Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit [1 ed.] 9783428513444, 9783428113446

Der Autor widmet sich einer einzigartigen Haft- und Festnahmeregelung. Mit § 127b StPO ist zum ersten Mal in der Geschic

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Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit [1 ed.]
 9783428513444, 9783428113446

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Schriften zum Prozessrecht Band 193

Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit Von Joachim Friedrich Giring

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

JOACHIM FRIEDRICH GIRING

Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit

Schriften zum Prozessrecht Band 193

Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO im Spannungsfeld von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit Von Joachim Friedrich Giring

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität des Saarlandes hat diese Arbeit im Jahre 2002 / 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-11344-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Geist und Charakter eines Strafprozeßrechts sind ganz wesentlich abhängig davon, wie es zur Frage der Verhaftung steht.“ Eberhard Schmidt

Vorwort Vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2002/2003 von der Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes als Dissertation angenommen. Ganz besonders danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h. c. Heike Jung. Sein Sinn für Zusammenhänge hat mein Interesse im Laufe des Entstehens der Arbeit viele Male von Neuem geweckt und mich für die Thematik begeistert. Er war im besten Sinne des Wortes Ratgeber. Seine fachliche und auch persönliche Unterstützung in den knapp drei Jahren, in denen ich wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl war und die Arbeit berufsbegleitend schrieb, waren für mich über die Fertigstellung der Dissertation hinaus prägend. Viel Dank gilt zudem Prof. Dr. Henning Radtke. Er hat nicht nur das Zweitgutachten erstellt. Mit seiner steten Gesprächsbereitschaft war er ein guter Rückhalt. Seine Anmerkungen und Hinweise – insbesondere zum beschleunigten Verfahren – haben mir neue Perspektiven aufgezeigt. Der Landesgraduiertenstiftung und der Vereinigung der Freunde der Universität des Saarlandes e.V. möchte ich für ihre Unterstützung ebenfalls danken. Rechtsprechung und Literatur sind weitgehend bis Mitte 2003 aktualisiert. Soweit ersichtlich, ist seither weder in verfassungs- noch in menschenrechtlichem, noch prozessdogmatischem oder -kulturellem Kontext grundlegend Neues untersucht und weiterentwickelt worden, was in der hier vertretenen eigenen Lesart einer weiteren argumentativen Auseinandersetzung bedurft hätte. Saarbrücken, im März 2005

Joachim Giring

Inhaltsübersicht Einführung Verfassungsrechtlicher, strafprozessualer und (kriminal-)politischer Rahmen 1. Abschnitt: § 127 b StPO im Kontext von Effektivität und beschleunigtem Verfahren . .

23

2. Abschnitt: § 127 b StPO in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

3. Abschnitt: Bedenken gegen die Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

4. Abschnitt: Ziel, Methode und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1. Kapitel Der historische Hintergrund des § 127 b StPO 1. Abschnitt: Überblick über Haft und Festnahme seit Inkrafttreten der RStPO . . . . . . . . .

54

2. Abschnitt: Historisch begründete Schlussfolgerungen und erste Mahnungen . . . . . . . . .

96

2. Kapitel Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO 1. Abschnitt: Die materiellen Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft und das Verhältnis zu den §§ 112, 112 a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Abschnitt: Die formellen Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls . . . . . . . 196 3. Abschnitt: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. Kapitel Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO 1. Abschnitt: Zur prinzipiellen Legitimation des §127 b StPO und ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Abschnitt: Die Prüfung der einschlägigen Grundrechte, Menschenrechte und Rechtsstaatsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

10

Inhaltsübersicht Schluss Zusammenfassung – mit Ausblick

1. Abschnitt: Konkrete Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Abschnitt: (Rechtspolitischer) Ausblick und der Vorschlag, §127 b StPO zu streichen . . 409 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462

Inhaltsverzeichnis Einführung Verfassungsrechtlicher, strafprozessualer und (kriminal-)politischer Rahmen

23

1. Abschnitt: § 127 b StPO im Kontext von Effektivität und beschleunigtem Verfahren . .

23

2. Abschnitt: § 127 b StPO in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

3. Abschnitt: Bedenken gegen die Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

4. Abschnitt: Ziel, Methode und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1. Kapitel Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

54

1. Abschnitt: Überblick über Haft und Festnahme seit Inkrafttreten der RStPO . . . . . . . . .

54

A. Allgemeine und spezielle Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. (Wiederkehrende) Kritik am Haftrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Haftgründe und ausgesuchte Haftregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die RStPO von 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Gesetzgebung nach 1945 und das Wiederherstellungsgesetz von 1950 . . . . . V. Das Strafprozessänderungsgesetz von 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. 1972 und die Folgezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 72 76 82 84 90

2. Abschnitt: Historisch begründete Schlussfolgerungen und erste Mahnungen . . . . . . . . .

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2. Kapitel Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

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1. Abschnitt: Die materiellen Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft und das Verhältnis zu den §§ 112, 112 a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 A. Die Konzeption des Haftgrundes nach § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . 104 B. Das Verhältnis zwischen Haft aufgrund § 127 b StPO und aufgrund §§ 112, 112 a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

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Inhaltsverzeichnis

C. Die generelle Kritik an den Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 D. Dringender Tatverdacht im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Probleme der Strafbarkeitsprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stellungnahme und nötig erscheinende Hervorhebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Kritik am Begriff „dringender Tatverdacht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätze und Orientierungen an § 112 Abs. 1 S. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO wahrscheinliche und unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis zwischen § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO und dem dringenden Tatverdacht gemäß Abs. 2 S. 1 1. HS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wahrscheinlichkeitsprognose gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . 1. Bezugspunkt: Verurteilung im beschleunigten Verfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bezugspunkt: Einzelne Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO? . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bezugspunkt: Objektive Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens? . . . . IV. Die Subjektivierung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO durch die „Erwartung“ der Hauptverhandlung gemäß Abs. 2 S. 1 2. HS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Konkretisierung der „unverzüglichen Entscheidung“ gemäß § 127 b StPO Abs. 1 Nr. 1 StPO durch Abs. 2 S. 1 2. HS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Begriff „unverzügliche Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme zur Berechnung der Wochenfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu den organisatorischen Voraussetzungen einer „unverzüglichen Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die „Entscheidung im beschleunigten Verfahren“ gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Geeignetheit der Sache gemäß § 417 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Generelle Kritik an der „Geeignetheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kriterien eines „einfachen Sachverhalts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kriterien einer „klaren Beweislage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Geeignetheit der Sache „im weiteren Sinne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Begrenzungen gemäß § 419 Abs. 1 S. 2, 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Fälle der Ungeeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Vorrang anderer Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Einstellung wegen Geringfügigkeit gemäß § 153 StPO . . . . . . . . . . cc) Zum Absehen von Strafe gemäß § 153 b StPO und zum Täter-OpferAusgleich gemäß § 46 a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zur Einstellung nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen gemäß § 153 a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zum Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 ff. StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Der „sachliche“ Anwendungsbereich der Hauptverhandlungshaft . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ansichten des Gesetzgebers und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Delikte, Rechtsfolgen, Optionen/Stellungnahme zum „sachlichen“ Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Fazit zu § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 113 114 115 118 118 119 123 123 124 125 125 126 128 129 130 130 132 134 136 136 136 139 141 143 143 144 144 144 146 148 150 153 156 156 157 161

Inhaltsverzeichnis F. Die Befürchtung aufgrund bestimmter Tatsachen, dass der Festgenommene gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO der Hauptverhandlung fernbleiben wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Befürchten“ im Vergleich zu „Gefahr“ gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO . . . . . . . . 1. Die Ansichten der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übereinstimmungen zwischen „Gefahr-“ und „Befürchtungsprognose“ . . b) Kritik an den genannten Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Bestimmte Tatsachen“ als Prognosegrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Feststellung“ contra „Unmöglichkeit der Feststellung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das „Fernbleiben“ von der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fernbleiben als „passiver Ungehorsam“ und „aktive Handlung“ . . . . . . . . . . . . . 2. Die subjektive Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Relevanz des Verschuldens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Tatsachen, die ein Fernbleiben befürchten lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Fernbleibevorbereitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Straferwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutung aktuellen, ein- und mehrmaligen Ausbleibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Persönliche und soziale Verhältnisse/ Stellungnahme zum „persönlichen“ Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wohnsitz, Aufenthaltsort, Beruf, Familie und wirtschaftliche Verhältnisse b) Zur Ausländereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit zu § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 162 162 163 163 166 166 167 171 173 173 175 178 178 180 180 181 181 182 185 188 188 192 195

2. Abschnitt: Die formellen Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls . . . . . . . 196 A. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 B. Die Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls nach § 127 b Abs. 3 StPO/ „Personalunion“ und „Soll-Vorschrift“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 C. Das Haftbefehlsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das verfahrensrechtliche Verhältnis zu den Festnahmerechten nach §127 b Abs. 1 StPO und § 127 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Vorführung und Vernehmung des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nach vorläufiger Festnahme gemäß §§ 128, 129 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nach Ergreifung durch Haftbefehl gemäß §§ 115, 115 a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bekanntgabe des Haftbefehls gemäß §114 a StPO und Benachrichtigung von Angehörigen gemäß 114 b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Außer- und Wiederinvollzugsetzung gemäß § 116 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Strafantrag, Ermächtigung und Strafverlangen gemäß § 130 StPO . . . . . . . . . . . . . . VII. Ausschreibung zur Festnahme gemäß § 131 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200 200 201 202 202 203 204 204 206 207 207

D. Die Befristung des Haftbefehls gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 E. Form und Inhalt des Haftbefehls gemäß § 114 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

14

Inhaltsverzeichnis

3. Abschnitt: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 A. § 127 b Abs. 1 StPO als eine „über § 127 StPO hinausgehende“ Festnahmeregelung . . 211 B. Die formellen Voraussetzungen/Entsprechungen zu § 127 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . 212 C. Die materiellen Voraussetzungen des Festnahmerechts nach § 127 b Abs. 1 StPO . . . I. Die Hauptstreitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erfordernis „Gefahr im Verzug“? Entsprechung zwischen § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 Abs. 2 StPO „in der Sache“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erforderlichkeit der materiellen Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. „Betroffene oder Verfolgte“ als Kreis der Festzunehmenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die „frische Tat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Festnahmevoraussetzungen gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO . . . . .

214 214 215 217 220 221 224

D. Fazit zum Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

3. Kapitel Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

231

1. Abschnitt: Zur prinzipiellen Legitimation des §127 b StPO und ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 A. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 B. Die Legitimationsansätze des Gesetzgebers und der Meinungsstand in der Literatur 233 C. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege/Versuch einer Stellenwertbestimmung . . I. Überblick über die Herleitung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundlage einer Stellenwertbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grund- und Menschenrechte als „gleichmäßig“ individual- und allgemeinschützend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Grund- bzw. Menschenrecht auf Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Argumente für Individualvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bzw. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorläufiges Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Rechtsprechung zur Funktionstüchtigkeit im Kontext der Verfahrensziele . . 1. Herleitung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auseinandersetzung mit der Kritik an der Begrenzung von Beschuldigteninteressen durch das Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Wahrheit als allgemeine Topoi . . . . . . . . . . . . . a) Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237 237 239 239 243 246 250 253 255 255 257 262 262 263 265

Inhaltsverzeichnis

15

IV. Zusammenfassendes Urteil über den Stellenwert der Funktionstüchtigkeit und Konsequenzen für die weitere Prüfung der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 D. Die Sicherung der Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anwesenheitsrecht und Anwesenheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwesenheit und Wahrheitserforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das nähere Verhältnis von Anwesenheit zu Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Prävention und erzieherische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die primäre Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. BVerfGE 19, 342 ff. und BVerfGE 35, 185 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beurteilung des präventiven und erzieherischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Folgerungen aus der Unschuldsvermutung gemäß Art.20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG für den präventiven und erzieherischen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272 272 276 278 280 281 281 284 286 286 290

F. Ergebnis der Legitimationsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Abschnitt: Die Prüfung der einschlägigen Grundrechte, Menschenrechte und Rechtsstaatsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 A. Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzbereich und Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prüfung der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorführung des Beschuldigten gemäß § 230 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Verdächtigten gemäß § 232 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anordnung einer Sicherheitsleistung gemäß §§ 127 a, 132 StPO . . . . . . . . . . d) Strafbefehl nach Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 408 a StPO . . . . e) Elektronisch überwachter Hausarrest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problematik der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mögliche Wirkungen von Art. 1 Abs. 1, 19 Abs. 2, 20 Abs. 3, 79 Abs. 3, 104 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigentliche Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wesentliche Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhältnisse des Beschuldigten, Effektivität, öffentliches Interesse, Bedeutung der Sache, Rechtsfolgenerwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unanwendbarkeit des § 127 b StPO in mindergewichtigen Fällen . . . . III. Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlagen, Inhalt und Bedeutung des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu den Gefahren antizipierter Schuldvorhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gefahr aufgrund dringenden Tatverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefahr aufgrund der Beziehung zum beschleunigten Verfahren . . . . . . . . . .

292 292 296 296 298 298 299 303 305 309 311 313 313 317 321 321 323 327 332 332 338 338 340

16

Inhaltsverzeichnis 3. Zu den Gefahren antizipierter Strafwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Reisende Straftäter“, „Gewalttäter“ etc. als Termini unzulässiger Verfahrenssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Flexibilität versus Kontrollierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidung für die Bestimmtheit/Gefahren der weiten Interpretierbarkeit . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Willkürformeln“ des Bundesverfassungsgerichts mit Komponenten der Gleichheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zum Vorwurf der Systemwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zum Vorwurf der Systemlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zum Vorwurf der Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Diskussion in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bedeutungsinhalt des Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Waffengleichheit als Mindeststandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Möglichst wirksame Verteidigung“ als Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Stellungnahme zu konkreten Spannungsfeldern zwischen § 127 b StPO und dem Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342 345 350 350 350 354 356 357 357 361 363 365 368 368 370 370 372 376 382

Schluss Zusammenfassung – mit Ausblick

391

1. Abschnitt: Konkrete Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 A. Zur Systematik des § 127 b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 B. Zu den Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dringender Tatverdacht gemäß Abs. 2 S. 1 1. HS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die gemäß Abs. 1 Nr. 1 wahrscheinliche und unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Befürchtung aufgrund bestimmter Tatsachen, dass der Festgenommene gemäß Abs. 1 Nr. 2 der Hauptverhandlung fernbleiben wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die formellen Voraussetzungen des Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

392 392 393 394 396

C. Die Festnahmevoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 D. Zur Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anwesenheitssicherung und (ein Minimum an) Effektivität als verfassungsgemäße Legitimationsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prävention und Erziehung als verfassungswidrige Legitimationsgründe . . . . . . . . . III. Die eingeschränkte Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit einschlägigen Grundrechten, Menschenrechten und Rechtsstaatsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur (eingeschränkten) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

397 397 400 401 401

Inhaltsverzeichnis 2. 3. 4. 5.

Zur Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Art. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 404 405 406 406

E. Die „Ineffektivität“ des § 127 b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 2. Abschnitt: (Rechtspolitischer) Ausblick und der Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen 409 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462

2 Giring

Abkürzungsverzeichnis a. a. O. Abs. Abschn. AcP a. E. AE-EV a. F. AG AK Alt. Anl. Anm. AnwBl. AöR ARSP Art. AT Aufl. BayObLG BayPAG BayVBl. Bd. begr. Beschl. BewHi BGBl. BGH BGHSt BGHZ BK BRAK BRAK-Mitt. BR-Drucksache BSHG BT-Drucksache BT-PlPr BVerfG BVerfGE BVerfGG

am angegebenen Ort Absatz Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis am Ende Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens alte Fassung Amtsgericht Reihe Alternativkommentare Alternative Anlage Anmerkung Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Allgemeiner Teil Auflage Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerisches Polizeiaufgabengesetz Bayerisches Verwaltungsblatt Band begründet Beschluss Bewährungshilfe Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bonner Kommentar Bundesrechtsanwaltskammer BRAK-Mitteilungen Bundesratsdrucksache Bundessozialhilfegesetz Bundestagsdrucksache Bundestags-Plenarprotokoll Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz

Abkürzungsverzeichnis BVerfG-K BVerwGE BWPolG CPP DAR DAV dems. dens. ders. d. h. dies. Diss. DJ DJZ DRiZ DRpfl DStZ DVBl DVJJ ed. éd. EGGVG EGMR EGMRE EGStPO Einf. Einl. EMRK Erl. EStG EuGH EuGHE EuGRZ f. ff. FG FN FR FS GA gem. GG GS GVG 2*

19

Bundesverfassungsgericht – Kammerbeschluss Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Baden-Württembergisches Polizeigesetz Code de procédure pénale Deutsches Autorecht Deutscher AnwaltVerein demselben denselben derselbe das heißt dieselbe(n) Dissertation Deutsche Justiz Deutsche Juristen-Zeitung Deutsche Richterzeitung Der Deutsche Rechtspfleger Deutsche Strafrechts-Zeitung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. Edition/edited édition Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung Einführung Einleitung Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Erläuterung(en) Einkommensteuergesetz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende fortfolgende Festgabe Fußnote Frankfurter Rundschau Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht gemäß Grundgesetz Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz

20 Habil.-Schr. Hb. HK h. M. Hrsg./hrsg. HS i. a. R. i. d. R. i. d. S. i. S. d. i. S. v. i.V. m. JA JGG JR jun. Jura JuV JW JZ Kap. KG KJ KK KMR KrimZ LehrK lit. Lit. LPK LR MBl. MdB MDR MschrKrim m. w. N. m. z. w. N. NJ NJW NK Nr. NStZ NStZ-RR NVwZ ÖJZ OLG öStPO

Abkürzungsverzeichnis Habilitations-Schrift Halbband Heidelberger Kommentar herrschende Meinung Herausgeber/herausgegeben Halbsatz in aller Regel in der Regel in diesem Sinne im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit Juristische Ausbildung Jugendgerichtsgesetz Juristische Rundschau junior Juristische Ausbildung Justiz und Verwaltung Juristische Wochenschrift Juristen Zeitung Kapitel Kammergericht Kritische Justiz Karlsruher Kommentar Kommentar zur Strafprozessordnung Kriminologische Zentralstelle e. V. Lehrkommentar litera Literatur Lehr- und Praxiskommentar Löwe-Rosenberg Ministerialblatt Mitglied des Bundestages Monatsschrift für Deutsches Recht Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit weiterem(n) Nachweis(en) mit zahlreichen weiteren Nachweisen Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Neue Kriminalpolitik Nummer Neue Strafrechtszeitung Neue Strafrechtszeitung – Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Österreichische Juristen-Zeitung Oberlandesgericht österreichische Strafprozessordnung

Abkürzungsverzeichnis OWiG p. RA-Pr Rdn. Red. RGBl. RGSt RhJ RICPT RiStBV Rspr. RStGB RStPO RZ S. SachsPolG sen. SK s. o. sog. Sp. st. StGB StPO StraFo StrEG StV StVÄG StVG StVollzG StVRG SZ SZfStr taz Tb. teilw. u. a. Univ. Urt. v. VGH vgl. VO vol. Vor/Vorb. wistra WRV

21

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten page Rechtsausschuss-Protokoll Randnummer(n) Redaktion Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Rechtshistorisches Journal Revue Internationale de Criminologie et de Police Technique Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Rechtsprechung Reichs-Strafgesetzbuch Reichs-Strafprozessordnung Rhein-Zeitung Satz/Seite Polizeigesetz des Freistaates Sachsen senior Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung siehe oben so genannte(s, n) Spalte ständig(e, r) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafverteidiger-Forum Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Strafverteidiger Strafverfahrensänderungsgesetz Straßenverkehrsgesetz Strafvollzugsgesetz Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts Süddeutsche Zeitung Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht tageszeitung Teilband teilweise unter anderem/und andere Universität Urteil(e) vom Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung volume Vorbemerkungen Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Weimarer Reichsverfassung

22 ZAP z. B. ZEE ZfJ ZfRV ZfSR ZfStrVo Ziff. ZNR ZRP ZStW zugl.

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Einführung

Verfassungsrechtlicher, strafprozessualer und (kriminal-)politischer Rahmen 1. Abschnitt

§ 127 b StPO im Kontext von Effektivität und beschleunigtem Verfahren Die Medien informieren täglich, dass und wie die Idee von Effektivität in sämtliche Bereiche staatlichen Handelns Einzug hält. Effektivierung zielt darauf ab, den Staat zu „modernisieren“, zu „reduzieren“, zu „orientieren“, zu „standardisieren“, zu „optimieren“. Was das Strafverfahrensrecht angeht, hat Effektivität, hat Effizienz – oder nochmals anders genannt –, hat Funktionstüchtigkeit über die letzten 25 bis 30 Jahre hinaus Konjunktur. Die Begriffe stehen für eines der am meisten beachteten Themen rechtspolitischer und auch strafprozessual-verfassungsrechtlicher Diskussion. Die Regelung des § 127 b StPO gehört in diesen Diskussionszusammenhang und nimmt darin einen ganz eigenen Platz ein. Durch die Norm wurde zum ersten Mal in der Geschichte der StPO eine Ermächtigung zur Inhaft- und Festnahme eines Verdächtigen unmittelbar an eine besondere Verfahrensart geknüpft. Gemäß § 127 b Abs. 1 StPO sind die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes zur vorläufigen Festnahme eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten befugt, wenn eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren (§§ 417 ff. StPO) wahrscheinlich ist (Nr. 1) und aufgrund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, dass der Festgenommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird (Nr. 2). Gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO darf ein Haftbefehl (§ 128 Abs. 2 S. 2 StPO) aus den Gründen des Absatzes 1 nur ergehen, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren binnen einer Woche nach der Festnahme zu erwarten ist. Gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO ist der Haftbefehl auf höchstens eine Woche ab dem Tage der Festnahme zu befristen. Da das beschleunigte Verfahren durch – der Name ist Programm – „Beschleunigung“ vor allem der Entlastung der Gerichte dienen soll 1, steht § 127 b StPO sehr zielgerichtet mit Effektivität in Verbindung. Die Verknüpfung von Inhaft- sowie Festnahme einerseits und Effektivität andererseits muss nicht unbedingt von vornherein befremden. Effektivität ist zwar im 1

BT-Drucksache 12/6853, S. 34.

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geltenden Recht nicht ausdrücklich als Prinzip verankert. Ihre Verflechtung mit dem Rechtsstaatsprinzip ist jedoch grundsätzlich anzuerkennen. Denn Rechtsstaatlichkeit meint heute nicht nur Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Gesetzmäßigkeit, Bestimmtheitsgrundsatz und Rechtsschutzgewährung. Rechtsstaatlichkeit setzt, wie wir wissen, bestimmte Inhalte des Rechts voraus 2. Dazu gehört die ökonomisch-durchsetzungsfähige Gestaltung des Rechts. Das ergibt sich aus der einfachen Überlegung, dass ohne jede Effektivität überhaupt keine Strafverfolgung möglich wäre. Die Verwirklichung der Prinzipien der StPO, sei es des Legalitätsprinzips, des Mündlichkeits- oder des Unmittelbarkeitsgrundsatzes oder die Verwirklichung anderer rechtsstaatlicher Maxime, wäre ohne Effektivität nicht vorstellbar 3. Von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 4 über Grünwald 5 und Hassemer 6, die maßgeblich zur Kritik an einem „verfassungsrechtlichen Postulat der Sicherung der Strafrechtspflege durch Effektivität“ beigetragen haben, bis hin zu neueren Stellungnahmen, wie etwa denjenigen von Rieß 7 und Wolter 8, geht entsprechend jeder davon aus, dass an Effektivität ein legitimes Interesse besteht 9. Der Effektivitätsgedanke muss in der Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts eine Rolle spielen. Effektivität ist notwendig. Dies kann man, so meint Grünwald zu Recht, „vernünftigerweise nicht bestreiten“ 10. Freilich darf der Bogen nicht überspannt werden. Ginge es im Strafverfahrensrecht allein in Richtung mancher Formulierungen aus dem Abschlussbericht des 2 Vgl. zu diesem Komplex Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1980), Art. 20, VII, Rdn. 10 ff. und 27 ff. m. w. N., sowie Gössel, in: FS-Dünnebier (1982), S. 121, 122 f. 3 Effektivität schafft erst Justizgewährung. Vgl. hierzu vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips Gössel, in: FS-Dünnebier (1982), S. 121, 128, sowie Krause, StV 1984, 169, 169 f. m. w. N., unter Betonung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten. 4 BVerfGE 33, 367, 383 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“) [Zwecks leichterer Orientierung und Einordnung sind im Folgenden die meisten Verweise auf Gerichtsentscheidungen mit einem – inoffiziellen – Schlagwort gekennzeichnet]. 5 Grünwald, JZ 1976, 767, 767 ff., Anm. zu BVerfG, JZ 1976, 765, 765 f. = BVerfGE 41, 246, 246 ff. („Hauptverhandlung in Abwesenheit, § 231 a StPO“). 6 Vgl. an dieser Stelle nur Hassemer, StV 1982, 275, 275 ff. 7 Siehe Rieß, StraFo 2000, 365, 369, zur Frage, ob die Sicherung einer effektiven Strafrechtspflege ein Verfassungsgebot ist. 8 Vgl. Wolter, in: GS-Meyer (1990), S. 493, 502 ff., und ders., GA 1999, 158, 161, sowie ders., in: FS-Roxin (2001), S. 1142, 1145 f. 9 Vgl. zur Funktionstüchtigkeit im Zusammenhang mit Untersuchungshaft hier nur Hetzer, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S.47, 51 f., sowie Scheffler, NJW 1994, 2191, 2195, der sich für ein „zügiges“ Verfahren nach Abschaffung des beschleunigten Verfahrens gem. §§ 212 ff. StPO (a. F.) stark macht. Siehe allgemein auch Kloepfer, JZ 1979, 209, 212 f., 215 f.; Hillenkamp, NJW 1989, 2841, 2847 f.; Lorenz, GA 1992, 254, 272; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S.15 ff.; Dölling, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 101, 101, 112, sowie Her, Das beschleunigte Verfahren (1998), S. 184 ff., näher zum Beschleunigungsgebot als Teil der Funktionstüchtigkeit. 10 Grünwald, JZ 1976, 767, 772 f., Anm. zu BVerfG, JZ 1976, 765, 765 f. = BVerfGE 41, 246, 246 ff. („Hauptverhandlung in Abwesenheit, § 231 a StPO“). Auch nach Hassemer, StV 1982, 275, 275, wird dies zu Recht „kein vernünftiger Mensch bestreiten wollen“. Siehe auch Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 1 Rdn. 7.

1. Abschn.: § 127 b StPO im Kontext von Effektivität und Verfahren

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Sachverständigenrats „Schlanker Staat“ unter dem Vorsitz des ehemaligen Verteidigungsministers Prof. Dr. Rupert Scholz, würde er zweifelsohne zu weit gedehnt. Danach scheint der Rechtsstaat kaum Grenzen für Effektivität zu kennen. Unter dem Motto „Schlanker Staat“ wird suggeriert, es gäbe kaum etwas Bedeutenderes und Dringlicheres als Effektivität – auch nicht im Strafverfahrensrecht 11. Als lahme die Rechtspflege geradezu unerträglich, so als sei das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat praktisch schon verloren, da die Justiz beinahe auf dem Weg sei, sich im Stile Douglas Adams durch unmäßige Verwaltung um des Verwaltens willen selbst zu verwalten 12, und als sei Effektivität der wahre Schlüssel zum Wohle der Republik – so „dramatisch“ klingen die Appelle: „Denn gerade der ‚schlanke‘ Staat ist auf eine effektive, zügig und überzeugend arbeitende, den Rechtsfrieden dauerhaft sichernde Justiz angewiesen“ 13, „Die Rechtspflege gewährleistet die Rechtssicherheit“, „Vom Rechtsstaat erwartet der Bürger Effizienz, die sich auch in möglichst schnellen Entscheidungen niederschlägt“, „Effektiver Rechtsschutz fördert die Investitionsbereitschaft, insbesondere auch ausländischer Unternehmen“, Effektivität fördert „Akzeptanz der Bevölkerung und das Vertrauen des Bürgers in die Rechtsprechung“ 14, „Die Gerichte gewinnen bzw. behalten das Vertrauen der Bürger nur, wenn sie schnelle und verständliche Entscheidungen treffen (nur ‚schnelles Recht‘ ist ‚gutes Recht‘)“ 15, „Der Justiz ist im Interesse des Rechtsstaats eine Dienstleistungsaufgabe mit Verfassungsrang übertragen“ 16. Das sind eloquente Worte. Ist Effektivität ein Elysium? Nein. Sicher nicht. Das, was unseren rechtsstaatlichen Strafprozess der Gegenwart angesichts grundgesetzlicher und menschenrechtlicher Garantien wirklich 11 Die Stärkung der Inneren Sicherheit und die Einschränkung bürgerlicher Freiheit als Bestandteil der Formel „Schlanker Staat“ entsprechen einem gängigen Begriffsverständnis aus Reihen der Politik. Beispielhaft sei hier auf den ehemaligen Bundesinnenminister Kanther, DRiZ 1996, 209, 210 ff. („Alle öffentlichen Aufgaben stehen auf dem Prüfstand“), verwiesen. I. S. v. „Regulierungstrends“ unterstützt der Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 191 f., 196, auch das Anliegen, Strafverfahren auf Kosten der Rechte des Beschuldigten zu straffen und zu beschleunigen. Das zeigt die Forderung, das beschleunigte Verfahren vermehrt zur Anwendung zu bringen. Trotz alledem steht „Schlanker Staat“ – nach richtigem Begriffsverständnis – zielgerichtet eher für die Deregulierung von Staatsaufgaben außerhalb der Kriminalitätsbekämpfung. Zur Betonung der „Deregulierung“ i. d. S. vgl. Grupp, in: FS-Blümel (1999), S. 138, 138 ff., wo es um die Erweiterung des von gerichtlicher Kontrolle freien behördlichen Beurteilungsspielraums geht. Siehe konkret auch Kutscha, KJ 1998, 399, 401, wonach „Schlanker Staat“ für die Erweiterung des Freiraumes der Bürger stehen soll, bei der Verbrechensbekämpfung jedoch – angesichts der Verstärkung polizeilicher Befugnisse – eher Regulierungs- als Deregulierungstrends herrschen. 12 Vgl. die Szene einer „überverwalteten“ politischen Versammlung nach Douglas Adams, Hitch Hiker’s Guide (1986), p. 292 ff. 13 Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 183 [Hervorhebung im Original]. 14 Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 186. 15 Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 185 [Hervorhebung im Original]. 16 Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 183.

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ausmacht, kommt in diesen Formulierungen zu kurz: die Orientierung an der Freiheit des Individuums. Trotz des europaweit zu beobachtenden, wie Jung formuliert, „Siegeszug(s) des Effizienzdenkens“ 17, gilt eines unverändert: Kennzeichen des Rechtsstaats ist in erster Linie die Achtung des einzelnen Menschen18. Darin ist der Mensch, wie es bei Schüler-Springorum heißt, „Letztzweck des kriminalpolitischen Mitteleinsatzes“ 19. Die „prozessuale Ordnungsmäßigkeit“ der Entscheidung über die Strafbarkeit eines Beschuldigten muss in jedem Fall gewährleistet sein. Der Rechtsstaat ist nicht vorrangig um des Staates Willen da. Effektivität staatlichen Handelns hat keinen Eigenwert. Nicht „schnelles Recht“ und nicht „effektives Recht“ ist im Strafverfahren „gut“, sondern „rechtsstaatliches“, das heißt die Grund- und Menschenrechte eines jeden Einzelnen beachtendes Recht. Das Zusammenspiel insbesondere von Art. 1 Abs. 1 GG mit den nachfolgenden Grundrechten, den Grundrechten der Art. 103 GG und Art. 104 GG sowie den Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 3 GG geben den Zulässigkeitsrahmen für alle denkbaren Ideen zur Effektivierung vor. Hinzu kommen die Rechte und Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der individualschützende Rahmen besteht völlig losgelöst von der Vorstellung, dass Kriminalität als gesellschaftliches Problem grundsätzlich „makrosozial“ anzugehen ist20. Das „Makrosoziale“ ist notwendiger Bestandteil der StPO, wie eines jeden Pakets abstrakt-genereller Regelungen. Betrachtet man die konkreten Vorschläge zur Effektivierung im Bereich des Strafverfahrensrechts, stößt man auf einen weitläufigen Fundus. Überall, wo einzelnen Interessengruppen Rechte gewährt, wo Schwerpunkte gesetzt werden, wo allgemein Schwierigkeiten im Ablauf des Verfahrens zu bewältigen sind, wird der Ruf nach Effektivierung laut. Die Vorschläge gehen von der Verbesserung perso17 Jung, GA 2002, 65, 66. Vgl. auch die jüngsten Vorschläge zur Reform des beschleunigten Verfahrens in Frankreich (§§ 395 ff. CPP). Der Anwendungsbereich soll erheblich erweitert werden indem der Rahmen möglicher Strafen von bisher 2–7 Jahren auf 10 Jahre Freiheitsstrafe angehoben werden soll. Siehe hierzu Le Monde, 18.07.2002, S. 7 („La réforme de la justice présentée sous le feu des critiques“). 18 Das „politisch instrumentalisierbare Strafverfahren“ ist seit dem 18. Jahrhundert Hauptmerkmal autoritärer „Überwachungs-“ und „Strafstaaten“; im Rechtsstaat lässt sich von einer „individualistischen Tradition“ sprechen, vgl. Oppetit, Philosophie du droit (1999), p. 30 („tradition individualiste“). Eb. Schmidt, Justitia fundamentum regnorum, in: Schriften der Süddeutschen Juristen-Zeitung (1947), S. 75, 88, schreibt in diesem Zusammenhang: „Die große juristische Arbeit des 19. Jahrhunderts, des Zeitalters des rechtsstaatlichen Denkens, ist darauf gerichtet gewesen, wieder unter dem Zeichen einer das Gerechte gewährleistenden Reform der Straf- und Prozeßgesetze den Einzelnen gegen den Leviathan ungebundener Staatsmacht zu schützen, das polizeiliche Zweckdenken unter die Kontrolle des Rechts zu stellen und den Richter (...) zum Hort der Freiheit des Einzelnen, zum Hüter der Gerechtigkeit zu machen“. Vgl. auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1980), Art. 20, VII, Rdn. 12 ff. P.-A. Albrecht, StV 2001, 416, 416, nennt den historischen Hintergrund als Ausgangspunkt seiner Kritik an der zunehmenden Verpolizeilichung des Strafverfahrens. Vgl. auch – mit europäischer Perspektive – Jung, StV 1990, 513, 516, und ders., Was ist Strafe? (2002), S. 77. 19 Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen (1991), S. 230. 20 Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen (1991), S. 155.

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neller, fachlicher und sachlicher Organisationsstrukturen vor Ort, von der Umverteilung und Neubegründung von Zuständigkeiten über die Forderung nach kürzeren und verständlicheren Urteilen bis hin zur Neuordnung der Rechte der am Verfahren Beteiligten 21. Mögliche Wege zur Optimierung gibt es viele – mindestens so viele wie Ursachen für mögliche Ineffektivität. Damit ist klar, dass der Gesetzgeber in seinen Überlegungen bei der Person des Beschuldigten nicht halt macht. Beschuldigtenverhalten kann offensichtlich Grund für Ineffektivität sein. Man denke nur an die Rechte des Beschuldigten, das Verfahren durch Beweisanträge und Verfahrensrügen legitim zu verzögern, an die Möglichkeit des Missbrauchs prozessualer Rechte, an sein Recht, mehrfach Rechtsmittel einzulegen, oder beispielsweise an seine Anwesenheitspflicht: In praktisch jeder Konstellation können Maßnahmen erwogen werden, die das Verfahren effektiver machen sollen – sei es durch die Beschneidung bestehender Rechte oder die Eindämmung von Missbrauch 22. Die Frage, um die der Gesetzgeber bei alledem allerdings nie umhinkommt, ist die, mit welchen Mitteln das Verfahren rechtsstaatlich effektiviert werden kann 23. 21 Vgl. zu den Schwerpunkten der letzten Jahre wieder Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 179 ff., und die Vorstellung des Berichts von Meyer-Techendorf/Hofmann, ZRP 1998, 132, 132 ff. Im Strafverfahrensrecht (und im materiellen Strafrecht) betreffen die Vorschläge wesentlich den Bereich kleinerer Kriminalität: vgl. etwa zur Kompetenzerweiterung der Polizei („Einziehung von Strafgeldern“) ablehnend der Deutsche Richterbund, DRiZ 1999, 47, 47, sowie kritisch Landau/Fünfsinn, ZRP 2000, 5, 5 ff. Hinweise zu Gesetzesvorhaben im Bereich der Sanktionen gibt Heinz, ZStW 111 (1999), 461, 463 und dort FN 6, 7, 8. Zu Vorschlägen einer Reform des Instanzenzuges bei Strafgerichten vgl. Ring, ZRP 1998, 130, 131 f. Zu Ansatzpunkten im Diversionskonzept aus justizökonomischer Sicht vgl. Jung, Sanktionensysteme (1992), S.59. Allgemein zur Privatisierung des Strafrechts als Funktionalisierungsansatz siehe ders., in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Perspektiven der Strafrechtsentwicklung (1996), S. 69 ff. Naucke, KritV 1999, 336, 351, nennt – von „Bestrafung des Rauchens in der Öffentlichkeit“ bis zu „Amnestien“ aus Gründen der Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens – nicht weniger als 23 Strafrechtsreformvorschläge. Siehe allgemein auch Kloepfer, JZ 1979, 209, 215 f., und Nehm/Senge, NStZ 1998, 377, 378 ff., zur möglichen Abhilfe für Verfahrensverzögerungen bei „überlangen“ Großverfahren, sowie Barton, StV 1996, 690, 694, über die Gründe für lange Strafverfahren und gegen eine Reform des Rechtsmittelsystems. 22 Zu Vorschlägen im Bereich des Beweisantragsrechts vgl. Nüsse, StraFo 1996, 34, 34 ff., der eine Zunahme von „Mißbrauch prozessualer Rechte“ des Verdächtigten als „Verfahrensstrategie“ beklagt. Vgl. zur Verteidigung aus „prozeßfremden Zwecken“ Niemöller, StV 1996, 501, 503 f. Siehe auch Kempf, StV 1996, 507, 510, zu Verteidigerausschlussgründen, und Bohlander, Sanktionen gegen Anwälte (2001), S. 57 ff., allgemein zum institutionellen Rollenverständnis von Rechtsanwälten gegenüber Gerichten und ihrer Einstellung zu Fragen des Missbrauchs von Prozessrechten. Vgl. zu tatsächlichen Einschnitten in das Beweisantragsrecht exemplarisch zwei Entwürfe zum Verbrechensbekämpfungsgesetz aus dem Jahre 1994, BTDrucksache 12/6784 und BT-Drucksache 12/6853. Siehe in diesem Zusammenhang auch P.-A. Albrecht, StV 2001, 416, 416 ff., zum StVÄG v. 01.11.2000, wonach nicht nur Bürger- und Verteidigerrechte, sondern auch die Gerichte auf der „Verliererseite“ immer neuer Strafprozessreformen stehen, da deren Unabhängigkeit im „exekutivischen Zugriff“ gefährdet sei. 23 Vgl. die nachhaltigen Mahnungen von Dölling, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 101, 112 f. Nach Herzog, StV 1995, 372, 372, deuten Diskussionen der Politik um Reformen des

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Ein gewichtiger Beitrag zur Effektivierung der Strafverfolgung sollte durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28.10.1994 24 erbracht werden. Durch dieses Gesetz – und hier befinden wir uns unmittelbar in der parlamentarischen Auseinandersetzung um § 127 b StPO 25 – wurden unter anderem Regelungen zum beschleunigten Verfahren in die Strafprozessordnung aufgenommen. Die §§ 417 ff. StPO ersetzten die bisher geltenden §§ 212 ff. StPO (a. F.) 26. Gemäß § 418 Abs. 1 StPO kann für einfach zu erfassende Sachverhalte nach Antrag der Staatsanwaltschaft die Hauptverhandlung sofort oder in kurzer Frist durchgeführt werden, ohne dass es einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bedarf. Während die §§ 417–419 StPO gegenüber den zuvor geltenden §§ 212 ff. StPO (a. F.) keine wesentlichen Änderungen beinhalten, liegt in dem neuen Beweisantragsrecht des § 420 StPO, der als lex specialis § 244 StPO verdrängt, eine Aufwertung des beschleunigten Verfahrens 27. So ist mit § 420 Abs. 1–3 StPO die Möglichkeit einer beschleunigten Beweisaufnahme geschaffen, indem unter anderem die Verlesung früherer Vernehmungen von Zeugen, Sachverständigen und Mitbeschuldigten und die Verlesung von Behördenerklärungen zugelassen sind, sofern der Angeklagte, der anwesende Verteidiger und die Staatsanwaltschaft zustimmen. § 420 Abs. 4 StPO regelt, dass das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme im Verfahren vor dem Strafrichter selbst festlegt. Das gilt unbeStrafprozesses darauf hin, dass die „Strafrechtspflege (...) in einen effizienten Strafverwaltungsbetrieb“ verwandelt werden soll. Für dens., StV 2000, 444, 444 f., charakterisieren Beschleunigung und Entlastung zu Lasten der Beschuldigteninteressen auch in der vergangenen Legislaturperiode die Gesetzesinitiativen; nach seiner Ansicht kann man als Motto der fortlaufenden Novellierungen zugespitzt die Tendenz formulieren: „Verteidigung belastet das Verfahren und hält auf“. Jung, GA 2002, 65, 74, macht hingegen – mit Blicken auf die beschuldigtenfreundliche Position des EGMR zum Akteneinsichtsrecht (Garcia Alva ./. BRD und Schöps ./. BRD, jeweils Urt. v. 13.02.2001) und auf die ‚Effektivierung‘ der Belehrungspflichten in der Folge von BGHSt 38, 214, 214 ff. – auch auf gegenläufige Tendenzen aus der Rspr. aufmerksam. Vgl. auch die Überlegungen zur Reform des Strafprozesses von Däubler-Gmelin, StV 2001, 359, 362, wonach eine Reform die „Verbesserung des Schutzes des Schwächeren durch das Recht“ und die „zeitgemäße Modernisierung der Gesetze und Institutionen“ umfassen muss. Hierzu äußert sich allerdings Salditt, StV 2001, 311, 311 ff., weitgehend sehr kritisch. 24 BGBl. I, S. 3186. Einen Überblick über das Gesetz bzw. die Entwürfe geben König/Seitz, NStZ 1995, 1, 4 ff. m. w. N.; siehe auch Dahs jun., NJW 1995, 553, 555 ff., und Wächtler, StV 1994, 159, 159 ff., sowie Neumann, StV 1994, 273, 273 ff. 25 Eine zu § 127 b StPO wortgleiche Regelung und Gesetzesbegründung war bereits Bestandteil eines Gesetzentwurfs der damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und F. D.P. zum Verbrechensbekämpfungsgesetz. Der erstmalige Entwurf zu § 127 b StPO erwies sich aber im Vermittlungsausschuss als nicht konsensfähig, BT-Drucksache 12/7841, und wurde aus dem Regelungspaket gestrichen. Angesichts dessen kann – entgegen Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 570 – von einem „legislatorischen Schnellschuß“ nicht gesprochen werden. 26 Zu den einzelnen Regelungen der §§ 417 ff. StPO vgl. Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 569 ff. m. w. N., und im Anschluss daran dies., NStZ 1996, 7, 7 ff. m. w. N., sowie Dahs jun., NJW 1995, 553, 556. 27 Wächtler, StV 1994, 159, 160; Hellmann, Strafprozeßrecht (1998), Teil II. § 2 Rdn. 8.

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schadet von § 244 Abs. 2 StPO und soll ebenfalls zu einer Verkürzung der Beweisaufnahme führen und damit im Sinne der Beschleunigung des Verfahrens liegen 28. Da gemäß § 419 Abs. 1 S. 2 StPO eine höhere Freiheitsstrafe als ein Jahr nicht verhängt werden kann, gilt die vom Gesetzgeber beabsichtigte Verfahrensbeschleunigung gemäß §§ 417 ff. StPO für den Bereich kleinerer und mittlerer Kriminalität. Für die Neuregelung des beschleunigten Verfahrens wurden im Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Argumente genannt 29. Die Auseinandersetzung mit der Tat des Beschuldigten in einer kurzfristig durchgeführten Hauptverhandlung erhöhe die Effektivität der Strafjustiz durch eine schnellere Aburteilung von kleineren und mittleren Straftaten. Der zügige Verfahrensabschluss bringe gerade in diesem Spektrum, in dem in hohem Maße steigende Kriminalitätsraten zu verzeichnen seien, Ersparnisse an Ermittlungsaufwand mit sich. Dadurch würden Ermittlungskapazitäten frei, die dann zur Bekämpfung schwererer Kriminalität zur Verfügung stünden. Darüber hinaus werde das Vertrauen der Bevölkerung in die Aufgabenerfüllung der Polizei und Justiz gestärkt. Denn es sei eine „berechtigte Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“, dass „der Tat die Strafe auf dem Fuß folgen“ könne. Auch habe die zeitlich nahe liegende Konfrontation des „mutmaßlichen Täters mit seiner Tat“ in der Hauptverhandlung eine „erzieherische Funktion“, wirke „abschreckend“ und senke so die Anzahl der Straftaten. Nicht zuletzt sei in einer unmittelbar der Tat folgenden Hauptverhandlung der Tathergang sowohl dem Angeklagten als auch Zeugen deutlicher im Gedächtnis, sodass der Richter auf einer sichereren Tatsachengrundlage entscheiden könne, als dies bei sich über längere Zeit hinziehende Verfahren der Fall sei. Ob die angeführten Argumente zutreffend sind, soll hier dahinstehen. Die vom Gesetzgeber mit der Reform des beschleunigten Verfahrens beabsichtigten Beschleunigungs-, Entlastungs-, Präventiv- und Erziehungseffekte blieben jedenfalls weitestgehend aus. Die Gerichte nutzten das neue Verfahren nur in geringem Maße 30. Der Gesetzgeber argumentierte nun, dass die Gerichte in der Erreichung der Ziele des beschleunigten Verfahrens von vornherein gehindert seien, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls fehlen, der „mutmaßliche Täter“ auf freien Fuß kommt und die sich so ergebende Gelegenheit ergreift, sich einer folgenden Haupt28 Vgl. hierzu den Entwurf des Verbrechensbekämpfungsgesetzes, BT-Drucksache 12/6853, S. 19. 29 Vgl. zu den Argumenten wieder BT-Drucksache 12/6853; siehe auch die Äußerungen von Sachverständigen zur Wirkung des beschleunigten Verfahrens im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages nach RA-Pr 12/120, S. 35 ff., die Gesetzesbegründung zur Hauptverhandlungshaft BT-Drucksache 13/2576, S. 3, und die Annahmeempfehlung des Rechtsausschusses BT-Drucksache 13/5743. Siehe des Weiteren auch BT-PlPr 13/62, S. 5321 ff., und BT-PlPr 13/129, S. 11647 ff. 30 Gemessen an der Gesamterledigungszahl aller amtsgerichtlichen Verfahren ging der Anteil beschleunigter Verfahren von 7,1 % 1975 bis zur Neuregelung der §§417 ff. StPO auf 3,3 % zurück. Eine empirische Übersicht über die Rechtswirklichkeit des beschleunigten Verfahrens bis 1997 gibt Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens (1997), S. 27 ff., und dies., StV 1998, 514, 515.

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verhandlung zu entziehen 31. In den gesetzgebenden Organen wurde das „Problem des Ausbleibens“ im Besonderen immer wieder für Beschuldigte „ohne festen Wohnsitz“, „reisende Straftäter“, „Schlachtenbummler“, „links- bzw. rechtsextremistische Chaostouristen“ oder ähnliche Gruppen ohne ladungsfähige Anschrift thematisiert 32. Vonnöten sei ein Instrument gegen „Chaoten, die tageweise in Städte einfallen“ 33, und gegen „Krawallmacher, wie sie insbesondere bei Sportveranstaltungen leider seit Jahren ihr Unwesen treiben“ 34. Vor diesem Hintergrund beschloss der Deutsche Bundestag am 17.07.1997 mit einfacher Mehrheit der Stimmen der damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der Oppositionsparteien von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS die Einführung des § 127 b StPO 35. Ein Nachweis für die Annahme, dass die Ursache für eine geringe praktische Anwendungshäufigkeit des beschleunigten Verfahrens gerade das Fehlen eines Haftgrundes oder das Nichterscheinen vieler Verdächtigter zur Verhandlung war, wurde allerdings nie erbracht 36. In der Gesetzesbegründung zu § 127 b StPO ist dennoch zu lesen 37: „Es ist (...) ein vorläufiges Festnahmerecht und ein neuer Haftgrund zur Sicherung der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren zu schaffen“. Im Folgenden zielt die Begründung konkreter auf die Verbindung mit §§ 417 ff. StPO: „Die unmittelbar auf die Tat folgende Konfrontation des Täters mit den strafrechtlichen Folgen kann eine erhebliche erzieherische Wirkung haben und dadurch auch abschreckend wirSo die Gesetzesbegründung zur Hauptverhandlungshaft, BT-Drucksache 13/2576, S. 3. Vgl. die Gesetzesbegründung BT-Drucksache 13/2576, S. 3, bzw. die Empfehlung des Rechtsausschusses zur Annahme des Entwurfs BT-Drucksache 13/5743 sowie Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11647, und ders., AnwBl. 1996, 466, 466, zur Einführung der Hauptverhandlungshaft. 33 Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11650. 34 Götzer (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11656. 35 Die (erneute) Gesetzesinitiative v. 10.10.1995, BT-Drucksache 13/2576, mit erster Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F. D.P. eingebrachten Entwurfs in der Sitzung des Bundestages v. 13.10.1995, BT-PlPr 13/62, S. 5321 ff., hatte nun bessere Aussicht auf Erfolg als im Gesamtpaket des Verbrechensbekämpfungsgesetzes. Das Gesetz bedurfte jetzt nicht mehr der Zustimmung des Bundesrats. Nach der Empfehlung des Rechtsausschusses zur Annahme des Entwurfs BT-Drucksache 13/5743 v. 09.10.1996 wurde das Gesetz am 11.10.1996 v. Bundestag – gegen die Stimmen der Opposition – angenommen, BT-PlPr 13/129, S. 11660. Nach einem ablehnenden Votum des Bundesrats, BR-Drucksache 738/96 v. 08.11.1996, dessen Anrufung des Vermittlungsausschusses, BT-Drucksache 13/6084 v. 12.11.1996, und einer ablehnenden Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, BTDrucksache 13/6143 v. 14.11.1996, lehnte der Bundestag am 12.12.1996 seinerseits die Empfehlung ab und bestätigte den Gesetzesbeschluss. Der Einspruch des Bundesrats, BT-Drucksache 13/6630 v. 20.12.1996, wurde gem. Art. 77 Abs. 3 GG zurückgewiesen, BT-Drucksache 13/7852 v. 05.06.1997. Das Gesetz wurde schließlich am 12.06.1997 mit einer Stimmenmehrheit von 342 : 317 verabschiedet, vgl. BT-PlPr 13/181. 36 Vgl. die Kritik von Beck (MdB Bündnis 90/Die Grünen), BT-PlPr 13/129, S. 11653. Die These ist bis heute nicht belegt; vgl. auch HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 1. 37 Vgl. zu den folgenden Zitaten BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 31 32

1. Abschn.: § 127 b StPO im Kontext von Effektivität und Verfahren

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ken“. Bevor den Voraussetzungen des § 127 b StPO Rechnung getragen wird, wird schließlich die Rechtsfrieden stiftende Funktion herausgestellt. In gleichem Atemzug wird die untergeordnete Bedeutung des § 127 b StPO für die Wahrheitssuche angedeutet. Als wolle der Gesetzgeber Hassemers Beobachtung – „Wer die Untersuchungshaft ausbauen will, beruft sich auf die Pflicht einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, die Kriminalität einzudämmen“ 38 – mit Nachdruck bestätigen, heißt es wörtlich: „Es ist eine berechtigte Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung, dass der Tat die Strafe auf dem Fuß folgen soll. Das Vertrauen in unseren Rechtsstaat wird gestärkt, wenn die Justiz zumindest in den Fällen, in denen der Täter auf frischer Tat festgenommen wird und kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht, in die Lage versetzt wird, das Strafverfahren rasch abzuschließen“. „Gerade bei reisenden Straftätern“, so wird spezifiziert, „kann das Mittel der Hauptverhandlungshaft seine Wirkung entfalten“. § 127 b StPO soll auch, so der Gesetzgeber, „Anreiz für die Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte sein, insgesamt auf eine möglichst zügige Anberaumung der Hauptverhandlung zu achten“. Während die Gesetzesbegründung lediglich „reisende Straftäter“ erwähnt, ohne offen zulegen, welche Personen bzw. Sachverhalte sich dahinter verbergen, waren die Beratungen des eingebrachten Gesetzentwurfs zumindest etwas konkreter. Genannt wurden neben „Schlachtenbummlern“, „Krawallmachern“, „Hooligans“ sowie „Chaoten, die tageweise in Städte einfallen“ auch „Kleinkriminelle“ 39, „reisende Demonstranten“ und „reisende Trickdiebe“ 40. Verwiesen wurde auf die „Chaostage in Hannover“, auf „zweifelhafte Gedenkveranstaltungen aus dem rechtsradikalen Milieu“ 41 und auf „Sportveranstaltungen“ 42. An diesen Einschätzungen orientiert sich die Literatur zu § 127 b StPO. Danach zeichnen sich „reisende Täter“ – wie auch nach allgemeinem Begriffsverständnis zu vermuten – zunächst durch eine örtliche Ungebundenheit und Mobilität aus. § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO soll „als erstes“ für die Beschuldigten gelten, „die in Deutschland über keinen festen Wohnsitz verfügen“ 43. Eisenberg sieht es als „vorrangig“ an, § 127 b StPO gegenüber „(nach Wohnverhältnissen etc) nicht stabil platzierten Personen mit eher geringer faktischer Beschwerdemacht“ anzuwenden 44. Kühne betont, dass § 127 b StPO „vor allem bei nicht am Gerichtsort ansässigen oder auch ausländischen Tätern von Bedeutung“ sei 45. Herzog fasst die Betroffenen unter dem allgemeinen Begriff „asoziale Existenzen“ zusammen, die Hassemer, StV 1984, 38, 38. Meyer (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11658. 40 Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11650. 41 Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/62, S. 5322; ders., BT-PlPr 13/129, S. 11650; Götzer (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11656. 42 Götzer (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11656. 43 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147, und i. d. S. Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 94. Vgl. ebenso Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83, und ders., NK 1996, 6, 6. 44 Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 b [Klammersetzung im Original]. 45 Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 627. 38 39

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„keine sozialen Bindungen“ aufzuweisen haben 46. Wächtler nennt „Gauner, Ausländer, Minderbemittelte und soziale Randgruppen“ 47 und Keller „Streunertum, leicht lösbare Wohnverhältnisse, auffällig häufiger Wohnsitzwechsel (Arbeitsplatzwechsel)“, ebenso wie das Schlagwort „keine familiären Bindungen“ 48. Nach „allgemeinen Erfahrungssätzen und typischen Fallkonstellationen“ soll ein Fernbleiben, so meint Hilger mit Hinweis auf Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren, gerade „im Anschluss an Massensportveranstaltungen mit auswärtigen oder ausländischen Randalierern“ zu befürchten sein 49. Stintzing/Hecker schreiben von „Schläger- oder Diebesbanden“ und „Mitglieder(n) von Drückerkolonnen“, aber eben ausdrücklich auch von „Rowdies in Fußballstadien“ und „gewalttätige(n) Chaoten, die im Rahmen einer Demonstration Straftaten begehen“ 50. Für Keller ist zunächst an „Serientäter“ zu denken, die unter dem „Deckmantel einzelner (Bagatell-)delikte große Schäden verursachen“ 51. Hartenbach nennt als deliktischen Anwendungsbereich das wiederholte „Fahren ohne Führerschein“ und den wiederholten „Ladendiebstahl“; „Ladendiebe“, „Zechpreller“ und „Schwarzfahrer“ bildeten die „Hauptklientel“ 52. Sowohl im Plenum als auch in einer Anhörung von Sachverständigen im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages wurde die Einführung der neuen Haft- und Festnahmenorm als „justizpolitisch geboten“ und zur Sicherung des beschleunigten Verfahrens als „unverzichtbar“ bezeichnet 53. Eine rasche Aburteilung des Täters sei nur dann möglich, wenn schon unmittelbar nach der Tat seine Anwesenheit im beschleunigten Verfahren sichergestellt sei. Die Hauptverhandlungshaft sei kein Novum in der Systematik zu vorhandenen Verfahrenssicherungen, insbesondere zum Untersuchungshaftrecht, sondern eine „Perpetuierung der sonstigen Haftgründe“; nur durch eine „Nuance“ 54 unterscheide sich die Hauptverhandlungshaft von dem Haftgrund „Fluchtgefahr“. Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verhindere „generell“ die Vereitelung der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs; die Hauptverhandlungshaft sichere hingegen „speziell“ die Durchführung einer bestimmten Verfahrensart, indem die Norm das Erscheinen Herzog, StV 1997, 215, 216. Wächtler, StV 1994, 159, 160. 48 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. 49 So LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13 mit Verweis in FN 12 auf Pflieger (Leitender Oberstaatsanwalt/Stuttgart), RA-Pr 13/50, S. 1, und Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11647. Vgl. auch KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 12; KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 5. 50 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 569. 51 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679 [Klammersetzung im Original]. 52 Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83, und ders., NK 1996, 6, 6. 53 Siehe zu diesem und zum Folgenden wieder RA-Pr 13/50, S. 1 ff., sowie BT-Drucksache 13/5743 und auch BT-PlPr 13/129, S. 11647 ff. 54 So Pflieger (Leitender Oberstaatsanwalt/Stuttgart), RA-Pr 13/50, S. 10, und Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11648, sich darauf beziehend. 46 47

2. Abschn.: § 127 b StPO in der Praxis

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des Betroffenen im beschleunigten Verfahren gewährleiste 55. Letztlich führe die Anordnung der Hauptverhandlungshaft im direkten Vergleich mit der durch Fluchtgefahr anberaumten Untersuchungshaft offensichtlich zu einer relativ kürzeren Haftdauer. Das trage wiederum zu einer Reduzierung der Häftlingszahlen bei. So komme es zu einer Entlastung im Bereich der Strafvollstreckung. Das geltende Untersuchungshaftrecht reiche allein nicht aus, da bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr regelmäßig kein Haftbefehl verhängt werde, wenn der Beschuldigte einen festen Wohnsitz angebe 56. Mit diesen Ansprüchen wurde das Gesetz am 23.07.1997 verkündet. § 127 b StPO trat am folgenden Tag in Kraft 57. Und heute? Was lässt sich fünf Jahre nach Inkrafttreten der Regelung zur Verwirklichung der an sie gestellten Ansprüche sagen? Leistet die Norm nun, wie vielfach gewollt und erwartet, einen „unverzichtbaren“ Beitrag zur Sicherung des Verfahrens, zur Prävention und zur Erziehung des Beschuldigten? Versetzt § 127 b StPO die Strafverfolgungsbehörden tatsächlich in die Lage, das Strafverfahren rasch abzuschließen? Mit Blick auf die Antragszahlen für das beschleunigte Verfahren ist man zunächst geneigt, letztgestellte Frage zu bejahen. 2. Abschnitt

§ 127 b StPO in der Praxis Ausweislich der Arbeitsunterlage „Strafgerichte“ des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden 58, stieg der Anteil an beschleunigten Verfahren zwischen 1996 und 2000 recht erheblich. Wurde 1996 von den bei den Amtsgerichten insgesamt erledigten 799.684 Fällen in 21.725 Fällen ein Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren gestellt, so waren es im Jahre 2000 in 846.181 Fällen insgesamt 36.477 Anträge. Dies entspricht einer Steigerung von ca. 2,72 % auf ca. 4,31 % 59. Vgl. Pofalla, AnwBl. 1996, 466, 466. Pofalla, AnwBl. 1996, 466, 466. 57 Vgl. BGBl. I 1997, S. 1822. 58 Die jährlich erscheinende Arbeitsunterlage weist Bundesergebnisse der Zählkartenerhebung über die strafgerichtlichen Tätigkeiten nach. Sie enthält bundes- und länderbezogene Tabellen über den Geschäftsanfall und die -erledigung von Strafsachen bei den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten sowie beim BGH. Im Folgenden wird der Tabellenteil 2 („Vor dem Amtsgericht erledigte Verfahren“) betrachtet. Zur Problematik der Beurteilung der quantitativen Bedeutung des beschleunigten Verfahrens mit Justizgeschäftsstatistiken vgl. Heinz, in: GSSchlüchter (2002), S. 691, 705 ff. Nach Heinz, a. a. O. S. 706, kann „lediglich näherungsweise“ ermittelt werden, in welchem Maße die Staatsanwaltschaft vom beschleunigten Verfahren Gebrauch zu machen beabsichtigt. 59 Da für das Jahr 2000 noch keine aktuellen Zahlen aus Hamburg vorlagen, wurden für diese Arbeitsunterlage betreffend Hamburg die Ergebnisse des Vorjahres verwendet. Einen Über55 56

3 Giring

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Im Jahre 2001 waren es bei 838.759 erledigten Verfahren insgesamt 33.941 Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren. Das entspricht im Verhältnis zum Jahr 1996 einer – relativen – Steigerung auf 4,82 %. Besieht man sich jedoch konkret die Anwendungshäufigkeit des § 127 b StPO, wird deutlich, dass der vorgenannte Anstieg offensichtlich nicht entscheidend mit der Norm zusammenhängt 60. In Bremen spielt die Hauptverhandlungshaft nur eine „minimale Rolle“. Für das Jahr 2001 wurden 39 Fälle des § 127 b StPO und 1.493 Anträge auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens gezählt. Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin berichtet, dass von der Hauptverhandlungshaft bis Ende 1998 zunächst „kein Gebrauch“ gemacht worden sei. Von da an wurde sie bis zum Jahr 2000 „etwa einmal monatlich“ angeordnet, da „in den meisten Fällen“ für die Anordnung „kein Bedürfnis“ bestehe. Die Statistik für das Jahr 2001 liegt etwas über der groben Einschätzung: Für das erste Halbjahr wird von 1.331 Anträgen auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens berichtet und von 12 Fällen, in denen der Beschuldigte zu der letzten Hauptverhandlung aus der Hauptverhandlungshaft vorgeführt worden ist. Auf das ganze Jahr 2001 gesehen, sind es in Berlin 46 Fälle des § 127 b StPO und 3.111 Anträge im Sinne des § 417 StPO 61. In Hamburg betrug nach den Erfahrungen der dortigen Staatsanwaltschaft das Aufkommen von Fällen des § 127 b StPO bis Mitte 2000 „durchschnittlich 2 bis 4 Fälle pro Woche“. Im Jahre 2001 waren es 194 Fälle bei 3.102 Anträgen nach § 417 StPO. Das entspricht einem Anteil von ca. 6,7 %. In Mecklenburg-Vorpommern wird von § 127 b StPO nur äußerst wenig Gebrauch gemacht. Im Jahre 2001 waren es 9 Fälle bei 647 Anträgen auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren.

blick über die vorherige Rechtswirklichkeit des beschleunigten Verfahrens gibt Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens (1997), S. 27 ff., und dies., StV 1998, 514, 515 f. 60 Das zeigt sich für die Zeit bis Mitte 2000 aus einer Umfrage, die der Verfasser bei den Justizministerien der Länder durchführte. Insbesondere galt das Interesse den Antrags- und Haftzahlen bezüglich § 127 b StPO. Des Weiteren wurde danach gefragt, ob Richtlinien zur Umsetzung der Haft- und Festnahmenorm (betreffend die materiellen/formellen Voraussetzungen, die Koordinierung zwischen Polizei/Staatsanwaltschaft/Richter/Vollzugsanstalt etc.) erlassen wurden. Standen genaue Daten nicht zur Verfügung, wurde um eine Einschätzung gebeten („§ 127 b StPO hat praktisch keine/minimale/geringe/hohe ... Bedeutung. Die Zahl der Fälle liegt jährlich etwa zwischen x und y ...“). Soweit die Justizministerien der Länder für die Jahre 1997 bis 2000 Einschätzungen gaben, sind diese im Text wiedergegeben. Für das Jahr 2001 ist das Bild zum Teil genauer, da die Hauptverhandlungshaft ab 2001 in den Geschäftsstatistiken der Länder zum Geschäftsanfall vor den Amtsgerichten erfasst wird (Punkt 4 Nr. 182; mit Ausnahme von Hessen – dort wird ab 2002 erfasst). Die Daten für das Jahr 2001 sind nun auch vom Statistischen Bundesamts Wiesbaden zusammengefasst (Geschäftsstatistik „Vor dem Amtsgericht erledigte Verfahren“. Laufende Nr. 25). 61 Durch diese absolute Zahl relativiert sich die Feststellung von Dury, DRiZ 2001, 207, 208, wonach typische Delikte im Anwendungsbereich des §127 b StPO „Ladendiebstähle“ und „Schwarzfahrten“ seien, gestützt durch die Aussage, beim KG Berlin seien 61,1 % der Fälle des § 127 b StPO Ladendiebstähle.

2. Abschn.: § 127 b StPO in der Praxis

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Rheinland-Pfalz registrierte im Jahr 2001 761 Anträge auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens und 49 Fälle des § 127 b StPO 62. Im Saarland wurde bei jährlich durchschnittlich ca. 40 Anträgen gemäß § 417 StPO bis 2002 erst ein Beschuldigter aufgrund § 127 b StPO inhaftiert 63. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz teilte mit, dass 2001 69 Beschuldigte zur mündlichen Hauptverhandlung aus der Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b StPO vorgeführt wurden. Das entspricht 6,4 % der 1.076 Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren. Aus Schleswig-Holstein sind für den Zeitraum von 1997 bis 2000 keine Zahlen bekannt. Im Jahr 2001 waren es nach Auskunft des Justizministeriums 13 Haftfälle bei 348 Anträgen auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren. In Thüringen hatte die Hauptverhandlungshaft in den Jahren bis 2000 nach Auskunft des dortigen Justizministeriums eine „minimale praktische Bedeutung“ 64. Im Jahr 2001 spielte § 127 b StPO mit 34 Vorführungen des Beschuldigten aus der Hauptverhandlungshaft zur (letzten) Hauptverhandlung, das heißt in ca. 7 % der 468 Fälle, in denen ein Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren gestellt wurde, eine eher unbedeutende Rolle. Hervorzuheben sind die Länder Bayern, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Bayern ist sowohl, was die absolute Zahl der aufgrund § 127 b StPO Inhaftierten als auch, was die der Anträge nach § 417 StPO angeht, unangefochtener „Spitzenreiter“ aller Länder. Vor den bayerischen Amtsgerichten wurden im Jahr 2001 10.643 Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren gestellt. Dabei ist in 731 Fällen ein Beschuldigter aus der Hauptverhandlungshaft vorgeführt worden. Auch das Niedersächsische Justizministerium betrachtet die Möglichkeit zur Anordnung der Hauptverhandlungshaft als ein „hilfreiches Instrument zur verstärkten Anwendung des beschleunigten Verfahrens“. „Insbesondere bei reisenden Tätern, bei Tätern ohne Wohnsitz, aber auch in den Fällen, die im besonderen Maße der Öffentlichkeit ins Auge fallen – vor allem dort, wo im Bereich der Alltagskriminalität eine Freiheits62 Auch das relativiert die Zahlen von Dury, DRiZ 2001, 207, 210, wonach die Hauptverhandlungshaft etwa im OLG-Bezirk Koblenz „teilweise in 40 % der beschleunigten Verfahren angewandt“ werde. Die Landesregierung Rheinland-Pfalz hielt § 127 b StPO vor dessen Inkrafttreten für ein „reichlich überflüssiges Gesetz“ – so jedenfalls die Mitteilung des Pressesprechers der damaligen Landesregierung Schnorr, RZ v. 15.10.1996 („Novelle ohne Sinn. Mainz: Gesetz unnütz“). Nach der Statistik des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden verteilt sich die Anwendung des §127 b StPO auf 32 Fälle im OLG- Bezirk Koblenz (bei 311 Anträgen nach § 417 StPO) und 17 Fälle im OLG-Bezirk Zweibrücken (bei 450 Anträgen nach § 417 StPO). 63 Im Saarland spielt das beschleunigte Verfahren mit einem Anteil von weniger als 1 % der erledigten Verfahren vor den Amtsgerichten nur eine sehr untergeordnete Rolle. I. d. S. wurden im Jahr 2000 9.038 Verfahren vor den saarländischen Amtsgerichten erledigt. In diesem Zeitraum wurden 52 Anträge auf eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren gestellt. Im Jahr 2001 waren es 8.717 erledigte Verfahren und 31 Anträge gem. § 417 StPO. 64 Im Bezirk der Staatsanwaltschaft Erfurt habe sie keinerlei Bedeutung. Für die Staatsanwaltschaft Gera wurden 2 bis 4 Fälle pro Jahr genannt, für die Staatsanwaltschaft Meiningen 6 bis 7 Fälle und für die Staatsanwaltschaft Mühlhausen „ca. 1 Verfahren“ pro Jahr.

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strafe in Betracht kommt – kann das beschleunigte Verfahren“, so die Auskunft des Niedersächsischen Justizministeriums, „wirksam und zweckmäßig sein“. Von den 2.759 Fällen, in denen 2001 eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren beantragt wurde, wurde 636 mal ein Beschuldigter aus der Hauptverhandlungshaft vorgeführt. Das entspricht einem Anteil von ca. 23 % der beschleunigten Verfahren. In Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen zeigt sich kein beständiges Bild. Nach Auskunft des Justizministeriums Baden-Württemberg hatte § 127 b StPO dort bis 2000 nur eine „geringe praktische Bedeutung“. Die Haft wurde, so hieß es, „regelmäßig“ auf der Grundlage der §§ 112 ff. StPO verhängt. Im Jahr 2001 wurde der Verdächtige jedoch immerhin in 147 Fällen zur letzten Hauptverhandlung aus der Hauptverhandlungshaft vorgeführt. Das entspricht einem Anteil von 14 % der 830 Anträge auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens im gleichen Zeitraum. In Nordrhein-Westfalen ist das Interesse an § 127 b StPO zwar überdurchschnittlich. Dort werden seit 1997 Daten zur Anwendungshäufigkeit des § 127 b StPO erhoben. So kam es im Jahre 1997 zu 141, 1998 zu 315 und 1999 zu 337 Fällen. Das entspricht 1997 ca. 6,1 %, 1998 ca. 11,3 % und 1999 ca. 12,5 % der Anträge im beschleunigten Verfahren 65. Der steigende Trend ist jedoch gebrochen. Im Jahr 2001 wurde der Beschuldigte bei 2.146 Anträgen auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren „nur“ in 162 Fällen zur letzten Hauptverhandlung aus der Hauptverhandlungshaft vorgeführt. Das entspricht einem Anteil von „nur noch“ ca. 7,5 % aller beschleunigten Verfahren. Das Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg teilte Mitte des Jahres 2000 mit, die Hauptverhandlungshaft gelange dort „nur in sehr wenigen Einzelfällen (unter fünf jährlich)“ zur Anwendung. Für das Jahr 2001 weist die Straf- und Bußgeldstatistik des Landes indes ein erheblich höheres Fallaufkommen aus. Von den 2.785 Anträgen auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren sind 289 Vorführungen aus der Hauptverhandlungshaft registriert. Das entspricht einem Anteil von über 10 % der beschleunigten Verfahren. Im ersten Quartal 2002 bestätigt sich der Trend. Bei 565 Anträgen auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren waren es 58 Fälle des § 127 b StPO. Laut Statistischem Landesamt Sachsen-Anhalt wurden 2001 65 Verfahren durchgeführt, in denen ein Beschuldigter zu der letzten Hauptverhandlung aus der Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b StPO vorgeführt wurde – und dies bei nur 151 beschleunigten Verfahren. Das entspricht einem Anteil von 43 %. In Sachsen-Anhalt hat § 127 b StPO also – gemessen an den anderen Ländern und an der Anwendungshäufigkeit der §§ 417 ff. StPO – relativ die höchste Bedeutung. Und dennoch: Trotz der zuletzt genannten Daten spielt § 127 b StPO für das beschleunigte Verfahren und erst Recht für die Strafverfolgung in der Bundesrepublik insgesamt zahlenmäßig nur eine untergeordnete Rolle. Unter Zugrundelegung der Zahlen der Statistischen Ämter wird § 127 b StPO heute – grob geschätzt – in etwas 65

Für das Jahr 2000 waren keine Daten zu erfahren.

3. Abschn.: Bedenken gegen die Anwendung

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mehr als 7 % aller beschleunigten Verfahren und in etwa 0,29 % der Verfahren vor den Amtsgerichten insgesamt angewandt. Mit dem Anstieg der Fälle beschleunigter Verfahren zwischen 1996 und 2000 um ca. 15.000 ist § 127 b StPO also kaum in Verbindung zu bringen. Die Regelung kann – wenn überhaupt – nur sehr wenig Einfluss auf das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafverfolgung genommen haben. Darüber hinaus ist das Interesse an § 127 b StPO von Land zu Land sehr unterschiedlich. Beinahe jeder zweite Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO wird in Bayern oder Niedersachsen verhängt. In der übrigen Bundesrepublik greifen die Strafverfolgungsbehörden – gemessen an den Erwartungen des Gesetzgebers – nur sehr wenig auf die Norm zurück. In einigen Ländern ist das Interesse sogar nicht wirklich nennenswert. Denkt man an den Effektivitätsansatz, klingt das Fazit zur bisherigen praktischen Anwendung des § 127 b StPO fast ein wenig grotesk: „Das jahrelange Ringen zwischen den damaligen Regierungs- und Oppositionsfraktionen um die Norm erscheint überwiegend als vergebener Einsatz von Ressourcen.“ 3. Abschnitt

Bedenken gegen die Anwendung Für die niedrigen Anwendungszahlen in vielen Ländern finden sich mehrere Erklärungen. Die Palette sich teilweise überlappender Bedenken gegen eine Anwendung reicht von „mangelnder Tauglichkeit“ über „Fehlen eines Existenzgrundes“ bis hin zur „Verfassungswidrigkeit“ des § 127 b StPO. Zweifel an der Tauglichkeit gründen sich einmal auf den hohen Organisationsaufwand für die Verfahrensdurchführung. Im Rechtsausschuss des deutschen Bundestages prognostizierte Hofmaier, die Umsetzung des § 127 b StPO werde an der personellen Lage und der Organisation der Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte scheitern 66. Beispielsweise Lemke 67 und auch Radtke 68 stützen die Ansicht. Dafür spricht auch einiges: So hängt die Anwendungshäufigkeit des beschleunigten Verfahrens entscheidend von der Entlastung des Arbeitsablaufs bei Staatsanwaltschaften und Gerichten sowie der Verbesserung personeller und technischer Ausstattungen ab. Zu diesem Ergebnis kam überzeugend Bürgle in ihrer Untersuchung zur Neuregelung des beschleunigten Verfahrens 1994 69. In diesem Zusammenhang beHofmaier (Leitender Oberstaatsanwalt/Kempten), RA-Pr 13/50, S. 5. HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 7. 68 Vgl. Radtke, NStZ 1998, 370, 371, Anm. zu OLG Düsseldorf, NStZ 1996, 613 („kurze Frist“). 69 Vgl. Bürgle, Neuregelung des Beschleunigten Verfahrens (1997), S. 59 f., und dies., StV 1998, 514, 518. Bestätigt wird ihr Fazit durch einen Blick auf die jüngere Praxis – etwa auf die in Baden-Württemberg. Dort konnte die Zahl der Anträge der Staatsanwaltschaften auf eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren von 514 Fälle 1995 auf 2.477 Fälle 1998 fast verfünffacht werden. Für das Jahr 1999 ist ein Einbruch auf 1.686 Fälle, für 2000 ein weiterer Einbruch auf 1.148 Fälle und für 2001 ein Stand von 830 Fällen zu verzeichnen. Grund für den Rückgang 66 67

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obachtete auch Dury, dass die „häufigste Schwierigkeit“ 70 bei der Anwendung des beschleunigten Verfahrens die Verfahrensorganisation ist. Ist sie aufwendig, und sind die Behörden schlecht ausgestattet, greifen die Verfolgungsorgane nicht auf die §§ 417 ff. StPO zurück. Lemke wiederum sieht den Grund für die hohen Anwendungszahlen beim beschleunigten Verfahren in Bayern und Brandenburg gerade in der Schaffung geeigneter organisatorischer und personeller Voraussetzungen dort 71. Gegenüber der „schlichten“ Verfahrensdurchführung gemäß §§ 417 ff. StPO belastet § 127 b StPO Staatsanwaltschaften und Gerichte noch erheblich mehr. Die Hauptverhandlungshaft wird in der Untersuchungshaftanstalt zugebracht. Bei Verhängung eines Hauptverhandlungshaftbefehls aufgrund § 127 b StPO muss das beschleunigte Verfahren inklusive der Fest- und Inhaftnahme des Beschuldigten organisiert werden. Dass dies innerhalb der Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 StPO ganz besondere Schwierigkeiten aufwirft, ist offensichtlich. Soweit zu erfahren war, existieren bisher in kaum einem Bundesland ministerielle Richtlinien zur Umsetzung des § 127 b StPO betreffend die Koordinierung der Arbeit von Polizei/Staatsanwaltschaft/ Richter/Vollzugsanstalt 72. ist – und dies entspricht der Einschätzung des Justizministeriums in Baden-Württemberg – eine Entscheidung des OLG Stuttgart, StV 1998, 585, 586 (Beschl. v. 11.08.1998), zur Frist zwischen Antragstellung und Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren; vgl. hierzu die Anm. von Scheffler, NStZ 1999, 268, 268 f. Nach der Entscheidung darf die Zeitspanne zwischen Antragstellung und Hauptverhandlung „nicht wesentlich mehr als zwei Wochen“ betragen; ist bereits bei Eingang des Antrags auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens für den Amtsrichter erkennbar, dass er diese Frist – beispielsweise aus personellen oder organisatorischen Gründen – nicht einhalten kann, so muss er nach der Ansicht des OLG Stuttgart den Antrag ablehnen. Wesentliche Argumente für die Auslegung waren der Wille des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucksache 12/6853, S. 36) und die Intention des beschleunigten Verfahrens. Schon mit Beschl. v. 19.06.1998 betonte das OLG Stuttgart, StV 1998, 479, dass jedenfalls die Terminierung der Hauptverhandlung auf über einen Monat nach Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens unzulässig sei. Das OLG Düsseldorf, NStZ 1997, 613, mit Anm. Radtke, NStZ 1998, 370, 370 f., hatte zuvor die „kurze Frist“ i. S. d. § 418 StPO noch als „kürzere Frist“ als die bei der Durchführung des Regelverfahrens interpretiert. Siehe zur Befristung nun auch den Beschl. des OLG Düsseldorf, StV 1999, 202, 202, und Meyer-Goßner, StPO (2003), § 418 Rdn. 5, wonach die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren in einer „Zeitspanne von 1 bis 2 Wochen“ durchgeführt werden soll. Dieser Ansicht ist auch Radtke, JR 2001, 133, 134. 70 Dury, DRiZ 2001, 207, 208. 71 HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 2. 72 Beispielsweise in Bremen gibt es zwar einen gemeinsamen Erlass des Senators für Justiz und Verfassung und des Senators für Inneres, Kultur und Sport (v. 12.10.1999) mit dem Ziel einer intensiveren Nutzung des beschleunigten Verfahrens durch die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft – § 127 b StPO wird dort aber nicht erwähnt. Seit 01.09.2002 ist allerdings in Nordrhein-Westfalen eine Richtlinie zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens in Kraft, die „Das beschleunigte Verfahren mit Hauptverhandlungshaft“ gesondert anspricht. Im Kern geht es in dem gemeinsamen Runderlass des Justizministeriums (4600-III A.64), des Innenministeriums (42.2-2706) und des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit (IV 2-6302/6304, 4 a) v. 15.07.2002, MBl. NRW

3. Abschn.: Bedenken gegen die Anwendung

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Vielleicht fundamentaler, da unmittelbarer im Gesetz verankert, sind Bedenken gegen die Voraussetzungen des § 127 b StPO. So geht der Deutsche Richterbund davon aus, dass das Wort „befürchten“ in § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO, „zu viel subjektive Bewertung“ zulasse 73. Im Rahmen einer Anhörung von Sachverständigen wurde die Befürchtung des Fernbleibens von der Hauptverhandlung als „begrifflich nicht zu fassende Voraussetzung“ qualifiziert; die Voraussetzungen der neuen Regelung seien „noch viel unklarer“ als die bestehender Haftgründe74. Wenn die Anforderungen an das mögliche Boykottverhalten des Beschuldigten nicht klar umschrieben sind, ist entsprechend auch die Abgrenzung zur Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO schwierig zu bewältigen. Ein Richter muss indes genau wissen, auf welchen Haftgrund er einen Haftbefehl stützt. Unklar erscheint auch das Verhältnis der Voraussetzungen des § 127 b StPO zu den §§ 417 ff. StPO. Die Beziehung zwischen dem Erfordernis „dringender Tatverdacht“ gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO und der Voraussetzung „Geeignetheit der Sache“ im Sinne des § 417 Abs. 1 S. 1 StPO ist nur schwer zu erschließen. Fest steht indes, dass die Nennung von „reisenden Straftätern“ und „links- bzw. rechtsextremistischen Chaostouristen“ im Gesetzgebungsverfahren zu § 127 b StPO zu ungezählten Aufrufen im Internet geführt hat, wie der Annahme einer Geeignetheit der Sache vor Ort begegnet werden kann 75. Ob die durch den Verdächtigen gestreuten Beweismittel „real“ sind, so heißt es dort zu Recht, ist „zweitrangig“76. Entscheidend ist die Erschwerung der Feststellung des Sachverhalts und damit auch des Verdachts einer Straftat. Sofern „bewusste Vernebelungen“ nicht völlig abwegig erscheinen, muss sich das Gericht intensiv mit ihnen auseinandersetzen. Für „intensive Auseinandersetzungen“ ist das Regelverfahren der geeignete Ort – nicht das beschleunigte Verfahren. Bei der Anwendung einer Haft- und Festnahmeregelung sind nachgerade auch die verfassungsrechtlichen Grenzen, wie etwa der aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Gesamtheit der Grundrechte abgeleitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 77, im Blick zu behalten. Mit der Vorführung des Beschuldigten gemäß § 230 Abs. 2 2002, S. 861, neben eher vagen Anweisungen zum Verfahrensgang um den sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich des § 127 b StPO. 73 Deutscher Richterbund, Stellungnahme, S.3, zu BT-Drucksache 13/2576. Auch der Deutsche AnwaltVerein, DAV-Pressespiegel Nr. 34/1996, S. 16, spricht sich „mit Nachdruck“ gegen die Einführung der Hauptverhandlungshaft aus und kritisiert, dass für den Erlass des Haftbefehls die „Normierung objektivierbarer Anknüpfungstatsachen“ fehle. 74 So Kempf, RA-Pr 13/50, S. 6, für den Deutschen AnwaltVerein. 75 Siehe etwa die „Infos zum Verhalten im ‚Schnellverfahren‘“ der „Antifaschistischen Aktion“ (Berlin), unter http://www.geocities.com/CapitolHill/Senate/5214/schnell_ver.html sowie i. d. S. auch http://www.ainfos.ca/98/jun/ainfos00061.html oder etwa http://www.ecoaction.org/direct/schnellv.html, wonach der Tatvorwurf bestritten und klargestellt werden soll, dass der „Sachverhalt nicht den gesetzlichen Voraussetzungen“ entspreche. 76 „Wichtig ist, daß ZeugInnen nicht sofort geladen und Fotos nicht sofort beschafft werden können.“ – so zu lesen im Internet unter http://www.eco-action.org/direct/schnellv.html. 77 Vgl. nur BVerfGE 19, 342, 348 f. („Tatschwere“).

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StPO, der Durchführung der Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Verdächtigen gemäß § 232 Abs. 1 StPO 78, der Anordnung einer Sicherheitsleistung gemäß §§ 127 a, 132 StPO 79 oder des Strafbefehls nach § 408 StPO stehen den Verfolgungsbehörden Möglichkeiten zur Hand, mit denen auf das Ausbleiben des Beschuldigten weniger intensiv als mit Haft reagiert werden kann. Die Einstellung wegen Geringfügigkeit gemäß § 153 StPO und nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen gemäß § 153 a StPO 80, die Einstellung bzw. das Absehen von Strafe gemäß § 153 b StPO, das Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 ff. StPO 81 oder der Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46 a StGB konkurrieren mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens 82. Aufgrund der Kopplung an die §§ 417 ff. StPO sind mit dem Ausschluss des beschleunigten Verfahrens im Falle des Falles auch die Hauptverhandlungshaft und die Festnahme nach § 127 b StPO ausgeschlossen. Der Erlass des Haftbefehls erübrigt sich zudem, wenn die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren unmittelbar nach der Vorführung des Verdächtigen aus Polizeigewahrsam eröffnet werden kann. Vorbehalte ergeben sich auch aufgrund der Unschuldsvermutung, die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten bzw. in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich festgeschrieben ist 83. Die Hauptverhandlungshaft bedeutet einen Freiheitsentzug, der den Beschuldigten trifft, ohne dass seine Schuld bewiesen ist 84. Gefahren antizipierter Schuldvorhaltung und Strafwirkung treten mit der Annahme des Gesetzgebers ans Licht, dass die unmittelbar auf die Tat folgende Konfrontation des Betroffenen mit den strafrechtlichen Folgen eine „erhebliche erzieherische Wirkung“ habe und dadurch auch „abschreckend“ wirke 85. Die aus der Strafrahmenbegrenzung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO ersichtliche Zielrichtung des § 127 b StPO auf kleinere und mittlere Kri78 „Wenn man ihn (den Beschuldigten) dennoch brauchte, könnte man ihn mit einem Haftbefehl oder mit einem Vorführungsbefehl holen.“ – so Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/62, S. 5323. 79 „Ich brauche das beschleunigte Verfahren dann nicht, wenn ein Beschuldigter Geld hat und ich eine Sicherheitsleistung nehmen kann.“ – so der Sachverständige Hofmaier (Leitender Oberstaatsanwalt/Kempten), RA-Pr 13/50, S.10. Siehe i.d.S. auch Asbrock (Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen), RA-Pr 13/50, S. 11, als Sachverständiger. 80 „Das beschleunigte Verfahren kann auch dann nicht zur Anwendung kommen, wenn wir nach § 153 oder § 153 a StPO die Verfahren einstellen können (...).“ – so meint Hofmaier (Leitender Oberstaatsanwalt/Bremen), RA-Pr 13/50, S. 17. 81 „Wenn der Sachverhalt wirklich überschaubar ist, wenn der Täter eine feste Wohnanschrift hat, (...) dann gibt es ein noch viel einfacheres Verfahren: den Strafbefehl, die schriftliche Erledigung.“ – so heißt es bei Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11650 f. 82 Nach Dury, DRiZ 2001, 207, 210, bestehen in der Praxis Vorbehalte vor allem dort, wo beschleunigte Verfahren an die Stelle alternativer Erledigungsarten treten. Ausdrücklich genannt sind die Erledigung durch Strafbefehl und der Täter-Opfer-Ausgleich. 83 Vgl. nur BVerfGE 19, 342, 347 („Tatschwere“). 84 „Die Hauptverhandlungshaft verletzt das Prinzip der Unschuldsvermutung.“ – so meint Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11650. 85 Vgl. wieder BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

4. Abschn.: Ziel, Methode und Aufbau der Arbeit

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minalität offenbart wegen Art. 3 Abs. 1 GG Skrupel. Derjenige, der mit § 127 b StPO speziell den Umgang mit unteren Kriminalitätsbereichen zu effektivieren versucht, setzt sich dem Vorwurf aus, die „Kleinen zu fangen, die Großen laufen zu lassen“ 86. Für den Bereich stärkerer Kriminalität müssen erst die geltenden Voraussetzungen des Untersuchungshaftrechts als Hürde der Inhaftnahme genommen werden. Auf den Grundsatz des fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. des Art. 20 Abs. 3 GG gestützte Zweifel ergeben sich zunächst aus dem Schluss, dass der Inhaftierte von Natur aus seine Verteidigung nicht so koordinieren kann wie derjenige, der sich auf freiem Fuß befindet. Jeder hat ein berechtigtes Interesse an einer „fairen Behandlung“ – von der Annahme des Tatverdachts bis hin zu dessen abschließender Beurteilung. Als Besonderheit gegenüber dem bisherigen Haftrecht ist die Zeit für eine ordnungsgemäße Verteidigung gemäß § 127 b Abs. 2 StPO auf eine Woche befristet. Es bleibt kaum Zeit zur Verteidigung. Schließlich ist dem Beschuldigten gemäß § 418 Abs. 4 StPO erst dann ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten mit oder ohne Strafaussetzung zur Bewährung zu erwarten ist. Derartige Bedenken mögen nicht selten die Strafverfolgungsbehörden von einer Anwendung des § 127 b StPO abgehalten haben und just abhalten – seien sie nun in der Organisation des Verfahrens, in der Konzeption des § 127 b StPO bzw. der §§ 417 ff. StPO oder direkt im Verfassungsrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention angelegt. Wo die Gründe im Einzelnen liegen, lässt sich heute jedoch nicht genau sagen. Eine empirische Untersuchung zu § 127 b StPO steht noch aus. Dazu kann die vorliegende Arbeit vorbereitende Dienste leisten. Die Vielfalt der aufgeworfenen Bedenken und insbesondere das rechtsstaatliche Konfliktpotential der Regelung verlangen in jedem Fall nach einer ausgewogenen Analyse der dogmatischen Zusammenhänge. 4. Abschnitt

Ziel, Methode und Aufbau der Arbeit Das wesentliche Ziel der Arbeit besteht zusammengefasst darin, die Regelung des § 127 b StPO insbesondere unter Berücksichtigung ihrer verfassungsrechtlichen Implikationen zu erforschen. Aus dem Konglomerat gewonnener Einsichten über historische Zusammenhänge, die Komplexität der Voraussetzungen, der Systematik, der Begründungsansätze sowie über das weitere Gefüge rechtsstaatlicher Ge86 Der Einsatz von Haft in unteren Kriminalitätsbereichen habe „mit Gerechtigkeit nichts zu tun“ – so Meyer (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11658. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die taz v. 12/13.10.1996 („Harte Hand für Eierdiebe. Sofortige U-Haft für Kleinkriminelle beschlossen“) und die SZ v. 12/13.10.1996 („Bundestag beschließt Hauptverhandlungshaft“).

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währleistungen wird entschieden werden, inwieweit § 127 b StPO zulässig ist und ob daran festgehalten werden soll. Die Schlussbemerkungen werden demnach nicht nur eine verfassungs- und menschenrechtliche Bilanz enthalten. Vielmehr kommt man bei einer solchen Thematik nicht umhin, rechtspolitisch Stellung zu nehmen. Im Haftrecht spiegelt sich das Verhältnis Staat, Menschen und Politik besonders deutlich. Nach Ansicht von Asbrock, Hartenbach, Herzog, Grasberger, Meyer-Goßner, Sonnen, Schlothauer/Weider und Stintzing/Hecker 87 löst § 127 b StPO das Spannungsfeld zwischen Effektivität und Rechtsstaatlichkeit unter zu weitgehender Missachtung der individuellen Belange des Verdächtigen. Diese „Vorläufer“ machen die vorliegende Auseinandersetzung indes keineswegs überflüssig. Es kann vieles noch genauer beleuchtet werden. Angesichts der laufenden Diskussion um die geplante Ausweitung des §127 b StPO in das Jugendstrafverfahren 88 ist es um so dringlicher und auch aktuell angezeigt, die Regelung umfassender zu untersuchen. Zum Ersten hat sich in wesentlichen Fragen bislang noch keine wirklich herrschende Meinung herauskristallisiert. Das Spektrum in der Literatur reicht von „unrechtsstaatlich“ bis zur mehr oder minder problematisierten „Verfassungsmäßigkeit“ 89. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich bis dato noch nicht mit § 127 b StPO befasst. Die einzige bisher in den gängigen juristischen Quellen veröffentlichte gerichtliche Entscheidung zu § 127 b StPO geht auf Fragen zur Rechtsstaatlichkeit nicht ein 90. Zum Zweiten ist hier der Blickwinkel besonders spezifiziert. Allen Genannten gemeinsam ist die eher undifferenzierte Bezugnahme auf das Prinzip der Effektivität im Strafverfahren. Stellt man jedoch § 127 b StPO den Haftgründen der §§ 112, 112 a StPO und den Festnahmerechten gemäß § 127 StPO gegenüber, zeigt sich, dass § 127 b StPO im Vergleich dazu viel elementarer mit dem Grundsatz der Effektivität in Verbindung steht. Die Schaffung eines Anreizes für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, das Verfahren zügig abzuwickeln, ist kein, wie Grasberger meint, „vom Gesetzgeber gewünschter Nebeneffekt“ 91. Das Neue an § 127 b StPO ist gerade die feste Beziehung zum beschleunigten Verfahren – gesetzlich in Abs. 1 Nr. 1 verankert. Die Funktionstüchtigkeit ist der we87 Vgl. Asbrock, StV 1997, 43, 44 f.; Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 84, und ders. NK 1996, 6, 7; Herzog, StV 1997, 215, 215 ff.; Grasberger, GA 1998, 530, 542; Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 349; Sonnen, NK 1996, 13; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 258 ff., und Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 573. 88 Siehe an dieser Stelle nur DVJJ, ZfJ 2001, 97, 97 ff., wo die einschlägigen Gesetzgebungsinitiativen zum JGG vorgestellt werden. 89 Eine Berechtigung sehen beispielsweise Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 88 ff.; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 116 ff., und Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 119. 90 AG Erfurt, NStZ-RR 2000, 46, 46 f. („Unzulässigkeit der Hauptverhandlungshaft gegenüber einem nach polizeilichem Gewahrsam wieder freigelassenen Wohnsitzlosen“). 91 Grasberger, GA 1998, 530, 538.

4. Abschn.: Ziel, Methode und Aufbau der Arbeit

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sentliche gesetzgeberische Ansatz in der Begründung des § 127 b StPO. Die allgemein als Zwecke der Untersuchungshaft diskutierten Verfahrensziele „Gerechtigkeit“, „Wahrung des Rechtsfriedens“, „Rechtssicherheit“, „Wahrheit“ und auch die „Verwirklichung des materiellen Rechts“ 92 sind in § 127 b StPO auf die Effektivitätsmaxime zugespitzt. Die „Steigerung des Vertrauens in den Rechtsstaat“ soll durch Effektivität erreicht werden, da die „rechtstreue Bevölkerung“ – angeblich und grundsätzlich – eine beschleunigte Durchführung des Verfahrens erwarte 93. Was die Beurteilung der prinzipiellen Legitimation des § 127 b StPO angeht, ist dies eine wichtige Feststellung. „Legitimation“ ist im Rahmen dieser Arbeit der Überbegriff für die „Existenzgründe“ der Norm im Sinne ihrer „zweckorientierten Berechtigung“. Wesentliche Maßstäbe für die Zulässigkeit der Legitimation sind die einschlägigen Verfassungs- bzw. Grund- und Menschenrechtsgarantien. Die Untersuchung der Legitimation des § 127 b StPO, wie der weiteren Rechtsstaatlichkeit der Norm, wird also von Verfassungsrecht dominiert – nicht etwa von kriminalpolitischen oder soziologischen Perspektiven 94. Begründungsschwächen des Gesetzgebers stehen für eine schwache verfassungsrechtliche Verankerung des § 127 b StPO. Der Umgang der Literatur und der Rechtsprechung mit dem Prinzip der Funktionstüchtigkeit muss näher ausgelotet werden, um ein Bild über dessen Stellenwert im Interessengefüge zu entwickeln. Nur nach dieser Vorarbeit kann entschieden werden, ob es einen „verfassungsrechtlich legitimen Anspruch“ gerade auf eine „rasche Bestrafung“ 95 eines Beschuldigten gibt und welches Gewicht ihm beizumessen ist. Ohne diesen Überblick lässt sich kaum darüber urteilen, ob es „unbedenklich“ 96 oder „grob verfassungswidrig“ 97 ist, dass gerade eine Ermächtigung zur Inhaft- und Festnahme Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu bewegen soll, 92 Siehe zur Rechtfertigung der Haft allgemein Paeffgen, Dogmatik des UntersuchungshaftRechts (1986), S. 13 ff. m. w. N. 93 Siehe hierzu noch einmal die Gesetzesbegründung BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 94 Wenngleich klar ist, dass sich verfassungsrechtliche, politische, soziologische etc. Perspektiven nicht strikt voneinander trennen lassen. Das hier verwendete Verständnis vom Begriff „Legitimation“ entspricht wesentlich dem von Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 41 ff., der von einer „Begrenzung der generellen Legitimation“ und gleichsam von der „Beschränkung von Rechtfertigungsgesichtspunkten“ für Untersuchungshaft durch „Verfassungsgebote“ spricht. Gemeint ist also nicht der (umfassendere Ansatz) von „Legitimierung“ als „faktisches Akzeptieren“ einer Norm in der Gesellschaft. Zur Verdeutlichung von Unterschieden sei in diesem Zusammenhang auf Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1997), S. 27 ff., verwiesen, der sich u. a. wesentlich mit Max Webers „rationaler Legitimität“ aufgrund des Glaubens an die Legalität gesetzter Ordnungen auseinandersetzt. Eine Stellungnahme zu der (im hiesigen Rahmen nicht näher zu erörternden) Luhmann’schen Konzeption der „Legitimation durch Verfahren“ findet sich bei Paeffgen, a. a. O. S. 34 ff. 95 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 122. 96 Grasberger, GA 1998, 530, 532. 97 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146.

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auf eine möglichst zügige Anberaumung der Hauptverhandlung zu achten. Gleiches gilt für die Anerkennung eines Präventionszwecks und die beabsichtigte erzieherische Wirkung des § 127 b StPO. Zwar wurde darüber im Laufe der Zeit schon viel Sinnreiches geschrieben 98. Dennoch ist vor dem Hintergrund des § 127 b StPO eine Neubetrachtung angezeigt. Die Verbindung von Haft, Festnahme und Effektivität, wie wir sie in § 127 b StPO finden, ist, wie gesagt, in der Geschichte der StPO einmalig. Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Existenzgründen des § 127 b StPO lässt sich jedenfalls mit dem eingangs aufgeführten „Rundumschlag an Rechtsstaatlichkeitsbegriffen“ des Sachverständigenrats „Schlanker Staat“ und auch des Gesetzgebers zu § 127 b StPO nicht beantworten. Die Erkenntnisse über die prinzipielle Legitimation des § 127 b StPO und damit auch über das Gewicht von Effektivität im Komplex aus Rechten und Rechtsstaatsgarantien sind für die Untersuchung der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO insgesamt sehr bedeutsam. Die Legitimation der Norm schlägt auf die weitere Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit durch. Legitimation und Rechtsstaatlichkeit bedingen sich gegenseitig. Sehr deutlich angezeigt ist das Sich-gegenseitige-Bedingen, wenn ein möglicher Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen dem Mittel § 127 b StPO und dessen Zwecken zu hinterfragen ist. Ohne Herausarbeitung der Bedeutung von Effektivität lässt sich nicht beurteilen, welche Rolle der Effektivitätsgedanke argumentativ in der Mittel-Zweck-Relation der Verhältnismäßigkeit spielen darf. Der Stellenwert von Effektivität ist darüber hinaus sehr relevant, wenn es um den Grundsatz des fairen Verfahrens und damit um die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten geht. „Schnelles Recht“ ist in unserem Kontext nur dann umso eher „gutes Recht“, je mehr sich Haft und vorläufige Festnahme gemäß § 127 b StPO auf einen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Funktionstüchtigkeit fundamentieren lassen. Es ist denkbar, dass sich die Norm durch das gesetzgeberische Ziel der Funktionstüchtigkeit als anerkanntes Gemeinschaftsinteresse mit hohem Rang rechtfertigt. Schließlich gilt der Beschleunigungsgrundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Danach hat „Jedermann“ Anspruch auf eine Entscheidung innerhalb einer „angemessenen Frist“. Rückt man die Funktionstüchtigkeit in die Nähe der Verfahrensziele „Gerechtigkeit“, „Rechtsfriede“ und „Wahrheit“, dann stellt sie in der Abwägung zwischen den Interessen im Verfahren einen unbestreitbar bedeutenden Faktor dar. Konzediert man Effektivität einen allgemeingültig hohen Stellenwert, vielleicht gar von Verfassungsrang, überwiegt leichter das Allgemeininteresse gegenüber dem Individualinteresse des Beschuldigten. Bei niedrigem Stellenwert lässt sich die Verfassungsmäßigkeit von § 127 b StPO mit dem Hinweis auf Effektivität eher nur instabil untermauern. Die Interessen des Beschuldigten an seiner individuellen Freiheit gehen dann Allgemeininteressen an seiner Inhaft- und Fest98 Die Problematik einer Verbindung zwischen Rechtsstaat und wirksamer Strafrechtspflege zu Lasten des Beschuldigten klingt schon an bei Zachariä, Gebrechen und Reform des deutschen Strafverfahrens (1846), S. 68 f.

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nahme eher vor. Da das Bundesverfassungsgericht enge Zugehörigkeiten von Effektivität und den allgemeinen Verfahrenszielen sieht 99, wird der konkreten Aussagekraft des Begriffsumfeldes aus „Gerechtigkeit“, „Rechtsfriede“ und „Wahrheit“ nachgegangen werden müssen. Mit Füllers „Hauptverhandlungshaft“ ist § 127 b StPO schon Gegenstand einer intensiveren Auseinandersetzung gewesen. Aber unabhängig davon, wo nun genau die argumentativen Schwerpunkte zu setzen sind, erscheinen die gesellschaftsorientierten Ansätze und Schlussfolgerungen von Fülber aus mehreren Gründen nicht hinreichend austariert. Zunächst geht er von der Prämisse aus, es sei unter dem Aspekt einer „Verteidigung der Rechtsordnung“ geboten, Entwicklungen wie der „signifikanten Zunahme von Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung“, der Gefahr für die „Schwächung des Vertrauens in den Bestand der Rechtsordnung“ und der sinkenden „Rechtstreue der Bürger“ durch eine „erkennbare tatzeitnahe Reaktion“ entgegen zu wirken, um die „‚Androhungsgeneralprävention‘ des Strafrechts nicht in die Bedeutungslosigkeit sinken“ zu lassen 100. Im Ergebnis sieht er in § 127 b StPO ein „sehr förderliches Instrument“, um „selbst ‚Bagatelldelikte‘ aus dem Bereich des Kernstrafrechts mit Nachdruck zu verfolgen, um ‚kriminellen Karrieren‘ möglichst schon im Anfangsstadium zu begegnen“ 101. Dieses „Szenario“ mit § 127 b StPO als einer Art „Rettungsanker“ ist im Hinblick auf offen liegende Bedenken gegen die Regelung und den heutigen Wissensstand über die Praxis der Strafverfolgung nur schwer zu bestätigen. Die weitläufig geringe Akzeptanz des § 127 b StPO zeigt, dass der generalpräventive Zweck des Strafrechts durch die Regelung praktisch kaum gestärkt wird 102. Gleiches gilt für die „Rechtstreue der Bürger“. An der „Angst der Bevölkerung“ 99 Vgl. beispielsweise BVerfGE 33, 367, 383 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“) und die Verweise auf BVerfGE 32, 373, 381 („Beschlagnahme einer ärztlichen Karteikarte des Beschuldigten“) und insbesondere auch auf BVerfGE 7, 89, 91 („Rückwirkung von Hundesteuer“), wo Funktionstüchtigkeit über das Rechtsstaatsprinzip mit Rechtssicherheit verbunden wird. 100 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 26 f. m. w. N. [Hervorhebung im Original]. 101 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 149 [Hervorhebungen im Original]. 102 Das gilt zunächst unabhängig von der Frage, wie weit der Präventionszweck einer Verfahrensnorm überhaupt zukommen darf. Vgl. hierzu allgemein etwa Günther, in: Jung/MüllerDietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 205, 209 f., und AK-Hassemer, StGB/ Bd. 1 (1990), vor § 1 Rz. 338 ff., zur engen Verbindung zwischen Strafrecht und Strafverfahrensrecht, sowie Hassemer, JuS 1987, 257, 264, zum Problem der „Funktionalisierung des Strafrechts“ aufgrund präventiver Ausrichtung. Nach Hetzer, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 47, 70, darf die Anordnung der Untersuchungshaft weder general- noch spezialpräventive Zwecke verfolgen. Schon Baumann, JZ 1969, 134, 138, ist, wenn auch differenzierend, weitestgehend gegen vorbeugende Gesichtspunkte in einem „Repressivgesetz“ wie der StPO. Siehe i. d. S. auch Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 16 ff., sowie S. 21 und dort FN 48. Nach Stein, ZStW 97 (1985), 303, 321, dienen Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Prävention; dieses Ziel werde in erster Linie durch Wahrheitsermittlung erreicht. Vgl. darüber hinaus zur neueren Entwicklung der StPO hin zum Präventionsrecht auch den Beitrag von Wolter, in: FS-Roxin (2001), S. 1141, 1143 ff.

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vor zunehmender Gewaltbereitschaft bestimmter „Täterkreise“ 103 kann die Norm bisher kaum etwas geändert haben. Die von Fülber beschworene „Breitenwirkung der Störung des Rechtsfriedens durch Massenkriminalität“ 104 wird durch § 127 b StPO offenbar ebenfalls wenig tangiert. Wenn „es gilt“, wie Fülber meint, „die ‚reisenden Straftäter‘ oder jedenfalls solche ohne festen inländischen Wohnsitz nicht weiterhin aus der Verantwortung zu entlassen“ 105, muss man sich mit Blick in die Praxis eingestehen, dass § 127 b StPO zumindest bislang kein „sehr förderliches Instrument“ zur Stärkung der Inneren Sicherheit ist. Schon angesichts der Anwendungszahlen ist also in § 127 b StPO heute nicht „das große Verdienst“ zu sehen, die Durchführung einer Hauptverhandlung (...) auch gegen eine solche Beschuldigtenklientel trotz fehlender oder zweifelhafter Fluchtgefahr zu garantieren“ 106. Fülbers eingangs seiner Arbeit gegebenem Hinweis, dass die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ gerade im Rechtsstaat „keine Eigendynamik entwickeln“ darf 107, ist zwar zuzustimmen. Auf seinen „Ausblick“ ließe sich indes gerade eine „Eigendynamik“ aufbauen. Nach Fülbers Ansicht dient § 127 b StPO „nicht allein einer den Grundsätzen des Art. 3 Abs. 1 GG sowie dem Legalitätsprinzip entsprechenden ‚gleichmäßigen‘ Strafverfolgung, sondern zugleich allgemein dem Schutz der Freiheitsrechte – denn Freiheit“, so heißt es, sei „ohne Sicherheit nicht denkbar“ 108. Hier hängt freilich vieles mit vielem zusammen. Rechte und Prinzipien sind in ihrer Wirkungsweise nicht strikt voneinander abgrenzbar. Sie haben objektive und subjektive Gehalte 109. Letztlich liegt im jeweiligen Verständnis von allen relevanten Grundrechten, Menschenrechten und Rechtsstaatsgarantien die Bruchkante zwischen einem eher gesellschaftstheoretischen oder eher individualbezogenen Ansatz kriminologischer und auch kriminalpolitischer Theorien110. Wesentlich ist 103 Vgl. allgemein zur Kriminalitätsfurcht Boers, NK 1995, 16, 16 f., und ders., NK 1994, 27, 28, sowie aufschlussreich Kunz, MschrKrim 1983, 162, 162 ff., zur Verbrechensfurcht als Gegenstand der Kriminologie und als Faktor der Kriminalpolitik. 104 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 82. 105 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 149 [Hervorhebung im Original]. 106 Anders jedoch die Wertung von Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 149. 107 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 26 f. m. w. N. auf BGHSt 14, 358, 365 („heimliche Tonbandaufnahme als unzulässiges Beweismittel“). 108 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 149 f. [Hervorhebung im Original]. 109 Daher werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Prinzipien, Grund- und Menschenrechte als Elemente des Rechtsstaats hier nicht näher definiert; vgl. zur gegenseitigen Ergänzung und auch Abhängigkeit sowie zur objektiven (eher „rechtsstaatsbildenden“) und zur subjektiven (eher „individualschützenden“ und auch „anspruchsbegründenden“) Dimension der Elemente die Sicht von Alexy, Theorie der Grundrechte (1996), S. 133 ff., S. 142, S. 159 ff., sowie ders., Der Staat 29 (1990), 49 ff. 110 Vgl. zum theoretischen Hintergrund eingehender Hassemer, FS-Lange (1974), S. 501, 502 ff.; Braum, KritV 1995, 371, 375 ff., 379 f., und auch Wolter, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 267 ff., der das Fehlen einer Gesamtkonzeption, eines menschenrechtsorientierten und europäischen Ansatzes beklagt, sowie ders., a. a. O.

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die Sicht auf die Wirkung der Grund- und Menschenrechte als eher staatsunabhängig-individualschützend oder eher als Fundament einer „öffentlichen Werteordnung“. Die offene Interpretierbarkeit des Systems muss sich in der Untersuchung der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO widerspiegeln. „Entscheidend ist“ – so lässt sich in Anlehnung an Larenz/Canaris als grundlegende Methode der vorliegenden Untersuchung formulieren – „daß das Denken (...) nicht ‚linear‘, nur in einer Richtung, fortläuft, sondern stets gegenläufig ist“ 111. Das heißt, der Gehalt an Funktionstüchtigkeit in § 127 b StPO steht in Abhängigkeit bzw. in „wechselseitiger Erhellung“ 112 mit einem jeweils bestimmten Verständnis von der umfassenden grund- und menschenrechtstheoretischen Gemengelage. Je nach Sichtweise und Anerkennung einer „öffentlichen Werteordnung“ ergeben sich völlig unterschiedliche Ansprüche an die Effektivität von Verbrechensbekämpfung und der Wirkung des Prinzips. Verständlicherweise wird die vorliegende Arbeit die Spannungsfelder zwischen Staat, Individuum und Gemeinschaft nicht allgemeingültig neu definieren können. Zudem darf keine abschließende Antwort auf Weigends Frage, „wo die normativen Grenzen einer Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens liegen“ 113, erwartet werden. Es kommt wohl auch gar nicht so sehr darauf an, einen „Schlusspunkt“ zu finden: Die Argumentation in der Abwägung ist entscheidend. Es gibt Gründe für und Gründe gegen Effektivität – genauso, wie es Gründe für und gegen § 127 b StPO gibt. Im konkreten Abwägungsvorgang kann Fülbers Anerkennung eines der Allgemeinheit zustehenden „Menschenrechts“ bzw. „Grundrechts auf Sicherheit“ 114 nicht unerwidert bleiben. Auf nichts anderes läuft seine Sicht hinaus, Haft und Festnahme dienten allgemein dem „Schutz der Freiheitsrechte“, denn Freiheit sei ohne Sicherheit „nicht denkbar“. Insoweit – und auch sonst – werden Akzente hier anders als von Fülber gesetzt werden. Zu den Untersuchungen, ob § 127 b StPO so in das vom Grundgesetz vorgegebene rechtsstaatliche Gesamtgefüge passt 115, bietet es sich an, auf Diskussionen zur Dogmatik des Untersuchungshaftrechts in Rechtsprechung und Lehre zurückzugreifen. Insbesondere sind die vom Bundesverfassungsgericht und dem EuroS. 267, 273 ff., zur Skizze einer liberalen und sozial-rechtsstaatlichen Strafprozesstheorie. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Jung, in: FS-Lüke (1997), S. 323, 329, sowie Jung, in: FS-Waltos (2000), S. 27, 29, insbesondere zum „crime control“ und zum „due process model“ – zurückzuführen auf H. Packer, University of Pennsylvania Law Review 113 (1994), 1, 1 ff. 111 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S.304, über die Bedeutung der Rechtsprinzipien für die Systembildung [Hervorhebungen im Original]. 112 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 304. 113 Weigend, ZStW 113 (2001), 271, 275. 114 Vgl. grundlegend hierzu Isensee, Grundrecht auf Sicherheit (1983), S.34 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 20 ff.; und kritisch Jung, Sanktionensysteme (1992), S. 73, und ders., StV 1990, 513, 509. 115 Ganz i. S. v. Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil I (1964), Rdn. 99, der die StPO „Ausführungsgesetz zum GG“ nennt. Das entspricht auch der Maxime von Dünnebier, MDR 1964, 965, 968: „Die Strafprozeßordnung ist an jeder Stelle vom Grundgesetz her auszulegen“.

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päischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Parameter als Gradmesser der Überprüfung der rechtsstaatlichen Prinzipien anzulegen. Denn die Konfrontation von Strafverfolgungs- mit Freiheitsinteressen ist bei der Hauptverhandlungshaft ähnlich gelagert wie bei Untersuchungshaft aufgrund §§ 112, 112 a StPO. Jedenfalls stellen die verschiedenen Zwangsermächtigungsnormen zur Verfahrenssicherung auf Haft als tief greifenden Eingriff in die Freiheit des Menschen ab. Der Betroffene hat jeweils die Trennung von Familie, sozialem Umfeld und Beruf zu fürchten. Ein das Verhalten sanktionierendes Urteil ist im Zeitpunkt der Zwangsanwendung noch nicht gesprochen. Es muss auch später nicht zwingend ergehen. Die Haftgründe der Wiederholungsgefahr im Sinne des § 112 a StPO und der Tatschwere gemäß § 112 Abs. 3 StPO verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit 116 – nicht zuletzt wegen ihrer spezial- und generalpräventiven Intention. Offenbar kann es in den Anwendungsbereichen des § 127 b StPO, der Festnahmerechte nach § 127 StPO und den Haftgründen der §§ 112, 112 a StPO auch zu Überschneidungen kommen. Es gilt daher, das Verhältnis der neuen zu den bisherigen Regelungen herauszuarbeiten. Zwischen § 127 b StPO, § 127 StPO und §§ 112, 112 a StPO zeigen sich schon vom Wortlaut her auffallende Parallelen, die zur Auslegung der Voraussetzungen der neueren Regelung herangezogen werden können. Die Verhängung des Haftbefehls nach den Haftgründen der §§ 112, 112 a StPO setzt, wie § 127 b Abs. 2 StPO, „dringenden Tatverdacht“ voraus. Auch die „Befürchtung des Fernbleibens“ zur Hauptverhandlung aufgrund „bestimmter Tatsachen“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO lässt auf den ersten Blick eine sachliche Nähe zu den Haftgründen Flucht und Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1, 2 StPO vermuten. „Bestimmte Tatsachen“ sind auch für die Begründung der Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO erforderlich. Die Festnahmerechte des § 127 StPO gelten, wie § 127 b StPO, jeweils nur gegenüber „auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten“. Nicht zuletzt gibt die systematische Eingliederung der neuen Regelung in den neunten Abschnitt des ersten Buches der StPO einen Hinweis auf die Nähe der Zwangsmaßnahmen untereinander. Ob es sich beim beschleunigten Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO eher um ein „heimtückisches und hinterhältiges Instrument der Strafverfolgungsbehörden“ handelt, das das „Ende eines rechtsstaatlichen und gerechten Strafprozesses“ einläutet 117, ob es „außer offenkundiger Geringschätzung für die strafrechtliche Aufgabe keine Systematik erkennen lässt“ 118 und daher abzuschaffen ist 119 oder ob die 116 Vg. BVerfGE 35, 185, 185 ff. („Wiederholungsgefahr“), sowie BVerfGE 19, 342, 342 ff. („Tatschwere“). 117 Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11650. 118 So der Deutsche AnwaltVerein, RA-Pr 12/120, S. 302 ff., zu BT-Drucksache 12/6853. 119 Für eine Abschaffung des Verfahrens ist Scheffler, NJW 1994, 2191, 2195; ders., NJ 1999, 113, 118; ders., NStZ 1999, 269, 269 ff. Kritisch äußert sich auch Bürgle, StV 1998, 514, 514 ff. Sprenger, NStZ 1997, 574, 576, zweifelt an der praktischen Wirksamkeit. Siehe da-

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Ausweitung der Verfahrensart „grundsätzlich Unterstützung“ verdient 120, soll bedacht, aber nicht umfassend durchleuchtet werden. Eine dogmatische Untersuchung der Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO ist also nicht unmittelbar Gegenstand der Arbeit. Dennoch müssen Voraussetzungen und Erwartungen, die an § 127 b StPO gestellt wurden, in Zusammenhang mit den §§ 417 ff. StPO gesehen werden. Der Verweis in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO auf §§ 417 ff. StPO zwingt dazu. Die Voraussetzungen und die Systematik des § 127 b StPO werden im 2. Kapitel der Arbeit untersucht. Dort geht es im 1. Abschnitt um die materiellen Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft. Diese sind das Kernstück des § 127 b StPO als Haft- und Festnahmenorm. Zunächst wird die Konzeption des Haftgrundes vorgestellt und danach das Verhältnis zu Haft gemäß §§ 112, 112 a StPO. Im Folgenden wird die Voraussetzung „den der Tat dringend Verdächtigen“ gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO und die Verbindung zum beschleunigten Verfahren nach Abs. 1 Nr. 1 untersucht. Das Verhältnis des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO zum dringenden Tatverdacht gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO wirft Abgrenzungsfragen auf. Diese sind aufzuzeigen und zu beantworten. Ebenso soll mehr Klarheit in die Wahrscheinlichkeitsprognose im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO gebracht werden. Es soll deutlich werden, inwieweit die Erwartung der Durchführung der Verhandlung binnen einer Woche gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO die Prognose des Abs. 1 Nr. 1 subjektiviert und den Zeitrahmen zur Entscheidung im beschleunigten Verfahren im Sinne des Abs. 1 Nr. 1 konkretisiert. Im weiteren Verlauf wird die Geeignetheit der Sache für das beschleunigte Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO aufgezeigt. Insgesamt soll in diesem Abschnitt auch eine Vorstellung von dem möglichen „sachlichen“ Anwendungsbereich des § 127 b StPO gewonnen werden. Die im Anschluss an die Untersuchung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO behandelte Haftgrundkomponente des Abs. 1 Nr. 2 erlaubt nähere Rückschlüsse auf den potentiellen „persönlichen“ Anwendungsbereich der Hauptverhandlungshaft. § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO umschreibt das erwartete Boykottverhalten des Beschuldigten. Der Terminus Befürchtung wird mit Gefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verglichen sowie auch Fernbleiben mit Flüchtig-sein und Sich-entziehen gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1, 2 StPO. Im 2. Abschnitt des 2. Kapitels werden die formellen Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls erläutert. Hierbei geht es im Wesentlichen um die Zuständigkeit nach § 127 b Abs. 3 StPO, das verfahrensrechtliche Verhältnis von Haft zur rüber hinaus auch Herzog, ZRP 1991, 125, 128, der – aus grundlegenden Erwägungen – schon die §§ 212 ff. StPO (a. F.) abgeschafft sehen wollte. 120 So die Grundeinstellung von Haft, RA-Pr 12/120, S. 39, 44 f., zu BT-Drucksache 12/6853, wenngleich er gegen §§ 417 ff. StPO dennoch „teilweise schwerwiegende Bedenken“ äußert. Für eine vermehrte Anwendung des Verfahrens nach geltendem Recht sind beispielsweise Dury, DRiZ 2001, 207, 207, und besonders Herzler, NJ 2000, 399, 406. Nach Herzler heißt es: „Das Beschleunigte Verfahren hat sich bewährt, das Verfahren wird allseits akzeptiert, seine organisatorische Einordnung bereitet keine Probleme“. 4 Giring

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Festnahme gemäß §127 b Abs.1 StPO und §127 StPO, um die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft sowie um die Befristung des Haftbefehls nach §127 b Abs. 2 S. 2 StPO. Der 3. und letzte Abschnitt des 2. Kapitels widmet sich zentral dem Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO. Hier wird zunächst das grundlegende Verhältnis zu § 127 StPO dargestellt. Danach werden Entsprechungen gleich lautender formeller Voraussetzungen in § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 Abs. 2 StPO aufgezeigt. Auch im Rahmen der Untersuchung der materiellen Voraussetzungen des Festnahmerechts nach § 127 b Abs. 1 StPO sind Parallelen zu § 127 StPO auffällig. Beispielsweise kommt das Merkmal „frische Tat“ in beiden Regelungen vor. Dennoch ist bei jeder Auslegung daran zu denken, dass § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 StPO unterschiedliche Festnahmerechte enthalten. Der Kreis der Festnehmenden ist nicht identisch, und ein ausdrücklicher Verweis auf die §§ 417 ff. StPO findet sich nur in § 127 b Abs. 1 StPO. Davon losgelöst wird in der Literatur eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Voraussetzungen des Festnahmerechts nach § 127 b Abs. 1 StPO und nach § 127 StPO gesehen. Ob § 127 b Abs. 1 StPO entsprechend § 127 Abs. 2 StPO „Gefahr im Verzug“ verlangt 121, ist eine bisher ungelöste Frage. Des Problems wird man sich annehmen müssen. Gleiches gilt für die Frage, ob die Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO alle Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft – also auch deren Verhältnismäßigkeit und dringenden Tatverdacht – verlangt 122. Was schließlich § 127 b Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 StPO betrifft, so sind dies zwar Festnahmevoraussetzungen und über Abs. 2 S. 1 gleichzeitig auch Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls. Dennoch sind die zur Untersuchung der Haftbefehlsvoraussetzungen gewonnenen Ergebnisse nicht ohne weiteres übertragbar. Bei der Auslegung der Festnahmevorschrift § 127 b Abs. 1 StPO ist das situativ besonders begrenzte Beurteilungsvermögen der Festnehmenden auch besonders zu würdigen. Die gemeinsame und ineinander übergreifende Betrachtung der Voraussetzungen und der Systematik des § 127 b StPO zum Untersuchungshaftrecht gemäß §§ 112, 112 a StPO und zu den Festnahmerechten nach §127 StPO in einem einzigen Kapitel dient dem besseren Verständnis für die Regelung. Die sehr komplexen Problemfelder, die die Voraussetzungen und die Konzeption des § 127 b StPO mit sich bringen, werden deutlicher, wenn jeweils Parallelen zu verwandten Zwangsmitteln unmittelbar gezogen werden. Letztlich hängt vielfach die Auslegung einzelner Voraussetzungen vom jeweils anzunehmenden Verhältnis der Zwangsmaßnahmen untereinander ab. Da als ein mögliches Fazit der Arbeit die Empfehlung im Raum steht, §127 b StPO ersatzlos zu streichen, ist zumindest am Rande auf Änderungsvorschläge seitens der Literatur einzugehen. 121 Vgl. hier nur Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149, und Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 95 f. 122 Vgl. hier LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 18, und KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 5, wonach „dringender Tatverdacht wie bei § 127 b II (...) nicht erforderlich“ ist.

4. Abschn.: Ziel, Methode und Aufbau der Arbeit

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Die Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO wird im 3. Kapitel untersucht. Schon allein aufgrund des bisher Gesagten zeigt sich, dass die Rechtsstaatlichkeit wohl die dogmatisch brisantesten Fragestellungen aufwirft. Sie lassen sich erst nach gründlicher Kenntnis der Voraussetzungen und der systematischen Konzeption des § 127 b StPO angehen. Man muss schließlich genau wissen, womit man es zu tun hat. Zunächst bedeutet die Untersuchung der Rechtsstaatlichkeit die Exegese der prinzipiellen Legitimation des § 127 b StPO (1. Abschnitt). Spätestens vor dem Hintergrund der Mittel-Zweck-Relation des Verhältnismäßigkeitsprinzips wird klar, weshalb die Prüfung der einschlägigen Grundrechte, Menschenrechte und Rechtsstaatsprinzipien (2. Abschnitt) und die Zulässigkeit der Legitimationsansätze in einem Kapitel behandelt werden. Beides hängt miteinander zusammen. Die Betrachtung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als zentralem Legitimationsansatz zwingt zu einer Auseinandersetzung mit Inhalt, Ausdruck und Bedeutung, die diesem Prinzip seitens der Literatur und des Bundesverfassungsgerichts beigemessen werden. Danach wird zusammenfassend über den Stellenwert der Funktionstüchtigkeit geurteilt, und es werden Konsequenzen für die weitere Untersuchung der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO herausgestellt. Die Darlegung der Legitimation beinhaltet neben Effektivität auch eine Untersuchung der Sicherung der Anwesenheit, des Präventionszwecks und der erzieherischen Wirkung. All dies sind Zwecke, die § 127 b StPO zugeschrieben werden könnten. Die Beurteilung des präventiven und erzieherischen Ansatzes einer Verfahrensnorm erfolgt notwendig unter besonderer Einbeziehung der Unschuldsvermutung im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EMRK, des Art. 20 Abs. 3 GG bzw. der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG. Die Sicherung der Strafvollstreckung gehört nicht „gleichberechtigt“ in die Riege zu überprüfender Legitimationsansätze. § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO begrenzt das mögliche Fernbleiben des Verdächtigen offenbar auf die „Hauptverhandlung“. Die Strafvollstreckung ist zumindest nach dem Wortlaut der Regelung recht deutlich ausgeklammert. Sodann wird § 127 b StPO im Gefüge verfassungsrechtlicher Gewährleistungen analysiert (2. Abschnitt). Zur Untersuchung jedes einschlägigen Rechtsstaatsinstituts werden theoretische Grundaussagen erarbeitet, an denen § 127 b StPO dann konkret gemessen wird. Aufbauend auf den vorangehenden Erläuterungen zur Effektivität wird die Hauptverhandlungshaft im Lichte der Grundrechte und anderer rechtsstaatlicher Institute des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention gewürdigt. Wegen der Möglichkeit des Freiheitsentzugs von einer Woche ist primär die Betrachtung des Grundrechts der persönlichen Freiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG geboten. § 127 b StPO ist nur dann rechtsstaatlich, wenn es sich um eine verhältnismäßige und bestimmbare Schranke im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG handelt, die dem Grundsatz der Unschuldsvermutung Rechnung trägt. In Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird zunächst geklärt, ob § 127 b StPO zur Verfahrenssicherung überhaupt geeignet und erforderlich ist, um 4*

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die Verwirklichung des materiellen Strafrechts sinnvoll durchsetzen zu können. Hier kommen also Alternativen ins Spiel wie die Vorführung des Beschuldigten nach § 230 Abs. 2 StPO, die Durchführung der Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Verdächtigen nach § 232 Abs. 1 StPO, die Anordnung einer Sicherheitsleistung gemäß § 127 a StPO bzw. § 132 StPO, der Strafbefehl nach Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 408 a StPO und der nach wie vor in der Diskussion befindliche elektronisch überwachte Hausarrest. Der in den Polizeigesetzen der Länder geregelte Polizeigewahrsam wird hier nicht als Option zur Haft- und Festnahme aufgrund § 127 b StPO in Erwägung gezogen. Zum einen handelt es sich bei der Freiheitsentziehung – die je nach Bundesland bis zu zwei Wochen dauern kann – 123 kaum um eine mildere Maßnahme. Zum anderen ist die Ausrichtung des Polizeigewahrsams rein präventiv. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Abwägung zwischen dem Mittel § 127 b StPO und seinen legitimen Zwecken. Hier wird zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Stellung bezogen. Dies geschieht wesentlich unter Berücksichtigung möglicher Wirkungen von Art. 1 Abs. 1 GG, 19 Abs. 2 GG, 20 Abs. 3 GG, 79 Abs. 3 GG und 104 Abs. 1 S. 2 GG. Die Europäische Menschenrechtskonvention spielt nicht zuletzt über Erkenntnisse aus den bisherigen Ausführungen zur Funktionstüchtigkeit in die Abwägung hinein. In der folgenden Untersuchung der Unschuldsvermutung werden „Gefahren antizipierter Schuldvorhaltung“ aufgrund dringenden Tatverdachts und der Koppelung von Haft und Festnahme an das beschleunigte Verfahren gewürdigt. Des Weiteren wird die Problematik der „Strafwirkung“ untersucht. Vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung ist auch die „Verfahrenssprache“ im Umfeld von § 127 b StPO („reisende Straftäter“, „Gewalttäter“ etc.) von Interesse. Die sich anschließende Prüfung des Bestimmtheitsgrundsatzes bezieht Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ein. Bevor über die Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Norm entschieden wird, werden unter der Überschrift „Flexibilität versus Kontrollierbarkeit“ Vor- und Nachteile der Formulierungen und der Systematik des § 127 b StPO einander gegenübergestellt. Der Untersuchung des Freiheitsrechts des Beschuldigten gemäß Art.2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG folgt die Untersuchung eines möglichen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Gewürdigt wird, ob es dem Gleichheitsgrundsatz noch entspricht, dass gerade die Gruppe der Straftäter, für die ein beschleunigtes Verfahren in Frage kommt, mit einer einwöchigen Haft rechnen muss, während für den Bereich stärkerer Kriminalität die strengeren Voraussetzungen der §§ 112, 112 a StPO erfüllt sein müssen. Zu Vorwürfen der „Systemwidrigkeit“, der „Systemlosigkeit“ und der „Diskriminierung“ wird Stellung genommen. Am Ende der Rechtsstaatlichkeitsprüfung widmet sich die Untersuchung dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Geprüft wird, ob eine Woche im Sinne des § 127 b 123

Vgl. etwa Art. 17 bayPAG, § 28 BWPolG, § 22 SachsPolG.

4. Abschn.: Ziel, Methode und Aufbau der Arbeit

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Abs. 2 StPO ausreichende Zeit und Gelegenheit darstellt, die dem Beschuldigten nach Maßgabe des Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK zur Verteidigung zur Verfügung gestellt werden muss 124. Im Anschluss an die Darstellung des Bedeutungsinhalts des Grundsatzes wird der eigene Standpunkt zu konkreten Spannungsfeldern zwischen dem Anspruch auf ein faires Verfahren und § 127 b StPO erarbeitet. Ausgehend von der Tatsache, dass § 127 b StPO das haft- und das festnahmerechtliche Instrumentarium der StPO erweitert, soll alledem jedoch zunächst einmal ein Überblick über den historischen Hintergrund der Regelung vorangeschickt werden (1. Kapitel). Der Blick auf historische Vorläufer des § 127 b StPO seit Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung (RStPO) hat nicht nur informatorischen Wert. Die geäußerten Bedenken gegen § 127 b StPO werden aufgegriffen und in historischen Zusammenhang gebracht. Einen ersten Ertrag bilden „Erste Schlussfolgerungen und Mahnungen“ im 2. Abschnitt des 1. Kapitels. Der frühe Standort der „Schlussfolgerungen“ mag überraschen. Er ist indes bewusst gewählt. Die Ausführungen bilden gewissermaßen das Dach über allem Folgenden. Sie sollen nicht voreilig zu einer bestimmten Meinung „verführen“. „Sensibilisieren“ ist das richtige Wort. Die geschichtlichen Zusammenhänge geben einen ersten Eindruck davon, ob es sich bei § 127 b StPO eher um eine liberal-rechtsstaatliche, das heißt eine im Sinne freiheitlicher Traditionen des Grundgesetzes stehende Regelung handelt, oder eher um einen Rückschritt in überholt geglaubtes Prozessrecht.

124 „Beschuldigte (...) werden in der Kürze der Zeit auch keinen geeigneten Verteidiger finden, der sich ihrer Sache annimmt.“, Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11651.

1. Kapitel

Der historische Hintergrund des § 127 b StPO 1. Abschnitt

Überblick über Haft und Festnahme seit Inkrafttreten der RStPO A. Allgemeine und spezielle Zusammenhänge Im Laufe der Zeit haben sich die Zielrichtungen der StPO vielfach geändert. So sind die Intentionen der Prozessordnung seit Inkrafttreten des Grundgesetzes andere als im Kaiserreich und andere als danach, in der Zeit der Weimarer Republik. Und diese wiederum unterschieden sich ganz wesentlich von denen des Nationalsozialismus. Im Dritten Reich wurden, wo immer es gerade angebracht schien, Gesetzesbindungen aufgeweicht und Einbrüche in das Verfahrensrecht auf außerprozessuale Gesichtspunkte gestützt. Das Verfahrensrecht im totalitären Staat gibt eher den wie auch immer gearteten Verfolgungsinteressen der Allgemeinheit Vorzug 1. Der demokratische Rechtsstaat begrenzt eher – wie in der Einführung er1 Der erste Richtpunkt der „neuen Staatsidee“ im Dritten Reich war der „Schutz des Staates selbst“, vgl. Hartung, JR 1933, 145, 145, mit Hinweisen auf die VO gegen den „Verrat am deutschen Volk“ (RGBl. I, S. 85) und die 5. VO „zum Schutz von Volk und Staat“ (RGBl. I, S. 83), jeweils v. 28.02.1933 – ein Tag nach dem Reichstagsbrand. Damit waren die Grundrechte außer Kraft und eine Verhaftungswelle gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, Juden und gegen andere für „missliebig“ erachtete Personen in Gang gesetzt, vgl. hierzu etwa Müller-Dietz, Jura 1991, 505, 506. Ders., a. a. O. S. 509 f., sieht in der Abschaffung verfassungsrechtlich anerkannter Grund- und Menschenrechte das erste Merkmal nationalsozialistischen Rechtsdenkens und der -praxis. „An deren Stelle traten stattdessen“, so ders., a. a. O. S. 509 m. w. N., „Grundpflichten, die das Individuum zur Disposition des ‚Ganzen‘ – worunter Volk, Partei und Staat verstanden wurden – stellten“ [Hervorhebung im Original]. Sehr deutlich wird die nationalsozialistische Ideologie vom „Schutz des Volkes vor destruktiven Elementen“ als Zweck des Strafrechts in den Ausführungen des späteren Staatssekretärs im Reichsjustizministerium (und ab August 1942 Präsidenten des Volksgerichtshofs) Freisler, in: Nationalsozialistisches Strafrecht (1933), S.6 ff. In gleichem Sinne fielen die Worte von Freisler, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht (1934), S. 9, 12 f.: „Und aus der Erkenntnis des Strafrechts als Kampfrecht folgt ebenso selbstverständlich das Ziel dieses Rechts, den Gegner nicht nur zu bekämpfen, sondern zu vernichten“; Zwecksetzung des Strafrechts sei die „Volkssicherung“. Hrsg. Gürtner war zu dieser Zeit Reichsjustizminister. Vgl. allgemein auch Eb. Schmidt, NJW 1969, 1137, 1140, zur „Auflockerung“ der bindenden Formen des Prozesses als „Prozeßziel“ in der damaligen Zeit.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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wähnt – das Interesse an der Aufklärung einer Tat mit Rücksicht auf Rechte des Einzelnen 2. So ist das Strafprozessrecht symptomatisch für das in der Verfassung vorgesehene Verhältnis zwischen Staat und Beschuldigtem. Das wissen wir. Roxins Bild vom „Strafverfahrensrecht als Seismograph der Staatsverfassung“ 3 macht die Abhängigkeit von Verfahrens- und Verfassungsrecht treffend deutlich: Das Strafprozessrecht ist fest mit dem Verfassungsrecht verwoben, ohne dass die Bindung ein starrer Zusammenschluss wäre. Denn die Ausgestaltung des Prozessrechts geht maßgeblich einher mit den – wie C. J. A. Mittermaier schon im 19. Jahrhundert herausstellte – „politischen, socialen und sittlichen Zuständen eines Volkes“ 4. Die Politik greift in der Gesellschaft aufgekommene Emotionen auf. Diese sind nicht selten der Schrittmacher. Und der Gesetzgeber fasst sie, je nach Durchsetzbarkeit, in abstrakt-generelle Regelungen 5. Mit Alsberg formuliert, ist die Geschichte des Strafverfahrensrechts die „Geschichte der politischen Ideen“ 6. Seit Rawls kennen wir die These 7, wonach sich die moderne Gesellschaft aus Individuen mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Interessen zusammensetzt, die aber dennoch in der Lage sind, einen gemeinsamen Gerechtigkeitsbegriff zu entwickeln, der als solide Grundlage für gesellschaftliches Zusammenleben dienen kann. Sein Gerechtigkeitsbegriff zielt wesentlich auf die Abschaffung willkürlicher Unterschiede und die Schaffung von Einrichtungen, die ein angemessenes Gleichgewicht gegenläufiger Ansprüche herstellen können. Herrscht zwischen den Bürgern eine weitgehende soziale und auch wirtschaftliche Ausgeglichenheit, zielen in der Tat Politik, Gesetzgeber und Strafrecht entsprechend eher auf Beibehaltung und Ausbau des Ausgleichs. Ist in der Bevölkerung etwa das Bedürfnis nach mehr Sicherheit verbreitet, streben auch die Politik, der Gesetzgeber und das Strafrecht vermehrt nach dem Schutz potentiell Gefährdeter. Das war in der Geschichte 2 s. o. Einf., 1. Abschn. und dort FN 18, sowie an dieser Stelle Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 2 Rdn. 5 ff., und Sellert/Rüping, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege (1994), S. 239 f. m. w. N. 3 Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 2 Überschrift zu Rdn. 1. 4 C. J. A. Mittermaier, Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren (1856), S. 131 ff. Nach Naucke, RhJ 1992, 279, 290 f., war die wesentliche Bedingung für ein „erträgliches Strafrecht“ in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1989 der weitgehende Konsens über bestimmte Grundwerte bei einem hohen Grad an sozialer Gleichheit – nicht reines Gerechtigkeitsstreben. 5 Das Strafprozessrecht, so Hassemer, KritV 1988, 336, 338, ist demnach nicht nur ein Indikator für die rechtliche, sondern auch für die politische Kultur. Aus anderer Perspektive – aber dennoch in diese Richtung sehend – formuliert Tiedemann, JZ 1980, 489, 492: „Im weiteren Sinne meint Kriminalpolitik ganz allgemein die Frage, wie das Strafrechtssystem gestaltet sein muß, um seinen Zweck: Die Sicherung der Grundlagen des sozialen Lebens möglichst optimal zu erreichen.“ Vgl. auch allgemein Noll, Gesetzgebungslehre (1973), S. 86 ff. 6 Alsberg, JW 1925, 1433, 1438. 7 Vgl. Rawls, Philosophical Review, vol. LXVII 1958, 164 ff. Eine kurze, aber prägnante Kritik zu Rawls Theorie der Gerechtigkeit findet sich bei Kaufmann, in: FS-Schüler-Springorum (1993), S. 415, 419 f., u. a. mit Verweis auf die Kritik von Habermas.

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der StPO fortwährend so. Die „most extensive liberty for each person“, die Rawls in den Mittelpunkt seiner Idee der Gerechtigkeit stellt 8, blieb jedoch in keiner Epoche annähernd unangetastet. Das heißt mit anderen Worten: Wenn von politischen und sozialen Krisen die Rede war, wenn das „Gemeinwohl“ in Frage gestellt schien, sprach sich die Politik für ein „forscheres“ Vorgehen gegen Beschuldigte aus. Reformen wurden – von allen politischen Lagern – stets auch als Bekräftigung bestimmter Werte genutzt. Die „weitestgehende Freiheit des Individuums“ wich nicht selten dem Schutz angeblicher Allgemeininteressen. Die ineinandergreifenden und sich gegenseitig bedingenden Antriebe änderten sich fortwährend. Sie bewegten nicht nur Gesetze. Die Strafverfolgungsorgane griffen jeweilige politische und gesellschaftliche Richtungen auf. Die Rechtsanwendung ist nicht immer abhängig von einer Gesetzesänderung. Sie untersteht Einflüssen politisch vorherrschender Stimmungen. Es sind also sowohl die Ausgestaltung als auch die Umsetzung des Strafprozessrechts in stetigem Fluss. Zusammengefasst spiegeln demnach die Prozessordnung und die Strafverfolgungspraxis kein beständiges in der Verfassung vorgesehenes Verhältnis zwischen Staat und Beschuldigtem wider. Kennzeichnend sind die jeweilige „Stimmung in der Gesellschaft“ und die wechselnde politische Akzentuierung des Staates in der Kriminalitätsbewältigung 9. Diese Überlegungen lassen sich im Grunde eins zu eins auf das Haftrecht übertragen. Sie finden sich dort besonders bestätigt. Kaum ein Zwangsmittel der Prozessordnung hat eine so wechselvolle Geschichte hinter sich wie die Untersuchungshaft. In den einzelnen verfassungsgeschichtlichen Phasen zeigt sich ein alternierendes Auf und Ab der Interessen des Beschuldigten und der Allgemeinheit. Änderungen wurden diskutiert, beschlossen, zurückgenommen, verschärft und entschärft, um einer „allseits befriedigenden Lösung“ wenigstens annähernd zu entsprechen – auch während der Geltung langlebiger Grundstrukturen wie beispielsweise Art. 1 Abs. 1 GG als oberstes Gebot des Grundgesetzes und der im Kern unverrückbaren Garantien des Art. 20 Abs. 3 GG 10. Keineswegs gaben Verfassungsreformen immer den Ausschlag für wesentliche Haftrechtsänderungen. Gleichsam stieg und fiel das Verhaftungsrisiko unabhängig von einer Veränderung im Haftrecht und ohne, dass das jeweilige Maß an Kriminalität ausschlaggebend gewesen sein müsste. Aus Zeiten vor Inkrafttreten des Grundgesetzes sind als bedeutsame Einschnitte in das prozessuale Haftrecht die Haftgründe der „Erregung der Öffentlichkeit“ und 8 Vgl. Rawls, Philosophical Review, vol. LXVII 1958, 164, 165, wo es markant heißt: „Each person participating in a practice or affected by it, has an equal right to the most extensive liberty compatible with a like liberty for all“. 9 Vgl. hier nur Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1179 f.; Seebode, StV 1989, 118, 120, sowie P.-A. Albrecht, in: P.-A. Albrecht/Hassemer/u. a. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 429, 433 ff., wenn auch mit dem materiellen Recht als Schwerpunkt. 10 Vgl. Art. 79 Abs. 3 GG.

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der „fortdauernden Gefährlichkeit“ aus dem Jahr 1935 zu nennen 11. Danach sind es die Haftgründe „Wiederholungsgefahr“ und „Tatschwere“, eingeführt durch die „Kleine Strafprozessnovelle“ von 1964 12, um bestimmten Bereichen der schweren Kriminalität auch präventiv zu begegnen. Kaum schien nach dieser Reform – die auch wesentliche Fortschritte im Ausbau der Subjektstellung des Inhaftierten mit sich brachte – Ruhe eingekehrt, verlangte die öffentliche Debatte wieder verbreitet nach einer Verschärfung des Haftrechts. Ende der 60er Jahre standen hauptsächlich „Serientäter“ im Visier der Diskussion. Reformvorschläge seitens der CSU-Fraktion wurden laut, wonach die Wiederholungsgefahr nicht an bestimmte Straftatbestände geknüpft war, sondern an jede vorsätzliche Tat, bei der mindestens mit einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten zu rechnen war 13. Ender, seinerzeit Polizeipräsident in Wiesbaden, forderte vehement eine Regelung, wonach bei drei bzw. fünf gleichartigen festgestellten Verbrechen, Fluchtverdacht keiner näheren Begründung mehr bedürfen sollte 14. Er und andere sprachen ihr völliges Unverständnis dafür aus, dass „Serieneinbrecher“, als „Wiederholungstäter par excellence“, vom Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 Abs. 3 StPO (a. F.) nicht erfasst würden 15. In gleichem Sinne wurde auf die Delinquenz der „Diebes- und Räuberbanden“, der „gewerbsund gewohnheitsmäßigen Wilddiebe“, der „Hehler“, der „Kuppler“, der „Serienund Heiratsbetrüger“, der „Schwindler“, sowie der „betrügerischen Darlehensvermittler und Makler“ 16 verwiesen, um ein erweitertes Haftrecht einzufordern. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr wurde schließlich 1972 wesentlich erweitert. Der Gesetzgeber widerstand damals allerdings der Versuchung, allzu positivistisch erscheinende Vorschläge und Einzelfallschilderungen zu berücksichtigen 17. Neben der Diskussion um die haftrechtliche Behandlung von „Serientätern“ erlangte Ende der 60er Jahre das beschleunigte Verfahren schlagartig eine besondere 11 Siehe hier nur Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil II (1957), § 112 Erl. 4, zu Art. 5 des Änderungsgesetzes, RGBl. I, S. 844. 12 Vgl. zum ersten Eindruck zunächst nur Dahs sen., NJW 1965, 81, 82, sowie Philipp, DRiZ 1965, 83, 83 ff. 13 Vgl. hierzu und zu „milderen“ Vorschlägen der SPD-Fraktion Klug, ZRP 1969, 1, 1. 14 Ender, NJW 1969, 867, 870, sowie ders., Kriminalistik 1967, 344, 348; ders., Kriminalistik 1968, 523, 533. 15 Ender, Kriminalistik 1967, 344, 346 f. Vgl. auch Reitberger, Kriminalistik 1967, 453, 454, und Schnupp, Die Polizei 1972, 269, 272. 16 Vgl. die Aufzählungen bei Reitberger, Kriminalistik 1965, 173, 175, und ders., Kriminalistik 1967, 453, 454. 17 Ender, Kriminalistik 1967, 344, 348, stützte seine Forderungen nach einer Reform des Haftrechts auf eine keinesfalls repräsentative Untersuchung von „20 einschlägigen Mehrfachtätern in Wiesbaden, die 241 mal als Täter registriert waren“. Die Vorschläge von Ender, Kriminalistik 1968, 523, 524, stützten sich immerhin auf einen „Untersuchungsbericht über 100 einschlägige Straftäter mit zusammen 1825 Straftaten“. Siehe auch Reuter, Die Polizei 1967, 161, 162 ff., der sich ebenfalls im Wesentlichen auf Einzelfälle beruft.

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praktische Bedeutung. Auslöser waren Krawalle im Rahmen politischer Demonstrationen. Anlässlich der durch das Dutschke-Attentat ausgelösten Unruhen wurden seitens der Politik Rufe nach einer beschleunigten Aburteilung von „politischen Randalierern“ und „Demonstranten“ laut 18. Anders als Jahrzehnte später in Form des § 127 b StPO und der §§ 417 ff. StPO schlugen sich die Forderungen von damals nicht direkt in Gesetzesänderungen nieder. Bis zum Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 blieb das beschleunigte Verfahren von Novellen weitgehend verschont. Bis dahin spielte es in der Strafverfolgungspraxis insgesamt und auch im Interesse des Gesetzgebers nur eine untergeordnete Rolle 19. Sehr bedeutende Tendenzen, den Belangen einer „funktionstüchtigen Strafrechtspflege“ Vorrang zu geben, erwuchsen Mitte der 70er Jahre. Das 1. Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 09.12.1974 20 und das Gesetz zu dessen Ergänzung vom 20.12.1974 21 hatten sich wesentlich zur Aufgabe gemacht, das Verfahren zu beschleunigen. Staatsanwaltliche Zuständigkeiten und Befugnisse wurden erweitert und Verteidigungsrechte des Beschuldigten im Sinne der Effektivität des Verfahrens eingeschränkt 22. Diese Gesetze markierten, so erkannte Jung früh, eine „Tendenzwende“, hin zu den „Bedürfnissen der Verbrechensbekämpfung“ 23 zu Lasten der Beschuldigteninteressen. Wesentlich ausschlaggebend hierfür und für die folgenden Änderungen der Prozessordnungen waren das „Baader-MeinhofVerfahren“ und die wachsende Bedrohung durch den Terrorismus. 18 So Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 49 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Beitrag zum „Tumultschädenrecht“ von Henrichs, NJW 1968, 973, 974, der die „innere Unruhe“ zu dieser Zeit – in der Sache sicherlich überhöht – mit der „revolutionären Situation nach dem Ersten Weltkrieg“ in Zusammenhang bringt. 19 Siehe wieder Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 47 ff. und S. 51 ff., der zwischen den 50er Jahren und dem Verbrechensbekämpfungsgesetz nur „geringfügige“ Gesetzesänderungen im Bereich des beschleunigten Verfahrens gem. §§ 212 ff. StPO (a. F.) ausmachen kann. 20 BGBl. I, S. 3393. 21 BGBl. I, S. 3686. 22 In dieser Zeit wurden der Staatsanwaltschaft beispielsweise Zwangsrechte bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen eingeräumt, das Ladungs- und Zustellungswesen wurde geändert, die Zahl der Verteidiger i. S. d. § 132 Abs. 1 S. 2 StPO auf drei beschränkt, die Voraussetzungen einer Ausschließung des Verteidigers sowie das Ausschlussverfahren in den §§ 138 a–138 d StPO geregelt, Beschlagnahme und Durchsuchungsermächtigungen erweitert etc. Vgl. zu den am 01.01.1975 in Kraft getretenen Änderungen im Einzelnen Jung, JuS 1975, 261, 261 ff. Eine Übersicht über das 1. StVÄG gibt Jung, JuS 1974, 195, 195 ff. Neuregelungen, wie etwa die Vorverlegung der Bestellung eines Verteidigers in den Fällen der notwendigen Verteidigung gem. § 147 Abs. 4 StPO werteten zwar die Rechtsstellung des Beschuldigten auf. Derartige Änderungen fielen jedoch „nach Zahl und Bedeutung“, so die Bilanz von Jung, JuS 1975, 261, 262, „gegenüber den Beschleunigungsmaßnahmen nicht ins Gewicht“. 23 Siehe Jung, JuS 1975, 261, 265 [Hervorhebung im Original], mit kritischer Anm., dass „gesetzgeberische Korrekturen per se noch keine effiziente Verbrechensverfolgung (garantieren), sondern (...) von einer Verbesserung der Ausgestaltung der Strafverfolgungsorgane mit personellen und sachlichen Mitteln flankiert werden“ müssen.

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Durch zahlreiche Bombenattentate und Entführungen wurde die „Terrorismusbekämpfung“ zu dem Thema kriminalpolitischer Diskussion 24. Das Strafverfahrensrecht sollte nunmehr in die Lage versetzt werden, den Sanktionsanspruch gegen terroristische Beschuldigte besser durchzusetzen. Betroffen war auch das Haftrecht. Das „Kontaktsperre-Gesetz“ vom 30.09.1977 25 ist nur eines von vielen Gesetzen aus dieser Zeit, die den prozessualen Schutz von Beschuldigten verschlechterten. Beispielhaft genannt seien die Regelungen bei problematischer Identitätsfeststellung eines Tatverdächtigen gemäß §§ 163 b, 163 c StPO, die Behinderung des Verkehrs zwischen Betroffenem und Verteidiger gemäß § 148 Abs. 2 StPO, die Neufassung der Durchführung eines Strafverfahrens unter Ausschluss des Angeklagten gemäß §§ 231 a, 231 b StPO und die Ausweitung der Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 3 StPO. 1976 wurde die Bildung terroristischer Vereinigungen gemäß § 129 a StGB in den Katalog des § 112 Abs. 3 StPO aufgenommen 26. Der geforderte Schutz vor staatsfeindlichen Organisationen führte also dazu, lediglich im Verdacht stehenden Personen eine eventuell staatsfeindliche Wirkung unbedingt nach ihrer Verhaftung zu nehmen 27. Die Haftverschärfungen und die Reformdiskussionen in dieser Zeit stehen insgesamt für mehr als nur für den Ausbau von Zwangsbefugnissen. Abgesehen von der Beachtung der „Sittlichkeitsverbrecher“ bei Einführung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr 1964, war es in der Deutlichkeit ein Novum, Untersuchungshaft nicht mehr nur mit dem „klassischen“ Zweck „Verfahrenssicherung“ zu begründen. Jede Verschärfung des Prozessrechts und insbesondere des Haftrechts wurde damals mit dem „kriminalpolitischen Bedürfnis“ der Bekämpfung einer 24 Vgl. Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte (1998), Rdn. 398 f. Vgl. aber auch beispielsweise Dünnebier, in: Lüttger (Hrsg.), Probleme der Strafrechtsreform (1975), S. 29, 50, der sich abseits jeder „Terrorismus-Diskussion“ im Hinblick auf den anglo-amerikanischen Prozess für eine schnelle Erledigung durch eine Art „Plea of guilty“ stark macht. Dies ist für Dünnebier das einzig vorstellbare Mittel einer durchgreifenden Prozessbeschleunigung, welches zu einer wirksamen Verkürzung der Untersuchungshaft führen könne. 25 BGBl. I, S. 1877. Ziel des Gesetzes ist es, eine Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur Unterbrechung der Kommunikation zwischen Inhaftierten und in Freiheit befindlichen Terroristen und Beschuldigten zu schaffen; siehe hierzu Jung, JuS 1977, 846, 846 f. Zu den materiellen Voraussetzungen der Kontaktsperre vgl. § 31 EGGVG. 26 Das „Kontaktsperre-Gesetz“ zielte im Zusammenhang mit § 129 a StGB auf verurteilte Gefangene und aufgrund §§ 112 ff. StPO Inhaftierte, vgl. § 31 EGGVG. Zu weiteren Gesetzesentwürfen und Gesetzen aus dieser Zeit, die zur Beschneidung von Beschuldigtenrechten führten, vgl. Anagnostopoulos, Tatschwere und Wiederholungsgefahr (1984), S.21 ff. und S. 74, jeweils m. w. N.; Kopp, Nichtdeutsche Angeklagte (1997), S.260 f., sowie die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses v. 27.01.1978 zu dem gesamten Änderungsgesetz der StPO, BT-Drucksache 8/1482. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang die Untersuchung von Basten, Reform des politischen Strafrechts (1983), S. 253 ff. und S. 259 f., zur „Politisierung des Strafverfahrensrechts“ durch die Gesetzgebung Mitte der 70er Jahre. 27 Im Kontext zur Erweiterung des §112 Abs. 3 StPO durch §129 a StGB spricht Basten, Reform des politischen Strafrechts (1983), S.259, – mit Blick in die Praxis – von der „Absurdität dieser Sicherheitspolitik“.

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ganz bestimmten „Tätergruppe“ zum „Schutz des Staates“ verknüpft 28. Zwar fürchtete der Staat die kriminelle Energie des „politischen Überzeugungstäters“ derart, dass kleinere und mittlere Kriminalität damals kaum Beachtung fanden. Auch waren „reisende Straftäter“, „Wohnsitzlose“, „Hooligans“ usw. keineswegs Zielgruppe der Terrorismusbekämpfung. Das waren eben die „Terroristen“. Dennoch zeigen sich Parallelen zur Begründung des § 127 b StPO. Unabhängig von der Unterscheidung zwischen „Alltags-“ und „Schwerkriminalität“ ging es jeweils nicht allgemein, sondern selektiv um bestimmte „Täter“. Wenngleich es im Verfahren immer um den „Beschuldigten“ geht, war weder Mitte der 70er noch der 90er Jahre von seinen Rechten wesentlich die Rede. Schließlich war das „kriminalpolitische Bedürfnis des Schutzes der Inneren Sicherheit“ damals wie heute das schlagende Argument für die Erweiterung des Haftrechts. In der Folgezeit wurde die StPO – gemessen an der Kontinuität im Verfassungsrecht – sehr häufig geändert. Trotz gewalttätiger Auseinandersetzungen in den 80er Jahren um die Startbahn-West/Flughafen Frankfurt a. M. und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, standen jedoch „reisende Straftäter“, „Demonstranten“, „Krawallmacher“ sowie „links- bzw. rechtsextremistische Chaostouristen“ nie derart im Fokus des Haftrechts wie im Zusammenhang mit § 127 b StPO 29. Die Ausgestaltung der Haftgründe und auch des beschleunigten Verfahrens blieb davon unberührt. Die Vielzahl einzelner Änderungen der StPO in anderen Bereichen, sowie das Strafverfahrensänderungsgesetz aus dem Jahr 1987, veranlasste jedoch den damaligen Bundesjustizminister Engelhard zur Mahnung, es sei nun der wiederholten Einzeleingriffe in das Verfahrensrecht genug; es müsse eine Zeit des Nachdenkens und der langfristig gedachten konzeptionellen Reformen eintreten 30. Von diesem Zeitpunkt bis zum Inkrafttreten des § 127 b StPO kam es zu mehr als 30 Änderungsgesetzen der StPO. Langfristig gedachte Reformen hat es also nicht gegeben. Die meisten Reformen zu Beginn der 90er Jahre hatten ihre Ursache in den gesellschaftlichen Veränderungen durch die Wiedervereinigung Deutschlands. Die mit dem Fall der Mauer und der Öffnung der Ostgrenzen verbundenen sozialen Umbrüche werden heute als Mitursache für die Tendenz der 90er Jahre genannt, das Haftrecht zu verschärfen 31. Unbestritten haben sich mit der Wiedervereinigung zunehmend Ängste vor Kriminalität und der Gewaltbereitschaft bestimmter „Täterkreise“ verstärkt 32. Die Schlagwörter „Chaostage“, „Junkies“, 28 Vgl. zum Überblick Anagnostopoulos, Tatschwere und Wiederholungsgefahr (1984), S. 70. 29 Das Beispiel „Wackersdorf“ bemühte Kleinert (MdB F. D.P.), BT-PlPr 13/129, S. 11653, als Beleg dafür, dass es sich bei § 127 b StPO um das Ergebnis langfristiger rechtspolitischer Überlegungen handele. 30 Zitiert von Bandisch, StV 1994, 153, 155. 31 Siehe etwa Dünkel, NK 1994, 20, 20, und ders., StV 1994, 619, 616. 32 Vgl. nur Reuband, NK 1999, 15, 15, wonach die Kriminalitätsfurcht nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland zeitweise „hysterische Erscheinungsformen“ angenommen hat; vgl. auch wieder Boers, NK 1995, 16, 16 f., und ders., NK 1994, 27, 28, sowie Bandisch, StV 1994, 153, 154.

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„Bettler“, „Sprayer“ und „Rowdies“ rückten im Laufe der Zeit immer häufiger in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen über Kriminalitätsbekämpfung; die in New York praktizierte „zero-tolerance-Strategie“ schneller Verfolgungen, Festnahmen und Aburteilungen, auch von Kleinkriminellen speziell aus unteren Gesellschaftsschichten, wurden im wissenschaftlichen Schrifttum und in der breiten Medienöffentlichkeit erörtert 33. Prävention wurde europaweit als „ultimative Quelle“ für die Rechtfertigung strafrechtlicher Reformen angesehen 34. Ordnungspolitisch wurde zu dieser Zeit in Deutschland ein heftiger „Ausschlussdiskurs“ gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen geführt; die „Politik der Angst“ wurde zur Politik bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gegen andere 35. Von diesen Debatten blieb der Gesetzgeber des Strafprozessrechts nicht unbeeindruckt. Ebenso hinterließen ausländerfeindliche Ausschreitungen zu Beginn der 90er Jahre tiefe Spuren im strafprozessualen Regelwerk. Die gesetzgeberische 33 Vgl. zur breiten Diskussion in der Öffentlichkeit an dieser Stelle: Der Spiegel 1997, Nr. 28, S. 48 ff. („Der Ruf nach mehr Obrigkeit“), zur Adaption der Polizeiarbeit in New York; DIE ZEIT 1997, Nr. 14, S. 7 („Das Wunder von New York“); DIE ZEIT 1997, Nr. 15, S. 7 („Einmischen erwünscht“), zur Polizeiarbeit in Potsdam; DIE ZEIT 1997, Nr. 39, S. 3 („Der Preis der Sicherheit“), zu Strategien gegen die wachsende Jugendkriminalität; DIE ZEIT 1997, Nr. 13, S. 3 („Zeigen, wo die Grenzen sind“), zu wachsendem Zweifel an den Ideen einer liberalen Strafrechtsreform; Stucke, Grundrechte-Report 1997 (1997), S. 29, 29 ff. („Polizeigewahrsam für „punktypisches Aussehen“), zu den „Chaostagen“ 1996 in Bremen, sowie Gössner, Grundrechte-Report 1997 (1997), S. 120, 120 ff. („Soziale ‚Säuberung‘ per Platzverweis“), zu den „Chaostagen“ 1995 in Hannover. Die Zusammenhänge zwischen deutscher Gesetzgebung und amerikanischer „new culture of crime control“ sind damit natürlich zu verkürzt beschrieben; vgl. zum amerikanischen (und britischen) „crime complex“ aus Sicht der Kriminologie, Soziologie, Politik, Ökonomie etc. Garland, Culture of Control (2001), und dort insbesondere Kapitel 6 (Crime Complex: The Culture of High Crime Sozieties“), p. 139ff., und Kapitel 7 („The New Culture of Crime Control“), p. 167 ff. 34 Vgl. etwa Victor, in: Beware of Punishment (1995), p. 68, 80 f., über Prävention und die Rolle der Politik. 35 Vgl. nur Böhnisch, KJ 1998, 82, 82 ff., der davon ausgeht, dass die Möglichkeit der Thematisierung der öffentlichen Sicherheit wesentlich sog. „elitären Gruppen“ zusteht; diese legten die Kriterien zur Nutzung des öffentlichen Raumes fest, wodurch gleichzeitig Kriterien über die Zugehörigkeit zur Gesellschaft festgelegt würden. Siehe auch Krebs, Platzverweis (2001), S. 69 ff., 73 ff. und S. 86, wonach die „Expertensicht auf Subkulturen“ auch als „Ausgrenzungsdiskurs“ interpretiert werden kann; Schmutz, Lärm und Belästigungen jeglicher Art, die die Bürger in ihrer Alltagserfahrung störend wahrnehmen, dienten nun als Grundlage für eine neue „Sicherheitspanik“. Vgl. zur Zulässigkeit ordnungsrechtlicher Maßnahmen gegen „Obdachlose“, „aggressives Betteln“ usw. Kohl, NVwZ 1991, 620, 622 ff., Bindzus/Lange, JuS 1996, 482, 486, und Götz, NVwZ 1994, 652, 656, der darauf aufmerksam macht, dass nach der Wiedervereinigung keines der „neuen Bundesländer“ in seiner Gesetzgebung zum Polizeirecht auf das Schutzgut „öffentliche Ordnung“ als Teil der Gefahrenabwehraufgabe und der Generalermächtigung zum Erlass von Verwaltungsakten und Verordnungen verzichtete. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Schilderungen von Foucault, Überwachen und Strafen (1994), S. 96 ff. und S. 107 ff., zur Kriminalität von „Außenseitern und Randständigen“ im 18. und 19. Jahrhundert und der Abhängigkeit von Delinquenz auf der einen sowie der Vermehrung des Reichtums auf der anderen Seite. Wacquant, NK 1997, 16, 16 ff., erkennt – auf die U.S.A. bezogen – einen Zusammenhang zwischen der „Kriminalisierung unterer Gesellschaftsschichten“ und dem Abbau sozialer Sicherungssysteme.

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Aktivität zielte nun gleichermaßen auf kleinere, mittlere und schwere Kriminalität. Das sehen wir heute am Verbrechensbekämpfungsgesetz und auch an § 127 b StPO. Durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 wurden unter anderem die Haftgründe nach § 112 Abs. 3 StPO sowie nach § 112 a StPO erweitert. § 127 b StPO sollte eingeführt werden. In der Begründung des Gesetzesentwurfs kommt das „Sicherheitsstreben des Staates“ zum „Schutz der Bevölkerung“ in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Dort heißt es: 36 „Die Verfolgung fremdenfeindlicher, antisemitischer und sonstiger rechtsextremistischer Straftaten, insbesondere die Verfolgung von Gewalttaten, hat bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten erste Priorität“; „Die gewalttätigen Ausschreitungen und die sie begleitende hasserfüllte Propaganda bedrohen den inneren Frieden“. Parallelen zu den Ansichten der Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ drängen sich auf, wenn es heißt: 37 „Der Staat ist verpflichtet, ihr (der Inneren Sicherheit) drohende Gefahren mit allen verfügbaren Mitteln des Rechtsstaates nachdrücklich und entschlossen zu bekämpfen. Zu einer Rechtsordnung, die der Bürger als richtig und gerecht anerkennt, gehört die Aufgabe, das geltende Recht konsequent und effektiv durchzusetzen (...), um den Bürgern Schutz vor verschiedenen Erscheinungsformen der Kriminalität zu gewähren und das Vertrauen in den Rechtsstaat zu erhalten.“ Das Gesetz sei „notwendig und geeignet“, so wurde weiter begründet, „um insbesondere solche Erscheinungsformen der Kriminalität besser und wirksamer zu bekämpfen, die sich – wie die rechtsextremistischen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen der letzten Jahre und die Organisierte Kriminalität – zu einer Herausforderung für Staat und Gesellschaft entwickelt“ hätten. Im weiteren Verlauf wurde die Begründung auf Ereignisse gestützt, die eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit erlangten. Die Notwendigkeit des Schutzes der Gesellschaft wurde durch den Verweis auf „eine Welle von Haß und Gewalt vor allem gegen ausländische Mitbürger, (...) die mit den Brandanschlägen von Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993) ihren erschreckenden Höhepunkt erreicht“ 38 hatten, verdeutlicht. Mit dieser Begründung wurde das Verbrechensbekämpfungsgesetz als „Zugriff populistischer Politik“ bezeichnet 39. Vor diesem Hintergrund wurde auch in § 127 b StPO eine Reaktion des Gesetzgebers auf „aktuelle KriminalisierungsforderunVgl. zum Folgenden BT-Drucksache 12/6853, S. 18. Siehe wieder Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 183, 185, 186. 38 BT-Drucksache 12/6853, S. 18. 39 Bertram, NJW 1994, 2186, 2189 m. w. N. Dem Vorwurf sieht sich das beschleunigte Verfahren in seiner Grundsätzlichkeit nicht erst seit damals ausgesetzt. Das Schnellverfahren sollte Ende der 60er Jahre, so bemerkte kritisch Schünemann, NJW 1968, 975, 976, als „Lösung politischer Wirren“ und aus „Machtgesichtspunkten“ eingesetzt werden. Siehe auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 49 f., mit Verweis auf weitere Stimmen der damaligen Praxis, wonach eine „bedenkliche Instrumentalisierung des Strafrechts“ stattfand. 36 37

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gen“ 40 der Bevölkerung gesehen. „Der Beifall der Stammtische“, so heißt es etwa bei Hartenbach, dürfe den Befürwortern der Regelung „gewiß“ sein, da die „Ladendiebe, Schwarzfahrer, Zechpreller und Tippelbrüder von der Straße“ seien 41. Für § 127 b StPO und §§ 417 ff. StPO als Fälle politischer und auch populistischer Instrumentalisierung des Strafverfahrensrechts spricht in der Tat nicht wenig. Zumindest wurde im Rahmen der allgemeinen Begründung des Gesetzes auf Einzelfälle verwiesen, wenngleich es sich um abstrakt-generelle Regelungen handelt. Auch war im Verbrechensbekämpfungsgesetz wesentlich die Schwerkriminalität angesprochen, obwohl mit dem beschleunigten Verfahren nach §§ 417 ff. StPO und auch mit der damals geplanten Einführung des § 127 b StPO vorrangig leichte bis mittelschwere Kriminalität bekämpft werden sollte. Allein die Bezeichnung „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ lässt eine Regelung des Kriminalitätsbereichs erwarten, der über dem liegt, was § 419 Abs. 1 S. 2 StPO regelt 42. Ob das Verbrechensbekämpfungsgesetz ein Beispiel für eine „nicht zu akzeptierende Politisierung des Strafverfahrensrechts“ 43 ist, soll hier letztlich dahinstehen. Davon abgesehen sind bettelnde Obdachlose und Nichtsesshafte bis heute ein gewohntes Bild in Stadtkernen. Beleidigungen und Sachbeschädigungen an Haus- und Geschäftseingängen gibt es auch noch nach der Reform des beschleunigten Verfahrens 1994 und nach Einführung des § 127 b StPO 1997. Man muss nicht auf „Hooligans“ zu sprechen kommen, um zu zeigen, dass „Randale als Selbstzweck“ mit Strafprozessreformen bisher nicht entscheidend begegnet werden konnte 44. Es steht fest, dass trotz der Verschärfung des Strafprozessrechts weiterhin im Zuge gewalttätiger Demonstrationen „Autos demoliert, Scheiben eingeworfen (und) Müllcontainer in Brand gesteckt“ werden. § 127 b StPO kann dies offenbar nicht verhindern – genausowenig, wie es die Summe aller übrigen Zwangsermächtigungen der StPO sowie der Polizeigesetze der Länder kann; die Politik beruft sich dennoch weiterhin auf solche Sachverhalte, wenn es ihr um die Verschärfung von Gesetzen geht. Mit diesem Kontext wird die Bekämpfung des Rechtsextremismus seitens der Politik zu einer „gesamtgesellschaftlichen Aufgabe“ erklärt und zu einer 40 Diesen Begriff verwendet P.-A. Albrecht, in: P.-A. Albrecht/Hassemer/u. a. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 429, 429. „Die Strafprozeßordnung steht offensichtlich zur Disposition der Tagespolitik“, heißt es im Zusammenhang zu § 127 b StPO in der FR v. 13.10.1996, S. 13 („Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention“). 41 So Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/62, S. 5323, die Überspitzung einräumend. 42 Der Begriff „Verbrechen“ ist im Rahmen des „Verbrechensbekämpfungsgesetzes“ offenbar nicht formal i. S. d. § 12 StGB zu verstehen. 43 Den Ausdruck verwendet Neumann, StV 1994, 273, 275. Vgl. allgemein zu den Faktoren populistischer Politik im Strafrecht P.-A. Albrecht, in: ders./Hassemer/u. a. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 429, 430 ff. 44 Vgl. zu den Ursachen der „Hoolgewalt“ etwa A. Lehmann, Kriminalistik 2000, 299, 301 m. w. N.

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

Verstärkung des „Kampfes um die Innere Sicherheit“ aufgerufen45. Auch im Wahlkampf zur 15. Legislaturperiode des Bundestages wurde „Vandalismus und Verwahrlosung de(r) Kampf“ angesagt 46. Der sogenannte „Warnschussarrest“ gegen Jugendliche wird heute mit gleichen Argumenten verteidigt wie § 127 b StPO 1994 und schließlich 1997 vor seiner Verabschiedung: Es geht um „Graffiti, mutwilliges Zerstören von Parkbänken“ und „Chaostage“. Die Möglichkeit eines „Fahrverbots“ wird neuerdings beispielsweise in Fällen „schwerer Schmierereien“ befürwortet 47. Zwar gilt das Sicherheitsgefühl gegenüber dem Tiefpunkt 1994 wieder als angestiegen. Gesellschaftliche Randgruppen stehen jedoch nach wie vor im Fokus der Diskussion um die Ausgestaltung des Strafprozessrechts und einhergehend mit der um das präventiv wirkende Ordnungsrecht 48. In diesem Feld wird aktuell § 127 b StPO wieder diskutiert. Bevor jedoch die neuerlichen Gesetzesinitiativen zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 127 b StPO betrachtet werden, soll die Entwicklung des Haftrechts eingehender dargestellt werden. Jedes Entwicklungsstadium war von heftiger und emotionsgeladener Kritik am bestehenden oder zu erwartenden Zustand begleitet – gleich in welcher Ausgestaltung sich Beteiligteninteressen im Verfahrensrecht konkret widerspiegelten. Das gilt sowohl für das geschriebene Gesetz als auch für den Umgang damit.

45 Vgl. Körper (Parlamentarischer Staatssekretär/SPD), Informationen des Bundesministeriums des Innern, Nr. V, Dezember 1999, S. 9, allgemein zum „aktuellen rechtsextremistischen Lagebild und den politischen Gegenmaßnahmen“. 46 „Union sagt Vandalismus und Verwahrlosung den Kampf an“ – so titelt die WELT am SONNTAG v. 04.08.2002, S. 1. 47 „Wir wollen dafür sorgen“, so zitiert die WELT am SONNTAG v. 04.08.2002, S. 1, den bayerischen Innenminister Beckstein, „dass Verwahrlosungs-Tendenzen, die sich besonders in unseren Städten vor allem in Vandalismus, Graffiti-Schmierereien und dergleichen zeigen, konsequenter bekämpft werden, und zwar durch eine Politik des ‚Wehret den Anfängen‘“. „Wir müssen gemeinsam dafür sorgen“, so heißt es a. a. O. weiter, „dass wir ein hohes Maß auch an Sauberkeit in den Städten haben“. Der „Warnschuss-Arrest“ von 2 bis 4 Wochen soll neben einer Bewährungsstrafe verhängt werden können, da, so ders. a. a. O., Jugendliche „die Bewährung allein (...) als eine Art Freispruch zweiter Klasse oft nur auf die leichte Schulter“ nähmen. Vgl. zu den Vorschlägen auch den Entwurf eines „Gesetzes zur Verbesserung der gesetzlichen Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelinquenz“ (BT-Drucksache 14/3189, S. 6, 8, ff.) der Abgeordneten Geis, Pofalla, Bosbach u. a. (jeweils MdB CDU/CSU). 48 Siehe hierzu die Replik von Hefendehl/Hohmann, MschrKrim 2001, 48, 48 ff., zu „20 Thesen zur Kriminalpolitik“ des Bundesarbeitskreises Christlich-Demokratischer Juristen e. V. v. 20.06.2000. Hefendehl/Hohmann stellen a. a. O. Thesen zum Anstieg der Kriminalität, der Kriminalitätsentwicklung, zur kriminellen Belastung legal in der Bundesrepublik lebender Ausländer, zur Steigerung der Prävention und zum Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht in Frage. Sie gelangen a. a. O. S. 66 zu dem Fazit, dass Politik Ausländerkriminalität „konstruiert“, auch wenn es sie „nicht gibt“, und Kriminalitätsfurcht „schürt“, auch wenn sie „im Sinken begriffen“ ist. Das Sinken der Kriminalitätsfurcht gegenüber 1994 belegt die Ende 1998 durchgeführte Repräsentativbefragung von Dörmann/Remmers, Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsbewertung (2000), S. 116 ff. Die Diskussion um „zero tolerance“ ist im wissenschaftlichen Schrifttum nicht verstummt; vgl. hierzu und zur Zulässigkeit polizeilicher Strategien vor dem Hintergrund der „broken-windows-Theorie“ Roos, Kriminalistik 1999, 611, 611 ff.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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Viele Äußerungen aus verschiedenen Epochen gleichen auffallend denen zu § 127 b StPO.

B. (Wiederkehrende) Kritik am Haftrecht Naturgemäß gab es Befürworter, die Reformen des Haftrechts zu verteidigen wussten. Die publizierte Zufriedenheit steht an Deutlichkeit jedoch fast vernachlässigbar hinter der massiv negativen Kritik, die seit Inkrafttreten der RStPO am Untersuchungshaftrecht geübt wurde. Jacobi wollte 1883 erkannt haben, dass die RStPO die Verfolgungsbehörden dazu verleite „viel zu häufig“ Untersuchungshaft zu verhängen 49. Für Heinemann beispielsweise war im Jahre 1906 die Untersuchungshaft „das trübste Kapitel in der deutschen Strafrechtspflege“ 50. Mezger sah 1927 im Recht und in der Praxis der Untersuchungshaft „vielleicht das dunkelste Kapitel“ des Strafverfahrensrechts 51, – ohne die Zustände im Dritten Reich ansatzweise ahnen zu können. Fürsprecher finden sich am ehesten in der Zeit des Nationalsozialismus. Diese sahen gerade in den Entwicklungen der Weimarer Zeit „eine der schlimmsten Auswüchse der marxistisch und extrem liberalistischen Auffassung, die den Einzelnen und im Strafrecht sogar den Verbrecher in den Mittelpunkt ihrer Fürsorge gestellt“ 52 haben soll. Nach den 1965 in Kraft getretenen Änderungen durch die „Kleine Strafprozessnovelle“ wurden Vorschläge zur Verschärfung des Haftrechts schließlich mit dem Hinweis begleitet, „daß der Verbrecher nach geltendem Recht einen Schutz genieße, der nicht vereinbar sei mit dem Schaden, der (durch ihn) dem ordentlichen Menschen zugefügt werde“ 53. Bis auf den Haftgrund der Flucht richtete sich die Kritik gegen alle heute noch gültigen Haftgründe. Verdunkelungsgefahr wurde 1899 als „unhaltbar“ bezeichnet 54. Nach Schmidt-Leichner schleppen die Gesetzgeber diesen Haftgrund „wie eine ewige Krankheit“ mit sich fort 55. Dahs sen. ging davon aus, dass Tatschwere und Wiederholungsgefahr als präventive Haftgründe im Recht der Untersuchungshaft „keinen legitimen Platz“ haben können 56. Am Haftgrund der Fluchtgefahr wurde kritisiert, dass die Angabe eines festen Wohnsitzes die Haftpraxis und Rechtsprechung in aller Regel dazu zwinge, den Beschuldigten auf freiem Fuß zu lassen. Die kriminologische Erfahrung lehre, dass zumindest bei Mehrfachtätern Jacobi, Gerichtssaal 35 (1883), 182, 189. Heinemann, ZStW 26 (1906), 507, 520; siehe auch Rosenberg, JW 1925, 1446, 1446, der die Aussage „im wesentlichen“ bestätigt. 51 Mezger, ZStW 47 (1927), 159, 174. 52 So Deitigsmann, DRiZ 1934, 70, 70. 53 So Schönhaber, ehem. Vorstandsmitglied des Deutschen Richterbundes, in: Wiesbadener Kurier v. 15.04.1967, zitiert von Ender, NJW 1969, 867, 869. 54 So Hetzel, Untersuchungshaft (1899), S. 25; vgl. auch die Hinweise nach AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 2. 55 Schmidt-Leichner, NJW 1961, 337, 338. 56 Dahs sen., NJW 1965, 81, 82. 49 50

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

zumeist kein fester Wohnsitz, sondern vielmehr die „Bereitschaft zu reisen“, vorhanden sei 57. Wenn bei Mehrfachtätern tatsächlich ein fester Wohnsitz vorhanden wäre, so meinte Ender 1969, „hätte man es mit einem ‚schlechten‘ Ganoven zu tun, der es zu nichts in seinem ‚Metier‘ brächte. Ein wenig mehr ‚Einsatzfreudigkeit‘ (...)“ sei „nun doch auch in dieser Berufssparte vorhanden, indem er ständig neue Straftaten auskundschaftet, verabredet, sich drückt und, wenn der örtliche Boden zu heiß geworden ist, auch reist“ 58. Mögen einzelne Äußerungen um ihrer Prägnanz Willen überspitzt sein – nicht nur die Kritik am Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit „Mehrfachtätern, die reisen“, kehrte in der Diskussion um die Hauptverhandlungshaft wieder. Die vom jeweiligen Gesetzgeber beabsichtigten präventiven und erzieherischen Zwecke wurden seit jeher genutzt, um auf Widrigkeiten im System des Untersuchungshaftrechts hinzuweisen. Ebenso war die mangelhafte Objektivierbarkeit der Voraussetzungen, also die Gefahr ihrer zu weiten und willkürlichen Auslegung, Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Auseinandersetzung. In letztgenanntem Sinne meinte Ender 1969: „Welcher Mensch, also auch welcher Richter, wäre bei einer solchen Prognose (zur Wiederholungsgefahr) nicht mehr oder minder stets überfordert, es sei denn, es gebe wirklich Hellseher“59. Entsprechend ist nach Hartenbach die Beurteilung der „Befürchtung des Fernbleibens“ gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO etwas für „Wahrsager“ 60 und eine „reine Kaffeesatzentscheidung“ 61. Jescheck meinte vor der „Kleinen Strafprozessreform“ 1964, die „gesetzlichen Bestimmungen würden zu weit ausgelegt und zu schematisch angewendet“. Das ist gerade die Befürchtung, die unter anderem der Deutsche Richterbund und auch der Deutsche AnwaltVerein im Hinblick auf § 127 b StPO hegen 62. Seebode sah in jeder „vorbeugenden Haft“ einen „Fremdkörper innerhalb der StPO“; dabei stützt er sich auf zahlreiche Literaturquellen aus den letzten Jahrzehnten 63. Für Dahs jun. erscheint jede „Extension der systemwidrigen Vorschrift“ der Wiederholungsgefahr durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz „nicht akzeptabel“ 64. Nach Asbrock sind die mit der Hauptverhandlungshaft bezweckten erzieherischen und abschreckenden Wirkungen einer schnellen BestraEnder, NJW 1969, 867, 870. So Ender, NJW 1969, 867, 869 und dort FN 21 [Hervorhebungen im Original], sowie i. d. S. ders., Kriminalistik 1967, 344, 346. 59 Ender, NJW 1969, 867, 867. 60 Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83, und ders., NK 1996, 6, 6. 61 Hartenbach (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11650 f. 62 Deutscher Richterbund, Stellungnahme, S. 3, zu BT-Drucksache 13/2576; Deutscher AnwaltVerein, DAV-Pressespiegel Nr. 34/1996, S. 16. 63 Seebode, Vollzug der Untersuchungshaft (1985), S.74 und dort FN 107 m. w. z. N. aus vorangegangenen Jahrzehnten. 64 Dahs jun., NJW 1995, 553, 555, im Zusammenhang zur Erweiterung des Haftgrundes im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes; vgl. auch die Nachweise von Jehle, Untersuchungshaft (1985), S. 5. 57 58

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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fung ebenfalls „sachfremd und nicht mit den zulässigen U-Haft-Zwecken vereinbar“ 65. Die Hauptverhandlungshaft sei „verfassungswidrig“, so Roxin, soweit sie „dem Zweck dienen soll, den mutmaßlichen Täter abzuschrecken und auf ihn erzieherisch einzuwirken, sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung zu stärken“ 66. Viele der eingangs genannten Ansatzpunkte für die Kritik an § 127 b StPO klingen also sehr vertraut. Sie ließen sich fast beliebig ausbauen. Interessanter noch erscheint jedoch die Frage, auf welche Regelungen und auf welche jeweiligen Wortlaute sich die Kritiken erstrecken. Um § 127 b StPO besser verstehen und bewerten zu können, ist der Frage nachzugehen, welche Vorbilder § 127 b StPO in seinen Voraussetzungen kennt. Aus gleichem Grund soll beleuchtet werden, welche Rolle „das Rechtsempfinden der Bevölkerung“ in der Geschichte des Haftrechts spielt. Auch die Vorbilder in präventiver und erzieherischer Ausrichtung sind von Interesse. Es ist auch der Frage nachzugehen, wie die „reisenden Straftäter“, die „ohne festen Wohnsitz“, die „asozialen Existenzen“, die „Minderbemittelten“ und die „Kleinkriminellen“ schon früher gesondert im Visier des Haft- und Festnahmerechts standen. Aufgrund der Koppelung an das beschleunigte Verfahren und damit an den Bereich kleinerer und mittlerer Kriminalität sind die Abhängigkeiten zwischen der Haftanordnung und der zu erwartenden Sanktion von Belang. Schließlich ist aufgrund der Frist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO auch ein Rückblick auf die Befristung der Untersuchungshaft im Laufe der Zeit zu werfen. Bei jeder Sicht auf das Haftrecht versteht sich, dass eine Verschärfung bzw. Einschränkung solche Eingriffsermächtigungen entsprechend beeinflusst, deren Voraussetzungen vom Vorliegen eines Haftgrundes abhängig sind. Das ist beim Festnahmerecht nach § 127 Abs. 2 StPO der Fall. Veränderungen in den Voraussetzungen des Haftbefehls berühren jeweils „mittelbar“ das Festnahmerecht, ohne dass sich § 127 Abs. 2 StPO seit Inkrafttreten der RStPO wesentlich geändert hat 67. Die Geschichte der Haftgründe ist somit auch die Geschichte des Festnahmerechts.

