Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung [2 ed.] 9783428520602, 9783428120604

Mehr als 50 Jahre nach dem Erscheinen hat das vorliegende Buch des späteren Bundespräsidenten Karl Carstens nichts von s

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Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung [2 ed.]
 9783428520602, 9783428120604

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KARL

CARSTENS

Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung

KARL CARSTENS

Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung

Zweite Auflage Unveränderter Nachdruck der Auflage von 1954

Duncker & Humblot . Berlin

Als Habilitationsschrift auf Vorschlag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 1954 Alle Rechte vorbehalten

© 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-12060-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Grundzüge der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika sind in Deutschland weitgehend bekannt. Weniger bekannt ist dagegen die nähere rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgrundsätze und ihre Verwirklichung in der Staats- und Gerichtspraxis des Landes. Hiervon handelt die vorliegende Arbeit. Sie will keinen umfassenden Überblick über das amerikanische Verfassungsrecht geben, sondern sie beschränkt sich auf die Behandlung einiger weniger tragender Grundgedanken. Die Schwierigkeiten, die sich einem solchen Unternehmen entgegenstellen, beruhen vor allem darauf, daß es unmöglich ist, die Fülle der Erscheinungsformen des amerikanischen Verfassungsrechts auch nur annähernd erschöpfend zu erfassen. Zum anderen ist die Deutung politischer und sozialer Vorgänge, die sich in einem fremden Land abspielen, für den Außenstehenden immer mit der Gefahr des Mißverständnisses, der Fehldiagnose belastet. Die vorliegende Arbeit möchte daher vor allem die Aufmerksamkeit auf einige Phänomene lenken, zu ihnen Stellung nehmen und zu einer weiteren Betrachtung dieser außergewöhnlich fesselnden Materie anregen. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle meinen verehrten Lehrern an der Universität Yale: Harold L. LassweIl, Myres S. McDougal und George F. Braden für die Einblicke zu danken, die sie mir in das Wesen der amerikanischen Verfassung und in ihre Zusammenhänge mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strömungen des Landes gegeben haben. Herrn Professor Jahrreiss von der Universität Köln und Herrn Professor Fraenkel von der Deutschen Hochschule für Politik . in Berlin bin ich zu besonderem Dank für wertvolle Anregungen und kritische Hinweise verbunden. Bonn, im November 1953.

Karl Carstens

Inhalt Seite 5

Vorwort Verzeichnis der Abkürzungen und Erklärung der Zitate . . . . . . . . . . . . . . ..

10

Einleitung ....................................................... . ...

11

Erster Teil. Grundsätze des amerikanischen Verfassungs rechts 1. Kapitel: Regierung durch das Volk ............... .. . . . . . . . . . . . . . . . ..

19

A. Einführung

19

B. Parteien ..................... . ..................... . ....... . ..

24

C. Die Wahlen zu den gesetzgebenden Organen . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

30

D. Die Wahl des Präsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

36

E. Druckgruppen

40

F. Die öffentliche Meinung .................... .. .... . ...........

44

G. Zusammfassung

46

2. Kapitel : Trennung der Gewalten.. . . . .......... .. . . . .......... .. . .. .

48

A. Ursprung und Entwicklung........ . ...... .. . .. .... ... ..... .. ..

48

B. Der Kongreß (Legislative) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Senat .. . . : .... . ..... .. ... . ........ .... . . .. .. . . .. . . . . . " 2. Das Repräsentantenhaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Befugnisse des Kongresses . .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

52 52 54 55

C. Der Präsident (Exekutive) .. . .. . ..... . .. . .... . ..... . .. . ..... . . 1. Die Befugnisse des Präsidenten ... . .... . .. . ...... . ...... .. . 2. Die Bundesverwaltung .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Bundesbeamten ........................................

62 62 72 74

D. Die Bundesgerichte .... .. ... .... ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

76

E. Die unabhängigen Kommissionen ... . . . . . . .. . .. ... . ....... ... ..

81

F. Zusammenfassung .................. ... ... .. . . ............. .. .

88

8

Inhalt Seite

3. Kapitel: Gerichtliche Nachprüfung (Normenkontrolle) A. Wesen und Entwicklung ...................................... 1. Allgemeines................. . .............................. 2. Entstehung ................................................ 3. Marbury v. Madison ................. : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Die Entwicklung von 1880 bis 1930 ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Der Kampf zwischen F. D. Roosevelt und dem Obersten Gerichtshof ...... . ......................................... 6. Der neue Gerichtshof ...................................... 7. Die jüngste Entwicklung .................................. , . B. Die Regeln über den Umfang des Nachprüfungsrechts ..... . . . .. 1. Allgemeines ................................................ 2. Keine Nachprüfung politischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Rechtstreitregel (case and controversyrule) .......... . . 4. Die Unvermeidlichkeitsregel ................................ 5. Die Nachteilsregel ............... . .......................... 6. Zweüelsfälle .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7. Teilweise Ungültigkeit ...................................... 8. Die bindende Kraft der Präzedenzfälle (stare decisis) ......

90 90 90 92 94 98 105 115 120 121 121 122 124 125 125 126 126 126

C. Kritische Würdigung .......................................... 128 4. Kapitel: Föderalismus .............................................. A. Die territoriale Entwicklung der USA seit 1787 . . . . . . . . . . . . . . . . .. B. Die verfassungsmäßige Sicherung des Bestandes der Einzelstaaten C. Die Entwicklung des föderalistischen Prinzips ............. . . . .. D. Gesetzgebung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Allgemeines ................................................ 2. Einzelne Klauseln der Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . ... .. 3. Ausschließliche Befugnisse der Einzelstaaten ... . . . . . . . . . . . .. 4. Indirekte Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Einzelstaaten .............................................. E. Außenpolitische Vertretung . . . . .... . ....... . ................... F. Verwaltung

132 132 133 134 137 137 139 149

5. Kapitel: Schutz der Grundrechte Freiheit, Leben, Eigentum . . . . . . . . .. A. Einführung ......................................... . ..... . .. B. Die den Bundesgesetzgeber und die Bundesgewalt bindenden Grundrechte .................................................. 1. Die Generalklausel des 5. Verfassungszusatzes .... . ... . ..... 2. Die demokratischen Grundfreiheiten (Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit) ................ 3. Die Religionsfreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Schutz vor Enteignungen .................................. 5. Prozessuale Schutzvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Strafrechtliche Schutzvorschriften .. . ................. . .....

156 156

150 151 154

161 161 163 165 165 166 172

Inhalt

9

Seite 7. Der Gleichheitssatz und das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit ......... . .................................... 173 C. Die die Einzelstaaten bindenden Grundrechte ........ ..... ..... 1. Die speziellen Grundrechtsvorschriften .. , ............. .. . . .. 2. Die Vertragsklausel . . .. ..... . . ..... .. ..... . .. . ... .. .. .. .... 3. Die Generalklauseln des 14. Verfassungszusatzes . . ...... . . . .

174 174 175 177

6. Kapitel: Schutz der äußeren und inneren Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . .. A. Die Bestimmungen der Verfassung .... .. . ... ....... .. ......... B . Die Bundesgesetze zum Schutze der Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit (Die Lehre von der klaren gegenwärtigen Gefahr) ....... . ... . ..

183 183 184 187

Zweiter Teil. Anwendung der Verfassungsgrundsitze Einleitung

194

7. Kapitel: Die Stellung der Minderheiten ........ . .......... . .... . ... A. Allgemeine Kennzeichnung des Minderheitenproblems .. . ....... B . Die rassischen Minderheiten (Neger) .. . ......... . ...... . .. . ... 1. Allgemeines . . . .. ... . . ...... . .. . .... ... . . .... . . , .. ... . . .. . ... 2. Die Lynchjustiz ..... . ... ... .. . .. .. .. . .. . .......... .. . . . . . . . 3. übergriffe einzelstaatlicher Beamter ... . .................... 4. Mitwirkung als Geschworene ......... . .. . ....... . . . . .. .... 5. Teilnahme an den Wahlen . ......... .. .. . .............. . .... 6. Räumliche Trennung der Rassen ' " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7. Berufsleben . . . .. . .. ... .. . .. .. . ... .... .. . ... .. . ..... .. . . .... 8. Zusammenfassung .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. C. Religiöse Minderheiten (Jehovas Zeugen) ................ . ..... 1. Allgemeines ........... . .. . ........... . . .. ........... . .. . ... 2. Die 8 "Jehovas-Zeugen-Fälle" .... . ............. . . . . . ....... D. Politische Minderheiten (Kommunisten) .... ..... .. .... . .. .. .. .. 1. Allgemeines ....... . . . ........ . ........ . ....... . .. .... .... . . 2. Bloßstellung........... . . . . . ......... . ............ . .. . ...... 3. Strafandrohung ....... . ............ ... ................. . ... 4. Schutzhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Entlassung aus dem öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Maßnahmen gegen Gewerkschaftsführer .. . ...... . .... . .. .. . 7. Maßnahmen gegen Ausländer ...... . . .. .. . ................. 8. Zusammenfassung .... . ............. . . .. ........... . . . ......

196 196 199 199 201 202 207 208 212 218 220 220 220 221 230 230 232 234 237 237 241 243 244

8. Kapitel: Folgerungen

246

Literaturverzeichnis

257

Verzeichnis der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs .. . . . .. . .. . .. , 261

Verzeichnis der Abkürzungen und Erklärung der Zitate Agricultural Adjustment Act American Federation of Labor Circuit Court of Appeals Congress of Industrial Organizations Federal Reporter Federal Reporter 2n d Series Federal Reporter Supplement Fair Employment Practice Act Federal Bureau of Investigation Federal Trade Comrnission Interstate Commerce Commission Lawyer's Edition, U.S. Supreme Court Reports National Industrlal Recovery Act National Labor Relations Act National Labor Relations Board Securities and Exchange Commission Supreme Court Reporter (U.S.) Uni ted States Statutes at Large United Nations United States 0 der Uni ted States Supreme Court Reports, Official Reports US.C. Uni ted States Code U.S.C.A. United States Code Annotated Z.a.ö.R.V. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes sind im allgemeinen nach den United States Supreme Court Reports-Official Heports, abgekürzt: U.S., ausnahmsweise nach dem Supreme Court Reporter, abgekürzt: S.Ct. oder Sp.Ct., zitiert. Bei den vor 1874 ergangenen Entscheidungen sind meistens -:- entsprecllend der amerikanischen übung - die Namen der Berichterstatter zitiert, und zwar: abgekürzt Dall. für die Jahre 1789>--1800 Dallas 1801-1815 Cranch 1816-1827 Wheaton Wheat. " Pet. . 182S-1842 Peters 1843-1860 How. Howard 1861-1862 Black: 1863-1874 Wall. Wallace Die Jahreszahlen hinter dem Zitat beziehen sich entweder auf das Kalenderjahr oder auf das Gerichtsjahr, in dem die Entscheidung ergangen ist. Das Gerichtsjahr beginnt im Oktober und wird nach dem Kalenderjahr bezeichnet, in dem es beginnt.

A.A.A. A.F.ofL. C.C.A. C.I.O. F. F.2nd F.Supp. F.E.P.A. F.B.I. F.T.C. I.C.C. L.Ed. N.I.R.A. N.L.R.A. N.L.R.B. S.E.C. S.Ct., Sp.Ct. Stat. U.N. U.S.

Einleitung Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika ist durch eine Reihe von Tatsachen bestimmt worden, die in ihrem Zusammen'wirken den Menschentypus des Amerikaners geformt haben. Die ersten weißen Siedler auf dem Boden der neuen Welt waren Auswanderer. Ein großer Teil von ihnen verließ seine europäische Heimat um religiöser Verfolgung willen; sie suchten Freiheit für ihren Glauben. Alle hatten schwere Strapazen und KäPlpfe zu bestehen, bevor die weiße Besiedlung Amerikas gesichert war. Nur kräftige, willensstarke Männer überstanden die Anstrengungen der ersten Jahrzehnte . . Als im Laufe des 18. Jahrhunderts die ursprünglichen, im Osten des Kontinents liegenden englischen Kolonien ihre Selbständigkeit errungen hatten und sich nach Westen auszubreiten begannen, machte eine Generation nach der anderen dieselben harten Erfahrungen, wie die ersten Kolonisatoren. Es entwickelte sich der Typ des Pioniers, des Grenzers, des auf sich allein gestellten, nur sich selbst und seiner Kraft vertrauenden, unabhängigen, freiheitsliebenden Farmers, der eine tiefe Abneigung gegen jeden obrigkeitlichen Eingriff in seinen persönlichen Bereich empfand. Die Rolle des Staates ist daher in Amerika von Anfang an eine andere gewesen als in Europa. Der negative Staat, also der Staat, der sich auf die Erhaltung der notwendigen inneren Ordnung und auf den Schutz der Nation gegen äußere Feinde beschränkte, blieb bis weit in das 20. Jahrhundert hinein das amerikanische Ideal. Erst spät zeigten sich die ersten Ansätze eines "positiven Staates", d. h. eines Staates, der für eine soziale Gerechtigkeit eintritt, der die Wirtschaft lenkt und den Arbeitsfrieden zu erhalten suchtl. Viele Amerikaner empfinden noch heute eine tiefe Abneigung gegen jede Art von staatlicher Tätigkeit auf diesen Gebieten. Der auf eigener Kraft beruhende Erwerb von Eigentum, von Wohlstand und Reichtum, erscheint ihnen als einer der wesentlichen Zwecke des menschlichen Daseins. Diesem 1 über die ersten Ansätze der posItiven Staatslehre um .1840 vgl. Gabriel, Die Entwicklung des demokratischen Gedankens, S. 208 ff.

