen ein (Auswahl-) Verschulden zur Last fällt oder für ihn aus sonstigen Gründen Anlass zu Misstrauen gegenüber dem Gutachten bestand209 oder wenn der Ersatzpflichtige ihm eine ohne weiteres zugängliche günstigere Verwertungsmöglichkeit nachgewiesen hat.210 Das Gutachten hat die dem Geschädigten ohne weiteres offen stehenden Verkaufswege, d.h. den allgemeinen regionalen Markt, zugrunde zu legen, nicht die auf einem Sondermarkt der Restwerteaufkäufer, bei Restwertebörsen im Internet211 oder auf internationalen Restwertmärkten212 erzielbaren Erlöse. Der Sachverständige hat i.d.R. drei Angebote auf dem maßgeblichen regionalen Markt zu ermitteln und diese im Gutachten auszuweisen.213 Eigene Marktforschung des Geschädigten bzw. ein Abwarten des Restwertangebots der Haftpflichtversicherung des Schädigers bzw. deren Rückmeldung vor Verkauf zum höchsten Restwert laut Gutachten sind grundsätzlich nicht erforderlich.214 Befasst sich das geschädigte Unternehmen aber jedenfalls auch mit dem An- und Verkauf gebrauchter Kfz, ist ihm die Nutzung des Restwertmarkts im Internet ausnahmsweise zuzumuten.215 Lässt der Geschädigte das Fahrzeug, unter Verzicht auf die Realisierung des Restwerts, verschrotten, um eine sog Umweltprämie („Abwrackprämie“) zu erlangen, ist diese nicht schadensmindernd anzurechnen.216 Wenn der Geschädigte infolge besonderer Anstrengungen einen über dem objektiven Restwert liegenden Erlös erzielt, kommt dies nicht dem Schädiger zugute.217 Kann der Schädiger aber den Nachweis führen, dass der Geschädigte ohne überobligationsmäßige Anstrengungen einen höheren als den vom Sachverständigen geschätzten Erlös erzielt hat, so kann er ihn an dem tatsächlichen Erlös festhalten.218 Dabei ist der Verkauf auf einem Sondermarkt für Restwerteaufkäufer im Internet nicht überobligationsmäßig, d.h. der dort erzielte Erlös anzuset-

209 BGH v. 6.4.1993 – VI ZR 181/92, VersR 1993, 769. 210 BGH v. 30.11.1999 – VI ZR 219/98, BGHZ 143, 189. 211 BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 132/04, NZV 2005, 571; BGH v. 6.3.2007 – VI ZR 120/06, NJW 2007, 1674; BGH v. 13.1.2009 – VI ZR 205/08, NJW 2009, 1265; BGH v. 13.10.2009 – VI ZR 318/08, NJW 2010, 605; BGH v. 1.6.2010 – VI ZR 316/09, NJW 2010, 2722; BGH v. 15.6.2010 – VI ZR 232/09, NJW 2010, 2724; Ch. Huber NJW 2007, 1625; a.A. LG Koblenz v. 7.4.2003 – 6 S 432/01, VersR 2003, 1050 mit zust. Anm. Trost. Zu den Anforderungen an das Gutachten s. auch Lemcke r+s 2002, 267; Hopfner MDR 2002, 801 ff.; Trost VersR 2002, 800 ff.; Ch. Huber DAR 2002, 385 ff.; Gebhardt DAR 2002, 401 (je mit Nachweis zum Meinungsstand im Schrifttum sowie zu den tatsächlichen Verhältnissen im Sachverständigenbereich) und Empfehlung des 40. VGT, NZV 2002, 77. 212 LG Stuttgart v. 14.8.2019 – 4 S 76/19, DAR 2019, 627. 213 BGH v. 13.10.2009 – VI ZR 318/08, NJW 2010, 605. 214 BGH v. 27.9.2016 – VI ZR 673/15, NZV 2017, 174 mit Anm. Ch. Huber NZV 2017, 153; AG Kulmbach v. 8.5.2014 – 70 C 678/13, DAR 2014, 473; a.A: OLG Köln v. 16.7.2012 – 13 U 80/12, DAR 2013, 32; LG Saarbrücken v. 3.7.2015 – 13 S 26/15, VersR 2016, 1457 (verzögerte Weiterleitung des Gutachtens). 215 BGH v. 25.6.2019 – VI ZR 358/18, VersR 2019, 1235. 216 Steiner VersR 2010, 1156; Buck NZV 2010, 122; Kappus DAR 2009, 170; a.A. für zum Unfallzeitpunkt bereits bewilligte Prämien: Voit/Geck NJW 2010, 117. 217 BGH v. 7.12.2004 – VI ZR 119/04, NZV 2005, 140; BGH v. 5.3.1985 – VI ZR 204/83, VersR 1985, 593, 595; Müller-Laube JZ 1991, 168. Zum „versteckten Rabatt“ bei Inzahlungnahme s. OLG Köln v. 16.7.1993 – 19 U 243/92, VersR 1993, 1290. 218 BGH v. 7.12.2004 – VI ZR 119/04, NZV 2005, 140; BGH v. 15.6.2010 – VI ZR 232/09, NJW 2010, 2724.

Zwickel | 763

27.72

§ 27 Rz. 27.72 | Reparabler Sachschaden

zen; dass der Geschädigte nicht verpflichtet war, sich auf diesen Sondermarkt zu begeben (s. Rz. 27.74), ändert daran nichts.219

27.73

Einen höheren als den tatsächlich erzielten Restwert kann der Schädiger nur in Abzug bringen, wenn er einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht beweist.220 Dies gilt auch bei fiktiver Schadensabrechnung.221 Die Anforderungen an den Geschädigten dürfen dabei nicht überspannt werden.

27.74

Ihm kann z.B. in aller Regel nicht entgegengehalten werden, dass er auf dem Sondermarkt spezieller Restwerteaufkäufer einen höheren Preis hätte erzielen können.222 Nur der ihm ohne besondere Anstrengungen zugängliche Markt kann den Maßstab liefern.223 Eine Verpflichtung, das beschädigte Fahrzeug zu zerlegen, um die unbeschädigten Teile einzeln günstiger verkaufen zu können, besteht für ihn nicht.224 Der Geschädigte ist auch nicht verpflichtet, den gegnerischen Haftpflichtversicherer in die Verwertung einzuschalten,225 insbesondere ihm vor einer Veräußerung des Unfallfahrzeugs Gelegenheit zu geben, zur Höhe des Restwerts Stellung zu nehmen und ggf. ein höheres Angebot zu unterbreiten.226 Lediglich ein konkretes Besichtigungsverlangen darf er – wie auch sonst227 – nicht grundlos vereiteln. Hat der Haftpflichtversicherer bereits ein konkretes Ankaufsangebot vermittelt, darf der Geschädigte es nicht ohne Grund ausschlagen.228 Ferner kann es die Schadensminderungspflicht verletzen, wenn z.B. die Bundeswehr die Veräußerung – zu einem niedrigeren Erlös – einer Verwertungsgesellschaft überträgt.229

4. Restitutionsverzicht a) Reparatur oder Ersatzbeschaffung 27.75

Auch wenn der Geschädigte auf Reparatur oder Ersatzbeschaffung verzichtet, also das Unfallfahrzeug unrepariert weiterbenutzt oder ohne Anschaffung eines zumindest gleichwertigen Ersatzfahrzeugs verschrottet, verschenkt oder verkauft, kann er nach der Rspr. infolge seiner Dispositionsfreiheit Schadensersatz nach § 249 Abs. 2 BGB beanspruchen.230 Der „erforderliche“ Geldbetrag ist dann im Wege einer fiktiven Abrechnung zu ermitteln, d.h. aufgrund des Schätzgutachtens eines anerkannten Kfz-Sachverständigen, sofern es „hinreichend ausführlich 219 220 221 222 223 224 225

226 227 228 229 230

BGH v. 7.12.2004 – VI ZR 119/04, NZV 2005, 140. BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 132/04, NZV 2005, 571; krit. dazu Staab NZV 2006, 456 ff. BGH v. 30.5.2006 – VI ZR 174/05, NJW 2006, 2320; krit. dazu Staab VersR 2007, 925 ff. BGH v. 30.11.1999 – VI ZR 219/98, BGHZ 143, 189, 193; BGH v. 6.4.1993 – VI ZR 181/92, VersR 1993, 769 mit abl. Anm. Dornwald VersR 1993, 1075; Harneit DAR 1994, 93 ff. BGH v. 21.1.1992 – VI ZR 142/91, VersR 1992, 457; Steffen NZV 1991, 4. BGH v. 26.3.1985 – VI ZR 267/83, VersR 1985, 736. LG Bielefeld v. 7.11.1989 – 18 S 269/89, NZV 1990, 195; LG Hanau v. 27.8.1991 – 2 S 126/91, NJW-RR 1992, 92; Fleischmann ZfS 1989, 4; Kempgens NZV 1992, 307; Harneit DAR 1994, 93; a.A. LG Hagen v. 15.2.1990 – 10 S 517/89, ZfS 1990, 155; LG Aachen v. 15.11.1989 – 7 S 260/89, ZfS 1990, 7; AG München v. 27.10.1992 – 332 C 6786/92, NZV 1993, 116. BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 132/04, NZV 2005, 571; Kääb NZV 1993, 467 f.; Ch. Huber DAR 2002, 390 ff. Vgl. BGH v. 11.10.1983 – VI ZR 251/81, VersR 1984, 79, 80. BGH v. 1.6.2010 – VI ZR 316/09, NJW 2010, 2722, 2724; BGH v. 30.11.1999 – VI ZR 219/98, BGHZ 143, 189; Marcelli NZV 1992, 433; 40. VGT, NZV 2002, 77. LG Limburg v. 30.3.1988 – 3 S 271/87, NZV 1989, 194. Nachweis und Gegenansicht (Anwendbarkeit des § 251 BGB bei Unmöglichwerden der Herstellung) in Rz. 27.5.

764 | Zwickel

IV. Wertminderung oder -steigerung durch die Reparatur | Rz. 27.78 § 27

ist und das Bemühen erkennen lässt, dem konkreten Schadensfall vom Standpunkt eines wirtschaftlich denkenden Betrachters gerecht zu werden“.231 Dasselbe gilt, wenn der Geschädigte keine Angaben über den Verbleib des Unfallwagens macht: Seine Klage ist dann nur schlüssig, wenn die Forderung nach den nachstehenden Grundsätzen berechnet wird. Der Geschädigte kann in diesen Fällen nur nach der wirtschaftlichsten Methode abrechnen (s. Rz. 27.35 ff.):232 Fiktive Reparaturkosten erhält er nur, soweit sie zusammen mit dem merkantilen Minderwert den geschätzten Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzgl. Restwert) nicht übersteigen;233 dabei wird von einem Abzug des Restwerts aber abgesehen, wenn das Fahrzeug mindestens sechs Monate weiterbenutzt wird.234 Umsatzsteuer kann nach § 249 Abs. 2 S. 2 BGB nicht in die Abrechnung eingestellt werden.235 Allgemeine Kostenfaktoren wie Sozialabgaben und Lohnnebenkosten schließt § 249 Abs. 2 S. 2 BGB gerade nicht aus. Sie sind auch im Rahmen der fiktiven Abrechnung ersatzfähig.236

27.76

b) Nachträglicher Entschluss zur Restitution Zeigt sich bei nachträglichem Entschluss zur Restitution, dass die Schätzkosten fehlerhaft zu hoch angesetzt waren, muss der Geschädigte sie zurückzahlen (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB; bei Vorsatz § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB). Erweisen sich die tatsächlichen Kosten als höher oder fällt aufgrund der späteren Disposition nachträglich Umsatzsteuer an,237 kann er Nachforderungen stellen, sofern sein Verhalten bei der Schadensabrechnung – entgegen dem üblicherweise zu Erwartenden238 – nicht als endgültige Festlegung auf die fiktive Abrechnung zu verstehen ist.239

27.77

IV. Wertminderung oder -steigerung durch die Reparatur 1. Technischer Minderwert Aus § 254 Abs. 2 BGB kann sich im Einzelfall die Verpflichtung des Geschädigten ergeben, sich mit einer mangelhaften Reparatur zufriedenzugeben, weil eine einwandfreie Reparatur unverhältnismäßig mehr kosten würde; insbesondere kann, wenn nur ein Teil der Karosserie beschädigt worden ist, eine Ganzlackierung des Kfz nur in Ausnahmefällen verlangt werden. Es kann dann eine durch die erkennbare Ungleichmäßigkeit des Äußeren verursachte Wert231 BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, NZV 1989, 465 mit Anm. Hofmann. 232 BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 239, 248. 233 BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364, 373 = NZV 1992, 66, 68 mit Anm. Lipp; BGH v. 5.3.1985 – VI ZR 204/83, VersR 1985, 593, 595. 234 BGH v. 29.4.2008 – VI ZR 220/07, NJW 2008, 1941; BGH v. 23.5.2006 – VI ZR 192/05, NJW 2006, 2179 = NZV 2006, 459 mit Anm. Heß. 235 Zum ggf. erforderlichen Herausrechnen des üblichen Steuersatzes s. BGH v. 9.5.2006 – VI ZR 225/05, NJW 2006, 2181 = NZV 2006, 462 mit Anm. Ch. Huber NZV 2006, 576. 236 BGH v. 19.2.2013 – VI ZR 69/12, NJW 2013, 1732. 237 Hierzu Lemcke r+s 2002, 272 (Nachforderungsrecht verneinend). 238 Vgl. BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 239, 246; in anderem Zusammenhang (Mietwagenkosten) auch BGH v. 15.7.2003 – VI ZR 361/02, NZV 2003, 569, 570. BGH v. 17.10.2006 – VI ZR 249/05, NJW 2007, 67, 69 verlangt hierzu konkrete Feststellungen u. empfiehlt Hinwirken auf entspr. Erklärungen. 239 BGH v. 17.10.2006 – VI ZR 249/05, JZ 2007, 637 mit Nachw. zum früheren Meinungsstreit u. Anm. Ch. Huber; BGH v. 15.11.2011 – VI ZR 30/11, NJW 2012, 52.

Zwickel | 765

27.78

§ 27 Rz. 27.78 | Reparabler Sachschaden

minderung verbleiben.240 Nach § 249 BGB hat der Verletzte aber ein Recht auf völlige Wiederherstellung, so dass er in solchen Fällen wenigstens die verbliebene Wertminderung, die auch im gesunkenen Verkaufswert des Kraftfahrzeugs ihren Niederschlag findet, ersetzt verlangen kann.241 Beim heutigen Stand der Reparaturtechnik wird eine Entschädigung für technischen Minderwert aber nur selten erforderlich sein.242

2. Merkantiler Minderwert a) Allgemeines 27.79

Bei Gütern, für die (wie bei Kfz) ein Gebrauchtwagenmarkt besteht,243 schlägt sich der Umstand, dass sie bei einem Unfall erheblich beschädigt wurden, selbst bei einwandfreier Reparatur – auch in den sog. 130 % – Fällen244 (s. Rz. 27.63) –wertmindernd nieder, weil wegen des Verdachts verborgen gebliebener Schäden eine Abneigung gegen den Erwerb besteht.245 Dies zeigt sich beim Verkauf, wo der Umstand des früheren Unfalls ggf. zu offenbaren ist246 und i.d.R. zu einer niedrigeren Bewertung führt. Diese nach Ansicht des BGH als unmittelbarer Sachschaden zu qualifizierende247 und daher von der Kaskoversicherung umfasste248 Wertminderung ist vom Schädiger zu ersetzen, und zwar auch dann, wenn die Unfallreparatur sich auf die Benutzung des Kfz nicht risikoerhöhend ausgewirkt hat,249 und unabhängig davon, ob sich der Minderwert tatsächlich bei einem Verkauf realisiert oder der Geschädigte etwa das Kfz bis zur Schrottreife behält.250 Der Geschädigte kann daher sogleich vollen Ersatz der Wertminderung verlangen und ist nicht etwa auf die Erhebung einer Feststellungsklage beschränkt.251 Grundlage ist § 251 Abs. 1 BGB, denn eine Wiederherstellung ist in Bezug auf die Wertminderung nicht möglich.252 Der Anspruch besteht demnach unabhängig davon, ob die Reparatur durchgeführt oder fiktiv abgerechnet wird.253

240 Nicht anzuerkennen bei älteren Fahrzeugen; OLG Frankfurt v. 14.10.1976 – 16 U 68/75, VersR 1978, 378. 241 OLG Stuttgart VersR 1961, 912. 242 Berger VW 1993, 762 u. 828. 243 Nach OLG Hamm v. 13.1.1998 – 9 U 131/96, VersR 2000, 732, 733 f. auch bei Pferden. Zur Kontaminierung eines Grundstücks s. OLG Koblenz v. 13.7.1998 – 12 U 1003/97, OLGR Koblenz 1999, 178, zu Besonderheiten bei Luxus-Sportwagen OLG Jena v. 28.4.2004 – 3 U 221/03, NZV 2004, 476, 477 f. 244 LG Saarbrücken v. 9.1.2015 – 13 S 166/14, NZV 2015, 551. 245 BGH v. 23.11.2004 – VI ZR 357/03, BGHZ 161, 151, 159; a.A. Wilk Der merkantile Minderwert 2019, S. 67, der für das Erfordernis eines physischen Schadensrests eintritt. 246 Vgl. hierzu BGH v. 3.3.1982 – VIII ZR 78/81, NJW 1982, 1386 m.w.N. 247 BGH v. 23.11.2004 – VI ZR 357/03, BGHZ 161, 151, 159. 248 BGH v. 8.12.1981 – VI ZR 153/80, BGHZ 82, 338; eingehend dazu v. Gerlach DAR 2003, 52 f. 249 A.A. für Nutzfahrzeug: BGH v. 18.9.1979 – VI ZR 16/79, VersR 1980, 46. 250 BGH v. 3.10.1961 – VI ZR 238/60, BGHZ 35, 396; v. Gerlach DAR 2003, 51; Vuia NJW 2012, 3057, 3058 (Gefahr unerkannter Spätschäden). Krit. angesichts der Fortschritte der Reparaturtechnik Staudinger/Schiemann § 251 Rz. 37; Lange/Schiemann § 6 VI 1; Palandt/Grüneberg § 251 Rz. 14; a.A. für den Verkauf eines totalbeschädigten Fahrzeugs ohne vorherige Reparatur LG Duisburg v. 17.4.2014 – 12 S 153/13, SVR 2015, 29 mit Anm. Balke. 251 BGH v. 3.10.1961 – VI ZR 238/60, BGHZ 35, 396; BGH v. 18.9.1979 – VI ZR 16/79, VersR 1980, 46; a.A. noch BGH v. 29.4.1958 – VI ZR 82/57, BGHZ 27, 181. 252 BGH v. 8.12.1981 – VI ZR 153/80, BGHZ 82, 338, 345; v. Gerlach, DAR 2003, 51. 253 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 53; Lange/Schiemann § 6 VI 3; Vuia NJW 2012, 3057; Vater SVR 2016, 211.

766 | Zwickel

IV. Wertminderung oder -steigerung durch die Reparatur | Rz. 27.82 § 27

b) Höhe des Minderwerts Die Höhe des Minderwerts ist aufgrund des Zeitwerts der beschädigten Sache sowie Art und Ausmaß der Reparatur nach § 287 ZPO zu ermitteln. Es handelt sich um einen Wertausgleich, für den Fragen der Umsatzsteuerpflicht und der Vorsteuerabzugsberechtigung ohne Bedeutung sind.254 In der Praxis sind für die Bemessung des merkantilen Minderwerts die vom BGH255 als taugliche Berechnungsgrundlagen anerkannten Schätzungsmethoden von Ruhkopf/Sahm256 und Halbgewachs257 verbreitet.258 Zeisberger/Woyte/Schmidt/Mennicken259 halten diese Methoden, v.a. wegen der ihnen immanenten Beschränkungen des merkantilen Minderwerts für ältere Fahrzeuge und für Bagatellschäden für veraltet. Mit der Marktrelevanz- und Faktorenmethode schlagen sie ein zweistufiges Vorgehen mit einer Prüfung der Voraussetzung für merkantilen Minderwert (Stufe 1) und einer Bestimmung der Höhe (Stufe 2) vor.

27.80

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Berechnung des Minderwerts ist der des Unfalls,260 denn durch ihn, nicht durch die Reparatur, kommt es zu dem Wertverlust.

c) Bereits verkaufter Unfallwagen War der Unfallwagen zum Zeitpunkt des Unfalls bereits verkauft, kann merkantiler Minderwert neben dem Anspruch auf Ersatz eines besonderen Veräußerungsgewinns (Rz. 30.8) verlangt werden.261 Wurde er nach der Reparatur veräußert, kann der Verkaufserlös einen Anhaltspunkt für die Höhe der Wertminderung bieten; er legt sie aber nicht bindend fest, da es nicht auf den tatsächlich erzielten, sondern auf den erzielbaren Erlös ankommt.262 Rechnet der Geschädigte fiktive Reparaturkosten ab (z.B. weil er das beschädigte Fahrzeug in Zahlung gegeben hat), so ist der Minderwert bei der gebotenen Wirtschaftlichkeitsberechnung zu berücksichtigen (vgl. Rz. 27.76).

27.81

d) Ausschlüsse Bei geringfügigen Reparaturen kommt ein merkantiler Minderwert grundsätzlich nicht in Betracht. Wo die Bagatellgrenze liegt, ist streitig. Als Faustformel kann gelten, dass die Re-

254 255 256 257 258

259 260

261 262

Ch. Huber Der Kfz-Sachverständige 2006, 21; a.A. Freyberger NZV 2000, 290 f. BGH v. 18.9.1979 – VI ZR 16/79, NJW 1980, 281. Ruhkopf/Sahm VersR 1962, 593. Zeisberger/Neugebauer-Püster Der merkantile Minderwert, 13. Aufl. 2003 (zur Methode Halbgewachs). Vgl. zu den (weiteren) verschiedenen Berechnungsmethoden Jaeger NZV 2017, 297; BVSK http://www.bvsk.de/fileadmin/download/RL-WM.pdf (14.5.2019); Splitter DAR 2000, 49; Hörl ZfS 1991, 145; 13. VGT (1975) 8; Nölke/Nölke DAR 1972, 321; Ruhkopf/Sahm VersR 1962, 593; HW Schmidt DAR 1966, 230; Schlund BB 1976, 908. Zeisberger/Woyte/Schmidt/Mennicken Der merkantile Minderwert, 14. Aufl. 2012 (zur Marktrelevanz- und Faktorenmethode). Zeisberger/Neugebauer-Püster Der merkantile Minderwert, 13. Aufl. 2003, S. 27 f.; Vuia NJW 2012, 3057, 3060; a.A. BGH v. 2.12.1966 – VI ZR 72/65, VersR 1967, 183; MünchKomm-BGB/ Oetker § 249 Rz. 58 (Beendigung der Reparatur); OLG Stuttgart VersR 1961, 912 (letzte mündliche Verhandlung). OLG Saarbrücken v. 20.3.1992 – 3 U 101/91, NZV 1992, 317 mit zust. Anm. Lange. Lange NZV 1992, 318; OLG Karlsruhe v. 19.12.1980 – 10 U 106/80, VersR 1981, 886.

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27.82

§ 27 Rz. 27.82 | Reparabler Sachschaden

paraturkosten nicht unter ca. 10 % des Zeitwerts des Kfz liegen dürfen.263 Müsste bei einem Verkauf des Fahrzeugs nicht offenbart werden, dass es sich um ein Unfallfahrzeug handelt,264 scheidet ein merkantiler Minderwert in aller Regel aus.265 Bei älteren Fahrzeugen kann die Unfallfreiheit infolge des allgemeinen Wertverlustes ihre Marktbedeutung verlieren; wenn dies der Fall ist – feste Alters- oder Laufleistungsgrenzen können hierfür nicht gesetzt werden – ist ein merkantiler Minderwert zu verneinen.266 Ein bereits erheblich vorgeschädigtes Kfz wird durch einen weiteren Schaden i.d.R. nicht weiter in seinem merkantilen Wert gemindert.267 Bei Nutzfahrzeugen (z.B. Lkw) ist eine merkantile Wertminderung zwar nicht generell ausgeschlossen; allerdings wird das Vorliegen eines reparierten Unfallschadens dort i.d.R. nicht so sehr ins Gewicht fallen und die Berechnung sich noch weniger als bei Pkw schematisieren lassen.268 Bei Spezialfahrzeugen, für die praktisch kein Gebrauchtwagenmarkt besteht (z.B. Militär- oder Polizeifahrzeuge) scheidet eine merkantile Wertminderung aus,269 ebenso bei sonstigen Sachen, die gebraucht nicht gehandelt werden.270

e) Steuerersparnisse 27.83

Steuerersparnisse durch die Möglichkeit, die Wertminderung eines betrieblich genutzten Kfz gem § 7 EStG abzuschreiben,271 mindern den Anspruch auf Ersatz des merkantilen Minderwerts nicht.272 Bei Beschädigung des Privat-Pkw eines Arbeitnehmers auf einer beruflichen Fahrt kann der merkantile Minderwert nicht als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt werden.273

263 OLG Köln v. 2.10.1972 – 12 U 28/72, DAR 1973, 71; KG v. 13.1.1975 – 12 U 2107/74, VersR 1975, 664; Ruhkopf/Sahm VersR 1962, 593; krit. Vuia NJW 2012, 3057, 3059; Ladenburger DAR 2001, 295; Eggert VersR 2004, 283 ff.; für differenzierende Betrachtung auch Zeisberger/Neugebauer-Püster Der merkantile Minderwert, 13. Aufl. 2003, S. 27 sowie MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 55; s. auch AG Essen v. 16.5.1988 – 12 C 517/87, NZV 1988, 229 für sehr teure Kfz. 264 BGH v. 10.10.2007 – VIII ZR 330/06, NJW 2008, 53. 265 Vuia NJW 2012, 3057, 3059. 266 BGH v. 23.11.2004 – VI ZR 357/03, BGHZ 161, 151, 160 f mit Nachw. zur älteren Rspr., die aufgrund der technischen Entwicklung weitgehend überholt ist; OLG Oldenburg v. 1.3.2007 – 19 U 29/07, NZV 2008, 158. Zum merkantilen Minderwert bei älteren Fahrzeugen s. Halbgewachs NZV 2008, 125. 267 OLG Celle v. 22.3.1973 – 5 U 154/72, VersR 1973, 717; Schlund BB 1976, 908. 268 BGH v. 18.9.1979 – VI ZR 16/79, VersR 1980, 46; Hufnagel NZV 2010, 235; Darkow DAR 1977, 62; Schlund BB 1976, 910; Lange NZV 1995, 318; Zeisberger/Neugebauer-Püster Der merkantile Minderwert, 13. Aufl. 2003, S. 14 ff.; zum merkantilen Minderwert bei den verschiedenen Fahrzeugarten Balke SVR 2014, 371. 269 OLG Köln v. 25.4.1974 – 12 U 146/73, VersR 1974, 761 (Straßenbahn); KG v. 15.6.1978 – 12 U 490/78, VersR 1979, 260 (Krankenwagen); OLG Schleswig v. 22.2.1979 – 9 U 115/78, VersR 1979, 1037 (Militärfahrzeug, hierzu Riecker VersR 1981, 517); a.A. AG Dortmund v. 28.6.2017 – 426 C 2022/16, SVR 2017, 431 (Polizeifahrzeug); v. Gerlach DAR 2003, 54; offen gelassen von BGH v. 18.9.1979 – VI ZR 16/79, VersR 1980, 46. 270 KG v. 17.11.1977 – 12 U 1534/77, VersR 1978, 524: Straßenbaum. Dagegen stellt v. Gerlach, DAR 2003, 54 f. darauf ab, ob eine typische Gefahr verborgener Mängel besteht. 271 Dagegen Seitrich BB 1990, 1748 mit umfassender Wiedergabe des Meinungsstands. 272 BGH v. 18.9.1979 – VI ZR 16/79, VersR 1980, 46. 273 BFH v. 31.1.1992 – VI R 57/88, NJW 1992, 1910.

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IV. Wertminderung oder -steigerung durch die Reparatur | Rz. 27.86 § 27

3. Wertsteigerung a) Abzug Ein Abzug „neu für alt“ ist geboten, wenn durch die Reparatur der Gesamtwert der Sache erheblich erhöht wurde und es unbillig erschiene, diesen Vorteil dem Geschädigten auf Kosten des Schädigers zukommen zu lassen.274 Der Einbau neuer Teile in ein Kfz rechtfertigt einen Abzug aber i.d.R. nicht, wenn es sich um Teile handelt, die normalerweise die Lebensdauer des Kfz erreichen.275 War das ausgetauschte Teil dagegen zum Unfallzeitpunkt schon erheblich abgenutzt, so tritt durch den Einbau des neuen eine anzurechnende Wertsteigerung ein.276

27.84

Der rechtfertigende Grund für diesen Abzug liegt darin, dass der Schädiger an sich nur Wiederherstellung des vorigen Zustands schuldet. Wird nunmehr ein neues Teil eingebaut, weil der Einbau eines entsprechend abgenutzten Gebrauchtteils nicht möglich oder nicht wirtschaftlich wäre, so leistet der Schädiger bei voller Kostentragung mehr als er schuldet. Führt dies zu einem Vermögensvorteil für den Geschädigten – was insbesondere dann der Fall ist, wenn er das betreffende Teil in absehbarer Zeit ohnehin austauschen müsste –, so muss es schon nach der Differenzhypothese zu dessen Anrechnung kommen. Beim Austausch langlebiger Teile hingegen wird dem Geschädigten der Austausch gleichsam aufgedrängt, so dass – bei normativer Wertung – nicht von einem auszugleichenden Vermögensvorteil gesprochen werden kann. Zur Verwendung gebrauchter Ersatzteile s. Rz. 27.46. Soweit ein Abzug in Betracht kommt, ist er sogleich, nicht etwa erst im Falle einer Aufdeckung der Werterhöhung durch Verkauf, geschuldet.277

27.85

b) Beschädigung vorbeschädigter Sachen Bei Beschädigung vorbeschädigter Sachen schuldet der Ersatzpflichtige i.d.R. nicht die vollen Wiederherstellungskosten. Der Geschädigte trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Unfallbedingtheit des geltend gemachten Schadens.278 War die Sache bereits so beschädigt, dass durch den neuen Unfall keine zusätzliche Vermögenseinbuße mehr entstehen konnte oder ist der Geschädigte nicht in der Lage, die Behebung konkreter Vorschäden durch konkret bezeichnete Reparaturmaßnahmen darzulegen und zu beweisen279 bzw. verschweigt er

274 Ausführlich, auch zur Höhe des Abzugs Lange/Schiemann § 6 V 3, 4. Zum Abzug bei Beschädigung einer Lichtzeichenanlage OLG Celle v. 5.12.2002 – 14 U 93/02, OLGR Celle 2003, 60. 275 KG v. 5.11.1970 – 12 U 724/70, NJW 1971, 142, 144; OLG Karlsruhe v. 26.5.1989 – 10 U 318/ 88, VersR 1989, 925 (Batterie). 276 BGH v. 24.3.1959 – VI ZR 90/58, BGHZ 30, 29. 277 So aber Pamer DAR 2000, 154 f.; tendenziell auch Lange/Schiemann § 6 V 3. 278 BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 215/91, NJW-RR 1992, 1214; OLG Düsseldorf v. 7.3.2017 – 1 U 31/ 16, VersR 2017, 1032; OLG Celle v. 19.5.2017 – 14 U 40/17, SVR 2017, 424; KG v. 31.7.2008 – 12 U 137/08, NZV 2009, 345; KG v. 11.10.2007 – 12 U 46/07, NJW 2008, 1006; OLG Köln v. 5.2.1996 – 16 U 54/95, NZV 1996, 241; LG Hagen v. 27.8.2012 – 2 O 93/12, NZV 2013, 291. Zu den diesbezüglich zu stellenden Anforderungen vgl. OLG Celle v. 19.5.2017 – 14 U 40/17, SVR 2017, 424; OLG Düsseldorf v. 11.2.2008 – 1 U 181/07, NZV 2008, 295 u. Schauseil VersR 2009, 1336. 279 OLG Köln v. 17.1.2017 – 11 W 1/17, NZV 2018, 273; KG v. 29.5.2012 – 22 U 191/11, DAR 2013, 464; KG v. 26.4.2007 – 12 U 76/07, NZV 2007, 521; OLG Düsseldorf v. 27.4.1987 – 1 U 79/86, VersR 1988, 1191; KG v. 27.2.1989 – 12 U 2732/88, VersR 1989, 713; OLG Köln v. 5.2.1996 – 16 U 54/95, NZV 1996, 241; LG Hagen v. 27.8.2012 – 2 O 93/12, NZV 2013, 291; LG Dortmund

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27.86

§ 27 Rz. 27.86 | Reparabler Sachschaden

die Vorschäden,280 so entfällt eine Ersatzpflicht völlig. Dies kommt auch bei unmittelbar aufeinanderfolgenden Schadensereignissen (etwa beim Serienunfall) in Betracht.281 Behauptet der Geschädigte aber, das Kfz in unbeschädigtem Zustand erworben zu haben und von einem evtl. Vorschaden keine Kenntnis zu haben, kann er die von ihm nur vermutete fachgerechte Reparatur unter Zeugenbeweis stellen.282 § 287 ZPO ermöglicht in Zweifelsfällen eine Schätzung des Zusatzschadens (s. hierzu Rz. 41.51 f.).

27.87

Handelt es sich um einen ganz geringfügigen Vorschaden, der den Wert der Sache nicht merkbar beeinträchtigte und vom Geschädigten als nicht behebungsbedürftig hingenommen worden war, so ist vom Zweitschädiger voller Kostenersatz zu verlangen, wenn durch seinen Schadensbeitrag nunmehr die Reparatur erforderlich wurde; ggf. kommt ein Abzug „neu für alt“ in Betracht283 (vgl. Rz. 27.84 f.; für Schäden an Bauwerken Rz. 27.92 f.).

27.88

Ist (etwa beim Serienunfall) ein Schädiger nur für einen Teil des Schadens verantwortlich, führt dies aber zusammen mit vorangegangenen Schädigungen zum wirtschaftlichen Totalschaden (Rz. 27.10 f.), so ist zwar nach Totalschadensgrundsätzen abzurechnen; als Wiederbeschaffungswert ist aber der des vorbeschädigten Unfallfahrzeugs (i.d.R. Marktwert abzgl. Reparaturkosten vor der letzten Schädigung) anzusetzen.284

27.89

Eine je nach den Umständen entsprechend der Billigkeit zu bemessende Teilerstattung ist schließlich in den Fällen vorzunehmen, in denen der Unfall an einer vorbeschädigten Sache einen weiteren Schaden verursacht, dessen Behebung nur zusammen mit dem Vorschaden möglich oder sinnvoll ist.285 Zu einer gesamtschuldnerischen Haftung kann es in diesen Fällen nicht kommen.286 Ein Recht des Versicherers auf Nachbesichtigung wird man zwar, auch bei vermuteten Vorschäden, nicht annehmen können, wenn der Geschädigte vollumfänglich zum (früheren) Reparaturumfang vorgetragen hat.287 Es spricht aber in aller Regel nichts gegen eine solche erneute Besichtigung. Sie sollte daher ermöglicht werden.288

V. Sonderfälle 1. Leasingfahrzeuge a) Wirtschaftlicher Totalschaden 27.90

Bei wirtschaftlichem Totalschaden gelten die in Rz. 26.28 f, dargestellten Grundsätze. Ein auch zu unverhältnismäßig teuren Reparaturen berechtigendes Integritätsinteresse i.S.d. in

280 281 282 283 284 285 286 287 288

v. 15.2.2012 – 2 O 214/11, NJW-RR 2012, 1121; LG Hamburg v. 28.2.2019 – 323 O 188/17, NZV 2019, 427; AG Rendsburg v. 31.1.2019 – 41 C 254/17, SVR 2019, 429. OLG Saarbrücken v. 18.7.2019 – 4 U 102/17, NJW-RR 2019, 1508; LG Münster v. 23.4.2014 – 2 O 462/11, NJW-RR 2014, 1498. Vgl. Greger NZV 1989, 59. BGH v. 15.10.2019 – VI ZR 377/18, NJW 2020, 393. LG Saarbrücken v. 2.5.2014 – 13 S 198/13, NZV 2015, 83. Greger NZV 1995, 489; unklar OLG Düsseldorf v. 12.6.1995 – 1 U 145/94, NZV 1995, 487 f. OLG Saarbrücken v. 28.2.2019 – 4 U 56/18, VersR 2019, 561. So aber Schopp VersR 1990, 835; dagegen Klimke VersR 1990, 1333. Gutt DAR 2017, 174. MünchKomm-StVR/Almeroth § 249 BGB Rz. 364; a.A. Gutt DAR 2017, 174.

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V. Sonderfälle | Rz. 27.92 § 27

Rz. 27.21 ff. dargestellten Rspr. sollte bei Leasingfahrzeugen auch dann nicht anerkannt werden, wenn es nicht zur Beendigung des Vertrags289 kommt, weil der Substanzerhalt hier typischerweise von untergeordneter Bedeutung ist;290 hier ist bei Unwirtschaftlichkeit der Reparatur stets auf Totalschadensbasis abzurechnen.

b) Teilbeschädigung Bei Teilbeschädigung steht der Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten im Grundsatz dem Leasinggeber als Eigentümer zu. Im Leasingvertrag übernimmt jedoch üblicherweise der Leasingnehmer die Pflicht zur Behebung von Schäden am Kraftfahrzeug. Er kann die hierfür erforderlichen Kosten dann aufgrund der Verletzung seines Besitzrechts als sog Haftungsschaden (Rz. 30.7) vom Schädiger ersetzt verlangen.291 Ist er nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt, hat ihm der Schädiger auch die (tatsächlich angefallene; § 249 Abs. 2 S. 2 BGB) Mehrwertsteuer zu ersetzen.292 Auf die Vorsteuerabzugsberechtigung des Leasinggebers kommt es wegen der selbständigen Anspruchsberechtigung des Leasingnehmers nicht an.293 Eine eigene Schadensposition des Leasingnehmers stellen Einbauten dar, die er in das Leasingfahrzeug eingebracht hat.294 Den Ersatz des merkantilen Minderwerts kann entweder der Leasinggeber oder der Leasingnehmer beanspruchen.295 Hat der Leasingnehmer im Leasingvertrag die Pflicht übernommen, für unverzügliche Reparatur der Sache zu sorgen, ist ohne Zustimmung des Leasinggebers (§ 182 BGB) nicht befugt, die fiktive Abrechnung zu wählen.296

27.91

Zu den Ansprüchen auf Mietwagenkosten bzw. Nutzungsausfallentschädigung s. Rz. 28.9, Rz. 28.47, Rz. 28.54.

2. Gebäude, Gebäudeteile, Anpflanzungen, Grundstücke a) Gebäude Gebäude sind für die schadensrechtliche Abwicklung zusammen mit dem Grundstück als Einheit zu betrachten. Auch bei vollständiger Zerstörung eines Hauses kann daher grundsätzlich Wiederherstellung beansprucht werden,297 d.h. Ersatz des zum Wiederaufbau erforderlichen Betrags (§ 249 Abs. 2 BGB) minus Abzug „neu für alt“.298 Nur wenn die Wiederherstellung im Einzelfall als unmöglich angesehen werden muss, z.B. weil ein Neubau im Hinblick auf das hohe Alter des zerstörten Hauses in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht als aliud erschiene, kann Unmöglichkeit angenommen werden mit der Folge, dass gem. § 251 Abs. 1

289 290 291 292

293 294 295 296 297 298

Hierzu OLG Stuttgart SP 1999, 162. A.A. OLG München v. 1.12.1999 – 7 U 4239/99, DAR 2000, 121; Reinking DAR 1997, 425 ff. Hohloch NZV 1992, 7; Geigel/Katzenstein Kap. 3 Rz. 272. OLG Brandenburg v. 22.8.2019 – 12 U 11/19, NJW 2019, 3795; OLG München v. 26.4.2013 – 10 U 2879/12, NJW 2013, 3728; OLG Frankfurt v. 17.6.1997 – 10 U 122/96, NZV 1998, 31; LG München I v. 8.11.2001 – 19 S 9428/01, NZV 2002, 191; Lange/Schiemann § 6 XIV 5 g; Geigel/ Katzenstein Kap. 3 Rz. 273; a.A. OLG Stuttgart v. 16.11.2004 – 10 U 186/04, NZV 2005, 309. Wie hier Berz/Burmann/Schneider Kap. 5C Rz. 141; a.A. Geigel/Katzenstein Kap. 3 Rz. 273. OLG Brandenburg v. 17.9.2018 – 12 U 244/16, NJW-RR 2019, 542. Hohloch NZV 1992, 7. BGH v. 29.1.2019 – VI ZR 481/17, VersR 2019, 499. BGH v. 8.12.1987 – VI ZR 53/87, NJW 1988, 1836. BGH v. 25.10.1996 – V ZR 158/95, NZV 1997, 117, 118.

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27.92

§ 27 Rz. 27.92 | Reparabler Sachschaden

BGB nach dem Verkehrswert abzurechnen ist.299 Hierbei kommt es für die Unmöglichkeit auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Schadenseintritts an. Für die Frage, ob die Wiederherstellung unverhältnismäßige Aufwendungen i.S.d. § 251 Abs. 2 S. 2 BGB erfordert, ist dem Verkehrswert der um einen (bei Neubauten wohl regelmäßig vorzunehmenden) Abzug „neu für alt“ gekürzte Zahlungsanspruch gegenüberzustellen; dieser ist nicht nach der Wertminderung des alten Gebäudes, sondern nach der Wertsteigerung durch das neue Bauwerk zu bemessen.300 Die für Kraftfahrzeugschäden entwickelte Rspr. zum Integritätsinteresse (30 %-Toleranz; s. Rz. 27.21 ff.) ist auf diese Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht anwendbar.301 Ist der Wert des Grundstücks nach dem Schadensereignis höher als zuvor (etwa durch Wegfall von Baubeschränkungen infolge Denkmalschutzes), so fehlt es insoweit an einem Vermögensschaden.302 Andererseits kann aber der Umstand, dass ein beschädigtes Haus unter Denkmalschutz steht, nicht zu einem Ausschluss der Ersetzungsbefugnis des Schädigers nach § 251 Abs. 2 BGB führen.303

b) Gebäudeteile 27.93

Bei Beschädigung von Gebäudeteilen, Mauern, Brücken und ähnlichen Bauwerken ist die wirtschaftlich vernünftigste Lösung zu wählen, also z.B. Ausbesserung (und merkantiler Minderwert) statt Erneuerung auch bei geringfügigen Beeinträchtigungen des Erscheinungsbildes.304 Bei Neuherstellung ist i.d.R. ein Abzug „neu für alt“ vorzunehmen.305

c) Anpflanzungen 27.94

Bei Beschädigung eines (nicht nur zu einem vorübergehenden Zweck angepflanzten) Baumes oder anderen Gehölzes scheidet Naturalrestitution aus; hier ist grundsätzlich die Wertminderung des Grundstücks zu errechnen.306 Die beschädigungsbedingt geringere Restlebensdauer des Gehölzes führt für sich genommen nicht zu einer Wertminderung des Grundstücks;

299 BGH v. 25.10.1996 – V ZR 158/95, NZV 1997, 117; BGH v. 8.12.1987 – VI ZR 53/87, NJW 1988, 1836. 300 BGH v. 8.12.1987 – VI ZR 53/87, NJW 1988, 1835. 301 OLG Naumburg v. 11.11.1994 – 6 U 175/94, NJW-RR 1995, 1041. 302 BGH v. 26.2.1988 – V ZR 234/86, NJW 1988, 1837. 303 BGH v. 5.4.1990 – III ZR 213/88, VersR 1990, 982. 304 OLG Hamm v. 17.3.1994 – 27 U 227/93, NJW-RR 1995, 17: Aluminiumfassade; OLG Hamm v. 12.1.1995 – 27 U 144/94, NZV 1995, 355: Verblendmauerwerk einer Scheune. Wohl zu weitgehend OLG Hamm v. 18.8.1998 – 9 U 81/98, NZV 1999, 45: volle (fiktive) Wiederherstellungskosten bei Beschädigung einer 300 bis 400 Jahre alten Natursteinmauer. 305 OLG Düsseldorf v. 3.12.1992 – 18 U 7/88, NJW-RR 1993, 664: Mauer; OLG Hamm v. 26.10.1993 – 27 U 80/93, NJW-RR 1994, 345: Wiederherstellung der Sicherheitsreserven einer vorgeschädigten Brücke. 306 BGH v. 25.1.2013 – V ZR 222/12, MDR 2013, 457; BGH v. 27.1.2006 – V ZR 46/05, NJW 2006, 1424 m.w.N.; KG v. 2.10.1978 – 22 U 1867/78, VersR 1979, 36 = 330 mit Anm. Koch; OLG Düsseldorf v. 27.5.1991 – 1 U 36/90, NZV 1992, 30; zur Methode Koch Aktualisierte Gehölzwerttabellen; Koch NJW 1979, 2601; VersR 1984, 110; 1986, 1160; 1990, 573. Zu Besonderheiten s. OLG München v. 28.4.1994 – 1 U 6995/93, OLGR München 1994, 146 (wildwachsende Uferbegrünung); OLG Düsseldorf v. 18.10.1991 – 22 U 220/90, NVwZ-RR 1992, 216 (Ziergehölze in Privatgarten); OLG Hamm v. 28.2.1992 – 9 U 206/90, NJW-RR 1992, 1438 (Weihnachtsbaumkultur).

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VI. Nebenkosten | Rz. 27.96 § 27

die Folgen seines vorzeitigen Absterbens stellen vielmehr einen Zukunftsschaden dar, der erst nach seinem Eintritt ersatzfähig ist.307

d) Straßen, Grundstücke Bei Beschädigung der Fahrbahnoberfläche kann keine Totalerneuerung, sondern nur ordnungsgemäße Ausbesserung, ggf. zusätzlich ein technischer Minderwert, beansprucht werden. Zu Reinigungs- und Entsorgungskosten s. Rz. 30.15.

27.95

VI. Nebenkosten Zum Ersatz von Nebenkosten, die auch bei einem reparablen Sachschaden entstehen können s. Rz. 26.26.

307 BGH v. 27.1.2006 – V ZR 46/05, NJW 2006, 1424.

Zwickel | 773

27.96

§ 28 Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

I. II. 1. 2. a) b) III. 1. 2. a) b) c) d) e) f) g) h) 3. a) b) c) d) e)

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entgangener Gewinn . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfälle bei Kfz . . . . . . . . . . . . . . . Beschädigung eines zu Erwerbszwecken benutzten Kfz . . . . . . . . . . . Totalschaden am Leasingfahrzeug . . . Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätze zum Ersatz von Mietwagenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Beeinträchtigung als Anspruchsvoraussetzung . . . . . . . . . . Erforderlichkeit der Aufwendungen . Schadensminderungspflicht . . . . . . . . Höhe des Aufwendungsersatzes . . . . Keine fiktive Abrechnung . . . . . . . . . Vorteilsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruchsberechtigung . . . . . . . . . . . Einzelheiten zum Mietwagenkostenersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichwertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Mietzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umfang der Nutzung . . . . . . . . . . . . . Höhe der Mietkosten . . . . . . . . . . . . . aa) Unfallersatztarif . . . . . . . . . . . . . .

28.1 28.2 28.2 28.4 28.4 28.9 28.10 28.10 28.11 28.11 28.12 28.13 28.14 28.15 28.16 28.17 28.18 28.19 28.19 28.22 28.23 28.31 28.33 28.34

bb) Sondertarif, Mindestfahrstrecke . cc) Wahl des Vermieters . . . . . . . . . dd) Anmietung eines Ersatzfahrzeuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Private Miete . . . . . . . . . . . . . . . . f) Kosten der Haftungsfreistellung . . . . g) Kosten der Rechtsschutzversicherung h) Ersparte Eigenbetriebskosten . . . . . . i) Totalschaden eines Leasingfahrzeuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten bei gewerblich genutzten Fahrzeugen . . . . . . . . . . . IV. Abstrakte Nutzungsausfallentschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . 3. Bemessung der Entschädigung . . . . 4. Besonderheiten beim Nutzungsausfall von Kraftfahrzeugen . . . . . . a) Tatsächliche Gebrauchsvereitelung . . b) Fehlende Ausweichmöglichkeit . . . . . c) Zeitraum der abstrakten Nutzungsausfallentschädigung . . . . . . . . . . . . . d) Höhe der Nutzungsausfallentschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ersparte Eigenkosten . . . . . . . . . . . . . V. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vermögensfolgeschäden . . . . . . . . . 2. Entgangene Annehmlichkeiten . . . .

28.39 28.40 28.41 28.42 28.43 28.44 28.45 28.47 28.48 28.49 28.49 28.50 28.55 28.57 28.57 28.58 28.59 28.60 28.61 28.62 28.62 28.63

I. Überblick Infolge der Beschädigung einer Sache kann es dadurch zu Vermögensnachteilen kommen, dass der Geschädigte vorübergehend (nämlich für die Zeit der Reparatur oder der Ersatzbeschaffung) am Gebrauch der Sache gehindert wird. Derartige Einbußen sind als mittelbare Folgen der Sachbeschädigung grundsätzlich zu ersetzen. Insbesondere hat der Geschädigte Anspruch auf Ersatz eines durch die Vereitelung der Gebrauchsmöglichkeit hervorgerufenen Vermögensschadens (vgl. Rz. 28.62) oder entgangenen Gewinns (§ 252 BGB; vgl. Rz. 28.2 ff.). Kann der Ausfall durch Inanspruchnahme einer Ersatzsache (z.B. Mietwagen; Interimsfahrzeug1) ausgeglichen werden und stellt der Schädiger nicht von sich aus einen gleichwertigen Ersatz, 1 Eingehend hierzu Eggert NZV 1988, 121 ff.

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28.1

§ 28 Rz. 28.1 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

so kann der Geschädigte die von ihm hierfür aufgewendeten Kosten – nach der Rspr. als Herstellungskosten i.S.v. § 249 Abs. 1 BGB2 – ersetzt verlangen (vgl. Rz. 28.10 ff.). Problematisch ist, ob auch ohne Inanspruchnahme einer Ersatzsache eine Entschädigung für den Ausfall der Nutzungsmöglichkeit verlangt werden kann (hierzu Rz. 28.49 ff.).

II. Entgangener Gewinn 1. Allgemeines 28.2

Soweit durch die Sachbeschädigung eine gewinnbringende Nutzung der Sache verhindert wurde, ist der Ausfall vom Schädiger zu ersetzen.3 Verwarnungs- und Bußgelder, die einer Kommune durch fahrlässige Beschädigung ihrer Geschwindigkeitsüberwachungsanlage entgehen, stellen keinen Gewinnausfall dar.4

28.3

Rechtswidrige Gewinne, d.h. solche, die nur unter Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot hätten erzielt werden können, sind nicht zu ersetzen, weil die Rechtsordnung dem Geschädigten keine Vorteile zusprechen kann, die er gegen ihren Willen erlangt hätte5 (Einzelheiten s. Rz. 32.125 ff.). Auch für sittenwidrige Gewinne, d.h. solche, deren Erzielung nach § 138 BGB nicht rechtlich durchgesetzt werden könnte, besteht keine Entschädigungspflicht.6

2. Einzelfälle bei Kfz a) Beschädigung eines zu Erwerbszwecken benutzten Kfz 28.4

Bei Beschädigung eines zu Erwerbszwecken benutzten Kfz kann der Geschädigte einen während der Reparatur- bzw. Wiederbeschaffungszeit entgangenen Gewinn ersetzt verlangen.7 Für dessen Nachweis gilt die Beweiserleichterung des § 252 S. 2 BGB; ausreichende Anknüpfungstatsachen für die Ermittlung des wahrscheinlich erzielten Gewinns muss der Geschädigte allerdings darlegen.8 Stattdessen kann er aber auch Ersatz von Aufwendungen beanspruchen, die er zur Überbrückung des Ausfalls, etwa durch Einschaltung eines Fuhrunternehmers oder Anmieten eines Ersatzfahrzeugs, getätigt hat (vgl. Rz. 28.10 ff.). Lässt sich durch derartige Aufwendungen ein höherer Verdienstausfall vermeiden, so kann der Geschädigte nach § 254 Abs. 2 BGB sogar gehalten sein, diesen Weg des Schadensausgleichs zu wählen.9 Er kann daher einen entgangenen Gewinn nur bis zur Höhe der fiktiven Kosten für ein Mietfahrzeug (abzgl. der 2 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 284; hierzu Greger NZV 1994, 337. 3 Zum Gewinnentgang bei Beschädigung eines Gebäudes vgl. BGH v. 8.6.1978 – VII ZR 161/77, BGHZ 72, 31. 4 LG Konstanz v. 23.7.1996 – 2 O 245/96 W, NJW 1997, 467; AG Stuttgart v. 25.10.1991 – 40 C 5806/91, VersR 1992, 974. 5 Lange/Schiemann § 6 X 7. 6 Born VersR 1977, 118; a.A. OLG Düsseldorf v. 27.7.1970 – 1 U 44/70, NJW 1970, 1852 und mit Einschränkungen BGH v. 6.7.1976 – VI ZR 122/75, BGHZ 67, 119 sowie Stürner VersR 1976, 1016. 7 BGH v. 9.11.1976 – VI ZR 267/75, VersR 1977, 331; OLG Karlsruhe v. 22.2.1991 – 10 U 211/90, VersR 1992, 67 (Ertragsminderung eines Fuhrunternehmers). Zur Berechnung des Gewinnausfalls bei einem Taxi vgl. Berger VersR 1963, 514 sowie die Rspr.-Nachw. bei Born NZV 1993, 4. 8 OLG Düsseldorf v. 18.6.1999 – 22 U 265/98, NZV 1999, 472; OLG Brandenburg v. 24.10.1995 – 2 U 65/95, OLGR Brandenburg 1996, 76. 9 BGH v. 9.11.1976 – VI ZR 267/75, VersR 1977, 331.

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II. Entgangener Gewinn | Rz. 28.9 § 28

Kostenersparnis; vgl. Rz. 28.45 f.) ersetzt verlangen, wenn eine Anmietung möglich und zumutbar und der andernfalls zu gewärtigende Gewinnausfall vorhersehbar war. Der Ersatz der Mietkosten wird demgegenüber nicht durch den hypothetischen Gewinnentgang begrenzt (s. Rz. 28.48). Ein Ersatz des (vollen) Gewinnausfalls scheidet auch dann aus, wenn der Geschädigte diesen wenigstens teilweise durch zumutbaren Einsatz eines ihm zur Verfügung stehenden Ersatzfahrzeugs hätte vermeiden können, wie dies bei Großbetrieben, insbesondere Verkehrsbetrieben, häufig der Fall sein wird. In diesen Fällen können auch nicht die Vorhaltekosten für das Reservefahrzeug anteilig beansprucht werden (hierzu und zur abweichenden Rspr. des BGH vgl. Rz. 20.16 ff.).10 Auch eine abstrakte Nutzungsausfallentschädigung scheidet aus (vgl. Rz. 28.51, Rz. 28.58). Zu ersetzen sind lediglich tatsächlich entstandene Aufwendungen (z.B. für betriebliche Umdispositionen). Zu der Frage, ob die Vorhaltekosten für das ausgefallene Fahrzeug zu ersetzen sind, vgl. Rz. 20.13 f.

28.5

Ist durch den Unfall nicht nur das Nutzfahrzeug (z.B. Taxi) ausgefallen, sondern auch der Fahrer arbeitsunfähig geworden, so ist zu beachten, dass der Unternehmer den fortzuzahlenden Lohn vom Schädiger ersetzt verlangen kann (§§ 3, 6 EFZG) und dass er, wenn nur der Fahrer verletzt, das Fahrzeug aber nicht beschädigt worden wäre, keinen Anspruch auf Ersatz der Mehraufwendungen für einen Ersatzfahrer hätte: Der Unternehmer muss daher in solchen Fällen vom Bruttoertrag seines Fahrzeugs außer den ersparten Unkosten für Unterhalt und Betrieb auch den Betrag abziehen lassen, den er als Lohn für einen Aushilfsfahrer aufzubringen gehabt hätte.11

28.6

Hat der Geschädigte seine Arbeitskraft für die Selbstreparatur des Kfz (zwecks fiktiver Abrechnung der Werkstattkosten; vgl. Rz. 27.48) aufgewendet, so steht dies einem Anspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns nicht grundsätzlich entgegen;12 allerdings wird auch dieser Anspruch ggf. durch den fiktiven Überbrückungsaufwand (Rz. 28.4) begrenzt.

28.7

War das Kfz gegen Erbringung kostenloser Inspektionen einem Autohaus als Werbeträger zur Verfügung gestellt worden, so kann er bei Zerstörung des Kfz vom Schädiger die Erstattung des Wertes der nicht mehr ausführbaren Inspektionen verlangen, falls es ihm nicht möglich ist, ein Ersatzfahrzeug unter gleichen Konditionen zu erwerben.13

28.8

b) Totalschaden am Leasingfahrzeug Bei Totalbeschädigung eines Leasingfahrzeugs kann der Leasinggeber, wenn er (entgegen der für das Leasing typischen Rechtslage; vgl. Rz. 26.29) nach der besonderen Ausgestaltung des Vertrags seinen Zahlungsanspruch gegen den Vertragspartner verliert, Ausgleich für die entgangenen Leasingraten verlangen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Leasinggeber den Zeitwert seines Fahrzeugs infolge des Schadensereignisses sogleich ersetzt bekommt, während er bei ungestörter Fortsetzung des Leasingverhältnisses das Fahrzeug erst nach dessen Beendigung und folglich mit geringerem Zeitwert zurückerhielte. Der Gewinnausfall errechnet sich daher aus den für die restliche Laufzeit des Leasingvertrages ausstehenden Leasingraten abzgl. der für diesen Zeitraum kalkulierten Minderung des Nutzungswerts.

10 11 12 13

A.A. Jaeger VersR 2020, 257. BGH v. 15.5.1979 – VI ZR 187/78, VersR 1979, 936. LG München I v. 12.12.1996 – 19 S 2810/96, NZV 1998, 35. LG Krefeld v. 6.5.1992 – 2 S 226/91, NZV 1992, 323.

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28.9

§ 28 Rz. 28.9 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

Der dem Leasinggeber als Ausgleich für den Zeitwert seines Fahrzeugs und den entgangenen Gewinn zustehende Gesamtbetrag lässt sich einfacher auch durch Addition der ausstehenden Leasingraten und des für den Zeitpunkt der Vertragsbeendigung kalkulierten Restwertes des Fahrzeugs ermitteln. In jedem Falle noch abzuziehen sind aber im Rahmen der Vorteilsausgleichung die durch den vorzeitigen Kapitalrückfluss und die vorzeitige Gewinnrealisierung entstehenden Vermögensvorteile wie Zinsgewinne oder ersparte Refinanzierungskosten.14

III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls 1. Überblick 28.10

Macht der Geschädigte Aufwendungen, um den Verlust der Nutzungsmöglichkeit auszugleichen (z.B. durch Anmietung einer anderen Wohnung bei Beschädigung eines Wohngebäudes,15 für einen Mietwagen oder für Taxibenutzung bei Beschädigung eines Kraftfahrzeugs), so sind diese vom Schädiger grundsätzlich zu ersetzen, sofern der Geschädigte durch den Ausfall wirtschaftlich beeinträchtigt ist. Nach heutiger Rspr.16 handelt es sich hierbei nicht um Aufwendungen zur Schadensminderung (i.S.v. Rz. 25.102), sondern um Kosten der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB), denn sie dienen dazu, die wirtschaftliche Lage des Geschädigten, die ohne den Unfall bestehen würde, herzustellen. Seine Grenze findet der Ersatzanspruch daher am Merkmal der Erforderlichkeit sowie an der Verhältnismäßigkeitsschranke des § 251 Abs. 2 BGB.17 Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung ist auch der Rechtsgedanke des § 254 Abs. 2 BGB zu beachten: Unter mehreren möglichen Wegen des Schadensausgleichs hat der Geschädigte im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlicheren zu wählen.18 Einen allgemeinen Grundsatz, dass die Mietwagenkosten den Wert des beschädigten Fahrzeugs nicht erheblich übersteigen dürfen, gibt es aber nicht.19 Die Erforderlichkeit hat der Geschädigte zu beweisen. Zur Ersatzfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen s. Rz. 20.16 f.; zur Anspruchsberechtigung des Leasingnehmers Rz. 21.3.

2. Grundsätze zum Ersatz von Mietwagenkosten a) Allgemeines 28.11

In der Regel bilden die Mietwagenkosten nach dem eigentlichen Fahrzeugschaden die zweitgrößte Position in der Schadensabrechnung; nicht selten übertreffen sie sogar den Wert des beschädigten Fahrzeugs. Die enorme wirtschaftliche Bedeutung dieser Aufwendungen steht 14 Vgl. zum Ganzen Dörner VersR 1978, 884. 15 BGH v. 28.11.1966 – VII ZR 69/65, BGHZ 46, 238. 16 Ebenso schon RG v. 19.8.1943 – III 67/43, RGZ 171, 295; anders noch RG v. 7.6.1909 – I 329/08, RGZ 71, 216 (Schadensminderungskosten). S. auch Greger NZV 1994, 337; BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 284; BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 86/84, VersR 1985, 1090; BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 177/84, VersR 1985, 1092; BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 138/95, JZ 1996, 1076 mit Anm. Schiemann, der diese dogmatische Einordnung für unvereinbar mit der Rspr. zur Nutzungsausfallentschädigung hält. 17 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283. 18 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 85; BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 284; BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 86/84, VersR 1985, 1090; BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 177/84, VersR 1985, 1092; Born VersR 1978, 783; Köhnken VersR 1979, 790. 19 LG Karlsruhe v. 23.6.1988 – 9 S 137/88, VersR 1989, 61; einschr. LG Köln v. 10.12.1975 – 19 O 235/75, VersR 1977, 48; LG Köln v. 26.6.1985 – 19 S 568/84, VersR 1987, 210.

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III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.12 § 28

in einem auffälligen Kontrast zu der Bedenkenlosigkeit, mit der sie häufig getätigt werden. Immer wieder sehen sich Versicherer und Gerichte mit Rechnungen in vierstelliger Höhe konfrontiert, denen nur ganz geringe Fahrleistungen gegenüberstehen. Die im Ausgangspunkt völlig zutreffende Rspr. zum Ersatz von Miet-wagenkosten hat offensichtlich im Verein mit einer regen Akquisitionstätigkeit der Autovermietungsbranche zu einer Anspruchshaltung geführt, die weithin nur als überzogen bezeichnet werden kann. Es fällt jedenfalls auf, dass in Österreich, wo ein Mietwagenanspruch nur bei Zahlung einer erhöhten Prämie in der Haftpflichtversicherung besteht, weniger als 1 % der Kraftfahrzeughalter Wert auf diese Leistung legen.20 In den meisten anderen europäischen Ländern werden Mietwagenkosten ohnehin nur bei gewerblicher oder beruflicher Nutzung gezahlt.21 Das Bemühen der Versicherungsbranche, die Mietwagenaufwendungen gering zu halten, und das gegenläufige Interesse der Autovermieter haben in den letzten Jahren zu massiven Konflikten bei der Schadensregulierung geführt, die letztlich auf dem Rücken der Unfallgeschädigten ausgetragen werden. Nach einer wenig hilfreichen Entscheidung von 199622 hat der BGH in letzter Zeit versucht, überhöhten Tarifen im Unfallersatzgeschäft einen Riegel vorzuschieben, indem er die betriebswirtschaftliche Rechtfertigung des in Rechnung gestellten Tarifs zum Kriterium der Erforderlichkeit i.S.v. § 249 Abs. 1 BGB erklärt hat.23 Dies erwies sich jedoch als wenig praktikabel und belastete die Geschädigten mit der Durchdringung fragwürdiger Gepflogenheiten24 des Mietwagenmarktes.25 Die Instanzgerichte versagten dem BGH daher weitgehend die Gefolgschaft.26 Richtigerweise muss die Lösung dieses Problems außerhalb des Schadensersatzrechts gefunden werden. Es ist zu begrüßen, dass der für Mietrecht zuständige Senat des BGH mit der Statuierung einer Aufklärungspflicht des Autovermieters durch das Urteil vom 28.6.200627 den Weg dorthin eröffnet hat (näher Rz. 28.36 ff.).

b) Wirtschaftliche Beeinträchtigung als Anspruchsvoraussetzung Nach der ständigen Rspr. des BGH rechnen die Mietwagenkosten zu den Herstellungskosten, d.h. sie sind Teil der Aufwendungen, die der Schädiger dem Geschädigten nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ersetzen muss, um die wirtschaftliche Lage herzustellen, in der sich der Geschädigte ohne den Schadensfall befände28 (vgl. Rz. 28.10). Voraussetzung des Anspruchs auf Ersatz dieser Aufwendungen ist also, dass dem Geschädigten durch den Ausfall der ständigen Verfügbarkeit seines Kfz tatsächlich eine wirtschaftliche Einbuße erwachsen ist. Bei gewerblich

20 21 22 23

24 25 26 27

28

Geier VersR 1996, 1458. Vgl. z.B. die Übersicht bei Schwarz NJW 1991, 2058. BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 138/95, BGHZ 132, 373. BGH v. 12.10.2004 – VI ZR 151/03, BGHZ 160, 377; BGH v. 19.4.2005 – VI ZR 37/04, BGHZ 163, 19 = JZ 2005, 1056 mit Anm. Schiemann; BGH v. 26.10.2004 – VI ZR 300/03, NZV 2005, 34 mit Anm. Buller; BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 74/04, NZV 2005, 301. Zur Rspr.-Entwicklung auch G. Wagner NJW 2006, 2289 ff. S. hierzu Neidhardt/Kremer NZV 2005, 171; krit. Griebenow NZV 2005, 113 ff.; Schiemann JZ 2005, 1058. Näher Greger NZV 2006, 5. Vgl. die Zusammenstellung bei Wenning NZV 2005, 345 ff. sowie Griebenow NZV 2006, 14 ff. Krit. auch G. Wagner, NJW 2006, 2292. BGH v. 28.6.2006 – XII ZR 50/04, NJW 2006, 2618. Diese Lösung war von BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 138/95, BGHZ 132, 373, 381 bereits angedeutet und im Schrifttum sowie in der instanzgerichtlichen Rspr. vielfach befürwortet worden, der für das Haftungsrecht zuständige VI. Zivilsenat hat sich mit ihr jedoch nicht näher auseinandergesetzt; vgl. Greger NZV 2006, 5 f. m.w.N. BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 284 m.w.N.

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28.12

§ 28 Rz. 28.12 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

genutzten Kfz wird dies keine besonderen Probleme bereiten (näher hierzu Rz. 28.48). Im privaten Bereich aber kommt es vor, dass Kfz nicht wegen eines wirklichen Bedarfs, sondern aus Liebhaberei, Darstellungsbedürfnis, Gewohnheit, Bequemlichkeit und ähnlichen Motiven gehalten werden. In solchen Fällen kann die zeitweise entzogene Nutzungsmöglichkeit nur dann als Schaden angesehen werden, wenn man schon der allzeitigen Verfügbarkeit eines Fahrzeugs als solcher einen im Schadensfall ausgleichspflichtigen Wert beimisst. Dies erscheint im Hinblick auf die hohen Kosten, die ein Mietwagen durch bloßes Herumstehen verursacht, bei wertender Betrachtung nicht vertretbar. Grundvoraussetzung für die Zubilligung eines Anspruchs auf Mietwagenkosten sollte daher (wie in den meisten ausländischen Rechtsordnungen; vgl. Rz. 28.11) sein, dass der Geschädigte ein wirtschaftliches Interesse an der ständigen Verfügbarkeit eines Kfz im Ausfallzeitraum darlegt.29 Besteht ein solches Bedürfnis nur zeitweise (z.B. nur am Wochenende oder nur für Fahrten zum Arbeitsplatz), so kann auch nur insoweit ein ausgleichspflichtiger Schaden bejaht werden.30 Hätte das Unfallfahrzeug aus Rechtsgründen (z.B. wegen fehlender Haftpflichtversicherung) ohnehin nicht benutzt werden dürfen, so kann seinem Eigentümer auch kein Schaden entstanden sein;31 ebenso wenn er aus tatsächlichen Gründen, z.B. Krankheit, verhindert war, das Fahrzeug zu nutzen (näher Rz. 28.19).

c) Erforderlichkeit der Aufwendungen 28.13

Nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB muss der Anspruchsteller darlegen und beweisen, dass die von ihm veranlassten Mietwagenkosten zur Schadensbeseitigung erforderlich waren.32 Als Maßstab für die Erforderlichkeit von Aufwendungen zieht der BGH das Verhalten eines „verständigen, wirtschaftlich denkenden Fahrzeugeigentümers in der Lage des Geschädigten“ heran.33 Sonderausstattungen sind nur insoweit zu berücksichtigen als sie für den Gebrauch des Kfz von wesentlicher Bedeutung sind.34 Der Geschädigte muss also dartun, dass die Dispositionen, die zu den geltend gemachten Aufwendungen führten, wirtschaftlicher Vernunft entsprachen. Hierbei kommt es auf seine damaligen Erkenntnismöglichkeiten an; das Prognoserisiko trägt der Schädiger.35 Bei der „Vergleichsrechnung“ kann auch eine gewisse Toleranzzone anerkannt werden.36 Kann der Geschädigte aber absehen, dass er nur sehr geringen Fahrbedarf und der Mietwagen damit lange Standzeiten haben wird, so ist die Anmietung eines Ersatzfahrzeugs zweifellos unwirtschaftlich. Hier bietet sich, zumindest in städtischen Bereichen, das Taxi als günstigster Auto-Ersatz an; es sind dann nur die (fiktiven) Taxikosten zu ersetzen (näher Rz. 28.19; zur Nutzungsausfallentschädigung in diesen Fällen Rz. 28.58). Anders ist dies, wenn konkrete Umstände des Einzelfalles ergeben, dass der Geschädigte auf die jederzeitige Verfügbarkeit des Kfz angewiesen ist.37 Ein Umsteigen auf Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel braucht der Geschädigte sich dagegen nicht ansinnen zu lassen,38 weil er seine Lebensgewohn-

29 Greger NZV 1994, 338; Etzel/Wagner DAR 1995, 18; a.A. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 428. 30 Greger NZV 1994, 337 f. 31 OLG Karlsruhe v. 25.9.1987 – 10 U 10/87, VersR 1989, 58; LG Frankfurt/M. v. 7.12.1983 – 2/1 S 233/83, VersR 1985, 1099. 32 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 284; Rixecker NZV 1991, 369. 33 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 285 m.w.N. 34 BGH v. 27.3.2012 – VI ZR 40/10, NJW 2012, 2026. 35 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 285. 36 Möller/Durst VersR 1993, 1072: 30 % (m.E. zu hoch). 37 BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 290/11, NJW 2013, 1149; BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 290/11, MDR 2013, 516. 38 Strenger: BGH v. 5.4.1966 – VI ZR 271/64, BGHZ 45, 219 f.

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III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.15 § 28

heiten nicht zugunsten des Schädigers zu ändern braucht. Dagegen ist u.U. die verstärkte Nutzung eines Zweitwagens, eines Firmenwagens oder des Fahrzeugs eines Angehörigen39 – gegen eine billige Entschädigung40 – vorübergehend zumutbar. Bei nur temporärem Fahrbedarf – etwa am Wochenende – könnte das „Erforderliche“ in der kurzzeitigen Anmietung eines Ersatzwagens, z.B. im Rahmen einer Wochenendpauschale, liegen.41 Zu der Frage, inwieweit die Mietpreise eines Unfallersatztarifs „erforderliche“ Kosten darstellen, s. Rz. 28.34 f.

d) Schadensminderungspflicht Unter diesem in § 254 Abs. 2 BGB normierten Gesichtspunkt wird vielfach auch die Frage erörtert, ob der Geschädigte (z.B. wegen geringen oder nur zeitweiligen Fahrbedarfs) überhaupt einen Mietwagen nehmen darf.42 Hierbei geht es jedoch nach Vorstehendem schon um das Vorliegen eines Schadens, jedenfalls aber um die Erforderlichkeit der Anmietung eines Ersatzwagens, so dass die Darlegungslast insoweit den Geschädigten trifft.43 Dasselbe gilt nach der neuen Rspr. des BGH für die Anmietung zum sog. Unfallersatztarif (näher dazu Rz. 28.34 f.). Wie auch sonst strahlt der Rechtsgedanke des § 254 Abs. 2 BGB auf das Merkmal der Erforderlichkeit aus, so dass der Geschädigte bereits unter diesem Aspekt keine hohen Mietwagenkosten auflaufen lassen darf, wenn ihm andere zumutbare Möglichkeiten zur Deckung seines Fahrbedarfs zu Gebote stehen, also z.B. ein Zweitfahrzeug. Dass der Geschädigte kein komfortableres Fahrzeug und keine Reisen, die er mit dem eigenen Wagen nicht durchgeführt hätte, in Rechnung stellen darf, folgt schon aus der Natur des Herstellungsanspruchs (weitere Einzelheiten in Rz. 28.31 f.). Ist absehbar, dass das eigene Kfz für lange Zeit ausfallen und erheblicher Fahrbedarf bestehen wird, kann der Erwerb eines Interimsfahrzeugs44 das durch die Schadensminderungspflicht Gebotene sein. In einem solchen Fall kann der Geschädigte gehalten sein, den gegnerischen Versicherer zu informieren (§ 254 Abs. 2 S. 1 BGB), damit wirtschaftliche Lösungen gefunden werden können.45

28.14

e) Höhe des Aufwendungsersatzes Die erheblichen Preisunterschiede auf dem Mietwagenmarkt und die unübersichtliche, wettbewerbsrechtlich bedenkliche46 Tarifgestaltung der Autovermieter erschweren die Feststellung des im Einzelfall zu leistenden Schadensersatzbetrages. Auch bei anderen Schadenspositionen ist die vom Geschädigten vorgelegte Rechnung, wie der BGH wiederholt ausgesprochen hat, zwar ein Indiz für den „erforderlichen Geldbetrag“ i.S.d. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB,47 aber auch

39 40 41 42 43 44 45 46 47

OLG Karlsruhe (Freiburg) OLG Karlsruhe v. 18.1.1994 – 18a U 111/93, NZV 1994, 316. Vgl. hierzu BGH v. 19.11.1974 – VI ZR 197/73, VersR 1975, 261. Zum Ganzen auch Greger NZV 1994, 338 f.; Etzel/Wagner DAR 1995, 18 f. Vgl. Notthoff VersR 1995, 1017. BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 284; Rixecker NZV 1991, 369; Greger NZV 1994, 338; Etzel/Wagner DAR 1995, 18. Vgl. hierzu Eggert NZV 1988, 121; einschr. BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 86/84, VersR 1985, 1090, 1091; OLG Oldenburg v. 4.11.1981 – 3 U 72/81, VersR 1982, 1154; OLG Hamm v. 5.6.1991 – 13 U 55/91, ZfS 1991, 234. BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 86/84, VersR 1985, 1090, 1091; Etzel/Wagner VersR 1993, 1194. BKartA NZV 1995, 346 ff. Zur unzulässigen Differenzierung zwischen Unfallersatz- und gewöhnlichem Mietwagengeschäft s. BGH v. 5.4.1995 – I ZR 133/93, NZV 1995, 395 u. Greger, NZV 1996, 431. Zur Problematik des Unfallersatztarifs s. Rz. 28.34 ff. BGH v. 20.6.1989 – VI ZR 334/88, NZV 1989, 465; Steffen NZV 1991, 3.

Zwickel | 781

28.15

§ 28 Rz. 28.15 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

nicht mehr, d.h. sie legt den Finanzbedarf nicht automatisch fest.48 Daher muss, wer bei der Restitution überzogenen Aufwand treibt oder völlig unwirtschaftliche Methoden wählt, eine Kürzung seiner Ansprüche auf ein nach objektiven, wenngleich auf seine Situation abgestellten Kriterien angemessenes Niveau hinnehmen. Auf den Mietwagenkostenersatz übertragen heißt dies, dass der Geschädigte, der unter Erfüllung der vorgenannten Voraussetzungen einen Ersatzwagen bei einem gewerblichen Autovermieter angemietet hat, zwar grundsätzlich den in dessen Rechnung ausgewiesenen Betrag ersetzt verlangen kann.49 Der Schädiger kann die Indizwirkung der Rechnung aber erschüttern, insbesondere indem er darlegt, dass die Kosten das übliche Niveau deutlich übersteigen oder gar – was vorkommen soll – nur zum Schein (für die Geltendmachung gegenüber dem Versicherer) berechnet werden. Es ist dann Sache des Anspruchstellers, darzulegen und ggf. unter Beweis zu stellen, dass er bei Zugrundelegung seiner konkreten Situation und seiner Erkenntnismöglichkeiten keine unangemessenen Aufwendungen verursacht hat.50 Zu den Anforderungen an diese Darlegung bei Anmietung zu einem sog Unfallersatztarif s. Rz. 28.34 f. Der Vorschlag des OLG München,51 die „erforderlichen“ Mietwagenaufwendungen nach dem dreifachen Nutzungswert der Tabelle von Sanden/ Danner/Küppersbusch52 zu bemessen, ist dagegen mit den vom BGH aufgestellten Grundsätzen der Schadensbemessung nicht vereinbar.53

f) Keine fiktive Abrechnung 28.16

Würde der vom BGH für die Reparaturkosten entwickelte Grundsatz, dass auch bei unterbliebener oder besonders kostengünstiger Reparatur der an sich erforderliche Betrag beansprucht werden kann (Rz. 27.75), auf den Ersatz des Nutzungsschadens übertragen, was angesichts der identischen Anspruchsgrundlage naheläge, so könnte auch der Geschädigte, der geringere als die objektiv erforderlichen Kosten verursacht (z.B. weil er persönliche Beziehungen zu dem Vermieter hat oder einen kleineren Wagen nimmt), oder der auf einen Ersatzwagen ganz verzichtet (und den Fahrbedarf z.B. durch Radfahren oder Mitfahren bei Kollegen befriedigt) die (Mehr-)Kosten einer normalen Anmietung ersetzt verlangen. Eine solche Übertragung der fiktiven Schadensberechnung auf die Mietwagenkosten lehnt der BGH jedoch ab.54 An ihre Stelle treten – beim Verzicht auf einen Mietwagen – die Grundsätze über die abstrakte Nutzungsausfallentschädigung (Rz. 28.49 ff.), die zu einer wesentlich geringeren Ersatzleistung führen. Sind dem Geschädigten Kosten entstanden, die über diesen Sätzen, aber unterhalb der gewöhnlichen Mietwagenkosten liegen, so kann er den tatsächlich aufgewendeten Betrag berechnen (zum Sonderfall der Anmietung von Privat s. Rz. 28.42). Schiemann hat die Ungleichbehandlung von Mietwagenkostenersatz und abstrakter Nutzungsausfallentschädigung

48 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 85; BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 27/73, 61, 347 f.; BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 163/72, VersR 1974, 331, 332; BGH v. 19.11.1974 – VI ZR 197/73, VersR 1975, 261, 262. 49 Greger NZV 1994, 339. 50 Greger NZV 1994, 339; näher zu den hierbei zu stellenden Anforderungen Rz. 28.34 f. 51 OLG München v. 17.5.1994 – 5 U 5630/93, VersR 1994, 1318; OLG München v. 14.3.1995 – 5 U 3850/94, DAR 1995, 254. 52 NJW 1997, 700. 53 BGH v. 26.6.2007 – VI ZR 163/06, NJW 2007, 2916; BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 138/95, VersR 1996, 902. 54 BGH v. 15.4.1966 – VI ZR 271/64, BGHZ 45, 220 f.; BGH v. 18.5.1971 – VI ZR 52/70, BGHZ 56, 215; BGH (GSZ) v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, BGHZ 98, 212, 225; BGH v. 19.11.1974 – VI ZR 197/73, VersR 1975, 262.

782 | Zwickel

III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.19 § 28

zu Recht als willkürlich bezeichnet.55 Sie lässt sich dogmatisch weder erklären noch rechtfertigen, sondern resultiert offenbar aus dem Bestreben des BGH, gerufene Geister (restitutionsunabhängige Schadensabrechnung und Kommerzialisierung abstrakter Nutzungsmöglichkeit) nicht im Zusammenwirken übermächtig werden zu lassen.

g) Vorteilsausgleich Solange der Geschädigte den Mietwagen nutzt, erspart er Betriebskosten für das eigene Fahrzeug. Diese muss er sich anrechnen lassen.56 Auch über die Höhe dieses Abzugs herrscht in Regulierungspraxis und Rspr. Unsicherheit, seit der früher übliche Pauschalabzug von 15 bis 20 % der Mietwagenkosten durch Kostenuntersuchungen in Frage gestellt wurde (näher hierzu Rz. 28.45 f.).

28.17

h) Anspruchsberechtigung Der Anspruch auf Ersatz der Mietwagenkosten steht dem Geschädigten zu. Der Vermieter kann ihn nur geltend machen, wenn er ihm vom Geschädigten abgetreten wurde.57 Zu den Voraussetzungen einer wirksamen, insbesondere nicht gegen das RDG verstoßenden Abtretung s. Rz. 21.21.

28.18

3. Einzelheiten zum Mietwagenkostenersatz a) Ausschluss 28.19

Keinen Mietwagen kann der Geschädigte in Anspruch nehmen, der – vorhersehbar nur geringen Fahrbedarf hat, so dass ihm unter Berücksichtigung der persönlichen und örtlichen Verhältnisse (z.B. Angewiesensein auf ständige Verfügbarkeit des Kfz)58 die Benutzung eines Taxis zugemutet werden kann;59 – die zu erwartenden Fahrleistungen mit einem (in etwa gleichwertigen60) Zweit- oder Reservefahrzeug, dem Fahrzeug eines Familienangehörigen oder des Lebensgefährten61 ausführen kann (s. aber Rz. 28.42); – als Kfz-Händler über eine Vielzahl von Vorführwagen verfügt;62

55 Schiemann JZ 1996, 1079. 56 BGH v. 10.5.1963 – VI ZR 235/62, NJW 1963, 1399; BGH v. 3.6.1969 – VI ZR 27/68, VersR 1969, 828. 57 S. hierzu ausführlich BGH v. 31.1.2012 – VI ZR 143/11, NJW 2012, 1005; BGH v. 5.3.2013 – VI ZR 245/11, DAR 2013, 378; BGH v. 11.9.2012 – VI ZR 297/11, NJW 2013, 62. 58 BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 290/11, NJW 2013, 1149; BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 290/11, MDR 2013, 516. 59 Vgl. BGH v. 15.4.1966 – VI ZR 271/64, BGHZ 45, 219; BGH v. 2.12.1966 – VI ZR 72/65, NJW 1967, 552; BGH v. 3.6.1969 – VI ZR 27/68, NJW 1969, 1477; OLG Hamm v. 23.1.2018 – 7 U 46/ 17, SVR 2018, 224; AG Bremen v. 13.12.2012 – 9 C 330/11 (Angewiesensein eines Rentners auf das Fahrzeug für wichtige Kurzstrecken); Born VersR 1978, 786; Dörner VersR 1973, 702. 60 Zu weitgehend daher AG Kenzingen v. 13.12.1989 – C 326/89, NZV 1990, 480 für Pkw und Motorrad. 61 OLG Karlsruhe v. 18.1.1994 – 18a U 111/93, NZV 1994, 316. 62 OLG Köln v. 18.2.2000 – 19 U 60/99, OLGR Köln 2000, 272.

Zwickel | 783

§ 28 Rz. 28.19 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

– verletzungs- oder krankheitsbedingt an der Benutzung des Kfz gehindert ist;63 – für das Unfallfahrzeug keine Haftpflichtversicherung hatte.64

28.20

Der Ausschluss wegen des Fehlens eigener Nutzungsabsicht oder -fähigkeit greift aber nicht ein, wenn der Geschädigte das Fahrzeug für die Nutzung durch eine andere Person angeschafft hatte und diese das Fahrzeug genutzt hätte.65 Ein Rettungszweckverband muss sich nicht auf die Möglichkeit verweisen lassen, ein Rettungsfahrzeug von einem anderen Verband auszuleihen.66

28.21

Ist ein Mietwagenkostenersatz nach Vorstehendem ausgeschlossen, so kann u.U. abstrakte Nutzungsausfallentschädigung beansprucht werden (s. Rz. 28.49 ff.). Nutzungswille und Nutzungsfähigkeit sind allerdings auch dort vorauszusetzen (Rz. 28.57). Auf jeden Fall können die Kosten der notwendigen Benutzung anderer Verkehrsmittel berechnet werden. Zu den Vorhaltekosten für Reservefahrzeuge s. Rz. 20.13 f. Zur Leistung eines angemessenen Ersatzes bei Überlassung eines Fahrzeugs durch Dritten s. Rz. 28.42.

b) Gleichwertigkeit 28.22

Bei der Gleichwertigkeit von beschädigtem und gemietetem Fahrzeug ist nicht allein auf den Fahrzeugtyp abzustellen. War das beschädigte Fahrzeug schon alt und abgenutzt, kann der Geschädigte nicht die Kosten eines in einwandfreiem Zustand befindlichen Mietfahrzeugs verlangen; hier kann er vielmehr gehalten sein, zum Ausgleich ein Fahrzeug einer niedrigeren Preisklasse zu nehmen.67 Ebenso verhält es sich, wenn ein dem beschädigten Kfz typgleiches Kfz auf dem Mietwagenmarkt nur unter unverhältnismäßigen Aufwendungen erhältlich ist.68 Hier können auch gesteigerte Erkundigungspflichten bestehen.69 Jedoch darf auch der Eigentümer eines besonders komfortablen und repräsentativen Wagens der höheren Preisklasse einen Ersatzwagen mieten, der in etwa denselben Komfort aufweist,70 desgleichen der Eigentümer eines Luxuswagens mit sportlicher Note.71 Bloße Zusatzausrüstungen des Unfallwagens rechtfertigen jedoch nicht die Anmietung eines Wagens einer höheren Preisklasse.72 63 Nach OLG Hamm v. 2.3.1994 – 3 U 200/93, NJW-RR 1994, 793 nicht in jedem Fall bei ärztlich verordneter Bettruhe. 64 OLG Hamm v. 17.6.1996 – 32 U 2/96, OLGR Hamm 1996, 185; OLG Frankfurt v. 4.3.1994 – 2 U 200/93, NZV 1995, 68 (rückwirkende Auflösung aber unschädlich); LG Bielefeld v. 9.11.1995 – 22 O 230/95, VersR 1997, 380 (Erstprämie nicht bezahlt). 65 OLG Frankfurt v. 16.6.1994 – 3 U 203/92, DAR 1995, 23. 66 OLG Celle v. 22.8.2012 – 14 U 195/11, NJW-RR 2013, 353; OLG Dresden v. 28.10.1999 – 16 U 1752/99, NZV 2000, 123. 67 Vgl. LG Heilbronn v. 6.10.1981 – 3 O 1341/81, VersR 1982, 784; LG Köln v. 26.6.1985 – 19 S 568/84, VersR 1987, 210; LG Freiburg v. 7.6.1988 – 1 O 148/88, VersR 1989, 1277; LG Freiburg v. 6.7.1994 – 9 S 39/94, VRS 88, 87; Born VersR 1978, 788; einschr. OLG Hamm v. 26.1.2000 – 13 U 149/99, NZV 2001, 217. 68 BGH v. 2.12.1966 – VI ZR 72/65, VersR 1967, 183; vgl. auch den Fall OLG Nürnberg v. 12.4.1994 – 3 U 3621/93, NZV 1994, 357. 69 OLG Düsseldorf v. 13.5.1996 – 1 U 103/95, VersR 1996, 988 = NZV 1996, 496. 70 BGH v. 2.3.1982 – VI ZR 35/80, VersR 1982, 548; Koller NJW 1983, 16; a.A. OLG Celle v. 19.2.1981 – 5 U 99/80, VersR 1981, 934. 71 KG v. 11.7.2019 – 22 U 160/17, NJW 2019, 3390 = NZV 2020, 100 mit zust. Anm. Syrbe; OLG Düsseldorf v. 13.5.1996 – 1 U 103/95, VersR 1996, 988; Halbgewachs NZV 1997, 469 zu sog. Exoten. 72 OLG Nürnberg v. 18.6.1980 – 9 U 896/80, DAR 1981, 14; LG Traunstein v. 20.10.1992 – 2 S 2396/92, NZV 1993, 156 (Autotelefon).

784 | Zwickel

III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.26 § 28

c) Mietzeit Die Mietzeit, für welche Ersatz verlangt werden kann, richtet sich nach der notwendigen Dauer der Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung. Hierbei ist ggf. die Zeit für die Erstellung eines Schadensgutachtens,73 für die Einschaltung eines Rechtsanwalts74 und für Verhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer des Schädigers, die unumgängliche Wartezeit auf einen Reparaturtermin, eine angemessene Überlegungsfrist für die Entscheidung, ob der Schaden durch Reparatur oder Ersatzbeschaffung ausgeglichen werden soll, sowie eine angemessene Frist für die Suche nach einem Ersatzfahrzeug einzurechnen. Hat der Geschädigte die Abrechnung der Reparaturkosten auf der Basis eines Gutachtens verlangt, kann er Mietwagenkosten nur für die Dauer dieser fiktiven Reparatur beanspruchen.75

28.23

Welche Zeiträume angemessen sind, hängt sehr von den Umständen des Einzelfalls ab. Der Versuch, eine vorherige Kostenübernahmeerklärung des Haftpflichtversicherers zu erlangen, rechtfertigt eine Verzögerung i.d.R. nicht.76 Fehlt dem Geschädigten aber nachweislich die Möglichkeit zur Vorfinanzierung eines Ersatzkaufes oder einer Reparatur sowie zur Aufnahme eines Kredites, so sind die Mietwagenkosten bis zur Auszahlung der Entschädigungssumme erstattungsfähig.77 Dies wird allerdings nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und setzt eine Information des Ersatzpflichtigen zur Schadensabwendung (Vorschuss) voraus.78 Zur Inanspruchnahme der Kaskoversicherung s. Rz. 25.109.

28.24

Alleine die Erwartung einer längeren Mietdauer nötigt den Geschädigten nicht, sich mit einem kleineren Mietwagen zu begnügen;79 er muss aber ggf. von einem Pauschalpreisangebot oder Langzeittarif Gebrauch machen80 oder eine zumutbare Behelfsreparatur vornehmen lassen.81 Bei einer voraussichtlichen Reparaturzeit von ca. drei Monaten gebietet die Schadensminderungspflicht grundsätzlich die Beschaffung eines Interimsfahrzeugs.82

28.25

Bei Verzögerungen, die vom Geschädigten zu vertreten sind, mindert sich sein Anspruch nach § 254 Abs. 2 BGB. Verzögerungen aus dem Verantwortungsbereich von Werkstatt,83 Gutachter84 oder Verkäufer eines Ersatzfahrzeugs85 sind ihm nicht ohne weiteres zuzurechnen, sondern nur dann, wenn ihm selbst ein Vorwurf gemacht werden kann. Hierbei dürfen keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Der Geschädigte ist z.B. nicht verpflichtet, eigens nach einer besonders schnellen Werkstatt zu suchen. Er braucht sich auch, wenn sich

28.26

73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Einschr. Halbgewachs NZV 1997, 471. LG Saarbrücken v. 23.9.2016 – 13 S 53/16, NJW-RR 2017, 355. BGH v. 15.7.2003 – VI ZR 361/02, NZV 2003, 569, 570. OLG Hamm v. 18.1.1984 – 3 U 116/83, VersR 1986, 43. LG Saarbrücken v. 14.2.2014 – 13 S 189/13, NZV 2014, 362; LG Hamburg v. 30.3.2012 – 302 O 265/11, NZV 2013, 91; LG Gießen v. 27.4.1988 – 1 S 74/88, VersR 1988, 1044 mit Anm. Zwerenz; LG Frankfurt/M. v. 5.2.1992 – 2/16 S 179/91, NJW-RR 1992, 1183. LG Lüneburg v. 7.7.2012 – 2 S 75/11, NZV 2013, 45. A.A. AG Karlsruhe v. 2.12.1983 – 1 C 500/83, VersR 1984, 1179. OLG Köln v. 9.5.1990 – 26 U 68/89, VersR 1992, 192; LG Frankenthal v. 24.1.1984 – 4 O 444/82, VersR 1986, 248. OLG Köln v. 9.5.1990 – 26 U 68/89, VersR 1992, 192. OLG Oldenburg v. 4.11.1981 – 3 U 72/81, VersR 1982, 1154; OLG Hamm v. 5.6.1991 – 13 U 55/ 91, ZfS 1991, 234. BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, VersR 1975, 184. LG Hanau v. 28.11.1989 – 2 S 409/89, ZfS 1990, 124. LG Saarbrücken v. 10.11.2017 – 13 S 97/17, NJW-RR 2018, 27 (Fehlschlagen einer ersten Ersatzbeschaffung).

Zwickel | 785

§ 28 Rz. 28.26 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

kein Anhalt für eine unverhältnismäßig lange Reparaturdauer ergibt, nicht nach der voraussichtlichen Reparaturzeit zu erkundigen.86 Zu weit geht es auch, von ihm zu verlangen, dass er durch tägliche Vorsprachen und Anrufe auf eine zügige Reparatur hinwirkt.87 Allerdings kann verlangt werden, dass er dann, wenn er von einer Werkstatt auf eine besonders lange Wartezeit hingewiesen wird, eine andere sucht;88 ebenso dass er bei unangemessen langer Reparaturdauer auf Fertigstellung dringt.89 Bei unvermeidbaren Verzögerungen muss er den Ersatzpflichtigen auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens infolge Auflaufens von Mietwagenkosten aufmerksam machen.90 Geht die Verzögerung zu Lasten des Schädigers, so kann er die Abtretung etwaiger vertraglicher Ansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt verlangen (vgl. Rz. 27.47).

28.27

Bei einer Verzögerung der Schadensregulierung durch den Haftpflichtversicherer kann der Geschädigte den Mietwagen weiterbenutzen, wenn er selbst weder mit Eigenmitteln noch mit Hilfe eines Kredits zur Vorfinanzierung in der Lage ist;91 auf die Gefahr eines besonders hohen Schadens muss er den Ersatzpflichtigen jedoch hinweisen.92

28.28

Lässt der Geschädigte zusammen mit den Unfallschäden auch unfallunabhängige Schäden reparieren, so kann er nur für den Teil der Reparaturzeit einen Mietwagen beanspruchen, der für die reine Unfallreparatur angefallen wäre.93

28.29

Kauft der Geschädigte einen Neuwagen, obwohl er nach den Grundsätzen des Schadensrechts nur Anspruch auf Reparatur oder Bezahlung eines Gebrauchtwagens hat, so kann er die Mietwagenkosten nur bis zu dem Zeitpunkt beanspruchen, bis zu dem die Reparatur oder Ersatzbeschaffung möglich gewesen wäre.94 Etwas anderes kann aber u.U. dann gelten, wenn der Geschädigte bereits vor dem Unfall einen Neuwagen bestellt hatte, denn hier ist es – abgesehen von den Fällen besonders langer Lieferfristen – i.d.R. nicht zumutbar, zwischendurch noch einen Gebrauchtwagen zu erwerben.95 Keinen ausreichenden Grund, Mietwagenkosten bis zur Lieferung eines Neuwagens zuzubilligen, stellt es dagegen dar, wenn der Geschädigte aus beruflichen Gründen stets nur Neuwagen kauft.96 Ist er aber zur Abrechnung auf Neuwagenbasis berechtigt (Rz. 27.15 ff.), so kann er nach den für Totalschäden geltenden Grundsätzen für den Beschaffungszeitraum einen Mietwagen in Anspruch nehmen.97

86 OLG München v. 28.1.1966 – 10 U 2074/65, VersR 1966, 786; anders u.U. in der Ferienzeit, vgl. OLG Stuttgart v. 21.4.1981 – 11 U 8/81, VersR 1981, 1061. 87 So OLG Jena v. 20.4.1995 – 1 U 582/94, OLG-NL 1995, 223. 88 OLG Saarbrücken v. 23.3.2010 – 4 U 504/09, NZV 2011, 85. 89 LG Detmold v. 25.1.1967 – 2 S 190/66, VersR 1967, 510. 90 LG Karlsruhe v. 13.10.1980 – 4 O 125/80, VersR 1982, 562. 91 OLG München v. 25.7.1969 – 10 U 1070/680, VersR 1969, 1098. 92 OLG Schleswig v. 11.10.1966 – 1 U 27/66, VersR 1967, 68; LG Oldenburg v. 6.5.2019 – 18 S 351/ 18, NZV 2020, 53 mit Anm. Almeroth. 93 BGH v. 7.6.1960 – II ZR 57/59, VersR 1960, 902. 94 OLG Nürnberg v. 22.7.2019 – 5 U 696/16, SVR 2019, 455; OLG Hamm v. 1.10.1992 – 6 U113/92, VersR 1993, 766; LG Saarbrücken v. 30.12.2019 – 13 S 168/19. 95 BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 62/07, NJW 2008, 915; OLG Celle v. 14.10.2007 – 14 U 85/07, NJW 2008, 446 (für Lkw); OLG München v. 27.11.1975 – 24 U 813/75, DAR 1976, 156, 157; a.A. KG v. 10.11.1977 – 22 U 2281/77, VRS 54, 241. 96 A.A. OLG Hamburg VersR 1960, 450 mit abl. Anm. Ruhkopf VersR 1960, 719. 97 OLG Karlsruhe v. 25.10.1993 – 1 U 137/92, DAR 1994, 26.

786 | Zwickel

III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.32 § 28

Die Schadensminderungspflicht kann gebieten, die Mietzeit durch Weiterbenutzung des Unfallfahrzeugs bis zum Beginn der Reparatur abzukürzen, sofern es nur geringfügig beschädigt und in seiner Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt ist. Lässt sich z.B. die Inanspruchnahme eines Mietwagens zunächst dadurch vermeiden, dass der Geschädigte mit einer provisorischen Stoßstange fährt, so ist er – auch bei teuren Wagen – hierzu verpflichtet.98 Im Übrigen hängt die Zumutbarkeit von den Umständen des Einzelfalles ab. Sie kann fehlen bei einem Fahrzeug, das zu Repräsentations- oder Erwerbszwecken (z.B. Taxi) gebraucht wird. U.U. – etwa bei Bevorstehen einer größeren Reise oder wegen Reparaturverzögerung durch die Ferienzeit – kann es sogar geboten sein, die Reparatur zurückzustellen und das Fahrzeug zunächst in beschädigtem Zustand weiter zu benutzen, wenn auf diese Weise unverhältnismäßig hohe Mietwagenkosten vermieden werden können.99

28.30

d) Umfang der Nutzung Der Geschädigte braucht sich keine besondere Beschränkung aufzuerlegen. Er kann den Mietwagen im gleichen Umfang – aber auch nur in diesem – nutzen, wie er sein eigenes Fahrzeug genutzt hätte,100 also z.B. auch für eine weitere Reise.101 Bei krassem Missverhältnis zwischen dem Fahrzeugwert und den zu erwartenden Mietkosten kann allerdings, soweit nach den Umständen zumutbar, der Kauf eines Interimsfahrzeugs geboten sein.102

28.31

Bei Beschädigung des Kfz während einer Reise ist grundsätzlich für die Inanspruchnahme eines Mietwagens aufzukommen, wenn diese zur Fortsetzung der Reise notwendig war.103 Auf die Benutzung der Bahn104 oder die Beschaffung eines Interimsfahrzeugs105 braucht sich der Geschädigte allenfalls in Ausnahmefällen verweisen zu lassen; dass die Mietwagenkosten den Wert des Fahrzeugs übersteigen, reicht hierfür alleine noch nicht aus (vgl. auch Rz. 28.10). Zu Recht hat der BGH106 einem Geschädigten, der mit Familie zu einem fünfwöchigen Urlaub in der Türkei unterwegs war, nicht zugemutet, sich unter Aufopferung einiger Urlaubstage107 bei ungeklärter Finanzierung und an fremdem Ort um einen Ersatz für sein sechs Jahre altes Auto zu bemühen, sondern die Mietwagenkosten zugesprochen, obwohl sie um das Doppelte höher waren als die Wiederbeschaffungskosten. Bei geringfügiger Beschädigung des Kfz kann der Geschädigte u.U. gehalten sein, die Reise nach notdürftiger Ausbesserung fortzusetzen. Dasselbe gilt bei Beschädigung unmittelbar vor Antritt einer unaufschiebbaren Reise.108

28.32

98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

108

OLG München v. 15.12.1967 – 10 U 1533/67, VersR 1968, 605. OLG Stuttgart v. 21.4.1981 – 11 U 8/81, VersR 1981, 1061. KG OLGZ 1976, 193. LG Nürnberg-Fürth v. 14.2.1973 – 2 O 233/72, VersR 1974, 507. Näher hierzu Eggert NZV 1988, 121 ff. BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 86/84, VersR 1985, 1090. Vgl. OLG Stuttgart v. 7.11.1975 – 15 U 100/75, VersR 1977, 44; OLG Köln v. 27.4.1979 – 20 U 148/78, VersR 1979, 965. OLG Frankfurt v. 20.1.1982 – 17 U 40/81, VersR 1982, 859. BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 86/84, VersR 1985, 1090. Zust. Halbgewachs NZV 1997, 471. Vgl. hierzu auch OLG Nürnberg v. 21.9.1973 – 1 U 59/73, VersR 1974, 677; OLG Köln v. 27.4.1979 – 20 U 148/78, VersR 1979, 965 (Zumutbarkeit bejahend); KG v. 11.10.1976 – 12 U 884/76, DAR 1977, 185; OLG München v. 14.6.1983 – 5 U 4351/82, VersR 1983, 1064 (verneinend). OLG Stuttgart v. 30.6.1981 – 11 U 183/80, VersR 1982, 559; OLG Hamm v. 26.10.1988 – 13 U 50/88, NJW-RR 1989, 730.

Zwickel | 787

§ 28 Rz. 28.33 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

e) Höhe der Mietkosten 28.33

Die zu ersetzende Höhe der Mietkosten richtet sich im Grundsatz nach dem tatsächlich angefallenen Betrag am Ort, an dem das Fahrzeug angemietet und übernommen wird (Rz. 28.15).109 Empfehlungen oder Absprachen der Versicherer (wie z.B. die ehemaligen HUK-Empfehlungen110) sind hierfür ohne Bedeutung,111 ebenso der objektive Nutzungswert112 (vgl. Rz. 28.15 a.E.). Wurde zwischen Autovermieter und Geschädigtem kein bestimmter Mietpreis vereinbart, sondern nur besprochen, dass die Kosten ausschließlich den Haftpflichtversicherer treffen sollen, so ist der günstigste Tarif als vereinbart anzusehen.113 Zur Ermittlung dieses Normaltarifs i.R.d. tatrichterlichen Schätzermessens (§ 287 ZPO) bedient sich die Rspr. der Tabellenwerke Schwacke-Automietpreisspiegel114 sowie Fraunhofer-Marktpreisspiegel.115 Wie auch Sachverständigengutachten116 sind diese Tabellenwerke, nach Auffassung des BGH, grundsätzlich taugliche, flexibel anwendbare Schätzgrundlagen.117 Bei Zweifeln an der Richtigkeit der Normaltarifbestimmung mittels der Tabellenwerke (z.B. im Fall von gebrauchswerterhöhenden Sonderausstattungen) darf der Tatrichter ggf. pauschale Zu- bzw. Abschläge auf die Tabellenwerte vornehmen.118 Mit der umstrittenen Frage der Eignung der Schätzgrundlagen,119 in der die instanzgerichtliche Rspr. mittlerweile vielfach auf das arithmetische Mittel der beiden Tabellenwerke abstellt,120 hat sich der Tatrichter nur zu befassen, wenn konkrete Tatsachen beigebracht werden, die belegen, dass Mängel der Tabellenwerke sich auf den zu entscheidenden Fall auswirken.121 Zur Erschütterung der Schätzgrundlagen reichen allgemeine Ausführungen (z.B. Screenshots)122 und nicht vergleichbare Angebote, z.B. auf Basis des Grund- und

109 BGH v. 11.3.2008 – VI ZR 164/07, NJW 2008, 1519. 110 Vgl. hierzu Heitmann VersR 1993, 24; Möller/Durst VersR 1993, 1070; BKartA NZV 1995, 346; Köhler NJW 1995, 2019 (auch zur Kartellrechtswidrigkeit der an ihre Stelle getretenen bilateralen Regulierungsabkommen zwischen Versicherern und Autovermietern). 111 OLG Stuttgart v. 31.3.1994 – 7 U 296/93, NZV 1994, 314 mit Anm. Buchholz-Duffner; OLG Frankfurt v. 8.12.1994 – 16 U 233/93, VersR 1996, 211. 112 A.A. OLG München v. 17.5.1994 – 5 U 5630/93, VersR 1994, 1318; OLG München v. 14.3.1995 – 5 U 3850/94, DAR 1995, 254. 113 OLG Naumburg v. 13.12.1995 – 6 U 168/95, NZV 1996, 233; Greger NZV 1996, 431. 114 So in jüngerer Zeit: OLG Dresden v. 6.5.2015 – 7 U 192/14, MRW 2016, 33. 115 So in jüngerer Zeit: OLG Düsseldorf v. 24.3.2015 – 1 U 42/14, DAR 2015, 334. 116 OLG Saarbrücken v. 22.12.2009 – 4 U 294/09, NJW-RR 2010, 541. 117 BGH v. 18.12.2012 – VI ZR 316/11, VersR 2013, 330; BGH v. 12.4.2011 – VI ZR 300/09, NJW 2011, 1947, 1948; BGH v. 18.5.2010 – VI ZR 293/08, VersR 2010, 1054; BGH v. 2.2.2010 – VI ZR 7/09, DAR 2010, 464; BGH v. 14.10.2008 – VI ZR 308/07, NJW 2009, 58; BGH v. 11.3.2008 – VI ZR 164/07, NJW 2008, 1519. 118 BGH v. 27.3.2012 – VI ZR 40/10, NJW 2012, 2026; BGH v. 18.12.2012 – VI ZR 316/11, NJW 2013, 1539, 1540. 119 Franzen NZV 2015, 57; Richter NZV 2008, 321; Vuia NJW 2008, 2369; Richter VersR 2007, 620; Richter VersR 2009, 1438; Quaisser NZV 2009, 121; Metz NZV 2009, 57. 120 OLG Bamberg v. 4.8.2015 – 5 U 272/14, NZV 2016, 380; OLG Celle v. 13.4.2016 – 14 U 127/15, VersR 2017, 313; OLG Hamm v. 18.3.2016 – 9 U 142/15, NZV 2016, 336; OLG Schleswig v. 28.11.2019 – 7 U 39/19, NJW-RR 2020, 485; LG Frankfurt/M. v. 20.12.2018 – 2-01 S 212/17, NJW-RR 2019, 472; Richter DAR-Extra 2016, 737; a.A. MünchKomm-StVR/Almeroth, § 249 BGB Rz. 275 (Tendenz zu Schwacke). 121 BGH v. 17.5.2011 – VI ZR 142/10, VersR 2011, 1026; BGH v. 22.2.2011 – VI ZR 353/09, VersR 2011, 643; BGH v. 11.3.2008 – VI ZR 164/07, NJW 2008, 1519, 1520. 122 LG Karlsruhe v. 14.1.2014 – 9 S 396/12, NJW-RR 2014, 987.

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III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.34 § 28

nicht des Endpreises, nicht aus.123 Diese „Abwälzung“ der Auseinandersetzung mit den Tabellenwerken wird in der Literatur teils als „unlösbare Aufgabe“ kritisiert.124 Beschränkungen des Ersatzanspruchs können sich aus dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit sowie aus Verletzung der Schadensminderungspflicht ergeben. Im Einzelnen: aa) Unfallersatztarif Die Abrechnung nach einem (gegenüber dem Normaltarif erhöhten) Unfallersatztarif hat der BGH ursprünglich als Problem der Schadensminderungspflicht angesehen und entschieden, der zu einem solchen Tarif anmietende Geschädigte verstoße nicht gegen diese Pflicht, solange ihm die Verteuerung gegenüber einem Normaltarif nicht ohne weiteres erkennbar sei.125 In späteren Entscheidungen stellte der BGH dagegen bereits die Erforderlichkeit entsprechender Aufwendungen in Frage. Da Unfallersatztarife aufgrund der besonderen Marktgegebenheiten erheblich über den für Selbstzahler angebotenen Normaltarifen lägen, könnten sie nur dann der Ermittlung des für die Herstellung erforderlichen Aufwands zugrunde gelegt werden, wenn der höhere Preis wegen der Besonderheiten der Unfallsituation aus betriebswirtschaftlicher Sicht gerechtfertigt sei (z.B. wegen der Vorfinanzierung oder des Risikos eines Ausfalls mit der Ersatzforderung wegen falscher Bewertung des Haftungsanteils);126 für einen nicht als Unfallersatztarif deklarierten, aber weit über dem Durchschnitt der am Ort erhältlichen „Normaltarife“ liegenden Einheitstarif muss dasselbe gelten.127 Der für die Erforderlichkeit darlegungs- und beweispflichtige Geschädigte muss demnach, wenn der Ersatzpflichtige die Erforderlichkeit der geltend gemachten Aufwendungen bestreitet, die betriebswirtschaftliche Rechtfertigung nachweisen, wofür vielfach ein Sachverständigengutachten erforderlich ist.128 Allerdings müssen hierbei die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen nicht im Einzelnen nachvollzogen werden; es genügt die – dem tatrichterlichen Schätzermessen nach § 287 ZPO unterliegende – Prüfung, ob spezifische Leistungen bei der Vermietung an Unfallgeschädigte den Mehrpreis rechtfertigen.129 Dabei ist die betriebswirtschaftliche Rechtfertigung aus123 OLG Düsseldorf v. 24.3.2015 – 1 U 42/14, VersR 2015, 1396; OLG Köln v. 18.8.2010 – 5 U 44/ 10, NZV 2010, 614, 615; OLG Stuttgart v. 18.8.2011 – 7 U 109/11, NZV 2011, 556; a.A. OLG Koblenz v. 2.2.2015 – 12 U 925/13, SVR 2015, 299 mit Anm. Balke; zum Beweis der Mietwagenkosten Stalinski NZV 2014, 337. 124 Scholten DAR 2014, 72, 75. 125 BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 138/95, BGHZ 132, 373. 126 BGH v. 12.10.2004 – VI ZR 151/03, BGHZ 160, 377 = NZV 2005, 32 u NZV 2005, 34 mit Anm. Buller; BGH v. 19.4.2005 – VI ZR 37/04, BGHZ 163, 19; BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 74/04, NZV 2005, 301. Ebenso die englische Rspr; vgl. Unberath NZV 2003, 502 ff.; zu den Besonderheiten des Unfallersatzgeschäfts Neidhardt/Kremer NZV 2005, 171; zu den kalkulatorischen Grundlagen solcher Tarife Albrecht NZV 1996, 49; krit. Griebenow NZV 2005, 113 ff. 127 BGH v. 9.5.2006 – VI ZR 117/05, NJW 2006, 2106. 128 So auch der BGH in den vorstehend angeführten Entscheidungen. In BGH v. 25.10.2005 – VI ZR 9/05, NJW 2006, 360, 361 u. folgenden Entscheidungen wird stärker auf die tatrichterliche Schätzung nach § 287 ZPO („ggf. nach sachverständiger Beratung“) verwiesen. Zur Aufnahme dieser Rspr. in Praxis und Literatur s. Rz. 28.11. 129 BGH v. 14.2.2006 – VI ZR 126/05, NJW 2006, 1506; BGH v. 4.4.2006 – VI ZR 338/04, NJW 2006, 1726, 1727; BGH v. 13.6.2006 – VI ZR 161/05, NJW 2006, 2621, 2622; BGH v. 23.1.2007 – VI ZR 243/05, NJW 2007, 1122; BGH v. 30.1.2007 – VI ZR 99/06, NJW 2007, 1124; BGH v. 27.6.2007 – XII ZR 53/05, NJW 2007, 2759; BGH v. 26.6.2007 – VI ZR 163/06, NJW 2007, 2916.

Zwickel | 789

28.34

§ 28 Rz. 28.34 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

reichend. Weitere Mehrleistungen des Vermieters sowie die Wirksamkeit des Vertrages zwischen Vermieter und Geschädigtem spielen für die Prüfung der Erforderlichkeit keine Rolle.130

28.35

Ergibt sich hierbei, dass der Geschädigte zu einem ungerechtfertigt überhöhten Tarif abgeschlossen hat, kann er diese Kosten nur ersetzt verlangen, wenn er zusätzlich darlegt und ggf. beweist, dass ihm unter Berücksichtigung seiner individuellen Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten sowie der gerade für ihn bestehenden Schwierigkeiten auf dem in seiner Lage zeitlich und örtlich relevanten Markt unter zumutbaren Anstrengungen kein wesentlich günstigerer Tarif ohne weiteres zugänglich war.131 Gelingt bereits dem Schädiger der Beweis, dass ein günstigerer Tarif ohne weiteres zugänglich gewesen wäre, kann die o.g. Erforderlichkeit offen bleiben.132 Als zumutbar bezeichnet der BGH die Nachfrage nach einem günstigeren Tarif, je nach Lage des Falles (also nicht bei besonderer Dringlichkeit)133 auch bei einem anderen Vermieter.134 Auch wenn ihm vom Vermieter nur der Unfallersatztarif angeboten wurde, trifft ihn eine Erkundigungspflicht, wenn die Höhe Anlass zu Zweifeln an der Angemessenheit geben musste;135 Kenntnis von den Besonderheiten der Unfallersatztarife ist hierbei nicht erforderlich.136 Der Wechsel in einen dem Geschädigten später bekannt (d.h. zugänglich gewordenen) günstigeren Tarif bei einem anderen Vermieter ist nur dann zumutbar, wenn nicht nur mehr eine Reparaturdauer von wenigen Werktagen verbleibt.137 Von diesen Fragen der Schadenshöhe ist ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 S. 1 BGB) zu unterscheiden, den der Schädiger darzulegen und ggf. zu beweisen

130 BGH v. 9.10.2007 – VI ZR 27/07, NJW 2007, 3782 mit Anm. Ch. Huber; BGH v. 16.9.2008 – VI ZR 226/07, NJW-RR 2009, 130. 131 BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 536/15, NJW 2016, 2402; BGH v. 19.4.2005 – VI ZR 37/04, BGHZ 163, 19; BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 74/04, NZV 2005, 301, 302; BGH v. 4.4.2006 – VI ZR 338/ 04, NJW 2006, 1726, 1727; BGH v. 23.1.2007 – VI ZR 18/06, NJW 2007, 1123; BGH v. 6.3.2007 – VI ZR 36/06, NJW 2007, 1676; BGH v. 24.6.2008 – VI ZR 234/07, NJW 2008, 2910; BGH v. 19.1.2010 – VI ZR 112/09, VersR 2010, 494. Krit. Schlüszler NZV 2007, 391. 132 BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 536/15, NJW 2016, 2402. 133 BGH v. 19.2.2008 – VI ZR 32/07, VersR 2008, 554 (Notwendigkeit sofortiger Weiterfahrt); OLG Frankfurt NJW-RR 2013, 863 (Anmietung durch Notarzt mit familiären Verpflichtungen); OLG Köln v. 19.6.2006 – 16 U 10/06, NZV 2007, 202 (Anmietung am 2. Weihnachtsfeiertag); abl. BGH v. 5.3.2013 – VI ZR 245/11, DAR 2013, 378 (Anmietung am Folgetag des Unfalls). 134 BGH v. 19.4.2005 – VI ZR 37/04, BGHZ 163, 19, 25; BGH v. 14.10.2008 – VI ZR 210/07, VersR 2009, 83 (Einblick in Listen anderer Vermieter reicht nicht aus); BGH v. 14.2.2006 – VI ZR 126/05, NJW 2006, 1506, 1508 (wonach sich schon aus der Höhe der Kosten Bedenken gegen die Angemessenheit ergeben mussten); BGH v. 4.4.2006 – VI ZR 338/04, NJW 2006, 1726, 1728 (wo zudem der Haftpflichtversicherer eine Preisvergleichstabelle übersandt hat); BGH v. 9.3.2010 – VI ZR 6/09, NJW 2010, 2569 (Nachfrage ist bei hohem Mietzins auch in Eilsituation geboten); krit. zur Nachfrageobliegenheit Herrler VersR 2007, 582. Zu weitgehend wohl OLG München v. 29.10.2010 – 10 U 2892/09, NJW 2011, 936 mit Anm. Vuia mit Verpflichtung zu laufender Beobachtung von Angeboten und Konditionen von regionalen und überregionalen Miettaxiunternehmen bei Ausfall eines Taxis. 135 BGH v. 9.5.2006 – VI ZR 117/05, NJW 2006, 2106; BGH v. 13.6.2006 – VI ZR 161/05, NJW 2006, 2621; BGH v. 30.1.2007 – VI ZR 99/06, NJW 2007, 1124; BGH v. 13.2.2007 – VI ZR 105/06, NJW 2007, 1449; sehr weitgehend LG Meiningen v. 24.8.2017 – 4 S 171/16, NJW-RR 2017, 1495 (Nachfrageobliegenheit nach günstigstem Unfallersatztarif). 136 BGH v. 4.7.2006 – VI ZR 237/05, NJW 2006, 2693, 2694. 137 BGH v. 13.1.2009 – VI ZR 134/08, VersR 2009, 801.

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III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.37 § 28

hat.138 Ein solcher Verstoß ist dann anzunehmen, wenn der Ersatzpflichtige darlegt und beweist, dass dem Geschädigten ein günstigerer Tarif (ggf. gegen zumutbare Vorauszahlung oder Kaution) angeboten wurde.139 Auf das Angebot des Haftpflichtversicherers an den Geschädigten, ihm eine günstige Anmietmöglichkeit zu vermitteln, hat der Geschädigte sich, auch bei Angebot eines ihm nicht zugänglichen Sondertarifs,140 einzulassen.141 Die auf Zahlung höherer Kosten gerichtete Klage ist dann abzuweisen, ohne dass es Feststellungen zur betriebswirtschaftlichen Rechtfertigung i.S.v. Rz. 28.34 bedürfte.142 Auch ob der Geschädigte zur Erlangung des günstigeren Tarifs seine Kreditkarte einsetzen muss, sieht der BGH als Frage der Schadensminderungspflicht an.143 Im Anschluss an diese Neujustierung der Mietwagenrechtsprechung des VI. Zivilsenats hat der XII. Zivilsenat des BGH eine Aufklärungspflicht des Autovermieters statuiert.144 Dieser sei verpflichtet, den Unfallgeschädigten, dem er einen Ersatzwagen zu einem deutlich über dem Normaltarif am Ort, an dem das Fahrzeug angemietet und übernommen wird,145 liegenden Tarif anbietet, darüber aufzuklären, dass die Haftpflichtversicherung die Kosten möglicherweise nicht voll übernimmt.146 Erfüllt der Vermieter diese Pflicht nicht und schließt der Geschädigte deshalb zu einem überhöhten Tarif ab, kann er nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, 249 BGB verlangen, so gestellt zu werden, wie er bei erfolgter Aufklärung stünde; Zweifel gehen hierbei zu Lasten des Vermieters.147 Damit stellt sich die Rechtslage jetzt wie folgt dar:

28.36

– Hat der Geschädigte trotz Aufklärung zu einem überhöhten Tarif abgeschlossen, geht der Mehrpreis zu seinen Lasten.

28.37

– Hat der Geschädigte infolge fehlender Aufklärung ungerechtfertigt hohe Kosten verursacht, bekommt er (bei Abtretung: der Vermieter) diese vom Haftpflichtversicherer des Gegners nicht ersetzt, wenn ihm in der konkreten Lage ein günstigerer Tarif bei zuzumutender An-

138 BGH v. 24.6.2008 – VI ZR 234/07, NJW 2008, 2910; BGH v. 2.2.2010 – VI ZR 139/085, NJW 2010, 1445, 1446. 139 BGH v. 5.3.2013 – VI ZR 245/11, DAR 2013, 378; OLG Celle v. 13.4.2016 – 14 U 127/15, VersR 2017, 313. 140 BGH v. 12.2.2019 – VI ZR 141/18, DAR 2019, 257. 141 BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 536/15, NJW 2016, 2402. 142 BGH v. 23.1.2007 – VI ZR 18/06, NJW 2007, 1123; BGH v. 14.2.2006 – VI ZR 32/05, NJW 2006, 1508, 1509; BGH v. 24.6.2008 – VI ZR 234/07, NJW 2008, 2910 = r+s 2008, 485 mit Anm. Metz; BGH v. 2.2.2010 – VI ZR 139/08, NJW 2010, 1445, 1446. 143 BGH v. 19.4.2005 – VI ZR 37/04, BGHZ 163, 19, 26; BGH v. 6.3.2007 – VI ZR 36/06, NJW 2007, 1676 mit Anm. van Bühren. 144 BGH v. 28.6.2006 – XII ZR 50/04, NJW 2006, 2618 = NZV 2006, 528 mit Anm. Schlüszler; BGH v. 10.1.2007 – XII ZR 72/04, NJW 2007, 1447; BGH v. 7.2.2007 – XII ZR 125/04, NJW 2007, 2181; BGH v. 27.6.2007 – XII ZR 53/05, NJW 2007, 2759. 145 BGH v. 11.3.2008 – VI ZR 164/07, NJW 2008, 1519. 146 Eine Aufklärung über den gespalteten Tarifmarkt sowie über Konkurrenzangebote ist nicht erforderlich (s. BGH v. 21.11.2007 – XII ZR 15/06, VersR 2008, 269; BGH v. 21.11.2007 – XII ZR 128/05, SVR 2008, 104 mit Anm. Richter). 147 BGH v. 28.6.2006 – XII ZR 50/04, NJW 2006, 2618, 2621; BGH v. 10.1.2007 – XII ZR 72/04, NJW 2007, 1447; BGH v. 24.10.2007 – XII ZR 155/05, NZV 2008, 143; BGH v. 21.11.2007 – XII ZR 15/06, VersR 2008, 269; BGH v. 21.11.2007 – XII ZR 128/05, SVR 2008, 104 mit Anm. Richter; BGH v. 25.3.2009 – XII ZR 117/07, NJW-RR 2009, 1101.

Zwickel | 791

§ 28 Rz. 28.37 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

strengung zugänglich gewesen wäre; der Geschädigte kann die Überhöhung jedoch als Schadensersatzforderung gegen den Autovermieter geltend machen, ggf. gegen dessen Mietforderung aufrechnen. – War ihm ein günstigerer Tarif in der vorbezeichneten Lage nicht zugänglich, bekommt er die vollen Kosten vom Haftpflichtversicherer ersetzt, muss diesem jedoch seinen Schadensersatzanspruch gegen den Vermieter abtreten (entspr. der Rspr. zum Werkstattverschulden; s. Rz. 27.47); war die Schadensersatzforderung aus dem Unfall an den Autovermieter wirksam abgetreten, kann der Versicherer dagegen mit der ihm abgetretenen Schadensersatzforderung aus Verletzung der Aufklärungspflicht aufrechnen.148

28.38

Vom letztgenannten Fall abgesehen, wird der Tarifstreit somit auch weiterhin – was der BGH früher149 noch vermeiden wollte – auf dem Rücken der Unfallgeschädigten ausgetragen.150 Verstärkt wird die Risikoverlagerung auf die Geschädigten zudem noch durch die i.d.R. gegebene Nachfrageobliegenheit nach günstigeren Tarifen (s. Rz. 28.35).151 Die Geschädigten müssen sich mit dem Haftpflichtversicherer und dem Autovermieter auseinandersetzen, um nicht in der durch den Unfallersatztarif errichteten Kostenfalle hängen zu bleiben.152 Der vom BGH153 zunächst aufgezeigte Weg, dem Geschädigten, solange ihm keine Verletzung der Schadensminderungspflicht angelastet werden kann, die tatsächlich berechneten Mietwagenkosten gegen Abtretung seines vorbezeichneten Schadensersatzanspruchs zuzubilligen,154 wurde bedauerlicherweise später ohne nähere Erörterung, aber als logische Konsequenz des Umschwenkens von der Schadensminderungspflicht auf die Erforderlichkeit (Rz. 28.34) aufgegeben.155 Die frühere Sicht entsprach eher einer gerechten Risikoverteilung;156 auch bot sie dem Versicherer Anreize, durch rechtzeitige Aufklärung des Geschädigten und ggf. Leistung eines vom Vermieter geforderten Vorschusses darauf hinzuwirken, dass der Geschädigte in die Lage versetzt wird, zu einem günstigeren Tarif abzuschließen.157 Zu Entwicklung und Bewertung der Mietwagenrechtsprechung s. auch Rz. 28.11 m.w.N.

148 Anders noch (vor BGH v. 28.6.2006 – XII ZR 50/04, NJW 2006, 2618) Diederichsen DAR 2006, 310; die Abtretungspflicht zu Unrecht verneinend Schlüszler NZV 2006, 532. 149 BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 138/95, BGHZ 132, 373. 150 Krit. auch Bücken DAR 2006, 475 ff. u. Herrler VersR 2007, 582; Haertlein JZ 2007, 68; G. Wagner NJW 2007, 2149. 151 Herrler VersR 2007, 582. 152 Offen gelassen in BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 160/04, NZV 2005, 302, 303. OLG München v. 17.12.2002 – 25 U 1932/02, NZV 2003, 141 nimmt Wegfall der Geschäftsgrundlage an. Näher zu den Auswirkungen der neuen BGH-Judikatur Griebenow NZV 2006, 13 ff. 153 BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 138/95, BGHZ 132, 373. 154 S. auch OLG Stuttgart v. 31.3.1994 – 7 U 296/93, NZV 1994, 315 mit Anm. Buchholz-Duffner; OLG Frankfurt v. 8.12.1994 – 16 U 233/93, NZV 1995, 108, 109; Greger NZV 2006, 5 f.; Notthoff VersR 1995, 1019; Etzel/Wagner VersR 1993, 1196 (anders aber Etzel/Wagner DAR 1995, 20). 155 BGH v. 15.2.2005 – VI ZR 160/04, NZV 2005, 302, 303; S. auch Diederichsen DAR 2006, 310. 156 Vgl. OLG Koblenz v. 16.5.1988 – 12 U 1007/87, VersR 1989, 270; OLG Köln v. 9.11.1989 – 7 U 64/89, VersR 1990, 397; KG v. 13.3.1995 – 12 U 2766/93, NZV 1995, 314; a.A. OLG Karlsruhe v. 3.2.1993 – 13 U 84/92, DAR 1993, 229; OLG Düsseldorf v. 5.12.1994 – 1 U 234/93, NZV 1995, 190; Möller/Durst VersR 1993, 1074; Etzel/Wagner DAR 1995, 20. 157 Vgl. OLG Stuttgart v. 24.4.1991 – 11 U 150/90, VersR 1992, 1485; Etzel/Wagner VersR 1993, 1195; wettbewerbswidrig wäre allerdings nach OLG Düsseldorf v. 17.3.1995 – 20 U 1/95, VersR 1996, 640 das Hinlenken auf eine versicherungseigene Vermietungsgesellschaft.

792 | Zwickel

III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.42 § 28

bb) Sondertarif, Mindestfahrstrecke Wenn sich der Geschädigte zur Bezahlung einer täglichen Mindestfahrstrecke verpflichtet, die er üblicherweise nicht erreicht158 oder wenn er von der ihm angebotenen Möglichkeit eines Sondertarifs oder Pauschalpreises keinen Gebrauch macht, kann er die dadurch verursachten Mehrkosten nicht liquidieren.

28.39

cc) Wahl des Vermieters Bei der Wahl des Vermieters dürfen die Anforderungen an den Geschädigten nicht überspannt werden. Unter mehreren ihm vorliegenden Angeboten muss er zwar grundsätzlich das günstigste wählen,159 doch dürfen von ihm keine gesteigerten Anstrengungen verlangt werden, ein besonders günstiges Angebot ausfindig zu machen.160 Nur wenn für ihn erkennbar war, dass das ausgewählte Unternehmen deutlich aus dem üblichen Rahmen fallende Kosten geltend macht, kann er diese dem Schädiger nicht in Rechnung stellen.161 Wenn besonders hohe Mietkosten zu erwarten sind (z.B. wegen längerer Reise162 oder mehrwöchiger Anmietung eines besonders aufwendigen Fahrzeugs163) sowie im gewerblichen Bereich164 können höhere Anforderungen an die Erkundigungspflicht gestellt werden.

28.40

dd) Anmietung eines Ersatzfahrzeuges Auch bei Anmietung eines billigeren Ersatzfahrzeugs richtet sich der zu ersetzende Betrag nach den tatsächlichen, nicht den ihm an sich „zustehenden“ Kosten165 (zur teilweise abweichenden Regulierungspraxis – kein Abzug der Eigenersparnis – s. Rz. 28.46). Für die Differenz der Nutzungswerte kann grundsätzlich auch keine abstrakte Entschädigung verlangt werden (vgl. Rz. 28.58).

28.41

ee) Private Miete Mietet der Geschädigte ein Fahrzeug von Privat, insbesondere von einem Angehörigen, so darf er nicht die bei gewerblichen Vermietern üblichen Sätze vereinbaren, da diese, nachdem der Gewinn und die spezifischen Unkosten eines Unternehmers hier nicht anfallen, als über-

158 OLG Düsseldorf v. 17.3.1969 – 1 U 136/68, NJW 1969, 2051; LG München I v. 7.12.1966 – 15 S 506/66, VersR 1967, 591; LG Nürnberg-Fürth v. 8.1.1965 – 11 S 414/64, VersR 1965, 913; LG Bochum v. 10.3.1972 – 5 S 242/71, VersR 1973, 381; a.A. LG Krefeld v. 2.11.1967 – 1 S 226/67, DAR 1968, 114. 159 OLG Düsseldorf v. 17.3.1969 – 1 U 136/68, VersR 1970, 42; a.A. (Wahlfreiheit innerhalb des üblichen Rahmens) OLG Hamm v. 18.9.1995 – 13 U 48/95, VersR 1996, 1358. 160 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 285; Notthoff VersR 1995, 1018; Greger NZV 1994, 339. 161 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 283, 285. 162 BGH v. 2.7.1985 – VI ZR 177/84, VersR 1985, 1092. 163 OLG Düsseldorf v. 13.5.1996 – 1 U 103/95, VersR 1996, 988; OLG Dresden v. 28.10.1999 – 16 U 1752/99, NZV 2000, 123; OLG Celle v. 22.8.2012 – 14 U 195/11, NJW-RR 2013, 353 (Rettungsfahrzeug). 164 OLG Karlsruhe v. 24.1.1990 – 1 U 231/89, VersR 1992, 108: Miettaxi; OLG Hamm v. 4.5.1995 – 27 U 12/95, VersR 1996, 773: Lkw. 165 BGH v. 2.12.1966 – VI ZR 72/65, NJW 1967, 552; Born VersR 1978, 777; a.A. MünchKommBGB/Oetker § 249 Rz. 441 m.w.N.

Zwickel | 793

28.42

§ 28 Rz. 28.42 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

höht anzusehen wären.166 Die Zubilligung eines angemessenen Mietzinses kann aber nicht mit der Erwägung abgelehnt werden, dass unter Angehörigen eine unentgeltliche Gebrauchsüberlassung zu erwarten sei. Dem steht entgegen, dass freiwillige Leistungen Dritter nicht den Schädiger entlasten sollen (vgl. Rz. 20.18 f.). Abzulehnen ist daher auch die Ansicht des OLG Karlsruhe,167 der Mietzins sei nicht zu erstatten, wenn der Vermieter eine OHG ist, deren Gesellschafter auch Gesellschafter der geschädigten OHG sind.

f) Kosten der Haftungsfreistellung 28.43

Die Kosten für eine Haftungsfreistellung, wie sie bei der Anmietung eines Kfz üblicherweise für evtl. Beschädigungen des Mietfahrzeugs vereinbart wird, kann der Geschädigte nach dem Grundsatz des vollen Schadensausgleichs dann vom Schädiger ersetzt verlangen, wenn er für das geschädigte Kfz eine Vollkaskoversicherung – mit entsprechender Selbstbeteiligung168 – abgeschlossen hatte.169 Fehlt es hieran, so erscheint die Abwälzung der Freistellungskosten auf den Ersatzpflichtigen nicht gerechtfertigt, da der Geschädigte durch die Befreiung von dem – auch bei Benutzung des eigenen Fahrzeugs ihn treffenden – Schadensrisiko einen über den Schadensausgleich hinausgehenden Vorteil erlangen würde.170 Die h.M. billigt dem Geschädigten jedoch, zumindest bei Pkw, einen Anspruch auf 50 % der Freistellungskosten zu, weil er bei Benutzung des Mietwagens ein entsprechend zu bemessendes Sonderrisiko zu tragen habe.171 Handelte es sich beim Unfallwagen um ein Leasingfahrzeug mit weitgehender Haftungsbeschränkung, kann für den Mietwagen ein entsprechender Schutz beansprucht werden.172

g) Kosten der Rechtsschutzversicherung 28.44

Die Kosten einer Rechtsschutzversicherung für das gemietete Kfz kann der Geschädigte nur beanspruchen, wenn er eine solche auch für sein eigenes Fahrzeug abgeschlossen hatte und diese keinen Versicherungsschutz beim Benutzen fremder Fahrzeuge gewährt.173 Ebenso hat der Geschädigte Anspruch auf Ersatz der Beiträge zu einer Insassen-Unfallversicherung nur, wenn eine solche auch für das eigene Kfz bestand.174

h) Ersparte Eigenbetriebskosten 28.45

Ersparte Eigenbetriebskosten sind von den Mietwagen- bzw. Taxikosten abzuziehen. Der Geschädigte hat durch die Nutzung des fremden anstatt des eigenen Fahrzeugs einen Vorteil 166 BGH v. 19.11.1974 – VI ZR 197/73, NJW 1975, 255 mit Anm. Fenn NJW 1975, 684; a.A. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 436. Für fiktive Berechnung der üblichen Sätze Müller JuS 1985, 286. 167 OLG Karlsruhe v. 9.11.1966 – 7 U 127/65, Justiz 1967, 51. 168 A.A. OLG Hamm v. 9.12.1993 – 6 U 107/93, NZV 1994, 188. 169 BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 160/72, BGHZ 61, 331; v. Caemmerer VersR 1971, 973; Born VersR 1978, 781. 170 Ebenso OLG Karlsruhe v. 28.1.1972 – 10 U 123/71, VersR 1972, 567; OLG Karlsruhe v. 14.7.1972 – 10 U16/72, VersR 1973, 66; v. Caemmerer VersR 1971, 973; a.A. Halbgewachs NZV 1997, 471 f. 171 BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 160/72, BGHZ 61, 325; BGH v. 19.3.1974 – VI ZR 216/72, VersR 1974, 657; für stärkere Differenzierung im Einzelfall MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 446; Wadle JuS 1975, 365. 172 BGH v. 25.10.2005 – VI ZR 9/05, NJW 2006, 360, 361. 173 OLG Hamm v. 31.1.1972 – 13 U 140/71, VersR 1972, 1033. 174 LG Bielefeld v. 19.1.1972 – 2 S 361/71, VersR 1973, 776; Born VersR 1978, 780.

794 | Zwickel

III. Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls | Rz. 28.45 § 28

in Form geringeren Verschleißes, anteiliger Inspektions- und Reparaturkosten sowie ersparten Verbrauchs von Öl und (bei Taxinutzung) Treibstoff erhalten, der nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. Rz. 20.19) auszugleichen ist.175 In der Regulierungspraxis wurden früher üblicherweise pauschal 15–20 % von den Mietwagenkosten für Eigenersparnis abgezogen.176 In jüngerer Zeit sind die Gerichte aber im Anschluss an ein Gutachten von Meinig,177 in dem ein Abzug von 3 % als vertretbar angesehen wurde, zunehmend zu geringeren Abzügen übergegangen.178 All diese Pauschalierungen sind im Grunde nicht ganz unbedenklich, weil die Ersparnis im Einzelfall von zahlreichen individuellen Faktoren (insbesondere Alter des Fahrzeugs, Ausmaß der Nutzung) abhängig ist,179 erscheinen jedoch im Hinblick auf § 287 ZPO hinnehmbar, weil sich ohnehin nur Näherungswerte ermitteln lassen. Dies gilt zwar auch für die von BGH180 befürwortete Berechnung anhand von Betriebskostentabellen;181 gleichwohl verdient diese, da näher an der Realität, den Vorzug.182 Jedenfalls wird das Gericht einem nachvollziehbar konkret abrechnenden Geschädigten kaum noch mit einem Pauschalabzug von 15 % begegnen können. Von einer bestimmten Nutzungsdauer oder Kilometerleistung sollte der – ohnehin pauschalierte – Abzug für Kostenersparnis nicht abhängig gemacht werden.183 Eine Frage des Einzelfalles ist, ob bei außergewöhnlich starker, z.B. gewerbsmäßiger Nutzung ein höherer Abzug gerechtfertigt ist.184

175 BGH v. 10.5.1963 – VI ZR 253/62, NJW 1963, 1399. 176 OLG Hamm v. 21.10.1963 – 3 U 67/63, NJW 1964, 406; OLG Hamm v. 18.9.1995 – 13 U 48/95, VersR 1996, 1358; OLG Köln v. 1.3.1967 – 2 U 82/66, VersR 1967, 1081; OLG München v. 24.10.1969 – 10 U 1176/69, VersR 1970, 67; KG v. 26.1.1976 – 12 U 1665/75, VersR 1977, 82 (15 %); LG Freiburg v. 13.2.1990 – 7 S 40/89, NZV 1990, 235 (10 %); LG Konstanz v. 5.2.2019 – 2 O 43/18, SVR 2020, 63 (20 %). S. auch Etzel/Wagner VersR 1993, 1194 u. Notthoff VersR 1994, 909 m.w.N. 177 Meinig DAR 1993, 281. 178 OLG Koblenz v. 2.2.2015 – 12 U 925/13, SVR 2015, 299 (10 %); OLG Düsseldorf v. 3.11.1997 – 1 U 104/96, NZV 1998, 248 (5 %); LG Freiburg v. 6.7.1994 – 9 S 39/94, VRS 88, 87 (5 %); OLG Stuttgart v. 31.3.1994 – 7 U 296/93, NZV 1994, 315 mit Anm. Buchholz-Duffner (3,5 %); OLG Karlsruhe v. 22.11.1995 – 13 U 203/93, DAR 1996, 56 (3 %); OLG Nürnberg v. 10.5.2000 – 9 U 672/00, NZV 2002, 404 (3 %); LG Nürnberg-Fürth v. 22.7.2015 – 8 S 7887/14, NZV 2016, 340 (3 %). Vgl. auch OLG Düsseldorf v. 11.3.1996 – 1 U 84/95, VersR 1996, 987 mit Aufgabe der bisherigen Rspr.: nicht über 10 %. Dafür auch Notthoff VersR 1995, 1016 f m.w.N.; für 10 % als Richtwert Greger NZV 1996, 432 (zust. OLG Hamm v. 26.1.2000 – 13 U 149/99, NZV 2001, 217 u. OLG Hamm v. 20.3.2000 – 13 U 181/99, VersR 2001, 206). 179 Vgl. Müller JuS 1985, 286. 180 BGH v. 3.6.1969 – VI ZR 27/68, VersR 1969, 828. 181 Z.B. im ADAC-Hdb. Auto, Kosten und Steuern; für Nutzfahrzeuge s. Danner/Echtler VersR 1990,1066. 182 Für konkrete Berechnung auch OLG Karlsruhe v. 18.10.1989 – 13 U 108/88, NZV 1990, 116; OLG Karlsruhe v. 4.10.1989 – 13 U 205/88, VRS 78, 402; OLG Düsseldorf v. 13.5.1996 – 1 U 103/95, NZV 1996, 496, 498; hilfsweise Notthoff VersR 1995, 1017; Melzer DAR 1994, 44. 183 Born VersR 1978, 779; a.A. OLG Düsseldorf v. 31.5.1961 – 1 U 250/60, DAR 1961, 306. 184 So OLG Koblenz v. 16.5.1988 – 12 U 1007/87, VersR 1989, 270 (25 %); OLG Hamm v. 29.5.2000 – 13 U 25/00, NZV 2001, 218 (20 % bei Taxi); AG Hamburg-St. Georg v. 4.1.2018 – 923 C 76/ 17, NJW-RR 2018, 607 (25 % bei Fahrschulwagen); a.A. OLG Nürnberg v. 26.10.1993 – 3 U 1806/93, VersR 1994, 328; LG Nürnberg-Fürth v. 22.7.2015 – 8 S 7887/14, NZV 2016, 340 (Taxi); weitere Nachw. bei Born NZV 1993, 3 f.

Zwickel | 795

§ 28 Rz. 28.46 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

28.46

Auch bei Anmietung eines billigeren Ersatzfahrzeugs ist der Abzug für ersparte Eigenbetriebskosten vorzunehmen.185 An dem auszugleichenden Vorteil der Kostenersparnis ändert sich dadurch nichts, dass der Geschädigte auf einen wertgleichen Mietwagen verzichtet. Allerdings haben die meisten Haftpflichtversicherer sich freiwillig bereit erklärt, ersparte Eigenbetriebskosten nicht abzuziehen, wenn der Geschädigte ein mindestens um 15 % des Mietpreises billigeres Ersatzfahrzeug wählt.186 Hat der Versicherer eine entsprechende Erklärung, z.B. gegenüber dem ADAC, abgegeben, so ist er hieran auch dem Geschädigten gegenüber gebunden.187

i) Totalschaden eines Leasingfahrzeuges 28.47

Bei Totalschaden eines Leasingfahrzeugs kann der Leasingnehmer (zu seiner Anspruchsberechtigung vgl. Rz. 26.29 u. Rz. 21.3) keinen über den Wiederbeschaffungswert hinausgehenden Nutzungsschaden für die vereinbarte Restlaufzeit des Leasingvertrages beanspruchen, sondern nur Gewinnausfall bzw. Mietwagenkosten für den Zeitraum der Wiederbeschaffung.188 Der Abzug wegen Eigenersparnis (Rz. 28.45) ist zu ermäßigen, wenn die Leasingraten weiterbezahlt werden müssen.189 Zum Haftungsschaden s. Rz. 30.7.

4. Besonderheiten bei gewerblich genutzten Fahrzeugen 28.48

Auch bei Beschädigung von solchen Fahrzeugen (z.B. Taxis) kann grundsätzlich Restitution durch Inanspruchnahme eines Mietfahrzeugs verlangt werden.190 Der Anspruch wird nicht durch die Höhe des zu erwartenden Gewinnentgangs begrenzt, solange nicht die Grenze des § 251 Abs. 2 BGB, d.h. des aus unternehmerischer Sicht ex ante geradezu Unvertretbaren, überschritten ist.191 Ob dies der Fall ist, lässt sich – von Extremfällen192 abgesehen – nicht nach einer starren Regel, sondern nur aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des

185 BGH v. 2.12.1966 – VI ZR 72/65, NJW 1967, 552; KG v. 10.12.1987 – 12 U 1912/87, VersR 1989, 56; OLG Frankfurt v. 9.1.1990 – 14 U 252/88, DAR 1990, 144; OLG Saarbrücken v. 2.11.1999 – 4 U 374/98, OLGR Saarbrücken 2000, 306; a.A. OLG Frankfurt v. 27.10.1983 – 1 U 75/83, VersR 1984, 667; OLG Frankfurt v. 8.12.1994 – 16 U 233/93, NZV 1995, 109; OLG Frankfurt v. 12.7.1995 – 21 U 111/94, NJW-RR 1996, 984; OLG Celle v. 1.4.1993 – 14 U 62/92, VersR 1994, 741; OLG Nürnberg v. 12.4.1994 – 3 U 3621/93, VersR 1995, 929 (für einen Fall besonders deutlicher Senkung der Mietwagenkosten, die für typgleichen Luxuswagen angefallen wären); OLG Hamm v. 25.1.1999 – 6 U 119/98, VersR 1999, 769; Notthoff VersR 1995, 1017; Born NZV 1993, 2; Halbgewachs NZV 1997, 469. 186 Vgl. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 441; Geigel/Katzenstein Kap. 3 Rz. 169. 187 AG Köln v. 5.6.1981 – 266 C 59/81, VersR 1982, 276. 188 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 145/91, BGHZ 116, 22 = NZV 1992, 227 mit Anm. Hohloch; Schnauder JuS 1992, 823; a.A. Köndgen AcP 177, 21 ff. 189 AG Wiesbaden v. 18.7.1985 – 99 C 706/85, VersR 1987, 320; a.A. OLG Hamm v. 28.9.1992 – 3 U 37/92, NZV 1993, 189. 190 Zur Berechnung des angemessenen Mietzinses für einen Reisebus s. OLG Hamm v. 8.3.1994 – 7 U 5/93, VersR 1995, 929. 191 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 225/82, VersR 1985, 284; BGH v. 19.10.1993 – VI ZR 20/93, VersR 1994, 64; Etzel/Wagner DAR 1995, 18; Born NZV 1993, 3. 192 OLG Celle v. 17.9.1998 – 22 U 1/98, NZV 1999, 209 (Überschreitung um das 3,5-fache); AG Kassel v. 7.11.1996 – 415 C 1864/96, NZV 1997, 362 (um das 5-fache); auch bei 370 % noch abwägend LG München I v. 12.3.1999 – 17 S 21087/98, NZV 2000, 88.

796 | Zwickel

IV. Abstrakte Nutzungsausfallentschädigung | Rz. 28.49 § 28

Einzelfalles bestimmen.193 Unter mehreren Möglichkeiten der Restitution (Mietwagen, Reservefahrzeug, Ausschöpfung der betrieblichen Restkapazität) hat der Geschädigte aber die wirtschaftlichste zu wählen, wobei ebenfalls eine Betrachtung ex ante anzustellen ist194 und der Schädiger das Prognoserisiko trägt.195 Dass das beschädigte Fahrzeug noch fahrfähig ist, hindert die Inanspruchnahme eines Mietwagens dann nicht, wenn das äußere Erscheinungsbild für den gewerblichen Einsatz, etwa als Taxi oder Omnibus, von Bedeutung ist.196

IV. Abstrakte Nutzungsausfallentschädigung 1. Rechtliche Grundlagen Seit der Entscheidung des Großen Senats in Zivilsachen vom 9.7.1986197 ist die durch BGHZ 40, 345198 begründete Rspr. endgültig festgeschrieben, wonach der Geschädigte auch dann, wenn er keine Aufwendungen zur Überbrückung des Ausfalls der beschädigten Sache gemacht, also z.B. auf einen Mietwagen verzichtet hat, u.U. eine Entschädigung beanspruchen kann. Diese ohne dogmatische Fundierung aus reinen Billigkeitserwägungen hergeleitete199 und von fragwürdigen Rechtfertigungsversuchen200 gestützte, hinsichtlich ihres Anwendungsbereiches zersplitterte201 und im Schrifttum überwiegend abgelehnte202 Judikatur, die auch in

193 BGH v. 19.10.1993 – VI ZR 20/93, VersR 1994, 64. Zur Darlegungslast s. OLG Köln v. 26.8.1996 – 12 U 65/96, NZV 1997, 181; OLG Hamm v. 25.9.1996 – 13 U 69/96, NZV 1997, 310. Einzelheiten zur Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Grüneberg NZV 1994, 135 ff. 194 BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 27/73, BGHZ 61, 347. 195 BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 61/71, VersR 1972, 1025. 196 OLG Hamm v. 8.3.1994 – 7 U 5/93, VersR 1995, 929. 197 BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, BGHZ 98, 212 = NJW 1987, 50 mit Anm. Rauscher = JR 1987, 103 mit Anm. Hohloch. 198 BGH v. 30.9.1963 – III ZR 137/62, NJW 1964, 542. 199 Vgl. BGH v. 15.4.1966 – VI ZR 271/64, BGHZ 45, 215, 216 (Freistellung von Ersatzpflicht wäre unerfreuliches Ergebnis); BGH v. 18.5.1971 – VI ZR 52/70, BGHZ 56, 216 (Verzicht dürfte nicht dem Schädiger zugutekommen). 200 Vgl. BGH v. 30.9.1963 – III ZR 137/62, BGHZ 40, 349 (Kommerzialisierung von Annehmlichkeiten); BGH v. 15.4.1966 – VI ZR 271/64, BGHZ 45, 215; BGH v. 18.5.1971 – VI ZR 52/70, BGHZ 56, 216; BGH v. 10.6.2008 – VI ZR 248/07, NJW-RR 2008, 1198; BGH v. 23.1.2018 – VI ZR 57/17, NJW 2018, 1393, 1394 mit Anm. Filthaut (Vermögensschaden kraft Verkehrsanschauung). 201 Z.B. hinsichtlich der Nutzungsbeeinträchtigung von unbeweglichen Sachen verneinend BGH v. 14.5.1976 – V ZR 157/74, BGHZ 66, 277; BGH v. 21.4.1978 – V ZR 235/77, BGHZ 71, 234; BGH v. 30.11.1979 – V ZR 214/77, BGHZ 75, 370; BGH v. 28.2.1980 – VII ZR 183/79, BGHZ 76, 179; BGH v. 22.11.1985 – V ZR 237/84, VersR 1986, 192; bejahend BGH v. 14.6.1967 – VIII ZR 268/64, NJW 1967, 1803; BGH v. 10.10.1985 – VIII ZR 292/84, VersR 1986, 41. 202 Esser/Schmidt § 31 II 2 d; Larenz § 29 II c; Lange/Schiemann § 6 VII 4; Löwe VersR 1963, 307; Bötticher VersR 1966, 301; Schütz VersR 1968, 124; Böhmer JZ 1969, 141; Keuk VersR 1976, 401; Hagen JZ 1983, 835; Honsell/Harrer JuS 1991, 447. z.T. folgt die Literatur dem BGH aber mit abw. Begr. z.B. richterlicher Rechtsfortbildung (vgl. Palandt/Grüneberg § 249 Rz. 40; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 66; Lange/Schiemann § 6 VII 4 f.; Hagen JZ 1983, 837), fehlgeschlagenen Aufwendungen (vgl. Esser/Schmidt § 31 III; Mertens Der Begriff des Vermögensschadens 1967, S. 159 ff.; Dunz JZ 1984, 1010), Gebrauchsverlust als Vermögensschaden (Jahr AcP 183, 725), wertungsmäßige Gleichstellung des zeitweiligen Nutzungsausfalls mit dem vollständigen bei Zerstörung (Bitter AcP 205 [2005] 743 ff.). Vgl. auch den Vorlagebeschluss des V. Zivilsenats

Zwickel | 797

28.49

§ 28 Rz. 28.49 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

anderen Rechtsordnungen kaum Parallelen hat,203 wurde vom Großen Senat wie folgt begründet: Die auf den Ausgleich von Vermögensschäden ausgerichtete Differenzrechnung könne bei wertender Betrachtung nicht außer Acht lassen, dass Wesen und Bedeutung des Vermögens sich nicht in dessen Bestand erschöpfen, sondern dass sie auch die im Vermögen verkörperten Möglichkeiten für den Vermögensträger umfassen, es zur Verwirklichung seiner Lebensziele zu nutzen. Diese funktionale Zuweisung sei im vermögenswerten Recht mitgeschützt. Sie umfasse nicht nur den (in § 252 BGB geschützten) erwerbswirtschaftlichen Einsatz des Vermögens, sondern auch die Aktivierung zu eigenwirtschaftlichen Zwecken. Die Einsatzfähigkeit seines Kfz oder die Nutzbarkeit seines Eigenheims sei für den Privatmann die Grundlage für die Wirtschaftlichkeit seiner hierauf zugeschnittenen Lebenshaltung. Die Nichtberücksichtigung dieser der eigenwirtschaftlichen Sphäre verhafteten Verwendungsplanung müsse als unangemessene Benachteiligung gegenüber einem auf Gewinnerzielung gerichteten Vermögenseinsatz angesehen werden.204 Die abstrakte Nutzungsausfallentschädigung erscheint damit als durch Rechtsfortbildung etabliert.205 Sie wird deshalb trotz fortbestehender Vorbehalte, die sich aus dem Fehlen einer § 252 BGB entsprechenden Regelung für den nicht produktiven Einsatz von Vermögenswerten ergeben, der folgenden Kommentierung zugrunde gelegt.

2. Anwendungsbereich 28.50

In welchen Fällen eine Nutzungsausfallentschädigung zuzusprechen ist, war bisher infolge des fehlenden dogmatischen Unterbaus der Rspr. unklar und strittig. Der Große Zivilsenat hat sie, von seiner Herleitung ausgehend, auf solche Sachen beschränkt, auf deren ständige Verfügbarkeit die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise angewiesen ist, auf „Wirtschaftsgüter von allgemeiner, zentraler Bedeutung für die Lebenshaltung“.206 Ob dadurch viel an Klarheit gewonnen wurde, er-scheint fraglich.207 Sicher gehört dazu das vom Eigentümer selbst bewohnte Haus bzw. die selbst bewohnte Wohnung,208 während dies bei einem Ferienhaus sehr zu bezweifeln ist.209 Verneint wird die genannte Voraussetzung bei einer nur zeitweise von Besuchern genutzten Einliegerwohnung210 sowie bei Garage, Terrasse und Gar-

203

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des BGH (BGH v. 22.11.1985 – V ZR 237/84, VersR 1986, 189); ferner OGH Österreich v. 3.3.1969 – 2 Ob 358/67, VersR 1969, 528. Nach Neidhart Unfall im Ausland, 5. Aufl. 2007 (vgl. die jeweiligen Länderteile) gibt es abstrakte Nutzungsausfallentschädigung z.B. nicht in Österreich (ausdrückliche Ablehnung durch OGH SZ 42/33; s. auch Nugel MDR 2013, 12), Schweiz, Niederlande, Norwegen, Dänemark, Spanien, Tschechien, während derartige Ansprüche, z.T. aber in geringerer Höhe, anerkannt sind z.B. in Belgien, Großbritannien, Frankreich, Italien. Zur ökonomischen Rechtfertigung der abstrakten Nutzungsausfallentschädigung s. Brinkmann BB 1987, 1828. Auch das BAG hat sie anerkannt (BAG v. 7.9.1995 – 8 AZR 515/94, NZV 1996, 144). Kritisch hierzu Medicus NJW 1989, 1891 ff. u. JZ 2006, 806. Grunewald LM § 249 (A) BGB Nr. 95. BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, BGHZ 98, 212, 224; daran anschließend BGH v. 20.2.1987 – V ZR 237/84, VersR 1987, 765; BGH v. 31.10.1986 – V ZR 140/85, JZ 1987, 578 (verneint, da keine Eigennutzung). BGH v. 16.9.1987 – IVb ZR 27/86, BGHZ 101, 333 f. bejaht aber Entschädigungspflicht bei Verlust des vertraglichen Nutzungsrechts an einem solchen. BGH v. 21.2.1992 – V ZR 268/90, BGHZ 117, 260 = LM § 249 (A) BGB Nr. 95 mit Anm. Grunewald.

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IV. Abstrakte Nutzungsausfallentschädigung | Rz. 28.51 § 28

ten.211 Auch bei Haus und Wohnung lässt der BGH die kurzfristige, durch zumutbare Umdispositionen auffangbare Beeinträchtigung des Gebrauchs im Übrigen nicht genügen.212 Die Störung müsse so nachhaltig sein, dass sie einem Entzug der Nutzung nahe komme; es genüge nicht, wenn nur einzelne Räume in Mitleidenschaft gezogen würden.213 Weiterhin kann der Entscheidung des Großen Senats214 eine Bestätigung der Rspr. zum Nutzungsausfall bei privat genutzten Pkw215 entnommen werden, wenngleich dieser sich – der Vorlagefrage entsprechend – hierzu nicht näher festzulegen brauchte. Seine einzige Aussage zur Nutzungsausfallentschädigung für Kfz geht dahin, dass hier wegen der Besonderheiten einer Regulierung von Massenschäden die Schwankungsbreiten in der Bedeutung des Sachgebrauchs für den konkret Betroffenen eher vernachlässigt werden können. Dies wird wohl dahin zu verstehen sein, dass vom Geschädigten nicht der Nachweis verlangt werden soll, der Pkw sei für ihn tatsächlich von „zentraler Bedeutung für die Lebenshaltung“, und stellt damit eine weitere Stufe der Rechtsfortbildung dar. Die Rspr. verfährt bei Pkw, die im privaten Alltag als Transportmittel genutzt werden, jedenfalls weiterhin nach den Grundsätzen über die Nutzungsausfallentschädigung (Einzelheiten in Rz. 28.57 ff.). Folgt man dem, sind diese Grundsätze konsequenterweise auch auf den Ausfall anderer – nicht nur zu Freizeitzwecken – genutzter Verkehrsmittel (Motorrad,216 Wohnmobil,217 Fahrrad218) zu übertragen. Zu Recht ist der BGH der pauschalen Annahme entgegengetreten, bei Motorrädern handle es sich stets um Fahrzeuge zu reinen Freizeitzwecken.219 Unbestreitbar dürfte die „zentrale Bedeutung“ sein bei einem Elektro-Rollstuhl220 und einem Blindenhund.221 Nicht anwendbar sind die Grundsätze zur abstrakten Nutzungsausfallentschädigung auf Nutzkraftfahrzeuge von Gewerbebetrieben oder Behörden.222 Anderslautende frühere Rechtspre211 BGH v. 5.3.1993 – V ZR 87/91, NJW 1993, 1794. 212 BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, BGHZ 98, 212, 224; BGH v. 5.3.1993 – V ZR 87/91, NJW 1993, 1794. 213 BGH v. 5.3.1993 – V ZR 87/91, NJW 1993, 1794. 214 BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, BGHZ 98, 212, 224. 215 BGH v. 30.9.1963 – III ZR 137/62, BGHZ 40, 345; BGH v. 15.4.1966 – VI ZR 271/64, BGHZ 45, 212; BGH v. 18.5.1971 – VI ZR 52/70, BGHZ 56, 214; BGH v. 28.2.1980 – VII ZR 183/79, BGHZ 76, 179; BGH v. 16.10.1973 – VI ZR 96/72, NJW 1974, 33; Für Oldtimer OLG Düsseldorf v. 19.1.1998 – 1 U 178/96, VersR 1998, 911. 216 BGH v. 23.1.2018 – VI ZR 57/17, NJW 2018, 1393 mit Anm. Filthaut; so schon bisher OLG Hamm v. 1.6.1983 – 11 U 16/83, MDR 1983, 932; einschränkend OLG Saarbrücken v. 30.3.1990 – 3 U 190/88, NZV 1990, 312; a.A. für Motorrad LG Dortmund v. 7.12.2011 – 21 S 33/11, NZV 2014, 41; für Motorroller LG Bremen v. 26.2.1968 – 5 S 22/68, VersR 1968, 907. 217 BGH v. 10.6.2008 – VI ZR 248/07, NJW-RR 2008, 1198 (reine Freizeitzwecke); OLG Hamm v. 26.1.1989 – 6 U 253/88, VersR 1990, 864 (gemischter Zweck); OLG Hamburg v. 14.6.2019 – 15 U 8/19, SVR 2020, 21. S. a. Rz. 28.53. 218 KG v. 16.7.1993 – 18 U 1276/92, NZV 1994, 393; AG Frankfurt/M. v. 16.2.1990 – 32 C 5136/ 89-19, NZV 1990, 237; a.A. LG Hamburg v. 24.4.1992 – 306 O 344/91, NZV 1993, 33. 219 BGH v. 23.1.2018 – VI ZR 57/17, NJW 2018, 1393 mit Anm. Filthaut. 220 LG Hildesheim v. 29.6.1990 – 5 O 57/90, NJW-RR 1991, 798. 221 AG Marburg v. 3.3.1989 – 9 C 1001/88, NJW-RR 1989, 931. 222 BGH v. 6.12.2018 – VII ZR 285/17, NJW 2019, 1064; OLG Düsseldorf v. 13.10.2015 – 1 U 179/ 14, VersR 2017, 639; OLG Stuttgart v. 13.8.2015 – 13 U 28/15, SVR 2016, 300; offen gelassen in BGH v. 21.1.2014 – VI ZR 366/13, DAR 2014, 144; zu Recht verneinend auch die ältere Rspr. v. OLG Düsseldorf v. 5.5.1994 – 10 U 195/93, VersR 1995, 1321; OLG Schleswig v. 24.8.1994 – 9 U 11/94, VersR 1996, 866; OLG Köln v. 28.10.1996 – 19 U 40/96, VersR 1997, 506; OLG Hamm v. 3.3.2004 – 13 U 162/03, NZV 2004, 472; OLG Hamm v. 16.9.1999 – 6 U 75/99, OLGR 2000, 169; OLG Hamm v. 7.4.2000 – 9 U 257/98, OLGR 2000,211; a.A. OLG Stuttgart v.

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28.51

§ 28 Rz. 28.51 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

chung, die eine abstrakte Entschädigung für den Gebrauchsverlust auch bei Nutzfahrzeugen gewährte,223 ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. In diesen Fällen ist nicht die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung betroffen, für die es an einer § 252 BGB entsprechenden Vorschrift fehlt. Vielmehr erfolgt der Fahrzeugeinsatz erwerbsorientiert oder zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe. Der Geschädigte kann daher in diesen Fällen nicht abstrakte Entschädigung verlangen, sondern muss entgangenen Gewinn i.S.d. § 252 S. 1 BGB oder Aufwendungen für ein Ersatzfahrzeug konkret nachweisen (Rz. 28.4 ff.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nach der Rspr. dann, wenn das Fahrzeug nicht unmittelbar zur Gewinnerzielung eingesetzt wird, der Ertragsentgang nicht bezifferbar ist und der Nutzungsausfall ein fühlbarer wirtschaftlicher Nachteil ist.224 Bei gemischt genutzten Fahrzeugen kann, jedenfalls wenn der private Anteil überwiegt, eine anteilige Ausfallentschädigung in Betracht kommen.225

28.52

Abweichend von den nachfolgend zitierten älteren Entscheidungen kann auch keine Nutzungsausfallentschädigung mehr beanspruchen der Eigentümer eines Privatflugzeugs,226 eines Binnenschiffs,227 einer Segeljacht228 oder eines Tonbandgeräts,229 während es bei der bisher schon ablehnenden Judikatur bleiben kann bei entgangener Nutzung eines Pelzmantels,230 ei-

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12.7.2006 – 3 U 62/06, NZV 2007, 414; für nicht unmittelbar der Gewinnerzielung dienenden Geschäftswagen OLG Düsseldorf v. 2.4.2001 – 1 U 132/00, OLGR Düsseldorf 2001, 453; für Behördenfahrzeug OLG München (Augsburg) v. 25.1.1990 – 24 U 266/89, NZV 1990, 348 mit zust. Anm. Zeuner; für Polizeifahrzeug OLG Stuttgart v. 16.11.2004 – 10 U 186/04, NZV 2005, 309; für gewerblich genutztes Fahrzeug AG Burg v. 26.9.2018 – 3 C 391/16, SVR 2019, 64; unkritisch auf die frühere Rspr. abstellend OLG Hamm v. 16.10.1992 – 9 U 54/91, VersR 1993, 1544, LG Berlin v. 6.1.1992 – 58 S 357/91, DAR 1992, 264 und Born NZV 1993, 6; ebenso (im Ergebnis aber zutreffend); OLG Hamm v. 13.1.1994 – 6 U 173/93, NZV 1994, 228; Fielenbach NZV 2013, 265. Für Nutzungsausfallentschädigung unter einschr. Voraussetzungen 31. VGT 1993, NZV 1993, 104, Reitenspiess DAR 1993, 144 ff.; für Nutzungsausfallentschädigung auch bei gewerblich genutzten Kfz Jaeger VersR 2020, 257, 267; wie hier MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 67. BGH v. 18.1.1966 – V ZR 113/63, NJW 1966, 590; BGH v. 26.3.1985 – VI ZR 267/83, VersR 1985, 736; a.A. BGH v. 10.1.1978 – VI ZR 164/75, BGHZ 70, 199. Übersicht: Berr DAR 1990, 475. BGH v. 4.12.2007 – VI ZR 241/06, NJW 2008, 913; OLG Schleswig v. 7.7.2005 – 7 U 3/03, MDR 2006, 202, 203 (Direktionswagen); OLG Naumburg v. 8.8.2013 – 2 U 147/12, DAR 2014, 32; OLG Naumburg v. 26.2.2009 – 1 U 76/08, NZV 2009, 514 (Krankentransportfahrzeug); LG Dessau-Roßlau v. 7.10.2011 – 4 O 8/11, NJW 2012, 1011 (Notarztfahrzeug). Zu weitgehend OLG Naumburg v. 13.3.2008 – 1 U 44707, NJW 2008, 2511 mit Anm. Berg u. OLG München v. 17.4.2009 – 10 U 5690/08, DAR 2009, 703; offen gelassen von BGH v. 6.12.2018 – VII ZR 285/ 17, NJW 2019, 1064; Ch. Huber NJW 2008, 1785. OLG Düsseldorf v. 2.7.2009 – 5 U 147/07, NJW-RR 2010, 687; OLG Jena v. 28.4.2004 – 3 U 221/03, NZV 2004, 476; OLG Frankfurt v. 10.7.1985 – 17 U 123/84, NJW 1985, 2955; OLG Brandenburg v. 24.10.1995 – 2 U 65/95, OLGR Brandenburg 1996, 76; OLG Düsseldorf v. 14.6.1993 – 1 U142/92, ZfS 1993, 338; AG Hamburg-St. Georg v. 13.4.2017 – 912 C 128/16; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 68. Zur Bemessung OLG Hamm v. 18.5.1989 – 6 U 278/88, NJW-RR 1989, 1194, KG v. 23.5.1991 – 12 U 2473/90, NZV 1992, 29 mit Anm. Völtz; Born NZV 1993, 7. OLG Karlsruhe v. 16.4.1982 – 1 U 170/81, MDR 1983, 575; wie hier OLG Oldenburg v. 24.2.1993 – 2 U 219/92, MDR 1993, 1067. KG v. 20.11.1975 – 12 U 1363/75, VersR 1976, 463. LG Kiel SchlHA 1973, 34. AG Iserlohn v. 4.6.1965 – 4a C 192/65, VersR 1965, 1212. BGH v. 12.2.1975 – VIII ZR 131/73, BGHZ 63, 393.

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IV. Abstrakte Nutzungsausfallentschädigung | Rz. 28.55 § 28

nes Wohnwagens,231 eines Motorbootes,232 eines Reitpferdes,233 einer Autofunkanlage234 und eines Fernsehgeräts.235 Zu bejahen kann eine abstrakte Nutzungsausfallentschädigung für privat genutzte Computer236 sowie Navigationsgeräte237 sein, wenn diese nicht nur sporadisch genutzt werden. Bei einem Wohnmobil kommt eine Entschädigung nur insoweit in Betracht, als es wie ein Pkw als alltägliches Transportmittel genutzt wird.238

28.53

Bei Beschädigung eines Leasing-Fahrzeugs kann der Leasinggeber schon deswegen keine Nutzungsausfallentschädigung beanspruchen, weil er das Fahrzeug ohnehin nicht genutzt hätte.239 Er hat außerdem – je nach Vertragsgestaltung – Anspruch auf Fortzahlung der Leasingraten gegen den Vertragspartner oder auf Ersatz des Gewinnausfalls gegen den Schädiger (vgl. Rz. 28.9). Dem Leasingnehmer sollte eine abstrakte Nutzungsentschädigung jedenfalls dann nicht zuerkannt werden, wenn er laut Vertrag von der Fortzahlung der Leasingraten frei wird, denn dann kann der vereitelten Gebrauchsmöglichkeit selbst bei Anerkennung des Kommerzialisierungsgedankens kein Vermögenswert beigemessen werden. Bleibt er aber zur Zahlung verpflichtet, so müsste ihm bei Zugrundelegung der Rspr. zum Nutzungsausfall eine Entschädigung zugesprochen werden.240 Zu deren Höhenbegrenzung s. Rz. 28.60.

28.54

3. Bemessung der Entschädigung Für sie ist es nach den vom Großen Senat241 aufgestellten Grundsätzen entscheidend, „was die Einsatzfähigkeit der Sache für den Eigengebrauch dem Verkehr wert ist“. Nicht maßgebend seien also die fiktiven Kosten der Anmietung einer Ersatzsache oder einer Gebrauchsüberlassung an den Schädiger. Die Wertmaßstäbe des Verkehrs für eine entgeltliche Gebrauchsüberlassung könnten der Schadensbemessung jedoch zugrunde gelegt werden, sofern diese von den spezifisch die erwerbswirtschaftliche Nutzung betreffenden Wertfaktoren zuverlässig bereinigt würden. Auch die anteiligen Vorhaltekosten für den entzogenen Gebrauch (angemessene Verzinsung des für die Beschaffung der Sache eingesetzten Kapitals, weiterlaufende Aufwendungen für die Einsatzfähigkeit der Sache, Alterungsminderwert für die gebrauchsunabhängige Entwertung der Sache in der Zeit ihres Ausfalls) könnten eine geeignete Grundlage für die Schadensbemessung sein. Es sei auch nicht unzulässig, durch einen maßvollen Aufschlag auf die vom Markt regelmäßig als Untergrenze für den Gebrauchswert angesehenen Gemeinkosten dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Ausstrahlungen des Ausfalls derartiger Wirtschaftsgüter auf das mit ihnen verflochtene Gesamtvermögen in ihren Verein231 BGH v. 15.12.1982 – VIII ZR 315/80, BGHZ 86, 128. 232 BGH v. 15.11.1983 – VI ZR 269/81, BGHZ 89, 60. 233 OLG Hamburg v. 23.6.1983 – 6 U 18/83, VersR 1984, 242 LS; LG München I v. 15.11.1978 – 15 S 9858/78, VersR 1979, 384. 234 LG Hamburg v. 10.3.1978 – 31 S 100/77, VersR 1978, 1049. 235 LG Berlin v. 17.12.1979 – 52 S 135/79, VersR 1980, 830. 236 OLG München v. 23.3.2010 – 1 W 2689/09, VersR 2010, 1229. 237 AG Wiesbaden v. 24.9.2013 – 93 C 1390/13, SVR 2014, 143. 238 BGH v. 10.6.2008 – VI ZR 248/07, NJW-RR 2008, 1198; OLG Hamm v. 26.1.1989 – 6 U 253/88, VersR 1990, 864; OLG Celle v. 8.1.2004 – 14 U 100/03, NZV 2004, 471; a.A. OLG Düsseldorf v. 28.8.2000 – 1 U 157/99, VersR 2001, 208 mit neben der Sache liegenden Ausführungen zur „Spiel-, Spaß- und Sportgesellschaft“. 239 Dörner VersR 1978, 886. 240 So auch OLG Hamm v. 30.3.1992 – 13 U 219/91, VersR 1993, 1290. 241 BGH v. 9.7.1986 – GSZ/86, BGHZ 98, 212, 225.

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28.55

§ 28 Rz. 28.55 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

zelungen sich einer genauen Feststellung entziehen. Für besonders wichtig erklärt der Große Senat, dass die Schadensbemessung die Aufgaben des Schadensersatzes, insbesondere seine durch § 253 BGB vorgeschriebene Ausrichtung an objektiven Bewertungsmaßstäben, nicht verfehlen und eine gleichmäßige Schadensregulierung nicht unmöglich machen darf.

28.56

Es verwundert nicht, dass die Schadensbemessung im Einzelfall242 bei derart unbestimmten Vorgaben erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Für den praktisch wichtigsten Bereich der Kraftfahrzeug-Nutzungsausfallentschädigung bedient sich die Praxis in langjähriger Übung eingeführter Tabellenwerke, die den genannten Vorgaben Rechnung tragen (s. hierzu und zu weiteren Bemessungskriterien Rz. 28.60).

4. Besonderheiten beim Nutzungsausfall von Kraftfahrzeugen a) Tatsächliche Gebrauchsvereitelung 28.57

Die abstrakte Nutzungsausfallentschädigung wird nur zuerkannt, wenn der Geschädigte die Gebrauchsmöglichkeit als Transportmittel im privaten Alltag243 tatsächlich verloren hat. Eine rein fiktive Abrechnung abstrakter Nutzungsausfallentschädigung auf Gutachtenbasis ist nicht zulässig.244 Ein Entschädigungsanspruch scheidet zudem aus, wenn und soweit der Geschädigte ohnehin keine Nutzungsmöglichkeit oder keinen Nutzungswillen gehabt hätte,245 also z.B. für Werktage, wenn der Geschädigte nur sonntags zu fahren pflegt oder für Motorräder, die in der kalten Jahreszeit nicht genutzt werden.246 Fehlender Nutzungswille kann angenommen werden, wenn der Geschädigte mit Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung grundlos mehrere Monate zuwartet.247 Auch dann, wenn der Geschädigte infolge seiner bei dem Unfall erlittenen Verletzungen nicht in der Lage gewesen wäre, das Fahrzeug zu nutzen, soll der Anspruch entfallen,248 es sei denn es wäre eine Nutzung des Fahrzeugs durch Angehörige während der Ausfallzeit beabsichtigt.249 Vom letzteren, schwerlich überzeugend begründbaren Ausnahmefall abgesehen kommt es dem Schädiger also zugute, dass er bei dem Unfall zusätzlich zu der 242 Vgl. zu Ferienhaus BGH v. 16.9.1987 – IVb ZR 27/86, BGHZ 101, 335 f.; Fahrrad: KG v. 16.7.1993 – 18 U 1276/92, NJW-RR 1993, 1438, AG Frankfurt/M. v. 16.2.1990 – 32 C 5136/8919, NZV 1990, 237; Wohnmobil: OLG Hamm v. 26.1.1989 – 6 U 253/88, VersR 1990, 864; OLG Hamburg v. 14.6.2019 – 15 U 8/19, SVR 2020, 21; Rollstuhl: LG Hildesheim v. 29.6.1990 – 5 O 57/90, NJW-RR 1991, 798; Blindenhund: AG Marburg v. 3.3.1989 – 9 C 1001/88, NJW-RR 1989, 931. 243 Problematisch ist dies u.a. bei Oldtimern. In diesem Fall ist nicht ohne weiteres von der Alltagsnutzung auszugehen. Vgl. hierzu OLG Karlsruhe v. 27.10.2011 – 9 U 29/11, NJW-RR 2012, 548; OLG Düsseldorf v. 15.11.2011 – 1 U 50/11, NJW-RR 2012, 545. 244 BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 249; KG v. 27.6.2018 – 25 U 155/17, NZV 2018, 580 mit zust. Anm. Pletter; Herz NJW-Spezial 2011, 201. 245 BGH v. 15.4.1966 – VI ZR 271/64, BGHZ 45, 219; BGH v. 18.5.1971 – V ZR 52/70, BGHZ 56, 216; BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 249; BGH v. 26.3.1985 – VI ZR 267/83, VersR 1985, 736; OLG Stuttgart v. 21.4.2010 – 3 U 218/09, VersR 2010, 1074 (Saisonfahrzeug bei Reparatur außerhalb der Zulassungszeit); Gruber NZV 1991, 303 (erloschene Betriebserlaubnis). 246 BGH v. 23.1.2018 – VI ZR 57/17, NJW 2018, 1393 mit Anm. Filthaut. 247 OLG Köln v. 8.3.2004 – 16 U 111/03, VersR 2004, 1332 m.w.N; AG Essen v. 13.1.2016 – 14 C 254/15, SVR 2016, 108. 248 BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 40/67, VersR 1968, 803; BGH v. 19.9.1974 – III ZR 73/72, VersR 1975, 37; AG Leverkusen v. 14.7.2015 – 24 C 585/14, NZV 2016, 479. 249 BGH v. 16.10.1973 – VI ZR 96/72, NJW 1974, 33 (Sohn); BGH v. 28.1.1975 – VI ZR 143/73, NJW 1975, 922 (Verlobte); OLG Düsseldorf v. 24.5.2011 – 1 U 220/10, DAR 2011, 580 (Ehefrau); OLG Hamm v. 22.4.1996 – 6 U 144/95, DAR 1996, 400 (Bruder).

802 | Zwickel

IV. Abstrakte Nutzungsausfallentschädigung | Rz. 28.58 § 28

Beschädigung des Pkw auch noch eine schwere Verletzung des Geschädigten herbeigeführt hat. Diese Konsequenz führt die Fragwürdigkeit der Lehre von der abstrakten Nutzungsausfallentschädigung besonders deutlich vor Augen.

b) Fehlende Ausweichmöglichkeit Kann der Geschädigte den Ausfall in zumutbarer Weise mittels eines Ersatzfahrzeugs (z.B. Zweitwagen, Betriebsreserve) überbrücken, so wird ihm eine Nutzungsausfallentschädigung versagt,250 es sei denn, der Ausfall wäre für ihn gleichwohl „fühlbar“ gewesen.251 Fühlbar bleibt der Ausfall, wenn dieser die Lebensführung des Geschädigten, trotz Ersatzfahrzeugs, wesentlich beeinträchtigt. Hierfür kann keinesfalls ausreichen, dass das Interimsfahrzeug nicht völlig gleichwertig mit dem ausgefallenen Pkw ist.252 Entstanden dem Geschädigten für die Benutzung des Ersatzfahrzeugs höhere Aufwendungen (z.B. weil größeres Fahrzeug), so kann er diese ersetzt verlangen.253 Eine abstrakte Nutzungsausfallentschädigung wird ferner gewährt, wenn ein Dritter dem Geschädigten ein Fahrzeug unentgeltlich zur Verfügung gestellt hat.254 Hat er zur Überbrückung einen billigeren Ersatzwagen gemietet, so kann er nach der Rspr. statt der Mietwagenkosten abstrakte Nutzungsausfallentschädigung verlangen.255 Dagegen wird ihm nicht gestattet, die konkreten Mietwagenkosten und zusätzlich eine abstrakte Entschädigung für die „Nutzungsdifferenz“ zu berechnen,256 es sei denn, durch die Benutzung des kleineren Fahrzeugs wäre ausnahmsweise ein greifbarer wirtschaftlicher Nachteil entstanden.257 Hat der Geschädigte einen Mietwagen genommen, obwohl er nur einen ganz geringen, auch durch Taxi abdeckbaren Fahrbedarf hatte, und bekommt er daher die Mietwagenkosten nicht ersetzt (s. Rz. 28.19), so billigt ihm die Rspr. teilweise abstrakte Nutzungsausfallentschädigung zu.258 Dies erscheint inkonsequent, denn hier bestand ein Nutzungswille nur in dem geringen Umfang, der durch Erstattung der fiktiven Taxikosten voll abgedeckt werden kann.

250 BGH v. 21.1.2014 – VI ZR 366/13, DAR 2014, 144; BGH v. 13.12.2011 – VI ZA 40/11, NZV 2012, 223; BGH v. 14.10.1975 – VI ZR 255/74, VersR 1976, 170; BGH v. 10.1.1978 – VI ZR 175/76, VersR 1978, 375; OLG Koblenz v. 23.11.2017 – 10 U 322/17, VersR 2018, 1275; a.A. OLG Düsseldorf v. 10.3.2008 – 1 U 198/07, NJW 2008, 1964 (nur bei Entsprechung der Nutzungswerte); OLG Oldenburg v. 11.5.1983 – 3 U 15/83, DAR 1983, 358 LS. 251 BGH v. 4.12.2007 – VI ZR 241/06, NJW 2008, 913.; zum Kriterium der Fühlbarkeit Fiehlenbach NZV 2015, 272. 252 BGH v. 13.12.2011 – VI ZA 40/11; OLG Koblenz v. 23.11.2017 – 10 U 322/17, VersR 2018, 1275; vgl. auch OLG Koblenz v. 19.1.2004 – 12 U 1356/02, NZV 2004, 258 (älterer Luxuswagen als Zweitfahrzeug) u. OLG Düsseldorf v. 15.11.2011 – 1 U 50/11, NJW-RR 2012, 545 (Oldtimer als Zweitfahrzeug). 253 OLG Stuttgart v. 7.12.1966 – 4 U 95/66, VersR 1967, 611. 254 BGH v. 17.3.1970 – VI ZR 108/68, NJW 1970, 1120; OLG Saarbrücken v. 1.6.2017 – 4 U 33/16, NJW-RR 2017, 1374; AG Görlitz DAR 1998, 20 (Werkstattwagen); a.A. OLG Jena v. 14.5.2009 – 1 U 761/08, NZV 2009, 388. 255 BGH v. 17.3.1970 – VI ZR 108/68, NJW 1970, 1120. 256 BGH v. 2.12.1966 – VI ZR 72/65, VersR 1967, 183; OLG Karlsruhe v. 15.2.1989 – 1 U 289/88, NZV 1989, 231; Geigel/Katzenstein Kap. 3 Rz. 189; a.A. KG v. 24.5.1965 – 12 U 91/65, DAR 1965, 298. 257 OLG Köln v. 19.12.1966 – 12 U 22/66, NJW 1967, 570; OLG Köln v. 1.3.1967 – 2 U 82/66, VersR 1967, 1081. 258 OLG Frankfurt v. 21.2.1991 – 12 U 42/90, VersR 1992, 621; offenlassend OLG Hamm v. 23.1.1995 – 13 U 178/94, NZV 1995, 356.

Zwickel | 803

28.58

§ 28 Rz. 28.59 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

c) Zeitraum der abstrakten Nutzungsausfallentschädigung 28.59

Der Zeitraum, für den abstrakte Nutzungsausfallentschädigung zu gewähren ist, hängt maßgeblich von der gewählten Abrechnungsart ab. Nach der Rspr. kann der Geschädigte, der das Fahrzeug nicht reparieren ließ, sondern auf der Basis fiktiver Reparaturkosten (vgl. Rz. 20.26 ff., Rz. 26.19 ff., Rz. 27.35 ff.) abrechnet, keine Entschädigung für den Zeitraum der fiktiven Reparatur, sondern nur für den eines (etwaigen) tatsächlichen Ausfalls verlangen.259 Der Zeitraum, für den abstrakte Nutzungsausfallentschädigung zu gewähren ist, ist dann auf die im Gutachten angegebene Reparaturdauer begrenzt.260 Bei fiktiver Abrechnung ist (unter der Voraussetzung eines tatsächlichen Fahrzeugausfalls) also die objektiv erforderliche Dauer des Ausfalls entscheidend, während bei konkreter Abrechnung der tatsächliche Ausfall maßgeblich ist.261 Wären die Kosten eines Interimsfahrzeugs voraussehbar wesentlich geringer, besteht der Anspruch stets nur bis zu deren Höhe.262 Im Übrigen gelten für die Dauer der Entschädigungspflicht263 die gleichen Grundsätze wie bei Inanspruchnahme eines Mietwagens (Rz. 28.23 ff.).

d) Höhe der Nutzungsausfallentschädigung 28.60

Die Höhe der Nutzungsausfallentschädigung bemisst die Praxis bei Pkw und Motorrädern nach dem von Sanden/Danner begründeten Tabellenwerk,264 welches von den durchschnittlichen Mietkosten der einzelnen Typen ausgeht und diese um den Betrag mindert, der nur infolge der gewerblichen Vermietung anfällt.265 Analog wird der Nutzungswert anderer Fahrzeuge zu ermitteln sein,266 wobei die Beschränkung der Entschädigung auf „zentrale“ Nutzungen (Rz. 28.50) zu beachten ist. Die Sonderausstattung eines Campingbusses ist daher nicht werterhöhend zu berücksichtigen,267 ein „Liebhaberzuschlag“ für einen Oldtimer nicht zu gewähren.268 Ein Luxus-Motorradgespann ist nach den allgemein gültigen Sätzen zu entschädigen.269 Der Wert der Sache bildet für die Bemessung der Entschädigung keine absolute Ober-

259 BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, BGHZ 66, 249; BGH v. 30.11.1979 – V ZR 214/77, BGHZ 75, 366; Fuchs-Wissemann DAR 1982, 213; a.A. AG Köln v. 18.6.1976 – 142 C 3072/76, VersR 1977, 70; AG Köln v. 15.5.1981 – 266 C 88/81, VersR 1982, 353; hierzu Weber VersR 1983, 405. 260 BGH v. 15.7.2003 – VI ZR 361/02, NZV 2003, 569. 261 OLG München v. 13.9.2013 – 10 U 859/13, r+s 2014, 369; LG Saarbrücken v. 10.11.2003 – 13 S 97/17, NJW-RR 2018, 27; LG Saarbrücken v. 15.5.2015 – 13 S 12/15, NZV 2015, 547. 262 BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 62/07, NJW 2008, 915; OLG Schleswig v. 13.12.1989 – 9 U 206/87, NZV 1990, 150. 263 Zu Extremfällen OLG Saarbrücken v. 6.7.1990 – 3 U 44/89, NZV 1990, 388 (523 Tage); OLG Karlsruhe v. 2.3.1998 – 10 U 191/97, VersR 1999, 1036 (585 Tage). S. auch BGH v. 25.1.2005 – VI ZR 112/04, NZV 2005, 303, 304 (keine Begrenzung durch Fahrzeugwert). Zur Schadensminderungspflicht Bär DAR 2001, 27 ff. 264 Auszug m.w.N. NJW 2006, 19 ff. Zur Anwendbarkeit der Tabellen s. BGH v. 18.5.1971 – VI ZR 52/70, BGHZ 56, 219; BGH v. 23.11.2004 – VI ZR 357/03, BGHZ 161, 151, 154 f. Erhöhung bei Motorrad mit Beiwagen: LG Kaiserslautern v. 27.11.1987 – 2 S 292/86, VersR 1989, 271 (20 %). 265 S. Berechnungsschema NW in NJW 2006, 21. 266 Vgl. für Wohnmobil OLG Hamburg v. 14.6.2019 – 15 U 8/19, SVR 2020, 21; OLG Hamm v. 26.1.1989 – 6 U 253/88, VersR 1990, 864. 267 A.A. LG Kiel v. 22.12.1987 – 2 O 242/87, VersR 1988, 852. 268 OLG Düsseldorf v. 29.12.1994 – 5 U 204/93, OLGR Düsseldorf 1995, 82. 269 AG Hamm v. 10.11.1992 – 27 C 623/92, VersR 1993, 987.

804 | Zwickel

V. Sonstiges | Rz. 28.62 § 28

grenze,270 bei sehr langen Entschädigungszeiträumen kann jedoch eine Orientierung an den Vorhaltekosten angezeigt sein.271 Das Alter des Fahrzeugs spielt für die Bemessung seines Nutzungswerts i.d.R. keine Rolle,272 jedoch kann bei einem nicht dem heutigen Stand der Technik entsprechenden oder mit erheblichen Mängeln behafteten Altfahrzeug der Nutzungswert von dem eines neueren derart abweichen, dass die Sätze der Tabellen (ohne aufwendige Berechnung, sondern gem. § 287 ZPO) angemessen zu kürzen sind.273 Lebt der Geschädigte im Ausland, sind für die Bemessung die dortigen wirtschaftlichen Verhältnisse maßgebend.274

e) Ersparte Eigenkosten Ersparte Eigenkosten (vgl. Rz. 28.45) sind auch auf die abstrakte Nutzungsausfallentschädigung anzurechnen.275 Sie sind in den vorerwähnten Tabellen bereits berücksichtigt.

28.61

V. Sonstiges 1. Vermögensfolgeschäden Durch die Vereitelung der Gebrauchsmöglichkeit können dem Geschädigten Folgeschäden an seinem Vermögen entstehen, so z.B., wenn er sich vertraglich verpflichtet hatte, mit der beschädigten Sache bestimmte Leistungen zu erbringen und im Falle der Nichterfüllung eine Vertragsstrafe zu schulden. Derartige Schäden sind zu ersetzen. Nicht ersatzfähig ist dagegen der Nachteil, der einem Arbeitnehmer dadurch entsteht, dass der Arbeitgeber das ihm zur kostenlosen Privatnutzung überlassene, beim Unfall total zerstörte Fahrzeug aufgrund inter-

270 BGH v. 20.10.1987 – X ZR 49/86, NJW 1988, 484, 486; BGH v. 25.1.2005 – VI ZR 112/04, NZV 2005, 303, 304; a.A. bei Beschädigung eines Leasingfahrzeugs BGH v. 13.7.1976 – VI ZR 78/75, VersR 1976, 944 u einschr. BGH v. 23.11.1976 – VI ZR 191/74, VersR 1977, 228. Absurde Ergebnisse wie in BGH v. 25.1.2005 – VI ZR 112/04, NZV 2005, 303 (Wert des Kfz 2.800 €, Nutzungsentschädigung fast 7.200 €) vermeidet der Ansatz von Bitter AcP 205 (2005) 775 ff. 271 OLG Saarbrücken v. 6.7.1990 – 3 U 44/89, NZV 1990, 388. 272 KG v. 26.4.1993 – 12 U 2137/92, NZV 1993, 478; OLG Hamm v. 9.5.2000 – 15 W 342/99, OLGR Hamm 2000, 265; AG Solingen v. 30.6.2016 – 14 C 33/16, NJW-RR 2016, 1356; a.A. OLG Frankfurt v. 19.9.1984 – 17 U 265/83, VersR 1985, 248; OLG Schleswig v. 27.9.1985 – 11 U 54/84, NJW-RR 1986, 775; OLG Stuttgart v. 22.10.1986 – 1 U 109/86, VersR 1988, 851; OLG Karlsruhe v. 2.11.1988 – 1 U 208/88, DAR 1989, 67; OLG Hamm v. 22.4.1996 – 6 U 144/95, VersR 1997, 506; AG Ibbenbüren v. 17.6.2015 – 3 C 91/15, NJW-RR 2015, 1439; Danner/Küppersbusch NZV 1989, 12 (ab 5 Jahren nächstniedrigere Gruppe der Tabelle). Überblick und Musterrechnung in NJW 2001 Beil zu Heft 10. 273 BGH v. 23.11.2004 – VI ZR 357/03, BGHZ 161, 151 (Herabstufung um 2 Tabellenstufen bei 16 Jahre altem Mercedes gebilligt); BGH v. 25.1.2005 – VI ZR 112/04, NZV 2005, 303 (1 Stufe bei knapp 10 Jahre altem Renault); BGH v. 20.10.1987 – X ZR 49/86, NJW 1988, 484, 486 (angemessen erhöhte Vorhaltekosten bei 10 Jahre altem Fiat 500 mit erheblichen Mängeln); OLG Düsseldorf v. 27.3.2012 – 1 U 139/11, NJW 2012, 2044 (Herabstufung um eine Stufe bei 8 ½ Jahre altem BMW). S. auch KG v. 22.10.2001 – 12 U 2346/00, NZV 2003, 335, 336; Balke SVR 2005, 218 ff. (Rspr.-Überbl.); Danner/Küppersbusch NZV 1989, 13 und Vorbem. zur Tabelle NJW 2006, 20 m.w.N. 274 AG Göppingen v. 17.7.1984 – 1 C 719/83-06, VersR 1985, 748. 275 BGH v. 10.5.1963 – VI ZR 235/62, DAR 1963, 270; BGH v. 22.1.1980 – VI ZR 198/78, VersR 1980, 455.

Zwickel | 805

28.62

§ 28 Rz. 28.62 | Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit

ner Regelungen nicht mehr ersetzt; hier war der Unfall nur äußerer Anlass für die Disposition des Arbeitgebers.276

2. Entgangene Annehmlichkeiten 28.63

Kann der Geschädigte infolge des Ausfalls seines Fahrzeugs einen Urlaub nicht wie geplant verbringen oder muss er auf eine beabsichtigte Freizeitgestaltung verzichten, so kommt es für das Bestehen eines Ersatzanspruchs darauf an, ob er lediglich in immaterieller Hinsicht beeinträchtigt wurde (dann kein Anspruch, § 253 BGB), oder ob sich die Beeinträchtigung als Vermögensnachteil niederschlägt. Nach h.M. stellt die bloße Einbuße von Freizeit (z.B. das verspätete Nachhausekommen) keinen Vermögensschaden dar,277 ebenso die Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses oder die Vereitelung einer bestimmten Urlaubsgestaltung.278 Hatte der Geschädigte hingegen bereits Aufwendungen für eine konkrete Urlaubs- oder Freizeitgestaltung gemacht, die dann infolge des Unfalls undurchführbar wurde, so kann er verlangen, so gestellt zu werden, dass er sich einen gleichen oder wenigstens gleichwertigen Genuss nachträglich verschaffen kann (vgl. hierzu Rz. 20.13). Zur Urlaubs- oder Freizeitbeeinträchtigung durch die Schadensregulierung vgl. Rz. 29.27 ff.

276 OLG Hamm v. 25.11.1997 – 27 U 137/97, NZV 1998, 158. 277 BAG v. 24.8.1967 – 5 AZR 59/67, NJW 1968, 221; OLG Celle v. 9.1.1964 – 5 U 137/63, DAR 1964, 191; OLG Köln v. 11.6.1970 – 14 U 183/68, MDR 1971, 215; Larenz § 29 II d; a.A. OLG Frankfurt v. 6.4.1976 – 8 U 179/75, NJW 1976, 1320. 278 BGH v. 22.2.1973 – III ZR 22/71, BGHZ 60, 214; BGH v. 11.1.1983 – VI ZR 222/80, VersR 1983, 392 = JR 1983, 494 mit Anm. Gitter; OLG Celle v. 17.2.1977 – 5 U 74/76, VersR 1977, 1104; OLG Karlsruhe v. 13.6.1980 – 10 U 150/79, VersR 1981, 755; LG Wiesbaden v. 29.10.1981 – 2 O 219/81, VersR 1982, 862.

806 | Zwickel

§ 29 Kosten der Rechtsverfolgung

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gutachten, Kostenvoranschlag, Ermittlungsaufwand . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverständigenkosten . . . . . . . . . . . a) Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . b) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tatsächlich entstandene Sachverständigenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einwendungen gegen die Höhe . . . . . e) Mangelhaftes Gutachten . . . . . . . . . . f) Zweitbegutachtung . . . . . . . . . . . . . . g) Kosten zur Ermöglichung der Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Abtretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kostenvoranschlag . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ermittlungsaufwand . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsanwaltskosten . . . . . . . . . . . . .

29.1 29.3 29.3 29.3 29.4 29.5 29.6 29.8 29.9 29.10 29.11 29.12 29.13 29.14

1. 2. a) b) c) d) IV. 1. a) b) c)

Erstattungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzliche Höhe . . . . . . . . . . . . . . . . Außergerichtliche Regulierung . . . . . Gerichtliche Geltendmachung . . . . . Hebegebühr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufwand für andere Verfahren . . . . . Kosten vorangegangener Prozesse . . Polizeiliche Ermittlungen . . . . . . . . . Verwaltungsverfahren nach dem NATO-Truppenstatut . . . . . . . . . . . . 2. Inkassokosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufwand für die Abwicklung des Schadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Untersuchungskosten bei begründetem Schadensverdacht . . . . . . . . . . . .

29.14 29.19 29.19 29.20 29.21 29.22 29.23 29.23 29.23 29.24 29.25 29.26 29.27 29.30

I. Überblick Im Rahmen des Notwendigen kann der Geschädigte auch die Aufwendungen ersetzt verlangen, die er gemacht hat, um seine Ansprüche gegen den Schädiger durchsetzen zu können. Hierzu können z.B. die Kosten eines Sachverständigengutachtens oder eines Detektivs gehören, insbesondere aber die Kosten für die Einschaltung eines Rechtsanwalts.

29.1

Bei Anhängigkeit eines Rechtsstreits kommt hierfür auch ein Kostenerstattungsanspruch nach § 91 ZPO in Betracht. Die Kosten eines Privatgutachtens können daher im Kostenfestsetzungsverfahren nach §§ 103 ff. ZPO geltend gemacht werden, wenn das Gutachten mit Bezug zu einem konkreten Rechtsstreit in Auftrag gegeben worden ist.1 Nicht maßgeblich für den Kostenerstattungsanspruch ist, ob das Gutachten im Prozess vorgelegt wird.2 Dieser Weg ist ggf. als der weniger aufwendige zu beschreiten; für eine entsprechende Klage wäre das Rechts-

29.2

1 Vgl. hierzu BGH v. 17.12.2002 – VI ZB 56/02, BGHZ 153, 235; BGH v. 14.10.2008 – VI ZB 16/08, NZV 2009, 27, 28 u. BGH v. 18.11.2008 – VI ZB 24/08, VersR 2009, 563 (stets Zusammenhang mit Prozess bei konkretem Betrugsverdacht); BGH v. 4.3.2008 – VI ZB 72/06, NJW 2008, 1597 (kein Zusammenhang bei routinemäßiger Prüfung des Vorliegens eines Versicherungsbetrugs) u. OLG Düsseldorf v. 18.5.2001 – 1 W 16/01, VersR 2003, 524 (Gutachtenauftrag des Versicherers wegen Betrugsverdachts, zu dem ein sachgerechter Vortrag ohne Gutachten nicht möglich wäre); LG Nürnberg-Fürth v. 4.7.2017 – 13 T 5934/15, DAR 2017, 589 (Verdacht eines Versicherungsbetruges). 2 BGH v. 26.2.2013 – VI ZB 59/12, VersR 2013, 1194.

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§ 29 Rz. 29.2 | Kosten der Rechtsverfolgung

schutzinteresse zu verneinen,3 soweit die Klage nicht ausnahmsweise durch besondere Gründe gerechtfertigt ist.4 Wurde ein Erstattungsanspruch im Kostenfestsetzungsbeschluss aber rechtskräftig verneint, so schließt dies eine klageweise Geltendmachung derselben Aufwendungen nicht aus, weil die materiell-rechtliche Erstattungspflicht einen andersartigen Streitgegenstand darstellt.5 Dasselbe gilt im umgekehrten Fall.6 Als Kosten i.S.d. § 4 Abs. 1 ZPO, § 43 Abs. 1 GKG und § 23 Abs. 1 S. 1 RVG wirken die Aufwendungen in beiden Fällen nicht streitwerterhöhend.7

II. Gutachten, Kostenvoranschlag, Ermittlungsaufwand 1. Sachverständigenkosten a) Rechtliche Grundlagen 29.3

Die Kosten eines Sachverständigengutachtens gehören zum erforderlichen Herstellungsaufwand i.S.v. § 249 Abs. 2 BGB, wenn eine vorherige Begutachtung zur tatsächlichen Durchführung der Wiederherstellung erforderlich und zweckmäßig ist.8 Darunter kann auch eine Untersuchung auf verborgene Mängel bei begründetem Schadensverdacht fallen.9 Ist das Gutachten zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs, insbesondere zur Bestimmung der Schadenshöhe, erforderlich, zählen dessen Kosten nach der Rspr. grundsätzlich zum erstattungspflichtigen Folgeschaden;10 als solcher unterfallen sie bei Mitverantwortung des Geschädigten für den Unfall auch der allgemeinen Haftungsquote nach § 254 Abs. 1 BGB.11 Die Auffassung, die stets eine vollumfängliche Ersatzfähigkeit annimmt,12 verkennt, dass alle Schadenspositionen gleich zu behandeln sind (d.h. Berücksichtigung der Mitverschuldensquote).13 Bei der Beschädigung von Kfz ist die Einholung eines solchen Gutachtens i.d.R. angezeigt, da sie dem Geschädigten die Beweisführung hinsichtlich des Umfangs des unfallbedingten Schadens, des Wiederbeschaffungswerts und einer etwaigen Wertminderung ermöglicht. In Grenzfällen kann auch nur aufgrund eines Gutachtens entschieden werden, ob eine Instandsetzung des beschädigten Fahrzeugs vertretbar oder ob auf Totalschadenbasis abzurechnen ist. Der Geschädigte kann verlangen, dass eine nach Vorstehendem erforderliche Be3 BGH v. 6.11.1979 – VI ZR 254/77, BGHZ 75, 235; BGH v. 24.4.1990 – VI ZR 110/89, NJW 1990, 2061. 4 Zur Verjährung bei Anmeldung im Kostenfestsetzungsverfahren s. LG Bonn v. 23.11.1994 – 5 S 158/94, NZV 1995, 403. 5 BGH v. 24.4.1990 – VI ZR 110/89, NJW 1990, 2060. 6 OLG Koblenz v. 22.11.1991 – 14 W 623/91, VersR 1993, 247. 7 BGH v. 30.1.2007 – X ZB 7/06, NJW 2007, 3289; BGH v. 15.5.2007 – VI ZB 18/06, r+s 2008, 42. 8 BGH v. 20.12.2011 – VI ZB 17/11, NZV 2012, 271; BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 365/03, NZV 2005, 139. 9 BGH v. 11.7.2002 – I ZR 36/00, TranspR 2002, 440. 10 BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 27/73, BGHZ 61, 346; OLG Karlsruhe v. 16.5.1968 – 4 U 169/66, VersR 1969, 191; OLG Bremen v. 13.6.1973 – 3 U 33/73, VersR 1974, 371; OLG Stuttgart v. 30.1.1974 – 13 U 125/73, NJW 1974, 951; KG v. 1.7.1976 – 12 U 268/76, OLGZ 1977, 315. 11 BGH v. 7.2.2012 – VI ZR 133/11, NJW 2012, 1953 mit Anm. Figgener; OLG Düsseldorf v. 15.3.2011 – 1 U 152/10, MDR 2011, 655. 12 Stöber DAR 2011, 625; Poppe DAR 2005, 669 ff.; OLG Rostock v. 18.3.2011 – 5 U 144/10, NJW 2011, 1973; AG Siegburg v. 31.3.2010 – 111 C 10/10, NJW 2010, 2289. 13 Wie hier BGH v. 7.2.2012 – VI ZR 133/11, NJW 2012, 1953 mit zust. Anm. Figgener; Wortmann NJW 2011, 3482.

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II. Gutachten, Kostenvoranschlag, Ermittlungsaufwand | Rz. 29.4 § 29

gutachtung von einem unabhängigen Sachverständigen vorgenommen wird; auf die Besichtigung durch einen Beauftragten des gegnerischen Haftpflichtversicherers braucht er sich nicht verweisen zu lassen. Eine solche Besichtigung darf er allerdings auch nicht grundlos verwehren; für hierdurch entstehende Mehrkosten der Schadensregulierung haftet er dem Versicherer.14 Außerdem kann solches Verhalten als Beweisvereitelung gewürdigt werden (vgl. Rz. 41.40, Rz. 41.45). Kann aufgrund dieses Verhaltens das von ihm vorgelegte Gutachten nicht mehr als neutrale Abrechnungsbasis angesehen werden, hat er auch keinen Anspruch auf Ersatz der Sachverständigenkosten.15 Der beim Versicherer angestellte Kfz-Sachverständige wiederum kann für einen weiteren Schaden deliktisch (mit-)haften, wenn er sich zum Nachteil des Geschädigten in die Reparaturabwicklung einschaltet.16

b) Erforderlichkeit Nur wenn aus der Sicht des Geschädigten ex ante ein vernünftiger Grund für die Einschaltung eines Sachverständigen besteht, insbesondere auch Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die zu erwartenden Reparaturkosten, sind die Gutachterkosten als erstattungsfähig anzusehen. Dies folgt nicht erst aus § 254 Abs. 2 BGB, sondern bereits aus dem Merkmal der Erforderlichkeit nach § 249 Abs. 2 BGB, so dass die Darlegungs- und Beweislast hierfür beim Geschädigten liegt.17 Für die Verhältnismäßigkeit kommt es nicht auf die vom Sachverständigen ermittelte (bei der Beauftragung noch unbekannte) Schadenshöhe, sondern auf die nach den individuellen Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten des Geschädigten zu erwartende an.18 Bei zu erwartenden Reparaturkosten unter 700 € reicht im Allgemeinen ein Kostenvoranschlag.19 Von wesentlicher Bedeutung können aber auch Schadensart, Fahrzeugalter20 und Verhalten des Versicherers sein. Bei erkennbar oberflächlichen Schäden genügt ein Voranschlag einer Kfz-Werkstatt,21 während bei Möglichkeit verborgener Schäden eine Begutachtung sachgerecht ist. Verzichtet der Versicherer auf eine Begutachtung, so liegt hierin die konkludente Erklärung, keine Einwendungen gegen die Schadenshöhe zu erheben, so dass ein Gutachten unnötig ist.22 Ob die Einschaltung eines Sachverständigen für die Erteilung einer Reparaturbestätigung erforderlich ist, ist streitig.23 Die Ersatzfähigkeit ist aber jedenfalls dann abzulehnen, wenn die Reparaturbestätigung unaufgefordert erstellt wird und der Nachweis der Reparatur auch anderweitig zu führen wäre.24 Im Übrigen kommt die Ersatzfähigkeit der 14 15 16 17 18 19

20 21 22 23 24

BGH v. 11.10.1983 – VI ZR 251/81, VersR 1984, 80. OLG Düsseldorf v. 24.5.1993 – 1 U 122/92, VersR 1995, 107; Roß NZV 2001, 322. BGH v. 7.7.2020 – VI ZR 308/19, NJW-RR 2020, 1099. BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 27/73, BGHZ 61, 346, 351; BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 365/03, NZV 2005, 139; BGH v. 20.12.2011 – VI ZB 17/11, NZV 2012, 271, 272. BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, NJW 2014, 1947, 1948; BGH, v. 23.1.2007 – VI ZR 67/06, NJW 2007, 1450; BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 365/03, NZV 2005, 139; LG Saarbrücken v. 17.11.2017 -13 S 45/17, NJW 2018, 876. BGH v. 30.11.2004 – VI ZR 365/03, NZV 2005, 139, 140; für Anhebung der Grenze auf 1.000 €: LG Arnsberg v. 7.12.2016 – 3 S 54/16, NZV 2017, 389 mit zust. Anm. Exter; AG Chemnitz v. 19.3.2020 – 15 C 1957/19, SVR 2020, 390 mit Anm. Balke; für eine Grenze von 800 €: Kappus DAR 2017, 129. LG Darmstadt v. 5.7.2013 – 6 S 34/13, NJW 2014, 237 (älteres Fahrzeug). Roß NZV 2001, 321. Roß NZV 2001, 322. S. hierzu Balke SVR 2015, 375 m.w.N. OLG München v. 13.9.2013 – 10 U 859/13, DAR 2014, 30; OLG Düsseldorf v. 15.1.2013 – 1 U 153/11; OLG Frankfurt v. 18.2.2010 – 10 U 60/09, NZV 2010, 525; OLG Köln v. 15.8.2000 – 15 U 42/00; LG Stuttgart v. 26.1.2017 – 5 S 239/16, SVR 2017, 111; AG Bergisch Gladbach v.

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29.4

§ 29 Rz. 29.4 | Kosten der Rechtsverfolgung

Kosten für eine Reparaturbestätigung nur dann in Frage, wenn es um den Nachweis der Nutzungsausfallzeit oder der verkehrssicheren (Teil-)Reparatur des Unfallfahrzeugs geht.25 Für den Fall der fiktiven Abrechnung hat der BGH die Ersatzfähigkeit der Kosten einer Reparaturbestätigung bei dennoch erfolgter Reparatur, wegen des Kombinationsverbots von konkreter und fiktiver Abrechnung, ausdrücklich abgelehnt.26

c) Tatsächlich entstandene Sachverständigenkosten 29.5

Nur tatsächlich entstandene Sachverständigenkosten sind erstattungspflichtig; dass ein Gutachten hätte erholt werden dürfen, ist ohne Bedeutung.27

d) Einwendungen gegen die Höhe 29.6

Einwendungen gegen die Höhe der Sachverständigenkosten28 können dem Geschädigten gegenüber nur erhoben werden, wenn ihn ein Auswahlverschulden trifft oder die Überhöhung derart evident ist, dass eine Monierung von ihm verlangt werden muss (Plausibilitätskontrolle durch den Geschädigten).29 Nicht für plausibel darf der Geschädigte eine Vereinbarung halten, die die Preise der Sachverständigenleistung nicht erkennen lässt oder auf eine nicht abgedruckte Berechnung verweist.30 Im Übrigen ist der Geschädigte nicht verpflichtet, vor der Auftragserteilung Preisvergleiche anzustellen31 und muss Honorarbefragungen verschiedener Berufsverbände der Sachverständigen nicht berücksichtigen.32 Dies gilt auch für die Nebenkosten der Sachverständigentätigkeit. Deren pauschale Deckelung,33 ist abzulehnen.34 Sie steht nicht in Einklang mit subjektbezogenen Schadensbetrachtung im Rahmen des § 249 Abs. 2 BGB. Im Übrigen hat der BGH35 zwar die Heranziehung der Nebenkostensätze des

25 26 27 28 29

30 31 32

33 34 35

28.2.2018 – 60 C 460/17, SVR 2018, 349; AG Berlin Mitte v. 20.2.2019 – 124 C 3182/18, SVR 2019, 188; AG Ibbenbüren v. 17.6.2015 – 3 C 91/15, NJW-RR 2015, 1439; AG Sinsheim v. 9.2.2018 – 3 C 144/17, SVR 2018, 226; AG Wiesbaden v. 15.1.2018 – 91 C 1312/17, SVR 2018, 191. BGH v. 24.1.2017 – VI ZR 146/16, NJW 2017, 1664 mit Anm. Almeroth; a.A. MünchKommStVR/Almeroth, § 249 BGB Rz. 320. BGH v. 24.1.2017 – VI ZR 146/16, NJW 2017, 1664 mit Anm. Almeroth. Berger VersR 1985, 408. Zu deren Bemessungsgrundlagen s BGH v. 4.4.2006 – X ZR 122/05, NJW 2006, 2472; zur Feststellung der angemessenen Höhe durch das Gericht BGH v. 10.10.2006 – X ZR 42/06, NJW-RR 2007, 123. BGH v. 5.6.2018 – VI ZR 171/16, NJW 2019, 430; BGH v. 24.10.2017 – VI ZR 61/17, NJW 2018, 693; BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 50/15, NJW 2016, 3092; BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, NJW 2014, 1947, 1948; BGH v. 15.10.2013 – VI ZR 528/12, VersR 2013, 1590; Roß NZV 2001, 322 m. w.N; Sieger DAR 2017, 171 m.w.N. BGH v. 29.10.2019 – VI ZR 104/19, DAR 2020, 193. BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, NJW 2014, 1947, 1948; BGH, v. 23.1.2007 – VI ZR 67/06, NJW 2007, 1450. BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, NJW 2014, 1947, 1948; Heßeler NJW 2014, 1916, 1917; anders kann dies bei einem vom Haftpflichtversicherer gebotenen Schadensservice aus einer Hand sein, bei dem davon auszugehen ist, dass der Versicherer seine professionellen Erkenntnismöglichkeiten ausschöpft (AG Frankenthal v. 18.7.2018 – 3a C 242/17, NJW-RR 2019, 146). OLG Dresden v. 19.2.2014 – 7 U 111/12 (Erforderlichkeit bis 25 % des Grundhonorars); LG Saarbrücken v. 22.6.2012 – 13 S 37/12, NJW 2012, 3658; LG Saarbrücken v. 13.9.2013 – 13 S 87/13, NJOZ 2014, 783 (Erforderlichkeit bis 100 €). BGH v. 22.7.2014 – VI ZR 357/13, NJW 2014, 3151, 3153. BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 50/15, NJW 2016, 3092, 3094 mit Anm. Heßeler.