C. Haftgründe und ausgesuchte Haftregelungen I. Die RStPO von 1877 Die RStPO vom 01.02.1877 68 schloss auch im Haftrecht an die Partikulargesetzgebung als eine Zeit an, die grundsätzlich im Zeichen des Bemühens um mehr FreiAsbrock, StV 1997, 43, 44. Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 1 a. 67 Vgl. Naucke, NJW 1968, 1225, mit dem Hinweis, dass die Auswirkungen der Änderungen der Haftbefehlsvoraussetzungen auf § 127 StPO „leicht übersehen“ werden. Das Festnahmerecht gem. § 127 Abs. 2 StPO verlangte in der RStPO von 1877 – wie heute – die Voraussetzungen eines Haftbefehls. 68 RGBl. I, S. 253 ff. 65 66

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

heit und Sicherheit für den Einzelnen stand 69. Gemäß § 112 Abs. 1 RStPO durfte der Angeschuldigte nur in Untersuchungshaft genommen werden, wenn er neben der Voraussetzung „dringender Tatverdacht“, der Flucht verdächtig war oder Tatsachen vorlagen, aus denen zu schließen war, dass er, in Freiheit belassen, die Tat verdunkeln werde. Andere Haftgründe enthielt die RStPO nicht. Die RStPO war von Beginn an repressiv ausgerichtet. In den Materialien heißt es, dass eine „Strafprozeßordnung nicht die Aufgabe hat, Vorbeugungsmaßregeln polizeilicher Natur zu treffen“, sie habe vielmehr nur die „Formen für die Anwendung des Strafgesetzes auf bereits vorgefallene Gesetzesverletzungen zu schaffen“ 70. Mehrere Haftregelungen und Sicherungsmaßnahmen, die heute im Umfeld von § 127 b StPO zu nennen sind 71, waren schon von Beginn an Bestandteil der RStPO. Insoweit zeigen sich einige Parallelen zum früheren Recht. So bestimmten die §§ 133, 229 RStPO, dass gegen den Angeklagten ohne genügend entschuldigtes Ausbleiben in der Hauptverhandlung „Vorführung“ angeordnet werden musste, sofern es der Richter nicht vorzog, einen Haftbefehl zu erlassen 72. Die Sicherheitsleistung als Surrogat für Untersuchungshaft war in den §§ 117 bis 122 RStPO geregelt. Ferner musste Untersuchungshaft nach § 120 RStPO angeordnet werden, wenn der gegen Sicherheitsleistung auf freien Fuß gesetzte Beschuldigte auf eine seitens des Untersuchungsrichters ergangene Ladung ohne genügende Entschuldigung ausblieb. Schließlich war die vorläufige Festnahme durch jedermann oder durch die Polizei bzw. „Sicherungsbeamte“ damals wie heute in § 127 RStPO und StPO entsprechend geregelt 73. Die Voraussetzungen des Fluchtverdachts und der Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 1 RStPO unterschieden sich jedoch erheblich von den heutigen Regelungen. Verdunkelungsgefahr wurde schlicht auf „Tatsachen“ gestützt, aus denen zu schließen war, dass der Angeschuldigte Spuren der Tat vernichten oder Zeugen oder Mitbeschuldigte zu fehlerhaftem Aussageverhalten verleiten werde. Mit dem Erfordernis von „Tatsachen“ sollte deutlich werden, dass der subjektive, nur auf die persönlichen Eigenschaften des Verdächtigen gestützte Verdacht zur Begründung des möglichen Boykottverhaltens nicht ausreiche; die Forderung nach „be69 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte (1965), S.345, zur Entstehungsgeschichte der RStPO. Zu den Haftgründen der Partikulargesetzgebung vgl. Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 33 ff. und S. 39 ff. 70 Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO/1877 (1885), S. 130; vgl. auch wieder Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 41, wonach vor Inkrafttreten der RStPO lediglich Hamburg, Lübeck, Sachsen und Preußen haftrechtliche Präventivregeln zur Verhütung weiterer Straftaten kannten. 71 s. o. Einf., 4. Abschn. 72 Auf die Ausnahmen hiervon weist Hetzel, Untersuchungshaft (1899), S. 20 und dort in FN 44, hin. 73 Änderungen waren „redaktioneller Art“: § 127 Abs. 1 StPO wurde an die §§ 163 b, 163 c StPO angepasst und aus „richterlicher Befehl“ wurde „richterliche Anordnung“; vgl. hierzu BT-Drucksache 8/1482, S. 10.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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stimmten“ Tatsachen, wie sie heute im Haftrecht und auch zur Inhaft- und Festnahme gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO verlangt werden, konnte sich damals nicht durchsetzen 74. „Fluchtverdacht“ wurde zwar in der Literatur, ähnlich wie heute die „Fluchtgefahr“, definiert als Befürchtung, dass sich der Angeschuldigte „durch dauernde Entfernung oder gleichwirkende Handlungen der Untersuchung oder dem Antritt der zu erwartenden Strafe gänzlich entziehen wird“ 75. § 112 Abs. 2 S. 2 RStPO sah jedoch Vermutungsregeln für das Vorliegen von Fluchtverdacht vor: Abgesehen von der Fluchtverdachtvermutung, wenn ein „Verbrechen“ den Gegenstand der Untersuchung bildete 76, bestand die Vermutung auch für spezielle Personengruppen. Dabei ging es nicht unmittelbar, wie bei der Hauptverhandlungshaft, um „Chaostouristen“ oder um „Schlachtenbummler“. Indes bestand eine unwiderlegbare Vermutung zur Bejahung des Fluchtverdachts, wenn der Angeschuldigte „Heimatloser“ oder „Landstreicher“ oder „nicht im Stande war, sich über seine Person auszuweisen“ oder, wenn der Angeschuldigte ein „Ausländer“ war und begründeter Zweifel bestand, dass er sich auf Ladung vor Gericht stellen und dem Urteile Folge leisten würde. Nach Löwe galt als „Heimatloser“, jeder, der „entweder seiner Angabe nach einen Wohnsitz oder Aufenthaltsort nicht hat oder doch nach seiner Auslassung verdächtig ist, einen solchen nicht zu haben“ 77. Die Auslegung des § 112 Abs. 2 RStPO orientierte sich auch am Tatbestand der „Landstreicherei“ nach § 361 Nr. 3 StGB (a. F.). Nach Ansicht des Reichsgerichts forderte der Tatbestand „ein mittel- und erwerbszweckloses Umherziehen“; das Reichsgericht führte hierzu aus, dass auch derjenige, der bei einem Umherziehen einen „Erwerb durch verbotene Handlungen“ erstrebe, sich der Landstreicherei schuldig mache 78. Diese Begriffsbestimmungen erinnern im Grunde an die genannten Auslegungen von Hellmann, Hartenbach, Kühne, Pofalla und Keller zum 74 Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 49 mit Verweis auf den Antrag des Abgeordneten Marquardsen, der „bestimmte“ Tatsachen verlangte. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO/1877 (1885), S. 663. 75 So Hetzel, Untersuchungshaft (1899), S.13; nach Löwe, StPO (2. Aufl. 1881), § 112 Anm. 4. a., setzt der Begriff der Flucht nicht notwendig voraus, „daß der Angeschuldigte sich nach einem entfernten oder nach einem ausländischen Orte begeben will; vielmehr ist auch derjenige, der sich verborgen hält, als flüchtig anzusehen, und eine Veränderung des Aufenthalts, welche zum Zwecke des Verbergens geschieht, kann eine Flucht darstellen“. 76 Wobei unter „Verbrechen“ gem. § 1 Abs. 1 StGB (a. F.) noch „jede mit dem Tode, mit Zuchthaus, oder mit Festungshaft von mehr als fünf Jahren bedrohte Handlung“ zu verstehen war; vgl. näher hierzu Daude, Strafprozeßordnung (1928), S. 73 und dort § 112. Anm. 30. 77 Löwe, StPO (2. Aufl. 1881), § 112 Anm. 4. d.; vgl. in diesem Zusammenhang auch wieder Hetzel, Untersuchungshaft (1899), S. 16 f. 78 Siehe RGSt 30, 438, 438 f., zur Frage, inwieweit die „Landstreicherei durch einen mit dem Umherziehen verfolgten Zweck ausgeschlossen“ ist. In dem angefochtenen Urt. wurde der Tatbestand der Landstreicherei jedoch verneint. Es fehle, so die Entscheidung des Landgerichts, am Beweis dafür, dass die Angeklagten „zwecklos“ umhergezogen seien. Es sei vielmehr anzunehmen gewesen, dass die Angeklagten von ihrem „Gewerbe als Lohnhuren“ gelebt hätten.

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

Begriff „reisende Straftäter“ 79. Neu war die besondere Betrachtung der „Heimatlosen“ und „Landstreicher“ aber auch mit Inkrafttreten der RStPO und des StGB keineswegs. Im 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Gesetze gegen „Vagabunden“ 80. Die Kriminalpolitik Preußens zielte im 18. Jahrhundert wesentlich auf Vorkehrungen gegen „Bettelei und das Vagantentum“, das in damaliger Zeit als „Hauptherd“ etwa für „Einbruchdiebstahl, Straßenraub und dergleichen“ galt 81. „Ausländer“, „Heimatlose“ und „Landstreicher“ spielten auch für die Verhältnismäßigkeit der Haft gemessen an der zu erwartenden Strafe eine Rolle. Gemäß § 113 RStPO durfte, wenn die Tat nur mit Haft oder Geldstrafe bedroht war, die Untersuchungshaft nur wegen Fluchtverdacht verhängt werden und das wiederum insbesondere eben dann, wenn der Beschuldigte „Ausländer“, „Heimatloser“ oder „Landstreicher“ war 82. Damit wurde die in der Partikulargesetzgebung eingeschlagene Richtung hin zur verhältnismäßigen Haftanordnung im Falle geringfügiger Delikte zwar fortgesetzt. Jedoch war die Untersuchungshaft nach der RStPO in allen Fällen der mittleren Kriminalität und sehr weitgehend bei der Kleinkriminalität möglich. Die praktische Anwendbarkeit des § 113 RStPO war gering, da die Vorschrift nur den kleinen Kreis der mit Haft oder mit Geldstrafe bedrohten Taten erfasste. Einen Ausschluss der Untersuchungshaft im Bagatellbereich, wie ihn etwa § 55 der Hamburger StPO von 1869 vorsah, enthielt die RStPO nicht. Danach durfte bei Vergehen, die im konkreten Fall voraussichtlich nur mit Geldstrafe belegt werden würden, Untersuchungshaft niemals verhängt werden 83. Neben der besonderen Beachtung bestimmter Personengruppen erinnert § 126 RStPO an die Hauptverhandlungshaft nach § 127 b StPO. In dem Bestreben, eine Haftverkürzung durch Fristsetzungen für die Erhebung der öffentlichen Klage zu erreichen, sah § 126 RStPO eine Beschränkung der Haftdauer in der Weise vor, s. o. Einf., 3. Abschn. und dort zu FN 38 ff. Siehe allgemein Sellert/Rüping, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege (1994), S. 24 f. 81 Vgl. Eb. Schmidt, Kriminalpolitik Preußens (1914), S.66 f., der von „zahlreichen Edikten“ gegen die Bettelei unter Friedrich Wilhelm I. spricht. Anfänglich ging man, ohne sich über den Ursprung des Bettelwesens Gedanken zu machen, so Eb. Schmidt a. a. O., mit harten Strafen vor und tat nichts, um Bettelei zu verhüten: „Fremde Bettler wurden auf die nächste Festung gebracht, dort summarisch verhört und sodann mit Staupenschlag und Brandmark ewig des Landes verwiesen“. Mitte des 18. Jahrhunderts führte man die „primitive Armenpflege“ als Präventivmaßnahme ein. Friedrich der Große versuchte die „Arbeitsscheuen, Bettler und Landstreicher“ vor allem durch Zuchthausarbeit zu bessern. Als „besonders bemerkenswert“ bewertet Eb. Schmidt, a. a. O. S. 67 f., Maßnahmen, mit denen der König versuchte, die Armut im Volk als Quelle der Bettelei zu steuern, um dadurch die „in Not geratenen Untertanen von der Versuchung, Diebstähle und sonstige Eigentumsdelikte zu begehen, nach Möglichkeit zu befreien“. 82 Oder wenn der Betroffene unter Polizeiaufsicht stand, oder wenn es sich um eine Übertretung handelte, wegen der die Überweisung an die Landespolizeibehörde erkannt werden konnte, § 113 RStPO. Vgl. hierzu die Kommentierung bei Löwe, StPO (2. Aufl., 1881), § 113 Anm. 2 ff. 83 Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 38. 79 80

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dass ein im Ermittlungsverfahren erlassener Haftbefehl grundsätzlich aufzuheben war, wenn nicht innerhalb „einer Woche“ nach dessen Vollstreckung Anklage erhoben und von dem zuständigen Richter Haftfortdauer angeordnet wurde und diese zur Kenntnis des Amtsrichters gelangt ist 84. Nur wenn zur Vorbereitung und Erhebung der Klage eine Frist von einer Woche nicht genügte, konnte auf Antrag der Staatsanwaltschaft eine Fristverlängerung von einer Woche und, wenn es sich um Verbrechen oder Vergehen handelte, auf erneuten Antrag eine Verlängerung um fernere zwei Wochen stattfinden. Die kurzen Fristen sollten eine Verkürzung der Untersuchungshaft herbeiführen. Diesen Zweck verfehlte die in § 126 RStPO getroffene Regelung jedoch. Die Fristen, so die gängige Ansicht im Schrifttum, waren viel zu kurz bemessen. Wenngleich eine gesetzliche Regelung, die die Dauer der Untersuchungshaft nach Möglichkeit einzuschränken sucht, als ein „hervorragender Fortschritt im Sinne einer humanen Strafrechtspflege“ angesehen wurde, wurde die Regelung des § 126 RStPO abgelehnt 85. § 126 Abs. 1 RStPO verlangte „unter Umständen von dem Staatsanwalt“, so meinte etwa Peterson 86, „Unmögliches“. Die Staatsanwaltschaft soll sich nicht selten „genötigt“ gesehen haben, die Eröffnung der gerichtlichen Untersuchung zu beantragen, obwohl dafür keine sachliche Notwendigkeit bestand 87. Die kurzen Befristungen sollen in der Praxis sogar zu einer Haftverlängerung geführt haben, da dem Staatsanwalt innerhalb der Haftfristen die für die Klärung der Sachlage erforderliche Zeit fehlte. Auch wenn nur wenige Ermittlungen genügt hätten, um die Geschehnisse aufzuklären, wurde nicht selten „auf gut Glück“ eine Voruntersuchung gegen den gerade verhafteten Verdächtigen veranlasst 88. Des Weiteren wurde bemängelt, eine derartige zeitliche Fixierung der Arbeit der Strafverfolgungsorgane habe ein „trockenes Formularwesen“ herausgebildet 89. Das heißt, dass die Begründung des Haftbefehls nicht selten der Organisation des Verfahrens zur Verhängung des Haftbefehls zurückstand. In einer zwischen 1902 und 1905 tätigen Sachverständigenkommission zur Reform des Strafprozesses 90 herrschte zwar Einverständnis darüber, dass im Interesse der Verfahrensbeschleunigung eine Fristbeschränkung für die vor Erhebung der öfVgl. zu § 126 RStPO insbesondere Peterson, GA 30 (1882), 322, 322 ff. Peterson, GA 30 (1882), 322, 322. 86 Peterson, GA 30 (1882), 322, 325. 87 So Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 52 f.; siehe auch wieder Peterson, GA 30 (1882), 322, 325: „Der Staatsanwalt wird also unter Umständen gezwungen, eine unvorbereitete Anklage zu erheben, über welche der ebenso ungenügend informierte Richter Beschluß zu fassen hat“. 88 Vgl. wieder Peterson, GA 30 (1882), 322, 322, 336. 89 Vgl. wieder Peterson, GA 30 (1882), 322, 326. 90 Vgl. hierzu näher Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 54 ff. m. w. N. auch auf die Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses, Bd.I, 1. Lesung, Berlin 1905; Bd. II, 2. Lesung, Berlin 1905. Diese sind abgedruckt und kritisch besprochen bei Aschrott (Hrsg.), Reform des Strafprozesses (1906). 84 85

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

fentlichen Klage verhängte Untersuchungshaft nicht zu entbehren sei. Die bisherige Bemessung der Haftfristen habe sich in der Praxis jedoch als unzweckmäßig erwiesen. Die kurze Frist von einer Woche, so die Ansicht Feisenbergers, zu seiner Zeit Staatsanwalt, genüge zur Anstellung abschließender Ermittlungen nur ganz ausnahmsweise – vielleicht bei geständigen Fällen 91. Aus diesem Grund war die Kommission einhellig der Auffassung, geräumigere Fristen festzusetzen 92. Des Weiteren sollte die Vermutungsregel des § 112 Abs. 2 RStPO weitgehend gestrichen werden, da mit der Begründung des Fluchtverdachts weitgehend „schablonenhaft“ verfahren wurde. Diesem Missbrauch sollte durch das ausdrückliche Erfordernis des Vorliegens „bestimmter Tatsachen“, die aktenkundig zu machen waren, in der Zukunft Einhalt geboten werden 93. Über das Entwurfstadium kam die Reform allerdings nicht hinaus. II. Die Weimarer Zeit Der wachsende Einfluss des Verfassungsrechts begann mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (WRV). Sie garantierte gemäß Art. 114 WRV etwa einen Gesetzesvorbehalt zum Schutz vor willkürlicher Verhaftung 94. Nachdem der erste Weltkrieg den Abschluss der Bemühungen um eine Gesamtreform des Strafverfahrens zunichte machte, wurde auf der neuen verfassungsrechtlichen Grundlage nun wieder verstärkt an einer Gesamtreform der StPO gearbeitet. Das Untersuchungshaftrecht war in dem im Wesentlichen Goldschmidt zuzuschreibenden Entwurf der Strafverfahrensordnung von 1920 95 besonders einbezogen. 91

Vgl. Feisenberger, in: Aschrott (Hrsg.), Reform des Strafprozesses (1906), S. 221/222,

267. 92 Feisenberger, in: Aschrott (Hrsg.), Reform des Strafprozesses (1906), S.221/222, 267, berichtet von dem Vorschlag, dass die bisherigen Fristen bei Verbrechen, Vergehen und bestimmten Übertretungen durch eine 4-Wochen-Frist und bei sonstigen Übertretungen durch eine 2-Wochen-Frist ersetzt werden sollten. Dieser Zeitraum sei „regelmäßig genügend“, um die Ermittlungen abzuschließen. 93 Vgl. auch hierzu wieder die Besprechung der Protokolle der Kommission bei Feisenberger, in: Aschrott (Hrsg.), Reform des Strafprozesses (1906), S. 221/222, 262; vgl. kritisch zur Arbeit der Kommission in diesem Punkt Heinemann, ZStW 26 (1906), 520, 522. 94 Art. 114 Abs. 1 WRV lautete: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zulässig.“ Nach Abs.2 galt: „Personen, denen die Freiheit entzogen wird, sind spätestens am darauffolgenden Tag in Kenntnis zu setzen, von welcher Behörde und aus welchen Gründen die Entziehung der Freiheit angeordnet worden ist; unverzüglich soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, Einwendungen gegen ihre Freiheitsentziehung vorzubringen“. Der Vorbehalt des Gesetzes war zudem in Art.114, 115, 153 WRV ausgesprochen. Die Reichsverfassung von 1871 befasste sich weder mit Rechtspflege noch enthielt sie Justizgrundrechte, abgesehen vom Schutz gegen Justizverweigerung gem. Art. 77; vgl. hierzu Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte (1998), Rdn. 320. Einen kritischen Überblick über die Grundrechte der Weimarer Republik und insbesondere auch über die Bindung der Legislative und der Justiz liefert Gusy, ZfNR 1991, 163, 167 ff., 175 ff. 95 Vgl. Goldschmidt, DJZ 1920, 161, 166.

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Gemäß § 131 des Entwurfs sollte Untersuchungshaft wegen Fluchtverdachts nur verhängt werden dürfen, wenn keine schwerere Strafe als Freiheitsstrafe von 3 Monaten oder Geldstrafe von 5.000 Mark zu erwarten war, wenn der Beschuldigte sich dem Verfahren bereits durch Flucht entzogen oder Anstalten dazu getroffen hatte oder wenn er im Inland keinen dauernden Wohnsitz hatte oder unter Polizeiaufsicht stand oder wenn kein Ausweis über seine Person zu erlangen war 96. Damit sollte das Untersuchungshaftrecht für den Bereich der Bagatellkriminalität weiter eingegrenzt werden 97. Aufgrund Verdunkelungsgefahr sollte Untersuchungshaft gemäß § 147 Abs. 2 des Entwurfs höchstens zwei Monate dauern dürfen 98. Die gesetzliche Vermutung des Fluchtverdachts gemäß § 112 Abs. 2 StPO (a. F.) sollte abgeschafft werden 99. Die freiheitliche Einstellung der Politik der damaligen Zeit wird des Weiteren besonders deutlich in § 138 des Entwurfs. Darin wurde der Richter darauf hingewiesen, dass Untersuchungshaft nur dazu dienen sollte, Flucht- oder Verdunkelungsgefahr abzuwenden, und dass sie mit möglichster Schonung der Person und der Ehre des Gefangenen zu vollziehen sei 100. Gesetz wurde das von W. Mittermaier als „kühner Wurf “ 101 bezeichnete Regelungspaket allerdings nie. Die politische Lage war für eine Gesamtreform ungünstig. Erst die Strafprozessnovelle vom 27.12.1926 102 brachte tatsächlich bedeutsame Neuerungen. Ziel des Gesetzes war es, so Lobe/Alsberg, die Vorsorge für mögliche Beschränkungen der Untersuchungshaft auf die „unbedingt notwendigen“ Fälle zu erhöhen und die Freiheitsbeschränkungen „nicht weiter auszudehnen, als es die Durchführung des Verfahrens zur Feststellung der materiellen Wahrheit erfordert“ 103. Nachdem sich in der Praxis des Untersuchungshaftrechts „unhaltbare, mit dem allgemeinen Rechtsbewusstsein unvereinbare Zustände herausgebildet“ 104 hatten, wurde die Subjektstellung des Beschuldigten aufgewertet. In diesem Sinne wurde nun die Haftprüfung auf Antrag des Beschuldigten eingeführt. Weitere Neuerungen betrafen etwa das Recht auf Benachrichtigung von Angehörigen und Siehe wieder Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 63 f. Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 66. 98 W.Mittermaier, DStZ 1920, Heft 1/2, Sp. 32, 33. 99 Siehe Rosenberg, DStZ 1920, Heft 1/2, Sp. 10, 10. 100 Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 65. 101 W.Mittermaier, DStZ 1920, Heft 1/2, Sp. 32, 33. Für W. Mittermaier, der a. a. O. die wesentlichen Reformvorschläge aufführt, ist das Verfahren nach dem Entwurf „klar und durchsichtig“ und bewahrt den Richter vor „schematischem Abspielen des Prozesses“. Die Stellung des Beschuldigten und seines Verteidigers seien verbessert und Formalismus sei beseitigt. 102 RGBl. I, S. 529. Die Gesetzesnovelle v. 27.12.1926 ging als sog. „lex Höfle“ in die Geschichte des Haftrechts ein. Das Gesetz erhielt diese Bezeichnung aufgrund des Todes des Reichspostministers Dr. Höfle 1925 in Untersuchungshaft. 103 Lobe/Alsberg, Untersuchungshaft (1927), S. 3. Die Voraussetzungen der §§ 112, 113 StPO blieben unangetastet. 104 So Klefisch, JW 1925, 1449, 1450; vgl. näher zu den Missständen auch Rosenberg, JW 1925, 1446, 1447 f., der die „übermäßige Dauer“ der Untersuchungshaft als „Hauptübel“ nennt. 96 97

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Regelungen zur Vernehmung des Verhafteten 105. Im Zuge der Reform entfielen auch die Fristen des § 126 StPO (a. F.). Stimmen, wie etwa von Kohlrausch, der vom Betroffenen als einem „Objekt der Fürsorge“ und „menschlicher ‚Rücksichtnahme‘“ sprach, „soweit seine Lage als Verdächtiger“ es fordere 106, fanden in dieser Zeit also noch mehr Beachtung als die Forderung nach „rücksichtslosem Vorgehen gegen Untersuchungsgefangene“ 107. Eine tatsächlich liberale Beschuldigtenbehandlung war mit der Novelle von 1926 allerdings keineswegs solide fundamentiert. Vor Inkrafttreten der Reform war auch die Ansicht vertreten, Untersuchungshaft sei gegenüber Beschuldigten bedingungslos einzusetzen. Siegert 108 beispielsweise stellte die Effektivität des Verfahrens extrem vor die Interessen des Beschuldigten. Er meinte: „Jedem Menschen kann unter allen Umständen die Freiheit entzogen werden. Selbst einer schwer erkrankten und nicht transportfähigen Person kann der Rest von persönlicher Freiheit, den ihr die Krankheit gelassen hat, genommen werden“. „Zweck und Ziel der Untersuchungshaft zwingen ihn (den Richter) zu (...) scheinbarer Härte. Der in der Untersuchungshaft beherrschende Gesichtspunkt ist der“, so Siegert, „daß nach begangener Straftat Tat und Täter in schneller Folge sichergestellt werden müssen“. Dies habe „im Interesse der Staatsautorität und der allgemeinen Sicherheit selbst auf Kosten der Gesundheit des Täters zu geschehen“. Das Interesse des Rechtsbrechers müsse dem Allgemeininteresse weichen. „Ein Aufschub der Untersuchungshaft würde den Zweck der Untersuchungshaft nicht nur gefährden, sondern geradezu aufheben“. Im Zuge von Industrialisierung und wirtschaftlicher Not kam es schließlich vermehrt zu sozialen und politischen Spannungen. Arbeiter forderten vom Staat immer nachdrücklicher eine gesicherte Existenz 109. Damit einhergehend entwickelte sich in den Krisenzeiten der Weimarer Republik die Erosion der Rechte des Verdächtigen rapide. Wegen ihrer Tendenz hin zur Schnelligkeit und Funktionalität des Verfahrens seien an dieser Stelle beispielsweise die Beschränkung ordentlicher Fristen und eine weitgehende Freistellung des Gerichts in der Beweisaufnahme genannt 110. Ziel der Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 28.03.1931 war es unter anderem, das Schnellverfahren auszudehnen und so blutige Zusammenstöße in Versammlungen einzu105 Vgl. §§ 114 a–c, 115 a StPO (a. F.), wonach es im Haftprüfungsverfahren erstmals die mündliche Verhandlung auf Antrag und die Haftprüfung von Amts wegen gab, und hierzu Lobe/Alsberg, Untersuchungshaft (1927), S. 4. Alsberg gilt insbesondere als geistiger Vater des Haftprüfungsverfahrens. 106 Kohlrausch, JW 1925, 1440, 1441 [Hervorhebung im Original]. 107 Das war die Einstellung von Siegert, JW 1925, 929, 930. 108 Vgl. zum Folgenden Siegert, JW 1925, 929, 929 f. 109 Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte (1965), S. 535 f. 110 Vgl. Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte (1998), Rdn. 323 f., mit konkreten Beispielen.

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dämmen 111. Gemäß § 14 dieser Verordnung war bei allen zur Zuständigkeit des Amtsgerichts gehörenden Straftaten, die in der Öffentlichkeit begangen worden waren, das beschleunigte Verfahren zulässig – und zwar auch dann, wenn der Beschuldigte sich weder freiwillig stellte, noch infolge einer vorläufigen Festnahme vorgeführt wurde 112. Die Notverordnungen haben zweifelsohne zu einer erheblichen Rücknahme liberaler Garantien der RStPO geführt. Nach Kopp verwandelten sie den Strafprozess „von einem Rechtsverfahren“ in ein „polizeistaatlichen Gedanken verpflichtetes Verwaltungsverfahren“ zurück 113. Für ihn verstößt im Besonderen die Verbindung der Grundsätze eines Schnellverfahrens mit der Beschneidung der Rechtsmittel im Rahmen der Notverordnung gegen politischen Terror „gegen alle rechtsstaatlichen Grundsätze“ 114. Soweit ersichtlich, hatte jedoch keine der zahlreichen Verordnungen zur Stärkung des beschleunigten Verfahrens, insbesondere bei politischen Ausschreitungen, unmittelbare Auswirkung auf die Regelungen der Haftgründe 115. Den Zerfall der Republik konnte bekanntermaßen keine Verordnung aufhalten. Liberal-rechtsstaatliche Ansichten über die Behandlung des Beschuldigten im Strafverfahren wurden immer weniger beachtet. So fand auch beispielsweise die Arbeit von Schmolz zur „Untersuchungshaft in Theorie und Praxis“ aus dem Jahre 1930 offenbar nicht das vom Verfasser erwünschte Gehör 116. Seine Schlussaussage „nirgendwo mehr als hier (in der StPO) gilt das Wort: ‚Individualisierung ist alles.‘ “ 117, war ein in die Leere gegangener Aufruf zur Besinnung. Eine erste Ahnung von dem, was folgte, mag mitgeschwungen sein. Schon kurze Zeit danach war Individualiserung nur noch „wenig“ wert. Sie sollte aus dem Haftrecht, aus der StPO und aus dem Rechtsdenken insgesamt verschwinden. Zuvor mitbedingte Vgl. RGBl. I, S. 79. Siehe hierzu Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 38 f. 113 Kopp, Nichtdeutsche Angeklagte (1997), S. 173. 114 Kopp, Nichtdeutsche Angeklagte (1997), S. 173. Vgl. auch Hartung, JR 1933, 148, 149, der aus nationalsozialistischer Sicht gerade die Verbreitung des Schnellverfahrens am Ende der Weimarer Republik gutheißt und als Beleg für seine These ansieht, dass sich „autoritäre Gedanken“ im Strafverfahrensrecht zum Wohle des Volkes durchsetzen müssen. 115 Vgl. Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 39 f., zu den Verordnungen v. 06.10.1931 (RGBl. I, S. 537), v. 17.11.1931 (RGBl. I, S. 679) und v. 14.06.1932 (RGBl. I, S. 285), wodurch die Beschuldigtenstellung im beschleunigten Verfahren verbessert wurde: Das Akteneinsichtsrecht wurde beispielsweise von dem Zeitpunkt an, in dem die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung gestellt hatte, gewährt. Ab diesem Zeitpunkt war dem verhafteten Beschuldigten zudem schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger gestattet. 116 Für Schmolz, Untersuchungshaft (1930), S. 47, war das „Lex Höfle“ von 1926 in der liberaleren Tendenz ein „erfreuliches“ Gesetz. A. a. O. S. 50 ff., setzte sich ders. für die Abschaffung des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr und – in weitem Einklang mit den Vorstellungen Alsbergs – für den Ausbau der Rechte des Beschuldigen ein. 117 Schmolz, Untersuchungshaft (1930), S. 54 [Hervorhebung im Original]. 111 112

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1933 eine aufgrund zersplitterter Parteien und der Unübersichtlichkeit staatlicher Organisationsstrukturen entstandene Handlungsunfähigkeit des Staates die Machtergreifung der NSDAP 118.

III. Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus Im Dritten Reich wich der vom verfassungsmäßigen Ansatz eher liberalere Strafprozess nationalsozialistischem Gedankengut. Jetzt sollte das Strafverfahrensrecht – ohne Beachtung der Rechte des Einzelnen – den ständig formulierten Sicherheitsbedürfnissen „des Volkes“ gerecht werden 119. „Wo früher der Individualismus zum reinen Erziehungsproblem verweichlichen wollte (...)“, so heißt es etwa bei Strauß, „oder der fürsorgliche Staat nur an die Lehre für den braven Bürger dachte, da sehen wir heute allein maßgebend die Gemeinschaft aller deutschen Menschen“ 120. Die folgende Epoche war eine Periode des massivsten Ausbaus von Staatskompetenzen und der praktisch vollständigen Demontage der Beschuldigtenrechte. Erstmals sollten im Dritten Reich auf Prävention ausgerichtete Haftgründe in die StPO Einzug nehmen – zur Abschreckung und auch zur Erziehung des Betroffenen. Schon zu Beginn des totalitären NS-Regimes wurde die Regelung des Haftprüfungsverfahrens von 1926 121 als mit dem nationalsozialistischen Verständnis von Strafprozessrecht für unvereinbar erklärt. Für Deitigsmann etwa, zu seiner Zeit Oberlandesgerichtsrat in Karlsruhe, stand eine mündliche Verhandlung im Haftprüfungsverfahren „in unvereinbarem Widerspruch zur (...) Auffassung von den Aufgaben des Strafrechts und von der Notwendigkeit einer rücksichtslosen Verbrechensbekämpfung“ 122. Weitere als „freiheitlich“ geltende Ansätze aus der Wei118 So wieder Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte (1998), Rdn. 332 f. m. w. N., zum Meinungsstand in diesem Zusammenhang. 119 Die Grundeinstellung des Staates wurde bereits deutlich. Siehe dennoch an dieser Stelle Freisler, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafverfahren (1938), S. 11, 11, der die Beschuldigtenrechte konsequent ausklammerte: „Alle Einrichtungen der Volksgemeinschaft sind zweckgebunden; allen voran, Partei und Staat. Denn sie dienen dem Volk; ohne diesen Zweck wären sie sinnlos. Und wenn der Staat seinen Sinn und Zweck im Volk hat, so selbstverständlich auch alle seine Einrichtungen. Das gilt auch vom Strafrecht und vom Strafverfahren. Die Zweckgebundenheit des Strafverfahrens – das natürlich auch dem Volke dient – besteht aber doch gewissermaßen auf einer tieferen Ebene; nicht nur in seiner letzten Sinngebung: im Dienste am Volke. Sie liegt in seiner Bestimmung, der Umsetzung des sachlichen Strafrechts in das Leben der Volksgemeinschaft, seiner Durchsetzung im Volke zu dienen.“ 120 Strauß, DRiZ 1935, 8, 9. 121 RGBl. I, S. 529. 122 Deitigsmann, DRiZ 1934, 70, 70. Das Strafrecht befand sich in der Zeit, in der das Gesetz zur Änderung der Untersuchungshaft v. 27.12.1926 (RGBl. I, S. 529) verabschiedet wurde, nach Deitigsmann, a. a. O. S. 71, „noch in einem Zustand völliger ‚Knochenerweichung‘“; „in den maßgebenden Kreisen wie im Volke“, bestünde „über die Notwendigkeit einer rücksichtslosen Verbrechensbekämpfung (jetzt) eigentlich nur noch eine Meinung“. Er resümiert, das

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marer Zeit, wie die Prüfung der Zulässigkeit und Notwendigkeit der Haftfortdauer gemäß § 115 a StPO (a. F.), wurden mit dem Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24.04.1934 in das freie Ermessen der Behörde gestellt 123. Dies leitete die „Subjektivierung“ maßgeblicher Teile der StPO und damit auch des Haftrechts ein 124. Kurze Zeit später wurde mit Art. 5 des „Gesetzes zur Änderung der Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes“ vom 28.06.1935 125 die Zahl der Haftgründe um zwei erhöht. Anders als die vorangegangenen Novellen war diese nicht nur ein „erster Wegweiser“. Sie wurde als das „erste bewußt vorweggenommene Stück aus der nationalsozialistischen Strafprozeßreform“ bezeichnet 126. Das „Grundthema der Reform“ sei, so Schäfer/Lehmann/Dörffler, die „Auflockerung des Prozesses“. „Der Richter und der Staatsanwalt sollen weniger als bisher durch starre Vorschriften in ihrer Bewegungsfreiheit gehemmt werden“ 127 – so heißt es zynisch, als ginge es im Bereich des Strafverfahrens und der Untersuchungshaft nicht um die Beschränkung der Freiheit des Beschuldigten, sondern um die der Strafverfolgungsorgane. Die Haftvoraussetzungen der neuen Haftgründe zeigten einen Ermessensspielraum von bisher unbekannter Weite. Unabhängig von den Voraussetzungen der bisherigen Haftgründe, sah § 112 Abs. 1 StPO (a. F.) nun die Möglichkeit der Verhängung von Untersuchungshaft vor, „wenn zu befürchten stand, daß der Beschuldigte die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde oder wenn es mit Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Beschuldigten in Freiheit zu lassen“ 128. Beide Haftgründe führten zu einer in der Geschichte der StPO bis dahin Strafrecht der Nationalsozialisten werde „ganz bestimmt nicht die ‚Rechtsgarantien‘ für den Verbrecher in den Mittelpunkt stellen“ [Hervorhebungen im Original]. 123 RGBl. I, S. 341; hierzu Eb. Schmidt, StPO LehrK II (1957), § 112 Erl. 3, sowie Staber, Rechtliche Probleme der Untersuchungshaft (1962), S. 2. Die Ausgestaltung der Haftgründe und deren Anwendungsbereiche wurden durch diese VO nicht geändert. 124 Hitler forderte bereits anlässlich der Machtübernahme im Reichstag die „Elastizität“ der Urteilsfindung zum Zweck der Erhaltung der Gesellschaft. Vgl. hierzu Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte (1998), Rdn. 350 ff. 125 RGBl. I, S. 844. 126 Schäfer/Lehmann/Dörffler, Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935 (1936), S. 55. 127 So Schäfer/Lehmann/Dörffler, Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935 (1936), S. 55, mit dem – angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen – leer laufenden Hinweis, dass damit nicht etwa die Absicht zu verstehen sei, den Angeklagten in Zukunft der Staatsgewalt schutzlos auszuliefern. 128 Vgl. wieder Eb. Schmidt, StPO LehrK II (1957), § 112 Erl. 4 zu Art. 5 des Änderungsgesetzes RGBl. I, S. 844; vgl. zum Hintergrund parallel gelaufener Änderungen der StPO zu Lasten der Beschuldigteninteressen Wetzel, DRpfl 1935, Sp. 475, 482 f.; siehe allgemein auch Hartung, JR 1933, 145, 149. Vgl. auch Baumann, JZ 1962, 690, 690 ff., zur Geschichte des Haftgrundes „Wiederholungsgefahr“ und ders., JZ 1962, 649, 649 ff., zum Haftgrund „Erregung der Öffentlichkeit“.

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wiederholt abgelehnten präventiven Ausrichtung der Haftgründe. Die Freiheitsinteressen des Beschuldigten wurden zu Gunsten general- und spezialpräventiver Zwecke beschnitten. In der amtlichen Begründung zur Einführung der Haftregelungen wurde ausdrücklich betont, dass das Strafrecht nicht nur begangenes Unrecht zu sühnen, sondern auch die Allgemeinheit vor dem Rechtsbrecher wirksam zu schützen habe 129. Die Haftgründe sollten also dem Schutzbedürfnis der Volksgemeinschaft gerecht werden. Die Neuerung war damit sowohl „praktisch wichtig wie auch programmatisch bedeutungsvoll“ 130. War der Haftgrund „Wiederholungsgefahr“ bereits in der Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts vertreten 131, so gilt der Haftgrund der „Erregung der Öffentlichkeit“ als „Erfindung“ der Nationalsozialisten – zumindest was das deutsche Recht angeht 132. Der Haftgrund ließ es zu, Untersuchungshaft auch dann zu verhängen, wenn es an Fluchtverdacht oder Verdunkelungsgefahr fehlte, es aber dennoch nicht erträglich erschien, den Verdächtigen in Freiheit zu belassen. Der Haftgrund war „unter Berücksichtigung der Erfahrung eingefügt, daß bei bestimmten Taten das Volk die sofortige Verhaftung des Täters erwartet“ 133. Ein Maßstab dafür, wann die Emotion, die Entrüstung des Volkes oder, wie es heißt, wann „das Sühnebedürfnis der Gemeinschaft“ 134 eine Inhaftierung verlangte, lässt sich mit historischen Quellen nicht deutlich darlegen. In der Literatur der damaligen Zeit finden sich praktisch keine Anwendungsbeispiele und auch keine klaren Stellungnahmen zur Frage der Rechtmäßigkeit des Haftgrundes 135. „In diesen beiden neuen Gesichtspunkten ist“, so heißt es lapidar bei Wetzel, „nichts Ausgeklügeltes, nichts Normatives, sondern es sind Gedanken, die den Erfahrungen des täglichen Lebens und dem Volksempfinden Rechnung tragen“ 136. Lediglich v. Hippel weist auf die Gefahr der „unnötig aufregenden Berichterstattung der Presse“ hin 137. Vgl. hierzu Rohling, DJ 1936, 333, 333. Schäfer/Lehmann/Dörffler, Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935 (1936), S. 71, Anm. 1 zu § 112. 131 Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 41. 132 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der sog. Haftgrund der „Clamorosität“ bis 1862 Bestandteil des österreichischen Haftrechts war. Nach § 156 lit. d der öStPO (1853) bestand ein Haftgrund, wenn die Handlung „großes öffentliches Aergernis verursacht“ hat; siehe hierzu Moos, in: Jung (Hrsg.), Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen (1990), S. 47, 62 und dort FN 42. Vorläufer finden sich bereits in § 323 lit. d Gesetzbuch Franz II. von 1803, wonach die Inhaftnahmemöglichkeit ebenfalls an ein „öffentliches Aergernis“ anknüpfte; vgl. hierzu und zur Geschichte des Haftgrundes der „Erregung der Öffentlichkeit“ Schubarth, Rechte des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren (1973), S. 119 f. 133 Schäfer/Lehmann/Dörffler, Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935 (1936), S. 71 f., Anm. 2 zu § 112. 134 Schäfer/Lehmann/Dörffler, Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935 (1936), S. 71 f., Anm. 2 zu § 112. 135 Baumann, JZ 1962, 649, 650. 136 Wetzel, DRpfl 1935, Sp. 475, 482. 137 Vgl. v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß (1941), S. 445 und dort FN 2. Ders., a. a. O. S. 442, bewertet die Fortentwicklung des Haftrechts als „nicht überall glücklich“. 129 130

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Ungeachtet dieser allenfalls spärlichen Zweifel, ist unbestritten, dass der Haftgrund „Erregung der Öffentlichkeit“ in der Praxis zu erheblichem Missbrauch geführt hat 138. Mit der ungeheueren Erweiterung richterlichen Ermessens konnte der Richter unter dem Einfluss politischen Drucks leicht zum Vollstrecker politischer Wünsche, insbesondere der Staatspolizei, werden; die, wie auch immer empfundene „Erregung der Öffentlichkeit“ konnte durch entsprechende Weisungen an die Presse praktisch beliebig manipuliert und demonstriert werden139. Wenngleich die Überschrift des Art. 5 des Änderungsgesetzes vom 28.06.1935 die Überschrift „Untersuchungshaft zur Sicherung vor Verbrechen“ trug, wurde „nicht der geringste Grund“ erkannt, die neuen Haftgründe auf Verbrechen zu beschränken 140. Denn häufig seien es „gerade recht gefährliche Verbrecher, wie z. B. Taschendiebe und Betrüger“, so heißt es bei Rohling, „die sich, soweit nicht die Voraussetzungen des strafschärfenden Rückfalls vorliegen, nur eines Vergehens schuldig machen“ 141. „Auch fahrlässige Vergehen“ schlossen, so heißt es weiter, „die Anwendbarkeit des Art. 5 an sich nicht aus“ 142. Das Abstellen auf die Emotion der Öffentlichkeit als einen entscheidenden Faktor im Strafverfahrensrecht passte zu den Ansprüchen des materiellen Rechts der Zeit. Der in § 2 RStGB enthaltene und auch in Art. 116 WRV festgeschriebene „nullum crimen nulla poena sine lege-Grundsatz“ wurde bereits 1935 gestrichen und durch einen neuen § 2 RStGB ersetzt 143. Das Gesetzlichkeitsprinzip wurde wie im Handumdrehen eliminiert – und damit eine Errungenschaft, die spätestens seit Montesquieu als unabdingbare Stütze des Strafrechts insgesamt galt 144. Eine Bestrafung sollte nunmehr grundsätzlich dann erfolgen, wenn der Täter eine Handlung begangen hatte, die das Gesetz für strafbar erklärte oder die nach dem Grundsatz des „gesunden Volksempfindens“ Bestrafung verdiente. Die Richtlinien für das Strafverfahren forderten zum Vorliegen des Haftgrundes „Erregung der Öffentlichkeit“ ebenso, dass das Belassen des Verdächtigen in Freiheit „dem gesunden Volksrechtsbewußtsein widersprechen“ würde 145. 138 Vgl. Baumann, JZ 1962, 649, 650, und auch die allgemeine Einschätzung von Seibert, NJW 1950, 772, 773. 139 Der Gesetzgeber hat damit die Untersuchungshaft, so Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil II (1957), § 112 Erl. 4, „der präventivpolizeilichen Schutzhaft (...) in allerbedenklichster Weise angeähnelt“. Vgl. auch Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte (1965), S.444, sowie Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 30 Rdn. 7. 140 Vgl. Rohling, DJ 1936, 333, 334. 141 Vgl. Rohling, DJ 1936, 333, 334. 142 Vgl. Rohling, DJ 1936, 333, 334. 143 Vgl. das Gesetz zur Änderung des StGB v. 28.06.1935, RGBl. I, S. 839, und hierzu Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte (1965), S. 434 f. 144 Das Gesetzlichkeitsprinzip war schon Bestandteil der Verfassungen von Maryland und Virginia (1776), der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), z. B. im Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) und in dem auf Feuerbach zurückgehenden Bayerischen Strafgesetzbuch (1813); vgl. hierzu nur Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte (1998), Rdn. 289, 290, 239 ff. und 248. 145 Vgl. v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß (1941), S. 445.

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

Flankiert wurden die Haftregelungen des Prozessrechts durch § 276 StPO (a. F.). Danach war die Durchführung der Hauptverhandlung gegen einen flüchtigen Beschuldigten möglich, „wenn das Rechtsempfinden des Volkes die alsbaldige Aburteilung der Tat“ verlangte. Gemäß § 277 StPO (a. F.) fand die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Flüchtigen nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft statt. Gemäß § 278 S. 1 StPO (a. F.) wurde die Prüfung der Voraussetzungen eines Abwesenheitsverfahrens nach pflichtgemäßem Ermessen der Staatsanwaltschaft anvertraut. Eine Nachprüfung durch das Gericht konnte gemäß § 278 S. 2 StPO (a. F.) nicht stattfinden 146. Um Raum für die Würdigung aller Gesichtspunkte zu lassen, war die besondere Schwere der Tat für das Abwesenheitsverfahren nicht Voraussetzung. Mit dieser Regelung sollten die Strafverfolgungsorgane „Genugtuung und Befriedigung des öffentlichen Sühnebedürfnisses oder Abschreckung erzielen und nachteilige Folgen für das Ansehen der Staatsführung wegen der Straflosigkeit der Tat abwenden“; der Staat dürfe vor dem „bösen Willen“ des Angeklagten, in der Hauptverhandlung nicht zu erscheinen, nicht „kapitulieren“ 147. Über diese Neuregelungen hinaus entwickelte sich ein polizeiliches Verhaftungsrecht. Die Unabhängigkeit polizeilichen Handelns, fern jeder gerichtlicher Kontrolle, überlagerte schließlich das strafprozessrechtliche Haftrecht. Der Polizei waren durch die Mittel „Vorbeugungshaft“ und „polizeiliche Schutzhaft“ Instrumente an die Hand gegeben, mit denen sie die Gemeinschaft der Bürger nach eigenem Ermessen „schützen“ sollte. Die Schutzhaft war im Wesentlichen eine aus politischen Gründen angeordnete Freiheitsentziehung gegen, wie es bei Nebinger heißt, „staatsfeindliche Elemente“ 148. Sie wurde bis 1945 als besondere polizeiliche Maßnahme gegen jeden angesehen, der in den Verdacht kam, mit dem System des Nationalsozialismus nicht konform zu sein. Unabhängig von einem laufenden Strafverfahren oder von einem gerade erfolgten Freispruch, konnte der Betroffene noch im Gerichtssaal in Schutzhaft genommen werden 149. Die am 14.12.1937 eingeführte „Vorbeugungshaft“ wurde gegen solche Personen angewandt, die „vermöge ihrer Verbrechernatur eine Gefahr für die Allgemeinheit“ bildeten 150. Die Ausgrenzung von als „minderwertig“ angesehenen Gruppen der Gesellschaft durch die Rechtspolitik mündete schnell in der Legitimierung willkürlichen Vorgehens. Beschuldigten und ihren Verteidigungsrechten wurde keinerlei Wert mehr 146 Vgl. hierzu die Kommentierung von Schäfer/Lehmann/Dörffler, Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935 (1936), S. 73 ff. zu §§ 276, 277, 278 StPO (a. F.). 147 Schäfer/Lehmann/Dörffler, Novellen zum Strafrecht und Strafverfahren von 1935 (1936), S. 73, allgemein zu § 276 StPO (a. F.). 148 Nebinger, Reichspolizeirecht (1942), S. 79. Die „gewöhnliche Schutzhaft“, so ders., a. a. O., diene dem Zweck, eine Person vor „drohender Belästigung oder Gefährdung zu bewahren“ oder „Dritte vor ungesetzlichen Handlungen dieser Person zu schützen“. Grundlage der Schutzhaft war die VO des Reichspräsidenten „zum Schutz von Volk und Staat“ v. 28.02.1933 (RGBl. I., S. 85). 149 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte (1965), S. 439 f. 150 Vgl. Nebinger, Reichspolizeirecht (1942), S. 78.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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beigemessen. Maxime war: „Der nationalsozialistische Staat verhandelt mit den Verbrechern nicht, er schlägt sie nieder“ 151. Weitergehende Vorschläge zur Reform der Strafverfahrensordnung wurden im Krieg verwirklicht. Aufgrund der schnelleren und einfacheren Zwangsanwendung durch die Polizei blieb das Recht der Untersuchungshaft bis auf Zuständigkeitsregelungen weitgehend unberührt. Mit der 4. Vereinfachungsverordnung vom 13.12.1944 war der Anklagebehörde die Kompetenz eingeräumt, selbst Haftbefehle zu erlassen 152. Ein aufgrund der Kriegsanstrengungen gescheiterter Entwurf der „Amtlichen Strafprozeßkommission“ aus dem Jahre 1937 verzichtete noch darauf, dem Richter die Entscheidung über den Haftbefehl ganz zu entziehen, und sah nach zweiwöchiger Inhaftierung die Notwendigkeit richterlicher Entscheidung vor 153. In Anbetracht des Zweckes, mit § 127 b StPO die Durchführung des Verfahrens vor dem Fernbleiben „Wohnsitzloser“ zu sichern, ist insbesondere ein Entwurf der Kommission zur sogenannten „Feststellungshaft“ interessant 154. Gemäß § 207 des Entwurfs einer Strafprozessreform sollte die Feststellungshaft von Polizei und Staatsanwaltschaft angeordnet werden können, wenn gegen einen Unbekannten der begründete Verdacht bestand, dass er in einem Strafverfahren als Beschuldigter gesucht wurde. In der Praxis der Strafverfolgungsorgane habe sich gezeigt, dass etwa bei der Überwachung von Landstreichern häufig Personen angetroffen würden, die strafrechtlich verfolgt würden, sich jedoch entweder überhaupt nicht ausweisen konnten oder aber falsche Angaben über ihre Person bzw. ihre persönlichen Verhältnisse machten, sodass die Verfolgung verdeckt blieb. „Aus Gründen der Rechtspflege und der allgemeinen Sicherheit“, so heißt es bei Dörffler in verblüffender Übereinstimmung mit der Argumentation zu § 127 b StPO, sei es aber „untunlich“, solche Ergriffene wieder zu entlassen, solange die wirklichen Personalien nicht feststünden und nicht nachzuweisen sei, dass der Ergriffene noch Strafe zu verbüßen oder eine bestimmte Straftat begangen habe. Ein durch vorzeitige und übereilte Entlassung begangener Fehlgriff sei „kaum wieder gutzumachen, weil der Entlassene, durch die Ergreifung gewarnt, sich meist alsbald nach seiner Entlassung dem behördlichen Zugriff durch die Flucht“ entziehe 155. Für diese Fälle sollte der Polizei und der Staatsanwaltschaft eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, die es ihnen erlaubte, Ergriffene erst nach Feststellung der Per151 So schrieb der ehemalige Präsident der Akademie für deutsches Recht Frank – zitiert nach Müller-Dietz, Jura 1991, 505, 510. 152 Vgl. Art. 2 § 5 der VO, RGBl. I, S. 339 f. 153 Vgl. zu dem Entwurf im Einzelnen Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 104 ff. Zu den grundsätzlichen Bestrebungen dieser Strafverfahrenserneuerung vgl. ausführlich Freisler, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafverfahren (1938), S. 11 ff. 154 Zur Feststellungshaft und den folgenden Ausführungen vgl. näher Dörffler, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafverfahren (1938), S. 265, 276 f. 155 Dörffler, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafverfahren (1938), S. 265, 276, in Beziehung auf die praktische Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft.

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

sonalien wieder freizulassen oder, wenn erwiesen war, dass weder eine Straftat begangen noch eine Strafe zu verbüßen war. Als Hafthöchstdauer war grundsätzlich eine zeitliche Begrenzung von zwei Wochen, ohne Anrufung des Richters, vorgesehen 156. IV. Die Gesetzgebung nach 1945 und das Wiederherstellungsgesetz von 1950 Nach Ende des totalitären Regimes herrschte durch die Verschiedenheiten der Rechtsentwicklungen in den einzelnen Zonen über den Rechtszustand zunächst Unübersichtlichkeit und auch Unsicherheit. Diese galt es nun zu beseitigen und wieder zu geordneten rechtsstaatlichen Verhältnissen zurückzukehren. Hierzu wurden im Wesentlichen nur die Vorschriften aus der StPO und speziell dem Haftrecht entfernt, die entweder nationalsozialistisches Gedankengut enthielten oder aus dem Zwang der Kriegsverhältnisse entstanden und mit einer zuverlässig arbeitenden Strafverfolgung unvereinbar waren. Beibehalten wurden die Regelungen, die das frühere Recht vor allem auf der „technischen Seite“ weiterentwickelt hatten. Neuerungen grundsätzlicher Art sollten einer künftigen „großen Justizreform“ vorbehalten bleiben. Bis in die 60er Jahre hinein galt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Ansicht, dass ein „vorbildliches Strafverfahrensrecht“ nur wachsen könne, „wenn dabei eine wertvolle Tradition berücksichtigt und eine langjährige Rechtsprechung ausgewertet“ werde 157. Tiefgreifende Reformen blieben also vorerst aus. Nach dem 2. Weltkrieg erfolgten einzelne Gesetzesänderungen zunächst durch die Besatzungsmächte in den einzelnen Besatzungszonen 158. So wurde gleich nach 1945 der die Schwere der Straftat berücksichtigende Haftgrund von 1935 abgeschafft. In den westlichen Besatzungszonen wurde der Haftgrund der „Befürchtung des Missbrauchs der Freiheit“ zu neuen strafbaren Handlungen jedoch noch beibehalten 159. Angesichts der Dringlichkeit einer weiteren Überprüfung der StPO nahm die einheitliche zentrale deutsche Gesetzgebung durch das „Wiederherstellungsgesetz“ vom 156 In Fällen, in denen dem Beschuldigten keine oder gröblich unwahre Angaben nachgewiesen wurden, oder wenn Nachforschungen im Ausland nötig waren, konnte der Staatsanwalt die Haft um zwei Wochen verlängern. 157 „Übereilte Änderungen könnten sich in verhängnisvoller Weise für die Strafrechtspflege auswirken und müßten dem Ansehen der deutschen Gesetzgebung Abbruch tun.“ Vgl. hierzu den Entwurf der Bundesregierung zur Kleinen Strafprozessnovelle 1964 BT-Drucksache 3/2037, S. 14. Siehe zu dieser Neufassung der StPO auch Gerner, NJW 1950, 722, 722 f., 727 ff. 158 Eine allgemeine Übersicht über unterschiedliche Entwicklungen in den einzelnen Zonen gibt Kern, Strafverfahrensrecht (1960), S. 8. Siehe auch den Überblick zur Vereinheitlichung des Strafverfahrens von Niese, JuV 1950, 73, 73 ff. 159 Vgl. Nüse, JR 1950, 553, 554; Staber, Rechtliche Probleme der Untersuchungshaft (1962), S. 3.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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12.09.1950 160, wie angedacht, davon Abstand, schwerwiegende und langer Vorarbeit bedürfende Neuerungen in die StPO zu bringen. Das neue Gesetz sollte nur das Fundament für umfangreichere Reformarbeiten bilden, die eingehender Beratungen zwischen den an der Gesetzgebung beteiligten Organen, Vertretern der Anwaltschaft und sonstiger Verbände bedurften 161. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte dem Strafprozessrecht im Kern wieder die liberale Tendenz gegeben werden, die es vor der Zeit des Nationalsozialismus hatte. Der Haftgrund „Befürchtung des Missbrauchs der Freiheit“ wurde jetzt einheitlich aus der StPO gestrichen und die Haftprüfungsregelungen grundsätzlich wieder auf den Stand von 1926 zurückgeführt. Von dem Grundsatz der Wiederrückführung wurden Ausnahmen nur dort gemacht, wo es unter dem unmittelbaren Eindruck der Errichtung der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes vom 23.05.1949 dringend erforderlich schien. Beide gestrichenen Haftgründe waren damit unvereinbar. Die allein noch verbleibenden Haftgründe „Flucht“, „Fluchtverdacht“ und „Verdunkelungsgefahr“ sah der Gesetzgeber zwar nicht zwingend als grundlegend reformbedürftig an, umschrieb die beiden letzten jedoch mit Rücksicht auf die grundsätzliche Bedeutung der Freiheit der Person in Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 104 GG in ihren Voraussetzungen etwas schärfer. Verdunkelungsgefahr musste sich jetzt, ebenso wie die Befürchtung des Fernbleibens nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO, auf „bestimmte“ Tatsachen stützen, welche die „Gefahr“ der Verdunkelung begründeten. Alle allgemeinen Vermutungen und Erfahrungssätze sollten damit unbeachtlich bleiben und eine „schematische Handhabung“ der Haftbegründung möglichst verhindert werden 162. Fluchtverdacht bedurfte auch nach 1950 keiner weiteren Begründung, wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildete, der Beschuldigte nicht über einen festen Wohnsitz oder Aufenthalt verfügte oder sich nicht ausweisen konnte. Es war jedoch nun grundsätzlich erforderlich, dass der Angeschuldigte flüchtig war, sich verborgen hielt oder, wenn bei „Würdigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Verhältnisse des Angeschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die Befürchtung begründet war, daß sich der Angeschuldigte dem Strafverfahren entziehen werde“. Sinn der Verschärfung war, die Richter zu einer besonders sorgfältigen Prüfung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu verpflichten 163. Besieht man sich den Haftgrund aus dem Jahre 1935, wonach der Beschuldigte inhaftiert werden konnte, wenn zu „befürchten“ stand, dass er die Freiheit missbrauchen werde, war das Abstellen auf eine „Befürchtung“ als ein die 160 BGBl. I, S. 455; vgl. allgemein zum Wiederherstellungsgesetz Gerner, NJW 1950, 722, 722 ff., wieder Nüse, JR 1950, 553, 554, sowie Seibert, NJW 1950, 771, 772. 161 Vgl. hierzu den Entwurf der Bundesregierung, BT-Drucksache 1/530, auszugsweise abgedruckt in JuV 1950, 56, 58 ff. 162 So Seibert, NJW 1950, 771, 772, und Dahs sen., NJW 1959, 505, 508 m. w. N. dort in FN 33. 163 So die Begründung BT-Drucksache 1/530, S. 37.

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

Prognose des Boykottverhaltens beschreibender Begriff schon 1950 kein neuer Begriff im Haftrecht. In der weiteren Entwicklung der §§ 112 ff. StPO zeigte sich dann deutlicher, dass der bestimmende Anlass einer Änderung der StPO nicht unbedingt eine Änderung des geschriebenen Verfassungsrechts sein musste. Auch nachdem der durch das Grundgesetz gesteckte Rahmen gefestigt zu sein schien, kehrte keine Ruhe in das Haftrecht ein. Das eben noch durch das Wiederherstellungsgesetz festgelegte Verhältnis von Beschuldigteninteressen und Allgemeininteressen an der Strafverfolgung kam wieder recht schnell auf den Prüfstand der Politik. Die sogenannte „Kleine Strafprozessnovelle“ von 1964 änderte das Strafverfahrensrecht und insbesondere auch das Haftrecht weit vielfältiger als es die Bezeichnung der Novelle vermuten lässt.

V. Das Strafprozessänderungsgesetz von 1964 Das Änderungsgesetz vom 19.12.1964 164 setzte an, die Stellung des „Beschuldigten“ 165 im Strafverfahren zu verbessern. Die wesentlichen Änderungen der §§ 112 ff. StPO hatten konkret zum Ziel, „daß bei der Anordnung und Dauer der Untersuchungshaft das kriminalpolitisch unbedingt notwendige Maß nicht überschritten wird“ 166. Trotz der zahlreichen Präzisierungen zur Beschränkung der Untersuchungshaft zeigt sich indes vor allem durch die neu eingeführten Haftgründe, dass insgesamt von einer „weitgehenden Liberalisierung“ und von einer „wesentlichen Verschärfung an die Haftanordnung“ 167 nicht ohne Abstriche die Rede sein kann. Vom Änderungsgesetz als einem sogenannten „Verbrecherschutzgesetz“, das „eine unerträgliche Erschwerung der Inhaftierung von Verbrechern gebracht hat“ 168, lässt sich angesichts der Erweiterungen nicht sprechen 169. BGBl. I, S. 1067. Das Gesetz ist am 01.04.1965 in Kraft getreten. Durch das Gesetz wurde – ohne praktische Auswirkung – die bisherige Bezeichnung „Angeschuldigter“ durch „Beschuldigter“ als Oberbegriff ersetzt; vgl. Eb. Schmidt, StPO LehrK Nachträge zu Teil II (1967), Vorb. 14 vor § 112. 166 So die amtliche Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung in BT-Drucksache 3/2037, S. 15, mit Verweis auf die Novelle zur StPO v. 27.12.1926 (RGBl. I, S. 529). Vgl. auch Schmidt-Leichner, NJW 1961, 337, 338. Neben den im Folgenden dargelegten Änderungen wurden z. B. auch die Möglichkeiten erweitert, den Vollzug einer angeordneten Untersuchungshaft durch schonendere Maßnahmen abzuwenden (§116 StPO). Änderungen der Haftdauer und der Rechtsbehelfe (§§ 117, 118 b, 121, 122 StPO) sind ebenso zu nennen wie die Regelung über den Inhalt des Haftbefehls (§114 StPO) und über den Haftvollzug (§ 119 StPO). Vgl. zu alledem E. Kaiser, Leitfaden (1965), S. 1 ff., der die einzelnen Änderungen synoptisch zum bisher geltenden Recht einander gegenüberstellt; siehe auch I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren (1980), S. 96 ff., sowie Dahs sen., NJW 1969, 81, 83. 167 So Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 5. 168 Von einem „Verbrecherschutzgesetz“ schreibt Reitberger, Kriminalistik 1967, 453, 455. Nach dems., Kriminalistik 1965, 173, 177, bereitet die Reform gerade denjenigen „Wohlbeha164 165

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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Durch das Strafprozessänderungsgesetz wurden zwei neue Haftgründe normiert: „Wiederholungsgefahr“ und „Tatschwere“. Die Möglichkeiten der Anordnung von Haft wurden somit klar ausgeweitet. Der neue Haftgrund der Tatschwere galt bei Tötungsdelikten im Sinne des §§ 211, 212, 220 a Abs. 1 Nr. 1 StGB gemäß § 112 Abs. 4 StPO (a. F.) völlig unabhängig von dem Vorhandensein der Voraussetzungen der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr 170. Gemäß § 112 Abs. 3 StPO (a. F.) galt nunmehr für Verbrechen gegen die Sittlichkeit der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, der auf „bestimmte Tatsachen“ gestützt werden musste. Der Grund für die Beschränkung auf Sittlichkeitsdelikte lag darin, dass die Gefahr der Wiederholung eines solchen Verbrechens schwerer wiegt als etwa die Wiederholung eines Vermögensdelikts 171. Die in den Haftbestimmungen der NS-Zeit verwirklichte und danach wieder verworfene Idee, mit der Untersuchungshaft präventive Zwecke zu verfolgen, kam damit deutlich zur Geltung. Das „Rechtsempfinden des Volkes“ und der Verweis auf die „öffentliche Meinung“ diente im Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr als Begründungsan- bzw. -ersatz; nach Ansicht des Abgeordneten Wahl erschien es schließlich, wie für den Gesetzgeber zu § 127 b StPO 172, nicht angebracht, den Beschuldigten noch länger herumlaufen zu lassen, wenn er so gut wie überführt sei. Die „Strafe“ solle der „Tat möglichst auf dem Fuße folgen“ 173. Da es vor dem Hintergrund des Grundgesetzes erstmals wieder um Haftgründe ging, die es dem Richter erlaubten, den Beschuldigten zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten festzuhalten, waren diese auch heftiger Kritik ausgesetzt 174. Wegen der Einführung strafprozessualer Präventivmaßnahmen wurden gen (...), für die sie nicht gedacht sein wird, Banditen, Gangster und Ganoven“. Siehe in gleichem Sinne auch Ender, Kriminalistik 1967, 344, 345. 169 Vgl. Eb. Schmidt, StPO LehrK Nachträge zu Teil II (1967), Vorb. 4 vor § 112, der von den beiden eingeführten Haftgründen kritisch als eine „überraschende und im höchsten Maße unerfreuliche doppelte Neuigkeit“ spricht. Sehr ablehnend äußern sich auch Klug, ZRP 1969, 1, 1, und Peters, Strafprozeß (2. Aufl. 1966), § 47 A II, S. 356. Jescheck, GA 1962, 65, 70 ff., war hingegen der Ansicht: „Wenn man die Gesamtheit der geplanten Reform überblickt, so erscheint der Rechtszustand (...) befriedigend und den Prinzipien des Rechtsstaats entsprechend“. Nach Philipp, DRiZ 1965, 83, 83, ging der Gesetzgeber mit dem Gesetz „bis an die Grenze des kriminalpolitisch Erträglichen“. Vgl. hierzu auch Rausch, Flucht und Untersuchungshaft (1970), S. 164 m. w. N. 170 Dazu näher Hengsberger, JZ 1966, 209, 211; Dahs sen., NJW 1965, 81, 82; Schreiber/ Schilasky, Kriminalistik 1969, 393, 393 ff. 171 Vgl. hierzu Anagnostopoulos, Tatschwere und Wiederholungsgefahr (1984), S. 81 ff. 172 BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 173 Vgl. Speck, Geschichte der Voraussetzungen (1969), S. 161 m. w. N.; siehe des Weiteren auch die Nachweise bei Anagnostopoulos, Tatschwere und Wiederholungsgefahr (1984), S. 33 ff. 174 Vgl. die späteren Äußerungen von Klug, ZRP 1969, 1, 2; Schwarz, ZRP 1969, 56, 56, sowie allgemein Kleinknecht, JZ 1965, 113, 116 f. Das Fehlen zuverlässiger Daten zur Begrün-

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

auch Erinnerungen an die NS-Zeit aufgegriffen. Dahs sen. sprach statt vom Haftgrund der „Wiederholungsgefahr“ vom Haftgrund der „Unerträglichkeit“ und einer „bedenklichen Affinität“ zum „penetrant nationalsozialistischen“ Haftgrund der „Erregung der Öffentlichkeit“ 175. Klug beispielsweise betonte die nationalsozialistische Reminiszenz, wenngleich es sich, wie er meint, „von selbst“ verstehe, dass die „außerordentliche politische Bedeutung des Kampfes gegen Sittlichkeitsverbrecher, Schläger, Rocker, Berufsbetrüger usw. anerkannt“ werden müsse 176. Abgesehen von diesen Erweiterungen, von deren grundsätzlicher Rechtsstaatlichkeit das Bundesverfassungsgericht ausgeht 177, „verobjektivierte“ die Neuordnung die Voraussetzungen der bestehenden Haftgründe in mehrfacher Weise. So wurde in § 112 Abs. 1 S. 2 StPO der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung der Haftanordnung direkt ausgesprochen. Damit wurde ihm erstmals ausdrücklich unmittelbare Geltung in der StPO verschafft. Von nun an durfte die Anordnung der Untersuchungshaft ausdrücklich nicht außer Verhältnis zur „Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe“ stehen 178. Die Veränderung wirkte sich jedoch nur schwer messbar aus. Dieser Grundsatz war schon vorher als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 3 GG und der Europäischen Menschenrechtskonvention im Haftrecht anerkannt. Die Europäische Menschenrechtskonvention beeinflusst als Gesetz im materiellen Sinn und damit als verbindliches innerstaatliches Regelwerk das Strafverfahrensrecht in der Bundesrepublik seit ihrem Inkrafttreten hierzulande am dung eines „dringenden kriminalpolitischen Bedürfnisses“ kritisieren etwa Jescheck/Krümpelmann, Untersuchungshaft (1971), S. 989 ff. 175 Dahs sen., NJW 1966, 761, 763 f. Vgl. auch ders., NJW 1965, 81, 82; Schmitt, JZ 1965, 193, 193 f., sowie Schorn, NJW 1965, 841, 842. 176 Klug, ZRP 1969, 1, 1 f. 177 In BVerfG 19, 342, 342 ff., Beschl. v. 15.12.1965 („Tatschwere“), erklärte das BVerfG zunächst den Haftgrund „Tatschwere“ nach § 112 Abs. 4 StPO (a. F.) für verfassungsgemäß, da es um die „Bewahrung eines besonders schutzbedürftigen Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden schweren Straftaten“ gehe. Die Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung und das Grundrecht des Einzelnen auf persönliche Freiheit sind danach „zwei für den Rechtsstaat gleich wichtige Prinzipien“. Mit Beschl. v. 30.05.1973, BVerfGE 35, 185, 185 ff. („Wiederholungsgefahr“), wurde auch der Haftgrund „Wiederholungsgefahr“ für verfassungsgemäß erklärt. Vgl. an dieser Stelle zur Rechtsprechung des BVerfG nur Rupprecht, NJW 1973, 1633, 1633 ff. 178 Formulierungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit finden sich mehrfach in der StPO. Zur ausdrücklichen Geltung des Grundsatzes für den Vollzug und die Dauer der Haft vgl. §§ 116, 120 und 121 StPO. Vgl. auch allgemein AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 4. Nach Schmidt-Leichner, NJW 1961, 337, 338, wird den Haftrichtern durch die Voraussetzung „Erwartung der zukünftigen Strafe“ eine „unmögliche Vorausschau zugemutet“, die „prophetische Gaben des Richters voraussetzt“. Dahs sen., NJW 1969, 81, 83, hingegen „begrüßt die Klarstellung“. Philipp, DRiZ 1965, 83, 83 f., hielt den Hinweis für erforderlich, dass die „Erregung der Öffentlichkeit“ eine Tat „selbstverständlich“ nicht zu einer bedeutenden oder schweren machen könne; vgl. auch insbesondere Kleinknecht, JZ 1965, 113, 114, zur „Bedeutung der Sache“ im Rahmen der Abwägung.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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03.09.1953 179. 1965 machte Kleinknecht in diesem Zusammenhang deutlich, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch die Europäische Menschenrechtskonvention für die Bemessung der Dauer der Untersuchungshaft „stark belebt“180 worden sei. Ausgehend von dem in Art. 5 Abs. 3 S. 2 EMRK formulierten Anspruch des Beschuldigten „auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung“ wurde gemäß § 121 StPO die Untersuchungshaft grundsätzlich auf die Dauer von sechs Monaten beschränkt – eine Regelung, die den Zweck verfolgt, Strafverfolgungsorgane zu effektiven Ermittlungen zu veranlassen 181. Der Gedanke, dass das Übel der Untersuchungshaft im Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe stehen muss, wurde auch über die Erweiterung des § 113 StPO (a. F.) verfolgt. Die „Haftschwelle“ des § 113 StPO (a. F.) wurde heraufgesetzt 182. Von nun an durfte Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr gemäß § 113 Abs. 1 StPO (a. F.) bei einer maximalen Strafandrohung von bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen nicht mehr angeordnet werden. Fluchtgefahr durfte in diesem Strafrahmen nur unter den Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 StPO angeordnet werden, das heißt, wie heute, wenn sich der Beschuldigte dem Verfahren bereits einmal entzogen oder Anstalten zur Flucht getroffen hatte. Das Abstellen auf einen fehlenden Wohnsitz oder Aufenthalt des Beschuldigten im Bundesgebiet als notwendige Voraussetzung für Fluchtgefahr im Bereich der Bagatellkriminalität war bereits früherer Bestandteil des § 113 StPO. Aufgrund der geringen praktischen Bedeutung des § 113 StPO hatte seine Änderung allerdings eher plakative als praktische Wirkungen 183. Ausgeschlossen von den Einschränkungen waren zudem zahlreiche Delikte, bei denen Unterbringung in einem Arbeitshaus angeordnet werden konnte, wie zum Beispiel Landstreicherei, Bettelei, Unterstützungsbedürftigkeit infolge Spiel, Trunk und Müßigkeit, Arbeitsscheu sowie schuldhafte Obdachlosigkeit 184. Ein Vorschlag des Abgeordneten Dr. Achenbach, der den Bereich der Kleinkriminalität auf alle Taten, für die eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr vorgesehen war, erweitert sehen wollte 185, fand nicht die erforderliche Zustimmung. 179 Vgl. hierzu nur Staber, Rechtliche Probleme der Untersuchungshaft (1962), S. 5 f. m. w. N. 180 Kleinknecht, JZ 1965, 113, 114. 181 Vgl. Schorn, NJW 1965, 841, 844, sowie Seebode, StV 1989, 118, 121 m.w. N., der § 121 StPO „mangelnde Effektivität“ zuspricht. Reitberger, Kriminalistik 1965, 173, 175 f., sprach sich hingegen ausdrücklich gegen die Begrenzung der Haftdauer i. S. d. § 121 StPO aus. 182 Vgl. hierzu Kleinknecht, JZ 1965, 113, 117. 183 Schmidt-Leichner, NJW 1961, 338, 338. Bis heute hat die Regelung durch den Wegfall von Tatbeständen des einschlägigen Strafrahmens bzw. aufgrund der Umwandlung von Bagatelltatbeständen in Ordnungswidrigkeiten weiter an Bedeutung verloren, vgl. Peters, Strafprozeß (1985), § 47 A II, S. 421. 184 Vgl. § 113 Abs. 3 StPO (a. F.), § 361 Nr. 3, 4, 5, 7, 8, StGB (a. F.), § 42 d StGB (a. F.) und hierzu Peters, Strafprozeß (2. Aufl. 1966), § 47 A II, S. 356. Die Übertretungstatbestände des § 361 StGB (a. F.) waren bis in das Jahr 1974 Bestandteil des StGB. 185 Vgl. BT-PlPr 4/69, S. 3102.

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

Des Weiteren wurde der Haftgrund „Fluchtvermutung“ in „Fluchtgefahr“ umbenannt. Die „Befürchtung (...), daß sich der Angeschuldigte dem Strafverfahren entziehen werde“, wurde ersetzt. Es war also nach dem Wortlaut des Gesetzes ab jetzt gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO darauf abzustellen, dass bei „Würdigung der Umstände des Einzelfalles, namentlich der Umstände der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde“. Dadurch sollte der Ausschluss subjektiver Momente nach außen hin deutlicher werden 186. Die Umwandlung des Begriffes „Vermutung“ in „Gefahr“ könne, so Peters, bei der Auslegung „immerhin unerträgliche Ergebnisse verhindern“ 187. Auf den Begriff „Befürchtung“, der seit dem Wiederherstellungsgesetz von 1950 die Prognoseanforderungen zur möglichen Flucht beschrieben hatte und in § 127 b StPO die Prognose zum Fernbleiben des Beschuldigten von der Hauptverhandlung beschreibt, wurde 1964 bewusst verzichtet. Der Begriff „Gefahr“ weise auf einen höheren Verdachtsgrad hin. Wörtlich heißt es in der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung: „Es soll nämlich hier – ebenso wie bei dem Haftgrund der Verdunkelungsgefahr – auf die objektive Gefahr abgestellt werden und nicht auf die ‚Befürchtung‘, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen werde. Denn der Begriff ‚Befürchtung‘ enthält subjektive Bestandteile, auf die es nicht entscheidend ankommen kann“ 188. Darüber hinaus bestand ein Haftgrund gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO, wenn „auf Grund bestimmter Tatsachen festgestellt“ war, dass der Beschuldigte flüchtig war oder sich verborgen hielt. Die einfache Feststellung genügte also nicht mehr. Für Philipp beispielsweise konnte das nur heißen, dass allein die Feststellung, der Beschuldigte sei auf Reisen, er sei nie anzutreffen oder Zustellungen hätten ihn nicht erreicht, nicht genügten. Ein klarer Fall der Feststellung sei hingegen das Sich-absetzen ins Ausland 189. Hatte der Beschuldigte keinen festen Wohnsitz, so war dies nicht bei der Würdigung der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, zu berücksichtigen, sondern als eine die Fluchtgefahr begründende Tatsache zu werten 190. Was den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr angeht, war er jetzt nicht mehr nur aufgrund „bestimmter Tatsachen“ zu bejahen. Darüber hinaus musste für den Rich186 E. Kaiser, Leitfaden (1965), S. 3; vgl. auch Schmidt-Leichner, NJW 1961, 337, 338, für den dies im Vorfeld der Reform „ohne praktische Bedeutung“ war. 187 Peters, Strafprozeß (1985), § 47 A II, S. 421. 188 Vgl. BT-Drucksache 4/178, S. 21 [Hervorhebungen im Original]. Verschiedene Ansichten zur Auslegung der Begriffe „Befürchtung“ und „Gefahr“ liefert Rausch, Flucht und Untersuchungshaft (1970), S. 52 ff. 189 Siehe Philipp, DRiZ 1965, 83, 84, zur „Feststellung bestimmter Tatsachen“, und i. d. S. auch Dreves, DRiZ 1965, 110, 110. Vgl. hierzu auch Rausch, Flucht und Untersuchungshaft (1970), S. 37 ff., 49 ff. 190 Dreves, DRiZ 1965, 110, 110.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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ter die „Absicht des Beschuldigten“ zur Verdunkelung „erkennbar“ geworden sein. Dadurch sollte der von jeher kritisierte Bestimmtheitsgrad für die Bejahung von Verdunkelungshandlungen konkreter beschrieben werden. Der Haftgrund „Verdunkelungsgefahr“ wurde dadurch erheblich eingeschränkt. Die bisherige Gesetzesfassung hatte den Haftrichtern zu weite Ermessensspielräume eröffnet 191. Allerdings wurde an der Wahl der neuen Voraussetzung, wonach die „Absicht“ des Beschuldigten, Verdunkelungshandlungen vorzunehmen, „erkennbar“ sein musste, schon im Vorfeld des Gesetzes ebenfalls erhebliche Kritik geübt. Schmidt-Leichner sah gerade in der neuen Fassung eine „nicht mehr judikable“ Möglichkeit des Ermessensspielraumes des Richters, die „zu einem großen Teil Fehlentscheidungen in Kauf“ nehme 192. Eine weitere Neuerung war der Wegfall der unwiderlegbaren Vermutungen gemäß § 112 Abs. 2 S. 2 StPO für Fluchtgefahr bei Heimatlosigkeit, der Unfähigkeit, sich auszuweisen, oder bei Verbrechen. Die Inhaftierung heimatloser Verdächtiger, die durch § 127 b StPO gerade ermöglicht bzw. vereinfacht werden soll, wurde also damals bewusst erschwert. Speziell der gesetzlich begründete Fluchtverdacht bei Verbrechen hatte nach den Erfahrungen der Praxis in der Vergangenheit zu oberflächlicher Prüfung der Haftvoraussetzungen verleitet und musste daher korrigiert werden. Der Staatsanwaltschaft brach mit der Streichung der Vermutungsregel für Fluchtverdacht eine, wie Dahs sen. meint, „unschätzbare Begründungsreserve“ weg 193. Gemessen an den liberalen Ansätzen des Strafprozessänderungsgesetzes von 1964, ließ die „Kehrtwendung“ 194 nicht lange auf sich warten. Bereits das Einführungsgesetz zum OWiG vom 24.05.1968 schaffte die Möglichkeit von Sicherungsmaßnahmen unterhalb der Haftschwelle bei Beschuldigten ohne festen Wohnsitz, vor allem gegenüber durchreisenden Ausländern 195. Durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung vom 07.08.1972 196 wurden die Haftgründe wieder ausgeweitet. Zweck des neuen Gesetzes war eine „wirksamere Verbrechensbekämpfung“, die, so Schlüchter, „erforderlich geworden ist durch die Erfahrungen mit den liberalisierten Haftbestimmungen des Strafprozeßänderungsgesetzes von 1964“ 197.

Dahs sen., NJW 1965, 81, 82. Zur neuen Fassung siehe Philipp, DRiZ 1965, 83, 84. Schmidt-Leichner, NJW 1961, 337, 338. Siehe zur Verdunkelungsgefahr auch Dreves, DRiZ 1965, 110, 111. 193 Dahs sen., NJW 1959, 505, 506. 194 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Untersuchungshaft (1983), S. 26. 195 Vgl. § 132 StPO und § 127 a StPO. 196 BGBl. I, S. 1361. Das Gesetz ist am 01.09.1972 in Kraft getreten. 197 Vgl. Schlüchter, MDR 1973, 96, 96, und hierzu Grebing, ZfRV 1975, 161, 166 f. 191 192

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

VI. 1972 und die Folgezeit In § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO (a. F.) wurde durch die Streichung des Halbsatzes „namentlich der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen“ der Haftgrund „Fluchtgefahr“ erweitert. Er wurde somit abstrakter und einer weiteren Auslegung zugänglicher. Die Streichung wurde daher im Gesetzgebungsverfahren und später auch seitens der Literatur heftig kritisiert 198. Mit der Streichung sollte der in der Praxis beobachteten „Überbewertung des sogenannten festen Wohnsitzes“ entgegengewirkt werden. Die Erfahrung habe gezeigt, so führte Schlüchter aus, dass gerade erheblich straffällig gewordene Täter sich durch festen Wohnsitz und Rücksicht auf ihre Familien von ihrer Flucht nicht abhalten ließen. Außerdem verstünden es „für die Rechtsordnung schädliche Berufsverbrecher wie auch vorbestrafte und damit ‚gerichtserfahrene‘ reisende Serientäter besonders geschickt, sich durch Begründung eines sogenannten ‚festen Wohnsitzes‘ ihrer Verhaftung zu entziehen“ 199. Der Verbrecher, insbesondere der Diebstahls- und Raubkriminalität, „arbeite“ seit der Reform aus dem Jahre 1964, so hieß es seitens der Polizei unter Berufung auf Einzelfälle, „jetzt viel unbekümmerter, waghalsiger und dreister“ 200. Eine Forderung des Bundesrates nach einem Zusatz in § 112 Abs. 2 S. 2 StPO, wonach Fluchtgefahr auch bestehe, „wenn trotz eines festen Wohnsitzes oder Aufenthalts im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine Fluchtneigung des Beschuldigten besteht“ 201, fand dennoch keine erforderliche Mehrheit. Zur Begründung des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr wurde die „erkennbare Absicht des Beschuldigten“ durch „das Verhalten des Beschuldigten, das den dringenden Verdacht begründen werde“, ersetzt. Dies sollte den Haftgrund objektiv überprüfbarer machen 202 und trug somit den angedeuteten Kritiken der Literatur zur Gefahr der zu freien Ermessensausübung Rechnung. Das „Verhalten des Be198 Vgl. BR-PlPr 6/383, S. 607. Nach Ansicht des Berichterstatters Heinsen war der Haftgrund Fluchtgefahr dadurch „jeder konkreten Bestimmung entkleidet und damit völlig abstrahiert“; es müsse „jeder brauchbare“ Versuch unternommen werden, den Begriff der Fluchtgefahr „zu erläutern und zu konkretisieren“; die Streichung der Umschreibung der Fluchtgefahr in §112 StPO werde die Arbeit der Gerichte nicht erleichtern, sondern erschweren. Vgl. aus der Lit. Grebing, ZfRV 1975, 161, 168, der von einem „bedauerlichen Rückschritt“ gegenüber der liberaleren Reform von 1964 spricht. 199 So Schlüchter, MDR 1973, 96, 97 [Hervorhebungen im Original], mit Verweis auf BTDrucksache 6/3248 Anl. 1 – ohne näheren Beleg für diese These. Siehe in gleichem Sinne Reuter, Die Polizei 1967, 161, 163, sowie Ender, Kriminalistik 1967, 344, 346, der von einer „allgemeine(n) Erfahrungstatsache“ spricht, dass der Gewohnheitsverbrecher flieht. Seine Thesen stützt er jedoch im Wesentlichen nur auf die Untersuchung bei 20 Mehrfachtätern in Wiesbaden, die 241-mal als Täter registriert waren. Vgl. aber auch Roesen, NJW 1953, 1733, 1733, wonach sich nicht bestätigen lässt, dass Gewohnheitsverbrecher eher fliehen als nicht oder nur gering Vorbestrafte. 200 Reuter, Kriminalistik 1967, 161, 162 ff. 201 Vgl. BT-Drucksache 6/3248, Anl. 2 II, Art. 1 Nr. 1. Eine Übersicht über die Vorschläge zur Haftrechtsnovelle 1972 gibt Schnupp, Die Polizei 1972, 269, 269 f.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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schuldigten“ trat nach Ansicht der damaligen Reformer eher zu Tage als seine in202 nere „Absicht“. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr wurde in der Vorschrift des § 112 a StPO verselbständigt und gewann durch die Aufnahme weiterer Straftaten an Bedeutung. Der Ansatz, dass die Gefahr der Wiederholung bei Sexualdelikten schwerer wiegt als bei Vermögensdelikten, wurde nicht weiter als entscheidend angesehen. Im Gegensatz zu den eher selteneren Sexualdelikten galt Wiederholungsgefahr ab jetzt auch insbesondere bei schweren Körperverletzungs- und schweren Vermögensdelikten, wie gewerbsmäßiger Hehlerei, aber auch bei Betrug nach § 263 StGB 203. Voraussetzung des Haftgrundes war neben dringendem Tatverdacht das Erfordernis „einer die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigenden Straftat“. Der Gesetzgeber ließ sich offenbar von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1965 204 zum Haftgrund der Tatschwere gemäß § 112 Abs. 4 StPO (a. F.) leiten. Er wollte – entgegen Gesetzesentwürfen des Bundesrats 205 und der CDU/CSU-Fraktion 206 – die Beschränkung auf schwere Straftaten bereits durch die Katalogisierung vornehmen. § 242 StGB und § 259 StGB sollten keinen Eingang in den Katalog des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO finden, weil diese Delikte nicht durchweg schwere Straftaten darstellten 207. Die verfassungsrechtlichen Schranken erlaubten es also nicht, den einfachen Diebstahl oder die einfache Hehlerei einzubeziehen. Kritik wurde indes an der Begründung geübt. Der Gesetzgeber berief sich auf einen angeblichen Anstieg der Schwer- und Serienkriminalität. Einen Beleg dafür blieb er schuldig, wenngleich der Ausbau, insbesondere des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, maßgeblich gerade auf dieser These beruhte 208. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Haftgrund der Tatschwere 209 hielt beispielsweise Schwarz den gesetzgebenden Organen „restlose Emotio202 Vgl. BT-Drucksache 6/3561, S. 2, wonach die Absicht zur Verdunkelung in der Praxis „kaum zu beweisen“ gewesen war. Vgl. hierzu auch Diemer-Nicolaus, NJW 1972, 1692, 1693, sowie Grebing, ZfRV 1975, 161, 170. 203 Vgl. §§ 223 a bis 226 StGB (a. F.); §§ 243, 244 StGB (a. F.); §§ 249 bis 355 StGB (a. F.); § 260 StGB (a. F.), und näher Rupprecht, NJW 1973, 1633, 1633 f. 204 BVerfGE 19, 342, 342 ff. 205 BT-Drucksache 6/2348. 206 BT-Drucksache 6/2558. 207 Vgl. hierzu den Bericht des Rechtsausschusses zu BT-Drucksache 6/3561. 208 So der Bericht des Rechtsausschusses zu BT-Drucksache 6/3561, S.1. Vgl. auch Schlüchter, MDR 1973, 96, 96, wonach die Liberalisierung des Haftrechts unter Vernachlässigung der Allgemeininteressen zu einem erheblichen Ansteigen der Schwer- und Serienkriminalität – gekoppelt mit einem bedenklichen Sinken der Aufklärungsquote – geführt habe. Zur Kritik vgl. etwa Schwarz, ZRP 1969, 56, 56, der bemerkt, dass der „propagandistische Effekt eines zahlenmäßigen Nachweises einer Unzahl von Tätern, die bis zur Hauptverhandlung nichts anderes im Sinn haben als die Fortsetzung ihrer kriminellen Tätigkeit“, sicher „beträchtlich“ gewesen wäre. 209 Siehe BVerfGE 19, 342, 342 ff. („Tatschwere“).

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

nalität“ vor und hegte offen „den Verdacht der Wahltaktik“. Der Verweis darauf, dass es „unerträglich“ sei, wenn „Rockerbanden durch die Großstädte ziehen, denen ihre kriminellen Umtriebe bereits nachgewiesen sind, die aber mangels eines Haftgrundes weiterhin ihr Unwesen treiben können“, genüge, so Schwarz, zur Verschärfung des Haftrechts nicht 210. 1976 wurde § 112 Abs. 3 StPO zunächst auf Sprengstoffverbrechen gemäß § 311 StGB und dann auf den neugeschaffenen Tatbestand der „Bildung terroristischer Vereinigungen“ gemäß § 129 a StGB ausgedehnt 211. Das Gesetz zur Änderung der StPO vom 14.04.1978 212 erweiterte das Recht der vorläufigen Festnahme zum Zwecke der Identitätsfeststellung nach §§ 163 b, 163 c StPO 213. Das Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 28.07.1981 214 dehnte den Haftgrund der Wiederholungsgefahr durch Bezugnahme auf eine Reihe von Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes weiter aus 215. Die Reformüberlegungen der 80er Jahre waren schließlich von Bestrebungen geleitet, die Anordnungsvoraussetzungen hinsichtlich der Untersuchungshaft wieder restriktiver auszugestalten. Unter Berücksichtigung der, insbesondere aus der Wissenschaft formulierten Kritik an einer zu exzessiven Untersuchungshaftpraxis, wurden Reformvorschläge formuliert, die im Wesentlichen auf eine stärkere gesetzliche Begrenzung der Haftvoraussetzungen und auf eine Streichung der Haftgründe der Tatschwere und der Wiederholungsgefahr abzielten. In diesem Sinne sah ein SPD-Entwurf die Klarstellung bestimmter Rechtsbegriffe, wie der Fluchtund der Wiederholungsgefahr, vor 216. Nach einem Entwurf der Bundestagsfraktion der Grünen sollte der Haftgrund der Tatschwere gestrichen werden 217. Der damalige Justizminister Engelhard beteiligte sich an der Diskussion mit grundsätzlich liberalem Ansatz. Er stellte klar, dass die mit „Freiheitsentzug verbundenen Maßnahmen auf das unumgänglich notwendige Maß beschränkt bleiben“ und dass die Freiheit eines Beschuldigten „nur“ eingeschränkt werden darf, „wenn es nachweislich notwendig ist“ 218. Ein Vorschlag des „Arbeitskreises Strafprozeßreform“ sah schließlich als Haftgründe lediglich Flucht, Fluchtgefahr und Verdunkelungs210 Vgl. Schwarz, ZRP 1969, 56, 57, der zusammenfasst, dass das „Schreckbild Fahrradketten schwingender, schwarz belederter langhaariger Jugendlicher“ schon immer „gewirkt“ habe, um die Bevölkerung für eine Verschärfung des Haftrechts zu gewinnen. 211 Vgl. hierzu Anagnostopoulos, Tatschwere und Wiederholungsgefahr (1984), S. 70. 212 BGBl. I S. 497. 213 Vgl. hierzu Kurth, NJW 1979, 1377, 1378 ff. 214 BGBl. I, S. 681. 215 Vgl. zum Überblick auch Arbeitskreis Strafprozeßreform, Untersuchungshaft (1983), S. 26. 216 Siehe hierzu BT-Drucksache 11/688, S. 3. Beispielsweise sollte § 112 Abs. 2 StPO (a. F.) ein Satz 2 angefügt werden, wonach Fluchtgefahr nicht ausschließlich auf die Höhe der zu erwartenden Strafe gestützt werden dürfe. 217 BT-Drucksache 11/2181, S. 3, 8, 10, u. a. unter Berufung auf Kleinknecht, JZ 1965, 111, 111 ff. 218 Siehe Engelhard, ZfJ 1986, 359, 359.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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gefahr vor 219. Danach hatte Untersuchungshaft bei Taten, für die mehr als ein Jahr vollstreckbare Freiheitsstrafe nicht zu erwarten ist, zu unterbleiben 220. Umgesetzt wurde allerdings keiner der Vorschläge. Dennoch zeigen empirische Erhebungen einen erheblichen Rückgang der jährlichen Zahl vollzogener Untersuchungshaft. In den Jahren 1982 bis 1987 sank sie von über 16.500 um ca. ein Drittel auf weniger als 11.200 221. Mitursächlich für den starken Rückgang, so meint Hilger, sei die seit 1983 intensiv geführte Haftrechtsdiskussion gewesen, da sie zu einer besonderen Sensibilisierung der Strafverfolgungsorgane geführt habe 222. Auch Schöch und Seebode erkannten den Einfluss, den die öffentliche Diskussion und das „rechtspolitische Klima“ auf den Umgang mit dem Untersuchungshaftrecht in dieser Zeit hatten 223. Das gleichzeitige Sinken der Zahl der Abgeurteilten kann für den starken Rückgang der Haftzahlen jedenfalls nicht der alleinige Grund gewesen sein. Bei unverändertem Haftrecht sanken die Haftzahlen relativ stärker als die Zahlen verübter Taten. In einzelnen Bereichen der „Kleinkriminalität“, wie etwa bei Leistungserschleichungen im Sinne des § 265 a StGB, sank die Haftquote um über 50 %, obwohl die Zahl der Abgeurteilten stieg 224. Die Haftzahl für Fälle, die mit einer Verurteilung zu Geldstrafe endeten, sank gleichfalls überproportional um mehr als 50 % 225. Das damals von Politik und Strafrechtswissenschaft geschaffene Klima, Eingriffsmöglichkeiten begrenzen zu wollen, hat sich seit der Wiedervereinigung deutlich gewandelt. Die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland wurde seit Ende der 80er und Beginn der 90er Jahre maßgeblich durch die politischen Umwälzungen in Osteuropa beeinflusst. Als Ursache werden konkret, etwa von Dünkel, die Arbeitskreis Strafprozeßreform, Untersuchungshaft (1983), S. 65 ff. Arbeitskreis Strafprozeßreform, Untersuchungshaft (1983), S. 59 f. 221 Mit dem 31.12. als Stichtag. Vgl. zur Statistik Jehle, BewHi 1994, 373, 376 f., 389, und im Sinne eines weiteren Vergleichs auch das Schaubild von Cornel, NK 2002, 42, 43, zur Entwicklung der Anzahl der Untersuchungsgefangenen in der Bundesrepublik von 1960–2000. 222 Hilger, NStZ 1989, 107, 109, im Hinblick auf die gerade erwähnten Gesetzentwürfe sowie u.a. auf Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S.1, 13. Vgl. darüber hinaus auch die Mitteilungen von Brüssow, AnwBl. 1983, 115, 115 f., zum Forum des Deutschen AnwaltVereins zum Recht der Untersuchungshaft u.a. mit Parigger, Dahs sen., Krekeler, Deckers und Grünwald als Teilnehmer. Hassemer, StV 1984, 38, 38; Jehle, Untersuchungshaft (1985), S.5 f.; Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S.182 ff.; Heinz, BewHi 1987, 5, 5 f. Das Sinken der Haftzahlen war nicht unbedingt ein europäisches Phänomen der Zeit. Nach Moos, in: Jung (Hrsg.), Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen (1990), S. 47, 60, nahm Österreich – ohne vergleichbare Diskussion – seit vielen Jahren einen Spitzenplatz in den europäischen Statistiken der Haftzahlen ein. Der wesentliche Grund für die hohen Haftzahlen war für Moos, a.a.O. S.62, die innere Einstellung vieler Richter, welche Haft nicht nur als Mittel zur Sicherung eines Strafverfahrens verstanden. 223 Vgl. Schöch, in: FS-Lackner (1987), S. 991, 994 ff., 998 f.; Seebode, StV 1989, 118, 120. 224 Vgl. wieder die Zahlen bei Hilger, NStZ 1989, 107, 109: von 17.938 aufgrund § 265 a StGB Abgeurteilten befanden sich 1982 2,75 % in Untersuchungshaft. 225 Vgl. wieder Hilger, NStZ 1989, 107, 109: 1982 wurde in 6.053 Untersuchungshaftfällen Geldstrafe verhängt; 1987 waren es nur 2.888 Fälle. 219 220

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Erweiterung der Ostgrenzen, die sozialen Umbrüche in den neuen Bundesländern und Integrationsprobleme bei Ausländern ins Feld geführt 226. Im Zeitraum zwischen 1989 bis 1994 füllten sich die Untersuchungshaftanstalten in einem in der Geschichte der Bundesrepublik (West) einmaligen Ausmaß 227. Ende 1994 gab es in Deutschland über 22.000 Untersuchungsgefangene 228. Die Rechtsprechung wurde in dieser Zeit mitunter als „Steigbügelhalter“ 229 der verschärften Untersuchungshaftpraxis in Frage gestellt. § 113 Abs. 2 StPO, wonach Untersuchungshaft in Fällen kleinerer Kriminalität nur wegen Fluchtgefahr angeordnet werden darf, wenn der Beschuldigte (nach Nr. 2) im Geltungsbereich der StPO keinen festen Wohnsitz oder Aufenthaltsort hat, wurde als „Einfallstor einer Ausländer benachteiligenden Untersuchungshaftpraxis“ erkannt 230. Die zunehmend als bedrohlich empfundenen Probleme der „organisierten Kriminalität“ und der „Gewaltkriminalität aus ausländerfeindlichem Milieu“, so zählt Dünkel auf, und die „angestiegenen Phänomene der Alltagskriminalität (Ladendiebstähle und Straßenkriminalität von Flüchtlingen, reisenden Tätern etc.)“ 231 wurden seitens der Politik aufgegriffen und führten schließlich 1994 zum Verbrechensbekämpfungsgesetz. Im Rahmen dieses Gesetzes wurde der Haftgrund der Tatschwere gemäß § 112 Abs. 3 StPO um Fälle der schweren Körperverletzung (§ 225 StGB) und der schweren Brandstiftung (§ 307 StGB) ergänzt. Mit der Aufnahme dieser Straftatbestände soll, so heißt es in der Begründung des Gesetzes, „zur Verfolgung schwerster Gewaltdelikte und dem Anliegen dieser strafprozessualen Norm entsprechend der Gefahr begegnet werden, daß gerade besonders gefährliche Täter sich der Bestrafung entziehen“ 232. Für Dünkel waren Kriminalitätsängste der maßgebliche Auslöser für die Verschärfung des Haftgrundes der Tatschwere 233. Ebenfalls aufgewertet wurde der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in § 112 a StPO durch Streichung des § 112 a Abs. 1 S. 2 StPO. Durch die Streichung entfiel die bisher für die Anordnung von Untersuchungshaft bei den in § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO genannten Straftaten erforderliche Regelvoraussetzung einer rechtskräftigen Vorverurteilung. Damit sollte, so heißt es, eine „praxisgerechtere Handhabbarkeit der Vorschrift erreicht“ werden 234. 226 Dünkel, NK 1994, 20, 20 („Untersuchungshaft als Krisenmanagement?“), und ders., StV 1994, 610, 610. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Soyer, StV 2001, 536, 536 m. w. N., wonach es eine empirisch belegte Tatsache sei, dass die steigende Zahl von Untersuchungshäftlingen in Österreich seit 1989 und bis zum Beginn der 90er Jahre deutlich auf die verstärkte Haftverhängungspraxis gegenüber ausländischen Tatverdächtigen zurückzuführen ist. 227 Vgl. Dünkel, StV 1994, 610, 610 und dort Abbildung 1. 228 Vgl. wieder das Schaubild von Cornel, NK 2002, 42, 43, zur Entwicklung der Anzahl der Untersuchungsgefangenen in der Bundesrepublik von 1960–2000. 229 Vgl. Dünkel, StV 1994, 610, 616, mit Beispielen aus der Rechtsprechungspraxis. 230 Siehe wieder Dünkel, StV 1994, 610, 616. 231 Dünkel, StV 1994, 610, 616 [Klammersetzung im Original]. 232 BT-Drucksache 12/6853, S. 32. 233 Dünkel, NK 1994, 20, 21. 234 BT-Drucksache 12/6853, S. 33.

1. Abschn.: Überblick über Haft seit Inkrafttreten der RStPO

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Seit Inkrafttreten des § 127 b StPO wurden keine neuartigen Inhaftnahmemöglichkeiten mehr entwickelt und keine alten ergänzt. Zu erwähnen bleibt allerdings das aktuelle Vorhaben, den Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens zu erweitern. Dem Bundesrat liegen mehrere Länderinitiativen mit dem ausdrücklichen Ziel vor, eine „effektive Bekämpfung des Rechtsextremismus“ zu ermöglichen. In diesem Sinne hat der Gesetzentwurf des Freistaates Thüringen 235 zum Inhalt, § 79 Abs. 2 JGG zu streichen. Das beschleunigte Verfahren des allgemeinen Strafrechts nach §§ 417 ff. StPO soll somit im Jugendstrafrecht ermöglicht werden. § 127 b StPO soll demnach auch gegenüber Jugendlichen anwendbar sein. So werde das Beschleunigungsgebot des Jugendstrafrechts konsequent umgesetzt. Die Beschleunigung sei „aus erzieherischen Gründen geradezu unabdingbar“. „Je schneller die Sühne der Tat folgt“, so wird im Bundesrat ausgeführt, „je geringer der zeitliche Abstand zwischen der Tat und der Verurteilung ist, desto eindrucksvoller und erzieherisch wertvoller werden die jugendstrafrechtlich notwendigen Maßnahmen sein“ 236. Nach einem Entschließungsantrag des Landes Baden-Württemberg zur, wie es heißt, „wirksameren Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“, wird die Bundesregierung aufgefordert, verschiedene gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten 237: zum Beispiel auch die Möglichkeit, im vereinfachten Jugendverfahren einen Vorführungs- oder Haftbefehl zu erlassen (§ 230 StPO). In dem Antrag wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit der Einführung des beschleunigten Verfahrens auch im Jugendstrafverfahren die Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b StPO zulässig sei. Der federführende Rechts- und Innenausschuss des Bundesrats empfahl 238, den Entwurf unter Ergänzung einer weiteren Änderung des § 78 JGG einzubringen 239; § 78 JGG sollte ein Abs. 3 hinzugefügt werden, wonach § 230 StPO entsprechende Anwendung findet. Die Diskussion um eine Ausweitung der Zwangsbefugnisse gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden passt in das Klima steigender Gefangenenzahlen im Jugendstrafvollzug. Seit Beginn der 90er Jahre hat sich dort die Zahl der Häftlinge fast verdoppelt 240.

Drucksache 549/00. BR-PlPr 14/756, S. 468 f. 237 Vgl. hierzu DVJJ, ZfJ 2001, 97, 98 f. 238 BR-Drucksache 14/756, S. 469, 503. 239 Nach einer Erklärung des Berliner Bürgermeisters Böger wird das gesetzgeberische Anliegen, den Beschleunigungsgrundsatz im Jugendstrafverfahren zu stärken, grundsätzlich unterstützt. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wird allerdings zusätzlicher Handlungsbedarf gesehen, um auch im beschleunigten Verfahren gegen Jugendliche eine Mitwirkung von Erziehungsberechtigten (§§ 50 Abs. 2, 67 JGG) und die nach § 42 JGG erforderliche umfassende Erforschung der Persönlichkeit zu gewährleisten. Des Weiteren sei das Konkurrenzverhältnis des § 127 b StPO zu der die Verhängung von Untersuchungshaft gegen Jugendliche einschränkenden Vorschrift des § 72 JGG zu klären. Vgl. hierzu BR-PlPr 14/756, S. 503. 240 Vgl. zu den neueren Entwicklungen der Inhaftiertenzahlen in Deutschland wieder Cornel, NK 2002, 42, 42. 235 236

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

2. Abschnitt

Historisch begründete Schlussfolgerungen und erste Mahnungen Die historische Darstellung ausgesuchter Haftregelungen zeigt zunächst einige Voraussetzungen, die sich auch in § 127 b StPO wiederfinden. So verlangt § 127 b StPO eine Begründung für das mögliche Boykottverhalten des Beschuldigten, die sich auf „bestimmte Tatsachen“ erstreckt. Das Erfordernis steht in der freiheitlichen Tradition des Grundgesetzes, die Handlungsspielräume für die Inhaftnahme des Beschuldigten zu verengen. Sie muss sich auf konkrete, überprüfbare Anhaltspunkte stützen. Dies soll verhindern, dass der Freiheitsentzug zu einem schematischen Vorgang wird. Die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ steht in gleichem Sinne in Übereinkunft mit den strafprozessualen Haftund Festnahmeermächtigungen seit Inkrafttreten der RStPO. Im Hinblick auf die normative Beschränkung, die von der starken Form des Verdachts ausgeht, handelt es sich um ein bewährtes Kriterium zur Begrenzung staatlicher Zwangsbefugnisse im Verfahren 241. Davon abgesehen, gibt die historische Sicht jedoch erheblichen Anlass zu besonderer Wachsamkeit. In § 127 b StPO spiegelt sich viel von „zu intensivem Machtstreben der Staatsgewalt“. Es entsteht der Eindruck, dass bei dem Entwurf des § 127 b StPO und seiner Begründung nicht wenige der zahlreichen Fehlentwicklungen im Haftrecht nicht hinreichend berücksichtigt wurden oder in Vergessenheit waren. In diesem Sinne erinnern die „Erwartung der Hauptverhandlung binnen einer Woche nach der Festnahme“ gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO und die Befristung der Haft auf „höchstens eine Woche ab dem Tag der Festnahme“ gemäß Abs. 2 S. 2 stark an die gescheiterte Regelung des § 126 RStPO. Gemäß § 126 RStPO war ein im Ermittlungsverfahren erlassener Haftbefehl grundsätzlich aufzuheben, wenn nicht innerhalb „einer Woche“ nach dessen Vollstreckung Anklage erhoben und von einem Richter Haftfortdauer angeordnet wurde. Anfang des letzten Jahrhunderts bestand in Sachverständigenkommissionen weitestgehend Einigkeit darüber, dass ein Strafverfahren in einer Woche kaum geordnet durchgeführt werden kann. Die Frist des § 126 RStPO war zu knapp bemessen. Sie förderte, so Peterson, „Flüchtigkeit und Überstürzung“ sowie „Formalismus und Schematismus“ 242, obwohl sie in bestimmten Fällen verlängert werden konnte. Eine Beschränkung der Haftdauer konnte mit der Regelung in der Praxis nicht erreicht werden. Die damals zu knapp bemessene Frist diente oftmals gerade nicht der Verkürzung der Haftdauer. Die Fristsetzung hatte konträre Wirkungen, wenn der Staatsanwalt aufgrund der 241 242

Vgl. i. d. S. auch Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 78. Peterson, GA 30 (1882), 322, 329.

2. Abschn.: Schlussfolgerungen und erste Mahnungen

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Eilbedürftigkeit Untersuchungen durchführte, für die keine sachliche Notwendigkeit bestand. Damit führte die Wochenfrist nicht selten zu einer unzulässigen Beeinträchtigung von Beschuldigteninteressen. Das könnte auch Folge des § 127 b StPO sein. Wenngleich die Rechte und Pflichten der Beteiligten im Ermittlungsverfahren der RStPO anders ausgestaltet waren als heute, ist aus historischer Erfahrung mit § 126 RStPO zu bedenken, dass die Verfolgungsbehörden möglicherweise zu vorschnellem Handeln verleitet werden. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass allein um Einhaltung der Wochenfrist gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO willen Ermittlungen überstürzt geführt werden. Gemessen an § 121 Abs. 1 S. 1 StPO aus dem Jahr 1964, wonach Untersuchungshaft grundsätzlich auf sechs Monate beschränkt ist, bedeutet § 127 b StPO eine ganz enorme Herabsetzung der Höchstgrenze zulässiger Haftdauer – auch wenn § 127 b StPO auf das beschleunigte Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO begrenzt ist. Wird der Verdächtige berechtigterweise verurteilt, kann ein schnelles Urteil die Belastungen in Grenzen halten. Der Gefahr einer Provokation von Fehlverhalten müssen sich die Strafverfolgungsorgane im beschleunigten Verfahren jedoch immer bewusst sein. Das gilt allgemein im Hinblick auf die kurze Frist gemäß §418 Abs. 1 StPO. Aber ganz besonders gilt dies, wenn § 127 b StPO angewendet wird. Soll das Verfahren mit § 127 b StPO gesichert werden, ist es innerhalb der Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO abzuschließen. Diese Frist ist noch kürzer als die kurze Frist gemäß § 418 Abs. 1 StPO. Wird zu rasch geurteilt, da aufgrund der Frist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO nicht ausgewogen ermittelt werden konnte, führt die Regelung zu einer unrechtmäßigen Belastung des Beschuldigten. Einen Rückschritt bedeutet die Regelung auch vor dem Hintergrund der Beschränkung des § 127 b StPO auf Fälle kleinerer und mittlerer Kriminalität im Sinne des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO. In dem Zusammenhang ist zu bemängeln, dass die Achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in § 127 b StPO keinen direkten Ausdruck findet. Die gezielte Erweiterung des Haftrechts auf den unteren und mittleren Kriminalitätsbereich ist eine Kehrtwende in der haftrechtlichen Gesetzgebung seit Inkrafttreten der RStPO, der Weimarer Reichsverfassung und insbesondere des Grundgesetzes. Die zielgerichtete Einengung des Haftrechts im unteren Kriminalitätsbereich wird durch die stetige Erweiterung des § 113 StPO und die Erwähnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in § 112 Abs. 1 S. 2 StPO deutlich. Beides hat zumindest plakative Wirkungen. Dies profiliert eine durch das Rechtsstaatsprinzip gebotene strenge Bindung des Richters an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit. Die Voraussetzung „Befürchten des Fernbleibens“ nach § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO erscheint ebenfalls sehr problematisch. Der Terminus „befürchten“ ist ein mögliches Einfallstor für nur schwer überprüfbare Willkür der Strafverfolgungsorgane. Das lässt sich aus der historischen Betrachtung ableiten. 1935 stand der Begriff für die „Subjektivierung“ des Strafverfahrens durch die Nationalsozialisten. Das Ge7 Giring

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

setz sah zu dieser Zeit die Verhängung von Untersuchungshaft vor, „wenn zu befürchten stand, daß der Beschuldigte die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde“. Der Begriff umschrieb ab dem Jahr 1950 auch den als zu vage befundenen Haftgrund „Fluchtverdacht“, der anzunehmen war, wenn bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Verhältnisse des Angeschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die „Befürchtung“ begründet war, dass sich der Angeschuldigte dem Strafverfahren entziehen werde. Nach einem Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt der Terminus „subjektive Bestandteile, auf die es nicht entscheidend ankommen kann“ 243. Daher wurde er durch die „Kleine Strafprozessnovelle“ von 1964 ganz gezielt aus den Haftgründen verbannt. Wenn Peters Ansicht zutrifft, dass durch die Streichung des Begriffes „Befürchtung“ und das Einfügen des Wortes „Gefahr“ im Rahmen des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, die Auslegung „unerträgliche Ergebnisse verhindern“ konnte 244, bietet § 127 b StPO aller Wahrscheinlichkeit nach gar ein sehr weites Einfallstor für „unerträgliche Haftanordnungen“ und nur sehr schwer überprüfbare Willkür der Strafverfolgungsorgane. Gestützt werden die Bedenken gegen eine zu weite Fassung durch den Begriff „fernbleiben“. „Fernbleiben“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO ist eine in der Geschichte der Haftgründe einmalige Umschreibung für das mögliche Boykottverhalten des Beschuldigten. Verlangt wird weder aktive „Flucht“, noch „Fluchtgefahr“. Diese Begriffe wurden indes jahrzehntelang als allein dafür geeignet erachtet, die Begründungsmöglichkeiten für ein wahrscheinliches Ausbleiben des Beschuldigten in der Hauptverhandlung und für eine darauf gestützte Inhaftnahme nicht ausufern zu lassen. Darüber hinaus ist die Diskussion um die Anwendung des § 127 b StPO auf „reisende Täter“, „Wohnsitzlose“, „asoziale Existenzen“, „Minderbemittelte“, „Ausländer“ usw. sehr fragwürdig. In diese „Milieus“ lässt sich die Regelung keineswegs vereinfacht und schnell einbinden: Die historische Erfahrung zeigt, dass Haft und Festnahme ungeeignete Mittel sind, Versäumnisse aus anderen Politikbereichen zu kompensieren. Das Haftrecht war in der Geschichte der StPO nie ein Boden, um „Bettelei“, „Wohnsitzlosigkeit“ und die damit eventuell einhergehende Kriminalität ertragreich zu bekämpfen. Das Strafrecht ist hierzu insgesamt kein wirklich geeignetes Instrument. Die wirtschaftliche Unterstützung von in Not Geratenen hilft eher, soziale Ursachen von Kriminalität einzudämmen. Bei Wohlfahrt heißt es in diesem Sinne: „Obdachlose und Nichtseßhafte sind Fälle für die Sozialund nur ausnahmsweise für die Ordnungsverwaltung“ 245. Das Strafrecht bleibt dort weitestgehend außen vor. In diesem Zusammenhang ergeben sich zwei weitere Bedenken gegen die Hervorhebung im Gesetzgebungsverfahren, § 127 b StPO auf bestimmte PersonenSiehe noch einmal BT-Druckache, 4/178, S. 21. Siehe wieder Peters, Strafprozeß (2. Aufl. 1966), § 47 A II, S. 356, und auch ders., Strafprozeß (4. Aufl. 1985), § 47 A II, S. 421. 245 Wohlfahrt, BayVBl. 1997, 420, 427. 243 244

2. Abschn.: Schlussfolgerungen und erste Mahnungen

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gruppen anwenden zu wollen. Zum Ersten könnte die eingehende Diskussion im Parlament als Auslegungsgrundlage missbraucht werden. Tatsächlich bietet die parlamentarische Auseinandersetzung keine solide Auslegungsgrundlage. Der gesetzliche Haftgrund wird weder mit der Ausländereigenschaft, noch dem Fehlen eines Wohnsitzes oder sozialer Bindungen beschrieben. Der Gesetzgeber hat sich im Laufe der Geschichte des Haftrechts auch gerade gegen Begründungserleichterungen für bestimmte Beschuldigtengruppen ausgesprochen. Schon früh wurde die Vermutungsregel des § 112 Abs. 2 S. 2 RStPO für das Vorliegen von Fluchtverdacht bei „Heimatlosen“, „Landstreichern“ und „Ausländern“ wegen anzunehmender Unrechtsstaatlichkeit abgelehnt. Der Gesetzgeber der „Kleinen Strafprozessnovelle“ hat die Regelung 1964 bewusst gestrichen. Dadurch sollte der Begründungszwang für den Richter gefestigt werden. Zum Zweiten ist es ein unbedingtes Element des Rechtsstaats, dass das Freiheitsrecht für jeden den gleichen – nicht selektiven – Wert hat. Jede davon abweichende „Verpolitisierung“ des Haftrechts kann eine bedrohliche Manipulationsmöglichkeit zur Bekämpfung politischer Gegner sein. Die Verweise auf „links- bzw. rechtsextremistische Chaostouristen“ und die Zusammenhänge mit der laufenden Diskussion um die Bekämpfung „rechter Gewalt“ „verpolitisieren“ das Haftrecht. Insoweit § 127 b StPO die „Erregung der Öffentlichkeit“ über bestimmte Bereiche der Kriminalität, über „Bettler“, „Wohnsitzlose“, „Ausländer“, usw. widerspiegelt, lässt sich der Regelung aus historischer Sicht nichts Gutes abgewinnen. Die Einbeziehung gesellschaftlicher Emotionen zur Begründung einer Inhaft- und Festnahme ist zwar in der politischen Auseinandersetzung gängig. Die Thematisierung von „Emotionen in der Gesellschaft“, wie sie im Zusammenhang mit § 127 b StPO betrieben wurde, erinnert dennoch an überholt geglaubte Argumentationsmuster. Insbesondere die schlimmen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus machen deutlich, wie wichtig es ist, den Einzelnen in den Mittelpunkt des Haftrechts zu stellen. „Die Erregung der Öffentlichkeit“ oder „die Entrüstung des Volkes“ dürfen für eine Inhaftnahme genausowenig bestimmend sein wie „politische Wirren“ und „Machtgesichtspunkte“. Der nationalsozialistische Haftgrund der „Erregung der Öffentlichkeit“ war im Besonderen Ausdruck einer, die „Volksgemeinschaft“ in den Mittelpunkt des Haftrechts stellenden Politik. Dass die Erregung Vieler auch heute sehr leicht lenkbar und künstlich herstellbar ist, steht angesichts der Medienpräsenz außer Frage. Baumann stellte schon 1962 kritisch fest: „Hier bedarf es lediglich interessanter Berichterstattung (also keineswegs gezielter Maßnahmen zwecks künstlicher Aufpeitschung), und schon wird aus der allgemeinen Sensationslust eine ganz bestimmte und mit ganz bestimmten Forderungen auftretende Erregung“ 246. 246 Baumann, JZ 1962, 649, 652 [Klammersetzung im Original]. „Der Bundesbürger ist zwar in politics verhältnismäßig lethargisch (...).“, so schreibt Baumann a. a. O., „Handelt es sich dagegen um Kriminaldelikte, so ist der Eifer (...) erstaunlich (dabei aber nicht immer erfreulich)“ [letzte Klammersetzung im Original].

7*

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

Im Hinblick auf die Grundrechte des Betroffenen muss die Berufung auf das „Volksempfinden“ weitestgehend aus der gesetzgeberischen Motivation zur Gestaltung des Haftrechts ausgeschlossen sein. Das Haftrecht ist nur dann rechtmäßig, wenn es auf tatsächliche Bedürfnisse gründet und nicht auf diffuse Emotionen. Pauschale Verweise auf „unerträgliche Gefühlszustände“ der Gesellschaft aufgrund in Freiheit befindlicher Beschuldigter, bei denen „die Strafe der Tat nicht auf den Fuß folgt“, erschienen in der Geschichte des Haftrechts immer substanzarm und nie als fundierte Grundlage, um eine Erweiterung des Haftrechts tatsächlich zu legitimieren 247. Der Gesetzgeber des § 127 b StPO setzt sich auch mit dem Verweis auf eine „berechtigte Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“ 248 dem Verdacht einer „unzulässigen Politisierung“ des Strafverfahrensrechts aus. Das gilt für jeden, der sich darauf beruft. Die Frage, wie schnell eine Verurteilung einer Tat folgen soll, damit die Strafzwecke optimal genutzt werden, wurde kriminologisch ebenso wenig erforscht wie die Abhängigkeit zwischen der Anwendungshäufigkeit des beschleunigten Verfahrens und des Maßes an Rechtstreue in der Bevölkerung. Ein wissenschaftlicher Nachweis für die These, wonach das beschleunigte Verfahren gerade aufgrund des Fehlens eines Haftgrundes oder des Nichterscheinens des Angeklagten zur Verhandlung nicht häufiger angewandt werden konnte, wurde vor der Einführung des § 127 b StPO genausowenig erbracht wie der behauptete Anstieg der Serien- und Schwerkriminalität zur Erweiterung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr im Jahre 1972. Das Vertrauen jedes Einzelnen in den Rechtsstaat wird durch eine „verpolitisierte Argumentation“ nicht steigen, sondern eher sinken. Die präventive Ausrichtung des § 127 b StPO fügt sich schließlich in eine sich kontinuierlich entwickelnde präventive Neuordnung des Haftrechts. Die vorbeugenden Haftgründe „Wiederholungsgefahr“ und „Tatschwere“ aus dem Jahr 1964 wurden, bis in die 90er Jahre hinein, stetig erweitert. Trotz jahrzehntelanger Übung ist es aus historischer Sicht dennoch nicht gutzuheißen, im Haftrecht auf Prävention zu bauen. „Vorbeugung durch Untersuchungshaftrecht“ weckt automatisch Affinität an die Gesetzgebung des Nationalsozialismus – heute wie in den 60er Jahren. Die Möglichkeit der Verhängung von Untersuchungshaft, „wenn zu befürchten stand, daß der Beschuldigte die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde, oder wenn es mit Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Beschuldigten in Freiheit zu lassen“, führten 1935 erstmals in der Geschichte der StPO zu einer deutlich präventiven Ausrichtung der Haftgründe. 247 „Mit der Würde des Strafverfahrens verträgt es sich nicht“, so schreibt Baumann, JZ 1962, 649, 653, „Erregung der Öffentlichkeit, unter Umständen also den Mob der Straße durch Zweckentfremdung eines Rechtsinstituts des Strafprozeßrechts zu bekämpfen, den Beschuldigten mit einer aus in seiner Person liegenden Gründen gar nicht erforderlichen Zwangsmaßnahme zu belegen, ihn einzusperren, nur damit die Menge beschwichtigt wird“. 248 BT-Drucksache 13/2576.

2. Abschn.: Schlussfolgerungen und erste Mahnungen

101

Trotz der auffälligen Reminiszenzen an die Gesetzgebung im Nationalsozialismus soll dennoch klargestellt sein, dass sich § 127 b StPO nicht in die Reihe der Haftgründe aus dieser Zeit stellen lässt. Gleiches gilt für denkbare Parallelen etwa in Richtung des Haftrechts der Deutschen Demokratischen Republik 249 oder des türkischen Strafprozessrechts 250. Rechtssystem ist nicht gleich Rechtssystem, und Epoche ist nicht gleich Epoche. Aufgrund des jeweils unterschiedlichen Gebrauchs und der verschiedenen Bedeutung der Sprache ist bei Vergleichen Vorsicht geboten – aber nicht nur deshalb. Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umstände in Deutschland – insbesondere nach 1933 – sind mit denen von heute in der Bundesrepublik keineswegs vergleichbar. Das Justizsystem des NS-Staats war ein Unrechts-System im Unrechts-System. Wie erörtert, beherrschten im Dritten Reich die polizeiliche „Vorbeugehaft“ und die „Schutzhaft“ als reine Polizeihaft das Haftrecht. Diese und die 1935 eingeführten Haftregelungen der „Erregung der Öffentlichkeit“ und des „Missbrauchs der Freiheit“ sind deutlicher Ausdruck völkischen Rechtsdenkens der nationalsozialistischen Diktatur. Die Verfolgung politischer Gegner und generell von Andersdenkenden wurde systematisch betrieben; Ächtung war eine geregelte Sanktion 251. Das Grundgesetz achtet hingegen die Freiheit des Individuums gegenüber dem Schutzbedürfnis der Gemeinschaft hoch. Dem Gesetzgeber ist heute das Bemühen um die Festigung liberaler Maxime nicht abzusprechen. 249 Auch der Kommunismus der DDR kannte den Missbrauch staatlicher Gewalt unter Ansehung gesellschaftlicher Prononcierungen im Haftrecht. Wiederholungsgefahr erforderte gem. § 122 Abs. 1 Ziff. 3 StPO-DDR, dass die Straftat des Betroffenen eine wiederholte und erhebliche Missachtung der Strafgesetze darstellte und dadurch die Gefahr bestand, dass weitere Straftaten verübt wurden. „Reale Wiederholungsgefahr“, so heißt es hierzu etwa bei Bein, in: Bein/Luther/u. a., Strafverfahrensrecht (1987), S. 161, sei „gegeben, wenn die Straftaten Ausdruck einer fortbestehenden negativen Grundhaltung des Beschuldigten oder Angeklagten zu seiner gesellschaftlichen Verantwortung“ seien. Der Haftgrund „Haftstrafe“ gem. §122 Abs. 1 Ziff. 4 StPO-DDR entsprach nach Bein, a. a. O. S. 162, „dem Interesse des sozialistischen Staates und seiner Bürger nach entschiedener und sofortiger Reaktion auf bestimmte Vergehen mit rowdyhaftem oder grob disziplinwidrigem Charakter gegen die staatliche und öffentliche Ordnung (...)“. Der Haftgrund sollte – in der Sache wie § 127 b StPO – „insbesondere die schnelle und störungsfreie Durchführung des Strafverfahrens sichern und gewährleisten helfen, daß die Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Tat besonders rasch – und damit nachhaltig disziplinierend folgen“. 250 Vgl. etwa den durch Gesetz v. 01.12.1992 eingeführten Art. 104 Abs. 3 der türkischen StPO. Danach darf Untersuchungshaft bei Taten, die im Gesetz mit bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe bedroht sind, nur dann angeordnet werden, wenn entweder die Tat „die Empörung der Gesellschaft“ erweckt, wenn der Beschuldigte „keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt“ hat oder wenn er sich „nicht ausweisen“ kann; siehe hierzu kritisch Centel, ZStW 106 (1994), 227, 230 f. Ein Blick beispielsweise in das spanische Prozessrecht zeigt den 1980 eingeführten Haftgrund der „Beunruhigung der Öffentlichkeit“; siehe hierzu ablehnend Armenta Deu, ZStW 104 (1992), 201, 207 f. 251 Vgl. nur Majer, Nationalismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002), S. 35, 44 f. und S. 47 ff. Zum Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei im Nationalsozialismus vgl. ders., a. a. O. S. 73 ff.

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1. Kap.: Der historische Hintergrund des § 127 b StPO

„Rechts“-Prinzipien werden als solche verstanden und nicht durch „völkisches Rechtsdenken“ ad absurdum geführt. Die bloße Vermutung, dass ein Beschuldigter in einem Strafverfahren gesucht wird, genügt gerade nicht zur Inhaftierung aufgrund des § 127 b StPO. Zur Bejahung der von den Nationalsozialisten angedachten „Feststellungshaft“ war die Lage anders. Die politische Sicht auf das Strafrecht erlaubte und förderte Willkür. Die Sicht der Politik auf das Strafrecht ist immer bedeutsam. Ihre Haltung zum Haftrecht wirkt sich nicht nur auf die Ausgestaltung des Rechts, sondern auch auf die Praxis der Strafverfolgungsorgane aus. Das zeigen die 80er Jahre deutlich. Der Rückgang der zwischen 1982 und 1987 jährlich vollzogenen Untersuchungshaft um ca. ein Drittel, insbesondere im Bereich der Kleinkriminalität, war zweifelsohne auch auf das von der Politik geschaffene Klima zurückzuführen 252. Die politische Debatte ging damals wesentlich um die Reduzierung von Untersuchungshaft auf ein absolut notwendiges Maß. Wenn auch § 127 b StPO im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes noch nicht verabschiedet wurde, so hat die Norm ihre Ursprünge dennoch auch in der Politisierung des Strafverfahrensrechts dieser Zeit. Die Erweiterungen des § 112 Abs. 3 StPO und des § 112 a StPO 1994 gingen mit der 1997 durch die Hauptverhandlungshaft bestätigten Tendenz der Beachtung präventiver Aspekte im Haftrecht voraus. Die Diskussionen um die Bekämpfung der leichteren und mittleren Kriminalität mischten sich mit denen der Schwerkriminalität 253. So mischte sich auch die Diskussion um die Legitimation zur Bekämpfung von leichter mit der von schwerer Kriminalität. Es ist sicherlich kein Zufall, dass heute gerade Niedersachsen einen der Spitzenplätze aller Länder in der Anwendung des § 127 b StPO belegt. Nach Auskunft des niedersächsischen Justizministeriums kommt die Norm „wegen ihrer besonderen, Täter abschreckenden Wirkung dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung entgegen“ 254. Der Präventionszweck des § 127 b StPO wird dort ausdrücklich, wie in keinem anderen Bundesland, pointiert. Schließlich bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Diskussionen um die Anwendung des § 127 b StPO im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Rechtsextremismus nicht zu einer unzulässigen Erweiterung des Haftrechts und der Haftpraxis führen. Mit der Debatte um § 127 b StPO rückt das Haftrecht zwangsläufig wieder verstärkt in den Mittelpunkt der Bekämpfung von Kriminalität im Umfeld von Bettelei, Vagantentum und Ausländern, aber insbesondere auch von Rechtsextremismus und ausländerfeindlichen Straftaten. Die Gesetzesinitiativen im Bereich des Jugendstrafrechts zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens und des § 127 b Vgl. zur Statistik auch Jehle, BewHi 1994, 373, 376, 389. Vgl. an dieser Stelle nur wieder den Entwurf zum Verbrechensbekämpfungsgesetz, BTDrucksache 12/6853. 254 Zur Erinnerung: Von den 2.759 Fällen, in denen von Januar bis September 2001 eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren beantragt wurde, wurden in 636 Verfahren Beschuldigte aus der Hauptverhandlungshaft vorgeführt. Das entspricht einem Anteil von ca. 23 % der beschleunigten Verfahren; vgl. näher oben Einf., 2. Abschn. 252 253

2. Abschn.: Schlussfolgerungen und erste Mahnungen

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StPO im Jugendstrafverfahren weisen in Richtung einer erweiterten Anwendungspraxis für § 127 b StPO. Dies spricht für die These Dünkels aus dem Jahre 1994, dass § 127 b StPO einmal von „erheblicher quantitativer Bedeutung“ werden wird 255. Je nach politischer und auch wirtschaftlicher Lage ist zu befürchten, dass § 127 b StPO eine selektive Diskriminierung von „Ausländern“ und „Wohnsitzlosen“, aber auch von politisch motivierten „Demonstranten“ verschärft. Das kann zu einem weiteren Anstieg der Untersuchungshaftzahlen und damit zu verstärkten Problemen der Überbelegung in den Haftanstalten führen 256. Nach alledem ist festzuhalten, dass mit der Einführung des § 127 b StPO der Weg in eine Ausuferung des Haftrechts weitgehend geebnet scheint. Angesichts der Härte des Eingriffes in die Rechte des Beschuldigten ist nachhaltig davor zu warnen, dass er tatsächlich beschritten wird. Wie leicht es jedoch zu einer ausufernden Anwendung des § 127 b StPO kommen kann, lässt sich genauer erst nach einer Exegese der Regelung sagen. Durch die Konzeption als Haft- und Festnahmenorm und den Verweis auf die §§ 417 ff. StPO erscheint ihre Struktur insgesamt noch komplexer als die der §§ 112, 112 a StPO. Beides macht eine umfassende Untersuchung der Systematik und der Voraussetzungen des § 127 b StPO besonders notwendig. Den Anfang macht 127 b StPO als Ermächtigung zur Inhaftnahme eines Verdächtigen. Die Haftermächtigung nach § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO ist im Vergleich zur Festnahmeermächtigung nach § 127 b Abs. 1 StPO das Kernstück der Regelung.

255 256

Dünkel, StV 1994, 610, 617. Vgl. wieder Dünkel, StV 1994, 610, 617.

2. Kapitel

Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO 1. Abschnitt

Die materiellen Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft und das Verhältnis zu den §§ 112, 112 a StPO A. Die Konzeption des Haftgrundes nach § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO Die Grundstruktur der Hauptverhandlungshaft zeigt Ähnlichkeiten mit der Untersuchungshaft aufgrund §§ 112, 112 a StPO. Sowohl Haft gemäß § 127 b StPO als auch gemäß §§ 112, 112 a StPO verlangt einen Haftgrund 1. Zudem ist hier wie dort ausdrücklich „dringender Tatverdacht“ geregelt 2. Die Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung ist zwar in § 127 b StPO nicht ausdrücklich genannt. Die Gesetzesbegründung verweist jedoch direkt auf die Verhältnismäßigkeit im Sinne des § 112 Abs. 1 S. 2 StPO 3. Nach der Lektüre des § 127 b StPO ist jedoch nicht sogleich klar, worin eigentlich der Haftgrund der Hauptverhandlungshaft besteht. § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO er1 Vgl. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 8; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 6; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 15. 2 Vgl. § 112 Abs. 1 S. 1 StPO und die Haftgründe Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO), Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO) sowie Wiederholungsgefahr (§ 112 a StPO). Die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ ergibt sich für den Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO klar aus dem Wortlaut des Abs. 2 S. 1 1. HS. Die Frage, ob „über den Wortlaut des § 127 b StPO hinaus“ dringender Tatverdacht zu verlangen ist, stellt sich somit allenfalls im Rahmen des Festnahmerechts gem. § 127 b Abs. 1 StPO. Anhaltspunkt für die Forderung kann eine Parallele zu § 127 Abs. 2 i.V. m. § 112 Abs. 1 S. 1 StPO sein; vgl. hierzu an dieser Stelle nur Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149. Insoweit sind Ausführungen von Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 8, unklar. Dort heißt es: „Da das gesamte Institut der Hauptverhandlungshaft auf erhebliche Bedenken stößt (...), wird man über den Wortlaut hinaus verlangen müssen, daß – wie bei § 112 I 1 ein dringender Tatverdacht besteht.“; a. a. O. § 59 Rdn. 11, geht Roxin hingegen – ohne Erläuterung und entgegen dem Wortlaut des § 127 b Abs. 1 StPO – vom Erfordernis eines „dringenden Tatverdachts“ für das Festnahmerecht gem. § 127 b Abs. 1 StPO aus. 3 BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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wähnt neben einem „der Tat dringend Verdächtigen“, dass die „Durchführung der Hauptverhandlung binnen einer Woche nach der Festnahme zu erwarten ist“. Stellt man jedoch allein auf Letzteres ab, müsste die Inhaftierung je nachhaltiger erfolgen können, desto eher die zügige Durchführung der Hauptverhandlung zu erwarten wäre. Dies ist gleichwohl kein geeigneter Ansatz für einen Haftgrund. Es fehlt die erkennbare Notwendigkeit einer Verfahrenssicherung. Für sich betrachtet kann § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO also kein Haftgrund sein. Wie sich noch näher zeigen wird, spezifiziert vielmehr § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO die Haftgrundkomponente des Abs. 1 Nr. 1. Abs. 2 S. 1 2. HS bestimmt materiell, dass eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren „binnen einer Woche nach der Festnahme zu erwarten“ sein muss. Den eigentlichen Haftgrund der Hauptverhandlungshaft zeigt der Verweis in § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO auf die „Gründe“ des Abs. 1. Der Haftgrund setzt sich demnach aus der Bindung an das beschleunigte Verfahren (Abs. 1 Nr. 1) und der Befürchtung aufgrund bestimmter Tatsachen, dass der Festgenommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird (Abs. 1 Nr. 2) zusammen – und der Erwartung im Sinne des Abs. 2 S. 1 2. HS 4. Die „Gründe“ des Abs. 1 müssen unstreitig kumulativ vorliegen 5. Das ergibt sich aus der Und-Verknüpfung zwischen Abs. 1 Nr. 1 „und“ Nr. 2. Die Vorschriften des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO haben mithin doppelten Charakter. Sie sind Haftgrundkomponenten der Hauptverhandlungshaft und bilden zugleich die Voraussetzungen zur Festnahme eines Verdächtigen aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO. Im Schrifttum wird vereinzelt die Ansicht vertreten, der Haftgrund beschränke sich auf § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO. Zwar wird Abs. 1 Nr. 1 wegen des Verweises in Abs. 2 S. 1 als Voraussetzung des Haftbefehles anerkannt, „Den Haftgrund umschreibt“, so heißt es jedoch ausdrücklich bei Hellmann, „§ 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO“ 6. Einerseits liegt die Reduzierung auf die Befürchtung des Fernbleibens ge4 Es gibt also einen Haftgrund. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 4 (dort FN 6), wertet die Aussagen von Asbrock (MdB SPD), RA-Pr 13/50, S. 3, 11, der die Hauptverhandlungshaft als eine „Haft ohne Haftgrund“ bezeichnet, als „unklar“. Asbrock spricht a. a. O. jedoch lediglich davon, dass § 127 b StPO eine Haftregelung enthält, „wie wir sie in der Systematik der StPO nicht kennen“ bzw., ohne dass „Haftgründe klassischer Art nach §§112 f. StPO vorliegen“. Die Aussage „Haft ohne Haftgrund“ meint also offensichtlich: „Haft ohne klassischen Haftgrund“. Nichts anderes ergibt sich aus den Angaben von Hilger, a. a. O. § 127 b Rdn. 4, 5, 9. Dass der Haftgrund aus den Elementen des § 127 b Abs. 1 StPO sowie der Konkretisierung der Befristung gem. Abs.2 besteht, wird deutlich herausgestellt bei Hilger, a. a. O. § 127 b Rdn. 8, und bei KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 15. F.-C. Schroeder, Strafprozeßrecht (2001), Rdn. 140, spricht – nicht exakt, aber in die gleiche Richtung weisend – vom „Haftgrund des Bevorstehens des beschleunigten Verfahrens und der Befürchtung des Fernbleibens von der Hauptverhandlung“. 5 Vgl. nur Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 3. 6 Vgl. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146, ohne nähere Begründung. In gleichem Sinn ist wohl auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 19, zu verstehen, wenn es heißt: „Die Anordnung der Haft setzt weder Flucht- noch Verdunkelungs- noch Wiederholungsgefahr, son-

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mäß Abs. 1 Nr. 2 nah. Auch Haftgründe gemäß §§ 112, 112 a StPO knüpfen wesentlich an prognostiziertes Beschuldigtenverhalten nach der Ergreifung des Verdächtigen. Evident ist dies bei Flucht, Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr. Haft wird in diesen Fällen mit der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens des Beschuldigten begründet, das die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens in Zukunft gefährdet. Das befürchtete Fernbleiben gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO steht als Prognose störenden Nachtatverhaltens am engsten an Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Sowohl Flucht als auch Fernbleiben führt zum Ausbleiben des Verdächtigen. Das Ausbleiben ist der Grund, weswegen eine Verfahrenssicherung angezeigt ist. § 230 Abs. 1 StPO verbietet grundsätzlich die Durchführung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten. Andererseits muss das mögliche störende Nachtatverhalten für die Bestimmung des Haftgrundes nicht allein entscheidend sein. Die Kombination von Voraussetzungen, die an mögliches Beschuldigtenverhalten, das die Durchführung des Verfahrens hindert, anknüpfen, und die gleichsam mögliches Verhalten einbeziehen, das den Anlass zur Verdächtigung gibt, ist dem bisherigen Haftrecht nicht fremd. In diesem Sinne beinhaltet der Haftgrund der Tatschwere gemäß § 112 Abs. 3 StPO entscheidend das in der Vergangenheit liegende, mögliche Deliktverhalten des Beschuldigten. Gemäß der verfassungskonformen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts bildet eine an vergangenes Handeln anknüpfende Prognose in Kombination zum erwarteten Verhalten nach der möglichen Tat im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO den Haftgrund der Tatschwere gemäß § 112 Abs. 3 StPO 7. Die gesetzliche Konzeption des § 127 b StPO ist vergleichbar – freilich mit anderen Vorzeichen. Für den Hauptverhandlungshaftbefehl ist nicht wie bei § 112 Abs. 3 StPO ein mögliches Tatverhalten, das die Verwirklichung eines erheblichen Delikts erscheinen lässt, Voraussetzung. Es geht um die eventuelle Verwirklichung leichterer und mittelschwerer Tatbestände. Das vergangene Verhalten darf gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO nur zu einer Strafbarkeit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe führen 8. Die in die Zukunft gerichtete Verhaltensprognose der Hauptverhandlungshaft bezieht sich, wie gesehen, auf das Fernbleiben gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO.

B. Das Verhältnis zwischen Haft aufgrund § 127 b StPO und aufgrund §§ 112, 112 a StPO Das Gesetzgebungsverfahren liefert zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen § 127 b StPO und §§ 112, 112 a StPO wenig konkret brauchbare Hilfen. Die Begründung des Gesetzesentwurfs bringt maßgeblich nur die im Zusammenhang dern nur die Befürchtung des Fernbleibens in der Hauptverhandlung (...) voraus“. Keine Festlegung ist erkennbar bei Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 a ff. 7 BVerfGE 19, 342, 350 („Tatschwere“). 8 Daneben ist die Entziehung der Fahrerlaubnis zulässig; vgl. § 419 Abs. 1 S. 3 StPO.

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zum beschleunigten Verfahren beabsichtigten Zwecke des § 127 b StPO hervor 9. In der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses und der ihr vorausgegangenen öffentlichen Sachverständigenanhörung wurden ebenfalls eher die Zwecke der Regelung behandelt. Darüber hinaus wurden allgemeine verfassungsrechtliche Bedenken sowie Probleme der praktischen Umsetzung geäußert. Die einzelnen Regelungsinhalte des § 127 b StPO, das Verhältnis ihrer Voraussetzungen zueinander und zum bisherigen Untersuchungshaftrecht wurden nicht genau konkretisiert 10. Ausdrücklich festgestellt wurde lediglich die „Eigenständigkeit“ des Haftgrundes nach § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO. Dem bisherigen Haftrecht sei durch § 127 b StPO also ein neuer Haftgrund separat hinzugefügt worden. Das heißt, dass die Haftvoraussetzungen der §§ 112, 112 a StPO im Verhältnis zu § 127 b StPO eigen sind. Sie sind für die Erteilung des Haftbefehls aufgrund § 127 b StPO keine Voraussetzungen. Dies wurde nicht nur in der öffentlichen Sachverständigenanhörung zum Gesetzesentwurf ausdrücklich herausgestellt 11. Es entspricht auch einhelliger Literaturansicht 12. Würde das Gesetz zusätzlich zu § 127 b StPO einen Haftgrund gemäß §§ 112, 112 a StPO verlangen, wäre § 127 b StPO entbehrlich. Die Hauptverhandlungshaft hätte gegenüber den §§ 112, 112 a StPO keine selbständige Bedeutung. Liegen allerdings sowohl Haftgründe gemäß §§ 112, 112 a StPO als auch nach § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO vor, ist über das Verhältnis zwischen den Regelungen nicht mehr so einfach zu entscheiden. Obwohl Fernbleiben nach § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO und Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht selten gleichzeitig vorliegen können und beide Regelungen die Anwesenheit des Beschuldigten sichern sollen, gibt die Gesetzesbegründung zu § 127 b StPO keinen spezifischen Hinweis zur Konkurrenz 13. Auch im Gesetzgebungsverfahren wurde diese Frage nicht diskutiert. Lemke beispielsweise hält das Verhältnis zwischen § 127 b StPO und §§ 112, 112 a StPO auch noch in der aktuellsten Auflage des HeiBT-Drucksache 13/2576, S. 3. BT-Drucksache 13/5743, S. 3. Zur öffentlichen Anhörung vgl. RA-Pr 13/50. 11 Geis (MdB CDU/CSU), RA-Pr 13/50, S. 28. 12 Vgl. nur Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 215; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 14 m. w. N.; KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 8; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 23; Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn.764 a; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 6. 13 Schon allein aufgrund der maximalen Straferwartung im beschleunigten Verfahren kann eine Konkurrenz zwischen der Hauptverhandlungshaft und den Haftgründen der Tatschwere (§ 112 Abs.3 StPO) und der Wiederholungsgefahr (§112 a StPO) gem. §419 Abs.1 S. 2, 3 StPO kaum auftreten. Einziges Delikt des Katalogs nach §112 Abs. 3 StPO, welches im Strafrahmen des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO liegt, ist der minder schwere Fall der schweren Körperverletzung gem. § 226 Abs. 3 StGB. Was § 112 a StPO angeht, fallen Delikte nach §§174, 174 a, 176 StGB, minder schwere Fälle nach §§ 176 a Abs. 3, 177 Abs. 5 StGB sowie Taten nach § 179 StGB (bis auf die Fälle des Abs. 4) in den Strafrahmen des beschleunigten Verfahrens. Bei diesen Taten wird es jedoch i. a. R. an der Geeignetheit der Sache i. S. d. § 417 StPO fehlen. Dann ist das beschleunigte Verfahren und somit auch § 127 b StPO unanwendbar. 9

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

delberger Kommentars für „weiterhin unklar“ 14. Fest steht lediglich, dass der gleichzeitige Erlass mehrerer Haftbefehle wegen derselben Tat im prozessualen Sinne unzulässig ist. Auf § 127 b StPO und § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO lässt sich also nicht derart parallel zurückgreifen. Das ergibt sich aus dem in Art. 103 Abs. 3 GG verbürgten Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung 15. Zur Klärung des Verhältnisses ließe sich wie folgt argumentieren: § 127 b StPO ist zur Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten im beschleunigten Verfahren geschaffen worden. Die Hauptverhandlungshaft steht nicht für die Sicherung des Regelverfahrens. Das ergibt sich offenkundig aus der Verbindung gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO zu den §§ 417 ff. StPO. Da das beschleunigte Verfahren eine spezielle Verfahrensart ist, könnte demnach § 127 b StPO eine Spezialregelung sein 16, welche die §§ 112, 112 a StPO verdrängt. Die (allgemeinen) Haftgründe der §§112, 112 a StPO könnten im beschleunigten Verfahren verdrängt sein, da § 127 b StPO (speziell) die Durchführung des beschleunigten Verfahrens sichert. Für die Spezialität des § 127 b StPO in diesem Sinne könnte neben § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO die zeitliche Beschränkung gemäß Abs. 2 S. 2 sprechen. Sieht man in der Begrenzung der Haftdauer auf eine Woche den Zweck, das Verfahren derart zu beschleunigen, dass die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren gegenüber einem inhaftierten Beschuldigten nur noch binnen einer Woche stattfinden darf, könnte sich auch hieraus ein Argument für die Spezialität des § 127 b StPO ergeben. Eine solche Haftbegrenzung sieht das bisherige Untersuchungshaftrecht nicht vor. Beide Überlegungen vermögen jedoch keine Spezialität des § 127 b StPO zu begründen. Die Verbindung des § 127 b StPO zum beschleunigten Verfahren führt ebenso wenig zu einem Ausschluss der §§ 112, 112 a StPO wie die Befristung des Haftbefehls auf eine Woche und damit zusammenhängende Effektivitätserwägungen. Nach überwiegend geäußerter Ansicht ist in den Fällen beiderseits vorliegender Voraussetzungen die Haft „in der Regel“ 17 bzw. „in aller Regel“ 18 nach den Vorschriften der §§ 112, 112 a StPO anzuordnen 19. Das heißt, selbst wenn das beschleunigte Verfahren zu sichern ist, die Voraussetzungen des § 127 b StPO und auch die Voraussetzungen der §§ 112, 112 a StPO vorliegen, kann ein Haftbefehl auf §§ 112, 112 a StPO gestützt werden. Zunächst geht aus der Gesetzesbegründung lediglich hervor, dass § 127 b StPO das bisherige Untersuchungshaftrecht „erweitert“ 20. Daraus ist nicht ersichtlich, HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 6. Vgl. nur LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), Vor § 112 Rdn.50. Beziehen sich die Haftbefehle auf unterschiedliche Taten im prozessualen Sinn, kann ein Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO jedoch neben Haftbefehlen aufgrund der §§ 112, 112 a StPO bestehen. 16 Vgl. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147. 17 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 5; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 6. 18 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 14. 19 Nach Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 570, ist § 127 b Abs. 2 StPO – soweit Fluchtgefahr vorliegt – „praktisch bedeutungslos“. 20 BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 14 15

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dass die Vorschrift die §§ 112, 112 a StPO als allgemeinere Regelungen „verdrängt“, wenn die Voraussetzungen beiderseits vorliegen. Zudem ist die Haftanordnung aufgrund §§ 112, 112 a StPO „flexibler“ als die aufgrund § 127 b StPO. Sofern dies erforderlich und gewollt ist, kann der Haftbefehl aufgrund §§ 112, 112 a StPO „bei Bedarf“ über eine Woche hinaus aufrechterhalten werden 21. Das entspricht durchaus dem Effektivitätsanliegen. Durch Untersuchungshaft aufgrund §§ 112, 112 a StPO kann nach Durchführung des beschleunigten Verfahrens die Strafvollstreckung gesichert werden. § 127 b StPO ist hierzu nicht geeignet. Das ergibt sich aus der Wochenfrist gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO 22. Nach Rechtskraft findet kein automatischer Übergang in die verhängte Strafhaft statt 23. § 127 b StPO lässt auch keine Haft während des Rechtsmittelverfahrens zu. Sofern Haft ursprünglich aufgrund § 127 b StPO angeordnet wurde, ist die Fortführung der Haft über eine Woche hinaus nur durch Umstellung des Haftbefehles möglich. Da die Befristung gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO nicht verlängert werden kann, muss der Haftgrund der Hauptverhandlungshaft im Falle des Falles durch einen Haftgrund gemäß §§ 112, 112 a StPO ersetzt werden 24. Dies ist im Zweifel ineffektiver als der ursprüngliche Erlass eines Haftbefehls aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die Inhaftnahme aufgrund der §§ 112, 112 a StPO läuft dem Beschleunigungszweck des § 127 b StPO grundsätzlich nicht entgegen. Das Verfahren lässt sich auch bei Berufung auf die Haftgründe der §§ 112, 112 a StPO beschleunigt durchführen. Wenn das beschleunigte Verfahren Anwendung findet, kann die Haftdauer gemäß § 120 Abs. 1 S. 1 StPO auf den Schluss der Hauptverhandlung innerhalb einer Woche begrenzt werden. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip zwingt – hier wie dort auch unabhängig von einer ausdrücklichen Begrenzung der Haftdauer – zu einer möglichst kurzen Untersuchungshaft unter Achtung aller Rechtsstaatsgarantien im Verfahren. Nach Ansicht Fülbers ist aufgrund der „weiterreichende(n) Wirkkraft“ des § 112 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 StPO von der Subsidiarität des § 127 b StPO auszugehen 25. Eine „weiterreichende Wirkkraft“ ist dem bisherigen Untersuchungshaftrecht – wie gerade erörtert – durchaus zuzugestehen: Wird ein Haftbefehl aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verhängt, muss beim Übergang vom beschleunigten Verfahren in das Regelverfahren kein neuer Haftbefehl ergehen. Abgesehen von den Beschränkungen des § 121 Abs. 1 StPO, unterliegt der aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verhängte Haftbefehl unmittelbar auch keiner zeitlichen Befristung. Die Frist im Sinne des § 418 Abs. 1 StPO ist weiter als die Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO. 21 Die Verlängerung der Haft über eine Woche hinaus ist nur aufgrund der §§112, 112 StPO möglich. Das ergibt sich unmittelbar aus der Wochenfrist des 127 b Abs. 2 StPO. 22 Vgl. Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 6. 23 Vgl. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 1; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 14, 20, und auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 18. 24 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 14. 25 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 134 f. [Hervorhebung im Original].

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Zudem kann § 127 b StPO aufgrund der Befristung gemäß Abs. 2 S. 2 die Vollstreckung eines nicht rechtskräftigen Urteils nicht stützen. Dennoch ist ein „Zurückstehen“ der Hauptverhandlungshaft nicht anzuerkennen. Nur mit einer Ablehnung der Ansicht Fülbers lassen sich praktische Zuständigkeitsprobleme vermeiden. Gemäß § 127 b Abs. 3 StPO soll der für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zuständige Richter entscheiden. Ist jedoch gleichzeitig Fluchtgefahr anzunehmen und ein Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO zu befürchten, könnte der Richter im Falle der Subsidiarität der Hauptverhandlungshaft keinen Haftbefehl erlassen. Der Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO könnte nicht erlassen werden, da die Norm ja aufgrund Subsidiarität unanwendbar wäre. Der Haftbefehl aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO könnte auch nicht erlassen werden, da der Richter des beschleunigten Verfahrens im Sinne des §§ 125 Abs. 1, 128 Abs. 1 StPO dafür nicht zuständig ist. Fülber, der die Problematik erkennt, will sie „in der Rechtswirklichkeit derzeit“ mit einer besonderen Ausgestaltung der Geschäftsverteilungspläne vor Ort „abwenden“. Diese sollten die Zuständigkeit zum Erlass des Haftbefehls den Ermittlungsrichtern übertragen 26. Dies widerspricht jedoch grundsätzlich der gesetzlichen Zuständigkeitsverteilung nach § 127 b Abs. 3 StPO. Die „Vermeidung verfahrensunökonomischer Ergebnisse“ 27 lässt sich nicht gegen das Gesetz durchsetzen. Es gilt der Vorbehalt des Gesetzes. Die Ineffizienz ist allenfalls ein Argument gegen § 127 b StPO. Der Hauptverhandlungshaftbefehl aufgrund § 127 b StPO ist demnach gegenüber einem Haftbefehl – etwa aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO – nicht subsidiär. Die Regelungen gelten vielmehr nebeneinander.

C. Die generelle Kritik an den Voraussetzungen Die einleitend und im Rahmen des geschichtlichen Überblicks zitierten Äußerungen zu einzelnen Formulierungen des § 127 b StPO sind keine Einzelfälle. Im Schrifttum finden sich zahlreiche Ansichten, wonach die Formulierung des § 127 b StPO als misslungen gilt. Beispielsweise nach Hilger dürfte die Haftgrundprognose „erhebliche Schwierigkeiten“ 28 bereiten. Er bezieht sich insbesondere auf die „Befürchtung auf Grund bestimmter Tatsachen“, der Festgenommene werde der Hauptverhandlung „fernbleiben“ 29. Wegen der subjektiv geprägten Formulierung 26 Vgl. Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 136. Für die Zukunft will ders., a. a. O. S. 136 f., de lege ferenda die in §127 b Abs. 3 StPO vorgesehene „Personalunion“ ausgebaut sehen. Der für das beschleunigte Verfahren zuständige Richter solle auch über den aufgrund §112 StPO zu erlassenden Haftbefehl entscheiden können. Hierzu bedürfe es einer entsprechenden Zuständigkeitsregelung innerhalb der §§ 417 ff. StPO, worauf in § 125 StPO „aus Gründen der Rechtsklarheit“ hingewiesen werden sollte. 27 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 137. 28 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 7. 29 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 7. Auch nach Pfeiffer, StPO (2002), § 127 Rdn. 4, wird die Feststellung „idR schwierig sein“.

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des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO sprechen Stintzing/Hecker von einem Haftgrund des „vermuteten Ungehorsams“ 30. Von „vagen Prognoseformeln“ ist bei Asbrock die Rede, die „für eine Freiheitsentziehung zu unbestimmt“ 31 seien. Auch Herzog spricht von der „Unbestimmtheit der Eingriffsvoraussetzungen“ 32, und für Hartenbach öffnet der Begriff „Befürchtung“ einer „weiten, kaum kontrollierbaren Anwendung Tür und Tor“ 33. Diese Kritik hat – ohne hier Details der Auslegung vorwegnehmen zu wollen – schon etwas für sich. Die Voraussetzungen „erwarten“, „wahrscheinlich“, „befürchten“ und nicht zuletzt „der Tat dringend Verdächtigen“ zeigen einen hohen Grad inhaltlicher Unschärfe. Sie geben einen weiten Beurteilungsspielraum, der sich durch subjektive Einschätzungen ausfüllen lässt. Subjektive Elemente bei der Entscheidungsfindung bergen immer das Problem der Überprüfbarkeit. Sie eröffnen leichter die Möglichkeit zu fehlerhaften Anwendungen einer Norm als tatbestandliche Formulierungen, die an objektive Tatsachen anknüpfen. Objektiv geprägte Kriterien sind weniger anfällig für Ermessensfehlausübungen und damit für Fehlentscheidungen. Ihre Beurteilungen sind nachvollziehbarer und daher grundsätzlich kontrollierbarer. Das kann Missbräuche zumindest leichter aufdecken helfen. All dies macht objektivierbarere Begriffe im Sinne einer rechtsstaatlich-bestimmten Entscheidungsfindung und -überprüfung gegenüber Begriffen mit weiterem Auslegungspotential grundsätzlich vorzugswürdig 34. Andererseits muss richterliches Ermessen im Haftrecht notgedrungen eine gewisse Rolle spielen 35. Voraussetzungen, nach denen Strafverfolgungsorgane zukünftiges Beschuldigtenverhalten einzuschätzen haben, müssen aus der Natur der Sache Beurteilungsspielräume bieten. Das gilt auch für die Hauptverhandlungshaft. Bei § 127 b StPO geht es – im Grunde gleichbedeutend wie im Untersuchungshaftrecht der §§ 112, 112 a StPO – um die Sicherung eines Entscheidungsfindungsprozesses. Es geht jeweils um die Sicherung eines laufenden Verfahrens vor zukünftiger Einflussnahme durch den Beschuldigten. Nach Forderungen des Deutschen Richterbundes und des Deutschen AnwaltVereins sollten die Beurteilungsspielräume des § 127 b StPO eingeschränkt werden, um die Entscheidungen vorhersehbarer und kontrollierbarer zu machen. Demgemäß heißt es in Stellungnahmen zu § 127 b StPO, dass die „Wahrscheinlichkeit“ der unverzüglichen Entscheidung im Sinne des Abs. 1 Nr. 1 nicht ausreiche. Allenfalls komme „Sicherheit“ in Betracht. Auch wird der Begriff „befürchten“ in Abs. 1 Nr. 2 abgelehnt. Es bedürfe der „Feststellung“, dass sich der FestzunehmenStintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 560. Asbrock, StV 1997, 43, 44. 32 Herzog, StV 1997, 215, 216. 33 Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83, und ders., NK 1996, 6, 6. 34 Vgl. eindringlich zum Richterermessen, der Judikabilität und der Gefahr von Fehlentscheidungen (insbesondere im Zusammenhang zum Haftgrund der Verdunkelungsgefahr) Schmidt-Leichner, NJW 1961, 337, 338. Siehe auch ders., NJW 1959, 841, 842. 35 Dahs sen., NJW 1965, 81, 82. 30 31

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de der kommenden Hauptverhandlung nicht stellt 36. Dies verlange das Freiheitsrecht des Betroffenen nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Die „Feststellung“, dass der Beschuldigte der Hauptverhandlung fernbleibt, und die „Sicherheit“ einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren würden jedoch auch keine stets vorhersehbaren und kontrollierbaren Entscheidungen erzwingen. Dessen muss man sich im Klaren sein. „Sicherheit“ und „Feststellung“ dürften und könnten nie in absolutem Sinne zu verstehen sein. Wer anderes fordert, verlangt Unmögliches. Da generell die Wahrheitsfindung nie absoluten Ansprüchen gerecht wird 37, ist jedes Maß an Gewissheit immer normativ bestimmt – mag die Formulierung des Gesetzes einen noch so „absoluten“ oder „maximalen“ Charakter haben. Die Bestimmung des Vertretbarkeitsmaßes ist auch bei „schärferen“ Formulierungen nicht eindeutig. Darin liegt das unauflösbare „Grunddilemma der Verdachtsannahme“ 38. Zudem können bewusste Gesetzesmissbräuche und Willkür nie ausgeschlossen werden. Aber auch wenn unter „Sicherheit“ oder „Feststellung“ notwendig nur ein relatives Maß an Wahrscheinlichkeit zu verstehen ist und willkürliches Handeln außen vor gelassen ist, sind die Begriffe für § 127 b StPO nicht zu fordern. Sie sind es nicht, obwohl die Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte des Betroffenen besonders strenge Voraussetzungen verlangt und obwohl strenge Voraussetzungen die Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit einer Entscheidung zumindest eher garantieren als vage Begriffe. Gesteigerte Verdachtsgrade wie „Sicherheit statt Wahrscheinlichkeit“ und „Feststellung statt Befürchtung“ führten im Rahmen des § 127 b StPO zu einer zu weiten Einschränkung des Beurteilungsspielraums der Strafverfolgungsorgane. Gerade das wollte der Gesetzgeber nicht. § 127 b StPO soll gerade die Effektivität des Verfahrens fördern. „Enge“ Formulierungen sind zur Erreichung dieses Zwecks kontraproduktiv. § 127 b StPO wäre von vornherein nicht geeignet, Strafverfolgungsorgane zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens anzuhalten. Es wäre für jeden Staatsanwalt oder Polizeibeamten in aller Regel eine Überforderung, müsste er so weit ermitteln bis er sich „sicher“ ist, dass der Beschuldigte einer kommenden Hauptverhandlung fernbleibt. Bei der Festnahme des Beschuldigten oder der Beantragung des Haftbefehls kann sich niemand auch nur annähernd „sicher“ sein, dass der Richter tatsächlich einen Haftbefehl verhängt. Die Hürde der Anwendung des § 127 b StPO wäre zu hoch angesetzt. Eine Unterstützung des beschleunigten Verfahrens durch die Regelung wäre von vornherein kaum mehr vorstellbar. Dennoch kann § 127 b StPO mit dem Verweis auf die §§ 417 ff. StPO dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG Rechnung tragen. Die „relativ sichere“ Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens gegenüber anderen Verfahrensarten er36 RA-Pr 13/50, S. 15. Für Letzteres plädiert auch der Deutsche Richterbund, Stellungnahme zu BT-Drucksache 13/2576, S. 2. 37 Vgl. an dieser Stelle nur Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil I (1964), Rdn. 20. 38 Den Begriff verwendet Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S.195.

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gibt sich letztlich aus allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen. Die Verhältnismäßigkeitsgrenze aus Art. 20 Abs. 3 GG gilt für das beschleunigte Verfahren in Relation zu anderen Verfahrensarten genauso wie generell für § 127 b StPO als Zwangsermächtigungsnorm. Sie gilt auch für alle anderen Zwangsmittel. Von diesen kennt keines „Sicherheit“ als Voraussetzung. Die „Feststellung des Fernbleibens von der Hauptverhandlung“ wäre schließlich ebenfalls nicht praktikabel. Fernbleiben kann nicht im Vorfeld der Verhandlung „vorausschauend festgestellt“ werden. Die Feststellung des Fernbleibens „in“ der Hauptverhandlung kann weder im frühen Zeitpunkt der Festnahme noch des Haftbefehlserlasses getroffen werden – sondern immer erst „in“ der Verhandlung. Die Situation im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO ist eine andere. Die Feststellung von Flüchtig-sein und Sich-verborgen-halten bezieht sich dort auf den aktuellen Zeitpunkt, in dem darüber entschieden wird. Beides kann zu jedem Verfahrenszeitpunkt aktuell „festgestellt“ werden.

D. Dringender Tatverdacht im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO I. Allgemeines Der Erlass eines Hauptverhandlungshaftbefehls setzt dringenden Tatverdacht voraus. Dies zeigt § 127 Abs. 2 S. 1 1. HS StPO, wo von einem „der Tat dringend Verdächtigen“ die Rede ist. Die Literatur problematisiert die Voraussetzung im Rahmen des § 127 b StPO nicht speziell. Sie verweist weitestgehend auf den Parallelbegriff in § 112 Abs. 1 S. 1 StPO 39. Dennoch ist es aus mehreren Gründen angezeigt, die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ hier etwas näher auszuleuchten. Zunächst finden sich in der Diskussion zu § 112 Abs. 1 S. 1 StPO Grundsätze für die Behandlung von Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielraum. Diese sind auch im Umgang mit § 127 b StPO zu beachten. Darüber hinaus ist jedoch von besonderem Interesse, nachzufragen, welche Bedeutung der Verfahrenszeitpunkt, in dem die Entscheidung über den Haftbefehl ergeht, für den dringenden Tatverdacht hat. § 127 b StPO ist darauf ausgelegt, dass die Entscheidung zur Sicherung der Hauptverhandlung möglichst nach der Festnahme des Verdächtigten getroffen werden soll, also in einem sehr frühen Zeitpunkt der Ermittlungen. Das ergibt sich aus der systematischen Verbindung der Haft- und Festnahmeregelungen des § 127 b Abs. 2 und Abs. 1 StPO. Des Weiteren kann das Verhältnis zwischen dringendem Tatverdacht und der Wahrscheinlichkeitsprognose im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO 39 Vgl. nur KK-Boujoung, StPO (2003), § 127 b Rdn. 15; Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146; HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 13. Lediglich Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 39 ff., betrachtet die Voraussetzung im speziellen Zusammenhang mit § 127 b StPO eingehender.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

nur dargestellt werden, wenn deutlich ist, was sich hinter dem Begriff „dringender Tatverdacht“ verbirgt. Bei der Darstellung und Würdigung der nachfolgenden Ansichten wird bewusst auf eine Qualifizierung als „herrschende“ oder „minder bedeutsame“ verzichtet. Viele Meinungen unterscheiden sich im Detail. Nach Paeffgen war 1986 „eine einheitliche Linie noch nicht in Sicht“ 40. Das gilt bis heute. Ein Grund für die Schwierigkeit der Auslegung liegt sicher mit darin, dass die StPO nicht näher erläutert, was unter „dringender Tatverdacht“ zu verstehen ist. Zumindest unmittelbar enthält die Prozessordnung keine die Voraussetzung beschreibenden Kriterien. II. Zum Begriff Obgleich der Begriff wenigstens schon seit Inkrafttreten des § 112 StPO im Jahre 1877 Deutungsversuchen seitens der Literatur und der Rechtsprechung ausgesetzt ist, ist „dringender Tatverdacht“ nach wie vor eine sehr schwer bestimmbare und umstrittene Voraussetzung 41. Überwiegend wird der Begriff so umschrieben, dass der Beschuldigte (nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen), die Straftat als Täter oder Teilnehmer mit „hoher“ 42 oder „großer“ 43 Wahrscheinlichkeit begangen hat und eine Verurteilung entsprechend angezeigt ist. Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 184. Über die Frage, ob ein gesteigerter Verdachtsgrad generell Voraussetzung von Haft im Verfahren sein muss, bestehen im Einzelnen unterschiedliche Ansichten. Nach Felix Fischer, Die materiellen Voraussetzungen der ordentlichen Untersuchungshaft (1995), S.27 f., mit Verweis auf Schubarth, Rechte des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren (1973), S. 75, 77, ergibt sich die Notwendigkeit einer gesteigerten Form aus der Bedeutung des Freiheitsrechts des Einzelnen und aus dem Rechtsstaatsprinzip. Nach Schubarth, der a. a. O. insbesondere auf die Unschuldsvermutung abstellt, ergibt sich die Voraussetzung der Dringlichkeit auch für Gesetze, die dies nicht als Haftvoraussetzung vorsehen. Paeffgen, Dogmatik des UntersuchungshaftRechts (1986), S. 77, setzt sich mit Schubarth auseinander und verneint den abstrakten Zwang des Gesetzgebers, einen derartigen Maßstab an den Tatverdacht zu stellen. Dem ist zuzustimmen. Auch die Formulierung eines „einfachen“ Tatverdachts ist nicht notwendig rechtsstaatswidrig, solange die daneben erforderlichen Voraussetzungen so gestaltet sind, dass es zu einer objektiv-restriktiven Handhabung von Haft kommen kann. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung oder eine Missachtung des Freiheitsrechts ist dann nicht zwingend zu befürchten. Die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ findet sich allerdings seit Jahrzehnten in vielen Prozessordnungen Europas ausdrücklich als Voraussetzung von Untersuchungshaft. Näheres zur Ausgestaltung der Verdachtsgrade – etwa im Prozessrecht Frankreichs, Englands, Spaniens und der Schweiz – findet sich bei Jescheck/Krümpelmann, Untersuchungshaft (1971), S. 940 f. Zu Norwegen und Dänemark vgl. Gammeltoft-Hansen, ZStW 88 (1976), 516, 519. 42 Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn.7, 9; Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn.210; Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil II (1957), §112 Rdn.10 m.w.N.; Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 42; Schäfer/Sander, Praxis des Strafverfahrens (2000), Rdn. 507. 43 Vgl. nur Peters, Strafprozeß (4.Aufl. 1985), §47 AII, S.420; Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn.5; BGHSt 38, 276, 278 („Staatssicherheit“); OLG Koblenz, StV 1994, 316, 317 („unzureichende Beweisaufnahme“) m. w. N., und so auch Hellmann, NJW 1997, 2146, 2146, im Zusammenhang mit § 127 b StPO. 40 41

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Um den Grad der intensiven Form des Verdachtes etwas zu konkretisieren, behilft sich das Schrifttum weitgehend mit einer Relation: „Dringender Tatverdacht“ verlangt danach grundsätzlich einen höheren Verdachtsgrad als „hinreichender Tatverdacht“, der gemäß § 203 StPO als „einfache Wahrscheinlichkeit“ einer späteren Verurteilung Voraussetzung dafür ist, dass das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließen kann 44. Zum Teil wird auch der Versuch unternommen, den Graden des Verdachts bestimmte „quantifizierte Größen“ zu geben. Nach Kühne lassen sich „einfacher“ und „dringender“ Tatverdacht in formalem Sinne voneinander trennen 45. Liegt „absolute“ Sicherheit bei 1 und non liquet bei 0.5, so liegt nach Kühne „dringender“ Tatverdacht zwischen 0.5 und 1 und „einfacher“ Tatverdacht im Bereich zwischen 0 und 0.5. Der Tatverdacht entfalle erst, wenn sich der Wert der Wahrscheinlichkeit für Schuld dem Punkt 0 nähert. „Hinreichender Tatverdacht“ sei, so Kühne, ein „dringender Tatverdacht am Ende des Ermittlungsverfahrens“ 46. Wie die Prognose für die Beurteilung des dringenden Tatverdachtes allerdings im Einzelnen tatsächlich zu treffen ist, bleibt nach allen Ansichten – sei es nun mit oder ohne Quantifizierung – umstritten. III. Probleme der Strafbarkeitsprognose Einerseits wird davon ausgegangen, dass beim dringenden Tatverdacht insbesondere zu Beginn des Verfahrens die Prognose über die Strafbarkeit auf Indizien gestützt werden kann, ohne dass die Indizienkette geschlossen sein muss 47. Hartmann beispielsweise formuliert, dass nicht allein auf das vorliegende Ermittlungsergebnis abzustellen sei, sondern auch darauf, welche weiteren und damit „mögli44 So im Grundsatz Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn.8, 9; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 398; Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil II (1957), § 112 Rdn. 10 m. w. N. Zum hinreichenden Tatverdacht vgl. nur Meyer-Goßner, StPO (2003), § 203 Rdn. 2 m. w. N.; Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 42. 45 Kühne, NJW 1979, 617, 622; wiederholt in ders., Strafprozessrecht (2003), Rdn.337. Näheres hierzu bei Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 183 f. und S. 193 f.; Benfer, JuS 1983, 110, 111, folgt Kühne kritiklos. 46 Kühne, NJW 1979, 617, 622, schreibt umgekehrt, dass sich die „Wahrscheinlichkeit der Unschuld“ dem Wert „1“ nähert. Da Kühne generell für „sichere Wahrscheinlichkeit“ den Wert „1“ verwendet, liegt der „Wert der sicheren Unschuld“ bei Kühne – entgegen Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 193 und dort FN 138 – richtigerweise gerade nicht bei „0“ sondern bei „1“. 47 So zu lesen bei LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 19. I. d. S. versteht sich wohl auch Dünnebier, in: Lüttger (Hrsg.), Probleme der Strafrechtsreform (1975), S.29, 30, der davon spricht, dass zu Beginn des Verfahrens „einzelne starke Indizien“ genügen; im Anklagezeitpunkt müsse die Kette indes „so geschlossen sein“, dass die Erwartung der Verurteilung „nahezu sicher“ ist. Siehe auch Hartmann, Anordnung von Untersuchungshaft (1988) S. 59; vgl. i. d. S. wohl auch Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 10, wo es heißt: „Zu Beginn der Ermittlungen mögen schon einzelne starke Indizien genügen; bei Anklageerhebung dagegen muß die Indizienkette so geschlossen sein, daß die Verurteilung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist“.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

cherweise entlastenden“ Ermittlungen den Ermittlungsbehörden möglich seien48. Die Verfahrensprognose beschränkt er jedoch anscheinend nicht auf hypothetischentlastende Ermittlungen. Hartmann macht die Anforderungen an die Indizienkette als Grundlage zur Bestimmung des dringenden Tatverdachts mit davon abhängig, ob eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass „weitere Ermittlungen den Verdacht erhärten“ 49. Im Gegensatz hierzu unterstreicht Schmidt-Leichner ausdrücklich, dass die Entscheidung, ob ein Tatverdacht „dringend“ ist, „nicht in spekulativer Vorschau eines nur möglichen weiteren belastenden Ermittlungsergebnisses“ beurteilt werden dürfe 50. Auch im Frühstadium des Verfahrens und im Frühstadium der Haftfrage dürfe der Tatverdacht sicher nicht deshalb „dringend“ sein, „weil man noch nicht weiß, was an der Sache ist“ und was die erst einsetzenden Ermittlungen vielleicht noch an Belastungen ergeben werden 51. Schlothauer/Weider sprechen sich ebenfalls gegen eine hypothetisch-belastende Prognose aus. Der Tatverdacht ist danach „dringend“, wenn ihn der konkrete Haftrichter „nach der augenblicklichen Verfahrens- und Beweissituation“ als „dringend“ bezeichnet 52. Danach ist „allein“ entscheidend, ob auf der Grundlage des „jetzt“ vorliegenden Indizien- bzw. Beweismaterials von einem immer noch oder erst jetzt zu bejahenden dringenden Tatverdacht gesprochen werden kann. Mit Verweis auf die Rechtsprechung wird in ähnlichem Sinne Wert auf die Feststellung gelegt, dass – gerade bei der Entscheidung über den Erlass eines Haftbefehls „zu einem frühen Stadium“ – nicht auf die Wahrscheinlichkeit einer späteren Entwicklung abgestellt werden könne. In einer frühen Phase, so Beulke, lässt sich der spätere Verfahrensablauf „noch nicht verläßlich abschätzen“; demgemäß müsse es in einem frühen Verfahrenszeitpunkt genügen, dass „aufgrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse“ die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der Verfolgte sich schuldig gemacht hat 53. „Lückenhaftes Beweismaterial“, so meint auch Parigger, „steht der Annahme des dringenden Tatverdachtes entgegen“ 54. Auf den dringen48 Die Ausführungen von Hartmann, Anordnung von Untersuchungshaft (1988), S. 59, überraschen angesichts seiner Ausführungen, a. a. O. S. 58, wonach der Begriff „dringender Tatverdacht“ auf den „jeweiligen Stand der Ermittlungen“ abstellt. 49 Hartmann, Anordnung von Untersuchungshaft (1988), S. 59. 50 Vgl. Schmidt-Leichner, NJW 1959, 841, 842, und diesem weitgehend folgend Parigger, NStZ 1986, 211, 211. Siehe i. d. S. auch Merbreier, Unschuldig erlittene Untersuchungshaft (1970), S. 29. 51 Schmidt-Leichner, NJW 1959, 841, 842. 52 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 400 m. w. N. auf Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 194 f. 53 Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 210 m. w. N. auf BGH bei Pfeiffer, NStZ 1981, 93, 94. Vgl. auch Volk, Strafprozeßrecht (2002), § 10 Rdn. 7, wonach es auf der Basis vorläufiger Ermittlungsergebnisse „so liegen (kann), daß ein Haftbefehl erlassen wird, obwohl man noch nicht sagen kann, daß es zur Eröffnung des Hauptverfahrens kommen wird“. 54 Parigger, NStZ 1986, 211, 211.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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den Tatverdacht in § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO übertragen bedeutet dies, dass sich der Richter „nichts“ hinzudenken darf, worauf sich bei weiteren Ermittlungen in Zukunft noch die Wahrscheinlichkeit der Strafbarkeit des Betroffenen stützen könnte. Jedes irgendwie erhebliche Nichtwissen steht danach dringendem Tatverdacht als Voraussetzung für den Erlass eines Hauptverhandlungshaftbefehls entgegen 55. Darüber hinaus differiert die Einschätzung, in welcher Qualität die Indizien und Beweise vorliegen müssen, auf die sich die Entscheidung über den dringenden Tatverdacht stützt. Fraglich ist also, in welcher Qualität die Prognosegrundlage beschaffen sein muss. Früher wurde zum Teil ein „nahe (an) Gewißheit“ liegender Beweis verlangt 56. Andere begnügen sich mit weit weniger einschränkenden Formulierungen. So ist in der Literatur von „schwer belastende(n)“ und von „starke(n)“ Indizien bzw. Beweisen die Rede 57. Auch wird ausgeführt, dass Verdachtsgründe zu Beginn des Verfahrens ohne das Erfordernis einer geschlossenen Indizien- bzw. Beweiskette „dringend“ sein können; wenn sie sich im Laufe des Verfahrens nicht verdeutlichen, seien sie in einem späteren Zeitpunkt eben nicht mehr dringend 58. Die Rechtsprechung stellt ebenfalls die „Relativität“ des dringenden Tatverdachts heraus 59. Als Folge davon ist der Tatverdacht nicht mehr dringend, wenn Ermittlungsbehörden es versäumen, mögliche und zumutbare Ermittlungen mit dem Ziel zu führen, einen anfänglichen, zur alsbaldigen Verhaftung ausreichenden, aber auf noch unzureichenden Beweisen beruhenden Tatverdacht abzuklären. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verpflichte die Ermittlungsbehörden, solche möglichen und zumutbaren Ermittlungen zu führen. Ein Versäumnis führe zur Aufhebung des Haftbefehls. 55 Vgl. Parigger, NStZ 1986, 211, 211 m. w. N. auf Schmidt-Leichner, NJW 1959, 841, 842, jeweils zu § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. 56 Vgl. Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht (1928), S. 497 f., sowie auch Dahs sen., NJW 1965, 889, 891. Vgl. auch die enge Interpretation des LG Berlin, StV 1999, 322, 323 („Unstimmigkeiten nach Aktenlage“), wonach jedes einzelne Glied der Indizienkette „zweifelsfreien Bestand haben muß“ – ohne jedoch ausdrücklich von einer geschlossenen Indizienkette auszugehen. 57 „Einzelne schwer belastende“ Indizien oder Beweise verlangt Hartmann, Anordnung von Untersuchungshaft (1988), S. 59; „starke“ verlangen Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 10, wobei jedoch nicht immer klar ist, ob sich die Angaben auf die Wahrscheinlichkeitsentscheidung einer Strafbarkeit an sich oder auf das ihr zugrunde liegende Indizien- oder Beweismaterial beziehen. 58 Peters, Strafprozeß (1985), § 47 A II, S. 420. 59 OLG Celle, StV 1986, 392, 392 („unzureichende Beweise“) m. w. N.; siehe in der Folge auch die Entscheidungen des AG Frankfurt a.M., StV 1994, 380, 380 („Beschleunigungsgebot, dringender Tatverdacht“), zur Aufhebung eines Haftbefehls, da in drei Monaten kein erforderliches Beweisgutachten erstellt wurde; LG Köln, StV 1994, 581, 581 („unterlassene Ermittlungsmaßnahmen“), zum dringenden Tatverdacht bei unsicherer Beweislage und einer Wahlgegenüberstellung des Beschuldigten mit Belastungszeugen; LG Hamburg, StV 1994, 317, 318 („Aussage nur eines Zeugen“), zur Aufhebung des Haftbefehls bei unzureichend durchgeführten Ermittlungen.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

IV. Stellungnahme und nötig erscheinende Hervorhebungen 1. Allgemeine Kritik am Begriff „dringender Tatverdacht“ Je näher man die einzelnen Äußerungen zum dringenden Tatverdacht betrachtet, umso vielschichtiger erscheint der Begriff. Wirklich zwingend ist keine Position. Die allgemeine Zuhilfenahme des hinreichenden Tatverdachts als Vergleichsmaßstab ist nicht erheblich weiterführend 60. Denn hinreichender Tatverdacht bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung in dem „festen Zeitpunkt“, in dem auf der Grundlage des abgeschlossenen Ermittlungsergebnisses über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden wird 61. Über dringenden Tatverdacht ist hingegen jederzeit zu befinden. Es ist allgemein nicht vorgeschrieben, in welchem Verfahrensabschnitt gegenüber dem Betroffenen ein Haftbefehl zu verhängen ist 62. Auch ist die konkrete Bestimmung des hinreichenden Tatverdachts als Vergleichsgrundlage kaum weniger problematisch als die des dringenden Verdachts an sich 63. Konkretisierung wäre durch den Vergleich noch nicht einmal dann gegeben, wenn absolut beschrieben werden könnte, wann hinreichender Verdacht endet. Es ist nicht gesagt, dass sich hinreichender und dringender Verdacht direkt und abgrenzbar aneinander anschließen 64. Ebenfalls nicht wirklich weiterführend ist Kühnes Quantifizierung des Verdachtsgrades, da nicht geklärt ist, wo der Bereich zwischen 0.5 und 1 für dringenden Tatverdacht in der praktischen Umsetzung liegt 65. Subjektive Einschätzungen im Erfahrungshorizont des entscheidenden Richters lassen sich nur schwerlich quantitativ bestimmen. 60 So auch Peters, Strafprozeß (1985), § 47 A II, S. 420: „Infolge der Relativität des Begriffs ‚dringender Tatverdacht‘ kann er nicht allgemeingültig gegenüber dem Begriff ‚hinreichender Tatverdacht‘ abgegrenzt werden“ [Hervorhebungen im Original]. Vgl. auch Ranft, Strafprozeßrecht (1995), Rdn. 625. 61 Vgl. nur Meyer-Goßner (StPO 2003), § 112 Rdn. 6 m. w. N. 62 Wenn überhaupt, sind die Tatverdachtsgrade daher nur sinnvoll im Hinblick auf einen bestimmten Verfahrenszeitpunkt einander gegenüberzustellen, vgl. Peters, Strafprozeß, § 47 A II, S. 420. 63 Nach Hartmann, Anordnung von Untersuchungshaft (1988), S. 58, ist der dringende Tatverdacht „weiter und zugl. enger als der in § 202 StPO verwendete Begriff des hinreichenden Tatverdachtes“; [Druckfehler bereinigt heißt es „§ 203 StPO“]. Darin zeigt sich die praktisch geringe Verwertbarkeit des Vergleichs. 64 Zwischen dringendem und hinreichendem Tatverdacht scheint es Zwischenstufen zu geben. Wenn der Abstand zwischen beiden Verdachtsgraden marginal wäre, hätte der Gesetzgeber – etwa im Rahmen des §112 Abs. 1 S. 1 StPO – nicht den Begriff „dringender“ Tatverdacht, sondern die Formulierung „mehr als hinreichender Tatverdacht“ wählen können. 65 Benfer, JuS 1983, 110, 111, geht ebenfalls von einer 50 %-Grenze für dringenden Tatverdacht aus. Es heißt: „Während beim Tatverdacht die Wahrscheinlichkeit der Täterschaft bei höchstens 50 % liegen darf (...), verlangt dringender Tatverdacht eine auf Tatsachen basierende Wahrscheinlichkeit der Täterschaft, die bei mehr als 50%iger Sicherheit ansetzt und gegen 100 % geht. Für die Annahme eines dringenden Tatverdachts ist (...) also ein nahe an Gewißheit heranreichender Verdacht erforderlich.“ Liegen 51 % Wahrscheinlichkeit nahe an Gewissheit? – Sicher nicht.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Dies alles muss für den Begriff des dringenden Tatverdachts in § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO gelten. Darüber hinaus lässt sich der Begriff jedoch – wenigstens ansatzweise – noch weiterführend umschreiben. Es gibt gültige Grundsätze.