12

Einleitung

amerikanischen Menschentypus mußten die Ideen der Aufklärung wie eine Bestätigung seiner eigenen Lebensweise erscheinen. In keinem anderen Land haben daher die Theorien der Naturrechtier des 18. Jahrhunderts über die natürliche und unveräußerliche Freiheit des Menschen, über die Unverletzlichkeit des Eigentums, über die Souveränität des Volkes und über die Abhängigkeit der Regierenden vom Volk einen so tiefen Einfluß gehabt wie in den USA. Diese Ideen bilden noch heute das geistige Fundament der amerikanischen Nation. Alle großen Kriege, die die USA geführt haben, waren oder erschienen den Amerikanern als ein Kampf für die Freiheit. Im Unabhängigkeitskrieg ging es um die Freiheit des Landes von der englischen Herrschaft, im Sezessionskrieg um die Befreiung der Negersklaven, in den beiden Weltkriegen um die Erhaltung der freiheitlichen demokratischen Staatsform in der Welt. Als im 19. und 20. Jahrhundert Millionen von Einwanderern aus Europa und Asien in den neuen Kontinent hineinströmten, gelang es, trotz der außerordentlichen Verschiedenheit mancher Immigranten von dem einheimischen Volkstypus die Einheit der amerikanischen Ideenwelt zu erhalten. Von der 2. und 3. Generation an unterschieden sich die Einwanderer in ihrer Denkweise kaum noch von ihren alteingesessenen Mitbürgern. Hier zeigte sich die starke verbindende Kraft, die von den Symbolen des amerikanischen Volkes ausstrahlt. Die bedeutsamsten dieser Symbole sind zwei Präsidenten (George Washington und Abraham Lincoln), zwei Dokumente (die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Verfassung von 1787) und die amerikanische Flagge2 • Präsident Washington war der Vorkämpfer für die Freiheit im Unabhängigkeitskrieg, der Erste unter den Schöpfern der Verfassung und der erste Präsident der Union. Sein Name ist in der Hauptstadt des Landes, in einem großen Staat im Nordwesten der Union, in zahlreichen Straßennamen, Schulnamen, Denkmälern und Bildern festgehalten. Abraham Lincoln erscheint als der Retter der Union, die im Bürgerkrieg 1861 bis 1865 auseinanderzufallen drohte. Er hat die amerikanischen Ideale so vollendet formuliert, wie kaum jemand vor ihm oder nach ihm. Besonders die Rede, die er bei der Einweihung des Nationalfriedhofs von Gettysburg im Jahre 1863 hielt und die den berühmten Satz von der "Herrschaft des Volkes durch das Volk und : Eine gute Analyse der amerikanischen Symbole findet sich bei Gcheidungen durch Jahre und Jahrzehnte fort, so z. B. der Richter Holmes in seinen abweichenden Voten zu den Urteilen, die seiner Meinung nach die Redefreiheit im Kriege zu stark beschränkten147• Diejenigen Richter, die sich durch Vorentscheidungen nicht gebunden fühlen, können zur Rechtfertigung ihrer Haltung anführen, daß zumindest in Verfassungsfragen der Oberste Gerichtshof die Freiheit haben sollte, von seinen früheren Entscheidungen abzuweichen. Für diese Auffassung spricht in der Tat viel. Würde man den Gerichtshof auch in Verfassungsfragen an seine eigenen Vo~entscheidungen binden, so wäre zur Beseitigung jeder derartigen gerichtlichen Entscheidung eine Verfassungsänderung erforderlich, selbst dann, wenn der Gerichtshof selbst inzwischen seine Meinung geändert haben sollte. Aus diesen Gründen hat sich in neuester Zeit die Auffassung, die "stare decisis" in verfasslmgsrechtlichen Streitigkeiten ablehnt, mehr und mehr durchgesetzt148 • Einige Zahlen mögen das näher begründen: Von 1866 bis 1932 ist der Oberste Gerichtshof im Durchschnitt nur alle drei Jahre einmal von einem Präzedenzfall abgewichen149 • In den Jahren 1936 bis 1944 hob der Gerichtshof durchschnittlich jährlich zwei Vorentscheidungen auf. Die Frequenz hat sich also versechsfacht.

c.

Kritische Würdigung

Die Befugnis des Obersten Gerichtsh.ofes, Bundesgesetze für ungültig zu erklären, ist nicht oft praktisch ausgeübt worden. Insgesamt hat der Gerichtshof VOn etwa 25 000 gesetzgeberischen Akten, die der Kongreß seit 1787 erlassen hat, etwa 75 die Anwendung versagt151 • In den ersten 70 Jahren der amerikanischen Geschichte haben sich zwei solcher Fälle ereignet. In den letzten 16 Jahren sind ebenfalls nur zwei unbedeutende Gesetze für ungültig erklärt worden1513 • Die Normenkontrolle gegenüber Bundesgesetzen ist also, was vielfach verkannt wird, ein sehr sparsam eingesetztes Machtmittel des Gitlow v. New York 268 U. S. 652 (1925). So vor allem Douglas, a.a.O. u. Curtis, S. 56. 'Ug Douglas, a.a.O., Curtis, S. 83. 160 Eine Reihe weiterer technischer Regeln können hier nicht behandelt werden. Erwähnt sei jedoch die Regel 38 der Regeln des Obersten Gerichtshofes. Danach erstreckt sich die Prüfung des Obersten Gerichtshofes in certiorari Fällen nur auf solche Gesichtspunkte, die bereits vor dem unteren Gericht geltend gemacht worden sind und die in dem Antrag auf Gewährung von certiorari dem Obersten 'Gerichtshof unterbreitet worden sind Eine Ausnahme macht der Gerichtshof, wenn das untere Gericht einen grundlegenden Irrtum (fundamental error) begangen hat. Terminiello v. City of Chicago 337 U. S. 1 (1949) und 59 Yale 971 (1950). 151 Carr, The Supreme Court and Judicial Review, S. 204 ff. 151a S. oben S. 113, Anm. 85. 147

148

C. .Kritische Würdigung

129

Obersten Gerichtshofes. Sie wirkt mehr durch das allgemein vorhandene Bewußtsein ihrer Existenz als durch häufige Anwendung. Trotzdem fehlt es in den USA nicht an Stimmen, die an dem gegenwärtigen System Kritik üben. Manche Politiker wenden sich grundsätzlich dagegen, einem unabhängigen Gericht so starke Macht zu geben. Zu ihnen gehörte schon im 18. Jahrhundert Jefferson 152 • Noch heute vertritt Commager153 eine ähnliche Auffassung. Er wirft die Frage auf, mit welchem Recht die Gerichte beanspruchen könnten, bessere Hüter der Verfassung zu sein als der Kongreß und der Präsident, die beide vom Volk auf eine bestimmte Zeit gewählt und daher dem Willen des Volkes stärker unterworfen sind. Im übrigen ist nach Commagers Meinung auch die praktische Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit gering. Letzten Endes hätten die Gerichte doch in allen Fällen den fortschrittlichen Tendenzen weichen müssen154 • Solche Kritiker sind zweifellos in der Minderheit. Die Ereignisse der Jahre 1936/1937 und die Reaktion des Landes auf Präsident Roosevelts Richterschubplan haben gezeigt, wie fest der Oberste Gerichtshof in der öffentlichen Meinung der USA verankert ist. Andere amerikanische Schriftsteller greifen das Oberste Bundesgericht mit der Begründung an, daß die Richter offensichtlich in vielen Fällen nach ihren persönlichen politischen oder wirtschaftlichen Überzeugungen entscheiden und nicht nach allgemein gültigen Rechtsregein l55 • In der Tat gibt es eine Reihe krasser Beispiele dafür, daß die Hichter des Obersten Gerichtshofes ihre persönlichen politischen Anschauungen zum Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemacht haben. Richter Holmes hat sich gerade gegen diese Erscheinung in seinem berühmten Ausspruch gewandt: "Außer dem Himmel selbst sehe ich kaum eine Grenze für die Außerkraftsetzung von staatlichen Gesetzen, wenn sie zufällig aus irgend einem Grunde der Mehrheit dieses Gerichtes unerwünscht erscheinen. Ich kann nicht glauben, daß die 14. Verfassungsänderung uns Blankovollmacht geben sollte, unsere wirtschaftlichen oder moralischen Anschauungen zu einem Bestandteil der Verfassung zu machen."158 Andererseits gibt es keinen Richter, der sich bei der Entscheidung eines Prozesses von seinen politischen, religiösen und sozialen Überzeugungen völlig lösen kann. Alle Richter unterliegen in einem beträchtlichen Maße dem Einfluß ihrer Umwelt und anderen persönlichkeitsbildenden Faktoren. Ein wichtiger Unterschied zwischen Amerika 152

133 134 135 156

Majority Rule and Minority Rights,S. 27. a.a.O., S. 50 ff. a.a.O., S. 47.

Commager,

Carr, S. 155 ff., S. 157.

Baldwin v. Missouri 281 U. S. 586 (1930).

9 C ars t e n s, Grundgedanken

130

Gerichtliche Nachprüfung (Normenkontrolle)

und anderen Ländern besteht darin, daß in den USA diese Einflüsse offen zu Tage liegen, während sie auf dem europäischeri Kontinent das sorgfältig gehütete Geheimnis gerichtlicher Beratungen bleiben. Hinzu kommt, daß angesichts der amerikanischen Skepsis gegenüber geschrie- · benem Recht und allgemeinen Regeln der Richter notwendigerweise bei der Entscheidung grundsätzlicher Fragen Wertungen auf Grund seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Anschauungen vornehmen muß. Auch die Tatsache, daß die Richter des Obersten Gerichtshofes lebenslänglich bestellt sind, ist heftig kritisiert worden157 • Man hat eingewendet, daß 75jährige und 80jährige Richter nicht mehr in der Lage seien, die lebenswichtigen Entscheidungen, die der Oberste Gerichtshof fällen muß, zu treffen, weil sie rein physisch der zu bewältigenden Arbeit nicht mehr gewachsen seien, und weil sie darüber hinaus auf Grund ihres Alters keine genügend lebendige Beziehung zu den aktuellen Lebensproblemen hätten158 • In diesem Zusammerihangist auch an das bereits zitierte Wort des Chefrichters Taft erinnert worden: "Ich fühle mich alt und langsam, aber ich muß auf meinem Richterstuhl ausharren, um zu verhindern, daß die Bolschewiken das übergewicht bekommen. "1&0 Inzwischen ist das Prinzip der lebenslänglichen Berufung der Richter modifiziert worden, jetzt können die Mitglieder des Obersten Bundesgerichtes mit 70 Jahren auf ihren eigenen Antrag, bei voller Zahlung ihrer Bezüge, in den Ruhestand treten, wenn sie insgesamt zehn Jahre Mitglied des Gerichtshofes gewesen sind. Besonders schwere Bederiken sind gegen die 5:4-Entscheidungen erhoben worden. Sie sind in der Tat wenig erfreulich, insbesondere, wenn man bedenkt, daß bei diesem Stimmenverhältnisein Mann letzten Endes über die Gültigkeit der Gesetzgebung entscheidet. Einzelne Politiker haben deswegen vorgeschlagen, daß ein Beschluß des Gerichtes, der ein Gesetz des Kongresses für ungültig erklärt, einer %-Mehrheit bedürfen soHltlO. Vgl. Frankfurter, oben S. 117. Von Richter Jackson stammt aus der Zeit, als er noch nicht im Obersten Gerichtshof saß, das Wort: "Niemals während seiner ganzen Geschichte ist der Oberste Gerichtshof auch nur für eine Stunde der Repräsentant von etwas anderem als den relativ konservativen Kräften seiner Zeit gewesen." The Struggle for Judicial Supremacy, 1941, S. 187. 168 Zitiert bei Pritchett, S. 18. ISO Senator Mahoney (Wyoming) Kelly u. Harbison, S. 734 ff. Siehe auch CaTT, S. 265· ff. Nach einem anderen Vorschlag (Senator Wheeler) soll der Kongreß das Recht haben, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes durch einen mit Zweidrittelmehrheit gefaßten Beschluß beider Häuser aufzuheben. Jackson, Struggle, S. 352. 167

168

C. Kritische Würdigung

131

Bedenken sind schließlich gegen das Rechtsstreitprinzip, also gegen den Grundsatz, daß der Gerichtshof nur in ordentlichen Prozessen zwischen zwei streitenden Parteien entscheidet, geltend gemacht worden. In der Vergangenheit hat es manchmal Jahre und Jahrzehnte gedauert, bis ein Gesetz dem Obersten Gerichtshof zur Prüfung vorgelegt wurde. So ist im Jahre 1926 erstmalig ein Gesetz für ungültig erklärt worden, das im Jahre 1876 erlassen worden war l6l1 • In den letzten Jahrzehnten sind alle umstrittenen neuen Gesetze, insbesondere die Gesetze des "Neuen Planes" innerhalb von zwei bis drei Jahren durch den Gerichtshof geprüft worden. Allerdings ist auch eine 2-3jährige Frist in kritischen Zeiten sicherlich zu lang. Ein letzter Punkt lebhafter Kritik gilt der Parteienherrschaft in Verfassungsstreitigkeiten. Im amerikanischen Zivilprozeß haben die Prozeßparteien, ähnlich wie im deutschen Zivilprozeß, weitgehende Verfügungsmacht über den Verlauf des Prozesses. Sie können, insbesondere wenn sie sich soweit einig sind, den Prozeß beschleunigen oder verschleppen. Das ist bei Prozessen, in denen die Gültigkeit von Gesetzen eine Rolle spielt, bedenklichl 6!. In einer Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz ist daher vor einigen Jahren bestimmt worden, daß der Justizminister in allen Prozessen vor Bundesgerichten, in denen die Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes in Frage gestellt wird, dem Prozeß beitreten und Anträge stellen kann. Wenn die Vereinigten Staaten selbst Prozeßpartei sind, können sie ein direktes Rechtsmittel von jedem Bezirksgericht, unter Überspringung der Berufungsgerichte, an den Obersten Gerichtshof einlegen, falls das Bezirksgericht ein Bundesgesetz für ungültig erklärt hatl83 • Es hat den Anschein, daß durch die kleineren Reformen, die seit 1936 durchgeführt worden sind, die Frage einer grundlegenden Umgestaltung der Bundesverfassungsgerichtsbarkeitzunächst wieder in den Hintergrund getreten ist. Erfolgversprechende politische Ansätze in dieser Richtung bestehen zur Zeit nicht.