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II. Gutachten, Kostenvoranschlag, Ermittlungsaufwand | Rz. 29.7 § 29

JVEG als Grundlage für die gerichtliche Schadensschätzung (§ 287 ZPO) der erforderlichen Sachverständigennebenkosten nicht beanstandet. Für die Erforderlichkeit aus Sicht des Geschädigten wird dennoch weiterhin eine Gesamtbetrachtung des Gutachtens entscheidend sein.36 Der Geschädigte selbst, nicht aber der aus erfüllungshalber abgetretenem Anspruch vorgehende Sachverständige,37 genügt daher der ihn treffenden Darlegungs- und Beweislast zur Schadenshöhe in aller Regel durch Vorlage der bezahlten Sachverständigenrechnung (wesentliches Indiz für die Schadensschätzung gem. § 287 ZPO).38 Der Schädiger hat, bei beglichener Rechnung, die Schadenshöhe qualifiziert zu bestreiten. Ist die Rechnung nicht bezahlt, genügt einfaches Bestreiten durch den Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherer, es sei denn, der Geschädigte bringt andere konkrete Anhaltspunkte für den erforderlichen Herstellungsaufwand bei.39 Unerheblich ist, vom wem die Sachverständigenrechnung bezahlt wurde soweit der Geschädigte selbständig eine Honorarvereinbarung mit dem Sachverständigen abgeschlossen hat.40 Die Höhe der Sachverständigenkosten ist vom Gericht, auf Basis einer Preisabrede mit dem Sachverständigen, zu schätzen.41 Üblicherweise wird keine Preisabrede getroffen, sondern die Bestimmung der Vergütung dem billigen Ermessen des Sachverständigen überlassen (§§ 315 f BGB).42 Mangels anderweitiger Vereinbarung bzw. vorliegender Taxe gilt dann die übliche Vergütung als vereinbart,43 die ggf. mittels Listen bzw. Tabellen zu schätzen ist, deren Plausibilität der Tatrichter zu prüfen hat.44 Insgesamt ist damit, für die Frage nach der Höhe der erforderlichen Sachverständigenkosten eine Prüfung in vier Schritten vorzunehmen: Zunächst gilt der Grundsatz, dass der Geschädigte nicht zu Marktforschung verpflichtet ist (Schritt 1). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bildet die Erkennbarkeit des deutlichen Übersteigens der branchenüblichen Sätze aus ex ante-Sicht bzw. das Fehlen jeglicher Erkennbarkeit des Honorars (Schritt 2). Die beglichene Rechnung ist wichtiges Indiz für die Erforderlichkeit der Sachverständigenkosten (Schritt 3). Eine Ausnahme von dieser Indizwirkung ist bei Abtretung an den Sachverständigen oder eine Verrechnungsstelle zu machen (Schritt 4). Hält der Ersatzpflichtige die Vergütung für überhöht, kann er vom Geschädigten analog § 255 BGB Abtretung seiner Rückzahlungsansprüche gegen den Sachverständigen verlangen.45 Nur

36 AG Mönchengladbach v. 2.11.2016 – 11 C 333/16, NJW-RR 2017, 800. 37 BGH v. 19.7.2016 – VI ZR 491/15, NJW 2016, 3363, 3365 mit Anm. Wittschier. 38 BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 50/15, NJW 2016, 3092, 3094; BGH v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, NJW 2014, 1947, 1948; BGH v. 15.10.2013 – VI ZR 471/12, VersR 2013, 1544. 39 BGH v. 5.6.2018 – VI ZR 185/16, DAR 2018, 674; BGH v. 5.6.2018 – VI ZR 171/16, NJW 2019, 430. 40 BGH v. 17.12.2019 – VI ZR 315/18, NJW 2020, 1001 (Begleichung der Sachverständigenkosten durch Rechtsanwalt). 41 Ullenboom NJW 2017, 849, 850; zur Darlegungslast des Geschädigten: KG v. 24.11.2016 – 22 U 93/15, VersR 2017, 638. 42 Eingehend hierzu Hörl NZV 2003, 305 ff.; AG München v. 23.12.1997 – 332 C 3134/97, NZV 1998, 289; a.A. AG Hagen v. 21.10.2002 – 10 C 335/02, NZV 2003, 144 (nur Durchschnittskosten). 43 BGH v. 28.2.2017 – VI ZR 76/16, NZV 2017, 477 mit Anm. Almeroth; BGH v. 4.4.2006 – X ZR 122/05, NZV 2006, 2472; BGH v. 10.10.2006 – X ZR 42/06, VersR 2007, 218; KG v. 30.4.2015 – 22 U 31/14, NZV 2015, 507. 44 BGH v. 24.10.2017 – VI ZR 61/17, DAR 2018, 676; LG Wuppertal v. 10.12.2015 – 9 S 189/15, NZV 2016, 530; Vuia NJW 2013, 1197. 45 OLG Naumburg v. 20.10.2006 – 4 U 49/05, NZV 2006, 546, 548 mit Anm. Leinenbach; Grunsky NZV 2000, 5.

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29.7

§ 29 Rz. 29.7 | Kosten der Rechtsverfolgung

dem Sachverständigen gegenüber kann somit die Unbilligkeit der Leistungsbestimmung geltend gemacht und eine Bestimmung durch Urteil (§ 319 Abs. 1 S. 2 BGB) begehrt werden. Allein aus der Wahl der Abrechnungsart (nach Zeitaufwand oder Gegenstandswert) kann Unbilligkeit nicht abgeleitet werden, da beide Methoden üblich sind.46 Eine Rückzahlungspflicht überhöhter Sachverständigenhonorare kann sich darüber hinaus auch aus einem Verstoß gegen die vom BGH statuierte Aufklärungspflicht des Kfz-Sachverständigen über Erstattungsrisiken bei deutlicher Überschreitung des ortsüblichen Honorars ergeben.47

e) Mangelhaftes Gutachten 29.8

Eine Mangelhaftigkeit des Gutachtens48 hindert den Erstattungsanspruch nicht, sofern sie nicht vom Geschädigten zu vertreten ist.49 Das ist, abgesehen von Auswahlverschulden,50 insbesondere dann der Fall, wenn er durch Falschangaben oder Verschweigen wesentlicher Umstände (z.B. Verschweigen von Vorschäden) die Unbrauchbarkeit bewirkt hat.51 Der Erstattungspflichtige kann vom Geschädigten aber Abtretung seiner Ansprüche aus dem Sachverständigenvertrag verlangen.52

f) Zweitbegutachtung 29.9

Hat der Geschädigte eine Zweitbegutachtung (durch einen anderen Sachverständigen) oder eine Ergänzungsbegutachtung (durch denselben Sachverständigen) veranlasst, so kommt ein Kostenersatz nur in Frage, wenn er deren Erforderlichkeit nachweisen kann, z.B. weil das Erstgutachten vom Unfallgegner oder seinem Haftpflichtversicherer in Auftrag gegeben war

46 Näher zu den Abrechnungsmethoden Roß NZV 2001, 322 ff.; für Abrechnung nach Zeitaufwand Kääb/Jandel NZV 1998, 269 f.; dagegen Hiltscher NZV 1998, 488 ff. Nach BGH v. 4.4.2006 – X ZR 122/05, NJW 2006, 2472, 2474 u. BGH v. 4.4.2006 – X ZR 80/05, NZV 2007, 182 ist Orientierung an Schadenshöhe nicht zu beanstanden. Eingehend auch AG Dortmund v. 7.1.1999 – 114 C 11293/98, NZV 1999, 254 (Zeitaufwand); AG München v. 12.10.1999 – 332 C 17622/99, NZV 2000, 174, 175; AG Essen v. 7.1.1999 – 12 C 208/96, NZV 1999, 255; AG Herne-Wanne v. 13.11.1998 – 2 C 351/98, NZV 1999, 256; AG Hattingen v. 18.8.1999 – 16 C 25/99, NZV 1999, 428, 429 (Schadenshöhe). 47 BGH v. 1.6.2017 – VII ZR 95/16, VersR 2017, 1220, 1221; BGH v. 4.3.2016 – VII ZR 95/16, NZV 2017, 428. 48 Zu Missständen auf dem Gebiet des Sachverständigenwesens s. Etzel VersR 1993, 406 unter Bezugnahme auf eine Untersuchung der Stiftung Warentest. 49 OLG Koblenz v. 24.7.2015 – 10 U 1233/14, VersR 2016, 671; OLG Köln v. 23.2.2012 – 7 U 134/ 11, VersR 2012, 1008; OLG Hamm v. 19.5.1994 – 5 U 127/93, NZV 1994, 393 u OLG Hamm v. 8.5.2001 – 27 U 201/00, NZV 2001, 433; LG Bochum v. 24.3.1992 – 9 S 472/91, NZV 1993, 196 u. LG Bochum v. 10.9.1994 – 9 S 71/94, ZfS 1994, 406; Vuia NJW 2013, 1197; Kääb/Jandel NZV 1992, 17 f.; Roß NZV 2001, 322; a.A. AG Neuwied v. 11.11.1988 – 3 C 1229/88, NZV 1989, 196; AG Eltville v. 19.1.1989 – C 6/88, ZfS 1989, 233. 50 Vgl. LG Köln v. 13.11.1996 – 19 S 491/95, NZV 1998, 35 (Beauftragung eines Nichtfachmanns); AG St. Wendel v. 14.5.1997 – 14 C 1293/96, NZV 1998, 75 (Mitarbeiter des Reparaturbetriebs). 51 OLG Düsseldorf v. 27.2.2018 – 1 U 64/17, NZV 2019, 207 mit Anm. Christensen; OLG Hamm v. 9.10.1992 – 9 U 20/92, NZV 1993, 149 und OLG Hamm v. 14.10.1992 – 13 U 141/92, NZV 1993, 228; KG v. 1.3.2004 – 12 U 96/03, NZV 2004, 470. 52 Kääb/Jandel NZV 1992, 18, die darüber hinaus einen Direktanspruch des Erstattungspflichtigen gegen den Sachverständigen aufgrund Schutzwirkung des Gutachtervertrags bejahen. Ebenso AG Dortmund v. 28.6.1996 – 131 C 15915/95, NZV 1997, 403. Vgl. hierzu Gerber NZV 1991, 297 f.; Etzel VersR 1993, 408.

812 | Zwickel

II. Gutachten, Kostenvoranschlag, Ermittlungsaufwand | Rz. 29.12 § 29

und aus der Sicht des Geschädigten begründete Zweifel an seiner Richtigkeit bestanden53 oder bei technischen Einwendungen des Schädigers, die eine erneute Befassung des Sachverständigen erfordern.54

g) Kosten zur Ermöglichung der Begutachtung Hält der Geschädigte das Unfallfahrzeug wegen Streits über den Unfallhergang für eine eventuelle Begutachtung bereit, sind hierfür angefallene Unterstellkosten erstattungsfähig.55 Im Prozess können sie auch notwendige Kosten i.S.v. § 91 ZPO sein.56 Zur Abkürzung zu langer Standzeiten bietet sich u.U. ein selbständiges Beweisverfahren (§§ 485 ff. ZPO) an.

29.10

h) Abtretung Eine Abtretung aller Schadensersatzansprüche in Höhe der Sachverständigenkosten ist i.d.R. mangels hinreichender Bestimmtheit unwirksam.57 In der Abtretungserklärung ist daher der Umfang der von der Abtretung erfassten Forderungen zu präzisieren. Zur Unwirksamkeit der Abtretung führt auch die zeitlich zu unbestimmte Klausel, die bei Nichtleistung an den Sachverständigen den Rückfall der Forderung an den Geschädigten anordnet.58 Klagt der Sachverständige den Ersatzanspruch des Geschädigten aufgrund einer wirksamen Abtretung selbst gegen den Unfallgegner ein, kann hierin eine unerlaubte Rechtsbesorgung liegen. Näher hierzu Rz. 21.21.

29.11

2. Kostenvoranschlag Der Geschädigte ist berechtigt, den Kostenvoranschlag einer Fachwerkstätte einzuholen, wenn ein Sachverständigengutachten zu aufwendig wäre, aber gleichwohl ein Bedürfnis besteht, den voraussichtlichen Reparaturaufwand vor Erteilung des Reparaturauftrags festzustellen, z.B. weil er mit einem Bestreiten des Schadensumfangs durch den Schädiger rechnen muss oder weil er für seine Entscheidung über Reparatur, Ersatzbeschaffung oder fiktive Schadensabrechnung fachkundiger Information über Reparaturbedürftigkeit und -würdigkeit bedarf.59 Sind für diesen Voranschlag Kosten angefallen, was nur bei entsprechender Vereinbarung der Fall ist (§ 632 Abs. 3 BGB), hat sie der Schädiger zu ersetzen. Der Geschädigte ist nicht verpflichtet, einen kostenlosen Voranschlag auszuhandeln; schon wegen der verbreiteten Übung fiktiver Abrechnung ist es verständlich, wenn die Werkstatt auf einer Vergütungszusage besteht. Eine Klausel in den AGB reicht hierfür allerdings nicht aus.60 Wurde die Ver-

53 OLG Stuttgart v. 30.1.1974 – 13 U 125/73, NJW 1974, 951; KG v. 1.7.1976 – 12 U 268/76, OLGZ 1977, 317; LG Bamberg v. 13.4.2017 – 3 S 88/16, NJOZ 2018, 140. 54 OLG Koblenz v. 22.11.1991 – 14 W 623/91, zfs 1992, 279; LG Saarbrücken v. 20.2.2015 – 13 S 197/14, NJW-RR 2015, 721; Vuia NJW 2013, 1197 m.w.N. 55 AG Hildesheim v. 15.7.1998 – 43 C 560/97, NZV 1999, 212. 56 OLG Hamburg v. 17.12.1999 – 8 W 385/99, MDR 2000, 331. 57 BGH v. 7.6.2011 – VI ZR 260/10, NJW 2011, 2713 mit Anm. Wittschier; LG Wuppertal v. 15.11.2018 – 9 S 118/18, NZV 2019, 102 mit Anm. Almeroth; zur Weiterabtretung: BGH v. 17.7.2018 – VI ZR 274/17, VersR 2018, 1460; BGH v. 21.6.2016 – VI ZR 475/15, VersR 2016, 1330; Richter NZV 2017, 190. 58 BGH v. 18.2.2020 – VI ZR 135/19, NJW 2020, 1888. 59 Notthoff DAR 1994, 418 u VersR 1995, 1400 f. 60 BGH v. 3.12.1982 – VII ZR 368/80, NJW 1982, 765; BT-Drucks. 14/1640, S. 260.

Zwickel | 813

29.12

§ 29 Rz. 29.12 | Kosten der Rechtsverfolgung

gütung auf die Kosten der anschließend durchgeführten Reparatur angerechnet, fehlt es insoweit an einem ersatzpflichtigen Schaden.61

3. Ermittlungsaufwand 29.13

Musste der Geschädigte für Ermittlungen zum Haftungsgrund oder zur Person des Ersatzpflichtigen62 Kosten aufwenden, kann er diese vom Schädiger ersetzt verlangen, so z.B. wenn er nach Bestreiten des Unfallhergangs durch den Gegner ein unfallanalytisches Gutachten hat anfertigen lassen, welches die gegnerische Darstellung in einer zur Vermeidung eines Rechtsstreits geeigneten Weise widerlegt,63 oder wenn er durch Zeitungsinserat Zeugen64 oder per Detektiv den unfallflüchtigen Gegner oder ein bestimmtes Beweismittel gesucht hat.65 Dasselbe gilt für Ermittlungen zum Schadensumfang. So können z.B. Kosten eines Detektivs erstattungsfähig sein, mit dessen Hilfe der Nachweis geführt wurde, dass der Unfallwagen bereits erhebliche Vorschäden hatte oder die als Unfallfolge behauptete Gehbehinderung nicht vorlag.66 Zu entsprechenden Ermittlungen muss aber zum Zeitpunkt ihrer Veranlassung ein nachvollziehbarer Anlass bestanden haben; außerdem muss der Aufwand so gering wie möglich gehalten werden.67 War der bekämpfte Anspruch Gegenstand eines Prozesses, können die Ermittlungskosten u.U. dort festgesetzt werden.68 Dass die Kosten vom Haftpflichtversicherer des Geschädigten aufgewendet wurden, steht ihrer Ersatzfähigkeit nicht entgegen.69

III. Rechtsanwaltskosten 1. Erstattungsfähigkeit 29.14

Die Rspr. erkennt die Rechtsanwaltsgebühren dann als erstattungspflichtigen Folgeschaden an, wenn die Beauftragung eines Rechtsanwalts verständiger Interessenwahrnehmung entsprach, weil die Regulierung sich dem Geschädigten als nicht problemlos darstellte oder weil es um erhebliche Schadensbeträge ging.70 Der BGH hat diesen Grundsatz dahingehend konkretisiert, dass der Geschädigte in einem einfach gelagerten Fall für die erste Geltendmachung 61 Notthoff VersR 1995, 1401. 62 Zur Verwaltungsgebühr für eine Halteranfrage s. LG Berlin v. 5.6.1989 – 19 O 386/88, NZV 1991, 74. 63 Vgl. OLG Saarbrücken v. 27.11.1997 – 3 U 932/96-147, OLGR Saarbrücken 1998, 121 (verneinend, da Notwendigkeit eines Gerichtsgutachtens absehbar war). 64 LG Mönchengladbach v. 5.11.2003 – 5 T 517/03, NZV 2004, 206; AG München v. 16.7.1980 – 28 C 1042/80, DAR 1980, 372. 65 OLG Bremen v. 8.9.2015 – 2 W 82/15, NZV 2016, 286; OLG Hamm v. 13.10.1982 – 23 W 236/ 82, VersR 1983, 498. 66 OLG Karlsruhe v. 16.11.1995 – 3 W 96/95, VersR 1997, 641. 67 OLG Karlsruhe v. 16.11.1995 – 3 W 96/95, VersR 1997, 641. 68 OLG Köln v. 20.4.2016 – 17 W 26/15, NZV 2016, 576 (Detektivkosten bei Verdacht des Versicherungsbetruges). 69 OLG Karlsruhe v. 16.11.1995 – 3 W 96/95, VersR 1997, 641. 70 BGH v. 1.6.1959 – III ZR 49/58, BGHZ 30, 157; BGH v. 8.11.1994 – VI ZR 3/94, BGHZ 127, 348 = NJW 1995, 1944 mit zust. Bespr. Hildenbrand; BGH v. 18.1.2005 – VI ZR 73/04, NJW 2005, 1112; für generelle Erstattungsfähigkeit Notthoff VersR 1995, 1401; für Abstellen auf Rechtsmissbrauch C. Wagner NJW 2006, 3244 ff. Entgegen missverständlichen Ausführungen in BGH v. 27.6.1968 – III ZR 63/65, NJW 1968, 1962, 1964 gelten dieselben Grundsätze auch im Rahmen der Haftung nach dem StVG (hierzu Nixdorf VersR 1995, 257).

814 | Zwickel

III. Rechtsanwaltskosten | Rz. 29.17 § 29

des Schadens gegenüber dem Schädiger bzw. seiner Versicherung Anwaltskosten nur beanspruchen kann, wenn er mangels geschäftlicher Gewandtheit hierzu nicht selbst in der Lage ist; werde aber nicht sogleich auf erste Anmeldung reguliert, so dürfe der Geschädigte mit der weiteren Geltendmachung einen Anwalt betrauen.71 Dies gelte für einen privaten Geschädigten ebenso wie für eine Unternehmen oder eine Behörde. Ist der Geschädigte gar nicht in der Lage, seine Ansprüche anzumelden (z.B. Koma), ist für die o.g. Frage nach der Geschäftsgewandtheit auf die Person des Betreuers abzustellen.72 In BGHZ 127, 348 wurde Anwaltskostenersatz verneint für erstmalige Geltendmachung klarer Ansprüche wegen Beschädigung von Autobahneinrichtungen, zugleich aber klargestellt, dass auch eine Behörde sogleich einen Anwalt mit der weiteren Geltendmachung beauftragen darf, wenn nicht bereits aufgrund der ersten Anmeldung reguliert wird. Auf Geschäftsgewandtheit kommt es nach der ersten Anspruchsanmeldung also nicht mehr an.73 Hatte der Geschädigte den Ersatzpflichtigen bereits erfolglos in Verzug gesetzt (§ 286 BGB), können die Anwaltskosten für die weitere Rechtsverfolgung auch als Verzögerungsschaden (§ 280 Abs. 2 BGB) geltend gemacht werden. Wurde ein Anwalt nicht in Anspruch genommen, obwohl die Kosten nach obigen Grundsätzen erstattungsfähig wären, können nicht etwa die fiktiven Kosten beansprucht werden.74

29.15

Im Fall der Abtretung des Schadensersatzanspruchs (z.B. an die Reparaturwerkstätte) kann der Zessionar Anwaltskosten nur unter den Voraussetzungen der §§ 280 Abs. 2, 286 BGB als Verzugsschaden geltend machen.75

29.16

Anwaltskosten für die Verhandlungen mit dem eigenen Versicherer (z.B. Kasko-, Gebäudeoder Rechtsschutzversicherer76) sind, soweit die anwaltliche Hilfe erforderlich war, im Regelfall ebenfalls adäquat kausal durch den Unfall veranlasst und folglich zu erstatten.77 Der Anspruch ist jedoch grundsätzlich auf die Gebühren nach dem Wert beschränkt, für den der Schädiger Ersatz zu leisten hat.78 Anwaltskosten für die Durchsetzung von Ansprüchen aus

29.17

71 BGH v. 8.11.1994 – VI ZR 3/94, BGHZ 127, 348 = NJW 1995, 1944 mit zust. Bespr. Hildenbrand; S. auch LG Frankfurt/M. v. 18.7.2012 – 2-16 S 58/12, NZV 2013, 87; AG Köln v. 13.11.2019 – 276 C 86/19, SVR 2020, 353 mit Anm. Balke; AG Ludwigslust v. 22.8.2018 – 44 C 41/18, SVR 2020, 395 mit Anm. Balke (für Leasinggesellschaft); AG Mannheim v. 5.11.2019 – 3 C 4252/19, DAR 2020, 119 (für gewerblich Tätigen); AG Aachen v. 30.7.2019 – 101 C 30/19, SVR 2020, 31 (für Behörde); Meiendresch/Heinke r+s 1995, 281; Pichler SVR 2013, 92. 72 BGH v. 26.5.2020 – VI ZR 321/19, VersR 2020, 987. 73 Nixdorf VersR 1995, 259 f.; anders AG München v. 24.4.2019 – 341 C 24131/18, SVR 2020, 32 mit zust. Anm. Balke; AG Weilheim v. 8.8.2019 – 1 C 801/18, SVR 2020, 190 mit zust. Anm. Richter; AG Wiesbaden v. 15.5.2019 – 91 C 4396/18, SVR 2020, 115 mit Anm. Balke. 74 Grunsky NJW 1983, 2470; Berger VersR 1985, 407. 75 Palandt/Grüneberg § 249 Rz. 57; Riedl VersR 1994, 151 mit Rechtsprechungsnachweisen. 76 Zu den Gebühren für die Einholung einer Deckungszusage s. Bauer VersR 2012, 1205; krit. Tomson VersR 2010, 1428. 77 BGH v. 8.5.2012 – VI ZR 196/11, NJW 2012, 2194; BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 274/10, NJW 2012, 919; BGH v. 9.3.2011 – VIII ZR 132/10, NJW 2011, 1222; BGH v. 18.1.2005 – VI ZR 73/04, NJW 2005, 1112; BGH v. 10.10.2006 – VI ZR 43/05, NZV 2006, 244, 245; OLG Karlsruhe v. 15.2.1989 – 1 U 289/88, NZV 1989, 231; LG Nürnberg-Fürth v. 30.9.2010 – 2 S 11198/09, MDR 2010, 1451. 78 BGH v. 18.1.2005 – VI ZR 73/04, NJW 2005, 1112 m.w.N. S. auch OLG Karlsruhe v. 27.6.1990 – 1 U 317/89, NZV 1990, 431; Böhm DAR 1988, 214.

Zwickel | 815

§ 29 Rz. 29.17 | Kosten der Rechtsverfolgung

einer Unfallversicherung sind nur dann von der Haftung des Schädigers umfasst, wenn die durchzusetzenden Leistungen ganz oder teilweise den vom Schädiger zu erbringenden Schadensersatzleistungen entsprechen oder wenn der Geschädigte aufgrund der Unfallverletzungen nicht in der Lage ist, sich selbst um die Geltendmachung seiner Ansprüche zu kümmern.79

29.18

Wenn ein Anwalt einen eigenen Schaden außergerichtlich reguliert, gelten die vorstehenden Grundsätze entsprechend, d.h. er kann Anwaltskosten nur abrechnen, wenn er wegen der Schwierigkeit der Angelegenheit einen (spezialisierten) Anwalt in Anspruch genommen hat.80

2. Umfang a) Gesetzliche Höhe 29.19

Zu erstatten sind die Anwaltsgebühren nur in gesetzlicher Höhe; für vereinbarte höhere Honorare braucht der Schädiger nicht aufzukommen.

b) Außergerichtliche Regulierung 29.20

Bei außergerichtlicher Regulierung kann dem Ersatzpflichtigen die Geschäftsgebühr i.H.v. 0,5–2,5 des Satzes nach § 13 RVG in Rechnung gestellt werden, wobei eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war (Nr. 2300 RVG-VV).81 Der Gegenstandswert richtet sich nach dem Entschädigungsbetrag.82 In Fällen des wirtschaftlichen Totalschadens am Fahrzeug, in denen nach Rechtsprechungsgrundsätzen, wegen Restwertabzugs, nur der Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzgl. Restwert) zu ersetzen ist, ist der Wiederbeschaffungsaufwand maßgeblich.83 Der Restwertabzug ist keine bloß nachträgliche Kompensation. Ist der Rechtsanwalt auch mit der Realisierung des Restwerts beauftragt worden, sind die hierfür angefallenen Anwaltskosten nur bei schweren unfallbedingten Krankheitsfolgen oder konkreten rechtlichen Schwierigkeiten der Restwertverwertung ersatzfähig.84 Auch bei einem Verweis auf die Stundensätze

79 BGH v. 10.10.2006 – VI ZR 43/05, NZV 2006, 244, 245. 80 Weitergehend (wenn er als Privatmann Anwalt nehmen könnte) Lange/Schiemann § 6 XIV 3; LG Mainz v. 9.11.1971 – 2 O 112/71, NJW 1972, 161; wohl wie hier Staudinger/Schiemann § 251 Rz. 120 unter Bezugnahme auf LG München I v. 31.3.1971 – 14 S 202/70, VersR 1972, 793 u. LG München I v. 20.9.1971 – 15 S 356/71, VersR 1973, 168. AG Freyung v. 9.1.2018 – 3 C 295/17, SVR 2018, 192; Unklar Palandt/Grüneberg § 249 Rz. 57; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 181. 81 OLG München v. 23.5.2014 – 10 U 5007/13, DAR 2014, 673; nach BGH v. 31.10.2006 – VI ZR 261/05, NZV 2007, 181 ist Gebühr von 1,3 bei durchschnittlicher Verkehrsunfallsache i.d.R. nicht unbillig. 82 BGH v. 18.7.2017 – VI ZR 465/16, DAR 2018, 54; BGH v. 7.11.2007 – VIII ZR 341/06, NJW 2008, 1888; BGH v. 18.1.2005 – VI ZR 73/04, NJW 2005, 1112; BGH v. 31.1.1963 – III ZR 117/62, BGHZ 39, 60; BGH v. 31.1.1963 – III ZR 183/61, BGHZ 39, 73; BGH v. 13.4.1970 – III ZR 75/69, NJW 1970, 1122; a.A. Ruhkopf VersR 1968, 22; Kubisch NJW 1970, 1456; zur aktuellen Rspr. Almeroth NZV 2018, 297. 83 BGH v. 12.12.2017 – VI ZR 611/16, NJW 2018, 938 = DAR 2018, 117 mit Anm. Schneider; BGH v. 18.7.2017 – VI ZR 465/16, DAR 2018, 54, 55 mit Anm. Schneider; BGH v. 19.4.2018 – IX ZR 187/17, NJW 2018, 2417. 84 BGH v. 12.12.2017 – VI ZR 611/16, NJW 2018, 938 = DAR 2018, 117 mit Anm. Schneider.

816 | Zwickel

III. Rechtsanwaltskosten | Rz. 29.22 § 29

einer nicht markengebundenen Fachwerkstatt (s. Rz. 27.40) ist der objektive Wert der berechtigten Schadenersatzforderung maßgeblich. Dabei ist unabhängig, ob der Werkstattverweis vor oder nach der Beauftragung des Rechtsanwalts erfolgt.85 Hat der Rechtsanwalt auftragsgemäß höhere Ansprüche geltend gemacht, kann er den Mehrbetrag der entstandenen Gebühren gegenüber dem Mandanten abrechnen.86 Dieser kann ihn ggf. zusammen mit der Mehrforderung einklagen; dabei ist die teilweise Anrechnung auf die Verfahrensgebühr (Rz. 29.21) zu beachten.

c) Gerichtliche Geltendmachung Bei gerichtlicher Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs werden die diesbezüglichen87 Anwaltskosten im Kostenfestsetzungsverfahren (§§ 103 ff. ZPO) geltend gemacht.88 Für die Geltendmachung eines materiell-rechtlichen Erstattungsanspruchs besteht dann i.d.R. kein Rechtsschutzbedürfnis (s. o. Rz. 29.2). Die wegen der ins gerichtliche Verfahren gelangten Ansprüche entstandene Geschäftsgebühr (Rz. 29.20) wird zur Hälfte, jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75 auf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 RVG-VV angerechnet (Vorbem. 3 Abs. 4 RVG-VV). Die Anrechnung findet auch dann statt, wenn der Anwalt außergerichtlich nur gegenüber dem Haftpflichtversicherer tätig wird, das gerichtliche Verfahren aber nur gegen den Schädiger führt.89 Wie sich aus § 15a RVG ergibt, kann der Rechtsanwalt zwischen (teilweiser) Geltendmachung der Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren und (teilweiser) klageweiser Geltendmachung mit dem Schadensersatzanspruch wählen.90 Unabhängig vom gewählten Vorgehen stellt § 15a RVG sicher, dass der Ersatzpflichtige keinem höheren Anspruch ausgesetzt wird als im Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant.91

29.21

d) Hebegebühr Die Hebegebühr (Nr. 1009 RVG-VV), die entsteht, wenn der Gegner Schadensersatzzahlungen an den Rechtsanwalt des Anspruchstellers leistet, ist nur zu ersetzen, wenn er ohne Aufforderung an jenen zahlt oder wenn er über deren Anfall informiert wurde.92

85 BGH v. 9.1.2018 – VI ZR 82/17, NJW 2018, 937; BGH v. 5.12.2017 – VI ZR 24/17, NJW 2018, 935. 86 Enders JurBüro 2005, 505 mit Berechnungsbeispielen. 87 Zur Aufteilung bei teilweise außergerichtlicher Erledigung der Ansprüche Enders JurBüro 2007, 337 ff. 88 Wegen der Einzelheiten hierzu ist auf die Kommentare zu § 91 ZPO und zum RVG zu verweisen. Zur Vergütung, wenn Halter und Fahrer, die neben dem Haftpflichtversicherer mitverklagt sind, einen eigenen Prozessbevollmächtigten bestellen, s. z.B. Zöller/Herget § 91 Rz. 13.93. 89 OLG München v. 7.2.2012 – 11 W 90/12, NZV 2012, 549. 90 BGH v. 2.9.2009 – II ZB 35/07, NJW 2009, 3101; Müller-Rabe NJW 2009, 2913; a.A. noch BGH v. 7.3.2007 – VIII ZR 86/06, VersR 2007, 1098 mit Anm. Tomson; BGH v. 25.7.2008 – IV ZB 16/ 08, VersR 2008, 1666; BGH v. 18.11.2008 – VI ZB 24/08, VersR 2009, 563; BGH v. 25.9.2008 – IX ZR 133/07, VersR 2009, 415. 91 Zu § 15a RVG s. Schneider DAR 2009, 353. 92 AG Rostock v. 5.11.1996 – 43 C 155/96, NZV 1997, 524; AG Gronau v. 21.6.2000 – 2 C 269/99, DAR 2001, 94.

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29.22

§ 29 Rz. 29.23 | Kosten der Rechtsverfolgung

IV. Sonstiges 1. Aufwand für andere Verfahren a) Kosten vorangegangener Prozesse 29.23

Kosten vorangegangener Prozesse (z.B. Straf- oder Bußgeldverfahren gegen den Geschädigten aus Anlass des Unfalls; Nebenklage des Geschädigten; Inanspruchnahme eines falschen Beklagten im Zivilprozess) sind keine adäquaten Folgeschäden der Sachbeschädigung.93 Die Kostenerstattungspflicht richtet sich ausschließlich nach den Vorschriften der StPO bzw. des OWiG. Daran ändert auch die Absicht des Geschädigten nichts, das Strafverfahren zur Vorbereitung seiner Zivilklage zu benutzen.94

b) Polizeiliche Ermittlungen 29.24

Einbußen durch die polizeilichen Ermittlungen (z.B. Zeitverlust durch die Unfallaufnahme, Unkosten des Geschädigten für die Fahrt zu seiner Zeugenvernehmung) sind nicht erstattungsfähig.95 Sie sind nicht dem Sachschaden zuzurechnen, sondern dem Bereich der im öffentlichen Interesse liegenden Strafverfolgung, die dem Staatsbürger auch sonst oftmals entschädigungslose Opfer abverlangt.

c) Verwaltungsverfahren nach dem NATO-Truppenstatut 29.25

Die Kosten für ein Verwaltungsverfahren nach dem NATO-Truppenstatut hat der für den zugrunde liegenden Sachschaden Ersatzpflichtige zu erstatten; sie sind nicht in die Höchstbeträge nach § 12 StVG einzurechnen.96

2. Inkassokosten 29.26

Kosten für die Einschaltung eines Inkassoinstituts können ersetzt verlangt werden, wenn der Schädiger hierzu Veranlassung gegeben hat, jedoch höchstens bis zu dem Betrag, der bei Beauftragung eines Rechtsanwalts angefallen wäre.97

3. Aufwand für die Abwicklung des Schadens 29.27

Derartiger Aufwand (z.B. Zeitverlust, Spesen) wird von der Rspr. als grundsätzlich nicht erstattungspflichtig angesehen;98 sogar dann, wenn der Geschädigte (etwa ein Großbetrieb oder

93 Straf- oder Bußgeldverfahren: BGH v. 17.5.1957 – VI ZR 63/56, BGHZ 24, 267; BGH v. 22.4.1958 – VI ZR 65/57, BGHZ 27, 137; BGH v. 18.9.1975 – III ZR 139/73, NJW 1975, 2341; OLG Schleswig v. 30.6.1993 – 9 U 11/92, VersR 1994, 831 (Nebenklage); Klimke VersR 1981, 18. Zivilprozess: BGH v. 1.12.1960 – III ZR 188/59, VersR 1961, 162; BGH v. 28.2.1969 – II ZR 174/67, VersR 1969, 441; Klimke VersR 1981, 18,19. 94 A.A. KG v. 15.2.1983 – 1 W 6344/82, JurBüro 1983, 1251. 95 OLG München VersR 1964, 932; LG Dortmund VersR 1962, 246; Klimke VersR 1981, 18; a.A. LG Darmstadt v. 17.2.1993 – 9 O 520/92, ZfS 1994, 357. 96 BGH v. 23.9.1969 – VI ZR 69/68, VersR 1969, 1042. 97 OLG Köln v. 8.3.1972 – 2 U 111/71, OLGZ 1972, 411; für Einzelheiten der Erstattung von Inkassokosten s. Jäckle NJW 2013, 1393. 98 BGH v. 24.1.1995 – VI ZR 3/94, BGHZ 127, 352; OLG Köln v. 29.6.1981 – 24 U 21/81, VersR 1982, 585; ebenso 20. VGT (1982) 10.

818 | Zwickel

IV. Sonstiges | Rz. 29.29 § 29

eine Behörde) für die Bearbeitung von Schadensfällen eigenes Personal eingesetzt hat, muss er diesen Aufwand – jedenfalls soweit er den üblichen Rahmen nicht überschreitet – selbst tragen.99 Der BGH vertritt die Ansicht, dieser Aufwand sei an sich zwar als Folgeschaden anzusehen, infolge einer an Verantwortungsbereichen und Praktikabilität orientierten Wertung aber nicht dem Schädiger zuzurechnen; nur wenn die Einschaltung eines Rechtsanwalts erforderlich sei (Rz. 29.14), seien deren Kosten erstattungsfähig.100 Gegen diese Auffassung sind zu Recht Bedenken erhoben worden.101 Nach dem Grundsatz der Totalreparation ist voller Ausgleich für die durch den Sachschaden hervorgerufenen Vermögensnachteile zu leisten. Für normative Wertungen, die eine andere Beurteilung erforderlich machen könnten, ist hier kein Anlass ersichtlich. Allerdings besteht eine Ausgleichspflicht nur für echte Vermögensbeeinträchtigungen, also z.B. für Porto-, Telefon- oder Fahrtkosten sowie – bei Ausländern – die Kosten notwendiger Übersetzungen,102 nicht für bloße Einbußen an Freizeit103 oder die eigene Mühewaltung.104 Erleidet der Geschädigte durch die Inanspruchnahme seiner Arbeitskraft für die Schadensabwicklung einen Verdienstausfall, so ist für diesen – nicht schon für den bloßen Arbeitsaufwand105 – Ersatz zu leisten. Musste er zum Zwecke der Schadensabwicklung (z.B. Ersatzbeschaffung eines Kraftfahrzeugs) Urlaub nehmen oder seinen Erholungsurlaub abbrechen, so ist ihm der Verdienstausfall für die entsprechende Zeit unbezahlten Urlaubs zu ersetzen.106 Bei Einsatz eigenen Personals kommt es darauf an, ob die geltend gemachten Personalkosten auch ohne den Unfall angefallen wären (dann fehlt die Kausalität) oder ob sie erst durch den Unfall hervorgerufen wurden (z.B. Überstundenvergütung). Eine anteilsmäßige Überbürdung der Vorhaltekosten für Personal, welches nur oder auch zur Schadensbearbeitung eingesetzt wird, ist abzulehnen (vgl. Rz. 20.16).

29.28

Die Praxis107 gelangt durch die Zubilligung einer Auslagenpauschale trotz der ablehnenden Haltung des BGH gegenüber den Schadensbearbeitungskosten zu einer Entschädigung in dem auch hier für richtig gehaltenen Umfang. Die Pauschalierung (gemeinhin werden Beträge zwischen 15 und 25 € zuerkannt) erscheint im Hinblick auf § 287 ZPO unbedenklich, jedoch sollten vom Anspruchsteller wenigstens Anhaltspunkte für den Umfang seiner Aufwen-

29.29

99 BGH v. 9.3.1976 – VI ZR 98/75, BGHZ 66, 112; BGH v. 6.11.1979 – VI ZR 254/77, BGHZ 75, 230; BGH v. 26.2.1980 – VI ZR 53/79 BGHZ 76, 216; BGH v. 15.11.1960 – VI ZR 30/60, VersR 1961, 358; KG v. 9.3.1972 – 12 U 1920/71, VersR 1973, 749. 100 BGH v. 24.1.1995 – VI ZR 3/94, BGHZ 127, 353. 101 Spengler VersR 1973, 115; Klimke NJW 1974, 85; J. Schmidt NJW 1976, 1932; Wilhelm WM 1988, 281; LG Braunschweig v. 14.6.1976 – 5 O 153/76, NJW 1976, 1640; abwägend Lange/Schiemann § 6 XIV 3 m.w.N. 102 OLG Hamm v. 9.12.1993 – 6 U 107/93, NZV 1994, 188; AG Osnabrück v. 26.4.1988 – 13 C 612/87, VersR 1989, 1277. 103 BGH v. 29.4.1977 – V ZR 236/74, BGHZ 69, 36; BGH v. 22.11.1988 – VI ZR 126/88, BGHZ 106, 31; Lange/Schiemann 6 XIV 2; a.A. Grunsky Aktuelle Probleme zum Begriff des Vermögensschadens 1968, 76 ff.; Lipp NJW 1992, 1918 ff., der in einer über das zumutbare Maß hinausgehenden Freizeiteinbuße eine ersatzpflichtige Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sieht. 104 Lipp NJW 1992, 1917; a.A. Weimar NJW 1989, 3246 ff. 105 BGH v. 9.3.1976 – VI ZR 98/75, BGHZ 66, 114; BGH v. 6.11.1979 – VI ZR 254/77, BGHZ 75, 234; Lange/Schiemann § 6 XIV 2; MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 88; a.A. Weimar NJW 1989, 3246 ff. 106 A.A. OLG Celle v. 17.2.1977 – 5 U 74/76, VersR 1977, 1104. 107 Vgl. OLG Köln v. 19.6.1991 – 2 U 1/91, VersR 1992, 719; LG Köln v. 5.10.1981 – 24 O 270/80 u. 8 O 627/80, VersR 1983, 403; LG Oldenburg v. 26.10.1983 – 4 O 65/82, DAR 1984, 30; Notthoff VersR 1995, 1402 m.w.N.; für Österreich s. Nugel MDR 2013, 12.

Zwickel | 819

§ 29 Rz. 29.29 | Kosten der Rechtsverfolgung

dungen verlangt werden. Grundsätzlich, d.h. ohne Besonderheiten des Einzelfalles, Auslagenersatz in der Größenordnung von 25 € zuzusprechen, erscheint nicht gerechtfertigt.108 Hat der Geschädigte sogleich einen Anwalt mit der Gesamtregulierung beauftragt, werden ihm i.d.R. keine erstattungsfähigen Auslagen erwachsen sein.109

4. Untersuchungskosten bei begründetem Schadensverdacht 29.30

S. hierzu Rz. 3.48.

108 So aber OLG München v. 8.7.2016 – 10 U 3138/15; LG Koblenz v. 2.5.2017 – 5 O 63/16, SVR 2017, 470; LG Köln v. 9.7.1987 – 29 O 512/86, VersR 1989, 636; wie hier BGH v. 8.5.2012 – VI ZR 37/11, NJW 2012, 2267, 2268; OLG Köln v. 19.6.1991 – 2 U 1/91, VersR 1992, 719. OLG Hamm v. 9.1.1996 – 9 U 102/95, VersR 1996, 1169 hielt jedenfalls 50 DM für überzogen. 109 Vgl. OLG Karlsruhe v. 23.6.1989 – 10 U 3/89, NZV 1989, 433.

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§ 30 Sonstige Vermögensnachteile, Zinsen

I. Finanzierungskosten . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen der Erstattungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgeschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Haftungsschaden des Mieters oder Leasingnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . .

30.1 30.1 30.2 30.6 30.6 30.7

b) c) d) e) f) g) h) III.

Ersatzpflichtiger Gewinnentgang . . . Verlust der Vergünstigung . . . . . . . . Zurückstufung in der Beitragsklasse . Inspektionskosten . . . . . . . . . . . . . . . Betriebserschwerniskosten . . . . . . . . Zeitverluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinigungs- und Entsorgungskosten Zinsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30.8 30.9 30.10 30.12 30.13 30.14 30.15 30.16

30.7

I. Finanzierungskosten 1. Voraussetzungen der Erstattungsfähigkeit Leistet der Ersatzpflichtige oder sein Haftpflichtversicherer keinen Vorschuss, so muss der Geschädigte die Kosten der Schadensbehebung zunächst selbst aufbringen, wenn er auf die baldige Restitution Wert legt oder diese zur Vermeidung größerer Folgeschäden geboten ist. Nur wenn ihm dies nicht möglich oder nicht zumutbar ist (z.B. weil sonst sein Lebensbedarf gefährdet oder seine Rücklage für Notfälle anzugreifen wäre), kann er einen Kredit aufnehmen und die Kosten hierfür als Unfallschaden nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB, nicht etwa nur als Verzugsschaden nach Mahnung, ersetzt verlangen.1 Auf die Notwendigkeit einer Kreditaufnahme hat er den Ersatzpflichtigen allerdings frühzeitig hinzuweisen.2 Zum gebotenen Einsatz eigener Mittel kann auch die Verpfändung eines Wertpapierguthabens gehören.3 Zu der Frage, ob der Geschädigte anstelle eines Kredits seine Kaskoversicherung in Anspruch nehmen muss, vgl. Rz. 25.109.

30.1

2. Umfang Selbstverständlich sind die Finanzierungskosten nur für den Betrag zu erstatten, den der Schädiger tatsächlich schuldet, und nur für solche Schadensposten, für die der Geschädigte tatsächlich Ausgaben hatte, also z.B. nicht für fiktive Reparaturkosten, Wertminderung und Nutzungsausfall.

30.2

Die Finanzierungskosten sind möglichst niedrig zu halten.4 Kann der Geschädigte ein günstiges Darlehen von seiner Bank erhalten (z.B. Dispositionskredit), so darf er nicht die Dienste

30.3

1 BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 27/73, BGHZ 61, 346; BGH v. 25.4.1996 – VII ZR 120/65, NJW 1966, 1454. Vgl. auch Klimke VersR 1973, 880; Himmelreich NJW 1973, 978; Himmelreich NJW 1974, 1897; Sanden/Völtz Rz. 168. 2 OLG Schleswig v. 11.10.1966 – 1 U 27/66, VersR 1967, 68; OLG Düsseldorf v. 17.3.1969 – 1 U 136/68, NJW 1969, 2051; LG Saarbrücken v. 14.2.2014 – 13 S 189/13, NZV 2014, 362. 3 OLG Düsseldorf v. 25.3.1982 – 10 U 159/81, VersR 1983, 990, 991. 4 BGH v. 6.11.1973 – VI ZR 27/73, BGHZ 61, 350.

Zwickel | 821

§ 30 Rz. 30.3 | Sonstige Vermögensnachteile, Zinsen

eines teuren Kreditinstituts oder sog. Unfallhelfers in Anspruch nehmen. Die meist zu überhöhten Kosten angebotenen sog. Unfallfinanzierungshilfen können keineswegs als übliche Maßnahmen der Schadensbeseitigung angesehen werden.5

30.4

Zinsverluste durch Inanspruchnahme eigener Mittel des Geschädigten sind kein erstattungsfähiger Unfallschaden. Diese Verluste werden sich aber in Grenzen halten, wenn der Geschädigte den Ersatzpflichtigen alsbald in Verzug setzt.

30.5

Stellt ein Dritter die Mittel zur Verfügung, um dem Geschädigten zu helfen, so werden diesem die für Privatdarlehen üblichen Zinsen zuzubilligen sein, auch wenn der Dritte solche nicht berechnet (vgl. Rz. 20.20).

II. Folgeschäden 1. Grundsatz 30.6

§ 7 StVG und § 823 Abs. 1 BGB schützen zwar nicht das Vermögen als solches; vermögensrechtliche Beeinträchtigungen sind aber dann zu ersetzen, wenn es sich um (adäquate) Folgen der Sachbeschädigung handelt.

2. Einzelfälle a) Haftungsschaden des Mieters oder Leasingnehmers 30.7

Ihm ist nach der Rspr. das zu ersetzen, was er infolge der Beschädigung des Miet- oder Leasingobjekts kraft Gesetzes oder gem. vertraglicher Vereinbarung an seinen Vertragspartner leisten muss,6 insbesondere also die Reparatur- oder Wiederbeschaffungskosten.7 Ist der Leasingnehmer nicht vorsteuerabzugsberechtigt, umfasst der zu ersetzende Betrag auch die (tatsächlich angefallene) Mehrwertsteuer.8 Hierzu zählen aber nicht die ggf. aufgrund gesetzlicher oder vertraglicher Verpflichtung weiterzuzahlenden Miet- oder Leasingraten, da diese auch ohne das Schadensereignis zu zahlen gewesen wären; der Geschädigte kann nur Ersatz für die entgangene Nutzung verlangen9 (zur Berechnung s. Rz. 28.54). Wird der Vertrag infolge des Schadensereignisses vorzeitig durch Kündigung beendet, kommt ein vom Schädiger über die Wiederbeschaffungskosten hinaus zu übernehmender Haftungsschaden nur insoweit in Betracht, als durch die Kündigung die Pflicht zur Zahlung der Leasingraten und des Restwertes

5 OLG Karlsruhe v. 9.9.1988 – 10 U 18/88, NZV 1989, 24. 6 BGH v. 29.1.2019 – VI ZR 481/17, VersR 2019, 499; BGH v. 13.7.1976 – VI ZR 78/75, VersR 1976, 943; BGH v. 18.11.1980 – VI ZR 215/18, VersR 1981, 161; OLG Köln v. 6.11.1985 – 2 U 63/85, NJW 1986, 1816. S. auch OLG Düsseldorf v. 16.9.1996 – 22 U 73/96, NZV 1997, 120 zur Haftung der Deutschen Bahn AG aus dem internationalen Übereinkommen über die gegenseitige Wagennutzung – RIC. 7 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 145/91, BGHZ 116, 22 = NZV 1992, 227 mit Anm. Hohloch; Schnauder JuS 1992, 824. 8 OLG Hamm v. 14.9.2000 – 27 U 84/00, VersR 2002, 858; LG Arnsberg v. 12.7.1994 – 5 S 64/94, NZV 1994, 444; Bethäuser DAR 1987, 109; Geigel/Katzenstein Kap. 3 Rz. 273. 9 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 145/91, BGHZ 116, 22 = NZV 1992, 227 mit Anm. Hohloch; BGH v. 13.7.1976 – VI ZR 78/75, VersR 1976, 943; BGH v. 23.11.1976 – VI ZR 191/74, VersR 1977, 227; OLG München v. 23.1.2015 – 10 U 1620/14, NZV 2015, 305; Dörner VersR 1978, 892; Schnauder JuS 1992, 822 f.

822 | Zwickel

II. Folgeschäden | Rz. 30.10 § 30

sofort ausgelöst wird und damit gegenüber der ursprünglichen Verpflichtung Mehrkosten (etwa infolge der Notwendigkeit einer Kreditaufnahme zur vorzeitigen Ablösung) verbunden sind.10 Die in einem solchen Fall infolge des Abschlusses eines neuen Leasingvertrags zu zahlenden Leasingraten samt Umsatzsteuer stellen keinen ersatzfähigen Schaden dar.11

b) Ersatzpflichtiger Gewinnentgang Ein ersatzpflichtiger Gewinnentgang kann daraus resultieren, dass der Geschädigte die beim Unfall beschädigte Sache bereits zu einem den tatsächlichen Wert übersteigenden Preis verkauft hatte.12 Ein etwaiger merkantiler Minderwert (Rz. 27.79 ff.) kann ggf. daneben geltend gemacht werden.13 Hinter der Vereinbarung eines Überpreises bei Inzahlunggeben des Fahrzeugs gegen Erwerb eines neuen kann sich aber ein Rabatt für den Neuwagen verbergen, der keine Ersatzpflicht auslöst.14 Bis zur Grenze der Adäquanz können auch entgangene Vorteile aus Geschäften ersatzpflichtig sein, die durch den Unfall verhindert wurden.15

30.8

c) Verlust der Vergünstigung Der Verlust einer Vergünstigung, die an eine bestimmte, wegen der Zerstörung des Wirtschaftsguts nicht mehr erreichbare Nutzungsdauer anknüpft, ist als Folgeschaden der Eigentumsverletzung zu ersetzen. Dies kommt z.B. bei der Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit des in der Überlassung eines Jahreswagens liegenden Geldwertvorteils,16 bei einer staatlichen Investitionshilfe17 in Betracht. Eine zurückzuzahlende Subvention stellt aber nur dann einen ersatzfähigen Folgeschaden dar, wenn die Ersatzbeschaffung nicht in gleicher Weise subventioniert wird.18 Bei Beschädigung eines Leasingfahrzeugs kann u.U. der Wegfall der mit dem Leasinggeschäft verbundenen Steuervorteile eine Ersatzpflicht begründen.19 Ebenso ist erstattungsfähig der Verlust, den ein britischer Armeeangehöriger dadurch erleidet, dass er die ihm sonst zustehende Möglichkeit zum Bezug steuerfreien Benzins bei dem angemieteten Ersatzfahrzeug nicht ausüben kann.20

30.9

d) Zurückstufung in der Beitragsklasse Verluste durch Zurückstufung in der Beitragsklasse (geringerer Schadensfreiheitsrabatt) sind zu ersetzen, wenn der Geschädigte seine Kaskoversicherung in Anspruch genommen hat, um 10 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 145/91, BGHZ 116, 22 = NZV 1992, 227 mit Anm. Hohloch. 11 OLG Brandenburg v. 10.10.2019 – 12 U 102/19, NJW-RR 2020, 151. 12 BGH v. 16.3.1982 – VI ZR 275/80, VersR 1982, 597 = JR 1982, 457 mit Anm. Giesen; OLG Karlsruhe v. 18.4.1979 – 13 U 13/79, VersR 1980, 75; OLG Stuttgart v. 30.11.1979 – 2 U 124/79, VersR 1980, 363; OLG Frankfurt v. 17.1.1991 – 15 U 260/89, NJW-RR 1991, 919; Schmid VersR 1980, 123; a.A. Giesen VersR 1979, 389. 13 OLG Saarbrücken v. 20.3.1992 – 3 U 101/91, NZV 1992, 317 mit zust. Anm. Lange. 14 Vgl. (noch zur Rechtslage nach dem RabattG) OLG Stuttgart v. 18.4.1972 – 11 U 139/71, VersR 1973, 773; einschränkend LG Freiburg v. 18.8.1981 – 9 S 84/81, VersR 1982, 455; a.A. Sanden/ Völtz Rz. 63. 15 Vgl. OLG Frankfurt v. 1.7.1994 – 22 U 86/93, WM 1995, 661: Zinsverlust durch verspätete Scheckeinreichung. 16 LG Braunschweig v. 28.12.1987 – 7 S 144/87, VersR 1988, 827. 17 A.A. OLG Hamm v. 14.2.1984 – 27 U 325/83, VersR 1984, 1051. 18 OLG Nürnberg v. 19.8.2014 – 4 U 874/14, NJW-RR 2015, 279 (Feuerwehrfahrzeug). 19 BGH v. 5.11.1991 – VI ZR 145/91, NZV 1992, 228. 20 OLG Hamm v. 9.1.1989 – 6 U 127/88, NZV 1989, 231.

Zwickel | 823

30.10

§ 30 Rz. 30.10 | Sonstige Vermögensnachteile, Zinsen

höhere Finanzierungskosten zu vermeiden21 (vgl. Rz. 25.109). Ging es ihm jedoch nur darum, einen höheren als den vom Schädiger zu beanspruchenden Ersatz zu erlangen (z.B. im Hinblick auf eine Neuwertklausel bei der Kaskoversicherung), ist der Rabattverlust nicht erstattungspflichtig.22 Bei Alleinhaftung ist der Rückstufungsschaden nur dann ersatzfähig, wenn der gegnerische Haftpflichtversicherer die Regulierung nicht nach angemessener Prüfungszeit anbietet und die Zahlung mit Verzögerung erfolgt.23 Bei Mithaftung des Geschädigten muss er die Mitteilung der Regulierungsbereitschaft des gegnerischen Haftpflichtversicherers nicht abwarten.24 Es ist, für die Ersatzfähigkeit des Rückstufungsschadens unerheblich, ob der (mithaftende) Geschädigte unmittelbar seine Kaskoversicherung hinsichtlich des Gesamtschadens in Anspruch nimmt oder die teilweise Regulierung durch den gegnerischen Haftpflichtversicherer abwartet.25 In beiden Fällen ist der Anspruch wegen Prämiennachteils entsprechend der Haftungsquote zu kürzen.26 Da der Rückstufungsschaden erst in der Zukunft eintritt, kann er nur durch Feststellungsklage geltend gemacht werden.27

30.11

Entsprechende Nachteile in der Haftpflichtversicherung sind dagegen nicht ausgleichspflichtig, da sie nicht auf dem Sachschaden des Geschädigten, sondern darauf beruhen, dass der Geschädigte seinerseits für Unfallfolgen beim Gegner einzustehen hat.28

e) Inspektionskosten 30.12

Wird ein Kfz auf einer von der Werkstatt im Rahmen einer Inspektion vorgenommenen Probefahrt zerstört, so kann der Eigentümer des Kfz die Kosten für die bereits erbrachten Inspektionsarbeiten vom Schädiger verlangen. Hierbei handelt es sich, da der Eigentümer gegenüber der Werkstatt von der Vergütungspflicht frei ist, um einen Fall von Drittschadensliquidation.29

f) Betriebserschwerniskosten 30.13

Betriebserschwerniskosten kann ein Bahnunternehmer verlangen, wenn die unfallbedingte Störung des Bahnbetriebs solche ausgelöst hat.30 21 BGH v. 18.1.1966 – VI ZR 147/64, BGHZ 44, 382, 387; OLG München v. 24.2.1967 – 10 U 1532/ 65, VersR 1967, 573; OLG Celle v. 20.5.1968 – 5 U 187/67, VersR 1968, 1070; Klunzinger NJW 1969, 2113. 22 OLG Saarbrücken v. 8.11.1985 – 3 U 28/84, NJW-RR 1986, 194; OLG Stuttgart v. 27.3.1985 – 1 U 164/84, VersR 1987, 65; OLG Karlsruhe v. 27.6.1990 – 1 U 317/89, NZV 1990, 431; LG Trier v. 21.10.1982 – 3 S 182/82, VersR 1983, 791. 23 BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 36/05, NJW 2006, 2397. 24 BGH v. 26.9.2006 – VI ZR 247/05, NJW 2007, 66 mit Anm. van Bühren. Kritisch Tomson VersR 2007, 923. 25 BGH v. 19.12.2017 – VI ZR 577/16, DAR 2018, 197. 26 BGH v. 19.12.2017 – VI ZR 577/16, DAR 2018, 197; BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 36/05, NJW 2006, 2397; BGH v. 18.1.1966 – VI ZR 147/64, BGHZ 44, 382, 387; OLG München v. 23.3.2018 – 10 U 2647/17, NZV 2018, 332 mit Anm. Almeroth. 27 BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 36/05, NJW 2006, 2397; BGH v. 3.12.1991 – VI ZR 140/91, NZV 1992, 107; OLG Düsseldorf v. 15.3.1991 – 14 U 277/90, NZV 1991, 309. 28 BGH v. 14.6.1976 – III ZR 35/74, BGHZ 66, 398; BGH v. 28.4.1977 – VI ZR 183/75, VersR 1977, 767; BGH v. 22.11.1977 – VI ZR 119/76, VersR 1978, 235; BAG v. 30.4.1992 – 8 AZR 409/91, NZV 1993, 148; OLG Stuttgart v. 30.6.1970 – 2 Ss 247/70, VersR 1970, 846; Preußner VersR 1967, 1029; Klunzinger NJW 1969, 2116. Zu der Frage, in welchen Fällen der Rückstufungsschaden aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten zu ersetzen ist, vgl. Schwerdtner NJW 1971, 1673. 29 LG Limburg v. 27.4.1983 – 3 S 3/83, VersR 1985, 171 mit Anm. Klimke. 30 AG Dresden v. 31.7.2019 – 101 C 1160/19, SVR 2020, 65; vgl. Kunz VersR 1982, 25 m.w.N.

824 | Zwickel

III. Zinsen | Rz. 30.16 § 30

g) Zeitverluste Zur Frage, inwieweit Nachteile durch Zeitverluste bei der Unfallaufnahme, der Rechtsverfolgung oder durch andere unfallbedingte Verfahren ersatzfähig sind, s. Rz. 29.27 ff.

30.14

h) Reinigungs- und Entsorgungskosten Reinigungs- und Entsorgungskosten, die dem Eigentümer eines Straßen- oder Anliegergrundstücks durch unfallbedingte Verschmutzung entstehen, sind vom Schädiger im Rahmen des Erforderlichen31 zu ersetzen (s. auch Rz. 17.6 ff. zu Geschäftsführung ohne Auftrag, Rz. 25.102 zu Schadensminderungskosten). Ersatzfähig sind i.d.R. insbesondere Reinigungskosten sowie Kosten für Aufnahme, Abtransport und ggf. Vernichtung der Ladung.32 Wird der Geschädigte infolge des Unfalls zu einer Sonderabfallabgabe herangezogen (z.B., weil umweltgefährdende Ladung entsorgt werden muss), so hat hierfür ebenfalls der Unfallverantwortliche aufzukommen.33

30.15

Zu Reinigungskosten im Rahmen einer Reparatur s. Rz. 27.54.

III. Zinsen Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung oder Gefährdungshaftung mit dem gesetzlichen Zinssatz zu verzinsen ist, besteht nicht.34 Ein Zinsanspruch kann sich aber – außer aus allgemeinen Gesichtspunkten wie Verzug35 oder Rechtshängigkeit oder im Rahmen der Finanzierungskosten (s. Rz. 30.1) – auch aus § 849 BGB ergeben. Die Vorschrift ist trotz Fehlens einer ausdrücklichen Verweisung auch auf die Gefährdungshaftung anwendbar.36 Sie gewährt einen Zinsanspruch bei Ansprüchen wegen Wertminderung sowie wegen Entziehung einer Sache, z.B. bei Totalschaden eines Kraftfahrzeugs. Hierbei handelt es sich um eine pauschalierte Entschädigung für Nutzungsausfall;37 abstrakte Nutzungsausfallentschädigung (Rz. 28.49 ff.) und Zinsen nach § 849 BGB können daher nicht für denselben Zeitraum, wohl aber für aufeinanderfolgende Zeitabschnitte beansprucht werden.38

31 Vgl. hierzu Vogel/Kitsch VersR 1996, 1476; BGH v. 9.12.2014 – VI ZR 138/14, NJW 2015, 1298, 1300 zur Erforderlichkeit bei Beauftragung der Schadensbehebung durch eine Fachbehörde. 32 BGH v. 6.11.2007 – VI ZR 220/06, NZV 2008, 83. 33 Zur Frage, inwieweit die Sonderabfallabgabengesetze der Länder bei Verkehrsunfällen anwendbar sind, s. Schwab VersR 1995, 1031. 34 BGH v. 28.9.1993 – III ZR 91/92, VersR 1993, 1521. 35 Zum Verzugszinsanspruch der öffentlichen Hand BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, NJW-RR 1989, 670, 672; OLG Koblenz v. 31.1.2000 – 12 U 815/97, NZV 2002, 184, 185. 36 BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 191/81, VersR 1983, 555; OLG Celle v. 17.2.1977 – 5 U 74/76, VersR 1977, 1104; a.A. OLG Nürnberg v. 30.10.1968 – 4 U 75/67, OLGZ 69, 139. 37 BGH v. 26.11.2007 – II ZR 167/06, NJW 2008, 1084. 38 BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 191/81, VersR 1983, 555.

Zwickel | 825

30.16

Siebter Teil Ersatz des Personenschadens § 31 Tötung

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsberechtigung nicht unmittelbar Verletzter . . . . . . . . . . 2. Ersatzfähige Ansprüche . . . . . . . . . a) Direkte Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Heilungskosten und Verdienstausfall für die Zeit zwischen Unfall und Ableben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wegfall von Dienstleistungen . . . . . d) Nach dem Tod des Verletzten eintretende Vermögensschäden . . . . . . e) Anwaltskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Steuerliche Nachteile . . . . . . . . . . . . g) Immaterielle Beeinträchtigungen . . 3. Ansprüche aus anderen Rechtsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beerdigungskosten . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsberechtigung . . . . . . . . . a) Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Forderungsübergang bei Anspruch auf Sterbegeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesetzliche Unfallversicherung bb) Beamter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Angestellter im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Private Versicherung . . . . . . . . . 2. Umfang des Anspruchs . . . . . . . . . a) Zu ersetzende Aufwendungen . . . . . b) Nicht zu ersetzende Aufwendungen 3. Ursachenzusammenhang . . . . . . . . 4. Vorteilsausgleichung . . . . . . . . . . . III. Entgangener Unterhalt . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ersatz des laufenden Unterhalts . . . b) Unterhaltsrückstände . . . . . . . . . . . . c) Rechtsnatur der Ansprüche und deren Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . d) Ausgeschlossene Ansprüche . . . . . . e) Form der Ersatzleistung . . . . . . . . . .

31.1 31.1 31.3 31.3

31.4 31.6 31.7 31.9 31.10 31.11 31.12 31.14 31.14 31.14 31.15 31.16 31.17 31.18 31.19 31.20 31.21 31.25 31.26 31.27 31.31 31.31 31.31 31.32 31.33 31.34 31.35

f) 2. a) b) c)

Berechnung der Ansprüche . . . . . . . Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . Gesetzliche Unterhaltspflicht . . . . . Zum Zeitpunkt des Unfalls . . . . . . . Tatsächlicher Unterhaltsanspruch . aa) Bedürftigkeit des Berechtigten . bb) Leistungsfähigkeit des Verpflichteten . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Reihenfolge der Unterhaltsverpflichteten . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Realisierbarkeit des Unterhaltsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mehrheit von Unterhaltsverpflichteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorrang des Getöteten . . . . . . . . . . b) Vorrang anderer Verpflichteter . . . c) Gemeinsam Unterhaltsverpflichtete 4. Besondere Unterhaltsformen . . . . a) Persönliche Dienstleistungen als Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterhaltsbeitrag der Ehegatten . . . 5. Künftige Unterhaltsansprüche . . . a) Ersatzfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beweisanforderungen . . . . . . . . . . . 6. Mehrheit von Unterhaltsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Gesetzlicher Forderungsübergang 8. Vorteilsausgleichung . . . . . . . . . . . a) Nachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Stammwert . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erträgnisse des Nachlasses . . . . cc) Erhöhung der Unterhaltsleistungspflicht des anderen Elternteils . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vermächtnis/- Pflichtteilsanteil . . . . c) Nutznießung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zugewinnausgleich . . . . . . . . . . . . . e) Bausparsumme . . . . . . . . . . . . . . . . f) Freiwillige Leistungen Dritter . . . . .

31.36 31.39 31.39 31.42 31.44 31.45 31.48 31.49 31.50 31.51 31.51 31.53 31.55 31.56 31.56 31.57 31.60 31.60 31.61 31.64 31.65 31.67 31.68 31.69 31.70 31.73 31.74 31.75 31.76 31.77 31.78

Zwickel | 827

§ 31 | Tötung g) Leistungen aufgrund arbeitsrechtlicher Verpflichtung . . . . . . . . . . . . h) Versicherungsleistungen . . . . . . . . . i) Leistungen eines Sozialleistungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Kindergeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Unterhaltsleistungen Dritter . . . . . . l) Ersparte Aufwendungen . . . . . . . . . m) Wegfall von Dienstleistungen . . . . . 9. Schadensminderungspflicht . . . . . a) Einsatz der Arbeitskraft . . . . . . . . . . b) Fortführung des ererbten Geschäfts c) Berücksichtigung des geringeren Wohnraumbedarfs . . . . . . . . . . . . . 10. Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Ersatzanspruch des hinterbliebenen Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nettoeinkommen des Getöteten als Berechnungsgrundlage . . . . . . . . . . c) Abzug von Beiträgen zur Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vorwegerstattung der fixen Kosten e) Aufteilung des restlichen Einkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Berücksichtigung eigenen Einkommens des Unterhaltsberechtigten . . g) Ersatz für entgangene Dienste . . . . aa) Dienstleistungen des Ehegatten als Unterhaltsschaden . . . . . . . bb) Möglichkeiten des Ausgleichs . cc) Berechnung des Anspruchs bei Anstellung einer Ersatzkraft . . . dd) Berechnung des Anspruchs bei Verzicht auf Anstellung einer Ersatzkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Ersatzanspruch des ehelichen Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Berechnung des materiellen Unterhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung entgangener Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Ersatzanspruch des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern . 14. Dauer der Ersatzpflicht . . . . . . . . . a) Mutmaßliche Beendigung der Unterhaltspflicht . . . . . . . . . . . . . . . b) Mutmaßliche Lebensdauer des Getöteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

828 | Zwickel

31.79 31.80 31.82 31.83 31.84 31.85 31.86 31.87 31.87 31.91 31.92 31.93 31.96 31.96 31.108 31.114 31.116 31.121 31.124 31.127 31.127 31.131 31.132 31.135 31.138 31.138 31.148 31.152 31.154 31.156 31.157 31.160

c) Wegfall der Leistungsfähigkeit des Getöteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Änderung der Höhe des Ersatzanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prognoseentscheidung und Abänderungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wiederverheiratung . . . . . . . . . bb) Eingehung einer Lebenspartnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Adoption . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Nichteheliche Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Aufnahme einer Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Beweisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Prozessrechtliche Fragen . . . . . . . . a) Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . b) Bestimmter Klageantrag . . . . . . . . . c) Verurteilung zu einer Rente . . . . . . IV. Entgangene Dienste . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . 2. Erfasste Dienstleistungen . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ehegatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Umfang des Anspruchs . . . . . . . . . a) Schadensersatzanspruch . . . . . . . . . b) Vorteilsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . c) Berechnung des Anspruchs . . . . . . d) Dauer der Rente . . . . . . . . . . . . . . . 4. Internationales Recht . . . . . . . . . . V. Hinterbliebenengeld . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund und Überblick . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . a) Zeitlicher Anwendungsbereich . . . . b) Sachlicher Anwendungsbereich . . . c) Persönlicher Anwendungsbereich . 3. Verwirklichung eines Haftungstatbestands im Verhältnis zum Getöteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tötung und haftungsausfüllende Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anspruchsumfang, Anspruchsbemessung und Anspruchsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsumfang . . . . . . . . . . . . . .

31.162 31.163 31.163 31.164 31.164 31.166 31.167 31.168 31.169 31.170 31.171 31.172 31.172 31.176 31.177 31.178 31.178 31.179 31.179 31.180 31.182 31.183 31.184 31.184 31.185 31.186 31.187 31.188 31.189 31.189 31.191 31.191 31.192 31.193

31.196 31.197

31.198 31.199

Tötung | § 31 b) Anspruchsbemessung . . . . . . . . . . . 31.200 c) Anspruchsausschluss und Anspruchsminderung . . . . . . . . . . . 31.201

6. Verhältnis zu anderen Ersatzmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.202 7. Internationales Recht . . . . . . . . . . . 31.204

Der Ersatz von Personenschäden gilt, v.a. in der haftungsrechtlichen Praxis, als besonders komplex.1 Verantwortlich sind hierfür, neben der deutlich besser aufgearbeiteten Sachschadensdogmatik,2 eine Vielzahl an verstreuten Anspruchsgrundlagen, komplexe Sachverhalte mit besonderen Beweis- und Darlegungsanforderungen, schwierige (zukunftsgerichtete) Prognoseentscheidungen (z.B. beim Erwerbsschaden), die Intervention von Drittleistungsträgern (z.B. Sozialversicherer) sowie die besondere Bedeutung des Ausgleichs immaterieller Einbußen3 (z.B. beim Schmerzensgeld und Hinterbliebenengeld). Die in Betracht kommenden Ansprüche unterscheiden sich wesentlich danach, ob durch das Unfallereignis eine Tötung eintritt (§ 31) oder ob es zu einer Körperverletzung kommt (§ 32). Das Schmerzensgeld wird gesondert in § 33 behandelt. § 844 BGB (1) Im Falle der Tötung hat der Ersatzpflichtige die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, welchem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen. (2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf den Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten durch Entrichtung einer Geldrente insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde; die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 findet entsprechende Anwendung. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war. (3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war. § 845 BGB Im Falle der Tötung, der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung hat der Ersatzpflichtige, wenn der Verletzte kraft Gesetzes einem Dritten zur Leistung von Diensten in dessen Hauswesen oder Gewerbe verpflichtet war, dem Dritten für die entgehenden Dienste durch Entrichtung einer Geldrente Ersatz zu leisten. Die Vorschrift des § 843 Abs. 2 bis 4 findet entsprechende Anwendung. § 846 BGB Hat in den Fällen der §§ 844, 845 bei der Entstehung des Schadens, den der Dritte erleidet, ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt, so findet auf den Anspruch des Dritten die Vorschrift des § 254 Anwendung. 1 Scholten DAR 2016, 621. 2 Zoll r+s-Beil. 2011, 133. Nur in 12 % der Unfälle treten, neben Sachschäden, auch Personenschäden auf (Scholten DAR 2016, 621). 3 Slizyk SVR 2014, 10.

Zwickel | 829

§ 31 Rz. 31.1 | Tötung § 10 StVG (1) Im Fall der Tötung ist der Schadensersatz durch Ersatz der Kosten einer versuchten Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Getötete dadurch erlitten hat, dass während der Krankheit seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eingetreten war. Der Ersatzpflichtige hat außerdem die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, dem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen. (2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war. (3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war. § 5 HaftPflG (1) Im Falle der Tötung ist der Schadensersatz (§§ 1, 2 und 3) durch Ersatz der Kosten einer versuchten Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Getötete dadurch erlitten hat, dass während der Krankheit seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eingetreten war. Der Ersatzpflichtige hat außerdem die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, dem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen. (2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnisse, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf den Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war. (3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. 2Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.

I. Überblick 1. Anspruchsberechtigung nicht unmittelbar Verletzter 31.1

Der Getötete selbst kann aus der Zerstörung seines Lebens4 keine Ansprüche mehr herleiten; auch vererben kann er nur Ersatzansprüche, die noch zu seinen Lebzeiten entstanden sind wie z.B. Krankenbehandlungskosten, Verdienstausfall oder Schmerzensgeld. § 844 BGB, § 10 StVG und § 5 HaftPflG gewähren jedoch bestimmten Dritten, die von dem Todesfall mittel-

4 Vgl. hierzu Rz. 3.37 ff.; zum Zurechnungszusammenhang zwischen Unfall und Tod Rz. 19.1 ff.

830 | Zwickel

I. Überblick | Rz. 31.6 § 31

bar betroffen werden (nämlich durch die Belastung mit den Beerdigungskosten, den Verlust von Unterhaltsleistungen oder Trauerschmerz), eigene Ersatzansprüche gegen den Schädiger. Sie erwerben diese Ansprüche nicht als Rechtsnachfolger des Getöteten, sondern originär. Abhängig ist der Anspruch des Dritten lediglich davon, dass gegenüber dem unmittelbar Verletzten eine Haftung des Schädigers dem Grunde nach besteht. Der Schädiger kann dem mittelbar geschädigten Dritten daher alle Einwendungen entgegenhalten, die ihm gegenüber Ansprüchen des Getöteten gegeben wären. Mitwirkendes Verschulden des Getöteten5 (s. auch Rz. 25.16) oder die Betriebsgefahr seines Kfz (Rz. 25.87) mindert die Ersatzansprüche des Dritten oder schließt sie ganz aus; § 846 BGB ist auf die Haftung nach dem StVG entsprechend anwendbar.6 Hat der unmittelbar Verletzte vor dem Unfall gegenüber dem Schädiger ganz oder teilweise auf Ersatzansprüche verzichtet, so wirkt dies auch gegenüber dem Dritten.7 Dagegen berührt ein Verzicht des Verletzten nach dem Unfall die Ansprüche der Dritten nicht.8

31.2

2. Ersatzfähige Ansprüche a) Direkte Kosten Wegen Beerdigungskosten und entgangenem Unterhalt s. Rz. 31.14 ff. bzw. 31.31 ff.

31.3

b) Heilungskosten und Verdienstausfall für die Zeit zwischen Unfall und Ableben Diese noch in der Person des Unfallopfers entstandenen Ansprüche stehen dem Erben schon aus übergegangenem Recht zu. Ihre Erwähnung in § 10 Abs. 1 S. 1 StVG, § 5 Abs. 1 S. 1 HaftPflG ist im Wesentlichen deklaratorischer Natur; nicht etwa ergibt sich daraus ein Recht des Miterben, abweichend von § 2039 S. 1 BGB Zahlungen an sich allein zu verlangen.9 Übergehen können nur die beim Tod bereits vorhandenen Ansprüche. Dazu gehört auch der Anspruch gegen den Schädiger auf Freistellung von den Zahlungsansprüchen des Krankenhauses und der Ärzte, für die noch keine Rechnung gestellt worden war (vgl. Rz. 32.23).

31.4

Eine eigene Bedeutung haben die genannten Vorschriften nur insoweit, als sie die Kosten eines Heilungsversuchs (einschließlich Rettungsfahrt)10 auch dann zusprechen, wenn der Verletzte bei ihrer Entstehung bereits verstorben war.

31.5

c) Wegfall von Dienstleistungen Bei deliktischer Haftung gilt § 845 BGB, der einen Ersatzanspruch für entgangene Dienstleistungen, z.B. des im Haushalt lebenden Kindes, begründet (hierzu Rz. 31.178 ff.). Er ist auf die Gefährdungshaftung nicht, auch nicht entsprechend anwendbar.11 Die Mitarbeit eines Ehe-

5 6 7 8 9 10 11

OLG Koblenz v. 7.1.2020 – 12 U 518/19, SVR 2020, 382 mit Anm. Weingran. BGH v. 27.6.1961 – VI ZR 205/60, BGHZ 35, 317, 319. BGH v. 13.6.1961 – VI ZR 224/60, VersR 1961, 846. Palandt/Sprau § 844 Rz. 1b. RG VAE 1936, 587; a.A. KG VR 1927, 404. RG JW 1905, 143. RGZ 57, 52; 139, 295.

Zwickel | 831

31.6

§ 31 Rz. 31.6 | Tötung

gatten im Haushalt oder im Erwerbsgeschäft des anderen ist jedoch keine Dienstleistung i.S.d. § 845 BGB;12 in diesen Fällen richtet sich der Ersatzanspruch nach § 844 Abs. 2 BGB bzw. § 10 Abs. 2 StVG, § 5 Abs. 2 HaftPflG13 (vgl. Rz. 31.96 ff.). Der Wegfall von Arbeitsleistungen beim Eigenheimbau begründet keinen Ersatzanspruch des Hinterbliebenen.14

d) Nach dem Tod des Verletzten eintretende Vermögensschäden 31.7

Nach dem Tod des Verletzten eintretende Vermögensschäden sind – von den ausdrücklich geregelten Ausnahmen abgesehen – nicht ersatzfähig.15 Dies gilt insbesondere für den im Falle des Weiterlebens erzielten Gewinn sowie für entgangene Nutzungsvorteile. Diese Schadensfolgen treffen das Vermögen des Unfallopfers erst nach dessen Tod, also nach dem Übergang auf den Erben, der nicht in einem eigenen Rechtsgut geschädigt ist. Die Ersatzberechtigung mittelbar Geschädigter hat der Gesetzgeber abschließend geregelt (s. Rz. 31.1). Diese gesetzliche Wertung kann nicht unter Hinweis auf eine (ohnehin sekundäre) Präventionsfunktion des Schadensersatzrechts übergangen werden.16

31.8

Die Erben bekommen daher den Vermögensverlust nicht ersetzt, der dadurch entsteht, dass nach dem Tod des Verletzten dessen Erwerbsgeschäft aufgelöst werden muss und kein Erlös zu erzielen ist, der dem Wert des Unternehmens und der in dieses eingebrachten Sachen entspricht17 (anders, wenn das Geschäft noch zu Lebzeiten des Verletzten aufgelöst oder veräußert werden muss; vgl. Rz. 32.121 f.). Auch die den Erben entstehenden Kosten der Auflösung des Notariats des Getöteten sind nicht zu ersetzen.18 Kein Ersatzanspruch der Erben besteht ferner, wenn infolge des Todes des Erblassers eine im Aufbau befindliche Fabrikanlage nicht vollendet werden konnte, so dass die vom Erblasser bestellten Maschinen nicht abgenommen werden konnten und ein Abstandsgeld an die Lieferanten gezahlt werden musste.19 Die Erben können auch keinen Ersatz für Prozesskosten verlangen, wenn infolge des Todes des Erblassers ein Rechtsstreit erforderlich geworden ist. Nicht ersatzfähig ist der Schaden durch Wegfall eines vom Getöteten geschuldeten Leibgedings.20 Wird bei dem tödlichen Unfall zugleich der Wagen des Getöteten total beschädigt, so hat der Schädiger den Erben zwar den Wert des Wagens zu erstatten, ihnen aber keinen Nutzungsausfall zu zahlen und ihnen die Aufwendungen für einen Mietwagen auch dann nicht zu erstatten, wenn sie nach dem Tod des Erblassers auf den Wagen dringend angewiesen waren, z.B. bei Fortführen des Geschäfts des Verstorbenen.21

12 BGH v. 26.11.1968 – VI ZR 189/67, BGHZ 51, 109; BGH v. 11.7.1972 – VI ZR 194/70, BGHZ 59, 172; BGH v. 20.5.1980 – VI ZR 202/78, BGHZ 77, 157. 13 BGH v. 20.5.1980 – VI ZR 202/78, NJW 1980, 2196. 14 BGH NZV 2004, 513. Zur Berücksichtigung beim Unterhalt s. Rz. 31.130. 15 BGH v. 21.11.2000 – VI ZR 231/99, NJW 2001, 971, 972; BGH v. 19.12.2978 – VI ZR 218/76, VersR 1979, 323, 324; BGH v. 21.9.1965 – VI ZR 78/64, VersR 1965, 1077. 16 So aber Pfeifer AcP 205 (2005) 807 ff. 17 BGH v. 21.11.2000 – VI ZR 231/99, NJW 2001, 971, 972; BGH v. 25.1.1972 – VI ZR 75/71, VersR 1972, 460. 18 BGH v. 8.1.1968 – III ZR 32/67, VersR 1968, 554; vgl. auch BGH v. 21.10.1969 – VI ZR 86/68, VersR 1970, 41. 19 BGH v. 20.2.1962 – VI ZR 65/61, VersR 1962, 337. 20 BGH v. 21.11.2000 – VI ZR 231/99, NJW 2001, 971. 21 OLG Dresden VAE 1940, 184 u. 224 mit Anm. Küster.

832 | Zwickel

I. Überblick | Rz. 31.13 § 31

e) Anwaltskosten Wegen der Beschränkung des Hinterbliebenen auf die gesetzlich begründeten Ansprüche können die Kosten einer außerprozessualen Rechtsberatung von ihm allenfalls als Verzugsschaden geltend gemacht werden. Rechtsanwaltskosten, die anlässlich der Geltendmachung des Rentenanspruchs gegenüber einem Sozialversicherungsträger entstehen, können weder nach § 10 StVG noch als Verzugsschaden ersetzt verlangt werden.22

31.9

f) Steuerliche Nachteile Auch für steuerliche Nachteile, die der Tod des Verletzten mit sich bringt (z.B. Verlust der Begünstigung durch den Splitting-Tarif, der erhöhten Pauschal- und Höchstbeträge für Werbungskosten und Sonderausgaben), kann kein Ersatz verlangt werden.23 Zur Erstattung der für Unterhaltsersatzrenten zu zahlenden Einkommensteuer vgl. Rz. 31.93 f.

31.10

g) Immaterielle Beeinträchtigungen § 253 Abs. 2 BGB sieht eine Entschädigung für Nichtvermögensschäden (sog. Schmerzensgeld) nur bei Verletzung bestimmter eigener Rechtsgüter vor. Die Angehörigen eines Getöteten können eine derartige Entschädigung somit beanspruchen, wenn sie infolge seines Unfalltodes eigene psychische Beeinträchtigungen von Krankheitswert erlitten haben (s. Rz. 19.15); außerdem können noch zu Lebzeiten des Verstorbenen in dessen Person entstandene Schmerzensgeldansprüche im Wege der Erbfolge auf sie übergehen (s. Rz. 33.4). Für Unfälle nach dem 22.7.2017 besteht, unabhängig von einer bei den Hinterbliebenen eingetretenen Gesundheitsverletzung, zudem ein Anspruch der Angehörigen aus Hinterbliebenengeld (s. Rz. 31.189).

31.11

3. Ansprüche aus anderen Rechtsgründen § 844 BGB und die entsprechenden Vorschriften enthalten keine ausschließliche Regelung in dem Sinne, dass Ansprüche Dritter, die auf andere Rechtsgründe gestützt werden, ausgeschlossen wären. Wer den Transport des Verletzten ins Krankenhaus bezahlt oder selbst durchgeführt oder die Heilungskosten bezahlt hat, hat einen Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag gegen den Schädiger, weil er dessen Aufgabe übernommen hat, die Unfallfolgen soweit wie möglich abzuwenden oder zu verringern. Ebenso steht es, wenn ein Dritter, der hierzu nicht verpflichtet gewesen wäre, den Hinterbliebenen Unterhalt gewährt, weil diese sonst Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssten. Denn dieser Dritte erfüllte eine gesetzliche Verpflichtung des Schädigers, deren Erfüllung in öffentlichem Interesse lag, und kann daher sogar dann Ersatz seiner Aufwendungen verlangen, wenn der Schädiger die Unterhaltsgewährung durch den Dritten missbilligt hat (§ 679 BGB).

31.12

Wegen der Ansprüche von mittelbar Geschädigten (z.B. infolge des Miterlebens oder der Unfallnachricht) s. Rz. 19.15 f. sowie zur Frage der Anrechenbarkeit von Mitverschulden Rz. 25.36.

31.13

22 BGH LM Nr. 3 zu § 10 StVG. 23 BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 151/75, VersR 1979, 672; Kullmann VersR 1993, 387; a.A. Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 51.

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§ 31 Rz. 31.14 | Tötung

II. Beerdigungskosten 1. Anspruchsberechtigung a) Personenkreis 31.14

Anspruchsberechtigt ist jede Person, die familienrechtlich verpflichtet ist, die Beerdigungskosten zu tragen. Dies ist i.d.R. der Erbe (§ 1968 BGB). Hilfsweise sind kraft Gesetzes zum Tragen der Beerdigungskosten verpflichtet und daher ersatzberechtigt: die Verwandten in gerader Linie (§ 1615 Abs. 2 BGB), der Ehegatte (§ 1360a Abs. 3 BGB) oder Lebenspartner (§ 5 S. 2 LPartG); der unterhaltspflichtige geschiedene Ehegatte nur, sofern die Ehe nach den vor 1.7.1977 geltenden Vorschriften geschieden wurde (vgl. Art. 12 Nr. 3 Abs. 2 1. EheRG; das geltende Scheidungsrecht enthält keine entsprechende Bestimmung mehr; ebenso wenig das LPartG für aufgehobene Lebenspartnerschaften24). Die Verpflichtung kann auch vertraglich übernommen worden sein. Den Anspruch hat jedoch derjenige nicht, der die Kosten tatsächlich gezahlt hat, ohne hierzu verpflichtet zu sein,25 außer wenn er sich den Anspruch von dem Verpflichteten hat abtreten lassen. Auch ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag kommt in Betracht.26

b) Forderungsübergang bei Anspruch auf Sterbegeld 31.15

Hat der Hinterbliebene Anspruch auf Zahlung eines Sterbegeldes, so sind hinsichtlich seiner Anspruchsberechtigung folgende Fälle zu unterscheiden: aa) Gesetzliche Unfallversicherung

31.16

Bei Sterbegeldzahlung der Gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 63 Abs. 1 Nr. 1, 64 SGB VII) kommt ein Forderungsübergang nach § 116 SGB X in Betracht.27 Dabei muss der Tod infolge eines Versicherungsfalles nach § 7 SGB VII (im Haftungsrecht des Straßenverkehrs ist dabei nur der Arbeitsunfall gem. § 8 SGB VII in Form des Wegeunfalles relevant) verursacht worden sein. Zu einem Forderungsübergang nach § 116 SGB X kommt es ferner bei Sterbegeldzahlung durch die gesetzliche Krankenversicherung bei vor dem 31.12.2003 Verstorbenen.28 Findet kein Forderungsübergang statt, verbleibt der Anspruch dem Hinterbliebenen. bb) Beamter

31.17

Wenn der Getötete Beamter war und den Hinterbliebenen ein Sterbegeld nach § 18 BeamtVG, ein Beitrag zu den Überführungs- und Bestattungskosten bei Dienstunfällen nach § 33 Abs. 4 S. 2 BeamtVG oder Beihilfe zusteht, geht der Anspruch in der betreffenden Höhe auf den Dienstherren über (§ 76 BBG), denn zwischen beiden Ansprüchen besteht sachliche Kongruenz.29 Zu den Einzelheiten des Forderungsübergangs gem. § 76 BBG vgl. Rz. 37.1 ff.

24 Röthel NZV 2001, 332. 25 BGH v. 5.2.1962 – III ZR 173/60, NJW 1962, 793. 26 OLG Saarbrücken v. 6.3.1964 – 3 U 132/62, VersR 1964, 1257; KG v. 12.2.1979 – 12 W 289/79, VersR 1979, 379; LG Mannheim v. 15.12.2006 – 1 S 147/06, NZV 2007, 367. 27 Näher Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 13. 28 S. hierzu 5. Aufl., § 28 Rz. 16. 29 BGH v. 18.1.1977 – VI ZR 250/74, VersR 1977, 427; zur Beihilfe Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994 S. 12.

834 | Zwickel

II. Beerdigungskosten | Rz. 31.21 § 31

cc) Angestellter im öffentlichen Dienst Bei Angestellten im öffentlichen Dienst wird gem. Tarifvertrag ebenfalls ein Sterbegeld bezahlt. Hier kommt es aber mangels einer § 76 BBG entsprechenden Regelung nicht zu einem gesetzlichen Forderungsübergang.30 Zur Frage der Vorteilsausgleichung vgl. Rz. 31.27.

31.18

dd) Private Versicherung Zahlt eine private Versicherung Sterbegeld, so findet nach § 86 VVG ebenfalls ein Forderungsübergang statt. Zu den Einzelheiten vgl. Rz. 38.2 ff.

31.19

2. Umfang des Anspruchs Der Berechtigte wird hinsichtlich der Beerdigungskosten wie ein Verletzter behandelt, kann also grundsätzlich jeden Vermögensschaden ersetzt verlangen, soweit er ihm durch die „Beerdigung“ entstanden ist (zur Kausalität vgl. Rz. 31.26). Dass die Feuerbestattung der Beerdigung gleichzusetzen ist, ist jetzt unstreitig, desgleichen, dass der Begriff „Beerdigung“ sehr weit auszulegen ist. Die Erstattungspflicht besteht allerdings nur in dem Umfang, in dem Aufwendungen wirklich gemacht wurden,31 und soweit diese standesgemäß waren, also den Gebräuchen des Personenkreises entsprachen, zu dem der Verstorbene gehörte (§ 1968 BGB).32 Dazu gehören auch Besonderheiten eines fremden Kulturkreises.33 Bei kleinen Kindern ist daher nur ein geringerer Aufwand erstattungsfähig.34 Anordnungen des Erblassers bzw. der totenfürsorgeberechtigten Angehörigen über Art und Ort der Bestattung sind im Rahmen des § 1968 BGB zu berücksichtigen.35

31.20

a) Zu ersetzende Aufwendungen Zu ersetzende Aufwendungen sind z.B., jeweils im Rahmen des Üblichen und Angemessenen:36 – Die Aufwendungen für Vorbereitung und Durchführung der Beisetzung, wie z.B. die Gebühren für Leichenschau und Leichenpass (Todesschein), Sterbeurkunde,37 Waschen, Einkleiden und Aufbahren der Leiche, Beschaffung des Sarges oder der Urne, geistliche und weltliche Feiern mit Musik,38 der Versand von Trauerkarten an Verwandte und Bekannte, Zeitungsanzeigen;39 Telegramme an nahe Angehörige, Ausschmückung der Leichenhalle

30 BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 177/76, VersR 1978, 249. 31 Hagemann RdK 1940, 52. 32 RG v. 9.2.1933 – VI 359/32, RGZ 139, 393; BGH v. 19.2.1960 – VI ZR 30/59, NJW 1960, 910; BGH v. 20.9.1973 – III ZR 148/71, BGHZ 61, 238. Einschränkend bei unverhältnismäßigen Bewirtungskosten wegen angeblicher Bräuche einer Romasippe OLG Celle v. 4.1.1990 – 5 U 207/88. 33 KG v. 10.11.1997 – 12 U 5774/96, VersR 1999, 504. 34 OLG Köln v. 9.12.1975 – 15 U 210/75, VersR 1951, 85. 35 RG v. 5.4.1937 – IV 18/37, RGZ 154, 270; BGH v. 20.9.1973 – III ZR 148/71, BGHZ 61, 238; OLG Saarbrücken v. 6.3.1964 – 3 U 132/62, VersR 1964, 1257. 36 Ins Einzelne gehend OLG Düsseldorf v. 14.6.1961 – 1 W 84/61, MDR 1961, 940; Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 8 f.; Theda DAR 1985, 10 ff. 37 LG Hamburg v. 24.5.1978 – 17 S 179/77, VersR 1979, 64; Wenker VersR 2014, 680, 685. 38 OLG Celle HRR 1939, Nr. 55. 39 KG VAE 1938, 22.

Zwickel | 835

31.21

§ 31 Rz. 31.21 | Tötung

und des Grabes einschließlich der Kränze,40 Blumenbepflanzung, soweit sie zur Grundausstattung des Grabes gehört;41 Trauerkleider für die nächsten Verwandten42 und für vermögenslose Angehörige,43 nicht aber für kleine Kinder;44 Mietwagen für die Fahrt der Trauergäste zum Friedhof;45 angemessene Bewirtungskosten;46 Kosten der Übernachtung der nächsten Angehörigen am Ort des Begräbnisses;47 Verdienstausfall der nächsten Angehörigen für den Tag der Beerdigung;48 Verdienstausfall dessen, der die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten getroffen hat, für einen weiteren Tag,49 Danksagungskarten einschließlich Porto50 und schließlich die üblichen Trinkgelder.51

31.22

– Die Kosten einer zur Dauereinrichtung bestimmten und geeigneten Grabstätte.52 Hierzu gehören auch die Aufwendungen für den Grabstein mit Sockel und Inschrift (oder eines entsprechenden Metall- oder Holzkreuzes), soweit sie der hierzu Verpflichtete voraussichtlich aufgewendet hätte, wäre der Unfallbeteiligte aus anderer Ursache gestorben.53 Die Tatsache, dass der Verstorbene vermögenslos war und sich noch in der Berufsausbildung befand, oder dass der Erbe für seine Klage Prozesskostenhilfe bewilligt erhalten hat, steht der Zubilligung eines Anspruchs auf Ersatz eines der Ortssitte und Gepflogenheit entsprechenden Grabsteins nicht entgegen.54 Der Stein darf nicht aufwendiger sein, als es der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung des tödlich Verunglückten entspricht.55 Bei Beisetzung im Familiengrab können Grabsteinkosten nicht deshalb verlangt werden, weil bei Ableben eines weiteren Familienmitglieds eine neue Grabstelle angelegt werden muss.56 Zum Doppelgrab s. Rz. 31.25.

31.23

– Die Kosten einer notwendigen Überführung der Leiche. Sie ist bei der Feuerbestattung zu dem Ort erforderlich, an dem sich das nächste Krematorium befindet, im Übrigen können die Kosten der Überführung nur bei Vorliegen besonderer Gründe ersetzt verlangt werden,57 vor allem dann, wenn ein Familiengrab besteht58 oder wenn der Verstorbene die

40 OLG Köln DAR 1956, 646; a.A. KG DAR 1934, 32. 41 OLG Köln v. 30.6.1955 – 6 W 169/55, VersR 1956, 647 mit Anm. Pikart. 42 RG WarnR 1928, Nr. 127; KG DAR 1929, 297; LG Ulm v. 2.12.1966 – 4 O 7/66, VersR 1968, 183; a.A. KG DAR 1934, 32. 43 OLG Kiel JW 1931, 668. 44 OLG Koblenz v. 22.10.1984 – 12 U 290/84, VRS 67, 409. 45 OLG Köln JW 1938, 811. 46 BGH v. 19.2.1960 – VI ZR 30/59, VersR 1960, 357; OLG Hamm v. 22.6.1971 – 9 U 37/71, VersR 1972, 405; LG Karlsruhe v. 11.5.1957 – 5 S 12/57, VersR 1957, 725; LG Ulm v. 2.12.1968 – 4 O 8/ 66, VersR 1968, 183; LG München I v. 23.2.1973 – 9 O 555/72, VersR 1975, 73. 47 OLG Hamm v. 22.6.1971 – 9 U 37/71, VersR 1972, 405; wegen Reisekosten s. Rz. 31.25. 48 KG DAR 1929, 297. 49 OLG Hamm DAR 1956, 217. 50 OLG Kiel JW 1931, 668. 51 OLG Köln JW 1938, 811. 52 RG v. 13.5.1939 – VI 256/38, RGZ 160, 256; BGH v. 20.9.1973 – III ZR 148/71, BGHZ 61, 238. 53 RG v. 9.2.1933 – VI 359/32, RGZ 139, 393. 54 OLG München EE 49, 66. 55 OLG Düsseldorf v. 23.3.1994 – 15 U 282/92, VersR 1995, 1195; LG Hof v. 15.2.1950 – I O H 134/ 49, VersR 1950, 183. 56 OLG Koblenz v. 22.10.1984 – 12 U 290/84, VRS 67, 409. 57 RG v. 16.9.1907 – VI 20/07, RGZ 66, 308. 58 OLG Stettin OLGZ 24, 63.

836 | Zwickel

II. Beerdigungskosten | Rz. 31.26 § 31

Beerdigung an einem bestimmten Ort aus beachtlichen Gründen (Beerdigung neben dem vorverstorbenen Ehegatten) gewünscht hat59 oder der Tod auf einer Reise eingetreten ist.60 Auch bei einem in Deutschland verunglückten Gastarbeiter wird die Überführung des Leichnams in die Heimat i.d.R. standesgemäß sein.61 – Die Kosten einer Exhumierung oder Umbettung der Leiche, sofern deren Voraussetzungen62 gegeben sind.63

31.24

b) Nicht zu ersetzende Aufwendungen Nicht zu ersetzende Aufwendungen sind z.B. solche für die Testamentseröffnung, die Erteilung des Erbscheins,64 die Verteilung des Nachlasses unter den Erben, die Umschreibung der Konten und der Grundstücke, die Nachlassverwaltung, die Einsetzung eines Leiters für den verwaisten Gewerbebetrieb, die Mehrkosten für ein Doppelgrab, das auch für die noch lebende Ehefrau des Verunglückten bestimmt ist,65 die Mehrkosten für einen Doppelgrabstein66 oder einen Familiengrabstein,67 die Grabmiete (sie wird nur für das erste Jahr oder die von der Friedhofsverwaltung vorgeschriebene Mindestdauer ersetzt); die Instandhaltung der Grabstätte und des Grabsteins und die laufende Bepflanzung des Grabes;68 Kränze von Verwandten und Freunden; Reisekosten von Angehörigen zur Beerdigung, außer wenn ausnahmsweise der Erbe wegen der Höhe des Nachlasses und der Bedürftigkeit des Verwandten solche Reisekosten tragen müsste;69 Aufwendungen für eine gebuchte, aber wegen der Beerdigung nicht angetretene Reise.70

31.25

3. Ursachenzusammenhang Die Beerdigungskosten sind auch dann voll zu ersetzen, wenn der Verstorbene in hohem Alter stand oder schon vor dem Unfall schwer krank war, wenn die Kosten also auch ohne den Unfall bald erwachsen wären.71 Die Pflicht zu vollem Ersatz der Beerdigungskosten hat der Schädiger mithin auch dann, wenn das den Unfall herbeiführende Ereignis den tödlichen Verlauf einer Krankheit lediglich beschleunigt oder begünstigt hat.

59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

RG WarnR 1925, Nr. 203. OLG Karlsruhe/Freiburg v. 4.2.1954 – IV ZR 118/53, NJW 1954, 720. Vgl. LG Gießen v. 30.6.1983 – 2 O 796/82, DAR 1984, 151. Hierzu v. Blume AcP 112, 367; RG v. 5.7.1923 – VI 1308/22, RGZ 108, 220. OLG München v. 28.9.1973 – 19 U 1932/73, NJW 1974, 703. OLG Köln v. 13.5.1981 – 2 U 87/80, VersR 1982, 558. BGH v. 20.9.1973 – III ZR 148/71, BGHZ 61, 238. OLG Köln v. 19.3.1975 – 2 U 17/74, VersR 1976, 373; a.A. OLG München v. 3.11.1967 – 10 U 1847/67, NJW 1968, 252. OLG Celle v. 31.1.1996 – 3 U 24/95, NZV 1997, 232 (nur anteilig). RGZ 160, 256; BGH v. 20.9.1973 – III ZR 148/71, BGHZ 61, 238; OLG Hamm VRS 2, 105; KG DAR 1974, 225; OLG München v. 28.9.1973 – 19 U 1932/73, NJW 1974, 704; LG Rottweil v. 3.6.1987 – 1 O 268/87, VersR 1988, 1246. BGH v. 19.2.1960 – VI ZR 30/59, BGHZ 32, 72; sehr weitgehend LG Darmstadt ZfS 1990, 6: Reise einer Gastarbeiterfamilie zur Beerdigung des Sohnes in der Türkei. BGH v. 4.4.1989 – VI ZR 97/88, NZV 1989, 308. OLG Kiel JW 1931, 668.

Zwickel | 837

31.26

§ 31 Rz. 31.27 | Tötung

4. Vorteilsausgleichung 31.27

Von den Anschaffungskosten für Trauerkleidung ist die Ersparnis abzuziehen, die dadurch entsteht, dass die Beschaffung bzw. Abnützung anderer Kleidung während der Trauerzeit erspart wird.72 Diese Ersparnis wird üblicherweise mit der Hälfte der Gestehungskosten angesetzt,73 ist aber je nach der Art der Bekleidungsgegenstände verschieden und kann im Bagatellbereich auch vernachlässigt werden.74 Kann dem Beteiligten wegen seiner schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse ein Beitrag zu den Anschaffungskosten nicht zugemutet werden, so entfällt die Kürzung.75

31.28

Im Übrigen findet eine Vorteilsausgleichung nicht statt. Der Schädiger kann mithin – nach Maßgabe von Rz. 31.27 – nicht einwenden, der zum Tragen der Beerdigungskosten Verpflichtete haben von anderer Seite folgende Leistungen erhalten oder zu erhalten: Sterbegeld,76 Feuerbestattungskosten, Lebensversicherungssummen, Unfallversicherungssummen,77 Leistungen der Insassenversicherung,78 freiwillige Zahlungen des Arbeitgebers oder Pensionszahlungen aufgrund des Arbeitsvertrags,79 Zahlungen aus einer öffentlichen Sammlung.80

31.29

Zu unterscheiden von der Frage der Anrechenbarkeit solcher Leistungen anderer Personen ist die, ob der zur Tragung der Beerdigungskosten Verpflichtete den gesamten Anspruch selbst geltend machen darf oder ob ein Teil davon auf einen anderen übergegangen oder diesem abzutreten ist. Diese Frage beantwortet sich unterschiedlich je nach den Rechtsbeziehungen des Verstorbenen zu dem anderen. In Betracht kommt ein gesetzlicher Anspruchsübergang beim Sterbegeld nach sozial- oder versorgungsrechtlichen Vorschriften (vgl. Rz. 31.16 ff.), während bei Sterbegeldzahlungen durch den Arbeitgeber eine Verpflichtung der ersatzberechtigten Angehörigen besteht, ihre Ansprüche an den Arbeitgeber abzutreten.81

31.30

Die Tatsache, dass derjenige, der die Beerdigungskosten zu tragen hat, als Erbe oder Vermächtnisnehmer etwas aus dem Nachlass des Verstorbenen erhält, berührt den Entschädigungsanspruch ebenso wenig wie der Umstand, dass der Berechtigte sich durch den Tod in Zukunft Unterhaltsleistungen erspart.82 Erst recht kann der Ersatzpflichtige nicht geltend machen, der Getötete habe ohnehin nur noch kurze Zeit zu leben gehabt.83

72 BGH v. 20.12.1972 – IV ZR 171/71, VersR 1973, 224; a.A. OLG Karlsruhe VersR 1956, 542 u. 631 mit abl. Anm. Schultze; LG Düsseldorf v. 21.7.1967 – 13 S 139/67, VersR 1967, 985; LG Münster v. 30.1.1985 – 9 S 181/84, VersR 1986, 606. 73 BGH v. 20.12.1972 – IV ZR 171/71, VersR 1973, 224; OLG Hamm v. 14.12.1981 – 13 U 69/81, VersR 1982, 961. 74 Vgl. LG Ulm v. 2.12.1966 – 4 O 7/66, VersR 1968, 183. 75 KG DAR 1928, 421; OLG Schleswig MDR 1952, 747. 76 BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 177/76, VersR 1978, 249; s. hierzu Rz. 31.15. 77 RG v. 10.1.1935 – VI 373/34, RGZ 146, 289; RG v. 20.6.1935 – VI 591/34, RGZ 148, 164; RG DJ 1938, 792; 1940, 1396. 78 RG v. 9.2.1933 – VI 359/32, RGZ 139, 393. 79 RG v. 8.6.1936 – VI 37/36, RGZ 151, 334. 80 RG DJ 1935, 1703. 81 Vgl. BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 177/76, VersR 1978, 249. 82 OLG Düsseldorf v. 30.12.1950 – 1 U 169/50, NJW 1952, 309; Böhmer RdK 1953, 5. 83 OLG Düsseldorf v. 11.2.1994 – 13 U 129/93, OLGR Düsseldorf 1994, 218.

838 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.34 § 31

III. Entgangener Unterhalt 1. Überblick a) Ersatz des laufenden Unterhalts Ersatz des laufenden Unterhalts ist nach § 844 Abs. 2 BGB, § 10 Abs. 2 StVG oder § 5 Abs. 2 HaftPflG zu gewähren, wenn zum Getöteten eine familienrechtliche Beziehung bestand, aus der sich Unterhaltsansprüche ergeben können (Rz. 31.39 ff.), und wenn sich die Unterhaltspflicht ohne den Unfall infolge Bedürftigkeit des Anspruchstellers und Leistungsfähigkeit des Getöteten realisiert hätte (Rz. 31.44 ff.). Nur wenn sich ergibt, dass das Unfallopfer im Falle seines Weiterlebens dem Anspruchsteller hätte Unterhalt gewähren können und müssen, ist der Schädiger zur Ersatzleistung verpflichtet, und zwar in der Höhe des entgangenen Unterhalts (dazu Rz. 31.36)84 und unter Berücksichtigung der Mitverantwortung des Verstorbenen für den Unfall (§§ 9, 17 StVG, § 254 BGB).85

31.31

b) Unterhaltsrückstände Unterhaltsrückstände werden von der Ersatzpflicht nicht erfasst.86 Das Gegenteil lässt sich auch nicht damit begründen, dass der Getötete sie im Falle seines Weiterlebens hätte tilgen können, denn der Schadensersatzanspruch wird wegen der Vereitelung des Unterhaltsanspruchs, nicht der Beitreibbarkeit von rückständigen Unterhaltsforderungen gewährt.

31.32

c) Rechtsnatur der Ansprüche und deren Entstehung Rechtsnatur und Entstehung der Ansprüche. Die Ansprüche sind auf Leistung von Schadensersatz gerichtet, unterliegen also nicht den für Unterhaltsansprüche geltenden Sonderregeln.87 Sie entstehen bereits mit der Verletzung des Unterhaltspflichtigen; die Todesfolge gehört zur haftungsausfüllenden Kausalität.88

31.33

d) Ausgeschlossene Ansprüche Außerhalb des durch die in Rz. 31.31 genannten Vorschriften gezogenen Rahmens haben die Hinterbliebenen keine Ansprüche gegen den Schädiger (vgl. Rz. 31.1).89 Wenn der BGH der Witwe auch über den mutmaßlichen Todeszeitpunkt des Ehegatten hinaus einen Anspruch gegen den Schädiger auf Zahlung der Witwenrente aus der Rentenversicherung zuerkennt, die ihr infolge des Unfalltodes des Mannes entgeht (Rz. 31.161), so geschieht dies im Rahmen des vom Verstorbenen geschuldeten Unterhalts; keinesfalls will der BGH daneben einen selbständigen Anspruch eröffnen. Es handelt sich vielmehr um eine Sachlage, die derjenigen entspricht, wie sie besteht, wenn ein freiberuflich tätiger Ehemann getötet und dadurch gehindert

84 BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 48/65, VersR 1966, 588. 85 BGH v. 13.12.1951 – III ZR 83/51, BGHZ 4, 170. 86 BGH v. 9.3.1973 – VI ZR 119/71, VersR 1973, 620; KG v. 31.10.1968 – 12 W 3733/68, NJW 1970, 476; OLG München v. 5.1.1972 – 5 W 1844/71, NJW 1972, 586; a.A. OLG Nürnberg v. 19.12.1967 – 7 U 143/67, FamRZ 1968, 476; OLG Nürnberg v. 16.10.1970 – 4 W 30/70, VersR 1971, 921. 87 OLG Hamburg RdK 1929, 352. 88 BGH v. 13.2.1996 – VI ZR 318/94, VersR 1996, 649 = JR 1996, 505 mit abl. Anm. Fuchs. 89 Für einen Ausbau des § 844 Abs. 2 S. 1 BGB als „Angehörigenentschädigung“ plädiert Staudinger DAR 2012, 280.

Zwickel | 839

31.34

§ 31 Rz. 31.34 | Tötung

wird, für eine Altersversorgung der Witwe ausreichendes Kapital zurückzulegen.90 Keinesfalls kann daraus gefolgert werden, die Witwe könne vom Schädiger auch Ersatz des Schadens verlangen, der ihr infolge des Unfalltodes des Mannes dadurch entsteht, dass die Kinder ihre Berufsausbildung nicht vollenden und daher nicht in dem Maße zu ihrem Unterhalt beitragen können, wie dies bei ungestörter Berufsausbildung der Fall gewesen wäre. Ebenso wenig können gegen den Schädiger Ansprüche aus dem eherechtlichen Versorgungsausgleich gerichtet werden.91

e) Form der Ersatzleistung 31.35

Der Ersatz des Unterhaltsschadens ist für die Zukunft grundsätzlich in Form einer Rente zu gewähren (vgl. Rz. 34.1).

f) Berechnung der Ansprüche 31.36

Grundlage für die Bemessung des Unterhaltsersatzanspruchs des bedürftigen Hinterbliebenen ist das (bereinigte) Nettoeinkommen des Getöteten (s. Rz. 31.108 ff.). Hiervon sind die fixen Kosten der Haushaltsführung (Rz. 31.116 ff.) abzuziehen. Sodann ist nach den in Rz. 31.121 ff., 31.148 ff. dargestellten Grundsätzen der Anteil jedes einzelnen Unterhaltsberechtigten an diesem bereinigten Einkommen festzulegen. Ihm ist der auf den einzelnen Hinterbliebenen entfallende Anteil an den fixen Kosten hinzuzurechnen (Rz. 31.116; in der Praxis werden Herausrechnung und anteilige Erstattung der Fixkosten allerdings oft durch pauschale Erhöhung der Quote ersetzt, vgl. Rz. 31.123). Dem so ermittelten Betrag sind ggf. die Aufwendungen zur Erhaltung des Krankenversicherungsschutzes (Rz. 31.103, 31.141) hinzuzurechnen, des Weiteren die auf die Ersatzleistung zu entrichtenden Steuern (Rz. 31.93 f.). Anspruchsmindernd sind ggf. zu berücksichtigen Vorteilsausgleich (Rz. 31.67 ff.), Verstöße gegen die Schadensminderungspflicht (Rz. 31.87 ff.) und Mitverschulden des Getöteten (Rz. 31.2).

31.37

Bestand die entgangene Unterhaltsleistung (auch) in Dienstleistungen in Haushalt oder Geschäft, so richtet sich der hierfür geschuldete (zusätzliche) Ausgleich nach den in Rz. 31.127 ff. dargestellten Grundsätzen.

31.38

Im Übrigen vgl. wegen der Einzelheiten der Berechnung des Unterhaltsersatzanspruchs Rz. 31.96 ff. (Ehegatten) und Rz. 31.138 ff. (Kinder).

2. Anspruchsvoraussetzungen a) Gesetzliche Unterhaltspflicht 31.39

Kraft Gesetzes unterhaltspflichtig sind nur die aus Regeln des Familienrechts Unterhaltspflichtigen, nicht dagegen diejenigen Personen, die aus unerlaubter Handlung oder Gefährdungshaftung zur Leistung einer Rente zum Lebensunterhalt verpflichtet sind. Auch wer dadurch geschädigt ist, dass ein vertraglich begründeter Anspruch auf Gewährung des Lebensunterhalts durch den Tod des Verpflichteten wegfiel, erhält keinen Ersatzanspruch.92 Erst recht geht derjenige leer aus, dem ein anderer freiwillig und ohne eine Verpflichtung hierzu zu haben, Un-

90 BGH v. 26.5.1954 – VI ZR 69/53, VersR 1954, 325; BGH v. 4.11.1969 – VI ZR 97/68, VersR 1970, 128. 91 OLG Koblenz v. 24.11.1981 – 12 W 505/81, FamRZ 1982, 175. 92 BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 114/05, NJW 2006, 2327, 2329.

840 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.43 § 31

terhalt geleistet hatte.93 Stiefkinder haben keinen Anspruch, auch wenn der getötete Elternteil für sie so gesorgt hat, als seien es seine eigenen Kinder.94 Entsprechendes gilt bei Verlobten oder Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft.95 Im Einzelnen sind folgende Personen unter bestimmten Voraussetzungen kraft Gesetzes unterhaltsberechtigt: der Ehegatte bei bestehender Ehe (§§ 1360, 1361 BGB), nach Scheidung (§§ 1569 bis 1586b BGB) oder Aufhebung der Ehe (§ 1318 BGB), der Lebenspartner (§§ 5, 12 LPartG), auch nach Aufhebung der Lebenspartnerschaft (§ 16 LPartG), Verwandte in gerader Linie (§ 1601 BGB), auch das Kind von nicht miteinander verheirateten Eltern (§ 1615a BGB) sowie die nicht miteinander verheirateten Eltern eines Kindes (§ 1615l BGB), weiterhin das Adoptivkind (§§ 1751 Abs. 4, 1770 Abs. 3 BGB) und die annehmenden Eltern (§ 1754 i.V.m. § 1601 BGB). Wer nach dem Tod des Verletzten geboren wird, hat dieselben Rechte wie ein Kind des Verletzten, sofern er zum Unfallzeitpunkt bereits von diesem gezeugt war (§ 844 Abs. 2 S. 2 BGB, § 10 Abs. 2 S. 2 StVG, § 5 Abs. 2 S. 2 HaftPflG).

31.40

Da das Gesetz nur auf die familienrechtliche Verpflichtung, Unterhalt zu leisten, abstellt, kommt es nicht darauf an, ob, auf welche Weise und in welcher Höhe der Verpflichtete seine Schuld bis zu seinem Tod erfüllt hat96 oder im Falle seines Fortlebens erfüllt hätte.97

31.41

b) Zum Zeitpunkt des Unfalls Der für das Bestehen der Verwandtschaft mit dem Getöteten maßgebende Zeitpunkt ist der der Körperverletzung, nicht etwa der des Todes. Der Zeitpunkt des Unfalls ist daher auch dann maßgebend, wenn erst später Verletzungsfolgen entstehen. Dasselbe gilt für die nicht auf Verwandtschaft beruhenden Unterhaltsverpflichtungen (Adoption, Eheschließung, Zeugung des Nasciturus); hier kommt es, wie das Gesetz ganz allgemein sagt, darauf an, dass „die Verhältnisse“ schon im Zeitpunkt der Verletzung bestanden haben. Darauf, ob die sonstigen Voraussetzungen für das Entstehen einer Unterhaltspflicht (insbesondere die Bedürftigkeit des Hinterbliebenen, s. Rz. 31.60) in diesem Zeitpunkt schon bestanden haben, kommt es nicht an; es genügt die durch die „Verhältnisse“ begründete Anwartschaft auf eine Unterhaltsberechtigung gegenüber dem Verletzten.98 Kinder, die erst nach der Körperverletzung gezeugt wurden99 und die Witwe, die den Verletzten nach dessen Verletzung geheiratet hatte,100 gehen mithin leer aus. Die Verlobung begründet keine Anwartschaft auf Unterhalt.101

31.42

Für die Anwendung des § 10 StVG bleiben selbstverständlich auch solche Verhältnisse außer Betracht, die schon vor dem Unfall geendet hatten; dies gilt vor allem für eine ohne Unterhaltspflicht des Verletzten geschiedene Ehe. War zur Zeit des Unfalls ein Scheidungsverfah-

31.43

93 LG Tübingen RdK 1950, 157. 94 BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 66/67, VersR 1969, 998; BGH v. 6.12.1983 – VI ZR 2/82, VersR 1984, 189. 95 OLG Frankfurt v. 29.6.1983 – 7 U 267/82, VersR 1984, 449; Becker VersR 1985, 204; Röthel NZV 2001, 330. 96 BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 66/67, VersR 1969, 897; BGH v. 14.1.1971 – III ZR 107/67, VersR 1971, 423; BGH v. 23.4.1974 – VI ZR 188/72, VersR 1974, 906. 97 BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 114/05, NJW 2006, 2327, 2329. 98 RG JW 1931, 3310 mit Anm. Landsberg. 99 OLG Hamm v. 23.9.1996 – 6 U 70/94, r+s 1997, 65. 100 RG VAE 1937, 111. 101 KG v. 6.2.1967 – 12 W 174/67, NJW 1967, 1089; a.A. Reichel DJZ 1931, 562.

Zwickel | 841

§ 31 Rz. 31.43 | Tötung

ren anhängig, so entfällt der Unterhaltsanspruch, wenn der Schädiger nachweist, dass die Ehe unter Ausschluss eines Unterhaltsanspruchs des Hinterbliebenen geschieden worden wäre;102 er endet an dem Tag, an dem das Urteil voraussichtlich rechtskräftig geworden wäre.103 War noch kein Scheidungsantrag erhoben, so bleibt die Absicht, sich scheiden zu lassen, unberücksichtigt.104

c) Tatsächlicher Unterhaltsanspruch 31.44

Steht fest, dass der Getötete die Stellung eines gesetzlich Unterhaltsverpflichteten gegenüber dem Anspruchsteller hatte, so ist weiter zu prüfen, ob unter den Umständen des konkreten Falles ein tatsächlicher Unterhaltsanspruch bestand oder in der Zukunft bestanden hätte. Diese Prüfung umfasst vor allem drei Umstände: die Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten (Rz. 31.45 f.), die Leistungsfähigkeit des Getöteten (Rz. 31.48) und die Frage, ob der Getötete unter mehreren Verpflichteten „an der Reihe“ war, den Unterhalt zu gewähren (Rz. 31.49). Das Ergebnis der Prüfung ist die Feststellung, welchen Unterhalt der tödlich Verletzte dem Berechtigten in bestimmten Zeiträumen geschuldet hätte, wäre er nicht beim Unfall verletzt worden. Ob er ihm tatsächlich Unterhalt geleistet hätte, ist dagegen unerheblich. Beachtlich ist indessen u.U. der Einwand, der Unterhaltsanspruch wäre aus tatsächlichen Gründen nicht realisierbar gewesen (Rz. 31.50). aa) Bedürftigkeit des Berechtigten

31.45

Voraussetzung der Unterhaltspflicht ist grundsätzlich, dass der Berechtigte in dem Zeitraum, für den er Unterhalt fordert, ganz oder teilweise außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 Abs. 1 BGB). Eine Ausnahme gilt für den gegenseitigen Unterhaltsanspruch der Ehegatten. Jeder von beiden muss einen angemessenen Beitrag zum Familienunterhalt leisten, auch wenn der andere nicht bedürftig ist (Rz. 31.58). Wird ein berufstätiger Sohn getötet, der seine Mutter laufend finanziell unterstützt hat, so braucht der für den Unfalltod des Sohnes Verantwortliche nicht in die weggefallenen Zahlungen des Sohnes einzutreten, wenn die Mutter keinen Unterhaltsanspruch hatte, weil sie imstande war, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 BGB), also z.B. ihren Lebensunterhalt durch eine zumutbare Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Zumutbar kann hierbei auch eine Tätigkeit in einem anderen als dem erlernten Beruf sein, auch eine solche unterhalb der bisherigen beruflichen Qualifikation.

31.46

Ein minderjähriges unverheiratetes Kind braucht, um seinen Unterhalt zu bestreiten, sein Vermögen nicht anzugreifen (§ 1602 Abs. 2 BGB). Alle anderen Personen haben dann keinen Unterhaltsanspruch, wenn sie ihren Lebensbedarf aus dem Ertrag oder Stamm ihres Vermögens bestreiten können; der Stamm muss allerdings nur angegriffen werden, wenn dessen Verwertung bei Berücksichtigung der voraussichtlichen Lebensdauer nicht unwirtschaftlich oder unzumutbar ist.105

102 OLG Hamm v. 26.9.1990 – 13 U 168/89, VersR 1992, 511. 103 RG v. 9.11.1936 – VI 134/36, RGZ 152, 363. 104 BGH v. 7.1.1969 – VI ZR 162/67, VersR 1969, 350; BGH v. 19.3.1974 – VI ZR 19/73, VersR 1974, 700. 105 BGH v. 9.11.1965 – VI ZR 260/63, VersR 1966, 283; BGH v. 24.6.1985 – II ZR 69/85, VersR 1985, 1140.

842 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.50 § 31

Sozialhilfeleistungen (zu deren Ausprägungen vgl. Rz. 36.2) mindern die Bedürftigkeit nicht.106 Dies gilt auch dann, wenn der Sozialhilfeträger den Unterhaltsanspruch wegen der Beschränkungen der §§ 33 SGB II, 94 SGB XII (ab 1.1.2005) nicht auf sich hätte überleiten können.107 Ein unfallunabhängig wegen bereits vorher bestehender Behinderung geleistetes Pflegegeld nach § 37 SGB XI dient dagegen dem Ausgleich von Mehraufwendungen und vermindert damit den Unterhaltsbedarf.108

31.47

bb) Leistungsfähigkeit des Verpflichteten Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren (§ 1603 Abs. 1 BGB). Eltern trifft hierbei eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit.109 Sie müssen zudem alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig verwenden, außer wenn ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter oder ein Vermögen des Kindes vorhanden ist (§ 1603 Abs. 2 BGB). Sie haften den Kindern nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen, und zwar unabhängig vom Bestand der Ehe.

31.48

cc) Reihenfolge der Unterhaltsverpflichteten Ein kraft Gesetzes Unterhaltspflichtiger hat nur dann tatsächlich Unterhalt zu leisten, wenn nicht ein anderer, gleichfalls Unterhaltspflichtiger nach dem Gesetz vorrangig einzutreten hat.110 So sind z.B. die Abkömmlinge vor den Verwandten der aufsteigenden Linie unterhaltspflichtig, wobei nähere Abkömmlinge vor den entfernteren haften; auch unter den Verwandten der aufsteigenden Linie haften die näheren vor den entfernteren (§ 1606 BGB). Ist ein Verwandter wegen Unvermögens nicht unterhaltspflichtig oder ist er nicht greifbar, so hat der nach ihm haftende Verwandte Unterhalt zu gewähren (§ 1607 BGB). Der Ehegatte haftet vor den Verwandten, sofern er nicht außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren (§ 1608 BGB).111 Sind mehrere Bedürftige da, die vom Unterhaltsverpflichteten nicht alle voll versorgt werden können, so bestimmt § 1609 BGB die Reihenfolge. Mehrere gleich nahe Verwandte haften anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen (§ 1606 Abs. 3 BGB), also nicht als Gesamtschuldner.

31.49

dd) Realisierbarkeit des Unterhaltsanspruchs Obgleich es nicht auf den tatsächlich geleisteten, sondern den geschuldeten Unterhalt ankommt, kann der Schädiger doch einwenden, der Unterhaltsanspruch wäre faktisch nicht realisierbar gewesen, etwa wegen permanenter Arbeitsscheu oder durch Alkoholmissbrauch bedingter Verwahrlosung112 des Schuldners. In diesem Fall hätte der Hinterbliebene nämlich keinen Schaden erlitten.113 An den Nachweis der Durchsetzbarkeit des Unterhaltsanspruchs

106 BGH v. 8.10.1980 – IVb ZR 535/80, BGHZ 78, 207; BGH v. 23.3.1983 – IVb ZR 358/81, FamRZ 1983, 574; BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 14/84, FamRZ 1985, 1245. 107 BGH v. 1.10.1991 – VI ZR 334/90, BGHZ 115, 228. 108 BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 114/05, NJW 2006, 2327, 2328. 109 OLG Hamm v. 14.3.2005 – 13 U 194/04, NZV 2006, 85, 86. 110 BGH v. 5.7.1988 – VI ZR 299/87, NZV 1988, 218. 111 Vgl. dazu BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 114/05, NJW 2006, 2327, 2329. 112 OLG Köln v. 18.12.1995 – 16 W 62/95, NJWE-VHR 1996, 152. 113 BGH v. 23.4.1974 – VI ZR 188/72, NJW 1974, 1373; KG ZfS 1987, 133.

Zwickel | 843

31.50

§ 31 Rz. 31.50 | Tötung

dürfen aber keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Nach § 287 ZPO muss es ausreichen, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sich die titulierten Unterhaltsansprüche trotz der Leistungsunwilligkeit des Verpflichteten langfristig doch hätten realisieren lassen.114

3. Mehrheit von Unterhaltsverpflichteten a) Vorrang des Getöteten 31.51

Der Umstand, dass durch den Unfalltod des bisher Verpflichteten andere Personen unterhaltspflichtig geworden sind, hindert das Entstehen des Ersatzanspruchs des Unterhaltsberechtigten nicht. Dies ergibt sich daraus, dass in § 13 Abs. 2 StVG, § 8 Abs. 2 HaftPflG, § 844 Abs. 2 BGB auf § 843 Abs. 4 BGB verwiesen wird. Das bedeutet nicht etwa, dass der Ersatzanspruch auch dann entstünde, wenn ein erst in zweiter Linie zum Unterhalt Verpflichteter beim Unfall tödlich verletzt wird, der in erster Linie Unterhaltsverpflichtete aber in der Lage ist, den Unterhalt zu gewähren. Vielmehr ist mit der Verweisung auf § 843 Abs. 4 BGB lediglich gemeint, dass dem Ersatzanspruch des Unterhaltsberechtigten die Tatsache nicht entgegensteht, dass infolge des Unfalltodes des in erster Linie Verpflichteten ein erst in zweiter Linie Verpflichteter (Rz. 31.49) unterhaltspflichtig geworden ist. Der Ersatzanspruch wegen Entziehung des Unterhaltsanspruchs besteht mithin auch dann, wenn der Getötete zwar zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet gewesen wäre, aber keinen Unterhalt geleistet hat, vielmehr ein anderer Verwandter für den Unterhalt des Dritten gesorgt hat. Dasselbe gilt für Zeiträume nach dem Tod des unmittelbar Verletzten, in denen ein Dritter für den Unterhalt des Bedürftigen aufgekommen ist. Daher kann sich der Schädiger nicht darauf berufen, dem Witwer sei durch den Wegfall der Dienste seiner tödlich verunglückten Frau kein Schaden entstanden, weil nunmehr die Tochter die Haushaltsarbeit übernommen habe.115

31.52

Der Vorrang der Schadensersatzpflicht des Schädigers gegenüber der Unterhaltspflicht eines anderen nach § 13 Abs. 2 StVG, § 8 Abs. 2 HaftPflG, § 844 Abs. 2, § 843 Abs. 4 BGB gilt auch im Verhältnis zu einem in die Unterhaltspflicht des Getöteten eingetretenen Erben (gesetzlich vorgesehen beim Tod eines geschiedenen Ehegatten, § 1586b Abs. 1 BGB). Die von RGZ 74, 376 vertretene Ansicht, der Schädiger sei von seiner Verpflichtung frei, wenn der Erbe des Getöteten an dessen Stelle infolge des Unfalls in seiner Eigenschaft als Erbe unterhaltspflichtig wurde, ist mit dem Sinn des § 843 Abs. 4 BGB nicht vereinbar. Die Vorschrift bringt den allgemeinen Rechtsgedanken zum Ausdruck, dass auf den Schaden keine Leistungen anderer anzurechnen sind, die nach ihrer Natur dem Schädiger nicht zugutekommen sollen.116

b) Vorrang anderer Verpflichteter 31.53

Eine Ausnahme von dem Grundsatz des Nachrangs anderer Unterhaltsverpflichteter gilt dann, wenn die durch den Tod des Verletzten unterhaltspflichtig gewordene Person den Unterhalt des Hinterbliebenen aus dem Vermögen des Verstorbenen zu leisten verpflichtet und in der Lage ist.117 Denn insoweit ist dem Hinterbliebenen nicht „infolge der Tötung das Recht

114 OLG Bremen v. 11.10.1988 – 1 U 79/88, FamRZ 1990, 403; OLG Hamm v. 14.3.2005 – 13 U 194/04, NZV 2006, 85, 86. 115 BGH VRS 20, 81. 116 BGH v. 5.2.1963 – VI ZR 33/62, NJW 1963, 1051, 1446 mit Anm. Ganssmüller; BGH v. 21.10.1969 – VI ZR 86/68, VersR 1970, 41. 117 RG v. 6.7.1908 – VI 405/07, RGZ 69, 294; BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 52/67, VersR 1969, 951.

844 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.56 § 31

auf Unterhalt entzogen“. Es hat lediglich die Person des Leistenden, nicht aber die Vermögensmasse gewechselt, aus der Unterhalt geleistet wird. Der Schädiger braucht aber nur insoweit nicht einzustehen, als der Unterhalt aus den Erträgnissen des überkommenen Vermögens geleistet werden kann und muss. Bei Wiederverheiratung des Berechtigten tritt die Ersatzpflicht des Schädigers ebenfalls zurück. Der durch die neue Ehe begründete Unterhaltsanspruch ist, jedenfalls soweit in zumutbarer Weise realisierbar, anzurechnen, denn § 843 Abs. 4 BGB gilt nur für den Fall, dass ein anderer „aus Anlass des Unfalls“ unterhaltspflichtig wird;118 vgl. Rz. 31.164 ff.

31.54

c) Gemeinsam Unterhaltsverpflichtete Sind mehrere Personen nebeneinander in der Weise unterhaltspflichtig, dass sie zum Unterhalt eines Dritten gemeinsam beizutragen haben, so haftet der Schädiger nur für den Anteil, der auf den Getöteten entfallen wäre. Das gilt insbesondere für Unterhaltsansprüche des Kindes gegen seine Eltern (vgl. Rz. 31.146). Diese haften seit 1.7.1958 nicht mehr als Gesamtschuldner für den vollen Unterhalt, sondern gleichrangig nach Anteilen (§ 1606 Abs. 3 BGB).119 Unbeachtlich sind Abreden zwischen den Unterhaltsverpflichteten über überobligationsmäßige Leistungen eines von ihnen.120 Ehegatten haben gleichwertig zum Familienunterhalt beizutragen, wobei der Naturalunterhalt (Betreuung und Versorgung) ebenso hoch zu bewerten ist wie der Barunterhalt.121

31.55

4. Besondere Unterhaltsformen a) Persönliche Dienstleistungen als Unterhalt Inhalt der Unterhaltspflicht ist nicht etwa nur das Zurverfügungstellen von Geld; sie umfasst vielmehr auch die gesamte persönliche Sorge um die Person des Betreuten und die damit zusammenhängenden Dienste, Bemühungen und Aufwendungen,122 auch die besonderen Pflegeleistungen bei körperlicher Behinderung.123 Die Dienstleistungspflicht der Kinder im elterlichen Haushalt oder Betrieb (§ 1619 BGB) gehört jedoch nicht hierher (vgl. Rz. 31.6). Gegenüber ihrem Kind können die Eltern nach Maßgabe von § 1612 Abs. 2 BGB bestimmen, in welcher Form der Unterhalt geleistet wird; davon hängt es ab, ob der Ersatzpflichtige Barunterhalt oder den Wert des Naturalunterhalts zu leisten hat.124 Ist Ersatz wegen entgangener Pflegedienste zu leisten, muss dem Unterhaltsberechtigten durch Geldleistungen ermöglicht werden, fremde Hilfskräfte zu entlohnen, die die Pflege und Sorge übernehmen.125 Wegen der Einzelheiten der Berechnung vgl. Rz. 31.127 ff. 118 BGH v. 16.2.1970 – III ZR 183/68, VersR 1970, 524; BGH v. 17.10.1978 – VI ZR 213/77, VersR 1979, 55. 119 Vgl. Massfeller DNotZ 1957, 365; Habscheid Rpfleger 1957, 327. 120 Lemcke Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens in Himmelreich, Jahrbuch Verkehrsrecht 1999, S. 122 (133). 121 Vgl. BVerfG v. 21.7.1960 – 1 BvR 133/60, NJW 1960, 1711; BGH v. 26.1.1953 – III ZR 37/52, BGHZ 8, 377. 122 BGH v. 14.12.1956 – VI ZR 269/55, NJW 1957, 537; BGH v. 18.5.1965 – VI ZR 1/64, NJW 1965, 1710; BGH VRS 31, 20. 123 BGH v. 6.10.1992 – VI ZR 305/91, NZV 1993, 21. 124 Vgl. zu einem Sonderfall (volljähriges, verheiratetes Kind mit Behinderung) BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 114/05, NJW 2006, 2327. 125 BGH v. 26.1.1953 – III ZR 37/52, NJW 1953, 619.

Zwickel | 845

31.56

§ 31 Rz. 31.57 | Tötung

b) Unterhaltsbeitrag der Ehegatten 31.57

Die Pflicht jedes Ehegatten, zum Unterhalt der Familie beizutragen (§ 1360 BGB), bildet die Grundlage für ein entsprechendes Recht des anderen Ehegatten. Dieser kann nicht nur Unterhalt für sich verlangen, sondern auch einen Beitrag zum Unterhalt der Kinder. Der Anspruch auf einen Beitrag zum Familienunterhalt erlischt jedoch mit dem Ende der Ehe. Das hat zur Folge, dass beim Unfalltod eines Ehegatten der andere vom Schädiger nur noch Ersatz für den Wegfall seiner eigenen Unterhaltsberechtigung fordern kann, also nicht Ersatz für den Wegfall der den Kindern zustehenden Unterhaltsforderung (Rz. 31.104). Die Höhe der Anteile des Ehegatten und der Kinder am ausgefallenen Unterhalt bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalles.126

31.58

Die Bedürftigkeit des anderen Ehegatten spielt im Rahmen der Unterhaltsverpflichtung nach § 1360 BGB keine Rolle. Dies gilt auch für die an ihre Stelle tretende Schadensersatzpflicht. Ein eigenes Einkommen des überlebenden Partners hat jedoch insofern Bedeutung, als es eine Verpflichtung zu Barunterhaltsbeiträgen gegenüber dem Getöteten begründet hatte, deren Wegfall im Rahmen der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen ist127 (vgl. Rz. 31.85 und zur Berechnungsweise Rz. 31.124). Zur Anrechnung von Einkünften, die der Unterhaltsberechtigte durch eine im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht geschuldete Verwertung seiner Arbeitskraft erzielt oder erzielen könnte, vgl. Rz. 31.87 ff. Zum Einfluss einer Wiederverheiratung oder Begründung einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft s. Rz. 31.164 ff.

31.59

Wird eine Ehefrau getötet, so hat der Witwer einen Schadensersatzanspruch wegen Wegfalls der Leistungen der Frau im Haushalt.128 Entsprechendes gilt bei Tötung des Ehemannes, wenn dieser (wie meist bei der sog. Doppelverdienerehe) einen Beitrag zur Haushaltsführung nach § 1360 Abs. 2 BGB geschuldet hatte.129 Einzelheiten zur Berechnung s. Rz. 31.127 ff.

5. Künftige Unterhaltsansprüche a) Ersatzfähigkeit 31.60

Das die gesetzliche Unterhaltspflicht begründende Verhältnis muss bereits zum Zeitpunkt des Unfalls bestanden haben (vgl. Rz. 31.42); dagegen kommt es nicht darauf an, ob auch die zu einer tatsächlichen Unterhaltsberechtigung führenden Umstände bereits zu diesem Zeitpunkt vorliegen oder erst später eintreten. Daher ist z.B. ein Unterhaltsanspruch auch dann gegeben, wenn der Anspruchsteller zur Unfallzeit noch ein ausreichendes Einkommen bezog, später aber aus Altersgründen auf die finanzielle Unterstützung durch den getöteten Angehörigen angewiesen wäre. Der Gefahr der Verjährung solcher Ansprüche kann durch Erhebung einer Klage auf Feststellung der künftigen Ersatzpflicht begegnet werden (vgl. zur Zulässigkeit, insbesondere zur Frage des Feststellungsinteresses Rz. 31.172 ff.).

126 127 128 129

BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 241/69, NJW 1972, 251. BGH v. 22.3.1983 – VI ZR 67/81, VersR 1983, 727. BGH v. 26.11.1968 – VI ZR 189/67, BGHZ 51, 110. Vgl. BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 203/79, VersR 1982, 291.

846 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.64 § 31

b) Beweisanforderungen Da künftige Entwicklungen – hier bzgl. der Bedürftigkeit des Berechtigten, Leistungsfähigkeit und Rangfolge des Verpflichteten – nie mit Sicherheit vorhergesagt werden können, lässt die Rspr. die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Unterhaltsschadens für den Erlass eines Feststellungsurteils ausreichen.130 Dies ist zutreffend. Das für den Erlass eines positiven Feststellungsurteils erforderliche Rechtsverhältnis kann auch schon dann bestehen, wenn noch kein bezifferbarer Schaden entstanden ist; ausreichend ist bereits eine Vermögensgefährdung, d.h. die Wahrscheinlichkeit eines Schadens.131 Ob eine solche im Einzelfall gegeben ist, hängt von den jeweiligen Gesamtumständen ab. Spricht die Lebenserfahrung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge für einen hypothetischen Unterhaltsanspruch gegen den Getöteten, so ist die Feststellungsklage begründet. Hierbei sollten an das Maß der Wahrscheinlichkeit keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden.132

31.61

Der BGH hat eine ausreichende Wahrscheinlichkeit künftiger Unterhaltsgewährung z.B. angenommen beim Tod der Tochter des 47-jährigen Klägers133 und sogar beim Tod des 5-jährigen Kindes 33- bzw. 30-jähriger Eltern.134 Auch bei der Tötung des 9-jährigen Sohnes eines Rechtsanwalts, von dessen Vorsorge für die Altersversorgung ausgegangen wurde, hat der BGH der Feststellungsklage stattgegeben, weil bei der Unvorhersehbarkeit der Entwicklung keine Gewähr gegeben sei, dass wirtschaftliche Not immer ferngehalten bleibe.135

31.62

Den Einwand eines Vorteilsausgleichs wegen ersparten Kindesunterhalts lässt der BGH im Rahmen der Feststellungsklage nur zu, wenn bereits jetzt festgestellt werden könnte, dass diese Ersparnis den entgangenen Unterhalt erreicht oder überstiegen hätte; ansonsten ist die Frage erst bei Eintritt der Unterhaltsbedürftigkeit des Klägers zu prüfen.136

31.63

6. Mehrheit von Unterhaltsberechtigten Leiten von dem Unfalltod eines Familienangehörigen mehrere Unterhaltsberechtigte (Ehegatte, Kinder) Ersatzansprüche gegen den Schädiger ab, so sind sie keine Gesamtgläubiger. Vielmehr ist für jeden der Gläubiger die ihm zustehende Forderung eigens zu berechnen und, wenn ein Urteil ergeht, getrennt zuzusprechen.137 Das stößt oft auf erhebliche Schwierigkeiten, weil die Höhe des Unterhalts von der Leistungsfähigkeit und damit auch von der Höhe 130 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 119/51, BGHZ 4, 133; BGH v. 17.4.1952 – III ZR 109/50, VersR 1952, 210; BGH v. 21.10.1953 – VI ZR 320/52, VersR 1953, 481; OLG Celle v. 19.3.1987 – 5 U 122/86, NJW-RR 1988, 990; LG Braunschweig v. 20.10.1971 – 5 O 151/71, VersR 1972, 567; kritisch Schwab ZZP 85, 246. 131 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 119/51, BGHZ 4, 133; Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit 1978, S. 145. 132 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 119/51, BGHZ 4, 133; BGH v. 17.4.1952 – III ZR 109/50, VersR 1952, 210; BGH v. 21.10.1953 – VI ZR 320/52, VersR 1953, 481: „nicht eben entfernt liegende Möglichkeit“; zu weitgehend aber OLG Celle v. 19.3.1987 – 5 U 122/86, NJW-RR 1988, 990 u. LG Braunschweig v. 20.10.1971 – 5 O 151/71, VersR 1972, 567, wonach bloße Möglichkeit genügen soll; zu streng dagegen wohl OLG Hamburg DJZ 1904, 752; OLG Karlsruhe DJZ 1916, 546; OLG Köln JW 1933, 1895; OLG Dresden JW 1936, 1389. 133 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 119/51, BGHZ 4, 133. 134 BGH v. 17.4.1952 – III ZR 109/50, VersR 1952, 210. 135 BGH v. 21.10.1953 – VI ZR 320/52, VersR 1953, 481. 136 BGH v. 17.4.1952 – III ZR 109/50, VersR 1952, 210. 137 BGH v. 14.3.1972 – VI ZR 160/70, VersR 1972, 743; BGH 17.10.1972 – VI ZR 111/71, VersR 1973, 84; BGH v. 18.1.1979 – III ZR 72/77, VersR 1979, 423.

Zwickel | 847

31.64

§ 31 Rz. 31.64 | Tötung

des den Geschwistern (dem überlebenden Elternteil) geschuldeten Unterhalts abhängt. Dadurch entsteht eine der Gesamtgläubigerschaft angenäherte Stellung,138 die zur Folge hat, dass die Zulässigkeit eines unbestimmten Klageantrags in der Rspr. wohlwollend beurteilt wird (s. aber Rz. 31.176). Während sonst verlangt wird, dass die Unterhaltsgeschädigten mit Rücksicht auf die Bestimmtheit des Klageantrags (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) die Größenordnung jedes einzelnen der erhobenen Ansprüche angeben und die zur Fixierung der Ansprüche nötigen tatsächlichen Unterlagen beibringen, genügt es in einem solchen Fall, wenn außer den tatsächlichen Unterlagen der gemeinsame Unterhaltsbedarf in den durch die Leistungspflicht des Getöteten gezogenen Grenzen dargetan und gemeinsam der Antrag gestellt wird, das Gericht möge innerhalb des Gesamtschadensbetrages den Unterhaltsschaden des einzelnen Klägers nach § 287 ZPO schätzen und jedem Kläger das ihm Zustehende zusprechen. Der bei einem solchen Rechtsstreit neben den Kindern beteiligte unterhaltsgeschädigte Elternteil darf sich auch im Namen der Kinder mit einem solchen Antrag einverstanden erklären, auch wenn dieser zu einer ihm günstigeren Aufteilung führen kann. Denn mit einer Erklärung des hier geschilderten Inhalts ist kein sachlich-rechtlicher Teilverzicht verbunden; das Innenverhältnis der Kläger bleibt vielmehr unberührt.139 Der BGH140 hat es auch zugelassen, dass die am Rechtsstreit nicht mehr beteiligte Witwe im Berufungsverfahren über die Klage der Kinder Abänderungsklage nach § 323 ZPO erhebt, um zu erreichen, dass ihr bei einer Kürzung der Unterhaltsersatzansprüche der Kinder ein entsprechend erhöhter Betrag zugesprochen wird. Diese mit der Prozessrechtsdogmatik schwerlich vereinbare Rechtswohltat findet lediglich in Billigkeit und Prozessökonomie ihre Stütze.

7. Gesetzlicher Forderungsübergang 31.65

Erbringt ein öffentlich-rechtlicher Leistungsträger dem Geschädigten seinerseits Leistungen zum Ausgleich des Schadens, so gehen die Ansprüche des Unterhaltsberechtigten gegen den Schädiger auf diesen Leistungsträger über. Bezüglich der Rechtsgrundlage für den Regress muss danach differenziert werden, ob der Leistungserbringer ein Sozialleistungsträger (dann § 116 SGB X), ein Versorgungsträger (dann § 81a BVG) oder ein Dienstherr ist (dann § 76 BBG). Zu den Voraussetzungen und Einzelheiten dieses Forderungsübergangs vgl. für Sozialleistungsträger § 35 (Sozialversicherungsträger) bzw. § 36 (Sozialhilfeträger), für Versorgungsträger und Dienstherren § 37. Wegen der auf die Hinterbliebenenrente zu zahlenden Einkommensteuer s. Rz. 31.93.

31.66

Nicht in Betracht kommt dagegen bei Unterhaltsersatzansprüchen ein Rechtsübergang auf private Versicherer nach § 86 Abs. 1 VVG (vgl. näher Rz. 38.2 ff.), denn diese Vorschrift gilt nur im Bereich der Schadensversicherung, nicht bei einer Summenversicherung wie z.B. Lebens- oder Unfallversicherung. Auch eine Zusatzversorgungskasse, bei der die Höhe der zu zahlenden Renten im Voraus fixiert ist, kann sich aus diesem Grund nicht auf § 86 VVG berufen; sie kann Ansprüche gegen den Schädiger nur kraft Abtretung durch die Hinterbliebenen geltend machen.141 Dasselbe gilt für den Arbeitgeber, der aufgrund tarif- oder arbeitsvertraglicher Regelung Leistungen an die Hinterbliebenen erbracht hat.142 Derartige Abtretungen werden allerdings wegen daneben eingreifender Legalzessionen an öffentlich-rechtliche Leistungsträger (Rz. 31.65) i.d.R. ins Leere gehen. 138 139 140 141 142

BGH v. 17.10.1972 – VI ZR 111/71, NJW 1972, 1716. BGH v. 17.10.1972 – VI ZR 111/71, NJW 1972, 1716. BGH v. 9.5.1989 – VI ZR 223/88, VersR 1989, 974. BGH v. 8.7.1980 – VI ZR 275/78, VersR 1980, 1072. Vgl. Blunk VersR 1986, 639.

848 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.69 § 31

8. Vorteilsausgleichung Dass bei der Berechnung des Schadens die wirtschaftlichen Vorteile anzurechnen sind, die der Schadensfall dem Geschädigten gebracht hat (Rz. 20.19), muss auch der Unterhaltsberechtigte sich grundsätzlich entgegenhalten lassen. Dieser Grundsatz wird allerdings erheblich durch zwei Regeln eingeschränkt: Erstens sind nur Vorteile, die nach wertender Betrachtung in einem inneren Zusammenhang mit dem Einzelschaden stehen, zu berücksichtigen143 und zweitens nur solche, deren Anrechnung dem Geschädigten „zumutbar“ ist.144 Nicht anzurechnen ist z.B. – da nicht durch den Tod des Unterhaltsverpflichteten verursacht – das Arbeitslosengeld II gem. §§ 19 ff. SGB II, das die Witwe wegen ihrer eigenen Arbeitslosigkeit erhält145 oder – mangels inneren Zusammenhangs – der Zinsgewinn aus dem durch den Tod des Ehegatten veranlassten Verkauf des gemeinsamen Betriebs.146 Nicht „zumutbar“ ist die Anrechnung freiwilliger Leistungen Dritter, auch wenn sie wegen des Unfalltodes des Unterhaltsverpflichteten erfolgen, und solcher Leistungen Dritter, die aufgrund eines Vertrages zwischen dem Erblasser und dem Dritten erfolgen, für den der Erblasser Gegenleistungen erbracht hat (z.B. Unfallversicherungsvertrag; vgl. Rz. 31.80). Ferner ist es nicht zumutbar, ersparte Aufwendungen für den getöteten Ehegatten auch insoweit anzurechnen, als dieser durch unentgeltliche Versorgung der erstehelichen Kinder des Hinterbliebenen diesem Aufwendungen erspart147 oder soweit er den schwerbehinderten Hinterbliebenen in einem weit über die normale Unterhaltspflicht hinausgehenden Maße gepflegt hatte.148 Im Bereich der sozialen Absicherung findet statt einer Anrechnung häufig ein Forderungsübergang auf den Leistungsträger statt (s. Rz. 31.65). Im Einzelnen:

31.67

a) Nachlass Ist der Unterhaltsberechtigte zugleich Erbe des Getöteten, so kommt eine Vorteilsausgleichung hinsichtlich der ihm anfallenden Erbschaft in Betracht. Eine Anrechnung ist jedoch nur insoweit gerechtfertigt, als der Anfall der Erbschaft dem Unterhaltsberechtigten Vorteile bringt, die er ohne den Unfall (nach dem wahrscheinlichen Verlauf der Dinge) nicht gehabt hätte.

31.68

aa) Stammwert Der Stammwert des Nachlasses ist daher nur dann (ggf. teilweise) anzurechnen, wenn davon auszugehen ist, dass er dem Unterhaltsberechtigten ohne den vorzeitigen Unfalltod nicht oder nur teilweise zugefallen wäre.149 Dies ist z.B. dann der Fall, wenn die Erbmasse voraussichtlich für die Erfüllung der Unterhaltspflicht verbraucht worden wäre150 oder wenn der

143 BGH v. 15.1.1953 – VI ZR 46/52, BGHZ 8, 329; BGH v. 24.3.1959 – VI ZR 90/58, NJW 1959, 1078; BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 218/76, VersR 1979, 323; BGH v. 10.1.1984 – VI ZR 122/82, VersR 1984, 354. 144 BGH v. 17.6.1953 – VI ZR 113/52, BGHZ 10, 108. 145 BGH v. 13.12.1951 – III ZR 83/51, BGHZ 4, 178 für die Arbeitslosenhilfe. 146 BGH v. 22.11.1983 – VI ZR 22/82, VersR 1984, 353; Grunsky JZ 1986, 173 f. 147 BGH v. 11.10.1983 – VI ZR 251/81, VersR 1984, 190. 148 OLG Zweibrücken v. 31.10.1988 – 1 W 48/88, NJW-RR 1989, 479. 149 BGH v. 15.1.1953 – VI ZR 46/52, BGHZ 8, 328; BGH v. 5.2.1957 – VI ZR 312/55, NJW 1957, 905; BGH v. 19.4.1963 – VI ZR 154/62, VersR 1963, 545; BGH v. 19.3.1974 – VI ZR 19/73, NJW 1974, 1236; BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 218/76, NJW 1979, 760; OLG Frankfurt v. 24.11.1988 – 1 U 29/87, VersR 1991, 595. 150 BGH v. 19.3.1974 – VI ZR 19/73, VersR 1974, 700.

Zwickel | 849

31.69

§ 31 Rz. 31.69 | Tötung

Ersatzberechtigte eine geringere Lebenserwartung hatte als der Getötete.151 Gewissheit des Nichtanfalls der Erbschaft ist, wie bei allen hypothetischen Abläufen, nicht zu fordern; es genügt eine aus dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge herzuleitende Wahrscheinlichkeit.152 bb) Erträgnisse des Nachlasses

31.70

Erträgnisse des Nachlasses (z.B. Gewinn aus einem Wirtschaftsbetrieb, Mieteinnahmen, Zinsen) sind nicht anzurechnen, wenn sie vom Erblasser zur Vermehrung oder Erhaltung des Vermögens verwendet, z.B. in das Mietgrundstück153 oder den Bauernhof154 reinvestiert worden wären, weil der Ersatzberechtigte mit dem Anfall der auf diese Weise erhöhten Erbmasse ohnehin hätte rechnen können.155 Anzurechnen sind dagegen die Erträgnisse, die vom Getöteten zum Unterhalt des Hinterbliebenen verwendet worden wären.156 Hätte der Getötete die Erträgnisse weder für jenen Unterhalt verwendet noch dem Vermögen wieder zugeführt, sondern verbraucht, so entsteht dem Hinterbliebenen durch die Erträgnisse des Nachlasses ebenfalls ein anrechenbarer Vorteil.157 Der Anrechnung von Erträgnissen kann der Ersatzberechtigte nicht mit der Begründung begegnen, dass bei längerer Lebensdauer des Getöteten die Erbschaft größer gewesen wäre.158

31.71

Gehört zum Nachlass ein Wirtschaftsbetrieb, der unter unentgeltlichem Einsatz der eigenen Arbeitskraft des Erben oder eines Miterben fortgeführt wird, so mindern dessen Erträgnisse, soweit nach obigen Grundsätzen überhaupt anrechenbar, den Ersatzanspruch nur insoweit, als der Hinterbliebene (im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht, d.h. der Zumutbarkeit) zu der Arbeitsleistung gehalten ist.159 Hat der Ersatzberechtigte bereits bisher im Betrieb mitgearbeitet, wird ihm dies i.d.R. mindestens im bisherigen Umfang weiter zugemutet werden können; dies gilt grundsätzlich auch für eine Witwe, die noch Kinder zu versorgen hat.160 Hat der Erbe die persönliche Weiterführung des ererbten Betriebs übernommen, obwohl sie ihm nicht zuzumuten wäre, so beschränkt sich der als Vorteil auf den Schaden anzurechnende Betrag auf den objektiven Wert der Nutzung des in dem Geschäft steckenden Vermögens; ein

151 Lange/Schiemann § 9 IV 4 c bb; a.A. Ackmann JZ 1991, 971 f. 152 Vgl. BGH v. 22.9.1967 – VI ZR 30/66, VersR 1967, 1154 u. BGH v. 5.2.1957 – VI ZR 312/55, NJW 1957, 905; kritisch dazu Lange/Schiemann § 9 IV 4 c bb; Thiele AcP 167 (1967) 234; John JZ 1972, 546. 153 BGH v. 9.1.1962 – VI ZR 25/61, VersR 1962, 322. 154 BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 217/60, VersR 1961, 855. 155 Lange/Schiemann § 9 IV 4 c cc. 156 BGH v. 19.3.1974 – VI ZR 19/73, NJW 1974, 1236; BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 218/76, NJW 1979, 760; OLG Frankfurt v. 24.11.1988 – 1 U 29/87, VersR 1991, 595; Lange/Schiemann § 9 IV 4 c cc; Ackmann JZ 1991, 972. 157 MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 272; Palandt/Grüneberg vor § 249 Rz. 92; Rudloff in FS v. Hippel 1967, 455 f.; a.A. BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 218/76, NJW 1979, 760, 761; Erman/Ebert vor § 249 Rz. 115; Ackmann JZ 1991, 969 ff.; Medicus ZGS 2006, 105 f. 158 BGH v. 25.10.1960 – VI ZR 175/59, VersR 1960, 1097 = MDR 1961, 221 mit Anm. Pohle; Lange/Schiemann § 9 IV 4 c cc. 159 RG v. 10.2.1910 – VI 77/09, RGZ 72, 440; 154, 241; BGH v. 21.12.1971 – VI ZR 118/70, BGHZ 58, 14; BGH v. 27.9.1957 – VI ZR 230/56, VersR 1957, 783; BGH v. 19.3.1963 – VI ZR 78/62, VersR 1963, 635; BGH v. 19.4.1963 – VI ZR 120/62, VersR 1963, 733; BGH v. 15.12.1966 – VII ZR 151/64, VersR 1967, 260. 160 BGH v. 22.10.1957 – VI ZR 227/56, VersR 1957, 785.

850 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.76 § 31

Anhaltspunkt hierfür kann der erzielbare Pachtzins sein.161 Bei Veräußerung des Betriebs ist nicht der Erlös (Stammwert!), sondern nur dessen Zinsertrag absetzbar.162 Bei Tötung beider Eltern sind die Erträgnisse des jeweiligen Nachlasses, soweit nach obigen Grundsätzen anrechenbar, auf die zugehörigen Unterhaltsansprüche zu verrechnen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Erträgnisse aus der einen Erbschaft sich auf Bestand oder Umfang des Unterhaltsanspruchs gegen den anderen Elternteil (und damit auch den diesbezüglichen Ersatzanspruch) auswirken können.163

31.72

cc) Erhöhung der Unterhaltsleistungspflicht des anderen Elternteils Die Erhöhung der Unterhaltsleistungspflicht des anderen Elternteils infolge des von Todes wegen erworbenen Vermögens kann für die Kinder des Getöteten ebenfalls einen ausgleichspflichtigen Vorteil darstellen;164 § 843 Abs. 4 BGB steht dem nicht entgegen, weil hier nur die Person des Unterhaltspflichtigen, nicht aber die Quelle des Unterhalts gewechselt hat;165 vgl. Rz. 31.53.

31.73

b) Vermächtnis/- Pflichtteilsanteil Fällt dem Hinterbliebenen ein Vermächtnis oder ein Pflichtteil zu, so gilt das zum Anfall eines Nachlasses Ausgeführte entsprechend.166 Die gesetzlichen Zinsen aus dem Betrag des Pflichtteils mindern den Unterhaltsersatzanspruch nach § 254 Abs. 2 BGB auch dann, wenn die Witwe ihren Pflichtteilsanspruch nicht alsbald nach dem Todesfall geltend gemacht und den Schuldner nicht in Verzug gesetzt hat.167

31.74

c) Nutznießung Steht der Ehefrau nur die Nutznießung am Hof ihres getöteten Mannes zu, gilt hinsichtlich der Erträgnisse das zur Erbschaft Ausgeführte entsprechend.168

31.75

d) Zugewinnausgleich Der Ausgleichsanspruch der Witwe aus der gesetzlichen Zugewinngemeinschaft, der durch den Unfalltod des Mannes fällig wird, gehört zu ihrem eigenen Vermögen, so dass der Ertrag hieraus nicht ausgleichungspflichtig ist. Dass das Gesetz den Ausgleichsanspruch, wenn der Ehepartner stirbt, nicht gem. der in §§ 1372 ff. BGB vorgesehenen Berechnung gewährt, son-

161 BGH v. 21.12.1971 – VI ZR 118/70, BGHZ 58, 18. 162 BGH v. 18.3.1969 – VI ZR 22/68, VersR 1969, 713. 163 BGH v. 12.2.1974 – VI ZR 187/72, BGHZ 62, 126; vgl. auch OLG Köln v. 26.4.1978 – 13 U 215/ 73, VersR 1978, 972. 164 BGH v. 21.12.1971 – VI ZR 118/70, BGHZ 58, 20. 165 BGH v. 10.12.1964 – III ZR 169/63, VersR 1965, 376; BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 52/67, VersR 1969, 951. 166 BGH v. 25.10.1960 – VI ZR 175/59, VersR 1960, 1097; BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 217/60, VersR 1961, 846; OLG München v. 10.11.1966 – 10 U 1283/66, VersR 1967, 190. 167 BGH v. 25.10.1960 – VI ZR 175/59, VersR 1960, 1097. 168 BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 52/67, VersR 1969, 951.

Zwickel | 851

31.76

§ 31 Rz. 31.76 | Tötung

dern als Erhöhung des Erbteils um ein Viertel (§ 1931 BGB), ändert nichts daran, dass dieser zusätzliche Erbteil kein durch den Unfalltod erworbenes Vermögen der Frau darstellt, sondern lediglich eine Verwirklichung des ihr schon vorher zustehenden Anspruchs.169

e) Bausparsumme 31.77

Für eine Bausparsumme, die für die Errichtung eines Wohnhauses mit Räumen für das Geschäft des Mannes vorgesehen war und der Witwe nach dem Unfalltod des Mannes zugeflossen ist, gilt das zur Erbschaft Ausgeführte auch dann, wenn sie der Witwe nach § 331 BGB zugefallen ist.170

f) Freiwillige Leistungen Dritter 31.78

Freiwillige Leistungen Dritter, die aus Anlass des Todesfalles gegenüber dem Hinterbliebenen erbracht werden, sind dann nicht auf den Unterhaltsersatzanspruch anzurechnen, wenn es nicht Sinn der Leistung ist, den Ersatzpflichtigen zu entlasten. Dies wird in aller Regel der Fall sein, so z.B. beim Ertrag einer Sammlung für den Hinterbliebenen,171 bei freiwilligen Unterhaltsleistungen eines Dritten,172 bei freiwilligen Zahlungen des Arbeitgebers,173 des Versicherers174 oder öffentlicher Körperschaften.175 Nicht anzurechnen sind auch die freiwilligen Leistungen der US-amerikanischen Veterans’ Administration an die Hinterbliebenen eines tödlich verunglückten Armeeangehörigen.176

g) Leistungen aufgrund arbeitsrechtlicher Verpflichtung 31.79

Ist der Arbeitgeber des Verstorbenen aufgrund Tarif- oder Arbeitsvertrags zur Zahlung einer Hinterbliebenenrente (z.B. sog. Dreimonatsrente im Rahmen einer betrieblichen Zusatzversorgung) verpflichtet, so sollen diese Leistungen, wenn nicht eine abweichende Bestimmung getroffen ist, den Hinterbliebenen ohne Rücksicht darauf zukommen, ob sie Ersatzansprüche gegen einen Schädiger haben. Diese Leistungen stellen nämlich einen Teil des Entgelts für geleistete Arbeit dar. Es wäre unbillig, wollte man ihn aus der Tatsache, dass ein für den Unfalltod Verantwortlicher vorhanden ist, zum Nachteil der Witwe einen Gewinn ziehen lassen.177

169 170 171 172 173 174 175 176 177

A.A. wohl BGH v. 20.2.1968 – VI ZR 76/66, VersR 1968, 770. BGH v. 18.3.1969 – VI ZR 22/68, VersR 1969, 713. RG JW 1935, 3369. RG v. 17.1.1918 – VI 388/17, RGZ 92, 57; zu weitgehend OLG Koblenz v. 8.4.2019 – 12 U 565/ 18, VersR 2019, 1443 (Anrechnung fiktiven Einkommens für Gewährung von Unterkunft durch Angehörige). RG v. 14.4.1932 – VI 538/31, RGZ 136, 86; 141, 173; BGH v. 17.6.1953 – VI ZR 113/52, BGHZ 10, 107. RG JW 1936, 1667 mit Anm. Carl. RG DR 1941, 1457. OLG München v. 24.2.1984 – 10 U 3615/83, VersR 1985, 482; Thümmel VersR 1986, 417. BGH v. 1.12.2009 – VI ZR 221/08, VersR 2010, 642; BGH v. 17.6.1953 – VI ZR 113/52, BGHZ 10, 107; BGH v. 1.7.1969 – VI ZR 216/67, VersR 1969, 898.

852 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.83 § 31

h) Versicherungsleistungen Die aufgrund einer Lebensversicherung des Getöteten erlangten Zahlungen sind nicht anzurechnen, auch nicht deren Zinserträgnisse.178 Es widerspräche dem Sinn des Versicherungsverhältnisses, wenn die Versicherungsleistungen, die der Versicherungsnehmer zu Lebzeiten durch seine Prämien erkauft hat, dem Schädiger zugutekämen. Das Gleiche gilt für Leistungen aufgrund einer Unfallversicherung.179 Wer Versicherungsnehmer ist und wer die Prämien tatsächlich aufgebracht hat, ist ohne Bedeutung.180

31.80

Auch für die Insassen-Unfallversicherung gilt im Prinzip, dass die Versicherungsleistung nicht zu einer Minderung des Schadensersatzanspruchs im Wege der Vorteilsausgleichung führt.181 Der Versicherungsnehmer kann allerdings ihre Verrechnung auf den Schadensersatzanspruch des Verletzten anordnen, und zwar nicht nur dann, wenn er selbst haftpflichtig ist, sondern auch dann, wenn er zu dem Haftpflichtigen in näherer Beziehung, z.B. als Angehöriger, steht. Die Anrechnung muss gegenüber dem Geschädigten spätestens im Zeitpunkt der Auszahlung der Versicherungsleistung erklärt oder zumindest vorbehalten werden.182

31.81

i) Leistungen eines Sozialleistungsträgers Leistungen eines Sozialleistungsträgers sind nicht anzurechnen, führen aber i.d.R. zu einem Forderungsübergang (s. §§ 35 bis 37).183 Auch soweit dies nicht der Fall ist, wie z.B. bei Leistungen der US-amerikanischen Social Security, findet wegen der sozialen Zweckbestimmung keine Anrechnung statt,184 ebenso bei Eingreifen des Familienprivilegs nach § 116 Abs. 6 SGB X185 (s. dazu Rz. 35.76 ff.). Zur Frage, ob sich bereits zu Lebzeiten des Unterhaltspflichtigen erbrachte Sozialhilfe (zu deren Ausprägungen ab 1.1.2005 vgl. Rz. 36.2) auf den Unterhaltsersatzanspruch auswirkt, s. Rz. 31.47.

31.82

j) Kindergeld Kindergeld, welches bisher an den getöteten Unterhaltspflichtigen geleistet wurde und nunmehr an den überlebenden Elternteil weitergezahlt wird, bleibt bei der Berechnung des Unterhaltsschadens außer Betracht. Das Kindergeld hat den Zweck, die Unterhaltslast des Unterhaltsverpflichteten zu erleichtern, und berührt nicht die zivilrechtliche Unterhaltspflicht. Da § 844 Abs. 2 BGB, § 10 Abs. 2 StVG an letztere anknüpfen, entscheidet für die Höhe des Ersatzanspruchs allein der nach den §§ 1601 ff. BGB geschuldete Betrag.186

178 BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 218/76, VersR 1979, 323, wo die frühere Unterscheidung zwischen Risiko- und Sparversicherungen (vgl. BGH v. 19.4.1963 – VI ZR 154/62, BGHZ 39, 249) aufgegeben wurde. 179 BGH v. 17.6.1953 – VI ZR 113/52, BGHZ 10, 109; BGH v. 7.1.1969 – VI ZR 162/67, VersR 1969, 350. 180 BGH v. 1.2.1968 – II ZR 79/65, NJW 1968, 837. 181 BGH v. 19.11.1955 – VI ZR 214/54, BGHZ 19, 94; BGH v. 17.10.1957 – II ZR 161/56, BGHZ 25, 328; BGH 23.4.1963 – VI ZR 142/62, VersR 1963, 521. 182 BGH v. 13.1.1981 – VI ZR 180/79, BGHZ 80, 8 = VersR 1981, 447; vgl. auch BGH v. 7.5.1975 – VI ZR 209/73, BGHZ 64, 266. 183 BGH v. 1.12.2009 – VI ZR 221/08, VersR 2010, 642. 184 OLG Celle v. 27.7.1966 – 5 U 94/64, VersR 1967, 164; Thümmel VersR 1986, 417. 185 OLG Bamberg v. 20.4.1993 – 5 U 141/92, VersR 1994, 995. 186 BGH v. 12.7.1979 – III ZR 50/78, VersR 1979, 1029.

Zwickel | 853

31.83

§ 31 Rz. 31.84 | Tötung

k) Unterhaltsleistungen Dritter 31.84

Nach § 843 Abs. 4 BGB, § 13 Abs. 2 StVG und § 8 Abs. 2 HaftPflG ist die Unterhaltspflicht eines Dritten für den Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger ohne Bedeutung (Rz. 31.51). § 843 Abs. 4 BGB betrifft jedoch nur den Fall, dass die Unterhaltspflicht des Dritten aus Anlass des Unfalls entstanden ist, regelt also z.B. nicht die Frage, ob bei Wiederverheiratung des hinterbliebenen Ehegatten dessen Unterhaltsanspruch aus der neuen Ehe den Schädiger entlastet:187 Hier geht es nicht um Vorteilsausgleichung, sondern um die Berücksichtigung einer nachträglichen Verminderung des Schadensumfangs (dazu Rz. 31.163 ff.).

l) Ersparte Aufwendungen 31.85

Ersparte Aufwendungen z.B. für den Unterhalt des Getöteten oder die Ausbildung des erst später (möglicherweise) unterhaltspflichtig werdenden Kindes, sind auf den Ersatzanspruch anzurechnen, jedenfalls soweit es nicht Billigkeitsgründe ausnahmsweise verbieten, die Ersparnis als Vorteil anzusehen.188 Hat der Hinterbliebene eigene Einkünfte (z.B. eine Rente) teilweise auch für persönliche Bedürfnisse des Ehegatten aufgewendet, so vermindert sich sein Unterhaltsschaden insoweit, als er diese Beträge jetzt für sich verwenden kann (zur Schadensberechnung in diesen Fällen und zum Einfluss einer Mithaftungsquote s. Rz. 31.126). Zu Recht ist im Schrifttum189 aber darauf hingewiesen worden, dass es zu unbilligen Ergebnissen führt, wenn der hinterbliebene Ehemann für den Wegfall der Haushaltsführung durch seine Frau nur die fiktiven Lohnkosten einer Ersatzkraft der untersten Gehaltsstufen erhält, sich aber den aus seinem, oft höheren Einkommen berechneten Unterhaltsbeitrag anrechnen lassen muss; von der Billigkeitsklausel des BGH sollte daher großzügig Gebrauch gemacht werden. Dem Rückgriff nehmenden Sozialleistungsträger oder Dienstherrn (Rz. 31.65) gegenüber kann sich der Schädiger nicht auf die Ersparnis berufen, die durch Wegfall etwaiger für den Verunglückten erbrachter Versorgungsleistungen eingetreten ist.190

m) Wegfall von Dienstleistungen 31.86

Der Umstand, dass der hinterbliebene Ehegatte infolge des Unfalltodes des anderen keine Dienste im Haushalt oder Beruf mehr zu leisten braucht, ist kein anrechenbarer Vermögensvorteil.191 Eine andere Frage ist, ob er aus Gründen der Schadensminderung gehalten ist, seine frei werdende Arbeitskraft für eine Erwerbstätigkeit auszunützen (vgl. Rz. 31.87).

9. Schadensminderungspflicht a) Einsatz der Arbeitskraft 31.87

Der hinterbliebene Ehegatte kann aufgrund § 254 Abs. 2 BGB verpflichtet sein, seine durch den Tod des anderen frei gewordene Arbeitskraft dazu zu verwenden, am Erwerbsleben teil187 BGH v. 16.2.1970 – III ZR 183/68, VersR 1970, 524. 188 Vgl. BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 31/70, BGHZ 56, 389; unentschieden BGH v. 3.12.1951 – III ZR 119/51, BGHZ 4, 137. Grundsätzlich für Anrechnung MünchKomm-BGB/Wagner § 844 Rz. 77; dagegen Eckelmann/Boos VersR 1978, 213; Ludwig DAR 1986, 381; Eckelmann DAR 1987, 45. 189 Ludwig DAR 1986, 381; Eckelmann DAR 1987, 45. 190 BGH v. 30.3.1953 – GSZ 1 bis 3/53, VersR 1953, 229; BGH v. 9.3.1971 – VI ZR 173/69, VersR 1971, 636. 191 RG v. 10.1.1936 – VI 167/36, RGZ 152, 208, 211; RG v. 5.4.1937 – VI 342/36, RGZ 154, 236, 240; BGH v. 13.12.1951 – III ZR 83/51, BGHZ 4, 170; Krebs VersR 1961, 293.

854 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.88 § 31

zunehmen.192 Unterlässt er dies, so wird das erzielbare Einkommen auf den Unterhaltsersatzanspruch angerechnet, nicht etwa dieser um eine prozentuale Mitverschuldensquote gekürzt.193 Das fiktive Einkommen ist dann, wenn der Schädiger nur anteilig haftet, primär auf den nicht gedeckten Teil des Unterhaltsschadens anzurechnen; nur soweit das Einkommen diesen übersteigt, mindert es den Ersatzanspruch gegen den Schädiger.194 Dies folgt daraus, dass dem Hinterbliebenen nicht zuzumuten ist, primär für den Schädiger zu arbeiten. Entscheidend für die Arbeitspflicht sind die Umstände des Einzelfalles, insbesondere die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Eheleute, Alter, Gesundheitszustand, Leistungsfähigkeit, Berufsausbildung, evtl. frühere Berufstätigkeit und nicht zuletzt das Vorhandensein von betreuungsbedürftigen Kindern.195 Ob die Ehegatten eine solche Erwerbstätigkeit geplant hatten, ist ohne Belang.196 Zur Darlegungs- und Beweislast für Verstoß gegen die Erwerbsobliegenheit vgl. Rz. 32.109. Erzielt der Hinterbliebene durch eine über die beschriebene Verpflichtung hinausgehende Arbeitsleistung ein Einkommen, so kommt dies nicht dem Schädiger zugute.197 Grundsätzlich ist dem Ehegatten nicht zuzumuten, die Betreuung der Kinder den Großeltern, fremden Leuten oder einem Heim zu überlassen, um eine Arbeitsstelle annehmen zu können. Die Rspr. verneint daher die Arbeitspflicht einer Witwe, die ein kleines oder mehrere Kinder zu betreuen hat.198 Kinder im schulpflichtigen Alter bedürfen allerdings i.d.R. keiner ganztägigen Betreuung mehr, so dass eine Teilzeitarbeit zumutbar ist.199

192 RG v. 5.4.1937 – VI 342/36, RGZ 154, 236; BGH v. 13.12.1951 – III ZR 83/51, BGHZ 4, 170; BGH v. 30.4.1955 – VI ZR 94/54, VersR 1955, 354; BGH v. 19.6.1962 – VI ZR 146/61, VersR 1962, 1088; BGH v. 12.7.1966 – VI ZR 15/65, VersR 1966, 1047; BGH v. 11.2.1969 – VI ZR 240/ 67, VersR 1969, 469; BGH v. 6.4.1976 – VI ZR 240/74, VersR 1976, 878; OLG Köln v. 8.5.1991 – 11 U 240/90, VersR 1992, 888; OLG Düsseldorf v. 6.3.1992 – 14 U 184/93, NZV 1993, 473; a.A. die ältere Rspr., vgl. RG v. 22.11.1881 – III 193/81, RGZ 5, 108, 110; RG v. 10.2.1910 – VI 77/09, RGZ 72, 439. 193 BGH v. 26.9.2006 – VI ZR 124/05, NJW 2007, 64. 194 BGH v. 9.2.1955 – VI ZR 286/53, BGHZ 16, 274; BGH v. 30.4.1955 – VI ZR 94/54, VersR 1955, 355; BGH v. 19.6.1962 – VI ZR 146/61, 1962, 1063; OLG Nürnberg v. 28.9.1977 – 4 U 63/77, VersR 1978, 774; a.A. Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 58. 195 Einzelheiten mit Nachweis bei Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 52 ff. sowie Rz. 31.87. 196 BGH v. 6.4.1976 – VI ZR 240/74, VersR 1976, 877; OLG Frankfurt v. 9.9.1997 – 8 U 38/97, NJW-RR 1998, 1699; a.A. Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 54 f: Die von ihm als maßgeblich angesehene Entwicklung der Verhältnisse ohne den Unfall ist jedoch für die Beurteilung der Schadensminderungspflicht kein geeigneter Maßstab. 197 RG v. 5.4.1937 – VI 342/36, RGZ 154, 236, 240; BGH v. 13.12.1951 – III ZR 83/51, BGHZ 4, 170; BGH v. 15.11.1967 – VIII ZR 150/65, BGHZ 49, 62; BGH v. 16.2.1971 – VI ZR 147/69, BGHZ 55, 332; BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 97/71, NJW 1974, 602; BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 46/85, VersR 1987, 157; a.A. OGHBrZ Köln v. 26.11.1948 – I ZS 102/48, NJW 1949, 340 mit abl. Anm. Schale. 198 BGH v. 13.10.1954 – VI ZR 38/54, VersR 1955, 36; BGH v. 30.4.1955 – VI ZR 94/54, VersR 1955, 354; BGH v. 13.12.1966 – VI ZR 75/65, VersR 1967, 259; BGH v. 11.2.1969 – VI ZR 240/67, VersR 1969, 469. 199 BGH v. 9.2.1955 – VI ZR 286/53, VersR 1955, 275; BGH v. 29.10.1959 – III ZR 154/58, VersR 1960, 320; BGH v. 15.3.1983 – VI ZR 187/81, VersR 1983, 688; OLG München v. 31.10.2014 – 10 U 2755/12.

Zwickel | 855

31.88

§ 31 Rz. 31.89 | Tötung

31.89

Bei älteren Menschen ist zu berücksichtigen, dass eine tiefgreifende Änderung der Lebensverhältnisse u.U. nicht mehr zumutbar ist.200 Bei einer 45-jährigen Frau wird dies allerdings nicht ohne weiteres gesagt werden können.201 Bei einer 50-jährigen, etwas kränklichen Frau ohne Berufsausbildung hat der BGH202 eine Arbeitspflicht verneint, ebenso bei einer 52-jährigen, die drei Kinder großgezogen hat.203

31.90

Hatte der Hinterbliebene wegen der Eheschließung ein Studium oder eine sonstige Ausbildung abgebrochen, so muss ihm zugestanden werden, dass er diese Ausbildung zunächst beendet. Einen über den Ersatzanspruch wegen entgangenen Unterhalts hinausgehenden Zuschuss zu den Ausbildungskosten braucht der Schädiger allerdings nicht zu leisten.

b) Fortführung des ererbten Geschäfts 31.91

War der Hinterbliebene schon zu Lebzeiten des Getöteten in dessen Erwerbsgeschäft unentgeltlich tätig und hat er das Geschäft geerbt, so ist er im Rahmen des Zumutbaren verpflichtet, weiterhin im gleichen Umfang im Geschäft tätig zu sein; der hierdurch erzielte reine Geschäftsgewinn mindert die Ersatzansprüche gegen den Schädiger (vgl. Rz. 31.71 mit Nachw.).

c) Berücksichtigung des geringeren Wohnraumbedarfs 31.92

Der hinterbliebene Ehegatte ist i.d.R. nicht verpflichtet, in eine kleinere Wohnung umzuziehen204 oder den durch den Tod des anderen in der Ehewohnung frei gewordenen Raum durch (Unter-)Vermietung zu verwerten.205 Tut er dies trotzdem, so verbleiben ihm die Einnahmen aus der Vermietung. Auch ein alleinstehender Hauseigentümer braucht keinen Mieter aufzunehmen.206

10. Steuern 31.93

Nach der Rspr. des BFH unterliegt eine Schadensersatzrente nach § 844 Abs. 2 BGB, die den durch den Tod des Ehegatten eingetretenen materiellen Unterhaltsschaden ausgleicht, grds. nicht der Einkommensteuerpflicht.207 Der Schädiger muss den Hinterbliebenen aber, falls sie die Unterhaltsersatzrenten dennoch als wiederkehrende Bezüge i.S.d. § 22 Nr. 1 EStG versteuern müssen, diese Steuern ersetzen,208 soweit diese bei der Unterhaltsleistung nicht angefallen wären.

31.94

Die Steuerbelastung kann auch zum Schadensposten werden, wenn der Hinterbliebene infolge des Todesfalles (steuerpflichtige) Unterhaltsbezüge von Sozialleistungsträgern oder öffentlichrechtlichen Dienstherren erhält (z.B. Hinterbliebenenrenten). Der Schädiger hat diese Steuern zu ersetzen, wenn und soweit bei sachlicher Kongruenz der Versorgungsrenten mit den Er200 201 202 203 204 205 206 207 208

Vgl. BGH v. 24.9.1962 – III ZR 201/61, VersR 1962, 1176. BGH v. 13.7.1962 – VI ZR 200/61 VersR 1962, 1088. BGH v. 12.7.1966 – VI ZR 15/65, VersR 1966, 1047. BGH v. 24.9.1962 – III ZR 201/61, VersR 1962, 1176. BGH v. 10.7.1973 – VI ZR 140/72, VersR 1974, 32. LG Lüneburg v. 14.4.1964 – 4 O 510/62, VersR 1966, 272. OLG Celle v. 2.11.1964 – 5 U79/64, VersR 1966, 246. BFH v. 26.11.2008 – X R 31/07, NJW 2009, 1229; Jahnke NJW-Spezial 2009, 601. BGH v. 2.12.1969 – VI ZR 92/68, VersR 1970, 183; BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 151/75, VersR 1979, 670; BGH v. 23.5.1985 – III ZR 69/84, NJW 1985, 3011; näher hierzu Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 49 f.

856 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.98 § 31

satzansprüchen gegen den Schädiger (vgl. dazu Rz. 34.23 ff., Rz. 31.33, Rz. 31.8,) der eigentliche Unterhaltsersatzanspruch auf den jeweiligen Leistungserbringer übergeht. Der ersatzpflichtige Steuerbetrag errechnet sich dann nicht fiktiv aus der – wegen Regress des Leistungserbringers – tatsächlich nicht an den Hinterbliebenen ausbezahlten Schadensrente, sondern aus dem Teil der Hinterbliebenenrente, der den entgangenen Unterhaltsleistungen (die im Regelfall wegen § 22 Nr. 1 S 2 EStG nicht steuerbar wären) kongruent ist.209 Der (zusätzliche) Anspruch auf Erstattung der Steuer verbleibt beim Hinterbliebenen, während der auf Ersatz des Unterhaltsschadens gerichtete Anspruch als solcher in Höhe des entsprechenden (an den Hinterbliebenen ausbezahlten oder an das Finanzamt abgeführten) Teils der Hinterbliebenenversorgung vom Rechtsübergang auf den Sozialleistungsträger oder Dienstherrn erfasst wird.210 Sonstige Steuernachteile durch den Todesfall sind nicht erstattungspflichtig (s. Rz. 31.10).

31.95

11. Ersatzanspruch des hinterbliebenen Ehegatten a) Grundsätze Der Hinterbliebene ist wirtschaftlich so zu stellen als wäre der Ehegatte am Leben geblieben. Der Ersatzpflichtige muss die Witwe daher in den Stand setzen, die Lebensweise fortzuführen, auf die sie zu Lebzeiten ihres Mannes einen Anspruch gehabt hätte.211 Aus diesem Grund können Unterhaltstabellen, die (wie z.B. die „Düsseldorfer Tabelle“) auf den Fall doppelter Haushaltsführung zugeschnitten sind, nicht zur Grundlage der Schadensberechnung gemacht werden.212 Weiterhin ist zu beachten, dass die fixen Kosten der Haushaltsführung i.d.R. unverändert oder nahezu unverändert weiterlaufen (s. dazu Rz. 31.116 ff.).

31.96

Ausgangspunkt für die Höhe des Unterhaltsanspruchs ist die vom Verpflichteten tatsächlich ausgeübte Tätigkeit. Der Schädiger kann sich also nicht darauf berufen, der Verstorbene sei ungewöhnlich fleißig gewesen und der Unterhalt dürfe nur auf der Basis durchschnittlicher Leistungen berechnet werden. Andererseits kann die Witwe nicht mit Erfolg vortragen, ihr Mann hätte mehr leisten können, wenn er gewollt hätte, oder er hätte den Beruf wechseln und in dem anderen Beruf mehr verdienen können. Wie viel der Getötete tatsächlich an Unterhalt geleistet hat, ist jedoch unerheblich (Rz. 31.44).

31.97

Der Schaden, den die Hinterbliebenen durch den Verlust von Unterhaltsansprüchen erleiden, kann nicht dem Teil des Einkommens des Verstorbenen gleichgesetzt werden, der über dessen eigenen Bedarf hinausging.213 Es ist vielmehr festzustellen, welche Beträge seines Einkommens der Verstorbene, wenn er am Leben geblieben wäre, hätte aufwenden müssen, um seinen unterhaltsberechtigten Angehörigen denjenigen Lebensunterhalt zu verschaffen, auf

31.98

209 BGH v. 2.12.1997 – VI ZR 142/96, NZV 1998, 149, 150. 210 BGH v. 2.12.1997 – VI ZR 142/96, NZV 1998, 149, 151. 211 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 68/51, VersR 1952, 97; BGH v. 14.12.1956 – VI ZR 269/55, VersR 1957, 128; BGH v. 14.4.1961 – VI ZR 147/60, VersR 1961, 543; BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 209/ 64, VersR 1966, 588; BGH v. 20.2.1968 – VI ZR 76/66, VersR 1968, 770; BGH v. 2.12.1969 – VI ZR 92/68, VersR 1970, 183; BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 241/69, VersR 1972, 176. 212 BGH v. 2.10.1985 – IVb ZB 62/85, VersR 1986, 40; Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 41. Für stärkere Pauschalierung des Unterhaltsschadensersatzes aber MünchKomm-BGB/Wagner § 844 Rz. 50. 213 BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 209/64, VersR 1966, 588; BGH v. 20.2.1968 – VI ZR 76/66, VersR 1968, 770; BGH v. 12.3.1987 – VII ZR 37/86, VersR 1987, 157.

Zwickel | 857

§ 31 Rz. 31.98 | Tötung

den sie nach den familienrechtlichen Vorschriften Anspruch gehabt hätten.214 Im Regelfall ist allerdings davon auszugehen, welchen Unterhalt der Verstorbene der Witwe gewährt hat; der Ersatzpflichtige hat – wenn der Verstorbene weder besonders geizig noch besonders freigebig gewesen ist – die Witwe in die Lage zu setzen, ihre Lebensweise so fortzuführen, wie wenn der Getötete noch lebte.215 Je höher das vom Verstorbenen erzielte Einkommen war, umso weniger kann davon ausgegangen werden, dass es in vollem Umfang zum Unterhalt der Familie (anstatt z.B. zur Vermögensbildung) zu verwenden war.216 Hierbei verbietet sich jedoch eine schematische Betrachtungsweise. Es ist im Einzelfall konkret festzustellen, welchen Betrag die Ehegatten absprachegemäß einer Vermögensbildung zuführen wollten.217 Sparleistungen sind nicht unbedingt der Vermögensbildung zuzurechnen. Häufig dienen sie vielmehr dazu, größere Ausgaben anzusparen, die gleichwohl den Lebenshaltungskosten zuzurechnen sind.218

31.99

Die den Unterhaltsbedarf übersteigenden Einkommensteile bleiben bei der Berechnung des Ersatzanspruchs außer Betracht. Die Ehefrau hat mithin keinen Anspruch auf Ersatz des Schadens, der ihr dadurch entsteht, dass der Mann sein Vermögen nicht mehr mehrt und infolge dessen ihr Ausgleichsanspruch (§§ 1371, 1372 BGB) geringer ist als er bei längerer Lebensdauer des Mannes gewesen wäre. Hat der Mann die nicht als Unterhalt geschuldeten Beträge auf einem Sparkonto oder in anderer Weise angelegt, so hat die Witwe keinen Anspruch gegen den Schädiger auf Zahlungen, die den Sparraten oder einem Teil davon entsprechen. Eine Ausnahme bilden die Aufwendungen zur Alterssicherung (vgl. Rz. 31.103). Was für diese gilt, gilt aber nicht für Rücklagen zur späteren Vergrößerung des Gewerbebetriebes.219

31.100

Ergibt sich, dass eine Steigerung des Einkommens von einem gewissen Zeitpunkt an zu erwarten ist, so hat der Schädiger der Witwe von diesem Zeitpunkt an einen entsprechend höheren Lebensstandard zu ermöglichen. Hierbei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass mit zunehmendem Einkommen möglicherweise auch der Anteil gewachsen wäre, den die Ehegatten zur Vermögensbildung verwendet hätten.220 Entsprechend sinkt der Ersatzanspruch der Witwe von dem Tag an, an dem mit einer Verringerung des Einkommens des Mannes zu rechnen war, also vor allem vom Tag seiner Pensionierung oder der Aufgabe beruflicher Tätigkeit an. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Lebensstandard der Eltern steigt, wenn die Kinder ins Erwerbsleben eintreten und keines Unterhalts mehr bedürfen.

31.101

Für die Ermittlung des hypothetischen künftigen Einkommens ist nach § 287 ZPO festzustellen, welches Einkommen der Unterhaltspflichtige bei gewöhnlichem Lauf der Dinge unter Be214 BGH v. 20.6.1958 – VI ZR 191/57, VersR 1958, 702; BGH v. 24.4.1959 – VI ZR 52/58, VersR 1959, 713; BGH v. 14.4.1961 – VI ZR 147/60, VersR 1961, 543; BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 209/ 64, VersR 1966, 588; BGH v. 20.2.1968 – VI ZR 76/66, VersR 1968, 770; BGH v. 20.6.1969 – VI ZR 32/68, VersR 1969, 897; BGH v. 2.12.1969 – VI ZR 92/68, VersR 1970, 183; BGH v. 14.1.1971 – III ZR 107/67, VersR 1971, 423; BGH v. 23.4.1974 – VI ZR 188/72, VersR 1974, 906; OLG Stuttgart v. 30.12.1958 – 2 U 118/58, VersR 1959, 1057. 215 BGH v. 9.1.1962 – VI ZR 25/61, VersR 1962, 322. 216 BGH v. 14.4.1961 – VI ZR 147/60, VersR 1961, 543; BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 209/64, VersR 1966, 588. 217 BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 136/85, VersR 1987, 158. 218 BGH v. 27.4.1983 – IV b ZR 372/81, NJW 1983, 1733; BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 136/85, VersR 1987, 158. 219 BGH v. 15.12.1966 – VII ZR 151/64, VersR 1967, 260. 220 OLG Bamberg v. 22.12.1981 – 5 U 148/81, VersR 1982, 856.

858 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.107 § 31

rücksichtigung der mutmaßlichen Entwicklung seiner Verhältnisse und des Einkommens vergleichbarer Beschäftigter in den einzelnen Zeitabschnitten erzielt hätte221 (s. auch Rz. 31.163). Bei Selbständigen kann diese Feststellung erhebliche Schwierigkeiten bereiten (z.B. bei Betriebsaufgabe nach dem Tod des Unternehmers); hier wird sich oftmals nur ein Mindestertrag errechnen lassen.222 Zur Frage des Einflusses einer (hypothetischen) Ehescheidung s. Rz. 3.43. Zu beachten ist, dass der Unterhaltsersatzanspruch auch den Wegfall der Dienste des Getöteten im Haushalt oder in Beruf oder Geschäft des Hinterbliebenen umfasst, soweit diese Mitarbeit im Rahmen der Unterhaltspflicht nach §§ 1360 ff. BGB geschuldet war (vgl. Rz. 31.6, 31.59; zur Berechnung Rz. 31.127 ff.).

31.102

Zur Unterhaltspflicht eines Ehegatten gehört ferner i.d.R. (bei Berufstätigen) die Verschaffung einer den Verhältnissen entsprechenden Altersversorgung und Krankenversicherung. Daher sind ggf. auch die Beiträge für eine Weiterversicherung zu erstatten223 oder es ist Ersatz dafür zu leisten, dass der Hinterbliebene wegen des vorzeitigen Todes des Ehegatten keinen (vollen) Rentenanspruch erwerben kann (vgl. Rz. 31.115, 31.161).224

31.103

Einen Anspruch auf Familienunterhalt, wie ihn nach § 1360 BGB jeder Ehegatte zu Lebzeiten des anderen hat, kann der Hinterbliebene gegen den Schädiger nicht geltend machen.225 Alle Hinterbliebenen, also auch die Kinder, haben einen eigenen Anspruch auf Ersatz ihres jeweiligen Unterhaltsschadens, der eigenen Regeln hinsichtlich Höhe und Dauer folgt.226 Der hinterbliebene Ehegatte kann den für die Kinder benötigten Unterhalt daher nicht aus eigenem Recht vom Schädiger fordern, sondern nur als gesetzlicher Vertreter in deren Namen. Dies ist vor allem dann von Bedeutung, wenn ein Forderungsübergang (Rz. 31.66) stattgefunden hat, der sich hinsichtlich des Ehegatten und der Kinder verschieden auswirkt.

31.104

Bei Getrenntleben der Ehegatten richten sich Bestehen und Höhe eines Unterhaltsanspruchs nach den Lebensverhältnissen und den Erwerbs- und Vermögensverhältnissen;227 eine etwaige Trennungsschuld bleibt außer Betracht. Zum Unterhaltsrecht bei geschiedenen Eheleuten s. §§ 1569 ff. BGB, zu den Folgen einer möglichen Scheidung Rz. 31.43.

31.105

Nicht zu folgen ist der gelegentlich vertretenen Ansicht, die Witwe habe nach § 242 BGB überhaupt keine Ansprüche, wenn ihr Ehemann schon nach kurzer Dauer der Ehe tödlich verletzt werde.228

31.106

Zum Ausgleich durch den Todesfall erlangter Vorteile vgl. Rz. 31.67 ff., zur Frage der Arbeitspflicht des Hinterbliebenen Rz. 31.87 ff., zur Erstattung der für die Rente zu entrichtenden Steuern Rz. 31.93 ff.

31.107

221 222 223 224 225 226

OLG Stuttgart VersR 1958, 1058. Vgl. LG Aachen v. 29.5.1985 – 4 O 99/81, VersR 1986, 774. BGH v. 23.3.1971 – VI ZR 188/69, VersR 1971, 717. BGH v. 29.4.1960 – VI ZR 51/59, BGHZ 32, 246. BGH v. 3.5.1960 – VI ZR 104/59, VersR 1960, 801; a.A. RG SeuffA 57, 217. BGH v. 26.1.1953 – III ZR 26/52, BGHZ 11, 181; BGH v. 26.3.1953 VI ZR 109/52, VersR 1953, 210; BGH v. 3.5.1960 – VI ZR 104/59, VersR 1960, 801. 227 § 1361 BGB; näher Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 24 ff. 228 LG Bielefeld v. 30.4.1968 – 4 O 19/68, VersR 1968, 783.

Zwickel | 859

§ 31 Rz. 31.108 | Tötung

b) Nettoeinkommen des Getöteten als Berechnungsgrundlage 31.108

Das Nettoeinkommen des Getöteten, i.d.R. also sein Lohn oder Gehalt abzgl. Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, ist Ausgangspunkt für die Ermittlung des Unterhaltsanspruchs des Hinterbliebenen.229 Dazu gehören grundsätzlich alle Einkünfte, gleich aus welchem Anlass sie erzielt werden.230

31.109

Zum Nettoeinkommen gehören bei Arbeitnehmern auch Zusatzleistungen des Arbeitgebers, die nicht durch konkrete Mehraufwendungen aufgezehrt werden, wie Gratifikationen, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld,231 Leistungszulagen usw.,232 die Erlaubnis zur Nutzung des Firmenwagens,233 Einkaufsrabatte, aber auch Einkünfte aus Nebentätigkeiten, Steuerrückerstattungen234 sowie Eigenheim- und Kinderzulage.235 Nach dem (hypothetischen) Eintritt in den Ruhestand ist das maßgebliche Einkommen aufgrund der Leistungen der Rentenversicherung, des Dienstherrn oder Arbeitgebers sowie etwaiger Einkünfte aus Versicherungen und Kapitalvermögen zu ermitteln. Das Ruhestandsalter stellt aber keine starre Grenze dar. Zusätzliche Tätigkeiten als Arbeitnehmer nach dem Eintritt in den Ruhestand erhöhen daher das Nettoeinkommen des Geschädigten.236 Sozialleistungen gelten als Einkommen, sofern von ihnen nicht ein konkreter Mehrbedarf bestritten werden muss.237 Berücksichtigungsfähig sind Sozialversicherungsleistungen wie Krankengeld gem. §§ 44 ff. SGB V, Verletztenrente gem. §§ 56 ff. SGB VII, Erwerbsminderungsrente gem. §§ 43 ff. SGB VI und Arbeitslosengeld I gem. §§ 136 ff. SGB III. Nicht anrechenbar sind dagegen Sozialhilfe nach dem SGB XII und Arbeitslosengeld II (frühere Arbeitslosenhilfe).238

31.110

Bei Selbstständigen ist der Nettogewinn zugrunde zu legen239 und u.a. um die Rücklagen für Investitionen zu vermindern.240 Bei Mitarbeit im Betrieb des Ehegatten ist nicht das vereinbarte Gehalt, sondern das wirkliche Arbeitseinkommen des Getöteten zugrunde zu legen, das sich nach seinem Beitrag zum Geschäftsgewinn des gemeinsam ausgeübten Betriebs bemisst.241

31.111

Da die Einkommensverhältnisse i.d.R. bei frei Berufstätigen erheblichen Schwankungen unterliegen und auch bei Arbeitnehmern nicht immer gleichbleiben, muss der Berechnung der Unterhaltspflicht ein fiktives Durchschnittseinkommen zugrunde gelegt werden. Dabei bilden die Einkommensverhältnisse im letzten Jahr vor dem Tod den Ausgangspunkt für die Be-

229 BGH v. 30.5.1958 – VI ZR 90/57, VersR 1958, 528; BGH v. 24.4.1959 – VI ZR 52/58, VersR 1959, 713; BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 217/60, VersR 1961, 855; BGH v. 9.1.1962 – VI ZR 25/61, VersR 1962, 322; BGH v. 23.3.1971 – VI ZR 188/69, VersR 1971, 717; OLG Stuttgart v. 5.8.1968 – 2 W 23/68, VersR 1969, 720. 230 BGH v. 4.11.2003 – VI ZR 346/02, NZV 2004, 23, 24. 231 BGH v. 13.8.2013 – VI ZR 389/12, NZV 2013, 585. 232 BGH v. 27.10.1970 – VI ZR 64/69, VersR 1971, 153. 233 BGH v. 27.1.1987 – VI ZR 114/86, VersR 1987, 508. 234 BGH v. 20.3.1990 – VI ZR 127/89, VersR 1990, 748. 235 BGH v. 4.11.2003 – VI ZR 346/02, NZV 2004, 23. 236 OLG Koblenz v. 8.4.2019 – 12 U 565/18, VersR 2019, 1443. 237 BGH v. 21.1.1981 – IVb ZR 548/80, NJW 1981, 1314; Einzelheiten bei Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 33. 238 Zum Ganzen Staudinger/Röthel § 844 Rz. 110. 239 BGH v. 22.11.1983 – VI ZR 22/82, VersR 1984, 353. 240 BGH v. 13.12.1966 – VI ZR 75/65, VersR 1967, 259. 241 BGH v. 22.11.1983 – VI ZR 22/82, VersR 1984, 353.

860 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.115 § 31

rechnung des monatlichen Durchschnittseinkommens.242 Absehbare Veränderungen in der Zukunft sind aber zu berücksichtigen (vgl. Rz. 31.163). Einkünfte aus dem Vermögen sind, soweit sie zum Unterhalt zu verwenden wären (Rz. 31.46), dem Nettoeinkommen hinzuzurechnen. War der Getötete an einer Gesellschaft beteiligt (an einem Unternehmen) und hat er die ihm zustehenden Entnahmen nicht in voller Höhe getätigt, so ist von dem Betrag auszugehen, den er hätte entnehmen dürfen.243

31.112

Nicht dem Nettoeinkommen hinzuzurechnen sind Einkünfte aus verbotener Tätigkeit,244 Auslösungen und Aufwandsentschädigungen, die zur Deckung eines entsprechenden Mehrbedarfs verwendet worden wären,245 sowie das Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG bzw. dem BKGG246 und die Arbeitnehmersparzulage.247

31.113

c) Abzug von Beiträgen zur Vermögensbildung Das Nettoeinkommen ist um die Teile zu bereinigen, die nicht für Unterhaltszwecke, sondern zur Vermögensbildung verwendet wurden, denn auf die weitere Teilhabe an der Vermögensbildung durch den Ehegatten bezieht sich der Unterhaltsersatzanspruch nicht (vgl. Rz. 31.99). Zu diesen auszuscheidenden Einkommensteilen gehören z.B. die Aufwendungen für die Tilgung von Schulden aus Anlass der Schaffung eines Eigenheims.248 Die hierauf zu zahlenden Zinsen hingegen dienen nicht der Vermögensbildung, sondern – jedenfalls auch – der Finanzierung des Wohnbedarfs und sind daher als fixe Kosten zu behandeln;249 vgl. hierzu und zur höhenmäßigen Begrenzung Rz. 31.118.

31.114

Nicht zur Vermögensbildung im vorstehenden Sinn zählen Aufwendungen zur Alterssicherung, zu denen Erwerbstätige, die nicht sozialversicherungspflichtig sind und keinen Anspruch auf Pension haben, gegenüber ihrem Ehegatten verpflichtet sind (z.B. durch Ansammlung von Rücklagen oder den Abschluss einer Lebensversicherung). Sie dürfen vom Nettoeinkommen nicht abgezogen werden; diese Beträge müssen dem Hinterbliebenen vielmehr, da zum Unterhalt gehörend, vorweg zugestanden werden.250 Das gilt auch für freiberuflich Tätige, die einer Altersversorgung angehören müssen, sofern die Leistungen dieser Kassen so gering sind, dass ein standesgemäßer Lebensunterhalt im Alter nicht gewährleistet ist.251 Dem Hinterbliebenen zuzubilligen sind auch die Prämien, die der Ehegatte für eine Lebens- oder Unfallversicherung weiter hätte zahlen müssen, wenn er nicht vorzeitig gestorben wäre.252

31.115

242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252

OLG Karlsruhe VRS 8, 113; Hüskes VersR 1959, 250; Wittkämper Betrieb 1964, 1228. BGH v. 20.2.1968 – VI ZR 76/66, VersR 1968, 770. Straftaten, Schwarzarbeit; OLG Köln v. 28.8.1968 – 13 U 29/68, VersR 1969, 382. OLG Saarbrücken v. 13.2.1976 – 3 U23/75, VersR 1977, 727. BGH v. 12.7.1979 – III ZR 50/78, VersR 1979, 1029. BGH v. 25.6.1980 – IVb ZR 530/80, NJW 1980, 2251. BGH v. 3.7.1984 – VI ZR 42/83, VersR 1984, 962; BGH v. 15.10.1985 – VI ZR 55/84, VersR 1986, 265; BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, VersR 1988, 956. BGH v. 5.12.1989 – VI ZR 73/89, VersR 1990, 220. BGH v. 26.5.1954 – VI ZR 69/53, VersR 1954, 325; BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 89/63, VersR 1964, 779; BGH v. 13.12.1966 – VI ZR 75/65, VersR 1967, 260; BGH v. 23.3.1971 – VI ZR 188/69, VersR 1971, 717. BGH v. 23.11.1955 – VI ZR 193/54, VersR 1956, 38; vgl. auch BGH v. 3.12.1951 – III ZR 68/51, VersR 1952, 97. BGH v. 19.4.1963 – VI ZR 154/62, BGHZ 39, 249.

Zwickel | 861

§ 31 Rz. 31.116 | Tötung

d) Vorwegerstattung der fixen Kosten 31.116

Aus dem nach obigen Grundsätzen ermittelten Nettoeinkommen sind dem unterhaltsberechtigten Ehegatten die fixen Kosten der Lebensführung, da sie sich durch den Wegfall des Getöteten nicht (wesentlich) verringern, voll zur Verfügung zu stellen.253 Bei Vorhandensein weiterer Unterhaltsberechtigter sind sie zunächst vom Nettoeinkommen abzuziehen und sodann anteilig der Unterhaltsquote wieder zuzuschlagen (Rz. 31.120, s. aber wegen der in der Praxis weithin üblichen Pauschalierung Rz. 31.123).

31.117

Fixe Kosten sind die weitgehend von der Zahl der Haushaltsmitglieder unabhängigen laufenden festen Kosten des Haushalts, die der Getötete familienrechtlich geschuldet hätte.254 Den fixen Kosten unterfallen etwa Aufwendungen für Wohnung und Wohnungseinrichtung, Heizung, Gas, Strom, Wasser, Abgaben, Telefon, Zeitung, Rundfunk, Fernsehen und für Versicherungen, also alle immer wiederkehrenden Ausgaben für die wirtschaftliche Basis der Lebensführung.255 Auch Rücklagen für Schönheitsreparaturen und Hausratserneuerung gehören dazu,256 desgleichen die Kosten für den familientypischen und weiter laufenden Kindergartenbesuch der hinterbliebenen Kinder.257 Ob auch die Kosten für ein Auto,258 eine Putzfrau oder Hauspersonal hierher gehören, richtet sich nach den jeweiligen Verhältnissen.

31.118

Wohnten die Ehegatten im eigenen Haus, so kann, da das Unterhaltsrecht keinen Anspruch auf Erstellung eines Eigenheims umfasst, vom Schädiger nicht verlangt werden, dass er dessen Erhaltung finanziert. Der Hinterbliebene kann daher Instandsetzungs- und Erhaltungskosten sowie Zins- und Tilgungszahlungen für die Baudarlehen bis zur Höhe des fiktiven Mietzinses für eine (unter Berücksichtigung des reduzierten Wohnbedarfs) vergleichbare Wohnung einsetzen.259 Ist das Haus unbelastet, kann kein fiktiver Mietwert angesetzt werden.260 Eckelmann/Schäfer261 wollen dagegen stets die fiktiven Mietkosten zugrunde legen; dies trägt den individuellen Gegebenheiten nicht hinreichend Rechnung.

31.119

Die fixen Kosten des Haushalts ändern sich im Allgemeinen, wenn der Lebensstandard aufrechterhalten bleiben soll, durch den Tod des Mannes nicht oder nicht erheblich. Soweit Ersparnisse eintreten (vor allem bei den Versicherungen),262 muss die Witwe sie sich anrechnen

253 BGH v. 2.10.1985 – IVb ZB 62/85, VersR 1986, 40. 254 BGH v. 5.6.2012 – VI ZR 122/11, NJW 2012, 2887. 255 BGH v. 6.10.1987 – VI ZR 155/86, VersR 1987, 1242; BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, NZV 1988, 136 mit Anm. Nehls. Ausführlich OLG Brandenburg v. 20.12.2000 – 14 U 84/99, NZV 2001, 213 ff. 256 OLG Hamm v. 19.10.1982 – 27 U 98/82, VersR 1983, 927. 257 BGH v. 2.12.1997 – VI ZR 142/96, NZV 1998, 149. 258 Vgl. hierzu BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, NZV 1988, 137 mit Anm. Nehls. 259 BGH v. 22.6.2004 – VI ZR 112/03, NZV 2004, 513, 514; BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, NZV 1988, 137 mit Anm. Nehls; BGH v. 3.7.1984 – VI ZR 42/83, VersR 1984, 962; a.A. OGH Österreich ZVR 1989, 120. 260 OLG Nürnberg v. 9.4.1997 – 4 U 1841/96, NZV 1997, 439; OLG Köln v. 17.2.1989 – 20 U 37/ 87, VersR 1990, 1285 LS. 261 Eckelmann/Schäfer VersR 1981, 370. 262 Nicht zu den fixen Kosten zählen Lebens- und Unfallversicherungsbeiträge des getöteten Ehemannes, wohl aber ggf. die Lebensversicherungsbeiträge der Witwe (BGH v. 5.6.2012 – VI ZR 122/11, NJW 2012, 2887).

862 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.122 § 31

lassen; im Übrigen bekommt sie die fixen Kosten vom Schädiger voll ersetzt.263 Die fixen Kosten können sich dadurch erhöhen, dass beim Ehemann die Krankenversicherungsbeiträge durch den Arbeitgeber abgeführt wurden, also vom Nettolohn nicht gezahlt zu werden brauchten, während die Witwe die Beiträge zur Krankenversicherung selbst aufzubringen hat. Abzüge sind im Allgemeinen nur zu machen, wenn die Familie bis zum Tod des Mannes über ihre Verhältnisse gelebt hat.264 Entfallen die fixen Kosten auf mehrere Hinterbliebene, so sind sie für die Berechnung der einzelnen Ansprüche entsprechend den jeweiligen Verhältnissen aufzuteilen, zwischen der Witwe und einem Kind z.B. im Verhältnis 2:1, bei zwei Waisen z.B. im Verhältnis 2:1:1265 (allgemein zum Verhältnis zwischen mehreren Unterhaltsberechtigten vgl. Rz. 31.64).