2. Grundsätze und Orientierungen an § 112 Abs. 1 S. 1 StPO Vermutungen sind allein keine ausreichende Grundlage für die Annahme dringenden Tatverdachts 66. Für die Entscheidungsfindung sind Tatsachen zu verlangen. Dazu zählen auch Indiz- und Hilfstatsachen, von denen aus auf Beweistatsachen geschlossen werden kann 67. Jede Entscheidung muss auf rational nachprüfbaren, das heißt auf plausiblen Überlegungen beruhen. Die Überprüfung des Tatverdachts in „rechtlicher“ Hinsicht, das heißt sowohl in materiell- als auch in formell-strafrechtlichem Sinne, erlaubt keine Wahrscheinlichkeitsprognose 68. Bei zweifelhafter Auslegung des StGB ist genauso wenig dringender Tatverdacht zu bejahen wie bei zweifelhafter Auslegung der StPO. Das ist im Rahmen des § 127 b StPO jedoch noch deutlicher hervorzuheben als zu § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. Die Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO drängt sehr zum schnellen Verfahrensabschluss. Schnelligkeit fördert Oberflächlichkeit. Schließlich wäre der vom Gesetzgeber beabsichtigte Zweck, sich durch § 127 b StPO die Möglichkeit zu erhalten, die „Strafe auf dem Fuß folgen zu lassen“, unterlaufen, wenn für die Beurteilung des dringenden Tatverdachts zweifelhafte Rechtsansichten zugelassen wären. Entscheidungen, die sich auf zweifelhafte Rechtsansichten stützen, erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Rechtsmitteln. Das Verfahren würde ineffektiv. Schließlich verbietet das wahrscheinliche Vorliegen von Rechtfertigungs-, Schuld- oder Strafausschließungsgründen die Annahme dringenden Tatverdachts 69. Ein fehlender Strafantrag kann ein Verfahrenshindernis sein. Dringender Tatverdacht ist dann grundsätzlich zu verneinen. Allerdings gilt bezüglich der Haftanordnung aufgrund des § 127 b StPO die Regelung des § 130 StPO zur Untersuchungshaft bei Antragsstraftaten entsprechend 70. 66 Vgl. OLG Frankfurt a. M., StV 1992, 583, 583 („polizeiliche Vermutung“), und AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 StPO (1992), § 112 Rz. 12, auch kritisch zu den Begriffen „Alltagstheorien“ und „allgemeine Erfahrungen“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983), S. 23. Insoweit in Freiheitsrechte des Betroffenen eingegriffen wird, so Frisch a. a. O., muss „optimale Sorge dafür getragen sein, daß Fehlprognosen vermieden werden“. Das wäre mit der Zulässigkeit „reiner Vermutungen“ nicht mehr gewährleistet. 67 Kastendieck, Voraussetzungen der Untersuchungshaft (1965), S. 99; Peters, Strafprozeß (1985), § 47 A II, S. 420; Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 12, 13. 68 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 19 m. w. N. 69 Vgl. Schlothauer-Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 456 m. w. N. Siehe auch Kastendieck, Voraussetzungen der Untersuchungshaft (1965), S. 88. 70 Vgl. nur Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 19.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Für § 127 b StPO ist deutlich herauszustellen, dass die Bewertung des dringenden Tatverdachts nicht unmittelbar von der Schwere der Tat oder Schuld abhängt 71. § 127 b StPO ist gemäß Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO nur für Delikte mit einer Straferwartung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe anwendbar. Bei einem Tatvorwurf mit einer Straferwartung von bis zu einem Jahr ist dringender Tatverdacht jedoch nicht leichter zu bejahen als bei schwerer Kriminalität. Der Verdacht ist nach gleichen Kriterien zu bestimmen. Die Prognose im Sinne des § 127 b StPO kann keine eher erfüllbaren Kriterien verlangen als beispielsweise im Zusammenhang mit dem Haftgrund der Tatschwere gemäß § 112 Abs. 3 StPO oder der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a StPO. Jeweils wird die Freiheit des Beschuldigten entzogen. Zu unterschiedlichen Auslegungen gibt das Gesetz keinen Anhaltspunkt. Weiterhin ist Wert auf die Feststellung zu legen, dass die Erwartung, das Verfahren werde die notwendigen Verdachtsgründe schon noch hervorbringen, keinen dringenden Verdacht begründet 72. Die vom Gesetzgeber mit dem Ausdruck „dringend“ vorgenommene Wertung erträgt keine rein spekulativen Relativierungen zu Lasten des Beschuldigten – und zwar in keinem Zeitpunkt des Verfahrens 73. Eine belastende Prognoseentscheidung im Sinne einer „beschwerenden Erwartung“ der Art, dass eine Indizien- bzw. Beweiskette sich vielleicht noch schließen lässt, ist also nicht zulässig. Demnach stellt beispielsweise die Erwartung, dass ein Angeklagter durch einen anderen Zeugen eventuell noch belastet werden könnte, eine spekulative und daher unzulässige Vorausschau dar 74. Sie darf zur Begründung des dringenden Tatverdachts nicht herangezogen werden. Auch darf die Verdachtsprognose im Sinne des §127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO beispielsweise dann nicht positiv entschieden werden, wenn der Vorwurf auf Indizien gestützt wird, die erst in der Beweisaufnahme geklärt werden können. Liegen nach Aktenlage Unstimmigkeiten vor, die allenfalls aufgrund einer der Hauptverhandlung vorbehaltenen Gesamtwürdigung ausgeräumt werden können, ist dringender Tatverdacht zu verneinen 75. Für die Prognose nach § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO ist vielmehr zu fordern – wie nach zutreffender Ansicht zu § 112 Abs. 1 S. 1 StPO –, dass das Beweis- bzw. Indizienmaterial im Zeitpunkt des Haftbefehlserlasses aktuell einen für den Richter „aufdrängenden Grad“ 76 an Wahrscheinlichkeit für Strafbarkeit anzeigt. „Aufdrängen“ ist nicht schon dann anzunehmen, wenn sich nach Schmidt-Leichner, NJW 1959, 841, 843. Deutlich zur bisherigen Untersuchungshaft, Peters, Strafprozeß (1985), § 47 A II, S. 420. 73 Nach zutreffender Ansicht von Felix Fischer, Die materiellen Voraussetzungen der ordentlichen Untersuchungshaft (1995), S. 41, ist die „Frage der Dringlichkeit des Tatverdachts vielmehr in jedem Stadium, das heißt auch am Anfang des Verfahrens, mit aller Strenge abzuklären“. 74 Vgl. OLG Koblenz, StV 1994, 316, 317 („unzureichende Beweisaufnahme“), zu § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. 75 Vgl. LG Berlin, StV 1999, 322, 323 („Unstimmigkeiten nach Aktenlage“), zu §112 Abs.1 S. 1 StPO. 76 Vgl. Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 194. 71 72

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dem aktuellen Stand der Ermittlungen für ein wesentliches Indiz bloße „Anzeichen“ ergeben. Aufdrängen entfällt, sobald sich im Laufe des Verfahrens begründete Zweifel an der Strafbarkeit des Beschuldigten zeigen. Der dringende Tatverdacht bestimmt sich immer „allein“ nach dem im Zeitpunkt über die Entscheidung zum dringenden Tatverdacht vorliegenden Indizien- bzw. Beweismaterial und dessen Beweiskraft in einer „weitestgehend homogen-geschlossenen“ Indizienkette. Begründen lässt sich dies mit dem Bedürfnis nach Schutz der persönlichen Freiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG. Die besondere Notwendigkeit all der Hervorhebungen im Zusammenhang mit § 127 b StPO ergibt sich aus den Gefahren, die der für die Regelung vorgesehene Anwendungszeitpunkt im Verfahren birgt. Die Verfahrenssicherung ist für die Zeit nach der Festnahme konzipiert. Dann bilden allein das bis dahin ausgewiesene Ermittlungsergebnis und der Inhalt der Ermittlungsakten die Grundlage der Haftentscheidung. Die Ermittlungsakten sind in frühem Verfahrensstadium naturgemäß inhaltsärmer als in folgenden Verfahrensabschnitten. Richterliche Beweisaufnahmen haben vor der Verhängung des Haftbefehles noch nicht stattgefunden. Dies provoziert geradezu eine Entscheidung auf nicht ausgereifter Grundlage. Die Gebundenheit an einen frühen Zeitpunkt kann leicht zum unzulässigen „Vermuten“, „Lücke-lassen“ und „schematischen Vorgehen“ verführen – zumal § 127 b StPO nach dem Willen des Gesetzgebers die Strafverfolgungsorgane zur Beschleunigung anhalten soll. Ist der Verdacht nicht ausreichend und wird dennoch Zwang ausgeübt, ist die Zwangsmaßnahme rechtswidrig. Wird gar auf Strafbarkeit erkannt, obwohl nur ein Verdacht besteht, wird das Verfahren schnell zum Ritual. Die Unschuldsvermutung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 2 EMRK ist dann missachtet. Sie mahnt neben der Hürde eines „dringenden“ Verdachts vor (zu frühem) Zwang. Dem Staat wird bei der Anwendung von Zwang Zurückhaltung auferlegt. Das entspricht dem Status des Betroffenen. Dieser gilt als unschuldig, auch wenn der Verdacht noch so dringend ist. Krauß bringt es auf den Punkt: „Im Hinblick auf die legitimen Abwehrrechte des Verdächtigten besagt sie (die Unschuldsvermutung) vor allem, dass die Eingriffskompetenzen des Staates ihre Rechtfertigung niemals aus einer möglichen Schuld des Betroffenen herleiten können. Es gibt keine Verwirkung grundrechtlicher Positionen durch Verdacht! Vielmehr müssen die prozessualen Zwangsmaßnahmen stets die Möglichkeit eines späteren Freispruchs einkalkulieren“ 77. Eine feste „Überzeugung“ von der Strafbarkeit bzw. eine an „Sicherheit“ geknüpfte Prognose zur Begründung des dringenden Tatverdachts ist neben dem Erfordernis einer weitestgehend homogen-geschlossenen Beweiskette eine „Überforderung“ der Strafverfolgungsorgane 78. Ein nicht minder bedeutsames Argument 77 Krauß, FG-Schweizerischer Juristentag (1985), S.171, 197. Das Verhältnis zwischen Unschuldsvermutung und Tatverdacht wird näher im Kapitel zur Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO behandelt, 3. Kap., 2. Abschn. A. III. 78 Vgl. auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 8.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

als „Überforderung“ ist der Verweis auf die Unschuldsvermutung. Sie schützt vor einem und verbietet zugleich ein zu frühes „Überzeugtsein“. Sind die Strafverfolgungsbehörden erst einmal von der Strafbarkeit „überzeugt“, scheint das Urteil gedanklich schon gefällt. Überzeugungen lassen sich nicht mehr einfach aus der Welt schaffen – auch dann nicht, wenn sie falsch sind. Untersuchungshaft kann dann schnell Strafcharakter annehmen. Daher ist auch die von Fischer zu § 112 Abs. 1 S. 1 StPO vertretene Ansicht, wonach dringender Tatverdacht eine „an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ 79 verlangt, abzulehnen. Davon abgesehen, ist „Dringlichkeit“ (auch) im Rahmen des § 127 b StPO zu jedweder „Gewissheit“ ein zu schwacher Begriff. Zwar spiegelt sich im Begriff ein Versuch, Begründungsformalismus entgegenzutreten 80. Gegen „Gewissheit“ spricht jedoch auch – wie gerade zu den Begriffen „Sicherheit“ und „Feststellung“ erörtert – der Zweck des § 127 b StPO. Das Erfordernis einer „an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ bedeutete, dass Haft erst spät, das heißt grundsätzlich erst nach Abschluss der Beweisaufnahme, bejaht werden könnte. Die Durchführung der Hauptverhandlung kann unter Einbeziehung des § 127 b StPO jedoch keinesfalls abgewartet werden. § 127 b StPO soll die Durchführung der Hauptverhandlung ja gerade erst gewährleisten, wenn zu erwarten ist, dass der Beschuldigte ihr fernbleibt. Der dringende Tatverdacht wäre – so interpretiert – eine zu hohe Barriere gegen die Anwendung des § 127 b StPO. „Dringender Tatverdacht“ ist nach alledem eine hohe Schranke, die zur Inhaftnahme des Beschuldigten überwunden werden muss. Richtig verstanden, begrenzt die Voraussetzung jede Ermächtigung zur Untersuchungshaft erheblich. Dennoch lässt der Begriff auch subjektive Beurteilungen zu. Die Entscheidung über den dringenden Tatverdacht im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO ist von einem recht weiten Maß an Ermessensfreiheit geprägt. Fragwürdige Rechtsanwendungen sind nicht immer gleich als solche erkennbar und lassen sich daher nicht immer „im Zweifel für die Beschuldigteninteressen“ als Rechtsverstöße kennzeichnen.

79 Felix Fischer, Die materiellen Voraussetzungen der ordentlichen Untersuchungshaft (1995), S. 34 f. 80 So Felix Fischer, Die materiellen Voraussetzungen der ordentlichen Untersuchungshaft (1995), S. 35. Zur „Appellfunktion“ der Auslegung vgl. Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 194.

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E. Die gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO wahrscheinliche und unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren I. Allgemeines Für § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO ist Subjektivität ein sehr auffallend dominantes Charakteristikum. Abs. 1 Nr. 1 stellt den Bezug zum „beschleunigten Verfahren“ her. Damit sind zwingend die Voraussetzungen und Begrenzungen im Sinne der §§ 417 ff. StPO zu beachten. Die schwere inhaltliche Bestimmung der §§ 417 ff. StPO strahlt notgedrungen auf die Anwendbarkeit der Hauptverhandlungshaft aus. Der normative Rechtsbegriff „Geeignetheit der Sache“ im Sinne des § 417 StPO verlangt eine umfassende Bewertung 81. Die maximal zulässige Straferwartung im Sinne des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe führt in ein umfangreiches Gebiet: den Grundsätzen der Strafbemessung, insbesondere des § 46 StGB. Auch die Möglichkeit des Absehens von Strafe im Sinne des § 46 a StGB ist offenbar ebenso von Bedeutung wie die §§ 153 ff. StPO und die Möglichkeit einer Entscheidung im Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 ff. StPO. Dort, wo die StPO für den Beschuldigten „grundrechteschonendere“ Erledigungen vorsieht als die Behandlung der Sache im beschleunigten Verfahren, gehen diese grundsätzlich vor. Diese Erledigungsarten blockieren die Geeignetheit der Sache im Sinne des § 417 StPO und somit auch die Anwendung des § 127 b StPO. § 127 b StPO ist aufgrund des Verweises in Abs. 1 Nr. 1 außerhalb des beschleunigten Verfahrens nicht anwendbar. Schließlich sind die organisatorischen Voraussetzungen zur unverzüglichen Durchführung des Verfahrens im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO zu beachten. Sind sie nicht gegeben, scheidet ein Hauptverhandlungshaftbefehl aus. Zwar sind die sachlichen und personellen Gegebenheiten ein Merkmal der Geeignetheit der Sache zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens. Im Rahmen des § 127 b StPO ist die Frage nach der Organisation jedoch von besonderer Bedeutung. Die Pflicht, die Hauptverhandlung im Sinne des § 127 b Abs. 2 StPO binnen einer Woche durchzuführen, verkürzt den zeitlichen Rahmen gegenüber dem einer isolierten Anwendung der §§ 417 ff. StPO. Insoweit verengt § 127 b StPO den gemäß §§ 417 ff. StPO gegebenen Spielraum zur Anwendung erheblich. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO ist letztendlich nur unter Einbeziehung all dieser Komponenten auszufüllen. Bevor dies im Einzelnen geschieht, ist jedoch zunächst noch auf ein grundsätzliches Problem in der gesetzgeberischen Konzeption des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO aufmerksam zu machen. Es geht um die Systematik zwischen der 81 Vgl. BT-Drucksache 12/6853, S. 10, und Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 73 f.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Haftgrundkomponente des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO und der Voraussetzung „dringender Tatverdacht“. Das Verhältnis dieser Voraussetzungen wurde weder im Gesetzgebungsverfahren angesprochen, noch wurde es in der Literatur zu §127 b StPO diskutiert. Das verwundert, da die Problematik ausgesprochen deutlich die schlechte Konzeption des § 127 b StPO zeigt. Zur Sensibilisierung sei der Blick zunächst wieder auf das bisherige Untersuchungshaftrecht geworfen. II. Das Verhältnis zwischen § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO und dem dringenden Tatverdacht gemäß Abs. 2 S. 1 1. HS Sofern Untersuchungshaft nach §§ 112, 112 a StPO verhängt wird, muss ein Haftgrund vorliegen. Daneben muss eine an die vergangene, mögliche Tathandlung anknüpfende Strafbarkeitsprognose durchgeführt werden. Die Qualität der Prognose definiert sich allgemein über das Merkmal des dringenden Tatverdachts. Die Voraussetzung wird in § 112 Abs. 1 S. 1 StPO als allgemeines Erfordernis der Untersuchungshaft genannt. Zu offenen Konflikten zwischen der Strafbarkeitsprognose als Bestandteil eines Haftgrundes und dem allgemeinen Merkmal des dringenden Tatverdachts in § 112 Abs. 1 S. 1 StPO kommt es im Untersuchungshaftrecht der §§112, 112 a StPO nicht. Es muss zwar, sowohl bei den Delikten, die den Haftgrund der Tatschwere im Sinne des § 112 Abs. 3 StPO ausmachen, wie auch bei den Delikten der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a StPO, zur Bestimmung des Haftgrundes eine Strafbarkeitsprognose getroffen werden. Diese erfolgt jedoch ebenfalls nach den allgemeinen Grundsätzen des dringenden Tatverdachts. Dies zeigt der Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO und der des § 112 a Abs. 1 1. HS StPO. Es besteht kein Unterschied zur Strafbarkeitsprognose nach § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. Die Haftgründe „Flucht“, „Fluchtgefahr“ und „Verdunkelungsgefahr“ knüpfen – für sich betrachtet – an keine Strafbarkeitsprognose an. Demgegenüber bezieht sich § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO auf einen Tatvorwurf, der wahrscheinlich zu einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren führt. Gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO muss die Durchführung der Hauptverhandlung binnen einer Woche nach der Festnahme zu erwarten sein. Da sich im Verfahren nach §§ 417 ff. StPO nur Strafbarkeit zeigen kann, wenn die Voraussetzungen des beschleunigten Verfahrens vorliegen, wird die Qualität der Prognose nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO letztendlich über die Voraussetzungen des beschleunigten Verfahrens mitbeschrieben. Die Geeignetheit der Sache gemäß § 417 StPO nennt als Prognosegrundlage einen „einfachen Sachverhalt“ oder eine „klare Beweislage“. Dringender Tatverdacht, der in § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO als eine vom Haftgrund losgelöste, eigenständige Haftvoraussetzung vorkommt, ist keine ausdrückliche Voraussetzung zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens und auch nicht zur Strafbarkeitsentscheidung dort. Aus der Überlegung heraus, dass eine „klare Beweislage“ in bestimmten Fällen Voraussetzung dafür sein muss, dass es zu einer Strafbarkeitsentscheidung im be-

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schleunigten Verfahren überhaupt kommen kann, andererseits die Strafbarkeitsprognose im Sinne des dringenden Tatverdachts allgemein jedoch keine „klare Beweislage“ fordert, zeigen sich unweigerlich Konflikte zwischen den Haftvoraussetzungen des §127 b Abs.1 Nr.1 i.V.m. §§417 ff. StPO und dem dringenden Tatverdacht gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO. Da mehrere Prognosen an die eventuelle Tathandlung des Beschuldigten, aber an eine unterschiedliche Qualität der Beweisgrundlagen anknüpfen, sind Konflikte zwischen den Voraussetzungen vorprogrammiert. Wie diese Konflikte im Einzelnen aussehen und wie auftretende Widersprüche aufgelöst werden können, wird in der folgenden Darstellung deutlich werden. Konkret ist zunächst zu klären, worauf sich der Begriff „wahrscheinlich“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO bezieht. Im Rahmen der Hauptverhandlungshaft kommen drei konkrete Bezugspunkte in Betracht: die „Verurteilung“ im beschleunigten Verfahren, „einzelne Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO“ und die „Anwendung des beschleunigten Verfahrens“ an sich. Möglich erscheint eine Beschränkung der (objektiven) Wahrscheinlichkeit auf das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO. Abs. 1 Nr. 1 muss in jedem Falle im Zusammenhang mit der „Erwartung der Durchführung der Hauptverhandlung“ im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO gesehen werden, da Abs. 2 S. 1 auf die Gründe des Abs. 1 und damit auf § 127b Abs. 1 Nr. 1 StPO verweist. III. Die Wahrscheinlichkeitsprognose gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO 1. Bezugspunkt: Verurteilung im beschleunigten Verfahren? Ausgehend vom Wortlaut des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO ist denkbar, dass sich die Wahrscheinlichkeitsprognose auf eine „Entscheidung“ im Sinne einer „Verurteilung im beschleunigten Verfahren“ bezieht. Die „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung“ ist keine ausdrückliche Voraussetzung für die Anordnung des beschleunigten Verfahrens gemäß §§ 417 ff. StPO. Auch in den §§ 212 a ff. StPO (a. F.) wurde die Voraussetzung nicht erwähnt. Daher waren etwa Dünnebier und Eb. Schmidt der Ansicht, dass ein Gericht sich mit der Frage des Verdachts einer Strafbarkeit vor Eröffnung des beschleunigten Verfahrens nicht zu befassen habe 82. Hiergegen wendet sich im Zuge der Neufassung des beschleunigten Verfahrens ein größerer Teil der Literatur. Überwiegend wird für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens die Pflicht zur Prüfung des Tatverdachts erkannt 83. In diesen Streit zur Prü82 Dünnebier, GA 1959, 272, 275, und Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil II (1957), § 212 a Rdn. 5, sprechen dem Gericht für das beschleunigte Verfahren (a. F.) sogar eine diesbezügliche Prüfungsbefugnis ab; vgl. zu Letzterem auch Schultz, DAR 1957, 93, 97. 83 So zutreffend etwa Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 573 f. m.w. N.; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 42 m. z. w. N. Vgl. auch KK-Tolksdorf, StPO (2003), § 418 Rdn. 2. Ohne auch im beschleunigten Verfahren die Wahrscheinlichkeit einer positiven

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

fung des Tatverdachts könnte § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO eingreifen. Dann nämlich, wenn die Wahrscheinlichkeit gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO eine Prognose zur Strafbarkeit im Sinne der „Verurteilung im beschleunigten Verfahren“ beschreibt. Auf den Streit, ob das Gericht vor der Hauptverhandlung des beschleunigten Verfahrens in jedem Fall „verpflichtet“ ist, einen Tatverdacht zu prüfen oder nicht, kommt es im Rahmen des § 127 b StPO jedoch nicht an. Genauso wenig wie es auf die Frage ankommt, ob die Strafverfolgungsorgane „berechtigt“ sind, vor jeder Anwendung des beschleunigten Verfahrens eine Strafbarkeitsprognose zu treffen. Zwar macht es keinen Sinn, § 127 b StPO anzuwenden, wenn eine Verurteilung im beschleunigten Verfahren nicht wahrscheinlich ist. Die Frage der Strafbarkeitsprognose entscheidet sich bei der Anwendung des § 127 b StPO jedoch stärker über Abs. 2 S. 1 1. HS als über Abs. 1 Nr. 1. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO kann das erforderliche Maß einer positiven Strafbarkeitsprognose allein nicht beschreiben. Abs. 1 Nr. 1 könnte lediglich eine „einfache“ Wahrscheinlichkeitsprognose hinsichtlich einer Verurteilung verlangen. Das zeigt sich aus dem Wortlaut. Von einer „sich aufdrängenden“ Wahrscheinlichkeit ist dort nicht die Rede. Bei der Beurteilung des dringenden Tatverdachts im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO muss sich die Strafbarkeit des Beschuldigten hingegen „aufdrängen“. Die schwerere Form der Wahrscheinlichkeit für Strafbarkeit, wie sie der dringende Tatverdacht verlangt, stünde im Widerspruch zur einfachen Form des Abs. 1 Nr. 1, wenn diese schon zur Prognose über die Verurteilung genügte. Die Fälle zu prognostizierender Straflosigkeit können also eher über das Merkmal des dringenden Tatverdachts gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO ausgefiltert werden, als über § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO. Da sich im „dringenden Tatverdacht“ die schwerere Wahrscheinlichkeitsform zeigt, bezieht sich der Begriff der Wahrscheinlichkeit in Abs. 1 Nr. 1 nicht auf eine Verurteilung des Betroffenen im beschleunigten Verfahren. 2. Bezugspunkt: Einzelne Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO? Einfache Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO soll nach einer Ansicht in der Literatur dann anzunehmen sein, wenn „mehr für ein bestimmtes Ergebnis spricht als dagegen“ 84. Nach Lemke etwa, seien auch „gewisse Sicherheiten“ 85 nicht erforderlich. Wenn der Begriff damit jedoch für „Sicherheiten“ keinen Raum ließe, ist denkbar, dass er Relativierungen bezüglich einzelner Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO zulässt. Es ist vorstellbar, dass die Wahrscheinlichkeit nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO diejenigen Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO objektiv relativiert, die ohne Anwendung des § 127 b StPO eine „gebundene BeurteiPrognose zur Strafbarkeit zu verlangen, machte es keinen Sinn, dort eine Hauptverhandlung zu eröffnen. 84 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), §127 b Rdn. 10 mit Verweis auf die allgemeine Dogmatik und Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 183 ff. 85 HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 15.

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lung“ verlangen. In diesem Sinn kann Lemke gedeutet werden. Nach seiner Meinung „dürfte“ § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO „nicht gegeben sein, wenn schon im Ermittlungsverfahren Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass kein einfacher Sachverhalt oder keine klare Beweislage gegeben ist“ 86. Für Fülber ist schließlich das „wahrscheinliche Vorliegen der Voraussetzungen einer Entscheidung im Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO“ 87 maßgebend. Versteht man dies so, dass § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO Anhaltspunkte zulässt, die derart gegen einen einfachen Sachverhalt oder eine klare Beweislage sprechen, dass die Geeignetheit im Sinne des § 417 StPO nicht mehr „gegeben sein muss“, sondern nur noch „weniger wahrscheinlich gegeben sein müsste“, bedarf es indes einer Klarstellung: Sobald objektiv Anhaltspunke vorliegen, nach denen die Sache nicht im Sinne des § 417 StPO geeignet ist, sind die §§ 417 ff. StPO nicht anzuwenden. Auch § 127 b StPO ist dann nicht anzuwenden. Die Norm „dürfte“ nicht nur nicht mehr anzuwenden sein. Die Wahrscheinlichkeit nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO kann sich nicht relativierend auf die einzelnen Erfordernisse der §§ 417 ff. StPO auswirken. Die Geeignetheit der Sache muss unter Berücksichtigung aller Umstände vorliegen. Sie darf nicht in nur relativierender, einfacher Wahrscheinlichkeit vorliegen 88. Die „Ist-Voraussetzung“, das heißt das zwingende Erfordernis der Geeignetheit der Sache im Moment der Entscheidung über § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO, zeigt sich aus der Formulierung des § 417 StPO. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber § 127 b StPO den Zweck beimessen wollte, die Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO im Sinne von „Weniger-sein-müssen“ aufzuweichen. Hätte er die Hürden des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage als zu hoch empfunden und darin den Grund einer mangelnden Bereitschaft der Strafverfolgungsorgane gesehen, das beschleunigte Verfahren anzuwenden, hätte er im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes § 127 b StPO nicht einführen wollen. Er hätte eher bei der Reform des beschleunigten Verfahrens dessen Voraussetzungen anders ausgestalten können 89. Oder er hätte eine Relativierung der Voraussetzungen durch § 127 b HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 15. Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 43 [Hervorhebung im Original]. 88 Soweit ersichtlich, wird die Geeignetheit der Sache „gebunden“ gefordert und nicht etwa diesbezüglich nur eine „einfache Wahrscheinlichkeit“; vgl. KK-Boujong, StPO (2003) 127 b Rdn. 15 mit Verweis auf LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 10. KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 8, geht bei der Kommentierung des Haftgrundes auf das Merkmal „wahrscheinlich“ gem. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO nicht ein. Für das Festnahmerecht sind die Ausführungen unklar. Wankel, a. a. O. § 127 b Rdn. 4, geht davon aus, dass die Durchführung des beschleunigten Verfahrens „möglich, dh, die Sache (...) zur sofortigen Verhandlung geeignet“ ist. Keine Festlegung, aber auch keine Relativierung der Erfordernisse der §§ 417 ff. StPO sind ersichtlich bei Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 215, 238, 530 ff.; Meyer-Goßner, StPO (2003), §127 b Rdn.9, 18, 19; Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S.91 ff.; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 118 f. 89 Dies wäre leicht möglich gewesen, wenn der Gesetzgeber etwa eine „einfache Wahrscheinlichkeit“ oder eine „dringliche Wahrscheinlichkeit der Geeignetheit der Sache“ in § 417 StPO normiert hätte. 86 87

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Abs. 1 Nr. 1 StPO in dessen Rahmen deutlicher machen müssen. §127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO wirkt sich also nicht unmittelbar auf einzelne Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO aus.

3. Bezugspunkt: Objektive Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens? Die Wahrscheinlichkeit könnte sich – wenn auch nicht auf die einzelnen Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO – so doch auf die Anwendung des beschleunigten Verfahrens insgesamt beziehen. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO forderte in diesem Sinne, dass „objektiv mehr für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens spricht als für eine andere Verfahrensart“: Zu denken wäre etwa an das Regelverfahren, an die Verfahren nach §§ 153 ff. StPO oder an das Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 ff. StPO. So scheint Hellmann die Wahrscheinlichkeit in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO zu verstehen. Er schreibt vom „Wahrscheinlichkeitsgrad einer Erledigungsart“ 90. Dafür kann der Wortlaut des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO ein Argument sein. Gemäß Abs. 1 Nr. 1 muss die Entscheidung im „beschleunigten Verfahren wahrscheinlich“ sein. Der Zweck des § 127 b StPO kann für und gegen eine solche Auslegung sprechen. § 127 b StPO soll nach der Gesetzesbegründung Staatsanwaltschaften und Richter dazu anhalten, das beschleunigte Verfahren insgesamt öfter zu nutzen, da bisher – aus der Sicht des Gesetzgebers – eine Nutzung aufgrund der Abwesenheit des Beschuldigten oftmals nicht möglich war. § 127 b StPO hat also unbestritten den Zweck, die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zu sichern, indem der Beschuldigte zur Anwesenheit gezwungen werden kann 91. Zum einen kann von einem Richter im Zeitpunkt des Haftbefehlserlasses objektiv nicht die „Kenntnis“ verlangt werden, dass das beschleunigte Verfahren und kein anderes Verfahren durchzuführen ist. Genauso wenig kann von einem Staatsanwalt die „sichere Vorausschau“ gefordert werden, dass der Richter seinem Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens folgen wird. Der Antrag betreffend das beschleunigte Verfahren kann erst nach Abschluss der Ermittlungen gestellt werden. Er folgt also in der Regel dem Erlass des Haftbefehls nach. Ob eine Entscheidung eher im Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO oder etwa im Regelverfahren zu ergehen hat, entscheidet der Richter selbständig. Die Auswahl verschiedener Möglichkeiten, das Verfahren zu erledigen, richtet sich zunächst nach den jeweiligen Voraussetzungen. Dann beschränkt sich die Auswahl nach Verhält90 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149, ohne konkrete Begründung im Zusammenhang mit der Inhaftnahme des Beschuldigten. Ders. äußert sich a. a. O. zu § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO nur im Zusammenhang mit dem Festnahmerecht, da er trotz des Verweises in Abs. 2 auf „die Gründe“ des Abs. 1 offenbar annimmt, der Haftgrund bestehe nur aus § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO. 91 Vgl. wieder BT-Drucksache 13/2567, S. 3.

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nismäßigkeitserwägungen auf ein Minimum. Da objektiv keine „sicheren Kenntnisse“ verlangt werden können, kann es nur um die „wahrscheinliche“ Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens gehen. Zum Zweiten kann Haft zur Sicherung des beschleunigten Verfahrens jedoch offenbar nur dann geeignet und erforderlich sein, wenn – vorbehaltlich der befürchteten Abwesenheit des Beschuldigten – das Verfahren im Zeitpunkt der Entscheidung über den Hauptverhandlungshaftbefehl anwendbar „ist“. Ist objektiv eventuell auch ein anderes Verfahren anwendbar, muss aus Verhältnismäßigkeitserwägungen die Durchführung einer den Beschuldigten weniger belastenden Verfahrensart verfolgt werden. Geht es wahrscheinlich nicht um das beschleunigte Verfahren, kann auch § 127 b StPO nicht angewendet werden. Würde Haft dennoch angeordnet, würde unzulässig in Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG eingegriffen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schützt vor Eingriffen in Grundrechte durch Haft. Haft greift in die Freiheitsrechte des Beschuldigten besonders intensiv ein. Objektivität in der Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens machte es eher möglich, Rechtswidrigkeit aufzudecken. Die Forderung von Objektivität steht demnach im Sinne des Freiheitsrechts des Beschuldigten. Jedoch steht einer derartigen Auslegung die Systematik des § 127 b Abs. 1 zu Abs. 2 StPO entgegen. Beachtet man zudem das Vorhaben des Gesetzgebers, Strafverfolgungsorgane zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens anzuhalten, entscheidet sich die Qualität der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO tatsächlich eher über Abs. 2. § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS verweist auf die „Gründe“ des Abs. 1 und demnach auch auf Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO. Die Frage, ob § 127 b StPO aufgrund einer wahrscheinlichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren anzuwenden ist, beantwortet sich demnach nicht über eine „objektive“ Wahrscheinlichkeit. Die Entscheidung des Richters bemisst sich nicht nach einer Wahrscheinlichkeit gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO dahingehend, dass „objektiv“ mehr dafür spricht, die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren zu eröffnen als in einem anderen Verfahren zu einer Entscheidung zu gelangen. Der Begriff „wahrscheinlich“ in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO hat im Rahmen der Haftregelung des § 127 b StPO keine objektiv-relativierende Funktion hinsichtlich der Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens gegenüber anderen Erledigungsmöglichkeiten. Er ist vielmehr über § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO subjektiviert.

IV. Die Subjektivierung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO durch die „Erwartung“ der Hauptverhandlung gemäß Abs. 2 S. 1 2. HS Die Prognose, ob das beschleunigte Verfahren anwendbar ist, ist eine „subjektivierte Entscheidung der Verhältnismäßigkeit“. Das entscheidende Argument für die Subjektivität der Entscheidung ist mit § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS i.V. m. Abs. 1 9 Giring

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Nr. 1 StPO geliefert 92. Demnach genügt es zur Prüfung der Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens, dass die Durchführung der Hauptverhandlung „zu erwarten“ ist. Dies schafft Anreize für die Strafverfolgungsorgane, zur Sicherung des beschleunigten Verfahrens auf § 127 b StPO zurückzugreifen. Ausgehend von allgemeinen Anforderungen an Prognoseentscheidungen gilt für die Erwartung im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO, dass reine Vermutungen unerheblich sind. Das Freiheitsrecht des Beschuldigten im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG ist durch § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO genauso betroffen wie etwa bei der Auslegung des Begriffs des dringenden Tatverdachts gemäß Abs. 2 S. 1 1. HS. Die Prognose muss plausibel sein und wenigstens auf Tatsachen beruhen. Weder darf dem Beschuldigten die Ansicht zum Nachteil gereichen, das Verfahren werde sich schon noch so entwickeln, dass die Sache zur Entscheidung im beschleunigten Verfahren geeignet ist, noch dürfen Spekulationen beachtlich sein, nach denen sich das Verfahren vielleicht noch verkompliziert, weswegen die §§ 417 ff. StPO und demnach auch 127 b StPO nicht anzuwenden wären. Die Erwartung muss sich nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen richten. Wie schon zum dringenden Tatverdacht vor dem Hintergrund des Freiheitsrechts des Beschuldigten festgestellt, bedeutet der Punkt des Verfahrens, an dem die Grundlagen der Prognose keine Erwartung mehr dahingehend erlaubt, dass die Voraussetzungen des Haftbefehls nicht mehr gegeben sind. § 127 b StPO ist dann nicht mehr anwendbar. Es genügt jedoch, dass der Entscheidungsträger auf objektiver Grundlage „subjektiv davon ausgeht“, dass es zu einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren und in keinem anderen Verfahren kommt. Die Subjektivierung entspricht dem Zweck, das Verfahren zu effektivieren. Sie mindert zwar die Wahrscheinlichkeit, Fehlverhalten aufzudecken, aber damit auch mögliche Ängste der Normanwender. V. Die Konkretisierung der „unverzüglichen Entscheidung“ gemäß § 127 b StPO Abs. 1 Nr. 1 StPO durch Abs. 2 S. 1 2. HS 1. Zum Begriff „unverzügliche Entscheidung“ Die Wahrscheinlichkeit einer „unverzüglichen“ Entscheidung im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO steht offenbar im Zusammenhang mit der Durchführung der Hauptverhandlung. Das zeigt Abs. 2 S. 1 2. HS, wo klar von der 92 All dies hat nicht zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit gem. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO neben den Voraussetzungen der oben genannten Erledigungsarten und neben allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen bedeutungslos ist. Die objektive Voraussetzung spielt ihre Rolle im Rahmen des Festnahmerechts aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO und dort insbesondere im Verhältnis zwischen verschiedenen Entscheidungsträgern; zum Festnahmerecht gem. § 127 b Abs. 1 StPO siehe 2. Kap. 3. Abschn.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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„Durchführung der Hauptverhandlung“ die Rede ist. Es geht nicht lediglich um deren Beginn. Die Entscheidung ergeht am Schluss der Verhandlung. Stellt die Staatsanwaltschaft den Antrag, findet die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren gemäß § 418 Abs. 1 StPO „sofort oder in kurzer Frist“ statt. Nach dem Willen des Gesetzgebers bedeutet dies eine Zeitspanne von „1 bis 2 Wochen“ 93. Das Erfordernis einer „unverzüglichen“ Entscheidung ist den Regelungen der §§ 417 ff. StPO jedoch fremd. Anzudenken ist zunächst eine Auslegung im Sinne: „unverzüglich ist gleich ohne schuldhaftes Zögern“. Brodag vertritt diese Ansicht 94 – ohne § 127 b Abs. 2 StPO zu beachten. Wird § 127 b StPO angewandt, muss jedoch gemäß Abs. 2 S. 1 2. HS die „Durchführung der Hauptverhandlung binnen einer Woche nach der Festnahme zu erwarten“ sein. Die „unverzügliche Entscheidung“ nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO wird also durch Abs. 2 S. 1 2. HS konkretisiert. „Unverzüglich“ heißt demnach „binnen einer Woche nach der Festnahme“. Die Frist zur Durchführung der Hauptverhandlung gemäß § 418 Abs. 1 StPO verkürzt sich entsprechend 95. Die Berechnung der Wochenfrist des Abs. 2 S. 1 2. HS ist in der Literatur umstritten. Nach Hilger, dem sich Schlüchter/Fülber/Putzke und Lemke angeschlossen haben, lässt der Wille des Gesetzgebers eine möglichst schnelle Durchführung der Hauptverhandlung als „nahe liegend“ erscheinen 96. Nach dieser Ansicht ist die Frist des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO wie die Sechsmonatsfrist des § 121 StPO zu berechnen. Die „insoweit unklare gesetzliche Regelung“ stehe dem, so Lemke, „nicht entgegen“ 97. Das würde bedeuten, dass in die Fristberechnung nach § 127 b Abs. 2 StPO der fristauslösende Tag einzubeziehen ist. Würde ein Beschuldigter beispielsweise an einem Dienstag festgenommen, so muss danach die Durchfüh93 Vgl. schon oben Einf., 3. Abschn. und dort FN 69. Die Frist „bis zu 2 Wochen“ befürworten beispielsweise OLG Düsseldorf, StV 1999, 202, 202, und Radtke, JR 2001, 133, 134. Nach Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 624, muss „in Anbetracht auch organisatorischer Schwierigkeiten (...) davon ausgegangen werden, dass die Monatsfrist ausreichend ist und keinesfalls überschritten werden darf“. Aufgrund der Klarheit über das anzuwendende Verfahrensrecht erscheint die Monatsfrist indes als zu lang. Die 2-Wochenfrist trägt dem Willen des Gesetzgebers zur Beschleunigung, BT-Drucksache 12/6853, S. 36, zumindest eher Rechnung. Vgl. auch den dem OLG Hamburg, NStZ 1999, 266, 266 f., zur Entscheidung vorgelegten Fall. Danach ist erst fast 9 Monate nach Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft – ohne Beschl. gem. § 419 Abs. 3 StPO – eine Entscheidung ergangen. 94 Brodag, Strafverfahrensrecht (1998), Rdn. 624. 95 Entgegen dem was Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn.624, meint, will Scheffler, NStZ 1999, 268, 269, die „kurze Frist“ gem. § 418 Abs. 1 StPO nicht allgemein i. S. d. Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 StPO interpretiert wissen. Scheffler geht es gerade nicht um die Begrenzung der „kurzen Frist“, sondern um die Erweiterung des Zeitrahmens der „sofortigen“ Verhandlung i. S. d. § 418 Abs. 1 StPO. „EMRK-konform“ ausgelegt, solle § 418 Abs. 1 StPO wenigstens auf die Fälle beschränkt bleiben, in denen ein einwöchiges Ermittlungsverfahren dem Beschuldigten die Möglichkeit gebe, seine Verteidigung ausreichend vorzubereiten. 96 Vgl. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 11; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 119; HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 10. 97 HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 10.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

rung der Hauptverhandlung also bis zum Ablauf des darauf folgenden Montag zu erwarten sein. Nach Kleinknecht/Meyer-Goßner – und diesen folgen Boujong, Pfeiffer und Wankel – berechnet sich die in § 127 b Abs. 2 StPO genannte Wochenfrist hingegen nach § 43 Abs. 1 StPO; § 43 Abs. 2 StPO soll nicht anwendbar sein 98. Nach dieser Ansicht endet die Frist in genanntem Beispielsfall also erst am Dienstag der Woche nach der Festnahme; bei einer Festnahme sonntags endete sie mit Ablauf des nächsten Sonntag. Sie endete nicht erst am darauf folgenden Montag und auch nicht, wie sich nach Hilger ergibt, bereits mit Ablauf des Sonnabends der Woche, die auf die Festnahme folgt. Angesichts der Kürze der Haft führen beide Ansichten zu relativ gravierenden Unterschieden in der Behandlung des Beschuldigten. Es bedarf daher einer Stellungnahme. 2. Stellungnahme zur Berechnung der Wochenfrist Wie die „Durchführung der Hauptverhandlungshaft binnen einer Woche“ im Einzelnen zu bemessen ist, kommt im Gesetzestext nicht eindeutig zum Ausdruck 99. § 127 b StPO enthält selbst keine näheren Hinweise. Die zunächst naheliegend erscheinende Berechnungsregel ist § 43 StPO. Gemäß § 43 Abs. 2 StPO endete die Frist erst mit Ablauf des nächsten Werktages, wenn das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend fällt. Die allgemeine Berechungsmethode erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als ungeeignet. Aufgrund der Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG ist die Wochenfrist möglichst eng zu berechnen. § 43 Abs. 2 StPO ist daher nicht anzuwenden. Das Ende der Frist kann demnach auf jeden Wochentag fallen. Aufgrund der Schwere des Rechtseingriffs kann die Berechnung auch nicht unter Zugrundelegung des § 43 Abs. 1 StPO erfolgen. Hiernach würde die Frist erst mit dem auf die Festnahme folgenden Tag zu laufen beginnen. Sie endete in der folgenden Woche mit Ablauf des Tages, der dem Tag entspricht, an dem die Frist zu Laufen begonnen hat. Die Qualifizierung der Hauptverhandlungshaft als besondere Form der Untersuchungshaft, also als ein besonders schwerer Grundrechtseingriff, wäre hierbei nicht hinreichend berücksichtigt 100. Der Verweis auf die Berechnungsmethode gemäß § 121 Abs. 1 StPO erscheint auf den ersten Blick problematisch. Für die Fristberechnung werden dort nur Tage 98 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO (43.Aufl. 1997), §127 b StPO Rdn.18, sowie auch jüngst Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 18; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 17; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 7; KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 8. 99 Dies kritisiert Schöch, RA-Pr 12/120, S. 187, 189, in seiner Stellungnahme zum Verbrechensbekämpfungsgesetz. 100 So argumentieren auch LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 11. Vgl. i. d. S. auch Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 205.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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berücksichtigt, in denen die Untersuchungshaft tatsächlich vollzogen worden ist. Zwar wird für die Berechnung der Aufrechterhaltung des Haftbefehls der Tag des Haftbeginns mitgerechnet. Die dortige Sechsmonatsfrist beginnt jedoch grundsätzlich nicht mit dem Tag der Festnahme sondern erst mit Erlass des Haftbefehls gemäß § 128 Abs. 2 S. 2 StPO 101. Der Tag der Festnahme ist nur bedeutend, wenn bereits vorher ein Haftbefehl erlassen wurde 102. Sieht man § 121 Abs. 1 StPO indes als Regelung von allgemein-haftrechtlicher Bedeutung, wonach im Haftrecht generell der die Frist auslösende Tag in die Fristberechnung einbezogen wird, um die Belastung des Beschuldigten möglichst gering zu halten, kann auf § 121 StPO verwiesen werden – und das zu Recht. Denn dadurch wird auf die Qualifizierung der Hauptverhandlungshaft als Haftregelung Rücksicht genommen. Aufgrund der Bedeutung des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG erscheint die Einbeziehung des Tages der Festnahme angebracht. Die Freiheit des Verdächtigen wird bereits mit der Festnahme entzogen. Für die Einbeziehung spricht auch der Wortlaut des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO. Die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren muss binnen einer Woche „nach der Festnahme“ 103 erfolgen und nicht etwa binnen einer Woche „nach dem Tag der Festnahme“. Auf diese zeitliche Komponente bezieht sich die Erwartung im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO. Die Strafverfolgungsorgane müssen also erwarten dürfen, dass in dem so zu bestimmenden Zeitrahmen die Ermittlungen abgeschlossen und das Verfahren mit der Anwendung des § 127 b StPO durchgeführt sein wird. Für die „Erwartung“ einer Entscheidung gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO ist jedoch nicht nur die Sach- und die Rechtslage des Falles von Interesse. Wesentlich ist auch die Organisation des Verfahrens. Fülbers Ansicht, wonach es darauf im Urteil über die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nicht ankomme, kann nicht ausschlaggebend sein. Ob die Beachtlichkeit der Organisation des Verfahrens das gesetzgeberische Ziel einer verstärkten Nutzung der §§ 417 ff. StPO „konterkariert“ oder ob dies eine „Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zur Durchführung Beschleunigter Verfahren“ missachtet 104, ist unerheblich. Es gilt das Gesetz. Und danach muss erwartet werden, dass eine Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren „unverzüglich“ durchgeführt werden kann. Eine Verfahrensbeschleunigung durch § 127 b i.V. m. §§ 417 ff. StPO kann von vorn-

Vgl. nur Meyer-Goßner, StPO (2003), § 121 Rdn. 4. Vgl. wieder Meyer-Goßner, StPO (2003), § 121 Rdn. 4. 103 Die Hervorhebung „nach der Festnahme“ erscheint nicht weniger bedeutend als die der Vokabel „binnen“ bei Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 119; vgl. auch wieder LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 11. 104 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 43 [Hervorhebung im Original]; vgl. darüber hinaus auch ders., a. a. O. S. 48, wo es zur Durchführung der Verhandlung „sofort“ oder in „kurzer Frist“ des § 418 StPO heißt: „Demgegenüber darf nicht ausschlaggebend sein, ob die Geschäftslage des Gerichts die Durchführung des Beschleunigten Verfahrens zuläßt oder nicht. Würde doch andernfalls die Eignung schon dann entfallen, wenn der zuständige Spruchkörper sich als überlastet oder ‚austerminiert‘ bezeichnet.“ [Hervorhebung im Original]. 101 102

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

herein nur unter entsprechenden sachlichen und personellen Gegebenheiten erreicht werden 105. 3. Zu den organisatorischen Voraussetzungen einer „unverzüglichen Entscheidung“ Die unverzügliche Durchführung der Hauptverhandlung – das heißt, gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO deren erwartete Durchführung binnen einer Woche nach der Festnahme – hängt unter anderem davon ab, inwiefern ein Haftplatz, ein zuständiger Richter sowie ein Staatsanwalt überhaupt zur Durchführung des Verfahrens bereitstehen 106. Es ist auch daran zu denken, ob ein Sitzungssaal zur Verfügung steht 107. Insoweit ist die Terminbelastung des Gerichts für die Anwendung des § 127 b StPO mitentscheidend. Ist zu erwarten, dass Richter, Staatsanwälte, Säle etc. „austerminiert“ sind, kann die Durchführung des Verfahrens innerhalb der Frist des § 127 b Abs. 2 StPO nicht erwartet werden. § 127 b StPO ist dann nicht anwendbar. Die „häufigste Schwierigkeit“ in der Durchführung des beschleunigten Verfahrens besteht in der Praxis darin, kurzfristig den Hauptverhandlungstermin zu bestimmen und mit sämtlichen Beteiligten zu koordinieren. Häufig sind die Strafrichter schon auf Wochen im Voraus „austerminiert“ 108. Dury macht zu Recht darauf aufmerksam: „Es müssen Gutachten zur Bestimmung des Blutalkohols eingeholt, Vorstrafakten beigezogen, Dolmetscher zugezogen oder Zeugen geladen werden“ 109. Angesichts der nach wie vor bestehenden „Kommunikationsprobleme(n) zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht“ 110 ist eine Erwartung im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO erst möglich, wenn die Verständigung zwischen den Beteiligten problemlos funktioniert. Ist das nicht der Fall, kann der Verdächtige nicht aufgrund § 127 b StPO inhaftiert werden. Daneben ist gleichsam auch an die kurzfristige Bereitschaft von Geschäftsstellenpersonal, Protokollführern und Wachtmeistern als Vorführdienst zu denken. Insbesondere in Flächenländern, in denen weitere Wege zwischen Untersuchungs105 Die organisatorischen Gegebenheiten sind unbedingt Voraussetzung zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens; vgl. auch Radtke, JR 2001, 133, 134 ff., zu den im Einzelnen umstrittenen verfahrensrechtlichen Konsequenzen der Nichteinhaltung der „kurzen Frist“ i. S. d. § 418 StPO aufgrund mangelnder Organisation des Verfahrens. 106 Asbrock, StV 1995, 43, 45; Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 Rdn. 9. 107 Vgl. wieder Asbrock, StV 1995, 43, 45. 108 Vgl. Dury, DRiZ 2001, 207, 208. 109 Vgl. Dury, DRiZ 2001, 207, 208. 110 Vgl. Dury, DRiZ 2001, 207, 208, und auch Bernhard, KrimZ 1999, 61, 77 f., wonach „ein großes Problem die verfahrensbezogene Informationsverarbeitung der Strafjustiz“ berühre. Es fehle an Informationssystemen, die täterbezogene Erkenntnisse erfassen und im Bedarfsfall zusammenführen. A. a. O. S. 78, bemängelt ders., dass die Polizei „viel zu wenig von der Rolle der Strafjustiz, ihren gesetzlichen Möglichkeiten und Grenzen“ wisse.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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haftanstalt und Gericht zurückzulegen sind, kann für die kurzfristige Durchführung des Verfahrens binnen einer Woche die zeitliche Inanspruchnahme des Personals durch die Vorführung nicht außer Acht gelassen werden. Vor dem Hintergrund der geringen Anwendung des § 127 b StPO in Stadtstaaten sind jedoch kurze Entfernungen keine Gewähr für die organisatorische Machbarkeit der Sicherung gemäß der Norm 111. Ist im beschleunigten Verfahren eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten, muss das Gericht dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, gemäß § 418 Abs. 4 StPO einen Verteidiger bestellen. Dieser muss für die Durchführung der Verhandlung bereit und in der Lage sein. Schon im Zeitpunkt der Entscheidung über die Verhängung des Haftbefehls muss das Gericht abwägen, ob ein Pflichtverteidiger rechtzeitig bestellt werden kann. Angesichts der kurzen Verfahrenshöchstdauer wird die Terminierung innerhalb einer Woche ohne eine reibungslos funktionierende Wochenendpräsenz sowie ausreichende Vertretungsregelungen also nicht nur für Behördenpersonal, sondern auch für Verteidiger praktisch kaum realisierbar sein 112. Die Hinzuziehung eines Dolmetschers kann in der Praxis durchaus relativ erhebliche Relevanz haben 113. Die Verhandlung unter Beteiligung von Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, kann des Öfteren zu erwarten sein, da der Anwendungsbereich der Hauptverhandlungshaft häufig in Verbindung mit Straftaten gegen das Ausländergesetz gebracht wird 114. Zumindest für die mündliche Verhandlung hat der Beschuldigte Anspruch auf einen Dolmetscher115. Gemäß § 259 StPO müssen einem der Gerichtssprache nicht mächtigen Angeklagten aus den Schlussvorträgen mindestens die Anträge des Staatsanwalts und des Verteidigers durch den Dolmetscher bekannt gemacht werden. Umgekehrt müssen die eigenen Erklärungen des Angeklagten dem Gericht unter Umständen wörtlich übertragen oder durch eine Inhaltsangabe verständlich werden 116. Das Beispiel von Hilger, wonach der Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO nicht erlassen werden darf, sofern die „organisatorischen Voraussetzungen für die Durchführung einer umfangreichen Beweisaufnahme“ innerhalb der Wochenfrist nicht getroffen werden können 117, ist freilich ungenau gewählt. Ist eine „umfangreiche Beweisaufnahme“ erforderlich, kommt es in aller Regel auf Fragen der Organisation 111 Für Meyer-Goßner, StPO (2003), §127 b Rdn. 9, ist das durch §127 b StPO gesicherte beschleunigte Verfahren jedoch i. d. R. „nur in Großstädten praktikabel“. Insbesondere in Berlin (46 Fälle) und Bremen (39 Fälle) wird § 127 b StPO jedoch kaum angewandt; vgl. hierzu oben Einf., 2. Abschn. 112 Darauf weist Asbrock, StV 1997, 43, 45, zutreffend hin. 113 Vgl. § 185 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 GVG. 114 Da sich die Taten hier häufig durch behördliche Erklärungen nachweisen lassen Loos/ Radtke, NStZ 1995, 569, 571 m. w. N. Voraussetzung ist jedoch, dass die Behörden tatsächlich die Erklärungen unverzüglich abgeben. 115 Vgl. nur BVerfG, NJW 1988, 1462, 1464 („Völkergewohnheitsrecht“). 116 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 259 Rdn. 1. 117 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 10.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

nicht mehr an, da die Sache für das beschleunigte Verfahren ungeeignet sein wird. Die Geeignetheit der Sache ist eine wesentliche Voraussetzung für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens gemäß §§ 417 ff. StPO und demnach auch für eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO. Ist die Sache umfangreich, ist § 127 b StPO unanwendbar. VI. Die „Entscheidung im beschleunigten Verfahren“ gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO 1. Die Geeignetheit der Sache gemäß § 417 StPO Während gemäß § 212 StPO (a. F.) die Staatsanwaltschaft „Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren“ stellen konnte, „wenn der Sachverhalt einfach und die sofortige Aburteilung im beschleunigten Verfahren möglich“ war, bestimmt nun § 417 StPO als zentrale Voraussetzung die Geeignetheit der Sache. Die „Straffung und Verkürzung“ der Hauptverhandlung und der „Entlastungseffekt für die Richter“ 118 können nur dann angestrebt werden, wenn die Sache zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens „geeignet“ ist. Die Geeignetheit der Sache konkretisiert sich gemäß § 417 StPO über die Merkmale „einfacher Sachverhalt oder klare Beweislage“ 119. Beide Komponenten müssen nicht kumulativ vorliegen. Das ergibt sich aus dem klaren Wortlaut („oder“). Jedoch dürfte ein schwieriger Sachverhalt nur selten mit einer einfachen Beweislage und umgekehrt ein einfacher Sachverhalt nur selten mit einer schwierigen Beweislage einhergehen. In der Regel wird daher auch § 127 b StPO praktisch nur dann anwendbar sein, wenn beide Eignungsalternativen des § 417 StPO vorliegen, ohne dass beide im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO i.V. m. § 417 StPO gemeinsam vorliegen müssten 120. a) Generelle Kritik an der „Geeignetheit“ Die Möglichkeit einer Geeignetheit der Sache aufgrund einfachen Sachverhalts wird zum Teil kategorisch abgelehnt 121. Die Erforschung der Persönlichkeit des Beschuldigten und die zu beachtenden Strafzumessungsgesichtspunkte des § 46 Vgl. BT-Drucksache 12/6853, S. 34 f. Ursprünglich war vorgesehen, allein die „Geeignetheit der Sache“ – ohne „einfacher Sachverhalt oder klare Beweislage“ – als Voraussetzung des §417 StPO zu normieren; vgl. BTDrucksache 12/6853. 120 Vgl. im Zusammenhang zur Hauptverhandlungshaft nur Keller, Kriminalistik 1998, 677, 678; vgl. zum beschleunigten Verfahren König/Seitz, NStZ 1995 1, 4, und i.d. S. auch Sprenger, NStZ 1997, 574, 574 f., sowie Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 572. 121 Vgl. zum Folgenden eindringlich Herzog, ZRP 1991, 125, 129; Scheffler, NJW 1994, 2191, 2192, und ders., NJ 1999, 113, 114 ff., wobei es in den dort geschilderten Beispielen für – nach Ansicht Schefflers – rechtswidrige beschleunigte Verfahren nicht um § 127 b StPO geht. 118 119

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Abs. 2 StGB ließen es generell nicht zu, einen Sachverhalt als „einfach“ zu bezeichnen. Einfache Sachverhalte könnten rechtsstaatlich nicht existieren. Sie konstituierten sich lediglich durch eine selektive und eben nicht durch eine umfassende Darstellung. Diese sei jedoch im Strafverfahrensrecht verlangt und keine oberflächliche und „einfache“. Rechtsstaatlichkeit spreche gegen Einfachheit und damit auch gegen die Anwendung des beschleunigten Verfahrens. Die Folge davon wäre, dass auch im Rahmen des § 127 b StPO ein Sachverhalt nicht als „einfach“ eingestuft werden könnte. Die Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft könnten rechtsstaatlich nicht bejaht werden, wenn sie im Zusammenhang mit rechtsstaatswidrigen Voraussetzungen eines insgesamt rechtsstaatswidrigen beschleunigten Verfahrens stünden. Die Hauptverhandlungshaft könnte nie rechtmäßig zur Anwendung kommen, wenn das Vorliegen unrechtmäßiger Voraussetzungen an eine unrechtmäßige Verfahrensart geknüpft wäre. Davon ist jedoch nicht zwingend auszugehen. Ist die Voraussetzung „einfacher Sachverhalt“ rechtswidrig, zieht dies nicht notwendig die Unzulässigkeit eines ganzen Verfahrenstyps nach sich 122. Der Zusammenhang aller Bestandteile des Verfahrens im rechtsstaatlichen System macht erst die Rechtsstaatlichkeit oder die Rechtswidrigkeit des beschleunigten Verfahrens an sich aus. Dem beschleunigten Verfahren – und demnach auch der Hauptverhandlungshaft – wohnt zwar grundsätzlich eine „oberflächlichere Betrachtungsweise der Wahrheit“ inne als dem geregelten Verfahren. Der Gesetzgeber stellt im beschleunigten Verfahren an die Wahrheit bewusst niedrigere Ansprüche. Ansporn der Durchführung ist die erreichbare Beschleunigung. Sie wird im Wesentlichen durch den Wegfall des Zwischenverfahrens gemäß § 418 Abs. 1 StPO und die Beschränkung der Beweisaufnahme gemäß § 420 StPO angestrebt. Andererseits kann jedoch die Ermittlung des Sachverhalts im beschleunigten Verfahren unter Umständen auch eher die Wahrheit aufdecken als das im Rahmen des Regelverfahrens der Fall wäre. Zu denken ist beispielsweise an eine einfache Körperverletzung (§ 223 StGB), die eine Person einer anderen zufügt. Nichts würde gegen die Zulässigkeit einer schnellen Verurteilung sprechen, wenn der Beschuldigte autonom ein wahrheitsgetreues Geständnis ablegt, dass vielleicht zudem noch in Übereinstimmung mit den unmittelbaren Beobachtungen mehrerer Polizeibeamter steht. Gegen die Rechtsstaatlichkeit des beschleunigten Verfahrens würde allemal dann nichts sprechen, wenn zudem der Beschuldigte selbst eine schnelle Verurteilung wünscht, um den Belastungen eines längeren Prozesses zu entgehen. Trotz der juristisch nur schwer zu beschreibenden „rechtlichen“ Einfachheit des Sachverhalts, aber aufgrund der „tatsächlichen“ Einfachheit wäre die schnelle Aburteilung dieser Tat im beschleunigten Verfahren rechtmäßig möglich. Demnach existieren „einfache Sachverhalte“. Das gilt, obwohl die dezidierte Betrachtung der 122 So kann Herzog, ZRP 1991, 125, 129, verstanden werden. Für ihn ist das gesamte beschleunigte Verfahren politisch motiviert, von Opportunitätserwägungen bestimmt und demnach nicht rechtsstaatlich.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Strafzumessungsgesichtspunkte des § 46 Abs. 2 StGB im eigentlichen Sinne meist nicht „einfach“ und nicht „leicht“, sondern eher „kompliziert“ und „schwierig“ ist. Dass es aber auch Fälle gibt, in denen die Strafzumessungsgesichtspunkte vergleichsweise eher einfach zu beurteilen sind, zeigt der Umgang der Praxis mit dem Strafbefehlsverfahren 123. Dort werden in der Regel keine Hauptverhandlungen durchgeführt. Das Verfahren kann seinen Abschluss finden und der Beschuldigte angemessen bestraft werden, ohne dass sich ein Richter einen persönlichen Eindruck von der Persönlichkeit des Täters gemacht hat. Herzog und Scheffler lassen sich schließlich auch so interpretieren, dass schon die „Idee einer beschleunigten Verfahrensdurchführung“ außerhalb der Formen des Regelverfahrens verfassungswidrig ist 124. Es ist jedoch nicht ersichtlich, aus welcher Norm oder aus welchem Verfassungsgrundsatz eine generelle Verfassungswidrigkeit abgeleitet werden kann. Soweit erkennbar, hat sich bisher noch kein Gericht mit der Unwirksamkeit der §§ 417 ff. StPO im Sinne einer generellen „Unwirksamkeit des Verfahrens an sich“ befasst. Zwar verlangen Effektivierungen zu Lasten der Beschuldigteninteressen immer umfassende und kritische Betrachtungen. Das Rechtsstaatsprinzip verschließt sich gegenüber Vereinfachungen jedoch nicht von vornherein. Die Ausgestaltung des beschleunigten Verfahrens mag zwar bedenkliche Tendenzen erkennen lassen. Darauf machen auch Bandisch, Wächtler und Hamm zu Recht aufmerksam 125. Diese Bedenken scheinen mit Schefflers Schilderungen aus der Rechtspraxis in Brandenburg nachhaltig belegt 126. Zu prüfen wäre jedoch, ob die dort beschriebene Unrechtsstaatlichkeit – diese vorausgesetzt – in der Idee der Verfahrensbeschleunigung außerhalb des Regelverfahrens, in der Ausgestaltung einzelner Vorschriften der §§ 417 ff. StPO oder in der Ungeeignetheit des beschleunigten Verfahrens in den konkret geschilderten Fällen ihre Ursache hat. Soweit Anzeichen der Verfassungswidrigkeit einzelner Regelungen bestehen, ergibt sich daraus noch nicht die „globale“ Verfassungswidrigkeit der Verfahrensart. Verfassungsrechtlich bedenkliche Regelungen, wie etwa § 418 Abs. 1 1. Alt. StPO, wonach die Hauptverhandlung „sofort“ durchgeführt werden darf, können durch „Einzelkorrekturen“ 127 verfassungskonform ausgelegt werden 128. 123 Nach Heinz, ZStW 111 (1999), 462, 473, lag von 1983 bis 1997 der Anteil der anklagefähigen Ermittlungsverfahren, in denen durch die Staatsanwaltschaft ein Strafbefehl beantragt wurde, zwischen 28,5 % und 32.9 %. 124 Vgl. wieder Herzog, ZRP 1991, 125, 129; Scheffler, NJW 1994, 2191, 2192, sowie ders., NJ 1999, 113, 114 ff. Ders., NStZ 1999, 268, 269, betont, dass er dem „beschleunigten Verfahren grundsätzlich nach wie vor strikt ablehnend gegenübersteht“. 125 Vgl. auch Bandisch, StV 1994, 153, 157; Wächtler, StV 1994, 159, 159; Hamm, StV 1994, 456, 458. 126 Vgl. Scheffler, NJ 1999, 113, 114 ff. 127 Den Begriff verwenden Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 52.

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Das beschleunigte Verfahren ist demnach nicht pauschal rechtswidrig 129. Das gilt bei isolierter Anwendung der §§ 417 ff. StPO wie auch im Rahmen des § 127 b StPO. Es ergibt sich folglich keine Unanwendbarkeit des § 127 b StPO aus dem Bezug zu einer vermeintlich verfassungswidrigen Verfahrensart oder zu vermeintlich unrechtsstaatlichen Verfahrensvoraussetzungen. Die „Geeignetheit der Sache aufgrund einfachen Sachverhalts“ ist auch eine bestimmbare Voraussetzung. Der Begriff ist keine, wie Neumann meint, „nichtssagende Formulierung“ 130. Die „Geeignetheit der Sache“ lässt sich konkretisieren. Es sind Kriterien erkennbar, die einen „einfachen Sachverhalt“ ausmachen.

b) Kriterien eines „einfachen Sachverhalts“ Nach gängigen Umschreibungen ist der Sachverhalt im Sinne des § 417 StPO „einfach“, wenn er von den Verfahrensbeteiligten tatsächlich „leicht überschaubar“ ist 131 und somit „leicht aufgeklärt“ 132 werden kann. Damit ist zunächst zwar lediglich ein vager Begriff durch zwei andere Termini mit weitem Beurteilungsspielraum ersetzt. Dennoch ist die Umschreibung weiterführend. Sie impliziert Relationen, wonach ein einfacher Sachverhalt wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher zu bejahen ist. So sind bestimmte Beteiligungs- und Erfolgsformen des materiellen Rechts grundsätzlich leichter überschaubar als andere. Handelt nur ein Täter, dem auch nur eine Tat vorgeworfen wird, ist die Sache leichter zu überblicken, als wenn mehrere am Geschehen teilnehmen. Je mehr Beteiligte an einer Tat mitwirken und je mehr Straftaten angezeigt sind, desto schwieriger ist eine Sache aufklärbar133. Bei Wiederholungstätern ist schließlich die Täterpersönlichkeit gemäß § 46 Abs. 2 StGB oftmals nur schwer zu erforschen 134. 128 Vgl. Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 47 ff. m. z. w. N. und S. 51 f., wonach – entgegen dem Wortlaut des § 418 Abs. 1 S. 2 StPO – ohne Einhaltung einer Ladungsfrist nur mit dem Einverständnis des Beschuldigten verhandelt werden darf. 129 Im Ergebnis auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 75, allerdings mit der Begründung, einem „dringenden Bedürfnis, der Überlastung der Gerichte entgegenzuwirken“. Dies ist allenfalls ein praktisches Argument für Effektivität, besagt jedoch noch nichts über die eigentliche Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. 130 Neumann, StV 1994, 273, 276. 131 Vgl. KMR-Metzger, StPO (Stand: 2000), § 417 Rdn. 16; Siehe auch § 147 Abs. 1 S. 2 RiStBV. Nach K.-H. Lehmann, DRiZ 1970, 287, 287, war der Sachverhalt i. S. d. § 212 (a. F.), einfach, wenn sich der Deliktsablauf „unschwer rekonstruieren“ ließ. 132 Vgl. Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 80, der wohl über die „leichte Aufklärbarkeit“ die Verbindung zwischen den Eignungsvarianten „einfacher Sachverhalt“ und „klare Beweislage“ sieht. 133 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 417 Rdn. 15. 134 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S.79 m. w. N. u. a. auf Schünemann, NJW 1968, 975, 976.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Vergleichsweise einfach zu überschauen sind Erfolgsdelikte. Bei konkreten Gefährdungsdelikten wird in der Regel ein einfacher Sachverhalt ausscheiden. Eine Sachlage, aus der ein abstraktes Gefährdungsdelikt zu bejahen ist, kann hingegen kaum einfach sein. Bei diesen Delikten liegt meist schon der eigentliche, tatsächliche Erfolg einer Rechtsgutsverletzung alles andere als „überschaubar“ auf der Hand. Diese Sachverhalte sind schon im Regelverfahren nur schwer zu überblicken. Darüber hinaus ist strafbares Tun leichter zu erkennen als Unterlassen. Die Möglichkeit der Erfolgsabwendung muss bei der Prüfung eines Begehungsdelikts nicht hypothetisch rekonstruiert werden. Auch entfällt die Überprüfung äußerer und innerer Merkmale der Garantenstellung und der Garantenpflicht. Generell mangelt es an Überschaubarkeit je mehr innere Entschlüsse für die Strafbarkeit erforscht werden müssen 135. Diese liegen der Natur der Sache nach mehr „im Verborgenen“. Oder anders formuliert: „Die innere Seite der Tat“ ist verdeckter als die äußere. Geht es also um eine Versuchsstrafbarkeit oder etwa um feine Abgrenzungen zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit, müssen objektive Kriterien der wahrscheinlichen Tatbegehung oft bis in Einzelheiten ausgelotet werden. Nur so lassen sich Rückschlüsse auf die Willensbildung des Beschuldigten ziehen. Das gilt vor allem dann, wenn dieser sich zum Tatvorwurf nicht einlässt. Zeigt sich der Verdächtige hingegen geständig, wird die Einfachheit der Sachlage mitunter erkannt werden können 136. Zwingend spricht ein Geständnis jedoch nicht für Einfachheit. Jedes Geständnis kann unrichtig sein. Ob rechtliche Zweifelsfragen die Einfachheit des Sachverhalts gemäß § 417 StPO beeinflussen, ist umstritten. Die wohl überwiegende Ansicht verneint dies, wenn auch nicht kategorisch. Danach berühren rechtliche Schwierigkeiten die Einfachheit des Sachverhalts „im Allgemeinen nicht“ 137. Neumann geht einen Schritt weiter. Nach seiner Ansicht „soll“ das beschleunigte Verfahren – nach dem Willen des Gesetzgebers – „unter bestimmten Umständen auch in tatsächlich und rechtlich schwierig gelagerten Fällen zur Anwendung kommen“ 138. Er stützt seine Ansicht auf die Gesetzesbegründung. Danach „muss“ das beschleunigte Verfahren „insbesondere“ in tatsächlich „oder“ rechtlich einfach gelagerten Fällen ermöglicht werden 139. Nach anderer Meinung muss die Sache auch in der Anwendung des materiellen Rechts leicht aufklärbar sein. Denn sobald sich der Fall als materiell-rechtlich schwierig darstellt, provoziere dies die Einlegung von Rechtsmitteln. Der Beschleunigungszweck des Verfahrens sei nicht erreichbar, wenn schwierige materiell-rechtliche Fragen zur Lösung anstünden 140. Vgl. allgemein Dähn, in: FS-Baumann (1992), S. 349, 354. Vgl. § 146 Abs. 1 S. 1 RiStBV. 137 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 417 Rdn. 15 m. w. N. auf LR-Gössel, StPO (Stand: 2000), § 417 Rdn. 27 („grundsätzlich nicht“). Anderer Ansicht sind etwa Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 572. 138 So Neumann, StV 1994, 273, 276, den weiten Anwendungsbereich des Verfahrens kritisierend. 139 BT-Drucksache 12/6853, S. 34. 135 136

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Letztgenanntes Argument spricht zwar dafür, § 127 b StPO im Falle rechtlicher Zweifelsfragen nicht anzuwenden. Rechtliche Schwierigkeiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Rechtsmitteln. Das spricht gegen die Intention des Gesetzgebers, das Verfahren schnell durchzuführen. Die Strafe kann dann dem Betroffenen von vornherein nicht mehr schnell „auf den Fuß folgen“. Die Nichtanwendbarkeit des § 127 b StPO ergibt sich jedoch nicht zwingend allein aus der Ungeeignetheit der Sache gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 417 StPO. Sie ergibt sich bedeutender aus § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO. Rechtliche Zweifelsfragen können den dringenden Tatverdacht entfallen lassen. Dann ist § 127 b StPO nicht anzuwenden. Der Richter kann bei zweifelhafter Rechtslage die Auslegung einer Strafbarkeitsvoraussetzung nicht offen lassen und dennoch dringenden Tatverdacht annehmen 141. Angesichts des gewichtigen Eingriffs in die Freiheitsrechte des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG ist es nicht einzusehen, weshalb eine schwierige, leicht zu Fehlern führende rechtliche Prüfung derart zu Lasten des Beschuldigten gehen darf, dass eine rechtswidrige Inhaftierung leicht in Kauf genommen werden kann. Das Argument „mögliche Rechtsmittel stehen dem Beschleunigungszweck entgegen“, tritt hinter diesen Ansatz zurück. c) Kriterien einer „klaren Beweislage“ Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Geeignetheit der Sache aufgrund klarer Beweislage nur dann gegeben sein, wenn ein einfacherSachverhalt“ nicht bejaht werden kann 142. Eine klare Beweislage liegt nach üblicher Formulierung vor, wenn „der Beschuldigte geständig ist oder genügende und sichere Beweismittel zur Verfügung stehen“ 143. Da bei einer klaren Beweislage in der Regel auch die Geeignetheit aufgrund eines einfachen Sachverhalts gegeben ist 144, hat die Voraussetzung „klare Beweislage“ kaum eigenständige Bedeutung. Denkbar ist jedoch die Behandlung einer objektiv schwierigen Sachlage, deren leichte Aufklärung der Beschuldigte durch ein Geständnis ermöglicht 145. Voraussetzung ist dann aber, dass keine Anhaltspunkte bestehen, wonach das Geständnis nicht der Wahr140 Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 572. So auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 78 f. Vgl. auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1996), § 417 Rdn. 13, wonach es sich bei einer „komplexen Rechtslage“ schon sprachlich verbietet, von einem „einfachen Sachverhalt“ zu reden. Siehe zur Intention des beschleunigten Verfahrens wieder BT-Drucksache 12/6853, S. 34 f. 141 Vgl. hier nur LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 18. 142 BT-Drucksache 12/6835, S. 35. 143 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 417 Rdn. 16. I. d. S. auch Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 77. Nach Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 80, ist eine klare Beweislage zu verneinen, „wenn schon die Staatsanwaltschaft mit einem erhöhten Aufwand an Beweismitteln arbeiten muß“. 144 Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 573. 145 Nach Nr. 146 Abs. 1 RiStBV ist vor allem dann im beschleunigten Verfahren abzuurteilen, „wenn der Beschuldigte geständig ist“ (oder andere Beweismittel zur Verfügung stehen).

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

heit entsprechen könnte. Sobald es weiterer Beweiserhebungen bedarf, um die Wirksamkeit des Geständnisses zu überprüfen, ist die Sache für das beschleunigte Verfahren ungeeignet: Dann ist sowohl die Sachlage schwierig als auch die Beweislage unklar. Die Eignungsvariante „klare Beweislage“ scheint in gewissem Sinne die Qualität einer Strafbarkeitsprognose mit zu beschreiben. Das ist beispielsweise der Formulierung von Fülber zu entnehmen. Die Geeignetheit aufgrund klarer Beweislage liegt danach vor, wenn „genügende und sichere Beweismittel zur Verfügung stehen, die nach der pflichtgemäßen Überzeugung des Gerichts einen dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechenden Schuldspruch rechtfertigen könnten“ 146. Systematische Konflikte zwischen § 417 StPO und dem dringenden Tatverdacht gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO sind mit dieser Formulierung offensichtlich. Die Überschneidung zwischen den Voraussetzungen „dringender Tatverdacht“ und „Geeignetheit aufgrund klarer Beweislage“ ist deutlich zu erkennen. Das Verständnis vom Merkmal „klare Beweislage“ als Prognosegrundlage für die Strafbarkeit kann bedeuten, dass in den Fällen, in denen die Sache aufgrund einer klaren Beweislage für das beschleunigte Verfahren geeignet ist, dringendem Tatverdacht im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO kaum mehr eine gesonderte Bedeutung zukommt. Liegt bei einem schwierigen Sachverhalt eine klare Beweislage vor, wird diese weitestgehend die Annahme einer über den dringenden Tatverdacht hinausgehenden Strafbarkeitswahrscheinlichkeit erlauben. Die Strafbarkeit zeigt sich aufgrund einer klaren Beweislage im Sinne des § 417 StPO jedenfalls dann „äußerst wahrscheinlich“, wenn die Fälle, in denen die klare Beweislage eine eigenständige Bedeutung hat, „Geständnisfälle“ sind. Bei einem „genügend sicheren Geständnis“ ist in der Regel die Strafbarkeit sehr deutlich zu prognostizieren. Die Strafbarkeitsprognose aufgrund der Würdigung einer klaren Beweislage überlagert so die Prüfung des dringenden Tatverdachts. Die zur Prognose nach § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO benötigten Beweistatsachen müssen nur insoweit vorliegen, als dass sich Strafbarkeit „aufdrängt“, während § 417 StPO „genügend sichere“ Beweismittel erfordert, die die Strafbarkeit des Beschuldigten „überzeugend darlegen“. Alles, was nicht „genügend sicher“ erscheint, kann im Rahmen der Auslegung des Geständnisses zur Begründung der Geeignetheit der Sache aufgrund einer klaren Beweislage nicht verwendet werden. Es spielt dann auch bei der aufgrund des dringenden Tatverdachts durchgeführten Strafbarkeitsprognose keine eigenständige Rolle mehr. § 127 b StPO ist zu verneinen, da die Sache nicht geeignet ist, und nicht, weil kein dringender Tatverdacht vorliegt. Ist die Strafbarkeitsprognose in § 417 StPO verortet, hat die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO tatsächlich kaum eigenständige Bedeutung. In den Geständnisfällen bleibt die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ jedoch für eine Nichtanwendbarkeit des § 127 b StPO wegen rechtlicher Zweifelsfra146

Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 55.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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gen relevant. „Rechtliche“ Zweifel lassen die Klarheit der Beweislage insoweit bestehen, es sei denn, sie beziehen sich unmittelbar auf die zweifelhafte Gewinnung oder Verwertbarkeit eines Beweises.

2. Die Geeignetheit der Sache „im weiteren Sinne“ Neben der Geeignetheit der Sache aufgrund eines einfachen Sachverhalts oder einer klaren Beweislage muss die Sache auch im weiteren Sinne zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens geeignet sein. Dies umfasst einmal die Beachtung der maximal möglichen Sanktion, die im beschleunigten Verfahren verhängt werden kann. Ebenso bedeutsam ist die Nichtanwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens gegenüber bestimmten Beschuldigtengruppen sowie im Privatklageverfahren. Gehen dem beschleunigten Verfahren mildere Erledigungsoptionen vor, folgt daraus ebenfalls die Unzulässigkeit der Hauptverhandlungshaft. Nur bei umfassender Geeignetheit im weiteren Sinne kann § 127 b StPO zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens anwendbar sein 147.

a) Die Begrenzungen gemäß § 419 Abs. 1 S. 2, 3 StPO Gemäß § 419 Abs. 1 S. 2 StPO ist das beschleunigte Verfahren nur dann im weiteren Sinne geeignet, sofern keine höhere Freiheitsstrafe als ein Jahr und – bis auf die Entziehung der Fahrerlaubnis – keine Maßregel der Besserung und Sicherung gemäß §§ 61 ff. StGB zu erwarten ist. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist ohne zeitliche Beschränkung möglich. Sofern das Gericht der Ansicht ist, dass der Reaktionsrahmen des § 419 StPO nicht ausreicht, kann das beschleunigte Verfahren nicht angewendet werden. Dann kann auch der Hauptverhandlungshaftbefehl nicht verhängt werden. Der Rahmen des § 419 Abs. 1 StPO darf auch bei der Gesamtstrafenbildung gemäß §§ 53, 54 StGB nicht überschritten werden 148. Die Gesamtstrafenbildung dürfte im beschleunigten Verfahren jedoch weniger praktische Relevanz haben. Der Sachverhalt wird dann in der Regel nicht mehr einfach und die Beweislage nicht mehr klar sein. Im Sinne des § 53 Abs. 1 StGB müssen mehrere begangene Straftaten gleichzeitig abgeurteilt werden. 147 Von der umfassenden Prüfungspflicht ging auch der Gesetzentwurf aus, vgl. BT-Drucksache 12/6853, S. 35. 148 Dies ist – soweit ersichtlich – einhellige Meinung. Vgl. hierzu nur KMR-Metzger, StPO (Stand: 2000), § 419 Rdn. 5, wonach die strikte Strafrahmenbegrenzung auch für Fälle des § 55 StGB gelten soll. Auch nach BGHSt 35, 251, 254 („Gesamtfreiheitsstrafe mit Rücksicht auf § 212 Abs. 1 S. 2 StPO a. F.“), darf der Strafrahmen nicht überschritten werden. Nach Köckerbauer, NJW 1990, 170, 171, bezieht sich die Strafrahmenbegrenzung auf Einzelstrafen für die Taten, wegen derer das beschleunigte Verfahren eingeleitet worden ist. Vgl. zu den Ansichten im Einzelnen Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 85 ff., und auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1996), § 419 Rdn. 4.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

b) Weitere Fälle der Ungeeignetheit Gemäß § 79 Abs. 2 JGG ist das beschleunigte Verfahren gegenüber Jugendlichen unzulässig. An seine Stelle tritt das vereinfachte Jugendverfahren gemäß § 76 ff. JGG. Heranwachsende betrifft die Unzulässigkeit auch dann nicht, wenn Jugendstrafrecht Anwendung findet 149. Der Hauptverhandlungshaftbefehl kann folglich nicht gegenüber Jugendlichen, wohl aber gegenüber Heranwachsenden verhängt werden. Im Privatklageverfahren gemäß §§ 374 ff. StPO sind die §§ 417 ff. StPO nicht anwendbar. Dort übernimmt der Private zwar die Klägerrolle, nicht jedoch die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft, spezielle Verfahrensarten zu beantragen 150. Die Entscheidung, ob ein Privatklageverfahren in Betracht kommt, obliegt im Sinne des § 376 StPO allein der Staatsanwaltschaft. Das beschleunigte Verfahren ist darüber hinaus nicht gegenüber Mitgliedern einer Truppe oder eines zivilen Gefolges eines NATO-Entsendestaates anwendbar. Das gilt konsequent auch für § 127 b StPO. Die Geeignetheit verbietet sich schließlich gegenüber Angehörigen der Mitglieder. Dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 27 NTS-ZS – dem „Zusatzabkommen zum Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen“.

c) Der Vorrang anderer Verfahren aa) Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Das Gesetz stellt zur Behandlung kleinerer und mittlerer Kriminalität ein vielfältiges Spektrum spezieller Erledigungsarten zur Verfügung. Neben dem beschleunigten Verfahren sind das Absehen von der Verfolgung wegen Geringfügigkeit gemäß § 153 StPO zu nennen, die Einstellungsmöglichkeiten gemäß § 153 b StPO und die Regelungen über den Täter-Opfer-Ausgleich gemäß § 46 a StGB, die Einstellung des Verfahrens bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen gemäß § 153 a StPO sowie das Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 ff. StPO. Konkurrenzregelungen, nach denen sich die An- oder Unanwendbarkeit einer speziellen Verfahrensart gegenüber dem Normalverfahren oder der Optionen untereinander im Sinne eines Rangverhältnisses bestimmt, sieht das Gesetz nicht ausdrücklich vor 151. Den zuständigen Entscheidungsträgern steht anerkanntermaßen ein ErmesVgl. Keller, Kriminalistik 1998, 677, 678, sowie die §§ 1 Abs. 2, 109 JGG. So auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 73. 151 Nach solchen fragen Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 569. Diese zu fordern, erscheint jedoch – bei allen bestehenden Unsicherheiten und Gefahren von Ungleichbehandlungen – sehr problematisch. Die individualisierende Tendenz einer Ermessensentscheidung, die schnelle Reaktionen der Rechtsanwender auf sich ändernde Umstände erst ermöglicht, ist nur sehr schwer mit „Vorbestimmungen“ in Einklang zu bringen. Siehe hierzu Kunz, Einstellung wegen 149 150

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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sensspielraum zu, nach dem sie zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Verfahrenserledigung auswählen können 152. Zur Frage, wie dieser Ermessensspielraum auszufüllen ist, erweist sich ein Blick in die Begründungen des Gesetzgebers zu den einzelnen Optionen nicht als sonderlich hilfreich. Nach dessen Willen soll dem im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes eingeführten Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des § 46 a StGB ein „größeres Gewicht als bisher“ eingeräumt werden 153. Mit der am 28.12.1999 in Kraft getretenen „Flexibilisierung“ des Katalogs von § 153 a Abs. 1 StPO verfolgt der Gesetzgeber ebenfalls das Ziel, dem Täter-Opfer-Ausgleich einen breiteren Anwendungsbereich zu verschaffen 154. Wie und bei welchen Fallkonstellationen ein „größeres Gewicht“ auf § 46 a StGB liegen soll, wird nicht dargetan. Im Zusammenhang mit der Neuregelung des beschleunigten Verfahrens gibt der Gesetzgeber immerhin zu erkennen, dass das beschleunigte Verfahren weder in den Anwendungsbereich der §§ 153 ff. StPO noch des Strafbefehlsverfahrens gemäß §§ 407 ff. StPO eingreifen soll 155. Konkrete Darlegungen zum Verhältnis der Anwendungsbereiche einzelner Reaktionsmöglichkeiten lassen die Ausführungen jedoch vermissen. Obwohl die genannten Äußerungen kaum weiterführend sind, kann die Reichweite des Anwendungsbereichs für das beschleunigte Verfahren und damit auch des § 127 b StPO dennoch skizziert werden. Typisierungen lassen sich zumindest ansatzweise über die Betrachtung der Voraussetzungen der Erledigungsarten und der jeweils feststehenden Sanktionsrahmen vornehmen. Darüber hinaus ist für die Bestimmung eines Rangverhältnisses das Verhältnismäßigkeitsprinzip entscheidend. Danach ist zu beurteilen, ob eine Sache im weiteren Sinne für das beschleunigte Verfahren geeignet oder ungeeignet ist. Ist sie ungeeignet, ist auch die Hauptverhandlungshaft eine ungeeignete Zwangsmaßnahme. Jeder Eingriff in Beschuldigteninteressen muss geeignet und erforderlich sein, einen bestimmten Zweck zu erreichen. Der Zweck der hoheitlichen Maßnahme darf zudem nicht außer Verhältnis zu den Belastungen der Beschuldigtenrechte stehen 156. Dies ergibt sich aus dem Geringfügigkeit (1980), S. 19, der im Bereich der Bagatellkriminalität (sogar) eine Sperrung gegen „jegliche Vorbestimmung“ erkennt. Die „pauschale Gängelung des Rechtsanwenders“ hält ders., a. a. O. S. 20, jedoch gleichwohl (und zu Recht) für „ebenso unsachgemäß wie die völlige Orientierungslosigkeit bei der Einzelfallentscheidung“. 152 Zum Ermessen im Rahmen von § 153 und § 153 a StPO (a. F.) vgl. deutlich Kunz, Einstellung wegen Geringfügigkeit (1980), S. 14 f. 153 Vgl. BT-Drucksache 12/6853, S. 21. 154 Vgl. BGBl. I, S. 2491, BT-Drucksache 14/1928, S. 1, und Britz/Jung, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 307, 311 ff., insbesondere zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Öffnung des Katalogs von § 153 a StPO. 155 BT-Drucksache 12/6853, S. 35; König/Seitz, NStZ 1995, 1, 4. 156 Die „Geeignetheit der Sache im weiteren Sinne“ meint im Zusammenhang mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens also nicht nur die so genannte „erste Stufe“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wonach hoheitliche Maßnahmen „geeignet“ sein müssen, einen 10 Giring

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Rechtsstaatsprinzip und der Gesamtheit der Grundrechte. Der Weg der Entscheidungsfindung muss möglichst grundrechteschonend sein 157. Als Optionen zum beschleunigten Verfahren kommen die Erledigungsarten in Betracht, die eine effektive und gleichermaßen rechtsstaatlich-grundrechtskonforme Behandlung des Beschuldigten gewährleisten 158. Von vornherein steht lediglich fest, dass das beschleunigte Verfahren offensichtlich nicht in Betracht kommt, wenn eine Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO zu erwarten ist. § 170 Abs. 2 StPO setzt voraus, dass kein hinreichender Tatverdacht gegeben ist. bb) Zur Einstellung wegen Geringfügigkeit gemäß § 153 StPO Gemäß § 153 Abs. 1 S. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft bei Vergehen vor Erhebung der Klage grundsätzlich mit Zustimmung des Gerichts159 von der Strafverfolgung absehen, wenn „die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht“ 160. Ist Klage bereits erhoben, so kann das Gericht gemäß § 153 Abs. 2 S. 1 StPO in jeder Lage des Verfahrens unter den Voraussetzungen des Abs. 1 mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen 161. Geringe Schuld im Sinne der Vorschrift verlangt, dass die Schuld im Vergleich zu Taten gleicher Art nicht unerheblich unter dem Durchschnitt liegt 162. Es ist also eine hypothetische Schuldbeurteilung erforderlich. Konkret muss die Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Schuld des Betroffenen als gering anzusehen wäre, ohne dass sie bewiesen sein muss 163. Wann dies der Fall ist, ist mit Absolutbestimmten Zweck zu erreichen. Darüber hinaus sind die Erforderlichkeit und die MittelZweck-Relation als Bestandteile des Verhältnismäßigkeitsprinzips obligatorisch zu beachten. 157 Vgl. hierzu nur wieder BVerfGE 19, 342, 348 f. („Tatschwere“), und auch die Schlussbetrachtung von Hirschberg, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1981), S. 245 ff. 158 Vgl. zur Übersicht den von Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 69 f., aufgezeigten „Leitstrahl zur Auswahl der Erledigungsart“. 159 Gem. § 153 Abs. 1 S. 2 StPO bedarf es der Zustimmung des Gerichts nicht bei einem Vergehen, das mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind. 160 Auf die Frage, ob § 153 StPO im Verfahren gegen Jugendliche von § 45 JGG verdrängt wird, braucht hier nicht eingegangen zu werden, da das beschleunigte Verfahren gem. § 79 Abs. 2 JGG gegenüber Jugendlichen nicht anwendbar ist. 161 Der Zustimmung des Angeschuldigten bedarf es gem. §153 Abs. 2 S. 2 StPO nicht, wenn die Hauptverhandlung aus den in § 205 StPO angeführten Gründen nicht durchgeführt werden kann oder in den Fällen des § 231 Abs. 2 StPO und der §§ 232 und 233 StPO in seiner Abwesenheit durchgeführt wird. 162 Vgl. Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 334; kritisch Boxdorfer, NJW 1976, 317, 318 f. Ist die Tat nicht straf- oder verfolgbar, oder handelt der Betroffene ohne Schuld, scheidet eine Anwendung des § 153 StPO aus; vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 Rdn. 3. Zum Merkmal der geringen Schuld vgl. auch näher Ranft, Strafprozeßrecht (1995), Rdn. 1146 ff. 163 BVerfGE NJW 1990, 2741, 2741 („zur Unschuldsvermutung bei § 153 Abs. 2 StPO“).

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heit kaum zu sagen. Jedoch müssen die Tatausführung, die Folgen der Tat, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Gesinnung, die Beweggründe und die Ziele des Beschuldigten 164 eine Sanktion im untersten Bereich des in Frage stehenden Sanktionsrahmens erwarten lassen 165. Bei den als Antragsdelikt ausgestalteten Bagatellfällen des Diebstahls und der Unterschlagung (§ 248 a StGB) sollen die Tatfolgen als gering anzusehen sein. Ebenso in Fällen des Betrugs (§ 264 Abs. 4 StGB), des Erschleichens von Leistungen (§ 265 a Abs. 3 StGB) und der Untreue (§ 266 Abs. 3 StGB) oder beispielsweise auch in Bagatellfällen der einfachen vorsätzlichen oder der fahrlässigen Körperverletzung (§§ 223, 229, 230 StGB), der Nötigung (§ 240 StGB) oder der Urkundenfälschung (§ 267 StGB) 166. Ob die Tatfolgen gering sind, richtet sich bei Vermögensdelikten maßgeblich nach dem entstandenen Schaden. Die Schadensgrenze ist bei ca. 35 bis 50 Euro zu sehen 167. Trotz geringer Schuld des Verdächtigen soll aus general- oder spezialpräventiven Gründen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht werden können 168. Hierbei soll nach Meyer-Goßner berücksichtigt werden, dass eine kriminelle Karriere oft mit Bagatelldelikten beginne 169. Der kriminologische Hintergrund soll ebenfalls beachtlich sein 170. Eine Einstellung kann danach als geboten erscheinen, um zu verhindern, dass „Ungesetzlichkeiten im Sozialleben erkennbar“ werden 171. Liegen die Voraussetzungen der geringen Schuld und des mangelnden öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung in angezeigtem Sinne vor, ist § 153 StPO anzuwenden. Die Sache ist dann für jede andere Erledigungsart und insbesondere auch für eine Erledigung im beschleunigten Verfahren ungeeignet. Auch wenn der Sachverhalt noch so einfach und die Beweislage noch so klar ist, ist das beschleunigte Verfahren dann keine geeignete Erledigungsart. Denn die Beschuldigteninteressen werden durch die Einstellung nach § 153 StPO weniger stark betroffen. Dies Vgl. die Grundsätze der Strafzumessung gem. § 46 Abs. 2 StGB. So Rieß, NStZ 1981, 2, 8. 166 Vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 Rdn. 16 f. 167 Vgl. Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 57 („100 DM“), mit Verweis auf die Rechtsverordnung des Bundesministeriums der Justiz v. 02.12.1985 (4100 – III A.133), die eine Schadensgrenze von 100 DM vorsieht, wenngleich sich „geringe Schuld“ nicht pauschaliert nach einer Schadenssumme bestimmt, sondern sich eben immer nur umfassend nach den Grundsätzen der Strafzumessung i.S. d. § 46 Abs. 2 StGB beurteilen lässt. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 Rdn. 17, gehen von „50 Euro“ aus. Vgl. Näheres zu Fällen geringer Tatfolgen von Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81, 83. 168 Boxdorfer, NJW 1976, 317, 319 f. 169 Vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 Rdn. 17 m. w. N. 170 KK-Schoreit, StPO (2003), § 153 Rdn. 25. 171 Boxdorfer, § NJW 1976, 317, 319; Hobe, in: FS-Leferenz, S. 629, 643 f. Zusammenfassend sollte die Anwendung des § 153 StPO nach Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 58, „idealiter“ dazu führen, dass der „Beschuldigte wie auch ein fiktiver durchschnittlicher Repräsentant der Bevölkerung aus der Entscheidung nicht Schwäche, sondern menschliches Verständnis abliest.“ 164 165

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

zeigt die Rechtsfolge des § 153 StPO. Das Verfahren nach § 153 StPO verzichtet auf eine formelle Sanktion. Es kommt lediglich zur „informellen Sanktion“ 172 durch das Verfahren selbst. Zu denken ist beispielsweise an Belastungen durch die Tatentdeckung oder etwa durch Reaktionen des sozialen Umfeldes nach Bekanntwerden der Tatermittlungen. Im Verhältnis zu § 153 StPO können Zweckerwägungen offensichtlich nicht für einen Vorrang der §§ 417 ff. StPO sprechen. Zum einen soll § 153 StPO – wie §§ 417 ff. StPO und wie auch § 127 b i.V. m. §§ 417 ff. StPO – der Prävention dienen. Es genüge „häufig bereits der Umstand (...), daß gegen ihn (den Beschuldigten) wegen einer Straftat ermittelt wurde“ 173, um weitere Taten zu verhindern. § 153 StPO dient vornehmlich der Justizentlastung und der Verfahrensbeschleunigung 174. Dieser Zweck wird durch die Einstellung des Verfahrens besser erreicht als durch dessen beschleunigte Durchführung. Auch wohnt der Einstellung weniger Stigmatisierung inne. Das Verfahren gemäß § 153 Abs. 1 S. 1 StPO kann abgeschlossen werden, ohne dass überhaupt eine Klage erhoben worden ist. Die Belastung des zuständigen Gerichts beschränkt sich auf eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage nach Aktenlage und auf die Zustimmung zur Einstellung. Daher kann auf einen steigenden Geschäftsanfall leicht durch eine Erhöhung der Einstellungsquote reagiert werden 175. Für die Verfolgung schwerwiegenderer Kriminalität wird Freiraum bewahrt und geschaffen. Mit vermehrter Anwendung des beschleunigten Verfahrens lässt sich nicht gleichwirksam reagieren. Die unverzügliche Hauptverhandlung innerhalb einer Woche im Sinne des § 127 b StPO erfordert allein aufgrund der Inhaftnahme des Beschuldigten im Verfahren ein sehr hohes Maß an Organisation. cc) Zum Absehen von Strafe gemäß § 153 b StPO und zum Täter-Opfer-Ausgleich gemäß § 46 a StGB Gemäß § 153 b Abs. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts unter den Voraussetzungen, unter denen das Gericht von Strafe absehen kann, von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen 176. Nach § 153 b Abs. 2 StPO kann das Gericht, nachdem die Klage bereits erhoben ist, mit Zustimmung Heinz, ZStW 11 (1999), 461, 479 f. Zum Präventionsgedanken in § 153 StPO siehe Schäfer, Praxis der Strafzumessung (2001), S. 2 ff., Rdn. 5. 174 Vgl. Herrmann, ZStW 96 (1984), 455, 469. 175 Aufgrund der Anpassungsfähigkeit an den Geschäftsanfall bezeichnet Kunz, Einstellung wegen Geringfügigkeit (1980), S. 29, die Einstellung gem. § 153 a StPO (a. F.) treffend als „Überlaufventil“. 176 Auf die Frage, ob § 153 b StPO im Jugendverfahren anwendbar ist oder durch die §§ 45, 47 JGG verdrängt wird, braucht nicht eingegangen zu werden, da § 127 b StPO i. S. d. § 79 Abs. 2 StPO gegenüber Jugendlichen keine Anwendung findet. Vgl. zu dem Streit Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 b Rdn. 5 m. w. N. 172 173

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen. Im Gegensatz zu § 153 StPO gilt § 153 b StPO auch im Verbrechensbereich. An die Stelle der in § 153 StPO konstituierten Voraussetzung der geringen Schuld tritt in § 153 b Abs. 1 und Abs. 2 StPO jeweils die Voraussetzung des Absehens von Strafe. Zudem darf kein öffentliches Verfolgungsinteresse bestehen 177; das fehlende öffentliche Verfolgungsinteresse ist also ein ungeschriebenes Merkmal. Im Verfahren nach § 153 b StPO wird ebenfalls auf eine formelle Sanktion verzichtet. Das macht die Anwendung des § 153 b StPO gegenüber einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren aus Verhältnismäßigkeitserwägungen grundsätzlich vorzugswürdig. Das Gericht kann beispielsweise bei tätiger Reue im Sinne des § 83 a StGB, bei Delikten zum Schutz der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, bei Fortführung einer verfassungswidrigen Partei (§ 84 Abs. 4, 5 StGB), der Verbreitung von Propagandamitteln (86 Abs. 4 StGB), der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (86 a Abs. 3 StGB), bei relativ geringfügigem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 4 StGB), bei der Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen (§§ 129 Abs. 5, 6; § 129 a Abs. 4, 5 StGB), bei der Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 139 Abs. 1 StGB) und bei Aussagedelikten (§§ 157, 158 Abs. 1 StGB) von Strafe absehen 178. Die Entscheidung, ob von Strafe abgesehen werden kann, wird allgemein unter Beachtung der Strafzumessungsgesichtspunkte des § 46 StGB gefällt 179. § 153 b StPO ist in direktem Zusammenhang mit dem Täter-Opfer-Ausgleich gemäß § 46 a StGB 180 zu sehen. Ein Beschuldigter wird sich in der Rechtsanwendung maßgeblich dann zu einem Täter-Opfer-Ausgleich bereit erklären, wenn ihm die Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 b StPO angeboten wird 181. Dies ist wiederum eher nur dann zu erwarten, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO nicht vorliegen. Dann ist die geringe Schuld des Täters nicht gegeben oder es fehlt das öffentliche Verfolgungsinteresse 182. Andererseits steht die Anwendung des TäterOpfer-Ausgleichs nicht unter der Bedingung einer möglichen Einstellung des Verfahrens. Ist die Verfolgung im öffentlichen Interesse, obwohl die Voraussetzungen für ein Absehen von Strafe vorliegen, greift § 153 b StPO nicht ein. Dann bleibt § 46 a StGB dem Normalverfahren vorbehalten. 177 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 b Rdn. 1. Insoweit gilt Entsprechendes wie zur Einstellung gem. § 153 StPO. 178 Vgl. zur Aufzählung Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 b Rdn. 1. 179 Vgl. Tröndle/Fischer, StGB (2003), § 46 a Rdn. 4, 7. 180 § 46 a StGB wurde, wie die Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz in die StPO eingeführt; Bernsmann, ZRP 1994, 329, 332. 181 Darauf verweisen zutreffend Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 60. 182 Zwingend schließen sich § 153 StPO und § 153 b StPO (wie auch § 153 a StPO) einander also nicht aus. Vgl. näher Meyer-Goßner, StPO (2003), § 153 b Rdn. 2, und – mit teilweise anderer Ansicht – LR-Beulke, StPO (Stand: 2002), § 153 b Rdn. 7, der die Problematik des Verhältnisses nach wie vor für „wenig geklärt“ hält.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Gemäß § 46 a StGB kann das Gericht von Strafe absehen, wenn der Täter zumindest eine Schadenswiedergutmachung ernsthaft erstrebt oder, wenn er das Opfer unter persönlichen Leistungen oder Verzicht zumindest zum überwiegenden Teil entschädigt 183. Ersteres bezieht sich eher auf die Wiedergutmachung immaterieller Schäden, Letzteres maßgeblich auf Vermögensschäden. § 46 a StGB ist anwendbar, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen verwirkt ist. Vom Strafrahmen aus besehen, liegt der Anwendungsbereich des § 46 a StGB also innerhalb des Rahmens, in dem auch das beschleunigte Verfahren gemäß § 419 Abs. 1 S. 2 StPO anwendbar ist. Demnach liegt er auch im Rahmen des § 127 b StPO. Dass der Täter-Opfer-Ausgleich gemäß § 46 a StGB dem beschleunigten Verfahren vorgeht, ergibt sich nicht zuletzt aus seinem Zweck. Erstrebt wird ein Zurückdrängen des Strafens im Bereich „unterer bis mittlerer Kriminalität“ unter Berücksichtigung des Einzelfalles 184. Diese Funktion und insbesondere die Förderung der Friedensstiftung zwischen Täter und Opfer wäre unterlaufen, würde das beschleunigte Verfahren angewandt. Der Täter, der sich zur Schadenswiedergutmachung bemüht, wird sich nicht mehr derart bemühen, wenn das beschleunigte Verfahren durchgeführt wird. Demnach kann auch ein Hauptverhandlungshaftbefehl nicht verhängt werden, wenn die Schadenswiedergutmachung im Sinne des § 46 a StGB durch den Beschuldigten zu erwarten ist.

dd) Zur Einstellung nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen gemäß § 153 a StPO Gemäß § 153 a Abs. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren vorläufig von der Erhebung einer öffentlichen Klage absehen und dem Beschuldigten zugleich die Erfüllung von Auflagen und Weisungen auferlegen 185. Die Entscheidung nach § 153 a StPO beinhaltet weder einen Schuldspruch, noch werden Strafen oder Maßregeln verhängt. Nach der Gesetzesformulierung besteht diese Möglichkeit der Sanktionierung bereits nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens. Betroffen sind Verfahren, die ein Vergehen zum Gegenstand haben. Die Auflagen und Weisungen müssen geeignet sein, das „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung“ zu beseitigen. Die „Schwere der Schuld“ darf dem Vorgehen 183 Näher hierzu König/Seitz, NStZ 1995, 1, 2; vgl. zu den Voraussetzungen und Konsequenzen des § 46 a StGB auch Meier, JuS 1996, 436, 441 ff. 184 Tröndle/Fischer, StGB (2003), § 46 a Rdn. 2. 185 Auf die Frage des Verhältnisses zwischen § 153 a StPO und der §§ 45, 47 JGG kommt es hier nicht an, da § 127 b StPO i. S. d. § 79 Abs. 2 JGG gegenüber Jugendlichen nicht anwendbar ist. Zu den einzelnen Ansichten vgl. Bohnert, NJW 1980, 1927, 1931; Nothacker, JZ 1982, 57, 63. Die Zustimmung des Gerichts ist unter den Voraussetzungen des § 153 a Abs. 1 S. 2 StPO entbehrlich. Aufgrund dieser Ausnahmeklausel entscheidet in der Praxis die Staatsanwaltschaft weitgehend autonom über die Einstellung; vgl. hierzu Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 337.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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„nicht entgegenstehen“. Ist die Klage bereits erhoben, kann gemäß § 153 a Abs. 2 StPO das Gericht die Sanktion mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten auferlegen und das Verfahren bis zum Ende der Hauptverhandlung einstellen. § 153 a StPO erfasst die Erledigung kleinerer und mittlerer Kriminalität 186. Während die endgültige Einstellung nach § 153 StPO verlangt, dass die Schuld des Täters als „gering“ anzusehen wäre, verlangt die vorläufige Einstellung nach § 153 a StPO, dass die „Schwere der Schuld“ einer Einstellung „nicht entgegensteht“. § 153 a StPO gilt demnach weiter. Die Regelung trifft schwerere Fälle als § 153 StPO 187. Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung wird auch als geeignetes Kriterium angesehen, § 153 a StPO von § 153 b StPO abzugrenzen. Fehlt es, geht § 153 b StPO § 153 a StPO vor; besteht es, kann das Verfahren nach § 153 a StPO erledigt werden 188. Im Verbrechensbereich ist § 153 a StPO offensichtlich ausgeschlossen. Das zeigt der Wortlaut. Ist das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung im Vergehensbereich im Hinblick auf die Schwere der Schuld des Betroffenen auch ohne Folge des § 153 a StPO rechtsstaatlich kompensierbar, ist nach § 153 b StPO zu entscheiden. § 153 b StPO ist das mildere Erledigungsmittel. Die Entlastungs- und Beschleunigungszwecke des § 153 a StPO konkurrieren mit denen des beschleunigten Verfahrens. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist § 153 a StPO die angemessenere Erledigungsart. Die Durchführung des Verfahrens nach §§ 417 ff. StPO bedarf intensiverer Organisation. Die rechtsstaatliche Kompensierbarkeit des möglichen Beschuldigtenverhaltens wird ohne formelle Sanktionierung im Sinne des § 153 a StPO dann grundsätzlich nicht mehr möglich sein, wenn Delikte mittlerer Kriminalität prognostiziert sind, bei denen die Strafverfolgungsbehörden auch ohne Antragsstellung einschreiten 189. Hierzu zählen beispielsweise die einfache vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB), die zu nicht nur unerheblichen Schäden führt, oder auch die fahrlässige Körperverletzung (§ 230 StGB), die erheblichere Schäden zur Folge hat. An dieser Stelle sind auch der einfache Diebstahl (§ 242 StGB) und die Unterschlagung (§ 246 StGB) nicht mehr geringwertiger Sachen zu nennen 190. In Fällen gemeinschädlicher Sachbeschädigung (§ 304 StGB) erscheint es hingegen nicht ausgeschlossen, nach § 153 a StPO zu prozedieren. Bei Wiederholungstätern kann das öffentliche Interesse an Strafverfolgung durch Auflagen und Weisungen im Sinne des § 153 a StPO eher seltener aufgefangen werden. § 153 a StPO ist in der Regel – will man dem Strafverfahrensrecht präFezer, ZStW 106 (1994), 1, 31. Vgl. Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81, 86; vgl. zur Schwere der Schuld auch Werle, JZ 1991, 789, 795. 188 Vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), 1, 30. 189 Vgl. Böttcher/Mayer, NStZ 1993, 153, 154. 190 Siehe zur Geringwertigkeitsgrenze Tröndle/Fischer, StGB (2003), § 248 a Rdn. 3 f. m. w. N.; Dreher, in: FS-Welzel (1974), S. 917, 919 f. 186 187

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

ventive Bedeutung beimessen – auf Ersttäter anwendbar, bei denen sich die Tat voraussichtlich unter dem Eindruck einer Auflage oder Weisung nicht wiederholt 191. Wo die „Obergrenze“ des von § 153 a StPO angesprochenen Kriminalitätsbereichs konkret angesiedelt ist, bleibt allerdings, trotz aller aufgezeigter Annäherungen, relativ unbestimmt. Gleiches gilt für die Abgrenzungen zu § 153 StPO und zu § 153 b StPO. Dies liegt einmal an der Weite der einzelnen Voraussetzungen 192. Mehr noch wird es daran liegen, dass das Gesetz die Schuld des Betroffenen und das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung offenbar als getrennte Voraussetzungen und als Abstufungskriterien zwischen den Erledigungsarten vorsieht. Die delikts- und beschuldigtenspezifischen Merkmale hängen als Voraussetzungen der Regelungen miteinander zusammen 193. Das wirkt sich auch auf die Bestimmbarkeit des Anwendungsbereichs der §§ 417 ff. StPO und damit auf die der Hauptverhandlungshaft aus. Es kann lediglich klargestellt werden, dass das beschleunigte Verfahren grundsätzlich ausgeschlossen ist, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO, des § 153 b StPO oder des § 153 a StPO vorliegen. Diese Erledigungsarten sind flexibler und weniger belastend für den Beschuldigten 194. Erst oberhalb des Anwendungsbereiches des § 153 a StPO erscheint das beschleunigte Verfahren anwendbar. Abstrakt-generell lässt sich formulieren, dass das beschleunigte Verfahren und damit § 127 b StPO anwendbar sein kann, wenn den Betroffenen mehr als nur ein geringes Maß an Schuld trifft. Zumindest scheiden dann Erledigungen aufgrund §§ 153 ff. StPO aus, da sie die geringe Schuld des Betroffenen als Voraussetzung nennen. Vgl. zum Anwendungsbereich allgemein Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 588 ff. Insoweit ist Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 570 m. w. N., zuzustimmen. Aufgrund der schweren Bestimmbarkeit des Begriffs „Schwere der Schuld“, kann nach Fezer, ZStW 206 (1994), 1, 32, § 153 a StPO zu einer „Entkriminalisierung führen, die materiell-rechtlich nicht mehr vertretbar ist“, da sie sich „lediglich vage“ nach den allgemeinen Strafverfolgungsbedürfnissen richte. Kunz, Einstellung wegen Geringfügigkeit (1980), S.39, beklagte schon zu §153 a StPO (a. F.), dass eine „gefestigte und für die Einzelfallentscheidung praktikable Auslegung der Begriffe geringe Schuld und Fehlen eines öffentlichen Verfolgungsinteresses“ nicht vorliege. Noch schwerer bestimmbar wurde §153 a StPO durch die Öffnung des Katalogs der Auflagen und Weisungen 1999; vgl. hiezu wieder BGBl. I, S. 2491, BT-Drucksache 14/1928, S. 1, sowie Britz/Jung, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 307, 311 ff. 193 I. d. S – zu § 153 a (a. F.) – auch Fezer, ZStW 106 (1994), 1, 29, entgegen Boxdorfer, NJW 1976, 317, 319 f. An der Einschätzung ändert sich nichts, wenn in §153 a StPO das „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung“ neben der „Schwere der Schuld“ genannt ist. Das Verhältnis von Schuld und Interesse öffentlicher Strafverfolgung erscheint dadurch vielmehr noch konfliktreicher. Die Prüfung einer „geringen Schuld“ ist, da sie für andere Optionen der Verfahrenserledigung Voraussetzung ist, auch zur Prüfung der Einstellungsvoraussetzungen gem. § 153 a StPO nicht außen vor zu lassen. Mit Rieß, AbwBl. 1993, 51, 55, kann das Interesse an der Strafverfolgung kaum als das einzig inhaltliche Kriterium für die Einstellung angesehen und der Schuldbewertung kann nicht nur begrenzende Funktion gegeben werden. Das ungeklärte Verhältnis zwischen Schuld und Strafverfolgungsinteresse würde auch durch Konkurrenzregelungen nicht geklärt. 194 Vgl. Schaffstein, in: FS-Jescheck, 2. Hb. (1985), S. 937, 938, der ausdrücklich „Ladendiebstahl, Schwarzfahren, kleine Verkehrsdelikte u. dgl.“ nennt. 191 192

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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ee) Zum Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 ff. StPO Während § 153 a StPO zwar das Feld der mittleren Kriminalität erreicht, dort jedoch eher nur den unteren Bereich erfasst, kann ein Strafbefehl auch bei erheblicheren Verstößen verhängt werden. Gemäß § 410 Abs. 3 StPO steht der Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleich, soweit nicht rechtzeitig Einspruch dagegen erhoben ist. Gemäß § 407 Abs. 2 S. 2 StPO darf per Strafbefehl höchstens eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bei Strafaussetzung zur Bewährung verhängt werden; die Fahrerlaubnis darf höchstens für zwei Jahre entzogen werden 195. Innerhalb des sich überschneidenden Sanktionsrahmens stehen das beschleunigte Verfahren und das Strafbefehlsverfahren grundsätzlich in Anwendungskonkurrenz 196. Die Staatsanwaltschaft beantragt bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen entweder die Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß § 417 StPO oder im Strafbefehlsverfahren gemäß § 407 Abs. 1 StPO. Über den Sanktionsbereich von einem Jahr Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung hinaus bis hin zur maximalen Straferwartung im beschleunigten Verfahren von einem Jahr Freiheitsstrafe gemäß § 419 Abs. 1 S. 2 StPO besteht für die Staatsanwaltschaft zwischen dem beschleunigten Verfahren und dem Strafbefehlsverfahren von vornherein keine Wahlmöglichkeit 197. In diesem Bereich kann allenfalls das beschleunigte Verfahren Anwendung finden. Abgesehen von der erweiterten Sanktionsmöglichkeit, die das beschleunigte Verfahren gewährt, liegt der wesentliche Unterschied beider Verfahrensarten in der Durchführung der Hauptverhandlung; der Strafbefehl gemäß §§ 407 ff. StPO wird in der Regel lediglich nach Prüfung der Aktenlage erlassen198. Das gilt, soweit dem 195 Gem. § 407 Abs. 1 S. 3 StPO ist der Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine bestimmte Rechtsfolge zu richten. Die möglichen Rechtsfolgen im Verfahren sind in § 407 Abs. 2 StPO abschließend aufgeführt; vgl. hierzu im Einzelnen KMR-Metzger, StPO (Stand: 1998), § 407 Rdn. 8 ff. Siehe zur Kumulation zulässiger Rechtsfolgen LR-Gössel, StPO (Stand: 2000), §407 Rdn. 11. Vgl. auch Loos, in: FS-Remmers (1995), S. 565, 572 ff., insbesondere kritisch zur Erweiterung des Rechtsfolgerahmens auf bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe i.S. d. § 407 S. 2 StPO durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz v. 15.01.1993 (BGBl. I, S. 55). 196 Der weite Bereich übereinstimmender Sanktionsmöglichkeiten rechtfertigt es grundsätzlich, von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Strafbefehlsverfahren und beschleunigtem Verfahren auszugehen. Demgegenüber ist nach Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 68, das beschleunigte Verfahren „eine sinnvolle Ergänzung“ zum Strafbefehlsverfahren; aufgrund des unterschiedlichen Sanktionsrahmens ließe sich „nicht wirklich von einer Konkurrenz dieser beiden vereinfachten Verfahrensarten sprechen“. 197 Sie besteht auch im Bereich des Strafverfahrens gegenüber Jugendlichen nicht, da das Strafbefehlsverfahren gem. § 79 Abs. 1 JGG gegenüber Jugendlichen nicht anwendbar ist. 198 Wie die Anwendung des § 153 a StPO, setzt der Erlass eines Strafbefehles voraus, dass die weitere Klärung des Sachverhalts nach Aktenlage nicht erforderlich erscheint. Die Prüfung der Aktenlage ist nach Werle, JZ 1991, 789, 795, Ranft, JuS 2000, 633, 633, und Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 526, eine lediglich „summarische“ Prüfung. Dagegen sind nach Fezer, ZStW 106 (1994), 1 20, die Verurteilungsvoraussetzungen nicht weniger gründlich als im Normalverfahren zu prüfen, „da das Gericht (genauso) auch im Strafbefehlsverfahren an die

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Erlass des Strafbefehls im Sinne des § 408 Abs. 3 S. 1 a. E. StPO keine Bedenken entgegenstehen. Der Richter beraumt die Hauptverhandlung gemäß § 408 Abs. 3 S. 2 StPO nur an, wenn er Bedenken hat, ohne eine solche zu entscheiden, oder wenn er von der rechtlichen Beurteilung im Strafbefehlsantrag abweichen oder eine andere als die beantragte Rechtsfolge festsetzen will und die Staatsanwaltschaft auf ihrem Antrag beharrt 199. Da der Beschuldigte im Strafbefehlsverfahren keiner Durchführung der Hauptverhandlung ausgesetzt ist, ist das Strafbefehlsverfahren gegenüber dem beschleunigten Verfahren grundsätzlich die vorzugswürdige Verfahrensart. Damit wird Stigmatisierung „eingedämmt“ 200 – oder wie Ranft es nennt: Mit dem Strafbefehlsverfahren entfällt die „Prangerwirkung der Hauptverhandlung“ 201. Das Strafbefehlsverfahren ist auch die weniger aufwendige, also effektivere Verfahrensart 202. Denn es ist in der Regel gerade keine Hauptverhandlung durchzuführen. Gegen das Strafbefehlsverfahren kann sprechen, dass es zu Lasten des Rechts des Verdächtigen auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG gehen kann. Zur Stellung des Strafbefehlsantrages bedarf es keiner gerichtlichen Anhörung des Beschuldigten. Das rechtliche Gehör in einer Hauptverhandlung kann jedoch kein entscheidendes Argument für den Vorrang des beschleunigten Verfahrens sein. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist dem Betroffenen auch ohne Hauptverhandlung Rechnung getragen. Er kann gegen den Strafbefehl Einspruch einlegen und so die Hauptverhandlung erzwingen 203. Hält die Staatsanwaltschaft eine Hauptverhandlung für erforderlich, kann sie im Sinne des § 407 Abs. 1 S. 2 StPO keinen Antrag auf Entscheidung im Strafbefehlsverfahren stellen 204. Nach Nr. 175 Abs. 3 S. 1 RiStBV kann die vollständige Aufklärung aller für die Rechtsfolgenbestimmungen wesentlichen Umstände die Durchführung der Hauptverhandlung nötig erscheinen lassen. Zeigen sich beispielsweise aus den Akten Abweichungen vom Ermittlungsergebnis, ist oftmals eine schwierige Sanktionsbemessung zu erwarten. Das Persönlichkeitsbild des Grundsätze der Wahrheit und Gerechtigkeit gebunden“ und das Schuldprinzip zu beachten sei, sodass der Richter von der Schuld und Täterschaft des Verdächtigten „überzeugt“ sein müsse. Dem ist zuzustimmen. Eine derartige Überzeugung des Gerichts muss sich nicht notwendig erst nach einer Hauptverhandlung ergeben können. Sie kann sich auch bereits nach Lage der Akten – mit dem Normalverfahren vergleichbar – ergeben. Fezer spricht a. a. O. daher treffend von „Aktenüberzeugung“. Die möglichen Rechtsfolgen des § 407 Abs. 2 StPO verlangen das strenge Erfordernis der „Überzeugung des Gerichts“. Vgl. gegen die Annahme eines summarischen Verfahrens auch Amboß, Jura 1998, 281, 282. 199 Die Verfügung hat die Wirkung eines Eröffnungsbeschlusses; vgl. KMR-Metzger, StPO (Stand: 1998), § 408 Rdn. 37. 200 Vgl. Herrmann, ZStW 96 (1984), 455, 463. 201 Ranft, JuS 2000, 633, 633. 202 Vgl. auch hier wieder Ranft, JuS 2000, 633, 633. 203 LR-Gössel, StPO (Stand: 2000), § 407 Rdn. 58 m. w. N. Vgl. zur Einspruchsfrist insbesondere auch BVerfGE 25, 158, 165 ff. („Strafverfügung während Urlaubsreise“). 204 Vgl. zur „Pflicht zum Antrag“ KMR-Metzger, StPO (Stand: 1998), § 407 Rdn. 31 ff.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Verdächtigten fordert dann einen persönlichen Eindruck des Richters205. Bestehen begründete Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Verfahrensbeteiligten, die sich erst durch einen persönlichen Eindruck der Strafverfolgungsorgane in einer Hauptverhandlung aufdecken lassen 206, kann eine Entscheidung durch Strafbefehl ebenfalls nicht ergehen. Die Ermittlungsakten sind dann keine ausreichende Grundlage für eine angemessene Entscheidung. Ein Geständnis macht die Hauptverhandlung nur entbehrlich, wenn es nicht im Widerspruch zu sonstigen Ermittlungsergebnissen steht 207. Ist eine Hauptverhandlung durchzuführen, muss dies jedoch nicht im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens geschehen. Die aufgezeigten Gründe, die für eine Hauptverhandlung sprechen, stehen grundsätzlich konträr zur Einfachheit der Sache und zur klaren Beweislage. Sie machen mitunter gerade ein Regelverfahren erforderlich. Im sich überschneidenden Sanktionsbereich erscheint das beschleunigte Verfahren gegenüber dem Strafbefehlsverfahren grundsätzlich als die zu bevorzugende Verfahrensart, wenn die Realisierung des staatlichen Sanktionsanspruches durch den Strafbefehl mangels Zustellungsmöglichkeit scheitert. Schröer stellt dies insbesondere für Verdächtige heraus, die in der Bundesrepublik keinen Wohnsitz haben und denen deswegen ein Strafbefehl nicht zugestellt werden kann 208. Die Anführung spezial- oder generalpräventiver Gründe in Nr. 175 Abs. 3 S. 1 RiStBV spricht zwar grundsätzlich gegen einen Strafbefehl ohne Hauptverhandlung für Wiederholungstäter 209. Das beschleunigte Verfahren ist in diesen Fällen dennoch nicht zwingend anwendbar. Zum Ersten erscheint die Berufung auf spezial- und generalpräventive Erwägungen zur Begründung der An- oder Nichtanwendbarkeit einer Erledigungsart generell problematisch. Dies ist eine Folge aus der allgemeinen Fragwürdigkeit dieser Ziele als Ziele des Prozessrechts 210. Zum Zweiten ist die Grenze, ab wann der Beschuldigte die erkannte Rechtsfolge nicht ernst genug nimmt und durch sie daher im Sinne einer Prävention nicht hinreichend beeindruckt wird, nicht wirklich bestimmbar 211. Es ist nicht gesagt, dass die präventiven oder erzieherischen Wirkungen des beschleunigten Verfahrens die des Strafbefehlsverfahrens immer überwiegen. Die Gleichsetzung des Strafbefehls mit einem Urteil gemäß § 410 Abs. 3 StPO oder auch die Pflichtverteidigerbestellung 205 Vgl. KMR-Metzger, StPO (Stand: 1998), § 408 Rdn. 28, und eingehend Loos, in: FSRemmers (1995), S. 565, 574 f., eingehend zu den „Schwächen“ des Strafbefehlsverfahrens in diesem Zusammenhang. 206 Fezer, ZStW 106 (1994), 1, 17; Schlüchter, GA 1994, 397, 407. 207 Vgl. Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017, 1020. 208 Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 72. Die öffentliche Zustellung (§40 StPO) ist zu Recht als unzulässig anzusehen; vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 40 Rdn. 1 m. w. N. 209 Vgl. Lemke/Rothstein-Schubert, ZRP 1997, 488, 491. 210 Vgl. hier nur LR-Gössel, StPO (Stand: 2000), § 407 Rdn. 48 c. 211 Die Gefahr sehen auch Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 64.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

im Sinne des § 408 b StPO vermitteln dem Betroffenen durchaus die Ernsthaftigkeit des Verfahrens. § 407 Abs. 2 StPO sieht durchaus strafrechtliche Sanktionen vor, die der Beschuldigte erheblich „zu spüren bekommt“. Unabhängig von der zuletzt genannten Schwierigkeit darf erst nach Prüfung aller genannten Optionen erwartet werden, dass im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO eine Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren stattfindet. Erst wenn auch ein Strafbefehl nicht verhängt werden kann, ist der Weg zur Anwendung des § 127 b StPO eröffnet. Unter Einbeziehung des Strafbefehlsverfahrens neben den anderen Optionen zum beschleunigten Verfahren lässt sich ein Bild vom „sachlichen“ Anwendungsbereich der Hauptverhandlungshaft zeichnen. VII. Der „sachliche“ Anwendungsbereich der Hauptverhandlungshaft 1. Die Ansichten des Gesetzgebers und der Literatur Die Gesetzesbegründung zu § 127 b StPO spricht nur sehr vage von „reisenden Tätern“. Welche konkreten Delikte sich hinter dieser Qualifizierung verbergen, legt die Begründung nicht offen. Im Gesetzgebungsverfahren zur Hauptverhandlungshaft wurden hingegen, wie schon eingangs erwähnt 212, mehrere Deliktsgruppen und Delikte genannt, auf die § 127 b StPO zugeschnitten sein soll. In den Beratungen des von den Fraktionen der CDU/CSU und F. D. P. eingebrachten Gesetzentwurfs wurde der Anwendungsbereich des § 127 b StPO näher spezifiziert. Wenn von „Schlachtenbummlern“, „Krawallmachern“, „Hooligans“ oder von „Chaoten, die tageweise in Städte einfallen“, die Rede ist, so verbergen sich hinter den Schlagworten auch bestimmte Delikte. Während Meyer ausdrücklich von „Kleinkriminellen“ spricht 213, sind jedoch offensichtlich auch schwere Delikte in die Betrachtung einzubeziehen. Das zeigen die Verweise auf die „Chaostage in Hannover“, auf „zweifelhafte Gedenkveranstaltungen aus dem rechtsradikalen Milieu“ 214 und auf Straftaten im Umfeld von „Sportveranstaltungen“ 215. Dort kann es zu Sachbeschädigungen (§ 303 StGB), einfachen und schweren Diebstählen (§§ 242, 243, 244 StGB), zu Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Personen, die diesen gleichstehen (§§ 113, 114 StGB), sowie zu Haus- und Landfriedensbruch (§§ 123 bis 125 StGB), zu einfachen, gefährlichen und schweren Körperverletzungen (§§ 223, 224, 226 StGB) und eventuell auch zu Brandstiftungen (§§ 306, 306 a StGB) kommen. Angesichts des beschriebenen Umfeldes sollen 212 Vgl. Einf., 1. Abschn. Zur besseren Übersicht sind mehrere der oben genannten Delikte und Deliktsgruppen hier wiederholt. 213 Meyer (MdB SPD), BT-PlPr 13/129, S. 11658. 214 Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/62, S.5322; ders., BT-PlPr 13/129, S.11650; Götzer (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11656. 215 Götzer (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11656.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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wohl alle Täterschafts- und Teilnahmeformen im Sinne der §§ 25 ff. StGB bei der Anwendung des § 127 b StPO gewichtige Rollen spielen. Im Schrifttum finden sich verschiedene Delikte, in denen § 127 b StPO anwendbar sein soll, erwähnt. Hartenbach nennt ausdrücklich „Ladendiebe“ (also § 242 StGB oder §§ 242, 243 StGB), „Zechpreller“ und „Schwarzfahrer“ (also eventuell § 263 StGB oder § 242 StGB und § 265 a StGB) sowie das „Fahren ohne Führerschein“ (§ 21 StVG) 216. Stintzing/Hecker, Wankel, Boujong und Keller scheinen insbesondere an §§ 223 ff. StGB, § 303 StGB, §§ 242 ff. StGB, §§ 123 ff. StGB und an §§ 306 f. StGB zu denken, da von „Rowdies in Fußballstadien“ und „gewalttätigen Chaoten, die im Rahmen einer Demonstration Straftaten begehen“ 217, die Rede ist. Sonnen beschränkt sich eher auf weniger schwere Taten. Für ihn ist die Hauptverhandlungshaft „auf Fälle der Alltagskriminalität und damit auf das Massenphänomen der Bagatellkriminalität, speziell im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte“, zugeschnitten 218. Fülber hält den Ausschluss des beschleunigten Verfahrens bei „politisch motivierter, oftmals ausländerfeindlicher Gewaltoder Gewaltkriminalität“ für „inakzeptabel“, wenngleich zuzugeben sei, dass in diesen Fällen die Täterpersönlichkeit „mitunter“ näher erforscht werden müsse, weshalb die „Eignung zur sofortigen Verhandlung“ fehlen könne 219. Für Keller ist zunächst an „Serientäter“ zu denken, die unter dem „Deckmantel einzelner (Bagatell-)delikte große Schäden verursachen“ 220. Pofalla stellt in der Literatur klar, dass § 127 b StPO „in erster Linie auf Delikte (beschränkt ist), bei denen außer einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr die Voraussetzungen tatsächlicher oder rechtlicher Überschaubarkeit derart evident vorliegen, daß es andernfalls schon gar nicht zu einem beschleunigten Verfahren kommen würde“ 221. 2. Delikte, Rechtsfolgen, Optionen/Stellungnahme zum „sachlichen“ Anwendungsbereich Die im Gesetzgebungsverfahren und in der Literatur deutlich werdenden Anwendungsbereiche des § 127 b StPO sind nur schwer zu strukturieren. Unabhängig davon, wo nun jeweils die Obergrenze von Bagatell-, Klein- oder Alltagskriminalität zu ziehen ist, werden Anwendungen im unteren Kriminalitätsbereich genauso gesehen wie im Bereich mittlerer bis schwerer Kriminalität. Wer von Straftaten im ZuHartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 569. KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 12, und KMR-Wankel, StPO (1998), § 127 b Rdn. 5, nennen Straftaten während oder im Anschluss an „Sportveranstaltungen“ und „Massensportveranstaltung(en) mit Randalierern“. Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679, spricht von „gewalttätige(n) Demonstranten“. 218 Sonnen, NK 1996, 13. Siehe i. d. S. auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 45 f. 219 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S.46, mit Verweis u. a. auf Faupel, NJ 1999, 182, 183. 220 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. 221 Pofalla, AnwBl. 1996, 466, 466. 216 217

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

sammenhang mit „Chaostagen in Hannover“ hört, wird nicht selten an mittäterschaftliche Brandstiftung (§§ 306, 25 Abs. 2 StGB), schweren Hausfriedensbuch (§ 124 StGB) und Landfriedensbruch (125 StGB) denken. Aufgrund § 419 Abs. 1 S. 2 StPO kann abstrakt zwar klar von einem Anwendungsbereich der Hauptverhandlungshaft bis in den mittleren Kriminalitätsbereich hinein gesprochen werden. Bei Straftaten von „gewalttätigen Chaoten“, „Rowdies in Fußballstadien“ und „Serientätern“ wird der Strafrahmen jedoch oftmals nicht eingehalten werden können. § 127 b StPO ist demnach in diesem Umfeld nicht anwendbar. Für die Anwendung gegenüber Bagatelltätern im Bereich der Alltagskriminalität, das heißt für geringfügige und leichtere einfache Diebstähle (§§248, 242 StGB), für einfache Leistungserschleichungen (§ 265 a StGB) sowie für sonstige leichtere Vermögensdelikte (z. B. §§ 246, 263, 248 a, 266 StGB), aber auch für leichte Körperverletzungen (§§ 223, 229 StGB) ist § 127 b StPO nicht vorzugswürdig. Hier zeigen sich informelle Sanktionen wie §§ 153, 153 a StPO und § 153 b StPO als verhältnismäßige Reaktion des Staates. Sie sind für den Beschuldigten grundrechteschonender. In diesem Feld ist immer auch an den Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des § 46 a StGB zu denken. Geht es um den unteren Kriminalitätsbereich, fordern weder Handlungs-, noch Erfolgsunwert einer Tat zwingend eine formelle Sanktion 222. Gleiches gilt für Verkehrsdelikte – zumindest bei Ersttätern 223. Mit informellen Sanktionen können die Strafverfolgungsorgane insgesamt auch besser auf steigenden Geschäftsanfall reagieren als mit dem beschleunigten Verfahren und seiner Sicherung durch § 127 b StPO. Zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens sind die organisatorischen Voraussetzungen erheblich schwieriger zu schaffen. Das gilt bei der Anwendung des § 127 b StPO erst recht. Die Frist im Sinne des § 127 b Abs. 2 StPO verkürzt die (maximale) kurze Frist des § 417 StPO, innerhalb derer die Hauptverhandlung nach Antrag der Staatsanwaltschaft üblicherweise stattfinden muss. Damit ist die Zeit, die zur Organisation des beschleunigten Verfahrens zur Verfügung steht, erheblich beschränkt. Erschwerend kommt bei § 127 b StPO hinzu, dass die Haft organisiert werden muss. Das beschleunigte Verfahren kommt für Massenkriminalität oberhalb der Bagatellgrenze, wie bei nicht geringwertigem Diebstahl (§ 242 StGB) oder auch bei einfachen Körperverletzungen (§ 223 StGB), die eine formelle Sanktion verlangen, nur dann in Betracht, wenn das Strafbefehlsverfahren nicht angewendet werden kann. Demnach kommt auch § 127 b StPO nur dann in Frage. Insoweit sich die Rechtsfolgenbereiche beider Erledigungsarten überschneiden, scheidet ein durch 222 Vgl. Herrmann, ZStW 96 (1984), 455, 468; nach Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 76, soll „Schwarzfahren“ (gemeint ist eine Tat i. S. d. § 265 a StGB) hingegen ausdrücklich zum Anwendungsbereich des § 127 b StPO zählen. 223 Vgl. wieder Herrmann, ZStW 96 (1984), 455, 468. Vgl. aber auch D. Schultz, DAR 1957, 93, 94, wonach das beschleunigte Verfahren (§ 212 ff. StPO a. F.) gerade bei Unfällen „leichterer Art“, bei denen nur wenige Zeugen zur Verfügung stehen und bei denen kein Sachverständiger benötigt wird, zu wählen ist.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Haft gesichertes Verfahren aus. Der Eingriff in Beschuldigteninteressen ist gegenüber den Rechtseinbußen, die das Strafbefehlsverfahren mit sich bringt, zu intensiv. Können die §§ 407 ff. StPO nicht effektiv angewandt werden, da ein Strafbefehl nicht zugestellt werden kann, empfiehlt sich eine Beachtung dieses Umstandes weniger im Rahmen des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO. Da es meist um Wohnsitzlose gehen wird, liegt der Umstand näher bei der Befürchtung des Fernbleibens des Beschuldigten gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO 224. § 127 b StPO ist im sich überschneidenden Rechtsfolgenbereich der §§ 407 ff. StPO und der §§ 417 ff. StPO gegenüber dem Strafbefehlsverfahren grundsätzlich anwendbar, wenn die Ermittlung der Beschuldigtenpersönlichkeit eine Hauptverhandlung fordert. Dies kann bei Wiederholungstätern vermehrt der Fall sein. Allerdings ziehen gerade die Fälle mitunter eine schwierige Beurteilung der Persönlichkeit mit sich, die auch „binnen einer Woche nach der Festnahme“ nur schwerlich hinreichend exakt geklärt werden kann. Ein derart kurzes Verfahren ist für diese Sachen eher nicht geeignet. Bei „Serientätern“ und den Mitgliedern von „Diebesbanden“ erscheint dies offensichtlich. Sind mehrere beteiligt, wird nur im Ausnahmefall der „Sachverhalt einfach“ oder die „Beweislage klar“ sein. Das gilt weitgehend auch dann, wenn eine Freiheitsstrafe in Betracht kommt – sei es nun, dass sie mit oder ohne Strafaussetzung zur Bewährung zu erwarten ist. Strafaussetzung ist kein „einfaches“ Gebiet. Sie hängt im Sinne des § 57 Abs. 1 S. 2 StGB entscheidend von der Persönlichkeit des Beschuldigten, seinem Vorleben, den Umständen, dem Verhalten nach der möglichen Tat, seinen Lebensverhältnisse und den Wirkungen ab, die durch die Strafe für ihn zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang lässt sich zwar generell fragen, ob die Schwierigkeit, diese Kriterien zu würdigen, überhaupt ein besonderer Hinderungsgrund für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens und des § 127 b StPO gegenüber dem Strafbefehlsverfahren sein kann. Der Richter kann sich in einer Hauptverhandlung immerhin ein persönliches Bild vom Angeklagten machen. Im Strafbefehlsverfahren ohne Hauptverhandlung bleibt ihm das verwehrt. Das Bild von Angesicht zu Angesicht ist jedoch nicht unbedingt aussagekräftiger als das im Strafbefehlsverfahren. Die Zeit für Ermittlungen, die den Strafverfolgungsorganen im Sinne des 127 b Abs. 2 StPO zur Verfügung steht, ist sehr kurz. Der Beschuldigte wird auf frischer Tat festgenommen und kommt danach in Haft. Das Verhalten nach der möglichen Tat beispielsweise, kann also bei Anwendung des § 127 b StPO kaum als Kriterium zur Bestimmung der Persönlichkeit des Beschuldigte herangezogen werden. Insoweit § 127 b StPO für die Straftaten im Zusammenhang mit Demonstrationen konzipiert ist, ist vieles bedenklich. Gerade bei „politisch motivierten Demonstrationen“ wie Aufmärschen rechts- oder linksorientierter Gruppen, ist §127 b StPO unanwendbar. Sind mehrere beteiligt, ist das beschleunigte Verfahren sowohl 224 Voraussetzung dieser Prognose ist, dass der Beschuldigte keinen festen Wohnsitz hat; hat er keinen, kann ihm auch i. d. R. kein Strafbefehl zugestellt werden.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

zur Behandlung von Gewaltdelikten gegen Sachen (§ 303 StGB) als auch gegen Personen (§ 223 StGB) ungeeignet 225. Bei der Strafzumessung sind im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB zudem die Beweggründe, die Ziele und die Gesinnung des Täters zu beachten. Daher ist sie im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO auch bei der Anwendung der Hauptverhandlungshaft zu beachten. Die Motive des Handelnden spielen gerade bei der Beurteilung politisch motivierter Gewalt eine besonders wichtige Rolle 226. Gewalt aus „umstürzlerischen Motiven“ hat gegenüber einer Tat aus „Spaß am Randalieren“ ein besonderes Gepräge, ohne dass es offen zu Tage treten müsste. All dies ist „binnen einer Woche nach der Festnahme“ praktisch nicht ergründbar 227. Allzu leicht können fehlerhafte Rückschlüsse gezogen werden. In einer Woche kann Gewalt als rechts- oder linksextrem beurteilt werden, ohne dass eine „politische Gesinnung“, geschweige denn „umstürzlerische Motive“ ansatzweise Motivation des Beschuldigten gewesen sind. Nicht jeder, der bei „Chaostagen“ verdächtig geworden ist, ist „linksradikal“. Nicht jeder „Mitläufer“ eines Aufmarsches „Rechtsextremer“ ist selbst „rechtsextrem“. Allzu oft werden Straftaten „um der Krawalle willen“ begangen und nicht selten werden Unschuldige in Randale verstrickt. Die Gefahr fehlerhafter „politischer Verurteilungen“ ist zu groß, wenn im Sinne des § 127 b Abs. 2 StPO „die Durchführung der Hauptverhandlung binnen einer Woche nach der Festnahme“ erwartet werden muss. Ambos spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von der Gefahr, dass das „beschleunigte Verfahren leicht als politische Waffe gegen Andersdenkende mißbraucht werden“ kann 228. § 127 b StPO könnte missbraucht werden und die Gewähr dafür bieten, dass das beschleunigte Verfahren in diesem Sinne zur Anwendung kommt. Aber auch, wenn es bei „Massenveranstaltungen“ nicht um politisch motivierte Gewalt geht, ist ein einfacher Sachverhalt oder eine klare Beweislage gemäß § 417 StPO weitestgehend zu verneinen 229. Damit ist auch § 127 b StPO in diesem Umfeld nicht anwendbar. Die Hauptverhandlungshaft kann Verfahren gegen Mitglieder von „Schlägerbanden“ oder Gruppen von „Rowdies in Fußballstadien“ in aller Regel nicht sichern 230. Der Sachverhalt erscheint in aller Regel nicht mehr einfach, wenn mehrere gemeinschaftlich handeln. Ein gemeinsamer Tatplan im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB muss erst einmal ermittelt und verschiedene Täterschaftsformen von Beihilfe und Anstiftung abgegrenzt werden. Handeln Einzelne erwiesenerma225 Vgl. zum Folgenden Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 76, mit Hinweis auf die gehäuften Anklagen im beschleunigten Verfahren in den 60er und 70er Jahren. 226 Nach Schünemann, NJW 1968, 975, 975, ist gerade bei „politisch indiziertem Aufruhr“ die Gesinnung des Beschuldigten „von schlechthin entscheidender Bedeutung“. 227 Nach Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 570, dürfen „Täter, die Gewalt gegen Asylantenwohnheime verüben, (...) keinesfalls gem. § 127 b festgehalten oder gar inhaftiert werden.“ 228 Ambos, Jura 1998, 281, 291. 229 Die Bedenken teilt Keller, Kriminalistik 1998, 677, 680 und dort FN 22, wenngleich er § 127 b StPO auch in diesen Fällen für anwendbar hält. 230 So auch Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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ßen in einer bestimmten Täterschafts- oder Teilnahmeform, werden oftmals mehrere Delikte zu behandeln sein. Sobald etwa wegen mehrerer Sachbeschädigungen (§ 303 StGB) und/oder Körperverletzungen (§§ 223, 224 StGB) anzuklagen ist, ist die Sache nicht mehr leicht zu überschauen. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 417 StPO ist folglich zu verneinen. Es sei denn, die Beteiligten sind – übereinstimmend und glaubhaft – geständig. Sobald sich Beteiligte einander widersprechen oder mehrere Zeugen vernommen werden müssen, um die Schuld des Einzelnen festzustellen, ist die Sache immer schwierig und die Beweislage unklar. In diesen Fällen ist im Regelverfahren zu verhandeln. VIII. Fazit zu § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO Ungeachtet dessen, wie die Praxis das Verhältnis zwischen § 127 b Abs. 2 S. 1 und Abs. 1 Nr. 1 StPO im Einzelnen systematisiert, lässt sich schon an dieser Stelle eine wenig durchdachte Konzeption des Gesetzgebers für die Hauptverhandlungshaft feststellen. Von einer „klaren Struktur“ 231 kann überhaupt nicht gesprochen werden. Es zeigen sich in jedem Falle kaum ausräumbare systematische Konflikte und inhaltliche Überlappungen zwischen den Voraussetzungen. Insbesondere gilt dies in der Beurteilung der Geeignetheit der Sache gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 417 StPO und der Würdigung des dringenden Tatverdachts gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO. Da die normativen Voraussetzungen der Regelung keiner zwingenden Auslegung unterliegen, hätte man klärende Auseinandersetzungen im Gesetzgebungsverfahren erwarten dürfen. Die Frage, nach welcher Vorschrift sich die Strafbarkeitsprognose zu richten hat, ist für die Überprüfbarkeit und Vorhersehbarkeit der Entscheidung über den Haftbefehl von erheblicher Bedeutung. Das zweifelhafte Verhältnis zwischen Voraussetzungen des § 127 b StPO und der §§ 417 ff. StPO lässt insgesamt Bedenken gegen die Bestimmtheit des § 127 b StPO aufkommen. Des Weiteren kann festgestellt werden, dass die Organisation des beschleunigten Verfahrens unter Einschluss der Organisation der Inhaftnahme aufgrund § 127 b StPO wesentlich erschwert ist. Im Hinblick auf die Konkretisierung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO durch Abs. 2 S. 1 2. HS, wonach die Durchführung des beschleunigten Verfahrens innerhalb einer Woche nach der Festnahme zu erwarten sein muss, wird die Norm die Erwartungen des Gesetzgebers weitestgehend nicht erfüllen können. Der sachliche Anwendungsbereich der Norm ist sehr beschränkt. Soweit der Beschuldigte nicht kooperativ, das heißt nicht geständig ist, ist die Sache grundsätzlich für § 127 b StPO ungeeignet. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 417 StPO kann ohne Geständnis des Beschuldigten grundsätzlich nicht bejaht werden. Entweder ist die Sache gemäß den Optionen nach §§ 153 ff. StPO oder nach § 46 a 231 So die nicht näher belegte Wertung von Kramer, Grundbegriffe des Strafverfahrensrechts (2002), Rdn. 64 a.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

StGB zu erledigen, oder es ist nach §§ 407 ff. StPO vorzugehen. Da die Strafzumessungskriterien bei zu erwartender Freiheitsstrafe besonders umfassend ergründet werden müssen, liegt der Anwendungsbereich für § 127 b StPO von vornherein eher bei Taten, die eine Geldstrafe erwarten lassen und bei denen das Strafbefehlsverfahren „leer läuft“, da dem Beschuldigten ein Strafbefehl nicht zugestellt werden kann. Letztere Bedingung gründet sich jedoch weniger auf § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO i.V. m. §§ 417 ff. StPO. Die Zustellungsproblematik hängt näher mit der zweiten zu erörternden Haftgrundkomponente zusammen: mit § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO.

F. Die Befürchtung aufgrund bestimmter Tatsachen, dass der Festgenommene gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO der Hauptverhandlung fernbleiben wird I. Allgemeines Unter allen Voraussetzungen des § 127 b StPO ist Abs. 1 Nr. 2 sicherlich den heftigsten Kritiken ausgesetzt. Über Asbrock, Hartenbach und Herzog hinaus, die § 127 b StPO insgesamt ein zulässiges Maß an Bestimmtheit absprechen232, werden insbesondere zum Merkmal „befürchten“ sehr differenzierte Ansichten vertreten. In ihrer Auslegung des Abs. 1 Nr. 2 orientiert sich die Literatur wesentlich am Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die Similarität des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO fällt zunächst in dreierlei Hinsicht auf: Zum einen erlaubt sowohl Fluchtgefahr als auch Befürchten des Fernbleibens eine Prognoseentscheidung über das mögliche Beschuldigtenverhalten nach der Verdachtsbegründung. Des Weiteren bilden jeweils „bestimmte Tatsachen“ die Grundlage der Prognose. Schließlich haben sowohl die Verwirklichung von Fluchtgefahr als auch die Realisation der Befürchtung des Fernbleibens jeweils die Abwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung zur Folge. Beides begründet also gleichsam die grundsätzliche Undurchführbarkeit des Verfahrens im Sinne des § 230 Abs. 1 StPO. So evident wie diese Nähe zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO zeigen sich demgegenüber auch Unterschiede: In § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO ist einmal die Rede von „befürchten“, während § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO „Gefahr“ als Voraussetzung kennt. Die jeweiligen Prognosen scheinen also unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, bezogen auf das mögliche Boykottverhalten des Beschuldigten, zu verlangen. Zweitens geht es in § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO um Fernbleiben, in § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO hingegen um Sich-entziehen. Die unterschiedliche Wortwahl in den Haftregelungen deutet auf die Erfassung unterschiedlicher Störverhalten durch den Verdächtigten hin.

232 Vgl. wieder Asbrock, StV 1997, 43, 44; Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83, und ders., NK 1996, 6, 6, sowie Herzog, StV 1997, 215, 216.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Die Begründung des Gesetzesentwurfes zu § 127 b StPO schweigt weitgehend über die konkrete Auslegung des Abs. 1 Nr. 2. Erwähnt wird lediglich eine Gruppe von Personen, auf die § 127 StPO zugeschnitten sein soll: „gerade bei reisenden Straftätern“, so heißt es, könne „das Mittel der Hauptverhandlungshaft seine Wirkung entfalten“ 233. Insbesondere das Verhalten „reisender Täter“ soll demnach eine positive Prognose des Fernbleibens von der Hauptverhandlung zulassen. Dies ist eine Spezifizierung, die, wie wir noch im Einzelnen sehen werden, viele Fragen aufwirft und nur wenige Antworten gibt. Zur Klärung des Bedeutungsinhalts des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO sind zuvor die Anforderungen an die Befürchtungsprognose sowie die Übereinstimmungen und Unterschiede zum Gefahrbegriff nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO genauer zu untersuchen. II. „Befürchten“ im Vergleich zu „Gefahr“ gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO 1. Die Ansichten der Literatur Nach Hilger bedeutet „Befürchtung“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO „letztendlich nichts anderes als eine Gefahr“ im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO 234. „Gefahr“ umschreibt Hilger mit Blick auf die Rechtsprechung grundsätzlich als „hohe Wahrscheinlichkeit eines schädlichen Erfolgs, der nach den Gesetzen der Kausalität und der Lebenserfahrung zu erwarten ist“ 235. Hierbei verweist er jedoch darauf, dass der Gefahrbegriff, der vielfach in der StPO zum Ausdruck kommt, keineswegs an jeder Stelle gleich auszulegen sei. Es komme auf den „Sinn der Gesetzesstelle“ an. Im Hinblick auf den massiven Eingriff in Freiheitsrechte des Beschuldigten sei er im Haftrecht „so auszulegen, daß der Gefahrenfall möglichst selten eintritt“ 236. Daher sei für das mögliche Boykottverhalten des Beschuldigten eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ zu fordern, die „stets deutlich höher sein muß“ als die, dass der Gefahrfall ausbleibt 237. Übertragen auf § 127 b StPO, liegt Vgl. wieder BT-Drucksache 13/2576, S. 3. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13 m. w. N. auf die Kommentierung in § 112 Rdn. 25. Die Gleichsetzung mit dem Begriff Gefahr in § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ergibt sich aus eben diesem Verweis auf die eigene Kommentierung. A. a. O. § 112 Rdn. 24, setzt Hilger den Begriff Fluchtgefahr mit Befürchtung gleich, indem er von Fluchtgefahr als einem „befürchtete(n) Fluchtanreiz“ spricht. Auch nach Münchhalffen/Gatzweiler, Recht der Untersuchungshaft (2002), Rdn. 388, bedeutet „‚Befürchten‘ (...) letztlich nichts anderes als ‚Gefahr‘“ [Hervorhebungen im Original]. 235 So LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 25 m. w. N. auf BGH, NJW 1951, 769 („übergesetzlicher Notstand“), und RGSt 6, 397 ff. („gefährliche Körperverletzung“). 236 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 25. 237 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 25 m. w. N. u. a. auf SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 24, und OLG Köln, StV 1994, 582 („Fluchtgefahr bei ausländischem Staatsangehörigen“), wo von „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ die Rede ist, sowie auf OLG Köln 1996, 382; 1996, 389 (jeweils „Fluchtgefahr bei ausländischem Angeklagten“), in 233 234

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

nach Hilger „befürchten“ gemäß Abs. 1 Nr. 2 vor, wenn „stets deutlich mehr dafür spricht, daß der Beschuldigte fernbleibt, als daß er zur Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren erscheint“. Nach der Auffassung Hellmanns dürfte „klar jedenfalls sein, daß schon ein geringerer Grad, der unter der überwiegenden Wahrscheinlichkeit liegt, für die Anordnung der Hauptverhandlungshaft genügt“ 238. Dies begründet er mit der Systematik zu § 168 c Abs. 3 S. 2 StPO. Gemäß § 168 c Abs. 3 S. 2 StPO kann der Beschuldigte von der Vernehmung eines Zeugen ausgeschlossen werden, wenn „zu befürchten ist, daß der Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde“. Diese Befürchtung liege vor, so Hellmann, wenn nach den Umständen des Einzelfalles „in nicht geringem Maße“ zu erwarten ist, dass die Anwesenheit des Beschuldigten diesen Effekt haben wird 239. Der Eintritt einer bestimmten Folge sei somit „nicht schon zu befürchten, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, sondern erst, wenn sie ernsthaft in Betracht kommt“ 240. Die abstrakte Umschreibung des Terminus „befürchten“ und der Vergleich mit dem Gefahrbegriff in § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ergebe zwar, dass sich § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO mit einem geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad begnügt. Unter Zugrundelegung dessen verlangt „befürchten“ eine „geringere“ Wahrscheinlichkeit als die Gefahrprognose nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. „Die Differenz“, so Hellmann, sei „aber letztlich nicht sehr groß“ 241. Die übrige Lehre hat sich Hellmann in diesem Punkt weitgehend angeschlossen 242. Sie spricht sich vielstimmig gegen Hilger aus. So ist nach Lemke die Be-

Abgrenzung zu BGHSt 8, 28, 31 („Gemeingefahr i. S. d. § 315 a Abs. 1 Nr. 2 StGB“), wonach Gefahr vorliegt, wenn es schlicht „wahrscheinlicher“ ist, dass der Erfolg eintritt, als dass er ausbleibt. 238 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147; siehe auch ders., Strafprozeßrecht (1998), §4 Rdn.33. 239 So Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147 m. w. N. auf Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO (43. Aufl. 1997); § 168 c Rdn. 3; LR-Rieß, StPO (24. Aufl. 1989), § 168 c Rdn. 15; KK-Wache, StPO (3. Aufl. 1993), § 168 c Rdn. 6. 240 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147. 241 So wieder Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147 m. w. N. auf Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO (43. Aufl. 1997), § 168 c Rdn. 3; ähnlich LR-Rieß, StPO (24. Aufl. 1989), § 168 c Rdn. 15; KK-Wache, StPO (3. Aufl. 1993), § 168 c Rdn. 6 („konkrete“ bzw. „zureichende“ Anhaltspunkte). Im Ergebnis wohl auch Kohler, Beschleunigte Strafverfahren (2001), S. 73. 242 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 10; Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 92; Brodag, Strafverfahrensrecht (1998), Rdn. 624; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 120 f.; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 11. Der Ansicht ist auch Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 9. KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 5, geht dagegen auf die unmittelbare Auslegung des Begriffs der Befürchtung, das heißt, auf die Bestimmung eines Wahrscheinlichkeitsgrades, ebenso wenig ein, wie etwa Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 a ff., und Burhoff, ZAP 1997, 811, 811 f. Pofalla, AnwBl. 1996, 466, 466 f., der, soweit ersichtlich, die Regelung des § 127 b StPO im Schrifttum am bedenkenlosesten befürwortet, klammert eine Auseinandersetzung mit dem

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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fürchtung, der Beschuldigte werde ein bestimmtes Verhalten zeigen, „weniger als die in gewissen Grenzen bereits konkretisierbare Gefahr“ 243. Insoweit sei die Regelung des § 127 b StPO „weiter als die zur Fluchtgefahr“ im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO 244. Pfeiffer spricht einen Vergleich mit dem Gefahrbegriff zwar direkt nicht an. Er legt jedoch Wert auf die Formulierung, dass „befürchten“ zu bejahen sei, wenn „in nicht geringem Maße zu erwarten ist und“, insoweit übereinstimmend mit Hellmann, „ernsthaft in Betracht kommt“, dass der Beschuldigte nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen wird 245. Schröer begründet seine Auffassung damit, dass für die Befürchtung im Vergleich zur Gefahr „ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit“ genügt, „vom Wortverständnis her, (...) ansonsten hätte sich der Gesetzgeber auch des Begriffes der ‚Gefahr‘ bedienen können“ 246. Schlüchter/ Fülber/Putzke verweisen, ebenso wie Schröer, auf eine inhaltliche Unterscheidung zwischen „Gefahr“ und „Befürchtung“ aufgrund der Wortwahl des Gesetzgebers. Auch sie denken bei ihrer gesetzessystematischen Auslegung an § 168 c Abs. 3 S. 2 StPO und § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO – im Unterschied zu § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO. Mit Hellmann gehen sie von einem „geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit“ aus, den § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO für das Boykottverhalten des Beschuldigten verlangt 247. Zu anderer Interpretation gelangen schließlich Hartenbach und Herzog. Beide teilen die Gleichsetzung ebenso wenig wie die Auslegung der herrschenden Ansicht. Hartenbach sieht mit der Voraussetzung der „Befürchtung“ einen „neuen Begriff “ in das Strafprozessrecht eingeführt 248. Er sieht die Anforderungen an ihn als „deutlich geringer gegenüber den hohen Anforderungen der §§ 112 ff. StPO“ 249. Herzog geht einen eigenen Weg. Er vergleicht den Terminus „befürchten“ mit der „abstrakten Gefahr“ des materiellen Strafrechts. Zumindest setzt er § 127 b StPO in Einklang mit der Tendenz im materiellen Strafrecht, zunehmend Strafbarkeit über Gefährdungsdelikte zu beschreiben. In einer „strukturellen Analogie zur fortschreitenden Entfernung des materiellen Strafrechts von der Zurechnung des Erdurch den Begriff der Befürchtung geforderten Wahrscheinlichkeitsgrad einer Boykottprognose ebenfalls aus. 243 HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 15. 244 HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 15. So wohl auch Lesch, Strafprozeßrecht (2001), Kap. 4 Rdn. 23, der allerdings – irritierenderweise – unter der Befürchtung des Fernbleibens eine Gefahr des Fernbleibens versteht, wobei der Grad der Gefahr niedriger anzusiedeln sei als bei Fluchtgefahr. 245 Pfeiffer, StPO (2002), §127 b Rdn. 4; dies betont auch KK-Boujong, StPO (2003), §127 b Rdn. 11. 246 So Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 93, ohne sein eigenes „Wortverständnis“ expliziter darzulegen [Hervorhebung im Original]. A. a. O. verweist ders. auf die Ausführungen von Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147, zu § 168 c StPO. 247 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 120 f. 248 Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83. 249 Hartenbach, ZRP 1997, 227, 227, und ders., NK 1996, 6, 6.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

folges hin zu abstrakten Gefährdungsdelikten“, so heißt es, seien „auch die Voraussetzungen der fluchtbezogenen Untersuchungshaft immer dünner geworden: von Flucht über Fluchtgefahr zur bloßen Befürchtung des Fernbleibens in §127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO“ 250. Konsequent spricht er von einem „lediglich abstrakten Haftgrund“ 251. „Befürchtung“ ist für Herzog demnach die Umschreibung für eine formell verfahrensrechtliche „abstrakte Gefährdung“ gegenüber einer „konkreten Gefahr“ im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Was Herzog mit „Befürchtung als abstrakte Gefahr“ genau meint, legt er nicht ausdrücklich offen. Ebenso wenig begründet Hartenbach seine Ansicht von „deutlich geringeren Anforderungen“, die die Befürchtungsprognose gegenüber einer Gefahrprognose aufstelle. In jedem Fall erfordern diese und die zuvor genannten Meinungen eine klärende Stellungnahme.

2. Stellungnahme a) Übereinstimmungen zwischen „Gefahr-“ und „Befürchtungsprognose“ Sowohl „befürchten“ als auch „Gefahr“ verlangen und erlauben nach allen Ansichten eine Prognose, das heißt die „subjektiv-normative“ Annahme einer möglichen Verfahrensvereitelung. Das ist kaum in Frage zu stellen. Die ausschließliche Anerkennung einer „objektiven“ Gefährdung im Sinne einer „objektiv-bestimmten“, „real-existenten“ Möglichkeit eines Schadens, kann für die Befürchtung gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO schwerlich verlangt werden. Genauso wenig wie dies für § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gefordert werden kann. Der Beschuldigte, der sich sicher ist, dass er sich dem Verfahren durch Fernbleiben – genauso wie durch Flucht – nicht entziehen wird, der geradezu auf die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens „brennt“, da er beispielsweise in der Hauptverhandlung seine Unschuld überzeugend nachweisen will, stellt für das Verfahren kein real-existentes Gefährdungspotential. Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts in Form der Nichtdurchführbarkeit des Verfahrens ist dann nach dem vorhersehbaren Verlauf der Dinge objektiv nahe Null. Das Verfahren würde durch die Möglichkeit des Fernbleibens des Beschuldigten nicht tangiert, da objektiv keine Gefahr bestünde. Und dennoch muss in solchen Fällen anerkanntermaßen ein Haftgrund im Sinne des §127 b StPO, wie auch im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, rechtmäßig bejaht werden dürfen. Dann nämlich, wenn sich etwa der Wille des Beschuldigten, seine prozessualen Pflichten zu erfüllen, nicht ausreichend nachprüfbar objektiviert hat, sich andererseits jedoch genügend Hinweise zeigen, die darauf deuten, dass der Beschuldigte eventuell nicht erscheint. Andernfalls könnte § 127 b StPO gar keine Relevanz ha250 251

Herzog, StV 1997, 215, 216. Herzog, StV 1997, 215, 216.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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ben. Der Anwendungsbereich richtete sich letztendlich allein nach dem Willen des Beschuldigten. Befürchtung und Gefahr erlauben also die subjektiv-normative Annahme einer möglichen Verfahrensvereitelung ohne real-existente Gefährdung des Verfahrens. Eine bloß „putative Gefahr“ kann jedoch weder sinnvoll zur Begründung einer Gefahr noch einer Befürchtung genügen. Der Anschein im weiteren Sinne, ohne realexistente Gefährdung des Verfahrens, die irrige Vorstellung des Strafverfolgungsorgans also, die nicht auf objektiven Anhaltspunkten beruht, genügt nicht. Eine sich auf rein putative Erwägungen stützende Haft beruht auf „reinen Vermutungen“. Reine Vermutungen reichen zur Begründung einer Prognose nicht aus. Das ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip 252. Das Rechtsstaatsprinzip fordert für jede Entscheidung ein gewisses Maß an Objektivität. Für die Prognose der Befürchtung in § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO gilt bis zu diesem Punkt nichts anderes als für die fluchtbezogene Gefahrprognose gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.

b) Kritik an den genannten Ansichten Die von Hilger favorisierte Gleichsetzung von Befürchtung im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO mit Gefahr in § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO 253 hat ihren Ursprung offenbar darin, dass beide Voraussetzungen, wie angedeutet, eine subjektiv-normative Prognose zur Begründung von Haft verlangen und erlauben. Beide Prognosen stützen sich auf „bestimmte Tatsachen“. Die Gleichsetzung erweist sich jedoch als problematisch. Setzt man, wie Hilger, den Begriff der Befürchtung mit dem der Gefahr gleich, gelangt man zunächst unweigerlich zu der Frage, welche Anforderungen an den Gefahrbegriff zu stellen sind bzw. nicht gestellt werden dürfen. Die Frage ist umstritten. Fluchtgefahr liegt nach Kleinknecht/Janischowsky, Deckers oder auch Beulke vor, wenn es auf Grund bestimmter Tatsachen unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles konkret als „höher wahrscheinlich“ erscheint, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich dem Verfahren ohne weiteres zur Verfügung stellen wird 254. Andere wiederum, wie eben Hilger oder auch Paeffgen, legen speziell im Haftrecht an den Begriff strengere Maßstäbe an. 252 Vgl. i. d. S. wieder Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983), S. 23, wonach bei Rechtseingriffen in Freiheitsrechte des Betroffenen „optimale Sorge“ dafür getragen sein muss, dass Fehlprognosen vermieden werden. 253 Vgl. wieder LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), §127 b Rdn. 13 m. w. N. auf die eigene Kommentierung in § 112 Rdn. 25. 254 So etwa Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn.26 m.w. N.; AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 18 m. w. N. Auch nach Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 212, muss die Erwartung, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen, lediglich „wahrscheinlicher sein als das Gegenteil“.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Aufgrund der Eingriffsintensität in Freiheitsrechte des Beschuldigten verlangen sie für das Haftrecht eine „deutlich höhere“ 255 oder „hochgradige“ 256 Wahrscheinlichkeit. Übertragen auf § 127 b StPO, stellte sich also mit der Gleichsetzung der Begriffe die Frage nach einer „höheren“, einer „deutlich höheren“ oder nach einer „hochgradigen“ Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Beschuldigte dem Verfahren fernbleibt. „Gefahr“ lässt sich gegenüber „befürchten“ im Ergebnis zwar sinnvoll und gut einer „deutlich höheren“ Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zuordnen. Der Eingriff in die Freiheitsrechte des Beschuldigten ist bei Haft besonders intensiv. Dennoch ist die Reduktion der Diskussion auf die Höhe des Wahrscheinlichkeitsgrads nicht zulässig. Die Gleichsetzung wird weder dem Wortlaut noch einer systematischen und einer historischen Betrachtung gerecht. Gäbe es zwischen den Begriffen keinerlei Unterschiede, hätte der historische Gesetzgeber keine Notwendigkeit erkennen müssen, „Befürchtung“ im Haftrecht durch „Gefahr“ zu ersetzen. Der Begriff war bereits von 1935 bis 1950 zentraler Bestandteil des Haftgrundes der „Befürchtung des Mißbrauchs der Freiheit“257. Die „Befürchtung“, dass sich der Angeschuldigte dem Strafverfahren entzieht, war auch in der Zeit zwischen 1950 bis zur „Kleinen Strafprozessnovelle“ 1964 Teil des Haftrechts. Grund der Ersetzung durch „Gefahr“ war das Streben nach Objektivität. Der Terminus „Befürchtung“ enthielt für den damaligen Gesetzgeber zu sehr subjektive Bestandteile 258. Der Gesetzgeber der Hauptverhandlungshaft wählte den Begriff „befürchten“ schließlich, um einen gegenüber § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO erweiterten Haftgrund zu schaffen. Subjektivität fördert die Effektivität des Verfahrens, da die subjektive Entscheidung weniger nachprüfbar ist als die objektive. Hätte der Gesetzgeber immer einheitliche Prognoseanforderungen gewollt, hätte er in diesem Sinne leicht eine einheitliche Wortwahl treffen können. Gleiche Erfordernisse an die Prognose über das Ausbleiben des Beschuldigten können nur schwerlich zu einer Erweiterung des Haftrechts führen. Die Gleichsetzung der Begriffe entfernt sich zudem deutlich vom jeweiligen Wortsinn. Nach Duden, Bedeutungswörterbuch, steht „befürchten“ in sinnverwandtem Zusammenhang zu „argwöhnen“, „Bedenken haben“, „Besorgnis hegen“, „vermuten“ 259. Duden, Die sinn- und sachverwandten Wörter, sieht „Befürchtung“ sinnverwandt zu Wörtern und Wendungen wie „Vorgefühl“, „vorherwissen“, „innere Stimme“, „sechster Sinn“ und „Vorahnung“ 260. Damit wird der subjektive Charakter des Begriffs herausgestellt. Im Gegensatz hierzu steht „Ge255 256 257 258 259 260

LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 25. SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 24 m. w. N. Siehe zur NS-Zeit und zur Streichung des Haftgrundes oben 1. Kap., 1. Abschn. C. III. Vgl. BT-Drucksache 4/178, S. 21. Duden, Band 10 (2002), Stichwort: „befürchten“. Duden, Band 8 (1985); Stichtwort: „befürchten“.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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fahr“ im Zusammenhang mit „Bedrohung“, „Gefährlichkeit“, „Gefährdung“ und „Unsicherheit“ 261. Das sind Termini, die eher objektiv-überprüfbare als subjektivspekulative Zustände beschreiben. Der die Subjektivität der Voraussetzung unterstreichende Wortsinn wird in dem von Hellmann 262 erörterten Vergleich mit § 168 c Abs. 3 S. 2 StPO zumindest deutlicher als bei Hilger 263. Schröer 264 und Schlüchter/Fülber/Putzke 265 ist zunächst darin zuzustimmen, dass eine Gleichsetzung den Wortlaut des Gesetzes missachtet. Entgegen Schröer und Schlüchter/Fülber/Putzke ist die Auslegung Hellmanns im Sinne des § 168 c Abs. 3 S. 2 StPO jedoch nicht unproblematisiert zu übernehmen. Die Umschreibung Hellmanns, wonach eine Befürchtung gegeben ist, wenn nach den Umständen des Einzelfalles der Eintritt eines Schadens „ernsthaft in Betracht kommt und nicht nur in geringem Maße die konkrete Möglichkeit besteht“ 266, bezieht sich auf Anwesenheitsbefugnisse des Beschuldigten bei richterlichen Untersuchungshandlungen im Ermittlungsverfahren. Hieraus kann für die spezifische Bedeutung von „befürchten“ als Haftvoraussetzung schon im Ausgangspunkt nichts Entscheidendes hergeleitet werden. Auch erscheint ein Vergleich mit § 168 c Abs. 3 S. 2 StPO nicht unmittelbar geeignet, da dort die Befürchtung als Unterfall einer Gefährdung gemäß Abs. 3 S. 1 genannt wird. In der von Hellmann zitierten Literatur wird zwischen „gefährden“ in § 168 c Abs. 3 S. 1 StPO und „befürchten“ in Abs. 3 S. 2 auch nicht deutlich unterschieden. So lässt sich der zitierten Kommentierung von Rieß 267 im Wesentlichen lediglich entnehmen, dass die „Befürchtung (in Abs. 3 S. 2) ein Unterfall der Gefährdung“ im Sinne des § 168 c Abs. 3 S. 1 StPO ist. Das Erfordernis „zureichende Anhaltspunkte“ für die Prognose gemäß § 168 c Abs. 3 StPO bezieht sich bei Rieß – entgegen dem, was Hellman aus der Kommentierung abzuleiten scheint, – gerade nicht erkennbar isoliert auf das Merkmal „befürchten“, sondern eher auf „gefährden“ im Sinne des 168 c Abs. 3 S. 1 StPO 268. Die bei Hellmann zitierten Kleinknecht/Meyer-Goßner sprechen schließlich von der „Befürchtung der Gefährdung“ eines Untersuchungszwecks 269. Sie geben ebenfalls keinen Aufschluss über die inhaltliche Abgrenzung zwischen Gefahr und Befürchtung. Im Ergebnis ist daher auch der von Hellmann und der herrschenden Literatur favorisierte systematische Verweis auf § 163 c Abs. 3 S. 2 StPO abzulehnen. Duden, Bd. 10 (2002), Stichwort: „Gefahr“. Siehe wieder Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147. 263 Siehe wieder LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13 m. w. N. auf die eigene Kommentierung in § 112 Rdn. 25. 264 Vgl. wieder Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 93. 265 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 120 f. 266 Siehe wieder Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147. 267 LR-Rieß, StPO (24. Aufl. 1989), § 168 c Rdn. 15. 268 So LR-Rieß, StPO (24. Aufl. 1989), § 168 c Rdn. 15. 269 Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO (43. Aufl. 1997), § 168 c Rdn. 3. 261 262

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

„Befürchten“ ist schließlich kein, wie Hartenbach 270 meint, „neuer“, sondern ein gängiger Begriff in der StPO. Der Begriff wird nicht nur in der von Hellmann herangezogenen Regelung zur Anwesenheit des Beschuldigten bei richterlichen Vernehmungen gemäß § 168 c Abs. 3 S. 2 StPO verwandt. Er ist Bestandteil von § 81 a Abs. 1 S. 2 StPO und § 81 c Abs. 2 S. 1 StPO zur Untersuchung des Beschuldigten und anderer Personen. Er ist auch Voraussetzung des § 231 b Abs. 1 S. 1 StPO und von § 247 S. 1 StPO zur Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal 271. Herzogs Ansatz, den Begriff „befürchten“ an jenen der „abstrakten Gefahr“ des materiellen Strafrechts anzulehnen, ist inhaltlich nicht weiterführend. Inwieweit damit in dem Begriff „befürchten“ gegenüber dem bisherigen Untersuchungshaftrecht eine geringere oder eine wesentlich geringere Hürde zu sehen ist, hängt letztendlich von der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit ab, die eine abstrakte Gefahr im materiellen Strafrecht fordert. Nach Frisch gehört der Gefahrbegriff schon für sich besehen zu den „unklarsten und schillerndsten Begriffen der Rechtsdogmatik überhaupt“ 272. Im Detail sind die Bedeutung des Begriffs „Gefahr“ im Sinne der abstrakten Gefährdungsdelikte des materiellen Rechts und die Dogmatik der Delikte zu umstritten, als dass hilfreiche Parallelen der Auslegung gezogen werden könnten. So ist seit nunmehr über 150 Jahren die Frage ungelöst, wie sich abstrakte und konkrete Gefährdungsdelikte des materiellen Rechts im Einzelnen unterscheiden 273; ebenso unklar ist, ob bzw. wie zwischen gefährdender Handlung und gefährdetem Rechtsgut zu differenzieren ist 274. Das letztlich kaum lösbare „SubsumSiehe wieder Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83. Darauf weisen auch zutreffend Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 93 und dort FN 22, sowie Kohler, Beschleunigte Strafverfahren (2001), S. 72, hin. 272 Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983), S. 7. 273 Zu einem Aufriss über die Entwicklung des Streitstands vgl. Koriath, GA 2001, 50, 50 ff., 54 ff. 274 Ein abstraktes Gefährdungsdelikt soll dadurch gekennzeichnet sein, dass in einer Strafbestimmung ein typischerweise gefährliches Verhalten unter Strafe gestellt ist, ohne dass im Einzelfall – im Unterschied zum konkreten Gefährdungsdelikt – eine konkrete Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts eingetreten sein muss, vgl. Roxin, Strafrecht AT/Bd. I (1997), § 11 Rdn. 127. Siehe zur Problematik des Weiteren Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425, 431 f.; Geppert, Jura 1996, 639, 641; ders. Jura 1989, 417, 418; Lackner/Kühl, StGB (2001), Vor § 13 Rdn. 32; Kindhäuser, LPK-StGB (2002), Vor § 13 Rdn. 243 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT (1996), S. 264 ff.; differenzierend, Tröndle/Fischer, StGB (2003), Vor § 13 Rdn. 13 a m. w. N., wo von „potentiellen“, von „abstrakt-konkreten“ und von „besondere(n) abstrakte(n)“ Gefährdungsdelikten die Rede ist. Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansichten findet sich bei Zieschang, Gefährdungsdelikte (1998), S. 22 ff.; zur unterschiedlichen „Gefährdungsstruktur“ einzelner Bestimmungen siehe ders., a. a. O. S. 206 ff.; vgl. auch die Auseinandersetzung von Hirsch, in: FS-Kaufmann (1993), S. 545, 550, wonach nur die konkreten Gefährdungsdelikte „echte Gefährdungsdelikte“ und abstrakte „Gefährdungsdelikte“, genauer genommen, lediglich abstrakte „Gefährlichkeitsdelikte“ sind, weil allein die Gefährlichkeit des Handelns und nicht der Gefahrerfolg Inhalt der Abstraktion sei. Naucke, Strafrecht (2000), sieht in dem „unproblematischen“ Umgang der Strafgesetzgebung mit Gefährdungsdelikten die Hoffnung schwinden, Art. 103 Abs. 2 GG könne das Strafrecht in deutlichen Grenzen halten. Die Erforschung des Gefahrbegriffs i. S. d. Gefährdungsdelikte des materiellen Strafrechts hat nach Roxin nach wie vor noch nicht zu allgemein anerkannten Ergebnissen geführt. 270 271

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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tions- und das Begründungsproblem“ 275 übertrüge sich auf § 127 b StPO. Entscheidender noch: In § 127 b StPO geht es vor dem Hintergrund der Verfahrenssicherung nicht um die Gefahr einer Rechtsgutsverletzung im Sinne des materiellen Rechts durch den Beschuldigten. Es geht um die Befürchtung des Scheiterns der Durchführung des Strafverfahrens, also um das Leerlaufen des formellen Rechts, das der Durchsetzung des materiellen Rechts dient. c) Eigene Ansicht Die Auslegung des Begriffs „befürchten“ darf einerseits die spezifische Bedeutung des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO als Haftvoraussetzung nicht ignorieren. Die Stärke des Eingriffs in das Freiheitsrecht des Beschuldigten fordert vielmehr aus den Umständen des jeweiligen Falles eine „deutlich hohe“ Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Beschuldigte fernbleibt. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit vergleichbar hoch anzusetzen, wie dies zur Gefahrprognose im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO von Hilger vertreten wird 276. Darüber hinaus sind jedoch die Wortwahl des Gesetzgebers und der Sinn und Zweck des § 127 b StPO zu berücksichtigen. Aus dem in diesem Punkt vom Gesetzgeber in Kauf genommenen Widerspruch zwischen grundgesetzlich wünschenswerter Limitierung und gesetzlich durch § 127 b StPO gegebener Amplifikation des Haftrechts lässt sich letztendlich wohl die Vielzahl der Ansichten erklären. Der Wortsinn des Begriffs „befürchten“ spricht für eine „andere Qualität“ der Befürchtungsprognose im Vergleich zur Gefahrprognose. Beide haben unabhängig von der Festlegung von Wahrscheinlichkeiten einen unterschiedlichen Charakter. Ersterer ist stärker subjektiv. Das heißt, die Beurteilung ist wesentlich spekulativer und weniger real. Den jeweiligen Strafverfolgungsorganen wird in § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO ein wesentlich weiterer Beurteilungsspielraum eröffnet. Dieser lässt sich so umschreiben, dass die Strafverfolgungsorgane gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO zur Einschätzung gelangen „können“, dass der Beschuldigte fernbleibt. Es genügt für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme bereits, dass das Fernbleiben aus ex-ante Sicht „deutlich naheliegen konnte“ – oder anders ausgedrückt: dass es „in deutlicher Wahrscheinlichkeit bedacht werden durfte“. Dann ist das Fernbleiben bereits zu befürchten. Im Unterschied zur Gefahrprognose ist nicht erforderlich, dass die Umstände objektiv zu einer Einschätzung führen müssen, der Beschuldigte werde – hochwahrscheinlich – dem Verfahren fernbleiben 277. Es ist nicht erforderlich, dass das Verhalten oder die sonstigen Tatsachen für einen objektiven BeKoriath, GA 2001, 51, 51. Vgl. wieder LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13 m. w. N. auf die Kommentierung in § 112 Rdn. 25. 277 So fasst SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 24, die h. M. zur Gefahrprognose i. S. d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO zusammen – m. w. N. u. a. auf Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 26. 275 276

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

obachter bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens die hochwahrscheinliche Undurchführbarkeit des Verfahrens nahe legen muss. Diese subjektivierte Deutung führt zwar letztendlich zu einer starken Beschneidung rechtsstaatlicher Kontrollmöglichkeiten. Die Prognose ist generell je weniger überprüfbar, desto eher die Beurteilung des Einzelfalles subjektive Einschätzungen zulässt. Die Überprüfbarkeit der Entscheidung des jeweiligen Strafverfolgungsorgans ist unklarer als bei der Gefahrprognose gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die Befürchtungsprognose ist eng mit einem „subjektiven Anschein im engeren Sinne“ verbunden 278. Sie lehnt sich in gewisser Weise näher an eine „Vermutung“ als an eine Gefahrprognose 279. Gerade dies entspricht über den Wortsinn hinaus dem Zweck des § 127 b StPO. Staatsanwaltschaften und Gerichte werden durch § 127 b StPO ja nur dann verstärkt auf das beschleunigte Verfahren zurückgreifen können, wenn dessen Anwendungsbereich den der bisherigen haftrechtlichen Zwangsmaßnahmen tatsächlich erweitert. Die Gleichsetzung zwischen Gefahr und Befürchtung führte in diesem zentralen, die Prognose zum Störverhalten des Beschuldigten beschreibenden Element, zu keiner entscheidenden Erweiterung. Es hätte § 127 b StPO schon von daher kaum bedurft. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass § 127 b StPO als „Doppeltatbestand“ auf die Inhaftnahme eines aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO Festgenommenen angelegt ist. Je früher im Verfahren die Voraussetzungen der Inhaftnahme zu prüfen sind, desto eher besteht die Möglichkeit grob fahrlässiger Fehleinschätzungen. Die Ermittlungen sind in aller Regel noch nicht so fundiert wie in einem späteren Ermittlungsabschnitt. In der frühen Ermittlungsphase können auch einem ansonsten sorgfältigen Anwender grobe Prognosefehler leicht unterlaufen. Diese sind zwar für sich betrachtet vermeidbar. Angesichts der menschlichen Unzulänglichkeit ist jedoch gerade gehäuft damit zu rechnen, wenn ein auf frischer Tat Festgenommener inhaftiert werden soll. Gerade dieses höhere Fehlerpotential, das in einer objektivierteren Gefahrprognose steckt, schreckte die Verfolgungsbehörden gegenüber einer subjektivierten Befürchtungsprognose sicherlich nicht unerheblich von der Anwendung einer Norm ab. Schon grob fahrlässige Fehleinschätzungen können zu Amtshaftungsansprüchen führen 280. Zwar ließe sich – zumindest auf den ersten Blick – bei den anderen Voraussetzungen des § 127 b StPO entsprechend argumentieren, um eine jeweils weite Auslegung 278 Im Unterschied zum Anschein „im weiteren Sinne“ und der „reinen Vermutung“, bei der keine objektive Grundlage tatsächlich für einen Schadenseintritt spricht. 279 Auch wenn es sich offensichtlich nicht um eine – von vornherein rechtsstaatlicher Sicht widersprechende – „reine Vermutung“ handelt. Das wäre dann der Fall, wenn auch die Grundlage, auf die sich die Prognose i. S. d. Befürchtung stützt, nicht objektiviert wäre. 280 Vgl. Art.34 GG i.V.m. §839 BGB. Aus dieser (hier nur vermuteten, da nicht ausdrücklich geäußerten) Motivation des Gesetzgebers, der Gefahr von Amtshaftungen entgegenzutreten, kann sich die Wahl des subjektivierten Begriffs „befürchten“ erklären. Dahs sen., NJW 1959, 505, 507, forderte hingegen gerade auch aufgrund der Gefahr von Amtshaftungsansprüchen eine „dringende Notwendigkeit, die Grenzen für den Erlaß des Haftbefehles klar zu erkennen“.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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der Voraussetzungen zu begründen. Auch über die anderen Voraussetzungen des § 127 b StPO ist in frühem Verfahrensstadium zu befinden. Anders jedoch als etwa beim dringenden Tatverdacht nach § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO, gibt die Formulierung hier selbst nicht den Hinweis auf eine seitens des Gesetzgebers gewollte engere Auslegung. § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO grenzt sich durch die Wortwahl „befürchten“ vom bisherigen Haftrecht erweiternd ab; beim „dringenden“ Tatverdacht oder den „bestimmten“ Tatsachen hingegen, sind offenbar die relativ engen Grenzen der Auslegung des bisherigen Haftrechts grundsätzlich zu achten. Insoweit birgt der Begriff „befürchten“ gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO im Vergleich zum bisherigen Untersuchungshaftrecht im Sinne der Ansicht Hartenbachs 281, einen „erheblichen“ Unterschied zu Lasten der Beschuldigteninteressen. Die Einschätzung Herzogs geht in die richtige Richtung, wenn es heißt, dass die Voraussetzungen von Haft mit § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO gegenüber Fluchtgefahr in § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO „dünner“ geworden sind 282. Sie sind sogar „wesentlich dünner“ geworden. Es genügt, dass ein Anwender – eher einer „Vermutung“, denn einer Gefahrprognose im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenähert – eine deutlich hohe Wahrscheinlichkeit eines Verfahrensboykotts durch Fernbleiben aufgrund bestimmter Tatsachen subjektiviert annehmen darf. Die limitierende Funktion einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ des Schadenseintritts, die aufgrund der Schwere des Grundrechtseingriffs durch Haft wünschenswert wäre, ist weitestgehend aufgeweicht. Der Terminus Befürchtung lässt sich auch mit dem Verlangen eines deutlich hohen Maßes an Wahrscheinlichkeit für einen Schadenseintritt kaum so interpretieren, dass der „Befürchtungsfall möglichst selten eintritt“ 283. Die stark subjektiv geprägte Entscheidung der Strafverfolgungsorgane unterliegt nur sehr erschwert rechtsstaatlicher Kontrolle. Diese Abgrenzung zum bisherigen Untersuchungshaftrecht entspricht der Absicht des Gesetzgebers. Andernfalls hätte er sich des vergleichsweise eher Objektivität beschreibenden Begriffs „Gefahr“ bedient. Er hätte nicht auf einen Terminus zurückgegriffen, den er, als zu subjektiv geprägt, vor Jahrzehnten bereits aus dem Haftrecht verbannte. III. „Bestimmte Tatsachen“ als Prognosegrundlage 1. Allgemeines Die Befürchtungsprognose baut auf „bestimmten Tatsachen“ auf. Aufgrund der begrifflichen Identität der Prognosegrundlage des bisherigen UntersuchungshaftSiehe wieder Hartenbach, ZRP 1997, 227, und ders., NK 1996, 6, 6. Siehe wieder Herzog, StV 1997, 215, 216. 283 So formuliert nach LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), §127 b Rdn. 13 m. w. N. auf die Kommentierung in § 112 Rdn. 25, wo von „Gefahrenfall“ die Rede ist. 281 282

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

rechts und der des § 127 b StPO und vor dem beiderseitigen Hintergrund der Inhaftnahme des Beschuldigten, ist davon auszugehen, dass die Befürchtungsprognose auf gleichwertigen Tatsachen beruht wie die Gefahrprognose. „Bestimmte Tatsachen“ in § 112 Abs. 2 StPO und § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO verlangen jeweils den gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad für die Grundlage der Prognose über das Boykottverhalten des Beschuldigten. Die Befürchtungsprognose basiert demnach, wie die Gefahrprognose des bisherigen Untersuchungshaftrechts, auf der Würdigung konkreter Umstände. Sie müssen für einen objektiven Beobachter nachvollziehbar sein, dem Beweis unterliegen und gerichtlich verwertbar sein 284. Außer Betracht bleiben auch hier völlig unsubstantiierte Annahmen und Spekulationen, das heißt rein intuitiv vermutete Grundlagen 285. Zu den „verwertbaren Umständen“ können grundsätzlich auch innere Beweggründe und Eigenschaften des Betroffenen zählen, sofern sie zu bestimmten äußeren Umständen in Bezug gesetzt werden können 286. Unabhängig davon, ob es sich um äußere oder, durch die Beziehung zu äußeren Lebensumständen, um objektivierte innere Tatsachen handelt, hat der Haftrichter seine Entscheidung über deren Vorliegen jeweils auf der Grundlage freier Beweiswürdigung zu treffen 287. Mit der Qualität der Beweismittel hat er sich sorgfältig auseinanderzusetzen 288. Welche Tatsachen im Einzelnen für und gegen ein Fernbleiben des Beschuldigten sprechen, erscheint dabei ebenso erörterungswürdig wie die Wahrscheinlich284 Vgl. Pfeiffer, StPO (2002), § 112 Rdn. 4; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 15, 28. 285 Vgl. konkret zu § 127 b StPO Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 570. In Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 2 (1990), Rdn. 258, heißt es zum Begriff „bestimmte Tatsachen“ i. S. d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO: „(...) bloße Vermutungen und Befürchtungen genügen nicht“. Dies gilt auch im Rahmen des § 127 b StPO, wo sich die Befürchtungsprognose offensichtlich auf „fernbleibt“ und nicht auf bestimmte Tatsachen als Prognosegrundlage bezieht. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 22, nennt die Unbeachtlichkeit „bloßer Mutmaßungen“. SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), §112 Rdn. 21, weist darauf hin, dass der Einwand missverständlich sei, da die Entscheidung des Strafverfolgungsorgans „nie mehr sein kann (als eine bloße Mutmaßung)“. Dem ist vor dem Hintergrund, dass Wahrheit nie absoluten Ansprüchen genügen kann, zwar grundsätzlich zuzustimmen. Zweck des Einwands von Meyer-Goßner ist jedoch wohl, sich gegen unzulässige Begründungserleichterungen zu wenden. Das gibt auch Paeffgen a. a. O. zu erkennen. Und dies ist auch der Zweck des Einwandes hier im Text. 286 Vgl. allgemein AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 13. So kann beispielsweise die Tatsache, dass der Beschuldigte bereits früher Hauptverhandlungen ferngeblieben ist, ganz grundsätzlich auf einen „inneren Hang“ des Beschuldigten hindeuten, dass dieser seinen Anwesenheitspflichten nicht gewissenhaft nachkommt. Ob aber auch zu befürchten ist, dass sich diese Eigenschaft in der zukünftigen Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren zeigt, ist gem. der eigentlichen Prognose in einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen. 287 KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 8. 288 KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 8; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 21; siehe zu gegenläufigen Tendenzen aber auch OLG Düsseldorf, StV 1991, 521, 521 f., wonach es dem Begründungszwang des § 34 StPO genügt, wenn im Haftbeschwerdeverfahren die vorhandenen Beweismittel – ohne Auseinandersetzung mit ihrer Qualität – in der Entscheidung nur insoweit aufgeführt sind, als hierdurch die Ermittlungen nicht gefährdet werden.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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keit, nach der eine objektive Tatsachengrundlage gegeben sein muss, um als Grundlage der Befürchtungsprognose im Rahmen des § 127 b StPO herangezogen werden zu können. Fraglich ist also, welche Tatsachen ein Fernbleiben befürchten lassen dürfen, und – die Frage stellt sich vorrangig – wann eine Tatsache „bestimmt“ ist. 2. „Feststellung“ contra „Unmöglichkeit der Feststellung“ Nach einer früher von Dahs sen. und heute insbesondere von Deckers und Schlothauer/Weider vertretenen Ansicht muss sich das zuständige Strafverfolgungsorgan die „hinreichende Gewißheit“ verschaffen, dass für „bestimmte Tatsachen“, auf denen die Haftgrundprognose aufbaut, Beweis erbracht ist. „Bestimmte“ Tatsachen sind danach „voll bewiesene“ 289, also „festgestellte“ Tatsachen. Bezüglich § 127 b StPO ist bei Meyer-Goßner etwas unklar davon die Rede, dass es „regelmäßig schwierig“ sein wird, bestimmte Tatsachen „festzustellen“ 290. In seiner Kommentierung des § 112 StPO heißt es hingegen, dass bestimmte Tatsachen „nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts festzustehen brauchen“; insoweit genüge „derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie (...) beim dringenden Tatverdacht“ 291. Das heißt zusammengefasst und auf § 127 b StPO übertragen, dass Tatsachen bereits dann die Grundlage der Befürchtungsprognose gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO bilden, wenn sich ihr Vorliegen „aufdrängt“; sie müssen gerade „nicht festgestellt“ sein 292. Sowohl für als auch gegen diese beiden, im Grundsatz verschiedenen Betrachtungsweisen, gibt es gute Gründe. Für das Erfordernis „festgestellter“ Tatsachen kann einmal sprechen, dass das Gesetz als Grundlage für die Bestimmung des dringenden Tatverdachts schlicht „Tatsachen“ ausreichen lässt – zumindest deutet der Wortlaut des Gesetzes nicht auf besondere Tatsachen, auf die die Prognose zum dringenden Tatverdacht aufbaut – „während für die Annahme eines Haftgrundes ‚bestimmte‘ (also ganz gewisse) Tatsachen gefordert werden“ 293. Daher könne 289 Vgl. Dahs sen., NJW 1959, 505, 509; ders., NJW 1965, 889, 889. Nach AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 19, müssen die Tatsachen „voll bewiesen“ sein; siehe i. d. S. auch etwa Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 498 und 599, jeweils bezogen auf § 112 Abs. 2 StPO. 290 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 10. 291 Vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 22. Siehe auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 21 und 7 f.; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 23 und 26 f., sowie OLG Köln, StV 1995, 419, 419 f. („keine Fluchtgefahr allein aufgrund hoher Straferwartung“), wobei nicht immer eindeutig zwischen der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens bestimmter Tatsachen als Prognosegrundlage und der Wahrscheinlichkeit des Ausbleibens als Maßstab der eigentlichen, darauf aufbauenden Prognose über das mögliche Boykottverhalten des Verdächtigen unterschieden wird. 292 Zum dringenden Tatverdacht s. o. 2. Kap., 1. Abschn. D. 293 So argumentieren Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 480 [Hervorhebung und Klammersetzung im Original].