Myel's v. U. S. 272, U. S. 52 (1926). Vgl. Z. B. den Einkommensteuerfall S. 104. In Judiciary Act. 28 U. S. C. 349 (1940). 161

162

9'

Viertes Kapitel

Föderalismus A. Die territoriale Entwicklung der USA seit 1787 Die 13 amerikanischen Kolonien, die sich 1776 von England lösten und 1787 die Verfassung schufen, lagen alle im Osten des Kontinents. Die erste große territoriale Erweiterung erfolgte 1783, als England im Frieden von Versailles das gesamte Gebiet westlich der 13 Staaten bis an den Mississippi abtrat. Dieses neue Gebiet erhielt zunächst die Stellung eines Territoriums, es wurde von der Gesamtheit der Staaten und nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung von 1787 von der Bundesregierung durch Gouverneure verwaltet. In dem Maße, wie die Besiedlung nach Westen vordrang, wurden Teile des neuen Territoriums nach und nach zu Einzelstaaten und damit zu gleichberechtigten Partnern des Bundes. Insgesamt sind aus den 1783 von England abgetretenen Gebieten 9 Staaten hervorgegangen1 • Im Jahre 1803 kauften die USA das riesige Louisiana-Territorium von Frankreich und dehnten damit ihr Gebiet über den Missouri bis an die Rocky Mountains aus. Aus dem Louisiana-Territorium gingen im Laufe der Zeit insgesamt 12 Staaten hervor 2 •

1819 erwarb die Union Florida von Spanien, die Halbinsel erhielt 1345 die Stellung eines Staates. 1845 wurde Texas, das sich einige Jahre vorher von Mexiko getrennt hatte, als neuer Staat aufgenommen, und in den folgenden drei Jahren trat Mexiko weitere Grenzgebiete ab, aus denen sich später 6 Staaten, darunter Kalifornien 3 , bildeten. Bereits 1846 hatte die Union das·· so1 Kentucky, Tennessee, Alabama, Mississippi, Ohio, lndiana, Illinois, !\lichigan, Wisconsin. ~ Louisiana, Arkansas, Oklahoma, Missouri, Kansas, lowa, Nebraska, Wyoming, Minnesota (z. T.), Süd Dakota, Nord Dakota (z. T.), Montana. ~ die anderen 5 sind: Nevada, Utah, Arizona, Colorado (z. T.) Neu Mexiko (z. T.). Einen weiteren kleineren Gebietsstreifen trat Mexiko 1853 an die U.S .A. ab.

B. Die verfassungsmäßige Sicherung des Bestandes der Einzelstaaten

133

genannte Nord-West-Territorium von England erworben, dort entstanden 3 Staaten4 • Damit hatten die Vereinigten Staaten den Gebietsbestand erreicht, der heute von den 48 Staaten der Union gebildet wird. Allerdings blieben große Teile des Gebietes lange in der Stellung von Territorien. Erst 1912 wurde der 47. und 48. StaatS in die Union aufgenommen. SeitdeI:Jl. gibt es noch zwei große Territorien, das 1867 von Rußland gekaufte Alaska und die 1897 besetzten Hawaischen Inseln6 • Beide Territorien kämpfen seit Jahren um ihr Zulassung als Staaten, bisher haben ihre Versuche jedoch zu keinem Erfolg geführt. Zwar hat das Repräsentantenhaus bereits mehrfach ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, aber die Zustimmung des Senats war nicht zu erlangeni. Die 48 Staaten, aus denen jetzt die Union besteht, werden üblicherweise in Gruppen zusammengefaßt8 . Jede dieser Gruppen hat starke regionale Gemeinsamkeiten. Vielfach ist es zweifelhaft, welcher Gruppe ein bestimmter Staat zuzuordnen ist. Klar abgegrenzt ist die Gruppe der sechs sogenannten Neu-England-Staaten im Nordosten9 und die der Südstaaten. Die Gemeinsamkeit unter den 11 Staaten im Süden1o, die sich 1861 von der Union lösten und erst nach einem schweren Krieg wieder mit dem Norden vereinigt wurden, ist noch heute stark ausgeprägt. Die Südstaaten bilden in vielen verfassungsrechtlichen Fragen eine geschlossene Front. Die besonderen Probleme dieses Landesteiles werden noch im einzelnen darzustellen sein. Andere bekannte Staatengruppen sind der weite Westen (Far West) und der mittlere Westen (Middle West). B. Die verfassungsmäßige Sicherung des Bestandes der Einzelstaaten Der Bestand der Einzelstaaten ist in besonderer Weise durch die Verfassung geschützt. Eine Veränderung des Gebietes eines Staates oder die Zusammenlegung von Staaten ist nur mit Zustimmung der Parlamente der betreffenden Staaten und mit Zustimmung des Kongresses möglichl l • Washington, Oregon, Idaho. Arizona, Neu-Mexiko. 6 Weitere Außenbesitzungen sind die Insel Portoriko, die Jungferninseln, die Panamakanalzone und verschiedene Inseln im pazifischen Raum. 7 Auch in der Legislaturperiode des Jahres 1950 hat der Kongreß trotz starken Drucks seitens des Präsidenten das Gesetz nicht verabschiedet. 8 Sogenannte "regions" U Maine, New Hampshire, Vermont, Massachusetts, Rhode Island, Connecticut. 10 Virginia, North Carolina, South Carolina, Florida, Georgia, Alabama, Louisiana, Mississippi, Texas, Tennessee, Arkansas. 11 Art. IV, Abschn. 3 der Verfassung. 4

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Föderalismus

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Die Bildung neuer Staaten innerhalb des Gebietes eines bestehenden Staates ist überhaupt ausgeschlossen1 2 , bedürfte also einer Verfassungsänderung13. Besonders stark treten die Einzelstaaten bei den Wahlen der Bundesorgane in Erscheinung. Senatoren und Abgeordnete werden staatenweise gewählt, ebenso wie die Wahlmänner, die ihrerseits den Präsidenten wählen. Von großer Bedeutung ist schließlich die Bestimmung, die allen Staaten das gleiche Stimmgewicht im Senat sichert 14. Daran soll selbst im Wege einer Verfassungsänderung nichts geändert werden, es sei denn, daß der betreffende Staat zustimmt15 •

c.

Die Entwicklung des föderalistischen Prinzips

Der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika gingen heftige Kämpfe um die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Bund und Einzelstaaten voraus. In der Verfassungskonvention von Philadelphia hatte die zentralistische Partei ihre stärksten Exponenten in James Madison aus Virginia und Alexander Hamilton aus New York, während die einzelstaatlichen Rechte besonders durch Patrick Henry und Luther Martin vertreten wurden. Der Kampf galt in erster Linie der Frage, ob alle Einzelstaaten durch die gleiche Anzahl von Mitgliedern in den gesetzgebenden Körperschaften vertreten sein sollten, oder ob eine Aufschlüsselung der Sitze nach der Größe der Einzelstaaten erfolgen sollte. Dieser Streit endete mit der als "großer Kompromiß" in die Geschichte eingegangenen Lösung16• Weniger heftig umstrittell war die Aufteilung der hoheitlichen Befugnisse zwischen Bund und Einzelstaaten. Die Verfassung gibt dem Bund eine Reihe besonders aufgezählter Kompetenzen. Alle anderen hoheitlichen Befugnisse standen nach der Auffassung des 18. Jahrhunderts den Einzelstaaten zu, soweit sie nicht beim Volke verblieben waren17 • a.a.O. Vgl. dazu und zu der Frage, ob die Einzelstaaten im Wege einer Verfassungsänderung beseitigt werden können, Orjield, The Arnending of the Federal Constitution, S. 91 f. 14 Art. I, A,bschn. 3 der Verfassung. 15 Art. V, letzter Satz der Verfassung. 1& Gleiche Vertretung im Senat, Proportionalität im Repräsentantenhaus, vgl. S. 52 f. 17 Zusatzartikel 10 zur Verfassung. Gegenüber der im Text wiedergegebenen herrschenden Meinung vertritt neuerdings Crosskey, Politics and the Constitution 1953, die revolutionierende These, daß nach der Auffassung des 18. Jahrhunderts der Bund eine allgemeine Befugnis zur Gesetzgebung gehabt habe. Der Katalog des Art. I, Abschnitt 8 der Verfassung zähle lediglich beispielhaft und um klarzustellen, daß es sich um legislative, nicht 12

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C. Die Entwicklung des föderalistischen Prinzips

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Das Verhältnis der Bundesgewalt zu den Hoheitsrechten der Einzelstaaten bezeichnet man als das Prinzip der dualistischen Staatsgewalt (dual system of government). In jedem Teil des Bundesgebietes besteht eine zweifache Staatsgewalt, die des Bundes und die des betreffenden Einzelstaates. Beide Staatsgewalten sind voneinander unabhängig, beide wirken direkt auf das Gebiet und auf seine Bewohner. Heftig umstritten blieb viele Jahrzehnte hindurch die Rechtsnatur des Bundes. Die Vertreter der einzelstaatlichen Rechte ("states rights party"), insbesondere Thomas Jefferson und später John C. Calhoun18, stellten sich auf den Standpunkt, der Bund sei aus einem vertraglichen Zusammenschluß der Einzelstaaten entstanden, die Einzelstaaten seien souverän geblieben, daher stehe ihnen das Recht zu, alle Bundesgesetze daraufhin zu überprüfen, ob sie sich im Rahmen der dem Bund übertragenen Kompetenzen bewegten19 • Calhoun zog später aus dieser Lehre die Folgerung, daß ein Einzelstaat ein Bundesgesetz für ungültig erklären20 und notfalls sogar aus der Union austreten21 könne, wenn der Bundesgesetzgeber nach der Auffassung des Einzelstaates die ihm gesetzten Schranken überschritten habe. Unter dem Einfluß der Lehre von Calhoun erklärte im Jahre 1832 eine im Staate Süd-Karolina einberufene Konvention die Bundeszollgesetze von 1828 und 1832 für ungesetzlich22 • Auch die Sezession der Südstaaten im Jahre 1861 wurde auf die gleiche staatsrechtliche Theorie gestützt. Seit der Beendigung des Krieges zwischen den Staaten hat diese Lehre keine praktische Bedeutung mehr. Heute hat sich die von Alexander Hamilton, Chefrichter Marshali und Daniel Webster vertretene Auffassung von der Suprematie der Bundesgewalt über die einzelstaatliche Gewalt allgemein durchgesetzt. Es ist anerkannt, daß die Hoheitsgewalt des Bundes unmittelbar auf dem Willen des Volkes beruht und nicht eine aus der einzelstaatlichen Souveränität abgeleitete um exekutive Befugnisse handele,. eine Reihe von Kompetenzen besonders auf. Im 18. Jahrhundert sei eine unitarisch-zentralistische Interpretation der Verfassung herrschend gewesen. Erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts habe sich die entgegengesetzte Tendenz, die zu einer völligen Veränderung der ursprünglichen Verfassung geführt habe, durchgesetzt. Vgl. die Besprechung in 62 Yale 1137 ff. (1953). Das Buch von Crosskey lag dem Verfasser bei Abschluß der Arbeit noch nicht vor. 18 1782-1850. Eine der bedeutendsten amerikanischen Staatsmänner des 19. Jahrhunderts. Sein großer Gegner im Kongreß war Daniel Webster aus Massachussetts 1782-1850. 18 Vgl. die von Jefferson entworfene sogen. Kentucky Resolution von 1798/9 McLaughlin, S. 273 ff. '0 Sogenannte Nulliftcation. Z1 Sogenannte Sezession, McLaughlin, S. 441 ff. 22 Vgl. Swisher, American Constitutional Development, S. 237.