31.120

e) Aufteilung des restlichen Einkommens Die Festlegung der Unterhaltsquote, d.h. des Anteils des Hinterbliebenen am nach Aussonderung der fixen Kosten verbleibenden Resteinkommen, ist nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmen. Auszugehen ist von dem Grundsatz, dass jedem Ehegatten die Hälfte des verfügbaren Einkommens zusteht, weil beide in gleicher Weise am ehelichen Lebensstandard teilnehmen; dem berufstätigen Ehegatten wird im Allgemeinen jedoch ein etwas höherer Anteil zugebilligt, weil er infolge seiner Erwerbstätigkeit auch höhere Ausgaben haben wird.266 Somit stehen z.B. der nicht erwerbstätigen, kinderlosen Witwe je nach Lage des Falles neben den fixen Kosten ca. 45 % des verbleibenden Nettoeinkommens zu.267 Beim Vorhandensein von Kindern kann sich diese Quote je nach deren Zahl auf ca. 38 % (ein Kind) bis ca. 25 % (4 Kinder) vermindern.268 Bei nicht erwerbstätigen, Rente beziehenden Ehegatten wird i.d.R. eine Aufteilung nach gleich hohen Quoten vorzunehmen sein.269

31.121

Wenngleich eine gewisse Pauschalierung unumgänglich ist, sind doch stets im Rahmen des tatrichterlichen Schätzungsermessens die Besonderheiten des konkreten Falles (etwa besonders hoher Arbeitseinsatz270 oder durch persönliche Umstände bedingter besonders hoher Eigenbedarf des Unterhaltspflichtigen) zu beachten. Dies gilt vor allem auch dann, wenn der hinterbliebene Ehegatte ebenfalls zum Familienbarunterhalt beigetragen hat. Hier ist die dem

31.122

263 RG v. 30.11.1938 – VI 122/38, RGZ 159, 24; BGH v. 3.12.1951 – III ZR 68/51, VersR 1952, 97; BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 217/60, VersR 1961, 855; Fischer VersR 1970, 21. 264 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 68/51, VersR 1952, 97; BGH v. 24.4.1959 – VI ZR 52/58, VersR 1959, 713. 265 Vgl. BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 241/69, VersR 1972, 176; BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, NZV 1988, 138 mit Anm. Nehls; Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 42. 266 BGH v. 10.9.1981 – IVb ZR 674/80, NJW 1982, 42; BGH v. 27.1.1987 – VI ZR 114/86, VersR 1987, 508. 267 Eckelmann/Nehls/Schäfer NJW 1984, 947: 47,5 %, gebilligt von BGH v. 27.1.1987 – VI ZR 114/ 86, VersR 1987, 508; enger noch BGH v. 23.3.1971 – VI ZR 188/69, VersR 1971, 717 (40 % als Regel), ebenso Schloën/Steinfeltz Kap. 6 Rz. 355. 268 Für höhere Quote Eckelmann/Schäfer DAR 1981, 372; s. auch Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 38 f. 269 OLG Stuttgart v. 13.12.1977 – 17 UF 97/77, FamRZ 1978, 252; OLG Bremen v. 15.12.1978 – UF 87/78, FamRZ 1979, 123; OLG Karlsruhe v. 11.12.1980 – 2 WF 111/80, FamRZ 1981, 551. 270 OLG Düsseldorf v. 6.3.1992 – 14 U 184/93, NZV 1993, 473: Quote der nicht erwerbstätigen, kinderlosen Ehefrau nur 40 %.

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§ 31 Rz. 31.122 | Tötung

Einzelfall adäquate Verteilung des Familieneinkommens, auch unter Berücksichtigung der Pflicht zur Mithilfe im Haushalt, herauszufinden;271 näher hierzu Rz. 31.124.

31.123

In der Regulierungspraxis werden die fixen Kosten vielfach nicht gesondert errechnet, sondern durch Erhöhung der üblichen Quoten (vgl. Rz. 31.121), die dann aus dem vollen Nettoeinkommen zu errechnen sind, berücksichtigt. Diese Methode verdient im Grundsatz den Vorzug, weil auch die aufwendige konkrete Berechnung nur eine Scheingenauigkeit liefern kann.272 Allerdings besteht mangels gesicherter statistischer Daten kein Konsens über die Höhe der Pauschale. Nach der Tabelle bei Schloën/Steinfeltz273 beträgt die Quote des hinterbliebenen Ehegatten dann 50 %, bei Vorhandensein von Kindern zwischen ca. 42 % (ein Kind) und ca. 28 % (vier Kinder). Hierbei dürften sich i.d.R. zu niedrige Sätze ergeben.274 Eckelmann275 schlägt vor, die Fixkosten pauschal auf 35 bis 50 % des ausgabefähigen Einkommens zu bemessen und im Übrigen die normale Quotentabelle (Rz. 31.121) anzuwenden.

f) Berücksichtigung eigenen Einkommens des Unterhaltsberechtigten 31.124

Hatte der hinterbliebene Ehegatte bereits zum Unfallzeitpunkt durch eigenes Arbeits- oder Renteneinkommen zum Barunterhalt der Familie beigetragen, so ist dies bei der Bemessung des Unterhaltsersatzanspruchs wie folgt zu berücksichtigen:276 Zunächst wird der Unterhaltsanspruch des Hinterbliebenen nach vorstehenden Grundsätzen errechnet, d.h. es werden vom Nettoeinkommen des Getöteten die fixen Kosten abgezogen, aus dem Rest der Anteil des Hinterbliebenen entsprechend seiner Unterhaltsquote errechnet und sodann die fixen Kosten wieder hinzugerechnet. Allerdings sind die fixen Kosten nunmehr nicht in voller Höhe zu berücksichtigen, sondern nur insoweit, als sie aus dem Einkommen des Getöteten zu tragen waren, d.h. sie sind im Verhältnis der Einkünfte der beiden Ehegatten aufzuteilen. Der so errechnete Unterhaltsanspruch des Hinterbliebenen ist nunmehr um den Betrag zu mindern, den er aus seinem Einkommen zum Unterhalt des anderen beizutragen hatte, denn dieser Betrag steht künftig ihm selbst zur Verfügung. Er errechnet sich analog zum eigenen Unterhaltsanspruch auf der Basis seines Nettoeinkommens, jedoch wird der Anteil an den fixen Kosten nicht wieder hinzugerechnet, weil insoweit keine Ersparnis eintritt.

31.125

Zur Verdeutlichung möge folgende Beispielrechnung277 dienen, die von der Tötung eines Ehemannes bei einem Gesamtfamilieneinkommen von 3.000 €, fixen Kosten von 800 € und einem Aufteilungsschlüssel im Verhältnis 4 (Mann): 4 (Frau): 2 (Kind) ausgeht:

271 Vgl. z.B. BGH v. 22.3.1983 – VI ZR 67/81, VersR 1983, 726: Rentnerehepaar; BGH v. 19.10.1983 – VIII ZB 30/83, VersR 1984, 81: Taxiunternehmer. 272 A.A. OLG Celle v. 8.3.2001 – 14 U 69/00, OLGR Celle 2001, 227, 228: nur in Ausnahmefällen bei besonders schwieriger Berechnung und Einverständnis beider Parteien. Für weitergehende Pauschalierung MünchKomm-BGB/Wagner § 844 Rz. 50. 273 Kap. 6 Rz. 357. 274 Vgl. Eckelmann/Nehls/Schäfer NJW 1984, 949; Eckelmann/Freier DAR 1992, 128. 275 Eckelmann DAR 1989, 96. 276 Vgl. BGH v. 22.3.1983 – VI ZR 67/81, VersR 1983, 726; BGH v. 22.11.1983 – VI ZR 22/82, VersR 1984, 353; BGH v. 23.6.1994 – III ZR 167/93, NZV 1994, 475 (jeweils mit Berechnungsschemata); Drees VersR 1985, 613 ff. 277 Übernommen aus BGH v. 10.1.1984 – VI ZR 122/82, VersR 1984, 354. Berechnungsbeispiele auch bei Küppersbusch/Höher Rz. 409 ff.; Schmitz-Herscheidt VersR 2003, 36 f.

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III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.127 § 31 Beispiel: Entgangener Unterhaltsbaranteil Einkommen Mann abzgl. anteiliger fixer Kosten verfügbares Manneseinkommen hiervon 4/10 zzgl. anteiliger fixer Kosten Mann abzgl. ersparter Unterhaltsbeitrag an den Mann Einkommen Frau abzgl. anteiliger fixer Kosten verfügbares Fraueneinkommen hiervon 4/10

2.400 € – 640 € 1.760 € 704 € + 640 € 1.344 € 600 € – 160 € 440 € – 176 € 1.168 €

Dieses Berechnungsschema kann im Einzelfall durch vielfältige Besonderheiten modifiziert werden, wie z.B. durch den Umstand, dass der Hinterbliebene infolge der Tötung des Ehegatten nicht mehr im selben Umfang wie vorher erwerbstätig sein kann oder Aufwendungen für die Kinderbetreuung machen muss bzw. ohne unentgeltliche Hilfe Angehöriger machen müsste.278 Eine andere Berechnungsweise kann auch dann geboten sein, wenn die Ehefrau wegen der Geburt eines Kindes ihre Erwerbstätigkeit bei Fortleben des Mannes aufgegeben hätte;279 vgl. zur Nichtanrechnung überobligationsmäßiger Leistungen Rz. 31.87. Noch nicht berücksichtigt sind auch die beiderseitigen Beiträge zur Haushaltsführung (vgl. hierzu Rz. 31.127 ff.) sowie etwaige über die Unterhaltsersparnis hinausgehende Vorteilsausgleichungen (vgl. hierzu Rz. 31.67 ff.). War im Einzelfall das Einkommen des getöteten Ehegatten niedriger als das des hinterbliebenen, so lässt sich mit vorstehendem Berechnungsschema die Unterhaltsersparnis ermitteln, die ggf. auf den Anspruch wegen entgangener Haushaltsführung anzurechnen ist.280 Schließlich ist zu beachten, dass dann, wenn der Schädiger (z.B. wegen Mitverschuldens des Getöteten) nur auf eine Quote haftet, eine Anrechnung ersparter Unterhaltsbeiträge nur insoweit vorgenommen werden darf, als sie den vom Hinterbliebenen selbst zu tragenden Schadensteil übersteigen.281 Der Hinterbliebene würde sonst gewissermaßen für den Schädiger arbeiten.

31.126

g) Ersatz für entgangene Dienste aa) Dienstleistungen des Ehegatten als Unterhaltsschaden Die Haushaltsführung und die Mitarbeit im Geschäft des Ehegatten stellen, soweit nach § 1360 BGB geschuldet,282 ebenfalls Unterhaltsleistungen (sog. Naturalunterhalt) dar (s. Rz. 31.6, 31.58), so dass bei Tötung des diese Dienste leistenden Ehegatten ein entsprechender Ersatz-

Vgl. BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 46/85, VersR 1987, 157. BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 46/85, VersR 1987, 157. Vgl. BGH v. 19.10.1983 – VIII ZB 30/83, VersR 1984, 81. BGH v. 22.3.1983 – VI ZR 67/81, VersR 1983, 727; BGH v. 16.9.1986 – VI ZR 128/85, VersR 1987, 72. 282 Hierzu Moritz VersR 1981, 1101.

278 279 280 281

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31.127

§ 31 Rz. 31.127 | Tötung

anspruch besteht. Entscheidend ist auch hier der rechtlich geschuldete, nicht der tatsächlich geleistete Umfang der Dienste283 (s. auch Rz. 31.98).

31.128

In welchem Umfang die Ehegatten durch Dienstleistungen zum Familienunterhalt beitragen, bestimmen sie allerdings weitestgehend selbst,284 denn gesetzlich geschuldet ist die Haushaltstätigkeit grundsätzlich so, wie es dem Einvernehmen der Ehegatten entspricht (vgl. § 1356 Abs. 1 S. 1 BGB). Diese Einvernehmensregelung ist festzustellen und, sofern sie sich im Rahmen des Angemessenen hält (s. § 1360 S. 1 BGB), auch für die Zukunft zugrunde zu legen. Es kann daher nicht ohne weiteres aus dem Vorliegen einer Doppelverdiener-Ehe auf eine Aufteilung der Haushaltstätigkeit zu gleichen Teilen geschlossen werden.285 Regeln die Ehegatten die Haushaltsführung aber in dieser Weise, so kann ein Anspruch des Hinterbliebenen aus § 844 Abs. 2 BGB, § 10 Abs. 2 StVG nicht etwa mit der Erwägung verneint werden, der Verlust der Mitarbeit des Getöteten im Haushalt werde dadurch aufgewogen, dass die eigene Verpflichtung gegenüber dem anderen weggefallen sei.286 Zahlreiche Arbeiten fallen auch in dem dezimierten Haushalt unvermindert an. Der Wert des Unterhaltsdefizits ist daher messbar an dem zeitlichen Mehraufwand, den der Hinterbliebene im Vergleich zu früher zu erbringen oder durch eine Hilfskraft abzudecken hat.

31.129

Die tatsächlichen Verhältnisse spielen auch insofern eine Rolle, als bei zerrütteter Ehe und langjährigem Getrenntleben i.d.R. der Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Verlust des Anspruchs auf Haushaltsführung fehlt.287

31.130

Arbeitsleistungen beim Eigenheimbau gehören nicht zur Erfüllung der Unterhaltspflicht.288 Viel zu weitgehend ist die Ansicht des OGH Österreich,289 der Schädiger schulde als entgangenen Naturalunterhalt auch den Wert solcher Arbeitsleistungen, und zwar sogar dann, wenn sie gegenüber einem Dritten erbracht werden, damit dieser seinerseits beim Bau des eigenen Hauses Hilfe leiste. bb) Möglichkeiten des Ausgleichs

31.131

Für den Ausgleich des Ausfalls kommen im Wesentlichen vier Wege in Betracht: Die Anstellung einer Ersatzkraft, die Unterstützung durch einen Verwandten gegen entsprechende Vergütung, die unentgeltliche Hilfe eines Angehörigen oder die Mehrarbeit des Hinterbliebenen. Im Sinne möglichst weitgehender Restitution können grundsätzlich die Dienste einer Ersatzkraft in Anspruch genommen und die hierfür aufzuwendenden Kosten ersetzt verlangt werden (Einzelheiten Rz. 31.132 ff.). Verzichtet der Hinterbliebene auf die Anstellung einer Ersatzkraft oder lässt er nur einen Teil der anfallenden Arbeiten von einer solchen erledigen,290 283 BGH v. 14.1.1971 – III ZR 107/67, VersR 1971, 423; BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 151/75, VersR 1979, 670. 284 BGH v. 19.10.1983 – VIII ZB 30/83, VersR 1984, 81; BGH v. 6.10.1992 – VI ZR 305/91, NZV 1993, 22. 285 BGH v. 29.3.1988 – VI ZR 87/87, BGHZ 104, 113 = NZV 1988, 60 mit Anm. Schlund. 286 BGH v. 29.3.1988 – VI ZR 87/87, BGHZ 104, 113 = NZV 1988, 60 mit zust. Anm. Schlund; Macke NZV 1989, 254; a.A. noch BGH v. 3.7.1984 – VI ZR 42/83, VersR 1984, 963. 287 LG Bayreuth v. 22.6.1981 – 3 O 117/81, VersR 1982, 607. 288 BGH v. 22.6.2004 – VI ZR 112/03, NZV 2004, 513, 514. Zur Berücksichtigung von Erhaltungsarbeiten bei den fixen Kosten s. Rz. 31.118. 289 ZVR 1989, 229. 290 Vgl. BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 84; BGH v. 8.4.1986 – VI ZR 59/85, VersR 1986, 790.

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III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.133 § 31

so gewährt die Rspr. einen Anspruch, der sich grundsätzlich an der fiktiven Vergütung einer Ersatzkraft orientiert (Rz. 31.137 ff.). Ist jedoch im Einzelfall eine zumutbare Lösung im Rahmen des Familienverbandes möglich, die zu einem geringeren Aufwand führt, so soll sich nach neuer Rspr. des BGH der Ersatzanspruch auf den Betrag beschränken, der erforderlich ist, um den Verwandten angemessen zu entschädigen.291 Dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden.292 Sie verstößt gegen den Grundsatz, dass freiwillige Opfer den Schädiger nicht entlasten dürfen (vgl. § 843 Abs. 4 BGB), und führt zu großen Schwierigkeiten dann, wenn der Hinterbliebene auf eine fremde Hilfe überhaupt verzichtet. Soll er dann – wie bisher – die fiktiven Kosten einer Ersatzkraft beanspruchen können oder soll das Gericht gehalten sein, die gesamte Verwandtschaft daraufhin zu überprüfen, ob jemandem die Unterstützung des Hinterbliebenen zumutbar wäre, um sodann den Ersatzanspruch entsprechend kürzen zu können? Richtigerweise wird in allen Fällen, in denen eine bezahlte Ersatzkraft nicht in Anspruch genommen wird, eine Entschädigung zu leisten sein, die sich nach dem Wert des in Form von Arbeitsleistungen bisher erbrachten Unterhaltsbeitrags bemisst (vgl. Rz. 31.139). cc) Berechnung des Anspruchs bei Anstellung einer Ersatzkraft Wird zum Ausgleich der entgangenen Dienste eine Ersatzkraft angestellt, so sind die hierfür aufzuwendenden Kosten zu erstatten, und zwar der Bruttobetrag einschließlich Steuern und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung.293 Die Höhe des Arbeitseinkommens des hinterbliebenen Ehegatten stellt keine Begrenzung für diesen Anspruch dar, denn zum Familieneinkommen gehörten auch die Leistungen des haushaltführenden Ehegatten.294 Die Kosten sind aber nur dann voll erstattungsfähig, wenn die Dienste der Ersatzkraft hinsichtlich Umfang und Qualifikation jene des Ehegatten nicht übersteigen. Die eingehenden Untersuchungen von Schulz-Borck/Hofmann,295 Schulz-Borck/Pardey296und nunmehr Pardey297, die auch die Zustimmung der Rspr. gefunden haben298 und die zu differenzierten Tabellen für unterschiedliche Haushaltstypen geführt haben,299 liefern gute Anhaltswerte.

31.132

Als Zeitaufwand sind z.B. für einen aus dem Witwer und zwei minderjährigen Kindern bestehenden Haushalt vom BGH300 ca. 48 Wochenstunden für angemessen erachtet worden, bei zwei Kindern im vorschulpflichtigen Alter ca. 60 Wochenstunden,301 bei einem Kind 35 Stun-

31.133

291 BGH v. 8.6.1982 – VI ZR 288/79, VersR 1982, 874; BGH v. 22.6.1982 – VI ZR 268/80, VersR 1982, 953 = 1192 mit zust. Anm. Hofmann; ebenso Scheffen/Pardey Die Rechtsprechung des BGH zum Schadensersatz beim Tod einer Hausfrau und Mutter 1986, 8. 292 So auch Grunsky NJW 1983, 2470; Eckelmann/Boos/Nehls DAR 1984, 297. 293 BGH v. 12.6.1973 – VI ZR 26/72, VersR 1973, 940; BGH v. 12.2.1974 – VI ZR 187/72, VersR 1974, 604. 294 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 31/70, VersR 1971, 1065; BGH v. 8.6.1982 – VI ZR 314/80, VersR 1982, 952. 295 Schulz-Borck/Hofmann Schadensersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt, 6. Aufl. 2000. 296 Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009. 297 Pardey Der Haushaltsführungsschaden 2018. 298 Vgl. BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 151/75, VersR 1979, 670; BGH v. 8.6.1982 – VI ZR 314/80, VersR 1982, 952; BGH v. 29.3.1988 – VI ZR 87/87, NZV 1988, 60; OLG Hamm v. 21.12.1979 – 13 U 81/79, 13 U 100/79, VersR 1980, 723. 299 Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009, 14 ff. 300 BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 151/75, VersR 1979, 670. 301 BGH v. 8.6.1982 – VI ZR 314/80, VersR 1982, 952; BGH v. 24.4.1990 – VI ZR 183/89, NZV 1990, 307.

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§ 31 Rz. 31.133 | Tötung

den.302 Sind Familienangehörige zur Mithilfe verpflichtet, so ist dies bei der Bemessung des Arbeitszeitbedarfs durch entsprechende Abzüge zu berücksichtigen. Deren Berechtigung und Höhe hängen bei Kindern von den konkreten Umständen ab (Bedarf an Mithilfe, Fähigkeiten des Kindes, Gesundheitszustand, Belastung durch Schule oder Berufsausbildung). Als Anhaltswert nimmt die Rspr. bei Kindern ab ca. 12 bis 14 Jahren eine Stunde täglich303 an. Auch für den Ehemann richtet sich der Umfang der Mitarbeitspflicht nach den jeweiligen Umständen, insbesondere dem Ausmaß der Berufstätigkeit beider Ehegatten.304

31.134

Hinsichtlich der Qualifikation ist zu beachten, dass im Regelfall nicht die Anstellung einer ausgebildeten Fachkraft (z.B. Hauswirtschaftsmeisterin), sondern nur die einer Hauswirtschafterin oder Haushaltshilfe beansprucht werden kann.305 dd) Berechnung des Anspruchs bei Verzicht auf Anstellung einer Ersatzkraft

31.135

In diesen Fällen ist die Höhe der Unterhaltsersatzrente nach der Rspr. grundsätzlich (vgl. die Einschränkung in Rz. 31.131) an den fiktiven Kosten einer Hilfskraft zu orientieren (zur Kritik dieser Rspr. s. Rz. 31.137). Hiernach ist von den Kosten einer vergleichbaren, nach TVöD bezahlten Ersatzkraft auszugehen,306 sofern nicht wegen der örtlichen Verhältnisse eine Haushaltshilfe zu günstigeren Bedingungen angestellt werden kann.307 Zunächst ist festzustellen, für wie viele Stunden eine Haushaltshilfe beschäftigt werden müsste, um den Haushalt im bisherigen Umfang weiterzuführen; anzusetzen ist dabei der zeitliche Aufwand für die Eigenversorgung des Getöteten308 und die Mithilfepflicht von Kindern und Ehepartner.309 Die so gefundene Stundenzahl (vgl. auch Rz. 31.133) ist sodann mit der sich aus dem TVöD ergebenden Stundenvergütung zu multiplizieren, wobei je nach Umfang und Qualität der anfallenden Aufgaben, auch dem Alter der mitzubetreuenden Kinder, auf die Entgeltgruppen 3 bis 10 des TVöD310 abzustellen ist. Bedarf es keiner Befähigung zu selbstständiger Haushaltsführung, etwa weil der Hinterbliebene schon bisher maßgeblich mitgearbeitet hat und die Regie übernehmen kann, kann eine der unteren Entgeltgruppen des TVöD angemessen sein.311 Bei ei302 BGH v. 5.6.1984 – VI ZR 184/83, VersR 1984, 876. 303 BGH v. 2.5.1972 – VI ZR 80/70, VersR 1972, 950; BGH v. 12.6.1973 – VI ZR 26/72, VersR 1973, 939; BGH v. 8.2.1983 – VI ZR 201/81, VersR 1983, 459; BGH v. 17.4.1990 – VI ZR 276/89, NZV 1990, 308; zu Recht einschränkend Eckelmann/Nehls/Schäfer DAR 1982, 383 und Ludwig DAR 1986, 379. 304 Vgl. Schulz-Borck/Hofmann Schadensersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt, 6. Aufl. 2000, Nr. 2.1.4; Scheffen/Pardey Die Rechtsprechung des BGH zum Schadensersatz beim Tod einer Hausfrau und Mutter 1986, 14; BGH v. 2.4.1974 – VI ZR 130 u. 155/37, NJW 1974, 1238; OLG Hamburg v. 20.11.1987 – 14 U 32/87, VersR 1988, 136. 305 BGH v. 10.4.1979 – VI ZR 151/75, VersR 1979, 670. 306 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 260/69, VersR 1971, 1045; BGH v. 14.3.1972 – VI ZR 160/70, VersR 1972, 743; BGH v. 2.5.1972 – VI ZR 80/70, VersR 1972, 948. 307 BGH v. 22.6.1982 – VI ZR 268/80, VersR 1982, 952. 308 BGH v. 22.6.1982 – VI ZR 268/80, VersR 1982, 952 = 1192 mit zust. Anm. Hofmann; Lemcke Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens in Himmelreich, Jahrbuch Verkehrsrecht 1999 S. 137. 309 S. dazu die Untersuchungen von Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009 sowie BGH v. 29.3.1988 – VI ZR 87/87, VersR 1988, 490 = NZV 1988, 60 mit Anm. Schlund. 310 Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009, S. 35. 311 BGH v. 3.2.2009 – VI ZR 183/08, VersR 2009, 515; BGH v. 29.3.1988 – VI ZR 87/87, VersR 1988, 490 = NZV 1988, 60 mit Anm. Schlund; abl. Eckelmann DAR 1989, 95 und Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009, S. 35.

868 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.138 § 31

nem Haushalt kleinsten und einfachsten Zuschnitts kann es auch angemessen sein, lediglich die Kosten einer Zugehfrau als Berechnungsgrundlage heranzuziehen.312 Maßgeblich ist allein das fiktive Netto-Gehalt, denn für die Bestimmung des Wertes der Unterhaltsleistung haben Beträge, die einer Ersatzkraft nicht selbst zufließen würden, außer Betracht zu bleiben.313 Der BGH lässt zu, das maßgebliche Gehalt durch Abzug einer Pauschale von 30 % vom Bruttogehalt zu ermitteln.314 Unberührt hiervon bleibt die Verpflichtung des Schädigers, dem Geschädigten die Steuern zu ersetzen, die er auf die Ersatzleistung zu entrichten hat (vgl. Rz. 31.93).

31.136

Die von der Rspr. zugelassene fiktive Abrechnung begegnet von ihrem Ansatz her den generell gegen eine solche zu erhebenden Bedenken (vgl. Rz. 20.26). Auch der Vorschlag, nur die konkret entstandenen Mehraufwendungen (z.B. für Kindergarten, Wäscherei) zu erstatten,315 trifft nicht den Kern des Problems. Auszugehen ist vielmehr davon, dass es sich bei dem hier in Rede stehenden Anspruch um einen Unterhaltsersatzanspruch handelt (Rz. 31.127). Zu ersetzen sind also nicht irgendwelche tatsächlichen oder fiktiven Aufwendungen, sondern der Wert der entgangenen Unterhaltsleistungen. Dieser ist nach den konkreten Verhältnissen der Familie zu bestimmen (vgl. §§ 1360, 1360a Abs. 2 S. 1 BGB), also unter Berücksichtigung von Familieneinkommen, Größe des Haushalts, Umfang der Arbeiten usw. Die fiktiven Kosten einer Ersatzkraft können hierbei Anhaltspunkte liefern (insoweit zutreffend spricht der BGH316 von „Orientierungsrahmen“). Ihr Bruttobetrag bildet zugleich die obere Grenze, da höhere Aufwendungen nicht „erforderlich“ i.S.v. § 249 BGB sein können.

31.137

12. Ersatzanspruch des ehelichen Kindes a) Grundsätze Beim Unfalltod des Vaters werden sich i.d.R. andere Ansprüche gegen den Schädiger ergeben als beim Unfalltod der Mutter. Dies liegt daran, dass jeder Elternteil dem ehelichen Kind den Unterhalt jeweils in der durch die Lebensumstände gegebenen Form schuldet (vgl. Rz. 31.55). Auch hier kommt es daher nicht auf das bloß theoretische Bestehen einer Unterhaltspflicht an, sondern auf den Unterhalt, den der beim Unfall Getötete dem Kinde in dem jeweiligen Zeitraum hätte zukommen lassen müssen (vgl. Rz. 31.98 f.). Beim Tod beider Eltern hat das Kind zwar Anspruch auf vollen Unterhaltsersatz; i.d.R. werden jedoch (z.B. wegen teilweisen Forderungsübergangs) die Ansprüche gegen Vater und Mutter gesondert auszuweisen sein.317

312 BGH v. 10.7.1973 – VI ZR 140/72, VersR 1974, 32. 313 BGH v. 8.2.1983 – VI ZR 201/81, BGHZ 86, 372 = JR 1983, 414 mit Anm. Schlund; LG Berlin v. 4.9.1978 – 17 O 253/77, DAR 1979, 304; Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009, 36; Küppersbusch/Höher Rz. 376; 15. VGT (1977) 10; a.A. OLG Frankfurt v. 19.5.1980 – 1 U 77/79, VersR 1981, 241 = 338 mit abl. Anm. Hofmann; österr. OGH ZVR 1993, 149; Grunsky NJW 1983, 2470; JZ 1986, 176; Ludwig DAR 1986, 380; Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 64 f. 314 BGH v. 8.2.1983 – VI ZR 201/81, BGHZ 86, 377; BGH v. 16.9.1986 – VI ZR 128/85, VersR 1987, 72. 315 Honsell/Harrer JuS 1991, 447. 316 Z.B. BGH v. 24.4.1990 – VI ZR 183/89, VersR 1990, 907. 317 Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 76. Vgl. auch BGH v. 22.1.1985 – VI ZR 71/83, VersR 1985, 365, 366.

Zwickel | 869

31.138

§ 31 Rz. 31.139 | Tötung

31.139

Bei der Bemessung des Unterhaltsersatzanspruchs von Kindern ist es in besonderem Maße erforderlich, absehbare Zukunftsentwicklungen prognostisch zu berücksichtigen, d.h. nach Zeitabschnitten zu differenzieren (vgl. hierzu Rz. 31.165, 31.170).

31.140

Der Unterhaltsersatzanspruch des Kindes setzt sich – ebenso wie der des überlebenden Elternteils – zusammen aus entgangenem Unterhalt in Natur und Geld und aus einem Anspruch wegen Wegfalls der persönlichen Dienste des Getöteten. Der Unterhalt eines noch in der Ausbildung befindlichen Kindes richtet sich nach der Lebensstellung und den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern. Das bedeutet aber nicht, dass dem Kind eine der Lebensführung der Eltern entsprechende Lebensgestaltung (eigener Wagen, Urlaubsreisen in ferne Länder) ermöglicht werden müsste. Vielmehr rechtfertigt bei überdurchschnittlich guten wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern die besondere Lage des noch in der Ausbildung befindlichen Kindes eine Begrenzung des Unterhalts nach oben deshalb, weil es noch keine berufliche Lebensstellung besitzt und den Eltern das Recht zusteht, im Interesse einer Erziehung zur Sparsamkeit Einschränkungen nach billigem Ermessen vorzunehmen.318 Maßgebend ist mithin hier die Handhabung durch den verstorbenen Elternteil, sofern sie keinen Ermessensmissbrauch darstellte.

31.141

Zum Unterhalt gehört auch der Anspruch auf Pflege im Krankheitsfall einschließlich Deckung der Heilungskosten. Ist nur ein Elternteil erwerbstätig, so erfüllt er diesen Anspruch durch Abschluss einer Krankenversicherung für das Kind bzw. bei Gesetzlicher Krankenversicherung dadurch, dass er dem Kind die Leistungen der Krankenkasse nach § 10 SGB V verschafft (Meldung des Familienversicherten durch den Stammversicherten gem. § 10 Abs. 6 SGB V); der andere Elternteil schuldet nur die tatsächlichen Fürsorgeleistungen im Rahmen der Pflicht zur Haushaltsführung.319 Entfällt durch den Tod des erwerbstätigen Elternteils der (gem. § 3 S. 3 SGB V beitragsfreie) Versicherungsschutz nach § 10 SGB V, so muss der Ersatzpflichtige die nunmehr anfallenden Kosten für eine Krankenversicherung des Kindes erstatten, auch soweit diese vom Rentenversicherungsträger aufzubringen sind;320 zum Anspruchsübergang auf diesen s. § 35. Standen beide Elternteile in einem krankenversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis, schuldet der Schädiger bei der Tötung eines Elternteils nur 50 % des (fiktiven) Beitrags zu einer Krankenversicherung.321

31.142

Eine Verpflichtung des Kindes, durch eigene Arbeit den Unterhaltsanspruch zu mindern oder in Wegfall zu bringen, besteht nur ausnahmsweise. Vor Beendigung der Berufsausbildung des Kindes ist dieses zwar nach § 1619 BGB verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten; es ist aber nicht verpflichtet, bei fremden Leuten Dienste zu leisten, um Geld zu verdienen. Es wäre auch nicht angängig, aus § 1602 Abs. 2 BGB zu entnehmen, dass das Kind nach dem Zeitpunkt der Volljährigkeit seine Berufsausbildung nicht fortsetzen dürfe, sondern sich einen Arbeitsplatz suchen müsse. Die Tatsache, dass infolge des Todes eines Elternteils oder beider Elternteile die Dienstleistungspflicht in deren Hauswesen und Geschäft sich aus tatsächlichen Gründen (Auflösung des Haushalts oder Geschäfts) verringert oder ganz wegfällt, stellt für das Kind keinen Vermögensvorteil dar, der zu einer Minderung des Ersatzanspruchs führt (vgl. Rz. 31.86). Wird der Haushalt nach dem Tod des Elternteils (oder

318 319 320 321

BGH v. 17.10.1972 – VI ZR 111/71, VersR 1973, 84. BGH v. 6.5.1980 – VI ZR 58/79, VersR 1980, 844. BGH v. 24.1.1978 – VI ZR 95/75, VersR 1978, 346. BGH v. 24.1.1978 – VI ZR 95/75, VersR 1978, 346.

870 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.146 § 31

beider Eltern) weitergeführt, so ist allerdings bei der Berechnung des Anspruchs des Kindes wegen Wegfalls der Arbeitsleistung des Vaters und der Mutter im Haushalt zu berücksichtigen, inwieweit das Kind im Haushalt, lebte der Verstorbene noch, hätte mithelfen müssen (vgl. hierzu Rz. 31.133). Ab wann das Kind einer Erwerbstätigkeit nachzugehen hat, um sich seinen eigenen Unterhalt zu verdienen, richtet sich nicht nach dem Eintritt der Volljährigkeit.322 Der maßgebende Zeitpunkt ist vielmehr der des regulären Abschlusses der Berufsausbildung (vgl. Rz. 31.157). Dabei hat das Kind sich nach den Anordnungen der Eltern zu richten (§§ 1626, 1627 BGB), jedoch nur bis es volljährig wird. Von da an bestimmt es über seinen Ausbildungsweg grundsätzlich selbst.323 Allerdings hat es nur Anspruch auf die Ermöglichung einer adäquaten, d.h. seinen Fähigkeiten entsprechenden und sich in den Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seiner Eltern haltenden Berufsausbildung (§ 1610 Abs. 2 BGB); ein Zweitstudium oder eine weitere Berufsausbildung braucht der Unterhaltsverpflichtete grundsätzlich nicht zu finanzieren.324 Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn die erste Ausbildung auf einer Fehleinschätzung der Begabungen oder Neigungen des Kindes beruhte, wenn die Zweitausbildung eine von vornherein angestrebte Weiterbildung darstellt oder während der ersten Ausbildung eine besondere, die Weiterbildung erfordernde Begabung des Kindes deutlich wurde.325 Im Rahmen der wirtschaftlichen Zumutbarkeit haben die Eltern ein Studium auch dann zu finanzieren, wenn das Kind nach dem Abitur zunächst eine damit in sachlichem Zusammenhang stehende praktische Ausbildung durchlaufen hat.326 Soweit nach den jeweiligen Umständen angemessen, kann das Kind verpflichtet sein, durch eigene Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung, z.B. Ferienarbeit, zum Unterhalt beizutragen.

31.143

Nach Abschluss der Ausbildung hat das Kind einen Unterhaltsanspruch gegen beide Elternteile nur, wenn es (durch Krankheit, unverschuldete Arbeitslosigkeit usw.) in eine Notlage gerät.

31.144

Ein Kind mit eigenem Vermögen kann von seinen Eltern, solange es seine Berufsausbildung nicht abgeschlossen hat, Unterhalt insoweit verlangen, als die Erträgnisse seines Vermögens zum Unterhalt einschließlich der Ausbildungskosten nicht ausreichen. Dies gilt aber nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit. Von da an muss es den Stamm seines Vermögens aufzehren, ehe es Unterhalt von seinen Eltern verlangen kann (§ 1602 Abs. 2 BGB). Eine Ausnahme gilt, wenn es unzumutbar, insbesondere unwirtschaftlich ist, das Vermögen anzugreifen.

31.145

Die Unterhaltspflicht des überlebenden Elternteils schließt nach § 843 Abs. 4 BGB, auf den in § 844 Abs. 2 S. 1 BGB, § 13 Abs. 2 StVG und § 8 Abs. 2 HaftPflG verwiesen wird, den Ersatzanspruch des Kindes gegen den für den Unfalltod des anderen Elternteils Verantwortlichen nicht aus und mindert ihn nicht (Rz. 31.51). Zu beachten ist aber, dass der Schädiger nur für den Teil der gemeinsamen Unterhaltspflicht haftet, der auf den Getöteten entfiel (s.

31.146

322 OLG Hamm v. 6.2.1987 – 9 U 143/86, NJW-RR 1987, 539. 323 OLG Düsseldorf v. 10.4.1978 3 WF 114/78, FamRZ 1978, 613. 324 BGH v. 29.6.1977 – IV ZR 48/76, BGHZ 69, 190; BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 547/80, FamRZ 1981, 437; BGH v. 12.6.1991 – XII ZR 163/90, NJW-RR 1991, 1156. Ausnahmefall (Kind wurde in inadäquate Ausbildung gedrängt): BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 124/89, FamRZ 1991, 322. 325 BGH v. 29.6.1977 – IV ZR 48/76, BGHZ 69, 190; BGH v. 24.9.1980 – IVb ZR 506/80, FamRZ 1980, 1115; BGH v. 10.12.1980 – IVb ZR 546/80, FamRZ 1981, 346; BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 547/80, FamRZ 1981, 437. 326 BGH v. 7.6.1989 – IVb ZR 51/88, NJW 1989, 2253.

Zwickel | 871

§ 31 Rz. 31.146 | Tötung

Rz. 31.55). Wird der Vater beim Unfall getötet und war die Mutter nicht im Erwerbsleben gestanden, hatte sie vielmehr nur den Haushalt besorgt, so umfasst der Ersatzanspruch des Kindes gegen den Schädiger den gesamten Unterhalt mit Ausnahme der persönlichen Dienste der Mutter, die diese weiterhin dem Kinde allein schuldet.327 War die Mutter neben dem Vater berufstätig, so kann, wenn der Vater getötet wird, das Kind vom Schädiger nur den auf den Vater entfallenden Teil des Unterhalts ersetzt verlangen, nicht seinen vollen Unterhalt. Wird in einem solchen Fall die Mutter getötet, so entstehen Ersatzansprüche in Höhe ihrer Pflicht, zum Unterhalt des Kindes beizutragen.328 Zu beachten ist hierbei, dass bei Berufstätigkeit der Ehefrau der Ehemann zu erhöhter Mithilfe im Haushalt verpflichtet ist.329

31.147

Hat die Witwe infolge des Unfalltodes ihres Mannes dessen Unternehmen geerbt, so mindern sich hierdurch die Ersatzansprüche der Kinder gegen den Schädiger. Es ist aber nicht etwa so, dass die Kinder sich einen „erhöhten“ Unterhaltsanspruch gegen ihre Mutter auf ihre Schadensersatzansprüche „anrechnen“ lassen müssten,330 denn dieser Unterhaltsanspruch gegen die Mutter konnte sich durch den Tod des Vaters nicht erhöhen. Vielmehr greift der Grundsatz ein, dass die in § 843 Abs. 4 BGB enthaltene Regel nicht gilt, wenn nur die Person des Unterhaltspflichtigen, nicht aber die Quelle des Unterhalts gewechselt hat (vgl. Rz. 31.53, 31.73).

b) Berechnung des materiellen Unterhalts 31.148

Sie vollzieht sich im Prinzip wie beim Ehegattenunterhalt (anteilige Fixkosten plus Anteil am Resteinkommen, Rz. 31.96 ff.). Da jedes Kind einen eigenen Anspruch auf Ersatz des gerade ihm entgangenen Anteils am Familienunterhalt hat (vgl. Rz. 31.64), ist in jedem Falle ein den jeweiligen Umständen entsprechender Verteilungsschlüssel zu finden.331 Insbesondere das Alter des Kindes und sein Ausbildungsbedarf beeinflussen die Höhe seiner Quote.332 Auch ist bei besonders hohem Einkommen des Getöteten zu berücksichtigen, dass sich aus der Natur des Unterhaltsanspruchs eine Begrenzung nach oben ergibt.333

31.149

Allgemeingültige Quoten können daher nicht angegeben werden.334 Der BGH räumt dem Tatrichter hier ein Schätzungsermessen (§ 287 ZPO) ein. Er hat z.B. bei zwei unterhaltsberechtigten Kindern eine Quote von je 20 % (bis zum 11. Lebensjahr) und 23,5 % (ab dem

327 BayObLGSt 64, 8. 328 BGH v. 25.4.1967 – VI ZR 195/65, FamRZ 1967, 380; BGH v. 21.10.1969 – VI ZR 86/68, VersR 1970, 41. 329 BGH v. 10.7.1973 – VI ZR 140/72, VersR 1974, 32; BGH v. 2.4.1974 – VI ZR 130 u. 155/73, VersR 1974, 885. 330 A.A. OLG München v. 10.11.1966 – 10 U 1283/66, VersR 1967, 190. 331 A.A. Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 65: gleichmäßige Aufteilung nach Zahl der Berechtigten. 332 BGH v. 6.10.1987 – VI ZR 155/86, VersR 1987, 1243 = FamRZ 1988, 696 mit Anm. Nehls; BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, VersR 1988, 954 = NZV 1988, 136 mit Anm. Nehls; Macke NZV 1989, 252; Eckelmann/Freier DAR 1992, 128; a.A. OLG Hamm v. 23.6.1988 – 6 U 293/87, NZV 1989, 271 mit zust. Anm. Küppersbusch. 333 BGH v. 6.10.1987 – VI ZR 155/86, VersR 1987, 1243 = FamRZ 1988, 696 mit Anm. Nehls; Macke NZV 1989, 252 f. 334 Anhaltswerte liefern die Tabellen bei Küppersbusch/Höher Rz. 351 (mit einer Tendenz zu niedrigeren Werten) und Eckelmann/Nehls Schadensersatz bei Verletzung und Tötung 1987, S. 119 (mit höheren Sätzen).

872 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.152 § 31

12. Lebensjahr) nicht beanstandet,335 in früheren Urteilen allerdings auch wesentlich niedrigere Quoten für vertretbar gehalten.336 Der durch Quotelung gefundene Betrag muss aber im Einzelfall durch einen überschlägigen Vergleich mit den unterhaltsrechtlich geschuldeten Sätzen abgeglichen werden.337 Anhaltspunkte liefern daher auch die bei verschiedenen OLG gebräuchlichen Unterhaltstabellen, die allerdings, da auf doppelte Haushaltsführung zugeschnitten, nicht ohne weiteres in das Schadensersatzrecht übernommen werden können.338 Ist auch der hinterbliebene Elternteil berufstätig, so ist dessen finanzieller Unterhaltsbeitrag, der sich auch nach der Höhe seines Einkommens richtet, ggf. einzurechnen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich infolge seiner Erwerbstätigkeit u.U. seine Pflicht zur Hausarbeit ermäßigt und teilweise auf den anderen Ehegatten verlagert hat.339

31.150

Bei Tötung beider Elternteile und Fortführung des Haushalts (z.B. durch Großmutter) hält der BGH340 eine genaue Prüfung der fixen Kosten auf etwaigen Minderbedarf (kleine Kinder benötigen z.B. keine Zeitung) sowie eine besonders sorgfältige Schätzung der Quote (weil hier nicht die Möglichkeit zu einem Ausgleich des Unterhaltsbedarfs innerhalb der verbliebenen Familieneinheit besteht) für veranlasst; je 15 % bei zwei Kindern und voll berufstätigen Eltern seien keine Unterbewertung. Wird der bisherige elterliche Haushalt aufgelöst, so sind die dem Kind gutzubringenden Fixkosten nach seinem Anteil an den fixen Kosten des aufnehmenden Haushalts zu bemessen.341 Bei Unterbringung in einem Heim o.ä. werden die Fixkosten regelmäßig in den hierfür aufzubringenden Kosten (s. Rz. 31.151) enthalten sein.

31.151

c) Bewertung entgangener Dienstleistungen Schuldete der Getötete dem Kind im Rahmen der Unterhaltspflicht persönliche Dienstleistungen (Haushaltsführung, Betreuung, Erziehung; vgl. Rz. 31.56), so richtet sich die Berechnung des insoweit eingetretenen Ausfalls nach den in Rz. 31.131 ff. dargestellten Regeln, d.h. grundsätzlich nach den Kosten einer für diese Aufgaben angestellten Ersatzkraft. Hinsichtlich Zeitbedarf und Qualifikation der Ersatzkraft ist ausschließlich auf die Situation der Waisen abzustellen; die Eigenversorgung der Betreuungsperson hat außer Betracht zu bleiben.342 Wurde 335 BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, VersR 1988, 954 = NZV 1988, 136 mit Anm. Nehls. 336 In BGH v. 2.10.1985 – IVb ZB 62/85, VersR 1986, 40 15–20 % bei einem Kind, in BGH v. 15.10.1985 – VI ZR 55/84, NJW 1986, 715 mit Anm. Eckelmann/Nehls 15 % bei zwei Kindern. Kritisch gegenüber einer Quote von je 22,5 % bei zwei Kindern auch BGH v. 6.10.1987 – VI ZR 155/86, VersR 1987, 1244. Zu einem Sonderfall (Kind lebte im Haushalt des tödlich verunglückten, geschiedenen Vaters zusammen mit dessen Verlobter; Mutter war von Unterhaltsansprüchen freigestellt) vgl. OLG Hamm v. 30.11.1989 – 6 U 29/89, NJW-RR 1990, 452 (Quote: 25 %). 337 Eingehend Macke NZV 1989, 250 ff. 338 BGH v. 22.1.1985 – VI ZR 71/83, VersR 1985, 365, 367; BGH v. 1.10.1985 – VI ZR 36/84, VersR 1986, 39; Macke NZV 1989, 250; BGH v. 29.3.1988 – VI ZR 87/87, FamRZ 1988, 697. Für Anwendbarkeit bei in der Heimat lebenden Kindern eines ausländischen Arbeitnehmers OLG Hamm v. 23.6.1988 – 6 U 293/87, NZV 1989, 271 mit Anm. Küppersbusch, auch zur Berücksichtigung des Kaufkraftgefälles. 339 Vgl. BGH v. 10.7.1973 – VI ZR 140/72, VersR 1974, 32; BGH v. 2.4.1974 – VI ZR 130/73 und 155/73, VersR 1974, 885; BGH v. 22.1.1985 – VI ZR 71/83, VersR 1985, 365, 366. 340 BGH v. 15.10.1985 – VI ZR 55/84, VersR 1986, 264 = NJW 1986, 715 mit Anm. Eckelmann/ Nehls; BGH v. 15.10.1985 – VI ZR 55/84, NJW 1986, 715 mit Anm. Eckelmann/Nehls. 341 Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 77. 342 Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 78.

Zwickel | 873

31.152

§ 31 Rz. 31.152 | Tötung

auf Anstellung einer Ersatzkraft verzichtet, bemisst die Rspr. den Anspruch nach den fiktiven Kosten einer solchen343 (vgl. Rz. 31.135 f.; zur Kritik dieser Rspr. Rz. 31.137). Nimmt die Ersatzkraft auch Aufgaben gegenüber anderen Hinterbliebenen wahr, so ist der auf den einzelnen Anspruchsteller entfallende Anteil festzustellen.

31.153

Wird durch den Todesfall eine auswärtige Unterbringung (Heim, Pflegeeltern) erforderlich, sind die hierfür anfallenden Kosten, soweit angemessen, als Unterhaltsschaden zu ersetzen.344 Wurde der Betreuungsunterhalt vom getöteten Elternteil erbracht, wird aber wegen einer besonderen Konstitution des Kindes eine kostenintensive Form der Betreuung erforderlich, sind auch diese Kosten zu ersetzen.345 Wird das Kind unentgeltlich, z.B. bei Großeltern, untergebracht, so sollten nach früherer Rspr. des BGH die Kosten einer vergleichbaren Unterbringung bei einer fremden Familie, d.h. der volle Pflegesatz für die Unterbringung in Pflegestellen, als Anhalt dienen.346 Jetzt stellt der BGH mehr auf die im Einzelfall angemessene Vergütung der Aufnehmenden ab.347 Auch hier sollte die in Rz. 31.137 dargelegte Betrachtungsweise zugrunde gelegt werden.

13. Ersatzanspruch des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern 31.154

Dem Kind nicht verheirateter Eltern stehen gegen seinen Vater und seine Mutter Unterhaltsansprüche zu (Rz. 31.40). Werden Vater und Mutter oder wird einer von beiden durch einen Unfall getötet, so entstehen ihm anstelle des weggefallenen Unterhaltsanspruchs Ersatzansprüche gegen den Schädiger in entsprechender Höhe; auch das Kind nicht verheirateter Eltern hat ein Recht, so gestellt zu werden, als lebten beide Elternteile noch. Für die Berechnung gelten infolge der Gleichstellung nach § 1615a BGB die Rz. 31.138 ff.348

31.155

Bei dem Elternteil, der das Kind tatsächlich betreut, ist für die Bemessung des Ersatzanspruchs auch der Wert der entgangenen Dienste in Rechnung zu stellen;349 zur Berechnung vgl. Rz. 31.152.

14. Dauer der Ersatzpflicht 31.156

Die Schadensersatzrente ist entsprechend ihrer Zweckbestimmung, den Verlust des Unterhaltsanspruchs auszugleichen, so lang zu zahlen wie auch die Unterhaltsleistungen gewährt worden wären. Die Ersatzpflicht endet daher mit dem Zeitpunkt, zu dem die Unterhaltspflicht des Getöteten geendet hätte, z.B. durch Wegfall der Bedürftigkeit des Berechtigten oder der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten. Sie endet nach § 844 Abs. 2 S. 1 BGB, § 10 Abs. 2 S. 1 343 BGH v. 24.4.1990 – VI ZR 183/89, VersR 1990, 907; OLG Stuttgart v. 10.11.1992 – 14 W 4/92, VersR 1993, 1536. 344 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 260/69, VersR 1971, 1045; OLG Düsseldorf v. 1.2.1985 – 14 U 189/ 84, VersR 1985, 699. 345 OLG Celle v. 2.12.2003 – 16 U 116/03, NZV 2004, 307 (mit Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den BGH). 346 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 260/69, VersR 1971, 1045; BGH v. 12.2.1974 – VI ZR 187/72, VersR 1974, 601. 347 BGH v. 22.1.1985 – VI ZR 71/83, VersR 1985, 365, 367; BGH v. 15.10.1985 – VI ZR 55/84, NJW 1986, 715 u. DAR 1986, 284 je mit Anm. Eckelmann/Nehls; vgl. auch OLG Hamm v. 30.11.1989 – 6 U 29/89, NJW-RR 1990, 453; a.A. OLG Koblenz v. 7.2.1983 – 12 U 474/82, FamRZ 1983, 391: bei Tötung beider Eltern Düsseldorfer Tabelle. 348 Näher (insbesondere zu den fixen Kosten) BGH v. 21.11.2006 – VI ZR 115/05, NJW 2007, 506. 349 OLG München v. 14.4.1981 – 5 U 2389/80, VersR 1982, 376.

874 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.161 § 31

StVG, § 5 Abs. 2 S. 1 HaftPflG aber spätestens im Zeitpunkt des mutmaßlichen Ablebens des Unterhaltsverpflichteten.

a) Mutmaßliche Beendigung der Unterhaltspflicht Die Unterhaltspflicht gegenüber Kindern endet nicht mit dem Eintritt der Volljährigkeit, sondern erst mit der Beendigung der Ausbildung (Einzelheiten Rz. 31.143). Wird eine Unterhaltsersatzrente durch Urteil ausgesprochen, so hat das Gericht, das auch über die Dauer der Zahlungspflicht entscheiden muss, in einer vorausschauenden Betrachtung festzustellen, welchen Ausbildungsweg das Kind bei Fortleben des Getöteten eingeschlagen hätte und wie lange dieser dauern würde.350 Hierbei sind bereits absehbare Entwicklungen zu berücksichtigen, z.B. eine Studienzeit über das 27. Lebensjahr hinaus.351 Erweist sich die Hypothese später als unzutreffend, kann das Urteil nach § 323 ZPO abgeändert werden. Bei kleinen Kindern soll nach der Rspr. des BGH352 die Verurteilung zur Rentenzahlung auf die Zeit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres beschränkt werden; hinsichtlich etwaiger weiterer Ansprüche soll nur ein Feststellungsurteil ergehen.

31.157

Hätte eine bereits beantragte Ehescheidung zum Ausschluss von Unterhaltsansprüchen des hinterbliebenen Ehegatten geführt, so ist dies zu berücksichtigen (vgl. Rz. 31.43).

31.158

Wiederverheiratung oder Adoption bringen den Unterhaltsersatzanspruch nicht zum Erlöschen. Zur Frage, inwieweit sie Einfluss auf die Rentenhöhe haben, vgl. Rz. 31.164 f.

31.159

b) Mutmaßliche Lebensdauer des Getöteten Die Ersatzpflicht endet spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem der tödlich Verunglückte voraussichtlich gestorben wäre, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte. Diesen Zeitpunkt hat das Gericht nach freier Überzeugung (§ 287 ZPO) zu bestimmen und im Urteil kalendermäßig anzugeben.353 Anhaltspunkte bieten hierbei die im jeweiligen Statistischen Jahrbuch veröffentlichten Sterbetafeln des Statistischen Bundesamtes.354 Individuelle Umstände, die für eine geringere oder höhere Lebenserwartung sprechen, können berücksichtigt werden;355 zur Beweislast s. Rz. 31.171.

31.160

Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Schadensersatzansprüche des Hinterbliebenen durch den mutmaßlichen Zeitpunkt des Todes des Unterhaltsverpflichteten begrenzt sind, macht der BGH356 für den Fall, dass die Witwe eines verunglückten Arbeitnehmers oder Beamten infolge dessen vorzeitigen Ablebens keine Witwenrente aus der Rentenversicherung

31.161

BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 209/64, VersR 1966, 588. OLG Köln v. 17.2.1989 – 20 U 37/87, VersR 1990, 1285 LS. BGH v. 15.3.1983 – VI ZR 187/81, VersR 1983, 688. BGH v. 27.1.2004 – VI ZR 342/02, NZV 2004, 291; OLG Koblenz v. 8.4.2019 – 12 U 565/18, VersR 2019, 1443. 354 BGH v. 27.1.2004 – VI ZR 342/02, NZV 2004, 291; BGH v. 23.11.1971 – VI ZR 241/69, VersR 1972, 176; OLG Hamm v. 8.9.1998 – 9 U 86/98, MDR 1998, 1414. 355 BGH v. 25.4.1972 – VI ZR 134/71, NJW 1972, 1515. 356 BGH v. 29.4.1960 – VI ZR 51/59, BGHZ 32, 248 im Anschluss an Wussow DR 1940, 1866; 1941, 590; Wussow DAR 1951, 3; a.A. RG JW 1906, 570; RG v. 4.3.1937 – VI 313/36, RGZ 155, 20. Näher hierzu Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, S. 29 m.w.N. 350 351 352 353

Zwickel | 875

§ 31 Rz. 31.161 | Tötung

bzw. keine Versorgungsleistungen erhält. In solchen Fällen ist auch nach dem mutmaßlichen Todeszeitpunkt Ersatz für jene entgangene Altersversorgung zu leisten. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Getötete nicht durch Ausnützung seiner Arbeitskraft die Voraussetzungen für den Erwerb eines Renten- oder Versorgungsanspruchs seiner Ehefrau herbeiführen konnte, wozu er aufgrund seiner auch die Alterssicherung umfassenden Unterhaltspflicht gehalten gewesen wäre. Gem. § 46 SGB VI muss nämlich der verstorbene Ehegatte die allgemeine Wartezeit (§ 50 SGB VI) von fünf Jahren mit Beitragszeiten erfüllt haben. Diese Rspr. scheint zwar dem Gesetzeswortlaut zu widersprechen,357 sie findet ihre Rechtfertigung aber darin, dass der Getötete aus dem während seiner mutmaßlichen Lebenszeit bezogenen Einkommen die Aufwendungen erbracht hätte, die den Versorgungsnachteil der Witwe verhindert hätten. Sie entspricht damit der Rspr. zur Rentenbemessung für hinterbliebene Ehegatten freiberuflich tätiger Personen, wonach die Pflicht zur Bildung von Rücklagen für die Altersversorgung des Ehegatten zu berücksichtigen ist (vgl. Rz. 31.115). Gemeinsamer Rechtsgedanke ist, dass der Schädiger nicht dadurch entlastet werden darf, dass die geringeren Versorgungsaufwendungen erst mit zeitlicher Verschiebung zu einem Schaden des Unterhaltsberechtigten führen.358

c) Wegfall der Leistungsfähigkeit des Getöteten 31.162

Die Ersatzpflicht ist auf die Zeit zu begrenzen, in der der Getötete leistungsfähig gewesen wäre. Dieser (nach § 287 ZPO zu schätzende) Zeitpunkt kann bei Barunterhalt wegen des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben früher liegen als beim Unterhalt durch Leisten von Pflegediensten.359

15. Änderung der Höhe des Ersatzanspruchs a) Prognoseentscheidung und Abänderungsmöglichkeit 31.163

Später eintretende Umstände, die die Höhe des Unterhaltsanspruchs gegen den Getöteten beeinflusst hätten, sind auch für den Ersatzanspruch beachtlich (z.B. Beginn einer kostspieligen Ausbildung, Eintritt in den Ruhestand; vgl. Rz. 31.100). Sie sind nach Möglichkeit im Wege der Prognose, d.h. durch Differenzierung nach Zeitabschnitten, zu berücksichtigen.360 Sieht sich der Richter trotz der durch § 287 ZPO eröffneten Möglichkeiten nicht in der Lage, einzelne für die Höhe der Rente maßgebliche Faktoren in seine Prognose einzubeziehen, dann muss er dies in den Entscheidungsgründen deutlich machen, um insoweit den Weg einer Abänderungsklage nach § 323 ZPO offenzuhalten. Auf diesem Weg sind auch Entwicklungen, mit denen zum Zeitpunkt der Entscheidung überhaupt noch nicht gerechnet werden konnte, geltend zu machen (vgl. Rz. 34.29 ff.). Zur Anpassung eines Rentenvergleichs s. Rz. 16.55 ff.

b) Einzelfälle aa) Wiederverheiratung

31.164

Nach ständiger Rspr. ist der Unterhaltsanspruch, den der hinterbliebene Ehegatte durch eine neue Eheschließung erlangt, auf den Unterhaltsersatzanspruch schadensmindernd anzurech-

357 358 359 360

Kritisch daher Herzberg NJW 1990, 2526 f. Drees VersR 1992, 1169 ff. BGH v. 25.4.2006 – VI ZR 114/05, NJW 2006, 2327, 2329. BGH v. 27.1.2004 – VI ZR 342/02, NZV 2004, 291.

876 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.168 § 31

nen,361 auch dann, wenn der getötete Ehegatte seinen Unterhaltsbeitrag durch Dienstleistungen im Geschäft des anderen erbracht hat, der neue Ehegatte hingegen mit seinem Verdienst aus einer Erwerbstätigkeit zum Unterhalt beiträgt.362 Die Anrechnung unterbleibt insoweit als der Unterhaltsanspruch gegen den neuen Ehegatten nicht realisierbar oder die Realisierung nicht zumutbar ist.363 Wird die neue Ehe geschieden, lebt der Ersatzanspruch wieder auf.364 Auf den Unterhaltsersatzanspruch des Kindes hat die Eheschließung des hinterbliebenen Elternteils dagegen keinen Einfluss; die tatsächliche Betreuung durch die Stiefmutter mindert ihn nicht, da ihr keine gesetzliche Unterhaltspflicht zugrunde liegt.365

31.165

bb) Eingehung einer Lebenspartnerschaft Bei Eingehung einer Lebenspartnerschaft müssen infolge § 5 LPartG dieselben Grundsätze gelten.

31.166

cc) Adoption Da das adoptierte Kind gegenüber dem Annehmenden unterhaltsberechtigt wird, müsste es an sich zu einer Anrechnung auf den Unterhaltsersatzanspruch kommen. Der BGH366 hat dies aber abgelehnt. Durch § 1755 Abs. 1 S. 2 BGB hat der Gesetzgeber dies im Ergebnis bestätigt; für in der DDR vor dem Beitritt begründete Annahmeverhältnisse gilt die Vorschrift jedoch nicht (Art. 234 § 13 Abs. 1 EGBGB).

31.167

dd) Nichteheliche Lebensgemeinschaft Der BGH367 lehnt es ab, die Versorgung, die der hinterbliebene Ehegatte in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft als Äquivalent für seine dort geleisteten Dienste erhält, schadensmindernd anzurechnen; eine Anspruchsminderung könne sich aber aus Verletzung der Schadensminderungspflicht durch Nichtaufnahme einer Erwerbstätigkeit ergeben.368 Dieser Umweg erscheint unnötig. Zwar unterscheidet sich dieser Fall von dem der Wiederverheiratung durch das Fehlen eines gesetzlich gesicherten Unterhaltsanspruchs. Entscheidend ist aber auch bei der Wiederverheiratung die tatsächliche Unterhaltsleistung. Die Einschränkung der Bedürftigkeit des Hinterbliebenen, die mit der neuen Lebensgestaltung einhergeht, sollte wie bei der Aufnahme einer zumutbaren Erwerbstätigkeit (Rz. 31.87) auf den Ersatzanspruch durchschlagen.369

361 BGH v. 28.1.1958 – VIII ZR 420/56, BGHZ 26, 293; BGH v. 11.7.1958 – VI ZR 181/57, VersR 1958, 627; BGH v. 28.1.1969 – VI ZR 220/67, VersR 1969, 425; BGH v. 17.10.1978 – VI ZR 213/ 77, VersR 1979, 55. 362 BGH v. 16.2.1970 – III ZR 183/68, VersR 1970, 522. 363 BGH v. 17.10.1978 – VI ZR 213/77, VersR 1979, 55; Röthel NZV 2001, 330. 364 BGH v. 17.10.1978 – VI ZR 213/77, VersR 1979, 55; Erman/Schiemann § 844 Rz. 17; Röthel NZV 2001, 330. 365 OLG Stuttgart v. 10.11.1992 – 14 W 4/92, VersR 1993, 1536. 366 BGH v. 22.9.1970 – VI ZR 28/69, BGHZ 54, 269 = JZ 1971, 657 mit kritischer Anm. Rother; a.A. Schultze/Bley NJW 1971, 1137. 367 BGH v. 19.6.1984 – VI ZR 301/82, BGHZ 91, 357 = JZ 1985, 86 mit abl. Anm. Lange; ebenso Drees Schadensberechnung bei Unfällen mit Todesfolge, 2. Aufl. 1994, 49. 368 Jahnke/Burmann/Held Handbuch des Personenschadensrechts 2016, S. 694. 369 Ebenso Röthel NZV 2001, 331; Dunz VersR 1985, 509.

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31.168

§ 31 Rz. 31.169 | Tötung

ee) Aufnahme einer Erwerbstätigkeit

31.169

Wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit vgl. Rz. 31.87 ff., wegen Veränderungen des Einkommens, z.B. Eintritt in den Ruhestand, Rz. 31.99, 31.110. ff) Kinder

31.170

Bei Kindern ist wegen des altersbedingten Entwicklungsprozesses i.d.R. ein nach Zeitabschnitten differenzierter Unterhaltsersatzanspruch zuzusprechen.370 Außer dem voraussichtlichen Ausbildungsweg sind z.B. zu berücksichtigen: die Veränderung des Anteils am Gesamtunterhaltsbedarf der Familie wegen steigender Bedürfnisse (vgl. Rz. 31.148), bei den (fiktiven) Kosten einer Ersatzkraft die Verringerung des Betreuungsaufwands ab dem Schulalter und die etwa ab 12 bis 14 Jahren bestehende Pflicht zur Mitarbeit im Haushalt (vgl. Rz. 31.133) sowie die geringeren Anforderungen an die Qualifikation der Ersatzkraft bei Kindern über 14 Jahre (vgl. Rz. 31.135).

16. Beweisfragen 31.171

Die Verteilung der Beweislast weicht von derjenigen ab, die gilt, wenn ein Unterhaltsberechtigter Forderungen gegen den Unterhaltsverpflichteten erhebt. Bei Klagen gegen den Schädiger muss nämlich derjenige, der den Ersatzanspruch geltend macht, beweisen, dass der Unterhaltsverpflichtete leistungsfähig gewesen wäre.371 Bei der Prüfung der Frage, wie hoch die Unterhaltspflicht des Getöteten in dem Zeitraum gewesen wäre, für den nun Ersatz wegen Wegfalls der Unterhaltspflicht gefordert wird, wird das Gericht allerdings in den meisten Fällen von seiner Befugnis, eine Schätzung vorzunehmen (§ 287 ZPO), Gebrauch machen müssen, weil sichere Feststellungen über die hypothetische Entwicklung der Verhältnisse nicht getroffen werden können. Die Schätzungsbefugnis bezieht sich aber nicht auf die Frage, ob überhaupt ein Unterhaltsanspruch gegen den Getöteten entstanden wäre.372 Den insoweit bestehenden Beweisschwierigkeiten hilft bereits das materielle Recht ab, indem es die Wahrscheinlichkeit eines Unterhaltsentgangs genügen lässt (vgl. Rz. 31.61). Behauptet der Schädiger, die Unterhaltspflicht des Verstorbenen hätte vorzeitig geendet, z.B. durch Ehescheidung, so hat er das zu beweisen.373 Desgleichen trägt er die Beweislast für die Behauptung, der Getötete wäre zur Zeit des Unfalls oder kurz danach ohnehin an einer Krankheit verstorben oder aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig erwerbsunfähig geworden.374

17. Prozessrechtliche Fragen a) Feststellungsklage 31.172

Besteht zum Zeitpunkt der Tötung zwar schon das eine Unterhaltspflicht begründende familienrechtliche Verhältnis, ist aber eine Bedürftigkeit der Unterhaltsberechtigten noch nicht gegeben oder eine Bezifferung des Anspruchs noch nicht möglich, so kann der Unterhaltsbe-

370 Eingehend BGH v. 24.4.1990 – VI ZR 183/89, VersR 1990, 907. 371 BGH v. 8.12.1959 – VI ZR 98/58, DAR 1960, 73. 372 BGH v. 23.4.1974 – VI ZR 188/72, NJW 1974, 1373; Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit 1978, S. 140; a.A. RG v. 14.5.1917 – VI 56/17, RG v. 14.5.1917 – VI 56/17, RGZ 90, 226; BGH v. 8.12.1959 – VI ZR 98/59, VersR 1960, 179; Klauser JZ 1971, 230. 373 RG VAE 1937, 111; OLG Naumburg JW 1936, 1797. 374 BGH v. 25.4.1972 – VI ZR 134/71, NJW 1972, 1515.

878 | Zwickel

III. Entgangener Unterhalt | Rz. 31.176 § 31

rechtigte Feststellungsklage (§ 256 Abs. 1 ZPO) erheben (vgl. Rz. 31.60). Eine unbegründete Leistungsklage kann in eine Feststellungsklage umgedeutet werden.375 Das zur Zulässigkeit erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich i.d.R. schon daraus, dass der Ersatzanspruch bei einer in Zukunft etwa eintretenden Unterhaltsbedürftigkeit des Berechtigten verjährt sein kann, wenn dieser kein Feststellungsurteil erwirkt hat. Ein schriftliches Anerkenntnis376 kann das Feststellungsinteresse entfallen lassen, doch kann die Feststellungsklage nicht deswegen als unzulässig abgewiesen werden, weil der Geschädigte noch nicht versucht habe, ein solches Anerkenntnis zu erlangen.377 Ein befristeter Verzicht auf die Verjährungseinrede beseitigt das Feststellungsinteresse nicht.378 Ob der Eintritt eines Unterhaltsschadens im Einzelfall mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, ist keine Frage des Feststellungsinteresses,379 sondern der Begründetheit der Klage (vgl. Rz. 31.61).

31.173

Wegen der Möglichkeit einer späteren Erhöhung des Unterhaltsschadens kann nicht neben der bereits möglichen Leistungsklage zusätzlich eine entsprechende Feststellungsklage erhoben werden. Da spätere Änderungen der Höhe des (hypothetischen) Unterhalts im Wege der Abänderungsklage nach § 323 ZPO geltend gemacht werden können, bestünde für eine solche Feststellungsklage kein Feststellungsinteresse.

31.174

Für eine negative Feststellungsklage des Schädigers oder seines Haftpflichtversicherers ist i.d.R. kein Raum, solange noch die Aussicht besteht, mit dem Verletzten zu einer Einigung zu kommen. Der Umstand, dass der Verletzte die Annahme eines ihm angebotenen Abfindungsbetrages ablehnt, weil die Auswirkungen des Unfalls noch nicht zu übersehen sind, begründet noch kein rechtliches Interesse an einer negativen Feststellungsklage mit dem Ziel, höhere Ersatzansprüche des Verletzten zu verneinen.380

31.175

b) Bestimmter Klageantrag Einen unbestimmten Klageantrag lässt der BGH in Abweichung von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO insoweit zu, als es um die Aufteilung des Gesamtanspruchs auf mehrere Unterhaltsberechtigte geht (vgl. Rz. 31.64). Des Weiteren soll ein unbestimmter Klageantrag nach der Rspr. auch hinsichtlich Rentenhöhe und -dauer ausreichend sein, wenn der Kläger nur die Bemessungsgrundlagen hierfür darlegt.381 Ob diese Ausnahmen vom Bestimmtheitsgebot des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO tatsächlich erforderlich sind, erscheint fraglich. Die Schwierigkeit der exakten Berechnung des Unterhaltsschadens dürfte kein ausreichendes Argument liefern, weil es nicht unzumutbar erscheint, vom Geschädigten zu verlangen, dass er sich hinsichtlich des begehrten Betrages festlegt. Wollte man allein die Schwierigkeit der exakten Schadensberechnung zur Rechtfertigung eines unbestimmten Klageantrags ausreichen lassen, müsste dies in weiten Bereichen des Schadensrechts zur Zulassung solcher Anträge und damit zur Durchlöcherung des gesetzlichen Bestimmtheitsgebotes führen. 375 BGH v. 31.1.1984 – VI ZR 150/82, NJW 1984, 2295 mit Anm. Dunz; BGH v. 21.11.2006 – VI ZR 115/05, NJW 2007, 506. 376 Vgl. BGH v. 23.10.1984 – VI ZR 30/83, VersR 1985, 62. 377 A.A. OLG Celle v. 14.8.1987 – 5 W 38/87, VersR 1989, 102. 378 OLG Celle v. 14.8.1987 – 5 W 38/87, VersR 1989, 102; OLG München v. 13.3.1990 – 5 U 5930/ 89, VersR 1992, 213 LS. 379 So allerdings BGH v. 3.12.1951 – III ZR 119/51, BGHZ 4, 133, 135; wie hier dagegen BGH v. 17.4.1952 – III ZR 109/50, VersR 1952, 210. 380 BGH v. 2.12.1968 – III ZR 112/66, VersR 1969, 238. 381 Vgl. RG v. 1.4.1933 – V 5/33, RGZ 140, 213; BGH v. 3.12.1951 – III ZR 119/51, BGHZ 4, 133.

Zwickel | 879

31.176

§ 31 Rz. 31.177 | Tötung

c) Verurteilung zu einer Rente 31.177

Wegen Besonderheiten bei Verurteilung zu einer Rente s. Rz. 34.26 ff.

IV. Entgangene Dienste 1. Anwendungsbereich 31.178

§ 845 BGB begründet einen Ersatzanspruch von Personen, denen der Verletzte aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift zu Dienstleistungen verpflichtet war. Die Vorschrift gilt nur für die deliktische Haftung, sie hat in StVG und HaftPflG keine Entsprechung.

2. Erfasste Dienstleistungen a) Allgemeines 31.179

Vorausgesetzt wird eine durch Gesetz begründete Pflicht zur Leistung von Diensten in Haushalt oder Erwerbsgeschäft, die schon im Zeitpunkt der Verletzung bestanden hat.382 Für rein tatsächliche Dienstleistungen ohne gesetzliche Verpflichtung oder für vertragliche Pflichten gilt § 845 BGB nicht, also auch nicht, wenn Eheleute ein Gesellschaftsverhältnis eingegangen sind und auf dieser Grundlage ein Unternehmen betreiben,383 oder wenn ein Ehegatte Arbeitnehmer des anderen Ehegatten geworden ist, sei es auch nur aus Gründen der Steuerersparnis. Für Kinder, die im Unternehmen der Eltern mitarbeiten, gilt dasselbe. Ob der Dienstverpflichtete die Dienste tatsächlich geleistet hätte, ist ohne Belang.384

b) Kinder 31.180

Kinder sind nach § 1619 BGB zu Dienstleistungen gegenüber den Eltern verpflichtet, solange sie dem elterlichen Hausstand angehören und von den Eltern erzogen oder unterhalten werden. Dies gilt auch für Adoptivkinder (§ 1754 BGB). Hat sich das Kind eine eigene Wohnung genommen, so gehört es auch dann nicht mehr zum elterlichen Hausstand, wenn es regelmäßig Hilfeleistungen in der elterlichen Wohnung erbringt.385 Erzogen wird es bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.386 Die Pflicht des Kindes erlischt aber nicht mit der Volljährigkeit, wenn es noch von den Eltern unterhalten wird. Das ist vor allem von Bedeutung bei Kindern, die im landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern oder in deren Erwerbsgeschäft mitarbeiten und weiterhin dem Hausstand der Eltern angehören (sog. Hauskinder).387 Setzte das

382 OLG München v. 9.4.1965 – 10 U 1559/64, NJW 1965, 1439; KG v. 6.2.1967 – 12 W 174/67, NJW 1967, 1089. 383 BGH v. 29.5.1962 – VI ZR 228/61, NJW 1962, 1612. 384 BGH v. 10.3.1959 – VI ZR 17/58, MDR 59, 480. 385 OLG Nürnberg v. 4.7.1990 – 4 U 1553/90, VersR 1992, 188. 386 BGH v. 6.11.1990 – VI ZR 37/90, VersR 1991, 429. Zum Umfang der Mitarbeitspflicht eines über 14 Jahre alten Kindes vgl. BGH v. 18.6.1973 – III ZR 207/71, VersR 1973, 941; OLG Karlsruhe v. 13.3.1987 – 10 U 128/86, VersR 1988, 1128. 387 S. dazu RG v. 8.11.1939 – VI 17/39, RGZ 162, 119; BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380; BGH v. 7.10.1997 – VI ZR 144/96, BGHZ 137, 1; BGH v. 7.12.1971 – VI ZR 153/70, NJW 1972, 429; BGH v. 6.11.1990 – VI ZR 37/90, NJW 1991, 1226; OLG Stuttgart v. 5.7.1989 – 9 U 52/89, VersR 1990, 902; OLG Stuttgart v. 27.4.1990 – 2 U 111/89, ZfS 1991, 83; OLG Celle v. 10.8.1989 – 5 U 97/88, VersR 1991, 1291.

880 | Zwickel

IV. Entgangene Dienste | Rz. 31.183 § 31

Hauskind seine Arbeitskraft aber voll für eine anderweitige Erwerbstätigkeit ein und leistete es nur in seiner Freizeit Dienste für die Eltern, besteht kein Anspruch nach § 845 BGB.388 Er entfällt auch, wenn die Mitarbeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erbracht wird.389 Unschädlich ist die Gewährung eines Taschengelds oder einer Ausbildungsvergütung.390 Wird dem Kind aber ein Lohn gezahlt, steht dies der Annahme einer familienrechtlichen Dienstverpflichtung auch dann entgegen, wenn er deutlich niedriger ist als die übliche Vergütung; die Arbeitsleistung kann auch nicht in einen familienrechtlichen und einen vertraglichen Teil aufgespalten werden.391 Ob die Dienstleistung auf arbeitsrechtlicher oder familienrechtlicher Grundlage erbracht wird, ist nach den Umständen des Einzelfalles festzustellen; eine Vermutung für letzteres besteht nicht.392 Die Dienstpflicht gegenüber den Eltern erlischt, wenn das Kind mit ihnen eine Vergütungsabrede trifft, den elterlichen Hausstand verlässt393 oder das Geschäft (den Hof) übergeben erhält.394 Dies ist noch nicht der Fall, wenn es den Hof praktisch allein betreibt, der Wert seiner Arbeit aber den Eltern als Inhabern des Hofes zugutekommt und diese dafür für seinen Unterhalt – durch Gewährung von Kost und Logis sowie die Finanzierung seiner weiteren Lebensbedürfnisse – verantwortlich bleiben.395 Wird es schon vorher durch einen Unfall getötet, so hat das Gericht anhand der Gegebenheiten (z.B. einer in Bälde beabsichtigten Heirat) den Zeitpunkt im Schätzwege festzusetzen, von dem an der Ersatzanspruch gegen den Schädiger wegfällt.

31.181

c) Mutter Die Mutter hat gegenüber ihren Kindern ebenso wenig eine Arbeitspflicht396 wie der Vater, beide sind nur zu Unterhalt verpflichtet, der – zumindest teilweise – durch Gewähren von Nahrung, Kleidung und Wohnung sowie durch persönliche Sorge und Dienste gewährt werden kann. Auch aus § 1618a BGB ergibt sich keine Dienstleistungspflicht der Eltern.397 Den Kindern steht daher bei Tötung ihrer Eltern kein Anspruch aus § 845 BGB gegen den Schädiger zu, sondern nur der Unterhaltsersatzanspruch aus § 844 Abs. 2 BGB (vgl. Rz. 31.140).

31.182

d) Ehegatte Ein Ehegatte erbringt durch die Führung des Haushalts dem anderen gegenüber keine Dienstleistung i.S.d. § 845 BGB, sondern seinen Unterhaltsbeitrag, so dass für die Ersatzansprüche 388 BGH v. 7.10.1997 – VI ZR 144/96, BGHZ 137, 1. 389 BGH v. 12.2.1965 – VI ZR 91/64, VersR 1965, 1202; BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 53/67, VersR 1966, 735; BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 53/67, VersR 1969, 952; BGH v. 6.11.1990 – VI ZR 37/90, VersR 1991, 429. 390 BGH v. 6.11.1990 – VI ZR 37/90, VersR 1991, 429. 391 OLG Köln v. 13.12.1989 – 13 U 191/89, VersR 1991, 1292. 392 BGH v. 7.12.1971 – VI ZR 153/70, VersR 1972, 301, 302; BGH v. 6.11.1990 – VI ZR 37/90, VersR 1991, 428, 429; anders noch BGH v. 21.1.1958 – VI ZR 6/57, VersR 1958, 231; BGH v. 27.10.1959 – VI ZR 159/58, VersR 1960, 133. 393 BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380, 383 f.; BGH v. 7.12.1971 – VI ZR 153/70, VersR 1972, 301. 394 BGH v. 12.10.1965 – VI ZR 91/64, VersR 1965, 1202; BGH v. 3.5.1966 – VI ZR 281/64, VersR1966, 735. 395 BGH v. 6.11.1990 – VI ZR 37/90, VersR 1991, 429. 396 A.A. OLG Karlsruhe VersR 1961, 740. 397 OLG Bamberg v. 3.1.1984 – 5 U 126/83, VersR 1985, 290.

Zwickel | 881

31.183

§ 31 Rz. 31.183 | Tötung

das Vorstehende entsprechend gilt (vgl. Rz. 31.5). Ebenso verhält es sich mit der Mitarbeit eines Ehegatten im Geschäft des anderen, die im Rahmen der Verpflichtung, zum Familienunterhalt beizutragen, geleistet wird (vgl. Rz. 32.157). Geht die Mitarbeit über diesen Rahmen hinaus (z.B. um dem anderen Ehegatten zu ermöglichen, einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Neigung nachzugehen), so besteht für ihren Wegfall weder nach § 844 Abs. 2 BGB noch nach § 845 BGB ein Ersatzanspruch.398

3. Umfang des Anspruchs a) Schadensersatzanspruch 31.184

Nach der Rspr. des BGH handelt es sich um einen echten Schadensersatzanspruch, für den die allgemeinen Regeln des Schadensrechts gelten.399 Er beschränkt sich jedoch auf den Wert der entgehenden Dienste; sonstige Schäden, etwa Einbußen im Betrieb, sind nicht umfasst.400

b) Vorteilsausgleich 31.185

Da somit nicht sämtliche durch das Schadensereignis verursachten Vermögensnachteile ersetzt werden, verbietet sich auch eine Anrechnung sämtlicher mit dem Schadensereignis zusammenhängender Vermögensersparnisse. Zu berücksichtigen ist es jedoch, wenn die Unterhaltspflicht hinsichtlich Wohnung und Verpflegung durch dasselbe Ereignis weggefallen ist.401 Der Wegfall anderer Aufwendungen als für Wohnung und Verpflegung des Getöteten (z.B. Schulgeld, Studiengebühren) soll hingegen nach Ansicht des BGH wegen der besonderen Natur des Anspruchs unberücksichtigt bleiben.402 Eine anderweitige Rente ist nicht anzurechnen, soweit sie einem anderen Zweck dient als dem Ausgleich für die entgangenen Dienste;403 insoweit findet mangels kongruenter Deckung auch kein Forderungsübergang auf den Versicherungsträger statt.404

c) Berechnung des Anspruchs 31.186

Die auf § 845 BGB gestützten Ansprüche werden ebenso berechnet wie Ansprüche aus § 10 StVG oder § 844 BGB (vgl. hierzu Rz. 31.127 ff. und 31.152).405 Ohne Einfluss auf die Höhe des Anspruchs ist, ob der Dienstberechtigte die Arbeiten nun selbst ausführt,406 ob er sich eine bezahlte Hilfskraft nimmt oder ob eine andere familienrechtlich zu Diensten verpflichtete Person die Stelle des Verstorbenen einnimmt (letzteres ergibt sich aus § 843 Abs. 4 BGB, der für entsprechend anwendbar erklärt ist). Anhaltspunkt für die Höhe des Anspruchs ist der Lohn oder das Gehalt, das einer anstelle des Unfallopfers anzunehmenden Hilfskraft gezahlt

398 BGH v. 20.5.1980 – VI ZR 202/78, BGHZ 77, 157. 399 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 72/51, BGHZ 4, 123, 129; a.A. RG v. 10.1.1936 – VI 167/36, RGZ 152, 208 (Wertersatz). 400 BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380. 401 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 72/51, BGHZ 4, 123; OLG Schleswig v. 14.5.1998 – 7 U 87/96, VersR 1999, 632. 402 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 72/51, BGHZ 4, 123, 131. 403 BGH v. 30.1.1962 – VI ZR 75/61, NJW 1962, 800. 404 Vgl. BGH v. 26.4.1960 – VI ZR 100/59, FamRZ 1960, 267. 405 S. auch Delank NZV 2002, 393. 406 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 72/51, NJW 1952, 459; BGH v. 12.7.1960 – VI ZR 181/59, VersR 1959, 833; BGH v. 17.10.1972 – VI ZR 111/71, VersR 1973, 84.

882 | Zwickel

V. Hinterbliebenengeld | Rz. 31.189 § 31

werden muss (einschließlich Sozialleistungen und räumlicher Unterbringung) oder – falls keine solche Hilfskraft eingestellt worden ist – netto gezahlt werden müsste.407

d) Dauer der Rente Die Dauer der Rente bemisst sich danach, wie lange die Dienstleistungspflicht voraussichtlich bestanden hätte.

31.187

4. Internationales Recht Ist auf einen Schadensersatzanspruch nach einem Verkehrsunfall deutsches Deliktsrecht anzuwenden und ist im Rahmen des § 845 BGB hinsichtlich der Dienstleistungspflicht an eine ausländische Rechtsordnung anzuknüpfen, die eine vergleichbare familienrechtliche Dienstverpflichtung des „Hauskindes“ nicht kennt, einen entsprechenden Schaden der Eltern aber schon allein aufgrund ihrer deliktsrechtlichen Normen ausgleichen könnte, so ist die sich hieraus ergebende Divergenz (beide Rechtsordnungen würden – jeweils für sich allein betrachtet – einen Schadensersatz gewähren, der bei der international-privatrechtlich gebotenen getrennten Anknüpfung an das Deliktsstatut einerseits, das für die Dienstverpflichtung heranzuziehende Recht andererseits entfällt) unter Anwendung des Rechtsinstituts der kollisionsrechtlichen Angleichung der Schadensersatznormen zu überwinden.408

31.188

V. Hinterbliebenengeld 1. Hintergrund und Überblick Im Fall der Tötung naher Angehöriger beschränkten sich BGB, StVG und die weiteren Sondergesetze zur Gefährdungshaftung bislang auf den Ersatz reiner Vermögensschäden sowie auf die Möglichkeit, ererbte Schmerzensgeldansprüche des Getöteten geltend zu machen (vgl. Rz. 31.11). Die Vorschriften über das Schmerzensgeld erfassten das Rechtsgut Leben gerade nicht. Mit dieser Linie stand Deutschland in Europa zunehmend isoliert da.409 Auch in der Literatur wurde daher zuletzt intensiv über ein sog. Angehörigenschmerzensgeld diskutiert.410 Mit Blick auf die Situation in anderen Ländern wurde eine solche Lösung de lege ferenda ganz überwiegend als systematisch geboten eingefordert.411

407 BGH v. 3.12.1951 – III ZR 72/51, BGHZ 4, 132; BGH v. 9.7.1968 – GSZ 2/67 BGHZ 50, 306; BGH v. 5.6.1952 – III ZR 150/51, VersR 1952, 289; Weyer DRiZ 1971, 261. 408 OLG Köln v. 8.3.1994 – 3 U 75/89, VersR 1996, 200. Zum Problemkreis der kollisionsrechtlichen Spaltung nach Inkrafttreten der Rom-II-VO (s. Rz. 2.1 ff.) vgl. Ch. Huber SVR 2009, 9. 409 Kadner Graziano RIW 2015, 549; Wagner ZEuP 2015, 874, 880; Ch. Huber NZV 2012, 5, 6; Katzenmeier JZ 2017, 869, 870; Janssen ZRP 2003, 156, 159. 410 Hoppenstedt/Stern ZRP 2015, 18; Jaeger VersR 2017, 1041 m.w.N.; Zwickel NZV 2015, 214. 411 Odersky Schmerzensgeld bei Tötung naher Angehöriger 1989; v. Bar in FS Deutsch, S. 43; Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 1 Rz. 22; Vorndran ZRP 1988, 293 ff.; Kadner ZEuP 1996, 135 ff.; Scheffen NZV 1995, 218 f.; Ch. Huber NZV 1998, 353; Greger NZV 2002, 223; Luckey SVR 2012, 1; Ch. Huber NZV 2012, 5; Diederichsen NJW 2013, 641; Kadner Graziano RIW 2015, 549; Wagner NJW 2017, 2641, 2642; kritisch Burmann/Jahnke NZV 2017, 401, 410; Müller VersR 2017, 321, 322; Diehl zfs 2017, 681, 684.

Zwickel | 883

31.189

§ 31 Rz. 31.190 | Tötung

31.190

Im Jahr 2017412 hat der deutsche Gesetzgeber nunmehr mit § 844 Abs. 3 BGB und § 10 Abs. 3 StVG ein sog. Hinterbliebenengeld eingefügt. In den weiteren Sondergesetzen zur Gefährdungshaftung finden sich entsprechende Parallelvorschriften.413 Über ihre Vermögensschäden und Schmerzensgeld in den sog. Schockschadensfällen (s. Rz. 3.45) hinaus erhalten Hinterbliebene nunmehr auch immateriellen Schadenersatz für bloße Trauer. Das Hinterbliebenengeld stellt somit einen spezialgesetzlich normierten, schmerzensgeldähnlichen Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens zugunsten Dritter dar.414 Das zeigt bereits die mit dem Schmerzensgeld des unmittelbar Geschädigten (§ 253 Abs. 2 BGB) identische Rechtsfolge. Die unterbliebene Regelung in systematischem Zusammenhang mit § 253 BGB steht einer Einordnung als speziellem Schmerzensgeldanspruch nicht entgegen,415 da die Verortung des Hinterbliebenengeldes im Deliktsrecht des BGB nur ein Hinterbliebenengeld für den Bereich des Vertragsrechts ausschließen soll.

2. Anwendungsbereich a) Zeitlicher Anwendungsbereich 31.191

Gem. Art. 229 § 43 EGBGB ist der zeitliche Anwendungsbereich für das Hinterbliebenengeld nur für Unfälle seit dem 22.7.2017 eröffnet. Die zum Tode führende Verletzung muss nach diesem Stichtag erfolgt sein. In Altfällen (Verletzung am oder vor dem 22.7.2017) besteht kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, sondern allenfalls nach der Schockschaden-Rechtsprechung (s. Rz. 3.45 ff.).

b) Sachlicher Anwendungsbereich 31.192

Sachlich ist das Hinterbliebenengeld nur im Bereich der Gefährdungshaftung und des Deliktsrechts anwendbar. Für die Vertragshaftung bleibt es beim allg. Schmerzensgeldanspruch des § 253 Abs. 2 BGB.416

c) Persönlicher Anwendungsbereich 31.193

Der persönliche Anwendungsbereich ist nur eröffnet, wenn der Hinterbliebene, zur Zeit der Verletzung (nicht des Todeseintritts!), in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis zum Getöteten stand. Wie i.R.d. § 844 Abs. 2 BGB (s. Rz. 31.41) ist nicht erforderlich, dass

412 Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld, BGBl. I-2017, Nr. 48 vom 21.7.2017. 413 § 86 Abs. 3 AMG, § 32 Abs. 4 S. 5 u. 6 GenTG, § 7 Abs. 3 ProdHaftG, § 12 Abs. 3 UmweltHG, § 28 Abs. 3 AtG, § 5 Abs. 3 HaftpflG, § 35 Abs. 3 LuftVG. 414 LG Tübingen v. 17.5.2019 – 3 O 108/18, VersR 2020, 236; Schiemann GesR 2018, 69; Wagner NJW 2017, 2641; Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 1 Rz. 29; Palandt/Sprau § 844 Rz. 21; a.A. Jaeger VersR 2017, 1041, 1055; Müller VersR 2017, 321, 322: „Anspruch eigener Art“; Quaisser DAR 2017, 688, 689. Die hier vorgenommene Einordnung als „schmerzensgeldähnlicher Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens“ schließt auch das angebliche versicherungsrechtliche Problem (Schwab DAR 2018, 284) aus. Mit ähnlicher Argumentation OGH Österreich v. 9.9.2015 – 2 Ob 143/15, NZV 2016, 364 (keine Trennung zwischen der Schmerzensgeldbemessung für Trauer und Trauer mit Krankheitswert). 415 So aber Quaisser DAR 2017, 688, 689. 416 Kritisch zu diesem Auseinanderfallen von Vertrags- und Deliktsrecht Walter MedR 2018, 213, 215.

884 | Zwickel

V. Hinterbliebenengeld | Rz. 31.195 § 31

dieses Näheverhältnis zum Zeitpunkt des Todeseintritts noch bestand.417 Auch der überlebende Ehegatte einer nach dem Unfall aber vor dem Todeseintritt geschiedenen Ehe stand zum Verletzungszeitpunkt nach der Vermutung gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB, § 10 Abs. 3 S. 2 StVG und § 5 Abs. 3 S. 2 HaftPflG noch in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis.418 Wird eine Ehe erst nach der Verletzung geschlossen, liegen die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld nicht vor. Anders als noch nach dem Diskussionsentwurf des bayerischen Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz419 ist der Kreis der Anspruchsberechtigten nicht abschließend geregelt. Nach § 844 Abs. 3 S. 2 BGB, § 10 Abs. 3 S. 2 StVG und § 5 Abs. 3 S. 2 HaftPflG wird ein besonderes persönliches Näheverhältnis für Ehegatten, Lebenspartner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, Elternteile oder Kinder des Getöteten widerleglich vermutet (keine Fiktion).420 Der Gesetzgeber knüpft damit an potentiell zwischen diesen Personen bestehende Unterhaltsansprüche an. Eine Widerlegung der Vermutung durch den Ersatzpflichtigen (§ 292 S. 1 ZPO) ist etwa bei getrennt lebenden Ehegatten,421 aber auch in sonstigen Fällen zerrütteter familiärer Beziehung denkbar. In allen übrigen Fällen, wie z.B. bei Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, geschiedenen Ehegatten, Geschwistern, Verlobten oder Stief- und Pflegekindern422 hat der Hinterbliebene das besondere persönliche Näheverhältnis darzulegen und zu beweisen. Beurteilungsmaßstab ist der Vergleich mit den Fällen des § 844 Abs. 3 S. 2 BGB im Hinblick auf die „Intensität der tatsächlich gelebten sozialen Beziehung“.423 Folgende Indizien können für die vorzunehmende Einzelfallbetrachtung erheblich sein: Verbund einer Haushaltsgemeinschaft,424 häufige gemeinsame Unternehmungen bzw. besonders intensive Kommunikation,425 Schenkungen426 und Unterhaltsleistungen zu Lebzeiten oder letztwillige Verfügungen.427

31.194

Praktisch bedeutsam sind folgende, nicht von der gesetzlichen Vermutung abgedeckte Einzelfälle:

31.195

– Vor- und Nachstadien familiärer Statusbeziehung (Verlöbnis, geschiedene Ehegatten): In diesen Stadien ist Beweis dahingehend zu führen, dass bereits eine Eheähnlichkeit (Verlöbnis) bzw. eine gewisse Fortdauer der ehelichen Beziehung (geschiedene Ehegatten) besteht. Nachdem das Verlöbnis per se bereits zu einer personalen Pflichtverbindung führt,428 dürfte der bloße Beweis der wirksamen Begründung und des Fortbestandes desselben bereits für die Annahme eines besonderen persönlichen Näheverhältnisses ausreichen. Anders ist dies im Fall geschiedener Ehegatten. Wegen des Wegfalls der familienrechtlichen Statusbeziehung ist hier, anhand der o.g. Indizien, detaillierter Vortrag dazu erforderlich, dass in Teilbereichen die eheliche Beziehung quasi fortdauert.

417 A.A. Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 1 Rz. 52. 418 Hiervon zu unterscheiden ist die Frage nach der haftungsausfüllenden Kausalität zwischen Unfallverletzung und Todeseintritt (s. Rz. 31.197). 419 S. hierzu Zwickel NZV 2015, 214. 420 BGH v. 18.5.2020 – 6 StR 48/20, DAR 2020, 465. 421 LG Traunstein v. 11.2.2020 – 1 O 1047/19, DAR 2020, 465 = NZV 2020, 467 mit Anm. Lang. 422 BT-Drucks. 18/11397, S. 13. 423 BT-Drucks. 18/11397, S. 13; LG Limburg/Lahn v. 22.3.2019 – 2 O 177/18, SVR 2020, 346. 424 Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 1 Rz. 70 f. 425 Bredemeyer ZEV 2017, 690, 691. 426 G. Wagner NJW 2017, 2641, 2644. 427 Burmann/Jahnke NZV 2017, 401, 406; Bredemeyer ZEV 2017, 690, 691. 428 OLG Koblenz v. 6.12.1994 – 15 UF 797/94, NJW-RR 1995, 899.

Zwickel | 885

§ 31 Rz. 31.195 | Tötung

– (Faktische) familiäre Beziehung: Geschwister,429 Großeltern430 und Schwiegerkinder431 zählen nicht zum Kreis der privilegierten Anspruchsberechtigten. Ein besonders starkes Indiz für das Bestehen eines besonderen persönlichen Näheverhältnisses ist in diesem Fall die Existenz einer Haushaltsgemeinschaft. Auch ein Vergleich zwischen der Interaktion zwischen Getötetem und Dritten mit der innerhalb des Kreises der privilegierten Anspruchsberechtigten432 kann aufschlussreich sein. – Patchwork-Familie: Für Mitglieder von Patchwork-Familien (Stief-/Pflegekinder) ist maßgeblich, ob und inwieweit sich das Verhältnis von dem zu den leiblichen Kindern unterscheidet. Faktischen Unterhaltsleistungen kommt in diesem Fall gesteigerte Bedeutung zu. – Nichteheliche Lebensgemeinschaft: Bei Mitgliedern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft ist zu berücksichtigen, dass sie sich für diese Form des Zusammenlebens und gegen die Ehe entschieden haben. Neben Vortrag zur Eheähnlichkeit wird in diesem Fall auch eine gewisse Dauerhaftigkeit der Lebensgemeinschaft vom Anspruchsteller zu beweisen sein.433 – Nasciturus als Anspruchsberechtigter: Nach der Gesetzesbegründung434 sind die zu § 844 Abs. 2 BGB entwickelten Grundsätze als Auslegungshilfe für die Vorschriften zum Hinterbliebenengeld heranzuziehen. Auch dem Nasciturus steht damit ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld zu, wenn er zur Zeit der Verletzung bereits gezeugt war (s. Rz. 31.40).435 Die der Leibesfrucht fehlende Rechtsfähigkeit steht einem Anspruch nicht entgegen, da es um Ansprüche des lebend geborenen und damit rechtsfähigen Kindes geht.436 – Besonderes persönliches Näheverhältnis ohne familiären Einschlag: In der Gesetzesbegründung werden nur familienähnliche Beziehungen erwähnt. Dies alleine schließt aber das Bestehen eines besonderen persönlichen Näheverhältnisses nicht aus. Ein solches Näheverhältnis kommt in Ausnahmefällen auch ohne familiären Einschlag (enger Freund, Kamerad, klösterliche Gemeinschaft) in Betracht.437 Ein Betreuer wird hingegen i.d.R. kein besonderes persönliches Verhältnis zum Getöteten aufbauen.438

3. Verwirklichung eines Haftungstatbestands im Verhältnis zum Getöteten 31.196

Die Vorschriften über das Hinterbliebenengeld setzen einen „Ersatzpflichtigen“ voraus. Anspruchsvoraussetzung ist damit die Verwirklichung eines Haftungstatbestands im Verhältnis zum Getöteten. Nach dem Wortlaut der Normen über das Hinterbliebenengeld ist unzweifelhaft, dass jedem Hinterbliebenen, in dessen Person die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, ein eigener Anspruch auf Hinterbliebenengeld zusteht.

429 LG Tübingen v. 17.5.2019 – 3 O 108/18, VersR 2020, 236 mit Anm. Ch. Huber VersR 2020, 385 und Staudinger DAR 2019, 601. 430 LG Passau v. 8.5.2020 – 3 S 99/19 und 3 S 3/20. 431 LG München II v. 17.5.2019 – 12 O 4540/18, DAR 2020, 464. 432 Ch. Huber VersR 2020, 385, 388. 433 Katzenmeier JZ 2017, 869, 875. 434 BT-Drucks. 18/11397, S. 13. 435 G. Wagner NJW 2017, 2641, 2644; Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 1 Rz. 70 f.; a.A. Burmann/Jahnke NZV 2017, 401, 404; Lang/Bucka DAR 2020, 445, 447. 436 BGH v. 11.1.1972 – VI ZR 46/71, NJW 1972, 1126. 437 Ablehnend G. Wagner ZEuP 2015, 874, 884 f.; Kadner Graziano RIW 2015, 549, 558 f. 438 A.A. wohl Burmann/Jahnke NZV 2017, 401, 406.

886 | Zwickel

V. Hinterbliebenengeld | Rz. 31.199 § 31

Wie der Anspruch aus § 844 Abs. 2 BGB439 entsteht der Anspruch auf Hinterbliebenengeld bereits zur Zeit der Körperverletzung. Ist für den haftungsbegründenden Tatbestand Verschulden Anspruchsvoraussetzung, so muss sich dieses nicht auf die Tötung, sondern auf die dieser evtl. vorangehende Verletzung beziehen.

4. Tötung und haftungsausfüllende Kausalität Nach der Bezeichnung „Hinterbliebenengeld“440 und dem ausdrücklichen Wortlaut der entsprechenden Vorschriften kommt ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld ausschließlich im Falle der Tötung in Betracht. In Fällen schwerster Verletzung ist auch weiterhin auf die Schockschaden-Rechtsprechung abzustellen.441 Vom Wortlaut („Elternteil“) umfasst ist auch die Tötung des Nasciturus im Mutterleib. Hierfür spricht, neben der Beziehung der Mutter zum ungeborenen Kind, auch die in § 844 Abs. 2 S. 2 BGB angeordnete Teilrechtsfähigkeit des Nasciturus.

31.197

Die Tötung muss kausal auf der Verwirklichung eines Haftungstatbestands im Verhältnis zum Geschädigten beruhen (haftungsausfüllende Kausalität). Problematisch kann dies in den Fällen der Unfallverletzung mit zeitlich deutlich späterem Todeseintritt sein. Keine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität ist hingegen die zwischen Körperverletzung und Todeseintritt eintretende Lösung des besonderen persönlichen Näheverhältnisses.442 Dieses gehört zum haftungsbegründenden Tatbestand und muss (nur) zur Zeit der Verletzung vorliegen.

5. Anspruchsumfang, Anspruchsbemessung und Anspruchsminderung Rechtsfolge eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld ist eine „angemessene Entschädigung in Geld“. Der Gesetzgeber hat also keine pauschale Festschreibung der i.R.d. Hinterbliebenengeldes zu zahlenden Beträge vorgenommen, sondern die Bemessung im Einzelfall der Rechtsprechung überantwortet.443 Für diese Festlegung der Entschädigung durch die Rechtsprechung lassen sich folgende Leitlinien aufstellen:

31.198

a) Anspruchsumfang Sinn des Hinterbliebenengeldes ist es, eine immaterielle Entschädigung für die Trauer und den seelischen Schmerz zu gewährleisten, die jeweils unterhalb der Schwelle der psychischen Gesundheitsverletzung liegen. Hieraus lässt sich folgern, dass der Umfang des Hinterbliebenengeldes i.d.R. hinter den künftig für Schockschäden zugesprochenen Summen zurückbleiben wird.444 Es wird dadurch aber auch deutlich, dass Entschädigungsbeträge i.R.d. Hinterbliebenengeldes höher einzutaxieren sind als Schmerzensgeldbeträge für einfachste physische Beeinträchtigungen (z.B. Beinbruch). Anerkannt dürfte damit jedenfalls eine gewisse Orientierung an den Schmerzensgeldsummen in den Schockschaden-Fällen sein. Noch keine Klarheit herrscht in der Literatur aber zu den Fragen, welche betragsmäßigen Eingrenzungen sich für den Umfang des Hinterbliebenengeldes vornehmen lassen und ob die BGH v. 13.2.1996 – VI ZR 318/94, NJW 1996, 1674. Katzenmeier JZ 2017, 869, 870. Bischoff MDR 2017, 739, 742. A.A. Burmann/Jahnke NZV 2017, 401, 411; Bredemeyer ZEV 2017, 690, 692. Kritisch hierzu Schwab DAR 2018, 284; für pauschale Bemessung Luckey in FS Ch. Huber 2020, S. 351, 358. 444 Katzenmeier JZ 2017, 869, 876; a.A. Jaeger VersR 2017, 1041, 1054 ff.

439 440 441 442 443

Zwickel | 887

31.199

§ 31 Rz. 31.199 | Tötung

nunmehr durch den Gesetzgeber erfolgte Anerkennung des Trauerschmerzes zu einer Anhebung der Schmerzensgeldbeträge in den Schockschadensfällen führen muss. Eine Auffassung sieht die bisherigen Schmerzensgeldbeträge bei Schockschäden als absolute Obergrenze des Hinterbliebenengeldes an.445 Eine andere Auffassung hingegen geht davon aus, der Schockschadenersatz schließe nunmehr das Hinterbliebenengeld mit ein. Dieser (und damit auch das Hinterbliebenengeld) könne deshalb großzügiger ausfallen als unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechungsgrenzen.446 Für die letztgenannte Auffassung spricht die Gesetzesbegründung, nach der davon auszugehen sein soll, dass das Hinterbliebenengeld im wegen eines evtl. Schockschadens zuzusprechenden Schmerzensgeldbetrag aufgehen soll.447 Folgt man dieser Auffassung, so bewegt sich das Hinterbliebenengeld betragsmäßig tendenziell im Korridor zwischen den Schmerzensgeldbeträgen, die für einfache physische Verletzungen ausgeworfen werden (Untergrenze) und den Schmerzensgeldern, die in Schockschadens-Fällen zugesprochen werden (Obergrenze). Diskutiert werden hierfür Beträge zwischen 500 und 20.000 €.448 Eine betragsmäßige Eingrenzung des Hinterbliebenengeldes kann damit nur die Rspr. im Einzelfall erbringen.449 Einen groben Anhaltspunkt könne aber nur der vom Gesetzgeber genannte und damit in gewissem Maß Konsens gewordene Durchschnittsbetrag von 10.000 € pro Fall als Mittelwert bieten.450

b) Anspruchsbemessung 31.200

Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes hat stets im Einzelfall zu erfolgen.451 Anders als bei der Schmerzensgeldbemessung kann beim Hinterbliebenengeld nicht an die von einem medizinischen Sachverständigen ermittelten Schmerzen angeknüpft werden.452 Auch die In-

445 Quaisser DAR 2017, 688, 691; Burmann/Jahnke NZV 2017, 401, 411. 446 Jaeger VersR 2017, 1041, 1054 ff.; G. Wagner NJW 2017, 2641, 2645; Huber/Kadner Graziano/ Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 1 Rz. 107. 447 BT-Drucks. 18/11397, S. 12. 448 Bredemeyer ZEV 2017, 690 (3.000-20.000 €); Burmann/Jahnke NZV 2017, 401 (3.000-5.000 €); Quaisser DAR 2017, 688 (2.500-3.000 €); Lang/Bucka DAR 2020, 445, 448 (< 10.000 €); G. Wagner NJW 2017, 2641, 2645 (10.000-20.000 €); Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. 2018, § 844 Rz. 229, 230 (< 1.200 €). 449 Bisherige Rspr. zur Bemessung des Hinterbliebenengeldes: LG Tübingen v. 17.5.2019 – 3 O 108/18, VersR 2020, 236 (s. dazu Ch. Huber VersR 2020, 385 und Staudinger DAR 2019, 601): 12.000 € für Ehegatten, 7.500 € für Kind, 5.000 € für Geschwister; LG Osnabrück v. 9.1.2019 – 3 KLs 4/18, SVR 2020, 139 mit Anm. Balke: 2.000 € für Elternteil im Adhäsionsverfahren; LG München II v. 17.5.2019 – 12 O 4540/18, SVR 2020, 274 mit Anm. Balke: 5.000 € für Kind, 3.000 € für Schwiegertocher; LG Leipzig v. 8.11.2019 – 5 O 758/19: 15.000 € für Elternteil; LG Wiesbaden v. 23.10.2018 – 3 O 219/18, SVR 2020, 142 mit Anm. Balke: 10.000 € für Ehegatten. 450 BT-Drucks. 18/11397, S. 11; vgl. auch Frank FamRZ 2017, 1640, 1642; a.A. LG Wiesbaden v. 23.10.2018 – 3 O 219/18, SVR 2020, 142 mit Anm. Balke (10.000 € als Obergrenze). Zweifel an der Stimmigkeit dieses Betrags hegen Quaisser DAR 2017, 688, 692 und Ch. Huber JuS 2018, 744, 748. Die vom GdV (GdV, Stellungnahme v. 16.1.2017 zum Referentenentwurf, S. 7) genannten Beträge zwischen 3.000 u. 5.000 € bieten, wegen ihrer Erfassung der zumeist außergerichtlichen (!) Regulierung von Schockschäden, keinen verlässlichen Anhalt. 451 A.A. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. 2018, § 844 Rz. 22: „globales (pauschales) Hinterbliebenengeld“; Luckey in FS Ch. Huber 2020, S. 351, 358: „pauschale Bemessung sinnvoll“. 452 Ch. Huber JuS 2018, 744, 749; Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 1 Rz. 106.

888 | Zwickel

V. Hinterbliebenengeld | Rz. 31.203 § 31

tensität von Trauer und Leid bei Verlust einer nahestehenden Person hängt aber von Umständen des Einzelfalles ab, die in Anlehnung an die Schmerzensgeldbemessung453 in die Schätzung des Hinterbliebenengeldes (§ 287 ZPO) Eingang finden können. Herausragende Bedeutung hat insofern die Intensität der Nähebeziehung zwischen Getötetem und Hinterbliebenem.454 Darüber hinaus können im Bereich des straßenverkehrsrechtlichen Haftungsrechts das Regulierungsverhalten des Schuldners, das Mitverschulden des Getöteten, eine besondere Schwere der Schuld und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten eine Rolle für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes spielen (s. Rz. 33.13 ff.).455

c) Anspruchsausschluss und Anspruchsminderung Ausgeschlossen ist ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, wenn der Hinterbliebene infolge der Tötung keinerlei seelisches Leid empfunden hat.456 Dies kann etwa bei gleichgültigen oder empfindungsunfähigen Hinterbliebenen der Fall sein.457 Darlegungs- und beweisbelastet hierfür ist der Schädiger.458

31.201

Bei Arbeitsunfällen schließt § 104 Abs. 1 SGB VII den Anspruch auf Hinterbliebenengeld nicht aus,459 denn die auszugleichende Beeinträchtigung betrifft den Hinterbliebenen unmittelbar und das Argument der Wahrung des Betriebsfriedens greift nach dem Tod des Versicherten nicht mehr. Nach § 846 BGB ist das Mitverschulden des Primäropfers anspruchsmindernd zu berücksichtigen.

6. Verhältnis zu anderen Ersatzmöglichkeiten Das Hinterbliebenengeld lässt die weiterhin gültige Rechtsprechung zum Schockschaden unberührt (vgl. Rz. 3.45 ff.). Greift allerdings der Schockschadenersatz ein, geht das Hinterbliebenengeld im (künftig wohl) weiterreichenden Schmerzensgeld auf Schockschadensbasis auf.460 In diesem Fall besteht dann ausschließlich ein Anspruch auf Schmerzensgeld infolge des Schockschadens.

31.202

Anders stellt sich die Rechtslage bezüglich des geerbten Schadenersatzanspruchs des Getöteten dar. Beim Hinterbliebenengeld handelt es sich um einen eigenen Anspruch des Hinterbliebenen. Demgegenüber geht es beim geerbten Schmerzensgeldanspruch um einen Anspruch des Getöteten. Auch erfolgt die Bemessung beider Ansprüche auf unterschiedliche Weise, da die Bezugspersonen verschieden sind. Beide Ansprüche bestehen damit nebeneinander.

31.203

LG Tübingen v. 17.5.2019 – 3 O 108/18, VersR 2020, 236; Bischoff MDR 2017, 739, 741. Katzenmeier JZ 2017, 869, 876. Vgl. auch Jaeger VersR 2017, 1041, 1054. BT-Drucks. 18/11397, S. 13. Wohl zu weitgehend Steenbuck r+s 2017, 449, 451: Säuglinge, schwer geistig Behinderte oder stark demente Personen. 458 Steenbuck r+s 2017, 449, 451. 459 A.A. Burmann/Jahnke NZV 2017, 401, 408. 460 LG Leipzig v. 8.11.2019 – 5 O 758/19; Lang/Bucka DAR 2020, 445, 450; a.A. (Anspruchskonkurrenz) Staudinger DAR 2019, 601, 602.

453 454 455 456 457

Zwickel | 889

§ 31 Rz. 31.204 | Tötung

7. Internationales Recht 31.204

Die internationale Zuständigkeit für die Klage auf Hinterbliebenengeld gegen den Unfallgegner richtet sich zunächst nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO. Zuständig ist demnach das Gericht an dem Ort, an dem das schädigende Ereignis, d.h. die Tötung, eingetreten ist. Daneben steht dem Hinterbliebenen die Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer an seinem Wohnsitz (Art. 13 Abs. 2, 11 Abs. 1 lit. b Brüssel Ia-VO) zur Verfügung. Der Anspruchsinhaber des Hinterbliebenengeldes ist zwar nicht der unmittelbare Geschädigte. Auch der mittelbar geschädigte Anspruchsinhaber des Hinterbliebenengeldes ist aber als Geschädigter i.S.d. Art. 13 Abs. 2, 11 Abs. 1 lit. b Brüssel Ia-VO anzusehen,461 da der Begriff auch Personen erfasst, die den Schaden nur indirekt erlitten haben.462 Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld unterliegt dem Recht, das die Ansprüche des Getöteten bestimmt (s. Rz. 2.18 ff.).463 Anwendbares Recht ist damit regelmäßig das ausländische Sachrecht (Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO). Die familienrechtlichen Vorfragen (z.B. nach der Unterhaltspflicht), die für die Begründung des besonderen persönlichen Näheverhältnisses maßgeblich sein können, sind selbstständig, d.h. auf Basis familienrechtlicher Kollisionsnormen, anzuknüpfen.464 Nicht selbstständig anzuknüpfen ist aber der faktische Begriff des besonderen persönlichen Näheverhältnisses selbst.465 Zu beachten ist, dass § 287 ZPO, bei Verweisung in ein fremdes Sachrecht, nicht anzuwenden ist. Auch die Bemessung des Hinterbliebenengeldes richtet sich dann nach ausländischem Recht (Art. 22 Abs. 1 Rom-II-VO).466

461 Friesen r+s 2016, 195, 197. 462 EuGH v. 17.9.2009 – C-347/08, ZEuP 2009, 855. 463 EuGH v. 10.12.2015 – C-350/14, r+s 2016, 195 mit Anm. Friesen = NJW 2016, 466 mit Anm. Staudinger. 464 Jayme IPRax 2018, 230, 233. 465 Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 3 Rz. 30. 466 S. Rz. 2.31; Huber/Kadner Graziano/Luckey Hinterbliebenengeld 2018, § 3 Rz. 31.

890 | Zwickel

§ 32 Körperverletzung

I. 1. a) b) 2. II. 1. a) b) c) d) e)

f) 2. 3. 4. a) b) c) 5. a) b) c) III. 1. a) b) c) d) 2. a) b) c) 3. 4.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansprüche des Verletzten . . . . . . . Deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . . Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . Ansprüche Dritter . . . . . . . . . . . . . Heilungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . Umfang des Anspruchs . . . . . . . . . Begriff der Heilungskosten . . . . . . . Einzelposten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . Erfolglose Aufwendungen, Untersuchungskosten bei Verletzungsverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fiktive Aufwendungen . . . . . . . . . . . Entstehung des Anspruchs . . . . . . . Vorteilsausgleichung . . . . . . . . . . . Schadensminderungspflicht (allgemein hierzu Rz. 25.100) . . . . . . . . . Unvernünftiges Verhalten . . . . . . . . Inanspruchnahme der privaten Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . Krankenkasse der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forderungsübergang . . . . . . . . . . . Sozialleistungsträger . . . . . . . . . . . . . Private Versicherer . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Dienstherren. . . . . . . . . Ersatz vermehrter Bedürfnisse . . . Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung gegenüber den Heilungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung gegenüber dem Verdienstausfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung gegenüber dem Schmerzensgeld . . . . . . . . . . . . . . . . Art, Bemessung und Form der Ersatzleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalabfindungen . . . . . . . . . . . . . Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fiktive Aufwendungen . . . . . . . . . .

32.1 32.1 32.1 32.3 32.4 32.5 32.5 32.5 32.6 32.15 32.19

32.20 32.22 32.23 32.24 32.26 32.26 32.27 32.28 32.29 32.29 32.30 32.31 32.32 32.32 32.32 32.33 32.34 32.36 32.37 32.37 32.38 32.39 32.40 32.54

5. Forderungsübergang . . . . . . . . . . . IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ursächlichkeit des Unfalls . . . . . . . 3. Konkrete Berechnung des Erwerbsschadens . . . . . . . . . . . . . . . 4. Form der Ersatzleistung . . . . . . . . 5. Der Verdienstausfall bei unselbständiger Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . a) Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einfluss der Lohn- oder Gehaltsfortzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weiterzahlung des vollen Gehalts trotz unfallbedingter Leistungsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Berechnung des Verdienstausfalls . . aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Berechnungsmethode . . . . . . . . cc) Lohnzusatzleistungen . . . . . . . . e) Prognose des künftigen Verdienstes aa) Verdiensteigerungen . . . . . . . . . bb) Verdienstminderungen . . . . . . . cc) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Beweisfragen . . . . . . . . . . . . . . . f) Vorteilsausgleichung . . . . . . . . . . . . aa) Ersparte Einkommensteuer . . . bb) Ersparnis von Rentenversicherungsbeiträgen . . . . . . . . . . . . . cc) Ersparnis von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung . . . . . dd) Ersparnis von Beiträgen zur Krankenversicherung . . . . . . . . ee) Sozialleistungen . . . . . . . . . . . . ff) Leistungen von Privatversicherern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Leistungen des Arbeitgebers . . . hh) Ersparnis durch die Berufstätigkeit bedingter Aufwendungen . ii) Möglichkeit zur Haushaltsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Einkommen aus einer ersatzweise aufgenommenen Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Schadensminderungspflicht . . . . . .

32.56 32.57 32.57 32.59 32.61 32.63 32.64 32.64 32.68

32.71 32.72 32.72 32.73 32.77 32.80 32.81 32.82 32.83 32.84 32.85 32.86 32.90 32.91 32.92 32.93 32.94 32.95 32.96 32.98 32.99 32.100

Zwickel | 891

§ 32 | Körperverletzung 6. Gewinnausfall bei selbständig Tätigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Berechnung des Gewinnausfalls . . . b) Kosten einer Ersatzkraft. . . . . . . . . . c) Verkauf des Unternehmens . . . . . . d) Aufgabe der Selbständigkeit . . . . . . e) Geschäftliche Fehlleistungen . . . . . . f) Hinderung an Eröffnung . . . . . . . . g) Verbotene oder sittenwidrige Geschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Vorteilsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einkommensteuer . . . . . . . . . . bb) Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . cc) Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . i) Schadensminderungspflicht . . . . . . j) Beweisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Unbezifferter Klageantrag . . . . . . . . l) Einzelfälle (A–Z) . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verdienstausfall eines Gesellschafters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tätigkeitsvergütung . . . . . . . . . . . . . b) Verringerung der Gewinnbeteiligung bzw. des Kapitalkontos . . . . . c) Ersatzkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Erwerbsschaden des den Haushalt führenden Ehegatten . . . . . . . . . . . a) Rechtliche Einordnung . . . . . . . . . . b) Beitrag des Ehegatten als Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Berechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zeitliche Begrenzung . . . . . . . . . . . . 9. Erwerbsschaden des im Familienbetrieb mitarbeitenden Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32.111 32.113 32.119 32.121 32.122 32.123 32.124 32.125 32.129 32.130 32.131 32.132 32.133 32.134 32.135 32.136 32.137 32.138 32.140 32.142 32.143 32.143 32.147 32.150 32.156

32.157

10. Nicht erwerbstätige Verletzte . . . . 11. Nachteile für das Fortkommen . . 12. Beeinträchtigung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . 13. Vorzeitiger Eintritt in den Ruhestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Nachteile in der Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Sonstige Vermögensnachteile . . . . 16. Forderungsübergang . . . . . . . . . . . a) Auf Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Befriedigungsvorrecht – Quotenvorrecht . . . . . . . . . . . . dd) Ausschluss des Übergangs gegenüber Haushalts- bzw. Familienangehörigen . . . . . . . . ee) Anrechnung von Mitverschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf Sozialversicherungsträger . . . . c) Auf Privatversicherer . . . . . . . . . . . d) Auf Dienstherren . . . . . . . . . . . . . . e) Auf den Träger der Sozialhilfe . . . . V. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entgangener Gewinn . . . . . . . . . . . 3. Eigenleistungen beim Bau eines Hauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unentgeltliche Dienstleistungen . 5. Hinderung an Eheschließung . . . . 6. Vereitelte Teilnahme an Veranstaltung, Reise etc. . . . . . . . . . . . . .

32.159 32.162 32.164 32.169 32.174 32.175 32.176 32.176 32.177 32.180 32.182 32.183 32.184 32.185 32.186 32.187 32.188 32.189 32.189 32.190 32.191 32.192 32.193 32.194

§ 842 BGB Die Verpflichtung zum Schadensersatz wegen einer gegen die Person gerichteten unerlaubten Handlung erstreckt sich auf die Nachteile, welche die Handlung für den Erwerb oder das Fortkommen des Verletzten herbeiführt. § 843 BGB (1) Wird infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert oder tritt eine Vermehrung seiner Bedürfnisse ein, so ist dem Verletzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadensersatz zu leisten. (2) Auf die Rente finden die Vorschriften des § 760 Anwendung. Ob, in welcher Art und für welchen Betrag der Ersatzpflichtige Sicherheit zu leisten hat, bestimmt sich nach den Umständen. (3) Statt der Rente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.

892 | Zwickel

I. Überblick | Rz. 32.2 § 32 (4) Der Anspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein anderer dem Verletzten Unterhalt zu gewähren hat. § 11 StVG Im Fall der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit ist der Schadensersatz durch Ersatz der Kosten der Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Verletzte dadurch erleidet, dass infolge der Verletzung zeitweise oder dauernd seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eingetreten ist. Wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann auch eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. § 6 HaftPflG Im Falle einer Körperverletzung ist der Schadensersatz (§§ 1, 2 und 3) durch Ersatz der Kosten der Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Verletzte dadurch erleidet, dass infolge der Verletzung zeitweise oder dauernd seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eingetreten ist. Wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann auch eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.

I. Überblick 1. Ansprüche des Verletzten a) Deliktische Haftung Aus § 823 BGB erwächst demjenigen, der an Körper oder Gesundheit geschädigt wurde,1 ein Anspruch auf Ersatz des „daraus entstehenden Schadens“, d.h. auf Wiederherstellung des unversehrten Zustandes bzw. (was hier allein praxisrelevant ist) Zahlung des dazu erforderlichen Geldbetrags (§ 249 Abs. 1, 2 S. 1 BGB). Dieser Ersatzanspruch bezieht sich auf die sich im Vermögen niederschlagenden Folgen der Körperverletzung (materielle Schäden; Rz. 32.2); zudem kann der Geschädigte eine billige Entschädigung für immaterielle Einbußen verlangen (§ 253 Abs. 2 BGB; s. hierzu Rz. 33.1 ff.).

32.1

Ersatzfähige Positionen beim materiellen Schaden sind insbesondere Heilungskosten (Rz. 32.5 ff.), durch vermehrte Bedürfnisse entstehende Unkosten (Rz. 32.32 ff.) sowie Verdienstausfall durch Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit (Rz. 32.57 ff.). § 842 BGB erwähnt zusätzlich die Nachteile für das Fortkommen des Verletzten (s. dazu Rz. 32.162). Er hat aber gegenüber § 249 BGB nur klarstellende Funktion.2 Darüber hinaus ordnet die Rspr. gewisse Nachteile, die nicht aus einer Erwerbstätigkeit resultieren (z.B. die Vereitelung von Eigenleistungen beim Hausbau, von Haushaltstätigkeit und von Heiratsaussichten) ebenfalls der deliktischen Haftung zu (s. hierzu Rz. 32.143 ff., 32.190 ff.). Einen Schadensersatzanspruch wegen beeinträchtigten Urlaubsgenusses gibt es weder bei unerlaubter Handlung noch im Rahmen der Gefährdungshaftung;3 diese Beeinträchtigungen können lediglich bei der Bemessung der immateriellen Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB berücksichtigt werden (näher hierzu Rz. 32.189). Zu weiteren Schadenspositionen, insb. zur Problematik vergeblicher Aufwendungen s. Rz. 32.189 ff.).

32.2

1 Näher zur Verletzteneigenschaft Rz. 3.37 ff. 2 BGH v. 18.11.1957 – III ZR 117/56, BGHZ 26, 69, 77; Lange/Schiemann § 6 IX 4. 3 Hierzu BGH v. 11.1.1983 – VI ZR 222/80, VersR 1983, 392 = JR 1983, 494 mit Anm. Gitter.

Zwickel | 893

§ 32 Rz. 32.3 | Körperverletzung

b) Gefährdungshaftung 32.3

Anders als § 842 BGB bestimmen § 11 StVG und § 6 HaftPflG abschließend, welche Ansprüche im Fall einer Körper- oder Gesundheitsverletzung bestehen, nämlich auf Ersatz der Heilungskosten, der Erwerbsnachteile und der vermehrten Bedürfnisse. Nicht erwähnt wird der Fortkommensschaden, doch ist dieser vom Erwerbsschaden umfasst (vgl. Rz. 32.162).4 Bezüglich sonstiger materieller Einbußen kommt es anders als beim deliktischen Anspruch darauf an, ob diese ebenfalls dem Erwerbsschaden zugeordnet werden können (s. dazu Rz. 32.57 f.). Bei Unfällen ab 1.8.2002 besteht nach § 11 S. 2 StVG, § 6 S. 2 HaftPflG auch ein Anspruch auf immaterielle Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB.

2. Ansprüche Dritter 32.4

Anders als im Falle der Tötung eines Unfallbeteiligten erwerben dritte Personen aus der Körperverletzung eines anderen keinen eigenen Anspruch, auch wenn der Unfall sie, z.B. als Unterhaltsberechtigte, finanziell hart trifft. Eine analoge Anwendung von § 844 Abs. 2 BGB, § 10 Abs. 2 StVG scheidet aus.5 Die Partnerin eines verletzten Eiskunstläufers kann keinen Schadensersatz wegen entgangenen Gewinns,6 die Krankenkasse keinen Ausgleich für den verminderten Beitrag des nunmehr erwerbsunfähigen Mitglieds,7 der weiterhin Unterhaltsleistungen an den Geschädigten Erbringende keine Erstattung verlangen.8 Eine praktisch wenig bedeutsame Ausnahme enthält § 845 BGB für den Fall gesetzlich geschuldeter Dienstleistungen (s. dazu Rz. 32.192). Der Lohnfortzahlung leistende Arbeitgeber hat keinen eigenen Anspruch, doch findet hier eine Überleitung von Schadensersatzansprüchen des Geschädigten statt (s. Rz. 32.176).9 Aufwendungen, die Dritten im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Gesundheit des Verletzten entstehen (z.B. für Besuche im Krankenhaus) können u.U. von diesem als Heilungskosten liquidiert werden (s. Rz. 32.9 f.). Werden Dritte durch die Verletzung (etwa schwerste Verstümmelung eines nahen Angehörigen) immateriell geschädigt, kommt ein Schmerzensgeldanspruch nur in Betracht, wenn ihre Betroffenheit Krankheitswert erreicht (Rz. 21.6 f.).

II. Heilungskosten 1. Umfang des Anspruchs a) Begriff der Heilungskosten 32.5

Unter Heilung ist die Wiederherstellung des körperlichen Zustandes zu verstehen, der ohne den Unfall bestünde (zur Kausalität zwischen Unfall und Verletzung Rz. 19.1 ff.). Heilungskosten sind die hierfür erforderlichen Kosten und zwar nicht nur für ärztliche Behandlung, Krankenhaus und Medikamente, sondern auch sämtliche in Zusammenhang damit stehenden Nebenkosten (Einzelheiten s. Rz. 32.6 ff.). Das Ziel völliger Wiederherstellung wird sich häufig nicht erreichen lassen. Daher gehören zu den Heilungskosten auch die Aufwendungen für 4 Steffen DAR 1984, 2; Medicus DAR 1994, 442. 5 BGH v. 17.12.1985 – VI ZR 152/84, NJW 1986, 984 = JZ 1986, 451 mit Anm. Dunz = JR 1986, 414 mit Anm. v. Einem. 6 BGH v. 10.12.2002 – VI ZR 171/02, NJW 2003, 1040. 7 OLG Düsseldorf v. 16.11.2000 – 8 U 101/99, VersR 2002, 612. 8 OLG Frankfurt v. 22.1.1998 – 1 U 115/96, OLGR Frankfurt 1998, 223. 9 BGH v. 14.10.2008 – VI ZR 36/08, NJW 2009, 355.

894 | Zwickel

II. Heilungskosten | Rz. 32.9 § 32

Maßnahmen, die einen Zustand herstellen sollen, der den Verletzten von Schmerzen und Behinderungen und sonstigen Beeinträchtigungen, z.B. seines Aussehens, möglichst freistellt.

b) Einzelposten Heilungskosten i.e.S. sind hauptsächlich die Ausgaben für den Krankentransport, die Wiederbelebung, eine Bluttransfusion, Laboruntersuchungen, das Krankenhaus, die Bemühungen der Ärzte, des Pflegepersonals, der Nachtwachen, der Krankengymnastin und des Bademeisters, für Medikamente, Betäubungsmittel, Verbandstoffe, Operationssaalbenutzung, Bestrahlungen, Akupunkturbehandlungen,10 künstliche Gliedmaßen, Krücken, Rollstühle, Zahnprothesen, Brillen, Hörapparate, Kuraufenthalte in Heilbädern11 sowie einen der Wiederherstellung dienlichen Erholungsaufenthalt.12

32.6

Die Heilung umfasst aber auch kosmetische Operationen13 und die Anschaffung von Epithesen (künstliche Nase, künstliche Ohrmuschel usw.). Die kosmetische Beseitigung einer Unfallnarbe muss der Schädiger auch bezahlen, wenn sie reizlos verheilt war und keine weiteren Funktionsstörungen zu befürchten waren (zur Frage der Verhältnismäßigkeit s. Rz. 32.19).

32.7

Auch die Nebenkosten der Heilung kann der Verletzte ersetzt verlangen.14 Dazu zählen die Aufwendungen für Fahrten zur Heilbehandlung,15 ärztliche Bescheinigungen, Hauspflege,16 ggf. notwendige Kräftigungsmittel,17 Obst, Obstsäfte, kräftigende Kost während der Rekonvaleszenz,18 u.U. Telefonkosten im Krankenhaus19 und, soweit üblich, Trinkgelder für Pflegepersonal.20 Die Kosten für Lesestoff,21 Unterhaltungsspiele22 oder für einen Miet- oder Münzfernseher23 sind i.d.R. der privaten Lebensführung zuzurechnen und nur erstattungsfähig, wenn sie ausnahmsweise zur Förderung des Heilungsprozesses geboten waren.

32.8

Aufwendungen, die den Angehörigen des Verletzten für medizinisch gebotene Besuche im Krankenhaus entstehen, kann der Verletzte nach der – sehr weitgehenden – Rspr. ebenfalls

32.9

10 So mit gewissen Einschränkungen für sog. Außenseitermethoden KG v. 3.11.2003 – 12 U 102/33, NZV 2004, 42; OLG Karlsruhe v. 11.7.1997 – 10 U 15/97, VersR 1998, 1256. 11 KG VAE 1936, 576. 12 LG Tübingen VersR 1953, 213. 13 KG v. 5.6.1980 – 12 U 741/80, DAR 1980, 341. 14 Ausf. Guyenz Die Erstattung von Aufwendungen im Zusammenhang mit Personenschädigungen und Tötung 1985, 25 f., 42 ff. 15 OLG Hamm v. 7.11.1996 – 27 U 104/96, NJWE-VHR 1997, 107. Zur Berechnung OLG Nürnberg v. 13.12.2000 – 4 U 4590/99, VersR 2002, 245, 246. Die Rspr. nimmt Sätze zwischen 0,20 €/km und 0,30 €/km an, s. Luckey Personenschaden 2018, 928 m.w.N. 16 RG v. 11.6.1936 – VI 432/35, RGZ 151, 298. 17 KG v. 18.3.1968 – 12 U 2027/67, DAR 1968, 181. 18 RG v. 11.6.1936 – VI 432/35, RGZ 151, 298. 19 OLG München v. 27.3.1984 – 5 U 3865/83, VersR 1985, 1096; OLG Düsseldorf v. 19.11.1993 – 22 U 135/93, VersR 1995, 548; einschr. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 420. 20 LG Hanau v. 15.8.1968 – 1 O 15/68, VersR 1969, 623; LG Lüneburg v. 13.7.1973 – 3 O 111/73; VersR 1975, 1016; Schleich DAR 1988, 148: ca. 80 DM für 10 Tage. 21 OLG Köln v. 4.10.1989 – 13 U 46/89, VersR 1989, 1309; a.A. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 420 (pauschal 10–15 € pro Woche). 22 BGH v. 22.10.1957 – VI ZR 227/56, VersR 1957, 790. 23 OLG Köln v. 13.4.1988 – 2 U 141/87, VersR 1988, 642; OLG Düsseldorf v. 19.11.1993 – 22 U 135/93, VersR 1995, 548; Pardey NJW 1989, 2314; a.A. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 421.

Zwickel | 895

§ 32 Rz. 32.9 | Körperverletzung

ersetzt verlangen.24 Ohne Bedeutung ist hierbei, ob zwischen dem Besucher und dem Verletzten eine Unterhaltspflicht besteht.25 Medizinisch, d.h. zur Erzielung des Heilerfolges, geboten sind i.d.R. aber nur Besuche nächster Angehöriger;26 Ausnahmen sind (insbesondere bei Alleinstehenden) denkbar,27 jedoch ist es mit der gesetzlichen Beschränkung auf Kosten der Heilung nicht vereinbar, von der medizinischen Notwendigkeit abzusehen und auch Besuche zu reinen Unterhaltungszwecken einzubeziehen.28 Besuche bei einem unheilbaren Patienten im Pflegeheim können allenfalls nach § 843 Abs. 2 BGB abgerechnet werden.29 Ist der Verletzte (z.B. wegen Bewusstlosigkeit) gar nicht in der Lage, den Besuch wahrzunehmen, so können die Kosten eines Besuches, den die Angehörigen aus moralischen Gründen gleichwohl unternehmen, nicht den „Kosten der Heilung“ zugeordnet werden.30 Besteht ein Anspruch des Verletzten, so ist es unerheblich, dass die Angehörigen die Kosten (zunächst) selbst aufgewendet haben. Der Besucher selbst (oder ein Dritter, der die Kosten trägt) hat keinen eigenen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger, weil er nicht in eigenen Rechtsgütern verletzt ist;31 ebenso scheidet ein Anspruch aus § 426 BGB (zwischen Unterhalts- und Schadensersatzpflicht besteht kein Gesamtschuldverhältnis) oder ungerechtfertigter Bereicherung aus,32 entgegen der Rspr. auch ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag (s. Rz. 17.6 ff.).

32.10

Zu den nach der Rspr. erstattungsfähigen Besuchskosten gehören die Aufwendungen für die Fahrt,33 bei Nutzung eines Kfz die reinen Betriebskosten.34 Falls unumgänglich, sind auch Übernachtungskosten und Verpflegungsmehraufwand35 zu ersetzen, desgleichen ein Verdienstausfall des Besuchers36 oder der Aufwand für zwischenzeitliche Betreuung der Kinder,37

24 BGH v. 1.12.1960 – III ZR 197/59, VersR 1961, 272; BGH v. 4.2.1964 – VI ZR 243/62 VersR 1964, 532; BGH v. 13.4.1967 – III ZR 2/65, VersR 1967, 714; BGH v. 21.12.1978 – VII ZR 91/77, VersR 1979, 350; BGH v. 19.2.1991 – VI ZR 171/90, NZV 1991, 225 mit Bespr. Grunsky JuS 1991, 907 und Neumann-Duesber NZV 1991, 455. 25 Seidel VersR 1991, 1321; a.A. Schiemann NZV 1996, 4: nur Ehegatten und Verwandte in gerader Linie. 26 BGH v. 19.2.1991 – VI ZR 171/90, VersR 1991, 559. 27 Schleich DAR 1988, 145; Grunsky JuS 1991, 908; Schirmer DAR 2007, 10 (Lebensgefährte). 28 So aber Grunsky JuS 1991, 909. 29 OLG Bremen v. 31.8.1999 – 3 U 165/98, VersR 2001, 595. 30 A.A. OLG Saarbrücken v. 23.10.1987 – 3 U 176/85, VersR 1989, 757; LG Saarbrücken v. 18.12.1987 – 14 O 117/87, NJW 1988, 2958; Neumann-Duesberg NZV 1991, 456. 31 Zur Frage, ob der Besucher Abtretung des Ersatzanspruchs des Verletzten verlangen kann, s. Seidel VersR 1991, 1325 m.w.N. 32 Ausf. m.w.N. Seidel VersR 1991, 1322 ff. 33 BGH v. 19.2.1991 – VI ZR 171/90, VersR 1991, 559 (nur für die wirtschaftlichste Beförderungsart); OLG Hamm v. 26.4.1972 – 3 U 219/71, NJW 1972, 1521; OLG Hamm v. 13.1.1992 – 13 U 118/ 91, NZV 1993, 151 LS (auch zur Berücksichtigung steuerlicher Vorteile); OLG Frankfurt v. 2.11.1979 – 2 U 76/79, VersR 1981, 239; OLG Koblenz v. 23.3.1981 – 12 U 880/80, VersR 1981, 887. 34 OLG Braunschweig v. 21.4.1989 – 2 U 267/88, ZfS 1990, 152; OLG Hamm v. 13.1.1992 – 13 U 118/91, NZV 1993, 151 LS (Berücksichtigung der Abnutzung); Küppersbusch/Höher, Rz. 238; Seidel VersR 1991, 1320; a.A. (auch Vorhaltekostenanteil) Wussow WJ 1981, 192; Schleich DAR 1988, 146. 35 BGH v. 20.2.1991 – IV ZR 202/90, VersR 1991, 459. 36 BGH v. 18.4.1961 – VI ZR 122/60, VersR 1961, 545; nach Schiemann NZV 1996, 4 nur Stundensatz eines durchschnittlichen Arbeitnehmers. 37 BGH v. 24.10.1989 – VI ZR 263/88, VersR 1989, 1308; a.A. LG Köln v. 16.5.1974 – 72 O 17/73, VersR 1975, 145.

896 | Zwickel

II. Heilungskosten | Rz. 32.14 § 32

keinesfalls aber ein rein fiktiver Aufwand.38 Verdienstausfall des Vaters ist dem verletzten Kind grundsätzlich auch dann zu ersetzen, wenn der Vater selbständig tätig ist; im Rahmen der Schadensminderungspflicht ist der Ausfall aber durch entsprechende Dispositionen möglichst gering zu halten.39 Arbeit im Haushalt kann regelmäßig nachgeholt werden, so dass für entsprechenden Zeitverlust kein Erstattungsanspruch besteht.40 Die Aufwendungen für mitgebrachte Blumen sind, da vom Heilungszweck nicht mehr umfasst, nicht zu ersetzen,41 die Kosten für Spielsachen, die dem verletzten Kind den Aufenthalt im Krankenhaus erträglich machen sollen, nur, wenn dies zur Förderung des Heilungsprozesses geboten war.42 Die Häufigkeit der Besuche hängt von den Umständen des Einzelfalles (z.B. Alter des Patienten, Behandlungsdauer, Hilfsbedürftigkeit) ab.43 Für vermehrte Zuwendung, die Eltern ihrem Kind in ihrer Freizeit zuteilwerden lassen, können sie keinen Ersatz beanspruchen.44 Muss ein Verwandter die zur endgültigen Ausheilung erforderliche Pflege eines aus dem Krankenhaus entlassenen Schwerverletzten übernehmen, so zählen auch die Reisekosten – selbst wenn er das Flugzeug benützte – und der Verdienstausfall der Pflegeperson zu den Heilungskosten.45 Ebenso sind die Aufwendungen, die durch die Heranziehung eines Angehörigen zur Pflege im Krankenhaus46 oder durch notwendige gemeinsame Unterbringung (bei Kleinkindern) entstehen, zu erstatten.47

32.11

Nebenkosten, die nur mittelbar der Heilung dienen, wie der Umzug in eine gesündere Wohnung, sind unter die – ebenfalls erstattungspflichtigen – vermehrten Bedürfnisse (Rz. 32.32 ff.) einzureihen.

32.12

Kosten für das Durchgangsarztverfahren, das von den Berufsgenossenschaften durch Vertrag mit der kassenärztlichen Bundesvereinigung für alle Arbeitsunfälle eingeführt worden ist, die eine – wenn auch nur kurz dauernde – Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben, gehören nur insoweit zu den Heilungskosten, als sie für eine Heilbehandlung oder für erste Hilfe anfallen.48

32.13

Finanzierungskosten hat der Schädiger ebenfalls als Heilungskosten zu ersetzen, wenn der Verletzte einen Kredit aufnehmen musste, weil er nicht über ausreichende Barmittel verfügte, um die Kosten der Heilung zu verauslagen, und wenn er den Schädiger rechtzeitig auf diese Lage aufmerksam gemacht hatte. Der Verletzte ist verpflichtet, sich um eine Vorfinanzierung (um einen Kredit) zu bemühen, wenn der Schädiger den erforderlichen Vorschuss verweigert

32.14

38 OLG Frankfurt v. 2.11.1979 – 2 U 76/79, VersR 1981, 239. 39 BGH v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, VersR 1985, 785; BGH v. 20.2.1991 – IV ZR 202/90, NZV 1991, 226; kritisch Grunsky JuS 1991, 908 f. 40 BGH v. 20.2.1991 – IV ZR 202/90, VersR 1991, 459. 41 A.A. LG Oldenburg v. 1.6.1983 – 4 O 560/81, ZfS 1985, 40; Schleich DAR 1988, 146 f. 42 Vgl. BGH v. 22.10.1957 – VI ZR 227/56, VersR 1957, 790. 43 Näher hierzu Schleich DAR 1988, 145 f. Aus der Rspr. s. OLG Hamm v. 26.4.1972 – 3 U 219/71, NJW 1972, 1521 (hilfloser Patient); OLG Koblenz v. 23.3.1981 – 12 U 880/80, VersR 1981, 887 (18-jähriger Schwerverletzter); LG Wiesbaden VersR 1955, 640 (Aufenthalt über ein Jahr); LG Lüneburg v. 13.7.1973 – 3 O 111/73, VersR 1975, 1016 (täglicher Besuch des Ehegatten). 44 BGH v. 22.11.1988 – VI ZR 126/88, VersR 1989, 188 = JZ 1989, 344 mit zust. Anm. Grunsky = JR 1989, 236 mit abl. Anm. Schlund. 45 OLG Düsseldorf v. 18.6.1973 – 1 U 205/73, NJW 1973, 2112. 46 OLG Hamm v. 26.4.1972 – 3 U 219/71, NJW 1972, 1521. 47 Vgl. Schleich DAR 1988, 149. 48 Vgl. Vollmar VersR 1958, 436. Enger Peters VersR 1959, 10; dagegen Klick VersR 1963, 903.

Zwickel | 897

§ 32 Rz. 32.14 | Körperverletzung

und durch das Nichtergreifen von Maßnahmen eine Verschlechterung des Gesundheitszustands oder ein Dauerschaden droht. In einer solchen Lage kann der Verletzte auch verpflichtet sein, seine private Krankenkasse oder – wenn er im Staatsdienst steht – die Vorschüsse der Beihilfestelle in Anspruch zu nehmen, weil andernfalls seine Ansprüche wegen Verstoßes gegen die Schadensminderungspflicht gekürzt werden (Rz. 32.27). Verliert er dadurch seinen Anspruch auf Beitragsrückerstattung, ist ihm dieser Nachteil zu ersetzen.49

c) Erforderlichkeit 32.15

Erforderliche Kosten i.S.v. von § 249 Abs. 2 BGB sind alle Aufwendungen, die vom Standpunkt eines verständigen Betrachters bei der gegebenen Sachlage als zweckmäßig und angemessen angesehen werden konnten.50 Kosten einer privatärztlichen Behandlung sind auch einem Kassenpatienten zu ersetzen, wenn das Leistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung im konkreten Fall nur unzureichende Möglichkeiten zur Schadensbeseitigung bietet oder deren Inanspruchnahme aus besonderen Gründen ausnahmsweise nicht zumutbar ist.51 Dies gilt bis zur Grenze der Unverhältnismäßigkeit (Rz. 32.19) auch für Behandlungsmethoden, die vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenkassen nicht umfasst werden (§ 92 SGB V i.V.m. den Richtlinien der Bundesausschüsse).52

32.16

Daher brauchen i.d.R. die Mehrkosten einer auswärtigen Behandlung nicht bezahlt zu werden, wenn entsprechende Behandlungsmöglichkeiten am Wohnort des Verletzten bestehen. Ausländer dürfen sich allerdings in ihrem Heimatort behandeln lassen, wenn schwierige Eingriffe erforderlich sind. Außerdem können die Kosten der Behandlung bei einem Arzt oder einer Klinik im Ausland (einschl. Reisekosten) dann ersetzt verlangt werden, wenn diese Behandlung z.B. wegen einer nur dort praktizierten Behandlungsmethode auf ärztlichen Rat in Anspruch genommen wurde.53 Einem in Deutschland verletzten Ausländer kann nicht angelastet werden, dass er hier eine gegenüber dem Heimatland kostspieligere Heilbehandlung in Anspruch nimmt.54 Ausländischen Soldaten sind die höheren Behandlungskosten in einem Armeekrankenhaus zu ersetzen.55 Ist die Behandlung für den Soldaten kostenlos, steht dies einem Schadensersatzanspruch nicht entgegen.56 Wird ein notwendiger Erholungsaufenthalt in einem anderen Land gewählt, so hat der Verletzte die Fahrtkosten selbst zu tragen,57 sofern der dortige Aufenthalt nicht aus Klimagründen besondere Heilungsaussichten versprach.

32.17

Auf das Urteil eines Arztes über die Erforderlichkeit einer Maßnahme darf sich der Verletzte grundsätzlich verlassen.58

49 Vgl. OLG Köln v. 7.6.1990 – 7 U 32/90, NZV 1990, 465; a.A. Schmidt VersR 1966, 617. 50 RG v. 19.5.1920 – V 129/19, RGZ 99, 183; BGH v. 23.9.1969 – VI ZR 69/68, VersR 1969, 1040; BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 91/68, VersR 1970, 129; LG Koblenz v. 13.12.1985 – 14 S 2/85, NJWRR 1986, 702. 51 BGH v. 6.7.2004 – VI ZR 266/03, NJW 2004, 3324. 52 Höher SVR 2018, 23, 26; OLG Hamm v. 27.3.2001 – 27 U 151/00, NZV 2002, 370 (Zahnimplantat statt Brücke). 53 OLG Hamburg v. 7.8.1987 – 14 U 136/86, VersR 1988, 858 = NZV 1988, 105. 54 OLG Frankfurt v. 22.8.1996 – 16 U 162/95, OLGR Frankfurt 1996, 267, 269. 55 BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, NZV 1989, 106. 56 OLG Celle v. 28.4.1988 – 5 U 149/86, VersR 1989, 491. 57 LG München I VersR 1958, 654. 58 OLG Frankfurt v. 22.8.1996 – 16 U 162/95, OLGR Frankfurt 1996, 267, 270; zu eng LG Frankfurt VersR 1966, 95: Kur nur auf Rat des Facharztes.

898 | Zwickel

II. Heilungskosten | Rz. 32.21 § 32

Die Kosten einer höheren als der allgemeinen Pflegeklasse im Krankenhaus sind jedenfalls dann zu ersetzen, wenn die dortige Behandlung aus medizinischer Sicht geboten war.59 Darüber hinaus besteht aber auch dann ein Anspruch auf Erstattung dieser Mehrkosten, wenn dem Verletzten eine Unterbringung in der allgemeinen Pflegeklasse deswegen nicht zuzumuten ist, weil er sich auch bei Fehlen eines ersatzpflichtigen Schädigers in der besseren Klasse behandeln lassen würde;60 hierfür können zurückliegende Klinikaufenthalte,61 die Notwendigkeit einer besonders schwierigen oder langwierigen Behandlung62 oder das Bestehen einer entsprechenden Versicherung Anhaltspunkte liefern.

32.18

d) Verhältnismäßigkeit Unverhältnismäßige Aufwendungen erhält nach dem auch hier anwendbaren § 251 Abs. 2 BGB der Verletzte nicht ersetzt, auch wenn sie „erforderlich“ i.S.v. § 249 Abs. 2 BGB waren. Es handelt sich dabei vor allem um besonders teure Heilmethoden oder Kuraufenthalte, sofern nur eine äußerst geringe Aussicht besteht, dass sie zur Besserung der unfallbedingten Körperschäden beitragen werden, oder sofern der zu erwartende Grad der Besserung so gering ist, dass die ungewöhnliche Höhe der Kosten in keinem tragbaren Verhältnis dazu steht.63 Ist die Beseitigung einer unbedeutenden Narbe mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden, so können diese nicht ersetzt verlangt werden, jedoch erhöht sich hierfür, soweit gegeben, der Schmerzensgeldanspruch des Verletzten.64 Entscheidend für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist die Sicht eines verständigen Beurteilers zum Zeitpunkt des Ergreifens der fraglichen Maßnahme.

32.19

e) Erfolglose Aufwendungen, Untersuchungskosten bei Verletzungsverdacht Auch die Kosten für Maßnahmen, die sich nachträglich als erfolglos herausstellen, von denen aber nach medizinischer Erfahrung anzunehmen war, sie könnten Erfolg haben, sind zu ersetzen. Die Kosten einer versuchten Heilung können auch wiederholt anfallen. Der Verletzte hat das Recht, einen missglückten Versuch (z.B. eine orthopädische Operation) wiederholen zu lassen, solange nur einige Aussicht besteht, dass er zu einer Besserung führen könnte.

32.20

Verstirbt der Verletzte trotz der Heilungsversuche, so können die bisherigen Aufwendungen, wie § 10 Abs. 1 StVG klarstellt, von den Erben geltend gemacht werden.

32.21

Bei begründetem Verletzungsverdacht, wie er häufig bei HWS-Syndrom gegeben sein wird, sind auch Untersuchungskosten bzw. Diagnosekosten zu ersetzen, die sich im Nachhinein als unbegründet herausstellen (s. Rz. 3.48).65 Anders als vom BGH66 angenommen ist ein Verlet-

59 60 61 62 63 64 65 66

BGH v. 16.12.1963 – III ZR 219/62, VersR 1964, 257. BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 91/68, VersR 1970, 129. LG Ravensburg v. 11.11.1980 – 4 O 1208/80, DAR 1981, 294. OLG Düsseldorf v. 28.5.1984 – 1 U 186/83, VersR 1985, 644. BGH v. 25.10.1966 – VI ZR 25/65, VersR 1967, 80. BGH v. 3.12.1974 – VI ZR 1/74, VersR 1975, 342. KG v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, NZV 2003, 281. BGH v. 17.9.2013 – VI ZR 95/13, NJW 2013, 3634 = NZV 2014, 23 mit abl. Anm. Ch. Huber = r +s 2013, 570 mit zust. Anm. Lemcke; BGH v. 23.6.2020 – VI ZR 135/19, NJW 2020, 3176 mit Anm. Almeroth.

Zwickel | 899

§ 32 Rz. 32.21 | Körperverletzung

zungsverdacht in diesen Fällen einer Rechtsgutsverletzung gleichzusetzen.67 Das Risiko der gerade bei Gesundheitsschädigungen wichtigen Diagnose würde andernfalls auf das Opfer abgewälzt werden, obwohl es keinen Anlass für die Untersuchungskosten gesetzt hat. Begibt sich der Geschädigte nicht in Behandlung, muss er sich ggf. ein Mitverschulden anrechnen lassen (s. Rz. 32.26). Im Gegenzug soll er nur vermeintlich notwendige Untersuchungskosten mangels Schadens nicht ersetzt verlangen können. Dieses Dilemma lässt sich nur durch Erstreckung des Schadensbegriffs auf Aufwendungen zur Abklärung des Schadensverdachts (ähnlich wie bei Eigentumsverletzungen; s. Rz. 10.17) lösen.

f) Fiktive Aufwendungen 32.22

Fiktive Aufwendungen sind nicht zu ersetzen, weil andernfalls der Gesundheit im Widerspruch zum Rechtsgedanken des § 253 BGB ein wirtschaftlicher Wert beigemessen würde.68 Anders als beim Sachschaden, wo die fiktive Abrechnung von der Rspr. grundsätzlich anerkannt ist (Rz. 27.35 ff.; s. auch Rz. 20.26), hat sich hier die Verletzung nicht unmittelbar im Vermögen, sondern in einem nicht materiell bewertbaren Rechtsgut niedergeschlagen und tritt der Vermögensschaden erst später ein, nämlich wenn die zur Heilung erforderlichen Aufwendungen getätigt werden.69 Bedeutung erlangt diese Frage z.B., wenn der Verletzte eine zur völligen Wiederherstellung an sich erforderliche und verhältnismäßige Maßnahme nicht vornehmen lässt, was insbesondere im Bereich kosmetischer Operationen vorkommt,70 oder wenn er auf einen Kuraufenthalt oder auf die Einnahme bestimmter Medikamente oder Kräftigungsmittel verzichtet (hier würde wohl auch der Nachweis der Erforderlichkeit auf Schwierigkeiten stoßen). Dass die Anwendung wegen des Fehlens der erforderlichen Mittel unterbleibt, dürfte wegen der zumeist möglichen Inanspruchnahme einer Krankenversicherung oder eines Kredits (Rz. 32.14, auch zu dessen Abwendung durch einen Vorschuss) kaum vorkommen.71

2. Entstehung des Anspruchs 32.23

Der Anspruch auf Ersatz der zur Heilung erforderlichen Kosten entsteht im Augenblick des Unfalls,72 nicht etwa erst nach Inanspruchnahme des Arztes, Einnahme der Medikamente usw. Es besteht daher nicht lediglich ein Anspruch auf Freistellung von einer vom Geschädigten eingegangenen Verbindlichkeit, sondern direkt auf Geldersatz sobald die für die Heilung erforderlichen Aufwendungen getätigt sind.73 Der Schädiger ist verpflichtet, die Heilungskosten vorzuschießen.74 Zur Berücksichtigung von Schadensanlagen vgl. Rz. 19.27; Rz. 20.9 ff.

67 Kritisch auch MünchKomm-StVR/Almeroth, § 249 BGB Rz. 154; BGH v. 23.6.2020 – VI ZR 135/19, NJW 2020, 3176 geht freilich davon aus, ein Verletzungsverdacht sei nicht ausreichend, eine Rechtsgutsverletzung sei aber bereits bei Vorliegen starker Schmerzen gegeben. 68 BGH v. 14.1.1986 – VI ZR 48/85, VersR 1986, 550 = JZ 1986, 640 mit Anm. Zeuner = JR 1986, 365 mit Anm. Hohloch; Grunsky NJW 1983, 2469; a.A. Ziegler/Hartwig VersR 2012, 1364; Rinke DAR 1987, 14; s. auch 20. VGT (1982), 10. Der österreichische OGH hat seine frühere gegenteilige Ansicht in ZVR 1998, 89 aufgegeben; dazu Ch. Huber ZVR 1998, 74. 69 Karakatsanes AcP 189 (1989), 36 ff. 70 Vgl. OLG Celle v. 27.1.1972 – 5 U 104/71, VersR 1972, 468; OLG Stuttgart v. 30.8.1977 – 11 U 55/77, VersR 1978, 188. 71 Vgl. hierzu BGH v. 21.1.1958 – VI ZR 306/56, NJW 1958, 627; OLG Zweibrücken v. 28.5.1954 – 1 U 17/54, VRS 7, 321. 72 RG v. 11.6.1936 – VI 432/35, RGZ 151, 302; BGH v. 21.1.1958 – VI ZR 306/56, VersR 1958, 176. 73 A.A. Weber NJW 2015, 1841. 74 Zu eng Höher SVR 2018, 23, 26.

900 | Zwickel

II. Heilungskosten | Rz. 32.26 § 32

3. Vorteilsausgleichung Lebenshaltungskosten, die während des Krankenhausaufenthalts erspart werden (insbesondere für Verpflegung, u.U. auch für Wohnung),75 sind von den Krankenhauskosten abzuziehen.76 Je nach Lebenszuschnitt ist die Einsparung für Verpflegung im Bereich zwischen 5 und 15 € pro Tag anzusetzen.77 Auch bei nicht Erwerbstätigen und Kindern ist die Ersparnis zu berücksichtigen,78 nicht aber bei einem Soldaten, der von der Bundeswehr unentgeltlich verpflegt wird.79 Die Einsparung wird nicht durch vermehrte Nebenausgaben im Krankenhaus aufgewogen.80 Auch auf den privaten Krankenversicherer, Sozialversicherungsträger, Dienstherrn usw. geht nur der um die häusliche Ersparnis gekürzte Betrag der Krankenhauskosten über81 (vgl. aber Rz. 35.8). Im Falle des verletzten Soldaten (s. o.), bei dem wegen der Teilnahme an der Gemeinschaftsverpflegung keine häusliche Ersparnis eintritt, kann auch gegenüber dem Bund als Zessionar des Heilungskostenanspruchs (§ 30 Abs. 3 SG, § 76 BBG) keine entsprechende Kürzung vorgenommen werden, obwohl er die für den betreffenden Soldaten bestimmte Gemeinschaftsverpflegung erspart hat.82 Ist ein Mitverschulden des Verletzten zu berücksichtigen, so ist die häusliche Ersparnis nicht in voller Höhe von dem ihm verbleibenden Anspruch abzuziehen, sondern es ist umgekehrt die ihm zustehende Quote auf der Grundlage der gekürzten Heilungskosten zu berechnen.

32.24

Auf die Kosten eines Kuraufenthalts ist ein ersparter Erholungsurlaub nicht anzurechnen, weil die Kur i.d.R. neben den allgemeinen Jahresurlaub treten soll; unterlässt der Verletzte in dem betreffenden Jahr ausnahmsweise eine Urlaubsreise, so sollte dies nicht zu einer Kürzung seiner Heilungskosten führen.83

32.25

4. Schadensminderungspflicht (allgemein hierzu Rz. 25.100) a) Unvernünftiges Verhalten Der Verletzte darf nicht durch unvernünftiges Verhalten den Heilungserfolg beeinträchtigen oder sich über ärztliche Anordnungen hinwegsetzen.84 Er muss sich den Behandlungsmaßnahmen unterziehen, die ein verständiger Mensch in der Lage des Geschädigten veranlassen würde (vgl. hierzu, insbesondere auch zur Frage der Duldung einer Operation Rz. 25.113 ff.).

75 Vgl. OLG Nürnberg VersR 1964, 176. 76 BGH v. 18.5.1965 – VI ZR 262/63, VersR 1965, 786; BGH v. 13.10.1971 – VI ZR 31/69, NJW 1971, 240; Schmalzl VersR 1995, 516. 77 OLG Hamm v. 21.2.1994 – 6 U 225/92, NJW-RR 1995, 599: 10 DM; OLG Oldenburg v. 13.6.1988 – 9 U 30/88, r+s 1989, 85: 20 DM; Jahnke NZV 1996, 178: 22 DM. 78 OLG Braunschweig v. 14.3.1968 – 2 U 95/67, VersR 1969, 249; OLG München v. 10.11.1977 – 1 U 263/77, VersR 1978, 373; KG v. 9.11.1978 – 12 U 2099/78, VersR 1979, 137; OLG Celle v. 11.10.1990 – 5 U 135/89, NZV 1991, 228 mit Anm. Schröder NZV 1992, 139. 79 BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 172/76, VersR 1978, 251. 80 KG v. 6.7.1967 – 12 U 49/67, VersR 1968, 259; OLG Saarbrücken v. 30.5.1975 – 3U 83/74, VersR 1976, 271. 81 Schmalzl VersR 1995, 516. 82 BGH v. 6.12.1977 – VI ZR 172/76, VersR 1978, 251. 83 Staudinger/Schiemann § 249 Rz. 169; Pauge VersR 2007, 573. 84 BGH v. 10.2.2015 – VI ZR 8/14, NZV 2015, 281 mit Anm. Burmann.

Zwickel | 901

32.26

§ 32 Rz. 32.27 | Körperverletzung

b) Inanspruchnahme der privaten Krankenversicherung 32.27

Die Inanspruchnahme der privaten Krankenversicherung ist im Allgemeinen nicht durch die Schadensminderungspflicht geboten.85 Ersparnisse für den Schädiger können durch die Inanspruchnahme nicht eintreten, weil die Ersatzansprüche des Verletzten nach § 86 VVG auf den Versicherer übergehen (Rz. 32.30). Die Inanspruchnahme des Versicherers durch den Verletzten kann allenfalls dann geboten sein, wenn dieser die Heilungskosten nicht aus eigenen Mitteln verauslagen kann, denn sie wird häufig billiger kommen, als die Finanzierung durch eine Bank. Der Schädiger muss dem Verletzten die entstehenden Nachteile (Verlust des Anspruchs auf Beitragsrückerstattung usw.) als Finanzierungskosten ersetzen (Rz. 32.14). Der Verletzte darf seine eigene Krankenversicherung jedenfalls immer dann in Anspruch nehmen, wenn er andernfalls seine Ansprüche gegen diese wegen Fristablauf verlieren würde und der Schädiger nicht rechtzeitig vorher die Kosten beglichen hat.86 Eine Pflicht des Verletzten, den Schädiger darauf hinzuweisen, dass er seine Privatversicherung in Anspruch nehmen müsse, wenn der Schädiger nicht sofort Vorschuss leiste, wird man nicht verlangen können. Ein solches Verhalten entspricht der Regel, so dass eine Hinweispflicht nach § 254 Abs. 2 BGB entfällt.

c) Krankenkasse der Sozialversicherung 32.28

Die Krankenkassen der Sozialversicherung (Allgemeine Ortskrankenkasse, Betriebskrankenkasse, Innungskrankenkasse, See-Krankenkasse, Landwirtschaftliche Krankenkasse, Bundesknappschaft, Ersatzkasse; vgl. § 4 SGB V) muss der Verletzte ebenfalls nicht in Anspruch nehmen.87 Sozialleistungen sind verzichtbar (§ 46 Abs. 1 SGB I), ihre Inanspruchnahme führt zu Regressansprüchen der Sozialversicherungsträger (vgl. Rz. 32.29). Dass häufig Teilungsabkommen zwischen Haftpflichtversicherern und Krankenkassen der Sozialversicherung bestehen, ändert nichts an der Wahlfreiheit des Verletzten.88

5. Forderungsübergang a) Sozialleistungsträger 32.29

Die Forderung des Verletzten auf Ersatz von Heilungskosten geht auf einen Sozialleistungsträger über, der entsprechende Leistungen zu erbringen hat; der Verletzte ist insoweit also nicht aktivlegitimiert. Zu den Voraussetzungen und Einzelheiten des Forderungsübergangs vgl. § 35 für Sozialversicherungsträger, § 36 für Sozialhilfeträger und § 37 für Versorgungsträger. Kein Forderungsübergang findet statt, wenn der Sozialversicherer keine Leistungen erbracht hat, weil der Verletzte sich privat behandeln ließ (vgl. Rz. 35.92).

b) Private Versicherer 32.30

Hat der Verletzte seine private Krankenversicherung oder seine private Unfallversicherung in Anspruch genommen, so geht sein Schadensersatzanspruch insoweit auf den Versicherer über, als dieser ihm für Heilungskosten Ersatz geleistet hat und sein Anspruch gegen den Schädiger Heilungskosten betrifft (§ 86 Abs. 1 VVG). Vgl. dazu näher Rz. 38.3 ff.

85 86 87 88

Ortschig NJW 1952, 290; Schmidt VersR 1966, 617. Geigel NJW 1952, 733. OLG Schleswig v. 6.4.1955 – 5 U 151/54, NJW 1955, 1234. A.A. Plagemann/Schafhausen NZV 1991, 50 f.

902 | Zwickel

III. Ersatz vermehrter Bedürfnisse | Rz. 32.33 § 32

c) Öffentliche Dienstherren. Nach § 76 BBG und den entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze findet ein gesetzlicher Forderungsübergang auch auf den Dienstherrn eines Beamten statt, der bei dessen Verletzung zu Leistungen an ihn verpflichtet ist. Zu den Einzelheiten s. Rz. 37.6 ff.

32.31

III. Ersatz vermehrter Bedürfnisse 1. Begriff a) Definition Unter Vermehrung der Bedürfnisse versteht man alle Mehrausgaben, die den Zweck haben, diejenigen Nachteile auszugleichen, die dem Verletzten infolge dauernder Beeinträchtigung seines körperlichen Wohlbefindens entstehen.89 Insbesondere zählen hierzu Aufwendungen, die dem Verletzten dadurch entstehen, dass er die Dienstleistungen fremder Personen infolge seiner unfallbedingten Körperbehinderung oder Erkrankung in Anspruch nehmen muss oder Gerätschaften, Diätkost, Verkehrsmittel oder andere Hilfsmittel benötigt, um einen seinen früheren Gewohnheiten entsprechenden Lebensstil aufrechterhalten zu können. Abzustellen ist auf die Lage, in der sich der Verletzte befinden würde, hätte sich der Unfall nicht ereignet. Ersatzfähig sind die Aufwendungen, die ein verständiger Geschädigter in der jeweiligen Situation vornehmen würde.90 Zu den vermehrten Bedürfnissen zählt auch die durch den Unfall entstandene Notwendigkeit, eine andere Wohnung zu beziehen. Durch die Vermehrung der Bedürfnisse können einmalige Kosten entstehen (Anschaffungskosten, Umzugskosten); i.d.R. kehren aber die Aufwendungen laufend wieder.91 Daher sehen § 843 Abs. 1 BGB, § 13 Abs. 1 StVG und § 8 Abs. 1 HaftPflG für die Gewährung des Schadensersatzes grundsätzlich Rentenform vor (vgl. Rz. 32.38).

32.32

b) Abgrenzung gegenüber den Heilungskosten Obwohl ebenfalls ersatzfähig, müssen die Heilungskosten klar von den vermehrten Bedürfnissen abgegrenzt werden, weil die Ansprüche, insbesondere beim Forderungsübergang, unterschiedlichen Regelungen unterworfen sein können. Für den Forderungsübergang ist nämlich insbesondere entscheidend, ob zwischen dem jeweiligen Schadensersatzanspruch und der erbrachten Sozialleistung sachliche Kongruenz besteht (vgl. näher Rz. 35.24 ff.), zu deren Prüfung die Schadensposten genau zugeordnet werden müssen. Die Aufwendungen, die der Wiederherstellung der Gesundheit dienen, sind Heilungskosten (Rz. 32.5); unter dem Gesichtspunkt der Vermehrung der Bedürfnisse zu ersetzen sind dagegen solche Kosten, die für eine noch nicht absehbare Zeit oder dauernd und regelmäßig erforderlich sind, um verbleibende Unfallbeeinträchtigungen auszugleichen.92 Hierunter fällt auch die Beschaffung von Medikamenten und Arztkosten, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit immer wieder anfallen, um

89 BGH v. 28.8.2018 – VI ZR 518/16, VersR 2019, 51; BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 49/72, VersR 1974, 162; BGH v. 19.5.1981 – VI ZR 108/79, NJW 1982, 757. 90 BGH v. 28.8.2018 – VI ZR 518/16, VersR 2019, 51; BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 83/04, VersR 2005, 1559. 91 BGH v. 19.5.1981 – VI ZR 108/79, NJW 1982, 757. 92 BGH v. 28.8.2018 – VI ZR 518/16, VersR 2019, 51.

Zwickel | 903

32.33

§ 32 Rz. 32.33 | Körperverletzung

den im Rahmen des Möglichen wiederhergestellten Gesundheitszustand zu erhalten (nicht wiederherzustellen!);93 auch Besuche des im Pflegeheim untergebrachten Kindes durch den sorgeberechtigten Elternteil sind den vermehrten Bedürfnissen zuzuordnen.94

c) Abgrenzung gegenüber dem Verdienstausfall 32.34

Auch hier entscheidet die Zuordnung ggf. über den Forderungsübergang. Lebenshaltungskosten, die während der unfallbedingten Verlängerung der Ausbildungszeit anfallen, ohne dass ihnen Arbeitseinkommen gegenübersteht, fallen nicht unter die vermehrten Bedürfnisse; insoweit kann nur Verdienstausfall wegen verzögerten Eintritts in das Berufsleben (Rz. 32.166) geltend gemacht werden.95 Soweit Mehrausgaben dazu dienen, eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen oder Einkommenseinbußen zu verhindern, fallen sie ebenfalls nicht unter „Vermehrung der Bedürfnisse“, sondern sind als Schadensminderungskosten bei der Berechnung des Verdienstausfalls zu berücksichtigen (Rz. 32.108). Ein Verdienstausfall kann mithin in einem solchen Fall auch dann vorliegen, wenn das Arbeitseinkommen durch den Unfall nicht beeinträchtigt worden ist. Das hat zur Folge, dass die Ersatzansprüche insoweit auf den Sozialversicherungsträger (die Berufsgenossenschaft) übergehen, wenn eine Unfallrente wegen Erwerbsminderung gewährt wird. Hierzu können z.B. erhöhte Fahrtkosten zum Arbeitsplatz, die Kosten einer zusätzlichen Schreibkraft oder eines Begleiters auf Geschäftsreisen und Aufwendungen für eine Umschulung oder einen Umzug zählen.

32.35

Ist die unfallverletzte Hausfrau bei ihrer Tätigkeit im ehelichen Haushalt behindert, so steht dies einem Verdienstausfall gleich; um eine Vermehrung der Bedürfnisse der Hausfrau handelt es sich nur insoweit als die Haushaltsführung der Befriedigung eigener Bedürfnisse dient (vgl. Rz. 32.51, 32.146).

d) Abgrenzung gegenüber dem Schmerzensgeld 32.36

Eine Abgrenzung gegenüber dem Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) ist schwierig, da auch dieses teilweise dazu bestimmt ist, dem Verletzten Anschaffungen zu ermöglichen, die einen Ausgleich für die erlittenen Dauerschäden (Körper- und Gesundheitsschäden) schaffen. Die Abgrenzung ist von Bedeutung, wenn der Verletzte sich durch Teilabfindungsvergleich entweder nur hinsichtlich des Schmerzensgeldes oder nur hinsichtlich der Vermehrung der Bedürfnisse hat abfinden lassen. Außerdem gibt es bei § 253 Abs. 2 BGB keinen Vollersatz, sondern nur eine billige Entschädigung. Dem entsprechend ist wie folgt abzugrenzen: Der Ersatz wegen Vermehrung der Bedürfnisse betrifft stets nur konkrete Aufwendungen.96 Dagegen gilt das Schmerzensgeld, abgesehen von seiner Funktion als Ausgleich für die erlittenen Schmerzen und für die Notwendigkeit eines Krankenhausaufenthalts oder eines Krankenlagers, die durch Dauerschäden entstandenen Behinderungen und Unbequemlichkeiten insoweit ab, als durch Beschaffung von Pflege und Geräten ein Ausgleich nicht möglich ist, wie z.B. hinsichtlich der Hinderung an einer bestimmten Freizeitgestaltung (Wandern, Tanzen, Sport usw.).

93 94 95 96

Vgl. OLG Hamburg OLGZ 36, 143. OLG Bremen v. 31.8.1999 – 3 U 165/98, VersR 2001, 595. BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 103/91, VersR 1992, 1235. Zur fiktiven Abrechnung s. aber Rz. 32.54.

904 | Zwickel

III. Ersatz vermehrter Bedürfnisse | Rz. 32.39 § 32

2. Art, Bemessung und Form der Ersatzleistung a) Schadensersatz Der Anspruch auf Ersatz vermehrter Bedürfnisse ist ein Schadensersatzanspruch, der mit dem Schadensereignis, nicht erst mit der Befriedigung des Bedürfnisses, entsteht und grundsätzlich nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB durch Zahlung des zum Ausgleich des Mehraufwands erforderlichen Geldbetrags zu leisten ist.97 Zu ersetzen sind auch fest geplante Aufwendungen, für die der Geschädigte nicht in Vorleistung treten kann oder will. Er hat dann Anspruch auf Vorschusszahlung.98 Bestehen mehrere Möglichkeiten des Ausgleichs, kann der Geschädigte die seinem Lebenszuschnitt entsprechende, dem Ersatzpflichtigen zumutbare und die Verhältnismäßigkeitsschranke des § 251 Abs. 2 BGB wahrende Art wählen.99 Ob die vom Geschädigten gewählte Lebensgestaltung zumutbar ist, bestimmt sich ausschließlich anhand der Umstände des Einzelfalls. Feste Obergrenzen z.B. für die Kosten der häuslichen Pflege durch Angehörige sind abzulehnen.100

32.37

b) Rente Nach § 843 Abs. 2 i.V.m. § 760 BGB ist der Mehrbedarf grundsätzlich in Form einer vierteljährlich vorauszahlbaren Rente zu ersetzen. Deren Höhe richtet sich nicht nach einem abstrakten Beeinträchtigungssatz (Minderung der Erwerbsfähigkeit, MdE), sondern nach dem erforderlichen Mehraufwand (Einzelheiten zum Rentenanspruch: Rz. 34.22 ff.). Wenn Aufwendungen in variabler Höhe anfallen, ist unter Einbeziehung der Kosten langlebiger Gegenstände101 im Wege der Schätzung eine Durchschnittsrente festzusetzen.102 Mehrbedarfsrenten unterliegen nicht der Einkommensteuer.103

32.38

c) Kapitalabfindungen Kapitalabfindung kann der Verletzte statt der Rente beanspruchen, allerdings setzt dies (bei der deliktischen Haftung gem. § 843 Abs. 3 BGB generell, bei der Haftung nach StVG und HaftPflG nur in Bezug auf Zukunftsschäden) einen wichtigen Grund voraus (s. Rz. 34.1 f.). Ein solcher ist zu bejahen, wenn der Mehrbedarf durch eine einmalige Investition (Kauf eines behindertengerechten Kfz, Wohnungsumbau) gedeckt werden kann.104 Für absehbare Ersatzbeschaffungen sollte Vorsorge, ggf. durch Feststellungsurteil, getroffen werden.105 Zur Berechnung s. Rz. 34.11.

97 98 99 100 101 102 103 104 105

BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 83/04, NZV 2005, 629, 631; Ch. Huber NZV 2005, 620. Zoll NJW 2014, 967, 968. BGH v. 28.8.2018 – VI ZR 518/16, VersR 2019, 51; Zoll NJW 2014, 967, 968. BGH v. 28.8.2018 – VI ZR 518/16, VersR 2019, 51; a.A. Hofmann ZfS 2007, 428, 429 (doppelte Heimunterbringungskosten als Obergrenze). Vgl. OLG Celle v. 19.12.1974 – 5 U 63/74, VersR 1975, 1103, 1104. Drees VersR 1988, 789. BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, NJW 1995, 1238. BGH v. 19.5.1981 – VI ZR 108/79, NJW 1982, 758; Ch. Huber NZV 2005, 620. Ch. Huber NZV 2005, 620.

Zwickel | 905

32.39

§ 32 Rz. 32.40 | Körperverletzung

3. Einzelfälle 32.40

Kosten einer Pflegeperson oder einer sonstigen Hilfskraft (zur Haushaltshilfe bei Verletzung der Hausfrau vgl. Rz. 32.51) fallen unter die vermehrten Bedürfnisse.106 Zur Rechtslage, wenn solche Kosten nur deswegen nicht angefallen sind, weil Verwandte die Pflege des Verletzten unentgeltlich übernommen haben, vgl. Rz. 32.55. Die Kosten für Begleitpersonen zu bestimmten alltäglichen Verrichtungen (z.B. Spaziergänge, Einkäufe, Urlaub107) sind als vermehrte Bedürfnisse ersatzfähig, wenn sie ausschließlich durch den Unfall bedingt sind.108

32.41

Bei erforderlicher Unterbringung in einem Pflegeheim sind die ersparten Wohnungskosten anzusetzen, jedoch nur in der Höhe, in der sie bei einer dem Heimplatz entsprechenden Wohngelegenheit anfielen.109 Wie bei den Heilungskosten unterfallen in einem solchen Fall auch Besuchskosten von Angehörigen dem Schadenersatzanspruch des Geschädigten.110

32.42

Der behindertengerechte Ausbau der Wohnung dient ebenfalls dem Ausgleich vermehrter Bedürfnisse. Für das Ausmaß ist entscheidend, welche Dispositionen ein verständiger Geschädigter in seiner besonderen, durch die bisherigen Wohnverhältnisse geprägten Lage getroffen hätte.111 Bei der Schaffung neuen Wohnraums (z.B. behindertengerechter Anbau an das Haus der ihn betreuenden Eltern), kann der Verletzte aber nur die Kosten (insbesondere für Beschaffung und Verzinsung des erforderlichen Kapitals) geltend machen, in denen sich der durch sein Gebrechen bedingte Mehraufwand niederschlägt, weil die übrigen Kosten das allgemein bestehende Bedürfnis nach Wohnraum decken.112 Muss der Geschädigte zum Ausgleich seiner Behinderung viel schwimmen, so können auch die Kosten eines privaten Schwimmbeckens geschuldet sein.113

32.43

Ein Wohnungswechsel kann außer wegen der Notwendigkeit eines Berufswechsels (vgl. hierzu Rz. 32.34) z.B. infolge einer unfallbedingten Gehbehinderung,114 oder aus medizinischen Gründen (gesündere Lage) erforderlich werden. In einem solchen Fall ist neben den Umzugskosten auch der evtl. Mehrbetrag an Miete, Fahrtkosten usw. zu ersetzen.115 Die Verschaffung von Wohnungseigentum kann vom Schädiger allerdings grundsätzlich nicht verlangt werden. Wohnte der Geschädigte bereits im eigenen Haus, können die Mehrkosten für den Bau eines behindertengerechten Hauses zzgl. Umzugskosten beansprucht werden.116

106 RG v. 11.6.1936 – VI 432/35, RGZ 151, 298; KG v. 15.2.1982 – 12 U 3843/81, VersR 1982, 978; OLG Nürnberg v. 13.7.1984 – 1 U 983/84, VersR 1986, 174. 107 BGH v. 10.3.2020 – VI ZR 316/19, NJW 2020, 2113. 108 OLG Frankfurt v. 15.2.2007 – 16 U 70/06, Schaden-Praxis 2008, 11. 109 OLG Hamm v. 8.5.2001 – 27 U 16/01, NZV 2001, 473, 474. 110 OLG Bremen v. 31.8.1999 – 3 U 165/98, VersR 2001, 595. 111 BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 83/04, NZV 2005, 629 mit Besprechung Ch. Huber NZV 2005, 620 (Umbau eines Schlosses). 112 BGH v. 19.5.1981 – VI ZR 108/79, NJW 1982, 758. Zur deutlich weitergehenden Rspr. des OGH s. Ch. Huber VersR 2013, 129 m.w.N. 113 OLG Nürnberg v. 23.6.1970 – 7 U 195/69, VersR 1971, 260 (allerdings unter dem Gesichtspunkt der Heilungskosten); a.A. österr. OGH VersR 1992, 259 mit abl. Anm. Ch. Huber VersR 1992, 545. 114 OLG München v. 30.1.2003 – 19 U 4246/02, VersR 2003, 518. 115 Vgl. OLG Dresden VAE 1941, 116. 116 OLG München v. 30.1.2003 – 19 U 4246/02, VersR 2003, 518.

906 | Zwickel

III. Ersatz vermehrter Bedürfnisse | Rz. 32.48 § 32

Die für den Umbau der Wohnung geltenden Grundsätze sind für den behindertengerechten Umbau des Arbeitsplatzes nicht maßgeblich. Sie sind als Schadensminderungskosten bei der Berechnung des Erwerbsschadens zu berücksichtigen.117 Bei Kindern kann sich die Notwendigkeit ergeben, Privatunterricht in Anspruch zu nehmen, wenn keine geeignete Schule erreichbar ist.118 Ist die Unterbringung in einem Internat für Körperbehinderte erforderlich, so sind auch die Kosten für Familienheimfahrten zu erstatten.119 Intensivfördermaßnahmen durch Angehörige, die dafür ihren Beruf aufgeben, können in Ausnahmefällen zu einem Ersatz vermehrter Bedürfnisse i. H. des Nettoeinkommens der betreuenden und hierfür geeigneten Angehörigen führen.120

32.44

Von der Ersatzpflicht umfasst werden auch die Kosten, die dadurch entstehen, dass der Geschädigte nur noch in einer sog beschützenden Werkstätte beschäftigt werden kann.121

32.45

Die Aufwendungen für häufige Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sind bei einem infolge des Unfalls Gehbehinderten im Rahmen der vermehrten Bedürfnisse zu ersetzen.122

32.46

Ausgaben zur Stärkung oder Schonung des Verletzten (z.B. Medikamente, medizinische Behandlungen, Bäder, Kuren, Stärkungsmittel, Mehraufwendungen für Diätkost, Fitnessstudio123) können sowohl zu den Heilungskosten als auch zu den vermehrten Bedürfnissen zählen (zur Abgrenzung s. Rz. 32.33).

32.47

Fahrzeuge und sonstige technische Hilfsmittel (Rollstuhl, Zusatzeinrichtungen im Kraftfahrzeug, spezielles Schuhwerk, Brillen usw.) fallen ebenfalls unter die vermehrten Bedürfnisse. Die Tatsache, dass der Unfallgeschädigte wegen der erlittenen Verletzungen (z.B. Querschnittslähmung) auf einen Pkw angewiesen ist, begründet jedoch keinen Anspruch darauf, dass der Schädiger auf Dauer jeweils die vollen Anschaffungskosten eines solchen ersetzt. Er hat vielmehr (neben den notwendigen Sonderausrüstungen) nur den durch die unfallbedingte Mehrbeanspruchung des Fahrzeugs bedingten Teil der Betriebs- und Anschaffungskosten zu tragen.124 Ausnahmsweise sind die Kosten der Erstbeschaffung voll erstattungsfähig, wenn der Pkw nur wegen der Verletzungen angeschafft wurde.125 Dabei ist es grundsätzlich Sache des Geschädigten, für welches Fahrzeug er sich entscheidet, solange der Aufwand nicht außer Verhältnis zu seinem gesamten Lebenszuschnitt steht.126 Auf den Erwerb eines Gebrauchtwagens muss er sich nicht verweisen lassen.127 Verfügt der Verletzte bereits über einen behindertengerecht umgebauten Pkw, kann er nicht zusätzlich die Umrüstung seines Motorrads

32.48

117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

Anders OLG Hamm v. 30.9.1998 – 32 U 6/98, VersR 2000, 600; Zoll NJW 2014, 967, 971. RG WarnR 1914, Nr. 13. OLG Hamm v. 17.3.1994 – 6 U 198/93, DAR 1994, 498. OLG Bamberg v. 28.6.2005 – 5 U 23/05, VersR 2005, 1593. BGH v. 2.7.1991 – VI ZR 6/91, NZV 1991, 387; OLG Hamm v. 23.8.1990 – 6 U 114/89, VersR 1992, 459. BGH v. 10.11.1964 – VI ZR 186/63, NJW 1965, 102. LG Wiesbaden v. 22.10.2019 – 9 O 218/18, NJW-RR 2020, 277. BGH v. 18.2.1992 – VI ZR 367/90, VersR 1992, 619 (Automatikgetriebe). OLG München v. 10.11.1983 – 24 U 243/83, VersR 1984, 245, 246. OLG München v. 10.11.1983 – 24 U 243/83, VersR 1984, 245, 246. Österr. OGH ZVR 1997, 301.

Zwickel | 907

§ 32 Rz. 32.48 | Körperverletzung

beanspruchen, da sein Mobilitätsbedürfnis ausgeglichen und die Freude am Motorradfahren ausschließlich bei der immateriellen Entschädigung zu berücksichtigen ist.128

32.49

Auch ein erhöhter Verschleiß oder Verbrauch an Kleidung, Körperpflegemitteln, Kosmetika o.ä. begründet unter diesem Gesichtspunkt einen Ersatzanspruch.129

32.50

Ein eventueller Mehraufwand für Versicherungen (z.B. im Rahmen der privaten Krankenversicherung130 oder bei Risikozuschlägen einer Lebensversicherung131) stellen vermehrte Bedürfnisse dar.

32.51

Die Kosten einer Haushaltshilfe sind insoweit vermehrte Bedürfnisse, als sie die vereitelte Selbstversorgung betreffen.132 Hatte der Verletzte auch Leistungen für Dritte zu erbringen, kommt daneben eine Ersatzfähigkeit als Erwerbsschaden in Betracht (s. Rz. 32.143 ff., insb. 32.146).

32.52

Muss der Verletzte die Dienste einer Partnervermittlung133 oder Prostituierten134 in Anspruch nehmen, weil er infolge seiner Behinderung oder Entstellung von normalen sozialen Kontakten ausgeschlossen wird, kann er deren Kosten geltend machen.

32.53

Muss der Verletzte beabsichtigte Eigenleistungen beim Hausbau oder Reparaturarbeiten von Dritten durchführen lassen, so handelt es sich nicht um vermehrte Bedürfnisse;135 die Einbußen durch Vereitelung des Eigenbaus oder von Reparaturarbeiten können lediglich unter dem Aspekt des Gewinnentgangs erfasst werden (vgl. Rz. 32.58).

4. Fiktive Aufwendungen 32.54

Das Unterlassen von Aufwendungen, die nachweislich wegen Vermehrung der Bedürfnisse erforderlich (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) gewesen wären, z.B. für medizinisch indizierte Stärkungsmittel oder eine Haushaltshilfe, vermindert den Anspruch des Verletzten nicht, da § 843 Abs. 1 BGB auf das Entstehen des Bedürfnisses abstellt.136 Insbesondere entlasten unzumutbare Anstrengungen oder Verzichtsleistungen des Geschädigten den Schädiger nicht.137 Entscheidet sich der Geschädigte für einen Neubau anstatt des behindertengerechten Umbaus seiner

128 129 130 131 132 133 134 135

136 137

BGH v. 20.1.2004 – VI ZR 46/03, NZV 2004, 195. BGH v. 18.2.1992 – VI ZR 367/90, MDR 1992, 1129. OLG Karlsruhe v. 14.4.1993 – 13 U 160/91, NZV 1994, 396. OLG Zweibrücken v. 26.1.1994 – 1 U 209/92, NZV 1995,315. BGH v. 8.10.1996 – VI ZR 247/95, VersR 1996, 1565; BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 49/72, VersR 1974, 162. Der österr. OGH ordnet derartige Aufwendungen unter die – dem deutschen Recht unbekannte – Verunstaltungsentschädigung nach § 1326 ABGB ein; s. ZVR 1999, 18, 19. Zoll NJW 2014, 967, 971; Luckey VersR 2013, 725; anders noch OLG Düsseldorf v. 29.9.1997 – 1 U 232/96, r+s 1997, 504. So aber BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 66/68, NJW 1989, 2539; OLG Köln v. 10.1.1990 – 26 U 41/87, VersR 1991, 111; wie hier OLG Karlsruhe v. 16.3.2020 – 1 U 16/19, NJOZ 2020, 579; OLG Hamm v. 20.9.1988 – 9 U 22/88, NZV 1989, 72 und OLG Hamm v. 28.6.1995 – 13 U 12/95, NZV 1995, 480; OLG Naumburg v. 18.11.2009 – 5 U 73/09, SVR 2011, 214. BGH v. 2.7.1957 – VI ZR 205/56, NJW 1958, 627. BGH v. 18.2.1992 – VI ZR 367/90, VersR 1992, 618, 619; KG v. 15.2.1982 – 12 U 3843/81, VersR 1982, 978.

908 | Zwickel

III. Ersatz vermehrter Bedürfnisse | Rz. 32.56 § 32

Wohnung, kann er nicht die fiktiven Kosten des Letzteren verlangen, sondern nur nach Rz. 32.42 abrechnen.138 Sieht er von einer ihm zustehenden Verbesserung seiner Wohnverhältnisse völlig ab, kann er nur die Kosten der günstigsten Umgestaltung (ohne MwSt., § 249 Abs. 2 S. 2 BGB) verlangen.139 Unentgeltliche Pflege- oder Haushaltsdienste kommen, wenn sie über das im Krankheitsfall zu erwartende Maß persönlicher Fürsorge hinausgehen, nicht dem Schädiger zugute.140 Der Verletzte kann in diesen Fällen den Nettolohn, der für entsprechende Dienste einer vergleichbaren Hilfskraft bezahlt werden müsste, beanspruchen,141 auch wenn die Angehörigen keinen Verdienstausfall erlitten haben.142 Der Nettolohn ist ggf. durch Sachverständigengutachten zu ermitteln.143 Dies gilt auch dann, wenn die Pflegeleistungen durch einen Unterhaltspflichtigen erbracht werden, der selbst für die Verletzung mitverantwortlich ist. Die Pflege wird in diesem Fall nicht als Schadensersatz, sondern als Unterhaltsleistung erbracht, so dass in Bezug auf die Haftung des anderen Schädigers § 843 Abs. 4, nicht § 422 BGB eingreift.144 Den pflegenden Unterhaltsschuldner kann der Verletzte allerdings nicht zusätzlich aus § 843 BGB in Anspruch nehmen.145 Dies schließt auch einen (akzessorischen) Direktanspruch des Verletzten gegen den Haftpflichtversicherer aus.146 Ein Deckungsanspruch des Unterhaltspflichtigen gegen den Haftpflichtversicherer wird dagegen aufgrund der Wertung des § 843 Abs. 4 BGB zu bejahen sein.

32.55

5. Forderungsübergang Erbringt ein Sozialleistungsträger, ein privater Versicherer oder ein öffentlich-rechtlicher Dienstherr ebenfalls Leistungen zum Ausgleich der vermehrten Bedürfnisse, so geht der Anspruch gegen den Schädiger auf diesen Leistungsträger über. Zu den Voraussetzungen und Einzelheiten des Forderungsüberganges s. § 35 für Sozialversicherungsträger, § 36 für Sozialhilfeträger, § 37 für Versorgungsträger und Dienstherren sowie § 38 für private Versicherer.

138 OLG Hamm v. 11.9.2002 – 9 W 7/02, NZV 2003, 192, 194. 139 Gegen eine fiktive Abrechnung zu Recht, aber in Widerspruch zur st. Rspr. des BGH (vgl. Rz. 20.26 ff.): Ch. Huber NZV 2005, 621 f.; wie hier Küppersbusch/Höher Rz. 268. 140 BGH v. 28.8.2018 – VI ZR 518/16, VersR 2019, 51; BGH v. 8.6.1999 – VI ZR 244/98, NJW 1999, 2819; OLG Celle v. 26.6.2019 – 14 U 154/18, NJW-RR 2019, 1306. 141 BGH v. 12.4.2011 – VI ZR 158/10, BGHZ 189, 158; BGH v. 10.11.1998 – VI ZR 354/97, BGHZ 140, 39; OLG Celle v. 26.6.2019 – 14 U 154/18, NJW-RR 2019, 1306; a.A. (nur angemessener Ausgleich bei Mühewaltung von Angehörigen) BGH v. 8.11.1977 – VI ZR 177/75, VersR 1978, 149; BGH v. 1.10.1985 – VI ZR 195/84, VersR 1986, 174; OLG Hamm v. 17.8.1993 – 27 U 144/ 92, NZV 1994, 68. Für Begrenzung bei einer 24-Stunden-Betreuung OLG Koblenz v. 18.9.2000 – 12 U 1464/99, VersR 2002, 244. 142 BGH v. 28.8.2018 – VI ZR 518/16, VersR 2019, 51. 143 KG v. 11.12.2017 – 20 U 19/14, VersR 2018, 1202 mit Anm. Jaeger = MedR 2018, 579 mit Anm. Ch. Huber (10 € pro Stunde); Luckey Personenschaden 2. Aufl. 2018, Rz. 968 ff. 144 BGH v. 15.6.2004 – VI ZR 60/03, BGHZ 159, 318, 320. 145 OLG München v. 30.5.1995 – 24 W 152/94, NJW-RR 1995, 1239; Ch. Huber NZV 1997, 380. 146 OLG München v. 30.5.1995 – 24 W 152/94, NJW-RR 1995, 1239 u. Ch. Huber NZV 1997, 381 bejahen dagegen einen Übergang des Direktanspruchs auf den Schädiger.

Zwickel | 909

32.56

§ 32 Rz. 32.57 | Körperverletzung

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen 1. Übersicht 32.57

Die Arbeitskraft bzw. die bloße Dienstfähigkeit147 als solche ist kein entschädigungsfähiges Gut; ihre Beeinträchtigung begründet keinen materiellen Schaden.148 Schadensersatzrechtliche Relevanz besitzt lediglich die vereitelte Fähigkeit des Verletzten, sich durch Verwertung seiner Arbeitskraft vermögenswerte Vorteile zu verschaffen. Sowohl das Deliktsrecht als auch das Recht der Gefährdungshaftung (zu den unterschiedlichen Rechtsgrundlagen s. Rz. 32.1 ff.) gewährt daher dem Verletzten einen Anspruch auf Ersatz der Vermögensnachteile, die ihm dadurch entstehen, dass infolge der Verletzung seine Erwerbsfähigkeit zeitweise oder dauernd aufgehoben wird. Zu diesen Vermögensnachteilen gehört vor allem der infolge der unfallbedingten Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit entgangene Verdienst (vgl. Rz. 32.64 ff.) oder Gewinn (vgl. Rz. 32.111 ff.). Ist ein Verdienst nur deswegen nicht entgangen, weil der Arbeitgeber Lohn oder Gehalt fortgezahlt hat, so ändert dies an der Ersatzpflicht dem Grunde nach nichts; es ändert sich allenfalls durch einen Forderungsübergang die Aktivlegitimation (vgl. Rz. 32.176 ff.). Neben dem Verdienstausfall wegen der Hinderung an einer bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit sind auch Nachteile für das berufliche Fortkommen (Rz. 32.162 f.) zu ersetzen, und zwar – obwohl in § 11 StVG, § 6 HaftPflG nicht ausdrücklich erwähnt – auch bei der Gefährdungshaftung (vgl. Rz. 32.3). Der Schaden, der z.B. darin besteht, dass ein Kind, wenn es dereinst ins Berufsleben tritt, weniger Einkommen hat, als es ohne die unfallbedingte körperliche oder geistige Behinderung der Ausbildung haben würde, ist im Rahmen der Minderung der Erwerbsfähigkeit ebenso zu entschädigen, wie die künftigen unmittelbaren Auswirkungen einer Körperbehinderung auf die Verdienstmöglichkeit (vgl. Rz. 32.164 ff.). Problematisch ist ein Anspruch wegen Beeinträchtigung der Heiratsaussichten (vgl. Rz. 32.193). Einen Anspruch Dritter auf Entschädigung wegen entgangener Dienstleistungen gewährt § 845 BGB, nicht aber das Recht der Gefährdungshaftung (dazu Rz. 32.192). Der haushaltführende Ehegatte erbringt indes spätestens seit Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18.7.1957 keine Dienstleistungen i.S.v. § 845 BGB mehr; die Arbeit im Haushalt wird vielmehr einer Erwerbstätigkeit gleich erachtet, deren Vereitelung einen eigenen Anspruch des Verletzten begründet (vgl. Rz. 32.143 ff.). Auf andere Fälle unentgeltlicher Arbeitsleistungen lässt sich dies nicht übertragen (s. Rz. 32.159). Da aus dem Arbeitseinkommen i.d.R. auch die Altersvorsorge bestritten wird, sind auch diesbezügliche Nachteile im Rahmen des Erwerbsschadens zu berücksichtigen (vgl. Rz. 32.174).

32.58

Nicht unter die Gefährdungshaftung fallen dagegen Gewinneinbußen, die nichts mit der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit zu tun haben, etwa aus der Vereitelung einer nicht zu Erwerbszwecken ausgeübten sportlichen oder künstlerischen Betätigung oder von Eigenleistungen beim Hausbau. Solche können bei deliktischer Haftung aber ersatzfähig sein (vgl. Rz. 32.190 f.).

147 OLG Stuttgart v. 21.6.2018 – 13 U 55/17, VersR 2018, 1453 (Verletzung einer in der Freistellungsphase befindlichen Beamtin). 148 MünchKomm-BGB/Wagner § 842 Rz. 15; Würthwein JZ 2000, 341 f.; LG Wiesbaden v. 14.11.2016 – 9 O 176/14, VersR 2017, 562, je m.w.N. Zur Berücksichtigung beim immateriellen Schadensersatz Rz. 33.14.

910 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.60 § 32

2. Ursächlichkeit des Unfalls Zwischen der Erwerbsminderung und dem Unfall muss Kausalzusammenhang bestehen (vgl. hierzu Rz. 19.3 ff.); der Unfall braucht allerdings nicht die alleinige Ursache zu sein (vgl. zur mittelbaren Kausalität Rz. 19.7 ff., zu den Fällen schadensgeneigter Konstitution Rz. 19.27 ff. und Rz. 20.9 ff., zur Berücksichtigung hypothetischer Kausalabläufe Rz. 20.7 ff.). Auch nach Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit kann noch ein unfallbedingter Erwerbsschaden vorliegen.149 Änderungen der Lebensplanung müssen nicht zu einer Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs führen. Ändert der Geschädigte aber aufgrund eigenverantwortlicher Entscheidung seine Lebensplanung und stellt der Unfall nur noch einen äußeren Anlass für die Veränderung dar, so kann in Ausnahmefällen die Kausalität für spätere Schadensfolgen fehlen; die Darlegungs- und Beweislast für eine solche Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs trägt der Schädiger,150 s. auch Rz. 32.84. Einzelfälle: Hat der Geschädigte unfallbedingt seinen Arbeitsplatz verloren und dann eine neue Arbeitsstelle gefunden, so hängt, falls er diese später ebenfalls verliert, die Verpflichtung zum Ersatz des Verdienstausfalls nicht davon ab, ob der Verlust des zweiten Arbeitsplatzes auf den Unfall zurückzuführen ist.151 Muss der bei einem Verkehrsunfall Verletzte unfallbedingt in einen anderen Beruf wechseln, in dem er über viele Jahre tätig ist und mehr verdient als in seiner früheren Stellung, und wechselt er dann, ohne aufgrund der Unfallverletzungen oder der beruflichen Situation bei seinem neuen Arbeitgeber dazu veranlasst worden zu sein, um sich weiter zu verbessern, erneut den Beruf, dann kann es an einem haftungsrechtlichen Zusammenhang mit dem Unfallereignis fehlen, wenn er nunmehr berufliche Fehlschläge mit Einkommenseinbußen erleidet.152 Hat der Geschädigte sein Arbeitsverhältnis nach unfallbedingter Kündigung in einem Vergleich mit dem Arbeitgeber aufgegeben, so unterbricht dies den Zurechnungszusammenhang zwischen Unfall und Erwerbsschaden dann nicht, wenn der Vergleich der Prozesslage entsprach.153 Ein vom Geschädigten geschlossener Aufhebungsvertrag führt dann nicht zu einer Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs, wenn die nach betrieblicher Umstrukturierung des Arbeitgebers auszuübende Tätigkeit unzumutbar ist und der Geschädigte hierdurch einer betriebsbedingten Kündigung zuvorkommt.154 Gleiches gilt, wenn ihm bereits betriebsbedingt gekündigt wurde, ihm eine Weiterarbeit im bisherigen Beruf aber jedenfalls unzumutbar ist.155 Wurden durch die Verletzung die Voraussetzungen dafür geschaffen, vorzeitiges Altersruhegeld zu beanspruchen, so kann der haftungsrechtliche Zusammenhang zwischen der Verletzung und der mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verbundenen Einkommensminderung nicht deswegen verneint werden, weil der Verletzte aus eigenem Entschluss von dieser 149 150 151 152 153 154 155

BGH v. 2.4.1991 – VI ZR 179/90, NJW 1991, 2422. BGH v. 14.11.2017 – VI ZR 92/17, NJW 2018, 866. OLG Hamm v. 25.10.1999 – 13 U 1/98, DAR 2000, 264. BGH v. 17.9.1991 – VI ZR 2/91, VersR 1991, 1293. BGH v. 19.5.1988 – III ZR 32/87, VersR 1988, 963. BGH v. 14.1.2017 – VI ZR 92/17, NJW 2018, 866. OLG Düsseldorf v. 12.8.2014 – 1 U 52/12, DAR 2015, 333.

Zwickel | 911

32.59

32.60

§ 32 Rz. 32.60 | Körperverletzung

Möglichkeit Gebrauch gemacht hat.156 Dies gilt auch, wenn erst durch das Hinzutreten weiterer, unfallunabhängiger Schäden die Voraussetzungen hierfür entstanden sind.157 Der Zurechnungszusammenhang entfällt auch nicht dadurch, dass sich der Verletzte, statt bei seinem bisherigen Arbeitgeber bestehende Beschäftigungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu nutzen, auf Rat des Arbeitsamts in einen anderen Beruf umschulen lässt, in dem er dann weniger erfolgreich ist.158

3. Konkrete Berechnung des Erwerbsschadens 32.61

Im Gegensatz zu der im Versorgungsrecht (vgl. § 30 BVG) und bei der Gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. § 56 SGB VII) geltenden Regelung besteht der Ersatzanspruch nicht in einem nach dem abstrakten Prozentsatz der Körperbehinderung (Minderung der Erwerbsfähigkeit, MdE) zu berechnenden Satz, welcher sich nach in Krankheitsbilder unterteilten Tabellen richtet. Vielmehr muss festgestellt werden, welchen konkreten Verdienstausfall der Verletzte aufgrund des Unfalls erlitten hat.159 Es ist durchaus möglich, dass ein Verletzter bei einer MdE von 30 v.H. in seinem Beruf nicht mehr in der Lage ist, 70 % seiner bisherigen Einnahmen zu erzielen, während ein anderer bei gleichem Grad der abstrakten Erwerbsminderung imstande ist, dasselbe zu verdienen wie vor seinem Unfall. Umgekehrt bewirkt die Anknüpfung an die konkrete Erwerbseinbuße, dass ein unfallbedingter Erwerbsschaden nicht in jedem Fall mit der Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit endet, sondern erst bei Wegfall der konkreten Umstände, die den Geschädigten an der Wiederaufnahme einer gleichwertigen Erwerbstätigkeit hindern.160 Insbesondere bei älteren Arbeitnehmern kommt es auch vor, dass sie durch relativ geringfügige Dauerschäden beim Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt erheblich benachteiligt werden und deshalb keinen Arbeitsplatz finden, obwohl sie ihn mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit voll ausfüllen könnten; in einem solchen Fall ist ebenfalls der volle Verdienstausfall zu ersetzen.161 Maßgebend sind also stets die konkreten Verhältnisse, unter denen der Verletzte bisher gearbeitet hat und künftig arbeiten wird. Da sich exakte Feststellungen über hypothetische Abläufe und zukünftige Entwicklungen nicht treffen lassen, sind Wahrscheinlichkeitsurteile und Schätzungen vorzunehmen, was durch § 287 ZPO ermöglicht wird. Dabei dürfen keine zu hohen Anforderungen gestellt werden.162 Die Ausgangstatsachen müssen aber bewiesen werden.163 Unzulässig ist es, dem Verletzten gleichsam pauschal einen abstrakt geschätzten „Mindestschaden“ zuzusprechen.164

32.62

Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich der Ausschluss fiktiver Erwerbsschäden. Ein Geschädigter, der tatsächlich nicht am Erwerbsleben teilnimmt, kann nicht geltend machen, dass er bei Verwertung seiner (zerstörten) Arbeitskraft ein bestimmtes Einkommen hätte erzielen 156 157 158 159

160 161 162 163 164

BGH v. 11.3.1986 – VI ZR 64/85, VersR 1986, 813. OLG Bamberg v. 11.7.1995 – 3 U 214/93, VersR 1997, 71. OLG München v. 17.9.1993 – 10 U 6670/92, r+s 1994, 380. RG v. 4.4.1932 – VI 14/32, RGZ 136, 15, 18; BGH v. 24.1.1956 – VI ZR 271/54, VersR 1956, 218; BGH v. 11.1.1957 – VI ZR 313/55, VersR 1957, 132; BGH v. 13.1.1964 – III ZR 204/62, VersR 1964, 529; BGH v. 28.9.1965 – VI ZR 88/64, VersR 1965, 1153; BGH v. 25.1.1968 – III ZR 122/67, VersR 1968, 396; BGH v. 24.10.1978 – VI ZR 142/77, VersR 1978, 1170; OLG München v. 25.3.2020 – 10 U 6603/19, BeckRS 2020, 4747; Langenick NZV 2009, 257. BGH v. 2.4.1991 – VI ZR 179/90, NJW 1991, 2422. BGH v. 25.1.1968 – III ZR 122/67, VersR 1968, 396. BGH v. 17.1.1995 – VI ZR 62/94, NZV 1995, 184. BGH v. 15.3.1988 – VI ZR 81/87, VersR 1988, 837 = NZV 1988, 134 mit Anm. Gottwald. BGH v. 17.1.1995 – VI ZR 62/94, VersR 1995, 422.

912 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.66 § 32

können (vgl. Rz. 32.159).165 Nicht ausgeschlossen wird dadurch allerdings, dass in den Fällen, in denen der Ausfall von Arbeitsleistungen durch den Einsatz einer Hilfskraft aufgefangen werden könnte, tatsächlich aber auf andere, überobligationsmäßige Weise ausgeglichen wurde, der Schadensersatz auf der Grundlage der fiktiven Kosten einer Ersatzkraft bemessen wird (vgl. Rz. 32.120).

4. Form der Ersatzleistung Zu der Frage, ob der Schadensersatz für Verdienstausfall in Form einer Rente oder durch Kapitalentschädigung zu leisten ist, und zu Einzelheiten im Zusammenhang mit der Rentenzahlung (z.B. Dauer, Anpassung, Sicherheitsleistung) vgl. die Erläuterungen in § 34.

32.63

5. Der Verdienstausfall bei unselbständiger Tätigkeit a) Umfang Er besteht in dem Unterschied zwischen dem Einkommen, das der Verletzte erzielt hätte, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte, und demjenigen, das er in Wirklichkeit erzielt. Es kommt mithin nicht auf den medizinischen Grad der Erwerbsminderung an, sondern auf den im Einzelfall entstehenden Schaden (Rz. 32.61).

32.64

Der Einkommensunterschied kann sowohl darauf beruhen, dass die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit durch den Unfall vermindert wurde, wie auch darauf, dass der Verletzte infolge seiner vorübergehenden unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit (wegen deren langer Dauer) seine Stellung verloren hat oder als Beamter zwangspensioniert wurde. Erfahrungsgemäß gelingt es einem durch einen Unfall aus seiner beruflichen Laufbahn Geworfenen auch bei Wiedererlangung der vollen Arbeitsfähigkeit häufig nicht mehr, eine berufliche Stellung zu erlangen, die der vorherigen gleicht. Auch diesen Schaden muss der Schädiger ersetzen. Die Ersatzpflicht endet mithin nicht etwa ohne weiteres in dem Augenblick, in dem der Verletzte nach ärztlicher Ansicht wieder voll erwerbsfähig geworden ist.166 Der Ersatzpflichtige muss den Verletzten bei der Suche nach einem geeigneten, neuen Arbeitsplatz ggf. unterstützen,167 vor allem die hierfür erforderlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen schaffen (Erwerb von Handwerkszeug, eines Kraftwagens, Reisen zur Bewerbung um eine Stelle). Auch die Kosten einer erforderlich gewordenen Umschulung muss er bestreiten (näher hierzu Rz. 32.108).

32.65

Der Schadensersatz umfasst auch Nebeneinkünfte, soweit sie nicht einen bloßen Aufwendungsersatz (wie z.B. Fahrtkostenzuschüsse, Spesenausgleich) darstellen;168 eine dem Verletzten normalerweise von seinem Arbeitgeber gewährte Zulage für auswärtige Arbeit ist daher nur insoweit zu ersetzen, als der Verletzte bei der auswärtigen Arbeit tatsächlich keine besonderen Aufwendungen hatte.169 Ersatzpflichtig sind auch Auslandsverwendungszuschlag,170

32.66

OLG München v. 25.3.2020 – 10 U 6603/19, BeckRS 2020, 4747. BGH v. 2.4.1991 – VI ZR 179/90, NJW 1991, 2422. RG v. 15.3.1939 – VI 254/38, RGZ 160, 121. OLG Düsseldorf v. 27.5.1995 – 1 W 15/95, VersR 1996, 334; KG v. 15.5.2000 – 12 U 3645/98, NZV 2002, 172, 175. 169 BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 204/76, VersR 1979, 624; OLG München v. 30.12.1983 – 24 U 154/ 82, VersR 1986, 69; Schmalzl VersR 1977, 1137. 170 BGH v. 27.10.2015 – VI ZR 183/15, VersR 2015, 1569. 165 166 167 168

Zwickel | 913

§ 32 Rz. 32.66 | Körperverletzung

Gefahrenzulage, Erschwerniszulage,171 Nachtdienstzulage, Bordzulage172 oder Ähnliches. Wegen Gratifikationen, Urlaubsentgelt und vermögenswirksamer Leistungen s. Rz. 32.77. Vom Ersatzanspruch umfasst sind auch Einkünfte aus Nebentätigkeiten.173

32.67

Verbotene Tätigkeiten begründen keine Ersatzpflicht. So stellt z.B. ein entgangener Verdienst, der nur unter Verstoß gegen die Arbeitszeitordnung hätte erzielt werden können, keinen erstattungsfähigen Schaden dar.174 Weitere Beispiele: Rz. 32.125 ff. Nicht zu einem Ausschluss des Ersatzanspruchs führt es dagegen, wenn mehrere „geringfügige Beschäftigungen“ i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB IV, die zusammen aber die Grenze der Geringfügigkeit übersteigen, nicht gem. § 28a SGB IV der Krankenkasse gemeldet wurden.175

b) Einfluss der Lohn- oder Gehaltsfortzahlung 32.68

Bei Arbeitnehmern ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, also auch bei einem Unfall, heute der gesetzliche Regelfall (§ 3 EFZG). Der Anspruch entsteht nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses (§ 3 Abs. 3 EFZG). § 104 SeeArbG modifiziert das EFZG für Besatzungsmitglieder von Seeschiffen. Für Beamte gelten §§ 44 ff. BBG bzw. die entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften.