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

das „Maß der erforderlichen subjektiven Gewißheit“, so Schlothauer/Weider, „nicht identisch“ sein 294. Das Wort „bestimmte“ deutet demnach scheinbar auf eine stärkere Objektivierung der Prognosegrundlagen des Haftgrundes gegenüber denen zur Beurteilung des dringenden Tatverdachts. Das Gesetz scheint für das Vorliegen der Prognosegrundlage des Haftgrundes eine höhere Wahrscheinlichkeit zu verlangen als für den dringenden Tatverdacht. Diese Argumentation wird durch eine historisch-systematische Betrachtung gestützt. Zwar hat sich der Gesetzgeber nicht konkret zu den „bestimmten“ Tatsachen im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO geäußert. Der Tatsachenkreis, auf den sich die Haftgrundprognose zur Verdunkelungsgefahr aufbaut, ist jedoch durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit aus dem Jahre 1950 295 von (schlichten) „Tatsachen“ auf „bestimmte Tatsachen“ beschränkt worden. „Mit Rücksicht auf die grundsätzliche Bedeutung der Freiheit der Person (vgl. Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG)“, so heißt es in der Regierungsbegründung zum Gesetzentwurf, sollten die Voraussetzungen der Untersuchungshaft „schärfer umschrieben“ werden 296. „Bestimmte Tatsachen“ sind demnach eine „schärfere Umschreibung“ gegenüber (schlichten) „Tatsachen“. Wenn nun die Prognose zum dringenden Tatverdacht Tatsachen fordert, deren Vorliegen sich „aufdrängen“ muss, und der Gesetzgeber durch die Ersetzung der Prognosegrundlage (schlichter) „Tatsachen“ durch „bestimmte Tatsachen“ eine Verschärfung der Anforderungen an die Prognosegrundlage beabsichtigte, liegt es nahe, für „bestimmte Tatsachen“ ihre „Feststellung“ zu verlangen. Der historische Gesetzgeber zum Strafprozessänderungsgesetz von 1964 297 gab in der Folge ausdrücklich zu erkennen, dass bei „bestimmten Tatsachen“ – zur Begründung der Haftgründe Flucht und Fluchtgefahr – auf „festgestellte Tatsachen“ abgestellt werden soll 298. Dies könnte auf § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO übertragbar sein, da die Haftgrundkomponente der Fluchtgefahr nahe steht. Dass dieses historische Argument tatsächlich das Erfordernis einer Feststellung belegt, erscheint jedoch keineswegs zwingend. Zwar wollte der Gesetzgeber das 294 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 480. Vgl. zur Gegenansicht SKPaeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 7; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 20, sowie Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 7 und 22, wonach die Anforderungen für „bestimmte Tatsachen“ zur Haftgrundprognose denen zur Tatverdachtsprognose gleichzusetzen sind. Meyer-Goßner, Paeffgen und Hilger, jeweils a. a. O., fordern konsequent auch für die Grundlage der Prognose zum dringenden Tatverdacht „bestimmte Tatsachen“, obwohl der Wortlaut des Gesetzes für eine derartige Auslegung direkt nichts hergibt. 295 BGBl. I, S. 455. 296 Vgl. die Entwurfsbegründung BT-Drucksache 1/530, Anl. I a, S. 37 zu Nr. 38. Vgl. auch Dahs sen., NJW 1959, 505, 509; Seibert, NJW 1950, 772, 773, jeweils bezogen auf die Prognose zum Verdunkelungsverdacht i. S. d. § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO (a. F.) [Klammersetzung im Original]. 297 BGBl. I, S. 1067. 298 BT-Drucksache 4/1020, S. 2. Vgl. zum Strafprozessänderungsgesetz auch Dahs jun., in: FS-Dünnebier (1982), S. 227, 229.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Haftrecht durch die Voraussetzung „bestimmte Tatsachen“ objektivieren. Hätte er jedoch tatsächlich „festgestellte Tatsachen“ verlangen wollen, hätte er die Haftvoraussetzungen auch entsprechend formulieren können. Das hätte der Gesetzgeber anlässlich der Reform von 1950 tun können, wie auch bei der Einführung des § 127 b StPO. Das Argument, wonach „bestimmte Tatsachen“ der haftgrundbezogenen Prognose mit höherer Wahrscheinlichkeit vorliegen, das heißt „festgestellt“ werden müssten, da im Zusammenhang zur Tatverdachtsprognose von „bestimmten“ Tatsachen gerade nicht die Rede ist, ist demnach nicht entscheidend. § 127 b StPO verlangt nach seinem Wortlaut gerade keine „festgestellten Tatsachen“. Gegen „festgestellte Tatsachen“ spricht letztendlich die Schwierigkeit einer „Feststellung“ in frühem Verfahrenszeitpunkt. In einem frühen Ermittlungsstadium fehlt es gegenüber dem Hauptverfahren an dem Verfahrensförmlichkeiten erzwingenden Beweisverfahren 299. Grundsätzlich zeigt sich das Problem des frühen Verfahrenszeitpunktes in § 127 b StPO und §§ 112, 112 a StPO vergleichbar. In der Sache ist es bei der Anwendung des § 127 b StPO jedoch noch wesentlich drängender. Nach dem Willen des Gesetzgebers zielt die Hauptverhandlungshaft gerade auf einen frühen Anwendungsbereich im Verfahren. Die Haftregelung des § 127 b StPO steht systematisch in Verbindung zur Festnahmeregelung gemäß § 127 b Abs. 1 StPO. Auch wenn es ohne vorherige Festnahme zur Hauptverhandlungshaft kommen kann, wird sie in aller Regel im Anschluss an eine Festnahme – eventuell auch auf § 127 StPO gestützt – folgen. Im Zeitrahmen des Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG ist eine Feststellung praktisch kaum zu treffen. Sie ist es selbst dann nicht, wenn im Rahmen des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO offensichtlich keine umfassende Strafbarkeitsprognose wie beim dringenden Tatverdacht vorgenommen werden muss, sondern lediglich hinsichtlich des Fernbleibens von der Hauptverhandlung. Das Erfordernis einer „Feststellung“ verlangte nach alledem für die Verwertbarkeit bestimmter Tatsachen Unmögliches. „Feststellungen“ sind in frühem Verfahrenszeitpunkt praktisch nicht zu treffen. Es genügt, dass „wesentlich mehr“ für das Vorliegen der Tatsachen spricht als dagegen; ihr Vorliegen muss sich, wie die Grundlage zur Tatverdachtsprognose, „aufdrängen“. Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, was sich hinter dem Begriff des Fernbleibens verbirgt und welche bestimmten Tatsachen in concreto dafür sprechen können, dass der Beschuldigte der Hauptverhandlung fernbleibt. Zur Untersuchung des Begriffes „fernbleiben“ bietet sich ein allgemeiner Vergleich mit „Flucht“ gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO und dem „Sich-entziehen“ gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO an.

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SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 21.

12 Giring

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

IV. Das „Fernbleiben“ von der Hauptverhandlung 1. Fernbleiben als „passiver Ungehorsam“ und „aktive Handlung“ Nach der Legaldefinition des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist Fluchtgefahr begründet, wenn „bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen werde“. Sich-dem-Strafverfahren-entziehen ist ein willentliches, aktives Verhalten, das zum Erfolg hat, den Fortgang des Verfahrens wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft zu verhindern, für Ladungs- und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen 300. Auch der Haftgrund der Flucht erfordert gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO Aktivität: flüchten eben – oder Sich-verborgen-halten, was eine gewisse Umtriebigkeit voraussetzt, die bewirkt, für die Ermittlungsorgane möglichst unauffindbar zu sein 301. Eine Absicht, die Durchführung des Verfahrens zu verhindern, ist für eine positive Fluchtgefahrprognose nicht erforderlich. Es ist vielmehr ausreichend, dass der Beschuldigte durch sein Verhalten eine Blockade billigend in Kauf nimmt 302. Nach diesen Grundsätzen kommt bei Gefahr des Verfahrensboykotts durch bloß passives Verhalten der Erlass eines Haftbefehls aufgrund § 112 Abs. 2 StPO nicht in Betracht. Nichtstun genügt weder zur Bejahung von Flucht im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO noch für ein Sich-entziehen gemäß Abs. 2 Nr. 2 303. Ist allein die 300 Vgl. nur Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 18; Ranft, Strafprozeßrecht (1995), Rdn. 631; aus der Rspr. vgl. BGHSt 23, 380, 384 („Auslieferungsbefehl, Voraussetzungen, Fluchtgefahr“); BGH, StV 1990, 309 („Fluchtgefahr bei Bewohnern der DDR“); OLG Düsseldorf, NJW 1986, 2204, 2205 („Strafverfolgung eines Sonderbotschafters“); OLG Bremen, StV 1997, 533, 534 („Wohnsitz im Ausland“). 301 Eine präzise Abgrenzung zwischen Flüchten und Verborgenhalten ist im Einzelnen schwierig, aber auch entbehrlich, zumal ein Beschuldigter zugleich flüchtig sein und sich verborgen halten kann, KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 10; aus der Rspr. vgl. OLG Stuttgart, NStZ 1998, 427, 427 f. („ausländischer Tatverdächtiger“). 302 Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 29. Nach LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 32, kommt es entgegen Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 493, nicht auf ein zweckgerichtetes Verhalten an, sich gerade wegen des Ermittlungsverfahrens nicht erreichen lassen zu wollen; vgl. i. d. S. auch HK-Lemke, StPO (2001), § 112 Rdn. 17. Auch nach OLG Koblenz, NStZ 1985, 88 („Fluchtgefahr aus Verhalten vor der Tat“), kommt es nicht darauf an, ob der Verfahrensboykott „beabsichtigt erkannt oder nur in Kauf genommen“ wurde. Vgl. auch OLG Saarbrücken, StV 2000, 228, 228 f., wonach ein Ausländer, der sich in sein Heimatland begibt, ohne dass dies mit einer Straftat in Zusammenhang steht, nicht flüchtig ist. 303 Vgl. BGHSt 23, 380, 384 („Auslieferungsbefehl, Voraussetzungen, Fluchtgefahr“); BGH, StV 1990, 309 („Fluchtgefahr bei Bewohnern der DDR“); OLG Bremen, StV 1997, 533, 534 („Wohnsitz im Ausland“); OLG Koblenz, StV 1992, 424 („Fluchtgefahr durch selbst bewirkte Verhandlungsunfähigkeit“); Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 18; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 29, 33 m. w. N.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Gefahr gegeben, dass der Beschuldigte einer Ladung zur Hauptverhandlung schlicht wegen Untätigkeit nicht Folge leistet, ist er lediglich passiv „ungehorsam“. In diesen Fällen durften nach bisherigem Recht nur die spezielleren Mittel der Vorführung und Haft aufgrund §§ 134, 163 a Abs. 3, 230 Abs. 2 StPO oder § 236 StPO in Betracht gezogen werden 304. Ein Haftbefehl aufgrund § 230 Abs. 2 StPO kommt lediglich in Frage, wenn die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich der Vollstreckung eines Vorführungsbefehls entziehen werde. Ein festgenommener Beschuldigter musste bei Gefahr passiven „Ungehorsams“ grundsätzlich im Sinne des § 128 Abs. 2 StPO freigelassen werden. Mit § 127 b StPO ist für zu befürchtende passive Verfahrensboykotte nun eine haftrechtliche Option für die Strafverfolgungsbehörden geschaffen worden, die Anwesenheit des Beschuldigten von der Festnahme an sicherzustellen. Fernbleiben kann bereits bei schlichtem „Ungehorsam“ gegenüber einer Ladung vorliegen. Aktivität ist nicht erforderlich 305. Das entspricht dem Wortsinn und einhelliger Literaturansicht 306. Fernbleiben steht im Gegensatz zu Flucht für Passivität. Hat ein Beschuldigter erkennbar vor, passiv im Ausland zu bleiben, wodurch er seine Strafverfolgung erschwert, kann dies zwar Sich-entziehen „nicht gleichgestellt werden“ 307. Ein Fernbleiben kann dies indessen begründen. Darüber hinaus werden aber von § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO zudem die Fälle der Fluchtgefahr erfasst. Derjenige, der Fluchtgefahr erkennen lässt, begründet auch eine Befürchtung des Fernbleibens 308. Es ist also sowohl „befürchten“ ein Weniger gegenüber der von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO geforderten „Gefahr“ als auch „fernbleiben“ gegenüber (aktivem) „Sich-entziehen“ ein Weniger ist.

304 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 9. Zum Vorrang des Vorführungsbefehls gegenüber einem Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO, der weder dringenden Tatverdacht noch einen Haftgrund nach §§ 112, 112 a StPO voraussetzt, sondern die Feststellung, dass der Angeklagte nicht erschienen und sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist; vgl. auch BVerfGE 32, 87, 93 („Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch Aufrechterhaltung eines Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO“). 305 So zutreffend Hellmann, Strafprozeßrecht (1998), Teil II. § 4 Rdn. 33. Vgl. auch Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 570, wenn auch mit missverständlicher Bezeichnung („Haftgrund des vermuteten Ungehorsams“); reine Vermutungen genügen nicht zur Bejahung des Haftgrundes. 306 Vgl. nur Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), §59 Rdn.9; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13; HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 17; Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S.94; Pofalla, AnwBl. 1996, 83, 83. Siehe auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 10, wo „Befürchtung des Fernbleibens“ mit der „Möglichkeit des Ausbleibens“ gleichgesetzt ist. 307 Vgl. OLG Karlsruhe, StV 1999, 36, 36 f. („Verlegung des Lebensmittelpunktes ins Ausland“). 308 Vgl. nur Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 570. Insoweit ungenau Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 94, wonach „fernbleiben“ vorliegt, wenn zu erwarten ist, „daß der Tatverdächtige rein passiv nicht zur Hauptverhandlung erscheinen wird“.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

2. Die subjektive Seite Anhaltspunkte dafür, dass § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO die Absicht des Beschuldigten erfordert, den Fortgang des Verfahrens dauernd oder wenigstens vorübergehend zu stören, lassen sich § 127 b StPO genauso wenig entnehmen wie § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die Beispiele Hilgers, wonach Fernbleiben zu befürchten ist, wenn „der Beschuldigte einfach zu Hause bleibt, spazierengeht, einen Ausflug macht, seine Arbeitsstelle, Freunde oder eine Gaststätte aufsucht oder – nur um dem Termin auszuweichen – eine Geschäftsreise oder einen Urlaub macht“ 309, greifen also insoweit zu eng. Auf eine finale aktive Vereitelungshandlung, auf die die Wendung „um (...) zu“ (vermeintlich?) verweist, kommt es ebenso wenig an wie auf ein finales Unterlassen. Ausreichend für die Haftgrundkomponente des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO ist vielmehr, wie zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, die billigende Inkaufnahme der Verhinderung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. 3. Die Relevanz des Verschuldens Nicht von § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO erfasst ist die Befürchtung „entschuldigten“ Fernbleibens 310. Das ergibt sich letztendlich aus § 230 Abs. 2 StPO und aus allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen. Da schon die Anordnung der Vorführung ein „nicht genügend entschuldigtes“ Ausbleiben verlangt, muss dies erst recht für den Erlass eines stärker in die Rechte des Betroffenen eingreifenden Haftbefehls gelten. Zu fragen ist also, ob dem Beschuldigten, nach den sich zeigenden Umständen seiner Glaubhaftmachung billigerweise ein Schuldvorwurf zukünftigen Fernbleibens zu machen ist. Aus der Rechtsprechung zu § 230 Abs. 2 StPO 311 kommen als Entschuldigungsgründe unter anderem die Wahl des falschen Verkehrsmittels, eine zu knapp bemessene Anreisezeit zur Hauptverhandlung 312 oder etwa ein Kfz-Schaden bei der Anreise 313 in Betracht. Derartige Entschuldigungsgründe werden in dem Zeitraum, in dem die Entscheidung über den Haftbefehl nach § 127 b StPO üblicherweise zu treffen ist, jedoch praktisch keine Relevanz haben. Der von der Hauptverhandlungshaft Betroffene wird in der Regel ein gerade Festgenommener sein. Krankheit ist allerdings ein anerkannter Entschuldigungsgrund 314, der auch im Rahmen LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13 [Hervorhebung nicht im Original]. HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 18; KMR-Wankel, § 127 b Rdn. 8; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 4. 311 Bzw. entsprechend im Einzelnen zu § 329 StPO. 312 OLG Bamberg, NJW 1995, 740 („Einkalkulieren einer Zeitreserve“). 313 OLG Karlsruhe, NJW 1973, 1515 („weite Auslegung des Begriffs ‚genügende Entschuldigung‘ im Interesse des Angeklagten“). 314 Verhandlungsunfähigkeit ist nicht erforderlich; vgl. OLG Düsseldorf, StV 1987, 9 („Berufungsverwerfung bei Nichterscheinen des Angeklagten“). Siehe auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 27. 309 310

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des § 127 b StPO eine Rolle spielen kann. Nach ständiger Rechtsprechung zum bisherigen Untersuchungshaftrecht ist für die Klärung der Verschuldensfrage generell eine weite Auslegung zugunsten des Verdächtigten geboten 315. Aufgrund der gleichen Eingriffsintensität einer Inhaftierung aufgrund § 112 StPO wie aufgrund § 127 b StPO, gilt dies entsprechend auch für die Hauptverhandlungshaft. Nach Hilger und Pfeiffer soll dem Beschuldigten schließlich wegen einer „unaufschiebbaren Geschäftsreise“ oder eines bereits „unabänderlich gebuchten Urlaubs“ kein Vorwurf für ein Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO gemacht werden können 316. Dies kann zumindest als fragwürdig gelten. So ist nach einer Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts die Unterbrechung oder Verschiebung einer Dienst- oder Urlaubsreise ins Ausland in der Regel zumutbar 317. Entscheidend sind jedoch die Umstände des Einzelfalles – für die Entschuldigung 318, wie auch für das Fernbleiben an sich. Die Literatur zu § 127 b StPO nennt beispielhaft verschiedene Umstände, nach denen „fernbleiben“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO erwartet werden könne. Zur Würdigung der relevanten Fernbleibekomponenten kann auch wieder auf die Literatur und Rechtsprechung zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO zurückgegriffen werden. V. Tatsachen, die ein Fernbleiben befürchten lassen 1. Unmittelbare Fernbleibevorbereitungen Unter § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO fallen – verhältnismäßig unproblematisch – Äußerungen des Beschuldigten gegenüber Zeugen oder den Strafverfolgungsbehörden über sein Vorhaben, der Hauptverhandlung fernzubleiben 319. Entsprechendes 315 Vgl. wieder OLG Karlsruhe, NJW 1973, 1515, sowie BGHSt 17, 391, 397 („unentschuldigtes Ausbleiben des Angeklagten“); OLG Saarbrücken, NJW 1975, 1613, 1613 ff. („aufschiebbarer Aufenthalt im benachbarten Ausland“); OLG Düsseldorf, StV 1984, 148, 148 f. („Unzumutbarkeit der Hauptverhandlung wegen Krankheit“); OLG Brandenburg, NJW 1998, 842, 842 f. („krankhafter Querulantenwahn“). 316 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 4. 317 BayObLG, NJW 1994, 1748, 1748 f. („keine Entschuldigung aufgrund längerer Auslandsreise“). 318 Die Relevanz der Herbeiführung der Verhandlungsunfähigkeit oder einer unterlassenen Aufrechterhaltung der Verhandlungsfähigkeit sowie von Suizidgefahr, werden im Schrifttum zu § 127 b StPO gänzlich ausgeklammert. Da die Punkte im Gesetzgebungsverfahren zu §127 b StPO nicht angesprochen wurden, sei hier nur auf den Streitstand im Zusammenhang mit §112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verwiesen: Vgl. Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 417; Ranft, Strafprozeßrecht (1995), Rdn. 633; KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 16; Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 18 m. z. w. N. Aus der Rspr. zur Bedeutung der Suizidgefahr vgl. OLG Hamburg, JR 1995, 72, 72 ff. („Freitodversuch als Indiz für Entziehen“), und hierzu Paeffgen, NStZ 1995, 21, 21. 319 Vgl. KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 12. Nach BGH, StV 1990, 309, 309 („Fluchtgefahr bei Bewohnern der DDR“), soll jedoch nicht unbedingt ein Haftgrund anzuneh-

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

gilt etwa für das Besorgen oder Mit-sich-führen eines falschen Passes 320. Ist die Einlassung des Beschuldigten und sein Ausweispapier überprüft, darf gegebenenfalls befürchtet werden, dass der Beschuldigte in der Hauptverhandlung zum beschleunigten Verfahren nicht erscheinen wird. Hierauf kann sich eine Prognose im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO relativ leicht gründen. „Befürchten“ stellt, wie gesehen, keine große Hürde für die Inhaftnahme dar. Umstände, wie die bloße Planung eines zukünftigen Wohnungs- oder Arbeitsplatzwechsels 321, werden für die Befürchtungsprognose jedoch weit weniger erheblich sein. Die Strafverfolgungsbehörden haben bei der Festnahme und zwischen Festnahme und Entscheidung über den Haftbefehl sicherlich kaum Zeit, derartige Pläne des Beschuldigten genügend verlässlich zu ermitteln. Alles, was sich über ein bloßes Planungsstadium hinaus noch kaum realisiert hat, wird nur schwerlich in die Prognose einfließen können. In die Prognose dürfen nur „bestimmte Tatsachen“ einfließen. Die Planung eines Fernbleibens hat sich indessen wohl in ausreichendem Grad realisiert, wenn etwa der Beschuldigte im Vorfeld der vermeintlichen Tatbegehung unter falschem Namen eine Wohnung angemietet hat 322. Zu derart aufwendigen und weitsichtigen Maßnahmen werden jedoch Personen nicht unbedingt tendieren, bei denen der Verdacht besteht, dass sie bei einfacher Sach- oder klarer Beweislage in kleinere bzw. mittlere Kriminalität verwickelt sind. Sind unmittelbare Hinweise auf ein Ausbleiben nicht ersichtlich, kann der Haftbefehl eventuell auf andere, mittelbare Tatsachen gestützt werden. Von den in der Literatur und im Gesetzgebungsverfahren zu § 127 b StPO genannten Umständen erscheint die Berücksichtigung früheren Fernbleibens problematisch. Darüber hinaus soll auch bei besonderen persönlichen Verhältnissen befürchtet werden dürfen, der Beschuldigte werde den Fortgang des Verfahrens hindern. Hiernach konkretisiert sich der im Gesetzgebungsverfahren zu § 127 b StPO genannte Begriff „reisende Straftäter“ 323. Zudem wird eine eventuelle Abhängigkeit zwischen zu erwartender Sanktion und Vereitelungsprognose erörtert. 2. Die Straferwartung Die Beachtlichkeit von Straferwartung zur Begründung eines Haftgrundes unterliegt zunächst zwei generellen Bedenken: Zum Ersten ist zu bezweifeln, dass sich auf Straferwartung überhaupt ein Haftgrund im mittleren Kriminalitätsbereich men sein, wenn ein im Ausland wohnender Beschuldigter erklärt, er werde sich dem Verfahren nicht zur Verfügung stellen. 320 Vgl. KG Berlin, 5 Ws 1/99, 02.02.1995 („sechs Personalausweise und drei Reisepässe in den letzten Jahren“). 321 Deren Relevanz wird zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO diskutiert; vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 517 ff. 322 Dieses Beispiel nennt KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 20. 323 BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

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aufbauen lässt. Gemäß § 112 Abs. 3 StPO legt selbst der Verdacht von schwersten Straftaten das Ausbleiben des Beschuldigten lediglich widerlegbar nahe 324. Daraus lässt sich folgern, dass beim Verdacht weniger schwerer Straftaten erst recht zusätzlich bestimmte Tatsachen aufgezeigt werden müssen, um ein Ausbleiben des Beschuldigten bejahen zu können 325. Zum Zweiten ist nicht endgültig belegt, inwieweit die Straferwartung für den Beschuldigten überhaupt einen Anreiz schafft, nicht zur Hauptverhandlung zu erscheinen 326. Ein Beschuldigter mag sich gegebenenfalls überlegen, dass ein Ausbleiben die Lage für ihn durchaus verschlimmern kann. Bleibt er weg, nimmt er sich selbst von vornherein die Gelegenheit, seine Sicht der Dinge zum Tatverdacht persönlich und tatnah in einer Hauptverhandlung darzulegen. Je länger er ausbleibt, desto schwieriger kann es für ihn werden, aufgekommene Verdächtigungen glaubhaft zu entkräften. Mit der Zeit setzen sich Fehlvorstellungen der Strafverfolgungsorgane fest. Schließlich unterliegt die Wahrheit bei allen Beteiligten zeitlich bedingten „Erosionsprozessen“ – auch bei Unschuldigen. Ungeachtet dessen wird in der Rechtspraxis des bisherigen Untersuchungshaftrechts Straferwartung häufig zur Begründung von Fluchtgefahr herangezogen. Nach einer repräsentativen Darstellung und Analyse Gebauers zur Untersuchungshaftpraxis 327 ist eindeutig die Tendenz zu verstärkter Annahme von Fluchtgefahr Vgl. nur BVerfGE 19, 342, 350 („Tatschwere“). Vgl. im Zusammenhang zur Fluchtgefahrprognose BVerfGE 19, 342, 350 f. („Tatschwere“). Siehe auch Schlüchter, Strafverfahren (1983), Rdn. 211.2., und OLG Bremen, StV 1995, 85, 85 f. („Fluchtgefahr bei hoher Straferwartung“). Bei SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 25, heißt es, dass sich die „Anforderungen an die zusätzlichen Anforderungen vermindern (...), je höher die Straferwartung ausfällt“. Gem. einer Mitteilung von Stab über ein Forum des Deutschen AnwaltVereins zum Recht der Untersuchungshaft (04.02.1983, Bonn), NJW 1983, 1039, müssen nach Dahs jun. „andere gewichtige Tatsachen“ vorliegen, um den Haftgrund (der Fluchtgefahr) zu bejahen. KMR-Wankel (Stand: 1999), § 112 Rdn. 7, geht davon aus, dass ein Gesichtspunkt allein i.d. R. Fluchtgefahr nicht wird begründen können; so sei z. B. der Gesichtspunkt der Straferwartung „ohne Aussagekraft“, da es immer auf eine „Gesamtschau“ ankomme. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 546, gehen, entgegen gängiger haftrechtlicher Praxis, gar davon aus, dass „die Abstufung zwischen den Haftgründen des § 112 Abs. 2 einerseits und des § 112 Abs. 3 andererseits erhellt, dass die Straferwartung selbst keine ‚bestimmte Tatsache‘ darstellt“ [Hervorhebung im Original]. Sie stützen ihre Ansicht mit einem Verweis auf OLG München I, StV 2000, 371, 371 f. („schematisierende Betrachtungsweise ‚Rechtsfolgenerwartung = Fluchtgefahr‘ ist unzulässig“), wonach die Straferwartung nur Ausgangspunkt für die Erwägung ist, ob der von ihr ausgelöste Fluchtanreiz auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Beschuldigte werde ihm wahrscheinlich nachgehen. 326 Vgl. Parriger, NStZ 1986, 211, 212, und Böing, ZStW 91 (1979), 379, 381. 327 Analysiert wurden 800 Haftakten. Untersuchungszeitraum war das Jahr 1981. Auf Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), wird in dem Bewusstsein zurückgegriffen, dass es sich um eine nicht mehr ganz neue Untersuchung handelt. Die Arbeit Gebauers ist jedoch nach wie vor die umfassendste Untersuchung der Haftpraxis. Die Zahlen sollen daher als Rahmendaten verstanden werden, die einen Eindruck und Überblick geben. Neuere Darstellungen finden sich beispielsweise bei Jehle, BewHi 1994, 373, 380 f., und allgemein bei 324 325

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mit steigender Deliktsschwere erkennbar. Die Relevanz des Merkmals lässt sich mit „herausragend“ bewerten 328. Straferwartung führt mit über 53% die Liste der wichtigsten Merkmale zur Begründung von Fluchtgefahr an 329. Das gilt auch für die Liste der Einzelnennungen. In über 8 % der Fälle stützt sich die Begründung der Fluchtgefahr allein auf die Straferwartung 330. Dass die Erwartung allerdings auch im Rahmen der Befürchtungsprognose gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO eine annähernd ähnlich gewichtige Rolle spielen soll, ist kaum zu vertreten 331. Das Kriterium „hohe Straferwartung“ kann, wenigstens nach älterer Rechtsprechungsansicht, Fluchtgefahr allein begründen 332. Nach überwiegender Literaturansicht spricht es zumindest schwer entkräftbar für Fluchtgefahr 333. Dennoch kann eine „hohe Straferwartung“ – tatsächliche Schwierigkeiten einer entsprechenden Prognose einmal außer Acht gelassen – die Befürchtung gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO kaum begründen. Das beschleunigte Verfahren ist in dem Bereich, den man üblicherweise „hohe Straferwartung“ nennt, nicht anwendbar. Er beginnt nach allgemeiner Ansicht erst bei etwa einem Jahr Freiheitsentzug 334. Im Sinne des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO gilt das beschleunigte Verfahren lediglich für Fälle aus dem kleiDünkel, StV 1994, 610, 610 ff. Die Belegsentwicklung der Untersuchungshaft zwischen 1970 und 1994 zeigt Dünkel, NK 1994, 20, 21; zur Entwicklung speziell in den neuen Bundesländern vgl. ders., NK 1994, 20, 23. Zu älteren Untersuchungen, insbesondere zur Rechtsfolgenerwartung und aufgeschlüsselt nach Deliktsbereichen vgl. Abenhausen, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Untersuchungshaft (1983), S. 99, 124 und S. 126 ff., und Jehle, Untersuchungshaft (1985), S.80 ff. Vgl. auch Jehle, NK 1994, 22, 22 ff., allgemein zu Problemen und Perspektiven von Kriminalitätsstatistiken. 328 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 237. Vgl. auch Deckers, NJW 1994, 2261, 2265. 329 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1997), S.236, Tab. 53. Noch höher ist der Anteil nach der Untersuchung von Jehle, Untersuchungshaft (1985), S. 127 („in rund zwei Dritteln“). 330 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 236, Tab. 53. 331 So im Ergebnis auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 94, und Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147. 332 Vgl. OLG Düsseldorf, StV 1991, 305 („Fluchtgefahr aufgrund Straferwartung“). Nach OLG Zweibrücken, StV 1997, 534, 534 f. („Verdunkelungsgefahr aufgrund Straferwartung“); KG Berlin, StV 1998, 207 („Fluchtgefahr aufgrund Straferwartung“), und OLG Köln, StV 1997, 642, wonach selbst die Erwartung einer hohen Strafe „i. d. R. noch nicht allein, sondern erst i.V. m. weiteren Umständen, Fluchtgefahr begründen“ kann. Deutlich formuliert auch das OLG Hamm, StraFo 1999, 284, 284 ff. („fünf Jahre Freiheitsstrafe; Auslieferung“): „Allein die hohe Straferwartung kann die Fluchtgefahr indes nicht begründen“. Vgl. i. d. S. auch den Fall Tomasi ./. Frankreich, EGMR, EuGRZ 1994, 101, 101 ff. („Überlange Untersuchungshaft“). 333 So die h. M.: KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 18; Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 40 m. w. N.; Lemke, StPO (2001), § 112 Rdn. 22; Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 212. Siehe i. d. S. auch Benfer, JuS 1983, 110, 111 f., und Deckers, NJW 1994, 2261, 2261. Vgl. auch sehr kritisch zur Bedeutung der Straferwartung Dahs sen., NJW 1959, 505, 511. 334 Vgl. nur LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 39, und Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 23 ff., jeweils m. w. N. auf die Rspr.

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neren und mittleren Kriminalitätsspektrum 335. Ist das zu sichernde Verfahren auf Fälle hoher Straferwartung nicht anwendbar, ist auch § 127 b StPO als Sicherungsinstrument nicht anwendbar. Aufgrund der Verbindung zum beschleunigten Verfahren wird die Straferwartung zur Begründung der Haftgrundkomponente des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO generell auch im Zusammenspiel mit anderen Faktoren kaum genannt werden können. In diesem Sinne muss nach Ansicht des OLG Köln zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO die Erwartung einer Bewährungsstrafe als Begründung der Fluchtgefahr immer außer Acht bleiben 336. Schlothauer/Weider gehen unter der Betonung, dass ein „Haftgrund der Straferwartung keine gesetzliche Grundlage“ hat, davon aus, dass in der Praxis allenfalls eine zur Vollstreckung führende Freiheitsstrafe beachtlich sein kann 337. Ist diese zu erwarten, ist die Sache jedoch in der Regel für eine Behandlung im beschleunigten Verfahren ungeeignet. Die Würdigung der Strafzumessungskriterien verlangt eine eingehende Betrachtung des Falles. Die gemäß § 419 Abs. 1 S. 3 StPO zulässige Entziehung der Fahrerlaubnis wird für den Verdächtigten schließlich auch kein besonderer Ansporn sein, die Durchführung des Verfahrens durch Abwesenheit zu hindern. Eine „Maßregelerwartung“ bleibt unbeachtlich. Dem Beschuldigten wird die Fahrerlaubnis in der Regel bereits gemäß § 111 a StPO vorläufig entzogen 338. Ein Fernbleiben von der Hauptverhandlung brächte dem Beschuldigten diesbezüglich also keinen Vorteil. 3. Bedeutung aktuellen, ein- und mehrmaligen Ausbleibens Wird der Beschuldigte aufgrund eines auf Flucht gestützten Haftbefehls ergriffen und stellt sich heraus, dass er tatsächlich im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO flüchtig war, spricht dies dafür, dass der Beschuldigte an einer kommenden Hauptverhandlung nicht teilnehmen wird. Nach allgemeiner Anschauung ist aktuelle Flucht im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO ein anerkanntes Indiz zur Begründung 335 Nach Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 239, Tab. 55, endeten 37,7 % der Fälle, in denen die Straferwartung als einziges Merkmal zur Begründung von Fluchtgefahr genannt wurde, mit einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe von über einem Jahr. Das heißt, knapp zwei Drittel der Fälle hielten sich innerhalb des Strafrahmens des §419 Abs. 1 S. 2 StPO. In mehr als einem Drittel der Fälle, in denen zunächst eine „hohe Straferwartung“ angenommen wurde, kam es nur zu leichteren oder gar keinen Sanktionen, vgl. Gebauer, a. a. O. S. 237. Dies gibt zwar zunächst den Anschein, dass die Grenze des §419 Abs. 1 S. 2 StPO in der Mehrzahl der Fälle nicht gegen eine Berücksichtigung der Straferwartung in der Praxis zu § 127 b StPO sprechen muss. Gebauer zeigt jedoch, dass die ursprüngliche Einschätzung der Straferwartung über dem Bereich des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO lag, sie jedoch derart gravierend fehlerhaft war, dass später tatsächlich nur eine viel geringere Strafe verhängt werden konnte. 336 OLG Köln, StV 1993, 86 („Fluchtgefahr bei zu erwartender Freiheitsstrafe bzw. Strafaussetzung“). 337 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 543. 338 Darauf weist zutreffend Hellmann, NJW 1997, 2145, 2147, hin.

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von Haft aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO 339. Aktuelle Flucht spricht auch im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO dafür, dass der Beschuldigte fernbleibt. Der Beschuldigte zeigt nicht nur, dass er passiv ausbleibt und sich so dem Verfahren entzieht. Er wird sogar aktiv. Dennoch wird die so begründete Fluchtgefahr im Rahmen des Fernbleibens nach § 127 b StPO praktisch kaum relevant werden. In den betreffenden Fällen wird der Haftbefehl eher aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO erlassen werden. Die Sicherung des Verfahrens nach den Regeln des bisherigen Untersuchungshaftrechts ist, wie gesehen, bei weitem flexibler als die streng befristete Sicherung nach § 127 b StPO; sie steht auch dem Effektivitätszweck des § 127 b StPO nicht entgegen. Nach Meyer-Goßner, Keller und Boujong ist bei der Beurteilung der bestimmten Tatsachen „zunächst“ bzw. „in erster Linie“ daran zu denken, dass der Betroffene schon früher einer Hauptverhandlung ferngeblieben ist 340. Auch Hartenbach sieht die Befürchtung bereits als gegeben an, sofern der Beschuldigte in „einem“ früheren Verfahren der „ersten“ Ladung einer Hauptverhandlung nicht gefolgt ist. Aufgrund dieser Tatsache sei zu prognostizieren, dass der Betroffene auch diesmal nicht erscheinen werde 341. Nach Stintzing/Hecker wird „jeder Staatsanwalt und Strafrichter aus eigener Erfahrung in seinem Dienstbezirk bestimmte Personen kennen, bei denen aufgrund ihres bestimmten Verhaltens (in der Vergangenheit) damit gerechnet werden muß, (daß) sie (...) der ersten Ladung zum Gerichtstermin keine Folge (leisten)“ 342. Hellmann geht hingegen davon aus, dass die bloße „Nichtbefolgung einer ersten Ladung zur Hauptverhandlung in einem früheren Verfahren“ die Befürchtung nach § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO „nicht generell“ begründet 343. Der einmalige und unter Umständen schon länger zurückliegende Ungehorsam, so Hellmann, spreche nicht ohne weiteres für ein Ausbleiben. Er spreche nicht dafür, da der Beschuldigte die unangenehmen Folgen seines Verhaltens, nämlich den Erlass eines Vorführungs- oder Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO, verspürt haben werde 344. Hierzu ist anzumerken, dass der Beschuldigte, dessen früheres Ausbleiben Folgen hatte, sich seine Entscheidung, erneut fernzubleiben, zwar möglicherweise schwerer machen wird. Folgen können beispielsweise beruflicher oder familiärer 339 Vgl. nur AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 17; SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 23. 340 Vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 10; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 12; Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. 341 Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83; ders. NK 1996, 6, 7. 342 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 571. 343 Siehe Hellmann, NJW 1997, 2245, 2247 [Hervorhebungen nicht im Original]. Vgl. auch – allerdings ohne Begründung – Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 95, wonach das frühere Fernbleiben „zumindest dann“ die Befürchtung des Fernbleibens begründen kann, „wenn der Tatverdächtige schon des öfteren einer Ladung nicht gefolgt ist“ [Hervorhebung nicht im Original]. 344 Siehe Hellmann, NJW 1997, 2245, 2247.

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Art sein. Das „öffentliche Aufsehen“ über die Vorführung kann als negativ empfunden werden. Solange jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich sind, wonach die mit früherem Ausbleiben einhergehenden Maßnahmen den Verdächtigen tatsächlich „nachhaltig“ trafen, wird das erste Ausbleiben ein zukünftiges Fernbleiben befürchten lassen können. Zum einen war das frühere Versäumnis nicht entschuldbar. Ansonsten hätte eine Maßnahme nach § 230 Abs. 2 StPO nicht ergehen dürfen 345. Zum anderen wird es dem Beschuldigten nur schwerlich gelingen, die negativen Folgen früheren Fernbleibens glaubhaft zu machen. Ihm bleibt für die Verhinderung eines Haftbefehls nur die Zeit zwischen Festnahme und dessen Verhängung. Die Kürze der Reaktionszeit ist vom Gesetzgeber im Sinne der Effektivität des Verfahrens bewusst gewählt. Das frühere Ausbleiben kann als bestimmte Tatsache leicht nachgewiesen werden. Die Befürchtung gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO eröffnet einen weiten Spielraum, Ausbleiben im Sinne der Effektivität des Verfahrens zu prognostizieren. Die Beachtung einer zeitlichen Komponente früheren Ausbleibens lässt sich freilich kritisieren. Es ist kaum verlässlich bestimmbar, ob sich die Anschauung über eine Erscheinungspflicht bei demjenigen eher gewandelt hat, dessen Ausbleiben bereits längere Zeit zurückliegt, als bei demjenigen, dessen Ausbleiben noch sehr präsent ist. Solange sich keine Tatsachen dafür zeigen, dass das erste Ausbleiben Spuren derart hinterlassen hat, dass der Verdächtige in einer jetzigen Verhandlung erscheint, bleibt es bei der Verwertbarkeit allein des früheren Ausbleibens. Nur das ist dann eine bestimmte Tatsache, die zur Begründung des Fernbleibens herangezogen werden kann. Die Subjektivität des Begriffs „befürchten“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO spricht schließlich dafür, einer früheren willentlichen Verfahrensteilnahme geringere Bedeutung beizumessen als im Rahmen einer Gefahrprognose gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO 346. Früheres Erscheinen – als eine abwägungsrelevante Tatsache – wird früheres Ausbleiben nicht einfach wettmachen können. In diesen Fällen wird in der Regel der im Rahmen der Befürchtungsprognose zugelassene „Eindruck“, dass der Beschuldigte hochwahrscheinlich der Hauptverhandlung fernbleiben wird, überwiegen. Bei der Beurteilung werden die Strafverfolgungsbehörden gegebenenfalls auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können. An die „Kenntnis bestimmter Personen“ wird der Gesetzgeber jedoch – entgegen der Einschätzung von Stintzing/Hecker 347 – wohl eher nicht gedacht haben. Personenkenntnis wird in der Regel nur vorliegen, wenn die mögliche Straftat im Bezirk des zuständigen Staatsanwalts oder Richters begangen worden ist, in dem der Beschuldigte bereits früher auffällig wurde. Das ist eher zu erwarten bei Beschuldigten, die im entspreKK-Tolksdorf, StPO (2003), § 230 Rdn. 3. Vgl. hierzu OLG Bamberg, StV 1991, 167, 167 f. („Einzelfallprüfung für Haftgründe“), wonach die Tatsache, dass der Beschuldigte in früheren Verfahren trotz erheblicher Tatvorwürfe nicht geflohen ist, gegen Fluchtgefahr spricht. 347 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 571. 345 346

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chenden Bezirk ihren festen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort haben. Die Wege „reisender Straftäter“ – um im Sprachgebrauch des Gesetzgebers zu bleiben 348 – werden die Ermittlungen ein und desselben zuständigen Staatsanwalts oder Richters nur selten mehrmals kreuzen. Welchen Anwendungsbereich der Gesetzgeber konkret unter dem Schlagwort „reisende Straftäter“ zusammenfasst, umschreibt die Gesetzesbegründung jedoch nicht näher. Es heißt lediglich: „Gerade bei reisenden Straftätern kann das Mittel der Hauptverhandlungshaft seine Wirkung entfalten“ 349. Die Literatur und der Gesetzgeber stellen persönliche Verhältnisse des Verdächtigten als abwägungsrelevante Belange der Fernbleibeprognose in den Mittelpunkt. 4. Persönliche und soziale Verhältnisse/ Stellungnahme zum „persönlichen“ Anwendungsbereich a) Wohnsitz, Aufenthaltsort, Beruf, Familie und wirtschaftliche Verhältnisse Die Rolle, die der Wohnsitz des Beschuldigten für die Fernbleibeprognose nach § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO spielt, ist umstritten. Im Plenum des Deutschen Bundestags formuliert Pofalla geradezu ultimativ, dass „die Hauptverhandlungshaft natürlich auch dann nicht verhängt werden wird, wenn der Täter den Wohnsitz eindeutig nachweisen kann“ 350. Dies relativiert sich allerdings mit seinen Äußerungen im Schrifttum. Danach kann die Hauptverhandlungshaft auch auf „Straftäter“ angewandt werden, die „durchaus einen festen Wohnsitz sowie Arbeitsplatz haben“ 351. Erinnern wir uns an die Ansicht Kühnes, scheint es speziell nicht darauf anzukommen, ob der Beschuldigte über keinen festen Wohnsitz oder Aufenthaltsort verfügt. Das Auseinanderfallen des Gerichts- und des Wohnorts ist für ihn relevanter. Es heißt, dass § 127 b StPO „vor allem bei nicht am Gerichtsort ansässigen (...) Tätern“ von Bedeutung ist 352. Nach Eisenberg wiederum sprechen instabile Wohnverhältnisse „vorrangig“ für ein Fernbleiben 353. Die Rechtsprechung zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO begründet Fluchtgefahr häufig mit den Bindungen des Beschuldigten an seine Umwelt. In der Praxis zählen die faZum Begriff vgl. wieder BT-Drucksache 13/2576, S. 3. Vgl. BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 350 Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11648. 351 Pofalla, AnwBl. 1996, 466, 467. 352 Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 627. 353 Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 b. „Wohnsitzlose“ und Personen mit „häufig wechselndem Wohnsitz“ werden beispielsweise auch in einem gemeinsamen Runderlass des Justiz-, des Innen- sowie des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit in Nordrhein-Westfalen v. 15.07.2002 (MBl. 2002, S. 861) als Personengruppen genannt, auf die § 127 b StPO bevorzugt Anwendung finden soll. 348 349

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miliären, die Wohn- und Arbeits- sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse zu den relevantesten „bestimmten Tatsachen“, aus denen Fluchtgefahr hergeleitet wird. Nach Gebauers Untersuchung der Untersuchungshaftpraxis war ein Drittel aller im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO dringend Verdächtigten ohne festen Wohnsitz. Davon übernachtete knapp jeder Dritte auf Parkbänken, unter Brücken oder im Obdachlosenasyl 354. Entsprechend häufig wurde der Haftgrund der Fluchtgefahr auf Wohnsitzlosigkeit gestützt. Nach „hohe Straferwartung“ war „fehlender Wohnsitz“ mit 4,9 % die zweithäufigste Einzelbegründung 355. Rund zwei von drei Beschuldigten, gegen die ein Haftbefehl verhängt wurde, waren arbeitslos 356. Etwa die Hälfte lebte allein 357. Auf Arbeitslosigkeit wurde der Haftbefehl in 34,2 % der Fälle gestützt und auf das Fehlen sozialer Bindungen in 37,9 % 358. Insgesamt waren ca. 3/4 der Haftfälle der sozialen „Unterschicht“ zuzuordnen 359. Schließlich zeigt die Analyse Gebauers deutlich, dass soziale Außenseiter, wozu vornehmlich Wohnsitzlose zählen, im Wesentlichen hinter den leichteren Anlassdelikten standen, auf die sich der dringende Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 S. 2 StPO bezog. Bei mehr als der Hälfte der einfachen Diebstähle oder sonstigen kleineren Vermögensdelikte bestand der Verdacht, sie seien von Wohnsitzlosen begangen worden 360. In mehr als 75 % dieser Fälle waren die Inhaftierten arbeitslos 361. Insgesamt waren nach Gebauer ca. 10 % der Untersuchungshaftfälle dem Bagatellbereich zuzuordnen 362. In rund 5 % lag die gesetzliche Höchststrafe für das schwerste Delikt nicht über einem Jahr Freiheitsstrafe. Davon waren jeweils ca. 40 % Verstöße gegen das Ausländergesetz und Leistungserschleichungen nach § 265 a StGB 363. Eine Betrachtung der Schadenshöhe zeigte, dass 9,5 % aller Haftbefehle der Verdacht leichter Körperverletzungen (ohne ärztliche Behandlung) und Vermögensdelikte mit Schäden unter 100 DM zugrunde lagen 364. Dies sind insgesamt gerade die Kriminalitätsfelder, die auch den Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens schwerpunktmäßig ausmachen sollen. § 127 b StPO soll in diesen Bereichen gerade auf „asoziale Existenzen“ 365, „Minderbemittelte und soziale Randgruppen“ 366 anwendbar sein. 354 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S.130, mit Erklärung zu davon abweichenden Ergebnissen von Jehle, Untersuchungshaft (1985), S. 155, wonach ca. 22 % der Gefangenen vorher „ohne feste Bleibe“ waren. 355 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 236, Tab. 53. 356 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 190. 357 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 190. 358 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 236, Tab. 53. 359 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 135, Tab. 16. 360 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 189 f. 361 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 190. 362 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 175. 363 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 175. 364 Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 175. 365 Herzog, StV 1997, 215, 216. 366 Wächtler, StV 1994, 159, 160.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Die Zahlen Gebauers sind jedoch kein unbedingter Maßstab für eine regelgerechte Anwendung des § 127 b StPO. Sie spiegeln nur die Haftpraxis wider und sagen nichts über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung. Im Rahmen des § 127 b StPO ist nachdrücklich auf die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinzuweisen. Problematisch an der Einbeziehung sozialer Verhältnisse ist zudem die latente „Gefahr einer schematisierten Handhabe“. In der Literatur zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StGB wird dieses Risiko häufig geäußert 367. Entscheidend ist jedoch dort wie in § 127 b StPO die Würdigung aller Umstände des Einzelfalles. Ein Beschuldigter wird vielleicht je eher ausbleiben, desto weniger Familienleben er hat. Wer auf einem Gebiet „nichts zu verlieren hat“, da er beispielsweise ohne Familie ist, setzt zwar diesbezüglich direkt „nichts“ aufs Spiel. Ein Alleinlebender wird sich jedoch vielleicht aufgrund anderweitiger Beeinträchtigungen durch Haft, etwa Beeinträchtigungen im Beruf als eventuelle Folge eines Ausbleibens besonders vor Augen halten. Fehlende familiäre Bindungen deuten demnach nicht unbedingt auf ein Fernbleiben hin. Gleiches gilt für Arbeitslosigkeit. Denn der Betroffene, der darüber entscheidet, ob er erscheint oder nicht, wird aufgrund der Folgen einer in Betracht kommenden Haft seine Aussichten auf eine mögliche Anstellung in naher Zukunft vielleicht nicht mindern wollen und erscheinen. Vielleicht wird ein Arbeitsloser Familienbindungen gerade nicht gefährden wollen, da er wirtschaftlich eventuell enger an seine Familie gebunden ist als eine Person mit fester Anstellung. Eine (intakte) Ehe und eine auf dauerhafte Lebensgestaltung ausgerichtete Partnerschaft 368, sorgebedürftige Kinder oder andere Angehörige, dürften sowohl im Rahmen des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO als auch des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO grundsätzlich relativ deutlich gegen ein Ausbleiben sprechen. Es ist also anzunehmen, dass der Beschuldigte bei Vorliegen nur eines der zuletzt genannten Kriterien eher zum Hauptverhandlungstermin im beschleunigten Verfahren erscheint. Andernfalls riskiert er die Inhaftierung und gefährdet Bindungen 369. Sind jedoch instabile Verhältnisse des Beschuldigten zu seiner Umwelt erst einmal als „bestimmte Tatsachen“ verwertbar, kann die Befürchtungsprognose gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO wesentlich leichter positiv ausfallen als zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Fehlende soziale Bindungen familiärer oder beruflicher Art 370 sind nicht alles entscheidend. Beschuldigte, die erscheinen wollen, können aufgrund einzelner persönlicher und sozialer Indikatoren eiliger „in einen Topf “ mit 367 Vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 507, wonach die Praxis auf „scheinbar objektive Kriterien, wie das Fehlen eines festen Wohnsitzes“, zurückgreift. Siehe auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 26 f.; KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 15; Jehle, Untersuchungshaft (1985), S. 125 f.; Dahs sen., NJW 1959, 505, 507 m. w. N. 368 Vgl. OLG Hamburg, StV 1987, 496 („Fluchtgefahr bei fester gleichgeschlechtlicher Beziehung“). 369 Vgl. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 571, und i. d. S. auch Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. Siehe auch Joachimski/Haumer, Strafverfahrensrecht (2000), S. 62, die im Zusammenhang mit §112 Abs.2 Nr.2 StPO von sozialen Bindungen als „fluchthemmende Umstände“ sprechen. 370 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679.

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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denen geworfen werden, die ausbleiben wollen. Das lässt das Gesetz zu, solange die Tatsachen, auf denen die Prognose beruht, „bestimmt“ sind. Im Falle des Falles ist eine vorschnelle Inhaftierung aufgrund § 127 b StPO schwerer nachzuweisen als aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Das ergibt sich aus der schwierigen Überprüfbarkeit der Befürchtungsprognose und mag von gesetzgeberischer Seite im Sinne der Effektivität des Verfahrens in Kauf genommen sein. Im Sinne einer Erweiterung der Haftvoraussetzungen wird das „Fehlen einer tatsächlichen Niederlassung“, eines Ortes also, an dem der Beschuldigte für die Strafverfolgungsorgane zu erreichen ist 371, der Praxis nicht selten die Befürchtung des Fernbleibens nahe legen können. Auf einen festen Wohnsitz im Sinne einer polizeilichen Meldung kommt es hingegen nicht unbedingt an. Insbesondere ist das Fernbleiben zu befürchten, wenn der Betroffene weder in ein Familien- noch ein Arbeitsleben integriert ist, das er durch Fernbleiben gefährden könnte. Die Einschätzung der Literatur zur Anwendung des § 127 b StPO auf Wohnsitzlose erscheint also – trotz aller Warnungen vor voreiligen Schlüssen – grundsätzlich nachvollziehbar. Die Ansicht Kellers 372 wird, was einen „häufigen Wohnsitzwechsel“ angeht, hier jedoch nicht unumwunden geteilt – zumindest nicht für die Fälle, in denen aktuell und schon seit längerer Zeit gefestigt, ein Wohnsitz gegeben ist. Demjenigen, der aktuell einen Wohnsitz vorzuweisen hat, kann sowohl eine Ladung zum beschleunigten Verfahren als auch ein Strafbefehl zugestellt werden. Kann ein Strafbefehl erlassen werden, fehlt für eine Inhaftierung grundsätzlich die Ermächtigung. Der Strafbefehl ist effektiv und vor allem weniger stigmatisierend als Haft gemäß § 127 b StPO zur Sicherung einer Hauptverhandlung 373. Ist ein Zustellungsbevollmächtigter benannt, kann die Anwendung des § 127 b StPO auch hinter § 127 a StPO oder § 132 StPO zurücktreten. Solange sich über das bloße Planungsstadium hinaus keine Tatsachen dahingehend manifestiert haben, dass der Verdächtige auch in naher Zukunft wieder den Wohnsitz wechselt und so den Zugriff der Verfolgungsbehörden erschwert, spricht ein häufiger Wohnsitzwechsel nicht auffallend für ein Fernbleiben. Es müssen vielmehr Anhaltspunkte ersichtlich sein, wonach der Wohnsitz- oder Aufenthaltwechsel im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen den Beschuldigten steht 374. 371 Vgl. KG Berlin, 4 Ws 194/99, 19.08.1999 („Fluchtgefahr bei polizeilicher Meldung“), wonach es für die Frage der Fluchtgefahr keine entscheidende Rolle spielt, ob und gegebenenfalls seit wann der Beschuldigte polizeilich gemeldet ist – solange sein Aufenthalt bekannt ist. 372 Vgl. Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679, sicherlich in Anlehnung an die Ansichten etwa von LR-Hilger, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 29, und KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 11, jeweils zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. 373 Vgl. allgemein Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 550, zur „Möglichkeit effektiver Haftvermeidung“ durch Strafbefehl. Neben Abs. 1 Nr. 2 scheitert die Anwendung des § 127 b StPO bereits an Abs. 1 Nr. 1, wenn die Sache zur Behandlung im beschleunigten Verfahren ungeeignet ist. 374 Entsprechend zu § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO vgl. OLG Bremen, StV 1997, 533, 533 f. („Wohnsitzwechsel ins Ausland“) m. w. N.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Ein aktuell gegebener Wohnsitz und ein ständiger Aufenthaltsort sprechen grundsätzlich für die Entbehrlichkeit der Haft und damit gegen die Rechtmäßigkeit eines Haftbefehls. Daran ändert sich grundsätzlich auch nichts, wenn der Betroffene einen Wohnsitz im Ausland hat und geladen werden kann. In diesem Sinne entzieht sich nach Ansicht des OLG Naumburg nicht gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO dem Verfahren, wer sich nach überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einem im Ausland befindlichen Wohnsitz begibt, solange er sich dort für Ladungen etc. zur Verfügung hält 375. Das gilt auch für die Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b StPO. Die wahrscheinliche Begehung der Straftat fern des Wohn- und Aufenthaltsortes genügt also in der Regel alleine nicht zur Begründung der Fernbleibebefürchtung im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO 376. Das von Keller genannte Kriterium „häufiger Arbeitsplatzwechsel“ 377 spricht ebenfalls eher nicht für ein Ausbleiben. Je nach Berufsbranche gehören Abwerbungen von Arbeitskräften durch Konkurrenzunternehmen heute zum Arbeitsmarkt. Wird „häufiger Arbeitsplatzwechsel“ dennoch zur Begründung eines Hauptverhandlungshaftbefehls genannt, müssen vorher die Ursachen für den Wechsel eruiert sein. Für häufige Arbeitsplatzwechsel kann es berufliche und finanzielle Gründe geben. Es können beispielsweise auch gesundheitliche oder familiäre Gründe eine Rolle spielen, die nicht mit einem möglichen Fernbleiben des Beschuldigten in einem Strafverfahren in Verbindung gebracht werden können. Zeigt sich keine direkte Verantwortlichkeit des Betroffenen, hat ein häufiger Arbeitsplatzwechsel bei der Befürchtungsprognose gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO außer Acht zu bleiben. b) Zur Ausländereigenschaft Nach Hellmann gilt die Voraussetzung des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO „als erstes“ für Beschuldigte, die „in Deutschland“ über keinen festen Wohnsitz verfügen 378. Das werden in der Regel Ausländer sein 379. Hilger geht demgemäß davon aus, dass Ausländer nach „allgemeinen Erfahrungssätzen und typischen Fallkonstellationen“ einer Hauptverhandlung nicht selten fernbleiben 380. Eine Fernbleibeprognose ist schnell auch für die von Hilger, Boujong und Wankel erwähnten Ausländer begründet. Ausländer, die sich im Umfeld von Sportveranstaltungen der Begehung von OLG Naumburg, StV 1997, 138 („Verbleiben unter bekannter Adresse im Ausland“). So zutreffend Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 571, und Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. 377 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. 378 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149. 379 Vgl. i. d. S. auch Wächtler, StV 1994, 159, 160, wo vom beschleunigten Verfahren als „eine(r) ‚StPO light‘ für kleine Gauner, Ausländer, Minderbemittelte und andere soziale Randgruppen“ die Rede ist. Siehe auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 94. 380 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13, und auch Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 627. 375 376

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Straftaten verdächtig machen 381, haben in der Regel keine engeren Bindungen an die Bundesrepublik. Für gewöhnlich fehlt es hier an einem festen Wohnsitz und einem ständigen Aufenthaltsort. Es ist daher gut vorstellbar, dass nicht wenige ein Spiel „ihrer Mannschaft“ sehen, während der Veranstaltung, bei Anreise oder Abreise Sachbeschädigungen, Diebstähle, Nötigungen, Körperverletzungen etc. begehen und dann in ihr Heimatland zurückkehren. Eventuell verstärkt der „Corpsgeist in der Fangemeinde“ den Willen zu ungesetzlichem Handeln. Bestünde kein Haftgrund gemäß §§ 112, 112 a StPO und gäbe es § 127 b StPO nicht, würden Hooligans festgenommen und im Sinne des § 128 StPO wieder freigelassen werden. Danach sind sie schwer lokalisierbar und der Zugriff der Strafverfolgungsorgane ist erschwert. Solange sich ein Ausländer nur kurzfristig hier aufhält, ist die Annahme, er werde sich ohne Zwang einer Hauptverhandlung nicht stellen, generell gut begründbar. Nicht jedoch die Ausländereigenschaft des Betroffenen darf die Begründung sein, sondern ein erkennbarer, wahrscheinlicher Wille des Verdächtigen, nicht am Verfahren teilzunehmen. Der Betroffene wird ein gegen ihn laufendes Verfahren sicherlich nicht immer abwarten. Gegenüber jemandem, der kurzfristig aus beruflichen oder touristischen Gründen hier ist, kann befürchtet werden, dass der- oder diejenige die Bundesrepublik wieder zeitig verlässt. Die Person wird im Falle des Falles dorthin fahren, wo sie wohnt, wo sie eine Arbeitsstelle und wo sie eine Familie hat 382. Mit der Ausreise entzieht sie sich dem unmittelbaren Zugriff deutscher Strafverfolgungsbehörden. Davon abgesehen machen nach Dahs jun. „Besitz von Vermögen im Ausland, geschäftliche oder private Beziehungen in das Ausland (...) die Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO in der Praxis fast zu einer ‚unwiderleglichen Vermutung‘“ 383. Gemessen an den sozialen „Randgruppen“, die im Zusammenhang mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens und mit § 127 b StPO als Sicherungsinstrument angesprochen sind 384, ist diese Einschätzung im Rahmen der Hauptverhandlungshaft jedoch eher nicht von Bedeutung. Bei Verdächtigungen im Umfeld von Massensportveranstaltungen erscheint es äußerst zweifelhaft, dass § 127 b StPO das geeignete Instrument ist, eine Durchführung der Hauptverhandlung zu sichern. Die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO ist für Straftaten im Zusammenhang mit jedweder Massenveranstaltung in aller Regel zu vernei381 Vgl. wieder LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13, sowie KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 12; KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 5. 382 Das ist zumindest anzunehmen, wenn der Verdächtige in der Bundesrepublik keine engeren örtlichen Bindungen – beispielsweise infolge einer gefestigten Lebenspartnerschaft – hat; vgl. SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), §112 Rdn. 27. Neben Wohnsitzlosigkeit wird in der Haftpraxis zu § 112 StPO Fluchtgefahr häufig auch gerade mit der Ausländereigenschaft des Beschuldigten begründet; nach Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 236, Tab. 53, ist dies in 10 % der Fälle so. Vgl. hierzu auch Dünkel, StV 1994, 610, 613. 383 Dahs jun., Handbuch des Strafverteidigers (1999), Rdn.314 [Hervorhebung im Original]. 384 Vgl. wieder Wächtler, StV 1994, 159, 160, und auch wieder Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 95.

13 Giring

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

nen. Wenn es sich um „gewalttätige Demonstranten“ 385 handelt, oder wenn es um „Chaoten“ bzw. „Rowdies in Fußballstadien“ 386 geht, die sich, womöglich noch politisch motiviert 387, der Begehung von Straftaten verdächtig machen, ist das beschleunigte Verfahren ungeeignet. Es ist weder ein einfacher Sachverhalt noch eine klare Beweislage im Sinne des § 417 StPO anzunehmen. Ist es schließlich einmal zu erwarten, dass der Fall eines Ausländers, dessen Heimreise ansteht, im beschleunigten Verfahren entschieden werden kann, heißt dies noch nicht, dass die Hauptverhandlungshaft tatsächlich anzuwenden ist. Den Strafverfolgungsbehörden stehen mit § 127 a StPO und § 132 StPO speziell gegenüber Ausländern Möglichkeiten zur Hand, das Verfahren ohne Haft „grundrechteschonender“ durchzuführen. Davon abgesehen ist bei Verdächtigungen im Zusammenhang mit Massenveranstaltungen der Sachverhalt allenfalls dann einfach und die Beweislage klar, wenn der Beschuldigte glaubhaft geständig ist. Ein glaubhaftes Geständnis spricht jedoch gerade gegen eine Befürchtung des Fernbleibens. Diese Folge ist im Rahmen der Prognose zum Haftgrund der Fluchtgefahr anerkannt 388. Es ist kein Grund ersichtlich, weswegen dies nicht auch für § 127 b StPO gilt. Wer glaubhaft geständig ist, zeigt eher den Willen, das Verfahren hinter sich zu bringen, als den Hang, Anordnungen der Strafverfolgungsbehörden keine Folge zu leisten. Das Fernbleiben eines Ausländers, der sich fern der Heimat verdächtig macht, ist also keineswegs obligatorisch – so nachvollziehbar dies auch auf den ersten Blick in vielen Fällen sein mag. Das OLG Saarbrücken entschied beispielsweise, dass sich gegenüber einem Beschuldigten, der unter einer den Ermittlungsbehörden bekannten Anschrift seinen gewöhnlichen Wohnsitz und Aufenthaltsort im Ausland hat, genauso wenig zwingend Fluchtgefahr bejahen lässt wie gegenüber einem Verdächtigen, der sich, auch in Kenntnis eines gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahrens, dorthin begibt 389. In diesem Zusammenhang ist für das OLG Düsseldorf auch nicht entscheidend, ob der Beschuldigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt schon immer im Ausland hatte oder nicht 390. Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. Anders wohl Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 569. 387 Pofalla, AnwBl. 1996, 466, 466. 388 Siehe Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 39. 389 Vgl. OLG Saarbrücken, StV 1991, 265, 266 („Wohnsitz im Ausland“). Vgl. i. d. S. auch Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 538 m. w. N. auf OLG Saarbrücken, StV 2000, 208, 208 f. („sich ohne Zusammenhang zu einer Straftat ins Ausland begeben“) OLG Köln, StV 2000, 508, 508 („naturgemäße Kontakte ins Ausland“). Nach Helmken, MDR 1984, 532, 533, soll der Haftbefehl aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO hingegen – allein – auf einen „bedingten Haftgrund der Fluchtgefahr“ gestützt werden können, wenn sich der Beschuldigte im Ausland aufhält. Gegen eine solche „Lückenergänzung“ ist J. Schmidt, Verteidigung von Ausländern (2002), Rdr. 284. 390 OLG Düsseldorf, NJW 1986, 2204, 2204 f. („Strafverfolgung eines Sonderbotschafters“). 385 386

1. Abschn.: Materielle Voraussetzungen

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Maßgeblich sind nach alledem nur die Umstände, woraus sich nachvollziehbar befürchten lässt, dass sich der Ausländer dem Verfahren wohl entziehen wird. Als bestimmte Tatsachen im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO sind sie nur dann verwertbar, wenn sie mit dem Verdacht einer Straftat zusammenhängen 391. Wie jede Fluchtgefahrprognose eine umfassende Betrachtung aller Tatsachen erfordert, die für und gegen eine mögliche Flucht sprechen, gilt dies entsprechend auch für die Prognose im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO. Dies ergibt sich letztendlich aus dem Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet Willkür und verlangt nach ausgewogenen Entscheidungen. Eine Befürchtung des Fernbleibens wird nur sehr selten angenommen werden können, wenn es sich bei einem Beschuldigten um einen ausländischen Staatsangehörigen handelt, der in der Bundesrepublik sozial verwurzelt ist. Nach einer Entscheidung des OLG Köln lässt es schon die Bindung an eine deutsche Freundin als „fernliegend“ erscheinen, dass sich der Beschuldigte durch Flucht in das Land entzieht, dessen Staatsbürgerschaft er trägt 392. Gegenüber einem Ausländer, der sich in sein Heimatland begibt, ist dann wiederum ein Fernbleiben klar anzunehmen, wenn er erklärt, dass er sich dem Verfahren nicht stellen wird.

VI. Fazit zu § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO Die Haftgrundkomponente § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO bietet den Strafverfolgungsorganen sehr weite Prognosespielräume. Während bestimmte Tatsachen in Entsprechung zu § 112 Abs. 2 StPO objektivierte Tatsachen sein müssen, deren Vorliegen sich aufdrängt, erlaubt die Befürchtung des Fernbleibens von der Hauptverhandlung eine gegenüber Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO weitestgehend subjektive Beurteilung. Die Anforderungen an die Prognose zum Boykottverhalten des Beschuldigten sind damit gegenüber dem bisherigen Untersuchungshaftrecht „wesentlich dünner“ geworden. Die Prognose ist eher einer Vermutung als einer Gefahrprognose im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenähert. Die limitierende Funktion einer hohen Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, die aufgrund der Schwere des Grundrechtseingriffs durch Haft wünschenswert wäre, ist weitestgehend weggebrochen. Der Terminus Befürchtung lässt sich auch mit dem Verlangen eines deutlich hohen Maßes an Wahrscheinlichkeit für einen Scha391 Vgl. auch OLG Brandenburg, StV 1996, 381, 381 f. („gerichtsbekannte Anschrift in Polen“); OLG Stuttgart 1995, 258, 258 f. („in sein Heimatland zurückgekehrter Beschuldigter“); OLG Frankfurt a. M., StV 1994, 581, 581 f. („bloße Rückkehr in das Heimatland ohne Anhaltspunkt, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen“), und auch Paeffgen, NStZ 1996, 23, 24. Vgl. darüber hinaus OLG Karlsruhe, StV 1999, 36, 36 f. („Verlegung des Lebensmittelpunktes ins Ausland“). 392 Dies stellte das OLG Köln, StV 1997, 642, 643 („Fluchtgefahr bei hoher Straferwartung“), unabhängig von einer eigenen Wohnung und einem Arbeitsplatz des Beschuldigten fest.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

denseintritt kaum so interpretieren, dass der „Befürchtungsfall möglichst selten eintritt“ 393. Die Weite der Voraussetzungen geht erheblich zu Lasten der Beschuldigteninteressen, zumal „fernbleiben“ sowohl aktives als auch passives Beschuldigtenverhalten umfasst. Die stark subjektiv geprägte Entscheidung der Strafverfolgungsorgane unterliegt nur sehr erschwert rechtsstaatlicher Kontrolle. Sie öffnet das Tor zu möglicher unerkannter oder nicht nachprüfbarer Beliebigkeit – und damit zu unrechtsstaatlicher Inhaftierung des Verdächtigen. Trotz ihrer Weite werden die Voraussetzungen dennoch rechtsstaatlich nur selten zu erkennen sein. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit werden die Strafverfolgungsorgane nur schwerlich hinreichend umfassende Informationen über den Wohnsitz, den Aufenthaltsort, den Beruf, die familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse erlangen können, die für eine ausreichend fundierte Prognose über mögliches Fernbleiben erforderlich sind. Eine hohe Straferwartung kann aufgrund des Anwendungsbereichs des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO praktisch kein Anhaltspunkt für mögliches Fernbleiben sein. Mit der Ausländereigenschaft des Verdächtigen kann ein Fernbleiben auch nicht begründet werden. In Fällen, in denen der Verdächtige glaubhaft zu erkennen gibt, dass er an einer Hauptverhandlung nicht teilnehmen wird, ist das Ausbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO jedoch hinreichend deutlich zu befürchten. 2. Abschnitt

Die formellen Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls A. Überblick Die formellen Voraussetzungen eines Hauptverhandlungshaftbefehls sind nur im Grundsatz dieselben wie die eines Haftbefehls gemäß §§112, 112 a StPO. Es zeigen sich signifikante Unterschiede. So enthält § 127 b Abs. 3 StPO eine spezielle Zuständigkeitsregelung. Abs. 2 S. 2 bestimmt, konform mit Abs. 2 S. 1 2. HS, eine besondere Befristung. Der Wortlaut des § 127 b StPO, insbesondere die Erwartung der Durchführung der Hauptverhandlung binnen einer Woche „nach der Festnahme“ gemäß Abs. 2 S. 1 2. HS sowie die Befristung des Haftbefehls nach Abs. 2 S. 2 auf „eine Woche ab dem Tage der Festnahme“, legt nahe, dass das Erlassverfahren eine vorherige Festnahme des Beschuldigten voraussetzt. Der Verweis in Abs. 2 S. 1 1. HS auf die Festnahmegründe des Abs. 1 könnte gar für eine notwendige Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO sprechen. 393 Vgl. wieder die Formulierung von LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13 m. w. N. auf die Kommentierung in § 112 Rdn. 25, wo vom „Gefahrenfall“ die Rede ist.

2. Abschn.: Formelle Voraussetzungen

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Im Folgenden wird zunächst zur speziellen Zuständigkeit des Spruchkörpers nach § 127 b Abs. 3 StPO Stellung genommen. Danach wird das Verfahren zum Erlass des Haftbefehls vorgestellt. Hierbei ist zu hinterfragen, ob der Erlass voraussetzt, dass eine vorherige vorläufige Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO erfolgt sein muss. Denkbar ist auch ein Hauptverhandlungshaftbefehl für Personen, die aufgrund § 127 StPO festgenommen wurden oder sich auf freiem Fuß befinden. Geht dem Haftbefehl eine Festnahme voraus, sind die Verfahrensvoraussetzungen der Festnahme gewissermaßen Bestandteil des Haftbefehlsverfahrens. Nach dem Blick auf eine direkte bzw. analoge Anwendung einzelner Verfahrensregelungen stehen Ausführungen zur Befristung des Haftbefehls gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 HS StPO sowie zu dessen Form und Inhalt nach § 114 StPO.

B. Die Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls nach § 127 b Abs. 3 StPO/ „Personalunion“ und „Soll-Vorschrift“ Nach Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG ist jeder wegen des Verdachts einer Straftat vorläufig Festgenommene einem Richter vorzuführen. Nur der Richter hat im Sinne des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG über die Fortdauer einer Freiheitsentziehung zu entscheiden. Gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG ist bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. All dem trägt § 127 b Abs. 3 StPO Rechnung. Zwar enthält die Bestimmung eine Soll-Vorschrift. Gemäß § 127 b Abs. 3 StPO „soll“ über den Erlass des Haftbefehls der für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zuständige Richter entscheiden. Dennoch ist die Entscheidung über die Verhängung des Haftbefehls zwingend einem Richter vorbehalten. Die „Soll“-Verknüpfung bezieht sich allein auf die sachliche „Personalunion“ zwischen dem für das beschleunigte Verfahren zuständigen Richter und dem Haftrichter 394. In Ergänzung zu § 125 StPO legt § 127 b Abs. 3 StPO die Zuständigkeit des Spruchkörpers innerhalb des zuständigen Gerichts fest. Sachlich und örtlich zuständig ist gemäß § 127 b Abs. 3 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 1 StPO der Strafrichter des Amtsgerichts, in dessen Bezirk gemäß § 125 Abs. 1 StPO ein Gerichtsstand begründet ist oder der Beschuldigte sich aufhält. Nach Erhebung der öffentlichen Klage erlässt den Haftbefehl gemäß § 125 Abs. 2 S. 1 StPO das Gericht, das mit der Sache befasst ist. Letztgenannte Regelung wird eher einen Ausnahmefall beschreiben, da bei Anwendung des § 127 b StPO die öffentliche Klage seltener bereits erhoben sein wird. Der Grund für die Tendenz hin zu einer „Personalunion“ lag für den Gesetzgeber in der „besonders großen Eilbedürftigkeit und der Sachnähe des in der Hauptverhandlung entscheidenden Richters“ 395. Durch § 127 b Abs. 3 StPO seien „die kom394 395

KK-Boujong, StPO (2003), § 127 Rdn. 22. BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

petente Betrachtung der zwingenden Verfahrensvorschriften“, so Pofalla, „und die qualifizierte Beurteilung eines Falles als rechtlich und tatsächlich einfach aufgrund größtmöglicher Sachnähe hinreichend gewährleistet“ 396. Ob die Zuständigkeitsverteilung jedoch tatsächlich eine erforderliche „Sachnähe“ und eine „kompetente Betrachtung“ gewährleistet, hängt erheblich vom Blickwinkel ab. Nach einer Stellungnahme des BRAK-Strafrechts-Ausschusses zum Verbrechensbekämpfungsgesetz kann die Kompetenzzuweisung gemäß § 127 b Abs. 3 StPO „verheerende psychologische Mechanismen“ 397 in Gang setzen. Einerseits mag es sein, dass der Richter, der über den Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens entscheidet, eher beurteilen kann, ob und wann im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS i.V. m. Abs. 1 Nr. 1 StPO die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zu erwarten ist. Andererseits handelt es sich mit § 127 b StPO um eine Haft- und Festnahmenorm. Es ist nicht gesagt, dass dem Richter, der über den Antrag, ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen, entscheidet, die mit Untersuchungshaft einhergehenden Problematiken vertraut sind 398. Mit der Kenntnis über mögliche tatsächliche Auswirkungen der Haft auf den Betroffenen geht es bei § 127 b StPO um besonders komplexe verfassungsrechtliche Fragen – insbesondere der Verhältnismäßigkeit. Angesichts der Intensität des Eingriffs wäre daher eher eine Anlehnung an die haftrichterliche Zuständigkeit zu erwarten gewesen. In jedem Falle wird § 127 b Abs. 3 StPO der Eilbedürftigkeit gerecht. Das RegelAusnahme-Verhältnis zugunsten der Sachnähe im beschleunigten Verfahren ist im Sinne gewollter Effektivierung konsequent. § 127 b Abs. 3 StPO unterstreicht den Effektivitätszweck durch zwei Aspekte deutlich: Die Befürchtungsprognose im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO ist derart subjektiviert, dass auch ein in haftrechtlichen Fragen eher unerfahrener Richter seine Entscheidung noch innerhalb des Beurteilungsspielraums treffen kann 399. Abs. 1 Nr. 2 stellt durch den subjektiven Charakter von „befürchten“ vergleichsweise noch weniger Barrieren auf als die Prüfung des Abs. 1 Nr. 1 400. Erfahrungen über die Geeignetheit des beschleunigten Verfahrens sind also zumindest unter dem Effektivitätsgesichtspunkt eher angezeigt als haftrichterliche Praxis. Zum Zweiten ist die „Personalunion“ sehr flexibel ausgestaltet. Die Gesetzesbegründung gibt nur eine vage Antwort auf die Frage, wann ausnahmsweise nicht der für das beschleunigte Verfahren zuständige Richter entscheidet. „Die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift“, so heißt es, „gestattet in begründeten Ausnahmefällen Abweichungen von der aufgestellten Regel, insbePofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11648. BRAK-Strafrechts-Ausschuss, BRAK-Mitt. 1994, 141, 145. 398 Zweifelnd HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 25. Wohl aus diesem Grund soll nach KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 11, in der Geschäftsverteilung die Geschäftsaufgabe für das beschleunigte Verfahren den mit Haftsachen vertrauten Ermittlungsrichtern übertragen werden. 399 Zu § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO s. o. 2. Kap., 1. Abschn. und dort insbesondere E. IV. und E. VIII. 400 Zu § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO s. o. 2. Kap., 1. Abschn. und insbesondere F. II. und F. IV. 396 397

2. Abschn.: Formelle Voraussetzungen

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sondere, um im Rahmen der dem Präsidium bei den Amtsgerichten obliegenden Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans sachgerechte Lösungen für den Einzelfall unter Berücksichtigung örtlicher Besonderheiten zu ermöglichen“401. Wann konkret „örtliche Besonderheiten“ vorliegen, lässt die Begründung offen. Im Ergebnis ist anzunehmen, dass Ausnahmefälle von der Zuständigkeit des für das beschleunigte Verfahren zuständigen Richters insbesondere bei kleineren Amtsgerichten auftreten, da im dortigen Geschäftsverteilungsplan nicht ohne weiteres Richter vorgesehen sein werden, die speziell mit der Durchführung von beschleunigten Verfahren betraut sind. „Örtliche Besonderheiten“ muss „örtlich unterschiedliche Organisationsstrukturen sowie -möglichkeiten“ meinen, also im Wesentlichen differierende personelle und sachliche Ausstattungen. Aufgrund personeller Gegebenheiten wird es nicht selten gerade der Haftrichter sein, der im Rahmen seiner Bereitschaftsdienstpflicht beschleunigte Verfahren durchführt, und kein „spezieller Richter“ für beschleunigte Verfahren bereitstehen, der in dieser Funktion für den Erlass des Haftbefehls nach § 127 b StPO zuständig ist 402. Da das Präsidium je nach „örtlichen Besonderheiten“ gehalten sein kann, die Geschäfte derart zu verteilen, dass andere als die Richter, die mit der Durchführung des beschleunigten Verfahrens betraut sind, für den Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls zuständig sind, wird das durch § 127 b Abs. 3 StPO bestimmte Regel-Ausnahmeverhältnis bei zahlreichen Gerichten praktisch umgekehrt sein 403. „Örtliche Besonderheiten“ lassen sich von Gericht zu Gericht relativ leicht finden und damit auch die von Hilger geforderten „wichtigen, sachlichen“ Gründe, um von der Regel im Sinne des § 127 b Abs. 3 StPO abzuweichen 404. Tatsächlich bleibt also dem jeweiligen Präsidium die Organisation gemäß § 21 e Abs. 1 GVG im Grunde relativ offen belassen. Demnach lässt die „Soll-Vorschrift“ wesentlich mehr praxisorientierte Flexibilität zu als der bloße Wortlaut des Gesetzes zunächst zu erkennen gibt. Diese Flexibilität erscheint vor dem Hintergrund zweckmäßig, durch § 127 b StPO die Bedeutung des beschleunigten Verfahrens zu steigern. Ohne diese Freiräume in der Organisation wäre die Anwendung des § 127 b StPO behindert. Fest steht allerdings, dass die Ausnahmefälle von vorneherein in der Geschäftsverteilung umschrieben sein müssen. Die Frage der Unzuständigkeit darf keinesfalls von den gerade tätigen Ermittlungsrichtern entschieden werden. Das ergibt sich aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Dieser gewährt das Recht auf einen durch Gesetz und die das Gesetz ergänzenden Geschäftsverteilungspläne im Voraus bestimmten Richter 405. 401 BT-Drucksache 13/2576, S. 3. Siehe auch wieder Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11648. 402 Vgl. HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 23. 403 HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 24. 404 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 28. 405 Vgl. grundlegend BVerfGE 40, 356, 360 („Zulässigkeit der Wiederwahl ehemaliger Bundesverfassungsrichter“).

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

C. Das Haftbefehlsverfahren I. Das verfahrensrechtliche Verhältnis zu den Festnahmerechten nach § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 StPO Der Wortlaut des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO setzt voraus, dass „der Festgenommene“ inhaftiert werden darf. Dass damit ein aufgrund §127 b Abs. 1 StPO Festgenommener gemeint sein kann, ist offensichtlich. Gesonderter Erwähnung bedarf es jedoch, ob sich die Hauptverhandlungshaft auf gemäß § 127 b Abs. 1 StPO Festgenommene beschränkt oder ob auch aufgrund § 127 StPO Festgenommene inhaftiert werden dürfen. Die Literatur nimmt zum Verhältnis zwischen Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO einhellig Stellung. Sie geht davon aus, dass das Festnahmerecht des Abs. 1 und der Haftgrund des Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 „nicht miteinander verknüpft“ sind 406. Einerseits kann die Hauptverhandlungshaft also ohne vorherige Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO angeordnet werden; andererseits kann der Hauptverhandlungshaftbefehl aber auch gegenüber Personen verhängt werden, die unter den Voraussetzungen der bereits bisher geltenden Festnahmerechte des § 127 StPO vorläufig festgenommen wurden 407. Gegen diese Auslegung sprechen weder praktische Bedürfnisse noch theoretische Erwägungen. Vielmehr nennt der Wortlaut des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO allgemein „Festgenommene“. Der Zweck der Regelung spricht genauso für eine zulässige Inhaftnahme von aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO wie auch gemäß § 127 StPO Festgenommenen. Die Durchführung des Verfahrens kann hier wie dort durch Haft gesichert werden – unabhängig davon, auf welche Ermächtigungsgrundlage sich der Festnehmende gesetzlich stützt. Eine vorläufige Festnahme nach § 127 StPO muss jedoch genauso wenig vorliegen wie eine nach § 127 b Abs. 1 StPO 408. Auch dies entspricht dem Sicherungszweck des § 127 b StPO. Die Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung kann auch gegenüber nicht Festgenommenen erreicht werden. Anders gewendet, erfordert der Zweck der Verfahrenssicherung nicht die vorherige Festnahme eines Beschuldigten. Der Zweck verlangt sie dann nicht, wenn die Sicherung auch gegenüber einem Verdächtigen, der sich auf freiem Fuß befindet, erforderlich und erfolgversprechend ist. Zu einem Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO kann es ohne Festnahme beispielsweise dann kommen, wenn der Richter vor dem im beschleunigten Verfahren anberaumten Hauptverhandlungstermin erfährt, dass der Beschul406 Nach KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 1, enthält § 127 b StPO ein „eigenständiges“ Festnahmerecht. 407 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 3; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 3; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 2, 4; so auch KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 2. 408 KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 2.

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digte zu diesem Termin nicht anwesend sein wird 409. Allerdings ist § 127 b StPO insbesondere erst dann anwendbar, wenn Maßnahmen nach § 230 Abs. 2 StPO keinen Erfolg versprechen. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den nicht nur der Richter zu beachten hat, wenn er den Hauptverhandlungshaftbefehl erlässt, sondern bereits der Staatsanwalt bei dessen Beantragung. II. Die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft Die Staatsanwaltschaft ist bekanntermaßen für das Ermittlungsverfahren verantwortlich. Liegen die Voraussetzungen des beschleunigten Verfahrens vor, stellt sie gemäß § 417 StPO einen entsprechenden Antrag auf Durchführung 410. Es hat also nicht erst das Gericht, sondern die Staatsanwaltschaft hat bereits vor der Antragstellung zu prüfen, ob die Sache zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens geeignet ist. Der Antrag kann frühestens nach Abschluss der Ermittlungen gestellt werden 411. Demnach kann er vorher nicht mit dem Antrag auf Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls verbunden werden. Zum Erlass des Haftbefehls vor Erhebung der öffentlichen Klage ist grundsätzlich ein Antrag der Staatsanwaltschaft erforderlich. Das ergibt sich unmittelbar aus § 125 Abs. 1 StPO. Vor Anordnung der Haft ist sie grundsätzlich zu hören. Dies ergibt sich aus § 33 StPO 412. Sofern im Sinne des § 125 Abs. 1 StPO der Haftbefehl von Amts wegen erlassen wird, da die Staatsanwaltschaft nicht erreichbar ist und Gefahr im Verzug vorliegt, braucht sie nicht gehört zu werden. Nachdem Haft angeordnet ist, steht der Staatsanwaltschaft jedoch entsprechend § 167 StPO das Recht zu, die Erforderlichkeit des Haftbefehls zu prüfen. Hält sie den Haftbefehl für nicht erforderlich, kann sie gemäß § 120 Abs. 3 StPO vor Erhebung der öffentlichen Klage die Aufhebung des Haftbefehls und die Freilassung des Beschuldigten beantragen. Im Ermittlungsverfahren muss der Haftrichter – bzw. im Verfahren nach § 121, 122 StPO muss das zuständige Gericht – den Haftbefehl aufheben, wenn die Staatsanwaltschaft dies vor Erhebung der öffentlichen Klage beantragt 413. Hält die 409 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 3; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 3; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 2. 410 Ist das Hauptverfahren eröffnet und stellt sich heraus, dass der Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren fehlt, führt dies zur Einstellung gem. § 206 a StPO. Neben dem mündlichen oder schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren bedarf es entweder einer schriftlichen oder einer in der Hauptverhandlung erhobenen mündlichen Anklage, die in jedem Fall den Anforderungen des §200 Abs. 1 S. 1 StPO genügen muss; vgl. OLG Hamburg, StV 2000, 127, 127 f. („besondere Voraussetzungen im beschleunigten Verfahren“) m. w. N. 411 Dies muss gem. § 169 a StPO in den Akten vermerkt werden; Meyer-Goßner, StPO (2003), § 417 Rdn. 12. 412 Vgl. Lesch, Strafprozeßrecht (2001), Kap. 4 Rdn. 2. Erlässt das Gericht den Haftbefehl auf Antrag der Staatsanwaltschaft, ist der Pflicht i. S. d. § 33 StPO Genüge getan. 413 Kritisch hierzu Geppert, Jura 1991, 269, 272. Zur Anwendung des § 127 b StPO und des § 121 StPO in einem Verfahren wird es allerdings nur äußerst selten kommen. Denkbar ist, dass

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Staatsanwaltschaft zwar den Erlass, nicht jedoch seine Vollstreckung für notwendig, muss sie auf eine Aussetzung des Vollzuges nach § 116 StPO hinwirken 414. Ist ein auf frischer Tat Betroffener oder Verfolgter festgenommen, richtet sich das weitere Verfahren in der Regel nach § 128 StPO. Eine Vorführung nach Klageerhebung gemäß § 129 StPO ist vorstellbar, wird aber weniger praktische Relevanz haben. Gegen den Festgenommenen wird unter Anwendung des § 127 b StPO eine öffentliche Klage eher selten bereits erhoben sein. III. Die Vorführung und Vernehmung des Beschuldigten 1. Nach vorläufiger Festnahme gemäß §§ 128, 129 StPO Gemäß § 128 Abs. 1 StPO ist der Festgenommene, sofern er nicht wieder in Freiheit entlassen wird, unverzüglich, spätestens jedoch am Tage nach der Festnahme, dem Richter bei dem Amtsgericht, in dessen Bezirk er festgenommen worden ist, vorzuführen. „Unverzüglich“ bedeutet „ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen läßt“ 415. Der Richter vernimmt den Vorgeführten gemäß § 127 b Abs. 1 i.V. m. § 115 Abs. 3 StPO 416. Es sei denn, allein der Festnahmebericht zeigt schon ganz offenkundig, dass ein Haftgrund nicht gegeben ist und eine sofortige Durchführung der Verhandlung im beschleunigten Verfahren nicht in Betracht kommt. Hält der Richter, nachdem er den Beschuldigten auf die ihn belastenden Umstände und dessen Äußerungs- und Schweigerecht hingewiesen hat und ihm gemäß § 115 Abs. 3 S. 2 StPO Gelegenheit gegeben hat, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften, die Festnahme für nicht gerechtfertigt oder ihre Gründe für beseitigt, ordnet er gemäß § 128 Abs. 2 S. 1 StPO Freilassung an. Andernfalls erlässt er gemäß Abs. 2 S. 2 einen Hauptverhandlungshaftbefehl, einen Haftbefehl aufgrund §§ 112, 112 a StPO oder einen Unterbringungsbefehl gemäß § 126 a StPO. Das ergibt sich je nach Lage des Falles 417. Ist gegen den Festgenommenen bereits die öffentliche Klage erhoben, ist er gemäß § 129 StPO entweder sofort oder auf Verfügung des Richters, dem er zunächst ein Haftbefehl aufgrund §§ 112, 112 a StPO kurz vor Ablauf der sechs Monate aufgehoben wurde und dann aber eine Sicherung gem. § 127 b StPO notwendig wird; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 24. 414 Vgl. Nr. 54 RiStBV. 415 BVerfGE 32, 373, 383 („Beschlagnahme einer ärztlichen Karteikarte des Beschuldigten“). Vgl. insbesondere aber auch BVerfGE 103, 142, 142 ff. („Gefahr im Verzug bei Durchsuchung“), und hierzu Amelung/Wirth, StV 2002, 161, 161 f. 416 Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 b. 417 Das Gericht kann nach der Festnahme gem. § 127 b Abs. 1 StPO einen Haftbefehl aufgrund §§ 112, 112 a StPO erlassen. Das gilt sowohl dann, wenn allein die Voraussetzungen der §§ 112, 112 a StPO vorliegen als auch, wenn daneben die Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls vorliegen. Zum Verhältnis des § 127 b StPO zu den §§ 112, 112 a StPO s. o. 2. Kap., 1. Abschn. B.

2. Abschn.: Formelle Voraussetzungen

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vorgeführt worden ist, dem zuständigen Gericht vorzuführen; dieses hat spätestens am Tage nach der Festnahme über Freilassung, Verhaftung oder einstweilige Unterbringung des Festgenommenen zu entscheiden 418. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Festnahme sind für die Beurteilung der Haftgrundfrage unerheblich. Der den Haftbefehl erlassende Richter überprüft also nicht die Rechtmäßigkeit einer vorangegangenen Festnahme 419. Hierzu ist der Richter weder vor dem Hintergrund des beschleunigten Verfahrens verpflichtet 420 noch aus haftrechtlichen Erwägungen. Die Pflicht zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit stünde dem Beschleunigungszweck des § 127 b StPO genauso entgegen wie dem der §§ 417 ff. StPO. Der Richter muss bei der ersten Vernehmung allerdings die Voraussetzungen des § 127 b StPO prüfen. Das umfasst auch die §§ 417 ff. StPO und die Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung. Hierzu zählen schließlich die von der Justizverwaltung zu gewährleistenden organisatorischen Voraussetzungen und deren mögliche Umsetzung. Nur durch eine gleichsam baldige wie intensive Auseinandersetzung mit der möglichen Tatbegehung kann er beurteilen, ob eine Strafe in den Grenzen des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO in Betracht kommt. Er muss gleichzeitig bemüht sein, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Persönlichkeit und dem sozialen Umfeld des Verhafteten zu verschaffen 421. Nur dann ist eine Entscheidung im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO möglich. 2. Nach Ergreifung durch Haftbefehl gemäß §§ 115, 115 a StPO Ergeht der Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO ausnahmsweise ohne vorherige Festnahme, wird er gemäß § 36 Abs. 2 S. 1 StPO der Staatsanwaltschaft übergeben und durch Festnahme vollstreckt. Wird der Beschuldigte ergriffen, ist er verhaftet. Das weitere Verfahren richtet sich nach den §§ 115, 115 a StPO. § 115 StPO regelt die Vorführung vor den „zuständigen Richter“, § 115 a StPO vor den „Richter des nächsten Amtsgerichts“ 422. Gemäß § 115 Abs. 2 StPO muss der Richter den Beschuldigten spätestens am nächsten Tage nach der Vorführung vernehmen 423. Im Sinne des § 115 Abs. 3 StPO ist der Beschuldigte auf seine Äußerungs- und Vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO (2003), § 128 Rdn. 13 m. w. N. Vgl. Krey, Strafverfahrensrecht Bd. I (1988), Rdn. 478, und Dvorak, StV 1983, 514, 516. 420 Als gem. § 211 Abs. 1 S. 1 StPO (a. F., 1877) die vorläufige Festnahme noch als Voraussetzung der Durchführung des beschleunigten Verfahrens anzusehen war, war umstritten, ob das Gericht eine Prüfungskompetenz hinsichtlich der Rechtmäßigkeit hatte und ob die Entscheidung im beschleunigten Verfahren bei Rechtswidrigkeit abzulehnen war; vgl. hierzu Henseler, GA 76, 203, 203 ff., und die weiteren Nachweise bei Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 144 und dort FN 144. 421 Vgl. hier allgemein nur Rotthaus, NJW 1973, 2269, 2271. 422 Der „nächste Richter“ ist ein „auch-zuständiger Richter“; vgl. zur Terminologie, F. O. Fischer, NStZ 1994, 321, 321 f. 423 Vgl. Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG und allgemein Schäfer/Sander, Praxis des Strafverfahrens (2000), Rdn. 522. 418 419

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Schweigerechte hinzuweisen. § 115 a StPO ist, wenn im Zusammenhang mit § 127 b StPO überhaupt, dann insbesondere bei „reisenden Beschuldigten“ zu beachten 424. Werden die Fristen der §§ 115, 115 a StPO überschritten, ist ein weiteres Festhalten des Verdächtigten rechtswidrig 425. Nach der Vorführung stellen sich für den zuständigen Richter gegebenenfalls Fragen der Aufhebung, der Umstellung, wie auch der Außervollzugsetzung gemäß § 116 StPO 426. IV. Bekanntgabe des Haftbefehls gemäß § 114 a StPO und Benachrichtigung von Angehörigen gemäß 114 b StPO Die §§ 114 a, 114 b StPO gelten auch für den Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls. Im Vergleich zu einem Haftbefehl aufgrund § 112 StPO oder § 112 a StPO sind keine wesentlichen Besonderheiten zu beachten. Während die Übergabe des Haftbefehls an den Beschuldigten gemäß §114 a S. 3 StPO unverzüglich nachgeholt werden kann, ist die Benachrichtigung von Angehörigen gemäß §114 b Abs. 1 StPO unaufschiebbar 427. Für die Anordnungen ist allerdings der Richter im Sinne des § 127 b Abs. 3 StPO zuständig. Die Pflicht zur Benachrichtigung von Angehörigen oder einer Vertrauensperson ist gemäß § 114 b Abs. 1 StPO nicht einschränkbar. Anderes gilt für das Recht des Beschuldigten zur Benachrichtigung im Sinne des § 114 b Abs. 2 StPO bei erkennbaren Gefahren für die Aufklärung des Verdachts. V. Außer- und Wiederinvollzugsetzung gemäß § 116 StPO Nach der Vorführung bzw. Vernehmung des Beschuldigten hat der Richter zu entscheiden, ob er den Vollzug des erlassenen Haftbefehls aufrecht erhält oder 424 Den praktischen Weg von der Festnahme aufgrund eines bestehenden Haftbefehls (Transport zur Dienststelle der festnehmenden Beamten, Festnahmebericht, Information der zuständigen Staatsanwaltschaft, Transport des Festgenommenen zum zuständigen Gericht) unter Anwendung des § 115 a StPO beschreibt Koch, NStZ 1995, 71, 71 f.; siehe hierzu auch F. O. Fischer, NStZ 1994, 321, 321 f., der sich im Gegensatz zu Koch, a. a. O., dafür ausspricht, ab einer Entfernung von mehr als etwa 20 km die Vorführung beim Richter des nächstgelegenen Amtsgerichts vorzunehmen. 425 Nach überzeugender Argumentation von Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 433 f. mit Hinweis auf abweichende Ansichten, ist der Beschuldigte freizulassen. 426 Die Frage, welche Entscheidungsbefugnisse dem Richter i. S. d. § 115 a StPO zustehen bzw. in welchen Fällen er den Ergriffenen auf freien Fuß setzen darf, ist umstritten. Eine Übersicht über den Streitstand und die strittigen Fälle gibt Heinrich, StV 1995, 660, 661 f.; vgl. zu einer extensiven Auslegung des § 115 Abs. 3 S. 2 StPO Sommermeyer, NJ 1992, 336, 340; maßgeblich nach dem Wortlaut gehen beispielsweise Schlüchter, Strafverfahren (1983), Rdn. 225, und Eb. Schmidt, StPO Nachtragsband I zu LehrK Nachträge zu Teil II (1967), § 115 a Anm. 7. 427 Nach BVerfGE 16, 119, 120 ff. („Benachrichtigung“), gewährt Art. 104 Abs. 4 GG dem Beschuldigten ein subjektives Recht auf Benachrichtigung; ein Verzicht des Beschuldigten ist unbeachtlich. Vgl. aus der Lit. Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 429. Die Verletzung der Benachrichtigungspflicht kann i. S. d. Art. 34 i.V. m. § 839 BGB Schadensersatzansprüche auslösen; vgl. hierzu AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), Vorbem. §§ 112 ff. Rz. 13.

2. Abschn.: Formelle Voraussetzungen

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nicht. Im ersten Fall erfolgt eine Belehrung gemäß § 115 Abs. 4 StPO. Im letzten Fall ist der Haftbefehl entsprechend § 116 Abs. 1 StPO außer Vollzug zu setzen. § 116 StPO gilt zwar seinem Wortlaut nach lediglich für die Haftgründe Fluchtgefahr (Abs. 1), Verdunkelungsgefahr (Abs. 2) sowie Wiederholungsgefahr (Abs. 3). Er ist jedoch auf den Hauptverhandlungshaftbefehl unproblematisch anzuwenden. Das entspricht einhelliger Literaturansicht und ist auch in der Gesetzesbegründung erwähnt 428. Die Aufrechterhaltung des Haftbefehlsvollzugs ist rechtswidrig, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung im Verfahren durch die in § 116 Abs. 1 StPO vorgesehenen Maßnahmen sichergestellt werden kann. § 116 StPO ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 429. Die dort beschriebenen Maßnahmen greifen relativ milder als Haft in die Rechte des Betroffenen ein. Es ist nicht erkennbar, weshalb der von § 127 b StPO Betroffene in diesem Zusammenhang schlechter gestellt werden sollte als ein der Flucht Verdächtigter. Ist der Haftbefehl auch bei Aussetzung des Vollzugs unverhältnismäßig, muss er gemäß § 120 StPO aufgehoben werden 430. Handelt der Beschuldigte gemäß § 116 Abs. 4 StPO den ihm auferlegten Pflichten und Beschränkungen zuwider (Nr. 1), trifft er Anstalten zur Flucht oder vor dem Hintergrund des § 127 b StPO zum Fernbleiben, bleibt er unentschuldigt auf ordnungsgemäße Ladungen aus (Nr. 2), oder machen neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich (Nr. 3), ist die Wiederinvollzugsetzung des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls anzuordnen. Dies gilt zumindest theoretisch. Praktisch wird § 116 Abs. 4 StPO für die Hauptverhandlungshaft kaum Relevanz haben. Ist im Rahmen der Hauptverhandlungshaft über § 116 Abs. 4 StPO zu entscheiden, ist die im Haftbefehl bestimmte Frist im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO in aller Regel abgelaufen. Die erneute Terminierung der Hauptverhandlung müsste zudem in dieser Frist erfolgen. Das wird praktisch kaum möglich sein 431. Anwendbar ist auch § 123 StPO, der die Aufhebung der schonenden Maßnahmen nach § 116 StPO regelt 432. § 123 Abs. 3 StPO gilt nicht nur, wenn derjenige, der eine Sicherheit für den Beschuldigten geleistet hat, Tatsachen mitteilt, die eine mögliche „Flucht“ begründen. Über den Wortlaut hinaus gilt die Regelung auch, wenn die Tatsachen ein mögliches „Fernbleiben“ des Beschuldigten im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO begründen. Die Regelung des § 124 StPO über den Verfall der Sicherheit ist ebenfalls anwendbar. 428 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 24; Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 19; Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 b; HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 21, sowie BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 429 BVerfGE 19, 342, 351 („Tatschwere“). 430 Vgl. nur BVerfGE 53, 152, 158 ff. („Dauer der Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls“), und aus der Lit. Göbel, Strafprozeß (1996), A. Rdn. 49, S. 43 f. 431 Vgl. wieder Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 19. 432 Nach HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 21, stehen § 123 StPO zur Aufhebung von Haftersatzmaßnahmen und § 124 StPO zum Verfall der Sicherheit der legislatorischen Absicht einer Förderung des beschleunigten Verfahrens entgegen. Dies ändert indes nichts an der Anwendbarkeit der Regelungen; vgl. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 24.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

VI. Strafantrag, Ermächtigung und Strafverlangen gemäß § 130 StPO Gemäß § 130 S. 1 StPO wird die Anordnung der Untersuchungshaft nicht betroffen, wenn zur Verfolgung der wahrscheinlichen Straftat ein erforderlicher Strafantrag fehlt, der noch nachgeholt werden kann. Es spricht nichts gegen eine entsprechende Anwendung des § 130 StPO auf die Fälle des § 127 b StPO. Ein Antragsberechtigter ist also auch bei Erlass des Haftbefehls gemäß § 127 b Abs. 2 StPO sofort davon in Kenntnis zu setzen und entsprechend § 130 S. 1 StPO zu unterrichten. § 130 S. 1 StPO ist allerdings dahingehend zu modifizieren, dass die zu bestimmende Frist innerhalb einer Woche seit Erlass des Haftbefehls liegen „muss“ und nicht nur liegen „soll“. Sie ist zwingend im Sinne des § 127 b StPO Abs. 2 S. 2 StPO festzulegen. Ist die Hauptverhandlung in kürzerer Zeit angesetzt, „muss“ die Frist des § 130 S. 1 StPO ebenfalls entsprechend kürzer gesetzt sein, sodass der fehlende Strafantrag noch rechtzeitig zur Hauptverhandlung eintreffen kann. Es ist offensichtlich nicht sinnvoll, die Hauptverhandlung trotz fehlender Prozessvoraussetzungen zu beginnen. Der Erlass eines Haftbefehls setzt voraus, dass kein Verfahrenshindernis besteht. Dass, wie Meyer-Goßner meint, die nach § 130 StPO zu setzende Frist „mindestens einen Tag geringer sein (muss) als die nach I S. 2 StPO bestimmte“ 433, ist allerdings nicht zwingend. Dies wird zwar die Regel sein. Kann jedoch ein Strafantrag frühestens erst zum Termin beschafft werden, ist dies rechtzeitig. Entscheidend ist allein die Einhaltung der Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO. Wird innerhalb der gesetzten Frist der Strafantrag nicht gestellt, ist der Haftbefehl gemäß § 130 S. 2 StPO aufzuheben. Entsprechendes gilt gemäß § 130 S. 3 StPO, wenn eine Straftat nur mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgbar ist 434. Verfehlt wäre es, aus § 130 StPO speziell vor dem Hintergrund der durch § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO geforderten Eilbedürftigkeit eine „Lockerung“ der Prüfung von Prozessvoraussetzungen für den Hauptverhandlungshaftbefehl abzuleiten. § 130 StPO ist eine Ausnahmevorschrift. Der Hauptverhandlungshaftbefehl darf nicht erlassen werden, wenn Prozessvoraussetzungen fehlen 435. Ausnahmen hiervon hätten im Gesetz deutlich gemacht werden müssen. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 19. In den Fällen, in denen die Strafverfolgung nach dem StGB eine Ermächtigung fordert, wird die Sache i. a. R. jedoch nicht zur Aburteilung im beschleunigten Verfahren geeignet sein; vgl. §§ 90 Abs. 4, 90 b Abs. 2, 97 Abs.3, 104 a, 194 Abs.4, 353 a Abs. 2, 353 b Abs. 4 StGB; zum Strafverlangen vgl. § 104 a StGB. 435 Das entspricht bezüglich der Haftbefehle aufgrund §§112, 112 a StPO der ganz h. M. Anderer Ansicht ist offenbar – allerdings ohne Begründung – Peters, Strafprozeß (1985), §47 A II, S. 423, wenn es heißt: „Kann (...) eine fehlende Prozeßvoraussetzung beschafft werden und ist ihre baldige Beschaffung zu erwarten, so ist der Erlaß eines Haftbefehls, sofern im Übrigen die Haftvoraussetzungen vorliegen, zulässig.“ 433 434

2. Abschn.: Formelle Voraussetzungen

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VII. Ausschreibung zur Festnahme gemäß § 131 StPO Gemäß § 131 Abs. 2 StPO ist ohne Haft- oder Unterbringungsbefehl eine steckbriefliche Verfolgung nur zulässig, wenn ein Festgenommener entweicht oder sich sonst der Bewachung entzieht. Entweicht ein aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO Festgenommener aus amtlichem Gewahrsam, wird in aller Regel Flucht anzunehmen sein. §131 Abs.2 StPO gilt demnach zwar grundsätzlich auch gegenüber aufgrund §127 b Abs. 1 StPO Festgenommenen, die entweichen 436. Allerdings ist die Anwendbarkeit eher theoretischer Natur. Der Steckbrief führt nicht selten zu einer öffentlichen Bloßstellung des Beschuldigten. In Fällen kleinerer und mittlerer Kriminalität im Rahmen des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO scheitert die Anwendung des § 131 StPO häufig aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. Abgesehen davon kann ein Steckbrief in der kurzen Frist des § 132 Abs. 2 StPO kaum wirksam verbreitet werden 437. Ergeht ein Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO gänzlich ohne vorherige Festnahme, kann ein Fahndungsersuchen aufgrund § 131 StPO auch aus einem anderen Grund nicht ergehen. Der Beschuldigte im Sinne des § 127 b StPO hält sich weder verborgen noch ist er flüchtig 438.

VIII. Rechtsbehelfe Gegen den vollzogenen Hauptverhandlungshaftbefehl bestehen die gleichen Rechtsbehelfe wie bei der Anordnung von Untersuchungshaft aufgrund der §§ 112, 112 a StPO 439. Zu denken ist also an die Haftprüfung gemäß §§ 117 ff. StPO und die Haftbeschwerde gemäß §§ 304 ff. StPO. Die Einlegung eines Rechtsmittels hat keine die Freilassung aufschiebende Wirkung. Anträge nach § 117 Abs. 1 StPO und § 118 Abs. 1 StPO kann der Beschuldigte „jederzeit“ stellen, solange er in Haft ist 440. Mit Ablauf der Wochenfrist im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO wird der Haftbefehl gegenstandslos. Die Haftbeschwerde wird prozessual überholt und damit unzulässig 441. Die Frist des § 118 Abs. 5 2. HS StPO, wonach die mündliche Verhandlung zur Haftprüfung ohne Zustimmung des Beschuldigten nicht über zwei Wochen nach Eingang des Antrags durchgeführt werden darf, gilt für die Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 9. Die Verbreitung des Steckbriefs geschieht in den Fahndungsblättern der Polizei, in Zeitungen, im Rundfunk und Fernsehen etc; vgl. hierzu Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 32 Rdn. 4. 438 Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 9 m. w. N. auf LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 26. Die Nichtanwendbarkeit des § 131 Abs. 1 StPO erwähnen auch KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 12, und HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 21. 439 Darauf verweist ausdrücklich die Gesetzesbegründung BT-Drucksache 13/1276, S. 3. 440 Also auch „beliebig oft“; vgl. Geppert, Jura 1991, 269, 271. 441 Vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 22, sowie Vor § 296 Rdn. 17. 436 437

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Hauptverhandlungshaft nicht. Sie verkürzt sich im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO auf „höchstens eine Woche ab dem Tage der Festnahme“. Die Beschwerde gemäß § 304 StPO kann gegen den vollzogenen, aber auch gegen den ausgesetzten Haftbefehl oder einzelne darin bestimmte Auflagen erhoben werden 442. Sie steht dem Beschuldigten ebenso gegen den Haftprüfungsbeschluss zu. Gegen den Beschluss des Landgerichts aufgrund der Beschwerde nach § 304 StPO steht dem Verdächtigen schließlich gemäß § 310 StPO das Recht der weiteren Beschwerde zu 443. Die weitere Beschwerde, die nach Deckers bei Haftbefehlen aufgrund der §§ 112, 112 a StPO „regelmäßig zu nutzen“ ist 444, wird gegenüber einem vollzogenen Hauptverhandlungshaftbefehl jedoch nur schwerlich relevant werden können. Die Befristung des Haftbefehls gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO steht dem entgegen 445. Nach Erschöpfung des Rechtsweges kann der Inhaftierte gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 13 Nr. 9 a, 90 ff. BVerfGG Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einlegen 446. Das Rechtsschutzbedürfnis kann trotz Aufhebung des Hauptverhandlungshaftbefehls des Inhaftierten bestehen. Auch der freigelassene Beschuldigte kann ein berechtigtes Interesse daran haben, die Verletzung von Grundrechten überprüfen zu lassen. Eine weitere Möglichkeit für den Betroffenen, Rechtsverletzungen aufgrund § 127 b StPO überprüfen zu lassen, ist die Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 447. Als mögliche verletzte Rechte werden insbesondere das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und die in Art. 5 EMRK festgeschriebenen Rechte in Betracht kommen. 442 Die Rechtsmittel der Haftprüfung und der Haftbeschwerde sind nebeneinander nicht zulässig. Sind beide Rechtsmittel beantragt, ist Haftprüfung durchzuführen; vgl. AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), Vorbem. §§ 112 ff. Rz. 10. 443 Ob dies auch insoweit gilt, dass mit der weiteren Beschwerde der Bestand des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls angefochten wird, ist umstritten; vgl. zum Streitstand KK-Boujong, StPO (2003), §116 Rdn.26, und die Nachweise bei AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), Vorbem. §§ 112 ff. Rz. 12. 444 Deckers, NJW 1994, 2261, 2266. 445 Das entspricht der Einschätzung von KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), §127 b Rdn. 15. Über diese wesentlichen Rechte hinaus stehen dem Beschuldigten noch weitere Rechte zu, wie ein Beschwerderecht hinsichtlich der Benachrichtigung von Angehörigen gem. § 114 b StPO. Bei belastenden Maßnahmen gegen den Gefangenen gem. §119 Abs.3 StPO kann der Beschuldigte die Rechtmäßigkeit durch die Entscheidung des Haftrichters klären lassen, soweit er hieran ein nachwirkendes Interesse hat. Hierzu und zu den Rechten im Allgemeinen vgl. AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), Vorbem. §§ 112 ff. Rz. 13 m. w. N. 446 Vgl. allgemein zur Verfassungsbeschwerde Pieroth/Schlink, Grundrechte (2001), Rdn. 1121 ff. 447 Vgl. allgemein zu den Voraussetzungen der Individualbeschwerde Wittinger, NJW 2001, 1238, 1238 ff.

2. Abschn.: Formelle Voraussetzungen

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D. Die Befristung des Haftbefehls gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO Gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO ist der Haftbefehl auf „höchstens eine Woche ab dem Tage der Festnahme“ zu befristen 448. Die Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO ist eine „strikte Obergrenze“, innerhalb der das Verfahren durchzuführen ist. Das heißt, sie darf nicht verlängert werden – auch nicht im Falle der Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 228 Abs. 1 StPO 449. Dies ergibt sich deutlich aus dem Wort „höchstens“. § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO ist damit – neben der für den Hauptverhandlungshaftbefehl unbeachtlichen Ausnahme des § 122 a StPO – die einzige absolute Haftbegrenzungsregelung der StPO. Die Frist berechnet sich vor dem Hintergrund der Schwere des Eingriffs in die Rechte des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 Abs. 1 GG unter Einbeziehung des Tages der Festnahme. § 43 Abs. 2 StPO ist nicht anzuwenden 450. Wird der Haftbefehl ohne vorherige Festnahme des Beschuldigten erlassen, werden zur Fristberechnung die Tage berücksichtigt, in denen die Haft tatsächlich vollzogen wird. Nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit muss die Frist kürzer bestimmt werden, wenn eine kürzere Zeit zur Durchführung der Hauptverhandlung genügend ist 451. Wurde die Frist ursprünglich zu kurz bestimmt, da zunächst eine Entscheidung innerhalb kürzerer Zeit als einer Woche zu erwarten war, und stellt sich im Laufe des Verfahrens heraus, dass innerhalb dieser Frist keine Entscheidung mehr zu erwarten ist, kann die Frist innerhalb des durch § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO vorgegebenen Rahmens verlängert werden. Voraussetzung für eine Verlängerung ist allerdings, dass die Voraussetzungen des Haftbefehls in diesem Zeitpunkt noch vorliegen. Ist absehbar, dass die Einhaltung der Frist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO nicht mehr erwartet werden kann, oder liegen sonstige Voraussetzungen nicht mehr vor, ist der Beschuldigte grundsätzlich unverzüglich freizulassen. Liegen allerdings andere Haftgründe vor, kann der Haftbefehl dahingehend umgestellt und der Beschuldigte weiterhin inhaftiert werden. Gleiches gilt im Fall der Überhaft, wenn sich also der Beschuldigte in anderer Sache in amtlicher Verwahrung, Untersuchungshaft oder Strafhaft befindet. Da eine Entscheidung im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO erst am Ende der Hauptverhandlung ergeht, kommt es für das Einhalten der Frist im Sinne des Abs. 2 S. 2 entsprechend auf das Ende der Hauptverhandlung an. Die Frist kann auch während der Hauptverhandlung ablaufen. Ist dies der Fall, fehlen andere Haftgründe 448 Nach dieser zeitlichen Grenze bestimmt sich auch die „Unverzüglichkeit“ der Entscheidung i. S. d. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO und der Erwartung i. S. d. Abs. 2 S. 1 2. HS. Zur Berechnung der Frist s. o. 2. Kap., 1. Abschn. E. IV. und V. 449 Darauf verweisen zutreffend Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 7, und KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 10. 450 Zur Fristberechnung siehe im Einzelnen wieder oben 2. Kap., 1. Abschn. E. V. 451 Auch darauf verweist die Gesetzesbegründung BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

14 Giring

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

und liegt auch kein Fall der Überhaft vor, so kann die weitere Anwesenheit des Angeklagten allenfalls noch über § 231 Abs. 1 StPO gesichert werden. Außerdem sind die §§ 231 Abs. 2, 231 a ff. StPO anwendbar 452. Mit Ablauf der Wochenfrist sowie mit dem Ende der Hauptverhandlung wird der Haftbefehl schließlich von selbst gegenstandslos. Das Gesetz verlangt keine Aufhebung. Allerdings ist im Fall des Fristablaufs eine deklaratorische Aufhebung angezeigt 453. Das dient der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.

E. Form und Inhalt des Haftbefehls gemäß § 114 StPO Für den Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls gilt die Vorschrift des § 114 StPO entsprechend 454. Demnach wird die Haft durch „schriftlichen“ Haftbefehl angeordnet. Es sind im Sinne des § 114 Abs. 2 StPO der Beschuldigte anzuführen (Nr. 1) 455, die Tat, deren er verdächtig ist, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften (Nr. 2) 456 sowie der Haftgrund im Sinne des § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO (Nr. 3). Darüber hinaus sind gemäß § 114 Nr. 4 StPO grundsätzlich die Tatsachen darzulegen, aus denen sich der dringende Tatverdacht und der Haftgrund ergeben 457. Speziell 452 Auf diese Möglichkeit weist zutreffend LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 15, hin; vgl. auch KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 10. 453 Für eine deklaratorische Aufhebung ist LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 15, und auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 120 Rdn. 14. Dagegen sind wohl HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 20; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 18 sowie § 120 Rdn. 22, und deutlich auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 18. 454 Das ist der Gesetzesbegründung BT-Drucksache 13/2576, S. 3, zu entnehmen. 455 Bei Ausländern sollte die Staatsangehörigkeit angegeben werden; vgl. hierzu LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 114 Rdn. 8. 456 Die Bezeichnung erfolgt in ähnlicher Weise wie gem. § 200 StPO in der Anklageschrift; vgl. LG Bochum, StV 1996, 551, 551 f. („Anforderungen an die Konkretisierung des Tatvorwurfs im Untersuchungshaftbefehl“); KG Berlin, StV 1994, 318, 318 f. („Notwendigkeit der Mitteilung der Verdachtsgründe im Haftbefehl“). Das OLG Brandenburg, NStZ-RR 1997, 107, 107 ff. („Bezeichnung der Tat im Haftbefehl“), weist darauf hin, dass „namentlich in frühem Stadium der Ermittlungen, nicht in jedem Fall“ verlangt werden kann, „daß der Vorwurf in einer Weise dargestellt wird, wie die insoweit gleichlautende Vorschrift des § 200 Abs. 1 S. 1 StGB es für die Anklageschrift verlangt; oftmals wird eine abschließende Konkretisierung (...) erst im Laufe der Ermittlungen möglich werden (...)“. Nach OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1996, 267, 267 f. („Anforderungen an den Untersuchungshaftbefehl“), ist jedoch „im Haftbefehl mindestens der historische Vorgang der Tat so genau zu bezeichnen, daß der Beschuldigte den konkreten Vorwurf und seine Begrenzung genau erkennen kann“. Vgl. i.d.S. auch OLG Hamm, StV 2000, 153, 153 ff. („Konkretisierung des Tatvorgangs“). 457 Es sei denn, die Staatssicherheit würde gefährdet, § 114 Abs. 2 Nr. 4, 2. HS StPO. Der Fall hat im Rahmen des § 127 b StPO jedoch praktisch keine Bedeutung, da die Sache für eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren dann nicht i. S. d. § 417 StPO geeignet sein wird. Ein Verstoß gegen die Begründungspflichten nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 StPO ist heilbar; vgl. KG Berlin, StV 1994, 318, 318 f. („Notwendigkeit der Mitteilung der Verdachtsgründe im Haftbefehl“). Vgl. allgemein zum erforderlichen Inhalt eines Haftbefehls auch Kleinknecht/

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

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für den Hauptverhandlungshaftbefehl hat die Angabe nach § 114 Abs. 3 1. Alt. StPO besondere Bedeutung. Danach sind bei Naheliegen der Anwendung des § 112 Abs. 1 S. 2 StPO die Gründe anzugeben, weswegen der Erlass des Haftbefehls nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Angesichts der Schwere des Eingriffs und der Begrenzung des Strafrahmens im Sinne des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO wird ein Verstoß in der Regel nahe liegen. Der Hauptverhandlungshaftbefehl ist schließlich vom erlassenden Richter im Original zu unterschreiben. Bei seiner Verkündung gemäß § 114 a StPO muss der Haftbefehl noch nicht schriftlich vorliegen. Es genügt, wenn die Schriftform unverzüglich nachgeholt wird 458. Hier gilt also nichts anderes als allgemein zu einem Haftbefehl aufgrund § 112 StPO oder § 112 a StPO. 3. Abschnitt

Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO A. § 127 b Abs. 1 StPO als eine „über § 127 StPO hinausgehende“ Festnahmeregelung § 127 b Abs. 1 StPO enthält ein „zusätzliches, über § 127 Abs. 1, 2 hinausgehendes Festnahmerecht“ 459. Zunächst heißt das, dass die Festnahmerechte des § 127 StPO durch § 127 b Abs. 1 StPO nicht verdrängt werden. Liegen beiderseits die Voraussetzungen vor, gelten die Befugnisse nebeneinander. Einmal verdeutlicht dies der Wortlaut des § 127 b Abs. 1 StPO. Danach sind die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes zur Festnahme „auch“ dann befugt, wenn die Gründe nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO vorliegen. Wäre § 127 StPO zur Sicherung des beschleunigten Verfahrens durch § 127 b Abs. 1 StPO verdrängt, würde das neue Festnahmerecht die Festnahmebefugnisse der Strafverfolgungsbehörden insgesamt eher beeinträchtigen statt fördern 460: Erschiene es für einen festnehmenden Beamten zwar möglich, aber dennoch zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 127 b Abs. 1 StPO zu bejahen sind, würde der Verdächtigte überhaupt nicht festgenommen werden können – aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO nicht, da Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen bestünden, und aufgrund § 127 StPO nicht, da bei der Möglichkeit der Anwendung des § 127 b Abs. 1 StPO in gleichem Maße auch Zweifel an der Anwendbarkeit des § 127 StPO gegeben wären. Ein solches ErgebJanischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 133 ff., und Parriger, NStZ 1986, 211, 211 ff., aus der Praxis der Untersuchungshaft. 458 Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 129. 459 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 4. Vgl. auch KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 2, und Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 2, der von einer „ergänzenden“ Festnahmebefugnis spricht. 460 Vgl. i. d. S. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 6. 14*

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

nis wäre mit dem Ziel des Gesetzgebers, Anreize zur Nutzung des beschleunigten Verfahrens zu schaffen, nicht vereinbar. Für eine Anwendung des § 127 StPO neben § 127 b StPO spricht schließlich, dass der Fall der Identitätsfeststellung nur in § 127 StPO geregelt ist 461. In § 127 b Abs. 1 StPO findet sich kein entsprechender Verweis. Eine Identitätsfeststellung kann zur Sicherung des beschleunigten Verfahrens jedoch genauso geeignet und erforderlich sein wie zur Sicherung des Regelverfahrens.

B. Die formellen Voraussetzungen/Entsprechungen zu § 127 Abs. 2 StPO Die formellen Voraussetzungen des Festnahmerechts gemäß § 127 b StPO entsprechen denen des Festnahmerechts gemäß § 127 Abs. 2 StPO. Demnach sind zur Festnahme die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes befugt, nicht jedoch Privatpersonen. Der Begriff „Staatsanwaltschaft“ umfasst auch Amtsanwälte 462. Zu den Beamten des Polizeidienstes gehören alle mit Strafverfolgung betrauten Beamten der Bereitschafts-, Schutz- und Kriminalpolizei 463, die nicht Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft zu sein brauchen 464. Daneben steht auch dem Richter ein Festnahmerecht zu. Er soll nicht weniger Rechte haben als der Staatsanwalt 465. Die Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO ist an keine bestimmte Form gebunden 466. Sie ist ein Realakt. Die Befugnis zur Festnahme schließt das Recht ein, den Betroffenen festzuhalten oder ihn zwangsweise zur nächsten Polizeistation zu bringen 467. Welche Zwangsmittel die Polizei bei der Festnahme im Einzelnen einsetzen darf, ist in der StPO nicht ausdrücklich geregelt. Die Grenzen der Festnahmemittel sollen durch das Polizeirecht und die Gesetze über den unmittelbaren Zwang festgelegt sein 468. Nach der Festnahme gemäß § 127 b Abs. 1 StPO ist der Vgl. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 6. Vgl. § 142 Abs. 1 Nr. 3 GVG. 463 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 Rdn. 40. 464 Vgl. KK-Boujong, StPO (2003), § 127 Rdn. 39, wonach Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft, die nicht Polizeibeamte sind, eine Festnahmebefugnis nach §127 b Abs. 1 StPO ebenso wenig zustehen kann wie nach § 127 Abs. 2 StPO. 465 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 Rdn. 42. 466 OLG Oldenburg, NJW 1966, 1764, 1765. („Begriff der Festnahme“). Also bedarf es auch nicht der Worte „Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!“; vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 31 Rdn. 9. 467 Bezüglich der Vollzugsbeamten des Bundes gilt das Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG). Entsprechende Gesetze haben die Länder für die Landesvollzugsbeamten gem. Art.72 Abs.1 GG i.V.m. Art.74 Abs. 1 GG erlassen; vgl. kritisch hierzu Borchert, JA 1982, 338, 345, 345 f., und Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 31 Rdn. 12, mit Hinweis auf § 6 EGStPO. Zum Zwangsmitteleinsatz im Rahmen des § 127 Abs. 2 StPO vgl. auch A. Schmidt/Schöne, NStZ 1994, 218, 218 f. 468 Vgl. i. d. S. nur Achenbach, JA 1981, 660, 661. Siehe aber zum Meinungsstand auch Lesch, Strafprozeßrecht (2001), Kap. 4 Rdn. 56 ff. 461 462

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

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Beschuldigte entsprechend §§ 128, 129 StPO vorzuführen 469. Die Verpflichtung, eine richterliche Entscheidung über eine Freiheitsentziehung herbeizuführen, besteht, wenn die Freiheitsentziehung länger als bis zum Ende des nächsten Tages nach der Festnahme aufrechterhalten werden soll. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. Das folgt aus Art. 104 Abs. 2 S. 2, 3 GG. Sofern es die Umstände zulassen, ist eine Androhung erforderlich, es sei denn, der Erfolg der Maßnahme ist dadurch gefährdet 470. Der Zugriff durch die Verfolgungsbehörden muss nicht als „vorläufige Festnahme“ bezeichnet werden. Unerheblich ist auch, ob der Festnehmende den Grund der Festnahme falsch bezeichnet. Es kommt allein darauf an, dass eine Festnahmeberechtigung tatsächlich vorliegt 471. Bezeichnet der Festnehmende eine Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO, obwohl tatsächlich lediglich die Voraussetzungen nach § 127 StPO vorliegen, oder wird umgekehrt eine Festnahme auf § 127 StPO gestützt, obwohl tatsächlich ein Recht nach § 127 b Abs. 1 StPO besteht, macht die jeweils fehlerhafte Bezeichnung die Festnahme nicht rechtswidrig. Es muss dem Betroffenen jedoch immer klar erkennbar sein, dass es sich um eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Strafverfolgung handelt. Die jeweilige Verfolgungsbehörde muss den Beschuldigten über alle Tatsachen informieren, auf die sich die Festnahme stützt. Die Staatsanwaltschaft hat den Verteidiger entsprechend § 147 StPO über die bestehenden Verdachtsmomente zu informieren. Das belastende Material muss umgehend offen gelegt werden 472. Dem Festgenommenen ist schon zu Beginn des Verfahrens die Möglichkeit zur Verteidigung zu eröffnen 473. Er darf nicht darauf angewiesen sein – sofern es denn zum Erlass kommt – erst später die im Hauptverhandlungshaftbefehl festgelegten Vorwürfe zu entkräften. Zum Rechtsschutz gegen die vorläufige Festnahme gilt zu § 127 Abs. 2 StPO Entsprechendes 474. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO auch zulässig ist, ehe ein erforderlicher Strafantrag, eine Ermächtigung oder ein Strafverlangen vorliegt. § 127 Abs. 3 StPO gilt insoweit entsprechend. Die InteresEs gilt § 136 a StPO; vgl. Nelles, StV 1992, 385, 390 f. Schlüchter, Strafverfahren (1983), Rdn. 257.1. 471 Vgl. BGH, NJW 1962, 1020, 1020 f. („Vorführungsrecht der Polizei“); KK-Boujong, StPO (2003), § 127 Rdn. 25; Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 310, jeweils zu § 127 StPO. 472 Nach zutreffender Ansicht von Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 295 ff., sind u. a. die in BVerfG, StV 1995, 465, 465 ff. („§ 129 Abs. 1 StGB“), im Zusammenhang mit der Unterrichtung des Beschuldigten für den Fall der Inhaftierung herausgearbeiteten Grundsätze auch für die Vorführungsverhandlung anzuwenden. 473 Vgl. eingehend Deckers, NJW 1991, 1151, 1154 ff., und ders., NJW 1994, 2261, 2262 m. w. N. 474 Soweit es um die Art und Weise des Vollzugs der Festnahme geht, ist nach BVerwGE 47, 255, 257 ff., der Rechtsweg gem. §§ 23, 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG gegeben. Vgl. auch näher Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 190 ff. und 281 ff. 469 470

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

senlage ist in den Fällen des § 127 b Abs. 1 StPO und des § 127 StPO gleich 475. Es geht jeweils um den Anwendungsfall einer vorläufigen Festnahme.

C. Die materiellen Voraussetzungen des Festnahmerechts nach § 127 b Abs. 1 StPO I. Die Hauptstreitfragen Aus der Konzeption des § 127 b Abs. 1 StPO als Doppeltatbestand ergibt sich eine wesentliche Entsprechung zwischen den materiellen Festnahme- und den materiellen Haftvoraussetzungen innerhalb des § 127 b StPO. Für eine vorläufige Festnahme müssen die Gründe des Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 kumulativ vorliegen. Das ist unbestritten. Im Unterschied zur Hauptverhandlungshaft und in Entsprechung zu §127 Abs. 2 StPO besteht das Festnahmerecht jedoch ausschließlich nur gegenüber „auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten“. Das kann Auswirkungen auf die Auslegung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO haben. Die Beamten des Polizeidienstes sind im Zeitpunkt der Festnahme von der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens gewissermaßen „weiter entfernt“ als Staatsanwälte oder Richter beim Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens und bei der Entscheidung darüber. Polizeibeamte haben nicht die gleichen Kenntnisse, die zur Prognose über die Voraussetzungen des § 127 b Abs. 1 StPO erforderlich sind. Sie können weder die Rechtslage genauso würdigen, noch wissen sie vergleichsweise viel über die Organisation der unverzüglichen Durchführung des beschleunigten Verfahrens bei Gericht. Wie die Voraussetzungen des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO zur Anwendung des Festnahmerechts auszulegen sind, ist also gesondert zu verdeutlichen. Die Erörterungen zu den Haftgrundkomponenten des Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 im Rahmen der Hauptverhandlungshaft können jedenfalls nicht ohne weiteres übernommen werden. Unabhängig von den Fragen, die sich zur Auslegung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO stellen, wirft die materielle Seite der Festnahmeermächtigung noch weitere Probleme auf. Zum Ersten ist zweifelhaft, ob die vorläufige Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO neben den Gründen des Abs. 1 auch die Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls gemäß Abs. 2 verlangt. Dies ließe sich annehmen, wenn der Zweck des Festnahmerechts nach § 127 b Abs. 1 StPO entsprechend dem Zweck des § 127 Abs. 2 StPO darin zu sehen ist, den Erlass eines Haftbefehls zu sichern, um so die Durchführung des Verfahrens zu gewährleisten. Ist der Erlass eines Hauptverhandlungshaftbefehls nach § 127 b StPO nicht zulässig, ginge es fehl, den Beschuldigten zur Sicherung des Erlasses eines solchen Haftbefehls vorläufig festzunehmen. Eine Festnahme wäre hierzu weder geeignet noch erforderlich. Demnach wäre sie unrechtmäßig. 475 So zu Recht Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 12, wobei die Fälle der Ermächtigung und des Strafverlangens eher nicht i. S. d. § 417 StPO geeignet sein werden.

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

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Zum Zweiten ist zu fragen, ob § 127 b StPO Gefahr im Verzug verlangt. § 127 Abs. 2 StPO setzt Gefahr im Verzug voraus. Nach § 127 Abs. 2 StPO sind – wie auch nach § 127 b Abs. 1 StPO – die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes zur Festnahme ermächtigt. Deutete diese gleichartige Kompetenzverteilung auf ein grundsätzliches Entsprechen des § 127 Abs. 2 StPO mit § 127 b Abs. 1 StPO „in der Sache“, ließe sich Gefahr im Verzug als ungeschriebene Voraussetzung zur Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO ausmachen. Die Gesetzesbegründung gibt zur Lösung dieses und zu den zuvor skizzierten Problemen keine konkreten Hinweise. II. Erfordernis „Gefahr im Verzug“? Entsprechung zwischen § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 Abs. 2 StPO „in der Sache“? Unter Gefahr im Verzug ist die Gefährdung einer Maßnahme zu verstehen, die wegen des Zeitverlustes entstehen würde, der mit der vorherigen Erwirkung eines richterlichen Haft- oder Unterbringungsbefehls verbunden ist 476. Ein großer Teil der Literatur verlangt, dass das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO „Gefahr im Verzug“ fordert. So meinen Hellmann, Pfeiffer, Schlüchter/Fülber/Putzke und Boujong, dass im Rahmen des § 127 b Abs. 1 StPO auf das Merkmal nicht verzichtet werden könne 477. Dafür spreche die jeweils durch § 128 StPO und Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG vorgegebene Wertung einer der Inhaftierung grundsätzlich vorgeschalteten richterlichen Entscheidung 478. Die Befugnis der Staatsanwaltschaft und der Beamten des Polizeidienstes beruhe nur auf einer „Notkompetenz“ 479. Um dieser Notkompetenz in beiden Vorschriften gerecht zu werden, ergebe sich die Entsprechung zwischen § 127 Abs. 2 StPO und § 127 b Abs. 1 StPO „in der Sache“ und demnach die Forderung von Gefahr im Verzug auch für § 127 b Abs. 1 StPO 480. Nach dieser Ansicht darf der Betroffene aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO nur vorläufig festgenommen werden, wenn das Abwarten eines richterlichen Haftbefehls die Festnahme gefährden würde 481. Vgl. nur Borchert, JA 1982, 338, 345, sowie Nelles, StV 1992, 385, 386. Vgl. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 128; Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 3, sowie KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 5 m. w. N. auf Hellmann a. a. O. 478 Vgl. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 128, und auch Keller, Kriminalistik 1998, 677, 677. 479 So Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149. 480 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 128, nehmen nur zu der Frage Stellung, ob das Merkmal „Gefahr im Verzug“ i. S. d. § 127 Abs. 2 StPO auch für § 127 b Abs. 1 StPO zu fordern ist. Sie versäumen es hingegen, entgegen der konsequenten Diskussion bei Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149, aus der „Notkompetenz“ heraus auch das Erfordernis der materiellen Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls als Voraussetzungen des Festnahmerechts zu problematisieren. 481 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 Rdn. 35. 476 477

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Schröer geht hingegen davon aus, dass das Festnahmerecht keine Gefahr im Verzug verlangt 482. Der Unterschied zwischen § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 Abs. 2 StPO zeige sich nicht nur, wie Hellmann meint, „scheinbar“ in der Voraussetzung Gefahr im Verzug 483. Nach Schröer zeigt er sich „ausdrücklich“ im Fehlen der Voraussetzung. Der Verzicht des Gesetzgebers, das Merkmal „Gefahr im Verzug“ auch in § 127 b Abs. 1 StPO festzuschreiben, begründet nach Schröer die Annahme eines „eigenständigen Falles der vorläufigen Festnahme, der nicht in die bisherige Systematik der vorläufigen Festnahme im Sinne von § 127 StPO paßt“ 484. Im Ergebnis ist die Gleichsetzung zwischen § 127 b Abs. 1 StPO und dem Festnahmerecht nach § 127 Abs. 2 StPO „in der Sache“ abzulehnen. Gefahr im Verzug ist für § 127 b Abs. 1 StPO nicht zu fordern. Insoweit ist Schröer zuzustimmen. Der Gesetzgeber hätte die Voraussetzung Gefahr im Verzug in die Regelung des § 127 b Abs. 1 StPO aufnehmen können. Er hat es indes unterlassen. § 127 Abs. 2 StPO bringt durch die Formulierung des Merkmals Gefahr im Verzug eine eigene „Notkompetenz“ zum Ausdruck 485. § 127 b Abs. 1 StPO lässt durch das Fehlen des Merkmals gerade nicht die gleiche Art „Notkompetenz“ für Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes erkennen. Zudem hat die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO zum Zweck, die richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung wegen vorliegender Haftgründe zu sichern 486. § 127 b Abs. 1 StPO soll hingegen letztendlich die Anwesenheit eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten in der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren sichern 487. Die Norm soll die Festnahmemöglichkeit gegenüber § 127 StPO erleichtern und gerade keinen erschwerten Voraussetzungen unterliegen. Dem Grundzweck der Verfahrenssicherung durch Sicherung der Anwesenheit, den der Gesetzgeber § 127 b StPO beigemessen hat, wird das neue Festnahmerecht am ehesten gerecht, wenn der Betroffene oder Verfolgte bei Vorliegen der durch § 127 b Abs. 1 StPO geforderten Voraussetzungen und der Verhältnismäßigkeit der Festnahme auf frischer Tat festgenommen werden kann. Aus Art. 104 GG ergibt sich nicht zwingend, dass Gefahr im Verzug auch für § 127 b Abs. 1 StPO Voraussetzung sein muss. Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt, dass über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung nur der Richter 482 Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S.95 f. Vgl. auch Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 238, der – allerdings ohne die Begründung – davon ausgeht, dass „die Voraussetzungen aus § 127 I und II StPO (...) nicht vorliegen“ müssen. 483 Vgl. wieder Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149. 484 Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 95 f. 485 Wie z. B. auch §§ 81 a Abs. 2, 81 c Abs. 5, 105 Abs. 1 StPO. 486 Vgl. Nelles, StV 1992, 385, 387: „Die Befugnis zu vorläufiger Festnahme bei ‚Gefahr im Verzug‘ (zu § 127 Abs. 2 StPO) ist lediglich durch ihre Sicherungsfunktion legitimiert, d. h. die Regelung bezweckt, die Durchführung einer wegen bereits vorliegender Haftgründe zu erwartenden richterlichen Entscheidung über die Freiheitsentziehung zu sichern“. 487 So zutreffend in diesem Zusammenhang Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 96.

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

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zu entscheiden hat. Aus Art. 104 Abs. 2 und 3 GG ergibt sich schließlich, dass bei einer nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen ist und jeder, der wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig festgenommen ist, spätestens am Tage nach seiner Festnahme dem Richter vorzuführen ist. Das Nähere regeln gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG die Gesetze. Den Gewährleistungen des Art. 104 GG trägt der Gesetzgeber in § 127 b Abs. 1 StPO Rechnung. Auch für das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO gilt unbestritten § 128 StPO 488. Enthielte § 127 Abs. 2 StPO nicht das Erfordernis Gefahr im Verzug, bestünde allein aufgrund Art. 104 GG keine Veranlassung, Gefahr im Verzug entgegen dem Wortlaut in die Festnahmevoraussetzungen hineinzuinterpretieren. III. Erforderlichkeit der materiellen Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls? Die Frage, ob das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO verlangt, dass über die Festnahme- und Haftgründe nach Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 auch die Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls gemäß § 127 b Abs. 2 StPO gegeben sein müssen, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Hellmann vertritt die Ansicht, dass § 127 b Abs. 1 StPO eine vorläufige Festnahme „nur“ erlaube, „wenn auch die Voraussetzungen des Haftbefehls gemäß § 127 b Abs. 2 StPO (dringender Tatverdacht, Gefahr des Fernbleibens von der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren und Verhältnismäßigkeit)“ gegeben seien 489. Die vorläufige Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO diene der Sicherung der Entscheidung des Richters über den Haftbefehl und sei folglich nur zulässig, wenn ansonsten der Erfolg der richterlichen Maßnahme gefährdet wäre 490. In diesem Sinne äußert sich auch Hilger. Er meint, dass „nach dem äußeren Erscheinungsbild der Tat dringender Tatverdacht“ vorliegen muss und „die Festnahmebefugnis nicht besteht, wenn auch die Verhältnismäßigkeit der Haft nicht bejaht werden kann“ 491. Roxin und Eisenberg scheinen zumindest das Vorliegen dringenden Tatverdachts zu verlangen. Es heißt, dass Staatsanwälte und Polizeibeamte nun auch aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO „einen der Tat dringend Verdächtigen“ vorläufig festnehmen können 492. Wankel geht im Gegensatz dazu ausdrücklich davon aus, dass für das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO „dringender Tatverdacht wie bei § 127 II nicht erforderlich“ sei 493. Andere wiederum, wie Lemke, Burhoff und auch LübVgl. nur BT-Drucksache 13/2576, S. 3. Vgl. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149 [Klammersetzung im Original]. 490 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149. 491 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 18 m. w. N. auf die eigene Kommentierung in § 127 Rdn. 7 ff., 38 f. sowie Vor § 112 Rdn. 33. 492 Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 11, und Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 a ff., – jeweils ohne Begründung. 493 KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 5. 488 489

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

kemann, erwähnen die Haftbefehlsvoraussetzungen nicht im Zusammenhang mit § 127 b StPO als Festnahmeermächtigung 494. Danach scheint § 127 b Abs. 1 StPO eine von den Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls unabhängige Festnahmeberechtigung zu begründen. Für letztgenannte Ansicht spricht einiges. Das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO gilt unabhängig von Abs. 2. Abs. 1 nennt die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ nicht. Nur Abs. 2 S. 1 1. HS enthält sie. Das Fehlen des Merkmals dringender Tatverdacht lässt das Festnahmerecht gemäß Abs. 1 auch nicht zwingend „ausufern“. Es ist in mehrfacher Hinsicht kompensiert: zunächst über das Merkmal „auf frischer Tat“ gemäß § 127 b Abs. 1 StPO und darüber hinaus noch über die Geeignetheit der Sache gemäß § 417 StPO. Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO verlangt – entgegen dem, was Hellmann und Hilger ausdrücklich meinen – nicht die Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls. Erforderlich ist nur das Vorliegen der Voraussetzungen des § 127 b Abs. 1 StPO. § 127 b Abs. 2 StPO beschreibt Haftbefehls- und keine Festnahmevoraussetzungen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt zwar für alle staatlichen Maßnahmen, durch die in Rechte eines Grundrechtsträgers eingegriffen wird. Was die Festnahme angeht, muss diese daher verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls ist davon zu unterscheiden. Zuzugeben ist, dass ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 127 b Abs. 2 StPO auch ein entsprechender Haftbefehl nicht in Betracht kommt. Demnach ist auch die Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO zur Vorbereitung der Entscheidung des Richters über den Haftbefehl dann nicht geeignet. Es ist jedoch nicht ersichtlich, weshalb die Festnahme zwingend nur dann zulässig sein soll, wenn es zum Erlass eines Haftbefehls kommen kann. Es entspricht nicht dem Zweck des § 127 b Abs. 1 StPO, allein den Erlass eines Haft- bzw. Hauptverhandlungshaftbefehls zu sichern, wodurch letztendlich die Durchführung des Verfahrens gesichert werden würde. § 127 b Abs. 1 StPO dient primär der Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren 495. Das beschleunigte Verfahren muss nicht durch einen Haft- bzw. Hauptverhandlungshaftbefehl gesichert werden, dessen Erlass durch eine vorläufige Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO gesichert werden müsste. Das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO kann in bestimmten Fällen auch isoliert einen Anreiz schaffen, auf das beschleunigte Verfahren zurückzugreifen. Zu denken ist an Fälle, in denen die Sache derart für das beschleunigte Verfahren geeignet ist, dass die Hauptverhandlung gemäß § 418 Abs. 1 1. Alt. StPO „sofort“ durchgeführt werden kann. Dann kommt es auf die Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls nicht an. Wohl aber kann es auf 494 Vgl. HK-Lemke, StPO (2001), § 127 Rdn. 8 ff.; Burhoff, ZAP 1997, 811, 811 f., Lübkemann, Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht (2001), S. 534. 495 Vgl. wieder BT-Drucksache 13/1257, S.3, sowie Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), §31 Rdn. 6 a, und auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 96, zur Frage der Berücksichtigung von „Gefahr im Verzug“.

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

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eine gegenüber § 127 StPO erweiterte Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme ankommen. Sind die Voraussetzungen des § 127 Abs. 2 StPO nicht gegeben, da beispielsweise keine Fluchtgefahr gegeben ist, ist gleichwohl aber das Fernbleiben des Beschuldigten zu befürchten, kann die Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO erforderlich sein. Nur das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO kann dann die „sofortige“ Durchführung des Verfahrens sichern. Nach der Konzeption des Gesetzgebers kann die Hauptverhandlung innerhalb des gemäß Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG zugelassenen Zeitrahmens „sofort“ durchgeführt werden, sofern die Rechtsstaatsgarantien eingehalten sind 496. Darüber hinaus spricht der Wortlaut der Regelung ebenso wie systematische und historische Erwägungen gegen die Notwendigkeit der Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls. Zunächst ist deutlich zu machen, dass im gesamten Gesetzgebungsverfahren nicht die Rede davon war, dass das Festnahmerecht etwa die Verhältnismäßigkeit eines Hauptverhandlungshaftbefehls verlangt. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass diese Voraussetzung und die des § 127 b Abs. 2 StPO auch Erfordernisse für die Festnahme nach Abs. 1 sind, hätte er diese sicher im Gesetz deutlich gemacht. Die Voraussetzungen des Festnahmerechts nach § 127 b Abs. 1 StPO verweisen indes gerade nicht auf Abs. 2. Es verweist lediglich die Haftregelung § 127 b Abs. 2 StPO auf die Gründe der Festnahme gemäß Abs. 1. Zudem hat der Gesetzgeber in der Regelung zur vorläufigen Festnahme gemäß § 127 Abs. 2 StPO das Erfordernis von Voraussetzungen eines Haft- bzw. Unterbringungsbefehls ausdrücklich klargestellt. In § 127 b Abs. 1 StPO jedoch, hat er dies offenbar bewusst unterlassen. Wenn aber nur § 127 Abs. 2 StPO die „Voraussetzungen eines Haftbefehls“ ausdrücklich als Voraussetzung der Festnahme nennt, ist davon auszugehen, dass nur § 127 Abs. 2 StPO als „haftsichernde amtliche Festnahme“ 497 der Vorbereitung und Sicherung eines richterlichen Haft- oder Unterbringungsbefehls dienen soll. Das Gesetz geht gerade nicht von der Identität der Festnahmerechte nach § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 Abs. 2 StPO aus. Die Rechte zur Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO und zum Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls aufgrund § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO stehen auch gerade nicht in einer „obligatorischen“ Verbindung 498. § 127 b Abs. 1 StPO gibt, wie gesehen, ein „über § 127 StPO hinausgehendes“ Festnahmerecht 499. § 127 StPO ist in diesem Punkt also kein Maßstab für die Auslegung des § 127 b Abs. 1 StPO. Das alles deutet darauf hin, dass das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO keine Haftbefehlsvoraussetzungen verlangt. § 127 b Abs. 1 StPO soll die bisherigen Festnahmerechte nach § 127 b StPO erweitern, ansonsten hätte es eines neuen 496 Vgl. zur „sofortigen“ Verhandlung nach der Festnahme des Beschuldigten Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 49. 497 Borchert, JA 1982, 338, 345. 498 s. o. 2. Kap., 1. Abschn. A. 499 Vgl. wieder KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 4, und Pfeiffer, StPO (2002), §127 b Rdn. 2.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Festnahmerechts nicht bedurft. Die Erweiterung gegenüber § 127 Abs. 2 StPO drückt sich gerade auch in der Unbeachtlichkeit der Voraussetzungen eines Haftbefehls aus. Dass die „sofortige“ Durchführung des beschleunigten Verfahrens nach der Festnahme des Beschuldigten freilich auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt, steht der Auslegung nicht entgegen. Die gewichtigen Bedenken 500 sind allenfalls ein Argument gegen die Anwendung des Festnahmerechts gemäß § 127 b Abs. 1 StPO. Sie ließen sich schließlich auch mit dem Erfordernis der Haftbefehlsvoraussetzungen für das Festnahmerecht nicht beseitigen. IV. „Betroffene oder Verfolgte“ als Kreis der Festzunehmenden In der Literatur zu § 127 b StPO bleibt das Merkmal der Festnahme eines „auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten“ in aller Regel ohne nähere Betrachtung. Hier wird meist schlicht auf die Auslegungen im Rahmen des § 127 Abs. 1 StPO verwiesen 501. Zumindest was den Kreis der Festzunehmenden angeht, ist dies auch angebracht. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Kreis der „Betroffenen oder Verfolgten“ in § 127 b Abs. 1 StPO gegenüber dem in § 127 Abs. 1 StPO ausgedehnt oder enger gezogen wäre. „Betroffener“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 StPO ist demnach, wer am Tatort oder in der Nähe davon gestellt oder irgendwie sinnlich wahrgenommen wird 502. Ein „Überraschen“ ist nicht erforderlich 503. „Verfolgt“ ist, wer nach dem Betreffen geflohen ist und demgegenüber nachgeeilt wird oder sonstige Maßnahmen eingeleitet sind, die auf die Ergreifung des Festzunehmenden abzielen 504. Auch gilt derjenige als verfolgt, gegenüber dem lediglich aufgrund von eventuellen Tatspuren während des möglichen Tatgeschehens strafrechtliche Maßnahmen zur Ergreifung aufgenommen werden 505. Es ist also nicht zwingend erforderlich, dass die Person bei Aufnahme der Verfolgung selbst anwesend war und bemerkt wurde 506. Hat kein Festnehmender das Geschehen beobachtet und wird 500 Vgl. Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 143 ff. und insbesondere S. 146 ff. 501 Nach Keller, Kriminalistik 1998, 677, 677, gelten „wegen der Prämisse ‚Betreffen oder Verfolgen auf frischer Tat‘ die bekannten Grundsätze“ [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 91; Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn.6; KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), §127 b Rdn.3; Pfeiffer, StPO (2002), §127 b Rdn.4; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 6. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2145 ff., geht auf den Kreis der Festzunehmenden nicht gesondert ein. 502 Vgl. hierzu schon RGSt 65, 392, 394 („Stellen durch Gebrauch einer Schusswaffe“); KKBoujong, StPO (2003), § 127 Rdn. 11; Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 314, zu § 127 StPO. 503 Der Festnehmende braucht nicht der Entdecker zu sein; vgl. Pfeiffer, StPO (2002), § 127 Rdn. 3. 504 Pfeiffer, StPO (2002), § 127 Rdn. 3. 505 Vgl. Lesch, Strafprozeßrecht (2001), Kap. 4 Rdn. 60 m. w. N. 506 Vgl. Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil II (1957), § 127 Rdn. 9.

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

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nicht auf Sicht oder Gehör verfolgt, wird die Geeignetheit der Sache zur Behandlung im beschleunigten Verfahren gemäß § 417 StPO allerdings eher selten wahrscheinlich sein. Der Beschuldigte kann immer seine komplexe Sicht des Sachverhalts vorbringen. Diese Version des möglichen Sachverhaltes muss überprüft werden, es sei denn, die Ausführungen des Beschuldigten entbehren jeder tatsächlichen Grundlage. Aus der Verbindung zwischen § 127 b Abs. 1 StPO und dem beschleunigten Verfahren ist schließlich zu folgern, dass § 127 b Abs. 1 StPO gegenüber Jugendlichen keine Befugnis gewährt. Sie gehören nicht zum Kreis der „Betroffenen oder Verfolgten“. Für die Anwendbarkeit des Festnahmerechts gilt insoweit im Sinne des § 79 Abs. 2 JGG nichts anderes als bei der Hauptverhandlungshaft. V. Die „frische Tat“ Das Merkmal „frisch“ in § 127 b Abs. 1 StPO umschreibt die zeitliche Nähe zum eigentlichen Tatgeschehen. Eine Tat ist „frisch“, wenn die Tatausführung gerade andauert oder vollendet, aber noch nicht beendet ist 507. Das ist der Fall, wenn sich das Betreffen oder Verfolgen im tatverdachtsrelevanten Geschehen oder kurz danach abspielt. Es ist unzulässig, den Begriff „frische Tat“ inhaltlich über die zeitliche Beendigung des wahrscheinlichen Tatgeschehens hinaus auszudehnen 508. Die Festlegung einer fixen Zeitgrenze zur Ausübung des Festnahmerechts sieht das Gesetz jedoch nicht vor. Die Frage, welche konkreten Anforderungen an die „Tat“ gemäß § 127 b Abs. 1 StPO zu stellen sind, formuliert sich grundsätzlich parallel zu §127 Abs. 1 StPO 509. Es kann die Verwirklichung einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Straftat gefordert sein 510. Auch könnte die rechtswidrige Verwirklichung eines Strafgesetzes genügen 511. Schließlich kann materiell der objektive Tatbestand einer Straftat und darüber hinaus lediglich dringender Tatverdacht verlangt sein 512. Der Wortlaut des Gesetzes lässt diese Interpretation sowohl in § 127 Abs. 1 StPO Peters, Strafprozeß (1985), § 47 b I, S. 438 f. So ist beispielsweise ein Diebstahl „beendet“, wenn der Täter sicheren Gewahrsam hat; vgl. hierzu wieder Peters, Strafprozeß (1985), § 47 b I, S. 437 f. 509 Einen recht eingehenden Überblick über den Meinungsstand zu §127 Abs. 1 StPO liefert beispielsweise Borchert, JA 1982, 338, 339 f. m. z. w. N. 510 So die wohl h. M.: Vgl. Lackner/Kühl, StGB (2001), Vor § 32 Rdn. 23; Jescheck/Weigend, AT (1996), S.398; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB (2001), vor § 32 Rdn. 81 f. Siehe auch Volk, Strafprozeßrecht (2002), § 10 Rdn. 67, und vgl. auch Schlüchter, Strafverfahren (1983), Rdn. 255 und 253, unter besonderer Beachtung der Festnahme Strafunmündiger i. S. d. § 19 StGB, sowie Schumann, JuS 1959, 559, 560 f. 511 I. d. S. vgl. z. B. Kindhäuser, LPK-StGB (2002), Vor § 32 Rdn. 70; KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 Rdn. 2. 512 Vgl. im Überblick die Nachweise bei KK-Boujong, StPO (2003), § 127 Rdn. 9, und SKPaeffgen, StPO (Stand: 1992), § 127 Rdn. 10, und auch Kargl, NStZ 2000, 8, 10 f. 507 508

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

als auch in § 127 b StPO zu. Das Problem der „Tat“ ist in § 127 b Abs. 1 StPO und § 127 Abs. 1 StPO jedoch nicht identisch zu behandeln. Aufgrund der Eigenständigkeit der Festnahmerechte gehen pauschale Verweise auf § 127 StPO 513 fehl. Bestimmte Argumentationen gelten nur für § 127 Abs. 1 StPO und verbieten sich entsprechend für § 127 b Abs. 1 StPO. Da das Festnahmerecht gemäß § 127 Abs. 1 StPO auch dem Interesse an wirksamer Strafverfolgung diene, so heißt es etwa bei Roxin, sei es unbillig, einem Privaten das Risiko eines schuldlosen Irrtums aufzuerlegen. Das Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 StPO bestehe daher schon, wenn der Private die in der Vorschrift genannten Voraussetzungen ohne Fahrlässigkeit annehme 514. Das Genügen einer bloß rechtswidrigen Tat könnte im Rahmen des § 127 Abs. 1 StPO beispielsweise auch damit begründet werden, dass der mit „jedermann“ sehr weite Kreis der Ermächtigten Restriktivität in den materiellen Anwendungsvoraussetzungen verlange. Da § 127 Abs. 1 StPO also einen sehr weiten Adressatenkreis nennt, könnte die lediglich objektiv-tatbestandsmäßige Verwirklichung eines Strafgesetzes dort als ungenügende Barriere gegen die Festnahme angesehen werden. Das „JedermannArgument“ hat für § 127 b Abs. 1 StPO jedoch von vornherein keine Geltung. In § 127 b Abs. 1 StPO ist der Kreis der Eingriffsermächtigten begrenzt. Die Norm gibt gerade nicht „jedermann“ das Recht zur Festnahme, sondern eben nur der „Staatsanwaltschaft und den Beamten des Polizeidienstes“. Das ergibt sich eindeutig aus ihrem Wortlaut. Auch die Argumentation von Wessels darf nicht ohne weiteres übernommen werden. Danach bedarf es einer engen Auslegung des Begriffes „Tat“ in § 127 Abs. 1 StPO, da der „private“ Festnehmer im Gegensatz zum „Amtsträger“ keiner disziplinarischen Verantwortung unterliege 515. Für das Erfordernis einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Straftat im Rahmen des § 127 b Abs. 1 StPO könnte sprechen, dass der Gesetzgeber im Verhältnis zu § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO, wie auch im Verhältnis des Abs. 1 zu § 127 Abs. 2 i.V. m. § 112 StPO, zwischen der „Tat“ und dringendem „Tatverdacht“ unterscheidet. Aus dem Unterschied ließe sich folgern, § 127 b Abs. 1 StPO verlange im Umkehrschluss grundsätzlich eine tatbestandliche, rechtswidrige und schuldhafte Tat, während die Haft nach § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO und die Festnahme gemäß § 127 Abs. 2 i.V. m. § 112 StPO eben „nur“ den dringenden Verdacht einer Straftat fordere 516. Dagegen spricht jedoch, dass sich aus der Sicht des 513 Vgl. z. B. den Verweis nach KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 3, und auch von Kohler, Beschleunigte Strafverfahren (2001), S. 68. 514 Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 31 Rdn. 4. 515 Wessels/Beulke, Strafrecht AT (2003), Rdn. 354. 516 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 127, gehen – allerdings ohne Problembewusstsein zum Merkmal der „frischen Tat“ – davon aus, dass § 127 b Abs. 1 StPO das Recht gewährt, den „auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Täter“ vorläufig festzunehmen. Die Formulierung lässt darauf hindeuten, als müsse der Betroffene oder Verfolgte tatsächlich tatbestandlich, rechtswidrig und schuldhaft eine Tat begangen haben. Andernfalls wäre die Person kein „Täter“. Dieser Ansicht scheint auch Burhoff, ZAP 1997, 811,

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

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Festnehmenden typischerweise lediglich die Umstände nachvollziehbar darstellen, die den objektiven Tatbestand einer Strafvorschrift ausfüllen oder die objektiven Rechtfertigungselemente beschreiben. Der subjektive Tatbestand, wie auch etwa die subjektiven Rechtfertigungselemente und die Schuld des Festzunehmenden, sind aus der Beobachterposition des Festnehmenden meist nicht hinreichend klar zu beurteilen 517. Käme es auf eine tatsächlich verwirklichte Straftat an, könnte dies für den Anwender des Festnahmerechts gemäß § 127 b Abs. 1 StPO bedeuten, das Recht vorsichtshalber nicht auszuüben, da die Gefahr, dass keine Straftat und demnach eine rechtswidrige Festnahme vorläge, beträchtlich wäre. Dies wiederum könnte von vornherein zu einem Leerlaufen des Festnahmerechts und damit auch zu keiner Förderung der Anwendung des beschleunigten Verfahrens gemäß §§ 417 ff. StPO führen. Mit dieser Folge stünde das Erfordernis einer tatsächlich verwirklichten Straftat gegen die Intention des Gesetzgebers, mit der Anwendung des § 127 b StPO das beschleunigte Verfahren zu forcieren. Es ist zwar gut möglich, dass der Augenschein, auch bezogen auf die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen, täuscht. Vor allem jedoch kann er dies bei der Beurteilung des tatbestandlichen Willens und Wissens des Festzunehmenden und seiner Schuld. Die Beurteilung der „inneren Seite der Tat“ kann sich allein aus der Beobachtung der Situation und der „Augenblicksentscheidung“, die zur Festnahme führt, praktisch kaum ergeben 518. Die vorläufige Festnahme gemäß § 127 b Abs. 1 StPO steht als „anwesenheitssichernde Flagranzfestnahme“ – wie § 127 Abs. 1 StPO – regelmäßig am Beginn des Verfahrens. Ob tatsächliche Strafbarkeit vorliegt, wird erst am Ende des Prozesses entschieden. Eine tatbestandliche, rechtswidrige und schuldhafte Tat muss demnach tatsächlich nicht vorliegen. Für alle Voraussetzungen der Strafbarkeit außerhalb des sichtbaren, tatbestandlichen Geschehens genügt der Verdacht. Auch die Strafausschließungsgründe beruhen auf Umständen, die besondere Motivationen und den Umfang der Schuld des Täters betreffen 519. Diese Kriterien sind dem Festnehmenden 811, zu sein, wonach die vorläufige Festnahme „nur in Betracht kommt, wenn die Straftat eines Erwachsenen oder Heranwachsenden vorliegt, (...)“. Vgl. i. d. S. auch Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 3. 517 Zu § 127 StPO vgl. Meyer-Großner, StPO (2003), § 127 Rdn. 4; nach LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 Rdn. 9, ist es zu Recht „schlechthin unrealistisch“ auf die Sicherheit der Tatbegehung und Täterschaft abzustellen. 518 Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 451, schreibt von „situativ begrenzte(m) Beurteilungsvermögen“ [Hervorhebung im Original]. Vgl. i. d. S. z. B. SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 127 Rdn. 10; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 Rdn. 9, und schon Henkel, Strafverfahrensrecht (1968), § 68 II 2. 519 Vgl. allgemein nur Kindhäuser, LPK-StGB (2002), Vor § 13 Rdn. 212 f.; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB (2001), vor § 32 Rdn. 127 ff. Im Ergebnis werden die Taten, in denen Strafausschließungsgründe relevant werden, für das beschleunigte Verfahren gem. §§ 417 ff. StPO ungeeignet sein.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

in der jeweiligen Festnahmesituation selbst nach sehr pflichtgemäßer Prüfung in aller Regel verborgen. Unproblematisch gilt für den Begriff „Tat“ in § 127 b Abs. 1 StPO, dass der strafbare Versuch mitumfasst ist und bloße Vorbereitungshandlungen und Ordnungswidrigkeiten kein Recht zur vorläufigen Festnahme begründen 520. Im Unterschied zu § 127 Abs. 1 StPO kommen als Straftaten freilich von vornherein nur die in Betracht, die im beschleunigten Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO abgeurteilt werden können. Durch § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 417 StPO werden besondere Anforderungen an die Umstände gestellt, aus denen sich die frische Tat für das beschleunigte Verfahren und damit auch für das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO geeignet zeigt. VI. Die Festnahmevoraussetzungen gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO Zunächst ist klarzustellen, dass der Begriff „Festgenommene“ in § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO als Festnahmevoraussetzung nicht korrekt ist. Er passt zu § 127 b StPO als Haftermächtigung, nicht jedoch als Norm, die zur Festnahme ermächtigt. Derjenige, gegenüber dem ein Festnahmerecht besteht, ist kein Festgenommener. Einen „Festgenommenen“ kann es in dem Zeitpunkt, in dem über ein Festnahmerecht entschieden wird, noch nicht geben. Der Betroffene oder Verfolgte ist augenscheinlich ein „Festzunehmender“. Darüber hinaus sind wesentliche Voraussetzungen des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO im Rahmen des Festnahmerechts grundsätzlich dieselben wie zum Erlass des Hauptverhandlungsbefehls. „Befürchten“ ist ein Weniger gegenüber der von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO geforderten Gefahr, und „Fernbleiben“ im Sinne des Abs. 1 Nr. 2 ist ein Weniger gegenüber (aktivem) „Sich-entziehen“ 521. Die bestimmten Tatsachen, die für oder gegen ein Fernbleiben des Beschuldigten sprechen können, sind dieselben wie im Rahmen des Abs. 1 Nr. 2 als Haftbefehlsvoraussetzung 522. Es muss „wesentlich mehr“ für das Vorliegen bestimmter Tatsachen sprechen als dagegen. „Feststellungen“ sind nicht verlangt, da sie Befürchtungen des Fernbleibens „unmöglich“ machten; das gilt besonders für das Festnahmerecht, denn wahrhaftige „Feststellungen“ sind „auf frischer Tat“ praktisch nicht zu treffen. Unterschiede gegenüber den Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft ergeben sich jedoch im Hinblick auf § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO. Die Wahrscheinlichkeit 520 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 31 Rdn. 7, und § 46 Abs. 3 S. 1 OWiG, der eine vorläufige Festnahme im Ordnungswidrigkeitenrecht ausdrücklich ausschließt. Siehe auch Pfeiffer, StPO (2002), § 127 b Rdn. 3, der ausdrücklich herausstellt, dass § 127 b Abs. 1 StPO Ordnungswidrigkeiten nicht erfasst. 521 Siehe ausführlicher oben 2. Kap., 1. Abschn. F. II. und F. IV. 522 Siehe ausführlicher oben 2. Kap., 1. Abschn. F. III.

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

225

im Sinne des Abs. 1 Nr. 1 wirkt sich zwar nicht auf die einzelnen Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO aus 523. Diese sind also auch im Rahmen des Festnahmerechts ohne relativierenden Einfluss des Begriffs „wahrscheinlich“ auszulegen. Die Wahrscheinlichkeitsprognose im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO könnte sich jedoch – im Gegensatz zu Abs. 1 Nr. 1 als Haftbefehlsvoraussetzung – grundsätzlich auf die Strafbarkeit beziehen. Denn die Strafbarkeit muss nicht über den dringenden Tatverdacht gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO prognostiziert werden. § 127 b Abs. 2 StPO enthält Haftbefehlsvoraussetzungen. Dennoch kann § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO nicht bejaht werden, wenn schlicht „etwas mehr für eine Verurteilung spricht als dagegen“. Denn die Kopplung an das beschleunigte Verfahren verlangt eine Prognose zur Geeignetheit der Sache gemäß § 417 StPO und damit zur Verhandlung in erheblich kürzerer Zeit als sie im gewöhnlichen Verfahren zur Verfügung stünde. Das werden in aller Regel Fälle sein, in denen die Strafbarkeit mehr als nur „wahrscheinlich“ ist. Des Weiteren konkretisiert sich die „Unverzüglichkeit“ der Entscheidung im Sinne des § 127 b Abs. 1 StPO nicht durch die Wochenfrist des Abs. 2. Ausschlaggebend für diese Auslegung ist auch in diesem Punkt die Eigenständigkeit des Festnahmerechts gemäß § 127 b Abs. 1 StPO vom Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls. „Unverzüglich“ im Sinne des Abs. 1 Nr. 1 ist eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren demnach, wenn sie sobald wie möglich und ohne eine nicht durch die Sachlage begründete Verzögerung gefällt wird 524. Hinzu kommt, dass die Entscheidung über die Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens nicht durch § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO subjektiviert ist. Die Erwartung der Durchführung der Hauptverhandlung ist eine Haft- und keine Festnahmevoraussetzung. Eine Prognose, die in dem Sinne positiv ausfällt, dass objektiv etwas mehr für ein bestimmtes Ergebnis spricht als dagegen, bleibt damit grundsätzlich für die (objektive) Wahl der Verfahrensart sinnvoll. Für Staatsanwaltschaften und Polizei gilt demnach für das Festnahmerecht grundsätzlich , dass mehr dafür als dagegen spricht, dass die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren durchgeführt wird. Abgrenzungen zu anderen möglichen Erledigungsarten müssen über Verhältnismäßigkeitserwägungen getroffen werden. Kommen andere Verfahren in Betracht, nach denen die Sache effektiver oder grundrechteschonender erledigt werden kann, kann der Betroffene nicht aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO festgenommen werden. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verengt somit die Prognose zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens. Für die Voraussetzung „wahrscheinlich“ im Sinne des Abs. 1 Nr. 1 bleibt demnach kaum Raum. All dies hat jedoch nicht zur Folge, dass der Begriff „wahrscheinlich“ in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO neben den Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO und neben allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen überhaupt keine Bedeutung haben muss. Siehe hierzu oben 2. Kap., 1. Abschn. E. III. Vgl. nur Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 172 m. w. N. (im Zusammenhang mit § 127 Abs. 2 StPO). 523 524

15 Giring

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Eine Prognose, die in dem Sinne positiv ausfällt, dass objektiv etwas mehr für ein bestimmtes Ereignis spricht als dagegen, bleibt für die Entscheidung des Richters über die Durchführung des beschleunigten Verfahrens – als ein solches Ereignis – sinnvoll. Staatsanwaltschaft und Polizei müssen bei der Festnahme mit einfacher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich der Richter auch tatsächlich für das beschleunigte Verfahren entscheidet. Ein Festnehmender soll nicht dafür einstehen müssen, dass der Richter als eigenständige Entscheidungsinstanz einen Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens ablehnt, obwohl davon auszugehen war, dass das Verfahren wahrscheinlich durchgeführt wird. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Kopplung des Festnahmerechts gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO an die §§ 417 ff. StPO besonders problematisch ist. In dem frühen Verfahrenszeitpunkt, in dem die Festnahmevoraussetzungen zu prüfen sind – also im Zeitpunkt des Ergreifens – können Staatsanwaltschaft und Polizei die Entscheidung des Richters, das beschleunigte Verfahren zu eröffnen, nur sehr schwer vorhersehen. Der Staatsanwaltschaft und den Beamten des Polizeidienstes wird die Beurteilung der Umstände, nach denen sich die Geeignetheit der Sache gemäß § 417 StPO bestimmt, im Zeitpunkt der Festnahme in aller Regel jedenfalls wesentlich schwerer fallen als dem Richter, der später entscheidet. Im Zeitpunkt des Ergreifens fehlen meistens Erkenntnisse über Beweggründe und Ziele des Handelnden genauso wie über dessen Vorleben. Den Beamten des Polizeidienstes wird eine verlässliche Einschätzung der organisatorischen Gegebenheiten bei Gericht besondere Schwierigkeiten bereiten. Sie wissen in aller Regel nicht, ob beispielsweise ein Richter, ein Staatsanwalt, ein Sitzungssaal, eventuell ein Dolmetscher, ein Pflichtverteidiger etc. zur Verfügung stehen. Davon abgesehen, wird ihnen die juristische Ausbildung und möglicherweise auch Erfahrung dahingehend fehlen, wann eine Sache im Sinne des § 417 StPO „geeignet“ ist. Für die Staatsanwaltschaft wird es bei der vorläufigen Festnahme nicht unbedingt immer überschaubarer sein, ob der zuständige Richter am Amtsgericht im konkreten Fall bereit und in der Lage sein wird, eher ein beschleunigtes Verfahren als ein anderes Verfahren durchzuführen 525. Die Belastung der Richters ist keine annähernd konstante Größe. Sie ist nicht nur von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk unterschiedlich 526, sondern mitunter von Richter zu Richter. Die Staatsanwaltschaft kann das verfahrensrechtliche Geschehen zwar besser überblicken als ein Polizeibeamter. Ein Staatsanwalt, der bereits Anträge auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens gestellt hat, hat eher Erfahrungen damit, ob und wann im beschleunigten Verfahren Anklage erhoben wird. Letztendlich ausschlaggebend ist jedoch die Entscheidung des Richters. Und diese ist auf einer fundierteren Tatsachengrundlage, als sie es im Zeitpunkt der Festnahme sein kann, getroffen. 525 Nach Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149, soll die Prognose einem Staatsanwalt jedoch „ohne weiteres möglich“ sein. 526 I. d. S. kommt es nach KMR-Wankel, StPO (Stand: 2001), § 127 b Rdn. 4, „auch auf die Gepflogenheiten des jeweiligen Gerichtsbezirkes an“.