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Föderalismus

Gewalt ist23 • Der Oberste Gerichtshof, also ein Bundesorgan, ist unbestrittenermaßen allein zuständig, um darüber zu entscheiden, ob sich ein Bundesgesetz im Rahmen der beschränkten Gesetzgebungskompetenz des Bundes hält. Zugleich ist der Oberste Gerichtshof der Schiedsrichter über die Vereinbarkeit von einzelstaatlichem Recht mit Bundesrecht. Als Luther Martin, einer der Hauptverfechter einzelstaatlicher Rechte, in der Nationalversammlung von Philadelphia im Jahre 1787 den Antrag stellte, der später seinen Niederschlag in dem jetzigen Artikel VI, 2 der Verfassung fand 24, hat er nicht vorausgesehen, welche Wi~kung diese Klausel haben würde. Artikel VI, 2 bestimmt, daß Bundesrecht den Vorrang vor einzelstaatlichem Recht haben soll, und daß die Richter der Einzelstaaten durch das Bundesrecht gebunden sein sollten. Von einer Nachprüfung einzelstaatlicher Entscheidungen durch ein Bundesgericht sagt die Verfassung nichts. Erst der Judiciary Act von 1789 sah vor, daß der Oberste Gerichtshof des Bundes gegenüber höchstrichterlichen Entscheidungen der Einzelstaaten angerufen werden konnte, wenn die Vereinbarkeit von Bundesrecht mit einzelstaatlichem Recht umstritten war 25 • Durch diesen gesetzgeberischen Akt, dessen verfassungsmäßige Gültigkeit der Oberste Gerichtshof nach heftigen Auseinandersetzungen bestätigte2 @, in Verbindung mit Artikel VI, 2 der Verfassung wurde der Vorrang des Bundesrechts vor dem einzelstaatlichen Recht gesichert und die entscheidende Stellung des Obersten Gerichtshofes innerhalb des föderalistischen Systems der USA begründet. In der Folgezeit hat der Gerichtshof zwar durchaus nicht immer zentralistische Tendenzen verfolgt. Besonders im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verhinderte er eine fortschrittliche Gesetzgebung des Bundes auf wirtschaftlichem und sozialpolitischem Gebiet mit der Begründung, daß der Bund durch solche Gesetze in unzulässiger Weise in die Befugnisse der Einzelstaaten eingriffe 27 • Aber über die gesamten 160 Jahre der Geschichte der amerikanischen Verfassung hat der Oberste Gerichtshof doch eine gewaltige Stärkung der Bundesgewalt ermöglicht. Vgl. Ch. J. MarshaU in McCulloch v. Maryland 4 Wheat 316 (1819). McLaughlin, A Constitutional History, S. 183. "5 Section 25, vgl. M cLaughlin, a.a.O., S. 235. 26 Martin v. Hunter's Lessee 1 Wheat 304 (1816), McLaughlin, a.a.O., S. 394 ff. 2. Vgl. S. 100. ;;3

"4

D. Gesetzgebung

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Einige Verfassungszusätze 28 haben dem Bund zusätzliche Befugnisse verliehen. Der gesamte übrige Zuwachs an Bundeskompetenzen beruht auf der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Auf Grund seiner Entscheidungen haben die Einzelstaaten zahlreiche Befugnisse, die sie jahrzehntelang ausgeübt hatten, an den Bund abgeben müssen20 • Erst in jüngster Zeit hat der Oberste Gerichtshof eine fast hundertjährige Rechtsprechung aufgegeben und entschieden, daß die großen Versicherungsunternehmen, deren Geschäftsbereich über die Grenzen eines Einzelstaates hinausgeht, künftig der Kontrolle des Bundes und nicht mehr der der Einzelstaaten unterstehen30 • Trotz dieser allgemeinen Entwicklung haben aber auch die Einzelstaaten während des letzten Jahrhunderts einen erheblichen Zuwachs an hoheitlichen Aufgaben erhalten. Die immer zunehmende Einflußnahme staatlicher Organe auf die verschiedenen Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens hat innerhalb jedes Einzelstaates große behördliche Organisationen entstehen lassen. Die Budgets der Einzelstaaten betragen heute ein Vielfaches von denen des 19. Jahrhunderts, auch wenn man das Anwachsen der Bevölkerung und die Entwertung des Dollars berücksichtigt31 •

D. Gesetzgebung 1. Allgemeines

Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist in dem langen Katalog des Artikels I, Abschnitt 8 und in mehreren anderen Artikeln 32 der Verfassung festgelegt. Gesetze des Bundes, die in Übereinstimmung mit der Verfassung erlassen sind, gehen dem einzelstaatlichen Recht vor 33 • Das einzelstaatliche Recht wird jedoch durch ein in der gleichen Materie 28

Nr. 13, 14, 15, 16, 19, 20.

Vgl. S. 144 ff. U. S. v. South Eastern Underwriters Association 322 U. S. 535 (1944) S. 145. 31 Die Haushaltsausgaben der sämtlichen Einzelstaaten betrugen: 1890 72 roio, 1902 182 roio, 1932 2734 roio, 1942 5515 roio, 1948 10 221 roio. Die Bevölkerung stieg in der gleichen Zeit nur auf das 21Mache (von 62,9 auf 146,1 Millionen) und die Kaufkraft des Dollars venninderte sich. etwa auf ein Drittel. Vgl. Statistical Abstract of the Uni ted States 1950, Washington S. 351 ff., S. 279 ff. Deronach haben sich die Aufwendungen der Staaten je Kopf der Bevölkerung seit 1890 etwa verfünfundzwanzigfacht. 32 Vgl. etwa Zusatzartikel XIII, 2; XIV, 5; XVI, XIX, 2, sowie Art. I, ~; II, 2; III, 1 der Verfassung. sa Art. VI, Abs. 2 der Verfassung. 29

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Föderalismus

erlassenes Bundesgesetz im Zweifel nicht beseitigt, sondern nur suspendiert. Mit der Aufhebung des Bundesgesetzes tritt das einzelstaatliche Recht wieder in Kraft 3'. Dagegen ist ein einzelstaatliches Gesetz, das gegen die Bundesverfassung verstößt, von Anfang an nichtig. Die Beantwortung der: Frage, ob ein einzelstaatliches Gesetz der Bundesverfassung widerspricht, bereitet oft erhebliche Schwierigkeiten. Das liegt vor allem daran, daß die Bundesverfassung nicht scharf zwischen konkurrierender und ausschließlicher Gesetzgebung des Bundes unterscheidet. Nur in zwei Fällen, nämlich hinsichtlich des Distriets Columbia und hinsichtlich des in den Einzelstaaten mit deren Zustimmung vom Bund e:cworbenen militärischen Geländes, gibt die Bundesverfassung dem Bund ausdrücklich ein ausschließliches Gesetzgebungsrecht35 • Ganz wenige Materien der Bundesgesetzgebung sind den Einzelstaaten ausdrücklich entzogen und daher ebenfalls zweifellos ausschließliche Bundesgesetzgebung. Das gilt z. B. hinsichtlich des Münzrechts8&, dagegen nicht hinsichtlich der Konkursgesetzgebung. Das den Einzelstaaten auferlegte Verbot, vertragliche Verpflichfungen zu beeinträchtigen 37, verhindert nicht den Erlaß einzelstaatlicb.er Konkursgesetze, sondern nur deren .Aulwendung auf solche Verträge, die bei Erlaß des Gesetzes schon bestanden38 • Bei anderen Materien folgern die Gerichte aus der Natur der Sache, daß sie nur durch den Bund wahrgenommen werden können und daher ausschließliche Bundeskompetenz sind, so etwa bei dem Naturalisationsrecht41 • In der Mehrzahl der Fälle ist die Rechtslage unklar. Aus der Tatsache, daß dem Kongreß das Gesetzgebungsrecht über Postämter, Urheber- und Erfinderschutz übertragen ist, folgt nicht ohne weiteres, daß die Einzelstaaten von der Gesetzgebung auf diesen Gebieten ausgeschlossen sind, solange der Kongreß von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat'2. Man muß vielmehr unterscheiden: Handelt es sich bei der zu regelnden Frage um ein Problem, das seinem Charakter nach national ist und eine einheitliche Regelung erfordert, so können die Einzelstaaten auch dann keine Gesetze erlassen, wenn Vgl. Willoughby, Bd. II, S. 1097 und Bd. I, S. 112. Art. I, Abschn. 8, Klausel 17. 38 VgL Artikel I, Abschn. 8, Klausel 5 in Verbindung mit Abschnitt 10. Weitere Beispiele: die obsoleten Bestimmungen über die Ausstellung von Kaper- und Repressalienbriefen; a.a.O., Klausel 11. 37 Art. I, Abschn. 10 der Verfassung. 38 Witloughby, Bd. II, S. 1097. 41 Vgl. Art. I, 8 Klausel 4 und dazu WiHoughby, Bd. I, S. 114. ~: Vgl. Willoughby, a.a.O., u. Cooley v. Board of Wardens, 12 How 299 (1851). 34

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D. Gesetzgebung

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der Bundesgesetzgeber die Materie noch nicht geregelt hat 43 • Handelt es sich um lokale Angeleg~nheiten, so können die Staaten tätig werden. Wenn ein Gesetz des Kongresses zu einer Materie der konkurrierenden Gesetzgebung ergangen ist, so kommt es in erster Linie auf den Inhalt des Gesetzes an. Vielfach ergibt sich aus seinem Wortlaut oder seinem Zweck, daß einzelstaatliche Regelungen der gleichen Materie ausgeschlossen sein sollen. Das ist z. B. der Fall bei dem Bundespostgesetz44 und dem Bundeskonkursgesetz45 • Andere Bundesgesetze belassen den einzelstaatlichen Gesetzgeber die Befugnis, in der gleichen Materie tätig zu werden46 • 2. Ein z ein e K lau sei n der B und e s ver f ass u n g Von den in Artikel I, Abschnitt 8 der Verfassung dem Bund übertragenen gesetzgebenden Befugnissen haben vier Klauseln im Verhältnis zu den Einzelstaaten besondere Bedeutung erlangt: die Postklausel, die Steuerklausel und die zwischenstaatliche Handelsklausel. Dazu tritt die elastische Klause147 , die die außerordentliche Ausdehnung der Bundeskompetenzen ermöglicht hat. a) Die elastische Klausel. (Einbegriffene Befugnisse) Die sogenannte elastische Klausel hat folgenden Wortlaut: "Der Kongreß hat das Recht .... . ....... alle Gesetze zu erlassen, die notwendig und zweckdienlich sind, um die vorstehend aufgeführten Befugnisse und alle anderen Rechte auszuüben, die der Regierung der Vereinigten staaten, einem ihrer Zweige oder einem ihrer Amtsträger durch diese Verfassung verliehen sind." Auf dieser Klausel baut sich die Lehre von den "Einbegriffenen Befugnissen" auf, die zuerst von Alexander Hamilton48 und später von dem Chefrichter Marshall entwickelt worden ist. Sie ist das Ergebnis jahrzehnte~anger verfassungsrechtlicher und politischer Auseinandersetzungen aus der Zeit zwischen 1791 und 1819. Im Jahre 1791 erließ der Kongreß ein Gesetz, durch das eine Bundesbank (national bank) mit eigener Rechtspersönlichkeit zur Durch43 Cardwell v. American River Bridge Co. 113 U. S. 205 (1884); Cooley v. Board of Wardens 12 How 299 (1851); vgl. weiter Frankfurter, The Commerce Clause (1938) Kap. 1 u. 2. Strong American Constitutional Law, S. 102 ff., siehe unten S. 146 f. 44 WiHoug hbll, Vol. II, S. 1104. 45 WiHoughbll, Vol. II, S. 1099, In re Watts 190 U. S. 1 (1902). 48 über Einzelheiten vgl. unten S. 148. 47 Artikel I, Abschnitt 8, letzter Satz der Verfassung. 4e Vgl. seinen Bericht über die Bundesbank v. 1791. The works o.f Alexander Hamilton ed. by Lodge, vollII, 445 ff. Auszug bei Mason, Free Government in the Making, 314 ff.

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führung der Bundesaufgaben auf dem Gebiet der Währung und des Finanzwesens geschaffen wurde. Bevor Präsident Washington das Gesetz unterzeichnete, forderte er Rechtsgutachten von seinem Finanzminister Alexander Hamilton und von seinem Außenminister und Staatssekretär Thomas Jefferson an. Das Gutachten von Hamilton enthält eine Reihe verfassungsrechtlieber Grundsätze, die für die weitere Rechtsgeschichte der USA entscheidende Bedeutung erlangt haben 49 • Hamilton stellt zunächst den Grundsatz der weiten Auslegung (liberal construction) der Verfassung auf. Eine Verfassung, so sagt er, muß Vorsorge für eine unübersehbare Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungsmöglichkeiten im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben der Nation treffen. Die sich daraus ergebenden Probleme können die staatlichen Organe nur lösen, wenn ihnen ein Spielraum bleibt, innerhalb dessen sie die nach ihrem Ermessen notwendigen Maßnahmen treffen können. Dementsprechend gibt Hamilton der elastischen Klausel des Artikels I, Abschnitt 8 eine Interpretation, wonach der Bund alle Maßnahmen treffen kann, die zur Erfüllung der ihm ausdrücklich übertragenen Befugnisse zweckmäßig sind, es sei denn, daß ein besonderes Verbot der Verfassung e~tgegen­ steht. "Notwendig" im Sinne des Artikels I, Abschnitt 8 bedeutet nach Hamiltons Auffassung soviel wie zweckmäßig50 • Es kommt darauf an, ob zwischen der in der Verfassung ausdrücklich gewährten Befugnis und dem vom Kongreß zur Ausübung dieser Befugnis gewählten Mittel eine vernünftige Beziehung besteht. Wenn die Verfassung den Zweck einer bestimmten gesetzgeberischen Maßnahme billigt, so kann man im Zweifel annehmen, daß das Mittel, welches der Erreichung dieses Zwecks dient, ebenfalls im Rahmen der Verfassung liegt. Da Artikel I, Abschnitt 8 dem Bund eine Reihe finanzpolitischer Aufgaben zuweist, hat der Bundesgesetzgeber das Recht, zur Ausübung dieser Befugnisse eine Staatsbank zu gründen, obwohl eine besondere Bestimmung darüber in der Verfassung nicht enthalten ist. Insoweit handelt es sich um eine einbegriffene Befugnis ("implied power") des Bundes. Im scharfen Gegensatz zu Hamilton steht Jefferson, unterstützt von Madison51 • Jefferson fordert eine enge Auslegung der Bestimmungen der Verfassung, die dem Bund Befugnisse zuweisen. Er stützt sich dabei auf den Zusatzartikel 10 der Verfassung, wonach alle dem Bund nicht übertragenen Befugnisse bei den Einzelstaaten oder beim Volk verblieben sind. Den Begriff der Notwendigkeit in der elastischen Klausel des Artikel I, Abschnitt 8 will Jefferson so verstanden wissen, daß er hierzu McLaughHn, S. 229 ff. "Necessary often me ans no more than needful, requisite, incidental, useful, or conducive to". Mason, a.a.O., S. 317. 51 Vgl. McLaughlin, A ComtItutional History of the U. S., S. 229 ff. 'U Vgl.