32.69

Ausgeschlossen ist der Lohnfortzahlungsanspruch bei grobem Verstoß des Arbeitnehmers gegen die dem Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr obliegenden Pflichten oder sonstigem „Verschulden gegen sich selbst“, wie z.B. pflichtwidrigem Nichtanlegen des Sicherheitsgurts.176 Er ist im Allgemeinen auf sechs Wochen beschränkt (Einzelheiten: § 3 EFZG).

32.70

Infolge der Lohnfortzahlung tritt der Schaden, wirtschaftlich betrachtet, nicht beim Verletzten, sondern beim Arbeitgeber ein, der die ausgefallene Arbeitskraft weiterbezahlen muss. Dieser hat jedoch keinen Ersatzanspruch gegen den Schädiger, da er nicht in eigenen durch die Haftungsnorm geschützten Rechtsgütern beeinträchtigt ist. Das Ergebnis, dass der Schädiger durch die Lohnfortzahlung seitens des Arbeitgebers entlastet würde, widerspräche jedoch der Billigkeit. Nach den für die Vorteilsausgleichung entwickelten Regeln (vgl. Rz. 20.19) ist daher bei normativer Betrachtung ein Erwerbsschaden des Verletzten trotz der Lohnfortzahlung zu bejahen,177 die Doppelbegünstigung des Verletzten ist durch Überleitung seines Schadensersatzanspruchs auf den Arbeitgeber (durch cessio legis oder Abtretung) zu vermeiden (Rz. 32.176 ff.).

OLG Hamm v. 6.3.1996 – 13 U 211/95, OLGR Hamm 1996, 90. BGH v. 22.9.1967 – VI ZR 46/66, VersR 1967, 1080. BGH v. 12.7.1957 – VI ZR 190/56, VersR 1957, 574. BGH v. 28.1.1986 – VI ZR 151/84, VersR 1986, 596; Ahrens in FS Danzl 2017, S. 15. BGH v. 11.1.1994 – VI ZR 143/93, VersR 1994, 355 gegen OLG Karlsruhe v. 6.4.1993 – 18a U 138/92, NJW-RR 1993, 918. 176 BAG v. 7.10.1981 – 5 AZR 1113/79, VersR 1982, 659; LAG Berlin v. 18.7.1979 – 5 Sa 53/79, NJW 1979, 2327; Weber DAR 1983, 9; a.A. LAG Düsseldorf v. 3.11.1980 – 10 Sa 1105/80, DAR 1981, 94. 177 BGH v. 19.6.1952 – III ZR 295/51, BGHZ 7, 47; BGH v. 31.5.1954 – GSZ 2/54, BGHZ 13, 360; BGH v. 22.6.2956 – VI ZR 140/55, BGHZ 21, 112; BGH v. 27.4.1965 – VI ZR 124/64, BGHZ 43, 381; BGH v. 17.6.1953 – IV ZR 113/52, NJW 1953, 1346; BGH v. 11.11.1975 – VI ZR 128/74, NJW 1976, 326; Larenz § 30 II d (Fiktion eines Schadens); Lange/Schiemann § 9 XI 1 c. Für Beamte vgl. BGH v. 4.7.1972 – VI ZR 88/71, BGHZ 59, 154; BGH v. 22.1.1980 – VI ZR 198/78, VersR 1980, 455. 171 172 173 174 175

914 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.73 § 32

c) Weiterzahlung des vollen Gehalts trotz unfallbedingter Leistungsminderung Beschäftigt der Arbeitgeber den Verletzten nach Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit zum vollen Gehalt weiter, obwohl er infolge einer verbliebenen Behinderung nicht mehr dieselbe Leistung wie zuvor erbringen kann, so lässt sich dieser Fall dem der Lohnfortzahlung (Rz. 32.68) nicht ohne weiteres gleichstellen. Es ist vielmehr zu unterscheiden:

32.71

– beschäftigt der Arbeitgeber ihn deshalb weiter, weil er im eigenen Interesse auf seine, wenn auch geschmälerte, Arbeitskraft nicht verzichten will (z.B. wegen der besonderen Erfahrung), so entsteht kein Erwerbsschaden und somit auch kein Ersatzanspruch, der auf den Arbeitgeber übergehen könnte;178 – wird die Überzahlung (für den ausgefallenen Teil der Leistung) ausschließlich aus sozialen Erwägungen geleistet, so rechtfertigt sich eine Gleichbehandlung mit der Lohnfortzahlung;179 dies ist z.B. bei einem von der Post gewährten „personengebundenen Zuschlag“ bejaht worden.180

d) Berechnung des Verdienstausfalls aa) Grundsätze Auszugehen ist von der Erwerbstätigkeit des Verletzten im Zeitpunkt des Unfalls. Es ist zu ermitteln, notfalls nach § 287 ZPO zu schätzen (Rz. 32.84), welchen Verdienst er nach dem mutmaßlichen Verlauf der Dinge181 gehabt hätte, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte. Diese Berechnung ist für jeden Zeitraum, in dem sich eine Änderung gegenüber dem vorhergehenden Zeitraum ergeben hätte, gesondert vorzunehmen. Bei schwankenden Einkünften ist für größere Zeitabschnitte jeweils das Durchschnittseinkommen zu berechnen oder zu schätzen;182 hierbei ist ggf. auch zu berücksichtigen, dass der Verletzte vor dem Unfall mit gewisser Regelmäßigkeit zeitweise beschäftigungslos war.183 Mutmaßliche Beförderungen, aber auch Einkommensminderungen (z.B. Eintritt in den Ruhestand) sind zu berücksichtigen (näher Rz. 32.81 ff.). Sodann sind die tatsächlichen Einnahmen des Verletzten in den einzelnen Zeitabschnitten festzustellen oder – wenn Ansprüche für die Zukunft geltend gemacht werden – zu schätzen. Der Unterschiedsbetrag ist zu ersetzen, soweit er auf der unfallbedingten Verletzung beruht (zum Berechnungsmodus Rz. 32.73 ff.).

32.72

bb) Berechnungsmethode Bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern besteht die Besonderheit, dass das Arbeitseinkommen z.T. nicht ausbezahlt, sondern als Lohn- und Kirchensteuer sowie als Sozialversicherungsbeitrag vom Arbeitgeber unmittelbar abgeführt wird. Weder die Brutto- noch die Nettovergütung entspricht indessen dem vom Haftpflichtigen zu ersetzenden Erwerbsschaden. Dies liegt insbesondere daran, dass die Schadensersatzleistung anders versteuert wird als das Arbeitsentgelt. Zur Ermittlung des wirklichen Erwerbsschadens stehen zwei Methoden

178 179 180 181 182 183

BGH v. 3.10.1967 – VI ZR 35/66, VersR 1967, 1068. Jahnke NZV 1996, 177. OLG Hamm v. 8.11.1990 – 27 U 105/90, VersR 1992, 66 LS. RG v. 23.4.1906 – VI 314/05, RGZ 63, 197. BGH v. 25.10.1963 – VI ZR 234/62, VersR 1964, 76. OLG Hamm v. 18.8.1994 – 6 U 184/91, r+s 1995, 256.

Zwickel | 915

32.73

§ 32 Rz. 32.73 | Körperverletzung

zur Verfügung: Es kann vom Bruttolohn ausgegangen werden, wobei dann u.U. eine Ersparnis von Steuern und Sozialabgaben im Wege des Vorteilsausgleichs zu berücksichtigen ist, oder es sind zum Nettolohn alle weiteren Belastungen steuerlicher oder sozialversicherungsrechtlicher Art hinzuzurechnen.

32.74

Welche Methode den Vorzug verdient, ist streitig.184 Allgemein anerkannt ist lediglich, dass in den Fällen der Entgeltfortzahlung dem Arbeitgeber das Bruttoentgelt einschließlich der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zu erstatten ist (vgl. Rz. 32.176). Für die übrigen Fälle (d.h. bei Fehlen oder nach Beendigung einer Lohnfortzahlung) bestehen sogar innerhalb des BGH unterschiedliche Ansichten. Der III. Zivilsenat folgt der Bruttolohnmethode,185 der VI. Zivilsenat geht vom Nettolohn aus.186 Zu einer Anrufung des Großen Senats ist es bisher nicht gekommen, weil die beiden Senate davon ausgehen, dass es sich nur um unterschiedliche Berechnungsmethoden handelt, die – richtig angewandt – zu übereinstimmenden Ergebnissen führen müssen;187 es gehe nicht um normative Fragen, sondern nur um die Wahl des zweckmäßigeren Berechnungsmodus.188 Dies ist im Grundsatz richtig, erfordert aber hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast sowie in den Fällen nur quotenmäßiger Haftung nähere Maßgaben,189 die nicht außerhalb jeden Zweifels stehen (vgl. Rz. 32.75 f. und 32.86 ff.). Aus dogmatischer Sicht erscheint die Bruttolohnmethode schon deswegen vorzugswürdig, weil sie eine unterschiedliche Behandlung gegenüber den Fällen der Lohnfortzahlung vermeidet; zudem trägt sie dem Umstand Rechnung, dass – wirtschaftlich betrachtet – der Bruttolohn das Arbeitsentgelt darstellt, welches sich nur aufgrund besonderer Abführungsregelungen auf einen Nettobetrag reduziert. Da der BGH aber beide Berechnungsmethoden zulässt, wird nachstehend dargestellt, welche Grundsätze bei jeder von ihnen zu beachten sind. Wegen der Rechtslage im Fall von Lohn- oder Gehaltsfortzahlung s. Rz. 32.176 ff., wegen des Forderungsübergangs bei Lohnersatzleistungen von Sozialversicherungsträgern Rz. 32.32.

32.75

Nach der sog. modifizierten Nettolohntheorie bekommt der Arbeitnehmer vom Schädiger grundsätzlich nur den Nettolohn ersetzt. Bei der Ermittlung des fiktiven Nettoeinkommens wird allein auf die vom Arbeitgeber ausbezahlten Nettobezüge des Geschädigten abgestellt, besondere steuerrechtliche Regelungen wie Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen bleiben unberücksichtigt.190 Über den Nettolohn hinausgehende Beträge kann der Geschädigte nur als eigene Schadenspositionen geltend machen; er muss sie also darlegen und ggf. beweisen. In Betracht kommen in erster Linie die Steuern (Einkommensteuer, Kir-

184 Für Bruttolohnmethode: Staudinger/Schiemann § 252 Rz. 31; MünchKomm-BGB/Oetker § 252 Rz. 18; Marschall v. Bieberstein VersR 1975, 1065; Scheffen VersR 1990, 927. Für Nettolohnmethode: Hofmann NZV 1993, 139; Langenick NZV 2009, 257. 185 BGH v. 23.6.1965 – III ZR 185/62, VersR 1965, 793; BGH v. 19.6.1974 – III ZR 73/12, 1975, 37; vgl. auch VII. Senat BGH v. 18.12.1969 – VII ZR 121/67, VersR 1970, 223; OLG Brandenburg v. 4.11.2010 – 12 U 35/10, NJW 2011, 2219, 2221; Hartung VersR 1986, 309. Kritisch zu dieser Divergenz Hartung VersR 1981, 1008. 186 BGH v. 30.5.1958 – VI ZR 90/57, VersR 1958, 528; BGH v. 28.4.1970 – VI ZR 193/68, VersR 1970, 640; BGH v. 26.2.1980 – VI ZR 2/79, VersR 1983, 149; zweifelnd Stürner JZ 1984, 463. 187 BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, BGHZ 127, 391 = VersR 1995, 104 = LM 249 (Ha) BGB Nr. 51 mit Anm. Rüßmann. 188 BGH v. 30.6.1964 – VI ZR 81/63, BGHZ 42, 76, 80; BGH v. 27.4.1965 – VI ZR 124/64, BGHZ 43, 378, 380; BGH v. 18.5.1965 – VI ZR 262/63, VersR 1965, 786. 189 Vgl. Hofmann NZV 1993, 139 ff. und NZV 1995, 94. 190 BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, BGHZ 127, 391, 396 = VersR 1995, 104.

916 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.76 § 32

chensteuer),191 die er für die Schadensersatzleistungen zu zahlen hat (§ 24 Nr. 1 EStG; vgl. Rz. 32.86 ff.). Die Höhe dieses Steuerbetrages lässt sich nur schwer berechnen, denn er ist, wenn er als Schadensersatz gezahlt wird, wiederum zu versteuern; der BGH empfiehlt ein „Abtasten anhand der Steuertabelle“.192 Zudem fallen Einkommensverlust und Schadensausgleich oft nicht in denselben Veranlagungszeitraum, so dass sich „Progressionsdifferenzen“ ergeben können.193 Hinsichtlich der Beiträge zur Sozialversicherung geht der Anspruch auf Zahlung von Beiträgen zur Vermeidung von Nachteilen in der Rentenversicherung nach § 119 SGB X auf den Rentenversicherungsträger über. Zum Beitragsregress vgl. im Übrigen näher Rz. 35.146 ff. Nach der Bruttolohnmethode kann der Geschädigte den vollen Bruttoverdienst einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung (§§ 346 SGB III, 249 SGB V, 168 SGB VI, 58 SGB XI) beanspruchen. Es ist Sache des Ersatzpflichtigen, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass der Geschädigte hierdurch Vorteile erlangt, die er sich anrechnen lassen muss.194 Hierunter fallen nach der Rspr. gewisse Steuervergünstigungen bis hin zu der im Falle quotenmäßiger Haftung auftretenden Progressionsdifferenz195 (die Besteuerungsgrundlage ist beim Bruttoeinkommen höher als bei der um die Quote gekürzten Ersatzleistung; näher Rz. 32.86 ff.). Ein ausgleichspflichtiger Vorteil ergibt sich demgegenüber nicht aus der Ersparnis von Sozialversicherungsbeiträgen, da ein Beitragsregress gem. § 119 SGB X durch den Sozialversicherungsträger stattfindet und auch § 62 SGB VI diesen Einwand abschneidet (näher Rz. 35.146 ff.). Den Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass der Schädiger die steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen des Schadensfalles nicht im Einzelnen kennt, wird durch die auch in anderen Fällen anerkannte Modifizierung der Behauptungslast begegnet, wonach der Beweispflichtige zwar die für ihn günstige Tatsache (hier: den auszugleichenden Vorteil) darlegen muss, die zur näheren Bestimmung erforderlichen Einzelangaben aber dem Gegner obliegen, der allein die hierzu erforderliche Kenntnis hat.196 Letztlich kann der anzurechnende Betrag ohnehin nur im Wege der Schätzung (§ 287 ZPO) ermittelt werden.197 Bei Anwendung der Bruttolohnmethode ist vom Bruttolohn selbstverständlich nicht nur bei der Feststellung auszugehen, was der Verletzte ohne den Unfall in den einzelnen Zeitabschnitten verdient hätte, sondern auch bei der Feststellung, welche Einnahmen er trotz der unfallbedingten Behinderung hat (oder haben könnte, wenn er wollte). Der Unterschied zwischen beiden Beträgen ist der zu ersetzende Verdienstausfall. Er erhöht sich, wie bereits ausgeführt, um die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung und mindert sich u.U. infolge des unter Rz. 32.85 ff. behandelten Vorteilsausgleichs für eingesparte Steuern und Sozialabgaben.

191 Zur Berechnung (nach Einkommensteuer-, nicht Lohnsteuertabelle) BGH v. 29.9.1987 – VI ZR 293/86, DAR 1988, 23, 24. Vgl. auch Hartung VersR 1986, 310 f. 192 BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, NZV 1995, 63, 65; ebenso Kullmann VersR 1993, 386. 193 S. hierzu Rüßmann LM § 249 (Ha) BGB Nr. 51. 194 BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, BGHZ 127, 391, 395 = VersR 1995, 104; BGH v. 28.9.1999 – VI ZR 165/98, NJW 1999, 3711, 3712. 195 BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, BGHZ 127, 391 = VersR 1995, 104 = LM § 249 (Ha) BGB Nr. 51 mit Anm. Rüßmann; hierzu Hofmann NZV 1995, 94. 196 BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, BGHZ 127, 391, 395 = VersR 1995, 104; BGH v. 28.9.1999 – VI ZR 165/98, NJW 1999, 3711, 3712; BGH v. 10.2.1987 – VI ZR 17/86, VersR 1987, 668, 669 (wo allerdings zu Unrecht auch von Beweislast die Rede ist). Allgemein zur sog. sekundären Darlegungslast Zöller/Greger vor § 284 Rz. 34. 197 BGH v. 28.4.1992 – VI ZR 360/91, NZV 1992, 314.

Zwickel | 917

32.76

§ 32 Rz. 32.77 | Körperverletzung

cc) Lohnzusatzleistungen

32.77

Verliert der Geschädigte infolge der unfallbedingten Einbuße seiner Arbeitsfähigkeit den Anspruch auf eine ihm sonst zustehende Gratifikation (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld)198 oder auf vermögenswirksame Leistungen,199 so ist ihm auch dieser Ausfall zu ersetzen. Der Ersatzanspruch erhöht sich ferner, wenn dem Arbeitnehmer oder Beamten bezahlter Jahresurlaub gewährt wird, um den Betrag, der dem Bruttolohn während des ihm zustehenden Jahresurlaubs entspricht, gemindert in dem Verhältnis, in dem die Zahl der Tage der völligen Dienstunfähigkeit zur Zahl 365 steht.200 Für die Berechnung des zu ersetzenden anteiligen Urlaubsentgelts ist in zwei Schritten vorzugehen:201

32.78

Schritt 1: Errechnung des Urlaubsentgelts im Urlaubsjahr In Schritt 1 wird das für das komplette Urlaubsjahr anfallende Urlaubsentgelt errechnet. Jahreseinkommen × Jahresurlaubstage (Jahresarbeitstage-Jahresurlaubstage) Schritt 2: Errechnung des anteiligen Betrags bei zeitweiser Arbeitsunfähigkeit In Schritt 2 folgt die Berechnung des anteiligen Betrags für die unfallbedingt ausgefallenen Urlaubstage. Jährliches Urlaubsentgelt × unfallbedingt ausgefallene Arbeitstage (Jahresarbeitstage-Jahresurlaubstage)

32.79

Auch Prämien, die dem Arbeitnehmer als Belohnung für die in der Vergangenheit bewiesene Betriebstreue oder als Anreiz für künftige Betriebstreue trotz Arbeitsunfähigkeit gezahlt werden, sind (unabhängig von ihrer arbeitsrechtlichen Einordnung) als Verdienstausfallschaden anzusehen.202 Der Schädiger soll nicht dadurch entlastet werden, dass der Verletzte aufgrund gesetzlicher oder tarifvertraglicher Regelung durch krankheitsbedingten Arbeitsausfall in urlaubsrechtlicher Hinsicht keinen Nachteil erleidet.

e) Prognose des künftigen Verdienstes 32.80

Bei der Bemessung des Verdienstausfalls sind, wenn er für einen längeren Zeitraum zu ersetzen ist (z.B. bei Dauerschäden), die wahrscheinlichen Einkommensentwicklungen zu berücksichtigen. aa) Verdiensteigerungen

32.81

Verdienststeigerungen können sich insbesondere aus der allgemeinen Einkommensentwicklung (Tariferhöhungen usw.),203 aber auch aus dem beruflichen Fortkommen des einzelnen 198 BGH v. 29.2.1972 – VI ZR 192/70, VersR 1972, 566. 199 LG Mannheim v. 6.11.1973 – 2 O 350/72, VersR 1974, 605. 200 BGH v. 13.8.2013 – VI ZR 389/12, NZV 2013, 585; BGH v. 30.6.1972 – V ZR 118/70, BGHZ 59, 109; BGH v. 4.7.1972 – VI ZR 88/71, BGHZ 59, 154. 201 Berechnungsformeln nach BGH v. 13.8.2013 – VI ZR 389/12, NZV 2013, 585. 202 BGH v. 22.11.2016 – VI ZR 40/16, VersR 2017, 304. 203 Vgl. OLG Düsseldorf v. 14.2.1980 – 12 U 25/79, VersR 1980, 931.

918 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.82 § 32

ergeben. Hierbei wird von der durchschnittlichen Entwicklung eines vergleichbaren Erwerbstätigen auszugehen sein. Das Bestehen von Prüfungen darf aber nicht nach statistischen Werten, sondern muss konkret beurteilt werden.204 Für einen außergewöhnlichen beruflichen Aufstieg müsste der Geschädigte Umstände nachweisen, aus denen sich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ergibt;205 ansonsten ist von einem gleichbleibenden Einkommen auszugehen.206 Es ist auch nicht ohne weiteres anzunehmen, dass ein Verletzter, der vor dem Unfall nicht regelmäßig gearbeitet hat, künftig eine ständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hätte.207 Bei auffallend häufigem Wechsel der Arbeitsstelle kann zwar davon ausgegangen werden, dass der Verletzte auch die zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit alsbald aufgegeben hätte, doch schließt dies allein noch nicht aus, dass er anschließend wieder Arbeit gefunden hätte.208 Dies gilt auch dann, wenn der Verletzte längere Zeit nur unregelmäßigen Tätigkeiten, z.B. als Aushilfe, nachging.209 Vgl. auch zu den Nachteilen für das Fortkommen Rz. 32.162. bb) Verdienstminderungen Verdienstminderungen sind ebenfalls zu berücksichtigen, insbesondere auch im Rahmen sog überholender Kausalität (vgl. Rz. 20.7). Der Ersatzanspruch kann sich daher z.B. ermäßigen oder ganz entfallen, wenn der Verletzte einen zweiten Unfall erleidet oder aus nicht unfallbedingten Gründen erkrankt.210 Zu berücksichtigen sind auch Minderungen des fiktiven Einkommens, z.B. durch Wehrdienst211 oder wirtschaftlichen Niedergang des früheren Arbeitgebers.212 Ggf. muss der Verletzte darlegen und nachweisen, dass er ohne das Schadensereignis wieder Arbeit gefunden hätte.213 Auch die evtl. mit dem Eintritt in den Ruhestand verbundene Einkommensminderung ist in Rechnung zu stellen;214 der hierfür maßgebliche Zeitpunkt ist nach den Umständen des Einzelfalles durch Schätzung zu ermitteln.215 Bei Fehlen von Anhaltspunkten für eine abweichende Entwicklung ist von einem Eintritt in den Ruhestand bei nicht selbständig Tätigen mit der Vollendung des 65. Lebensjahrs auszugehen.216 Bei ausländischen Arbeitnehmern ist zu berücksichtigen, dass die Rückkehr in das Heimatland in aller Regel ebenfalls mit einer Einkommensminderung verbunden ist.

204 Vgl. BGH v. 22.2.1973 – VI ZR 15/72, NJW 1973, 701; OLG Köln v. 21.9.1971 – 9 U 62/71, NJW 1972, 59. 205 S. z.B. OLG Köln v. 27.2.2002 – 11 U 116/01, DAR 2002, 353, 354. 206 BGH v. 9.11.2010 – VI ZR 300/08, NJW 2011, 1146. 207 OLG München OLGR München 1995, 4. 208 BGH v. 5.12.1989 – VI ZR 321/88, NZV 1990, 185; BGH v. 24.1.1995 – VI ZR 354/93, VersR 1995, 470. 209 BGH v. 17.1.1995 – VI ZR 62/94, VersR 1995, 422. 210 OLG Schleswig v. 10.1.2019 – 7 U 74/13, SVR 2020, 24. 211 OLG Köln v. 21.3.1997 – 19 U 158/96, VersR 1998, 507. 212 BGH v. 8.2.1965 – III ZR 170/63, VersR 1965, 493; OLG Karlsruhe v. 25.1.1989 – 1 U 1/88, VRS 78, 1. 213 OLG Karlsruhe v. 25.1.1989 – 1 U 1/88, VRS 78, 1. 214 BGH v. 29.10.1959 – II ZR 30/58, VersR 1960, 82; BGH v. 13.5.1968 – III ZR 76/66, VersR 1968, 945; BGH v. 11.2.1976 – IV ZB 57/75, VersR 1976, 663. 215 Vgl. OLG Nürnberg v. 13.7.1984 – 1 U 983/84, VersR 1986, 173. 216 BGH v. 10.11.1987 – VI ZR 290/86, VersR 1988, 464; BGH v. 30.5.1989 – VI ZR 193/88, NZV 1989, 345; BGH v. 27.6.1995 – VI ZR 165/94, NZV 1995, 441.

Zwickel | 919

32.82

§ 32 Rz. 32.83 | Körperverletzung

cc) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognose

32.83

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognose ist nicht in jedem Fall der des Unfalls. § 252 S. 2 BGB („erwartet werden konnte“) ist nicht in diesem einschränkenden Sinn zu verstehen.217 Vielmehr sind auch Entwicklungen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar waren, in Rechnung zu stellen, ggf. bis zur letzten mündlichen Verhandlung im Haftungsprozess.218 Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Verletzte seine Lebensgestaltung später aufgrund einer neuen Willensentscheidung geändert hat (z.B. ein ursprünglich rückkehrwilliger Gastarbeiter bleibt nach Eheschließung in Deutschland).219 Der Schädiger kann nicht verlangen, dass sich der Verletzte in seinem Interesse an der zum Unfallzeitpunkt bestehenden Lebensplanung festhalten lässt. Andererseits ist aber auch hier der Grundsatz zu beachten, dass dem Verletzten nicht infolge des Unfalls mehr zufließen darf als er sonst erhalten hätte. Daher müssten Entscheidungen außer Betracht bleiben, die mit dem Ziel getroffen werden, höheren Schadensersatz zu erhalten.220 dd) Beweisfragen

32.84

Kommt es auf die künftige Einkommensentwicklung an, so ist eine gesicherte Feststellung naturgemäß nicht möglich. Nach § 252 S. 2 BGB reicht es daher aus, den mit Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Gewinn festzustellen. Hierin soll nach der etwas unklaren BGH-Rspr. eine über § 287 ZPO hinausgehende Beweiserleichterung liegen.221 Dies ist jedoch nur im Ergebnis richtig. § 252 S. 2 BGB ist eine materiell-rechtliche Vorschrift.222 Sie ordnet an, dass auch der (laut nachträglicher Prognose; vgl. Rz. 32.83) wahrscheinliche Gewinn vom Schädiger zu ersetzen ist. Ob ein Gewinn im konkreten Fall tatsächlich wahrscheinlich war und in welcher Höhe, ist dann vom Gericht nach § 287 ZPO, ggf. im selbständigen Beweisverfahren,223 zu ermitteln.224 Die Grundlagen für die Ermittlung des wahrscheinlichen Verdienstes hat der Verletzte beizubringen.225 § 287 ZPO gestattet nicht eine völlig abstrakte Berechnung des Erwerbsschadens im Sinne eines pauschalierten „Mindestschadens“, sondern verlangt die Darlegung konkreter Anhaltspunkte für die Schadensermittlung,226 wobei allerdings keine zu

217 BGH v. 16.3.1959 – III ZR 20/58, BGHZ 29, 398. 218 BGH v. 19.9.2017 – VI ZR 530/16, NZV 2018, 172 mit Anm. Ch. Huber; BGH v. 27.10.1998 – VI ZR 322/97, NJW 1999, 136. 219 BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 204/76, BGHZ 74, 221. 220 BGH v. 14.11.2017 – VI ZR 92/17, NJW 2018, 866; BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 204/76, BGHZ 74, 221; Stürner JZ 1984, 415. 221 BGH v. 16.3.1959 – III ZR 20/58, BGHZ 29, 398; BGH v. 3.5.1960 – VIII ZR 88/59, JZ 1961, 27; s. auch Staudinger/Schiemann § 252 Rz. 18. 222 So auch BGH v. 5.5.1970 – VI ZR 212/68, BGHZ 54, 55 (VI. Senat) ohne Eingehen auf die abweichende Ansicht des III. Senats in BGH v. 16.3.1959 – III ZR 20/58, BGHZ 29, 399. Vgl. auch Steindorff JZ 1961, 12; Klauser JZ 1968, 168. 223 BGH v. 22.9.2009 – VI ZR 312/08, NZV 2010, 22. 224 Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit 1978, S. 135; vgl. auch BGH v. 5.5.1970 – VI ZR 212/68, BGHZ 54, 55. 225 BGH v. 19.6.1951 – I ZR 118/50, BGHZ 2, 310; BGH v. 5.5.1970 – VI ZR 212/68, BGHZ 54, 55; BGH v. 16.3.2004 – VI ZR 138/03, NZV 2004, 344, 346; BGH v. 17.12.1963 – V ZR 186/61, NJW 1964, 661; BGH v. 22.2.1973 – VI ZR 15/72, VersR 1973, 423. 226 BGH v. 24.1.1995 – VI ZR 354/93, VersR 1995, 469, 470; BGH v. 17.1.1995 – VI ZR 62/94, NZV 1995, 183; BGH v. 16.3.2004 – VI ZR 138/03, NZV 2004, 344, 346.

920 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.87 § 32

hohen Anforderungen gestellt werden dürfen.227 Darlegungs- und beweispflichtig ist der Verletzte. Beruft sich der Schädiger auf eine überholende Kausalität oder Reserveursache (Rz. 20.7), trifft ihn insoweit die Beweislast.228

f) Vorteilsausgleichung Fallen dem Verletzten dadurch, dass er trotz Nichtarbeitens den Lohn vom Schädiger ersetzt bekommt, Vorteile zu, so sind diese nach den Regeln über den Vorteilsausgleich von der Ersatzleistung abzuziehen. Bei der (hier vertretenen) Bruttolohnmethode (vgl. Rz. 32.76) kommt u.U. eine Berücksichtigung von Ersparnissen an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen im Wege der Vorteilsausgleichung in Betracht. Die Beweislast trägt, wie auch sonst bei der Vorteilsausgleichung (Rz. 20.19 ff.), der Schädiger; der Geschädigte ist jedoch in gewissem Umfang darlegungspflichtig (Rz. 32.76).

32.85

aa) Ersparte Einkommensteuer Der Geschädigte muss zwar auch die zum Ausgleich des Erwerbsschadens empfangene Schadensersatzleistung versteuern (§ 24 Abs. 1 Nr. 1 EStG), jedoch kommen ihm hierbei u.U. besondere Vergünstigungen zugute (geringerer Steuersatz, Freibeträge, Progressionsdifferenz). Nach der Rspr. des BGH sind unfallbedingte Steuerersparnisse dem Schädiger gutzubringen, wenn nicht gerade der Zweck der Steuervergünstigung einer solchen Entlastung entgegensteht.229

32.86

Der BGH hat eine Anrechnung für folgende Fälle bejaht:

32.87

– der Geschädigte bezieht neben der Schadensersatzzahlung Leistungen aus einer Sozialversicherung, die gem. § 3 Nr. 1 oder Nr. 2 EStG steuerfrei sind230 bzw. Erwerbsminderungsrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 43 SGB VI), die gem. § 22 Nr. 1 S. 3 lit. a aa EStG nur teilweise der Besteuerung unterliegen;231 – dem Geschädigten wird gem. § 3 Nr. 9 EStG (in der bis 31.12.2005 gültigen Fassung)232 bei der Versteuerung einer Abfindung wegen vorzeitiger Lösung des Arbeitsverhältnisses ein Steuerfreibetrag gewährt;233 – der Geschädigte kann als Empfänger von Versorgungsleistungen einen Freibetrag nach § 19 Abs. 2 EStG in Anspruch nehmen;234 227 Vgl. BGH v. 20.4.1999 – VI ZR 65/98, VersR 2000, 233 zu wechselnden Beschäftigungsverhältnissen; BGH v. 17.2.1998 – VI ZR 342/96, DAR 1998, 349, 350 und OLG Brandenburg v. 4.11.2010 – 12 U 35/10, NJW 2011, 2219, 2221 bei am Anfang der beruflichen Entwicklung Stehenden. 228 Medicus DAR 1994, 448. 229 BGH v. 24.9.1985 – VI ZR 65/84, VersR 1986, 162; BGH v. 30.5.1989 – VI ZR 193/88, NZV 1989, 345; BGH v. 28.4.1992 – VI ZR 360/91, NZV 1992, 313; BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, NZV 1995, 64 = LM § 249 (Ha) BGB Nr. 51 mit Anm. Rüßmann. 230 BGH v. 28.9.1999 – VI ZR 165/98, NJW 1999, 3711, 3712. 231 BGH v. 24.9.1985 – VI ZR 65/84, VersR 1986, 162 = 264 mit Anm. Hartung; BGH v. 10.2.1987 – VI ZR 17/86, VersR 1987, 668, 669; BGH v. 10.11.1987 – VI ZR 290/86, VersR 1988, 464; a.A. Boelsen BB 1988, 2191. 232 Mit Wirkung vom 1.1.2006 außer Kraft. 233 BGH v. 30.5.1989 – VI ZR 193/88, NZV 1989, 345. 234 BGH v. 28.4.1992 – VI ZR 360/91, NZV 1992, 314.

Zwickel | 921

§ 32 Rz. 32.87 | Körperverletzung

– der Geschädigte kommt dadurch, dass die Schadensersatzleistung wegen einer Mithaftungsquote hinter dem entgangenen Verdienst zurückbleibt, in den Genuss eines niedrigeren Steuersatzes (Progressionsdifferenz).235

32.88

Dagegen belässt er folgende Vergünstigungen dem Geschädigten: – den ermäßigten Steuersatz nach § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 EStG bei Kapitalentschädigungen,236 und zwar unabhängig davon, ob es im konkreten Fall zu einer zusätzlichen Progressionswirkung durch die einmalige Leistung (deren Vermeidung die Steuervergünstigung an sich dienen soll) kommt;237 – den Pauschbetrag für Körperbehinderte nach § 33b EStG;238 – den Vorteil aus einer Verjährung239 oder Ermäßigung der Steuerschuld (z.B. zwischenzeitlicher Wegfall einer Ergänzungsabgabe).240

32.89

Dieser differenzierenden, die Schadensregulierung nicht unerheblich erschwerenden Rspr. ist zu Recht entgegengehalten worden, dass eine Entlastung des Schädigers mit Sinn und Zweck von Steuervergünstigungen in keinem Fall vereinbar ist, sondern sie vielmehr wie freigiebige Zuwendungen Dritter dem Geschädigten zugutekommen sollten.241 Ganz besonders gilt dies für die Progressionsdifferenz. Sie beruht auf einer Gestaltung des Steuertarifs, die eine Schonung des geringer Verdienenden bezweckt. Dieser Zweck muss unabhängig davon zum Tragen kommen, aus welchem Grund sich das zu versteuernde Einkommen verringert hat.242 Zu beachten ist allerdings, dass dann, wenn von einem Vorteilsausgleich wegen Ersparnissen bei der Einkommensteuer abgesehen wird, die Brutto- und die modifizierte Nettomethode zu unterschiedlichen Ergebnissen führen – ein Grund mehr, den Erwerbsschaden generell nach der Bruttomethode zu berechnen (vgl. hierzu Rz. 32.74 ff.). bb) Ersparnis von Rentenversicherungsbeiträgen

32.90

Eine Ersparnis von Rentenversicherungsbeiträgen kann nicht berücksichtigt werden, da insofern gem. § 119 SGB X ein Beitragsregress des Sozialversicherungsträgers stattfindet (vgl. Rz. 35.153 ff.). Eine Vorteilsausgleichung muss daher ausscheiden.

235 BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 194/93, BGHZ 127, 391 = LM § 249 (Ha) BGB Nr. 51 mit Anm. Rüßmann; Hofmann NZV 1993, 140; a.A. zu Recht Staudinger/Schiemann § 252 Rz. 31; Kullmann VersR 1993, 389; Hartung VersR 1981, 1009 und VersR 1986, 314. 236 BGH v. 22.3.1979 – VII ZR 259/77, BGHZ 74, 115; BGH v. 18.12.1969 – VII ZR 121/67, VersR 1970, 223; BGH v. 26.2.1980 – VI ZR 2/79, VersR 1980, 529; OLG Celle v. 9.6.1977 – 5 U 168/ 76, VersR 1980, 582; Boelsen BB 1988, 2189; Grunsky DAR 1988, 410; a.A. OLG Frankfurt v. 29.12.1977 – 2 U 156/75, VersR 1979, 86; Spengler VersR 1972, 1008; Klimke VersR 1973, 397; Ruhkopf/Book VersR 1973, 781; Späth VersR 1978, 1004; Hofmann VersR 1980, 808. 237 BGH v. 22.3.1994 – VI ZR 163/93, VersR 1994, 733 = NZV 1994, 270. 238 BGH v. 30.5.1958 – VI ZR 90/57, VersR 1958, 528; BGH v. 10.11.1987 – VI ZR 290/86, VersR 1988, 464; Boelsen BB 1988, 2190. 239 BGH v. 18.12.1969 – VII ZR 121/76, BGHZ 53, 132, 137. 240 BGH v. 2.4.1970 – VII ZR 128/68, WM 1970, 637; a.A. Kullmann VersR 1993, 388. 241 Knobbe-Keuk 25 Jahre KF S. 137 ff. mit eingehender Begründung aus dem Wesen der Einkommensteuer. 242 Kullmann VersR 1993, 389; Hartung VersR 1981, 1009 und VersR 1986, 314.

922 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.95 § 32

cc) Ersparnis von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung Auch diese Beiträge sind nach der Bruttolohnmethode an sich an den Verletzten zu zahlen. Beiträge zur Arbeitslosenversicherung (§§ 341 ff. SGB III) braucht ein arbeitsunfähiger Verletzter aber nicht mehr zu leisten (§ 347 Nr. 5 SGB III); er kann sich auch nicht freiwillig weiterversichern. Der mit Wirkung vom 1.2.2006 eingefügte § 28a SGB III ändert an der fehlenden Weiterversicherungsmöglichkeit nichts, da der Fall der Krankheit dort ebenfalls nicht erfasst wird und daher keine Beitragszahlung gem. § 349a SGB III (ab 1.2.2006) in Betracht kommt. Ihre Ersparnis ist deshalb ein Vorteil, den sich der Verletzte anrechnen lassen muss.243 Soweit Sozialversicherungsträger Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu entrichten haben (vgl. §§ 347, 349 SGB III), steht ihnen der entsprechende Erstattungsanspruch nach § 116 Abs. 1 SGB X zu.244

32.91

dd) Ersparnis von Beiträgen zur Krankenversicherung Eine Ersparnis von Beiträgen zur Krankenversicherung ist ebenfalls zu berücksichtigen, wenn diese Beiträge dem Verletzten nach der Bruttolohntheorie (Rz. 32.76) zu ersetzen sind, eine entsprechende Beitragspflicht für ihn aber nicht besteht.245 Übernimmt ein Dritter (z.B. Rentenversicherer) die Krankenversicherungsbeiträge, greift u.U. ein Forderungsübergang auf diesen ein (vgl. Rz. 35.158).

32.92

ee) Sozialleistungen Sozialleistungen sind grundsätzlich nicht anzurechnen, da diese nicht zur Entlastung des Schädigers bestimmt sind (vgl. Rz. 20.20). Dies gilt z.B. für Erwerbsunfähigkeitsrenten eines Sozialversicherungsträgers,246 Übergangsgelder, Maßnahmen der Berufshilfe, Krankengeld,247 Leistungen der Sozialhilfe248 (zu deren Ausprägungen vgl. Rz. 36.1 f.), Arbeitslosengeld II.249 In diesen Fällen findet jedoch häufig ein gesetzlicher Forderungsübergang (§ 35 und § 36) statt, so dass der Geschädigte selbst in entsprechender Höhe nicht aktivlegitimiert ist.

32.93

ff) Leistungen von Privatversicherern Leistungen von Privatversicherern führen nicht zu einer Vorteilsausgleichung.250 Das gilt auch dann, wenn die Prämien ganz oder teilweise vom Arbeitgeber getragen worden waren.251

32.94

gg) Leistungen des Arbeitgebers Leistungen des Arbeitgebers sollen nicht den Schädiger entlasten und sind daher nicht ausgleichspflichtig. Dies gilt nicht nur für die Lohnfortzahlung (Rz. 32.68 ff.), sondern z.B. auch 243 BGH v. 31.1.1976 – VI ZR 87/65, VersR 1967, 380; BGH v. 8.4.1986 – VI ZR 92/85 VersR 1986, 915; BGH v. 30.9.1987 – IVa ZR 6/86, VersR 1988, 184; Dickertmann VW 1950, 164. 244 Geigel/Pardey Kap. 4 Rz. 172. 245 Z.B. wegen beitragsfreier Versicherung; vgl. BGH v. 24.2.1981 – VI ZR 154/79, VersR 1981, 477, 478; BGH v. 8.4.1986 – VI ZR 92/85, VersR 1986, 915. 246 BGH v. 28.5.1991 – VI ZR 250/90, NJW-RR 1991, 1177. 247 BGH v. 11.5.1976 – VI ZR 51/74, VersR 1976, 756. 248 BGH v. 4.3.1997 – VI ZR 243/95, VersR 1997, 751. 249 Zur früheren Arbeitslosenhilfe BGH v. 21.12.1955 – VI ZR 13/55, NJW 1956, 505. 250 LG Düsseldorf v. 23.6.1965 – 5 O 144/60, VersR 1966, 95 für Insassenunfallversicherung. 251 BGH v. 15.2.1968 – VI ZR 101/65, VersR 1968, 361.

Zwickel | 923

32.95

§ 32 Rz. 32.95 | Körperverletzung

für eine aus sozialen Gründen gezahlte „Pension“252 oder eine im Kündigungsschutzprozess vereinbarte Abfindung.253 Vorruhestandsgeld ist dagegen anzurechnen, denn ihm kommt keine schadensrechtliche Ausgleichsfunktion zu.254 hh) Ersparnis durch die Berufstätigkeit bedingter Aufwendungen

32.96

Ersparnis durch die Berufstätigkeit bedingter Aufwendungen ist grundsätzlich anzurechnen, wobei weggefallene Steuervorteile jedoch den Vorteil mindern.255 Dies gilt insbesondere für die Kosten der Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Diese Kosten sind auch dann auf den Verdienstausfall anzurechnen, wenn der für die Fahrten benützte Pkw bei dem Unfall beschädigt worden ist; nicht etwa sind diese Ersparnisse auf den Anspruch wegen Nutzungsausfalls (Rz. 28.49 ff.) anzurechnen256 (wichtig bei Forderungsübergang hinsichtlich des Erwerbsschadens), denn die Ersparnis beruht darauf, dass der Verletzte wegen des Unfalls nicht mehr zur Arbeit fahren kann, nicht auf der Beschädigung seines Wagens.

32.97

Auch die Ersparnis sonstiger Aufwendungen, die ausschließlich berufsbedingt und vom Verletzten aus dem Arbeitsverdienst zu bestreiten waren, ist anzurechnen. Zu denken ist hierbei an die Kosten für Anschaffung, Instandhaltung und Reinigung von Berufskleidung, für vom Arbeitnehmer selbst zu beschaffendes Werkzeug oder Material, für eine Zweitwohnung am Arbeitsplatz und dergleichen.257 Dies darf aber nicht so weit gehen, dass jede Veränderung in der Lebensführung, zu der der Verletzte durch den Unfall veranlasst worden ist, zur Kürzung seines Ersatzanspruchs führt, so z.B. wenn er auf das Halten eines Pkw für die Zukunft verzichtet, weil er ihn hauptsächlich beruflich benützt und für private Zwecke nur in begrenztem Umfang Bedarf hat, oder wenn er künftig mehr zu Hause isst als in Gaststätten.258 Entscheidendes Kriterium ist, ob die betreffenden Aufwendungen rein berufsbedingt waren oder auch auf einer bestimmten Lebensgestaltung, die über den beruflichen Zweck hinausging, beruhten. ii) Möglichkeit zur Haushaltsführung

32.98

Ist der Verletzte infolge des Unfalls zwar arbeitsunfähig, kann er aber den Haushalt seiner Familie besorgen, so kommt im Hinblick auf diesen Umstand eine Minderung seines Anspruchs auf Ersatz des Verdienstausfalls in Betracht.259 Dies wird allerdings nur dann zu gelten haben, wenn hierdurch eine wirtschaftliche Besserstellung der Familie erreicht worden ist (z.B. durch Wegfall einer bezahlten Haushaltshilfe, Ermöglichen einer Erwerbstätigkeit der Ehefrau). Hilft der Verletzte im Haushalt nur mit, um seine Frau zu entlasten, erscheint eine Kürzung seines Schadensersatzanspruchs nicht angebracht. Zur Frage der Schadensminderungspflicht in diesem Zusammenhang vgl. Rz. 32.105.

252 253 254 255 256 257 258 259

BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 177/76, VersR 1978, 249. BGH v. 16.1.1990 – VI ZR 170/89, VersR 1990, 495 = NZV 1990, 225. BGH v. 7.11.2000 – VI ZR 400/99, VersR 2001, 196. BGH v. 22.1.1980 – VI ZR 198/78, VersR 1980, 455; OLG Düsseldorf v. 12.8.2014 – 1 U 52/12, DAR 2015, 333; OLG Saarbrücken v. 3.12.2015 – 4 U 157/14, VersR 2017, 698; Kullmann VersR 1993, 389 f.; eingehend zur Berechnung Jahnke NZV 1996, 179. BGH v. 22.1.1980 – VI ZR 198/78, VersR 1980, 455. Vgl. OLG Bamberg v. 21.12.1966 – 1 U 100/66, VersR 1967, 911. Vgl. BGH v. 22.1.1980 – VI ZR 198/78, VersR 1980, 455. BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 204/76, BGHZ 74, 221, 226.

924 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.103 § 32

jj) Einkommen aus einer ersatzweise aufgenommenen Erwerbstätigkeit Einkommen aus einer ersatzweise aufgenommenen Erwerbstätigkeit ist anzurechnen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen Fall von Vorteilsausgleichung; der Erwerbsschaden besteht vielmehr von vornherein nur in der verletzungsbedingten Einkommensdifferenz (näher Rz. 32.102 ff.). Einen Mehrverdienst infolge unfallbedingter Umschulung braucht sich der Verletzte nicht als Vorteil anrechnen zu lassen.260

32.99

g) Schadensminderungspflicht Zumutbare Möglichkeiten, den Erwerbsschaden gering zu halten, muss der Verletzte ergreifen; Maßnahmen, die zur Verschlimmerung seiner Beeinträchtigungen führen können, muss er unterlassen.

32.100

Gegen die unfallbedingte Kündigung seines Arbeitsverhältnisses muss er mit einer Kündigungsschutzklage vorgehen, wenn diese Erfolg verspricht.261

32.101

Der Verletzte ist nach § 254 Abs. 2 BGB zur ehestmöglichen Verwertung seiner verbliebenen Arbeitskraft verpflichtet. Er muss sie im Rahmen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich verwerten,262 darf aber keine Arbeiten verrichten, die die erkennbare Gefahr einer Verschlimmerung der Unfallfolgen mit sich bringen.263

32.102

Kann er nicht an seinen früheren Arbeitsplatz zurückkehren, so hat er sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln um einen neuen zu bemühen,264 ggf. auch durch Fortbildung oder Umschulung265 (s. Rz. 32.100). So hat er permanent auf einschlägige Stellenanzeigen in (zumindest) der örtlichen Presse zu reagieren.266 Zumutbare Arbeitsangebote darf er nicht ausschlagen, ohne des Ersatzanspruchs in Höhe des erzielbaren Einkommens verlustig zu gehen. Dies gilt grundsätzlich auch für die angebotene Mitarbeit im Unternehmen des gegnerischen Haftpflichtversicherers.267 Die genannte Mitwirkungspflicht trifft ihn auch dann, wenn er wegen des Unfalls eine Rente erhält268 oder als Beamter in den Ruhestand versetzt wurde.269 Die Annahme einer geringer bewerteten Stellung ist ebenso wie ein Ortswechsel oder die Anschaffung eines Pkw für den Weg zur Arbeit270 nicht von vornherein unzumutbar; es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an, wobei auch die unfallbedingten Beeinträchtigungen in Rechnung zu stellen sind.271 Dass eine – ansonsten gleich dotierte – Anstellung deswegen abgelehnt

32.103

260 BGH v. 1.2.1983 – VI ZR 62/82, VRS 65, 89; BGH v. 2.6.1987 – VI ZR 198/86, VersR 1987, 1239; OLG Nürnberg v. 16.1.1991 – 4 U 3530/90, VersR 1991, 1256. 261 OLG Koblenz v. 30.10.1998 – 11 U 467/98, OLGR Koblenz 1999, 263. 262 BGH v. 19.6.1984 – VI ZR 301/82, BGHZ 91, 357, 365; BGH v. 28.4.1992 – VI ZR 360/91, VersR 1992, 886; BGH v. 5.12.1995 – VI ZR 398/94, NJW 1996, 652. 263 OLG Frankfurt v. 5.10.1995 – 12 U 181/94, NZV 1996, 454. 264 BGH v. 9.12.1958 – VI ZR 232/57, VersR 1959, 374. 265 BGH v. 13.5.1953 – VI ZR 78/52, BGHZ 10, 20; BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 81/62, VersR 1962, 1100, 1101. 266 OLG Schleswig v. 9.1.2014 – 7 U 83/13, NZV 2015, 42. 267 BGH v. 29.9.1998 – VI ZR 296/97, NZV 1999, 40, 41. 268 BGH v. 24.1.1979 – IV ZB 70/78, VersR 1979, 425. 269 BGH v. 18.12.1962 – VI ZR 112/62, VersR 1963, 337; BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 59/81, VersR 1983, 488; OLG Frankfurt v. 22.10.1992 – 3 U 146/91, NZV 1993, 471. 270 BGH v. 29.9.1998 – VI ZR 296/97, NZV 1999, 40. 271 Vgl. BGH v. 6.11.1954 – VI ZR 70/54, VersR 1955, 39; BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 97/71, MDR 1974, 142.

Zwickel | 925

§ 32 Rz. 32.103 | Körperverletzung

werden kann, weil sie mit weniger Verantwortung, keinen Tantiemezahlungen und keinen Verbesserungsmöglichkeiten verbunden ist, erscheint als zu weitgehend.272 Dasselbe gilt für die Ansicht des OLG Frankfurt,273 einem Verletzten, der sich in Ausbildung für einen Handwerksberuf befand, sei nicht zuzumuten, eine Anstellung als ungelernte Arbeitskraft anzunehmen. Hat der Arbeitnehmer eine (im Hinblick auf seine Konstitution oder andere Umstände) unzumutbare Arbeit aufgenommen, geht eine spätere Aufgabe dieser Tätigkeit nicht zu seinen Lasten.274 Der Verletzte ist auch nicht gehindert, von seinem Recht auf vorzeitiges Altersruhegeld Gebrauch zu machen;275 vgl. Rz. 32.173.

32.104

Das Einkommen aus der ersatzweise aufgenommenen Tätigkeit darf ein Geschädigter, den eine Mithaftung für die erlittenen Verletzungen trifft, nicht vorrangig auf den eigenen Haftungsanteil verrechnen. Da sein Schaden von vorneherein nur in der Einkommensdifferenz besteht, muss die entsprechende Quote dieses Mindereinkommens zu seinen Lasten gehen.276

32.105

Vom Verletzten kann unter Umständen auch verlangt werden, seine Arbeitskraft auf die Führung des Haushalts zu verwenden; entscheidend sind Zumutbarkeit und Wirtschaftlichkeit. Entsteht hierdurch für die Familie ein wirtschaftlicher Vorteil (z.B., weil eine Haushaltshilfe erspart wird oder der bisher den Haushalt versorgende Ehegatte erwerbstätig sein kann), so ist der Wert der Haushaltsführung (vgl. Rz. 32.152 ff.) auf den Erwerbsschaden anzurechnen;277 vgl. Rz. 32.98.

32.106

Kann der Verletzte nicht mehr in seinem erlernten Beruf, wohl aber in einem anderen arbeiten, so kann eine Umschulung zumutbar sein,278 auch wenn sie mit vorübergehender Trennung von der Familie verbunden ist.279 Pflegebedürftigen kann letzteres i.d.R. allerdings nicht zugemutet werden.280 Eine Pflicht, an Umschulungsmaßnahmen teilzunehmen, besteht nur, wenn Aussicht auf einen Erfolg der Umschulung und eine nutzbringende Tätigkeit in dem neuen Beruf besteht.281 Der Verletzte muss bei den Umschulungsmaßnahmen ernsthafte Mitwirkungsbereitschaft zeigen.282 Im Alter von über 55 Jahren ist es dem Verletzten im Allgemeinen nicht mehr zuzumuten, sich einer Umschulung zu unterziehen und den Beruf zu wechseln.283 Wegen der Kosten der Umschulung (Ausbildungskosten, Verdienstausfall) s. Rz. 32.108; zur Frage der Anrechnung eines umschulungsbedingten Mehrverdienstes Rz. 32.98.

32.107

Einkünfte, die durch überpflichtmäßige Anstrengungen erzielt werden, braucht sich der Verletzte nicht anrechnen zu lassen.284 Er verstößt aber gegen seine Schadensminderungspflicht,

272 So aber OLG Hamm v. 7.10.1993 – 6 U 198/92, VersR 1995, 669. 273 OLG Frankfurt v. 20.6.1990 – 7 U 173/88, NZV 1991, 188; ablehnend auch Wussow WJ 1990, 131. 274 KG v. 23.7.2001 – 12 U 980/00, NZV 2002, 95, 97. 275 BGH v. 11.3.1986 – VI ZR 64/85, VersR 1986, 812. 276 BGH v. 28.4.1992 – VI ZR 360/91, VersR 1992, 886. 277 BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 204/76, BGHZ 74, 226. 278 BGH v. 27.6.1967 – VI ZR 3/66, VersR 1967, 954. 279 BGH v. 13.5.1953 – VI ZR 78/52, BGHZ 10, 18. 280 BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 81/62, VersR 1962, 1100; BGH v. 29.10.1968 – VI ZR 169/67, 1969, 77. 281 BGH v. 13.5.1953 – VI ZR 78/52, BGHZ 10, 20; BGH v. 9.10.1990 – VI ZR 291/89, VersR 1991, 438. 282 OLG Köln v. 10.1.1990 – 26 U 41/87, VersR 1991, 111. 283 RG VAE 1939, 66. 284 BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 97/71, VersR 1974, 142.

926 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.109 § 32

wenn durch dieses Verhalten die Ausheilung der Unfallverletzungen verzögert oder verhindert wird und hierdurch weiterer Schaden entsteht.285 Die Kosten der Schadensminderung (z.B. der Umschulung, des Umzugs)286 sind vom Schädiger zu ersetzen (vgl. Rz. 25.102). Sie zählen nicht zu den „vermehrten Bedürfnissen“ (vgl. Rz. 32.32 ff.), was u.U. für die Frage eines Forderungsübergangs bedeutsam ist (vgl. Rz. 32.56). Hat ein Sozialversicherer zum Zweck der beruflichen Rehabilitation Umschulungskosten aufgewendet, so sind diese vom Schädiger nicht nur dann zu ersetzen, wenn der Verletzte nach § 254 BGB zur Umschulung verpflichtet war, sondern auch dann, wenn die Umschulung bei verständiger Beurteilung der Erfolgsaussichten und des Verhältnisses dieser Aussichten zum wirtschaftlichen Gewicht des anderenfalls absehbaren Erwerbsschadens geeignet und sinnvoll erscheint.287 Hierbei dürfen weder an die Erfolgs- noch an die Schadensprognose zu hohe Anforderungen gestellt werden.288 Ist der Verletzte auf seinen Wunsch für eine höher qualifizierte Arbeit ausgebildet worden, obwohl die Umschulung zu einem seiner bisherigen Tätigkeit gleichwertigen Beruf möglich und zumutbar gewesen wäre, so sind die Mehrkosten nicht zu ersetzen.289 Hat er sich zunächst einer anderen beruflichen Tätigkeit zugewendet, so unterbricht dies den Zurechnungszusammenhang zwischen Schädigung und späterer Umschulung nur dann, wenn hierin eine eigenständige Entscheidung über den weiteren beruflichen Lebensweg lag, für die der Unfall lediglich äußerer Anlass war.290 Zur Frage einer Vorteilsausgleichung s. Rz. 32.99.

32.108

Die Beweislast für die Verletzung der Schadensminderungspflicht trägt der Schädiger, also auch dafür, dass es dem Verletzten möglich und zumutbar war, eine andere als die ihm infolge des Unfalls unmöglich gewordene Arbeit aufzunehmen.291 Der Verletzte ist jedoch, da er seine Fähigkeiten und Neigungen selbst am besten kennt und i.d.R. auch über die für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmöglichkeiten besser informiert ist, verpflichtet, an der Feststellung, ob er seiner Schadensminderungspflicht genügt hat, mitzuwirken. Er hat daher im Rahmen seiner Darlegungslast den Schädiger darüber zu unterrichten, welche Arbeitsmöglichkeiten ihm zumutbar und durchführbar erscheinen und was er bereits unternommen hat, um einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten.292 Demgegenüber ist es Sache des Schädigers, zu behaupten und zu beweisen, dass der Verletzte entgegen seiner Darstellung in einem konkret bezeichneten Fall ihm zumutbare Arbeit hätte aufnehmen können. Hat der Schädiger eine konkret zumutbare Arbeitsmöglichkeit nachgewiesen, so ist es Sache des Verletzten, darzulegen und zu beweisen, warum er diese Möglichkeit nicht hat nutzen können.293

32.109

285 BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 97/71, VersR 1974, 142. 286 RG v. 15.3.1939 – VI 254/38, RGZ 160, 121; eingehend zum Rehabilitationsmanagement Steffen VersR 2000, 793 ff. 287 BGH v. 4.5.1982 – VI ZR 175/80, VersR 1982, 767; OLG Köln v. 30.3.1984 – 19 U 196/83, VersR 1985, 94; OLG Celle v. 19.7.1984 – 5 U 117/83, VersR 1988, 1252; OLG Schleswig v. 6.9.1989 – 9 U 132/87, VersR 1991, 355; OLG Koblenz v. 25.4.1994 – 12 U 543/93, VersR 1995, 549. 288 BGH v. 25.5.1982 – VI ZR 203/80, VersR 1982, 791. 289 BGH v. 2.6.1987 – VI ZR 198/86, VersR 1987, 1239; LG Osnabrück v. 13.10.1989 – 11 S 246/89, ZfS 1990, 120. 290 BGH v. 26.2.1991 – VI ZR 149/90, NZV 1991, 265. 291 RG v. 15.3.1939 – VI 254/38, RGZ 160, 120; BGH v. 13.5.1953 – VI ZR 78/52, BGHZ 10, 18, 20; BGH v. 3.7.1962 – VI ZR 81/62, VersR 1962, 1100; BGH v. 27.6.1967 – VI ZR 3/66, VersR 1967, 953; BGH v. 1.12.1970 – VI ZR 88/69, VersR 1971, 348; BGH v. 23.1.1979 – VI ZR 103/78, VersR 1979, 425; BGH v. 22.4.1997 – VI ZR 198/96, NZV 1997, 435, 436. 292 Vgl. BGH v. 26.9.2006 – VI ZR 124/05, NJW 2007, 64, 65 m.w.N. (zu § 844 Abs. 2 BGB). 293 BGH v. 23.1.1979 – VI ZR 103/78, VersR 1979, 425.

Zwickel | 927

§ 32 Rz. 32.110 | Körperverletzung

32.110

Die Frage, ob der Verletzte einen bestimmten Arbeitsplatz tatsächlich erhalten hätte, lässt sich kaum jemals mit völliger Sicherheit beantworten. Es muss – wie immer, wenn es um hypothetische Entwicklungen geht – eine nach der Lebenserfahrung anzunehmende Wahrscheinlichkeit genügen. Hat sich der Verletzte überhaupt nicht oder nur unzureichend um Arbeit bemüht, so kann, wenn ein in entsprechender Situation Befindlicher bei entsprechendem Einsatz jedenfalls zu einem gewissen Zeitpunkt einen Arbeitsplatz gefunden hätte, der Schluss gerechtfertigt sein, dass dies auch beim Verletzten der Fall gewesen wäre.294

6. Gewinnausfall bei selbständig Tätigen 32.111

Für den Anspruch eines selbständig Tätigen (Freiberufler, Unternehmer und dergleichen) gelten die vorstehenden Regeln im Grundsatz entsprechend. Einige Besonderheiten ergeben sich jedoch daraus, dass der entgangene Gewinn in diesen Fällen häufig viel schwerer zu ermitteln ist als bei einem Arbeitnehmer mit im Wesentlichen konstantem Einkommen.295 Ein kurzfristiger Ausfall wird von Selbständigen häufig durch entsprechende Termingestaltung aufgefangen werden können. Außerdem besteht beim Selbständigen u.U. die Möglichkeit, Ausfälle durch Einsatz einer Ersatzkraft zu vermeiden (hierzu Rz. 32.116 f.). Auf der anderen Seite kann es bei Selbständigen zu nachwirkenden Einbußen dadurch kommen, dass sich Kunden wegen des zeitweiligen Ausfalls oder wegen geschwundenen Vertrauens in die Leistungsfähigkeit des Verletzten abwenden oder dass sich das Erreichen der Gewinnzone beim Aufbau eines Geschäftes verschiebt.296

32.112

Auch wenn sich der Verletzte vor dem Unfall wie ein Selbständiger geriert, also keine Lohnsteuer und keine Sozialabgaben abgeführt hat, kommt eine schadensersatzrechtliche Behandlung nach den für Arbeitnehmer geltenden Vorschriften in Betracht, wenn es sich um eine bloße Scheinselbständigkeit i.S.v. § 7 SGB IV handelt. Hierfür ist gem. § 7 Abs. 1 SGB IV zu bestimmen, ob eine Beschäftigung, d.h. eine nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis, vorliegt. Gem. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IV sind dafür die Weisungsgebundenheit und Eingliederung in die Arbeitsorganisation maßgebend. Wird der Nachweis der Scheinselbständigkeit nicht erbracht oder die frühere Vermutung des § 7 Abs. 4 SGB IV vom Verletzten widerlegt,297 ist der Verdienstausfall nach den für Selbständige geltenden Grundsätzen zu berechnen.

a) Berechnung des Gewinnausfalls 32.113

Auch für Selbständige gilt, dass der Schaden konkret zu ermitteln ist. Er kann nicht abstrakt aufgrund des Grades der Erwerbsminderung errechnet werden (vgl. Rz. 32.61), sondern muss sich in einer tatsächlichen Minderung des Betriebsergebnisses niedergeschlagen haben.298

32.114

Der Erwerbsschaden kann auch nicht abstrakt anhand der fiktiven Kosten einer Ersatzkraft (Geschäftsführer, Betriebsleiter, Handwerksmeister u.ä.) berechnet werden. Eine solche Art der Schadensberechnung hat der BGH abgelehnt, weil der Wegfall oder die Beeinträchtigung der Arbeitskraft für sich gesehen kein ersatzfähiger Schaden sei; die Grundsätze des normati294 BGH v. 23.1.1979 – VI ZR 103/78, VersR 1979, 425 spricht in diesem Zusammenhang von einem Anscheinsbeweis. 295 Horak DAR Extra 2013, 762. 296 Vgl. Grunsky DAR 1988, 402; OLG Karlsruhe v. 11.7.1997 – 10 U 15/97, VersR 1998, 1256. 297 S. dazu BGH v. 6.2.2001 – VI ZR 339/99, NJW 2001, 1640. 298 BGH v. 31.3.1992 – VI ZR 143/91, VersR 1992, 973; a.A. Grunsky DAR 1988, 404.

928 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.116 § 32

ven Schadens (Rz. 20.2 ff.) seien hierfür nicht heranzuziehen299 (anders die Rspr. zum „Erwerbsschaden“ einer Hausfrau, wo es allerdings nicht um den Ersatz eines ausgefallenen Gewinnes geht; vgl. hierzu Rz. 32.143 ff.). In Betracht kommt eine Erstattung fiktiver Aufwendungen außerdem unter dem Aspekt der Schadensminderungskosten (Rz. 32.120). Ferner können sie in geeigneten Fällen zur Schätzung des entgangenen Gewinns herangezogen werden, z.B. bei voll mitarbeitenden Kleinunternehmern.300 Maßgeblich ist daher auch hier die Differenzhypothese, d.h. der Vergleich zwischen dem tatsächlich eingetretenen Betriebsergebnis und dem hypothetischen, welches bei Mitarbeit des Verletzten zu erzielen gewesen wäre.301 Zu dessen Ermittlung ist primär an die Geschäftsentwicklung und die Geschäftsergebnisse in den letzten Jahren vor dem Unfall anzuknüpfen.302 Der Vergleich ist aber unter Berücksichtigung aller Besonderheiten des konkreten Falles zu ziehen; die Vorlage von Bilanzen oder einer Gewinn- und Verlustrechnung wird hierfür i.d.R. nicht genügen.303 So kann es z.B. eine Rolle spielen, wenn sich die Erwerbsfähigkeit wegen schlechten Gesundheitszustands auch ohne den Unfall vermindert hätte.304 Einflüsse auf das Betriebsergebnis, die mit dem unfallbedingten Ausfall nichts zu tun haben (insbesondere Konjunkturschwankungen, Entwicklung des Betriebsumfangs und der betreffenden Branche), sind beim tatsächlichen Ergebnis zu eliminieren, beim hypothetischen aber zu berücksichtigen.305 Besondere Risiken können mit einem Abschlag abgefangen werden.306 Zu beachten sind auch Auswirkungen einer „Phasenverschiebung“. Beispielsweise kann ein besonders hoher Gewinn nach Wiederaufnahme der Tätigkeit auf der Erledigung liegengebliebener Aufträge beruhen,307 es kann aber auch zu nachwirkenden Einbußen wegen des zeitweiligen Ausfalls kommen.308 Bei gut organisierten Unternehmen mit Mitarbeitern wirkt sich ein kurzzeitiger Ausfall des Chefs möglicherweise überhaupt nicht gewinnmindernd aus.309

32.115

Kann der Verletzte konkret entgangene Geschäfte oder die unfallbedingte Beendigung einer gewinnbringenden Vertragsbeziehung310 nachweisen, so ist der Gewinn, der sich hieraus nach Abzug der Kosten ergeben hätte, zu ersetzen. Im Rahmen der Vorteilsausgleichung ist aber ggf. zu berücksichtigen, dass der Verletzte die wegen des Ausfalls freigebliebene Arbeitskapa-

32.116

299 BGH v. 5.5.1970 – VI ZR 212/68, BGHZ 54, 50; für weitergehende Zulassung dieser Berechnungsweise Medicus DAR 1994, 442, Berger VersR 1981, 1105 und 17. VGT (1980), 14. 300 Vgl. BGH v. 7.10.1966 – VI ZR 26/55, VersR 1966, 1158; BGH v. 3.7.1972 – III ZR 106/69, VersR 1972, 1068; Stürner JZ 1984, 464. 301 BGH v. 25.10.1960 – VI ZR 185/59, VersR 1961, 247; BGH v. 5.5.1961 – VI ZR 194/60, 1961, 703; BGH v. 20.10.1961 – VI ZR 22/61, VersR 1961, 1140; BGH v. 28.3.1963 – III ZR 236/61, VersR 1963, 662; BGH v. 25.10.1963 – VI ZR 234/62, VersR 1964, 76; BGH v. 26.10.1965 – VI ZR 117/64, VersR 1966, 445; BGH v. 18.6.1968 – VI ZR 122/67, VersR 1968, 970; BGH v. 17.12.1968 – VI ZR 199/67, VersR 1969, 466; BGH v. 24.10.1978 – VI ZR 142/77, VersR 1978, 1170; BGH v. 6.7.1993 – VI ZR 228/92, NJW 1993, 2673. 302 BGH v. 6.2.2001 – VI ZR 339/99, NJW 2001, 1640 (2½ Jahre nicht beanstandet). 303 BGH v. 6.7.1993 – VI ZR 228/92, NJW 1993, 2673. 304 BGH v. 17.10.1961 – VI ZR 32/61, VersR 1961, 1140. 305 Vgl. BGH v. 5.5.1961 – VI ZR 194/60, VersR 1961, 703; BGH v. 17.10.1961 – VI ZR 32/61, VersR 1961, 1140. 306 BGH v. 6.2.2001 – VI ZR 339/99, NJW 2001, 1640 (Abhängigkeit von einem Auftraggeber). 307 BGH v. 16.2.1971 – VI ZR 147/69, BGHZ 55, 329. 308 BGH v. 5.5.1961 – VI ZR 194/60, VersR 1961, 703; OLG Frankfurt v. 11.9.1978 – 18 U 87/78, VersR 1979, 87. 309 BGH v. 5.7.1966 – VI ZR 275/64, VersR 1966, 957. 310 BGH v. 19.9.1995 – VI ZR 226/94, VersR 1996, 380 (Beratervertrag).

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§ 32 Rz. 32.116 | Körperverletzung

zität anderweitig nutzen konnte. Hatte er zur Erreichung seines wirtschaftlichen Ziels bereits Investitionen vorgenommen, die sich nun als nutzlos erwiesen, so sind vom Roherlös nicht die (fiktiven) Gesamtaufwendungen, sondern nur die infolge der Vereitelung der Geschäftsfortführung ersparten Betriebskosten in Abzug zu bringen.311

32.117

Für die Dauer des Schadensersatzes kommt es noch stärker als bei Unselbständigen auf die Umstände des Einzelfalls an;312 eine Beschränkung des Ersatzes auf einen festen Zeitraum (etwa zwei Jahre) trotz fortbestehender Verletzungsauswirkungen verbietet sich.313 Während bei nichtselbständig Erwerbstätigen die Altersgrenze für die Renten- bzw. Pensionsberechtigung einen wichtigen Anhaltspunkt liefert (vgl. Rz. 32.82), gibt es keinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass ein Unternehmer oder freiberuflich Tätiger seine Tätigkeit im entsprechenden Alter einstellt. Unter Umständen wird der Beruf vielmehr bis ins hohe Alter fortgeführt,314 wenn auch – was bei der Bemessung zu berücksichtigen ist – vielfach mit geringeren Einkünften.315

32.118

In der Rspr. wurde z.B. bei einem Arzt bis zum 75. Lebensjahr Erwerbstätigkeit angenommen,316 bei einem anderen bis über das 78. Lebensjahr hinaus.317 Bei einem Viehhändler ging das LG Tübingen318 von einer Erwerbstätigkeit bis zum 68. Lebensjahr aus, während das OLG Celle319 entschied, ein Unternehmer, der seinen Lastzug selbst fahre, könne diese Tätigkeit i.d.R. nicht über die Vollendung des 65. Lebensjahres hinaus ausüben.

b) Kosten einer Ersatzkraft. 32.119

Ist es möglich und zumutbar, den Ausfall des Verletzten (zeitweise) durch eine Ersatzkraft zu überbrücken, so ist der Verletzte nach § 254 Abs. 2 BGB gehalten, zur Vermeidung eines größeren Gewinnausfalls von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Die Kosten der Ersatzkraft – dies kann in einem Kleinunternehmen auch der Ehepartner sein320 – sind ihm in voller Höhe als Kosten der Schadensminderung zu ersetzen, wenn dadurch ein Betriebsergebnis erzielt worden ist, das jedenfalls nicht höher lag als es ohne das Schadensereignis durch den Unternehmer selbst hätte voraussichtlich erreicht werden können;321 zusätzlich zu ersetzen ist ein trotz dieser Vorkehrung noch entgangener Gewinn. Liegen die Kosten der Ersatzkraft (Bruttokosten abzgl. etwaiger Steuerersparnisse) über dem zu erwartenden Gewinnausfall, so mindert dies den Anspruch auf Erstattung dieser Kosten nur, wenn die Unwirtschaftlichkeit der Einstellung von vorneherein auf der Hand lag. Kommt es infolge besonderer Tüchtigkeit der Ersatzkraft zu einer Gewinnsteigerung, so braucht sich der Verletzte dies nicht auf den Ersatzanspruch anrechnen zu lassen. 311 BGH v. 15.7.1997 – VI ZR 208/96, VersR 1997, 1154. 312 RG JW 1932, 2029; 1933, 830 u 1405 mit Anm. Bezold; OGH v. 26.11.1948 – I ZS 102/48, NJW 1949, 340 mit Anm. Dahs; Böhmer DAR 1951, 181. 313 BGH v. 19.9.2017 – VI ZR 530/16, NZV 2018, 172 mit zust. Anm. Ch. Huber. 314 RG RdK 1927, 221. 315 BGH v. 26.10.1955 – VI ZR 142/54, VersR 1956, 174; BGH v. 15.1.1963 – VI ZR 79/62, VersR 1963, 433: im Allgemeinen ab Vollendung des 65. Lebensjahres. 316 BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 89/63, VersR 1964, 778. 317 OLG Braunschweig VRS 2, 124. 318 RdK 1946, 35. 319 RdK 1953, 79. 320 BGH v. 16.5.1961 – VI ZR 249/60, VersR 1961, 704. 321 BGH v. 10.12.1996 – IV ZR 268/95, NZV 1997, 174; OLG Saarbrücken v. 4.2.1999 – 3 U 533/ 97-29, OLGR Saarbrücken 1999, 196.

930 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.122 § 32

Wird die Einstellung einer Ersatzkraft durch unentgeltliche Leistungen Dritter entbehrlich (z.B. Einsatz von Angehörigen, Mehrarbeit von Mitarbeitern), so soll dies den Schädiger nicht entlasten. Daher können auch die fiktiven Kosten einer Ersatzkraft im Rahmen der Schadensminderungskosten, ggf. zzgl. gleichwohl eingetretenen Gewinnausfalls, beansprucht werden. Voraussetzung ist aber, dass ohne das unentgeltliche Einspringen des Dritten die Einstellung einer Ersatzkraft tatsächlich zur Schadensminderung geboten gewesen wäre; keineswegs kann der entsprechende Betrag etwa als Minimalschaden ohne weiteren Nachweis ersetzt verlangt werden (vgl. Rz. 32.114).

32.120

c) Verkauf des Unternehmens Den Mindererlös, der beim Verkauf des Unternehmens oder der Betriebsgrundstücke und der Betriebseinrichtung entsteht, hat nicht nur derjenige Schädiger zu ersetzen, der aus unerlaubter Handlung haftet, sondern auch derjenige, der nur aus Gefährdungshaftung Schadensersatz schuldet.322 Daher umfasst die Feststellung des Gerichts, der Schädiger habe den durch Minderung der Erwerbsfähigkeit entstandenen Schaden zu ersetzen, auch den Anspruch des Verletzten auf Ersatz des Mindererlöses beim Verkauf des Unternehmens.323 Der Mindererlös, der durch einen Verkauf nach dem Tod des Verletzten eintritt, ist nicht zu ersetzen, weil es sich um einen den Erben entstandenen Schaden handelt (Rz. 31.8). Zu ersetzen ist der Mindererlös bei der Veräußerung einzelner Betriebsmittel ebenso wie bei der Veräußerung des ganzen Betriebs.

32.121

d) Aufgabe der Selbständigkeit Muss ein Kaufmann oder Gewerbetreibender sein Unternehmen wegen der unfallbedingten Körperverletzung stilllegen, so hat ihm der Schädiger den vollen Reingewinn, der dem Verletzten hierdurch entgeht, zu ersetzen.324 Eine Stilllegung kann auch dann erforderlich werden, wenn die Arbeitskraft des Verletzten nur beeinträchtigt ist, mit der restlichen Arbeitskraft aber ein wettbewerbsfähiger Betrieb nicht aufrechterhalten werden kann.325 Ist dagegen eine Fortführung mit Hilfe einer Hilfskraft möglich, kann er nur deren Kosten geltend machen;326 vgl. auch Rz. 32.133. Wäre ihm später wegen Besserung seines Zustandes die Wiedereröffnung des Geschäfts mit Hilfe eines Angestellten möglich und unterlässt er dies, so tritt eine Minderung des Ersatzanspruchs nur ein, wenn dem Verletzten das Eingehen des Risikos einer Wiedereröffnung zuzumuten war.327 Hat der Verletzte, weil er seine selbständige Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, zur Verwertung seiner verbliebenen Arbeitskraft eine nicht selbständige Arbeit angenommen, so muss, wenn als entgangener Gewinn das betriebswirtschaftliche Ergebnis (Einnahmen abzgl. Betriebsausgaben) und damit das Bruttoeinkommen des Verletzten angesetzt wird, der Arbeitslohn ebenfalls brutto abgezogen werden; dem Verletzten flössen sonst die Kosten der sozialen Absicherung, die er aus dem Geschäftsgewinn hätte aufbringen müssen, als Teil des Arbeitseinkommens zu.328

322 323 324 325 326 327 328

RG v. 10.3.1932 – VIII 458/31, RGZ 136, 19; BGH v. 25.1.1972 – VI ZR 75/71, VersR 1972, 460. RG JW 1908, 455. BGH LM Nr. 1 zu § 843 BGB. BGH v. 25.1.1968 – III ZR 122/67, VersR 1968, 396. OLG Koblenz v. 5.3.1990 – 12 U 348/88, VersR 1991, 194. BGH LM Nr. 1 zu § 843 BGB. BGH v. 6.2.2001 – VI ZR 339/99, NJW 2001, 1640.

Zwickel | 931

32.122

§ 32 Rz. 32.123 | Körperverletzung

e) Geschäftliche Fehlleistungen 32.123

Der Schädiger hat auch für die Folgen geschäftlicher Fehlleistungen einzustehen, soweit sie auf einer unfallbedingten psychischen Beeinträchtigung beruhen.329

f) Hinderung an Eröffnung 32.124

Wegen der Hinderung an der Eröffnung eines Geschäftsbetriebs vgl. Rz. 32.167.

g) Verbotene oder sittenwidrige Geschäfte 32.125

Verbotene oder sittenwidrige Geschäfte dürfen bei der Berechnung des Verdienstausfalls nicht berücksichtigt werden.330 Dies gilt auch dann, wenn für den Verletzten keine greifbare Gefahr bestand, die Gesetzwidrigkeit oder Sittenwidrigkeit werde Anlass zu einer zwangsweisen Unterbindung des Geschäftsbetriebs sein.331

32.126

Beispiele für verbotene und damit nicht erstattungspflichtige Einkünfte sind solche aus Schwarzarbeit,332 Bestechungsgelder,333 Gewinne, die unter Umgehung des GüKG,334 des PBefG335 oder des RBerG bzw. des RDG336 erzielt worden wären usw. (zur Frage der Genehmigungsfähigkeit s. Rz. 32.128). Vor Aufhebung des Rabattgesetzes337 waren Einkünfte, die unter dessen Umgehung erlangt worden wären, ebenfalls nicht erstattungsfähig. Prostitution galt bis zur Einführung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (ProstG)338 nach ganz h.M. als Beispiel für eine sittlich missbilligte Erwerbstätigkeit (zur neuen Rechtslage s. Rz. 32.136).

32.127

Verbotsnormen, die nur die Vornahme eines Rechtsgeschäfts verhindern sollen, nicht aber dessen zivilrechtliche Wirksamkeit tangieren, schließen auch den Ersatz-anspruch wegen Gewinnausfalls nicht aus.339 Dies gilt z.B. für gewerbepolizeiliche Vorschriften,340 Nebentätigkeitsbestimmungen für Beamte,341 vertragliche Konkurrenzklauseln u.ä.

32.128

Bedurfte es zur Durchführung bestimmter gewinnbringender Geschäfte einer Genehmigung (z.B. nach dem RBerG), so kann der Verletzte den entgangenen Gewinn nur ersetzt verlangen, 329 BGH v. 14.6.1966 – VI ZR 270/64, VersR 1966, 931. 330 BGH v. 21.2.1964 – I b ZR 108/62, VersR 1964, 654; BGH v. 6.7.1976 – VI ZR 122/75, 1976, 941; Ahrens in FS Danzl 2017, S. 15; für Ersatz eines dem Verletzten möglichen Einkommens Gründig Schadensersatz für den Verlust von Einnahmen aus gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Tun 1995, S. 190 ff. (auch rechtsvergleichend). 331 BGH v. 14.7.1954 – VI ZR 260/53, VersR 1954, 498. 332 OLG Köln v. 28.8.1968 – 13 U 29/68, VersR 1969, 382; LG Oldenburg v. 13.6.1988 – 4 O 474/ 88, VersR 1988, 1246; vgl. Ges zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Der österreichische OGH bejaht einen Erwerbsschaden (ZVR 2000 Nr. 68), kritisch dazu Ch. Huber ZVR 2000, 290 ff. 333 BGH v. 14.7.1954 – VI ZR 260/53, VersR 1954, 498. 334 BGH v. 16.6.1955 – II ZR 133/54, NJW 1955, 1313. 335 BGH v. 26.1.1956 – III ZR 157/54, VersR 1956, 219. 336 BGH v. 7.5.1974 – VI ZR 7/73, VersR 1974, 968. 337 Art. 1 des Ges zur Aufhebung des Rabattgesetzes v 23.7.2001, BGBl. I 2001, 1663. 338 BGBl. 2001, I 3983. 339 BGH v. 30.11.1979 – V ZR 214/77, NJW 1980, 775. 340 Staudinger/Schiemann § 252 Rz. 13; a.A. MünchKomm-BGB/Oetker § 252 Rz. 8; BGH v. 7.5.1974 – VI ZR 7/73, VersR 1974, 968. 341 Vgl. BGH v. 4.11.1960 – VI ZR 138/59, VersR 1961, 23.

932 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.132 § 32

wenn er den Nachweis erbringen kann, dass er die Genehmigung beantragt und erhalten hätte. Dass er sie bei nur gedachter Antragstellung erhalten hätte, genügt nicht.342 Unerheblich ist es entgegen dieser Entscheidung auch, ob der Verletzte die Genehmigungspflicht entschuldbar oder jedenfalls nur aufgrund leichter Fahrlässigkeit nicht gekannt hat. Es geht hier nur um die Frage, ob der Verletzte von dem Ersatzpflichtigen etwas haben will, was ihm zu erlangen versagt war; auf subjektive Momente kommt es hierbei nicht an.343

h) Vorteilsausgleich Wegen der Frage, welche Vorteile sich der Verletzte auf seinen Ersatzanspruch anrechnen lassen muss, kann auf die in Rz. 32.85 ff. dargelegten Grundsätze verwiesen werden. Durch den Arbeitsausfall ersparte Aufwendungen schlagen sich bereits in der Berechnung des Gewinns nieder, unter dem der nach Abzug der Kosten verbleibende Reinverdienst zu verstehen ist. Besonderheiten für Selbständige ergeben sich insbesondere hinsichtlich der steuerrechtlichen Auswirkungen des Schadensfalls.

32.129

aa) Einkommensteuer Der Vorteil, dass die Ersatzleistung nach § 34 EStG ggf. einem ermäßigten Steuersatz unterliegt, soll dem Ersatzpflichtigen nicht zugutekommen (vgl. Rz. 32.88). Wird ein Erwerbsausfall (teilweise) durch die Einstellung einer Ersatzkraft vermieden (Rz. 32.119), so wirkt sich deren Entlohnung zwar gewinn- und damit steuermindernd aus; dieser Vorteil dürfte i.d.R. aber durch die von der Ersatzkraft bewirkte Gewinnsteigerung aufgewogen werden und kann daher im Allgemeinen außer Betracht bleiben.

32.130

bb) Umsatzsteuer Ein Vorteil, der sich daraus ergibt, dass Schadensersatzrenten wegen entgangenen Verdiensts nicht der Umsatzsteuer unterliegen, ist anzurechnen.344

32.131

cc) Gewerbesteuer Sie erfasst nur die im gewerblichen Betrieb unmittelbar erwirtschafteten Einnahmen.345 Damit unterliegen Entschädigungen für die Aufgabe eines Gewerbebetriebs von vornherein nicht der Gewerbesteuer.346 Entschädigungen für entgangenen Ertrag aus dem werbenden Betrieb stellen nur dann steuerpflichtigen Gewerbeertrag dar, wenn es sich um Leistungen einer vom Gewerbetreibenden selbst abgeschlossenen Versicherung handelt, deren Prämien als Betriebsausgaben behandelt wurden.347 Nicht gewerbesteuerpflichtig ist dagegen die Ersatzleistung des Schädigers bzw. seines Haftpflichtversicherers für einen unfallbedingten Erwerbsausfall.348 Infolgedessen muss sich ein Gewerbetreibender, der vom Schädiger Ersatz wegen 342 Staudinger/Schiemann § 252 Rz. 13; a.A. MünchKomm-BGB/Oetker § 252 Rz. 8; BGH v. 7.5.1974 – VI ZR 7/73, VersR 1974, 968. 343 Lange/Schiemann § 6 X 7. 344 BGH v. 10.2.1987 – VI ZR 17/86, VersR 1987, 669; Kullmann VersR 1993, 392. 345 BFH v. 28.8.1968 – I 252/65, BFHE 93, 466. 346 BFH v. 17.12.1975 – I R 29/74, BFHE 117, 483. 347 BFH v. 8.4.1964 – VI 343/62 S, BFHE 79, 107. 348 BFH v. 20.8.1965 – VI 154/65 U, BFHE 84, 258; s. auch Spindler in: Schadenersatz und Steuern (hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein 1993), S. 22 f.

Zwickel | 933

32.132

§ 32 Rz. 32.132 | Körperverletzung

Verdienstausfalls fordert, im Wege der Vorteilsausgleichung das auf seinen Ersatzanspruch anrechnen lassen, was er an Gewerbesteuer erspart.349

i) Schadensminderungspflicht 32.133

Die unter Rz. 32.102 ff. dargelegten Grundsätze gelten für Selbständige sinngemäß. Auch der Selbständige hat seine verbliebene Arbeitskraft im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren schadensmindernd einzusetzen;350 bei einem nicht zu erheblichen Ausfall kann von ihm auch verlangt werden, unterbliebene Geschäfte oder Arbeitsleistungen nach seiner Genesung durch eine maßvolle Verlängerung der täglichen Arbeitszeit nachzuholen.351 Ist es möglich, den drohenden Verdienstausfall durch Einstellung einer Ersatzkraft oder Arbeitsverlagerung auf Mitarbeiter abzuwenden oder zu vermindern, so ist der Verletzte verpflichtet, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen,352 andernfalls hat er den vermeidbaren Ausfall (unter Berücksichtigung der fiktiven Kosten der Ersatzkraft) selbst zu tragen. Ist abzusehen, dass die Kosten einer Ersatzkraft, die als Schadensminderungskosten vom Schädiger zu tragen sind (vgl. Rz. 25.102), höher sein werden als der zu erwartende Gewinnausfall, so ist die Ersatzpflicht des Schädigers auf letzteren beschränkt, es sei denn, der Verletzte habe (z.B. aus Wettbewerbsgründen oder zur Erhaltung des Kundenstamms) ein besonderes wirtschaftliches Interesse daran, dass sein Betrieb ungestört weiterläuft.

j) Beweisfragen 32.134

Wegen der beweisrechtlichen Fragen vgl. Rz. 32.84. Auch beim Selbständigen müssen die Tatsachen, die seine Gewinnerwartung wahrscheinlich machen, von ihm dargelegt werden; die freie Schätzung eines Mindestschadens ist nicht zulässig. In der Regel werden Angaben zur bisherigen Geschäftsentwicklung erforderlich sein.353 Diese können, ggf. nach Einholung eines betriebswirtschaftlichen Gutachtens,354 die Grundlage für die richterliche Schätzung nach § 287 ZPO abgeben.355 Eine gerichtliche Schadensschätzung kann nur dann unterbleiben, wenn keinerlei greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Gewinnausfalls dargetan sind.356

k) Unbezifferter Klageantrag 32.135

Ein unbezifferter Klageantrag (als Ausnahme vom Bestimmtheitserfordernis des § 253 ZPO) ist bei Klagen auf Ersatz eines Erwerbsschadens nicht für zulässig zu erachten. Die frühere Rspr. des BGH,357 die eine solche Klageerhebung im Hinblick auf die Schätzungsbefugnis des

349 BGH v. 23.1.1979 – VI ZR 4/77, VersR 1979, 519; BGH v. 10.2.1987 – VI ZR 17/86, VersR 1987, 669. 350 BGH v. 28.9.1959 – III ZR 112/58, VersR 1959, 374. 351 BGH v. 16.2.1971 – VI ZR 147/69, VersR 1971, 544. 352 BGH v. 3.6.1966 – VI ZR 224/64, VersR 1966, 851; OLG Köln v. 4.3.1993 – 12 U 138/92, NZV 1994, 194 LS. 353 BGH v. 16.3.2004 – VI ZR 138/03, NZV 2004, 344, 346. 354 KG v. 26.1.2004 – 12 U 8954/00, NZV 2005, 148. 355 BGH v. 9.6.1970 – VI ZR 155/68, VersR 1970, 860; zu den betriebswirtschaftlichen Rechenmethoden bei Betriebsunterbrechungsschäden s. Frotz VersR 1995, 1021. Eine grob unrichtige Berechnungsweise beanstandet BGH v. 10.12.1996 – IV ZR 268/95, NZV 1997, 174. 356 BGH v. 19.9.2017 – VI ZR 530/16, NZV 2018, 172 mit zust. Anm. Ch. Huber. 357 BGH v. 21.4.1959 – VI ZR 74/58, VersR 1959, 694.

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IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.136 § 32

Gerichts nach § 287 ZPO zugelassen hatte, ging zu weit und wurde daher zu Recht in Frage gestellt.358 Der unbezifferte Klageantrag widerspricht der gesetzlichen Regelung und belastet den Prozess mit Unklarheiten und Unsicherheiten. Seine Zulässigkeit sollte daher auf Fälle echter Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Bezifferung (z.B. bei dem im Ermessen des Gerichts stehenden Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB) beschränkt werden. In den hier in Frage stehenden Fällen ist es dem Schadensersatzkläger aber, trotz zweifellos bestehender Schwierigkeiten, durchaus zuzumuten, den von ihm begehrten Betrag anzugeben. Er kennt seine wirtschaftliche Situation am genauesten und ist daher besser als jeder Außenstehende in der Lage, abzusehen, inwieweit sich die Folgen des Unfalls auf sein Einkommen ausgewirkt haben. Mit § 287 ZPO allein lässt sich die Zulassung unbezifferter Anträge nicht rechtfertigen, weil diese Vorschrift für jede Schadenbemessung gilt und das Bestimmtheitsgebot des § 253 ZPO somit konsequenterweise für das gesamte Schadensersatzrecht als obsolet betrachtet werden müsste.

l) Einzelfälle (A–Z) – Architekt: OLG Frankfurt v. 11.9.1978 – 18 U 87/78, VersR 1979, 87.

32.136

– Apotheker: OLG Saarbrücken v. 13.6.2006 – 4 U 365/05, NZV 2007, 469. – Arzt bzw. Zahnarzt. Der Erwerbsschaden eines Arztes/Zahnarztes ist auf Basis der Geschäftsentwicklung bzw. der Geschäftsergebnisse in den letzten Jahren vor dem schädigenden Ereignis zu ermitteln. Maßgeblicher Prognosezeitpunkt ist der der letzten mündlichen Verhandlung. Es ist nicht erforderlich, dass ein deutlicher Gewinnrückgang vorliegt. Vielmehr ist jede negative Gewinnentwicklung bereits ausreichend. Besonders in Bereichen, in denen körperlich belastende Tätigkeiten ausgeführt werden, ist bei der Prognose zu berücksichtigen, dass Gewinneinbußen oft erst Jahre nach dem Unfall eintreten. Nach Wiederaufnahme der Tätigkeit werden Ärzte/Zahnärzte oft in der Lage sein, Einbußen durch Mehrarbeit auszugleichen. Auch zeigt sich eine Verkleinerung des Patientenstamms vielfach nur allmählich.359 – Elektromeister: BGH v. 17.10.1961 – VI ZR 32/61, VersR 1961, 1140. – Erfinder: BGH v. 13.6.1967 – VI ZR 12/66, VersR 1967, 903. – Erwerbsgeschäft in Gütergemeinschaft: BGH v. 7.12.1993 – VI ZR 152/92, VersR 1994, 316. – Fahrlehrer: BGH v. 16.2.1971 – VI ZR 147/69, BGHZ 55, 329. – Geschäftsinhaber: BGH v. 18.6.1968 – VI ZR 122/67, VersR 1968, 970. – Großhändler: BGH VersR 1961, 703. – Handelsvertreter. Zugunsten eines Handelsvertreters ist zu berücksichtigen, wenn das Unternehmen, dessen Erzeugnisse er vertreibt, nach seinem Unfall einen beachtlichen Auf-

358 Vgl. BGH v. 4.11.1969 – VI ZR 85/68, VersR 1970, 127. 359 BGH v. 19.9.2017 – VI ZR 530/16, NZV 2018, 172 mit zust. Anm. Ch. Huber; OLG München v. 23.1.1987 – 10 U 2359/85, NJW 1987, 1484; OLG Hamm v. 15.2.1995 – 13 U 111/94, NZV 1995, 317; OLG Nürnberg v. 24.11.1967 – 6 U 70/67, VersR 1968, 481.

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§ 32 Rz. 32.136 | Körperverletzung

schwung genommen hat. Den Maßstab kann das Geschäftsergebnis der nunmehr tätigen anderen Handelsvertreter bilden.360 – Kraftfahrzeughändler: BGH v. 6.6.1966 – III ZR 212/64, VersR 1966, 851. – Kraftfahrzeugreparaturwerkstatt (Inhaber): BGH v. 17.12.1968 – VI ZR 199/67, VersR 1969, 466. – Landwirt. Die Berechnung kann auf verschiedenen Wegen erfolgen, z.B. aufgrund der jährlichen Roheinnahmen (Reinertrag abzgl. allgemeiner Betriebskosten, Grundsteuern, Abgaben und Durchschnittsaufwendungen an Investitionen), durch Ermittlung der landwirtschaftlichen Nutzfläche je 100 ha in Verbindung mit dem Großviehbestand, dem Maschinenbestand und den Investitionen, durch Ermittlung des Gewinnes eines vergleichbaren Betriebes oder durch Ansatz des für angestellte Kräfte oder mitarbeitende Kinder üblichen Stundenlohnes. Auch hier gilt aber (vgl. Rz. 32.114), dass der Verdienstausfall nicht abstrakt nach den für die Einstellung eines Landwirtschaftsmeisters zu zahlenden Kosten berechnet werden darf, wenn nicht feststeht, dass die Hoferträge tatsächlich zurückgegangen sind.361 – Portraitmaler: BGH v. 21.1.1969 – VI ZR 172/67, VersR 1969, 376. – Prostituierte. Das am 1.1.2002 in Kraft getretene ProstG anerkennt erstmals, dass eine Vereinbarung über entgeltliche sexuelle Handlungen gem. § 1 S. 1 ProstG einen Entgeltanspruch der Prostituierten begründet, aber keinen Anspruch auf Durchführung der Handlung. Der Gesetzeswortlaut lässt unklar, ob damit die Sittenwidrigkeit der Vereinbarung insgesamt entfällt.362 Klar zum Ausdruck kommt aber der Wille des Gesetzgebers, die rechtliche Stellung der Prostituierten zu verbessern und ihnen einen durchsetzbaren Entgeltanspruch zukommen zu lassen. Für eine Anspruchskürzung bei Ersatz des Verdienstausfalls verbleibt deshalb kein Raum. Vielmehr ist aufgrund des Regelungsgedankens der §§ 1, 2 ProstG ein Schaden in Höhe der tatsächlichen Erwerbsaussicht zu ersetzen. – Schneiderin: BGH VersR 1964, 76. – Steuerberater: BGH v. 5.7.1966 – VI ZR 275/64, VersR 1966, 957. – Taxiunternehmer. Ein Verdienstausfall eines Taxiunternehmers wird häufig als Folge von Beschädigungen des Wagens entstehen, kann aber auch auf seiner Verletzung beruhen. Die von Berger363 angegebene Berechnungsmethode hat den Vorzug der Klarheit. Es empfiehlt sich, die Ausfallzeit nicht in Tagen oder Wochen, sondern nach der Zahl der ausgefallenen Schichten zu bestimmen, jedenfalls dann, wenn das Taxi in mehreren Schichten gefahren worden war. Anhand der Fahrtenbücher und des Betriebsergebnisses der drei letzten Monate vor dem Unfall (bei Saisonbetrieben der vergleichbaren drei Monate des Vorjahrs) wird festgestellt, wie viele von den tatsächlich möglichen Schichten im Durchschnitt wirklich gefahren wurden. In dem hieraus zu errechnenden Verhältnis ist die Zahl der theoretisch möglichen Schichten, die unfallbedingt ausgefallen sind, zu kürzen. Sind 360 BGH v. 2.4.1963 – VI ZR 103/62, VersR 1963, 682. 361 Scheffen VersR 1990, 928. 362 An grundsätzlicher Sittenwidrigkeit der Prostitution halten fest: OLG Schleswig v. 13.5.2004 – 16 U 11/04, NJW 2005, 225; Palandt/Ellenberger Anh § 138, § 1 ProstG Rz. 2; Kurz GewArch 2002, 142, 143 f. Nach der amtl. Begründung zum ProstG ist § 138 Abs. 1 BGB auf die freiwillige Prostitution nicht mehr anwendbar, BT-Drucks. 14/5958, S. 4 und 6. So auch VG Berlin v. 1.12.2000 – 35 A 570/99, NJW 2001, 983; Armbrüster NJW 2002, 2763. 363 VersR 1963, 514; s. dazu auch BGH v. 8.3.1966 – VI ZR 244/64, VersR 1966, 595.

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IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.139 § 32

Schichten nur teilweise ausgefallen, so sind die Bruchstücke zusammenzuzählen und ist auf diese Weise die Zahl der ganzen ausgefallenen Schichten zu errechnen. Es erübrigt sich, aus der durchschnittlichen Bruttoeinnahme pro Schicht die durchschnittliche Nettoeinnahme pro Schicht zu errechnen, weil der Schädiger neben dem Gewinnausfall auch die trotz des Unfalls weiterlaufenden Unkosten ersetzen muss. Durch das Stilllegen der Droschke wird im Allgemeinen nur der Treibstoff und das Motoröl gespart, ferner ein Anteil an der Reifenabnutzung. Die von Berger (a.a.O.) angegebenen Erfahrungssätze betragen 30 % Ersparnis bei Diesel- und 35 % Ersparnis bei Benzinkraftdroschken. Der unfallbedingte Schaden errechnet sich, wenn die durchschnittliche Bruttoeinnahme pro Schicht mit der Zahl der ausgefallenen Schichten multipliziert wird und schließlich der Prozentsatz an Ersparnis abgezogen wird. Häufig wird sich ein Ausfall durch Einsatz eines Ersatzfahrers allerdings vermeiden lassen (vgl. Rz. 32.133). – Transportunternehmer. Die Errechnung des Schadens, der durch das krankheitsbedingte Stilllegen eines Lkw entsteht, geschieht auf ähnliche Weise wie bei Taxis (Rz. 32.136). Zu beachten ist, dass auch hier der Schädiger nicht nur den Ausfall an Reingewinn, sondern daneben auch die laufenden Unkosten zu erstatten hat, soweit sie durch das Stilllegen nicht entfallen. Weitere Einzelheiten bei Danner ZfV 1962, 143. – Zahntechniker: BGH v. 26.10.1965 – VI ZR 117/64, VersR 1966, 445.

7. Verdienstausfall eines Gesellschafters Bei einem Gesellschafter kann durch Arbeitsunfähigkeit in zweifacher Hinsicht ein Erwerbsschaden entstehen; durch Wegfall einer für seine Geschäftsführung oder Mitarbeit im Unternehmen der Gesellschaft gezahlten Tätigkeitsvergütung (Rz. 32.138 f.) und durch Minderung seiner Beteiligung am Gesellschaftsgewinn (Rz. 32.140 f.). Zur Anstellung einer Ersatzkraft s. Rz. 32.142.

32.137

a) Tätigkeitsvergütung Der Gesellschafter ist insoweit wie ein Arbeitnehmer zu behandeln. Er kann also vom Schädiger Ersatz der auf die Zeit der Arbeitsunfähigkeit entfallenden Vergütung verlangen. Wie bei der Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer steht seinem Anspruch nicht entgegen, dass die Gesellschaft ihm seine Bezüge trotz seiner Arbeitsunfähigkeit weiterbezahlt hat364 (vgl. Rz. 32.68 ff.). Unerheblich ist, ob der Gesellschafter im Innenverhältnis verpflichtet ist, seinen Ersatzanspruch an die Gesellschaft abzutreten365 oder ob er dieser gegenüber auf Vergütung verzichtet hat.366

32.138

Voraussetzung für die vorstehend geschilderten Rechtsfolgen ist allerdings, dass es sich um eine echte Tätigkeitsvergütung, nicht etwa um eine verdeckte Gewinnausschüttung oder verdeckte Entnahmen handelt.367 Für die demnach vorzunehmende Schätzung, welcher Teil ei-

32.139

364 BGH v. 22.6.1956 – VI ZR 140/55, BGHZ 21, 112; BGH v. 5.2.1963 – VI ZR 33/62, VersR 1963, 369 = NJW 1963, 1446 mit Anm. Ganssmüller. 365 Vgl. BGH v. 5.2.1963 – VI ZR 33/62, NJW 1963, 1051; BGH v. 14.10.1969 – VI ZR 55/68, NJW 1970, 96. 366 BGH v. 16.6.1992 – VI ZR 264/91, VersR 1992, 1410, 1411. 367 BGH v. 5.7.1977 – VI ZR 44/75, VersR 1977, 863; BGH v. 16.6.1992 – VI ZR 264/91, VersR 1992, 1410, 1411; zur Ein-Mann-GmbH s. OLG Hamm v. 8.6.1995 – 32 U 166/90, OLGR Hamm 1995, 271.

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§ 32 Rz. 32.139 | Körperverletzung

ner Gesellschaftervergütung ein echtes „Gehalt“ darstellt, können die Beträge, welche die Steuerbehörden als Tätigkeitsvergütung, also als absetzbare Betriebsausgaben der Gesellschaft anerkennen, als Anhaltspunkte dienen.368 Allein die Tatsache, dass eine Vergütung von Umsatz oder Gewinn des Unternehmens abhängig ist, nimmt ihr nicht den Charakter als Tätigkeitsvergütung.369 Liegt eine verdeckte Gewinnausschüttung vor, so kann dem Gesellschafter nur daraus ein Schaden erwachsen, dass sich der Gewinn der Gesellschaft infolge des unfallbedingten Ausfalls seiner Tätigkeit vermindert hat.370

b) Verringerung der Gewinnbeteiligung bzw. des Kapitalkontos 32.140

Ist durch den Ausfall der Tätigkeit des Gesellschafters bei der Gesellschaft eine Minderung des Gewinns eingetreten, so ist der hierin liegende Schaden der Gesellschaft bzw. der anderen Gesellschafter als Drittschaden nicht ersatzpflichtig. Eine Ersatzpflicht besteht jedoch gegenüber dem verletzten Gesellschafter insofern, als sich die Gewinnminderung auf seine Gesellschaftsbeteiligung ausgewirkt hat.371 Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine Gewinnminderung nur infolge überpflichtmäßiger Anstrengungen der anderen Gesellschafter vermieden wurde.372

32.141

Eine – nicht überzeugende – Ausnahme von diesen Grundsätzen macht der BGH allerdings für den Fall, dass der geschäftsführende Alleingesellschafter einer Kapitalgesellschaft infolge Unfallverletzung arbeitsunfähig wird und seiner Gesellschaft dadurch ein Gewinn entgeht. Diesen Verlust soll der Gesellschafter als eigenen Schaden von dem für den Unfall Verantwortlichen ersetzt verlangen können.373 Obgleich der BGH in dieser Entscheidung hervorhebt, dass der Alleingesellschafter damit nicht einen Schaden der von seinem eigenen Vermögen gesondert zu betrachtenden Gesellschaft geltend macht (denn der Gesellschaft ist ja kein erstattungspflichtiger Schaden entstanden), sondern dass es nur um die richtige Bemessung des seinem eigenen Vermögen durch die Einbußen im Gesellschaftsvermögen vermittelten Schadens geht, führt seine Auffassung im Ergebnis doch zu einer Durchbrechung der rechtlichen Selbständigkeit von Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen, ohne dass hierfür ein dringender Grund bestünde. Das Argument des BGH, der Schädiger dürfe keinen Vorteil daraus ziehen, dass er statt eines Einzelkaufmanns eine Ein-Mann-Gesellschaft geschädigt hat, überzeugt nicht, da der Vergleich mit der Haftungssituation bei einer regulären Gesellschaft wohl näherläge. Entscheidend sollte daher auch hier sein, inwieweit sich der Gewinnausfall der Gesellschaft im eigenen Vermögen des Gesellschafters niedergeschlagen hat.374

368 BGH v. 5.7.1977 – VI ZR 44/75, VersR 1977, 863; BGH v. 16.6.1992 – VI ZR 264/91, VersR 1992, 1410, 1411. 369 BGH v. 5.7.1977 – VI ZR 44/75, VersR 1977, 863. 370 BGH v. 13.11.1973 – VI ZR 53/72, BGHZ 61, 383; BGH v. 5.7.1977 – VI ZR 44/75, VersR 1977, 376; BGH v. 16.6.1992 – VI ZR 264/91, VersR 1992, 1410, 1411. 371 BGH v. 6.10.1964 – VI ZR 156/63, VersR 1965, 257; BGH v. 8.11.1966 – VI ZR 44/65, VersR 1967, 83; BGH v. 8.2.1977 – VI ZR 249/74, VersR 1977, 374. 372 Zweifelnd Stürner JZ 1984, 464. 373 BGH v. 8.2.1977 – VI ZR 249/74, NJW 1977, 1283 mit Anm. Hüffer. 374 Ablehnend zur Begründung der Entscheidung auch MünchKomm-BGB/Wagner § 842 Rz. 47 und Hüffer NJW 1977, 1285 mit Erwägungen zur Konstruktion einer Drittschadensliquidation.

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IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.144 § 32

c) Ersatzkraft Erhält der als Geschäftsführer arbeitende Gesellschafter keine Vergütung, sondern nur die Gewinnbeteiligung, muss er die Beeinträchtigung seiner Tätigkeit durch Anstellung einer Ersatzkraft ausgleichen und kann deren Kosten liquidieren.375

32.142

8. Erwerbsschaden des den Haushalt führenden Ehegatten a) Rechtliche Einordnung Der BGH hat der unfallverletzten Ehefrau, die keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, sondern den Haushalt führt, im Gefolge der Änderung des § 1356 BGB durch das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 einen eigenen Schadensersatzanspruch wegen ihrer Beeinträchtigung in der Führung des Haushalts zuerkannt.376 Begründet wird dies damit, dass es sich bei der Haushaltsführung nicht mehr um eine unentgeltliche Dienstleistung handelt, sondern um die Erfüllung der Pflicht, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen. Die Frau gibt also ihre Arbeitskraft nicht mehr mit der Heirat in der Form unentgeltlicher Dienste weg. Sie verwertet sie vielmehr als ihren fortlaufenden Beitrag zum Familienunterhalt, der in dem korrespondierenden Recht auf Unterhalt seine Anerkennung findet.377 Diese Betrachtungsweise rechtfertigt es, die Aufhebung oder Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Haushaltsführung als einen eigenen Erwerbsschaden der Ehefrau anzusehen, ohne gegen den Grundsatz zu verstoßen, dass die abstrakte Minderung der Arbeitskraft keinen ersatzpflichtigen Schaden darstellt.378 Der Umstand, dass die Ehefrau trotz des Ausfalls ihrer Arbeitsleistung vom Ehemann weiter alimentiert wird, steht der Bejahung eines bei ihr selbst eingetretenen Schadens nicht entgegen. Das Auffangen der Verletzungsfolgen hat den Charakter eines internen Ausgleichs durch die eheliche Lebensgemeinschaft und mindert nach § 843 Abs. 4 BGB den Ersatzanspruch gegen den Schädiger nicht. Die verletzte Frau kann den Schädiger deshalb aus eigenem Recht auf Ersatz ihres ganzen, in der Verminderung ihrer häuslichen Arbeitsleistung bestehenden Schadens in Anspruch nehmen, gleichviel wie er von der ehelichen Lebensgemeinschaft aufgefangen wird, insbesondere unabhängig von der tatsächlichen Anstellung einer Ersatzkraft.379

32.143

Führt der Ehemann den Haushalt, während die Frau einer Erwerbstätigkeit nachgeht, gilt das Vorstehende entsprechend. Teilen sich die Ehegatten die Haushaltsführung, weil beide berufstätig sind, so kommt ein dem Umfang der für den Haushalt entfalteten Tätigkeit entsprechender Ausfallschaden in Betracht. Hat der allein erwerbstätige Ehemann zusätzlich bestimmte, nicht ganz unwesentliche Teile der Haushaltsführung übernommen, steht ihm auch ein Anspruch auf Ersatz seines Haushaltführungsschadens zu.380 Im Übrigen ist zu beachten, dass nicht nur Hausarbeit im engeren Sinn hierzu gehört. Ein Erwerbsschaden kann vielmehr z.B. auch darin liegen, dass der Verletzte gehindert ist, Gartenarbeiten oder Renovierungsarbeiten an der Wohnung selbst auszuführen, und die Dienste eines Handwerkers in Anspruch neh-

32.144

375 BGH v. 6.10.1964 – VI ZR 156/63, VersR 1964, 1243; Stürner JZ 1984, 465. 376 BGH v. 25.9.1962 – VI ZR 244/61, BGHZ 38, 55; BGH v. 9.7.1968 – GSZ 2/67, BGHZ 50, 304, 306. 377 BGH v. 25.9.1962 – VI ZR 244/61, BGHZ 38, 55, 57 ff. 378 S. dazu Würthwein JZ 2000, 337, 343 f. 379 BGH v. 25.9.1962 – VI ZR 244/61, BGHZ 38, 55, 59 f.; BGH v. 9.7.1968 – GSZ 2/67, BGHZ 50, 304, 306; BGH v. 17.10.1972 – VI ZR 111/71, VersR 1973, 84. 380 Lemcke Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens in Himmelreich (Hrsg) Jahrbuch Verkehrsrecht 1999, S. 126.

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§ 32 Rz. 32.144 | Körperverletzung

men muss.381 Nicht hierher gehören dagegen Eigenleistungen beim Hausbau; diese gehen über die als Unterhalt geschuldete Haushaltsführung weit hinaus (Rz. 31.130; zur rechtlichen Einordnung dieser Einbußen vgl. Rz. 32.58).

32.145

Bei eingetragener Lebenspartnerschaft sind die vorstehenden Grundsätze entsprechend anzuwenden, da hier ebenfalls gegenseitige Unterhaltspflichten bestehen (§ 5 S. 2 LPartG),382 nicht aber bei sonstigen eheähnlichen Lebensgemeinschaften (s. Rz. 32.149).

32.146

Ein Erwerbsschaden in vorstehendem Sinne liegt aber nur insoweit vor, als die Versorgung des Haushalts im Rahmen des Familienunterhalts vorgenommen wird, nicht also hinsichtlich des Teils der Hausarbeit, der auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse entfällt.383 Daher stellt die Haushaltstätigkeit einer oder eines Alleinstehenden keine der Erwerbstätigkeit vergleichbare Arbeitsleistung dar; unfallbedingte Nachteile, insbesondere die Kosten für eine Hilfskraft, sind insoweit nur unter dem Gesichtspunkt vermehrter Bedürfnisse (Rz. 32.51) erstattungspflichtig.384 Bei Ehegatten ist festzustellen, welcher Teil der Hausarbeit auch bei ausschließlicher Selbstversorgung anfallen würde (vermehrte Bedürfnisse) und welcher Teil auf den Familienunterhalt entfällt.385 Die Unterscheidung kann insbesondere für die Frage der Aktivlegitimation (gesetzlicher Forderungsübergang) von Bedeutung sein (vgl. Rz. 32.56). In der Regel wird die Eigenversorgungsquote nach Kopfteilen ermittelt,386 besondere Umstände können jedoch zu einer anderen Aufteilung führen.387

b) Beitrag des Ehegatten als Voraussetzung 32.147

Voraussetzung ist, dass tatsächlich ein Beitrag des Ehegatten zum Familienunterhalt beeinträchtigt worden ist. Wäre die Haushaltsarbeit auch ohne den Unfall voll oder teilweise von einer Haushaltshilfe erledigt worden, entfällt bzw. vermindert sich der Anspruch.388

32.148

Wegen fehlenden Bezugs zum Familienunterhalt kann auch eine Großmutter, die freiwillig die Obhut über ein Enkelkind übernommen hat, keine Entschädigung dafür verlangen, dass ihr durch ein Unfallereignis die Betreuung des Enkelkindes für einige Zeit unmöglich geworden ist.389

32.149

Ebenso wenig kann ein Erwerbsschaden der hier behandelten Art bejaht werden bei Beeinträchtigung von Haushaltsarbeiten für den Lebensgefährten in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft.390 Die mittlerweile vielfache Anerkennung der nichtehelichen Lebensgemein-

381 382 383 384 385 386 387 388 389 390

BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 66/88, NZV 1989, 388. Röthel NZV 2001, 334. BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 49/72, VersR 1974, 162. BGH v. 3.2.2009 – VI ZR 183/08, NJW 2009, 2060. BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 49/72, VersR 1974, 162; BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 117/83, VersR 1985, 356. BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 117/83, VersR 1985, 356. Z.B. bei Heimunterbringung des Verletzten; s. Lemcke Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens in Himmelreich (Hrsg.) Jahrbuch Verkehrsrecht 1999, S. 159. BGH v. 10.10.1989 – VI ZR 247/88, VersR 1989, 1273, 1274; a.A. OGH Österreich ZVR 1999, 18. OLG Celle v. 12.11.1981 – 5 U 67/81, VersR 1983, 40. KG v. 26.7.2010 – 12 U 77/09, NJW-RR 2010, 1687; OLG Nürnberg v. 10.6.2005 – 5 U 195/05, DAR 2005, 629; OLG Düsseldorf v. 21.2.1991 – 13 U 177/90, VersR 1992, 1418, 1419 und OLG Düsseldorf v. 12.6.2006 – 1 U 241/05, NZV 2007, 40; LG Hildesheim v. 6.7.2000 – 1 S 36/00,

940 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.151 § 32

schaft im Regressbereich391 begründet de lege lata keine Änderung, da die Rspr. zum Haushaltsführungsschaden auf der ehelichen Pflicht, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, beruht (s. Rz. 32.143). Bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften kommt aber u.U. die Annahme einer entgeltlichen Tätigkeit in Betracht (s. Rz. 32.159). Kein Erwerbsschaden liegt zudem bei einem erwachsenen Kind, das sich selbst unterhalten kann, vor.392 Insoweit besteht auch kein Ersatzanspruch wegen vermehrter Bedürfnisse.393

c) Berechnung Ausgangspunkt der Berechnung ist die Feststellung, welche Arbeitsleistung die Hausfrau (der Hausmann) ohne den Unfall tatsächlich erbracht hätte; anders als beim Unterhaltsschaden (Rz. 31.42) ist nicht entscheidend, welche Leistungen sie rechtlich geschuldet hätte.394 Es kommt deshalb auch auf die in der Vergangenheit tatsächlich geleistete Mithilfe anderer Familienangehöriger an. Absehbare Veränderungen in der Zukunft (Verkleinerung der Familie, Mithilfe des pensionierten Ehemannes usw.) sind zu berücksichtigen.395

32.150

Die Erwerbsminderung ist konkret, nicht etwa nach einer abstrakten Erwerbsunfähigkeitsquote, zu bestimmen.396 Das konkrete Ausmaß der Beeinträchtigung muss vom Verletzten dargelegt werden.397 Es kommt darauf an, was die oder der Verletzte trotz der Beeinträchtigung noch im Haushalt erledigen kann, ggf. nach zumutbarer Umorganisation der Haushaltsführung;398 die für die verbleibenden Arbeiten erforderlichen Stundenzahlen sind zu schätzen.399

32.151

391 392 393 394 395 396

397 398 399

VersR 2002, 1431; Palandt/Sprau § 843 Rz. 8; Schirmer DAR 2007, 10; Küppersbusch/Höher, Rz. 183; Jahnke/Burmann/Wessel Handbuch des Personenschadensrechts 2016, 656; Heß/Burmann NZV 2010, 8; a.A. LG Zweibrücken v. 29.6.1993 – 3 S 94/93, NJW 1993, 3207 mit abl. Bespr. Raiser NJW 1994, 2672; Pardey, DAR 1994, 268 ff.; Ch. Huber FS Steffen 1995, S. 201 ff. und NZV 2007, 1 ff.; Lemcke Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens in Himmelreich (Hrsg.) Jahrbuch Verkehrsrecht 1999, S. 174 ff.; Röthel NZV 2001, 333; Empfehlung des 45. VGT (2007) mit Anm. Jahnke NZV 2007, 329; Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009, S. 71. Neufassung des § 86 Abs. 3 VVG (s. Rz. 38.4); Rspr. zu § 116 Abs. 6 SGB X (s. Rz. 35.76 ff.). OLG Schleswig v. 4.3.2018 – 11 U 93/17, NJW 2018, 1889; OLG Düsseldorf v. 21.2.1991 – 13 U 177/90, VersR 1992, 1419. A.A. OLG Saarbrücken v. 1.7.2017 – 4 U 122/16, SVR 2018, 59 mit Anm. Pardey; OLG Düsseldorf v. 21.2.1991 – 13 U 177/90, VersR 1992, 1419 hinsichtlich des volljährigen Kindes. BGH v. 7.5.1974 – VI ZR 10/73, VersR 1974, 1016; OLG Oldenburg v. 28.7.1992 – 5 U 32/92, VersR 1993, 1492. Kritisch Pardey/Schulz-Borck DAR 2002, 294. BGH v. 7.5.1974 – VI ZR 10/73, VersR 1974, 1016. OLG Hamm v. 26.3.2002 – 27 U 185/01, NZV 2002, 570; Pardey DAR 2010, 14; Pardey VersR 2010, 26; Stürner JZ 1984, 465; Pardey DAR 1994, 266; a.A. OLG Frankfurt v. 2.7.1980 – 7 U 21/80, VersR 1980, 1122 mit abl. Anm. Schmalzl VersR 1981, 388 und Klimke VersR 1981, 1083. Näher hierzu Pardey DAR 2010, 14; Pardey VersR 2010, 26; Pardey DAR 1994, 266 f.; Scheffen/ Pardey Die Rechtsprechung des BGH zum Schadensersatz beim Tod einer Hausfrau und Mutter 1986, S. 130 ff. OLG Hamm v. 26.3.2002 – 27 U 185/01, NZV 2002, 570. BGH v. 10.10.1989 – VI ZR 247/88, VersR 1989, 1273, 1274; OLG München v. 10.11.1994 – 24 U 187/94, OLGR München 1995, 63; OLG Köln v. 14.1.1981 – 16 U 63/80, VersR 1981, 690.

Zwickel | 941

§ 32 Rz. 32.152 | Körperverletzung

32.152

Unentgeltliche Leistungen von Familienmitgliedern oder Bekannten sowie überobligationsmäßige Leistungen des Geschädigten bleiben außer Betracht.400 Anhaltspunkte bieten die Tabellen von Reichenbach/Vogel,401 Ludolph/Hierholzer402 und nach dem sog Münchner Modell.403

32.153

Behinderungen geringen Umfangs, insbesondere wenn sie durch Einsatz technischer Geräte kompensiert werden können, müssen außer Betracht bleiben.404 Keine entschädigungspflichtige Beeinträchtigung der Haushaltsführung liegt i.d.R. im Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns.405

32.154

Auch wenn der Anspruch nicht von der Anstellung einer Ersatzkraft abhängig ist (Rz. 32.143), orientiert sich die Praxis bei der Bemessung des Ausfallschadens an den tatsächlichen oder fiktiven Kosten einer Ersatzkraft.406 Im Rahmen der nach § 287 ZPO vorzunehmenden Schätzung der Einstufung der Hilfskraft lässt der BGH die Orientierung an Tabellen (z.B. von Schulz-Borck/Hofmann407, Schulz-Borck/Pardey408 bzw. (nunmehr) Pardey409) zu.410 Da die verletzte Ehefrau im Regelfall noch in der Lage sein wird, die Haushaltsführung zu leiten, können anders als bei der Tötung der Hausfrau (Rz. 31.135) grundsätzlich nur die Kosten einer Hilfskraft beansprucht werden.411 Die Vergütung richtet sich, anders als nach früherem Recht mit seiner Anknüpfung an BAT bzw. TvöD, nunmehr nach den Tarifgruppen II und IV der von den Landesverbänden des DHB Netzwerk Haushalt e.V. ausgehandelten Entgelttarifverträge.412 Nur wenn ausnahmsweise die Unterstützung durch eine ausgebildete Fachkraft geboten ist (z.B. während stationärer Behandlungen),413 können deren Kosten angesetzt werden, und zwar auch dann, wenn tatsächlich nur eine weniger qualifizierte Kraft angestellt wurde.414 Soweit Ersatz für vermehrte Bedürfnisse zu leisten ist (Rz. 32.146) oder eine Ersatzkraft tatsächlich angestellt wurde, ist vom Bruttolohn, soweit Anhaltspunkte für die Bemes400 Lemcke Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens in Himmelreich (Hrsg) Jahrbuch Verkehrsrecht 1999, S. 128. 401 VersR 1981, 812. 402 VGT 1989, 205; s. auch VersR 1990, 597. 403 Ludwig DAR 1991, 401 ff.; Ludolph VersR 1992, 293. 404 OLG Oldenburg v. 28.7.1992 – 5 U 32/92, VersR 1993, 1491. 405 So OLG Düsseldorf v. 19.2.1981 – 12 U 135/80, VersR 1982, 881. 406 BGH v. 9.7.1968 – GSZ 2/67, BGHZ 50, 304, 306; BGH v. 10.10.1989 – VI ZR 247/88, VersR 1989, 1273, 1274; Gräfenstein/Strunk NZV 2020, 176. 407 Schulz-Borck/Hofmann Der Haushaltsführungsschaden, 6. Aufl. 2000. 408 Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009. 409 Pardey Der Haushaltsführungsschaden 2018. 410 BGH v. 3.2.2009 – VI ZR 183/08, NJW 2009, 2060, 2061. Zu Problemen in Zusammenhang mit diesen Tabellenwerken und für Anlehnung an die nach § 42 SGB VII zu leistenden Beträge für Haushaltshilfen s. Burmann DAR 2012, 127. 411 BGH v. 29.3.1988 – VI ZR 87/87, BGHZ 104, 113, 121; OLG Oldenburg v. 28.7.1992 – 5 U 32/ 92, VersR 1993, 1491; OLG Hamm v. 26.3.2002 – 27 U 185/01, NZV 2002, 570, 571; näher hierzu und zu den Einzelheiten der Berechnung: Schulz-Borck/Pardey Der Haushaltsführungsschaden, 7. Aufl. 2009, S. 88; Schulz-Borck VGT 1989, 225; Scheffen VersR 1990, 930; Pardey DAR 1994, 270 f.; Pardey/Schulz-Borck DAR 2002, 294. 412 Pardey SVR 2018, 81. Die Stundensätze sind für 2017 bei Nickel/Schwab SVR 2018, 41 und für 2018 bei Nickel/Schwab SVR 2018, 454 veröffentlicht; eine Zusammenstellung der jüngeren Entscheidungen zu den Stundensätzen beim Haushaltsführungsschaden findet sich bei Bock SVR 2020, 171. 413 OLG Oldenburg v. 20.5.1988 – 6 U 235/87, NJW-RR 1989, 1429. 414 BGH v. 10.10.1989 – VI ZR 247/88, VersR 1989, 1273, 1274.

942 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.157 § 32

sung des Erwerbsschadens gesucht werden, vom Nettolohn auszugehen.415 Dieser kann jedoch nur einen Orientierungsrahmen geben; letztlich entscheidend sind die Verhältnisse des konkreten Haushalts.416 Eine Bewertung der Hausarbeit nach arbeitswissenschaftlichen Grundsätzen, wie sie von Landau417 und Imhof-Gildein418 vertreten wird, ist wegen ihrer Kompliziertheit und der unzutreffenden Anlehnung an die Bewertung abhängiger Arbeit abzulehnen.419 Auch einer mathematisch taggenauen Berechnung des Haushaltsführungsschadens auf Basis von statistischen Durchschnittswerten für bestimmte Behinderungsgrade ist eine Absage zu erteilen.420 Ein derartiges Vorgehen verstößt schon gegen den Grundsatz der konkreten, subjektbezogenen Schadensberechnung.

32.155

d) Zeitliche Begrenzung Maßgeblich sind für die Dauer der Rentengewährung stets die individuellen Verhältnisse.421 Die frühere Rspr., nach der die Rente i.d.R. nur bis zum 75. Lebensjahr zu gewähren sein sollte, da dann im Allgemeinen die eigene Haushaltsführung ende,422 dürfte mittlerweile überholt sein. Es sind mehr und mehr Haushalte vorhanden, in denen eine Haushaltsführung auch nach dieser Altersgrenze stattfindet.423 Die Rente ist daher bis zum mutmaßlichen Lebensende nach der statistischen Lebenserwartung zu gewähren, wenn absehbar ist, dass die Haushaltsführung auch über das 75. Lebensjahr hinaus erfolgt wäre.424

32.156

9. Erwerbsschaden des im Familienbetrieb mitarbeitenden Angehörigen Erbringt ein Ehegatte die Mitarbeit im Rahmen seiner Verpflichtung, zum Familienunterhalt beizutragen, so gelten die vorstehenden Grundsätze entsprechend.425 Leistet er über seine Unterhaltspflicht hinausgehende Dienste unentgeltlich, so kann sich ein Erwerbsschaden nur daraus ergeben, dass infolge des Wegfalls seiner Dienste das Familieneinkommen sinkt und sich damit auch sein Unterhaltsanspruch mindert. Der Erwerbsschaden fällt weg, soweit der bisher mitarbeitende Ehegatte seine verbliebene Arbeitskraft, ggf. nach Umschulung oder im Haushalt, anderweitig verwerten kann. 415 Vgl. hierzu Eckelmann VersR 1978, 211; OLG Schleswig v. 24.3.1994 – 11 U 179/92, ZfS 1995, 10; a.A. OLG Hamburg v. 20.9.1984 – 8 W 240/84, VersR 1985, 647 = 950 mit abl. Anm. Hofmann; Schiemann NZV 1996, 5. Zur Situation im Falle des Todes des Haushaltsführenden vgl. BGH v. 8.2.1983 – VI ZR 201/81, BGHZ 86, 372. 416 So auch Küppersbusch/Höher Rz. 195; Geigel/Pardey Kap. 4 Rz. 215 und Heß/Burmann NJWSpezial 2011, 457. Eingehend zu den Bewertungskriterien Ch. Huber Fragen der Schadensberechnung, 2. Aufl. 1995, 441 ff. 417 VGT 1989, 207. 418 DAR 1989, 166. 419 Vgl. auch die Entschließung des Arbeitskreises V des VGT 1989, NZV 1989, 103; Hofmann NZV 1990, 8 (abl.); Jung DAR 1990, 161 (befürwortend). 420 So aber Schah Sedi Praxishandbuch Haushaltsführungsschaden 2017; wie hier Pardey SVR 2018, 81. 421 Pardey SVR 2018, 81, 87; Pardey/Schulz-Borck DAR 2002, 295. 422 OLG Hamm v. 21.2.1994 – 6 U 225/92, NJW-RR 1995, 599. 423 So auch Bachmeier/Müller/Rebler/Schröder § 11 StVG Rz. 31. 424 OLG Rostock v. 14.6.2002 – 8 U 79/00, ZfS 2003, 233; OLG Düsseldorf v. 18.9.2006 – 1 W 53/ 06. 425 BGH v. 20.5.1980 – VI ZR 202/78, BGHZ 77, 157.

Zwickel | 943

32.157

§ 32 Rz. 32.158 | Körperverletzung

32.158

Ein Kind, welches im elterlichen Betrieb aufgrund seiner familienrechtlich geschuldeten Mitarbeit (§ 1619 BGB) unentgeltliche Dienste leistet, erleidet keinen Verdienstausfall, wenn es unfallbedingt hieran gehindert wird;426 an seiner Stelle haben die Eltern bei deliktischer Haftung des Schädigers einen Ersatzanspruch nach § 845 BGB (vgl. Rz. 32.192). Zur Hinderung an der beabsichtigten Aufnahme einer Erwerbstätigkeit s. Rz. 32.164 ff.

10. Nicht erwerbstätige Verletzte 32.159

Personen, die zur Zeit des Unfalls keiner Erwerbstätigkeit nachgingen (z.B. ehrenamtlich für Religionsgemeinschaften oder caritative Einrichtungen Tätige,427 Schüler, Studenten, Rentner, Sozialhilfeempfänger, an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit Uninteressierte) und auch nicht wegen Führung eines Ehehaushalts Erwerbstätigen gleichgestellt sind (vgl. Rz. 32.141 ff.), haben keinen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verdienstausfalls.428 Dies gilt auch für unentgeltliche Dienstleistungen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft; allerdings kann u.U. in einer als Äquivalent hierfür empfangenen Versorgung ein ersatzpflichtiges Entgelt gesehen werden.429 Ob der Verletzte die Möglichkeit gehabt hätte, seine Arbeitskraft gewinnbringend einzusetzen, spielt keine Rolle, da die bloße Beeinträchtigung der Arbeitskraft keinen Vermögensschaden darstellt. Daher kann z.B. auch ein Dritter, der dem Verletzten Leistungen zum Lebensunterhalt gewährt, nicht im Wege eines Forderungsübergangs Ersatzansprüche gegen den Schädiger erwerben. Nur wenn der Verletzte nachweisen kann, dass er von einem bestimmten Zeitpunkt an eine Erwerbstätigkeit ausgeübt oder in einer anderen Tätigkeit ein höheres Einkommen erzielt hätte und hieran durch die Unfallverletzungen gehindert würde, kommt insoweit ein Schadensersatzanspruch in Betracht (vgl. Rz. 32.164 ff.). Der Verletzte, der auf dem Hof seiner Schwiegereltern gegen Gewährung eines Taschengelds gearbeitet hat, weil er damit rechnete, ihm werde dereinst der Hof übergeben werden, hat einen Verdienstausfall nur in Höhe des Taschengeldes;430 erst von dem Zeitpunkt an, zu dem ihm der Hof übergeben worden wäre, hätte sich der Unfall nicht ereignet, erhält er seinen Verdienstausfall als Landwirt ersetzt.

32.160

Arbeitslose, die Arbeitslosengeld (§§ 136 ff. SGB III) oder Arbeitslosengeld II (§§ 19 ff. SGB II) bzw. die bis 31.12.2004 gewährte Arbeitslosenhilfe (§§ 190 ff. SGB III) bezogen, diesen Anspruch aber infolge des Unfalls verloren haben, weil sie wegen ihrer Verletzung dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen, erleiden hingegen einen „Erwerbsschaden“, da der Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosengeld II das Zurverfügungstehen für den Arbeitsmarkt voraussetzt.431 Dies gilt auch dann, wenn sie nunmehr in gleicher Höhe Krankengeld beziehen. Der Anspruch geht dann gem. § 116 SGB X auf die Krankenkasse

426 BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380. 427 OLG Celle v. 3.12.1987 – 5 U 299/86, NJW 1988, 2618. Vgl. hierzu auch Gotthardt JuS 1995, 12; Stürner JZ 1984, 415; österr. OGH ZVR 1992, 119. 428 Geigel/Pardey Kap. 4 Rz. 104; Würthwein JZ 2000, 345 ff.; a.A. MünchKomm-BGB/Wagner § 842 Rz. 52. 429 Vgl. Geigel/Pardey Kap. 4 Rz. 210; Würthwein JZ 2000, 345; Becker MDR 1977, 705 und VersR 1985, 205. Zur Frage eines Haushaltsführungsschadens s. Rz. 32.149. 430 OLG München RdL 1957, 153. 431 BGH v. 25.6.2013 – VI ZR 128/12, VersR 2013, 1050; BGH v. 20.3.1984 – VI ZR 14/82, VersR 1984, 639; BGH v. 20.3.1984 – VI ZR 78/83, VersR 1984, 862; OLG Celle v. 27.6.2012 – 14 U 193/10, VersR 2013, 1052; im Ergebnis zust. Denck NZA 1985, 377.

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IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.164 § 32

über432 (näher § 35). Für die Prognose der künftigen Einkommensentwicklung kann insbesondere bei jüngeren Arbeitslosen nicht ohne konkrete Anhaltspunkte angenommen werden, dass sie auf Dauer keine Erwerbstätigkeit ausgeübt hätten.433 Ein Bezieher der bis 31.12.2000 unter den Voraussetzungen des § 43 SGB VI a.F. und nunmehr gem. § 240 SGB VI nur noch für vor dem 2.1.1961 geborene Versicherte gewährten Berufsunfähigkeitsrente, der durch den Unfall erwerbsunfähig wird und infolge dessen eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, kann einen Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Rentenumwandlung entstehenden Rentenschadens haben.434

32.161

11. Nachteile für das Fortkommen Im Allgemeinen beeinträchtigen Unfälle, die die Erwerbsfähigkeit beeinflussen, auch das berufliche Fortkommen. Der Schädiger hat daher nicht nur die Einkommenseinbuße auszugleichen, die sich bei gedachter Fortsetzung der zur Zeit des Unfalls ausgeübten Tätigkeit errechnet, sondern es sind auch künftige Erhöhungen des Einkommens, die der berufliche Aufstieg mit sich gebracht hätte, wäre er nicht durch den Unfall vereitelt worden, zu berücksichtigen (vgl. Rz. 32.80). Der besonders schwer zu führende Beweis derartiger hypothetischer Entwicklungen wird durch § 287 ZPO erleichtert (vgl. hierzu Rz. 32.84). Ein außergewöhnliches Fortkommen wird das Gericht der Schadensbemessung aber nur zugrunde legen können, wenn hierfür konkrete Anhaltspunkte bestehen.

32.162

So kann z.B. die Behauptung, ein Handwerker hätte sich später selbständig gemacht und dann ein wesentlich höheres Einkommen erzielt, nur als erwiesen angesehen werden, wenn bereits Dispositionen in diese Richtung getroffen worden sind oder z.B. ein elterlicher Betrieb zur Übernahme anstand. Zum Fortkommensschaden eines Handelsvertreters, der unfallbedingt einen „schlechteren Bezirk“ übernehmen musste, s. BGH v. 2.4.1963 – VI ZR 103/62, VersR 1963, 682.

32.163

12. Beeinträchtigung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit a) Bei Verletzung vor Eintritt in das Berufsleben hat der Schädiger als Erwerbsschaden das Einkommen zu ersetzen, das durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach Abschluss der Ausbildung erzielt worden wäre, wenn der Verletzte nicht durch die Unfallfolgen an der Aufnahme der beabsichtigten Tätigkeit gehindert worden wäre. Der Verletzte muss darlegen und beweisen, welchen Beruf er ergriffen und welches Einkommen er hierbei erzielt hätte; doch muss für den Nachweis dieser hypothetischen Umstände genügen, dass sich aus konkreten Anhaltspunkten in Verbindung mit der allgemeinen Lebenserfahrung eine erhebliche Wahrscheinlichkeit des betreffenden Vorbringens ergibt.435 Mangels anderer Anhaltspunkte ist von

432 BGH v. 25.6.2013 – VI ZR 128/12, VersR 2013, 1050; BGH v. 8.4.2008 – VI ZR 49/07, NJW 2008, 2185; BGH v. 20.3.1984 – VI ZR 14/82, VersR 1984, 639; BGH v. 20.3.1984 – VI ZR 78/83, VersR 1984, 862. 433 BGH v. 14.1.1997 – VI ZR 366/95, NZV 1997, 222. 434 OLG Hamm v. 15.8.1994 – 6 U 184/91, r+s 1995, 258. 435 Vgl. BGH v. 5.2.1980 – VI ZR 216/78, VersR 1980, 627; OLG Köln v. 21.9.1971 – 9 U 62/71, NJW 1972, 59; OLG Frankfurt v. 28.10.1987 – 17 U 171/83, VersR 1989, 48; OLG Karlsruhe v. 25.11.1988 – 10 U 188/88, VersR 1989, 1101; OLG Karlsruhe v. 4.8.1989 – 10 U 51/89, ZfS 1990, 151 (Studium); Medicus DAR 1994, 446; Stürner JZ 1984, 461 f.; Eckelmann/Nehls/Schäfer DAR 1983, 347; Steffen DAR 1984, 1.

Zwickel | 945

32.164

§ 32 Rz. 32.164 | Körperverletzung

einem voraussichtlich durchschnittlichen Erfolg in der gewählten Tätigkeit auszugehen; verbleibenden Risiken kann durch Abschläge Rechnung getragen werden.436 Von dem so ermittelten hypothetischen Einkommen ist das tatsächlich erzielte bzw. bei Beachtung der Schadensminderungspflicht (vgl. Rz. 32.102 ff.) erzielbare abzuziehen.437 In die Differenzrechnung ist auch das Einkommen einzubeziehen, das der Verletzte vor der hypothetischen Aufnahme der ursprünglich beabsichtigten Tätigkeit erzielt (z.B. weil das hierfür nötige Studium entfällt).438 Ist bei einem Kind noch nicht abzusehen, welche berufliche Laufbahn ihm trotz der Schädigung erreichbar bleibt, kommt eine Feststellungsklage in Betracht;439 steht jedoch fest, dass der Verletzte sein Leben lang keinen Beruf wird ausüben können, so kann sogleich eine Rente (ab dem Zeitpunkt des hypothetischen Eintritts ins Berufsleben) zuerkannt werden.440

32.165

Wird ein Kind schon vor oder ganz zu Beginn der Ausbildung verletzt, so fehlt es oft an jeglichem Anhaltspunkt für das mit Wahrscheinlichkeit erreichte Ausbildungsergebnis. Im Allgemeinen lassen sich aus dem Lebensverlauf des Kindes bis zum Unfallzeitpunkt keine ausreichenden Schlüsse ziehen. Im Einzelfall können aus dem tatsächlichen Ausbildungsverlauf nach dem Unfall jedoch gewisse Rückschlüsse auf Intelligenz, Charakter und Strebsamkeit des Kindes möglich sein. Ist das Kind so schwer verletzt, dass jegliche Ausbildungsmöglichkeit und Arbeitsleistung entfällt, muss sich die Schätzung an anderen Anhaltspunkten orientieren. Es erscheint bedenklich, hierbei zu sehr auf das soziale Umfeld des Kindes (Berufe der Eltern und Geschwister, Familientradition, Vermögensverhältnisse) abzustellen.441 Ebenso unbefriedigend wäre es jedoch, in Ermangelung verwertbarer Anhaltspunkte nur einen Mindestschaden zuzubilligen.442 Entsprechend dem Vorschlag von Scheffen443 wird daher bei derartigen Sachverhalten von einem durchschnittlichen Einkommen auszugehen sein, wobei für das Abstellen auf selbständige oder unselbständige Berufe auch das soziale Umfeld eine gewisse Berücksichtigung finden kann.

32.166

Wird der Eintritt in das Erwerbsleben durch den Unfall verzögert (z.B. wegen Unterbrechung der Ausbildung), so ist der hierdurch hervorgerufene Verdienstausfall zu ersetzen.444 Auch für Verzögerungen durch einen Vorlesungsstreik, denen der Verletzte ohne den Unfall nicht ausgesetzt gewesen wäre, hat der Schädiger einzustehen.445 Zugrunde zu legen ist das Einkommen, das in dem Zeitraum der Verzögerung erzielt worden wäre (zu den Beweisanforderungen Rz. 32.164). Anderweitige Einkünfte während dieser Zeit (z.B. nach dem BAföG)

436 BGH v. 6.6.2000 – VI ZR 172/99, NJW 2000, 3287. 437 Vgl. BGH v. 2.2.1965 – VI ZR 237/63, VersR 1965, 489. 438 A.A. OLG Frankfurt v. 7.4.1983 – 1 U 187/82, VersR 1983, 1083; OLG Frankfurt v. 17.10.1997 – 22 U 11/95, NZV 1998, 249; zweifelnd Stürner JZ 1984, 462. 439 RG Recht 1907, Nr. 3810; WarnR 1912, Nr. 256. 440 OLG Köln v. 21.9.1971 – 9 U 62/71, NJW 1972, 59; eingehend Eckelmann/Nehls/Schäfer DAR 1983, 337; Scheffen VersR 1990, 928 f. 441 Scheffen VersR 1990, 928; a.A. Medicus DAR 1994, 447. 442 Scheffen VersR 1990, 928; Medicus DAR 1994, 447. 443 Scheffen VersR 1990, 928. 444 KG v. 20.10.2005 – 12 U 31/03, DAR 2006, 149 (auch zum Nachweis von Verzögerung und Ausfall). Vgl. Eckelmann/Nehls/Schäfer DAR 1983, 337 mit Nachw.; zur Berechnung bei unfallbedingtem Studienwechsel OLG Hamm v. 26.11.1997 – 13 U 92/96, NZV 1999, 248. 445 BGH v. 23.10.1984 – VI ZR 30/83, VersR 1985, 62; a.A. Grunsky JZ 1986, 172; zweifelnd Medicus DAR 1994, 443.

946 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.169 § 32

sind anzurechnen.446 Es ist aber ggf. auch zu berücksichtigen, dass der Verletzte ohne den Unfall Wehr- oder Ersatzdienst hätte leisten müssen.447 Wird der Verletzte durch den Unfall an der Aufnahme eines beabsichtigten Geschäftsbetriebs gehindert, weil die unfallbedingte Körperbehinderung ihm die damit verbundene Arbeitsleistung nicht mehr gestattet, so wird der Verletzte regelmäßig nicht näher dartun können, was er im Falle der Geschäftseröffnung verdient hätte. Die Gerichte legen in solchen Fällen im Allgemeinen der Schätzung des Schadens den Lohn zugrunde, den ein Arbeitnehmer in vergleichbarer Stellung (z.B. als Filialleiter eines kaufmännischen Betriebes) erfahrungsgemäß verdient. Demgemäß hat das OLG München448 dem Schwiegersohn eines Bauern, dem der Bauer wegen des Unfalls den Hof nicht – wie eigentlich beabsichtigt – übergab, von dem vermutlichen Tag der Übergabe an den Lohn eines Großknechts als Verdienstausfall zuerkannt. Gegen die Handhabung der Gerichte ist, wenn Erkenntnisquellen für eine wirklichkeitsnähere Schätzung fehlen, nichts einzuwenden; es müsste dabei aber berücksichtigt werden, dass der Verdienst eines selbständigen Unternehmers regelmäßig etwas höher liegt als der eines Arbeitnehmers, auch wenn man beachtet, dass der Teil des Gewinns, der als Kapitalertrag anzusehen ist, vom Schädiger nicht ersetzt werden muss. Bloße gedankliche Vorbereitungen für den Aufbau einer selbständigen Existenz bilden keine ausreichende Grundlage für die Ermittlung eines Verdienstausfallschadens, wenn ein konkretes Planungsstadium noch nicht einmal ansatzweise erreicht worden ist.449

32.167

Die Vereitelung einer beabsichtigten Tätigkeit als Hausfrau (Hausmann) ist in konsequenter Fortführung der Rspr. zum Erwerbsschaden des den Haushalt versorgenden Ehegatten (vgl. Rz. 32.143 ff.) ebenfalls ein Umstand, der einen Schadensersatzanspruch begründen kann.450 Insoweit kann auch die Vereitelung einer beabsichtigten Eheschließung schadensrechtliche Relevanz gewinnen (dazu Rz. 32.193). Da sich der Zuschnitt der (hypothetischen) Familie oftmals nicht feststellen lassen wird, muss bei der Bewertung der Hausarbeit von einer „statistischen Durchschnittsfamilie“ ausgegangen werden.451 Einkünfte aus einer (zumutbaren) anderweitigen Verwertung der Arbeitskraft sind anzurechnen.

32.168

13. Vorzeitiger Eintritt in den Ruhestand Wird ein Beamter infolge des Unfalls vorzeitig in den Ruhestand versetzt, so ist ihm sein volles Gehalt bis zu dem Zeitpunkt zu ersetzen, an dem er ohne den Unfall pensioniert worden wäre; in Höhe der dem Beamten gezahlten Versorgungsbezüge geht der Ersatzanspruch allerdings nach § 76 BBG auf den Dienstherrn über (s. Rz. 37.7 ff.). Darauf, ob beim Beamten nach seiner Versetzung in den Ruhestand tatsächlich noch irgendwelche gesundheitlichen Unfallfolgen vorliegen, kommt es für die Entstehung des Ersatzanspruchs nicht an.452 Nach dem Zeitpunkt der regulären Pensionierung ist die Differenz zwischen dem Ruhegehalt, das bei einer nicht durch den Unfall unterbrochenen Dienstzeit verdient worden wäre, und dem tatsächlich verdienten zu ersetzen.453 Im Allgemeinen ist von der regulären Altersgrenze

446 447 448 449 450 451 452 453

KG v. 10.6.1971 – 12 W 1301/71, DAR 1971, 296. OLG Hamm v. 26.11.1997 – 13 U 92/96, NZV 1999, 248. RdL 1957, 153. OLG Hamm v. 21.1.1993 – 27 U 191/92, NZV 1994, 109. BGH v. 25.9.1962 – VI ZR 244/61, BGHZ 38, 60. Medicus DAR 1994, 450. BGH v. 7.10.1960 – VI ZR 136/59, VersR 1960, 1092. BGH v. 27.6.1967 – VI ZR 3/66, VersR 1967, 953, 955.

Zwickel | 947

32.169

§ 32 Rz. 32.169 | Körperverletzung

(65. Lebensjahr) auszugehen, dem Schädiger steht aber der Nachweis offen, dass der Verletzte vorzeitig wegen Dienstunfähigkeit ausgeschieden wäre oder vorzeitige Pensionierung beantragt hätte.454 Zu den steuerlichen Auswirkungen vgl. Drees VersR 1987, 742 und Rz. 32.86 ff.

32.170

Wird ein Beamter infolge des Unfalls pensioniert, nimmt er aber danach eine andere Erwerbstätigkeit auf, so mindern seine Einnahmen hieraus seinen Ersatzanspruch gegen den Schädiger. Auf den Dienstherrn geht daher nur noch der verminderte Ersatzanspruch über.455 Hätte der Beamte die Möglichkeit, seine Arbeitskraft nach der Pensionierung gegen Entgelt einzusetzen, unterlässt er dies aber, so verstößt er gegen seine Schadenminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB; vgl. Rz. 32.102). Dies hat zur Folge, dass sich der auf den Dienstherrn übergegangene Anspruch in gleicher Weise mindert, wie wenn der Beamte die anderweitige Arbeit aufgenommen hätte.456 Hätte der Zusatzerwerb (mindestens) die Höhe der Pensionsbezüge erreicht, so entfällt der Anspruch des Dienstherrn.457

32.171

Auch bei ungerechtfertigter Pensionierung ist Ersatz nach vorstehenden Grundsätzen zu leisten. Die Zivilgerichte können nicht prüfen, ob der Dienstherr den Beamten mit Recht in den Ruhestand versetzt hat; denn insoweit greift die Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes ein.458 Der Zivilrichter hat aber zu prüfen, ob die Pensionierung eine Folge des Unfalls ist.459 Nach Heuss460 hat der Schädiger die Möglichkeit, die Verfügung, durch die der Beamte in den Ruhestand versetzt wurde, wegen Rechtswidrigkeit im Verwaltungsstreitverfahren anzufechten. Hiergegen bestehen Bedenken. Erwägenswert ist hingegen der Vorschlag von Dunz,461 jedenfalls dem Regress des Dienstherrn in solchen Fällen den Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenzusetzen.462 Dessen Beweis dürfte dem Schädiger allerdings i.d.R. sehr schwer fallen.

32.172

Die Witwe und die Kinder eines wegen des Unfalls vorzeitig in den Ruhestand versetzten Beamten können vom Schädiger nicht den Unterschiedsbetrag fordern, um den ihre Versorgungsbezüge infolge der vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand geringer sind, als wenn der Beamte die Altersgrenze im Dienst erreicht hätte.463 Sie können auch als Erben des Verstorbenen keine in diese Richtung gehenden Ansprüche erheben, denn es handelt sich nicht um einen Schaden, den der Verstorbene erlitten hatte.464

454 Drees VersR 1987, 742. 455 BGH v. 11.4.1961 – VI ZR 188/60, VersR 1961, 595; BGH v. 18.2.1969 – VI ZR 2/68, VersR 1969, 538; Kallfelz VersR 1963, 204. 456 BGH v. 29.10.1968 – VI ZR 136/67, VersR 1969, 75; BGH v. 18.2.1969 – VI ZR 2/68, VersR 1969, 538; Kallfelz VersR 1963, 204. 457 BGH v. 3.3.1983 – III ZR 34/82, VersR 1983, 489. 458 BGH v. 18.2.1969 – VI ZR 2/68, VersR 1969, 538; BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 59/81, VersR 1983, 488; OLG Koblenz v. 14.11.1996 – 5 U 1751/95, VersR 1997, 1289; Heuss VersR 1963, 212; Drees VersR 1987, 153; a.A. für das Verhältnis des Schädigers zum Dienstherrn BGH v. 7.10.1960 – VI ZR 150/59, VersR 1960, 1094; dagegen Wussow WJ 1960, 189. 459 BGH v. 29.10.1968 – VI ZR 136/67, VersR 1969, 75; BGH v. 18.2.1969 – VI ZR 2/68, VersR 1969, 538. 460 Heuss VersR 1963, 212, 213. 461 Dunz VersR 1984, 907. 462 Ebenso Drees VersR 1987, 744. 463 BGH v. 20.3.1962 – VI ZR 176/61, NJW 1962, 1054. 464 LG Stuttgart v. 21.7.1987 – 26 O 66/87, VersR 1989, 98.

948 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.176 § 32

Beim Bezug vorzeitigen Altersruhegeldes ist dem Verletzten die Differenz zwischen Vollverdienst und Rente zu belassen, falls der vorgezogene Ruhestand unfallbedingt war;465 vgl. Rz. 32.59 f, zum Forderungsübergang Rz. 37.6 ff.

32.173

14. Nachteile in der Rentenversicherung Dem Verletzten könnte dadurch ein Nachteil entstehen, dass während der Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit keine (bzw. bei verminderter Arbeitskraft geringere) Beiträge zur Rentenversicherung (§§ 157 ff. SGB VI) geleistet werden. Führt dies zur Minderung seines Rentenanspruchs, so liegt hierin ein ersatzpflichtiger Erwerbsschaden. Der für Schadensfälle ab 1.7.1983 geltende § 119 SGB X leitet indes den Beitragsanspruch eines Versicherungspflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen466 auf den Sozialversicherungsträger über, um sicherzustellen, dass die Ersatzleistungen tatsächlich für die soziale Absicherung verwendet werden.467

32.174

15. Sonstige Vermögensnachteile Auch Nachteile, die durch den Wegfall des Arbeitseinkommens mittelbar verursacht wurden, fallen unter die Ersatzpflicht, wie z.B. Einbußen, die dadurch entstehen, dass ein Erwerbsgeschädigter die Belastung für sein Eigenheim wegen ausbleibender Ersatzleistungen nicht mehr tragen konnte und es deswegen zum Verkauf468 oder zur Zwangsversteigerung kam.469 Die Gefahr eines solchen Schadens muss der Verletzte aber nach Kräften abwenden, zumindest dem Schädiger rechtzeitig anzeigen (§ 254 Abs. 2 BGB). Es muss sich auch um vermögensmäßige Nachteile handeln; der erzwungene Verzicht auf bestimmte Annehmlichkeiten (z.B. bei der Freizeit- und Urlaubsgestaltung) kann allenfalls bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden. Aufwendungen, deren Rechtsgrund bereits vor dem Schadensfall gelegt worden war, können nicht deswegen, weil sie sich infolge der Verletzung als nutzlos erweisen, ersetzt verlangt werden (s. Rz. 32.189; Rz. 20.13). Übt der Geschädigte unfallbedingt eine nicht mehr krankenversicherungspflichtige Tätigkeit aus, so sind ihm die Mehrkosten für eine private Krankenversicherung zu ersetzen.470

32.175

16. Forderungsübergang a) Auf Arbeitgeber Zahlt der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer trotz der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit aufgrund arbeitsrechtlicher Vorschriften das Arbeitsentgelt weiter, so soll dies nicht den Schädiger entlasten (vgl. Rz. 32.70). Der Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers wird daher in Höhe des fortgezahlten Lohns auf den Arbeitgeber übergeleitet. § 6 Abs. 1 EFZG ordnet für alle Arbeitnehmer und zur Berufsausbildung Beschäftigte den gesetzlichen Forderungsübergang an.471 Gemäß § 104 Abs. 1 S. 2 SeeArbG gilt dies auch für Seeleute. Zur Rechtslage bei Beamten und Richtern s. Rz. 32.187. Erbringt der Arbeitgeber über das EFZG hinausgehende

465 466 467 468 469 470 471

BGH v. 10.11.1981 – VI ZR 262/79, VersR 1982, 166. Wegen Einzelheiten vgl. die Checkliste von Küppersbusch VersR 1988, 666. BT-Drucks. 9/95, S. 29. RG v. 20.3.1919 – VI 370/18, RGZ 95, 174. RG v. 16.5.1933 – VI 65/33, RGZ 141, 173. OLG Karlsruhe v. 14.4.1993 – 13 U 160/91, NZV 1994, 396. Zur Rechtslage bis 30.5.1994 und zum bis 31.12.2005 denkbaren Forderungsübergang auf Krankenkassen s. Vorauflage § 29 Rz. 176.

Zwickel | 949

32.176

§ 32 Rz. 32.176 | Körperverletzung

Leistungen (z.B. über den 6-Wochen-Zeitraum hinaus), bedarf es der Abtretung,472 ebenso bei Leistungen an nicht vom EFZG erfasste Beschäftigte, z.B. GmbH-Geschäftsführer. aa) Umfang

32.177

Maßgeblich ist gem. § 6 Abs. 1 EFZG der vom Arbeitgeber gezahlte Bruttobetrag einschließlich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung,473 also zur Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung. Auch Aufwendungen, die der Arbeitgeber macht, um dem Arbeitnehmer gegebene Ruhegehaltszusagen im Versorgungsfall erfüllen zu können, sind Bestandteil der Arbeitsvergütung und damit übergangsfähig, also insbesondere Beiträge an Zusatzversorgungseinrichtungen, aber auch Rückstellungen für die aus unmittelbaren Versorgungszusagen sich ergebenden Verpflichtungen.474 Außerdem gehören zu dem übergangsfähigen Anspruch alle Leistungen, die als „Arbeitsentgelt“ (s. § 6 Abs. 1, § 4 Abs. 1 EFZG) angesehen werden, d.h. aufgrund des Arbeitsvertrags vom Arbeitgeber verlangt werden können,475 also z.B. auch der auf die Zeit der Arbeitsunfähigkeit entfallende Anteil476 an der Weihnachtsgratifikation477 sowie am Urlaubsentgelt (§ 11 BUrlG)478 und Urlaubsgeld,479 etwaige vermögenswirksame Leistungen,480 Überstundenvergütungen, die vor dem Unfall über drei Monate hinweg gezahlt worden sind,481 Gefahren- und Sozialzulagen, laufend gezahlte Prämien, Tantiemen und dergleichen sowie Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes482 (s. auch Rz. 32.77).

32.178

Nicht vom Forderungsübergang erfasst werden Gehaltszuschläge, durch die konkrete Aufwendungen abgegolten werden sollen (z.B. Schmutzzulagen, Auslösen; diese gehören nach § 4 Abs. 1a S. 1 EFZG nicht zum fortzuzahlenden Arbeitsentgelt), sowie Aufwendungen des Arbeitgebers, die nur seinem eigenen Interesse dienen, wie z.B. Beiträge zur Berufsgenossenschaft483 oder Lasten, die in sein unternehmerisches Risiko fallen, wie z.B. Gemeinkostenzuschläge, allgemeine Verwaltungs- und Geschäftskosten, Beiträge zu privater Unfall- oder

472 473 474 475 476 477 478

479 480 481 482 483

Jahnke NZV 1996, 172. BGH v. 27.4.1965 – VI ZR 124/64, BGHZ 43, 378. BGH v. 7.7.1998 – VI ZR 241/97, BGHZ 139, 167; Marburger NZV 2015, 578, 579. BGH v. 4.7.1972 – VI ZR 114/71, BGHZ 59, 114; eingehend Schleich DAR 1993, 414 ff. und Jahnke NZV 1996, 174 ff. Zur Berechnung s BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 102/95, NZV 1996, 356 f. BGH v. 29.2.1972 – VI ZR 192/70, VersR 1972, 566; BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 102/95, NZV 1996, 355; näher hierzu Mittelmeier VersR 1987, 847. BGH v. 4.7.1972 – VI ZR 114/71, BGHZ 59, 113 f.; BGH v. 13.8.2013 – VI ZR 389/12, NZV 2013, 585; OLG Stuttgart v. 10.7.1987 – 2 U 307/86, VersR 1988, 1295; näher hierzu Mittelmeier VersR 1987, 847 ff.; zur Berechnung bei Schwerbehinderten Drees VersR 1983, 321. BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 102/95, VersR 1996, 1117 und OLG München v. 10.2.1995 – 10 U 3162/94, NJW-RR 1996, 736 rechnen auch das auf Freistellungstage entfallende Arbeitsentgelt hierher. BGH VersR 1986, 651; BGH v. 7.5.1996 – VI ZR 102/95, NZV 1996, 355; OLG München v. 10.2.1995 – 10 U 3162/94, OLG München v. 10.2.1995 – 10 U 3162/94, OLGR München 1995, 206. LG Mannheim v. 6.11.1973 – 2 O 350/72, VersR 1974, 605. OLG Koblenz v. 30.9.1974 – 12 U 224/73, VersR 1975, 1056. BGH v. 28.1.1986 – VI ZR 30/85, VersR 1986, 650; OLG Oldenburg v. 23.4.1975 – 8 U 227/74, VersR 1975, 719; Küppersbusch/Höher Rz. 115. BGH v. 11.11.1975 – VI ZR 128/74, VersR 1976, 340; OLG Oldenburg v. 23.4.1975 – 8 U 227/ 74, VersR 1975, 719.

950 | Zwickel

IV. Nachteile für Erwerb und Fortkommen | Rz. 32.181 § 32

Haftpflichtversicherung, Umsatzausfälle, Kosten für Ersatzkräfte, Abfindung im Kündigungsschutzprozess.484 Das Gleiche gilt für Lasten, die der Arbeitgeber im Interesse der Allgemeinheit zu tragen hat, z.B. die Lohnsummensteuer,485 die von den Arbeitgebern des Baugewerbes gezahlte Winterbauumlage486 oder das Entgelt für einen Zusatzurlaub für Schwerbehinderte nach § 125 SGB IX (ab 1.7.2001) bzw. dem früheren SchwbG.487 Selbstverständlich sind auch Anwaltskosten, die dem Arbeitgeber aus Anlass des Regresses entstehen, nicht Teil der übergangsfähigen Arbeitsvergütung; sie können daher, da der Arbeitgeber keinen eigenen Schadensersatzanspruch hat, allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Verzugsschadens vom Schädiger ersetzt verlangt werden.488 Infolge der Arbeitsunfähigkeit ersparte Aufwendungen des Arbeitnehmers (Rz. 32.96 f.) sind, da sie dessen Erwerbsschaden mindern, auch von der Regressforderung des Arbeitgebers abzuziehen. Zur Ersparnis häuslicher Verpflegungskosten bei stationärer Heilbehandlung s. Rz. 32.180.

32.179

bb) Zeitpunkt Der Forderungsübergang auf den Arbeitgeber nach § 6 EFZG findet nicht schon zum Zeitpunkt des Unfalls, sondern erst zum Zeitpunkt der Leistung des Arbeitgebers statt.489 Daher kann ein zwischenzeitliches Erlöschen des Ersatzanspruchs (z.B. durch einen Abfindungsvergleich zwischen Verletztem und Haftpflichtversicherer des Schädigers) auch dem Arbeitgeber entgegengehalten werden (§§ 412, 404 BGB).490 Hat auch ein Sozialversicherungsträger eine mit dem Erwerbsschaden kongruente Leistung erbracht, so hat der Übergang auf ihn, da bereits zum Zeitpunkt des Unfalls vollzogen (Rz. 35.43), Vorrang gegenüber dem Übergang auf den Arbeitgeber.491 Dies ist z.B. der Fall hinsichtlich des Teils des Arbeitseinkommens, der auf ersparte häusliche Verpflegungskosten entfällt492 (vgl. Rz. 35.8): Die Anrechnung dieser Ersparnis geht letztlich also zu Lasten des Arbeitgebers.493

32.180

Da es nur auf die tatsächliche Leistung des Arbeitgebers ankommt, ist es für die Frage des Forderungsübergangs ohne Bedeutung, ob eine Verpflichtung zur Lohnfortzahlung bestand. Auch bei vertraglicher Verpflichtung zur Fortzahlung (z.B. gegenüber GmbH-Geschäftsführer) kann sich der Dienstherr grundsätzlich auf die ohne zeitliche Lücke vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verlassen.494

32.181

484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494

Jahnke NZV 1996, 176 f. LG Münster v. 18.2.1975 – 3 O 465/74, VersR 1976, 599. BGH v. 28.1.1986 – VI ZR 30/85, VersR 1986, 650. BGH v. 9.10.1979 – VI ZR 269/78, VersR 1980, 82; OLG Düsseldorf v. 28.5.1984 – 1 U 202/83, VersR 1985, 69; s. hierzu Drees VersR 1983, 319 und – differenzierend – Stürner JZ 1984, 462. Vgl. AG Dortmund v. 11.10.1999 – 132 C 6509/99, NZV 2001, 383, Engelke VersR 1982, 762, Eichner DAR 1989, 356 und Jahnke NZV 1996, 177 mit Nachweisen aus der divergierenden Rspr. BGH v. 4.4.1978 – VI ZR 252/76, VersR 1978, 660. Jahnke NZV 1996, 172 m.w.N. OLG Celle v. 14.4.1977 – 10 U 118/76, VersR 1977, 1027. BGH v. 9.4.1984 – II ZR 234/83, VersR 1984, 584. Küppersbusch/Höher Rz. 116 ff.; Jahnke NZV 1996, 178 f. BGH v. 16.10.2001 – VI ZR 408/00, BGHZ 149, 63.

Zwickel | 951

§ 32 Rz. 32.182 | Körperverletzung

cc) Befriedigungsvorrecht – Quotenvorrecht

32.182

Ein Befriedigungsvorrecht bei nicht voll realisierbarer Ersatzforderung (zum Begriff s. Rz. 35.75) steht dem Arbeitgeber nicht zu (§ 6 Abs. 3 EFZG). – Die Frage eines Quotenvorrechts bei eingeschränkter Ersatzpflicht (Rz. 35.64) wird im Verhältnis Arbeitgeber-Arbeitnehmer bisher kaum akut, da letzterer i.d.R. seinen vollen Lohn weitergezahlt bekommt. Relevanz erhielt diese Frage nur in Zeiten der übergangsweisen Begrenzung der Lohnfortzahlung auf 80 % des Bruttoentgelts (zwischen 1996 und 1998), wo problematisch war, ob die – etwa wegen Mitverschuldens – gekürzte Schadensersatzforderung in Höhe des nicht abgedeckten Verdienstausfalls dem Arbeitnehmer verbleibt oder bis zur völligen Schadloshaltung des Arbeitgebers auf diesen übergeht. Sie wird durch § 6 Abs. 3 EFZG, der nur die Geltendmachung des übergegangenen Anspruchs (also das Befriedigungsvorrecht), nicht den Übergang selbst regelt, nicht beantwortet, ist aber nach der in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommenden Tendenz und in Anbetracht der Rspr. zur entsprechenden Problematik beim Beamten (Rz. 37.19) zu Lasten des Arbeitgebers zu entscheiden. Dieser trägt somit das Lohnzahlungsrisiko in den Mitverschuldensfällen in gleicher Höhe wie vor der Änderung des § 4 Abs. 1 EFZG.495 dd) Ausschluss des Übergangs gegenüber Haushalts- bzw. Familienangehörigen

32.183

§ 86 Abs. 3 VVG ist nach Sinn und Zweck auch auf den Forderungsübergang nach § 6 EFZG bzw. § 4 LFZG entsprechend anzuwenden.496 Der Arbeitgeber kann daher bei einem in häuslicher Gemeinschaft mit dem Verletzten lebenden Angehörigen nicht Rückgriff nehmen. Das Bestehen einer Haftpflichtversicherung ändert hieran nichts.497 Näher zum Angehörigenprivileg Rz. 38.4 ff. ee) Anrechnung von Mitverschulden

32.184

Ein Mitverschulden des Arbeitnehmers hinsichtlich Entstehung oder Höhe des Schadens kann der Schädiger auch dem Arbeitgeber gegenüber einwenden, auf den der Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens übergegangen ist (§§ 404, 412 BGB). Hat an dem Unfall ein Verschulden des Arbeitgebers mitgewirkt, so führt dies ebenfalls zur Minderung seiner Regressansprüche gegen den Zweitschädiger, und zwar auch dann, wenn die Voraussetzungen des § 104 SGB VII vorliegen (dazu näher Rz. 22.84 ff.), der Arbeitgeber sich also dem Arbeitnehmer gegenüber auf einen Haftungsausschluss berufen könnte.498

b) Auf Sozialversicherungsträger 32.185

Auf Sozialversicherungsträger kann der Ersatzanspruch nach § 116 Abs. 1 SGB X übergehen (vgl. im Einzelnen § 35). Außerdem kommt ein Übergang von Beitragsansprüchen nach § 119 SGB X in Betracht (s. dazu Rz. 35.146 ff.).

c) Auf Privatversicherer 32.186

Ein Forderungsübergang auf Privatversicherer nach § 86 Abs. 1 VVG findet nur bei der Schadensversicherung, nicht jedoch bei den sog. Summenversicherungen statt (näher Rz. 38.2). 495 496 497 498

Marburger NZV 2015, 578. BGH v. 4.3.1976 – VI ZR 60/75, VersR 1976, 567. BGH v. 4.3.1976 – VI ZR 60/75, VersR 1976, 567. BGH v. 9.6.1970 – VI ZR 311/67, BGHZ 54, 177.

952 | Zwickel

V. Sonstiges | Rz. 32.190 § 32

d) Auf Dienstherren Auf den Dienstherrn eines Beamten, welcher diesem aufgrund des Verkehrsunfalles Leistungen erbringt, gehen die haftungsrechtlichen Ansprüche des Beamten gegen den Schädiger über (§ 76 BBG, vgl. dazu im Einzelnen Rz. 37.6 ff.).

32.187

e) Auf den Träger der Sozialhilfe Zum Forderungsübergang auf den Träger der Sozialhilfe, der dem Verletzten Leistungen nach den Sozialhilfegesetzen (SGB II, SGB XII, AsylbLG, KFürsV) erbracht hat oder erbringt, vgl. § 36. Zu beachten ist auch hier, dass nur kongruente Ansprüche übergehen, also nur solche, die die Deckung des Lebensbedarfs zum Gegenstand haben.499 Zur Kongruenz vgl. Rz. 36.15 ff.

32.188

V. Sonstiges 1. Überblick Bei der deliktischen, auf volle Restitution gerichteten Haftung (s. Rz. 32.1 f.) kommt ein Ersatz weiterer Nachteile in Betracht, so lange sie den materiellen, d.h. sich im Vermögen auswirkenden Schäden zugerechnet werden können. Was sich ausschließlich im persönlichen Lebensbereich niederschlägt, z.B. Einschränkungen bei der Ausübung von Hobbys, der Verlust sozialer Beziehungen, die Beeinträchtigung eines Urlaubs,500 gehört in den Bereich immaterieller Entschädigung (Rz. 33.14). Nicht ersatzfähig sind auch die abstrakte Verminderung der Erwerbsfähigkeit (Rz. 32.56) sowie die durch die Unfallverletzung vergeblich gewordenen Aufwendungen, etwa für Wohnungsmiete, Berufsausbildung501 oder ein Jagdpachtrecht.502

32.189

Dagegen kommt ein Schadensersatz nach §§ 823, 249 BGB in folgenden Fällen in Betracht:

2. Entgangener Gewinn Auch unfallbedingte Gewinneinbußen, die nicht auf eine Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit (i.S.v. Rz. 32.57 ff.) zurückzuführen sind (auch nicht mittelbar wie in Rz. 32.169 ff., 32.175), können ersatzfähig sein, etwa der Verlust der Chance, aus einer nur als Hobby betriebenen künstlerischen oder sportlichen Betätigung Einkünfte zu erzielen oder der Wegfall in Aussicht stehender unentgeltlicher Zuwendungen. Wenn ein Betroffener verletzungsbedingt gehindert ist, durch Nutzung eines Gegenstandes vermögenswirksam tätig zu werden, wird im Allgemeinen bereits ein ersatzfähiger Erwerbsschaden bejaht werden können.503 Zur Beeinträchtigung des Gewinns aus einer Gesellschaftsbeteiligung s. Rz. 32.142 f., zur Vereitelung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit Rz. 32.159, 32.164 ff.

499 BGH v. 22.9.1970 – VI ZR 270/69, VersR 1970, 1053; a.A. BGH v. 3.4.1973 – VI ZR 84/72, VersR 1973, 713. 500 BGH v. 11.1.1983 – VI ZR 222/80, VersR 1983, 392. 501 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 120/69, BGHZ 55, 146, 151 f. a.A. Stürner JZ 1984, 416 für weiterlaufende Mietkosten für Betriebsräume. 502 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 120/69, BGHZ 55, 146. S. auch BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 40/67, NJW 1968, 1778 mit Anm. Martens. 503 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 120/69, BGHZ 55, 146, 150.

Zwickel | 953

32.190

§ 32 Rz. 32.191 | Körperverletzung

3. Eigenleistungen beim Bau eines Hauses 32.191

Kann der Verletzte infolge des Unfalls die Baukosten nicht durch Eigenleistungen mindern, so entgeht ihm dadurch gleichfalls ein Gewinn,504 und zwar unabhängig davon, ob das Vorhaben zur Ausführung gelangte.505 Der Ersatzanspruch kann auch die höhere Zinsbelastung infolge der Vergabe der betreffenden Arbeiten umfassen.506 In all diesen Fällen müssen aber an Darlegung und Beweis hohe Anforderungen gestellt werden, um „uferlose Schadenskonstruktionen abzuwehren“507 bzw. „den Schadensersatz nicht zum Ausgleich von Träumen werden zu lassen“.508 Im Fall des Hausbaus kann die Ersatzfähigkeit zwar nicht davon abhängen, ob im Unfallzeitpunkt bereits eine Baugenehmigung vorgelegen hat;509 dem Tatrichter muss aber aufgrund konkreter Anhaltspunkte, insbesondere bereits vor dem Unfall eingeleiteter Schritte, die Überzeugung vermittelt werden, dass das Bauvorhaben tatsächlich angegangen worden wäre, dass es realisierbar gewesen wäre und dass der Verletzte dabei Eigenleistungen im behaupteten Umfang erbracht hätte.510 Erwirbt der Verletzte erst nach dem Unfall ein renovierungsbedürftiges Haus, kann er für die fiktiven Eigenleistungen keine Vergütung beanspruchen.511

4. Unentgeltliche Dienstleistungen 32.192

Sie begründen keinen Ersatzanspruch des Verletzten, soweit sie nicht – wie bei Ehegatten für die Haushaltsführung und die Mitarbeit im Betrieb des anderen anerkannt (Rz. 32.143 ff.) – einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt werden.512 Dies gilt auch für die Mitarbeit eines Kindes im elterlichen Betrieb. Hier kommt aber unter den Voraussetzungen des § 845 BGB (s. dazu Rz. 31.178 ff.) ein Ersatzanspruch der Eltern in Betracht. Dieser besteht nur, soweit und solange das Kind seine Arbeitskraft nicht anderweitig verwertet.513 Aus § 845 BGB klagende Eltern müssen daher das Fehlen von vorgehenden Ansprüchen des Kindes darlegen und erforderlichenfalls beweisen; der Beklagte kann sich ggf. durch Streitverkündung gegenüber dem Kind vor doppelter Inanspruchnahme schützen.514 Für den Anspruch der Eltern ist auch dann kein Raum mehr, wenn sich dem unmittelbar Geschädigten eine Möglichkeit zur anderweitigen Verwertung seiner – nur in einem bestimmten Bereich beeinträchtigten – Arbeitskraft geboten hat.515 Hat ein Sozialversicherungsträger Leistungen zum Ausgleich des Erwerbsschadens zu erbringen, geht der Ersatzanspruch trotz fehlender Identität von Sozialversichertem und 504 BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 66/88, VersR 1989, 857 = NZV 1989, 387, 388 mit Anm. Grunsky; OLG München v. 27.9.1988 – 5 U 6599/87, NZV 1990, 117; OLG Zweibrücken v. 26.1.1994 – 1 U 209/92, NZV 1995, 315. 505 BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 66/88, VersR 1989, 857 = NZV 1989, 387, 388 mit Anm. Grunsky. 506 BGH v. 24.10.1989 – VI ZR 263/88, NZV 1990, 112. 507 BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 66/88, VersR 1989, 857 = NZV 1989, 387, 388 mit Anm. Grunsky; OLG Hamm v. 28.6.1995 – 13 U 12/95, NZV 1995, 480. 508 Geigel/Pardey Kap. 4 Rz. 201. 509 So aber OLG München v. 27.9.1988 – 5 U 6599/87, NZV 1990, 117. Vgl. dagegen die, a.a.O., mitgeteilte Begründung des Nichtannahmebeschlusses des BGH. 510 BGH v. 6.6.1989 – VI ZR 66/88, VersR 1989, 857 = NZV 1989, 387 mit Anm. Grunsky; OLG Karlsruhe v. 16.3.2020 – 1 U 16/19, NJOZ 2020, 579. 511 KG v. 11.7.1996 – 12 U 4464/94, NZV 1997, 232. 512 Differenzierende a.A. unter Durchbrechung des schadensersatzrechtlichen Bereicherungsverbots: Ch. Huber VersR 2007, 1330. 513 BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380. 514 BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380, 385. 515 BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380, 386.

954 | Zwickel

V. Sonstiges | Rz. 32.194 § 32

Schadensersatzgläubiger auf ihn über, denn der Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens ist nur wegen der familienrechtlichen Besonderheiten auf die Eltern verlagert worden.516

5. Hinderung an Eheschließung Allein der Umstand, dass der oder die Verletzte wegen einer unfallbedingten Behinderung oder Entstellung voraussichtlich keinen Ehepartner finden kann, begründet keinen materiellen Schaden.517 Die Vereitelung einer bestimmten Lebensplanung ist allenfalls bei der Zubilligung eines Schmerzensgeldes (§ 253 Abs. 2 BGB) zu berücksichtigen (s. Rz. 33.14). Etwas anderes mag gelten, wenn eine konkret beabsichtigte Heirat und eine damit verbundene Verbesserung der Erwerbssituation (z.B. Anstellung im Betrieb des Ehemannes in spe) durch den Unfall vereitelt worden ist518 (s. auch Rz. 32.143 zum Haushaltsführungsschaden).

32.193

6. Vereitelte Teilnahme an Veranstaltung, Reise etc. Der Verletzte kann zwar nicht seine vergeblichen Aufwendungen ersetzt verlangen,519 er hat aber Anspruch auf Ersatz des Wertes vermögenswerter Leistungen, die er infolge der Unfallverletzung nicht ausnutzen konnte, abzgl. ersparter Aufwendungen. Wer durch den Unfall am Besuch einer Veranstaltung gehindert wird, kann also nicht die Kosten seiner Anfahrt, wohl aber den Eintritt zu einer entsprechenden Veranstaltung beanspruchen,520 sofern er nicht eine Erstattung seiner Aufwendungen erlangen konnte. Musste eine Reise storniert werden, kann Ersatz der Stornierungskosten verlangt werden.521

516 BGH v. 25.10.1977 – VI ZR 220/75, BGHZ 69, 380, 382; BGH v. 13.12.1966 – VI ZR 73/65, VersR 1967, 176. 517 Weimar VersR 1961, 782. 518 BGH v. 13.3.1959 – VI ZR 72/58, JZ 1959, 365; Stürner JZ 1984, 415. 519 Zu der abzulehnenden Frustrationslehre s. Rz. 20.13. 520 Vgl. Lange/Schiemann § 6 IV. 521 Vgl. OLG Karlsruhe v. 24.5.2002 – 10 U 253/01, VersR 2003, 506, 508.

Zwickel | 955

32.194

§ 33 Schmerzensgeld

I. 1. 2. 3. 4. II. 1. 2. a) b) c) d) e) f) III. 1. 2.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragbarkeit und Vererbung . . . . Verhältnis zum materiellen Schaden . Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seelische Beeinträchtigungen . . . . . . Bagatellverletzungen . . . . . . . . . . . . . Empfindungsfähigkeit (Störung – Zerstörung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versterben ohne Wiedererlangung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . Kleines Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlgeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bemessungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . Verletzungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . Tatumstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33.1 33.1 33.2 33.4 33.5 33.6 33.6 33.7 33.7 33.8 33.9 33.10 33.11 33.12 33.13 33.13 33.16

3. 4. 5. 6. 7. IV. 1. a) b) c) d) 2. 3. a) b) c) V.

Mitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Auswirkungen . . . . . Lebensumstände . . . . . . . . . . . . . . . . Regulierungsverhalten . . . . . . . . . . . . Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höhe und Art der Entschädigung . . Betrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine taggenaue Schmerzensgeldbemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermessenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der Bemessungspraxis . . . Mehrheit von Schädigern . . . . . . . . . Form der Ersatzleistung . . . . . . . . . . Kapital oder Rente . . . . . . . . . . . . . . . Teilschmerzensgeld . . . . . . . . . . . . . . Zinsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrensrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33.19 33.21 33.26 33.30 33.31 33.35 33.35 33.35 33.36 33.37 33.38 33.40 33.41 33.41 33.45 33.46 33.47

§ 253 BGB (1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden. (2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. s. auch § 11 S. 2 StVG, § 6 S. 2 HaftPflG (abgedruckt bei § 32)

I. Überblick 1. Anwendungsbereich Ausgleich für immaterielle Schäden wird nach § 253 Abs. 1 BGB grundsätzlich nicht gewährt. Seit dem 2. SchRÄndG v 19.7.2002 ist aber ein von der deliktischen Haftung losgelöster, nunmehr in § 253 Abs. 2 BGB geregelter Schmerzensgeldanspruch normiert. Für Unfälle nach dem 31.7.2002 kann daher Schmerzensgeld auch bei Gefährdungshaftung und vertraglicher Haftung beansprucht werden. § 11 S. 2 StVG und § 6 S. 2 HaftPflG stellen dies (unnötigerweise) für ihren Anwendungsbereich nochmals klar.

Zwickel | 957

33.1

§ 33 Rz. 33.2 | Schmerzensgeld

2. Rechtsnatur 33.2

Die Besonderheit dieser Entschädigung liegt darin, dass nicht ein Vermögensschaden ausgeglichen werden soll; vielmehr wird dem Vermögen des Verletzten etwas zugeführt, was ihm ohne den Unfall nicht zustünde. Dadurch soll dem Verletzten nach der grundlegenden Entscheidung des Großen Zivilsenats des BGH vom 6.7.19551 ein angemessener Ausgleich für erlittene Schmerzen, Verunstaltungen und Beeinträchtigungen des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens geboten und außerdem dem Gedanken Rechnung getragen werden, dass der Schädiger dem Verletzten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet. Eine Aufspaltung des Schmerzensgeldes in einen Betrag zur Ausgleichung und einen zur Genugtuung ist aber unzulässig; beides sind lediglich Bemessungsgrundlagen, in denen zwei Wirkungsweisen ein und desselben Anspruchs zum Ausdruck kommen.2 Eine pönale Funktion hat das Schmerzensgeld allenfalls als Nebeneffekt. Es wäre schon aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenklich, das Schmerzensgeld als eine Art Privatstrafe (etwa nach Art der punitive damages des US-amerikanischen Rechts) zu verstehen.3 Auch der Präventionsgedanke4 ist kein das Wesen des Schmerzensgeldes bestimmender Faktor.5 In neuerer Zeit wird zunehmend in Frage gestellt, ob es für die Bemessung des immateriellen Schadensersatzes überhaupt noch des Rückgriffs auf den Genugtuungsgedanken bedarf.6 Die Begründung zum Entwurf des 2. SchRÄndG geht vom Fortbestehen der Doppelfunktion aus, akzeptiert aber das Überwiegen der Ausgleichsfunktion.7

33.3

Aus der Rechtsnatur als billige Entschädigungsleistung folgt, dass sich die Höhe des Schmerzensgeldes aus den Besonderheiten der jeweiligen Täter-Opfer-Relation ergibt. Dies wirkt sich bei der Mitverantwortlichkeit des Geschädigten und bei der Haftung mehrerer Schädiger aus (s. Rz. 33.19, 33.40). Grundsätzlich zur Höhe der Entschädigung Rz. 33.35 ff. Beim Schmerzensgeldanspruch handelt es sich, soweit nicht ausdrücklich ein Teilschmerzensgeld beantragt wird (s. Rz. 33.45), um einen Anspruch, der alle Schadensfolgen erfasst, die bereits eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt vorhergesehen und bei der Schmerzensgeldentscheidung berücksichtigt werden konnte (Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes).8

1 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149. 2 BGH v. 6.12.1960 – VI ZR 73/60, VersR 1961, 164. 3 Vgl. Bötticher MDR 1963, 359; Honsell VersR 1974, 205. S. auch BGH v. 29.11.1994 – VI ZR 93/ 94, BGHZ 128, 117, 121: fehlender Strafcharakter hindert nicht Berücksichtigung der Schuldschwere bei der Bemessung. 4 Allgemein zum Präventionszweck im Schadensersatzrecht Rz. 1.14. Zur Präventivfunktion des Schmerzensgeldes aus ökonomischer Sicht Ott-Schäfer JZ 1990, 566. 5 BVerfG v. 8.3.2000 – 1 BvR 1127/96, NJW 2000, 2187 = VersR 2000, 1114 mit Anm. Hoppe. Anders die rechtsfortbildend entwickelte Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen: vgl. BGH v. 15.11.1994 – VI ZR 56/94, BGHZ 128,1; BGH v. 5.12.1995 – VI ZR 332/94, NJW 1996, 984, 985. 6 OLG Düsseldorf v. 22.4.1996 – 1 U 60/95, VersR 1996, 1508; E. Lorenz Immaterieller Schaden und billige Entschädigung in Geld 1981, S. 32 ff.; Ott-Schäfer JZ 1990, 573; Nehlsen-v. Stryk JZ 1987, 119; s. auch Müller VersR 1993, 912 ff.; Diederichsen VersR 2005, 435. 7 BT-Drucks. 14/7752, S. 15. 8 BGH v. 10.7.2018 – VI ZR 259/15, r+s 2018, 678 mit Anm. Lemcke; BGH v. 20.1.2015 – VI ZR 27/ 14, VersR 2015, 772; zur Problematik der Prognose zukünftiger Schadensfolgen und für einen Alternativvorschlag s. Scholten VersR 2020, 1289.

958 | Zwickel

II. Anspruchsvoraussetzungen | Rz. 33.6 § 33

3. Übertragbarkeit und Vererbung Der Schmerzensgeldanspruch war nach der vielfach kritisierten9 Regelung des § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. nur übertragbar und vererblich, wenn er anerkannt oder rechtshängig geworden war. Durch Gesetz vom 14.3.1990 wurde diese Vorschrift jedoch mit Wirkung vom 1.7.1990 gestrichen. Ab diesem Zeitpunkt sind Schmerzensgeldansprüche ohne Beschränkung übertragbar und vererblich.10 Auch einer Willensbekundung des Verletzten hinsichtlich der Geltendmachung des Schmerzensgeldanspruchs bedarf es hierfür nicht.11 Daher kann den Erben auch dann ein Schmerzensgeldanspruch zustehen, wenn der Verletzte verstorben ist, ohne das bei dem Unfall verlorene Bewusstsein wiedererlangt zu haben (vgl. Rz. 33.10, 33.26).12

33.4

4. Verhältnis zum materiellen Schaden Da der Schmerzensgeldanspruch mit dem Anspruch auf Ersatz des Vermögensschadens keine rechtliche Einheit bildet, ist der Übergang vom einen zum anderen eine Klageänderung.13 Der Anspruch auf Schmerzensgeld verjährt, wenn nur Ersatz des Vermögensschadens mit der Klage geltend gemacht worden ist. Ein Feststellungsurteil, das zum Ersatz „jeden weiteren Schadens“ aus einer Gesundheitsverletzung verpflichtet, erstreckt sich grundsätzlich auch auf immaterielle Schäden; anders ist es nur, wenn der Urteilstenor ausdrücklich Einschränkungen enthält oder sich sonst aus dem Parteivorbringen und dem Urteil eindeutige Hinweise auf eine von den Parteien und dem Gericht gewollte Beschränkung auf materielle Schäden ergeben.14

33.5

II. Anspruchsvoraussetzungen 1. Allgemeines Berechtigt ist nur, wer infolge des Unfalls in eigener Person eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten hat (zu diesen Begriffen s. Rz. 3.39 ff.). Führt das Unfallereignis unmittelbar den Tod herbei, besteht kein Schmerzensgeldanspruch.15 Mittelbare Schädigung eines nicht selbst am Unfall Beteiligten reicht aus, wenn sie dem Unfall zurechenbar ist (Rz. 19.7 und ihrerseits Krankheitswert hat (Rz. 19.16). Eine davon unabhängige Entschädigung für die Hinterbliebenen von Unfallopfern sieht das deutsche Recht nur in Form des sog Hinterbliebenengeldes (§ 844 Abs. 3 BGB) vor (s. hierzu Rz. 31.189 ff).

9 Ebel VersR 1978, 204; 15. VGT (1977) 9. Eingehend zu der Gesamtproblematik mit umfangreichen Nachweisen Voß VersR 1990, 821. 10 Zur Frage der Wirksamkeit früherer Rechtsübergänge s. 3. Aufl., § 16 Rz. 75 ff. 11 BGH v. 6.12.1994 – VI ZR 80/94, NZV 1995, 144; KG v. 25.4.1994 – 22 U 2282/93, NJW-RR 1995, 91. 12 Zu den Problemen, die sich ergeben, wenn der Schädiger selbst Erbe ist, s. Greger NZV 1991, 17. 13 RG v. 6.11.1935 – I 124/35, RGZ 149, 167; RG v. 24.9.1942 – III 22/42, RGZ 170, 39. 14 BGH v. 15.10.1953 – III ZR 34/52, VersR 1953, 497; BGH v. 5.3.1985 – VI ZR 195/83, VersR 1985, 664. 15 BGH v. 16.12.1975 – VI ZR 175/74, NJW 1976, 1148; OLG Jena v. 29.10.2002 – 8 U 11/02, OLGR Jena 2003, 495.

Zwickel | 959

33.6

§ 33 Rz. 33.7 | Schmerzensgeld

2. Sonderfälle a) Seelische Beeinträchtigungen 33.7

Seelische Beeinträchtigungen, die nicht den Grad einer Gesundheitsverletzung erreichen, begründen keinen Anspruch auf Schmerzensgeld.16 Keinen Anspruch hat daher auch die Ehefrau wegen unfallbedingten Nachlassens der Potenz des Mannes.17 Die allgemeine Behauptung des Geschädigten, der „Schock“ habe zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands geführt, reicht für ein Schmerzensgeld nicht aus.18 Psychische Störungen von Krankheitswert können jedoch einen Schmerzensgeldanspruch begründen,19 und zwar auch dann, wenn die Veranlagung des Verletzten für sie mitursächlich war.20 Dies gilt auch für eine Wesensänderung des Verletzten infolge einer Hirnschädigung.21 Ausgeschlossen ist ein Schmerzensgeldanspruch aber bei psychisch vermittelten Gesundheitsbeeinträchtigungen infolge von Verletzung oder Tötung von Tieren.22

b) Bagatellverletzungen 33.8

Bei Bagatellverletzungen und leichtem Verschulden tritt das Bedürfnis für Ausgleich und Genugtuung hinter dem mit der Teilnahme am Verkehr verbundenen Lebensrisiko zurück, so dass eine gänzliche Versagung eines Schmerzensgeldes vom richterlichen Ermessen gedeckt ist.23 Der im Entwurf des 2. SchRÄndG24 vorgesehene Ausschluss unerheblicher Schäden25 ist zwar nicht Gesetz geworden. Der Rechtsausschuss des Bundestags hat die Streichung der betreffenden Passage jedoch ausdrücklich mit der Erwartung verbunden, dass die bisherige Rspr. beibehalten und fortentwickelt wird.26 Das von ihm ausdrücklich angesprochene leichte HWSSchleudertrauma rechtfertigt daher i.d.R. kein Schmerzensgeld mehr.

c) Empfindungsfähigkeit (Störung – Zerstörung) 33.9

Bei Zerstörung der Empfindungsfähigkeit, etwa durch schwere Hirnschädigung, vertrat die Rspr. früher die Ansicht, dass weder für einen Ausgleich im herkömmlichen Sinne noch für eine Genugtuung durch das Schmerzensgeld Raum sei, weil der Verletzte den Zusammenhang der Zahlung mit seinem Zustand nicht erfassen könne, und trug dem durch Zubilligung

16 OLG Köln v. 24.10.1980 – 20 U 42/80, VersR 1982, 558; OLG Jena v. 29.10.2002 – 8 U 11/02, OLGR Jena 2003, 495. 17 LG Augsburg v. 10.1.1967 – 3 O 221/66, NJW 1967, 1513 und 1914 mit Anm. Selb. 18 BGH v. 28.3.1972 – VI ZR 163/70, VersR 1972, 745. 19 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157; OLG Celle v. 7.5.2008 – 11 W 13/08, MDR 2008, 1101. 20 BGH v. 29.2.1956 – VI ZR 352/54, BGHZ 20, 139. 21 BGH v. 8.5.1979 – VI ZR 19/78, VersR 1979, 739: Unfall als Verursachungsbeitrag zu späterer Straffälligkeit, die zu Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus führt. 22 BGH v. 20.3.2012 – VI ZR 114/11, NJW 2012, 1730. 23 15. VGT (1977), S. 9; BGH v. 14.1.1992 – VI ZR 120/91, NJW 1992, 1043; BGH v. 5.7.1983 – VI ZB 5/83, VersR 1983, 838 a.A. LG Oldenburg v. 11.8.1981 – 1 S 334/80, VersR 1982, 402; AG Köln v. 23.11.1979 – 142b C 3678/78, VersR 1980, 246 = VersR 1981, 565 mit abl. Anm. Jordan und VersR 1981, 1041 mit Anm. Menken. 24 BT-Drucks. 14/7752. 25 Dafür auch Arbeitskreis V des 34. VGT 1996, NZV 1996, 102; Greger NZV 2002, 223. 26 BT-Drucks. 14/8780, S. 21.

960 | Zwickel

II. Anspruchsvoraussetzungen | Rz. 33.10 § 33

eines lediglich symbolischen Schmerzensgeldes Rechnung.27 Diese Rspr. hat der BGH mit Urteil vom 13.10.1992 aufgegeben.28 Der Verlust an personaler Qualität stelle schon für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden dar, unabhängig davon, ob der Betroffene die Beeinträchtigung empfinde. Es handle sich bei Schäden dieser Art um eine eigenständige Fallgruppe, bei der die Zerstörung der Persönlichkeit durch den Fortfall der Empfindungsfähigkeit im Mittelpunkt stehe und einer eigenständigen Bewertung im Rahmen der Schmerzensgeldbemessung zugeführt werden müsse, die der zentralen Bedeutung dieser Einbuße für die Person gerecht werde. Je nach dem Ausmaß der Beeinträchtigung und dem Grad der verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit seien Abstufungen vorzunehmen, um den Besonderheiten des jeweiligen Schadensfalles Rechnung zu tragen. Nicht zulässig sei es dagegen, wegen des Wegfalls der Empfindungsfähigkeit Abstriche von dem an sich angemessenen Schmerzensgeld vorzunehmen. Die übrigen Bemessungskriterien (z.B. Verschuldensgrad, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Schädigers, s. Rz. 33.13 ff.) seien aber auch in diesen Fällen zu berücksichtigen.29 Dasselbe gilt für den Umstand, dass der Verletzte wegen baldigen Todes seinen Zustand nicht mehr lange ertragen musste.30 Der Rechtsprechungswandel ist insoweit zu begrüßen, als er zur Abkehr von dem wenig systemgerechten Gedanken einer „nur symbolhaften“ Zahlung geführt hat. Das Verbot von „Abstrichen“ dient allerdings wohl mehr optischen Zwecken. In der Sache wird es dabei bleiben müssen, dass das Schmerzensgeld in diesen Fällen wesentlich niedriger liegt als bei einem Opfer, welches Tag für Tag sein Leiden bewusst erlebt. Die Schwierigkeit liegt in der Bewertung jenes „Verlustes an personaler Qualität“, der nach der jetzigen Sicht des BGH durch eine billige Entschädigung ausgeglichen werden soll.

d) Versterben ohne Wiedererlangung des Bewusstseins Auf den Fall des ohne Wiedererlangung des Bewusstseins verstorbenen Unfallopfers lässt sich der vorstehend wiedergegebene Rechtsprechungswandel nicht übertragen. Hier kann das Schmerzensgeld, an dessen höchstpersönlicher Natur auch die seit 1990 bestehende Vererblichkeit (Rz. 33.4) nichts geändert hat,31 keine sinnentsprechende Funktion mehr erfüllen. Eine Entschädigung der Erben liegt nicht in seiner Zweckbestimmung. In diesen Fällen ist ein Schmerzensgeld daher nur dann zuzubilligen, wenn die Körperverletzung nach den Umständen des Falles eine gegenüber dem alsbald eintretenden Tod abgrenzbare immaterielle Beeinträchtigung des Opfers darstellt, also nicht bei nur kurzzeitigem Überleben des Unfalls.32 Ob der Tod augenblicklich (Rz. 33.6) oder nach kurzer Bewusstlosigkeit eingetreten ist, kann für das Schmerzensgeld keinen Unterschied machen; zu längerer Leidenszeit s. Rz. 33.26.

27 BGH v. 16.12.1975 – VI ZR 175/74, VersR 1976, 660; BGH v. 22.6.1982 – VI ZR 247/80, VersR 1982, 880. 28 BGH v. 13.10.1992 – VI ZR 201/91, BGHZ 120, 1 = NJW 1993, 781 mit krit. Anm. Deutsch = LM § 847 BGB Nr. 89 mit Anm. Schmidt-Salzer; bestätigt durch BGH v. 16.2.1993 – VI ZR 29/ 92, NJW 1993, 1531 = LM § 847 BGB Nr. 90 mit Anm. Teichmann; OLG Hamm v. 26.4.1993 – 6 U 149/92, r+s 1993, 339 mit Anm. Lemcke; Abl. Kern FS Gitter 1995, S. 447 ff. Zur österr. Rspr. Ch. Huber ZVR 2000, 218 ff. 29 BGH v. 16.2.1993 – VI ZR 29/92, NJW 1993, 1531. 30 OLG Oldenburg v. 27.6.1995 – 5 U 30/95, VersR 1996, 726; a.A. OLG München v. 4.10.1995 – 24 U 265/95, OLGR München 1996, 111. 31 Vgl. die Begründung des Änderungsgesetzes v 14.3.1990, BT-Drucks. 11/4415, S 4. 32 BGH v. 12.5.1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388 Ch. Huber NZV 1998, 345 ff.

Zwickel | 961

33.10

§ 33 Rz. 33.11 | Schmerzensgeld

e) Kleines Kind 33.11

Bei einem kleinen Kind kann die Genugtuungsfunktion nur beschränkt zum Tragen kommen; dies kann mindernd berücksichtigt werden.33

f) Fehlgeburt 33.12

Kommt es infolge des Unfalls zu einer Fehlgeburt, so liegt zwar nicht im Absterben der Leibesfrucht,34 wohl aber in den dadurch bedingten Störungen der physiologischen Abläufe im mütterlichen Organismus oder daraus resultierenden psychosomatischen Beschwerden eine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung.35

III. Bemessungsfaktoren 1. Verletzungsfolgen 33.13

Zu entschädigen sind die gesamten nichtvermögensrechtlichen Folgen, die ein Unfall für den körperlichen, gesundheitlichen und seelischen Zustand des Verletzten nach sich zieht.36

33.14

Zu berücksichtigen sind vor allem das Ausmaß der erduldeten Schmerzen und derjenigen, die als Unfallfolge noch in der Zukunft zu erwarten sind,37 die Art und Schwere der Verletzung und etwaiger Dauerfolgen,38 die Dauer und Art der Behandlung, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, die Beeinträchtigung der Lebensfreude (durch Ausfall des Gebrauchs von Gliedmaßen oder sonstiger Körperfunktionen, durch die Unmöglichkeit zu wandern oder Sport zu treiben)39 oder der Berufsausübung,40 erlittene Todesangst, seelische Erschütterungen, Bedrückung und Sorgen. In diesem Zusammenhang kann auch das Bewusstsein des Verletzten, in Zukunft berufsunfähig zu sein, – neben dem Schaden durch Verdienstausfall – nochmals berücksichtigt werden, desgleichen die Minderung der Heiratsaussichten.41 Gleiches gilt zugunsten desjenigen, der infolge des Unfalls seine Prüfung erst ein Jahr später ablegen kann.42 Auch

33 OLG Stuttgart v. 31.10.1991 – 14 U 14/91, VersR 1992, 1013; zu weitgehend aber AG Bochum v. 15.9.1993 – 43 C 386/93, VersR 1994, 1483. S. auch OLG Celle v. 5.2.2004 – 14 U 163/03, NZV 2004, 306 (dreijähriges Kind). 34 OLG Düsseldorf v. 9.11.1987 – 8 W 56/87, NJW 1988, 777. 35 OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 5 U 22/91, NJW 1991, 2355; LG Berlin v. 23.4.1996 – 31 O 346/ 95, NZV 1997, 45. 36 BGH v. 6.7.1955 – 1 GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157. 37 OLG Celle v. 6.11.2003 – 14 U 119/03, OLGR Celle 2004, 271: drohender Einsatz eines künstlichen Kiefergelenks. 38 Vgl. LG Oldenburg v. 11.10.1989 – 4 O 1431/89, VersR 1990, 1019 = MDR 1990, 630: 500 000 DM bei Querschnittslähmung und weiteren vielfältigen Behinderungen eines Kindes. 39 Vgl. OLG Naumburg v. 20.11.2014 – 1 U 59/14, VersR 2016, 610 und OLG Jena v. 24.11.1998 – 8 U 621/98 (100), OLGR Jena 1999, 328 (Hochleistungssportler); OLG Hamm v. 3.3.1998 – 27 U 185/97, NJW-RR 1998, 1179, 1180 (Laufen in der Freizeit); einschränkend AG Viersen v. 10.12.1998 – 3 C 317/98, MDR 1999, 360. 40 OLG München v. 30.11.1984 – 10 U 2344/84, VersR 1985, 868. 41 BGH v. 13.3.1959 – VI ZR 72/58, VersR 1959, 458; OLG Nürnberg v. 16.12.1966 – 6 U 125/66, VersR 1967, 716. 42 OLG Karlsruhe v. 21.1.1960 – 4 U 198/59, NJW 1960, 2058.

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III. Bemessungsfaktoren | Rz. 33.17 § 33

der beste Zahnersatz ist kein voller Ausgleich für gesunde Zähne.43 Ein junger Mensch leidet regelmäßig unter Dauerschädigungen mehr als ein älterer.44 Verstirbt der Verletzte an den Unfallfolgen, ist die Dauer der Leidenszeit ein wesentlicher Bemessungsfaktor45 (zur Lage bei Bewusstlosigkeit des Opfers s. Rz. 33.10, 33.26). Eine in der Konstitution des Geschädigten angelegte Schadensanfälligkeit ist anspruchsmindernd zu berücksichtigen soweit die Gesundheitsbeeinträchtigungen Auswirkungen gerade dieser „Schadensbereitschaft“ sind.46 Dies gilt auch für psychische Vorschädigungen.47 Beschleunigt der Unfall den Ablauf einer schon vorher bestehenden tödlichen Erkrankung, so ist Maßstab für das Schmerzensgeld der Zeitraum, um den sich der Ablauf beschleunigt.48

33.15

2. Tatumstände Die Schwere der Schuld des Schädigers49 kann auch nach der Abkopplung des Schmerzensgeldes vom Verschuldenserfordernis (s. Rz. 33.2) als Bemessungsfaktor herangezogen werden. Eine generelle Differenzierung zwischen Schmerzensgeld aus Gefährdungs- oder Deliktshaftung wäre aber mit der gesetzgeberischen Intention, Verschuldensfeststellungen im Haftpflichtprozess weitgehend entbehrlich zu machen,50 und mit der im Vordergrund stehenden Ausgleichsfunktion nicht vereinbar.51 Daher sollte auf das Verschulden des Schädigers nur noch dann abgestellt werden, wenn es wegen besonderer Schwere eine besondere Genugtuung erfordert.52 Zu weitgehend erscheint es dabei, bei jedem grob fahrlässigen Verhalten, ein erhöhtes Schmerzensgeld zuzusprechen.53 Relevanz entfaltet das Verschulden des Schädigers daher allenfalls noch bei vorsätzlicher Schadenszufügung.54

33.16

Auch der Anlass des Schadensereignisses kann eine Rolle spielen. So kann z.B. zugunsten des Schädigers berücksichtigt werden, dass sich die Verletzung des Mitfahrers auf einer Gefälligkeitsfahrt ereignet hat.55 Dies gilt erst recht, wenn dem Verletzten bekannt war, dass der Fahrer Alkohol getrunken hat, und zwar unabhängig davon, ob dem Verletzten ein Mitverschulden anzulasten ist.56

33.17

43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

OLG München VersR 1964, 52. BGH v. 15.1.1991 – VI ZR 163/90, VersR 1991, 350. BGH v. 12.5.1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388. BGH v. 16.11.1961 – III ZR 189/60, NJW 1962, 243; BGH v. 5.11.1996 – VI ZR 275/95, NJW 1997, 455; OLG Hamm v. 13.4.2018 – 7 U 4/18, NJW-Spezial 2018, 489. OLG Frankfurt v. 6.11.1991 – 17 U 72/88, VersR 1993, 853: Konversionsneurose; OLG Schleswig v. 10.1.2019 – 7 U 74/13, SVR 2020, 24: Narzisstische Persönlichkeitsstörung. OLG Nürnberg VersR 1959, 960. Zum bisherigen Recht BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 204/76, VersR 1979, 622; BGH v. 2.2.1982 – VI ZR 296/80, VersR 1982, 400; BGH v. 16.2.1993 – VI ZR 29/92, NJW 1993, 1531. BT-Drucks. 14/7752, S. 15. OLG Celle v. 23.1.2004 – 14 W 51/03, NZV 2004, 251; Wagner NJW 2002, 2054. In diesem Sinn auch der Regierungsentwurf, BT-Drucks. 14/7752, S 15. S. auch OLG Celle v. 6.11.2003 – 14 U 119/03, OLGR Celle 2004, 271: keine Minderung wegen sog. Augenblicksversagens oder bloßen Anscheinsbeweises. So aber OLG Saarbrücken v. 26.2.2015 – 4 U 26/14, NJW-RR 2015, 1119. Jahnke/Burmann/Müller Handbuch des Personenschadensrechts 2016, 4. Kap., Rz. 1311. BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 158 f. a.A. OLG Hamm v. 3.3.1998 – 27 U 185/97, NJW-RR 1998, 1179, 1180 f. BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 204/76, VersR 1979, 622.

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§ 33 Rz. 33.18 | Schmerzensgeld

33.18

Wer von seinem Ehegatten oder einem Verwandten verletzt wird, kann kein so hohes Schmerzensgeld verlangen wie ein von einem Fremden Verletzter; dies ergibt sich aus den sozialen Bindungen zwischen Familienmitgliedern, auf denen das gesamte Unterhaltsrecht fußt.57

3. Mitverantwortung 33.19

Mitverschulden des Verletzten ist – nach dem Rechtsgedanken des § 254 BGB – anspruchsmindernd zu berücksichtigen,58 jedoch nicht in der Weise, dass ein (gedachter) Gesamtanspruch um eine bestimmte Quote gekürzt wird59 (denn ein „volles“ oder „an sich angemessenes“ Schmerzensgeld gibt es nicht; s. Rz. 33.3). In solchen Fällen wird Schmerzensgeld im Grund- oder Feststellungsurteil somit nicht „i.H.v. … Prozent“, sondern „auf der Grundlage einer Mithaftung von … Prozent“ zuerkannt.60 Da das Mitverschulden nur ein Bemessungsgesichtspunkt unter mehreren ist, kann z.B. auch bei geringem Mithaftungsanteil ein niedriger Betrag zugesprochen werden oder ein beim materiellen Schadensersatz anrechenbares Mitverschulden bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ganz außer Betracht bleiben.61 Aus demselben Grund kann das Berufungsgericht im Rahmen seiner Ermessungsausübung zum selben Schmerzensgeldbetrag wie die Vorinstanz auch dann gelangen, wenn es das Mitverschulden anders bewertet.62

33.20

Zur Frage der Anrechnung einer Betriebsgefahr s. Rz. 25.87.

4. Wirtschaftliche Auswirkungen 33.21

Die wirtschaftlichen Verhältnisse von Geschädigtem und Schädiger scheiden, nach einer Entscheidung der Vereinigten Große Senate des BGH, nicht von vorneherein aus der Schmerzensgeldbemessung aus.63 Das Schmerzensgeld ist auf Basis einer Gesamtabwägung zu ermitteln, in die alle erheblichen Faktoren einzustellen sind. Eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse von Schädiger bzw. Geschädigtem hat aber nur zu erfolgen, wenn diesen im Einzelfall besondere Bedeutung zukommt.64 Denkbar sind folgende, besonders gelagerte Situationen:

33.22

Lebt der Geschädigte in einem Land mit geringeren Lebenshaltungskosten oder in sehr einfachen Verhältnissen, wird die Entschädigung niedriger zu bemessen sein,65 während der Umstand, dass bei einem vermögenden Geschädigten ein geringer Betrag nicht zu einer spürba-

57 BGH v. 20.12.1966 – VI ZR 69/65, VersR 1967, 286; OLG Schleswig v. 9.1.1991 – 9 U 40/89, VersR 1992, 462, 463; a.A. OLG München v. 8.7.1988 – 10 U 1717/88, VersR 1989, 1056. 58 BGH v. 8.5.1956 – VI ZR 58/55, VersR 1956, 500; Koebel NJW 1957, 1009. 59 BGH v. 21.4.1970 – VI ZR 13/69, VersR 1970, 624; BGH v. 15.5.1984 – VI ZR 155/82, JR 1984, 501 mit Anm. Lindacher. 60 BGH v. 8.3.1966 – VI ZR 223/64, VersR 1966, 593; OLG Köln v. 26.10.1988 – 13 U 123/88, VersR 1989, 206, 207. 61 Vgl. OLG München v. 13.1.1999 – 7 U 4576/98, OLGR München 1999, 85. 62 BGH v. 12.3.1991 – VI ZR 173/90, NZV 1991, 305. 63 BGH v. 16.9.2016 – VGS 1/16, BGHZ 212, 48 = NZV 2017, 179 mit Anm. Almeroth. 64 BGH v. 16.9.2016 – VGS 1/16, BGHZ 212, 48 = NZV 2017, 179 mit Anm. Almeroth. 65 OLG Naumburg v. 23.12.2014 – 12 U 36/14, VersR 2016, 265. Für Berücksichtigung unterschiedlicher Kaufkraftparität auch Ch. Huber NZV 2006, 175.