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

227

Aufgrund der Schwierigkeiten, die sich aus dem frühen Verfahrenszeitpunkt ergeben, ist der Polizei und der Staatsanwaltschaft im Rahmen des § 127 Abs. 2 StPO in gewissem Sinne ein weiterer Beurteilungsspielraum bzw. ein „Irrtumsprivileg“ eingeräumt 527. Dies ist grundsätzlich auch im Rahmen des § 127 b StPO zu bedenken 528. Die Prognose über das Fernbleiben des Festzunehmenden von der Hauptverhandlung im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO unterliegt zwar schon von vornherein einem sehr weiten Beurteilungsspielraum. Auf Indizien, wie „früheres Fernbleiben“, kann im Zeitpunkt des Ergreifens jedoch beispielsweise nicht zurückgegriffen werden. Demnach kann auch nicht verlangt werden, dieser Belang müsse in einer „umfassenden“ Abwägung berücksichtigt werden. Trotz aller Schwierigkeiten muss sich die Prüfung des Einzelfalles dennoch auch für Polizeibeamte auf die organisatorischen Voraussetzungen bei Gericht erstrecken. Die Organisation des beschleunigten Verfahrens darf – entgegen Hilger 529 – in der Prüfung des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO nicht ausgeklammert werden. Sie darf auch nicht substituiert werden. Die Strafverfolgungsorgane sind von der grundlegenden Pflicht, gesetzliche Bestimmungen zu beachten, nicht befreit. Ein weiterer Ermessensspielraum darf kein „Freibrief“ für die Bejahung gesetzlicher Voraussetzungen sein. Es gilt der Vorbehalt des Gesetzes. Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist auch die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Die Organisation des beschleunigten Verfahrens ist eine elementare Voraussetzung für die Durchführung. Die Notwendigkeit, organisatorische Gegebenheiten in die Entscheidung über die Festnahme einzubeziehen, ergibt sich aus § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 417 StPO. Sie wird nicht dadurch aufgehoben, dass eine Prognose über Durchführung des beschleunigten Verfahrens die Polizei „häufig überfordern“ 530 wird und sie „schwerlich in der Lage“ 531 sein wird, diese zu treffen. Die „Überforderung der Polizei“ ist allenfalls ein Argument gegen die Kopplung eines Festnahmerechts an die Voraussetzungen des beschleunigten Verfahrens. Sobald die Prognose nach § 127 b Abs. 1 StPO nicht fundiert durchgeführt werden kann, kann also der Beschuldigte nicht festgenommen werden. Wenn die Staatsanwaltschaft bzw. die Beamten des Polizeidienstes den Betroffenen aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO festnehmen, obwohl sie davon ausgehen können, dass die organisatorischen Voraussetzungen für die Durchführung des beschleunigten Verfah527 Irren sich die Staatsanwaltschaft oder die Beamten des Polizeidienstes in ihren Prognosen betreffend § 127 Abs. 2 StPO, wird ihnen weitgehend ein „Irrtumsprivileg“ zugestanden; vgl. hierzu Schlüchter, Strafverfahrensrecht (1983), Rdn. 255. 528 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 18, befürwortet dies. 529 Nach LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 19, „kann sich die Prognose i. d. R. vernünftigerweise nicht darauf erstrecken, ob der Terminkalender des Gerichts und die gerichtsinterne Organisation eine Terminierung und Durchführung der Hauptverhandlung binnen einer Woche zulassen; es sei denn, insoweit bestehen vorsorglich getroffene Absprachen oder einschlägige (gute oder schlechte) Erfahrungen“. 530 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 19. 531 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2149.

15*

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

rens nicht hinreichend gegeben sind, ist die Festnahme des Beschuldigten rechtswidrig. Willkür prägt das Vorgehen beispielsweise dann, wenn sich der Festnehmende über die Festnahmevoraussetzungen und damit auch über die organisatorischen Voraussetzungen des beschleunigten Verfahrens im Einzelnen keine Gedanken gemacht hat. Nur bei pflichtgemäßer Beurteilung der Umstände ist die durch die Festnahme tatbestandlich begangene Freiheitsentziehung bzw. Nötigung gerechtfertigt. Stellt sich heraus, dass die Verfolgungsorgane trotz pflichtgemäßer Prüfung fehlerhaft geurteilt haben, ist der Festgenommene freizulassen.

D. Fazit zum Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO § 127 b Abs. 1 StPO enthält ein von § 127 StPO losgelöstes Festnahmerecht, wenngleich sich einige Voraussetzungen entsprechen. So sind die formellen Voraussetzungen des Zwanges nach § 127 b Abs. 1 StPO und nach § 127 Abs. 2 StPO gleich. Auch ist der Kreis der Festzunehmenden identisch. Jeweils dürfen „Betroffene oder Verfolgte“ festgenommen werden. Unter „frische Tat“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 StPO ist im Ergebnis schließlich das Gleiche zu verstehen wie in § 127 Abs. 1 StPO. Das heißt, eine „tatbestandliche, rechtswidrige und schuldhafte Tat“ muss nicht vorliegen. Für die Voraussetzungen der Strafbarkeit außerhalb des sichtbaren, tatbestandlichen Geschehens, für die innere Seite der Tat also, einschließlich der Strafausschließungsgründe, genügt der Verdacht. Das Vorliegen dieser Strafbarkeitsvoraussetzungen bleibt jedem Festnehmenden in der jeweiligen Festnahmesituation auch nach pflichtgemäßer Prüfung der Umstände in aller Regel verborgen. Materiell verlangt § 127 b Abs. 1 StPO keine „Gefahr im Verzug“. § 127 b Abs. 1 StPO entspricht § 127 Abs. 2 StPO gerade nicht „in der Sache“. § 127 b Abs. 1 StPO begründet einen eigenständigen Fall der Festnahme. Die Regelung sieht ausdrücklich keine derartige „Notkompetenz“ vor. Die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO hat zum Zweck, die richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung wegen vorliegender Haftgründe zu sichern. § 127 b Abs. 1 StPO soll hingegen letztlich die Anwesenheit eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten in der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren sichern 532. Dem Grundzweck der Verfahrenssicherung durch Sicherung der Anwesenheit wird das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO am ehesten gerecht, wenn der Betroffene oder Verfolgte bei Vorliegen der durch § 127 b Abs. 1 StPO geforderten Voraussetzungen und der Verhältnismäßigkeit der Festnahme auf frischer Tat festgenommen werden kann. Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO besteht auch unabhängig von den Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft. Dafür spricht der Wortlaut der 532

S. 96.

Zutreffend in diesem Zusammenhang Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998),

3. Abschn.: Das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO

229

Regelung ebenso wie systematische und historische Erwägungen. Im Gesetzgebungsverfahren finden sich keine Hinweise für das Erfordernis der Haftbefehlsvoraussetzungen. Es verweist nur § 127 b Abs. 2 StPO als Haftbefehlsvoraussetzung auf die Gründe des Abs. 1. Es verweist nicht – wie etwa § 127 Abs. 2 StPO – auf Haftbefehlsvoraussetzungen. Offenbar soll also nur § 127 Abs. 2 StPO als „haftsichernde amtliche Festnahme“ 533 der Vorbereitung eines richterlichen Haft- oder Unterbringungsbefehls dienen – nicht aber das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO. Es ist auch aus Zweckerwägungen nicht ersichtlich, weshalb die Festnahme zwingend nur dann zulässig sein soll, wenn es zum Erlass eines Haftbefehls kommen kann. Zweck des § 127 b Abs. 1 StPO ist primär die Sicherung des beschleunigten Verfahrens und nicht die Sicherung eines Haftbefehlserlasses, wodurch letztlich erst das Verfahren gesichert wird. Das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO kann in bestimmten Fällen – isoliert von einem Haftbefehl – den Anreiz schaffen, auf das beschleunigte Verfahren zurückzugreifen. Die Hauptverhandlung kann unter Umständen innerhalb des gemäß Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG zugelassenen Zeitrahmens im Sinne des § 418 Abs. 1 1. Alt. StPO „sofort“ durchgeführt werden, ohne dass es einer Inhaftierung des Beschuldigten bedarf. Die isolierte Betrachtung des Festnahmerechts von der Hauptverhandlung führt dazu, dass die Begriffe „wahrscheinlich“ und „unverzüglich“ in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO unabhängig von der Subjektivierung bzw. Konkretisierung durch § 127 b Abs. 2 StPO auszulegen sind. Es genügt, dass Staatsanwaltschaften und Polizei bei der Festnahme mit einfacher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich der Richter tatsächlich für eine Durchführung des beschleunigten Verfahrens entscheidet. Der Festnehmende soll nicht dafür einstehen müssen, dass ein Richter – als eigenständige Entscheidungsinstanz – einen Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens eventuell ablehnt, obwohl mit der Durchführung objektiv überwiegend zu rechnen war. § 127 b Abs. 1 StPO wird demnach nur eine minimale praktische Relevanz haben können. Von vornherein werden die Staatsanwaltschaft und Beamte des Polizeidienstes organisatorische Gegebenheiten des Verfahrens nur dann überhaupt ansatzweise überblicken können, wenn die Koordinierung zwischen polizeilicher, staatsanwaltschaftlicher und richterlicher Tätigkeit optimal ist. Ist diese optimal, wird der Zeitpunkt der Ergreifung zu früh sein, um die organisatorischen Erfordernisse zur Verfahrensdurchführung abschätzen zu können. Die Sicht ändert sich auch mit Beachtung eines „weiteren Beurteilungsspielraums“ für den Festnehmenden nicht wesentlich. Kein „Beurteilungsspielraum“ befreit von gesetzlichen Voraussetzungen. Die organisatorischen Gegebenheiten nach denen das beschleunigte Verfahren wahrscheinlich ist, sind Bestandteil des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO. Davon abgesehen werden im Zeitpunkt der Ergreifung des Beschuldigten in aller Regel keine hinreichenden Erkenntnisse über bestimmte Tatsachen vorliegen, die ein Fernbleiben des Beschuldigten befürchten lassen. 533

Achenbach, JA 1981, 660, 660.

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2. Kap.: Voraussetzungen und Systematik des § 127 b StPO

Die Kopplung des § 127 b StPO über Abs. 1 Nr. 1 an das beschleunigte Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO macht demnach auch die Festnahmeregelung insgesamt zu einem sehr ineffektiven Fremdkörper im System des bisherigen Rechts. Die Festnahmeermächtigung gemäß § 127 b Abs. 1 StPO verspricht mindestens ebenso wenig Impulse für Strafverfolgungsorgane auf das beschleunigte Verfahren zurückzugreifen wie § 127 b StPO als Haftregelung.

3. Kapitel

Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO 1. Abschnitt

Zur prinzipiellen Legitimation des § 127 b StPO und ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit A. Überblick Die Untersuchung der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO ist zunächst allgemein von zwei Fragen geleitet: 1. Aus welchen Zwecken lassen sich Eingriffe in das Freiheitsrecht des Beschuldigten durch Untersuchungshaft und vorläufige Festnahme aufgrund § 127 b StPO rechtfertigen? – und 2. welche Rolle spielen hierbei die Rechtsstaatsgarantien? Ob mit § 127 b StPO die Schranken der Rechtsstaatlichkeit überschritten sind, lässt sich erst nach einer Untersuchung der Legitimation der Regelung beurteilen. Im Rechtsstaat kann nur das, was auf die Verfassung rückführbar ist, als Begründungsansatz für eine Norm bestehen bleiben. Nur dies darf und kann in der argumentativen Würdigung des Spannungsfeldes aus Individual- und Allgemeininteressen eine Rolle spielen. Verfassungswidrige Argumente für oder gegen § 127 b StPO sind im Rechtsstaat unzulässige Argumente. Wie bei jeder Analyse der Rechtsstaatlichkeit müssen auch hier die Garantien, die die Verfassung gewährt, aus denen sich gewissermaßen Rechtsstaatlichkeit zusammensetzt, in Einklang miteinander gebracht werden. In den Ausführungen von Larenz/Canaris über das „Rechtsstaatsprinzip im System des Rechtsstaates“ heißt es, dass sich verschiedene Prinzipien, die mit dem „leitenden Gedanken des Rechtsstaates“ miteinander verknüpft sind, „teilweise ergänzen“ und auch bisweilen „wechselseitig einschränken“ 1. Das hat auch im Strafrecht Geltung. Alle in der Untersuchung der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO relevanten „Prinzipien erhalten (...) ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung“ 2. Deutlich wird dies bei der Überprüfung des § 127 b StPO als Schranke des Freiheitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG. Prinzipien wie die Unschuldsvermutung, das Recht auf ein faires Verfahren, das auf rechtliches Gehör, die alles überragende Menschenwürde gemäß Art. 1 1 2

Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 304. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 304.

232

3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Abs. 1 S. 1 GG etc. sind zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO unbedingt heranzuziehen. Die Wirkung eines Prinzips steht mitunter in Abhängigkeit von der Sicht auf ein anderes. So kann – je nach Sicht – die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege freiheitsgewährende Garantien mehr oder minder einschränken. Die Wechselseitigkeit aus rechtsgewährenden und -begrenzenden Prinzipien wird bei der Untersuchung der Legitimation des § 127 b StPO sehr deutlich. Mit der Regelung wird das bestehende Instrumentarium von Haft- und Festnahmeregelungen aus mehreren verfassungsrechtlich fragwürdigen Gründen erweitert. Im Verfahren kann beispielsweise die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG eine abstrakt-generelle Grenze gegenüber präventiven und erzieherischen Zwecken einer Zwangsermächtigungsnorm sein. Das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG sowie der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG haben jeweils Bedeutung für die Anwesenheit des Beschuldigten. Haft und Festnahme aufgrund § 127 b StPO sollen die Anwesenheit des gemäß Abs. 1 Nr. 2 wahrscheinlich Fernbleibenden sichern. Die Sicherung der Anwesenheit könnte ein verfassungsrechtlich gestützter Legitimationsansatz für § 127 b StPO sein. In die verfassungsrechtliche Würdigung des Effektivitätsansatzes spielen beispielsweise Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, verschiedene Gehalte des Art. 20 Abs. 3 GG und auch Art. 19 Abs. 2 GG hinein. Die Würdigung der Legitimation des § 127 b StPO schlägt sich in der Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit der Norm an sich nieder – notwendig dort, wo zwischen Individual- und Allgemeininteressen abzuwägen ist. Wesentlicher Maßstab zur Überprüfung der Legitimation ist hier das Verfassungsrecht. Darauf ist der Rechtsstaat konstituiert. Nachhaltige Eingriffe in die Freiheit von Beschuldigten und deren Ausbau aus Effektivierungsgesichtspunkten sind zwar seit Jahrzehnten ein wesentliches Kennzeichen der Strafrechtspflege. Die Möglichkeit, Personen, deren Schuld nicht feststeht, festzunehmen und zu inhaftieren, ist in der Gesellschaft auch grundsätzlich anerkannt. Ohne Ermächtigungen zur Untersuchungshaft und vorläufigen Festnahme wäre die strafrechtliche Schuldfeststellung in vielen Fällen undurchführbar. Das Strafprozessrecht könnte das materielle Recht vielfach nicht durchsetzen. In einer derart grundsätzlichen „gesellschaftlichen Akzeptanz“ von Untersuchungshaft und vorläufiger Festnahme liegt jedoch kein direkter Legitimationsansatz im Sinne des Verfassungsrechts. Darin liegt die „faktische Legitimation“ 3 der Regelung. Damit lässt sich der Ausbau des Haft- und Festnahmerechts „verfassungsrechtlich“ nicht rechtfertigen. Die von den Befürwortern des § 127 b StPO gewollte Steigerung der gesellschaftlichen Akzeptanz des Rechts sagt für sich betrachtet also noch nichts über die eigentliche Rechtsstaatlichkeit der Regelung aus.

3 Zum Begriff vgl. Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, Bd.3/Hb. 2 (1959), S. 903, 973.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

233

B. Die Legitimationsansätze des Gesetzgebers und der Meinungsstand in der Literatur In der Gesetzesbegründung zu § 127 b StPO 4 geht es zuvörderst um die Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten: „Es ist (...) ein vorläufiges Festnahmerecht und ein neuer Haftgrund zur Sicherung der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren zu schaffen“, damit der „mutmaßliche Täter“ keine Gelegenheit erhält, sich der späteren Hauptverhandlung zu entziehen“. Wie eingangs dargestellt 5, ist die Rede davon, dass „Die unmittelbar auf die Tat folgende Konfrontation des Täters mit den strafrechtlichen Folgen (...) eine erhebliche erzieherische Wirkung (haben) und dadurch auch abschreckend wirken“ kann. Indem einer „unmittelbar auf die Tat folgenden Konfrontation“, einer „möglichst zügige(n) Anberaumung der Hauptverhandlung“ und einem „rasch(en)“ Verfahrensabschluss Erziehungs- und Abschreckungseffekte zugesprochen werden, erscheint Funktionstüchtigkeit als der umfassende gesetzgeberische Legitimationsansatz. Gerechtigkeit, Wahrung des Rechtsfriedens, Rechtssicherheit, Wahrheit und die Verwirklichung des materiellen Rechts erscheinen in § 127 b StPO auf den Grundsatz der Effektivität zugespitzt: Die „Steigerung des Vertrauens in den Rechtsstaat“ soll durch Effektivität erreicht werden, da die „rechtstreue Bevölkerung“ grundsätzlich eine beschleunigte Durchführung des jeweiligen Verfahrens erwarte. § 127 b StPO habe rechtsfriedenstiftende Funktion, da das „Vertrauen in unseren Rechtsstaat (...) gestärkt (wird), wenn die Justiz zumindest in den Fällen, in denen der Täter auf frischer Tat festgenommen wird und kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht, in die Lage versetzt wird, das Strafverfahren rasch abzuschließen“. Es sei „eine berechtigte Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung, daß der Tat die Strafe auf dem Fuß folgen soll“. „Das Mittel der Hauptverhandlungshaft soll auch ein Anreiz für die Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte sein, insgesamt auf eine möglichst zügige Anberaumung der Hauptverhandlung zu achten“. In der Literatur entzündete sich die Diskussion zur Legitimation des § 127 b StPO bereits anlässlich der beabsichtigten Einführung der Regelung im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes 1994. Seitdem wird im Wesentlichen über die genannten präventiven und erzieherischen Zwecke diskutiert. Gewichtiger Gegenstand ist aber auch der in den Schlagworten „Vertrauen in den Rechtsstaat“ und „Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“ anklingende Zweck „Sicherung des Rechtsfriedens“. Insgesamt bewegen sich die Meinungen, wie eingangs schon kurz vorgestellt 6, zwischen kategorischer Illegitimität bis zu relativ unproblematisiert bejahter Legitimität der Regelung. Nach Herzog behandelt derjenige, „wer Hauptverhandlungshaft und beschleunigtes Verfahren mit der Erwartung einer abschreckenden Wirkung begründet, den 4 5 6

Vgl. zum Folgenden BT-Drucksache 13/2576, S. 3. Siehe auch schon oben Einf., 1. Abschn. und dort zu FN 37. Siehe zu den Bedenken schon oben Einf., 3. Abschn.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Betroffenen von vornherein als Mittel zum Zweck“; diese Begründung ermangele „jeglicher Achtung für eine Subjektstellung (des Beschuldigten) im Strafverfahren“ 7. Vergleichbar hart kritisieren auch Stintzing/Hecker den präventiven Ansatz. Es heißt, dass der individuell Betroffene noch vor einer rechtsstaatlichen Verurteilung „zum bloßen Objekt einer kriminalpolitischen Abschreckungsstrategie“ gemacht werde, „weshalb sogar eine Verletzung der Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG in Betracht zu ziehen“ sei 8. Das Interesse der Allgemeinheit an der Wiederherstellung des Rechtsfriedens stelle „vorliegend keinen übermächtigen Belang im Sinne einer geordneten Strafrechtspflege dar“ 9. Zusammengefasst fehle es „an einem legitimierenden Interesse für den Grundrechtseingriff “ 10. Schlüchter/Fülber/Putzke sind anderer Meinung. Der Beschuldigte werde „durch die Zwangsmaßnahme noch vor rechtsstaatlicher Verurteilung keineswegs zum bloßen Objekt einer kriminalpolitischen Abschreckungsstrategie gemacht“. Von der Verletzung der Menschenwürde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG könne „also keine Rede sein“ 11. Überdies führen sie einen „legitimen Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung und rasche Bestrafung des Täters“ 12 an. Nach Asbrock sind die erzieherischen und abschreckenden Wirkungen einer schnellen Bestrafung „sachfremd und nicht mit den zulässigen U-Haft-Zwecken vereinbar“ 13. Soweit die Hauptverhandlungshaft selbst eine pädagogische und generalpräventive Funktion habe, werde die Untersuchungshaft „unzulässig als Zwangsmittel für kriminalpolitische Zwecke instrumentalisiert“ 14. Nach Roxin darf mit Untersuchungshaft „Vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung und des Schuldgrundsatzes (...) nur der Zweck der Sicherung des Strafverfahrens und nicht etwa ein präventiver Zweck verfolgt werden“ 15. Die Hauptverhandlungshaft sei „verfassungswidrig“, soweit sie „dem Zweck dienen soll, den mutmaßlichen Täter abzuschrecken und auf ihn erzieherisch einzuwirken, sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung zu stärken“ 16. Hellmann geht gesondert auf die vorläufige Festnahme ein. Zweck der Festnahme sei es, allein die Strafverfolgung des Täters zu sichern 17. Die Vorschrift erlaube Herzog, StV 1997, 215, 216. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 572 m. w. N. 9 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 572. 10 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 573. 11 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 125. 12 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 122 m. w. N. auf BVerfGE 20, 144, 147 („über 5-jährige Untersuchungshaft“). 13 Asbrock, StV 1997, 43, 44. 14 Asbrock, StV 1997, 43, 44. 15 Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 1 a. 16 Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 1 a. Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn.764 a, formuliert – m.w. N. auf Herzog, StV 1997, 215, 216 – vorsichtiger, indem er die erzieherische und abschreckende Wirkung im Hinblick auf die Unschuldsvermutung für „nicht unbedenklich“ hält. 17 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146; siehe auch HK-Lemke, StPO (2001), § 127 Rdn. 7. 7 8

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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daher nicht die Festnahme zu dem Zweck, weitere Straftaten zu verhindern oder den Täter wegen seines Fehlverhaltens zur Rede zu stellen 18. Die mit der vorläufigen Festnahme verbundene Freiheitsentziehung dürfe wegen eines „evidenten Verstoßes“ gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK „selbstverständlich“ nicht zur Erreichung präventiver und erzieherischer Ziele benutzt werden 19. Für Keller hingegen ist „das nach kurzer Frist ‚Vor-dem-Richter-stehen‘ aus general- und/oder individualpräventiven Gründen erwünscht“ 20. Bei sogenannten Intensiv- und Wiederholungstätern sei „zum Zwecke der Disziplinierung gerichtsbekannter Beschuldigter“ eine beschleunigte Aburteilung „geboten“ 21. „Etwaige (pauschale) Kritik an der Formel, daß ‚die Strafe der Tat auf dem Fuße folgen solle‘, so Keller, verschließe sich „unpsychologisch der Wirklichkeit von Verdrängungs- und Rationalisierungsmechanismen“ 22. Grasberger hält die präventiven und erzieherischen Legitimationsansätze ebenfalls für unproblematisch: „Daß die verhängten Strafen abschreckende Wirkung entfalten können, die Hauptverhandlungshaft der Durchführung des gesamten Strafverfahrens zu dienen bestimmt ist und dadurch indirekt auch die Erreichbarkeit der Strafzwecke fördert“, unterliege, so Grasberger, „keinen Bedenken“ 23. Als „unbedenklich“ bezeichnet sie auch den mit der Hauptverhandlungshaft weiterhin verfolgten Zweck, einen Anreiz für die Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte zu bieten, insgesamt auf eine möglichst zügige Anberaumung der Hauptverhandlung zu achten 24. Hellmann dagegen hält gerade dies für offensichtlich „grob verfassungswidrig“. Es bedürfe „keiner Erläuterung, daß justizpolitische Bestrebungen nicht durch Eingriffe in Freiheitsrechte des Bürgers verfolgt werden dürfen“ 25. Ein „tragfähiger Grund“ für die Hauptverhandlungshaft könne allein in der „Sicherung der Aburteilung“ im beschleunigten Verfahren bestehen 26. Einigkeit besteht in der Frage der „Sicherung der Strafvollstreckung“. Für eine Sicherung könnte allenfalls die systematische Einordnung der Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b StPO als Untersuchungshaft sprechen 27. Die Systematik ist jedoch kein stichhaltiges Argument. Die Sicherung der Strafvollstreckung ist für § 127 b StPO kein relevanter Legitimationsansatz. Die Sicherungsfunktion des § 127 b StPO dehnt sich nicht über die Hauptverhandlung hinaus in das VollstreVgl. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146, sowie HK-Lemke, StPO (2001), § 127 Rdn. 7. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146. 20 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 677 [Hervorhebung im Original]. 21 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. 22 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 677 [Klammersetzung und Hervorhebung im Original] m. w. N. auf Loos/Radtke, NStZ 1995, 569, 569 ff., sowie dies., NStZ 1996, 7, 13. 23 Grasberger, GA 1998, 530, 532. 24 Grasberger, GA 1998, 530, 532. 25 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146. 26 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146. 27 Die Vollstreckungssicherung wird allgemein als zulässige Legitimation von Untersuchungshaft genannt; vgl. nur AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 9. 18 19

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

ckungsverfahren. Das ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut des § 127 b StPO und zum anderen aus dem Umkehrschluss zu § 112 Abs. 2 StPO. Gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO darf die Hauptverhandlungshaft nur angeordnet werden, wenn die Befürchtung besteht, dass der Beschuldigte lediglich der „Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren“ fernbleiben wird. § 127 b Abs. 1 StPO begrenzt also das mögliche Fernbleiben des Verdächtigen auf die „Hauptverhandlung“. Das mögliche Fernbleiben von der Vollstreckung erscheint ausgeklammert. § 112 Abs. 2 StPO stellt hingegen auf die Gefahr ab, dass sich der Beschuldigte dem „Strafverfahren“ entziehen wird. Eine Einschränkung auf die Hauptverhandlung ist dort nicht ersichtlich. Im Umkehrschluss zu § 112 Abs. 2 StPO ergibt sich somit, dass § 127 b StPO nur die Durchführung der Hauptverhandlung sichert 28. Haft nach § 127 b StPO geht, anders als die nach §§ 112, 112 a StPO, auch nicht automatisch in Strafhaft über 29. Dieses Ergebnis zur Sicherung der Strafvollstreckung bestätigt sich durch eine Sicht auf die Zielsetzung des Gesetzgebers. Effektivität stellt zwar maßgeblich auf einen „raschen Verfahrensabschluss“ ab. Das meint jedoch nur die Effektivierung und Sicherung des Verfahrens vor der Vollstreckung 30. Das Vollstreckungsverfahren soll offenbar nicht effektiviert werden. Schließlich wird die kurze absolute Höchstfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO als Argument gegen eine Vollstreckungssicherung genannt 31. Der Beschuldigte kann die Sicherung der Vollstreckung durch § 127 b StPO in der Tat allein dadurch unterlaufen, dass er Berufung einlegt. In der Zeit, in der über die Berufung entschieden wird, läuft die Befristung im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO ab. Der Aspekt ist allerdings kein unbedingt entscheidender. Die Legitimation einer Verfahrensnorm bestimmt sich nicht danach, ob dem Betroffenen im Verfahren Möglichkeiten offen stehen, Zwecke eventuell leerlaufen zu lassen. Die abstrakt-generelle Legitimation hängt nicht von potentiellem Handeln des Verdächtigen im Einzelfall ab, sondern ergibt sich aus Prozessund Verfassungsrecht. Ob der Effektivitätsansatz § 127 b StPO verfassungsrechtlich zu einem Fremdkörper im Rechtsstaatssystem macht, lässt sich nach den Untersuchungen der Voraussetzungen der Norm und ihrer Systematik noch nicht sagen. In der Dogmatik des Untersuchungshaftrechts ist auch vieles zu umstritten, um schnelle Urteile fällen zu können. An dieser Stelle lässt sich dennoch eines betonen: Die grundlegende Verknüpfung zwischen Haft- und Festnahme mit dem beschleunigten Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO beschwert die bisherige Diskussion um die Dogmatik des Untersuchungshaftrechts um eine wesentliche Komponente. Die Interessen des Betroffenen und das Interesse an beschleunigter Strafverfolgung im unteren und mittleren Kri28 Vgl. zum Ganzen wieder Grasberger, GA 1998, 530, 536; KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 20. 29 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 18. 30 Siehe wieder Grasberger, GA 1998, 530, 536. 31 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 2.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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minalitätsbereich lassen sich sicherlich im Rahmen des §127 b StPO schwieriger im Sinne der Rechtsstaatlichkeit miteinander harmonisieren, als dies etwa bei § 112 StPO der Fall ist. Gerade aus dem Legitimationsansatz „Effektivität“ und der gewollten Beschleunigung des Verfahrens entstehen für den aufgrund § 127 b StPO Inhaftierten gegenüber dem im Regelverfahren in Haft Genommenen zusätzliche Interesseneinbußen, die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO aufkommen lassen.

C. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege/ Versuch einer Stellenwertbestimmung I. Überblick über die Herleitung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit in der Literatur Die Frage nach dem Stellenwert von Effektivität im Interessengefüge lässt sich offenbar allein mit dem Hinweis, dass Effektivität zumindest auf einer Minimumebene in Verbindung mit Rechtsstaatlichkeit steht, nicht beantworten. Mit der Feststellung, dass ökonomische Gesichtspunkte und folgegerecht auch Beschleunigungsfaktoren als Ausprägung des Topos der Funktionstüchtigkeit ihren Platz im verfahrensrechtlichen Interessenausgleich haben, hat die relative Einmütigkeit der Diskussion ihr Bewenden. Das Weitere ist umstritten. Effektivität kann als Allgemeininteresse gegenüber den Beschuldigteninteressen eher untergeordnet, gleichgeordnet oder gar übergeordnet stehen. Die Pflicht zur Sicherung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege wird seitens der Literatur und der Rechtsprechung weitgehend aus dem „Rechtsstaatsprinzip“ abgeleitet 32. Die Aufgabe des Staates zu „wirksamem“ Rechtsgüterschutz wird im Zusammenhang mit der Legitimation von Untersuchungshaft auch aus dem „Rechtsstaats-, Sozialstaats- und Demokratieprinzip“ 33 hergeleitet. Kloepfer beispielsweise mischt die „Funktionsfähigkeit“ des Verfahrens mit dem „verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot“; nach seiner Ansicht begründet sich das Beschleunigungsgebot „u. a. aus der Rechtsdurchsetzungspflicht der Rechtsprechung, aus der Idee der Effektivität des Rechtsschutzes, aus den Justizgrundrechten sowie aus den einschlägigen übrigen Grundrechten unter den Aspekten der prozeßbegleitenden Eingriffe, des Prozesses als Eingriff sowie des Prozesses als Grundrechtsverwirklichung“ 34. Nach Rieß soll das Interesse an einer „verfassungsrechtlichen 32 Vgl. zur Übersicht etwa LR-Rieß, StPO (Stand: 1998), Einl. Abschn. G Rdn.10 m. z. w. N. insbesondere auf BVerfGE 33, 367, 368 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“). 33 Vgl. Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Untersuchungshaft (1983), S. 6, 10, wo des Weiteren von der Berechtigung und Verpflichtung des Staates die Rede ist, mit den Mitteln des Strafrechts in die Freiheitssphäre Einzelner einzugreifen. 34 So Kloepfer, JZ 1979, 209, 215 f.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Verpflichtung zur Gewährleistung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege“ schließlich „weitgehend deckungsgleich“ sein mit dem Begriff der „staatlichen Justizgewährungspflicht“ 35. Das Gebot zur „Beschleunigung des Verfahrens“ dürfte, so heißt es weiter, „als Bestandteil der staatlichen Justizgewährungspflicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (...) mit umfaßt sein“ 36. Schließlich wird die Diskussion um die Herleitung auch als „müßig“37 bezeichnet und eher Wert auf die Suche nach einer sinnvollen Begrenzung des Effizienzgedankens gelegt. Insoweit hierbei die „Justizförmigkeit“ als geeignet angesehen wird 38, wird das Bild jedoch nicht deutlicher. Es ist ungeklärt, was Justizförmigkeit überhaupt bedeutet, bzw. ob der Begriff nicht letzten Endes vielleicht nur das (anders) beschreibt, was allgemeiner schon aus dem Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ zu gewinnen ist. Versteht sich unter Justizförmigkeit, wie Hassemer es ausdrückt, die „Bindung an Gesetze und Prinzipien, die Stetigkeit und Kontrollierbarkeit behördlichen Handelns und die Distanz gegenüber kriminalpolitisch interessierter Intervention“ 39, kann man überlegen, was Justizförmigkeit als „Legitimationsgrenze“ von Rechtsstaatlichkeit unterscheidet. Zu einem zwingenden Ergebnis muss man nicht kommen. Das gilt auch, wenn „Justizförmigkeit“, wie Schlüchter/Fülber/ Putzke im Zusammenhang zur Verfahrensbeschleunigung meinen, „eine Dienerin des Verfahrenszweckes ist, der darin besteht, verschiedene Prozeßziele der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit sowie der zu achtenden Menschenwürde zu harmonisieren“. Solche Harmonisierung garantiere „der Staat durch die Form“, dies geschehe wiederum „durch die Justiz“ 40. Zwar steht der – letztlich wohl auf Zachariä 41 zurückgehende – Ausdruck „schützende Formen“ gegen Willkür. Er „bietet“, wie es bei Eb. Schmidt heißt, „rücksichtslos polizeiliche(m) Zweckdenken Paroli“ 42. „Justizförmige Justizge35 Vgl. LR-Rieß, StPO (Stand: 1998), Einl. Abschn. G Rdn. 16; siehe i. d. S. auch ders., StraFo 2000, 364, 366 f. 36 So LR-Rieß, StPO (Stand: 1998), Einl. Abschn. G Rdn. 31. 37 Hassemer, StV 1982, 275, 278. 38 Vgl. wieder Hassemer, StV 1982, 275, 278, und Eb. Schmidt, MDR 1951, 1, 6, wo es heißt, dass das Prozessrecht jahrhundertealten Prozeßerfahrungen Rechnung trägt, indem ihm nur das an Tatsachenermittlung erwünscht ist, was auf justizförmigem Wege mit „zugelassenen“ Beweismitteln ermittelt werden kann. Siehe näher zum Begriff „prozessuale Form“ auch Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), 161, 166 f. 39 Hassemer, KritV 1988, 336, 341. 40 So erklärt sich der Begriff „Justizförmigkeit“ nach Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 28 m. w. N.; vgl. auch Schlüchter, in: Wolter (Hrsg.), Theorie und Systematik des Strafprozessrechts (1995), S. 205, 206 ff., die einen „Blickwechsel vom Formalismus hin zur Funktionalität“ fordert (erläutert am Beispiel von Absprachen im Strafverfahren). 41 Siehe Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprocesses (1861), S. 145. 42 Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil I (1964), Rdn. 22. Siehe zu den schützenden Formen auch ders., Justitia fundamentum regnorum, Schriften der Süddeutschen Juristen-Zeitung (1947), S. 75, 89 f.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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währung“ mag auch, wie Eb. Schmidt 43 schreibt, auf „Wahrheit und Gerechtigkeit“ ausgerichtet sein und die „Erfüllung der staatlichen Aufgabe im Bereiche der Strafrechtspflege“ bedeuten. Die Justizförmigkeit ist jedoch keine aktive Garantin für Harmonisierung. Es harmonisiert vielmehr der Gesetzgeber. Er tut dies auf der Grundlage von bestimmten, sich im Wandel befindlichen Ansichten über Rechtsstaatlichkeit – weniger mit eigenständiger Justizförmigkeit als mit dem Verfassungsrecht als Instrument. Justizförmigkeit kann schwerlich ein von Rechtsstaatlichkeit differierendes oder sogar losgelöstes Institut sein, um „bloßen Formalismus“ bestimmbar zu machen und dessen Abbau zu erlauben. Die Justizförmigkeit ist und gibt also weder eine von Rechtsstaatlichkeit zu unterscheidende Erlaubnis zur Effektivierung, noch legt sie deren Begrenzung fest. Die Legitimation eines (rechtsstaatlichen) Gesetzes entwickelt sich vielmehr aus der umfassenden Abwägung aller Interessen mit Argumenten „dafür“ und „dagegen“. Auf Bezeichnungen kommt es nicht wirklich an. Entscheidend für den Stellenwert von Effektivität ist ein bestimmtes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und damit den Garantien, die Rechtsstaatlichkeit ausmachen. Die wesentlichen Elemente finden wir im Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention. II. Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundlage einer Stellenwertbestimmung 1. Grund- und Menschenrechte als „gleichmäßig“ individual- und allgemeinschützend? Auf den ersten Blick einsichtig ist lediglich, dass Allgemeininteressen nicht pauschal über Individualinteressen stehen dürfen. Assoziationen zu den Erfahrungen aus der Zeit vor 1945 kämen sehr schnell ins Gedächtnis. Und dies zu Recht. Denn die Überbewertung von Allgemein- gegenüber Individualinteressen ist ein wesentliches Kennzeichen für die Gesetzgebung im Dritten Reich – auch und gerade im Haftrecht 44. Jede derartige Einseitigkeit in der Interessenbeachtung würde kriminalpolitisch nicht toleriert 45. Daher verwundert es auch nicht, dass niemand für eine grundlegend veränderte Sicht auf das Grundgesetz als Ort von Freiheitsgarantien für den Einzelnen eintritt 46. Ein allein auf Effizienz gestütztes Verfahrensmodell kann es aufgrund heute geltender Grundrechte, Menschenrechte und Verfahrensgarantien nicht geben. Daher kann auch jede pauschal auf Effizienz gestützte Legitimation des § 127 b StPO, hinter der die individuellen Belange des Einzelnen immer zurücktreten, nicht sinnvoll sein. In der Diskussion zu § 127 b StPO vertritt dies auch ausdrücklich niemand. 43 44 45 46

Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil I (1964), Rdn. 23. Siehe näher oben zur Gesetzgebung des Nationalsozialismus 1. Kap., 1. Abschn. C. III. Vgl. Hassemer, in: FS-Lange (1976), S. 501, 518 f. Vgl. in diesem Zusammenhang die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Aus nicht wenigen Beiträgen wird die Ansicht deutlich, das Interesse des Beschuldigten an seiner individuellen Freiheit stehe „gleichwertig“ neben dem Allgemeininteresse an Effektivität im Verfahren. Im Rechtsstaat seien die Träger öffentlicher Gewalt zu einer gleichmäßigen Beachtung von Individual- und Allgemeininteressen verpflichtet. Entsprechend heißt es beispielsweise in Schröers Untersuchung der §§ 417 ff. StPO – unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht – ausdrücklich, „daß die Wahrung der Rechte des Einzelnen auf persönliche Freiheit und menschenwürdige Behandlung und die Bedürfnisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege als zwei für den Rechtsstaat gleich wichtige Prinzipien anzusehen sind“ 47. Auch für Beulke ist das Interesse der Allgemeinheit an Effektivität gegenüber den Einzelinteressen des Beschuldigten ganz ausdrücklich eine gleichwertige Komponente: Das „prozessordnungsgemäße Zustandekommen der Entscheidung“, so heißt es, sei eine „Aufgabe des Strafverfahrensrechts, die gleichberechtigt neben dem Erfordernis einer effektiven Strafverfolgung“ 48 stehe. Wären Allgemein- und Beschuldigteninteresse jedoch tatsächlich in diesem Sinne „gleichwertig“, dann könnte man meinen, Effizienz ginge alle gleichermaßen etwas an: Opfer, Unschuldige, Täter und diejenigen, die irgendwann einmal eine dieser Positionen einnehmen könnten – die Allgemeinheit eben. Und auch das Interesse an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens wäre für jeden gleich. Wäre dies so, dann müssten die Allgemeinheit und der Beschuldigte auch das gleiche Interesse an der Rechtsstaatlichkeit der staatlichen Zwangsmittel zur Sicherung des Verfahrens haben – insbesondere an den Zwangsermächtigungen, die letztendlich das Verfahren effektiv voranbringen sollen und damit eng in Verbindung zum Effizienzgedanken stehen. Die Allgemeinheit hätte das gleiche Interesse an § 127 b StPO zur Beschleunigung des Verfahrens wie der Beschuldigte an seinen Freiheitsrechten zum Schutz vor seiner Fest- und Inhaftnahme. Obwohl es um Menschen geht, deren Rechte im Strafverfahren gefährdeter sind als an jedem anderen Ort unseres Rechtssystems, sollen die Interessen der Allgemeinheit und die des Grundund Menschenrechtsträgers gleich sein. Das Strafrecht ist somit ein Recht der Allgemeinheit zum Schutze aller. Alle wollen, dass es effektiv ist. Gleichermaßen. Auch wenn es zu Lasten des Beschuldigten geht. Wir haben alle die gleichen Interessen! Das klingt zunächst übertrieben. Denn sobald das Strafverfahrensrecht konkret auf Individuen trifft, stehen sich Machtmittel und Freiheitsrechte konkret-individuell gegenüber 49. Das darf auch bei der Legitimation einer abstrakt-generellen Haftund Festnahmenorm wie § 127 b StPO nie aus den Augen verloren werden. Erst in concreto bewährt sich ein Gesetz. Von einer „Gleichheit“ der Allgemein- und BeSchröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 60. Vgl. Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 5. [Die Worte „prozessordnungsgemäße Zustandekommen der Entscheidung“, „gleichberechtigt“ und „Erfordernis einer effektiven Strafverfolgung“ sind im Original durch Fettdruck hervorgehoben]. 49 Jung, Sanktionensysteme (1992), S. 72 ff. m. w. N. u. a. auf BVerfGE 80, 367, 375 („2. Tagebuchentscheidung“); vgl. auch Lorenz, GA 1992, 254, 255 ff. 47 48

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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troffeneninteressen kann im konkreten Fall nur noch schwerlich gesprochen werden. Denkt man aus der Perspektive des Betroffenen an Haft und vorläufige Festnahme, sind die Interessen ungleich verteilt. Haft ist die wohl tiefgreifendste Zwangsmaßnahme, die gegenüber einem lediglich Verdächtigten, einer Person also, die bis zum Abschluss des Verfahrens als unschuldig gilt, angewendet werden kann. Der direkt Betroffene hat ein ganz besonderes Interesse an seiner Freiheit und demnach auch an der Rechtmäßigkeit der Zwangsmittel, die Strafverfolgungsorgane gegen ihn einzusetzen. Der Verdächtige will unbedingt eine möglichst schonende Behandlung. Die Effektivität der Strafrechtspflege ist für ihn nachrangig. Es geht ihm persönlich um seine Grund- und Menschenrechte. Rechte des Beschuldigten werden nicht nur in eigener Weise berührt und tangiert. Die Zwangsmaßnahmen greifen konkret und nur für ihn körperlich spürbar in seine Rechte ein. Insbesondere ist das Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG betroffen. Der Verdächtige wird festgenommen und eingesperrt. Er wird womöglich aus seinem familiären Bereich und Arbeitsumfeld gerissen: nun auch aufgrund § 127 b StPO. Die Allgemeinheit wird weder inhaftiert noch festgenommen 50. Aus der Betroffenenperspektive stehen alle Interessen der effizienzorientierten Allgemeinheit zurück. Aus diesem Winkel betrachtet, kann ein Verzicht auf die Optimierung der Funktionalität im Sinne des § 127 b StPO die Interessen der Allgemeinheit nicht annähernd so treffen wie die Inhaft- und Festnahme den Beschuldigten aufgrund der Norm. Auf abstrakt-genereller, oder gleichmeinend formuliert, auf abstrakt-gesellschaftlicher Ebene, erscheint die Gleichstellung hingegen zunächst richtig. „Abstrakt-gesellschaftlich“ heißt hier: aus der Sicht des potentiellen Beschuldigten und des potentiellen Opfers. Das sind alle aus der Gesellschaft an (zukünftigen) Strafverfahren potentiell Beteiligten. Diese können „gleichermaßen“ für die „Abwendung von Gemeingefahren“ einerseits und für die Einhaltung von „Verfahrensgarantien“ wie die „Unschuldsvermutung“ und das „Recht auf ein faires Verfahren“ für den Einzelnen andererseits, einstehen. Die „Funktionsgewähr“ des Strafprozesses kann ebenso wie die „Gleichförmigkeit der Rechtsanwendung“ für den Einzelnen und die Allgemeinheit gleichermaßen gelten. Die „Schadensbegrenzung für das Opfer“ auf der einen und die „Minimierung von Begleitschäden der Sanktionierung für den Beschuldigten“ auf der anderen Seite können einen gleichen Stellenwert haben 51, wenn es nur um potentiell Beteiligte geht. Den abstrakt-generel50 Zur Verdeutlichung ließe sich diese Überlegung freilich auch zu anderen Zwangsmaßnahmen anstellen: etwa zur Durchsuchung einer Wohnung gem. §§102 ff. StPO, der Entnahme von Blut gem. §100 c StPO, der Beschlagnahme von Eigentum gem. §290 StPO oder auch den Eingriffen in das Postgeheimnis gem. §§ 99 f. StPO. Die Wohnung des Beschuldigten wird durchsucht, sein Blut wird entnommen, sein Eigentum wird beschlagnahmt, seine Post wird gelesen. Vgl. grundlegender Hassemer, KritV 1988, 336, 336 f. 51 Hierdurch seien Ansprüche auf Schutzgewährung und Ansprüche auf Machtbegrenzung auf abstrakter Ebene wahllos einander gegenübergestellt; vgl. allgemein Kunz, Kriminologie (2001), § 28 Rdn. 12 f., S. 318 f.

16 Giring

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

len Interessen an Effektivität und den abstrakt-generellen Interessen an Freiheitsrechten und Verfahrensgarantien kann demnach ein gleicher Stellenwert zukommen – solange noch keine konkreten Beteiligungen in einem Verfahren ausgemacht werden können. Welche Perspektive nun die ausschlaggebende ist, ist nicht unbedingt zwingend zu entscheiden. Die Gleichsetzung auf abstrakt-gesellschaftlicher Ebene muss nicht wirklich zweckmäßig sein. „Gleichermaßen“ kann vielleicht sinnvoller „beiderseits“ meinen – „mit einem Gefälle hin zur Beachtung der Individualinteressen“: Einerseits ist Gleichordnung sinnvoll, da sie unvorbelastete Entscheidungen in jede Richtung zulässt. Der Entscheidungsfindungsprozess ist gewissermaßen unabhängig und neutral. Andererseits liegen hier aber auch Nachteile. Gleichordnung birgt Gefahren der Orientierungslosigkeit und Unvorhersehbarkeit. Das Ergebnis an sich soll im Strafverfahren zwar nicht generell vorhersehbar sein müssen. Gleichsetzung lässt aber noch nicht einmal eine Richtung erkennen, eine Tendenz, die, würde eine Entscheidung gegenläufig gefällt, verstärkt stichhaltige Argumente verlangte. Argumente müssen nachhaltiger gegeben werden, wenn einer Tendenz entgegengesteuert werden muss. Die Argumente, auf die sich eine gegenläufige Entscheidung stützt, müssen tatsächlich Substanz haben. Gibt es einen Vorrang der Freiheit des Einzelnen, müssen Argumente, die Zwang legitimieren, wirklich überzeugen, soll die Entscheidung noch konform zu der Grundlage sein, auf der sie getroffen wurde und die den Trend vorgibt. Ob aber aus diesen Überlegungen nun tatsächlich ein Vorrang der Individualinteressen des Verdächtigten oder eine Gleichsetzung der Interessen folgt, ist schwerlich zu sagen. „Ja und nein!“ lautet die Antwort. Das Urteil hängt nach wie vor davon ab, wie man das Grundgesetz als übergeordnete Entscheidungsgrundlage und Leitlinie versteht. Es kommt darauf an, ob das Grundgesetz einen Trend oder Gleichheit vorschreibt. Die Argumentationslage verkompliziert sich unter Anerkennung eines Grund- oder Menschenrechts auf Sicherheit. Die Grenzen zwischen Allgemein- und Individualinteressen verschwimmen. Sie lösen sich auf und damit einhergehend die Schutzfunktion der Grundrechte. Auf ein Grundrecht der Allgemeinheit ließe sich Funktionstüchtigkeit als Legitimation des § 127 b StPO verfassungsrechtlich fundamentieren. § 127 b StPO legitimierte sich aus einem Zweck, Freiheitsrechte Dritter effektiv zu schützen: einem Grund- und Menschenrecht auf Sicherheit würde durch den effektiven Eingriff in Freiheitsrechte des Beschuldigten Rechnung getragen. Wenn Fülbers Ansicht zutrifft, dass die Inhaftund Festnahme des Beschuldigten dem Schutz allgemeiner Freiheit dient52, wird aus dem „Grundrechtseingriff “ gemäß § 127 b StPO „Grundrechtsschutz“ für die Allgemeinheit. Inwieweit allerdings der „Schutz der Allgemeinheit“ in der Verfassung verankert ist, ist fraglich.

52

Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 149 f.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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2. Zum Grund- bzw. Menschenrecht auf Sicherheit Ist dem Grundgesetz und ist den Grundrechten an seiner Spitze maßgeblich der Zweck beizumessen, ein System im Sinne einer konfliktvermeidenden und -schlichtenden Ordnung für das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder untereinander zu bilden, kann die „Gleichheit von Allgemein- und Individualinteressen“ sinnvoll formuliert werden. Wenn man den Grundrechten über ihre Funktion als Abwehrrechte gegenüber staatlichem Handeln hinaus die Wirkung zuspricht, den Staat zu verpflichten, Gesetze zum Schutz der Bürger „voreinander“ und „untereinander“ zu erlassen, ist eine Nivellierung der Interessen in der Abwägung vielleicht sogar zwingend 53. Gibt es ein „grundgesetzliches Gebot maximaler rechtsstaatlicher Sicherheit“, das auch die „Garantie größtmöglicher Rechtsschutzgewährung zwischen Privaten gebietet“ 54, können bei der Initiative eines Gesetzes die Interessen im Ausgangspunkt eigentlich nur gleichzusetzen sein. Dieses Verständnis von den Grundrechten als konfliktschlichtende Ordnung der Gesellschaftsmitglieder untereinander lässt sich mit einem Verweis auf Robbers recht gut behaupten. Für ihn gehört das „Freisein von Furcht zu den Voraussetzungen der Freiheit insgesamt“ 55. Nach seiner Ansicht beschränkt sich das Recht auf „Freisein von Furcht“ nicht „auf die Abwehr von Beunruhigungen von staatlicher Seite“; Freiheit impliziert für ihn „gerade auch die Gewißheit, vor privaten Angriffen (...) im Rahmen des Möglichen geschützt“ zu sein 56. Individualität kann dann nicht vor Allgemeininteressen stehen. Denn jeder Bürger, das heißt jeder potentiell an einem Strafverfahren Beteiligte, ist grundsätzlich „gleichermaßen“ Rechtsverletzungen durch andere Bürger ausgesetzt. „Größtmögliche Sicherheit“ erlaubt begrifflich schon nicht die gewichtigere Beachtung konkret-individueller Belange 57. Auch wenn sich „Angst inszenieren“ lässt, so dürfte dies in der Konsequenz, wie Robbers meint, „nicht zum Zurückweichen des Staates führen“; die Möglichkeit der Inszenierung „begründet“, so Robbers weiter, „zusätzlich die staatliche Ver53 Dieses Verständnis von den Grundrechten als „Wertordnung“ zum Schutz der Bürger vor Bürgerhandeln hat das BVerfG vereinzelt recht deutlich beschrieben. Am deutlichsten ist die Pflicht des Staates, die Rechte Einzelner vor Rechtseingriffen anderer (das heißt nicht vor Staatshandeln) zu schützen, vielleicht der Entscheidung BVerfGE 39, 1, 1 ff. („§218 StGB“) zugrunde gelegt: „Das Recht auf Leben wird Kraft der Schutzpflicht, die es auslöst, zum Eingriffstitel gegenüber dem privaten Verletzer. Das Opfer erhält über den Staat Sicherheit zu Lasten des Täters“. Eine „objektive Wertordnung“ hat das BVerfG bekanntermaßen bereits in BVerfGE 7, 198, 205, 220 („Lüth-Urteil“), ausgemacht, wonach von den Grundrechten über ihren (primären) abwehrrechtlichen Gehalt Impulse ausgehen, die für Gesetzgebung, Verwaltung und Rspr. zu empfangen sind. Vgl. deutlich auch Isensee, Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 28. 54 So das Verständnis von Meyer-Teschendorf/Hofmann, ZRP 1998, 132, 137. 55 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S.226. Vgl. hier auch Isensee, Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 25. 56 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 227. 57 Vgl. auch Krey, JR 1998, 1, 7 (im Zusammenhang mit dem Einsatz Verdeckter Ermittler), wonach die Gewährleistung der Inneren Sicherheit die primäre Schutzaufgabe des Staates ist.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

pflichtung, nicht nur auf den intellektuell bezogenen, sondern auch auf den gefühlsmäßig vermittelnden Grundkonsens der Bürger hinzuwirken“ 58. Auch wenn Robbers schreibt, dass das „Recht auf Freisein von Furcht“ nicht geeignet sei, „aus sich heraus Art und Reichweite von Eingriffen in die Rechte anderer zu begründen“, steht seine Sicht dem Vorrang individueller Rechte weitgehend entgegen 59. Er sieht im Grundrechtesystem eine weitestgehend „allgemeinschützende“ Ordnung. Die Anerkennung eines Grund- oder Menschenrechts auf Sicherheit negiert schnell jeden Trend zugunsten der Individualinteressen. Grundrechte sind dann nicht als Individualrechte, sondern eben gleichermaßen auch als Anspruchsgrundlage für Allgemeininteressen an Sicherheit zu verstehen. Auf ein derartiges Grundrechtsverständnis stützt sich die, wie Wolter es nennt, „sicherheitsschützende Rechtsstaatlichkeit“ 60 im Strafprozess. Sicherheit wird zur grundrechtlich veranlassten „Staatsaufgabe, wenn Bürger“, wie Isensee zum Grundrecht auf Sicherheit schreibt, „die Friedenspflicht brechen“, „die sowohl zwischen den Bürgern als auch im Verhältnis zu den Staatsorganen gilt“ 61. Je nach Betrachtungsweise bestünde die Staatsaufgabe darin, Bürger, zugunsten oder zu Lasten aller gleichermaßen – schon präventiv in Bürgerhandeln hineinwirkend – zu sichern 62. Das Grundgesetz würde je nachdem insbesondere auch einen Anspruch auf eine „sicherheits-optimierte“ Strafrechtspflege geben. Strafrecht kann „Sicherheit“ schaffen. In gewissem Sinne könnten auch (präventive) Inhaftierungen aufgrund § 127 b StPO „Sicherheit“ schaffen. Zumindest sind die möglichen Gefahren für die Allgemeinheit, die von Inhaftierten ausgehen, minimiert. „Sicherheit durch Inhaftierung“ steht jedoch gegen Grundelemente des liberalen Rechtsstaates. Diese von Sicherheitsbedürfnissen geleitete Funktion der Strafrechtspflege ist nach Krauß das „Credo des ‚gewandelten‘ Rechtsstaats“ 63; Kennzeichen ist die Bereitstellung und Verbesserung der strafrechtlichen Instrumente zur Durchsetzung des Rechts zum Schutz der Sicherheit der Bevölkerung. Der „Rechtsstaat“, so charakterisiert Krauß kritisch weiter, „ist dadurch schließlich der Staat, der ‚alles im Griff hat‘ – eben auch die Freiheit seiner Bürger, soweit sie einem allgemeinen Sicherheitskonzept von Ruhe und Ordnung widerstreiten“ 64. Prävention ist dann Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 226. Vgl. wieder Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 226, der meint, dass das „Recht auf Freisein von Furcht“ den Staat vielmehr „zur Repräsentation der jeweiligen entgegenstehenden Interessen“ verpflichte. „Überempfindlichkeiten oder krankhafte Neurosen Einzelner“, so Robbers a. a. O., könnten jedoch „nicht zum Maßstab rechtlicher Normierung“ gemacht werden. 60 Wolter, GA 1999, 158, 159. 61 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 23. 62 Der präventive Ansatz kommt zum Tragen, versteht man das „Grund-“ oder „Menschenrecht auf Sicherheit“ als ein „Recht auf Freisein von Furcht“; siehe hierzu Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 223 ff. 63 Krauß, StV 1989, 315, 317 [Hervorhebung im Original]. 64 Krauß, StV 1989, 315, 317 f. [Hervorhebung im Original]. 58 59

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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auch im Verfahrensrecht groß geschrieben 65. Der „Sicherheitsstaat“ kann nur dann ein möglichst hohes Maß an Sicherheit schaffen, wenn er bereits im Vorfeld von Rechtsverstößen durch seine Bürger mit einem Optimum an Einsatz diese zu verhindern versucht. „Sicherheitsoptimierung“ schließt „Effektivitätsoptimierung“ ein. Die Grenzen zwischen präventiv wirkendem Polizeirecht und repressivem Verfahrensrecht erscheinen dem Sicherheitsstaat hinderlich. In der schlussendlichen Konsequenz aus seiner Aufgabe, Sicherheit zu schaffen, ist es hilfreich, möglichst viele Barrieren zu überwinden. Je weiter das „Einsatzgebiet“ des Strafprozessrechts, desto größer ist eventuell ein von der StPO ausgehender Schutz der Bevölkerung. Dass Fülber, der § 127 b StPO grundsätzlich gutheißt, seiner Untersuchung – wenn auch unausgesprochen – diese Konzeption des Rechtsstaats als „Sicherheitsstaat“ zugrunde legt, überrascht demnach nicht. Sicherheit ist eben – mit Krauß 66 – „Credo des ‚gewandelten‘ Rechtsstaats“. Der Ausgangspunkt verwundert weder vor dem Hintergrund des präventiven Ansatzes des Gesetzgebers 67 noch vor dem gedachten Anwendungsbereich des § 127 b StPO auf sozial schwach platzierte Personengruppen und Demonstranten. Nie zuvor wurde in der Bevölkerung eine größere Furcht vor Kriminalität gemessen als 1994 68 – dem Jahr, in dem § 127 b StPO im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes in die StPO eingeführt werden sollte. § 127 b StPO kann mit diesen Zusammenhängen geradezu als „Paraderegelung des Sicherheitsrechtsstaats“ tituliert werden. Denn „Außenseiter, Verweigerer, Aussteiger, Angehörige aller Randgruppen also, und die politisch Engagierten außerhalb etablierter Parteien“ 69 wurden als „Risikopotential“ 70 für die Ordnung im Staat erkannt. An ihnen entwickelte sich, so Krauß, der Ruf nach mehr Sicherheit und dessen Rückführung auf Verfassungsrecht 71. Die sicherheits- und ordnungsorientierte Sichtweise ist jedoch bei weitem nicht das unbestrittene Maß aller Dinge. Zwar ist die „Freiheit von Furcht und Not“ bereits in der Präambel der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 erwähnt 72. Die Erklärung steht jedoch im Sinne des Schutzes des Einzelnen Vgl. in diesem Zusammenhang Baratta, in: FS-Kaufmann (1993), S. 393, 402 f. Krauß, StV 1989, 315, 317 [Hervorhebung im Original]. 67 Siehe wieder BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 68 Vgl. an dieser Stelle wieder Dörmann/Remmers, Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsbewertung (2000), S. 116 ff., sowie Dünkel, NK 1994, 20, 21. 69 Krauß, StV 1989, 315, 318. 70 Den Begriff verwendet Backes, KritV 1986, 315, 335, im Zusammenhang mit dem „Spannungsverhältnis zwischen Prävention und Rechtsstaat“. Ders., a. a. O. S. 329 f., spricht sich gegen ein Grundrecht auf Sicherheit aus. 71 Vgl. Krauß, StV 1989, 315, 318. 72 Vgl. die Präambel der Resolution 217 A (III) der Generalversammlung v. 10.12.1948, wo es heißt: „(...) da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, daß einer Welt, in der die Menschen Rede und Glaubensfreiheit und Freiheit 65 66

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für die Verbürgung der Gewähr sozialer Rechte. Mit ihr sollte vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und der wirtschaftlichen und sozialen Not ein „effektives Menschenrechtsschutzsystem“ 73 formuliert werden. Die Erklärung ist in keiner Weise eine Charta, die zur allgemeinen Begründung von Zwangsmaßnahmen gegen Bürger herangezogen werden könnte. Den Sicherheitsansatz unkritisch zu übernehmen, heißt, wesentliche Stützen des Rechtsstaates unberücksichtigt zu lassen. Zwar wird mit dem Bedürfnis nach Sicherheit argumentiert, und es wird dem Grundrecht auf Sicherheit – wie von Robbers – über die Begründung eines subjektiven Rechts aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG der Stellenwert des Unabdingbaren im Rechtsstaat verliehen 74. Auch mag der Abbau von Unsicherheit grundsätzlich sozial nützlich sein. Die liberal-rechtsstaatliche Wirkung des Grundgesetzes kommt durch ein Grundbzw. Menschenrecht auf Sicherheit jedoch ins Wanken 75. Eine stichhaltige verfassungsrechtliche Begründung für ein Grund- bzw. Menschenrecht auf Sicherheit zur Legitimation von Zwangsmaßnahmen im Strafprozess fehlt. Sie kann mit Verfassungsrecht auch nicht ausdrücklich geliefert werden. Es gibt im Grundgesetz kein derart formuliertes Recht, das vorgibt, aus dem Strafverfahrensrecht Recht zur Gewährung und Durchsetzung von Sicherheit und Ordnung zu machen. Hingegen gibt es zahlreiche Argumente für Individualvorrang.

3. Argumente für Individualvorrang Grundrechte sind ursprünglich individuelle Freiheitsrechte zum Schutz vor staatlichem, nicht vor privatem Handeln 76. Obwohl die Vielzahl strafprozessualer Normen, die seit Jahrzehnten mit dem Hinweis auf effektive Stärkung der Rechtspflege im Sinne allgemeiner Ordnungsinteressen verabschiedet werden 77, nachhalvon Furcht und Not genießen, als das höchste Streben des Menschen gilt, (...) verkündet die Generalversammlung diese Erklärung der Menschenrechte (...)“. 73 Tophinke, Grundrecht der Unschuldsvermutung (2000), S. 47. 74 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 20 ff. und S. 186 ff. 75 Eindringlich gegen ein Grundrecht auf Sicherheit ist Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1999, 313, 316; Vgl. auch wieder Jung, Sanktionensysteme (1992), S. 73, gegen die Akzentuierung eines „Menschenrechts auf Sicherheit“. 76 Je nach Verständnis der Menschenrechte lassen sich entsprechende Parallelen formulieren. Vgl. kritisch gegenüber einem Grund- und Menschenrecht auf Sicherheit aus Menschenrechtsperspektive (im Sanktionsbereich) auch Jung, Sanktionensysteme (1992), S. 70, 76 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch ders., JuS 1998, 1136, 1137 f., zur Forderung nach (stärkerer) Beachtung von „Verfassungs- und menschenrechtlicher Wertungsmaßstäbe“ bereits im Ermittlungsverfahren. Vgl. zur schutzrechtlichen Funktion der Grundrechte – unter Hervorhebung der Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG – auch SK-Wolter, StPO (Stand: 1994), Vor § 151 Rdn. 33 f., sowie ders., in: FS-Roxin (2001), S. 1141, 1148. 77 Siehe an dieser Stelle insbesondere die Untersuchung des StVÄG-Entwurfs (1988) von Wolter, StV 1988, 358, 359 ff.

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tig den Allgemeininteressen Rechnung tragen, stehen die Grund- und Menschenrechte nach wie vor für Individualschutz. Nach Baratta bleiben Menschenrechte, wie es heißt, „trotz allem“ in ihrer individualschützenden Funktion „die geeignetste Grundlage für die Verwirklichung einer Strategie der Minimalisierung des Strafeingriffs und für deren programmatische Gliederung im Rahmen einer alternativen sozialen Kontrolle“ 78. Das heißt, Menschenrechte stehen nicht für die Optimierung des Strafrechts durch Ausbau seiner Funktionalität. Für die Legitimation des § 127 b StPO bedeutet dies: Wenn es im Strafverfahren kein der Allgemeinheit zustehendes, verfassungsrechtlich verankertes Recht auf Sicherheit gibt, das die Effektivität der Strafrechtspflege stützt, schwächt dies den Stellenwert von Effektivität als Legitimation der Zwangsermächtigungsnorm. Die Grundrechte sind – wie Art. 1 Abs. 3 GG zeigt – „unmittelbar geltendes Recht“, das Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung „bindet“. So viel steht fest. Nimmt man an, die Grundrechte bildeten79 als „höherrangiges Recht“ und „Spitze der Rechtsordnung“ eine „Wertordnung“ 80, aus der sich für den Gesetzgeber – was den Schutz Privater untereinander angeht – (allenfalls) „Minimumpflichten“ ergeben, spricht dies weder für ein Grund- oer Menschenrecht auf Sicherheit noch für einen „Gleichrang“ von Individual- und Allgemeininteressen. „Freiheitsgewährung als Wertordnung“ kann zwar als Sinn und Ziel einer modernen, bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung anzuerkennen sein. Ansonsten wäre ein aus der Gesamtheit der Grundrechte oder aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG abzuleitendes Recht auf Erfüllung bestimmter staatlicher Pflichten, wie beispielsweise der Pflicht des Staates zur Bereitstellung eines „ökologischen Existenzminimums“ als Voraussetzung zur Verwirklichung von Grundrechten, kaum begründbar 81. Entsprechend ließe sich sicher auch ein „Minimum an Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ herleiten 82. Aber über „Minimumpflichten“ hinaus, lässt sich die Verfassung mit dieser Sicht nicht als Grundlage für Handlungspflichten des Staates im Sinne der Optimierung des Strafverfahrensrechts gewinnen 83. Damit wäre 78 Baratta, in: G. Kaiser/Kury/H.-J. Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren (1988), S. 513, 517. 79 Gemeinsam mit dem übrigen Verfassungsrecht. 80 Generell ist die Annahme einer Wertordnung der Grundrechte wohlweislich nicht unproblematisch. Vgl. zur Wertordnung allgemein: im Bereich der Ausbildungspflicht des Staates BVerfGE 35, 79, 114 ff. („Hochschulurteil“), und BVerfGE 20, 162, 175 („Auskunftspflicht öffentlicher Behörden“). Eine grundlegende und aktuelle Übersicht über „objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte“ in der Rspr. des BVerfG liefert Cremer, in: GS-Jeand’Heur (1999), S. 59, 69 ff. Siehe aber auch Schwabe, Grundrechtsdogmatik (1977), S. 233, 293 ff., der einer Kraft der Grundrechte zur Bildung einer „objektiven Wertordnung“ generell sehr skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. 81 Vgl. nur Steiger, Mensch und Umwelt (1975), S. 52. 82 Wenngleich das ökologische Existenzminimum greifbarer mit Art.1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung zu stehen scheint. Jedenfalls führt die Zerstörung der Umwelt unmittelbarer als die Auflösung der Strafrechtspflege zu menschenunwürdigem Leben. 83 Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 77, 170, 215 („Lagerung und Transport von C-Waffen“), wonach die Begründung positiver Handlungspflichten des Staates voraussetzt,

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auch die Legitimierung des § 127 b StPO durch Effektivität verfassungsrechtlich nicht wesentlich gestärkt. Unter Ableitung eines Individualvorranges der Grundrechte könnte oder müsste das Strafverfahrensrecht als ein dem Grundgesetz untergeordnetes Recht in der Tendenz vorrangig unter Beachtung der Rechte des Individuums auszugestalten und auszulegen sein. Das ist nicht nur in dem Sinne zu verstehen, dass alle Normen grundrechtskonform zu interpretieren und anzuwenden sind. Auch die strafverfahrensrechtlichen Zwangsmaßnahmen, die dem individuellen Schutz des Beschuldigten als Grundrechtsträger im Prozess entgegenlaufen, bedürften tendenziell besonderer Legitimation. Wäre dies so, berechtigte das „Vertrauen in den Rechtsstaat“ oder die „Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“ dahingehend, dass das Verfahren effizient auszugestalten ist, weder übergeordnet noch gleichgeordnet mit den Beschuldigteninteressen zur Normierung des § 127 b StPO. Vielmehr stünden die Freiheitsinteressen des Beschuldigten im Vordergrund. Für einen solchen Individualvorrang der Grundrechte gegenüber einem Grundund Menschenrecht auf Sicherheit und damit für einen „Nachrang der Funktionstüchtigkeit als Allgemeininteresse“ spricht vieles 84. Aus dem Grundgesetz selbst kommt die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als „sicherheitsgewährend“ offenbar nicht in gleichem Maße zum Ausdruck wie individualschützende Grundrechte. Das Grundrecht auf Sicherheit ist kein ausdrücklich formuliertes Recht der Allgemeinheit. Das wissen wir. Aber auch die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ist im Grundgesetz weder als Anspruch noch als Zielbestimmung staatlichen Handelns formuliert. Das macht die verfassungsrechtliche Verankerung von Effektivität in einem Recht auf Sicherheit oder als Schutzgebot für dieses Recht von vornherein problematisch. Das Grundgesetz ließen seine Geber auch bewusst mit den Grundrechten beginnen. Durch den Standort sollte gerade die Bedeutung der in der NS-Zeit missachteten Rechte des Einzelnen unterstrichen werden. Sie sind, so betont die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Limbach, „Ausdruck einer geschichtlichen Verantwortung“ 85. Individualität ist als hervortretender Leitgedanke schon von daher besehen kaum bestreitbar. Zudem ist gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG die Würde „des“ und nicht die Würde „der“ Menschen unantastbar. Art. 79 Abs. 3 GG schreibt vor, dass dieser Grundsatz nicht einmal „berührt“ werden darf. Nach Wolter ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG „daß die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat, oder daß offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind, das Schutzziel zu erreichen“. Verwiesen werden kann auch auf die erfolglos gebliebenen Verfassungsbeschwerden BVerfG-K, NJW 1983, 2931, 2931 ff. („Luftreinhaltung“), und BVerfG-K, NJW 1987, 2287, 2287 f. („AIDS-Bekämpfung“). 84 Kahlo, KritV 1997, 183, 183 ff., 194 ff. Siehe hierzu auch Wolter, GA 1999, 158, 167 f., und ders., in: FS-Roxin (2001), S. 1141, 1151 f. 85 Limbach, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), 20. Strafverteidigertag (1996), S. 35, 42 f.

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„das Menschenbild des Grundgesetzes“ 86. Art. 19 Abs. 2 GG spricht schließlich davon, dass ein Grundrecht in keinem Fall in seinem Wesensgehalt auch nur „angetastet“ werden darf. „Hier steht der Staat“, so heißt es bei v. Krauss zu Art. 19 Abs. 2 GG, „als Verpflichteter gegenüber“ 87. Das im Strafverfahren unmittelbar von staatlichem Handeln bedrohte Individuum ist der Beschuldigte. Ihm stehen die verfassungsrechtlichen Vorgaben ausdrücklich zu. Neben den genannten Gewährleistungen flankiert eine ganze Reihe weiterer von, wie Baratta sie nennt, „systeminternen Prinzipien der Minimalisierung des Strafeingriffs“ 88 Individualschutz vor staatlichen Rechtseingriffen durch Strafrecht. Der Begriff lässt sich vom materiellen Recht auf das Strafverfahrensrecht übertragen. Zu denken ist dann insbesondere an das in Art. 6 Abs. 1 EMRK festgeschriebene Recht auf ein faires Verfahren und an die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK. Das Verhältnismäßigkeitssprinzip schließlich gewährt maximalen „Individual-Grundrechtsschutz“ – nicht maximalen „Allgemeingüterschutz“ 89. Es ist für jede Effektivitätsnorm eine allgemein anerkannte Grenze. Und das nicht nur im konkret-individuellen, sondern auch im abstrakt-generellen Fall: namentlich bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Gesetzesnorm. Zur Rechtfertigung eines Eingriffs lassen sich zwar vor dem Hintergrund der Abwägung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips immer auch öffentliche Zwecke ins Feld führen. Dies darf jedoch, was Grimm im Zusammenhang mit Prävention richtig betont, Grundrechte nicht „unter der Hand in Pflichten verkehren“ 90. Dies geschieht, wenn der Staat Beschuldigte aufgrund der Effektivität der Strafrechtspflege im Vorfeld des Urteils zwanghaft erzieht und dies auf die Grundrechte rückführbar sein soll. Unter dem Stichwort „gesellschaftliche Randgruppen“ als „Risikopotential“ 91 fällt schließlich das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ins Auge. Nach Müller-Dietz trägt es dazu bei, den „Blick für Lagen sozialer Ungleichheiten im rechtsstaatlichen Sinne zu schärfen“ 92. Wenn das Sozialstaatsprinzip, wie ders. meint, „Anhaltspunkt“ 93 für die Ausgestaltung des Strafverfahrens sein kann, dann im Strafverfahren in dem Sinne, dass Freiheitseingriffe nicht mit sozialen Ungleichheiten legitimiert werden können. Damit reduziert das Sozialstaatsprinzip die Legitimation von Eingriffsnormen zu Lasten der Rechte Einzelner und zugunsten allSK-Wolter, StPO (Stand: 1994), Vor § 151 Rdn. 33. Vgl. v. Krauss, Verhältnismäßigkeit (1955), S. 47. 88 Baratta, in: G. Kaiser/Kury/H.-J. Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren (1988), S. 513, 518. 89 Lamprecht, DRiZ 1999, 191, 195, spricht vom Verhältnismäßigkeitsprinzip als „Glanzlicht“ der Rspr. des BVerfG und „innerer Seismograph für die Angemessenheit der Mittel“. 90 Grimm, KritV 1986, 38, 51. 91 Vgl. wieder Backes, KritV 1986, 315, 335. 92 Siehe nur Müller-Dietz, in: FS-Dünnebier (1982), S. 75, 91. Zur Verpflichtung des Staates, die soziale Ordnung mit der Zielsetzung – nicht zuletzt als Chancengleichheit – zu gestalten vgl. Müller-Dietz, a. a. O. S. 75, 79 m. z. w. N. dort in FN 20. 93 Siehe nur Müller-Dietz, in: FS-Dünnebier (1982), S. 75, 85. 86 87

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gemeiner Interessen an effektiver Strafrechtspflege 94. Wenn dem so ist, kann das Sozialstaatsprinzip gewissermaßen Wachsamkeit dort umso mehr fordern, wo Effektivität im Zusammenhang mit sozialen Unterschieden bei (potentiellen) Beschuldigtengruppen als Legitimationsbasis betont wird. Demnach kann sich das Sozialstaatsprinzip gegen den Effektivitätsansatz des § 127 b StPO stellen, da die Norm im konkreten Fall insbesondere zu Zwang gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen ermächtigen soll. Sind die Abwehrfunktion der Grundrechte und die sie begleitenden Prinzipien derart „rechtsstaatsbildend“ und entsprechend für das Strafverfahren maßgebend, handelt es sich beim Grundrecht auf Sicherheit – mit Jung gesprochen – um „kein dogmatisch begründetes Institut sondern eine Entwicklung und Ausdrucksform allgemeiner Lebensangst“ 95. Allein die Formulierung der Gleichsetzung von Allgemein- mit Individualinteressen missachtet dann das grundgesetzlich vorgegebene Gefälle zur Individualität. Die Gleichsetzung ist dann unzulässig. Wir dürfen sie nicht einmal als Ausgangspunkt für einen strafprozessualen Interessenausgleich wählen. Schon sprachlich ist eine derartige Argumentation des Gesetzgebers zur Legitimation einer Zwangsermächtigungsnorm unzulässig. Von staatlichem Handeln im Strafverfahren ist die Allgemeinheit nicht direkt betroffen. Aufgrund § 127 b StPO wird – um es noch einmal zu betonen – in erster Linie der individuell Beschuldigte inhaftiert und festgenommen und nicht die Allgemeinheit geschützt. Zweifel am Individualvorrang könnten allerdings mit einem Hinweis auf den Beschleunigungsgrundsatz im Verfahrensrecht aufkommen. Nach Klöpfers Formulierungen zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Beschleunigungsgebots und der „Idee der Effektivität“ 96 scheint das Beschleunigungsgebot eine nicht unerhebliche Rolle in der Begründung und Herleitung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit zu spielen.

4. Die Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bzw. Art. 20 Abs. 3 GG Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK normiert ein Beschleunigungsgebot, welches den Strafverfolgungsbehörden aufgibt, „innerhalb angemessener Frist“ zu einer Entscheidung über die Anklage zu gelangen. Nach Ansicht von Her oder beispielsweise auch von Ostendorf/Radke, korrespondiert der Beschleunigungsgrundsatz mit dem aus dem Rechtsstaatsgebot im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Gebot zur 94 Bei Müller-Dietz, in: FS-Dünnebier (1982), S. 75, 81, heißt es m. w. N. entsprechend: „Verwirklichung des Sozialstaates (heißt), die materiellen Voraussetzungen für eine freie Entfaltung der Persönlichkeit schaffen oder sichern (helfen). (...) Sozialstaatlichkeit ist also kein Selbstzweck, sondern Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit.“ 95 Jung, StV 1990, 509, 513 f. 96 Vgl. wieder Kloepfer, JZ 1979, 209, 215 f.

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Beschleunigung des Verfahrens 97. Das Bundesverfassungsgericht geht im Bereich des Strafverfahrens entsprechend davon aus, dass die „Reichweite und die Wirkungsweise“ des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots gemäß „Art. 2 Abs. 1 i.V. m. dem Rechtsstaatsprinzip (...) im Lichte von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK“ zu interpretieren ist 98. Wie der im Strafverfahren geltende Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bzw. des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 3 GG den Effektivitätsgedanken stützt, ist auf den ersten Blick nicht eindeutig. Bei dem Gedanken an „Beschleunigung“ ist schnell Effektivität zu Lasten des Beschuldigten assoziiert. Im Kontext mit § 127 b StPO ist das offensichtlich. Mit dem Hinweis auf § 127 b StPO die legitime und hochwertige Verankerung des Effektivitätsgrundsatzes im Beschleunigungsgebot zu begründen, ist jedoch grob verkehrt. Denn Intention des Beschleunigungsgebots ist nicht primär, Grundrechtseingriffe zu legitimieren. Das Gebot wird nicht durch § 127 b StPO geprägt, sondern die Legitimation der prozessualen Norm muss sich am höherrangigen Beschleunigungsgebot und dessen Bedeutungsinhalt ausrichten. Dieser ist – jedenfalls spricht viel dafür – in erster Linie individualschützend. Wir müssen nicht Foucault bemühen, um zu erfahren, dass die Dauer eines zulässigen Freiheitsentzuges nicht alleine nach der Komplexität des Falles oder etwa dem Interesse der Allgemeinheit an der Durchführung des Verfahrens zu messen ist. Die angemessene Dauer und damit die Beschleunigung sind wesentlich abhängig von den Interessen des individuell Betroffenen im Verfahren 99. Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geht es bei der Bemessung der Dauer einer zulässigen Inhaftierung des Beschuldigten eindeutig nicht um „Maß-Zeit“ im Sinne einer absoluten Dauer innerhalb der ein Verfahren oder eine Inhaftierung beendet sein muss; es geht vielmehr um die „Zweck-Zeit“ 100, das heißt, um die Zeit, in der das Verfahren im Verhältnis zur Belastung des Beschuldigten (noch) „zweck97 Her, Das beschleunigte Verfahren unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots (1998), S. 187 f. m. w. N.; Ostendorf/Radke, JZ 2001, 1094, 1094, Anm. zu BGH, Urt. v. 25.10.2000 – 2 StR 232/00. 98 Vgl. nur BVerfG-K, NJW 1993, 3254, 3254 („Strafverfahren über 10 Jahre“). Eine Übersicht über die bedeutendsten Entscheidungen des BGH zum Beschleunigungsgebot (und insbesondere über die materiell-rechtlichen und prozessualen Rechtsfolgen) liefert Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren (1991), S. 23 ff. 99 Bei Foucault, Überwachen und Strafen (1994), S. 313 f., ist zu lesen, dass die Länge einer Strafe nicht den „Tauschwert“ des Vergehens misst, sondern zur „nützlichen“ Umformung des Häftlings beitragen muss; die richtige Dauer der Strafe müsse sich darum nicht nur nach der Tat und ihren Umständen richten, sondern nach dem konkreten Verlauf der Strafe selbst. Der Sprung von der Strafe zur Untersuchungshaft lässt sich wirkungsorientiert bewerkstelligen. Das, was bei Foucault die Strafhaft ist, kann allgemein auch die Untersuchungshaft meinen. Das, was im Hinblick auf die Besserung des Täters der Verlauf der Strafe selbst ist, kann im Recht der Untersuchungshaft der Verlauf des Verfahrens und die Länge der Haft zur Erreichung des „besseren“ Prozessergebnisses sein. 100 Die Begriffe verwendet Foucault, Überwachen und Strafen (1994), S. 313.

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mäßig“ durchgeführt werden kann. Wenn der Beschuldigte in Untersuchungshaft ist, muss die Ausübung von Verfahrensrechten von Beginn des Verfahrens an und während der gesamten Dauer gewährleistet sein 101. Dies charakterisiert den Beschleunigungsgrundsatz als individualschützendes Gebot. Einschlägige Fälle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wie etwa Wemhoff ./. Bundesrepublik 102, oder die neueren Fälle, insbesondere gegen Portugal 103 und Italien 104, mahnen zwar zur Beschleunigung – aber letztlich zum Schutz des Einzelnen 105. Aus dieser Rechtsprechung wird im Besonderen deutlich, dass nicht das Verfahren rechtmäßig ist, das „schnell“ ist, sondern dasjenige, welches „fair“ und regelgerecht durchgeführt wird. Zeit, so macht auch Ress zu Recht deutlich 106, ist für das Beschleunigungsgebot ein wichtiger Faktor; er ist aber bei weitem nicht das einzige Element und auch noch nicht einmal wesentlich für die Frage, ob die Verfahrenslänge oder die Dauer einer Inhaftierung gegen das Beschleunigungsgebot verstößt. „Das Beschleunigungsgebot“, so formuliert auch Imme Roxin treffend, „ist dann verletzt, wenn die tatsächliche Verfahrensdauer die notwendige übertrifft“ 107. Das Gebot fordert demnach ein „zügiges Verfahren“ im Sinne der Schonung und Durchsetzung der Rechte des Beschuldigten, aber nicht den „kurzen Prozess“. Zwar misst sich die zulässige Länge des Verfahrens bedeutend an der Komplexität des Falles 108. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lässt sich jedoch sehr stark – stärker noch als das Bundesverfassungsgericht – von einer Betrachtung leiten, die Auswirkungen der Maßnahmen im Verfahren auf den Betroffenen betont: „Es ist in erster Linie die Pflicht der nationalen justiziellen Behörden, 101 Vgl. EGMR, Lietzow ./. BRD, StV 2001, 201, 201 ff., Urt. v. 13.02.2001 („Akteneinsichtsrecht“). Nach EGMR, Eckle./. BRD, EuGRZ 1983, 371, 371 ff., Serie A Nr. 51, S.33, §73, Urt. v. 15.07.1982 („überlange Verfahrensdauer“), beginnt die Frist in dem Zeitpunkt „in which a person is charged“. 102 EGMR, Wemhoff ./. BRD („Dauer der Untersuchungshaft und des Verfahrens; Art. 5 Abs. 3 EMRK“), Serie A Nr. 7, Urt. v. 27.06.1968 = JR 1968, 463, 463 f. 103 Vgl. EGMR, Martins et Garcia Alves ./. Portugal („Beginn des Verfahrens“), Nr. 37528/97, Urt. v. 16.11.2000, sowie i. d. S. EGMR, Silvia Pontes ./. Portugal, Nr. 11371/85, Urt. v. 23.03.1994, Serie A Nr. 286, und hierzu Ress, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 627, 627 f. 104 Vgl. EGMR, Saccomanno ./. Italien, Nr. 36719/97, Urt. v. 12.05.1999; EGMR, Gelli ./. Italien, Nr. 37752/97, Urt. v. 19.10.1999, sowie EGMR, Pepe ./. Italien, Nr. 30132/97, Urt. v. 27.04.2000, und hierzu wieder Ress, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 627, 627 f. 105 Siehe auch die Übersichten von Kühne/Esser, StV 2002, 383, 388 f., zur Rspr. des EGMR „zur Untersuchungshaft“ in den Jahren 2000 und 2001. Einen eingehenden Überblick zur Rspr. des EGMR zur „Verfahrensdauer“ im gleichen Zeitraum liefert Kühne, StV 2001, 529, 531 ff. 106 Ress, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 627, 635. 107 Imme Roxin, Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße (2000), S. 158. 108 Vgl. nur EGMR, König ./. BRD, Nr. 6232/73, Urt. v. 28.06.1978, Serie A, Nr. 27, § 98; Ress, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 627, 642 ff.; Dölling, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 101, 112. Siehe aber auch Ostendorf/Radke, JZ 2001, 1094, 1094, die sich gegen die Bestimmung der Angemessenheit über eine Gesamtwürdigung aussprechen.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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sicherzustellen“, so heißt es in ständiger Rechtsprechung, „daß im konkreten Fall die U-Haft eines Beschuldigten eine angemessene Frist nicht überschreitet. Zu diesem Zweck müssen alle Tatsachen untersucht werden, die für oder gegen ein klares Erfordernis eines öffentlichen Interesses stehen, von der Regel des Respekts gegenüber der persönlichen Freiheit abzusehen, wobei das Prinzip der Unschuldsvermutung die ihm angemessene Bedeutung finden muß“ 109. Die Menschenrechte und das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sprechen demnach klar für die Freiheit des Einzelnen. Entsprechend dem Grundkonzept der Menschenrechte steht in – und mit – der Europäischen Menschenrechtskonvention die „machtkritische Perspektive im Vordergrund“ 110. Intention der Europäischen Menschenrechtskonvention ist es, so führt Ingo Müller aus, die unabdingbaren Prozessgrundrechte des Beschuldigten zu garantieren 111. Ihre Konzeption steht damit – wie die des Grundgesetzes – gegen die faktische Dominanz des Effektivitätsdenkens 112. Das ist also die Tendenz – und nicht Schnelligkeit. Frankreich hat dieser Akzentsetzung durch die Europäische Menschenrechtskonvention in seiner Reform des Strafverfahrensrechts Rechnung zu tragen versucht 113. In dem durch das Gesetz vom Juni 2000 eingeführten Article Préliminaire Abs. 3 S. 5 CPP ist festgeschrieben, dass „binnen angemessener Frist“ endgültig über die Anklage entschieden werden muss 114. Der Beschleunigungsgrundsatz steht damit in systematischer Nähe zur Unschuldsvermutung (Abs. 3 S. 1), des Rechts des Beschuldigten auf Information und einen Verteidiger (Abs. 3 S. 2), der Angemessenheit der Zwangsmaßnahme zur Schwere des Eingriffs sowie der Menschenwürde (Abs. 3 S. 4). Er ist dort also – ausgehend von der auch in der Bundesrepublik geltenden Europäischen Menschenrechtskonvention – klar den individuellen Beschuldigteninteressen zugeordnet. 5. Vorläufiges Fazit Als Nenner kann für die Legitimation des § 127 b StPO an dieser Stelle schon einiges festgehalten werden: Die Gleichsetzung von Allgemein- und Individualinteressen, wie sie die Literatur weitläufig im Zusammenhang mit der Funktionstüch109 Vgl. hierzu etwa die Fälle Labita ./. Italien, Urt. v. 06.04.2000, § 152; Kudla ./. Polen, Urt. v. 26.10.2000, § 110, zitiert bei Kühne/Esser, StV 2002, 383, 388 m. w. z. N. 110 Jung, EuGRZ 1996, 370, 373. 111 Ingo Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren (1980), S. 60. 112 Vgl. Eskeland, in: Beware of Punishment (1995), S. 204, 215, zu „Human Rights, Ideology and Judicial Realities“. 113 Vgl. Lazerges (Hrsg.), Rapport, Document Assemblée Nationale N° 1468 (1999), p.135, und Jung, in: Albertin/Asholt/u. a. (Hrsg.), Frankreich-Jahrbuch 2001 (2001), S. 137, 143 ff. 114 Art. Préliminaire Abs. 3 S. 5 CPP lautet: „Il doit être définitivement statué sur l’àccusation dont cette personne peut faire l’objet dans un délai raisonnable.“ Siehe zu den Wirkungen des einleitenden Artikels Henrion, ZStW 113 (2001), 924, 942, und wieder Jung, in: Albertin/ Asholt/u. a. (Hrsg.), Frankreich-Jahrbuch 2001 (2001), S. 137, 143 ff.

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tigkeit der Strafrechtspflege annimmt, ist sehr problematisch. Den einen oder anderen Interessen mehr oder weniger Raum einzuräumen, bestimmt sich letzten Endes immer danach, ob und welche Tendenz in der Entscheidungsfindung sich eher aus dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten lässt. Für die Tendenz hin zur vorrangigen Beachtung der Individualinteressen spricht viel. Strafverfahrensrecht ist ein dem Grundgesetz untergeordnetes Recht. Als ein solches Recht richtet es sich nach der Wertigkeit der Grund- und Menschenrechte und der im Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Verfahrensgarantien. Dort herrscht der Individualschutz. Demnach müsste er auch im Prozess herrschen und sich gegen die Funktionstüchtigkeit als Legitimation des § 127 b StPO stellen. Für die Anerkennung eines Grund- oder Menschenrechts auf Sicherheit, das aus dem Prozessrecht ein Optimum an Sicherheit fordert und somit Funktionstüchtigkeit verfassungsrechtlich stützt, spricht weder ausdrücklich das Grundgesetz noch die Europäische Menschenrechtskonvention. Auch der Beschleunigungsgrundsatz als Bestandteil des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und des Art. 20 Abs. 3 GG ändert am „Individualvorrang“ nichts. Der Grundsatz bestätigt ihn allenfalls. Er hat individualschützenden Charakter. Nach grundlegenderer Betrachtung der Literatur zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege spricht demnach viel dafür, dass Funktionstüchtigkeit zwar ein Legitimationsansatz des § 127 b StPO sein kann, aber kein wesentlicher. Effektivität ist nach dem bisher Erörterten kein wirklich tragender und schon gar kein unumstößlicher Legitimationspfeiler der Regelung. Vielmehr scheint das Grundgesetz ein Gefälle zugunsten der Individualinteressen des Beschuldigten gegenüber Effektivitätserwägungen der Allgemeinheit vorzuschreiben. Das Gefälle kann im konkreten Einzelfall durch abwägungszulässige, rechtsstaatliche Argumente eingeebnet werden. Substanzarme Argumente genügen jedoch nicht, um einen seitens der Verfassung vorgegebenen Trend umzukehren. Abschließend kann das Fazit an dieser Stelle freilich nicht sein. Bevor den vorläufigen Gedanken zur rechtlichen Untersuchung des § 127 b StPO abschließend Rechnung getragen werden kann, muss die Rechtsprechung deutlicher zu Wort kommen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege vielfach direkten Ausdruck gefunden. Hier sind wesentliche Ursachen für die Gleichstellung von Beschuldigten- und Allgemeininteressen zu finden. Dahin deuten schon die zitierten Ausführungen von Schröer und Beulke mit ihren Verweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 115.

115 Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 60, sowie Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 5.

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III. Die Rechtsprechung zur Funktionstüchtigkeit im Kontext der Verfahrensziele 1. Herleitung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip Im Grunde geht es auch der Rechtsprechung um die allgemeine Verwurzelung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit in der Rechtsstaatlichkeit. Die amtliche Sammlung des Bundesverfassungsgerichts zeigt: In über 30 Jahren ständiger Rechtsprechung leitet das Gericht die Notwendigkeit einer funktionsfähigen, effektiven Strafrechtspflege universal aus dem Rechtsstaatsprinzip her, ohne sich im Einzelnen mit davon abweichenden Meinungen aus der Literatur auseinanderzusetzen. Nach Ansicht des Gerichts hat das Prinzip Verfassungsrang und zwar über das Maß eines Minimums an Effizienz hinaus. Sehr deutlich wird dies aus einer Entscheidung aus dem Jahre 1972 116. Dort hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Verneinung eines Aussageverweigerungsrechts für Sozialarbeiter, Psychologen und Psychotherapeuten „Funktionstüchtigkeit“ erstmals als entscheidungsprägend angesehen. Die Berufung auf den Grundsatz hatte durchgreifende Bedeutung. Das Recht der Aussageverweigerung wurde unter Berufung auf ein rechtsstaatliches Postulat der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege verneint. Das „Rechtsstaatsprinzip ziehe“, so wurde festgestellt, dem Gesetzgeber bei einer Erweiterung zeugnisverweigerungsberechtigter Personen „Grenzen“ 117. Soweit der „Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit“ die „Idee der Gerechtigkeit“ als wesentlichen Bestandteil enthalte 118, verlange er auch die „Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege“, ohne die der „Gerechtigkeit“ nicht zum Durchbruch verholfen werden könne. Das Gericht führte wörtlich und jeweils mit weiteren Nachweisen auf seine eigene Rechtsprechung aus, es habe bereits wiederholt die „unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung“ anerkannt 119, das „Bedürfnis einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung“ im Siehe BVerfGE 33, 367, 367 ff. („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“). Siehe BVerfGE 33, 367, 384 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“), und näher hierzu Jung, MschrKrim 1974, 258, 258 ff., sowie Schilling, JZ 1976, 617, 617 ff. Rieß, StraFo 2000, 364, 364, sieht in der Entscheidung die „Geburtsstunde“ der ausdrücklichen Anerkennung eines Verfassungsgebots der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. 118 Mit Verweis auf BVerfGE 7, 89, 92 („Rückwirkung von Gesetzen“); 7, 194, 196 („Rückwirkung, § 26 Abs. 5 EStG“); 20, 323, 331 („nulla poena sine culpa; Strafvollstreckung“); 21, 378, 388 („Arreststrafe nach Wehrdisziplinarordnung“). 119 Mit Verweis auf BVerfGE 19, 342, 347 („Tatschwere“); 20, 144, 147 („5-jährige Untersuchungshaft“), und BVerfGE 20, 45, 49 („überlange Untersuchungshaft“), wo die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ „wirksame Verbrechensbekämpfung“ genannt wurde. Die eigene Zitierung des BVerfG spricht dafür, dass in der Sache zwischen beidem nur ein allgemeiner begrifflicher und kein tatsächlich inhaltlicher Unterschied besteht. 116 117

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Strafprozess betont 120 und die Aufklärung schwerer Straftaten als wesentlichen „Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens“ bezeichnet121. Seit dieser Entscheidung wurde der Grundsatz der Funktionstüchtigkeit in verschiedensten Zusammenhängen herangezogen, um die Grenze von Beschuldigteninteressen deutlich zu machen: So ergingen zum Beispiel Entscheidungen zur Anwesenheitspflicht des Angeklagten in der Hauptverhandlung 122, zur Veränderung der Haar- und Barttracht von Beschuldigten 123, zum Einsatz von Lockspitzeln 124, zur Gewährleistung gerichtlicher Kontrolle nach Versagung der Akteneinsicht für den Beschuldigten 125 und zur Frage der verfassungsrechtlichen Grenze für die Durchführung der Hauptverhandlung im Hinblick auf die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten 126, jeweils mit dem Hinweis auf eine aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Pflicht des Staates zur Aufrechterhaltung der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“. Auch in einer Entscheidung über den Haftgrund der Wiederholungsgefahr wurde die Formel verwendet 127. In all diesen Entscheidungen behielt die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gegenüber den Interessen des Verdächtigten die Oberhand. Im 74. Entscheidungsband gebrauchte das Bundesverfassungsgericht die Formulierung „funktionstüchtige Strafrechtspflege“ – soweit ersichtlich – zum letzten Mal 128. In einem Urteil aus dem Jahre 1987 zur Beschlagnahme von Gegenständen 129 war die Rede von „unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung“; hier, und noch deutlicher in einer Entscheidung aus 1989 zur Bestimmung von Grenzen der Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen 130, legte das Gericht Wert auf die Feststellung, dass der Gesetzgeber bei der Einordnung von Beschuldigteninteressen zu Lasten von Allgemeininteressen im Verfahren einer „an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege Rechnung zu tragen“ hat. Dass sich durch diese Formulierung inhaltlich etwas an der Beurteilung des Stellenwerts von Funktionstüchtigkeit geändert hat, ist jedoch eher zweifelhaft 131. 120 Mit Verweis auf BVerfGE 32, 373, 381 („Beschlagnahme einer ärztlichen Karteikarte des Beschuldigten“). 121 Mit Verweis auf BVerfGE 29, 183, 194 („Rücklieferung eines Deutschen“). 122 BVerfGE 41, 246, 246 ff. („Zulässigkeit der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten“); vgl. zu einer Bestandsaufnahme auch Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 26 ff., und aus neuerer Zeit Rieß, StraFo 2000, 364, 365 f. 123 BVerfGE 47, 239, 250 („Zulässigkeit von Identifizierungsmaßnahmen“). 124 BVerfG, NStZ 1987, 276 („Unentbehrlichkeit polizeilicher Lockspitzel“). 125 BVerfG, NJW 1994, 573 („Akteneinsicht und Rechtsweggarantie“). 126 BVerfGE 51, 324, 343 ff. („Verhandlungsunfähigkeit des kranken Angeklagten“). 127 Vgl. BVerfGE 35, 185, 190 („Wiederholungsgefahr“). 128 BVerfGE 74, 257, 262 („Schadensersatzpflicht des Anzeigenerstatters bei mangelnder Beweisbarkeit des behaupteten Vorwurfs“). 129 BVerfGE 77, 65, 76 („Beschlagnahme selbstrecherchierten Filmmaterials“). 130 BVerfGE 80, 367, 375 („2. Tagebuchentscheidung“). 131 Nach Lorenz, GA 1992, 254, 277 f., hat das BVerfG mit der geänderten Begrifflichkeit (vermeintlich die nun folgenden) „Stimmen der Literatur ernst genommen und den Topos der

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Zumindest leitet das Gericht Funktionstüchtigkeit unverändert direkt aus dem Rechtsstaatsprinzip her. Denn auf die Sozialarbeiter-Entscheidung wurde auch in dem Urteil aus dem Jahre 1987 zur Beschlagnahme von Gegenständen ausdrücklich Bezug genommen 132. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ schließlich in mehr oder minder abgewandelten Formeln vor. Grundlegend neue Akzente sind dort gegenüber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht erkennbar. Es geht um die „Notwendigkeit einer wirksamen Verbrechensbekämpfung“ oder „Aufklärung“ 133; die Formeln des Bundesverfassungsgerichts werden auch in neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ebenso übernommen wie die Herleitung des Prinzips der Effektivität aus dem Rechtsstaatsprinzip 134. In der Literatur ist die Ableitung des Effektivitätsprinzips aus dem Rechtsstaatsprinzip zu Lasten von Beschuldigteninteressen hingegen vielfach auf Kritik gestoßen. 2. Auseinandersetzung mit der Kritik an der Begrenzung von Beschuldigteninteressen durch das Rechtsstaatsprinzip Die Einstellung der Literatur an dieser Rechtsprechung erstreckt sich von Anerkennung 135 über Besorgnis 136 bis hin zur strikten Ablehnung einer allgemein rechtsstaatsbezogenen Herleitung von Effektivität als Grenze von Beschuldigteninteressen. Grünwald nimmt in Anlehnung an die zitierte Rechtsprechung aus dem Jahre 1972 mit Nachdruck an, es handele sich um eine „Pervertierung des Rechtsstaates, wenn er sich als Legitimation für die Entfaltung von Staatsgewalt im Interesse der Strafverfolgung verwendet“ 137. Die bestimmten Inhalte, die dem Rechts‚Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege‘ in aller Stille fallengelassen“ [Hervorhebung im Original]. Rieß, StraFo 2000, 364, 365, hält einen „Paradigmawechsel“ hingegen für „zweifelhaft“. 132 BVerfGE 77, 65, 76 („Beschlagnahme selbstrecherchierten Filmmaterials“) m. w. N. auf BVerfGE 33, 367, 383 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“). 133 Vgl. nur BGHSt 34, 397, 401 („Tagebuchaufzeichnungen“); 38, 111, 113 („Beweisantrag über Verteidiger“). 134 Vgl. BGH, NJW 2000, 1274, 1275 („manipuliertes Zeugnisverweigerungsrecht“). 135 Vgl. etwa Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 3, zu BVerfGE 80, 367, 375 („2. Tagebuchentscheidung“), sowie BVerfG, NJW 1996, 771, 771 ff. („§ 81 a StPO oder auf freiwilliger Basis genommene Blutprobe“). 136 Vgl. Hassemer, StV 1982, 275, 275 ff., und ders., KritV 1990, 260, 265 f. 137 Vgl. Grünwald, JZ 1976, 767, 767 ff., Anm. zu BVerfG, JZ 1976, 765, 765 f. = BVerfGE 41, 246, 246 ff. („Hauptverhandlung in Abwesenheit, §231 a StPO“), maßgeblich unter Bezugnahme auf BVerfGE 33, 367, 367 ff. („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“). Vgl. darüber hinaus auch Grünwald, StV 1987, 453, 457; und die deutliche Kritik von Riehle, KJ 1980, 316, 323 f., der zu dem Ergebnis kommt, dass unter dem Blickwinkel der funktionstüchtigen Strafgewalt eine relative Auflockerung der rechtsförmigen Bindungen stattgefunden habe mit der Tendenz, das Verfahrensrecht zu einer Geschäftsordnung nach Kalkülen der Durchsetzung staatlicher Strafgewalt herabzustufen. 17 Giring

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staatsprinzip zuzuordnen seien, könnten im Hinblick auf seine Funktion zur Sicherung der Freiheitssphäre des Bürgers nur solche sein, die Staatsgewalt „zugunsten“ des Bürgers beschränken, nicht zu seinen Lasten. Wenn das Gericht, so heißt es weiter, die allgemeinen Strafverfolgungsinteressen nur genügend hoch bewerte, gebe es keine bestimmbare Grenze mehr, an der Strafverfolgung Einhalt geboten werden könne. In dieser Deutlichkeit ist die Kritik sicher nicht aufrecht zu erhalten. Das Bundesverfassungsgericht legt dem Rechtsstaatsprinzip nicht dadurch einen „pervertierten“ Inhalt bei, dass es die Funktionsfähigkeit und damit die Effektivität der Strafrechtspflege zu einem Element von Rechtsstaatlichkeit erklärt, in vollem Bewusstsein, dass Effektivität eine Einschränkung von Beschuldigteninteressen darstellen kann. Der Verweis des Gerichts auf das Rechtsstaatsprinzip impliziert in seiner Allgemeinheit nicht, dass Effektivität zur „Einbahnstraße“ oder der Strafprozess zum „Versuchsobjekt der Rationalisierung“ werden darf. Strafrecht kann auch nach einer Legitimation von Effektivität als Allgemeininteresse und Grenze von Beschuldigtenrechten aus dem Rechtsstaatsprinzip noch rechtsstaatskonform durchsetzbar sein. Entscheidend ist nach wie vor, dass das Strafverfahren zuverlässig, fair und transparent ist 138. Die Bedeutung von Fairness auf dem Weg zur Entscheidungsfindung hat ihren Ursprung in den Grundrechten, insbesondere in dem Recht auf Freiheit der Person im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG. Ferner gebietet Art. 1 Abs. 1 GG Fairness gegenüber Beschuldigten, indem er verbietet, den Menschen im Strafverfahren zum „bloßen Objekt“ herabzuwürdigen 139. Es muss dem Beschuldigten beispielsweise auch gewährleistet sein, die Rechte zu seiner Verteidigung im Sinne des Art. 6 Abs. 3 c EMRK ordnungsgemäß wahrnehmen zu können 140. In dieser Beziehung wird aus den zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch nichts anderes deutlich. In der genannten Entscheidung zur Verhandlungsfähigkeit eines Angeklagten heißt es beispielsweise: „Keiner dieser Belange (das heißt, weder ein Interesse des Angeklagten an seiner Freiheit, noch das Interesse der Allgemeinheit an Effektivität) genießt ‚schlechthin‘ den Vorrang vor anderen. Weder darf der staatliche Strafverfolgungsanspruch ohne Rücksicht auf die Grundrechte des Beschuldigten durchgesetzt werden, noch erfordert jede denkbare Gefährdung dieser Rechte ein Zurückweichen jenes Anspruches (auf Funktionstüchtigkeit)“ 141. Schließlich zitiert das Gericht in der Sozialarbeiter-Ent138 Aus der Lit. vgl. F.-C. Schroeder, NJW 1983, 137, 139 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht (1998); § 1 Rdn. 3 ff.; Brause, NJW 1992, 2865, 2866 ff. 139 Vgl. aus der Rspr. nur BVerfGE 57, 250, 275 („Verfassungsmäßigkeit des §99 Abs.1 Nr. 1 StGB“), sowie BVerfG NJW 1983, 1043, 1043 ff. („Ablehnung des Verteidigerantrags auf Beiziehung sämtlicher Spurenakten“). 140 Vgl. nur BVerfGE 38, 105, 111 („Recht des Zeugen auf Rechtsbeistand“) m. w. N. 141 BVerfGE 51, 324, 325 f. („Verhandlungsunfähigkeit des kranken Angeklagten“) m. w. N. [Hervorhebung und Klammersetzungen im Original].

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scheidung aus dem Jahre 1972 142 auch frühere Rechtsprechung, in der die Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege zwar als rechtsstaatliches Prinzip herangezogen worden ist, die Entscheidung jedoch zugunsten des Beschuldigten ausfiel 143. „Pervertierung“ ist also der falsche Begriff für die Herleitung eines verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Effektivität und der Begrenzung von Beschuldigteninteressen aus dem Rechtsstaatsprinzip. Auch unter Anerkennung des Rechtsstaatsprinzips als Legitimationsgrundlage für Effektivität im Verfahren, bleibt es für das Gericht ein selbstverständlicher Hinweis, dass ein völliger Vorrang des einen Interesses zwangsläufig zu einer unrechtmäßigen Missachtung des anderen führt. Jeder, dem eine sanktionswürdige Handlung vorgeworfen wird, muss auch nach Anerkennung der Beschränkung von Beschuldigteninteressen aus dem Rechtsstaatsprinzip noch ein berechtigtes Interesse an einer fairen Behandlung auf dem Weg der Rechtsfindung haben – und er kann sie haben. Andererseits hat die Kritik Grünwalds zweifelsohne auch einen wahren Kern. Aus der allgemeinen Verortung von Effizienz zu Lasten von Beschuldigteninteressen in die Rechtsstaatlichkeitsebene resultiert die Gefahr, dass die Auseinandersetzung um eine Norm wie § 127 b StPO, die mit Effektivitätserwägungen begründet wird, nur noch schwierig objektiv-unvorbelastet geführt werden kann. Auch wenn die konkreten Problematiken der zitierten Entscheidungen nur selten direkt etwas mit Inhaft- und Festnahme des Beschuldigten zu tun haben, so zeigt sich dennoch eine deutliche Verwandtschaft mit der Begründung des Gesetzgebers zu § 127 b StPO. Die „unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung“ und der „Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens“, auf die die Rechtsprechung Entscheidungen zum Nachteil von Beschuldigteninteressen stützt, sind deutliche Akzentuierungen des Allgemeininteresses an Effektivität. Sie wurden in der Gesetzesbegründung und in der vorangegangenen Diskussion zur Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO aufgegriffen. § 127 b StPO wurde auf die Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung auf eine effektive Durchsetzung des Rechts gestützt 144. BVerfGE 33, 367, 384 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“). In BVerfGE 20, 323, 331 („nulla poena sine culpa; Strafvollstreckung“), ist das Prinzip der Gerechtigkeit herangezogen worden, um eine Verletzung des „nulla poena sine culpa“-Gundsatzes durch Einstehen für fremde Schuld im Rahmen einer vollstreckungsrechtlichen Vorschrift zu begründen. Vgl. auch BVerfGE 21, 378, 388 („Arreststrafe nach Wehrdisziplinarordnung“), zur Verfassungswidrigkeit der Festsetzung einer Freiheitsstrafe nach vorangegangener disziplinarischer Arreststrafe wegen derselben prozessualen Tat. Siehe aus der Rspr. des BGH etwa BGHSt 31, 304, 309 („Rechtswidrige Aufzeichnung eines Telefongesprächs“), zur Unzulässigkeit der Verwertung eines Telefongesprächs zwischen V-Mann und Beschuldigtem, sowie BGHSt 43, 300, 303 („Patientenmitteilung an Arzt“), zum Beschlagnahmeverbot bei früherem Mitbeschuldigtem. 144 Vgl. wieder BT-Drucksache 13/1276, S. 3, sowie Pflieger (Leitender Oberstaatsanwalt/ Stuttgart), RA-Pr 13/50, S. 10, und Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11648. 142 143

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Sei es nun bei der Regelung des Zeugnisverweigerungsrechts oder bei der Haftund Festnahmenorm des § 127 b StPO: soweit auf eine „berechtigte“ Erwartung der „rechtstreuen“ Bevölkerung, dass der Täter „unmittelbar“ nach der Tat mit ihr konfrontiert wird, abgestellt wird 145, wird das Allgemeininteresse an Effektivität als „gerecht“ und auch als „rechts-“staatlich vorausgesetzt. § 127 b StPO soll damit der Verwirklichung von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit dienen. Wenn jedoch Interessen, die von Natur aus gegenläufig sein können, gleichzeitig mit ihren jeweiligen Grenzen im Rechtsstaatsprinzip angesiedelt werden, zeigt sich eine indifferente Wertordnung. Es herrscht eine Desorientierung nach der entschieden wird146. Wird insoweit für die Ableitung des Funktionsgedankens der Hinweis auf die „Interessen“ oder die „Belange der Allgemeinheit“ und das „Rechtsstaatsprinzip“ gegeben, lässt sich kaum mehr eine Wertigkeit von Effektivitätsinteressen der Allgemeinheit und von Beschuldigteninteressen an Freiheit stufen. Tendenzen aus dem Rechtsstaatsprinzip zu Gunsten des Beschuldigten verblassen, wenn daraus über Effizienz auch belastende Zwangsmaßnahmen legitimiert werden. So kann Effektivität schnell hoch und leicht zu hoch bewertet werden. Ein überbewerteter Rang von Effektivität zu Lasten von Beschuldigteninteressen führt zu illegitimen und damit rechtsstaatswidrigen Eingriffen in Grund- und Menschenrechte des Betroffenen. Die Orientierungslosigkeit und Unvorhersehbarkeit von Entscheidungen nimmt zu, wenn nicht nur die Verpflichtung zur Gleichbeachtung der Allgemeinund Individualinteressen ausgesprochen wird, sondern die Rechtsgewährung und die Rechtsbegrenzung gleichsam als Elemente der Rechtsstaatlichkeit angesehen werden. Das Bundesverfassungsgericht versucht diese „Orientierungslosigkeit“ aufzulösen. Es bleibt bei einem Versuch. Letzten Endes verstärkt sich die Unsicherheit der Argumentation über die Rechtfertigung von Effektivität. Zur Erläuterung des Effizienzgedankens greift das Gericht nicht nur auf den allgemeinen Begriff der „Rechtsstaatlichkeit“, sondern auch auf die „Idee der Gerechtigkeit“, auf „Rechtssicherheit“ und auf „Wahrheit“(-ssuche) zurück. Es tut dies maßgeblich in Zusammenhängen, die konkret mit dem spezifischen Spannungsverhältnis der Interessen im Strafprozess nicht wirklich zu vergleichen sind 147. Aus der Verbindung von Funktionstüchtigkeit mit den Begriffen „Gerechtigkeit“, „Rechtsfriede“ und „Wahrheit“ kann eine überhöhte, von der Verfassung überhaupt nicht vorgesehene, Bedeutung der Allgemeininteressen schnell rechtfertigt werden – wenn man dies nur will. Ebenso kann man Zwangsmittel wie Haft- und Festnahme aufgrund § 127 b StPO rechtfertigen. Da sie in Verbindung zum beschleunigten Verfahren Vgl. wieder BT-Drucksache 13/2576, S. 3. Vgl. Kunig, Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 233 ff., zum „floskelhaften“ Umgang mit dem Rechtsstaatsprinzip. 147 Zum Beispiel BVerfGE 7, 89, 92 („Rückwirkung von Gesetzen“), zur Wirksamkeit einer rückwirkenden Hundesteuererhöhung und BVerfGE 7, 294, 296 („Rückwirkung, § 26 Abs. 5 EStG“), zur Wirksamkeit rückwirkender Regelungen im Bereich des Steuerrechts – beide zitiert in BVerfGE 33, 367, 367 ff. („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“). 145 146

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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sind, stehen sie vermeintlich für Effektivität und in gleichem Sinne auch für „Gerechtigkeit“, „Rechtsfrieden“ und „Wahrheit“. Effektivitätsnormen – und seien sie nur vermeintlich der Effektivität dienlich – lassen sich mit Berufung auf das Bundesverfassungsgericht leicht in den „Adelsstand“ der drei Verfahrensziele Gerechtigkeit, Wahrheit und Rechtsfrieden hieven. Dem ist argumentativ nur sehr schwer etwas entgegenzusetzen. Hassemer drückt dies, freilich ohne Bezug zu § 127 b StPO, treffend aus: „wer mit der ‚Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege‘ sämtliche zentralen Werte des Strafverfahrensrechts auf die eine der beiden Waagschalen draufpackt, der wird für die andere Schale allenfalls noch Leichtgewichtiges zur Verfügung haben“ 148. Eine praktische Konkordanz in der Abwägung ist dann objektiv kaum erreichbar. An diesem Punkt kann man auch noch weiter gehen. Es entwickelt sich in den Fällen, in denen gegen Effektivität argumentiert wird, eine latente Voreingenommenheit gegenüber diesen Argumenten. In Ansehung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Funktionstüchtigkeit erwächst in diesem Sinne eine gewisse Befangenheit in der Argumentation gegen § 127 b StPO. Denn diese Argumente stellen sich gleichsam anscheinend nicht mehr nur gegen § 127 b StPO. Da sie sich gegen Effektivität richten, stellen sie sich vermeintlich gegen „Gerechtigkeit“, „Rechtsfrieden“ und „Wahrheit“. Da die Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ 149 und auch der Gesetzgeber zu § 127 b StPO diesen „hehren Zielen“ des Verfahrens legitimierende Bedeutung beimessen, erscheint es angezeigt, auf den Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der Effektivität und den übergeordneten Zielen des Verfahrens einzugehen. Auf ihnen ruht letztlich der Verweis in der Gesetzesbegründung zu § 127 b StPO auf das „Vertrauen in den Rechtsstaat“ und die „Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“ 150. Jede Beeinträchtigung von Beschuldigteninteressen ist immer auch im Zusammenhang mit Zielen des Strafverfahrens an sich zu sehen 151. Die Ziele des rechtsstaatlichen Verfahrens strukturieren es und legen den Rahmen fest, in dem sich sämtliche Beteiligteninteressen im Verfahren bewegen 152. Daher hat sich auch die Untersuchung einer Norm, die zu Haft und Festnahme ermächtigt, an den gesetzlichen Zwecken des Strafverfahrens insgesamt zu orientieren. Insofern kommt man nicht umhin, die Begriffe „Gerechtigkeit“, „Rechtsfrieden“ und 148 Vgl. Hassemer, StV 1982, 275, 277 [Hervorhebung im Original], oder an anderer Stelle ders., KritV 1988, 336, 342: „Wer Wahrheit, Rechtsstaatlichkeit, Vertrauen der Bevölkerung in den Begriff der Effektivität integriert, macht die Effektivität zum Hauptziel des Verfahrens“. 149 Vgl. wieder Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht/Bd. I (1998), S. 183 ff. 150 Vgl. wieder BT-Drucksache 13/1276, S. 3. 151 Vgl. Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1181. 152 Zu den Verfahrenszielen als „Orientierungshilfe“ vgl. aus der Rspr. BVerfGE 35, 202 ff. („Lebach-Urteil“); 45, 187, 187 ff. („lebenslange Freiheitsstrafe“); 22, 180, 180 ff. („Jugendwohlfahrt“).

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

„Wahrheit“ etwas näher zu beleuchten, freilich ohne damit deren umfassende Analyse zu annoncieren. 3. Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Wahrheit als allgemeine Topoi a) Gerechtigkeit Funktionstüchtigkeit, Beschleunigung und Effektivität können im Recht ohne Zweifel als Teil einer rechtsstaatlichen Billigkeit begriffen werden. Das kommt bereits durch das „Minimumargument“ zum Ausdruck. Ein Minimum an Funktionalität ist erforderlich, ansonsten wäre die Durchsetzbarkeit von Recht nicht vorstellbar. Darüber hinaus weist Funktionstüchtigkeit im Strafverfahren auch die Merkmale eines „gerechtigkeitsorientierten“ Rechtsgrundsatzes auf. Nach allgemeiner Ansicht gehören hierzu 1. die fehlende klare Positivierung, 2. die Anwendbarkeit als allgemeines Prinzip auf Standardsituationen, die eine gewisse, auf Gerechtigkeit bezogene Falltypik erkennen lassen, und 3. notwendig die begriffliche Unschärfe des Grundsatzes selbst 153. Klar positiviert ist der Effektivitätsgrundsatz nicht. Stattdessen lässt er Unschärfe erkennen. Eine Typizität ist schnell ersichtlich: der Ausgleich der widerstreitenden Interessen im Strafverfahren unter Einbeziehung der den Einzelfall beachtenden Mittel-Zweck Relation, bestimmt durch die Effektivitätsnorm als Mittel. Damit ist schon eine Verbindung zur Gerechtigkeit geknüpft. Gewonnen ist mit dieser Feststellung allerdings nicht viel. Als Ergebnis kann allenfalls die Anerkennung des Effektivitätsgrundsatzes festgehalten werden. Das ist jedoch längst bekannt. Das Dilemma bei der Berufung auf Gerechtigkeit besteht darin, dass sich der Anspruch auf Interessensverwirklichung und die Begrenzung dieses Anspruches gleichermaßen aus Gerechtigkeitserwägungen selbst ergeben sollen. Beides, der Anspruch und seine Begrenzung, entstehen gleichfalls systemimmanent erst aus Reflexionen verschiedenster Ansichten über Gerechtigkeit an sich 154. Bei jedem anderen, den Beschuldigten belastenden Kriterium neben Funk153 Vgl. etwa Canaris, Lücken im Gesetz (1983), S. 106 ff., unter der Überschrift „Rückführung eines allgemeinen Prinzips auf die Rechtsidee“. Jakobs, Verhältnismäßigkeit (1985), S. 174, scheint die allgemeingültige Vorgehensweise im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu praktizieren. 154 Die Frage nach Gerechtigkeit ist nach Schwabe, Grundkurs (1995), S. 27, „eine der ältesten und schwierigsten Fragen der Menschheit“. Die Vielseitigkeit des Begriffs und auch seine „Nicht-Greifbarkeit“ werden anschaulich mit den Zitaten zu den Themen Recht, Gerechtigkeit, Gesetz und Justiz von Publizisten und Praktikern im Rahmen des Forums „Gedanken zu Recht und Gerechtigkeit“ aus Anlass des dreißigjährigen Erscheinens der ZRP; aus der Äußerung etwa von Kirchhof, ZRP 1998, 386, wird besonders deutlich, dass Gerechtigkeit an sich als Argument nicht zählen kann, indem es heißt: „Die Frage nach der Gerechtigkeit macht sprachlos (...)“; für Rosendorfer, a. a. O., ist Gerechtigkeit „Glücksache“. Jedenfalls habe sie „weit mehr mit juristischer Phantasie zu tun als mit juristischer Dogmatik“.

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tionstüchtigkeit, kann ein abstrakter Ansatz in der Gerechtigkeit gefunden werden 155. Die Entdeckung muss weder tatsächlich noch stichhaltig etwas darüber aussagen, ob durch die Regelung Gerechtigkeit erreicht wird. Die Verbindung zur Gerechtigkeit lässt eine Argumentation im Zusammenhang zur Effektivität allenfalls sprachlich „gerecht“ erscheinen. Das macht sie nicht sachlich nachvollziehbar. Gerechtigkeit ist kein abwägungsrelevanter Wert an sich, sondern zunächst nur ein formaler Begriff. Der Begriff als solcher ist weniger von Rationalität als von Gefühlen bestimmt und daher als entscheidungsbegründender Topoi kaum – wenn nicht überhaupt nicht – operationalisierbar 156. Die Frage nach Effektivität als eine Frage von Gerechtigkeit darzustellen, eignet sich demnach nicht zur Verdeutlichung ihres Stellenwertes. Sie eignet sich weder allgemein noch im Rahmen der Legitimation des § 127 b StPO als Fundament von Effektivität. b) Rechtsfrieden Zum Teil wird Rechtsfrieden im Verfahren eine so bedeutende Rolle zugeschrieben, dass dahinter das Ziel der Gerechtigkeit zurückzutreten habe 157. Auch wird angenommen, dass Rechtsfrieden kein selbständig eigenes Verfahrensziel sei 158. Einer genauen Einordnung ungeachtet 159, ist jedoch Rechtsfrieden sicher ein Topos, der das Verfahren prägt. Er steht unbestreitbar auch in Verbindung zur EffekVgl. nur Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1181. Der „Maßstab der Gerechtigkeit enthält doch seinerseits“, so heißt es bei Stratenwerth, in: FS-Kaufmann (1993), S. 353, 360, „keinerlei Leitbild, in der Menschen miteinander umgehen sollten, keinerlei Hinweis darauf, worin sie ihre Aufgabe als Gesamtheit finden könnten.“ Bei Stratenwerth, a. a. O. S. 353 f., heißt es: „Gerechtigkeit ist (...) zunächst ein rein formaler Maßstab, der zwar gebietet, Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln, aber von sich aus nicht das Geringste darüber besagt, was als gleich und was als ungleich anzusehen ist“. Vgl. zum Grundprinzip der Gerechtigkeit als „ausgleichende Gerechtigkeit“ auch Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2001), § 39 II, S. 311 f., und wesentlich kritischer Höffe, Gerechtigkeit (2001), S. 54, f., wonach die gerechte Entscheidung zwar auch die „unparteiliche“ ist. Unparteilichkeit setzt nach Höffe, a. a. O., jedoch Vollkommenheiten voraus: „eine Allwissenheit sowohl hinsichtlich des geltenden Rechts als auch dessen, was geschehen ist; eine Allklugheit, die alles Geschehene im Lichte des geltenden Rechts richtig zu beurteilen fähig ist; eine vollkommene persönliche Gerechtigkeit, die alles gerecht zu beurteilen auch willens ist. (...)“. „Weil aber nur eine Gottheit so vollkommen ist“, so heißt es weiter, „kann die Justiz sich nur um eine möglichst weitgehende Annäherung bemühen“. 157 Schmidhäuser, in: FS-Eb. Schmidt (1961), S. 511, 513 ff. Gegen die Konzeption von Schmidhäuser, a. a. O., wendet sich Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil I (1964), Rdn. 20 und dort FN 44. Eine gelungene Stellungnahme zu Schmidhäuser findet sich auch bei Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 25 ff. 158 Differenzierend Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 65 f. m. w. N. 159 Rechtsfrieden wird als selbständiges Verfahrensziel ohne Begründung oder näherer Erläuterung z. B. genannt bei Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 6; etwas ausführlicher sind Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 1 Rdn. 3 ff., und Wolter, GA 1985, 49, 53. 155 156

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tivität. Ohne das Bewusstsein von Effektivität kann das für das Funktionieren des Rechtsstaates notwendige Vertrauen der Allgemeinheit, des Opfers und auch des Beschuldigten an einer hoheitlichen Maßnahme nicht erhalten bleiben. Der Beschuldigte, das Opfer und die Allgemeinheit empfänden es im konkreten Fall als Belastung, wenn das Verfahren unnötig lange dauerte, der Verdacht einer Straftat damit unnötig lange offen und Strafverfolgungsorgane unnötig lang blockiert blieben. In Zeiten der Ineffektivität können sie sich anderer, vielleicht dringender Fälle, nicht annehmen. Der Verschwendung von Ressourcen steht Vertrauen entgegen. Vertrauen kann auch verletzt sein, wenn das Gesetz Ineffektivität derart zulässt, dass der Beschuldigte es zuweilen selbst in der Hand hat, sich dem Verfahren etwa durch Fernbleiben von der Hauptverhandlung zu entziehen. Effektivierung hat damit grundsätzlich rechtsfriedenstiftende Funktion 160. Effektivität im Strafprozess kann Vertrauen schaffen. Aber auch das ist keine Neuigkeit. Die Notwendigkeit von Vertrauen in hoheitliche Maßnahmen wird im Rechtsstaat in jedem Rechtsgebiet anerkannt 161. Die Verbindung zu Rechtsfrieden bringt die Fragen nach dem Stellenwert und der Grenze des Effektivitätsgedankens im Strafverfahren praktisch nicht weiter. Rechtsfrieden zeichnet sich aus durch Omnipräsenz und Universalität im Anspruch. Es ist vor dem Hintergrund rechtsfriedenstiftender Funktion im Strafverfahren nicht zwingend erforderlich, Funktionalität als Allgemeininteresse gegenüber Beschuldigteninteressen gleichwertig einzustufen. Die Berufung auf die „berechtige Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“, dass der Täter zügig mit der Tat konfrontiert werden muss 162, kann zur Gewährleistung von Rechtsfrieden nur ein Gesichtspunkt unter vielen sein. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip stellt sich als Schranke gegen jede „unnötige Verzögerung“. Des Rückgriffs auf ein weiteres Prinzip, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip gleichsam zur Gewährung von Allgemein- und zur Einschränkung von Individualinteressen ableitet, bedarf es daneben nicht unbedingt. Ebenso wie Gerechtigkeit ist Rechtsfrieden zwar ein rechtsstaatlicher Begriff. Für sich betrachtet, ist er jedoch ebenfalls nur schwer zu handhaben 163. Die Berufung auf Effektivität im Kontext von Rechtsfrieden lässt eine Norm leicht wieder nur gerechter erscheinen, ohne dass Rechtsfriede für sich betrachtet ein Argument für tatsächliche Gerechtigkeit ist. Anderes kann nur dann gelten, wenn es um den Abschluss des Verfahrens überhaupt geht. Das heißt, Effektivität lässt sich unmittelbar zur Förderung des Rechtsfriedens aus einem rechtsstaatsimmanenten Ge160

Im Zusammenhang zur Verfahrensbeschleunigung siehe nur Loos/Radtke, NStZ 1996, 7,

12. 161 Vgl. deutlich die Rspr. des BVerfG zur Rückwirkung von Gesetzen: BVerfGE 30, 367, 387 („§ 150 Abs. 2 Bundesentschädigungsgesetz“); 13, 261, 271 („§5 Abs. 1 S. 1 EStG“). Siehe allgemein zur Berufung auf Legitimitätsüberzeugungen der Bevölkerung auch Kuhlen, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik (1998), S. 442, 452. 162 BT-Drucksache 13/1276, S. 3. 163 Vgl. etwa die Ausführungen bei Weigend, Deliktsopfer (1989), S. 173 ff.

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meinschaftsinteresse ableiten, wenn es um die Endlichkeit des Verfahrens – oder besser noch –, um das pauschale Funktionieren der Strafrechtspflege geht. Dann lässt sich eine Art Anspruch der Allgemeinheit auf Funktionstüchtigkeit anerkennen. Lediglich dann ist aus den Grundrechten oder auch dem Rechtsstaatsprinzip im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG sinnvoll eine Art Anspruch der Bevölkerung abzuleiten, die Strafrechtspflege zu funktionalisieren 164. Das Warten auf den Nimmerleinstag stellte die Strafrechtspflege insgesamt in Zweifel. Im Rahmen des § 127 b StPO geht es indes nicht um die Sicherung von Endlichkeit. Es geht nicht um eine zeitliche Grenze, ohne die das Funktionieren des Strafverfahrenssystems in Frage zu stellen ist. Es geht um Verbesserung – und Verbesserung ist die Motivation auf dem Weg zum Optimum. Mit der angestrebten Optimierung, dass heißt konkret, mit der Reduzierung der Verfahrensdauer auf eine Woche, gehen massive verfassungsrechtliche Bedenken und Risiken einher. Risiken für verfassungsrechtliche Garantien führen nicht zum Rechtsfrieden. Daher erscheint die Berufung auf Rechtsfriede eher politisch motiviert als sachlich fundiert. Die Politisierung einer Debatte um die Legitimation einer Norm verkompliziert die verfassungsrechtliche Diskussion 165. Mit der Regelung ist also nicht „Friede“ – sondern mit ihr gehen „Zweifel“ einher. Wer sich § 127 b StPO wegdenkt, kann in der Totalen nicht ernstlich von einem „unrealisierbaren Verfahren“ sprechen. c) Wahrheit Wahrheitsfindung ist allgemein als Verfahrensziel anerkannt 166. „Rechtsfindung ohne Wahrheitsfindung“, so schreibt Krauß zu Recht, „scheint nicht möglich“ 167. Offensichtlich ist der Begriff „Wahrheit“ jedoch ähnlich schwierig bestimmbar, wie es für die Strafverfolgungsorgane unerreichbar ist, die tatsächliche Wahrheit zu erforschen 168. Daher ist auch nur die „möglichst umfassende“ Wahrheitsermittlung ein Auftrag an Strafverfolgungsorgane und demnach an das Strafverfahren, diese zu ermöglichen. Nur die um das Unmögliche reduzierte Wahrheitsfindung ist eine der Ausprägungen des Gerechtigkeitsgedankens. Wahrheit hat daher auch nur als limitierte Wahrheit in den zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungs164 Das System aus Grundrechten, Menschenrechten und Rechtsstaatsprinzipien verschließt sich positiven Handlungsaufträgen an den Gesetzgeber anerkanntermaßen nicht gänzlich. Vgl. zur Herleitung einer positiven Handlungspflicht aus den Grundrechten deutlich BVerfGE 53, 30, 60 („Mühlheim-Kärlich“). 165 Vgl. Victor, in: Beware of Punishment (1995), p. 81, im Zusammenhang zur Rolle der Prävention im Strafrecht. 166 Aus der Rspr. BGHSt 14, 358, 365 („heimliche Tonbandaufnahme als unzulässiges Beweismittel“); 31, 304, 309 („rechtswidrige Aufzeichnung eines Telefongesprächs“); aus der Lit. siehe Wolter, StV 1990, 175, 180. 167 Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß (1980), S. 65, 65. 168 Vgl. nur Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil I (1964), Rdn. 20; Schmidhäuser, in: FS-Eb. Schmidt (1961), S. 511, 512.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

gerichts zur Effektivität Ausdruck gefunden 169. Es steht fest, dass es die absolute Wahrheit im Prozess nicht gibt. Die losgelöste, rein aus sich bestehende Wahrheit, muss und kann von keinem Gericht im Erkenntnisverfahren herausgearbeitet werden. Es bleiben immer Irrtümer, Zweifel und Unkenntnisse. Diese sind auch hinnehmbar 170. Hinnehmbarkeit ergibt sich zwingend schon aus der Begrenztheit der menschlichen Aufnahmefähigkeit. Auch braucht ganz offensichtlich nicht Gegenstand der Wahrheitserforschung zu sein, was weder Gegenstand der prozessualnoch der materiell-strafrechtlichen Beurteilung von Strafbarkeit zu sein braucht. Zweck des Prozesses ist demnach nicht allein, wie auch Gusy herausstellt, die Wahrheitsfindung durch Herstellung von Kommunikation im Prozess, sondern mindestens ebenso durch Begrenzung von Kommunikation auf das Erhebliche 171. Dennoch wird Wahrheit zu Recht als ein das Effektivitätsprinzip begleitender Topos genannt. Das ist praktisch auch leicht nachvollziehbar. Bei der Herbeiführung eines Verfahrensabschlusses hat Effektivität „wahrheitssichernde Funktion“. Die Suche nach Wahrheit darf nicht unnötig lange dauern. Wahrheit leidet erwiesenermaßen unter „Erosionsprozessen“ 172. Der effektive Abschluss muss nicht unbedingt Lücken in der Sachverhaltsaufklärung klaffen lassen, deren Schließung für eine Entscheidung geboten und erforderlich wäre. Funktionsfähigkeit kann die Lücken auch vermeiden helfen. Beschuldigter, Opfer und Zeugen können sich oft besser an das den Tatvorwurf begründende Verhalten erinnern, wenn die Ermittlungen zügig vorankommen und schneller abgeschlossen werden. Aber auch daraus ergibt sich noch kein zwingendes Argument für einen bestimmten, hohen Rang von Effektivität. Die Verbindung zur Wahrheitssicherung ist ein immer zu beachtender Ausgangspunkt für die allgemeine, von niemandem bestrittene Anerkennung von Effektivität, sei es im formellen oder im materiellen Recht. Wahrheit gewährleistet zwar, dass gerade die gefällte Entscheidung und keine andere die richtigere ist. Das hat im Rechtsstaat auch ganz erhebliche Bedeutung. Letzten Endes geht es aber im Verfahren immer um Wahrheit: in einem „gerechten“ Verfahren oder einem Verfahren, das die Beschuldigteninteressen um der Wahrheit willen nur rudimentär beachtet 173. Die Suche nach Wahrheit ist somit 169 Vgl. wieder BVerfGE 77, 65, 76 („Beschlagnahme selbstrecherchierten Filmmaterials“); 80, 367, 378 („2. Tagebuchentscheidung“), und allgemein H.-L. Günther, GA 1978, 193, 200, und auch Müller-Dietz, ZEE 15 (1971), 257, 261. 170 Nach BGHSt 14, 358, 365 („heimliche Tonbandaufnahme als unzulässiges Beweismittel“), sowie BGHSt 31, 304, 309 („rechtswidrige Aufzeichnung eines Telefongesprächs“), gibt es keinen Grundsatz dahingehend, dass die Wahrheit um jeden Preis kenntlich gemacht werden müsste; so auch Müller-Dietz, ZEE 15 (1971), 257, 261; siehe zur rechtstheoretischen Fragestellung und in diesem Zusammenhang zur „Dogmatik als Reduktion von Komplexität“ Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß (1980), 65, 66f., 72 ff. 171 Gusy, StV 2002, 153, 155. 172 Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 79. 173 Ignor, Jura 1994, 238, 240, gibt – im Zusammenhang zur Funktionstüchtigkeit – zu Recht zu bedenken, dass die Ermittlung der Wahrheit schon im Inquisitionsprozess im Mittelpunkt der Verfahrensziele stand. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Eb. Schmidt, Justitia

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kein spezifischer Beleg für Rechtsstaatlichkeit. Das „Konstrukt Wahrheit“ hat im Prozess nur relative Wertigkeit. Die StPO muss vor dem Hintergrund der Rechte des Verdächtigten aus rechtsstaatlichen Erwägungen Erkenntnislücken vorhalten 174. Der rechtsstaatliche Prozess filtert die objektive Wahrheit. Es ist nicht immer das die wirkliche materielle Wahrheit, was sich im Prozess durchsetzt. Das gilt für den effektiven wie für den ineffektiven Prozess. Damit schließt sich der Kreis: Das Problem der Ausgestaltung des Verfahrens zur Wahrheitsermittlung ist eben nicht konkret ein Effektivitätsproblem, sondern vielmehr ein umfassendes Problem der Beachtung aller Interessen insgesamt. Gewonnen ist also auch mit der Verbindung von Effektivität und Wahrheit kaum etwas. Es ist so lange nichts gewonnen, bis nicht konkret mit Argumenten nachgewiesen ist, inwiefern im Verfahren eine Effektivitätsregelung wahrheitsfördernd wirkt, ohne dass dadurch Beschuldigteninteressen unzulässig beeinträchtigt werden. Effektivität wird also als Legitimationsbasis des § 127 b StPO nicht wesentlich gehaltvoller, indem ein Bezug zur Wahrheitsfindung im Prozess hergestellt wird. Der Zusammenhang zwischen Funktionstüchtigkeit und Wahrheit macht den Effektivitätsgrundsatz nicht aus sich heraus zu einem fest ausgebauten und in der Verfassung sowie dem Prozessrecht fest verankerten Prinzip. IV. Zusammenfassendes Urteil über den Stellenwert der Funktionstüchtigkeit und Konsequenzen für die weitere Prüfung der Rechtsstaatlichkeit Effektivität spielt in der Gesetzesentwicklung und Gesetzgebung insgesamt eine sehr gewichtige Rolle. In sämtlichen Bereichen des Verfahrens wird der Ruf nach Effektivität laut – auch zu Lasten von Beschuldigteninteressen. Der Gesetzgeber hat § 127 b StPO wesentlich mit einer beabsichtigten Steigerung der Funktionstüchtigkeit durch die Möglichkeit der Inhaft- und Festnahme des Beschuldigten begründet. Eine klar bestimmbare Positivierung von einer über ein Minimum hinausgehenden Effektivität im Verfassungsrecht fehlt indes. Mit anderen Worten: Wenngleich ein völliger Ausschluss aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht diskutabel ist, fehlt eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für Funktionstüchtigkeit als Maxime für die optimierte Ausgestaltung des Prozessrechts. Somit fehlt auch eine konkrete verfassungsrechtliche Aufwertung des § 127 b StPO aufgrund von Effektivitätserwägungen. fundamentum regnorum, Schriften der Süddeutschen Juristen-Zeitung (1947), S.75, 80 ff., geschilderten „Stationen“ des Kampfes zwischen „Gerechtigkeit“ und „politischer Zweckmäßigkeit“ ab dem 16. Jahrhundert. Nach Eb. Schmidt, a. a. O. S. 81, wurde etwa das „peinliche“ Strafensystem „vom damaligen Menschen auch nicht als untragbar, unwürdig und ungerecht empfunden (...)“; es war „mit dem was als gerecht gefühlt und gemeint wurde, durchaus in Einklang gebracht“. 174 Zu denken ist etwa an – je nach Standpunkt – nicht selten „ineffektive“ Beweisverwertungsverbote aufgrund § 136 a StPO. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 60, und Wolter, in: FS-Roxin (2001), S. 1141, 1151.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

§ 127 b StPO steht vermeintlich schon allein durch den Effektivitätsansatz unmittelbar in Verbindung zur Rechtsstaatsgarantie des Art. 20 Abs. 3 GG. Denn Effektivität hat eine ganz grundsätzliche rechtsstaatliche Berechtigung. Ohne jede Effektivität wäre ein rechtsstaatliches Strafverfahren nicht möglich. Daher lässt sich abstrakt leicht die Rechtmäßigkeit von Eingriffen in Beschuldigteninteressen behaupten. Gleichzeitig lässt sich abstrakt jedes Beschuldigteninteresse aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. Eine „Pervertierung“ ergibt sich allein daraus noch nicht. Der Legitimationsansatz, Staatsanwaltschaften und Gerichte zu vermehrter Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu bewegen, ist also nicht, wie Hellmann schreibt, „ohne daß es einer Erläuterung bedarf, grob verfassungswidrig“ 175. Denn Effektivität kann auch dem Beschuldigten dienlich sein. Auch stehen mit der Unschuldsvermutung, dem Recht auf ein faires Verfahren und insbesondere dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffes Rechtsstaatskomponenten zur Verfügung, die es bei der Ableitung von Effektivität zu Lasten der Beschuldigteninteressen aus dem Rechtsstaatsprinzip zwingend zu beachten gilt. Durch diese Garantien ist der Eingriff in Rechte des Beschuldigten durch Effektivität seinerseits von Fall zu Fall in rechtsstaatlichem Sinne begrenzbar. Die Begrenzung ist freilich von vornherein weiter und auch in gewissem Sinne systematisch intransparenter gezogen, je näher der Effektivitätsgrundsatz zu Lasten von Beschuldigtenrechten an das Rechtsstaatsprinzip rückt. Der Anreiz, auf eine zügige Hauptverhandlung zu achten, ist folglich alles andere als „unbedenklich“ 176, wenn eine Regelung, die gerade das bieten soll, weit in Beschuldigteninteressen eingreift. Die „verfassungsrechtliche Systemadäquanz“ des § 127 b StPO ist also umso deutlicher in Zweifel zu ziehen, je härter der Eingriff in Beschuldigteninteressen ist. Problematisch, wenn nicht in gewisser Hinsicht gefährlich, ist die Betonung einer Verbindung von Funktionalität mit Gerechtigkeit oder mit Rechtsfrieden sowie die Überbetonung von Wahrheitsfindung als Prozessziel. Die Begründung zu § 127 b StPO 177 lehnt sich deutlich an Rechtsfrieden an, wenn mit der „Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“ und mit dem „Vertrauen in unseren Rechtsstaat“ argumentiert wird. Durch die Aufwartung mit den allgemeinen Verfahrenszielen Gerechtigkeit und Wahrheit soll Effektivität ein hoher Stellenwert gegeben werden 178. Jede damit geführte und darauf aufbauende Argumentation wird jedoch politisch. Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146. Grasberger, GA 1998, 530, 532. 177 BT-Drucksache 13/1276, S. 3. 178 Vgl. aus der Lit. etwa Schlüchter, in: Wolter (Hrsg.), Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 205, 214 ff., im Zusammenhang mit dem „Wert der Form im Strafprozeß“. Ihre Überlegungen führen – wenn auch unter ausdrücklicher Anerkennung der grundlegenden Kritik von Hassemer, StV 1982, 275, 277 ff., am Prinzip der Funktionstüchtigkeit – zu der klaren Feststellung, dass die Form im Strafprozess kein Selbstzweck sei, sondern die Aufgabe habe, die Prozessziele „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“ sowie „Rechtssicherheit“ miteinander zu harmonisieren. Davon ausgehend fordert Schlüchter a. a. O. den Blickwechsel vom Formalismus in Richtung zur Funktionalität. Siehe auch Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 3. 175 176

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Sie wird eher vage, als dass die Legitimation verfassungsrechtlich gefestigt würde. Es lässt sich damit kein nachvollziehbar hoher Stellenwert im Verhältnis zwischen Allgemein- und Beschuldigteninteressen rechtfertigen. Gerechtigkeit und Rechtsfrieden sind – für sich betrachtet – keine operationalisierbaren Werte. Die Begriffe sind von zu großer Abstraktionshöhe, um sie für die Legitimation von Effektivität tatsächlich direkt fruchtbar machen zu können. Rechtsfrieden und Gerechtigkeit sind zwar im Rechtssystem keine überflüssigen Topoi. Es sind – mit Tidemann gesprochen – auch verfassungsrechtliche Güter 179. Sie sind jedoch keine Werte, mit denen sich Verfahrens- und Normzwecke objektiv-argumentativ beschreiben lassen. Limbach hat Recht, wenn sie den Verweis auf die Verfahrensziele zur Begründung von Effektivität einen „Kunstgriff“ nennt, der die Auskunft schuldig bleibt, ob, wann und wie mitunter gegenläufige Postulate auszutarieren sind 180. Die inhaltliche Leere der Argumentation manifestiert sich, je inniger die Verfahrensziele als Argumente präsentiert sind. Hassemer hat im Zusammenhang zur Effektivität eine wesentliche Konstante kriminalpolitischer Theorien pointiert herausgearbeitet 181: Es kann nicht ausreichen, für die Strafverfolgungsorgane geltende Grundsätze – etwa weil sie verfassungsrechtlich verankert sind – einfach hinzunehmen, an ihnen die Grenzen von Verbrechensbekämpfung zu markieren und sie letztlich als restriktive Bedingungen „effektiver“ Verbrechensverfolgung zu tolerieren. Mit der wachsenden Missachtung bindender Grundsätze entfällt, so folgert Hassemer 182 mit Recht, die Legitimation der Strafrechtspflege. Genauso entfällt die Legitimation des § 127 b StPO als Bestandteil davon. Effektivität ist keine zweckorientierte Stütze des § 127 b StPO, nur weil sie im Umfeld von Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Wahrheit platziert wird. Die Qualifizierung der Norm als effektiv und damit als gerecht, rechtsfriedensichernd und wahrheitsfördernd in dem Sinne hinzunehmen, dass damit ihre feste verfassungsrechtliche Legitimation begründet ist, bedeutete die Missachtung greifbarer grundgesetzlicher Gewährleistungen. Die Wirkung der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat ist ein unbestrittener Grundsatz im Rechtsstaat. Die Grundrechte fordern eine feste verfassungsrechtliche Verankerung und stellen die einer Haft- und Festnahmenorm in Frage, wenn die Interessen des Beschuldigten schwach beachtet sind. Näher auf § 127 b StPO konkretisiert heißt das: Es kann nicht im Sinne rechtsstaatlicher Ordnung sein, der bloßen Betonung, § 127 b StPO diene über den Grundsatz der Effizienz den übergeordneten Verfahrenszielen, auch nur annähernd entscheidende Beachtung zu geben; der Hervorhebung von Gerechtigkeit und Rechtsfrieden, einer letztlich unerreichbaren Vollkommenheit also, kann in der Abwägung von Interessen und Postulaten keineswegs die Bedeutung greifbarer Argumente beigemessen werden. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 29. Limbach, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), 20. Strafverteidigertag (1996), S. 35, 41. 181 Hassemer, in: FS-Lange (1976), S. 501, 518. 182 Hassemer, in: FS-Lange (1976), S. 501, 519. 179 180

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Am ehesten nachweisbar ist die unmittelbare Relevanz von Effizienz sicher noch für das Verfahrensziel „Wahrheitsfindung“. Wahrheitsfindung hängt mit Erinnern zusammen. Ineffektivität als hinausgezögerte Wahrheitserforschung erschwert die Erinnerung an bestimmte, verdachts- oder auch strafzumessungsrelevante Umstände. Gerade die Verwirklichung der Wahrheitsforschung nimmt in § 127 b StPO jedoch eher eine schwache Stellung ein. § 127 b StPO soll ausweislich der Gesetzesbegründung in den Fällen Anwendung finden, in denen „kein weiterer Aufklärungsbedarf mehr besteht“ 183. Durch den Verweis in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO auf § 417 StPO ist vorgegeben, dass zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens der Sachverhalt einfach und die Beweislage klar sein müssen. Davon abgesehen, sagt die Verbindung zur Wahrheit auch nichts Entscheidendes über die Legitimation von Effektivität und damit einer Effektivitätsnorm aus 184. Jede Beeinträchtigung von Beschuldigteninteressen, sei es aus Effektivitäts- oder auch aus sonstigen Erwägungen, kann letztendlich immer im Zusammenspiel mit Wahrheit, wie auch mit Rechtsfrieden und Gerechtigkeit als den „hohen Zielen des Verfahrens“, gesehen werden. Annähernd jede Beeinträchtigung von Beschuldigteninteressen kann allgemeingültig mit einem Hinweis auf Vertrauen und rechtstreuer Erwartung zu legitimieren sein, ohne dass damit tatsächlich etwas Fundiertes über die tatsächliche Rechtsstaatlichkeit ausgesagt ist. Aus der Verbindung zu diesen allgemeinen Begriffen drückt sich ein zu hoher Stellenwert der Effektivität aus. Durch den formal hochwertigen Kontext wird konkret die Gefahr begründet, dass Effektivität ein zu hoher Stellenwert zuerkannt wird – ein Wert, der von der Verfassung nicht vorgesehen ist. „Die viel beschworene Formel von der Effektivität der Strafrechtspflege hat eine“ – wie Jung treffend formuliert – „verführerische Kraft“ 185. Die Kraft rührt nicht von einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerung her. Allein ein vager Kontext gibt sie: im Wesentlichen aus Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Wahrheit. Effektivität rückt immer näher in die Richtung eines bedeutenden Verfahrenszieles an sich, je mehr sie in Verbindung zu den hohen Zielen des Verfahrens gebracht ist. Das erst macht den Grundsatz attraktiv. Dem kann in der argumentativen Auseinandersetzung von vornherein nur noch wenig entgegengesetzt werden. Argumente gegen Effektivität richten sich vermeintlich leicht gegen Gemeinschaftsinteressen an Wahrheit, Rechtsfrieden und Gerechtigkeit. Sie lassen sich – real existent – schnell fehlinterpretieren. Argumente gegen § 127 b StPO richten sich demnach, bedingt durch den Effektivitätsansatz, leicht gegen diese Verfahrensziele. Das lässt diese Argumente im Rahmen der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 127 b StPO grundsätzlich in trüberem Licht erscheinen als den Effektivitätsgedanken. Die abstrakten Begriffe Vgl. wieder BT-Drucksache 13/2576, S. 3. Siehe i. d. S. auch schon Jung, MschrKrim 1974, 258, 265, zu BVerfGE 33, 367, 367 ff. („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“), und m. w. N. auf Müller-Dietz, ZEE 1971, 257, 261. 185 Jung, GA 2002, 65, 73. 183 184

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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sind zwar Beschreibungen für die Ziele des Verfahrens, sie dürfen jedoch nicht das Passepartout für die Rechtfertigung eines effektiven Weges der Entscheidungsfindung sein. Um diese Gefahren zu vermeiden, muss sich der Effektivitätsansatz an konkreten Auswirkungen auf den Beschuldigten messen lassen. Das muss auch für die Untersuchung des § 127 b StPO gelten. Bei der Abwägung der Interessen innerhalb des Spannungsfeldes von Individual- und Allgemeininteressen erscheint eine Gleichsetzung im Ausgangspunkt fragwürdig. Gleichsetzung muss nicht vorteilhaft sein, bloß weil sie allen Richtungen Tür und Tor offen lässt. Sie lässt auch den Weg in weniger rechtsstaatliche und weniger brauchbare Richtungen offen. Gleichheit kann auch als denkbar ungünstige, da zu indifferente Ausgangslage anzusehen sein, „Vertrauen der Bürger“ und „Akzeptanz der Bevölkerung“ zu verwirklichen. Die zumindest latente Gefahr der „Schwächung des Vertrauens der Bevölkerung“ in den Rechtsstaat ist gegeben, wenn sich im Ausgangspunkt niemand auch nur annähernd auf eine Tendenz einstellen kann. Gleichsetzung bringt Unklarheit über die Richtung, in die die Entscheidung grundsätzlich gehen sollte, und über die Tendenz, die durch Argumente gestärkt oder. umgekehrt werden müsste, um die Entscheidung eines Grundrechtseingriffs in Beschuldigteninteressen vor dem Hintergrund der Verfassung zu rechtfertigen. Die durch Gleichordnung hervorgerufenen Gefahren der Orientierungslosigkeit und Unvorhersehbarkeit führen durch die Ableitung von Funktionstüchtigkeit aus der Rechtsstaatsgarantie schnell zur Beliebigkeit 186. Beliebigkeit, Willkür eben, gilt es im Strafverfahren gerade auszuklammern oder zumindest zu vermeiden. Vor dem Hintergrund des Grundgesetzes und der Intention der Menschenrechte ist es gut vertretbar, eine Wertigkeit zugunsten der Individualinteressen des Beschuldigten im Verfahren anzunehmen. Der Stellenwert, der vor staatlichem – nicht die potentiellen Opfer vor privatem – Handeln schützenden, individuellen Abwehrrechte in der Verfassung, spricht für eine Tendenz zugunsten der Individualinteressen. Ebenso ist die allgemeine Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsprinzips Indiz dafür. Auf abstrakt-genereller Ebene gewährt es maximalen Grundrechtsschutz. Die Garantien der Menschenrechtskonvention, wie die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK, stützen den Ausgangspunkt: Individualität steht tendenziell grundlegend vor Generalität; demnach stehen auch Beschuldigteninteressen über Allgemeininteressen und demnach auch Beschuldigteninteressen über Effektivität als ein Allgemeininteresse oder im Rahmen der Verwirklichung von solchen. Diese Orientierung ist auch der Maßstab für die Bestimmung des Stellenwertes von Effektivität als Legitimationsansatz für § 127 b StPO. Effektivität ist nicht die Richtschnur, soweit es um die umfassende Beurteilung der Rechtsstaatlichkeit des 186

366.

I. d. S. Jung, Sanktionensysteme (1992), S.77. Siehe auch wieder Rieß, StraFo 2000, 364,

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

§127 b StPO im Gefüge verfassungsrechtlicher Gewährleistungen geht. Will man den Allgemeininteressen durch Einführung einer bestimmten Norm, die in Beschuldigteninteressen eingreift, wie hier durch § 127 b StPO, in verfassungsgemäßer – nicht politisch gewünschter – Weise Rechnung tragen, so muss man gegen den individualschützenden Trend des Grundgesetzes erhebliche Argumente ins Feld führen. Folgt man dem, gibt es a priori keinen unmittelbaren verfassungsmäßigen Anspruch im Sinne der „Erwartung der rechtstreuen Bevölkerung“, dass der „Tat die Strafe auf den Fuß“ folgt. Er ergibt sich auch nicht aus übergeordneten Verfahrenszielen, genausowenig wie aus einer aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten umfassenden „Effektivitäts-Legitimation“. Effektivität darf über die Minimumebene im Sinne einer überhaupt funktionierenden Strafverfolgung hinaus, gegenüber verfassungsrechtlich gesicherten und anerkannten Beschuldigteninteressen nur ein untergewichtiger Legitimationsansatz sein. Die individuelle Ebene muss bei abstrakt-genereller Überprüfung deutlich zur Geltung kommen. Es ist konkret zu fragen, welche Zwecke die Norm verfolgt und welche Auswirkungen sie hat. Einerseits sind die Auswirkungen relevant, die die Norm in Richtung der Verwirklichung von Allgemeininteressen hat. Andererseits ist der Rechtsgutseingriff in die Rechte des Beschuldigten erheblich. Auf abstraktgenereller Ebene ist der Stellenwert von Funktionstüchtigkeit verfassungsrechtlich als nicht mehr und nicht weniger bedeutend anzusehen als die durch das Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Pflicht des Staates, ein Mindestmaß an Effektivität aufrecht zu erhalten. Was bei der konkreten Anwendung einer Norm das Verfahren effektiviert, ist als Abwägungsbelang im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beachtlich. Dieser ist aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet. Das heißt, Effektivität ist als Allgemeininteresse untergeordnet zu würdigen. Der „legitime Anspruch“ gerade auf eine „rasche Bestrafung“, auf den Schlüchter/Fülber/Putzke ihre Entscheidung über die Legitimation und Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO wesentlich aufbauen 187, hat allenfalls untergeordnete Bedeutung. Er muss sich im Feld von Für und Wider konkret behaupten. Im Rahmen der Abwägung bilden schwerlich begreifbare Begriffe keine zählbaren Argumente.

D. Die Sicherung der Anwesenheit I. Anwesenheitsrecht und Anwesenheitspflicht Wie Effektivitätsaspekte im Rahmen der Untersuchung zur Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO zu gewichten sind, ist mit den bisherigen Bemerkungen deutlich gemacht. Als weitere mögliche Legitimation des § 127 b StPO kommt die Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten in Betracht. Diese macht, so meint etwa 187

Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 122.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

273

Boujong, die Hauptverhandlungshaft „systematisch (zu) ein(em) Fall der Untersuchungshaft“ 188. Unbestritten hat die Sicherung der Anwesenheit für alle Haftgründe der §§ 112, 112 a StPO, wie auch für die Festnahmerechte nach § 127 StPO, Bedeutung 189. Das gilt offenbar auch für § 127 b StPO, indem ein Fernbleiben im Sinne des Abs. 1 Nr. 2 verhindert werden soll. Prozessual ist die persönliche Anwesenheit des Angeklagten eine grundsätzliche Voraussetzung zur Durchführung der Hauptverhandlung. Dies bestimmt § 230 Abs. 1 StPO, in dem es heißt: „Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt“ 190. Fraglich ist dennoch, wie sich die Anwesenheit des Beschuldigten verfassungsrechtlich einordnen lässt. Anwesenheit ist – zumal wenn sie zwanghaft durchgesetzt wird – durchaus zweischneidig. Einerseits ergibt sich ein Recht des Angeklagten, an einem gegen ihn gerichteten Strafprozess teilzunehmen. Das persönliche Verfolgen des Verfahrens steht in seinem Interesse, wenn er feststellen will, was gegen ihn vorgebracht wird 191. So kann der Angeklagte seine Verteidigung sachnäher vorbereiten und darlegen 192. Durch Anwesenheit kann der Angeklagte unmittelbar überprüfen, ob die Prozessmaxime eingehalten sind und der Verlauf der Verhandlung auch im Übrigen dem Gesetz entspricht 193. Anwesenheit im Strafverfahren hat eine weitläufige Bedeutung. Insbesondere das in § 261 StPO und § 264 StPO zum Ausdruck kommende Prinzip der Mündlichkeit und der in § 250 StPO deutlich werdende Unmittelbarkeitsgrundsatz wären ohne das Recht auf Anwesenheit unterlaufen. Entscheidungsgrundlage des Gerichts kann grundsätzlich nur sein, was in der Hauptverhandlung mündlich vorgetragen und erörtert wurde. Personen müssen grundsätzlich in der Hauptverhandlung vernommen werden 194. Für die Anwesenheit sprechen auch ökonomische Gesichtspunkte. Man denke nur an die in der Praxis nicht seltenen Änderungen der Sach- oder Rechtslage, die Hinweise nach § 265 StPO notwendig machen 195. Diese gehen dem anwesenden Angeklagten naturgemäß am effektivsten zu. KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 14. Siehe SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), Vor § 112 Rdn. 1; Hetzer, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 47, 48. 190 Zu den Ausnahmen vgl. etwa §§ 247, 231 b StPO, §§ 232, 231 a StPO, § 231 Abs. 2 StPO, §§ 233, 231 c, 247 S. 3 StPO und §§ 234, 234 a StPO; zur Anwesenheitspflicht bei der Vernehmung des Beschuldigten siehe § 163 a Abs. 3 S. 1 StPO. 191 Vgl. § 243 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 1 StPO. 192 Siehe nur BVerfGE 57, 250, 274 („Verfassungsmäßigkeit von § 99 Abs. 1 Nr. 1 StPO“). 193 HK-Julius, StPO (2001), § 230 Rdn. 1 m. w. N. 194 Vgl. auch § 243 Abs. 2 S. 2 StPO. Die Feststellung von Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem (1978), S. 75, dass das Gebot der Mündlichkeit zum persönlichen Kontakt zwinge, kann heute jedoch – etwa unter dem Eindruck des § 58 a StPO – nur mit stärkerer Einschränkung aufrecht erhalten werden; vgl. in diesem Zusammenhang auch Jung, GA 1998, 313, 325, der von einer möglichen „Verfremdungsgefahr durch mediale Aufzeichnungen“ spricht. 195 Darauf verweist Krüger, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens (1989), S. 87, 91 f. 188 189

18 Giring

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Andererseits bestimmt § 230 Abs. 1 StPO eine „Pflicht“ 196. Vor dem Hintergrund, dass niemand verpflichtet werden kann, durch aktives Handeln an seiner Strafverfolgung mitzuwirken 197, gliedert sich die Pflicht von vornherein nicht so deutlich in das Gefüge eines rechtsstaatlichen Verfahrens wie das gerade skizzierte Recht. Somit ist auch die verfassungsrechtliche Herleitung der Anwesenheitspflicht nicht einfach zu vollziehen. Dennoch wird auch die Anwesenheitspflicht prinzipiell als verfassungsgemäß anerkannt 198. Als verfassungsrechtliche Grundlagen werden Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 1 GG erkannt. Nach überwiegender Ansicht soll der Pflichtige im Sinne des § 230 Abs. 1 StPO auf sein Anwesenheitsrecht „nicht verzichten“ können 199. Danach wird in den Fällen des § 232 Abs. 1 StPO nicht die Anwesenheitspflicht nach § 230 Abs. 1 StPO aufgehoben, sondern lediglich auf Zwangsmaßnahmen nach § 230 Abs. 2 StPO verzichtet. Die Pflicht kann sich, so führt etwa Rieß aus, als fürsorgerische und damit im Kern sozialstaatliche Maßnahme des Gesetzgebers rechtfertigen, die dem Beschuldigten den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sichern und ihn davor bewahren soll, sich vorzeitig seiner Verteidigungsmöglichkeiten zu begeben 200. Krüger und beispielsweise Tolksdorf sehen sogar eine Verbindung zwischen der „Anwesenheitspflicht“ und der „optimalen Form“ des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG 201. 196 Die Terminologie variiert. Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 80, nennt die Pflicht zur Anwesenheit „Sonderpflicht“ und „Sozialpflicht“; Staber, Rechtliche Probleme der Untersuchungshaft (1962), S. 88, schreibt von einer „Pflicht, das Verfahren zu erdulden“. Näher zu den Einstufungen „Pflicht“, „Last“, „Obliegenheit“ vgl. Paeffgen, a. a. O. S. 83 ff. Eine gelungene Zusammenfassung über das „Wesen der Rechtspflicht“ im Strafrecht aus philosophischer Sicht findet sich bei Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 210 ff. („Moralpflicht“, „Rechtspflicht“, „-gebundenheit“). 197 Das Nemo tenetur-Prinzip lässt sich aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 GG und aus dem Rechtsstaatsprinzip herleiten; vgl. näher Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 72; Rogall, Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst (1977), S. 54. Zu den Belastungen des Beschuldigten durch Anwesenheit vgl. Krüger, in: Jung/ Müller-Dietz (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens (1989), S. 87, 90 f. 198 Vgl. Rogall, Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst (1977), S. 149 f., 169; K. Schäfer, in: FS-Dünnebier (1982), S. 11, 11 ff. m. z. w. N. in FN 1. Eine tiefere Auseinandersetzung mit der Anwesenheitspflicht findet statt bei Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 81 ff. m. w. N. Die Wahl des Begriffes „Pflicht“ ist vertretbar, spezifiziert man „Pflicht“ als „verfassungsgemäß“ oder „verfassungswidrig“. 199 Vgl. etwa BGH, NJW 1976, 1108 („zu den Voraussetzungen des § 338 Abs. 5 StPO“); BGHSt 25, 165, 166 f. („Hinweis auf Möglichkeit, in Abwesenheit zu verhandeln“); MeyerGoßner, StPO (2003), § 232 Rdn. 1. 200 Vgl. Rieß, JZ 1975, 265, 267 f., der meint, dass die „Anwesenheitspflicht in erster Linie gesetzlicher Ausdruck prozessualer Fürsorge“ sei; siehe allgemein kritisch zu einer gerichtlichen Fürsorgepflicht Jung, in: Rüfner (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog II. (1984), S. 107, 121 f., und Egon Müller, in: Rüfner (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog II. (1984), S.123, 129, der zumindest die eigenständige Existenzberechtigung eines solchen Grundsatzes verneint. Siehe darüber hinaus zur Anwesenheitspflicht auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 230 Rdn. 2 m. w. N., sowie Maatz, DRiZ 1991, 200, 206 f.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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201

Demnach ist auch der Zweck einer Regelung, die zwangsweise zur Anwesenheit verpflichtet, ein grundsätzlich verfassungsrechtlich legitimierter Zweck. Übertragen auf § 127 b StPO, ist die verfassungsrechtliche Verankerung der Sicherung der Anwesenheit – zumindest auf der Linie etwa von Rieß, Krüger und Tolksdorf – das Rechts- und Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG oder das Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Nach anderer Ansicht muss die Fürsorgepflicht des Staates grundsätzlich hinter der Autonomie des Angeklagten zurücktreten. Damit wird dem Recht auf rechtliches Gehör im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG auch das Recht auf Nichtausübung zugesprochen. Das ergebe sich, so heißt es beispielsweise nach Stein und Julius, letztendlich aus Art. 1 Abs. 1 GG 202. Der Angeklagte könne von Verfassung wegen grundsätzlich selbst darüber entscheiden, ob er seine Verteidigungsmöglichkeiten wahrnehmen wolle oder nicht, und ebenso auch, ob er an- oder abwesend sein möchte. Im Sinne einer „praktischen Konkordanz“ könne der Betroffene den Verzicht gegen die Gefahr des Verspielens von Verteidigerchancen grundsätzlich gegeneinander abwägen 203. Dies müsse zumindest für die Ermittlung der dem Angeklagten günstigen Umstände gelten. Das Recht zum Verzicht müsse so lange zugestanden werden, wie nicht das „Interesse der Allgemeinheit an der Wahrheitserforschung“ die Anwesenheit des Betroffenen erfordere 204. Die Betonung der Autonomie des Angeklagten in diesem Kontext führt zu einer erweiterten Betrachtung der §§ 232, 233 StPO. Sie bringt letztlich die verfassungsrechtliche Legitimation zur zwangsweisen Durchsetzung von Anwesenheit – wenn nicht ins Wanken – so zumindest doch etwas in Schieflage. Je leichter nach der Verfassung auf Anwesenheit verzichtet werden kann, desto weniger Wert legt sie folglich auf die zwangsweise Durchsetzung der Anwesenheit. Fülber wiederum gründet seine ablehnende Haltung gegenüber einem Wahlrecht des Beschuldigten darauf, dass dieser sich dann dem „spezialpräventiv wirksamen ‚Erlebnis‘ einer Hauptverhandlung“ entzöge; zugleich würde die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren nicht unerheblich entwertet 205. Denn der – wenn auch lediglich situative – persönliche Eindruck von der Person des Beschuldigten bilde die „entscheidende Voraussetzung“ zur Schuldbeurteilung im Sinne des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB 206. 201 Krüger, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens (1989), S. 87, 90, betont i. d. S, dass die Anwesenheitspflicht „den zentralen Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs in optimaler Weise verwirklicht“; siehe auch KK-Tolksdorf, StPO (2003), § 230 Rdn. 1. 202 Für eine „Autonomielösung“ ist etwa Stein, ZStW 97 (1985), 302, 313 f., 316; vgl. hierzu auch Julius, GA 1992, 295, 297 ff., und HK-Julius, StPO (2001), § 230 Rdn. 5. 203 Stein, ZStW 97 (1985), 303, 316, der dies bildlich mit der Abwägung, an einer gefährlichen Sportart teilzunehmen und der damit verbundenen Gefahr von Verletzungen vergleicht. 204 Stein, ZStW 97 (1985), 302, 314 ff., 320 ff., 330. 205 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 89 [Hervorhebung im Original]. 206 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 89.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Mit dieser Meinung findet sich Fülber zumindest, was den Aspekt der Wahrheitsermittlung im Verfahren angeht, in guter Gesellschaft. Die Ansicht, dass durch die ständige Anwesenheit des Angeklagten ein höheres Maß an Zuverlässigkeit bei der Wahrheitsfindung erreicht werden kann, ist weit verbreitet. Da das Gericht einen direkten Eindruck von der Person des Verdächtigen haben kann, wird „sicherere Wahrheitsfindung“ als ein tragendes Argument für die Begründung einer Anwesenheitspflicht genannt 207. In diesem Zusammenhang wird schließlich auch auf „ein Recht der Allgemeinheit“ verwiesen, „daß niemand zu Unrecht verurteilt werde“ 208. Die Rechtsordnung ziehe den Verzicht auf Aburteilung grundsätzlich dem Risiko einer Fehlverurteilung bei Abwesenheit vor 209. All dies sind bestreitbare Ansichten. Aber auch ohne sich mit den Überlegungen an dieser Stelle im Einzelnen auseinandergesetzt zu haben, lässt sich eines mit Verlässlichkeit sagen: Die Anwesenheit des Angeklagten dient sowohl seinen Interessen als auch denen des Opfers und der Strafverfolgungsorgane an der Durchführung des Verfahrens. Konkrete Schnittstelle der Interessen im Prozess ist zunächst – und dies recht deutlich – die Wahrheitserforschung. II. Anwesenheit und Wahrheitserforschung Schon die Motive des Gesetzgebers zu § 230 StPO weisen darauf hin, dass die Wahrheit zu erforschen, am zuverlässigsten möglich ist, wenn das Gericht den Angeklagten „vor sich gesehen und mit seiner Vertheidigung bezw. seinem Geständniß gehört hat“ 210. Die Aussagen, die Gesten und die Mimik des Angeklagten selbst können als Beweistatsachen im Sinne des § 261 StPO angesehen werden. Der Angeklagte kann im Rahmen einer Gegenüberstellung oder einer Begutachtung durch Sachverständige unter Umständen als Beweismittel anzusehen sein 211. Darüber hinaus dient die Anwesenheit dem Angeklagten, seine Interessen betreffend die Wahrheitsfindung vor Gericht wirkungsvoller zu vertreten. Seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG wird Rechnung getragen. Dementsprechend kann er seine Verteidigung im Sinne des Anspruchs auf ein faires Ver207 Vgl. etwa BGHSt 22, 18, 20 („zur zeitweisen Ausschließung des Angeklagten“); 25, 317, 318 („Weigerung des Angeklagten, an einer Ortsbesichtigung teilzunehmen“); siehe auch Wendisch, StV 1990, 166 f., Anm. zu OLG Oldenburg 1989-05-11, 1 Ws 78/89, StV 1990, 165.; und Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1230; anders wohl aber Rieß, JZ 1975, 265, 267, für den der Aufklärung des Sachverhalts gegenüber der Gewährung des rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG „keine gleichrangige Bedeutung“ zukommt. 208 So Grünwald, JZ 1976, 767, 771, der, entgegen Stein, ZStW 97 (1985), 301, 306, die Anwesenheitspflicht nicht „ausschließlich“ auf ein staatliches Interesse bzw. auf das der Allgemeinheit stützt. 209 Vgl. wieder Grünwald, JZ 1976, 767, 771. 210 Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO/1877 (1885), S. 186. 211 Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem (1978), S.89 ff. Daher ist nach Rieß, JZ 1975, 265, 267, ein Verfahren in Abwesenheit nur möglich, wenn Anwesenheit die Wahrheitsfindung und ein geordnetes Verfahren gefährdet.

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fahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips möglichst effektiv ausüben und auf die Wahrheitsfindung Einfluss nehmen. Die Wahrheitssuche wird mitunter erst durch die Anwesenheit des Verdächtigen in bestimmte Bahnen gelenkt. Zwar kann der Anwesende die Wahrheitsermittlung etwa durch fehlerhafte Einlassungen unmittelbar zu behindern versuchen. Dem Gericht stehen jedoch in der Regel durch die Auswertung anderer Beweismittel Möglichkeiten offen, Bedrängungen der Wahrheitssuche seitens des Angeklagten zu erkennen 212. Wertet das Gericht Beweismittel zu Lasten des Angeklagten falsch, hat er als Anwesender grundsätzlich immer die bessere Möglichkeit, diese richtigzustellen, als ein Abwesender. Da nach der Konzeption der StPO die Ergebnisse der Hauptverhandlung für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind 213, kann der Betroffene sowohl „festgefahrene“, nicht der Wahrheit entsprechende Ermittlungsergebnisse, als auch „Überraschungen“ entscheidend erst dann korrigieren, wenn er anwesend ist 214. Daraus ergeben sich weitere Konsequenzen: In den Fällen nämlich, in denen der Beschuldigte wahrscheinlich Beteiligter einer Straftat ist, muss das Verfahrensrecht den Strafverfolgungsbehörden im Sinne der Wahrheitserforschung für jeden Verfahrensabschnitt Möglichkeiten zur Anwesenheitssicherung bereitstellen dürfen. Voraussetzung ist die wahrscheinliche Abwesenheit des Angeklagten. Die Anwesenheit des Verdächtigen steht dann in Zweifel, wenn sein Fernbleiben von der Hauptverhandlung zu befürchten ist. Nicht nur Flucht- und Fluchtgefahr deuten auf ein Ausbleiben und eine grundsätzliche Undurchführbarkeit des Verfahrens hin – auch ein Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO 215. Somit verfolgt der Gesetzgeber des § 127 b StPO mit der Anwesenheitssicherung grundsätzlich einen legitimen Zweck. Der Verweis auf die Wahrheitssuche ist nicht derart pauschal wie im Kontext „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ 216. Anwesenheit hat hier individualschützenden Gehalt, da Wahrheit vor dem Hintergrund der Anwesenheit klarer mit der Verwirklichung von Interessen des Beschuldigten in Verbindung steht. Das Anwesenheitsrecht als ein Recht zur besseren Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und auch des Anspruchs auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK wirkt Vgl. hierzu Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 79, 87. Das gilt unbeachtlich der faktischen Bedeutung des Ermittlungsverfahrens für den Ausgang des Prozesses; vgl. nur Wolter, Strafprozeßreform bis 2007 (1991), S. 35. 214 Siehe auch Julius, GA 1992, 295, 302 f. Die konzeptionelle Bedeutung der Hauptverhandlung wird deutlich hervorgebracht in BVerfGE 39, 156, 167 ff. („Beschränkung der Verteidigerzahl“) m. w. N. 215 AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 9, hält aus Gründen der Anwesenheitsund Wahrheitssicherung lediglich die Haftgründe Flucht, Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr für legitim. Wenn es heißt, dass „darüber hinausgehende Erweiterungen der Gründe für den Haftbefehl nicht gerechtfertigt sind“, spielt er jedoch offenbar lediglich auf eine Illegitimität der Haftgründe der Wiederholungsgefahr und Tatschwere an – und nicht auf § 127 b StPO. 216 s. o. 3. Kap., 1. Abschn. C. III. 3. c). 212 213

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

zu Gunsten des Betroffenen, wenn er auf Fehlentwicklungen im Prozess effektiver aufmerksam machen kann. Anwesenheit stellt sich – anders als vielfach die Funktionstüchtigkeit – nicht gegen den individualschützenden Charakter der Grundund Menschenrechte, sondern ist selbst ein Bestandteil davon. Das muss auch bei einfachen Sachverhalten oder klaren Beweislagen gelten, was Voraussetzung für die Anwendung des § 127 b StPO ist. Dem Beschuldigten wird durch Anwesenheit die effektivere Gelegenheit gegeben, auf Fehlannahmen aufmerksam zu machen. Der generellen Möglichkeit des Verdächtigten, das Verfahren durch Abwesenheit zu sabotieren, soll durch § 127 b StPO begegnet werden. Erschiene es bei einfachen Sach- oder klaren Beweislagen im Sinne des § 417 StPO nicht als zulässige Legitimation, neben der Anwesenheitspflicht auch ihre Sicherung zu normieren, hinge mit Blick auf § 230 Abs. 1 StPO schon das Ob der Durchführung des Verfahrens und damit letztlich auch die Wahrheitsfeststellung einseitig vom Willen des Beschuldigten ab. Andererseits ist unbedingt im Sinn zu behalten, dass Rechte des Angeklagten lediglich verletzt sein können, wenn die Hauptverhandlung ohne ihn durchgeführt wird. Nicht jede Abwesenheit blockiert zwingend die Wahrheitssuche. Zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, des Anspruchs auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, des Rechtsstaatsprinzips oder sogar der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG muss es durch Fernbleiben nicht unbedingt kommen. III. Das nähere Verhältnis von Anwesenheit zu Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG Das Verhältnis zwischen der Sicherung der Anwesenheit als Legitimationsbasis zu den aufgezählten Rechten ist im Einzelnen indifferent. An eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ist zu denken, wenn dem Verdächtigen in seiner Abwesenheit ein Nachteil erwächst, der auch in seiner Anwesenheit als ein solcher anzusehen wäre. Die Menschenwürde des Abwesenden scheint schneller betroffen oder zumindest gefährdeter zu sein als die des Anwesenden. Schließlich wird in gewissem Sinne sichtbar „über den Kopf des Beschuldigten hinweg“ entschieden. Die Menschenwürde ist indessen nicht bereits durch die bloße Tatsache der Abwesenheit an sich betroffen. Abwesenheit mittelbar aufgrund einer folgenden Nichtgewährung rechtlichen Gehörs oder des Rechts auf ein faires Verfahren pauschal als Verstoß gegen die Menschenwürde anzusehen, hieße Anwesenheit als „unantastbar“ einzustufen 217. Das anzunehmen, ist jedoch verfassungsrechtlich nicht angezeigt. Anwesenheit und die dadurch gewährleisteten Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG sind kein notwendiger Kernbestandteil der Menschenwürde. Die mit Anwesenheit verflochtenen Rechte stehen nicht einmal 217 Die Menschenwürde unterliegt keinen (direkten) Beschränkungen; vgl. BVerfGE 75, 369, 380 („Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts durch Kunstfreiheit“).

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in jedem Fall mit der Menschenwürde in Verbindung 218. Das Gesetz trennt zwischen den einzelnen rechtlichen Garantien und Rechtsgrundlagen. Stünde die Anwesenheit nicht zur Disposition, wären gesetzliche Ausnahmen wie § 233 StPO womöglich verfassungswidrig. Demnach ist die Legitimation des § 127 b StPO aus der Anwesenheitssicherung nicht direkt über Art. 103 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 EMRK mit Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG verwurzelt. Die Anwesenheit steht aber unbestreitbar Art. 103 Abs. 1 GG nah. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Befugnis des Angeklagten, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, aus seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG abgeleitet 219. Schließlich kommt in den Materialien zur Strafprozessordnung sogar eine gewisse „Indisponibilität des Anwesenheitsgrundsatzes“ zum Ausdruck. Dort heißt es, dass „in seiner persönlichen Gegenwart und in der ihm damit gegebenen Möglichkeit, jederzeit zu seiner Vertheidigung in den Gang der Hauptverhandlung eintreten zu können, eine Garantie für die Zulässigkeit des Verfahrens zu suchen (ist), welche unter ausdrücklicher Einwilligung des Angeklagten nicht entbehrt werden kann“ 220. Die darauf aufbauende Ansicht, das Anwesenheitsrecht stehe aufgrund der „Fürsorge des Gesetzgebers“ 221 oder aus „spezialpräventiven Gründen“ 222 nicht zur Disposition, ist jedoch problematisch und im Ergebnis abzulehnen. Die Fragwürdigkeit ergibt sich schon im Ansatz durch den im Grundrechtekatalog und in der Zielrichtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zum Ausdruck kommenden Stellenwert der Autonomie des Betroffenen 223. Eine gewisse Absolutheit des Anwesenheitsrechts könnte die Sicherung der Anwesenheit als Legitimation für Zwang zu nahe an eine unabdingbare verfassungsrechtliche Legitimation aus Art. 103 Abs. 1 GG rücken 224. Denkt man dies weiter, besteht die Gefahr, Haft primär als Ausdruck der „Gewährung des Rechts auf Anwesenheit“ und nicht als Eingriff in das Freiheitsrecht des Betroffenen zu sehen. Folge davon ist die Gefahr einer unangemessenen Achtung der Grundrechte des Betroffenen als Schranke gegen staatliche Angriffe auf seine Freiheit. Dass dies nicht sein darf, kommt letztlich auch in den Materialien zum Ausdruck. Bei Hahn heißt es, dass Ausnahmen vom AnwesenVgl. nur BVerfGE 55, 1, 1 ff. („Planfeststellungsverfahren“). Vgl. BVerfGE 41, 246, 249 („Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten“). 220 Vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO/1877 (1885), S. 185. 221 Rieß, JZ 1975, 265, 267 f. 222 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 89. 223 Vgl. gegen eine „aufgedrängte Fürsorge“ (bezogen auf eine notwendige Verteidigung) den Arbeitskreis Strafprozeßreform, Verteidigung (1979), S. 60 f., und konkreter HK-Julius, StPO (2001), § 230 Rdn. 5, wonach der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dafür spreche, dass der Angeklagte im Falle allseitiger Zustimmung autonom über seine Teilhabe entscheiden könne, sofern er – z. B. über Hinweispflichten gem. § 265 StPO – vor überraschenden Entscheidungen geschützt sei. 224 Vergleichbar etwa mit der in BVerfGE 33, 367, 384 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“) vorgenommenen Ableitung der Funktionstüchtigkeit zu Lasten des Beschuldigten aus dem Rechtsstaatsprinzip. 218 219

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heitsgrundsatz angezeigt sind: „Ist nämlich die den Angeklagten erwartende Strafe eine sehr geringfügige, so stellt, wenn sein Aufenthalt vom Orte des zuständigen Gerichts weit entfernt ist, der Zwang zum Erscheinen in der Hauptverhandlung für ihn häufig ein größeres Übel dar, als es die Strafe selbst ist“ 225. Der Gesetzgeber trug mit den Ausnahmen vom Anwesenheitsgrundsatz „Gesuche(n) Angeklagter (Rechnung), daß das Gericht doch von ihrem Erscheinen in der Hauptverhandlung absehen möge“ 226. Das spricht für die mögliche Disponibilität des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG zum Schutz des Angeklagten. Rüping hat demnach Recht, wenn er meint, dass Art. 103 Abs. 1 GG die Gewährung einer Gelegenheit meint, Gehör zu erlangen; die Gewährung einer bloßen Gelegenheit hat zur Folge, dass bei bewusster Nichtausnutzung eine Verletzung des Anspruchs auf Gehör ausscheidet 227. Das rechtsstaatliche Verfahren verlangt nicht die Ausübung der Rechte des Beschuldigten, sondern die Bereitstellung. Die Gefahr der Überbetonung von Haft als „rechtsgewährend“ ist erst durch die Betonung eines möglichen Verzichts des Angeklagten auf die Verwirklichung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG oder auch aus Art. 6 Abs. 1 EMRK gemindert. Seitens der Verfassung steht dem Betroffenen grundsätzlich das Recht auf Nichtausübung von Rechten zu – wie ihm auch die Verfassung nicht notwendig Fernbleiben von der Hauptverhandlung verbietet. Der Rechtsstaat akzeptiert Fernbleiben. Aus diesem Grund ist der Gesetzgeber auch nicht unbedingt gehalten, Anwesenheit sicherzustellen. Ihm ist ein Regelungsspielraum eingeräumt. Auf § 127 b StPO bezogen, verbieten also weder Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, noch Art. 103 Abs. 1 GG, noch Art. 6 Abs. 1 EMRK oder Art. 20 Abs. 3 GG ein eigenmächtiges Fernbleiben des Beschuldigten. Mit deutlicherer Betonung auf den Zwangscharakter des § 127 b StPO gewendet, gebietet weder die „Menschenwürde“, noch eine „Verpflichtung zum rechtlichen Gehör“ noch eine „Verpflichtung zum fairen Verfahren“ eine Haft- und Festnahmeregelung – auch dann nicht, wenn das Fernbleiben noch so sehr zu befürchten ist. Die mit § 127 b StPO zwanghaft durchgesetzte Anwesenheit bedeutet keineswegs in erster Linie die Gewährung von Rechten, die Anwesenheit voraussetzen. Ebenso wenig wie Effektivität zu Lasten des Beschuldigten in erster Linie Gewähr für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens bietet, bietet sie Anwesenheit. Zwang bedeutet für den Grundrechtsträger immer primär die Einschränkung seiner Rechte. IV. Fazit Zusammenfassend lassen sich damit für den Stellenwert von „Sicherung der Anwesenheit“ als Legitimation des § 127 b StPO zunächst zwei negative Feststellungen 225 226 227

Vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO/1877 (1885), S. 187. Vgl. wieder Hahn (Hrsg.), Materialien zur StPO/1877 (1885), S. 187. Vgl. Rüping, Grundsatz des rechtlichen Gehörs (1976), S. 144 f.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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treffen: Da die Anwesenheit durch eine Inhaft- und Festnahmenorm gesichert wird, legitimiert sich diese 1. nicht entscheidend aus einem Verweis auf die Menschenwürde des Betroffenen gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Wegen des im Vordergrund stehenden Zwangscharakters des § 127 b StPO legitimiert sie sich 2. auch nicht isoliert aus einem (sozialstaatlichen) Fürsorgegedanken gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, der Gewährung eines Rechts auf rechtliches Gehör gemäß Art.103 Abs. 1 GG oder des Anspruchs auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Stellenwert der Anwesenheitssicherung als Legitimationsgrund steht vielmehr derart in Verbindung zu dem Verfahrensziel, Wahrheit zu erforschen, dass wahrheitswidrige Feststellungen seitens der Strafverfolgungsorgane von Anwesenden besser verhindert werden können als von Abwesenden. Damit dient der Legitimationsgrund einer möglichen, aber disponiblen Ausübung von verfassungsrechtlich bereitgestellten Rechten zur Abwehr unzulässiger Eingriffe in Grund- und Menschenrechte des Beschuldigten.