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nur unumgänglich notwendige, keinesfalls aber auf bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen beruhende Maßnahmen zuläßt. Jefferson konnte zur Unterstützung seiner Ansicht auf die Verhandlungen in der Nationalkonvention von Philadelphia verweisen. Ein Antrag, dem Kongreß die Befugnis zur Errichtung juristischer Personen (power of incorporation) zu geben, war von der Versammlung abgelehnt worden52 •. Der Streit zwischen Hamilton und Jefferson hatte einen tiefen politischen Hintergrund. Hier zeigte sich der beginnende Bruch, der später mit der Gründung der von Jefferson und Madison geführten Republikanischen Partei offen zutage trat. Im Jahre 1791 fiel die politische Entscheidung zugunsten von Hamilton. Präsident Washington unterzeichnete das Bundesbankgesetz und verkündete es. 28 Jahre später wurde die Auffassung Hamiltons im Ergebnis durch den obersten Gerichtshof bestätigt. In der Entscheidung McCulloch v. Maryland 58 erklärt Chefrichter Marshall, daß der Bund das Recht habe, eine Staatsbank zu errichten und dieser Bank durch Gesetz die Rechtsfähigkeit zu verleihen. Marshall weist darauf hin, daß keine Bestimmung der Verfassung einbegriffene Befugnisse des Bundesgesetzgebers ausschließe. Er vertritt den Standpunkt, daß eine weite Interpretation der Verfassung eine unabweisbare staatspolitische Forderung darstelle und von den Schöpfern der Verfassung gewollt sei. Das Wort "notwendig" in der elastischen Klausel kann nach Marshalls Ansicht auch soviel wie ... zweckmäßig54 bedeuten. Eine Verfassung kann die Mittel, mit denen die von. ihr gewollten Ziele erreicht werden sollen, nicht im einzelnen für alle Zukunft vorschreiben. Ein gewisser Ermessensspiel,. raum des Gesetzgebers ist unumgänglich. Die Errichtung der Bank ist ein vernünftiges und zweckmäßiges Mittel, um die dem Bundesgesetzgeber verliehenen monetären Befugnisse auszuüben. b) Die Postklausel Die Postklausel, die dem Bund das Recht gibt, Postämter und Poststraßen einzurichten, hat weit über die eigentliche Postbeförderung hinaus Bedeutung erlangt. Der Bund hat seine Posthoheit dazu benutzt, um unerwünschte Schriften vom Postverkehr auszuschließen oder besonders verschärften Bestimmungen zu unterwerfen. Dadurch hat er indirekt auf Gebiete einwirken können, die ihm nach der Verfassung entzogen sind. So wurde vor einigen Jahren die Zeitschrift "Esquire" vom Genuß der für Drucksachen festgelegten verbilligten Postgebührensätze aus:;$

r.:; ;~

McLaughHn, S. 229.

4 Wheat 316 (1819). It frequently iI:nports no more than that one thing is conveniant, or

useful, or essential to another, a.2.0.

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geschlossen, weil der Postminister der Ansicht war, daß diese Zeitung unsittliche Bilder veröffentliche55• In einem Bundesgesetz aus dem Jahre 1950 wird der kommunistischen Partei in den USA auferlegt, das Propagandamaterial, welches von ihr mit der Post versandt wird, äußerlich als "kommunistisch" zu kennzeichnen58i• Hier benutzt der Bund die Postklausel zur Bekämpfung einer politisch gefährlichen Minderheit. In einzelnen Fällen ist sogar die Benutzung der Post für bestimmte Personen überhaupt gesperrt worden. Das geschah in der Hauptsache gegenüber Firmen, die sich hartnäckig weigerten, gesetzliche Vorschrif· ten zu erfüllen, z. B. gegenüber Konzerngesellschaften der Energiewirtschaft, die den Antitrustgesetzen nicht nachkommen wollten. Der Oberste Gerichtshof hat solche Maßnahmen für zulässig erklärt67 • c) Die Steuerklausel In ähnlich drastischer Weise hat der Bund seine Steuerhoheit be-

nutzt, um bestimmte wirtschaftspolitische Ziele zu verfolgen. Am bekanntesten ist der Margarinesteuer-Fall. Der Kongreß beschloß, eine Sondersteuer für gelb gefärbte Margarine einzuführen, deren ausgesprochener Zweck die Stützung der Butterpreise war. Der Oberste Gerichtshof hat die Steuer gebilligt58 • Die Befugnis des Bundesparlaments, Steuern zu erheben, hat schon frühzeitig zu Konflikten mit den Einzelstaaten geführt. Die Steuerklausel des Artikel I, Abschnitt 8 gibt keinerlei nähere Bestimmungen über das Verhältnis der Steuerhoheit des Bundes zu der der Einzelstaaten. Tatsächlich besteht bis heute keine Aufteilung der Steuerquellen zwischen Bund und Staaten. Der Bund erhebt eine Einkommensteuer und eine Körperschaftsteuer, die gleichen Steuern werden, allerdings mit wesentlich geringeren Sätzen, von den Staaten erhoben. Genau so verhält es sich bezüglich der Erbschaftsteuer und der Verbrauchsteuer. Häufig unterliegt der Verkauf bestimmter Produkte (Zigaretten, Benzin) zugleich einer Bundessteuer und einer einzelstaatlichen Steuer. . Nur Vermögensteuern kann der Bund nicht erheben. Sie werden als direkte Steuern im Sinne des Artikel I, Abschnitt 2 der Verfassung an-

s:; Hannegan v. Esquire 327 U. S. 146 (1946). Der Oberste Gerichtshof hob die Verfügung des Postministers wieder auf. .,6 International Security Act 1950, sec. 10. 67 Electric Bond & Share Co. v. S. E. C., 303 U. S. 419 (1938); vgl. ferner Dowling Cases, S. 428 f. 68 McCray v. U. S. 195 U. S. 27 (1904) . .Ähnlich neuerdings die Besteuerung von Haschisch (marihuana), um den freien Handel ganz zu unterbinden. U. S. v . Sanchez, 340 U. S. 42 (1950), siehe auch Magnano Co. v. Hamilton, 292 U. S. 40 (1934).

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gesehen und müssen demgemäß anteilmäßig auf die einzelnen Staaten nach ihrer Einwohnerzahl umgelegt werden. Ein solches Verfahren ist mit der Systematik der Vermögensteuer nicht vereinbar59 • Dadurch, daß Bund und Staaten Steuern erheben können, besteht die Gefahr, daß sich Bundesorgane und einzelstaatliche Organe gegenseitig in der Ausübung ihrer Befugnisse hindern. Schon 1819 hat Chefrichter Marshall den berühmten Ausspruch getan80 : "Die Macht zu besteuern, gibt die Macht zu zerstören." Um zu verhindern, daß sich Bund und Staaten durch Mißbrauch ihrer Steuerhoheit gegenseitig zerstören, hat der Gerichtshof versucht, die beiderseitigen Befugnisse abzugrenzen. Keine der beiden Körperschaften darf die hoheitliche Betätigung der anderen besteuern. Streitig ist, wie weit der Bereich der hoheitlichen Betätigung geht. Lange Jahre hindurch waren die Gehälter der Beamten des Bundepäteren Änderungen, 50 U. S. C. (1946). 13 Die letztere Bestimmung stammt aus dem Sedition Act 1918 v. 16. Mai 1918, 40 Stat. 553. Beard, American Government and Politics, S. 292. 14 Criminal Code Sec. 1 u. 2. 18 U. S. C. 1 u. 2 (1946). 16 Der Hochverrat muß in einer offenkundigen, von zwei Zeugen bestätigten Handlung bestanden haben oder von den Angeklagten vor Gericht eingestanden werden. 16 Knowingly· or willfully advocate, abet, advise or teach the duty, necessity, desirability cr propiety of overthrowing or destroying any government in the United States by force cr violence or by the assassination of any officer of any such government. Sec. 2 (a) Abs. 1 Smith Act 54 Stat. 671 18 U. S. C. 10 (1946). Ähnlich §§ 160, 161 New York Penal Code, Gitlow v. New York 268 U. S. 652 (1925). l ' Sec. 2 (a) Abs. 2 Smith Act a.a.O. lS Sec. 2 (a) Abs. 3 a.a.O. 19 "To be or become a member of, or affiliate with, any such society ~up or assembly of persons, knowing the purposc.::; thereof." Sec. 2 (a) Abs. 3 Smith Act 54 Stat 671 18 U. S. C. 10 (1946).

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Schutz der äußeren und inneren Sicherheit

4. Im 2. Weltkrieg erließ der Kongreß ein Gesetz, durch welches der Präsident ermächtigt wurde, militärische Zonen einzurichten!o. Der Präsident erklärte die gesamte Pazifische Küste zu einer militärischen Zone. Er verhängte gegen alle deutschen und italienischen Staatsangehörigen, sowie gegen alle Personen japanischer Abstammung, die in diesem Gebiet wohnten, eine Ausgangsbeschränkung während der Nachtstunden. Schließlich wurden sogar alle Personen japanischer Abkunft - auch soweit sie amerikanische Staatsbürger waren - im Gebiet der Pazifischen Küste in Haft genommen und in Läger im Innern des Landes geschafft. Ein Teil von ihnen blieb während des ganzen Krieges im Lager. Insgesamt wurden 112000 Personen von dieser Aktion betroffen, davon waren 70000 amerikanische Staatsbürger21 • 5. Im Jahre 1950, als die Spannungen zwischen Amerika und Rußland wuchsen, erließ der Kongreß das Gesetz über die innere Sicherheit22 • Es richtet sich gegen die kommunistische Partei. So ist die Verabredung von Taten mit dem Ziel, eine von einer fremden Macht kontrollierte totalitäre Diktatur in den USA zu errichten, unter Strafe gestellt23 • Ausgenommen sind nur Vorschläge für eine Verfassungsänderung. Allen kommunistischen Organisationen ist die Verpflichtung auferlegt, sich registrieren zu lassen und in bestimmten Abständen Auskunft über ihre Vorstandsmitglieder und Funktionäre sowie über die Geldmittel, über die sie verfügen, zu geben24 • Propagandaschriften der kommunistischen Partei müssen äußerlich durch folgende Worte kenntlich gemacht werden: "Versandt durch ............ (hier folgt der Name der Organisation), eine kommunistische Organisation"25. Ebenso müssen Radiosendungen2S , die von kommunistischen Organisationen veranstaltet werden, vorher als "kommunistisch" angekündigt werden. Eine besondere Behörde, der Kontrollrat gegen umstürzlerische Tätigkeiten27 , entscheidet im Streitfall darüber, ob eine bestimmte Organisation kommunistisch im Sinne des Gesetzes ist. Die letzte Entsc..heidung steht dem Obersten Gerichtshof zu. 20 KeUy und Harbison, S. 814. Gesetz vom 21. März 1942, 56 Stat. 173 c 191. 21 Vgl. Executive Orders No. 9066 vom 19. Februar 1942, 7 Fed. Reg. 1407 und No. 9102 vom 18. März 1942, Fed. Reg. 2165. Beide Verordnungen er-

gingen zunächst ohne besondere gesetzliche Grundlage, nur gestützt auf die verfassungsmäßigen Befugnisse des Präsidenten. Das Gesetz vom 21. März 1942 gab nachträglich eine weitere Rechtsgrundlage. ~! Internal Security Act 1950 vom 23. September 1950. 23 Title I, sec. 4 a.a.O. U Title I, sec. 7 a.a.O. 25 Title I, sec. 10 a.a.O. ~8 Daselbst. 27 Subversive Activities Control Board, Title I, sec. 12 a.a.O.

C. Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit

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In dem gleichen Gesetz wird Ausländern, die zu irgend einem Zeit"" punkte totalitären Organisationen angehört haben, die Einreise in die USA untersagt und ihre Deportation geregelt, falls sie in den USA ihren Wohnsitz haben28 . In Anlehnung an die Gesetzgebung im zweiten Weltkrieg bestimmt der letzte Abschnitt des Gesetzes, daß der Präsident im Falle einer Invasion, einer Kriegserklärung durch den amerikanischen Kongreß oder eines in den USA ausgebrochenen Aufstandes den "inneren Sicherheitsnotstand"29 erklären kann, wenn es zum Schutz des Landes erforderlich ist. Während der Dauer des Notstandes kann der Justizminister alle Personen in Haft nehmen lassen, die im Verdacht stehen, daß sie Spionage- oder Sabotagehandlungen begehen werden. Wieder entscheidet eine besondere Behörde30 darüber, ob die Voraussetzungen des Gesetzes erfüllt sind.

c. Der Kon1likt zwischen Sicherheit und Freiheit (Die Lehre von der klaren gegenwärtigen Gefahr) 1. Es ist offenbar, daß alle vorstehend genannten Maßnahmen das Grundrecht der Freiheit einschränken; und es fragt sich daher, wie die beiden tragenden Grundgedanken der amerikanischen Verfassung, Sicherheit und Freiheit, miteinander in Einklang gebracht werden können. Der Oberste Gerichtshof hat in der Lösung dieses Problems eine seiner wichtigsten Aufgaben gesehen. "Die Lösung dieser Verfassungsfragen stellt uns vor eine der schwierigsten Aufgaben dieser Generation ... Die Probleme der Sicherheit sind Realitäten. Das gleiche gilt von den Problemen der Freiheit. Die große Aufgabe unserer Zeit ist es, beide miteinander zu vereinigen31 ." In einer Reihe bedeutender Urteile hat der Oberste Gerichtshof bestimmte Richtlinien entwickelt, nach denen Sicherheitsmaßnahmen, die die Freiheit beschränken, zulässig sind. Man bezeichnet diese Richtlinien als die Regel von der klaren und gegenwärtigen Gefahr 82 • Wenn die demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Vereinigten Staaten durch eine klare gegenwärtige Gefahr von innen oder außen bedroht sind, kann der Staat die Grundfreiheiten einschränken83 • Die Regel wurde zum erstenmal unmittelbar Title I, sec. 22 a.a.O. Title II, sec. 102 a.a.O. 30 Detention Review Board, Title II, sec. 105 a.a.O. 31 Richter Douglas in JOInt Antifascist Refugee Committee v. Mc Grath 341 U. S. 123, 174 (1951). 3: "Clear and present danger rule." 33 Rottschaefer, S. 757. 28

20

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Schutz der äußeren und inneren Sicherheit

nach dem ersten Weltkrieg von Richter Holmes in dem sogenannten Schenck-Fa1l34 formuliert. Holmes sagte: "Wenn die Angeklagten ...... in normalen Zeiten das gesagt hätten, was sie in ihren Rundbriefen schrieben, hätten sie verfassungsmäßig gehandelt. Aber der Charakter jeder Handlung hängt von den Umständen ab. Die Frage ist in jedem Fall, ob bestimmte Worte unter solchen Umständen gebraucht werden und von solcher Art sind, daß sie eine klare gegenwärtige Gefahr des Eintritts solcher wesentlicher Schäden hervorrufen, wie sie der Kongreß nach 'der Verfassung zu verhindern das Recht hat.. .. ·..... Wenn eine Nation im Kriege ist, sind viele Dinge, die in Friedenszeiten gesagt werden konnten, ein so großes Hemmnis der Kriegsanstrengungen, daß sie nicht geduldet werden können, so lange Soldaten im Kampfe stehen." Die Holmes'sche Formel ist in der Literatur als eine unzulässige Vereinfachung des Problems kritisiert worden. Ihr ist der Vorwurf gemacht worden, daß sie die Illusion einer sicheren Richtschnur gebe, während in Wahrheit die Abwägung der im konkreten Fall miteinander streitenden Rechtsgüter dem Richter überlassen bleibe35 • Diese Vorwürfe sind nicht unbegründet. Andererseits bildet die Regel von der klaren gegenwärtigen Gefahr aber die Grundlage, auf der sich die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs seit über 40 Jahren entwickelt hat. Sie bedarf daher einer genaueren Darstellung. 2. Zunächst fragt es sich, um welcher Rechtsgüter willen die Freiheit beschränkt werden darf. Aus den Entscheidungen ergibt sich nicht deutlich, ob eine Gefahr für die innere oder äußere Sicherheit des Landes vorliegen muß. Nach der ursprünglichen Formulierung von Holmes hat es den Anschein, als wenn auch eine Gefahr für andere schutzwürdige Rechtsgüter ausreicht 36 • Auch später hat der Gerichtshof betont, daß keineswegs nur eine Gefahr für die Sicherheit des Staates die Anwendung der Holmes'schen Regel rechtfertige 37 • Andere Äußerungen, die sich zunäc.lJ.st in einem Minderheitsvotum von Holmes 3B, später in Entscheidungen des GerichtsSchenck v. U. S. 249, U. S. 47 (1919). Freund, On Understanding the Supreme Court 27, 28. Sft Schenck v. U. S. 249 U. S. 47 (1919). ~7 Dennis v. U. S. 341 U. S. 494 (1950). 38 Abrams v. U. S. 250 U. S. 616 (1919). "Ich glaube, wir sollten immer wachsam sein gegen alle Versuche, Meinungsäußerungen zu unterbinden, die wir verabscheuen oder gar für todbringend halten, außer wenn sie eine so unmittelbare Bedrohung für die dringenden Anliegen des Rechts bedeuten, daß sofort Einhalt geboten werden muß, um das La n d zu ret t en." S4

S5

C. Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit

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hofs selbst39 finden, deuten darauf hin, daß eine Beschränkung der Grundrechte nur bei einer ernsten Gefährdung der Sicherheit des Staates zulässig sein soll. Aber das Gericht hat noch in jüngster Zeit die Regel von der klaren gegenwärtigen Gefahr in Fällen angewandt, in denen es sich nicht um eine Gefährdung der Staatssicherheit, sondern etwa um eine solche der Rechtspflege oder der öffentlichen Ordnung handelte40 • Danach wird man davon ausgehen können, daß zwar alle Konflikte zwischen Freiheit und Sicherheit nach der Holmes'schen Regel entschieden werden müssen und daß es sich hier um den wichtigsten Anwendungsbereich der Regel handelt, daß aber auch Konflikte anderer schutzwürdiger Interessen mit dem Grundrecht der Freiheit nach der Lehre .von der klaren gegenwärtigen Gefahr zu behandeln sind. 3. Um einen Eingriff in die Freiheitsrechte zu rechtfertigen, muß der einem schutzwürdigen Rechtsgut drohende Schaden ernst und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts erheblich sein41 • Beides sind Kriterien, die dem Richter erheblichen Spielraum geben. In einer der letzten grundlegenden Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, dem Dennis-Fa1l 42 , ist der interessante Versuch unternommen worden, diese Tatbestandsmerkmale schärfer zu erfassen. 4 Richter", die größte Gruppe von Richtern, die sich im Denrusurteil zu einem gemeinsamen Votum zusammenfanden, aber nicht die Mehrheit des Gerichts, vertreten im Anschluß an die Urteilsbegründung der zweiten Instanz von Richter Learned Hand" den Standpunkt, daß die Größe des zu erwartenden Übels und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts in einem umgekehrten Proportionalitätsverhältnis zueinander stehen. Je größer der drohende Schaden sein würde, 'desto geringere Anforderungen werden an die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts gestellt und umgekehrt. Angesichts der tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten, die zwischen den Mitgliedern des Obersten Gerichtshofes bei der Ent38 Hemdon v. Lowry 301 U. S. 242 (1937). "Die Einschränkung der individuellen Freiheit muß in einem angemessenen Verhältnis zu der Sicherheit des Staates stehen." Ebenso Richter Douglas abw. Votum Dennis v. U. S. a.a.O., S. 585. 40 Craig v. Hamey 331 U. S. 367 (1946). Bridges v. Califomia 314 U. S. 252 (1941). Cantwell v. Connecticut 310 U. S. 296 (1940). Thornhill v. Alabama 310 U. S. 88, 105 (1939). 41 Bridges v. California 314 U. S. 252, 262 f. (1941). "Der drohende Schaden muß außerordentlich ernst und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts außerordentlich groß sein." 4! Dennis v. U. S. 341 U. S 494 (1950) . • 3 Chefrichter Vinson und die Richter Reed, Burton, Minton. 4C 183 F 2 d 212.

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Schutz der äußeren und inneren Sicherheit

scheidung des Dennis-Falles bestanden, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob sich diese Ansicht in Zukunft durchsetzen wird45 • 4. Wenn eine klare und gegenwärtige Gefahr für ein schutzwürdiges Rechtsgut, insbesondere für die Sicherheit des Staates, vorliegt, sind diejenigen Beschränkungen der persönlichen Freiheit zulässig, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Demgemäß hat der Oberste Gerichtshof in einer Reihe von Urteilen ausgesprochen, daß die Herstellung oder die Verbreitung von zersetzenden oder umstürzlerischen Schriften46 , daß öffentliche Reden, in denen der Kommunismus verherrlicht wird47 , die Gründung von Organisationen, die umstürzlerische Lehren zu verbreiten suchen48 , oder jede andere Art der Verbreitung solcher Lehren49 bestraft werden kann. Die bloße Mitgliedschaft in umstürzlerischen Organisationen oder die bloße Teilnahme an ihren Veranstaltungen kann unter Strafe gestellt werden, wenn dem Täter der Charakter der Organisation bekannt ist 5o • Im Kriege kann der Exekutive das Recht verliehen werden, solche Personen, die nach ihrer Auffassung eine Gefahr für die Sicherheit des Landes bilden, zu internieren51 • Die meisten Entscheidungen, aus denen die vorstehenden Grundsätze abgeleitet wurden, sind heftiger Kritik unterzogen worden. In den älteren Urteilen haben die Richter Holmes und Brandeis, später Rutledge, Murphy, Black und Douglas, in außerordentlich scharfer Form die Zulässigkeit der in Frage stehenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit bestritten. Das letzte große Gesetz, das der Kongreß im Zuge der Maßnahmen zur Bekämpfung des Kommunismus erlassen hat, das Gesetz über die innere Sicherheit von 1950, hat seine gerichtliche Probe noch nicht bestanden. Der Kongreß selbst hat zu der verfassungsrechtlichen Gültigkeit in der Einleitung zu diesem Gesetz wie folgt Stellung genommen: "Die kommunistische Organisation in den Vereinigten Staaten ...... , die kürzlichen Erfolge kommunistischer Methoden in anderen Ländern Abw. Richter Frankfurter Sondervotum in Dennis v. U. S., S. 527. Schenck v. U. S. 249 U. S. 47 (1919). Abrams v. U. S. 250 U. S. 616 (1919). 47 Debs v. U. S. 249 U. S. 211 (1919). 48 Dennis v. U. S. 341 U. S. 494. 4~ Dennis v. U. S. a.a.O. 50 Whitney v. California 274 U. S. 357 (1927). Die gleiche Auffassung liegt dem Urteil Blau v. U. S. 340 U. S. 159 (1950) zugrunde. VgL S. 233. ~1 Korematsu v. U. S. 323 U. S. 214 (1944) mit abw. Voten der Richter Roberts, Murphy und Jackson. Das Urteil wird im Schrifttum einmütig abgelehnt. Vgl. Kelly and Harbison, S. 814, Pritchett, S. 121, N. Demwitz in 45 Col. Law Rev. 175 ff., Biddle 151. 45 46

c. Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit

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und der Charakter........ der kommuni~tischen Weltbewegung selbst stellt eine klare und gegenwärtige Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und für die E xis t e n z f r eie r a m e r i k a n i s c her Ins t i tut ion end a r. Das macht es erforderlich, daß der Kongreß entsprechende Gesetze erläßt, die die Existenz einer solchen weltweiten Verschwörung erkennen und dazu bestimmt sind, die Verwirklichung ihres Zieles in den Vereinigten Staaten zu verhindern. Dies geschieht, um für die gemeinsame Verteidigung des Landes zu sorgen, um die Souveränität der Vereinigten Staaten als einer unabhängigen Nation zu erhalten und um jedem einzelnen Staat eine republikanische Regierungsfonn zu garantieren... 52 Der Kongreß sucht mit diesen Ausführungen nachzuweisen, daß das Gesetz im Einklang mit der Lehre von der klaren gegenwärtigen Gefahr steht. Der Präsident legte gegen das Gesetz ein später vom Kongreß überstimmtes Veto ein mit der Begründung, daß mehrere in dem Gesetz vorgesehene Maßnahmen unnötig und unzweckmäßig seien, um die kommunistische Gefahr zu bekämpfen. Diese Argumente besagen, daß die Voraussetzungen der Regel von der klaren gegenwärtigen Gefahr nicht erfüllt sind. An einer Stelle erklärt der Präsident in seiner VetoBotschaft sogar, daß das Ge set z eine klare gegenwärtige Gefahr für den Bestand der freiheitlichen Institutionen bedeutet53 • 5. Bei der Anwendung der Holmes'schen Regel erhebt sich als ein besonders wichtiges und jahrzehntelang umstrittenes Problem die Frage, ob das Gericht das Vorhandensein einer klaren gegenwärtigen Gefahr in jedem einzelnen Fall feststellen muß, bevor es in die persönliche Freiheit eines einzelnen Bürgers eingreift. Die ältere Lehre wollte unterscheiden zwischen solchen Gesetzen, die den Gebrauch bestimmter Worte, etwa die Verbreitung anarchistischer Reden, unter Strafe stellten und solchen Gesetzen, deren Tatbestand so formuliert war, daß er sowohl Reden wie auch andere Handlungen erfaßte (z. B. das Verbot, die Rekrutierung von Wehrpflichtigen zu behindern). Für den Bereich der zuletzt genannten Gesetze bestand Einmütigkeit, daß das Gericht in jedem einzelnen Fall prüfen mußte, ob Reden oder Schriften, die den Tatbestand des Gesetzes erfüllten, eine klare gegenwärtige Gefahr für die Sicherheit des Staates bildeten54 • Im ersteren Falle standen sich zwei Auffassungen gegenüber. Nach der zunächst herrschenden abstrakten Theorie hatte das Gericht nur zu prüfen, ob das Gesetz in Übereinstimmung mit der Verfassung stand. Internal Security Act 1950 v. 23. Sept. 1950. Text of the President's Veto Message v. 22. Sept. 1950; New York Times v. 23. Sept. 1950. 64 Dennis v. U. S. (1950), a.a.O., S. 505 mit zahlreichen Nachweisen. 52