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III. Bemessungsfaktoren | Rz. 33.26 § 33

ren Entschädigung führen würde, eine höhere Summe erfordern kann.66 Dass der Geschädigte sich ohnehin alles leisten kann, hindert seinen Schmerzensgeldanspruch nicht. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers können von Bedeutung sein. Einem vermögenden Schädiger kann eine höhere Leistung abverlangt werden als einem in ärmlichen Verhältnissen lebenden.67 Dabei kann sich auch zugunsten des Verletzten auswirken, dass für den Schädiger eine gesetzliche oder freiwillige Haftpflichtversicherung68 oder eine öffentlichrechtliche Körperschaft69 einzutreten hat oder dass er einen Freistellungsanspruch gegen einen weiteren Schädiger hat.70 Das Bestehen einer Haftpflichtversicherung darf aber auch nicht zur Zuerkennung eines den sonst üblichen Rahmen sprengenden extrem hohen Schmerzensgeldes führen71 (s. auch Rz. 33.17 ff.). Hat der Schädiger schuldhaft seinen Haftpflichtversicherungsanspruch verloren, so darf der Wegfall nicht zu Lasten des Geschädigten berücksichtigt werden.72

33.23

Reine Vermögensschäden gehen jedoch nicht in die Bemessung des Schmerzensgelds ein.73

33.24

Hat der Unfall dem Verletzten Vorteile gebracht, so sind sie nur dann zu berücksichtigen, wenn sie auf der Körperverletzung beruhen, nicht wenn sie die Folge von Begleitumständen sind.74 Nicht zu berücksichtigen sind auch Leistungen, die dem Ausgleich eines materiellen Schadens dienen sollen, selbst wenn ein solcher im Einzelfall gar nicht entstanden ist (z.B. bei der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung für einen Schüler, der keinerlei Erwerbseinbußen erlitten hat75 oder beim Unfallausgleich nach § 35 BeamtVG76). Nicht zu berücksichtigen sind Vorteile, die der Empfang des Schmerzensgeldes dem Verletzen zusätzlich verschafft, z.B. die Möglichkeit zur vorzeitigen Tilgung eines Baudarlehens.77

33.25

5. Lebensumstände Die Lebensverkürzung als solche ist ebenso wie der Tod kein nach § 253 Abs. 2 BGB entschädigungsfähiger Umstand.78 Dennoch kann sich der Schmerzensgeldanspruch erhöhen, wenn der Unfall die Lebenserwartung des Verletzten herabgesetzt hat.79 Der Grund hierfür liegt in der psychischen Belastung durch das Wissen um diesen Umstand. Auf der anderen Seite ist

66 Ebenso wohl Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden 1990, S. 31 f.; a.A. OLG Schleswig v. 29.6.1989 – 16 U 201/88, NJW-RR 1990, 470 (mit verfehlten verfassungsrechtlichen Erwägungen); Lange/ Schiemann § 7 V 3; Geigel/Pardey Kap. 6 Rz. 39; wohl auch Ch. Huber NZV 2006, 173. 67 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 160. 68 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 166; BGH v. 1.2.1966 – VI ZR 24/65, VersR 1966, 561; BGH v. 16.2.1993 – VI ZR 29/92, NJW 1993, 1531; Füchsel VersR 1970, 16; Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden 1990, S. 32. 69 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 162. 70 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 165. 71 OLG Frankfurt v. 21.3.1990 – 7 U 126/88, VersR 1990, 1287 (ob diese Voraussetzung im konkreten Fall vorlag, erscheint allerdings fraglich; vgl. hierzu auch Wussow WJ 1990, 119). 72 BGH v. 21.3.1967 – VI ZR 172/65, VersR 1967, 607. 73 BGH v. 9.3.1982 – VI ZR 317/80, VersR 1982, 552. 74 Vgl. Hüffer VersR 1970, 211. 75 BGH v. 9.3.1982 – VI ZR 317/80, VersR 1982, 552. 76 OLG Hamm v. 16.3.1994 – 13 U 204/93, VersR 1994, 1356. 77 BGH v. 10.12.1985 – VI ZR 31/85, VersR 1986, 390. 78 BGH v. 12.5.1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, 394. 79 OLG Köln v. 9.3.1967 – 7 U 131/66, NJW 1967, 1968 mit Anm. Teplitzky.

Zwickel | 965

33.26

§ 33 Rz. 33.26 | Schmerzensgeld

aber auch die Dauer der Leidenszeit ein Bemessungsfaktor,80 auch in den Fällen, in denen der Verletzte ohne Wiedererlangung des Bewusstseins verstirbt81 (s. hierzu Rz. 33.10). Zu Recht wird in jüngerer Zeit gefordert, die Leidensdauer des Verletzten stärker in die Schmerzensgeldbemessung einzubeziehen.82

33.27

Das Alter des Verletzten ist für sich betrachtet noch kein aussagekräftiger Bemessungsfaktor für das Schmerzensgeld.83 Es kann, in Kombination mit den Kriterien „Dauer der Leidenszeit“ und „Verletzungsfolgen“, insofern eine Rolle spielen, als Dauerfolgen von einem in jungen Jahren Betroffenen im Allgemeinen länger ertragen werden müssen. Im hohen Alter können körperliche Behinderungen demgegenüber auch als besonders belastend empfunden werden, so dass ein genereller Altersabschlag nicht gerechtfertigt ist.84 Bei Zubilligung einer Rente lassen sich hier am ehesten gerechte Lösungen finden. Bedenklich erscheint es, den Umstand schmerzensgeldmindernd zu werten, dass das noch junge Opfer vier Jahre nach dem Unfall aus nicht unfallbedingten Gründen verstarb.85

33.28

Familiäre Auswirkungen können berücksichtigt werden, wenn sich feststellen lässt, dass Eheund Erziehungsprobleme ihren wesentlichen Grund in den Folgen der Unfallverletzungen haben.86

33.29

Wegen der Auswirkungen auf Freizeitgestaltung usw. s. oben Rz. 33.14.

6. Regulierungsverhalten 33.30

Auch das Regulierungsverhalten kann bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zugunsten des Verletzten berücksichtigt werden, so z.B. wenn der Schädiger oder sein Versicherer sich längere Zeit zu Unrecht weigert, einen Vorschuss auf die Ansprüche des Verletzten zu leisten,87 wenn er offenbar unbegründete Einwendungen aufrechterhält88 oder bei unstreitiger Haftung dem Grunde nach, eine Abschlagszahlung erst nach erstinstanzlicher Verurteilung geleistet wird;89 desgleichen die Tatsache, dass Kränkungen in den Schriftsätzen der Gegenseite enthalten sind,90 oder eine lange Prozessdauer, die nicht der Verletzte zu vertreten hat.91 Rechtfertigungsgrund für eine höhere Entschädigung ist in diesen Fällen, dass die Beeinträch-

80 Vgl. Lange/Schiemann § 7 V 3; s. auch OLG Karlsruhe v. 24.4.1987 – 10 U 219/86, VersR 1988, 60; OLG Oldenburg v. 27.6.1995 – 5 U 30/95, VersR 1996, 726. 81 BGH v. 12.5.1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388; OLG Koblenz v. 18.11.2002 – 12 U 566/01, NJW 2003, 442. 82 So auch Ch. Huber VersR 2016, 73, 77. 83 So aber Born NZV 2016, 545, 548. 84 Ebenso Lange/Schiemann § 7 V 3; Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden 1990, S. 29; LG Köln v. 7.7.1989 – 18 O 455/88, VersR 1990, 1129 mit Anm. Esser. 85 So OLG Düsseldorf v. 30.1.1989 – 1 U 29/88, VersR 1989, 1203. 86 OLG Köln v. 26.4.1995 – 2 U 161/94, VersR 1996, 726 = NZV 1995, 399. 87 BGH v. 2.12.1966 – VI ZR 88/66, VersR 1967, 256; BGH v. 12.7.1968 – VI ZR 134/67, VersR 1969, 134; OLG Nürnberg v. 22.12.2006 – 5 U 1921/06, NZV 2007, 301, 303. 88 OLG Nürnberg v. 25.4.1997 – 6 U 4215/96, VersR 1998, 731; OLG Naumburg v. 25.9.2001 – 9 U 121/00, NZV 2002, 459. 89 OLG Dresden v. 28.4.2017 – 6 U 1780/16, DAR 2017, 463. 90 BGH v. 23.6.1963 – VI ZR 90/63, VersR 1964, 1103. 91 OLG Dresden v. 28.4.2017 – 6 U 1780/16, DAR 2017, 463; OLG Celle v. 9.11.1967 – 5 U 93/67, NJW 1968, 1677.

966 | Zwickel

IV. Höhe und Art der Entschädigung | Rz. 33.35 § 33

tigungen des Verletzten durch dieses Verhalten verstärkt oder verlängert werden.92 Bei unklarer Sach- oder Rechtslage muss dem Schädiger und seinem Versicherer aber zugebilligt werden, dass sie vor einer Klärung nicht zu leisten brauchen.93 Zögerliche oder kleinliche Regulierung reicht daher noch nicht für eine Schmerzensgelderhöhung aus, wenn diese nicht vorwerfbar oder nachvollziehbar ist.94

7. Sonstiges Bei der Billigkeitshaftung nach § 829 BGB kommen Schmerzensgeldansprüche nur in krassen Ausnahmefällen und mit Nachrang gegenüber wichtigeren Ersatzansprüchen – etwa solchen, die den Lebensunterhalt des Geschädigten sichern sollen – in Betracht.95

33.31

Eine Bestrafung des Schädigers lässt die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes grundsätzlich nicht zurücktreten.96 Es ist auch genau zu prüfen, ob das Strafurteil dem Verletzten im Einzelfall wirklich eine ins Gewicht fallende Genugtuung zu verschaffen vermag.97

33.32

Ob der Geschädigte eine sinnvolle Verwendungsmöglichkeit für das Schmerzensgeld hat, ist kein zulässiger Bemessungsgesichtspunkt.98

33.33

Die Rechtslage im Heimatstaat eines ausländischen Geschädigten (d.h. ob und in welcher Höhe dort Schmerzensgeld gewährt wird), ist unerheblich.99

33.34

Zur davon zu unterscheidenden Frage der Kaufkraftparität s. Rz. 33.22.

IV. Höhe und Art der Entschädigung 1. Betrag a) Billigkeit Mit der Festlegung der Bemessungsfaktoren ist noch nichts über die Höhe des im Einzelfall zu zahlenden Schmerzensgelds gesagt. Das Gesetz spricht nur von „billiger Entschädigung“.

92 OLG Saarbrücken v. 3.12.2015 – 4 U 157/14, VersR 2017, 698, Schellenberg VersR 2006, 878 ff. 93 BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 83/04, NZV 2005, 629, 632; OLG Brandenburg v. 16.12.2014 – 12 U 65/12, VersR 2016, 671; KG v. 15.12.1969 – 12 U 1304/69, NJW 1970, 515; LG Köln v. 7.7.1989 – 18 O 455/88, VersR 1990, 1131 mit Anm. Esser; Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden 1990, S. 29. 94 OLG München v. 21.3.2014 – 10 U 1750/13, NZV 2014, 577; OLG Schleswig v. 29.11.2018 – 7 U 22/18, NJW-RR 2019, 347. 95 BGH v. 18.12.1979 – VI ZR 27/78, BGHZ 76, 282. S. auch Rz. 10.75 ff. 96 BGH v. 29.11.1994 – VI ZR 93/94, BGHZ 128, 117; Müller VersR 1994, 914; a.A. OLG Celle v. 12.6.1968 – 9 U 180/67, JZ 1970, 548 mit zust. Anm. Deutsch; OLG Düsseldorf v. 12.3.1974 – 4 U 120/73, NJW 1974, 1289; Lemcke-Schmalzl/Schmalzl MDR 1985, 273 m.w.N. 97 Vgl. OLG Celle v. 26.11.1992 – 5 U 245/91, VersR 1993, 976; LG Köln v. 7.7.1989 – 18 O 455/88, VersR 1990, 1129, 1130 mit Anm. Esser. 98 So BGH v. 15.1.1991 – VI ZR 163/90, VersR 1991, 350 gegen entsprechende Erwägungen des Berufungsgerichts bei einem Hochbetagten. 99 OLG Naumburg v. 23.12.2014 – 12 U 36/14, VersR 2016, 265; KG v. 23.4.2001 – 12 U 971/00, NZV 2002, 398; OLG Koblenz v. 15.10.2001 – 12 U 2123/98, NJW-RR 2002, 1030; Ch. Huber NZV 2006, 174 f.

Zwickel | 967

33.35

§ 33 Rz. 33.35 | Schmerzensgeld

Anerkanntermaßen hat der Richter bei der Bemessung der „billigen Entschädigung“ im Einzelfall einen weiten Ermessensspielraum;100 er muss sich allerdings an den Beträgen orientieren, die in anderen Fällen von der Rspr. zuerkannt worden sind.101 Die Praxis zieht Schmerzensgeldtabellen als Orientierungshilfen heran.102 Bei der Heranziehung von älteren Präjudizien ist nicht nur die Geldentwertung,103 sondern auch die in der Rspr. zu beobachtende, vom VGT 1996 befürwortete104 Tendenz zu höheren Beträgen bei gravierenden Verletzungen zu berücksichtigen.105 Die auf Tabellenbasis ermittelten Werte müssen daher nicht zwingend aktuell und repräsentativ sein. Es besteht keine formale Bindung an vergleichbare Entscheidungen.106 Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die Tabellen hauptsächlich auf die Schwere der Verletzung abstellen und sich in ihnen damit nicht alle maßgeblichen Bemessungsfaktoren wiederspiegeln.107 Erhebliche Abweichungen von den auf Basis früherer Entscheidungen gefundenen Beträgen muss der Richter begründen.108

b) Keine taggenaue Schmerzensgeldbemessung 33.36

Tagessatzsysteme oder mathematische Berechnungsmodelle zur taggenauen Schmerzensgeldbemessung,109 die nicht alle nach der oben geschilderten Rspr. maßgeblichen Faktoren einbeziehen können, sind de lege lata nicht zu verwenden.110 Sie beruhen auf teils willkürlichen Anknüpfungspunkten (z.B. Anknüpfung an bestimmte Prozentsätze des Bruttonationaleinkommens für die Errechnung des Tagesschmerzensgeldbetrages). Insbesondere spricht gegen den Einsatz einer taggenauen Schmerzensgeldbemessung aber die Tatsache, dass auch diese Systeme, wegen der gesetzlich geforderten Billigkeit des Schmerzensgeldes, eine „einzelfallbezogene Ergebniskorrektur“111 vorzunehmen haben.112 Auch der 52. VGT hat jede Formali-

100 Vgl. die empirische Untersuchung von Musielak VersR 1982, 613. 101 BGH v. 18.11.1969 – VI ZR 81/68, VersR 1970, 134, 136; LG Leipzig v. 26.6.2019 – 01 O 549/ 16, SVR 2020, 384. 102 Z.B. Jaeger/Luckey Schmerzensgeld; Hacks/Wellner/Häcker Schmerzensgeld-Beträge oder Slizyk Beck’sche Schmerzensgeld-Tabelle. Zum Nutzen von Tabellen s. Born NZV 2016, 545, 547; Ch. Huber VersR 2016, 73, 75; Luckey SVR 2014, 125. 103 Jaeger VersR 2019, 577; zur Umrechnung alter Tabellenwerte s. Geigel/Pardey Kap. 6 Rz. 55. 104 Berz NZV 1996, 102. 105 OLG Köln v. 5.6.1992 – 19 U 13/92, MDR 1992, 646. 106 BGH v. 18.11.1969 – VI ZR 81/68, VersR 1970, 134; OLG München v. 21.3.2014 – 10 U 1750/ 13, NZV 2014, 577; Born NZV 2016, 545. 107 Ähnlich Ch. Huber VersR 2016, 73, 78. 108 BGH v. 8.6.1976 – VI ZR 216/74, VersR 1976, 967, 968. 109 Für eine Darstellung der Methodik sowie eine Gegenüberstellung der Schmerzensgeldbeträge bei herkömmlicher und bei taggenauer Berechnung s. Lüttringhaus/Korch VersR 2019, 973; zum Meinungsstand s. Ernst/Lang VersR 2019, 1122. 110 Für ein solches Berechnungsmodell OLG Frankfurt v. 18.10.2018 – 22 U 97/16, NJW 2019, 442 = NZV 2019, 351 mit Anm. Slizyk; LG Magdeburg v. 7.2.2019 – 10 O 503/18; Schwintowski/Schah Sedi/Schah Sedi, Handbuch Schmerzensgeld 2013; Zarges ZfS 2019, 90; abgewandelt von: Bensalah/Hassel NJW 2019, 403; für Korrektur des Berechnungsmodells: Korch EWiR 2019, 143; wie hier gegen die taggenaue Schmerzensgeldbemessung: Wenker NZV 2014, 241, 242; Ernst/Lang VersR 2019, 1122; Luckey DAR 2019, 450; Luckey JR 2019, 311; Luckey NJW 2019, 3361; Wellner DAR 2020, 25, 26; Palandt/Grüneberg § 253 Rz. 15. 111 Bensalah/Hassel NJW 2019, 403. 112 Wie hier OLG Düsseldorf 28.3.2019 – 1 U 66/18, VersR 2019, 1165 mit Anm. Höher = NJW 2019, 2700 mit Anm. Korch; OLG Brandenburg v. 16.4.2019 – 3 U 8/18, DAR 2020, 25 mit

968 | Zwickel

IV. Höhe und Art der Entschädigung | Rz. 33.38 § 33

sierung der Schmerzensgeldbemessung sowie Änderungen des bisherigen Bemessungssystems abgelehnt.113

c) Ermessenskontrolle Nach Ansicht des BGH ist das Berufungsgericht entgegen den in § 513 Abs. 1, § 529 Abs. 1 ZPO zum Ausdruck kommenden Intentionen der ZPO-Reform nicht auf eine rechtliche Kontrolle der Ermessensausübung beschränkt, sondern berechtigt und verpflichtet, selbst bei vertretbarer Ermessensausübung des Erstrichters nach seinem eigenem Ermessen einen dem Einzelfall angemessenen Schmerzensgeldbetrag zu finden.114 Das Revisionsgericht kann dagegen einen Schmerzensgeldbetrag nicht deswegen beanstanden, weil er ihm als zu hoch oder zu niedrig erscheint. Seiner Aufhebung unterliegt ein Urteil nur bei rechtsfehlerhafter Ermessensausübung, insbesondere wenn es nicht den Anforderungen des § 287 ZPO entspricht. Es muss insbesondere das Bemühen um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Verletzungen unter Berücksichtigung aller für die Höhe des Schmerzensgeldes maßgeblichen Umstände erkennen lassen und darf nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen.115 Zur Überprüfung auf die Einhaltung dieser Grenzen hat der Tatrichter die tatsächlichen Grundlagen seiner Schätzung darzulegen; er darf auch nicht ohne ausreichende Darlegung erheblich von der Schmerzensgeldbemessung der ersten Instanz oder der eigenen Streitwertfestsetzung abweichen.116

33.37

d) Bewertung der Bemessungspraxis Vielfach werden, von einer ökonomischen, die Präventivfunktion des Schmerzensgeldes in den Vordergrund rückenden Betrachtungsweise ausgehend, die in der Bundesrepublik Deutschland zuerkannten Beträge – insbesondere bei schweren Körperverletzungen – als systematisch zu niedrig kritisiert.117 Ott/Schäfer118 etwa halten mindestens eine Verdreifachung für geboten, aber auch eine Verneunfachung noch für funktionsgerecht. Gegen eine solche Aufblähung des Schmerzensgeldvolumens, wie sie z.B. aus den USA bekannt ist, sind aber gewichtige Bedenken anzumelden.119 Ökonomische Kosten/Nutzen-Rechnungen erscheinen in einem Bereich, der ausschließlich von immateriellen Gütern handelt, fehl am Platze. Eine Kommerzialisierung von Schmerzen, Leid, Ärger und anderen immateriellen Beeinträchtigungen entspricht nicht deutscher Rechtstradition. Dementsprechend stoßen Berichte über Millionenentschädigungen an Unfallopfer in den USA hierzulande auf Unverständnis und Befremden.

113 114

115 116 117 118 119

Anm. Wellner; OLG Celle v. 26.6.2019 – 14 U 154/18, VersR 2019, 1157; KG v. 9.9.2019 – 22 U 35/18; OLG Oldenburg v. 18.3.2020 – 5 U 196/18, MDR 2020, 673. Empfehlung 52. VGT (2014), AK II. BGH v. 28.3.2006 – VI ZR 46/05, NJW 2006, 1589, 1592; OLG Köln v. 9.10.2007 – 15 U 105/07, VersR 2008, 364, 365 mit zust. Anm. Jaeger; a.A. zu Recht OLG Braunschweig v. 22.4.2004 – 1 U 55/03, VersR 2004, 924, 925; OLG Hamm v. 15.10.2004 – 9 U 116/04, VersR 2006, 134, 135. BGH v. 13.1.1981 – VI ZR 180/79, BGHZ 80, 8; BGH v. 15.1.1991 – VI ZR 163/90, NZV 1991, 150; Lemcke-Schmalzl/Schmalzl MDR 1985, 362. BGH v. 24.5.1988 – VI ZR 159/87, VersR 1988, 943. Jaeger VersR 2019, 577; Höke NZV 2014,1; Ott/Schäfer JZ 1990, 563; Slizyk SVR 2014, 10; Empfehlung 52. VGT (2014), AK II. Ott/Schäfer JZ 1990, 563 ff. Ebenso Scheffen NZV 1994, 420; Deutsch NJW 1993, 781, 784; gegen den Trend zu immer noch höheren Schmerzensgeldern Ch. Huber VersR 2016, 73, 77.

Zwickel | 969

33.38

§ 33 Rz. 33.38 | Schmerzensgeld

Zudem kommen derart hohe Leistungen ohnehin nur dort in Betracht, wo hinter dem Schädiger ein Versicherer oder der Staat steht. Dies würde nicht nur zu einer beträchtlichen Erhöhung der Kfz-Haftpflichtversicherungsprämien führen,120 sondern auch die Schere zwischen dem Schmerzensgeldniveau in versicherten Schadensfällen und jenem in nicht versicherten Fällen in einem Maße auseinandergehen lassen, welches mit dem Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz nicht mehr vereinbar wäre. Als „billig“ i.S.d. § 253 Abs. 2 BGB sollte daher auch künftig die Entschädigung angesehen werden, die sich in dem durch die st. Rspr. gebildeten Rahmen (unter Berücksichtigung der Geldwertentwicklung in der aktuellen Niedrigzinsphase)121 bewegt. Letztlich muss man sich mit der Erkenntnis abfinden, dass eine echte Kompensation von Leid durch Geld ohnehin nicht möglich ist.

33.39

Zu Recht wird aber die hierzulande bestehende Schieflage zwischen dem ausufernden Ersatz von Sachschäden und der restriktiven Entschädigung bei immateriellen Folgen von Personenschäden kritisiert.122

2. Mehrheit von Schädigern 33.40

Da die billige Entschädigung nicht an einem feststehenden Schaden, sondern an den individuellen Verhältnissen auszurichten ist (Rz. 33.3), muss der Anspruch im Verhältnis zu jedem einzelnen Schädiger gesondert bemessen werden; eine Quotelung wie beim Vermögensschaden ist hier nicht möglich. Bis zu dem Betrag, in dessen Höhe alle Schädiger haften, besteht Gesamtschuldnerschaft, für den überschießenden Betrag Einzelhaftung dessen, der die höhere Entschädigung schuldet.123

3. Form der Ersatzleistung a) Kapital oder Rente 33.41

Das Schmerzensgeld wird i.d.R. in Form eines Kapitalbetrags zugesprochen, kann, in Ausnahmefällen, aber auch in Rentenform zugebilligt werden.124 Dies kommt insbesondere bei Dauerschäden in Betracht, so z.B. beim Verlust von Gliedmaßen oder wichtigen Körperfunktionen,125 bei Verlust des Augenlichts,126 des Geruchssinns,127 bei Ertauben,128 Hirnschäden,129 fortwährendem Schmerzempfinden,130 Wegfall der Zeugungsfähigkeit oder Beein-

120 So auch Ott-Schäfer JZ 1990, 573. Auf Schmerzensgelder entfielen 1978/80 8,2 % der Schadensaufwendungen der Kfz-Haftpflichtversicherer (Küppersbusch VersR 1982, 619), 1999 6,4 % (Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 9. Aufl. 2001, Rz. 511). 121 Jaeger VersR 2019, 577. 122 Vgl. Höke NZV 2014,1; v. Bar FS Deutsch 1999, S. 27 ff. mit Überblick über die Bemessungspraxis in einzelnen europäischen Staaten; Ziegler/Hartwig VersR 2012, 1364. 123 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 164; vgl. auch BGH v. 18.6.1973 – III ZR 207/71, BGHZ 61, 101, 110. 124 Eingehend hierzu mit Betonung des Ausnahmecharakters Notthoff VersR 2003, 966 ff. 125 OLG Nürnberg VersR 1964, 1179. 126 BGH v. 11.12.1956 – VI ZR 286/55, VersR 1957, 66; OLG Stuttgart v. 10.9.1982 – 2 U 39/82, VersR 1983, 470. 127 OLG Frankfurt v. 25.2.1986 – 8 U 87/85, VersR 1987, 1140. 128 OLG Stuttgart VersR 1961, 956. 129 BGH v. 2.2.1968 – VI ZR 167/66, VersR 1968, 475; OLG Hamm v. 9.2.1989 – 6 U 451/86, VersR 1990, 865; OLG Hamm v. 27.9.1989 – 13 U 49/87, NZV 1990, 469. 130 OLG Frankfurt v. 21.2.1991 – 12 U 42/90, VersR 1992, 621.

970 | Zwickel

IV. Höhe und Art der Entschädigung | Rz. 33.44 § 33

trächtigung der Gehfähigkeit.131 Die Leistung des Schmerzensgeldes als Rente ist auch dann erwägenswert, wenn der Schädiger wegen seiner schlechten Vermögensverhältnisse einen Einmalbetrag in angemessener Höhe nicht zu leisten vermag132 oder der Verletzte wegen hohen Alters nur noch eine geringe Lebenserwartung hat.133 Hingegen darf es nicht Zweck einer Schmerzensgeldrente sein, den Geldwertschwund aufzufangen, der dem normalerweise geschuldeten Kapital anhaftet.134 Es können auch Kapital und Rente nebeneinander zugesprochen werden.135 Auch diese Entscheidung liegt im Ermessen des Tatrichters.136 Er hat darüber zu befinden, welche Form der Entschädigung (Kapital oder Rente oder beides) dem Einzelfall am besten gerecht wird.137 Auch wenn wegen eines Dauerschadens in erster Linie eine Rente in Frage käme, kann der Richter in geeigneten Fällen eine Kapitalsumme zusprechen.138 Auch dann, wenn mit der Klage nur ein Kapitalbetrag verlangt ist, kann das Gericht eine Rente zusprechen, wenn dies der Billigkeit entspricht und die Höhe des Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts gestellt worden ist.139

33.42

Die Höhe der Rente muss (nach Kapitalisierungsgrundsätzen)140 in einem ausgewogenen Verhältnis zum angemessenen Kapitalbetrag stehen.141 Insgesamt darf sich durch eine (ggf. zusätzliche) Rente kein höherer Schmerzensgeldbetrag ergeben.142 Zeitliche Staffelung ist möglich. Sie wird insbesondere bei Kindern den Verhältnissen am besten gerecht. Eine Dynamisierung ist jedoch mit dem Wesen der Schmerzensgeldrente nicht vereinbar.143

33.43

Für die Einkommensteuer spielt die Form der Ersatzleistung keine Rolle mehr, da die Rspr. des BFH144 zur Steuerfreiheit der Mehrbedarfsrenten nach § 843 Abs. 1 BGB ihrem Rechtsgedanken nach auf die Schmerzensgeldrente übertragbar ist.145

33.44

131 BGH v. 2.2.1968 – VI ZR 167/66, VersR 1961, 460; OLG Frankfurt v. 11.11.1982 – 3 U 13/80, VersR 1983, 545. 132 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 167. 133 BGH v. 15.1.1991 – VI ZR 163/90, VersR 1991, 350. 134 Lemcke-Schmalzl/Schmalz MDR 1985, 277. 135 BGH v. 30.5.1958 – VI ZR 125/57, VersR 1958, 530; BGH v. 13.3.1959 – VI ZR 72/58, VersR 1959, 458. 136 BGH v. 11.12.1956 – VI ZR 286/55, VersR 1957, 66. 137 BGH v. 2.2.1968 – VI ZR 167/66, VersR 1968, 475; BGH v. 14.5.1968 – VI ZR 7/67, VersR 1968, 946. 138 OLG München v. 23.1.2020 – 1 U 2237/17, VersR 2020, 1191. 139 Lepa Schmerzensgeld, Mitverschulden 1990, S. 51 f. a.A. OLG Schleswig v. 9.1.1991 – 9 U 40/ 89, VersR 1992, 462, 463; offenlassend BGH v. 21.7.1998 – VI ZR 276/97, VersR 1998, 1565, 1566, wo jedenfalls für das Berufungsgericht eine solche Befugnis verneint wird; dazu eingehend Diederichsen VersR 2005, 441. 140 S. hierzu ausführlich Bachmeier SVR 2019, 10. 141 BGH v. 18.11.1969 – VI ZR 81/68, VersR 1970, 134; OLG Hamm v. 11.9.2002 – 9 W 7/02, NZV 2003, 192 u OLG Hamm v. 27.9.1989 – 13 U 49/87, NZV 1990, 469 mit Darstellung des Rechengangs; Notthoff VersR 2003, 969; Diederichsen VersR 2005, 441. 142 Heß/Burmann NJW-Spezial 2012, 265. 143 BGH v. 3.7.1973 – VI ZR 60/72, VersR 1973, 1067; Notthoff VersR 2003, 969; für Dynamisierung Jaeger VersR 2009, 159. 144 BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, NJW 1995, 1238. Zur früher abweichenden Rspr. s. RFH RStBl. 1933, 133; a.A. OLG Nürnberg v. 24.1.2020 – 5 U 964/19, NJW-RR 2020, 722. 145 So auch BMF-Schreiben BStBl. I 1995, 705 f.

Zwickel | 971

§ 33 Rz. 33.45 | Schmerzensgeld

b) Teilschmerzensgeld 33.45

Ein Teilschmerzensgeld für bestimmte Verletzungsfolgen oder einen bestimmten Zeitraum kann wegen der Einheitlichkeit des Anspruchs grundsätzlich nicht zugesprochen werden.146 Die Beschränkung auf Folgen, die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung erkennbar und berücksichtigungsfähig sind, folgt bereits aus dem Umfang der Rechtskraft, so dass es nicht nötig ist, den Klageantrag entsprechend zu beschränken.147 Vom Teilschmerzensgeld zu unterscheiden ist die Erhebung einer Teilklage, mit der ein bezifferter Teil des Gesamtbetrags geltend gemacht wird .

c) Zinsen 33.46

Das Schmerzensgeld ist auch dann ab Rechtshängigkeit zu verzinsen (§ 291 BGB), wenn der Verletzte die Höhe des Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts gestellt hat.148

V. Verfahrensrechtliche Besonderheiten 33.47

Zu den verfahrensrechtlichen Besonderheiten des Schmerzensgeldes s. Rz. 40.44.

146 OLG Düsseldorf v. 3.7.1995 – 1 U 134/94, VersR 1996, 984; OLG Hamm v. 11.2.2000 – 9 U 204/99, VersR 2001, 1386. Bedenklich die Begründung des Nichtannahmebeschlusses BGH v. 9.12.1997 – VI ZR 155/97, NZV 1998, 372, wonach verschiedene Unfallfolgen verschiedene Streitgegenstände darstellen sollen. 147 Vgl. BGH v. 20.1.2004 – VI ZR 70/03, NZV 2004, 240, 241. Für zumindest konkludente Ausklammerung der Zukunftsschäden durch Feststellungsantrag v. Gerlach VersR 2000, 530 f. 148 BGH v. 15.1.1965 – Ib ZR 44/63, NJW 1965, 1374, 1376; KG v. 29.6.1970 – 12 U 1591/69, VersR 1972, 281.

972 | Zwickel

§ 34 Rentenleistungen

I. II. 1. 2. a) b) c) d) e) f) g) III. 1. 2. 3. 4. IV.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zukunftsschäden . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitlicher Anwendungsbereich . . . . . Ausnahmsweise Kapitalabfindung . . Wichtiger Grund . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitpunkt der Wahl . . . . . . . . . . . . . . Prozessuale Fragen . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtgläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . Abfindende Wirkung . . . . . . . . . . . . . Berechnung der Kapitalabfindung . . Steuerliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . Bereits entstandene Schäden . . . . . . Wahlrecht des Geschädigten . . . . . . . Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forderungsübergang . . . . . . . . . . . . . Prozessuale Fragen . . . . . . . . . . . . . . . Einzelheiten der Rentengewährung

34.1 34.4 34.4 34.5 34.5 34.7 34.8 34.9 34.10 34.11 34.12 34.13 34.13 34.18 34.20 34.21 34.22

1. Inhalt und Bemessung des Rentenanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorauszahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sicherheitsleistung . . . . . . . . . . . . . . . V. Prozessrechtliche Fragen . . . . . . . . . 1. Grundurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitbestimmung im Urteil . . . . . . . . . 3. Bindung an Anträge . . . . . . . . . . . . . 4. Abänderungsklage . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . b) Erhöhung der Rente . . . . . . . . . . . . . c) Kapital statt Rente . . . . . . . . . . . . . . . d) Rente nach Kapitalabfindung . . . . . . e) Rente nach Klageabweisung . . . . . . . f) Herabsetzung der Rente . . . . . . . . . . g) Klagebefugnis bei Legalzession . . . . .

34.22 34.23 34.24 34.26 34.26 34.27 34.28 34.29 34.29 34.31 34.32 34.33 34.34 34.35 34.36

§ 13 StVG (1) Der Schadensersatz wegen Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit und wegen Vermehrung der Bedürfnisse des Verletzten sowie der nach § 10 Abs. 2 einem Dritten zu gewährende Schadensersatz ist für die Zukunft durch Entrichtung einer Geldrente zu leisten. (2) Die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 des Bürgerlichen Gesetzbuchs finden entsprechende Anwendung. (3) Ist bei der Verurteilung des Verpflichteten zur Entrichtung einer Geldrente nicht auf Sicherheitsleistung erkannt worden, so kann der Berechtigte gleichwohl Sicherheitsleistung verlangen, wenn die Vermögensverhältnisse des Verpflichteten sich erheblich verschlechtert haben; unter der gleichen Voraussetzung kann er eine Erhöhung der in dem Urteil bestimmten Sicherheit verlangen. § 8 HaftPflG (1) Der Schadensersatz wegen Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit und wegen Vermehrung der Bedürfnisse des Verletzten sowie der nach § 5 Abs. 2 einem Dritten zu gewährende Schadensersatz ist für die Zukunft durch Entrichtung einer Geldrente zu leisten. (2) Die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 des Bürgerlichen Gesetzbuchs finden entsprechende Anwendung. (3) Ist bei der Verurteilung des Verpflichteten zur Entrichtung einer Geldrente nicht auf Sicherheitsleistung erkannt worden, so kann der Berechtigte gleichwohl Sicherheitsleistung verlangen, wenn die Vermögensverhältnisse des Verpflichteten sich erheblich verschlechtert haben; unter der gleichen Voraussetzung kann er eine Erhöhung der in dem Urteile bestimmten Sicherheit verlangen.

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§ 34 Rz. 34.1 | Rentenleistungen § 843 BGB Abdruck vor Rz. 32.1

I. Überblick 34.1

Für bestimmte Ansprüche aus Personenschäden ist bestimmt, dass diese im Regelfall nicht durch Kapitalabfindung, sondern durch Zahlung einer Rente zu befriedigen sind. Im Einzelnen handelt es sich um – den Ersatz für Verdienstausfall und Vermehrung der Bedürfnisse bei Körperverletzungen (§ 843 BGB, § 11 S. 1 i.V.m. § 13 StVG, § 6 S. 1 i.V.m. § 8 HaftPflG) – den Ersatz für entgehenden Unterhalt bei Tötung (§ 844 Abs. 2 BGB, § 10 Abs. 2 i.V.m. § 13 StVG, § 5 Abs. 2 i.V.m. § 8 HaftPflG). Durch diese Regelung soll sichergestellt werden, dass dem Geschädigten die für die künftige Lebensführung erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, was bei Auszahlung eines Kapitalbetrags wegen möglicher Geldentwertung oder Fehldispositionen nicht gewährleistet ist. Die Kapitalabfindung soll die Ausnahme sein, die der Geschädigte nur bei wichtigem Grund, der Schädiger überhaupt nicht soll herbeiführen können. Aufgrund der Vertragsfreiheit können die Beteiligten eine Kapitalisierung aber einvernehmlich vornehmen. Hiervon wird in der Praxis überwiegend Gebrauch gemacht.1 Allerdings kann der Schädiger in keinem Fall verlangen, dass sich der Verletzte mit einer einmaligen Zahlung abfinden lässt. Auch Treu und Glauben (§ 242 BGB) können den Verletzten nicht zwingen, sich abfinden zu lassen. Wegen Einzelheiten zum Abfindungsvergleich s. Rz. 16.58 ff.

34.2

Die Festlegung auf die Rentenform ist bei Ansprüchen aus Gefährdungshaftung (anders als im Deliktsrecht, § 843 Abs. 1, 3, § 844 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BGB) auf Zukunftsschäden begrenzt (§ 13 Abs. 1 StVG, § 8 Abs. 1 HaftPflG). Dadurch wird die Rentenform bzgl. bereits eingetretener Schäden aber nicht ausgeschlossen (vgl. zum hier bestehenden Wahlrecht des Geschädigten Rz. 34.13 ff.).

34.3

Wegen der Möglichkeit, auch Schmerzensgeld in Rentenform zu leisten, und der hierfür von der Rspr. entwickelten Grundsätze s. Rz. 33.41 ff.

II. Zukunftsschäden 1. Zeitlicher Anwendungsbereich 34.4

Der Zeitpunkt, von dem an nach § 13 Abs. 1 StVG, § 8 Abs. 1 HaftPflG grundsätzlich nur eine Geldrente, nicht aber die Kapitalabfindung gefordert werden kann, ist im Rechtsstreit der der mündlichen Verhandlung.2 Dies gilt auch bei der Geltendmachung von Ansprüchen

1 Vgl. Jaeger VersR 2006, 597; Car/Mittelstädt VersR 2018, 1477. 2 BGH v. 13.7.1972 – III ZR 107/69, BGHZ 59, 187; BGH v. 13.7.1972 – III ZR 5/69, VersR 1972, 1030.

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II. Zukunftsschäden | Rz. 34.7 § 34

nach dem NTS; hier ist nicht etwa auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Amtes für Verteidigungslasten abzustellen.3

2. Ausnahmsweise Kapitalabfindung a) Wichtiger Grund Nach § 13 Abs. 2 StVG i.V.m. § 843 Abs. 3 BGB kann der Verletzte bei Vorliegen eines wichtigen Grundes eine Kapitalabfindung statt der Rente verlangen.4 Ein wichtiger Grund ist z.B. gegeben, wenn zu erwarten ist, dass der Wegfall der Rente einen günstigen Einfluss auf den psychischen Zustand des Verletzten haben und er sich, z.B. durch Selbständigkeit, wieder ins Erwerbsleben eingliedern wird (Sphäre des Geschädigten)5 oder der Schuldner möglicherweise mit den Zahlungen ausfällt (Sphäre des Schädigers).6 Maßgeblich für die Beurteilung ist die Sichtweise des Geschädigten.7 Wenn bei den Ansprüchen gegen mehrere Schädiger die Frage entsteht, ob Kapitalabfindung statt Rente gefordert werden kann, gegen einen der Schädiger aber dahin beantwortet worden ist, dass Kapitalabfindung zu gewähren ist, wird dies i.d.R. ein wichtiger Grund sein, auch gegen die anderen Schuldner einen gleichen Anspruch zuzulassen. Wird gleichzeitig entschieden, so sind die Verhältnisse aller Beteiligten zu berücksichtigen.8

34.5

Ob es als wichtiger Grund genügt, dass der Verletzte die Abfindung zur Gründung oder zur Übernahme eines Erwerbsgeschäftes begehrt, erscheint fraglich; jedenfalls sind die Aussichten für einen erfolgreichen Betrieb des Geschäfts sorgfältig zu prüfen.9 Es kann auch angebracht sein, auf einen entsprechenden Klageantrag die Kapitalabfindung nur für einige Jahre zuzuerkennen und von einem späteren Zeitpunkt an eine Rente zuzusprechen.10 Schließlich liegt ein wichtiger Grund für eine Kapitalabfindung vor, wenn die Durchsetzung künftiger Ansprüche auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde, wie z.B. bei einem im Ausland lebenden oder nicht haftpflichtversicherten Schädiger. Dem Ersatzpflichtigen steht kein Recht zu, Kapitalabfindung zu wählen.11

34.6

b) Zeitpunkt der Wahl Der Geschädigte kann das Wahlrecht zugunsten eines Kapitalbetrags auch dann noch ausüben, wenn er vorher bereits Rentenleistungen erhalten hat; deren evtl. Anrechnung bleibt der Kapitalisierung, d.h. der Festsetzung des Abfindungsbetrages, vorbehalten.12

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

BGH v. 13.7.1972 – III ZR 5/69, 1972, 1030; BGH v. 21.1.1974 – III ZR 17/72, VersR 1974, 550. S. hierzu Jaeger VersR 2006, 598 f. m.w.N. RG v. 23.5.1910 – VI 452/09, RGZ 73, 418. MünchKomm-BGB/Wagner § 843 Rz. 84; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Spindler § 843 Rz. 32; Staudinger/Vieweg § 843 Rz. 35; Schwintowski VersR 2010, 149. Schwintowski VersR 2010, 149 (auch zu Ausnahmen von diesem Grundsatz). Nach RG v. 27.5.1908 – VI ZR 328/07, RGZ 68, 430 ist eine Differenzierung bei mehreren Schädigern sogar unzulässig. Vgl. RG JW 1933, 840. RG Recht 1917, Nr. 1631. A.A. Schlund VersR 1981, 403. RG Recht 1917, Nr. 1631; 1923, Nr. 37; BGH v. 19.5.1981 – VI ZR 108/79, NJW 1982, 758.

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34.7

§ 34 Rz. 34.8 | Rentenleistungen

c) Prozessuale Fragen 34.8

Bei schwer bezifferbaren Rentenbeträgen genügt der Kläger dem Gebot der Bestimmtheit des Klageantrags, wenn er in der Klagebegründung die Berechnungsgrundlagen mitteilt.13 Fordert der Verletzte eine Kapitalabfindung, so darf ihm das Gericht nicht stattdessen eine Rente zusprechen.14 Dem Risiko, mit der Klage abgewiesen zu werden, wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, es liege kein triftiger Grund für eine Kapitalabfindung vor, begegnet der Kläger zweckmäßig dadurch, dass er eine Rente mit einem Hilfsantrag fordert.15 Im Übrigen hat das Gericht, wenn kein solcher Hilfsantrag gestellt ist, die Pflicht, den Kläger, ehe es die Klage abweist, darauf aufmerksam zu machen, dass er mit einem Anspruch auf Rente durchdringen könnte, und ihm Gelegenheit zur Umstellung des Klageantrags zu geben. Eine solche Umstellung ist keine Klageänderung, ebenso wenig wie die Umstellung des Klageantrags von Rente auf Kapitalabfindung. Überhaupt handelt es sich i.S.d. Prozessrechts (Rechtshängigkeit) und der Verjährung nicht um verschiedene Ansprüche.16 Ob ein wichtiger Grund vorliegt, der den Verletzten berechtigt, eine Kapitalabfindung zu verlangen, entscheidet der Richter nach pflichtgemäßem Ermessen. Das Revisionsgericht kann nur überprüfen, ob die maßgebenden Grundsätze beachtet wurden.17

d) Gesamtgläubiger 34.9

Sind mehrere Sozialversicherungsträger (vgl. dazu Rz. 35.93) bzw. ein Sozialversicherungsträger mit einem Versorgungsträger oder Dienstherrn (vgl. dazu Rz. 35.94) aufgrund Forderungsübergangs Gesamtgläubiger geworden, so muss die Erklärung, dass eine Kapitalabfindung gefordert werde, von allen Gläubigern gemeinsam abgegeben werden.18

e) Abfindende Wirkung 34.10

Abfindende Wirkung hat die Zahlung des Kapitals hinsichtlich der Ansprüche wegen Vermehrung der Bedürfnisse und wegen Verdienstausfalls sowie bei Ansprüchen Hinterbliebener hinsichtlich des Ersatzanspruchs wegen Wegfalls der Unterhaltsleistungen des Getöteten. Die abfindende Wirkung tritt mit Rechtskraft des Urteils oder des gerichtlichen Vergleichs ein, auch wenn der Verletzte oder Hinterbliebene nicht ausdrücklich auf die Geltendmachung künftiger Ansprüche verzichtet.19 Eine spätere Abänderung des Abfindungsbetrags (entsprechend § 323 ZPO) ist nicht möglich.20

f) Berechnung der Kapitalabfindung 34.11

Bei der Berechnung der Kapitalabfindung ist von der mutmaßlichen Dauer der Rentenzahlungspflicht auszugehen.21 Diese kann bei Erwerbsschadensrenten durch die ErwerbsfähigBGH v. 13.12.1951 – III ZR 144/50, BGHZ 4, 138, 141. RG v. 16.6.1932 – VI 66/32, RGZ 136, 375; vgl. auch RG v. 3.2.1925 – VI 276/24, RGZ 110, 150. RG v. 16.6.1932 – VI 66/32, RGZ 136, 375. RG v. 10.7.1911 – VI 373/10, RGZ 77, 216. RG JW 1933, 840. BGH v. 13.7.1972 – III ZR 107/69, VersR 1972, 1017; BGH v. 13.7.1972 – III ZR 5/69, VersR 1972, 1029. 19 RG v. 23.5.1910 – VI 452/09, RGZ 73, 418, 420. 20 BGH v. 8.1.1981 – VI ZR 128/79, BGHZ 79, 187; 19. VGT (1981), 10. 21 Zur Prognoseproblematik Jaeger VersR 2006, 599 f. Näher zu Zeitrenten Langenick/Vatter NZV 2005, 10 ff.; Jaeger VersR 2006, 600.

13 14 15 16 17 18

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II. Zukunftsschäden | Rz. 34.12 § 34

keit,22 bei Unterhaltsrenten durch die Lebenserwartung des Gläubigers bestimmt werden. Die Lebenserwartung wird festgestellt anhand der vom Statistischen Bundesamt errechneten „Allgemeinen Deutschen Sterbetafeln“,23 bei Ausländern der entsprechenden Tabellen des Heimatlandes. Besondere persönliche Umstände sind zu berücksichtigen (z.B. Krankheit, gefährlicher Beruf). Dem Umstand, dass die Kapitalabfindung dem Verletzten, verglichen mit der Rente, einen Zinsgewinn bringt, ist durch Berücksichtigung einer angemessenen Verzinsung Rechnung zu tragen. Der BGH hat 1981 einen Abzinsungssatz von 5 bis 5,5 % als üblich bezeichnet;24 ob die seither zu verzeichnende Entwicklung auf dem Kapitalmarkt eine Herabsetzung verlangt, ist hoch streitig.25 Je nach Art der Rente muss sich in dem Kapitalisierungsfaktor auch die Entwicklung der Kaufkraft bzw. die Dynamik des Renten- oder Gehaltsniveaus niederschlagen.26 Alle Berechnungen sind letztlich spekulativ, was für eine Orientierung an dem langfristig angemessen erscheinenden Satz von 5 % sprechen könnte.27 Zu Reformüberlegungen des § 843 BGB s. Nehls DAR 2007, 444 u. Staudinger/Vieweg § 843 Rz. 39. Gegen Gesetzesänderung Car/Mittelstädt VersR 2018, 1477.

g) Steuerliche Fragen Es ist zu berücksichtigen, dass bei der Kapitalabfindung, soweit der Schadensersatzanspruch auf einer Minderung oder auf dem Wegfall der Erwerbsfähigkeit beruht, eine Ersparnis an Einkommensteuer eintritt. Während die Rente in diesem Fall nach § 24 Nr. 1 lit. a EStG ebenso versteuert werden muss wie das entgangene Arbeitseinkommen (Rz. 32.86), besteht zwar für die Abfindungssumme ebenfalls eine Steuerpflicht,28 die Steuer ist aber zu dem ermäßigten Satz des § 34 Abs. 1 EStG zu berechnen.29 Dies beruht darauf, dass eine Abfindung zu den außerordentlichen Einkünften (§ 34 EStG) zählt, weil die Entschädigung an die Stelle von entgehenden Einnahmen mehrerer Jahre tritt.30 Eine Rente wegen Vermehrung der Bedürfnisse unterliegt – ebenso wie eine diesbezügliche Kapitalabfindung – der Einkommensteuer nicht, da sie dem Ausgleich einer Verletzung höchstpersönlicher Güter dient und es sich lediglich um durchlaufendes Geld handelt.31

22 Zum voraussichtlichen Eintritt in den Ruhestand und zur Wiederverheiratungschance s. Schlund VersR 1981, 404. 23 BGH v. 8.1.1981 – VI ZR 128/79, BGHZ 79, 187; die auf dieser Grundlage errechneten Kapitalisierungstabellen sind z.B. abgedruckt bei Küppersbusch/Höher S. 315 ff. und Arnau VersR 2001, 953 ff.; hierzu auch Schlund/Schneider VersR 1976, 812. 24 BGH v. 8.1.1981 – VI ZR 128/79, BGHZ 79, 187, 197. 25 S. nur Lang VersR 2005, 894 ff.; Schneider/Schneider NZV 2005, 497 ff.; Jaeger VersR 2006, 601 ff. und Nehls DAR 2007, 444 je m.w.N. Aus der Rspr. LG Köln v. 9.2.2005 – 25 O 649/03, VersR 2005, 710 mit Anm. Kornes. 26 Hierzu Nehls VersR 1981, 286, 407; eingehend m.w.N. Jaeger VersR 2006, 603; abl. Küppersbusch/Höher Rz. 875. 27 In diesem Sinn auch Schneider/Schneider NZV 2005, 503 mit Verweis auf die jahrzehntelange Rspr. der OLG; s. dazu Lang VersR 2005, 894 m.w.N. Ohne Festlegung die Empfehlung des VGT 2005 (AK III), NZV 2005, 133. 28 BFH v. 12.9.1985 – VIII R 306/81, BFHE 145, 320. 29 Vgl. BFH BStBl. 1960, III 72; OLG München VersR 1958, 249; so für die neue Rechtslage auch Freymann DAR 2016, 246; Luckey NZV 2019, 9; Scholten NJW 2018, 1302. 30 Schick NJW 1967, 963. 31 BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, NJW 1995, 1238; Schick NJW 1967, 963.

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34.12

§ 34 Rz. 34.13 | Rentenleistungen

III. Bereits entstandene Schäden 1. Wahlrecht des Geschädigten 34.13

Die grundsätzliche Festlegung auf Rente statt Kapital gilt bei Ansprüchen aus StVG und HaftPflG nur für den Zukunftsschaden (vgl. Rz. 34.2, Rz. 34.4). Bei vergangenheitsbezogenen Ansprüchen aus Gefährdungshaftung hat der Verletzte bzw. Hinterbliebene daher die Wahl, den Verdienstausfall und den Schaden durch Vermehrung der Bedürfnisse als Rente zu verlangen oder in Kapitalform geltend zu machen.32 Zum Zeitpunkt der Ausübung der Wahl vgl. Rz. 34.7.

34.14

§ 9 HaftPflG ermöglicht Renten bis zur Höchstgrenze von 36.000 € und einen Kapitalbetrag bis zu 600.000 €. Für den Verletzten ist bei kurzfristigen hohen Schäden die Kapitalzahlung günstiger, während bei einer längeren Laufzeit die Rentenzahlung günstiger ist.33

34.15

Durch den Wegfall unterschiedlicher Haftungshöchstsummen für Kapital und Rente in § 12 StVG (s. Rz. 23.14) ist die Rente in Kapital umzurechnen (s. Rz. 23.27). Der Kapitalwert der Rente wird sodann auf die Haftungshöchstsumme des § 12 StVG angerechnet.

34.16

Für die Haftung aus Delikt gilt auch in Bezug auf bereits entstandene Schäden, dass Kapital statt Rente nur aus wichtigem Grund (Rz. 34.5 f.) beansprucht werden kann (Rz. 34.2; s. auch Rz. 32.39). Haftungshöchstsummen finden bei (auch) deliktischer Haftung keine Anwendung.34

34.17

Der BGH35 hat sogar die Geltendmachung von Heilungskosten für die Vergangenheit als Rente zugelassen. Es gibt kein gesetzliches Verbot, Schadensersatz für andere als die in § 13 StVG bezeichneten Schäden in Rentenform zu fordern.36 Vielmehr erlaubt diese Ausnahmeregelung, die in bestimmten Fällen die Forderung von Kapital verbietet, keine Umkehrung.

2. Auswirkungen 34.18

Wählt der Verletzte oder Hinterbliebene in Fällen des § 9 HaftPflG für die Vergangenheit die Rente, so hat er den Vorteil, in Zukunft die Rente (ohne zeitliche Beschränkung) bis zum ungekürzten jährlichen Höchstbetrag von 36.000 € zu erhalten; dagegen wird die Rente für die Zukunft in der in Rz. 23.27 angegebenen Weise gekürzt, wenn für die Vergangenheit ein Kapitalbetrag gefordert wird. Im Allgemeinen wird der Verletzte für die Vergangenheit den Kapitalbetrag wählen, wenn ihm für die Zukunft nur geringe Ersatzansprüche zustehen, für die Vergangenheit aber sehr hohe, während er sich für die Vergangenheit die Rente nachzahlen lassen wird, wenn er für die Zukunft hohe Rentenansprüche geltend machen will.

34.19

In Fällen des § 12 StVG erfolgt in jedem Fall eine Anrechnung des Kapitalwertes der Rente (§ 12 Abs. 1 StVG). Unterschiedliche Auswirkungen einer Wahl von Rente oder Kapitalabfindung für die Vergangenheit ergeben sich i.R.d. § 12 StVG nicht mehr.37

32 33 34 35 36 37

BGH v. 13.7.1972 – III ZR 107/69, BGHZ 59, 187, 188. BGH v. 13.7.1972 – III ZR 107/69, BGHZ 59, 187, 188. OLG Celle v. 16.5.2007 – 14 U 56/06, SVR 2008, 219 mit Anm. Jokisch. BGH v. 24.3.1964 – VI ZR 12/63, VersR 1964, 777. RG v. 10.7.1915 – I 276/14, RGZ 86, 424, 431. Zur früheren Rechtslage 4. Aufl., § 31 Rz. 15.

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IV. Einzelheiten der Rentengewährung | Rz. 34.23 § 34

3. Forderungsübergang Hat ein Sozialversicherer dem Verletzten oder Hinterbliebenen Rentenleistungen gewährt und sind in Höhe dieser Leistungen die Ansprüche gem. § 116 SGB X auf den Sozialversicherungsträger übergegangen (vgl. dazu Rz. 35.41 f.), so kann der Verletzte für die Vergangenheit nicht mehr wählen, ob hierfür Rente oder ein Kapitalbetrag übergegangen ist; der Übergang ist vielmehr in Form einer Rente erfolgt; eigene Ansprüche für denselben Zeitraum kann der Verletzte ebenfalls nur noch als Rente fordern, und zwar nur bis zum Unterschiedsbetrag zwischen der empfangenen Jahresrente bzw. der kapitalisierten Rente und den jeweiligen Haftungshöchstsummen (s. Rz. 34.14 ff.). Die entgegengesetzte Ansicht des Reichsgerichts38 beruht darauf, dass dieses eine Rentennachforderung für die Vergangenheit als in jedem Falle unzulässig ansah.39 Besteht wegen Forderungsübergangs auf mehrere Legalzessionare Gesamtgläubigerschaft (vgl. Rz. 35.93), so können sie nur durch gemeinsame Erklärung bewirken, dass anstelle einer Rente Kapitalabfindung geschuldet wird.40

34.20

4. Prozessuale Fragen Der Klageantrag muss erkennen lassen, ob für die Vergangenheit Kapital oder Rente gefordert wird.41 Das Gericht darf nur das zusprechen, was mit der Klage verlangt wird. Der Kläger kann wirksam beide Arten des Schadensersatzes in der Form eines Haupt- und eines Hilfsantrags zur Entscheidung des Gerichts stellen.42 Weitere Einzelheiten s. Rz. 34.8.

34.21

IV. Einzelheiten der Rentengewährung 1. Inhalt und Bemessung des Rentenanspruchs Das Schadensersatzrecht kennt nur Geldrenten; der Verletzte kann also keine Naturalleistungen verlangen. Wegen der Höhe und der Dauer der Rente vgl. die Erläuterungen zu den einzelnen Schadensarten in §§ 31, 32.

34.22

2. Vorauszahlung Drei Monate im Voraus ist die Rente zu zahlen (§ 13 Abs. 2 StVG, § 8 Abs. 2 HaftPflG, § 843 Abs. 2 S. 1, § 760 Abs. 1 und 2 BGB). Das bedeutet aber nicht, dass der monatliche Betrag jeweils schon zwei Monate vor dem Ersten des Monats zu zahlen wäre. Gemeint ist vielmehr, dass die Rente jeweils für ein Vierteljahr im Ganzen zu Beginn des Vierteljahrs zu zahlen ist. Dabei ist nicht auf Kalendervierteljahre abzustellen, sondern auf den Beginn der Zahlungspflicht. Die nächsten Zahlungen sind drei, sechs, neun und zwölf Monate später fällig. Verlangt der Verletzte mit seiner Klage monatliche Zahlung, ohne die vierteljährliche Zahlungsweise zu erwähnen, so darf ihm das Gericht nur monatliche Zahlungen zusprechen. Stirbt der Berechtigte, so dürfen seine Erben, wenn ein Recht auf vierteljährliche Zahlungsweise bestand, den letzten Vierteljahresbetrag behalten oder, wenn er trotz Fälligkeit noch nicht gezahlt war, fordern (§ 760 Abs. 3 BGB).

38 39 40 41 42

RG JW 1937, 2360. RG v. 29.6.1931 – VI 78/31, RGZ 133, 179, 184; anders BGH VersR 1964, 777. BGH v. 13.7.1972 – III ZR 5/69, VersR 1972, 1029, 1030. BGH v. 13.12.1951 – III ZR 144/50, BGHZ 4, 141. RG v. 16.6.1932 – VI 66/32, RGZ 136, 375.

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34.23

§ 34 Rz. 34.24 | Rentenleistungen

3. Sicherheitsleistung 34.24

Eine Pflicht zur Sicherheitsleistung hat der Schädiger grundsätzlich nicht. Solange nur ein Feststellungsanspruch gegeben ist, kommt eine Sicherheitsleistung überhaupt nicht in Betracht.43 Steht die Pflicht zur Rentenzahlung fest, so räumt § 843 Abs. 2 S. 2 BGB, auf den in § 13 Abs. 2 StVG, § 8 Abs. 2 HaftPflG verwiesen wird, dem Richter die Möglichkeit ein, nach pflichtgemäßem Ermessen eine Sicherheitsleistung anzuordnen, wenn besondere Umstände eine naheliegende Gefährdung der Durchsetzung des Anspruchs dartun und der Schädiger nicht freiwillig Sicherheit leistet. Bei juristischen Personen, deren Existenz bei Vermögensverfall ihrem Wesen nach in Frage gestellt ist, kann diese Gefährdung ohne Klärung der konkreten Vermögensverhältnisse bejaht werden.44 Ist der Schädiger haftpflichtversichert und überschreitet der Schaden die Deckungssummen voraussichtlich nicht, so kommt eine Pflicht zur Sicherheitsleistung im Allgemeinen nicht in Betracht. Das gilt auch dann, wenn Versicherer eine ausländische Versicherungsgesellschaft ist.45 Das Bestehen einer Haftpflichtversicherung hindert ein Entstehen der Pflicht zur Sicherheitsleistung allerdings nicht in jedem Fall.46 Besteht bei einem Anspruch auf Rente eine Pflicht zur Sicherheitsleistung, so richten sich die Einzelheiten nach §§ 232 bis 240 BGB.

34.25

Entsteht eine Gefährdung des Rentenanspruchs erst nach Rechtskraft des Urteils, so kann Sicherheitsleistung oder Erhöhung der bereits geleisteten Sicherheit nachträglich verlangt werden (§ 324 ZPO, § 13 Abs. 3 StVG, § 8 Abs. 3 HaftPflG). Dagegen ist ein Recht des Schädigers, bei Verbesserung seiner Vermögensverhältnisse die Freigabe seiner Sicherheit zu verlangen, gesetzlich nicht vorgesehen.47 Die Freigabe muss nur dann erfolgen, wenn nachträglich die Pflicht zur Rentenzahlung wegfällt oder nur noch eine geringere Rente, als im Urteil angeordnet, geschuldet ist (vgl. Rz. 34.29 ff.).

V. Prozessrechtliche Fragen 1. Grundurteil 34.26

Eine Vorabentscheidung über den Grund des Anspruchs auf Zahlung einer Schadensrente darf nur ergehen, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger einen fortlaufenden Schaden erlitten hat.48 Es ist zulässig, den Rentenanspruch ohne zeitliche Begrenzung dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären und die Entscheidung über Beginn und Ende der Rente dem Betragsverfahren ausdrücklich vorzubehalten.49 Auch die Wahl zwischen Rente und Kapitalabfindung kann dem Betragsverfahren überlassen bleiben.50

RG v. 4.5.1905 – VI 385/04, RGZ 60, 416. BGH v. 12.7.2005 – VI ZR 83/04, NZV 2005, 629, 632. RG v. 7.5.1938 – VI 1/38, RGZ 157, 348. RG JW 1935, 2949. A.A. Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Weber § 324 Rz. 3; für sinngemäße Anwendung des § 324 ZPO: MünchKomm-ZPO/Gottwald § 324 Rz. 10; Zöller/G. Vollkommer § 324 Rz. 2. 48 BGH v. 4.11.1960 – VI ZR 138/59, VersR 1961, 23; BGH v. 14.7.1964 – VI ZR 124/63, VersR 1964, 1113. 49 BGH v. 26.11.1953 – III ZR 26/52, BGHZ 11, 183; BGH v. 3.11.1964 – VI ZR 251/63, VersR 1965, 84. 50 BGH v. 26.6.1972 – III ZR 114/70, BGHZ 59, 147; BGH v. 25.11.1977 – I ZR 30/76, NJW 1978, 544.

43 44 45 46 47

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V. Prozessrechtliche Fragen | Rz. 34.30 § 34

2. Zeitbestimmung im Urteil Die Dauer der Rente, also ihr Beginn und ihr Ende, müssen in dem Urteil festgelegt werden, das die Verpflichtung des Schädigers zur Zahlung einer Rente an den Verletzten oder Hinterbliebenen anordnet.

34.27

3. Bindung an Anträge § 308 ZPO verbietet es, dass sich das Gericht über die im Klageantrag vorgenommene Zuordnung bestimmter Rentenbeträge zu bestimmten Zeiträumen hinwegsetzt. Es darf daher auch dann nicht für einzelne Monate mehr als beantragt zusprechen, wenn es bzgl. anderer Monate hinter dem Antrag zurückbleibt. Dass das Gericht befugt ist, die bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aufgelaufenen Rentenbeträge in einer Summe zusammenzufassen, ändert hieran nichts.51

34.28

4. Abänderungsklage a) Anwendungsbereich Ändern sich später die Verhältnisse (dies gilt vor allem, wenn sich später weitere Gesundheitsschäden bemerkbar machen), so ist eine Änderung der Höhe der Rente auch noch dann möglich, wenn sie durch Urteil festgesetzt ist (§ 323 ZPO). Voraussetzung der in diesem Fall zu erhebenden Klage auf Abänderung ist, dass eine wesentliche Änderung derjenigen Umstände eingetreten ist, die für die Höhe und Dauer der Rente bei Erlass des Urteils maßgebend waren. Zugelassen sind dabei nach § 323 Abs. 2 ZPO nur Gründe, die nach Schluss der mündlichen Verhandlung in dem Verfahren entstanden sind, in dem das Urteil erging, und durch Einspruch nicht mehr geltend gemacht werden können. Solche Gründe können Anlass geben, die Rente für die Zukunft zu erhöhen oder zu kürzen. Auf diesem Wege kann auch eine erhebliche Veränderung der Kaufkraft des Geldes berücksichtigt werden.52 Bei Kapitalabfindung ist eine Abänderungsklage nicht zulässig.53

34.29

Ist die Rente durch gerichtlichen Vergleich festgesetzt worden, ist ebenfalls eine Abänderungsklage möglich (§ 323a i.V.m. § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO); die zeitliche Limitierung nach § 323 Abs. 2 ZPO gilt hierfür nicht.54 Nur wenn vereinbart ist, dass die Rente unter allen Umständen gleich hoch bleiben soll, ist eine Abänderung ausgeschlossen. Die Worte „zwecks endgültiger Regelung“ enthalten einen solchen Ausschluss nicht.55 Eine unwesentliche Veränderung der Verhältnisse wird nicht dadurch zur wesentlichen, dass im ersten Urteil die damaligen Verhältnisse unrichtig beurteilt worden waren.56 Insbesondere lässt sich mit der Abänderungsklage keine andere Beurteilung des im früheren Urteil verneinten Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfall und dem Körperschaden erreichen. Ein außergerichtlicher Vergleich kann nicht nach § 323a ZPO abgeändert werden.57

34.30

51 BGH v. 7.11.1989 – VI ZR 278/88, NZV 1990, 116. 52 BGH v. 6.10.1965 – Ib ZR 123/63, VersR 1966, 37; OLG München v. 10.11.1983 – 24 U 243/83, VersR 1984, 246. 53 BGH v. 8.1.1981 – VI ZR 128/79, BGHZ 79, 192. 54 BGH v. 4.10.1982 – GSZ 1/82, BGHZ 85, 64, 73 f.; Zöller/G. Vollkommer § 323a Rz. 1. 55 BGH v. 5.1.1968 – VI ZR 137/66, VersR 1968, 450. 56 BGH v. 19.11.1968 – VI ZR 21/67, VersR 1969, 236. 57 Zöller/G. Vollkommer § 323a Rz. 3.

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§ 34 Rz. 34.31 | Rentenleistungen

b) Erhöhung der Rente 34.31

Ist ein auf den Unfall zurückzuführender neuer Schaden entstanden, nachdem eine Rente durch Urteil oder gerichtlichen Vergleich festgelegt wurde, und kann Ersatz für den Schaden nur in Form einer Rente verlangt werden, so ist der Klageantrag auf Erhöhung der bisher laufenden Rente zu richten. § 323 ZPO schaltet verfahrensrechtlich die Möglichkeit aus, in einem solchen Fall eine zweite Rente neben der ersten zu fordern.58 Das gilt natürlich dann nicht, wenn zunächst nur Klage auf einen Teilbetrag der Rente erhoben worden war und diese Erfolg hatte. In einem solchen Fall kann der restliche Teilbetrag neben der bereits zugesprochenen Rente gefordert werden. Ist durch Feststellungsurteil die Ersatzpflicht festgelegt und ist später Leistungsurteil für einen bestimmten Zeitabschnitt ergangen, so kann eine Erhöhung der Rente für diesen Zeitraum nur auf dem Weg des § 323 ZPO erreicht werden, nicht durch eine neue, auf das Feststellungsurteil gestützte Leistungsklage.59 Das Recht, die laufende Rente den später sich ändernden Verhältnissen anpassen zu lassen, verjährt nicht. Für eine Feststellungsklage, die die Befugnis, eine spätere Änderung zu verlangen, durch Urteilsspruch bestätigt haben möchte, fehlt es daher am Rechtsschutzinteresse.60

c) Kapital statt Rente 34.32

Verlangt der Verletzte oder Hinterbliebene für den neu entstandenen unfallbedingten Schaden keine Rente, sondern einen Kapitalbetrag, und ist er hierzu berechtigt, so kommt § 323 ZPO nicht in Betracht. Eine solche Forderung kann mithin nur durchdringen, wenn sie nicht verjährt ist.

d) Rente nach Kapitalabfindung 34.33

Ist einmal anstelle einer Rente ein Kapitalbetrag gefordert und gezahlt worden und hat der Verletzte oder Hinterbliebene dabei nicht ausdrücklich bestimmt, dass damit nur der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehende Schaden abgegolten sein solle, so ist der Kapitalbetrag i.d.R. eine Abfindung für den gesamten Schaden und eine spätere Nachforderung auch bei erheblicher Veränderung der Verhältnisse ausgeschlossen. Die Abfindung nach § 843 Abs. 3 BGB hat mithin dieselbe Wirkung wie der Abschluss eines Abfindungsvergleichs (Rz. 34.10).

e) Rente nach Klageabweisung 34.34

Ist durch Urteil der Anspruch auf eine Rente rechtskräftig abgewiesen worden, weil weder ein Verdienstausfall noch eine Mehrung der Bedürfnisse entstanden sei oder weil keine Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten bestehe, entstehen aber später solche Schäden und ist der Anspruch nicht verjährt, so kann erneut Klage auf Schadensersatz erhoben werden. § 323 ZPO ist in solchen Fällen nicht anzuwenden.61 War die Klage abgewiesen worden, weil eine Haftung des Schädigers nicht bestehe, so kann auch eine spätere Klage keinen Erfolg haben, weil die materielle Rechtskraft des ersten Urteils entgegensteht. Beruhte die Klageabweisung dagegen darauf, dass der Forderungsübergang auf Sozialversicherungsträger die Forderung des 58 BGH v. 20.12.1960 – VI ZR 38/60, BGHZ 34, 115; BGH v. 12.7.1960 – VI ZR 73/59, VersR 1960, 346. 59 BGH v. 9.7.1968 – VI ZR 139/67, VersR 1968, 1066. 60 BGH v. 20.12.1960 – VI ZR 38/60, BGHZ 34, 110. 61 BGH v. 2.12.1981 – IVb ZR 638/80, NJW 1982, 578; Rosenberg/Schwab/Gottwald § 159 Rz. 12; a.A. RG v. 20.12.1939 – VI 89/39, RGZ 162, 279, 281.

982 | Zwickel

V. Prozessrechtliche Fragen | Rz. 34.36 § 34

Verletzten übersteige, und ändert sich später die Sachlage, etwa durch Entstehen weiterer Gesundheitsschäden, so kann eine spätere Klage des Verletzten auf Rente Erfolg haben. Es ist auch denkbar, dass eine Rente unter Anwendung des § 323 ZPO nachträglich durch Urteil von einem bestimmten Zeitpunkt an aberkannt, durch ein weiteres Urteil aber von einem noch später liegenden Zeitpunkt an wieder zuerkannt wird.62

f) Herabsetzung der Rente Die Höhe des Rentenanspruchs kann sich auch dadurch ändern, dass der Verletzte später einen zweiten Unfall erleidet, für dessen Folgen ein anderer einzustehen hat. Steht fest, dass sich die Verhältnisse in einem bestimmten Punkt zugunsten des Verletzten geändert haben, so ergibt sich hieraus nicht ohne weiteres, dass die Klage des Schädigers auf Kürzung der künftigen Rentenzahlungen Erfolg haben muss. Das Gericht ist vielmehr gehalten, auch bei der Abänderungsklage alle die Höhe der Rente bestimmenden Umstände einer Prüfung zu unterziehen. Dabei kann sich ergeben, dass sich die Lage in anderer Hinsicht zum Nachteil des Verletzten oder Hinterbliebenen verändert hat, so dass trotz Richtigkeit der vom Schädiger aufgestellten Behauptungen eine Herabsetzung der Rente nicht in Betracht kommt.63 Das gilt sogar dann, wenn sich der Forderungsübergang auf Sozialversicherungsträger erhöht hat, weil diese nun eine höhere Rente an den Verletzten oder Hinterbliebenen zahlen. Auch ein solcher Sachverhalt hat nicht notwendig zur Folge, dass sich die Rentenforderung des Verletzten oder Hinterbliebenen im gleichen Maße verringert, in dem sich der Forderungsübergang erhöht.64

34.35

g) Klagebefugnis bei Legalzession Auch der Sozialversicherungs- und Sozialhilfeträger, auf den eine Forderung des Verletzten oder Hinterbliebenen in vollem Umfang gem. § 116 SGB X übergegangen ist (vgl. zum Forderungsübergang im Einzelnen §§ 35, 36), ist befugt, die Abänderungsklage zu seinen eigenen Gunsten zu erheben.65

62 63 64 65

RG JW 1925, 55 mit Anm. Schmidt-Ernsthausen. BGH v. 27.10.1959 – VI ZR 157/58, VRS 60, 94. BGH v. 7.6.1963 – VI ZR 126/62, VersR 1963, 1033. LG Duisburg v. 17.3.1965 – 4 S 347/64, MDR 1965, 668 u. 1966, 335 mit abl. Anm. Künkel.

Zwickel | 983

34.36

Achter Teil Schadensregress § 35 Regress der Sozialversicherungsträger

I. 1. 2. 3. II. 1. 2. a) b) c) 3. a) b)

c) III. 1. 2. 3. a) b) c) 4. a) b)

c) d)

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweige der Sozialversicherung . . . Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zur Haftpflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorliegen eines Schadensersatzanspruches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialversicherungsträger . . . . . . . . Sozialleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . Kongruenz der Ansprüche . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachliche Kongruenz . . . . . . . . . . . . aa) Bestehende sachliche Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine sachliche Kongruenz . . . Zeitliche Kongruenz . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruchsübergang . . . . . . . . . . . . Zeitpunkt des Übergangs . . . . . . . . Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . Bestand des Anspruchs . . . . . . . . . . Anrechnung eines Mitverschuldens Abfindungsvergleich und Teilungsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkungen bei nicht ausreichender Ersatzleistung . . . . . . . . . . Gesetzliche Höhenbegrenzung . . . . Mitverschulden . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammentreffen von Mitverschulden und Höhenbegrenzung . . . . . . . Tatsächliche Durchsetzungshindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35.1 35.1 35.2 35.5 35.6 35.6 35.9 35.9 35.10 35.17 35.23 35.23 35.24 35.25 35.38 35.40 35.41 35.41 35.43 35.50 35.50 35.54 35.57 35.64 35.64 35.67 35.67 35.71 35.74

5. Für Schadensfälle bis 31.12.2020: Ausschluss des Forderungsübergangs bei Schädigung durch Familienangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Familienangehörige . . . . . . . . . . . . . c) Häusliche Gemeinschaft . . . . . . . . . d) Zeitpunkt der Voraussetzungen . . . e) Haftpflichtversicherung . . . . . . . . . . f) Zweitschädiger . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Anspruch gegen Familienangehörige oder deren Haftpflichtversicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Für Schadensfälle ab 1.1.2021: Ausschluss der Geltendmachung des Anspruchs bei häuslicher Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen und maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolge: Ausschluss der Geltendmachung des übergegangenen Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Besonderheiten bei Haftpflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zweitschädiger . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Wegfall des Übergangs . . . . . . . . . . 9. Mehrheit von Leistungsträgern . . . a) Zusammentreffen mehrerer Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . . . . b) Zusammentreffen eines Sozialversicherungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . c) Wechsel des Sozialversicherungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Forderungserlass durch den Sozialversicherungsträger . . . . . . . 11. Prozessrechtliches . . . . . . . . . . . . . . a) Prozessführungsbefugnis und Aktivlegitimation . . . . . . . . . . . . . . .

35.76 35.76 35.77 35.78 35.79 35.80 35.81

35.82

35.83 35.83 35.84

35.87 35.88 35.89 35.90 35.92 35.93 35.93 35.94 35.95 35.96 35.97 35.97

35.75

Zwickel | 985

§ 35 | Regress der Sozialversicherungsträger b) c) d) e) f) g) 12. a) b) c) d) e) IV. 1. a) b) c) d) 2. a)

Darlegungs- und Beweislast . . . . . . Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . Klage auf zukünftige Leistung . . . . . Bindungswirkung sozialrechtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtskraftwirkung . . . . . . . . . . . . . Internationales Recht . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutscher Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausländischer Sozialversicherungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reichweite des Sozialleistungsstatuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationales Prozessrecht . . . . . . Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grund für die Sonderregelung . . . . Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zum Rückgriff . . . . . . . . Verhältnis zu Leistungen der Krankenkasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen des Regresses . . Versicherungsfall . . . . . . . . . . . . . . .

35.98 35.99 35.100 35.101 35.102 35.104 35.105 35.105 35.106 35.107 35.108 35.109 35.110 35.110 35.110 35.111 35.112 35.116 35.117 35.117

b) Haftungsbeschränkung beim Unfallverursacher . . . . . . . . . . . . . . c) Gesteigertes Verschulden . . . . . . . . d) Beweis der groben Fahrlässigkeit . . 3. Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . a) Grundzüge der Regelung . . . . . . . . b) Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Haftungsausschluss zugunsten Angehöriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verzicht auf den Rückgriff . . . . . . . f) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Übergang von Beitragsforderungen (§ 119 SGB X) . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsnatur und Normzweck . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . 3. Voraussetzungen des Übergangs . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) gesetzlicher Forderungsübergang . . b) Umfang des Übergangs . . . . . . . . . . c) Zeitpunkt des Übergangs . . . . . . . . d) Familienprivileg . . . . . . . . . . . . . . . e) Abfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35.119 35.120 35.145 35.147 35.147 35.148 35.149 35.150 35.151 35.152 35.153 35.153 35.156 35.161 35.162 35.162 35.163 35.166 35.167 35.168 35.169

Vorbemerkung Die bei Verkehrsunfällen mit Personenschaden entstehenden Folgen werden in den meisten Fällen auf sozialrechtliche Leistungsträger (z.B. Kranken-, Renten-, Unfallversicherungen) abgewälzt.1 Dies sichert die Versorgung des Unfallopfers und entlastet dieses vom Risiko der Durchsetzbarkeit seiner Schadensersatzansprüche gegen den Schädiger. Da es aber weder zu einer doppelten Entschädigung des Unfallopfers noch zu einer Entlastung des Schädigers durch die Sozialleistungen kommen soll, ordnen differenzierte Regelungen des Sozialrechts den Übergang des zivilrechtlichen Haftungsanspruchs auf den Sozialleistungsträger an: Die Sozialleistung soll nur transitorischen Charakter haben, nur eine Zwischenfinanzierung darstellen.2 Da der Verletzte durch die Überleitung seine Aktivlegitimation verliert, haben die sozialrechtlichen Regressregelungen erheblichen Einfluss auf die Schadensregulierung. Sie werden daher im Folgenden ausführlich dargestellt. Dabei wird die klassische Einteilung3 des Sozialrechts in Sozialversicherung (§ 35; zu Besonderheiten des Regresses in der Gesetzlichen Unfallversicherung s. Rz. 35.110 ff.), Soziale Fürsorge (§ 36) und Soziale Versorgung (§ 37) zugrunde gelegt, da deren Prinzipien auch Ursache für die differenzierenden Rückgriffsregelungen sind.

1 Zum Anspruch auf Sozialleistungen bei Personenschaden s. den Überblick bei Plagemann/Probst DAR 2012, 61. 2 BGH v. 20.11.1980 – III ZR 122/79, BGHZ 79, 29; a.A. Gärtner JZ 1988, 582. 3 Wannagat Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I. Bd 1965, § 4 S. 31 ff.

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Regress der Sozialversicherungsträger | § 35

Kennzeichnend für den Bereich der Sozialversicherung ist, dass in ihr bestimmte typische Risiken des täglichen Lebens erfasst werden und Vorsorge für diese getroffen wird. Der Leistungsanspruch entsteht im Falle des Eintritts des Versicherungsfalles wie beispielsweise Krankheit, Arbeitsunfall oder Alter ohne vorherige individuelle Bedürftigkeitsprüfung, da die Sozialversicherung aus Beiträgen der Versicherten finanziert wird. Demgegenüber werden die Leistungen der Sozialen Fürsorge aus Steuermitteln finanziert und sind deshalb von einem individuellen Bedarf des Empfängers abhängig. Sie dienen der Sicherung des Existenzminimums und unterliegen dem Subsidiaritätsprinzip. Die Soziale Versorgung dient u.a. der Entschädigung für erbrachte Sonderopfer. Diese Leistungen werden aus dem Steueraufkommen finanziert und sind unabhängig vom persönlichen Bedarf.4 Erwerbseinbußen des Unfallverletzten werden weithin durch eine Verlagerung des Ausfallrisikos auf Arbeitgeber bzw. Dienstherren vermieden: Diese haben in gewissen Grenzen das Arbeitsentgelt weiterzubezahlen, obwohl die Arbeit verletzungsbedingt nicht erbracht wird (Rz. 32.68 ff.). Zum Ausgleich hierfür wird der Anspruch des Verletzten auf Ersatz des Erwerbsschadens auf sie übergeleitet (zum Regress des Arbeitgebers s. Rz. 32.176 ff.; zum Regress des Dienstherrn bei Verletzung eines Beamten Rz. 37.6 ff.). In ähnlicher Weise vollzieht sich der Regress eines privaten Versicherers, der aus Anlass des Unfalls Leistungen an den Geschädigten (Schadensversicherung) oder für den Schädiger (Haftpflichtversicherung) erbracht hat (s. § 38). Schließlich kommen auch zwischen den unmittelbar für das Schadensereignis Verantwortlichen Regressansprüche in Betracht, wenn diese, wie in der Regel, als Gesamtschuldner haften (s. dazu § 39). § 116 SGB X (1) Ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Anspruch auf Ersatz eines Schadens geht auf den Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe über, soweit dieser auf Grund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen und sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen. Dazu gehören auch 1. die Beiträge, die von Sozialleistungen zu zahlen sind, und 2. die Beiträge zur Krankenversicherung, die für die Dauer des Anspruchs auf Krankengeld unbeschadet des § 224 Abs. 1 des Fünften Buches zu zahlen wären. (2) Ist der Anspruch auf Ersatz eines Schadens durch Gesetz der Höhe nach begrenzt, geht er auf den Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe über, soweit er nicht zum Ausgleich des Schadens des Geschädigten oder seiner Hinterbliebenen erforderlich ist. (3) Ist der Anspruch auf Ersatz eines Schadens durch ein mitwirkendes Verschulden oder eine mitwirkende Verantwortlichkeit des Geschädigten begrenzt, geht auf den Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe von dem nach Abs. 1 bei unbegrenzter Haftung übergehenden Ersatzanspruch der Anteil über, welcher dem Vomhundertsatz entspricht, für den der Schädiger ersatzpflichtig ist. Dies gilt auch, wenn der Ersatzanspruch durch Gesetz der Höhe nach begrenzt ist. Der Anspruchsübergang ist ausgeschlossen, soweit der Geschädigte oder seine Hinterbliebenen dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches werden.

4 Waltermann Sozialrecht, 7. Aufl. 2008, S. 36.

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§ 35 | Regress der Sozialversicherungsträger (4) Stehen der Durchsetzung der Ansprüche auf Ersatz eines Schadens tatsächliche Hindernisse entgegen, hat die Durchsetzung der Ansprüche des Geschädigten und seiner Hinterbliebenen Vorrang vor den übergegangenen Ansprüchen nach Abs. 1. (5) Hat ein Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe auf Grund des Schadensereignisses dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen keine höheren Sozialleistungen zu erbringen als vor diesem Ereignis, geht in den Fällen des Abs. 3 Satz 1 und 2 der Schadenersatzanspruch nur insoweit über, als der geschuldete Schadenersatz nicht zur vollen Deckung des eigenen Schadens des Geschädigten oder seiner Hinterbliebenen erforderlich ist. (6) Ein Übergang nach Abs. 1 ist bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch Familienangehörige, die im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen in häuslicher Gemeinschaft leben, ausgeschlossen. Ein Ersatzanspruch nach Abs. 1 kann dann nicht geltend gemacht werden, wenn der Schädiger mit dem Geschädigten oder einem Hinterbliebenen nach Eintritt des Schadensereignisses die Ehe geschlossen hat und in häuslicher Gemeinschaft lebt. Für Schadensfälle nach dem 31.12.2020 gilt nach § 120 Abs. 1 S. 3 SGB X folgende Fassung: (6) Ein nach Absatz 1 übergegangener Ersatzanspruch kann bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch eine Person, die im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen in häuslicher Gemeinschaft lebt, nicht geltend gemacht werden. Ein Ersatzanspruch nach Absatz 1 kann auch dann nicht geltend gemacht werden, wenn der Schädiger mit dem Geschädigten oder einem Hinterbliebenen nach Eintritt des Schadensereignisses die Ehe geschlossen oder eine Lebenspartnerschaft begründet hat und in häuslicher Gemeinschaft lebt. Abweichend von den Sätzen 1 und 2 kann ein Ersatzanspruch bis zur Höhe der zur Verfügung stehenden Versicherungssumme geltend gemacht werden, wenn der Schaden bei dem Betrieb eines Fahrzeugs entstanden ist, für das Versicherungsschutz nach § 1 des Gesetzes über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter oder § 1 des Gesetzes über die Haftpflichtversicherung für ausländische Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger besteht. Der Ersatzanspruch kann in den Fällen des Satzes 3 gegen den Schädiger in voller Höhe geltend gemacht werden, wenn er den Versicherungsfall vorsätzlich verursacht hat. (7) Haben der Geschädigte oder seine Hinterbliebenen von dem zum Schadenersatz Verpflichteten auf einen übergegangenen Anspruch mit befreiender Wirkung gegenüber dem Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe Leistungen erhalten, haben sie insoweit dem Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe die erbrachten Leistungen zu erstatten. Haben die Leistungen gegenüber dem Versicherungsträger oder Träger der Sozialhilfe keine befreiende Wirkung, haften der zum Schadenersatz Verpflichtete und der Geschädigte oder dessen Hinterbliebene dem Versicherungsträger oder Träger der Sozialhilfe als Gesamtschuldner. (8) Weist der Versicherungsträger oder Träger der Sozialhilfe nicht höhere Leistungen nach, sind vorbehaltlich der Abs. 2 und 3 je Schadensfall für nicht stationäre ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln 5 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches zu ersetzen. (9) Die Vereinbarung einer Pauschalierung der Ersatzansprüche ist zulässig. (10) Die Bundesagentur für Arbeit und die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch gelten als Versicherungsträger im Sinne dieser Vorschrift. § 117 SGB X Haben im Einzelfall mehrere Leistungsträger Sozialleistungen erbracht und ist in den Fällen des § 116 Abs. 2 und 3 der übergegangene Anspruch auf Ersatz des Schadens begrenzt, sind die Leistungsträger Gesamtgläubiger. Untereinander sind sie im Verhältnis der von ihnen erbrachten Sozialleistungen zum Ausgleich verpflichtet. Soweit jedoch eine Sozialleistung allein von einem

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I. Überblick | Rz. 35.1 § 35 Leistungsträger erbracht ist, steht der Ersatzanspruch im Innenverhältnis nur diesem zu. Die Leistungsträger können ein anderes Ausgleichsverhältnis vereinbaren. § 118 SGB X Hat ein Gericht über einen nach § 116 übergegangenen Anspruch zu entscheiden, ist es an eine unanfechtbare Entscheidung gebunden, dass und in welchem Umfang der Leistungsträger zur Leistung verpflichtet ist. § 119 SGB X (1) Soweit der Schadenersatzanspruch eines Versicherten den Anspruch auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung umfasst, geht dieser auf den Versicherungsträger über, wenn der Geschädigte im Zeitpunkt des Schadensereignisses bereits Pflichtbeitragszeiten nachweist oder danach pflichtversichert wird; dies gilt nicht, soweit 1. der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt fortzahlt oder sonstige der Beitragspflicht unterliegende Leistungen erbringt oder 2. der Anspruch auf Ersatz von Beiträgen nach § 116 übergegangen ist. Für den Anspruch auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung gilt § 116 Abs. 3 Satz 1 und 2 entsprechend, soweit die Beiträge auf den Unterschiedsbetrag zwischen dem bei unbegrenzter Haftung zu ersetzenden Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen und der bei Bezug von Sozialleistungen beitragspflichtigen Einnahme entfallen. (2) Der Versicherungsträger, auf den ein Teil des Anspruchs auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung nach § 116 übergeht, übermittelt den von ihm festgestellten Sachverhalt dem Träger der Rentenversicherung auf einem einheitlichen Meldevordruck. Das Nähere über den Inhalt des Meldevordrucks und das Mitteilungsverfahren bestimmen die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger. (3) Die eingegangenen Beiträge oder Beitragsanteile gelten in der Rentenversicherung als Pflichtbeiträge. Durch den Übergang des Anspruchs auf Ersatz von Beiträgen darf der Versicherte nicht schlechter gestellt werden, als er ohne den Schadenersatzanspruch gestanden hätte. (4) Die Vereinbarung der Abfindung von Ansprüchen auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung mit einem ihrem Kapitalwert entsprechenden Betrag ist im Einzelfall zulässig. Im Fall des Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 gelten für die Mitwirkungspflichten des Geschädigten die §§ 60, 61, 65 Abs. 1 und 3 sowie § 65a des Ersten Buches entsprechend. §§ 110–113 SGB VII s. vor Rz. 110.

I. Überblick 1. Zweige der Sozialversicherung Die Sozialversicherung ist eine staatlich organisierte, nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung aufgebaute öffentlich-rechtliche, vorwiegend auf Zwang beruhende Versicherung großer Teile der arbeitenden Bevölkerung für den Fall der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und des Todes sowie des Eintritts der Arbeitslosigkeit.5 Unter Versicherung wird eine Gefahrengemeinschaft verstanden, d.h. eine Gemeinschaft gleichartig Gefährdeter mit selbständigen Rechtsansprüchen auf wechselseitige Bedarfsdeckung.6 Säulen der Sozialversicherung sind die 5 Wannagat Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I. Bd 1965, § 3 S. 25. 6 Muckel Sozialrecht 2019, S. 49.

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35.1

§ 35 Rz. 35.1 | Regress der Sozialversicherungsträger

im SGB V geregelte Gesetzliche Krankenversicherung unter Trägerschaft der Krankenkassen, die Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) unter Trägerschaft der Pflegekassen, die Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) unter Trägerschaft der Berufsgenossenschaften, die Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) unter Trägerschaft der Versicherungsanstalten und die Arbeitslosenversicherung nach dem SGB III unter Trägerschaft der Bundesagentur für Arbeit.7

2. Rechtsgrundlagen 35.2

§§ 116 ff. SGB X. Die Schnittstelle zwischen Haftungs- und Sozialversicherungrecht bilden die §§ 116 ff. SGB X. § 116 SGB X normiert, dass im Falle der Leistungserbringung durch einen Sozialversicherungsträger wegen eines Schadensfalles der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch des Geschädigten nach dem BGB, StVG bzw. HaftpflG auf diesen übergeht. Für private Versicherer kommt nur der Rückgriff nach § 86 Abs. 1 VVG in Betracht (dazu Rz. 38.2 ff.). Zum Rückgriff in der Sozialen Fürsorge s. Rz. 36.30, in der Sozialen Versorgung Rz. 37.27, bei öffentlich-rechtlichen Dienstherren Rz. 37.6.

35.3

§ 1542 RVO. Für Schadensfälle vor dem 1.7.1983 galt § 1542 RVO. Als Schadensfall gilt nach dem BGH8 der Zeitpunkt der Körperverletzung. Auch aus Unfällen vor dem 1.7.1983 resultierende Spätschäden werden daher noch nach dem alten Recht abgewickelt.9 Nachfolgend konzentriert sich die Darstellung auf die nun geltende Rechtslage.10

35.4

§ 110 SGB VII. Auch im Bereich der Gesetzlichen Unfallversicherung gelten grundsätzlich die §§ 116 ff. SGB X. Für den Fall, dass zugunsten des Schädigers ein Haftungsausschluss nach §§ 104 ff. SGB VII eingreift, trifft § 110 SGB VII eine Sonderregelung (s. hierzu Rz. 35.110 ff., zu §§ 104 ff. SGB VII s. Rz. 22.80 ff.).

3. Verhältnis zur Haftpflichtversicherung 35.5

Dem Forderungsübergang auf der Seite des Verletzten korrespondiert im modernen Unfallhaftungsrecht auf der Seite des Schädigers regelmäßig die Abnahme des Haftungsrisikos durch eine Haftpflichtversicherung. Die Schadensregulierung bei Unfällen mit Personenschaden findet daher weitgehend zwischen Sozialversicherungsträgern und Haftpflichtversicherern statt und ist dort vielfach, z.B. durch Teilungsabkommen, pauschaliert.11 Durch diese Überlagerung des Individualhaftungsrechts seitens kollektiver Ausgleichssysteme wird nicht nur die praktische Abwicklung des Schadensersatzrechts, sondern auch dessen Funktion verändert: Die präventive Funktion des Haftungsrechts tritt zurück und in den Mittelpunkt rückt die Frage, ob der Schaden von dem Kollektiv potentieller Verletzter (Sozialversicherungsträger) oder dem Kollektiv potentieller Schädiger (Haftpflichtversicherer) getragen werden soll. Hierbei wird dann häufig gar nicht mehr der Ausgleich des konkreten Einzelschadens, sondern die Aufteilung eines ganzen Schadenspotentials vorgenommen (näher zu Teilungsabkommen Rz. 15.55 ff.).

7 8 9 10 11

Muckel Sozialrecht 2019, S. 48. BGH v. 13.2.1996 – VI ZR 318/94, BGHZ 132, 39, 45 f. Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 2. Zu § 1542 RVO s. 2. Aufl., § 10 Rz. 83 ff. Kritisch zu dieser Praxis Kötz/Wagner Rz. 782 ff.

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II. Voraussetzungen des Forderungsübergangs | Rz. 35.9 § 35

II. Voraussetzungen des Forderungsübergangs 1. Vorliegen eines Schadensersatzanspruches Gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X muss dem Geschädigten ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Schadensersatzanspruch zustehen. Dies können alle Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung, Amtshaftung12 einschließlich Haftung für Stationierungsschäden, Gefährdungshaftung und §§ 280 ff. BGB13 sein. Im Haftungsrecht des Straßenverkehrs betrifft dies vor allem Ansprüche aus §§ 7, 18 StVG; § 1 HaftpflG und § 823 Abs. 1, 2 BGB. Der Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer geht ebenfalls über, doch greifen hier häufig Teilungsabkommen ein (vgl. Rz. 35.57 ff.).

35.6

Nicht übergangsfähig sind grundsätzlich Aufwendungsersatzansprüche, z.B. aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677, 683 BGB)14 oder aus einem Arbeitsverhältnis, da es sich nicht um Schadensersatzansprüche handelt.15 Auch Ansprüche aus privaten Versicherungsverträgen oder freiwillige Aufwendungen Dritter sind keine Schadensersatzansprüche.16 Wegen des Anspruchs bei fehlendem Versicherungsschutz vgl. Rz. 15.72 ff.

35.7

Schmerzensgeldansprüche und Ansprüche der Hinterbliebenen verbleiben wegen fehlender Kongruenz mit Sozialleistungen stets dem Verletzten (vgl. Rz. 35.39). Die Feststellung des Schadens beim zugrundeliegenden Schadensersatzanspruch scheitert nicht daran, dass dem Verletzten infolge der Leistung des Sozialversicherers kein Vermögensnachteil entsteht. Aufgrund wertender Betrachtungsweise ist hier ein sog. normativer Schaden anzunehmen; der ursprüngliche Schaden würde sonst unbilligerweise auf den Sozialversicherungsträger verlagert.17 Es findet auch keine Vorteilsausgleichung statt, da die Legalzession nach § 116 SGB X den allgemeinen Rechtsgedanken umsetzt, dass eine erfolgte Leistung durch den Sozialversicherer sich nicht anspruchsmindernd auf den zivilrechtlichen Anspruch auswirken soll.18 Die cessio legis ginge sonst ins Leere. Auch wäre eine Lösung über den Rechtsgedanken des Vorteilsausgleichs wenig systemgerecht, da die teilweise durch Beiträge des Geschädigten oder seines Arbeitgebers finanzierten Sozialleistungen nicht der Entlastung des Schädigers zu dienen bestimmt sind. Andere Vorteile, insbesondere die Ersparnis häuslicher Verpflegungskosten, sind aber, da sie den Schadensersatzanspruch mindern, auch beim Forderungsübergang abzuziehen (vgl. Rz. 32.24).

35.8

2. Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers a) Sozialversicherungsträger Sozialversicherungsträger sind in der Krankenversicherung die jeweiligen Krankenkassen (§ 21 Abs. 2 SGB I, § 4 Abs. 2, §§ 143 ff. SGB V), in der Rentenversicherung die Regional12 Der Übergang von Amtshaftungsansprüchen scheitert nicht an § 839 Abs. 1 S. 2 BGB, denn die Sozialleistungen sind kein anderweitiger Ersatz in diesem Sinn (Rz. 12.68). 13 BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 87/67, VersR 1969, 954; BGH v. 22.9.1969 – VII ZR 116/67, VersR 1969, 1038. 14 Zum Aufwendungsersatzanspruch bei der Nothilfe in der Unfallversicherung vgl. genauer Rz. 35.115. 15 OLG Karlsruhe v. 2.3.1988 – 7 U 157/87, NJW 1988, 2676. 16 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 15. 17 Medicus JuS 1979, 233, 234. 18 Palandt/Grüneberg vor § 249 Rz. 85.

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35.9

§ 35 Rz. 35.9 | Regress der Sozialversicherungsträger

träger und Bundesträger (§ 23 Abs. 2 SGB I, § 125 SGB VI) und in der Unfallversicherung insbesondere die Berufsgenossenschaften (§ 22 Abs. 2 SGB I, §§ 114 ff. SGB VII). Die Bundesagentur für Arbeit gilt gem. § 116 Abs. 10 SGB X als Versicherungsträger. Mit Wirkung vom 1.8.2006 wurde § 116 Abs. 10 SGB X dahingehend geändert,19 dass nunmehr auch die Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende (§ 19a Abs. 2 SGB I, § 6 SGB II) als Versicherungsträger gelten. Da die Grundsicherung für Arbeitssuchende als steuerfinanzierte Leistung der subsidiären Basissicherung systematisch aber zu den Fürsorgeleistungen gehört und sich daraus Besonderheiten beim Regress nach § 116 SGB X ergeben, erfolgt eine Behandlung im Rahmen des § 36. Kein Versicherungsträger ist der Träger der bis 31.12.2004 geltenden Grundsicherung nach dem GSiG (§ 4 GSiG: Kreis oder kreisfreie Stadt),20 welche sich nunmehr in den §§ 41 bis 46 SGB XII findet. Mit Wirkung vom 1.1.2020 erstreckt sich § 116 Abs. 1 SGB X auch auf die Träger der Eingliederungshilfe. Die Eingliederungshilfe wurde durch das BTHG21 aus dem Bereich der Sozialhilfe (SGB XII) in die §§ 90 ff. SGB IX überführt. Bereits seit 1.1.2018 ist für die Eingliederungshilfe in § 28a SGB I ein eigener Leistungskanon definiert. Auch für die Übergangszeit zwischen 1.1.2018 und 1.1.2020 sind daher die Träger der Eingliederungshilfe als Träger im Sinne des §§ 116 SGB X anzusehen.22 Leistende Rehabilitationsträger i.S.d. § 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX sind für zu erstattende Beiträge gem. § 251 Abs. 2 S. 2 SGB V ebenfalls nach § 116 SGB X regressberechtigt.23

b) Sozialleistungen 35.10

Sozialleistungen sind die im Sozialgesetzbuch vorgesehenen Geld-, Sach- und Dienstleistungen, § 11 SGB I. Dabei ist unerheblich, ob ein Rechtsanspruch auf Gewährung (§ 38 SGB I) besteht oder es sich um eine Ermessensleistung (§ 39 SGB I) handelt.24

35.11

Nach § 116 Abs. 1 S. 2 SGB X25 gehören auch Beiträge zu den Regress auslösenden Sozialleistungen.

35.12

Beiträge zur Krankenversicherung, die ein Sozialversicherungsträger (z.B. als Beitragsanteil zur Rentnerkrankenversicherung,26 im Rahmen einer Rehabilitation oder gem. § 251 Abs. 2 SGB V für behinderte Menschen in einer Behindertenwerkstatt27) erbringt, begründen einen Forderungsübergang jedoch nur, wenn sie der Erhaltung des versicherungsrechtlichen Status des Geschädigten dienen, nicht wenn sie kraft gesetzlicher Regelung dem zum Unfallzeit-

19 BGBl. I, S. 1718. 20 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 24; vgl. zum dortigen Regress Rz. 36.7 ff. 21 Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen vom 23.12.2016, BGBl. I, Nr. 66, S. 3234. 22 S. dazu ausführlich Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 33 ff. 23 BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 54/14, NZV 2015, 284. 24 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 115. 25 Eingefügt durch Art. 5 Abs. 2 Nr. 1 RRG 1992 vom 18.12.1989 zum 1.1.1992. Vgl. hierzu Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 1. 26 Zur Kongruenz und Höhe der Beiträge zur Rentnerkrankenversicherung s. auch BGH v. 8.11.1960 – VI ZR 183/59, VersR 1960, 1122; BGH v. 1.7.1969 – VI ZR 216/67, VersR 1969, 899; BGH v. 20.12.1977 – VI ZR 110/76, VersR 1978, 323; BGH v. 24.1.1978 – VI ZR 95/75 VersR 1978, 346. 27 BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 54/14, NZV 2015, 284.

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II. Voraussetzungen des Forderungsübergangs | Rz. 35.15 § 35

punkt nicht versicherten Geschädigten eine zusätzliche Sozialvorsorge verschaffen oder dem internen Lastenausgleich zwischen den Leistungsträgern dienen sollen.28 Für einen Geschädigten, der während des Bezugs von Krankengeld beitragsfrei krankenversichert ist, greift § 116 SGB X wegen § 224 Abs. 2 SGB V ein29 (vgl. Rz. 35.158). Beiträge zur Rentenversicherung, die mit Wirkung vom 1.1.1992 gem. § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI beim Bezug von Kranken-, Verletzten-, Arbeitslosen-, Übergangs- und Versorgungskrankengeld (bis 31.12.2004 auch Arbeitslosenhilfe) von den Leistungsbeziehern und den Sozialversicherungsträgern je zur Hälfte30 zu zahlen sind, sind – anders als die bis 31.12.1991 zu zahlenden Finanzierungsbeiträge nach § 1385b RVO31 – „echte“ Rentenversicherungsbeiträge, wie § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X klarstellt. Diese können daher beim Schädiger regressiert werden (§ 116 Abs. 1 S. 2 SGB X). Voraussetzung für einen Anspruchsübergang ist insoweit aber, dass durch die Rentenversicherungsbeiträge ein Erwerbsschaden des Geschädigten wenigstens teilweise ausgeglichen wird, indem die abgeführten Beiträge seine versicherungsrechtliche Position verbessern.32 Soweit sie den Beitragsschaden nicht voll abdecken, besteht ein Regressanspruch des Rentenversicherungsträgers nach § 119 SGB X.33 Hinsichtlich des eigenen Anteils des Versicherten an den Rentenversicherungsbeiträgen findet ein Forderungsübergang weder nach § 116 noch nach § 119 SGB X statt, da es sich insoweit nicht um eine Sozialleistung handelt.34 Das Nebeneinander verschiedener Anspruchsberechtigungen führte früher zu Schwierigkeiten insbesondere bei einer Mithaftung des Verletzten,35 ist aber nunmehr durch die Einfügung des § 119 Abs. 1 S. 2 SGB X geklärt. Auch beim Beitragsregress nach § 119 SGB X wird der Schädiger entsprechend seiner Haftungsquote belastet.36

35.13

Kontrovers wurde diskutiert, ob die im Rahmen des § 44 SGB XI zu entrichtenden Rentenversicherungsbeiträge für die Pflegeperson gem. § 116 Abs. 1 S. 2 SGB X auf den Rentenversicherungsträger übergehen. Teilweise wurde dies mit der Argumentation abgelehnt, dass die versicherungsrechtliche Position des Geschädigten nicht berührt werde, da es sich nicht um eine Beitragszahlung für den Geschädigten selbst handle.37 Nach Ansicht des BGH stellen diese Beiträge aber einen zusätzlichen ersatzpflichtigen Schaden des pflegebedürftigen Geschädigten dar, der über § 116 Abs. 1 S. 2 SGB X den Regress eröffnet.38

35.14

Wegen der Beiträge zur Pflegeversicherung s. Wiesner VersR 1995, 143.

35.15

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

BGH v. 8.11.1983 – VI ZR 214/82, VersR 1984, 237. Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 134; Küppersbusch NZV 1992, 62. Vgl. zu diesem Grundsatz und dessen Ausnahmen § 170 Abs. 1 Nr. 2a, §§ 173, 176 SGB VI. Vgl. hierzu BGH v. 18.2.1986 – VI ZR 55/85, VersR 1986, 485; v. Einem NJW 1987, 480. BGH v. 18.2.1986 – VI ZR 55/85, VersR 1986, 485. Wegen Einzelheiten vgl. Küppersbusch NZV 1992, 58 ff.; v. d. Heide VersR 1994, 274; Hessert VersR 1991, 165 ff.; Scheithauer VersR 1992, 1047. Kritisch mit Vorschlägen de lege ferenda v. Einem VersR 1991, 383 ff. Küppersbusch NZV 1992, 60; v. Einem VersR 1991, 382; a.A. (zum früheren Recht) BGH v. 5.12.1989 – VI ZR 73/89, BGHZ 109, 291. Zu den verschiedenen Lösungsvorschlägen s. Küppersbusch NZV 1992, 60 ff.; v. d. Heide VersR 1994, 274; Ritze VersR 1990, 947; Mörsch VersR 1991, 39; Hessert VersR 1991, 166 f. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 18. Arnau NZV 1997, 255; Küppersbusch NZV 1997, 30, 31; LG Frankfurt/M. v. 17.10.1997 – 1/10 O 70/97, VersR 1998, 653. BGH v. 10.11.1998 – VI ZR 354/97, BGHZ 140, 39.

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§ 35 Rz. 35.16 | Regress der Sozialversicherungsträger

35.16

Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, die die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 347 SGB III39 zahlen, gehen nach § 116 Abs. 1 S. 2 SGB X auf diese über.40 Das gilt jedoch nicht, wenn der Verletzte im Unfallzeitpunkt arbeitslos gewesen ist.41

c) Leistungspflicht 35.17

Eine solche kann nur bestehen, wenn der Geschädigte im Unfallzeitpunkt zum versicherten Personenkreis gehört. Dabei reicht es aus, wenn eine freiwillige Versicherung besteht (§ 9 SGB V – Krankenversicherung; § 7 SGB VI – Rentenversicherung; § 6 SGB VII – Unfallversicherung; § 26a SGB XI – Pflegeversicherung).42 Wegen der Möglichkeit einer Beendigung der Mitgliedschaft steht der Rechtsübergang unter der auflösenden Bedingung des späteren Wegfalls der Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers;43 mit Eintritt der Bedingung fallen die Schadensersatzansprüche wieder an den Verletzten zurück (§ 158 Abs. 2 BGB).44

35.18

Der Versicherungsträger muss durch das Schadensereignis leistungspflichtig werden („zu erbringen hat“); auf die Bewilligung oder Gewährung von Leistungen kommt es für den Forderungsübergang nicht an45 (wohl aber für die Geltendmachung der übergegangenen Forderung gegen den Schädiger; dazu Rz. 35.41). Entscheidend ist die Leistungspflicht im Außenverhältnis; unerheblich ist, ob Ausgleichs- oder Erstattungsansprüche im Innenverhältnis bestehen.46 Es genügt die – wenn auch entfernte – Möglichkeit einer Inanspruchnahme des Sozialversicherungsträgers.47 Besteht der Anspruch auf Sozialleistungen zwar dem Grunde nach, kann er aber aus Rechtsgründen (beispielsweise wegen Ruhens der Anspruchsberechtigung) nicht geltend gemacht werden, tritt der Übergang nicht ein, weil eine Sozialleistung dann nicht zu erbringen ist.48 Dass ein erforderlicher Leistungsantrag (vgl. § 18 SGB X, § 16 SGB I) noch nicht gestellt wurde, steht dem Forderungsübergang nicht entgegen.49

35.19

Hat der Versicherungsträger irrtümlich eine Leistungspflicht angenommen und an den Geschädigten geleistet, löst dies keine Regressberechtigung aus.50 Der Anspruch geht im Unfallzeitpunkt unmittelbar auf den für die Leistung tatsächlich sachlich zuständigen Leistungsträger über.51

39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Bis Ende 1997: § 186 Abs. 1 AFG. BGH v. 17.4.1990 – VI ZR 276/89, NZV 1990, 308, 310. BGH v. 19.12.1985 – X ZB 5/85, VersR 1986, 487. BGH v. 3.5.1977 – VI ZR 235/75, VersR 1977, 768; BGH v. 15.3.1983 – VI ZR 156/80, VersR 1983, 686; BGH v. 25.2.1986 – VI ZR 229/84, VersR 1986, 698. BGH v. 10.7.1967 – III ZR 78/6, BGHZ 48, 181, 191. BGH v. 8.12.1998 – VI ZR 318/97, VersR 1999, 382. LG Memmingen v. 16.5.2013 – 34 O 1972/12, DAR 2014, 275. BGH v. 17.9.2019 – VI ZR 437/18, VersR 2020, 59. BGH v. 10.7.1967 – III ZR 78/6, BGHZ 48, 181. BGH SGb 1974, 469, 470. Nach OLG Celle v. 30.9.1999 – 14 U 223/98, OLGR Celle 2000, 88 soll sich der Ersatzpflichtige aber bis zur Antragstellung in der Pflegeversicherung (§ 33 SGB XI) nach § 242 BGB nicht auf den Übergang berufen können. BGH v. 8.7.2003 – VI ZR 274/02, NJW 2003, 3193, 3194. BGH v. 8.7.2003 – VI ZR 274/02, NJW 2003, 3193, 3194; s. auch Anm. Lemcke r+s 2002, 441, 442 zur abweichenden Entscheidung der Vorinstanz; Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 107.

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II. Voraussetzungen des Forderungsübergangs | Rz. 35.24 § 35

Leistungspflicht in diesem Sinne besteht auch, wenn die Voraussetzungen für die Erstattung der Kosten einer Außenseitermethode52 im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung gegeben sind.53

35.20

Bei Zuzahlungsverpflichtungen des Versicherten (z.B. für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel gem. § 31 Abs. 3, § 32 Abs. 2, § 33 Abs. 2 SGB V, für Krankenhausbehandlung gem. § 39 Abs. 4 SGB V, jeweils i.V.m. § 61 SGB V) ist der Forderungsübergang auf den Leistungsanspruch abzgl. des Zuzahlungsbetrages beschränkt; der Zuzahlungsbetrag begründet für den Geschädigten einen eigenen Anspruch gegen den Schädiger.54

35.21

Lässt sich ein gesetzlich Versicherter trotz bestehender Leistungspflicht privatärztlich behandeln, fällt der übergegangene Schadensersatzanspruch an ihn zurück (s. Rz. 35.92; zur Erstattungsfähigkeit der Mehrkosten Rz. 32.15 ff.).

35.22

3. Kongruenz der Ansprüche a) Allgemeines Voraussetzung des Forderungsüberganges ist die Deckungsgleichheit der Ansprüche gegen den Schädiger und die Sozialversicherung. Die Sozialleistung muss nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X aufgrund des Schadensereignisses erbracht werden und der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen sowie sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen.55 Schäden i.d.S. sind alle Nachteile, die infolge des Schadensereignisses für den Geschädigten bzw. im Falle seines Todes für seine Hinterbliebenen entstehen.56 Die erforderliche Kausalität der Leistungserbringung ist bei lediglich präventiven Leistungen, beispielsweise zur Gesundheitsvorsorge, zu verneinen.57

35.23

b) Sachliche Kongruenz Sachliche Kongruenz bedeutet, dass die Sozialleistung „der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen“, d.h. dieselbe Verletzungsfolge ausgleichen soll wie die Ersatzpflicht des Schädigers. Nach der Rechtsprechung des BGH soll es allerdings genügen, wenn der Versicherungsschutz der Art nach den Schaden umfasst, für den der Schädiger einzustehen hat; ob auch der einzelne Schadensposten vom Versicherer gedeckt wird, soll für den Rechtsübergang ohne Belang sein.58 Es reicht also aus, wenn die Sozialleistung bei einer Gesamtbetrachtung zumindest auch dazu bestimmt ist, einen Ausgleich der Aufwendungen des Geschädigten herbeizuführen.59 Dies kann zu dem unbilligen Ergebnis führen, dass der Geschädigte, wenn für ihn ein Versicherer eintritt, trotz vollen Ersatzanspruchs gegen den Schädiger dann keine volle Schadensdeckung erreicht, wenn die Leistungen seines Versicherers sich zwar der Art nach auf seinen Schaden beziehen, diesen aber nur zu einem Teil abdecken.

Vgl. BSG v. 23.3.1988 – 3/8 RK 5/87, NJW 1989, 794. KG v. 3.11.2003 – 12 U 102/03, NZV 2004, 42. Breuer/Labuhn VersR 1983, 914 ff. S. hierzu ausführlich Marburger NZV 2020, 126. Vgl. MünchKomm-BGB/Oetker § 249 Rz. 519. Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 85. Zu § 1542 RVO: BGH v. 20.3.1973 – VI ZR 19/72, VersR 1973, 566 mit krit. Anm. Wussow WJ 1973, 90, 138; zu § 67 VVG a.F.: BGH VersR 1958, 15, 1958, 161. 59 Groß DAR 1999, 337, 343. 52 53 54 55 56 57 58

Zwickel | 995

35.24

§ 35 Rz. 35.25 | Regress der Sozialversicherungsträger

aa) Bestehende sachliche Kongruenz

35.25

Im Bereich der Verkehrsunfallregulierung besteht sachliche Kongruenz insbesondere zwischen folgenden Schadens- und Leistungsarten:60

35.26

– Zwischen Sachschäden (Rz. 3.49 ff.) und Erstattung von Aufwendungen für Sachschäden des Nothelfers nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 lit. a, Nr. 13 lit. a und c, § 13 SGB VII, Ersatz von Hilfsmitteln gem. § 8 Abs. 3 SGB VII und satzungsmäßigen Mehrleistungen nach § 94 SGB VII.61

35.27

– Zwischen Heilungskosten (Rz. 32.5 ff.) und den Kosten für ambulante und stationäre Behandlung nach §§ 27, 39, 40 SGB V, § 27 Abs. 1 SGB VII.62 Heilungskosten umfassen gem. §§ 28 ff. SGB V, § 15 SGB VI, § 27 Abs. 1 SGB VII die ärztliche Behandlung, Arzneimittel, Krankenpflege als deckungsgleiche Leistungen. Bei den Krankenhauskosten ist zwar die häusliche Ersparnis anzurechnen (Rz. 32.24), da aber die Leistung der Krankenkasse diesen Betrag umfasst, geht der Anspruch des Verletzten auf Ersatz seines Erwerbsschadens (mit Vorrang vor dem Regress des Arbeitgebers nach § 6 EFZG63) auf sie über (vgl. Rz. 35.33). Eine Zuzahlungspflicht (vgl. Rz. 35.21) ändert hieran nichts, denn sie hat nichts mit der häuslichen Verpflegung zu tun.64 Keine Kongruenz besteht hinsichtlich der Besuchskosten (Rz. 32.9)65 sowie der Mehrkosten bei Unterbringung in der zweiten und ersten Pflegeklasse.66 Durfte der Verletzte die zweite Pflegeklasse des Krankenhauses in Anspruch nehmen (vgl. Rz. 32.18), während der Sozialversicherer ihm nur die Kosten der dritten erstattete, so verbleiben die Ansprüche hinsichtlich der Mehrkosten mangels sachlicher Kongruenz dem Verletzten.67

35.28

Der Investitionszuschlag, den Krankenhäuser in den neuen Bundesländern auf der Grundlage von § 14 GSG in Rechnung stellen, ist, als Teil des Entgelts für die Krankenhausbenutzung, eine zur Heilbehandlung kongruente Sozialleistung.68

35.29

– Zwischen den Aufwendungen für vermehrte Bedürfnisse (Rz. 32.32 ff.) und häuslichen Pflegeleistungen sowie Haushaltshilfe (Leistungen der Krankenkasse nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 4, § 37 SGB V, Leistungen der Unfallversicherung nach §§ 42, 44 Abs. 5, § 54 Abs. 2 SGB VII, Leistungen der Pflegeversicherung nach §§ 36–43 SGB XI).69 Dabei besteht bei Verlust der Fähigkeit zur Haushaltsführung nur hinsichtlich der vermehrten Bedürfnisse,

60 Vgl. näher Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 13 ff. 61 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 139. 62 KG v. 3.11.2003 – 12 U 102-03, NZV 2004, 42; Überblick über die Leistungen der Krankenversicherung bei Arnau VersR 1991, 850. 63 BGH v. 3.4.1984 – VI ZR 253/82, VersR 1984, 583, 584. Vgl. Rz. 32.182. 64 Schleich DAR 1988, 150; a.A. Küppersbusch/Höher Rz. 254; Breuer/Labuhn VersR 1983, 916. 65 Vgl. OLG München v. 10.11.1977 – 1 U 2637/77, VersR 1978, 373. 66 BGH v. 20.3.1973 – VI ZR 19/72, VersR 1973, 566. 67 BGH v. 20.3.1973 – VI ZR 19/72, VersR 1973, 566. 68 BGH v. 3.5.2011 – VI ZR 61/10, VersR 2011, 946; a.A. OLG Jena v. 19.8.2003 – 8 U 263/03, NZV 2004, 310. 69 Zur Pflegeversicherung vgl. BGH v. 8.10.1996 – VI ZR 247/95, VersR 1996, 1565. Näher hierzu auch Wiesner VersR 1995, 142; Jahnke VersR 1996, 927. Bezüglich der Pflegesachleistung nach § 36 SGB XI soll nach Küppersbusch NZV 1997, 30, 31 der Regress auf den Bruttostundenlohn einer Hilfskraft beschränkt werden. Die Kosten für die Einschaltung des ambulanten Pflegedienstes sind danach nicht kongruent.

996 | Zwickel

II. Voraussetzungen des Forderungsübergangs | Rz. 35.31 § 35

nicht bzgl. des Erwerbsschadens sachliche Kongruenz.70 Deckungsgleichheit liegt auch bzgl. des Pflegegeldes gem. § 37 SGB XI71 und § 44 Abs. 2 SGB VII72 vor. Gleiches gilt nach dem BGH73 für die Beitragszahlungen der Pflegekasse gem. § 44 Abs. 1 SGB XI (vgl. auch Rz. 35.36). Schließlich besteht Kongruenz hinsichtlich der Aufwendungen, die der Verletzte für eine Ersatzkraft gemacht hat, um seinen Einnahmeverlust aufzufangen.74 Kein Verhältnis kongruenter Deckung besteht demgegenüber hinsichtlich der Pflegekurse nach § 45 SGB XI, da keine Leistung an den Verletzten selbst erfolgt.75 Auch mangelt es an der sachlichen Kongruenz mit Aufwendungen für vermehrte Bedürfnisse, wenn ein Sozialleistungsträger wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Rente zahlt.76 Dann kann aber Kongruenz zum Erwerbsschaden bestehen (s. Rz. 35.31). Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen dem Anspruch wegen Vermehrung der Bedürfnisse und den Aufwendungen der Krankenkassen oder der Berufsgenossenschaften für Heilungskosten. Kongruenz besteht nur zu den Heilungsaufwendungen gem. § 823 BGB, § 11 StVG, § 5 Abs. 1 HaftpflG. Dies ist von Bedeutung, weil der Anspruch des Verletzten wegen vermehrter Bedürfnisse auch Kosten für Medikamente, Hilfsmittel und Hauspflege umfassen kann.

35.30

– Zwischen Erwerbsschaden (§§ 842, 843 BGB, § 11 StVG, § 6 HaftpflG; näher Rz. 32.57 ff.) und Krankengeld (§ 44 SGB V), Krankengeld bei Fernbleiben von der Arbeit wegen Erkrankung eines Kindes (§ 45 SGB V), Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente (§§ 43, 240 SGB VI),77 Teil- oder Vollrente der Berufsgenossenschaft (§ 56 SGB VII),78 Verletzten-/ Übergangsgeld (§§ 45, 49, 55a SGB VII, § 20 SGB VI, § 119 SGB III), berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation (Ausbildungsgeld gem. § 122 SGB III oder Umschulungskosten79) sowie Arbeitslosengeld (§ 136 SGB III), falls durch das schädigende Ereignis Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Die Kongruenz des Krankengeldes ist auch zu bejahen, wenn es auf freiwilliger Weiterversicherung beruht80 oder an die Stelle von Arbeitslosenunterstützung (in Form von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bzw. Arbeitslosengeld II) tritt.81 Hinsichtlich der genannten Rentenleistungen des Sozialleistungsträgers gilt dies auch, soweit es sich um einen Erwerbsschaden in Form der Verminderung der Fähigkeit zur Haushaltsführung handelt und der Schädiger deswegen eine Rente zu zahlen hat (vgl. näher Rz. 32.143 ff.). Dem steht auch nicht entgegen, dass die Tätigkeit im Haushalt von

35.31

70 BGH v. 8.10.1996 – VI ZR 247/95, NJW 1997, 256. 71 BGH v. 28.11.2000 – VI ZR 352/99, NJW 2001, 754, 755; BGH v. 3.12.2002 – VI ZR 142/02, NJW 2003, 1455. 72 BGH v. 15.6.2004 – VI ZR 60/03, NZV 2004, 514, 515. 73 BGH v. 10.11.1998 – VI ZR 354/97, BGHZ 140, 39. Zum Meinungsstand vgl. die Nachweise bei Groß DAR 1999, 337, 343. 74 BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 16/76, VersR 1977, 916. 75 Küppersbusch NZV 1997, 30, 31. 76 BGH v. 20.5.1958 – VI ZR 130/57, VersR 1958, 454; BGH v. 30.6.1970 – VI ZR 5/69, VersR 1970, 899; BGH v. 21.6.1977 – VI ZR 16/76, VersR 1977, 916. 77 Vgl. BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 49/72, VersR 1974, 162. 78 BGH v. 4.12.1984 – VI ZR 117/83, VersR 1985, 356; OLG Hamm v. 24.9.1996 – 27 U 85/96, NZV 1997, 121; OLG Nürnberg v. 7.6.2002 – 6 U 3849/01, VersR 2004, 1290; KG v. 9.7.2001 – 12 U 636/00, NZV 2002, 93. 79 BGH v. 4.5.1982 – VI ZR 175/80, VersR 1982, 767; Westphal VersR 1982, 1126. 80 BGH v. 11.5.1976 – VI ZR 51/74, VersR 1976, 756; BGH v. 3.5.1977 – VI ZR 235/75, VersR 1977, 768. 81 BGH v. 25.6.2013 – VI ZR 128/12, VersR 2013, 1050; BGH v. 20.3.1984 – VI ZR 14/82, VersR 1984, 639.

Zwickel | 997

§ 35 Rz. 35.31 | Regress der Sozialversicherungsträger

der Sozialversicherung ausgeschlossen ist und der Rentenanspruch sich daher nur aus einer früheren, pflichtversicherten Tätigkeit ergeben kann.82 Es wäre eine ungerechtfertigte Besserstellung des den Haushalt führenden Ehegatten, wenn ihm neben einer Erwerbsunfähigkeitsrente auch der volle Schadensersatzanspruch wegen Beeinträchtigung seiner Tätigkeit verbliebe. Auch eine Benachteiligung des Ehegatten gegenüber einem Alleinstehenden (der die Kosten einer Hilfskraft als vermehrte Bedürfnisse geltend machen kann) liegt nicht vor, da auch beim Verheirateten für den auf die Eigenversorgung entfallenden Teil der Haushaltsführung nur unter dem Gesichtspunkt der vermehrten Bedürfnisse Ersatz zu leisten ist, also nur der Teil der Schadensersatzforderung auf den Sozialversicherungsträger übergeht, der für reinen Erwerbsschaden zu leisten ist.83

35.32

Kongruenz besteht weiterhin mit dem Beitragszuschuss zur Krankenversicherung der Rentner (§§ 106, 315 SGB VI), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 112 ff. SGB III, § 16 SGB VI), Arbeitslosengeld (§§ 136 ff. SGB III; bis 31.12.2004 auch Arbeitslosenhilfe). Die Lohnersatzleistung eines Versicherungsträgers wie z.B. das Krankengeld ist kongruent zum haftungsrechtlichen Ausgleich der unfallbedingten Behinderung der Arbeitskraft, da sie neben dem Ausgleich des Ausfalls der Erwerbstätigkeit auch der Kompensation des Ausfalls im Haushalt dient.84 Die Zahlung von Altersrente ist, auch wenn ein Teil der Leistung auf unfallbedingt beitragslosen Zeiten beruht,85 mit dem Verdienstausfallschaden nicht kongruent, soweit sie auf dem Erreichen der Altersgrenze beruht,86 wohl aber bei Gewährung vorzeitiger Altersrente wegen der unfallbedingten Behinderungen.87

35.33

Soweit Leistungen der Krankenkasse für stationäre Behandlung auf ersparte häusliche Verpflegung entfallen (vgl. Rz. 35.27), sind sie mit dem Erwerbsschaden kongruent, weil die Verpflegungskosten ohne den Unfall aus dem Erwerbseinkommen zu tragen gewesen wären, die Übernahme der Verpflegungskosten also dem teilweisen Ersatz des Erwerbsschadens diente; daher geht auch insoweit der Schadensersatzanspruch über.88 Dies gilt auch für den Erwerbsschaden wegen Verhinderung an der Haushaltsführung.89

35.34

– Zwischen Beerdigungskosten (Rz. 31.14 ff.) und Sterbegeld (§§ 58, 59 SGB V [bis 31.12.2004], § 63 Abs. 1 Nr. 1, § 64 SGB VII).

35.35

– Zwischen Unterhaltsschaden (Rz. 31.31 ff.) und Hinterbliebenenrente (§§ 46 ff. SGB VI),90 Witwen-/Witwerabfindung (§ 80 SGB VII, § 107 SGB VI); ferner zwischen der zum Unter-

82 BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 49/72, VersR 1974, 163; a.A. BGH v. 19.12.1967 – VI ZR 62/66, VersR 1968, 194; Deutsch SGb 1974, 393; Lange FamRZ 1983, 1183. 83 BGH v. 25.9.1973 – VI ZR 49/72, VersR 1974, 163. 84 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 143. 85 OLG Bamberg v. 22.5.2006 u 31.8.2006 – 5 U 10/06, NZV 2007, 629, 631 mit Anm. Küppersbusch. 86 BGH v. 10.11.1981 – VI ZR 262/79, VersR 1982, 166; OLG Bamberg v. 22.5.2006 u 31.8.2006 – 5 U 10/06, NZV 2007, 629, 631 mit Anm. Küppersbusch. 87 BGH v. 11.3.1986 – VI ZR 64/85, VersR 1986, 813; OLG Braunschweig v. 27.10.2015 – 7 U 61/ 14, VersR 2016, 620. 88 BGH v. 18.5.1965 – VI ZR 262/63, VersR 1965, 786; BGH v. 3.4.1984 – VI ZR 253/82, VersR 1984, 583; BGH v. 13.10.1970 – VI ZR 31/69, NJW 1971, 240; Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X Rz. 75; a.A. LG Münster v. 15.6.1983 – 1 S 128/83, MDR 1984, 52. 89 LG Regensburg v. 10.11.1981 – S 152/81, VersR 1982, 885; a.A. OLG Zweibrücken v. 7.6.1991 – 1 U 14/90, NZV 1992, 150; Küppersbusch/Höher Rz. 248. 90 BGH v. 19.5.1987 – VI ZR 167/86, NJW 1987, 2293.

998 | Zwickel

II. Voraussetzungen des Forderungsübergangs | Rz. 35.40 § 35

haltsschaden gehörenden Ersatzpflicht für entgangene Haushaltsführung und Betreuung (§§ 1360 f. BGB; vgl. Rz. 31.57) und der Hinterbliebenenrente nach §§ 46 ff. SGB VI.91 – Auch die Beiträge, die von Sozialleistungen zu zahlen sind, also die Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie zur Bundesagentur für Arbeit, gehören gem. § 116 Abs. 1 S. 2 SGB X zu den kongruenten Sozialleistungen; vgl. näher Rz. 35.11 ff. Für die Zeit vor Inkrafttreten dieser Regelung zum 1.1.1992 bejaht die herrschende Meinung die sachliche Kongruenz der Beitragsleistung für den Fall, dass durch den Bezug der Sozialleistungen Versicherungspflicht begründet wurde.92 Zum Verhältnis zu § 119 SGB X vgl. Rz. 35.155 ff.

35.36

Werden die Beiträge zur Erhaltung des Krankenversicherungsschutzes der Hinterbliebenen erbracht, dann sind diese – als Rechnungsposten des einheitlichen Unterhaltsersatzanspruches – mit den Rentenleistungen des Sozialversicherungsträgers auch insoweit kongruent, als diese Beiträge (in Form der Einbehaltung nach §§ 255 f. SGB V) von den Hinterbliebenen selbst zu tragen sind.93 Hatte sowohl der getötete als auch der andere Elternteil des unterhaltsberechtigten Kindes Anspruch auf Familienkrankenhilfe, so kann der Rentenversicherungsträger nur die Hälfte seiner Beiträge zur Rentnerkrankenversicherung gegen den Schädiger geltend machen.94

35.37

bb) Keine sachliche Kongruenz Keine sachliche Kongruenz besteht demgegenüber bei den Verwaltungskosten des Sozialversicherungsträgers, den Kosten für ärztliche Gutachten und den zu zahlenden Zinsen nach § 44 SGB I.95

35.38

Schmerzensgeldforderungen gehen nach h.M. nicht auf den Versicherungsträger über, da es an der sachlichen Kongruenz fehlt.96 Manche Sozialleistungen mögen zwar auch eine ideelle Komponente aufweisen,97 deckungsgleich mit dem Schmerzensgeld sind sie deswegen jedoch nicht.98

35.39

c) Zeitliche Kongruenz Zeitliche Kongruenz setzt voraus, dass die Sozialleistung den Schaden für denselben Zeitraum abdeckt, für den der Verletzte Anspruch auf Schadensersatz gegen Dritte hat. Der Übergang

91 BGH v. 1.12.1981 – VI ZR 203/79, VersR 1982, 291 mit Anm. Gitter JR 1982, 204 und Sieg SGb 1982, 322; OLG Frankfurt v. 21.8.1992 – 24 U 72/91, NZV 1993, 474; a.A. noch BGH v. 10.3.1959 – VI ZR 77/58, VersR 1959, 633; OLG Frankfurt v. 13.6.1979 – 7 U 4/79, VersR 1980, 287 = 1981, 136 mit zust. Anm. Perkuhn. 92 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X, Rz. 23. 93 BGH v. 31.1.1989 – VI ZR 199/88, VersR 1989, 604 = NZV 1989, 306 mit Anm. Fuchs. 94 BGH v. 24.1.1978 – VI ZR 95/75, VersR 1978, 346. 95 Wussow/Schneider Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl. 2002, Kap. 74 Rz. 28. 96 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X, § 116 SGB X, Rz. 151. 97 Vgl. zur Verletztenrente der Gesetzlichen Unfallversicherung BSG SGb 2004, 187; a.A. BGH v. 3.12.2002 – VI ZR 304/01, VersR 2003, 390 (ausschließlich Lohnersatzfunktion). 98 A.A. für die Verletztenrente nach § 56 SGB VII Hauck/Noftz/Nehls Gesamtkommentar zum SGB X, 2014 § 116 SGB X Rz. 13 f.; wie hier BSG SGb 2004, 187; Giese/v. Koch/Kreikebohm Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil und Verfahrensrecht (SGB I und SGB X) 2007, § 116 SGB X Rz. 2.3.1, S. 9.

Zwickel | 999

35.40

§ 35 Rz. 35.40 | Regress der Sozialversicherungsträger

der Schadensersatzforderung findet stets nur in der Höhe statt, in der der Versicherungsträger für denselben Zeitraum Leistungen zu erbringen hat. Hat der Versicherungsträger in einem Zeitraum Leistungen erbracht, die den Schadensersatzanspruch des Verletzten für diesen Zeitraum überschreiten, so kann nicht wegen des Ausfalls ein Übergang von Forderungen für andere Zeiträume verlangt werden.99 Wird beispielsweise Unfallrente für einen ganzen Monat gezahlt, obwohl der verletzungsbedingte Verdienstausfall nur zwei Wochen dauerte, so kann die Rente auch nur zur Hälfte gedeckt werden.100

III. Rechtsfolgen 1. Anspruchsübergang 35.41

Der Anspruch geht kraft Gesetzes auf den Sozialversicherungsträger über (cessio legis). Eine Überleitungsanzeige ist nicht erforderlich. Der Übergang findet auf den tatsächlich verpflichteten, nicht auf den faktisch leistenden Sozialleistungsträger statt.101 Die cessio legis bewirkt, dass die Ansprüche des Geschädigten gegen den Dritten ab dem Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit (s. Rz. 35.43) nur noch vom Sozialversicherungsträger geltend gemacht werden können, nicht mehr vom Geschädigten selbst. Er verliert also die Aktivlegitimation zur Geltendmachung des haftungsrechtlichen Anspruchs und wird an einer Verfügung über den Anspruch gehindert; insbesondere kann er keinen wirksamen Vergleich mehr über den Anspruch abschließen.102 Der Sozialversicherungsträger erwirbt den Anspruch so, wie er im Moment des Übergangs dem Geschädigten zustand. Ein bereits vorher abgeschlossener Vergleich wirkt also auch gegen ihn, ebenso eine etwa bereits in Lauf gesetzte Verjährungsfrist (s. hierzu Rz. 24.16 ff.). Geltend machen kann er die übergegangenen Ansprüche insoweit, als er kongruente Leistungen (Rz. 35.23 ff.) an den Geschädigten erbracht hat (Rz. 35.18). Hat bei einem Arbeitsunfall zunächst die (nach § 11 Abs. 5 SGB V nicht zuständige) Krankenkasse geleistet, kann sie vom Unfallversicherungsträger Erstattung gem. § 105 SGB X verlangen;103 gegen den Schädiger hat sie mangels Leistungspflicht keinen Anspruch.104

35.42

Wenn ein Sozialversicherungsträger Rentenleistungen gewährt hat, kann der Verletzte für die Vergangenheit nicht mehr zwischen Renten- oder Kapitalzahlung wählen (vgl. näher Rz. 34.20); vielmehr ist der Übergang in Form einer Rente erfolgt.

2. Zeitpunkt des Übergangs 35.43

Grundsatz. Der Ersatzanspruch geht nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung – bei bereits bestehendem Versicherungsverhältnis (sonst Rz. 35.45) – grundsätzlich bereits im Zeitpunkt des Schadensereignisses über, also nicht etwa erst mit der Antragstellung, Leistungsbewilligung oder -erbringung. Ob zu diesem Zeitpunkt überhaupt Leistungen zu erbringen sind, ist unerheblich; es genügt die ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit, dass 99 OLG München v. 24.6.1966 – 10 U 836/66, VersR 1966, 927. 100 BGH v. 13.3.1973 – VI ZR 129/71, VersR 1973, 436. 101 BGH v. 28.3.1995 – VI ZR 244/94, NJW 1995, 2413, 2414; Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 3; Engelbrecht DAR 2011, 684. 102 S. hierzu und zum Schutz des gutgläubigen Schuldners Rz. 35.51 und 35.61. 103 BGH v. 8.7.2003 – VI ZR 274/02, NJW 2003, 3193. Bei vorläufigen Leistungen gem. § 43 SGB I richtet sich die Erstattung dagegen nach § 102 SGB X. 104 OLG Rostock v. 18.6.2004 – 8 U 93/03, NZV 2005, 206.

1000 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.46 § 35

der Träger irgendwann einmal wegen des Unfalls leistungspflichtig werden wird.105 Durch den frühzeitigen Forderungsübergang soll der Sozialversicherungsträger hinsichtlich der künftig zu erbringenden Leistungen vor einer Verfügung des Geschädigten geschützt werden.106 Dieser sofortige Anspruchsübergang führt zu Schwierigkeiten, wenn der Geschädigte – was ihm freisteht (vgl. § 46 Abs. 1 SGB I) – die ihm zustehenden Sozialleistungen nicht in Anspruch nimmt (hierzu unten Rz. 35.92), ist aber hinsichtlich des Übergangs auf Renten-, Kranken- und Unfallversicherungsträger allgemein anerkannt. Die Höhe der Leistungen braucht ebenfalls noch nicht festzustehen.107 Kein Übergang im Unfallzeitpunkt findet mangels Möglichkeit der künftigen Leistungserbringung statt, wenn der Geschädigte vor Erfüllung der Wartezeit (§§ 50 ff. SGB VI) in der Gesetzlichen Rentenversicherung für die Erlangung einer Erwerbsunfähigkeitsrente bei einem Verkehrsunfall so schwer verletzt wird, dass er nach medizinischer Prognose unzweifelhaft zeitlebens erwerbsunfähig bleiben und daher die Wartezeiten nicht erfüllen können wird. Eine spätere Wiederaufnahme der Tätigkeit ist dabei irrelevant.108

35.44

Bestand zum Zeitpunkt des Schadenseintritts noch kein Sozialversicherungsverhältnis, so erwirbt der Sozialversicherungsträger die Forderung erst mit dessen Beginn.109 Eine Familienversicherung nach § 10 SGB V reicht für den sofortigen Forderungsübergang aus, sofern sie mit dem späteren Krankenversicherungsverhältnis eine Einheit bildet.110 Dabei erfasst der Forderungsübergang auch spätere Ersatzansprüche wegen Arbeitsausfalls im Umfang des dafür zu beanspruchenden Krankengeldes, wenn der Verletzte den Krankengeldanspruch erst durch späteren Eintritt in die Pflichtversicherung erworben hat.111

35.45

Waren die später erbrachten Sozialleistungen gesetzlich noch nicht vorgesehen, so kann der Übergang erst mit dem Inkrafttreten der Neuregelung,112 nicht schon mit der Bekanntmachung der Gesetzesänderung im Bundesgesetzblatt,113 stattfinden. Dieser Fall liegt aber nur bei sog. Systemänderungen vor, d.h. wenn völlig neue Leistungsarten geschaffen werden.114 Werden demgegenüber bestehende Leistungen später infolge gesetzlicher Änderungen erhöht, deren Berechnungsmodalitäten geändert115 oder die Sozialleistung in sonstiger Weise systemkonform umgestaltet, erfolgt der Forderungsübergang bereits unmittelbar im Zeitpunkt des

35.46

105 BGH v. 10.7.1967 – III ZR 78/66, BGHZ 48, 181, 184; BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 243/80, VersR 1983, 536; BGH v. 17.4.1990 – VI ZR 276/89, NZV 1990, 308; BGH v. 20.9.1994 – VI ZR 285/ 93, NJW 1994, 3097. 106 OLG Koblenz v. 5.11.2013 – 3 U 421/13, SVR 2014, 426; OLG Saarbrücken v. 11.2.1999 – 3 U 640/98, OLGR Saarbrücken 1999, 323. 107 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 3. 108 OLG Bamberg v. 17.9.1996 – 5 U 217/95, NZV 1997, 517. 109 BGH v. 24.4.2012 – VI ZR 329/10, NZV 2012, 577; Giesen NJW 2012, 3609; Dahm NZV 2012, 575. 110 BGH v. 17.4.1990 – VI ZR 276/89, NJW 1990, 2933. 111 BGH v. 17.4.1990 – VI ZR 276/89, NJW 1990, 2933. 112 BGH v. 24.3.1954 – VI ZR 24/53, VersR 1954, 537; BGH v. 18.2.1997 – VI ZR 70/96, NZV 1997, 264; Engelbrecht DAR 2011, 684. 113 Küppersbusch/Höher Rz. 590. 114 Vgl. BGH v. 17.4.1990 – VI ZR 276/89, VersR 1990, 1028: Verpflichtung des Krankenversicherungsträgers zur Erbringung von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung. 115 BGH v. 30.11.1955 – VI ZR 211/54, BGHZ 19, 177, 183.

Zwickel | 1001

§ 35 Rz. 35.46 | Regress der Sozialversicherungsträger

schädigenden Ereignisses.116 Eine Systemänderung stellt insbesondere der Wechsel vom SGB V zum SGB XI durch Einführung der Gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI) dar,117 deren Leistungspflichten zum 1.4.1995 für den ambulanten Bereich in Kraft gesetzt und zum 1.7.1996 auf den stationären Bereich erweitert wurden.118 Wenn jedoch schon davor ein entsprechender Anspruch des Leistungsbeziehers (z.B. nach §§ 53 ff. SGB V a.F.) bestand, ist die Umstellung (im Beispiel auf den Leistungsanspruch nach §§ 36 ff. SGB XI) nicht als Systemänderung, sondern nur als Fortführung und Modifizierung des bisherigen Anspruchs anzusehen.119 Die zwischenzeitlich (1.1.1989 bis 31.3.1995) eingeführten Pflegeleistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung120 (Anspruch auf häusliche Pflegehilfe in §§ 53 ff. SGB V a.F.) sind als Systemänderung zu qualifizieren, nicht aber deren bloße Modifizierung durch die Neuregelung des Anspruchs auf häusliche Pflegehilfe in §§ 36 ff. SGB XI121 und die in Nachfolge zu § 185 Abs. 3 RVO geregelte häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V.122

35.47

Für die Arbeitslosenversicherung hatte der BGH zu § 127 AFG a.F. die Auffassung vertreten, dass der Ersatzanspruch des Geschädigten frühestens im Zeitpunkt der Bewilligung von Leistungen auf die damalige Bundesanstalt für Arbeit (jetzt: Bundesagentur für Arbeit) übergeht.123 Seit 1.7.1983 verweist § 127 AFG, ab 1.1.1998 der ihn ersetzende § 116 Abs. 10 SGB X, jedoch auf § 116 Abs. 1 SGB X, so dass hinsichtlich des Zeitpunkts jetzt kein Unterschied mehr gemacht werden kann, soweit es um Arbeitslosengeld nach §§ 136 ff. SGB III124 oder Rehabilitationsleistungen nach §§ 112 ff. SGB III125 geht und die Erbringung von Sozialleistungen durch die Bundesagentur für Arbeit ernsthaft in Betracht kommt126 (wegen Arbeitslosenhilfe bzw. der sie ersetzenden Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II vgl. dagegen Rz. 36.19).

35.48

Der Anspruch geht daher bereits zum Unfallzeitpunkt über, wenn unfallbedingte Leistungen der Bundesagentur für Arbeit aufgrund eines bereits bestehenden Arbeitslosenversicherungsverhältnisses ernsthaft in Betracht kommen.127 Wenn der Geschädigte zum Zeitpunkt des Unfalls jedoch nicht arbeitslosenversichert ist, sich aber konkret absehen lässt, dass Leistungen (wie z.B. Rehabilitationsleistungen) erforderlich sein werden, geht der Ersatzanspruch ebenfalls schon im Zeitpunkt des Schadenseintritts über.128

116 Vgl. v. 30.11.1955 – VI ZR 211/54, BGHZ 19, 177, 183; BGH v. 12.7.1960 – VI ZR 122/59, VersR 1960, 830; BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35. 117 OLG Koblenz v. 11.1.1999 – 12 U 10/98, VersR 1999, 911; Wegmann VersR 1995, 1289; Jahnke VersR 1996, 932; Küppersbusch NZV 1997, 32; offenlassend BGH v. 3.12.2002 – VI ZR 142/02, NJW 2003, 1455, 1456. 118 Zur Historie der Pflegeversicherung s. Jahnke VersR 1996, 926 ff. 119 BGH v. 3.12.2002 – VI ZR 142/02, NJW 2003, 1455. 120 BGH v. 18.2.1997 – VI ZR 70/96, VersR 1997, 723; OLG Koblenz v. 11.1.1999 – 12 U 10/98, VersR 1999, 911; Wegmann VersR 1995, 1288 ff.; Jahnke VersR 1996, 928; Küppersbusch NZV 1997, 32; a.A. OLG München v. 3.3.1994 – 24 U 611/93, VersR 1995, 726. 121 BGH v. 12.4.2011 – VI ZR 158/10, NJW 2011, 2357, 2358. 122 Jahnke VersR 1996, 928. 123 BGH v. 23.3.1982 – VI ZR 293/80, BGHZ 83, 245; BGH v. 14.2.1984 – VI ZR 160/82, VersR 1984, 482. S. auch Plagemann VersR 1982, 218. 124 BGH v. 19.9.1989 – VI ZR 344/88, BGHZ 108, 296. 125 BGH v. 20.9.1994 – VI ZR 285/93, NJW 1994, 3097; Waltermann NJW 1996, 1646. 126 BGH v. 20.9.1994 – VI ZR 285/93, NJW 1994, 3097. 127 BGH v. 5.5.2009 – VI ZR 208/08, VersR 2009, 995. 128 BGH v. 20.9.1994 – VI ZR 285/93, VersR 1994, 1450.

1002 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.53 § 35

Für den Übergang auf Sozialhilfeträger bestehen Besonderheiten (s. Rz. 36.19). Zu den Auswirkungen des Übergangszeitpunkts auf die Verjährung s. Rz. 24.16 ff.

35.49

3. Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen a) Bestand des Anspruchs Der Regress ist in zweifacher Hinsicht begrenzt: Zum einen (selbstverständlich) durch die Höhe des übergegangenen Ersatzanspruchs des Geschädigten, zum anderen durch die Höhe der Leistung des Zessionars. Für die Inanspruchnahme des Schädigers muss der Sozialversicherungsträger daher darlegen und ggf. beweisen, dass und in welcher Höhe er Leistungen erbracht hat.

35.50

§ 116 Abs. 8 SGB X lässt jedoch eine Pauschalierung zu.129 Der Krankenversicherungsträger kann wählen, ob er die dort genannte Pauschale oder die höheren tatsächlich entstandenen Aufwendungen abrechnet. Eine abweichende Regelung kann im Rahmen von Pauschalierungsabkommen nach § 116 Abs. 9 SGB X getroffen werden. Nicht pauschal abrechenbar sind Kosten der stationären Behandlung. Vom Pauschbetrag nicht erfasst sind die Transportkosten nach § 60 SGB V.130 Schadensfall in diesem Sinne ist das Unfallereignis und nicht der sozialversicherungsrechtliche Versicherungsfall.131 Daher kann bei wiederholter Erkrankung aufgrund der Unfallverletzungen die einmal geltend gemachte und erhaltene Pauschale nicht noch einmal gefordert werden.132 Ebenso wenig ist es möglich, nach Erhalt der Pauschale noch konkrete Abrechnung zu verlangen, und zwar selbst dann, wenn eine Nachforderung vorbehalten wurde.133

35.51

Über § 412 BGB finden die Vorschriften der §§ 399 bis 404, 406 bis 410 BGB entsprechende Anwendung. Der Ersatzpflichtige kann dem Sozialversicherungsträger alle Einwendungen entgegenhalten, die ihm zur Zeit des Forderungsübergangs dem Geschädigten gegenüber zustanden (§§ 412, 404 BGB). Da der Schadensersatzanspruch gem. § 116 Abs. 1 SGB X bereits mit seiner Entstehung und nicht erst mit der Leistung des Regressgläubigers übergeht, kommt es in der Praxis häufig zur schuldbefreienden Leistung des Schädigers an den Scheingläubiger (§§ 412, 407 BGB). Der Sozialversicherungsträger müsste sich auf einen Bereicherungsanspruch aus § 816 Abs. 2 BGB verweisen lassen, dem sich der Geschädigte häufig durch Entreicherung entziehen könnte (§ 818 Abs. 3 BGB). § 116 Abs. 7 S. 1 SGB X schafft für diese Fälle einen eigenen Erstattungsanspruch, für den die Einrede des Wegfalls der Bereicherung ausgeschlossen ist.134

35.52

Es handelt sich hierbei um einen öffentlich-rechtlichen Anspruch, der ggf. vor den Sozialgerichten durchzusetzen ist.135 Zur Bedeutung eines Abfindungsvergleichs zwischen Schädiger und Geschädigtem vgl. Rz. 35.57 ff., zum Übergang auf einen ausländischen Sozialversicherer Rz. 35.107.

35.53

129 Zu der bei Schadensfällen vor dem 1.7.1983 möglichen, weitergehenden Pauschalierung nach § 1542 Abs. 2 RVO a.F. vgl. 2. Aufl., § 11 Rz. 39. 130 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 60. 131 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 61. 132 Küppersbusch VersR 1983, 204; Deinhardt VersR 1984, 702. 133 Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 91; LG München I v. 8.6.1989 – 19 S 5117/89, ZfS 1990, 45; a.A. für den letztgenannten Fall Küppersbusch/Höher Rz. 632. 134 Palandt/Grüneberg vor § 249 Rz. 126. 135 Vgl. OLG Frankfurt v. 12.3.1996 – 17 W 18/95, NJW-RR 1997, 1087.

Zwickel | 1003

§ 35 Rz. 35.54 | Regress der Sozialversicherungsträger

b) Anrechnung eines Mitverschuldens 35.54

Trifft den Verletzten am Unfall oder an der Höhe des Schadens eine Mitverantwortung (§ 9 StVG, § 254 BGB), so kann der Schädiger dies auch dem Zessionar entgegenhalten (§§ 412, 404 BGB). Dies gilt auch bei Verletzung der Schadensminderungspflicht durch den Verletzten.136

35.55

Auch den Sozialversicherungsträger selbst kann ein anrechenbares Mitverschulden treffen. So verstößt er z.B. gegen die Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB, wenn er gebotene Leistungen zur Teilhabe unterlässt, durch die die Erwerbsfähigkeit des Verletzten hätte wiederhergestellt werden können.137 Auch in diesem Fall hat er eine Kürzung seiner Rückgriffsforderung bzw. (wenn der gesamte geltend gemachte Erwerbsschaden auf die unterlassene Rehabilitation zurückzuführen ist) deren Ausschluss hinzunehmen.138

35.56

Reicht infolge der Anrechnung des Mitverschuldens der Schadensersatzanspruch nicht aus, um die Leistungen des Sozialversicherungsträgers voll abzudecken, so richtet sich die Frage, zu wessen Lasten der Fehlbetrag geht, nach den Grundsätzen über das Quotenvorrecht (Rz. 35.67 ff.).

c) Abfindungsvergleich und Teilungsabkommen 35.57

Nach § 116 Abs. 9 SGB X ist die Vereinbarung einer Pauschalierung der Ersatzansprüche zulässig. Die Vorschrift eröffnet die Möglichkeit, Ersatzansprüche nachträglich durch Abschluss eines einmaligen Abfindungsvergleichs oder vorab durch Abschluss eines Teilungsabkommens zu regeln. Teilungsabkommen werden als vorweggenommene Rahmenvergleiche angesehen, wobei sich die Vertragsschließenden ohne Kenntnis der künftig konkret abzuwickelnden Schadensersatzansprüche auf die Zahlung einer bestimmten Schadensquote einigen.139 Sie werden insbesondere mit den Krankenkassen und auch mit den Pflegekassen vereinbart.140 Wird zwischen einem Krankenversicherungsträger und dem Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherer ein Abfindungsvergleich für künftige Schäden geschlossen, so ist er bei einem späteren Kassenwechsel des versicherten Geschädigten grundsätzlich nicht verpflichtet, die andere Kasse an der Abfindung zu beteiligen.141 Vgl. auch Rz. 15.55.

35.58

Unwirksam ist der in einem Abfindungsvergleich zwischen Krankenversicherungsträger und Haftpflichtversicherer enthaltene Erlass der Ersatzansprüche gegenüber dem Geschädigten, soweit dessen Rechte dadurch vereitelt oder beeinträchtigt werden.142 Ein zwischen Haftpflichtversicherer und Krankenkasse geschlossener Abfindungsvergleich ist ferner nach § 779 BGB unwirksam, wenn der Haftpflichtversicherer des Schädigers in der Annahme, dass ein Arbeitsunfall nicht vorliege, Ersatzleistungen an die Krankenkasse erbringt. Diese Leistungen erfolgen regelmäßig ohne Rechtsgrund.143 Der Haftpflichtversicherer ist dem Unfallversiche-

136 BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 59/81, VersR 1983, 488; Küppersbusch/Höher Rz. 589. 137 Vgl. §§ 4, 7 S. 2 SGB IX i.V.m. §§ 9 ff. SGB VI, § 35 SGB VII, § 11 Abs. 2, §§ 40 ff. SGB V, §§ 3, 8 SGB IX und zur Verpflichtung zur Rehabilitation BVerfGE 9, 147; 14, 114. 138 BGH v. 16.12.1980 – VI ZR 92/79, VersR 1981, 347 = 1075 mit Anm. Klimke. 139 Marburger NZV 2012, 521; Marburger VersR 2003, 1232. 140 Küppersbusch NZV 1997, 32. 141 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 64. 142 BGH v. 8.12.1998 – VI ZR 318/97, VersR 1999, 382. 143 BGH v. 8.7.2003 – VI ZR 274/02, NJW 2003, 3193, 3195; vgl. auch Lemcke r+s 2002, 441, 443.

1004 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.62 § 35

rungsträger weiterhin zur Leistung verpflichtet.144 Zum daraus resultierenden Ersatzanspruch des Haftpflichtversicherers gegen den Krankenversicherer vgl. Rz. 15.60. Der aufgrund eines Teilungsabkommens einen Schadensausgleich an die Krankenversicherung zahlende Haftpflichtversicherer kann den gezahlten Betrag vom Schädiger zurückfordern, sofern sich herausstellt, dass dieser die Alleinschuld an dem Unfall hat und infolgedessen zu vollem Schadensersatz verpflichtet ist.145

35.59

Einen vor dem Rechtsübergang abgeschlossenen Vergleich zwischen Schädiger und Geschädigtem muss der Sozialversicherungsträger gegen sich gelten lassen;146 da der Forderungsübergang sich aber in den meisten Fällen bereits im Unfallzeitpunkt vollzieht (Rz. 35.43), kam dem bisher nur geringe Bedeutung zu. Erhebliche Auswirkungen ergeben sich jedoch nunmehr im Bereich der Gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI). Da es sich bei deren Einführung um eine Systemänderung (s. Rz. 35.46) handelt, konnten die kongruenten Ansprüche gegen den Schädiger auf Ersatz der vermehrten Bedürfnisse erst mit dem Inkrafttreten der entsprechenden Leistungsbestimmungen (1.4.1995 für den ambulanten, 1.7.1996 für den stationären Bereich) auf die Pflegekasse übergehen.147 Wurde vor diesem Zeitpunkt ein Abfindungsvergleich geschlossen, aus dem die Ansprüche wegen vermehrter Bedürfnisse nicht ausdrücklich ausgenommen wurden, so konnte ein Übergang auf den Träger der Pflegeversicherung nicht mehr stattfinden.148 Dieser Ausschluss des Forderungsübergangs betrifft auch vor Einführung der Pflegeversicherung geschlossene Abfindungsvergleiche zwischen Unfallverletzten und Haftpflichtversicherern.149 Hat eine Kfz-Haftpflichtversicherung vor Inkrafttreten des SGB V mit einem Verkehrsunfallverletzten einen Abfindungsvergleich „zur Abgeltung aller gegenseitigen Ansprüche aus dem Verkehrsunfall vom …“ geschlossen, bezieht dieser auch Ansprüche des Geschädigten auf Ersatz der durch besonderen Pflegeaufwand entstehenden künftigen Kosten ein, so dass ein diesbezüglicher Anspruchsübergang auf den Träger der Pflegeversicherung nicht in Betracht kommt.150

35.60

Umgekehrt kann ein Abfindungsvergleich nicht solche Schadenspositionen umfassen, die nach der Gesetzeslage bei Vergleichsschluss wegen § 116 Abs. 1 SGB X vollständig der Verfügung des Geschädigten entzogen waren und ihm erst nach einer Reduzierung des Leistungsumfangs der Sozialversicherung (z.B. aufgrund des Gesundheitsreformgesetzes) wieder entstehen konnten.151

35.61

Wird nach einem Verkehrsunfall, aber vor Erfüllung der Wartezeit in der Gesetzlichen Rentenversicherung für die Erlangung einer Erwerbsunfähigkeitsrente ein Abfindungsvergleich

35.62

144 LG Stuttgart v. 28.1.2002 – 27 O 317/01, r+s 2002, 460 mit Anm. Lemcke r+s 2002, 441, 443, der eine Befreiung des Haftpflichtversicherers entsprechend §§ 408 Abs. 2, 407 BGB und einen Erstattungsanspruch des Unfall- gegen den Krankenversicherer gem. § 816 Abs. 2 BGB präferiert. 145 LG Cottbus v. 19.11.1998 – 2 O 310/97, DAR 2000, 70. 146 LG Memmingen v. 16.5.2013 – 34 O 1972/12, DAR 2014, 275. 147 Jahnke VersR 1996, 933 stellt auf den Zeitpunkt der Institutionalisierung der Pflegeversicherung (1.1.1995) ab. 148 Jahnke VersR 1996, 933, auch für den Fall eines Abfindungsvergleichs mit dem Krankenversicherer des Verletzten. 149 OLG Koblenz v. 11.1.1999 – 12 U 10/98, VersR 1999, 911. 150 OLG Celle v. 28.10.1997 – 5 U 191/94, NZV 1998, 250. 151 Gerner VersR 1996, 1080 mit abl. Anm. zu OLG Koblenz v. 18.2.1991 – 12 U 1646/89, VersR 1996, 232.

Zwickel | 1005

§ 35 Rz. 35.62 | Regress der Sozialversicherungsträger

zwischen dem Geschädigten und der Versicherung des Unfallschädigers geschlossen, wobei nach medizinischer Prognose kein Zweifel daran bestand, dass der Verletzte zeitlebens erwerbsunfähig bleiben werde, und kommt es in der Folgezeit dennoch zu einer Erfüllung der Wartezeit aufgrund Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit und damit zum Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrente, sind Regressansprüche des Sozialversicherungsträgers dennoch mit der Zahlung des Abfindungsbetrages erloschen.152

35.63

Hat sich der Geschädigte nach dem Rechtsübergang mit dem Ersatzpflichtigen verglichen, so ist der Vergleich grundsätzlich unwirksam, denn der Geschädigte war nicht mehr berechtigt, über den Ersatzanspruch zu verfügen. In Betracht kommt aber eine Wirksamkeit infolge Gutgläubigkeit des Schuldners nach §§ 412, 407 Abs. 1 BGB. Wenn der Haftpflichtversicherer keine Kenntnis von der Legalzession hat, muss der Versicherte dem Versicherungsträger Leistungen im diesem zustehenden Umfang erstatten. An den guten Glauben werden von der Rechtsprechung jedoch strenge Anforderungen gestellt: Bereits die Kenntnis von Umständen, von denen allgemein bekannt ist, dass sie eine Sozialversicherungspflicht begründen, hindert den Ersatzpflichtigen, sich darauf zu berufen, er habe von dem Forderungsübergang nichts gewusst,153 so dass bei normalerweise sozialversicherten Arbeitern oder Angestellten in der Regel von einer Kenntnis auszugehen ist.154 Ohne Bedeutung ist daher auch, ob dem Schädiger bzw. seinem Haftpflichtversicherer die gesetzlichen Vorschriften bekannt sind, auf denen die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers beruht.155 Beim Forderungsübergang infolge einer gesetzlichen Systemänderung (Rz. 35.46) entfällt der gute Glaube spätestens mit der Verkündung im BGBl.156

4. Beschränkungen bei nicht ausreichender Ersatzleistung a) Gesetzliche Höhenbegrenzung 35.64

Um zu vermeiden, dass die cessio legis sich zum Nachteil des Verletzten auswirkt, normiert § 116 Abs. 2 SGB X – in Abkehr von der früheren Rechtslage157 – ein sog. Quotenvorrecht des Geschädigten für den Fall, dass der Schadensersatzanspruch wegen einer gesetzlichen Haftungshöchstgrenze (§ 12 StVG, § 9 HaftpflG) nicht ausreicht, um die Leistungen des Sozialversicherungsträgers und den verbleibenden Schaden des Verletzten auszugleichen.158 Der Versicherungsträger erhält dann nur die nach Befriedigung des Verletzten übrig bleibende Restforderung.159 Nicht von dieser Regelung erfasst wird die Erschöpfung der Deckungssumme aus der Haftpflichtversicherung (s. hierzu Rz. 35.75).

152 OLG Bamberg v. 17.9.1996 – 5 U 217/95, NZV 1997, 517. 153 BGH v. 23.9.2014 – VI ZR 483/12, VersR 2014, 1395; BGH v. 7.5.1968 – VI ZR 179/66, VersR 1968, 771; BGH v. 17.4.1990 – VI ZR 276/89, NZV 1990, 310. 154 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 58. 155 BGH v. 24.3.1994 – X ZR 108/91, NJW 1994, 3099 (betr. Rehabilitationsleistungen der damaligen Bundesanstalt für Arbeit). 156 BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35. Weitergehend Jahnke VersR 1996, 931: sobald nach Pressemitteilungen mit Verabschiedung des Gesetzes zu rechnen ist. 157 Sie bleibt für Unfälle vor dem 1.7.1983 maßgeblich; s. hierzu 3. Aufl. Schlussanh. II Rz. 142 ff. 158 Zum Ganzen Greger/Otto NZV 1997, 293. 159 Marburger NZV 2011, 477.

1006 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.68 § 35

Kontrovers diskutiert wird die im Wortlaut des § 116 Abs. 2 SGB X offen gelassene Frage, ob unter Schaden hier nur der den Sozialleistungen sachlich und zeitlich kongruente Schaden160 oder der Gesamtschaden161 zu verstehen ist. Bei Ansatz nur des kongruenten Schadens würde der ggf. noch verfügbare Restbetrag, z.B. in Höhe eines nicht kongruenten Schmerzensgeldes, dem Sozialleistungsträger verbleiben. Demgegenüber hat der BGH dem Versicherten für den Fall, dass der Haftungsumfang durch gesetzliche Höchstsummen eingeschränkt ist (§ 12 StVG), ein uneingeschränktes Quotenvorrecht gewährt, so dass er seine gesamten Schadensersatzansprüche (auch die inkongruenten Schäden) vorab befriedigen kann.162 Nach dieser systemwidrigen Rechtsansicht163 kommt es nur dann noch zu einem Forderungsübergang auf den leistenden Sozialversicherungsträger, wenn der gesamte Schaden des Verletzten mit der begrenzten Haftungssumme ausgeglichen werden kann.164

35.65

Das Quotenvorrecht des Geschädigten besteht aber nur, wenn bei voller Haftung des Schädigers der Schadensersatzanspruch durch einen gesetzlichen Höchstbetrag begrenzt wird, nicht bei Kürzung wegen Mitverschuldens165 (s. hierzu Rz. 35.67).

35.66

b) Mitverschulden aa) Grundsatz Für den Fall, dass der Schädiger wegen der Mitverantwortung des Geschädigten für den Unfall oder aus anderen Gründen nicht verpflichtet ist, Schadensersatz in der vollen Höhe zu leisten, sieht § 116 Abs. 3 S. 1 SGB X die Aufteilung des Ersatzanspruchs zwischen Sozialversicherungsträger einerseits und Geschädigtem andererseits im Verhältnis der Leistungspflicht des Versicherungsträgers zu dem durch diese Leistungspflicht nicht gedeckten Restschaden vor. Im Gegensatz hierzu hatte die Rechtsprechung zur Vorläufervorschrift § 1542 RVO das sog „Quotenvorrecht“ des Sozialversicherungsträgers entwickelt, demzufolge der Geschädigte aus dem verminderten Schadensersatzbetrag nur das erhielt, was nach Durchführung des vollen Sozialversichererregresses übrig blieb.166 Diese Rechtslage bleibt für Unfälle vor dem Inkrafttreten des § 116 SGB X am 1.7.1983 maßgeblich.167

35.67

§ 116 Abs. 3 S. 1 SGB X räumt keiner Seite ein Vorrecht ein, sondern verteilt den Ausfall durch Quotelung des Schadensersatzanspruchs gleichmäßig (sog. relative Theorie).168 Der Geschädigte erscheint hier weniger schutzwürdig, weil er zur Entstehung des Schadens in zurechenbarer Weise beigetragen hat. Die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche werden daher im Verhältnis zu dem Teil des Schadens, der durch die Sozialleistung nicht gedeckt ist, aufgeteilt.

35.68

160 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 13; Küppersbusch VersR 1983, 193; Denck VersR 1987, 630 f.; Sieg BB 1987 Beil 13 S. 8. 161 BGH v. 8.4.1997 – VI ZR 112/96, DAR 1997, 310; Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30, Rz. 61; Wussow/Schloën Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl. 2002, Rz. 2462; Deinhardt VersR 1984, 697. 162 BGH v. 8.4.1997 – VI ZR 112/96, NJW 1997, 1785. 163 S. hierzu Greger/Otto NZV 1997, 292 ff. 164 Groß DAR 1999, 343. 165 BGH v. 21.11.2000 – VI ZR 120/99, NJW 2001, 1214 = JZ 2001, 714 mit Anm. Gitter. 166 BGH v. 9.11.1956 – VI ZR 196/55, BGHZ 22, 136, 138; BGH v. 29.11.1977 – VI ZR 222/74, BGHZ 70, 67, 70. S. auch Greger/Otto NZV 1997, 292 ff. 167 Zu den Einzelheiten s. 3. Aufl. Schlussanh. II, Rz. 142 ff. 168 Engelbrecht DAR 2011, 684; Groß DAR 1999, 343.

Zwickel | 1007

§ 35 Rz. 35.69 | Regress der Sozialversicherungsträger

35.69

Der Anteil des Schadensersatzanspruches, der nach dieser Aufteilung dem Prozentsatz der Schadensdeckung durch den Sozialversicherungsträger entspricht, geht auf diesen über. Dadurch erhält der Sozialleistungsträger den Teil seiner übergangsfähigen Leistungen erstattet, welcher der Haftungsquote des Schädigers entspricht. Dem Geschädigten verbleibt demgegenüber der um seinen Mitverschuldensanteil gekürzte Teil des Schadensersatzanspruchs, der dem Verhältnis seines von der Sozialleistung nicht gedeckten Restschadens zum Gesamtschaden entspricht.169

35.70

Eine von § 116 Abs. 3 S. 1 SGB X abweichende Aufteilung des Anspruchs zwischen Geschädigten und Sozialversicherungsträger (zu Lasten des Hinterbliebenen) soll erfolgen, wenn der Hinterbliebene eines Unfallopfers den Unterhaltsschaden aufgrund eigenen Beitrags zum Unterhalt reduziert, er dadurch bei quotenmäßiger Haftung des Schädigers aus dem Differenzbetrag zunächst seinen verbleibenden Schadensanteil abdecken kann, er dann aber mehr als bei voller Schädigerhaftung erhalten würde.170 bb) Ausnahmen

35.71

In zwei Fällen sieht das Gesetz abweichend von § 116 Abs. 3 S. 1 SGB X ein Quotenvorrecht des mitverantwortlichen Verletzten vor:

35.72

– wenn und soweit der Verletzte oder seine Hinterbliebenen durch den Forderungsübergang auf den Sozialversicherungsträger171 hilfebedürftig i.S.d. SGB XII würden (§ 116 Abs. 3 S. 3 SGB X);172

35.73

– wenn der Sozialversicherungsträger keine höheren Leistungen als vor dem schadenstiftenden Ereignis zu erbringen hat,173 also aufgrund des Unfalls keine finanzielle Mehrbelastung für den Sozialversicherungsträger entsteht, insbesondere also bei Tötung eines Sozialrentners (§ 116 Abs. 5 SGB X); dies entspricht der Rechtslage vor Inkrafttreten des § 116 SGB X (s. oben Rz. 35.67).

c) Zusammentreffen von Mitverschulden und Höhenbegrenzung 35.74

Nach § 116 Abs. 3 S. 2 SGB X ist auch in diesem Fall die Quotelung nach der relativen Theorie (Rz. 35.68) vorzunehmen. Streitig ist jedoch, ob und wie sich daneben das Quotenvorrecht wegen der gesetzlichen Höhenbeschränkung auswirkt. Der BGH wendet ausschließlich die relative Theorie an, geht hierbei jedoch, um zu vermeiden, dass der Geschädigte bei einem höheren Mitverschuldensanteil einen höheren Betrag erhielte als bei einer geringeren Mitverantwortung, in zwei Stufen vor: Zunächst ist eine Aufteilung der übergehenden und der dem Geschädigten verbleibenden Ansprüche nach § 116 Abs. 3 S. 1 SGB X ohne Berücksichtigung der Haftungshöchstgrenze vorzunehmen; überschreitet der um den Mitverschuldensanteil des Geschädigten gekürzte Gesamtschadensanspruch die gesetzliche Haftungshöchstsumme, ist anschließend das Ergebnis der Aufteilung zwischen Sozialversicherungsträger und Geschädig169 BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 244/88, BGHZ 106, 381, 385. 170 OLG Hamm v. 16.10.2003 – 6 U 16/03, NZV 2004, 43; Staudinger/Röthel § 844 Rz. 251. 171 Zum Erfordernis der Kausalität zwischen Anspruchsübergang und Sozialhilfebedürftigkeit BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, BGHZ 133, 129. 172 Einzelheiten hierzu bei Küppersbusch VersR 1983, 198. § 116 Abs. 3 S 3 SGB X ist, nach allgemeiner Auffassung, auch auf Leistungsberechtigte nach dem SGB II (Hartz-IV-Bezieher) anwendbar. Einzelheiten hierzu bei Marburger NZV 2011, 477. 173 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 49.

1008 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.76 § 35

tem der Haftungshöchstgrenze anteilig anzupassen, um die Unterdeckung proportional auf beide zu verteilen.174 Auch diese Ansicht führt zwar nicht zu allgemein befriedigenden Ergebnissen; eine Abhilfe wäre jedoch nur dem Gesetzgeber möglich.175

d) Tatsächliche Durchsetzungshindernisse Besteht zwar ein Ersatzanspruch in voller Höhe des entstandenen Schadens, kann dieser aber aus tatsächlichen Gründen nicht voll durchgesetzt werden, so darf sich nach § 116 Abs. 4 SGB X der Verletzte vorrangig aus dem erlangten Betrag befriedigen (sog. Befriedigungsvorrecht des Geschädigten). Diese (bereits vor Inkrafttreten des SGB X von der Rechtsprechung176 entwickelte) Regelung greift z.B. ein, wenn der Schädiger nicht zahlungsfähig ist und kein Haftpflichtversicherungsschutz besteht oder die Deckungssumme überschritten ist. Sie berührt nicht den Forderungsübergang, sondern wirkt sich vor allem im vollstreckungsrechtlichen Verteilungsverfahren (§§ 872 ff. ZPO), bei nicht ausreichender Versicherungssumme im Verteilungsverfahren nach § 109 VVG,177 aus, ist jedoch auf Einrede hin auch bereits im Erkenntnisverfahren zu beachten.178 Das Befriedigungsvorrecht erstreckt sich auf den Gesamtschaden, also auch auf das nicht kongruente Schmerzensgeld.179 Es steht dem Geschädigten auch im Falle der Beschränkung der Schadensersatzansprüche nach § 116 Abs. 2 oder Abs. 3 SGB X bei zusätzlicher Nichtdurchsetzbarkeit zu.180

35.75

5. Für Schadensfälle bis 31.12.2020: Ausschluss des Forderungsübergangs bei Schädigung durch Familienangehörige a) Normzweck § 116 Abs. 6 SGB X schließt in der für Schadensfälle bis 31.12.2020 gültigen Fassung (s. § 120 Abs. 1 S. 3 SGB X n.F.) den Übergang des Ersatzanspruchs auf den Sozialleistungsträger aus, wenn er sich gegen einen Familienangehörigen richtet und dieser die zur Leistungspflicht führende Schadensfolge nicht vorsätzlich herbeigeführt hat. Der Geschädigte soll nicht über die häusliche Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Regresspflichtigen in Mithaftung genommen werden. Dieser Rechtsgedanke, den die Rechtsprechung bereits vor Inkrafttreten des § 116 SGB X ins Feld geführt hat,181 beruht auf der Erwägung, dass die wirtschaftlich gesehen eine Einheit bildenden Angehörigen nicht zugleich entschädigt und belastet werden sollen und dass der Familienfriede nicht durch Auseinandersetzungen über die Unfallverantwortung gestört werden soll. Das Angehörigenprivileg kann nicht abbedungen werden (§ 87 VVG analog) und greift daher auch im Falle einer ausdrücklichen Abtretung an den Sozialversicherungsträger ein.182 174 BGH v. 21.11.2000 – VI ZR 120/99, NJW 2001, 1214, 1216; näher v. Olshausen VersR 2001, 937 mit Rechenbeispiel und Nachweis anderer Lösungsansätze. 175 v. Olshausen VersR 2001, 936, 940. 176 BGH v. 29.10.1968 – VI ZR 280/67, VersR 1968, 1182. 177 Hierzu eingehend Hessert VersR 1997, 42. 178 BGH v. 25.5.1982 – VI ZR 203/80, VersR 1982, 791, 793. 179 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 47; Hessert VersR 1997, 41 mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung. 180 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 47. 181 BGH v. 11.2.1964 – VI ZR 271/62, BGHZ 41, 79; BGH v. 14.7.1970 – VI ZR 179/68, BGHZ 54, 256; BGH v. 4.3.1976 – VI ZR 60/75, BGHZ 66, 111; BGH v. 5.12.1978 – VI ZR 233/77, VersR 1979, 256. 182 OLG Saarbrücken v. 26.2.1988 – 3 U 96/86, VersR 1988, 1038; Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 84; a.A. Bayer VersR 1989, 1123.

Zwickel | 1009

35.76

§ 35 Rz. 35.77 | Regress der Sozialversicherungsträger

b) Familienangehörige 35.77

Familienangehörige i.S.d. § 116 Abs. 6 SGB X sind neben den Verwandten aufsteigender und absteigender Linie insbesondere Ehegatten und Lebenspartner i.S.d. LPartG, aber auch Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder183 bzw. -eltern (§§ 1589, 1590 BGB). Nicht darunter fallen Verlobte.184 Sehr umstritten war bislang die Frage, ob auch Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, trotz des entgegenstehenden Wortlauts des § 116 Abs. 6 SGB X (Familienangehörige), als Familienangehörige i.S.d. Vorschrift anzusehen sind.185 Mittlerweile wendet die Rspr., wegen des beabsichtigten Gleichlaufs von § 86 Abs. 3 VVG und § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X, die Vorschrift analog auf Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft an.186 Die Interessenlage bei nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Ehe ist vergleichbar, da die Inanspruchnahme des Partners, bei gemeinsamer Mittelaufbringung und gemeinsamer Mittelverwendung, den Versicherungsnehmer wirtschaftlich wie in einer Ehe trifft.187

c) Häusliche Gemeinschaft 35.78

Häusliche Gemeinschaft liegt vor bei einem auf gewisse Dauer (Zeitmoment) beabsichtigten Zusammenleben mit überwiegend gemeinschaftlicher Haushaltsführung (Raum- oder Ortsmoment).188 Erforderlich sind eine gewisse wirtschaftliche Einheit, die sich jedoch nicht auf die gesamte Wirtschaftsführung zu erstrecken braucht,189 sowie ein im Kern gemeinsames Familienleben.190 Diese Voraussetzungen können auch beim Zusammenleben von Eltern und verheiratetem Sohn bestehen.191 Sie fehlen hingegen zwischen einem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ausländischen Arbeitnehmer und seinen nur im Urlaub besuchten Angehörigen im Heimatland.192 Vorübergehende Trennung hebt sie nicht auf, wie z.B. bei Kindern, die nur zu Ausbildungszwecken zeitweise außerhalb wohnen. Das Angehörigenprivileg greift, im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X, auch bei regelmäßigem Zusammenleben eines Elternteils mit einem Kind im Rahmen des elterlichen Umgangsrechts, selbst wenn das Kind nicht ständig bei dem Elternteil lebt.193 Ein nur gemeinsames Wohnen reicht allerdings nicht aus.194 Die Prüfung, ob tatsächlich eine gemein-

183 BGH v. 15.1.1980 – VI ZR 181/78, VersR 1980, 526; OLG Stuttgart v. 13.8.1992 – 11 U 36/92, VersR 1993, 724. 184 BGH v. 21.9.1976 – VI ZR 210/75, NJW 1977, 108. 185 Gegen die Anwendung des Angehörigenprivilegs auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft: BGH v. 1.12.1987 – VI ZR 50/87, NJW 1988, 1091 mit abl. Anm. Striewe und Schirmer DAR 1988, 289; Jahnke NZV 1995, 378; Becker VersR 1985, 205; Weber DAR 1985, 1; Möller NZV 2009, 218; für die Anwendung auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft: OLG Nürnberg v. 11.3.2009 – 4 U 1624/08, NZV 2009, 287; Schirmer DAR 2007, 4 ff.; Schulin SGb 1989, 1; Kohte NZV 1991, 89; Dahm NZV 2008, 280; Lang NZV 2009, 425. 186 BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 274/12, NZV 2013, 334; OLG Köln v. 9.5.2012 – 16 U 48/11, r+s 2012, 570; LG Coburg v. 11.5.2011 – 12 O 49/11, VersR 2012, 1277. 187 BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 274/12, NZV 2013, 334; BGH v. 22.4.2009 – VI ZR 160/07, NJW 2009, 2062, 2064. 188 Vgl. BGH v. 15.1.1980 – VI ZR 270/78, VersR 1980, 644; Möller NZV 2009, 218. 189 BGH v. 11.2.1964 – VI ZR 271/62, BGHZ 41, 81. 190 BGH v. 2.11.1961 – II ZR 237/59, VersR 1961, 1077; BGH v. 15.1.1980 – VI ZR 270/78, VersR 1980, 645. 191 BGH v. 12.11.1985 – VI ZR 223/84, VersR 1986, 334. 192 OLG Nürnberg v. 21.10.1987 – 4 U 1692/87, NZV 1988, 228 LS. 193 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 14/09, NJW 2011, 1793. 194 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 53.

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III. Rechtsfolgen | Rz. 35.80 § 35

schaftliche Wirtschaftsführung gewollt und vollzogen wird, ist umso genauer zu führen, je ferner der Verwandtschaftsgrad ist.195 Auf den Rückgriff gegen den Erben des Schädigers ist das Familienprivileg entsprechend anzuwenden, wenn der Geschädigte sowohl im Zeitpunkt des Schadensereignisses als auch bei Geltendmachung des Rückgriffs mit dem Erben in häuslicher Familiengemeinschaft lebte.196

d) Zeitpunkt der Voraussetzungen Einen festen Zeitpunkt für das Vorliegen der genannten Voraussetzungen hat die Rechtsprechung nicht bestimmt. Es genügt für den Ausschluss des Übergangs jedenfalls, dass die Angehörigeneigenschaft und die häusliche Gemeinschaft im Zeitpunkt des Unfalls bestanden haben (vgl. § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X), auch wenn sie später aufgelöst wurden.197 Ebenso genügt es aber auch, wenn die genannten Voraussetzungen erst später entstanden sind.198 Es besteht dann ein Durchsetzungshindernis. Für den Fall späterer Eheschließung ist dies ausdrücklich in § 116 Abs. 6 S. 2 SGB X geregelt.199 Dieser Rechtsgedanke kann auf Fälle, in denen sonstige Voraussetzungen des Familienprivilegs nachträglich entstehen, analog angewendet werden.200 Eine spätere Änderung ist auch hier ohne Bedeutung.201 § 116 Abs. 6 S. 2 SGB X schließt nicht den Anspruchsübergang aus, sondern steht der Geltendmachung des übergegangenen Ersatzanspruches entgegen.202 Ausschluss des Anspruchsübergangs und Durchsetzungshindernis bestehen dann nicht, wenn die Eheschließung erst nach vollständiger Schadenersatzleistung erfolgt ist. Ein Anspruch auf Rückerstattung der Zahlungen ist in diesem Falle nicht gegeben.203

35.79

e) Haftpflichtversicherung Im Hinblick auf seinen Zweck (Rz. 35.76) ist das Angehörigenprivileg fragwürdig, wenn eine Kfz-Haftpflichtversicherung den Schaden trägt.204 Nach Rechtsprechung und h.L. schließt § 116 Abs. 6 SGB X jedoch auch den Regress eines Sozialversicherungsträgers gegen den KfzHaftpflichtversicherer des Angehörigen aus.205 Hierfür wird auf die Akzessorietät des Direkt195 BGH v. 12.7.1979 – 4 StR 204/79, BGHSt 29, 54, 56. 196 BGH v. 29.1.1985 – VI ZR 88/83, VersR 1985, 471. 197 BGH v. 14.7.1970 – VI ZR 179/68, BGHZ 54, 256; BGH v. 30.6.1971 – VI ZR 189/69, VersR 1971, 901; BGH v. 15.1.1980 – VI ZR 270/78, VersR 1980, 644. 198 BGH v. 9.5.1972 – VI ZR 40/71, VersR 1972, 764; BGH v. 25.11.1975 – VI ZR 33/75, VersR 1976, 289. 199 Nach Groß DAR 1999, 337, 344 soll die Eingehung der Ehe erst nach Eintritt des Schadensereignisses nicht ausreichen. 200 Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 82; a.A. OLG Nürnberg v. 21.10.1987 – 4 U 1692/87, NZV 1988, 228 LS. Zur Eingehung einer registrierten Lebenspartnerschaft Röthel NZV 2001, 332. 201 Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 82; Breuer NJW 1984, 276 u. VersR 1984, 512; a.A. Fenn ZBlSozVers 1983, 113. 202 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 55. 203 OLG Rostock v. 26.11.2007 – 3 U 80/07, NZV 2008, 563. 204 Möller NZV 2009, 218; Halfmeier/Schnitzler VersR 2002, 11 f.; für eine Neuregelung mit Ausschluss des Angehörigenprivilegs, wenn eine Haftpflichtversicherung zu leisten hat: Dahm NZV 2009, 580. 205 BGH v. 11.2.1964 – VI ZR 271/62, BGHZ 41, 79, 84; BGH v. 9.1.1968 – VI ZR 44/66, VersR 1968, 248; BGH v. 28.11.2000 – VI ZR 352/99, BGHZ 146, 108; BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, BGHZ 216, 149; OLG Jena v. 22.6.2016 – 7 U 731/15, VersR 2017, 190; OLG Köln v. 20.5.2020

Zwickel | 1011

35.80

§ 35 Rz. 35.80 | Regress der Sozialversicherungsträger

anspruchs abgestellt. Für den Regress des Sozialhilfeträgers hat der BGH206 zwar anders entschieden (vgl. Rz. 36.25), hierbei soll es sich aber um einen aus der Subsidiarität der Sozialhilfe folgenden Sonderfall handeln.207 An einer teleologischen Reduktion des § 116 Abs. 6 SGB X wegen der gleichheitswidrigen Besserstellung des angehörigen Unfallopfers, dem neben der Sozialleistung (hier: Pflegegeld) die Schadensersatzleistung des Haftpflichtversicherers verbleibt, sieht sich der BGH (wenig überzeugend) gehindert.208

f) Zweitschädiger 35.81

Haftet dem Geschädigten außer dem Angehörigen noch ein Zweitschädiger, so geht nur der Ersatzanspruch gegen den Zweitschädiger über. Trotz der an sich gegebenen gesamtschuldnerischen Haftung haftet der Zweitschädiger gegenüber dem Zessionar nur auf den Anteil, den er im Innenverhältnis zum Erstschädiger (Familienangehöriger) an sich zu tragen haben würde209 („gestörtes Gesamtschuldverhältnis“; vgl. Rz. 39.21), da ansonsten die Schutzvorschrift des § 116 Abs. 6 SGB X durch einen Regress des Zweitschädigers gegen den Familienangehörigen nach § 426 BGB unterlaufen würde.210

g) Anspruch gegen Familienangehörige oder deren Haftpflichtversicherer 35.82

Macht der Geschädigte, der diesbezüglich aktivlegitimiert bleibt, einen Anspruch gegen den Familienangehörigen oder dessen Haftpflichtversicherer auf mit denen des Sozialversicherungsträgers kongruente Leistungen geltend, so ist, bei Vorhandensein eines für die kongruenten Schäden haftenden Zweitschädigers, dieser gem. § 242 BGB auf das beschränkt, was der Geschädigte bei einem Erhalt der Leistungen von Seiten des angehörigen Schädigers analog § 430 BGB im Verhältnis zum Sozialversicherungsträger behalten dürfte.211 S. hierzu im Einzelnen Rz. 15.26.

6. Für Schadensfälle ab 1.1.2021: Ausschluss der Geltendmachung des Anspruchs bei häuslicher Gemeinschaft a) Normzweck 35.83

Für Schadensfälle ab dem 1.1.2021 ist § 116 Abs. 6 SGB X durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020212 neu ge-

206 207 208 209 210 211 212

– 5 U 137/19, NZV 2020, 427 mit Anm. Felz; Gitter JR 1979, 288; Jahnke NZV 1995, 379; a.A. Wussow NJW 1979, 54. BGH v. 9.7.1996 – VI ZR 5/95, BGHZ 133, 192. BGH v. 28.11.2000 – VI ZR 352/99, VersR 2001, 215. Dagegen auch Plagemann NZV 1998, 95 ff. Für Gesetzeskorrektur Deinhardt VersR 1984, 702; Halfmeier/Schnitzler VersR 2002, 17; Dahm NZV 2009, 580; Armbrüster NJW 2018, 1218. BGH v. 14.7.1970 – VI ZR 179/68, BGHZ 54, 256; BGH v. 16.1.1979 – VI ZR 243/76, BGHZ 73, 195; BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, BGHZ 216, 149; Jahnke NZV 1995, 381 f. mit Beispielen; Engelbrecht DAR 2013, 767, 771; a.A. OLG Köln v. 1.9.2016 – 15 U 179/15, VersR 2017, 969. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 54; vgl. auch BGH v. 18.11.2014 – VI ZR 47/13, NJW 2015, 940. BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, BGHZ 216, 149 = VersR 2018, 830 mit Anm. Höher = NZV 2018, 133 mit abl. Anm. Martin; krit. auch Armbrüster NJW 2018, 1218, 1221; Lemcke r+s 2018, 50. BGBl. I Nr. 28, S. 1248.

1012 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.88 § 35

fasst worden. In Anlehnung an § 86 Abs. 3 VVG (s. Rz. 38.4) wird das bisherige Familienprivileg zu einem Haushaltsangehörigenprivileg umgestaltet. Auch kommt es nach der Neufassung des § 116 Abs. 6 SGB X künftig nicht mehr zu einem Ausschluss des Anspruchsübergangs, sondern zu einem Ausschluss der Geltendmachung des übergegangenen Anspruchs durch den Sozialversicherungsträger. Unangetastet bleibt aber der Normzweck der Vermeidung von durch den Regress ausgelösten Spannungen im Verhältnis von Geschädigtem und haushaltsangehörigem Schädiger.213

b) Voraussetzungen und maßgeblicher Zeitpunkt Im Gegensatz zur bisherigen Fassung verzichtet § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X n.F. auf die Voraussetzung einer Schädigung durch Familienangehörige. Maßgeblich ist künftig das Vorliegen einer Haushaltsgemeinschaft von Schädiger und Geschädigtem bzw. dessen Hinterbliebenen. Eine solche häusliche Gemeinschaft liegt auch künftig bei Vorliegen einer gemeinsamen Wohnung und eines gemeinsamen Haushalts sowie einer Ausrichtung des Zusammenlebens auf gewisse Dauer (s. Rz. 35.78) vor. Die Neufassung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ist damit auf Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft direkt anwendbar. Im Übrigen sollten sich durch die Neufassung keine Erweiterungen des bisherigen Rechtsstandes ergeben.214

35.84

Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X n.F. ist der des Unfalls. Die spätere Begründung einer Haushaltsgemeinschaft führt als solche nicht zu einer Anwendbarkeit des Haushaltsangehörigenprivilegs. Etwas anderes gilt nur, wenn nach dem Schadensereignis eine Eheschließung oder die Begründung einer Lebenspartnerschaft zwischen Schädiger und Geschädigtem erfolgt ist und eine häusliche Gemeinschaft vorliegt. § 116 Abs. 6 S. 2 SGB X n.F. schließt dann die Geltendmachung des übergegangenen Ersatzanspruchs aus.

35.85

Bei vorsätzlichen Schädigungen besteht kein Bedarf für einen besonderen Schutz der Haushaltsgemeinschaft. Vorsatz schließt daher die Anwendung des § 116 Abs. 6 SGB X aus.

35.86

c) Rechtsfolge: Ausschluss der Geltendmachung des übergegangenen Anspruchs Nach neuem Recht hindert § 116 Abs. 6 SGB X den Anspruchsübergang auf den Sozialversicherungsträger nicht, sondern führt lediglich zu einem Ausschluss der Geltendmachung des übergegangenen Anspruchs. Anders als bisher215 kann es nicht mehr dazu kommen, dass der Geschädigte kongruente Schäden sowohl vom Sozialversicherungsträger als auch vom Schädiger ersetzt verlangen kann.216

35.87

d) Besonderheiten bei Haftpflichtversicherung Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen macht, anders als nach bisherigem Recht (s. Rz. 35.80), § 116 Abs. 6 S. 3 n.F. Der übergegangene Anspruch kann trotz Vorliegens einer Haftungsprivilegierung geltend gemacht werden, wenn der Schaden bei dem Betrieb eines Fahrzeugs ent213 BT-Drs. 19/17586, S. 117. 214 BT-Drs. 19/17586, S. 117. 215 BGH v. 28.11.2001 – VI ZR 352/99, NJW 2001, 754; BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, NJW 2018, 1242; LG Münster v. 3.5.2019 – 8 O 307/16, BeckRS 2019, 9065. 216 BT-Drs. 19/17586, S. 116.

Zwickel | 1013

35.88

§ 35 Rz. 35.88 | Regress der Sozialversicherungsträger

standen ist, für das Versicherungsschutz nach § 1 des Gesetzes über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter oder § 1 des Gesetzes über die Haftpflichtversicherung für ausländische Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger (s. Rz. 15.1 ff.) besteht. In diesem Fall ist ausschließlich der Haftpflichtversicherer ersatzpflichtig und es besteht keine Gefahr der Belastung der Haushaltsgemeinschaft. Nach der Gesetzesbegründung ist ein solcher Eintritt der Haftpflichtversicherung auch sachgerecht, da der Schädiger vorher Prämien in die Solidargemeinschaft eingezahlt hat.217

e) Zweitschädiger 35.89

Ist neben dem Haushaltsangehörigen ein Zweitschädiger für den Schaden verantwortlich, geht auch der gegen diesen gerichtete Anspruch auf Ersatz kongruenter Leistungen auf den Sozialversicherungsträger über. Auch nach neuem Recht kann der Sozialversicherungsträger gegen den Zweitschädiger nur den Betrag geltend machen, den der Zweitschädiger im Innenverhältnis zum privilegierten haushaltsangehörigen Schuldner zu tragen hätte (s. Rz. 35.81). Andernfalls könnte § 116 Abs. VI SGB X n.F. durch den Gesamtschuldnerausgleich unterlaufen werden.

7. Verjährung 35.90

Die allgemeinen Verjährungsvorschriften für Haftpflichtansprüche (s. o. Rz. 24.16) gelten auch für den Regress. Wenn der Anspruch nicht unmittelbar mit dem schädigenden Ereignis übergeht (s. dazu Rz. 35.44 ff.), muss der Sozialversicherungsträger den bis zum Übergang erfolgten Ablauf der Verjährung gem. §§ 412, 404 BGB gegen sich gelten lassen, anderenfalls kommt es allein auf seine Kenntnis und sein Verhalten an.218 I.d.R. ist für die Kenntnis auf die Regress-, nicht aber auf die Leistungsabteilung abzustellen.219 Wegen der Einzelheiten s. Rz. 24.7, 24.16 ff., 24.35. Zu den Besonderheiten bei der Rechtsnachfolge durch einen anderen Sozialversicherungsträger vgl. Rz. 35.95.

35.91

Auch für den Fall, dass Teilungsabkommen (dazu Rz. 35.57 ff.) abgeschlossen wurden, gelten die §§ 195 ff. BGB, da es sich um einen Vertrag zwischen Leistungsträger und Haftpflichtversicherung handelt.220 Solange ein Teilungsabkommen anzuwenden ist, ist die Verjährung bis zur Erschöpfung des vereinbarten Abkommenslimits als gehemmt anzusehen221 (s. auch Rz. 15.55 ff.).

8. Wegfall des Übergangs 35.92

Erbringt der Sozialversicherungsträger keine Leistungen (etwa weil der Geschädigte gem. § 46 Abs. 1 SGB I hierauf verzichtet oder sich ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V die Leistung durch privatärztliche Behandlung selbst beschafft), so besteht kein Grund, den Geschädigten an der Geltendmachung seines Schadensersatzanspruchs gegen den Schädiger zu hindern. Dem steht jedoch der Übergang der Forderung im Zeitpunkt des Schadens217 BT-Drs. 19/17586, S. 117. 218 Groß DAR 1999, 344. 219 BGH v. 28.2.2012 – VI ZR 9/11, NJW 2012, 1789; OLG Braunschweig v. 8.12.2014 – 3 U 48/13, SVR 2015, 139; OLG Hamm v. 11.3.2016 – 9 U 40/15, VersR 2017, 252; Zu den Verjährungsfragen beim Regress des Sozialversicherungsträgers s. Peters NJW 2011, 3195. 220 Marburger VersR 2003, 1232. 221 BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 4/69, VersR 1970, 837; Marburger VersR 2003, 1233.

1014 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.93 § 35

ereignisses entgegen. Der BGH hilft hier mit der Annahme einer auflösenden Bedingung: Sobald feststeht, dass der Sozialversicherungsträger nichts mehr zu leisten hat, soll der Forderungsübergang entfallen.222 Diese Lösung ist von Konstruktion und Praktikabilität her nicht unangreifbar (vgl. z.B. § 46 Abs. 1 Halbs. 2 SGB I, wonach der Verzicht auf die Sozialleistung widerruflich ist), aber wohl unumgänglich, solange an der Lehre vom Rechtsübergang im Zeitpunkt des Schadensfalles festgehalten wird.

9. Mehrheit von Leistungsträgern a) Zusammentreffen mehrerer Sozialversicherungsträger Das Zusammentreffen mehrerer Sozialversicherungsträger ist in § 117 SGB X insoweit geregelt, als es um die Konkurrenzsituation bei nicht ausreichendem Ersatzanspruch geht. Die Ansprüche der Sozialleistungsträger sind grundsätzlich gleichrangig, es sei denn, einer ist vorrangig verpflichtet. Leistungsträger sind die in §§ 12, 18 ff. SGB I bezeichneten Träger. Löst z.B. ein Unfall die Leistungspflicht der Rentenversicherungsträger und der Berufsgenossenschaft als Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung nebeneinander aus (z.B. Hinterbliebenenrente) und reicht der Ersatzanspruch des Hinterbliebenen gegen den Schädiger nicht aus, um beide Sozialversicherungsträger völlig schadlos zu stellen, so entscheidet für den Innenausgleich zwischen beiden die Höhe der erbrachten Leistungen,223 und zwar über den Wortlaut des § 117 SGB X hinaus auch außerhalb der Fälle des § 116 Abs. 2 und 3 SGB X.224 § 117 Abs. 1 S. 1 SGB X ist also analog anwendbar auf den Fall, dass die Leistungen mehrerer Sozialleistungsträger bei voller Haftung des Schädigers den zur Verfügung stehenden Schadensersatzanspruch übersteigen.225 Es findet insofern eine Aufteilung nach Quoten statt. Diese wirkt aber nicht gegenüber dem Schädiger. Ihm gegenüber sind die Sozialversicherungsträger in Höhe des Betrages desjenigen von beiden, der die geringere Leistung zu erbringen hat, Gesamtgläubiger nach § 428 BGB;226 der Schuldner kann mithin nach seinem Belieben an jeden Gläubiger leisten, auch wenn einer von beiden gegen ihn schon Klage auf Zahlung erhoben hat. Normzweck des § 117 SGB X ist insoweit, dem Schuldner die oft schwierige Ermittlung zu ersparen, in welcher Höhe der einzelne Sozialleistungsträger sachlich legitimiert ist.227 Zur Wirkung eines Abfindungsvergleichs zwischen Schädiger und einem der Gesamtgläubiger s. Rz. 35.57 ff. Keine Gesamtgläubigerschaft besteht – wegen des unterschiedlichen Zeitpunkts des Rechtsübergangs – zwischen einem Sozialversicherungsträger und einem Schadensversicherer.228 Ficht einer der Gesamtgläubiger den Bescheid des Amtes für Verteidigungslasten, der seinen Anspruch abgelehnt hat, nicht innerhalb der Klagefrist nach Art. 12 Abs. 3 NTSAG an, so berührt der hierdurch eintretende Verlust seines Ersatzanspruchs den Anspruch des konkurrierenden Sozialversicherungsträgers nicht; dieser kann vielmehr in voller Höhe Regress nehmen.229

222 BGH v. 10.7.1967 – III ZR 78/66, BGHZ 48, 181, 191; Küppersbusch/Höher, Rz. 596. 223 BGH v. 27.6.1958 – VI ZR 98/57, BGHZ 28, 68; BGH v. 11.2.1964 – VI ZR 249/62, VersR 1964, 376; BGH v. 17.5.1979 – III ZR 176/77, VersR 1979, 741; BGH v. 31.1.1989 – VI ZR 199/88, NZV 1989, 306 mit Anm. Fuchs speziell zum Krankenversicherungsbeitrag der Rentner; wegen Einzelheiten der Berechnung s. Nagel VersR 1988, 545. 224 Vgl. Küppersbusch VersR 1983, 205. 225 BGH v. 3.12.2002 – VI ZR 304/01, NJW 2003, 1871 ff. 226 BGH v. 27.6.1958 – VI ZR 98/57, BGHZ 28, 73. 227 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 117 SGB X Rz. 2. 228 BGH v. 8.7.1980 – VI ZR 275/78, VersR 1980, 1072. 229 BGH v. 17.5.1979 – III ZR 176/77, VersR 1979, 741.

Zwickel | 1015

35.93

§ 35 Rz. 35.94 | Regress der Sozialversicherungsträger

b) Zusammentreffen eines Sozialversicherungsträgers 35.94

Beim Zusammentreffen eines Sozialversicherungsträgers mit einem Dienstherrn oder Versorgungsträger ist § 117 SGB X nicht unmittelbar anwendbar.230 Für eine entsprechende Anwendung besteht mangels Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Sachbefugnis kein Bedürfnis.231 Hier kommt eine Gesamtgläubigerschaft zwischen Sozialversicherungsträger und öffentlich-rechtlichem Dienstherrn bzw. Versorgungsträger nur in Betracht, wenn beide im Verhältnis zum Schädiger zurücktreten müssen, also im Falle des § 116 Abs. 2 SGB X.232 Entstehungszeitpunkt der Gesamtgläubigerschaft ist der Anspruchsübergang nach § 116 SGB X. Die Quotenregelung des § 116 Abs. 3 SGB X, die im Versorgungsrecht keine Entsprechung findet, bewirkt hingegen, dass beide Zessionare nur Inhaber eines bestimmten Teils des Schadensersatzanspruchs, mithin Teilgläubiger, sind.233 Sie begründet hinsichtlich des dem Geschädigten verbleibenden Teils des Schadensersatzanspruchs kein Vorrecht des Sozialversicherungsträgers gegenüber dem Dienstherrn; im Innenverhältnis Beamter – Dienstherr ist das Quotenvorrecht des Beamten zu beachten.234 Hat für eine Heilbehandlung sowohl eine Krankenkasse als auch ein Versorgungsträger aufzukommen, so geht der Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger, soweit er jeweils kongruente Leistungen betrifft, im Unfallzeitpunkt auf beide über, einerseits nach § 116 SGB X, andererseits nach § 81a BVG i.V.m. der entsprechenden Verweisungsnorm; das gilt auch, wenn der Versorgungsträger seine Leistungen nicht unmittelbar dem Verletzten erbringt, sondern der Krankenkasse die erbrachten Leistungen aufgrund des BVG zu erstatten hat.235 Erhält ein ehemaliger Beamter neben seinen Versorgungsbezügen eine Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, die gem. § 55 BeamtVG teilweise auf die Versorgungsbezüge angerechnet wird, so geht der Ersatzanspruch in Höhe der gekürzten Versorgungsbezüge auf den Versorgungsträger, in Höhe der Rente auf den Sozialversicherungsträger über.236 Die Beschränkung des unfallgeschädigten Beamten auf die beamtenrechtlichen Versorgungsansprüche schließt den Regress eines Sozialversicherungsträgers, auf den zivilrechtliche Schadensersatzansprüche des Beamten übergegangen sind, auch dann nicht aus, wenn er sich gegen den Dienstherrn selbst richtet.237

c) Wechsel des Sozialversicherungsträgers 35.95

Geht die unfallbedingte Leistungspflicht auf einen anderen Sozialversicherungsträger über (z.B. andere Krankenkasse infolge Wechsels des Arbeitsplatzes), so tritt Rechtsnachfolge ein.238 Voraussetzung für den Rechtsübergang ist aber die sachliche und zeitliche Kongruenz der geschuldeten Versicherungsleistungen.239 Soweit die Ansprüche nicht auf den nunmehr zustän-

230 231 232 233 234 235 236 237 238 239

BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 244/88, NZV 1989, 269. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 117 SGB X Rz. 3. BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 244/88, NZV 1989, 269, 270. BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 244/88, NZV 1989, 269 f. BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 244/88, NZV 1989, 269. BGH v. 28.3.1995 – VI ZR 244/94, VersR 1995, 600; OLG Hamm v. 12.8.1999 – 6 U 8/99, OLGR Hamm 2000, 40. BGH v. 28.5.1991 – VI ZR 250/90, NJW-RR 1991, 1177. BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 288/96, VersR 1997, 1161. BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226; BGH v. 4.11.1997 – VI ZR 375/96, VersR 1998, 124, 125. BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226; BGH v. 24.2.1983 – VI ZR 243/80, VersR 1983, 536, 537.

1016 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.97 § 35

digen Sozialleistungsträger übergehen, fallen sie an den Geschädigten zurück.240 Der Ersatzanspruch geht über in dem Zustand, in dem er sich zum Zeitpunkt des Wechsels befand.241 Verjährungsfristen laufen also weiter. Eine beim Rechtsvorgänger bestehende Verjährungshemmung wirkt nur bis zum Zeitpunkt des Übergangs auf einen anderen Sozialversicherungsträger, es sei denn, es liegen (neue) Hemmungsgründe in dessen Person vor.242 Vom Schuldner nur gegenüber dem Rechtsvorgänger abgegebene Verjährungsverzichtserklärungen wirken nicht zugunsten des Rechtsnachfolgers.243 Wegen der bloßen Möglichkeit, dass eine Krankenkasse nach dem Ausscheiden des Verletzten bei einer anderen Kasse leistungspflichtig wird (z.B. weil bereits der Ehegatte des Verletzten bei ihr versichert ist), kann sie keine zulässige Feststellungsklage gegen den Schädiger erheben.244 Die Verfügungsbefugnis des zunächst leistungspflichtigen Versicherungsträgers ist auch nicht wegen der Möglichkeit eines späteren Rechtsübergangs beschränkt. Er kann daher einen Abfindungsvergleich bzgl. künftiger Schäden mit dem Ersatzpflichtigen abschließen und ist mangels anders lautender besonderer Abmachung grundsätzlich nicht verpflichtet, die nachfolgende Kasse an der Abfindungssumme zu beteiligen.245

10. Forderungserlass durch den Sozialversicherungsträger Auf Antrag hat ein Sozialversicherungsträger nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV zu prüfen, ob er eine Forderung zur Vermeidung unbilliger Härten erlassen kann. Diese Vorschrift gilt auch für nach § 116 SGB X übergeleitete Schadensersatzansprüche.246 Sie gibt dem Betroffenen einen öffentlich-rechtlichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Forderungserlass, die der Überprüfung durch die Sozialgerichte unterliegt.247 Bei dieser Entscheidung müssen die Sozialversicherungsträger die Grundrechte des Betroffenen berücksichtigen.248 Eine Verpflichtung zum (teilweisen) Forderungserlass hat der BGH in den Fällen bejaht, in denen der Schädiger zwar vom Regress seines leistungsfreien Haftpflichtversicherers teilweise freigestellt ist, auf dem Wege des Forderungsübergangs auf einen Sozialversicherungsträger aber in gleichheitswidriger Weise dessen unbegrenztem Regress ausgesetzt wird.249

35.96

11. Prozessrechtliches a) Prozessführungsbefugnis und Aktivlegitimation Der Geschädigte ist aufgrund der Legalzession zur Geltendmachung der Ansprüche nicht aktivlegitimiert.250 Er kann auch nicht als Prozessstandschafter auf Leistung an den Sozialver-

BGH v. 13.3.2001 – VI ZR 290/00, NZV 2001, 259, 260. BGH v. 21.1.1958 – VI ZR 295/56, VersR 1958, 153. BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226. BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 391/13, VersR 2014, 1226. BGH v. 22.3.1983 – VI ZR 13/81, VersR 1983, 724. BGH v. 9.7.1985 – VI ZR 219/83, VersR 1985, 1083. Palandt/Grüneberg vor § 249 Rz. 124. BGH v. 5.10.1983 – IVa ZR 190/81, BGHZ 88, 296, 301; BSG v. 13.6.1989 – 2 RU 32/88, NJW 1990, 342; OLG Koblenz v. 10.9.2001 – 12 U 2006/99, VersR 2002, 1579. 248 BVerfG v. 13.8.1998 – 1 BvL 25/96, NZV 1999, 39. 249 BGH v. 5.10.1983 – IVa ZR 190/81, BGHZ 88, 296, 300; BGH v. 13.1.1988 – IVa ZR 152/86, JZ 1988, 769 mit Anm. Prölss. Näher zur Entwicklung dieser Rechtsprechung und zur früheren Rechtslage 3. Aufl. Schlussanh. II Rz. 156 ff. m.w.N. 250 Marburger NZV 2011, 477; Engelbrecht DAR 2011, 684. 240 241 242 243 244 245 246 247

Zwickel | 1017

35.97

§ 35 Rz. 35.97 | Regress der Sozialversicherungsträger

sicherungsträger klagen; eine gewillkürte Prozessstandschaft scheidet mangels rechtlichen Interesses des Geschädigten an der Durchsetzung des übergegangenen Anspruchs aus.251

b) Darlegungs- und Beweislast 35.98

Die Darlegungs- und Beweislast für die Aktivlegitimation trägt der Anspruchsteller.252 Den Sozialversicherungsträger trifft auch hinsichtlich der Verletzungen und der Unfallkausalität von Behandlungen und Arbeitsunfähigkeit die Darlegungs- und Beweislast.253 Die Vorlage einer Forderungsaufstellung reicht für den Schadensbeweis nicht aus.254 Wendet der Ersatzpflichtige gegenüber einer Klage des Geschädigten ein, der Schadensersatzanspruch sei auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen, so muss der Kläger darlegen, dass kein Forderungsübergang stattgefunden hat.255

c) Beweiserleichterungen 35.99

Beweiserleichterungen nach § 287 ZPO kommen in Betracht, wenn es um die Frage geht, ob Vorerkrankungen oder später hinzutretende andere gesundheitliche Beeinträchtigungen des Unfallopfers unter dem Gesichtspunkt der überholenden Kausalität zu berücksichtigen sind, was z.B. bei Pflegeleistungen256 und insb. bei Regress infolge psychischer Gesundheitsschäden257 relevant sein kann.

d) Feststellungsklage 35.100

In einer Feststellungsklage (zur Zulässigkeit Rz. 40.14 ff.) ist die (häufig anzutreffende) Beschränkung des Antrags auf „nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangene Ansprüche“ unnötig. Der Kläger muss ohnehin die Möglichkeit ihm zustehender (aber noch nicht bezifferbarer) Schadensersatzansprüche darlegen und ggf. beweisen; das daraufhin ergehende Feststellungsurteil hat weder für eine spätere Leistungsklage des Geschädigten noch für eine solche des Sozialversicherungsträgers eine präjudizielle Wirkung in Bezug auf die Anspruchshöhe.

e) Klage auf zukünftige Leistung 35.101

Eine Klage auf zukünftige Leistung nach § 258 ZPO kann erhoben werden, wenn eine am Maßstab des § 287 ZPO hinreichend sichere Abschätzung der künftigen Anspruchshöhe (unter Anrechnung der kongruenten Sozialversicherungsleistungen in der derzeitigen Höhe) möglich ist.258

251 Hofmann VersR 2003, 288. 252 OLG Hamm v. 30.5.2012 – 13 U 79/11, NZV 2012, 588. 253 BGH v. 23.2.2010 – VI ZR 331/08, VersR 2010, 550; BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 192/06, VersR 2007, 1536. 254 OLG Jena v. 15.5.2012 – 4 U 661/11, NZS 2012, 800. 255 A.A. OLG Brandenburg v. 6.6.2019 – 12 U 119/18, r+s 2020, 52. 256 Küppersbusch NZV 1997, 31. 257 Für Einzelheiten zum Regress bei psychischen Gesundheitsschäden s. Stöhr NZV 2009, 161. 258 Hofmann MDR 2004, 1392.