E. Prävention und erzieherische Wirkung I. Die primäre Fragestellung Im Vergleich zu den „klassischen“ Haftgründen Flucht, Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr drängt sich bei § 127 b StPO der Abschreckungs- und Erziehungsansatz deutlicher auf. Betrachtet man die „weichen Voraussetzungen“ des § 127 b StPO und vergegenwärtigt man sich die „harten Zwangsmittel“ Haft und Festnahme, zeigt sich, dass der Staat offenbar gewillt ist, speziell kleinerer und mittlerer Kriminalität mit „starken Waffen“ zu begegnen. Ohne selbst aktiv zu werden, bei bloßem Befürchten des Fernbleibens und der Erwartung einer wahrscheinlichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren, besteht schon die Gefahr der Inhaftnahme und schnellen Aburteilung. Der Demonstration von Macht, aber auch schon dieser gesetzlichen Möglichkeit, Macht in bestimmten Fällen ausüben zu können, wohnt ein Einschüchterungselement inne. Angelehnt an Keller wird sich also ein „Abschreckungseffekt“ 228 des § 127 b StPO schwerlich leugnen lassen. Dieser ist umso ausgeprägter, je schwieriger bestimmbar die Fälle sind, die das Gesetz im Visier hat. Wer sich als Wohnsitzloser potentiell § 127 b StPO ausgesetzt sieht oder bereits von der Regelung betroffen wurde, wird in Zukunft womöglich alles unterbinden, was ihn in (dringenden) Tatverdacht geraten lassen kann. Auch erzieherische Wirkungen könnten also von § 127 b StPO durchaus ausgehen. Die Diskussion, ob und wie Inhaftierung der Prävention und Erziehung des Betroffenen dienen kann, ist bekanntermaßen nicht neu 229. Vieles darin ist freilich subjektive Anschauung. Die schwer zu beantwortende Frage nach den tatsächlich Keller, Kriminalistik 1998, 677, 677. Siehe nur die Schilderungen bei Foucault, Überwachen und Strafen (1977), S. 93 ff. über „Die verallgemeinerte Bestrafung“ sowie S. 173 ff. über „Die gelehrigen Körper“. 228 229

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abschreckenden und erzieherischen Wirkungen, also danach, wie sich diese Anschauungen über eine rein subjektive Einschätzung hinaus objektiv nachweisen und argumentativ verwerten lassen, ist an dieser Stelle jedoch nicht die entscheidende. Es muss zuvörderst geklärt sein, ob Prävention und Erziehung verfassungsrechtlich zulässige Gründe sind, um im Vorfeld einer Verurteilung durch § 127 b StPO in Beschuldigtenrechte einzugreifen. Erst wenn eine von vornherein mit dem Verfassungsrecht grundsätzlich verträgliche derartige Legitimation des § 127 b StPO nachgewiesen werden kann, kann nach den tatsächlichen general- und spezialpräventiven sowie erzieherischen Wirkungen gefragt werden. Erst danach ist es an der Zeit, zu untersuchen, welche messbaren Folgen die Legitimationsansätze im Gefüge aus Individual- und Allgemeininteressen haben. Gleichsam nachrangig ist die Frage nach den materiellen Strafzwecktheorien, die in die Diskussion um § 127 b StPO hineinspielen, wenn der Präventionsansatz als „general- und/oder individualpräventiv“ 230 präsentiert wird. Sind Prävention und Erziehung verfassungsrechtlich illegitime Gründe für Haft und Festnahme im Sinne des § 127 b StPO, kommt es auf diese Spezifikationen nicht an. Im Feld der Untersuchungshaft wird der Streit um die grundgesetzliche Einordnung von Prävention und Erziehung neben § 127 b StPO insbesondere im Hinblick auf die Haftgründe Tatschwere gemäß § 112 Abs. 3 StPO und Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a StPO ausgetragen 231. Sehr markant wird die Problematik auch im Jugendstrafrecht. Der Erziehungsgedanke ist das Leitmotiv der im JGG konzipierten Rechtsfolgen. Er bildet dort wesentlich die Grundlage für ein personenorientiertes System, das sich besonders der Besserung des Betroffenen verpflichtet fühlt 232. In Ansehung der Praxis des Jugendstrafverfahrens wird nicht selten eine Überbetonung des Erziehungsgedankens erkannt. Diese äußert sich in der Anwendung des „apogryphen“ Haftgrundes „Erziehungsbedarf“. Schon vor über einem Jahrzehnt hat Dünkel die entsprechende These aufgestellt, dass Jugendliche insgesamt schneller in Untersuchungshaft kommen als Erwachsene, und dies nicht, weil bei ihnen eher eine Fluchtgefahr begründet werden könne, sondern weil mit der Inhaftierung erzieherisch auf sie eingewirkt werden solle 233. Dies macht die Problematik, um die es geht, deutlich. Prävention und Erziehung könnten auch im RahKeller, Kriminalistik 1998, 677, 677. Vgl. aus dem Haftrecht etwa Baumann, JZ 1962, 649, 652; Dahs sen., NJW 1965, 81, 83 m. w. N.; Anagnostopoulos, Tatschwere und Wiederholungsgefahr (1983), S. 87 ff. und S. 95 ff.; zu einer eher generellen Kritik an zunehmender Prävention im Verfahrensrecht siehe Wolter, in: GS-Meyer (1990), S. 493, 493 f.; vgl. deutlich auch Wolter, StV 1989, 358, 371, für den Prävention im Entwurf des StVÄG 1988 einen „übermäßige(n) Stellenwert“ einnimmt. Jung, StV 1990, 509, 513, erkennt eine zunehmende Entwicklung zum „Präventionsstaat“. Siehe zur Rolle der Prävention auch Grimm, KritV 1986, 38, 40 ff. Vgl. aus der jüngerer Lit. auch Naucke, KritV 1999, 336, 344 f. 232 Vgl. Plewig, in: FS-Schüler-Springorum (1993), S. 321, 321. Ein Überblick über die Diskussion um den Erziehungsgedanken und den Erziehungsvorrang im Jugendstrafrecht findet sich bei Herz, in: FS-Schüler-Springorum (1993), S. 291, 297 ff. 233 Dünkel, Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher (1990), S. 373 f. 230 231

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men des § 127 b StPO apogryphe Gründe zur Inhaft- und Festnahme sein. „Verfahrensfremdheit“ kann abstrakt-generell nur dann verneint werden, wenn die Verfassung die „Verfahrensbezogenheit“ 234 von Prävention und Erziehung erlaubt. Sie muss die Gründe derart zulassen, dass sie der gerichtlichen Entscheidungsfindung dienlich sein dürfen. Die Lösung der Frage nach der verfassungsrechtlichen Verankerung von Prävention und Erziehung als Aufgabe des Prozessrechts hängt – letztlich wie die Frage des Stellenwerts von Effektivität – mitentscheidend von der Wirkungsweise der Grundrechte ab. Zur Zulässigkeit der Legitimation aus präventiven und erzieherischen Gründen gelangt man, je eher der Existenz eines Grund- oder Menschenrechts auf Sicherheit zuzustimmen ist. Stimmt man zu, und misst man ihm, wie von Robbers vorgesehen, das Ziel „Freisein von Furcht“ bei, ist die Forderung nach vorbeugendem Schutz im Strafverfahrensrecht gut gesichert. Für Robbers „fügt sich die Idee, daß Freisein von Furcht zu den Voraussetzungen der Freiheit insgesamt gehört, in die Forderung nach vorbeugendem Schutz des Rechts“ 235. Freisein von Furcht, so heißt es, bestehe deshalb als Recht nicht lediglich dort, wo die individuelle Existenz unmittelbar auf dem Spiel stehe. Es beschränke sich auch nicht – wie bereits oben zitiert –, „auf die Abwehr von Beunruhigungen von staatlicher Seite“, sondern meine in seinem historischen wie sachlichen Kontext gerade auch die „Gewißheit, vor privaten Angriffen (...), im Rahmen des Möglichen geschützt zu werden“ 236. Stellt man hingegen den Abwehrcharakter der Grundrechte im Sinne des Schutzes vor „staatlichem“ Handeln heraus, ergibt sich eher keine Legitimation des § 127 b StPO aus präventiven und erzieherischen Gründen. Zur Untersuchung, ob Prävention und Erziehung „verfassungswidrig(e)“ 237 und „sachfremd(e)“ 238 Zwecke des § 127 b StPO sind, oder ob diese Ansätze „keinen Bedenken“ 239 unterliegen und gerade auch im Haftrecht „geboten“ 240 sind, kann nun auch an dieser Stelle keine detaillierte und darauf fokussierte „Gehaltsanalyse der Grundrechte“ erfolgen. Es bietet sich stattdessen an, auf die Ansichten des Bundesverfassungsgerichts zur Tatschwere und Wiederholungsgefahr zurückzugreifen. Das Gericht führt in zwei Beschlüssen aus, ob und inwieweit der Staat, durch Verfahrensrecht ermächtigt, präventiv inhaftieren darf. Es bestimmt auch, für welche Fälle die Unschuldsvermutung dieser Legitimation Grenzen setzt. Da die Beschlüsse aufgrund ihrer grundlegenden Wertungen die wohl bedeutendsten 234 Vgl. zum Begriff im Zusammenhang mit Prävention im Strafprozeß Eb. Schmid: JR1970, 204, 208. 235 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 225 f. 236 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 227, und oben 3. Kap., 1. Abschn. C. II. 2. zu FN 56. 237 Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 1 a. 238 Asbrock, StV 1997, 43, 44. 239 Grasberger, GA 1998, 530, 532. 240 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679.

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Entscheidungen zum Haftrecht überhaupt sind 241, werden die in unserem Kontext relevanten Kernaussagen zusammengefasst zitiert. Daraufhin lässt sich die Frage nach der Zulässigkeit einer Legitimation aus Prävention und Erziehung anschaulicher beantworten. Es zeigt sich auch, dass die Antwort wesentlich im Verhältnis der Legitimationsansätze zur Unschuldsvermutung und zur Menschenwürde zu finden ist. II. BVerfGE 19, 342 ff. und BVerfGE 35, 185 ff. In seiner Entscheidung aus dem Jahre 1965 zur Tatschwere 242 führte das Gericht zunächst aus, dass die Entziehung der persönlichen Freiheit gegen einen einer Straftat lediglich Verdächtigen „nur in streng begrenzten Ausnahmefällen zulässig“ sein könne 243. Dies ergebe sich „aus der grundsätzlichen Unschuldsvermutung, die es ausschließt, auch bei noch so dringendem Tatverdacht gegen den Beschuldigten im Vorgriff auf die Strafe Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung der Freiheitsstrafe gleichkommen“ 244. Der „eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft“ sei, „die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen“ 245. Die Verfolgung anderer Zwecke sei „grundsätzlich ausgeschlossen“; namentlich dürfe sie „nicht nach Art einer Strafe einen Rechtsgüterschutz vorwegnehmen, dem das materielle Strafrecht dienen soll“ 246. Sodann wird ausgeführt, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in § 112 Abs. 3 StPO (a. F.) einen „Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, also einen präventiv-polizeilichen Gesichtspunkt, für die Verhängung der Untersuchungshaft genügen läßt“ 247. Er könne damit gerechtfertigt werden, dass es hier „um die Bewahrung eines besonders schutzbedürftigen Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden schweren Straftaten geht“ 248. Der Haftgrund Tatschwere gemäß § 112 Abs. 4 StPO (a. F.) „müßte dagegen rechtsstaatliche Bedenken erwecken“, wenn er dahin auszulegen wäre, dass bei dringendem Verdacht eines dort bezeichneten Tötungsdelikts die Untersuchungshaft ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen verhängt werden dürfte. Eine solche 241 Was sich freilich auch im Schrifttum zu §127 b StPO bemerkbar macht. Vgl. nur die zahlreichen Bezugnahmen bei Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 572; siehe auch wieder Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 59 Rdn. 1 a. 242 Die Entscheidung betraf § 112 Abs. 4 StPO (a. F.). Dieser sah im Unterschied zum heutigen §112 Abs.3 StPO ein Recht zur Anordnung von Untersuchungshaft lediglich für Fälle der §§ 211, 212 und 220 a Abs. 1 Nr. 1 StGB vor. 243 BVerfGE 19, 342, 347 („Tatschwere“). 244 BVerfGE 19, 342, 347 („Tatschwere“). 245 BVerfGE 19, 342, 349 („Tatschwere“). 246 BVerfGE 19, 342, 348 („Tatschwere“). 247 BVerfGE 19, 342, 349 f. („Tatschwere“). 248 BVerfGE 19, 342, 350 („Tatschwere“).

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Auslegung „wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar“. „Weder die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der (noch nicht festgestellten) Schuld“, so führt das Gericht aus, „rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten; noch weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare ‚Erregung der Bevölkerung‘ ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein ‚Mörder‘ frei umhergehe“ 249. Infolge verfassungskonformer Auslegung sei § 112 Abs. 4 StPO (a. F.) in engem Zusammenhang mit § 112 Abs. 2 StPO zu sehen. § 112 Abs. 4 StPO (a. F.) „läßt sich“, so das Gericht, „dann damit rechtfertigen, daß mit Rücksicht auf die Schwere der hier bezeichneten Straftaten die strengen Voraussetzungen der Haftgründe des Absatzes 2 gelockert werden sollen, um die Gefahr auszuschließen, daß gerade besonders gefährliche Täter sich der Bestrafung entziehen“ 250. In dem zweiten grundlegenden Beschluss aus dem Jahre 1973 erklärt das Gericht den Haftgrund Wiederholungsgefahr unter Berufung auf BVerfGE 19, 342 ff. für verfassungsgemäß, obwohl für § 112 a StPO (a. F.) „nicht die Sicherung des Strafverfahrens, sondern der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, also ein präventiver Gesichtspunkt, maßgebend ist“ 251. Auch hier ging das Gericht von der Maxime aus, dass der Gesetzgeber die Einschließung eines Beschuldigten in einer Haftanstalt nur anordnen darf, „wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten“ 252. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen der Freiheitsanspruch des Beschuldigten „unter Umständen zurücktreten muß“, gehörten die „unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung“ 253. „Nur unter bestimmten Voraussetzungen“, so das Bundesverfassungsgericht, „überwiegt das Sicherungsbedürfnis der Gemeinschaft den verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten, lediglich verdächtigen Beschuldigten. Bei dem wiederholt oder fortgesetzt begangenen ‚Anlaßdelikt‘ muß es sich um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und den Rechtsfrieden empfindlich stört“ 254. „Der Bereich der ‚kleinen Kriminalität‘ (...)“, scheide „von vornherein“ aus 255. „Darüber hinaus muß verlangt werden, daß die Tat, deren der Beschuldigte dringend verdächtig ist, auch in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat 249

BVerfGE 19, 342, 350 („Tatschwere“) [Klammersetzung und Hervorhebungen im Origi-

nal]. BVerfGE 19, 342, 351 („Tatschwere“). BVerfGE 35, 185, 191 („Wiederholungsgefahr“) m.w.N. auf BVerfGE 19, 342, 349 f. („Tatschwere“). 252 BVerfGE 35, 185, 190 („Wiederholungsgefahr“). 253 BVerfGE 35, 185, 190 („Wiederholungsgefahr“). 254 BVerfGE 35, 185, 191 („Wiederholungsgefahr“) [Hervorhebung im Original]. 255 BVerfGE 35, 185, 191 („Wiederholungsgefahr“) [Hervorhebung im Original]. 250 251

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und im Einzelfall eine hohe Straferwartung begründet“ 256. Dem werde die zu prüfende Regelung gerecht, indem sie die Verhaftung wegen Wiederholungsgefahr nur zulässt, „wenn eine solche Straftat in Rede steht und – bei Bestätigung des Verdachts – eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist“ 257. Die damit getroffene Regelung bringe das durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützte Interesse des Beschuldigten an der Bewahrung seiner persönlichen Freiheit mit den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung zu einem „angemessenen Ausgleich“ 258. III. Beurteilung des präventiven und erzieherischen Ansatzes 1. Folgerungen aus der Unschuldsvermutung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 2 EMRK Unter Zugrundelegung dieser Aussagen wird deutlich, dass die Legitimation des § 127 b StPO aus präventiven und erzieherischen Zwecken verfassungsrechtlich nicht haltbar ist. Wenn es eine derartige Legitimation im Haftrecht überhaupt geben darf, dann nicht allgemein und nicht für alle Kriminalitätsbereiche. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt nur ein sehr eng begrenztes Reservat für eine auf Prävention und Erziehung gestützte Erweiterung des Haftrechts. § 127 b StPO steht außerhalb davon. Die Norm betrifft lediglich kleinere und mittlere Kriminalität. Die zumindest grundsätzliche Unbeachtlichkeit präventiver Zwecke ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 2 EMRK. In diesem Punkt ist Stintzing/Hecker, Asbrock, Herzog, Hellmann und Roxin zuzustimmen 259. „Schon der Grundsatz der Unschuldsvermutung“, so betont etwa Hetzer in Anlehnung an BVerfGE 19, 342, 347 f., zu Recht, „verbietet die Verfolgung von Zwecken, die nur von einer schuldabhängigen Strafe erreicht werden dürfen“ 260. Auch nach Paeffgen und Hassemer verbietet sich die Legitimation der Untersuchungshaft aus der Bewährung des materiellen Rechts im Sinne einer Vorwegnahme der Strafzwecke 261. Das gilt auch für die Hauptverhandlungshaft und lässt sich ebenso für die Festnahmeregelung gemäß § 127 b Abs. 1 StPO festhalten. Die Ansichten Kellers, wonach „das BVerfGE 35, 185, 192 („Wiederholungsgefahr“). BVerfGE 35, 185, 192 („Wiederholungsgefahr“). 258 BVerfGE 35, 185, 192 („Wiederholungsgefahr“). 259 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 572; Asbrock, StV 1997, 43, 44; Herzog, StV 1997, 215, 216; Hellmann, NJW 1997, 2145, 2146. Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), §59 Rdn. 1 a. 260 Hetzer, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 47, 49. 261 Vgl. SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), Vor § 112 Rdn. 11, und deutlich auch Hassemer, StV 1984, 38, 42, wonach sich die Illegitimität „zwingend“ aus dem Grundsatz der Unschuldsvermutung ergibt. Nach Paeffgen, a. a. O. Rdn.13, ist die Ausgangslage dabei durch den von der Gesetzeslage vorgegebenen Dualismus zwischen Strafprozessrecht (Strafverfolgung = Repression) einerseits und Polizeirecht (Strafverfolgung = Prävention) andererseits gekennzeichnet. 256 257

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nach kurzer Frist ‚Vor-dem-Richter-stehen‘ aus general- und/oder individualpräventiven Gründen erwünscht“ 262 und wonach „zum Zwecke der Disziplinierung gerichtsbekannter Beschuldigter“ eine beschleunigte Aburteilung „geboten“ 263 sei, sind als unbegründet außen vor zu lassen – ebenso die Ansicht, dass sich „Etwaige (pauschale) Kritik an der Formel, daß ‚die Strafe der Tat auf dem Fuß folgen solle‘, unpsychologisch der Wirklichkeit von Verdrängungs- und Rationalisierungsmechanismen verschließt“ 264. Sie sind allesamt Ausdruck einer verfassungswidrigen Legitimation des § 127 b StPO. Nicht zu folgen ist den Ausführungen Grasbergers. Sie geht zwar zunächst mit Recht davon aus, dass ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung „dann gegeben sein kann, wenn über den konkreten Haftgrund hinaus, Zwecke zur Rechtfertigung von Haft herangezogen werden, die erst über die Verhängung einer Freiheitsstrafe rechtlich verfolgbar sind“ 265. Insoweit sie „keine Bedenken“ dahingehend erkennt, dass § 127 b StPO „indirekt auch die Erreichbarkeit der Strafzwecke fördert“ 266, geraten die berechtigten Äußerungen jedoch in Schieflage. Ließe man Haft die Strafzwecke fördern, ginge man im Zeitpunkt der Verhängung des Hauptverhandlungshaftbefehls davon aus, dass die Zwecke des materiellen Rechts tatsächlich zu fördern wären. Es wäre dann nicht mehr nur das Verfahren zu sichern, um die Strafwürdigkeit prüfen zu können. Es ginge dann um Strafzwecke, wenngleich hinsichtlich der Verwirklichung eines Strafgesetzes lediglich dringender Tatverdacht gegeben wäre. Dies würde nach Art einer Strafe einen Rechtsgüterschutz vorwegnehmen – sei es direkt, indirekt, mittel- oder unmittelbar. Dem Rechtsgüterschutz wiederum soll jedoch allenfalls das materielle Strafrecht dienen 267. Letztlich mag die Ansicht Grasbergers (verfahrensrechtlich) auf dem Ansatz beruhen, wonach das Strafverfahren das materielle Strafrecht durchsetzt und ihm dient. Unabhängig von der allgemeinen Problematik dieses Ansatzes 268, lässt er Keller, Kriminalistik 1998, 677, 677 [Hervorhebung im Original]. Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. 264 Keller, Kriminalistik 1998, 677, 677 [Hervorhebung und Klammersetzung im Original]. 265 Grasberger, GA 1998, 530, 531. 266 Grasberger, GA 1998, 530, 532. 267 Vgl. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 572. Dies sei hier so formuliert, auch wenn die Ansicht, dass das materielle Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dient, im neueren Schrifttum zunehmend angezweifelt wird; siehe hierzu etwa Appel, KritV 1999, 278, 306 ff. m. w. N., der Strafrecht als „Schutzrecht für verfassungsgemäße staatliche Verhaltensnormen“ ansieht. 268 Die StPO mag das materielle Strafrecht „verwirklichen“, wenn sie die Verurteilung des Beschuldigten ermöglicht. Ein formell ordnungsgemäß zustande gekommenes und materiell zutreffendes, freisprechendes Urteil dient dem materiellen Strafrecht quasi „negativ“, da eine Bestrafung für diesen Fall nicht vorgesehen ist. In den Fällen aber, in denen das Verfahrensrecht zulässt, dass materiell-rechtlich erfüllte Tatbestände nicht geahndet werden, „überlagert“ das Prozessrecht das materielle Recht. Von einer „Verwirklichung“ des materiellen Rechts oder einem „Dienen“ kann dann nur noch schwerlich gesprochen werden. Das Verhältnis zwischen strafprozessualem und materiellem Strafrecht stellt Neumann ZStW 101 (1989), 52, 54 ff. 262 263

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

sich nicht für die Legitimation einer Zwangsmaßnahme verwerten. Es kann daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, die StPO führe die Strafzwecke des materiellen Rechts fort 269. Die Unschuldsvermutung steckt eine Grenze. Das hat das Bundesverfassungsgericht für Untersuchungshaft, sofern es um Prävention geht, klar ausgesprochen. Demgemäß darf in den Verfahrensabschnitten, in denen die Hauptverhandlungshaft in Betracht kommt, die Schuld und damit die Strafwürdigkeit des Betroffenen „in keiner Weise“ feststehen 270. Der Verdacht einer Straftat darf nicht als Strafe bewertet werden. Die Ansehung des „dringenden Tatverdachts“ als „Tatverwirklichung“ ist als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK verfassungswidrig. Solange nicht das Urteil die Schuld rechtskräftig feststellt, hat der Beschuldigte als unschuldig zu gelten. Demgemäß ist auch mit ihm zu verfahren. Sobald präventive Zwecke im Rahmen des § 127 b StPO legitimierend wären, würde der Betroffene nicht mehr als unschuldig behandelt. Ebenso wenig lassen sich erzieherische Zwecke mit der Unschuldsvermutung vereinbaren. „Dies würde bedeuten“, so formuliert Herzog treffend, „daß im Vorgriff auf eine rechtliche Feststellung der Tatschuld eine haftrichterliche Feststellung der Lebensführungsschuld (...) Platz greifen würde“ 271. Denn wer Haft aus Erziehungszwecken einsetzt, geht davon aus, dass der Betroffene „Erziehung bedarf “. Der Schluss lässt sich indessen erst dann ziehen, wenn entschieden ist, dass ein Fehlverhalten vorliegt. Die Entscheidung darüber kann erst mit dem Abschluss des Verfahrens fallen. In dem Zeitpunkt, in dem die Zwangsmittel des § 127 b StPO im Prozess zum Einsatz kommen, ist jede Annahme Verdacht 272. Davon abgesehen, ist die „Lebensführungsschuld“ kein Bestandteil des strafrechtlichen Schuldprinzips des materiellen Rechts. Hinter der „Lebensführungsschuld“ verbirgt sich, wie Sax 1959 kritisch meinte, die „moralisierende Anprangerung des Verfalls der sittlichen Täterpersönlichkeit (...), die ein Mensch mit verfehlter Lebensführung als latenter Quell der Auflehnung gegen die Rechtsordnung für die Gemeinschaft verkörpert und die es zu neutralisieren gilt, sobald sie sich in einer – für sich genommen – noch so harmlosen Straftat symptomatisch offenbart“ 273. Wenn, wie Sax m. w. N., grundlegender heraus. Vgl. auch Lüderssen, in: Denninger/Lüderssen (Hrsg.), Polizei und Strafprozeß (1978), S.188, 190, der feststellt, dass prozessuales und materielles Recht u.a. deshalb immer weiter zusammenwachsen, da die (prozessualen) Normen „nicht mehr auf Sachverhalte angewendet werden, sondern – etwas überspitzt gesagt – auch durch (materielle) Sachverhalte hervorgebracht werden“. 269 So aber auch F.-C. Schroeder, NJW 1983, 137, 139. 270 BVerfGE 19, 342, 348 („Tatschwere“). 271 Herzog, StV 1997, 215, 216. 272 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung BVerfGE 30, 47, 53 („Unterbringung in einer Anstalt; Verfassungsmäßigkeit des § 26 BSHG“), wonach das Ziel, einen Erwachsenen zu „bessern“, allein kein zulässiger Grund für eine Unterbringung ist, da andernfalls das Recht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in seinem „Wesensgehalt“ verletzt sei. 273 Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, Bd. 3/Hb. 2 (1959), S. 903, 941.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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weiter ausführt, „Alle Versuche, diesen Sachverhalt konstruktiv umzudeuten, (...) nur die Tatsache (verschleiert), daß ein solches getarntes Strafrecht wegen Verstoßes gegen Art. 1 verfassungswidrig ist“ 274, dann kann auch der Gesetzgeber mit § 127 b StPO nicht die Gefahr „einer Auflehnung“ des Beschuldigten aus erzieherischen Gründen beseitigen wollen. Insoweit das Bundesverfassungsgericht für die Verhängung von Untersuchungshaft präventiv-polizeiliche Gesichtspunkte „zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ 275 für grundsätzlich verfassungsgemäß erachtet, könnte dies nach erstem Anschein für eine Legitimation des Präventions- und Erziehungsansatzes in § 127 b StPO fruchtbar gemacht werden. Diesem Anschein folgt etwa Grasberger, indem sie ihrer zustimmenden Ansicht über den Präventionsansatz Ausführungen zu BVerfGE 19, 342 ff., voranstellt 276. Prävention kann Untersuchungshaft nach Ansicht des Gerichts jedoch nur in bestimmten Fällen legitimieren. Es handelt sich um Fälle der Schwerkriminalität, wenn das Gericht auf „frei umhergehende Mörder“ 277 abstellt. Der Anspruch auf Sicherheit wird dort bejaht, wo „die individuelle Existenz auf dem Spiel steht“ 278. Dieser Anspruch wird allgemein erweitert für die Fälle, in denen das Anlassdelikt „einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und den Rechtsfrieden empfindlich stört“ 279. Die Erweiterung geht jedoch klar nur bis zu der Linie, an der nicht mehr die Gefahr besteht, dass „nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens“ eine „schwerwiegende“ Beeinträchtigung der Rechtsordnung droht 280. Ungeachtet der Frage, wie man dazu im Einzelnen steht, sind die Fälle des § 127 b StPO von dieser Erweiterung erkennbar unberührt. Der sich aus § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO ergebende Anwendungsbereich des § 127 b StPO betrifft keine Vergehen mit hohem Unrechtsgehalt. Die Taten, derer ein Beschuldigter gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 StPO verdächtig sein kann, sind nicht in Konsens zu bringen mit der „Bewahrung eines besonders schutzbedürftigen Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden schweren Straftaten“ 281. Wie sich aus der Untersuchung der Voraussetzungen des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO gezeigt hat, geht es in § 127 b StPO etwa um einfache Vermögensdelik274 Vgl. wieder Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, Bd. 3/Hb. 2 (1959), S. 903, 941 [Hervorhebung im Original]. 275 BVerfGE 19, 342, 349 f. („Tatschwere“). 276 Vgl. Grasberger, GA 1998, 530, 531 und dort FN 12 und FN 14. 277 Vgl. BVerfGE 19, 342, 350 („Tatschwere“). 278 Siehe wieder Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 226. 279 BVerfGE 35, 185, 191 („Wiederholungsgefahr“). Gegen die zu erwartende Strafe als allgemeiner Legitimationsansatz ist Baumann, JZ 1962, 649, 652, wonach die Höhe der zu erwartenden Strafe ein „Verhältnisglied“ ist, welches „im Augenblick des Verfahrens“ und der „jeweiligen Verfahrenssituation“ Bedeutung hat. 280 BVerfGE 35, 185, 192 („Wiederholungsgefahr“). 281 Vgl. wieder BVerfGE 19, 342, 350 („Tatschwere“), zu § 112 a StPO (a. F.).

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

te, einfache Leistungserschleichungen und um einfache Körperverletzungen 282. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO begrenzt die Straferwartung der „Anlassdelikte“ für § 127 b StPO auf maximal ein Jahr Freiheitsstrafe. Prävention und Erziehung können im Bereich des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO, auch unter grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Anerkennung des präventiven Ansatzes in § 112 Abs. 3 StPO und § 112 a StPO, niemals „besonders gewichtige Gründe“ sein, die Freiheit des Beschuldigten einzuschränken 283. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich demnach deutlich gegen eine Legitimation von Prävention und Erziehung für § 127 b StPO anführen. Ebenso wenig wie die von § 127 b StPO betroffene Kriminalität im Anwendungsbereich des § 112 Abs. 3 StPO oder des § 112 a StPO liegt, ist § 127 b StPO aus präventiven und erzieherischen Gründen legitimiert. Das gilt entsprechend der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund des durch § 127 b StPO angesprochenen Kriminalitätsbereichs: „von vornherein“ 284. 2. Die Bedeutung der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG für den präventiven und erzieherischen Ansatz Wie aus einigen aufgezeigten Ansichten der Literatur zu § 127 b StPO hervorgeht, wird Art. 1 GG nicht nur als umfassende Verfassungsschranke gegen Grundrechtseingriffe aufgrund § 127 b StPO angesehen. Art. 1 GG wird speziell als Schranke gegen die Legitimation des § 127 b StPO herangezogen. Die Ansicht Herzogs, wonach derjenige, der die Hauptverhandlungshaft mit der Erwartung einer abschreckenden Wirkung begründet, den Betroffenen „von vornherein als Mittel zum Zweck“ und ohne jegliche „Achtung für eine Subjektstellung im Strafverfahren“ behandelt 285, zielt neben der Unschuldsvermutung offenbar auf den Kernbereich des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Ähnliches gilt für Asbrock, wenn er in der Inhaftund Festnahme aufgrund § 127 b StPO kriminalpolitisch „instrumentalisiert(e)“ Zwangsmittel erkennt 286. Stintzing/Hecker ziehen eine Verletzung der Menschenwürde zumindest in Betracht 287. Die Formulierungen Herzogs und Asbrocks lassen sich in die Nähe der Formel rücken, „Prävention und Erziehung im Strafverfahren führen zur Verletzung der Menschenwürde“. Das ist indessen zu kategorisch. Die Unbeachtlichkeit präventiver und erzieherischer Zwecke ist auch im Rahmen des § 127 b StPO nicht aus einer 282 Sofern Reaktionen nach §§ 153, 153 a, 153 b StPO, §§ 407 ff. StPO usw. keine Anwendung finden; s. o. 2. Kap., 1. Abschn. E. VI. 2. c). 283 Vgl. allgemein auch BVerfGE 45, 187, 223 („lebenslange Freiheitsstrafe“); 70, 297, 307 („Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus“). 284 Vgl. wieder BVerfGE 35, 185, 191 („Wiederholungsgefahr“). 285 Herzog, StV 1997, 215, 216. 286 Asbrock, StV 1997, 43, 44. 287 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 572.

1. Abschn.: Zur prinzipiellen Legitimation und ihrer Zulässigkeit

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Verletzung der Menschenwürde zu ziehen 288. Die Menschenwürde hat als verfassungsrechtliche Schranke zwar gegenüber dem Eingriff in das Freiheitsrecht des Beschuldigten gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch Inhaft- und Festnahme Bedeutung. Zumindest pauschal lässt sich allein durch die auf Prävention und Erziehung gestützte Legitimation eine Verletzung der Menschenwürde jedoch nicht begründen. Schließlich können im Strafverfahren auch die Grundrechte, das Rechtsstaatsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter Einbeziehung aller Beschuldigten-, Täter-, Opfer- und Allgemeininteressen den geeigneten und erforderlichen Verzicht auf Sanktionen gebieten, selbst wenn die Legitimation im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für Fälle schwerer Kriminalität anzuerkennen wäre. Sie können einen flexiblen Spielraum zwischen zulässiger und unzulässiger Legitimation schaffen. Fest steht, dass die Würde des Menschen gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG „unantastbar“ ist. Sie steht also nicht zur Disposition 289. Der Beschuldigte darf nie zum bloßen Gegenstand des Verfahrens werden 290. Neben der Unschuldsvermutung aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 2 EMRK bleibt allerdings zur Verneinung einer präventiven und erzieherischen Legitimation aus Gründen der Menschenwürde wenig Raum. Generell ist es problematisch, Prävention und Erziehung zu sehr in die Nähe einer Verletzung des letztlich alles überragenden Kernbereichs der Menschenwürde zu rücken. Die Aufgabenstellung des Polizeirechts ließe sich dann kaum mehr als „unproblematisch verfassungsgemäß“ anerkennen.

F. Ergebnis der Legitimationsprüfung § 127 b StPO legitimiert sich aus dem Zweck, die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung zu sichern, und aus einem Effektivitätsansatz. Beide Ansätze stehen – was die übergeordneten Verfahrensziele angeht – noch am ehesten in Zusammenhang mit dem Prozessziel, Wahrheit zu erforschen. Entscheidender ist hingegen die direkt aus der Verfassung ableitbare Legitimation. Verfassungsrechtlich erweist sich der Anwesenheitsgrundsatz mit Blick auf das Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK als der fester verankerte Legitimationsgrund. Die aus der Verfassung ableitbare Schutzpflicht in Richtung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege betrifft nur einen Minimumbereich. Das mit § 127 b StPO angestrebte 288 Dies ist an dieser Stelle wohlweislich getrennt von der Frage entschieden, ob § 127 b StPO in einer Gesamtschau des Gefüges aus verfassungsrechtlichen Gewährleistungen den Betroffenen abstrakt-generell als „Objekt“ behandelt. 289 Aus „unantastbar“ folgt „unverzichtbar“, vgl. nur BVerwG, NJW 1982, 664, 665 („sittenwidrige Veranstaltungen i. S. d. § 33 Gewerbeordnung“). 290 Vgl. etwa BVerfGE 63, 332, 337 („Auslieferung nach Verurteilung im italienischen Abwesenheitsverfahren“). Siehe näher zur Objektstellung im Verfahren auch Wolter, in: GS-Meyer (1990), S. 493, 496 ff. m. w. N.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Optimum an Effektivität ist nicht das Ziel eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Im Rechtsstaat geben die Grundrechte, die Menschenrechte und die Garantien Menschenwürde, Unschuldsvermutung, Verhältnismäßigkeitsprinzip usw. den Trend vor. Individualschutz steht im Rang vor der Beachtung von Allgemeininteressen. Gleichwertigkeit ist abzulehnen. Funktionstüchtigkeit stützt sich nicht auf ein Grund- oder Menschenrecht auf Sicherheit. Ein derartiges Recht, das an ein Unterlassen des Gesetzgebers anknüpft, um die Bevölkerung vor Angriffen untereinander zu schützen, wird verfassungsrechtlich nicht begründet. Defizite an Sicherheit und auch an Effizienz sind als Anknüpfungspunkt für eine Verpflichtung des Staates schon zu unspezifisch. Rechtsstaatlichkeit zeichnet sich auch durch Vorhersehbarkeit aus. Entsprechend ist Funktionstüchtigkeit zum Schutz des Allgemeininteresses an Strafrechtspflege keine mit Rechtsstaatlichkeit weitreichend verwachsene Ambition.

2. Abschnitt

Die Prüfung der einschlägigen Grundrechte, Menschenrechte und Rechtsstaatsprinzipien A. Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG I. Schutzbereich und Gesetzesvorbehalt Die zulässige Legitimation des § 127 b StPO ist gewissermaßen ein vorgelagerter, jedenfalls ein beschränkter Bereich der eigentlichen Rechtsstaatlichkeit der Regelung. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die Unschuldsvermutung, der Bestimmtheitsgrundsatz, das Recht auf rechtliches Gehör, der Grundsatz des fairen Verfahrens, der Gleichheitssatz usw. sind von § 127 b StPO mehr oder minder direkt betroffene Bestandteile der Rechtsstaatlichkeit. § 127 b StPO darf in die Rechte des Verdächtigen nur dann eingreifen, wenn alle von der Norm tangierten Rechtsstaatselemente in Konkordanz gebracht sind. Nur dann ist § 127 b StPO eine verfassungsgemäße Grundrechtsschranke, und erst dann sind Haft und Festnahme aufgrund § 127 b StPO im konkreten Fall verfassungsgemäße Zwangsmaßnahmen. Fraglich ist also, ob und wie sich § 127 b StPO rechtsstaatlich in das Gefüge aus zulässiger Legitimation, Grund- und Menschenrechten sowie Verfassungsprinzipien eingliedert. § 127 b StPO muss in seiner konkreten Ausgestaltung die Ansprüche, die Rechtsstaatlichkeit an eine Eingriffsnorm stellt, umfassend erfüllen. Die aufgezählten Bestandteile – oder anders ausgedrückt – die Unterprinzipien, aus denen sich der übergeordnete Anspruch an Rechtsstaatlichkeit zusammensetzt, gilt es näher zu untersuchen. Daraus zeigt sich die Rechts- oder eben die Unrechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO. In der Prüfung verbietet sich auch an dieser Stelle jede

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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strikte, „lineare Blickrichtung“ 291. Die Entscheidungsfindung ist aber auch kein diffuser, kein tendenzloser Prozess. Was die Ordnung rechtsstaatlicher Parameter angeht, so weisen das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention der Freiheit des Verdächtigten prinzipiell einen höheren Rang zu als der Funktionstüchtigkeit. Argumente, die für den Vorrang der Rechte des Einzelnen vor denen der Allgemeinheit an Funktionstüchtigkeit sprechen, wurden vorgetragen. Diesen Rang gilt es nun angemessen zu würdigen. Das von § 127 b StPO primär betroffene Grundrecht ist das Recht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bzw. aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG 292. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährt ausdrücklich die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit. Soweit Art. 104 Abs. 1 GG selbst einen freiheitsschützenden Grundrechtscharakter hat, haben Art. 104 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG den gleichen Schutzbereich 293. Geschützt wird die körperliche Bewegungsfreiheit. In diese wird eingegriffen, wenn „jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist“ 294. Das ist durch § 127 b StPO mit Blick auf die zugelassenen Zwangsmaßnahmen final und unmittelbar der Fall 295. § 127 b StPO kann nur dann rechtmäßig sein, wenn die Regelung eine verfassungskonforme Konkretisierung des einschlägigen Gesetzesvorbehalts ist. Dieser bestimmt sich nach der Qualifizierung des Eingriffs. Der in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG zum Ausdruck kommende allgemeine Gesetzesvorbehalt wird bei Freiheitsbeschränkungen durch Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ergänzt und überlagert 296. Art. 104 Abs. 2 bis Abs. 4 GG stellt besondere Anforderungen, die für Gesetze als qualifizierter Gesetzesvorbehalt gelten und das Freiheitsrecht selbst ausgestalten. Zwangsmaßnahmen aufgrund § 127 b StPO können beides sein: eine allgemeine Freiheitsbeschränkung oder auch eine Freiheitsentziehung als ein Unterfall davon. Siehe wieder Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 304. Art. 104 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG stehen in „untrennbarem Zusammenhang“. Vgl. BVerfGE 14, 174, 186 („Bestimmtheit von Rechtsverordnungen“), mit dem Hinweis, dass Art. 104 GG „nicht aus systematischen, sondern aus redaktionellen Gründen“ in den Abschnitt „Rechtsprechung“ verwiesen wurde. 293 Vgl. etwa Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG (1999), Art. 104 Rdn. 4 m. w. N. 294 BVerfGE 94, 166, 198 („Asylbegehren“) [Klammersetzung im Original]. 295 „Final“ ist der Eingriff, da er beabsichtigt ist; er ist „unmittelbar“, da das staatliche Handeln direkt auf die belastende Rechtsfolge gerichtet ist. Finalität und Unmittelbarkeit sind grundsätzlich Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff. Vgl. hierzu etwa Pieroth/ Schlink, Grundrechte (2001), Rdn. 238. Siehe allgemein auch Windthorst, Verfassungsrecht I (1994), § 8 Rdn. 24 und 26. 296 Für eine Ergänzung ist Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1958), Art.104 Abs.I Rdn.1; für ein Überlagern ist Jarass in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art.2 Rdn. 90. Vgl. zum Verhältnis zwischen Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 104 GG im Rahmen des Rechts der Untersuchungshaft auch Hetzer, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 47, 60 f. Einen knappen und verständlichen Überblick über Art. 104 GG im System der Grundrechte gibt allgemein Gusy, NJW 1992, 457, 457 ff. 291 292

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Maßgebend für die Qualifizierung ist die Intensität des Eingriffs. Diese könnte nach dessen Dauer bestimmt werden. Wird die Bewegungsfreiheit nur kurzfristig aufgehoben, soll lediglich eine Freiheitsbeschränkung bzw. -beeinträchtigung vorliegen 297. Das kann etwa bei einer kurzen Festnahme gemäß § 127 b Abs. 1 StPO anzunehmen sein. Jede Beschränkung über mehrere Stunden ist indes unbestritten eine Freiheitsentziehung – demnach also auch jeder übliche Fall der Hauptverhandlungshaft. Die an § 127 b StPO zu stellenden Anforderungen bestimmen sich folglich nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG und nach Art. 104 GG selbst. Unabhängig von einer exakten dogmatischen Einordnung des Art. 104 GG muss sich § 127 b StPO in Ansehung möglicher freiheitsentziehender Eingriffe daran messen. Im Sinne des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG hat nur der Richter über die Fortdauer der Freiheitsentziehung zu entscheiden. Gemäß Abs. 2 S. 2 ist bei jeder nicht auf einer richterlichen Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Jeder wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist gemäß Art. 104 Abs. 3 GG spätestens am Tag nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen, ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat 298. Der Richter hat unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen. Abs. 4 bestimmt schließlich eine Benachrichtigungspflicht bei jeder Entscheidung über die Anordnung oder die Fortdauer einer Freiheitsentziehung. § 127 b StPO entspricht diesen Anforderungen 299. § 127 b Abs. 3 StPO behält die Anordnung der Hauptverhandlungshaft einem unabhängigen Richter vor. Die Regelungen zur Vorführung und Vernehmung des Beschuldigten gemäß §§ 128, 129 StPO, zum Verfahren nach der Ergreifung durch Haftbefehl gemäß §§ 115, 115 a StPO sowie die §§ 114 a, 114 b StPO zur Bekanntgabe und Benachrichtigung sind anwendbar. Damit ist freilich noch nicht die Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO geklärt. Die Norm muss als „Gesetz“ im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG und als „förmliches Gesetz“ im Sinne des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG zunächst dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Unschuldsvermutung und dem Bestimmtheitsgebot entsprechen.

Zur Bedeutung der Dauer des Eingriffs vgl. Hantel, JuS 1990, 865, 870 mit Verweis auf den Zweck des Art. 104 GG. Siehe allgemein auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 104 Rdn. 8 m. w. N. auf die eigene Kommentierung in Art. 2 Rdn. 86 ff., sowie Gusy, NJW 1992, 457, 458 ff. Nach AK-Azzola, GG Bd. 2 (1989), Art. 104 Rz. 21 und 37, ist (wohl) in jedem Fall der Festnahme generell eine Freiheitsentziehung anzunehmen. Nach BVerfGE 94, 166, 198 („Asylbegehren“), kommt eine Freiheitsentziehung nur in Betracht, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit „nach jeder Richtung hin aufgehoben wird“. 298 Soweit die Polizei zu Zwecken der Strafverfolgung tätig wird, geht Art. 104 Abs. 3 GG Art.104 Abs.2 S.3 GG vor; vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art.104 Rdn.22 m.w.N. 299 Vgl. hierzu die Ausführungen zu den formellen Voraussetzungen des Haftbefehls und der vorläufigen Festnahme oben im 2. Kap., 2. Abschn. sowie 2. Kap., 3. Abschn. B. 297

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Diese Prinzipien werden hier als „Schranken-Schranken“ 300 gegen § 127 b StPO als Begrenzung des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG angesehen. Zwar gibt es insbesondere hinsichtlich der Unschuldsvermutung das Bestreben, sie als eigenständiges subjektives Recht zu bezeichnen 301. Insofern wäre auch die gesonderte Überprüfung der Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit der Unschuldsvermutung als „Prozessgrundrecht“ vorstellbar. Strukturell stünde sie dann in einer Reihe mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Dessen eigenständige subjektivgrundrechtliche Funktion ist allgemein anerkannt 302. Die hier bestimmte Prüfung als „Schranken-Schranke“ erscheint angesichts der nicht immer klaren Einordnung der Unschuldsvermutung in das Rechtsstaatsprinzip 303 jedoch angemessen. Sie zollt letztlich formal der Tatsache Tribut, dass die Unschuldsvermutung ganz überwiegend nicht als eigenständiges Recht im Sinne eines „Grundrechts“ behandelt wird. Die Rechtsprechung und auch die Literatur lehnen sie vielmehr über die allgemeine Verankerung im Rechtsstaatsprinzip ausdrücklich an verschiedene Grundrechte der Verfassung 304. Diese Sicht mag nicht selten den objektiv-„rechtsstaatsbildenden“ und durch den Gesetzgeber „ausfüllungsbedürftigen“ Gehalt des Prinzips hervorheben 305. Gleichwohl bleiben aber auch bei der hier gewählten Einstufung ungehindert Möglichkeiten subjektive Rechtsgehalte der Unschuldsvermutung zu betonen. Eine „mindere Bedeutung“ oder „abgestufte Wirkung“ soll also mit der Einfädelung in die Prüfung des Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG nicht zum Ausdruck kommen. Von diesen methodischen Erwägungen abgesehen, gebührt zunächst der Prüfung der Verhältnismäßigkeit besondere Aufmerksamkeit. Dies trägt der „überra300 Vgl. zur Schranken-Schranken-Systematik allgemein Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat (1998), S. 117 ff. 301 Der Titel der Berner Diss. von Tophinke, „Das Grundrecht der Unschuldsvermutung...“ (2000), lässt an einem subjektiven Rechtsgehalt des Instituts keine Zweifel aufkommen. 302 Vgl. hier nur BVerfG, StV 1993, 352, 352 („nicht genügende Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung beim Rechtsfolgenausspruch“), und BVerfG, StV 1993 465, 465 („Bewährungsweisung“), wo von dem Grundsatz des fairen Verfahrens als „Prozeßgrundrecht“ die Rede ist. Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand (1990), S. 343, spricht in ihrer Zusammenfassung der Betrachtung des GG und der EMRK vom „Grundrecht auf Verteidigerbeistand“ [Hervorhebung im Original] 303 Vgl. BVerfGE 82, 106, 115 („§153 Abs.2 StPO“) und auch BVerfGE 74, 358, 370 f. („Privatklageverfahren“). Zur Frage wie sich Prinzipien und Regeln zu der objektiven und subjektiven Dimension der Grundrechte verhalten vgl. etwa Alexy, Der Staat 29 (1990), 49, 55 ff. 304 Vgl. an dieser Stelle BVerfG, NJW 1994, 337, 337 f. („Verdacht einer strafbaren Handlung während Strafvollstreckung“); BVerfGE 20, 162, 162 ff. („Spiegelurteil, Durchsuchung von Presseräumen“), und auch BVerwGE 78, 285, 290 ff. („Ausweisung nach Straftat, Unschuldsvermutung, Interessenabwägung“). Siehe aus der Lit. Stuckenberg, Unschuldsvermutung (1998), S. 539 f. und S. 544 ff., der der Unschuldsvermutung kaum – wenn nicht keine – eigenständigen subjektiven Gehalte abgewinnen kann. Eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, so heißt es bei Jarass in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 20 Rdn. 29, könne vom Bürger insbesondere über Art. 2 Abs. 1 GG geltend gemacht werden. 305 Vgl. wieder die „offenen“ Formulierungen in BVerfGE 82, 106, 115 („§ 153 Abs. 2 StPO“).

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

genden Bedeutung“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor dem Hintergrund Rechnung, dass Haft und Festnahme ganz erheblich in die Freiheit des Einzelnen eingreifen 306. II. Prüfung der Verhältnismäßigkeit 1. Allgemeines Im Rahmen des § 127 b StPO hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip zum Ersten Bedeutung für die Prüfung des Abs. 1 Nr. 1. Das beschleunigte Verfahren muss gegenüber Verfahren nach § 153 StPO, § 153 a StPO, § 153 b StPO, § 46 a StGB und §§ 407 ff. StPO geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein 307. Zum Zweiten ist zu fragen – und das interessiert nun hier –, ob § 127 b StPO an sich verhältnismäßig ist. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit beantwortet die Frage, ob die Norm den an sie gestellten rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht wird. Als gemeinschaftsgebundener Bürger muss der Beschuldigte nur solche staatlichen Maßnahmen hinnehmen, die unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfolgen 308. Das Fehlen einer § 112 Abs. 1 S. 2 StPO vergleichbaren ausdrücklichen Regelung in § 127 b StPO ist unerheblich. Der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat“, so stellt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zum Haftgrund „Tatschwere“ fest, „verfassungsrechtlichen Rang“ 309. „Er ergibt sich“, so heißt es weiter, „aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit eingeschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist“ 310. 306 Siehe BVerfGE 19, 342, 347 („Tatschwere“), wonach die Untersuchungshaft „in Anordnung und Vollzug“ von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „beherrscht“ werden muss. Vgl. i. d. S. auch Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148. Grasberger, GA 1998, 530, 532, sieht in ihrer möglichen Unverhältnismäßigkeit die „eigentliche Problematik“ der Hauptverhandlungshaft. Nach SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), Vor § 112 Rdn. 20, „beherrscht“ der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das gesamte öffentliche Recht; „dieses Prinzip erst“, so Hassemer, StV 1982, 275, 276, im Zusammenhang zu Effektivität im Strafverfahren, „schafft Gerechtigkeit“. Nach Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 20 Rdn. 80, hat der Grundsatz eine „kaum zu überschätzende Bedeutung erlangt“. Siehe allgemein zur Begrenzungsfunktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG (2000), Art. 2 Rdn. 24. 307 s. o. 2. Kap., 1. Abschn. E. VI. 2. c). 308 So die Formulierung nach BVerfGE 34, 238, 246 („Tonbandentscheidung I“), mit der Feststellung, dass der Bürger Eingriffe in den „unantastbaren Privatbereich“ nicht zu dulden hat. 309 Vgl. BVerfGE 19, 342, 348 („Tatschwere“). Zum verfassungsrechtlichen Rang vgl. auch etwa BVerfGE 23, 127, 133 f. („Ersatzdienst“). Aus der Lit. vgl. nur Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 105, und allgemein Jakobs, Verhältnismäßigkeit (1985), S. 34 ff. 310 BVerfGE 19, 342, 348 f. („Tatschwere“).

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Trotz der sich aus dieser Formulierung aufdrängenden Schwierigkeiten begründungstheoretischer Art 311, hat sich ein erstaunlich weiter Konsens bezüglich des Inhalts des Prinzips herausgebildet. Seit Jahrzehnten werden in Rechtsprechung und Literatur die drei Teilelemente „Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“ und „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ genannt 312. Umstritten ist allerdings, ob die Verhältnismäßigkeit Voraussetzung für die Verhängung eines Haftbefehls ist 313 oder erst die positiv festgestellte Unverhältnismäßigkeit die Rechtmäßigkeit ausschließt 314. Letztere Ansicht wird in Bezug zur Haft aufgrund §§ 112, 112 a StPO mit der „negativen Formulierung“ des § 112 Abs. 1 S. 2 StPO begründet 315. Haft darf nach dem Wortlaut des Abs. 1 S. 2 „nicht angeordnet werden, wenn sie (...) außer Verhältnis steht“. Da § 127 b StPO den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht nennt, zeigt sich aus der Formulierung der Norm jedoch weder ein Argument für noch eines gegen die Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung oder als Ausschlussgrund. Zudem ist es generell problematisch, die Einordnung eines Verfassungsprinzips als Voraussetzung oder Ausschlussgrund entscheidend von der Formulierung des einfachen Gesetzes abhängig zu machen 316, und in der Praxis werden sich zwischen beiden Ansichten, wie Hellmann zu Recht meint, so oder so „keine Unterschiede“ ausmachen lassen 317.

311 Vgl. allgemein Stern, Staatsrecht Bd. I (1984), S. 865 f.; KK-Pfeiffer, StPO (2003), Einl. Rdn. 30; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1980), Art. 20, VII, Rdn. 71 ff.; kritisch gegenüber der Formulierung in BVerfGE 19, 342, 348 f. („Tatschwere“) zeigt sich Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961), S. 29 ff. und S. 32 f., wonach sich alle „Rechtfertigungsversuche aus Verfassungsklauseln herkömmlicher Prägung“ als unergiebig erweisen; wohl zustimmend äußert sich hingegen Jakobs, Verhältnismäßigkeit (1985), S. 42 ff.; zur Akzentuierung des Art. 19 Abs. 2 GG vgl. Dürig, AöR 81 (1956), 117, 146 f., sowie v. Krauss, Verhältnismäßigkeit (1955), S. 47 ff. Nach v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG (2001), Art. 20 Rdn. 31, „braucht“ der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „nicht“ aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet zu werden, weil er sich bereits aus dem „Wesen der Grundrechte selbst“ ergebe. Eine Übersicht über Herleitungsmöglichkeiten findet sich auch bei Degener, Verhältnismäßigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen (1985), S. 46 und dort FN 84 bis FN 86. 312 Das gilt trotz aller terminologischer Unterschiede. Vgl. hierzu die zahlreichen Nachweise bei Degener, Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1995), S.25 ff., in dessen grundlegenden Vorbemerkungen. Vgl. auch die Einführung bei Hirschberg, Verhältnismäßigkeit (1981), S. 2 ff., 15 ff., und dessen Übersicht über die Uneinheitlichkeit des Sprachgebrauchs S. 19 ff. 313 Vgl. zum Streitstand SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 10 m. w. N. 314 So wohl die Ansicht der h. M.; vgl. Beulke, Strafprozeßrecht (2004), Rdn. 216; Volk, Strafprozeßrecht (2001), § 10 Rdn. 12; Schlüchter, Strafverfahren (1983), Rdn. 220.1. Auch nach Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 b, darf der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „nicht entgegenstehen“. 315 KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 44. 316 I. d. S. auch Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 407, wonach die Erwähnung in § 112 StPO „nichts“ an der generellen Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ändert. 317 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

2. Geeignetheit Die Geeignetheit besagt, dass eine Regelung nur dann verfassungsgemäß sein kann, wenn sie ein zulässiges gesetzgeberisches Ziel mit geeigneten Mitteln verfolgt 318. Geeignet ist ein Mittel, wenn es seinen legitimen Zweck erreichen oder zumindest fördern kann 319. Zur Beurteilung der Geeignetheit wird dem Gesetzgeber ein Prognosespielraum zugestanden. Bei objektiver Untauglichkeit des Mittels ist ein Gesetz verfassungswidrig 320. Die schlicht unnötige Beeinträchtigung von Rechten entspricht nicht dem Bild grundgesetzlich gewährleisteter Freiheiten. § 127 b StPO muss also einen Beitrag zur Anwesenheitssicherung und Effektivität im Strafverfahren leisten können. Das kann die Norm, indem ein auf frischer Tat Betroffener oder Verdächtigter festgenommen, inhaftiert und zum Erscheinen in der Hauptverhandlung gezwungen wird. Ebenso kann die Regelung sicherlich das Verfahren effektivieren. Der Prozess wird bewusst kurz gehalten. Es sind Fälle vorstellbar, in denen gegenüber Betroffenen gerade unter Rückgriff auf § 127 b StPO die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren durchgeführt wird, was ohne diese Inhaft- und Festnahmeermächtigung nicht möglich wäre. § 127 b StPO ist demnach im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine geeignete Regelung 321. 3. Erforderlichkeit Das Teilelement Erforderlichkeit gebietet, dass die öffentliche Gewalt auf das relativ mildeste Mittel zurückgreifen muss. Das ist die Maßnahme, die unter gleichwirksamen ihren Zweck für den Betroffenen weniger belastend erfüllt. Es darf kein anderes Mittel geben, welches unter geringeren Belastungen des Grundrechtsträgers zur Zielerreichung ebenso geeignet ist 322. Insoweit besteht also kein echtes Wahlrecht zwischen verschiedenen Regelungen, deren Zwecke sich mit denen des § 127 b StPO überschneiden und diese gleichwirksam erfüllen 323. Ob § 127 b StPO den Anforderungen an die Erforderlichkeit gerecht wird, lässt sich nicht so klar beurteilen wie seine Geeignetheit. Die StPO verfügt über eine 318 Statt vieler Pieroth/Schlink, Grundrechte (2001), Rdn. 279; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 20 Rdn. 84; Windthorst, Verfassungsrecht I (1994), § 10 Rdn. 10 ff. 319 Vgl. v. Münch/Kunig, GG (1992), Art. 20 Rdn. 255. 320 BVerfGE 67, 157, 173 („Maßnahmen zur Überwachung des Brief- und Telefonverkehrs“) m. w. N. 321 Dies wird nirgends angezweifelt; vgl. nur Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 122; Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 99. 322 Vgl. hierzu K. R. Albrecht, Zumutbarkeit (1985), S. 72 und den dort in FN 238 in diesem Zusammenhang als „leading case“ bezeichneten Fall BVerfGE 30, 292, 316 („Erdölbevorratung“). 323 I. d. S. auch Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961), S. 21.

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Reihe von Instrumenten, die unmittelbar der Sicherung der Hauptverhandlung bei Ausbleiben des Angeklagten dienen und einen Abschluss des Verfahrens ohne Anwesenheit des Betroffenen gewährleisten. Diese Regelungen bringen auch Effektivität zum Ausdruck: Konkret ist zunächst die Vorführung gemäß § 230 Abs. 2 StPO in Betracht zu ziehen. Sie kann auch zur Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren angeordnet werden 324. Bei leichter Kriminalität bietet § 232 Abs. 1 StPO die Möglichkeit der Durchführung der Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Angeklagten. § 232 Abs. 1 StPO lässt eine Abwesenheitsverhandlung zu, die über das mit Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO vergleichbare, eigenmächtige Ausbleiben hinaus, keine weiteren Ansprüche an das Verhalten des Verdächtigten stellt 325. Auch sind die Anordnungen einer Sicherheitsleistung gemäß § 127 a StPO oder. gemäß § 132 StPO grundsätzlich begehbare Wege, das Verfahren für den Betroffenen relativ schonend durchzuführen. Beide Regelungen sind Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 326. Als Option zur Haft aufgrund § 127 b StPO lassen sich darüber hinaus eine entsprechende Anwendung des § 408 a StPO und der „elektronisch überwachte Hausarrest“ diskutieren. Letzteres wird zumindest von Fülber als ein gegenüber der Hauptverhandlungshaft milderes Mittel in Erwägung gezogen 327 und verdient von daher eine Betrachtung. Alle diese Vorgehensmöglichkeiten kommen zunächst grundsätzlich als Optionen gegenüber der Hauptverhandlungshaft und der vorläufigen Festnahme aufgrund § 127 b StPO in Frage. Zur Untersuchung bietet es sich an, die konkreten Anwendungsbereiche der Institute aufzuzeigen. Damit wird das Feld abgesteckt, innerhalb dessen die Optionen gegenüber der Hauptverhandlungshaft und der vorläufigen Festnahme aufgrund § 127 b StPO ebenso wirksame Mittel darstellen können. Dabei sollen die Anordnung der Untersuchungshaft aufgrund §§ 112, 112 a StPO sowie die vorläufige Festnahme nach § 127 StPO außen vor bleiben. Im Hinblick auf das Freiheitsrecht des Beschuldigten stellen diese Maßnahmen gegenüber denen aufgrund 127 b StPO abstrakt-generell keine milderen, sondern ebenso einschneidende Mittel dar. a) Vorführung des Beschuldigten gemäß § 230 Abs. 2 StPO Das Gericht kann gemäß § 230 Abs. 2 StPO bei unentschuldigtem Ausbleiben jederzeit das persönliche Erscheinen des Angeklagten anordnen und durch VorfühVgl. nur Meyer-Goßner, StPO (2003), § 418 Rdn. 6. Die weiteren Ausnahmen des Anwesenheitsgrundsatzes gem. §230 Abs.1 StPO erschöpfen sich im Wesentlichen in Gründen, die im Verhalten des Angeklagten liegen: z. B. die Herbeiführung der Verhandlungsunfähigkeit (§ 231 a StPO) sowie die Beeinträchtigung des Verfahrensablaufs (§ 231 b StPO und § 247 StPO). Siehe des Weiteren zur Verhandlung in Abwesenheit nach Antrag des Angeklagten oder des Verteidigers § 231 c StPO sowie § 233 StPO. 326 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 a Rdn. 1. 327 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 92 f. 324 325

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

rungsbefehl erzwingen. Ausgeblieben ist der Angeklagte der Hauptverhandlung, wenn er nicht anwesend war 328. Die Voraussetzungen eines Haftbefehls müssen nicht vorliegen 329. Nach einhelliger Rechtsprechungs- und Literaturansicht zu den §§ 112, 112 a StPO hat die Vorführung nach § 230 Abs. 2 StPO als milderes Zwangsmittel grundsätzlich Vorrang vor Haft 330. Der Vorrang gilt immer dann, wenn anzunehmen ist, dass mit der Vorführung die Anwesenheit des Angeklagten gewährleistet und so die Durchführung der Hauptverhandlung gleich wirksam gesichert werden kann. Dies lässt sich auf § 127 b StPO übertragen. Im Verhältnis zu § 127 b StPO kann der Vorrang sogar erst recht gelten 331, da der Einschnitt in die Rechte des Beschuldigten an weniger strenge Voraussetzungen geknüpft ist, als es die Haftgründe nach §§ 112, 112 a StPO vorsehen. Die Gefahr eines aktiven Ausbleibens des Beschuldigten ist in § 127 b StPO im Gegensatz zur Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht gefordert. Denn gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO genügt die Befürchtung des Fernbleibens von der Hauptverhandlung, also die Befürchtung von bloßem Nichtstun. Dass die Vorführung in § 230 Abs. 2 StPO ausdrücklich als Alternative zur Haft genannt ist, nicht aber in § 127 b StPO, darf nicht zu Lasten des Beschuldigten gehen 332. Dies ergibt sich aus der übergeordneten Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Verfassungsprinzip 333. § 127 b StPO ist als abstrakt-generelle Norm also verfassungswidrig, wenn die Regelung der zwangsweisen Vorführung gleich wirksam ist. Ob allerdings § 230 Abs. 2 StPO das Verfahren in jedem Fall gleich wirksam sichern kann wie § 127 b StPO, ist zweifelhaft. 328 KK-Tolksdorf, StPO (2003), § 230 Rdn. 3. Zur strittigen Frage des Ausbleibens im Fall der Verhandlungsunfähigkeit siehe bejahend BGHSt 23, 331, 334 („Trunkenheit“); OLG Düsseldorf, JR 1991, 294, 294 ff. („Medikamenteneinnahme“), und SK-Schlüchter, StPO (Stand: 1994), § 230 Rdn. 9; zur a. A. vgl. Welp, JR 1991, 265, 269 f. Wann Ausbleiben im Einzelnen vorliegt, wird untersucht von Lemke, NJW 1980, 1494, 1495. 329 Zur Frage der Voraussetzungen eines Vorgehens nach § 230 Abs. 2 StPO vgl. Gollwitzer, StV 1996, 255, 256; aus der Rspr. siehe BVerfGE 32, 87, 93 („Aufrechterhaltung eines Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO“). 330 Vgl. BVerfGE 32, 87, 94 („Aufrechterhaltung eines Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO“); OLG Düsseldorf, NStZ 1990, 295, 296 („Erlass eines Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO“) m. w. N.; LG Zweibrücken, NJW 1996, 737 („betrunkener Angeklagter“); Hellmann, Strafprozeßrecht (1998), Teil II. § 4 Rdn. 33; Münchhalffen/Gatzweiler, Recht der Untersuchungshaft (2002), Rdn. 389. 331 Vgl. Schröer, beschleunigtes Strafverfahren (1998), S. 99; Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148, und ders., Strafprozeßrecht (1998), Teil II. § 4 Rdn. 33; siehe auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 16. 332 Vgl. auch § 133 Abs. 2 StPO und § 134 StPO zur Sicherung der richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Vernehmung des Beschuldigten vor Eröffnung des Hauptverfahrens sowie § 236 StPO zur Anordnung des persönlichen Erscheinens bei zulässiger Abwesenheitsverhandlung. 333 So auch Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148. Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 123, sprechen von einem „Versäumnis des Gesetzgebers“; siehe auch OLG Celle, NStZ 1991, 598, 599 („psychiatrisches Sachverständigengutachten“).

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Die Vorführung gemäß § 230 Abs. 2 StPO dient der Sicherstellung des Erscheinens des Angeklagten in der Hauptverhandlung 334. Dies ist gegenüber dem Zweck des § 127 b StPO grundsätzlich ein Weniger. § 127 b StPO sichert das Verfahren bis zum Abschluss der Hauptverhandlung. Das Weniger an Sicherung aufgrund § 230 Abs. 2 StPO spricht für die Erforderlichkeit des § 127 b StPO. Ist jedoch das Erscheinen durch Vorführung sichergestellt, kann ein Sich-entfernen des Vorgeführten durch Ausübung geeigneter Maßnahmen aufgrund § 231 Abs. 1 S. 2 StPO nahtlos verhindert werden 335. Die Hauptverhandlung kann dann durchgeführt werden. Lässt sich so die Verhandlung sichern, ist die Vorführung gegenüber der Hauptverhandlungshaft nicht nur eine schonendere, sondern auch eine effektivere Regelung. Ein Haftplatz beispielsweise ist nur bei der Haft aufgrund § 127 b StPO bereitzustellen. Vor diesem Hintergrund erkennen Stintzing/Hecker einen Verstoß gegen das Erforderlichkeitsgebot und somit eine Verfassungswidrigkeit des § 127 b StPO 336. In nicht wenigen Fällen überschneiden sich die Anwendungsbereiche des § 230 Abs. 2 StPO tatsächlich mit denen des § 127 b StPO. Betreffend denjenigen, der in einer Verhandlung ausgeblieben ist, darf nicht selten ein Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO befürchtet werden. Das Ausbleiben in der Vergangenheit kann zumindest ein Indiz zur Begründung der Fernbleibebefürchtung sein. Ist jedoch der Verdächtigte bisher noch nicht ausgeblieben, ist § 230 Abs. 2 StPO unanwendbar. Die Regelung vermag die Durchführung der Hauptverhandlung dann also nicht zu gewährleisten. Die Sicherung durch § 127 b StPO kommt hingegen auch gegenüber bisher nicht ausgebliebenen Verdächtigen in Frage. Das Ausbleiben muss im Rahmen des § 127 b StPO gerade nicht erst abgewartet werden 337. § 127 b StPO ist eine im Vorfeld des § 230 Abs. 2 StPO greifende Ermächtigungsnorm. Unter strenger Ansicht der Gleichgeeignetheit aller zur Verfügung stehender Mittel, ergibt sich daraus schon die Erforderlichkeit des § 127 b StPO im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das Instrument des Vorführungsbefehls ist zudem eher ineffektiv, wenn der Betroffene wahrscheinlich nur schwer greifbar sein wird 338. Mitunter schwierig und in Anbetracht der Wahrscheinlichkeit fehlschlagender Ladungen vergleichsweise 334 Mit dem Erscheinen des Angeklagten in der Hauptverhandlung wird der Vorführungsbefehl gegenstandslos; vgl. HK-Julius, StPO (2001), § 230 Rdn. 7. Die §§ 133 Abs. 2, 134 StPO sichern lediglich die Anwesenheit des Beschuldigten im Termin zur richterlichen Vernehmung. Die Vorführung aufgrund § 163 a Abs. 3 StPO erzwingt das Erscheinen des Beschuldigten zu jeder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung; vgl. KMR-Plöd, StPO (Stand: 2001), § 163 a Rdn. 15. 335 Vgl. KK-Tolksdorf, StPO (2003), § 230 Rdn. 11, und zu konkreten Maßnahmen ders., a. a. O. § 230 Rdn. 2. 336 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 571, 573, unter Betonung der Einfachheit der Organisation einer unverzüglichen Vorführung. 337 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 4. 338 Im Ergebnis auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 99.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

zeitraubend, ist die Vorführung von Personen ohne festen Wohnsitz oder ohne festen Aufenthaltsort 339. Voraussetzung für den Erlass eines Vorführungsbefehls aufgrund § 230 Abs. 2 StPO ist eine ordnungsgemäße Ladung 340. Nach § 216 Abs. 1 S. 1 StPO geschieht die Ladung des auf freiem Fuß Befindlichen schriftlich unter der Warnung, dass im Falle seines unentschuldigten Ausbleibens seine Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde. Grundsätzlich erfolgt die Zustellung durch Übergabe des Schriftstücks gemäß § 37 StPO i.V. m. § 180 ZPO an dem Ort, an dem die Person, der zugestellt werden soll, angetroffen wird 341. Ist ein Wohnsitzloser trotz aller Schwierigkeiten zur Hauptverhandlung geladen und warten die Strafverfolgungsbehörden dessen Ausbleiben ab, wird er am Terminstag meist nicht auffindbar sein 342. Ein Vorführungsbefehl kann dann nicht zeitnah-effektiv vollstreckt werden. Das gilt auch in Fällen, in denen zwar der Aufenthaltsort des Beschuldigten grundsätzlich bekannt ist, dieser sich jedoch weit entfernt vom Gericht aufhält. Die Hauptverhandlung muss eventuell neu terminiert werden. Unwägbarkeiten hinsichtlich des Vorführungsbefehls erübrigen sich nur, wenn der Betroffene aufgrund § 127 b StPO auf frischer Tat festgenommen und inhaftiert wird. Wie sich nun die Nichtanwendbarkeit des § 230 Abs. 2 StPO auf Personen, die der Hauptverhandlung noch nicht ferngeblieben sind und die Schwierigkeiten der Sicherung des Verfahrens aufgrund § 230 Abs. 2 StPO gegenüber Wohnsitzlosen praktisch auswirken, ist umstritten. Nach Boujong und Fülber kann eine zwangsweise Vorführung gemäß § 230 Abs. 2 StPO im beschleunigten Verfahren schon deshalb keine große Bedeutung haben, da die Vorschrift eben ein erfolgtes Ausbleiben in der Hauptverhandlung voraussetzt 343. Die Tatsache, dass vor dem Erlass eines Vorführungsbefehls das Ausbleiben des Angeklagten abgewartet werden muss, spricht jedoch nicht prinzipiell gegen die Durchführung des beschleunigten Verfahrens. Das beschleunigte Verfahren kann auch unter Rückgriff auf § 230 Abs. 2 StPO zügig durchgeführt werden, wenn es entsprechend organisiert ist. Der mit einem Ausbleiben und einem Vorführungsbefehl einhergehende Zeitverlust „torpediert“ das beschleunigte Verfahren nicht von vornherein 344. Solange der Erfolg des Befehls wahrscheinlich ist, muss auch im beschleunigten Verfahren aus Erforderlichkeitserwägungen auf Haft verzichtet werden. 339 Zur Problematik einer Ersatzzustellung durch die Polizei kraft Gewohnheitsrecht (im Zusammenhang mit Strafbefehlen gegenüber Nichtsesshaften) vgl. Blankenheim, MDR 1992, 926, 928. 340 KK-Tolksdorf, StPO (2003), § 230 Rdn. 10. 341 Der Vorführungsbefehl wird gem. § 35 Abs. 2 S. 2 StPO formlos bekannt gemacht. In der Praxis ist die Bekanntmachung erst beim Vollzug des Befehls üblich, um sicherzustellen, dass sich der Angeklagte der Vorführung nicht entzieht; vgl. KK-Tolksdorf, StPO (2003), § 230 Rdn. 12. 342 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 16. 343 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 b Rdn. 16; Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 87. 344 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 87.

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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b) Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Verdächtigten gemäß § 232 Abs. 1 StPO Erscheint der Angeklagte nicht, ist das Gericht nicht gehalten, Zwangsmaßnahmen anzuordnen. Selbst nach einem erfolglosen Versuch, die Anwesenheit zu erzwingen, besteht keine Bindung des Gerichts an seine Anordnung 345. Für den Fall, dass die Prozesssituation das Erscheinen des Angeklagten doch erforderlich macht, stellt § 236 StPO die Befugnis des Gerichts klar, das persönliche Erscheinen des Angeklagten stets anordnen und durch einen Vorführungs- oder Haftbefehl erzwingen zu können 346. Sind die Voraussetzungen gegeben, liegt es gemäß § 232 Abs. 1 StPO im Ermessen des Gerichts, ohne den Angeklagten zu verhandeln. Nach § 232 Abs. 1 StPO kann die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchgeführt werden, wenn er ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann. In Abwesenheit kann die Verhandlung nur dann durchgeführt werden, wenn dem Verzicht auf Anwesenheit ein freier Entschluss des Betroffenen zugrunde liegt. Nur wenn es dem Angeklagten unbenommen ist, zur Hauptverhandlung zu erscheinen oder nicht, und ein Hinweis auf die Konsequenzen seines Ausbleibens erfolgt, steht sein Recht auf rechtliches Gehör der Abwesenheitsverhandlung nicht entgegen 347. Seine Präsenz fördert die Verteidigung und macht so die Wahrheitsfindung grundsätzlich verlässlicher. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass die Anwendung des § 232 Abs. 1 StPO gegenüber der des § 127 b StPO nur in Frage kommt, wenn der Eingriff in die Rechtsstellung des Angeklagten durch die Verhandlung in Abwesenheit weniger intensiv erscheint als durch Festnahme und Hauptverhandlungshaft im Vorfeld der Verhandlung 348. Unter den Voraussetzungen des § 232 Abs. 1 StPO ist dies grundsätzlich anzunehmen. Freiheitsentzug wirkt zumindest dann schwerer als der Verzicht auf Anwesenheit und als der autonome Verzicht auf Ausübung des Rechts auf rechtliches Gehör und somit auf eine verlässlichere Wahrheitsfindung, wenn eine mögliche Fehlverurteilung in Abwesenheit im Sinne des § 232 Abs. 1 StPO als Hauptstrafe keine höhere Strafe als Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen und als Maßregel die Entziehung der Fahrerlaubnis nach sich ziehen kann 349. Die Folgen möglicher Fehlverurteilungen sind dann gegenüber denen, die eine Inhaftnahme mit sich bringt, relativ mild. 345 OLG Celle, NJW 1970, 906, 907 („Erscheinen im Verfahren nach vorausgegangenem Strafbefehl“). 346 Vgl. näher zu § 236 StPO Julius, GA 1992, 295, 299. 347 Siehe i. d. S. Gollwitzer, in: FS-Tröndle (1989), S. 461, 464. 348 Vgl. Grasberger, GA 1998, 530, 534, und i.d. S. auch Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 83, und ders., NK 1996, 6, 6. 349 § 232 Abs. 1 StPO nennt darüberhinaus noch Verwarnung mit Strafvorbehalt, Verfall, Einziehung, Fahrverbot, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Da nun die Rechtsfolgenerwartung nach § 232 Abs. 1 StPO gegenüber der des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO deutlich zurückbleibt, kann § 232 Abs. 1 StPO schon aus diesem Grund gegenüber § 127 b StPO kein gleichwertiges Sicherungsmittel sein. Allein die Anwendbarkeit des § 127 b StPO außerhalb des Rechtsfolgenbereichs des § 230 Abs. 1 StPO auf Fälle, in denen eine vollstreckbare Freiheitsstrafe zu erwarten ist, begründet die Erforderlichkeit der Hauptverhandlungshaft und der vorläufigen Festnahme aufgrund § 127 b StPO 350. Grasberger geht mit Verweis auf den weiteren Rechtsfolgerahmen ebenfalls von der abstrakt-generellen Erforderlichkeit des § 127 b StPO und von seiner Unverhältnismäßigkeit in den Fällen des § 232 Abs. 1 StPO aus 351. De lege ferenda sei jedoch „als vernünftige Alternative zur Hauptverhandlungshaft nur eine Erweiterung des § 232 StPO durch den Gesetzgeber überlegenswert“ 352. Ihr geht es also um die Frage, ob den rechtlichen Interessen des Verdächtigten durch eine Erweiterung des § 232 Abs. 1 StPO nicht besser Rechnung getragen wird als durch ein gemäß § 127 b StPO gesichertes Anwesenheitsverfahren. Im Ergebnis befürwortet sie de lege ferenda eine Erweiterung des Abwesenheitsverfahrens auf alle Fälle des beschleunigten Verfahrens. Diese Ausweitung des § 232 Abs. 1 StPO sei für den Gesetzgeber gegenüber der Möglichkeit einer „quasi prophylaktischen Haftunterwerfung“ aufgrund § 127 b StPO ein milderes Mittel. Die Voraussetzung der Befürchtung des Fernbleibens nach § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO könnte bereits bei Tatsachen vorliegen, die dem Täter nicht zuzurechnen seien, wie zum Beispiel ein weites Auseinanderfallen von Tat- und Wohnort. Das Ausbleiben im Sinne des § 232 Abs. 1 StPO stünde dem Angeklagten hingegen zur Wahl. Der Wahrheitsfindung komme in den Fällen des beschleunigten Verfahrens nur eine geringere Bedeutung zu, da nach § 417 StPO die Sachlage einfach und die Beweislage klar sein muss 353. Einer derartigen Erweiterung des § 232 Abs. 1 StPO ist indessen nicht zuzustimmen. Zwar lässt sich gut vertreten, das rechtliche Gehör gemäß Abs. 103 Abs. 1 GG auch bei Abwesenheitsverhandlungen solange als nicht verletzt anzusehen, wie dem Angeklagten die Möglichkeit gegeben ist, an der Verhandlung teilzunehmen 354. Der Verdächtigte verzichtet auf sein Anwesenheitsrecht und damit auch auf die Wahrung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG. Mit dieser Sicht lässt sich eine Erweiterung des § 232 Abs. 1 StPO jedoch nicht entscheidend begründen. Das Interesse an Wahrheitsfindung fordert zumindest in den Fällen des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO, in denen eine Freiheitsstrafe ausgesprochen werden kann, ganz deutlich die Anwesenheit des Beschuldigten. Im Ergebnis auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 88. Grasberger, GA 1998, 530, 533, 535. 352 Grasberger, GA 1998, 530, 535. 353 Grasberger, GA 1998, 530, 534. 354 Siehe an dieser Stelle Grünwald, JZ 1976, 766, 770, Anm. zu BVerfG, JZ 1976, 765, 765 f. = BVerfGE 41, 246, 246 („Hauptverhandlung in Abwesenheit, §231 a StPO“), sowie Rüping, Grundsatz des rechtlichen Gehörs (1976), S. 145. 350 351

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Der persönliche Eindruck des Gerichts vom Verdächtigen ist in bestimmten Bereichen eine zwingende Voraussetzung für die Beurteilung der Strafzumessung nach § 46 StPO, also für eine an dessen Schuld gemessene Verurteilung. Gemäß § 47 Abs. 1 StPO kann eine kurze Freiheitsstrafe nur verhängt werden, wenn die „Persönlichkeit des Täters“ dies unerlässlich macht. Der persönliche Eindruck dient dem Aufklärungsinteresse 355. Bei abstrakt-genereller Betrachtung des Beschuldigteninteresses hängt sein Interesse für die Wahrheitsfindung nicht im Wesentlichen davon ab, ob die Sach- oder Beweislage einfach oder schwierig ist. Sie ist vielmehr umso bedeutsamer, je härter die Strafe des Verdächtigten ausfallen kann 356. Erkennt man grundsätzlich ein öffentliches Interesse an der Anwesenheit des Angeklagten, steht das Risiko einer Fehlverurteilung in Abwesenheit gegenüber einer Vereinfachung der Durchführung eines beschleunigten Verfahrens durch die Erweiterung der Möglichkeit von Abwesenheitsverfahren im Vordergrund. Das Risiko von Fehlurteilen ist in Abwesenheit höher als bei Anwesenheit. Demnach ist auch das öffentliche Interesse an Anwesenheit umso höher, je schwerwiegender das Urteil für den Betroffenen ausfallen kann. Dies hat der Gesetzgeber bei einer Suche nach Alternativen zu § 127 b StPO – unter Einbeziehung aller sich auf geschichtlicher Erfahrung mit Abwesenheitsverfahren stützender Bedenken 357 – zu beachten. c) Anordnung einer Sicherheitsleistung gemäß §§ 127 a, 132 StPO Gemäß § 127 a StPO kann gegenüber Beschuldigten, die in der Bundesrepublik keinen festen Wohnsitz oder Aufenthaltsort haben, davon abgesehen werden, eine Festnahme anzuordnen oder aufrechtzuerhalten. In der Sache gilt die Regelung demnach insbesondere für Ausländer 358. Voraussetzung ist zunächst, dass der Be355 Siehe nur BGHSt 3, 187, 190 („Ortsbesichtigung in Abwesenheit des Angeklagten“); 26, 84, 90 („Abwesenheit in Berufungshauptverhandlung“); Wendisch, StV 1990, 166, 166. 356 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 89. Siehe auch Loos, in: FS-Remmers (1995), S. 565, 575, im Zusammenhang mit § 407 Abs. 2 S. 2 StPO. Vgl. i. d. S. allgemein auch Peters, Strafprozeß (1985), § 59 II, S. 547. 357 Insgesamt sehr kritisch auch Grünwald, JZ 1976, 766, 771, Anm. zu BVerfG, JZ 1976, 765, 765 f. = BVerfGE 41, 246, 246 ff. („Hauptverhandlung in Abwesenheit, §231 a StPO“), mit Hinweis auf das Abwesenheitsverfahren bei Bagatelldelikten im Dritten Reich durch das Gesetz v. 28.06.1935; gem. § 232 Abs. 3 StPO (a. F.) konnte die Hauptverhandlung nach einer öffentlichen Ladung ohne den Angeklagten stattfinden. Am Ende der Entwicklung der Abwesenheitsverhandlungen im Dritten Reich stand § 232 Abs. 1 StPO (a. F.) v. 13.08.1942. Danach war in Abwesenheit die Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten zulässig. Niethammer, in: FS-Rosenfeld (1949), S. 119, 121 ff., skizziert die Entwicklung der Abwesenheitsvorschriften bis 1949. 358 Für eine Beschränkung auf Ausländer sind Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 a Rdn. 2, und LR-Hilger StPO (Stand: 1996), § 127 a Rdn. 3 m. w. N. auf LG Erfurt, NStZ-RR 1996, 180 („Sicherheitsleistung gegen EG-Bürger“), wonach darin keine durch Art. 6 EGV verbotene, versteckte Diskriminierung zu erkennen ist. Die Beschränkung stützt sich auf das historische Argument, dass § 127 a StPO vor allem wegen sich häufender Verkehrsdelikte durchreisender

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

troffene eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet und einen Zustellungsbevollmächtigten bestellt. Des Weiteren darf nicht damit zu rechnen sein, dass wegen der Tat eine Freiheitsstrafe verhängt oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet wird. § 127 a StPO ist nach seinem Wortlaut nur anwendbar, wenn die „Voraussetzungen eines Haftbefehls nur wegen Fluchtgefahr“ vorliegen. Anordnungsbefugt sind die Strafverfolgungsbehörden und der Richter, dem der Beschuldigte gemäß § 128 StPO vorgeführt wird 359. Die Sicherheit kann auch von Dritten geleistet werden 360. Zustellungsbevollmächtigter kann ein Beamter der Strafverfolgungsbehörde 361, ein Verwandter oder Bekannter des Beschuldigten oder auch ein Rechtsanwalt sein 362, der nach dem Wortlaut des § 127 a Abs. 3 i.V. m. § 116 a Abs. 3 StPO im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnen muss 363. Im Falle des Falles wird ein Strafbefehl oder die Ladung zur Hauptverhandlung dem Bevollmächtigten gemäß § 145 a Abs. 2 S. 2 StPO zugestellt. Die Vorschrift des § 132 StPO erweitert § 127 a StPO. Gemäß § 132 StPO kann die Durchführung des Strafverfahrens durch Leistung einer angemessenen Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens sichergestellt werden, wenn der Beschuldigte eine zum Empfang von Zustellungen berechtigte, im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person bevollmächtigt. Hinsichtlich der Leistung der Sicherheit besteht im Gegensatz zu § 127 a StPO kein Wahlrecht des Beschuldigten 364. Er darf, wie gemäß § 127 a Abs. 1 StPO, keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt in der Bundesrepublik haben 365. Daneben muss ein dringender Ausländer für notwendig erachtet worden ist; vgl. Geppert, Jura 1991, 269, 274. Der Wortlaut des § 127 a StPO erlaubt jedoch auch die Anwendung auf solche Beschuldigte, die eine deutsche Staatszugehörigkeit besitzen, aber im Ausland wohnen und daher im Bundesgebiet keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt haben; vgl. hier zu Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 490. 359 AK-Krause, StPO (1992), § 127 a Rz. 7; LR-Hilger StPO (Stand: 1996), § 127 a Rdn. 11. 360 KK-Boujong, StPO (2003), § 127 a Rdn. 5. 361 Zur Frage, ob dies auch der Beamte sein kann, der den Beschuldigten gestellt hat und die Anordnung trifft, vgl. bejahend AK-Krause, StPO (1992), § 127 a Rz. 6; zu § 132 StPO vgl. Geppert, GA 1979, 281, 295 und dort FN 51, sowie Greßmann, NStZ 1991, 216, 217, und LRHilger, StPO (Stand: 1996), § 127 a Rdn. 10 („in der Regel nicht sachgerecht“). 362 Gem. Nr. 60 RiStBV ist der Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass er einen Rechtsanwalt oder einen hierzu bereiten Beamten der Geschäftsstelle des zuständigen Amtsgerichts bestellen kann, sofern er einen Zustellungsbevollmächtigten nach eigener Wahl zunächst nicht bestellen kann. 363 Dem Wortlaut folgen Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 a Rdn. 7; Geppert, GA 1979, 281, 295. Zur Gegenansicht vgl. Dünnebier, NJW 1968, 1752, 1754; SK-Paeffgen StPO (Stand: 1992), §127 a Rdn.6; LR-Hilger StPO (Stand: 1996), §127 a Rdn. 10. Das Einverständnis des Zustellungsbevollmächtigten kann notfalls auch telefonisch eingeholt werden. Vgl. auch BayObLG, JR 1990, 36, 36 f. („Zustellung ohne Vollmacht in den Akten“), und die zustimmende Anm. von Wendisch, JR 1990, 37, 37 ff. 364 Dünnebier, NJW 1968, 1752, 1752. 365 Zur Beschränkung auf Ausländer vgl. wieder Geppert, GA 1979, 281, 281 ff.; ders., Jura 1991, 269, 274, und auch Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn. 425. Jakoby, StV 1993, 448,

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Tatverdacht bestehen. Ein Haftbefehl, sei es nun aus Gründen der Unverhältnismäßigkeit oder des Fehlens eines Haftgrundes, darf jedoch nicht erlassen werden können. Als Hauptstrafe muss im Sinne des § 132 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO eine Geldstrafe zu erwarten sein. Eine daneben zu erwartende Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Sicherungsmaßregel schließt die Anwendung aus 366. Die Anordnung dürfen gemäß § 132 Abs. 2 StPO nur der Richter und bei Gefahr im Verzug auch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten (§ 152 GVG) treffen 367. Der Zweck des Vorgehens nach §§ 127 a, 132 StPO liegt darin, die Strafverfolgung und Strafvollstreckung vor allem gegenüber durchreisenden Ausländern, die einer geringfügigen Straftat verdächtigt sind, zu sichern und ihnen zu ermöglichen, auf freiem Fuß zu bleiben 368. Zur Durchführung des Verfahrens bedarf es keiner Anordnung oder Aufrechterhaltung der Festnahme, keiner Vorführung und in der Folge auch keiner Inhaftierung. Leistet der Beschuldigte die Sicherheit und bestellt er einen Bevollmächtigten, darf er wieder außer Landes reisen. Das Strafverfahren wird unterdessen fortgesetzt 369. Die geleistete Sicherheit wird als Vorschuss auf die im Urteil festgesetzte Geldstrafe und die Verfahrenskosten behandelt 370. Grundsätzlich erscheinen damit Anordnungen gemäß §§ 127 a, 132 StPO gegenüber Sicherungen aufgrund § 127 b StPO als mildere Sicherungsmittel. In der Sache würde dies insbesondere in den zu § 127 b StPO diskutierten Fällen kleinerer Kriminalität unter wahrscheinlicher Beteiligung von Ausländern gelten können. Die Anwendung des § 127 b StPO erschiene dann als nicht erforderlich. Generell fraglich ist indes die Anwendbarkeit des § 127 a StPO, wenn keine Fluchtgefahr besteht, sondern lediglich die Befürchtung des Fernbleibens im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO. Der Wortlaut „nur wegen Fluchtgefahr“ in § 127 a Abs. 1 StPO führt unstreitig dazu, dass die Norm nicht anwendbar ist, wenn „auch“ der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr vorliegt 371. Er spricht aber ebenso für sei448 und dort FN 1, hält Anordnungen nach §132 Abs. 1 StPO gegen bereits wieder im Ausland befindliche Beschuldigte für unstatthafte Repressionen, die die potentielle Einreise des Beschuldigten verhindern. Gemessen an der Schwere des Eingriffs, sind sie aber auch dann gegenüber dem Erlass eines Haftbefehls vorzuziehen – so zutreffend Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 494 und dort in FN 255 m. w. N. auf Jakoby, a. a. O. 366 Dünnebier, NJW 1968, 1752, 1753. 367 Analog § 125 Abs. 1 StPO ist auch der Richter bei dem AG, in dessen Bezirk sich der Beschuldigte aufhält, anordnungsberechtigt; vgl. Dünnebier, NJW 1968, 1752, 1754; AK-Krause, StPO (1992), § 132 Rz. 4. 368 Meyer-Goßner, StPO (2003), § 132 Rdn. 1; KK-Boujong, StPO (2003), § 132 Rdn. 1. 369 Für den weiteren Verlauf des Verfahrens bietet sich unter Umständen ein Antrag des Beschuldigten gem. § 233 Abs. 1 StPO oder das Vorgehen gem. § 232 Abs. 1 StPO an; vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 533. Siehe zum weiteren Verfahren auch Dünnebier, NJW 1968, 1752, 1755. 370 Vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), § 132 Rdn. 8, und § 127 a Rdn. 6. Im Falle einer Verurteilung kann zur Vollstreckung auf die geleistete Sicherheit zurückgegriffen werden. 371 Vgl. Dünnebier, NJW 1968, 1752, 1753, und siehe Eb. Schmidt, StPO LehrK Teil II (1957), § 117 Rdn. 2. 20*

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

ne Nichtanwendbarkeit bei befürchtetem Fernbleiben. Wäre § 127 a StPO bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO gesperrt, könnte § 127 a StPO gegenüber § 127 b StPO nie eine mildere Option sein. Betrachtet man sich die Folge des § 127 a StPO – Absehen von der Anordnung oder Aufrechterhaltung der Festnahme –, ist jedoch kein durchschlagender Grund dafür ersichtlich, § 127 a StPO bei Vorliegen der Fernbleibebefürchtung im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO auszuschließen. Es besteht kein Anlass, einem Beschuldigten, bei Gefahr dahingehend, dass er sich dem Verfahren aktiv entzieht, unter den Voraussetzungen des § 127 a StPO Freiheit zu gewähren, nicht aber einem Beschuldigten, dessen passives Nichterscheinen zu befürchten ist 372. § 127 a Abs. 1 StPO ist demnach so zu lesen, dass „die Voraussetzungen eines Haftbefehls nur wegen Fluchtgefahr oder der Befürchtung des Fernbleibens vorliegen“. Das Vorgehen nach § 127 a StPO und.. § 132 StPO kann also gegenüber dem gemäß § 127 b StPO ein milderes Mittel sein. In den Fällen der §§ 127 a, 132 StPO ist die Fest- und Inhaftnahme des Beschuldigten aufgrund § 127 b StPO daher rechtswidrig 373. Praktisch werden dies im Wesentlichen Konstellationen sein, die unter möglicher Beteiligung von Ausländern im Gesetzgebungsverfahren und in der Literatur zu § 127 b StPO beispielhaft dafür genannt wurden, dass das Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO befürchtet werden kann 374. Da andererseits weder § 127 a StPO noch § 132 StPO anwendbar ist, wenn der Betroffene keine angemessene Sicherheit leisten will oder kann, ist § 127 b StPO abstrakt-generell erforderlich. Letzteres gilt deutlich mit Blick auf Beschuldigte aus wirtschaftlich schwachen Gesellschaftsschichten. Für die Erforderlichkeit sprechen noch weitere Gründe. Sie zeigt sich auch durch die Beschränkung der §§ 127 a, 132 StPO auf Personen ohne festen Wohnsitz oder Aufenthalt im Geltungsbereich der StPO. § 127 b StPO verlangt zudem nicht die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten. Die Rechtsfolgenerwartung gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2, 3 StPO ist schließlich weiter als die nach §§ 127 a, 132 StPO. Das Vorgehen gemäß §§ 127 a, 132 StPO ist also offensichtlich nicht in allen Fällen anwendbar, in denen § 127 b StPO anwendbar sein soll. Damit sind §§ 127 a, 132 StPO keine im Sinne der Erforderlichkeit „gleich wirksame“ Sicherungsinstrumente. Zutreffend auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 84 f. Deutlich auch Meyer-Goßner, StPO (2003), § 127 b Rdn. 10. Zögerlicher formulieren Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679, wonach die vorläufige Festnahme gem. § 127 b Abs. 1 StPO nicht erforderlich sein „dürfte“, wenn die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit besteht, eine Sicherheitsleistung gem. §§ 127 a, 132 StPO zu nehmen, und Schlüchter/Fülber/ Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S.123, wonach die Anwendung des 127 b StPO dann ausgeschlossen sein „sollte“. 374 Vgl. an dieser Stelle wieder Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11648, sowie Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 94; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 127 b Rdn. 13, sowie auch Eisenberg, Beweisrecht StPO (2002), Rdn. 764 b, und Herzog, StV 1997, 215, 216. 372 373

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d) Strafbefehl nach Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 408 a StPO Können § 230 Abs. 2 StPO, § 232 Abs. 1 StPO oder §§ 127 a, 132 StPO das Verfahren nicht effektiv sichern, kann immer noch die Möglichkeit der Erledigung der Sache im Strafbefehlsverfahren Untersuchungshaft entbehrlich machen 375. Abgesehen von der Durchführung des Strafbefehlsverfahrens gemäß §§ 407 ff. StPO als Option gegenüber der Behandlung der Sache im beschleunigten Verfahren, kommt als weiteres milderes Mittel ein Vorgehen gemäß § 408 a Abs. 1 StPO in Betracht, wenn das Hauptverfahren bereits eröffnet ist 376. Gemäß § 408 a StPO kann im Verfahren vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehlsantrag stellen, wenn die Voraussetzungen des § 407 Abs. 1 StPO vorliegen und, wenn der Durchführung der Hauptverhandlung das Ausbleiben oder die Abwesenheit des Angeklagten oder ein anderer wichtiger Grund entgegensteht. Dem Antrag der Staatsanwaltschaft ist gemäß § 408 a Abs. 2 i.V. m. § 408 Abs. 3 S. 1 StPO zu entsprechen, wenn dem Erlass des Strafbefehls keine Bedenken entgegenstehen. Der nach § 408 a StPO ergangene Strafbefehl unterscheidet sich in seiner Wirkung nicht von einem ohne vorherigen Eröffnungsbeschluss ergangenen Strafbefehl. Mit § 408 a StPO sollen nach dem Willen des Gesetzgebers in geeigneten Fällen „steckengebliebene Verfahren rationell beendet“ werden können 377. Nr. 175 a RiStBV nennt entsprechend Fallkonstellationen, in denen ein Antrag nach § 408 a Abs. 1 StPO in Betracht kommt. Unter anderem ist das der Fall, wenn der Angeklagte mit bekanntem Aufenthalt im Ausland wohnt, seine Einlieferung zur Durchführung der Hauptverhandlung aber nicht möglich ist oder nicht angemessen wäre oder wenn der Angeklagte der Hauptverhandlung fernbleibt und nicht gemäß § 232 StPO ohne ihn verhandelt werden kann 378. Allerdings ist § 408 a StPO im beschleunigten Verfahren nicht direkt, sondern allenfalls analog, in Betracht zu ziehen 379. Der Erlass eines Eröffnungsbeschlusses ist gemäß § 418 Abs. 1 StPO im beschleunigten Verfahren entbehrlich. Zu fragen ist also, ob eine entsprechende Anwendung des § 408 a StPO im beschleunigten Verfahren § 127 b StPO ersetzen kann. Dagegen könnte der eingeschränkte Anwendungsbereich des § 408 a StPO im Hinblick auf ein faktisch erSchlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 550 f. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 571. Vor Eröffnung des Hauptverfahrens kann die Staatsanwaltschaft die Klage gem. § 156 StPO zurücknehmen und durch einen Strafbefehlsantrag nach § 407 StPO ersetzen. Martin, GA 1995, 121, 121 ff., beschreibt näher den Übergang vom allgemeinen Verfahren in das Strafbefehlsverfahren. 377 BT-Drucksache 10/1313, S. 35. 378 Vgl. näher zur Anwendung des § 408 a StPO Rieß, JR 1988, 133, 134 f., und Schellenberg, NStZ 1994, 370, 371 f. 379 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 90. 375 376

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forderliches Einverständnis des Betroffenen sprechen. § 408 a StPO ist im Wesentlichen nur dann wirklich effektiv, wenn der Betroffene mit einem Strafbefehl einverstanden ist 380. Ein Einspruch gemäß § 410 StPO gegen den Strafbefehl verzögert das Verfahren mitunter erheblich. Es muss ein neuer Hauptverhandlungstermin anberaumt werden 381. Maßgeblich spricht dies allerdings nicht für eine Erforderlichkeit des § 127 b StPO. Denn auch gegen die Hauptverhandlungshaft und die vorläufige Festnahme gemäß § 127 b StPO gibt es Rechtsbehelfe. Die ungleiche Funktionalität des § 408 a StPO gegenüber § 127 b StPO zeigt sich eher aus der Tatsache, dass § 408 a StPO erst greift, wenn eine Hauptverhandlung zunächst erforderlich erschien, dann aber eine Änderung der Situation dazu führt, dass die Hauptverhandlung nicht mit einer verfahrensabschließenden Entscheidung beendet werden kann. Das Hauptverfahren muss bereits eröffnet sein 382. § 127 b StPO sichert hingegen bereits im Vorfeld. Die Eröffnung des Hauptverfahrens und eine Änderung von Umständen muss nicht abgewartet werden. In dem Zeitpunkt, in dem § 127 b StPO zur Sicherung der Anwesenheit eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten greift, ist an § 408 a StPO noch nicht zu denken. Auch zeigt sich § 408 a StPO bei sich abzeichnenden Zustellungsschwierigkeiten 383 nicht als gleichwertiger Ersatz gegenüber § 127 b StPO. Der Vorschlag Grasbergers de lege ferenda, der Gesetzgeber hätte auch in Bezug auf § 408 a StPO eine Erweiterung auf alle Fälle des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO in Betracht ziehen können 384, ist nicht weiter zu verfolgen. Insoweit gilt die gleiche Argumentation wie gegen die Erweiterung des Rechtsfolgenbereichs des § 232 Abs. 1 StPO. Die Festsetzung einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe erfordert den persönlichen Eindruck des Gerichts vom Verdächtigten. Dieser ist zur Beurteilung der Strafzumessungsgesichtspunkte des § 46 StGB und auch nach § 47 Abs. 1 StPO zur Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe ebenso notwendig wie zur Verringerung des Risikos erheblicher Fehlbestrafungen aufgrund vergleichsweise unzureichender Wahrheitsermittlungen 385. 380 Vgl. Martin, GA 1995, 121, 130 m. w. N.; nach Ranft, JuS 2000, 633, 640, ist § 408 a StPO ohne Einverständnis „unangebracht“. 381 So zutreffend Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 91 m. w. N. auf Grasberger, GA 1998, 530, 535. Kritisch zur Effektivität des § 408 a StPO äußert sich auch Meurer, JuS 1987, 882, 886. 382 Die Durchführung braucht nicht gänzlich oder längerfristig unmöglich zu sein; vgl. Rieß, JR 1988, 133, 135. Dass ein Hauptverhandlungstermin schon anberaumt wurde oder gescheitert ist, wird nicht vorausgesetzt; Schellenberg, NStZ 1994, 370, 372. 383 Näher hierzu Blankenheim, MDR 1992, 926, 926 ff., sowie Martin, GA 1995, 121, 128 ff. Zum Meinungsstand über die öffentliche Zustellung von Strafbefehlen nach § 40 StPO siehe die Nachweise bei Meyer-Goßner, StPO (2003), § 409 Rdn. 21. 384 Grasberger, GA 1998, 530, 535. 385 Aus diesen Gründen wird schon die Festsetzung einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe im Strafbefehl als fragwürdig erachtet; vgl. hierzu die Auseinandersetzung bei Fisch, Strafbefehlsverfahren im Spannungsfeld (1999), S. 108 ff.

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e) Elektronisch überwachter Hausarrest Beim elektronisch überwachten Hausarrest handelt es sich um eine Maßnahme, die dem Betroffenen auferlegt, seinen Wohnbereich nicht oder nur zu bestimmten Zeiten zu verlassen 386. In der Regel mittels eines am Körper des Betroffenen befestigten Senders und mittels eines Kontrollgeräts in dessen Wohnung, das mit einer zentralen Kontrollstation in Verbindung steht, soll der Aufenthalt des Überwachten festgestellt werden 387. Im so genannten „Passivsystem“ wird der zu Überwachende zur Anwesenheitskontrolle in seiner Wohnung angerufen. Identifizierungsmethoden, zum Beispiel durch Stimmdetektoren, sollen gewährleisten, dass der Angerufene tatsächlich die zu überwachende Person ist 388. Entfernt sich der Überwachte aus einem ihm zugestandenen Aktionsradius, wird dies an der Kontrollstation angezeigt. Maßnahmen zur Ergreifung sollen so zeitnah und mit hoher Aussicht auf Erfolg getroffen werden können. Soweit ersichtlich, wird der überwachte Hausarrest allein von Fülber als ein gegenüber der Hauptverhandlungshaft milderes Mittel in Betracht gezogen 389. Die Frage der Entbehrlichkeit des § 127 b StPO, gerade angesichts der Möglichkeit der elektronischen Überwachung, ist jedoch nicht nur im Ergebnis mit Fülber zu verneinen. Sie lässt sich aus mehreren Gründen kaum fundiert stellen: In der laufenden Diskussion rückt der elektronisch überwachte Hausarrest als Alternative zur Strafhaft in einer Vollzugsanstalt in den Mittelpunkt 390. Eine aus386 Am 16.09.1997 beriet der Gesetzgeber über einen Entwurf des Landes Berlin zur Änderung des StVollzG. Gem. § 11 a StVollzG sollte versuchsweise die befristete Erprobung des elektronisch überwachten Hausarrests an Strafgefangenen mit einer Restverbüßungsdauer von bis zu sechs Monaten zugelassen werden; vgl. BR-Drucksache 689/97. Der Bundesrat billigte den Entwurf in seiner Sitzung am 09.07.1999, vgl. BR-Drucksache 401/99. Der Antrag wird jedoch, so Walter, ZfStrVo 1999, 287, 295 und dort Anm. 39, nun nicht mehr weiterverfolgt. Die Möglichkeit einer versuchsweisen Einführung in Deutschland geht zurück auf einen Beschl. der 68. Konferenz der Justizministerinnen und -minister v. 11./12.06.1997 in Saarbrücken. Die Erprobung in Modellprojekten, etwa in Hamburg im Rahmen der Restaussetzung der Strafhaft und in Baden-Württemberg im Rahmen der Ersatzfreiheitsstrafe, skizziert Walter, ZfStrVo 1999, 287, 290, 293. Zur experimentellen Erprobung und zur Anwendung des Instituts im Ausland vgl. Spaans, BewHi 1999, 68, 68 ff. (Niederlande); Stern, BewHi 1990, 335, 335 ff. (Großbritannien); Wittstamm, Elektronischer Hausarrest? (1999), S. 36 ff., sowie Weigend, BewHi 1989, 289, 296 ff. (beide U.S.A.); Haverkamp, BewHi 1999, 51, 51 ff. (Schweden). Als weitere Länder sind Kanada, Australien, Neuseeland sowie Israel und Singapur zu nennen; siehe Lindenberg, BewHi 1999, 11, 12 f. Die kriminalpolitische Entwicklung fasst jüngst auch H.-J. Albrecht, MschrKrim 2002, 84, 84 ff., zusammen. 387 Näher zur Organisation siehe Walter, ZfStrVo 1999, 287, 287; Thiele, Kriminalistik 1999, 440, 440; Lindenberg, BewHi 1999, 11, 12. 388 Ostendorf, ZRP 1997, 473, 474; Dahs jun., NJW 1999, 3469, 3470. 389 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 92 f. 390 Die Frühjahrskonferenz der Justizminister hat am 09.06.1999 in Baden-Baden die Erprobung des elektronisch überwachten Hausarrests als neue Form der Strafverbüßung beschlossen. Vgl. zum Hausarrest als Alternative zur kurzen Freiheitsstrafe insbesondere Bös-

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

drückliche Ermächtigungsgrundlage zur Anordnung, sei es nun als Ersatz zur Straf- oder zur Untersuchungshaft, findet sich im deutschen Recht nicht 391. Mag sich zwar de lege lata für die Untersuchungshaft eine Einordnung als Weisung im Rahmen der Außervollzugsetzung eines Haftbefehls entsprechend § 116 Abs. 1 Nr. 2 StPO anführen lassen 392 und lassen sich alle verfassungsrechtlichen Bedenken 393 und die Fragen nach der Eingriffsintensität des überwachten Arrests ausblenden 394, so sprechen die geforderten Voraussetzungen des elektronisch überwachten Hausarrests demgegenüber dennoch klar für die abstrakt-generelle Erforderlichkeit des § 127 b StPO. Unumgängliche Voraussetzungen des Hausarrests sind eine verfügbare Unterkunft und ein Telefonanschluss. Damit ist die Vorgehensweise auf wohnsitzlose Beschuldigte von vornherein ausgeschlossen 395. Des Weiteren werden die Zuling, MschKrim 2002, 105, 105 ff.; Heghmanns, ZRP 1999, 297, 301 f., sowie BR-Drucksache 698/97 und BT-Drucksache 14/1519. Zur Anwendbarkeit des Hausarrests als Bewährungsweisung siehe ausführlicher Schlömer, BewHi 1999, 31, 31 ff. 391 De lege lata kommt der elektronische Hausarrest als Bewährungsweisung i. S. d. § 56 c Abs. 2 Nr. 1, § 57 Abs. 3 S. 2, § 57 a Abs. 3 S. 2 StGB oder als Führungsaufsichtsweisung entsprechend § 68 b Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB in Frage; vgl. hierzu Bohlander, ZfStrVo 1991, 293, 296; Schädler/Wulf, BewHi 1999, 3, 7; dagegen ist Thiele, Kriminalistik 1999, 440, 444. 392 So Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 93, mit Verweis auf Bohlander, ZfStrVo 1991, 293, 296; Ostendorf, ZRP 1997, 473, 475; Schädler/Wulf, BewHi 1999, 3, 7; grundsätzlich befürwortend auch Wittstamm, Elektronischer Hausarrest? (1999), S. 162; dagegen ist Thiele, Kriminalistik 1999, 440, 442 ff. In Großbritannien und den U.S.A. wird der überwachte Hausarrest als Ersatz für Untersuchungshaft eingesetzt; vgl. Schlömer, Hausarrest (1998), S. 36. 393 Diese hegen insbesondere Ostendorf, ZRP 1997, 473, 476, und Heghmanns, ZRP 1999, 297, 302. Die Problematik erfasst die Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art. 13 Abs. 1 GG, das Fernmeldegeheimnis gem. Art. 10 GG, das Recht auf Freizügigkeit gem. Art. 11 GG, das Recht auf persönliche Freiheit gem. Art.2 Abs. 2 S. 2 i.V. m. Art. 104 GG und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Nach Walter, ZfStrVo 1999, 287, 288, birgt die elektronische Überwachung ein „Szenario, das an Orwells ‚1984‘ erinnert“, da der menschliche Kontakt vorwiegend mittelbar und reduziert über technische Gerätschaften erfolge, die Kontrollierten entblöße, deren Leben weitgehend transparent mache und die Sphäre des Privaten immer mehr durchlöchere. Die Verfassungsmäßigkeit bejahen grundsätzlich Weigend, BewHi 1989, 289, 299, und Dahs jun., NJW 1999, 3469, 3471. 394 Weigend, GA 1992, 345, 362, geht tendenziell – wenn auch in Betrachtung des Auslands – von einer „gleichbleibenden Eingriffsintensität“ von elektronisch überwachtem Hausarrest und Haftstrafe aus. Lindenberg, BewHi 1999, 11, 17, stellt auf die persönliche Lebenssituation ab. Wäre generell ein „gleich intensiver Eingriff“ anzunehmen, käme ein Wegfall der Erforderlichkeit des § 127 b StPO im Zusammenhang zum elektronisch überwachten Hausarrest schon deshalb nur schwerlich in Betracht. 395 So Thiele, Kriminalistik 1999, 440, 444, zur Frage, ob der Hausarrest eine Option zur Untersuchungshaft aufgrund §§ 112, 112 a StPO sein kann. Nach Wittstamm, Elektronischer Hausarrest? (1999), S. 173, kann schon von daher „der elektronische Hausarrest wohl quantitativ keine bedeutsame Rolle spielen“. Bösling, MschrKrim 2002, 105, 111, hält die Anwendung des elektronisch überwachten Hausarrests als Alternative zur kurzen Freiheitsstrafe vor allem auch aufgrund der Sozialstruktur der Verurteiltengruppe für problematisch.

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stimmung des zu Überwachenden und eventuell seiner Mitbewohner, ein strukturierter Tagesablauf des Betroffenen, eine begrenzte Rückfallgefahr, keine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit und schließlich ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz genannt 396. Allein die anzunehmende Bereitschaft zur Kooperation mit den Strafverfolgungsorganen spricht gegen ein Fernbleiben des Beschuldigten von der Hauptverhandlung. Sollte ein Fernbleiben dennoch zu befürchten sein, bietet sich entsprechend § 116 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 StPO die Außervollzugsetzung des Hauptverhandlungshaftbefehls an. Hierzu erscheint nun wiederum der elektronisch überwachte Hausarrest als ein Mehr an Übelzufügung. Zudem bleibt die verfahrenssichernde Wirkung der elektronischen Überwachung zur Sicherung der Anwesenheit des Betroffenen in dessen Wohnung hinter der Haft in einer Haftanstalt weit zurück. Der unter Hausarrest gestellte und überwachte Beschuldigte kann die Durchführung der Verhandlung grundsätzlich ähnlich blockieren wie ein Ausbleibender, der nicht überwacht wird. Trotz Überwachung kann der Beschuldigte der Hauptverhandlung relativ einfach fernbleiben. Es kommt nicht wesentlich auf die Frage an, ob der Verdächtigte den Sender ablegt und dann das Haus verlässt 397. Zwar kann er mit befestigtem Sender leichter zeitnah zum Erscheinen gezwungen werden. Das mag den Betroffenen von einer Flucht abhalten. Zum Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO genügt jedoch Passivität – sei es nun mit oder ohne elektronischem Sendegerät. § 127 b StPO ist also auch mit Blick auf dieses Institut im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich. Es wäre allenfalls zu überlegen, ob der Arrest „neben“ einer Sicherung durch § 127 b StPO als Kontrollinstrument in Betracht kommen könnte – beispielsweise in Fällen, in denen der Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO nach § 116 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 StPO ausgesetzt wird 398. Dies setzt freilich die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls und damit die Verhältnismäßigkeit des § 127 b StPO voraus. 4. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne a) Problematik der Abwägung Das dritte und bedeutsamste Teilelement der Verhältnismäßigkeit ist die „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ 399 oder die „Angemessenheit“ 400, die „Zumut396 So Lindenberg, BewHi 1999, 11, 14, und auch Thiele, Kriminalistik 1999, 440, 444, die ihre Ansicht auf Erfahrungen im Ausland stützen. Vgl. zu den Gründen für Abbrüche der elektronischen Kontrolle H.-J. Albrecht, MschrKrim 2002, 84, 95 ff. 397 Das Beispiel nennt Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 93. 398 Vgl. allgemein Heghmanns, ZRP 1999, 297, 302. 399 Pieroth/Schlink, Grundrechte (2001), Rdn. 289. 400 So etwa v. Krauss, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1955), S. 15.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

barkeit“ 401, das Verbot von „Übermaß“ 402 oder – wieder anders genannt – die „Proportionalität“ 403. Ungeachtet dieser Differenzierungen – mehr sprachlicher als inhaltlicher Art –, geht es um die Einordnung grundsätzlich gegenläufiger Betrachtungen. Das Allgemeinwohlinteresse an der Sicherung des Verfahrens und die Effektivität werden entsprechend ihrer Wertigkeit mit den Individualinteressen des Betroffenen abgewägt. Hier werden die Wechselwirkungen zwischen den untersuchten Legitimationsinteressen und den Rechtsinteressen des Individuums ausgelotet. Mit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entscheidet sich, ob § 127 b StPO inhaltlichen Anforderungen im Hinblick auf seinen Zweck und die eingesetzten Mittel gerecht wird 404. Die Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten und der Effektivitätsansatz müssen sich gewissermaßen in das Freiheitsrecht des Beschuldigten einfügen. Fehlt es daran, muss nach einer verfassungskonformen Auslegung gesucht werden. Lassen sich die „Spannungslagen“, wie Lerche meint 405, nicht „ins Reine“ bringen, dann sind die Interessen im Rahmen des § 127 b StPO miteinander unvereinbar. Dann stehen „Mittel und Zweck“ der Regelung außer Verhältnis 406. „Mittel und Zweck“, das meint auch, „Freiheitsopfer und der für die Allgemeinheit erstrebte Nutzen“ 407, „Nutzen für den Staat und Schaden für den Bürger“, „Ertrag und Aufwand“, „Gefahr und Bekämpfung“ usw. 408. Besteht kein, wie etwa das Bundesverfassungsgericht formuliert, „vernünftiges Verhältnis von Belastungen des Einzelnen und dem Vorteil für das Allgemeininteresse“ 409, ist die Regelung für das Freiheitsrecht des Verdächtigten eine rechtswidrige Schranke. 401 Siehe hierzu die Beispiele aus der Rspr. bei K. R. Albrecht, Zumutbarkeit (1995), S. 89 f., der, a. a. O. S. 64 ff. und S. 202, in der Zumutbarkeit und der Verhältnismäßigkeit selbständige Prüfungsmaßstäbe sieht. Einen Überblick gibt auch Jakobs, Verhältnismäßigkeit (1985), S.87 f. 402 BVerfGE 14, 19, 22 („Warenautomaten“); 17, 306, 314 („Personenbeförderung)“. In BVerfGE 18, 353, 362 („Devisenbeschaffungsgesetz“), ist von „Übermäßigkeit“ die Rede. Für Lerche, Übermaß (1961), S. 21, ist „Übermaßverbot“ hingegen die Oberbezeichnung für Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 44, bezeichnet das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Ganzen „Übermaßverbot“. 403 Degener, Verhältnismäßigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen (1985), S. 30 und dort FN 19. Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG (1999), Art.20 Rdn. 154, nennt „Proportionalität“ neben „angemessen“ und „zumutbar“. 404 Vgl. kritisch hierzu M. Jakobs, DVBl 1985, 97, 97, der davon ausgeht, dass die Begriffe „Mittel“ und „Zweck“ austauschbar seien, was nach seiner Ansicht die Aussagekraft des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an sich grundsätzlich in Frage stellt. 405 Lerche, Übermaß (1961), S. 129. 406 Vgl. wieder BVerfGE 7, 377, 407 („Apothekenurteil“), oder auch BVerfGE 16, 194, 202 („Liquorentnahme“). 407 v. Krauss, Verhältnismäßigkeit (1955), S. 18. 408 Vgl. die Auflistung der Begriffspaare bei Bettermann, Beiträge zu Art. 80 GG (1957), S. 51. 409 So die Formulierung in BVerfGE 38, 281, 302 („Arbeitnehmerkammern“). Siehe auch BVerfGE 103, 142, 142 ff. („Gefahr im Verzug bei Durchsuchung“), wonach die Schwere des

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Ein allgemein anerkanntes Konzept zur Abwägung der Interessen wird jedoch nirgends formuliert. Daran hat sich seit der ablehnenden Haltung Eb. Schmidts gegenüber der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Strafprozessrecht nichts geändert 410. Aufgrund der unsicheren Bewertungen der Funktionstüchtigkeit durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und durch die Literatur mag die Gefahr eines „subjektiv gefühlsmäßigen, völlig unkontrollierbaren, irrationalen Dezisionismus“, von dem Eb. Schmidt spricht 411, sogar noch gewachsen sein. Die Gleichsetzung aller Interessen im Ausgangspunkt und die pauschalen Verweise auf Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Wahrheit irritieren mehr, als dass sie Konfliktlagen lösen. Nach Sachs bestehen für die Abwägung „kaum feste Maßstäbe“ 412. Paeffgen schließlich schreibt zur Untersuchungshaft, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „ziemlich fruchtlos, weil wenig aussagekräftig“ sei und von „relativ dürren Konsequenzen“, die daraus unmittelbar ableitbar seien 413. Der Knackpunkt aller Kritik liegt in der Relativität der Abwägung an sich. Diese ergibt sich aus der flexiblen Wertigkeit der für den Abwägungsprozess relevanten Parameter. An dieser Flexibilität lässt sich nichts absolut ändern. Daher wird sich auch kein allgemein anerkanntes Konzept der Abwägung formulieren lassen 414. Die Relation zwischen dem Mittel „Zwangsmaßnahme“ und dem Zweck „Verfahrenssicherung“ löst immer eine Reihe ineinander greifender Assoziationen aus. So lange jedenfalls, wie es sich um rationale Argumente handelt, muss der Abwägungsentscheidung ein „offener Argumentations-Modus“ 415 vorangehen. Sich rationalen Argumenten verschließen heißt, sich für Unrechtsstaatlichkeit zu entscheiden. In einem demokratischen Rechtsstaat fordert jeder verfassungsrechtliche Grundsatz Dynamik und Flexibilität. Wie bereits zur Untersuchung des Stellenwerts von Effektivität angedeutet, kann der Abwägung jedoch von vornherein eine Richtung gegeben werden. Das VerhältTatvorwurfs in einem angemessenen Verhältnis zum Eingriffseffekt der Wohnungsdurchsuchung stehen muss; siehe hierzu auch Gusy, StV 2002, 153, 156. 410 Eb. Schmidt, NJW 1969, 1137, 1143: „Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat seinen ihm angemessenen Ort im Verwaltungsrecht. (...). Im Bereiche des Justizrechts kann ihm die gleiche Bedeutung nicht zukommen; hier müssen die gesetzlichen Normen als solche ohne besondere Maßgebung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz herrschen.“ Gegen eine Beschränkung auf einzelne Rechtsgebiete ist hingegen überzeugend Hirschberg, Verhältnismäßigkeit (1981), S. 239 ff. 411 Vgl. Eb. Schmidt, NJW 1969, 1137, 1141, zur Abwägung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips. 412 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG (1999), Art. 20 Rdn. 155. 413 SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 9. 414 Für Stern, Staatsrecht Bd. I (1984), S. 865, bleibt manches „nicht berechenbar. Der Maßstab kann streng oder locker gehandhabt werden; Divergenzen von Fall zu Fall können nicht ausbleiben“. Siehe auch die Untersuchung von Raabe, in: Grabenwarter/Hammer/u. a. (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte (1994), S. 84, 100, sowie Holoubek, a. a. O. S. 61, 78 ff., der von einem „notwendig beweglichen Abwägungsvorgang“ spricht. 415 So die Bezeichnung nach SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 20, unter Darlegung der Konzeption von Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 143 ff.

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nismäßigkeitsprinzip als solches kann durch eine Tendenzbestimmung zugunsten der Rechte des Individuums nachvollziehbarer als eine „Bastion des Freiheitsschutzes“ 416 bezeichnet werden: so lange jedenfalls, wie die Grundrechte nicht als „Rechte der Allgemeinheit auf Sicherheit“ betrachtet, sondern in ihnen ganz primär individualschützende Abwehrrechte gesehen werden. Gleichwertigkeit von Interessen des Einzelnen und der Allgemeinheit birgt Gefahren der Orientierungslosigkeit bis hin zur Akzeptanz von Beliebigkeit. Je eher Gleichwertigkeit angenommen wird, desto eher besteht die Gefahr, eine bloße Behauptung der Konkordanz mit dem Grundrechtesystem zu akzeptieren, ohne eine argumentative Begründung zu fordern. Je eher sich Zwangsmaßnahmen mit einer kriminalpolitischen Überzeugung begründen lassen, ohne dass die Überzeugung selbst begründet werden muss, besteht die Gefahr, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung tatsächlich zu einem „Dezisionismus“ im Sinne Eb. Schmidts wird. Eine Tendenz hingegen muss durch Argumente für den Grundrechtseingriff erst umgelenkt werden. Eine vorgegebene Richtung zwingt eher zur argumentativen Begründung der Überzeugung, weswegen gerade eine bestimmte Normierung von Zwangsermächtigungen gerecht ist, als die Berufung auf Gerechtigkeit an sich. Erst durch Argumente kann eine staatliche Zwangsermächtigung im Rechtsstaat als „systemadäquat“ bezeichnet werden. Weshalb eine verfassungsrechtliche Positionierung gerade bei Haftregelungen in erhöhtem Maße erforderlich scheint, lässt sich mit einem Verweis auf die „fundamentale Bedeutung der Freiheit der Person für das Individuum“ 417 vertreten. So wertet das Bundesverfassungsgericht: „Die persönliche Freiheit hat unter den grundrechtlich verbürgten Rechten ein besonderes Gewicht“ 418. Das „Gewicht des Freiheitsanspruchs“ zwinge bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu einer eingehenderen Begründung der Entscheidung 419. Die Tendenz zugunsten des Freiheitsrechts und des Zwangs zur Argumentation lässt sich jedoch vielleicht noch deutlicher beschreiben. Sie zeigt sich mit einem bestimmten Blick auf die, wie Wolter es wahrscheinlich auch im hier diskutierten Zusammenhang bezeichnen würde, „Unverfügbarkeit im Strafprozeß“ 420. Gemeint sind damit die Eckpfeiler des Grundrechte- und Rechtsstaatssystems. Dass an dieser Stelle nun die Wirkungsweise des Grundrechtesystems nicht neu erkundet werden kann, versteht sich von selbst. Auch kann hier keine abschließende Stellungnahme zu einem „objektiv-rechtlichen Gehalt“ der Grundrechte gegeSo der Terminus von Grimm, DRiZ 2000, 148, 155. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 573. 418 So BVerfGE 65, 317, 322 („Unterbringung eines Mündels“), freilich ohne hieraus eine Tendenz zugunsten von Beschuldigteninteressen abzuleiten. 419 So BVerfGE 70, 297, 315 („Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus“). 420 Wolter, in: FS-Meyer (1990), S. 493, 510 ff.; siehe auch Wolter, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 267, 273, sowie SK-Wolter, StPO (Stand: 1994), Vor §151 Rdn.34, 39, wonach die Leitlinien grundrechteschonender Abwägung ihre wesentliche Wirkung gerade in der Verhältnismäßigkeitsprüfung entfalten. 416 417

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ben werden 421. Dennoch lassen sich Wertungen formulieren, die für die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit tendenzbestimmend sind. b) Mögliche Wirkungen von Art. 1 Abs. 1, 19 Abs. 2, 20 Abs. 3, 79 Abs. 3, 104 Abs. 1 S. 2 GG Zum Teil scheint die Literatur Art. 1, Art. 19 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3, Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG oder (mittelbar) auch Art. 79 Abs. 3 GG als durch § 127 b StPO betroffen anzusehen. Einige Aussagen lassen sich zumindest derart interpretieren. So ist 127 b StPO für Meertens „ein weiterer Mosaikstein in dem seit über einem Jahrzehnt betriebenen Vorhaben der Regierungsparteien, das System des Strafprozesses insgesamt auf einen vorkonstitutionellen und staatsautoritären Zustand zurückzuführen“ 422. Sonnen sieht den von § 127 b StPO Betroffenen als „Nötigungsobjekt gesetzgeberischen Drucks auf die Strafjustiz“ 423. Für Neumann schließlich hat, wie bereits erwähnt, eine derartige Beschleunigung des Verfahrens „mit rechtsstaatlichen Verfahrensregelungen nichts mehr zu tun“ 424. Mit anderen Worten kann dies meinen, dass der Gesetzgeber Art. 1 GG und Grundsätzen des Art. 20 GG einen nicht mehr im eigentlichen Sinne rechtsstaatlichen Wert beimisst, wenn er § 127 b StPO als damit vereinbar ansieht. Dem Gesetzgeber wird vorgeworfen, die Würde des Menschen nicht so zu schützen und zu achten, wie es Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt vorschreibt, wenn er es zulässt, Beschuldigte zu „Nötigungsobjekten“ zu machen. Der Gesetzgeber hält sich dann auch nicht an die ihm durch Art.20 Abs.3 GG und Art.79 Abs. 3 GG aufgegebenen Bindungen. Die Einstufung des Beschuldigten in einen „Objektstatus“ impliziert schließlich eine in jedem Falle unzulässige Misshandlung im Sinne des Art.104 Abs.1 S. 2 GG, ein „Antasten“ des Wesensgehalts nach Art.19 Abs. 2 GG und womöglich auch eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Einerseits zeigen die Zitate universelle Werturteile. Isoliert betrachtet, sind sie überpointiert und daher wenig aussagekräftig. Die Rechtsstaatlichkeit des Grundgesetzes wird durch die Anerkennung des § 127 b StPO sicher nicht aus ihren Fundamenten gehoben. Haft ist auch gegenüber Unschuldigen grundsätzlich ein zu akzeptierendes Zwangsmittel. Die Subjektqualität des Betroffenen ist angesichts der Ge421 Zur Auseinandersetzung mit dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte in der Rspr. des BVerfG siehe zusammenfassend auch hier wieder Cremer, in: FS-Jeand’Heur (1999), S. 59 ff., unter wesentlicher Einbeziehung der Auffassungen von Böckenförde, Jeand’Heur, Denninger, Unruh und – wenngleich eher am Rande – auch von Alexy. Nach SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), Vor § 112 Rdn. 20, scheint die Konzeption von Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), der jüngeren Judikatur des BVerfG – wenn auch unausgesprochen – zugrunde zu liegen. 422 Meertens, Grundrechte-Report 1997 (1997), S. 200, 201. 423 Sonnen, NK 1996, 13. 424 Vgl. wieder Neumann, StV 1994, 273, 276, im Zusammenhang mit dem Entwurf des Verbrechensbekämpfungsgesetzes.

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währung von Verteidigungsmöglichkeiten auch bei der Verhängung des Hauptverhandlungshaftbefehls nicht aberkannt. Andererseits finden sich in den Aussagen erörterungswürdige Kerngehalte. Die tangierten Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3, Art. 79 Abs. 3 GG sowie Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ziehen einem Effizienzmodell Grenzen. Darüber hinaus lässt sich fragen, inwieweit sie Beschuldigteninteressen stützen. Sie könnten gerade dort für einen vorrangigen Individualschutz stehen, wo das Freiheitsrecht des Einzelnen entzogen wird. Aus dem garantierten Kerngehalt an Rechten könnte eine Positionierung zugunsten des Freiheitsrechts gerade dann anzunehmen sein, wenn der Beschuldigte inhaftiert wird. Je eher der Kernbereich von Rechten bei der Umsetzung einer Regelung betroffen ist, desto deutlicher könnte die Pflicht staatlicher Gewalt zur Zurückhaltung anzunehmen und Ineffektivität hinzunehmen sein. Die Wirkungen der genannten Grenzen für einen Freiheitsentzug sind freilich komplex. Im Einzelnen ist das Feld der Gewährleistungen des Art. 20 Abs. 3 GG kaum übersehbar. Man denke nur wieder an das Rechtsstaatsprinzip als Ort der Legitimation von Funktionalität zu Lasten von Beschuldigteninteressen 425. Umstritten ist auch, welche Art von Wesensgehalt Art. 19 Abs. 2 GG betrifft. Art. 19 Abs. 2 GG kann einen individuellen oder einen abstrakten Wesensgehalt meinen 426. Ebenso diskussionswürdig ist das Verhältnis von Menschenwürde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG zu dem jeweils unantastbaren Gehalt der relevanten Grundrechte. Des Weiteren ist die Grenzziehung zwischen unantastbarem und abwägungsrelevantem Rechtsbereich unklar 427. Ob nun aber der garantierte Kernbereich eines Grundrechts im Rahmen der Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 GG, Art. 79 Abs. 3 GG, den Garantien des Art. 20 Abs. 3 GG und des Art. 104 GG individuell auf den Kern oder den Abwägungsbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG bezogen ist 428, erscheint in einem offenen Abwägungsdiskurs jedoch nicht entscheidend. Die Garantien sind Beleg dafür, dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG einen durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip relativierten Wesensgehalt zuzu425 Zur Kritik an der Begrenzung von Beschuldigteninteressen aus dem Rechtsstaatsprinzip s. o. 3. Kap., 1. Abschn. C. III. 2. 426 Zum Meinungsstreit vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 19 Rdn. 7 m. w. N. 427 Stellvertretend für viele sei an dieser Stelle Wolter, GA 1999, 158, 172, genannt, der das Fehlen einer intensiven wissenschaftlichen Diskussion zur Abgrenzung von „Menschenwürde-“, „Wesens-“, und dem „Abwägungsgehalt“ von Grundrechten beklagt. Siehe auch ders., NStZ 1993, 1, 4 ff. Neben den dort betrachteten Regelungen (Art. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG), ließe sich sicherlich auch Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG anführen. 428 Die Zulassung eines individuellen Wesensgehalts – vgl. AK-Denninger, GG (1984), Art. 19 Abs. 2 Rz. 5 ff. – führte leichter zur Einschätzung der Hauptverhandlungshaft als eine Regelung, die i. S. v. Neumann, StV 1994, 273, 276, „mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun“ hat. Von dem Freiheitsrecht des Betroffenen bleibt aktuell kaum mehr etwas übrig, wird Freiheit individuell durch Haft „entzogen“. Das Wesen des Freiheitsrechts gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG würde i. S. d. Art. 19 Abs. 2 GG geradezu zwangsläufig „angetastet“. Wertet man den Wesensgehalt hingegen abstrakt, das heißt unter Bezug auf die Grundrechtsnorm, verstößt § 127 b StPO im Vergleich eher nicht gegen das GG.

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messen 429, der an einem unantastbaren Kerngehalt angelegt ist oder aus ihm hervorgeht. Die Ausrichtung der Garantien bestimmt im Ausgangspunkt die Richtung der Abwägung. Je eher der Kern eines Grundrechts betroffen wird, desto eher sind die genannten Garantien als Eckpfeiler des Grundrechtesystems angetastet. Je stärker in ein Grundrecht eingegriffen wird, desto näher liegt der Eingriff an einer Verletzung des unantastbaren Kernbereichs eines Rechts. Für die Abwägung gilt demnach eine wirkungsorientierte Betrachtung der Zwangsmaßnahme. Ein damit verbundenes Postulat eines Gebots zur Zurückhaltung des Gesetzgebers gegenüber der Normierung von Haftermächtigungen erscheint nicht aus der Luft gegriffen. Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG lässt sich so begreifen, dass sie bei jedem Grundrechtseingriff mitbetroffen ist. Sie strahlt auf jedes Grundrecht aus. Damit ist sie umso eher in einem unantastbaren Bereich mitbetroffen, je signifikanter in das Freiheitsrecht eingegriffen wird. Im Falle der Ermächtigung zur Haft ist sie also überaus deutlich mitbetroffen 430. Die Unschuldsvermutung als Bestandteil des Art. 20 Abs. 3 GG – jedenfalls des Verfassungsrechts – kann trotz aller Unklarheiten in ihrer Wirkung so begriffen werden, dass sie das Verhältnismäßigkeitsprinzip konkretisiert. Was einem in Wahrheit Unschuldigen nicht zugemutet werden kann, kann unter Beachtung der Unschuldsvermutung einem Verdächtigen vor seiner Verurteilung auch nicht auferlegt werden 431. Art. 19 Abs. 2 GG, eine Norm unmittelbar aus dem Grundrechtskatalog, kann schließlich einen durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip relativierten Wesensgehalt meinen. Unter Anerkennung dessen wird Art. 19 Abs. 2 GG nicht zwingend zu einer bedeutungslosen Regelung 432. Sie ist gerade dann nicht bedeutungslos, wenn 429 Der Inhalt des Wesensgehalts i. S. d. Art. 19 Abs. 2 GG wird in der Rspr. vielleicht am deutlichsten in BGHSt 4, 375, 377 („Impfzwang“), mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Verbindung gebracht. Es heißt: „Ein Grundrecht wird durch einen gesetzlichen Eingriff dann in seinem Wesensgehalt angetastet, wenn durch den Eingriff die wesensgemäße Geltung und Entfaltung des Grundrechts stärker eingeschränkt würde, als dies der sachliche Anlass und Grund, der zu dem Eingriff geführt hat, unbedingt und zwingend gebietet. Der Eingriff darf also nur bei zwingender Notwendigkeit und in dem nach Lage der Sache geringstmöglichen Umfang vorgenommen werden und muß zugl. von dem Bestreben geleitet sein, dem Grundrecht gleichwohl und im weitmöglichsten Umfang Raum zu lassen.“ Vgl. ablehnend hierzu BVerfGE 7, 377, 411 („Apothekenurteil“), wonach die Auffassung des BGH „geeignet ist, den Wesensgehalt der Grundrechte zu relativieren“. 430 Gedacht werden kann hier an BVerfGE 45, 187, 219, 223, 228 f. („lebenslange Freiheitsstrafe“). Die dortigen Ausführungen zum Verhältnis von (Straf-)Haft und Menschenwürde gehen in diese Richtung. In der Entscheidung BVerfGE 17, 306, 314 („Mitfahrzentrale“), heißt es i. d. S, dass die Prüfung der rechtfertigenden Gründe eines Eingriffs umso sorgfältiger sein müsse, je mehr der Eingriff „elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit“ berühre. In BVerfGE 16, 194, 202 f. („Liquorentnahme“), formuliert das BVerfGE, dass das öffentliche Interesse an der Durchführung des Verfahrens zwar „im allgemeinen selbst Eingriffe in die Freiheit des Beschuldigten rechtfertigt“. Dieses Interesse genüge jedoch „um so weniger, je schwerer in die Freiheitssphäre eingegriffen“ werde. 431 Vgl. i. d. S. Gropp, JZ 1991, 804, 807. 432 Vgl. jedoch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 19 Rdn. 7, wonach Art. 19 Abs. 2 GG „praktisch keine Rolle spielt“. Jarass deutet den Wesensgehalt wohl absolut und gleich-

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

sie das Gesamtsystem von Rechtsstaatlichkeit durch die Tendenzbegründung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips mitprägt 433. Zusammengefasst sollen die Garantien mit dieser Sichtweise zwar nach wie vor absolute Grenzen für Freiheitsentzug bilden können. Für diese Untersuchung bedeutsamer ist jedoch ihre Wirkung als Pfeiler, auf denen das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit der Aufgabe ruht, grundrechtlichen Individualschutz möglichst wirkungsvoll zu gewähren. Für die Überprüfung des § 127 b StPO als Ermächtigung zum Eingriff in das Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG lassen Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3, Art. 79 Abs. 3 GG wie auch Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG der Abwägung diese Tendenzwirkung zukommen. Als Ausdruck eines absoluten Grundrechtsschutzes des Verfassungsrechts sind sie der Kern der „Schrittmacherfunktion der Grundrechte“ 434. Die Bedeutung des Freiheitsrechts des Individuums wird dadurch herausgestellt. Als Folge davon ist gerade bei der Überprüfung einer Ermächtigung zur Haft der Vorrang des Freiheitsrechts in der Interessenabwägung hervorzuheben. Die Normen schützen den Kern des Freiheitsrechts und unterstreichen den Schutz durch Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG gerade vor Ermächtigungen zu dessen Entzug. Ob der Gesetzgeber seine Pflichten zur Achtung des Grundgesetzes durch eine Ausweitung der Haft- und Festnahmeermächtigungen in Form des § 127 b StPO verletzt hat oder nicht, soll nun die Abwägung der Interessen des Beschuldigten mit denen der Allgemeinheit zeigen. Hierzu sind zunächst die Parameter aufzuführen, die in die Abwägung einbezogen werden.

zeitig unter Bezug auf die verbleibende Bedeutung des betroffenen Grundrechts im Allgemeinen. Das heißt, dass Art. 19 Abs. 2 GG regelmäßig nicht verletzt ist, wenn die sonstigen für Grundrechtseinschränkungen geltenden Regeln gewahrt bleiben. 433 Siehe i. d. S. auch beispielsweise BVerfGE 39, 1, 43 („Fristenlösung“), wo der „Grundgedanke des Art. 19 Abs. 2 GG“ mitausschlaggebend dafür war, den Lebensschutz des nasciturus hervorzuheben. 434 Das ist hier ähnlich zu verstehen wie die von Jung, Sanktionensysteme (1992), S. 93 ff., aufgezeigte und eingeforderte „Schrittmacherfunktion der Menschenrechte“ im Sanktionsbereich. Siehe i.d. S. auch Wolter, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 267, 272, wenn es heißt: „die Achtung vor den Menschenrechten ist die notwendige Vorbedingung eines effektiven und gerechten Strafprozesses“, – m. w. N. in FN 38 auf Jung, ZStW 105 (1993), 204, 212, der zwei Berichte der Kommission „Justice Pénale et Droit de l’homme“ zur Reform des französischen Strafprozesses vorstellt, sowie auf Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 13, 21, und Hassemer, KritV 1990, 260, 271. Siehe i. d. S. auch schon SK-Wolter, StPO (Stand: 1994), Vor § 151 Rdn. 34 und 39.

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c) Eigentliche Abwägung aa) Wesentliche Parameter Hilger führt zu §§ 112 ff. StPO zahlreiche Belange auf, die in den Abwägungsdiskurs zu § 127 b StPO übernommen werden können 435: Zunächst sind dies die Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung unter Berücksichtigung der sozialen und persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten. Hierzu zählen auch insbesondere die aus dem Eingriff resultierenden mittelbaren Folgen 436. Des Weiteren sind dies die Bedeutung der Sache und die möglicherweise zu erwartende Entscheidung, die Bedürfnisse der Strafverfolgungspraxis und die Unschuldsvermutung. Mitentscheidend sind auch die Dauer der Maßnahme und das mit ihr, wie es heißt, „regelmäßig steigende Gewicht des Freiheitsanspruches“. Diese Parameter sind von der Rechtsprechung 437 und der Literatur 438 zu §§ 112, 112 a StPO weitläufig anerkannt. Ob ein erhöhtes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung der konkreten Tat durch deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Straftatkategorie die Verhältnismäßigkeit eines Freiheitsentzugs begründen kann, ist sehr zweifelhaft. „Massen-“ und „Bagatellkriminalität“ haben zwar sozialpsychologische Auswirkungen. Sie begründen Kriminalitätsfurcht. Eine wie auch immer geartete „Erregung der Öffentlichkeit“ ist jedoch durch das Wiederherstellungsgesetz vom 12.09.1950 gezielt aus dem Haftrecht verbannt worden 439. Im heutigen Recht kann sie – nach dem zur Legitimation des § 127 b StPO Erörterten 440 – kein abwägungsrelevanter Belang mehr sein. Das gilt wenigstens für den Bereich, in dem § 127 b StPO gilt, also für leichte und mittlere Kriminalität. Sofern spezial- oder generalpräventive Erwägungen eine Rolle spielen, sind diese als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung – selbst unter Anerkennung der Grundsätze nach BVerfGE 19, 342 ff. und BVerfGE 35, 185 ff. – im hier einschlägigen Kriminalitätsfeld ebenso zu verwerfen 441. Zum Folgenden vgl. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), Vor § 112 Rdn. 31. Siehe allgemein zur Beachtung mittelbarer Folgen in der Mittel-Zweck-Relation Wendt, AöR 104 (1979), 414, 465. 437 Zur Bedeutung der Sache vgl. etwa BVerfGE 16, 194, 202 („Liquorentnahme“); zu Verhältnismäßigkeit und Beschleunigung vgl. BVerfGE 20, 45, 49 f. („überlange Untersuchungshaft“); 36, 264, 273 („Gerichtsüberlastung kein „wichtiger Grund“ für Fortdauer der Untersuchungshaft“). 438 Siehe etwa Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148, Meyer-Goßner, StPO (2003), § 112 Rdn. 11; Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 100. SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 18, steht allerdings – aus Gründen der Unschuldsvermutung – sehr kritisch zur Rechtsfolgenerwartung. 439 Vgl. BGBl. I, S. 455; siehe auch oben 1. Kap., 1. Abschn. C. IV. 440 Vgl. an dieser Stelle nur Baumann, JZ 1962, 649, 652. 441 Vgl. hier SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 16; AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 34. 435 436

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Zu den sozialen und persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten zählen Gesundheit, Familie, Beruf, wirtschaftliche Situation und Ansehen 442. Der Begriffsinhalt von „Bedeutung der Sache“ ist nicht völlig klar 443. Sie soll im Wesentlichen von der Schwere der vermeintlichen Straftat abhängen. Angesprochen sind damit das verletzte Rechtsgut, die gesetzliche Strafandrohung, die Erscheinungsform der möglichen Tat, die Tatumstände und besondere Umstände, die sich aus der Person des Betroffenen ergeben. Zu Letzterem gehört etwa die Neigung zu gleichartigen Straftaten 444. Der Prognose hinsichtlich der „zu erwartenden Rechtsfolgen“ liegen die Zumessungskriterien der §§ 46 ff. StGB zugrunde, die das Gericht der Voraussicht nach im Urteil für bedeutsam erachten wird 445. Die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung können nicht völlig voneinander getrennt werden 446. Eine unbedeutende Sache wird in aller Regel nur geringe, eine bedeutende wird entsprechend höhere Rechtsfolgen nach sich ziehen. Gegen die Einbeziehung der Schuld in beiden Parametern spricht die Unschuldsvermutung 447. Im Rahmen des § 127 b StPO sind die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Rechtsfolge zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit offensichtlich besonders zu beachtende Punkte. § 127 b StPO soll speziell für einfache Fälle eine Haftund Festnahmeermächtigung bilden, in denen gemäß § 419 Abs. 1 S. 2 StPO eine Rechtsfolge von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Relevanter Faktor der Abwägung ist auch die tatsächliche Effektivität. Effektivität zählt zunächst zum Element „Bedürfnisse der Strafverfolgungspraxis“. Dies wiederum spiegelt sich im öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und an Strafverfolgung. Die Anwesenheitssicherung soll die Durchführung des Verfahrens ermöglichen und ist damit als Zweck eng mit dem Legalitätsprinzip im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO und demnach wiederum mit dem allgemeinen öffentlichen Interesse an Strafverfolgung verwurzelt. 442 LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 57 m. w. N. auf Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 109. Siehe auch KK-Boujong, StPO (2003), § 112 Rdn. 46, und Peters, Strafprozeß (1985), § 47 A II, S. 419. 443 Zum vorgelagerten Problem der Adaption von „Bedeutung der Sache“ in die MittelZweck-Relation ist die Auseinandersetzung bei Degener, Verhältnismäßigkeit (1985), S. 55 ff., aufschlussreich; vgl. allgemein auch Hirschberg, Verhältnismäßigkeit (1981), S. 45 ff., 91. Degener, a. a. O. S. 81 ff., bewertet die Bedeutung der Sache – da sie sich auf die „begangene (vergangene) Tat“ bezieht – als zweckunabhängiger und damit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip fernliegenden Faktor. 444 Vgl. LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 58; SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 15 und 18. 445 Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft (1977), Rdn. 114. 446 Die „Bedeutung der Sache“ wird nicht selten mit der „Rechtsfolgenerwartung“ gleichgesetzt. Vgl. hierzu SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 18 mit Verweis u. a. auf Baumann, JZ 1962, 649, 652. 447 Vgl. allgemein Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (1971), S. 153, 161, und auch Schwenn, StV 1984, 132, 134, zu §§ 112, 112 a StPO.

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Ebenso wenig wie sich die Bedeutung der Sache und die Rechtsfolgenerwartung isoliert betrachten lassen, lässt sich Effektivität davon trennen. Das Gesetz geht davon aus, dass das Interesse an der Durchführung und damit auch an der Sicherung des Verfahrens höher ist, wenn die Sache bedeutend und die Rechtsfolgenentscheidung nicht im unteren Bereich zu erwarten ist. Dies ergibt sich etwa aus den §§ 153, 153 a StPO, die auf das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung und die Rechtsfolgenerwartung abstellen. Zusammengefasst ergibt sich aus alledem, dass sich die Abwägung letztlich nur aus einer Gesamtschau der Kriterien ermitteln lässt. Viele Erwägungen greifen ineinander. bb) Verhältnisse des Beschuldigten, Effektivität, öffentliches Interesse, Bedeutung der Sache, Rechtsfolgenerwartung Mit Untersuchungen zu den Folgen der Anordnung von Untersuchungshaft ist seit langem belegt, dass soziale und psychische Schäden für die Betroffenen bereits mit der Anordnung eintreten 448. Eine diesbezügliche Untersuchung zu § 127 b StPO steht zwar aus. Dennoch ist gut vorstellbar, dass der „Schock der Haft“ – von dem Dahs jun. spricht 449 – durch die Einbindung von Haft und Festnahme in das beschleunigte Verfahren noch größer ist als bei Haft aufgrund §§ 112, 112 a StPO im Regelverfahren. Aus dem gedrängteren Verfahrensablauf kann sich beim Beschuldigten sicherlich unkontrollierter ein psychischer Druck aufbauen, der sich entsprechend wahrscheinlicher in Aggressivität entladen oder in eine Art resignative Hilflosigkeit umschlagen könnte, als im Regelverfahren. Ein „short sharp shock“ 450 ist eben besonders prägnant. Vorläufige Festnahme und mehr noch Haft führen zudem grundsätzlich zu einer massiven Beeinträchtigung sozialer Beziehungen. Das ist unbestritten. Allerdings limitiert die zeitliche Grenze des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO im Falle der Hauptverhandlungshaft gegenüber einer Untersuchungshaft aufgrund §§ 112, 112 a StPO von vornherein die Beeinträchtigungen. Die „Wunde“, die nach Herzog schon durch die Anordnung von Haft „geschlagen“ ist 451, ist zwar auch bei der Hauptverhandlungshaft eine „Wunde“ – aber eben eine, deren „Heilung“ absehbar ist 452. Die 448 Vgl. nur Herzog, StV 1997, 215, 216 mit Verweis auf Seebode, Vollzug der Untersuchungshaft (1985), S. 3 und S. 39 ff. Schon v. Lilienthal, JW 1925, 1448, 1448, schrieb von einer „quälenden Erregung“, die durch die Inhaftierung hervorgerufen werde und sich im Laufe der Haft noch steigere. 449 Dahs jun., Handbuch des Strafverteidigers (1999), Rdn. 309. 450 So der Begriff von Herzog, StV 1997, 215, 216. 451 Herzog, StV 1997, 215, 216. 452 Vgl. zum Verhältnis zwischen Haftdauer und Intensität der Beeinträchtigung schon Dahs sen., NJW 1959, 505, 507; Schubarth, Rechte (1973), S. 47 ff. und S. 50 ff.; Rotthaus, NJW

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zeitliche Begrenzung auf eine Woche relativiert den Eingriff in das Freiheitsrecht des Beschuldigten nicht unerheblich. Das gilt speziell mit Blick auf das Familienund Arbeitsleben. Innerhalb einer Woche lassen sich diese Bindungen viel wahrscheinlicher aufrechterhalten als in Fällen, in denen die Untersuchungshaft nicht ausdrücklich begrenzt ist. Zu sozialen Isolationen kommt es nicht so leicht wie bei zeitlich unbegrenzter Untersuchungshaft 453. Zudem wird mit der Befristung nach § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO den großen mentalen Belastungen, die sich allgemein aus dem Element „Ungewissheit der Haftdauer“ zeigen können 454, vorgebeugt. Zur praktischen Effektivität der Regelung lässt sich Folgendes in Erinnerung rufen: gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 417 StPO kann die Regelung von vorneherein nur anwendbar sein, wenn der Sachverhalt einfach oder die Beweislage klar ist. Grundsätzlich ist das weder bei Delikten im Rahmen von Massenveranstaltungen noch bei mehreren Beteiligten, noch bei Unterlassungstaten, noch bei Fahrlässigkeitstaten der Fall. Die Einfachheit der Sache und die klare Beweislage verlangen in der Regel ein Geständnis des Beschuldigten. Maßnahmen nach §§ 407 ff. StPO, nach §§ 153 ff. StPO und auch nach § 46 a StGB sind dem beschleunigten Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO grundsätzlich vorrangig. Zur Sicherung der Anwesenheit ist die Vorführung des Beschuldigten gemäß § 230 Abs. 2 StPO grundsätzlich vorzugswürdig. Die Durchführung der Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Verdächtigten gemäß § 232 Abs. 1 StPO, die Anordnung einer Sicherheitsleistung gemäß §§ 127 a, 132 StPO und auch der Erlass eines Strafbefehls nach Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 408 a StPO gehen als mildere Eingriffe der Haftanordnung grundsätzlich vor. Die abstrakt-generelle Regelung des § 127 b StPO kann also überhaupt nur sehr beschränkt Anwesenheit und die Durchführung des Verfahrens sichern. Sie kann schon von daher nur sehr begrenzt Effektivität entfalten. Hinzu kommt, dass die Einbeziehung des Verfahrens zur Festnahme und zum Erlass des Haftbefehls in das beschleunigte Verfahren eine effektive Durchführung des Verfahrens nicht garantiert. Zwar zwingt § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO die Strafverfolgungsbehörden zu schnellem Handeln, da sich die Frist des § 418 Abs. 1 S. 2 StPO auf eine Woche verkürzt. Die Verfahrensregelungen der §§ 114 ff. StPO sind jedoch auch hinsichtlich der Hauptverhandlungshaft zu beachten. Insbesondere Haftprüfungs- und Haftbeschwerdeverfahren nehmen Kapazitäten nicht minder in Anspruch als etwa im Rahmen von 1973, 2269, 2271, der – in der Bildersprache passend zu Dahs sen. – mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft die Gefahr einer „kriminellen Infektion“ sieht. 453 Meertens, Grundrechte-Report 1997 (1997), S.200, 201, führt demgegenüber im Zusammenhang mit § 127 b StPO aus, dass „jede Inhaftierung und auch nur das Festhalten über die Zeit zur Feststellung der Personalien hinaus tiefgreifende Konsequenzen“ für die betroffenen Personen haben kann, wenn „Menschen durch Polizei und Justiz umstandslos ihrer Freiheit beraubt werden und dies ihrem sozialen Umfeld zwangsläufig bekannt wird“. 454 Vgl. Seebode, Vollzug der Untersuchungshaft (1985), S.36 und S. 38, zum Vergleich der Wirkungen von Untersuchungshaft mit denen der Strafhaft. Siehe auch wieder Dahs sen., NJW 1959, 505, 507.

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Haft aufgrund §§ 112, 112 a StPO. Die Beschleunigungseffekte werden, sofern sie sich überhaupt bemerkbar machen, im Falle der Einlegung von Rechtsmitteln wieder aufgehoben. Wenn man so will: Der Aufwand ist groß, der Ertrag gering. Dem grundsätzlichen Vorrang des Individualinteresses an Freiheit und der grundsätzlichen Zurückhaltungspflicht des Gesetzgebers zum Freiheitsentzug wird also mit dem Verweis auf Bedürfnisse der Strafverfolgungsbehörden und dem öffentlichen Interesse an effektiver Strafverfolgung argumentativ kaum etwas entgegengebracht. Als Folge möglicher Ineffektivität im Verfahren und des objektiv kleinen Anwendungsgebiets des 127 b StPO besteht kein großes Bedürfnis der Strafverfolgungsbehörden, auf die Ermächtigungen des § 127 b StPO zurückzugreifen. Insofern dieses Bedürfnis und das öffentliche Interesse an der Sicherung des Verfahrens zusammenhängen, ist das öffentliche Interesse an den Ermächtigungen gleichsam schwach. Demnach steht ein geringes öffentliches Interesse und ein geringes Bedürfnis der Strafverfolgungsbehörden für § 127 b StPO dem Interesse des Beschuldigten an seiner Freiheit gegenüber. Da die auf Allgemeininteressen gestützten Argumente oberflächlich sind, bleibt es bei grundsätzlichen Erwägungen: Die von dem Eingriff betroffenen Individualinteressen an Freiheit, geprägt durch das persönliche und soziale Umfeld, sind in diesem Abwägungsverhältnis ersichtlich wertvoller. Diese sind mit Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG verfassungsrechtlich fest verankert. Dass der Entzug der Freiheit an einem Unschuldigen ein massiver Grundrechtseingriff ist, vor dem es zu schützen gilt, drückt sich verfassungsrechtlich durch Art. 104 Abs. 1 GG aus und zudem mit Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 79 Abs. 3 GG als Grenze absolut wirkender Eingriffe. Das öffentliche Interesse an der Effektivierung des Verfahrens durch § 127 b StPO hingegen liegt weniger auf konstitutioneller, sondern eher auf prozessualer Ebene. Die von § 127 b StPO berührte Effektivität betrifft keinen Minimumbereich. Nur dieser lässt sich direkt und unmittelbar verfassungsrechtlich legitimieren. Er betrifft die Optimierung des Prozesses für wenige Einzelfälle. Die relative Betrachtung zugunsten der Beschuldigteninteressen spricht dafür, die „Schneidigkeit“ von Haft und Festnahme, das heißt die „Absolutheit“ des Verfahrensschutzes durch diese Zwangsmittel gegenüber anderen Sicherungsmitteln, nicht maßgeblich anzuerkennen. Fraglich ist jedoch, ob das Gesagte die Unverhältnismäßigkeit des § 127 b StPO zur Folge hat. Das muss mit einem Blick auf die Bedeutung der Sache und die Rechtsfolgenerwartung als Abwägungsparameter nicht sein. Denn unbestritten erfasst § 127 b StPO abstrakt-generell Fälle, die außerhalb des Anwendungsbereich der §§ 153 ff. StPO, §§ 407 ff. StPO, des § 46 a StGB und § 232 Abs. 1, §§ 127 a, 132, § 408 a StPO liegen. Lässt das potentielle Tatgeschehen auf keine geringfügige Sache schließen, besteht je eher ein öffentliches Interesse, desto höher die zu erwartende Strafe ist. § 153 StPO ist nicht anwendbar, wenn die Schuld mehr als „gering“ ist. Ist die Schuld entsprechend schwer, greift auch § 153 a StPO nicht ein. Ist eine Geldstrafe von über 180 Tagessätzen oder eine Freiheitsstrafe zu erwarten, darf ge-

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

mäß § 232 Abs. 1 StPO in Abwesenheit nicht verhandelt werden. Die Erwartung einer Freiheitsstrafe lässt auch Maßnahmen nach §§ 127 a, 132 StPO als Option gegenüber § 127 b StPO wegfallen. Ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu erwarten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann, können von vornherein nur Maßnahmen aufgrund § 127 b StPO und aufgrund §§ 112, 112 a StPO als Haftermächtigungen greifen. Ist Fluchtgefahr nicht gegeben, sondern nur die Befürchtung des Fernbleibens, kann ein spezielles Bedürfnis zur Verfahrenssicherung durch die Verhängung eines Hauptverhandlungshaftbefehls bestehen. Es vermag dann – abgesehen von § 230 Abs. 2 StPO – allein § 127 b StPO das Verfahren durch Freiheitsentziehung des Beschuldigten zu sichern. Die Fähigkeit des § 127 b StPO, das Verfahren auch in diesen Fällen zu sichern, ist ein nicht von der Hand zu weisendes Argument für die Regelung. Die Tendenz zugunsten der Freiheitsinteressen kann in diesem Feld durch Verweise auf Optionen praktisch nicht gestützt werden. Nimmt man den Willen des Gesetzgebers ernst, den Strafverfolgungsbehörden mit § 127 b StPO eine zusätzliche Möglichkeit zu geben, das Verfahren zu sichern, und achtet man insbesondere seine demokratisch legitimierte Gestaltungskompetenz, ist zu prüfen, ob § 127 b StPO wenigstens begrenzt anwendbar bleiben kann. Zu prüfen bleibt demnach, inwieweit sich § 127 b StPO in das Freiheitsrecht des Beschuldigten und das verfassungsrechtliche Gefüge einpassen lässt. Durch verfassungskonforme Auslegung darf keinesfalls einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz ein entgegengesetzter Sinn verliehen werden; der normative Gehalt der auszulegenden Norm darf nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden 455. Da die Auslegung nicht mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten darf 456, ist es im Folgenden nicht angebracht, neu über eine Auslegung des Begriffes „befürchten“ gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO im Sinne einer „Gefahr“ in §§ 112, 112 a StPO nachzudenken; auch nicht über eine Gleichsetzung des Begriffes „Fernbleiben“ mit „Flucht“ gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Gesetzgeber hat sich mit der Wortwahl des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO willentlich von §§ 112, 112 a StPO distanziert. Es bietet sich vielmehr an, den Rechtsfolgenbereich, in dem § 127 b StPO anwendbar ist, einzuschränken. Das Bedürfnis der Strafverfolgung zur Sicherung des Verfahrens durch Hauptverhandlungshaft und das öffentliche Interesse an der Durchführung mögen umso gewichtiger sein, je höher die Bedeutung der Sache ist – hier jedenfalls bis zur Grenze der in § 419 Abs. 1 S. 2 StPO genannten Rechtsfolge von einem Jahr vollstreckbarer Freiheitsstrafe. Aus Verhältnismäßigkeitserwägungen spricht vieles dafür, § 127 b StPO für bestimmte Kriminalitätsbereiche zu sperren. Gemeint sind die Fälle, in de455 Vgl. BVerfGE 8, 28, 34 („verfassungskonforme Auslegung; Besoldungsgesetz“). Siehe auch BVerfGE 8, 71, 78 f. („Verwaltungsermessen“); 71, 81, 105 („Wahlbewerber“); 90, 263, 276 („Anfechtung der Ehelichkeit“). 456 BVerfGE 95, 64, 93 („Wohnungsbindungsänderungsgesetz“).

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nen lediglich eine Geldstrafe oder eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt werden kann. cc) Unanwendbarkeit des § 127 b StPO in mindergewichtigen Fällen Den Kriterien „Bedeutung der Sache“ und „Rechtsfolgenerwartung“ wird in der Literatur zum bisherigen Recht der Untersuchungshaft in verschiedener Konsequenz Rechnung getragen. Nach einer Ansicht ist Untersuchungshaft dann unverhältnismäßig, wenn lediglich eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr zu erwarten ist. Dieser Meinung sind beispielsweise Jung 457 und G. Kaiser 458. Hassemer sieht die Grenze der Rechtmäßigkeit bei zu erwartendem Freiheitsverlust erreicht; da bei geringer Straferwartung die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung schwer zu prognostizieren sei, solle die Straferwartung bei einem Jahr angesetzt werden 459. Der Arbeitskreis Strafprozeßreform ist ausdrücklich der Auffassung, dass dort, wo keine vollstreckbare Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist, das Verfahren ohne Inhaftierung des Verdächtigten durchzuführen ist 460. In minder schweren Fällen käme den Strafverfolgungsinteressen generell kein solches Gewicht zu, dass es Untersuchungshaft mit allen ihren Nebenfolgen rechtfertige 461. Diese weitreichende Einschränkung belegt er für die Haftgründe der Flucht und Fluchtgefahr mit Regelungen des materiellen Rechts. Das Strafverfahrensrecht bewirke in der Form der Untersuchungshaft das, was das materielle Strafrecht verhindern wolle, nämlich die Entsozialisierung und Gefährdung des Betroffenen durch einen kurzfristigen Freiheitsentzug. Der Gesetzgeber habe sich durch die §§ 47, 56 StGB bemüht, die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen soweit als möglich auszuschließen. Diese Wertentscheidung sei „durchkreuzt“, wenn gleichwohl gegen den Beschuldigten eine Untersuchungshaft verhängt werden dürfe. Wolter zieht die Grenze zur Unrechtmäßigkeit differenziert. Für ihn ist Untersuchungshaft zwar grundsätzlich auch dann unzulässig, wenn eine Geldstrafe von bis zu 360 Tagessätzen und eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr zu erwarten ist 462. Für den Haftgrund der Fluchtgefahr präzisiert er jedoch seine Ansicht mit Blick auf § 113 Abs. 2 StPO. Untersuchungshaft sei dann zuzulassen, wenn sich der Jung, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 79, 92. G. Kaiser, in: FS-Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), S. 299, 313 m. w. N. auf Jung, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 79, 92. 459 Hassemer, StV 1994, 38, 41. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Riklin, SZfStr 104 (1987), 57, 68, unter besonderer Berücksichtigung von Untersuchungshaft in der Schweiz; ders. fordert a. a. O. ein „Verhaftungsverbot“, zumindest, wenn „als Sanktion nur eine Buße zu erwarten ist“. 460 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Untersuchungshaft (1983), S. 37 und S. 61 f. 461 Zum Folgenden siehe Arbeitskreis Strafprozeßreform, Untersuchungshaft (1983), S. 62. 462 So Wolter, Untersuchungshaft, ZStW 93 (1981), 452, 469, 470, 502. Siehe auch ders., Aspekte einer Strafrechtsreform bis 2007 (1991), S. 47 ff. 457 458

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Beschuldigte bereits einmal dem Verfahren entzogen oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder wenn er keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat und, wenn eine Bewährungsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten ist 463. Für Roxin ist die Untersuchungshaft immer dann unzulässig, wenn lediglich eine Geldstrafe zu erwarten ist 464. Dürig kommentiert Art. 2 Abs. 2 GG unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 2 GG so, dass eine Freiheitsentziehung durch Untersuchungshaft auch die Erwartung einer Freiheitsstrafe voraussetze; ist eine Freiheitsstrafe nicht prognostizierbar, sei eine Untersuchungshaft unzulässig 465. Zur uneingeschränkten Verhältnismäßigkeit der Hauptverhandlungshaft auch in Fällen kleinerer Kriminalität gelangen beispielsweise Schröer, Schlüchter/Fülber/ Putzke, Hellmann und Keller. Schon aus § 113 StPO ergebe sich, dass eine Untersuchungshaft auch in Fällen einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe nicht ausgeschlossen sei 466. Nach Asbrock und Hartenbach, wie auch nach Hellmann und Schlüchter/Fülber/Putzke, wird die Hauptverhandlungshaft erst dann unzulässig, wenn sie voraussichtlich die Dauer der zu erwartenden Strafe erreicht oder übersteigt. Hierin liege ein gesetzeswidriger Vorwegvollzug der Strafe 467. Ein solcher sei aber – zumindest nach Ansicht der zuletzt genannten Gruppe – mit Blick auf die nach § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO zulässige Höchstdauer der Hauptverhandlungshaft von einer Woche nicht zu befürchten 468. Das gesetzliche Mindestmaß von fünf Tagessätzen nach § 40 Abs. 1 S. 2 StGB, welches gemäß § 43 StGB einer Freiheitsstrafe von fünf Tagen entspricht, werde nur geringfügig überschritten 469. Grasberger macht schließlich ihre Ansicht, wonach die Inhaftierung nicht schon immer dann unverhältnismäßig sei, wenn nur eine Geldstrafe in Betracht komme, mit dem Argument deutlich, dass eine vollständige Anpassung der Untersuchungshaft an die zu erwartende Strafe deren selbständige Zweckbestimmung unterlaufe 470. Kohler formuliert ihre Ansicht zu einem So Wolter, Untersuchungshaft, ZStW 93 (1981), 452, 469, 471. Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 30 Rdn. 3. 465 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1958), Art. 2 Abs. II Rdn. 54. 466 Vgl. Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 100; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S.124, sowie Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148, und Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679. Letztgenannte erwähnen ausdrücklich auch die Verhältnismäßigkeit von Haft im Bagatellbereich. 467 Vgl. wieder Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 124, mit Verweis auf Hartenbach, AnwBl. 1996, 83, 84. Gegen die Verhältnismäßigkeit aus Gründen eines freiheitsbeschränkenden Vorwegvollzugs sind neben Hartenbach auch Asbrock, StV 1997, 43, 44, und Herzog, StV 1997, 215, 216. 468 Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 124. 469 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 124, unter zustimmendem Verweis auf Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148; siehe auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 100 f. 470 Grasberger, GA 1998, 530, 537, wenn auch mit Bedenken für Bagatellfälle, die i. d. R. nur eine niedrige Tagessatzzahl nach sich ziehen. Siehe auch zustimmend Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 95. 463 464

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Verstoß des § 127 b StPO allgemein, indem es heißt, die Hauptverhandlungshaft widerspreche dem Grundsatz, „indem sie Untersuchungshaft als generelle Antwort auf Massendelikte ansieht, anstatt (...) Untersuchungshaft im Bereich der geringen Kriminalität nur in Ausnahmefällen zuzulassen“ 471. Fülber lehnt eine allgemeine Beschränkung der Untersuchungshaft unter anderem deshalb ab, da „kaum lösbare Schwierigkeiten“ entstünden, wenn sich ex post die Prognose einer bestimmten Strafhöhe nicht bewahrheite 472. Diese letzten, zum Teil an Paeffgen, Seetzen und Wagner zu §§ 112 ff. StPO angelehnten Äußerungen 473, entsprechen im Tenor der Rechtsprechungsmeinung zum bisherigen Untersuchungshaftrecht 474. Würde man jedoch den Vorschlag des Arbeitskreises Strafprozeßreform annehmen und auf § 127 b StPO übertragen, wäre die Norm im Ganzen verfassungswidrig. Die Bedeutung der Sache wäre in den Fällen, in denen § 127 b StPO in Betracht kommt, aufgrund der Strafrahmenbegrenzung des § 417 Abs. 1 S. 2 StPO in jedem Falle zu gering, um Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Gleiches würde nach Jung, Kaiser und Hassemer gelten. In den Fällen, in denen eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr zu erwarten ist, ist das beschleunigte Verfahren und damit auch § 127 b StPO nicht anwendbar. Lässt sich die Grenze enger ziehen, etwa auf die Unverhältnismäßigkeit von Untersuchungshaft auf Fälle, in denen eine Geld- oder Freiheitsstrafe erwartet wird, die zur Bewährung ausgesetzt wird, wäre § 127 b StPO verfassungskonform entsprechend auszulegen. Letzteres erscheint als die angemessene Lösung. Es ist nicht auszumachen, weshalb eine derartige Bindung der Hauptverhandlungshaft an die zu erwartende Strafe deren Zweckbestimmung unterlaufen würde. Die Zweckbestimmung einer gegenüber der Hauptverhandlungshaft zeitlich intensiveren Strafhaft, besteht gelöst von der Hauptverhandlungshaft fort. Die Hauptverhandlungshaft nur auf Fälle zu erwartender vollstreckbarer Freiheitsstrafe anzuwen471 Kohler, Beschleunigte Strafverfahren (2001), S. 89; i. d. S. für eine (totale) Unvereinbarkeit des § 127 b StPO mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind auch – ohne nähere Begründung – Münchhalffen/Gatzweiler, Recht der Untersuchungshaft (2002), Rdn. 389. 472 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 95. 473 Siehe beispielhaft Hellmann, NJW 1997, 2145, 2148, und SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), § 112 Rdn. 20; Seetzen, NJW 1973, 2001, 2001 f., und Wagner, NJW 1978, 2003, 2003 f. Siehe auch Grasberger, GA 1998, 530, 537 und dort FN 38. Vgl. daneben Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 472; AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 35, und LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 63, sowie Dünnebier, NJW 1968, 1752, 1753. Eine nach wie vor gute Übersicht über „Verhältnismäßigkeit und Straferwartung“ bietet Jehle, Untersuchungshaft (1985), S. 14 ff. 474 Siehe OLG Frankfurt a. M., NStZ 1986, 568, 569 („keine schematische Begrenzung der Untersuchungshaft“), und OLG Frankfurt a.M., StV 1993, 594, 594 („Geldstrafenerwartung“). Auch nach OLG Düsseldorf, StV 1994, 86, 86 („Grundsätze für die Annahme der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft“), mit kritischer Anm. Seebode, a. a. O., gibt es weder einen verfassungsrechtlich abgesicherten, noch einen strafprozessrechtlich anerkannten Grundsatz, dass Untersuchungshaft die zu verbüßende Strafe nicht erreichen darf; es verbiete sich jede „schematische Begrenzung“ der Untersuchungshaft im Hinblick auf die Rechtsfolgenerwartung.

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den, macht aus Untersuchungshaft genauso wenig ohne weiteres Strafhaft wie aus Strafhaft Untersuchungshaft. Jedenfalls dann nicht, wenn die Unschuldsvermutung strikt beachtet wird. Darüber, ob die vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung geäußerten Kritiken an der zu erwartenden Strafe als Limitierungsgesichtspunkt der Untersuchungshaft zutreffen oder nicht, lässt sich streiten. Nach Krauß beispielsweise ist die zu erwartende Strafe ausdrücklich als „‚Begrenzungsmaßstab‘ (...) jedenfalls dann anstößig, wenn irgendwelche in der Person des Täters liegenden potentiellen Strafzumessungsgründe zur Rechtfertigung prozessualer Zwangsmaßnahmen herangezogen werden“ 475; der Gedanke, einen bloß Verdächtigen in Untersuchungshaft zu nehmen, sei ja, so Krauß, „erträglich nur unter der Voraussetzung, daß damit gerade keine Strafe verhängt“ werde 476. Diese Bedenken sind zwar grundlegend. Die Verbindung zwischen Untersuchungshaft und Straferwartung macht Untersuchungshaft an sich jedoch noch nicht zur Strafhaft. Auch sind die Vorbehalte letztlich ebenso wenig direkt auf § 127 b StPO übertragbar wie die Ansichten der Befürworter einer Limitierung des bisherigen Untersuchungshaftrechts. § 127 b StPO hat alles andere als gängige Haftgrundvoraussetzungen. Die Zwangsermächtigungen sind durch § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO ausdrücklich an den Bereich kleinerer und mittlerer Kriminalität gekoppelt. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO weicht durch die Befürchtung des Fernbleibens gegenüber den Haftgründen nach §§ 112, 112 a StPO den Anspruch an das zu erwartende Boykottverhalten des Beschuldigten auf. Der abstrakt-generellen Ausweitung von Haft im Bereich kleiner Kriminalität ist im Sinne der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs daher besonders deutlich entgegenzutreten. Das Bedürfnis nach einer derartigen Regulierungsfunktion stellt sich bei Haft aufgrund §§ 112, 112 a StPO nicht. Anders als etwa bei Haft aufgrund § 112 Abs. 3 StPO dient die Kopplung von Untersuchungshaft an die Straferwartung auch schon gar nicht als Rechtfertigung der prozessualen Zwangsmaßnahme. Die Limitierung von Haft an die Erwartung einer Freiheitsstrafe mindert die Eingriffsbefugnisse und steht demnach in der Tendenz konform mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als eingriffsbeschränkendes Institut des Rechtsstaats. Zudem ist § 113 StPO nicht direkt zu entnehmen, dass die Hauptverhandlungshaft im Bereich der kleineren Kriminalität bis hin zu den Bagatelldelikten anwendbar ist. Abs. 1 untersagt Untersuchungshaft aufgrund von Verdunkelungsgefahr, wenn die Tat nur mit Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe von bis zu 180 Tagessätzen bedroht ist. Das impliziert die Anwendbarkeit von Haft als Zwangsmittel in einem höheren Rechtsfolgenbereich. Abs. 2 erklärt schließlich Untersu475 Vgl. Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (1971), S.153, 175. Siehe i.d.S. auch Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S.55 f. 476 So wieder Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (1971), S. 153, 175 [Hervorhebung im Original].

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chungshaft aufgrund Fluchtgefahr im unteren Rechtsfolgenbereich für zulässig, wenn auch unter engen Voraussetzungen. Weder Abs. 1 noch Abs. 2 betrachten jedoch den Fall des §127 b Abs.1 Nr.2 StPO, wonach lediglich das Fernbleiben des Beschuldigten zu befürchten sein muss. Da § 113 StPO zwischen Verdunkelungs- und Fluchtgefahr unterscheidet, kann der Regelung gerade keine allgemeine Wertung zur Anwendbarkeit von Haft im unteren Kriminalitätsbereich entnommen werden477. § 113 StPO ist vielmehr die Wertung zu entnehmen, dass im Bereich kleinerer Kriminalität die Zulässigkeit von Haft deutlich vom Haftgrund abhängt. Da nun § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO den Haftgrund Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO erheblich erweitert, kann ein Wertungswiderspruch zu § 113 StPO darin gesehen werden, die Hauptverhandlungshaft im unteren Kriminalitätsbereich zuzulassen478. § 113 StPO mahnt als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 479 auf prozessualer Ebene zur Zurückhaltung beim Freiheitsentzug im unteren Kriminalitätsbereich. Dieser Pflicht läuft die Erweiterung der Haftgründe in diesem Bereich zuwider. Die Gefahr des unzulässigen Vorwegvollzugs einer Strafe durch die Hauptverhandlungshaft lässt sich schließlich mit Verweisen auf die Befristung gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO und das „‚Grundvertrauen‘ in die Loyalität aller am Strafverfahren beteiligten Subjekte“ 480 nicht völlig vom Tisch kehren. Sind Maßnahmen aufgrund § 127 b StPO zugelassen, wenn keine vollstreckbare Freiheitsstrafe zu erwarten ist, besteht die Gefahr eines „Proforma-Vollzugs“. Sie besteht gerade mit Blick auf die in der Gesetzesbegründung 481 angesprochenen „Abschreckungseffekte“ und die „erzieherische Wirkung“. Die Befristung gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO und § 43 StGB sprechen auch nicht gegen den Ausschluss der Hauptverhandlungshaft in Fällen, in denen lediglich die Verhängung einer Geldstrafe zu erwarten ist. Zwar setzt § 43 StGB einen Tagessatz einem Tag Freiheitsentzug gleich. Und das gesetzliche 477 So aber Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 95 f., der gerade in § 113 Abs. 2 StPO einen Beleg dafür sieht, dass Untersuchungshaft im unteren Kriminalitätsbereich zuzulassen sei. Der in diesem Zusammenhang gebrachte Verweis von Fülber, a. a. O. und dort in FN 500 auf Wagner, NJW 1978, 2002, 2004, hat jedoch keine entscheidende Aussagekraft. Wagner, a. a. O., konstatiert zwar, dass sich das BVerfG in keinem seiner Urteile zur Bedeutung der Verhältnismäßigkeit im Recht der Untersuchungshaft dahingehend geäußert hat, dass das Prinzip „zu einer langsameren oder mühsameren Strafverfolgung“ oder zu einem „Verzicht auf Strafverfolgung“ im Bereich unterer oder mittlerer Kriminalität zwinge. Das BVerfG hat jedoch in vielen Entscheidungen die Verhältnismäßigkeit einer Zwangsmaßnahme von der Eingriffsintensität und der Schwere des möglichen Rechtsverstoßes durch den Beschuldigten abhängig gemacht, vgl. nur wieder BVerfGE 19, 142, 142 ff. („Tatschwere“). 478 In diese Richtung argumentiert auch Herzog, StV 1997, 215, 216, mit dem Hinweis auf Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1983), S. 239, der allerdings belegt, dass der Rechtsgedanke aus § 113 StPO die Praxis bisher nicht daran gehindert hat, Untersuchungshaft auch im Bereich kleinerer Kriminalität zu verhängen. Siehe auch Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 573. 479 Siehe nur KK-Boujong, StPO (2003), § 113 Rdn. 1. 480 So aber Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 96 f. [Hervorhebung im Original], mit Verweis auf SK-Schlüchter, StPO (Stand: 1994), Vor § 213 Rdn. 2. 481 BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

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Mindestmaß einer Geldstrafe gemäß § 40 Abs. 1 S. 2 StGB von fünf Tagessätzen kann wegen der Befristung der Hauptverhandlungshaft durch diese nur geringfügig überschritten werden. § 43 StGB ändert jedoch nichts daran, dass die Übelzufügung durch Freiheitsentzug gegenüber der durch Verhängung einer Geldstrafe eine andere ist 482. Die faktische Übelzufügung durch Freiheitsentzug ist in der Sache gewichtiger. Gemessen an der Wirkung und dem Freiheitsrecht des Beschuldigten gilt: Geldstrafe ist nicht gleich Freiheitsstrafe – sondern ein Weniger. Eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe ist keine vollstreckbare Freiheitsstrafe – sondern ein Weniger. Entgegen Fülber entstehen auch keine „kaum lösbaren Schwierigkeiten“ 483, wenn sich ex post die Prognose einer bestimmten Strafhöhe nicht bewahrheitet. Sie sind jedenfalls keine größeren als die, die auch nach der von Fülber vertretenen Ansicht auftreten können. Die Prognose der zu erwartenden Strafe kann sich nämlich immer als falsch erweisen. Die Fehlprognose ist kein spezifisches Problem der Limitierung des § 127 b StPO auf Fälle zu erwartender Freiheitsstrafe. Das Problem stellt sich generell auch bei Beachtung der Rechtsfolgengrenze des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO. Die Beurteilung der Sach- und Beweislage kann immer fehlerhaft sein, sodass eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren nicht mehr erwartet werden kann. Die Prognose kann sich schließlich immer als derart falsch erweisen, dass ein wahrhaft Unschuldiger inhaftiert wird. Was dann bleibt, ist die Möglichkeit der Entschädigung 484. III. Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung 1. Rechtsgrundlagen, Inhalt und Bedeutung des Prinzips Eine Kontroverse zwischen der Unschuldsvermutung und § 127 b StPO liegt zunächst einmal in der Legitimation der Regelung. Damit haben wir uns im vorherigen 1. Abschnitt dieses Kapitels näher befasst. Abgesehen von der Legitimation von Haft und Festnahme, hat die Frage der Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit der Unschuldsvermutung gewissermaßen „von Natur aus“ weitere Brisanz. Sie liegt in der Intensität des Rechtseingriffs gegenüber einem lediglich Verdächtigen im Vor482 Verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber § 43 StGB aus Gründen des Schuldgrundsatzes äußern etwa Jescheck, in: FS-Th. Würtenberger (1977), S. 257, 269, 274, wonach sich die „Grenzen der Gerechtigkeit allzu deutlich zeigen“, wenn der Betroffene die Geldstrafe nicht zahlen kann: „Der Arme büßt an Freiheit, was der Wohlhabende mit Geld abmachen kann“. Eingehend für die „Autonomie der Geldstrafe“ ist Bruns, JR 1986, 71, 73, Anm. zu BGH, Urt.v. 21.03.1985 – 4 Str.53/85, JR 1986, 70, 70 f. Zu anderer Ansicht vgl. etwa Horn, ZStW 89 (1977), 547, 564, wonach es heißt: „Demgegenüber möchte ich ganz entschieden dafür plädieren, daß man es bei der Gesetz gewordenen 1 : 1-Lösung auch in Zukunft beläßt“. 483 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 95. 484 Grundlegend zur Entschädigung vgl. Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 211 ff.