Ga

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Schutz der äußeren und inneren Sicherh eit

Die Prüfun g bezog sich darauf, ob das vom Gesetzg eber mit Strafe bedroh te Verhal ten seiner Natur nach als eine Gefahr für die Sicherh eit des Staates angese hen und daher vernün ftigerw eise unter Strafe gestellt werden konnte 55 • Diese Frage wurde dann bejaht, wenn der Gesetzg eber die Verbre itung von anarchi stischen Lehren , die auf den gewalts amen Umstur z des bestehe nden Regieru ngssyst ems abzielte n, unter Strafe gestellt hatte58 • Bei der Beurte ilung des einzeln en Falles hatte das Gericht nach der abstrak ten Theorie nur noch zu prüfen, ob das Verhal ten eines Angeklagt en unter die vom Gesetzg eber aufgest ellten ·Tatbes tandsm erkmale fiel. Demge genübe r fordert e die konkre te Theorie , die insbeso ndere Holmes und Brande is in ihrem abweic henden Votum zum GitlowFa1l 57 begrün deten, daß das Gerich t in jedem Fall prüfen müsse, ob ein Angeklag ter durch sein Verhal ten eine so unmitte lbare Gefahr heraufbeschw oren hatte, daß die Einsch ränkun g der Grundf reiheite n ihm gegenü ber gerecht fertigt erschei ne. Die· konkre te Theorie ist jetzt herrsch end58 • 6. Wenn man der konkre ten Theorie folgt, erhebt sich schließl ich noch die Frage, ob die Gefähr dung im Einzelf all durch den Richter oder durch die Geschw orenen bank festges tellt werden muß, ob es sich also insowe it um eine Rechts- oder um eine Tatfrag e handel t. Die herrsch ende Rechtss prechun g nimmt an, daß es eine Rechtsf rage sei, die der Richter beantw orten müsse59 • 7. Für das schwie rige Grenzg ebiet zwische n Freihei t und Sicherh eit gilt im besond eren Maße der Satz, daß sich das amerik anische Recht nicht in abstrak ten Regeln formul ieren läßt. In keinem andere n Bereich haben so heftige Ausein anderse tzungen innerha lb des Gericht s stattge funden wie in diesem, und auf kaum einem andere n Gebiet ist das jeweili ge Urteil in so starkem Maße von der mehr oder wenige r liberale n Grundh altung der einzeln en an der Gitlow v. New York 268 U. S. 652 (1925). Ebendo rt. 57 Vgl. ferner Sonderv otum der Richter Holmes und Brandei s in Whitney v. Californ ia 274 U. S; 357 (1927). 58 Chefric hter Vinson in Dennis v. U. S. (1950) a.a.O. 507 zutreffe nder Begründ ung. Die Autorit ät von Holmes undmit ausführ licher Brandei s ist so groß, daß ihre abweich enden Voten heute selbst dann als geltend es Recht angeseh en werden, wenn die vom Gericht aufgeste llten Grundsä die Holmes und Brandes votierte n, niemals ausdrüc klich tze, gegen aufgeho ben (overrul ed) worden sind. ~8 Chefric hter Vinson im Dennisf all (1950) a.a.O., S. 513 ff. mit Nachwe is abweich ender Meinun gen. 55

56

c.

Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit

193

Entscheidung mitwirkenden Richterpersönlichkeiten und von der allgemeinen außen- und innerpolitischen Lage des Landes abhängig gewesen. Alle vorstehend entwickelten generellen Grundsätze müssen gegen den Hintergrund des konkreten Falles gestellt werden, in dem sie formuliert wurden. Erst das folgende Kapitel über die Anwendung der tragenden Grundsätze des amerikanischen Verfassungsrechts auf einigen besonders bedeutsamen Lebensgebieten wird daher weitere Klarheit über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ergeben.

13 C ars t e n s. Grundgedanken

Zweiter Teil

Anwendung der Verfassungsgrundsätze Einleitung Aus der im ersten Teil dieser Arbeit gegebenen Datstellung der einzelnen Grundprinzipien der amerikanischen Verfassung, wie "Herrschaft durch das Volk", "Trennung der Gewalten", "Gerichtliche Nachprüfung", entsteht ein nur unvollkommenes Bild der amerikanischen Rechtswirklichkeit. In den bedeutsamen Fällen des amerikanischen Verfassungsrechts handelt es sich meist nicht um die Anwendung nur eines der dargestellten Grundsätze. Vielmehr greifen mehrere von ihnen ein, und in aller Regel führt die Anwendung jedes dieser Grundprinzipien zu einem anderen Ergebnis. Als sich der Oberste Gerichtshof mit der Rooseveltschen New-DealGesetzgebung auseinandersetzte, prüfte er die einzelnen Maßnahmen unter Berücksichtigung des föderalistischen Grundgedankens der Verfassung, des Gewaltentrennungsprinzips, des Schutzes der Grundrechte und der Zulässigkeit der Normenkontrolle. Wenn durch die Bundesgesetzgebung ein Druck auf die Gewerkschaften, ihre kommunistischen Führer zu entlassen, ausgeübt wird, so steht das Grundrecht der Meinungsfreiheit, der föderalistische Grundgedanke, der Sicherheitsgrundsatz und die Zulässigkeit der Normenkontrolle in Frage; und wenn in einigen Südstaaten Gesetze erlassen werden mit dem Ziel, die Teilnahme von Negern an den 'Wahlen zu verhindern, so ist auch das nicht nur ein vom StanClpunkt des Gleichheitssatzes zu betrachtendes Problem. Wiederum spielt das Prinzip des föderalistischen Verfassungsaufbaus und die Frage nach dem Ausmaß der zulässigen Normenkontrolle eine Rolle. Um die Bedeutung der Verfassungsgrundsätze für das Rechtsleben zu erkennen, muß daher die im ersten Teil gegebene Darstellung ergänzt werden. Es muß gezeigt werden, zu welchen Konsequenzen die Anwendung dieser Grundsätze auf bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens führt.

Einleitung

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Man könnte daran denken, diese Untersuchung für eine größere Zahl von Gebieten durchzuführen, etwa für die Wirtschaft, das Verkehrswesen, die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, das Rundfunk- und Pressewesen, um nur einige Beispiele zu nennen. Aber die schweren verfassungsrechtlichen Konflikte, die gerade auf den genannten Gebieten in der Vergangenheit bestanden, haben neuerdings an Bedeutung verloren. Es gibt zwar auch heute noch ungelöste Probleme und Meinungsverschiedenheiten über viele einzelne Fragen, aber im großen und ganzen hat die Entwicklung einen Abschluß erreicht. Dagegen gibt es einen Bereich des amerikanischen Lebens, in dem die gekennzeichneten Konflikte zwischen den einzelnen Grundprinzipien der Verfassung noch in unverminderter Schärfe fortbestehen. Es handelt sich zugleich um dasjenige Gebiet, auf dem die heftigsten innerpolitischen Auseinandersetzungen stattfinden, nämlich um die Behandlung der Minderheiten. Nach dem Grundsatz der Mehrheitsherrschaft müssen sich die Minderheiten dem Willen der Mehrheit unterwerfen. Die in der Verfassung garantierten Grundrechte geben ihnen dagegen die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. Die innere und äußere Sicherheit des Landes erfordert wiederum eine Beschränkung dieser Freiheit. In jedem Fall ergeben sich zwei weitere Fragen, ob nämlich die Lösung eines Minderheitenproblems in die Zuständigkeit des Bundes oder in die der Einzelstaaten gehört, und in welchem Umfang legislative Entscheidungen durch die Gerichte nachprüfbar sind. In diesem Konflikt der großen Verfassungsgrundsätze hat sich das amerikanische Minderheitenrecht entwickelt. Je nach der Zusammensetzung des Obersten Bundesgerichtes und je nach der allgemeinen weltpolitischen Lage hat die Entwicklung geschwankt. Je mehr liberale Richter von Präsident F. D. Roosevelt in den Gerichtshof berufen wurden, desto stärker setzte sich die Idee durch, daß der Schutz der Menschenrechte die höchste Aufgabe der Gerichte sei. Auf dem Höhepunkt des zweiten Weltkrieges überschattete der Gedanke, die öffentliche Sicherheit und Ordnung schützen zu müssen, alle anderen Erwägungen, und angesichts der jetzt wieder auflebenden weltpolitischen Spannungen zeigen sich erneut ähnliche Tendenzen. Man kann sagen, daß das Minderheitenrecht zum Prüfstein für die Grundgedanken des amerikanischen Verfassungsrechts geworden ist. Daher soll die Anwendung der Verfassungsgrundsätze auf diesem Gebiet im folgenden dargestellt werden.

13·

Siebentes Kapitel

Die Stellung der Minderheiten A. Allgemeine Kennzeichnung des Minderheitenproblems 1. Wenn hier von Minderheiten gesprochen wird, so geschieht es in der soziologischen Bedeutung des Wortes. Eine Minderheit ist danach eine Gruppe, die als ein besonderer mehr oder minder scharf abgegrenzter Teil des gesamten Volkes behandelt wird oder sich selbst als solchen ansiehtl. Die Mehrheit der USA-Bevölkerung besteht aus englisch sprechenden, protestantischen, weißen Staatsbürgern von angelsächsischer Abkunft!. Sie stehen entweder der republikanischen oder der demokratischen Partei nahe oder sind parteipolitisch uninteressiert. Nahezu völlig in dieser Mehrheit aufgegangen sind solche Amerikaner, deren Vorfahren aus anderen europäischen Ländern, vor allem den nordeuropäischen Ländern kamen, wenn ihre Familien seit mehreren Generationen im Lande gelebt haben. So sind die alten holländischen Familien dem angelsächsischen Stamm gleichgestellt. Ähnliches gilt von den Nachkommen der deutschen und skandinavischen Einwanderer des 19 ..Jahrhunderts. Anders ist dagegen die Stellung derjenigen amerikanischen Staatsbürger, die noch selbst in Europa geboren sind, oder deren einer Elternteil aus Europa stammt. Diese Gruppe umfaßt etwa 20 Millionen Menschen, darunter sind 5,2 Millionen deutscher Abstammung. Letztere leben vor allem in New York und im mittleren Westen; sie bilden die stärkste weiße Volksgruppe nichtenglischen Ursprungs. An zweiter Stelle folgen die Italiener mit 4,6 Millionen, dann die Polen mit 2,9, die Russen mit 2,6 und die Iren mit 2,4 Millionen3 • Diese Gruppen haben einen gewissen, wenn auch keineswegs ausgeprägten, Minderheitencharakter. In einigen Teilen des Landes kontrollieren sie sogar weitgehend das öffentliche Leben. So haben die Ebenso Report of the President's Committee on Civil Rights. 1947, S. 14. Ähnlich a.a.O., S. 14 f. a Die Zahlen beruhen auf dem Zensus von 1940. 1

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A. Allgemeine Kennzeichnung des Minderheitsproblem.s

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Iren und Italiener zusammen in den großen Städten des Ostens ein starkes Gewicht, wie ein Blick auf die Namen der letzten Bürgermeister der Stadt New York zeigt'. 2. Anders verhält es sich bezüglich der farbigen Gruppen. Es gibt in Amerika etwa 15 Millionen Neger, das sind 10 % der gesamten BevölkerungS. Ihre Vorfahren sind im 17., 18. und 19. Jahrhundert als Sklaven in das Land gekommen; die meisten stammten aus Afrika, sie wurden Landarbeiter in den Südstaaten der Union. Noch jetzt wohnen zwei Drittel aller amerikanischen Neger in den Südstaaten6 • Hinter den Negern treten die anderen rassischen Minderheiten an Zahl und Bedeutung weit zurück. Es gibt etwa 250000 Ostasiaten7, die vor allem an der Westküste und in der Stadt New York konzentriert sind. Von der amerikanischen Urbevölkerung, den Indianern, leben nur noch etwa 400000. Die meisten wohnen in Reservaten, d. h. in besonderen Gebieten, die ihnen von der Bundesregierung zugewiesen sind. Dort leben sie nach ihren alten Bräuchen, genießen das Recht der Selbstverwaltung und werden durch die Bundesregierung geschützt8 • Viele Stämme sind reich, da in ihren jetzigen oder in ihren früheren Reservaten Öl gefunden wird9 • 3. · Von den nichtprotestantischen Konfessionen des Landes ist die katholische die größte. Sie zählt etwa 27 Millionen Anhänger und ist damit der zahlenmäßig stärkste geschlossene kirchliche Block in den USA überhaupt. Die protestantische Konfession zerfällt in etwa 200 teilweise nur lose miteinander verbundene Kirchen und Körperschaften. Es wäre irreführend, wenn man von den Angehörigen der katholischen Konfession als einer Minderheit sprechen wollte. Katholiken haben in großen Teilen des Landes einen starken Einfluß. Die katholischen Volksgruppen irischer, italienischer und polnischer Abstammung sind vor allem im Osten der USA gut organisiert Dort haben sie eine ausschlaggebende Stellung. Andererseits ist noch nie ein Katholik Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Der Präsidentschaftskandidat der demokratischen La Guardia, O'Dwyer, Impelliteri. Zahlen von 1950. 6 Das sind die 11 Staaten, die sich 1861 von der Union trennten, vgl. S. 133. 7 Japaner: 127000, Chinesen: 77000, Philippiner: 45000. über die schwierige Lage der Japaner im zweiten Weltkrieg vgl. S. 186. 8 Im Innenministerium besteht eine besondere Abteilung, die die Interessen der Indianer wahrnimmt: Bureau of Indian Affairs. VgL Snyder Act 1921, 25 U. S. C. 13 (1946) und Indian Reorganization Act 1934 25 U. S. C. 461 ff. (1946). 8 So erhielt z. B. jeder Angehörige des Stammes Osage in Oklahoma im Jahre 1926 $ 13400 Lizenzgebühren von den großen Ölgesellschaften. 4