1018 | Zwickel

III. Rechtsfolgen | Rz. 35.104 § 35

f) Bindungswirkung sozialrechtlicher Entscheidungen Das über einen übergegangenen Schadensersatzanspruch erkennende Gericht ist an die bestandskräftige Entscheidung gebunden, die in einem Verfahren nach den sozialrechtlichen Bestimmungen darüber ergeht, ob und in welchem Umfang der Versicherungsträger verpflichtet ist (§ 118 SGB X).259 Die Bindungswirkung erstreckt sich auf die durch den Sozialleistungsträger ergangene Entscheidung und die sie tragenden Feststellungen, beispielsweise die Versicherteneigenschaft, die Zuständigkeit und Art sowie Höhe der Leistung, nicht aber die Begründung und die Tatsachenermittlungen.260 Einer eigenständigen Beurteilung durch das Zivilgericht unterliegt die Frage des Kausalzusammenhangs.261 Das Gericht setzt ein Verfahren von Amts wegen so lange aus, bis die Entscheidung ergangen und unanfechtbar geworden ist (§ 148 ZPO). Die in § 118 SGB X angeordnete Bindungswirkung tritt nicht ein, wenn die gem. § 12 Abs. 2 S. 2 SGB X erforderliche Beteiligung eines Dritten, für welchen der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung hat, an dem vom Sozialversicherungsträger durchgeführten Verwaltungsverfahren unterblieben ist, da der Bescheid ihm gegenüber dann nicht bestandskräftig ist.262 Das Gericht hat daher grundsätzlich zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Beteiligung gem. § 12 Abs. 2 S. 2 SGB X schlüssig dargelegt sind. Das bloße Betreiben der Hinzuziehung genügt nicht.263 Der Schädiger ist kein zu beteiligender Dritter, da die sozialrechtliche Entscheidung nicht unmittelbar in seine Rechtssphäre eingreift.264

35.102

Die Entscheidung über einen (teilweisen) Forderungserlass nach § 76 Abs. 2 SGB IV ist dagegen für den Zivilrechtsstreit nicht präjudiziell, dessen Aussetzung zur Durchführung eines Erlassverfahrens daher nicht möglich.265

35.103

g) Rechtskraftwirkung Hat der Geschädigte selbst den Schadensersatzanspruch eingeklagt, erstreckt sich die materielle Rechtskraft eines in diesem Prozess ergehenden Urteils grundsätzlich nicht auf den Sozialversicherungsträger;266 nur unter den Voraussetzungen der §§ 412, 407 Abs. 2 BGB ist eine Rechtskrafterstreckung zu Lasten des Versicherungsträgers möglich.267 Vielfach wird sich der Schuldner wegen seiner i.d.R. angenommenen Kenntnis vom Anspruchsübergang vor Rechtshängigkeit des weiteren Rechtsstreits nicht auf eine rechtskräftig in einem Prozess zwischen ihm und dem früheren Gläubiger ergangene Entscheidung berufen können (§ 407 Abs. 2 BGB). Für die Kenntnis vom Anspruchsübergang i.S.d. § 116 Abs. 1 SGB X reicht nach der Rspr. des BGH bereits das Wissen von Umständen aus, von denen allgemein bekannt ist, dass sie versicherungspflichtig machen.268

259 260 261 262 263 264 265 266 267 268

BGH v. 12.6.2007 – VI ZR 70/06, VersR 2007, 1131. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 118 SGB X Rz. 3. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 118 SGB X Rz. 4. BGH v. 4.4.1995 – VI ZR 327/93, VersR 1995, 682. BGH v. 8.11.2011 – VI ZB 59/10, DAR 2012, 142, 143. OLG Hamm v. 12.8.1999 – 6 U 8/99, OLGR Hamm 2000, 40, 42. LG Wiesbaden v. 26.7.1985 – 9 O 222/85, VersR 1987, 365; a.A. Hüffer VersR 1984, 200. BGH VersR 1957, 231. BGH v. 23.9.2014 – VI ZR 483/12, VersR 2014, 1395; Hofmann VersR 2003, 288. BGH v. 23.9.2014 – VI ZR 483/12, VersR 2014, 1395, 1397; BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131, 274, 286; BGH v. 20.9.1994 – VI ZR 285/93, BGHZ 127, 120, 127.

Zwickel | 1019

35.104

§ 35 Rz. 35.105 | Regress der Sozialversicherungsträger

12. Internationales Recht a) Grundlagen 35.105

Wird ein Sozialversicherter im Ausland geschädigt, so richten sich seine Schadensersatzansprüche nach dem Deliktsstatut (s. Rz. 2.18 ff.), während die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers selbstverständlich dem Versicherungsstatut folgt. Ob der Schädiger sich auf die Sozialleistung – als haftungsausschließenden Umstand (wie nach §§ 104 f. SGB VII; s. Rz. 22.155) – berufen kann, ist ebenfalls eine sozialrechtliche Fragestellung. Sie richtet sich nach dem einschlägigen Recht der sozialen Sicherheit.269 Der Eintritt eines Forderungsübergangs auf den Sozialversicherungsträger beurteilt sich ebenfalls nach dem für dessen Leistungspflicht geltenden Recht (in der Regel dem des Beschäftigungsorts). Inwieweit der Zessionar die erworbene Forderung gegenüber dem ausländischen Schuldner geltend machen kann, richtet sich nach den Grundsätzen des internationalen Sozialrechts. Soweit keine ausdrücklichen Regelungen bestehen (vgl. Rz. 35.106), ist für die Rechtsbeziehung zwischen Legalzessionar und Schuldner nach dem universell (d.h. auch in Fällen der Bezüge zu Drittstaaten anwendbaren) Art. 19 der Verordnung 864/2007 (Rom-II-VO) das für die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers geltende Recht maßgeblich. Für schadensbegründende Ereignisse vor dem 11.1.2009 bleibt es bei der Anwendung des Art. 33 Abs. 3 S. 1 EGBGB a.F.

b) Deutscher Sozialversicherungsträger 35.106

Ein deutscher Sozialversicherungsträger kann folglich wegen seiner Leistungen an ein im Ausland verunglücktes Mitglied bei dem ausländischen Schädiger bzw. seinem Haftpflichtversicherer insoweit Regress nehmen, als nach dem Tatortrecht Schadensersatzansprüche des Mitglieds bestehen, diese nach § 116 SGB X auf ihn übergegangen sind und der Übergang nach dem einschlägigen Kollisionsrecht im Ausland geltend gemacht werden kann. Letzteres ist im Bereich der EU durch Art. 85 der Verordnung 883/2004 i.V.m. der Verordnung 987/ 2009270 gewährleistet;271 ein in einem Mitgliedsstaat bestehendes Regressverbot kann also dem regressberechtigten Sozialversicherungsträger eines anderen Mitgliedsstaates nicht entgegengehalten werden.272 Im Verhältnis zu zahlreichen anderen Staaten bestehen zweiseitige Abkommen.273 Scheitert die Anwendung von § 116 SGB X, so kann der Sozialversicherungsträger vom Geschädigten die Abtretung des kongruenten Schadensersatzanspruchs verlangen.274 Auch soweit der Forderungsübergang demnach im Ausland anzuerkennen ist, unterliegt die übergegangene Schadensersatzforderung selbst weiterhin den materiellen Bestimmungen des Tatortrechts,275 also z.B. auch dessen Verjährungsregelung.276

269 BGH v. 15.7.2008 – VI ZR 105/07, NJW 2009, 916 mit Anm. Luckhaupt r+s 2008, 440; a.A. BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, NZV 1989, 106; Thümmel VersR 1986, 415. 270 Die Verordnungen gelten ab dem 1.5.2010. Für Altfälle s. Art. 93 der Verordnung 1408/71. 271 Ausführlich Eichenhofer Sozialrecht der Europäischen Union, 7. Aufl. 2018, § 7 Rz. 87. 272 EuGH v. 2.9.1994 – C-428/92, JZ 1994, 1113 mit Anm. Fuchs; BGH v. 10.11.1977 – III ZR 79/ 75, VersR 1978, 231. 273 Nachweise bei Eichenhofer Internationales Sozialrecht 1994, Rz. 635 und Schuler Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland 1988, S. 473 f. (die dort erwähnte Abweichung im Verhältnis zur Schweiz ist inzwischen durch das 2. Zusatzabkommen vom 2.3.1989 [BGBl. II 892] beseitigt). 274 Schuler Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland 1988, S. 473. 275 EuGH v. 2.6.1994 – C-428/92, JZ 1994, 1113, 1114. 276 Vgl. österr. OGH v. 26.8.1993 – 2 Ob 24/93, ZVR 1994, 244.

1020 | Zwickel

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.109 § 35

c) Ausländischer Sozialversicherungsträger Ein ausländischer Sozialversicherungsträger kann dann gegen den deutschen Schädiger und seinen Haftpflichtversicherer Rückgriff nehmen, wenn die Schadensersatzforderung nach dem maßgeblichen Deliktsrecht übergangsfähig (also insbesondere kongruent) und nach dem für die Sozialleistungspflicht maßgeblichen Recht übergegangen ist.277 Auch bei fehlender Übergangsfähigkeit kann es zu einem beachtlichen Rechtsübergang jedoch durch eine Abtretung seitens des Geschädigten gekommen sein; es gilt dann Art. 14 Abs. 2 der Verordnung 93/2008.278 Ein im ausländischen Recht ggf. bestehendes Abtretungsverbot (z.B. zur Vermeidung eines Regresses gegen Angehörige) wäre aber zu beachten.279

35.107

d) Reichweite des Sozialleistungsstatuts Es entscheidet auch über das Bestehen eines Quotenvorrechts bei unvollständiger Schadensabdeckung,280 über die Konkurrenz von mehreren leistungspflichtigen Sozialversicherungsträgern,281 sowie über das Bestehen eines Angehörigenprivilegs.282

35.108

e) Internationales Prozessrecht Der Sozialversicherungsträger kann seinen Regressanspruch gegen den Schädiger und dessen Haftpflichtversicherer nur am mitgliedsstaatlichen Gerichtsstand des Wohnsitzes des Schädigers bzw. des Sitzes des Haftpflichtversicherers einklagen (s. Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 Brüssel Ia-VO). Die Klage vor den Gerichten des Mitgliedsstaates seiner eigenen Niederlassung ist ausgeschlossen. Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 lit. b) Brüssel Ia-VO sind in diesem Fall einschränkend auszulegen.283 Etwas anderes gilt nach der Rspr. des EuGH284 aber dann, wenn der Sozialversicherer nach Art. 8 Nr. 2 Brüssel Ia-VO am Verfahren teilnehmen kann s. Rz. 2.8).285

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung § 110 SGB VII (1) Haben Personen, deren Haftung nach den §§ 104 bis 107 beschränkt ist, den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt, haften sie den Sozialversicherungsträgern für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen, jedoch nur bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs. Statt der Rente kann der Kapitalwert gefordert werden. Das

277 Vgl. Schuler Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland 1988, S. 472. 278 Für Altfälle bis 16.12.2009 s. Art. 33 Abs. 2 EGBGB (Eichenhofer Internationales Sozialrecht 1994, Rz. 636). 279 Wandt NZV 1993, 57 f. 280 Schuler Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland 1988, S. 471; Eichenhofer Internationales Sozialrecht 1994, Rz. 636. 281 In einigen Abkommen ausdrücklich geregelt; vgl. Schuler Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland 1988, S. 474. 282 Wandt NZV 1993, 57. 283 EuGH v. 17.9.2009 – C-347/08, VersR 2009, 1512; OLG Celle v. 27.11.2008 – 5 U 106/08, VersR 2009, 1426; Wittmann r+s 2011, 145. 284 EuGH v. 21.1.2016 – C-521/14, DAR 2016, 79 mit krit. Anm. Staudinger. 285 A.A. Staudinger VersR 2013, 412.

Zwickel | 1021

35.109

§ 35 Rz. 35.109 | Regress der Sozialversicherungsträger Verschulden braucht sich nur auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln oder Unterlassen zu beziehen. (1a) Unternehmer, die Schwarzarbeit nach § 1 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes erbringen und dadurch bewirken, dass Beiträge nach dem Sechsten Kapitel nicht, nicht in der richtigen Höhe oder nicht rechtzeitig entrichtet werden, erstatten den Unfallversicherungsträgern die Aufwendungen, die diesen infolge von Versicherungsfällen bei Ausführung der Schwarzarbeit entstanden sind. Eine nicht ordnungsgemäße Beitragsentrichtung wird vermutet, wenn die Unternehmer die Personen, bei denen die Versicherungsfälle eingetreten sind, nicht nach § 28a des Vierten Buches bei der Einzugsstelle oder der Datenstelle der Träger der Rentenversicherung angemeldet hatten. (2) Die Sozialversicherungsträger können nach billigem Ermessen, insbesondere unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners, auf den Ersatzanspruch ganz oder teilweise verzichten. § 111 SGB VII Haben ein Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs, Abwickler oder Liquidatoren juristischer Personen, vertretungsberechtigte Gesellschafter oder Liquidatoren einer Personengesellschaft des Handelsrechts oder gesetzliche Vertreter der Unternehmer in Ausführung ihnen zustehender Verrichtungen den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht, haften nach Maßgabe des § 110 auch die Vertretenen. Eine nach § 110 bestehende Haftung derjenigen, die den Versicherungsfall verursacht haben, bleibt unberührt. Das gleiche gilt für Mitglieder des Vorstandes eines nicht rechtsfähigen Vereins oder für vertretungsberechtigte Gesellschafter einer Personengesellschaft des bürgerlichen Rechts mit der Maßgabe, dass sich die Haftung auf das Vereins- oder das Gesellschaftsvermögen beschränkt. § 112 SGB VII § 108 über die Bindung der Gerichte gilt auch für die Ansprüche nach den §§ 110 und 111. § 113 SGB VII Für die Verjährung der Ansprüche nach den §§ 110 und 111 gelten die §§ 195, 199 Abs. 1 und 2 und § 203 des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend mit der Maßgabe, dass die Frist von dem Tag an gerechnet wird, an dem die Leistungspflicht für den Unfallversicherungsträger bindend festgestellt oder ein entsprechendes Urteil rechtskräftig geworden ist. Art. 229 § 6 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche gilt entsprechend.

1. Überblick a) Grund für die Sonderregelung 35.110

In der Gesetzlichen Unfallversicherung gilt das Prinzip der Haftungsersetzung: Wer den Schutz dieser (seit 1997 im SGB VII, zuvor in der RVO geregelten286) Versicherung genießt, also bei Arbeits-, Schul-, Wegeunfällen und dgl. Anspruch auf ihre Leistungen hat, soll nur den Versicherungsträger, nicht den vom Geltungsbereich der Unfallversicherung umfassten Schädiger persönlich in Anspruch nehmen können (zu diesem Haftungsausschluss s. Rz. 22.80 ff.). Bei dieser rechtlichen Konstruktion passt das Modell des gesetzlichen Forderungsübergangs nach § 116 SGB X nicht: Es gibt in der Regel keinen Schadensersatzanspruch, der übergehen könnte. Soweit ausnahmsweise (bei vorsätzlicher Schädigung und Wegeunfällen) ein solcher verbleibt, wurde der Übergang im Hinblick auf die durch die Gesetzliche Unfallversicherung ge286 Zur Gesetzgebungsgeschichte Rz. 22.83.

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IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.114 § 35

schaffene Solidargemeinschaft und die Finanzierungsbeiträge der Unternehmer ausgeschlossen (Rz. 22.80). Stattdessen hat der Gesetzgeber für diesen Bereich in § 640 RVO, § 110 SGB VII einen originären Rückgriffsanspruch geschaffen.

b) Rechtsgrundlagen Für Schadensfälle ab Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 richtet sich der Rückgriff des Unfallversicherungsträgers nach § 110 SGB VII, während auf frühere Schadensfälle weiterhin § 640 RVO anzuwenden ist (vgl. Rz. 22.83).287

35.111

c) Verhältnis zum Rückgriff Verhältnis zum Rückgriff nach § 116 SGB X. § 104 Abs. 1 S. 2 und § 105 Abs. 1 S. 3 SGB VII schließen einen Forderungsübergang nach § 116 SGB X für ihren Anwendungsbereich (s. Rz. 22.84 ff.) explizit aus. Dagegen bleibt es beim Regress nach § 116 SGB X, wenn zwar ein Versicherungsfall in der Gesetzlichen Unfallversicherung vorliegt, dieser aber nicht vom Unternehmer oder Kollegen, sondern von einem Dritten als Schädiger verursacht wurde (z.B. der Verkehrsunfall auf versichertem Weg nach § 8 Abs. 2 SGB VII, der durch ein fremdes Fahrzeug verursacht wird288). Selbstverständlich müssen hierfür die Voraussetzungen des § 116 SGB X, insbesondere die sachliche Kongruenz vorliegen (vgl. dazu ausführlich Rz. 35.24 ff.).

35.112

Haftet für einen Arbeitsunfall eine Person mit, die als Außenstehender nicht zum geschützten Bereich des Betriebes, der Schule etc. gehört und deshalb nicht nach §§ 104 bis 107 SGB VII haftungsprivilegiert ist, so gehen die Schadensersatzansprüche gegen die betreffende Person zwar gem. § 116 SGB X auf den Sozialversicherungsträger über. Der Anspruch gegen den außenstehenden Schädiger ist aber um den Mitverantwortungsanteil des an der Unfallversicherung Beteiligten zu kürzen (vgl. Rz. 22.87). Dieses gestörte Gesamtschuldverhältnis wird nicht durch den gegenüber dem Erstschädiger bestehenden Anspruch nach § 110 Abs. 1 SGB VII ausgeglichen.289 Hat der aufgrund von § 110 SGB VII in Regress genommene Unternehmer bzw. Betriebsangehörige Ersatzpflichten des Mitschädigers miterledigt, so kann er mangels Gesamtschuldverhältnisses nicht nach § 426 BGB, sondern nur nach Bereicherungsrecht Ausgleich verlangen.290 Der Sozialversicherungsträger kann wählen, wen er in Anspruch nimmt.291 Selbstverständlich kann er denselben Betrag aber nur einmal fordern. In der Regel wird der Rückgriff nach § 110 SGB VII für ihn günstiger sein, weil er nach der Rspr. dort alle Aufwendungen (nicht nur kongruente) geltend machen kann292 und sich zudem ein Mitverschulden des Verletzten nicht anrechnen lassen muss (vgl. Rz. 35.142).

35.113

Beim Rückgriff nach § 116 SGB X muss sich die Berufsgenossenschaft u.U. ein mitwirkendes Verschulden des Arbeitgebers des Verletzten entgegenhalten lassen. Die Bestimmungen des SGB VII über den Versicherungsschutz der bei einem Arbeitsunfall Verletzten bewirken im Ergebnis, dass die Berufsgenossenschaft an die Stelle des nach bürgerlichem Recht an sich

35.114

287 Soweit § 214 Abs. 4 SGB VII eine Rückbeziehung auf frühere Versicherungsfälle anordnet, bezieht sich dies trotz des unklaren Wortlauts nicht auf den Regress nach § 110 SGB VII. 288 Vgl. BGH v. 8.7.2003 – VI ZR 274/02, NJW 2003, 3193. 289 BGH v. 18.11.2014 – VI ZR 47/13, SVR 2015, 137 mit Anm. Lang. 290 BGH v. 7.4.1981 – VI ZR 251/78, VersR 1981, 649. 291 BGH v. 19.10.1971 – VI ZR 91/70, VersR 1972, 171. 292 Vgl. zum alten Recht BGH v. 14.6.1983 – VI ZR 183/81, VersR 1983, 854 (Kinderzulage), zum neuen Recht BGH v. 27.6.2006 – VI ZR 143/05, NJW 2006, 3563 (Schmerzensgeld).

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§ 35 Rz. 35.114 | Regress der Sozialversicherungsträger

haftpflichtigen Unternehmers tritt und daher von einem außerhalb des Sozialversicherungsverhältnisses stehenden Zweitschädiger nur so viel beanspruchen kann, wie der Unternehmer fordern könnte, wenn er selbst die Leistungen an den Verletzten hätte erbringen müssen.293

35.115

Bei einem Tätigwerden als Nothelfer (§ 2 Abs. 1 Nr. 13 lit. a SGB VII; s. dazu Rz. 17.13 ff. und Rz. 22.132) geht der Aufwendungsersatzanspruch aus §§ 683, 670 BGB gegen das Unfallopfer nicht nach § 116 SGB X auf den Unfallversicherungsträger über,294 denn es handelt sich nicht um einen Schadensersatzanspruch.295 Dieser Ausschluss gilt jedoch nicht für die nach § 13 SGB VII ersatzfähigen Sachschäden und erforderlichen Aufwendungen.296 Ob der Regress auch dann ausgeschlossen ist, wenn sich das Unfallopfer durch nachweislich schuldhaftes Verhalten in die Notlage gebracht hat, wurde vom BGH offengelassen, von mehreren OLG297 aber bejaht. Ein solcher Regress erschiene zwar nicht unbillig, jedoch ist eine gesetzliche Grundlage hierfür nicht ersichtlich.

d) Verhältnis zu Leistungen der Krankenkasse 35.116

Bei einem Arbeitsunfall besteht für den Verletzten kein Anspruch auf Leistungen aus der Gesetzlichen Krankenversicherung, sofern sie als Folge des Arbeitsunfalls zu erbringen wären, denn § 11 Abs. 5 SGB V begründet hierfür eine ausschließliche Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers. Der Anspruch des Verletzten gegen den Schädiger geht deshalb gem. § 116 Abs. 1 SGB X im Zeitpunkt des Unfalls insgesamt auf diesen über, soweit er aufgrund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat und sofern der Forderungsübergang nicht gem. §§ 104 f. SGB X ausgeschlossen ist. Leistungen, welche die Krankenkasse dem Verletzten tatsächlich erbracht hat, sind ihr von dem Unfallversicherungsträger nach den §§ 102 ff. SGB X zu erstatten. Die Krankenkasse wird weder – teilweise – Inhaber des dem Verletzten gegen den Schädiger zustehenden Schadensersatzanspruchs noch steht ihr gegen den Schädiger ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag zu.298

2. Voraussetzungen des Regresses a) Versicherungsfall 35.117

§ 110 SGB VII setzt den Eintritt eines Versicherungsfalles voraus. Versicherungsfälle in der Gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, § 7 SGB VII. Der Arbeitsunfall ist in § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII als Unfall von Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit definiert, wobei sich ein Unfall als zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt, darstellt (§ 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII). Zur versicherten Tätigkeit gehören nach § 8 Abs. 2 SGB VII auch Wegeunfälle. Voraussetzung für den Eintritt beider Versicherungsfälle ist die Zugehörigkeit zum versicherten Personenkreis in der Unfallversicherung, §§ 2 ff. SGB VII.

293 BGH v. 29.10.1968 – VI ZR 137/67, BGHZ 51, 37. 294 BGH v. 10.10.1984 – IVa ZR 167/82, JZ 1985, 390 mit zust. Anm. Gitter; v. Caemmerer DAR 1970, 291; Frank JZ 1982, 743; a.A. die frühere Rspr., vgl. RG v. 7.5.1941 – VI 72/40, RGZ 167, 85; BGH v. 7.11.1960 – VII ZR 82/59, BGHZ 33, 257. 295 Vgl. auch Rz. 35.7. 296 BGH v. 10.10.1984 – IVa ZR 167/82, NJW 1985, 492. 297 OLG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 1 U 31/10, NZV 2011, 393; OLG Karlsruhe v. 2.3.1988 – 7 U 157/87, NJW 1988, 2676. 298 BGH v. 8.7.2003 – VI ZR 274/02, NJW 2003, 3193.

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IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.122 § 35

Das Vorliegen eines Versicherungsfalls stellt der Unfallversicherungsträger, ggf. das Sozialgericht, mit Bindungswirkung fest (§§ 112, 108 SGB VII; näher hierzu Rz. 35.102). Die Bindung setzt voraus, dass der Bescheid des Sozialversicherungsträgers auch für den Schädiger (z.B. Unternehmer, Arbeitskollege) bestandskräftig ist, woran es fehlt, wenn dieser nicht gem. § 12 Abs. 2 S. 2 SGB X am Verwaltungsverfahren beteiligt wurde. Die Bindungswirkung tritt in diesem Fall dem Unternehmer gegenüber erst dann ein, wenn er auf Anfrage erklärt, an einer Wiederholung des Verwaltungsverfahrens kein Interesse zu haben, oder keine Erklärung abgibt.

35.118

b) Haftungsbeschränkung beim Unfallverursacher Der Schädiger muss in seiner zivilrechtlichen Haftung dem Unfallopfer gegenüber nach den §§ 104 bis 107 SGB VII beschränkt sein (vgl. dazu Rz. 22.84 ff.).

35.119

c) Gesteigertes Verschulden Der Rückgriff setzt Vorsatz (hierzu Rz. 10.52) oder grobe Fahrlässigkeit299 (Rz. 35.120 ff.) des Schädigers voraus. Sie müssen sich auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln oder Unterlassen, nicht wie bei Versicherungsfällen vor dem 1.1.1997 auf Eintritt und Umfang des Schadens beziehen. Die §§ 827 und 828 BGB sind hierbei analog anwendbar.300

35.120

Unter grober Fahrlässigkeit ist ein objektiv besonders schwerer und subjektiv nicht entschuldbarer Verstoß gegen die Anforderungen der verkehrserforderlichen Sorgfalt301 zu verstehen. Er ist zu bejahen, wenn sich der Kraftfahrer im konkreten Fall über die Bedenken hinweggesetzt hat, die sich jedem anderen in gleicher Lage aufdrängen mussten.302 Da es auch auf die subjektive Vorwerfbarkeit ankommt, können objektiv gleich schwere Pflichtverstöße verschiedener Personen zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Beurteilung als grobe Fahrlässigkeit führen.303 Auch berufsspezifische Nachlässigkeiten („Schlendrian“) können hierbei eine Rolle spielen.304 Es darf nicht ohne weiteres aus einem objektiv groben Pflichtverstoß auf subjektive Unentschuldbarkeit geschlossen werden.305

35.121

Ein Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften beruht nicht immer auf grober Fahrlässigkeit.306 Allerdings kann der Verstoß gegen elementare Sicherheitsvorschriften, die vor tödlichen Gefahren schützen sollen, den Schluss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden nahe legen.307 Dies gilt insbesondere bei Trunkenheitsfahrt,308 und zwar u.U. trotz erheblich

35.122

299 Kritisch hierzu Fuchs in FS Gitter, S. 256. 300 Vgl. (zu § 61 VVG a.F.) BGH v. 23.1.1985 – IVa ZR 128/83, NJW 1985, 2648; BGH v. 22.2.1989 – IVa ZR 274/87, NJW 1989, 1612; BGH v. 29.10.2003 – IV ZR 16/03, VersR 2003, 1561 (§ 828 BGB); BGH v. 6.7.1967 – IR ZR 16/65, VersR 1967, 944 (§ 827 BGB). 301 BGH v. 11.5.1953 – VI ZR 170/52, BGHZ 10, 14; BGH v. 23.1.1985 – IVa ZR 128/83, VersR 1985, 440. 302 BGH v. 21.2.1978 – VI ZR 58/77, VersR 1978, 541. 303 BGH v. 21.2.1978 – VI ZR 58/77, VersR; BGH v. 23.1.1985 – IVa ZR 128/83, VersR 1985, 440. 304 BGH v. 12.1.1988 – VI ZR 158/87, VersR 1988, 474. 305 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118. 306 BGH v. 8.10.1968 – VI ZR 164/67, VersR 1969, 39; BGH v. 30.1.2001 – VI ZR 49/00, VersR 2001, 985; Marschall v. Bieberstein VersR 1968, 509. 307 BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 15/88, VersR 1989, 109. 308 Zur Anwendbarkeit des Grenzwerts für absolute Fahruntauglichkeit s. BGH v. 9.10.1991 – IV ZR 264/90, VersR 1991, 1367; s. dazu Rebler MDR 2016, 1422.

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§ 35 Rz. 35.122 | Regress der Sozialversicherungsträger

eingeschränkter Einsichts- und Hemmungsfähigkeit.309 Auch wenn nur relative Fahruntauglichkeit (selbst unter 0,8 ‰) vorliegt, kann grobe Fahrlässigkeit bejaht werden, wenn der Kraftfahrer über die Trinkmenge hinaus weitere ernsthafte Anzeichen für eine Fahruntauglichkeit missachtet hat.310

35.123

Ein sog. Augenblicksversagen, d.h. eine Fehlhandlung, wie sie infolge der menschlichen Unzulänglichkeit auch einem im Grunde vorsichtigen und sorgfältigen Verkehrsteilnehmer durch momentanes Versagen jederzeit unterlaufen kann, wird häufig ein Gesichtspunkt sein, der das subjektive Merkmal der groben Fahrlässigkeit (Unentschuldbarkeit des Verstoßes) ausschließt.311 Fehlerhaft wäre es jedoch, in den Fällen eines solchen Augenblicksversagens grobe Fahrlässigkeit stets zu verneinen; es müssen vielmehr besondere entschuldigende Umstände hinzutreten und es darf sich nicht um ein besonders gefahrenträchtiges Verhalten handeln.312 Von demjenigen, der eine besondere Gefahr schafft, muss nämlich auch eine gesteigerte Konzentration verlangt werden. So kann sich z.B. ein Kraftfahrer, der das Rotlicht einer Ampel überfahren hat, in aller Regel nicht auf ein Augenblicksversagen berufen, weil beim Heranfahren an eine Kreuzung ein Mindestmaß an Konzentration verlangt werden muss, welches die Wahrnehmung und Beachtung einer Signalanlage sicherstellt.313 Es gibt aber keinen Grundsatz, nach welchem ein Rotlichtverstoß stets als grobe Fahrlässigkeit zu beurteilen wäre.314

35.124

Einzelfälle zur groben Fahrlässigkeit. Da es stets auf die besonderen Umstände des Einzelfalles ankommt,315 sind Entscheidungen, in denen grobe Fahrlässigkeit bejaht oder verneint wurde, nur bedingt verallgemeinerungsfähig. Die nachstehende Übersicht ist daher nur als Hilfsmittel zum Auffinden einschlägiger Judikatur zu verstehen.316 Für Versicherungsfälle nach dem 1.1.1997 ist zudem die Neufassung in § 110 Abs. 1 S. 3 SGB VII zu beachten, wonach sich das Verschulden nur auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln oder Unterlassen zu beziehen braucht (s. Rz. 35.120). Die meisten der nachstehend angeführten Entscheidungen beziehen sich auf § 61 VVG a.F. (inhaltlich geänderter § 81 VVG n.F.), sind jedoch übertragbar, da der Begriff der groben Fahrlässigkeit einheitlich zu definieren ist.317

35.125

Abkommen von der Fahrbahn(seite) Bejahend: OLG München v. 17.9.1965 – 10 U 1371/65, VersR 1965, 1089; OLG Köln v. 9.11.1966 – 2 U 36/66, VersR 1967, 273 und 371 mit Anm. Ruhkopf; OLG Saarbrücken v. 7.10.1988 – 3 U 41/ 87, VersR 1990, 44; OLG München v. 27.1.1994 – 24 U 706/93, VersR 1995, 165; LG Stuttgart v. 19.11.1965 – 8 O 04/65, VersR 1967, 59; LG Coburg v. 3.6.1966 – 2 S 12/66, VersR 1966, 1089; OLG Celle v. 22.10.1998 – 14 U 89/98, OLGR Celle 1999, 53 (Fahren ungewohnten Fahrzeugs: Ferrari). 309 BGH v. 22.2.1989 – IVa ZR 274/87, VersR 1989, 469; OLG Hamm v. 22.11.1991 – 20 U 141/91, VersR 1992, 818. 310 OLG Hamm v. 30.1.1981 – 20 U 229/80, VersR 1981, 924; OLG Köln v. 12.7.1982 – 5 U 137/81, VersR 1983, 293; KG v. 9.6.1995 – 6 U 232/94, NZV 1996, 200 (z.B. Müdigkeit). 311 BGH v. 8.2.1989 – IVa ZR 57/88, VersR 1989, 582. 312 Eingehend hierzu Römer VersR 1992, 1187; zum sog. Sekundenschlaf s. Fromm SVR 2015, 126. 313 BGH v. 8.7.1992 – IV ZR 223/91, BGHZ 119, 147. Weitere Nachweise hierzu in nachstehender Rechtsprechungsübersicht. 314 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118. 315 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118, 1119. 316 S. auch Riedmaier VersR 1981, 10. 317 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118.

1026 | Zwickel

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.126 § 35

Verneinend: OLG Stuttgart v. 14.11.1969 – 10 U 67/69, VersR 1970, 765; OLG Stuttgart v. 2.6.1971 – VersR 1972, 290; OLG Karlsruhe v. 5.10.1967 – 1 Ss 132/67, Justiz 1967, 318; OLG Celle v. 30.1.1992 – 14 U 195/90, NZV 1993, 187. Ablenkung des Fahrers Nach OLG Köln v. 15.7.1997 – 7 U 215/96, VersR 1998, 1375, ist beim Lenken der Aufmerksamkeit des Fahrers auf verkehrsfremde Dinge die objektive Gefährlichkeit des Handelns sowie der subjektiv zu diesem Verhalten führende Anlass zu berücksichtigen. Bei Vorliegen eines plausiblen oder gar triftigen Grundes kann danach nicht automatisch von subjektiver Unentschuldbarkeit gesprochen werden. Bejahend: – OLG Frankfurt v. 8.2.1995 – 23 U 108/94, VersR 1996, 446 (Anzünden einer Zigarette; s.a. unter „verneinend“); – OLG Frankfurt v. 26.1.1973 – 3 U 107/72, VersR 1973, 610; OLG Hamm v. 26.11.1986 – 20 U 122/86, VersR 1987, 353; OLG Hamm v. 24.11.1989 – 20 W 59/89, NJW-RR 1990, 929; OLG Hamm v. 30.5.2016 – 18 U 155/15, NJW-RR 2016, 1428; LG Hannover v. 29.7.1983 – 7 O 163/83, VersR 1984, 349 LS; LG Bayreuth v. 25.6.1983 – 2 O 11/83, VersR 1984, 528; LG Aachen v. 15.11.1984 – 2 O 453/84, VersR 1986, 282; LG Ansbach v. 25.6.1990 – 2 O 250/ 90, ZfS 1990, 422 (Bücken nach heruntergefallenem Gegenstand während der Fahrt); – OLG Frankfurt v. 13.6.1990 – 7 U 9/90, ZfS 1990, 352 (Körperstreckung, um nach Gegenstand zu greifen); – OLG Celle v. 13.1.1994 – 8 U 33/93, VersR 1994, 1221 (Griff nach Gegenständen am Beifahrersitz); – OLG Köln v. 25.11.1982 – 5 U 102/82, VersR 1983, 575; LG Coburg v. 25.6.1993 – 3 S 40/ 93, VersR 1994, 976 (Umdrehen zu Person auf Rücksitz); – OLG Saarbrücken v. 21.9.1973 – 3 U 97/72, VersR 1974, 183; – LG Dortmund v. 3.11.1980 – 2 O 152/80, VersR 1982, 155 (Abwenden des Blicks wegen heruntergefallenen Gegenstands); LAG Düsseldorf v. 18.2.1988 – 13 Sa 1471/87ZfS 1989, 418; OLG Karlsruhe v. 30.4.1992 – 12 U 16/92, VersR 1993, 1096 = NZV 1992, 367 (Herabfallen von Zigarette oder Asche); – OLG Nürnberg v. 25.10.1990 – 8 U 1458/90, NJW-RR 1992, 360 (Kassettenwechsel); – LG Saarbrücken v. 11.7.1988 – 13 BS 55/88, VersR 1989, 257 (Einstellen des Außenspiegels); – OLG Karlsruhe v. 11.5.1989 – 12 U 49/89, VersR 1991, 181 (Betätigen des Gurtschlosses); – OLG Köln v. 10.3.1998 – 9 U 184/97, MDR 1998, 1411 (Suchen brennender Zigarette); – OLG Naumburg v. 8.10.1996 – 7 U 108/96, VersR 1997, 870 (Taschentuchsuche auf Beifahrersitz nach unvermitteltem Niesen); – OLG Köln v. 10.5.2000 – 26 U 49/99, VersR 2001, 1531; OLG Hamm v. 30.5.2016 – 18 U 155/15, NJW-RR 2016, 1428 (Entfernen von Gegenstand aus Fußraum); – OLG Köln v. 19.9.2000 – 9 U 43/00, DAR 2001, 364 (Benutzung Mobiltelefon); – OLG Saarbrücken v. 15.10.2003 – 5 U 300/03-33, VersR 2004, 1308 (Verstellen Fahrersitz); Zwickel | 1027

35.126

§ 35 Rz. 35.126 | Regress der Sozialversicherungsträger

– LG Frankfurt v. 21.5.2001 – 2/23 O 506/00, NZV 2001, 480 (Suche nach Abweisungstaste für Mobilfunkanrufe); – AG Berlin-Mitte v. 4.11.2004 – 105 C 3123/03, NZV 2005, 157 (einhändiges Lenken im Kurvenbereich wegen Telefonierens). Verneinend: – OLG Saarbrücken v. 11.5.1984 – 3 U 42/83, VersR 1984, 1185 (Anlegen des Sicherheitsgurtes während der Fahrt); – KG v. 8.11.1982 – 22 U 515/82, VersR 1983, 494; OLG Stuttgart v. 20.6.1986 – 2 U 10/86, VersR 1986, 1119 (Rauchen, Zigarette anzünden); – OLG Hamm v. 21.10.1981 – 20 U 161/81, VersR 1982, 796; OLG Hamm v. 31.8.1990 – 20 U 57/90, NZV 1991, 234; OLG Bamberg v. 30.7.1983 – 6 U 31/83, DAR 1984, 22; LG Arnsberg v. 21.4.1989 – 1 O 25/89, NJW-RR 1989, 1304; österr. OGH v. 11.2.1982 – 7 Ob 2/82, VersR 1983, 356 (Suchen, Greifen nach Gegenständen); – OLG München v. 24.1.1992 – 10 U 4963/91, NJW-RR 1992, 538 (Kassettenwechsel); – LG Köln v. 17.3.1982 – 24 O 637/81, VersR 1983, 1069 (Umdrehen bei 120 km/h); – OLG Bamberg v. 20.9.1990 – 1 U 36/90, NZV 1991, 473 (Verscheuchen eines Insekts); – OLG Frankfurt v. 10.7.1997 – 3 U 141/96, OLGR Frankfurt 1997, 256 (Zurückschieben Unterlagen auf Beifahrersitz); – OLG Köln v. 15.7.1997 – 7 U 215/96, VersR 1998, 1375 (Umdrehen des Fahrers zu streitenden Kindern auf dem Rücksitz); – OLG Nürnberg v. 25.4.2005 – 8 U 4033/04, NZV 2005, 478 (Bedienen des Autoradios).

35.127

Auffahren Bejahend: – OLG Celle v. 8.7.2020 – 14 U 25/18 (Trecker-Anhänger-Gespann auf gerader Strecke) – OLG München v. 5.11.1993 – 10 U 3610/93, VersR 1995, 205 = NZV 1994, 113 (abgesicherte Unfallstelle); – OLG Nürnberg v. 6.10.1993 – 4 U 1994/93, VersR 1995, 684 = DAR 1994, 454 (auf Autobahn stehender Lkw); – LG Tübingen v. 25.5.1965 – 3 O 196/64, VersR 1966, 726; OLG Düsseldorf v. 9.12.1999 – 10 U 47/99, MDR 2000, 268 (Absperranhänger auf Autobahn); – OLG Düsseldorf v. 10.10.2002 – 10 U 184/01, NZV 2003, 289 (bei Dunkelheit auf BAB). Verneinend: – OLG München v. 5.3.1998 – 24 U 611/97, OLGR München 1998, 128 (langsam fahrender Lkw auf Autobahn).

35.128

Bahnübergang Bejahend: – OLG Oldenburg v. 22.10.1963 – 4 U 69/63, DAR 1964, 111; – OLG Hamm v. 24.11.1989 – 20 U 138/89, VersR 1990, 379 LS; 1028 | Zwickel

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.130 § 35

– OLG Frankfurt v. 12.1.1984 – 1 U 147/83, VersR 1985, 94 LS; – OLG Karlsruhe v. 19.12.1996 – 12 U 226/96, NJWE-VHR 1997, 103. Verneinend: – OLG Hamm v. 20.12.1993 – 6 U 151/93, NZV 1994, 437. Einbahnstraße Bejahend:

35.129

OLG Hamm v. 18.5.1999 – 9 U 271/98, OLGR Hamm 1999, 338. Fahruntauglichkeit (s. auch Rz. 35.122)

35.130

Bejahend: Absolute Fahruntauglichkeit: BGH v. 30.11.1971 – VI ZR 100/70, VersR 1972, 277; BGH v. 7.5.1974 – VI ZR 138/72, VersR 1974, 853; BGH v. 23.1.1985 – Iva ZR 128/83, VersR 1985, 440; BGH v. 1.2.1989 – Iva ZR 247/87, VersR 1989, 470; BGH v. 9.10.1991 – IV ZR 264/90, NZV 1992, 27; BGH v. 22.6.2011 – IV ZR 225/10, BGHZ 190, 120; OLG Oldenburg v. 27.1.1982 – 2 U 135/81, VersR 1982, 968; OLG Hamm v. 19.5.1982 – 20 U 59/82, VersR 1983, 527; OLG Hamm v. 20.9.1989 – 20 U 272/88, VersR 1990, 846; OLG Hamm v. 16.5.1990 – 20 U 225/89, NZV 1990, 437; OLG Hamm v. 22.11.1991 – 20 U 141/91, NZV 1992, 153; OLG Karlsruhe v. 1.4.1982 – 12 U 171/ 81, VersR 1983, 627; OLG Frankfurt v. 10.5.1983 – 8 U 236/82, VersR 1984, 130; OLG Hamburg v. 12.6.1984 – 7 U 76/83, VersR 1984, 929 LS; OLG Celle v. 2.3.1988 – 8 U 124/87, VersR 1989, 179 LS; OLG Köln v. 20.7.2017 – 9 U 20/17, r+s 2018, 15. Relative Fahruntauglichkeit: OLG Köln v. 13.5.1982 – 5 U 143/81, VersR 1983, 50; OLG Köln v. 12.7.1982 – 5 U 137/81, VersR 1983, 293; OLG Karlsruhe v. 27.5.1982 – 12 U 166/81, VersR 1983, 292; OLG Karlsruhe v. 5.1.1989 – 2 O 274/88 u. 12 U 49/89, VersR 1991, 181; OLG Karlsruhe v. 21.2.2002 – 19 U 167/01, VersR 2002, 969; OLG Hamm v. 29.5.1985 – 20 U 390/84, VersR 1987, 89; OLG Hamm v. 26.10.1993 – 20 U 197/93, NZV 1994, 112; OLG Nürnberg v. 21.4.1988 – 8 U 3380/ 87, NZV 1988, 144; OLG Stuttgart v. 6.12.1988 – 12 U 108/88, ZfS 1990, 61; OLG Köln v. 14.4.1988 – 5 U 168/87, ZfS 1990, 61 u. 62; KG v. 9.6.1995 – 6 U 232/94, NZV 1996, 200 (unter 0,8‰); LG Kiel v. 27.11.1981 – 15 O 325/81, VersR 1983, 123; LG Kaiserslautern v. 7.2.2014 – 3 O 323/13, r+s 2014, 408. Verneinend: – BGH v. 30.11.1971 – VI ZR 100/70, VersR 1972, 277 (Übernahme des Steuers, um noch stärker alkoholisierten Fahrer am Weiterfahren zu hindern); – OLG München v. 29.6.1984 – 10 U 4605/83, VersR 1985, 71 (ca. 1,1‰); – OLG Hamm v. 17.9.1986 – 20 U 52/86, VersR 1988, 126; KG Berlin v. 12.5.20202 – 6 U 120/19 (Einnahme von Medikamenten ohne Warnung auf Beipackzettel); – LAG RhPf v. 2.11.1995 – 7 Sa 843/95, NZA-RR 1996, 443 (2,15‰); – OLG Naumburg v. 11.7.2000 – 13 U 14/00, OLGR Naumburg 2001, 28 (0,53‰).

Zwickel | 1029

§ 35 Rz. 35.131 | Regress der Sozialversicherungsträger

35.131

Fahrzeugmängel Bejahend: – Österr. OGH v. 8.3.1984 – 7 Ob 54/83, VersR 1985, 74. Verneinend: – AG Papenburg v. 10.3.2016 – 20 C 322/15, r+s 2017, 69 (Sommerreifen im Winter)

35.132

Geschwindigkeitsüberschreitung Bejahend: – OLG München v. 30.12.1982 – 24 U 527/82, DAR 1983, 78; – OLG Nürnberg v. 27.1.2000 – 8 U 3128/99, VersR 2001, 365; – OLG Nürnberg v. 27.10.1988 – 8 U 1649/87, VersR 1989, 284 (Nebel); – OLG Karlsruhe v. 17.2.1994 – 12 U 147/93, VersR 1995, 1088; – OLG Koblenz v. 5.3.1999 – 10 U 155/98, VersR 2000, 720 (150 km/h nachts auf Landstraße). Verneinend: – BGH v. 15.6.1983 – VIII ZR 78/82, VRS 65, 349; – OLG Karlsruhe v. 30.6.1983 – 12 U 174/82, VersR 1984, 836; – OLG Hamm v. 27.6.1983 – 20 U 26/84, VersR 1985, 678; – OLG Hamm v. 11.6.1986 – 20 U 363/85, VersR1987, 1206; – OLG Hamm v. 20.1.1993 – 20 U 255/92, NZV 1993, 437; – OLG Frankfurt v. 31.10.2001 – 7 U 83/01, VersR 2002, 703.

35.133

Liegenbleiben Bejahend: – OLG Hamm v. 17.6.1993 – 27 U 55/93, VersR 1994, 590 (Treibstoffmangel auf Autobahn).

35.134

Reparaturarbeiten Bejahend: – OLG Hamm v. 2.11.1983 – 20 U 103/83, VersR 1984, 726 (Schweißarbeiten in der Nähe der Benzinleitung eines Kfz).

35.135

Rotlichtverstoß (s. auch Rz. 35.123) Bejahend: – BGH v. 8.7.1992 – IV ZR 223/91, BGHZ 119, 147; – OLG Hamm v. 17.6.1994 – 20 U 390/93, VersR 1995, 92; – OLG Hamm v. 4.12.1987 – 20 U 95/87, NJW-RR 1988, 861; – OLG Hamm v. 17.4.1998 – 20 U 116/97, OLGR 1998, 299 (Sonneneinstrahlung an Ampel); 1030 | Zwickel

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.135 § 35

– OLG Hamm v. 28.10.1998 – 20 U 118/98, OLGR 1999, 65 (plötzliches Einfahren in Kreuzung); – OLG Karlsruhe v. 15.10.1981 – 12 U 50/81, VersR 1983, 76; – OLG Karlsruhe v. 17.12.1992 – 12 U 208/92, VersR 1994, 211; – OLG Karlsruhe v. 20.2.1992 – 12 U 209/91, r+s 1994, 46; – OLG Hamburg v. 13.12.1983 – 7 U 146/83, VersR 1984, 377; – OLG Hamburg v. 25.5.1993 – 7 U 43/93, VersR 1994, 211; – OLG Köln v. 23.2.1989 – 5 U 184/88, VersR 1989, 952; – OLG Köln v. 18.10.1989 – 11 U 327/88, VersR 1990, 848; – OLG Köln v. 20.2.2001 – 9 U 173/00, r+s 2001, 235; – OLG Köln v. 19.11.2002 – 9 U 54/02, NZV 2003, 138; – OLG Düsseldorf v. 27.10.1992 – 4 U 80/92, VersR 1993, 432; – OLG Stuttgart v. 19.3.1992 – 7 U 237/91, NZV 1992, 322; – OLG Stuttgart v. 29.4.1999 – 7 U 260/98, OLGR 1999, 297; – OLG Nürnberg v. 27.1.1994 – 8 U 2417/93, ZfS 1994, 216; – OLG Oldenburg v. 10.5.1989 – 2 U 68/89, r+s 1994, 47; – OLG Dresden v. 30.5.1995 – 3 U 154/95, VersR 1996, 577 (Blendung); – OLG Celle v. 27.10.1994 – 8 U 14/94, NZV 1995, 363; – OLG München v. 12.2.1999 – 10 U 3100/98, NZV 1999, 383; – OLG München v. 28.7.2002 – 10 U 1512/02, NZV 2002, 562 (Benutzung des Tempomaten); – OLG Frankfurt v. 21.10.1999 – 3 U 5/99, OLGR Frankfurt 2000, 43; – OLG Rostock v. 30.4.2003 – 6 U 249/01, VersR 2003, 1528; – BayObLG v. 30.11.1998 – 2 ObOWi 625/98, NZV 1999, 216 (Mitzieheffekt); – BAG v. 12.10.1990 – 8 AZR 276/88, NZV 1990, 66; BAG v. 12.11.1998 – 8 AZR 221/97, NZV 1999, 164 (Telefonanruf); – LAG Niedersachsen v. 16.11.1981 – 14 Sa 95/81, VersR 1982, 968; – LG Frankfurt v. 14.12.1981 – 2/21 O 328/81, VersR 1982, 1162 (Einfahren bei Grün, aber zögerliches Räumen der Kreuzung; zu weitgehend). Verneinend: – BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118 (Fehldeutung eines optischen Signals nach Anhalten); – OLG Hamm v. 2.12.1981 – 13 U 12/81, VersR 1983, 465; – OLG Hamm v. 25.11.1983 – 20 U 116/83, VersR 1984, 727; – OLG Hamm v. 25.10.2000 – 20 U 66/00, VersR 2002, 603; Zwickel | 1031

§ 35 Rz. 35.135 | Regress der Sozialversicherungsträger

– OLG Hamm v. 14.4.1989 – 20 U 179/88, NZV 1990, 30; – OLG Hamm v. 6.2.1991 – 20 U 253/90, NZV 1991, 394; – OLG Hamm v. 30.4.1993 – 20 U 362/92, NZV 1993, 438; – OLG Frankfurt v. 20.5.1992 – 13 U 65/91, VersR 1993, 432; – OLG Frankfurt v. 11.5.2001 – 24 U 231/99, VersR 2001, 1276 (Weiterfahrt nach Ampelstopp); – OLG Düsseldorf v. 31.3.1992 – 4 U 127/91, VersR 1992, 1086; – OLG Karlsruhe v. 16.2.1989 – 12 U 253/88, ZfS 1990, 134; – OLG Saarbrücken v. 20.11.1981 – 3 U 162/80, VersR 1983, 28; – OLG Hamburg v. 9.5.1986 – 14 U 31/86, VersR 1987, 278; – OLG München v. 23.9.1983 – 10 U 2470/83, DAR 1984, 18, – OLG München v. 17.2.1995 – 10 U 5466/94, NZV 1996, 116 (versehentliches Anfahren wegen Verwechslung von Lichtzeichen); – OLG Köln v. 16.10.1998 – 6 U 38/98, NZV 1999, 90 (Irritation durch grüne Leuchtreklame); – OLG Jena v. 30.10.1996 – 4 U 819/95, VersR 1997, 691 (Wiederanfahren nach Rotlichtbeachtung); – OLG Nürnberg v. 7.3.1996 – 8 U 2564/95, NJW-RR 1996, 986 (ortsunkundiger, durch anderen Verkehrsteilnehmer behinderter Fahrer bei unklarer Ampelregelung); – OLG Koblenz v. 17.10.2003 – 10 U 275/03, VersR 2004, 728 (Weiterfahrt aufgrund Hupsignal); – LG Trier v. 14.1.1999 – 6 O 190/98, DAR 1999, 319 (Sonneneinstrahlung an Ampel).

35.136

Rückwärtsfahren Bejahend: – OLG Karlsruhe v. 24.6.1988 – 10 U 216/87, VersR 1989, 599 (mit Lkw ohne Einweiser trotz Uneinsehbarkeit und Fußgängerverkehr).

35.137

Überholen Bejahend: – BGH v. 30.6.1982 – IVa ZR 18/81, VersR 1982, 892; – OLG Stuttgart v. 25.4.1985 – 11 U 144/84, VersR 1986, 1235 LS; – OLG Köln v. 5.6.1986 – 5 U 245/85, VersR 1987, 1207; – OLG Köln v. 30.5.2000 – 9 U 1/99, MDR 2001, 87 (Kurve); – OLG Hamm v. 14.2.1990 – 20 U 275/89, VersR 1991, 294; – OLG Karlsruhe v. 19.3.1992 – 12 U 206/91, VersR 1992, 1507; – OLG Karlsruhe v. 4.3.2004 – 12 U 151/03, VersR 2004, 776; – OLG Frankfurt v. 23.5.1995 – 1 U 75/94, NZV 1995, 363; 1032 | Zwickel

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.139 § 35

– OLG Nürnberg v. 28.4.1994 – 8 U 3768/93, VersR 1995, 331; – OLG Hamburg v. 13.2.1998 – 14 U 165/97, VersR 1999, 1487; – OLG Düsseldorf v. 15.12.1998 – 4 U 235/97, OLGR Düsseldorf 1999, 461 (Glatteisgefahr); – OLG Naumburg v. 21.4.1998 – 9 U 1669/97 (289), OLGR Naumburg 1999, 67 („Übersehen“ Verkehrszeichen). Verneinend: – OLG Hamm v. 7.7.1982 – 20 U 79/82, VersR 1982, 1138; – OLG Hamm v. 21.6.1989 – 20 U 35/89, VersR 1990, 43; – LG Landau v. 11.5.1989 – 2 O 492/88, ZfS 1990, 276. Übermüdung (Sekundenschlaf) Bejahend:

35.138

– OLG Köln v. 22.11.1965 – 10 U 307/64, VersR 1966, 530; – OLG Köln v. 9.2.1987 – 12 U 176/86, VersR 1988, 1078; – OLG Frankfurt v. 26.5.1992 – 8 U 184/91, NZV 1993, 32; – LG Stuttgart v. 8.10.1992 – 10 O 407/91, VersR 1993, 1350; – OLG Oldenburg v. 16.9.1998 – 2 U 139/98, VersR 1999, 1105 (Einnicken); – OLG Koblenz v. 12.12.1997 – 10 U 226/97, VersR 1998, 1276 (Einnicken bei Vorzeichen der Ermüdung); – OLG Hamm v. 5.11.1997 – 20 U 99/97, VersR 1998, 1276 (Übermüdungsanzeichen); – OLG Zweibrücken v. 23.7.1997 – 1 U 134/96, NZV 1998, 289 (Übermüdungsanzeichen); – LG München I v. 29.8.1996 – 19 O 5865/95, NZV 1997, 523 (Einschlafen am Steuer). Verneinend: – BGH v. 1.2.1977 – VI ZR 43/75, VersR 1977, 619; – OLG München v. 28.1.1994 – 10 U 5785/93, VersR 1995, 288; – OLG Oldenburg v. 1.11.1995 – 2 U 219/95; – OLG Oldenburg v. 1.11.1995 – 2 U 212/95, OLGR Oldenburg 1996, 52; – OLG Naumburg v. 11.7.2000 – 13 U 14/00, OLGR Naumburg 2001, 28 (erkennbare Müdigkeitsanzeichen nötig); – OLG Düsseldorf v. 14.3.2002 – 10 U 13/01, NZV 2002, 372; – OLG Celle v. 1.7.2020 – 14 U 8/20 („Sekundenschlaf“). Vollbremsung Bejahend:

35.139

– OLG Hamm v. 5.6.1991 – 30 U 199/90, DAR 1991, 455 (wegen zu dichten Auffahrens mit 180 km/h); – OLG Hamm v. 16.12.1992 – 20 U 171/92, VersR 1994, 43 LS (wegen Kaninchen); Zwickel | 1033

§ 35 Rz. 35.139 | Regress der Sozialversicherungsträger

– OLG Nürnberg v. 15.7.1992 – 4 U 2952/91, VersR 1993, 1425 (wegen Radargerät). Verneinend: – OLG Oldenburg v. 27.9.1995 – 2 U 172/95, OLGR Oldenburg 1996, 3 (Schreckreaktion bei Auftauchen von Haarwild).

35.140

Vorfahrtverletzung Bejahend: – OLG Zweibrücken v. 12.7.1991 – 1 U 30/91, VersR 1993, 218; – OLG Hamm v. 7.5.1993 – 20 U 341/92, NZV 1993, 480; – OLG Hamm v. 18.1.1999 – 6 U 151/98, OLGR Hamm 1999, 133 (Stopp-Schild); – OLG Oldenburg v. 23.11.1994 – 2 U 166/94, r+s 1995, 42 (Stopp-Schild); – OLG Nürnberg v. 21.12.1995 – 8 U 2423/95, NJW-RR 1996, 988 (Stopp-Schild); – OLG Köln v. 22.5.2001 – 9 U 172/00, NZV 2002, 374 (Stopp-Schild); – OLG Köln v. 3.9.2009 – 9 U 63/09, VersR 2010, 623 (Stopp-Schild). Verneinend: – BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 48/71, VersR 1972, 944; – OLG Hamm v. 16.10.1992 – 20 U 125/92, VersR 1993, 826 (Stopp-Schild); – KG v. 12.12.2000 – 6 U 2803/99, VersR 2002, 477 (Überfahren Stopp-Schild ohne weitere „Warnhinweise“); – OLG Bremen v. 23.4.2002 – 3 U 72/01, VersR 2002, 1502 (ebenso).

35.141

Wenden Bejahend: – OLG Hamm v. 29.11.1991 – 20 U 105/91, VersR 1992, 866 (Autobahnzufahrt).

35.142

Wildunfall Bejahend: – OLG Saarbrücken v. 26.1.2011 – 5 U 356/10-57, r+s 2011, 380 (Ausweichen vor Reh); – LG Saarbrücken v. 9.6.2018 – 14 O 162/17 (Ausweichen vor Fuchs bei absoluter Fahruntüchtigkeit); – LG Nürnberg-Fürth v. 2.6.2014 – 8 O 9666/13, r+s 2014, 493 (Ausweichen vor Fuchs auf Autobahn). Verneinend: – BGH v. 11.7.2007 – XII ZR 197/05, NJW 2007, 2988; – OLG Saarbrücken v. 8.10.1997 – 5 U 243/97, NJWE-VHR 1998, 248; – OLG Zweibrücken v. 25.8.1999 – 1 U 218/98, VersR 2000, 884 (Ausweichen vor Fuchs); – OLG Hamm v. 3.5.2001 – 6 U 209/00, NZV 2001, 516 (Ausweichen Motorradfahrer vor Kleintier).

1034 | Zwickel

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.144 § 35

Zulassen unbefugten Fahrens Verneinend:

35.143

– OLG Hamm v. 11.1.1982 – 20 W 68/81, VersR 1982, 1069; – OLG Karlsruhe v. 11.3.1988 – 10 U 208/87, NZV 1988, 67. Sonstige Fälle – Ungesichertes Abstellen an Gefällestrecke: OLG Köln v. 12.4.1994 – 9 U 24/94, VersR 1994, 1414 (bejahend) – Abstellen mit Handbremsensicherung jedoch ohne Gang an Gefällestrecke: OLG Karlsruhe v. 8.3.2007 – 19 U 127/06, NZV 2007, 473 (bejahend); – Nichtbeachten der Durchfahrtshöhe einer Unterführung o.ä.: OLG Köln v. 13.1.1982 – 2 U 77/81, VersR 1982, 1151, OLG Celle v. 17.11.1983 – 5 U 36/83, DAR 1984, 123, OLG Frankfurt v. 12.10.1988 – 19 U 6/87, VersR 1989, 485; OLG Düsseldorf v. 11.12.1990 – 24 U 87/90, NZV 1991, 394, OLG Hamm v. 23.9.1992 – 30 U 278/91, NJW-RR 1993, 95 (sämtlich verneinend); OLG Düsseldorf v. 22.6.1995 – 10 U 133/94, VersR 1997, 77; OLG Karlsruhe v. 29.7.2004 – 19 U 94/04, VersR 2004, 1305; OLG Karlsruhe v. 11.3.2004 – 3 U 38/03,DAR 2004, 394 (sämtlich bejahend); OLG Düsseldorf v. 6.12.2001 – 10 U 123/00, NZV 2002, 128 (verneinend bei vormaligem Befahren im Mittelbereich); – Gefährliche Personenbeförderung auf landwirtschaftlichem Anhänger: BGH v. 12.1.1988 – VI ZR 158/87, VersR 1988, 474 (verneinend); – Ungesichertes Mitführen von Tieren im Pkw: OLG Nürnberg v. 2.11.1989 – 8 U 1341/89, NZV 1990, 315; OLG Nürnberg v. 14.10.1993 – 8 U 1482/93, VersR 1994, 1291; OLG Nürnberg v. 13.2.1997 – 8 U 2819/96, NZV 1998, 286; – Unterlassen von Feststellung zum Alkoholkonsum des Ehegatten, der sich bereit erklärt hat, nach einer gemeinsam besuchten Feier die Heimfahrt zu übernehmen: OLG Hamm v. 29.6.1988 – 20 U 9/88, VersR 1989, 37 (verneinend); – Fahren auf rechter Fahrbahnseite in England: LG Mainz v. 17.8.1998 – 7 O 391/97, NJWRR 2000, 31 (bejahend); – Verlust Transportgut durch Spediteur: BGH v. 14.5.1998 – I ZR 95/96, NZV 1998, 500 (bejahend); – „Dichtmachen“ Kurve durch Hobby-Rennfahrer: OLG Hamm v. 2.10.1997 – 6 U 147/96, OLGR Hamm 1998, 11 (verneinend); – Personenbeförderung auf Traktorgespann: OLG Braunschweig v. 28.2.1997 – 5 U 36/96, NZV 1998, 204 (verneinend); – Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften BGH v. 30.1.2001 – VI ZR 49/00, MDR 2001, 569 (bejahend); – Einfahren in Garage mit zu hoher Dachlast bei Unerfahrenheit: OLG München v. 9.11.1995 – 24 U 442/95, VersR 1997, 735 (verneinend); – Fehlende Übung beim Führen von gemietetem Lkw: OLG Hamm v. 8.12.1992 – 7 U 83/92, NJW-RR 1993, 536 (verneinend);

Zwickel | 1035

35.144

§ 35 Rz. 35.144 | Regress der Sozialversicherungsträger

– Riskante Fahrweise eines Führerscheinneulings mit ungewohntem Fahrzeug: OLG Düsseldorf v. 17.9.1993 – 22 W 30/93, OLGR Düsseldorf 1994, 148 (bejahend); – Verkehrsrowdyhaftes Verhalten: OLG Hamm v. 25.10.1999 – 6 U 71/99, OLGR Hamm 2000, 299 (bejahend).

d) Beweis der groben Fahrlässigkeit 35.145

Den Beweis grober Fahrlässigkeit muss der Versicherungsträger führen.318 Ein Anscheinsbeweis ist wegen des subjektiven Elements nicht möglich.319 Das Gericht kann aber, da ein strikter Nachweis innerer Vorgänge ohnehin nicht möglich ist, im Rahmen der freien Beweiswürdigung aus dem äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes Schlüsse auf die gesteigerte Vorwerfbarkeit ziehen.320 Wegen der Einzelheiten des Geschehensablaufs, die dem Versicherer nicht bekannt sein können, ist der Ersatzpflichtige nach den Regeln der sekundären Behauptungslast darlegungspflichtig.321

35.146

Es sind aber auch umgekehrte Schlüsse möglich. So hat der BGH322 die Verneinung grober Fahrlässigkeit durch den Tatrichter bei einem Kraftfahrer gebilligt, der an einer erkennbar gefährlichen Kreuzung weder die gelb blinkende Warnlampe beachtete, noch das Halteschild, noch den sichtbaren vorfahrtsberechtigten Lastzug, denn gerade diese Häufung lasse bei dem beim Unfall getöteten Fahrer vermuten, dass sein Fehlverhalten auf einer außergewöhnlichen Ursache beruhte, zumal er sich früher nicht verkehrswidrig verhalten hatte.

3. Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen a) Grundzüge der Regelung 35.147

§ 640 RVO a.F. bzw. § 110 SGB VII gibt dem Sozialversicherer, der aufgrund eines Unfalls Leistungen zu erbringen hat, gegenüber dem nach §§ 636, 637 RVO a.F. bzw. §§ 104 ff. SGB VII von der Haftung gegenüber dem verletzten Beschäftigten bzw. Arbeitskollegen befreiten Schädiger (vgl. hierzu Rz. 22.84 ff.) einen Anspruch auf den Ersatz der Aufwendungen, die ihm infolge des Unfalls entstanden sind (wegen des Verhältnisses zum Rückgriff nach § 116 SGB X vgl. Rz. 35.112). Auf die Höhe des dem Verletzten tatsächlich entstandenen Schadens und ein Mitverschulden des Verletzten kam es nach § 640 RVO a.F. für die Berechnung des Anspruchs nicht an.323 Für Versicherungsfälle ab 1.1.1997 ist der Regress aber durch den (fiktiven) zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch begrenzt (§ 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII). Der in Anspruch Genommene kann einwenden, dass der Sozialversicherer von einem bestimmten Zeitpunkt an auch ohne den Unfall Leistungen hätte erbringen müssen, z.B. wegen Eintritts in die Regelaltersrente beim Regress des Rentenversicherungsträgers.324

318 BGH v. 8.2.1989 – IVa ZR 57/88, VersR 1989, 582. 319 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118, 1119. Vgl. Rz. 41.56 ff. 320 BGH v. 8.7.1992 – IV ZR 223/91, BGHZ 119, 147; BGH v. 22.2.1984 – IVa ZR 145/82, VersR 1984, 480; Römer VersR 1992, 1191. 321 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118, 1119. 322 BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 48/71, VersR 1972, 944. 323 BGH v. 19.10.1971 – VI ZR 91/70, VersR 1972, 171; Weber VersR 1995, 878 m.w.N.; a.A. Kühne VersR 1973, 207. Verfassungsrechtliche Bedenken bei Lepa NZV 1997, 139. 324 BGH v. 30.11.1971 – VI ZR 53/70, BGHZ 57, 314.

1036 | Zwickel

IV. Sonderregelung bei der Gesetzlichen Unfallversicherung | Rz. 35.149 § 35

b) Rechtsnatur Beim Regressanspruch nach § 110 SGB VII handelt es sich um einen Erstattungsanspruch eigener Art mit präventiv-erzieherischer Zweckbestimmung.325 Er beruht mithin nicht auf einem gesetzlichen Forderungsübergang wie § 116 SGB X, sondern entsteht in der Hand des Sozialversicherers neu. § 110 SGB VII gibt den Sozialversicherungsträgern also einen originären Rückgriffsanspruch.326 Er gehört dem bürgerlichen Recht an327 und gehört nicht vor das Sozialgericht328 oder vor das ArbG.329 Da der Anspruch bürgerlich-rechtlicher Natur ist, kann er gegen den Erben des Unternehmers oder gegen den Erben des Arbeitnehmers geltend gemacht werden, der den Unfall eines Arbeitskollegen grob fahrlässig verursacht hat und beim Unfall oder danach gestorben ist.330 Er kann auch gegen einen Beamten persönlich erhoben werden; Art. 34 GG steht dem nicht entgegen.331 Von der Kraftfahrthaftpflichtversicherung wird der Anspruch umfasst (vgl. Rz. 15.9).

35.148

c) Umfang Der Unfallversicherungsträger kann seine infolge des Unfalls getätigten Aufwendungen ersetzt verlangen, bei Unfällen ab 1.1.1997 jedoch nur noch bis zur Höhe des (fiktiven) Schadensersatzanspruchs des Geschädigten gegen den Rückgriffsschuldner (§ 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII).332 Ein Mitverschulden des Verletzten findet daher jetzt bei der Höhe des Anspruchs (anders als nach § 640 RVO a.F.) volle Berücksichtigung.333 Die Höhe des Anspruchs muss nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen der Sozialversicherungsträger beweisen,334 die Begrenzung durch eine Mithaftung des Verletzten dagegen der Ersatzpflichtige.335 Auch wenn der Gesetzeswortlaut nur auf die Höhe, nicht auf den Inhalt des fiktiven Schadensersatzanspruchs abstellt, erfordern Sinn und Zweck des Rückgriffs, dass zwischen den Leistungen des Unfallversicherungsträgers und den fiktiven Ansprüchen des Geschädigten Kongruenz besteht. Die gegenteilige Ansicht des BGH,336 die Berufsgenossenschaft könne sich auf dem Weg des § 110 SGB VII sogar den Geldwert des dem Unfallopfer vorenthaltenen Schmerzensgeldanspruchs zuführen, ist mit dem Wesen und der Zweckbestimmung dieses Anspruchs nicht vereinbar. Den Umfang der Sozialleistungen legt der Unfallversicherungsträger, ggf. das Sozialgericht, mit für das Zivilgericht bindender Wirkung fest (§§ 112, 108 SGB VII).

325 BGH v. 20.11.1979 – VI ZR 238/78, BGHZ 75, 330; BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 38/83, VersR 1985, 238. 326 Küppersbusch/Höher Rz. 558. 327 BGH v. 9.1.1968 – VI ZR 77/66, VersR 1968, 373. 328 BGH v. 7.11.1967 – VI ZR 79/66, VersR 1968, 64. 329 BGH v. 30.1.1968 – VI ZR 132/66, VersR 1968, 455; BGH v. 30.4.1968 – VI ZR 32/67, VersR 1968, 641. 330 BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 36/68, VersR 1969, 848. 331 BGH v. 27.11.1984 – VI ZR 296/81, VersR 1985, 237. 332 Zum Regress bei konkurrierenden Ansprüchen mehrerer Sozialversicherungsträger s. Vatter NZV 2010, 537. 333 Otto NZV 1996, 478. 334 BGH v. 29.1.2008 – VI ZR 70/07, NJW 2008, 2033; OLG Karlsruhe v. 14.2.2007 – 7 UJ 135/06, NZV 2007, 299, 300; Stern-Krieger/Arnau VersR 1997, 412; Küppersbusch NZV 2005, 397. 335 Küppersbusch NZV 2005, 397 f (mit Befürwortung einer sekundären Behauptungslast). 336 BGH v. 27.6.2006 – VI ZR 143/05, NJW 2006, 3563 m.w.N.; wie hier Küppersbusch NZV 2005, 395 ff.; Gamperl NZV 2001, 401 ff.; Stern-Krieger/Arnau VersR 1997, 408 ff.

Zwickel | 1037

35.149

§ 35 Rz. 35.150 | Regress der Sozialversicherungsträger

d) Haftungsausschluss zugunsten Angehöriger 35.150

Ein Haftungsausschluss zugunsten Angehöriger (wie in § 116 Abs. 6 SGB X, § 86 Abs. 3 VVG) ist gesetzlich nicht vorgesehen. Eine entsprechende Anwendung hat der BGH abgelehnt337 (vgl. aber Rz. 35.151).

e) Verzicht auf den Rückgriff 35.151

Die Träger der Sozialversicherung können nach billigem Ermessen, insbesondere unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners, auf den Ersatzanspruch ganz oder teilweise verzichten (§ 640 Abs. 2 RVO a.F., § 110 Abs. 2 SGB VII). Sie haben in jedem Fall den Präventionszweck des Rückgriffs und die wirtschaftlichen Belange der Versichertengemeinschaft gegen die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Schädigers abzuwägen.338 Ob die Billigkeit einen Regressverzicht gebietet, unterliegt der Prüfung durch die Zivilgerichte.339 Das Bestehen einer Haftpflichtversicherung (vgl. Rz. 35.148) kann bei der Ermessensentscheidung berücksichtigt werden.340 Solange aber nicht rechtskräftig feststeht, ob und ggf. in welcher Höhe der Haftpflichtversicherer für den Schaden aufkommen muss, besteht zu einem Verzicht kein Anlass; dieser kann auch noch im Zwangsvollstreckungsverfahren nachgeholt werden.341 Sind Schädiger und Verletzter Angehörige in häuslicher Gemeinschaft (s. hierzu Rz. 35.78), so hat der Sozialversicherungsträger auch die Wahrung des Familienfriedens zu berücksichtigen.342

f) Verjährung 35.152

Nach § 113 SGB VII gelten für die Verjährung die §§ 195, 199 Abs. 1 und 2 sowie 203 BGB mit der in § 195 BGB angeordneten dreijährigen Verjährungsfrist.343 § 113 SGB VII enthält, zusätzlich zu § 199 Abs. 1 BGB, die Vorgabe der für den Unfallversicherungsträger bindenden Feststellung der Leistungspflicht oder der Rechtskraft eines entsprechenden Urteils. Von einer bindenden Feststellung der Leistungspflicht wird man schon dann ausgehen können, wenn ein entsprechender Verwaltungsakt bekanntgegeben ist, denn bereits ein bekanntgegebener Verwaltungsakt entfaltet Regelungswirkung.344 Wegen des Verweises auf § 199 Abs. 1 BGB müssen dessen Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn nicht zusätzlich vorliegen.345 Die Verjährungsfrist ist demnach taggenau von der bindenden Feststellung der Leistungspflicht an zu berechnen, ohne dass es auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers ankommt.346 Vielfach kann die Entscheidung dieser Streitfrage dahinstehen, wenn bei 337 BGH v. 18.10.1977 – VI ZR 62/76, BGHZ 69, 354; ebenso OLG Celle v. 1.8.1990 – 9 U 107/89, ZfS 1991, 261. 338 BGH v. 28.9.1971 – VI ZR 216/69, VersR 1971, 1167. 339 BGH v. 28.9.1971 – VI ZR 216/69, VersR 1971, 1167; BSG v. 11.12.1973 – 2 RU 30/71, VersR 1974, 801; Benz VersR 1970, 109; a.A. Brox Betrieb 1969, 490. 340 BGH v. 28.9.1971 – VI ZR 216/69, VersR 1971, 1167; BGH v. 18.10.1977 – VI ZR 62/76, VersR 1978, 35. 341 OLG Nürnberg v. 15.7.1992 – 4 U 2952/91, VersR 1993, 1425. 342 BGH v. 18.10.1977 – VI ZR 62/76, BGHZ 69, 354. 343 Zu Rechtsproblemen bei der Anwendung des § 113 SGB VII s. Möhlenkamp VersR 2013, 544. 344 OLG Dresden v. 29.9.2011 – 8 U 374/11, r+s 2012, 623; a.A. Geigel/Wellner Kap. 32 Rz. 44; Lang SVR 2015, 139, 142. 345 So OLG Dresden v. 29.9.2011 – 8 U 374/11, r+s 2012, 623; Geigel/Wellner Kap. 32 Rz. 44; a.A. Lemcke r+s 2012, 624; Möhlenkamp VersR 2013, 544. 346 BGH v. 25.7.2017 – VI ZR 433/16, VersR 2017, 1486.

1038 | Zwickel

V. Übergang von Beitragsforderungen (§ 119 SGB X) | Rz. 35.155 § 35

der für den Regress zuständigen Rechtsabteilung ein Unfallbericht eingegangen ist.347 Nach § 642 RVO a.F. verjährte der Anspruch des Sozialversicherungsträgers gem. § 640 RVO a.F. in einem Jahr nach dem Tag, an dem die Leistungspflicht bindend festgestellt wurde, spätestens fünf Jahre nach dem Arbeitsunfall. Im Übrigen vgl. Rz. 35.90 f. und Rz. 24.16 ff.

V. Übergang von Beitragsforderungen (§ 119 SGB X) 1. Rechtsnatur und Normzweck Durch den am 1.7.1983 in Kraft getretenen § 119 SGB X sollte sichergestellt werden, dass der Verletzte später Sozialleistungen erhält, die auch die Zeit der Verletzung umfassen, dass also beispielsweise einem unfallbedingt arbeitsunfähig gewordenen Arbeitnehmer infolge des Ausfalls von Beiträgen zur Rentenversicherung keine Nachteile bei der Altersversorgung entstehen: Zwar konnte der Geschädigte, jedenfalls soweit er noch keine „unfallfeste Position“ in der Rentenversicherung erlangt hatte, auch bisher schon die Beiträge für eine freiwillige Weiterversicherung beanspruchen; ob er diese Geldbeträge jedoch für den genannten Zweck verwendete, war ihm selbst überlassen.

35.153

§ 119 SGB X leitet den Beitragsanspruch nunmehr auf den Rentenversicherungsträger über, so dass dieser ihn unmittelbar gegenüber dem Schädiger geltend machen kann und dem Geschädigten auf seinem Rentenkonto gutschreibt (§ 119 Abs. 3 SGB X).348 Anders als bei § 116 SGB X erfolgt keine Legalzession wegen einer vom Sozialleistungsträger erbrachten Leistung an den Geschädigten, sondern es wird ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch übergeleitet, ohne dass der Sozialleistungsträger solche Leistungen erbringt. Dem Geschädigten mangelt es infolge der Legalzession an der Verfügungsbefugnis, so dass der Sozialleistungsträger den Schadensersatzanspruch durchzusetzen hat.349 Da es sich um einen Forderungsübergang handelt, wird hierbei vorausgesetzt, dass zunächst in der Person des Geschädigten selbst ein Schadensersatzanspruch entstanden ist.350

35.154

Der BGH hat daher zunächst einen Beitragsregress nach § 119 SGB X dann versagt, wenn der Verletzte infolge einer „unfallfesten Position“ keinen Rentennachteil zu gewärtigen hat.351 Seit der Rentenreform 1992 bestimmt jedoch § 62 SGB VI, dass durch die Berücksichtigung rentenrechtlicher Zeiten ein Schadensersatz wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht ausgeschlossen oder gemindert wird. Die vorgenannte Rechtsprechung wurde daher vom BGH aufgegeben: Der Übergang der Beitragsforderung wird jetzt auch für den Fall bejaht, dass der Verletzte bereits eine „unfallfeste Position“ erlangt hat352 oder neben der Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung auch eine Verletztenrente aus der Gesetzlichen Unfallversicherung erhält.353 § 119 SGB X hat dadurch eine neue Zweckrichtung erhal-

35.155

347 BGH v. 8.12.2015 – VI ZR 37/15, VersR 2016, 551; BGH v. 17.4.2012 – VI ZR 108/11, BGHZ 193, 67. 348 Zu Beteiligungsrechten des Geschädigten im Regressverfahren Furtmayr VersR 1997, 38. 349 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 2. 350 BGH v. 15.4.1986 – VI ZR 146/85, BGHZ 97, 330, 333; BGH v. 30.6.1987 – VI ZR 42/86, BGHZ 101, 207, 214. 351 BGH v. 30.6.1987 – VI ZR 42/86, BGHZ 101, 207, 213 = VersR 1987, 1048 mit Anm. Hartung = JR 1989, 18 mit Anm. v. Einem; BGH v. 28.2.1989 – VI ZR 208/88, VersR 1989, 486. 352 BGH v. 10.12.1991 – VI ZR 29/91, BGHZ 116, 260. 353 BGH v. 9.5.1995 – VI ZR 124/94, VersR 1995, 1076.

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§ 35 Rz. 35.155 | Regress der Sozialversicherungsträger

ten: Er will jetzt auch sicherstellen, dass sozialversicherungsrechtliche Regelungen, die den Verletzten begünstigen sollen, nicht zur Entlastung des Schädigers bzw. seines Haftpflichtversicherers führen. § 62 SGB VI ändert also nichts an der Rechtsnatur des übergehenden Anspruchs als Schadensersatzanspruch, er gestaltet lediglich den Schadensbegriff – im Sinne eines versagten Vorteilsausgleichs – um.354 Infolge dieser Zweckbestimmung geht auch ein gegen den Entschädigungsfonds nach § 12 Abs. 1 PflVG gerichteter Schadensersatzanspruch trotz der dort geregelten Subsidiarität auf den Sozialversicherungsträger über, wenn eine spätere Rentenminderung nicht ausgeschlossen werden kann.355

2. Anwendungsbereich 35.156

§ 119 SGB X gilt in erster Linie für Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung. Die Einschränkungen durch die Rechtsprechung des BGH zur „unfallfesten Position“ sind hinfällig, da infolge der Regelung des § 62 SGB VI ein Beitragsschaden fingiert wird356 (s. Rz. 35.153 ff.). Der Anwendungsbereich von § 119 SGB X ist in den Fällen, in denen der Geschädigte Krankengeld oder eine andere Lohnersatzleistung bezieht, seit 1.1.1992 dadurch erheblich eingeschränkt, dass die vom Lohnersatzleistungsträger zu erbringenden Beiträge von diesem nach § 116 Abs. 1 S. 2 SGB X regressiert werden können (vgl. Rz. 35.36). Für § 119 SGB X verbleibt in diesem Fall kein Raum.357 Der Regressanspruch nach § 116 SGB X ist gem. § 119 Abs. 1 S. 2 SGB X vorrangig. Dies betrifft u.a. von den Lohnersatzleistungen zu erbringende Rentenversicherungsbeiträge gem. § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Der Rentenversicherungsträger kann nur noch einen Beitragsanspruch aus der Differenz zwischen Lohnersatzleistung und entgangenem Bruttoeinkommen geltend machen.358

35.157

Da auch die Pflegeversicherung gem. § 1 Abs. 1 SGB XI als Sozialversicherung i.S.d. § 119 SGB X zu qualifizieren ist, kann der Rentenversicherungsträger Beiträge bei Schädigung einer „nicht erwerbsmäßigen“ Pflegeperson regressieren, welche gem. § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI rentenversicherungspflichtig ist.359

35.158

Infolge der Neuregelung in § 224 Abs. 2 SGB V zum 1.1.1992 kann § 119 SGB X seither auch für Krankenversicherungsbeiträge (während des Bezugs von Krankengeld) Bedeutung erlangen, da durch die Beitragsfreiheit ein Anspruch auf Schadensersatz nicht ausgeschlossen oder gemindert wird.360 Der Krankenkasse steht für die Dauer der Krankengeldzahlung insoweit ein Beitragsanspruch zu, als dem Geschädigten ein Erwerbsschaden entstanden ist.361

35.159

Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner werden nach § 249a SGB V (seit 1.1.1992) zwar vom Rentner selbst aufgebracht, aber von der Rente zurückbehalten und unmittelbar an die Krankenkasse abgeführt (§ 255 SGB V), so dass § 119 SGB X nicht greift, da eine Leistungserbringung durch Dritte vorliegt (vgl. Rz. 35.161). Insoweit findet § 116 SGB X Anwendung.362 354 355 356 357 358 359 360

Nixdorf NZV 1995, 337; Ritze VersR 1990, 948. BGH v. 25.1.2000 – VI ZR 64/99, NZV 2000, 252. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 11. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 11. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 11. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 10. Vgl. hierzu Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 134; Küppersbusch NZV 1992, 62. Zu Pflegeversicherungsbeiträgen Wiesner VersR 1995, 143. 361 Vgl. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 8. 362 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 9.

1040 | Zwickel

V. Übergang von Beitragsforderungen (§ 119 SGB X) | Rz. 35.162 § 35

Keine Anwendung findet er im Bereich der Unfall- und der Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenversicherung ist keine Sozialversicherung i.S.v. § 119 SGB X, § 4 SGB I.363 Beiträge des Arbeitgebers an die Berufsgenossenschaft sind haftungsrechtlich nicht dem Erwerb des Arbeitnehmers zuzurechnen.364

35.160

3. Voraussetzungen des Übergangs Der Schadensersatzanspruch des Verkehrsunfallverletzten gegen den Schädiger muss den Ersatz von Beiträgen zur Sozialversicherung umfassen. Daher muss irgendwann vor oder nach dem Unfallzeitpunkt ein Pflichtversicherungsverhältnis bestehen (§ 119 Abs. 1 S. 1 SGB X).365 Es reicht aus, wenn der Geschädigte später nachversichert wird.366 Die für die Begründung des Versicherungsverhältnisses ggf. erforderliche Prognoseentscheidung des Sozialversicherungsträgers kann nachträglich nicht in Zweifel gezogen werden.367 § 119 SGB X greift auch dann, wenn das Pflichtversicherungsverhältnis aufgrund des Verkehrsunfalls, z.B. wegen einer Verbeamtung des Geschädigten durch den Unfall nicht fortbesteht.368 Für einen Geschädigten, der zu keinem Zeitpunkt pflichtversichert war, gilt § 119 SGB X jedoch nicht. Eine freiwillige Versicherung reicht insoweit nicht aus.369 Auch bei Beschäftigungsverhältnissen, in denen keine Pflichtversicherungsbeiträge gezahlt werden (z.B. Minijob gem. § 5 Abs. 2 SGB VI, §§ 8 Abs. 1 Nr. 2, 8a SGB IV) scheidet ein Beitragsregress aus.370 Bei Zahlung von Pflichtversicherungsbeiträgen durch Dritte (z.B. andere Sozialversicherungsträger) ist § 116 SGB X einschlägig, da der Versicherungsträger, welchem Beiträge zufließen, diese nicht nochmals nach § 119 SGB X geltend machen kann.371 Eine bereits erfolgte oder noch bevorstehende Leistungserbringung des Sozialversicherungsträgers an den Geschädigten ist jedoch nicht erforderlich, um den Geschädigten von der Geltendmachung gegenüber dem Schädiger zu entlasten und die Durchsetzung der Ansprüche gegen den Schädiger zugunsten der Versichertengemeinschaft zu gewährleisten.372 Die Subsidiaritätsklausel des § 12 Abs. 1 S. 3 PflVG findet insoweit keine, auch keine analoge, Anwendung.373 Zahlungen des Arbeitgebers schließen den Regress aus (§ 119 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 SGB X), ebenso der Haftungsausschluss bei Arbeitsunfällen nach §§ 104 ff. SGB VII bzw. §§ 636, 637 RVO a.F. (vgl. Rz. 22.81 ff.).

35.161

4. Rechtsfolgen a) gesetzlicher Forderungsübergang § 119 SGB X stellt einen Fall des gesetzlichen Forderungsübergangs dar. Die Ansprüche des Verletzten auf Ersatz von Beiträgen zur Sozialversicherung werden auf den Sozialversicherungsträger übergeleitet. 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373

Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 6. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 6. Näher Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 136 ff.; Küppersbusch/Höher Rz. 770 ff. OLG Brandenburg v. 27.11.2018 – 12 U 69/18, NZV 2019, 258; Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 141; a.A. OLG Karlsruhe v. 6.3.1991 – 1 U 240/90, NZV 1992, 156; LG Mannheim v. 9.8.1990 – 5 O 72/90, VersR 1991, 899. BGH v. 16.6.2015 – VI ZR 416/14, NZV 2016, 29. BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 278/06, NJW 2008, 1961, 1962. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 4. OLG Brandenburg v. 27.11.2018 – 12 U 69/18, NZV 2019, 258. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 5. OLG Brandenburg v. 22.12.1998 – 2 U 1/98, OLGR Brandenburg 1999, 48. OLG Brandenburg v. 22.12.1998 – 2 U 1/98, OLGR Brandenburg 1999, 48.

Zwickel | 1041

35.162

§ 35 Rz. 35.163 | Regress der Sozialversicherungsträger

b) Umfang des Übergangs 35.163

Die Höhe des übergegangenen Beitragsanspruchs bemisst sich nach dem Einkommen, das der Verletzte ohne den Unfall erzielt hätte. Dabei ist das vor dem schädigenden Ereignis erzielte Entgelt zugrunde zu legen.374 Zur Berücksichtigung von Einkommenssteigerungen und -minderungen wird eine an der regulären Einkommensentwicklung orientierte fiktive Dynamisierung vorgeschlagen.375 Bei von Arbeitslosigkeit unterbrochenen Biographien ist ein Abschlag von 40 % des letzten Arbeitseinkommens vorzunehmen.376 Die Berechnung kann anhand der modifizierten Bruttomethode oder anhand der modifizierten Nettomethode erfolgen.377

35.164

Erfolgt unfallbedingt keine Beitragszahlung an die Rentenversicherung, ist, nach überwiegender Auffassung,378 auch die dadurch verursachte Minderung der künftigen Rente ersatzpflichtig (sog. Rentenkürzungsschaden). In diesem Fall ist aber der etwaige Vorrang des § 116 Abs. 1 SGB X gem. § 119 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB X zu beachten, der zumeist zu einem Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X führen wird.379

35.165

Wegen des Verhältnisses zum Regress nach § 116 SGB X vgl. Rz. 35.156. Die frühere Streitfrage, ob § 116 Abs. 3 SGB X in Mithaftungsfällen beim Beitragsregress entsprechende Anwendung findet, hat sich durch Einfügung des § 119 Abs. 1 S. 2 SGB X erledigt,380 wonach § 116 Abs. 3 S. 1, 2 SGB X beim Regress von Rentenversicherungsbeiträgen unter bestimmten Voraussetzungen entsprechend angewendet werden kann. Der Schädiger wird also entsprechend seiner Haftungsquote belastet.381 Bei einem Geschädigten, der in Folge des Unfalls Sozialleistungen bezieht und den am Unfall ein Mitverschulden trifft, wird deshalb in der Rentenversicherung auch der Beitragsanteil als Pflichtbeitrag behandelt, welcher auf den Differenzbetrag zwischen den beitragspflichtigen Einnahmen bei Sozialleistungsbezug und dem bei unbegrenzter Haftung ersatzpflichtigen Arbeitsentgelt entfällt. Dies führt für ihn zu einer höheren Rente.382 Entsprechende Anwendung findet ebenfalls § 116 Abs. 4 SGB X, so dass der Altgläubiger dem Neugläubiger bei Nichtdurchsetzbarkeit des Anspruchs vorgeht.383

c) Zeitpunkt des Übergangs 35.166

Zeitpunkt des Übergangs ist – wie in den Fällen des § 116 SGB X – der des Schadensereignisses, auch wenn es (z.B. wegen Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber) nicht sogleich zu einem Beitragsregress kommt.384

374 375 376 377 378 379 380 381

BT-Drucks. 9/95, S. 29. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 9. OLG Hamm v. 21.2.2001 – 13 U 208/00, VersR 2002, 732. BGH v. 28.9.1999 – VI ZR 165/98, VersR 2000, 65. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 14. OLG Braunschweig v. 27.10.2015 – 7 U 61/14, VersR 2016, 620. Zum früheren Streitstand vgl. 3. Aufl. Schlussanhang II, Rz. 108. Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 18; a.A. OLG Braunschweig v. 27.10.2015 – 7 U 61/14, VersR 2016, 620. 382 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 19. 383 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 119 SGB X Rz. 20. 384 Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 144.

1042 | Zwickel

V. Übergang von Beitragsforderungen (§ 119 SGB X) | Rz. 35.169 § 35

d) Familienprivileg Ein Familienprivileg (vgl. § 116 Abs. 6 SGB X; oben Rz. 35.76 ff.) gibt es beim Regress nach § 119 SGB X nicht.385 Etwaige Haftungsbeschränkungen materiell-rechtlicher Art (z.B. §§ 1359, 1664, 242 BGB) muss sich jedoch ggf. auch der Zessionar entgegenhalten lassen.386

35.167

e) Abfindung Eine Abfindung von Beitragsansprüchen zur Gesetzlichen Rentenversicherung ist bei Schadensereignissen ab dem 1.1.2001 und für bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend entschiedene Fälle durch Kapitalisierung im Einzelfall möglich (§ 119 Abs. 4 i.V.m. § 120 Abs. 1 S. 2 SGB X, eingefügt durch Gesetz vom 21.12.2000, BGBl. I 1983), nicht aber durch allgemeine Pauschalierung i.S.v. § 116 Abs. 9 SGB X.387

35.168

f) Verfahren Wegen des gesetzlichen Forderungsübergangs kann der Geschädigte den Anspruch nicht aus eigenem Recht geltend machen. Eine gewillkürte Prozessstandschaft scheidet aus, da ein Abtretungsverbot nach § 399 BGB besteht.388

385 386 387 388

BGH v. 24.1.1989 – VI ZR 130/88, NZV 1989, 225 mit Nachweis zum Meinungsstand. BGH v. 28.2.1989 – VI ZR 208/88, VersR 1989, 486. Küppersbusch/Höher Rz. 781. BGH v. 2.12.2003 – VI ZR 243/02, VersR 2004, 492.

Zwickel | 1043

35.169

§ 36 Regress der Träger Sozialer Fürsorge

I. 1. 2. 3. II. 1. a) b) c) 2. a) b) c) d) e) f) g)

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regelungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen für den Regress . . Verhältnis der Regressvorschriften . . Forderungsübergang nach § 116 SGB X . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorliegen eines Schadensersatzanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers bzw. SGB II-Trägers . . . . . . . . Kongruenz der Ansprüche . . . . . . . . Rechtsfolgen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruchsübergang . . . . . . . . . . . . . . Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkungen bei nicht ausreichender Ersatzleistung . . . . . . . . . . . . Schädigung durch Familien-/Haushaltsangehörige. . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrheit von Leistungsträgern . . . . . Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessrechtliches . . . . . . . . . . . . . . .

36.1 36.1 36.5 36.12 36.13 36.13 36.13 36.14 36.15 36.19 36.19 36.20 36.22 36.24 36.27 36.28 36.29

III. Forderungsübergang nach § 33 SGB II und § 93 SGB XII . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen der Überleitung gem. § 93 SGB XII und § 33 SGB II a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorliegen eines Schadensersatzanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leistungserbringung des Sozialhilfeträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Überleitungsanzeige . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen der Überleitungsanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsübergang . . . . . . . . . . . . . . b) Zeitpunkt des Übergangs . . . . . . . . . . c) Umfang der Überleitung . . . . . . . . . . d) Prozessrechtliches . . . . . . . . . . . . . . . 4. Forderungsübergang gem. § 33 SGB II n.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzungen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36.31 36.31

36.33 36.33 36.36 36.41 36.42 36.45 36.45 36.47 36.48 36.49 36.50 36.50 36.51

§ 33 SGB II (1) Haben Personen, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen, für die Zeit, für die Leistungen erbracht werden, einen Anspruch gegen einen Anderen, der nicht Leistungsträger ist, geht der Anspruch bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen auf die Träger der Leistungen nach diesem Buch über, wenn bei rechtzeitiger Leistung des Anderen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht erbracht worden wären. Satz 1 gilt auch, soweit Kinder unter Berücksichtigung von Kindergeld nach § 11 Abs. 1 Satz 4 keine Leistungen empfangen haben und bei rechtzeitiger Leistung des Anderen keine oder geringere Leistungen an die Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft erbracht worden wären. Der Übergang wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Anspruch nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden kann. Unterhaltsansprüche nach bürgerlichem Recht gehen zusammen mit dem unterhaltsrechtlichen Auskunftsanspruch auf die Träger der Leistungen nach diesem Buch über. (2) Ein Unterhaltsanspruch nach bürgerlichem Recht geht nicht über, wenn die unterhaltsberechtigte Person 1. mit der oder dem Verpflichteten in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, 2. mit der oder dem Verpflichteten verwandt ist und den Unterhaltsanspruch nicht geltend macht; dies gilt nicht für Unterhaltsansprüche

Zwickel | 1045

§ 36 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge a) minderjähriger Leistungsberechtigter, b) Leistungsberechtigter, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet und die Erstausbildung noch nicht abgeschlossen haben, gegen ihre Eltern, 3. in einem Kindschaftsverhältnis zur oder zum Verpflichteten steht und a) schwanger ist oder b) ihr leibliches Kind bis zur Vollendung seines sechsten Lebensjahres betreut. Der Übergang ist auch ausgeschlossen, soweit der Unterhaltsanspruch durch laufende Zahlung erfüllt wird. Der Anspruch geht nur über, soweit das Einkommen und Vermögen der unterhaltsverpflichteten Person das nach den §§ 11 und 12 zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen übersteigt. (3) Für die Vergangenheit können die Träger der Leistungen nach diesem Buch außer unter den Voraussetzungen des bürgerlichen Rechts nur von der Zeit an den Anspruch geltend machen, zu welcher sie dem Verpflichteten die Erbringung der Leistung schriftlich mitgeteilt haben. Wenn die Leistung voraussichtlich auf längere Zeit erbracht werden muss, können die Träger der Leistungen nach diesem Buch bis zur Höhe der bisherigen monatlichen Aufwendungen auch auf künftige Leistungen klagen. (4) Die Träger der Leistungen nach diesem Buch können den auf sie übergegangenen Anspruch im Einvernehmen mit der Empfängerin oder dem Empfänger der Leistungen auf diese oder diesen zur gerichtlichen Geltendmachung rückübertragen und sich den geltend gemachten Anspruch abtreten lassen. Kosten, mit denen die Leistungsempfängerin oder der Leistungsempfänger dadurch selbst belastet wird, sind zu übernehmen. Über die Ansprüche nach Abs. 1 Satz 4 ist im Zivilrechtsweg zu entscheiden. (5) Die §§ 115 und 116 des Zehnten Buches gehen der Regelung des Abs. 1 vor. § 93 SGB XII (1) Hat eine leistungsberechtigte Person oder haben bei Gewährung von Hilfen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel auch ihre Eltern, ihr nicht getrennt lebender Ehegatte oder ihr Lebenspartner für die Zeit, für die Leistungen erbracht werden, einen Anspruch gegen einen anderen, der kein Leistungsträger i.S.d. § 12 des Ersten Buches ist, kann der Träger der Sozialhilfe durch schriftliche Anzeige an den anderen bewirken, dass dieser Anspruch bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf ihn übergeht. Er kann den Übergang dieses Anspruchs auch wegen seiner Aufwendungen für diejenigen Leistungen des Dritten und Vierten Kapitels bewirken, die er gleichzeitig mit den Leistungen für die in Satz 1 genannte leistungsberechtigte Person, deren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner und deren minderjährigen unverheirateten Kindern erbringt. Der Übergang des Anspruchs darf nur insoweit bewirkt werden, als bei rechtzeitiger Leistung des anderen entweder die Leistung nicht erbracht worden wäre oder in den Fällen des § 19 Abs. 5 Aufwendungsersatz oder ein Kostenbeitrag zu leisten wäre. Der Übergang ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Anspruch nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden kann. (2) Die schriftliche Anzeige bewirkt den Übergang des Anspruchs für die Zeit, für die der leistungsberechtigten Person die Leistung ohne Unterbrechung erbracht wird. Als Unterbrechung gilt ein Zeitraum von mehr als zwei Monaten. (3) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Verwaltungsakt, der den Übergang des Anspruchs bewirkt, haben keine aufschiebende Wirkung. (4) Die §§ 115 und 116 des Zehnten Buches gehen der Regelung des Abs. 1 vor. § 116 SGB X Abdruck vor Rz. 35.1

1046 | Zwickel

I. Überblick | Rz. 36.5 § 36

I. Überblick 1. Regelungsgegenstand Zu einem Übergang von Schadensersatzforderungen auf einen Erbringer sozialer Leistungen kann es auch dann kommen, wenn es sich nicht um Versicherungsleistungen, sondern um solche der Sozialen Fürsorge (vgl. Vorbemerkung vor § 35), also der subsidiären Basissicherung oder Sozialhilfe im weiteren Sinn,1 handelt. Diese Sozialleistungen sind gekennzeichnet durch den Nachrang gegenüber eigenem Einkommen und Vermögen. Ihre Rechtsgrundlagen haben sich in den letzten Jahren wiederholt geändert.

36.1

Seit 1.1.2005 werden sie im Wesentlichen in fünf Ausprägungen gewährt:

36.2

– Als allgemeine, existenzsichernde Hilfe nach §§ 27 bis 40, 47 ff. SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen, wenn keine Erwerbsfähigkeit vorliegt, vgl. § 2 Abs. 1, § 21 S. 1 SGB XII), – für erwachsene Erwerbsfähige unter 65 Jahren sowie deren Angehörige als Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II), – für ältere sowie erwerbsunfähige Menschen als Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 bis 46 SGB XII, – für Asylsuchende nach dem AsylbLG – und als Kriegsopferfürsorge nach §§ 25 bis 27j BVG i.V.m. KFürsV.2 Bis zum 31.12.2004 wurden die Erwerbslosen durch die Arbeitslosenhilfe nach den §§ 190 ff. SGB III und die Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) abgesichert; die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung war im Grundsicherungsgesetz (GSiG) geregelt.

36.3

Zu einem Beitragsregress (s. § 119 SGB X) kann es im Bereich der Sozialen Fürsorge nicht kommen, da Sozialhilfeleistungen steuer-, also gerade nicht beitragsfinanziert sind.

36.4

2. Rechtsgrundlagen für den Regress Mit Wirkung vom 1.7.1983 wurde der gesetzliche Forderungsübergang nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X auf die Sozialhilfeträger erstreckt (s. dazu Rz. 36.14). Davor galt § 90 BSHG a.F., der keinen gesetzlichen Forderungsübergang vorsah, sondern eine Überleitungsanzeige des Sozialhilfeträgers erforderte. Grund für die Änderung war, dass die Sozialhilfeträger oft leer ausgingen, weil sie infolge des gesetzlichen Übergangs der Schadensersatzansprüche auf die Sozialversicherungsträger mit einer Überleitung nach § 90 BSHG a.F. zu spät kamen.3 Diese Erstreckung auf Sozialhilfeträger erwies sich bis zur Neuordnung der Sozialhilfeleistungen zum 1.1.2005 (vgl. Rz. 36.2) als passend. Durch die Überführung der Sozialhilfe in die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II einerseits und die Sozialhilfe im engeren Sinne nach dem SGB XII andererseits (vgl. zur Abgrenzung Rz. 36.2) war § 116 SGB X seinem Wortlaut nach nur auf die SGB XII-Träger anwendbar, wobei wegen der systematischen Zuordnung der SGB II-Leistungen zur Sozialhilfe i.w.S. eine entsprechende Anwendung zu be1 Vgl. Waibel ZfF 2005, 49. 2 Waibel ZfF 2005, 49. 3 Dahlinger/Schneider NDV 1983, 175. Kritisch Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 20.

Zwickel | 1047

36.5

§ 36 Rz. 36.5 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge

fürworten war, wie auch der Verweis auf § 116 SGB X in § 33 Abs. 4 SGB II a.F. nahelegte. Diese Regelungslücke hat der Gesetzgeber mit Wirkung vom 1.8.2006 durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20.7.2006 (BGBl. I 1718) beseitigt. In der Neufassung des § 116 Abs. 10 SGB X wurden die Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II den Versicherungsträgern gleichgestellt, so dass § 116 SGB X für diese nun unmittelbar anwendbar ist. In der Begründung zum Gesetzesentwurf (BT-Drucks. 16/1410, S. 87) ist insofern auch von einer „Klarstellung“ die Rede.

36.6

Die Möglichkeit der Überleitung besteht jedoch in bestimmten Fällen auch weiterhin (wegen der Konkurrenz zu § 116 SGB X s. Rz. 36.12). Sie ergibt sich aus: § 33 SGB II für erbrachte Sozialleistungen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende für den Zeitraum zwischen dem 1.1.2005 und 31.7.2006; mit Wirkung vom 1.8.2006 wurde die Überleitungsmöglichkeit durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20.7.2006 (BGBl. I 1711) ohne Übergangsregelung durch einen gesetzlichen Forderungsübergang ersetzt (vgl. näher Rz. 36.32, 36.50 ff.); sofern Ersatzansprüche aufgrund einer Leistungserbringung nach dem SGB II (ab 1.1.2005) bis zum Inkrafttreten der Neuregelung am 1.8.2006 noch nicht übergeleitet worden waren, werden diese nunmehr ebenfalls vom gesetzlichen Forderungsübergang erfasst,4 § 93 SGB XII für die allgemeine Sozialhilfe und die Grundsicherung im Alter sowie bei Erwerbsminderung mit Wirkung vom 1.1.2005.

36.7

Bis 31.12.2004 fanden für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem GSiG, welches gem. § 68 Nr. 18 SGB I als Besonderer Teil des SGB mit eigener Einweisungsvorschrift (§ 28a SGB I) behandelt wurde, die §§ 116 ff. SGB X entsprechende Anwendung.

36.8

Sind Spätfolgen von Unfällen vor dem 1.7.1983 zu regulieren, richtet sich der Rückgriff weiterhin nach § 90 BSHG.5 So verbleibt es z.B. bei Unterhaltsersatzansprüchen nach § 10 Abs. 2 StVG bzw. § 844 Abs. 2 BGB bei der Anwendung von § 90 BSHG, wenn die Verletzung des Unterhaltsverpflichteten vor dem 1.7.1983 erfolgt, sein Tod aber erst nach diesem Zeitpunkt eingetreten ist.6

36.9

Bei der bis 31.12.2004 gewährten Arbeitslosenhilfe gem. §§ 196 bis 203 SGB III konnte ein Anspruchsübergang nach § 116 SGB X nicht erfolgen, da der haftungsrechtliche Ersatzanspruch gegen den Schädiger als Einkommen nach §§ 190 Abs. 1 Nr. 5, 193 SGB III zu berücksichtigen war.7 Bei der Gleichwohlgewährung nach § 203 SGB III8 erfolgte der Anspruchsübergang mittels Überleitungsanzeige ex nunc auf den Bund nach § 203 Abs. 1 S. 3 SGB III.9 Wegen der Subsidiarität der Arbeitslosenhilfe änderte daran auch der ab 1.1.1998 eingefügte § 116 Abs. 10 SGB X nichts. Auch bei der Vorgängervorschrift § 127 AFG (seit 24.3.1997

4 Klinkhammer FamRZ 2006, 1171, 1173 unter Verweis auf BGH v. 15.3.1995 – XII ZR 269/94, FamRZ 1995, 871, 872 (zum Übergang von Unterhaltsansprüchen nach § 33 SGB II). 5 Oestreicher/Decker/Decker Kommentar zum SGB XII/II 2019, § 93 SGB XII Rz. 11; Hauck/Noftz/ Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 20. Zu den Einzelheiten s. 3. Aufl. Schlussanh. II Rz. 127. 6 BGH v. 13.2.1996 – VI ZR 318/94, BGHZ 132, 39 = JR 1996, 505 mit abl. Anm. Fuchs. 7 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 15. 8 Dabei erhält der Arbeitslose vom schadensersatzpflichtigen Dritten keine Leistung, obwohl er einen Anspruch darauf hat, so dass Arbeitslosenhilfe gewährt wird. 9 Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 15.

1048 | Zwickel

I. Überblick | Rz. 36.12 § 36

ersetzt durch das SGB III) fand kein Forderungsübergang statt; vielmehr musste ebenfalls eine Überleitungsanzeige bei der Gleichwohlgewährung gem. § 140 Abs. 1 AFG erfolgen.10 Durch die mit Wirkung zum 1.6.1997 durch das Erste Gesetz zur Änderung des AsylbLG eingeführte Vorschrift des § 7 Abs. 4 AsylbLG wird eine Überleitung von Ansprüchen des leistungsberechtigten Asylbewerbers gegen den Schädiger aus einem Verkehrsunfall nach § 90 BSHG a.F. bzw. § 93 SGB XII ermöglicht.11 § 7 Abs. 4 AsylbLG soll dabei auch anwendbar sein, wenn der Haftungsfall zeitlich vor Inkrafttreten dieser Norm abgeschlossen war.12 Für eine analoge Anwendung von § 116 SGB X ist daneben mangels Regelungslücke kein Raum.13

36.10

Für die Kriegsopferfürsorge bestimmt § 27g BVG, dass der Träger durch schriftliche Anzeige Schadensersatzansprüche gegen Dritte auf sich überleiten kann, wenn die Hilfe bei rechtzeitiger Leistung des anderen nicht gewährt worden wäre oder der Hilfeempfänger die Aufwendungen zu ersetzen oder zu tragen hat.14

36.11

3. Verhältnis der Regressvorschriften Gem. § 33 Abs. 5 SGB II (bis 31.7.2006: § 33 Abs. 4 SGB II) und § 93 Abs. 4 SGB XII sowie § 90 Abs. 4 BSHG a.F. hat § 116 SGB X Vorrang vor diesen Regelungen, so dass der Forderungsübergang in der Regel kraft Gesetzes, also ohne Überleitungsanzeige stattfindet.15 Wenn jedoch § 116 SGB X nicht oder nicht voll eingreift, was insbesondere bei fehlender Kausalität16 der Fürsorgeleistung wegen bereits vor der Schädigung im Straßenverkehr bestehender Bedürftigkeit bzw. schon erfolgendem Leistungsbezug nach den Fürsorgegesetzen der Fall sein kann,17 können § 33 SGB II und § 93 SGB XII Anwendung finden.18 Der Vorrang einer Regelung ist nicht gleichbedeutend mit dem Ausschluss der anderen.19 Zudem ist der primär auf die Verhältnisse der Sozialversicherungsträger abstellende § 116 SGB X auf die Besonderheiten im Bereich der Fürsorge, wo oft schon vor dem Unfall eine Leistungsbeziehung besteht, nicht ohne weiteres übertragbar.20 Der Anspruchsübergang nach § 93 SGB XII kann auch von Bedeutung sein, wenn dem Sozialhilfeträger unterhaltssichernde Ansprüche des Hilfebedürftigen gegenüber Dritten zwar vor der Leistungsbewilligung bekannt gewesen sind, jedoch zur Deckung eines aktuellen Bedarfs notwendige Leistungen zu erbringen waren, da dem Betroffenen eine rechtzeitige Durchsetzung der Schadensersatzansprüche nicht möglich oder 10 BGH v. 19.9.1989 – VI ZR 344/88, BGHZ 108, 296; s. auch Waltermann NJW 1996, 1645. 11 Oestreicher/Decker/Decker Kommentar zum SGB XII/II 2019, § 7 AsylbLG Rz. 69 ff.; Grube/ Wahrendorf/Wahrendorf SGB XII 2018, § 7 AsylbLG Rz. 42. 12 LG Frankfurt/M. v. 29.9.1999 – 2/4 O 132/99, VersR 2000, 340; Bloth/v. Pachelbel VersR 2000, 341. 13 LG Münster v. 6.11.1997 – 15 O 379/97, VersR 1998, 739 mit Anm. Jahnke; Grube/Wahrendorf/ Wahrendorf SGB XII 2018, Einl. AsylbLG Rz. 1; a.A. LG Frankfurt/M. v. 29.9.1999 – 2/4 O 132/ 99, VersR 2000, 340 mit Anm. Bloth/v. Pachelbel. 14 Zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen vgl. Schieckel/Gurgel BVG, § 27g. 15 Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 26. 16 Zu dieser Voraussetzung der Kongruenz s. Rz. 36.15. 17 Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Waltermann Kommentar zum Sozialrecht 2017, § 116 SGB X Rz. 29. 18 Fichtner/Wenzel/Wolf Kommentar zur Grundsicherung, SGB XII 2009, § 93 SGB XII Rz. 58; § 33 SGB II Rz. 43. 19 Fichtner/Wenzel/Wolf Kommentar zur Grundsicherung, SGB XII 2009, § 93 SGB XII Rz. 58; § 33 SGB II Rz. 43. 20 Knopp/Wienand Kommentar zum BSHG, 7. Aufl. 1992, § 90 BSHG Rz. 63.

Zwickel | 1049

36.12

§ 36 Rz. 36.12 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge

nicht zumutbar war.21 Der Schmerzensgeldanspruch nach § 253 BGB verbleibt dagegen stets allein dem Geschädigten,22 kann also nicht nach § 33 Abs. 1 SGB II in der bis 31.7.2006 geltenden Fassung oder § 93 SGB XII übergeleitet werden bzw. geht nicht kraft Gesetzes gem. § 33 Abs. 1 SGB II in seiner ab 1.8.2006 geltenden Fassung über. Er kann auch nicht als Einkommen berücksichtigt werden (§ 11a Abs. 2 SGB II, § 83 Abs. 2 SGB XII bzw. § 77 II BSHG a.F.).

II. Forderungsübergang nach § 116 SGB X 1. Voraussetzungen des Forderungsübergangs a) Vorliegen eines Schadensersatzanspruchs 36.13

Der Geschädigte muss einen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Schädiger haben (vgl. dazu Rz. 35.6 ff.).

b) Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers bzw. SGB II-Trägers 36.14

Zu den erfassten Leistungsarten s. Rz. 36.2. Träger der Leistungen nach SGB II sind gem. § 19a Abs. 2 SGB I, §§ 6, 6a SGB II die Bundesagentur für Arbeit und ggf. die kreisfreien Städte und Kreise, Träger nach SGB XII gem. § 28 Abs. 2 SGB I; § 3 SGB XII (wie nach §§ 9, 96 BSHG a.F.) die Kreise und kreisfreien Städte sowie die überörtlichen Träger23 der Sozialhilfe. Ob auf die Leistung ein Rechtsanspruch (§ 38 SGB I) besteht oder es sich um eine Ermessensleistung handelt (§ 39 SGB I), ist unerheblich,24 ebenso ob die Leistung bereits erbracht ist (zum Zeitpunkt des Übergangs s. Rz. 36.19) und ob ein Antrag gestellt wurde. Der bereits zum Unfallzeitpunkt unter dem Vorbehalt der Bedürftigkeit bestehende allgemeine Anspruch auf Fürsorgeleistungen reicht nicht.25

c) Kongruenz der Ansprüche 36.15

Die Sozialleistung einerseits und der Schadensersatzanspruch andererseits müssen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht deckungsgleich sein, also der Behebung eines artgleichen Schadens dienen und sich auf denselben Zeitraum beziehen.26 Voraussetzung für den Forderungsübergang ist insbesondere die Einheit des Leistungsgrundes, d.h. die Leistungserbringung durch den Sozialhilfeträger/SGB II-Träger muss gerade aufgrund des Schadensereignisses erforderlich werden.27 Beide Leistungen müssen also unmittelbar durch ein und dasselbe schadenstiftende Ereignis ausgelöst werden und übereinstimmend der Kompensation der vom Geschädigten erlittenen Schädigung dienen.28 Es muss somit auch Kongruenz hinsichtlich der

21 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 1. 22 v. Maydell/Schellhorn Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch 1984, § 116 SGB X Rz. 182. 23 In Bayern vgl. Art. 5 AGBSHG. 24 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 115. 25 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 177 ff. 26 Giese/v. Koch/Kreikebohm Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil und Verfahrensrecht (SGB I und SGB X) 2007, § 116 SGB X Rz. 2.3.1, S. 6; Rz. 2.3.2, S. 9. 27 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 128. 28 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 129.

1050 | Zwickel

II. Forderungsübergang nach § 116 SGB X | Rz. 36.19 § 36

Ursächlichkeit des Schadens bestehen.29 Ist bei der Gewährung von Sozialhilfe eine Trennung in schadensabhängige und schadensunabhängige Aufwendungen nicht möglich, so besteht im Zweifel bis zur Höhe der Ersatzpflicht des schädigen-den Dritten Kongruenz mit der gewährten Sozialhilfe, was regelmäßig anzunehmen ist, wenn der Verletzte nicht schon vor dem Unfall von der Sozialhilfe unterstützt wurde.30 Falls der Geschädigte schon vorher Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erhält, greift § 116 SGB X und demzufolge § 33 Abs. 5 SGB II bzw. § 93 Abs. 4 SGB XII nicht ein, so dass eine Überleitungsanzeige nach § 33 Abs. 1 SGB II (bis 31.7.2006), § 93 Abs. 1 SGB XII erforderlich bleibt (vgl. Rz. 36.12). Im Rahmen des ab 1.8.2006 geltenden § 33 Abs. 1 SGB II geht der Anspruch in diesem Falle kraft Gesetzes auf den Träger des SGB II (Rz. 36.14) über (näher Rz. 36.50 ff.).

36.16

Sachliche Kongruenz besteht zwischen dem Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens und dem Arbeitslosengeld II (§§ 19 ff. SGB II), falls durch das schädigende Ereignis Arbeitslosigkeit beim Geschädigten eingetreten ist und er gerade deshalb Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erhält.31 Nicht sachlich kongruent sind Leistungen des Sozialhilfeträgers wegen unfallbedingt vermehrter Bedürfnisse32 und der Anspruch des Geschädigten auf Ersatz des Erwerbsschadens.33 Keine Kongruenz besteht zwischen dem Anspruch wegen vermehrter Bedürfnisse (vgl. auch Rz. 32.32 ff.) und dem Aufschlag zur Hilfe zum Lebensunterhalt und dem Pflegegeld gem. § 64a SGB XII bzw. § 69a Abs. 2 BSHG (bis 31.12.2004).34 Kongruent ist jedoch der Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII bzw. § 68 BSHG (bis 31.12.2004) mit dem Erstattungsanspruch wegen vermehrter Bedürfnisse nach § 843 BGB;35 ferner der aus der Beschäftigung des Verletzten in einer beschützenden Werkstatt erwachsende Ersatzanspruch mit der vom Träger der Sozialhilfe geleisteten Eingliederungshilfe.36

36.17

Im Rahmen der zeitlichen Kongruenz wird vorausgesetzt, dass der Sozialhilfeträger/SGB IITräger Leistungen genau für den Zeitraum erbringt, für welchen der Schädiger ersatzpflichtig ist. Hat er aufgrund der Bestimmungen des SGB II oder SGB XII diese Leistungen länger zu erbringen, muss er den überschießenden Betrag selbst tragen.37

36.18

2. Rechtsfolgen des Forderungsübergangs a) Anspruchsübergang Wegen des kraft Gesetzes eintretenden Anspruchsübergangs s. Rz. 35.41 ff. Unterschiede gegenüber dem Übergang auf einen Sozialversicherungsträger bestehen jedoch hinsichtlich des Zeitpunkts. Diese ergeben sich daraus, dass zwischen Geschädigtem und Sozialhilfeträger/

29 Giese/v. Koch/Kreikebohm Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil und Verfahrensrecht (SGB I und SGB X) 2007, § 116 SGB X Rz. 2.3.1, S. 6. 30 v. Maydell/Schellhorn Gesamtkommentar zum SGB X, 1984, § 116 SGB X Rz. 55. 31 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 141. 32 Aufschlag zur Hilfe zum Lebensunterhalt und Pflegegeld gem. § 69a Abs. 2 BSHG, seit 1.1.2005 § 64 Abs. 2 SGB XII. 33 BGH v. 8.10.1996 – VI ZR 247/95, NJW 1997, 256; BGH v. 8.11.2001 – IX ZR 64/02, NJW 2002, 292. 34 BGH v. 8.11.2001 – IX ZR 64/02, NJW 2002, 292. 35 BGH v. 27.6.2006 – VI ZR 337/04, NJW 2006, 3565. 36 Vgl. BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131, 274. 37 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 126.

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36.19

§ 36 Rz. 36.19 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge

SGB II-Träger – anders als im Sozialversicherungsverhältnis – im Zeitpunkt des Unfalls in der Regel noch keine Rechtsbeziehung besteht, die es ermöglichen würde, einen Forderungsübergang stets bereits im Zeitpunkt der Schädigung eintreten zu lassen. Die Rechtsprechung, die bestrebt ist, einen möglichst frühzeitigen Forderungsübergang herbeizuführen, stellt daher auf den Zeitpunkt ab, zu dem infolge des schädigenden Ereignisses auf Grund konkreter Anhaltspunkte38 mit einer Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers/SGB II-Trägers gegenüber dem Geschädigten ernsthaft zu rechnen ist,39 ggf. also bereits im Zeitpunkt des zur Pflegebedürftigkeit führenden Unfalls eines Mittellosen.40 Hieran sieht sich der BGH durch den Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 SGB II, § 2 SGB XII bzw. § 2 BSHG a.F.), der eigentlich für ein Hinausschieben des Forderungsübergangs streitet,41 nicht gehindert; er entnimmt ihm jedoch, dass der Geschädigte ermächtigt bleibt, den Schädiger im eigenen Namen (wie bei der Einziehungsermächtigung im Falle einer Sicherungszession)42 auf die Ersatzleistung in Anspruch zu nehmen (vgl. auch Rz. 36.30). Diese Einziehungsermächtigung hat auf den Lauf der Verjährungsfrist (Rz. 36.28) keinen Einfluss.43 Der Zeitpunkt des Übergangs ist damit einzelfallabhängig nach den konkreten Umständen zu ermitteln.44

b) Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen 36.20

Zum Bestand des Anspruchs vgl. Rz. 35.50 ff. Insbesondere gelten über § 412 BGB die §§ 399 bis 404, 406 bis 410 BGB. Wenn die Leistung des Schuldners Erfüllungswirkung hat, besteht ein Erstattungsanspruch des ebenfalls leistenden Sozialhilfeträgers/SGB II-Trägers nach § 116 Abs. 7 SGB X. Auf einen Abfindungsvergleich, den der Geschädigte nach dem Forderungsübergang unter Überschreitung seiner Einziehungsermächtigung (Rz. 36.19) mit dem Ersatzpflichtigen abschließt, kann Letzterer sich nur unter den Voraussetzungen der §§ 407, 412 BGB berufen.45 Dabei sind an die Kenntnis vom Forderungsübergang nach ständiger Rechtsprechung nur maßvolle Anforderungen zu stellen, um ein Unterlaufen des Schutzes des Sozialhilfeträgers zu verhindern.46 Entscheidend ist die Kenntnis von Tatsachen, welche den frühen Forderungsübergang bewirken und solche Leistungen nahelegen, insbesondere die Kenntnis vom Ausmaß der Verletzungen.47 Allerdings wird es regelmäßig keine Umstände geben, die bereits im Unfallzeitpunkt auf eine Sozialhilfebedürftigkeit des Geschädigten und damit auf einen Forderungsübergang auf den Sozialhilfeträger schließen lassen,48 so dass

38 Auch für die Bedürftigkeit des Verletzten. 39 BGH v. 20.9.1994 – VI ZR 285/93, BGHZ 127, 120; BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131, 274; BGH v. 13.2.1996 – VI ZR 318/94, BGHZ 132, 39; BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, BGHZ 133, 129, 134; Waltermann NJW 1996, 1646.; a.A. (Eintritt der Bedürftigkeit) Küppersbusch VersR 1983, 195 f.; Ruland JuS 1984, 71; Müller NZS 1994, 13 ff.; Groß DAR 1999, 341; (Schadensereignis) Andre NZS 1994, 307 ff.; Müller VersR 1984, 1132. 40 So BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, BGHZ 133, 129, 135; Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 38. 41 Groß DAR 1999, 342. 42 BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131, 274. 43 BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, BGHZ 133, 129, 139 f. 44 Groß DAR 1999, 342. 45 BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131 274, 285. 46 BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131, 274, 286; BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35, 37. 47 BGH v. 20.9.1994 – VI ZR 285/93, BGHZ 127, 120; BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131, 274, 286. 48 Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno,Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 284.

1052 | Zwickel

II. Forderungsübergang nach § 116 SGB X | Rz. 36.25 § 36

Kenntnis erst dann vorliegt, wenn dem Unfallverursacher (bzw. dessen Haftpflichtversicherer) die konkreten Fakten, aus denen sich die Sozialhilfebedürftigkeit ergeben kann (insbesondere über die Vermögensverhältnisse des Geschädigten), bekannt werden.49 Zur Anrechnung eines Mitverschuldens vgl. Rz. 35.54 ff., zu Abfindungsvergleich und Teilungsabkommen Rz. 35.57 ff.

36.21

c) Beschränkungen bei nicht ausreichender Ersatzleistung Die Grundsätze über das Quotenvorrecht, die Aufteilung der Haftungssumme und das Befriedigungsvorrecht (§ 116 Abs. 2 bis 4 SGB X; vgl. Rz. 35.64 ff.) gelten auch beim Regress des Sozialhilfeträgers/SGB II-Trägers.

36.22

Nach § 116 Abs. 3 S. 3 SGB X ist der Forderungsübergang auf den Sozialhilfe- bzw. SGB IITräger bei nur quotenmäßiger Haftung des Schädigers ausgeschlossen, wenn durch ihn beim Geschädigten Hilfebedürftigkeit entstehen würde.50 Der Sozialhilfeträger oder SGB II-Träger wird dadurch auf Kosten der sonstigen nach Abs. 1 regressberechtigten Sozialleistungsträger entlastet.51 Dies setzt aber ein Kausalverhältnis zwischen Anspruchsübergang und Sozialhilfebedürftigkeit voraus.52 Beim Übergang auf den Sozialhilfeträger/SGB II-Träger kommt ein solches regelmäßig nicht in Betracht, da sich die Bedürftigkeit bereits ohne die Zession abzeichnet; durch den Anspruchsübergang auf den Sozialhilfeträger/SGB II-Träger wird die Sozialhilfebedürftigkeit weder herbeigeführt noch verstärkt. Vielmehr verbleibt dem Geschädigten zum Zwecke der Realisierung des Anspruchs gerade die Einziehungsermächtigung (vgl. Rz. 36.30).53

36.23

d) Schädigung durch Familien-/Haushaltsangehörige. Das für Schadensfälle bis 31.12.2020 geltende Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X erfasst grundsätzlich auch den Rückgriff des SGB II- und SGB XII-Trägers. Auch hier greift das Familienprivileg nur ein, wenn die Schädigung nicht vorsätzlich erfolgte.54 Zu den Einzelheiten s. Rz. 35.76 ff.

36.24

Das Angehörigenprivileg steht nach der Rechtsprechung des BGH jedoch – anders als beim Regress des Sozialversicherungsträgers (vgl. Rz. 35.80) – nicht dem Übergang des Direktanspruchs gegen einen Haftpflichtversicherer des Schädigers aus § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVG (früher § 3 Nr. 1 PflVG) entgegen, da es sonst zu einem „Normenkonflikt“ zwischen dem Nachrangprinzip der § 2 SGB II, § 2 SGB XII bzw. § 2 BSHG a.F. und der Übergangssperre nach § 116 Abs. 6 SGB X käme.55 Danach folgt aus dem Subsidiaritätsgrundsatz, dass dem Sozialhilfeträger/SGB II-Träger der Regress gegen den Haftpflichtversicherer offen steht, wenn er vor diesem auf eine kongruente Leistung in Anspruch genommen wurde.

36.25

49 50 51 52 53 54 55

Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 58. BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, VersR 1996, 1126. Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 235. BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, BGHZ 133, 129, 136. BGH v. 25.6.1996 – VI ZR 117/95, BGHZ 133, 129, 137. Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 257. BGH v. 9.7.1996 – VI ZR 5/95, BGHZ 133, 192; BGH v. 28.11.2000 – VI ZR 352/99, VersR 2001, 215.

Zwickel | 1053

§ 36 Rz. 36.26 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge

36.26

Für Schadensfälle ab 1.1.2021 ist die Inanspruchnahme des Haftpflichtversicherers ausdrücklich in § 116 Abs. 6 S. 3 SGB X geregelt. Auch wird das Familienprivileg durch die Neufassung des § 116 Abs. 6 SGB X in ein Haushaltsangehörigenprivileg mit Ausschluss der Geltendmachung des gleichwohl übergegangenen Anspruchs umgestaltet. S. hierzu im Einzelnen Rz. 35.83 ff.

e) Mehrheit von Leistungsträgern 36.27

§ 117 SGB X (zum Inhalt s. Rz. 35.93 ff.) ist auch dann anwendbar, wenn ein Leistungsträger nach SGB XII oder SGB II mit einem anderen zusammentrifft.

f) Verjährung 36.28

Im Bereich der Sozialhilfe besteht für den Geschädigten eine Einziehungsermächtigung (s. Rz. 36.19, 36.30), um im Umfang des Anspruchs seine eigene Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden. Keine Sozialhilfe erhält aufgrund des Subsidiaritätsprinzips nach § 2 SGB II, § 2 SGB XII, § 2 BSHG a.F., wer sich selbst helfen kann. In diesem Falle ist es bzgl. der Verjährung unschädlich, wenn der Sozialhilfeträger nicht innerhalb von 3 Jahren (wegen § 195 BGB) tätig wird. Dem Ersatzpflichtigen kann aufgrund der in § 116 Abs. 1 SGB X und § 2 SGB XII (vormals § 2 BSHG) niedergelegten Grundsätze und der in der Institution der Verjährung enthaltenen rechtlichen Wertung gegenüber dem Sozialhilfeträger keine günstigere Rechtsposition zukommen als gegenüber dem Geschädigten, welcher über die Schadensersatzansprüche ein rechtskräftiges Feststellungsurteil erwirkt hat.56 Die Einziehungsermächtigung muss zur Vereinheitlichung der Verjährungsvoraussetzungen für Geschädigten und Sozialhilfeträger führen.57 Erkennt der Ersatzpflichtige dem Geschädigten gegenüber den Anspruch an, tritt die Wirkung des § 212 BGB auch gegenüber dem Sozialhilfeträger ein, auf den der Anspruch gem. § 116 SGB X übergegangen ist.58

g) Prozessrechtliches 36.29

Der Sozialhilfeträger muss den erworbenen Anspruch vor den ordentlichen Gerichten einklagen.59 Er kann nicht auf Feststellung der Ersatzpflicht gegen den Kfz-Haftpflichtversicherer des Schädigers klagen, wenn nicht ernsthaft zu erwarten ist, dass er jemals Sozialhilfeleistungen an den Verletzten erbringen muss.60 Für den Anspruch auf Erstattung nach § 116 Abs. 7 SGB X (s. Rz. 36.20) ist der Sozialrechtsweg eröffnet.61

36.30

Die vom BGH62 aus dem Subsidiaritätsgrundsatz (§ 2 SGB II, § 2 SGB XII bzw. § 2 BSHG a.F.) abgeleitete Einziehungsermächtigung (oben Rz. 36.19) berechtigt den Geschädigten, im eigenen Namen auf Leistung an sich zu klagen,63 um dadurch im Umfang des Ersatzanspruchs

56 57 58 59 60 61 62 63

BGH v. 5.3.2002 – VI ZR 442/00, BGHZ 150, 94. BGH v. 5.3.2002 – VI ZR 442/00, BGHZ 150, 94, 100. OLG Köln v. 8.5.1998 – 19 U 210/97, VersR 1998, 1307. Hauck/Noftz/Schlaeger/Bruno Gesamtkommentar zum SGB X 2018, § 116 SGB X Rz. 322. OLG Celle v. 14.10.1998 – 13 U 2/98, OLGR Celle 1999, 137. BSG v. 27.4.2010 – B 8 SO 2/10 R, NJW 2011, 256 LS. BGH v. 12.12.1995 – VI ZR 271/94, BGHZ 131, 274. Vgl. BGH v. 10.12.1951 – GSZ 3/51, BGHZ 4, 153, 164 f.; Zöller/Althammer vor § 50 Rz. 48.

1054 | Zwickel

III. Forderungsübergang nach § 33 SGB II und § 93 SGB XII | Rz. 36.33 § 36

seine eigene Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden. Es handelt sich dann um eine (verdeckte) gesetzliche64 Prozessstandschaft.65 Die Rechtskraft des Urteils erfasst den Fürsorgeträger grundsätzlich nicht.66 Hat er jedoch der Prozessführung des Geschädigten vor oder während des Prozesses zugestimmt und der Geschädigte diese Zustimmung in den Prozess einführt, erstreckt sich die Rechtskraft auf ihn, führt er sie nicht ein, nur zu seinen Lasten.67

III. Forderungsübergang nach § 33 SGB II und § 93 SGB XII 1. Allgemeines § 33 SGB II und § 93 SGB XII sollen den Nachrang der Fürsorgeleistungen verwirklichen. Sie dienen somit dem Schutz des Leistungsträgers.68 Zum Anwendungsbereich neben § 116 SGB X vgl. Rz. 36.12.

36.31

Nach diesen Vorschriften kann der SGB II- bzw. SGB XII-Träger (zur Abgrenzung s. Rz. 36.2) den Schadensersatzanspruch eines Hilfebedürftigen aus einem Haftungsfall durch schriftliche Anzeige auf sich überleiten. Dies gilt für den SGB II-Träger allerdings nur bis 31.7.2006; seit 1.8.2006 findet ein gesetzlicher Forderungsübergang statt (vgl. dazu Rz. 36.6, 36.50 ff.). Die Überleitungsregelung lehnt sich im Wesentlichen an das bis zum 31.12.2004 geltende BSHG an, wobei in § 33 SGB II (in der bis 31.7.2006 geltenden Fassung) die frühere Differenzierung zwischen Übergang von Unterhaltsansprüchen (§ 91 BSHG) und Überleitung der übrigen Ansprüche (§ 90 BSHG) aufgegeben wurde. Durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20.7.2006 (BGBl. I 1711) wurde mit Wirkung vom 1.8.2006 in § 33 Abs. 2 SGB II wieder eine Spezialregelung für Unterhaltsansprüche aufgenommen. Im SGB XII folgt § 93 SGB XII dem früheren § 90 BSHG, § 94 SGB XII dem § 91 BSHG nach.69 Auf die frühere Überleitungsmöglichkeit nach § 90 BSHG, die für Altfälle noch Bedeutung haben kann (Rz. 36.8), sind die nachstehenden Erläuterungen übertragbar.

36.32

2. Voraussetzungen der Überleitung gem. § 93 SGB XII und § 33 SGB II a.F. a) Vorliegen eines Schadensersatzanspruchs Dem Unfallopfer muss ein zivilrechtlicher Ersatzanspruch gegen den Schädiger zustehen. Es können auch künftige Ansprüche übergeleitet werden, sofern diese hinreichend bestimmt oder bestimmbar sind;70 allerdings ist eine konkrete Bezeichnung erforderlich.71 Die Über-

64 65 66 67 68

Hofmann VersR 2003, 289. BGH v. 5.3.2002 – VI ZR 442/00, VersR 2002, 869. Hofmann VersR 2003, 289 ff. Hofmann VersR 2003, 291. Hauck/Noftz/Fügemann Grundsicherung für Arbeitssuchende 2018, § 33 SGB II Rz. 16 f.; Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 3; Grube/Wahrendorf/Giere SGB XII 2018, § 93 SGB XII Rz. 4. 69 Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 7; Hauck/Noftz/ Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 6. 70 Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 95; Hauck/Noftz/ Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 21. 71 Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 16.

Zwickel | 1055

36.33

§ 36 Rz. 36.33 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge

leitung steht insofern unter der aufschiebenden Bedingung tatsächlicher Leistung.72 Für die Rechtmäßigkeit der Überleitung ist es irrelevant, ob der übergeleitete Anspruch tatsächlich besteht oder in welchem Umfang er besteht.73 Nur wenn der übergeleitete Anspruch nach materiellem Recht offensichtlich ausgeschlossen ist (sog. Negativevidenz), kann eine trotzdem erlassene Überleitungsanzeige rechtswidrig sein.74

36.34

Strittig ist, ob auch ein Schmerzensgeldanspruch nach § 253 BGB übergeleitet werden kann.75 Dagegen spricht, dass Schmerzensgeldrenten nach § 11a Abs. 2 SGB II und § 83 Abs. 2 SGB XII nicht als Einkommen berücksichtigt werden können und bei einmaliger Leistung die Berücksichtigung als Vermögen eine unzumutbare Härte nach § 90 Abs. 3 SGB XII bedeuten würde. Dies zeigt, dass diese immateriellen Ausgleichsansprüche nicht zur Behebung der Bedürftigkeit und damit zur Entlastung der Sozialhilfeträger dienen sollen. Da die Schmerzensgeldforderung für die Hilfegewährung demnach ohne Einfluss ist, scheitert die Überleitungsfähigkeit an § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 93 Abs. 1 S. 3 SGB XII bzw. § 90 I S. 3 BSHG a.F.76

36.35

Ein Verzicht auf den Anspruch (§ 397 BGB) ist vor der Überleitung möglich, soweit er nicht in der Absicht erfolgt, dem Leistungsträger eine Leistungspflicht aufzubürden (dann § 138 BGB). Nach dem BGH77 liegt Nichtigkeit vor, wenn beim Verzicht Bedürftigkeit vorlag oder als sicher bevorstehend erkannt wurde, der Schädiger leistungsfähig war und den Parteien dies auch bewusst war. Nach Anspruchsüberleitung ist der Verzicht regelmäßig wegen fehlender Verfügungsbefugnis oder aufgrund § 161 BGB unwirksam.78

b) Leistungserbringung des Sozialhilfeträgers 36.36

Zu den erfassten Leistungsarten s. Rz. 36.2. Träger der Leistungen nach SGB II sind die Bundesagentur für Arbeit bzw. die Kommunen (§ 19a Abs. 2 SGB I, §§ 6, 6a SGB II), nach SGB XII die Kreise und kreisfreien Städte sowie die überörtlichen Träger der Sozialhilfe (§ 28 Abs. 2 SGB I, § 3 SGB XII). Träger des BSHG waren gem. §§ 9, 96 BSHG die kreisfreien Städte und Landkreise sowie die überörtlichen Träger.

36.37

Der Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende muss Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem 2. Abschnitt (§§ 19 bis 29 SGB II) tatsächlich erbracht oder zumindest bewilligt haben.79 Die Überleitungsanzeige kann damit schon, aber auch erst frühestens mit dem Bewilligungsbescheid ergehen80 (zum Zeitpunkt des Forderungsübergangs s. aber Rz. 36.47). Erfasst werden nur Leistungen, welche ab 1.1.2005 nach Maßgabe des SGB II

72 Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 16; Hauck/ Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 85. 73 BVerwG v. 5.8.1986 – 5 B 33/86, FEVS 36, 309. 74 BVerwG v. 27.5.1993 – 5 C 7/91, NJW 1994, 64. 75 Dafür OLG Nürnberg ZfF 1981, 38; wie hier OVG Lüneburg v. 25.10.1974 – IV A 14/74, FEVS 24, 276; Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 54. 76 Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 15; Knickrehm/ Kreikebohm/Waltermann/Schütze Kommentar zum Sozialrecht 2017, § 33 SGB II Rz. 8. 77 BGH v. 17.9.1986 – IVb ZR 59/85, NJW 1987, 1546. 78 Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 20. 79 Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 95. 80 Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 11.

1056 | Zwickel

III. Forderungsübergang nach § 33 SGB II und § 93 SGB XII | Rz. 36.40 § 36

bewilligt wurden. Eine Überleitung aufgrund früherer Leistungen nach dem BSHG in der Zeit nach dem 31.12.2004 nach § 33 SGB II ist insofern also nicht möglich.81 Bei der allgemeinen Hilfe zur Existenzsicherung werden sämtliche Leistungen aus dem Leistungskatalog des SGB XII erfasst.82 Nach § 93 Abs. 1 S. 2 SGB XII ist nicht nur eine Überleitung bezogen auf Leistungen an den Geschädigten selbst möglich, sondern auch soweit Aufwendungen für dessen nicht getrennt lebenden Ehepartner, Lebenspartner oder seine minderjährigen unverheirateten Kinder erbracht wurden. Diese Gesamtbetrachtung lehnt sich an die Grundsätze der Bedarfsgemeinschaft nach § 19 SGB XII an und erstreckt sich daher nur auf die Hilfe zum Lebensunterhalt, wobei eine Zugehörigkeit zur Haushaltsgemeinschaft nicht erforderlich ist.83 Vorausgesetzt wird jedoch, dass der Leistungsempfänger, dessen zivilrechtliche Ansprüche übergeleitet werden sollen, gleichzeitig mit dem Angehörigen Leistungen erhalten hat.84

36.38

Es muss sich um eine endgültige Leistung handeln, woran es z.B. bei der Darlehensgewährung mangelt. Nur wenn der Empfänger des Darlehens dieses nicht zurückbezahlt, ist eine Überleitung möglich.85

36.39

Ob die Hilfegewährung rechtmäßig erbracht worden sein muss, ist streitig. Die Befürworter führen die Gesetzessystematik, den Sinn und Zweck der Norm und das Interesse des Dritten an und wollen bei rechtswidrig geleisteten Zahlungen eine Rückforderung nach §§ 44, 48, 50 SGB X vornehmen.86 Die Gegenansicht argumentiert, das Bedürfnis zur Wiederherstellung des Nachranges bestehe auch, wenn die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes rechtswidrig gewährt worden sind.87 Nach dem BVerwG88 ist eine Rechtmäßigkeitsprüfung nur geboten, wenn die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes) und den überzuleitenden Anspruch wesentlich unterschiedlich seien. Bei wesentlich gleichen Voraussetzungen ist die Rechtmäßigkeit der Überleitung damit irrelevant. Eine Ausnahme ist aber gegeben, wenn anderenfalls die Belange des Drittverpflichteten unzulässig verkürzt würden.89 Bei versehentlicher Leistung an Personen, für welche die Leistung nicht bestimmt war (z.B. an den Erben des verstorbenen Hilfeempfängers) liegt keine Leistung i.S.d. Regressvorschriften vor.90

36.40

81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 10. Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 15. Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 26. BayObLG ZfF 1963, 183. Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 13; Hauck/ Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 28. Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, Vor § 33 SGB II Rz. 3; Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 10. Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 73 ff.; Hauck/ Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 95. BVerwG v. 18.12.1975 – 5 C 2/75, BVerwGE 50, 65. BVerwG v. 4.6.1992 – 5 C 57/88, NJW 1992, 3313. Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 60; Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, Vor § 33 Rz. 6.

Zwickel | 1057

§ 36 Rz. 36.41 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge

c) Gleichzeitigkeit 36.41

Die Ansprüche gegen den Schädiger müssen nicht gleichartig mit den Leistungen des Sozialhilfeträgers sein.91 Es reicht aus, dass die Leistungen des Sozialhilfeträgers bei rechtzeitiger Leistung durch den Schuldner ganz oder teilweise entfallen wären.92 Dieses Erfordernis der Gleichzeitigkeit nach § 33 Abs. 1 S. 2 SGB II bzw. § 93 Abs. 1 S. 3 SGB XII verweist auf einen Kausalzusammenhang zwischen der Leistung und der Nichterfüllung des Schadensersatzanspruchs durch den Schädiger. Unterstellt man eine rechtzeitige Leistung des Schädigers, so müsste die Hilfebedürftigkeit des Geschädigten entfallen sein, d.h. in diesem Fall hätte er keine Lebensunterhaltsleistungen erhalten.93 Diese Gleichzeitigkeit ist weit auszulegen, so dass auch vor Aufnahme der Sozialhilfeleistung fällige, aber noch nicht erfüllte Ansprüche überleitungsfähig sind.94

d) Überleitungsanzeige 36.42

Gem. § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II in seiner bis 31.7.2006 geltenden Fassung bzw. § 93 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist der Übergang des Anspruchs von einer schriftlichen Anzeige der Überleitung abhängig. Diese ist vom leistungserbringenden Träger zu erstellen,95 auch wenn er hinsichtlich der Leistung unzuständig war und lediglich in Vorleistung für einen anderen Träger getreten ist.96 Erbringen im SGB II sowohl die Bundesagentur für Arbeit als auch der kommunale Träger (§ 6 SGB II) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, so können beide überleiten, ebenso die für beide Leistungsträger handelnde Arbeitsgemeinschaft nach § 44b SGB II. Im SGB XII wird unterschiedlich beurteilt, ob der örtliche oder der überörtliche Träger für die Überleitung zuständig ist, wenn die Aufgaben der überörtlichen Sozialhilfe nach § 99 SGB XII auf den örtlichen Sozialhilfeträger übertragen wurden.97 Der überörtliche Träger kann den örtlichen bevollmächtigen, in seinem Namen den Anspruch überzuleiten.98

36.43

Die Überleitungsanzeige ist ein privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt.99 Sie ist schriftlich abzufassen, zu begründen und dem Schuldner und dem Leistungsempfänger gem. § 37 SGB X bekanntzugeben.100 Der Leistungsempfänger ist vorher gem. § 24 SGB X anzuhören,101 ebenso der Ersatzpflichtige, da er nach Ansicht des BVerwG102 durch eine rechtswidrige Überleitungsanzeige in eigenen Rechten verletzt wird.103

91 BVerwG v. 28.10.1999 – 5 C 28.98, NJW 2000, 601. 92 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 45. 93 Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 29; Hauck/ Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 45. 94 Grube/Wahrendorf/Giere Sozialhilfe, § 93 SGB XII Rz. 23. 95 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 67. 96 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 68. 97 Örtlicher Träger: VGH Hessen v. 18.2.1992 – 9 UE 3473/88, ZfS 1992, 237; überörtlicher Träger: OVG NW v. 17.5.1988 – 8 A 825/86, FEVS 38, 203. 98 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 70. 99 Grube/Wahrendorf/Giere Sozialhilfe, § 93 SGB XII Rz. 25. 100 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 77, 79 f. 101 BVerwG v. 26.11.1969 – 5 C 54/69, BVerwGE 34, 219. 102 BVerwG v. 27.5.1993 – 5 C 7/91, BVerwGE 92, 281. 103 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 71; Grube/ Wahrendorf/Giere Sozialhilfe 2018, § 93 SGB XII Rz. 29.

1058 | Zwickel

III. Forderungsübergang nach § 33 SGB II und § 93 SGB XII | Rz. 36.47 § 36

Die Überleitungsentscheidung ist ins Ermessen der Behörde gestellt. Wegen des Nachrangprinzips und der sparsamen Bewirtschaftung öffentlicher Mittel ist in der Regel die Überleitung geboten. Im Ausnahmefall kann aber die besondere Lebenssituation des Schuldners einer Überleitung entgegenstehen.104

36.44

3. Rechtsfolgen der Überleitungsanzeige a) Anspruchsübergang Durch die Überleitung geht die Forderung des Geschädigten auf den SGB II- oder SGB XIITräger über.105 Die Überleitung bewirkt also einen Gläubigerwechsel.106 Unter mehreren Leistungsträgern gilt das Prioritätsprinzip. Eine zweite Anzeige kann keine Rechtswirkungen mehr entfalten. Nimmt die Arbeitsgemeinschaft (§ 44b SGB II) die Aufgaben der SGB II-Träger wahr, so erfolgt die Überleitung auf die Arbeitsgemeinschaft; die Aufteilung zwischen Agentur für Arbeit und Kommunen ist dann eine interne Angelegenheit. Im Falle des § 6 Abs. 2 SGB II geht der übergeleitete Anspruch auf den kommunalen Leistungsträger über.107

36.45

Infolge der Überleitung kann der Schuldner mit befreiender Wirkung nur noch an den Leistungsträger als neuen Gläubiger leisten (§ 407 Abs. 1 BGB).108 Einwendungen und Einreden können ihm vom Schuldner nach §§ 412, 404 BGB entgegengehalten werden. Der Leistungsempfänger ist nach der Überleitung nicht mehr befugt, übergegangene Ansprüche für die Vergangenheit geltend zu machen.109 Der Schuldner bleibt aber berechtigt, hinsichtlich künftiger Zeiträume seiner Schadensersatzpflicht gegenüber dem Hilfebedürftigen selbst nachzukommen und somit die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes entbehrlich zu machen, da die Überleitung künftiger Ansprüche unter der Bedingung der Leistungsgewährung steht.110 Eine andere Behandlung würde dem Nachrang der SGB II-Leistungen widersprechen.111 Ein anderweitiger Hinweis in der Überleitungsanzeige ist unschädlich.112

36.46

b) Zeitpunkt des Übergangs Die Überleitung entfaltet ihre Rechtswirkung bei schon bestehenden Ansprüchen ab dem Zeitpunkt des Beginns der Leistungsgewährung113 (unabhängig davon, dass sie bereits mit dem Bewilligungsbescheid angezeigt werden kann; vgl. Rz. 36.42). Bei der Überleitung künftiger Ansprüche wirkt die Überleitungsanzeige in die Zukunft (vgl. Rz. 36.46). Der Übergang nach § 93 Abs. 2 SGB XII findet für den Zeitraum statt, in welchem dem Hilfebedürftigen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ohne Unterbrechung erbracht werden, wobei ein Zeitraum von mehr als zwei Monaten als Unterbrechung gilt. Für die Fristberechnung

104 105 106 107 108 109 110 111 112 113

Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 61. Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 81. Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 81 ff. VGH Hessen v. 18.2.1992 – 9 UE 3473/88, FEVS 42, 419. Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 82. Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 82. BVerwG v. 26.11.1969 – 5 C 54/69, BVerwGE 34, 219. BGH v. 7.10.1981 – IVb ZR 598/80, NJW 1982, 232. BVerwG v. 18.12.1975 – 5 C 2/75, NDV 1977, 38. Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/v. Koppenfels-Spies Gesamtkommentar zum SGB XII 2017, § 93 SGB XII Rz. 7.

Zwickel | 1059

36.47

§ 36 Rz. 36.47 | Regress der Träger Sozialer Fürsorge

gelten § 26 SGB X, § 187 Abs. 2, § 188 Abs. 2, 3 BGB.114 Kontrovers diskutiert wird, ob sich die Unterbrechung auf jede einzelne Leistung bezieht oder auf alle Leistungen an eine Person in ihrer Gesamtheit.115

c) Umfang der Überleitung 36.48

Die Überleitung ist ihrem Umfang nach auf die Höhe der erbrachten Leistungen begrenzt, wobei die im Bewilligungszeitraum erbrachten Leistungen zugrunde zu legen sind.116 Darüber hinaus gehende Ansprüche verbleiben dem Geschädigten. Für den Fall, dass die Arbeitsgemeinschaft (§ 44b SGB II) die Leistungen für kommunale Träger und Arbeitsagentur erbringt, ergibt sich die Höhe aus der Summe der Aufwendungen beider Leistungsträger. Hat ein Sozialhilfeträger, der über die Haftungsgrenze des § 12 StVG hinausgehende Leistungen erbracht hat, einen Abfindungsvergleich geschlossen, mit dem er sich zur Zahlung eines geringeren Betrages verpflichtet hat, so kann er den erlassenen Teil der Schadensersatzforderung nicht mehr auf sich überleiten.117

d) Prozessrechtliches 36.49

Nur der SGB II- bzw. SGB XII-Leistungsträger ist im Prozess aktivlegitimiert. Bei Rechtsübergang während des Prozesses gilt § 265 ZPO. Zuständig ist für die Geltendmachung des übergeleiteten Anspruchs das Zivilgericht,118 für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Überleitungsentscheidung das Sozialgericht (§ 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG für die Überleitung nach § 33 SGB II bzw. § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG für die Überleitung nach § 93 SGB XII).

4. Forderungsübergang gem. § 33 SGB II n.F. a) Voraussetzungen des Forderungsübergangs 36.50

In der ab 1.8.2006 geltenden Neufassung des § 33 Abs. 1 S 1 SGB II (vgl. Rz. 35.6, 35.31) wird, wie schon in der bisherigen Altfassung, vorausgesetzt, dass der Empfänger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger hat und beide Ansprüche gleichzeitig bestehen (vgl. Rz. 36.33, 36.36 f., 36.41).

b) Rechtsfolgen des Forderungsübergangs 36.51

Der Anspruch geht nunmehr kraft Gesetzes auf den SGB II-Träger über. Eine Überleitungsanzeige – wie bis 31.7.2006 vorgesehen – ist nicht mehr erforderlich.119 Die Ausführungen bei Rz. 35.41 gelten insoweit entsprechend. Hintergrund der Neuregelung eines gesetzlichen Forderungsübergangs ist nach der Begründung zum Gesetzesentwurf,120 dass die Träger des SGB II bisher in der Praxis nur selten von der Möglichkeit einer Überleitungsanzeige Gebrauch gemacht haben. Durch die Kodifizierung eines gesetzlichen Forderungsübergangs soll erreicht

114 Münder/Münder Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II 2017, § 33 SGB II Rz. 49. 115 Zum Streitstand Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 45. 116 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 57 ff. m.w.N. 117 BGH v. 24.9.1996 – VI ZR 315/95, VersR 1996, 1548 (zu § 90 BSHG a.F.). 118 Hauck/Noftz/Kirchhoff Gesamtkommentar zum SGB XII 2019, § 93 SGB XII Rz. 97 ff. 119 Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 4, 5. 120 BT-Drucks. 16/1410, S. 68.

1060 | Zwickel

III. Forderungsübergang nach § 33 SGB II und § 93 SGB XII | Rz. 36.51 § 36

werden, dass die Drittverpflichteten in dem gesetzlich möglichen Umfang auch tatsächlich in Regress genommen und dementsprechend die öffentlichen Kassen entlastet werden. Für die Vergangenheit ist die Geltendmachung von Regressansprüchen gegen den Schädiger jedoch gem. § 33 Abs. 3 S. 1 SGB II von einer schriftlichen Mitteilung der Leistungserbringung abhängig.121 Bei voraussichtlich für längere Zeit zu erbringenden Leistungen kann gem. § 33 Abs. 2 S. 2 SGB II auch auf künftige Leistungen geklagt werden. § 33 Abs. 4 S. 1 SGB II sieht die Möglichkeit vor, den Anspruch zur Geltendmachung treuhänderisch auf den Leistungsempfänger (den Geschädigten) zurück zu übertragen, welcher ihn geltend macht und wiederum an den Leistungsträger abtritt.

121 Hauck/Noftz/Fügemann Gesamtkommentar zum SGB II 2018, § 33 SGB II Rz. 135, 141.

Zwickel | 1061

§ 37 Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

I. 1. 2. II. 1. 2. a) b) 3. a) b) c) d) e) f) g)

h) 4. III.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beamtenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kongruenz zwischen Leistung und Ersatzanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursächlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruchsübergang . . . . . . . . . . . . . . Umfang des Übergangs . . . . . . . . . . . Einwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrenzung des Rückgriffs bei nicht ausreichender Ersatzleistung . . . . . . . Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienprivileg . . . . . . . . . . . . . . . . . Ersatzanspruch gegen eine andere öffentliche Verwaltung oder einen öffentlichen Bediensteten . . . . . . . . . . Mehrere Zessionen . . . . . . . . . . . . . . . Internationales Recht . . . . . . . . . . . . . Regress der Versorgungsträger . . . .

37.1 37.2 37.3 37.6 37.6 37.7 37.8 37.15 37.16 37.16 37.17 37.18 37.19 37.22 37.23

37.24 37.25 37.26 37.27

1. Voraussetzungen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorliegen eines Schadensersatzanspruches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestehen eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen . . . . . . . . . . . c) Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolgen des Forderungsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsübergang . . . . . . . . . . . . . . b) Zeitpunkt des Übergangs . . . . . . . . . . c) Ausmaß des Übergangs . . . . . . . . . . . d) Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begrenzung des Rückgriffs bei nicht ausreichender Ersatzleistung . . . . . . . 4. Ausschluss des Rückgriffs bei Schädigung durch Angehörige . . . . . . . . . . . 5. Zusammentreffen von Versorgungsund Sozialversicherungsträger . . . . . 6. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Prozessrechtliches . . . . . . . . . . . . . . . a) Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindung der Gerichte . . . . . . . . . . . . IV. Regress des Bundes nach § 179 Abs. 1a SGB VI . . . . . . . . . . . . . . . . .

37.27 37.27 37.28 37.31 37.34 37.34 37.36 37.37 37.38 37.39 37.40 37.41 37.42 37.43 37.43 37.44 37.45

§ 76 BBG Werden Beamtinnen, Beamte, Versorgungsberechtigte oder ihre Angehörigen körperlich verletzt oder getötet, geht ein gesetzlicher Schadensersatz-anspruch, der diesen Personen infolge der Körperverletzung oder der Tötung gegen Dritte zusteht, insoweit auf den Dienstherrn über, als dieser während einer auf der Körperverletzung beruhenden Aufhebung der Dienstfähigkeit oder infolge der Körperverletzung oder der Tötung zur Gewährung von Leistungen verpflichtet ist. Ist eine Versorgungskasse zur Gewährung der Versorgung verpflichtet, geht der Anspruch auf sie über. Der Übergang des Anspruchs kann nicht zum Nachteil der Verletzten oder der Hinterbliebenen geltend gemacht werden. § 81a BVG (1) Soweit den Versorgungsberechtigten ein gesetzlicher Anspruch auf Ersatz des ihnen durch die Schädigung verursachten Schadens gegen Dritte zusteht, geht dieser Anspruch im Umfang der durch dieses Gesetz begründeten Pflicht zur Gewährung von Leistungen auf den Bund über. Das

Zwickel | 1063

§ 37 Rz. 37.1 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger gilt nicht bei Ansprüchen, die aus Schwangerschaft und Niederkunft erwachsen sind. Der Übergang des Anspruchs kann nicht zum Nachteil des Berechtigten geltend gemacht werden. (2) Abs. 1 gilt entsprechend, soweit es sich um Ansprüche nach diesem Gesetz handelt, die nicht auf einer Schädigung beruhen. (3) Die Krankenkasse teilt der Verwaltungsbehörde Tatsachen mit, aus denen zu entnehmen ist, dass ein Dritter den Schaden verursacht hat. Auf Anfrage macht sie der Verwaltungsbehörde Angaben darüber, in welcher Höhe sie Heil- oder Krankenbehandlung erbracht hat; dies gilt nicht für nichtstationäre ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln. (4) § 116 Abs. 8 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch gilt entsprechend. Ab 1.1.2024: § 120 SGB XIV (1) § 116 des Zehnten Buches gilt für den Übergang eines Anspruchs der oder des Berechtigten auf Ersatz eines Schadens auf den oder die jeweiligen Kostenträger der Sozialen Entschädigung entsprechend. (2) Ein Ersatzanspruch kann nicht zum Nachteil der oder des Berechtigten geltend gemacht werden. Dies gilt insbesondere, wenn die Schadensersatzleistungen der Schädigerin oder des Schädigers oder eines Dritten nicht ausreichen, um den gesamten Schaden zu ersetzen. In diesen Fällen sind die Schadensersatzansprüche der oder des Berechtigten vorrangig gegenüber den Ansprüchen des Kostenträgers. (3) Von der Geltendmachung des Ersatzanspruchs kann abgesehen werden, wenn diese keinen Erfolg verspricht. (4) Die Krankenkassen haben der Verwaltungsbehörde die Tatsachen mitzuteilen, aus denen sich ergibt, dass ein Dritter den Schaden verursacht hat. Auf Anfrage haben die Krankenkassen und die Unfallkassen der Länder der Verwaltungsbehörde Angaben darüber zu machen, in welcher Höhe ihnen Kosten für Leistungen der Krankenbehandlung entstanden sind. Keine Angaben sind erforderlich für nichtstationäre ärztliche Behandlungen und die Versorgung mit Arzneimitteln und Verbandmitteln. § 179 SGB VI (1a) Ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Anspruch auf Ersatz eines Schadens geht auf den Bund über, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses Erstattungsleistungen nach Absatz 1 Satz 1 und 3 erbracht hat. Die nach Landesrecht für die Erstattung von Aufwendungen für die gesetzliche Rentenversicherung der in Werkstätten oder bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 des Neunten Buches beschäftigten behinderten Menschen zuständige Stelle macht den nach Satz 1 übergegangenen Anspruch geltend. § 116 Abs. 2 bis 7, 9 und die §§ 117 und 118 des Zehnten Buches gelten entsprechend. Werden Beiträge nach Absatz 1 Satz 2 erstattet, gelten die Sätze 1 und 3 entsprechend mit der Maßgabe, dass der Anspruch auf den Kostenträger übergeht. Der Kostenträger erfragt, ob ein Schadensereignis vorliegt und übermittelt diese Antwort an die Stelle, die den Anspruch auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung geltend macht.

I. Überblick 37.1

Auf öffentlich-rechtliche Körperschaften können Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen – abgesehen von den in § 36 und § 37 behandelten Fällen – auch dann übergehen, wenn sie als Träger der Sozialen Versorgung nach den speziellen Versorgungsgesetzen (s. 1064 | Zwickel

I. Überblick | Rz. 37.3 § 37

Rz. 37.27) oder als Dienstherren aufgrund beamtenrechtlicher Vorschriften (s. Rz. 37.6) Leistungen an den Geschädigten erbracht haben.

1. Beamtenrecht Erhebliche Bedeutung hat der Regress bei der Verletzung von Beamten und den Beziehern beamtenrechtlicher Versorgungsleistungen. Er ist geregelt in § 76 BBG und den entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze. Zu den Einzelheiten s. Rz. 37.6 ff.

37.2

2. Versorgungsrecht Versorgungsgesetze haben bei der Verkehrsunfallhaftung nur geringe Bedeutung. Leistungen nach dem (die Versorgung von Kriegsopfern regelnden) Bundesversorgungsgesetz kommen in Betracht bei Verkehrsunfällen auf geschützten Wegen wie dem Weg nach und vom Gestellungsort oder Dienstreisen nach § 1 Abs. 2 lit. e i.V.m. §§ 8a, 4 BVG. Das Soldatenversorgungsgesetz (§§ 80 ff. SVG) regelt die Versorgung von im Dienst verletzten Soldaten und deren Hinterbliebenen.1 Die Anwendung des Opferentschädigungsgesetzes ist gem. § 1 Abs. 8 OEG bei Schäden, die durch den Gebrauch eines Kfz oder eines Anhängers verursacht worden sind, ausgeschlossen. Für diese Schäden ist der auf § 12 PflVG beruhende Entschädigungsfonds für Schäden aus Kfz-Unfällen (Rz. 15.72 ff.) leistungspflichtig, wie durch § 9 OEG sichergestellt wird.2 Einen Gesetzentwurf auf Streichung dieses Ausschlusses hat der Bundestag abgelehnt.3 Dieser Ausschluss gilt auch dann, wenn der Motor des Fahrzeugs nicht in Betrieb war,4 d.h. das Kfz oder der Anhänger durch Anschieben auf das spätere Opfer hinbewegt wurde. Ist die Grenze des Gebrauchs überschritten und wird das Fahrzeug als Werkzeug eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eingesetzt, bleibt das OEG anwendbar.5 Durch das Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom 12.10.20196 werden die o.g. Rechtsgrundlagen zum 1.1.2024 zu großen Teilen in das neue SGB XIV überführt.7 Durch das SGB XIV sollen künftig alle zentralen Fälle der sozialen Entschädigung erfasst werden. Das SGB XIV ersetzt damit das BVG als neues Leitgesetz des Sozialen Entschädigungsrechts.8 Anders als nach dem OEG sind nach § 18 SGB XIV ab dem 1.1.2024 Ansprüche wegen Gewalttaten unter Verwendung von Kraftfahrzeugen von den Ansprüchen des SGB XIV erfasst. Der sachliche Vorrang des Entschädigungsfonds wird künftig durch einen Anspruchsübergang nach § 120 SGB XIV statt durch einen Anwendungsausschluss des Versorgungsrechts abgesichert.9

1 2 3 4 5 6 7

Zu den geschützten Wegen s. § 81 Abs. 2 Nr. 2 lit. a, Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 S 1 Nr. 2 SVG. Gelhausen/Weiner Kommentar zum Opferentschädigungsgesetz 6. Aufl. 2015, § 9 OEG Rz. 1. Gesetzesentwurf: BT-Drucks. 18/10965; Beschlussempfehlung und Bericht: BT-Drucks. 18/12400. Gelhausen/Weiner Kommentar zum Opferentschädigungsgesetz 6. Aufl. 2015, § 9 OEG Rz. 2. Gelhausen/Weiner Kommentar zum Opferentschädigungsgesetz 6. Aufl. 2015, § 1 OEG Rz. 77. BGBl. 2019-I, S. 2652. Zum gestaffelten Inkrafttreten s. Art. 60 des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts. 8 Zu Genese und Systematik des SGB XIV s. Knickrehm/Mushoff/Schmidt Das neue soziale Entschädigungsrecht 2020, Rz. 10 ff., 30. 9 BT-Drucks. 19/13824, S. 222.

Zwickel | 1065

37.3

§ 37 Rz. 37.4 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

37.4

Zentrale Regressnorm im Versorgungsrecht ist § 81a BVG. Auf sie wird in den übrigen Versorgungsgesetzen verwiesen (vgl. § 80 SVG, § 5 OEG). Zu den Einzelheiten s. Rz. 37.27 ff. Zum Regress wegen Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach § 27g BVG vgl. Rz. 36.2, 36.11. Ab 1.1.2024 verweist § 120 Abs. 1 SGB XIV für den Regress auf eine entsprechende Anwendung des § 116 SGB X (s. dazu Rz. 35.1 ff.), so dass diese Norm künftig den zentralen Ausgangspunkt für einen Regress der Versorgungsträger bilden wird. Die Verweisung auf § 116 SGB X wird durch die Sonderregeln der §§ 120 Abs. 2 bis 4 SGB XIV ergänzt, die einzelne Aspekte des bisherigen § 81a BVG ins neue Recht übernehmen.10 S. dazu die jeweiligen ergänzenden Erläuterungen zum geltenden Recht in Rz. 37.27 ff.11

37.5

Bei öffentlich-rechtlichen Versorgungsleistungen, für die ein Regress gesetzlich nicht vorgesehen ist (z.B. Blindengeld), kann der Leistungsträger, da die Vorschriften über den gesetzlichen Forderungsübergang eine abschließende Regelung darstellen, nicht unter Berufung auf allgemeine Regeln des Verwaltungsrechts oder im Wege bürgerlich-rechtlicher Abtretung weitergehende Erstattungsmöglichkeiten suchen. Dies gilt auch, wenn die Blindenhilfe mit der Maßgabe gewährt wird, dass auf bürgerlich-rechtlichen Rechtsvorschriften beruhende Schadensersatzleistungen Dritter zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen auf das Blindengeld anzurechnen sind.12 Eine gleichwohl erklärte Abtretung ist nach §§ 400, 134 BGB, § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO nichtig.13 Auch ist § 93 SGB XII nicht analog anwendbar.14 §§ 116 ff. SGB X gelten für Versorgungsleistungen nicht.

II. Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren 1. Rechtsgrundlagen 37.6

Im Bereich des Beamtenrechts existieren mit § 76 BBG und den entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze spezielle Regressvorschriften. § 116 SGB X wird grundsätzlich von diesen Spezialnormen verdrängt. Soweit der Dienstherr seinerseits dem Rückgriff eines Sozialversicherungsträgers nach § 116 SGB X ausgesetzt ist, kommt es aufgrund der dortigen Anrechnung gem. § 55 BeamtVG weder zu einer Doppelbelastung des Dienstherrn noch zu einer Doppelversorgung des Geschädigten.15 Zu den beamtenrechtlichen Haftungsbeschränkungen s. Rz. 22.156 ff.

2. Voraussetzungen des Forderungsübergangs 37.7

Der Dienstherr muss dem Beamten oder Versorgungsberechtigten oder dem Hinterbliebenen eines solchen zur Gewährung von Leistungen verpflichtet sein (z.B. Fortzahlung von Dienstbezügen, Gewährung von Beihilfen, Unfallfürsorge16) und der Geschädigte muss einen Schadensersatzanspruch gegen den Unfallschädiger haben. Für die Voraussetzungen des Forde10 BT-Drucks. 19/13824, S. 222. 11 Für eine ausführliche Synopse s. Knickrehm/Mushoff/Schmidt Das neue soziale Entschädigungsrecht 2020, Rz. 31 ff. 12 BGH v. 11.4.2017 – VI ZR 454/16, VersR 2017, 909. 13 BGH v. 24.9.1987 – III ZR 49/86, VersR 1988, 181, 182. 14 BGH v. 24.9.1987 – III ZR 49/86, VersR 1988, 181, 182 (die Entscheidung erging zu § 90 BSHG a.F., ist aber auf den inhaltsgleichen § 93 SGB XII übertragbar). 15 BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 288/96, BGHZ 136, 78, 86 f. 16 Groß DAR 1999, 344.

1066 | Zwickel

II. Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren | Rz. 37.12 § 37

rungsübergangs gilt weitgehend dasselbe wie beim Regress des Sozialversicherungsträgers nach § 116 SGB X (Rz. 35.6 ff.).17

a) Kongruenz zwischen Leistung und Ersatzanspruch Insbesondere gilt auch hier das Erfordernis der zeitlichen und sachlichen Kongruenz zwischen Leistung und Ersatzanspruch (Rz. 35.23 ff.).

37.8

Zwischen Beerdigungskosten (§ 844 Abs. 1 BGB, § 10 Abs. 1 StVG, § 5 Abs. 1 HaftPflG) und dem Anspruch auf Sterbegeld nach § 18 BeamtVG18 sowie dem Beitrag zu Überführungsund Bestattungskosten gem. § 33 Abs. 4 S. 2 BeamtVG besteht sachliche Kongruenz.19

37.9

Die Zahlung von Nachversicherungsbeiträgen durch den Dienstherrn eines getöteten Beamten an den Rentenversicherungsträger nach § 8 SGB VI begründet demgegenüber keine sachliche Kongruenz zum Unterhaltsschaden (§ 844 Abs. 2 BGB, § 10 Abs. 2 StVG, § 5 Abs. 2 HaftpflG), da der Dienstherr keine Leistungen an die Hinterbliebenen erbringt, sondern nur den bei ihm für den Getöteten gebildeten Pensionsdeckungsstock auf den statt seiner leistungspflichtig gewordenen Rentenversicherer überträgt. Auf diesen gehen daher nach § 116 Abs. 1 SGB X die Unterhaltsersatzansprüche über.20

37.10

Beamte erbringen den Schutz ihrer Angehörigen vor Krankheitskosten teilweise durch Verschaffung der Beihilfeberechtigung. Daher sieht der BGH21 auch die Beihilfeleistungen des Dienstherrn an die Hinterbliebenen des Beamten als sachlich kongruent mit dem Unterhaltsersatzanspruch gegen den Schädiger an mit der Folge, dass der Schädiger dem Dienstherrn alle Beihilfeleistungen zu ersetzen hat, die er während der mutmaßlichen Lebensdauer des Getöteten an die Angehörigen erbringt; bei Tötung eines von zwei beihilfeberechtigten Elternteilen halbiert er den Erstattungsanspruch des Dienstherrn.22 Da diese Leistungen eine erhebliche Höhe erreichen können, erwägt der BGH23 eine Verpflichtung der Hinterbliebenen, auf ein Angebot zur Ablösung der Beihilfe durch einen entsprechenden, vom Schädiger zu bezahlenden Krankenversicherungsschutz einzugehen. Die Rechtsprechung überzeugt jedoch schon vom Ansatz her nicht. Der Anspruch der Angehörigen gegen den Verunglückten auf Vorsorge für den Krankheitsfall kann nicht gleichgesetzt werden mit der beamtenrechtlichen Beihilfeberechtigung. Diese verkörpert nicht den Vorsorgeanspruch, sondern macht ihn (in Höhe des Beihilfesatzes) obsolet. Als Bestandteil des Unterhaltsanspruchs kann daher nur ein (bei bestehender Beihilfeberechtigung des Beamten latenter) Anspruch auf Zahlung der zu einer Volldeckung erforderlichen Krankenversicherungsbeiträge angesehen werden. Bei Tötung des Beamten geht dann der Unterhaltsersatzanspruch lediglich in dieser Höhe auf den Dienstherrn über.

37.11

Kongruenz besteht auch zwischen dem Beihilfeanspruch und dem Anspruch auf Heilungskosten. Der Dienstherr ist zwar gem. § 8 Abs. 2 BBhV und den entsprechenden Beihilfevorschriften der Länder zur Zahlung einer Beihilfe zu den Heilungskosten nicht verpflichtet, wenn dem verletzten Beamten ein Schadensersatzanspruch gegen einen Dritten zusteht oder

37.12

17 18 19 20 21 22 23

Groß DAR 1999, 344. OLG Celle v. 8.3.2001 – 14 U 69/00, OLGR Celle 2001, 227. BGH v. 18.1.1977 – VI ZR 250/74, VersR 1977, 427. BGH v. 24.4.1979 – VI ZR 21/77, BGHZ 74, 227. BGH v. 17.12.1985 – VI ZR 155/84, VersR 1986, 463, 464. BGH v. 28.2.1989 – VI ZR 208/88, VersR 1989, 486. BGH v. 17.12.1985 – VI ZR 155/84, VersR 1986, 463, 464.

Zwickel | 1067

§ 37 Rz. 37.12 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

die Ansprüche auf einen anderen übergegangen sind. Diese Nachrangigkeit der Beihilfeleistung wird aber für den (regelmäßigen) Fall, dass der Schadensersatzanspruch gem. § 76 BBG bzw. den entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften auf den Dienstherrn übergeht, durch § 8 Abs. 2 BBhV und die entsprechenden Vorschriften der Länder beseitigt.24

37.13

Zwischen dem Anspruch auf Ersatz vermehrter Bedürfnisse (§ 843 BGB, § 10 Abs. 1 StVG, § 5 Abs. 1 HaftpflG) und dem Hilflosigkeitszuschlag (§ 34 Abs. 2 BeamtVG) oder Unfallausgleich besteht Kongruenz (§ 35 BeamtVG).25

37.14

Zwischen dem Erwerbsschaden (§§ 842, 843 BGB, § 11 StVG, § 6 HaftPflG) und dem Anspruch auf Weiterzahlung der Bezüge trotz Dienstunfähigkeit (s. hierzu Rz. 32.68 ff.) sowie dem Anspruch auf Unfallruhegehalt, Übergangsgeld und Unterhaltsbeitrag besteht Kongruenz, nicht aber mit der Unfallentschädigung gem. § 43 BeamtVG.26 Die Belastung des Dienstherrn mit dem Umstand, dass Zeiten der Dienstunfähigkeit ruhegehaltsfähig sind, findet keine Entsprechung in einem übergangsfähigen Ersatzanspruch des Beamten, so dass dem Dienstherrn insoweit ein Rückgriff verschlossen ist.27

b) Ursächlichkeit 37.15

Weitere Voraussetzung des Forderungsübergangs ist die Ursächlichkeit des Unfalles für die Leistungen des Dienstherrn. Für nicht unfallbedingte Beihilfeleistungen im Falle der Verletzung eines Beamten kann der Dienstherr bzw. dessen Haftpflichtversicherer aus übergegangenem Recht deshalb keinen Ersatz vom Schädiger verlangen.28 Bei Verletzung eines Angehörigen des Beamten kommt ein Forderungsübergang nach § 76 BBG schon deswegen nicht in Betracht, weil diese Vorschrift nur Schadensersatzansprüche des Beamten selbst erfasst.29 Dem steht nicht entgegen, dass unfallunabhängige Beihilfeleistungen bei Tötung des Beamten an Hinterbliebene zu ersetzen sind,30 da in diesem Falle Ersatzansprüche der Hinterbliebenen gegen den Unfallverursacher gem. § 844 Abs. 2 BGB bestehen31 (vgl. Rz. 37.11).

3. Rechtsfolgen des Forderungsübergangs a) Anspruchsübergang 37.16

Hat der Dienstherr Leistungen der vorgenannten Art zu erbringen, so geht der Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger gem. § 76 BBG bzw. den entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze auf ihn über (cessio legis), und zwar im Zeitpunkt des Unfalls32 (vgl. Rz. 35.43), bei späterem Eintritt in das Beamtenverhältnis erst mit diesem Zeitpunkt.33

24 S. auch die Vollzugsbestimmung (VB-BhV) Nr. 1 S. 1 und 2 zu § 5 Abs. 5 BhV i.d.F. v 1.1.2002, geändert durch Bekanntmachung v. 27.10.2005. 25 BGH v. 17.11.2009 – VI ZR 58/08, NJW 2010, 927. 26 Drees VersR 1987, 745. 27 BGH v. 8.6.1982 – VI ZR 210/81, VersR 1982, 1193. 28 BGH v. 17.12.2002 – VI ZR 271/01, BGHZ 153, 223; OLG Nürnberg v. 21.3.2001 – 4 U 3965/00, VersR 2002, 592 mit Anm. Ebener/Schmalz. 29 OLG München v. 2.12.1971 – 1 U 1291/71, VersR 1972, 473; OLG Hamm v. 24.9.1976 – 9 U 128/76, VersR 1977, 151. 30 BGH v. 17.12.1985 – VI ZR 155/84, VersR 1986, 463. 31 BGH v. 17.12.2002 – VI ZR 271/01, BGHZ 153, 223, 224. 32 Groß DAR 1999, 344. 33 BayObLGZ 1986 Nr. 80.

1068 | Zwickel

II. Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren | Rz. 37.19 § 37

b) Umfang des Übergangs Er wird begrenzt durch die Höhe des Schadensersatzanspruchs und die zu erbringenden Leistungen. Bei der Weiterzahlung der Bezüge ist die Höhe der Bruttobezüge34 einschließlich anteiligen Urlaubsgelds, Urlaubsentgelts35 und Weihnachtsgelds36 sowie vermögenswirksamer Leistungen maßgeblich.

37.17

c) Einwendungen Einwendungen gegen die Schadensersatzpflicht, z.B. Mitverschulden, kann der Schädiger auch dem Dienstherrn entgegenhalten (vgl. oben Rz. 37.16). Daher hat der Dienstherr eines unfallgeschädigten Beamten keinen Anspruch auf Ersatz fortgezahlter Dienst- und Ruhestandsbezüge, wenn der Beamte es vorwerfbar unterlassen hat, gegen die auf unzureichenden Feststellungen beruhende Bejahung seiner Dienstunfähigkeit Rechtsbehelfe zu ergreifen.37 Ein Verstoß des Beamten gegen die Schadensminderungspflicht (unterlassener Zusatzerwerb neben Pension) wirkt sich wegen des aus § 76 S. 3 BBG hergeleiteten Vorrechts zu Lasten des Dienstherrn aus. Den Dienstherrn kann in Ausnahmefällen eine eigene Schadensminderungsobliegenheit treffen, wenn die Zuständigkeit für die Schadensminderung nahezu ausschließlich bei ihm liegt (z.B. bei verspäteter Zuweisung eines geeigneten Dienstpostens).38

37.18

d) Begrenzung des Rückgriffs bei nicht ausreichender Ersatzleistung Für den Forderungsübergang nach § 76 BBG hat die Rechtsprechung das Quotenvorrecht bei aus rechtlichen Gründen nicht ausreichendem Ersatzanspruch sowie das Befriedigungsvorrecht bei Nichtrealisierbarkeit des Anspruchs aus tatsächlichen Gründen abweichend von der Rechtslage bei Sozialversicherten (§ 116 Abs. 3 SGB X, vgl. Rz. 35.64 ff.) dem Beamten zuerkannt.39 Dies ergibt sich zwar nur für den letztgenannten Fall aus § 76 S. 3 BBG, wonach der Übergang nicht zum Nachteil des Beamten geltend gemacht werden kann, doch soll nach Sinn und Zweck des Gesetzes die Frage des Quotenvorrechts (bei der es nicht um die Geltendmachung des Übergangs, sondern bereits um den Übergang als solchen geht) in gleicher Weise geklärt werden. Im Ergebnis bedeutet dies, dass ein Mitverschulden des Beamten oder dessen Verstoß gegen die Pflicht zur Schadensminderung (§ 254 BGB) zu Lasten des Dienstherrn geht, weil nur der reduzierte Rest-Schadensersatz auf den Dienstherrn übergeht.40 Hier wird dem Gesichtspunkt, dass der Beamte sich die Versorgung durch seine Dienstleistung gewissermaßen erdient hat, entscheidende Bedeutung beigemessen.41 Plagemann42 befürwortet jedoch eine Übertragung der quotierenden Lösung nach § 116 Abs. 3 SGB X (relative Theorie, vgl. Rz. 35.68) auf den Schadensregress im Beamtenrecht.

34 35 36 37 38 39 40 41 42

BGH v. 30.6.1964 – VI ZR 81/63, BGHZ 42, 76. BGH v. 4.7.1972 – VI ZR 88/71, BGHZ 59, 154. BGH v. 29.2.1972 – VI ZR 192/70, VersR 1972, 566. OLG München v. 26.11.1996 – 5 U 5785/94, NZV 1997, 518. BGH v. 17.11.2009 – VI ZR 58/08, NJW 2010, 927, 929. BGH v. 9.11.1956 – VI ZR 196/55, BGHZ 22, 136; so auch Freyberger DAR 2001, 388. BGH v. 3.3.1983 – III ZR 34/82, VersR 1983, 489; a.A. Drees VersR 1987, 744. Vgl. BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 244/88, NZV 1989, 269. NZV 1993, 179.

Zwickel | 1069

37.19

§ 37 Rz. 37.20 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

37.20

Das Quotenvorrecht des Beamten besteht nach dem BGH43 auch dann, wenn zugunsten des geschädigten Beamten eine private Krankenversicherung eintritt, die den durch den Dienstherrn nicht gedeckten, also dem Beamten verbleibenden, (Rest-)Schaden voll abdeckt, da der Abschluss einer privaten Versicherung im Belieben des Beamten steht und nicht der Entlastung des Dienstherrn dient. Auch gelten die dem Quotenvorrecht zugrunde liegenden Postulate der Alimentations- und Fürsorgepflicht des Dienstherrn generell-abstrakt, so dass es auf die Zufälligkeit einer privaten Absicherung nicht ankommt.44 Insoweit findet jedoch ein Forderungsübergang gem. § 86 Abs. 1 VVG auf den Krankenversicherer statt.45

37.21

Auch wenn der Beamte einer Nebentätigkeit nachgeht, für die er keinen Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge hat, steht ihm das Quotenvorrecht zu.46

e) Verjährung 37.22

Zum Lauf der Verjährungsfrist beim Forderungsübergang s. Rz. 24.16 ff. Lässt der verunfallte Beamte den ihm als Quotenbevorrechtigten zustehenden Teil seines Schadensersatzanspruchs verjähren, kann der Dienstherr diesen Teil auch nicht mehr aus eigenem Recht gegen den Schädiger weiterverfolgen.47

f) Familienprivileg 37.23

Der Ausschluss eines Forderungsübergangs bei innerfamiliären Schädigungen beim Regress des Sozialversicherers (Rz. 35.76 ff und für Schadensfälle ab 1.1.2021 Rz. 35.83 ff.) gilt nach der Rechtsprechung trotz Fehlens einer gesetzlichen Regelung auch im Beamtenrecht.48 Aufgrund identischer Schutzzwecke muss die Haftungsprivilegierung auch Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft umfassen.

g) Ersatzanspruch gegen eine andere öffentliche Verwaltung oder einen öffentlichen Bediensteten 37.24

Richtet sich der Ersatzanspruch gegen eine andere öffentliche Verwaltung oder einen öffentlichen Bediensteten, stehen die beamtenrechtlichen Haftungsbeschränkungen (§ 46 BeamtVG, § 91a SVG) dem Übergang nicht grundsätzlich entgegen49 soweit ein übergangsfähiger Schadenersatzanspruch besteht (vgl. hierzu Rz. 22.156 ff.). § 46 Abs. 2 BeamtVG verdrängt als beamtenrechtliche Spezialregelung die §§ 104, 105 SGB VII.

43 BGH v. 30.9.1997 – VI ZR 335/96, VersR 1997, 1537 u BGH v. 10.2.1998 – VI ZR 139/97, VersR 1998, 639; anders zuvor OLG Schleswig v. 3.9.1996 – 9 U 34/96, NZV 1997, 79. 44 BGH v. 10.2.1998 – VI ZR 139/97, VersR 1998, 639, 640. 45 Groß DAR 1999, 344. 46 Freyberger DAR 2001, 388. 47 KG v. 5.10.1998 – 22 U 3273/97, NZV 1999, 208. 48 BGH v. 8.1.1965 – VI ZR 234/63, BGHZ 43, 72; Groß DAR 1999, 344 (analog § 67 Abs. 2 VVG a.F.). 49 BGH v. 19.3.2013 – VI ZR 174/12, NJW 2013, 2351, 2353; Battis/Bunde/Grigoleit, BBG, 5. Aufl. 2017, § 76 Rz. 4; Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 160; a.A. Küppersbusch/Höher Rz. 569.

1070 | Zwickel

III. Regress der Versorgungsträger | Rz. 37.27 § 37

h) Mehrere Zessionen Zum Zusammentreffen mehrerer Zessionen (Dienstherr und Sozialleistungsträger) vgl. Rz. 35.93.

37.25

4. Internationales Recht Ist ein Beamter eines ausländischen Staates verletzt worden und auf die Schädigung deutsches Recht anzuwenden, so ergibt sich zwar auch der Umfang des Schadensersatzes aus dem Deliktsstatut. Ob der Ersatzanspruch auf den Dienstherrn übergeht, richtet sich dagegen nach dem Recht des Heimatstaates,50 desgleichen die Ausgestaltung des Regresses, also z.B. auch das Bestehen eines Angehörigenprivilegs.51 Sieht das ausländische Recht keinen Regress vor,52 so stellt sich die Frage, ob die Leistung des Dienstherrn als auszugleichender Vorteil dem Schädiger gutzubringen ist. Für die Vorteilsausgleichung ist zwar das Deliktsstatut maßgeblich.53 Nach den Grundsätzen des deutschen Schadensrechts kommt es aber für die Anrechnung von Leistungen Dritter darauf an, ob sie nach ihrer Zweckbestimmung eine Zusatzleistung für das Unfallopfer darstellen oder ob sie den Ersatzpflichtigen entlasten sollen. Diese Zweckbestimmung lässt sich bei Leistungen, die auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, nur diesen selbst entnehmen. In diesen Fällen ist also letztlich das Drittleistungsstatut für die Frage der Anrechnung der regresslosen Drittleistung maßgeblich.54 Ergibt sich nach vorstehenden Grundsätzen, dass der Ersatzanspruch des Geschädigten trotz der Leistung des Dienstherrn bestehen bleibt, und hat der Geschädigte ihn an diesen abgetreten, so entscheidet das Drittleistungsstatut auch darüber, ob eine rechtsgeschäftliche Zession, die an die Stelle einer gesetzlich nicht vorgesehenen Legalzession treten würde, generell oder unter bestimmten Voraussetzungen, etwa gegenüber Angehörigen, unzulässig ist.55

37.26

III. Regress der Versorgungsträger 1. Voraussetzungen des Forderungsübergangs a) Vorliegen eines Schadensersatzanspruches Dem Versorgungsberechtigten muss nach § 81a Abs. 1 BVG ein gesetzlicher Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Unfallverletzung entstandenen Schadens gegen einen Dritten, d.h. eine mit dem Bund nicht personengleiche Person,56 zustehen. Diese Voraussetzung gilt auch im neuen Recht der sozialen Entschädigung ab 1.1.2024 (s. § 120 Abs. 1 SGB XIV).

BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, VersR 1989, 54 mit Anm. Wandt 265, 266. Wandt NZV 1993, 57. So z.B. das englische Recht; vgl. Wandt NZV 1993, 58. BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, VersR 1989, 54 mit Anm. Wandt 265; Thümmel VersR 1986, 415. 54 In BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, NZV 1989, 106 hätte daher die Zweckbestimmung der Leistung des ausländischen Dienstherrn nicht dahingestellt bleiben dürfen (ebenso Wandt VersR 1989, 267 und NZV 1993, 58 f.). 55 Wandt NZV 1993, 56 f. gegen OLG Hamburg v. 28.4.1992 – 7 U 59/91, VersR 1992, 685. 56 VV 2 zu § 81a BVG.

50 51 52 53

Zwickel | 1071

37.27

§ 37 Rz. 37.28 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

b) Bestehen eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen 37.28

Nach § 1 Abs. 1 BVG besteht der Versorgungsanspruch nur bzgl. der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer durch militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung bzw. durch einen Unfall während der Ausübung dieses Dienstes oder durch die dem Dienst eigentümlichen Verhältnisse57 verursachten gesundheitlichen Schädigung. Ursache der Schädigung muss daher die Dienstverrichtung etc. sein. Ursachen sind dabei die Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.58 Zu den Versorgungsfällen nach SVG s. Rz. 22.156 ff.

37.29

Nach § 81a Abs. 2 BVG genügen jedoch auch schädigungsunabhängige Ansprüche, wie sie einem Bezieher von Leistungen nach dem BVG oder speziellen Gesetzen (IfSG; HHG; StrRehaG, VwRehaG) unter bestimmten Voraussetzungen zustehen können, wenn er bei einem Verkehrsunfall verletzt wird (z.B. nach § 9 Abs. 1 Nr. 1, § 10 Abs. 2, 7 BVG). Dasselbe gilt, wenn der Versorgungsberechtigte bei dem (schädigungsunabhängigen) Unfall getötet wird und den Hinterbliebenen Witwen- und Waisenbeihilfe nach § 48 BVG zusteht. Zum Regress wegen bedarfsabhängiger Leistungen der Kriegsopferfürsorge gem. §§ 25 bis 27j BVG i.V.m. KFürsV vgl. Rz. 36.2, 36.11.

37.30

Entscheidend ist das Bestehen des Anspruchs; ein tatsächlicher Leistungsbezug ist nicht erforderlich.59 Die Entstehung des Anspruchs ist auch hier nicht von einer Antragstellung abhängig;60 diese ist aber materiell-rechtliche Voraussetzung für eine Leistungsgewährung an den Versorgungsberechtigten, vgl. § 1 Abs. 1, § 60 BVG. Für die Zeit ab 1.1.2024 stellt § 120 Abs. 1 SGB XIV klar, dass auch künftig das Bestehen eines Anspruchs für den Anspruchsübergang ausreicht.

c) Kongruenz 37.31

Zwischen dem zivilrechtlichen Ersatzanspruch und der Leistung nach dem BVG muss sachliche und zeitliche Kongruenz61 bestehen. Beide müssen also der Behebung eines artgleichen Schadens dienen und denselben Zeitraum betreffen.

37.32

Die sachliche Kongruenz wurde vom BGH bzgl. des Anspruchs wegen vermehrter Bedürfnisse (Rz. 32.32 ff.) und der Grundrente nach § 31 BVG bejaht.62 Obwohl der Beschädigtengrundrente auch eine immaterielle Ausgleichsfunktion zukommt,63 ist sie dennoch nicht teilweise mit dem Schmerzensgeld nach § 253 BGB sachlich kongruent.64 Ferner ist sie nicht mit einem Ersatzanspruch wegen der Erwerbs- und Fortkommensnachteile (vgl. dazu Rz. 32.57 ff.)

57 58 59 60 61 62

Gleichgestellte Verrichtungen finden sich in § 1 Abs. 2 BVG. VV 2 zu § 1 BVG. Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG,§ 81a BVG 2, S 568. Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S 568. BGH v. 28.3.1995 – VI ZR 244/94, VersR 1995, 600, 601. BGH v. 10.11.1964 – VI ZR 186/63, VersR 1964, 1307; BGH v. 4.6.1985 – VI ZR 17/84, VersR 1985, 990. 63 BGH v. 10.11.1964 – VI ZR 186/63, VersR 1964, 1307; BGH v. 21.1.1981 – IVb ZR 548/80, NJW 1981, 1313. 64 Wie hier Giese/v. Koch/Kreikebohm BeckOK Sozialrecht 2019, § 116 SGB X Rz. 2.3.1, S. 9; Plagemann SGb 1993, 197, 199 f.; a.A. Fehl VersR 1983, 1008.

1072 | Zwickel

III. Regress der Versorgungsträger | Rz. 37.33 § 37

kongruent.65 Sachliche Kongruenz besteht aber zwischen dem Erwerbsschaden und dem Versorgungskrankengeld nach § 16 BVG.66 Die nach § 22 BVG für Zeiten des Bezugs von Versorgungskrankengeld zur Gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichtenden Beiträge sind ebenfalls zum Ersatz des Erwerbsschadens sachlich kongruent.67 Gleiches gilt für die an die Soziale Pflegeversicherung zu entrichtenden Beiträge.68 Ferner bejaht der BGH die Kongruenz zwischen Schadensersatzpflicht auf Behebung der durch einen Wegeunfall mitverursachten gesundheitlichen Schäden nach § 249 BGB und der Heilbehandlung gem. § 10 Abs. 1, § 11 BVG, auch wenn diese nach § 18c Abs. 1 S. 3 BVG von den Krankenkassen für die Verwaltungsbehörde erbracht wurden. Anders als § 116 SGB X stellt § 81a BVG nämlich nicht darauf ab, wer die Leistungen zu erbringen hat, sondern bezieht alle im Anwendungsbereich des BVG zu erbringenden Leistungen ein.69 Dem steht nach einem neuen Urteil des BGH70 nicht entgegen, dass die Leistungen der Krankenkassen vom Versorgungsträger nicht einzeln erstattet, sondern gem. § 20 BVG pauschal abgegolten werden, wie § 81a Abs. 3 BVG zeigt. Schließlich sind die Witwen- und Waisenbeihilfe gem. § 48 BVG71 sowie die Pflegezulage gem. § 35 BVG72 kongruent zum Unterhaltsschaden nach § 844 Abs. 2 BGB, § 10 Abs. 2 StVG, § 5 Abs. 2 HaftpflG;73 vgl. Rz. 31.31 ff. Keine Kongruenz besteht zwischen dem Unterhaltsschaden und der den Hinterbliebenen eines getöteten Soldaten nach § 12 SVG gewährten Übergangsbeihilfe; denn diese dient nicht Unterhaltszwecken.74 Die Kongruenz setzt ferner voraus, dass der zivilrechtliche Ersatzanspruch und der Anspruch nach dem BVG auf demselben schadenstiftenden Ereignis beruhen,75 so dass der im Straßenverkehr zugefügte Schaden gleichzeitig auch Folge einer Dienstverrichtung im BVG sein muss. Jedoch erweitert § 81a Abs. 2 BVG den Regress auf Ansprüche, welche nicht auf einer Schädigung i.S.d. Versorgungsrechts beruhen (s. Rz. 37.29). In diesem Bereich erhält der Rückgriff seine größte Bedeutung. Das ab 1.1.2024 geltende Recht des SGB XIV ändert nichts am zentralen Element der Kausalität als „wesentliches Systemelement“ der sozialen Entschädigung (s. § 1 Abs. 1 SGB XIV).76 Das Erfordernis der Kongruenz gilt daher – in an die neuen Leistungen des sozialen Entschädigungsrechts angepasster Form (s. §§ 3, 26 SGB XIV) – fort. Auf Basis der Rspr. zum BVG gelten für das SGB XIV folgende Regeln: Als kongruent sind nach neuem Recht der Anspruch auf Ersatz für vermehrte Bedürfnisse und die Entschädigungszahlungen an Geschädigte (§ 83 SGB XIV) sowie der Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens und das Krankengeld der So65 BGH v. 10.11.1964 – VI ZR 186/63, VersR 1964, 1307; BGH v. 23.2.1965 – VI ZR 30/64, VersR 1965, 563; BGH v. 4.6.1985 – VI ZR 17/84, VersR 1985, 990. 66 OLG Hamm v. 24.10.2001 – 13 U 85/01, VersR 2003, 1595; Schütze/Bieresborn SGB X, 9. Aufl. 2020, § 116 SGB X Rz. 15. 67 BGH v. 12.4.1983 – VI ZR 126/81, BGHZ 87, 181, 182. Nach BGH v. 2.7.2002 – VI ZR 401/01, BGHZ 151, 210, 218 ist unerheblich, ob die Zahlungen an den Geschädigten (§ 22 Abs. 2 BVG) oder an den Rentenversicherungsträger (§ 22 Abs. 1 BVG) erfolgen. 68 BGH v. 2.7.2002 – VI ZR 401/01, BGHZ 151, 210, 220 f. Die Beitragspflicht ergibt sich aus § 59 Abs. 3 SGB XI. 69 BGH v. 28.3.1995 – VI ZR 244/94, VersR 1995, 600, 602. 70 BGH v. 12.4.2005 – VI ZR 50/04, VersR 2005, 1004. 71 Zu § 844 Abs. 2 BGB vgl. BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35. 72 BGH v. 6.10.1992 – VI ZR 305/91, NZV 1993, 21. 73 Zu § 844 Abs. 2 BGB vgl. BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35. 74 OLG Hamm v. 28.6.1968 – 9 U 40/68, NJW 1969, 1215. 75 Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S. 568. 76 Knickrehm/Mushoff/Schmidt Das neue soziale Entschädigungsrecht 2020, Rz. 33.

Zwickel | 1073

37.33

§ 37 Rz. 37.33 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

zialen Entschädigung (§ 47 SGB XIV) anzusehen. Kongruenz besteht zudem zwischen dem Schadenersatzanspruch auf Ersatz für Gesundheitsschädigungen und der Krankenbehandlung (§§ 42, 43 SGB XIV). Der Unterhaltsschaden ist kongruent zur monatlichen Entschädigungszahlung bzw. Abfindung für Witwen und Waisen (§§ 85 bis 87 SGB XIV).

2. Rechtsfolgen des Forderungsübergangs a) Anspruchsübergang 37.34

Der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch des Verletzten gegen den Schädiger geht auf den die Leistungen nach dem BVG erbringenden Bund über,77 auch wenn dieser tatsächlich nicht oder nicht in der Höhe des bestehenden Anspruchs leistet, z.B. wegen fehlenden Antrags auf Versorgungsleistungen. Der Übergang vollzieht sich kraft Gesetzes (cessio legis).78 Der Rechtsübergang umfasst nicht nur die Barleistungen (Renten u.a.), sondern auch die Aufwendungen für Sachleistungen, z.B. Heilbehandlung.79

37.35

Wird die Heilbehandlung gem. § 10 Abs. 1, § 11 BVG nach § 18c Abs. 1 S. 3 BVG von den Krankenkassen für die Verwaltungsbehörde erbracht, geht der Schadensersatzanspruch auf den Kostenträger für die Leistungen über.80

b) Zeitpunkt des Übergangs 37.36

Der Forderungsübergang nach § 81a Abs. 1 und Abs. 2 BVG findet grundsätzlich bereits mit dem Zeitpunkt des haftungsbegründenden Unfallereignisses, nicht erst mit der späteren Antragstellung oder dem Erlass des Bewilligungsbescheides statt.81 Wird allerdings durch gesetzliche Neuregelung eine bis dahin nicht bestehende Leistungsberechtigung durch Neugestaltung des Systems erst geschaffen, findet der Übergang erst mit dem Inkrafttreten dieser Systemänderung statt.82 Die zum 1.1.1976 in Kraft getretene Änderung des § 48 BVG (Witwen- und Waisenbeihilfe) stellte eine solche Systemänderung dar.83

c) Ausmaß des Übergangs 37.37

Der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch des Verletzten gegen den Dritten geht bis zur Höhe dessen, was der Staat nach dem BVG zu leisten hat, auf den Bund über. Vom Übergang werden auch durch gesetzliche Änderungen nachträglich erhöhte Leistungen erfasst.84 Den Schaden des Verletzten übersteigende Aufwendungen können nicht regressiert werden, z.B. Versicherungsbeiträge, denen kein Schadensersatzanspruch des Verletzten zugrunde liegt.85

77 LSG Bremen v. 15.12.1960 – LBR 4/60, ZfS 1961, 187; a.A. BGH v. 4.6.1959 – VII ZR 217/58, BGHZ 30, 162, 164; Schmitz-Peiffer ZfS 1960, 311. 78 Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S. 568. 79 Kritisch gegenüber dieser Regelung Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S. 567. 80 BGH v. 28.3.1995 – VI ZR 244/94, VersR 1995, 600, 602. 81 BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35, 36. 82 BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35, 36. 83 BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 44/82, VersR 1984, 35, 36. 84 VV 1 zu § 81a BVG. 85 BGH v. 2.7.2002 – VI ZR 401/01, BGHZ 151, 210.

1074 | Zwickel

III. Regress der Versorgungsträger | Rz. 37.39 § 37

d) Rechtsstellung gegenüber dem Ersatzpflichtigen Für den Forderungsübergang nach § 81a BVG gelten gem. § 412 BGB die §§ 399 bis 404, 406 bis 410 BGB entsprechend, insbesondere § 407 BGB, wonach der Drittschuldner mit befreiender Wirkung an den bisherigen Gläubiger leisten kann, solange er keine Kenntnis vom Forderungsübergang hat.86 Dabei ist davon auszugehen, dass jeder, der weiß, dass der Verletzte zu den nach dem BVG zu versorgenden Personen gehört, die Kenntnis vom Rechtsübergang besitzt, so dass Leistungen an den Geschädigten oder Rechtsgeschäfte mit diesem dem Bund nicht entgegengehalten werden können.87 Eine Mitverantwortung des Verletzten am Unfall oder an der Schadenshöhe (§ 9 StVG, § 254 BGB) kann der Schädiger nach §§ 412, 404 BGB dem Zessionar entgegenhalten (zum Quotenvorrecht in diesen Fällen s. Rz. 37.39).

37.38

Ab dem 1.1.2024 gelten gem. § 120 Abs. 1 SGB XIV im sozialen Entschädigungsrecht die Ausführungen zu § 116 SGB X (s. Rz. 35.41 ff.).

3. Begrenzung des Rückgriffs bei nicht ausreichender Ersatzleistung Nach § 81a Abs. 1 S. 3 BVG darf der Forderungsübergang nicht zum Nachteil des Berechtigten geltend gemacht werden. Hieraus wird ein Quotenvorrecht des Versorgungsberechtigten abgeleitet:88 Wenn der Schadensersatzanspruch wegen einer gesetzlichen Haftungshöchstgrenze (§ 12 StVG, § 9 HaftpflG) oder Mitverantwortung des Geschädigten nicht ausreicht, um die Leistungen des Versorgungsträgers und den verbleibenden Schaden des Verletzten auszugleichen, erhält der Versicherungsträger nur die nach Befriedigung des Verletzten übrig bleibende Restforderung. Im Falle der Zwangsvollstreckung aufgrund von Schadensersatzansprüchen gegen einen Dritten wird grundsätzlich zuerst der Geschädigte und dann erst der Bund hinsichtlich des auf ihn übergegangenen Anspruchs befriedigt (Befriedigungsvorrecht). Dies gilt auch im Falle der freiwilligen Schadensregulierung.89 Für die Zeit ab 1.1.2024 übernimmt § 120 Abs. 2 S. 1. SGB XIV die bisherige Rechtslage zum Quoten- und Befriedigungsvorrecht. Präzisiert wird in § 120 Abs. 2 S. 2. u. 3 SGB XIV, dass fiskalische Interessen der Träger der sozialen Entschädigung grundsätzlich stets hinter denen des Geschädigten zurückzutreten haben. Auch bei Gewalttaten unter Verwendung von Kfz, wie z.B. einem Terrorakt, hat nach neuem Recht der Berechtigte einen Anspruch auf Leistungen der sozialen Entschädigung. Der Anspruch gegen den nach § 12 PflVG eingerichteten Entschädigungsfonds (s. Rz. 15.72) geht dann nach § 120 Abs. 1 SGB XIV auf den Träger der sozialen Entschädigung über. Deckelungen des Entschädigungsfonds (s. Rz. 15.75) oder Unstimmigkeiten zwischen Träger des Sozialen Entschädigungsrechts und dem Entschädigungsfonds wirken sich künftig nicht mehr zu Lasten des bzw. der Geschädigten aus. Zum Ausschluss eines Rückgriffs beim Schädiger können über rein fiskalische Aspekte hinaus auch sonstige Nachteile wie z.B. zu befürchtende schwere Gesundheitsschädigungen eines kindlichen Opfers durch die gerichtliche Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs führen.90

86 Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S. 568 (2). 87 VV 3 zu § 81a BVG. 88 BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 244/88, NZV 1989, 269; OLG Hamm v. 24.10.2001 – 13 U 85/01, VersR 2003, 1595; Geigel/Plagemann/Haidn Kap. 30 Rz. 157. 89 VV 4 zu § 81a BVG. 90 BT-Drucks. 19/13824, S. 222.

Zwickel | 1075

37.39

§ 37 Rz. 37.40 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

4. Ausschluss des Rückgriffs bei Schädigung durch Angehörige 37.40

Ein Angehörigenprivileg (vgl. § 116 Abs. 6 SGB X, § 86 Abs. 3 VVG) ist nicht gesetzlich geregelt. Eine derartige Privilegierung entspringt einem allgemeinen, in § 116 Abs. 6 SGB X kodifizierten Rechtsgedanken. Zumindest bei familiären Schädigungen ist die Privilegierung daher auf § 81a BVG91 sowie § 5 OEG analog anwendbar. Auch im Rahmen des § 81a BVG erstreckt sich die Haftungsprivilegierung, wegen des erforderlichen Gleichlaufs zwischen § 116 Abs. 6 SGB X und § 86 Abs. 3 VVG auf Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft (s. Rz. 35.77). Der ab 1.1.2024 gültige Verweis des § 120 Abs. 1 SGB XIV auf die entsprechende Anwendung des § 116 SGB X umfasst künftig die Anwendung des § 116 Abs. 6 SGB X n.F. Die Rechtsprechung zur analogen Anwendbarkeit des Angehörigenprivilegs im Versorgungsrecht wird dadurch gesetzlich verankert.

5. Zusammentreffen von Versorgungs- und Sozialversicherungsträger 37.41

Zum Zusammentreffen von Versorgungsträger und Sozialversicherungsträger vgl. Rz. 35.93.

6. Verjährung 37.42

Für die Verjährung gelten §§ 197 Abs. 2, 195 BGB, da die in § 45 SGB I geregelte Verjährung nur Sozialleistungen betrifft, nicht dagegen Erstattungsansprüche.92

7. Prozessrechtliches a) Klage 37.43

Klage ist bei den für den haftungsrechtlichen Anspruch zuständigen Zivilgerichten zu erheben.93 Trotz der Rückgriffsregelung in § 81a BVG bleibt der Anspruch zivilrechtlicher Natur.94 Die für die Ausführung des BVG zuständigen Länder klagen in Prozessstandschaft für den Bund.95

b) Bindung der Gerichte 37.44

Die unanfechtbare Entscheidung des Versorgungsträgers über die Gewährung von Leistungen ist in entsprechender Anwendung von § 118 SGB X für das Zivilgericht, das über einen übergangenen Schadensersatzanspruch zu entscheiden hat, auch dann verbindlich, wenn der Forderungsübergang auf § 81a BVG beruht.96 Die in § 118 SGB X angeordnete Bindungswirkung tritt allerdings grundsätzlich dann nicht ein, wenn die gem. § 12 Abs. 2 S. 2 SGB X erforderliche Beteiligung eines Dritten, für den der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung hat, unterblieben ist.97 Eine Beteiligung des Schädigers am Verwaltungsverfahren des Versor-

91 92 93 94 95 96 97

Groß DAR 1999, 344; BGH v. 28.6.2011 – VI ZR 194/10, NJW 2011, 3715, 3716. Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S. 568 (1). Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S. 568 (2). Schieckel/Gurgel/Grüner/Dalichau BVG, § 81a BVG 2, S. 568 (2). Umgekehrt BGH v. 4.6.1959 – VII ZR 217/58, BGHZ 30, 162, 164 (s. dazu Rz. 38.13). OLG Hamm v. 12.8.1999 – 6 U 8/99, OLGR Hamm 2000, 40 (für OEG). BGH v. 4.4.1995 – VI ZR 327/93, VersR 1995, 682.

1076 | Zwickel

IV. Regress des Bundes nach § 179 Abs. 1a SGB VI | Rz. 37.47 § 37

gungsträgers ist jedoch nicht erforderlich, da dieser ohnehin für die Unfallschäden schadensersatzpflichtig ist und diese gegen ihn bestehenden Ansprüche durch das Verfahren inhaltlich nicht modifiziert werden.98

IV. Regress des Bundes nach § 179 Abs. 1a SGB VI § 179 Abs. 1a SGB VI sieht eine Legalzession für vom Bund gem. § 179 Abs. 1 SGB VI erstattete Beiträge an einen Träger einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen vor. Die Vorschrift schließt eine Lücke zwischen dem nur für Sozialversicherungsträger, d.h. nicht für den Bund, anwendbaren § 116 SGB X (s. Rz. 35.6)99 und § 119 SGB X. Voraussetzung eines Beitragsregresses i.S.d. § 119 SGB X ist das Bestehen eines Pflichtversicherungsverhältnisses (s. Rz. 35.153 ff.). In einer Behindertenwerkstatt tätige Personen sind aber u.U. erst aufgrund dieser Tätigkeit rentenversicherungspflichtig (§ 1 S. 1 Nr. 2a SGB VI).100 Auf den Bund (bzw. den Kostenträger) geht damit der Anspruch in Höhe der Beiträge, die auf den Betrag zwischen dem tatsächlich erzielten monatlichen Arbeitsentgelt und 80 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße entfallen, über.

37.45

Der Regress des Bundes (bzw. des Kostenträgers) läuft, durch entsprechende Anwendung der §§ 116 Abs. 2 bis 7 und 9 weitgehend mit dem Regress der Sozialversicherungsträger (§ 116 SGB X) gleich (§ 179 Abs. 1a S. 3 SGB VI).101 Erforderlich sind für den Anspruchsübergang somit das Vorliegen eines Schadenersatzanspruchs, der Leistungspflicht des Bundes gem. § 179 Abs. 1 S. 1 SGB VI sowie von zeitlicher und sachlicher Kongruenz (s. Rz. 35.23). Kongruenz des Beitragsschadens mit dem Erwerbsschaden i.S.v. § 842 BGB liegt vor, wenn der Geschädigte ohne den Unfall Beiträge gezahlt hätte (und sich so die bereits erreichte Stellung in der Rentenversicherung erhalten hätte) bzw. wenn der Geschädigte ohne den Unfall aus sonstigen Gründen rentenversicherungspflichtig geworden wäre und deshalb Beiträge hätte abführen müssen (konkreter Schaden hinsichtlich der rentenversicherungsrechtlichen Stellung).102 Die Darlegungs- und Beweislast hierfür liegt beim Bund (bzw. Kostenträger).103

37.46

Der Anspruchsübergang findet, wie sich klar aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, zum Zeitpunkt der Erbringung von Erstattungsleistungen gem. § 179 Abs. 1 SGB VI statt.104 Über die Verweisung des § 179 Abs. 1a S. 3 SGB VI gilt auch für den Regress des Bundes das Angehörigenprivileg in seinen für § 116 Abs. 6 erfolgten Konkretisierungen (s. Rz. 35.76 und für Schadensfälle ab 1.1.2021 Rz. 35.83).

OLG Hamm v. 12.8.1999 – 6 U 8/99, OLGR Hamm 2000, 40, 42 (für OEG). Jahnke VersR 2005, 1203. Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/v. Koch BeckOK Sozialrecht 2019, § 179 SGB VI, Rz. 12. BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 546/13, VersR 2014, 1025; Küppersbusch/Höher Rz. 758; Rolfs/Giesen/ Kreikebohm/Udsching/v. Koch BeckOK Sozialrecht 2019, § 179 SGB VI, Rz. 12. 102 BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 192/06, BGHZ 173, 169; Langenick NZV 2007, 105; s. dazu ausführlich Langenick/Lang NZV 2019, 569, 571. 103 BGH v. 10.7.2007 – VI ZR 192/06, BGHZ 173, 169; OLG Hamm v. 30.5012 – 13 U 79/11, NZV 2012, 588; LG Augsburg v. 4.7.2005 – 10 O 110/05, NZV 2006, 214, 216. 104 BGH v. 1.7.2014 – VI ZR 546/13, VersR 2014, 1025.

98 99 100 101

Zwickel | 1077

37.47

§ 37 Rz. 37.48 | Regress der öffentlich-rechtlichen Dienstherren und der Versorgungsträger

37.48

Die Abgrenzung des § 179 Abs. 1a SGB VI von § 119 SGB X ist noch immer unklar.105 Teils wird von Gesamtgläubigerschaft zwischen Bund und Rentenversicherungsträger ausgegangen,106 teils ein Vorrang des § 179 Abs. 1a SGB VI angenommen.107 Wegen des unterschiedlichen Übergangszeitpunkts (bei § 179 Abs. 1a SGB VI erfolgt die cessio legis erst nach Beitragserstattung) ist aber davon auszugehen, dass für § 179 Abs. 1a SGB VI nur ein kleiner Anwendungsbereich für nie Pflichtversicherte108 sowie für den Fall eines schwebenden Rechtsstreits zwischen Schädiger und Rentenversicherungsträger109 verbleibt. Ein normativ begründeter Rückfall des bereits nach § 119 SGB X übergegangenen Anspruchs an den Geschädigten für eine logische Sekunde und dessen sofortige Überleitung auf den Bund nach § 179 Abs. 1a SGB VI scheitert am in Bezug auf den Übergangszeitpunkt klaren Wortlaut der letztgenannten Vorschrift.110

105 Küppersbusch/Höher Rz. 758; Langenick/Vatter NZV 2005, 609; Langenick/Lang NZV 2019, 569. 106 Jahnke VersR 2005, 1203. 107 OLG Hamm v. 9.11.2018 – 9 U 39/18; Langenick/Lang NZV 2019, 569, 574 ff. 108 § 119 SGB X ist dann nicht anwendbar (s. Rz. 35.156 ff.). 109 Langenick/Vatter NZV 2005, 609. 110 A.A. Langenick/Lang NZV 2019, 569, 574.