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feld des Urteils 485. Das gilt grundsätzlich für § 127 b StPO wie für §§ 112, 112 a StPO gleichermaßen. Im Ergebnis halten sich die im Schrifttum geäußerten Ansichten für eine Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit der Unschuldsvermutung mit denen, die sich dagegen aussprechen, in etwa die Waage. Zu letztgenannter Richtung gehören federführend Stintzing/Hecker, Herzog, Neumann, Asbrock und Sonnen. Die Hauptverhandlungshaft, so heißt es bei Stintzing/Hecker, sei eine „vorweggenommene Bestrafung“ 486. Roxin und Soost schließen von Elementen rechtswidriger Legitimation auf die Rechtswidrigkeit der Regelung an sich. „Insbesondere verletzt die Hauptverhandlungshaft“, so schreibt Soost im Grundrechte-Report 1998, „das Prinzip der Unschuldsvermutung, nach dem der Beschuldigte bis zu seiner Verurteilung von der Staatsgewalt als unschuldig anzusehen ist, da mit der Einführung der Hauptverhandlungshaft laut Gesetzentwurf auch eine abschreckende und erzieherische Wirkung“ beabsichtigt sei 487. Für Schlüchter/Fülber/Putzke ist hingegen „bei restriktiver Anwendung der Vorschrift kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung erkennbar“ 488. Grasberger vermag ein Zuwiderlaufen „insgesamt nicht festzustellen“ 489. Die Hauptverhandlungshaft verfolge eigene Ziele und könne daher nicht mit einer nach Rechtskraft des Urteils vollstreckten Freiheitsstrafe gleichgesetzt werden 490. Es liege im Wesen der Untersuchungshaft, den Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung Rechnung zu tragen. Dies schließe die zügige Verfahrenserledigung mit ein und damit von der Zielsetzung her grundsätzlich auch das beschleunigte Verfahren 491. Anders als mit Blick nach Frankreich und speziell auf Abs. 3 des einleitenden Artikels des Code de procédure pénale 492, erscheint die Unschuldsvermutung im 485 Graf zu Dohna, Strafprozeßrecht (1929), S. 126 f., brachte den Konflikt mit einer Wendung treffend auf den Punkt: „Um also den Verdächtigen vor unverdienter Strafhaft zu schützen, wird das Strafverfahren gegen ihn betrieben; um dieses durchführen zu können, wird der Verdächtige eingesperrt“. 486 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 572; Herzog, StV 1997, 215, 216 („abstrakte Haftgründe der Fluchtpräsumption und der Abschreckung“); Neumann, StV 1994, 273, 276 („sozusagen auf Vorrat inhaftiert“); Asbrock, StV 1997, 43, 44 („Vorwegvollzug“); Sonnen, NK 1996, 13 („Nötigungsobjekt“). 487 Soost, Grundrechte-Report 1998 (1998), S.262, 263. I. d. S. auch Roxin, Strafverfahrensrecht (1998),§ 59 Rdn. 1 a: „Soweit die Hauptverhandlungshaft auch dem Zweck dienen soll, den mutmaßlichen Täter abzuschrecken und auf ihn erzieherisch einzuwirken sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung zu stärken (so die Gesetzesbegründung BTDrucks 13/2576, 3), ist dies verfassungswidrig“ [Klammersetzung im Original]. 488 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 125. Siehe auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 103. 489 Grasberger, GA 1998, 530, 533. 490 Grasberger, GA 1998, 530, 531. 491 Grasberger, GA 1998, 530, 531. 492 Siehe zum Reformgesetz v. 15.06.2000 an dieser Stelle Le Gunehec, La Semaine Juridique 2000, Edition générale, Aperçu rapide 28/06/2000, 1223, 1223ff. Siehe auch Jung, ZStW 105 (1993), 204, 214 ff., zu Berichten der Kommission „Justice Pénale et Droit de l’homme“

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

deutschen Recht nicht derart exponiert. Die Unschuldsvermutung ist in einigen Verfassungen der Bundesländer niedergeschrieben 493. Sie steht jedoch weder ausdrücklich in der StPO noch im Grundgesetz 494. Dennoch ist die Geltung der Unschuldsvermutung im deutschen Strafverfahrensrecht unbestritten. Sie wird als selbstverständlich vorausgesetzt 495. Der Satz „Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist“ 496, hat als Bestandteil der Europäischen Menschenrechtskonvention den Rang einfachen Bundesrechts 497. Verfassungsrechtlich leitet er sich nach überwiegender Ansicht aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG her oder wird als ein Bestandteil davon angesehen 498. Zur Herleitung der Unschuldsaus den Jahren 1989/90, die als Wegbereiter der Reform v. Juni 2000 gelten; die Unschuldsvermutung wurde 1989/90 (als eines von insgesamt zehn leitenden Prinzipien des Ermittlungsverfahrens) neben der Menschenwürde und dem Schutz des Opfers zur Kategorie „Protection des personnes“ gefasst. Der Grundsatz der Effektivität findet sich nicht in der Liste. 493 Vgl. Art. 65 Abs. 2 (Berlin); Art. 6 Abs. 3 (Bremen); Art. 20 Abs. 2 (Hessen); Art. 6 Abs. 3 S. 2 (Rheinland-Pfalz); Art. 14 Abs. 2 (Saarland). 494 In Frankreich tritt die Unschuldsvermutung hingegen traditionell ausdrücklich hervor. Sie ist in der Menschenrechtserklärung von 1789 erwähnt. Danach soll Untersuchungshaft nur in unbedingt nötigen Fällen und ohne überflüssige Strenge verhängt werden; vgl. hierzu etwa Tophinke, Grundrecht der Unschuldsvermutung (2000), S. 50 und dort FN 253. Dies. macht a. a. O. auch darauf aufmerksam, dass der U.S.-Supreme Court seit dem Jahre 1970 („re Wireship“) den Nachweis der Schuld des Angeklagten „beyond a reasonable doubt“ fordert; das Gericht stützt sich auf die „Due Prozess Clause“ des 14. Zusatzartikels der Amerikanischen Verfassung. 495 Vgl. im Zusammenhang zur Untersuchungshaft auch Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 67 m. w. N. Aus dem neueren Schrifttum siehe Denninger, StV 1998, 401, 403 f., im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem so genannten „Lauschangriff“. 496 So die deutsche Fassung des Art. 6 Abs. 2 EMRK nach BGBl. II 1958, S. 686, 688. 497 So die st. Rspr. Vgl. schon BVerfGE 10, 271, 274 („Untersuchungshaft, Strafhaft“), wonach eine Verfassungsbeschwerde nicht auf die Menschenrechtskonvention gestützt werden kann; so auch Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Einführung Rdn. 6. Zu gleichem Ergebnis kommt Weigend, StV 2000, 384, 386 f. mit Verweis u. a. auf Sternberg, Rang von Menschenrechtsverträgen (1999), S. 38. Bleckmann, EuGRZ 1994, 149, 154 f., leitet hingegen aus dem Begriff „Menschenrechte“ in Art. 1 Abs. 2 GG Verfassungsrang der EMRK ab. Vor diesem Hintergrund hält Kühne, StV 2001, Beilage-Europäisches Strafrecht 2000, 73, 75, die Lösung, wonach eine Verletzung der EMRK zwar nicht zu einem Verfassungsverstoß führt, aber im nationalen Recht berücksichtigt werden muss, für einen „eleganten Ausweg“. Dass die Diskussion keinesfalls abgeschlossen ist, zeigt der Tagungsbericht von L. Schulz, StV 2001, Beilage-Europäisches Strafrecht 2000, 85, 86. Die Bedeutung der EMRK für das innerstaatliche Recht war in Frankreich Auslöser für die Positivierung der Unschuldsvermutung in Article Préliminaire Abs. 3 CPP; vgl. hierzu an dieser Stelle Guinchard/Bandrac/Lagarde/Douchy, Droit processuel (2001), Rdn. 539. Abgesehen von der EMRK, ist die Unschuldsvermutung u. a. in Art. 14 Abs. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte ausdrücklich positiviert. 498 BVerfGE 19, 342, 347 („Tatschwere“); 35, 311, 320 („Briefkontrolle“); 74, 358, 369 („Privatklageverfahren“); 82, 106, 114 f. („§ 153 Abs. 2 StPO“). Vgl. aus dem Schrifttum Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 20 Rdn. 99 f.

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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vermutung wird mit Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG auch die oberste Maxime des Grundgesetzes herangezogen 499. So eindeutig wie die Geltung der Unschuldsvermutung im Verfahrensrecht ist, so zweifelhaft sind ihre tatsächliche Bedeutung und ihr konkreter Inhalt. Einerseits nennt Marxen sie „oberstes Verfahrensregulativ“ 500 und Hassemer „unverzichtbarer Baustein im Arrangement des Verfahrens“ 501. Für Kühne/Esser gewinnt die Unschuldsvermutung mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „im Rahmen der Überprüfung von Freiheitsentziehungen immer mehr an Gewicht“ 502. Andererseits werden Zweifel daran laut, ob das Institut überhaupt autonom Wirkungen entfalten kann 503. In den unterschiedlichen Ansichten über die Bedeutung spiegeln sich Unsicherheiten über einen mehr oder minder ausgeprägten verfassungsrechtlichen Gehalt des Instituts. Diese setzen sich in der Diskussion um konkrete Inhalte fort, auch wenn generell Konsens darüber herrscht, dass die Unschuldsvermutung Anteil an der Gewährung eines möglichst weiten Freiraumes für den Beschuldigten im Verfahren hat. Das in jüngerer Zeit von Stuckenberg eingehend beschriebene Spektrum von Interpretationsvorschlägen zeigt allzu deutlich, welch weite Spielräume der einfachgesetzliche und der verfassungsrechtliche Hintergrund lassen 504. Angesichts dessen stellt das Bundesverfassungsgericht wenig überraschend fest, dass die Unschuldsvermutung keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote enthalte, sondern ihre Auswirkungen auf das Verfahrensrecht der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedürften, was grundsätzlich Sache des Gesetzgebers sei 505. Eine offenere Formulierung ist kaum vorstellbar. Davon abgesehen, trifft das Gericht aber auch konkretere und zumindest im Kern anerkannte Feststellungen. Diese sind auch für die Untersuchung des § 127 b StPO bedeutsam. 499 Nach Degener, Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1985), S. 213 f., ist der Grundsatz hingegen „strafprozessuale Ausprägung des Art. 1 I GG“. Er unterstreicht nach LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), § 112 Rdn. 38, die Gewährung der Achtung der Menschenwürde und des fairen Verfahrens. Vgl. in dieser Richtung auch Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983), S. 14. Nach LR-Hilger, a. a. O. Vor § 112 Rdn. 38, ist er nicht Teil des Verhältnismäßigkeitsprinzips, sondern stützt dessen Begrenzungsfunktion. 500 Marxen, GA 1980, 365, 373. 501 Hassemer, Einführung (1990), S. 160. 502 Kühne/Esser, StV 2002, 383, 383 m. w. N. auf EGMR, Iwanczuk ./. Polen, Urt. v. 15.11.2001 („Vollzug der Untersuchungshaft“). 503 So Roxin, Strafverfahrensrecht (1995), § 11 Rdn. 4; danach dürfte die Unschuldsvermutung überhaupt „erst eine nennenswerte Aussagekraft gewinnen, wenn man sie als Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots auffaßt“; in Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 11 Rdn. 4, ersetzt Roxin die These durch Verweise auf Stuckenberg, Unschuldsvermutung (2000), und eine Anlehnung an den Grundsatz des fairen Verfahrens. Siehe kritisch zu einem eigenständigen Gehalt der Unschuldsvermutung Degener, Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1985), S. 214 f. 504 Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422, 426 ff. 505 Vgl. BVerfGE 82, 106, 115 („§ 153 Abs. 2 StPO“).

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Geprägt durch die allgemeine Schutzrichtung der Grundrechte, des Rechtsstaatsprinzips und der Europäischen Menschenrechtskonvention 506, deutet das Bundesverfassungsgericht die Unschuldsvermutung als Verbot für Maßnahmen vor Abschluss der Hauptverhandlung, die „in ihrer Wirkung Strafe oder Schuldfeststellung gleichkommen“ 507. In diesem Sinne hat die bisherige Untersuchung bereits Begründungsdefizite des Gesetzgebers aufgezeigt: Präventive und erzieherische Zwecke sind für § 127 b StPO unzulässige Legitimationsanätze 508. Des Weiteren verbietet die Unschuldsvermutung, dass dem Beschuldigten vor dem rechtskräftigen Nachweis seiner Schuld, diese „im Rechtsverkehr allgemein vorgehalten werden darf“ 509. Das Verbot pönaler Titulierung kann als Ausdruck des Verbots, Schuld vorzuhalten, angesehen werden. Praktisch keiner näheren Erörterung bedarf die Feststellung, dass die Unschuldsvermutung auch im Falle der Hauptverhandlungshaft unter gewissen Voraussetzungen eine angemessene Entschädigung gebietet 510. Ein solcher Entschädigungsanspruch besteht gemäß § 2 Abs. 1 StrEG für den durch eine vollzogene Untersuchungshaft oder eine andere Strafverfolgungsmaßnahme erlittenen Schaden. Hierzu ergeben sich gegenüber der Untersuchungshaft aufgrund §§ 112, 112 a StPO keine Unterschiede; die vorläufige Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO steht einer vorläufigen Festnahme aufgrund § 127 Abs. 2 StPO als andere Strafverfolgungsmaßnahme im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 StrEG gleich 511. Von Differenzierungen einmal abgesehen, erkennen weite Teile der Literatur ebenfalls das Verbot strafähnlicher Eingriffe und das Gebot, den Verdächtigen als 506 Die Urteile des EGMR haben keine unmittelbar innerstaatliche Wirkung; vgl. Weigend, StV 2000, 384, 387 f. Die „Entscheidungen zu ignorieren“, so Kühne, StV 2001, Beilage-Europäisches Strafrecht 2000, 73, 75, „wäre gleichwohl der größte denkbare Fehler“. Die EMRK ist für den Inhalt der Unschuldsvermutung im deutschen Recht eine anerkannte Auslegungsregel. Vgl. hierzu ausdrücklich BVerfGE 74, 358, 370 („Privatklageverfahren“), und die Beispiele bei Weigend, a. a. O. S. 384; vgl. zum Ganzen auch Ress, EuGRZ 1996, 350, 353. 507 BVerfGE 74, 358, 371 („Privatklageverfahren“); vgl. auch BVerfGE 9, 137, 144 („Reuegeldgesetz“); 19, 342, 347 („Tatschwere“), und 82, 106, 115, 117 („§ 153 Abs. 2 StPO“). 508 Anderes kann auch aus BVerfGE 19, 342, 342 ff. („Tatschwere“) oder aus BVerfGE 35, 185, 185 ff. („Wiederholungsgefahr“) – trotz dort angenommener Verfassungsmäßigkeit der Haftgründe – nicht hergeleitet werden; die Entscheidungen betreffen Fälle schwerer Kriminalität. 509 BVerfGE 74, 358, 371 („Privatklageverfahren“); vgl. auch BVerfGE 22, 254, 265 („saarländische Angestelltenversicherung“). 510 Vgl. etwa BVerfG, NJW 1992, 2011, 2011 f. („Versagung einer Strafentschädigung“); siehe aus der Lit. auch Stuckenberg, ZStW 111 (1999) 422, 457, und allgemein zur Entschädigung auch Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 211 ff. 511 Zutreffend Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 103 m. w. N.; vgl. allgemein auch BGHZ 72, 302, 305 („Entschädigungsanspruch bei Herausgabe beschlagnahmter Gegenstände“); Meyer-Goßner, StPO (2003), §2 StrEG Rdn.2, 5, 7, weist darauf hin, dass bei Einführung des §127 b StPO die Änderung des §2 Abs.2 Nr. 2 „offensichtlich vergessen worden“ sei. Siehe in diesem Zusammenhang grundlegend und kritisch zur herrschenden Aufopferungslehre Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 211 ff. und S. 220 ff.

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Unschuldigen zu behandeln 512. Die Inhalte überschneiden sich meist mit dem, was Stuckenberg als „Verbot der Desavouierung des Verfahrens“ bezeichnet 513. Nach seiner Ansicht ist die Offenheit des Ausgangs eines Prozesses charakteristisch für ein der Unschuldsvermutung Rechnung tragendes „Verfahren“. Diene ein „Prozeß nicht mehr nur der Absorption von Ungewißheit und der Entscheidungsfindung, sondern nur noch der Darstellung einer bereits gefundenen Entscheidung“, so handele es sich um ein „Ritual“ 514. Werde das Verfahren selbst pönal begriffen, sei es rechtswidrig. Dann seien auch die in einem derartigen Verfahren eingesetzten Rechtseingriffe im Vorfeld des Urteils nur pönal zu erklären 515. Der Schutz vor einem Verfahren in diesem Sinne, so Stuckenberg, sei die alleinige Funktion der Unschuldsvermutung 516. Über letztgenannte Reduzierung der Unschuldsvermutung lässt sich nun trefflich streiten. Fragen lässt sich auch, wo das Prinzip am ehesten verfassungsrechtlich verankert ist und ob Art. 6 Abs. 2 EMRK nun eine hinreichend konkrete oder eher weniger nützliche Interpretationshilfe für die Wirkungsweise der Unschuldsvermutung ist. Die Grenzen zwischen Unschuldsvermutung und dem Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK oder gemäß Art. 20 Abs. 3 GG sowie weiteren Inhalten des Art. 20 Abs. 3 GG sind jedenfalls keineswegs eindeutig gezogen 517. Allgemeingültige Grenzziehungen erscheinen jedoch auch nicht unbedingt erforderlich. Ausgehend von den beschriebenen Kerngehalten der Unschuldsvermutung können hier zunächst die zwei folgenden, eng miteinander verknüpften Fragen, beantwortet werden: Zum einen ist von Interesse, ob § 127 b StPO 512 Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983), S.13 ff. und S. 33 ff., sowie ders., NStZ 1981, 114, 114 f., Anm. zu OLG Frankfurt a. M., NJW 1980, 2031, 2031 f. („Ermessensausübung bei Entscheidung über notwendige Auslagen des Angeklagten nach Verfahrenseinstellung“); KK-Boujong, StPO (2003), vor § 112 Rdn. 8; LR-Hilger, StPO (Stand: 1996), Vor § 112 Rdn. 37 f.; Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 53 f. und dort FN 195, gegen die „Wirkformel“ des BVerfG. Gegen Letztere sind auch klar Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387, 470 f., und auch Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S. 351. 513 Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422, 452 ff. Ein Verbot der Desavouierung des Verfahrens lasse sich, so Stuckenberg, a.a. O. S.459, am besten als „Verbesonderung des Rechtsstaatsprinzips in das Gebot eines fairen Verfahrens einordnen“ – allerdings ohne sich Art. 6 Abs. 2 EMRK zu bedienen. 514 Vgl. Stuckenberg, ZStW 111 (1999) 422, 456 [Hervorhebungen im Original]. 515 Stuckenberg, ZStW 111 (1999) 422, 456. 516 So Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422, 454, der darüber hinaus deutlich macht, dass die Unschuldsvermutung in dieser Funktion akzessorisch zur jeweiligen Verfahrensgestalt ist. Welches Verfahren für die Schuldfeststellung verbindlich ist, so Stuckenberg, a. a. O. S. 456, könne das Prinzip nicht begründen. 517 Vgl. an dieser Stelle wieder Tophinke, Grundrecht der Unschuldsvermutung (2000), S. 47 ff. und S. 50 ff., zu den Ursprüngen der Verbindung zwischen Unschuldsvermutung und fair trial-Grundsatz im internationalen Recht. Siehe auch Egon Müller, NJW 1976, 1063, 1066 f., sowie Jung, JuS 1998, 1136, 1137. Einer Kopplung zwischen Unschuldsvermutung und dem Gebot des fair trial steht hingegen Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (1971), S. 153, 156 f., eher ablehnend gegenüber.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

abstrakt-generell verlangt, dass dem Betroffenen seine Schuld zur Begründung des Eingriffs „vorgehalten“ wird, und zum Zweiten, ob die Regelung zu Maßnahmen ermächtigt, die in ihrer „Wirkung“ Strafe oder Schuldfeststellung gleichkommen. Wäre dies der Fall, dann handelte es sich bei § 127 b StPO um eine rechtswidrige Schranke des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG.

2. Zu den Gefahren antizipierter Schuldvorhaltung a) Gefahr aufgrund dringenden Tatverdachts Es mutet zunächst paradox an: via dringender Tatverdacht gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO muss angenommen werden, dass der Verdächtige mit hoher Wahrscheinlichkeit der Täter ist, um ihn inhaftieren zu können, gleichzeitig muss aber so mit ihm verfahren werden, als sei er unschuldig, um das Verfahren in rechtsstaatlichen Bahnen zu halten. Der Verdächtige wird in Haft genommen, um ihm einen Prozess zu machen, an dessen Ende er eventuell freizusprechen ist. Dringender Tatverdacht und die Achtung der Unschuldsvermutung sind indes nichts von vornherein Widersprüchliches – ebenso wenig wie die Zulässigkeit von Untersuchungshaft in einem Verfahren, in dem eventuell ein freisprechendes Urteil ergeht 518. Das Verdachtserfordernis für einen Rechtseingriff im Verfahren muss die richterliche Überzeugung von der Schuld als Voraussetzung der Verurteilung nicht berühren 519. Die psychologische Sicht von Sax, je stärker der Tatverdacht zunehme und sich auf die Überzeugung der Schuld verdichte, desto schwächer werde die Unschuldsvermutung, um sich in der Schuldüberzeugung vollends aufzulösen und umgekehrt 520, scheint überwunden. Dafür haben Krauß und in dessen Gefolge insbesondere Egon Müller, Paeffgen und auch Hassemer gesorgt. Schuldüberzeugung und Unschuldsvermutung haben keine gegenläufigen Tendenzen 521. 518 Dass die Anordnung von Untersuchungshaft nicht durch die Unschuldsvermutung ausgeschlossen ist, zeigt Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK. 519 Siehe deutlich Lilie, in: FS-Remmers (1995), S.601, 614; siehe im Ergebnis auch BVerfGE 82, 106, 115 („§ 153 Abs. 2 StPO“); 74, 358, 372 („Privatklageverfahren“). 520 Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, Bd.3/Hb. 2 (1959), S.909, 987 f. 521 Die Unschuldsvermutung hat normative Wirkung „in stets gleichbleibender Weise bis zum Schuldspruch“ – so heißt es bei Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (1971), S. 153, 157 f.; vgl. auch Egon Müller, NJW 1976, 1063, 1066 f., und Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 77. Nach Hassemer, StV 1984, 38, 40 gilt: „Wer die Unschuldsvermutung auch bei dringendem Tatverdacht nicht radikal verteidigt, entwertet das Hauptverfahren, rechnet die vorläufigen und mit rechtlich mindertauglichen Mitteln gewonnenen Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens auf den Schuldspruch hoch. Der Strafjurist vertraut, was die Schuld des Beschuldigten angeht, erst dem rechtskräftigen Urteil“. Siehe i. d. S. auch Gropp, JZ 1991, 804, 806.

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Stuckenbergs Differenzierung in eine materielle und eine formelle Unschuld(svermutung) macht die Konformität zwischen dem Prinzip und dringendem Tatverdacht recht plausibel 522. Das Vorliegen „materiell“-rechtlicher Strafbedingungen muss angenommen werden dürfen. Ansonsten dürfte keinem Beschuldigten überhaupt ein Prozess gemacht werden. Die „formelle“ Schuldprognose bezieht die übrigen zur Strafverhängung nötigen Erfordernisse mit ein 523. Formell unschuldig ist nach dieser normativen Setzung derjenige, der nicht wegen einer Tat im vorgesehenen Verfahren verurteilt wurde, weil seine Tat im Verfahren nicht bewiesen werden konnte, weil ein Verfahren noch gar nicht stattfand oder weil es wegen eines Verfahrenshindernisses nicht mehr beendet werden konnte etc. 524. Lediglich die Achtung formeller Unschuld als Kontrapunkt zu einer zulässigen Behauptung materieller Schuld im Verfahren lässt die Annahme eines Verdachts widerspruchsfrei bestehen. Mit der Inhaftierung aufgrund dringenden Tatverdachts wird also dem gemäß § 127 b StPO Verdächtigen seine Schuld noch nicht formell im Sinne eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung vorgehalten. Die Annahme, dass der Betroffene mit hoher Wahrscheinlichkeit verurteilt werden wird einerseits, und die Vermutung seiner Unschuld andererseits, lassen sich miteinander vereinbaren. Sie lassen sich gleichzeitig so parallelisieren wie materielle Strafbarkeit und deren formelle Durchsetzung im laufenden Verfahren. Das gilt im Grunde für § 127 b StPO wie für §§ 112, 112 a StPO gleichermaßen. In dieser Deutlichkeit gilt es aber eben nur im Grunde. Im Rahmen des § 127 b StPO spielt der Effektivitätsansatz besonders in das Verfahren hinein und damit auch in das Wirkungsfeld der Unschuldsvermutung.

522 Jedenfalls deutlicher als die im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG zu konfliktgeladene und daher abzulehnende Sicht einer ambivalenten Stellung des Beschuldigten als Prozesssubjekt und -objekt von Lilie, in: FS-Remmers (1995), S. 601, 614. Dort heißt es: „Soweit ein Tatverdacht besteht, der die Voraussetzungen der Untersuchungshaft erfüllt oder andere Zwangsmaßnahmen zuläßt, erklärt sich dies im Zusammenhang der Unschuldsvermutung daraus, daß der Angeklagte nicht in jedem Stadium des Verfahrens uneingeschränkt nur Prozeßsubjekt ist. In bestimmten Verfahrensabschnitten ist anerkannt, daß die Stellung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren eine Doppelrolle sein kann. Die Ausnutzung dieser Zwitterstellung, die den Beschuldigten in bestimmten Situationen als Prozeßsubjekt einstuft, aber auch zum Objekt des Verfahrens macht, läßt auch die unterschiedliche Behandlung des Verdächtigen in einem anderen Licht erscheinen. Wenn er Prozeßobjekt wird, nimmt die Unschuldsvermutung wegen des bestehenden Verdachts keinen Schaden. (...). Die Zwangsmittel des Ermittlungsverfahrens sind vorläufig und deshalb ist es auch möglich, den Beschuldigten hier partiell als Verfahrensobjekt anzusehen.“ Hinzuzufügen ist, dass Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422, 448, die Trennung in formelle und materielle Unschuld, für die Antwort auf die Frage nach dem Inhalt der Unschuldsvermutung im Ganzen, für unzulänglich erachtet. 523 Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422, 442. 524 Vgl. wieder Stuckenberg, Unschuldsvermutung (2000), S. 554 und S. 484 f., sowie ders., ZStW 111 (1999) 422, 442, 446.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

b) Gefahr aufgrund der Beziehung zum beschleunigten Verfahren Aufgrund der Einfädelung des § 127 b StPO über Abs. 1 Nr. 1 in das beschleunigte Verfahren treten spezielle Fragestellungen auf, die besondere Hervorhebungen verlangen. Zunächst ist klarzustellen, dass die oben favorisierte Bindung der Hauptverhandlungshaft an die Erwartung einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe aus Verhältnismäßigkeitsgründen 525, nicht zu einer unzulässigen Gemengelage von materieller Strafbarkeit und formeller Durchsetzung von Strafe führt. Sie macht aus einer verfahrenssichernden Maßnahme weder eine Strafe, noch beruht sie auf einer unzulässigen Schuldannahme. Die Strafprognose im Rahmen des § 127 b StPO gestattet nicht erst – wie etwa zum Haftgrund der Tatschwere vertreten wird 526 – den Eingriff. Sie dient nicht der Rechtfertigung der Hauptverhandlungshaft. Sie hat vielmehr eine parallele Stoßrichtung zur Unschuldsvermutung. Die Auslegung dient der Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 127 b StPO. Sie begünstigt Verdächtige. Sie ist Regulativ gegenüber der ausdrücklichen Bezugnahme des § 127 b StPO auf das beschleunigte Verfahren und damit der zielgerichteten Haftermächtigung gegenüber kleinerer und mittlerer Kriminalität. Für § 127 b StPO ist vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung die Einbettung von Zwang in das beschleunigte Verfahren das eigentlich Problematische. Dadurch verwischen leicht die Grenzen zwischen der Verpflichtung, dringenden Tatverdacht als Voraussetzung zu beachten, und dem Verbot, sich im Verfahren so zu verhalten, als sei die Schuld des Verdächtigen bereits festgestellt. Zunächst kann die Voraussetzung der Geeignetheit der Sache für das beschleunigte Verfahren die Ansprüche an den dringenden Tatverdacht praktisch leicht aushebeln. Zum anderen gilt: Sind die Voraussetzungen des § 417 StPO erst einmal bejaht, besteht eher als im Regelverfahren die Gefahr, dass das Verfahren nicht mehr als Prozess der Wahrheitsfindung verstanden wird. Gerade eben, „weil es schnell gehen muss“, kann das „Verfahren“ – im wahrsten Sinne des Wortes – „beschleunigt“ zum „Ritual“ werden. Wird der Sachverhalt als einfach oder die Beweislage als klar eingestuft, ist es nicht unbedingt wahrscheinlich, dass die Strafverfolgungsbehörden von dieser Einschätzung bei nächster Gelegenheit wieder abrücken. Die Verfolgungsbehörden gehen mit der Entscheidung für § 127 b StPO der Absicht nach, im beschleunigten Verfahren verhandeln zu wollen. Damit setzen sie eine Richtungsentscheidung. Diese kann strafantizipatorisch wirken. Die Strafverfolgungsbehörden unterstellen jedenfalls von vornherein eher als im Regelverfahren, dass ihr Vorstellungsbild vom Geschehen wahr ist, da nach ihrer Einschätzung die Sache geeignet ist, um relativ unproblematisch ein Verfahren durchzuführen. Es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die s. o. 3. Kap., 2. Abschn. A. II. 4. c) cc). Zur Haft aufgrund § 112 Abs. 3 StPO als „Verdachtsstrafe“ vgl. Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 111 ff. und S. 118, sowie Wolter, ZStW 93 (1981), 453, 483 ff. 525 526

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Behörden ihre Sicht vom Tatgeschehen eher als absolut und richtig einstufen, als das im Regelverfahren der Fall ist. Dächten sie, es gäbe noch vermehrt Aufklärungsbedarf, es gäbe noch aufklärungswürdige Zweifel an der Richtigkeit ihrer Einschätzungen und mithin an der Beteiligung des Verdächtigen an einer Straftat, hätten sie sich nicht für die zügige Ahndung der Sache im beschleunigten Verfahren entschieden. Im Falle des Falles ist ihre weitere Vorgehensweise zu sehr geleitet von der frühen Empfindung einer Geeignetheit der Sache im Sinne des § 417 StPO. Die Geeignetheit der Sache wird im Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls angenommen, obgleich die Feststellung, dass der Sachverhalt einfach oder die Beweislage klar ist, erst in der Hauptverhandlung abschließend getroffen werden kann. Die Wahrheit scheint also bei Erlass des Haftbefehls aufgrund § 127 b StPO – fast – gefunden. Die Möglichkeiten des Beschuldigten, die Behörden von ihrer Vorstellung abzubringen, sind im beschleunigten Verfahren gegenüber dem Regelverfahren zudem nicht unerheblich eingeschränkt. Der Prozess der Wahrheitsfindung, in den die Zwangsmaßnahmen gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO einbezogen sind, ist weniger formalisiert als das Regelverfahren. Zu denken ist nur an das nach § 420 StPO eingeschränkte Beweisantragsrecht. Auch diese Einschränkung der Rechte des Verdächtigen kann eine Gefahr für die Unschuldsvermutung darstellen 527. Je mehr Rechte der Beschuldigte hat, im Prozess der Wahrheitsfindung aktiv mitzuwirken, desto eher ist der Prozess ein die Unschuldsvermutung beachtendes Verfahren. Je weniger Einflussmöglichkeiten er hat, desto eher ist er einem „Ritual“ ausgesetzt. Damit ist freilich nicht gesagt, dass § 127 b StPO gegen die Unschuldsvermutung verstößt. Es sind lediglich Gefahren deutlich gemacht. § 127 b StPO begründet aufgrund der zwingenden Einbeziehung der Haft in das beschleunigte Verfahren eine größere Gefahr der Schuldantizipation als die Anordnung von Haft im Regelverfahren. Der Ausgang des Prozesses kann dennoch abstrakt-generell offen gehalten werden. Ob die Straftat tatsächlich begangen wurde, kann auch im beschleunigten Verfahren unter Anwendung des § 127 b StPO vorurteilsfrei geklärt werden. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 127 b StPO – und des Verfahrens insgesamt – kann ständig überprüft werden. Die Prognose, dass die Sach- oder die Beweislage klar ist und dass eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren ergehen kann usw., ist keine vorweggenommene Strafbarkeitsannahme. Der Verfahrensausgang wird mit der Anordnung der Haft – die Verfassungsmäßigkeit des beschleunigten Verfahrens vorausgesetzt – nicht zwingend vorweggenommen. Die Verwertung ei527 Vgl. in diesem Zusammenhang wieder Egon Müller, NJW 1976, 1063, 1066 f., der aus der Unschuldsvermutung einen aktiven Verteidigungsstatus für den Beschuldigten ableitet. Die Abhängigkeit zwischen Achtung der Unschuldsvermutung und Wirksamkeit der Verteidigung spiegelt allgemein die Verbindung zwischen Unschuldsvermutung und dem Grundsatz des fairen Verfahrens wider. Siehe auch BVerfGE 74, 358, 369 („Privatklageverfahren“), wo es heißt: „Die Unschuldsvermutung steht in engem Zusammenhang mit dem Beschuldigten, den staatlichen Strafanspruch in einem rechtsstaatlichen fairen Verfahren abzuwehren und sich zu verteidigen“.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

nes für das beschleunigte Verfahren als geeignet angesehenen Sachverhalts muss nicht die Zurechnung von Schuld bedeuten. Auch im beschleunigten Verfahren stellt erst das Urteil die Schuld fest – oder die Unschuld.

3. Zu den Gefahren antizipierter Strafwirkung Die Einschätzung, ob das Mittel der Hauptverhandlungshaft in diesem Verfahrensumfeld in seiner „Wirkung Strafe gleichkommt“ und daher ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vorliegt, ließe sich auf das Wissen stützen, was einen Rechtseingriff überhaupt zur Strafe macht. Das ist schnell notiert. Die Schwierigkeiten, die sich mit der Frage „Was ist Strafe?“ auftun, sind jedoch immens und außerordentlich fundamental 528. Mögliche Einordnungen staatlicher Maßnahmen als „Strafe“ bestimmen von Grund auf den Charakter des Strafrechts. Die Straßburger Rechtsprechung steckt das Feld „Strafe“ weit 529. Jungs Formel „im Zweifel für die Einordnung als ‚Strafe‘“ 530, geht wohl noch weiter. Traditionell machen für ihn „Stigma“, „Zwang“ und „Verlust“ Strafe aus 531. Aber unabhängig davon, wie eng oder weit der Strafbegriff nun genau zu fassen ist, wirkt die Hauptverhandlungshaft, entgegen Fülber, nicht deshalb anders als eine „Strafhaft“, weil sie von begrenzter Dauer ist 532. Die Kritik K. Meyers daran, den Strafcharakter von Untersuchungshaft maßgeblich von der Dauer des Eingriffs abhängen zu lassen, hat Berechtigung 533. Untersuchungshaft und Strafhaft sind Freiheitsentziehungen, wenn sie einen Tag, eine Woche, drei Monate oder fünf Jahre dauern. Die Zeit der Inhaftierung spielt in dieser grundrechtlichen Einordnung keine entscheidende Rolle. Mit wirkungsorientierter Betrachtungsweise lassen sich zwischen einer Woche Strafhaft und der Hauptverhandlungshaft kaum Unterschiede ausmachen. Auch wenn die HauptverZur „Tradition der Fragestellung“ vgl. Jung, Was ist Strafe? (2002), S. 13 bis S. 22. Als „Paradebeispiele“ gelten die Fälle Engel ./. Niederlande, Urt. v. 08.06.1976, EGMR, EuGRZ 1976, 221, 221 ff. („disziplinarischer Arrest“), und Öztürk ./. BRD, Urt. v. 21.02.1984, EGMR, Serie A Nr. 84 = EuGRZ 1985, 62, 62 ff. („unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers; Ordnungswidrigkeiten“), zum Begriff der strafrechtlichen Anklage i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK. Vgl. zu dieser Straßburger Spruchpraxis sowie zu ihrer methodischen Einordnung Jung, EuGRZ 1996, 370, 371 ff. 530 Jung, Was ist Strafe? (2002), S. 82, mit der Konsequenz, den Wirkungskreis von Rechtsstaatsgarantien möglichst weit ziehen zu müssen [Hervorhebung im Original]. 531 Vgl. Jung, Was ist Strafe? (2002), S. 21. Auf die Verknüpfung von „Schuld und Strafe“ wird dort bewusst verzichtet. Für Jung ist „Schuld“ eher ein Ansatz zur „Begründung und Begrenzung von Strafe“, als dass er Strafe an sich kennzeichnet. 532 So jedoch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 101. 533 K. Meyer, in: FS-Tröndle (1989), S. 61, 67 f., mit Verweis u. a. auf Krey, JA 1983, 638, 638, wonach die Hauptbedeutung der Unschuldsvermutung darin liegt, dass ihr für die Frage, ob die Dauer einer Untersuchungshaft und/oder eines Strafverfahrens angemessen ist, maßgebliches Gewicht zukommt. 528 529

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handlungshaft nur auf drei Tage befristet wäre, wäre sie Freiheitsentzug. Einen Zeitpunkt, ab dem Untersuchungshaft qualitativ zu Strafhaft „mutiert“, hat auch nicht ohne Grund abstrakt-generell noch niemand ausgemacht. Er lässt sich nicht bestimmen. Demnach hängt die Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung in ihrer Funktion, antizipierte Strafwirkung zu verbieten, nicht von der Dauer der Untersuchungshaft ab. Dafür spricht die Straßburger Rechtsprechung. In einschlägigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Länge zulässiger Untersuchungshaft geht es zentral um einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK, ohne dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK explizit genannt ist 534. Lässt sich ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung nur schwerlich mit einer langen Haftdauer begründen 535, lässt sich Fülbers Ansicht, dass die Hauptverhandlungshaft nicht gegen die Unschuldsvermutung verstößt, auch nicht mit der Befristung gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO belegen 536. Problematisch an der Wirkungsorientierung könnte sein, dass die „gleiche Einordnung“ von Untersuchungshaft und Strafhaft als Freiheitsentziehung nicht nur zu einem Verstoß des § 127 b StPO gegen die Unschuldsvermutung führen kann. Bei undifferenzierter Betrachtung verstieße jede Art von Untersuchungshaft gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung – jedenfalls dann, wenn das Institut generell „Stigma“, „Zwang“ und „Verlust“ im Vorfeld des Urteils verbieten würde. Das ist freilich nicht so. Auch wenn „Stigma“, Zwang“ und „Verlust“ traditionell Strafe ausmachen, ist Untersuchungshaft grundsätzlich zulässig, solange sich in der Wirkung keine Schuldfeststellung ausdrückt. Die Unschuldsvermutung kann „Stigma“, „Zwang“ und „Verlust“ im Verfahren begrenzen. Es muss der Verlust an Verfahrensrechten berücksichtigt werden, denn das Verfahren ist der Ort, an dem die Unschuldsvermutung Wirkungen entfaltet. Letztlich ist in der Unschuldsvermutung nicht generell das Verbot (irgend)eines Rechtseingriffs im Vorfeld des Urteils zu sehen, sondern das Verbot einer bestimmten Rechtfertigung zum Eingriff in Verfahrensrechte 537. Die Fähigkeit des Beschuldigten, sich zu verteidigen, und sein Freiheitsrecht hängen miteinander zusammen. Wer inhaftiert ist, kann sich nicht so 534 Im Fall Wemhoff ./. BRD, EGMR, Urt. v. 27.06.1968, Serie A Nr. 7 = JR 1968, 463, 463 ff. („angemessene Dauer von Untersuchungshaft und dem Verfahren als solches“), wird bei einer Untersuchungshaft von vier Jahren Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht erwähnt, sondern lediglich die Verletzung des Art. 5 Abs. 3 EMRK und des Art. 6 Abs. 1 EMRK geprüft. Siehe aus jüngerer Zeit auch den Fall Debboub alias Husseini Ali ./. Frankreich, EGMR, NStZ-RR 2000, 195, Urt. v. 09.01.1999, zur Unvereinbarkeit einer Untersuchungshaft von vier Jahren und fünf Monaten mit Art. 5 Abs. 3 EMRK. Zum Vorrang des Art. 5 Abs. 3 EMRK siehe Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rdn. 170. Zu weiteren Fällen siehe dens., a. a. O. Art. 5 Rdn. 118 ff. 535 Das BVerfG hat nach BVerfGE 20, 45, 50 („überlange Untersuchungshaft“), die Frage, „ob das GG (...) eine absolute Grenze für die Untersuchungshaft fordert, die nach Ablauf einer kalendermäßig bestimmten Zeit eine Fortdauer der Inhaftierung schlechthin verbietet (...)“, dahinstehen lassen. 536 So jedoch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 101. 537 Vgl. an dieser Stelle nur Frister, Jura 1988, 356, 360.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

verteidigen wie jemand, der in Freiheit lebt. Dem Umstand kann die Unschuldsvermutung Rechnung tragen, indem sie Schuldvorhaltungen eine Grenze setzt, um Freiheit zu gewährleisten. Gemeint sind Grenzen für Vorhaltungen die als Haftgrund den Freiheitsverlust begründen 538. So schließt sich der Kreis: Das Verbot der Verfolgung von Strafzwecken vor Abschluss des Verfahrens wird umgangen, wenn Argumente die Haftgrundprognose ausmachen, die „Schuld“ voraussetzen oder „strafend wirken“. Dann erhielte die Hauptverhandlungshaft Züge eines Vollstreckungsverhältnisses. Das ist zwar abstrakt-generell nicht der Fall. Es bestehen jedoch konkrete Gefahren eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung. Die Hauptverhandlungshaft führt als Haft zwar notwendig zur „Stigmatisierung“ des Beschuldigten. Sie wird „zwanghaft“ durchgesetzt und führt auch zum „Verlust“ der Freiheit. Die Grenze der „Strafwirkung“ überschreitet sie dennoch nicht. Es ist ungewiss, welches „sozialethische Unwerturteil“ 539 die Hauptverhandlungshaft abstrakt-generell mit sich bringt. Das Unwerturteil ist – wenn Strafbarkeit nicht vorgehalten wird – nicht derart wie bei Strafhaft. Was dem Beschuldigten gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO vorgehalten wird, sind bestimmte Tatsachen. Sie zeigen die Befürchtung, dass er dem Verfahren fernbleiben wird. Der Haftgrund des § 127 b StPO beschreibt demnach mögliches Boykottverhalten des Verdächtigten. Da das beschleunigte Verfahren bei Fernbleiben nicht durchführbar ist, ist § 127 b StPO nicht zwingend schuldantizipierend oder pönal erklärbar. Die abstrakt-generelle Norm ist aus ihrem Sicherungsgrund erwachsen. Die Sicherung betrifft ein Verfahren und kein Ritual. Das beschleunigte Verfahren ist ein Verfahren mit offenem Ausgang. Das gilt unumwunden aber nur dann, wenn in die Voraussetzungen der Haftanordnung keine präventiven, pädagogischen und disziplinierenden Argumente einfließen. § 127 b StPO setzt hierfür in besonderer Weise die Gefahr. Das ergibt sich deutlich aus dem Maß an Subjektivität, welches die Befürchtung des Fernbleibens erlaubt. Sie zeigt sich allzu sehr auch aus der Präventions-Begründung des Gesetzgebers, der dort favorisierten Anwendbarkeit des § 127 b StPO auf „reisende Straftäter“ 540 und der insgesamt vielfach unzulässigen Verfahrenssprache im Umfeld der Regelung.

538 Nach Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422, 456 f., führt das Verbot der Verfolgung von Strafzwecken zu einem Argumentationsverbot; vgl. i.d. S. deutlich auch Jehle, Untersuchungshaft (1985), S. 11 ff. 539 Aus diesem, etwa in BVerfGE 20, 323, 331 („Sammlungsgesetz“), zum Ausdruck gebrachten Qualifizierungsmerkmal, leitet Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983), S. 14 f., die Wirkung der Unschuldsvermutung als „Verbot strafähnlicher Diskriminierung“ her; vgl. hierzu ablehnend Frister, Jura 1988, 356, 359 f. 540 Siehe BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

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4. „Reisende Straftäter“, „Gewalttäter“ etc. als Termini unzulässiger Verfahrenssprache Es ist leicht nachvollziehbar, dass sich „reisende Straftäter“ durch eine örtliche Ungebundenheit und Mobilität auszeichnen. Örtliche Ungebundenheit verschafft Möglichkeiten, sich einer drohenden Strafverfolgung zu entziehen und einer Hauptverhandlung fernzubleiben. „Reisende“ können „straftätige Wohnsitzlose“, „gewalttätige Schlachtenbummler und Hooligans“, „randalierende Krawallmacher“, „Chaoten, die tageweise in Städte einfallen und dort Straftaten begehen“, „Demonstranten, die Autos demolieren“, und „Trickdiebe“ sein. Haben Individuen aus diesen Gruppen tatsächlich Straftaten begangen und ist dies in einem Verfahren rechtskräftig festgestellt, sind sie „reisende Straftäter“. Gegen die abstrakt-generelle Bezeichnung ist dann nichts einzuwenden. Die Begriffe sind jedoch vielfach im Umfeld des § 127 b StPO platziert, einer Norm also, die das Verfahren sichern soll, bevor die Straftatbeteiligung des Betroffenen geklärt ist. Zwar verwendet der Gesetzgeber den Begriff „reisende Straftäter“ nicht im Gesetzeswortlaut – dort heißt es gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO: „der Tat dringend Verdächtigen“. Jedoch ist in der Gesetzesbegründung zu § 127 b StPO von seiner Anwendung auf „reisende Straftäter“ und „Täter“ 541 die Rede. In der Begründung geht es lediglich einmal um „mutmaßliche Täter“ 542. „Beschuldigte“ oder „Verdächtigte“ werden nicht erwähnt. Im Plenum des Bundestages war ebenso die Sprache von „Tätern“ 543 und von „Straftätern“ 544. In einer öffentlichen Sachverständigenanhörung zum Gesetzentwurf wurden unter anderem „Gewalttäter“ 545 genannt, auf die § 127 b StPO anzuwenden sein soll. „Eine Inhaftierung“, so heißt es in einer Stellungnahme des Leitenden Oberstaatsanwalts Pflieger, Stuttgart, sei „bei dem in Rede stehenden Täterkreis (Hooligans und reisende Gewalttäter) (...) geboten“ 546. Die Literatur zu § 127 b StPO hat die Terminologie „reisende Straftäter“ und das genannte Begriffsumfeld weitgehend übernommen 547. Diese Sprache um § 127 b StPO erinnert an einen Ausdruck von Hund, der den Begriff „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ als „kernige Sprache des ‚KampfstrafBT-Drucksache 13/2576, S. 3. BT-Drucksache 13/2576, S. 3. 543 Siehe insbesondere Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11648, sowie Götzer (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S. 11656. 544 Vgl. wieder Pofalla (MdB CDU/CSU), BT-PlPr 13/129, S.11647 f., sowie ders., BT-PlPr 13/62, S. 5322. 545 Vgl. nur Geis (MdB CDU/CSU), BR-Pr 13/50, S. 14. 546 Vgl. Pflieger (Oberstaatsanwalt/Stuttgart), BR-Pr 13/50, Anlage 1, S. 4 [Klammersetzung im Original]. 547 Vgl. beispielsweise Keller, Kriminalistik 1998, 677, 679; Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S.95. Kühne, Strafprozessrecht (2003), Rdn.627, schreibt: §127 b StPO „ist vor allem bei nicht am Gerichtsort ansässigen oder auch ausländischen Tätern von Bedeutung“. 541 542

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rechts‘“ 548 kennzeichnete. Die Inhaftierung von „Tätern zur Bekämpfung von Straftaten“ lässt sich zwar nachvollziehbarer verdeutlichen als die Inhaftnahme von lediglich Verdächtigen, die eventuell freizusprechen sind. Die weitgehende und vorbehaltlose Stütze auf die genannten Termini im Umfeld von § 127 b StPO ist jedoch aus mehreren Gründen zu kritisieren. „Kampfsprache“ entspricht in keiner Weise rechtsstaatlicher Verfahrenssprache. „Verfahrenssprache“, so heißt es nach Egon Müller, „muß die Ergebnisoffenheit des Verfahrens, das Verbot vorzeitiger Festlegungen, die dynamische Zielstrebigkeit, die Zeitlichkeit der Verfahrenslagen, das Verbot antizipatorischer Vorgriffe, die Reversibilität und Variabilität der Verdachtslage (...) deutlich zum Ausdruck bringen“ 549. Auch wenn das „Verbot pönaler Titulierung“ weder ausdrücklich in der StPO noch im Grundgesetz formuliert ist, kann es dennoch als Ausdruck des aus der Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG resultierenden Verbots, dem Beschuldigten den rechtskräftigen Nachweis seiner Schuld im Rechtsverkehr allgemein vorzuhalten, angesehen werden 550. Diesem Verbot läuft die Bezeichnung „reisende Straftäter“ entgegen. Das Ermittlungsverfahren dreht sich nicht um „Täter“. Das ist offensichtlich. Von einem „Verdächtigen“ darf erst angenommen werden, dass er „Täter“ ist, wenn der Nachweis der Schuld erbracht ist 551. Die Feststellung der Straftatbeteiligung obliegt ausschließlich dem Gericht im Hauptverfahren 552. Wenngleich die Regelung des § 127 b StPO im Rahmen des „Verbrechensbekämpfungsgesetzes“ von 1994 in die StPO eingeführt werden sollte, kann die Norm (zumindest) nicht zur „Bekämpfung“ von „Verbrechen“ im formellen Sinne beitragen. Einmal ist deutlich zu machen, dass das rechtsstaatliche Strafverfahrensrecht kein „Kampfrecht“ ist. Nicht „Kampf“, sondern die „Regelung“ des Verfahrens macht rechtsstaatliches Strafverfahrensrecht aus. Zum Zweiten sind „Verbrechen“ gemäß § 12 Abs. 1 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Dies entspricht nicht dem Rahmen der in § 127 b StPO zulässigen Straferwartung von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe gemäß § 419 Abs. 1 S. 2 StPO. § 127 b StPO behandelt im formellen Sinne „Vergehen“ und keine „Verbrechen“. Vgl. Hund, KrimZ 1999, 243, 258 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Egon Müller, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 567, 587; der Begriff „Verfahrenssprache“ steht umfassend für die Sprache im Bereich des Strafverfahrensrechts und des materiellen Strafrechts. 550 Vgl. BVerfGE 74, 358, 371 („Privatklageverfahren“), sowie BVerfGE 22, 254, 265 („saarländische Angestelltenversicherung“). Egon Müller, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 567, 575, nennt neben der Unschuldsvermutung noch den „Grundsatz des rechtlichen Gehörs“. Auch das „Gebot des fairen Verfahrens“, so ders. a. a. O., dränge sich als „sprachgebendes Prinzip“ auf. 551 Vgl. Denninger, StV 1998, 401, 403 m. w. N., sowie Diercks, AnwBl. 1999, 311, 313 m. w. N. dort in FN 5, jeweils zum Begriff „Täter“ in den §§ 98 a, 100 c, 163 d, e StPO. Näher zu den entsprechenden Gesetzesbegründungen hierzu vgl. Diercks, a. a. O. S. 312 und dort FN 2. 552 Vgl. nur Raum/Palm, JZ 1994, 447, 452. 548 549

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Zwar lässt sich sagen, dass das Verbrechensbekämpfungsgesetz den Begriff „Verbrechen“ für jeden ersichtlich, nicht im formellen Sinne im Namen trägt, wenn es Regelungen enthält, die ausschließlich auf „Vergehen“ anwendbar sind. Man müsste dann annehmen, der Name des Gesetzes aus dem Jahre 1994 sei eher „Schall und Rauch“ als ein für § 127 b StPO irgendwie maßgebender Terminus. § 127 b StPO könnte dann nicht ernsthaft in die Nähe von „Verbrechensbekämpfung“ gerückt werden. Demnach könnte auch der Bereich der Kriminalität, den § 127 b StPO anspricht, nie ernsthaft derart aufgewertet werden, dass eine „Bekämpfung“ dieser Kriminalität im Rechtsstaat ebenso bedeutsam ist wie die von „Verbrechen“. In der Bundesrepublik steht die Verfahrenssprache jedoch immer auch in besonderer historischer Verantwortung. Dieser Verantwortung wird die Sprache um § 127 b StPO nicht gerecht. Verfahrenssprache ist nie „Schall und Rauch“. Aufgrund der historischen Vorbelastung gerade des Haftrechts ist die ursprünglich vorgesehene Einbeziehung des § 127 b StPO unter ein „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ daher nicht zu akzeptieren. Auf die Unzulässigkeit der Bezeichnung des Gesetzes ist aus historischer Erfahrung genauso hinzuweisen, wie auf jedwede andere – unzulässige – Verbindung des § 127 b StPO zu schwerer Kriminalität. Denn in der Verfahrenssprache des Dritten Reiches wurde eben gerade mit der Bezeichnung „Verbrechen“ suggeriert, auch kleinere und mittlere Kriminalität sei „verbrecherisch“ und daher derart gefährlich, dass sie zu einer „Erregung der Öffentlichkeit“ führe, was wiederum die Inhaftierung von Beschuldigten rechtfertige. Das Haftrecht gibt hierfür ein besonderes Beispiel. Durch Artikel 5 des Gesetzes vom 28.06.1935 wurden die Haftgründe „Tatschwere“ und „Erregung der Öffentlichkeit“ 553 unter der Überschrift „Untersuchungshaft zur Sicherung vor Verbrechen“ eingeführt. Die Überschrift des Abschnittes sollte die Anwendungsbereiche der neuen Haftregelungen, so deutete Rohling 1936, nicht formell auf „Verbrechen“ beschränken; die Überschrift sollte vielmehr deutlich machen, dass auch „z. B. Taschendiebe und Betrüger recht gefährliche Verbrecher“ seien und zwar auch dann, wenn sie sich, „soweit nicht die Voraussetzungen des strafschärfenden Rückfalls vorliegen, nur eines Vergehens schuldig machen“ 554. Durch die Ankündigungen, § 127 b StPO auf „reisende Straftäter“ anzuwenden, kann es letztlich zu Manipulationen im Strafverfahrensrecht kommen. Zu denken ist an eine mögliche Beeinflussung der am Verfahren Beteiligten und der Öffentlichkeit 555. Dass es zu psychologischen Effekten kommen kann, ist gut erklärbar. Vgl. RGBl. I, S. 847. Vgl. Rohling, DJ 1936, 333, 334, kritisch gegenüber einer Entscheidung des OLG Hamm v. 06.08.1935 (1 W.40-35), wonach die Haftgründe aufgrund der Überschrift des 5. Abschnitts des Gesetzes nur auf „Verbrechen“ anzuwenden waren. 555 Die Gefahr psychologischer Beeinflussung der Allgemeinheit und der an der Rechtsfindung Beteiligten durch den Begriff „Täter“ in §§ 98 a, 100 c, 163 d, e StPO „darf“ nach Diercks, AnwBl. 1999, 311, 312, „nicht unterschätzt werden“. Nach Paeffgen, DRiZ 1998, 317, 320, spricht das Gesetz gern von „Tätern“, „Um Rechtsanwender, wie interessiertem Bürger die Stoßrichtung des Denkens und Trachtens klar vor Augen zu führen“. 553 554

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Eine Zwangsmaßnahme im Ermittlungsverfahren erscheint in den Augen der Öffentlichkeit sicher eher rechtsstaatlich, wenn sie im Parlament, im Rechtsausschuss und in der Gesetzesbegründung als Zwangsmaßnahme gegen „Rechtsbrecher“ vorgestellt wird. Ist lediglich von „Verdächtigen“ die Rede, die eventuell freigesprochen werden, erscheint Inhaftierung als härtere Maßnahme. Somit besteht also die Gefahr, dass durch die fehlerhaften Topoi gegenüber bestimmten Beschuldigtengruppen Vorurteile gebildet und gestärkt werden. „Beschuldigte“ und „Verdächtige“, für die Haft aufgrund § 127 b StPO in Betracht kommen soll, gelten mit den Bezeichnungen „Straftäter“, „Gewalttäter“ und „Trickdiebe“ zumindest sprachlich als „schuldig“ und „vorverurteilt“. Dadurch wird jeder zukünftig Betroffene – zumindest abstrakt-generell, aber dennoch verfahrensbezogen – stigmatisiert. Ob Beeinflussungen beabsichtigt sind oder nicht, ist nicht entscheidend. Das Verfahren kann in jedem Falle eher zu einem „Ritual“ werden, als wenn die Verfahrenssprache rechtsstaatlich ist. Die „dynamische Zielstrebigkeit“ des Verfahrens, die Egon Müller als notwendigen Ausdruck rechtsstaatlicher Verfahrenssprache erkennt 556, wird nicht deutlich, wenn im Vorfeld des Urteils bereits von „Tätern“ die Rede ist. Über denjenigen, auf den die in der Literatur genannten Eigenschaften eines „reisenden Straftäters“ zutreffen, wird nicht selten ein sozial abwertendes Urteil gefällt werden, ohne dass Schuld bewiesen ist 557. „Verdachtslagen“ werden leicht als solche ignoriert. „Straflagen“ werden antizipiert. Es besteht die Gefahr, dass Wohnsitzlose schnell mit einem „kriminellen Milieu“ in Verbindung gebracht werden, ohne dass hinreichende Ansatzpunkte dafür vorliegen. Kommen Ausländer ins Spiel, kann im Begriffsumfeld von § 127 b StPO letztendlich mit die Ursache der von Dünkel bemerkten Gefahr liegen, dass die Hauptverhandlungshaft die „selektive Diskriminierung von Ausländern weiter verschärft“ 558 – und zwar nicht allein dann, wenn im jeweiligen Kontext der Begriffsverwendung die Regelung befürwortet wird. Die Gefahr besteht abstrakt-generell auch, wenn die Termini im Rahmen ablehnender Kritik an § 127 b StPO fallen. Die fehlerhafte Verfahrenssprache ist keineswegs allein dann gefährlich, wenn ein die Schuld antizipierender Begriff direkt im Gesetz verwendet wird. Nicht nur die Gesetzessprache, wie etwa die in den §§ 98 a Abs. 1, 100 c Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 S. 2, 3; 163 e Abs. 1, S. 2, 3 StPO, wo jeweils vom „Täter“ die Rede ist 559, wirkt öfVgl. wieder Egon Müller, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 567, 587. „In Deutschland“, so meinte Dahs sen., AnwBl. 1959, 171, 180, „ist ein Angeklagter in den Augen der Öffentlichkeit häufig ein gerichteter oder schon zugrunde gerichteter Mann, ohne daß die Hauptverhandlung und das richterliche Richten überhaupt angefangen haben“. „Ein später Freispruch mangels Beweises“, so heißt es a. a. O., „macht niemals das wieder gut, was durch das voraufgegangene Verfahren zerstört worden ist“. 558 Dies vermutet Dünkel, in: Dünkel/Vagg (Hrsg.), Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvollzug (1994), S. 110, ohne die genannte Ursache. 559 Es ließen sich noch weitere Begriffe, wie etwa „Täter-Opfer-Ausgleich“ in § 46 a StGB, nennen. Vgl. zum Überblick Egon Müller, in: FS-Müller-Dietz (2001), S. 567, 580 ff. 556 557

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fentlich. Auch die Sprache des Gesetzgebers wirkt. Die Gesetzesbegründung ist regelmäßig für die Auslegung einer Norm von Bedeutung. Das gilt auch für die Auseinandersetzung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten. Debatten im Parlament und in den Sachverständigenanhörungen können Auslegungsgrundlage sein. Die Beachtung dieser Quellen soll Normklarheit bewirken und – was Rixecker betont – maßgeblich zur Akzeptanz von Rechtsetzungsakten bei Bürgern und Rechtsanwendern beitragen 560. Ist die dort gesprochene Sprache hingegen unklar, fehlerhaft, widersprüchlich oder gar willkürlich, trägt sie nicht zur Akzeptanz des Rechts bei. Die parlamentarische Diskussion um § 127 b StPO wurde über Medien in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Zeitungen berichteten recht ausführlich von der Debatte um die Verabschiedung des § 127 b StPO im Parlament. Sie bedienten sich dabei weitgehend der unzulässigen Verfahrenssprache im Gesetzgebungsverfahren 561. Die insgesamt nicht selten zu beobachtende „schablonenhafte Einseitigkeit“ 562 der Medien in ihrer Berichterstattung über Kriminalitätsbewältigung begünstigt allgemein, so Jung, die „Strafrechtsanwendung, die nicht ausreichend kriminologisch abgesichert ist“ 563. Sie wird von Strafverfolgungsorganen und der Öffentlichkeit wahrgenommen und wirkt meinungs- und auch vorurteilsbildend 564. Kann sich die Berichterstattung wie im Falle des § 127 b StPO auf eine fehlerhafte Verfahrenssprache im Gesetzgebungsverfahren berufen, können sich negative Wirkungen verstärken. Wird die unzulässige Sprache der Politik von Medien reflektiert und verbreitet, kann es zu „diffusen Verbrechensängsten“ kommen, die letztlich durch die Politik mit verursacht sind. Das Pendel kann schnell zurück zur Politik und zum Gesetzgeber schlagen. Die Politik reagiert ihrerseits nicht selten vorschnell auf eine von der Öffentlichkeit fehlerhaft wahrgenommene Kriminalitätsbedrohung. 560 Vgl. Rixecker, in: Jung/Neumann (Hrsg.), Rechtsbegründung – Rechtsbegründungen (1999), S. 126, 131 f. 561 Die SZ schrieb am 12/13.10.1996 über die Debatte BT-PlPr 13/129, S. 11647 ff. („Bundestag beschließt Hauptverhandlungshaft“): „Auf frischer Tat ertappte Straftäter können künftig sofort in Untersuchungshaft genommen werden“. Fehlerhafter Wortwahl bedient sich auch die taz v. 12./13.10.1996 („Harte Hand für Eierdiebe – Sofortige U-Haft für Kleinkriminelle beschlossen“). Zur Behandlung der Untersuchungshaft in den Massenmedien vgl. Abenhausen, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 205, 215 ff. und S. 231 ff., wo es u. a. auch um die unterschiedliche Darstellung von Teilgruppen nach Sozialmerkmalen (Schichtzugehörigkeit, Ausländereigenschaft etc.) geht. 562 Vgl. Jung, in: Kielwein (Hrsg.), Annales Universitatis Saraviensis (1985), S. 47, 51. 563 Vgl. Jung, in: Kielwein (Hrsg.), Annales Universitatis Saraviensis (1985), S. 47, 51 f. 564 Abenhausen, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft (1983), S. 205, 253, kommt in seiner Exegese „Untersuchungshaft und Massenmedien“ zu dem Schluss, dass ein „massenmedial vermittelter, an der polizeilichen Kriminalistik bzw. Polizeipresse ausgerichteter Kriminalitätsanstieg zu einem verstärkten Einsatz der U-Haft führt“. Dies lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass sich die Entscheidung über Untersuchungshaft nicht ausschließlich an der Sachlage des Einzelfalls orientiert, sondern auch an der öffentlichen Sicht auf Kriminalitätsbewältigung.

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Um diesen Kreislauf nicht anzutreiben, dürfen gemäß § 127 b StPO Festzunehmende und Festgenommene genauso wenig als „Täter“, „Straftäter“, „Trickdiebe“ oder „Gewalttäter“ bezeichnet werden, wie zu Inhaftierende und bereits in Hauptverhandlungshaft Befindliche. Alles andere widerläuft dem unbedingten Verbot, dem Beschuldigten vor dem rechtskräftigen Nachweis seiner Schuld eine Straftatbeteiligung im Rechtsverkehr allgemein vorzuhalten. 5. Fazit Zusammengefasst, verstößt § 127 b StPO zwar nicht gegen die Unschuldsvermutung. Der Ausgang des Prozesses kann offen gestaltet werden, auch wenn das Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO als beschleunigtes Verfahren durchgeführt wird und die Hauptverhandlungshaft dringenden Tatverdacht voraussetzt. Der Bezug zu vermeintlich leicht erfassbaren Umständen einer möglichen Tatbegehung, die Annahme der Justizbehörden, das Verfahren beschleunigt abschließen zu können, und die eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten des Verdächtigen begründen jedoch in hohem Maße die Gefahr, den Verfahrensausgang im Sinne einer Bestätigung des Verdachts, der Verdächtigte sei bereits schuldig, zu antizipieren. Die auf Prävention und Erziehung aufbauende Begründung des Gesetzgebers verstärkt diese Gefahr. Die pönale Verfahrenssprache zur Beschreibung des Anwendungsbereichs des § 127 b StPO ist in diesem Zusammenhang mehr als nur ein „i-Punkt“. Verfahrenssprache ist nie „Schall und Rauch“. Werden „Beschuldigte“ und „Verdächtige“ sprachlich vorverurteilt, schürt dies die Voreingenommenheit von Strafverfolgungsorganen und der Öffentlichkeit. Dadurch kann § 127 b StPO leicht als Ermächtigungsnorm zur „Inhaft- und Festnahme des Täters zwecks Aburteilung“ verstanden werden, anstatt als Sicherungsinstrument zur Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. IV. Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz 1. Flexibilität versus Kontrollierbarkeit Die Grenze zur Unbestimmtheit liegt irgendwo zwischen der Notwendigkeit, in einer abstrakt-generellen Regelung Beurteilungs- und Ermessensspielräume formulieren zu dürfen, und dem Gebot, Inhalt, Zweck und Ausmaß der Norm vorhersehbar machen zu müssen. Flexibilität ist im Sinne von Praktikabilität gefordert. Vorhersehbarkeit dient der Rechtssicherheit. Sie beugt Willkür vor, macht das staatliche Handeln kontrollierbar etc. 565. Die allgemeine Diskussion, wo die Gren565 Vgl. etwa Roxin, Strafrecht AT/Bd.I (1997), §5 Rdn.68, sowie Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG (1996), Art. 103 Rdn. 23, wonach der Gesetzgeber die Ermächtigung eindeutig aussprechen muss, um Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so zu umreißen, dass Strafbarkeit und Art der Strafe aus sich heraus, nicht erst aus der darauf gestützten Verordnung

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ze zu ziehen ist oder nach welchem Pol hin sie offen tendiert, ist wesentlich geleitet durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht ist in diesem Punkt vergleichsweise großzügig. Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot werden verschwindend selten diagnostiziert 566. Regelungen gelten als bestimmt, sofern die Möglichkeit ihrer Überprüfung besteht, oder anders formuliert, sofern die Norm offen für eine objektiv haltbare Auslegung ist 567. Was das Strafrecht anbelangt, folgert daraus nicht nur Roxin, dass sich der Gesetzgeber bei der Verwendung von Generalklauseln „kaum noch Hemmungen aufzuerlegen braucht“ 568. Für Gusy wird das Konzept der „Bestimmtheit“ durch das Bundesverfassungsgericht in immer stärkerem Umfang mit „Bestimmbarkeit“ gleichgesetzt. Normklarheit erscheint nicht als bloße Vorgabe für den Gesetzgeber, sondern als Aufgabe von Rechtsprechung und Dogmatik 569. Fülber stützt seine Meinung über die Bestimmtheit des § 127 b StPO auf einen ganzen Fundus an Rechtsprechung 570. „Beklagen“ könne man allenfalls „das Erentnommen werden können. Zum Umfeld der Bestimmtheit als Ausformung des Prinzips der Gesetzlichkeit vgl. etwa L. Schulz, ARSP Beiheft 65 (1996), 173, 176 ff., und auch Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG (1999), Art. 103 Rdn. 60 ff. Die Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes ist unbestritten. Einen anschaulichen Überblick über Inhalt und Bedeutung des Grundsatzes im Strafrecht gibt Müller-Dietz, in: FS-Lenckner (1998), S. 179, 181 ff. Zur Bestimmtheit nach der EMRK vgl. Art. 7 EMRK und die Kommentierung von Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 7 Abs. 1 ff. Siehe auch die Fälle Kruslin ./. Frankreich und Huvig ./. Frankreich, EGMR, Serie A Nr. 176-A/B = ÖJZ 1990, 564, 564 ff., jeweils Urt. v. 24.04.1990 („Rechtsgrundlage für Abhörmaßnahmen im französischen Strafverfahrensrecht“), zu Art. 8 Abs. 2 EMRK. 566 Das am 20.03.2002 gefällte Urt. BVerfG, NJW 2002, 1779, 1779 ff. („Vermögensstrafe“) zur Verfassungswidrigkeit des § 43 a StGB kann als Ausnahme gelten. Park, StV 2002, 395, 395, beispielsweise, stimmt der Entscheidung „uneingeschränkt“ zu, wenngleich er den festgestellten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG dennoch als „verwunderlich“ bezeichnet. Ob mit dem Urt. eine Trendwende hin zu einer stärkeren Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes eingeleitet ist, bleibt abzuwarten. 567 Vgl. BVerfGE 4, 352, 357 f. („§ 187 a StGB“); 56, 1, 12 („Kriegsopferversorgung“); 78, 205, 212 („Denkmalschutzgesetz“); 80, 103, 108 („Gerichtskostengesetz“); zur Möglichkeit der Überprüfung vgl. BVerfGE 6, 32, 42 („Elfes-Urteil“); 20, 150, 158 („Sammlungsgesetz“); 21, 73, 79 („Grundstücksverkehrsgesetz“). 568 Roxin, Strafrecht AT/Bd. I (1997), § 5 Rdn. 68. Vgl. i. d. S. auch schon Kielwein, in: Annales Universitatis Saraviensis (1960), S. 127, 135, wonach der Bestimmtheitsgrundsatz zu einem reinen, wenigsagenden Prinzip gemacht worden ist; wörtlich heißt es: „Man hätte auf ihn (Art. 103 Abs. 2 GG als ,Spezifizierung des Schuldgrundsatzes‘) ebenso verzichten können, weil er die Garantie, die man gemeinhin glaubte, ihm entnehmen zu können, nie gewährt hat“. Nach Schünemann, Nulla poena sine lege? (1978), S. 8, ist das „Analogieverbot weitgehend und das Bestimmtheitsgebot weitestgehend preisgegeben“. 569 Gusy, StV 2002, 153, 157. 570 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 103 f., verweist zur Betonung der Rechtssicherheit und zur genauen Fassung nach Möglichkeit auf BVerfGE 49, 168, 181 („Aufenthaltserlaubnis“); 59, 104, 114 („Betriebsverfassungsgesetz“); 62, 169, 183 („Devisenbewirtschaftungsgesetz“). Zur Bestimmtheitsfolge aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes verweist Fülber a. a. O.,auf BVerfGE 57, 295, 326 f. („private Rundfunksendung“); 62, 169, 182; („Devisenbewirtschaftungsgesetz“); 80, 137, 161 („Landschaftsgesetz“). Zahlreiche weitere

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

fordernis einer (tatsächlich von subjektiven Einschätzungen, also Wertungen, getragenen) Prognose“. Insofern ergebe sich aber „kein Unterschied“ zur „allgemeinen“ Untersuchungshaft gemäß §§ 112 ff. StPO. „Auch dort“, so Fülber, gewähre die Strafprozessordnung dem für den Erlass eines Haftbefehls zuständigen Richter einen mitunter „erheblichen Interpretationsspielraum“, welcher sich „oftmals einer objektiven Richtigkeitskontrolle entzieht“. „Derartige hypothetische Erwägungen“ seien „für die allein auf einen (mehr oder minder qualifizierten) Tatverdacht sowie weitere noch ungewisse Umstände abstellenden Zwangsmaßnahmen im Strafrecht kennzeichnend. Weshalb sich hieraus (...) gerade für die Hauptverhandlungshaft ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz ergeben soll“, bleibt für Fülber daher „im Dunkeln“. In der dogmatischen Diskussion darüber, wie dem Bestimmtheitsgebot im Strafverfahrensrecht zu wahrnehmbarerer Wirkung verholfen werden kann, spielt das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG eine Hauptrolle. Zunehmend wird jedoch auch im Verfahrensrecht auf Art. 103 Abs. 2 GG geschaut. Art. 103 Abs. 2 GG ist als eine „strenge“ Ausprägung des Bestimmtheitsgrundsatzes im materiellen Strafrecht allgemein anerkannt 571. Das Gebot im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG gilt darüber hinaus, so entschied das Bundesverfassungsgericht auch zur Vermögensstrafe nach § 46 a StGB, für die Strafandrohung 572. Im Kontext der jüngsten Erweiterung des Katalogs des § 153 a Abs. 1 StPO halten aber Britz/Jung Art. 103 Abs. 2 GG auch im Strafverfahrensrecht tendenziell für anwendbar 573. G. Jakobs erkennt in diesem Sinne eine strenge Bindung des Gesetzgebers im Verfahrensrecht – und dies wie Britz/Jung – mit wirkungsorientiertem Ansatz: Als Beispiel für ein Rückwirkungsverbot im Verfahrensrecht nennt er die nachträgliche Verschärfung der Anlasstaten bei Haft aufgrund §§ 112 Abs. 3, 112 a StPO 574. Die überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur steht der Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG im Verfahrensrecht jedoch entgegen 575. Zur Begründung einer möglichst hohen Kontrolldichte im Untersuchungshaftrecht erscheint der direkte Rückgriff auf Art. 103 Abs. 2 GG jedoch problematisch. Die Ungeeignetheit eines Rückgriffs im Rahmen des § 127 b StPO ist in jedem Falle anzunehmen, wenn Art. 103 Abs. 2 GG streng als verfassungsrechtliche SpezifiFälle zeigt die Übersicht bei Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG (1996), Art. 103 Rdn. 34. Vgl. zu den folgenden Zitaten dieses Abatzes Fülber, a. a. O. S. 104 [Hervorhebung und Klammersetzungen im Original]. 571 BVerfGE 49, 168, 181 („Aufenthaltserlaubnis“). Siehe auch Kunig, Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 401 f. 572 Vgl. BVerfG, NJW 2002, 1779, 1779 („Vermögensstrafe“), und dort die Leitsätze 1 bis 3. 573 Britz/Jung, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 307, 311 ff. 574 Vgl. G. Jakobs, Strafrecht AT (1993), 4. Abschnitt, Rdn. 57 und 9. 575 Vgl. BVerfGE 49, 168, 181 („Aufenthaltserlaubnis“); BVerfGE 64, 261, 280 („Hafturlaub“), wo in Art. 103 Abs. 2 GG eine Sonderregelung für das materielle Recht gesehen wird; aus der Lit. siehe nur BK-Rüping (1990), Art. 103 Rdn. 76, wonach das Strafverfahrensrecht in stärkerem Maße noch als das materielle Recht von richterlichem Gewohnheitsrecht lebt, sowie Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 103 Rdn. 42.

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zierung des Schuldgrundsatzes verstanden wird 576. Ein möglichst hoher Grad an Erkennbarkeit von Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Verfahrensnorm kann nicht derart mit Art. 103 Abs. 2 GG etikettiert werden. Im Untersuchungshaftrecht drängt die Unschuldsvermutung zu einer formalisierten Betrachtung. Die Schuld des Verdächtigen muss außen vor bleiben, ebenso wie die Legitimation durch materiell-strafrechtliche Zwecke 577. Ungeachtet möglicher Wertungswidersprüche zwischen der Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG und der Unschuldsvermutung, ist es dennoch kaum akzeptabel, § 127 b StPO als Ermächtigung zum Freiheitsentzug an einem Unschuldigen nach einem milderen Bestimmtheitsmaßstab zu messen als materiell-rechtliche Regelungen zum Freiheitsentzug an einem Schuldigen. Den zu fordernden Grad an Bestimmtheit von der Schwere des Eingriffs abhängig zu machen, erscheint zwar nicht unumstritten 578. Dennoch spricht die Tatsache, dass § 127 b StPO zum Freiheitsentzug im Verfahren ermächtigt, für einen eher strengeren Bestimmtheitsmaßstab. Dogmatisch muss nicht auf Art. 103 Abs. 2 GG zurückgegriffen werden. Der strenge Maßstab lässt sich im Untersuchungshaftrecht auf die in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG zum Ausdruck gebrachte Bedeutung des Freiheitsrechts stützen. Aus Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 1 S. 1 StPO werden praktisch identische Anforderungen an die Kontrollierbarkeit abstrakt-genereller Zwangsermächtigungen abgeleitet 579. Ein strenger Maßstab an Bestimmtheit gilt daher nicht nur im materiellen Recht, sondern darüber hinaus auch für § 127 b StPO, da es sowohl bei Strafhaft als auch 576 Vgl. dagegen Jung, in: FS-Wassermann (1995), S. 875, 884 f., der den nulla-poena-Satz nicht im Schuldprinzip, sondern – weiter gefasst – in der Rechtsstaatlichkeit verankert sieht. Gegen die Limitierung spricht, dass der Vertrauensgedanke, so Jung a. a. O., im Recht allgemein gilt. Siehe in diesem Zusammenhang auch Roxin, Strafrecht AT/Bd. I (1997), § 5 Rdn. 57 m. w. N., und zum Ganzen auch L. Schulz, ARSP Beiheft 65 (1996), 173, 176 ff. Interessanterweise sind nach der Rspr. des BVerfG Rechtsvorschriften unter einem allgemeinem Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip so genau zu fassen, „wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist“; vgl. hierzu etwa BVerfGE 93, 213, 238 („Rechtsanwaltszulassung/Widerruf“); vgl. auch Görisch, JuS 1997, 988, 989. 577 Vgl. allgemein im Bezug zur Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S.348 f. In §153 a StPO hingegen erscheint die Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht derart problematisch. Hier vermischen sich anerkanntermaßen materiell- und prozessrechtliche Ziele. Das liegt am kaum zu leugnenden, faktischen AhndungsCharakter der Regelung; vgl. allgemein Kunz, Bagatellprinzip (1984), S. 91, und spezieller Britz/Jung, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 307, 312. 578 Nach Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 104 Rdn. 4, 12, muss die gesetzliche Grundlage umso deutlicher sein, je stärker der Rechtseingriff ist, der sich darauf stützt. Zur Abhängigkeit von Bestimmtheit und Schwere des Eingriffs (im materiellen Recht) vgl. auch BVerfGE 14, 245, 251 („Straßenverkehrsgesetz“); 49, 168, 181 („Aufenthaltserlaubnis“), und hierzu Gusy, StV 2002, 153, 157. Zu anderer Ansicht vgl. Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG (1996), Art. 104 Rdn. 9. 579 Siehe nur Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG (1996), Art. 104 Rdn. 10 m. w. N. aus Rspr. und Lit., sowie Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 104 Rdn. 4, mit Verweis auf Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (1996), Art. 103 Rdn. 9.

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bei Hauptverhandlungshaft um erhebliche Grundrechtseingriffe geht. Dem Betroffenen klar zu sagen, unter welchen Voraussetzungen er welche Strafe riskiert, ist nur eine Seite der Medaille. Diese ist ohne die andere nicht vorstellbar. Die andere Seite, das Prozessuale, ist nicht minder von Interesse: für den Beschuldigten nicht und für die Strafverfolgungsorgane nicht. Daher besteht ein Bedürfnis, jedermann die Ermächtigung verständlich aufzuzeigen, aufgrund derer er Zwang im Prozess ausgesetzt sein kann. Unter dem Dach des Verfahrensziels „Rechtssicherheit“ hängt die Kontrollfunktion der Bestimmtheit von Normen schließlich eng mit der Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes zusammen 580. Der Öffentlichkeitsgrundsatz des Verfahrens lebt von der objektiven Nachvollziehbarkeit hoheitlicher Maßnahmen. Nicht zuletzt ist es für die Verteidigung des Beschuldigten offenkundig von enormer Bedeutung, Entscheidungen im Verfahren vorhersehen zu können. Nur dann kann sie einer möglichen Zwangsmaßnahme fundiert vorbeugen und gegen aktuelle Rechtseingriffe erfolgversprechend vorgehen. 2. Entscheidung für die Bestimmtheit/ Gefahren der weiten Interpretierbarkeit Grundsätzlich sind alle Merkmale des §127 b StPO der Auslegung zugänglich. Es sind Kriterien vorhanden, die dem Entscheidenden Anhaltspunkte bieten, wann ihm das Recht auf eine Fest- und Inhaftnahme aufgrund § 127 b StPO zusteht. Der Topos „Befürchtung“ lässt sich ebenso offenlegen wie „fernbleibt“ und „Wahrscheinlichkeit einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren“. „Tatsachen“, auf die sich die Prognose stützt, müssen „bestimmt“, das heißt, in erhöhtem Maße erkennbar sein. Der Kreis der Anordnungsbefugten ist ersichtlich, ebenso wie die Rechtsfolge. Über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz lassen sich im Einzelnen Abstufungen zu Verfahrens- und Sicherungsoptionen vornehmen. Aus alledem kann der Beleg für die Bestimmtheit des § 127 b StPO erkannt werden. Die Forderung nach einer „eher strengeren Ausprägung“ der Bestimmtheit im Untersuchungshaftrecht bleibt dennoch nicht ohne Folgen. Die weitgehend unkritischen Formulierungen Fülbers 581 sind vor dem Hintergrund eines eher strengen Bestimmtheitsmaßstabes nicht hinzunehmen. Das Straf580 Zu den (u. a. Kontroll-)Funktionen der Gerichtsöffentlichkeit vgl. allgemein Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal (1999), S. 197 ff. Interessant ist hier auch die rechtvergleichende Sicht: vgl. Vitu, RICPT 1967, 94, 94 ff., der den Gesetzesvorbehalt und inzident die Bestimmtheit von Gesetzen als den tragenden Prüfungsmaßstab im Verfahrensrecht ansieht. Hiernach müssten nicht nur Kompetenzen und Rechtsfolgen von Zwangsermächtigungsnormen fixiert sein; die Kontrolle der Öffentlichkeit über das Verfahren gewähre indirekt die Unabhängigkeit der Richter. Für deutlichere Abstufungen zwischen (französischem) materiellem Recht und Strafverfahrensrecht sind hingegen Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure Pénale (2000), Rdn. 13. 581 Vgl. wieder Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 104.

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recht darf sich einer objektiven Richtigkeitskontrolle in keinem Fall „entziehen“. Die schweren Bedenken, die in der Literatur weit verbreitet geltend gemacht werden, sind wenig erstaunlich. Die These der Unbestimmtheit 582 drängt sich objektiv nachdrücklicher auf als zur Haft gemäß §§ 112, 112 a StPO 583. Die Bindung des § 127 b StPO an das beschleunigte Verfahren zwingt zu einer schwer berechenbaren Ausweitung des Prognosefelds. Das zeigt sich einmal durch die kaum zu erfassende Bedeutung des dringenden Verdachts bei gleichzeitiger Geeignetheit der Sache im Sinne des § 417 StPO und der Wahrscheinlichkeit einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren. Zum anderen reicht die Vielfalt der aus dem Grundsatz der Effektivität heraus legitimierten Reaktionsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden aufgrund der unübersichtlichen Abgrenzung zu Optionen gegenüber dem beschleunigten Verfahren unbedingt in die Problematik der Bestimmtheit des § 127 b StPO hinein. § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO erschwert zudem mit der Voraussetzung „Befürchtung des Fernbleibens“ gegenüber der Fluchtgefahr eine objektive Kontrolle. Die im Gesetzgebungsverfahren beispielhaft genannten Sachverhalte, auf die die Voraussetzung zugeschnitten sein soll, fordern schließlich eher zu erhöhter Wachsamkeit auf, als dass sie die Anwendbarkeit der Regelung vorhersehbarer machen. Zu denken ist etwa an eine Entscheidung des VGH Mannheim, wonach das Verbot in einer Polizeiverordnung, sich „nach Art eines Landstreichers oder Stadtstreichers herumzutreiben“, rechtsstaatlichen Bestimmtheitserfordernissen nicht entspricht 584. Die Objektivität der Entscheidenden kann schließlich leichter in Frage gestellt werden. Zudem schwindet die Objektivität der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Grundrechtseingriffen im Verfahren durch das Publikum umso mehr, je undurchsichtiger die Rechtsgrundlage ist, auf der Zwang ausgeübt wird. Der Öffentlichkeitsgrundsatz verliert für den Rechtsstaat an Wirkung, wenn dem Bestimmtheitserfordernis nicht ausreichend Rechnung getragen ist. Die objektive Klarheit des Rechts gibt der Gewährung rechtsstaatlicher Kontrolle durch die Gerichtsöffentlichkeit erst ihren Sinn. Mit ihr wird der Öffentlichkeitsgrundsatz erst zum Fundament objektiver Unabhängigkeit der Richter. Letzteres zielt im Besonderen auf den Gesetzgeber, der eine Haft- und Festnahmeregelung mit der „Erwartung einer rechtstreuen Bevölkerung“ 585 zu legitimieren versucht. Zwar wird der Zwang vor der Verhandlung ausgeübt. Letztlich wird jedoch einem im Ermittlungsverfahren Inhaftierten der Prozess gemacht. Der vorgelagerte Zwang wirkt sich auf die Verteidigungsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung 582 Vgl. Hellmann, Strafprozeßrecht (1998), Teil II. § 4 Rdn. 33 mit Verweis u. a. auf Hartenbach, ZRP 1997, 227, 227 f., Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 571 ff., und Asbrock, StV 1997, 43, 44, der in den Voraussetzungen „vage Prognoseformeln“ sieht, die „zu unbestimmt“ seien. 583 Vgl. zu den §§ 112, 112 a StPO allgemein Cornel, StV 1994, 202, 202 ff. 584 Das Verhalten stelle, so der VGH Mannheim, NJW 1984, 507, 508, „keine hinreichende abstrakte Gefahr“ für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. 585 BT-Drucksache 13/2576, S. 3.

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aus. Zu berücksichtigen ist auch in der Hauptverhandlung, dass der Beschuldigte in Haft war. Die Haftvoraussetzungen müssen kontrollierbar sein, will man die Rechtsstaatlichkeit der Verhandlung überprüfen. Wenn also schon über die Gerichtsöffentlichkeit hinaus auf die Erwartungen einer „rechtstreuen Bevölkerung“ gesehen wird, darf nicht unerwähnt bleiben, dass diese nicht allein durch die vermeintlich ineffektive Strafverfolgung ferngebliebener Beschuldigter enttäuscht werden kann. Sie wird durch nur schwerlich vorhersehbare Festnahmen mit sich anschließenden Inhaftierungen vor dem möglichen Urteil nicht minder beeinträchtigt werden – unabhängig davon, wie sehr im Einzelfall Effektivität und die Notwendigkeit der Sicherung der Strafverfolgung für die Anordnung der Zwangsmaßnahme sprechen. 3. Fazit § 127 b StPO ist im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz ein verfassungsgemäßes Gesetz im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG und des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG. Die Regelung ist eine zulässige Begrenzungsnorm für das Freiheitsrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG. Mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz sollen jedoch Durchschaubarkeit und Vorhersehbarkeit das Untersuchungshaftrecht kennzeichnen, nicht mangelhafte Kontrollier- und Abschätzbarkeit. Das lässt sich aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 StPO ableiten. Zwar ist § 127 b StPO der Auslegung zugänglich. Dennoch ist vor diesem Hintergrund § 127 b StPO eine schlechte „Rechtsqualität“ 586 zu bescheinigen. Im Falle des Falles stehen die Justizbehörden, der Beschuldigte und alle anderen von der Entscheidung Tangierten vor einer objektiv kaum zu durchdringenden Beurteilungs- und Ermessensvielfalt. Die Unschärfe der Norm, hervorgerufen durch die Einbeziehung in eine spezielle Verfahrensart im Verbund mit möglichen Sicherungsoptionen und den subjektivierten Voraussetzungen, ist der Rechtssicherheit nicht nur eher abträglich. Der niedrige Grad an Bestimmtheit birgt erhebliche Gefahren. Er ist grundsätzlich dazu geeignet, ein wie auch immer zu definierendes Vertrauen in den Rechtsstaat zu schmälern, anstatt es zu stärken.

586 Angelehnt an die Überschrift der Bestimmtheitsprüfung in den Fällen Kruslin ./. Frankreich und Huvig ./. Frankreich, EGMR, ÖJZ 1990, 564, 566, Urt. v. 24.04.1990 („Rechtsgrundlage für Abhörmaßnahmen im französischen Strafverfahrensrecht“); („Rechtsqualität“, „qualité de la loi“ bzw. „quality of the law“).

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B. Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG I. „Willkürformeln“ des Bundesverfassungsgerichts mit Komponenten der Gleichheitsprüfung Die Bedenken in Richtung eines möglichen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bauen im Kern auf der gleichen Kontroverse auf wie zu Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG. Dass die Härte des Eingriffs in weniger schweren Fällen Skepsis auch in Richtung Art. 3 GG nährt, ist nichts Erstaunliches. Um die Bedenken der Literatur im Einzelnen systematisch besser erfassen zu können, erscheint es zunächst notwendig, die „Formeln“ des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 1 GG in Erinnerung zu rufen 587. Die Europäische Menschenrechtskonvention bringt in diesem Kontext für das Recht der Untersuchungshaft eigenständig keine wesentlichen Innovationen. Die Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 1 GG und des Art. 5 i.V. m. Art. 14 EMRK laufen weitgehend parallel 588. Das Bundesverfassungsgericht kennzeichnet den Grundgehalt des Art. 3 Abs. 1 GG schon im ersten Band seiner Entscheidungssammlung. Nach der so genannten (ersten) „Willkürformel“ verbietet der Gleichheitssatz, wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln, nicht dagegen, dass wesentlich Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird 589. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liege vor, wenn Gleichbehandlungen oder Ungleichbehandlungen „willkürlich“ seien. Aus den Umschreibungen dafür, was nicht willkürlich ist, zeigt sich grundsätzlich eine sehr weite Gestaltungsmöglichkeit des Gesetzgebers. Eine Behandlung sei dann „nicht willkürlich“, wenn sie „vernünftig“ und „sachlich einleuchtend“ ist 590. In der Willkürprüfung sei die Einhaltung der „äußersten Grenzen“ der gesetzgeberischen Freiheit zu betrachten 591. 587 Nach Sachs, JuS 1997, 124, 124, ist Art. 3 Abs. 1 GG „wohl auch das Grundrecht, das nach wie vor die meisten Rätsel aufgibt“. A. a. O. S. 128 geht ders. davon aus, dass die Systematik „wohl auch bei weiteren Bemühungen nicht zu einem ohne weiteres griffigen Instrumentarium fortentwickelt werden kann“ – mit Hinweis auf die, nach Ansicht Sachs’, „resignierend“ wirkende Kommentierung von Herzog, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1994), Art. 3 Rdn. 9. Nach Jarass, NJW 1997, 2545, 2545, hat die „ ,Rätselhaftigkeit‘ des Grundrechts“ seine „Ursache in dem Umstand, dass der allgemeine Gleichheitssatz im Vergleich mit anderen Grundrechten dogmatisch sehr unterentwickelt“ sei [Hervorhebungen im Original]. Zur Rechtsprechungsentwicklung vgl. Huster, Rechte und Ziele (1993), S. 45 ff. Zum Verhältnis des Willkürverbots und der gegenüber dem Gleichheitssatz eigenständigen Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips vgl. Sachs, JuS 1997, 124, 125 m. w. N., und dem Verweis auf Schweizer Konzeptionen, die in der Historie des Art. 3 Abs. 1 GG bedeutsam waren. 588 Vgl. Bleckmann, StV 1995, 552, 553. 589 BVerfGE 1, 14, 52 („Verfassungswidrigkeit“). Siehe auch Stern, in: FS-Dürig (1990), S. 207, 209 ff. 590 Wörtlich heißt es in BVerfGE 1, 14, 52 („Verfassungswidrigkeit“), dass der Gleichheitssatz verletzt ist, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden

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Nach neuerer Formulierung ist der Gleichheitssatz verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“ 592. In dieser, bis heute „neu“ genannten Formel, betont das Gericht, dass „je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen“ unterschiedliche Maßstäbe zu verwenden sind, „vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse“ 593. Die Stufung der Anforderungen an eine Gleich- oder Ungleichbehandlung folge, so das Gericht, „aus Wortlaut und Sinn des Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus seinem Zusammenhang mit anderen Verfassungsnormen“ 594. Sachverhalte und Personengruppen auszuwählen, an die dieselben und an die unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft sind, ist jedoch auch hiernach, wenn auch ansatzweise unter strengerer Anforderung, grundsätzlich Sache des Gesetzgebers 595. Der Vergleich zwischen Normadressaten, oder – anders genannt – zwischen „Zielgruppen“ und „Sachverhalten“, wird mit dieser Sicht also relevant 596. Schwierigkeiten bestehen jedoch in der Abgrenzung: Vor dem konkreten Hintergrund des § 127 b StPO ist zweifelhaft, welche Lebenssachverhalte und Normadressaten überhaupt miteinander vergleichbar sind. Vergleicht man das bisherige Haftrecht mit § 127 b StPO, kann es um denselben Normadressaten in verschiedemuß“. Vgl. aus der neueren Rspr. etwa BVerfGE 91, 118, 123 („Bezirksrevisor“); aus der Lit. siehe Grasberger, GA 1998, 530, 540 mit Verweis auf BVerfGE 10, 234, 246 („Amnestietatbestände“), und Sachs, JuS 1997, 124, 125. Ähnlich ist das Verständnis des EGMR, wonach der Gleichheitssatz des Art. 14 EMRK dahingehend verstanden wird, dass eine Differenzierung zulässig ist, wenn sie sich auf objektive Kriterien stützen kann; vgl. hierzu Bleckmann, StV 1995, 552, 553 m. w. N. 591 Vgl. nur BVerfGE 80, 109, 118 („§ 25 a StVG“) m. w. N. 592 Vgl. BVerfGE 55, 72, 88 ff. („§ 528 Abs. 3 ZPO“); siehe auch BVerfGE 83, 395, 401 („§ 3 Nr. 11 Einkommensteuergesetz“); 84, 348, 359 („Steuervergünstigungen“); 88, 5, 12 („Beratungshilfe“). Zahlreiche Nachweise zur Verwendung der neuen Formel – mit abweichenden Formulierungen – finden sich bei Sachs, JuS 1997, 124, 126. 593 BVerfGE 88, 87, 96 („Transsexuelle; Vornamen“). 594 BVerfGE 88, 87, 96 („Transsexuelle; Vornamen“). 595 Vgl. nur BVerfGE 83, 395, 401 („§ 3 Nr. 11 Einkommensteuergesetz“) m. w. N. 596 Während bei sachbezogenen Ungleichbehandlungen, das heißt, bei Regelungen, die sich aus dem Vergleich von Sachverhalten ergeben, die sich nicht unmittelbar auf Grundrechte auswirken, eine bloße Willkürprüfung ausreichen soll, sollen für zielgerichtete Grundrechtseingriffe aufgrund personenbezogener Differenzierungen besondere Legitimationsvoraussetzungen gelten; so die Deutung von Jarass, NJW 1997, 2545, 2547 f. mit Verweis auf BVerfGE 93, 99, 111 („Rechtsmittelbelehrung“). Vgl. auch BVerfGE 88, 5, 12 („Beratungshilfe“); BVerfGE 89, 365, 375 („Krankenversicherungsbeiträge“), und auch BVerfGE 91, 389, 401 („Ausbildungsförderung“). Die Schwierigkeit der Unterscheidung in sachverhalts- und personenbezogene Ungleichbehandlung ergibt sich schon aus der einfachen Überlegung, dass der Gesetzgeber in dem Augenblick, in dem er eine Rechtsfolge an einen Tatbestand bindet, zwingend die Adressaten anders behandelt als diejenigen, die Normvoraussetzungen nicht erfüllen; vgl. Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 37; siehe zur Problematik auch Odendahl, JA 2000, 170, 172 ff.

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nen Sachverhalten gehen. Die Zielgruppe des § 127 b StPO sind – ebenso wie im bisherigen Haftrecht – Verdächtige. Die Verschiedenartigkeit der Sachverhalte ergibt sich aus der speziellen Koppelung des § 127 b StPO an das beschleunigte Verfahren. So käme eine (einfachgesetzliche) systemwidrige Differenzierung zwischen gleichen Gruppen („Verdächtige“) in Frage, indem Beschuldigte in unterschiedlichen Verfahrenstypen nach unterschiedlichen Voraussetzungen inhaftiert werden. Beachtlich könnte aber auch der Vergleich zwischen verschiedenen Normadressaten in verschiedenen Sachverhalten sein. Dann würde personenbezogen zwischen Verdächtigen im beschleunigten Verfahren und im Regelverfahren unterschieden. Beschuldigte im Sinne des bisherigen Haftrechts könnten gegenüber den Verdächtigen im Sinne des § 127 b StPO eine „allgemeine Gattung von Beschuldigten“ darstellen. Verdächtige, deren Fernbleiben im beschleunigten Verfahren zu befürchten ist, sind unter keine andere Haftnorm als § 127 b StPO zu subsumieren. Daher könnten sie als „spezielle Gattung“ gelten. Lässt man die konkreten Schwierigkeiten des Vergleichsansatzes einmal beiseite, umschreibt die neue Formel im Kern dennoch die Notwendigkeit der Differenzierung von Anforderungen an Gleich- und Ungleichbehandlungen. Die Fortentwicklung des ursprünglichen, reinen Willkürgedankens ist erkennbar, wenn die Verhältnismäßigkeit als Maßstab zur Überprüfung des Art. 3 Abs. 1 GG (unter Umständen) miteinbezogen werden soll 597. Die Rechtsprechung lässt sich so verstehen, dass die Willkürprüfung eine Stufe in der Prüfung der Rechtfertigung einer Zwangsmaßnahme ist und besondere Schärfen in der Behandlung von Sachverhalten und Normadressaten auch besonderer Begründung bedürfen 598. Gleich- und Ungleichbehandlungen, die zu Eingriffen geringer Intensität führen, sollten nach wie vor dem Gleichheitssatz entsprechen, wenn sie nur nicht willkürlich sind. Zur Prüfung der Behandlungen stärkerer Intensität, namentlich „je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann“, soll das Verhältnismäßigkeitsprinzip in die Gleichheitsprüfung integriert werden 599. Die Gleich- oder Un597 So zutreffend Sachs, JuS 1997, 124, 127, wonach es sich bei der „neuen“ Formel wohl nicht um einen Neuansatz handelt, sondern um die Vervollständigung des bisherigen Konzepts. Siehe auch Gusy, JuS 1982, 30, 34. 598 Vgl. i. d. S. etwa Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 37, 38; Gusy, JuS 1982, 30, 34, und auch Hesse, AöR 109 (1984), 174, 191. Die Akzentuierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips wird auch als Abkehr vom Willkürgedanken gedeutet; vgl. etwa Zuck, MDR 1986, 723, 724, und Leisner, NJW 1995, 1513, 1516. Vgl. zu verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten und anderen Konzepten auch Jarass, NJW 1997, 2545, 2546 ff. Das BVerfG erkennt sowohl nach alter als auch nach neuer Formel eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise an; vgl. hierzu BVerfGE 9, 334, 337 („§ 24 BVerfGG“); 71, 39, 58 („Ortszuschlag“), und auch BVerfGE 86, 81, 87 („Bauakademie“). Ein derart weit gefasstes und daher wenig ertragreiches Kriterium wie „Gerechtigkeit“ bereitet hier jedoch nicht weniger Unbehagen als zur Stellenwertbestimmung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit; siehe hierzu oben 3. Kap., 1. Abschn. C. III. 3 a). 599 Siehe BVerfGE 92, 53, 69 („Arbeitsentgelt zu Sozialversicherungsbeiträgen“), und in dieser Allgemeinheit auch schon BVerfGE 82, 126, 146 („Kündigungsfrist für Arbeiter“). Die

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gleichbehandlung müsste hiernach einen legitimen Zweck verfolgen. Sie müsste geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein 600. Die Verhältnismäßigkeit des § 127 b StPO ist nun oben unter A. II. bereits eingehend erörtert worden. In der Folge davon ohne weiteres die (eingeschränkte) Vereinbarkeit mit Art. 3 GG zu konstatieren, würde der Intention des Gleichheitssatzes jedoch nicht gerecht 601. Es kann in Art. 3 Abs. 1 GG nicht gleichsam wie in Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG um die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in das Freiheitsrecht des Verdächtigen gehen. Vielmehr ist die „Verhältnismäßigkeit einer Gleich- oder Ungleichbehandlung“ von Personen oder Sachverhalten zu hinterfragen. Das heißt, am Zweck des § 127 b StPO ist die Rechtfertigung für eine gleiche oder unterschiedliche Behandlung zu messen 602. Lässt sich ein Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit in diesem Sinne nicht feststellen, kann es konkret dahingestellt bleiben, ob § 127 b StPO nun – gemessen am bisherigen Haftrecht – maßgeblich zwischen Personen oder Sachverhalten differenziert. Eine Gleich- oder Ungleichbehandlung steht dann außer Relation zum Zweck der jeweiligen Regelung, wenn die Maßnahme zur Erreichung des sie kennzeichnenden Zwecks ungeeignet ist. Das kann einmal dann der Fall sein, wenn sie einen „wahllosen Zugriff im Einzelfall“ darstellt, während im Gros der Fälle von einem Eingriff abgesehen wird 603. Auch die „Systemwidrigkeit“ einer Regelung, verglichen mit dem bisherigen System des einfachen Rechts, kann ein Indiz für die Ungleichbehandlung im Rahmen der Abwägung sein 604. Der Gleichheitssatz bindet also den Gesetzgeber im Rahmen gleichheitsbezogener Verhältnismäßigkeit an das von ihm selbst geschaffene Terrain. Schließlich ist die Gleichheitsbindung insbesondere „umso enger“ anzusehen, „je mehr sich die personenbezogenen MerkLit. geht zum Teil in diese Richtung, wenn von einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips die Rede ist. Siehe hierzu etwa v. Arnim, Staatslehre (1984), S.158; Wendt, NVwZ 1988, 778, 781 ff.; Pauly, JZ 1997, 647, 650, und insbesondere die Nachweise bei Huster, Rechte und Ziele (1993), S. 161 ff., 175 ff. 600 Es kommt im Zusammenhang mit Art. 3 GG auf die gleichen Elemente an wie bei der Freiheitsrechtsprüfung, Pieroth/Schlink, Grundrechte (2001), Rdn. 483. 601 Sehr kritisch gegenüber der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Prüfung des Art. 3 GG sind Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 37 f. m. w. N., wonach sich die „MittelZweck-Relation“ des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf Gleichheitsprobleme nicht übertragen lässt. Kritisch ist die Sicht von Sachs, JuS 1997, 124, 129, wenngleich, a.a.O. S.127 m.w.N., zu Recht darauf verwiesen wird, dass der akzessorische Gleichheitssatz des Art. 14 EMRK, der nur bei Berührung anderer Konventionsrechte eingreift, ein Argument für den Zusammenhang von Freiheitsrechten mit dem Gleichheitsrecht ist. Art. 5 EMRK gewährt einen allgemeinen Schutz gegen Willkür; siehe hierzu Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art.5 Rdn.73. 602 Deutlich schon Maaß, NVwZ 1988, 14, 20 f. 603 Vgl. Pauly, JZ 1997, 647, 651. In diesem Rahmen klingt der sehr weit gefasste Spielraum des allgemeinen Willkürgedankens an. In BVerfGE 59, 36, 49 („Berufsunfähigkeitsrente“) heißt es: „Nach welchem System der Gesetzgeber eine Materie ordnen will, obliegt, ebenso wie die Zweckmäßigkeit einer Regelung, seiner Entscheidung“. 604 Vgl. wieder Pauly, JZ 1997, 647, 651, und auch Jarass, NJW 1997, 2545, 2550. Zur Systemwidrigkeit siehe schon BVerfGE 55, 72, 88 ff. („§ 528 Abs. 3 ZPO“).

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male den in Art. 3 III GG genannten annähern“ 605, wenn also die Gefahr besteht, dass eine an ein persönliches Merkmal anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt. Aus der Literatur zu § 127 b StPO lassen sich eben diese drei Komponenten herausfiltern. Zum Ersten gehen weite Teile von einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch § 127 b StPO aufgrund „Systemwidrigkeit“ aus 606. Die Norm schaffe im Hinblick auf § 113 StPO eine rechtswidrige Differenzierung, indem sie die Inhaftnahmemöglichkeit gerade für weniger schwere Delikte erweitere. Meyer-Goßner sieht in diesem Zusammenhang in § 127 b StPO eine „ungeheuerliche Neuerung“ 607. Die Frage, ob „man einen solchen Fremdkörper in ein sonst wohlbestelltes Blumenbeet einpflanzen“ dürfe 608, beantwortet er klar: Der Verstoß des § 127 b StPO gegen den Gleichheitsgrundsatz sei „mit Händen zu greifen“ 609. Zum Zweiten könnte eine weitgehend vom „Zufall“ abhängende Anwendung des § 127 b StPO aufgrund einer kaum ausgeprägten Objektivierung der Haftgrundkomponente „Befürchtung des Fernbleibens“ 610 oder aufgrund des Standes der Justizorganisation einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG begründen 611. Nicht der Bruch mit dem bestehenden System ist also in diesem Ansatz zu hinterfragen, sondern eine mögliche Anwendung des § 127 b StPO „ohne System“. Schließlich erinnert der zu erwartende Adressatenkreis – Ausländer, Wohnsitzlose etc. – 612 an verbotene Differenzierungskriterien im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG. II. Zum Vorwurf der Systemwidrigkeit Der vielfach geäußerte Verweis auf § 113 StPO zur Begründung einer Systemwidrigkeit des § 127 b StPO lässt sich zunächst gut nachvollziehen. Wie zur Vereinbarkeit der Norm mit Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG festgestellt, mahnt § 113 StPO als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf prozessualer Ebene zur Zurückhaltung beim Freiheitsentzug im unteren Kriminalitätsbereich. Dieser Pflicht läuft die Erweiterung der Haftgründe in Form des § 127 b StPO grundsätzlich zuwider. § 113 Abs. 2 StPO nennt eine Untergrenze für die deliktsbezogene Straferwartung. Unter dieser Grenze ist eine Inhaftnahme aufgrund von Fluchtge605 Vgl. BVerfGE 88, 87, 96 („Transsexuelle, Vornamen“), und auch wieder BVerfGE 92, 26, 52 („Heimatheuer“). Für Sachs, JuS 1997, 124, 129, bietet sich die Nähe zu den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG als Mindestvoraussetzung des Personenbezuges am ehesten an. 606 Vgl. allgemein Asbrock, StV 1996, 43, 44, und deutlich Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 349, sowie Scheffler, NJW 1994, 2191, 2192, und Herzog, StV 1997, 215, 216. 607 Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 349. 608 Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 349. 609 Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 349. 610 Vgl. wieder Asbrock, StV 1996, 43, 44; Scheffler, NJW 1994, 2191, 2192; Herzog, StV 1997, 215, 216. 611 So deutlich Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 349. 612 Siehe insbesondere wieder Asbrock, StV 1996, 43, 44, und Herzog, StV 1997, 215, 216.

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fahr jedenfalls ohne weiteres unzulässig. § 127 b StPO enthält für die Straferwartung hingegen keine Untergrenze. Insoweit hierin ein für Art. 3 Abs. 1 GG relevanter Wertungswiderspruch zu sehen ist, besteht dieser jedoch offenbar nur zum Teil. Der Strafrahmen des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO liegt partiell über der Untergrenze des § 113 StPO 613. Betrachtet man überdies die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 1 GG näher, kann die Verletzung der „vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit“ zwar für einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz sprechen 614. Das Gericht geht jedoch zu Recht davon aus, dass dies allein keine Verfassungsverletzung bedeuten muss 615. Die Kriterien dafür, wann eine Systemwidrigkeit vorliegt, dürfen sich nicht nur aus einfachem Gesetz ergeben 616. Über das Erfordernis einer Verankerung in der Verfassung käme man zwar hinweg, stellte man auf § 113 StPO ab. § 113 StPO kann grundsätzlich als Fortschreibung der verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht des Beschuldigten aus Art.2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG angesehen werden 617. Die Norm manifestiert jedoch kein allgemeingültiges Verbot der Inhaftnahme: weder im unteren noch im untersten Kriminalitätsbereich. Sie grenzt Zulässiges nicht umfassend von Unzulässigem ab. Der Gesetzgeber wird nicht auf bestimmte Haftgründe oder bestimmte Verfahrensarten festgelegt. Es ist nicht ersichtlich, dass § 113 StPO dem Gesetzgeber allgemeingültig verwehrt, neue Haftgründe für bestimmte Verfahrensarten wie das beschleunigte Verfahren, zu schaffen 618. So lässt sich der Schluss ziehen, dass die Norm kein striktes Ordnungsmuster des Haftrechts beschreibt. Darauf lässt sich also eine gleichheitsrechtsbezogene Systemwidrigkeit nicht stützen. Als Maßstab für die Prüfung der Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit Art. 3 Abs. 1 GG eignet sich daher § 113 StPO nicht. Ihm kann gerade keine allgemeine Wertung zur Anwendbarkeit von Haft im unteren Kriminalitätsbereich entnommen werden. Zu betrachten sind eher allgemeine Voraussetzungen des bisherigen Haft613 Vgl. i. d. S. Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 106 f., und auch Grasberger, GA 1998, 530, 539. 614 BVerfGE 34, 103, 115 („Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern“). 615 BVerfGE 59, 36, 49 („Berufsunfähigkeitsrente“); 81, 156, 207 („§ 128 Arbeitsförderungsgesetz“). 616 Vgl. sehr klar hierzu Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 41: Es ist „nicht zulässig, eine punktuelle Regelung des Gesetzgebers mit Hilfe des Gedankens der Systemgerechtigkeit auf dogmatischem und justiziellem Wege in eine Vollregelung fortzudenken. Die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (...) schließt es aus, daß kontingente politische Entscheidungen des Gesetzgebers, die auch anders hätten ausfallen können, mit Hilfe des Gleichheitssatzes verfassungsrechtlich versteinert werden und Anschluß und Folgeregelungen erzwingen, an die der Gesetzgeber nie gedacht hätte“. Die Systemgerechtigkeit könne nur dann zu einem strengeren Instrument für die Gleichheitsprüfung werden, wenn sich die Anforderungen an eine systemgerechte Ausgestaltung aus der Verfassung selbst ergeben. 617 Siehe wieder KK-Boujong, StPO (2003), § 113 Rdn. 1. 618 Im Ergebnis siehe etwa Grasberger, GA 1998, 530, 539; Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 106 f.; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 125.

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rechts – wenn man so will: die „Essentialia“. Hält man sich zudem vor Augen, dass die Rechtfertigung für eine Differenzierung im Sinne eines Verhältnismäßigkeitserfordernisses für die Durchbrechung des einmal gewählten Ordnungsprinzips Argumente von umso größerem Gewicht einbringen muss, je stärker vom gesetzlichen Ordnungsmuster abgewichen wird 619, spricht der globale Blick eher für die Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit Art. 3 Abs. 1 GG. Verfahrenssicherung und Effektivität sind – wenn auch Letzteres nur abgeschwächt – legitime Zwecke des § 127 b StPO. Die Anwendung des § 127 b StPO setzt, wie das bisherige Haftrecht, dringenden Tatverdacht voraus. Auch wenn das Gesetz dringenden Tatverdacht für die vorläufige Festnahme nicht ausdrücklich vorsieht, wird dies durch die Bindung an einen einfachen Sachverhalt oder eine klare Beweislage im Sinne des § 417 StPO praktisch kompensiert. Die Anwendung des § 127 b StPO ist, wie Haft im bisherigen Haftrecht auch, an einen Haftgrund gekoppelt. Zwar ist die Befürchtung des Fernbleibens subjektiver als alle anderen Haftgründe, die die StPO kennt. Solange jedoch überhaupt ein an „bestimmte Tatsachen“ geknüpfter Haftgrund gefordert wird, erscheint die Erweiterung im Vergleich zum bisherigen Haftrecht nicht als unüberbrückbare Systemwidrigkeit 620. Ebenso wenig verstößt die Verknüpfung mit dem beschleunigten Verfahren fundamental gegen die Regelungslogik des Haftrechts. Hieraus einen Verfassungsverstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu begründen, ist verfehlt. Untersuchungshaft war schon vor Normierung des § 127 b StPO auch im beschleunigten Verfahren unbestritten zulässig. Schließlich kann auch in der Begrenzung der Hauptverhandlungshaft auf höchstens eine Woche ab dem Tag der Festnahme gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO keine systemwidrige Benachteiligung gesehen werden. Die Tatsache, dass der Verdächtige innerhalb einer Frist entlassen werden muss, ist aus der Sicht des im Sinne des § 127 b StPO Beschuldigten – im Hinblick auf die Dauer des Freiheitsentzugs – grundsätzlich ein Vorteil 621. III. Zum Vorwurf der Systemlosigkeit Ein Gleichheitsverstoß aufgrund der Systemlosigkeit einer Regelung liegt dann vor, wenn die Ungleichbehandlung von Normadressaten gegenüber anderen dem „Zufall“ überlassen bleibt 622. In diesem Sinne beruft sich am deutlichsten MeyerVgl. etwa BVerfGE 59, 36, 49 („Berufsunfähigkeitsrente“). Vgl. Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 107, der darauf abstellt, dass die in § 113 Abs. 2 StPO normierten Kriterien eines fehlenden inländischen festen Wohnsitzes oder einer bereits früher erfolgten „Verfahrenssabotage“ im Wesentlichen als „bestimmte Tatsachen“ gleichsam die Basis für die Annahme der Fernbleibebefürchtung des §127 b StPO bilden. 621 I. d. S. auch Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 126. 622 Vgl. Jarass, NJW 1997, 2545, 2548 mit Verweis auf BVerfGE 91, 118, 123 („stichprobenartige Kontrolle der Bewilligung von Prozesskostenhilfe“). Siehe allgemein auch Pauly, JZ 1997, 647, 651. 619 620

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Goßner auf Art. 3 Abs. 1 GG 623: § 127 b StPO sei nicht nur mit Vorschriften der StPO unvereinbar; die Anordnung der Hauptverhandlungshaft werde in rechtswidriger Weise davon abhängig gemacht, ob das Gericht die Hauptverhandlung in einer Woche durchführen könne oder nicht. Damit sei erstmalig ein vom Verhalten des Beschuldigten völlig unabhängiger und von ihm nicht zu beeinflussender Haftgrund geschaffen worden. Sei das Gericht überlastet, habe der Beschuldigte Glück und bleibe auf freiem Fuß; andernfalls werde er inhaftiert 624. Es könne für den Beschuldigten, so auch die Bedenken Grasbergers, von Zufälligkeiten abhängig sein, ob sein Fall in das beschleunigte Verfahren gelange oder ob er das gewöhnliche Verfahren durchlaufen könne und über § 113 Abs. 2 StPO von Haft verschont bliebe 625. Hierüber lässt sich sicher nachdenken. Im Hinblick auf die unterschiedliche Praxis in den einzelnen Bundesländern 626 ist durchaus zu denken, dass für die Verhängung eines Hauptverhandlungshaftbefehls der vermeintliche Tatort, also die Zuständigkeit einer bestimmten Justizbehörde, mitentscheidend ist. Sicher wären nicht alle aktuell aufgrund § 127 b StPO Inhaftierten in Haft, verlegte man ihre mögliche Deliktsbegehung in einen Bezirk mit einer für § 127 b StPO unzureichenden Gerichtsorganisation. Die Gerichtsorganisationen einzelner Bezirke unterscheiden sich zweifelsohne. Sicher ist auch die Bereitschaft, im beschleunigten Verfahren einen Haftbefehl zu verhängen, nicht überall dieselbe – sei es nun aus rechtsstaatlichen Bedenken, aus politischen oder aus anderen Gründen. Das aufgeweichte Maß an Bestimmtheit des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO, das insbesondere Asbrock, Scheffler und Herzog betonen 627, fördert zudem den Eindruck, Recht werde zufällig angewandt. Dennoch ergibt sich aus diesen Überlegungen noch kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Die Regelung des § 127 b StPO stellt nicht unmittelbar auf Zufall ab. Weder ermächtigt § 127 b StPO unmittelbar zu einer Auswahl durch Los, noch zu einer durch ein Zufallsprinzip gesteuerten Stichprobe 628. Unterschiede in der jeweiligen Gerichtsorganisation sind kein Zufall im Sinne eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz. Soweit die Strafverfolgungsbehörden unterschiedliche Schwerpunkte Zum Folgenden Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 349. I. d. S. auch schon Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 573, die die Termindichte des Gerichts als verfassungsrechtlich unzulässiges Differenzierungskriterium für „faktisch ausschlaggebend“ halten. 625 Grasberger, GA 1998, 530, 540. Vgl. dazu BVerfG-K, Beschl. v. 10.7.1992 (AZ: 2 BvR 1857/91), wonach straf- oder disziplinarrechtlich Verfolgte sich nicht darauf berufen können, „daß andere Personen wegen des gleichen oder eines ähnlichen Sachverhalts nicht verfolgt worden sind“. Jedoch hat die Kammer eine Grenze des Grundsatzes „keine Gleichheit im Unrecht“ dort in Erwägung gezogen, wo „willkürlich“ nur einige Personen herausgegriffen und disziplinar- oder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. 626 s. o. Einf., 2. Abschn. 627 Asbrock, StV 1996, 43, 44; Scheffler, NJW 1994, 2191, 2192; Herzog, StV 1997, 215, 216. 628 So die Beispiele von Jarass, NJW 1997, 2545, 2548, für eine verfassungswidrige Systemlosigkeit. 623 624

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setzen, handeln sie nicht automatisch „ohne“ System. Zudem hat die unterschiedliche Behandlung von Verdächtigen aufgrund der unterschiedlichen Organisation ihre Ursache nicht im Gesetz. Sie ist, wenn man so will, „justizintern“ begründet. Die mittelbare Abhängigkeit der Anwendung des § 127 b StPO von der Justizorganisation ist nicht der eigentliche Haftgrund des § 127 b StPO. Die Haftgrundkomponenten des § 127 b Abs. 1 StPO werden an bestimmten Tatsachen gemessen. Die Befürchtung des Fernbleibens beschreibt ein mögliches Boykottverhalten des Beschuldigten. Die Voraussetzungen des § 127 b StPO sind insgesamt der Auslegung zugänglich und im Sinne des Bestimmtheitsgrundsatzes objektivierbar. Sie erlauben also gerade keinen „wahllosen Zugriff im Einzelfall“.

IV. Zum Vorwurf der Diskriminierung Art. 3 Abs. 3 GG manifestiert das Verbot der Benachteiligung von Personen wegen ihrer Abstammung, ihrer Rasse, ihrer Sprache, ihrer Heimat und Herkunft. Die Auslegung des Gesetzes lässt erahnen, dass § 127 b StPO am ehesten auf Menschen mit schwächerer Bindung in der Gesellschaft, wie Wohnungslose und Ausländer, angewandt werden könnte. Fülber spricht in diesem Zusammenhang von einer „desintegrierten Klientel“ 629. Die Befürwortung der Anwendbarkeit auf Verdächtige, die bei Demonstrationen oder sonstigen Massenveranstaltungen Straftaten begangen haben könnten, erinnert an das Verbot von Benachteiligungen aufgrund politischer Anschauungen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG. Im Ergebnis zeigen jedoch mehrere Gründe, weshalb ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG aufgrund einer unzulässigen Diskriminierung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG nicht in Betracht kommt. Art. 3 Abs. 3 GG ist vor dem Hintergrund der Diskussion um § 127 b StPO lediglich als Mahnung zu verstehen, die Verhängung eines Haftbefehls von bestimmten, diskriminierungsfeindlichen Tatsachen abhängig zu machen. Zunächst ist festzuhalten, dass § 127 b StPO ausdrücklich keine spezifische Gruppe im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG als Adressaten der Hauptverhandlungshaft nennt. Es sind nur Tatsachen relevant, die die Fernbleibebefürchtung belegen. Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG sind nicht aufzuzeigen. Im Wortlaut des § 127 b StPO spielt die Abstammung keine Rolle. Es geht weder ausdrücklich um die natürliche und biologische Beziehung eines Verdächtigen zu seinen Vorfahren 630, noch um dessen Rasse 631. Daraus lässt sich offensichtlich kein mögliches Fernbleiben ableiten. Der Begriff „Heimat“ im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG bezieht sich auf die örtliche Herkunft im Sinne von Geburt und Ansässigkeit, nicht aber auf den Wohnsitz 632. § 127 b StPO knüpft auch weder ausdrücklich an die Herkunft, die die stän629 630 631 632

Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 107. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 3 Rdn. 110. Siehe hierzu Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG (1996), Art. 3 Rdn. 114 m. w. N. Vgl. wieder Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG (1996), Art. 3 Rdn. 116 m. w. N.

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dige Verwurzelung meint, noch an die gegenwärtige soziale Lebenssituation des Verdächtigen an 633. Unabhängig davon, ob die Staatsangehörigkeit unter die Merkmale „Heimat“ oder „Herkunft“ fällt 634, ist sie kein Differenzierungskriterium, um zwischen möglichem Fernbleiben und Erscheinen zu unterscheiden. Es ist indes nicht einzusehen, dass Sachverhaltselemente nicht berücksichtigt werden können, die mit der Staatsangehörigkeit irgendwie verbunden sind. Begründete die Berücksichtigung schon einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, könnten die Interessen an der Sicherung des Verfahrens gegenüber Ausländern generell kaum durchgesetzt werden 635. Soweit die Ansässigkeit in den Voraussetzungen des § 127 b StPO Bedeutung hat, dient die Nichtansässigkeit aber allenfalls als bestimmte Tatsache, auf die sich unter Umständen eine Fernbleibebefürchtung im Sinne des Abs. 1 Nr. 2 von Fall zu Fall aufbauen könnte. Sie muss sich nicht darauf gründen. Die „politische Anschauung“ ist kein Element der Voraussetzungen des § 127 b StPO. Ist bei einer Demonstration die Sach- oder Beweislage ganz ausnahmsweise einmal im Sinne des § 417 StPO überschaubar, knüpft § 127 b StPO weder notwendig an die Demonstration an sich noch an die dort eventuell kundgetanen politischen Ansichten. Gesetzt den Fall, die kaum bestreitbare Tendenz, dass deutsche Gerichte Untersuchungshaft gegenüber Ausländern relativ häufiger als bei Deutschen anordnen, da die Fluchtgefahr hier schwerer widerlegbar ist, übertrüge sich auf die Befürchtung des Fernbleibens, wäre ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dennoch nicht zwingend anzunehmen 636. Die Verfassungswidrigkeit des § 127 b StPO als abstrakt-generelle Norm käme allenfalls dann in Betracht, wenn Art. 3 Abs. 3 GG ein „relatives“ oder „mittelbares“ Differenzierungsverbot für abstrakt-generelle Sachverhalte enthielte 637. Ob Art. 3 Abs. 3 GG dies gewährt, ist allerdings zweifelhaft. Der mittelbare Ansatz zur Begründung der Verfassungswidrigkeit hätte mitunter sehr weitreichende Konsequenzen. Je nachdem, wie großzügig der Einfluss des Art. 3 GG bestimmt würde, wäre der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu weit eingeschränkt. Die Verfassungsmäßigkeit der §§ 127 a, 132 StPO und auch des § 113 Abs. 2 Nr. 2 StPO wäre kaum mehr zu vertreten. Diese Regelungen stellen auf den Wohnsitz des Verdächtigen ab. Die Verfassungsmäßigkeit vieler Normen der 633 Vgl. BVerfGE 9, 124, 128 f. („‚Herkunft‘ in Art. 3 Abs. 3 GG“); 48, 281, 287 („Versorgungsleistungen an deutsche Teilnehmer des spanischen Bürgerkriegs“). 634 Zum Streitstand siehe Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG (2000), Art. 3 Rdn. 99, der entgegen BVerfGE 50, 1, 30 („verzögerte Briefbeförderung“), der Ansicht ist, dass ein effektiver Grundrechtsschutz für Ausländer nur besteht, wenn die Staatsangehörigkeit kein zulässiges Differenzierungskriterium darstellt. 635 Vgl. Bleckmann, StV 1995, 552, 553. 636 Vgl. Bleckmann, StV 1995, 552, 552, und auch Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 101 mit Verweis auf KK-Boujong, StPO (4. Auf. 1999), § 112 Rdn. 19. 637 Vgl. hierzu etwa BVerfGE 75, 40, 70 („staatliche Subventionierung privater Ersatzschulen“) und auch BVerfGE 85, 191, 206 („Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen“).

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StPO wäre kaum begründbar, sähe man beispielsweise über den Wohnsitz die Ausländereigenschaft eines Beschuldigten – mittelbar diskriminierend – als entscheidend dafür an, ob es zu einer staatlichen Maßnahme kommt oder nicht. Andererseits erscheint der Schutz durch Art. 3 Abs. 3 GG als zu schwach, wenn die ausdrückliche Verwendung eines Merkmals im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG Voraussetzung für die Verfassungswidrigkeit einer abstrakt-generellen Regelung sein muss. Eine Gesetzesnorm müsste eine Diskriminierung ausdrücklich vorsehen, um aus Gründen der Diskriminierung verfassungswidrig zu sein. Ausdrückliches kann der Gesetzgeber formal leicht vermeiden und dennoch können Normen versteckt Diskriminierungen enthalten. Unabhängig davon, wie weit oder wie eng nun der Schutzbereich des Art. 3 GG gefasst ist, erscheint in diesem Zusammenhang die Argumentation von Fülber 638 jedenfalls nicht schlüssig. Die Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit Art. 3 GG lässt sich nicht entscheidend damit begründen, dass die StPO Normen kennt, wie etwa § 127 a Abs. 1 StPO, die an einen fehlenden „festen inländischen Wohnsitz oder Aufenthalt“ anknüpfen. Die Vereinbarkeit einer neuen Norm mit dem Gleichheitssatz kann sich nicht nach der Tolerierung des einfachen Gesetzes richten. Das Grundgesetz ist das höherrangige Recht. Daran ist § 127 b StPO zu messen. Ließe sich die Verfassungsmäßigkeit einer neuen Norm mit der Verfassungsmäßigkeit bestehender Regelungen begründen, käme ein Verstoß künftiger Regelungen gegen Art. 3 GG kaum mehr in Betracht. Überzeugend erscheint das Verständnis des Art. 3 Abs. 3 GG als Begründungsge- und -verbot im Rahmen der an das Verhältnismäßigkeitsprinzip angelehnten Zweckmäßigkeitsprüfung. Danach muss eine Differenzierung begründet werden können, ohne dass auf die dort genannten Merkmale abgestellt werden muss639. Was die Begründung des § 127 b StPO angeht, kommt sie tatsächlich ohne die Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG aus. Keine vorstellbare Differenzierung zwischen den von § 127 b StPO betroffenen persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichen ergibt sich zwingend aus Merkmalen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG. Die Zwecke des § 127 b StPO lassen sich frei formulieren: Anwesenheitssicherung und Steigerung der Effektivität des Verfahrens. Die bisherigen Instrumente zur Verfahrenssicherung werden losgelöst von Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG abstrakt-generell erweitert. § 127 b StPO knüpft demnach nicht in diskriminierender Art unmittelbar an die Staatsangehörigkeit, an politische Anschauungen oder an die fehlende Anbindung von Personen in der Gesellschaft an. Auch wenn davon auszugehen wäre, dass bei wohnsitzlosen Personen die Befürchtung des Fernbleibens besonders nahe liegend ist, stellte dies keinen Verstoß gegen Art. 3 GG dar. Dennoch hat Art. 3 GG auf den konkreten Umgang mit § 127 b StPO Auswirkungen. Aufgrund der unzulässigen Begründung des Gesetzgebers zu Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 108. Vgl. allgemein Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), GG (1999), Art. 3 Rdn. 14 ff., 22 ff., und im Zusammenhang mit Auswirkungen auf Gesetze Rdn. 90 ff. Siehe auch Stern, in: FS-Dürig (1990), S. 207, 214. 638 639

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

§ 127 b StPO, muss der Gefahr verdeckter Diskriminierung durch eine verschärfte Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Gleichheitssatz unbedingt begegnet werden 640. Eine Verletzung des Art. 3 GG liegt zwar nicht schon allein dann vor, wenn die Hauptverhandlungshaft gegenüber Ausländern im Vergleich zu Deutschen die Regel sein sollte. Art. 3 GG ist jedoch im Einzelfall verletzt, wenn in der Begründung von Maßnahmen aufgrund § 127 b StPO nicht eingehend auch die Argumente gegen Fernbleiben geprüft werden 641. Die konkrete Diskriminierung von Ausländern, Nichtsesshaften etc. ist dann zu erkennen, wenn zur Begründung einer Maßnahme augrund § 127 b StPO bestimmte gleiche Tatsachen gegenüber Ausländern und Nichtsesshaften etc. anders als gegenüber Deutschen und Sesshaften etc. konkretisiert werden. Kann auf eine von Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG losgelöste Begründung nicht zurückgegriffen werden, spricht dies für eine gegen Art. 3 GG verstoßende, zweckwidrig-diskriminierende Anwendung des § 127 b StPO.

C. Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens I. Die Diskussion in der Literatur Damit sind die Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit Art. 3 GG ausgeräumt. Für die Prüfung der Rechtsstaatlichkeit bleibt nunmehr allein die Klärung der Frage, ob § 127 b StPO dem Grundsatz des fairen Verfahrens gerecht wird. Die Diskussion in der Literatur legt auch hierzu ein weites Argumentationsterrain offen. § 127 b StPO erweist sich gerade auch im Zusammenhang mit diesem Prüfungsmaßstab als sehr komplexe Regelung. Der Grundsatz des fairen Verfahrens kann in vielerlei Prägung betroffen sein: sowohl durch die Beschleunigung des Verfahrens als auch durch die Inhaft- und Festnahme des Beschuldigten. Eine Ansicht in der Literatur wird im Wesentlichen repräsentiert von Fülber und Schlüchter/Fülber/Putzke 642. Für sie ist kein Verstoß gegen den Grundsatz erkennbar. Dem Beschuldigten stehe ja gemäß § 137 Abs. 1 S. 1 StPO das Recht zu, einen Verteidiger zu konsultieren. Darüber sei der Verdächtigte gemäß § 136 Abs. 1 S. 2 2. HS StPO zu belehren. Die Woche im Sinne des § 127 b Abs. 2 StPO halten sie zur Vorbereitung der Verteidigung für ausreichend. Da „§ 417 StPO ohnehin einen einfachen Sachverhalt oder eine klare Beweislage voraussetzt“, so begründen Schlüchter/Fülber/Putzke zur Untersuchung der Rechtmäßigkeit des beschleunigten Verfahrens, hielte sich eine Vorbereitungszeit „begrenzt“. „Im Regelfall“, so 640 Vgl. ganz allgemein Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 412 ff., 425 ff., der insbesondere die Bedeutung des Art. 3 GG zur Begründung einer „sittenwidrigen“ Diskriminierung im Rahmen zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche beleuchtet. 641 Bleckmann, StV 1995, 552, 553. 642 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 110 f., und Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 126.

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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heißt es weiter, sei „ein strafprozessual auch nur halbwegs versierter Anwalt innerhalb eines Tages ohne weiteres in der Lage“, die Verteidigung zu organisieren 643. Asbrock vertritt eine andere Meinung. Er erkennt einen deutlichen „Konflikt“ zwischen dem Recht des Beschuldigten, sich zu verteidigen, und der Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 StPO. Die Hauptverhandlungshaft schränke die Verteidigungsrechte des Verdächtigten zu sehr ein; kaum ein Verteidiger dürfte, so Asbrock, in einer Frist von längstens einer Woche eine ordnungsgemäße Verteidigung sicherstellen können 644. Herzog sieht die Verteidigungsmöglichkeiten unter Bedingungen der Haft gerade in Aussicht eines beschleunigten Verfahrens gravierend eingeschränkt. Allein durch die Haftanordnung trete eine Stigmatisierung des Beschuldigten ein, die ein faires Strafverfahren in Frage stelle 645. Nach Stintzing/Hecker ist eine Verteidigung im beschleunigten Verfahren „aus faktischen Gründen kaum möglich“; daher scheiden auch die Festnahme und die Hauptverhandlungshaft aufgrund § 127 b StPO zur Sicherung des beschleunigten Verfahrens aus 646. Meertens hält es ebenfalls für „nahezu unmöglich“, in bis zu einer Woche einen Strafverteidiger zu finden, der angemessen den Sachverhalt, die Motivlage und die übrigen Umstände des Falles mit dem Beschuldigten bespricht 647. Wenngleich Fülber diese Bedenken im Ergebnis für unbegründet hält, verlangt er dennoch eine Stärkung der Verteidigungsrechte de lege ferenda 648. Er plädiert für die Ausweitung der Regelungen zur notwendigen Verteidigung in dem Sinne, dass für den bis dahin Unverteidigten, zusammen mit der Anordnung des Hauptverhandlungshaftbefehls, ein Pflichtverteidiger zu bestellen sei. Auch sei mit Sicht auf den Anspruch auf rechtzeitige Information des in Hauptverhandlungshaft Befindlichen de lege ferenda der Hauptverhandlung dessen Ladung und die seines Verteidigers voranzustellen. Dies alles schlägt Fülber indes mit der ausdrücklichen Betonung vor, dass das Recht auf Verteidigung auch nach der jetzigen gesetzlichen Regelung abgesichert sei. Denn gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 2. HS StPO sei im Falle der Unfähigkeit des Beschuldigten zur Selbstverteidigung eine notwendige Verteidigung vorgesehen 649. Damit sind alle hier relevanten Ausläufer des Grundsatzes des fairen Verfahrens angesprochen. Es geht um Verteidigung und damit im Einzelnen um Informationsrechte und -pflichten sowie um die Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung. Des Weiteren sind Fragen zur Konsultation eines Wahlverteidigers und der Pflichtverteidigung relevant. Obwohl hier für eine grundlegende Aufarbeitung der Ausprä643 So Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 46, allerdings ohne hier speziell die Problematik des § 127 b StPO zu diskutieren. 644 Asbrock, StV 1997, 43, 44. 645 Herzog, StV 1997, 215, 216. 646 Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 569, 570; vgl. auch Scheffler, NJ 1999, 113, 117 f. 647 Meertens, Grundrechte-Report 1997 (1997), S. 200, 203. 648 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 111. 649 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 109.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

gungen und des allgemeinen Wirkungsinhalts des Grundsatzes des fairen Verfahrens kein Raum ist, soll dennoch versucht werden, zumindest einen Ausgangspunkt deutlich zu machen. Bei der Untersuchung einer abstrakt-generellen Regelung erscheint eine allgemeinere Einordnung obligat.

II. Bedeutungsinhalt des Grundsatzes 1. Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Herleitung Der Gesetzgeber hat den Grundsatz des fairen Verfahrens stets zu beachten 650. Er ist, so Tettinger, „Leitlinie für den Gesetzgeber“ 651. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der gängigen Ansicht im Schrifttum folgt das Recht auf ein faires Verfahren aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG 652. Das Recht gehöre zu den „wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens“ und sei ein „unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit“ 653. Der Verdächtige dürfe, so heißt es in der Rechtsprechung, nicht Objekt des Verfahrens sein 654; er müsse zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen können 655. Das Institut diene auch dazu, die Verfahrensgestaltung der Strafgerichte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, soweit die speziellen Verfahrensgrundrechte des Art. 103 Abs. 1 GG und des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht einschlägig seien 656. In seiner Wirkung enthalte der Grundsatz keine Vgl. Meyer-Goßner, StPO (2003), Einl. Rdn. 19. Vgl. Tettinger, Fairneß (1984), S. 54 f. 652 Von einem Recht auf ein faires Verfahren ist schon die Rede in BVerfGE 26, 66, 71 („Nebenklage“), Urt. v. 03.06.1969. In BVerfGE 39, 156, 163 („Begrenzung der Verteidigerzahl“), spricht das Gericht vom fairen Verfahren als einem „durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleisteten Anspruch“; siehe aus jüngerer Rspr. BVerfG-K, NStZ 1995, 555, 555 („Schweigen des Beschuldigten“); aus der Lit. siehe Hellmann, Strafprozeßrecht (1998), Teil I. § 1 Rdn. 9; Pieroth/Schlink, Grundrechte (2001), Rdn. 93, und auch Volk, Strafprozeßrecht (2001), §18 Rdn. 9, der als verfassungsrechtliche Verankerung Art. 1, Art. 20, Art. 28 und Art. 103 Abs. 1 GG nennt. 653 BVerfGE 38, 105, 111 („Rechtsbeistand des Zeugen“); siehe i. d. S. auch BVerfGE 57, 250, 275 f. („Zeugen vom Hörensagen“); 66, 313, 318 („Kostenerstattung“); 38, 105, 111 („Ausschluss eines Rechtsbeistandes“), und BGHSt 38, 214, 220 („fehlende Belehrung“). 654 BVerfGE 26, 66, 71 („Nebenklage“); 66, 313, 318 („Kostenerstattung“). 655 Siehe wieder BVerfGE 26, 66, 71 („Nebenklage“), und auch BVerfGE 65, 171, 174 f. („Anwesenheit des Verteidigers“); 66, 313, 318 („Kostenerstattung“). 656 In der Lit. betont Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1988), Art. 103 Abs. I Rdn. 9, die Spezialität des Art. 103 Abs. 1 GG. Vgl. auch BVerfGE 41, 246, 249 („Hauptverhandlung in Abwesenheit“); 57, 250, 274 ff. („Zeugen vom Hörensagen“); 64, 135, 143 ff. („fremdsprachiger Beschuldigter“), wenngleich eine klare Linie der Rspr. des BVerfG zum Verhältnis des Grundsatzes des fairen Verfahrens zu Art. 103 Abs. 1 GG insgesamt nicht eindeutig zu erkennen ist. 650 651

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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in allen Einzelheiten bestimmten Verbote oder Gebote, sondern bedürfe je nach den Gegebenheiten der Konkretisierung 657. Diese Konstruktion eines generalklauselartigen „allgemeinen Prozeßgrundrechts“ 658 gibt dem Prinzip des fairen Verfahrens einerseits eine bestimmte Richtung. Die Einflussmöglichkeiten des Beschuldigten auf das Verfahren sollen erweitert werden. Der Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip als Ort verfassungsrechtlicher Verankerung legt jedoch allein nicht offen, was der Grundsatz bewirken kann. Die Herleitung des Prinzips zeigt eine im Ansatz beträchtliche Abstraktionshöhe. Der Interpretation ist mit dem Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip unter Umständen nur eine sehr vage Hilfestellung gegeben. Zwar ist es allgemein anerkannt, dass das Rechtsstaatsprinzip als Begründung dienen kann, Rechte des Beschuldigten herzuleiten, zu garantieren und deren Stellung hervorzuheben. Gerade im Rechtsstaat ist das verständliche Sitte. Die betonte Bedeutung des Grundsatzes des fairen Verfahrens steht jedoch schon im Ursprung ambivalent zur Beschneidung von Beschuldigteninteressen durch die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege. Dies gilt zumindest dann, wenn Effektivität, wie dies das Bundesverfassungsgericht befürwortet 659, ebenfalls allgemeingültig aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird. Das Interesse der Allgemeinheit an der Aufklärung von Straftaten und der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege sieht das Bundesverfassungsgericht als zulässige Beschränkung des Rechts auf ein faires Verfahren an 660. Durch die Betonung der Effektivität der Strafrechtspflege im Begriffsumfeld von Rechtsfrieden, Wahrheit und Gerechtigkeit wird nicht nur die Wirkungsweise des Rechtsstaatsprinzips ungenau. Es verschwimmt auch das Recht auf ein faires Verfahren. Der Grundsatz wird konturenlos. Erkennt man mit dem Bundesverfassungsgericht die Ableitung des Grundsatzes der Effektivität aus dem Rechtsstaatsprinzip an, ist die durch § 127 b StPO geschaffene Situation im Hinblick auf das Recht auf Einflussnahme des Beschuldigten im Prozess nicht weniger prekär als mit Blick auf dessen Freiheitsrechte. Was die allgemeine Verankerung des Grundsatzes des fairen Verfahrens betrifft, so ist die Durchsicht der StPO nicht wirklich erhellend. So konkret wie etwa im französischen Strafprozessrecht ist der Grundsatz des fairen Verfahrens in der StPO nicht erwähnt. In Article Préliminaire Abs. 1 CPP ist festgeschrieben, dass das Verfahren „fair und kontradiktorisch“ sein und das „Gleichgewicht der Rechte BVerfGE 57, 250, 275 f. („Zeugen vom Hörensagen“). Vgl. wieder BVerfGE 57, 250, 274 f. („Zeugen vom Hörensagen“); i. d. S. auch BVerfGE 63, 380, 390 („Beiordnung eines Verteidigers“), sowie BVerfG-K, NJW 1993, 3254, 3254 („Verfahrensdauer“). 659 Vgl. an dieser Stelle nur wieder BVerfGE 33, 367, 383 („Zeugnisverweigerungsrecht der Sozialarbeiter“). 660 Siehe BVerfGE 38, 105, 115 f. („Rechtsbeistand des Zeugen“), und die Nachweise bei Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 20 Rdn. 95 a. E. 657 658

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

der Beteiligten“ wahren soll 661. In der StPO sind zwar Konkretisierungen aufgeführt, nicht aber etwa ein „Recht auf Einflussnahme“ oder „auf Verteidigung“, auf das sich argumentativ aufbauen ließe. Am ausdrücklichsten lässt sich zur Bestimmung eines Bedeutungsinhalts noch an die Europäische Menschenrechtskonvention anknüpfen 662. Sie enthält zwar keine Definition des fairen Verfahrens. Insbesondere an dem in der englischen Fassung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verwendeten Begriff des „fair hearing“ lassen sich dennoch grundlegende Vorstellungen von Fairness recht gut festmachen 663.

2. Waffengleichheit als Mindeststandard Aus dem Begriff des „fair hearing“ gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK des englischen Originaltextes, leitete die Europäische Menschenrechtskommission das Prinzip der „Waffengleichheit“ zwischen Angeklagtem und Strafverfolgungsbehörden ab 664. Waffengleichheit ist als eine besondere Ausprägung des Grundsatzes des fairen Verfahrens – oder wie es ursprünglich in amerikanischer Begrifflichkeit heißt, des „fair trial“ – zu verstehen 665. Der Fokus liegt hier pointierter als beim Recht auf ein faires Verfahren auf dem Vergleich der Möglichkeiten der Staatsanwaltschaft mit denen des Beschuldigten, auf den Prozess einzuwirken. Das Maß, das möglichst erreicht werden soll, ist „Gleichheit“ 666. Das legt das Wort „Waffengleichheit“ als solches nahe, wenngleich es im Prozess nicht um „Waffen“ geht, sondern eben um Rechte der Beteiligten 667. 661 Dort heißt es: „La procédure pénale doit être équitable et contradictoire et préserver l’équilibre des droits des parties“. Siehe hierzu ausführlich Henrion, ZStW 113 (2001), 21, 24 ff. 662 Die deutsche Rspr. ist zur Auslegung des Grundsatzes des fairen Verfahrens wesentlich durch die EMRK beeinflusst; dies wird z. B. deutlich in BGHSt 24, 125, 131 („Blutprobe durch Medizinalassistent“), und noch deutlicher nach BGH, StV 1999, 412, 415 („Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts“). 663 Die Grundintention des Grundsatzes des fairen Verfahrens in der EMRK wird durch die französische Fassung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK besonders klar. Darin ist von „équitablement“ die Rede. In der deutschen Fassung heißt es hingegen lediglich, dass jedermann Anspruch darauf hat, dass seine Sache „in billiger Weise“ gehört wird. 664 Vgl. dazu näher Vogler, ZStW 89 (1977), 761, 777. Siehe auch BVerfGE 38, 105, 111 („Rechtsbeistand des Zeugen“), sowie BVerfGE 63, 45, 61 („Einsicht in Spurenakten“). 665 Vgl. aufschlussreich zur unterschiedlichen Bedeutung der Begrifflichkeiten im Umfeld von fair-trial, Jung, in: FS-Lüke (1997), S. 323, 328 ff. m. w. N., wenngleich die Begriffe „Waffengleichheit“ und „Fairness“ im Verfahren nicht selten unterschiedslos verwandt werden; siehe beispielhaft Herzog, StV 2000, 444, 446. 666 Siehe etwa die Fälle Bönisch ./. Österreich, EGMR, EuGRZ 1986, 127, 127 ff., Urt., v. 06.05.1985, und Brandstetter ./. Österreich, EGMR, EuGRZ 1992, 190, 190 ff., Urt. v. 28.08.1991, wo es jeweils um die Unzulässigkeit der Zugehörigkeit eines Sachverständigen zur Anklage geht. 667 Insoweit ist es – abgesehen vom historischen Kontext – sicher angemessener, von „Rechtegleicheit“ oder „Einflussgleichheit“ zu sprechen.

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Der Vergleich von Einwirkungsmöglichkeiten erscheint im Hinblick auf den als Parteiprozess ausgestalteten amerikanischen Strafprozess zunächst insgesamt leichter nachvollziehbar als die Transformation des „Vergleichs“ auf das deutsche Strafprozessrecht 668. Die Herkunft des Begriffs „Waffengleichheit“ spricht dennoch nicht für seine Bedeutungslosigkeit im deutschen Verfahrensrecht 669. Auch hierzulande lassen sich die Einflussmöglichkeiten zwischen Anklage und Verdächtigtem vergleichen. Ein solcher Vergleich muss beispielsweise im Vorfeld jeder Normierung im Interesse der Beteiligten stattfinden. Werden Rechte in keiner Weise verglichen, entstehen von vornherein unausgewogene Regelungen. Der Begriff der Waffengleichheit bleibt allerdings nur dann verständlich, wenn er in seiner gedanklichen Intention lediglich einen „Mindeststandard an Gleichgewicht“ umfasst 670. Etwas anderes anzunehmen, wäre verfehlt. Würde der Grundsatz der Waffengleichheit eine absolute Größe vorschreiben, würden sich nicht nur zu einem Verstoß durch § 127 b StPO kaum zu widerlegende Argumente finden lassen. Sie offenbarten sich zu jeder Zwangsmaßnahme. Absolut verstandene Waffengleichheit mag Voraussetzung eines „barocken Duells“ gewesen sein. Das barocke Duell, so lehrt uns Frevert, ersetzte zu seiner Zeit das formalisierte Gerichtsverfahren 671. Der Strafprozess ist jedoch bis heute kein Duell. Er beruht auch nicht auf Mathematik. Rechte lassen sich nicht direkt gegeneinander aufrechnen. Im Prozess sind die Einflussmöglichkeiten und die Beteiligteninteressen insgesamt zu unterschiedlich. Nur der Staatsanwaltschaft steht die Polizei als ihre Hilfsbeamten zur Seite. Der Beschuldigte ist klar in einer untergeordneten Position. Dies wird in nahezu jeder Debatte um die Effektivierung der Strafrechtspflege deutlich. Die Unterordnung wird überall dort signifikant, wo ge668 Vgl. hierzu Dörr, Faires Verfahren (1983), S. 76 f., der S. 5 ff. die Herkunft des Grundsatzes des fairen Verfahrens, den Weg in die amerikanische Verfassung und S. 50 ff. die Gewährleistung des Grundsatzes in England beschreibt. Jung, in: FS-Lüke (1997), S. 323, 323, gibt vor diesem Hintergrund zu bedenken, dass es falsch wäre, den gedanklichen Ursprung des fair-trial in der Rechtsstaatsdiskussion zu suchen. 669 Wegen seines historischen Ursprungs wird die Geltung des Grundsatzes der Waffengleichheit für den deutschen Strafprozess dennoch zum Teil abgelehnt; vgl. hierzu die Nachweise bei Egon Müller, NJW 1976, 1063, 1064, und dort insbesondere auf Krauß, in: MüllerDietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (1971), S.153 ff. Der EGMR hat im Fall Delcourt ./. Belgien, EGMRE 2, 183, 195 ff., Urt. v. 17.01.1970 („Stellung der Staatsanwaltschaft“), allerdings betont, dass mit der Anerkennung der Waffengleichheit keine Umwandlung des Strafprozesses in einen (Parteien-)Prozess amerikanischer Prägung gefordert ist. 670 Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen? (1974), S. 82, steht dem Begriff „Waffengleichheit“ und seiner Wirkung eher skeptisch gegenüber, da von einer unangefochtenen Geltung des Grundsatzes nicht die Rede sein könne und der Stellenwert offen sei. Jung, in: FS-Lüke (1997), S. 323, 332, zieht selbst den Begriff des „Gleichgewichts“ vor. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Wortlaut des Article Préliminaire Abs. 1 S. 1 CPP („préserver l’équilibre des droits des parties“) und hierzu wieder Henrion, ZStW 113 (2001), 21, 27. 671 Nur unter Gleichen, das heißt unter Personen gleichen Standes, galten die Gesetze der Ehre, auf die nicht selten mit dem Duell reagiert wurde, um eine Art „Gottesurteil“ herbeizuführen; siehe hierzu Frevert, Ehrenmänner (1991), S. 22, 28.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

genüber dem Beschuldigten Zwang ausgeübt wird. Derjenige, der während des Verfahrens aufgrund § 127 b StPO inhaftiert ist, befindet sich gegenüber demjenigen, der Zwang ausüben darf, in weitaus untergeordneter Stellung. Der Betroffene wird inhaftiert und festgenommen. Die Strafverfolgungsorgane sind zur Hauptverhandlungshaft und zur vorläufigen Festnahme ermächtigt. Kein Staatsanwalt ist an der Vorbereitung der Anklage durch eine Inhaftierung behindert. Versteht man Waffengleichheit richtig als ein Mindestbestandteil im Gefüge des Rechts auf ein faires Verfahren, ist die Frage nach der Bedeutung des übergeordneten Prinzips zumindest im Ansatz beantwortet: Der Grundsatz des fairen Verfahrens steht grundsätzlich für einen Mindeststandard an Gleichgewicht der Beteiligten im Strafverfahren. Dieser Mindeststandard wird durch die auf Art. 1 Abs. 1 GG deutende Objektformel des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren verdeutlicht 672. Erst wenn die Einflussmöglichkeiten der Anklage und die des Beschuldigten nicht mehr sinnvoll verglichen werden können, liegt ein Verstoß gegen die Waffengleichheit vor. Eklatante Ungleichgewichte sind im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK unzulässig. Für § 127 b StPO heißt das beispielsweise, dass es das Recht des Inhaftierten sein muss, zu wissen, weshalb Zwang ausgeübt wird. Erst wenn er informiert ist, kann er die belastenden Tatsachen, die zu seiner Inhaftnahme geführt haben, überhaupt zu entkräften versuchen. Ist das nicht der Fall, ist nicht einmal mehr ein Minimum an Einflussnahme gewährleistet. Die Regelung scheint in diesem Zusammenhang anerkannten Standards zu entsprechen. Zumindest sind die §§ 114 Abs. 2, 114 a, 115 Abs. 3 StPO auch bei der Inhaft- und Festnahme aufgrund § 127 b StPO anwendbar. Der Beschuldigte kann von den Vorwürfen Kenntnis nehmen. Er kann sich wehren. Es gibt keine Regelung, die es ihm verbietet, sich zu verteidigen. Er hat immer das Recht auf die Konsultation eines Wahlverteidigers 673. Gemäß § 418 Abs. 4 StPO wird dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, für das beschleunigte Verfahren vor den Amtsgerichten ein Verteidiger bestellt 674. Darüber hinaus wird in den Fällen des § 140 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers für notwendig erachtet. Die Garantie eines Minimums in diesem Sinne ist jedoch nicht alles, was der Grundsatz des fairen Verfahrens zu leisten vermag. Er kann zwar ebenso wenig wie 672 Ausdrücklich genannt wird Art. 1 Abs. 1 GG im Zusammenhang mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens etwa in BVerfGE 57, 250, 275 („Zeugen vom Hörensagen“). 673 Vgl. BVerfGE 38, 105, 111 („Rechtsbeistand des Zeugen“), wo von einem „selbstverständlichen Recht“, sich durch einen Rechtsanwalt beraten und vertreten zu lassen, die Rede ist. 674 Zur Pflichtverteidigung als Essentialia vgl. BVerfGE 65, 171, 176 („Anwesenheit des Pflichtverteidigers“), wonach das rechtsstaatliche Anliegen des Gesetzes „deutlich verfehlt“ werden würde, wenn eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Verteidigers durchgeführt werden würde.

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die Waffengleichheit das Maß absoluter Gleichheit der Einflussmöglichkeiten vorschreiben. Nach der hier zugrunde gelegten Deutung, steht der Grundsatz jedoch für die Weiterentwicklung des Prozessrechts im Sinne einer „möglichst effektiven“ Teilnahme des Beschuldigten am Verfahren. Dies meint Konkreteres als die allgemeine Vorstellung des idealtypischen Ausgleichs aller Interessen zur Erreichung von Wahrheit, Rechtsfrieden und Gerechtigkeit im Prozess. Der Mindeststandard der Waffengleichheit ist gewissermaßen die Vorstufe von dem, was das Bundesverfassungsgericht „auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß nehmen“ nennt 675. Dieses Recht auf Einflussnahme ist nur dann sinnvoll, wenn die Beteiligung „zielgerichtet“ gestaltet werden kann. Weitergedacht ist die aktive Gestaltungsmöglichkeit für den Betroffenen in der Situation eines auf Funktionstüchtigkeit gestützten Grundrechtseingriffs nur dann wirklich wertvoll, wenn er sich diesem auch „möglichst wirksam“ entgegenstellen kann. Verallgemeinert versteht sich der Grundsatz des fairen Verfahrens damit als Programmsatz für eine auf „möglichst effektive“ Partizipation der Beteiligten gerichtete und damit auch auf eine kontradiktorische – nicht nur auf eine minimal-kontradiktorische – Ausgestaltung des Prozesses. Die Betonung einer „möglichst wirksamen“ oder auch „möglichst effektiven“ Verteidigung ist umso mehr angezeigt, je schwerer staatlicher Zwang in Beschuldigtenrechte eingreift. Eine derartige Programmatik stellt den grundsätzlich inquisitorischen Ansatz unseres Strafverfahrensrechts nicht unbedingt in Frage 676. Das ließe sich mit einem im Grundgesetz nicht ausdrücklich geschriebenen Programmsatz auch kaum rechtfertigen. Die Betonung „möglichst wirksamer“ Einflussnahme und der Kontradiktion als Bestandteil eines rechtsstaatlichen Prozesses im Sinne unserer Prozesstradition lässt sich mit einer Gesamtbetrachtung auf weitläufig anerkannte Institute des Rechtsstaatssystems verdeutlichen. Mit einem Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lässt sich zudem belegen, dass die Partizipation des Beschuldigten in einem auf Rechtsstaatlichkeit ausgerichteten Strafverfahren mehr Gewicht haben muss als die Effektivität der Strafrechtspflege. Hierfür steht der Grundsatz des fairen Verfahrens: einmal als Bestandteil deutschen Rechts und, wie insbesondere Jung betont, im Zusammenhang einer gesamteuropäischen Tradition der Freiheit des Bürgers 677. Zu dieser bekennt sich das deutsche Strafverfahrensrecht nicht zuletzt mit der Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. In diesem Sinne ist grundSiehe wieder BVerfGE 26, 66, 71 („Nebenklage“). Vgl. wieder Jung, in: FS-Lüke (1997), S. 323, 335, und auch ders., in: FS-Waltos (2000), S. 27, 32, wenngleich Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), § 17 Rdn. 5, empfiehlt, man solle „den Begriff der ‚Partei‘ im deutschen Strafprozeßrecht grundsätzlich nicht – auch nicht in einem nur ‚formellen‘, möglicherweise aber doch Verwirrung stiftenden Sinne – verwenden“ [Hervorhebungen im Original]. 677 Vgl. nur Jung, StV 1990, 509, 516, und i. d. S. auch ders., JuS 1998, 1136, 1137 f., sowie ders., Sanktionensysteme (1992), S. 71. 675 676

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

sätzlich mit dem Fall Artico ./. Italien von der Notwendigkeit eines „wirksamen Rechtsbeistandes“ im Verfahren auszugehen 678. Spätestens mit den Urteilen Lietzow, Schöps und Garcia Alva, jeweils vom 13.02.2001 und jeweils gegen die Bundesrepublik Deutschland 679, ist zumindest bei Untersuchungshaft gar vom Recht auf eine „möglichst wirksame“ Verteidigung, das heißt auf „möglichst wirksame“ Partizipation und Kontradiktion im Verfahren auszugehen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht mit dieser Rechtsprechung, so deuten auch Kühne/Esser, „erkennbar“ über die bundesverfassungsgerichtliche hinaus 680. 3. „Möglichst wirksame Verteidigung“ als Intention Nicht wenige aus dem Grundgesetz direkt ersichtliche oder hergeleitete Rechtsstaatsinstitute mit individualschützender Zielrichtung zeigen Überschneidungen mit dem Einflussnahme- und dem Gleichgewichtsansatz des Grundsatzes des fairen Verfahrens 681. So zielt die Idee des Gleichgewichts im Sinne der Waffengleichheit als Bestandteil des fairen Verfahrens unverkennbar in ähnliche Richtung wie die Chancengleichheit des Art. 3 Abs. 1 GG 682. Das Gleichheitsrecht ist die Grundlage für den Vergleich von Standpunkten. Es kann aber auch Grundlage eines Anspruchs auf Angleichung unterschiedlicher Machtverhältnisse im Prozess sein 683. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG betrifft klar den Beschuldig678 Vgl. Artico ./. Italien, EGMR, EuGRZ 1980, 662, 665, Urt. v. 13.05.1990 („Bedeutung der Pflichtverteidiger-Garantie; Art. 6 Abs. 3 c EMRK“). 679 Vgl. Lietzow ./. BRD, EGMR, StV 2001, 201, 201 ff.; Garcia Alva ./. BRD, StV 2001, 203, 203 ff., und Schöps ./. BRD, StV 2001, 205, 205 f., jeweils Urt. v. 13.02.2001 (jeweils „Akteneinsichtsrecht“). Siehe hierzu auch die Anm. von Kempf, StV 2001, 206, 206, f., sowie die Übersicht von Kühne/Esser, StV 2002, 383, 391. 680 Siehe wieder Kühne/Esser, StV 2002, 383, 391. 681 Siehe allgemein Hamm, in: FS-Salger (1995), S. 273, 287 ff., sowie Steiner, Fairneßprinzip (1995), 140 ff. 682 Nach Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG (2002), Art. 103 Rdn. 3, ist es dennoch verfehlt, das Prinzip prozessualer Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleiten. Die Nähe zu Art. 3 Abs. 1 GG sieht Dörr, Faires Verfahren (1983), S. 74 und S. 129, als Nachteil des Begriffs der Waffengleichheit, da es bei der Waffengleichheit mit Blick auf den „fair hearing“-Begriff um mehr als den bloßen Vergleich von Tatbeständen gehe; es gehe um die Gewährung eines Anspruchs; auch garantiere der Gleichheitssatz keinen, von seinen tatbestandlichen Voraussetzungen gelösten, subjektiv-rechtlichen Mindeststandard an Rechtsstaatlichkeit im Verfahren. 683 Zu denken ist etwa an BVerfGE 40, 1, 4 („notwendige Verteidigung“), zum Erfordernis notwendiger Verteidigung, wenn sich der Beschuldigte in Strafhaft befindet. Das BVerfG stützt sich a. a. O. ausdrücklich auf Art. 3 GG; siehe darüber hinaus BVerfGE 52, 131, 143 ff. („Arzthaftungsprozess“), wo ein Verstoß gegen die „Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG)“ verneint wurde. Dort heißt es: „Grundsätzliche Waffengleichheit im Prozeß und gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang sind verfassungsrechtlich gebotene Erfordernisse des Gleichheitssatzes (...) wie auch des Rechtsstaatsprinzips“.

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ten. Für Meertens ist seine Stellung durch die Inhaftnahme aufgrund § 127 b StPO so weit geschwächt, dass er daher auch die Garantie des Art. 103 Abs. 1 GG als „permanent verletzt“ ansieht 684. Seine Behauptung, die Betroffenen würden „hilflos und ohne entsprechende Unterstützung durch Verteidiger einer schnellen Aburteilung zugeführt“ 685, kann sicher gut vertretbar als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gewertet werden 686. Letztlich wird eine mangelhafte Einflussmöglichkeit angeprangert. Das weitläufig anerkannte Institut der Fürsorgepflicht hat auch zum Ziel, Positionen auszubalancieren 687. Auch dieses Institut soll verhindern, dass dem Beschuldigten ein „kurzer Prozess“ gemacht wird. Plädiert man schließlich, wie Egon Müller, für einen aus der Unschuldsvermutung abzuleitenden status activus des Beschuldigten 688, ist der Weg zum Grundsatz des fairen Verfahrens nicht mehr weit. Wer so denkt, setzt die Unschuldsvermutung inhaltlich sehr nahe an ein Recht auf Einflussnahme und damit an die grundlegende Intention des Grundsatzes des fairen Verfahrens 689. Verstanden werden kann das in folgendem Sinne: Droht im Prozess die Aufgabe der Unschuldsvermutung, dann droht der Prozess „unfair“ zu werden. Will man einen Prozess und kein Ritual, Vgl. Meertens, Grundrechte-Report 1997 (1997), S. 200, 203. Meertens, Grundrechte-Report 1997 (1997), S. 200, 203 f. 686 So sind die erwähnten Informationsrechte vielleicht passender unter Art.103 Abs. 1 GG als unter den Grundsatz des fairen Verfahrens zu fassen. Vgl. i.d. S. auch BVerfG-K, NJW 1994, 3219, 3220 („Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren“), wonach ein inhaftierter Beschuldigter einen aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleiteten Anspruch auf Akteneinsicht seines Verteidigers hat, wenn eine effektive Einwirkung auf die gerichtliche Haftentscheidung nur so möglich ist. Die Überschneidung zwischen dem Recht auf ein faires Verfahren und Art. 103 Abs. 1 GG wird besonders deutlich in BVerfGE 86, 133, 144 („§ 3 Abs. 3 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen“), wo es zu Art. 103 Abs. 1 GG heißt: „Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen können, um Einfluß auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können“. In BVerfGE 89, 125, 129 („Verhandlung in Abwesenheit“), ist von einem Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) „in Verbindung mit“ seinem Recht auf ein faires Verfahren die Rede. BK-Rüping, GG (Stand: März 1980), Art. 103 Abs. 1 Rdn. 3, 5, 7, macht insbesondere die Nähe zwischen Art. 103 Abs. 1 GG und der Waffengleichheit deutlich. Siehe zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung allgemein auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: 1988), Art. 103 Abs. I Rdn. 9 m. w. N. 687 Für Jung, in: FS-Lüke (1997), S. 323, 335, mit Verweis auf Müller-Dietz, in: FS-Dünnebier (1982), S. 75, 90, steht der Grundsatz der prozessualen Fürsorgepflicht für ein sozialstaatliches „Unterfutter“ des Rechtsstaatsprinzips, das es im fair trial-Grundsatz in seiner klassischen Lesart nicht gebe; vgl. hierzu auch Tettinger, Fairneß (1984), S. 154 ff., aber auch Heubel, Der „fair trial“ (1981), S.139, der zwischen dem Fürsorgeprinzip und dem fair trial-Grundsatz nur rein terminologische Unterschiede erkennt. 688 Siehe Egon Müller, NJW 1976, 1063, 1066 f. 689 Vgl. wieder Egon Müller, NJW 1976, 1063, 1066 f., und auch Jung, JuS 1998, 1136, 1137, sowie Wolter, Aspekte einer Strafrechtsreform bis 2007 (1991), S. 80. Zur ablehnenden Haltung vgl. wieder Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (1971), S. 153, 156 f. 684 685

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muss man dem Beschuldigten grundsätzlich Gegenmittel in die Hand geben. Damit bekommt er die Chance, Fairness wiederherzustellen. Dass die Unschuldsvermutung und der Grundsatz des fairen Verfahrens tatsächlich nicht weit auseinander liegen, zeigt auch der Blick ins Gesetz. Art. 6 Abs. 2 EMRK liegt zu Art. 6 Abs. 1 EMRK in unmittelbarer Nachbarschaft. Historisch gesehen, wurde die Verknüpfung zwischen Unschuldsvermutung und fair trial-Grundsatz bereits in der UNOMenschenrechtskommission hergestellt 690. Für manchen lässt diese Instituts- und Begriffsvielfalt den Grundsatz des fairen Verfahrens selbst als eine weitestgehend unbestimmbare „Leerformel“ erscheinen 691. Auch Müller-Dietz beispielsweise bezeichnet ihn zunächst als „fast diffus“ und die fair trial-Formel als „nicht gerade aussagekräftig“ 692. Gusy hält den „Anspruch auf ein faires Verfahren“ für „äußerst vage“ 693. Zugegeben, ist die Abgrenzung zu den genannten Instituten und damit auch die Reichweite des Prinzips nicht geklärt. Gerade das macht es vielleicht so schwierig, abschließende Worte zur Vereinbarkeit einer abstrakt-generellen Regelung wie § 127 b StPO mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu finden. Die Zusammenhänge zu Art. 3 GG und Art. 103 Abs. 1 GG zur Fürsorgepflicht und zur Unschuldsvermutung stellen für die Bestimmung eines Bedeutungsinhalts des Grundsatzes jedoch nur vordergründig eine Schwierigkeit dar. Sie und ihre weitläufige Anerkennung sind im Kern ein Bekenntnis des Strafprozesses zu Aktivrechten des Beschuldigten und zur Kontradiktion. Eine genaue Abgrenzung zwischen den Instituten erübrigt sich, begreift man den Grundsatz des fairen Verfahrens als, wie Müller-Dietz es nennt, „Sammelbecken“ der genannten Schutzgarantien 694. In diesem Begriff drückt sich die Bündelung ak690 Vgl. hierzu Tophinke, Grundrecht der Unschuldsvermutung (2000), S. 47 ff. und S. 50 ff.; die Änderungsvorschläge der Staaten aus dem Jahre 1949 zu Art. 13 der UNO-Resolution 217 A (III) v. 10.12.1948 vollzogen die Verbindung in der Form, dass nur ein sämtlichen Verfahrensgarantien entsprechender Nachweis der Schuld die Unschuldsvermutung zu widerlegen vermochte. Tophinke, a. a. O. S. 50, sieht in dieser Verknüpfung wesentlich die Ursache für die (späteren) Schwierigkeiten bei der Bestimmung des sachlichen Gehalts der Unschuldsvermutung gem. Art. 6 Abs. 2 EMRK und der Abgrenzung zu den anderen in Art.6 EMRK verankerten Garantien. 691 In diese Richtung geht die Bilanz von Heubel, Der „fair trial“ (1981), S. 73, 123 f. und S. 143 ff., der im Ergebnis dem fair trial-Grundsatz gerade vor dem Hintergrund anderer Verfahrensprinzipien eine eigene verfahrensspezifische Bedeutung abspricht. 692 So die Vokabel von Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1206. 693 Gusy, StV 2002, 153, 159. 694 Nach Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1208, reicht dies von der Aussagefreiheit (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) über die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK), das Recht auf eine angemessene Verteidigung (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO), den Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 GG) bis zum Recht auf rechtliches Gehör. Vgl. i. d. S. auch Haefliger/Schürmann, Menschenrechtskonvention und die Schweiz (1999), S. 131, die in dem Grundsatz des fairen Verfahrens die Verfahrensgarantien der Art. 29 bis 32 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (18. Dezember 1998) vereint sehen; diese Regelungen geben dem Bürger im Wesentlichen das Recht auf gleiche und gerechte Behandlung im Verfahren und auf recht-

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tiver Mitwirkungsrechte aus. Der Grundsatz des fairen Verfahrens wird so zum Richtungsanzeiger. Er zeigt hin zu einem Gleichgewicht zwischen den Einwirkungsmöglichkeiten der Prozessbeteiligten. Die genannten Institute und mit ihnen das Recht auf ein faires Verfahren heben die Bedeutung der Kontradiktion im Prozess der Wahrheitsfindung hervor 695. Als gemeinsamer Nenner zeigen sie aktive Teilnahmerechte des Betroffenen. Sieht man den Grundsatz des fairen Verfahrens auf abstrakt-genereller Ebene als eine Zielbestimmung, müssen Regelungen im Lichte einer weitgehenden Partizipation interpretiert werden. Neuerungen müssen sich an dieser Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit messen. Die grundlegende Schwierigkeit der Begrenzung des gesetzgeberischen Spielraums lässt sich freilich zwar auch durch Verweis auf einen so verstandenen Grundsatz des fairen Verfahrens nicht vollends beseitigen. Wie lange nun die „ausreichende Zeit und Gelegenheit“ zur Vorbereitung der Verteidigung im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK zu bemessen ist, lässt sich abstrakt-generell nicht bestimmen. Maßgeblich für den Zeitfaktor sind immer auch die „Komplexität“ und die „Umstände des Einzelfalles“ 696. Einer auf ein zu hohes Maß an Dezisionismus gestützten Kritik an diesen Elementen lässt sich vorgreifen. Nicht jede Regelung, die Zeit und Gelegenheit zur Verteidigung einschränkt, die Verteidigerkonsultationen und die Erlangung von Informationen erschwert, ist in ihrer abstrakt-generellen Form verfassungswidrig. Das Recht auf ein faires Verfahren betont die Partizipation als ein Übergewicht im Argumentationsvorgang. Wir haben eine Tendenz, die Dezisionismus gerade vorbeugt. So wie die Freiheitsrechte des Grundrechtskatalogs gemeinsam mit dem Rechtsstaatsprinzip die Freiheit des Individuums gegenüber der Effektivität der Strafverfolgung aufwerten, betont der Grundsatz des fairen Verfahrens die Einflussnahme. Das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren hat in einer demokratischen Gesellschaft eine „herausragende Stellung“ – so nennt es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 697. liches Gehör. Sie gewähren, so Haefliger/Schürmann a. a. O., im Strafprozess eine wirksame Verteidigung. 695 Vgl. auch den Fall Ruiz-Mateos ./. Spanien, EGMR, Serie A, vol. 262, Ziff. 63, Urt. v. 23.06.1993. Diese Sicht war maßgeblich eine Inspirationsquelle zur Gestaltung des Article Préliminaire CPP; vgl. hierzu wieder Henrion, ZStW 113 (2001), 21, 25. 696 Nach st. Rspr. des EGMR – vgl. aus neuerer Zeit den Fall Pélissier und Sassi ./. Frankreich, EGMR, NJW 1999, 3545, 3545 ff., Urt. v. 25.03.1999 („gerichtliche Hinweispflicht“) – richtet sich die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK nach den Umständen des Falles und insbesondere unter Berücksichtigung seiner Schwierigkeit, des Verhaltens des Betroffenen und des Verhaltens der zuständigen Behörden. Vgl. auch die bei Kühne, StV 2001, 529, 530 ff., aufgeführte Rspr. des EGMR zur Verfahrensdauer aus den Jahren 2000/2001, sowie Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rdn. 179, und Ambos, Jura 1998, 281, 292. Der BGH überlässt die Vorbereitungszeit wesentlich dem Ermessen des Gerichts; vgl. in diesem Zusammenhang schon BGHSt 13, 337, 343 („Unterbrechung oder Aussetzung der Verhandlung bei Wechsel des Verteidigers“). 697 Artico ./. Italien, EGMR, EuGRZ 1980, 662, 664 f., Urt. v. 13.05.1980 („Bedeutung der Pflichtverteidiger-Garantie; Art. 6 Abs. 3 c EMRK“) m. w. N. auf den Fall Airey ./. Irland, Serie A, vol. 32, = EuGRZ 1979, 626, 626 f., Urt. v. 09.10.1979 („Prozesskostenhilfe“).

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Die Betonung der Individualität hat abstrakte Wirkung. Der Europäische Gerichtshof präzisiert und konkretisiert diese: Im Fall Artico heißt es, dass alleine die Bestellung eines Verteidigers Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht gerecht wird. Im Verfahren muss dem Beschuldigten ein „wirksamer Beistand“ zur Seite stehen können. Die Strafverfolgungsbehörden haben darauf hinzuwirken, dass der Verteidiger seinen Verpflichtungen wirksam nachkommt 698. Noch deutlicher wird die Intention des Grundsatzes des fairen Verfahrens für die Situation der Untersuchungshaft – wenn auch mit Art. 5 Abs. 4 EMRK als wesentlichem Prüfungsmaßstab. Den Mindeststandard des fairen Verfahrens versteht der Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Lamy noch etwas zurückhaltend im Sinne eines eher minimalkontradiktorischen Verfahrens. Das lässt sich in den dortigen Verweis auf die Waffengleichheit interpretieren 699. In den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva, jeweils gegen die Bundesrepublik Deutschland, ist die Zurückhaltung weitgehend gewichen. Dort heißt es, das Verfahren müsse kontradiktorisch geführt und der Grundsatz der Waffengleichheit zwischen den Parteien, der Staatsanwaltschaft und der in Haft befindlichen Person, gesichert sein 700. „Im Hinblick auf die tiefgreifenden Auswirkungen des Freiheitsentzuges und damit des Eingriffs in fundamentale Rechte des Betroffenen (...) – auch unter den Bedingungen gerade erst eingeleiteter Ermittlungen –“, so heißt es wörtlich, seien „die Grundsätze eines fairen und kontradiktorischen Verfahrens so weit wie möglich (zu) beachten“ 701. In diesem Sinne wird ausgeführt, dass etwa die Information des Beschuldigten durch den Haftbefehl und den Ermittlungsrichter gerade nicht ausreichend ist, die Verteidigung angemessen vorzubereiten 702. Damit erscheint es unzulässig, so folgert Kempf zutreffend 703, im Zweifel der Sicherung der Effektivität der Strafrechtspflege den Ausschlag gegenüber den Verteidigungsrechten des Inhaftierten zu geben. 698 So Artico ./. Italien, EGMR, EuGRZ 1980, 662, 664 f., Urt. v. 13.05.1980 („Bedeutung der Pflichtverteidiger-Garantie“) m.w.N. auf den Fall Airey ./. Irland, Serie A, vol. 32 = EuGRZ 1979, 626, 626 f., Urt. v. 09.10.1979 („Prozesskostenhilfe“). 699 Der eher „minimal-kontradiktorische“ Ansatz im Fall Lamy ./. Belgien, EGMR, StV 1993, 283, 284, Urt. v. 30.03.1989 („Akteneinsichtsrecht des Verteidigers bei Untersuchungshaft“), wird deutlich, wenn es heißt: „Da das Verfahren die Waffengleichheit nicht sicherte, war es auch nicht wirklich kontradiktorisch“. 700 Vgl. Lietzow./. BRD, EGMR, StV 2001, 201, 202; Schöps./. BRD, EGMR, StV 2001, 203, 204, sowie Garcia Alva./. BRD, EGMR, StV 2001, 205, 205, jeweils Urt.v. 13.02.2001 (jeweils „Akteneinsichtsrecht“). 701 Lietzow ./. BRD, EGMR, StV 2001, 201, 202; Schöps ./. BRD, EGMR, StV 2001, 203, 204; Garcia Alva ./. BRD, EGMR, StV 2001, 205, 205, jeweils Urt. v. 13.02.2001 (jeweils „Akteneinsichtsrecht“) [Hervorhebung nicht im Original]. 702 Vgl. wieder Lietzow ./. BRD, EGMR, StV2001,201,202; Schöps ./. BRD, EGMR, StV 2001, 203, 204, und Garcia Alva ./. BRD, EGMR, StV 2001, 205, 206, jeweils Urt. v. 13.02.2001 (jeweils „Akteneinsichtsrecht“). 703 Kempf, StV 2001, 206, 207, Anm. zu den Fällen Lietzow ./. BRD, EGMR, StV 2001, 201, 202; Schöps ./. BRD, EGMR, StV 2001, 203, 204; Garcia Alva ./. BRD, EGMR, StV 2001, 205, 205, jeweils Urt. v. 13.02.2001 (jeweils „Akteneinsichtsrecht“).

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Wenn dem so ist, so lässt sich annehmen, dass das Recht auf ein faires Verfahren wenigstens bei Untersuchungshaft nicht nur einen bloßen Minimalstandard an Verteidigungsrechten gewährleistet, wie er bisher weitgehend aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hergeleitet wurde 704. Die Gewährleistung einer „wirksamen“ Verteidigung ist auch nicht genügend. Das Prinzip des fairen Verfahrens beinhaltet vielmehr das Recht auf eine „möglichst wirksame“ Verteidigung des Individuums. Das Recht auf Beistand eines Verteidigers im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. c MRK kann so als Anspruch auf einen „möglichst wirksamen“ Verteidiger verstanden werden. Der Effektivität im Verfahren kann nur durch eine „möglichst wirksame“ Verteidigung im Prozess gegengesteuert werden. Nur dann hat der Prozess Aussicht auf Erfolg im Sinne einer fairen Entscheidungsfindung, und nur so kann ein Gleichgewicht aktiver Mitwirkungsrechte angestrebt werden. Nur unter diesen Umständen kommt es wahrhaft zu wirkungsvoller Kontradiktion. Gemessen an dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, geht die Formulierung des Bundesgerichtshofs, wonach sich aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK das Gebot einer „geordneten und effektiven Verteidigung“ ergibt, in die richtige Richtung 705. Sie geht aber nicht weit genug. Roxin formuliert treffender. Er versteht den Gedanken des fairen Verfahrens als ein Prinzip, das die „größtmögliche Optimierung“ verfassungsmäßiger Werte verlangt 706. Im Verfahren ist damit im Wesentlichen die Optimierung der Einflussrechte des Individuums gemeint. Aus der Gewährleistung einer „möglichst wirksamen“ Verteidigung lässt sich letztlich auch folgern, dass die ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK im Sinne des Grundsatzes des fairen Verfahrens „möglichst verteidigungsfördernd“ zu bemessen ist 707. Dazu 704 Siehe Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rdn. 172 m. w. N.; Weigend, StV 2000, 384, 385, und den Fall Zana ./. Türkei, EGMR, ÖJZ 1998, 715, 717, Urt.v. 25.1.1997 („Nichtanwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung“); siehe auch den Fall Imbrioscia ./. Schweiz, EGMR, ÖJZ 1994, 517, 518, Urt. v. 08.04.1996 („Beiziehung des Verteidigers“), wonach ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1, 3 lit. c EMRK verneint wurde, da die Vertragsstaaten nur dann zu einem Eingreifen verpflichtet seien, wenn das Versäumnis, eine wirksame Verteidigung zu bieten, offensichtlich sei; für einen Mindeststandard aufgrund des Wortlauts des Art. 6 Abs. 3 EMRK („mindestens“, englischer Text; „insbesondere“, französischer Text) sind auch Haefliger/Schürmann, Menschenrechtskonvention und die Schweiz (1999), S. 218. 705 Vgl. BGHSt 44, 46, 46 ff. („Beschlagnahme von Beschuldigtenunterlagen“), sowie BGHSt 45, 55, 55 ff. („Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts“). 706 Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), §11 Rdn. 11, mit Verweis auf Steiner, Fairneßprinzip (1995), S. 140 ff. [Hervorhebung im Original]. 707 Der Grundsatz des fairen Verfahrens muss im Hinblick auf Rechtseingriffe während des gesamten Verfahrens, auch für das Ermittlungsverfahren, gelten; der Verdächtige darf in keiner Lage des Verfahrens machtlos sein. Die Äußerung von Bosch, StV 1999, 333, 333 f. und dort FN 2, dahingehend, dass die Verfahrensrechte der EMRK als Konkretisierung des fair trialGrundsatzes im Ermittlungsverfahren nicht uneingeschränkt anwendbar seien, sind mit Walischewski, StV 2001, 243, 245, zurückzuweisen. Walischewski, a. a. O. m. w. N. aus Rspr. und Lit., weist zu Recht darauf hin, dass der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EMRK („Anklage“ bzw.

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gehört die Forderung Egon Müllers, dass die mit der ersten Vernehmung des Beschuldigten im Sinne des § 163 a StPO verbundenen Informationen über den Verfahrensgegenstand unverzüglich erbracht werden müssen 708. Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK und das Recht auf einen Verteidigerbeistand gemäß lit. c gehört dazu auch die Gewährung eines „möglichst optimalen Zeitraumes zur Verteidigerbestellung“. Eine Pflichtverteidigerbestellung muss in diesem Sinne so früh wie möglich erfolgen; zur Wahlverteidigerkonsultation muss ein Zeitrahmen zur Verfügung stehen, der eine „möglichst wirksame Verteidigung“ garantiert. Zusammengefasst, kann Strafverteidigung nur durch die Gewährleistung einer möglichst wirksamen Verteidigung und eines möglichst wirksamen Verteidigers Gegenpol zur Machtfülle des Staates sein 709. Nur dann kann sie den Befugnissen der Strafverfolgungsbehörden adäquat entgegentreten. Das Entgegenwirken ist gerade in der Festnahme- und Haftsituation des Betroffenen beschränkt. Soweit der Gesetzgeber Adressat ist, kann das Recht auf ein faires Verfahren in der Situation der zwangsweisen Inhaft- und Festnahme des Beschuldigten Anstoß sein, Gegengewichte bereitzustellen. Das sind Maßnahmen, die es dem Beschuldigten erlauben, seine Situation zu verbessern. Die Einflussmöglichkeiten der Beteiligten sind auszubalancieren. Werden die Inhaft- und Festnahmemöglichkeiten, wie durch § 127 b StPO geschehen, erweitert, spricht diese Art von Zielbestimmung für die Erforderlichkeit eines Ausgleichs. Der Konkretisierungsspielraum darf zwar auch vor dem Hintergrund der Betonung der Einflussmöglichkeiten des Beschuldigten nicht einseitig begrenzt sein. Er steht dem Gesetzgeber bei jeder Weiterentwicklung des Rechts zu. Bei einer einseitigen Beachtung von Individualinteressen ließe sich kein Gleichgewicht herstellen. Wird kein Ausgleich gewährt, muss dies jedoch nicht unbedingt zur Verfassungswidrigkeit einer abstrakt-generellen Norm führen. Es kann Einzelfälle geben, in denen ein Gegengewicht nicht notwendig ist. Sind aber umgekehrt kaum Einzelfälle vorstellbar, in denen § 127 b StPO eine möglichst wirkungsvolle Verteidigung erlaubt, so spricht dies für eine im Sinne des Grundsatzes des fairen Verfahrens unerwünschte Regelung. III. Stellungnahme zu konkreten Spannungsfeldern zwischen § 127 b StPO und dem Grundsatz des fairen Verfahrens Die Beeinträchtigungen der Betroffenen im Sinne des § 127 b StPO sind zunächst grundsätzlich vergleichbar mit denen der aufgrund §§ 112 ff. StPO in Haft „Angeklagter“) nicht im formellen Sinne, sondern im Sinne der Sicherung der Stellung eines vom Verfahren Betroffenen zu verstehen ist. Siehe hierzu auch beispielsweise wieder den Fall Lietzow ./. BRD, EGMR, StV 2001, 201, 202, Urt. v. 13.02.2001 („Akteneinsichtsrecht“). 708 Egon Müller, in: FG-Ludwig Koch (1989), S. 191, 196 f., gestützt auf Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK. Siehe auch ders., NJW 1981, 1801, 1806. 709 Gatzweiler, StraFo 2001, 187, 189 f.