1078 | Zwickel

§ 38 Regress der Privatversicherer

I. II. 1. 2. a) b) 3. a) b)

Überblick und Rechtsgrundlagen . . Sach- und Personenversicherung . . Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erbringung der Versicherungsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergegangener Ersatzanspruch . . . . Besonderheiten bei der Fahrzeugversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfordernis der Kongruenz . . . . . . . . Beschränkter Rückgriff . . . . . . . . . . .

38.1 38.2 38.2 38.3 38.3 38.4 38.5 38.5 38.7

c) Quotenvorrecht des Versicherungsnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten bei der Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Regress gegen Dritte . . . . . . . . . . . . . 2. Regress gegen den eigenen Versicherungsnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regress gegen Mitversicherte . . . . . .

38.8 38.15 38.16 38.16 38.17 38.20

§ 86 VVG (1) Steht dem Versicherungsnehmer ein Ersatzanspruch gegen einen Dritten zu, geht dieser Anspruch auf den Versicherer über, soweit der Versicherer den Schaden ersetzt. Der Übergang kann nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers geltend gemacht werden. (2) Der Versicherungsnehmer hat seinen Ersatzanspruch oder ein zur Sicherung dieses Anspruchs dienendes Recht unter Beachtung der geltenden Form- und Fristvorschriften zu wahren und bei dessen Durchsetzung durch den Versicherer soweit erforderlich mitzuwirken. Verletzt der Versicherungsnehmer diese Obliegenheit vorsätzlich, ist der Versicherer zur Leistung insoweit nicht verpflichtet, als er infolgedessen keinen Ersatz von dem Dritten erlangen kann. Im Fall einer grob fahrlässigen Verletzung der Obliegenheit ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen; die Beweislast für das Nichtvorliegen einer groben Fahrlässigkeit trägt der Versicherungsnehmer. (3) Richtet sich der Ersatzanspruch des Versicherungsnehmers gegen eine Person, mit der er bei Eintritt des Schadens in häuslicher Gemeinschaft lebt, kann der Übergang nach Abs. 1 nicht geltend gemacht werden, es sei denn, diese Person hat den Schaden vorsätzlich verursacht. § 5 KfzPflVV 1) Als Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalls können nur vereinbart werden die Verpflichtung, 1. das Fahrzeug zu keinem anderen als dem im Versicherungsvertrag angegebenen Zweck zu verwenden; 2. das Fahrzeug nicht zu behördlich nicht genehmigten Fahrveranstaltungen zu verwenden, bei denen es auf die Erzielung einer Höchstgeschwindigkeit ankommt; 3. das Fahrzeug nicht unberechtigt zu gebrauchen oder wissentlich gebrauchen zu lassen; 4. das Fahrzeug nicht auf öffentlichen Wegen und Plätzen zu benutzen oder benutzen zu lassen, wenn der Fahrer nicht die vorgeschriebene Fahrerlaubnis hat;

Zwickel | 1079

§ 38 Rz. 38.1 | Regress der Privatversicherer 5. das Fahrzeug nicht zu führen oder führen zu lassen, wenn der Fahrer infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel dazu nicht sicher in der Lage ist; 6. ein mit einem Wechselkennzeichen zugelassenes Fahrzeug nicht auf öffentlichen Wegen oder Plätzen zu benutzen oder benutzen zu lassen, wenn es das nach § 8 Abs. 1a der Fahrzeug-Zulassungsverordnung vorgeschriebene Wechselkennzeichen nicht vollständig trägt. (2) Gegenüber dem Versicherungsnehmer, dem Halter oder Eigentümer befreit eine Obliegenheitsverletzung nach Abs. 1 Nr. 3 bis 5 den Versicherer nur dann von der Leistungspflicht, wenn der Versicherungsnehmer, der Halter oder der Eigentümer die Obliegenheitsverletzung selbst begangen oder schuldhaft ermöglicht hat. Eine Obliegenheitsverletzung nach Abs. 1 Nr. 5 befreit den Versicherer nicht von der Leistungspflicht, soweit der Versicherungsnehmer, Halter oder Eigentümer durch den Versicherungsfall als Fahrzeuginsasse, der das Fahrzeug nicht geführt hat, geschädigt wurde. (3) Bei Verletzung einer nach Abs. 1 vereinbarten Obliegenheit oder wegen Gefahrerhöhung ist die Leistungsfreiheit des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer und den mitversicherten Personen auf den Betrag von höchstens je 5.000 € beschränkt. Satz 1 gilt nicht gegenüber einem Fahrer, der das Fahrzeug durch eine strafbare Handlung erlangt hat. § 6 KfzPflVV (1) Wegen einer nach Eintritt des Versicherungsfalls vorsätzlich oder grob fahrlässig begangenen Obliegenheitsverletzung ist die Leistungsfreiheit des Versicherers dem Versicherungsnehmer gegenüber vorbehaltlich der Abs. 2 und 3 auf einen Betrag von höchstens 2.500 € beschränkt. (2) Soweit eine grob fahrlässig begangene Obliegenheitsverletzung weder Einfluss auf die Feststellung des Versicherungsfalles noch auf die Feststellung oder den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung gehabt hat, bleibt der Versicherer zur Leistung verpflichtet. (3) Bei besonders schwerwiegender vorsätzlich begangener Verletzung der Aufklärungs- oder Schadensminderungspflichten ist die Leistungsfreiheit des Versicherers auf höchstens 5.000 € beschränkt.

I. Überblick und Rechtsgrundlagen 38.1

Verkehrsunfälle können auf verschiedene Weise Versicherungsleistungen auslösen, die nicht auf einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung beruhen (hierzu § 35), sondern aufgrund eines privatrechtlichen Versicherungsvertrags erbracht werden. Da die Versicherungsleistungen nicht dazu bestimmt sind, den haftpflichtigen Dritten zu entlasten oder dem Geschädigten eine Doppelentschädigung zu verschaffen, ordnet das VVG (§ 67 VVG a.F. und § 86 VVG n.F.) einen Regress des Versicherers im Wege der Legalzession an. Durch die zum 1.1.2008 in Kraft getretene Neufassung des VVG wurden die Regelungen des § 67 VVG a.F. in § 86 VVG n.F. überführt und ausgebaut. Das in § 67 Abs. 1 S. 3 VVG a.F. geregelte Aufgabeverbot wurde zudem um ein Unterstützungsgebot erweitert (§ 86 Abs. 2 VVG, s. Rz. 38.17). Das bisherige Angehörigenprivileg (§ 67 Abs. 2 VVG a.F.) ist nunmehr als Privilegierung der häuslichen Gemeinschaft ausgestaltet (§ 86 Abs. 3 VVG, s. Rz. 38.4). Aber auch gegen den eigenen Versicherungsnehmer oder eine mitversicherte Person kommt ein Regress in Betracht, insbesondere, wenn bei der Haftpflichtversicherung Leistungen an Dritte erbracht werden mussten, weil oder obwohl der versicherte Schädiger seine Verpflichtungen aus dem Versicherungsvertrag nicht erfüllt hat.

1080 | Zwickel

II. Sach- und Personenversicherung | Rz. 38.4 § 38

Die nachfolgende Darstellung konzentriert sich auf die bei der Verkehrsunfallhaftung wichtigsten Fragen des Regresses – des Fahrzeug- und des Krankenversicherers gegen Dritte (Rz. 38.2 ff.) und – des Kfz-Haftpflichtversicherers gegen Versicherungsnehmer und Versicherte (Rz. 38.16 ff.).

II. Sach- und Personenversicherung 1. Anwendungsbereich Der sachliche Anwendungsbereich des § 86 VVG erfasst alle Bereiche der Schadensversicherung. Der zugunsten des leistenden Versicherers eintretende Forderungsübergang nach § 86 VVG gilt im Bereich der Verkehrsunfallhaftung also vor allem für den Fahrzeugversicherer sowie für den privaten Kranken- oder Unfallversicherer, soweit er konkrete Heilungskosten ersetzt.1 Zur Haftpflichtversicherung s. Rz. 38.16 ff. Dagegen gilt er nach der Systematik des VVG nicht für die Summenversicherung, bei der der Versicherer unabhängig von der Schadenshöhe einen bestimmten Betrag zu leisten hat (z.B. Lebensversicherung). Auch die Krankenhaustagegeldversicherung ist Summenversicherung.2

38.2

Zeitlich ist § 86 VVG auf alle ab 1.1.2008 neu entstandenen Versicherungsverhältnisse anwendbar. Für Altverträge, bei denen der Versicherungsfall bis 31.12.2008 eingetreten ist, verbleibt es bei der Anwendung des § 67 VVG a.F. (Art. 1 EGVVG).

2. Grundsätze a) Erbringung der Versicherungsleistung Mit dem Erbringen der Versicherungsleistung an den Geschädigten geht sein inhaltlich übereinstimmender (kongruenter) Schadensersatzanspruch nach § 86 Abs. 1 VVG auf den Versicherer über, ggf. also in Raten. Es kommt auf die tatsächliche Leistung an; ob eine Leistungspflicht bestand, ist ohne Belang.3 Anders als beim Übergang auf Sozialversicherungsträger und Dienstherrn (vgl. Rz. 35.43, Rz. 37.16) fällt der Anspruch hier also zunächst dem Verletzten zu, der ihn auch klageweise geltend machen kann. Der Anspruch geht mit dem Inhalt über, den er zur Zeit des Übergangs hat. Bestehende Einwendungen bleiben dem Schuldner erhalten (§§ 412, 404 BGB). Ein vorher abgeschlossener Vergleich wirkt immer, ein nachher abgeschlossener nur unter den Voraussetzungen des § 407 BGB4 gegen den Versicherer.

38.3

b) Übergegangener Ersatzanspruch Der übergegangene Ersatzanspruch kann gem. § 86 Abs. 3 VVG gegen eine Person, mit der der Versicherungsnehmer bei Eintritt des Schadens in häuslicher Gemeinschaft lebt, nicht geltend gemacht werden. Im Vergleich zur früheren Regelung des § 67 Abs. 2 VVG a.F., der 1 BGH v. 24.9.1969 – IV ZR 776/68, BGHZ 52, 350, 352. 2 BGH v. 4.7.2001 – IV ZR 307/00, VersR 2001, 1100; BGH v. 15.5.1984 – VI ZR 184/82, VersR 1984, 690, 691; a.A. Prölss/Martin/Armbrüster § 86 Rz. 4. 3 BGH v. 15.10.1963 – VI ZR 97/62, NJW 1964, 101; BAG v. 9.11.1967 – 5 AZR 147/67, VersR 1968, 266. 4 Vgl. OLG Düsseldorf v. 14.1.1994 – 22 U 148/93, VersR 1995, 528.

Zwickel | 1081

38.4

§ 38 Rz. 38.4 | Regress der Privatversicherer

einen Regressausschluss gegen Angehörige, die mit dem geschädigten Versicherungsnehmer oder Versicherten5 in häuslicher Gemeinschaft leben, beinhaltet, weitet § 86 Abs. 3 VVG die Haftungsprivilegierung, durch den Verzicht auf die Angehörigeneigenschaft, erheblich aus (zu den Voraussetzungen des Vorliegens einer häuslichen Gemeinschaft s. Rz. 35.78). Zudem geht, anders als bei § 67 Abs. 2 VVG a.F., der Anspruch zwar auf den Versicherer über, kann aber nicht geltend gemacht werden.6

3. Besonderheiten bei der Fahrzeugversicherung a) Erfordernis der Kongruenz 38.5

Der Übergang erstreckt sich nur auf die Schadensersatzansprüche, die sich auf den in das versicherte Risiko fallenden Schaden beziehen; die Leistung des Versicherers und die Schadensersatzforderung müssen in gewissem Sinne gleichartig (kongruent) sein. Dies ist bei der Kaskoversicherung nur hinsichtlich der unmittelbaren Sachschäden (Nr. A.2.1. AKB 2015), nicht hinsichtlich der Sachfolgeschäden der Fall.7 Für diese Abgrenzung kommt es nicht darauf an, ob der Versicherer nach dem Versicherungsvertrag oder den Versicherungsbedingungen zur Erstattung verpflichtet ist; maßgeblich ist vielmehr, ob der in Betracht kommende Schaden unmittelbar die Substanz des betroffenen Fahrzeugs berührt, dessen Wert mindert oder in der Notwendigkeit besteht, Geldmittel zur Beseitigung der Beschädigung aufzuwenden.8

38.6

Zum unmittelbaren Sachschaden in diesem Sinne zählen daher neben den Reparatur- bzw. Wiederbeschaffungskosten der technische und der merkantile Minderwert9 die zur Feststellung der Schadenshöhe erwachsenen Sachverständigenkosten10 sowie die Abschleppkosten.11 Nach der Zahlung des Unfallgegners an den regulierenden Rechtsanwalt zählt zum unmittelbaren Sachschaden auch der gegen diesen gerichtete Auskehranspruch seines Mandanten aus den §§ 675, 667 BGB.12 Sachfolgeschäden sind dagegen Nutzungsausfall und Mietwagenkosten,13 Verschrottungskosten,14 Verdienstausfall, Auslagen, Schäden an der Ladung, Verlust von Treibstoff und Sachverständigenkosten für die Prüfung der Regulierungspflicht durch den Versicherer15 .

5 Ist dies eine GmbH, genügt entsprechendes Verhältnis zum Alleingesellschafter (BGH v. 27.10.1993 – IV ZR 33/93, NJW 1994, 585) oder Geschäftsführer (OLG Düsseldorf v. 20.4.1993 – 22 W 10/93, NJW-RR 1993, 1122) nicht. 6 Prölss/Martin/Armbrüster § 86 Rz. 84. 7 BGH v. 17.3.1954 – VI ZR 162/52, BGHZ 13, 28; BGH v. 30.9.1957 – III ZR 76/55, BGHZ 25, 340; BGH v. 18.1.1966 – VI ZR 147/64, BGHZ 44, 382. 8 BGH v. 8.12.1981 – VI ZR 153/80, NJW 1982, 828. 9 BGH v. 8.12.1981 – VI ZR 153/80, NJW 1982, 828; BGH v. 12.1.1982 – VI ZR 265/80, NJW 1982, 829. 10 BGH v. 12.1.1982 – VI ZR 265/80, NJW 1982, 829; BGH v. 29.1.1985 – VI ZR 59/84, VersR 1985, 441. 11 BGH v. 12.1.1982 – VI ZR 265/80, NJW 1982, 829; a.A. Müller VersR 1989, 320. 12 OLG Hamm v. 17.10.2019 – 28 U 184/18, r+s 2020, 392; zum vergleichbaren Fall in der Rechtsschutzversicherung s. BGH v. 23.7.2019 – VI ZR 307/18, NJW 2019, 3003. 13 BGH v. 8.12.1981 – VI ZR 153/80, NJW 1982, 827; Groß DAR 1999, 338; a.A. Müller VersR 1989, 320. 14 OLG Hamm v. 10.1.2000 – 6 U 191/99, NZV 2000, 373. 15 BGH v. 18.10.2018 – III ZR 236/17, NJW 2019, 150.

1082 | Zwickel

II. Sach- und Personenversicherung | Rz. 38.11 § 38

b) Beschränkter Rückgriff Beschränkt ist der Rückgriff gegen den berechtigten Fahrer und andere in der Haftpflichtversicherung mitversicherte Personen sowie gegen den Mieter und den Entleiher des versicherten Fahrzeugs; er findet hier nach Nr. A.2.8. AKB 2015 nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit statt.16 Besteht zwischen dem Kaskoversicherer und dem Haftpflichtversicherer des Schädigers ein Teilungsabkommen, ist der Regress entsprechend begrenzt (näher Rz. 16.58 ff.).17

38.7

c) Quotenvorrecht des Versicherungsnehmers Wird der Schaden des Versicherungsnehmers durch die Kaskoversicherung nur teilweise gedeckt (z.B. wegen Selbstbeteiligung) und bleibt auch die Schadensersatzforderung gegen den Schädiger (z.B. wegen Mitverantwortlichkeit des Verletzten) hinter dem Schaden zurück, so würde der Forderungsübergang nach § 86 Abs. 1 VVG dazu führen, dass der Geschädigte einen Teil seines Schadens selbst tragen müsste. Dies wäre mit dem Zweck des Versicherungsvertrages nicht zu vereinbaren. Die herrschende Differenztheorie gewährt dem Versicherungsnehmer daher das Quotenvorrecht: Der Schadensersatzanspruch verbleibt dem Geschädigten insoweit, als er vom Versicherer nicht entschädigt worden ist, und nur der darüber hinausgehende Anspruch geht auf den Versicherer über.18

38.8

Beträgt z.B. der Schaden des Versicherungsnehmers € 5.000, die Versicherungsleistung wegen Selbstbeteiligung € 4.500 und der Anspruch gegen den Schädiger wegen hälftigen Mitverschuldens nur € 2.500, so verbleibt dieser Anspruch i.H.v. € 500 dem Verletzten und geht nur i.H.v. € 2.000 auf den Versicherer über.

38.9

Bezieht sich der Ersatzanspruch des Geschädigten auf kongruente und inkongruente Schadenspositionen (vgl. hierzu Rz. 38.5 f.), so muss der dem Geschädigten verbleibende Betrag für beide gesondert ermittelt werden, weil sich das Quotenvorrecht ebenso wie der Forderungsübergang nach § 86 Abs. 1 VVG nur auf die kongruenten Schäden erstrecken kann.19 Der Geschädigte erhält von den inkongruenten Schäden (Sachfolgeschäden) den seiner Mitverantwortungsquote entsprechenden Teil und von den kongruenten Schäden (unmittelbaren Sachschäden) den Teil, der nach Abzug der Leistung der Kaskoversicherung zur vollständigen Deckung fehlt. Dieser Grundsatz „Kongruenz vor Differenz“ ist nicht nur bei Mitverschulden, sondern auch bei Überschreitung einer nicht in kongruente und inkongruente Teile spaltbaren Haftungshöchstsumme anwendbar, denn sonst fände die ohne Haftungshöchstsumme mögliche Aufteilung keinerlei Berücksichtigung.20

38.10

Beispiel: Gesamtschaden € 12.000, davon € 10.000 kongruent, € 2.000 inkongruent; Kaskoversicherung leistet wegen Selbstbeteiligung nur € 9.000; Ersatzanspruch gegen den Schädiger beläuft sich wegen hälftigen Mitverschuldens auf € 5.000; dem Geschädigten stehen dann € 1.000

38.11

16 S. dazu BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 185/04, NZV 2005, 457, 459 (keine grobe Fahrlässigkeit trotz vorsätzlicher Zuwiderhandlung). 17 Zu prozessualen Auswirkungen OLG Saarbrücken v. 1.12.1989 – 3 U 114/88, NZV 1990, 118. 18 BGH v. 17.3.1954 – VI ZR 162/52, BGHZ 13, 28; BGH v. 30.9.1957 – III ZR 76/56, BGHZ 25, 340; Groß DAR 1999, 338 f.; kritisch Ebert/Segger VersR 2001, 143 ff. 19 BGH v. 30.9.1957 – III ZR 76/56, BGHZ 25, 340; BGH v. 15.10.1981 – X ZR 2/81, NJW 1982, 830. 20 Wie hier Prölss/Martin/Armbrüster § 86 Rz. 54; a.A. Matz VersR 2008, 1451.

Zwickel | 1083

§ 38 Rz. 38.11 | Regress der Privatversicherer

(Hälfte des inkongruenten Schadens) + € 1.000 (kongruenter Schaden abzgl. Versicherungsleistung), mithin € 2.000 zu, und nur der Rest der Ersatzforderung von € 3.000 geht auf den Kaskoversicherer über.

38.12

Zur Berechnung des auf den Versicherer übergegangenen Schadensersatzanspruchs müssen also abgezogen werden: – der außerhalb des versicherten Risikos liegende Schaden; – der vom Versicherer nicht gedeckte Kaskoschaden.

38.13

Hat der Kaskoversicherer mehr an den Geschädigten geleistet als dieser vom Schädiger verlangen kann, so greift ebenfalls ein Quotenvorrecht des Versicherungsnehmers ein. Der Geschädigte kann daher auch dann einen etwaigen Selbstbehalt voll vom Schädiger verlangen, und nur der überschießende Anspruch geht auf den Versicherer über.21

38.14

Beträgt z.B. der nach den Versicherungsbedingungen errechnete Schaden € 10.000, der vom Schädiger zu ersetzende Schaden hingegen € 9.000, und hat der Versicherer unter Abzug der Selbstbeteiligung dem Geschädigten € 9.000 erstattet, so kann dieser vom Schädiger noch € 1.000 beanspruchen, während nur die restliche Schadensersatzforderung von € 8.000 auf den Versicherer übergeht.

4. Besonderheiten bei der Krankenversicherung 38.15

Zur Kongruenz vgl. Rz. 35.23 ff. Dem Verletzten steht das Quotenvorrecht zu (zum Begriff s. Rz. 35.64 ff.); das bedeutet, dass der Privatversicherer den Forderungsübergang nur in derjenigen Höhe gegenüber dem Schädiger geltend machen darf, die es dem Verletzten gestattet, durch Geltendmachung des nicht übergegangenen Teils der Forderung den Teil der Heilungskosten voll abzudecken, den ihm der Versicherer nicht erstattet hat und nicht erstatten muss. Versicherer und Versicherungsnehmer sind also nicht Gesamtgläubiger; dies kommt zur Auswirkung, wenn zu ihrer Befriedigung keine für beide ausreichende Summe zur Verfügung steht.22 Die Leistungen des Privatversicherers wirken sich nicht schadensmindernd aus.

III. Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung 1. Regress gegen Dritte 38.16

Hat der Versicherungsnehmer, für dessen Haftpflicht der Versicherer eingetreten ist, aufgrund des Unfalls einen Schadensersatzanspruch gegen einen Dritten, geht dieser Anspruch nach § 86 Abs. 1 VVG auf den Versicherer über, denn auch die Haftpflichtversicherung ist Schadensversicherung. Darunter fällt insbesondere der Ausgleichsanspruch nach § 426 BGB für einen gesamtschuldnerisch haftenden Mitverursacher des Unfalls (näher Rz. 15.41). An dieser Konstellation fehlt es jedoch, wenn der Schaden durch einen Dieb des Kfz verursacht wurde

21 BGH v. 4.4.1967 – VI ZR 179/65, BGHZ 47, 308; Groß DAR 1999, 339. 22 BGH v. 17.3.1954 – VI ZR 162/52, BGHZ 13, 28; BGH v. 3.9.1957 – III ZR 76/56, BGHZ 25, 340; BGH v. 18.1.1966 – VI ZR 147/64, BGHZ 44, 382; BGH v. 4.4.1967 – VI ZR 179/65, BGHZ 47, 308.

1084 | Zwickel

III. Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung | Rz. 38.17 § 38

und der Versicherer nur dem Geschädigten gegenüber gem. § 117 Abs. 1 VVG leistungspflichtig ist.23

2. Regress gegen den eigenen Versicherungsnehmer § 86 VVG gilt hier nicht, da der Versicherungsnehmer nicht „Dritter“ ist. Eine Schadloshaltung des Haftpflichtversicherers beim eigenen Versicherungsnehmer wäre mit dem Zweck dieser Versicherung auch nicht zu vereinbaren. Dies gilt aber nur im intakten Versicherungsverhältnis. Muss der Haftpflichtversicherer gegenüber dem Geschädigten regulieren, obwohl er wegen einer Störung im Innenverhältnis dem Versicherungsnehmer gegenüber leistungsfrei ist (§ 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 117 Abs. 1 VVG; vgl. Rz. 15.43), kann er bei ihm Regress nehmen (§ 116 Abs. 1 S. 2 VVG i.V.m. § 426 Abs. 1 BGB).24 Auf Leistungsfreiheit wegen Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit kann sich der Versicherer jedoch nur nach Maßgabe des § 28 VVG berufen. Nach der Reform des VVG gilt ein weniger strenger Maßstab für die Annahme einer Obliegenheitsverletzung als nach § 6 VVG a.F.25 Leistungsfreiheit ist nach § 28 Abs. 2 S. 1 VVG grundsätzlich nur bei Vorsatz des Versicherungsnehmers anzunehmen. Bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung angemessen, im Einzelfall vollständig,26 zu kürzen (§ 28 Abs. 2 S. 2 VVG).27 Eine vollständige Leistungsfreiheit gem. § 28 Abs. 2 S. 2 VVG nimmt die Rspr. insbesondere im Fall der Verursachung eines Unfalls im Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit, d.h. oberhalb von 1,1 Promille, an.28 Anders als i.R.d. § 6 VVG a.F. muss der Versicherer bei Verletzung einer vor Eintritt des Versicherungsfalles zu erfüllenden Obliegenheit nicht kündigen, um sich auf Leistungsfreiheit berufen zu können.29 Der Versicherer wird gem. § 28 Abs. 3 VVG nicht leistungsfrei, wenn der Versicherungsnehmer den sog. Kausalitätsgegenbeweis führen kann, d.h. beweist, dass die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich ist. Dies gilt nicht bei arglistiger Obliegenheitsverletzung.30 Die Quotelung gem. § 28 Abs. 2 VVG ist vor Anwendung der Höchstbeträge der KfzPflVV (vgl. hierzu Rz. 38.19) vorzunehmen.31 Die Auffassung, die den Versicherungsnehmer bereits durch die Höchstgrenzen der KfzPflVV für ausreichend geschützt hält und daher auf eine Quotenbildung verzichten will,32 verkennt, dass mit der VVG-Reform bewusst ein Verschuldenselement in § 28 Abs. 2 VVG Einzug halten sollte.33 Auch eine Quotenbildung innerhalb der Haftungs-

23 Vgl. BGH v. 28.11.2006 – VI ZR 136/05, NJW 2007, 1208, auch zum Nichtbestehen eines Gesamtschuldverhältnisses zwischen dem Versicherer und einem außerhalb des Versicherungsverhältnisses stehenden Gehilfen des Diebes. 24 S. hierzu Höld VersR 2012, 284; Dickmann VersR 2012, 678. 25 S. hierzu die Vorauflage, § 35 Rz. 17. 26 BGH v. 11.1.2012 – IV ZR 251/10, NZV 2012, 225; zur entsprechenden Problemlage bei § 81 Abs. 2 VVG s. BGH v. 22.6.2011 – IV ZR 225/10, NJW 2011, 3299; BGH v. 11.1.2012 – IV ZR 251/10, VersR 2012, 341. 27 Schirmer VersR 2011, 289. 28 BGH v. 11.1.2012 – IV ZR 251/10, NZV 2012, 225; für weitere vertragliche Obliegenheiten s. Nr. D. AKB 2015. 29 Prölss/Martin/Armbrüster § 28 Rz. 171. 30 S. hierzu Nugel NZV 2008, 11; Knappmann VersR 2009, 186. 31 Wie hier Heß/Burmann NZV 2009, 7; Nugel/Wenker NZV 2012, 463. 32 Nugel NZV 2008, 11; Mergner NZV 2007, 388. 33 BR-Drucks. 707/06 v. 13.10.2006 (Gesetzentwurf zur VVG-Reform).

Zwickel | 1085

38.17

§ 38 Rz. 38.17 | Regress der Privatversicherer

höchstgrenzen ist abzulehnen, zumal die KfzPflVV nur die Leistungsfreiheit des Versicherers auf bestimmte Beträge beschränkt.

38.18

Die einen Regress ermöglichende Leistungsfreiheit des Versicherers kann sich zudem aus einer Verletzung der durch die VVG-Reform neu geschaffenen Obliegenheit zur Wahrung des Anspruches und zur Unterstützung des Versicherers (§ 86 Abs. 2 VVG) ergeben. Der Versicherungsnehmer hat ein Handeln zu unterlassen, das den Anspruch beeinträchtigt und angemessene Anspruchsverfolgungsmaßnahmen zu treffen. Zudem hat der Versicherungsnehmer den Versicherer durch Erteilung von Auskünften, die der Versicherer zur Durchsetzung des Anspruches benötigt, zu unterstützen. Die Leistungsfreiheit setzt voraus, dass die Obliegenheitsverletzung kausal gewesen ist, also der Versicherer ohne das Verhalten oder Unterlassen des Versicherungsnehmers in der Lage gewesen wäre, den Anspruch auch zu realisieren. Hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen differenziert § 86 Abs. 2 VVG nach vorsätzlicher (dann Leistungsfreiheit) und grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung (dann Quotelung).

38.19

Der Rückgriff gegen den eigenen Versicherungsnehmer wird durch die KfzPflVV nur der Höhe nach begrenzt, um einen existenzbedrohenden Regress zu vermeiden. Hat der Versicherungsnehmer eine Obliegenheit vor Eintritt des Versicherungsfalls (§ 28 Abs. 1 VVG; z.B. Fahren ohne Fahrerlaubnis oder trotz Fahruntauglichkeit) verletzt, richtet sich die Höchstgrenze nach Nr. D.2.3. AKB 2015, § 5 Abs. 3 KfzPflVV (z. Zt. 5.000 €); gegenüber einem Fahrer, der das Fahrzeug durch eine strafbare Handlung erlangt hat, gilt diese Begrenzung nicht (§ 5 Abs. 3 S. 2 KfzPflVV). Bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger, für die Regulierung relevanter Obliegenheitsverletzung nach dem Versicherungsfall (z.B. Verletzung der Aufklärungspflicht durch Unfallflucht)34 ist die Leistungsfreiheit (und damit der Regress) auf 2.500 €, bei besonders schwerwiegender, vorsätzlicher Verletzung auf 5.000 € begrenzt (Nr. E.2.3. u E.2.4. AKB 2015, § 6 KfzPflVV). Verminderte Steuerungsfähigkeit schließt allenfalls die Annahme einer besonders schwerwiegenden, nicht die einer vorsätzlichen Verletzung aus.35 Verursacht der Versicherungsnehmer bei einer Fahrt mehrere selbständige Schadensfälle mit anschließender Obliegenheitsverletzung, ist für jeden Fall der Regress bis zu den Höchstbeträgen des § 6 KfzPflVV möglich.36 Hat er sowohl vor als auch nach dem Versicherungsfall Obliegenheiten verletzt, können die Höchstbeträge addiert werden.37

3. Regress gegen Mitversicherte 38.20

Für die in den Haftpflichtversicherungsschutz einbezogenen Personen, insbesondere den Fahrer des versicherten Kfz (A.1.2. AKB 2015), gilt das Vorstehende im Grundsatz entsprechend.38 Anspruchsgrundlage für den Regress sind auch hier § 116 Abs. 1 S. 2 VVG i.V.m. § 426 Abs. 1 BGB und nicht etwa Vorschriften des Auftrags- bzw. Bereicherungsrechts.39 Eine gegenüber dem Versicherungsnehmer bestehende Leistungsfreiheit kann der Versicherer dem Mitversicherten nur unter den Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 VVG entgegenhalten.40

34 35 36 37 38

S. hierzu Straub DAR 2018, 5 mit Rechtsprechungsnachweisen. BGH v. 9.11.2005 – IV ZR 146/04, NJW 2006, 292. BGH v. 9.11.2005 – IV ZR 146/04, NJW 2006, 292. BGH v. 14.9.2005 – IV ZR 216/04, NZV 2006, 78. BGH v. 20.1.1971 – IV ZR 42/69, BGHZ 55, 281, 287; BGH v. 14.9.2005 – IV ZR 216/04, NZV 2006, 78, 79. 39 BGH v. 24.10.2007 – IV ZR 30/06, VersR 2008, 343. 40 Näher Bauer Die Kraftfahrtversicherung, 6. Aufl. 2010, Rz. 1000 ff.

1086 | Zwickel

III. Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung | Rz. 38.20 § 38

In Abweichung zur Rspr. zur Vorgängervorschrift § 158i VVG a.F.41 stellt § 123 Abs. 4 VVG nunmehr klar, dass ein Regress auch dann nicht zulässig ist, wenn das Versicherungsverhältnis zwar beendet ist, aber ein Fall der Nachhaftung des § 117 Abs. 2 VVG vorliegt. Das Haushaltsangehörigenprivileg nach § 86 Abs. 3 VVG ist auf den Rückgriff gegen ein mitversichertes Familienmitglied nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar.42

41 BGH v. 14.1.2004 – IV ZR 127/03, NJW 2004, 1250. 42 BGH v. 13.7.1988 – IVa ZR 55/87, VersR 1988, 1062; OLG Hamm v. 1.2.2006 – 20 U 212/05, VersR 2006, 965.

Zwickel | 1087

§ 39 Regress zwischen mehreren Haftpflichtigen

I. 1. a) b) c) d) 2. II. 1. a) b) c) d) e) f) 2.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . Deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . . . Gefährdungshaftung . . . . . . . . . . . . . Führerhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlich-rechtliche Ersatzansprüche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwägungsprinzipien . . . . . . . . . . . . Ausgleichsanspruch . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . Mehrheit von Schuldnern . . . . . . . . . Abschließende Zuweisung der Haftungsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zu eigenem Schadensersatzanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Verjährung des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängigkeit von der Außenhaftung des Mitschädigers . . . . . . . . . . . Einfluss einer Haftungsfreistellung oder -verschärfung . . . . . . . . . . . . . . .

39.1 39.1 39.1 39.2 39.3 39.4 39.5 39.10 39.10 39.10 39.11 39.12 39.13 39.14 39.15

a) Nach dem Unfall vereinbarter Erlass b) Haftungsverzicht vor dem Unfall . . . c) Unfallversicherungs- bzw. Versorgungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Angehörigen- bzw. Haushaltsangehörigenprivileg . . . . . . . . . . . . . . . . f) Sonstige Haftungsprivilegierungen . . g) Verschärfte Gefährdungshaftung . . . 3. Bemessung des Ausgleichsanspruchs a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abhängigkeit von der Ersatzpflicht gegenüber dem Geschädigten . . . . . . c) Einfluss der tatsächlichen Zahlung an den Geschädigten . . . . . . . . . . . . . 4. Mehrheit von Mitschädigern . . . . . . . a) Grundsatz des Teilregresses . . . . . . . b) Insolvenz des Mitschädigers . . . . . . . c) Haftungs- und Zurechnungseinheit . 5. Bindung an Urteil im Haftungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39.17 39.18 39.19 39.20 39.21 39.22 39.24 39.25 39.25 39.26 39.27 39.28 39.28 39.30 39.31 39.34

39.16

§ 426 BGB (1) Die Gesamtschuldner sind im Verhältnis zueinander zu gleichen Anteilen verpflichtet, soweit nicht ein anderes bestimmt ist. Kann von einem Gesamtschuldner der auf ihn entfallende Beitrag nicht erlangt werden, so ist der Ausfall von den übrigen zur Ausgleichung verpflichteten Schuldnern zu tragen. (2) Soweit ein Gesamtschuldner den Gläubiger befriedigt und von den übrigen Schuldnern Ausgleichung verlangen kann, geht die Forderung des Gläubigers gegen die übrigen Schuldner auf ihn über. Der Übergang kann nicht zum Nachteil des Gläubigers geltend gemacht werden. § 840 BGB (1) Sind für den aus einer unerlaubten Handlung entstehenden Schaden mehrere nebeneinander verantwortlich, so haften sie als Gesamtschuldner. (2) Ist neben demjenigen, welcher nach den §§ 831, 832 zum Ersatz des von einem anderen verursachten Schadens verpflichtet ist, auch der andere für den Schaden verantwortlich, so ist in ihrem Verhältnis zueinander der andere allein, im Falle des § 829 der Aufsichtspflichtige allein verpflichtet. (3) Ist neben demjenigen, welcher nach den §§ 833 bis 838 zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist, ein Dritter für den Schaden verantwortlich, so ist in ihrem Verhältnis zueinander der Dritte allein verpflichtet.

Greger | 1089

§ 39 Rz. 39.1 | Regress zwischen mehreren Haftpflichtigen § 17 StVG, § 13 HaftpflG s. unter § 25 § 19 StVG s. unter § 3 §§ 18, 19a StVG s. unter § 4

I. Überblick 1. Rechtsgrundlagen a) Deliktische Haftung 39.1

Wenn für einen Unfallschaden mehrere nach §§ 823 ff. BGB verantwortlich sind, haften sie dem Geschädigten als Gesamtschuldner (§ 840 Abs. 1 BGB). Wurde einer der Gesamtschuldner in Anspruch genommen, kann er von den Mitschädigern nach § 426 BGB Ausgleich verlangen, wobei er sich seinen eigenen Haftungsanteil anrechnen lassen muss (s. Rz. 39.5 ff.). Für das Zusammentreffen deliktischer Verschuldenshaftung mit der Haftung für Verrichtungsgehilfen, Aufsichtsbedürftige, Tiere oder Gebäude (§§ 831 bis 838 BGB) trifft § 840 Abs. 2 u. 3 BGB besondere Regelungen (s. Rz. 39.7).

b) Gefährdungshaftung 39.2

§ 840 Abs. 1 BGB gilt für die Gefährdungshaftung entsprechend.1 Für den Innenausgleich zwischen mehreren gesamtschuldnerisch haftenden Kfz-Haltern, Bahnunternehmern oder Anlagenbetreibern enthalten § 17 Abs. 1 StVG und § 13 Abs. 1 HaftpflG eine dem § 254 BGB entsprechende Regelung (s. dazu Rz. 39.10 ff.). § 17 Abs. 1 StVG gilt entsprechend, wenn die Haftung des Kfz-Halters mit der Haftung für ein Tier oder eine Eisenbahn zusammentrifft (§ 17 Abs. 4 StVG). Im Verhältnis zwischen den in Anspruch genommenen Haltern von Zugfahrzeug und Anhänger desselben Gespanns gilt, da dieses eine Betriebseinheit bildet (s. Rz. 3.113), nicht § 17 Abs. 4 StVG, sondern § 426 BGB.2 § 19 Abs. 4 StVG n.F. stellt dies in Satz 1 ausdrücklich klar und regelt in Satz 2 – 4 für Unfälle ab 17.7.2020 (§ 65 StVG n.F.) die Haftungsverteilung abweichend von der bisherigen Rechtslage. Während bisher nach der Rechtsprechung des BGH beide Halter hälftig hafteten, ist nach der Neuregelung der Halter des Zugfahrzeugs in voller Höhe ausgleichspflichtig, sofern sich bei dem Unfall nicht eine höhere Gefahr des Anhängers verwirklicht hat, die nicht allein durch dessen Mitführen begründet wird, sondern z.B. durch einen technischen Defekt des Anhängers oder den Verlust von Ladung. Zum Ausgleich zwischen den Haftpflichtversicherern s. Rz. 15.6).

c) Führerhaftung 39.3

Für das Verhältnis des Kfz-Führers zu den Haltern und Führern anderer beteiligter Kfz, zu Tierhaltern oder Eisenbahnunternehmern ist der Innenausgleich in § 18 Abs. 3 StVG, für 1 MünchKomm-BGB/Wagner § 840 Rz. 6 m.w.N. 2 Langenick NZV 2011, 579 f.; s. auch OLG Hamburg v. 22.6.2007 – 14 U 202/06, DAR 2008, 649.

1090 | Greger

I. Überblick | Rz. 39.7 § 39

den Führer eines Gespanns (Zugfahrzeug mit Anhänger) nunmehr in § 19a Abs. 2 Satz 1 StVG n.F. geregelt, jeweils durch Verweisung auf § 17 StVG (s. dazu Rz. 39.10 ff.). Wurde der Unfall durch einen Anhänger verursacht, der im Unfallzeitpunkt nicht mit einem Zugfahrzeug verbunden war (s. Rz. 3.116), haftet der Führer des Anhängers im Verhältnis zu anderen Unfallbeteiligten der genannten Art wie der Führer eines Kfz (§ 18 Abs. 3 StVG; bei Unfällen ab 17.7.2020 gem. § 19a Abs. 3 i.V.m § 19 Abs. 6 StVG), muss sich also ggf. die Betriebsgefahr des Anhängers entgegenhalten lassen. – Im Verhältnis zwischen Halter und Führer desselben Kfz regelt sich der Innenausgleich nach § 426 BGB, sofern zwischen ihnen keine vertraglichen Beziehungen bestehen (s. Rz. 4.36). Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen dem Führer eines Gespanns und den Haltern von Zugfahrzeug und Anhänger (so jetzt § 19a Abs. 2 Satz 2 StVG n.F.). Dabei ist für Unfälle ab 17.7.2020 die Regelung des § 19 Abs. 2 bis 4 StVG n.F. zu beachten, wonach die Betriebsgefahr des Anhängers nur zu Buche schlagen soll, wenn sie die Gesamtgefahr des Gespanns erhöht hat.3

d) Öffentlich-rechtliche Ersatzansprüche. Bestehen nach dem Polizei- und Ordnungsrecht Ersatzansprüche gegen mehrere Störer (z.B. für den Feuerwehreinsatz zur Beseitigung von Ölspuren nach einem Unfall) und hat die Behörde nur einen von ihnen mittels Leistungsbescheid in Anspruch genommen, so hat dieser einen Ausgleichsanspruch gem. § 426 Abs. 1 BGB nur dann, wenn die ordnungsrechtlichen Vorschriften eine gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Störer anordnen.4 Fehlt es hieran, kann der in Anspruch Genommene auch keinen Aufwendungsersatz wegen Geschäftsführung ohne Auftrag geltend machen, denn er hat kein fremdes Geschäft geführt.5

39.4

2. Abwägungsprinzipien Nach § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB ist die Haftung im Innenverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern grundsätzlich nach Kopfteilen zu bemessen. Im Haftungsrecht tritt an die Stelle dieses Prinzips die Abwägung nach den Umständen entsprechend § 254 BGB.6 Im Einzelnen dazu s. Rz. 25.125 ff.

39.5

Beim Innenausgleich ist auch die mitwirkende Betriebsgefahr des Kfz bzw. Bahnbetriebs zu berücksichtigen (s. Rz. 25.3; zu Einzelheiten s. Rz. 25.87 ff.; zur Höhenbegrenzung s. Rz. 25.97). Der Insasse eines Kfz braucht sich die Betriebsgefahr des benützten Kfz nicht entgegenhalten zu lassen, sondern lediglich ein eigenes Verschulden nach § 254 BGB (s. Rz. 25.90). Zu Lasten des nach § 18 StVG haftenden Fahrers ist die mitwirkende Betriebsgefahr dagegen auch im Innenverhältnis zu berücksichtigen (s. Rz. 25.89).

39.6

Nach § 840 Abs. 2 BGB haftet im Verhältnis zwischen Verrichtungsgehilfe und Dienstherr sowie zwischen Aufsichtsbedürftigem und Aufsichtspflichtigem der für den Schaden unmittelbar Verantwortliche allein. Der Unternehmer kann also gegen seinen Mitarbeiter, die Eltern können gegen ihr Kind vollen Rückgriff nehmen, sofern die Genannten auch im Außenverhältnis haften. Überlagert wird diese Regelung jedoch durch die Grundsätze über den

39.7

3 BT-Drucks. 19/17964, 20. A.A. Bauer-Gerland VersR 2020, 146, 148 mit der Folge einer Divergenz von Außenhaftung und Innenausgleich. 4 BGH v. 10.7.2014 – III ZR 441/13, NJW 2014, 2730. 5 BGH v. 10.7.2014 – III ZR 441/13, NJW 2014, 2730 Tz. 11. 6 BGH v. 29.6.1972 – VII ZR 190/71, NJW 1972, 1802, 1803 m.w.N.

Greger | 1091

§ 39 Rz. 39.7 | Regress zwischen mehreren Haftpflichtigen

innerbetrieblichen Schadensausgleich (s. Rz. 16.41, 22.67 ff.) und die familiäre Fürsorgepflicht (s. Rz. 22.65). Trifft bei einer Verletzung des Kindes die Haftung der Eltern aus Verletzung einer Schutzpflicht mit der Haftung eines Dritten zusammen, ist § 840 Abs. 2 BGB nicht anwendbar, da die Haftung nicht aus § 832 BGB, sondern aus § 823 Abs. 1 BGB folgt. Die Eltern sind somit ausgleichspflichtig, sofern sie sich nicht ausnahmsweise auf § 1664 BGB berufen können (s. Rz. 39.22); u.U. kann jedoch der Grundsatz zum Tragen kommen, dass der Haftungsanteil eines Täters gegenüber dem Unterlassen eines Obhutspflichtigen wesentlich stärker ins Gewicht fällt.7

39.8

§ 840 Abs. 3 BGB regelt einen Vorrang verschuldensabhängiger Haftung vor bestimmten Formen verschuldensunabhängiger Haftung. Neben demjenigen, der nur für die von einem Tier ausgehende Gefahr einzustehen hat (§§ 833 f. BGB; s. Rz. 9.1 ff.) und dem für vermutetes Verschulden haftenden Gebäudeverantwortlichen (§§ 836 ff. BGB; s. Rz. 13.114) ist ein aus Delikt haftender – nicht ein seinerseits verschuldensunabhängig haftender8 – Gesamtschuldner im Innenverhältnis allein zur Schadenstragung verpflichtet. Hieraus ist jedoch kein allgemeiner Grundsatz abzuleiten, dass im Innenverhältnis die Gefährdungshaftung von der Deliktshaftung verdrängt wird.9 Die nach § 7 StVG bzw. § 1 HaftpflG für Betriebsgefahr haftenden Kfz-Halter bzw. Bahnunternehmer können sich nicht auf einen Nachrang ihrer Haftung berufen;10 hier gelten vielmehr die besonderen Abwägungsregelungen in § 17 StVG bzw. § 13 HaftpflG.

39.9

Kann ein Unfallhelfer erlittene Schäden sowohl von dem für die Betriebsgefahr des Fahrzeugs Haftenden als auch vom Geretteten aus Geschäftsführung ohne Auftrag ersetzt verlangen (s. Rz. 17.15), steht dem Ersteren bzw. dessen Rechtsnachfolger ein Ausgleichsanspruch nach § 426 BGB gegen den Geretteten zu.11

II. Ausgleichsanspruch 1. Grundlagen a) Rechtliche Einordnung 39.10

§ 17 Abs. 1 StVG und § 13 Abs. 1 HaftpflG sind Sondervorschriften gegenüber § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB. Sie setzen wie dieser voraus, dass der bei dem Unfall geschädigte Dritte einen gesamtschuldnerischen Schadensersatzanspruch (gleich ob nach StVG oder anderen Vorschriften) sowohl gegen denjenigen hat (bzw. hatte), der Ausgleichung verlangt, als auch gegen denjenigen, von dem Ausgleichung verlangt wird (zu Ausnahmen s. Rz. 39.16 ff.). Der Forderungsübergang nach § 426 Abs. 2 BGB findet auch hier statt, hat jedoch keine praktische Bedeutung, weil die Forderung des Gläubigers in der Regel nicht gesichert ist, so dass die Rechtsposition des Regressgläubigers nicht gestärkt wird.

Vgl. BGH v. 22.4.1980 – VI ZR 134/78, NJW 1980, 2348, 2349. OLG Hamm v. 13.7.1957 – 3 U 54/57, NJW 1958, 346; MünchKomm-BGB/Wagner § 840 Rz. 21. Staudinger/Vieweg § 840 Rz. 80 m.w.N. BGH v. 23.6.1952 – III ZR 297/51, BGHZ 6, 319; Erman/Schiemann § 840 Rz. 11; MünchKommBGB/Wagner § 840 Rz. 22; a.A. ohne Auseinandersetzung mit der bisherigen Rspr. und h.L. BGH v. 18.12.2007 – VI ZR 235/06, NZV 2008, 289, 292. 11 OLG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 1 U 31/10, NZV 2011, 393. Zur Bemessung s. Rz. 39.25. 7 8 9 10

1092 | Greger

II. Ausgleichsanspruch | Rz. 39.14 § 39

b) Mehrheit von Schuldnern Mehrere Ausgleichspflichtige stehen dem Regressnehmenden grundsätzlich nicht als Gesamtschuldner gegenüber, d.h. er kann im Regelfall von jedem nur den auf ihn treffenden Bruchteil verlangen (s. Rz. 39.28 ff.). Anders verhält es sich lediglich, wenn mehrere Gesamtschuldner eine Haftungseinheit bilden (z.B. Halter und Fahrer desselben Kfz; s. Rz. 39.32 f.).

39.11

c) Abschließende Zuweisung der Haftungsquote Ein Mitschädiger kann nur insoweit Ausgleich von den anderen Gesamtschuldnern verlangen, als er über die auf ihn entfallende Haftungsquote hinaus in Anspruch genommen wurde; er kann auch nicht etwa über die Deliktsvorschriften Erstattung der ihm zugewiesenen Quote von einem Mitschädiger verlangen12 oder aufgrund rechtsgeschäftlicher Abtretung des Ersatzanspruchs des Geschädigten in voller Höhe gegen einen anderen Gesamtschuldner vorgehen.13

39.12

d) Verhältnis zu eigenem Schadensersatzanspruch Auch der selbst beim Unfall verletzte oder geschädigte Verkehrsteilnehmer ist denjenigen Unfallbeteiligten ausgleichspflichtig, die von dritten Unfallbeteiligten zum Schadensersatz herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn der Verletzte Halter oder Führer eines unfallbeteiligten Kfz war. Er hat allerdings die Möglichkeit, mit seinen Schadensersatzansprüchen aufzurechnen. Desgleichen hat ein Verletzter ein von seinem eigenen Schadensersatzanspruch unabhängiges Recht auf Ausgleich, wenn er Dritten ihren Schaden bezahlt hat oder ersetzen muss.

39.13

e) Entstehung und Verjährung des Anspruchs Die Ausgleichspflicht ist eine selbständige Verpflichtung und entsteht in dem Augenblick, in dem die Gesamtschuld entsteht. Dies ist der Fall bei der Entstehung des Schadens, in der Regel also schon beim Unfall, nicht erst durch die Befriedigung des Gläubigers.14 Der Anspruch ist zunächst auf Mitwirkung und Befreiung gerichtet und wandelt sich nach Befriedigung des Gläubigers in einen Zahlungsanspruch um.15 Er kann somit als Befreiungsanspruch bereits geltend gemacht werden, ehe der Gläubiger befriedigt worden ist.16 Für die Verjährung ist dementsprechend nicht die Zahlung des Ausgleichsberechtigten, sondern die Entstehung der Gesamtschuld maßgeblich.17 Ob der Ausgleichsanspruch in diesem Zeitpunkt bereits beziffert werden und Gegenstand einer Leistungsklage sein kann, ist ohne Bedeutung; für später eingetretene Schadensfolgen gilt auch hier der Grundsatz der Schadenseinheit (s. Rz. 24.21 ff.).18

12 Vgl. BGH v. 31.1.1978 – VI ZR 32/77, VersR 1978, 463, 465. 13 BAG v. 10.5.1990 – 9 AZR 209/89, NJW 1990, 3230. 14 BGH v. 27.6.1961 – VI ZR 205/60, BGHZ 35, 317, 325; BGH v. 18.6.2009 – VII ZR 167/08, NJW 2010, 60. 15 BGH v. 18.6.2009 – VII ZR 167/08, NJW 2010, 60. 16 BGH v. 22.10.1957 – VI ZR 231/56, NJW 1958, 497. 17 BGH v. 18.6.2009 – VII ZR 167/08, NJW 2010, 60. Näher Pfeiffer NJW 2010, 23 ff. 18 BGH v. 8.11.2016 – VI ZR 200/15, MDR 2017, 149.

Greger | 1093

39.14

§ 39 Rz. 39.15 | Regress zwischen mehreren Haftpflichtigen

f) Unabhängigkeit von der Außenhaftung des Mitschädigers 39.15

§ 426 BGB ist auch anwendbar, wenn das Außenverhältnis zwischen dem Gläubiger und den Gesamtschuldnern öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist und einer der Gesamtschuldner durch bestandskräftigen Leistungsbescheid herangezogen wurde.19 Da der Ausgleichsanspruch als selbständiger Anspruch im Zeitpunkt des Unfalls entsteht, ist sein Bestand auch nicht vom weiteren Schicksal des Ersatzanspruchs des Geschädigten gegen den ausgleichspflichtigen Mitschädiger abhängig (zur Frage der Auswirkungen eines rechtskräftigen Urteils s. Rz. 39.34). Dem Ausgleichsanspruch steht daher z.B. nicht entgegen, dass der zum Ausgleich Herangezogene dem Geschädigten gegenüber Verjährung einwenden könnte, wenn dieser unmittelbar an ihn heranträte.20 Zu den Auswirkungen eines nachträglichen Erlasses der Schadensersatzforderung s. Rz. 39.17.

2. Einfluss einer Haftungsfreistellung oder -verschärfung 39.16

Ist ein Gesamtschuldner gegenüber dem Geschädigten durch Vertrag oder kraft Gesetzes von der Haftung befreit, so stellt sich die Frage, ob der auf Schadensersatz in Anspruch genommene Mitschädiger bei ihm Rückgriff nehmen kann (wodurch die Haftungsfreistellung obsolet wird). Alternativ käme in Betracht, dass der Mitschädiger den Schadensanteil des Freigestellten zu übernehmen oder dass der Geschädigte eine Kürzung seines Ersatzanspruchs um den betreffenden Anteil hinzunehmen hat. Diese umstrittene Frage ist für die verschiedenen Fälle der Haftungsfreistellung jeweils nach deren Sinn und Zweck zu entscheiden (s. Rz. 39.17 ff.).21 Zusätzliche Komplikationen ergeben sich, wenn zwischen den Schädigern vertragliche Regelungen über die Schadensverantwortlichkeit bestehen (s. Rz. 22.88).

a) Nach dem Unfall vereinbarter Erlass 39.17

Ein derartiger Vertrag (§ 397 BGB) wirkt zugunsten aller Gesamtschuldner, wenn dies von den Vertragschließenden gewollt ist, ansonsten nur gegenüber dem Vertragspartner (§ 423 BGB). In diesem Falle entscheidet ebenfalls die am Willen der Parteien orientierte Auslegung darüber, ob eine volle Inanspruchnahme der Mitschuldner möglich sein soll (dann auch interne Ausgleichspflicht des Begünstigten) oder ob der Anspruch gegen diese nur in Höhe ihres Schadensanteils bestehen bleiben soll. Wer aus dem Erlass eine Vergünstigung für sich herleiten will, hat den entsprechenden Vertragswillen zu beweisen.

b) Haftungsverzicht vor dem Unfall 39.18

Hat der Geschädigte mit dem Halter einen Haftungsverzicht vereinbart (s. Rz. 22.30 ff.; zur Gefälligkeitsfahrt s. Rz. 22.56 ff.), so ist er nach der Rechtsprechung des BGH nicht gehindert, einen mitverantwortlichen Halter eines anderen Kfz auf Ersatz seines vollen Schadens in Anspruch zu nehmen. Der in Anspruch Genommene kann vom anderen sodann in Höhe dessen Schadensbeitrags Ausgleich verlangen.22 Dies ist jedoch insofern unbefriedigend, als die Haftungsbefreiung im Ergebnis gegenstandslos wird, und zwar nur wegen des (mehr oder weni19 BGH v. 10.7.2014 – III ZR 441/13, NJW 2014, 2730 Tz. 19 f. 20 BGH v. 9.3.1972 – VII ZR 178/70, BGHZ 58, 216; BGH v. 9.7.2009 – VII ZR 109/08, NJW 2010, 62; BGH v. 25.11.2009 – IV ZR 70/05, NJW 2010, 435. 21 Krit. Luckey VersR 2002, 1213 ff. 22 BGH v. 3.2.1954 – VI ZR 153/52, BGHZ 12, 213; BGH v. 9.3.1972 – VII ZR 178/70, BGHZ 58, 216, 220.

1094 | Greger

II. Ausgleichsanspruch | Rz. 39.22 § 39

ger zufälligen) Umstands, dass neben dem Freigestellten noch ein Mitschädiger haftet. Das billige Ergebnis, dass der auf den Freigestellten entfallende Schadensbetrag letztlich vom Geschädigten selbst zu tragen ist, ließe sich – bei entsprechendem Willen der Parteien – so erreichen, dass in dem Verzichtsvertrag zugleich ein Vertrag zugunsten Dritter gesehen wird mit dem Inhalt, dass ein Mitschädiger nur in Höhe dessen Haftungsquote in Anspruch genommen werden kann. Hierbei ergibt sich allerdings das Problem, dass der Zweitschädiger von dem Verzicht oftmals keine Kenntnis haben und daher voll zahlen oder verurteilt werden wird.23 Als Lösung bietet sich an, dass dem Freigestellten aufgrund der Vereinbarung über den Verzicht ein Anspruch gegen den Verzichtenden auf Befreiung von der Ausgleichspflicht zuerkannt wird.24 Der freigestellte Halter könnte dann, wenn er von dem Mitschädiger auf Ausgleich in Anspruch genommen wird, beim Geschädigten Rückgriff nehmen (sog. Regresskreisel).

c) Unfallversicherungs- bzw. Versorgungsrecht Beim Haftungsausschluss nach §§ 104 ff. SGB VII bzw. den entsprechenden beamtenrechtlichen Vorschriften gilt grundsätzlich, dass der Mitschädiger nicht beim Arbeitgeber bzw. Kollegen des Geschädigten Rückgriff nehmen kann und sich der Ersatzanspruch gegen den Mitschädiger um den Verantwortungsanteil des Arbeitgebers bzw. Kollegen, Mitschülers usw. mindert.25 Dies gilt auch für den Schmerzensgeldanspruch.26 Näher hierzu und zu Ausnahmen s. Rz. 22.87 ff.

39.19

d) Arbeitsrecht Um die Privilegierung des Arbeitnehmers (s. Rz. 22.67 ff.) nicht durch den Rückgriff eines Mitschädigers illusorisch werden zu lassen, muss der Ersatzanspruch des Arbeitgebers um den Verantwortungsanteil des nicht haftenden Arbeitnehmers gemindert werden.27

39.20

e) Angehörigen- bzw. Haushaltsangehörigenprivileg Kann ein Versicherer oder Sozialversicherungsträger bei einem mitverantwortlichen Familien- oder Haushaltsangehörigen des Verletzten nach § 86 Abs. 3 VVG oder § 116 Abs. 6 SGB X keinen Regress nehmen, so ist sein Rückgriffsanspruch gegen einen Zweitschädiger insoweit ausgeschlossen, als dieser Ausgleichsansprüche gegen den Erstschädiger haben würde, wenn das Gesetz diesen nicht von seiner Haftung verschont hätte;28 s. auch Rz. 35.81, 35.89.

39.21

f) Sonstige Haftungsprivilegierungen Die Frage, inwieweit Haftungsprivilegierungen für Angehörige (§§ 1359, 1664 BGB),29 Gesellschafter (§ 708 BGB) oder bei der Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 2 BGB; s. Rz. 12.60 ff.) die 23 Schirmer AnwBl. 1987, 457, 465. 24 Zur Gesamtproblematik und den unterschiedlichen Lösungsansätzen in der Literatur s. Erman/ Böttcher § 426 Rz. 41. 25 BGH v. 12.6.1973 – VI ZR 163/71, BGHZ 61, 51. 26 BGH v. 2.4.1974 – VI ZR 193/73, VersR 1974, 888, 889. 27 OLG Karlsruhe v. 31.12.1968 – 5 U 58/68, OLGZ 1969, 158; Erman/Böttcher § 426 Rz. 35. 28 BGH v. 14.7.1970 – VI ZR 179/68, BGHZ 54, 256; BGH v. 20.5.1980 – VI ZR 185/78, VersR 1980, 939. 29 Vgl. hierzu BGH v. 1.3.1988 – VI ZR 190/87, BGHZ 103, 338 = JR 1989, 60 mit Anm. Dunz = JZ 1989, 45 mit Anm. Lange (mit Aufgabe der früheren Rspr. in BGH v. 27.6.1961 – VI ZR 205/60, BGHZ 35, 317).

Greger | 1095

39.22

§ 39 Rz. 39.22 | Regress zwischen mehreren Haftpflichtigen

Haftung eines Mitschädigers bzw. dessen Rückgriff beeinflussen, hat für den Bereich des Verkehrshaftpflichtrechts durch die neuere Rechtsprechung, der zufolge sie hier nicht anzuwenden sind (s. Rz. 10.57, 12.61), an Bedeutung verloren.30 Soweit sie dennoch zur Anwendung kommen (z.B. weil die Eltern keine aus ihrer Stellung als Verkehrsteilnehmer fließende Pflicht verletzt und die in eigenen Angelegenheiten übliche Sorgfalt angewendet haben), sind die Eltern auch einem weiteren Unfallverantwortlichen gegenüber nicht ausgleichspflichtig.31 Zum Zusammentreffen von Elternhaftung mit deliktischer Haftung eines Dritten s. auch Rz. 39.7.

39.23

Die aus § 1353 BGB entspringende Verpflichtung, bestimmte Schadensersatzansprüche gegen den Ehepartner nicht geltend zu machen (s. Rz. 22.65), berührt das Verhältnis zum Zweitschädiger ohnehin nicht. Dieser haftet dem Geschädigten voll als Gesamtschuldner und kann nach § 426 BGB bei dessen Ehepartner Regress nehmen; es bleibt dann der internen Regelung durch die Eheleute überlassen, ob und in welcher Weise sie sich entsprechend dem Sinn des § 1353 BGB untereinander ausgleichen.32

g) Verschärfte Gefährdungshaftung 39.24

Eine neue Rückgriffsproblematik hat sich durch die Einführung des gespaltenen Entlastungsbeweises nach § 7 Abs. 2 StVG (Entlastung nur bei höherer Gewalt) und § 17 Abs. 3 StVG (Entlastung gegenüber anderen Kfz-Haltern auch bei Unabwendbarkeit) ergeben (s. auch Rz. 3.267). Wird z.B. ein Fußgänger bei einem Verkehrsunfall verletzt, an dem zwei Kfz beteiligt sind, und haben beide Fahrer die größtmögliche Sorgfalt beachtet, so kann der Fußgänger jeden der beiden Kfz-Halter nach seiner Wahl in Anspruch nehmen. Hat ein Halter Schadensersatz geleistet, weil er – wie in der Regel – den Nachweis höherer Gewalt nicht führen kann, kann er nach § 17 Abs. 1, 3 StVG beim anderen Halter nicht Regress nehmen, weil dieser sich auf die Unabwendbarkeit berufen kann. Da die endgültige Schadenstragung aber nicht davon abhängen darf, welcher Halter vom Geschädigten in Anspruch genommen wurde oder diesen als erster befriedigt hat, darf der erleichterte Entlastungsbeweis nach § 17 Abs. 3 StVG hier nicht zum Tragen kommen.33

3. Bemessung des Ausgleichsanspruchs a) Allgemeines 39.25

Entscheidend für die interne Haftungsverteilung ist das Gewicht des jeweiligen Verursachungsbeitrags. In diesen fließt auch die Betriebsgefahr des beteiligten Bahn- oder Kraftfahrzeugs34 bzw. die Tiergefahr ein. Sie kann durch besondere Umstände, vor allem durch Verschulden des Halters bzw. Fahrers, erhöht sein. Hierbei muss es sich, wenn eine Erhöhung der Betriebsgefahr geltend gemacht werden soll, um erwiesenes Verschulden, nicht um lediglich nach § 18 StVG vermutetes handeln.35 Bei der Abwägung kann sich auch ergeben, dass der Verursachungsbeitrag eines Schädigers ganz zurücktritt, dieser also keinen Ausgleich zu leisten

30 Vgl. hierzu Muscheler JR 1994, 441 ff.; Bern NZV 1991, 449, 453; Fuchs NZV 1998, 7, 10 f. 31 BGH v. 1.3.1988 – VI ZR 190/87, BGHZ 103, 338 = JR 1989, 60 mit Anm. Dunz = JZ 1989, 45 mit Anm. Lange; OLG Hamm v. 20.1.1992, NJW 1993, 543; OLG Hamm v. 17.8.1993 – 27 U 144/92, NZV 1994, 68; krit. hierzu Sundermann JZ 1989, 927, 931 ff. 32 BGH v. 2.11.1982 – VI ZR 32/81, VersR 1983, 134 = JR 1983, 240 mit zust. Anm. Hohloch. 33 Ch. Huber § 4 Rz. 83; Ady VersR 2003, 1101, 1105. 34 BGH v. 10.7.2014 – III ZR 441/13, NJW 2014, 2730 Tz. 22. 35 Schirmer AnwBl. 1987, 457, 459.

1096 | Greger

II. Ausgleichsanspruch | Rz. 39.28 § 39

braucht bzw. (wenn er selbst in Anspruch genommen wurde) vollen Ausgleich erlangen kann. Im Verhältnis zwischen einem Primärschädiger (Unfallverursacher) und einem für eine Verschlimmerung der Unfallfolgen Verantwortlichen (z.B. fehlerhaft handelnder Arzt oder Sanitäter) sind die Beiträge zur Entstehung des Folgeschadens gegeneinander abzuwägen.36 Näher zur Abwägung s. Rz. 25.127 ff.

b) Abhängigkeit von der Ersatzpflicht gegenüber dem Geschädigten Außerhalb der Gesamtschuld liegende, d.h. einen Schädiger allein treffende Verpflichtungen werden nicht ausgeglichen.37 Schuldete der Gesamtschuldner, der dem Verletzten das Schmerzensgeld bezahlt hat, dieses allein, so kann er von den anderen Unfallbeteiligten hierfür keinen Ausgleich verlangen. Schuldeten alle Schädiger zusammen dem Verletzten nur Ersatz eines bestimmten Teils seines Schadens, so berechnen sich die von den Ausgleichspflichtigen zu zahlenden Anteile als Teile dieser Schadensquote.38

39.26

c) Einfluss der tatsächlichen Zahlung an den Geschädigten Zahlt einer der Schädiger dem Geschädigten nur einen Teil des Schadens, der unter dem Betrag liegt, der bei der Ausgleichung auf ihn entfiele, so kann er nicht etwa von den anderen Schädigern verlangen, dass sie quotenmäßig ihm den Teilbetrag teilweise vergüten; der Ausgleichsanspruch bezieht sich nur auf den Teil des Schadens, der die selbst zu tragende Quote übersteigt. Zahlt ein Schädiger mehr, als er (als Gesamtschuldner) schuldete, so erwirbt er insoweit keinen Ausgleichsanspruch nach § 17 Abs. 1 Satz 1 StVG.39 Auch ein Ausgleich unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag oder der ungerechtfertigten Bereicherung kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn mit der Zahlung an den Geschädigten eine eigene Verbindlichkeit (z.B. aus Vergleich) erfüllt wurde.40 Anders kann es sich insoweit allerdings verhalten, wenn ein Schädiger aus freien Stücken mehr als geschuldet (z.B. über die Grenze des § 12 StVG hinaus) gezahlt hat, auf Bereicherungsansprüche gegen den Zahlungsempfänger verzichtet und erklärt, dass die erbrachten Zahlungen, soweit sie über die eigene Schuld hinausgehen, als Zahlungen für den Mitverantwortlichen gelten sollen; in diesem Falle kommt ein Bereicherungsausgleich in Betracht.41

39.27

4. Mehrheit von Mitschädigern a) Grundsatz des Teilregresses Kann der in Anspruch genommene Schädiger von mehreren Mitschädigern Ausgleich fordern, so haften ihm diese grundsätzlich (Ausnahme s. Rz. 39.31) nicht als Gesamtschuldner, sondern jeweils nur in Höhe des auf sie entfallenden Schadensanteils.42 Dieser ist aufgrund

36 Vgl. OLG Düsseldorf v. 23.4.1998 – 8 U 1/97, OLGR Düsseldorf 1999, 119 (Freistellung des Arztes); OLG Köln v. 18.4.1996 – 18 U 101/95, NZV 1997, 357 (überwiegende Haftung des Arztes selbst bei grob fahrlässiger Unfallverursachung). 37 OLG Neustadt v. 23.1.1953 – 1 U 93/52, NJW 1953, 1264. 38 BGH v. 3.2.1954 – VI ZR 153/52, BGHZ 12, 213, 220. 39 BGH v. 26.4.1966 – VI ZR 221/64, VersR 1966, 664. 40 BGH v. 14.7.1964 – VI ZR 129/63, NJW 1964, 1898, 1899. 41 BGH v. 14.7.1964 – VI ZR 129/63, NJW 1964, 1898, 1899. 42 BGH v. 24.4.1952 – III ZR 78/51, BGHZ 6, 3, 25; Lange/Schiemann § 11A IV 2; Erman/Böttcher § 426 Rz. 2 m.w.N.

Greger | 1097

39.28

§ 39 Rz. 39.28 | Regress zwischen mehreren Haftpflichtigen

einer Gesamtabwägung zu ermitteln. Zu beachten ist hierbei, dass möglicherweise nicht mit jedem Mitschädiger eine Gesamtschuld in gleicher Höhe besteht. Zu den Problemen, die sich bei Nebentäterschaft und Mitverschulden des Geschädigten ergeben, s. Rz. 25.141 ff.

39.29

Kann der in Anspruch genommene Schädiger vollen Ausgleich verlangen, weil sein Verursachungsbeitrag völlig zurücktritt, so sollen ihm nach der Rechtsprechung die Mitschädiger gesamtschuldnerisch zum Ausgleich verpflichtet sein.43 Dies ist abzulehnen. Der Umstand, dass der betreffende Schädiger hundertprozentigen Ausgleich verlangen kann, ändert nichts daran, dass sein Anspruch ein Regress- und nicht ein Ersatzanspruch ist. Es besteht auch kein Anlass, dem Schädiger, der nach außen immerhin mithaften musste, im Innenverhältnis die Vergünstigungen einer gesamtschuldnerischen Regresshaftung zuzugestehen. Dass dies verfehlt ist, zeigt sich z.B. dann, wenn ein anderer Mitschädiger nur auf eine ganz geringe Quote haftet; der „privilegierte“ Schädiger könnte dann ihn voll in Anspruch nehmen und damit die Last des Teilregresses ohne rechtfertigenden Grund ihm zuschieben.

b) Insolvenz des Mitschädigers 39.30

In diesem Fall ist der Ausfall von den übrigen zur Ausgleichung Verpflichteten, einschließlich des Regressnehmenden, anteilsmäßig zu tragen (§ 426 Abs. 1 Satz 2 BGB).

c) Haftungs- und Zurechnungseinheit 39.31

Bei Beteiligung mehrerer Ausgleichspflichtiger an einer einheitlichen Schadensursache bilden diese eine sog. Haftungseinheit, d.h. sie haften dem Ausgleichsberechtigten gesamtschuldnerisch auf eine einheitliche Haftungsquote (s. Rz. 25.145 zur entsprechenden Situation bei der Mitverschuldensabwägung). Eine solche Haftungseinheit besteht z.B. zwischen Halter und Fahrer eines Kfz,44 zwischen Geschäftsherr und Verrichtungsgehilfe,45 aber auch zwischen sonstigen Schädigern, deren Verhalten sich in einem einheitlichen Ursachenbeitrag ausgewirkt hat.46 Der Ausgleichsberechtigte kann den auf eine solche Haftungseinheit entfallenden Schadensanteil von jedem Mitglied der Haftungseinheit, aber nur einmal fordern. Der Ausgleich innerhalb der Haftungseinheit richtet sich sodann nach den entsprechenden Regelungen (für das Verhältnis Geschäftsherr – Verrichtungsgehilfe s. § 840 Abs. 2 BGB).

39.32

Ist der Geschädigte neben einem oder mehreren Schädigern an einer einheitlichen Schadensursache beteiligt (sog. Zurechnungseinheit; s. Rz. 25.146) findet nach der Rechtsprechung zwischen dem oder den Schädiger(n), die mit dem Geschädigten für denselben Ursachenbeitrag verantwortlich sind, und dem oder den „außenstehenden“ Schädiger(n) kein Ausgleich statt, weil die jeweiligen Schadensanteile hier bereits bei der Haftung gegenüber dem Geschädigten voneinander geschieden sind.47 Es kann dann allenfalls zu einem Bereicherungsausgleich (§ 812 BGB) kommen, wenn der Außenstehende im Vorprozess in Verkennung der Zurechnungseinheit mit einer zu hohen Quote belastet worden ist.48 Diese Rechtsprechung

43 RG v. 7.6.1915 – VI 7/15, RGZ 87, 64, 67 f.; BGH v. 13.5.1955 – I ZR 137/53, BGHZ 17, 214, 222; dagegen zu Recht Lange/Schiemann § 11A IV 2 m.w.N. 44 BGH v. 26.4.1966 – VI ZR 221/64, NJW 1966, 1262; BGH v. 11.11.1969 – VI ZR 71/68, VersR 1970, 64; OLG Celle v. 22.3.1990 – 5 U 129/88, NZV 1990, 390, 391. 45 BGH v. 23.5.1989 – VI ZR 284/88, NZV 1989, 351. 46 BGH v. 18.9.1973 – VI ZR 91/71, BGHZ 61, 213, 218. 47 BGH v. 18.9.1973 – VI ZR 91/71, BGHZ 61, 213, 219. 48 BGH v. 18.4.1978 – VI ZR 81/76, VersR 1978, 735.

1098 | Greger

II. Ausgleichsanspruch | Rz. 39.34 § 39

ist jedoch abzulehnen; auch in diesen Fällen besteht ein ausgleichungspflichtiges Gesamtschuldverhältnis (s. Rz. 25.146). Eine solche Zurechnungseinheit bejaht der BGH z.B. für den Fahrer eines Kfz und dessen mitfahrenden Halter, so dass es zwischen dem Halter eines anderen am Unfall beteiligten Kfz und dem Fahrer nicht zu einer Ausgleichung bzgl. der dem mitfahrenden Halter entstandenen Schäden kommen kann.49 Weitere Beispiele s. Rz. 25.147.

39.33

5. Bindung an Urteil im Haftungsprozess Werden zwei einfache Streitgenossen rechtskräftig zur Zahlung von Schadensersatz als Gesamtschuldner verurteilt, steht ihre Haftung zwar im Verhältnis zum Gläubiger, nicht aber im Verhältnis zwischen ihnen rechtskräftig fest. Jeder von ihnen kann im nachfolgenden Rechtsstreit um den Innenausgleich die Haftung dem Gläubiger gegenüber und damit auch das Bestehen eines Gesamtschuldverhältnisses bestreiten.50 Zu einer Bindungswirkung kann es allenfalls nach § 68 ZPO kommen, wenn sich der Mitschädiger an dem Rechtsstreit als Nebenintervenient beteiligt oder wenn der Beklagte des damaligen Prozesses dem jetzigen Beklagten rechtzeitig den Streit verkündet hatte. Ist dies nicht der Fall, kann das Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass es an einem Ausgleichsanspruch schon deshalb fehlt, weil der jetzige Kläger zu Unrecht zur Zahlung an den Verletzten verurteilt wurde. Ist die Klage des Verletzten gegen den einen der Gesamtschuldner abgewiesen worden, so kann dieser einem anderen Gesamtschuldner gleichwohl ausgleichspflichtig sein.51

49 BGH v. 26.4.1966 – VI ZR 221/64, NJW 1966, 1262 mit Anm. Dunz NJW 1966, 1810. 50 BGH v. 20.11.2018 – VI ZR 394/17, NJW 2019, 1751. 51 RG v. 16.11.1908 – VI 607/07, RGZ 69, 422, 426; BGH v. 22.9.1969 – VII ZR 116/67, VersR 1969, 1039.

Greger | 1099

39.34

Neunter Teil Verkehrshaftpflichtprozess § 40 Verfahrensrecht

I. Örtliche und internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. In Betracht kommende Gerichtsstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestimmung des Begehungs- bzw. Ereignisorts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationale Zuständigkeit . . . . . . . II. Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Widerklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . b) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Parteierweiternde Widerklage . . . . . . d) Isolierte Drittwiderklage . . . . . . . . . . 3. Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorrang der Leistungsklage . . . . . . . . b) Zukunftsschäden . . . . . . . . . . . . . . . . c) Haftungsbeschränkungen . . . . . . . . . 4. Teilklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Offene Teilklage . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verdeckte Teilklage . . . . . . . . . . . . . .

40.1 40.1 40.4 40.5 40.6 40.6 40.9 40.9 40.10 40.11 40.12 40.14 40.14 40.16 40.18 40.19 40.19 40.23

c) 5. a) b) c) III. 1. 2. IV. 1. 2. 3. a) b) 4. V.

Reaktion des Gegners . . . . . . . . . . . . Unbezifferte Klageanträge . . . . . . . . . Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrensmäßige Behandlung . . . . . Anfechtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen- und Teilurteile . . . . . . . . Grundurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . Spätfolgen des Unfalls . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei Feststellungsurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei der Schmerzensgeldklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umfang der Rechtskraftwirkung . . . . Wirkung eines Feststellungsurteils . . Besonderheiten bei wiederkehrenden Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Hinweise . . . . . . . . . . . . . . .

40.25 40.26 40.26 40.27 40.31 40.32 40.32 40.38 40.40 40.40 40.41 40.44 40.44 40.45 40.46 40.47

§ 32 ZPO Für Klagen aus unerlaubter Handlung ist das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Handlung begangen ist. § 20 StVG Für Klagen, die auf Grund dieses Gesetzes erhoben werden, ist auch das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das schädigende Ereignis stattgefunden hat. § 14 HaftpflG Für Klagen, die auf Grund dieses Gesetzes erhoben werden, ist auch das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das schädigende Ereignis stattgefunden hat. Im Folgenden werden wichtige Besonderheiten des Verkehrshaftpflichtprozesses im Allgemeinen erläutert. Weitere Verfahrensfragen sind im Kontext mit dem zugrunde liegenden Haftungsproblem behandelt. Zu Fragen der Sachverhaltsfeststellung, insbesondere des Beweises, s. § 41.

Greger | 1101

§ 40 Rz. 40.1 | Verfahrensrecht

I. Örtliche und internationale Zuständigkeit 1. In Betracht kommende Gerichtsstände 40.1

Sofern die Klage auf unerlaubte Handlung (§§ 823 ff. BGB) gestützt wird, kann sie nach Wahl des Klägers (§ 35 ZPO) am allgemeinen Gerichtsstand (§§ 12–19a ZPO), einem im Einzelfall begründeten besonderen Gerichtsstand (z.B. §§ 20, 23 ZPO) oder bei dem für den Begehungsort (§ 32 ZPO) zuständigen Gericht erhoben werden. Für Ansprüche aus Gefährdungshaftung tritt, da sie nicht an die Begehung einer Handlung anknüpfen, der Ort des schädigenden Ereignisses an die Stelle des Begehungsortes (§ 20 StVG, § 14 HaftpflG). Die besonderen Gerichtsstände des Unfallorts gelten auch für die Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer des Ersatzpflichtigen.1

40.2

Sollen mehrere Personen mit unterschiedlichem allgemeinen Gerichtsstand als Streitgenossen verklagt werden, so kann dies am gemeinsamen besonderen Gerichtsstand (z.B. des § 20 StVG) geschehen. Mittäter i.S.v. § 830 Abs. 1 BGB müssen sich dabei Tatbeiträge des anderen zurechnen lassen.2 Nur wenn ein solcher Gerichtsstand nicht besteht, kommt eine gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Nr. 3 ZPO in Betracht.3 Ein im Ausland gelegener Gerichtsstand des Unfallorts bleibt hierbei aber unberücksichtigt.4

40.3

Bei Anspruchskonkurrenz (z.B. daneben bestehenden vertraglichen Ansprüchen) kann im vorgenannten besonderen Gerichtsstand umfassend entschieden werden.5

2. Bestimmung des Begehungs- bzw. Ereignisorts 40.4

Begehungsort i.S.d. § 32 ZPO ist der Ort, an dem eine zum Schaden führende Ausführungshandlung begangen oder in das geschützte Rechtsgut eingegriffen wurde. Wo dagegen nur Schadensfolgen eingetreten sind, ist der Gerichtsstand aus § 32 ZPO nicht gegeben.6 Für den Ereignisort i.S.v. § 20 StVG, § 14 HaftpflG (Unfallort) gilt dasselbe.

3. Internationale Zuständigkeit 40.5

Sie richtet sich für Beklagte mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO, für Beklagte in Island, Norwegen und der Schweiz nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ (zu Einzelheiten s. Rz. 2.6). Für Beklagte mit Wohnsitz in einem anderen Staat folgt aus der örtlichen auch die internationale Zuständigkeit. – Zur Direktklage gegen einen ausländischen Haftpflichtversicherer s. Rz. 2.7, 15.70. – Zum anzuwendenden Sachrecht s. Rz. 2.9 ff.

BGH v. 3.3.1983 – I ARZ 682/82, VersR 1983, 586. BGH v. 22.11.1994 – XI ZR 45/91, NJW 1995, 1225, 1226. BGH v. 3.3.1983 – I ARZ 682/82, VersR 1983, 586. BayObLG v. 18.9.1984 – Allg. Reg. 69/84, NJW 1985, 570; BayObLG v. 22.3.1988 – AR 1 Z 12/88, NZV 1988, 27. 5 BGH v. 10.12.2002 – X ARZ 208/02, BGHZ 153, 173. 6 BGH v. 3.5.1977 – VI ZR 24/75, NJW 1977, 1590. 1 2 3 4

1102 | Greger

II. Klage | Rz. 40.9 § 40

II. Klage 1. Klagenhäufung Bei Unfällen mit Kfz besteht in der Regel ein Direktanspruch gegen die Haftpflichtversicherung (§ 115 VVG; s. Rz. 15.1 ff.). Zusätzlich auch den Halter und den Fahrer des Kfz als Gesamtschuldner zu verklagen, besteht – vom Fall der Erschöpfung der Deckungssumme abgesehen – an sich kein Anlass. Selbstverständlich ist es aber das gute Recht des Geschädigten, so zu verfahren. In der Praxis geschieht dies oft, um den Unfallgegner als Zeugen auszuschalten. Ist eine solche Absicht erkennbar (z.B. weil die Klage erst auf den Fahrer erweitert wurde, nachdem er als Zeuge benannt worden war, oder bei Erhebung einer offensichtlich unbegründeten Drittwiderklage), kann ein derartiges Taktieren jedoch als Beweisvereitelung betrachtet und bei der Beweiswürdigung zu Lasten des Betreffenden verwertet werden (näher s. Rz. 41.45). Zudem wird das Gericht häufig gehalten sein, einer auf solche Weise herbeigeführten Beweisnot durch Parteivernehmung nach § 448 ZPO oder Anhörung nach § 141 ZPO abzuhelfen (s. Rz. 41.6, 41.33).

40.6

Die Klagen gegen Halter, Fahrer und Haftpflichtversicherer können, da keine notwendige Streitgenossenschaft besteht, unterschiedliches Schicksal haben. Zur teilweisen Rechtskrafterstreckung nach § 124 VVG s. Rz. 15.27 ff., zu Fragen der Prozessvollmacht des Haftpflichtversicherers und zur Lösung von Interessenkonflikten zwischen diesem und dem Haftpflichtigen s. Rz. 15.32 ff.

40.7

Haben die Beklagten unterschiedliche allgemeine Gerichtsstände, so ist eine gemeinsame Klage nur am Gerichtsstand des Unfallortes (s. Rz. 40.1 ff.) möglich. Wurden dort gesonderte Klagen erhoben, kommt Verbindung nach § 147 ZPO in Betracht; wurden sie bei verschiedenen, je für sich zuständigen Gerichten rechtshängig, müssen sie gesondert durchgeführt werden, weil weder eine Verweisung nach § 281 ZPO noch eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Nr. 3 ZPO möglich ist. Nur wenn der Unfallort im Ausland liegt, kann nach § 36 Nr. 3 ZPO verfahren werden, denn in diesem Falle fehlt es an einem „gemeinschaftlichen besonderen Gerichtsstand“ (s. Rz. 40.2).

40.8

2. Widerklage a) Anwendungsbereich Aufgrund von Verkehrsunfällen werden oftmals gegenseitig Ansprüche gestellt. Es ist sachgerecht, wenn diese durch Erhebung einer Widerklage in einem Prozess abgehandelt werden. Allerdings schließt dies unterschiedliche Beurteilungen (z.B. hinsichtlich der Haftungsquote) nicht aus, wenn es im Prozess (z.B. infolge einer Teilanfechtung) zu einer Abspaltung kommt.7 – In der Berufungsinstanz ist die Widerklage nur unter den Voraussetzungen des § 533 ZPO zulässig, dann auch im Wege der Anschließung (§ 524 ZPO). Bei Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO verliert die in 2. Instanz erhobene Widerklage entspr. § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung.8

7 BGH v. 12.12.2006 – VI ZR 4/06, NJW 2007, 1466. 8 BGH v. 24.10.2013 – III ZR 403/12, BGHZ 198, 315.

Greger | 1103

40.9

§ 40 Rz. 40.10 | Verfahrensrecht

b) Zuständigkeit 40.10

Wegen des Sachzusammenhangs ist die örtliche Zuständigkeit unproblematisch (§ 33 ZPO). Zu einer Verschiebung der sachlichen Zuständigkeit kann es jedoch nach § 506 ZPO kommen, wenn mit der Widerklage beim AG ein vor das LG gehörender Anspruch geltend gemacht wird (nicht aber, wenn die landgerichtliche Zuständigkeit nur bei Addition der Streitwerte erreicht würde; § 5 Halbsatz 2 ZPO).

c) Parteierweiternde Widerklage 40.11

Die Widerklage kann unter den Voraussetzungen der Parteierweiterung (Einwilligung des Gegners oder Sachdienlicherklärung durch das Gericht) auf einen am Prozess bisher nicht Beteiligten erstreckt werden (Drittwiderklage).9 Dies kommt in Verkehrshaftungssachen häufig vor, weil der Beklagte für seine Schadensersatzansprüche auch (oder sogar in erster Linie) den gegnerischen Haftpflichtversicherer in Anspruch nehmen will (zu den Folgen einer nur zum Zweck der Beweisvereitelung erhobenen Drittwiderklage s. Rz. 40.6). Der Drittwiderbeklagte muss beim Prozessgericht seinen allgemeinen oder einen besonderen Gerichtsstand haben; ansonsten kann die örtliche Zuständigkeit nur durch rügelose Einlassung oder (sofern wegen Fehlens eines gemeinsamen besonderen Gerichtsstands zulässig; s. Rz. 40.2) durch Bestimmung nach § 36 Nr. 3 ZPO begründet werden.10 Die Widerklage muss an den Dritten selbst zugestellt werden, sofern sich nicht ausnahmsweise der Prozessbevollmächtigte des Klägers auch bereits für ihn bestellt hat. In der Berufungsinstanz ist die Zustimmung des Dritten oder deren rechtsmissbräuchliche Verweigerung erforderlich.11

d) Isolierte Drittwiderklage 40.12

Eine Widerklage, die sich ausschließlich gegen einen Dritten richtet, ist nur dann zulässig, wenn ihr Gegenstand mit dem der Klage so eng verknüpft ist, dass die Zusammenführung in einem Verfahren einer unökonomischen Zersplitterung entgegenwirkt, und keine schutzwürdigen Interessen des Widerbeklagten verletzt werden. Im Haftungsprozess kommt dies insbesondere dann in Betracht, wenn der Geschädigte seine Ansprüche an einen Dritten abgetreten hat, um in dem von diesem geführten Prozess die Stellung eines Zeugen zu haben; es ist nicht missbräuchlich, wenn der Beklagte hierauf wegen seiner Ansprüche aus dem Unfall Widerklage gegen ihn erhebt, wie ihm dies ohne die Abtretung möglich gewesen wäre.12 In diesem Fall ist das Gericht der Klage entspr. § 33 ZPO auch für die isolierte Drittwiderklage zuständig.13

40.13

Zur Frage der anwaltlichen Vertretung bei Identität des Haftpflichtversicherers auf Seiten des Beklagten und des Widerbeklagten s. Rz. 15.35.

9 BGH v. 17.10.1963 – II ZR 77/61, BGHZ 40, 185; BGH v. 12.10.1995 – VII ZR 209/94, BGHZ 131, 76. Näher Zöller/Schultzky § 33 Rz. 24 f. 10 BGH v. 30.9.2010 – Xa ARZ 191/10, BGHZ 187, 112 = NJW 2011, 460 mit Anm. Vossler. 11 OLG Karlsruhe v. 11.5.1979 – 10 U 85/79, VersR 1979, 1033 (Rechtsmissbrauch bei einheitlichem Verkehrsunfall bejahend); Zöller/Schultzky § 33 Rz. 25. 12 BGH v. 13.3.2007 – VI ZR 129/06, VersR 2007, 1291 = NJW 2007, 1753 = JZ 2007, 1000 mit Anm. Riehm. 13 BGH v. 30.9.2010 – Xa ARZ 191/10, BGHZ 187, 112 = NJW 2011, 460 mit Anm. Vossler.

1104 | Greger

II. Klage | Rz. 40.15 § 40

3. Feststellungsklage a) Vorrang der Leistungsklage In Verkehrsunfallsachen besteht häufig ein Interesse, durch Erhebung einer Klage die Hemmung der Verjährung herbeizuführen, obwohl der Umfang der Haftung noch nicht voll überblickt werden kann. In diesen Fällen bietet sich eine Feststellungsklage an. Das für die Zulässigkeit erforderliche Feststellungsinteresse (§ 256 Abs. 1 ZPO) verneint die Rechtsprechung jedoch in der Regel, wenn der Geschädigte in der Lage ist, auf Zahlung zu klagen und dadurch eine endgültige Erledigung des Streitstoffs herbeizuführen.14 Entsprechendes gilt grundsätzlich bei Möglichkeit einer Klage auf Freistellung von einer Verbindlichkeit;15 wenn der Kläger aber die Forderung, von der er Befreiung verlangt, selbst mit einem Rechtsbehelf bekämpft, ist die Feststellungsklage der richtige Weg.16

40.14

Ausnahmen: Die Möglichkeit einer Zahlungsklage schließt das Feststellungsinteresse nicht aus, wenn zu erwarten ist, dass die beklagte Partei auch ohne Vollstreckungsmaßnahmen leisten wird, z.B. weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Körperschaft oder Anstalt handelt.17 Ob dies auch dann gilt, wenn sich die Klage gegen ein Versicherungsunternehmen richtet, erscheint zweifelhaft.18 Befindet sich der Schadensumfang aber noch in der Entwicklung, so dass eine (zu beziffernde) Leistungsklage nicht erhoben werden kann, folgt das besondere Interesse an einer vorgeschalteten Feststellungsklage aus deren verjährungshemmender Wirkung (s. Rz. 24.78). In solchen Fällen ist die Feststellungsklage insgesamt zulässig, auch wenn der Schadensersatzanspruch teilweise schon beziffert werden könnte.19 Ebenso wird die Zulässigkeit der Feststellungsklage bejaht, wenn die Schädigung bereits abgeschlossen ist und nur noch nicht geklärt werden kann, auf welche Weise und mit welchen Kosten sie behoben werden kann.20 Konkretisiert sich der Schaden während des Prozesses, braucht – jedenfalls in 2. Instanz – nicht auf eine Leistungsklage übergegangen zu werden.21 Das Feststellungsinteresse kann auch entfallen, wenn der Haftpflichtige durch einen umfassenden Verjährungsverzicht oder ein „urteilersetzendes Anerkenntnis“ die Verjährungsgefahr ausgeschlossen hat (s. Rz. 24.97 ff.)22 ein befristeter Verzicht23 oder ein eingeschränktes Anerkenntnis reichen hierfür nicht aus.24

40.15

14 BGH v. 21.2.2017 – XI ZR 467/15, NJW 2017, 1823 Tz. 13 ff. Näher, auch zu den Ausnahmen, Zöller/Greger § 256 Rz. 7a. 15 BGH v. 4.6.1996 – VI ZR 123/95, NJW 1996, 2725. 16 BGH v. 16.11.2006 – I ZR 257/03, NJW 2007, 1809. 17 BGH v. 9.6,1983 – III ZR 74/82, NJW 1984, 1118, 1119. 18 So allgemein Geigel/Bacher Kap. 38 Rz. 24; tendenziell BGH v. 28.9.1999 – VI ZR 195/98, VersR 1999, 1555 = NJW 1999, 3774, 3775; BGH v. 9.3.2004 – VI ZR 439/02, NJW-RR 2004, 883 u. Lepa VersR 2001, 265, 267 (bei „großem Versicherungsunternehmen“); nach BGH v. 28.9.1999 – VI ZR 195/98, NJW 1999, 3774 sogar für einzelne Schadensposition neben einem allgemeinen Feststellungsantrag; abl. OLG Düsseldorf v. 16.8.1994 – 4 U 151/93, VersR 1995, 1301. 19 BGH v. 4.4.1952 – III ZA 20/52, BGHZ 5, 314; BGH v. 21.2.1991 – III ZR 204/89, VersR 1991, 788; BGH v. 19.4.2016 – VI ZR 506/14, NZV 2016, 365 m.w.N. 20 BGH v. 15.1.2008 – VI ZR 53/07, NJW-RR 2008, 1520. 21 BGH v. 15.11.1977 – VI ZR 101/76, NJW 1978, 210; BGH v. 4.11.1998 – VIII ZR 248/97, NJW 1999, 639 m.w.N.; zu möglicher Ausnahme für 1. Instanz BGH v. 31.1.1952 – III ZR 131/51, NJW 1952, 546 LS = LM § 256 ZPO Nr. 5. 22 OLG Oldenburg v. 19.1.2011 – 5 U 48/10, NZV 2011, 446 mit Anm. Küppersbusch; enger OLG Karlsruhe v. 13.7.2001 – 10 U 45/01, VersR 2002, 729. 23 OLG Hamm v. 10.2.2000 – 6 U 208/99, NZV 2000, 374. 24 OLG Karlsruhe v. 10.3.2000 – 10 U 271/99, VersR 2001, 1175.

Greger | 1105

§ 40 Rz. 40.16 | Verfahrensrecht

b) Zukunftsschäden 40.16

Häufig wird auch neben einer Zahlungsklage (bzgl. des bereits eingetretenen Schadens) auf Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden geklagt.25 Ein solcher Antrag bezieht sich im Zweifel auf alle ab Klageeinreichung, nicht erst ab Schluss der mündlichen Verhandlung entstehenden Schäden.26 Ein Feststellungsinteresse liegt hier schon dann vor, wenn künftige Schadensfolgen nur möglich sind, mit ihnen bei verständiger Würdigung zu rechnen ist, ihr Eintritt aber ungewiss ist.27 Es darf nur verneint werden, wenn aus der Sicht des Klägers bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen.28 Stellt sich während des Rechtsstreits heraus, dass mit künftigen Schäden nicht mehr zu rechnen ist, entfällt nicht rückwirkend die Zulässigkeit des Antrags, sondern es erledigt sich die Hauptsache.29

40.17

Auch für die Begründetheit eines Antrags, der auf die Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden gerichtet ist, verlangt der BGH keine Wahrscheinlichkeit des Eintritts weiterer Folgeschäden, wenn ein durch § 823 Abs. 1 BGB oder § 7 Abs. 1 StVG geschütztes Rechtsgut verletzt wurde und ein daraus resultierender Vermögensschaden bereits eingetreten ist.30

c) Haftungsbeschränkungen 40.18

Solange eine Mithaftung des Geschädigten im Streit ist, kann kein Feststellungsurteil erlassen werden, auch nicht unter Vorbehalt der späteren Bestimmung des Mithaftungsanteils.31 Ist die Mitverantwortung erwiesen, lautet der Tenor z.B.: „Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den gesamten Schaden aus dem (näher bezeichneten) Unfall zu 75 Prozent zu ersetzen“. Zur Rechtskraftwirkung in diesen Fällen s. Rz. 40.41. – Zur Frage, ob und in welcher Form die Beschränkung der Haftung auf einen Höchstbetrag (z.B. nach § 12 StVG oder auf die Versicherungssumme) zum Ausdruck zu bringen ist, s. Rz. 23.29; 15.19 f.

4. Teilklage a) Offene Teilklage 40.19

Gelegentlich wird versucht, das Prozesskostenrisiko dadurch gering zu halten, dass (zunächst) nur ein Teil des Schadens eingeklagt wird. Geschieht dies ausdrücklich (sog. offene Teilklage), muss der Kläger klar zum Ausdruck bringen, welche Positionen seines Gesamtschadens Streitgegenstand sein sollen (also z.B. 50 % der Reparaturkosten) bzw. wie sich die Klagesumme auf die einzelnen Ansprüche verteilen soll;32 hinsichtlich unselbständiger Rechnungsposten (z.B.

25 Zur Antragsauslegung in solchen Fällen Lepa VersR 2001, 265, 266 f. S. auch Rz. 31.172 ff. 26 BGH v. 6.6.2000 – VI ZR 172/99, NJW 2000, 3287. 27 BGH v. 23.4.1991 – X ZR 77/89, NJW 1991, 2707; BGH v. 9.1.2007 – VI ZR 133/06, VersR 2007, 708. 28 BGH v. 15.7.1997 – VI ZR 184/96, VersR 1997, 1508; BGH v. 16.1.2001 – VI ZR 381/99, NJW 2001, 1431, 1432; Lepa VersR 2001, 265, 268. 29 BGH v. 25.1.1972 – VI ZR 20/71, VersR 1972, 459. 30 BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16, NJW 2018, 1242; zust. Armbrüster NJW 2018, 1218, 1221. 31 BGH v. 13.5.1997 – VI ZR 145/96, VersR 1997, 1294. 32 BGH v. 8.12.1989 – V ZR 174/88, NJW 1990, 2068; BGH v. 6.5.2014 – II ZR 217/13, NJW 2014, 3298 m.w.N.

1106 | Greger

II. Klage | Rz. 40.23 § 40

Einzelelemente der Reparaturkosten) braucht er sich aber nicht festzulegen.33 Er kann auch mehrere Positionen hilfsweise zur Entscheidung stellen, muss dann aber die Reihenfolge genau bezeichnen.34 Beim Schmerzensgeld handelt es sich um eine teilbare Geldsumme; es bestehen daher ungeachtet der Einheitlichkeit des Anspruchs, die das Zusprechen eines auf bestimmte Folgen beschränkten Teilschmerzensgeldes hindert (s. Rz. 33.45), keine Bedenken gegen das Einklagen eines betragsmäßig begrenzten, eindeutig individualisierten Teils der Forderung.35 Die Erhebung einer Teilklage birgt Risiken:36 Sie führt hinsichtlich des nicht geltend gemachten Anspruchsteils weder zur Verjährungshemmung (s. Rz. 24.67) noch zur materiellen Rechtskraft; über eine neue Klage bzgl. weiterer Teile kann abweichend entschieden werden. Zudem kann der Gegner bzgl. des nicht eingeklagten Teils negative Feststellungswiderklage erheben, wodurch die Risikobegrenzung obsolet wird (s. Rz. 40.25).

40.20

Vielfach werden nur Restansprüche eingeklagt, weil der Haftpflichtversicherer einen Teil des Schadens reguliert hat. Auch hier muss dargelegt werden, worauf sich der Restanspruch bezieht, d.h. wie die Versicherungsleistung verrechnet wird. Die Art der Verrechnung ergibt sich aus §§ 366 f. BGB. Hat der Versicherer sich die Tilgungsbestimmung vorbehalten, ist noch keine Erfüllungswirkung eingetreten,37 so dass der Geschädigte seine Forderung in voller Höhe einklagen und nach erfolgter Verrechnungserklärung für erledigt erklären kann.38

40.21

Die Bestimmung kann noch im Laufe des Rechtsstreits nachgeholt werden39. Die wahlweise geltend gemachten Ansprüche sind dann jeweils in Höhe des eingeklagten Teilbetrags zunächst auflösend bedingt rechtshängig geworden und mit der Zuordnung ist die Bedingung eingetreten40 (zur Verjährungshemmung in diesem Fall s. Rz. 24.67). Unterbleibt – auch nach gerichtlichem Hinweis – die Bestimmung, ist die Klage als unzulässig abzuweisen.41 Ist ein Urteil über die nicht individualisierte Teilklage ergangen, hat es keine materielle Rechtskraft.42

40.22

b) Verdeckte Teilklage Hat der Kläger nicht deutlich gemacht, dass er nur einen Teil seines Schadens einklagt (sog. verdeckte Teilklage), ist er nicht gehindert, mit einer neuen Klage weiteren Schaden geltend zu machen; die Rechtskraft ergreift auch hier den geltend gemachten Anspruch (nur) in der

33 BGH v. 19.6.2000 – II ZR 319/98, NJW 2000, 3718, 3719; zur Abgrenzung BGH v. 22.5.1984 – VI ZR 228/82, NJW 1984, 2346, 2347; BGH v. 13.3.2003 – VII ZR 418/01, MDR 2003, 824. 34 BGH v. 29.9.1988 – VII ZR 182/87, NJW-RR 1989, 86. 35 So im Ansatz zutr. BGH v. 20.1.2004 – VI ZR 70/03, NJW 2004, 1243, wo aber auch eine Individualisierung nach bestimmten Verletzungsfolgen zugelassen wird; Berg NZV 2010, 63. Krit. zu der Entscheidung Kannowski ZZP 119 (2006) 63 ff. 36 Nachdrücklich Lepa VersR 2001, 265 f. 37 BGH v. 2.12.1968 – II ZR 144/67, BGHZ 51, 157, 161; BGH v. 23.1.1991 – VIII ZR 122/90, NJW 1991, 1604, 1607. 38 Hierzu eingehend Blumberg NZV 1992, 257 ff. 39 BGH v. 6.5.2014 – II ZR 217/13, NJW 2014, 3298, 3299 m.w.N. 40 BGH v. 3.12.1953 – III ZR 66/52, BGHZ 11, 192, 195; BGH v. 22.5.1984 – VI ZR 228/82, NJW 1984, 2346, 2347 f. 41 BGH v. 3.12.1953 – III ZR 66/52, BGHZ 11, 192. 42 BGH v. 22.5.1984 – VI ZR 228/82, NJW 1984, 2346, 2347; BGH v. 18.11.1993 – IX ZR 244/92, BGHZ 124, 164, 166.

Greger | 1107

40.23

§ 40 Rz. 40.23 | Verfahrensrecht

eingeklagten Höhe.43 Bei Schmerzensgeldforderungen scheidet wegen der gebotenen ganzheitlichen Betrachtung der Schadensfolgen (s. Rz. 40.44) eine verdeckte Teilklage aus.44.

40.24

Auch die verdeckte Teilklage hemmt die Verjährung nur hinsichtlich des Anspruchsteils, der Gegenstand des Rechtsstreits ist (s. Rz. 24.78).

c) Reaktion des Gegners 40.25

Der Beklagte kann die Risikobeschränkung durch Teilklage dadurch hinfällig machen, dass er bzgl. des Rests des vom Kläger behaupteten Anspruchs negative Feststellungsklage erhebt. Der Kläger kann dieser nicht dadurch das Feststellungsinteresse nehmen, dass er erklärt, er werde die Entscheidung über die Teilklage auch für den Rest als verbindlich anerkennen.45 Erweitert er die Klage auf den restlichen Anspruch, ist die negative Feststellungsklage für erledigt zu erklären, sobald die Klage nicht mehr einseitig (s. § 269 Abs. 1 ZPO) zurückgenommen werden kann.46

5. Unbezifferte Klageanträge a) Zulässigkeit 40.26

Weil die Bemessung des Schmerzensgeldes im Ermessen des Gerichts steht, lässt es die Rechtsprechung zu, abweichend von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO im Klageantrag von der Angabe eines bestimmten Betrages abzusehen.47 Hierdurch wird der besonderen Lage des Klägers Rechnung getragen, der die gerichtliche Ermessensentscheidung schwerlich genau vorhersehen kann, bei zu niedrigem Ansatz aber wegen § 308 ZPO, bei zu hohem wegen kostenträchtiger Teilabweisung Nachteile erleidet.48 Dem Bestimmtheitsgebot ist aber, auch wegen des berechtigten Interesses des Beklagten, den Umfang des Streitgegenstandes in etwa abschätzen zu können, dadurch Rechnung zu tragen, dass der Kläger die tatsächlichen Grundlagen für die Bemessung des Schmerzensgeldes vorträgt.49 Außerdem hat der Kläger die Größenordnung anzugeben, in der er sich ungefähr das angemessene Schmerzensgeld vorstellt, z.B. in Form eines Mindestbetrages.50 Allerdings verfährt die Rechtsprechung hier sehr großzügig und lässt als Bekanntgabe der Vorstellung bereits die Streitwertangabe oder die Höhe des eingezahlten Prozesskostenvorschusses ausreichen; es genüge sogar, wenn der Kläger sich die gerichtliche Festsetzung des Streitwerts oder des Wertes der Beschwer stillschweigend zu eigen mache und dadurch zu verstehen gebe, dass diese Werte seinen Vorstellungen von der Höhe des begehrten Betrages entsprechen.51 Der Angabe der Größenordnung, die das Gericht zudem in 43 BGH v. 9.4.1997 – IV ZR 113/96, BGHZ 135, 178; BGH v. 11.3.2009 – IV ZR 224/07, NJW 2009, 1950. 44 Lepa VersR 2001, 265, 266. 45 BGH v. 1.2.1988 – II ZR 152/87, NJW-RR 1988, 749. 46 BGH v. 22.1.1987 – I ZR 230/85, BGHZ 99, 340 m.w.N. 47 BGH v. 13.12.1951 – III ZR 144/50, BGHZ 4, 138 u. st. Rspr. 48 Krit. gegenüber dieser Rspr. Gerstenberg NJW 1988, 1352, der das Kostenproblem über § 92 Abs. 2 ZPO lösen will. 49 BGH v. 13.12.1951 – III ZR 144/50, BGHZ 4, 138; BGH v. 4.11.1969 – VI ZR 85/68, NJW 1970, 281; BGH v. 13.5.1974 – III ZR 35/72, NJW 1974, 1551. 50 BGH v. 21.6.1977 – VI ZA 3/75, VersR 1977, 861; BGH v. 13.10.1981 – VI ZR 162/80, NJW 1982, 340; BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 345. 51 BGH v. 28.2.1984 – VI ZR 70/82, NJW 1984, 1807; BGH v. 15.5.1984 – VI ZR 155/82, VersR 1984, 740 = JR 1984, 501 mit Anm. Lindacher; Prütting/Gielen NZV 1989, 329 f.

1108 | Greger

II. Klage | Rz. 40.31 § 40

keiner Weise bindet (s. Rz. 40.28), kommt daher de facto kaum eine Bedeutung als Zulässigkeitsvoraussetzung zu;52 sie ist jedoch wichtig für die Feststellung einer Beschwer des Klägers. Zum unbestimmten Klageantrag bei Unterhaltsersatzklagen s. Rz. 31.176.

b) Verfahrensmäßige Behandlung Hat der Kläger einen in dieser Weise bestimmten, aber unbezifferten Antrag gestellt, so wird zwar bei Zubilligung eines den angegebenen Mindestbetrag unterschreitenden Schmerzensgeldes seine Klage im Übrigen abgewiesen.53 Eine Kostenbeteiligung trifft ihn aber jedenfalls dann nicht, wenn die Abweichung lediglich der gerichtlichen Ermessensausübung zuzuschreiben ist (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Beruht sie dagegen darauf, dass der Kläger mit einem wesentlichen Bemessungsgesichtspunkt beweisfällig geblieben ist (Beispiel: die behauptete Dauerschädigung wurde im eingeholten Gutachten nicht erwiesen) oder dass eine Einwendung des Beklagten durchgreift (z.B. vom Kläger bestrittenes Mitverschulden), oder war die Mindestforderung des Klägers schon bei Zugrundelegung seines eigenen Vorbringens völlig überzogen, so ist er billigerweise nach § 92 Abs. 1 ZPO an den Kosten zu beteiligen.54

40.27

Ein höheres Schmerzensgeld darf das Gericht ohne Verstoß gegen § 308 ZPO zuerkennen; eine prozentuale Begrenzung besteht hierfür nicht.55 Es handelt sich daher nicht um eine Änderung des Streitgegenstands, wenn der Kläger seine Größenvorstellung erhöht.56

40.28

Der Streitwert ist nach dem Betrag zu beziffern, den das Gericht bei Zugrundelegung des Klagevorbringens als angemessen erachtet, darf jedoch einen vom Kläger geforderten Mindestbetrag nicht unterschreiten.57

40.29

Durch Versäumnisurteil kann ein höheres als das vom Kläger angegebene Schmerzensgeld zugesprochen werden, wenn sein Vorbringen dies rechtfertigt. Lässt sein Vortrag nur die Zuerkennung eines geringeren Betrages zu, so ist insoweit ein Teilversäumnisurteil zu erlassen und die Klage im Übrigen durch unechtes Versäumnisurteil abzuweisen.58

40.30

c) Anfechtbarkeit An der für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels erforderlichen Beschwer fehlt es, wenn der vom Gericht zugesprochene Betrag der vom Kläger angegebenen Größenordnung entspricht, z.B. den genannten Mindestbetrag erreicht oder übersteigt.59 Ob dies der Fall ist, ist durch Aus-

52 53 54 55 56 57 58 59

Ebenso v Gerlach VersR 2000, 525, 527. BGH v. 1.3.1984 – III ZR 3/83, VersR 1984, 541; v Gerlach VersR 2000, 525, 528. Ähnlich v Gerlach VersR 2000, 525, 528. BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341 = JZ 1996, 1080 mit Anm. Schlosser; OLG Frankfurt v. 6.9.2017 – 6 U 216/16, VersR 2018, 560 mit Anm. Jaeger; a.A. Steinle VersR 1992, 425. BGH v. 10.10.2002 – III ZR 205/01, NZV 2002, 557. BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 352; v Gerlach VersR 2000, 525, 529. Ausf. Zöller/Herget § 3 Rz. 16.169. Zöller/Herget § 331 Rz. 7. BGH v. 2.2.1999 – VI ZR 25/98, BGHZ 140, 335 = NZV 1999, 204 mit Anm. Born; BGH v. 30.9.2003 – VI ZR 78/03, NZV 2003, 565; BGH v. 30.3.2004 – VI ZR 25/03, NZV 2004, 347; BGH v. 31.10.2018 – XII ZR 90/17, MDR 2019, 180 m.w.N.

Greger | 1109

40.31

§ 40 Rz. 40.31 | Verfahrensrecht

legung des klägerischen Vorbringens, nicht nur des Klageantrags, zu ermitteln.60 Nicht beschwert ist der Kläger auch dann, wenn das Gericht ihm den Mindestbetrag zugesprochen, aber abweichend von seiner Auffassung ein Mitverschulden bejaht hat.61 Unerheblich ist es, wenn sich die für die Schmerzensgeldbemessung maßgeblichen Verhältnisse während des Prozesses geändert haben (z.B. Nachoperationen durchgeführt werden mussten); der Kläger muss in einem solchen Fall also auch seine Mindestangabe anpassen.62 Auch aus einer nach Verkündung des Ersturteils eingetretenen Änderung der BGH-Rechtsprechung, die ein höheres Schmerzensgeld rechtfertigen würde, kann der Kläger, dem ein seinen Vorstellungen entsprechendes Schmerzensgeld zuerkannt worden ist, keine Beschwer ableiten.63 Dagegen wird eine Beschwer vom BGH bejaht, wenn statt der in erster Linie beantragten Geldrente ein nur hilfsweise beantragter (gleichwertiger) Kapitalbetrag zugesprochen wurde.64 Bei Klageabweisung richtet sich die Beschwer ebenfalls nach der angegebenen Größenordnung; dies gilt auch bei der Bezeichnung als Mindestbetrag.65

III. Zwischen- und Teilurteile 1. Grundurteil 40.32

Bei Schadensersatzklagen kann über den Grund des Anspruchs vorab durch ein Zwischenurteil entschieden werden (§ 304 ZPO). Dies ist nur dann sinnvoll, wenn zur Ermittlung des Schadensersatzbetrages noch ein umfängliches Verfahren erforderlich ist, dem durch eine abweichende Grundentscheidung in der höheren Instanz der Boden entzogen werden könnte. Da das Zwischenurteil über den Grund mit den normalen Rechtsmitteln angefochten werden kann, kann den Parteien eine u.U. nutzlose Beweisaufnahme zum Betrag erspart werden. In manchen Fällen fördert es auch die Vergleichsbereitschaft, wenn über den Grund bereits abschließend entschieden ist. Auf der anderen Seite kann der Erlass eines Grundurteils wegen der damit verbundenen zweimaligen Eröffnung des Instanzenzuges aber auch zu erheblichen Prozessverzögerungen führen. Es sollte daher nur in wirklich geeigneten Ausnahmefällen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden. Besondere Beachtung muss der Bindungswirkung des Grundurteils für das Betragsverfahren geschenkt werden;66 sie erfordert es, alle den Haftungsgrund betreffenden Einwendungen bereits im Grundverfahren vorzubringen, im Grundurteil zu bescheiden und ggf. durch Anfechtung dieses Urteils weiterzuverfolgen.

40.33

Unzulässig ist der Erlass eines Grundurteils, wenn nur der Betrag67 oder nur der Grund68 streitig ist, desgleichen, wenn streitige Tatsachen sowohl für den Grund als auch für die Höhe

60 BGH v. 6.10.1970 – VI ZR 36/69, VersR 1970, 1156; BGH v. 24.9.1991 – VI ZR 60/91, NZV 1992, 73, 74. 61 BGH v. 2.10.2001 – VI ZR 356/00, NZV 2002, 27. 62 BGH v. 21.6.1977 – VI ZB 22/75, VersR 1977, 916. 63 A.A. OLG Nürnberg v. 18.6.1993 – 8 U 569/91, VersR 1994, 735. 64 BGH v. 15.5.1984 – VI ZR 155/82, VersR 1984, 739 (zw.). 65 BGH v. 25.1.1996 – III ZR 218/95, NZV 1996, 194; a.A. (nur untere Grenze) BayObLG v. 22.9.1988 – RReg.2 Z 405/86, NZV 1989, 28. 66 Näher hierzu Zöller/Feskorn § 304 Rz. 33 ff. 67 BGH v. 10.1.1989 – VI ZR 43/88, VersR 1989, 603. 68 OLG Frankfurt v. 24.6.1986 – 8 U 174, NJW-RR 1986, 1353.

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III. Zwischen- und Teilurteile | Rz. 40.36 § 40

des Anspruchs maßgeblich sind.69 Ein Grundurteil darf auch nicht ergehen, solange nicht alle zum Grund gehörenden Anspruchsvoraussetzungen (s. Rz. 40.34 f.) festgestellt und die diesbezüglichen Einwendungen ausgeschlossen sind. Zum Grund des Anspruchs gehören bei Schadensersatzklagen auch: die Sachbefugnis (Abtretung, Forderungsübergang70); die Entstehung eines Schadens (hierbei genügt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schaden in irgendeiner Höhe entstanden ist71), Erlöschen des gesamten Anspruchs durch Erfüllung, Erfüllungssurrogat oder Verzicht,72 Verjährung des gesamten Anspruchs,73 die Subsidiarität nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB, sofern die anderweite Ersatzmöglichkeit den Schaden voll abdeckt.74 Zur Haftungsbegrenzung nach § 12 StVG s. Rz. 23.31. Bei der Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer muss auch die etwaige Erschöpfung der Versicherungs- bzw. Mindestversicherungssumme bereits im Grundverfahren berücksichtigt werden.

40.34

Auch über den Mithaftungseinwand (§ 254 Abs. 1 BGB, §§ 9, 17 StVG) ist grundsätzlich bereits im Grundverfahren zu entscheiden, das Grundurteil legt dann auch die Haftungsquote fest.75 Dies geschieht bei materiellen Schadensersatzansprüchen z.B. durch den Ausspruch: „Die Klage ist dem Grunde nach zur Hälfte gerechtfertigt“, beim Schmerzensgeld empfiehlt sich die Formulierung „unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 50 %“. Die Mithaftungsfrage kann jedoch auch dem Betragsverfahren vorbehalten werden, sofern ein völliger Haftungsausschluss nicht in Betracht kommt.76 Bezieht sich der Mitverschuldenseinwand nicht auf das Haftungsereignis insgesamt, sondern nur auf bestimmte Schadensfolgen (z.B. bei Verstoß gegen die Gurtpflicht), muss er dem Betragsverfahren vorbehalten werden,77 ebenso bei Verletzung der Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB.78 In diesen Fällen darf im Grundurteil keine globale Mithaftungsquote ausgewiesen werden. Der Vorbehalt muss ausdrücklich ausgesprochen werden; enthält das Grundurteil weder die Festsetzung einer Mithaftungsquote noch den Vorbehalt einer solchen, kann der Beklagte im Betragsverfahren eine Mithaftung nicht mehr einwenden.79

40.35

Bei Anspruchskonkurrenz müssen sämtliche Anspruchsgrundlagen geprüft werden, sofern ihnen eine Bedeutung für die Höhe des Schadensersatzes zukommen kann.80 Ergibt sich z.B., dass eine deliktische Haftung zu verneinen, eine solche nach § 7 StVG aber zu bejahen ist,

40.36

69 BGH v. 23.9.1992 – IV ZR 199/91, VersR 1992, 1465. So z.B., wenn die Behauptung eines gestellten Unfalls auch auf Vorschädigungen des Fahrzeugs gestützt wird, OLG Hamm v. 9.3.1995 – 27 U 200/94, NZV 1995, 403. 70 Ggf. zu berücksichtigen durch Ausspruch: „soweit nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen“. 71 BGH v. 16.1.1991 – VIII ZR 14/90, NJW-RR 1991, 599, 600. 72 Zöller/Feskorn § 304 Rz. 12 sowie Rz. 15 zur Behandlung der Aufrechnung (kombiniertes Grundund Vorbehaltsurteil). 73 BGH v. 28.5.1968 – VI ZR 37/67, NJW 1968, 2105. 74 BGH v. 10.5.1976 – III ZR 90/74, WM 1976, 873. 75 BGH v. 25.3.1980 – VI ZR 61/79, BGHZ 76, 397. 76 BGH v. 11.1.1951 – III ZR 83/50, BGHZ 1, 36; BGH v. 25.3.1980 – VI ZR 61/79, BGHZ 76, 397, 400; BGH v. 13.5.1997 – VI ZR 145/96, VersR 1997, 1294, 1295 (auch zur Unzulässigkeit eines entspr. Feststellungsurteils). 77 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 213/79, VersR 1981, 57. 78 BGH v. 26.6.1979 – VI ZR 122/78, VersR 1979, 956, 960. 79 BGH v. 31.1.1990 – VIII ZR 314/88, BGHZ 110, 196, 202. 80 BGH v. 13.6.1978 – VI ZR 39/77, BGHZ 72, 34, 36.

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§ 40 Rz. 40.36 | Verfahrensrecht

wird der Anspruch „im Rahmen des StVG“ dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und die Klage im Übrigen abgewiesen.81

40.37

Dem Betragsverfahren vorzubehalten sind Fragen zur Schadensberechnung, auch zu Rentenbeginn und -dauer,82 während die haftungsausfüllende Kausalität in der Regel schon für die im Grundurteil zu treffende Feststellung der Wahrscheinlichkeit einer Schadensentstehung bedeutsam ist (s. Rz. 40.34). Zum Einwand von Mitverschulden s. Rz. 40.35.

2. Teilurteil 40.38

§ 301 ZPO bietet die Möglichkeit, über einen Teil des Streitgegenstands vorab zu entscheiden, wenn insoweit Entscheidungsreife besteht. Entgegen dem Aufbau der Vorschrift, die das Teilurteil als Regelfall und das Absehen von einem solchen als Ausnahme statuiert, sollte hiervon aber zurückhaltend Gebrauch gemacht werden, da die Aufspaltung des Rechtsstreits in mehrere Einzelprozesse zumeist nicht der Prozessökonomie dient. Beim Erlass von Teilurteilen unterlaufen auch häufig Verfahrensfehler.

40.39

Unzulässig ist ein Teilurteil über bloße Elemente der Schadensberechnung83 sowie insbesondere dann, wenn es zugleich die Entscheidung über den Rest des Streitgegenstandes präjudiziert. Der entschiedene und der offengelassene Teil des Rechtsstreits müssen voneinander unabhängig sein; es darf nicht die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen im Teil- und im Schlussurteil – auch durch das Rechtsmittelgericht – bestehen,84 z.B. weil das Teilurteil über eine auch für den Rest bedeutsame Vorfrage85 oder über unselbständige Rechnungsposten eines einheitlichen Schadensersatzanspruchs86 oder bei gebotener Gesamtabwägung (s. Rz. 25.142) über die Haftung eines der Nebentäter87 entscheidet. Ggf. ist zugleich mit dem Teilurteil ein Grundurteil über den Rest zu erlassen (§ 301 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Hierbei muss eindeutig bestimmt werden, über welchen Teil des Klageanspruchs bereits abschließend entschieden wird.88 Wurde Widerklage erhoben, so gilt das Postulat der Widerspruchsvermeidung auch für ein Teilurteil, welches nur über die Klage oder nur über die Widerklage entscheidet.89 Bei wechselseitigen Ansprüchen aus demselben Verkehrsunfall wird eine Aufspaltung schon wegen der einheitlich vorzunehmenden Haftungsquotierung ausscheiden (zu der es allerdings im Lauf des Prozesses durch Teilanfechtung kommen kann; s. Rz. 40.9). – Hat das Gericht des ersten Rechtszugs ein unzulässiges Teilurteil erlassen, so kann das Berufungsgericht, soweit es erforderlich ist, um den Verfahrensfehler zu beseitigen, den im ersten

81 BGH v. 9.7.1953 – III ZR 321/51, LM § 304 ZPO Nr. 3; Zöller/Feskorn § 304 Rz. 23. 82 Nach BGH v. 26.11.1953 – III ZR 26/52, BGHZ 11, 181 u. BGH v. 13.7.1967 – III ZR 169/66, VersR 1967, 1002 soll insoweit ausdrücklicher Vorbehalt, zumindest in den Gründen, erforderlich sein. 83 BGH v. 10.1.1989 – VI ZR 43/88, VersR 1989, 603 (Zeiten der Erwerbsunfähigkeit). 84 BGH v. 4.2.1997 – VI ZR 69/96, NJW 1997, 1709 m.w.N; eingehend Zöller/Feskorn § 301 Rz. 12 ff. 85 BGH v. 27.5.1992 – IV ZR 42/91, VersR 1992, 1087. 86 BGH v. 26.4.1991 – V ZR 213/89, NJW-RR 1991, 1468. Bedenklich BGH v. 23.1.1996 – VI ZR 387/94, NJW 1996, 1478 = JZ 1996, 1188 mit abl. Anm. Müller, wo die Zuerkennung eines Mindestschadens durch Teilurteil als zulässig angesehen wurde. 87 OLG Hamm v. 15.5.2000 – 13 U 131/99, VersR 2000, 1036. 88 BGH v. 12.7.1989 – VIII ZR 286/88, BGHZ 108, 260; BGH v. 21.2.1992 – V ZR 253/90, NJW 1992, 1769, 1770. 89 BGH v. 5.6.1991 – VIII ZR 168/90, NJW 1991, 2699.

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IV. Materielle Rechtskraft | Rz. 40.42 § 40

Rechtszug anhängig gebliebenen Teil des Rechtsstreits an sich ziehen und darüber mitentscheiden.90

IV. Materielle Rechtskraft 1. Spätfolgen des Unfalls Nicht selten treten nach Abschluss des Haftpflichtprozesses auf das Unfallereignis zurückzuführende Schadensfolgen auf. Deren Geltendmachung wird durch die rechtskräftige Entscheidung des Vorprozesses nicht ausgeschlossen, da sich deren Sperrwirkung auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bezieht.91 Ein auf Ersatz von danach auftretenden Schäden gerichteter Klageantrag stellt einen neuen Streitgegenstand dar, für den das vorangegangene Urteil nicht präjudiziell wirkt (zur Ausnahme beim Schmerzensgeld s. Rz. 40.44 ff.). Wegen des Grundsatzes der Schadenseinheit (s. Rz. 24.21 ff.) besteht allerdings die Gefahr der Verjährung. Ihr kann durch Erwirken eines Feststellungsurteils begegnet werden (s. Rz. 40.16 f.). Durch dessen Rechtskraft wird nicht nur der Haftungsgrund bindend festgeschrieben, sondern auch eine 30-jährige Verjährungsfrist eröffnet (hierzu und zur Möglichkeit einer wiederholten Feststellungsklage s. Rz. 24.4).

40.40

2. Besonderheiten bei Feststellungsurteil Ist rechtskräftig festgestellt worden, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den gesamten Schaden aus dem (näher bezeichneten) Unfall zu ersetzen, so kann in einem späteren Schadensersatzprozess der Haftungsgrund nicht mehr bestritten und, bei Fehlen eines entsprechenden Ausspruchs eine Mitverantwortung für die Schadensentstehung nicht mehr geltend gemacht werden.92 Dies gilt auch dann, wenn die Tatsachen, auf die der Mithaftungseinwand gestützt wird, im Vorprozess nicht vorgetragen worden waren, denn für die Rechtskraftpräklusion ist allein entscheidend, dass die Tatsachen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und damit hätten vorgetragen werden können.93

40.41

Einwendungen, die sich allein auf die Haftungsausfüllung, also die Höhe des Schadens und die Zurechnung einzelner Schadensfolgen, beziehen, werden durch die Rechtskraft des Urteils, welches die Schadensersatzpflicht dem Grunde nach feststellt, nicht präkludiert. Die Rechtskraft eines Feststellungsurteils, in dem die Schadensersatzpflicht dem Grunde nach festgestellt worden ist, umfasst auch nicht die Frage, ob und in welcher Höhe für einen bestimmten Zeitraum ein Verdienstausfallschaden eingetreten ist.94 Bezieht sich der Mitverschuldenseinwand auf die Höhe des Schadens (haftungsausfüllende Kausalität), wird er von der Rechtskraft des Feststellungsurteils nicht erfasst, außer wenn bereits im Feststellungsverfahren einzelne Schadenspositionen in den Antrag aufgenommen oder jedenfalls zur Sprache gebracht worden sind (weshalb das Gericht über einen bereits im Feststellungsverfahren er-

40.42

90 BGH v. 19.11.1959 – VII ZR 93/59, NJW 1960, 339; Zöller/Heßler § 538 Rz. 55. 91 Zöller/G. Vollkommer vor § 322 Rz. 53. 92 BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 179/80, VersR 1982, 877; BGH v. 19.9.2019 – I ZR 116/18, MDR 2020, 495. 93 BGH v. 14.6.1988 – VI ZR 279/87, VersR 1988, 1139; BGH v. 19.9.2019 – I ZR 116/18, MDR 2020, 495, 496. 94 BGH v. 2.12.2008 – VI ZR 312/07, NZV 2009, 131.

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§ 40 Rz. 40.42 | Verfahrensrecht

hobenen Mitverschuldenseinwand auch dann zu entscheiden hat, wenn er nur die haftungsausfüllende Kausalität betrifft).95

40.43

Die rechtskräftige Abweisung des Feststellungsantrags schließt eine spätere, auf denselben Lebenssachverhalt gestützte Klage aus; dies gilt aber nicht, soweit sich der Kläger auf Tatsachen beruft, die erst nach der letzten mündlichen Verhandlung des Vorprozesses entstanden sind.96

3. Besonderheiten bei der Schmerzensgeldklage a) Umfang der Rechtskraftwirkung 40.44

Das Schmerzensgeld wird nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung bemessen. Da alle zu diesem Zeitpunkt bestehenden und objektiv erkennbaren oder vorhersehbaren Umstände bei der Bemessung zu berücksichtigen sind, steht die Rechtskraft des daraufhin ergehenden Urteils etwaigen Nachforderungen grundsätzlich entgegen97 (zur Unzulässigkeit eines zeitlich oder gegenständlich limitierten Teilschmerzensgeldes s. Rz. 33.45). Verletzungsfolgen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetreten und nicht vorhersehbar waren und deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt geblieben sind, können dagegen geltend gemacht werden.98 Welche Folgen erkannt und berücksichtigt werden konnten, ist nach dem Urteil eines Sachkundigen, nicht aus der Sicht des Klägers oder des Gerichts zu bestimmen.99 Anders als bei der Frage der Verjährung von Folgeansprüchen unter dem Aspekt der Schadenseinheit (s. Rz. 24.21) kommt es hier nicht darauf an, ob die Möglichkeit von Spätfolgen vorhersehbar war; die nachträglich geltend gemachte Verletzungsfolge müsste sich vielmehr bereits im Vorverfahren als derart naheliegend dargestellt haben, dass sie schon damals bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnte.100 Durch einen pauschalen oder an Wahrscheinlichkeitserwägungen orientierten Risikozuschlag101 lässt sich die Reichweite der Rechtskraftwirkung nicht beeinflussen.

b) Wirkung eines Feststellungsurteils 40.45

Der Ausspruch der Ersatzpflicht für künftige immaterielle Folgen des Unfalls102 kann verjährungsrechtlich bedeutsam sein (s. Rz. 24.78), ändert aber nichts daran, dass der Verletzte ein weiteres Schmerzensgeld nur für solche Verletzungsfolgen einklagen kann, deren Eintritt nicht (nach Vorstehendem) vorhersehbar war103. Dementsprechend schließt die rechtskräfti95 BGH v. 19.9.2019 – I ZR 116/18, MDR 2020, 495, 496 m.w.N. Zur Schadensminderungspflicht s. BGH v. 14.6.1988 – VI ZR 279/87, VersR 1988, 1139. 96 BGH v. 14.2.2006 – VI ZR 322/04, NZV 2006, 408 (nicht vorhersehbare Folgen bei Schmerzensgeld) m.w.N. 97 BGH v. 24.5.1988 – VI ZR 326/87, VersR 1988, 929; BGH v. 7.2.1995 – VI ZR 202/94, NZV 1995, 225, 226. Ebenso bei rechtskräftiger Entscheidung im Adhäsionsverfahren nach § 406 Abs. 3 StPO BGH v. 20.1.2015 – VI ZR 27/14, NZV 2015, 228. 98 BGH v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 167; BGH v. 14.2.2006 – VI ZR 322/04, NZV 2006, 408 m.w.N. 99 BGH v. 24.5.1988 – VI ZR 326/87, NZV 1988, 99; BGH v. 14.2.2006 – VI ZR 322/04, NZV 2006, 408, 409. 100 BGH v. 7.2.1995 – VI ZR 202/94, NZV 1995, 225, 226. 101 Dafür OLG Köln v. 20.5.1992 – 2 U 191/91, VersR 1992, 975; v Gerlach VersR 2000, 525, 530. 102 Zum Feststellungsinteresse für einen entspr. Antrag s. Rz. 40.14 ff. 103 BGH v. 8.7.1980 – VI ZR 72/79, VersR 1980, 975; Prütting/Gielen NZV 1989, 329, 330.

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V. Weitere Hinweise | Rz. 40.47 § 40

ge Abweisung eines derartigen Feststellungsantrags nur die Geltendmachung von damals vorhersehbaren Spätfolgen aus; Folgen, die selbst in Fachkreisen unbekannt und damit unvorhersehbar waren, werden wegen der zeitlichen Grenzen der Rechtskraftwirkung nicht erfasst.104

4. Besonderheiten bei wiederkehrenden Leistungen Rechtskräftige Urteile, durch die künftig fällig werdende Rentenzahlungen festgesetzt wurden, können bei wesentlicher Änderung der zugrunde liegenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Wege einer Abänderungsklage nach § 323 ZPO angepasst werden (eingehend hierzu s. Rz. 34.29 ff.). Dies gilt im Grundsatz auch für Schmerzensgeldrenten,105 und zwar auch für deren Herabsetzung im Falle einer unerwarteten Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse.106 Die Veränderung der Lebenshaltungskosten kann beim Schmerzensgeld nicht im selben Maße wie bei Unterhaltsrenten zur Begründung herangezogen werden, weil materielle Werte und der Wert von Gesundheit und seelischem Wohlbefinden nur begrenzt kommensurabel sind.107 Bei der Anpassung ist auch zu berücksichtigen, dass die Rente aus dem vom Erstgericht für angemessen gehaltenen Kapitalbetrag errechnet worden ist (s. Rz. 33.43). Der Kläger muss daher konkret vortragen, dass sich die der Kapitalisierungsberechnung zugrunde liegende Erwartung, die Rentenzahlung könne durch Gewinne aus der Anlage des zunächst beim Schädiger verbleibenden Kapitals bedient werden, nicht erfüllt hat.108

40.46

V. Weitere Hinweise Zur Prozessführung durch den Haftpflichtversicherer im Rahmen der Direktklage s. Rz. 15.32 ff.; zum Prozessvergleich s. Rz. 16.71 ff.; zur Abänderungsklage s. Rz. 34.29 ff. Fragen der Sachverhaltsfeststellung werden ausführlich in § 41 behandelt. Das Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO, mit dem zivilrechtliche Ansprüche in einem gegen den Unfallgegner geführten Strafprozess geltend gemacht werden können, eignet sich, auch wegen der fehlenden Bindungswirkung der dort ergehenden Entscheidung gegenüber dem Haftpflichtversicherer, nicht für die Verkehrsunfallhaftung.109

BGH v. 14.2.2006 – VI ZR 322/04, NZV 2006, 408. BGH v. 15.5.2007 – VI ZR 150/06, NJW 2007, 2475 mit Anm. Teichmann. BGH v. 2.2.1968 – VI ZR 167/66, VersR 1968, 475; einschr. Notthoff VersR 2003, 966, 970. BGH v. 15.5.2007 – VI ZR 150/06, NJW 2007, 2475 mit Anm. Teichmann (nicht bei Steigerung unter 25 %); OLG Nürnberg v. 16.1.1991 – 9 U 2804/90, VersR 1992, 623; Diederichsen VersR 2005, 433, 442; Halm/Scheffler DAR 2004, 71, 76. 108 BGH v. 15.5.2007 – VI ZR 150/06, NJW 2007, 2475 mit Anm. Teichmann; restriktiver LG Hannover v. 3.7.2002 – 7 S 1820/01, NJW-RR 2002, 1253. 109 Höher/Mergner NZV 2013, 373 ff.

104 105 106 107

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40.47

§ 41 Sachverhaltsfeststellung im Prozess

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der prozessualen Sachverhaltsfeststellung . . . . . . . . . a) Rolle der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beibringungsgrundsatz . . . . . . . bb) Darlegungslast und Substantiierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rolle des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . aa) Persönliche Anhörung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Terminsvorbereitende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Augenschein, Begutachtung . . . c) Beachtlichkeit der Beweisanträge . . 2. Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . II. Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Augenschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aussage in anderem Verfahren . . . . 3. Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gutachten aus anderen Verfahren . c) Privatgutachten . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schiedsgutachten . . . . . . . . . . . . . . . 4. Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung als Beweismittel . . . . . . . b) Durchführung der Beweisaufnahme 5. Parteivernehmung . . . . . . . . . . . . . a) Vernehmung auf Parteiantrag . . . . . b) Vernehmung von Amts wegen . . . . c) Beeidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41.1 41.1 41.1 41.1 41.2 41.5 41.6 41.7 41.9 41.10 41.13 41.16 41.16 41.16 41.17 41.18 41.18 41.21 41.22 41.22 41.25 41.26 41.27 41.28 41.28 41.29 41.30 41.31 41.33 41.36 41.37 41.38 41.38 41.38 41.39 41.41

Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweisverwertungsverbote . . . . . . Anforderungen an den Beweis . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines Beweismaß . . . . . . . . Beweiserleichterung nach § 287 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsprechung zu schwer beweisbaren Tatbestandsmerkmalen . . . . a) Einwilligung des Geschädigten . . . . b) Schwer objektivierbare Gesundheitsschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unfallabläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung und Ausformung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . aa) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonstige Tatsachen . . . . . . . . . . dd) Subjektive Merkmale . . . . . . . . c) Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtliche Einordnung . . . . . . . bb) Revisibilität . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Internationales Recht . . . . . . . . d) Einzelfälle zum Anscheinsbeweis der Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Einzelfälle zum Anscheinsbeweis des Verschuldens . . . . . . . . . . . . . . . V. Tatsachenfeststellung außerhalb des Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbstständiges Beweisverfahren . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Straf- und Bußgeldverfahren . . . . . 3. Schiedsgutachten . . . . . . . . . . . . . .

2. a) b) 3. IV. 1. 2. 3.

41.42 41.42 41.43 41.46 41.49 41.49 41.50 41.51 41.53 41.53 41.54 41.55 41.56 41.56 41.58 41.59 41.60 41.62 41.64 41.66 41.68 41.73 41.74 41.75 41.92 41.132 41.132 41.132 41.133 41.134 41.135 41.137

Literatur: Baumgärtel/Laumen/Prütting Handbuch der Beweislast (4. Aufl. 2019); Gomille Informationsproblem und Wahrheitspflicht (2016); Gottwald Schadenszurechnung und Schadensschätzung

Greger | 1117

§ 41 Rz. 41.1 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess (1979); Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978); Knoche Vorgetäuschte und vorsätzlich herbeigeführte Versicherungsfälle (1991); Lepa Beweislast und Beweiswürdigung im Haftpflichtprozess (1988); Maassen Beweisprobleme im Schadensersatzprozess (1975); Musielak Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozess (1975); Prütting Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983); Stürner Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses (1976); Walter Freie Beweiswürdigung (1979).

I. Überblick 1. Grundlagen der prozessualen Sachverhaltsfeststellung a) Rolle der Parteien aa) Beibringungsgrundsatz

41.1

In Verkehrsunfallprozessen ist typischerweise nicht nur die rechtliche Beurteilung, sondern in besonderem Maße deren tatsächliche Grundlage, also der Hergang des Unfalls und das Ausmaß seiner Folgen, streitig. Die Aufklärung des Sachverhalts steht deshalb weithin im Vordergrund. Sie liegt nach dem zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz in den Händen der Parteien. Diese haben den Sachverhalt, aus dem sich die begehrten Rechtsfolgen ergeben, schlüssig darzulegen und sich zu dem Vorbringen des Gegners zu erklären (§ 138 ZPO). Der Richter hat nur darauf hinzuwirken, dass die Parteien ihrer Darlegungs- und Erklärungslast genügen (§ 139 Abs. 1 ZPO), er ist aber weder berechtigt noch verpflichtet, von sich aus den Sachverhalt zu erforschen. Die Erhebung von Beweisen zu streitigen, entscheidungserheblichen Behauptungen setzt grundsätzlich einen Beweisantritt seitens der Partei voraus. bb) Darlegungslast und Substantiierung

41.2

Das Tatsachenvorbringen vollzieht sich im Zivilprozess in der Weise, dass die eine Partei eine Behauptung aufstellt und die andere diese bestreitet oder (ausdrücklich oder stillschweigend) zugesteht. Welcher Partei die behauptende Rolle zukommt, folgt grundsätzlich aus der Verteilung der Beweislast (s. Rz. 41.38 ff.): Demnach hat jede Partei die Umstände darzulegen, aus denen das Gesetz die ihr günstige Rechtsfolge ableitet. Für die Schlüssigkeit ihres Vorbringens (ohne die Gericht und Gegner nicht zu einer inhaltlichen Befassung mit der Klage verpflichtet sind und nicht einmal ein Versäumnisurteil ergehen kann) genügt die knappe Wiedergabe der tatsächlichen Umstände, aus denen sich die Tatbestandsmerkmale der betr. Norm ergeben; es ist nicht nötig, dass der streitige Lebensvorgang von vornherein in allen Einzelheiten dargestellt wird.1 Der Gegner muss den Behauptungen grundsätzlich (Ausnahmen s. Rz. 41.3) nicht mit substantiiertem Vortrag entgegentreten, sondern kann sich auf einfaches Bestreiten beschränken.2 Sodann ist es Sache des Darlegungspflichtigen, sein Vorbringen so zu ergänzen und mit Beweisangeboten zu versehen, dass der Richter erkennen kann, welche Schritte nunmehr zur Aufklärung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts geboten sind. Auch hierbei dürfen jedoch an die Substantiierung des Vorbringens keine überzogenen Anforderungen gestellt werden: Entgegen einer vom BGH vielfach gerügten Praxis braucht die Partei nicht anzugeben, welche konkreten Feststellungen der Sachverständige treffen soll, was genau der Zeuge bekun-

1 BGH v. 29.2.2012 – VIII ZR 155/11, NJW 2012, 1647, 1648 m.w.N. 2 BGH v. 7.7.2020 – VI ZR 212/19, MDR 2020, 1335; Zöller/Greger § 138 Rz. 8a m.w.N.

1118 | Greger

I. Überblick | Rz. 41.3 § 41

den soll, woher er seine Kenntnis hat usw.3 Lediglich beim mittelbaren Beweis (mit Hilfe von Indizien) kann es zur Prüfung der Tauglichkeit des angebotenen Beweismittels geboten sein, neben der zu beweisenden Haupttatsache auch die Hilfstatsachen zu bezeichnen, aus denen sich die Haupttatsache ergeben soll.4 Der Gegner des Darlegungs- und Beweispflichtigen ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die Informationen zu liefern, mit denen dessen Vorbringen untermauert werden könnte; eine allgemeine Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei lehnt die Rechtsprechung ab.5 Bestreitet er gem. § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen, erhöht dies die zur Beweiserhebung nötigende Substantiierungslast des Beweispflichtigen nicht.6 Ein solches Bestreiten ist nach § 138 Abs. 4 ZPO ohnehin unzulässig, wenn es eine eigene Handlung oder einen Gegenstand eigener Wahrnehmung betrifft; nach der Rechtsprechung auch dann, wenn und soweit eine Informationspflicht der Partei hinsichtlich der vom Gegner behaupteten Tatsachen besteht.7 Bei einer juristischen Person kommt es auf ihre Organe an; sie haben jedoch eine Erkundigungspflicht, sofern die maßgebenden Tatsachen Personen bekannt sind, die unter ihrer Anleitung, Aufsicht oder Verantwortung tätig geworden sind.8 Bestreitet eine Partei trotz des Bestehens einer Informationspflicht mit Nichtwissen, gilt der Vortrag des Gegners gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn sich für die Partei nach den gebotenen Erkundigungen keine weiteren Erkenntnisse ergeben oder die Partei nicht beurteilen kann, welche von mehreren unterschiedlichen Darstellungen über den Geschehensablauf der Wahrheit entspricht, und sie das Ergebnis ihrer Erkundigungen in den Prozess einführt.9 Abweichend von Vorstehendem genügt das einfache Bestreiten gegnerischen Vorbringens nicht, wenn die Regeln der Rechtsprechung zur sekundären Darlegungslast eingreifen. Diesen zufolge ist dann, wenn dem Darlegungspflichtigen die Kenntnis wesentlicher Tatsachen fehlt, weil er außerhalb des maßgeblichen Geschehensablauf steht, der über diese Kenntnis verfügende Gegner im Rahmen des Zumutbaren zu einem substantiierten Bestreiten verpflichtet, d.h. er muss das Bestreiten mit konkreten Angaben aus seinem Wahrnehmungsbereich untermauern.10 Anderenfalls gilt das Vorbringen des Darlegungspflichtigen trotz seiner mangelnden Substantiierung als zugestanden. Um Ausforschung zu vermeiden, muss der Vortrag des Beweispflichtigen allerdings greifbare Anhaltspunkte für seine Behauptung liefern;11 hat der Gegner substantiiert bestritten, ist es wiederum an ihm, dem mit entsprechen3 BGH v. 25.10.2011 – VIII ZR 125/11, NJW 2012, 382 m.w.N.; BGH v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10 Rz. 43 f., NJW 2012, 2427. 4 S. z.B. BGH v. 4.5.1983 – VIII ZR 94/82, BGHZ 87, 227. 5 BGH v. 11.6.1990 – II ZR 159/89, NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991) 203 mit Anm. Stürner = JR 1991, 415 mit Anm. Schreiber; a.A. Stürner Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses (1976), S. 92 ff.; Schlosser NJW 1992, 3275. Eingehend zum Wechselspiel des Parteivortrags Zöller/Greger § 138 Rz. 8 ff. 6 BGH v. 25.9.2018 – VI ZR 234/17, MDR 2019, 119. 7 BGH v. 23.7.2019 – VI ZR 337/18, NJW 2019, 3788 m.w.N. Zur Informationspflicht des Haftpflichtversicherers s. Rz. 15.32. 8 BGH v. 22.4.2016 – V ZR 256/14, NJW-RR 2016, 1251. 9 BGH v. 23.7.2019 – VI ZR 337/18, NJW 2019, 3788. 10 BGH v. 17.3.1987 – VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190, 196 m.w.N. Eingehend mit Darstellung der reichhaltigen Kasuistik Zöller/Greger vor § 284 Rz. 34 f.; Gomille Informationsproblem und Wahrheitspflicht (2016), S. 50 ff. 11 BGH v. 13.6.2012 – I ZR 87/11 Rz. 17, NJW 2012, 3774 u. BGH v. 11.4.2013 – I ZR 61/12 Rz. 31, VersR 2014, 726 („gewisse Wahrscheinlichkeit“); BGH v. 17.12.2014 – IV ZR 90/13 Rz. 21, NJW 2015, 947 („schlüssige Indizien“).

Greger | 1119

41.3

§ 41 Rz. 41.3 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

den Beweisangeboten entgegenzutreten, denn an seiner Beweislast ändert die sekundäre Darlegungslast des Gegners nichts.12 – Aus der sekundären Darlegungslast kann sich auch eine Pflicht zu Nachforschungen ergeben,13 nicht aber zur Benennung von Zeugen bzw. Mitteilung deren ladungsfähiger Anschrift14 oder zur Vorlage von Urkunden und anderen Unterlagen (s. aber Rz. 41.8).15

41.4

Beispiele: Im Bereich des Unfallhaftungsrechts kommt eine sekundäre Darlegungslast wegen fehlender Einblicke des Darlegungspflichtigen in die Verhältnisse des Gegners vor allem in Betracht hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit,16 der Kontrollmaßnahmen des Verkehrssicherungspflichtigen,17 des Unterlassens anderweitiger Verwertung der Arbeitskraft beim Verdienstausfall,18 der Ersparnis von Aufwendungen,19 des Vorteilsausgleichs,20 individueller steuerlicher Auswirkungen.21 Bestreitet der beklagte Kfz-Halter, dass es sich bei dem unfallbeteiligten Fahrzeug entgegen darauf hindeutender Anzeichen (z.B. Aufschrift, spezielle Lackierung oder Ausstattung) um ein von ihm gehaltenes handelt, muss er Umstände darlegen, die diese Indizwirkung entkräften (z.B. wo sich sein Kfz zur Unfallzeit befand). Trägt er vor, dass nicht ihm gehörende Fahrzeuge dieselbe Aufschrift tragen, handelt es sich nicht um die Erfüllung einer sekundären Darlegungslast, sondern um die Entkräftung der Indizwirkung, die erst zu einer solchen führen würde.22

b) Rolle des Gerichts 41.5

Mit dem Grundsatz, dass die Beweismittel von den Parteien beizubringen sind, korrespondiert die Verpflichtung des Gerichts, alle angebotenen, entscheidungserheblichen Beweise zu erheben (s. Rz. 41.10 ff.). Zudem kann das Gericht aber in gewissen Grenzen und im Rahmen des von den Parteien unterbreiteten Streitstoffs auch von Amts wegen zur Sachverhaltsermittlung beitragen. Im Einzelnen kommt hier in Betracht: aa) Persönliche Anhörung der Parteien

41.6

Nach § 141 ZPO sind die Parteien grundsätzlich („sollen“) persönlich anzuhören, wenn sie eigene Kenntnisse von dem streitigen Lebenssachverhalt besitzen, also z.B. den Unfall selbst erlebt haben.23 Der Richter kann auf diese Weise ein lebensnäheres Bild von dem tatsäch12 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118, 1119; BGH v. 8.1.2014 – I ZR 169/12 Rz. 18, NJW 2014, 2360. 13 BGH v. 11.4.2013 – I ZR 61/12 Rz. 31, VersR 2014, 726; BGH v. 8.1.2014 – I ZR 169/12, NJW 2014, 2360. 14 BGH v. 17.1.2008 – III ZR 239/06, NJW 2008, 982. 15 BGH v. 26.6.2007 – XI ZR 277/05, BGHZ 173, 23 = ZZP 120 [2007], 512 mit Anm. VölzmannStickelbrock. 16 BGH v. 29.1.2003 – IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118, 1119. 17 OLG Celle v. 21.6.2000 – 9 U 9/00, OLGR Celle 2001, 36. 18 BGH v. 23.1.1979 – VI ZR 103/78, VersR 1979, 424, 425; OLG Hamm v. 17.5.2016 – 9 W 27/15, VersR 2017, 235. 19 BGH v. 17.2.2004 – X ZR 108/02, MDR 2004, 898 (auch zur Zumutbarkeit der Offenlegung von wirtschaftlichen Verhältnissen). 20 BGH v. 4.4.2014 – V ZR 275/12, NJW 2015, 468, 470. 21 BGH v. 15.7.2010 – III ZR 336/08 Rz. 45 ff., BGHZ 186, 205. 22 Ungenau daher OLG Frankfurt v. 31.3.2020 – 13 U 226/15, juris. Die Bejahung der Haltereigenschaft beruht hier nicht auf einem fingierten Zugestehen, sondern auf Beweiswürdigung. 23 OLG München v. 13.5.2011 – 10 U 3951/10, NJW 2011, 3729; OLG Schleswig v. 20.12.2007 – 7 U 45/07, NZV 2009, 79.

1120 | Greger

I. Überblick | Rz. 41.7 § 41

lichen Geschehensablauf gewinnen als es schriftliche Darstellungen zu vermitteln vermögen, die nicht selten beschönigend sind oder Wesentliches verschweigen. Er kann Vorhaltungen machen, die Hintergründe von widersprüchlichen Darstellungen aufzuklären versuchen und aus dem Verhalten bei der Gegenüberstellung mit der Gegenpartei oder mit Zeugen Schlüsse für die Beweiswürdigung ziehen. Oft wird sich durch eine Parteianhörung in der Güteverhandlung (§ 278 Abs. 2 ZPO) oder im frühen ersten Termin (§ 275 ZPO) sogar eine förmliche Beweisaufnahme vermeiden lassen, weil sich ergibt, dass es auf angetretene Zeugenbeweise gar nicht ankommt; das unmittelbare Gespräch mit den Parteien bietet zudem bessere Möglichkeiten für gütliche Streiterledigungen. Eine Parteianhörung kann auch die Grundlage für eine förmliche Parteivernehmung schaffen, indem sie die hierfür erforderliche Wahrscheinlichkeit der streitigen Tatsachenbehauptung vermittelt (s. Rz. 41.33). U.U. kann der Richter sogar zur persönlichen Ladung der Partei verpflichtet sein, nämlich dann, wenn nur die Gegenseite einen Zeugen für ihre Unfallversion aufbieten kann; der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit gebietet es in solchen Fällen, der in Beweisnot befindlichen Partei wenigstens auf diesem Wege nicht nur rechtliches, sondern auch „tatsächliches“ Gehör durch persönliche Anhörung nach § 141 ZPO24 oder zumindest zur Wortmeldung nach § 137 Abs. 4 ZPO25 oder Befragung des gegnerischen Zeugen nach § 397 Abs. 2 ZPO26 zu verschaffen. bb) Terminsvorbereitende Maßnahmen Beiziehung von Urkunden, Akten, Einholung amtlicher Auskünfte (§§ 142, 273 Abs. 2 Nr. 2, 5 ZPO) sind zulässig als terminsvorbereitende Maßnahmen, also nicht zu Beweiszwecken. Grundsätzlich setzen sie daher einen Beweisantritt der Partei voraus (§§ 420 ff., 432 Abs. 1 ZPO); ein solcher liegt allerdings auch in dem Antrag auf Erlass einer Anordnung nach § 142 ZPO gegen einen Dritten (§ 428 Alt. 2 ZPO). Ansonsten sind Vorlageanordnungen auch von Amts wegen als vorbereitende Maßnahmen insoweit zulässig, als sie der Ergänzung und Aufhellung des Parteivorbringens dienen sollen, sofern sich eine Partei wenigstens mittelbar darauf bezogen hat; sie werden dann Gegenstand der mündlichen Verhandlung und können nach § 286 ZPO verwertet werden. Nach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO können z.B., wenn in der Klageschrift auf die polizeiliche Aufnahme des Unfalls hingewiesen wird, die entsprechenden Ermittlungsakten beigezogen werden27 (zur Frage der Verwertbarkeit darin enthaltener Zeugenaussagen oder Gutachten s. Rz. 41.21, 41.25); wenn sich eine Partei auf eine bestimmte Straßenbeschilderung oder Ampelschaltung beruft, können diesbezügliche Unterlagen der Verwaltungsbehörde angefordert werden.28 Eine unzulässige, gegen die gerichtliche Neutralitätspflicht verstoßende Amtsermittlung wäre es jedoch, wenn das Gericht von sich aus nachforschen würde, ob gegen eine Partei ein Strafverfahren anhängig war, ebenso wenn es von sich aus den Inhalt von Akten eines anderen Zivilprozesses verwerten29 oder eigenmächtig Recherchen im Internet vornehmen würde.30 – Zur Vorbereitung der mündlichen Verhand-

24 BVerfG v. 21.2.2001 – 2 BvR 140/00, NJW 2001, 2531; BGH v. 27.9.2005 – XI ZR 216/04, NJWRR 2006, 61. 25 BVerfG v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170. 26 BGH v. 8.7.2010 – III ZR 249/09, NJW 2010, 3292, 3293. 27 OLG Schleswig v. 20.12.2007 – 7 U 45/07, NZV 2009, 79. 28 KG v. 26.10.2006 – 22 U 193/05, VersR 2008, 797. 29 BVerfG v. 29.12.1993 – 2 BvR 65/93, NJW 1994, 1210. 30 McCorkle Allgemeinkundigkeit (2018), S. 209; Greger in FS Stürner (2013) S. 289 ff.

Greger | 1121

41.7

§ 41 Rz. 41.7 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

lung kann sich auch ein formloser Erörterungstermin (persönlich, per Telefon- oder Videokonferenz) mit den Prozessbevollmächtigten, ggf. auch unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.d.F. des Gesetzes v. 12.12.2019, BGBl I 2019, 2633), empfehlen.31

41.8

Zur Befugnis des Gerichts, von Amt wegen die Vorlage von schriftlichen Unterlagen anzuordnen, die sich im Besitz des Gegners oder eines Dritten befinden und auf die sich eine (beliebige) Partei bezogen hat (§ 142 Abs. 1 ZPO) s. Rz. 41.29. cc) Augenschein, Begutachtung

41.9

Diese Beweiserhebungen können auch ohne entsprechenden Beweisantrag vom Gericht angeordnet werden (§ 144 ZPO). Zur Wahrung der Parteiherrschaft wird das Gericht allerdings vorab durch Erörterung gem. § 139 ZPO klären, ob (ggf. warum nicht) der Beweisbelastete die Initiative ergreift.32 Beweiserhebung von Amts wegen sollte nicht allein deshalb angeordnet werden, weil eine Partei den ihr für ihren Beweisantritt auferlegten Auslagenvorschuss (§ 379 ZPO) nicht eingezahlt hat,33 sondern auch in diesem Fall nur dann, wenn das Gutachten für eine sachgerechte Entscheidung unentbehrlich erscheint. Die Anordnung ist ermessensfehlerhaft, wo ein entspr. Beweisantrag (z.B. als Ausforschungsbeweis) zurückzuweisen wäre.34

c) Beachtlichkeit der Beweisanträge 41.10

Ein Beweisantrag darf nur unter engen, im Verfahrensrecht geregelten Voraussetzungen unbeachtet bleiben;35 anderenfalls verletzt das Gericht den durch Art. 103 GG garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör.36 Sofern ein Ablehnungsgrund vorliegt, ergeht keine ausdrückliche Entscheidung. Das Gericht sieht dann von der Beweiserhebung ab; soweit sich der Grund hierfür nicht aus dem Urteilskontext ergibt, ist er in den Gründen darzulegen.37

41.11

Zulässige Ablehnungsgründe sind insbesondere: – fehlende Entscheidungserheblichkeit; – fehlende Beweisbedürftigkeit, z.B. weil die Tatsache bereits bewiesen38 oder offenkundig (§ 291 ZPO) ist,39 weil für sie eine gesetzliche Vermutung besteht (s. aber § 292 ZPO zur Zulassung des Gegenbeweises) oder weil die Behauptung ohne Benachteiligung des Gegners als wahr unterstellt werden kann;40

31 Zöller/Greger § 273 Rz. 14a; näher Greger NJW 2014, 2554; zum Vorgespräch mit Sachverständigen Schobel MDR 2014, 1004. 32 OLG München v. 10.1.2014 – 10 U 2231/13, NZV 2015, 38. 33 OLG Düsseldorf v. 10.12.1973 – 6 U 136/73, MDR 1974, 321. 34 BGH v. 3.4.1952 – IV ZR 136/51, BGHZ 5, 302, 307; Stein/Jonas/Althammer § 144 Rz. 14. 35 Grundlegend BGH v. 17.2.1970 – III ZR 139/67, BGHZ 53, 245, 260. 36 BVerfG v. 30.1.1985 – 1 BvR 393/84, BVerfGE 69, 141; BVerfG v. 10.2.2009 – 1 BvR 1232/07, NJW 2009, 1585 m.w.N. 37 Zöller/Greger vor § 284 Rz. 8b. 38 Nicht: ihr Gegenteil; BGH v. 6.2.2014 – V ZR 262/13, FamRZ 2014, 749. 39 S. hierzu Zöller/Greger § 291 Rz. 1 ff.; McCorkle Allgemeinkundigkeit (2018), S. 43 ff. (insb. zur unzulässigen Ersetzung der Beweisaufnahme durch Internetrecherchen). 40 BGH v. 17.2.1970 – III ZR 139/67, BGHZ 53, 245, 260.

1122 | Greger

I. Überblick | Rz. 41.12 § 41

– Ungeeignetheit des Beweismittels; sie darf nur bejaht werden, wenn es – ohne Vorwegnahme der Beweiswürdigung – völlig ausgeschlossen ist, dass das Beweismittel sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann;41 – Unerreichbarkeit des Beweismittels auf unabsehbare Zeit;42 – Unzulässigkeit der Beweiserhebung, z.B. wegen nicht durch übergeordnete Interessen gerechtfertigten Eingriffs in verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter (s. Rz. 41.46 ff. zu den Beweisverwertungsverboten); – Missbrauch zu Ausforschungszwecken; ein solcher kann nur angenommen werden, wenn willkürliche Behauptungen ohne jeglichen Anhaltspunkt im realen Sachverhalt aufgestellt werden;43 – Verspätung i.S.d. §§ 296, 530, 531 ZPO; – beim Sachverständigenbeweis eigene Sachkunde des Gerichts (s. Rz. 41.22); – beim mittelbaren Beweis (Indizienbeweis) fehlende Mitteilung der Gründe, die den Rückschluss auf den zu beweisenden Umstand zulassen.44

41.12

Dagegen darf ein Beweisantrag z.B. nicht abgelehnt werden – weil die Partei eine Tatsache vorträgt, von der sie gar keine gesicherte Kenntnis haben kann (etwa innere Tatsachen bei einer anderen Person, Kausalabläufe, Verabredungen zwischen anderen);45 – weil der Antragsteller das Beweismittel selbst nicht beibringen kann (z.B. eine Urkunde oder einen in Augenschein zu nehmenden oder zu begutachtenden Gegenstand; dazu s. Rz. 41.7 f.); – weil die beantragte Zeugenvernehmung nur geringe Aussagekraft hätte;46 – weil es lebensfremd sei, dass der Zeuge die behauptete Wahrnehmung gemacht hat;47 – weil dem benannten Zeugen die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird;48 – weil die in sein Wissen gestellte Behauptung oder seine Wahrnehmung unwahrscheinlich erscheint;49

41 BVerfG v. 28.2.1992 – 2 BvR 1179/91, NJW 1993, 254; BGH v. 26.11.2003 – IV ZR 438/02, NJW 2004, 767, 769. 42 BGH v. 3.5.2006 – XII ZR 195/03, BGHZ 168, 79, 85 (zu den notwendigen Bemühungen des Gerichts); BGH v. 29.1.1992 – VIII ZR 202/90, NJW 1992, 1768 (Zeuge im Ausland). 43 BGH v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10, NJW 2012, 2427, 2431. 44 BGH v. 30.4.1992 – VII ZR 78/91, NJW 1992, 2489; BGH v. 5.3.2009 – III ZR 17/08 Rz. 20, VersR 2010, 112. 45 BGH v. 13.7.1988 – IVa ZR 67/87, NJW-RR 1988, 1529; BGH v. 10.1.1995 – VI ZR 31/94, NJW 1995, 1160, 1161. 46 BGH v. 13.9.2004 – II ZR 137/02, MDR 2005, 164. 47 BGH v. 29.10.2008 – IV ZR 272/06, VersR 2009, 517. 48 BGH v. 3.11.1987 – VI ZR 95/87, NJW 1988, 566; BGH v. 15.2.2011 – VI ZR 190/10, VersR 2011, 817. 49 BGH v. 12.9.2012 – IV ZR 177/11, NJW-RR 2013, 9.

Greger | 1123

§ 41 Rz. 41.12 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

– weil der Beweis statt durch Zeugenvernehmung auch mit anderen Mitteln (z.B. Vorlage von Akten) geführt werden könnte;50 – weil der benannte Zeuge nur mittelbare Wahrnehmungen (z.B. „vom Hörensagen“ bekunden kann;51 – weil zum Beweis innerer Tatsachen bei einer bestimmten Person nicht diese selbst, sondern nur ein mittelbarer Zeuge benannt wird;52 – weil ein Beweismittel vorübergehend nicht erreichbar ist (in diesem Fall gilt § 356 ZPO); – weil die Partei ihren Sachvortrag geändert hat;53 – weil die unter Beweis gestellte Tatsache im Gegensatz zu einem Geständnis im Strafverfahren steht;54 – weil im Antrag keine näheren Einzelheiten zu dem, was der Zeuge bekunden soll oder woraus er seine Kenntnis ableitet, mitgeteilt werden; es genügt, wenn er für die Tatsache benannt wird, aus der die begehrte Rechtsfolge abgeleitet wird;55 – weil der Antragsteller nicht mitteilt, welche Anhaltspunkte er für die Richtigkeit der in das Wissen des Zeugen gestellten Behauptungen hat.56

2. Beweisverfahren 41.13

Ziel muss stets die Begründung der richterlichen Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit der streitigen Behauptung sein (§ 286 Abs. 1 ZPO). Wird dieses Ergebnis nicht erzielt, ist nach der Beweislast zu entscheiden (s. Rz. 41.38 ff.). Gerade in Haftpflichtprozessen greifen jedoch vielfach von der Rechtsprechung entwickelte Beweiserleichterungen ein (s. Rz. 41.49 ff.). Für die Bezifferung einer Forderung sieht die ZPO selbst in § 287 eine Ermäßigung der Beweisanforderungen nach richterlichem Ermessen vor.

41.14

Mittel des Beweises sind nach § 284 Satz 1 ZPO ausschließlich die in den §§ 371 ff. ZPO eingehend geregelten Erkenntnisquellen Augenschein, Zeuge, Sachverständiger, Urkunde und Parteivernehmung (i.E. s. Rz. 41.16 ff.). Nach § 284 Satz 2 ZPO kann das Gericht aber mit Einverständnis der Parteien die Beweise in jeder sonstigen, ihm geeignet erscheinenden Weise erheben, z.B. durch telefonische Auskünfte oder Internetrecherchen (sog. Freibeweis).57 Für die Beweiswürdigung kann (und muss) es sich auf den gesamten Inhalt der Verhandlungen,58 nicht nur auf das Ergebnis förmlicher Beweiserhebungen, stützen (§ 286 Abs. 1 ZPO).

50 BGH v. 25.7.2005 – II ZR 199/03, BGHReport 2005, 1589. 51 BGH v. 3.5.2006 – XII ZR 195/03, BGHZ 168, 79, 84; BGH v. 6.10.2016 – VII ZR 185/13, NJW 2017, 386, 388. 52 BGH v. 11.2.1992 – XI ZR 47/91, NJW 1992, 1899; BGH v. 8.5.2002 – I ZR 28/00, NJW 2002, 1433, 1435. 53 BGH v. 21.7.2011 – IV ZR 216/09, VersR 2011, 1384; BGH v. 21.6.2018 – IX ZR 129/17, MDR 2018, 1334. 54 BGH v. 15.3.2004 – II ZR 136/02, NJW-RR 2004, 1001, 1002. 55 BGH v. 2.4.2007 – II ZR 325/05 Rz. 23, NJW-RR 2007, 1483 m.w.N. Zum mittelbaren Beweis s. aber Rz. 41.11 a.E. 56 BGH v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10 Rz. 44, NJW 2012, 2427. 57 S. dazu Greger, NJW-Sonderheft BayObLG, 2005, 36, 39. 58 Näher dazu Zöller/Greger § 286 Rz. 2, 14.

1124 | Greger

II. Beweismittel | Rz. 41.17 § 41

In der zweiten Instanz sind neue Tatsachenfeststellungen seit der ZPO-Reform von 2002 nur noch zulässig, wenn sie geboten sind, weil konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen des Erstgerichts begründen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), oder wenn sie sich auf zulässigerweise neu eingeführte Tatsachenbehauptungen beziehen (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 531 Abs. 2 ZPO). Die Rechtsprechung legt diese Voraussetzungen eher großzügig aus.59 In keinem Fall darf das Berufungsgericht aber die Aussage von Zeugen, bei denen es auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit ankommt, ohne eigene Beweisaufnahme abweichend von der ersten Instanz würdigen.60

41.15

II. Beweismittel 1. Augenschein a) Anordnung Zum Erlangen eines unmittelbaren Eindrucks von der Unfallörtlichkeit oder einer Unfallfolge kann eine Besichtigung durch das Gericht sehr hilfreich sein. Das Gericht kann sie nach seinem Ermessen von Amts wegen anordnen (§ 144 ZPO); einem Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins (§ 371 ZPO) in Bezug auf eine erhebliche und beweisbedürftige Tatsache muss es entsprechen, sofern kein Ablehnungsgrund analog § 244 Abs. 3, 5 StPO vorliegt.61 Werden von einer Partei Fotografien vorgelegt, die einen eindeutigen Gesamteindruck vermitteln, und behauptet die beweispflichtige Partei keine abweichenden Merkmale, so kann von einer Ortsbesichtigung abgesehen werden.62 Angesichts der Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung ist aber Vorsicht geboten.

41.16

b) Durchführung Zur Ermöglichung eines Augenscheins kann das Gericht von Amts wegen die in § 144 ZPO geregelten Maßnahmen treffen. Den Parteien ist Gelegenheit zur Teilnahme an dem Augenschein zu geben (§ 357 ZPO); grundsätzlich ist auch das Öffentlichkeitsgebot zu wahren.63 Auch ein „informatorischer“ Augenschein, mit dem sich das Gericht einen unmittelbaren Eindruck von unstreitigen oder allgemeinkundigen Tatsachen verschaffen will, setzt voraus, dass den Parteien Gelegenheit zur Teilnahme gegeben wird.64 Das gilt auch für richterliche Recherchen im Internet.65 Im einverständlichen Freibeweisverfahren (§ 284 Abs. 2 ZPO) gilt das strikte Gebot der Parteiöffentlichkeit zwar nicht; Tatsache und Ergebnis des informellen Augenscheins sind den Parteien aber zur Wahrung des rechtlichen Gehörs bekannt zu geben.

59 Im Einzelnen s. Zöller/Heßler § 529 Rz. 2 ff. 60 BGH v. 12.3.2004 – V ZR 257/03, BGHZ 158, 269 Rz. 13; BGH v. 29.10.1996 – VI ZR 262/95, NJW 1997, 466; BGH v. 10.3.1998 – VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, 2223. 61 BGH v. 28.1.1972 – V ZR 20/70, WM 1972, 388. 62 BGH v. 23.6.1987 – VI ZR 296/86, VersR 1988, 79; OLG Köln v. 13.10.1993 – 11 U 89/93, NZV 1994, 279. Zur Ersetzung durch dreidimensionale Aufnahmen s. Hähnchen/Bommel JZ 2018, 334, 339. 63 Zu Ausnahmen s. Zöller/Lückemann § 169 GVG Rz. 2 ff. 64 Stein/Jonas/Berger vor § 371 Rz. 2 f.; a.A. MünchKomm-ZPO/Zimmermann § 371 Rz. 1. 65 Zöller/Greger § 371 Rz. 1a; McCorkle Allgemeinkundigkeit (2018), S. 179 ff.

Greger | 1125

41.17

§ 41 Rz. 41.18 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

2. Zeugen a) Anordnung 41.18

Eine Zeugenvernehmung kann in keinem Fall von Amts wegen angeordnet werden; erforderlich ist immer der Beweisantritt einer Partei (§ 373 ZPO). In diesem Falle besteht die Pflicht zur Vernehmung, sofern die unter Beweis gestellte Tatsache erheblich und beweisbedürftig ist. Sie darf wegen unzulässiger Vorwegnahme der Beweiswürdigung z.B. nicht deswegen abgelehnt werden, weil die behauptete Wahrnehmung lebensfremd66 oder unwahrscheinlich ist67 oder weil das Gericht den Zeugen nicht für glaubwürdig hält (z.B. naher Angehöriger einer Partei, Geschädigter nach Abtretung seiner Ansprüche). Zur Beweiswürdigung in diesen Fällen s. Rz. 41.44.

41.19

Auch ein Zeuge, der das Unfallgeschehen nicht selbst beobachtet, sondern nur die Erörterungen zwischen den Betroffenen nach dem Unfall mitgehört hat, darf nicht von vorneherein als untaugliches Beweismittel behandelt werden. Es ist durchaus möglich, dass mit seiner Hilfe ein mittelbarer Beweis geführt werden kann. Gerade die im unmittelbaren Anschluss an das Unfallgeschehen abgegebenen Äußerungen der Augenzeugen über die Unfallursache können für deren Feststellung von großer Bedeutung sein, weil sie in der Regel nicht von Überlegungen zur Haftungsfrage beeinflusst sind.68

41.20

Unter den Voraussetzungen des § 377 Abs. 3 ZPO kann auch eine schriftliche Beantwortung der Beweisfrage angeordnet werden. Zudem ist es dem Beweisführer unbenommen, statt des Zeugen- den Urkundenbeweis durch Vorlage einer schriftlichen Äußerung des Zeugen anzutreten, wenn ihm deren geringerer Beweiswert ausreichend erscheint.69

b) Aussage in anderem Verfahren 41.21

Die Verwertung des Protokolls über die Vernehmung in einem anderen Verfahren (z.B. Strafverfahren) ist Urkundenbeweis. Sie setzt voraus, dass die Akten des anderen Verfahrens zulässigerweise beigezogen (s. Rz. 41.7) und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden. Zustimmung des Gegners ist nicht erforderlich.70 Unzulässig ist die Verwertung aber, wenn der Zeuge nicht ordnungsgemäß belehrt worden war.71 In der Verwertung des Protokolls liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs.72 Beantragt eine Partei jedoch die Vernehmung des Zeugen, so ist dem stattzugeben.73 Ein bloßer Widerspruch gegen die Verwertung genügt hierfür nicht;74 auf die Notwendigkeit eines Beweisantrags ist aber ggf. hinzuweisen.75 Die Richtigkeit der Zeugenaussage darf nicht aus Gründen bejaht oder angezweifelt werden, die sich nicht aus der Urkunde ergeben und für die sich auch sonst keine

BGH v. 29.10.2008 – IV ZR 272/06, VersR 2009, 517. BGH v. 12.9.2012 – IV ZR 177/11, NJW-RR 2013, 9. BGH v. 2.5.1990 – IV ZR 310/88, NJW-RR 1990, 1276. BGH v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06, NZV 2007, 294. BGH v. 19.4.1983 – VI ZR 253/81, VersR 1983, 667. BGH v. 12.2.1985 – VI ZR 202/83, NJW 1985, 1470. BVerfG v. 15.6.1992 – 1 BvR 1511/91, NZV 1993, 185. BGH v. 14.7.1952 – IV ZR 25/52, BGHZ 7, 116; BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 215/91, NZV 1992, 403 mit Anm. Hällmayer NZV 1992, 481. 74 BGH v. 19.12.1969 – VI ZR 128/68, VersR 1970, 322. 75 BGH v. 12.7.2013 – V ZR 85/12, MDR 2013, 1184.

66 67 68 69 70 71 72 73

1126 | Greger

II. Beweismittel | Rz. 41.23 § 41

belegbaren Umstände finden lassen.76 Eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit lässt die Urkunde nicht zu;77 dies gilt auch dann, wenn sich in der anderen Akte Vermerke über die Umstände der seinerzeitigen Vernehmung finden.78

3. Sachverständige a) Anordnung Erfordert die Feststellung der Wahrheit einer Behauptung eine besondere, dem Gericht fehlende und nicht auf andere Weise zu beschaffende Sachkunde, ordnet es auf Antrag (§ 403 ZPO) oder von Amts wegen (§ 144 ZPO) die Erstattung eines Gutachtens an. Als „nicht erforderlich“ kann das Gericht einen Antrag auf Begutachtung nur ablehnen, wenn ausgeschlossen werden kann, dass der Beweis mit Hilfe des Gutachtens geführt werden kann.79 Bei gegensätzlichem Vortrag zur Ampelstellung ist zu prüfen, ob ein Sachverständiger mithilfe der Verkehrsrechnerdaten, die oftmals auch die Detektorsignale erfassen, den Hergang aufklären kann.80 – Bei eigener Sachkunde kann der Antrag abgelehnt werden, doch ist bei nicht ganz einfachen technischen oder medizinischen Sachverhalten regelmäßig die Einholung eines Gutachtens geboten.81 Entscheidet das Gericht ohne Zuziehung eines Sachverständigen, so muss es seine eigene Sachkunde den Parteien mitteilen82 und in den Urteilsgründen darlegen.83 Dies gilt erst recht, wenn es von den Feststellungen eines eingeholten Gutachtens abweichen will; beruht dies darauf, dass das Gericht die das Gutachten tragenden Anknüpfungstatsachen für unrichtig hält, ist ein Ergänzungsgutachten oder eine mündliche Erörterung mit diesem oder einem anderen Sachverständigen geboten.84 – Bei Vorliegen einander widersprechender Gutachten kann das Gericht, ebenfalls nach seinem Ermessen, ein Obergutachten (§ 412 ZPO) in Auftrag geben85; sieht es hiervon ab, muss es mit fundierter Begründung erklären, weshalb es einem von ihnen den Vorzug gibt.86

41.22

Ob das Gericht den Sachverständigen persönlich befragt (§ 402 i.V.m. § 394 ff. ZPO) oder ein schriftliches Gutachten in Auftrag gibt (§ 411 Abs. 1 ZPO), steht in seinem Ermessen. Gründe der Unmittelbarkeit und der Prozessökonomie sprechen für die mündliche Begutachtung; nur wenn die Komplexität des Beweisthemas eine schriftliche Ausarbeitung erfordert, sollte eine solche angeordnet werden.87

41.23

76 BGH v. 9.7.1981 – III ZR 189/79, NJW 1982, 580; BGH v. 9.6.1992 – VI ZR 215/91, NZV 1992, 403 mit Anm. Hällmayer NZV 1992, 481. 77 BGH v. 13.6.1995 – VI ZR 233/94, NZV 1995, 441. 78 BGH v. 30.11.1999 – VI ZR 207/98, VersR 2000, 610. 79 BGH v. 3.6.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502. 80 Aufschlussreich dazu Dembsky/Nugel DAR 2017, 724 ff. 81 BGH v. 10.5.1994 – VI ZR 192/93, VersR 1994, 984; BGH v. 14.2.1995 – VI ZR 106/94, NZV 1995, 230; BGH v. 23.2.1999 – VI ZR 76/98, NZV 1999, 242. 82 BGH v. 13.1.2015 – VI ZR 204/14, NJW 2015, 1311. 83 BGH v. 9.5.1989 – VI ZR 268/88, NJW 1989, 2948; BGH v. 2.3.1993 – VI ZR 104/92, VersR 1993, 749; BGH v. 13.7.2000 – VII ZR 139/99, NJW-RR 2000 1547. 84 BGH v. 21.1.1997 – VI ZR 86/96, NZV 1997, 228. 85 BGH v. 17.2.1970 – III ZR 139/67, BGHZ 53, 245, 258. 86 BGH v. 4.3.1980 – V ZR 6/79, VersR 1980, 533. 87 Zöller/Greger § 411 Rz. 1; Schneider/Schmaltz NJW 2011, 3270, 3272; Fetzer MDR 2009, 602, 606 f.

Greger | 1127

§ 41 Rz. 41.24 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

41.24

Benötigt der Sachverständige für die Begutachtung den Zugriff auf einen Gegenstand oder Zugang zu einem Grundstück, kann das Gericht eine Anordnung über die Herausgabe bzw. die Verschaffung des Zugangs erlassen (§ 144 ZPO). Adressat kann jede Person sein, die im Besitz des Gegenstands ist: jede Partei (unabhängig von der Beweislast) und jeder Dritte (für den allerdings dieselben Verweigerungsrechte bestehen wie für Zeugen; § 144 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 ZPO). Auf diesem Wege kann dem Sachverständigen z.B. das Auslesen von elektronisch gespeicherten Fahrzeugdaten ermöglicht werden.88

b) Gutachten aus anderen Verfahren 41.25

Sie können, wenn sie zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden, im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden,89 auch von Amts wegen und ohne Zustimmung der Parteien.90 Allerdings wird dadurch nur der Umstand bewiesen, dass in dem anderen Verfahren ein Gutachten dieses Inhalts erstattet wurde. Beantragt eine Partei ein neues Gutachten oder reicht das vorliegende Gutachten nicht aus, um die von einer Partei dazu gestellten Fragen zu beantworten, muss eine erneute (schriftliche oder mündliche) Begutachtung stattfinden.91 – Das Gericht kann auch anordnen, dass die Begutachtung durch das in einem anderen gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen Verfahren erstattete Gutachten ersetzt wird (§ 411a ZPO). Es handelt sich dann um Sachverständigenbeweis. Die Ersetzung erfordert daher einen nach Anhörung der Parteien zu erlassenden Beschluss;92 das Recht der Parteien auf Ablehnung und Anhörung des Sachverständigen bleibt unberührt.93

c) Privatgutachten 41.26

Privatgutachten können als urkundlich belegtes Parteivorbringen verwertet werden. Hält das Gericht dieses für ausreichend, um die Beweisfrage zuverlässig zu beantworten, so kann es von der Beauftragung eines Gerichtsgutachters absehen.94 Hierauf muss der Gegner hingewiesen werden, um ggf. einen Beweisantrag stellen zu können.95 Ein Privatgutachten kann auch dazu dienen, die Überzeugungskraft eines vorliegenden Gerichtsgutachtens zu erschüttern; das Gericht muss sich mit etwaigen Widersprüchen auseinandersetzen und ggf. die Anhörung des Gerichtsgutachters oder die Erstattung eines neuen Gutachtens anordnen.96

d) Schiedsgutachten 41.27

Eine Beweisaufnahme durch einen gerichtlich bestellten Gutachter kann auch dadurch vermieden werden, dass die Parteien gemeinsam einen Sachverständigen (oder mehrere oder ein Gremium) mit der Erstattung eines Schiedsgutachtens beauftragen (z.B. über die Höhe eines

88 89 90 91 92 93 94 95 96

Näher Balzer/Nugel NJW 2016, 193, 197 ff. BGH v. 19.5.1987 – VI ZR 167/86, VersR 1987, 1092. BGH v. 27.5.1982 – III ZR 201/80, NJW 1982, 2874. BGH v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91, NZV 1992, 229, 231; BGH v. 8.11.1994 – VI ZR 207/93, NZV 1995, 149; BGH v. 6.6.2000 – VI ZR 98/99, NZV 2000, 504. Näher zum Verfahren Zöller/Greger § 411a Rz. 4. BGH v. 16.11.2011 – XII ZB 6/11, MDR 2012, 226, 228; Greger NJW-Sonderheft BayObLG, 2005, 36, 41. BGH v. 18.2.1987 – IVa ZR 196/85, VersR 1987, 1007. OLG Karlsruhe v. 8.9.1989 – 10 U 53/89, NJW 1990, 192. Vgl. BGH v. 13.2.2001 – VI ZR 272/99, NJW 2001, 2796; BGH v. 20.7.1999 – X ZR 121/96, NJW-RR 2000, 44; Lepa VersR 2001, 265, 270.

1128 | Greger

II. Beweismittel | Rz. 41.29 § 41

Schadens, die Kausalität des Unfalls für eine Verletzungsfolge). Es kann vereinbart werden, dass das Ergebnis unverbindlich, einseitig bindend oder verbindlich sein soll. An eine vereinbarte Bindungswirkung sind die Parteien auch im Prozess gebunden. Sofern nicht abbedungen,97 kann nur noch gemäß bzw. analog § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB geltend gemacht werden, dass die Betragsbestimmung offenbar unbillig bzw. die Tatsachenfeststellung offenbar unrichtig ist.98

4. Urkunden a) Bedeutung als Beweismittel Urkunden i.S.d. §§ 415 ff. ZPO sind durch Niederschrift verkörperte Gedankenerklärungen (dies unterscheidet sie vom Augenscheinsobjekt), die geeignet sind, Beweis für streitiges Parteivorbringen zu erbringen.99 Unerheblich ist, wer die Niederschrift vorgenommen hat; auch die schriftliche Erklärung eines Zeugen ist (vom Fall des § 377 Abs. 3 ZPO abgesehen) nach den Regeln des Urkundenbeweises zu verwerten,100 ebenso der von beiden Unfallfahrern unterzeichnete Unfallbericht101 oder das Unfallaufnahmeprotokoll der Polizei.102 Die Aufnahme einer Erklärung in eine Urkunde beweist nur, dass die entsprechende Erklärung abgegeben wurde; für den Sachverhalt, auf den sie sich bezieht (z.B. Herbeiführung des Unfalls) ist sie nur Indiz.103 Ebenso kann allein mit der Vorlage der Rechnung nicht der erforderliche Herstellungsaufwand bewiesen werden.104

41.28

b) Durchführung der Beweisaufnahme Hat der Beweisführer Besitz an der Urkunde, legt er sie vor (§ 420 ZPO), andernfalls kann er beantragen, dass das Gericht eine Vorlageanordnung erlässt (§ 421 ZPO). Diese setzt einen materiell-rechtlichen Herausgabeanspruch voraus, der mit dem Antrag nach §§ 421, 424 ZPO glaubhaft zu machen ist. Ist die Urkunde im Besitz eines Dritten, kann der Beweisführer, sofern er einen Anspruch auf Herausgabe der Urkunde hat, den befristeten Stillstand des Verfahrens beantragen und den Dritten auf Vorlegung verklagen (§ 428 Alt. 1, § 429 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO). – Auch bei Nichtbestehen eines Herausgabeanspruchs kann die Vorlage einer Urkunde durch den Gegner oder einen Dritten auf dem Wege des § 142 ZPO erreicht werden. Demnach kann das Gericht die Vorlage von schriftlichen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat und die es für beweiserheblich hält, ohne Rücksicht auf die Beweislast von jeder Partei oder jeder außerhalb des Prozesses stehenden Person verlangen. Die Bezugnahme muss nicht ausdrücklich erklärt werden, sondern kann sich sinngemäß aus dem Sachvortrag oder aus anderen eingereichten Unterlagen ergeben; sie muss aber so konkretisiert sein, dass die Urkunde identifizierbar ist.105 Außerdem muss aus dem Vortrag die Prozessrelevanz der

97 98 99 100 101 102 103 104 105

I.d.R. ratsam; s. Greger/Stubbe Schiedsgutachten (2007) Rz. 178. BGH v. 27.6.2001 – VIII ZR 235/00, NJW 2001, 3775, 3777. BGH v. 28.11.1975 – V ZR 127/74, BGHZ 65, 300. BGH v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06, NZV 2007, 294; auch zur Frage, ob der Zeuge zusätzlich zu vernehmen ist. Vgl. OLG Dresden v. 9.12.2009 – 7 U 949/09, NZV 2010, 256. KG v. 30.11.2017 – 22 U 34/17, MDR 2018, 339. KG v. 30.11.2017 – 22 U 34/17, MDR 2018, 339 mit Bespr. Laumen MDR 2018, 581. Vgl. BGH v. 5.6.2018 – VI ZR 171/16, VersR 2018, 1338. BGH v. 16.3.2017 – I ZR 205/15, NJW 2017, 3304 mit Anm. Dölling; näher Greger DStR 2005, 479, 482.

Greger | 1129

41.29

§ 41 Rz. 41.29 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

Urkunde erkennbar sein.106 Die Anordnung steht im Ermessen des Gerichts, kann aber parteiseits angeregt werden. Zur Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens muss das Gericht die Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit einer solchen Anordnung prüfen und das Absehen hiervon im Urteil begründen.107 Wird ein Antrag auf Vorlageanordnung gegen einen Dritten gestellt, handelt es sich nach § 428 Alt. 2 ZPO um einen Beweisantrag, dem das Gericht Folge geben muss, wenn es davon überzeugt ist, dass sich die Urkunde im Besitz des Dritten befindet, die durch die Urkunde zu beweisende Tatsache entscheidungserheblich ist und der Inhalt der Urkunde zum Beweis dieser Tatsache geeignet erscheint.108 § 142 ZPO ermöglicht z.B. die Beiziehung vorprozessualer Korrespondenz (etwa mit dem Haftpflichtversicherer) oder des schriftlichen Unfallberichts eines Zeugen;109 auch kann bei Streit um die Angemessenheit der Reparaturkosten die Vorlage der Rechnung angeordnet werden.110 Dritte können die Herausgabe nur unter Berufung auf Unzumutbarkeit oder ein Zeugnisverweigerungsrecht verweigern (§ 142 Abs. 2 Satz 1 ZPO). So kann z.B. ein Arzt die Herausgabe von Unterlagen gem. § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO verweigern, sofern ihn der Patient nicht entbindet. Wird die Herausgabe unberechtigt verweigert, werden gegen einen Dritten Ordnungsmittel wie gegen einen Zeugen verhängt (§ 142 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 390 ZPO); die Weigerung einer Partei kann bei der Beweiswürdigung verwertet werden.111

5. Parteivernehmung 41.30

In vielen Fällen sind die Parteien selbst an dem verfahrensgegenständlichen Unfall beteiligt gewesen. Häufig stellt sich daher die Frage, ob auch ihr Wissen über den Unfallhergang in den Prozess eingeführt werden kann. Soweit nicht von der (nur dem Geschädigten offenstehenden) Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, die Ansprüche aus dem Unfall an einen Dritten abzutreten, der sie dann einklagt und den Geschädigten als Zeugen benennt, kommt auch eine Parteivernehmung nach §§ 445 ff. ZPO in Betracht. Hierfür gelten im Wesentlichen folgende Regeln:

a) Vernehmung auf Parteiantrag 41.31

Auf Antrag der beweispflichtigen Partei, die den ihr obliegenden Beweis mit anderen Beweismitteln nicht vollständig geführt oder andere Beweismittel nicht vorgebracht hat, ist die Vernehmung des Gegners durchzuführen (§ 445 ZPO), während ihre eigene Vernehmung nur mit Einverständnis des Gegners (§ 447 ZPO) oder unter den Voraussetzungen des § 448 ZPO (s. Rz. 41.33) angeordnet werden kann. Die Vernehmung des Gegners setzt nicht voraus, dass der Beweisführer schon Anhaltspunkte für die Wahrheit der Behauptung erbracht hat112 oder

106 BGH v. 26.6.2007 – XI ZR 277/05, BGHZ 173, 23, 32 = ZZP 120 (2007), 512 mit Anm. Völzmann-Stickelbrock. 107 BGH v. 26.6.2007 – XI ZR 277/05, BGHZ 173, 23, 32 = ZZP 120 (2007), 512 mit Anm. Völzmann-Stickelbrock (sonst revisibler Verfahrensfehler). Zur sachgemäßen Ermessensausübung s. auch Zöller/Greger § 142 Rz. 8 m.w.N. 108 Näher dazu Zöller/Greger § 142 Rz. 11 m.w.N. 109 Zur Urkundenqualität s. BGH v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06, NZV 2007, 294. 110 Greger NJW 2002, 1477 f.; Siegmann AnwBl. 2008, 160; Woitkewitsch MDR 2015, 61, 63. 111 Zöller/Greger § 142 Rz. 15 m.w.N. 112 BGH v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10 Rz. 39, NJW 2012, 2427.

1130 | Greger

II. Beweismittel | Rz. 41.37 § 41

dass er keine anderen Beweismittel anbieten könnte;113 hat er jedoch andere Beweismittel benannt, sind diese vorrangig auszuschöpfen (§ 445 Abs. 1 ZPO). Ersichtlich ins Blaue hinein aufgestellte Behauptungen (zum Zwecke der Ausforschung des Gegners) rechtfertigen eine Parteivernehmung nicht.114 Ob vom Gegner gegenbeweislich benannte Beweismittel vorher ausgeschöpft werden, steht im Ermessen des Gerichts.115 Unzulässig ist die Parteivernehmung des Gegners aber, wenn das Gericht auf Grund der Beweisaufnahme bereits das Gegenteil der streitigen Behauptung als erwiesen ansieht (§ 445 Abs. 2 ZPO). Die nicht beweisbelastete Partei kann nur die Vernehmung des Gegners beantragen, die von dessen Einverständnis abhängig ist und im gerichtlichen Ermessen steht (§ 447 ZPO).

41.32

b) Vernehmung von Amts wegen Das Gericht kann von Amts wegen jede Partei ohne Rücksicht auf die Beweislast vernehmen, allerdings nur subsidiär und ergänzend, nämlich „wenn das Ergebnis der Verhandlungen und einer etwaigen Beweisaufnahme nicht ausreicht, um seine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit der zu erweisenden Tatsache zu begründen“ (§ 448 ZPO). Es müssen also zuvor alle etwa angebotenen, zulässigen und erheblichen Beweise erhoben werden. Ergibt sich nach dem Gesamtergebnis der Verhandlung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der streitigen Behauptung, kann das Gericht nach seinem Ermessen eine der Parteien (dies muss keineswegs die beweisbelastete sein) oder beide ohne Bindung an einen Antrag vernehmen. Gerade in Verkehrsunfallsachen ist letzteres, wenn beide Parteien unmittelbare Wahrnehmungen zur Beweisfrage bekunden können, oft nicht nur sachgerecht, sondern auch aus Gründen der Waffengleichheit geboten.

41.33

Wo nicht zur förmlichen Parteivernehmung geschritten werden soll oder kann, bleibt im Übrigen auch die Möglichkeit der Parteianhörung nach § 141 ZPO, die an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft ist und ebenfalls verwertbare Erkenntnisse liefern kann; u.U. ist das Gericht zu einer solchen sogar verpflichtet (s. Rz. 41.6).

41.34

Zur Schadenshöhe darf das Gericht den Beweislastträger ohne weiteres vernehmen (§ 287 Abs. 1 Satz 3 ZPO).

41.35

c) Beeidigung Nach Maßgabe des § 452 (bzw. § 287 Abs. 1 Satz 3) ZPO ist auch die Beeidigung der Partei zulässig, allerdings nur einer Partei, wenn beide zur selben Tatsache vernommen worden sind.

41.36

d) Verweigerung Parteivernehmung und Beeidigung sind nicht erzwingbar, das Gericht darf ihre Verweigerung jedoch frei würdigen (§§ 446, 453 Abs. 2, § 454 ZPO).

113 LAG Schleswig-Holstein v. 10.2.2010 – 6 Ta 25/10, juris; Stein/Jonas/Berger § 445 Rz. 12; MünchKomm-ZPO/Schreiber § 445 Rz. 6 f. 114 BGH v. 4.3.1991 – II ZR 90/90, NJW-RR 1991, 888, 890 f. 115 Stein/Jonas/Berger § 445 Rz. 17.

Greger | 1131

41.37

§ 41 Rz. 41.38 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

III. Beweisführung 1. Beweislast a) Bedeutung 41.38

Welche Partei den Beweis einer streitigen Behauptung zu führen hat und wie der Richter zu entscheiden hat, wenn er aufgrund seiner Beweiswürdigung weder das Vorliegen noch das Nichtvorliegen einer behaupteten Tatsache festzustellen vermag (sog. „non liquet“), bestimmen die (dem materiellen Recht ungeschrieben zugrunde liegenden) Regeln über die Beweislast.116

b) Grundregel 41.39

Jede Partei trägt die Beweislast für die Voraussetzungen der ihr günstigen Normen.117 Wer also aus unerlaubter Handlung (§ 823 Abs. 1 ZPO) einen Ersatzanspruch herleiten will, muss die schuldhafte unerlaubte Handlung, die Schädigung und den beide verbindenden Ursachenzusammenhang beweisen, des Weiteren die Höhe des Schadens (wofür allerdings Beweiserleichterungen nach § 287 ZPO bestehen; s. Rz. 41.51 f.). Dasselbe gilt für Klagen wegen Verletzung eines Schutzgesetzes (§ 823 Abs. 2 BGB).118 Wer sich auf Schuldunfähigkeit, einen Rechtfertigungsgrund (z.B. Einwilligung in die Schädigung; hierzu s. Rz. 41.53), Mitverschulden oder einen anderen Haftungsausschluss berufen will, trägt hierfür die Beweislast. Abweichende Beweislastlehren, die das Risiko der Unaufklärbarkeit nach anderen Kriterien (z.B. nach Gefahrenbereichen oder nach Wahrscheinlichkeit der zu beweisenden Behauptung) verteilen wollen, sind abzulehnen;119 ebenso verbietet sich eine Verschiebung der Beweislast aufgrund von Billigkeitserwägungen im Einzelfall.120

41.40

Auch aus einer Vereitelung oder Erschwerung der Beweisführung (z.B. durch Vernichten von Unterlagen, Beseitigen von Unfallspuren, Unfallflucht) ergibt sich keine Umkehrung der Beweislast.121 Der BGH spricht zwar verschiedentlich von „Beweiserleichterungen bis zur Umkehr der Beweislast“;122 damit kann aber (wegen des normativen Charakters der Beweislastregeln) nur das Ergebnis einer besonders freien Beweiswürdigung gemeint sein, wie sie dem Richter in den verwandten Situationen der §§ 427, 444 ZPO ausdrücklich anheimgegeben wird.123 Zu Einzelfällen s. Rz. 41.45.

116 Eingehend Rosenberg/Schwab/Gottwald § 116 Rz. 7 ff.; Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 9. 117 BGH v. 14.1.1991 – II ZR 190/89, BGHZ 113, 222, 224 f.; Rosenberg/Schwab/Gottwald § 116 Rz. 7. 118 Baumgärtel/Laumen/Prütting/Katzenmeier Bd. 3 § 823 II Rz. 1 ff. m.w.N. 119 Rosenberg/Schwab/Gottwald § 116 Rz. 13 ff.; Prütting Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983), S. 212 ff. 120 BGH v. 10.3.2010 – IV ZR 264/08, MDR 2010, 874; Zöller/Greger vor § 284 Rz. 17 m.w.N. 121 Eingehend Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 16; Rosenberg/Schwab/Gottwald § 116 Rz. 18. 122 S. z.B. BGH v. 23.11.2005 – VIII ZR 43/05 Rz. 23, NJW 2006, 434. 123 In diesem Sinne auch MünchKomm-ZPO/Prütting § 286 Rz. 95; Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 16 Rz. 46 ff.

1132 | Greger

III. Beweisführung | Rz. 41.43 § 41

c) Ausnahmen Ausnahmen von der Grundregel der Beweislastverteilung können aber auf normativer Grundlage, d.h. abstrakt und mit genereller Wirkung, geschaffen werden. Dies geschieht in erster Linie durch gesetzliche Vorschriften, die zumeist als (vom an sich nicht Beweispflichtigen zu widerlegende) Vermutung ausgestaltet sind. So wird z.B. nach § 1006 BGB vermutet, dass der Besitzer einer Sache auch deren Eigentümer ist. Wird deshalb einer Schadensersatzklage entgegengehalten, dass der Kläger mangels Eigentums an der Sache nicht aktivlegitimiert sei, braucht er lediglich seinen unmittelbaren Besitz nachzuweisen und nicht näher darzulegen, wie er das Eigentum erworben hat.124 Zu einer Umkehr der Beweislast kann es aber auch durch richterliche Rechtsfortbildung kommen, so z.B. beim Verschulden des Herstellers eines mangelhaften Produkts (s. Rz. 6.32). Weitere Besonderheiten der Beweislastverteilung werden in der Kommentierung der betr Haftungstatbestände behandelt.

41.41

2. Beweiswürdigung a) Grundsatz Ob der Richter eine streitige Behauptung als bewiesen erachtet, hat er unter Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden (§ 286 Abs. 1 ZPO; Prinzip der freien Beweiswürdigung). An gesetzliche Beweisregeln ist er grundsätzlich nicht gebunden (§ 286 Abs. 2 ZPO; eng begrenzte Ausnahmen gelten für die Beweiskraft von Urkunden; s. z.B. §§ 415–418 ZPO). Er muss auch bei mehreren bestätigenden Zeugenaussagen ein Geschehen nicht als bewiesen ansehen und darf den plausiblen Angaben einer Partei auch dann glauben, wenn sie dafür kein Beweismittel beibringen kann.125 Gleichwohl ist seine Freiheit nicht grenzenlos. Der Richter muss die Gründe für seine Überzeugungsbildung im Urteil angeben (§ 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO) und darf sich hierbei nicht auf allgemeine Wendungen beschränken.126 Weist die Begründung Verstöße gegen Denkgesetze (z.B. einander widersprechende Erwägungen) oder gegen allgemeine Erfahrungssätze auf, unterliegt das Urteil auch im Revisionsverfahren der Aufhebung.127

41.42

b) Einzelfragen Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen setzt voraus, dass alle an der Entscheidung beteiligten Richter dessen Aussage miterlebt haben oder dass ihnen der persönliche Eindruck des vernehmenden Richters durch entsprechende Vermerke im Protokoll, zu denen sich auch die Parteien erklären konnten, vermittelt wurde.128 Ob die Glaubwürdigkeit bejaht oder verneint werden soll, spielt dabei keine Rolle.129 Zur Berufungsinstanz s. Rz. 41.15.

124 OLG Köln v. 4.6.2018 – 15 U 7/18, juris. 125 BGH v. 28.1.2014 – VI ZR 143/13, NJW 2014, 1527. 126 BGH v. 16.12.1999 – III ZR 295/98, MDR 2000, 323, 324; Lepa Beweislast und Beweiswürdigung im Haftpflichtprozess (1988), S. 49. 127 St. Rspr.; s. z.B. BGH v. 22.1.1991 – VI ZR 97/90, NJW 1991, 1894, 1895; BGH v. 14.1.1993 – IX ZR 238/91, NJW 1993, 935, 937. 128 BGH v. 4.12.1990 – XI ZR 310/89, NJW 1991, 1180; BGH v. 13.3.1991 – IV ZR 74/90, NJW 1991, 3284. 129 BGH v. 18.3.1992 – VIII ZR 30/91, NJW 1992, 1966.

Greger | 1133

41.43

§ 41 Rz. 41.44 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

41.44

Der Richter ist nicht gehindert, einem Zeugen, der im Fahrzeug der beweisführenden Partei zum Unfallzeitpunkt Beifahrer war, geringeren Beweiswert beizumessen als einem außenstehenden Unfallzeugen. Er kann diese Beweiswürdigung auf die Erfahrungstatsache stützen, dass es bei Zeugen im eigenen Fahrzeug, ganz besonders natürlich bei zusätzlich bestehender freundschaftlicher oder verwandtschaftlicher Bindung, zu einem (oftmals unbewussten) Solidarisierungseffekt kommt, und dass der Beifahrer das zum Unfall führende, meist überraschend einsetzende, sekundenschnell ablaufende und mit Schockwirkung verbundene Geschehen oft nur bruchstückhaft wahrnimmt, so dass sich tatsächlich Wahrgenommenes sehr leicht mit eigenen Rückschlüssen und Erklärungsversuchen vermengen kann. Es wäre aber unzulässig, den Beifahrerzeugen generell jeden Beweiswert abzusprechen oder ihnen einen Beweiswert nur für den Fall zuzusprechen, dass ihre Aussagen durch objektive Gesichtspunkte gestützt werden.130 Die Frage der Glaubwürdigkeit ist vielmehr in jedem Einzelfall aufgrund der besonderen Umstände, auch des persönlichen Eindrucks, zu beantworten. Im Übrigen ist zu beachten, dass es in Verkehrsunfallsachen auch bei außenstehenden Zeugen wegen der Plötzlichkeit und Schnelligkeit des Ablaufs sehr leicht zu Fehleinschätzungen kommen kann;131 auch dort sind (unbewusste) Solidarisierungstendenzen nicht selten.

41.45

Auch aus einer Erschwerung der Beweisführung durch eine Partei kann der Richter im Rahmen der Beweiswürdigung Schlüsse ziehen (s. Rz. 41.40), so z.B. wenn der Schädiger oder der Verletzte durch Beseitigung von Unfallspuren132 oder durch Ausschlachten seines Kfz133 die Aufklärung des Sachverhalts unmöglich gemacht hat, wenn er einen offensichtlich als Beweismittel wichtigen Gegenstand nicht aufbewahrt134 oder fälschlich behauptet, ihn nicht mehr zu besitzen,135 wenn er als Verkehrssicherungspflichtiger nach Einleitung eines Verfahrens zur Beweissicherung den Zustand der Unfallstelle verändert,136 wenn er Unfallflucht begangen hat137 oder wenn er seinen Arzt nicht von der Schweigepflicht entbindet.138 Auch wenn ein unmittelbar am Unfall Beteiligter, insbesondere Kfz-Führer, unnötigerweise und offensichtlich nur zum Zweck der Ausschaltung als Zeuge mitverklagt bzw. im Wege der Drittwiderklage zur Partei gemacht wird, kann dies im Rahmen der Beweiswürdigung Berücksichtigung finden.139

3. Beweisverwertungsverbote 41.46

Nach § 286 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG ist das Gericht verpflichtet, den von den Parteien vorgetragenen Sachverhalt und die von ihnen angebotenen Beweise vollständig zu berücksichtigen.140 Ein Verbot der Verwertung eines vom Gericht erhobenen Beweises kommt daher nur

130 BGH v. 3.11.1987 – VI ZR 95/87, NJW 1988, 566 mit Anm. Walter; OLG München 16.9.2005 – 10 U 2787/05. NZV 2005, 582; Rocke 25. VGT (1987) S. 116 f.; Greger NZV 1988, 13; Reinecke MDR 1989, 114, 115; Prütting KF 1989, 5. 131 KG v. 2.9.2019 – 25 U 163/17, NZV 2020, 474 KW. 132 LG Düsseldorf v. 4.9.1989 – 13 O 528/86, DAR 1990, 62 mit Anm. Dittmann (Bremsspuren einer Straßenbahn). 133 RG JW 1933, 2393. 134 OLG München v. 26.4.1990 – 1 U 6795/89, VersR 1992, 320. 135 Z.B. das Unfallfahrzeug, OLG Stuttgart v. 8.10.1992 – 13 U 22/92, NZV 1993, 73. 136 OLG Köln v. 21.11.1991 – 7 U 52/91, VersR 1992, 355. 137 BGH v. 15.3.1966 – VI ZR 222/64, VersR 1966, 730. 138 BGH v. 20.4.1983 – VIII ZR 46/82, MDR 1984, 48. 139 Lepa Beweislast und Beweiswürdigung im Haftpflichtprozess (1988), S. 13. 140 BVerfG v. 9.10.2002 – 1 BvR 1611/96, 1 BvR 805/98, NJW 2002, 3619, 3624.

1134 | Greger

III. Beweisführung | Rz. 41.47 § 41

in Betracht, wenn dies durch ein Gesetz ausdrücklich anordnet wird (z.B. § 7 Abs. 2 Satz 2, 3 AutobahnmautG für Aufzeichnungen der Erfassungsanlagen) oder wenn die Beweiserhebung ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht einer Partei (z.B. das allgemeine Persönlichkeitsrecht) verletzt, ohne dass dies zur Gewährleistung eines im Rahmen der Güterabwägung als höherwertig einzuschätzenden Interesses der anderen Partei oder eines anderen Rechtsträgers nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt erscheint.141 Dabei kommt der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege und deren Streben nach einer materiell richtigen Entscheidung als wichtigem Belang des Gemeinwohls erhebliches, aber nicht allein ausschlaggebendes Gewicht zu; im Zivilprozess kommt es vor allem auch auf die Bedeutung des Beweismittels für die Rechtsverwirklichung einer Partei an; ein (stets gegebenes) „schlichtes Beweisinteresse“ genügt nicht.142 – Eine gegen einfaches Recht (z.B. BetrVG, BDSG) verstoßende Beschaffung oder Benutzung von Beweismitteln begründet kein Verwertungsverbot.143 Zulässig ist daher die Verwertung einer Videoaufzeichnung des Unfalls mittels einer OnBoard-Kamera (Dashcam), ohne dass es auf die datenschutzrechtliche Beurteilung ankommt.144 Erst recht gilt dies für Aufzeichnungen durch Verkehrs- oder Tankanlagenüberwachungskameras sowie für Fotos von Unfallschäden oder -spuren.145 Auch für die Verwertung elektronisch gespeicherter Daten durch Einrichtungen im Fahrzeug (z.B. Unfalldatenschreiber, Event Data Recorder) oder bei Herstellern, Vermietern, Versicherern usw. (eCall- oder Telematik-Systeme) hat dieselbe Güterabwägung zu gelten146 (zur Erlangung dieser Beweismittel s. Rz. 41.24, zur Beweissicherung s. Rz. 41.134). – Die Erkenntnisse aus heimlichen Überwachungsmaßnahmen (etwa zur Aufdeckung eines versuchten Versicherungsbetrugs) können verwertet werden, solange diese nicht die Unverletzlichkeit der Wohnung oder in sonstiger Weise den Kernbereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen. Der beweispflichtige Prozessgegner befindet sich hier in einer notwehrähnlichen Situation, so dass auch Tonaufzeichnungen oder die Wahrnehmungen von Lauschzeugen oder Detektiven verwertbar sind.147 Bestehen z.B. Anhaltspunkte, dass der auf Verdienstausfall klagende Geschädigte einer Erwerbstätigkeit nachgeht, können die Ergebnisse einer Observation verwertet werden, nach fragwürdiger Ansicht des BGH aber nicht die mittels eines GPS-Trackers am Fahrzeug des Klägers getroffenen Feststellungen.148 – Aussagen, die die nicht ordnungsgemäß belehrte Prozesspartei in einem vorangegangenen Ermittlungs-, Straf- oder Bußgeldverfahren gemacht hat, können verwertet werden, weil die Belehrungspflicht nicht den Zweck hat, vor einer zivil-

141 BGH v. 1.3.2006 – XII ZR 210/04, BGHZ 166, 283, 290; MünchKomm-ZPO/Prütting § 284 Rz. 67; Rosenberg/Schwab/Gottwald § 111 Rz. 23 ff.; Ahrens Der Beweis im Zivilprozess (2015) Kap. 6 Rz. 14; Kiethe MDR 2005, 965 ff. 142 BVerfG v. 9.10.2002 – 1 BvR 1611/96, 1 BvR 805/98, NJW 2002, 3619, 3624; BAG v. 27.3.2003 – 2 AZR 51/02, NJW 2003, 3436, 3437. 143 BAG v. 13.12.2007 – 2 AZR 537/06, NJW 2008, 2732; Pötters/Wybitul NJW 2014, 2077. Auf den Schutzzweck der verletzten Norm abstellend Stein/Jonas/Thole § 286 Rz. 45 ff. 144 BGH v. 15.5.2018 – VI ZR 233/17, NJW 2018, 2883 mit Bespr. Ahrens NJW 2018, 2837 = DAR 2018, 498 mit Anm. Greger = JZ 2018, 935 mit Anm. Heese = JR 2018, 628 mit Anm. Löffelmann; Greger NZV 2015, 114, 116 f.; Balzer/Nugel NJW 2014, 1622 ff.; Metz NZV 2018, 419 f.; Laumen MDR 2018, 966 ff. Die stark divergierende Rspr. der Instanzgerichte ist im Urteil des BGH ausführlich wiedergegeben, aber nunmehr überholt. 145 Balzer/Nugel NJW 2016, 193, 197. 146 Balzer/Nugel NJW 2016, 193, 197 ff. 147 BGH v. 24.11.1981 – VI ZR 164/79, NJW 1982, 277; BGH v. 27.1.1994 – I ZR 326/91, NJW 1994 2289. 148 BGH v. 15.5.2013 – XII ZB 107/08, NJW 2013, 2668.

Greger | 1135

41.47

§ 41 Rz. 41.47 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

rechtlichen Haftung zu schützen.149 Die Aussage eines nicht über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrten Zeugen kann verwertet werden, wenn er sich nunmehr im Zivilprozess nicht auf dieses Recht beruft.150

41.48

Die Beweislast für die Voraussetzungen des Beweisverbots trägt die sich darauf berufende Partei.151 Einwilligung in die Verwertung und rügelose Einlassung lassen das Verbot entfallen.152

IV. Anforderungen an den Beweis 1. Überblick 41.49

Welches Ergebnis die Beweiswürdigung erbracht haben muss, damit eine Behauptung als bewiesen angesehen werden kann, regelt die Lehre vom Beweismaß.153 Nach § 286 Abs. 1 ZPO ist der Beweis dann geführt, wenn der Richter die Überzeugung von der Wahrheit der streitigen Behauptung erlangt hat.154 Eine gesetzliche Beweiserleichterung enthält lediglich § 287 ZPO, wonach über die Frage, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch er sich belaufe, nach freier Überzeugung befunden werden kann (näher s. Rz. 41.51 ff.). Diese Vorschrift, die notfalls sogar zu freier Schätzung ermächtigt, gilt nur für die Schadensbemessung und darf auf den Bereich der Haftungsbegründung nicht übertragen werden.155 Dies gilt auch dann, wenn es sich um typischerweise schwer zu beweisende (z.B. subjektive, negative oder hypothetische) Tatbestandsmerkmale handelt. Die Rechtsprechung hat für solche Fälle jedoch ein (dogmatisch wenig abgesichertes und inkohärentes) Instrumentarium von Beweiserleichterungen geschaffen (s. Rz. 41.53 ff.).

2. Allgemeines Beweismaß 41.50

§ 286 Abs. 1 ZPO verlangt für das Bewiesen sein die Überzeugung des Richters von der Wahrheit der streitigen Behauptung (s. Rz. 41.49). Das Bewusstsein von der begrenzten menschlichen Erkenntnisfähigkeit darf den Richter zwar nicht daran hindern, trotz theoretisch mög149 Auf Interessen- und Güterabwägung abstellend aber BGH v. 10.12.2002 – VI ZR 378/01, BGHZ 153, 165 = JZ 2003, 632 mit abl. Anm. Leipold = JR 2003, 371 mit abl. Anm. Deiters = ZZP 116 (2003), 371 mit abl. Anm. Katzenmeier. Kritisch und den Schutzzweckgedanken betonend auch Stein/Jonas/Thole § 286 Rz. 48 ff. Sehr weitgehend zur Unverwertbarkeit der Aussage eines Jugendlichen bei der Polizei LG Köln v. 13.1.2016 – 13 S 129/15, NZV 2016, 529. 150 BGH v. 12.2.1985 – VI ZR 202/83, NJW 1985, 1470. 151 BGH v. 10.12.2002 – VI ZR 378/01, BGHZ 153, 165, 169. Gegen die dortige Zulassung des Freibeweises aber zu Recht Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 6 Rz. 42; Katzenmeier ZZP 116 (2003), 375, 376; Laumen BGHReport 2003, 458 f. 152 BGH v. 19.1.1984 – III ZR 93/82, NJW 1985, 1158; BGH v. 18.7.2007 – IV ZR 129/06, NJW-RR 2007, 1624, 1627; einschr. Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 6 Rz. 43. 153 Vgl. hierzu Zöller/Greger § 286 Rz. 17 ff. Ausführlich Prütting Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983), S. 74 ff.; Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 8 ff., 101 ff. 154 BGH v. 17.2.1970 – III ZR 139/67, BGHZ 53, 255; BGH v. 16.4.2013 – VI ZR 44/12, NJW 2014, 71. Vgl. weiterhin – jeweils auch zur Ablehnung abweichender Lehren – Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 113 ff.; Walter Freie Beweiswürdigung (1979), S. 88 ff., 148 ff. 155 BVerfG v. 8.11.1978 – 1 BvR 158/78, NJW 1979, 413, 414; BGH v. 4.11.2003 – VI ZR 28/03, NJW 2004, 777; Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 129 ff.; a.A. Gottwald Schadenszurechnung und Schadensschätzung (1979), S. 78 ff.

1136 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.51 § 41

licher Zweifel den Beweis als erbracht anzusehen, andererseits aber nicht dazu führen, bloße Wahrscheinlichkeiten als ausreichend zu erachten.156 Erforderlich ist, dass der Richter die subjektive Gewissheit erlangt hat; das Bewusstsein, irren zu können, steht dem nicht entgegen.

3. Beweiserleichterung nach § 287 ZPO Nach dieser Vorschrift kann der Richter nach freier Überzeugung entscheiden, ob ein Schaden entstanden ist und wie hoch er sich beläuft. Er braucht also – anders als nach § 286 Abs. 1 ZPO – nicht die Überzeugung von der Wahrheit der entsprechenden Behauptung zu gewinnen. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass § 287 ZPO dem Richter bei der Schadensfestsetzung ein Schätzungsermessen einräumt.157 Die Schätzung muss freilich auf – von den Parteien beizubringenden – Grundlagen beruhen; sie darf nicht „in der Luft schweben“.158 So reicht allein die Vorlage einer (noch dazu unbeglichenen) Rechnung u.U. nicht aus, um die Erforderlichkeit von Wiederherstellungskosten nachzuweisen.159 Der Richter kann zwar auch die Anforderungen an die Darlegung der Bemessungsgrundlagen herabsetzen;160 den Beweislastgrundsatz, dass jede Partei die ihr günstigen Umstände darzutun und das Risiko ihrer Feststellbarkeit zu tragen hat, muss er aber beachten.161 Wesentlicher Parteivortrag darf auch bei § 287 ZPO nicht übergangen werden.162 Verweigert eine Partei die ihr zumutbare Mitwirkung bei den Tatsachenfeststellungen, so kann sie sich nicht auf die Beweiserleichterung nach § 287 ZPO berufen.163 Sie kann das Gericht auch dann nicht auf eine pauschalierte Schätzung verweisen, wenn sie den tatsächlichen Betrag ohne weiteres belegen könnte.164 Die tatsächlichen Grundlagen der Schätzung sind im Urteil darzulegen.165 Die Revisionsinstanz kann jedoch nur nachprüfen, ob die Schätzung auf grundsätzlich falschen oder offenbar unsachlichen Erwägungen beruht und ob entscheidungserhebliche Tatsachen außer Acht gelassen worden sind.166 156 St. Rspr. (s. BGH v. 1.10.2019 – VI ZR 164/18, NJW 2020, 1072) und ganz h.M. Nachweise bei Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 59 ff., 75 ff.; Walter Freie Beweiswürdigung (1979), S. 88 ff., 132 ff. A.A. Maassen Beweisprobleme im Schadensersatzprozess (1975), S. 153 ff.; Gottwald Schadenszurechnung und Schadensschätzung (1979), S. 208. Eingehend hierzu i.S.d. h.M. Prütting Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983), S. 77 ff. 157 BGH v. 5.5.1970 – VI ZR 212/68, BGHZ 54, 45, 55; BGH v. 6.12.2012 – VII ZR 84/10, NJW 2015, 525, 527. 158 BGH v. 16.3.1959 – III ZR 20/58, BGHZ 29, 393, 400; BGH v. 26.11.1986 – VIII ZR 260/85, NJW 1987, 909; OLG Düsseldorf v. 27.5.1992 – 15 U 32/91, VersR 1993, 1123, 1124 (Darlegung zu Vorschäden). 159 BGH v. 5.6.2018 – VI ZR 171/16, VersR 2018, 1338. 160 BGH v. 18.2.1992 – VI ZR 367/90, VersR 1992, 618, 619; Klauser JZ 1968, 167, 168; Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 133. 161 BGH v. 2.2.1965 – VI ZR 237/63, VersR 1965, 489; BGH v. 7.7.1970 – VI ZR 233/69, NJW 1970, 1970, 1971; Klauser JZ 1968, 167, 169; Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 134. Zur Beweisführung bei unstreitigem Vorhandensein von Vorschäden KG v. 12.11.2009 – 12 U 9/09, NZV 2010, 348; OLG Köln v. 8.4.2013 – 11 U 214/12, NZV 2013, 445 m.w.N. 162 BGH v. 16.6.1992 – VI ZR 264/91, VersR 1992, 1410. 163 BGH v. 10.2.1981 – VI ZR 182/79, NJW 1981, 1454; OLG Frankfurt v. 26.9.1990 – 17 U 87/88, VersR 1991, 1070; OLG Hamm v. 4.10.1989 – 13 U 153/88, NJW-RR 1990, 42. 164 OLG Köln v. 19.6.1991 – 2 U 1/91, NZV 1991, 429 (Ab- und Anmeldekosten). 165 BGH v, 13.7.1967 – III ZR 94/66, VersR 1967, 1095. 166 BGH v. 27.9.1951 – IV ZR 155/50, BGHZ 3, 162, 176; BGH v. 8.12.1977 – III ZR 46/75, VersR 1978, 283.

Greger | 1137

41.51

§ 41 Rz. 41.52 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

41.52

§ 287 ZPO bezieht sich nur auf die Ermittlung des Schadens, der durch ein nach § 286 ZPO festgestelltes Geschehen hervorgerufen wurde; auf die Feststellung des Haftungsgrundes darf er nicht erstreckt werden.167 Daher sind auch der reale Verletzungserfolg (die Primärschädigung im Sinne der Rechts- oder Rechtsgutsverletzung) sowie die haftungsbegründende Kausalität nach § 286 Abs. 1 ZPO zu beweisen; erst bei der Feststellung des Schadensumfangs einschließlich der sog haftungsausfüllenden Kausalität setzt der Anwendungsbereich des § 287 ZPO ein.168 So gilt beispielsweise für die Frage, ob der Kläger durch das Verhalten des Beklagten eine Primärverletzung (z.B. ein HWS-Schleudertrauma) erlitten hat, § 286 ZPO, für die Frage, ob aus dieser eine (weitere) Beeinträchtigung (z.B. eine Hirnschädigung) entstanden ist, § 287 ZPO, für die Verursachung einer weiteren Primärschädigung (z.B. einer Knieverletzung) aber wiederum § 286 ZPO.169. Zur Anwendbarkeit beim Mitverschulden s. Rz. 25.152.

4. Rechtsprechung zu schwer beweisbaren Tatbestandsmerkmalen a) Einwilligung des Geschädigten 41.53

Im Zusammenhang mit dem Aufkommen fingierter Verkehrsunfälle zum Zwecke des Versicherungsbetrugs hatte sich die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren häufig mit dem Problem zu beschäftigen, wie der Haftpflichtversicherer die (zum Haftungsausschluss führende und damit von ihm zu beweisende) Verabredung der Kollision beweisen kann (zu diesen Fällen s. Rz. 3.34 ff., 10.47 f.). Es wurden Kataloge von Anzeichen entwickelt, die zu einer entsprechenden Überzeugung führen sollen.170 Dabei handelt es sich aber – entgegen verbreiteter Ansicht171 – nicht um einen Anscheinsbeweis, sondern um einen Indizien- oder Anzeichenbeweis (s. Rz. 41.65), der auch erst nach Ausschöpfen aller angebotenen Beweise, z.B. auf Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens, als geführt oder nicht geführt angesehen werden darf.172 Die Bewertung der Indizien im Rahmen einer Gesamtbetrachtung ist Ausdruck der freien Beweiswürdigung;173 zu Recht spricht Weber174 vom Mut des Tatrichters, sich aus den

167 BVerfG v. 8.11.1978 – 1 BvR 158/78, NJW 1979, 413, 414; BGH v. 13.12.1951 – IV ZR 123/51, BGHZ 4, 192, 196; BGH v. 11.1.1972 – VI ZR 46/71, BGHZ 58, 48, 53. Näher zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs von § 287 ZPO Greger Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 136 ff., 168 m.w.N.; zu Folgeschäden s. Rz. 19.8; zu Mitverschulden s. Rz. 25.152. 168 BGH v. 4.11.2003 – VI ZR 28/03, NZV 2004, 27 (Morbus Sudeck); BGH v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, NZV 2003, 167 mit Anm. Burmann = VersR 2003, 474 mit Anm. Jaeger = DAR 2003, 218 mit Anm. Steiger (HWS-Verletzung). 169 BGH v. 29.1.2019 – VI ZR 113/17, NJW 2019, 2092 mit ausführl. Rspr.-Überblick. 170 Vgl. die Zusammenstellungen von Knoche Vorgetäuschte und vorsätzlich herbeigeführte Versicherungsfälle (1991), S. 92 ff., Laumen MDR 2018, 1153, 1156 ff.; Franzke/Nugel NJW 2015, 2071 ff.; Born NZV 1996, 257 ff. Aus der Rspr. statt vieler OLG Karlsruhe v. 1.9.1994 – 12 U 159/94, VersR 1995, 953; OLG Hamm v. 4.10.1990 – 6 U 9/90, VersR 1991, 113; OLG Celle v. 16.6.1988 – 5 U 199/87, NZV 1988, 182; KG v. 5.2.1990 – 12 U 1033/89, NZV 1991, 73; OLG Saarbrücken v. 21.12.2017 – 4 U 124/16, NZV 2018, 218 mit Anm. J. Schneider. Zum sog. Berliner Modell (gestellter Unfall mit gestohlenem Fahrzeug) s. OLG Hamm v. 28.6.1994 – 9 U 61/ 94, NZV 1995, 321; OLG Frankfurt v. 31.10.1996 – 16 U 9/96, OLGR Frankfurt 1996, 265. 171 Knoche Vorgetäuschte und vorsätzlich herbeigeführte Versicherungsfälle (1991), S. 193 ff.; Rechtsprechungsnachw. in Rz. 3.33. 172 BGH v. 10.4.2018 – VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803; BGH v. 13.3.2018 – VI ZR 281/16, NJW 2018, 2133; Laumen MDR 2018, 1153, 1155 m.w.N. 173 OLG Köln v. 14.7.1995 – 19 U 236/94, VersR 1997, 129; KG v. 12.4.2018 – 25 U 148/17, MDR 2018, 791 (dazu Laumen MDR 2018, 915). 174 DAR 1979, 113.

1138 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.54 § 41

typischen Anzeichen des „Unfalls“ die Überzeugung vom wirklichen Geschehen zu verschaffen. Mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen (etwa nach dem Bayes’schen Theorem) hat dies nichts zu tun;175 auch die Annahme einer erheblichen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Unfallmanipulation reicht nicht aus.176

b) Schwer objektivierbare Gesundheitsschäden Häufig werden nach Verkehrsunfällen gesundheitliche Beeinträchtigungen geltend gemacht, die weder eindeutig nachgewiesen noch ausgeschlossen werden können, wie z.B. Schleudertraumen der Halswirbelsäule, Kopfschmerzen oder psychische Störungen. In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung ist versucht worden, Richtlinien für die Beweisanforderungen in solchen Fällen zu entwickeln, etwa wonach unterhalb einer bestimmten Aufprallgeschwindigkeit ein Körperschaden ausgeschlossen oder unter bestimmten Voraussetzungen ein Anscheinsbeweis angenommen werden kann. Diesen Versuchen ist der BGH zu Recht unter Hinweis auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung entgegengetreten, der eine umfassende Bewertung aller Umstände des Einzelfalls erfordert.177 Die Frage, ob überhaupt eine Primärverletzung entstanden ist, muss nach § 286 ZPO bewiesen werden (s. Rz. 41.52). Wichtige Anhaltspunkte hierfür liefern die Feststellungen des erstbehandelnden Arztes, bei deren Würdigung jedoch zu beachten ist, dass sie nicht unter diagnostischen, sondern unter therapeutischen Aspekten getroffen werden und im Wesentlichen auf den Angaben des Geschädigten beruhen, weshalb ihnen nur indizielle Bedeutung zukommt.178 Ein unfallanalytisches und biomechanisches Gutachten zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ist wegen der zahlreichen anderen Faktoren (z.B. Sitzposition des Fahrers) in der Regel nicht geboten,179 jedenfalls alleine nicht ausreichend.180 Ist die Primärverletzung bewiesen, gelten für den vom Geschädigten weiter zu führenden Beweis, dass diese zu den behaupteten gesundheitlichen Folgen geführt hat, die geringeren Anforderungen des § 287 ZPO, weil es sich insoweit um 175 BGH v. 28.3.1989 – VI ZR 232/88, NZV 1989, 468 mit Anm. Rommé; Rüßmann ZZP 103 (1990), 65. 176 BGH v. 1.10.2019 – VI ZR 164/18, NJW 2020, 1072; OLG Hamm v. 1.8.2017 – 9 U 59/16, NJW-RR 2017, 1368; OLG Frankfurt v. 8.12.2017 – 15 U 37/16, NJW-RR 2018, 538; Laumen MDR 2018, 1153, 1159 mit umfangr. Nachw. zur gegenteiligen Praxis zahlreicher Gerichte. 177 BGH v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, NZV 2003, 167 mit Anm. Burmann = VersR 2003, 474 mit Anm. Jaeger = DAR 2003, 218 mit Anm. Steiger; BGH v. 8.7.2008 – VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 mit Anm. Schulte 1415 = DAR 2008, 587 mit Anm. Wedig; BGH v. 3.6.2008 – VI ZR 235/ 07, NZV 2008, 502, 503; Burmann/Heß NZV 2008, 481 ff.; Eschelbach/Geipel NZV 2010, 481 ff. Zur Bedeutung der Unfallanalytik Bachmeier DAR 2004, 421 ff. u Haberkorn NZV 2002, 387; zur Notwendigkeit medizinischer Begutachtung Mazzotti/Castro NZV 2002, 499 f. u. NZV 2008, 113 ff. Krit. zu verbreiteten, nicht hinreichend wissenschaftlich abgesicherten Thesen Domes NZV 2009, 166 ff. Gegen pauschale Beurteilungen auch Kuhn DAR 2001, 344 ff., die Notwendigkeit interdisziplinärer Betrachtung betonend Dannert NZV 1999, 453 ff. Zum Anscheinsbeweis bei höheren Geschwindigkeitsänderungen s. Rz. 41.91. 178 BGH v. 3.6.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502 (auch zur Entbehrlichkeit der Zeugenvernehmung, wenn Befunde schriftlich niedergelegt und vom Sachverständigen verwertet wurden); für hohen Beweiswert von Äußerungen des Verletzten gegenüber den behandelnden Ärzten OLG Düsseldorf v. 1.4.2014 – 1 U 57/13, DAR 2015, 330 mit Anm. Staub; Mergner NZV 2011, 326 f. 179 BGH v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, NZV 2003, 167, 168 mit Anm. Burmann; BGH v. 8.7.2008 – VI ZR 274/07, NJW 2008, 2845 = VersR 2008, 1126 mit Anm. Schulte 1415 = DAR 2008, 587 mit Anm. Wedig; Eschelbach/Geipel NZV 2010, 483 f.; a.A. Mergner NZV 2011, 327. 180 BGH v. 3.6.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502, 503 f.: medizinisches Gutachten auch bei geringer Aufprallgeschwindigkeit.

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41.54

§ 41 Rz. 41.54 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

den haftungsausfüllenden Kausalzusammenhang (s. Rz. 41.51 f.) handelt.181 Psychische Beeinträchtigungen können als Primärfolge des Unfalls (s. Rz. 3.43; dann § 286 ZPO) oder als Sekundärfolge der Unfallverletzungen (s. Rz. 19.23; dann § 287 ZPO) auftreten.182 Die Abgrenzung von unfallunabhängig vorhandenen psychopathologischen Befunden erfordert in der Regel die Einschaltung eines psychiatrischen Sachverständigen sowie häufig eine differenzialdiagnostische Abklärung durch Sachverständige weiterer Disziplinen zum Ausschluss organischer Ursachen.183 Entsprechendes gilt für die Behauptung eines unfallbedingten Tinnitus.184

c) Unfallabläufe 41.55

Insbesondere im Bereich der deliktischen Haftung, wo der Geschädigte nicht nur den Zusammenhang seiner Schädigung mit dem Betrieb des Kfz, sondern einen unfallursächlichen Sorgfaltsverstoß des Gegners beweisen muss, treten oft Probleme auf, weil Unfallabläufe und Kausalzusammenhänge schwer rekonstruierbar bzw. feststellbar sind. Hier hilft die Praxis weithin mit dem Institut des Anscheinsbeweises (s. Rz. 41.56 ff.).

5. Anscheinsbeweis a) Bedeutung und Ausformung in der Rechtsprechung 41.56

Der Anscheinsbeweis, auch prima-facie-Beweis oder Beweis des ersten Anscheins genannt, spielt in Haftungsprozessen, insbesondere in Verkehrsunfallsachen, eine bedeutende Rolle und wird gemeinhin mit der Verwendung von Erfahrungssätzen im Rahmen der Beweiswürdigung erklärt.185 Er wird jedoch in der Regulierungs- und Spruchpraxis weitgehend viel zu schematisch angewendet186 und führt dann sehr leicht zu einer rechtswidrigen Beweisantizipation. Zu Recht hat der BGH deshalb eine zurückhaltende Anwendung angemahnt.187 Fehlerhaft ist es z.B., bei bestimmten Unfalltypen, etwa dem Auffahrunfall, der Linksabbiegerkollision oder dem Zusammenstoß an einer Grundstücksausfahrt, einen der Beteiligten unabhängig von der abstrakten Beweislastverteilung von vornherein in Rechtfertigungszwang zu setzen. Bevor ein Rückgriff auf Erfahrungssätze im Rahmen eines Anscheinsbeweises in Betracht gezogen werden kann, muss zunächst einmal festgestellt werden, dass im konkreten Fall tatsächlich ein „typischer Geschehensablauf“ im Sinne der BGH-Rechtsprechung (s. nachstehend) vorliegt. Allein das Kerngeschehen, z.B. das Auffahren auf ein anderes Fahrzeug, reicht hierfür nicht aus. Erforderlich ist eine „umfassende Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den

181 BGH v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, NZV 2003, 167, 168 mit Anm. Burmann; OLG Saarbrücken v. 28.2.2013 – 4 U 587/10, NZV 2013, 548. Eingehend, auch zur Verknüpfung mit der materiell-rechtlichen Zurechnungsproblematik G. Müller VersR 2003, 137, 144 ff. 182 Eschelbach/Geipel NZV 2010, 481, 486. 183 Eschelbach/Geipel NZV 2010, 481, 486. Vorschläge für eine Feststellung der Erkrankungswahrscheinlichkeit durch empirische Erfassung von Risikofaktoren bei Born/Rudolf/Becke NZV 2008, 1, 7 ff. 184 Eingehend dazu Hugemann DAR 2003, 406. 185 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald § 114 Rz. 16 ff.; Prütting Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983), S. 94 ff. u. KF 1989, 12 f.; Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 17 Rz. 9. 186 Rocke 25. VGT (1987) S. 117; Fetzer MDR 2009, 602, 603. Für größere Zurückhaltung und verstärkte Berücksichtigung von Erkenntnissen der Unfallanalyse auch die Empfehlung des 25. VGT (1987) S. 8. 187 BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84.

1140 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.57 § 41

getroffenen Feststellungen ergeben“.188 Diese Typizität des Geschehens muss derjenige, der sich auf einen Anscheinsbeweis berufen will, darlegen und ggf. voll nachweisen; auch alle zum Gegenbeweis angebotenen Beweismittel sind auszuschöpfen. Erst wenn die „konkrete Typizität“ feststeht, kann der exakte Nachweis des Unfallhergangs durch die Anwendung von Erfahrungssätzen ersetzt werden. Fehlerhaft ist daher die in instanzgerichtlichen Entscheidungen häufig anzutreffende Begründung, gegen den Beklagten als Ausfahrer, Spurwechsler, Linksabbieger o.Ä. „spreche bereits der Beweis des ersten Anscheins“.189 Daraus, dass die StVO in diesen Fällen einen Ausschluss der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer verlangt (dazu s. Rz. 10.58), können angesichts der Unerfüllbarkeit dieses Postulats in atypischen Situationen keine beweisrechtlichen Konsequenzen abgeleitet werden.190 Die Fehler und Unsicherheiten bei der Anwendung des Anscheinsbeweises sind auf das Fehlen einer fundierten dogmatischen Herleitung dieses im Lauf der Zeit durch Richterrecht entstandenen Rechtsinstituts zurückzuführen (s. Rz. 41.66). Heute können in der Rechtsprechung des BGH folgende Grundsätze über den Anscheinsbeweis ausgemacht werden:191 – Seine Anwendung setzt einen typischen Geschehensablauf voraus, d.h. einen Sachverhalt, bei dem eine ohne weiteres naheliegende Erklärung nach der allgemeinen Lebenserfahrung zu finden ist, auch wenn der konkrete Hergang nicht festgestellt werden kann.192 Dieser Sachverhalt muss feststehen, ggf. also bewiesen sein.193 – Die Typizität ist aufgrund einer Gesamtschau des Geschehensablaufs zu prüfen; es darf nicht an ein Einzelelement des Sachverhalts (etwa das Abkommen von der Fahrbahn) angeknüpft werden.194 – Die Erfahrungssätze müssen die volle Überzeugung des Richters von dem behaupteten Geschehensablauf begründen; es genügt nicht, dass die Darstellung der beweispflichtigen Partei nur wahrscheinlich gemacht wird.195 – Der Tatrichter ist zur Beachtung der Erfahrungssätze verpflichtet, wenn er einen Sachverhalt der geschilderten Art festgestellt hat. Sein Urteil unterliegt revisionsgerichtlicher Aufhebung, wenn er einen Erfahrungssatz nicht oder nicht richtig anwendet.196 188 BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84 m.w.N. 189 Treffend OLG München v. 24.2.1989 – 10 U 5867/88, NZV 1989, 277; Lepa NZV 1992, 129, 130 f. (Anknüpfen an Gesamtschau, nicht bloßen Sachverhaltskern). 190 Ebenso Dörr MDR 2010, 1163, 1165. 191 Aus der Literatur vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald § 114 Rz. 16 ff.; Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 17 Rz. 10 ff.; Prütting Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983), S. 94 ff.; Kollhosser AcP 165 (1965) 46; Diederichsen ZZP 81 (1968) 45; Walter ZZP 90 (1977) 270; Greger VersR 1980, 1091; Lepa NZV 1992, 129 u. FS Merz (1992) S. 387 ff. 192 BGH v. 10.1.1951 – II ZR 27/50, NJW 1951, 360; BGH v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84, VersR 1986, 344; BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84. 193 BGH v. 17.2.1988 – IV a ZR 277/86, NJW-RR 1988, 789, 790. 194 BGH v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84, VersR 1986, 344; BGH v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94, NZV 1996, 277; BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84. 195 BGH v. 10.1.1951 – II ZR 27/50, NJW 1951, 360; BGH v. 17.2.1988 – IVa ZR 277/86, NJW-RR 1988, 789. 196 S. z.B. BGH v. 18.12.1952 – VI ZR 54/52, BGHZ 8, 239; BGH v. 14.12.1953 – III ZR 183/52, BGHZ 11, 227; BGH v. 24.10.1955 – II ZR 345/53, BGHZ 18, 311; BGH v. 18.5.1971 – VI ZR 17/69, VersR 1971, 842; BGH v. 17.2.1988 – IVa ZR 277/86, NJW-RR 1988, 789. S. hierzu auch Lepa in FS Merz (1992) S. 387, 395 f.

Greger | 1141

41.57

§ 41 Rz. 41.57 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

– Der Anscheinsbeweis führt nicht zu einer Umkehr der Beweislast.197 Seine Wirkung entfällt vielmehr schon dann, wenn der Gegner des Beweisführers Tatsachen beweist, die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs ergeben; diese Tatsachen bedürfen allerdings des vollen Beweises.198 Ist auf diese Weise der Anscheinsbeweis ausgeräumt, so trifft die beweispflichtige Partei wieder die volle Beweislast für ihre Behauptung.199 – Ob der Anscheinsbeweis durch den Nachweis der Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs entkräftet ist, ist eine Frage der tatrichterlichen Würdigung; die Revisionsinstanz kann nur prüfen, ob der Tatrichter insoweit von richtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist, d.h. den Begriff der ernsthaften Möglichkeit nicht verkannt hat.200

b) Anwendungsbereich 41.58

Die Rechtsprechung wendet den Anscheinsbeweis hauptsächlich bei der Feststellung der Kausalität und des Verschuldens an; bezüglich anderer Tatbestandsmerkmale wird der Anscheinsbeweis zwar gelegentlich herangezogen, zumeist aber (zu Recht) für unanwendbar erklärt. aa) Kausalität

41.59

Kausalität zwischen einem haftungsbegründenden Verhalten und einem Schadenserfolg kann mittels Anscheinsbeweises festgestellt werden, wenn sie wegen der Typizität des Geschehensablaufs nach der Lebenserfahrung anzunehmen ist. Sind in einem solchen Fall keine Tatsachen nachgewiesen, die für einen anderen Ablauf sprechen, so kann und muss der Richter den Ursachenzusammenhang als gegeben ansehen. Hauptanwendungsgebiet dieses Anscheinsbeweises sind Fälle, in denen der Schädiger gegen solche Schutzgesetze, Unfallverhütungsvorschriften oder allgemeine Pflichten zur Schadensverhütung verstoßen hat, die gerade einem Schadensereignis der eingetretenen, typischen Art entgegenwirken sollen,201 und nunmehr behauptet, der Schaden wäre auch ohne diesen Verstoß eingetreten, oder in denen es um die Beurteilung schwer oder überhaupt nicht erfassbarer Abläufe medizinischer, chemischer oder physikalischer Art geht (Einzelfälle s. Rz. 41.75 ff.). Für die Feststellung der haftungsausfüllenden Kausalität (zur Abgrenzung s. Rz. 19.1 f.) bedarf es keines Anscheinsbeweises, da hier § 287 ZPO eingreift (s. Rz. 41.51 f.). bb) Verschulden

41.60

Der Anscheinsbeweis des Verschuldens kommt dem Kläger zu Hilfe, der nicht nur den Kausalzusammenhang zwischen einem Schadenserfolg und einer haftungsbegründenden Handlung, sondern diese selbst, das „Verschulden“ des Beklagten, zu beweisen hat (ebenso dem Beklagten zum Nachweis eines Mitverschuldens). Er bewirkt, dass ein Verschulden als bewiesen angesehen wird, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, bei dem die Erfahrung dafür spricht, dass der Schadenserfolg auf ein schuldhaftes Verhalten zurückzuführen ist und 197 BGH v. 17.4.1951 – I ZR 28/50, BGHZ 2, 1; BGH v. 12.2.1963 – VI ZR 70/62, BGHZ 39, 103. 198 BGH v. 17.4.1951 – I ZR 28/50, BGHZ 2, 1; BGH v. 23.5.1952 – I ZR 163/51, BGHZ 6, 169; BGH v. 3.7.1990 – VI ZR 239/89, NJW 1991, 230. 199 BGH v. 17.4.1951 – I ZR 28/50, BGHZ 2, 1; BGH v. 23.5.1952 – I ZR 163/51, BGHZ 6, 169. 200 BGH v. 15.11.1968 – V ZR 49/65, NJW 1969, 277. 201 S. z.B. BGH v. 27.6.1975 – VI ZR 42/74, VersR 1975, 1007, 1008; BGH v. 22.4.1986, VersR 1986, 917 (Schutzgesetz); BGH v. 20.6.1978 – VI ZR 15/77, NJW 1978, 2032; BGH v. 25.1.1983 – VI ZR 92/81, VersR 1983, 440 (Unfallverhütungsvorschrift).

1142 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.64 § 41

keine Tatsachen nachgewiesen sind, die für einen anderen Hergang sprechen (Einzelfälle s. Rz. 41.92 ff.). Sind nach der Lebenserfahrung mehrere Geschehensabläufe typisch, so ist der Beweis des ersten Anscheins geführt, wenn alle typischen Abläufe auf ein Verschulden des Beklagten hinweisen. Weist nur eine der mehreren Möglichkeiten nach der Lebenserfahrung auf ein Verschulden hin, so ist der Beweis des ersten Anscheins erst geführt, wenn der Verletzte bewiesen hat, dass die anderen möglichen Geschehensabläufe hier nicht in Betracht kommen. Darauf, ob nach den Erfahrungen des täglichen Lebens oder nach der besonderen Sachlage eine größere Wahrscheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit besteht, kommt es nicht an.202 Weisen alle nach der Lebenserfahrung typischen Geschehensabläufe auf ein Verschulden des Schädigers hin, so hat dieser den Beweis des ersten Anscheins erst entkräftet, wenn er bewiesen hat, dass keiner dieser Abläufe in Betracht kommt.203

41.61

cc) Sonstige Tatsachen Fehlt es an der besonderen Problematik, die den Kausalitäts- und den Verschuldensbeweis kennzeichnet, ist die Rechtsprechung zu Recht sehr zurückhaltend beim Einsatz des Anscheinsbeweises. Er darf z.B. nicht angewendet werden zum Beweis der relativen Fahruntüchtigkeit, denn diese bedarf individueller Feststellung.204 Dasselbe gilt für die behauptete Übermüdung des Fahrers.205

41.62

Die Täterschaft oder die Unfallbeteiligung i.S.v. § 7 StVG kann nicht mittels Anscheinsbeweis festgestellt werden.206 Unzulässig wäre z.B. der Schluss, dass der Halter eines Kfz auch dessen Führer zur Unfallzeit war.207 Ebenso wenig kann aus dem Eigentum an einem Fahrzeug mittels Anscheinsbeweis auf die Haltereigenschaft geschlossen werden (s. Rz. 3.189 ff.). Dasselbe gilt für die Feststellung der Rechtsgutsverletzung als solcher, z.B. den Verlust von Bargeld.208 Auch der Beweis der Unabwendbarkeit des Unfalls (§ 17 Abs. 3 StVG, § 13 Abs. 3 HaftpflG) kann nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises geführt werden (s. Rz. 3.314).

41.63

dd) Subjektive Merkmale Subjektive Merkmale sind aufgrund ihrer Individualität nicht mittels typischer Geschehensabläufe feststellbar. Das Vorliegen grober Fahrlässigkeit kann daher nicht mit Hilfe des Anscheinsbeweises festgestellt werden, denn es erfordert eine umfassende Wertung subjektiver Gegebenheiten (s. Rz. 35.145).209

202 BGH v. 29.4.1969 – VI ZR 29/68, VersR 1969, 751; BGH v. 20.6.1978 – VI ZR 15/77, VersR 1978, 945. 203 BGH v. 2.12.1955 – I ZR 22/54, VRS 10, 128. 204 BGH v. 24.2.1988 – IV a ZR 193/86, NJW 1988, 1846; Hoffmann NZV 1997, 57, 59 f. 205 BGH v. 21.3.2007 – I ZR 166/04, NZV 2007, 566. 206 OLG Saarbrücken v. 6.12.1996 – 3 U 259/96-43, OLGR Saarbrücken 1998, 55. 207 Vgl. OLG Hamm v. 17.1.1972 – 2 Ss OWi 1292/71, MDR 1972, 626. 208 OLG Köln v. 25.2.2005 – 6 U 139/04, DAR 2005, 404. 209 BGH v. 11.7.1967 – VI ZR 14/66, VersR 1967, 909; BGH v. 5.2.1974 – VI ZR 52/72, VersR 1974, 593; OLG Nürnberg v. 28.4.1994 – 8 U 3768/93, VersR 1995, 331; OLG Köln v. 8.11.1989 – 13 U 130/89, VersR 1990, 390; Sanden VersR 1967, 1013; a.A. Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 17 Rz. 54; Hoffmann NZV 1997, 57, 60 f.

Greger | 1143

41.64

§ 41 Rz. 41.65 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

41.65

Schließlich können auch individuelle Willensbetätigungen nicht mittels Anscheinsbeweises erwiesen werden.210 Zu Unrecht wird daher dem Versicherer, der einen fingierten Unfall behauptet, vielfach ein Anscheinsbeweis zugestanden.211 Es ist ein ganz normaler Vorgang im Rahmen der freien Beweiswürdigung, wenn das Gericht sich seine Überzeugung von der Unfallmanipulation aufgrund von verdächtigen Indiztatsachen verschafft212 (näher s. Rz. 41.53). Beim Indizienbeweis fehlt aber die den Anscheinsbeweis kennzeichnende revisible Beweisvergünstigung.213

c) Rechtsnatur 41.66

Die Regeln des Anscheinsbeweises haben ihre Wurzel in den tatsächlichen Vermutungen des gemeinen Rechts, die vom ROHG in Haftpflichtprozessen aus Schiffskollisionen zu besonderen, schließlich gewohnheitsrechtlich anerkannten Beweislastregeln fortentwickelt wurden.214 Etwa ab 1930 wurde der Anscheinsbeweis von der Rechtsprechung dann als Vorgang der richterlichen Beweiswürdigung angesehen.215 Dem haben sich BGH und h.L. angeschlossen.216 In der Literatur wird aber auch die Auffassung vertreten, dass beim Anscheinsbeweis eine Reduzierung des Beweismaßes auf einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit stattfindet.217 Der österr OGH rechnet den Anscheinsbeweis zur unanfechtbaren Beweiswürdigung.218

41.67

Verschiedentlich wird der Anscheinsbeweis auch in Bezug zum materiellen Recht gesetzt.219 Dieser Ansatz überzeugt. Es entspricht der Funktion des Anscheinsbeweises, in bestimmten, durch besondere Beweisschwierigkeiten gekennzeichneten Fällen das – materiell-rechtlich determinierte – Haftungsrisiko zu Lasten des wahrscheinlichen Schädigers zu verschieben. Derartige Risikozuweisungen vermag nur das materielle Recht (ggf. in Verbindung mit den Be-

210 BGH v. 18.3.1987 – IVa ZR 205/85, BGHZ 100, 214: Freitod; krit. Lepa in FS Merz (1992) S. 387, 399; Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 17 Rz. 59. 211 BGH v. 6.3.1978 – VI ZR 269/76, VersR 1979, 514; OLG Celle v. 16.6.1988 – 5 U 199/87, NZV 1988, 182; OLG Zweibrücken v. 29.1.1988 – 1 U 23/87, VersR 1988, 970; OLG Zweibrücken v. 16.10.1987 – 1 U 27/85, VRS 76, 13; OLG Frankfurt v. 17.1.1989 – 22 U 12/88, VersR 1989, 858; OLG München v. 3.10.1989 – 5 U 1689/89, NZV 1990, 32; OLG Köln v. 29.3.1995 – 2 U 163/ 94, r+s 1995, 412; Knoche Vorgetäuschte und vorsätzlich herbeigeführte Versicherungsfälle (1991), S. 193 ff.; Geyer VersR 1989, 882, 885. Wie hier dagegen OLG Düsseldorf v. 18.12.1995 – 1 U 255/94, NZV 1996, 321; Laumen MDR 2018, 1153, 1155 m.w.N. 212 Ebenso Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 17 Rz. 270; Laumen MDR 2018, 915, 916; Lemcke r+s 1993, 121, 124 f. 213 Diesen Unterschied lässt Hoffmann NZV 1997, 57, 61 bei der Zulassung eines Anscheinsbeweises grober Fahrlässigkeit unbeachtet. 214 Vgl. Greger VersR 1980, 1091, 1097 f. mit Nachw. 215 RG v. 7.11.1931 – IX 327/31, RGZ 134, 237, 241 f. Ausf. dazu Greger FS Ch. Huber (2020) S. 151, 154. 216 BGH v. 10.1.1951 – II ZR 27/50, NJW 1951, 360; BGH v. 17.6.1997 – X ZR 119/94, NJW 1998, 79, 81; Rosenberg/Schwab/Gottwald § 114 Rz. 35 ff.; Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 17 Rz. 9; Geipel NZV 2015, 1 ff. 217 Musielak Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozess (1975), S. 120 ff.; Weitnauer KF 1966, 13 ff. und Verhandlungen des 46. DJT, E 73. 218 OGH v. 24.3.1983 – 7 Ob 23/83, VersR 1984, 1203. 219 Diederichsen VersR 1966, 211, 217 u. ZZP 81 (1968), 63; Hauß NJW 1967, 969 ff. u. ZVersWiss 1967, 151, 157; Walter ZZP 90 (1977), 270, 283; Hoffmann NZV 1997, 57, 58.

1144 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.70 § 41

weislastregeln) zu bewirken. Ein beweisrechtliches Verständnis des Anscheinsbeweises gerät dagegen mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung bzw. dem gesetzlichen Beweismaß der richterlichen Wahrheitsüberzeugung in Konflikt.220 Hinter dem Anscheinsbeweis verbergen sich somit Modifizierungen des materiellen Haftungsrechts. aa) Rechtliche Einordnung Beim Anscheinsbeweis der Kausalität handelt es sich darum, dass an die Stelle des Merkmals „Kausalität“ – wie ausdrücklich in § 119 Abs. 1, § 2087 Abs. 1 BGB – die „nach der Lebenserfahrung anzunehmende Kausalität“ gesetzt wird, weil in zahlreichen Fällen die Feststellung, wie das Geschehen sich bei Hinwegdenken des haftungsbegründenden Umstands entwickelt hätte, von niemanden mit Sicherheit getroffen werden kann.221 So gesehen ist der typische Geschehensablauf (im Sinne der Judikatur) nur ein Hilfsmittel zur Feststellung der Wahrscheinlichkeit – aber keineswegs das einzige. Auch ohne Typizität des Geschehens kann sich der Richter mithilfe der freien Beweiswürdigung eine Überzeugung von der wahrscheinlichen Ursächlichkeit bilden. Nur wenn er dies verkannt hat, kann das Revisionsgericht seine Entscheidung aufheben (s. Rz. 41.73).

41.68

Beim Anscheinsbeweis des Verschuldens geht es um mehr als eine beweisrechtlich orientierte Interpretation eines materiell-rechtlichen Tatbestandsmerkmals. Ein strikter Verschuldensbeweis ist keineswegs objektiv unmöglich. Das pflichtwidrige Verhalten ist eine sinnlicher Wahrnehmung zugängliche Realität, deren Beweis nicht am Fehlen von Erkenntnismitteln, sondern allenfalls am Fehlen (zulänglicher) Beweismittel scheitern kann. Soll deshalb, wie dies mit der Anscheinsbeweis-Judikatur geschieht, zum Zweck einer billigen Verteilung des Beweisrisikos für bestimmte Fälle eine Haftung für wahrscheinliches Verschulden begründet werden, so bedarf es hierzu der Statuierung eigener materiell-rechtlicher Haftungsnormen. Derartige Normen haben die Gerichte durch ihre Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis, also durch Richterrecht geschaffen, aber verfehlt dem Beweisrecht zugeordnet. Die Rechtsprechung verlangt den Beweis eines Verschuldens und betrachtet diesen als erbracht, wenn von einem typischen Geschehensablauf auszugehen ist. Damit baut sie aber in den Beweisvorgang ein systemfremdes Element ein, welches man entweder als Beweismaßreduzierung oder als Beweiswürdigungsregel – und damit in jedem Fall als Verstoß gegen § 286 ZPO – qualifizieren muss. Eliminiert man dieses Element, so sinkt der typische Geschehensablauf gewissermaßen auf die materiell-rechtliche Ebene herab: das typischerweise vorliegende Verschulden ersetzt das Merkmal des Verschuldens im gesetzlichen Haftungstatbestand.

41.69

Wer eine solche Umgestaltung materiell-rechtlicher Tatbestände für unmöglich hält,222 müsste konsequenterweise die Judikatur zum Anscheinsbeweis insgesamt ablehnen (wofür in der Tat vieles spräche, denn allzu oft geht es bei ihr nur um das Abschieben der Verantwortung für die Überzeugungsbildung und deren Korrektur durch ein nicht immer realitätsnäheres Obergericht). Geht man aber davon aus, dass hier wirksames Richterrecht entstanden ist, so muss man dieses im Sinne ungeschriebener Haftungsnormen interpretieren.

41.70

220 Näher hierzu und zum Folgenden Greger VersR 1980, 1091, 1101 ff. sowie in FS Ch. Huber (2020) S. 151 ff. 221 In diesem Sinne bereits RG v. 8.4.1914 – I 9/14, RGZ 84, 382, 385 f. 222 Z.B. Prütting Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983), S. 99 f.

Greger | 1145

§ 41 Rz. 41.71 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

41.71

Für den Bereich des Anscheinsbeweises im Straßenverkehr könnte die Haftungsnorm etwa wie folgt formuliert werden: „Wer am Straßenverkehr teilnimmt, ist zum Ersatz des einem anderen entstehenden Schadens verpflichtet, wenn dieser nach dem typischen Geschehensablauf auf ein fahrlässiges Verhalten des Schädigers zurückzuführen ist, es sei denn, dass sich aus bestimmten Tatsachen die Möglichkeit eines fehlenden Verschuldens ergibt“.

41.72

Diese dem materiellen Recht angehörende Norm statuiert eine verschuldensunabhängige Quasi-Gefährdungshaftung, die durch den Nachweis der realen Möglichkeit schuldloser Schadensverursachung ausgeräumt werden kann. Sie erklärt zugleich den engen Zusammenhang der Anscheinsbeweisregeln mit der Beweislastverteilung. Denn auch bzgl. dieser Haftungsnorm kann es zum non liquet kommen; die Beweislast trifft dann hinsichtlich des ersten Satzteils den Kläger und hinsichtlich des zweiten („es sei denn, dass“) den Beklagten. Kann also der Kläger den ihm obliegenden Beweis des gefahrtypischen Verhaltens und des typischen Geschehensablaufs nicht führen oder gelingt dem Beklagten der Beweis der Möglichkeit fehlenden Verschuldens, so bedeutet dies, dass die Anscheinshaftungsnorm nicht zur Anwendung kommen kann. Es braucht jedoch nicht zu bedeuten, dass die Haftung des Beklagten endgültig entfällt; vielmehr ist zu prüfen, ob er nach den allgemeinen Haftungsnormen und Beweislastgrundsätzen zu verurteilen ist. Dieses Nebeneinander von Anscheinshaftung und normaler Haftung erklärt zugleich, weshalb die Anscheinsbeweisregeln, obwohl sie eine Beweislastverteilung (nämlich für die Anscheinshaftung) beinhalten, kein non liquet bzgl. des normalen Haftungstatbestandes voraussetzen. bb) Revisibilität

41.73

Die materiell-rechtliche Deutung des Anscheinsbeweises lässt sich mit der bisherigen Handhabung durch die Rechtsprechung ohne weiteres vereinbaren. Was bisher zumeist als revisionsgerichtliche Kontrolle der Beweiswürdigung im Rahmen des Kausalitäts-Anscheinsbeweises angesehen wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als die materiell-rechtliche Prüfung, ob der Tatrichter das Merkmal der Kausalität zutreffend, d.h. in dem oben wiedergegebenen Sinn, verstanden hat, und die Handhabung des Verschuldens-Anscheinsbeweises durch den BGH stellt nichts anderes dar als die Kontrolle der Anwendung der oben wiedergegebenen Anscheinshaftungsnorm. Es handelt sich also um ganz normale Fälle der Überprüfung der Anwendung materiellen Rechts. cc) Internationales Recht

41.74

Eine grundlegende, in der Praxis allerdings wenig bedeutsame Auswirkung auf den Anwendungsbereich dürfte die Zuordnung der Anscheinsbeweisregeln zum materiellen Recht lediglich bei Haftungsfällen im Ausland haben, auf welche das Tatortrecht anzuwenden ist. Die h.M. rechnet den Anscheinsbeweis zur lex fori, so dass er von den deutschen Gerichten auch in internationalen Streitigkeiten anzuwenden sei;223 richtigerweise ist jedoch darauf abzustel-

223 BGH v. 4.10.1984 – I ZR 112/82, VersR 1985, 133; LG Saarbrücken v. 11.5.2015 – 13 S 21/15, NZV 2015, 488; Erman/Stürner Art. 22 Rom II-VO Rz. 3; Baumgärtel/Laumen/Prütting Bd. 1 Kap. 17 Rz. 9; Schack Internationales Zivilverfahrensrecht, 5. Aufl. (2010) Rz. 746; Thole IPRax 2010, 285 ff.; Lafontaine DAR 2020, 247, 250; wie hier MünchKomm-BGB/Junker Art. 22 Rom II-VO Rz. 8; Zwickel IPrax 2015, 531. S. auch Rz. 2.31.

1146 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.77 § 41

len, ob auch das anzuwendende ausländische Recht einen modifizierten Kausalitätsbegriff bzw. eine Anscheinshaftung kennt.224

d) Einzelfälle zum Anscheinsbeweis der Kausalität Alkoholeinfluss. Der Ursachenzusammenhang zwischen alkoholbedingter Fahruntauglichkeit und einem Unfall kann zwar grundsätzlich mittels Anscheinsbeweises festgestellt werden;225 dies gilt jedoch nicht, wenn Umstände zu dem Unfall geführt haben, die auch ein Nüchterner nicht hätte meistern können,226 z.B. Glatteis,227 plötzliches Auftauchen eines Fußgängers.228 Bei einem Begegnungszusammenstoß kommt es auf den konkreten Unfallhergang an; ob auch der andere Unfallbeteiligte alkoholisiert war, ist dagegen ohne Bedeutung.229 Die leichte Alkoholisierung eines Unfallbeteiligten kann nicht ohne weiteres mittels Anscheinsbeweises als unfallursächlich angesehen werden.230

41.75

Mittels Anscheinsbeweises wird auch die Mitursächlichkeit einer Alkoholisierung des Geschädigten festgestellt, so z.B. wenn ein betrunkener, bereits vorher durch unsicheren Gang aufgefallener Fußgänger, nachts auf der Straße liegend, überfahren wird.231 Auch hier wird darauf abgestellt, ob der Geschädigte in einer Situation verunglückt ist, die ein Nüchterner gemeistert hätte.232

41.76

Unklar an der Rechtsprechung des BGH zu dieser Fallgruppe ist, ob der Umstand, dass auch ein Nüchterner die Situation nicht hätte meistern können, Voraussetzung für die Anwendung des Anscheinsbeweises (und damit vom Kläger zu beweisen) ist, oder ob es sich hierbei um die dem Beklagten obliegende Entkräftung des Anscheinsbeweises handelt. Richtigerweise wird zu differenzieren sein. Bei absoluter Fahruntauglichkeit eines Kraftfahrers, d.h. ab 1,1‰,233 kann deren Kausalität für einen Verkehrsunfall ohne weiteres als prima facie erwiesen angesehen werden, sofern nicht der Beklagte Tatsachen nachweist, aus denen sich die Möglichkeit eines unabhängig von der Fahruntauglichkeit ablaufenden Unfallgeschehens ergibt. Bei einer geringeren Alkoholisierung hingegen sowie bei Unfallbeteiligten ohne Kfz ist bereits zur Begründung eines typischen Geschehensablaufs erforderlich, dass die konkrete Unfallsituation für eine Ursächlichkeit der Trunkenheit spricht. Dies gilt auch für Radfahrer; dass der

41.77

224 So i. Erg. (Anscheinsbeweis bei Auffahrunfall in den Niederlanden gestützt auf Art. 22 Abs. 1 Rom II-VO verneinend) auch AG Geldern v. 27.10.2010 – 4 C 356/10, NJW 2011, 686. Zustimmend Staudinger NJW 2011, 650 ff. 225 BGH v. 24.10.1955 – II ZR 345/53, BGHZ 18, 311; BGH v. 30.10.1985 – IVa ZR 10/84, VersR 1986, 142; BGH v. 9.10.1991 – IV ZR 264/90, NZV 1992, 27; OLG Frankfurt v. 14.11.1984 – 19 U 102/83, VersR 1985, 759; Hoffmann NZV 1997, 57, 60. 226 BGH v. 20.10.1964 – VI ZR 160/63, VersR 1965, 81; BGH v. 1.3.1966 – VI ZR 207/64, VersR 1966, 585. 227 OLG Frankfurt v. 1.7.1986 – 8 U 106/85, VersR 1987, 1142. 228 OLG Stuttgart v. 3.10.1978 – 12 U 127/77, VersR 1980, 243; OLG Zweibrücken v. 23.4.1993 – 1 U 295/91, VersR 1995, 429. 229 A.A. OLG Schleswig v. 14.6.1990 – 7 U 5/87, NZV 1991, 233. 230 BGH v. 20.10.1961 – VI ZR 34/61, VersR 1962, 132. 231 BGH v. 24.2.1976 – VI ZR 61/75, VersR 1976, 729. 232 BGH v. 24.1.1956 – VI ZR 123/55, VersR 1956, 195. 233 BGH v. 28.6.1990 – 4 StR 297/90, BGHSt 37, 89; Salger NZV 1990, 1; das zugrunde liegende Gutachten des Bundesgesundheitsamts ist abgedruckt in NZV 1990, 104.

Greger | 1147

§ 41 Rz. 41.77 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

BGH234 auch für sie einen allgemeinen Grenzwert der alkoholbedingten absoluten Fahruntauglichkeit festgesetzt hat, spielt für die hier zu beurteilende Frage keine Rolle.

41.78

Fehlen der Fahrerlaubnis. Bei einem Fahrfehler des Schädigers kann zwar grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für den Ursachenbeitrag einer fehlenden Fahrerlaubnis sprechen; dies erfordert aber die Feststellung weiterer, typischer Umstände und ist daher zu verneinen, wenn die Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Straßenverkehr entzogen, der Fahrer im Zeitpunkt des Unfalls aber nüchtern war und auch sonst keine gefahrerhöhenden Umstände ersichtlich sind.235

41.79

Lenkzeitüberschreitung. Ihre Ursächlichkeit für ein Abkommen von der Fahrbahn kann per Anscheinsbeweis festgestellt werden.236

41.80

Auffahren infolge mangelhafter Beleuchtung oder Absicherung. Die fehlende oder mangelhafte Beleuchtung eines Fahrzeugs ist nach dem ersten Anschein ursächlich, wenn bei Dunkelheit ein anderes Fahrzeug auffährt,237 der Anscheinsbeweis entfällt jedoch, wenn das Fahrzeug aufgrund anderweitiger Beleuchtung von weitem gut sichtbar war.238 Die fehlende Beleuchtung einer auf der Straße getriebenen Viehherde239 oder einer Baustelle240 ist als kausal für den Sturz eines Kraftradfahrers anzusehen. Wird ein liegengebliebenes Fahrzeug nicht ausreichend abgesichert oder nicht ordnungsgemäß abgestellt, so ist diese Unterlassung prima facie kausal für das Auffahren eines anderen Fahrzeugs.241 Der Anscheinsbeweis ist jedoch entkräftet, wenn dessen Fahrer durch Grüßen eines entgegenkommenden Fahrers erheblich abgelenkt war242 oder wenn es ohne erkennbaren Grund in einer Breite von fast 1 m den Standstreifen befuhr.243

41.81

Geschwindigkeitsüberschreitung. Steht fest, dass ein Kraftfahrer die auf dem betreffenden Straßenabschnitt zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat, so ist davon auszugehen, dass dies der Grund für sein Unvermögen war, vor einem Zusammenstoß rechtzeitig auszuweichen oder anzuhalten, sofern nicht die Möglichkeit eines anderen Ablaufs nachgewiesen wird.244 Fährt ein Kraftfahrer zu schnell und in fahruntauglichem Zustand an einer haltenden Straßenbahn vorbei, so ist dies nach dem Anscheinsbeweis kausal für das Überfahren eines auf die Fahrbahn eilenden Fußgängers.245 Das Überschreiten der für Lastzüge bestehenden Geschwindigkeitsbegrenzung ist als kausal für solche Unfälle anzusehen, die durch die Begrenzung gerade vermieden werden sollen.246

234 BGH v. 17.7.1986 – 4 StR 543/85, BGHSt 34, 133 (1,7‰); für Herabsetzung auf 1,6‰ OLG Hamm v. 19.11.1991 – 3 Ss 1030/91-3 Ws 484/91, NZV 1992, 198; MünchKomm-StGB/Pegel § 316 Rz. 44 m.w.N., auch zu weiteren Formen der Verkehrsteilnahme. 235 BGH v. 21.11.2006 – VI ZR 115/05, NJW 2007, 506. 236 OLG Köln v. 9.2.1987 – 12 U 176/86, VersR 1988, 1078. 237 BGH v. 22.10.1955 – VI ZR 203/54, VersR 1955, 760; BGH v. 8.11.1963 – VI ZR 239/62, VersR 1964, 296. 238 BGH v. 19.9.1961 – VI ZR 196/60, VersR 1961, 1015. 239 BGH v. 16.6.1959 – VI ZR 136/58, VersR 1959, 805. 240 BGH v. 30.6.1964 – VI ZR 112/63, VersR 1964, 1082. 241 BGH v. 26.3.1956 – VI ZR 242/54, VersR 1956, 409. 242 BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 116/69, VersR 1971, 318. 243 OLG Nürnberg v. 16.7.2014 – 1 U 2572/13, MDR 2014, 1140. 244 BGH v. 18.2.1952 – III ZR 125/50, VRS 4, 260, 262. 245 BGH v. 28.5.1957 – VI ZR 272/56, VersR 1957, 529. 246 BGH v. 1.7.1969 – VI ZR 26/68, VersR 1969, 900.

1148 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.86 § 41

Begegnungsunfälle. Hat bei einem Begegnungszusammenstoß einer der beiden Fahrer seine rechte Straßenseite nicht eingehalten, so spricht der erste Anschein dafür, dass diese Verkehrswidrigkeit die Unfallursache war.247 Das Gleiche gilt bei zu dichtem Vorüberfahren an einer begegnenden Kolonne248 und vor allem dann, wenn der Kraftfahrer die durchlaufende weiße Sperrlinie überfahren hat.249 Wird ein Kraftfahrer unmittelbar nach dem Überholen eines sichtbehindernden Fahrzeugs vom Gegenverkehr überrascht und stößt er deshalb auf der für ihn linken Fahrbahnseite mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen, so spricht der Anscheinsbeweis für einen Kausalzusammenhang zwischen dem Überholvorgang und dem Unfall.250

41.82

Fahrzeugmängel. War ein Wagen, dessen Reifen nicht alle die vorgeschriebene Profiltiefe hatten, bei nasser oder vereister Fahrbahn ins Schleudern geraten, so spricht der Anschein dafür, dass der schlechte Reifenzustand für den Unfall ursächlich war. Dies gilt aber nicht bei trockener, staubfreier Fahrbahn, denn auf ihr haften abgefahrene Reifen u.U. sogar besser.251 Dass ein aus anderem Grund auf nasser Fahrbahn ins Schleudern geratenes Kfz wieder abgefangen werden kann, wenn die Reifen nicht abgefahren sind, kann nicht mittels Anscheinsbeweises festgestellt werden.252 Dagegen ist prima facie feststellbar, dass ein Unfall durch Platzen eines überalterten Reifens bei hoher Geschwindigkeit253 oder eine Delle in der Radfelge254 verursacht wurde.

41.83

Die Kausalität zwischen einer fehlerhaften Bremsvorrichtung des Fahrzeugs und einem beim Bremsen eingetretenen Unfall kann mittels Anscheinsbeweis festgestellt werden.255 Dies gilt aber nicht, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Unfall nicht durch Bremsversagen, sondern durch mangelnde Aufmerksamkeit des Fahrer verursacht wurde.256

41.84

Unfälle mit Fußgängern. Das Halten einer Straßenbahn auf einem Fußgängerüberweg ist nach dem ersten Anschein Unfallursache, wenn ein hinter der Straßenbahn auf die Gleise tretendes Kind von einer entgegenkommenden überfahren wird.257 Das unaufmerksame Betreten der Fahrbahn durch einen Fußgänger ist prima facie die Ursache dafür, dass der Fußgänger infolge Erschreckens über ein herannahendes Fahrzeug zu Fall kommt.258

41.85

Zweitunfall. Fährt ein Kfz auf ein anderes und sodann ein weiteres auf, so spricht der erste Anschein dafür, dass der erstgenannte Fahrer auch das Auffahren des dritten Fahrzeugs verursacht hat.259 Kein Anscheinsbeweis für die Ursächlichkeit des Erstunfalls greift ein, wenn ein stark betrunkener Fußgänger etwa 5 bis 10 Minuten, nachdem er von einem Motorradfah-

41.86

247 BGH v. 26.11.1963 – VI ZR 245/62, VersR 1964, 166; einschr. BGH v. 14.5.1963 – VI ZR 113/ 62, VersR 1963, 945; OLG Karlsruhe v. 21.11.1985 – 4 U 89/84, VersR 1987, 692. 248 BGH v. 7.2.1967 – VI ZR 116/65, VersR 1967, 473. 249 BGH v. 20.2.1968 – VI ZR 130/66, VersR 1968, 698. 250 BGH v. 30.6.1982 – IVa ZR 18/81, VersR 1982, 892, 893. 251 Vgl. BGH v. 26.6.1968 – IV ZR 513/68, VersR 1968, 785. 252 BGH v. 28.1.1958 – VIII ZR 299/56, VersR 1958, 186. 253 OLG Düsseldorf v. 21.2.1997 – 22 U 160/96, VersR 1999, 64. 254 BGH v. 18.6.1969 – VIII ZR 148/67, NJW 1969, 1708, 1709. 255 BGH v. 28.9.1970 – VIII ZR 166/68, VersR 1971, 80. 256 BGH v. 24.9.1968 – VI ZR 160/67, VersR 1968, 1144. 257 BGH v. 27.6.1975 – VI ZR 42/74, VersR 1975, 1007. 258 BGH v. 23.10.1973 – VI ZR 116/71, VersR 1974, 196. 259 OLG Hamburg v. 30.11.1965 – 7 U 322/65, 7 U 364/65, VersR 1967, 478.

Greger | 1149

§ 41 Rz. 41.86 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

rer angefahren worden war, hinter einem haltenden Wagen vor einen Pkw läuft, ohne dass Anzeichen für einen Unfallschock bestehen.260

41.87

Sturz. Stürzt ein Fußgänger in unmittelbarer Nähe einer Gefahrenstelle (z.B. Loch in der Pflasterung), spricht der Anscheinsbeweis für deren Ursächlichkeit.261 Dasselbe gilt für den Sturz eines Radfahrers im Bereich einer gefährlichen Asphaltkante262 oder bei der Begegnung mit einem pflichtwidrig nicht angeleinten Hund.263

41.88

Verkehrsregelung. Die Nichterkennbarkeit eines Vorfahrtzeichens ist prima facie kausal für einen Unfall in der Kreuzung.264

41.89

Streupflicht. Die Ursächlichkeit eines Verstoßes gegen die Streupflicht ist nach der Rechtsprechung mittels Anscheinsbeweises feststellbar, wenn der Verletzte innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht zu Fall gekommen ist,265 nicht jedoch bei einem Unfall nach dem Ende der Streupflicht.266

41.90

Todesursache. Wird der Insasse eines an einen Baum gefahrenen Kraftwagens unmittelbar nach dem Unfall sterbend aus dem Wagen geborgen, so spricht der erste Anschein für die Ursächlichkeit des Unfalls für den Tod, wenn die festgestellten Verletzungen geeignet waren, den Tod herbeizuführen.267

41.91

Verletzungsursache. Die Verursachung einer Knieverletzung durch eine Notbremsung kann mittels Anscheinsbeweis festgestellt werden,268 ebenso das Auftreten einer Distorsion der Halswirbelsäule bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung oberhalb von 15 km/h.269 Zum Beweis der Ursächlichkeit des Nichtangurtens s. Rz. 25.80 ff.

e) Einzelfälle zum Anscheinsbeweis des Verschuldens 41.92

Abkommen von der Fahrbahn. Für ein schuldhaft verkehrswidriges Verhalten des Fahrers (Unaufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder Fahrfehler) spricht es prima facie, wenn ein Kfz durch Abkommen von gerader und übersichtlicher Fahrbahn verunglückt ist270 (zum Abkommen auf die Gegenfahrbahn s. Rz. 41.104 f.). Allein dieses „Kerngeschehen“ reicht jedoch für die Annahme eines Anscheinsbeweises nicht aus; vielmehr muss das ganze feststehende Unfallgeschehen typisch dafür sein, dass der die Fahrbahn verlassende Verkehrsteilnehmer schuldhaft gehandelt hat.271 Dies wird in der Regel beim schlichten Abkommen der Fall sein; ist jedoch ein anderer Verkehrsteilnehmer beteiligt (z.B. mit einem nur knapp zu Ende geführten Überholvorgang), fehlt es bereits an der Typizität und damit an der Grund-

260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271

BGH v. 28.10.1969 – VI ZR 61/68, VersR 1970, 61. BGH v. 2.6.2005 – III ZR 358/04, NJW 2005, 2454. OLG Hamm v. 29.8.2014 – 9 U 78/13, NJW-RR 2015, 86. OLG Hamm v. 21.7.2008 – 6 U60/08, NZV 2008, 564 (sehr weitgehend). BGH v. 29.10.1959 – III ZR 140/58, VersR 1960, 317. BGH v. 26.2.2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302, 3303; OLG Köln v. 17.11.1995 – 19 U 37/ 95, VersR 1996, 246. BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 98/82, VersR 1984, 40. OLG München v. 9.12.1966 – 10 U 1911/66, VersR 1967, 484. BGH v. 5.7.1983 – VI ZR 289/81, VersR 1983, 986. KG v. 2.9.2019 – 25 U 163/17, NZV 2020, 474 KW. BGH v. 18.12.1952 – VI ZR 54/52, BGHZ 8, 239 = NJW 1953, 584 mit Anm. Bezold; st. Rspr. BGH v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94, NZV 1996, 277.

1150 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.96 § 41

lage des Anscheinsbeweises, ohne dass es auf dessen Entkräftung ankäme.272 Dasselbe gilt, wenn vor dem Unfall ein Reifen geplatzt und die Servolenkung ausgefallen ist273 oder wenn die Unglücksfahrt dem Zweck diente, technische Mängel des Fahrzeugs festzustellen.274 Bei Kurvenunfällen können nach den Erkenntnissen der Unfallanalyse Anscheinsregeln nur mit Vorsicht herangezogen werden.275 Für die Entkräftung des Anscheinsbeweises reicht es nicht aus, dass der Fahrer sich auf die Möglichkeit der Blendung oder des Abdrängens durch ein entgegenkommendes Fahrzeug beruft276 oder dass an der Unfallstelle Glätte (s. Rz. 41.108) oder Nebel herrschte.277 Entkräftung wurde dagegen von der (teilweise sehr weit gehenden) Rechtsprechung bejaht, wenn die Fahrbahn nicht erkennbare Unebenheiten aufwies,278 der Fahrer durch das Verhalten eines Beifahrers irritiert worden sein kann,279 möglicherweise durch einen mitfahrenden Schäferhund behindert wurde280 oder wenn ein Reifen schleichend Luft verloren hat.281

41.93

Auffahren auf ein Hindernis. Ein Verschulden des Kraftfahrers ist prima facie erwiesen, wenn er ohne erkennbaren Anlass auf ein Hindernis, z.B. einen querstehenden Anhänger, ein geparktes Fahrzeug oder einen auf der Fahrbahn liegenden Gegenstand, auffährt.282 Fehlende Beleuchtung des Hindernisses ändert an er Typizität des Geschehens nichts.283

41.94

Entkräftet wird der Anscheinsbeweis z.B. durch den Beweis von Tatsachen, aus denen sich die Möglichkeit ergibt, dass es erst unmittelbar vor dem Fahrzeug auf die Fahrbahn kam. Will der Auffahrende geltend machen, ihn treffe an dem Unfall deswegen kein Verschulden, weil das Hindernis durch ein vorausfahrendes Fahrzeug, das erst im letzten Moment die Spur gewechselt habe, verdeckt gewesen sei, so genügt allein dieser Vortrag zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht. Erforderlich ist vielmehr der Nachweis, dass ein zum Versperren der Sicht geeignetes Fahrzeug vorausgefahren ist, dass dieses erst unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur gewechselt hat und dass dem Nachfahrenden ein Ausweichen zumindest erheblich erschwert war.284

41.95

Auffahren auf vorausfahrendes Fahrzeug. Der Beweis des ersten Anscheins spricht, wenn ein Kfz auf ein vor ihm in gleicher Richtung fahrendes anderes Kfz auffährt, dafür, dass der Fahrer entweder unaufmerksam war, oder dass er keinen ausreichenden Sicherheitsabstand

41.96

272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284

BGH v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94, NZV 1996, 277. OLG Düsseldorf v. 22.7.1992 – 1 U 60/91, VersR 1993, 1249. BGH v. 18.1.1957 – VI ZR 311/55, VersR 1957, 234. Schimmelpfennig 25. VGT (1987) S. 76 ff.; Entschließung des 25. VGT S. 8. BGH v. 15.4.1966 – VI ZR 246/64, VersR 1966, 693. OLG München v. 8.10.1998 – 24 U 144/98, NZV 2000, 207. BGH v. 18.1.1966 – VI ZR 184/64, VersR 1966, 344; anders aber OLG Celle v. 19.7.1984 – 5 U 266/83, VersR 1985, 787 bei kleinen Unebenheiten. KG v. 29.10.1984 – 12 U 732/84, VersR 1985, 369. BGH v. 11.10.1983 – VI ZR 141/82, VersR 1984, 44. OLG Köln v. 19.4.1988 – 15 U 161/87, VRS 76, 256; vgl. jedoch auch OLG Hamm v. 4.2.1993 – 6 U 203/92, NZV 1993, 354, wo erwiesen wurde, dass der Druckabfall nicht unfallursächlich sein konnte. BGH v. 7.4.1954 – VI ZR 73/53, VersR 1954, 288; BGH v. 22.2.1966 – VI ZR 199/64, VersR 1966, 567; OLG Koblenz v. 18.11.1984 – 12 U 1632/83, VRS 68, 32. BGH v. 6.10.1959 – VI ZR 191/58, NJW 1960, 99; BGH v. 23.9.1969 – VI ZR 37/68, VersR 1969, 1923. BGH v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, NZV 1989, 105.

Greger | 1151

§ 41 Rz. 41.96 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

gewahrt hatte. Diese wahlweise Feststellung reicht aus, ein Verschulden darzutun.285 Dasselbe gilt, wenn er auf ein erkennbar verkehrsbedingt anhaltendes oder zum Abbiegen verlangsamendes Fahrzeug auffährt, sofern dieses nicht ungewöhnlich stark abgebremst wurde.286 Steht fest, dass das vorausfahrende Kfz abrupt abgebremst wurde, ohne dass dies nach der Verkehrslage zu erwarten war, fehlt die für einen Anscheinsbeweis erforderliche Typizität.287 Kann der Kläger also nicht beweisen, dass der Beklagte im Rahmen des gewöhnlichen Verkehrsablaufs aufgefahren ist, kann er sich von vornherein nicht auf den Anscheinsbeweis eines Verschuldens berufen; es ist nicht Sache des Beklagten, einen solchen zu entkräften.288 In solchen Fällen verbleibt es bei der Haftungsverteilung nach der Betriebsgefahr.

41.97

Bei Auffahrunfällen von Straßenbahnen fehlt wegen der Besonderheiten des Straßenbahnbetriebs in der Regel der für einen Anscheinsbeweis erforderliche typische Geschehensablauf.289 Hatte der Straßenbahnführer jedoch genügend Zeit, um sich auf ein Fahrzeug im Gleisbereich einzustellen, soll auch zu seinen Lasten ein (dann aber kaum nötiger) Anscheinsbeweis sprechen z.B. beim Auffahren auf einen weithin sichtbaren Bus.290

41.98

Das Auffahren als solches muss bewiesen sein. Kann der Unfall auch auf einem Zurücksetzen des anderen Kraftfahrers beruhen, greift der Anscheinsbeweis nicht ein.291 Es gibt auch keinen Anscheinsbeweis für ein Auffahren; die Neigung der Straße hat für ein Zurückrollen nur indizielle Bedeutung.292 Das Schadensbild kann darauf hindeuten, dass es sich nicht um einen typischen Auffahrunfall handelt, sondern dass die Kollision in Zusammenhang mit einem Spurwechsel (dazu nachstehend) oder Wendevorgang stand.293

41.99

Auch beim Auffahrunfall gilt, dass der Anscheinsbeweis nur Anwendung finden darf, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet wird, schuldhaft gehandelt hat (s. Rz. 41.56). An einer solchen Typizität fehlt es, wenn feststeht, dass der Auffahrunfall in engem zeitlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel oder Überholen des vorausfahrenden Fahrzeugs oder dessen Einfahren von einer Beschleunigungsspur stattgefunden hat, so dass der Unfall sowohl auf einer verspäteten Reaktion des auffahrenden Fahrers als auch auf einer Verkehrswidrigkeit des anderen beruhen kann.294 Ein An285 BGH v. 20.12.1963 – VI ZR 289/62, VersR 1964, 263; BGH v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, NZV 2007, 354. 286 BGH v. 24.6.1969 – VI ZR 40/68, VersR 1969, 859; BGH v. 1.7.1969 – VI ZR 26/68, VersR 1969, 900; OLG Düsseldorf v. 23.6.2015 – 1 U 107/14, NJW 2015, 3586. 287 OLG Frankfurt v. 2.3.2006 – 3 U 220/05, NZV 2006, 372 (plötzliches Bremsen beim Ampelstart). 288 Unzutr. daher OLG Karlsruhe v. 28.4.2017 – NJW 2017, 2626 mit Anm. Jaeger. 289 OLG Düsseldorf v. 12.7.1993 – 1 U 161/92, NZV 1994, 28; OLG Düsseldorf v. 5.12.2017 – 1 U 33/17, VersR 2018, 1276. 290 BGH v. 11.7.1958 – VI ZR 108/57, VersR 1958, 626 (Auffahren auf weithin sichtbaren Bus). Ebenso Metz NZV 2009, 484 ff. 291 OLG Köln v. 19.3.1986 – 2 U 167/85, NJW-RR 1986, 773; LG Köln v. 1.8.1991 – 34 S 87/91, NZV 1991, 476. 292 A.A. LG Stuttgart v. 20.12.1989 – 13 S 326/89, NZV 1990, 236. 293 KG v. 12.11.2007 – 12 U 174/07, NZV 2008, 623. 294 BGH v. 30.11.2010 – VI ZR 15/10, NJW 2011, 685 sowie BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84 mit Kritik an der verbreiteten Praxis der Instanzgerichte, dem Spurwechsel erst bei der (dem Gegner obliegenden) Entkräftung des Anscheinsbeweises Bedeutung beizumessen; vgl. z.B. OLG Saarbrücken v. 19.5.2009 – 4 U 347/08, NZV 2009, 556. Zutr. dagegen z.B. OLG Düsseldorf v. 19.1.2010 – 1 U 89/09, VersR 2010, 1236; KG v. 14.5.2007 – 12 U 194/06, NZV 2008, 198. Unklar, aber im Erg. zutr. OLG Düsseldorf v. 18.12.2018 – 1 U 27/18, DAR 2020, 28.

1152 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.101 § 41

scheinsbeweis kommt damit von vornherein nur in Betracht, wenn für das Gericht feststeht, dass die beteiligten Fahrzeuge bereits so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können und es dem Auffahrenden möglich gewesen wäre, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen bzw. einzuhalten; nur dann kann der den Anscheinsbeweis tragende Erfahrungssatz herangezogen werden, dass der Grund für das Auffahren in einem zu schnellen Fahren, mangelnder Aufmerksamkeit oder unzureichendem Sicherheitsabstand des Hintermannes zu sehen ist.295 Der Anscheinsbeweis ist ausgeräumt, wenn der Auffahrende Tatsachen beweist, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit ergibt, dass der Unfall durch eine andere als die vorgenannten typischen Ursachen hervorgerufen wurde, z.B. dadurch, dass das andere Fahrzeug abrupt zum Stehen kam, oder nach einem Schleudervorgang liegen geblieben ist296 oder dass sein Bremslicht defekt war.297 Die rein gedankliche Möglichkeit eines solchen Ablaufs genügt nicht,298 auch nicht die nicht auszuschließende Möglichkeit einer Bewusstseinsstörung.299 Allein der Umstand, dass das vorausfahrende Fahrzeug ohne verkehrsbedingten Anlass stark abgebremst wurde, räumt den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis nicht aus;300 unabhängig davon kann aber bei einer völlig unerwarteten Vollbremsung bereits die Typizität entfallen (s. Rz. 41.96). Dass sich hinter dem Vorausfahrenden eine Kondenswolke gebildet hatte, räumt den Anscheinsbeweis ebenfalls nicht aus.301

41.100

Beim Serienauffahrunfall ist der für ein Verschulden des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis nur begrenzt anwendbar, da bei der Vielgestaltigkeit dieses Unfalltyps302 in der Regel kein ausreichend typischer Geschehensablauf feststellbar ist.303 Auch für den letzten Fahrer der Kette gilt er nicht, wenn möglicherweise der Vordermann seinerseits aufgefahren war und dadurch eine unvermutete Bremswegverkürzung für den Nachfolgenden hervorgerufen hat. In solchen Fällen entfällt bereits die Grundlage für eine Schuldunterstellung, so dass dem Letztauffahrenden nicht die Last des Gegenbeweises zugeschoben werden darf, auch nicht beschränkt auf den Heckschaden des Vordermanns.304 Entsprechendes gilt für einen

41.101

295 BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84 m.w.N.; BGH v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16, NZV 2017, 276 mit Anm. Nugel; Fetzer MDR 2009, 602, 603; einschr. (nur für Autobahnen) Geipel NZV 2015, 1, 5. Generell für einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Auffahrenden bei Vollüberdeckung von Front und Heck Dörr MDR 2010, 1163, 1165 f. 296 OLG Hamm v. 4.9.1997 – 6 U 29/97, NZV 1998, 115. 297 LG Bonn v. 11.9.1984 – 3 O 559/83, r+s 1985, 32; a.A. LG Berlin v. 5.6.2000 – 58 S 474/99, VM 2000 Nr. 97. 298 OLG Saarbrücken v. 19.7.2005 – 4 U 290/04-31/05, MDR 2006, 329. 299 OLG Oldenburg v. 19.4.1990 – 1 U 230/89, NZV 1991, 156. 300 OLG Karlsruhe v. 20.12.2012 – 9 U 88/11, NJW 2013, 1968; OLG Hamm v. 31.8.2018 – 7 U 70/ 17, r+s 2018, 611; insoweit zutr. auch OLG Karlsruhe v. 28.4.2017 – NJW 2017, 2626 mit Anm. Jaeger; a.A. OLG Köln v. 23.6.1995 – 19 U 48/95, DAR 1995, 485. 301 OLG München v. 26.11.1965 – 10 U 1531/65, VersR 1967, 691. 302 Vgl. Heitmann VersR 1994, 135 f.; Staab DAR 2015, 241, 245. 303 Lepa NZV 1992, 129, 132; Dörr MDR 2010, 1163, 1166. 304 OLG Hamm NJW 2014, 3790. A.A. OLG Karlsruhe v. 27.11.1981 – 10 U 80/81, VersR 1982, 1150; OLG Düsseldorf v. 12.6.1995 – 1 U 145/94, NZV 1995, 486 mit abl. Anm. Greger; Heitmann VersR 1994, 135, 137 f. KG v. 6.7.1995 – 12 U 1976/94, DAR 1995, 482 betrifft den Fall, dass nach der Verkehrslage (dichtes Auffahren des Vordermannes) mit einem Auffahrunfall gerechnet werden muss, und steht damit nicht im Gegensatz zur hier vertretenen Meinung. OLG Düsseldorf v. 22.12.1997 – 1 U 64/97, NZV 1998, 203 verneint zutr. Typizität bei feststehendem

Greger | 1153

§ 41 Rz. 41.101 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

Fahrer in der Mitte der Kette: Da es in solchen Fällen häufig zu einem Aufschieben durch den Nachfolger kommt, fehlt die für einen Verschuldensvorwurf erforderliche Typizität.305 Die Versicherungswirtschaft wendet wegen der Aufklärungsprobleme bei Massenunfällen ein spezielles Regulierungsverfahren an.306

41.102

Unabhängig vom Eingreifen eines Anscheinsbeweises zu Lasten des Auffahrenden ist die Feststellung, ob den Vorausfahrenden ein Verschulden trifft.307 Ein gegen ihn sprechender Anscheinsbeweis wird regelmäßig daran scheitern, dass es für eine unnötige Vollbremsung oder einen unachtsamen Spurwechsel keinen typischen Geschehensablauf gibt. In der Regel wird es somit zur Haftungsteilung kommen (s. Rz. 25.162 ff., 25.178 ff.). Steht hingegen das unvorsichtige Anfahren vom Fahrbahnrand (§ 10 StVO) oder der vorschriftswidrige Spurwechsel (§ 7 Abs. 5 StVO) fest, bedarf es für die Verschuldensfeststellung keines Anscheinsbeweises.308

41.103

Die Grundsätze über den Anscheinsbeweis beim Auffahrunfall gelten in gleicher Weise, wenn ein Kradfahrer, um nicht aufzufahren, das Steuer verreißt und stürzt.309

41.104

Begegnungszusammenstöße. Der Beweis des ersten Anscheins spricht grundsätzlich für ein Verschulden des Kraftfahrers, wenn dieser ohne erkennbaren Anlass auf die Gegenfahrbahn gerät und dort mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammenstößt.310 Dies gilt auch beim Überfahren des Mittelstreifens auf der Autobahn,311 beim Zusammenstoß auf dem mittleren von drei Fahrstreifen, wenn das andere Fahrzeug diesen zum Überholen benutzt hatte312 sowie bei einem jugendlichen Radfahrer, der auf die linke Fahrbahnhälfte gerät.313 Der Kollisionsort auf der Gegenfahrbahn darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Fehlt es bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände an der Typizität des Geschehensablaufs, so greift kein Anscheinsbeweis ein (s. Rz. 41.56). Dies ist z.B. der Fall, wenn das Abkommen auf einer abrupten Lenkbewegung beruht, die durch das Verkehrsgeschehen hervorgerufen sein kann.314 Es besteht auch kein Anscheinsbeweis dafür, dass das Abkommen eines Fahrzeugs nach rechts auf einem Überfahren der Mittellinie durch ein entgegenkommendes beruht.315

41.105

Der für ein Verschulden sprechende Anschein wird ausgeräumt, wenn ein potentieller Anlass für ein Verlassen der rechten Straßenhälfte nachgewiesen ist (z.B. eine unrichtig gezogene weiße Leitlinie oder ein entlaufenes Rind), der es eventuell rechtfertigen konnte, die rechte Straßenhälfte zu verlassen.316 Dagegen wird der Anscheinsbeweis nicht dadurch entkräftet,

305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316

Auffahren des Vordermanns; Lepa NZV 1992, 129, 132 nimmt hier wohl Erschütterung des Anscheinsbeweises an. OLG Nürnberg v. 23.6.1982 – 9 U 534/82, DAR 1982, 329; OLG Frankfurt v. 24.6.1988 – 2 U 233/87, VRS 75, 256; Heitmann VersR 1994, 135, 137. S. Rz. 25.168. Zu früherer Praxis Heitmann VersR 1994, 135, 139 f. OLG Naumburg v. 21.7.1994 – 4 U 64/94, NZV 1995, 73. So aber KG 10.12.2007 – 12 U 33/07, NZV 2008, 622; OLG München v. 21.4.2017 – 10 U 4565/ 16, r+s 2017, 657 zum Reißverschlussverfahren nach § 7 Abs. 4 StVO. AG Hoyerswerda v. 6.11.2012 – 1 C 146/12, NZV 2013, 449. BGH v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84, VersR 1986, 343 m.w.N. BGH v. 11.4.1967 – VI ZR 108/65, VersR 1967, 709. BGH v. 27.4.1962 – VI ZR 53/61, VersR 1962, 642. BGH v. 10.3.1970 – VI ZR 182/68, VersR 1970, 467. BGH v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84, VersR 1986, 343; OLG Hamm v. 3.12.2002 – 27 U 43/02, NZV 2003, 180 (entgegenkommender Überholer). BGH v. 1.12.1960 – III ZR 179/59, VersR 1961, 137. BGH v. 2.11.1965 – VI ZR 265/63, VersR 1966, 239.

1154 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.108 § 41

dass zur Unfallzeit starker Wind herrschte,317 dass ein Versagen der Lenkeinrichtung behauptet wird318 oder dass sich der Unfall an einer Haltestellenbucht ereignete, in der sich ein links blinkender, anfahrender Bus befand.319 Der Luftdruckabfall in einem Reifen entkräftet den Anscheinsbeweis nicht, wenn er nach sachverständigem Urteil keinen Kausalbeitrag zu dem Unfall geleistet hat.320 Bei Kurvenunfällen ist nach neueren Erkenntnissen der Unfallanalyse nur mit Vorsicht auf Anscheinsgrundsätze zurückzugreifen.321 Überholen. Beim Zusammenstoß zwischen einem überholenden und dem überholten Fahrzeug spricht der Anscheinsbeweis mangels eines typischen Geschehensablaufs allenfalls unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. nahender Gegenverkehr, Fahrbahnverengung) für ein Verschulden des Überholenden.322 Er greift nicht ein, wenn ein Radfahrer mit 2 m Abstand überholt wird, auch wenn Sturm herrscht323 oder wenn ein Kradfahrer einen anderen auf der Mittellinie der Straße fahrend überholt.324

41.106

Bei der Kollision eines Linksabbiegers mit einem überholenden Fahrzeug spricht der Anschein für ein Verschulden des ersteren325. Dies beruht darauf, dass bei Erfüllung der doppelten Rückschaupflicht (§ 9 Abs. 1 Satz 4 StVO) derartige Unfälle erfahrungsgemäß vermieden werden können. Der Abbieger kann den Anscheinsbeweis deshalb dadurch entkräften, dass er Umstände nachweist, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit ergibt, dass der Überholende für ihn auch bei Erfüllung dieser Pflicht nicht erkennbar war. Auch wenn der Abbieger den Anscheinsbeweis gegen sich gelten lassen muss, schließt dies nicht aus, dass dem Überholenden ebenfalls ein Verschulden anzulasten ist, so insbesondere, wenn er trotz unklarer Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO; s. Rz. 14.86 f.) zum Überholen angesetzt hat. Diese Situation muss aber festgestellt sein; für einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Überholenden ist damit kein Raum: Entweder fehlt es am typischen Geschehensablauf oder sein Verschulden steht ohnehin fest.

41.107

Schleudern. Der Anscheinsbeweis spricht für ein Verschulden des Fahrers bei Schleudern auf regennasser,326 vereister,327 oder schneeglatter Straße.328 Er greift jedoch nur ein, wenn die Glätte erkennbar war329 oder sogar vor ihr gewarnt wurde;330 es fehlt sonst bereits am typi-

41.108

317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330

BGH v. 11.1.1966 – VI ZR 182/64, VersR 1966, 270. BGH v. 7.4.1954 – VI ZR 73/53, VersR 1954, 288. OLG Düsseldorf v. 15.10.1981 – 12 U 92/81, VersR 1982, 777. OLG Hamm v. 4.2.1993 – 6 U 203/92, NZV 1993, 354. Schimmelpfennig 25. VGT (1987) S. 77 ff.; Entschließung des 25. VGT S. 8. Fragwürdig daher OLG Hamm v. 8.9.2015 – 9 U 131/14, NZV 2016, 431. BGH v. 26.11.1974 – VI ZR 10/74, VersR 1975, 331. BGH v. 2.10.1952 – III ZR 141/51, RdK 1953, 29 mit Anm. Pohle. OLG Celle v. 22.10.1987 – 5 U 225/86, VersR 1988, 1302 LS. OLG München v. 23.1.2015 – 10 U 299/14, NJW 2015, 1892 mit Anm. Geipel; KG v. 10.9.2009 – 12 U 216/08, NZV 2010, 470 m.w.N. Anders bei Überholen mehrerer Kfz in einem Zug OLG Hamm v. 9.7.2013 – 9 U 191/12, NZV 2014, 125 (zw). BGH v. 24.5.1963 – VI ZR 99/62, VersR 1963, 955; BGH v. 19.12.1969 – VI ZR 63/69, VersR 1970, 284; BGH v. 3.11.1970 – VI ZR 228/69, VersR 1971, 439. BGH v. 9.6.1967 – VI ZR 20/66, VersR 1967, 882; BGH v. 20.6.1969 – VI ZR 32/68, VersR 1969, 895. BGH v. 20.9.1966 – VI ZR 18/65, VersR 1966, 1077 m.w.N. BGH v. 9.6.1967 – VI ZR 20/66, VersR 1967, 882; BGH v. 20.6.1969 – VI ZR 32/68, VersR 1969, 895; BGH v. 3.11.1970 – VI ZR 228/69, VersR 1971, 439; OLG Schleswig v. 11.9.1997 – 7 U 37/ 96, VersR 1999, 375. BGH v. 3.11.1970 – VI ZR 228/69, VersR 1971, 439.

Greger | 1155

§ 41 Rz. 41.108 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

schen Geschehensablauf, so dass es keiner Entkräftung des Anscheinsbeweises bedarf. Hierzu müsste der Fahrer Umstände nachweisen, aus denen sich die Möglichkeit ergibt, dass es trotz angepasster Fahrweise zu dem Unfall kommen konnte.

41.109

Kollisionen an Kreuzungen und Einmündungen. Beim Zusammenstoß an einer Kreuzung oder Einmündung spricht grundsätzlich der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Fahrers, der aus der untergeordneten Straße eingefahren331 oder beim Linksabbiegen mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammengestoßen ist;332 ob der Vorfahrtberechtigte bei sorgsamer Fahrweise noch hätte anhalten oder ausweichen können, ist unerheblich.333 Auch hier gilt aber, dass allein das „Kerngeschehen“ (Kollision zwischen Vorfahrtberechtigtem und Wartepflichtigem) als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht ausreicht, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Vielmehr muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur auf Grund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben.334 Daher kann die für einen Anscheinsbeweis ausreichende Typizität nur bejaht werden, wenn die Sichtverhältnisse an der Unfallstelle so waren, dass ein mit realistischerweise zu erwartender Geschwindigkeit fahrender Vorfahrtberechtigter rechtzeitig gesehen werden kann.335 An einer Ampel mit Linksabbiegerpfeil greift bei ungeklärter Ampelstellung kein Anscheinsbeweis zu Lasten des Abbiegers ein.336 Hat sich die Kollision eines Linksabbiegers mit dem Gegenverkehr außerhalb von dessen Fahrspur ereignet und hat das abbiegende Fahrzeug im Augenblick der Kollision dort bereits gestanden, fehlt die für einen Anscheinsbeweis erforderliche Typizität.337 Dasselbe gilt bei einer Kollision im Kreisverkehr, wenn die Unfallbeteiligten aus eng beieinander liegenden Einmündungen in den Kreisverkehr eingefahren sind, denn hier hängt das Vorfahrtrecht von der zeitlichen Abfolge des Einfahrens ab (s. Rz. 14.190); der im Kreisverkehr Befindliche kann daher nur dann das Verschulden des Einfahrenden mittels Anscheinsbeweises feststellen lassen, wenn er beweisen kann, dass er sich bereits länger im Kreisverkehr befand.338

41.110

Die bloße Möglichkeit, dass der Vorfahrtberechtigte zu schnell oder ohne Licht fuhr, genügt nicht zur Entkräftung des Anscheinsbeweises; diese würde vielmehr den Beweis von Umständen voraussetzen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit einer so hohen Geschwindigkeit ergibt, dass das andere Fahrzeug beim Anfahren des Wartepflichtigen für diesen noch nicht 331 BGH v. 18.11.1975 – VI ZR 172/74, VersR 1976, 365, 367 m.w.N.; KG v. 21.6.2001 – 12 U 1147/ 00, NZV 2002, 79 (auch bei „rechts vor links“). 332 BGH v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06, NZV 2007, 294. 333 BGH v. 21.6.1963 – VI ZR 211/62, VersR 1963, 1075. 334 OLG Saarbrücken v. 19.10.2017 – 4 U 29/17, NJW-RR 2018, 86, 89 unter Bezugnahme auf BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84. 335 OLG Saarbrücken v. 19.10.2017 – 4 U 29/17, NJW-RR 2018, 86 (unbeleuchtetes Fahrzeug bei Dunkelheit und Regen); OLG Nürnberg v. 21.1.1993 – 1 U 2867/92, r+s 1994, 134 (extrem überhöhte Geschwindigkeit). 336 BGH v. 13.2.1996 – VI ZR 126/95, VersR 1996, 513; OLG Hamm v. 28.8.1989 – 6 U 116/89, NZV 1990, 189. 337 OLG Saarbrücken v. 11.2.1999 – 3 U 515/98-53, OLGR Saarbrücken 1999, 239. 338 So i. Erg. LG Detmold v. 22.12.2004 – 2 S 110/04, DAR 2005, 222; a.A. LG Saarbrücken v. 28.3.2014 – 13 S 196/13, NJW 2015, 177.

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IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.114 § 41

sichtbar oder noch zu weit entfernt war, um von ihm als gefährdet angesehen werden zu müssen.339 Hierbei sind die konkreten Sichtbedingungen (z.B. Nebel) zu berücksichtigen.340 Kein Anscheinsbeweis greift ein, wenn der Wartepflichtige nach rechts einbog und dabei gegen einen von rechts kommenden Verkehrsteilnehmer stieß, weil dieser beim Überholen auf die linke Straßenseite geraten war. Hier wäre ein Verschulden nur gegeben, wenn für den Wartepflichtigen Anzeichen für ein beabsichtigtes Überholen bestanden hätten; das Vorhandensein solcher Anzeichen lässt sich aber nicht mittels allgemeiner Erfahrung feststellen.341 Liegt der Kollisionsort hinter dem Einmündungsbereich, fehlt es in der Regel an einem typischen Ablauf, weil es sich dann auch um einen vom Bevorrechtigten zu vertretenden Auffahrunfall handeln kann (vgl. Rz. 14.156).

41.111

Bei einer Kollision, die sich im Rahmen des Einfädelns von der Beschleunigungsspur auf die Autobahn ereignet hat, spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Einfädelnden;342 ist jedoch streitig, ob sich der Unfall auf dem Beschleunigungsstreifen oder auf der Fahrbahn der Autobahn ereignet hat, scheidet die Annahme eines Anscheinsbeweises dafür, dass der Einfahrende einen verkehrswidrigen Fahrbahnwechsel vorgenommen hat, aus.343

41.112

Unfälle an Grundstücksein- oder -ausfahrten. Stößt mit dem Fahrzeug desjenigen, der nach links in ein Grundstück einfährt, ein entgegenkommendes Fahrzeug zusammen, so spricht grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Einfahrenden.344 Dies gilt jedoch – wie bei Vorfahrtfällen (s. Rz. 41.109) nur, wenn nach den Sichtverhältnissen am Unfallort ein mit zu erwartender Geschwindigkeit herankommendes Fahrzeug für den Abbieger erkennbar war.345 Entsprechendes gilt, wenn ein ausfahrendes Fahrzeug im Bereich der Ausfahrt mit dem fließenden Verkehr kollidiert,346 während es bei einer Kollision ca. 30 m hinter der Ausfahrt näherer Feststellungen zur Geschwindigkeitsdifferenz bedarf.347 Zum Auffahren auf ein abbiegendes Kfz s. Rz. 41.96, zur Kollision des Linksabbiegers mit einem Überholer s. Rz. 41.107).

41.113

Anfahren vom Fahrbahnrand, Ausparken. Ereignet sich ein Zusammenstoß beim Anfahren vom Fahrbahnrand348 oder beim Einfahren auf die Fahrbahn von einem anderen Straßenteil i.S.d. § 10 StVO, so kann ein typischer Geschehensablauf vorliegen, wenn sich die besondere

41.114

339 BGH v. 21.1.1986 – VI ZR 35/85, VersR 1986, 579; OLG München v. 13.2.1996 – 5 U 2060/95, VersR 1998, 733. OLG Stuttgart v. 7.5.1982 – 2 U 208/81, VersR 1982, 1175 lässt bereits Zweifel an der Erkennbarkeit genügen; OLG Oldenburg v. 21.2.1995 – 5 U 162/94, VersR 1995, 1457 stellt zu geringe Anforderungen. 340 OLG Köln v. 24.10.1986 – 3 U 115/85, VersR 1988, 859. 341 BGH v. 15.6.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903; OLG Köln v. 28.7.1993 – 11 U 42/93, VersR 1994, 191. 342 OLG Köln v. 24.10.2005 – 16 U 24/05, NZV 2006, 420. 343 OLG Frankfurt v. 29.3.2016 – 16 U 139/15, NZV 2016, 471. 344 BGH v. 13.1.1959 – VI ZR 12/58, VersR 1959, 613; OLG Hamm v. 14.6.1978 – 3 U 121/78, VersR 1979, 266. 345 OLG Hamm v. 5.10.2009 – 6 U 94/09, NZV 2010, 28. 346 OLG Celle v. 22.5.2003 – 14 U 239/02, NJW-RR 2003, 1536. 347 OLG München v. 24.2.1989 – 10 U 5867/88, NZV 1989, 278. 348 OLG Düsseldorf v. 2.2.1978 – 12 U 169/77, VersR 1978, 852; OLG Saarbrücken v. 5.11.2002 – 3 U 117/02-16, MDR 2003, 506; OLG Frankfurt v. 24.3.1982, VersR 1982, 1079 (rückwärts von Parkstreifen); OLG Köln v. 13.7.2011 – 5 U 26/11, NZV 2011, 606 (rückwärts von Parktasche).

Greger | 1157

§ 41 Rz. 41.114 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

Gefährlichkeit dieses Verkehrsvorgangs verwirklicht hat, die in den hohen Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO Ausdruck findet. Auch hier ist aber die Typizität des Geschehens anhand einer Gesamtbetrachtung festzustellen. Um eine atypische Verkehrssituation handelt es sich z.B., wenn für den aus einer Parklücke rückwärts Ausfahrenden die Sicht nach hinten durch einen auf sein Ausfahren Wartenden verdeckt ist und er mit einem Fahrzeug kollidiert, welches nach Vorbeifahrt an dem Wartenden auf die rechte Fahrbahnseite einschwenkt.349 Zu Unfällen beim Ausparken auf Parkplätzen s. Rz. 41.117.

41.115

Wenden. Stößt ein wendendes Kfz mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs zusammen, so kann ein typischer Geschehensablauf auf ein unfallursächliches Fehlverhalten des Wendenden, nämlich die Nichtbeachtung der nach § 9 Abs. 5 StVO gebotenen Vorsicht, hindeuten.350 Die Typizität liegt darin, dass der Wendende eine Kollisionsgefahr sowohl mit dem gleichgerichteten als auch mit dem Gegenverkehr hervorruft. Sie fehlt daher, wenn ein anderer Verkehrsteilnehmer auf ein Kfz auffährt, welches sich lediglich zum Wenden eingeordnet hat,351 während sie bejaht werden kann, wenn ein Fahrzeug auf einer mehrspurigen Straße von der rechten Spur aus durch einen Mittelstreifendurchbruch gewendet werden soll.352 Der Wendevorgang dauert zwar an, bis sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat oder verkehrsgerecht am Fahrbahnrand oder an anderer Stelle abgestellt worden ist, dennoch kann nicht jeder Unfall, der sich in diesem Zeitraum ereignet, als die Anscheinshaftung auslösender typischer Geschehensablauf gewertet werden.353 Bei erheblicher Geschwindigkeitsüberschreitung des anderen Verkehrsteilnehmers kann der Anscheinsbeweis ausgeräumt sein. Voraussetzung hierfür ist die ernsthafte Möglichkeit, dass der andere bei Beginn des Wendemanövers noch so weit entfernt war, dass seine Gefährdung für ausgeschlossen gehalten werden durfte.354

41.116

Rückwärtsfahren. Bei einer Berührung zwischen einem rückwärtsfahrenden Kfz und einem anderen Verkehrsteilnehmer kann u.U. prima facie vom Verschulden des Rückwärtsfahrenden ausgegangen werden.355 Voraussetzung ist aber auch hier, dass es sich um einen typischen Geschehensablauf handelt. (s. dazu Rz. 41.56). Es muss sich die typische Gefahr des Rückwärtsfahrens verwirklicht haben, z.B. die eingeschränkte Sicht oder das Überraschungsmoment für andere Verkehrsteilnehmer.356 Zum Rückwärtsausfahren aus Parklücke s. Rz. 41.114, 41.117.

41.117

Nach jüngerer Rspr. des BGH357 ist der Anscheinsbeweis auch bei Unfällen, die sich beim Rückwärtsfahren auf Parkplätzen ereignen, entgegen verbreiteter Ansicht im Schrifttum,358

349 A.A. OLG Naumburg v. 29.11.2012 – 1 U 82/12, NZV 2013, 394. 350 BGH v. 4.6.1985 – VI ZR 15/84, VersR 1985, 989; KG v. 1.10.2001 – 12 U 2139/00, NZV 2002, 230. 351 OLG Düsseldorf v. 27.10.2015 – 1 U 46/15, VersR 2016, 675. 352 KG v. 31.8.2009 – 12 U 129/09, NZV 2010, 468. 353 Unzutr. daher KG v. 20.8.2008 – 12 U 158/08, NZV 2009, 597 (Pkw prallt auf Gegenfahrbahn gegen anderen, der nach dem Wenden schräg stand). 354 BGH v. 4.6.1985 – VI ZR 15/84, VersR 1985, 989. 355 KG VM 1988, Nr. 30 LS. 356 S. z.B. KG v. 17.11.2008 – 12 U 2/08, NZV 2009, 393. 357 BGH v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098; BGH v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, NJW 2016, 1100; BGH v. 11.10.2016 – VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175. 358 S. Voraufl. § 38 Rz. 99. Krit. zur neuen Rspr. des BGH auch Geipel NJW 2016, 1100; Freymann DAR 2018, 242, 243; Laumen MDR 2016, 636; zust. Engel DAR 2016, 199.

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IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.121 § 41

aber unter deutlicher Einschränkung gegenüber der bisherigen Judikatur,359 unter bestimmten Voraussetzungen anwendbar. Der BGH bejaht einen typischen Geschehensablauf, der für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden spricht, dann, wenn festgestellt ist, dass das andere Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision gestanden hat. Es spricht also kein Anscheinsbeweis gegen den aus einer Parklücke zurückstoßenden, wenn nicht auszuschließen ist, dass er im (wenn auch nur kurzzeitigen) Stehen angefahren wurde. Sind die Unfallfahrzeuge aus gegenüberliegenden Parkbuchten zurückgestoßen, kommt es für den Verschuldensnachweis somit darauf an, wer beweisen kann, dass er als erster angehalten hat. Lässt sich eine solche Feststellung nicht treffen, bleibt es beim non liquet. Unfälle mit Fußgängern. Stößt ein Kfz auf seiner rechten Fahrbahnseite mit einem von rechts kommenden Fußgänger zusammen, so spricht ein Anscheinsbeweis für Unaufmerksamkeit des Fußgängers.360 Dasselbe gilt, wenn der Fußgänger durch das rechtzeitig bemerkbare Herannahen eines Kfz derart erschreckt wird, dass er zu Fall kommt.361 Allein aus dem Verunglücken auf der Fahrbahn kann jedoch nicht auf ein Verschulden des Fußgängers geschlossen werden.362 Insbesondere greift ein solcher Anscheinsbeweis nicht ein, wenn der Zusammenstoß in der Fahrbahnmitte geschieht.363

41.118

Aus dem Anfahren eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers kann nur dann prima facie auf ein Verschulden des Kraftfahrers geschlossen werden, wenn der Fußgänger bei „Fahren auf Sicht“ rechtzeitig erkennbar war, z.B. wenn er von links kam.364 Trat der Fußgänger (aus der Sicht des Kraftfahrers) von rechts auf die Fahrbahn oder ist dies nicht auszuschließen, so lässt sich ein Verschulden des Kraftfahrers nicht mittels Anscheinsbeweises feststellen.365

41.119

Der Rechtsprechung, wonach das Anfahren eines am rechten Straßenrand in gleicher Richtung gehenden Fußgängers prima facie auf einem Verschulden des Kraftfahrers beruht,366 ist nicht zuzustimmen, da derartige Unfälle keinen hinreichend typischen Ablauf haben.367 Erst recht gilt dies, wenn der Fußgänger auf der Fahrbahn läuft.368

41.120

Aus § 3 Abs. 2a StVO kann nicht abgeleitet werden, dass beim Unfall mit einem Kind oder einer anderen hilfsbedürftigen Person in jedem Fall ein Anscheinsbeweis gegen den Kraftfah-

41.121

359 Nachw. BGH v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15 Rz. 12, NJW 2016, 1098. 360 BGH v. 13.4.1953 – VI ZR 75/53, VersR 1953, 242; OLG Düsseldorf v. 10.6.1976 – 12 U 180/75, DAR 1977, 268. 361 BGH v. 23.10.1973 – VI ZR 116/71, VersR 1974, 196. 362 BGH v. 17.4.1956 – VI ZR 120/55, VersR 1956, 488. 363 BGH v. 10.1.1958 – VI ZR 292/56, VersR 1958, 169; BGH v. 7.6.1966 – VI ZR 255/64, VersR 1966, 873. OLG Saarbrücken v. 13.4.2010 – 4 U 425/09, NZV 2010, 466 bejaht Anscheinsbeweis, sieht ihn aber wegen der Sichtverhältnisse im konkreten Fall als entkräftet an. 364 BGH v. 12.7.1983 – VI ZR 286/81, VersR 1983, 1037, 1039; OLG Celle v. 12.12.1984 – 3 U 46/ 81, VersR 1986, 450; OLG Köln v. 4.3.1992 – 12 U 138/92, ZfS 1993, 258. 365 BGH v. 19.3.1968 – VI ZR 4/67, VersR 1968, 603; BGH v. 7.6.1968 – VI ZR 42/67, VersR 1968, 804; OLG Düsseldorf v. 10.6.1976 – 12 U 180/75, DAR 1977, 268; OLG Karlsruhe v. 14.10.1988 – 10 U 68/88, VersR 1989, 302. 366 So BGH v. 6.12.1966 – VI ZR 121/65, VersR 1967, 257; OLG Zweibrücken v. 11.3.1977 – 1 U 80/76, VersR 1977, 1135. 367 Ebenso OLG München v. 18.10.1985 – 10 U 4337/84, VersR 1987, 317 bei Trunkenheit des Fußgängers. Bedenklich OLG Hamm v. 3.3.2000 – 9 U 154/99, OLGR Hamm 2001, 138. 368 OLG Jena v. 15.6.2017 – 1 U 540/16, NJW 2018, 77.

Greger | 1159

§ 41 Rz. 41.121 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

rer spricht.369 Es muss vielmehr feststehen, dass er das Kind gesehen hat oder mit ihm rechnen musste.370 Allerdings wird es dann eines Anscheinsbeweises gar nicht bedürfen,

41.122

Fahrzeugmängel. Beruht ein Unfall auf einem technischen Mangel des Fahrzeugs, so kann hieraus nur dann auf ein Verschulden des Führers geschlossen werden, wenn die Mangelhaftigkeit nach allgemeiner Erfahrung schon vor dem Unfall ohne weiteres erkennbar war, wie z.B. ausgefallene Beleuchtung oder nicht funktionstüchtige Bremsen, nicht wenn bei einem Lkw aus ungeklärter Ursache das Bremspedal klemmte und auch die Handbremse wegen Verölung der Bremsbacken nur unzureichend bremste.371 Es besteht auch kein Anscheinsbeweis dafür, dass das Lösen eines linken Hinterrades auf ein Verschulden der Werkstatt zurückgeht, die zuvor Karosseriearbeiten am rechten Heckteil ausgeführt hat.372

41.123

Verlust von Ladung spricht prima facie für eine Verletzung der Vorschriften zur ordnungsgemäßen Sicherung.373

41.124

Unbefugte Benutzung des Kfz. Haben Zweitschlüssel in der Ablage oder im Handschuhfach eines abgestellten Wagens gelegen, soll der erste Anschein dafür sprechen, dass sie dort vom den Wagen überwiegend nutzenden Halter als Reserveschlüssel abgelegt worden sind.374

41.125

Öffnen der Wagentüre. Stößt ein Vorbeifahrender mit der Wagentür eines stehenden Kfz zusammen, so spricht der erste Anschein dafür, dass die Tür unvorsichtig geöffnet wurde.375

41.126

Aussteigen. Zu weitgehend wird in der Rechtsprechung ein Anscheinsbeweis allein daraus abgeleitet, dass sich der Unfall in einem unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Aussteigen des Verletzten ereignet hat.376 Allein der Aufenthalt neben dem verlassenen Kfz begründet keine Typizität des Unfallgeschehens.

41.127

Sturz eines Kradfahrers in einer Kurve begründet den Anschein, dass er zu schnell oder unvorsichtig fuhr.377 Stürzt ein Kradfahrer nach einer Kurve, die er mit Grenzgeschwindigkeit durchfahren hat, so spricht der Anscheinsbeweis für sein Verschulden.378 Dieser Anscheinsbeweis greift dagegen nicht ein, wenn ein Kradfahrer stürzt, nachdem kurz vor ihm ein anderes Krad verunglückt und explodiert war; denn der Gestürzte kann auch erschrocken oder durch ein Fahrzeugteil getroffen worden sein.379

369 OLG Karlsruhe v. 11.4.1986 – 10 U 245/85, VersR 1986, 770; Hentschel/König/Dauer § 25 StVO Rz. 55; a.A. AG Köln v. 21.5.1982 – 266 C 49/82, NJW 1982, 2008; für Betrunkenen LG Köln v. 15.2.1984 – 19 S 295/83, VersR 1984, 796. 370 OLG Hamm v. 6.3.1987 – 9 U 275/86, NJW-RR 1987, 1250. 371 BGH v. 28.9.1956 – VI ZR 184/55, VersR 1956, 696. 372 OLG Stuttgart v. 16.5.1980 – 2 U 198/79, VersR 1981, 89. 373 OLG München v. 10.7.2015 – 10 U 3577/14, DAR 2016,87. 374 BGH v. 30.9.1980 – VI ZR 38/79, NJW 1981, 113, 114 (zw.). 375 OLG Düsseldorf v. 4.3.2014 – 1 U 101/13, VersR 2014, 1390; KG v. 6.3.2008 – 12 U 59/07, NZV 2009, 394; OLG Celle v. 6.11.2018 – 14 U 61/18, r+s 2019, 286. 376 So aber KG v. 30.7.2009 – 12 U 175/08, NZV 2010, 343. 377 OLG Düsseldorf v. 8.10.1979 – 1 U 54/79, VersR 1981, 263; OLG Celle v. 26.4.2001 – 14 U 158/ 00, OLGR Celle 2001, 185. 378 BGH v. 9.10.1962 – VI ZR 241/61, VersR 1962, 1208. 379 BGH v. 15.3.1957 – VI ZR 47/56, VersR 1957, 445.

1160 | Greger

IV. Anforderungen an den Beweis | Rz. 41.131 § 41

Sturz eines Radfahrers bei Fahrbahnglätte lässt keinen Schluss auf vorwerfbaren Fahrfehler zu.380

41.128

Sturz eines Fußgängers auf nassem Kopfsteinpflaster begründet keinen Anscheinsbeweis für Verschulden.381

41.129

Sturz eines Fahrgasts. Die Rechtsprechung wendet den Anscheinsbeweis zur Feststellung eines Mitverschuldens wegen unzureichender Eigensicherung an, wenn ein Fahrgast bei normaler Anfahrt des Busses oder der Straßenbahn zu Fall kommt.382 Steht ein ruckartiges Anfahren fest, fehlt es aber an einem typischen Geschehensablauf; sind auch andere Fahrgäste gestürzt, kann der Anscheinsbeweis entkräftet sein.383

41.130

Verkehrssicherungspflichtverletzung. Zu Recht lehnt die Rechtsprechung die Zulassung eines Anscheinsbeweises hier ab. Die Rechtfertigung für die mit dem Anscheinsbeweis des Verschuldens verbundene Quasi-Gefährdungshaftung (s. Rz. 41.69 ff.) liegt bei der Haftung zwischen Verkehrsteilnehmern darin, dass sich Unfallabläufe häufig nicht eindeutig rekonstruieren lassen und dass in der Teilnahme am Verkehr regelmäßig die Bereitschaft zur Übernahme eines gewissen, in der Regel durch Versicherung abgedeckten Haftungsrisikos gesehen werden kann. Zudem gibt es besonders typische Unfallsituationen, in denen das Verschulden eines Beteiligten nach allgemeiner Erfahrung so naheliegt, dass ein abweichender Hergang zunächst außer Betracht gelassen werden kann. All dies ist bei der Inanspruchnahme aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht, zumindest nicht in gleichem Maße der Fall. Diese Haftung knüpft allein an die Herrschaft über eine potentielle Gefahrenquelle an. Typische Pflichtwidrigkeiten sind hier kaum ersichtlich. Vor allem aber wird es hier in aller Regel möglich sein, die objektive Pflichtverletzung (das Loch in der Straße, die überhängenden Äste, das Fehlen des Warnschildes usw.) eindeutig festzustellen; die Frage der subjektiven Vorwerfbarkeit ist in der Regel kein Beweisproblem, sondern beantwortet sich durch die Definition der verkehrsüblichen Sorgfalt. Mit Recht lehnt die Rechtsprechung daher z.B. einen Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Verkehrssicherungspflichtigen bei Stürzen eines Fußgängers384 ab und beschränkt dessen Anwendbarkeit auf die Kausalität einer feststehenden Pflichtverletzung für den Unfall (s. Rz. 41.87, 41.89). Keinesfalls darf aus dem Sturz auf eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht geschlossen werden; deren Voraussetzungen muss der Geschädigte nachweisen.385 Zu weiteren Beweisfragen bei der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht s. Rz. 13.10 ff.

41.131

380 KG v. 22.3.1999 – 22 U 1118/98, KGReport Berlin 1999, 255. 381 OLG Köln v. 3.2.2000 – 1 W 6/00, VersR 2000, 638. 382 OLG Hamm v. 17.2.2017 – 11 U 21/16, NJW 2017, 2356 mit Anm. Freymann = NZV 2017, 377 mit Anm. Filthaut; OLG Frankfurt v. 16.11.2010 – 14 U 209/09, NZV 2011, 199. 383 OLG Bremen v. 9.5.2011 – 3 U 19/10, NZV 2011, 540. 384 BGH v. 23.2.1955 – VI ZR 11/54, VersR 1955, 251; BGH v. 26.1.1965 – VI 213/63, VersR 1965, 520. 385 BGH v. 26.2.2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302; OLG Hamm v. 4.8.1999 – 13 U 41/99, VersR 2000, 862; OLG Naumburg v. 11.5.2012 – 10 U 44/11, VersR 2013, 66.

Greger | 1161

§ 41 Rz. 41.132 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

V. Tatsachenfeststellung außerhalb des Zivilprozesses 1. Selbstständiges Beweisverfahren a) Allgemeines 41.132

Im Haftungsprozess geht es oft weniger um Rechtsfragen als um die Aufklärung eines streitigen Sachverhalts. Ist der Sachverhalt durch Beweisaufnahme geklärt oder bleibt er unaufklärbar, endet der Prozess häufig mit einem Vergleich. Dasselbe Ergebnis kann unter Vermeidung eines Prozesses mit Hilfe eines selbstständigen Beweisverfahrens nach §§ 485 ff. ZPO erreicht werden. Dieses dient zwar auch dem Schutz der Partei vor dem Verlust von Beweismöglichkeiten und ist daher stets in Betracht zu ziehen, wenn es darum geht, einen für die Haftungsfrage relevanten, veränderbaren Umstand durch Augenschein, Zeugenvernehmung oder Begutachtung beweiskräftig feststellen zu lassen (§ 485 Abs. 1 ZPO). Seit der Novelle von 1991 kann ein selbstständiges Beweisverfahren aber auch unabhängig von drohendem Beweisverlust zum Zweck der Prozessvermeidung eingeleitet werden (§ 485 Abs. 2 ZPO). In diesem Verfahren kann durch einen vom Gericht zu bestimmenden Sachverständigen der Zustand einer Person (z.B. Verletzungen, gesundheitliche Beeinträchtigungen), der Zustand oder Wert einer Sache (z.B. des Unfallfahrzeugs, des beschädigten Ladeguts), die Schadensursache (z.B. Kausalität zwischen Unfall und Erwerbsunfähigkeit, auch die Person des Verursachers386) oder der Aufwand für die Schadensbeseitigung (z.B. Reparaturkosten, entgangener Gewinn387) festgestellt werden. Mit Zustimmung des Gegners ist ein selbstständiges Beweisverfahren auch dann noch möglich, wenn bereits Klage erhoben ist; Zeugenvernehmung und Augenschein können dann auch unabhängig von drohendem Beweisverlust durchgeführt werden (§ 485 Abs. 1 Alt 1 ZPO). Gerade in Haftungsfällen kann es hilfreich sein, dass ein selbstständiges Beweisverfahren auch gegen einen noch unbekannten Gegner geführt werden kann, sofern glaubhaft gemacht wird, dass er unverschuldetermaßen nicht benannt werden kann (§ 494 ZPO).

b) Wirkungen 41.133

Die prozessvermeidende Wirkung beruht zum einen darauf, dass die im selbstständigen Beweisverfahren getroffenen Feststellungen wie ein vor dem Prozessgericht erhobener Beweis zu behandeln sind (§ 493 ZPO). Auf Grund dieser Bindungswirkung kann die dadurch belastete Partei nicht mehr erwarten, mit ihrer Sachverhaltsdarstellung vor Gericht durchzudringen und wird daher von einer Klage absehen. Zum anderen kann auch im selbstständigen Beweisverfahren eine mündliche Verhandlung stattfinden und ein Prozessvergleich abgeschlossen werden (§ 492 Abs. 3 ZPO).

c) Verfahren 41.134

Das Verfahren wird durch einen Antrag beim Gericht der Hauptsache eingeleitet (Einzelheiten: §§ 486 f ZPO). Neben den Pflichtangaben gem. § 487 ZPO sind die für die Einholung des Sachverständigengutachtens erforderlichen Anknüpfungstatsachen mitzuteilen.388 Für den Antrag besteht kein Anwaltszwang (§ 486 Abs. 4 ZPO), wohl aber für mündliche Verhand-

386 OLG Frankfurt v. 4.2.2003 – 2 W 42/02, MDR 2003, 772. 387 BGH v. 20.10.2009 – VI ZB 53/08, NZV 2010, 22. 388 BGH v. 20.10.2009 – VI ZB 53/08, NZV 2010, 22 zu den Grundlagen für die Ermittlung entgangenen Gewinns.

1162 | Greger

V. Tatsachenfeststellung außerhalb des Zivilprozesses | Rz. 41.136 § 41

lung und Vergleich, soweit das Verfahren vor dem LG geführt wird. Bei Vorliegen der wirtschaftlichen Voraussetzungen kann Prozesskostenhilfe in Anspruch genommen werden, auch vom Antragsgegner;389 die Erfolgsaussichten im Hauptsacheprozess spielen dabei keine Rolle.390 Streitverkündung und Nebenintervention sind möglich,391 so dass die Beweiswirkung auch auf einen Dritten (z.B. Haftpflichtversicherer) erstreckt werden kann. Die Zustellung des Antrags (bei demnächst erfolgender Zustellung gem. § 167 ZPO bereits die Einreichung) hemmt die Verjährung (§ 204 Abs. 1 Nr. 7 BGB). Benötigt der Sachverständige für die Begutachtung den Zugang zu einem Gegenstand oder elektronischen Daten, kann eine Anordnung nach § 144 ZPO beantragt werden.392

2. Straf- und Bußgeldverfahren Bei Verdacht einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit führt die Polizei Ermittlungen zum Unfallhergang durch. Diese finden Eingang in die Akten der Bußgeldbehörde bzw. Staatsanwaltschaft. Kommt es zu einem gerichtlichen Verfahren, wird der Sachverhalt dort im Wege der Amtsermittlung aufgeklärt und ggf. in einem Urteil festgestellt. Im Zivilprozess können diese Ermittlungen durch Beiziehung der Akten (§ 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) und Einführung in die mündliche Verhandlung verwertet werden.393 Wegen des Verhandlungsgrundsatzes dürfen die Akten aber nicht von Amts wegen beigezogen werden, sondern nur wenn sich eine Partei auf sie bezogen hat.394 Ein ausdrücklicher Beiziehungsantrag ist nicht erforderlich; es genügt z.B. dass die Partei sich auf die polizeiliche Unfallaufnahme bezieht.395 Auch wenn die Akten ohne Einschränkung zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden, können nur diejenigen Teile verwertet werden, die den von den Parteien zumindest in groben Umrissen vorgetragenen Sachverhalt betreffen.396 In den Akten enthaltene Protokolle von Zeugen- oder Beschuldigtenvernehmungen sowie Gutachten sind verwertbar, jedoch nur als Urkundenbeweis (s. Rz. 41.21). Sie belegen daher nur die entsprechende Aussage; zum Beweis des darin bekundeten Sachverhalts können sie allenfalls mittelbar beitragen (was bei der Beweiswürdigung zu beachten ist).397 Jede Partei (auch der Beweisgegner zum Zweck des Gegenbeweises) kann deshalb eine nochmalige Vernehmung bzw. Begutachtung nach den Regeln der ZPO verlangen.398 Der Sachverständigenbeweis kann allerdings nach Ermessen des Gerichts durch eine Verwertungsanordnung gem. § 411a ZPO ersetzt werden (s. Rz. 41.25).

41.135

An die Tatsachenfeststellungen im Strafurteil ist das Zivilgericht nicht gebunden.399 Sofern es in den Zivilprozess eingebracht wurde, muss das Zivilgericht sich jedoch im Rahmen seiner

41.136

389 OLG Hamm v. 8.5.2015 – 12 W 7/15, MDR 2015, 727; Ahrens Der Beweis im Zivilprozess (2015) Kap. 52 Rz. 35 ff. m.w.N. 390 OLG Köln v. 28.1.1994 – 13 W 60/94, VersR 1995, 436; OLG Naumburg v. 4.12.2009 – 1 W 35/ 09, MDR 2010, 403. 391 BGH v. 5.12.1996 – VII ZR 108/95, BGHZ 134, 192. 392 KG v. 21.10.2005 – 7 W 46/05, NJW-RR 2006, 241; Stein/Jonas/Berger § 492 Rz. 11; Balzer/Nugel NJW 2016, 193, 198. 393 BGH v. 12.11.2003 – XII ZR 109/01, NJW 2004, 1324, 1325. 394 BVerfG v. 6.3.2014 – 1 BvR 3541/13 Rz. 22, NJW 2014, 1581; BGH v. 9.6.1994 – IX ZR 125/93, NJW 1994, 3295. 395 Zöller/Greger § 273 Rz. 7a. 396 BGH v. 4.4.2014 – V ZR 110/13, NJW-RR 2014, 903, 905. 397 BGH v. 13.6.1995 – VI ZR 233/94, NJW 1995, 2856. 398 BGH v. 14.7.1952 – IV ZR 25/52, BGHZ 7, 116, BGH v. 30.11.1999 – VI ZR 207/98, NJW 2000, 1420. Näher Zöller/Greger vor § 373 Rz. 13. 399 BGH v. 22.9.1982 – IVb ZR 576/80, BGHZ 85, 32.

Greger | 1163

§ 41 Rz. 41.136 | Sachverhaltsfeststellung im Prozess

Beweiswürdigung auch mit ihm auseinandersetzen.400 Auch ein im Strafprozess ergangenes Adhäsionsurteil (§ 406 StPO) bewirkt keine Tatsachenbindung, z.B. im Verhältnis zum Haftpflichtversicherer (s. Rz. 40.47). Zugunsten des Verletzten steht es ohnehin einem vollstreckbaren Zivilurteil gleich (§ 406 Abs. 3 Satz 1 StPO).

3. Schiedsgutachten 41.137

Die Parteien können vereinbaren, dass eine Tatsachenfrage durch einen von ihnen zu beauftragenden Gutachter (oder mehrere) verbindlich entschieden wird. Die Feststellungen des Schiedsgutachters können auch im Zivilprozess nicht mehr wirksam bestritten werden; analog § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB kann lediglich ihre offenbare Unrichtigkeit geltend gemacht werden.401 Die Parteien können die Bindungswirkung aber abweichend regeln (keine Bindung, einseitige Bindung, bedingte oder vorläufige Bindung, Verzicht auf Einwand der offenbaren Unrichtigkeit). Eine Schiedsgutachtenvereinbarung kann auch im laufenden Rechtsstreit (als Alternative zum Sachverständigenbeweis) getroffen werden. Das Schiedsgutachten bietet gegenüber dem Gerichtsgutachten erhebliche Zeit- und Kostenvorteile; da die Parteien den Gutachter selbst auswählen und beauftragen, zudem das fehlerträchtige Zwischenglied der richterlichen Überzeugungsbildung entfällt, sind Akzeptanz und Befriedungswirkung wesentlich größer. Anders als das beidseitige Privatgutachten führt es nicht zu einer Verschärfung der Konfrontation. Das in anderen Bereichen, z.B. im Baurecht, weit verbreitete Schiedsgutachten sollte auch im Haftungsrecht vermehrt zum Einsatz kommen.

400 KG v. 2.7.2009 – 12 U 113/09, NZV 2010, 153. 401 BGH v. 9.6.1983 – IX ZR 41/82, NJW 1983, 2244, 2245. Näher Greger/Stubbe Schiedsgutachten (2007) Rz. 170 ff.

1164 | Greger

Stichwortverzeichnis

Abänderungsklage 34.29 ff., 40.46 Abbiegen s. Linksabbiegen, Rechtsabbiegen Abfindungsvergleich 16.61 ff. Abgesenkter Bordstein – Haftungsverteilung 25.212 – Vorfahrt 14.140 Abgestelltes Kraftfahrzeug – Betrieb des Kfz 3.104 ff. – Haftungsverteilung 25.229 ff. Abkommen von Fahrbahn – Anscheinsbeweis 41.92 – grobe Fahrlässigkeit 35.118 Ablenkung des Fahrers – grobe Fahrlässigkeit 35.119 – Mithaftung 25.55 Abschleppen – Betrieb des Kfz 3.103 – als öffentliche Gewalt 12.54 – Sorgfaltspflicht 14.253 Abschleppkosten 27.53 Abschleppvertrag 16.14, 16.46 Abschüssige Straße – Sorgfaltspflicht 14.74 Absichern liegengebliebener Fahrzeuge – Sorgfaltspflicht 14.56 ff. Abstand – Bemessung 14.79 ff. – Schutzzweck 11.20 Abtretung 21.21 ff. Abwägung s. Haftungsverteilung Abzug neu für alt 26.6, 27.85 f. Adäquate Kausalität 3.71, 10.26 ff. Adhäsionsverfahren 40.47, 41.136 Affektionsinteresse 20.6, 26.9 Aktivlegitimation 21.1 ff. Alkohol – Entlastungsbeweis – des Führers 4.28 – des Halters 3.318 – Fußgänger 14.287 – Mitverschulden 25.25, 25.39 – Schuldunfähigkeit 10.64 f. – Verabreichen 14.302 f. – Verhindern der Verkehrsteilnahme 14.312 Alkoholeinfluss – Anscheinsbeweis 41.75 ff. Allgemeines Lebensrisiko 3.72 ff., 3.162 Alternativtäterschaft 25.148 Ampel s. Lichtzeichen Amtshaftung 12.1 ff.

– Rückgriff 12.101 ff. – Subsidiarität 12.60 ff. – Verschulden 12.33 ff. Amtspflicht – Aufsicht 12.16 – gegenüber öffentlich-rechtlichen Körperschaften 12.31 f. – Polizei 12.25 f. – Schutzzweck 12.13 – Technischer Überwachungsverein 12.28 – Verhindern unbefugter Fahrzeugbenutzung 12.15 – Verkehrsregelung 12.17 ff. – Verkehrssicherung 12.24 – bei Verkehrsteilnahme 12.14 – Zulassungsstelle 12.27 Amtsträger 12.12 Aneignungsrecht – Beeinträchtigung 3.55 Anerkenntnis – Verjährung 24.32 ff. Anfahren vom Fahrbahnrand – Anscheinsbeweis 41.114 – Haftungsverteilung 25.160 f. – Linienbus 14.77 – Müllfahrzeug 14.78 – Sorgfaltspflicht 14.75 f., 14.227 Angehörige – Gesamtschuldnerausgleich 39.21 – Haftungsausschluss 22.65 – Haftpflichtversicherung 15.26 – Rückgriff gegen 35.76 ff., 36.24 ff., 37.40, 37.47, 38.4, 38.20 Angestellte s. Verrichtungsgehilfe Angrenzende Grundstücke – Verkehrssicherungspflicht 13.111 ff. – Mithaftung 13.177 Anhänger s. a. Gespann – abgekuppelter 3.115 f. – Ausspuren 3.300; s. a. 3.321 – Betrieb 3.112 ff. – Führer 4.3, 4.6 – Gefährdungshaftung 3.24 ff. – Haftpflichtversicherung 15.6 – Sicherung abgestellter 3.321 – technischer Mangel 3.299 Anlagen – krankhafte s. Schadensanlage Anleinzwang – Schutzzweck 11.61

1165

Stichwortverzeichnis Anlieger – Gefahrenabwehr 13.113 ff. – Räum- und Streupflicht 13.77 ff. Anliegergrundstücke – Beschädigung 19.17 Anpflanzungen – Beschädigung 27.95 Anrechnung – der Betriebsgefahr 25.3 f., 25.87 ff. – Ausschlüsse 25.95 – Dienstfahrt 25.98 – Höhenbegrenzung 25.97 Anscheinsbeweis – Anwendungsbereich 41.58 ff. – internationales Recht 41.74 – der Kausalität 41.59, 41.68, 41.75 ff. – Rechtsnatur 41.66 ff. – Revisibilität 41.73 – des Verschuldens 41.60 f., 41.69 ff. – Voraussetzungen 41.56 f. Anschnallpflicht s. Sicherheitsgurt Anzeigefrist 22.19 ff. Aquaplaning – Entlastungsbeweis 3.367 Arbeitnehmer – Freistellungsanspruch 16.41, 22.78 ff. – Haftungsbeschränkung 22.69 ff. Arbeitsgerät – Betriebsgefahr 3.62 f., 3.117 ff. Arbeitskollege – Haftungsausschluss 22.122 ff. Arbeitskraft – Beeinträchtigung 32.57 – Einsatz zur Schadensminderung 25.123 f. – Verwertung 32.102 ff. Arbeitsunfall 22.84 ff., 22.111 ff. Arbeitsvertrag – Arbeitgeberhaftung 16.39 f. – Arbeitnehmerhaftung 16.37 f. – Freistellungspflicht 16.41 f. Arzt – Verhindern der Verkehrsteilnahme 14.309 Äste 13.110 Auffahren s. Auffahrunfall, Hindernis Auffahrunfall – Anscheinsbeweis 41.80, 41.96 ff. – Entlastungsbeweis 3.323 ff. – grobe Fahrlässigkeit 35.120 – Haftungsverteilung 25.162 ff. – Verschulden 14.23 f. Aufklärungspflicht – des Verkäufers 16.19

1166

Aufopferung 17.6 ff., 18.1 ff. Aufsichtspflicht – Gesamtschuldnerausgleich 39.7 – Haftung gegenüber Dritten 8.1 ff. – Entlastungsbeweis 8.14 ff. – Voraussetzungen 8.5 ff. Auftrag – fehlender Versicherungsschutz 16.35 – Freistellungsanspruch 16.36 Augenblicksversagen 35.116 Augenschein 41.9, 41.16 f. Ausgleichsanspruch 39.10 ff.; s. a. Regress Auslagenpauschale 29.29 Ausländische Streitkräfte 12.73 ff., 15.69 Ausländisches Haftungsrecht 2.40 f. Auslandsunfall – anwendbares Recht 2.18 ff. – Haftpflichtversicherung 2.42 ff., 15.70 f. Ausparken – Anscheinsbeweis 41.114, 41.117 – Sorgfaltspflicht 14.201 Ausscheren 14.96; s. a. 14.90 – Haftungsverteilung 25.178 ff. Ausschwenken 14.107, 14.110 Aussteigen – Anscheinsbeweis 41.125 f. – Betrieb des Kfz 3.132 ff. – Entlastungsbeweis 3.325 – Haftungsverteilung 25.232 – Schutzzweck 11.31 – Sorgfaltspflicht 14.71; s. a. Beifahrer Ausweichen 14.118 Autobahneinfahrt – Haftungsverteilung 25.221 – Sorgfaltspflicht 14.154 Automatische Regelungssysteme – Unabwendbarkeit 3.287, 3.301; s. a. Automatisiertes Fahren Automatisiertes Fahren – Haftung des Führers 4.17 – Entlastungsbeweis 4.31 ff. – Haftung des Herstellers 6.6 ff. Autorennen s. a. Rennveranstaltungen – Haftung des Führers 4.35 – Haftung des Halters 3.156 – Haftung des Veranstalters 16.32 – Mithaftung des Beifahrers 25.54 Autovermietung s. a. Mietwagen – Eigenschaden des Mieters 21.16 – Haftungsbeschränkung 16.27 – Pflichten des Mieters 16.25 f. – Pflichten des Vermieters 16.23 f. – Verjährung 16.28

Stichwortverzeichnis

Bahnübergang – grobe Fahrlässigkeit 35.121 – Pflichten des Kraftfahrers 14.212 ff. – Sorgfaltspflicht – des Straßenbahnfahrers 14.259 – Verkehrssicherungspflicht 13.121 Bankett – Ausweichen 14.118 – Verkehrssicherungspflicht 13.58 Baum – Beschädigung 27.95 – Zerstörung 26.10 Bäume – Verkehrssicherungspflicht 13.104 ff. – Mithaftung 13.175 Bauordnung – Schutzzweck 11.60 Baustelle – Geschwindigkeit 14.25 – Verkehrssicherungspflicht 13.101 ff. – Mithaftung 13.176 Bauwerke – Beschädigung 27.93 f. Beamte s. a. Amtshaftung, Dienstunfall – Forderungsübergang auf Dienstherrn 37.6 ff. – Haftung gegenüber Dienstherrn 12.101 ff. – Haftungsausschluss 22.132 Beerdigungskosten 31.14 ff. – Umfang 31.20 ff. Beförderte Personen s. a. Beifahrer – Haftungsausschluss 22.31, 22.36 ff. Beförderte Sachen – Haftungsausschluss 22.13 ff. Beförderungsvertrag 16.5 ff. Begegnungsunfall – Anscheinsbeweis 41.82, 41.104 – Betriebsgefahr 3.124 – Entlastungsbeweis 3.335 f., 3.366 – Haftungsverteilung 25.186 ff. Begehrensneurose 19.24 Begleitetes Fahren – Haftung des Begleiters 4.14, 14.300, 14.315 – Haftung des Führers 4.22 Beifahrer – Aussteigen 14.73 – Führerhaftung 14.65 – Haftungsverteilung 25.271 – Pflichten 14.297 ff. – Selbstgefährdung 25.47 ff. Beitragsregress – für Sozialversicherung 35.146 ff. – für Tätige in Behindertenwerkstatt 37.45 ff.

Beladen – Betrieb des Kfz 3.125 ff. Beleuchtung – haltender Fahrzeuge 14.70 – des Kraftfahrzeugs 14.61 – Verkehrssicherungspflicht 13.96 ff. – Mithaftung 13.185 Benutzungsverbot 14.47 Bereifung s. Reifen Bergung – Betriebsgefahr 3.164 Bergungskosten 26.28 Berufliches Fortkommen 32.57, 32.162 f. Berufswechsel 32.60 Berührungsloser Unfall 3.65 Beschädigung s. Sachschaden Beschlagnahme – Haltereigenschaft 3.207 f. Beschleunigungsstreifen – Anscheinsbeweis 41.112 – Vorfahrt 14.154 f. Besetzung des Kfz 14.65 Besitz – Aktivlegitimation 21.3 – Beeinträchtigung 3.54, 10.20 – Verlust 3.51 Bestreiten – mit Nichtwissen 41.2 – substantiiert 41.3 f. Besuchskosten 32.9 f. Betrieb – des Kraftfahrzeugs – Begriff 3.56 ff. – beim Betrieb Tätige 22.9 ff. – Einzelfälle 3.103 ff. – Kausalitätsbeweis 3.172 – Zurechnung 3.67 ff. – des Luftfahrzeugs – Begriff 5.41 ff. – Ersatzpflichtige 5.44 – der Schienenbahn – Begriff 5.11 ff. – Einzelfälle 5.15 ff. – Ersatzpflichtige 5.18 f. – Kausalität 5.13 Betriebliche Tätigkeit 22.122 ff. Betriebserlaubnis 11.51 Betriebserschwerniskosten 30.13 Betriebsgefahr s. a. Anrechnung – abstrakte 3.2 – Abwägung 25.133 ff. – erhöhte 25.134 ff. – konkrete 3.3 f., 25.133 ff.

1167

Stichwortverzeichnis – mitwirkende 25.3 f., 25.9 – Schienenfahrzeug 25.136 ff. Betriebsgeräusch – Betriebsgefahr 3.140 f. Bewachter Parkplatz – Vertragspflichten 16.33 Beweis 41.1 ff. Beweisantrag 41.10 ff. Beweiserleichterungen 41.51 ff. Beweislast 41.38 ff. Beweismaß 41.49 ff. Beweismittel 41.14 ff. Beweisvereitelung 41.40, 41.45 Beweisverfahren 41.13 ff. Beweisverwertungsverbote 41.46 ff. Beweiswürdigung 41.42 ff. Bewusstlosigkeit 10.63 Billigkeitshaftung 10.75 – Mitverschulden 25.26 – Schmerzensgeld 33.31 Blindengeld 37.5 Blinken s. Fahrtrichtungsanzeiger Blockieren – eines Verkehrswegs 10.15 Bordsteinkante – Verkehrssicherungspflicht 13.59 Böschung – Verkehrssicherungspflicht 13.122 Brand – Betrieb des Kfz 3.128 ff. Bremsen – grobe Fahrlässigkeit 35.132 – Sorgfalt 14.82 ff. Brücke – Verkehrssicherungspflicht 13.123 Brüssel Ia-Verordnung 2.3 ff. Bundesfernstraßen – Verkehrssicherungspflicht 13.18 Bundeswehr – Dienstfahrt 12.46 f. Bußgeldverfahren s. Strafverfahren

Car-Sharing

– Haltereigenschaft 3.196

Dachlawine 13.115 Darlegungslast 41.2 ff. Dashcam 41.47 Datenverlust 26.12 Deliktische Haftung 10.1 ff. – Zurechnungszusammenhang 10.21 ff. Deliktsfähigkeit 10.69 ff. Deliktsstatut – Anwendungsbereich 2.30 ff. 1168

– Bestimmung 2.9 ff. Depression 19.23 Detektiv 29.13, 41.47 Diagnosekosten 32.21 Dienstfahrt – als öffentliche Gewalt 12.45 ff. Dienstleistungen – des Getöteten 31.6, 31.56, 31.86, 31.102, 31.127 ff., 31.152 f., 31.178 ff. – des Verletzten 32.4, 32.192 Dienstunfall – Haftungsausschluss 22.156 ff. – bei Teilnahme am allgemeinen Verkehr 22.160 f. Dienstwagen – Haltereigenschaft 3.202 ff. Differenzhypothese 20.2 ff. Dingliche Rechte 10.18 Direktanspruch 15.1 ff. – anwaltliche Vertretung 15.33 ff. – gegen ausländischen Haftpflichtversicherer 2.7 ff., 2.38 f. – Interessenkollision 15.37 – bei Leistungsfreiheit 15.48 ff. – Nebenintervention 15.34, 15.39 – Prozessführung 15.32 ff. – Rechtskrafterstreckung 15.27 ff. – Vollmacht des Versicherers 15.32 – weitere Ersatzpflichtige 15.40 ff. – Widerklage 15.35 Direktklage s. Direktanspruch Dritte – Beschäftigung beim Betrieb 3.273, 3.277 – mittelbare Kausalität 3.92 f. Drittwiderklage 40.12 f. Drogensucht 19.26 Dunkelheit s. Beleuchtung Durchgangsarzt – Kosten 32.13

E-Bike

– Fahrzeugart 3.16 – Haftpflichtversicherung 15.4 E-Roller – Abstellen 14.68 – Fahrzeugart 3.14 – Haftpflichtversicherung 15.4 – Haftungsverteilung – Unfall mit Kraftfahrzeug 25.256 – Schutzausrüstung 25.68 – Verkehrsregeln 14.292 Ehegatte – Gesamtschuldnerausgleich 39.23 – Haftung gegenüber 22.65

Stichwortverzeichnis – Haltereigenschaft 3.210 Eheschließung – verhinderte 32.193 Eigenersparnis s. Ersparte Aufwendungen Eigenleistungen – beim Hausbau 32.53, 32.191 Eigentümer – Betriebsgefahr 25.91 – des Kraftfahrzeugs – Eigenschaden 21.15 Eigentumsverletzung 10.13 ff. – Aktivlegitimation 21.2 Einbahnstraße – grobe Fahrlässigkeit 35.122 Eingliederung – in Unfallbetrieb 22.100 ff. Einkaufswagen 13.124 Einsatzfahrzeug s. Sonderrechtsfahrzeug Einsteigen – Betrieb des Kfz 3.132 ff. – Sorgfaltspflicht 14.72 Einstellen von Fahrzeugen 16.33 f. Einwilligung 10.47 ff. – Beweis 41.53 Eis – Verkehrssicherungspflicht 13.75 ff. Eisenbahn s. Schienenbahn Eisenbahnbetriebsordnung – Schutzzweck 11.59 Elektrokleinstfahrzeuge – Begriff 3.14 – Haftpflichtversicherung 15.4 – Haftungsverteilung – Unfall mit Kraftfahrzeug 25.256 – Schutzausrüstung 25.68 – Verkehrsregeln 14.292 Elektronisches Gerät – Nutzung – durch Fahrer 14.38 – durch Fahrlehrer 14.313 – als Mitverschulden 14.38 Eltern – Mitverschulden 25.32 – Schutzpflicht 14.316 f. Engstelle 14.119 ff. – Entlastungsbeweis 3.328 – Haftungsverteilung 25.179, 25.193 Entgangene Dienstleistungen s. Dienstleistungen Entgangener Gewinn s. Gewinnentgang Entgeltfortzahlung 32.68 ff. – Forderungsübergang 32.176 ff. Entgeltliche Beförderung 22.36 ff.

Entladen – Betrieb des Kfz 3.125 ff. Entlastungsbeweis – Aufsichtspflichtiger 8.14 ff. – Bahnunternehmer 5.20 ff. – Kraftfahrzeugführer 4.23 ff. – Kraftfahrzeughalter 3.258 ff. – Tierhalter und Tierhüter 9.21 ff. Entschädigungsfonds 15.72 ff. Entschädigungsstelle für Auslandsunfälle 2.47, 15.77 ff. Entsorgungskosten 30.15 Erfolgsort 2.17, 2.25 f. Erfüllungsgehilfe – Zurechnung von Mitverschulden 25.30 Ermittlungsaufwand 29.13 Ersatzbeschaffung 26.4 ff., 27.8 ff., 27.69 ff. – Absehen 26.13 ff. – fiktiver Aufwand 27.71 – Restwert 27.72 ff. Ersatzfahrzeug 28.4 f. Ersatzkraft – für entgangene Dienstleistungen 31.131 ff. – fiktive Kosten 32.120 – für Gesellschafter 32.142 – für Haushaltsführung 32.154 – für Unternehmer 32.119 f. – Verzicht auf Anstellung 31.135 ff. Ersatzteilkosten 27.42 Ersetzungsbefugnis 20.25 ff. Ersparte Aufwendungen – bei Erwerbsschaden 32.96 f. – bei Mietwagennutzung 28.45 f. – bei Nutzungsausfallentschädigung 28.61 – bei Unterhaltsersatz 31.85 Erwerbsschaden 32.57 ff. – bei Arbeitslosen 32.160 – Berechnung 32.61, 32.72 ff., 32.113 ff. – bei Berufsunfähigen 32.161 – Beweis 32.84, 32.134 – fiktiver 32.62 – Forderungsübergang 32.176 ff. – Gesellschafter 32.137 ff. – bei Haushaltsführung 32.143 ff. – Klageantrag 32.135 – künftige Entwicklung 32.80 ff. – von mitarbeitenden Angehörigen 32.157 f. – Schadensminderungspflicht 32.100 ff., 32.133 – bei selbständiger Tätigkeit 32.111 ff. – bei unentgeltlichen Diensten 32.159, 32.192 – bei unselbständiger Tätigkeit 32.64 ff. – bei verbotener Tätigkeit 32.67, 32.125 ff. – bei verhinderter Erwerbstätigkeit 32.164 ff.

1169

Stichwortverzeichnis – Vorteilsausgleich 32.85 ff., 32.129 ff. – bei vorzeitigem Ruhestand 32.169 ff. EuGVVO 2.3 Europarecht – Überblick 1.56 Explosion – Betrieb des Kfz 3.135

Factoring 21.24 Fahrassistenzsystem s. Automatische Regelungssysteme Fahrbahn – Beschädigung 27.96 Fahrbahnbenutzung 14.45 ff., 14.114 ff. Fahrbahnbeobachtung 14.38 f. Fahrbahnverengung 14.101, 14.119 Fahrer s. Führer Fahrerlaubnis – Anscheinsbeweis bei Fahren ohne 41.78 – Mitfahren bei Fahrer ohne 25.51 – Schutzzweck 11.7 Fahrgast s. a. Beifahrer – Haftungsverteilung 25.272 – Sicherung in Verkehrsmittel 25.56 Fahrgemeinschaft – Haftung 16.43 – Haftungsausschluss 22.39 Fahrlässigkeit 10.53 ff. Fahrlehrer – Haftung 4.20 ff., 16.44 – Sorgfaltspflicht 4.29, 14.313 f. Fahrleitung – Obus 3.136 Fahrschüler – Haftung 4.21, 16.45 – Sorgfaltsmaßstab 10.55 Fahrschulvertrag 16.44 f. Fahrstreifenwechsel s. Spurwechsel Fahrtrichtungsanzeiger – Haftungsverteilung 25.206 – Missverständnis 3.329 – Vertrauen 14.163 Fahruntüchtigkeit 14.8 f.; s. a. Alkohol – grobe Fahrlässigkeit 35.123 – Mitverschulden 25.39 – des Beifahrers 25.49 Fahrzeugbeherrschung 14.8, 14.17 Fahrzeugleihe 16.29 ff. Fahrzeugmängel s. Technischer Mangel Fahrzeugschlüssel s. Schlüssel Fahrzeugteile – Betriebsgefahr 3.137 Fahrzeugversicherung s. Kaskoversicherung Fahrzeugwechselkosten 26.27 1170

Familienprivileg s. Angehörige Fehlender Versicherungsschutz 15.72 ff. Fehler – in der Beschaffenheit des Kfz 3.291 ff. Feindliches Grün 18.2 ff. Feldweg – Haftungsverteilung 25.213 – Vorfahrt 14.138 Fernsteuerung 4.16 Feststellungsklage 31.172 ff., 40.14 ff. Feuerwehr – Dienstfahrt 12.49 – Einsatzfahrt mit Privatfahrzeug 14.207 Fiktive Schadensabrechnung 20.26 ff., 27.35 ff., 27.76 ff., 28.16 – Totalschaden 26.19 ff. Finanzierungskosten 30.1 ff., 32.14 Fingierter Unfall 3.34 – Beweis 3.35 f. Folgeschäden – psychische 19.23 ff. – Zurechnung 19.8 ff. Folgeunfall 25.129 – Anscheinsbeweis 41.86 – Entlastungsbeweis 3.387 – Zurechnung 3.161 ff., 19.7 Forderungsübergang s. Regress Frachtführer 16.6 ff. Freizeitbeeinträchtigung 28.63 Führer – des Anhängers – Begriff 4.9 – Haftung 4.3 – Mithaftung 4.6 – des Kraftfahrzeugs – Begriff 4.9 ff. – Dauer der Verantwortlichkeit 4.19 – Eigenschaden 21.14 – Entlastungsbeweis 4.23 ff. – Haftung 4.1 ff. – Verhältnis zur Halterhaftung 4.36 ff. – Leasing 4.39 – Mehrheit 4.18 – Mithaftung 4.5 ff. – Sorgfaltsmaßstab 4.26 ff., 14.13 f. – Verkehrspflichten 14.8 ff. – Verantwortung für Zustand des Kfz 14.59 ff. Fuhrwerk – Verkehrsregeln 14.293 Fußgänger – Anscheinsbeweis 41.118 ff. – Entlastungsbeweis 3.330 ff. – Fahrbahnbenutzung 14.276 ff.

Stichwortverzeichnis – Haftungsverteilung – Unfall mit Kraftfahrzeug 25.251 ff. – Unfall mit Radfahrer 25.267 – Mitverschulden – schlechte Erkennbarkeit 25.58 – Pflichten gegenüber 14.221 ff. – Überqueren der Fahrbahn 14.280 ff. – Verhaltenspflichten 14.275 ff. – Verkehrsuntüchtigkeit 14.287 Fußgängerüberweg 14.221 ff., 14.283 f.

Gastwirt

– Einstellen von Fahrzeugen 16.34 – Verabreichen von Alkohol 14.302 f. Gebäude – Beschädigung 27.93 Gebäudeteile 13.114, 13.118 Gebrauch des Kfz 15.5 Gebrauchsanmaßung – Gefährdungshaftung 3.215 ff. Gebrauchtwagenhändler – Haftung 14.305 Gefährdungsausschluss 10.58, 14.14 Gefährdungshaftung – Abbau- und Industrieanlagen 5.2 ff. – Bahnen 5.2 ff., 5.7 ff. – Entlastungsbeweis 5.20 ff. – Entwicklung 1.39 ff. – Gewässerschutz 5.6 – Höchstbetrag 23.1 ff.; s. a. Haftungsbegrenzung – Kraftfahrzeuge 3.1 ff. – Ausschlüsse 3.7 ff. – Entlastungsbeweis 3.258 ff. – Rechtsfolge 3.10 – Leitungsanlagen 5.2 ff. – Luftfahrzeuge 5.5, 5.40 ff. – mitwirkende 25.3 f. – Tiere 9.1 ff. – Entlastungsbeweis 9.21 ff. – Haftungsausschluss 9.18 – Kausalität 9.16 f. – Voraussetzungen 9.7 ff. Gefahrenabwehr 17.6 ff., 17.16 – Unfallversicherung 22.107 Gefahrguttransport – Haftungshöchstbetrag 23.24 Gefahrgutverordnung – Schutzzweck 11.58 Gefahrzeichen 14.24 Gefälligkeit 16.3 f., 22.52 ff. Gegenverkehr s. a. Begegnungsunfall – Sorgfaltspflicht 14.114 ff. Gehaltsfortzahlung s. Entgeltfortzahlung

Gehilfe s. Erfüllungsgehilfe, Verrichtungsgehilfe Gehölze – Beschädigung 27.95 Gehweg – Benutzungspflicht 11.38 – Fahrverbot 11.9 – Benutzung durch Radfahrer 14.146 – Verkehrssicherungspflicht 13.87, 13.95 Geistesstörung 10.63 ff. Geistiges Versagen – des Kfz-Führers 3.273 Gemeinsame Betriebsstätte 22.90 f., 22.125 ff. Gerichtsstand 40.8 – international 2.5 ff., 40.5 – national 40.1 ff. Gesamtschau 25.142 ff. Gesamtschuldner – Abwägung 39.5 ff. – gestörtes Gesamtschuldverhältnis 39.16 ff. – Haftung 25.141 ff. – Regress 39.1 ff. Geschäftsführung ohne Auftrag – Aufwendungsersatz 17.6 ff., 17.19 – Ausgleichsanspruch 39.9 – Haftung 17.20 f. Geschäftsmäßige Beförderung – Haftungsausschluss 22.43 – Haftungshöchstbetrag 23.23 Geschlossener Verband – Haftungsverteilung 25.217 – Linksabbiegen 14.135 – Vorrecht 14.208 Geschwindigkeit 14.17 ff. – Entlastungsbeweis 3.337 ff. – Schutzzweck 11.13 ff., 11.46 Geschwindigkeitsüberschreitung – Anscheinsbeweis 41.81 – grobe Fahrlässigkeit 35.125 – Haftungsverteilung 25.160, 25.163, 25.178, 25.183, 25.188 f., 25.191, 25.193 f., 25.196, 25.199, 25.205 Gesellschafter – Gewinnentgang 32.137 ff. Gesetzliche Unfallversicherung s. Unfallversicherung, Haftungsausschluss Gesetzliche Vertreter – Zurechnung von Mitverschulden 25.32 ff. Gespann – Ausgleich zwischen den Haltern 39.2 – Betriebsgefahr 25.92 – Gefährdungshaftung 3.113 f. – Haftungsverteilung 25.92 – Höchstbetrag der Haftung 23.13 – internationales Haftungsrecht 2.17

1171

Stichwortverzeichnis Gesundheitsverletzung 3.39 ff. – Verdacht 3.48, 32.21 Gewalttat mit Kfz – Betriebsgefahr 3.168 – Opferentschädigung 37.3, 37.39 Gewerbebetrieb – Beeinträchtigung 10.19 Gewinnentgang 28.2 ff., 30.8; s. a. Erwerbsschaden Gewöhnlicher Aufenthaltsort 2.22 ff. Glatteis – Entlastungsbeweis 3.339 – Verkehrssicherungspflicht 13.75 ff. – Mithaftung 13.180 – Warnung 13.93 Gleisbindung 3.18 ff. Gleise – Befahren 14.209 ff. – Verkehrssicherungspflicht 13.132 Gleiskettenfahrzeuge – Haftungshöchstbetrag 23.25 Grobe Fahrlässigkeit 35.114 ff. – Beweis 35.138 f. Grundstück – Ausfahrt – Anscheinsbeweis 41.113 – Entlastungsbeweis 3.340 – Sorgfaltspflicht 14.191 ff. – Beschädigung 3.50, 10.18 – Einbiegen – Anscheinsbeweis 41.113 – Entlastungsbeweis 3.341 – Sorgfaltspflicht 14.112 f., 14.134 – Sorgfalt bei Ein- und Ausfahrt – Schutzzweck 11.26 Grundurteil 40.32 ff. Grüne Karte 2.42 f., 2.48 Grüner Pfeil – Haftungsverteilung 25.197 – Verhaltenspflichten 14.189 Grünfläche – Verkehrssicherungspflicht 13.134 Grünstreifen 19.17 Gully – Verkehrssicherungspflicht 13.135 Gurt s. Sicherheitsgurt Gutachten – Erforderlichkeit 29.4 – Kosten 29.2 ff., 29.13 – Mangel 29.8 – Zweitgutachten 29.9

Haftpflichtprozess

– Beweisantrag 41.10 ff.

1172

– Beweiserleichterungen 41.51 ff. – Beweislast 41.38 ff. – Beweismaß 41.49 ff. – Beweismittel 41.14 ff. – Beweisverfahren 41.13 ff. – Beweisverwertungsverbote 41.46 ff. – Beweiswürdigung 41.42 ff. – Darlegungslast 41.2 ff. – Feststellungsklage 40.14 ff. – Grundurteil 40.32 ff. – Klage 40.6 ff. – Rechtskraft 40.40 ff. – Sachverhaltsfeststellung 41.1 ff. – Teilklage 40.19 ff. – Teilurteil 40.38 f. – unbezifferter Klageantrag 40.26 ff. – Vorlageanordnungen 41.7 f. – Widerklage 40.9 ff. – Zuständigkeit 40.1 ff. Haftpflichtversicherung s. a. Direktanspruch – Anhänger 15.6 – gedeckte Ansprüche 15.7 ff. – Höhenbegrenzung 15.17 ff. – internationaler Geltungsbereich 2.43 ff., 15.14, 15.68 ff. – krankes Versicherungsverhältnis 15.20 – Leistungsfreiheit 15.43 ff., 38.17 f. – persönlicher Geltungsbereich 15.11 ff. – Regress – gegen Dritte 38.16 – gegen Mitversicherte 38.20 – gegen Versicherungsnehmer 38.17 ff. – Risikoausschluss 15.15, 15.46 – Schadensminderungskosten 17.18 – Teilungsabkommen 15.55 ff., 35.59 – Verjährung 15.23 – Vertrauenshaftung 15.45 – Verzögerte Regulierung 15.80 Haftungsausfüllung – Kausalität 19.4 ff. – Zurechnungszusammenhang 19.3 ff. Haftungsausschluss – zwischen Angehörigen 22.65 – Arbeitskollege 22.122 ff. – im Arbeitsverhältnis 22.67 – Ausbildungsbetriebe 22.144 ff. – für beim Betrieb des Kfz Tätige 22.9 ff. – Gesamtschuldnerausgleich 39.19 ff. – gesetzlicher 22.1 ff. – bei Gesetzlicher Unfallversicherung 22.80 ff. – Auslandsbezug 2.34, 22.155 – Halterhaftung 22.1 ff. – Hilfsdienste 22.143 – Pannenhilfe 22.154

Stichwortverzeichnis – stillschweigender 22.49 ff. – Unfallhilfe 22.153 – vereinbarter 22.30 ff. – Reichweite 22.44 ff. Haftungsbegrenzung 23.1 ff. – automatisierte Fahrzeuge 23.22 – Forderungsübergang 23.15 – Geschäftsmäßige Beförderung 23.23 – künftige Schäden 23.17 f. – mehrere Verletzte 23.19 ff. – im Urteil 23.29 ff. Haftungsbeschränkung – Feststellungsurteil 40.18 – Gesamtschuldnerausgleich 39.20 ff. Haftungseinheit 25.145 Haftungsquoten 25.125 ff. – Bezifferung 25.155 ff. – Einzelfälle 25.160 ff. Haftungsrecht – Prinzipien 1.6 ff. – Systematik 1.26 ff. – Zweck 1.6 ff. Haftungsschaden 30.7 Haftungsverteilung 25.125 ff. – Beweis der Abwägungskriterien 25.150 ff. – Gesamtschuldner 39.5 ff. – bei Mehrheit von Ersatzpflichtigen 25.141 ff. Haftungsverzicht – Gesamtschuldnerausgleich 39.17 f. – Wirkung auf Hinterbliebene 31.2 Halbe Sicht 14.20, 25.189 Halbe Vorfahrt 14.180 – Haftungsverteilung 25.210 Halswirbelsäule s. HWS-Verletzung Halten – Führerhaftung 14.68 ff. Halter – Kraftfahrzeug – Anzeichen 3.189 ff. – Beginn der Stellung 3.193 – Begriff 3.173 ff. – Beweis der Stellung 3.256 f. – Eigenschaden 21.9 ff. – Verantwortung für Eignung des Fahrers 14.5 – Einzelfälle zur Halterstellung 3.193 ff. – Entlastungsbeweis 3.258 ff. – Fehlen 3.188 – Haftung des früheren 3.255 – Haftungsausschluss 22.1 ff. – Mehrheit 3.185 ff. – Haftung bei unbefugtem Gebrauch 3.237 ff. – Schutz vor unbefugtem Gebrauch 14.6 f.

– Unternehmer 22.110 – Verkehrspflichten 14.1 ff. – Vertretung 3.184 – Verantwortung für Zustand des Kfz 14.1 ff. Haltestelle – Entlastungsbeweis 3.342 – Sorgfaltspflicht – des Kraftfahrers 14.228 – des Straßenbahnfahrers 14.261 Haltverbot – Schutzzweck 11.28 ff., 14.242 Handy s. Elektronisches Gerät Haushaltsangehörige s. Angehörige Haushaltsführung – Beeinträchtigung als Schaden 32.143 ff. – Berechnung 32.150 ff. – Minderung des Erwerbsschadens 32.98, 32.105 – bei Tötung des Ehegatten 31.127 ff. Haushaltshilfe 32.51 Hauskind 31.180 f. Heilbehandlung – Schadensminderungspflicht 25.113 ff. Heilungskosten 32.5 ff. – Erfolglosigkeit 32.20 f. – Erforderlichkeit 32.15 – fiktive 32.22 – Forderungsübergang 32.29 ff. – Schadensminderungspflicht 32.26 ff. Herausforderung schädigenden Verhaltens 3.81 ff. Herstellerhaftung s. Produkthaftung Hilfeleistung – Mitverschulden 25.44 – bei Unfall 17.17, 19.18 f. – Unfallversicherung 22.99 ff., 22.104 ff. Hilfsdienste – Unfallversicherung 22.143 Hindernis – Auffahren – Anscheinsbeweis 41.94 f. – Entlastungsbeweis 3.343 – verbotene Errichtung 11.39 – Vorbeifahren 14.120 Hinterbliebene – ersatzfähige Ansprüche 31.1 ff. – Verzicht des Getöteten 31.2 Hinterbliebenengeld 31.189 ff. – Bemessung 31.198 ff. – internationales Recht 31.204 – Verhältnis zum Schmerzensgeld 31.202 f. – Voraussetzungen 31.191 ff. Hochschleudern – Betriebsgefahr 3.142

1173

Stichwortverzeichnis Höchstbetrag – Haftung nach HaftpflG 23.26 ff. – Haftung nach StVG 23.1 ff. Hoheitliche Verwaltung 12.38 ff. Höhenbegrenzung 14.46 Höhere Gewalt – bei Haftung des Bahnunternehmers 5.23 ff. – bei Haftung des Kfz-Halters 3.262 ff. – Verjährungshemmung 24.89 f. Hubladebühne – Absichern 14.69 – Haftungsverteilung 25.233 Hund s. a. Tiere – Halterhaftung 9.29 HWS-Verletzung 41.52, 41.54, 41.91

Immaterieller Schaden

31.189 ff., 33.1 ff. Industrieanlage 5.59 Inkasso 21.23 Inkassokosten 29.26 Inline-Skates – Haftungsverteilung 25.256 – Schutzausrüstung 25.68 – Verkehrsregeln 14.290 Innerbetrieblicher Schadensausgleich 16.41, 22.90 Inspektionskosten 30.12 Integritätsinteresse 27.21 ff. Interimsfahrzeug 28.14 Internationale Zuständigkeit 2.5 ff. Internationales Haftungsrecht 2.1 ff., 2.9 ff. Internationales Zivilverfahrensrecht 2.2 ff. Irrtum 10.59 ff.

Jagdberechtigte – Rechtsverletzung 3.55 Jugendliche – Haftungsumfang 10.74 – Schuldfähigkeit 10.66 ff. Juristische Person – Haltereigenschaft 3.205 ff. Kapitalabfindung

34.5 ff. Kaskoversicherung 30.10 – Quotenvorrecht 38.8 ff. – Regress 38.5 ff. – Schadensminderungspflicht 25.109 f. Katze s. a. Tiere – Halterhaftung 9.30 Kaufvertrag 16.15 ff. Kausalität – alternative – bei Deliktshaftung 10.35 ff.

1174

– bei Gefährdungshaftung 3.101 f. – bei Verkehrssicherungspflicht 13.13 – Betriebsgefahr 3.67 ff. – haftungsbegründende 3.67 ff. – mittelbare 3.79 ff. – potenzielle s. Kausalität, alternative – psychische 3.81 ff. – überholende 3.76 ff., 20.7 f. – unerlaubte Handlung 10.22 ff. Kenntnis – Verjährungsbeginn 24.7 ff. Kinder – Aufsichtspflicht 8.16 ff. – Entlastungsbeweis 3.345 ff. – Haftungsverteilung – Unfall mit Kraftfahrzeug 25.257 ff. – Unfall mit Radfahrer 25.267 – Mitverschulden von Aufsichtspersonen 25.32 ff. – Pflichten gegenüber 14.243 ff., 14.288 ff. – Rad fahrende – Sorgfalt gegenüber 14.250 f. – Schuldfähigkeit 10.66 ff. – Schutzpflicht der Eltern 14.316 f. – Verkehrssicherungspflicht 13.137 Kindergarten – Haftungsausschluss 22.144 ff. Kindergeld 31.83 Kinderrückhalteeinrichtungen – Führerhaftung 14.64 Klagenhäufung 40.6 ff. Kompensation 20.32 ff., 26.7 ff., 27.4 f. Konstitutionsmangel s. Schadensanlage Konversionsneurose 19.25 Körperliches Versagen – des Kfz-Führers 3.273 Körperverletzung 3.39 ff., 32.1 ff. Kosmetische Operation 32.7 Kostenvoranschlag 29.12 Kraftfahrzeug – Beendigung der Eigenschaft 3.17 – Begriff 3.13 ff. – Verkehrssicherheit 14.1 ff., 14.59 ff. Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung s. Haftpflichtversicherung Kraftfahrzeughalter s. Halter Kraftfahrzeugschaden – Ersatzformen 27.59 Kraftstoff – Ersatz bei Totalschaden 26.28 Krankenhauskosten 32.18 – Vorteilsausgleich 32.24 Krankenkasse – Inanspruchnahme 32.27 f.

Stichwortverzeichnis Krankenversicherung – gesetzliche – Beiträge 35.12, 35.32 – Kongruenz von Leistung und Schadensersatzanspruch 35.27 ff. – Regress 35.9 ff. – private – Forderungsübergang 38.2 ff. – Quotenvorrecht 38.15 Krankhafte Anlagen s. Schadensanlage Kreditaufnahme – Schadensminderungspflicht 25.108 Kreisverkehr – Sorgfaltspflicht 14.111 – Vorfahrt 14.190 Kreuzungsräumer – Haftungsverteilung 25.203 – Verhaltenspflichten 14.188 Kriegsopferversorgung – Regress des Versorgungsträgers 37.3 f.

Lackschaden 27.37 Ladebordwand s. Hubladebühne Ladegut s. Ladung Ladung – Anscheinsbeweis 41.123 – Beschädigung 16.5 ff., 22.13 ff. – Betriebsgefahr 3.144 – Entlastungsbeweis 3.351, 3.386 – Führerhaftung 14.66 f. – Haftungsverteilung 25.234 f. Landwirt – Erwerbsschaden 32.136 Langsam fahrende Kfz 22.4 ff. Laub – Verkehrssicherungspflicht 13.74 Leasing – Haltereigenschaft 3.200 – Zurechnung von Mitverschulden 25.28 Leasingfahrzeug – Haftungsschaden 27.92, 30.7 – Reparaturkosten 27.92 – Totalschaden 26.29 f., 28.9, 28.47 – wirtschaftlicher Totalschaden 27.91 Leasinggeber – Betriebsgefahr 25.91 Lebenspartner s. Ehegatte Leibesfrucht – Schädigung 3.40, 3.47, 21.4 Leibgeding 10.18 Leihe 16.29 ff. Leihwagen – Haltereigenschaft 3.196 ff.

Leitungsanlagen – Gefährdungshaftung 5.50 ff. Lenkzeitüberschreitung – Anscheinsbeweis 41.79 Lichtsignal – Schaltung 12.21 f. Lichtzeichen – Entlastungsbeweis 3.352 ff. – Fehler 13.119 – Mithaftung 13.178 – Fehlfunktion 18.2 ff. – grobe Fahrlässigkeit 35.128 – Haftungsverteilung 25.201 ff. – Linksabbieger – Haftungsverteilung 25.197 f. – Sorgfaltspflicht 14.129 ff. – Nachzügler 14.188 – Schutzzweck 11.40 – Verhaltenspflichten 14.186 ff. Liegenbleiben – Betrieb des Kfz 3.145 – Entlastungsbeweis 3.355 f. – grobe Fahrlässigkeit 35.126 – Sorgfaltspflicht 14.56 ff. Linienbus – Haftungsverteilung 25.161 – Sorgfalt des Fahrers 14.255 Linksabbiegen s. a. Lichtzeichen – Anscheinsbeweis 41.107 – Entlastungsbeweis 3.357 – Haftungsverteilung 25.185, 25.196 ff., 25.225 – Sorgfaltspflicht 14.103 ff., 14.115, 14.126 ff. Lohnfortzahlung s. Entgeltfortzahlung Lückenunfall 14.174, 14.197 – Entlastungsbeweis 3.391 – Haftungsverteilung 25.199, 25.220 Luftfahrzeug – Betrieb 5.41 ff. – Ersatzpflichtiger 5.44 – Haftung 5.40 ff. Luftzug – Betrieb des Kfz 3.146 Lugano-Übereinkommen 2.3 ff.

Mäharbeiten 13.118 Mähfahrzeug – Betriebsgefahr 3.121 Massenunfall – Haftungsverteilung 25.168 ff. – internationales Recht 2.28 – Regulierungsverfahren 25.168 Mehrspuriger Verkehr – Haftungsverteilung 25.182 1175

Stichwortverzeichnis Mieter – Haftungsschaden 30.7 – Vertragspflichten 16.25 f.; s. a. Autovermietung Mietwagen 28.11 ff. – angemessene Kosten 28.15, 28.33 ff., 28.39 – Aufklärungspflicht des Vermieters 28.36 ff. – Eigenersparnis 28.45 f. – Erforderlichkeit 28.12 f., 28.19 ff. – fiktive Abrechnung 28.16 – gewerbliche Nutzung 28.48 – Gleichwertigkeit 28.22, 28.41 – Haftungsfreistellung 28.43 – Haltereigenschaft 3.196 ff. – Mietdauer 28.23 ff. – von Privat 28.42 – Rechtsschutzversicherung 28.44 – Schadensminderungspflicht 28.14, 28.30 – zur Überbrückung 25.111 – Umfang der Nutzung 28.31 f. – Wahl des Vermieters 28.40 Minderjährige – Schuldfähigkeit 10.66 ff. Minderwert – merkantiler 27.80 ff. – technischer 27.79 Miteigentümer 21.3 Mitfahrer s. Beifahrer Mitgeführte Sachen – Haftungsausschluss 22.16 f. Mithaftung – Prinzipien 1.25 Mittelbare Schädigung 21.6 f.; s. a. 3.79 ff. Mitverschulden – bei Folgeschäden 25.5 – bei Schadensentstehung 25.1 ff., 25.16 ff. – Einzelfälle 25.38 ff. – bei Schadensumfang 25.6, 25.99 ff. – Schuldfähigkeit 25.24 ff. – bei Staatshaftung 25.22 – des unmittelbar Geschädigten 25.36 f. – Verschuldensbegriff 25.8, 25.18 ff. – Zurechenbarkeit 25.23 – Zurechnung von Fremdverschulden 25.27 Mitverursachung 3.100, 25.1 ff. – Abwägung 25.12 ff., 25.125 ff. – Beweislast 25.11 Mobiltelefon s. Elektronisches Gerät Monowheeler 3.14 Motorsport – Betrieb des Kfz 3.156; s. a. Autorennen Müllfahrzeug – Sonderrechte 14.207

1176

Nachlass

31.68 ff. Nachzügler – Haftungsverteilung 25.203 – Verhaltenspflichten 14.188 NATO-Truppenstatut 12.73 ff. – Verfahrenskosten 29.25 Naturalrestitution 20.23 ff., 26.4 f., 27.4 f. – Unmöglichkeit 20.33 f., 27.5 – Unverhältnismäßigkeit 20.36 – Unzulänglichkeit 20.35 Nebel – Entlastungsbeweis 3.360 Nebentäter 10.40 Neu für alt 26.6 Neurose 19.23 ff., 25.121 Neuwagen 27.14 – Beschaffung 26.18 Neuwertiges Kfz 27.15 ff. Nießbrauch – Haltereigenschaft 3.199 No-fault-Haftung 1.53 f. Normativer Schadensbegriff 20.4 f. Notarztdienst – haftende Körperschaft 12.57 – öffentliches Amt 12.50 Notstand – Abwehr 17.2 ff. – Rechtfertigungsgrund 10.46 Notwehr 10.46 Nutzlose Aufwendungen 20.13 ff. Nutztier 9.22 ff. Nutzungsausfallentschädigung 28.49 ff. – Anwendungsbereich 28.50 ff. – Bemessung 28.55 f., 28.60 – Eigenersparnis 28.61 – für Kraftfahrzeuge 28.57 ff. Nutzungsbeeinträchtigung 3.53, 10.14

Oberfläche des Verkehrswegs – Verkehrssicherungspflicht 13.61 f. Obus 3.17 Öffentlich-rechtliche Ersatzansprüche – Ausgleich 39.4, 39.15 – Grundlagen 18.1 ff. Ölspur – Entlastungsbeweis – für Verunglückten 3.361 – für Verursacher 3.305 – Verkehrssicherungspflicht 13.74 Omnibus s. Linienbus, Schulbus – Vorbeifahren 11.36 Operation – Schadensminderungspflicht 25.116 Opferentschädigungsgesetz 37.3

Stichwortverzeichnis Ordre public 2.36 f. Organspende 19.20

Panne

s. Liegenbleiben – Betrieb des Kfz 3.145 Panzer – Haftungshöchstbetrag 23.25 Parkbucht – Verkehrssicherungspflicht 13.141 Parken – Betrieb des Kfz 3.104 ff. – Führerhaftung 14.68 ff. Parkhaus – Verkehrssicherungspflicht 13.142 Parkplatz – Ausfahrt 14.142 – Ausparken 14.201 – Entlastungsbeweis 3.362 – Haftungsverteilung 25.223 – Streupflicht 13.85, 13.95 – Vorfahrt 14.147 Parkverbot – Schutzzweck 11.28 ff. Partei – persönliche Anhörung 41.6 – Vernehmung 41.30 ff. Partnervermittlung 32.52 Pedalbetrieb – Betrieb des Mopeds 3.150 Pedelec – Fahrzeugart 3.16 – Haftpflichtversicherung 14.4 Personenschaden 3.37 ff., 31.1 ff. Pferd – Führen 14.295 – Halterhaftung 9.28 Pferdegespann – Sorgfaltspflichten 14.293 f. Pflegeheim 32.41 Pflegekosten 32.11 Pflegeperson 32.40 Pflichtteil 31.74 Polizei – Amtspflicht 12.25 f. – Dienstfahrt 12.48 Polizeiliche Weisungen – Entlastungsbeweis 3.363 Poller – automatische 18.3 – Verkehrssicherungspflicht 13.70, 13.136 Privatgrund 3.59 Privatgutachten 41.26 Privatversicherer – Forderungsübergang 38.1 ff.

– Angehörigenprivileg 38.4 – Voraussetzungen 38.2 f. Probefahrt 22.60 ff. – Haltereigenschaft 3.194 Produktbeobachtung 6.25 f. Produkthaftung 6.1 ff. – Deliktische Haftung 6.21 ff. – Beweislast 6.31 ff. – Haftpflichtige 6.27 ff. – Gefährdungshaftung 6.2 ff. – Automatische Regelungssysteme 6.6 ff. – Haftpflichtige 6.12 – Haftungsausschluss 6.16 f. – Haftungsumfang 6.13 f. – Verjährung 6.20 Produktionsausfall 10.16 Prostituierte – Erwerbsschaden 32.126, 32.136 – vermehrte Bedürfnisse 32.52 Prozesskosten 29.23 Prozessvergleich 16.71 ff. Psychische Auswirkungen 3.43 ff. – Schmerzensgeld 33.7

Radfahrer

– – – – – – –

Abbiegen 14.272 f. Fahrbahnbenutzung 14.265 ff. Fahrtüchtigkeit 14.263 Fahrzeugbeherrschung 14.263 f. Gehwegbenutzung 14.146, 14.266 Geschwindigkeit 14.264 Haftungsverteilung – Unfall mit Fußgänger 25.267 – Unfall mit Kraftfahrzeug 25.249 ff., 25.260 – Unfall mit Radfahrer 25.266 – Unfall mit Tier 25.268, 25.270 – Pflichten gegenüber 14.216 ff. – Radwegbenutzung 14.265 – Überholen 14.269 f. – Vorbeifahren an Kfz 14.271 – Vorfahrt 14.274 Radfahrerverband 16.32 Radweg – Benutzungspflicht 11.11 – Fahrtrichtung 11.12 – Verkehrssicherungspflicht 13.88 – Vorfahrt 14.145 Räumfahrzeug – Entlastungsbeweis 3.365 Räumpflicht 13.75 ff. Reaktion – auf plötzliche Ereignisse 14.40 ff. – auf technische Störung 14.44

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Stichwortverzeichnis Rechnung – Vorlagepflicht 27.57 Rechtfertigungsgründe 10.46 ff. Rechtmäßiges Alternativverhalten 10.30 ff. Rechts vor links 14.179 ff. – Entlastungsbeweis 3.398 – Haftungsverteilung 25.210 ff. Rechtsabbiegen – Vorrang von Fußgängern 14.225 – Sorgfalt gegenüber Radfahrern 14.220 – Sorgfaltspflicht 14.108 ff. Rechtsanwaltskosten – Ersatzfähigkeit 29.14 ff. – Höhe 29.19 ff. Rechtsfahrgebot 14.114 f. – Entlastungsbeweis 3.366, 3.397 – Haftungsverteilung 25.186 ff. – Schutzzweck 11.10 Rechtsgutsverletzung 10.11 ff. Rechtskraft 40.40 ff. Rechtsmissbrauch 22.66 Rechtsverfolgungskosten 29.1 ff. Rechtswahl 2.18 ff. Rechtswidrigkeit 10.45 ff. Reflex 10.6 Regen – Entlastungsbeweis 3.367 Regress – Bindungswirkung des Haftungsurteils 39.34 – nach Bundesversorgungsgesetz 37.3 f. – zwischen Gesamtschuldnern 39.1 ff. – bei Gespann 39.2 f. – zwischen Halter und Führer 39.3 – des öffentlich-rechtlichen Dienstherrn 37.1 ff., 37.6 ff. – Angehörigenprivileg 37.23 – Beihilfe 37.11 ff. – Forderungsübergang 37.16 ff. – internationales Recht 37.26 – Kongruenz von Leistung und Schadensersatzanspruch 37.8 ff. – gegen öffentliche Körperschaft oder Bedienstete 37.24 – Quotenvorrecht 37.19 ff. – Verjährung 37.22 – Voraussetzungen 37.7 ff. – des Privatversicherers 38.1 ff. – bei Schuldnermehrheit 39.28 ff. – des Sozialleistungsträgers 36.1 ff. – Angehörigenprivileg 36.24 f. – Asylbewerber 36.10 – Befriedigungsvorrecht 36.22 – Forderungsübergang 36.13 ff. – Grundsicherung 36.5 ff.

1178



– –



– Kongruenz von Leistung und Schadensersatzanspruch 36.15 ff. – Kriegsopferfürsorge 36.11 – bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts 36.49 f. – Mehrheit von Leistungsträgern 36.26 – Prozessuales 36.28 f. – Quotenvorrecht 36.22 ff. – Sozialhilfe 36.5 ff., 36.14 ff. – Überleitung nach altem Recht 36.30 ff. – Verjährung 36.27 des Sozialversicherungsträgers 35.1 ff. – Abfindungsvergleich 35.57 ff. – Angehörigenprivileg 35.76 ff. – Befriedigungsvorrecht 35.75 – Bindungswirkung sozialrechtlicher Entscheidungen 35.95 f. – Forderungserlass 35.89 – Forderungsübergang 35.41 ff. – internationales Recht 35.97 – Kongruenz von Leistung und Schadensersatzanspruch 35.23 ff. – Leistungsende 35.85 f. – Mehrheit von Leistungsträgern 35.86 f. – Mitverschulden 35.54 ff., 35.67 ff. – Pauschalierung 35.51 – Prozessuales 35.90 ff. – Quotenvorrecht 35.64 ff., 35.71 ff. – Rechtskrafterstreckung 35.97 – Verjährung 35.83 f. – Versicherungsbeiträge 35.11 ff., 35.146 ff. – Voraussetzungen 35.6 ff. – Wechsel des Leistungsträgers 35.88 bei Störerhaftung 39.4 des Unfallversicherungsträgers 35.97 ff. – Bindungswirkung sozialrechtlicher Entscheidungen 35.111 – Forderungsübergang 35.140 ff. – grobe Fahrlässigkeit 35.113 ff. – Verhältnis zum Regress des Sozialversicherungsträgers 35.105 ff. – Verjährung 35.145 – Verzicht 35.144 – Voraussetzungen 35.110 ff. des Versorgungsträgers 37.3 ff. – Angehörigenprivileg 37.40 – Bindungswirkung ger Entscheidung des Versorgungsträgers 37.44 – Forderungsübergang 37.34 ff. – Kongruenz von Leistung und Schadensersatzanspruch 37.31 ff. – Prozessuales 37.43 f. – Quotenvorrecht 37.39 – Verjährung 37.42

Stichwortverzeichnis – Voraussetzungen 37.27 ff. Regulierungsverhalten – Einfluss auf Schmerzensgeld 33.30 Reifen – Platzen 3.306 – Profiltiefe – Halterhaftung 3.307 – Schutzzweck 11.52 – Überalterung 16.21 – Zustand – Führerhaftung 14.62 Reifenhändler – Verkehrspflicht 16.21 Reinigungskosten 30.15 Reise – Verhinderung 32.194 Reißverschlussprinzip 14.101 – Haftungsverteilung 25.179 Reiter – Verkehrsregeln 14.295 Rennveranstaltungen s. a. Autorennen – Haftpflichtversicherung 15.15 – Haftung des Veranstalters 13.163, 16.32 – Verkehrssicherungspflicht 13.163 – Vertragspflichten 16.32 Rente 34.1 ff. – Abänderungsklage 34.29 ff. – Forderungsübergang 34.20 – Grundurteil 34.26 – Haftungshöchstbetrag 23.14 – Klageantrag 34.8, 34.21 – Rechtskraftwirkung 40.46 – Sicherheitsleistung 34.24 f. – Steuer 34.12 – Vorauszahlung 34.23 – Wahlrecht 34.13 ff. Rentenkürzungschaden 35.157 Rentenneurose 19.24 Rentenversicherung – Nachteile 32.174 Renvoi 2.17, 2.29 Reparatur – in Eigenregie 27.49 ff. – fachgerecht 27.61 ff. – unvollständig 27.65 ff. – Verzicht 27.76 ff. Reparaturarbeiten – Betrieb des Kfz 3.170 – grobe Fahrlässigkeit 35.127 – Haltereigenschaft 3.201 Reparaturbestätigung 29.4 Reparaturkosten – Begrenzung 27.10 ff., 27.21 ff. – fiktive 27.35 ff.

– Höhe 27.45 ff., 27.61 ff. – Nachweis 27.56 f. Reparaturvertrag 16.11 ff. Reparaturwerkstatt – Haftung 14.307, 14.311 Reservefahrzeug 20.17 Restitutionsverzicht 27.76 ff. Restwert 26.15, 26.25, 27.72 ff. Rettungsdienst – öffentliches Amt 12.50 Rettungsmaßnahmen 17.6 ff. Richtgeschwindigkeit 3.272 – Entlastungsbeweis 3.338 – Haftungsverteilung 25.178 Risikoverlagerung 1.7 ff. Risikozuschlag 26.26 Rolltreppe – Verkehrssicherungspflicht 13.144 Rom-II-Verordnung 2.9, 2.15 ff. Rotlicht s. Lichtzeichen Rückgriff s. Regress Rückschaupflicht 14.104, 14.108 – Schutzzweck 11.25 Rückwärtsfahren – Anscheinsbeweis 41.116 f. – grobe Fahrlässigkeit 35.129 – aus Grundstück 14.199 – Haftungsverteilung 25.226, 25.228 – Schutzzweck 11.26 – Sorgfaltspflicht 14.48 ff. – Vorfahrt 14.176 Ruhender Verkehr – Betriebsgefahr 3.58 – Führerhaftung 14.68 ff. Ruhestand – vorzeitiger 32.169 ff.

Sachschaden 3.49 ff. – Gebrauchsentzug 28.1 ff. – reparabler 27.1 ff. – Totalschaden 26.1 ff. Sachverhaltsfeststellung 41.1 ff. Sachverständige 41.22 ff.; s. a. Gutachten Sachverständigenkosten 29.2 ff. – Abtretung 29.11 – Einwendungen 29.6 ff. Sachverständigenvertrag 16.22 Schachtdeckel – Verkehrssicherungspflicht 13.65 Schaden – bei anderweitigen Ersatzleistungen 21.8 – Begriff 20.1 ff. – Bemessung 20.1 ff. Schadensabwehrmaßnahme 25.86 1179

Stichwortverzeichnis Schadensabwicklung – Aufwand 29.27 ff. Schadensanlage 3.42, 20.9 ff.; s. a. Schadensbegünstigende Konstitution – Mitverschulden 25.57 Schadensbegünstigende Konstitution 19.27 ff., 20.12; s. a. Schadensanlage Schadensersatz 20.22 ff. Schadensfreiheitsrabatt 30.10 Schadensminderung – Aufwendungen 17.15 – Kosten 25.102 Schadensminderungspflicht 25.100 ff. Schadensregulierungsbeauftragter 2.8, 2.47, 15.71 Schadensverdacht 10.17 Schadensvorsorge 20.16 ff. Schadenteilungsabkommen s. Teilungsabkommen Schätzung 41.51 Scheinselbständigkeit 32.112 Schieben – Betrieb des Kfz 3.152 Schiedsgutachten 41.27, 41.137 Schienenbahn – Begriff 5.7 ff. – Betrieb 5.11 ff. – Haftungsausschluss 5.20 ff. – Haftungsverteilung – Unfall mit Fußgänger 25.262 – Unfall mit Kraftfahrzeug 25.236 ff. – Unfall mit Radfahrer 25.263 – Unfall mit Tier 25.264 – Unternehmer 5.18 f. Schienenfahrzeug – Geschwindigkeit 14.259 – Pflichten des Führers – gegenüber Kindern 14.260 – gegenüber Kraftfahrzeugverkehr 14.258 – gegenüber Radfahrer und Fußgängern 14.259 – Pflichten gegenüber 14.209 ff. – Überführungskosten 27.54 Schleppen – Betrieb des Kfz 3.153 – Drachenflieger 3.154 Schleudern – Anscheinsbeweis 41.108 – Haftungsverteilung 25.190 – Unabwendbarkeit 3.308 Schleudertrauma s. HWS-Verletzung Schlüssel – Abhandenkommen 3.250 – Überlassung 3.248 ff.

1180

– Verwahrung 3.246 f. Schmerzensgeld 33.1 ff. – Ausländer 33.34 – Bemessung 33.13 ff. – Beschwer 40.31 – Grundurteil 40.35 – Klageantrag 40.26 ff. – Mehrheit von Schädigern 33.40 – Mitverantwortung 33.19 f. – Rechtskraft 40.44 ff. – Rente 33.41 ff. – Teilbetrag 33.45 – Teilklage 40.19, 40.23 – Übertragbarkeit 33.4 – Vererbung 33.4 – Versäumnisurteil 40.30 – Voraussetzungen 33.6 ff. – Zinsen 33.46 Schnee – Entlastungsbeweis 3.368 – Verkehrssicherungspflicht 13.75 ff. Schock 3.43 ff. – Zweitunfall 3.162 Schranke – Verkehrssicherungspflicht 13.136 Schreckreaktion 3.85 ff. Schreckzeit 3.286 Schrittgeschwindigkeit 14.220 Schulbus – Sorgfalt des Fahrers 14.247, 14.254 Schuldanerkenntnis 16.47 ff. – abstraktes 16.48 ff. – deklaratorisches 16.52 ff. – nicht rechtsgeschäftliches 16.56 – urteilsersetzendes 16.55 – Verjährung 16.50, 16.55 – des Versicherungsnehmers 16.54 – Willensmangel 16.51 Schuldunfähigkeit 10.62 ff. Schule – Haftungsausschluss 22.144 ff. Schutzgesetz – Begriff 11.4 f. – Schutzzweck 11.6 ff. – Verletzung 11.1 ff. Schutzhelm – Motorradfahrer 25.59 ff. – Radfahrer 25.66 ff. Schutzkleidung 25.65 Schutzzweck – der Haftungsnorm 3.70, 10.29 – der Verhaltensnorm 11.6 ff. Schwarzfahrt 3.215 ff. Schwebebahn 5.10

Stichwortverzeichnis Seelische Beeeinträchtigungen s. Psychische Auswirkungen Segway 3.14 Seitenabstand 14.97 – Entlastungsbeweis 3.369 Sekundenschlaf – grobe Fahrlässigkeit 35.131 Selbstgefährdung 3.81 ff., 22.63 f., 25.41 ff. – des Mitfahrers 25.47 ff. Selbstreparatur 27.49 ff., 28.7 Selbstständiges Beweisverfahren 41.132 ff. Selbstüberschätzung 25.40 Serienunfall – Anscheinsbeweis 41.101 – Haftungsverteilung 25.168 ff. Sicherheitsabstand s. Abstand Sicherheitsgurt – Ausland 2.33 – Führerhaftung 14.63 – Mitverschulden 25.69 ff. – Schutzzweck 11.37 Sicherungsübereignung – Haltereigenschaft 3.195 Sichtbeeinträchtigung 3.98 Sichtbehinderung 13.112 f., 13.118, 13.146 Sichtfahrgebot 14.19 ff. Skateboards – Verkehrsregeln 14.290 f. Skater s. Inline-Skates Soldat – Dienstunfall – Haftungsausschluss 22.156 ff. Soldatenversorgung – Regress des Versorgungsträgers 37.3 f. Sonderrechtsfahrzeug – Betriebsgefahr 3.131 – Entlastungsbeweis 3.371 f. – Haftungsverteilung 25.200, 25.215 f. – Pflichten des Fahrers 14.202 ff. – Verhalten gegenüber 14.102, 14.202 ff. Sonderweg – Schutzzweck 11.44 Sorgfalt – wie in eigenen Angelegenheiten 10.57 – Maßstab 10.54 ff. Sozialhilfe – Übergang von Schadensersatzansprüchen 36.13 ff., 36.49 f. – Überleitung von Schadensersatzansprüchen 36.30 ff. Sozialversicherungsträger – Forderungsübergang s. Regress – Teilungsabkommen 15.55 ff.

Sozius – Führerhaftung 14.65 Spätfolgen – Feststellungsklage 40.16 f. – Rechtskraft 40.40 ff. – Schmerzensgeld 40.44 ff. Spediteur 16.6 ff. Spiegel 12.20, 13.155 Spiel 14.319 f. Sport 14.319 f. Spurwechsel – Entlastungsbeweis 3.324 – Haftungsverteilung 25.178 ff., 25.222 – Sorgfaltspflicht 14.98 ff. Staatshaftung 12.1 ff., 12.36 ff. – gegenüber Ausländern 12.55 – haftende Körperschaft 12.56 ff. Stall – Tierhalterhaftung 9.32 Standgeld 26.28 Steinbruch 5.59 Steine – Hochschleudern – Betrieb des Kfz 3.142 – Entlastungsbeweis 3.373 f. Steinschlag 13.118 – Entlastungsbeweis 3.375 Sterbegeld 31.15 ff. Steuernachteil 26.16 Strafprozess 29.23 Strafverfahren – Beiziehung von Akten 41.135 – Bindungswirkung 41.136 Straßenbahn s. auch Schienenbahn, Schienenfahrzeug – Ausschwenken 5.39 – Geschwindigkeit 5.38 – Sicherheitsabstand 5.35 – Vorrang 5.36 f. Straßenbaulast 12.29 Straßenroller 3.21 Streufahrzeug – Betriebsgefahr 3.121 – Entlastungsbeweis 3.377 Streupflicht 13.75 ff. Stromausfall 21.7 Stromleitungen – Gefährdungshaftung 5.51 ff. Stundung – Verjährung 24.87 f. Sturm – Entlastungsbeweis 3.378

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Stichwortverzeichnis Sturz – eines anderen Verkehrsteilnehmers – Entlastungsbeweis 3.379 – Anscheinsbeweis 41.87, 41.89, 41.127 ff. Subventionsrückzahlung 30.9

Tanken

– Betrieb des Kfz 3.170 Tankwagen – Entladen 3.118, 3.126 ff. – Gewässerverunreinigung 5.46 ff. Taxifahrer – Pflichten gegenüber Fahrgast 14.256 Taxikosten 28.13 Taxiunternehmer – Erwerbsschaden 32.136 Technischer Mangel – Anscheinsbeweis 41.83 f., 41.122 – von Bahnfahrzeug oder -anlage 5.34 – grobe Fahrlässigkeit 35.124 – des Kraftfahrzeugs 3.291 ff. – Haftung des Führers 4.34 – Mithaftung des Beifahrers 25.52 Technischer Überwachungsverein – Amtspflicht 12.28 Teilklage – offene 40.19 ff. – verdeckte 40.23 f. Teilungsabkommen 15.55 ff., 22.92, 35.59, 35.84 Teilurteil 40.38 f. Teilzahlung – als Anerkenntnis 24.37 Telematik-Systeme 41.47 Terrorakt s. Gewalttat mit Kfz Testamentsvollstrecker – Haltereigenschaft 3.209 Tier – Haftung für Tierverhalten 9.1 ff. – Haftungsverteilung – Unfall mit Kraftfahrzeug 25.246 ff. – Heilungsaufwand 27.33 f. – unter menschlicher Leitung 9.13 – mittelbare Kausalität 3.94 f. – Obhutspflichten 14.318 – Pflichten gegenüber 14.252 – Verlust 26.11 Tierhalter – Anrechnung der Tiergefahr 9.3 – Begriff 9.9 ff. – Entlastungsbeweis 9.21 ff. – Haftung 9.7 ff. – Mithaftung 9.5 f.

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Tierhüter – Anrechnung der Tiergefahr 9.4 – Auswahl 9.27 – Begriff 9.20 – Entlastungsbeweis 9.21 ff. – Haftung 9.19 ff. – Mithaftung 9.5 f. Totalreparation 20.1 f. Totalschaden 26.1 ff. – unechter 27.13 ff. – wirtschaftlicher 27.2 Tötung 3.38, 31.1 ff.; s. a. Vererbung von Ersatzansprüchen Touchscreen 14.38 Trauerkleidung 31.21, 31.27 Trauma 3.43 ff. Treibjagd 14.301 Treppe – Verkehrssicherungspflicht 13.149 Trunkenheit s. Alkohol Türöffnen s. Aussteigen

Überbrückungskosten 28.4 ff., 28.10 ff. Überflutung 13.151, 13.170 Überführung – der Leiche 31.23 Überführungskosten 27.54 Überholen – Anscheinsbeweis 41.106 f. – Ausscheren 14.90, 25.180 – Betriebsgefahr 3.160 – vor Einmündung 14.125 – Einscheren 14.93 – Entlastungsbeweis 3.383 ff. – bei Gegenverkehr 14.122 ff. – grobe Fahrlässigkeit 35.130 – Haftungsverteilung 25.183 f., 25.194 f. – von Kolonne 14.174; s. a. Lückenunfall – mehrerer Fahrzeuge 14.88 – Radfahrer durch Kfz – Entlastungsbeweis 3.370 – rechts 14.91 – Seitenabstand 14.94 – bei unklarer Verkehrslage 14.86 f., 14.125 – Verhalten des zu Überholenden 14.95 Überholverbot – Schutzzweck 11.21 Übermaßverbot 22.66 Übermüdung – grobe Fahrlässigkeit 35.131 Überwachungsmaßnahmen 41.47 Umsatzsteuer 27.52, 27.58 – fiktive 26.13, 26.21, 27.49

Stichwortverzeichnis – Leasingfahrzeug 26.29 – Vorsteuerabzug 26.22 f. Umschulung 32.60, 32.106 Unabwendbares Ereignis 3.267 ff. – für Bahnunternehmer 5.26 ff. – Beweisführung 3.312 ff. – für Führer des Kfz 3.284 ff. – für Halter des Kfz 3.281 ff. – Kausalität 3.269 ff. – körperliches Versagen 3.273 – plötzliche Gefahr 3.286 f. – Sorgfaltsmaßstab 3.273 ff. – Straßen- und Witterungsverhältnisse 3.288 – technischer Mangel 3.291 ff. – Verkehrssituationen 3.315 ff. – Vertrauensgrundsatz 3.289 – Zurechnung des Verhaltens Dritter 3.277 – Zurechnungszusammenhang 3.278 ff. Unbefugter Gebrauch – Haftung des Führers 4.30, 14.10 – Gefährdungshaftung 3.214 ff., 3.223 ff. – grobe Fahrlässigkeit 35.136 – Haltereigenschaft 3.211 f. – Haftung des Halters 14.6 f. – Schutzzweck 11.32 – Sicherung des Kfz gegen 3.242 ff., 14.10 – durch Vertrauensperson – Haftung des Halters 3.251 ff. – Haftungsbefreiung der Vertrauensperson 3.227 ff. Unbezifferter Klageantrag – Erwerbsschaden 32.135 ff. – Schmerzensgeld 40.26 ff. – Unterhaltsschaden 31.176 Unebenheiten – Verkehrssicherungspflicht 13.67 – Mithaftung 13.181 Unerlaubte Handlung s. Deliktische Haftung Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort – Schutzzweck 11.53 Unfall – absichtlich herbeigeführter 3.33 – Abwehrmaßnahmen 17.6 ff. – Beweis 3.35 ff. – fingierter s. Fingierter Unfall – Haftungsgrund 3.28 ff. – Nachricht 3.46 – weiterer 3.161 ff. Unfalldatenschreiber 41.47 Unfallersatztarif 28.15, 28.34 ff. Unfallgeräusch – Betriebsgefahr 3.166 Unfallhilfe 3.91, 17.17, 19.18 f.

Unfallstelle – Geschwindigkeit 14.28 Unfallverhütungsvorschrift 10.10, 11.5 Unfallversicherung 22.80 ff. Ungeborene s. Leibesfrucht Unterhaltsanspruch – bei Adoption 31.167 – bei Änderung der Verhältnisse 31.100 f., 31.163 ff., 31.170 – Beweis 31.171 – des Ehegatten 31.96 ff. – Berechnung 31.108 ff. – des ehelichen Kindes 31.138 ff. – Berechnung 31.148 ff. – Ende 31.157 ff. – für Familie 31.57 ff., 31.104 – Feststellungsklage 31.172 ff. – Forderungsübergang 31.65 f. – Klageantrag 31.176 – künftiger 31.60 ff. – bei Mehrheit von Berechtigten 31.64 – bei Mehrheit von Verpflichteten 31.51 ff. – des nicht ehelichen Kindes 31.154 f. – Schadensminderungspflicht 31.87 ff. – Steuerpflicht 31.93 f. – bei Tötung 31.31 ff. – Vorteilsausgleich 31.67 ff. – bei Wiederverheiratung 31.54, 31.164 f. Unterlassene Hilfeleistung – Schutzzweck 11.56 Unternehmer – Aufgabe der Tätigkeit 32.121 f. – Begriff 22.93 f. – Fehlleistungen 32.123 – Haftungsausschluss 22.84 ff. – Unfallversicherung 22.84 ff., 22.108 ff. – Verletzung durch Arbeitnehmer 22.130 f. Unterspülung 13.153 Untersuchung – Kosten 3.51 Untersuchungspflicht – des Reparateurs 16.12 – des Verkäufers 16.16 ff. UPE-Aufschläge 27.42 Urkundenbeweis 41.28 Urkundenvorlage 41.7 f., 41.29 Urlaubsbeeinträchtigung 28.63

Veranstaltungsbesuch

– Verhinderung 32.194 Verbotsirrtum 10.59 ff., 11.66 Verdacht – eines Schadens 10.17

1183

Stichwortverzeichnis Verdienstausfall s. Erwerbsschaden Vererbung von Ersatzansprüchen 31.1, 31.4 ff. Verfolgungsfahrt 3.88 ff. – Entlastungsbeweis 3.388 – Mitverschulden 25.45 Vergleich 16.58 ff. – Abänderung 16.65 ff., 16.69 ff. – Abfindung 16.61 ff. – Anfechtung 16.70 – durch Haftpflichtversicherer 16.60 – im Prozess 16.71 ff. – unzulässige Rechtsausübung 16.68 Verjährung 24.1 ff. – Altfälle 24.92 ff. – Beginn 24.3 ff. – Dauer 24.3 ff. – gesetzlicher Forderungsübergang 24.16 ff. – Hemmung 24.39 ff. – durch Anmeldung beim Haftpflichtversicherer 24.40 ff. – durch familienrechtliche Beziehungen 24.91 – durch höhere Gewalt 24.89 f. – durch Leistungsverweigerungsrecht 24.87 f. – durch Rechtsverfolgung 24.64 ff. – durch Verhandlungen 24.51 ff. – Neubeginn 24.31 ff. – Rechtsmissbrauch 24.103 ff. – Vereinbarungen 24.97 ff. – Verzicht 24.99 ff. Verkäufer – Prüfpflichten 14.310 Verkaufserlös 30.8 Verkehrsberuhigende Maßnahmen – Verkehrssicherungspflicht 13.69 f. Verkehrsberuhigter Bereich – Ausfahrt 14.142 Verkehrsopferhilfe 15.72 ff. Verkehrspflicht 10.8 ff. Verkehrsregelungspflicht 12.17 ff. Verkehrsrichtiges Verhalten 10.50 Verkehrssicherungspflicht 13.1 ff. – Amtspflicht 12.24, 13.2 ff. – Angrenzende Grundstücke 13.111 ff. – Anlage des Verkehrswegs 13.55 f. – Anlieger 13.28, 13.113 ff. – Anscheinsbeweis 41.131 – Bauliche Beschaffenheit des Verkehrswegs 13.57 ff. – Baustellen 13.25, 13.101 ff. – Beweislast 13.10 ff. – Eilzuständigkeit 13.17 – Feld- und Waldwege 13.20 – Gefahrverursacher 13.29

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– Haftungsausschluss 13.9 – Haftungsumfang 13.6 ff., 13.31 ff. – Inhalt 13.46 ff. – Kausalität 13.11 – Kreuzungen 13.22 – Mithaftung 13.164 ff. – Organisationsform 12.44 – Organisationspflicht 13.52 – Private Verkehrsflächen 13.21 – Räumliche Grenzen 13.39 ff. – Sondernutzungsberechtigte 13.27 – Straßen 13.18 ff. – Träger 13.14 ff. – Übertragung 13.15 f. – Überwachungspflicht 13.51 – Umleitungen 13.23 – Verkehrsberuhigende Maßnahmen 13.69 f. – Verkehrsunternehmen 13.26 – Warnpflicht 13.46 ff. – Zustandsveränderungen 13.24 Verkehrsunfall s. a. Unfall – Statistik 1.2 ff. Verkehrsverbot – Schutzzweck 11.45 Verkehrszeichen – Anbringung 12.19 ff. – Umfallen 13.156 Verletzter – Aktivlegitimation 21.1 ff. Vermächtnis 31.74 Vermehrte Bedürfnisse 32.32 ff. – Abfindung 32.39 – fiktive Aufwendungen 32.54 f. – Forderungsübergang 32.56 – Rente 32.38 – Vorschuss 32.37 Vermeidbarkeit 10.23 Vermieter – Haftung für Fahrzeugmängel 16.23 f.; s. a. Autovermietung Vermögensfolgeschäden 28.62, 30.1 ff. Vermögensschaden 20.2 ff. Verpfändung – Haltereigenschaft 3.195 Verrichtungsgehilfe – Auswahl 7.16 ff. – Beaufsichtigung 7.21 ff. – Beschaffung von Vorrichtungen 7.25 – Gesamtschuldnerausgleich 39.7 – Haftung des Geschäftsherrn 7.1 ff. – Entlastungsbeweis 7.15 ff. – Zurechnung von Mitverschulden 25.31 Versagen einer Vorrichtung 3.291 ff. Verschlimmerung 19.22, 19.27

Stichwortverzeichnis – Verletzungsfolgen 3.41 Verschmutzung des Verkehrswegs s. Verunreinigung Verschulden 10.51 ff. – bei Amtshaftung 12.33 ff. – Ausschluss 10.59 ff. – bei Schutzgesetzverletzung 11.62 ff. Versorgungsfall 22.157 f. Vertragliche Haftung 16.1 ff. Vertragsstrafe 28.62 Vertrauensgrundsatz 10.54, 14.12 – gegenüber Fußgängern 14.229 ff. – gegenüber Kindern 14.243 ff. – unabwendbares Ereignis 3.289 – Vorfahrt 14.162 f., 14.171 ff., 14.179 Verunreinigung 30.15; s. a. Ölspur – als Beschädigung 3.51 f. – Betriebsgefahr 3.167 – Entlastungsbeweis 3.389 – von Gewässer 5.46 ff. – Schutzzweck 11.39 – Verkehrssicherungspflicht 13.71 ff. – Mithaftung 13.171 Verwahrkosten 26.28 Verwaltungshelfer 12.39 f. Verweisungsprivileg 12.60 ff. Verwirkung 24.108 Verzicht s. Ersatzkraft, Haftungsverzicht, Hinterbliebene, Reparatur, Verjährung, Vorfahrt Verzögerung – der Schadensbeseitigung 25.112 Videoaufzeichnung 41.47 Vieh s. Weidetiere – Führen, Treiben 14.296 Viehherde – Entlastungsbeweis 3.380 – Pflichten gegenüber 14.252 Vorbeifahren – an Arbeitsfahrzeug 14.33 – an Hindernis – Haftungsverteilung 25.191 – an Kolonne 14.29, 14.31, 14.174; s. a. Lückenunfall – Entlastungsbeweis 3.391 – an Linienbus 14.32, 14.228 – an stehendem Fahrzeug – Entlastungsbeweis 3.390 Vorfahrt – Anscheinsbeweis 41.109 ff. – Verhalten des Berechtigten 14.171 ff. – Beschilderung mangelhaft 14.158, 14.183 ff. – Entlastungsbeweis 3.392 ff. – Geltungsbereich 14.137 ff. – Abbiegestreifen 14.150

– Anderer Straßenteil 14.141 – Beschleunigungsstreifen 14.154 f. – Einmündungsbereich 14.148 f., 14.151 ff., 14.156 f. – Gehweg 14.146 – Grundstücksausfahrt 14.140 – Mittelstreifen 14.149 – Nebenweg 14.138 f. – Parkplatz 14.147 – Parkplatzausfahrt 14.142 – Plätze 14.147 – Radweg 14.144 f. – Verkehrsberuhigter Bereich 14.142 – grobe Fahrlässigkeit 35.133 – Haftungsverteilung 25.204 ff. – rechts vor links 14.179 ff. – Vertrauensgrundsatz 14.162 f., 14.171 ff., 14.179 – Verzicht – Entlastungsbeweis 3.400 – Haftungsverteilung 25.224 – Sorgfaltspflicht 14.178 – Verhalten des Wartepflichtigen 14.159 ff. Vorsatz 10.52 Vorsätzliche Schädigung – Betriebsgefahr 3.168 f. – Haftpflichtversicherung 15.15 Vorschaden 27.87 ff. Vorsorgeaufwendungen 20.16 ff. Vorsteuerabzug 26.22 f. Vorteilsausgleich 20.19 – bei Erwerbsschaden 32.85 ff., 32.129 ff. – Heilungskosten 32.24 f. – bei Mietwagen 28.17 – bei Schadensminderung 25.104 – bei Tötung 31.27 ff. – bei Unterhaltsersatz 31.67 ff.

Wahlfeststellung 25.153 Wald – Verkehrssicherungspflicht 13.116 Waldweg – Haftungsverteilung 25.213 – Vorfahrt 14.138 Warnblinklicht – Einsatz 14.37, 14.50, 14.56 – Reaktion 14.28, 14.228, 14.246 Warnpflicht 13.46 ff. Warnungspflicht 25.105 ff. Wartung – des Kraftfahrzeugs – Betrieb 3.170 – Verantwortung 14.60 – Werkstattpflicht 14.308, 16.12 1185

Stichwortverzeichnis Waschanlage – Betrieb des Kfz 3.171 Wasserleitungen – Gefährdungshaftung 5.54 ff. Wegerecht s. Sonderrechtsfahrzeug Wegeunfall 22.85, 22.116 ff., 22.135 ff., 22.150 f. Weidetiere – Halterhaftung 9.31 – Verkehrssicherungspflicht 13.160 Wenden – Anscheinsbeweis 41.115 – grobe Fahrlässigkeit 35.134 – Haftungsverteilung 25.227 f. – Sorgfaltspflicht 14.53 Werbeanlage – Verkehrssicherungspflicht 13.117, 13.161 Werkstattverschulden 27.48 Werksverkehr 22.121 Wertminderung 27.79 Wertsteigerung 27.85 ff. Widerklage 40.9 ff. Widerrechtlichkeit 10.45 ff. Wiederbeschaffungskosten 26.4 ff., 26.13, 26.17 ff. Wildunfall 9.2 – grobe Fahrlässigkeit 35.135 Wildwechsel – Entlastungsbeweis 3.401 – Verkehrssicherungspflicht 13.162 Winkzeichen 14.301, 16.3 Wirtschaftlichkeitsgebot 27.10 ff., 27.39 ff., 27.47

1186

Wohnung – behindertengerechter Ausbau 32.42 – Wechsel 32.43

Zeitverlust 29.24, 30.14 Zeugen 41.18 ff. – Glaubwürdigkeit 41.43 Zinsen 30.16 Zugewinnausgleich 31.76 Zukunftsschäden 34.4 ff., 40.16 f. – Kapitalabfindung 34.5 ff. Zulassen des Fahrens ohne Haftpflichtversicherung – Schutzzweck 11.57 Zulassung – des Anhängers 3.27 – des Kraftfahrzeugs 3.22 – Schutzzweck 11.48 ff. Zulassungsstelle – Amtspflicht 12.27 Zurechnungseinheit 25.146 f. Zurechnungszusammenhang – Betrieb des Kfz 3.67 ff. – Haftungsausfüllung 19.1 ff. – unerlaubte Handlung 10.21 ff. Zurückstufung 30.10 f. Zuständigkeit – international 2.5 ff., 40.5 – örtlich 40.1 ff. Zwangsvollstreckung – Haltereigenschaft 3.208 Zweithandzuschlag 26.26 Zweitunfall s. Folgeunfall