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Genommenen. „Der inhaftierte Beschuldigte“, so heißt es bei Deckers, „ist in den Möglichkeiten seiner Verteidigung objektiv und subjektiv beschränkt“ 710. Einmal ergeben sich Einschränkungen durch den Umstand der Freiheitsentziehung an sich. Der Inhaftierte kann seine Verteidigung zur Hauptverhandlung nicht so leicht organisieren wie der auf freiem Fuß Befindliche. Konsultiert der Beschuldigte einen Rechtsbeistand, sind die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen beiden eingeschränkt. Die Gespräche zwischen Mandant und Verteidiger müssen in der Haftanstalt stattfinden. Davon abgesehen, kann die Zwangswirkung, die von Haft ausgeht, zu einem „Geständnisdruck“ führen 711. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass der Erlass eines Haftbefehls das Ergebnis des weiteren Verfahrens präjudizieren kann. Die Bejahung des dringenden Tatverdachts bei Erlass des Haftbefehls lässt es nach Schlothauer/Weider erfahrungsgemäß „fast aussichtslos“ erscheinen, eine Anklageerhebung zu verhindern 712. Haft schränkt demnach grundsätzlich Kontradiktion im Verfahren erheblich ein. Im Fall der Hauptverhandlungshaft aufgrund § 127 b StPO treten derartige Wirkungen noch deutlicher zutage. Die Gefahr einer „präjudizierenden Wirkung“ erhöht sich, da der Tatverdacht im beschleunigten Verfahren besonders gefestigt erscheint. Er wird daher noch schwieriger zu entkräften sein als im Regelverfahren 713. Die Verfolgungsbehörden gehen bei Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls davon aus, dass die Sache einfach oder die Beweislage klar im Sinne des § 417 StPO ist und innerhalb einer Woche verhandelt sein wird. Der Betroffene wird es in dieser Situation umso schwerer haben, über den Tatvorwurf und die entsprechende Verteidigungsstrategie nachzudenken. Es ist davon auszugehen, dass der „Schock“ des Hauptverhandlungshaftbefehls, von dem auch Fülber spricht 714, mit Aussicht auf eine derart baldige Verurteilung, wie sie nach § 127 b Abs. 2 StPO zu erwarten ist, besonders tief sitzt. Die emotionale Situation wird es in dem so wichtigen ersten Augenblick nach der Festnahme schwierig machen, tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte der Verteidigung geltend zu machen. Haben die Strafverfolgungsbehörden den Tatvorwurf erst einmal überdacht, und fühlen sie sich bestätigt, fällt es naturgemäß noch schwerer, sie von ihrer gefassten Entscheidung wieder abzubringen. Der vom Gesetzgeber beabsichtigte Anwendungsbereich des § 127 b StPO deutet auf die weitgehende Missachtung des kontradiktorischen Elements eines fairen AK-Deckers, StPO Bd. 2/Tb. 1 (1992), § 112 Rz. 32. Vgl. Arbeitskreis Strafprozeßreform, Untersuchungshaft (1983), S. 27, wenngleich feststeht, dass die Untersuchungshaft weder gezielt noch als gebilligter Nebeneffekt dazu eingesetzt werden darf, um ein Geständnis zu erlangen. Siehe hierzu auch SK-Paeffgen, StPO (Stand: 1992), Vor § 112 Rdn. 31. 712 Nach Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 23, „indizieren“ die Annahme dringenden Tatverdachts und die Vollstreckung der Untersuchungshaft in der Praxis nicht selten die Verurteilung („U-Haft schafft Rechtskraft“). 713 I. d. S. Asbrock, StV 1997, 43, 44, und in der Tendenz auch Scheffler, NJ 1999, 113, 117 f. 714 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 110. 710 711

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Verfahrens. Die Inhaftnahme wirkt sich gerade auf die Verteidigung von Ausländern besonders aus 715. Sind die Betroffenen der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig, können sie ihre Interessen dementsprechend auch nicht immer umfassend sachgerecht vertreten. Daneben sind Beschuldigte aus der Unterschicht, so Müller-Dietz, zu einer effektiven Verteidigung zumeist selbst nicht in der Lage; es fehlt ihnen nicht selten nicht nur an Rechtskenntnissen. Es mangelt auch an der Fähigkeit zur Artikulation und Selbstbehauptung 716. Schließlich besteht für diese Personengruppe ein besonderer Geständnisdruck 717. In Anbetracht dieser Einschränkungen durch die Inhaftnahme, der Beschleunigung und der besonderen Situation der Ausländer und Wohnsitzlosen, ist es wenig verwunderlich, dass das Recht auf Konsultation eines Verteidigers im Schrifttum zur Hauptverhandlungshaft erhöhte Aufmerksamkeit findet. Die Bedenken eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens können jedoch mit dem Hinweis auf § 137 Abs. 1 S. 1 StPO nicht einfach zerstreut werden. Zwar ist es, wie Fülber und Schlüchter/Fülber/Putzke meinen, durchaus richtig, dass sich die von § 127 b StPO Betroffenen in jeder Lage des beschleunigten Verfahrens zur Vertretung ihrer Interessen eines Verteidigers bedienen dürfen 718. Dies ergibt sich aus § 137 Abs. 1 S. 1 StPO. Über dieses Recht ist der Beschuldigte gemäß § 136 Abs. 1 S. 2 2. HS StPO vor jeder Vernehmung zu belehren. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO ist über § 136 a Abs. 3 S. 2 StPO auch auf die Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft und gemäß § 163 a Abs. 4 S. 2 StPO auf die Vernehmung durch die Polizei anzuwenden. Unterbleibt die Belehrung, führt dies grundsätzlich zu einem Verwertungsverbot 719. Sollte sich der Beschuldigte gleich für die Heranziehung eines Rechtsbeistands entscheiden, ist jedoch ein neuer Vernehmungstermin anzuberaumen, der erst „nach angemessener Frist (in der Regel nach einigen Tagen) stattfinden darf“ 720. Dies verkürzt die Zeit, innerhalb der sich der Beschuldigte verteidigen kann. Eine „möglichst wirksame“ Verteidigung ist in dieser kurzen Zeit bis zur Hauptverhandlung in aller Regel nicht mehr möglich. Die Verfahrensdauer ist im Sinne des § 127 b Abs. 2 StPO von vornherein auf eine Woche beschränkt. Davon abgesehen, ist gerade bei einer Belehrung gegenüber Ausländern nicht immer gewährleistet, dass diese ihre Bedeutung genau verstehen 721. Zumindest besteht die Gefahr – und eben gerade im Zuge der Beschleunigung des Verfahrens die erhöhte Gefahr –, dass das Nicht- oder Missverstehen der Belehrung nicht entsprechend gedeutet wird. Wird erkannt, dass der Beschuldigte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, verbietet es das Recht auf ein faires Verfahren, den Vgl. auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 110. So Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1232. 717 Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1233. 718 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 110; Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 126. 719 Vgl. hierzu KK-Boujong, StPO (2003), § 136 Rdn. 26 ff. m. w. N. 720 Vgl. KK-Boujong, StPO (2003), § 136 Rdn. 14 [Klammersetzung im Original]. 721 So auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 110. 715 716

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Betroffenen zum unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen. Der Betroffene muss in die Lage versetzt werden, die wesentlichen Verfahrensvorgänge zu verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können. Art. 5 Abs. 2 EMRK bestimmt, dass jeder Festgenommene in möglichst kurzer Frist und in einer ihm verständlichen Sprache über die Gründe seiner Festnahme und über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zu unterrichten ist. Daher sind ihm schon nach der Festnahme – und im Sinne des Art.6 Abs. 3 lit. a EMRK vor der Hauptverhandlung – Verständigungshilfen zu gewähren. Es ist von Amts wegen unverzichtbar, einen Dolmetscher hinzuzuziehen 722. Dessen Bereitstellung wird immer Zeit kosten, auch wenn sie unverzüglich zu erfolgen hat. Dies verkürzt die erforderliche Zeit und Gelegenheit im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK zur effektiven Verteidigung. Werden die Belehrung und die Beschuldigungen vom Verdächtigten verstanden und entscheidet sich der Ausländer für die Konsultation eines Rechtsbeistands, gestaltet sich die Kontaktaufnahme für diesen nicht selten schwieriger und zeitaufwendiger als für andere Betroffene 723. Allein mangelhafte Ortskunde reisender Ausländer sowie Sprachhemmnisse können Barrieren darstellen. Zwischen dem Fehlen sozialer Handlungskompetenz und dem Mangel anwaltschaftlicher Vertretung sind ebenso Zusammenhänge erkennbar 724. Der sozial Schwache hat hinsichtlich der Wahl und Inanspruchnahme des Verteidigers oft größere psychische und soziale Hürden zu überwinden. Die Zeit, die die Suche eines geeigneten Rechtsbeistandes in Anspruch nimmt, wird also bei Ausländern und Wohnsitzlosen den zeitlichen Rahmen im Sinne des § 127 b Abs. 2 StPO nicht selten derart verkürzen, dass eine „möglichst wirksame“ Verteidigung im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. b, c EMRK nicht mehr gewährleistet ist. Gerade aufgrund der im Ergebnis vergleichbaren Schwierigkeiten einer Verteidigerkonsultation für Wohnsitzlose, ist nicht die von Schlüchter/Fülber/Putzke erwogene eingeschränkte Erweiterung der Pflichtverteidigerregelungen auf Ausländer 725 in Erwägung zu ziehen. Allenfalls kommt die etwa vom Arbeitskreis AE vorgeschlagene „notwendige Verteidigung bei Haft“ in Betracht 726. Von Meertens wird speziell zu § 127 b StPO die obligatorische Beiordnung eines Pflichtverteidi722 Vgl. BVerfGE 64, 135, 145 ff. („fremdsprachiger Beschuldigter“), und aus der Lit. Tettinger, Fairneß (1984), S. 58 f. 723 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (2001), Rdn. 34 ff. Zu den (im Einzelnen umstrittenen) Pflichten der Verfolgungsbehörden bei der Verteidigerkonsultation vgl. Beulke, NStZ 1996, 257, 258 ff. 724 Nach Jung, JuS 1998, 1136, 1137, dürften Giehrings Thesen, Giehring, in: Hassemer/ Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts (1978), S.181, 198 f., von der mangelnden Handlungskompetenz vieler Beschuldigter nach wie vor Gültigkeit besitzen; siehe auch Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1235. 725 Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 126. 726 Vgl. den Vorschlag des Arbeitskreis AE (2001), S. 47 ff., wonach gem. § 115 b AE-EV dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, bei Erlass des Haftbefehls gem. § 128 Abs. 2 StPO oder der Aufrechterhaltung gem. §115 Abs. 4 StPO für die Dauer der Haft ein Verteidiger zu bestellen ist.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

gers 727 gefordert. Schließlich kommen mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK weitere Flankierungen in Frage: Im Hinblick auf die Ankündigung, § 127 b StPO insbesondere auf Wohnsitzlose anwenden zu wollen, auf die ärmste Bevölkerungsschicht also, sind die Vorschläge von Spaniol beachtenswert. Sie will allgemein dem mittellosen Beschuldigten grundsätzlich einen Anspruch einräumen, wonach er in der Auswahl der Person des Verteidigers ein Mitbestimmungsrecht hat 728. Die konkrete Unterstützung des Mittellosen bei der Verteidigerkonsultation durch das Gericht stünde im Sinne des Rechts auf eine „möglichst effektive Verteidigung“. Die Verteidigung durch einen vom Beschuldigten ausgewählten Rechtsbeistand, hat eventuell größere Erfolgsaussichten als eine „vorgesetzte“ Pflichtverteidigung. Das notwendige Vertrauen zwischen Mandant und Rechtsbeistand stellt sich leichter ein, wenn der Beschuldigte seinen Verteidiger wählt 729. Vertrauen macht die Verteidigung effektiver. Derartige Ausweitungen der Pflichtverteidigerregelungen müssen der Effektivierung der Strafrechtspflege nicht in jedem Falle entgegenstehen 730. Werden Verteidigungsinteressen weitläufig beachtet, kann dies von Fall zu Fall Fehlurteile und Rechtsmittel verhindern helfen. § 418 Abs. 4 StPO vermag die Problematik einer „möglichst effektiven“ Verteidigung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK praktisch kaum zu entschärfen. Die Norm ist zur Stützung des kontradiktorischen Ansatzes im Rahmen des § 127 b StPO nur äußerst wenig hilfreich. Danach ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, für das beschleunigte Verfahren vor dem Amtsgericht erst dann ein Verteidiger zu bestellen, sofern eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten ist 731. Das heißt mit Blick auf die Geeignetheit der Sache gemäß §417 StPO: Es kann kaum einen Fall der Verteidigerbestellung aufgrund § 418 Abs. 4 StPO geben. Stehen Taten gemäß § 418 Abs. 4 StPO zur Aburteilung, ist in der Regel eine genauere 727 Meertens, Grundrechte-Report 1997 (1997), S. 200, 203. Obligatorische Pflichtverteidigung wird für die Untersuchungshaft etwa gefordert von Deckers, in: FG-Ludwig Koch (1989), S. 151, 158, und Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007 (1991), S.46. Nach Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand (1990), S.345, verlangt eine „Effektuierung des Rechtes auf persönliche Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, dass dem Beschuldigten jedenfalls dann ein Verteidiger beigeordnet wird, wenn eine Freiheitsstrafe droht.“ 728 Vgl. Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand (1990), S. 345 f. 729 Vgl. i. d. S. Bernsmann, StraFo 1999, 226, 229. Nach Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand (1990), S.346, kann die Auswahl des Pflichtverteidigers durch das entscheidende Gericht Zweifel an der Objektivität des Auswahlverfahrens aufkommen lassen, was sich negativ auf das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsbeistand auswirken könnte. Siehe zur Bedeutung und Wirkung von „Vertrauen“ in der Beziehung zwischen Mandant und Verteidiger auch Lüderssen, in: Mandant und Verteidiger (2000), S.41, 43: „Die freie Wahl – sagt man – ist die Voraussetzung für das Vertrauen“. 730 Im Hinblick auf den Effektivitätsansatz des beschleunigten Verfahrens äußern sich Loos/ Radtke, NStZ 1996, 7, 10, zur Pflichtverteidigerbestellung generell eher skeptisch; vgl. i. d. S. auch Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81, 91, zur Pflichtverteidigerbestellung im Strafbefehlsverfahren. 731 Die Regelung ist also enger als § 407 Abs. 2 S. 2 i.V. m. § 408 b StPO, wonach jede Verhängung einer Freiheitsstrafe im Strafbefehlsverfahren eine Verteidigerbestellung verlangt.

2. Abschn.: Prüfung der Grundrechte und Menschenrechte

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Erforschung der Beschuldigtenpersönlichkeit notwendig als dies im beschleunigten Verfahren möglich ist 732. Die Anordnung notwendiger Verteidigung wird sich also auch im beschleunigten Verfahren faktisch nur nach § 140 StPO richten 733. Auch mit einer Erweiterung der Regelungen zur Pflichtverteidigung de lege ferenda auf alle Fälle des § 127 b StPO lässt sich der Gedanke einer weitestgehenden Einschränkung der Partizipationsmöglichkeiten des Beschuldigten nicht verdrängen. Eine Crux ist zunächst, dass die Verteidigerbestellung beispielsweise an Wochenenden nicht selten beschwerlich ist. Es ist verbreitete Realität, dass ein Anwaltnotdienst nicht vorhanden ist 734. Es wird also schon von daher zumeist längere Zeit dauern, bis ein Verteidiger bereitsteht. Betrachtet man das Ermittlungsverfahren als „den eigentlichen Höhepunkt des Verfahrens“ 735, da hier die Weichen für den weiteren Verlauf gestellt werden, ist in der Praxis ein frühes Einschreiten jedoch geboten. Das Ermittlungsverfahren hat, wie Chr. Richter II mit guten Gründen hervorhebt, „prägende Kraft“ 736. Erscheint der Verteidiger erst spät auf der Bildfläche, wird er sich kaum mehr gegen die Geeignetheit im Sinne des § 417 StPO zur Wehr setzen können. Tritt er erst in der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren auf, ist dies für eine wirksame Verteidigung zu spät. Das Verfahren hat eine wesentliche Prägung schon ohne Verteidiger erfahren müssen. Die Schwierigkeit einer direkten Verteidigerbestellung geht in der Situation der Haft ganz besonders zu Lasten einer „möglichst wirksamen“ Verteidigung des Beschuldigten. Hier spricht der Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. b, c EMRK besonders dafür, dass die Verteidigerbestellung schnell geschehen muss 737. Nur dann hat der Verteidiger die Chance, effektiv wirken und das Verfahren prägen zu können. Vgl. an dieser Stelle Ambos, Jura 1998, 281, 292; Loos/Radtke, NStZ 1996, 7, 9 f. Zum Meinungsstand in der Frage, ob die §§ 141 ff. StPO auch für die Verteidigerbestellung im beschleunigten Verfahren (aufgrund § 418 Abs. 4 StPO) anwendbar sind, vgl. im Einzelnen Schröer, Das beschleunigte Strafverfahren (1998), S. 133 ff. Schröer, a. a. O. S. 140 m. w. N., ist mangels Verweis in den §§ 417 ff. StPO gegen eine Anwendung. Für eine Anwendung sind Loos/Radtke, NStZ 1996, 7, 10, da im beschleunigten Verfahren an das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und notwendigem Verteidiger keine geringeren Anforderungen gestellt werden dürften als im Regelverfahren; der Grundsatz des fairen Verfahrens fordere ein Mitspracherecht des Beschuldigten. 734 Vgl. Deckers, NJW 1991, 1151, 1154, und aus neuerer Zeit Arbeitskreis AE (2001), S.52. 735 Vgl. Jung, JuS 1998, 1136, 1137 m. w. N. auf Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007 (1991), S. 35. Siehe auch Egon Müller, NJW 1981, 1801, 1806, mit Verweis auf die empirische Strafprozesslehre. Vgl. auch Schünemann, in: FS-Pfeiffer (1988), S. 461, 482 f., wonach die Hauptverhandlung nicht mehr „das eigentliche Entscheidungszentrum des Strafverfahrens“ ist, sondern „meistens nur noch auf die aufwendig reduzierte Absegnung der bereits im Ermittlungsverfahren erzielten Ergebnisse hinausläuft“. 736 Vgl. Chr. Richter II, NJW 1981, 1820, 1821 m. z. w. N. [Hervorhebung im Original]. 737 I. d. S. hält es auch Beulke, in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Strafrechtsstrukturen (2000), S. 137, 150, zumindest im Falle des Vollzugs von Untersuchungshaft für opportun, sofort einen 732 733

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

Ist schließlich ein Verteidiger sehr früh verfügbar, werden sein Akteneinsichtsrecht gemäß § 147 StPO, seine Einarbeitungszeit und nicht zuletzt die Berücksichtigung von Terminschwierigkeiten zwar nicht abstrakt-generell gegen die Effektivität des Verfahrens und damit gegen die Intention des § 127 b StPO sprechen, das Verfahren zu effektivieren. Mit dem Hinweis, dass der Verteidiger als Garant für die Justizförmigkeit des Strafverfahrens bezeichnet wird 738, lässt sich jedoch keine Pflicht des Verteidigers zur Effektivierung des Verfahrens festschreiben. Der Verteidiger hat vorrangig die Verteidigung zu führen 739; er kann nicht parallel in der Pflicht stehen, einen möglichst reibungslosen Ablauf des Verfahrens 740 und die Einhaltung der Frist des § 127 b Abs. 2 StPO zu gewährleisten. Es muss deutlich bleiben, dass Verteidigung im Sinne der Interessen des Beschuldigten erfolgt. Das nimmt Zeit in Anspruch. Diese ist mit der Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO sehr knapp bemessen. In aller Regel wird sie zu knapp bemessen sein, wenn man bedenkt, dass wenige Tage Vorbereitungszeit allein für die Fälle des beschleunigten Verfahrens als kaum ausreichend angesehen werden 741 und sich der Verteidiger im Falle des § 127 b StPO zudem mit der Haftsituation des Mandanten auseinandersetzen muss 742. Pflichtverteidiger zu bestellen. Schöch, Einfluß der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft (1997), S. 1 ff., berichtet über ein Projekt der hessischen Landesregierung zur „Entschädigung von Anwälten für die Rechtsberatung von Untersuchungsgefangenen“ (01.10.1991 bis 30.09.1994); hiernach verbessert eine sofortige Verteidigerbestellung die Chancengleichheit zwischen Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigten deutlich. Die Ergebnisse der Studie sind auch zusammengefasst in Schöch, StV 1997, 323, 323 ff. Für eine Ausweitung der Verteidigung u. a. in zeitlicher Hinsicht ist auch Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1240. 738 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 111 m. w. N. auf BGHSt 38, 111, 114 f. („Verteidigungsbeschränkung durch Beschränkung des Beweisantragsrechts des Angeklagten“); Roxin, in: FS-Hanack (1999), S. 1, 11. 739 Vgl. in diesem Zusammenhang die Warnungen von Jung, JuS 1990, 509, 516, und auch von Herzog, StV 2000, 444, 445, zur fortlaufenden StPO-Novellengesetzgebung. Die Frage nach den Befugnissen und der Rechtsstellung des Verteidigers ist seit Jahrzehnten Gegenstand lebhafter Diskussionen; siehe hierzu etwa Augstein, NStZ 1981, 52, 52 ff., sowie Ingo Müller, StV 1981, 90, 95 ff., insbesondere zum Tatbestand der Strafvereitelung im Hinblick auf die Grenzen zulässiger Verteidigung. Siehe aus jüngerer Zeit auch Wohlers, StV 2001, 420, 420 m. w. N. 740 Den Strafverteidiger trifft, wie Bernsmann, StraFo 1999, 226, 227, 229 f., zu Recht herausstellt, keine Garantenpflicht für den geordneten Verfahrensablauf und das staatliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege. Zu offenbar anderer Ansicht vgl. ter Veen, StV 1997, 374, 383, wonach die „Notwendigkeit (...) nicht länger abweisbar sei“, dass Interessengruppen und Politik „Änderungen des anwaltlichen Standesrechts“ und eine „Veränderung der Streitkultur“ im Sinne eines „systemkonformen Verhaltens der Verteidigung“ erörtern. 741 Vgl. Ambos, Jura 1998, 281, 293. 742 Soweit ein Pflichtverteidiger in umfangreicheren Verfahren bestellt werden muss, sieht die Europäische Menschenrechtskommission, E 7909/77, eine Vorbereitungszeit von 10 Werktagen noch als mit Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK vereinbar an. Siehe zu diesem und weiteren Fällen Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rdn. 180. Vgl. auch die Fälle Goddi ./. Schweiz, EGMR, Serie A, vol. 76, Ziff. 30 = EuGRZ 1985, 234, 234 ff., Urt. v. 12.07.1984 („An-

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Davon abgesehen, bleibt auch mit der Erweiterung der Regelungen zur Pflichtverteidigung de lege ferenda die Problematik der rechtzeitigen Kenntnisnahme von den Verdacht begründenden Vorwürfen bestehen. Wer direkt aus der Hauptverhandlungshaft vorgeführt wird, erfährt möglicherweise erst mit Beginn der Hauptverhandlung von der dann gemäß § 419 Abs. 3 2. HS StPO (mündlich) vorgetragenen Anklage. Auch dem Verteidiger gelangen die Vorwürfe möglicherweise erst dann zur Kenntnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte leitet zwar aus Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK das Recht des Angeklagten ab, nicht nur über den Sachverhalt, der ihm vorgeworfen wird, unterrichtet zu werden. Die Informationspflicht schließt die rechtliche Bewertung des Sachverhalts ein. Die derart genaue und vollständige Unterrichtung ist eine wesentliche Voraussetzung für ein faires Verfahren 743. Mag die Unterrichtung jedoch noch so umfassend sein, so ändert dies nichts daran, dass sich der Beschuldigte im Vorfeld der Verhandlung kaum gezielt darauf vorbereiten kann. Wird er aus der Haft vorgeführt, entfällt die Ladung zur Hauptverhandlung. Die von Fülber für den Fall der Hauptverhandlungshaft vorgesehene Ladungsfrist de lege ferenda von 48 Stunden 744 erscheint zu kurz, um eine Verteidigungsstrategie ausarbeiten zu können. Im Hinblick auf eine rechtzeitige Information bedürfte es gerade bei der Einschaltung eines Verteidigers frühzeitigerer Ladungen vor der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren. Der Verdächtigte und sein Rechtsbeistand müssen sich gemeinsam auf die Anklage einstellen. Zeitprobleme zeigen sich grundsätzlich bei jeder Verteidigerbestellung, sei es nun bei wahlweiser Konsultierung, der Regelung einer obligatorischen Pflichtverteidigerbestellung in allen Fällen des § 127 b StPO oder gemäß § 140 StPO. Betrachtet man nur das bestehende Recht zur Pflichtverteidigerbestellung, wachsen die Zweifel an der Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Muss der Richter auf § 140 StPO zurückgreifen, um ein erforderliches Maß an Partizipation des Beschuldigten zu gewährleisten, bedarf dies unbedingt einer Begründung. Es muss zuerst eruiert werden, ob der Beschuldigte in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen 745. Das verbraucht ohne Zweifel Zeitressourcen. Es kann also nur eine ernüchternde Bilanz der Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens gezogen werden. Wer angesichts solcher Schwierigkeiten des Beschuldigten, sein Verteidigungsrecht „möglichst wirkungsvoll“ auszuüben, noch die Verfassungsmäßigkeit – und mit Blick auf Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK die Menschenrechtskonformität – des § 127 b StPO bejaht, kann dies nur spruch des Untersuchungshäftlings auf unüberwachte Verteidigergespräche“), und Twalib ./. Griechenland, EGMR, ÖJZ 1999, 390, 390 f., Urt. v. 12.06.1998 („angemessene Zeit zur Verteidigung“). 743 Vgl. wieder Pélissier und Sassi ./. Frankreich, EGMR, NJW 1999, 3545, 3545 ff., Urt. v. 25.03.1999 („gerichtliche Hinweispflicht“). 744 Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 111 f. 745 Vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO (2003), § 140 Rdn. 30 ff.

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3. Kap.: Analyse der Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO

um den Preis einer ganz engen Begrenzung des Anwendungsbereichs auf wirklich einfache Sachverhalte tun. Nur wenn es objektiv und subjektiv praktisch keiner Verteidigung des Beschuldigten bedarf, ist sein Recht, sich zu verteidigen, nicht unzumutbar betroffen. Das kann der Fall sein, wenn die Sachlage ganz evident einfach oder die Beweislage ganz evident klar ist. Zudem muss sich der Beschuldigte glaubhaft dahingehend äußern, dass er zwar der Beteiligte einer Straftat ist, sich jedoch nicht verteidigen will 746. Bei der Beurteilung des Falles kommt es entscheidend auch darauf an, wie der Verdächtige subjektiv mit dem Druck fertig wird, wahrscheinlich innerhalb einer Woche verurteilt zu werden. Da Fälle vorstellbar sind, in denen eine Verteidigung nicht gewollt ist, ist § 127 b StPO abstrakt-generell mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Sobald der Beschuldigte jedoch Veranlassung sieht, den Tatvorwurf oder die Haftvoraussetzungen zu entkräften, schränken ihn die Inhaftnahme und die Beschleunigung des Verfahrens in einer „möglichst effektiven“ Verteidigung zu weitgehend ein. Gleiches gilt, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Betroffene seine Verteidigungslage objektiv nicht hinreichend beurteilen kann. Das ist aufgrund möglicher Sprachbarrieren gerade in Fällen mit Ausländerbeteiligung anzunehmen.

746 Dabei ist freilich zu beachten, dass der Verzicht des Angeklagten auf eine persönliche Verteidigung keinen Verzicht auf ein faires Verfahren beinhaltet; vgl. hierzu den Fall van Geyseghem ./. Belgien, EGMR, EuGRZ 1999, 9, 9 ff., Urt. v. 21.01.1999 („Verteidigung durch den anwesenden Anwalt“), wo eine Verletzung von Art.6 Abs.1 und Abs.3 lit.c EMRK bejaht wurde, da der Angeklagten aufgrund ihrer unentschuldigten Abwesenheit in der Hauptverhandlung auch die Verteidigung durch einen anwesenden Rechtsanwalt verweigert wurde; siehe in diesem Zusammenhang auch schon Poitrimol ./. Frankreich, EGMR, ÖJZ 1994, 476, 476 ff., Urt. v. 28.11.1993 („Verwirkung von Verteidigungsrechten“).

Schluss

Zusammenfassung – mit Ausblick 1. Abschnitt

Konkrete Ergebnisse A. Zur Systematik des § 127 b StPO Die Grundstruktur des § 127 b StPO als Haftregelung weist Ähnlichkeiten mit den §§ 112, 112 a StPO auf: Es werden jeweils ein Haftgrund und dringender Tatverdacht verlangt. Dennoch ist dem Gesetzgeber eine wenig durchdachte Konzeption zu attestieren. Die Systematik des § 127 b StPO lässt insgesamt jedwede Einfachheit und Übersichtlichkeit vermissen. Der Haftgrund der Hauptverhandlungshaft ergibt sich aus § 127 b Abs. 2 S. 1 i.V. m. Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO. Er setzt sich aus der Bindung an das beschleunigte Verfahren (Abs. 1 Nr. 1) und der „Befürchtung aufgrund bestimmter Tatsachen, dass der Festgenommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird“ (Abs. 1 Nr. 2), zusammen. Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 müssen kumulativ vorliegen. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO wird durch Abs. 2 S. 1 2. HS einerseits subjektiviert und andererseits konkretisiert. Die Erwartung im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO subjektiviert die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren nach Abs. 1 Nr. 1. Die zeitliche Begrenzung der Erwartung einer Hauptverhandlung „binnen einer Woche nach der Festnahme“ gemäß Abs. 2 S. 1 2. HS konkretisiert die Voraussetzung „unverzüglich“ in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO. Der Erlass eines Haftbefehls gemäß § 127 b StPO kann separat vom bisherigen Haftrecht erfolgen. Das heißt, die Voraussetzungen eines Haftgrundes gemäß §§ 112, 112 a StPO müssen für die Erteilung des Haftbefehls aufgrund § 127 b StPO nicht vorliegen. Sind beiderseits die Voraussetzungen für die Erteilung eines Haftbefehls gegeben, ist weder „Spezialität“ noch „Subsidiarität“ des § 127 b StPO gegenüber den §§ 112, 112 a StPO anzuerkennen. Die Verbindung des § 127 b StPO zum beschleunigten Verfahren führt ebenso wenig zu einem Ausschluss der §§ 112, 112 a StPO wie Effektivitätserwägungen des Gesetzgebers. Das heißt, wenn das beschleunigte Verfahren zu sichern ist, die Voraussetzungen des § 127 b StPO und auch die Voraussetzungen der §§ 112, 112 a StPO vorliegen, kann ein Haftbefehl grundsätzlich auf § 127 b StPO oder auf §§ 112, 112 a StPO gestützt werden.

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Schluss

Die Wahrscheinlichkeit einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO begründet ein verschachteltes Verhältnis zu den §§ 417 ff. StPO. Hier liegen wesentliche systematische Schwächen der Regelung. Konflikte durch inhaltliche Überlappungen zeigen sich insbesondere bei der Beurteilung der Geeignetheit der Sache im Sinne des § 417 StPO und der Würdigung des dringenden Tatverdachts gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO. Dass bei einem schwierigen Sachverhalt eine klare Beweislage vorliegt, die keine über den dringenden Tatverdacht hinausgehende Strafbarkeitswahrscheinlichkeit erlaubt, ist eher unwahrscheinlich. Die Geeignetheit im Sinne des § 417 StPO erfordert „genügend sichere“ Beweismittel, die eine Strafbarkeit des Beschuldigten „überzeugend darlegen“. Das ist ein „Mehr“ gegenüber der sich „aufdrängenden“ Strafbarkeit im Sinne der Prognose zum dringenden Tatverdacht. Nach der gesetzgeberischen Konzeption des § 127 b StPO soll die Hauptverhandlungshaft gemäß Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 im Wesentlichen gegenüber einem gemäß Abs. 1 vorläufig Festgenommenen verhängt werden. § 127 b Abs. 1 StPO bildet als „Doppeltatbestand“ gleichzeitig eine Haftgrundkomponente und dient als Festnahmeermächtigung. Ein Haftbefehl aufgrund § 127 b StPO kann jedoch sowohl gegenüber einem aufgrund § 127 StPO Festgenommenen als auch einer in Freiheit befindlichen Person verhängt werden. § 127 b Abs. 1 StPO steht als Festnahmeermächtigung entsprechend losgelöst von der Hauptverhandlungshaft. Nur die Haftregelung des Abs. 2 verweist auf Abs. 1. Das heißt, weder dringender Tatverdacht im Sinne des Abs. 2 S. 1 1. HS noch die Verhältnismäßigkeit des Hauptverhandlungshaftbefehls sind Voraussetzungen der Festnahme. § 127 b Abs. 1 StPO soll unter anderem die Durchführung des beschleunigten Verfahrens sichern. Die Selbständigkeit des Festnahmerechts entspricht diesem Zweck. Das Festnahmerecht muss zur Zweckerreichung nicht den Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls sichern. Abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken im Einzelfall, kann die Hauptverhandlung grundsätzlich im Sinne des § 418 Abs. 1 1. Alt. StPO sofort nach der Festnahme gemäß § 127 b Abs. 1 StPO durchgeführt werden. Der Sicherung eines Haftbefehls bedarf es dann nicht. Das Festnahmerecht nach § 127 b Abs. 1 StPO gilt auch – sowohl in seinem Anwendungsbereich als auch in seinen materiellen Voraussetzungen – unabhängig von den Festnahmerechten des § 127 StPO.

B. Zu den Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 StPO I. Dringender Tatverdacht gemäß Abs. 2 S. 1 1. HS Im Rahmen der Hauptverhandlungshaft ist dringender Tatverdacht gemäß § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO eine besonders schwer bestimmbare Voraussetzung. Die Vo-

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

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raussetzung soll zwar in der Geschichte der StPO seit jeher eine hohe Schranke zur Inhaftnahme des Beschuldigten darstellen. Insbesondere aufgrund der Einbindung in das beschleunigte Verfahren ist ihre überprüfbare Wirkung jedoch schwach. Insbesondere die Tatsachen, auf denen die Strafbarkeitsprognose aufbaut, bestimmen sich wesentlich nach § 417 StPO. Da sich die Geeignetheit der Sache im Sinne des § 417 StPO über einen „einfachen Sachverhalt“ oder eine „klare Beweislage“ eher nach tatsächlichen Gegebenheiten richtet, ist die Voraussetzung „dringender Tatverdacht“ allenfalls für eine Nichtanwendbarkeit des § 127 b StPO wegen rechtlicher Zweifelsfragen an der Strafbarkeit des Beschuldigten bedeutsam. „Rechtliche“ Zweifel lassen die Klarheit der Beweislage im Sinne des § 417 StPO bestehen, soweit sie sich nicht unmittelbar auf die zweifelhafte Gewinnung oder Verwertbarkeit eines Beweises beziehen. Im Wirkungsfeld des § 127 b Abs. 2 S. 1 1. HS StPO muss sich die Strafbarkeit wie im Rahmen der §§ 112, 112 a StPO „aufdrängen“. Begründen lässt sich dies mit dem Wortlaut der Regelung und dem Bedürfnis nach Schutz der persönlichen Freiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG. Für § 127 b StPO ist gesondert herauszustellen, dass die Bewertung des dringenden Tatverdachts nicht unmittelbar von der Schwere der Tat oder Schuld abhängt. Bei einem Tatvorwurf mit einer Straferwartung von bis zu einem Jahr im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO ist dringender Tatverdacht nicht leichter zu bejahen als bei schwerer Kriminalität. Die Erwartung, das Verfahren werde die notwendigen Verdachtsgründe schon noch hervorbringen, begründet keinen dringenden Verdacht. Die vom Gesetzgeber mit dem Ausdruck „dringend“ vorgenommene Wertung erträgt keine spekulativen Relativierungen zu Lasten des Beschuldigten – und zwar in keinem Zeitpunkt des Verfahrens.

II. Die gemäß Abs. 1 Nr. 1 wahrscheinliche und unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren Die Wahrscheinlichkeitsprognose im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO bezieht sich weder auf eine Entscheidung im Sinne einer Verurteilung im beschleunigten Verfahren noch hat sie relativierende Auswirkung auf die Voraussetzungen der §§ 417 ff. StPO. Der Begriff „wahrscheinlich“ besagt im Rahmen des § 127 b StPO als Haftregelung auch nicht, dass objektiv etwas mehr für die Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens als für andere Erledigungsmöglichkeiten sprechen muss. Die Prognose ist vielmehr über die „Erwartung“ der Hauptverhandlung im Sinne des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS i.V. m. Abs. 1 Nr. 1 StPO subjektiviert. Im Hinblick auf die Erwartung einer „unverzüglichen“ Entscheidung nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO wird Abs. 1 Nr. 1 durch Abs. 2 S. 1 2. HS StPO konkretisiert. „Unverzüglich“ in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO heißt demnach, „binnen einer Woche nach der Festnahme“. Aufgrund der Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte des Be-

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Schluss

schuldigten aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG ist die Wochenfrist möglichst eng zu berechnen. Sie kann an jedem Wochentag enden. Der fristauslösende Tag – der Tag der Festnahme – wird in die Fristberechnung einbezogen, um die Belastung des Beschuldigten möglichst gering zu halten. Dafür spricht auch der Wortlaut des § 127 b Abs. 2 S. 1 2. HS StPO. Die Hauptverhandlung muss demgemäß binnen einer Woche „nach der Festnahme“ erfolgen und nicht binnen einer Woche „nach dem Tag der Festnahme“. Da § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO den Bezug zum beschleunigten Verfahren herstellt, sind die Voraussetzungen und Begrenzungen im Sinne der §§ 417 ff. StPO zu beachten. Aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind insbesondere die Einstellungsmöglichkeiten gemäß §§ 153, 153 a, 153 b StPO, die Anwendbarkeit des Strafbefehlsverfahrens gemäß §§ 407 ff. StPO und des Täter-Opfer-Ausgleichs gemäß § 46 a StGB als grundrechtsschonendere und effektivere Maßnahmen vorzuziehen. § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO impliziert des Weiteren die Prüfung, inwiefern Haftplätze, ein zuständiger Richter, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger und Sitzungssäle rechtzeitig zur Verfügung stehen. In der Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 StPO müssen eventuell Gutachten zur Bestimmung des Blutalkohols eingeholt, Vorstrafakten beigezogen, Dolmetscher zugezogen oder Zeugen geladen werden. Daneben ist an die kurzfristige Bereitschaft von Geschäftsstellenpersonal, Protokollführern und Wachtmeistern als Vorführdienst zu denken. Erst dann kann § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO bejaht werden.

III. Die Befürchtung aufgrund bestimmter Tatsachen, dass der Festgenommene gemäß Abs. 1 Nr. 2 der Hauptverhandlung fernbleiben wird „Fernbleiben“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO ist bereits bei schlichtem Ungehorsam gegenüber einer Ladung gegeben – bei bloßem Nichtstun also. Darüber hinaus erfasst die Regelung die Fälle der Flucht, der Fluchtgefahr und des Sichverborgen-haltens im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StPO. Die Auslegung des Begriffs „befürchten“ durch die Literatur ist nicht zufriedenstellend. Zwar wird auf verschiedene Möglichkeiten der Interpretation dergestalt hingewiesen, dass „befürchten“ „gleiche“, „geringere“ oder auch „wesentlich geringere“ Hürden gegen eine positive Wahrscheinlichkeitsprognose stellt als „Gefahr“ im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Es wird jedoch nicht ausreichend deutlich, dass der Terminus nicht lediglich Einfluss auf die Bestimmung einer Wahrscheinlichkeit für einen Schadenseintritt hat. Die Befürchtungsprognose hat vielmehr im Ansatz eine andere Qualität als die Gefahrprognose. „Befürchten“ ist, anders als „Gefahr“, einer „Vermutung“ angenähert und erlaubt damit eher subjektiv-spekulative als objektiv-überprüfbare Entscheidungen. Der Wortsinn steht sinnverwandt zu „argwöhnen“, „Bedenken haben“, „Besorgnis hegen“, „Vorgefühl“, „innere Stim-

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

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me“, „sechster Sinn“ und „Vorahnung“. Historisch betrachtet, steht „befürchten“ für eine „ausdrückliche Richtungsentscheidung – hin zur Subjektivität im Haftrecht“. Der Begriff wurde 1969 aus dem Haftrecht gestrichen, da er nach Ansicht des damaligen Gesetzgebers zu viele subjektive Elemente enthielt. Fernbleiben ist zu „befürchten“, wenn es aufgrund bestimmter Tatsachen nahe liegen kann, dass der Beschuldigte zur Hauptverhandlung nicht erscheint. Es muss nicht nahe liegen wie bei der Gefahrprognose. Unabhängig von einer justizpolitischen und verfassungsrechtlichen Wünschbarkeit beruht die Subjektivität auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. §127 b StPO soll sich als eine eigenständige Haftregelung vom bisherigen Regelungssystem abgrenzen: Fernbleiben in Abs. 1 Nr. 1 ist ein Weniger gegenüber der von § 112 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StPO geforderten „Flucht“, dem „Verborgenhalten“ und dem „Sich-entziehen“; „befürchten“ ist gegenüber „Gefahr“ eine wesentlich niedrigere Hürde gegen die Inhaftnahme des Beschuldigten. Das entspricht dem Effektivitätsansatz. Die Strafverfolgungsorgane können erst dann vermehrt auf das beschleunigte Verfahren zugreifen, wenn die limitierende Funktion des Gefahrbegriffes weitgehend gelockert ist. Die Gefahr, Fehleinschätzungen, die Amtshaftungsansprüche begründen können, nachzuweisen, ist aufgrund der Subjektivität der Entscheidung größtenteils gebannt. Eine Gleichsetzung von „Gefahr“ und „Befürchtung“ würde die Möglichkeiten der Inhaftnahme gegenüber dem bisherigem Untersuchungshaftrecht schwerlich erweitern. „Bestimmte Tatsachen“ gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO sind die Grundlage der Fernbleibeprognose. Sie verlangen den gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad wie bestimmte Tatsachen gemäß § 112 Abs. 2 StPO. Das heißt, sie müssen sich „aufdrängen“. Objektive „Feststellungen“ können erst am Ende der Hauptverhandlung getroffen werden. Konkret gelten als „bestimmte Tatsachen“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO „unmittelbare Fernbleibevorbereitungen“, die etwa durch Äußerungen des Beschuldigten, in einer Hauptverhandlung nicht anwesend sein zu wollen, zu Tage treten. Unabhängig von der Frage, die Straferwartung grundsätzlich als Element der Haftgrundprognose zuzulassen, ist sie jedenfalls im Rahmen des §127 b StPO kein beachtenswertes Kriterium. Der Strafrahmen im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO setzt dem von vornherein eine Grenze. Insgesamt darf erst das Ineinandergreifen mitunter gegenläufiger Erwägungen unter Berücksichtigung der Gesamtumstände befürchten lassen, dass der Beschuldigte in einer Hauptverhandlung nicht anwesend sein wird: Bestimmte Tatsachen beschreiben nie mehr als nur abwägungsrelevante Belange. Die Ausländereigenschaft einer Person spricht nicht unmittelbar für ihr Fernbleiben in der Verhandlung. Auf „allgemeine Erfahrungssätze und typische Fallkonstellationen“, nach denen Ausländer oft nicht in der Hauptverhandlung erscheinen, kann nicht zurückgegriffen werden. Zur Begründung des Fernbleibens sind nur „verfahrensbezogene“ Kriterien beachtlich. Häufige Wohnsitz- oder Arbeitsplatzwechsel des Beschuldigten sind in der Regel außer Betracht zu lassen. Derartige

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Schluss

Umstände sind zumindest dann unbeachtlich, wenn die Gründe hierfür nicht in der Person des Verdächtigen liegen oder mit dem Tatverdacht nicht unmittelbar zusammenhängen. Von fehlendem Wohnsitz oder Aufenthaltsort darf nicht unweigerlich auf mangelhafte familiäre Bindungen geschlossen werden. Allein von fehlenden familiären Bindungen darf genausowenig auf eine Neigung zur Mobilität und die damit zusammenhängende bewusste Inkaufnahme einer Verfahrensblockade geschlossen werden. Jedes frühere Fernbleiben von der Hauptverhandlung kann jedoch leicht mit den Ermittlungen gegen den Verdächtigen in Verbindung gebracht werden. Ein Hang zum Fernbleiben kann dann schnell befürchtet werden. Früheres Erscheinen allein, vermag früheres Ausbleiben kaum wettzumachen. Die besondere Notwendigkeit dieser Hervorhebungen ergibt sich aus den Gefahren, die der vorgesehene Anwendungszeitpunkt des § 127 b StPO im Verfahren birgt. Die Verfahrenssicherung ist auf die zeitliche Nähe nach der Festnahme konzipiert. In diesem Zeitpunkt bilden allein das bis zur Haftentscheidung ausgewiesene Ermittlungsergebnis und die naturgemäß relativ inhaltsarmen Ermittlungsakten die Basis der Entscheidung. Dies provoziert geradezu Entscheidungen auf nicht ausgereifter Grundlage. Der frühe Zeitpunkt kann leicht zum unzulässigen Vermuten, Lücke-lassen und schematischen Vorgehen verführen – zumal § 127 b StPO nach dem Willen des Gesetzesgebers die Strafverfolgungsorgane zur Beschleunigung anhalten soll. IV. Die formellen Voraussetzungen des Haftbefehls Das Verfahren zum Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls aufgrund § 127 b StPO stimmt wesentlich mit dem von Haftbefehlen gemäß §§ 112, 112 a StPO überein. Gleiches gilt für Form und Inhalt. Die Regelungen zur Vorführung und Vernehmung des Beschuldigten nach vorläufiger Festnahme gemäß §§ 128, 129 StPO und nach der Ergreifung durch Haftbefehl gemäß §§ 115, 115 a StPO, zur Bekanntgabe und Benachrichtigung gemäß §§ 114 a, 114 b StPO, zur Außer- und Wiederinvollzugsetzung gemäß § 116 StPO, zum Strafantrag, zur Ermächtigung und zum Strafverlangen gemäß § 130 StPO sowie zum Steckbrief gemäß § 131 StPO sind zumindest analog anwendbar. Auch die Regelung des § 114 StPO gilt entsprechend. Gegen den Hauptverhandlungshaftbefehl bestehen die gleichen Rechtsbehelfe wie gegen Haftbefehle gemäß §§ 112, 112 a StPO. Die „Personalunion“ der richterlichen Zuständigkeit gemäß § 127 b Abs. 3 StPO ist eine Eigenart der Hauptverhandlungshaft. Die Soll-Vorschrift kann jedoch leicht „ausgehebelt“ werden. Es hängt – letztlich sehr vage – von örtlichen Gegebenheiten ab, ob der Richter über den Erlass des Haftbefehls entscheidet, der für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zuständig ist. Gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO ist der Hauptverhandlungshaftbefehl entsprechend Abs. 2 S. 1 2. HS auf „höchstens eine Woche ab dem Tage der Festnahme zu befristen“.

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

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C. Die Festnahmevoraussetzungen Der Kreis der Festzunehmenden in § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO („Betroffene oder Verfolgte“) entspricht dem des §127 Abs. 2 StPO. „Frische Tat“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO ist nicht die „tatbestandliche, rechtswidrige und schuldhafte Tat“. Für die Voraussetzungen der Strafbarkeit außerhalb des sichtbaren, tatbestandlichen Geschehens einschließlich der Strafausschließungsgründe genügt der Verdacht. Aufgrund der Eigenständigkeit des § 127 b Abs. 1 StPO verlangt die Festnahme keine „Gefahr im Verzug“ entsprechend § 127 Abs. 2 StPO. Die jeweiligen Zwangsermächtigungen entsprechen sich „in der Sache“ nicht. Sie unterscheiden sich wesentlich gerade darin, dass der Gesetzgeber in § 127 b StPO auf die Voraussetzung „Gefahr im Verzug“ verzichtet hat. Die in § 127 Abs. 2 StPO zum Ausdruck kommende „Notkompetenz“ für die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes wollte der Gesetzgeber des § 127 b Abs. 1 StPO nicht begründen. Die Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft gemäß § 127 b Abs. 2 StPO sind keine Festnahmevoraussetzungen. Das Fehlen „dringenden Tatverdachts“ wird im Rahmen des Festnahmerechts über die Geeignetheit der Sache im Sinne des § 417 StPO wesentlich kompensiert. „Unverzüglich“ im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 StPO bedeutet „so bald wie möglich und ohne sachlich nicht begründete Verzögerung“. Die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß Abs. 1 Nr. 1 bezieht sich im Rahmen des Festnahmerechts auf die Entscheidungen unterschiedlicher Entscheidungsträger. Sie fällt für die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes positiv aus, wenn sie im Zeitpunkt der Festnahme objektiv davon ausgehen können, dass sich der Richter tatsächlich für eine Durchführung des beschleunigten Verfahrens entscheidet. Im Übrigen gelten § 127 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO für das Festnahmerecht wie im Rahmen der Hauptverhandlungshaft. Trotz aller Schwierigkeiten kann die Prüfung der organisatorischen Gegebenheiten bei Gericht für die Staatsanwaltschaft und die Polizeibeamten nicht ausgeklammert werden. Die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren muss „unverzüglich“ organisiert werden können, und dies muss absehbar sein. Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gilt der Vorbehalt des Gesetzes. Die formellen Voraussetzungen für eine Festnahme aufgrund § 127 Abs. 2 StPO gelten für die Festnahme nach § 127 b Abs. 1 StPO entsprechend.

D. Zur Rechtsstaatlichkeit des § 127 b StPO I. Anwesenheitssicherung und (ein Minimum an) Effektivität als verfassungsgemäße Legitimationsgründe Die Sicherung des Verfahrens durch die Sicherstellung der Anwesenheit des Beschuldigten ist ein zulässiger Ansatz zur Legitimation des § 127 b StPO. Die Anwesenheit muss jedoch als „Pflicht“ oder wenigstens „Obliegenheit“ des Verdächtigen

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Schluss

verstanden werden. Sie folgt weder direkt aus der „Gewährung“ eines Rechts aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG noch aus Art. 103 Abs. 1 GG. Wegen des im Vordergrund stehenden Zwangscharakters des § 127 b StPO legitimiert sie sich auch nicht isoliert aus einem sozialstaatlichen Fürsorgegedanken gemäß Art. 20 Abs. 3 GG oder dem Anspruch auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG. Der Stellenwert der Anwesenheitssicherung als Legitimationsgrund steht vielmehr derart in Verbindung zu dem Verfahrensziel „Wahrheitserforschung“, dass wahrheitswidrige Feststellungen seitens der Strafverfolgungsorgane von Anwesenden besser verhindert werden können als von Abwesenden. Damit dient der Legitimationsgrund einer möglichen aber disponiblen Ausübung von verfassungsrechtlich bereitgestellten Rechten zur Abwehr unzulässiger Eingriffe in Grund- und Menschenrechte des Beschuldigten. Der Stellenwert von Effektivität als Legitimationsansatz ist zwar vom Gesetzgeber deutlich hervorgehoben. Die Legitimation des § 127 b StPO ist jedoch viel schwächer als es die Gesetzesbegründung verspricht. Die Gewichtung des Prinzips der Funktionstüchtigkeit von Literatur und Rechtsprechung ist insoweit verfehlt, als aus dem Rechtsstaatsprinzip die Gleichheit von Allgemein- und Individualinteressen abgeleitet wird. Dies ist auf der Grundlage des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtkonvention abzulehnen. Allein die Formulierung der Gleichsetzung von Allgemein- mit Individualinteressen zur Legitimation des § 127 b StPO missachtet daher das grundgesetzlich vorgegebene Gefälle hin zum Individualschutz. Es besteht ein „Individualvorrang der Rechte des Einzelnen“. Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ist im Rechtsstaat weniger bedeutsam als die individuellen Interessen des Einzelnen. Die Abwehrfunktion der Grundund Menschenrechte und der sie begleitenden Prinzipien sind ausdrücklich „rechtsstaatsbildend“. Jung ist zuzustimmen: Beim „Grund- bzw. Menschenrecht auf Sicherheit“ handelt es sich um „kein dogmatisch begründetes Institut sondern eine Entwicklung und Ausdrucksform allgemeiner Lebensangst“ 1. Diese Feststellung ist für die Einstufung von Funktionstüchtigkeit als in der „Verfassung schwach verankerter Legitimationsansatz“ entscheidend. Funktionalität hat im Abwägungsprozess zwischen dem Interesse an Strafverfolgung und den Grund- und Menschenrechten des im Strafverfahren Betroffenen entsprechend geringes Gewicht. Die Literatur sieht die Legitimationsbasis für Effektivität überwiegend in allgemeingültigem Zusammenhang zur Rechtsstaatlichkeit. Dabei werden Allgemeininteressen an Effektivität und die Beschuldigteninteressen an Freiheit im Ausgangspunkt gleichgesetzt. Überraschend erscheint dies einmal, da eine Effektivitätsnorm, zumal wenn sie wie § 127 b StPO zu Zwang ermächtigt, zunächst auf individueller Ebene den Beschuldigten unmittelbar trifft. Die Allgemeinheit kann ihre Wirkung nicht in gleicher Weise etwas angehen. Die freiheitsorientierte Grundanlage der Verfassung und die darin enthaltenen Grund- und Menschenrech1

Jung, StV 1990, 509, 513 f.

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

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te stützen die Überlegung, dass bei der Ausgestaltung der Effektivität zuvörderst die Interessen des Beschuldigten und erst danach die Interessen der Allgemeinheit zu beachten sind. Dies hat Gültigkeit. Das Grundgesetz bietet mit den Grundrechten einen Katalog individualschützender Abwehrrechte, der Individualinteressen auch bei der Konzeption abstrakt-genereller Regelungen vor Allgemeininteressen stellt. Das Strafverfahrensrecht muss sich als untergeordnetes Recht nach dieser Wertigkeit der Grundrechte richten. Damit muss sich auch § 127 b StPO daran messen. Effektivität ist nach der hier vertretenen Ansicht zwar ein Argument zur Legitimation einer Haftnorm. Es ist aber kein wesentliches, kein tragendes. Mag auch das Minimum als Kernbestandteil von Funktionstüchtigkeit im Rechtsstaatsprinzip verankert sein, die Optimierung ist es nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn damit Eingriffe in Rechte des Beschuldigten legitimiert werden sollen. Zwar kann § 127 b StPO geradezu als „Paraderegelung des Sicherheitsrechtsstaats“ tituliert werden. Die präventive Ausrichtung ist gewollt und die beabsichtigte Einführung der Norm 1994 war auch eine Reaktion auf weit verbreitete Kriminalitätsängste. Schließlich wurde die Regelung immer wieder mit „gesellschaftlichen Außenseitern“, „Aussteigern“ und auch „politisch Engagierten“ in Verbindung gebracht. Das sind die Personengruppen, an denen nach Krauß die Konzeption des Rechtsstaats als „Sicherheitsstaat“ entstanden ist. Der Ruf nach zunehmend unbedingter Sicherheit ist indes, wie Krauß zu Recht hervorhebt, das „Credo des ‚gewandelten Rechtsstaats‘“ 2. Ein den Sicherheitsstaat prägendes Grund- oder Menschenrecht auf Sicherheit kann nie in gleichem Maße das Credo des geltenden Grundgesetzes sein wie der Individualschutz des Bürgers vor Staatshandeln. Grundrechte sind ursprünglich individuelle Freiheitsrechte zum Schutz vor staatlichem, nicht vor privatem Handeln. Mit Blick auf das Dritte Reich ist die Anerkennung dieser Wirkung auch historische Verpflichtung. Die Grundrechte bilden die Spitze des Rechts. Nach ihnen ist das Strafverfahrensrecht auszurichten. Im Grundgesetz ist kein Grundrecht auf Sicherheit normiert – weder als Recht, noch als Staatszielbestimmung. Die im Grundgesetz formulierten Grundrechte und die in der Europäischen Menschenrechtskonvention allgemein anerkannten Rechte und Prinzipien stehen für die Minimalisierung staatlichen Zwanges. Sie stellen Individualität vor Generalität. Gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ist die Würde „des“ und nicht die Würde „der“ Menschen unantastbar. Art. 79 Abs. 3 GG schreibt vor, dass dieser Grundsatz nicht einmal „berührt“ werden darf. Art. 19 Abs. 2 GG spricht davon, dass ein Grundrecht in keinem Fall in seinem Wesensgehalt auch nur „angetastet“ werden darf. Daneben flankieren insbesondere das in Art. 6 Abs. 1 EMRK festgeschriebene Recht auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK und das Verhältnismäßigkeitsprinzip maximalen „Individual-Grundrechtsschutz“ – nicht maximalen „Allgemeingüterschutz“. Das gilt nicht nur im konkret-individuellen, son2

Vgl. Krauß, StV 1989, 315, 317 f. [Hervorhebung im Original].

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Schluss

dern auch im abstrakt-generellen Fall: namentlich bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit des § 127 b StPO. Entsprechend der Intention der Menschenrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention ist der Beschleunigungsgrundsatz gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK kein Argument für Effektivität zu Lasten des Beschuldigten. Der Grundsatz stützt im Kern die individualschützende Tendenz der Grundund Menschenrechte. Er stützt nicht in erster Linie die Schnelligkeit des Verfahrensablaufs. Grundrechte dürfen nicht über das Konstrukt eines Grund- bzw. Menschenrechts auf Sicherheit in staatliche Pflichten zum Freiheitsschutz verkehrt werden. Wenn das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, wie Müller-Dietz überzeugend deutlich gemacht hat, dazu beiträgt, den „Blick für Lagen sozialer Ungleichheiten zu schärfen“ 3, und wenn es „Anhaltspunkt“ 4 für die Ausgestaltung des Strafverfahrens sein kann, dann in dem Sinne, dass Freiheitseingriffe nicht mit sozialen Ungleichheiten legitimiert werden können. Damit reduziert das Sozialstaatsprinzip eine auf Funktionstüchtigkeit aufbauende Legitimation des § 127 b StPO. Die Reduktion ist umso deutlicher, je direkter Zwang mit Effektivität und sozialen Unterschieden potentieller Beschuldigtengruppen in Verbindung gebracht werden kann. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Funktionstüchtigkeit im Kontext der Verfahrensziele hat in diesem Punkt kaum argumentative Substanz. Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Wahrheit können im Argumentationsfeld von Privatund Individualinteressen keine ausschlaggebende Rolle spielen. Die sich aus einer undifferenzierten Ableitung von Funktionstüchtigkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip entwickelnde Orientierungslosigkeit lässt sich dadurch nicht beheben. Im Gegenteil: Sie verstärkt sich. Insbesondere „Gerechtigkeit“ und „Rechtsfrieden“ sind zu allgemeine Topoi. Der Effekt einer Regelung für die „Wahrheitsfindung“ ist noch am ehesten überprüfbar. Dieser Zweck ist für § 127 b StPO jedoch von vornherein nicht so bedeutend. Bei der Anwendung des § 127 b StPO muss ohnehin im Sinne des § 417 StPO ein „einfacher Sachverhalt“ oder eine „klare Beweislage“ anzunehmen sein. Davon abgesehen, können derartige Verweise auf die Verfahrensziele jede Kritik im Ansatz ersticken. Argumente gegen Effektivität stellen sich zugleich – und sei es nur scheinbar – gegen „Gerechtigkeit“, „Rechtsfrieden“ und „Wahrheit“.

II. Prävention und Erziehung als verfassungswidrige Legitimationsgründe Auf die Frage, welche general- oder spezialpräventiven bzw. erzieherischen Effekte § 127 b StPO hat, kommt es „von vornherein“ nicht an. Prävention und Erzie3 Siehe nur Müller-Dietz, in: FS-Dünnebier (1982), S. 75, 91, und ders., a. a. O. S. 79 und m. z. w. N. dort in FN 20, zur Verpflichtung des Staates, die soziale Ordnung nicht zuletzt chancengleich zu gestalten. 4 Müller-Dietz, in: FS-Dünnebier (1982), S. 75, 85.

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

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hung sind zumindest im Rahmen kleinerer und mittlerer Kriminalität keine zulässigen Zwecke, um im Vorfeld einer Verurteilung in Beschuldigtenrechte einzugreifen. Das folgt aus der Unschuldsvermutung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 2 EMRK. Aus den maßgebenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Haftgründen Tatschwere und Wiederholungsgefahr 5 ist nichts anderes ablesbar. In dem für § 127 b StPO geltenden Kriminalitätsbereich spricht diese Rechtsprechung gegen die Zulässigkeit von Prävention und Erziehung als Legitimationsansätze von Haft im Verfahren. Ließe man Haft die Strafzwecke fördern, ginge man im Zeitpunkt der Verhängung des Hauptverhandlungshaftbefehls davon aus, dass die Zwecke des materiellen Rechts tatsächlich zu fördern wären. Das Verfahren würde pönal im Sinne eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung begriffen. Der bejahte Tatverdacht wäre kein (eigentlicher) Schuldverdacht, sondern (zumindest auch) festgestellte Lebensführungsschuld im Vorfeld des Urteils. Wer Haft aus Erziehungszwecken einsetzen will, geht davon aus, dass der Betroffene der Erziehung bedarf. Der Schluss lässt sich indes allenfalls überhaupt erst dann ziehen, wenn entschieden ist, dass ein Fehlverhalten vorliegt. Ein Verstoß des § 127 b StPO gegen die Menschenwürde ist aufgrund der möglicherweise faktischen präventiven und erzieherischen Wirkung des § 127 b StPO nicht abzuleiten. Die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG wirkt in diesem Zusammenhang nicht ganz so unmittelbar „verfahrensspezifisch“ wie die Unschuldsvermutung. III. Die eingeschränkte Vereinbarkeit des § 127 b StPO mit einschlägigen Grundrechten, Menschenrechten und Rechtsstaatsprinzipien 1. Zur (eingeschränkten) Verhältnismäßigkeit Der schwerwiegende Eingriff durch Haft und Festnahme aufgrund § 127 b StPO fordert eine dem Sinn des Grundrechtesystems besonders Rechnung tragende Gesetzesanwendung. Die Grenze zum Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bei der Erwartung einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe zu ziehen. Dies trägt der Gewährleistung maximalen Grundrechtsschutzes Rechnung. Das ist der Zweck des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Einerseits sind die Sicherung der Anwesenheit, der seitens der Verfassung sehr mager ausgestattete Effektivitätsansatz, die möglichen Beschleunigungseffekte durch § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO, das öffentliche Interesse an Strafverfolgung, die Bedürfnisse der Strafverfolgungsbehörden und die Bedeutung der Sache berücksichtigt. Andererseits ist der mit Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG, den Garantien des Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 GG, Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und mit der Unschuldsvermutung 5 BVerfGE 19, 342, 342 ff. („Tatschwere“); BVerfGE 35, 185, 185 ff. („Wiederholungsgefahr“).

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402

Schluss

hervorgehobene Stellenwert des Freiheitsrechts respektiert. Aus diesen Kernbestandteilen des Rechtsstaats leitet sich eine Tendenz zugunsten des Freiheitsrechts jedes einzelnen Verdächtigen ab. Im Ausgangspunkt des Abwägungsprozesses gehen seine Interessen denen der Allgemeinheit an Strafverfolgung vor. Ist keine vollstreckbare Freiheitsstrafe zu erwarten, stehen den Strafverfolgungsbehörden zahlreiche Mittel zur Verfügung, das Verfahren zu sichern. Das schon im Ausgangspunkt stärker zu gewichtende Interesse des Individuums an seiner Freiheit geht den Strafverfolgungsinteressen im Kriminalitätsfeld des § 127 b StPO vor. Da es grundsätzlich ausreichende Optionen gibt, müssen das Allgemeininteresse und das Interesse der Strafverfolgungsbehörden an einer abstrakt-generellen Sicherung durch Haft und Festnahme eher geringwertig sein. Daran ändert auch die Begrenzung der Haft gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO, die den Freiheitsverlust absehbar macht, nichts. Verweise auf ein öffentliches Interesse an der Sicherung und auf die Bedeutung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege sind keine derart schlagkräftigen Argumente, die Tendenz zu Gunsten der Beschuldigteninteressen umzukehren. Im Sinne der Verhältnismäßigkeit als Prinzip maximalen Grundrechtsschutzes ist der Gesetzgeber zur Zurückhaltung verpflichtet. Das Opfer des Bürgers wäre bei uneingeschränkter Verfassungsmäßigkeit des § 127 b StPO zu groß, der für die Allgemeinheit erstrebte Nutzen zu gering. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts lässt sich schreiben: Es besteht kein „vernünftiges Verhältnis von Belastungen des Einzelnen und dem Vorteil für das Allgemeininteresse“ 6. Eine derartige Koppelung des § 127 b StPO an die zu erwartende Strafe unterläuft die Zweckbestimmung von „Strafe“ nicht. Mit Blicken auf das Mindestmaß an Freiheitsstrafe gemäß § 38 Abs. 2 StGB von einem Monat und auf die Befristung gemäß § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO kommt es nicht zu einem unzulässigen Vorwegvollzug. § 113 StPO macht eine gewisse Zurückhaltung vor der Anwendung von Haft im unteren Kriminalitätsbereich deutlich. Die Norm ist verfahrensrechtlicher Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Da sie die Haftgrundkomponente des befürchteten Fernbleibens nicht nennt, ist daraus nicht abzuleiten, dass die Hauptverhandlungshaft auch im Bereich unterhalb zu erwartender vollstreckbarer Freiheitsstrafen-Fälle anwendbar sein muss. Die Beschränkung auf Fälle vollstreckbarer Freiheitsstrafe ist Regulativ gegenüber der Einbindung des § 127 b StPO in das beschleunigte Verfahren. Sie dient nicht der Begründung, sondern im Sinne der Grund- und Menschenrechte der Limitierung von Haft. Fülbers Ansicht, es entstünden „kaum lösbare Schwierigkeiten“, wenn sich „ex post die Prognose einer bestimmten Strafhöhe nicht bewahrheitet“ 7, ist nicht wesentlich. Jeder Strafbarkeitsprognose wohnt die Gefahr von Fehleinschätzungen inne. Ist die Anordnung von Untersuchungshaft unrechtmäßig, stellt sich auch im Falle des § 127 b StPO die Frage nach Entschädigung. Gemessen an der Erforderlichkeit im Sinne des 6 7

Vgl. BVerfGE 38, 281, 302 („Arbeitnehmerkammern“). Vgl. hier auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 95.

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

403

Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sind Fälle vorstellbar, die von keiner zuvor bestehenden gesetzlichen Maßnahme, wohl aber durch § 127 b StPO erfasst werden können. Die Anwendung des § 127 b StPO hat gegenüber der Vorführung gemäß § 230 Abs. 2 StPO den Zeitvorteil, dass ein Ausbleiben des Betroffenen nicht erst abgewartet werden muss. Daher ist § 127 b StPO als „vorweggenommener § 230 Abs. 2 StPO“ zu charakterisieren 8. Die Vorführung ist gegenüber Maßnahmen aufgrund § 127 b StPO ein grundrechtsschonenderes Zwangsmittel. Zeigen sich zum Zeitpunkt einer möglichen Festnahme oder Haft nicht unmittelbar Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass eine Vorführung keinen Erfolg verspricht, ist die Vorführung gegenüber einem Vorgehen nach § 127 b StPO vorzuziehen. Vorführung kommt im Vergleich zu Maßnahmen aufgrund § 127 b StPO dann nicht gleichsam erfolgversprechend in Betracht, wenn der Tatverdächtige keinen festen Wohnsitz und Aufenthaltsort hat. In diesen Fällen ist in der Regel eine Ladung zeitraubend und die Vollstreckung des Vorführungsbefehls oftmals nicht zeitnah und daher nicht effektiv durchführbar. Diese Überlegungen bestätigen, dass § 127 b StPO seinen bevorzugten Anwendungsbereich gegenüber Wohnsitzlosen und Personen ohne festen Aufenthaltsort haben soll. Die Erforderlichkeit gegenüber § 232 Abs. 1 StPO ergibt sich aus der Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 232 Abs. 1 StPO auf Fälle kleinerer Kriminalität. Die zulässige Rechtsfolgenerwartung ist dort erheblich niedriger als nach § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO. Trotz aller Bedenken gegen Abwesenheitsverhandlungen, kann § 232 Abs. 2 StPO innerhalb des sich überschneidenden Rechtsfolgenbereichs gegenüber § 127 b StPO vorzugswürdig sein. Das Interesse an Wahrheitsfindung und ein erhöhtes Risiko von Fehlverurteilungen in Abwesenheit verbieten de lege ferenda jedoch die Ausweitung des § 232 Abs. 1 StPO auf den Rechtsfolgenbereich des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO. Das ist keine rechtsstaatliche Alternative zu § 127 b StPO. Die Anordnung einer Sicherheitsleistung nach § 127 a StPO oder § 132 StPO ist gegenüber Haft und Festnahme das mildere Mittel. In den Fällen, in denen die Anordnung einer Sicherheitsleistung nach § 127 a StPOoder nach § 132 StPO Erfolg verspricht, sind weder das Fehlen eines festen Wohnsitzes oder Aufenthaltsorts noch die Ausländereigenschaft des Beschuldigten beachtliche Indizien für ein Fernbleiben im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO. Die Erforderlichkeit des § 127 b StPO zeigt sich jedoch auch gegenüber dieser Maßnahme. Sie ergibt sich aus einem Vergleich des Rechtsfolgerahmens gemäß § 127 b Abs. 1 Nr. 2 i.V. m. § 419 Abs. 1 S. 2 StPO mit dem des § 127 a Abs. 1 Nr. 1 StPO des § 132 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO. Ergeben sich Tatsachen, die darauf hindeuten, dass eine Sicherheit nicht geleistet werden wird, kann unter Umständen Platz für § 127 b StPO sein. Dies macht deutlich, dass § 127 b StPO bevorzugt gegenüber wirtschaftlich schwachen Gesellschaftsschichten anwendbar sein soll. 8

26*

So in diesem Punkt auch Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 66.

404

Schluss

Eine entsprechende Anwendung des § 408 a StPO kann die Hauptverhandlungshaft nur dann überflüssig machen, wenn eine Hauptverhandlung zunächst für notwendig und dann für entbehrlich erachtet wurde. Eine Ausweitung des § 407 Abs. 2 StPO de lege ferenda auf die Fälle des § 419 Abs. 1 S. 2 StPO ist abzulehnen. Damit lässt sich der Anwendungsbereich des § 127 b StPO nicht rechtsstaatlich minimieren. Es gelten die gleichen Gründe, die einer Erweiterung des Rechtsfolgerahmens gemäß § 232 Abs. 2 StPO entgegenstehen. Beides schafft erhöhte Risiken und provoziert folgenschwere Fehlurteile. 2. Zur Unschuldsvermutung Die Norm ist mit der Unschuldsvermutung im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EMRK bzw. des Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar. Eine wirksame Strafverfolgung schließt zwar grundsätzlich die zügige Verfahrenserledigung mit ein und damit von der Zielsetzung her grundsätzlich auch das beschleunigte Verfahren. Es liegt jedoch gerade nicht, wie Grasberger meint 9, „im Wesen“ der Untersuchungshaft, den Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung Rechnung zu tragen. Die Unschuldsvermutung begründet vielmehr die Pflicht, im „Prozess der Wahrheitsfindung“ nicht vorschnell zu urteilen. Sie setzt Effektivität eine zu respektierende und zu garantierende Grenze – und zwar jedem Zwangsmittel, zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens und in jeder Verfahrensart. § 127 b StPO zeigt deutlich Gefahren antizipierter Schuldvorhaltung und Strafwirkung. Diese ergeben sich insbesondere aus der Verfahrenssprache im Umfeld von § 127 b StPO. In den Anwendungsbereich des § 127 b Abs. 1 Nr. 2 StPO fallen keine „Täter“, keine „reisenden Straftäter“, keine „Gewalttäter“, keine „Diebesbanden“, keine „Trickdiebe“ etc. Soweit in der Gesetzesbegründung zu § 127 b StPO von „Tätern“ die Rede ist, ist dies Ausdruck einer Missachtung der Unschuldsvermutung. Die Titulierungen schüren Gefahren, Strafe zu antizipieren und dadurch Vorurteilen und Stigmatisierungen der angesprochenen Personengruppen Vorschub zu leisten. Die von der Politik und dem Gesetzgeber mitzuverantwortende „undifferenzierte massenmediale Darstellung“ der von § 127 b StPO betroffenen Personengruppen als „Täter“ kann sich über Strafverfolgungsorgane auf die Haftpraxis auswirken. Im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Rang der Unschuldsvermutung und der Schwere des Rechtseingriffs muss die Verfahrenssprache gerade im Haftrecht Neutralität und Sensibilität zeigen. Dem Anschein unsolider Meinungsbildung oder gar Parolenbildung im hoch komplexen Feld des Strafprozesses wäre entgegengetreten, würde von „reisenden Beschuldigten“ bzw. „reisenden Verdächtigen“ gesprochen. Genauso selbstverständlich, wie es für den Rechtsanwender einer Zwangsmaßnahme im Ermittlungsverfahren gilt, lediglich auf die Begriffe „Verdächtiger“ oder „Beschuldigter“ zu9

Grasberger, GA 1998, 530, 531.

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

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rückzugreifen, gilt dies für den Gesetzgeber, der die Einführung einer Zwangsmaßnahme für das Ermittlungsverfahren begründet. Wie Gerichte „im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Rang der Unschuldsvermutung“ darauf bedacht sein müssen, „nur solche Formulierungen zu verwenden, die von vornherein jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden“ 10, soll der Gesetzgeber strafantizipierende Begrifflichkeiten vermeiden. Der Gesetzgeber ist schließlich Adressat der Unschuldsvermutung. Angesichts dessen gilt es, zu § 127 b StPO sehr klar zu betonen, dass die Unschuldsvermutung den Justizbehörden verbietet, einen Verdacht anders als im Bewusstsein der Vorläufigkeit des Urteils aufzufassen. Die Verdachtsprognose darf nie zu anderen Zwecken eingesetzt werden, als den Verfahrensgegenstand im Sinne der Rechtsstaatlichkeit zu erledigen. Gerade im Hinblick auf die „Geeignetheit der Sache“ gemäß § 417 StPO, ist hervorzuheben, dass Schuldüberzeugung und Unschuldsvermutung keine gegenläufige Tendenz haben. Die Wirkung der Unschuldsvermutung wird nicht schwächer, wenn die Sache den Anschein der Einfachheit gibt, der Verdacht zunimmt und sich in Richtung einer Schuldüberzeugung verdichtet. Die Wirkung der Unschuldsvermutung ist von Anfang an nicht schwach, auch wenn sich das Geschehen so zeigt, als könne beschleunigt verurteilt werden. Schematische Schlüsse von der Einfachheit der Sache auf die Schuld des Verdächtigten verbieten sich. 3. Zum Bestimmtheitsgrundsatz § 127 b StPO verstößt nicht gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Die Systematik des § 127 b StPO lässt sich deuten, und die Voraussetzungen lassen sich (restriktiv) auslegen. Insbesondere im Hinblick auf Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG sollen jedoch Durchschaubarkeit, Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit abstrakt-generelle Regelungen, die zum Freiheitsentzug ermächtigen, beherrschen. Insoweit hat die Norm „schlechte Qualität“. Die systematischen Mängel sowie die intransparenten Voraussetzungen des §127 b StPO mindern die Kontrollierbarkeit von Haft und Festnahme ganz erheblich. Die Unschärfen bergen nicht zu übersehende Gefahren für die rechtsstaatliche Durchführung des Verfahrens. Die Objektivität jeder Entscheidung im Zusammenhang mit § 127 b StPO kann leicht in Frage gestellt werden. Daher werden Beschuldigte „ermutigt“, Rechtsmittel einzulegen. Das widerspricht dem Effektivitätsansatz. Schließlich kann die Öffentlichkeit die Objektivität der Verfahrensdurchführung nur noch schwerlich überprüfen. Durch das aufgeweichte Maß an Bestimmtheit ist die Regelung somit grundsätzlich dazu geeignet, ein wie auch immer definiertes Vertrauen der Allgemeinheit in den Rechtsstaat zu schmälern anstatt zu stärken. 10 Vgl. BVerfGE 82, 106, 107 („§ 153 Abs. 2 StPO“), mit Anm. Mahrenholz, wonach die Unschuldsvermutung „jede“ Zweideutigkeit verbietet.

406

Schluss

4. Zu Art. 3 GG § 127 b StPO ist konform mit Art. 3 GG. Vorwürfe der Systemwidrigkeit, der Systemlosigkeit und der Diskriminierung laufen – was die Verfassungswidrigkeit der abstrakt-generellen Ebene angeht – ins Leere. Art. 3 GG hat dennoch Wirkung. Darauf stützt sich ein konkretes Begründungsverbot. Die konkrete Diskriminierung von Ausländern, Nichtsesshaften etc. ist dann zu erkennen, wenn zur Begründung einer Maßnahme aufgrund § 127 b StPO bestimmte gleiche Tatsachen gegenüber Ausländern und Nichtsesshaften etc. anders als gegenüber Deutschen und Sesshaften etc. konkretisiert werden. Kann auf eine von Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG losgelöste Begründung nicht zurückgegriffen werden, resultiert hieraus eine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende, zweckwidrig-diskriminierende Anwendung des § 127 b StPO. Die Diskussion um die Anwendung des § 127 b StPO auf Menschen ohne festen Wohnsitz oder üblichen Aufenthaltsort, schürt die Gefahr, dass der soziale Status oder die Ausländereigenschaft einer Person §127 b StPO im Sinne eines Verstoßes gegen Art. 3 Art. 1 GG zweckentfremdet. 5. Zum Recht auf ein faires Verfahren § 127 b StPO entspricht als abstrakt-generelle Regelung den Ansprüchen des fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. des Art. 20 Abs. 3 GG. Es kann Fälle geben, in denen eine Woche Vorbereitungszeit für die Verteidigung genügt. Diese sind grundsätzlich denkbar, wenn die Sach- und Rechtslage evident „offensichtlich“ ist, der Beschuldigte seine Verteidigung gewissermaßen für entbehrlich hält und er dies objektiv überblicken kann. Unter Umständen kann die Verteidigung – abgesehen von der Problematik der Verhältnismäßigkeit des § 127 b StPO – „möglichst effektiv“ sein. Die Kombination aus Inhaftierung des Beschuldigten und Beschleunigung wird jedoch grundsätzlich zu einer Anspannung der Verfahrensbeteiligten führen, die kaum je ein faires Verfahren zulässt. Mit der Regelung der Pflichtverteidigung gemäß § 418 Abs. 4 StPO ist der Gesetzgeber seiner Aufgabe, Einschränkungen der Verteidigung entgegenzuwirken, praktisch kaum nachgekommen. Diese Aufgabe ist Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren. An den Beschränkungen der Verteidigung durch Haft und Beschleunigung änderte die Umsetzung von Fülbers Vorschlag nichts Wesentliches: danach sind der Hauptverhandlung die Ladungen des Inhaftierten und seines Verteidigers voranzustellen 11. Die Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 StPO bliebe jedoch bestehen. Damit wäre also auch weiterhin die Vorbereitungszeit für eine „möglichst wirksame Verteidigung“ in aller Regel zu knapp bemessen. Der Vorschlag ist demnach ein vergeblicher Versuch, den verfassungsrechtlich insgesamt fragwürdigen Ansatz, das Verfahren durch Haft und Festname effektivieren zu wollen, auszubessern. 11

Fülber, Hauptverhandlungshaft (2000), S. 111.

1. Abschn.: Konkrete Ergebnisse

407

E. Die „Ineffektivität“ des § 127 b StPO In den Untersuchungen der Systematik, der Voraussetzungen und der Rechtsstaatlichkeit zeigt sich deutlich, dass § 127 b StPO den Erwartungen des Gesetzgebers nicht gerecht werden kann. Die Regelung kann Strafverfolgungsorgane nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen und keineswegs vermehrt zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens anhalten. § 127 b StPO wird zumeist entweder an der Geeignetheit der Sache im Sinne des § 417 StPO scheitern, die Anwendung wird unverhältnismäßig sein, oder sie wird gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen. Gemessen am Vorstellungsbild des Gesetzgebers, ist die Norm insgesamt misslungen. § 127 b StPO ist eine ineffektive Regelung. Der Anwendungsbereich des § 127 b StPO ist in der praktischen Arbeit der Strafverfolgungsmaßnahmen kaum mehr von dem anderer Regelungen abgrenzbar. Die für den Haftgrund gemäß §127 b Abs.1 Nr. 2 StPO relevanten Tatsachen überschneiden sich zum Teil mit denen des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. In den Fällen, in denen die Voraussetzungen für Haft beiderseits vorliegen, wird Haft in aller Regel nach den Vorschriften der §§ 112, 112 a StPO angeordnet werden. Dem bisherigen Untersuchungshaftrecht ist eine weiterreichende Wirkkraft als der Hauptverhandlungshaft zuzugestehen: Wird ein Haftbefehl aufgrund §112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verhängt, muss bei einem eventuellen Übergang vom beschleunigten in das Regelverfahren kein neuer Haftbefehl ergehen. Abgesehen von den Beschränkungen des § 121 Abs. 1 StPO, unterliegt der aufgrund § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verhängte Haftbefehl unmittelbar auch keiner zeitlichen Befristung. Er ist „flexibler“. Der Haftbefehl aufgrund des bisherigen Rechts kann – wie dies aufgrund § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO obligatorisch ist – auf eine Woche ab dem Tag der Festnahme begrenzt werden. Bei Bedarf kann er jedoch auch über eine Woche hinaus verlängert werden. Da im Falle des Überschreitens der Wochenfrist kein Haftgrund durch einen anderen ersetzt werden muss, entspricht der (ursprüngliche) Erlass eines Haftbefehls aufgrund §§112, 112 a StPO Effektivitätserwägungen. Zudem kann § 127 b StPO aufgrund der Befristung in Abs. 2 die Vollstreckung eines nicht rechtskräftigen Urteils nicht stützen. Die Verbindung des § 127 b StPO mit dem beschleunigten Verfahren gemäß §§ 417 ff. StPO ist keineswegs eine Garantin für Effektivität. Zwar ist die Wochenfrist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO, absolut betrachtet, kürzer als die „kurze Frist“ des § 418 Abs. 1 2. Alt. StPO. Der Strafbarkeitsnachweis und die gemäß der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 127 b Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. §§ 417 ff. StPO vorausgesetzten organisatorischen Maßnahmen können in dieser Zeit jedoch kaum erbracht werden. Die Integration des haftbefehlsbezogenen Verfahrens nimmt nicht nur besondere personelle und sachliche Mittel in Anspruch, sondern verbraucht notwendig viele zeitliche Ressourcen. Die Anhörung des Beschuldigten gemäß § 128 StPO bzw. § 115 StPO kostet Zeit – mehr noch die Haftprüfungs- und Haftbeschwerdeverfahren. Bevor bestehende Kommunikationsprobleme zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht nicht überwunden sind, stehen sie einer Anwendung des

408

Schluss

§ 127 b StPO von vornherein entgegen. Ohne reibungslos funktionierende Wochenendpräsenzen und Vertretungsregelungen – sowohl auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden als auch der Verteidigernotdienste – ist die Anwendung des § 127 b StPO nicht realisierbar. Gegen die Frist des § 127 b Abs. 2 S. 2 StPO spricht historische Erfahrung deutlich. Die Wochenfrist der Haft aufgrund § 126 RStPO, so die gängige Ansicht im Schrifttum Ende des 19. Jahrhunderts, war viel zu kurz bemessen. Sie soll in der Praxis sogar zu einer Haftverlängerung geführt haben, da dem Staatsanwalt innerhalb der Haftfristen die für die Klärung der Sachlage erforderliche Zeit fehlte. Auch wenn nur wenige Ermittlungen genügt hätten, um die Geschehnisse aufzuklären, wurde nicht selten „auf gut Glück“ eine Voruntersuchung gegen den gerade verhafteten Verdächtigen veranlasst; sie förderte, so Peterson, „Flüchtigkeit und Überstürzung“ sowie „Formalismus und Schematismus“ 12. Auch dies provoziert – neben den vagen Voraussetzungen und der mangelhaften Systematik – Rechtsmittel, die Effektivität in hohem Maße entgegenstehen. Soweit der Beschuldigte nicht „kooperativ“, das heißt, nicht geständig ist, ist die Sache demnach grundsätzlich für § 127 b StPO ungeeignet. Die Bereiche kleinerer bis mittlerer Kriminalität können grundsätzlich auch effektiver ohne Anwendung des § 127 b StPO erledigt werden. Für leichtere, einfache Diebstähle (§ 242 StGB), einfache Leistungserschleichungen (§ 265 a StGB) sowie für sonstige leichtere Vermögensdelikte (z. B. §§ 246, 263, 248 a, 266 StGB), aber auch für leichte Körperverletzungen (§§ 223, 229 StGB) bieten sich grundsätzlich informelle Sanktionen wie §§ 153, 153 a und § 153 b StPO als verhältnismäßige Reaktion des Staates an. An den Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des § 46 a StGB ist im unteren Kriminalitätsfeld immer zu denken. Für die im Umfeld der Hauptverhandlungshaft genannten „Schwarzfahrer“ und „Zechpreller“ stehen also bereits Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Mit diesen Instituten können Strafverfolgungsorgane schneller auf wechselnden Geschäftsanfall reagieren als mit § 127 b StPO. Im sich überschneidenden Rechtsfolgenbereich der §§ 407 ff. StPO und der §§ 417 ff. StPO ist § 127 b StPO gegenüber dem Strafbefehlsverfahren grundsätzlich anwendbar, wenn die Ermittlung der Täterpersönlichkeit eine Hauptverhandlung erfordert. Allerdings ziehen gerade die Fälle mitunter eine schwierige Beurteilung der Täterpersönlichkeit mit sich, die auch „binnen einer Woche nach der Festnahme“ nur schwerlich hinreichend exakt geklärt werden können. Bei „Serientätern“, „Mitgliedern von Diebesbanden“, „Hooligans“ und „Chaoten, die tageweise in Städte einfallen und dort Straftaten begehen“, erscheint dies offensichtlich. Gleiches gilt bei jedwedem Verdacht, der auf „politische Motivationen“ schließen lässt. Die Sachlagen sind in diesen Fällen nicht im Sinne des § 417 StPO zur Verhandlung im beschleunigten Verfahren geeignet. Da auch die Strafzumessungskriterien bei zu erwartender Freiheitsstrafe besonders umfassend ergründet werden müssen, sind die 12

Peterson, GA 30 (1882), 322, 329, 336.

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

409

Fälle im Regelverfahren zu verhandeln. Ob der Beschuldigte in Deutschland keinen festen Wohnsitz oder üblichen Aufenthaltsort hat, kann dann auch bei befürchtetem Fernbleiben dahingestellt bleiben. Da die Sache zur Behandlung im beschleunigten Verfahren „geeignet“ sein muss, liegt der Anwendungsbereich für § 127 b StPO von daher grundsätzlich bei Taten, die eine Geldstrafe erwarten lassen. Einer Anwendung in diesem Kriminalitätsfeld steht jedoch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entgegen. Maßnahmen aufgrund § 230 Abs. 2 StPO, § 232 Abs. 1 StPO, §§ 127 a, 132 StPO und § 408 a StPO gehen als grundrechtsschonendere Optionen Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO grundsätzlich vor. Schließlich wird auch das Festnahmerecht gemäß § 127 b Abs. 1 StPO nur eine äußerst geringe praktische Rolle spielen können. In aller Regel werden im Zeitpunkt der Ergreifung des Beschuldigten weder über bestimmte Tatsachen Erkenntnisse vorliegen, die ein Fernbleiben des Beschuldigten von der Hauptverhandlung befürchten lassen, noch wird von Staatsanwaltschaften und Beamten des Polizeidienstes verlässlich bestimmt werden können, wann eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren wahrscheinlich ist. Die Einschätzung ändert sich auch nicht, wenn den festnehmenden Organen ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt ist. Die weitgehende Unmöglichkeit, rechtsstaatliche Prognoseentscheidungen zu treffen, ist ein klares Argument gegen die Brauchbarkeit des § 127 b StPO. Sie ist gleichzeitig eines der Argumente gegen das Vorhaben, § 127 b StPO zukünftig auch im Jugendstrafverfahren anzuwenden 13. Statt an Erweiterungen zu denken, müssen wir uns mit Blick auf die Risiken, die mit der Norm einhergehen, vielmehr die Frage stellen, ob die Regelung überhaupt in die Prozessordnung gehört. 2. Abschnitt

(Rechtspolitischer) Ausblick und der Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen A. Kann eine Norm, die mit dem Willen zur Effektivität eingeführt wurde, die aber in so hohem Maße ineffektiv ist, in der StPO stehen bleiben? Angesichts der Gefahren, die die Norm für Grund- und Menschenrechte mit sich bringt, erscheint es notwendig, den freiheitlichen Rechtsstaat vor § 127 b StPO zu schützen. Rieß ist zwar zuzustimmen, wenn er schreibt, dass „mißglückte Gesetze“ nicht deshalb verfassungswidrig sind, weil sie ineffektiv sind 14. Die Verfassung 13 14

Vgl. zu den Gesetzesinitiativen wieder DVJJ, ZfJ 2001, 97, 97 ff. Vgl. Rieß, StraFo 2000, 364, 368.

410

Schluss

räumt dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum ein. Das Maß rechtspolitisch-erträglicher Hinnehmbarkeit ist mit § 127 b StPO dennoch überschritten. Denn „Recht“ ist nicht nur die Momentaufnahme in der die Verfassungsmäßigkeit einer Norm gemessen ist. Haft und vorläufige Festnahme haben im Rechtsstaat eine besondere Bedeutung, die es zu würdigen gilt. Haft ist der schwerste Eingriff, den das Verfahren gegenüber einem lediglich Beschulditgen kennt. Diese herausragende Stellung verbietet es, § 127 b StPO schlicht als „missglückt, aber gegeben“ abzuhaken. An § 127 b StPO hängt viel mehr als nur das Prädikat „ineffektiv“. Allein die Existenz der Norm stört das System des Prozesses empfindlich. Mit Sicht auf die Schwere des Eingriffs zeigen sich ganz erhebliche Gefahren für die Rechtsstellung des Einzelnen. Die relativ niedrigen Anwendungszahlen in der Praxis 15 könnten zwar einen „verantwortlichen“ Umgang mit § 127 b StPO widerspiegeln. Lemke könnte sich aber auch irren, indem er davon ausgeht 16. Angesichts der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 127 b StPO erscheint es zweifelhaft, dass die Norm immer in letzter Konsequenz verantwortungsbewusst angewandt wird. Da die Norm kaum rechtsstaatlich angewandt werden kann, könnte die relative Zurückhaltung der Strafverfolgungsorgane als weitgehend rechtswidriges Vorgehen zu deuten sein. Das dies so ist, ist freilich eine bloße Vermutung. Fest steht jedoch, dass jeder Einzelfall rechtswidriger Inhaftierung inakzeptabel ist und möglichst verhindert werden muss. Schlimmer noch als die Gefahr einer Rechtswidrigkeit im Einzelfall erscheint das (kriminalpolitische) Bewusstsein, das die Norm widerspiegelt. Die mit § 127 b StPO erstmalig gezielt geschaffene Verbindung von Haft und Festnahme mit Effektivität für den unteren und mittleren Kriminalitätsbereich deutet auf ein neues Verständnis von Grund- und Menschenrechten. Mit § 127 b StPO werden bisherige grund- und menschenrechtliche Standards gefahrvoll freigegeben. Die Abwehrfunktion der Grundrechte war in der Konzeption der Regelung alles andere als ein vorherrschender Richtungsanzeiger. § 127 b StPO begründet nicht nur Risiken für Beschuldigte. Die Norm schafft Gefahren für den Rechtsstaat.

B. Grund- und menschenrechtliche Standards können auf vielen Wegen preisgegeben werden. Bildet sich eine Neuorientierung langsam am unveränderten Gesetz heraus, ist die Gegenwehr in der Regel schwierig. Nicht nur, weil Perspektiven so vielschichtig in alle Richtungen gehen können und die eigene Sicht von Natur aus nicht immer völlig unvoreingenommen ist. Es fehlt dann oftmals am eindeutigen Angriffspunkt. Das geschriebene Recht hat sich ja allein durch Diskussionen noch nicht geändert. Und durch praktische Anwendungen einer Norm verschieben sich 15 16

s. o. Einf., 2. Abschn. Vgl. HK-Lemke, StPO (2001), § 127 b Rdn. 2.

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

411

Ränder nicht selten nur in kleinen Schritten. Wird die Neuausrichtung – wie § 127 b StPO – Gesetz, ist zwar ein klarer Ansatz da: „Steigerung der Funktionstüchtigkeit des Verfahrens durch vermehrten Entzug der Freiheit des Beschuldigten“. Das erleichtert die Auseinandersetzung jedoch nur bedingt. Denn je fester die Orientierung verankert ist, desto stärkeren Argumenten hält sie stand. Je etablierter eine Richtung ist, die zum massiven Eingriff in Beschuldigteninteressen ermächtigt, umso schwerer fällt es, gegenzusteuern. Das gilt insbesondere, wenn der Gesetzgeber die Neuregelung schwach kommentiert, wie selbstverständlich populär redet und damit Grundlagen offen anzweifelt, die seit Jahrzehnten als ein Leitbild des Ganzen gegolten haben. Das ist mit § 127 b StPO geschehen. § 127 b StPO gibt einen ganzen Strauß guter Gründe, den Gesetzgeber und die Strafverfolgungsorgane an die freiheitlichen Garantien des Grundgesetzes und der Menschenrechtskonvention zu erinnern. Die geschichtliche Entwicklung macht deutlich, dass der Kampf gegen Unrechtsstaatlichkeit im Haftrecht weitgehend nur im Wege einer maximalen Objektivierung der Voraussetzungen repressiver Haftgründe zu führen ist. Spätestens mit Blick auf die üblen Erfahrungen mit dem NS-Regime, in dem die Missachtung der Grund- und der Menschenrechte eines Beschuldigten an der Tagesordnung war, muss die Richtung gesetzgeberischer Aktivität im Haftrecht (der Zukunft) vorgegeben sein: ein möglichst hohes Maß an Bestimmtheit der Haftanordnungen, eine durchsichtige Systematik und eine klare Legitimationsbasis. Nur klare und differenzierbare Normen können im Recht der Untersuchungshaft, so betont Riklin zu Recht, „die Rechtsanwendenden wirklich zu einer Güterabwägung (...) zwingen, kritisch(er) zu sein und mit dem ultima-ratio-Gedanken Ernst zu machen“ 17. Nur mit klaren Ermächtigungsgrundlagen ist es möglich, die Anwendung von Untersuchungshaft auf einen unvermeidlichen Umfang zu beschränken. Nur so kann Willkür tunlichst vermieden werden. Die Geschichte zeigt, dass bisher keine Neugestaltung des Haftrechts die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in der Gesellschaft lösen konnte. Dies sind jedoch bei der Entstehung von Kriminalität unbestritten eigentliche Faktoren. Auch § 127 b StPO wird kriminelle Energien nicht unterdrücken können. Die Norm liefert mit ihren Formulierungen und gesetzgeberischen Hintergründen Ansätze, die erwarten lassen, dass die Regelung in Krisenzeiten über das Institut einer allein prozesssichernden Maßnahme hinauswächst. § 127 b StPO ist mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Bedenken eine gefährliche Einfalltür zum Missbrauch. Zwar steht sie nicht gänzlich offen, sie kann jedoch – schnell und nur schwer kontrollierbar – aufgestoßen werden. Der in der Geschichte als „zu vage“ angesehene Rechtsbegriff der „Befürchtung“, die Zielrichtung auf den Bereich der „Alltagskriminalität“, die Diskussion um die Regelung und nicht zuletzt die präventive und erzieherische Ausrichtung sind Anhaltspunkte dafür. Mit § 127 b StPO entsteht der Eindruck, als könne der Staat „Wohnsitzlosen“, „Schlachtenbummlern“ usw. nur 17 So Riklin, SZfStr 104 (1987), 57, 75 [Hervorhebung und (zweite) Klammersetzung im Original].

412

Schluss

durch Festnahme und Inhaftierung „Herr“ werden – als ließen sich letztlich nur mit diesen Mitteln deren Straftaten bekämpfen. Gemessen an der Diskussion um die Regelung kann sie gut zur Finesse kriminal- und insbesondere ausländerpolitischer Interessen werden. In diesem Sinne mahnte Grebing in seinem Beitrag zur Entwicklung des Untersuchungshaftrechts aus dem Jahre 1975 eine nicht selten verbreitete unrechtsstaatliche Handhabe an: „In der Praxis scheint jedenfalls zumindest die Versuchung relativ groß und latent vorhanden zu sein, die Untersuchungshaft gelegentlich auch über ihre anerkannte Funktion hinausgehend zum Zwecke der Ermittlungserleichterung, der Geständniserlangung, der Vergeltung und Abschreckung, als Denkzettel oder schlicht als Demonstration der Schlagkraft der staatlichen Strafverfolgungsorgane zu verwenden“ 18. 1987 hat Gebauer diese Praxis im Wesentlichen bestätigt 19. Hängt, mit Naucke gesprochen, die relative Ruhe im bundesrepublikanischen Strafrecht direkt mit gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen zusammen 20, ist vor dem Hintergrund mannigfacher Skrupel zumindest für Zeiten wirtschaftlicher Krisen von § 127 b StPO Schlimmes zu erwarten. Dünkels Bild vom „Dammbruch“ 21 drängt sich auf. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten.

C. Müller-Dietz ist zuzustimmen: Es gilt, Qualitäten zu entwickeln und zu praktizieren, die schon in der Zeit der Weimarer Republik, noch mehr aber in den darauf folgenden Jahren oft zu vermissen waren 22. Vernachlässigt man die freiheitlichen Qualitäten des Rechtsstaats, verliert das rechtsstaatliche Entscheiden seinen eigenen Anspruch, nämlich Rechtswerte zu verwirklichen 23. Zu den Rechtsstaatsqualitäten gehört nicht nur die Achtung des Einzelnen – welcher sozialen oder politischen Herkunft er auch immer ist. Dazu zählt insbesondere auch die Achtung freiGrebing, ZfRV 1975, 161, 177. Gebauer, Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft (1987), S. 370 ff. Vgl. auch aus dem neueren Schrifttum die Einschätzungen von Bleckmann, StV 1995, 552, 552. 20 Naucke, RhJ 1992, 279, 290. 21 Dünkel, NK 1994, 20, 25. 22 Vgl. Müller-Dietz, Jura 1991, 505, 516. Vgl. zum Umgang der Politik mit rechtsstaatlichen Prinzipien in historischen Kontexten auch P.-A. Albrecht, StV 1994, 265, 271 ff.: Es ist „ein Gebot politischer Klugheit und Rationalität, historische Erfahrungen einer Gesellschaft in politische Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Und gerade auch im Feld aktueller Kriminalpolitik gibt es durchaus Konstellationen, die erkennbare Ähnlichkeiten mit Vergangenem besitzen“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Sack, KritV 1990, 327, 327 ff., über den allgemeinen „moralischen Verschleiß des Strafrechts“. Sack, a. a. O. S. 342, plädiert dafür, sich „Denken nicht von der dem Strafrecht selbst verordneten Rhetorik der Moral vernebeln (zu) lassen“; „wer das Strafrecht und seine Wirklichkeit in den demokratischen Gesellschaften des Westens analysieren und auf seinen Begriff bringen will“, so heißt es weiter, „tut gut daran, in Kategorien von Herrschaft, Macht und Gewalt zu denken“. 23 Vgl. Müller-Dietz, Jura 1991, 505, 516. 18 19

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

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heitsschützender Garantien. Der Rechtsstaat duldet weder Diskriminierungen noch unverhältnismäßige Eingriffe in die Freiheit seiner Bürger. Mit der Konstruktion eines Grundrechts auf Sicherheit ließe sich die Abdankung grund- und menschenrechtlicher Standards leichter begründen: Der Staat könnte sich auf die möglichst effektive Sicherheit seiner Bürger stützen, um Beschuldigten ihr Freiheitsrecht zu entziehen. Gäbe es ein aus den Grundrechten abgeleitetes Grundrecht auf Sicherheit, das zum Zwang seiner Bürger ermächtigt, wäre der Schutzcharakter des Freiheitsrechts nicht nur schwer vermittelbar. Jedes Recht, das gleichzeitig Eingriff und Schutz gewährt, wird umso instabiler, je eingriffsintensiver sich Zwang daraus legitimiert. Legitimierte das Recht auf Sicherheit als Bestandteil eines Rechtsstaatssystems zur Inhaft- und Festnahme im Sinne des § 127 b StPO, hörte das Freiheitsgrundrecht bald auf, ein wirkliches Freiheitsrecht zu sein. Die Falltür zur Willkür staatlichen Zwangs wäre weit geöffnet. Würde Beliebigkeit über ein diffuses Recht grundgesetzlich toleriert und schließlich als ein Bestandteil des Rechtsstaats akzeptiert, brächte sie das System aus Grund- und Menschenrechten in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft zum Einsturz. Auf den Punkt gebracht: Der Rechtsstaat kann sich nicht dadurch schützen, indem er sich durch überbetontes Sicherheitsstreben selbst in Frage stellt. Um den Rechtsstaat zu schützen, gilt es, gerade im Haft- und Festnahmerecht, die individuelle Schutzfunktion des Freiheitsrechts unbedingt zu betonen. „Der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Strafverfolgung“, so lehrt uns Kriele mit Blick auf Art. 39 der Magna Charta Libertatum von 1215, „ist das Ur-Grundrecht, die Wurzel der Freiheit“ 24. „Denn ohne dieses Grundrecht“, so heißt es mit Weitblick, „ist der Mensch ständig bedroht, jede Art geistiger, politischer, religiöser oder sonstiger Äußerung oder Betätigung kann ihn die persönliche Freiheit kosten, die Angst verschließt ihm den Mund“ 25. Kann der Mensch vor willkürlicher Verhaftung „nicht mehr sicher sein“, dann „lebt der Untertan in Furcht“26 – und zwar in der Furcht vor staatlichem Handeln. Der Staat selbst ist es dann, der die Sicherheit seiner Bürger gefährdet. Gegen diese Gefährdung gilt es anzugehen. Zwar ist vieles verfassungsrechtlich zulässig. Gegen das, was wie § 127 b StPO zwar erlaubt, aber dennoch im Sinne der Stabilität individualschützender Garantien risikobehaftet ist, gegen das, was leicht unrechtsstaatlich angewandt werden kann, muss man sprechen 27. Es ist wichtig, ei24 Vgl. Kriele, Einführung in die Staatslehre (1988), S. 152. A. a. O. zitiert Kriele den Satz, „daß kein freier Mann verhaftet, gefangengehalten, enteignet, geächtet, verbannt oder auf irgendeine Art zugrunde gerichtet werden dürfe, es sei denn aufgrund gesetzlichen Urteilsspruchs (...)“ [Hervorhebung im Original]. 25 Kriele, Einführung in die Staatslehre (1988), S. 152. 26 Kriele, Einführung in die Staatslehre (1988), S. 152. 27 Vgl. Roesen, NJW 1953, 1733, 1735: „Man darf nicht müde werden, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die verschiedenen Einschätzungen des Wertes der persönlichen Freiheit einen schlechthin entscheidenden Unterschied zwischen einem Rechts- und einem totalitären Staat bedeuten. Jedes Abgleiten der Rechtsprechung vom Sinn des Gesetzes, das das Rechtsgut

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Schluss

nen stetigen (kriminalpolitischen) Diskurs darüber zu führen, was akzeptabel und was inakzeptabel ist. Je weniger akzeptabel eine „Sicherheitstendenz“ ist und eine Norm, die sie verkörpert, umso deutlicher ist dagegen zu argumentieren.

D. Jung schreibt: „die viel beschworene Formel von der Effektivität der Strafrechtspflege hat eine verführerische Kraft.“ 28. Dem ist zuzustimmen. Und in dieser nicht immer beherrschbaren Kraft, wurzeln wesentlich die aus § 127 b StPO resultierenden Gefahren für den Rechtsstaat. Fallen Sicherheitsorientierungen und Effektivitätsansätze – wie 1994, im Jahr des Verbrechensbekämpfungsgesetzes – vereint auf den fruchtbaren Boden der „Kriminalitätsangst“, sind Wirkungen besonders nachhaltig und mitunter auch diffus: „Schlank-sein“ war für den Staat nie so „in“ wie in jenem Jahr. Auf die Parole schien es jedoch fast mehr anzukommen als auf ihren Sinngehalt. „Schlanker Staat“ – das war das „Wort des Jahres“. Darüber, ob der „Ausbau“ staatlicher Befugnisse im Strafrecht und „Schlankheit“ des Staates überhaupt kompatibel sind, wurde nicht nachhaltig genug diskutiert. Zumindest wurde der Diskurs von der Politik nicht angemessen beachtet. Ansonsten hätte das Verbrechensbekämpfungsgesetz kaum verabschiedet werden können. Die Empfehlungen des 60. Deutschen Juristentages 1994 in Münster mit dem Ziel, ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze den Strafprozess zu beschleunigen29, konnten das in den Händen der Politik befindliche Ruder nicht herumreißen. Das Klima war schlecht für Beschuldigtenrechte. Mit über 22.000 wurde die höchste Zahl an Untersuchungshäftlingen gemessen, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat 30. § 127 b StPO im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes einführen zu wollen, passte vor diesem Hintergrund in die innerstaatliche Sicherheitspolitik. 1994 wurde der Grundstein für die Regelung gelegt. Heute heißt es, sich den „Verlockungen“, welche sich aus § 127 b StPO für die Praxis ergeben können, entgegenzustellen. Aus grund- und menschenrechtlicher der persönlichen Freiheit in dem größtmöglichen Maß gewährleistet, ist ein Abgleiten vom Fundament des Rechtsstaats, auch dann, wenn das entgegen dem Gesetz erzielte Ergebnis hc et nunc brauchbar, ja wünschenswert erscheint und daher den Beifall der Vielen findet, die aus der deutschen Rechtsgeschichte der jüngsten Vergangenheit noch nicht gelernt haben, wie weise die Mahnung ist: Prinzipiis obsta!“. 28 Jung, GA 2002, 65, 73. Siehe auch schon oben 3. Kap., 1. Abschn. C. IV. 29 Vgl. hierzu die Thesen von Gössel, Gutachten C zum 60. Deutschen Juristentag (1994), C. 91 ff., und auch die „Reflexionen zur Lage der Strafjustiz“ von Rieß, NStZ 1994, 409, 409 ff., aus eben diesem Anlass. Rieß, a. a. O. S.413, machte im Vorfeld des Juristentages deutlich, dass die „Befürchtung mangelnder Effektivität noch die geringere Gefahr“ darstelle. Größer könnte diejenige sein, dass sich hinter dem „fortgesetzte(n) Drehen an der Gesetzgebungsschraube (...) unkontrollierbare und unkoordinierte Handlungsspielräume eröffnen“. Vgl. i. d. S. auch Dölling, in: FS-Meyer-Goßner (2001), S. 101, 112 f. 30 Vgl. Cornel, NK 2002, 42, 43, zur Entwicklung der Anzahl der Untersuchungsgefangenen in der Bundesrepublik von 1960–2000.

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

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Perspektive ist einer Norm umso eher dann zu widerstehen, je stärker sie auf Kosten der Rechte Einzelner geht. Zu widerstehen gilt es im Kern auch den eingangs zitierten Formeln des Sachverständigenrats „Schlanker Staat“. Diese betonen die Effektivität außerordentlich. Sie haben heute immer noch hohe „verführerische Kraft“ 31. Die Kommission diente als Ideengeber und deren Abschlussarbeit als möglicher Leitfaden für die Effektivierung des Strafverfahrens der Zukunft – wesentlich zu Lasten der Beschuldigtenrechte. Angesichts der Einschnitte in Grundund Menschenrechte kann dieser Bericht jedoch keine wirkliche Richtschnur für die Gestaltung eines zukünftigen Strafverfahrensrechts – und schon gar nicht des Haftrechts – sein.

E. Der Ansatz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte deutet mit seiner Rechtsprechung zum Recht auf ein faires Verfahren in die richtige Richtung. Die Gewährung größtmöglicher Einflussrechte für den Beschuldigten, ist eine vielversprechende Einsicht. Mit Blick nach Europa offenbaren sich überhaupt noch viele Denkansätze. Je mehr das Strafrecht europäisch zusammenwächst, desto weniger werden Tatsachen, die auf die Staatszugehörigkeit einer Person zurückzuführen sind, im Abwägungsprozess aus Individual- und Allgemeininteressen eine Rolle spielen können. So ist zwar der Ausgangspunkt einer vermehrten Anwendung des Haftrechts auf Ausländer gesetzlich zunächst einmal nicht in der Differenzierung zwischen Staatsangehörigkeiten zu suchen. Sie resultiert aus einer aufgrund der Staatsangehörigkeit und Herkunft einer Person in der Praxis angenommenen höheren Fluchtgefahr. Inwieweit aber beispielsweise ein „Dogma“ zwingend Berechtigung hat, wonach bei der originären Zuständigkeit eines deutschen Gerichts dieses auch einen „deutschen Strafanspruch“ durchsetzen muss, ist nicht sicher. Es wird durchaus vertreten, dass das mögliche Ausbleiben eines Ausländers dann keineswegs mehr zur Begründung von Fluchtgefahr herhalten darf, wenn eine hinreichende rechtliche Garantie dafür besteht, dass das Strafverfahren durch ein nationales Gericht des betreffenden Staates, dem der Verdächtige angehört, durchgeführt wird 32. Diesen Überlegungen ist aber – abgesehen von allen sonstigen Vorbe31 Vgl. in diesem Zusammenhang und aus jüngerer Zeit nur den von Wolter, in: FS-Rolinski (2002), S. 273, 276 ff., skizzierten Ausbau der Verflechtungen zwischen repressiver Strafverfolgung und präventiver Verhinderung von Straftaten durch das Strafverfahrensrecht. Der Ausbau steht – jedenfalls was die Rechte von Beschuldigten angeht – in der Tradition des Abschlussberichts. 32 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen von Bleckmann, StV 1995, 552, 554 f. Für ihn stellt sich die Frage, ob der Gedanke des nationalen Strafanspruchs in einem vereinten Europa gelten kann, mit Blick auf die Cassis de Dijon-Rechtsprechung des EuGH, EuGHE 1979, 649, 645 („freier Warenverkehr“). Der EuGH geht davon aus, dass die jeweilige Legislative und Exekutive aller Mitgliedstaaten der Gemeinschaft die Allgemeininteressen in gleichem Maße effektiv schützt, wie diese Allgemeininteressen in der Bundesrepublik durchgesetzt werden. „Der Grundsatz der Inländergleichheit“, so Bleckmann, a. a. O. S. 555, verlange, „daß eine Vereite-

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Schluss

halten – nur dann im Grundsatz zuzustimmen, sofern sie (verdeckter) Diskriminierung Einhalt gebieten können. Inwieweit, davon abgesehen, die Rolle des Euoparates Einfluss auf die Ächtung jeder Art von Diskriminierung im Haftrecht haben kann, bleibt abzuwarten. In der Recommendation 1245 aus dem Jahre 1994 – on the detention of persons pending trial – heißt es unter 6 d.: „non-residents and aliens must under no circumstances be discriminated against“ 33. Hätte sich der Gesetzgeber des § 127 b StPO tatsächlich zur Maßgabe gemacht, „under no circumstances“ Diskriminierung zuzulassen, hätte er die risikobehaftete Norm sicher nicht verabschiedet. Für die Zukunft könnte das Diskriminierungsverbot Orientierung bieten. Mit Blick auf die Härte des Eingriffs durch Haft könnten schließlich die European Rules on Community Sanctions and Measures das Bewusstsein dafür stärken, dass in der Behandlung von Kriminalität vermehrt auf den Ausbau ambulanter Reaktionsformen geschaut wird 34. Auf bundesdeutscher Ebene könnte sich das Bundesverfassungsgericht schließlich von der bisherigen Ableitung der Funktionstüchtigkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip verabschieden. Angesichts der Beständigkeit der Rechtsprechung ist das zwar freilich Zukunftsmusik. Dennoch wäre es eine vielversprechende Neuerung. Viele Unklarheiten fielen aus der Argumentation – auch aus der zur Legitimation von Gesetzen. In der allgemeingültigen Ableitung der Funktionstüchtigkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip im Umfeld von „Wahrheit“, „Rechtsfrieden“ und „Gerechtigkeit“ liegt ein wesentliches Übel. Pauschale Verweise darauf haben zu wenig argumentativen Gehalt, um den Effektivitätszweck von Normen tatsächlich hervorzuheben. Dagegen gilt es anzugehen. Warum sollte das Haftrecht also nicht den Anfang machen, in der Gewichtung der Funktionstüchtigkeit umzudenken und Klarheit zu schaffen? Mit wirkungsund eingriffsorientierter Argumentation können die Freiheitsrechte besonders deutlich hervorgehoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Haftrecht könnte so zum Wegbereiter liberalerer Vorstellungen werden. Manche Verweise auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimation des § 127 b StPO sind jedenfalls verfehlt: denn offenbar ging es in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zur Wiederholungsgefahr und zur Tatschwere 35 nicht um den Anwendungsbereich des § 127 b StPO. Dennoch werden lung des Verfahrens durch eine Flucht von EG-Ausländern nicht höher eingeschätzt wird als die von Deutschen“. 33 Siehe Parliamentary Assembly of the Council of Europe. 1994 Session. Recommendation 1245 – on the detention of persons pending trial – Assembly debate on 30. June 1994 (22nd Sitting; see Document 7094, report of the Committee on Legal Affairs and Human Rights, Rapporteur: Mr. Rokoyllos), p. 2. 34 Zu Inhalt, Funktion und möglicher Wirkung der „European Rules on Community Sanctions and Measures“ (N° R (92) 16) vgl. näher Jung, in: FS-Böhm (1999), S. 69, 69 ff. 35 BVerfGE 35, 185, 185 ff. („Wiederholungsgefahr“); BVerfGE 19, 342, 342 ff. („Tatschwere“).

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

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die Entscheidungen als Argumentationshilfen genutzt, den Präventionsansatz in § 127 b StPO zu verteidigen. Klarstellungen in der Rechtsprechung zur Funktionstüchtigkeit könnten in Zukunft auch verhindern, dass Normen wie § 127 b StPO mit den Prozesszielen „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“ und „Rechtsfriede“ aufgewertet werden. Tatsächlich ist § 127 b StPO eine „verfassungsrechtlich fragwürdige“ und darüber hinaus „ineffektive“ Regelung; „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“ und „Rechtsfriede“ im Sinne des Grundgesetzes, kann eine solche Norm nicht fördern.

F. Ob § 127 b StPO „kriminalpolitischer Aktionismus im Sinne symbolischer Gesetzgebung“ 36 ist, ist schwer zu entscheiden. Zwar ist die Regelung ineffektiv, und Ineffektivität wird als Kennzeichen symbolischer Gesetzgebung genannt 37. Die weitgehende Enthaltsamkeit der Strafverfolgungsorgane bisher spricht jedoch weder ganz für noch total gegen „Symbolik“. Nach Nolls allgemein formuliertem Verständnis fallen nur solche Rechtssätze darunter, bei denen die an der Gesetzgebung Beteiligten die Ineffektivität einer Norm kennen und trotzdem an ihr festhalten, und zwar aus Motiven, die mit der Verwirklichung der Norm unmittelbar nichts zu tun haben 38. Können wir das dem Gesetzgeber unterstellen? Wäre es überhaupt schlimm, wenn es so wäre? Die letzte Frage ist freilich leicht beantwortet: Ja, das wäre schlimm. Denn § 127 b StPO ist, gemessen an dem was Noll meint, keine „harmlose“ Regelung. Für Noll ist Symbolik zumindest dann nicht mehr „harmlos“, wenn sich mit ihr „politische Ideologien“ verbinden 39. Dabei kommt es nicht darauf an, in irgendwelchen „rechts-links-Kategorien“ zu denken. Anschauungen, Leitbilder und Werte können im Interesse der Machterhaltung unabhängig davon missbraucht werden, ob es nun politisch „nach rechts“ geht oder „nach links“. Denken wir nur an die Diskussion um das Grund- und Menschenrecht auf Sicherheit und gleichzeitig an „Ausländer“, „Wohnsitzlose“, „Landstreicher“ usw. im Fokus von § 127 b StPO, ist die Regelung nicht „harmlos“. Sie ist geradezu gefährlich, denn in der 36

Vgl. zu „symbolisches Recht als ineffektives Recht“ Jens Christian Müller, KJ 1994, 82,

86 f. 37 So Dünkel, NK 1994, 20, 25, zum Entwurf des Verbrechensbekämpfungsgesetzes. Siehe zur Entwicklung des Diskurses über „symbolische Gesetzgebung“ z. B. Seelmann, KritV 1992, 452, 461 ff. 38 Vgl. Noll, ZfSR 100 (1981), 347, 355, wie auch ders., Gesetzgebungslehre (1973), S. 156 ff., zur Schädlichkeit von Neben- und Spätfolgen von Gesetzen. 39 Noll, ZfSR 100 (1981), 347, 360. Zum Begriff der „symbolischen Politik“ im Kontext zum Diskurs um „symbolisches Strafrecht“ vgl. Lehne, KJ 1994, 210, 217 ff. Für Lehne, a. a. O. S. 218, ist „Ein Extremfall (...) sicherlich die Inszenierung politischer Aktivitäten, die in der Sache gar nichts bewirken und lediglich dazu gut sind, bei der Öffentlichkeit zum Zwecke der Sicherung von Massenloyalität den Eindruck von Entschlossenheit und Tatkraft zu erzeugen, während sich auf der Hinterbühne gegensätzliche Interessen Geltung verschafft haben“.

27 Giring

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Schluss

Verbindung „Recht auf Sicherheit“ und „Effektivität“ stützt sich gegenseitig und wird dadurch stark, was für sich betrachtet keine wirklich gehaltvolle verfassungsrechtliche Verankerung hat. Im Zusammenspiel von alledem hat § 127 b StPO weniger eine verfassungsrechtliche als eine deutlich ideologische Stütze. Es geht mehr um bestimmte Anschauungen, Leitbilder und Werte in der Gesellschaft, als um die Wirkung des Rechtseingriffs für den Einzelnen. Letztlich scheint sie auch politisch dem Zweck der Machterhaltung dienen zu können. Jedenfalls hätten die verfassungsrechtlich gesicherten Freiräume jedes Einzelnen in der Auseinandersetzung um § 127 b StPO pointierter artikuliert werden können. Der im eigentlichen Sinne liberale Gehalt der Grund- und Menschenrechte sowie die Verfahrensgarantien zwingen zur Abwägung „greifbarer“ Argumente.

G. Muss eine nicht harmlose und sogar gefährliche Norm daher als „sachfremd“ erklärt werden, und muss verlangt werden, dass sich die Strafverfolgungsbehörden ihrer möglichst enthalten? Das ist keine schlechte Idee. Die Antwort lautet dennoch klar: „Nein!“ Denn die Maßnahmen träfen zu kurz. Dabei würde, um wieder auf Noll zurückzukommen, eine „wichtige Dimension des Rechts“ übersehen: der mögliche Schaden an der „Effektivität der rechtlichen Ordnung“ 40. Im Sinne Hassemers und Jens Christian Müllers ist nur eine Strafverfolgung, die sich auf Dauer in das Gefüge der Grundrechte eingliedert, auf Dauer effektiv 41. Alsberg formulierte schon 1925 treffend und zeitlos gültig: „Nichts bedroht (...) den Kredit, auf dem das Ansehen der Rechtspflege beruht, so sehr, als wenn sie selbst, wenn auch unbewußt, die Fesseln des Rechts und der Humanität abstreift und nicht durch eigenes Beispiel pflegt, wozu sie den Bürger erziehen will“ 42. Dem ist zuzustimmen. Auf § 127 b StPO übertragen, kann formuliert werden: Der Glaube an das Recht geht schon dann verloren, wenn nur angedeutet wird, dass § 127 b StPO ein Passepartout für die öffentliche Sicherheit ist, die Regelung jedoch erhebliche Gefahren für die eigene Sicherheit mit sich bringt. Im Ergebnis gibt es daher nur einen Ausweg, § 127 b StPO zu entgehen. Da § 127 b StPO unterm Strich Gefahr läuft, für den Rechtsstaat viel mehr Verlust einVgl. Noll, ZfSR 100 (1981), 347, 363. Vgl. Hassemer, KritV 1988, 336, 348, wonach der Staat, der zu seinen „Verfolgungsinteressen Distanz hält, seine Souveränität und Glaubwürdigkeit bewahrt. Der Staat, der kaum verhältnismäßige Gesetze gegen seine Bürger richtet, erweckt den Eindruck, als stünde er mit dem Rücken zur Wand“. Jens Christian Müller, KJ 1994, 82, 86 f., geht zwar einerseits von der Ineffektivität symbolischen Rechts aus, stellt jedoch, a.a. O. S. 95, zu Recht klar, dass das „Recht auch und gerade in seinem Kernbereich symbolisch ist“. An diesem Punkt, so Jens Christian Müller a. a. O., „hindert eine Theorie ‚symbolischer Gesetzgebung‘ eher, als daß sie sie befördert“ [Hervorhebung im Original]. 42 Alsberg, JW 1925, 1433, 1439. 40 41

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

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zufahren als Gewinn, ist auf die Norm zu verzichten – und mit ihr auf deren „rechtsbewußtseinsbildende Kraft“, von der Tiedemann allgemein im Zusammenhang mit Strafnormen schreibt 43. Der beste Schutz vor jedweder Gefahr, die von § 127 b StPO für den Rechtsstaat ausgeht, ist die ersatzlose Streichung der Norm. Mit Riklin gesprochen, ist gegenüber den Gefahren jede durch den Verzicht auf § 127 b StPO vorstellbare praktische „Effizienzminderung“ „der Preis, den wir mit Rücksicht auf das hochwertige Rechtsgut der persönlichen Freiheit bezahlen müssen“ 44. „Verschlankung der Justiz“ und „Zunahme des Haft- und festnahmerechtlichen Instrumentariums“ sind Begriffe, die sich schon sprachlich abstoßen. Haft, Festnahme, Effektivität und Rechtsstaatlichkeit passen auch inhaltlich nicht zusammen. Zumindest nicht in dem Kriminalitätsbereich, um den es geht. Für die angestrengte Erweiterung des § 127 b StPO in das Jugendverfahren bleibt kein Raum 45. Adäquate „Nachbesserungen“ bieten sich zu § 127 b StPO nicht an. Erst die Streichung hilft, den Horizont zu lichten.

I. Freilich sind damit nicht alle Blicke klar – und schon gar nicht von heute auf morgen. Jeder Zeitungsleserin und jedem Zeitungsleser werden Gesetzgeber und Strafverfolgungsorgane ständig derart ins Gedächtnis gerufen, als kämen sie ihrer kriminalpolitischen Funktion kaum im Mindesten nach – von Woche zu Woche und von Tag zu Tag: „(...) es vergeht bis zu einer Verurteilung zu viel Zeit – falls es überhaupt je dazu kommt.“; „So droht das Strafrecht seinen Wert zu verlieren.“: „Die Polizei“, heißt es, „fühlt sich ohnmächtig von der Politik allein gelassen.“; „Ohne Zweifel: Einsperren, scharfe Sanktionen garantieren nicht, dass die Täter sich wirklich bessern. Aber es gibt auch jugendliche Verbrecher, vor denen sich die Gesellschaft nicht anders schützen kann“ 46. „Die Justiz in Deutschland ist zu lasch. Das hat sich doch schon oft erwiesen!“ 47. Das ist im Tenor auch eine weit vertretene Meinung im wissenschaftlichen Schrifttum. Gerade auch bei kleineren Delikten wird ein konsequentes Verfahrensrecht gefordert. Denn das materielle Strafrecht und damit auch die Zwecke, die dies verfolgt, dürften nicht leerlaufen. Nach Schlüchter/Fülber/Putzke beispielsweise, stehen einfache Straftaten, „generell Bagatelldelikte wie Ladendiebstähle Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1990), S. 21. Riklin, SZfStr 104 (1987), 57, 91. 45 Vgl. nur H.-J. Albrecht, Gutachten D für den 64. Deutschen Juristentag (2002), D.134 m. w. N., der sich, wie schon der 25. Deutsche Juristentag, gegen die Ausweitung des beschleunigten Verfahrens gem. §§ 417 ff. StPO in das Jugendverfahren ausspricht. 46 So wahllos herausgegriffene Zitate aus DIE ZEIT Nr. 13, 21.03.1997, Politik, S. 3, Teil 1 der achtteiligen ZEIT-Serie „Kriminalität. Was tun?“. Die Serie setzt sich objektiv mit verschiedenen nationalen und internationalen Kriminalitätsbekämpfungsmodellen auseinander. 47 Bild am Sonntag, 07.05.2000, Leserbrief S. 14, – praktisch „beliebig“ aus dem Medium gegriffen. 43 44

27*

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Schluss

(...) nicht selten am Anfang einer kriminellen Karriere“. Bleiben sie „ohne Reaktion“, so werde „hierdurch ein falsches Zeichen gesetzt“ 48. Der Staat müsse in seiner Reaktion auf strafrechtlich relevante Verstöße zeigen, dass er selbst die Gebote der Rechtsordnung ernst nehme, sowie einen hinreichenden Schutz zu gewähren, bereit und in der Lage sein. „Die Delinquenten meinen“, so fahren Schlüchter/Fülber/Putzke fort, „sie könnten ruhig Straftaten begehen, ja hierbei sogar entdeckt werden; gleichwohl reagiere der Staat nicht“. Ein solcher „Eindruck von Schwäche“ fordere „Täter nicht nur geradezu auf, neue Straftaten zu begehen“. „Schaden“ nehme darüber hinaus die „Rechtstreue der Bevölkerung, die sich vorsätzlichem kriminellem Verhalten ausgeliefert sieht, ohne daß der Staat eingreift“ 49. Dann verfehle dieser aber seine ihm vom „Rechtsstaatsgedanken (...) überantwortete Aufgabe eines effektiven Strafrechtsschutzes“ 50. Dies lässt sich so deuten, als sei der Staat zum Schutz der Bevölkerung und zur Mahnung der Beschuldigten aus präventiven und erzieherischen Zwecken verpflichtet, ein durchschlagendes Strafverfahrensrecht zur Verfügung zu stellen. Übertragen auf § 127 b StPO, lässt sich danach die Regelung aus einer Verpflichtung des Staates begründen, eine Reaktionsmöglichkeit gegenüber wahrscheinlich fernbleibenden Beschuldigten schaffen zu müssen, um diese nicht zum Fernbleiben zu ermutigen. Könnte der Staat nicht reagieren, sähe sich die Bevölkerung Beschuldigten weiter ausgeliefert, wodurch die „allgemeine Rechtstreue“ Schaden nehme. Dem ist keineswegs beizupflichten. Denn die Diagnose „Überforderung der Strafjustiz“ wird gleichzeitig zum politischen Konzept für ihre Behandlung. Eine nach dem bisherigen Recht für überfordert gehaltene Strafjustiz soll mehr Durchschlagskraft erhalten, indem sie der Gesetzgeber mit einem immer weiteren Wirkungsfeld – in jedem Kriminalitätsbereich mit bis weit in Bürgerhandeln hineinreichende Ermächtigungsgrundlagen – weiter überfordert. Das kann nicht funktionieren. Es kann auch nicht effektiv sein. Zur Rechtfertigung des Konzepts werden letzten Endes zu pauschal Fragen nach den Zwecken des Strafverfahrens und des materiellen Strafrechts mit zu engen Ansichten über die Bedeutung des Legalitätsprinzips vermischt. Und das hat Folgen. Die Ehrung einer Ermächtigung zum Freiheitsentzug als „Effektivitätsbringer“ auch in niedrigeren Kriminalitätsbereichen, verbaut zumindest ebenda das Fenster zu adäquateren Lösungen. Es ist nicht so, dass der Staat dort, wo er Beschuldigte auf freiem Fuß belässt, von jeder spürbaren Reaktion absieht, auch wenn ein Fernbleiben zu erwarten ist. Das ist nicht einmal dann der Fall, wenn ein Fernbleiben sicher ist. Keineswegs überall, wo das Legalitätsprinzip nicht als „Ahndung nach Möglichkeit“ verstanden wird, geht Nichtsanktionierung zu Lasten der Zwecke des materiellen Strafrechts. Wenn wir aus wirtschaftlichen Gründen die Organisation des gerichtlichen Verfahrens nicht derart umgestalten können, dass schnellere Prozesse ohne Kosten für die Rechtsstaatlichkeit ablaufen, müssen wir 48 49 50

Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 57 f. m. w. N. Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 58. Schlüchter/Fülber/Putzke, Beschleunigtes Verfahren (1999), S. 58.

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

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die Alternativen zur Durchführung des Verfahrens bis zum Urteil umso ernster ins Blickfeld nehmen.

J. Informelle Sanktionen sind ein möglicher Ausweg. Dieser bietet wohl weniger Stigma als ein mit Haft und Festnahme gesichertes, beschleunigtes Verfahren, und dennoch ist er für den Betroffenen nicht wirkungslos. Somit führt der Weg auch nicht in die Schwächung eines irgendwie gearteten Vertrauens der Bevölkerung in die Durchsetzungskraft der Rechtsordnung. Freilich gilt es aber, auf dieser Seite nicht Opportunität kritiklos gutzureden. Sie muss ebenfalls mit einem möglichen Maß an Bestimmtheit verfasst sein – gerade weil Rechtsverluste für Beschuldigte spürbar sind. Bestimmbarkeit macht Überprüfbarkeit erst möglich. Fehlentscheidungen im Vorfeld durch klare Vorgaben verhindern zu können, ist besser als „nur“ die Chance zu haben, sie erst hinterher wieder aus der Welt zu schaffen. Das „konsensuale Element“ der Erledigungsformen, wie etwa bei „Wiedergutmachung“ und „Mediation“, muss in der Sache das Wort verdienen. Das heißt, die Einwilligung des Beschuldigten darf nicht zum versteckten Zwang verkommen. Bei alledem gilt es wirkungsorientiert anzusetzen und mit im eigentlichen Sinne liberaler grundund menschenrechtlicher Perspektive zu argumentieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob es nun tatsächlich innerhalb des Strafrechts zum Rechtseingriff kommt, oder ob dieser etwa aufgrund einer zivilrechtsorientierten Wiedergutmachung oder Mediation ausgelagert wäre. Aufgrund der Tendenz hin zur Freiheit des Individuums sind Rechtseingriffe durch den Staat immer mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. „Unwichtige Nebenschauplätze“ kann es nicht geben, wenn die Wirkung der staatlichen Maßnahme entscheidend ist 51. Den wie auch immer gearteten und wo auch immer im Recht angesiedelten Prozess der Sanktionierung im Vorfeld zu verhindern, scheint im Sinne der Effektivität eine geeignete Zielvorstellung. Gemeint ist aber nicht die Verhinderung künftiger Verfahren durch das Prozessrecht selbst. Obdachlose und Nichtsesshafte sind in erster Linie Fälle für die Sozialverwaltung. Das Fehlen einer Unterkunft ist eine „besondere soziale Schwierigkeit“ im Sinne des § 72 Abs. 1 BSHG, die der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft entgegensteht. Den Betroffenen ist Hilfe zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu gewähren. „Außenseiter“ werden wieder eingegliedert 52. Trotz möglicher ordnungs- und auch strafrechtlicher Ansatzpunk51 Vgl. Jung, Was ist Strafe? (2000), wonach zwischen „Strafe“ einerseits und etwa „Diversion“ (S. 60–67), „Ordnungswidrigkeit“ (S. 49–53), „Erziehung“ (S. 42–53), „Maßregel“ (S. 33–41), „Schadensersatz“, „Wiedergutmachung“ (S. 23–32) andererseits, aufgrund der Wirkung der jeweiligen Maßnahme weitgehend „unsichere Trennungslinien“ bestehen; als Konsequenz plädiert Jung, a. a. O. S. 82, für eine Optimierung des Rechtsschutzes. Siehe auch ders., EuGRZ 1996, 370, 373. 52 Gem. § 72 Abs. 2 BSHG erfasst die soziale Hilfe im Wesentlichen die persönliche Beratung und Betreuung, die Unterstützung bei der Beschaffung einer Wohnung und die Suche

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Schluss

te, laufen Instrumentarien aus diesen Bereichen weitgehend leer. Das ist keine neue Erkenntnis 53. Das Strafrecht kann auch die Ursachen der Rechtsverstöße durch Jugendliche nicht beheben. Sich dessen bewusst, gründete sich am 28.05.2002 der Bundesverband der Jugendgerichtshäuser Deutschland e. V. Der Verband hat sich zum Ziel gesetzt, „Hilfestellung zur Zukunftsfähigkeit junger Menschen“ zu geben 54. Das scheint ein vielversprechender Ansatz zu sein: Soweit dies heute beurteilt werden kann, stellt er die Rechte des jeweils individuell Betroffenen in den Vordergrund; zudem werden als Bestimmung der Einrichtung „Optimierung der Effektivität bei der Bekämpfung von Jugenddelinquenz“ und die „Beschleunigung staatlicher Reaktionen auf Straftaten junger Menschen“ genannt 55. Wem der vorgesehene Aufgabenbereich für Jugendgerichtshäuser „wirkungslos“ oder wem er – mit Schlüchter/Fülber/Putzke gesprochen –, „zu lasch“ erscheint, der kann über die Zukunft der Häuser als Orte der „Information“ aber auch der „informellen Sanktion“ nachdenken 56. Freilich müssten alle Sanktionen und deren Voraussetzungen vorhersehbar und die Systematik gegenüber dem bestehenden prozessualen System klar sein. Jugendliche sind mit dem Ausbau von Informations- und Orientierungsstätten sicher eher erreichbar als mit dem Ausbau des beschleunigten Verfahrens in das Jugendstrafverfahren mit einhergehender Haft und Festnahme gemäß § 127 b StPO. Gerade bei Jugendlichen wird durch den Strafprozess vieles meist zu spät angegangen, was „ambulant“ mit guten Erfolgsaussichten vielleicht hätte verhindert werden können. Nach H.-J. Albrechts Gutachten zum 64. Deutschen Juristentag in Berlin sind, wie es heißt, „Erwartungen an eine Erhöhung der präventiven Effizienz durch Erweiterung des beschleunigten Verfahrens in das Jugendverfahren verfehlt“ 57. Die Einbeziehung des § 127 b StPO macht den Präventionsansatz des beschleunigten Verfahrens nicht vielversprechender. Abgesehen von der mangelhaften Wirkweise, stößt der präventive Ansatz des § 127 b StPO, wie erörtert, auch auf Widerstand der Unschuldsvermutung. Weshalb sollte die Präventiv-Legitimation der Haft- und Festnahmenorm im Erwachsenenverfahren unzulässig und im Junach einem Arbeitsplatz. Zur Durchführung der erforderlichen Maßnahmen ist ein Gesamtplan zu erstellen. 53 Vgl. Wohlfahrt, BayVBl. 1997, 420, 427. 54 Vgl. hierzu die Dokumentation von v. Hasseln, NK 2002, 50, 52 ff., über den aktuellen Stand der Arbeit aller Vereine und Initiativen, die sich zum Bundesverband zusammengeschlossen haben. Siehe auch dies., DRiZ 2000, 430, 430 f., und dies., DVJJ-Journal 2001, 151, 151 ff. recht ausführlich zu den Zielen, Aufgaben etc. eines Jugendrechtshauses. Informativ ist auch der Bericht zur Jahresbilanz von Schairer/Kühner, Kriminalistik 2001, 101, 101 ff., über die Arbeit des Jugendrechtshauses in Stuttgart. 55 Vgl. wieder Schairer/Kühner, Kriminalistik 2001, 101, 101. 56 Vgl. in diesem Zusammenhang Henrion, MschrKrim 2002, 171, 171 ff., zur Funktion und Wirkung der „Häuser der Justiz und des Rechts“ in Frankreich. In diesen Häusern werden Fälle kleinerer Kriminalität durch Mediation reguliert, so erörtert ders. a. a. O. S. 177, ohne eine vorherige staatsanwaltschaftliche Entscheidung einzuholen. 57 Vgl. nur H.-J. Albrecht, Gutachten D für den 64. Deutschen Juristentag (2002), D.134.

2. Abschn.: Ausblick und Vorschlag, § 127 b StPO zu streichen

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gendgerichtsverfahren zulässig sein? Es gibt keinen Grund. Mit Achtung der Unschuldsvermutung sind Prävention und Erziehung für § 127 b StPO immer unzulässige Legitimationsgründe.

K. Im Ergebnis ist es nicht nur zu bezweifeln, dass es wünschenswert wäre, sämtliche Straftaten hart aufgeklärt und hart geahndet zu sehen. Die Optimierung des Verfahrens mit Hilfe von Haft- und Festnahme ist der falsche Weg. Weigend ist zu Recht der Ansicht, dass eine Vorstellung vom Strafrecht, wonach jedes Delikt der Strafe bedarf, „in ein archaisches, autoritäres Strafrechtssystem“ gehört58. Ein für alle Fälle mit allen Mitteln gewappnetes Strafverfahrensrecht gehört auch in ein solches. Es wäre geradezu „unerträglich“ 59, wenn versucht würde, jedem möglichen Verstoß gegen ein Strafgesetz ein Ermittlungsverfahren mit staatlichen Sanktionen folgen zu lassen. Anstrengungen darauf würden nicht nur vieles teurer und schwerfälliger machen. Ein Netz, das bestimmt ist, den Schwarm aller Verdächtigen festzusetzen, hat zu enge Maschen. Darin werden zu viele Unschuldige ihrer Freiheit beraubt. Je enger die Maschen eines Netzes sind, desto unüberlegter lässt es sich auswerfen. Der von Kadish geprägte Begriff der „Overcriminalization“ 60 steht auch für Bequemlichkeit und in letzter Instanz für die Beliebigkeit in der Einsetzung des Strafrechts. Es muss also nicht jedes Verfahren vor irgendwie erwarteten Boykotten gesichert werden. Je geringer der Anlass und umso härter das Mittel ist, mit dem das Verfahren geschützt werden soll, desto angezeigter ist Verzicht. Im Rechtsstaat gebieten die zur Freiheit ausgerichteten Grund- und Menschenrechte eher geeigneten und erforderlichen Verzicht auf Sanktionen, als dass sie die Sicherung der Strafverfolgung mit Mitteln der Freiheitsentziehung fordern. Je weitreichender das (freiheitsbeschränkende) Haftrecht auf das (freiheitsgewährende) Fundament aus Grund- und Menschenrechten gebaut ist, desto unverständlicher, unkontrollierbarer und instabiler ist das Rechtssystem. Je weniger kontrollierbar Eingriffe in die Interessen der Beschuldigten sind, desto anfälliger ist das Haftrecht für Missbrauch und Willkür. § 127 b StPO ist heute ein guter Boden für Rechtswidrigkeit. Bleibt die Norm bestehen, muss man kein Pessimist sein, um die Zukunft eher düster einzuschätzen. Die Gesellschaft ist vor Krisen nicht gefeit. Kommen Krisen auf – ob politische, soziale, ökonomische, ökologische oder wie auch immer bedingte – wird die Justiz gegen Verdächtige härter vorgehen. Spätestens dann kann Rechtsmissbrauch aufgrund § 127 b StPO ausufern. Weigend, ZStW 109 (1997), 103, 104. Herrmann, ZStW 96 (1984), 455, 465. 60 Kadish, in: The Annals of the America Academy of Political and Social Science (1967), p. 157–170; vgl. hierzu auch Sack, KritV 1990, 327, 340 f. 58 59

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Schluss

Das Gefahrenpotential der Regelung muss im Kern angegangen werden. Einzig angemessene Reaktion auf die Risiken der Norm ist ihre umgehende und ersatzlose Streichung. Diese Reduktion ist „effektiv“ – nicht die Ausweitung der Regelung in das Jugendstrafverfahren. Erst ein von § 127 b StPO befreites Strafrecht kann sich konzentrierter seiner angestammten Aufgabe zuwenden, letzte Reaktion des Staates auf Rechtsverletzungen zu sein. Zur Hervorhebung der Bedeutung des Anliegens sei das eingangs gegebene Zitat von Eberhard Schmidt 61 wiederholt: „Geist und Charakter eines Strafprozeßrechts sind ganz wesentlich abhängig davon, wie es zur Frage der Verhaftung steht“. Das abschließende Zitat von Max Alsberg 62 soll überdies Mahnung sein und zur Streichung des § 127 b StPO ermutigen: „Daß die Zwangslage, in der sich die Justiz gegenüber der Bedrohung ihrer Macht befindet, somit von ihr wenigstens zum Teil selbst verschuldet ist, darf ihr nicht den Weg sperren, das wieder zu gewinnen, dessen sie zur Stabilisierung der Souveränität des Rechts bedarf. Aber diese Sorge und Angst um das eigene Wohl darf nicht zu einem Verfall in Sitten führen, die den Konflikt zwischen Staatsnutzen auf der einen Seite, Recht und Humanität auf der anderen Seite bedenkenlos zu Gunsten der sogenannten Staatsnotwendigkeit entscheiden lassen“.

61 62

Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte (1965), S. 339; siehe auch oben S. 5. Alsberg, JW 1925, 1433, 1439.

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Sachwortverzeichnis Absehen von Strafe 40, 123, 148, 149, 150 – siehe auch Geeignetheit der Sache (Vorrang anderer Verfahren) Abstammung siehe Gleichheitsgrundsatz abstrakte Gefahr 166, 170, 355 Abwehrrecht 121, 243, 269, 271, 316, 399 Abwesenheit des Beschuldigten 128, 129, 162 Abwesenheitsverfahren 80, 276, 291, 304, 305 Akteneinsicht 28, 75, 252, 256, 376, 377, 380, 382, 388 aktive Handlung siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Allgemeininteresse 44, 56, 74, 84, 91, 231, 232, 237, 239, 240, 244, 247, 248, 254, 256, 258, 260, 264, 271, 272, 282, 291, 292, 314, 325, 398, 402, 415 – siehe auch öffentliches Interesse Alltagskriminalität 35, 94, 157, 158, 411 – siehe auch Bagatellkriminalität Amtshaftungsanspruch 172, 395 Angemessenheit siehe Verhältnismäßigkeit Anhörung des Beschuldigten 154, 407 Anklage 71, 96, 201, 226, 250, 253, 342, 372, 373, 374, 381, 389 Anstiftung 160 antizipierte Schuldvorhaltung siehe Unschuldsvermutung antizipierte Strafwirkung siehe Unschuldsvermutung Antragsdelikt 147 Anwaltnotdienst siehe Verteidigernotdienst Anwendungszahlen des § 127 b StPO 38, 46, 410 Anwesenheit und Wahrheitserforschung 276

Anwesenheitspflicht 27, 174, 256, 272, 276, 278 – siehe auch Legitimation des § 127 b StPO (Sicherung der Anwesenheit) Anwesenheitsrecht 272, 274, 277, 279, 304 – siehe auch Legitimation des §127bStPO (Sicherung der Anwesenheit) Arbeitslosigkeit siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Arbeitsplatz siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Arbeitsplatzwechsel siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Arrest 64, 313, 342 auf frischer Tat 23, 31, 48, 50, 159, 172, 202, 214, 216, 218, 220, 221, 224, 228, 233, 298, 302, 310 Aufhebung des Hauptverhandlungshaftbefehls 208 Ausbleiben von der Hauptverhandlung siehe Hauptverhandlung trotz Ausbleibens Ausland 82, 88, 178, 179, 181, 182, 191, 192, 195, 306, 307, 309, 311, 313 Ausländer 32, 64, 69, 70, 94, 98, 99, 178, 192, 193, 195, 196, 305, 306, 348, 349, 361, 365, 384, 385, 395, 403, 406, 415, 417 ausländerfeindlich 61, 62, 94, 102, 157 Ausländergesetz 135, 189 Ausreise 193 Ausschlussdiskurs 61 Ausschreibung zur Festnahme 207, 396 Ausschreitungen 61, 62, 74, 75 Außervollzugsetzung des Hauptverhandlungshaftbefehls siehe Hauptverhandlungshaftbefehl Ausweispapier 73, 81, 83, 101, 182

Sachwortverzeichnis Baden-Württemberg 35, 95 Bagatelldelikt 45, 419 Bagatellkriminalität 73, 87, 145, 157, 321 – siehe auch Alltagskriminalität Bayern 35, 37, 38 Beamte des Polizeidienstes siehe Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO Bedeutung der Sache siehe Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) Befristung 38, 50, 67, 71, 72, 96, 105, 108, 109, 196, 197, 208, 209, 236, 324, 331, 343, 402, 407 – siehe auch unverzügliche Entscheidung – siehe auch Wochenfrist Befürchtung des Fernbleibens 39, 48, 66, 83, 105, 106, 159, 162, 165, 179, 186, 191, 194, 195, 300, 304, 307, 308, 326, 330, 344, 355, 361, 363, 365, 367 – Allgemeines 162 – Befürchtungsprognose 163, 166, 171, 172, 174, 175, 182, 184, 187, 190, 192, 198, 394 – bestimmte Tatsachen siehe dort – Kritik 167 – Straferwartung 182, 395 – Vergleich mit Gefahrprognose 163, 171 Befürchtungsprognose siehe Befürchtung des Fernbleibens Beihilfe 160 Bekanntgabe des Hauptverhandlungshaftbefehls siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls Belehrung 205, 370, 384, 385 Benachrichtigung von Angehörigen 73, 204, 208 Berlin 34, 135 Beruf 48, 188, 190, 196, 322 Besatzungszonen 82 beschleunigtes Verfahren 23, 25, 33, 35, 38, 40, 49, 52, 57, 67, 75, 95, 97, 100, 105, 107, 109, 110, 113, 125, 127, 128, 129, 135, 136, 139, 140, 142, 144, 145, 146, 150, 152, 153, 155, 158, 160, 172, 184, 194, 197, 198, 199, 218, 223, 224, 226, 229, 230, 233, 251, 296, 302, 323, 329, 333, 341, 344, 350, 355, 359, 362, 364, 374, 386, 391, 393, 395, 402, 404, 421

– – – –

463

Anwendungszahlen 33 Bedenken gegen die Anwendung 37 Geeignetheit der Sache siehe dort siehe auch Entscheidung im beschleunigten Verfahren – siehe auch Unschuldsvermutung Beschleunigung 23, 27, 28, 29, 47, 71, 95, 121, 131, 133, 137, 138, 148, 237, 238, 240, 251, 252, 262, 264, 317, 321, 368, 384, 390, 396, 406, 422 Beschleunigungsgebot siehe Beschleunigungsgrundsatz Beschleunigungsgrundsatz 24, 44, 95, 117, 237, 250, 251, 252, 253, 254, 400 siehe auch Funktionstüchtigkeit Beschleunigungszweck 109, 140, 141, 151, 203 Beschwerde siehe Haftbeschwerde bestimmte Tatsachen 85, 96, 162, 167, 173, 175, 182, 183, 186, 189, 190, 195, 224, 229, 344, 363, 365, 395, 409 – Allgemeines 174 – dringender Tatverdacht 175 – festgestellte Tatsachen 175, 177 Bestimmtheitsgebot siehe Bestimmtheitsgrundsatz Bestimmtheitsgrundsatz 24, 52, 292, 294, 350, 356, 365, 405 – Gefahren weiter Interpretierbarkeit 354 Betroffene oder Verfolgte 216, 220, 222, 224, 228, 397 Betrug 91 Bettler 61, 70, 99 Bewährung siehe Strafaussetzung zur Bewährung Beweisantragsrecht 27, 28, 341 Beweislage – einfach 305 – siehe auch klare Beweislage Beweisverwertungsverbot 384 Beweiswürdigung 174 Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen 149 Bindungen des Beschuldigten siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Boykottverhalten 39, 49, 96, 98, 162, 163, 165, 174, 175, 195, 330, 344, 365

464

Sachwortverzeichnis

Dauer der Untersuchungshaft siehe Haftdauer Demonstranten 31, 58, 60, 103, 157, 194, 245, 345 Deutsche Demokratische Republik 101, 178, 181 Diebesbanden 32, 159, 404, 408 Diebstahl 91, 151, 158, 221 Diskriminierung 52, 103, 305, 344, 348, 361, 365, 368, 406, 415, 416 – siehe auch Gleichheitsgrundsatz Dolmetscher 134, 135, 226, 385, 394 dringender Tatverdacht 39, 50, 68, 96, 104, 113, 115, 119, 122, 124, 142, 217, 221, 287, 307, 338, 391, 392 – Allgemeines 113 – Begriff 114 – bestimmte Tatsachen siehe dort – Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO siehe dort – Geeignetheit der Sache 142 – Grundsätze 119 – Kritik 118 – Strafbarkeitsprognose 115, 142 – Straferwartung 120, 393 – Unschuldsvermutung siehe dort – wahrscheinliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren siehe dort

254, 257, 259, 260, 261, 262, 263, 266, 267, 269, 271, 272, 280, 283, 292, 296, 298, 299, 310, 314, 315, 322, 323, 324, 325, 334, 355, 356, 363, 367, 371, 375, 379, 380, 381, 388, 397, 398, 400, 404, 407, 410, 414, 415, 418, 419, 421 – siehe auch Funktionstüchtigkeit Effizienz siehe Funktionstüchtigkeit Eilbedürftigkeit 97, 198, 206 einfacher Sachverhalt 127, 136, 137, 139, 141, 159, 160, 194, 270, 324, 341, 400 – Kriterien 139 Einstellung wegen Geringfügigkeit 40, 145, 146, 148, 152 Einwilligung 279, 421 Entschädigung 332, 336, 402 Entscheidung im beschleunigten Verfahren – Anträge 33, 36, 201 – Geeignetheit der Sache siehe dort – unverzügliche Entscheidung siehe dort – wahrscheinliche Entscheidung siehe dort Entschuldigungsgrund 180 Entziehung der Fahrerlaubnis 106, 143, 153, 185, 303 Erforderlichkeit siehe Verhältnismäßigkeit Ermessen 77, 80, 111, 145, 303, 379 Ermittlungsrichter 380 Ermittlungsverfahren 71, 96, 97, 127, 131, 138, 150, 169, 201, 246, 339, 346, 348, 355, 381, 387, 404, 423 Eröffnungsbeschluss 309 Erregung der Öffentlichkeit 56, 77, 78, 79, 86, 99, 100, 101, 321, 347 Erwartung der Hauptverhandlung 96 erzieherische Zwecke siehe Legitimation des § 127 b StPO (Erziehung) Erziehung – Legitimation des § 127 b StPO siehe dort – Menschenwürde siehe dort (erzieherischer Ansatz) – Unschuldsvermutung siehe dort Existenzminimum 247

Effektivität 23, 29, 42, 44, 47, 51, 58, 74, 87, 112, 139, 168, 187, 191, 233, 236, 237, 239, 241, 242, 247, 248, 250, 251,

Fahrerlaubnis siehe Entziehung der Fahrerlaubnis Fahrlässigkeit 140, 222

Brandenburg 35, 36, 138 Brandstiftung 94, 158, 434 Bremen 135 Bundesrat 30, 90, 91, 95, 311 Bundestag 18, 20, 29, 30, 32, 37, 41, 64, 92, 188, 345, 349 Bundesverfassungsgericht 24, 45, 47, 51, 86, 91, 106, 208, 240, 248, 251, 252, 254, 255, 257, 260, 261, 279, 283, 285, 286, 288, 289, 290, 291, 296, 314, 316, 335, 336, 351, 352, 357, 362, 370, 371, 374, 375, 400, 402, 416 Chaostage 31, 60, 64, 156, 458 Chaostouristen 30, 39, 60, 69, 99

Sachwortverzeichnis fair trial siehe faires Verfahren faires Verfahren 41, 44, 52, 208, 231, 232, 241, 249, 268, 271, 277, 278, 281, 291, 292, 295, 335, 337, 341, 346, 368, 369, 370, 371, 372, 373, 374, 375, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 384, 387, 389, 390, 398, 399, 406, 407, 415 – Bedeutungsinhalt 370, 372, 378 – Diskussion in der Literatur 368 – fair trial 337, 372, 377, 378, 381 – Herleitung 370, 371 – Intention 376 – Waffengleichheit siehe dort Familie siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung (Bindungen familiäre) Fernbleiben von der Hauptverhandlung 185, 264, 277, 280, 396 – aktive Handlung 178 – Arbeitslosigkeit 189, 190 – Arbeitsplatz 180, 188, 193, 195, 422 – Arbeitsplatzwechsel 32, 192, 395 – Aufenthaltsort 188, 192, 194, 196 – Ausland siehe dort – Ausländer siehe dort – Ausreise siehe dort – Befristung siehe dort – Beruf siehe dort – Bindungen – familiäre 190, 396 – soziale 188, 190 – Familie 38, 48, 90, 188, 190, 193, 322 – Fernbleibevorbereitungen 181, 395 – Geschäftsreise 180, 181 – Kfz-Schaden 180 – Kinder 190 – Krankheit 180 – passiver Ungehorsam 178 – Straferwartung 196 – subjektive Seite 180 – Urlaub 180 – Verhältnisse – persönliche 188 – soziale 188 – wirtschaftliche 188 – siehe auch Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) – Wohnsitz siehe dort 30 Giring

465

– Wohnsitzlose siehe dort Fernbleibevorbereitungen siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung festgestellte Tatsachen siehe bestimmte Tatsachen Festnahme 23, 40, 43, 45, 47, 50, 52, 54, 69, 75, 92, 96, 98, 99, 105, 112, 113, 121, 124, 131, 132, 133, 134, 159, 160, 161, 177, 179, 182, 187, 196, 202, 203, 204, 209, 211, 212, 215, 216, 218, 220, 221, 224, 228, 232, 234, 236, 241, 242, 259, 260, 261, 267, 281, 282, 283, 290, 291, 292, 294, 296, 299, 303, 304, 305, 307, 308, 323, 324, 336, 350, 363, 368, 369, 374, 382, 383, 385, 391, 392, 393, 396, 401, 403, 405, 407, 408, 410, 412, 413, 419, 421, 422, 423 – Ausschreibung siehe dort – Festnahme aufgrund § 127 StPO siehe dort Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO 68, 197, 200, 211, 214, 217, 231, 234, 299, 336, 397 – auf frischer Tat siehe dort – Beamte des Polizeidienstes 229 – Betroffene oder Verfolgte siehe dort – dringender Tatverdacht 217 – Festnahmevoraussetzungen 50, 212, 214, 217, 224, 228, 397 – formelle Voraussetzungen 212 – Gefahr im Verzug 50, 215, 216, 397 – Kreis der Festzunehmenden 220, 228, 397 – materielle Voraussetzungen 214 – Rechtsbehelf 213 – Verhältnis zu § 127 StPO 50 Festnahme aufgrund § 127 StPO – Festnahmeberechtigte 222 – Rechtsbehelf 213 Feststellungshaft 81, 102 Flucht 48, 65, 68, 69, 73, 81, 83, 85, 87, 88, 90, 92, 98, 104, 105, 106, 124, 163, 166, 176, 177, 178, 179, 185, 195, 205, 207, 277, 281, 313, 326, 327, 328, 394, 395, 416

466

Sachwortverzeichnis

– Verhältnis zur Hauptverhandlungshaft siehe Haftgrund der Hauptverhandlungshaft (Verhältnis zu Flucht) Fluchtgefahr 32, 39, 46, 48, 65, 69, 87, 88, 89, 90, 92, 94, 98, 104, 106, 107, 108, 110, 124, 162, 163, 165, 166, 167, 173, 175, 176, 178, 179, 181, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 190, 191, 193, 194, 195, 205, 219, 277, 281, 282, 300, 306, 307, 308, 326, 327, 330, 355, 362, 366, 394, 415 Fluchtverdacht 57, 69, 70, 78, 83, 89, 98, 99 Verhältnis zur Hauptverhandlungshaft siehe Haftgrund der Hauptverhandlungshaft (Verhältnis zu Fluchtgefahr) Fluchtvermutung 88 formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls 49, 196 – Befristung siehe dort – Bekanntgabe 204, 294, 396 – Form 197, 210, 211, 396 – Inhalt 197, 210, 396 – Mitwirkung der Staatsanwaltschaft 50, 201 – Personalunion 197, 198, 396 – Soll-Vorschrift 197, 396 – Überblick 196 – verfahrensrechtliches Verhältnis zu den Festnahmerechten 200 – Verkündung 211 – Vernehmung 202, 203, 204 – Vorführung des Beschuldigten 202, 204 – Wochenfrist siehe dort – Zuständigkeit 49, 110, 196, 197, 198, 396 Fortführung einer verfassungswidrigen Partei 149 Frankreich 253, 333 Freiheitsstrafe 26, 29, 33, 36, 73, 87, 93, 101, 106, 120, 135, 143, 150, 157, 162, 184, 189, 259, 261, 284, 286, 287, 290, 304, 305, 306, 307, 311, 312, 319, 322, 325, 327, 329, 331, 332, 333, 340, 346, 386, 401, 402, 408

– siehe auch Strafaussetzung zur Bewährung Freispruch 64, 335, 337, 344, 348, 444 Fremdenfeindlichkeit 62, 95, 102 Frist – Befristung siehe dort – Wochenfrist siehe dort Funktionstüchtigkeit 23, 24, 43, 47, 51, 52, 232, 233, 242, 256, 257, 258, 260, 261, 263, 265, 266, 268, 271, 277, 279, 291, 293, 315, 359, 371, 375, 399, 411, 416 – Argumente für Individualvorrang 246, 248, 250, 254, 398 – Beschleunigungsgrundsatz 250 – Gerechtigkeit 262 – Grundrecht auf Sicherheit 243 – Herleitung in der Literatur 237 – Herleitung in der Rechtsprechung 255, 417 – Kontext der Verfahrensziele 255, 400 – Minimum an Funktionstüchtigkeit 237, 247, 255, 262, 267, 272, 325, 374, 397 – Pervertierung des Rechtsstaats 257, 259, 268 – Rechtsfrieden 265 – Stellenwertbestimmung 237, 239, 359 – Wahrheit 265 – siehe auch Effektivität Fürsorgepflicht 274, 275, 377, 378 Fußfessel siehe Verhältnismäßigkeit (Erforderlichkeit elektronisch überwachter Hausarrest) Geeignetheit der Sache 39, 49, 107, 123, 124, 127, 136, 139, 143, 145, 161, 218, 221, 225, 226, 340, 341, 355, 386, 392, 393, 397, 405, 407 – dringender Tatverdacht siehe dort – einfacher Sachverhalt siehe dort – Entscheidung im beschleunigten Verfahren 34, 35 – im engeren Sinne 172, 296, 313, 360 – im weiteren Sinne 143, 145, 167, 172 – klare Beweislage siehe dort – Kritik 136

Sachwortverzeichnis – Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 144 – Ungeeignetheit 144 – Vorrang anderer Verfahren 144 – Absehen von Strafe gemäß § 153 b StPO 148 – Einstellung nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen 150 – Einstellung wegen Geringfügigkeit 146 – Strafbefehlsverfahren 153 – Täter-Opfer-Ausgleich 148 Gefahr im Verzug siehe Festnahme aufgrund § 127 b Abs. 1 StPO Gefährdungsdelikt 140, 165, 170 Gefahrprognose 164, 166, 167, 171, 172, 173, 174, 187, 195, 394, 395 Geldstrafe 70, 73, 87, 93, 150, 162, 303, 306, 307, 325, 327, 328, 330, 331, 332, 409 Generalprävention 45, 147, 279 – siehe auch Legitimation des § 127 b StPO (Prävention) Gerechtigkeit 26, 41, 43, 44, 55, 56, 154, 233, 238, 239, 255, 259, 260, 261, 263, 264, 267, 268, 269, 270, 296, 315, 316, 332, 359, 371, 375, 400, 416, 417 – Begriff 55 – siehe auch Funktionstüchtigkeit Gesamtstrafenbildung 143 Geschäftsreise siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Geschäftsverteilungsplan 199 Gesetzesvorbehalt siehe Vorbehalt des Gesetzes Gesetzgebungsverfahren 29, 32, 39, 85, 90, 95, 98, 106, 107, 124, 156, 157, 161, 181, 182, 219, 229, 308, 349, 355 Gesetzmäßigkeit 24 Geständnis 137, 140, 141, 142, 155, 161, 194, 324, 383 Geständnisdruck 383, 384 Gewaltenteilung 24 Gewalttäter 52, 345, 348, 350, 404 Gleichheitsgrundsatz 52, 361 – Abstammung 365 – Heimat 194, 365, 366 30*

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– Herkunft 365, 366, 373, 412, 415 – Komponenten der Gleichheitsprüfung 357 – politische Anschauung 366, 367 – Rasse 365 – Staatsangehörigkeit 210, 366, 367, 415 – Vorwurf der Diskriminierung 365 – Vorwurf der Systemlosigkeit 363 – Vorwurf der Systemwidrigkeit 361 – Willkürformeln 357 Graffiti 64 Grundrecht auf Sicherheit 47, 242, 244, 245, 246, 247, 248, 250, 292, 398, 399, 413, 417, 438 – siehe auch Funktionstüchtigkeit Gutachten zur Bestimmung des Blutalkohols siehe unverzügliche Entscheidung Haftanstalt 285, 313, 383 Haftbeschwerde 174, 207, 208, 324, 407 – weitere Beschwerde 208 Haftdauer 33, 70, 71, 82, 84, 87, 96, 97, 108, 109, 251, 252, 323, 324, 343 Haftgrund der Hauptverhandlungshaft 104, 105, 109, 391 – Befürchtung des Fernbleibens siehe dort – Erwartung der Hauptverhandlung siehe dort – Konzeption 49, 104 – Verhältnis zu Flucht 106 – Verhältnis zu Fluchtgefahr 106 – Verhältnis zu Tatschwere 106 – Verhältnis zu Wiederholungsgefahr 106 Haftprüfung 73, 74, 174, 207, 208, 324, 407 Haftrichter 116, 174, 197, 199, 201 Haftunfähigkeit 457 Hamburg 34 Hamburger StPO von 1869 70 Hauptverhandlung trotz Ausbleibens 40, 52, 299, 303, 324 Hauptverhandlungshaftbefehl 106, 110, 123, 129, 143, 144, 150, 197, 200, 201, 202, 205, 206, 207, 208, 209, 211, 213, 218, 396 – Außervollzugsetzung 204, 313

468

Sachwortverzeichnis

– Befristung siehe dort – Begründung siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls – Bekanntgabe siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls – Form siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls – formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls siehe dort – Haftbefehlsverfahren siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls – Haftbeschwerde siehe dort – Haftgrund siehe Haftgrund der Hauptverhandlunghaft – Haftprüfung siehe dort – Inhalt siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls – weitere Beschwerde siehe Haftbeschwerde – Zuständigkeit siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls Hehlerei 91 Heimat siehe Gleichheitsgrundsatz Heranwachsende 95, 144, 223 Herkunft siehe Gleichheitsgrundsatz Hessen 34, 334 hinreichender Tatverdacht 115, 118, 146 Hooligans 31, 60, 63, 156, 193, 345, 408 Humanität 418, 424 Individualbeschwerde gemäß Art.34 EMRK 208 Individualvorrang der Grundrechte siehe Funktionstüchtigkeit (Argumente für Individualvorrang) informelle Sanktion 158, 408, 421 Innere Sicherheit 64 Irrtumsprivileg 227 JGG 42, 95, 144, 146, 148, 150, 153, 221, 282 Jugendgerichtshäuser 422 Jugendliche 64, 95, 144, 146, 148, 150, 153, 221, 282, 422

Jugendstrafrecht 64, 95, 144, 282 Jugendstrafvollzug 95 Justizförmigkeit 238, 388 Justizgewährungspflicht 238 Kaiserreich 54 Kfz-Schaden siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Kinder siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung klare Beweislage 124, 127, 136, 139, 142, 159, 194, 270, 304, 324, 341, 363, 368, 383, 392, 400 – Kriterien 141 Kleine Strafprozessnovelle 57, 65, 84, 98 konkrete Gefahr 344 Kontaktsperre-Gesetz 59 Kontradiktion 375, 376, 378, 379, 381, 383 Körperverletzung 94, 107, 137, 147, 151, 163 Krankheit siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Kriminalitätsangst 94, 399, 414 Kriminalpolitik 26, 46, 55, 64, 70, 264, 322, 330, 337, 338, 373, 377, 412 kriminelle Karriere 147 Kritik am Haftrecht 65 Ladung 68, 69, 179, 186, 191, 302, 303, 305, 306, 369, 389, 394, 403 Ladungsfrist 139, 389 Landfriedensbruch 156, 158 Landstreicher 69, 70, 417 Landstreicherei 69, 87 Lebensführungsschuld 288, 401 Legalitätsprinzip 46, 322, 420, 427, 438 Legitimation des § 127 b StPO 43, 44, 51, 231, 233, 239, 247, 253, 263, 269, 272, 279, 280, 282, 283, 286, 287, 290, 292, 321, 397, 398, 400, 416 – Erziehung 30, 40, 44, 51, 66, 95, 155, 232, 233, 234, 235, 281, 283, 286, 289, 290, 291, 331, 333, 350, 400, 401, 420, 423 – Funktionstüchtigkeit siehe dort – Legitimationsansätze des Gesetzgebers 233

Sachwortverzeichnis – Prävention 33, 44, 45, 51, 61, 64, 76, 100, 148, 155, 234, 244, 245, 249, 265, 281, 286, 288, 289, 290, 291, 350, 400, 423, 434, 436, 455 – Sicherung der Anwesenheit 51, 108, 216, 218, 228, 232, 233, 272, 275, 278, 279, 280, 310, 313, 314, 324, 401 – Straferwartung 290 Maßregel der Besserung und Sicherung 143, 306 Mecklenburg-Vorpommern 34 Mediation 421, 422 Medien 23, 349, 440 Menschenrecht auf Sicherheit siehe Grundrecht auf Sicherheit Menschenwürde 51, 231, 234, 238, 253, 278, 280, 281, 284, 290, 291, 292, 318, 319, 334, 335, 401 – erzieherischer Ansatz 290 – präventiver Ansatz 290 Mitwirkung der Staatsanwaltschaft siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls Nationalsozialismus 54, 65, 76, 80, 83, 99, 100, 101, 239 Nichtanzeige geplanter Straftaten 149 Niedersachsen 35, 37, 102 Nordrhein-Westfalen 35, 38 Nötigung 147, 193, 228 Notverordnung 75 notwendige Verteidigung siehe Verteidiger Obdachlose 61, 63, 98, 421 Obdachlosenasyl 189 öffentliche Ordnung 61, 101, 355 öffentliche Sicherheit 355, 418 öffentliches Interesse 146, 147, 150, 151, 152, 305, 319, 321, 323, 325, 326, 401, 402 – siehe auch Allgemeininteresse – siehe auch Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) Öffentlichkeitsgrundsatz 354, 355 Öffnung der Ostgrenzen 60 ohne ladungsfähige Anschrift 30

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Opportunitätsprinzip 459 Ordnungswidrigkeit 21, 87, 224, 342, 421 Organisation siehe unverzügliche Entscheidung Organisierte Kriminalität 62 Parteiprozess 373 Partikulargesetzgebung 67, 68, 70, 78 passiver Ungehorsam siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Personalunion siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls Pflichtverteidiger siehe Verteidiger Polizeigewahrsam 40, 52, 61, 458 Polizeihaft 101 polizeiliche Schutzhaft 79, 80, 101 Polizeirecht 61, 212, 245, 286 praktische Konkordanz 261 Prävention – Generalprävention siehe dort – Legitimation des Gesetzgebers siehe dort – Menschenwürde siehe dort (präventiver Ansatz) – Spezialprävention siehe dort – Unschuldsvermutung siehe dort Privatklageverfahren 143, 144, 295, 334, 336, 338, 341, 346 Prognose – Befürchtungsprognose siehe Befürchtung des Fernbleibens – Fernbleibeprognose siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung – Gefahrprognose siehe dort – Strafbarkeitsprognose siehe dort – Wahrscheinlichkeitsprognose siehe wahrscheinliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren Raub 90, 451 Rechtfertigungsgrund 284 rechtliches Gehör 154, 231, 232, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 291, 292, 303, 376, 377, 378 Rechtsbehelf 84, 207, 310 – Haftbeschwerde siehe dort – Haftprüfung siehe dort

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Sachwortverzeichnis

– Hauptverhandlungshaftbefehl 207, 396 – Individualbeschwerde gemäß Art.34 EMRK siehe dort – Rechtsmittel allgemein 27, 75, 109, 119, 140, 141, 207, 325, 386, 405, 408 – Verfassungsbeschwerde siehe dort – weitere Beschwerde siehe Haftbeschwerde Rechtsempfinden der Bevölkerung 67 Rechtsextremismus 63, 95, 102, 160 Rechtsfolgenerwartung siehe Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) Rechtsfrieden 25, 31, 44, 260, 261, 262, 263, 265, 268, 269, 270, 285, 289, 315, 371, 375, 400, 416, 417 – siehe auch Funktionstüchtigkeit Rechtskraft 109, 333, 383 Rechtsmissbrauch 423 Rechtsmittel siehe Rechtsbehelf Rechtssicherheit 25, 43, 45, 210, 233, 238, 260, 268, 350, 351, 354, 356 reisende Straftäter 30, 31, 39, 52, 60, 70, 98, 163, 182, 188, 344, 345 Rheinland-Pfalz 35 Richter siehe Haftrichter Rowdies 32, 61, 157, 158, 160, 194 RStPO 53, 54, 65, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 75, 96, 97, 99, 408 Saarland 35 Sachbeschädigung 63, 151, 156, 161, 193 Sachsen 35, 36 Sachsen-Anhalt 35, 36 Sachverhalt siehe einfacher Sachverhalt Schlachtenbummler 30, 69, 345 Schlanker Staat 25, 27, 44, 62, 261, 414, 415 Schleswig-Holstein 35 Schnellverfahren 39, 62, 74 Schuldvorhaltung siehe Unschuldsvermutung (antizipierte Schuldvorhaltung) schützende Formen 238 Schutzhaft siehe polizeiliche Schutzhaft Schwarzfahrer 32, 63, 152, 157, 158, 408 Schwerkriminalität 60, 63, 100, 102, 289

Sicherung der Anwesenheit siehe Legitimationsansätze des Gesetzgebers Sicherheitsleistung 40, 52, 68, 305, 308, 403, 431 – siehe auch Verhältnismäßigkeit (Erforderlichkeit) Sicherheitsstreben 62 Soll-Vorschrift siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls Sozialstaatsprinzip 237, 249, 275, 281, 398, 400, 448 Spezialprävention 78 Sprache siehe Unschuldsvermutung (Verfahrenssprache) Sportveranstaltung 30, 31, 156, 157, 192 Staatsanwaltschaft 23, 28, 33, 34, 35, 38, 58, 71, 75, 80, 81, 89, 101, 131, 134, 136, 138, 141, 142, 144, 146, 149, 150, 153, 154, 158, 201, 203, 204, 211, 212, 213, 215, 216, 222, 226, 227, 229, 307, 309, 372, 373, 380, 384, 397, 407 – siehe auch formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls (Mitwirkung der Staatsanwaltschaft) status activus 377 Steckbrief siehe Ausschreibung Stigmatisierung 148, 154, 344, 369 Strafantrag 119, 206, 213, 396 Strafaussetzung zur Bewährung 41, 64, 153, 159, 185, 310, 326, 327, 328, 329, 332 Strafbarkeitsprognose 115, 124, 125, 126, 142, 161, 177, 393, 402 – dringender Tatverdacht siehe dort Strafbefehl 40, 52, 123, 128, 138, 144, 153, 156, 158, 159, 162, 191, 303, 306, 309, 386, 408 – siehe auch Geeignetheit der Sache (Vorrang anderer Verfahren) – siehe auch Verhältnismäßigkeit (Erforderlichkeit) Strafe auf dem Fuß 31, 233, 272 Straferwartung 107, 153, 175, 182, 185, 189, 195, 286, 329, 361 – Befürchtung des Fernbleibens siehe dort – dringender Tatverdacht siehe dort

Sachwortverzeichnis – Fernbleiben von der Hauptverhandlung siehe dort – Legitimation des § 127 b StPO siehe dort – Unschuldsvermutung siehe dort – Verhältnismaßigkeit siehe dort – wahrscheinliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren siehe dort Strafhaft 109, 209, 236, 251, 311, 324, 329, 330, 333, 334, 342, 343, 344, 353, 376 Strafprozessnovelle vom 27.12.1926 73 Strafrahmen 87, 107, 143, 150, 158, 362, 395 Strafverfolgungsanspruch 258 Strafverlangen 206, 213, 396 Strafverteidiger siehe Verteidiger Strafvollstreckung 33, 51, 109, 235, 236, 255, 259, 284, 295, 307 Strafwirkung siehe Unschuldsvermutung (antizipierte Strafwirkung) Strafzumessung 136, 138, 147, 148, 149, 160, 162, 185, 270, 305, 310, 330, 408, 453 Straßenraub 70 subjektive Seite siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Subsidiarität 109, 110, 391 Sühnebedürfnis 78 symbolische Gesetzgebung 417 Systemlosigkeit siehe Gleichheitsgrundsatz (Vorwurf der Systemlosigkeit) Systemwidrigkeit siehe Gleichheitsgrundsatz (Vorwurf der Systemwidrigkeit) Tat im prozessualen Sinn 108 Täter-Opfer-Ausgleich 40, 144, 145, 148, 149, 150, 158, 348, 394, 408 – siehe auch Geeignetheit der Sache (Vorrang anderer Verfahren) Tatschwere 39, 40, 48, 57, 59, 60, 65, 85, 86, 91, 92, 94, 100, 104, 106, 107, 120, 124, 146, 183, 205, 255, 277, 282, 283, 284, 285, 288, 289, 296, 297, 331, 334, 336, 340, 347, 401, 416 – Verhältnis zur Hauptverhandlungshaft siehe Haftgrund der Hauptverhandlungshaft (Verhältnis zur Tatschwere) Tatverdacht

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– dringender siehe dort – hinreichender siehe dort Terrorismus 58, 59 Terrorismusbekämpfung 59, 60 Thüringen 35 Trickdiebe 31, 345, 348, 350, 404 Überhaft 209, 210 Unanwendbarkeit des § 127 b StPO in mindergewichtigen Fällen siehe Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) Unmittelbarkeitsgrundsatz 273 Unschuldsvermutung 40, 51, 114, 121, 122, 146, 231, 232, 234, 241, 246, 249, 253, 268, 271, 284, 286, 287, 288, 290, 291, 292, 294, 295, 317, 319, 321, 322, 330, 332, 335, 338, 339, 342, 350, 353, 377, 378, 399, 401, 405, 422 – antizipierte Schuldvorhaltung 40, 52, 338, 404 – antizipierte Strafwirkung 52, 332, 342, 343, 404 – Bedeutung des Prinzips 332 – beschleunigtes Verfahren 340 – dringender Tatverdacht 338 – Erziehung 283, 286, 332 – Inhalt des Prinzips 332 – Prävention 33, 45, 61, 64, 76, 100, 148, 155, 244, 245, 249, 265, 281, 282, 283, 286, 288, 289, 290, 291, 350, 400, 423 – Rechtsgrundlagen des Prinzips 332 – status activus siehe dort – Straferwartung 290, 346 – Verfahrenssprache 52, 344, 345, 349, 350, 404 – reisende Straftäter und Gewalttäter als unzulässige Termini 345, 365, 404 – Verbot pönaler Titulierung 336, 346 Unterbringungsbefehl 202, 207 Unterschlagung 147, 151 Untreue 147 unverzügliche Entscheidung 23, 105, 131, 409 – Allgemeines 123 – Begriff 130

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Sachwortverzeichnis

– Befristung siehe dort – Gutachten zur Bestimmung des Blutalkohols 134, 394 – Organisation 27, 37, 41, 71, 76, 123, 133, 134, 148, 151, 158, 161, 199, 214, 227, 301, 311, 365, 420 – Konkretisierung 130 – siehe auch Wochenfrist Urkundenfälschung 147 Urlaub siehe Fernbleiben von der Hauptverhandlung Verbot pönaler Titulierung siehe Unschuldsvermutung (Verfahrenssprache) Verbrechensbekämpfungsgesetz 27, 28, 58, 62, 63, 66, 132, 149, 198, 345, 347, 414 Verbreitung von Propagandamitteln 149 Verdunkelungsgefahr 48, 65, 68, 73, 75, 78, 83, 85, 87, 88, 89, 90, 91, 93, 104, 106, 111, 124, 176, 184, 205, 277, 281, 307, 330 Verfahren in Abwesenheit siehe Abwesenheitsverfahren Verfahrenshindernis 119, 206, 450 Verfahrenssicherung 51, 59, 105, 106, 121, 171, 200, 216, 228, 315, 326, 363, 367, 396 Verfahrenssprache siehe Unschuldsvermutung Verfassungsbeschwerde 208, 334 verfassungskonforme Auslegung 106, 138, 285, 293, 314, 326 Verhältnismäßigkeit 39, 44, 50, 70, 86, 97, 104, 129, 146, 198, 201, 203, 207, 209, 211, 216, 217, 218, 219, 228, 249, 262, 268, 295, 296, 313, 314, 315, 317, 319, 321, 322, 328, 329, 330, 331, 335, 359, 360, 362, 392, 401, 402, 406, 409, 425 – Angemessenheit 249, 252, 253, 313, 379 – Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung 321 – Bedeutung der Sache 86, 321, 323, 325, 326, 327, 329, 401 – Erforderlichkeit 297, 301, 304, 310, 312, 403

– elektronisch überwachter Hausarrest 52, 299, 311, 312, 313 – Hauptverhandlung trotz Ausbleibens siehe dort – Sicherheitsleistung 299, 324, 403 – Strafbefehl nach Eröffnung des Hauptverfahrens 40, 52, 309, 324, 394 – Vorführung des Beschuldigten 299, 301, 302, 403 – Geeignetheit 297, 298 – Problematik der Abwägung 313 – Straferwartung 327, 330 – verfassungskonforme Auslegung siehe dort – Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne 52, 297, 313, 314, 360, 409 – Bedeutung der Sache 323 – Effektivität 323 – eigentliche Abwägung 321 – öffentliches Interesse siehe dort – Problematik der Abwägung 313 – Rechtsfolgenerwartung 183, 184, 304, 308, 321, 322, 323, 325, 327, 329, 403 – Unanwendbarkeit des § 127 b StPO in mindergewichtigen Fällen 327 – Verhältnisse des Beschuldigten 323 – wesentliche Parameter 321 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 51, 87, 97, 109, 129, 144, 145, 179, 190, 205, 218, 225, 249, 262, 264, 272, 279, 291, 292, 294, 296, 297, 299, 300, 301, 313, 314, 315, 316, 318, 319, 320, 322, 330, 331, 354, 359, 361, 367, 394, 399 – siehe auch Verhältnismäßigkeit Verhandlungsfähigkeit 181, 256, 258 Verhandlungsunfähigkeit 178, 180, 181, 256, 258, 299, 300 Verkehrsdelikte 152, 158, 305 Vermögensdelikte 85, 91, 147, 157, 158, 189, 290, 408 Versuchsstrafbarkeit 140 Verteidiger 28, 41, 53, 58, 59, 73, 75, 135, 213, 253, 257, 275, 295, 299, 368, 369, 370, 371, 374, 377, 379, 380, 381, 382, 384, 385, 386, 387, 388, 389, 394, 406,

Sachwortverzeichnis – notwendige Verteidigung 279, 369, 376, 385 – Pflichtverteidiger 135, 226, 369, 374, 376, 379, 380, 385, 386, 387, 388, 389, 406 – Verteidigernotdienst siehe dort – Wahlverteidiger 369, 379 Verteidigernotdienst 387, 408 Vertrauen der Bevölkerung 25, 29, 37, 67, 234, 261, 333 Verwertungsverbot 384 Volksempfinden 78, 100 Vorbehalt des Gesetzes 72, 110, 227, 292, 293, 354, 397 Vorbeugehaft 101 Vorbeugungshaft 80 Vorführung des Beschuldigten siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls und Verhältnismäßigkeit (Erforderlichkeit) Waffengleichheit 372, 373, 374, 375, 376, 377, 380 Wahlverteidiger siehe Verteidiger Wahrheit 31, 43, 44, 45, 73, 112, 137, 141, 154, 164, 174, 183, 233, 239, 255, 260, 261, 262, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 276, 277, 278, 281, 291, 303, 304, 305, 315, 319, 340, 341, 371, 375, 379, 400, 403, 404, 416, 417 – Anwesenheit und Wahrheitserforschung siehe dort – Funktionstüchtigkeit siehe wahrscheinliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren – dringender Tatverdacht 124 – Erwartung der Hauptverhandlung siehe dort – Straferwartung 123 – Wahrscheinlichkeitsprognose 49, 113, 119, 125, 126, 225, 393, 394 Wahrscheinlichkeitsprognose siehe wahrscheinliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren

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Warnschussarest 64 Weimarer Reichsverfassung 21, 72, 97 Weimarer Republik 54, 72, 74, 75, 412 weitere Beschwerde siehe Haftbeschwerde Wesensgehalt 249, 288, 317, 318, 319, 399 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte 149, 156 Wiederherstellungsgesetz vom 12.09.1950 321 Wiederholungsgefahr 48, 57, 59, 60, 65, 66, 77, 78, 85, 86, 91, 92, 94, 100, 101, 104, 105, 107, 120, 124, 205, 256, 277, 282, 283, 284, 285, 286, 289, 290, 336, 401, 416 Wiederholungstäter 57, 139, 151, 155, 159, 235 Wiederinvollzugsetzung 204, 205, 396 Willkürformeln siehe Gleichheitsgrundsatz Wochenfrist 38, 97, 109, 119, 131, 132, 135, 206, 207, 209, 210, 225, 369, 388, 394, 406, 407, 408 – siehe auch Befristung – siehe auch unverzügliche Entscheidung Wohnsitz 30, 31, 33, 35, 46, 66, 67, 69, 73, 83, 87, 88, 89, 90, 94, 101, 155, 159, 178, 188, 189, 191, 192, 194, 196, 302, 305, 306, 308, 328, 365, 366, 367, 395, 403, 406, 409 Wohnsitzlose 42, 60, 81, 98, 99, 103, 159, 188, 189, 191, 281, 302, 345, 348, 361, 384, 385, 403, 411, 417 Zechpreller 32, 63, 157, 408 Zeugnisverweigerungsrecht 24, 45, 237, 255, 257, 259, 260, 270, 279, 371 Zuständigkeit siehe formelle Voraussetzungen des Hauptverhandlungshaftbefehls Zustellungsbevollmächtigter 191, 306, 308