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Die Stellung der Minderheiten

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Partei,Alfred Smith, früher Gouverneur von New York, der der katholischen Religionsgemeinschaft angehörte, unterlag 1928 gegen den republikanischen Kandidaten Hoover u. a. deswegen, weil in den Südstaaten über eine Million Wähler gegen Smith stimmten. Einen protestantischen Kandidaten hätte der Süden, der immer der unbestrittene Rückhalt der Demokratischen Partei gewesen ist, damals zweifellos akzeptiert10• Bedeutungsvolle verfassungsrechtliche Probleme hat jedoch die konfessionelle Sonderstellung der Katholiken nicht ausgelöst. Ähnliches gilt von der jüdischen Minderheit. Sie ist mancherlei Diskriminierungen ausgesetzt1!, jedoch sind die daraus resultierenden Konflikte sehr selten Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen geworden. Dagegen hat eine andere religiöse Gruppe zu den schwierigsten verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen Anlaß gegeben. Es handelt sich um die auch in Deutschland bekannte Sekte der Zeugen Jehovas. Man schätzt die Anhänger dieser Gruppe in USA auf nicht mehr als 10000012 • Durch ihre außerordentliche Aktivität geraten die Zeugen häufig in Konflikt mit staatlichen Gesetzen oder staatlichen Organen. Ihre Behandlung stellt jedes Land, in dem sie auftreten, vor schwierige Probleme. Die Art, wie diese Probleme in den USA gelöst wurden, gehört zu den interessantesten Kapiteln der modernen Verfassungsgeschichte. 4. Als eine politische Minderheit kann man nur die kommunistische Partei und die ihr angeschlossenen Organisationen bezeichnen. Es gibt zwar eine Reihe anderer politischer Splitterparteien, so z. B. die Sozialisten Norman Thomas'. Sie treten aber im amerikanischen Leben nicht als eine geschlossene Gruppe auf. Dagegen bilden die Kommunisten eine sehr aktive und seit dem Beginn des kalten Krieges zwischen USA und Rußland heftig bekämpfte Organisation. Wie stark sie sind, ist fast unmöglich zu schätzen. Ihr Hauptrückhalt liegt in der Stadt New York, dort pflegt die ihnen nahestehende amerikanische Arbeiterpartei bei den Wahlen einige Hunderttausend ~timmen zu erhalten13• Henry Wallace, der 1948 mit Unterstützung der Kommunisten für die PräsiVgI. BinkLey (deutsche Ausgabe v. Otte), S. 393. Näheres bei Laski, The American Democracy, S. 477 fi. lZ An Encyclopedia of Religion by Vergilius Fern, New York, 1950, unter "Russelism". 13 Bei der Wahl am 7. Nov. 1950 erhielt die American Labor Party 200000 Stimmen. Nach einer Angabe des Chefs der F. B. I. Edgar Hoover gab es 1950 12000 gefährliche Kommunisten in den U.S.A. (NY Titnes vom 8. September 1950) und etwa 50000 eingeschriebene Parteimitglieder. (Loewenstein, Juristenzeitung 1952, S. 3.) 10

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B. Die rassischen Minderheiten (Neger)

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dentschaft kandidierte, erhielt insgesamt 1,1 Millionen, darunter aber zweüellos viele nichtkommunistische Stimmen. In der Vergangenheit haben auch andere politische Organisationen typischen Minderheitencharakter gehabt, darunter sogenannte faschistische oder totalitäre Organisationen, wie der von deutschen Nationalsozialisten geschaffene "Bund". Heute sind diese Gruppen bedeutungslos. 5. Im Gegensatz zu den bisher besprochenen Gruppen stellen die 3 Millionen Ausländer, die in den USA leben, als solche keine Minderheit dar. Sie sind unter sich nicht organisiert und haben meist das Bestreben, so schnell wie möglich amerikanische Staatsbürger zu werden. Vielfach stehen sie der Volkstumsgruppe nahe, der sie abstammungsmäßig zugehören. Eine große Zahl von ihnen lebt aber auch verstreut ohne Bindung an andere Gruppen. 6. Danach rechtfertigt es sich, als typische Erscheinungsform einer rassischen Minderheit die Neger, als die einer religiösen Minderheit Jehovas Zeugen und als die einer politischen Minderheit die Kommunisten zu betrachten. Ihre rechtliche Stellung soll im folgenden behandelt werden, wobei gegebenenfalls andere Gruppen durch kurze Hinweise mit einbezogen werden. B. Die rassischen Minderheiten (Neger) 1. Allgemeines

Um die heutige Lage der schwarzen Bevölkerung in Amerika zu verstehen, muß man sich eine Reihe von historischen Tatsachen vor Augen halten. Bis zum Bürgerkrieg 1861-1865 waren die meisten Neger Sklaven. Der Bürgerkrieg zwischen den Nordstaaten und den Südstaaten entbrannte u. a. um die Frage der Stellung und Behandlung der Neger. Es war einer der blutigsten Kriege der Weltgeschichte. Die USA sind niemals vorher und niemals später an einem für das Land so verlustreichen Krieg beteiligt gewesen14 • Der Kampf wurde auf beiden Seiten mit großer Erb,itterung und Grausamkeit geführt, die Südstaaten unterlagen. Sie wurden von den Nordstaaten militärisch besetzt, gleichzeitig wurden die Neger frei. Die Jahre nach dem Krieg waren für die weiße Bevölkerung des Südens schwer. Sie war politisch machtlos. Bei einigen Nachkriegswahlen wurden Personen, die sich am Kriege auf Seite der Südstaaten be14 Man schätzt die beiderseitigen Verluste auf 620000 Tote. MorisonCommager. Das Werden der amerikanischen Republik, Bd. H. S. 4.

Die Stellung der Minderheiten

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teiligt hatten, vom Wahlrecht ausgeschlossen15. Dieser Ausschluß betraf einen großen Teil der weißen Bevölkerung. Das Ergebnis einer dieser Wahlen bezeichnet der Historiker Morison als die groteskeste Travestie der Demokratie, die jemals in einem englisch sprechenden Land vorgekommen sepe. So bestand das Parlament von Südkarolina z. B. aus 155 Abgeordneten, 98 davon waren Neger, nur wenige konnten lesen und schreiben17. In den Jahren nach dem Kriege verlor die weiße Bevölkerung den größten Teil ihres Vermögens. Die Steuern auf den Grundbesitz wurden so erhöht, daß sie fast einer Konfiskation gleichkamen. Die Währung wurde durch überhöhte Ausgaben von Schatzanleihen unterhöhlt, die öffentliche Finanzwirtschaft war weitgehend korrupt18. Man bezeichnet die in den Südstaaten auf den Bürgerkrieg folgende Periode als die Rekonstruktionszeit. Sie ist noch heute in der Erinnerung der älteren Generation der Südstaaten lebendig. Von etwa 1871-1875 wendete sich jedoch das Blatt. Die politische Ausschaltung des weißen Einflusses ging zu Ende, in allen Staaten des Südens setzte sich die weiße Überlegenheit wieder durch. Die Reaktion war teilweise gewaltsam. Durch Terror wurde die schwarze Bevölkerung unterdrückt und ihrerseits politisch fast völlig entmachtet19 . Sie wurde entweder durch gesetzliche Bestimmungen oder durch Drohungen von den Wahlen ferngehalten. Eine Reihe von Geheimorganisationen bildete sich, mit dem Ziel, die schwarze Bevölkerung in Schach zu halten. Am bekanntesten ist der Ku-Klux-Klan geworden, dessen Mitglieder nachts, als Gespenster verkleidet, die abergläubischen Neger in solche Furcht versetzten, daß sie sich allen Forderungen der "Geister" fügten. Damals entstand auch eine eigene Volksjustiz, um Delikte der Schwarzen schnell und nachdrücklich ahnden zu können. Aus ihr hat sich in der späteren Zeit die furchtbare Erscheinung des Lynchens entwickelt. Durch sogenannte "Trennungsgesetze"21 wurde eine vollständige Trennung der farbigen und der weißen Bevölkerung in Wohnvierteln, Verkehrsmitteln, Vergnügungsstätten, Schulen und in öffentlichen Lokalen herbeigeführt mit dem Ergebnis, daß die Lebensbedingungen der Neger schlecht blieben. Die schwarze Bevölkerung verelendete, 1.'> Morison, S. E., The Oxford History 01 the U. S. 1927 S. 339. Vgl. auch Zusatzartikel XIV, Abschn. 3 zur Verfassung, seit 1868 in Kraft. Ferner Reconstruction Act 1867, McLaughlin S. 662 fi. lU Morison, a.a.O., S. 340. 17 Morison, a.a.O., S. 341. 18 18

Monson, S. 340 ff. Monson, S. 343.

:1 Segregation Caw 5.

B. Die rassischen Minderheiten (Neger)

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neben ihr allerdings auch ein Teil der Weißen. Der Süden wurde aus einem wirtschaftlich blühenden das am meisten unterentwickelte Gebiet der USA. Gegep diesen Hiiltergrund muß man die spätere Entwicklung sehen. Sie steht im Zeichen eines stetigen Forschritts und einer stetigen Verbesserung der Stellung der Neger. Auch heute noch sind viele Einrichtungen unvollkommen, aber die Amerikaner arbeiten mit Energie an dem Problem; viele sehen darin die entscheidende innenpolitische Aufgabe ihres Landes!!. Heute fordert der fortschrittliche Teil der weißen Bevölkerung in den Südstaaten, der sich um eine echte Lösung des Rassenproolems bemüht, zwar noch immer die Trennung, aber außerdem die völlige Gleichstellung. "Getrennt aber gleich" ("separate but equal") heißt dieser Grundsatz. Demgegenüber verlangen die Organisationen der Farbigen und eine Reihe von Druckgruppen, die sich für. die farbige Bevölkerung einsetzen, daß der Grundsatz der Trennung selbst aufgehoben wird, weil die Trennung im Ergebnis auf eine Diskriminierung hinauslaufe. In den Einzelstaaten außerhalb der Südstaaten-Gruppe ist die Stellung der Neger im allgemeinen besser als im Süden!3. Aber es gibt nur wenige Einzelstaaten, in denen schon jetzt alle rechtlichen Schranken zwischen den Rassen beseitigt sind. Zu diesen Staaten zählen New York und einige der Neu-England-Staaten24 • Auch im Bereich der Bundesgesetzgebung und der Bundesverwaltung ist der Grundsatz der Trennung der Rassen seit längerer Zeit aufgegeben. Neger sind in allen Bundesbehörden beschäftigt, sie sind Offiziere der Armee und der Flotte25 • 2. Die L y nc h jus t i Z 2& Die Zahl der Lynchfälle ist von 115 im Jahre 1900 auf 0 im Jahre 1952 gesunken27 • Seit 1938 sind in keinem Jahr mehr als 6 Fälle vorgekommen, wahrscheinlich wird sich das Problem in Kürze unter dem 22 Die Darstellung von Siegfried, "Die Vereinigten Staaten von Amerika", S. 80 ff., ist überholt. :1 Trotzdem kommt es auch im Norden gelegentlich zu schweren Ausschreitungen der weißen gegen die schwarze Bevölkerung, so z. B. in Chicago im Juli 1951. uReport of The President's Committee on Civil Rights, S. 68 ff. !5 U. S. Mission to the U. N. v. 1. Sept. 1950, S. 3. 28 Der Ausdruck "Lynchen" geht wahrscheinlich auf den FriedensrichteT Charles Lynch aus Virginia (1736-1796) zurück, der extralegale Methoden im Strafvollzug anwandte. 27 Vgl. weiter American Encyclopedia New York Chicago 1947, unter "Lynch". Time v . 11. Mai 1953 S. 31 fi.

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Druck der öffentlichen Meinung in dem Sinne lösen, daß sich keine Lynchfälle mehr ereignen werden. Trotzdem versuchen liberale Politiker in den USA - vor allem die amerikanische Bewegung für die Verwirklichung der Menschenrechte23 - das Problem auch von der rechtlichen Seite her zu lösen. Die Schwierigkeiten liegen in der föderalistischen Struktur der amerikanischen Verfassung. Bei allen Lynchfällen ist der Tatbestand einer einzelstaatlichen Strafbestimmung (Mord, Totschlag oder Landfriedensbruch) erfüllt. Trotzdem ist bisher eine erfolgreiche Strafverfolgung nicht möglich gewesen, weil die weiße Bevölkerung in den Südstaaten die Beteiligten schützte, sei es, daß die weißen Zeugen die Aussage verweigerten oder daß der Staatsanwalt keine Anklage erhob, oder daß die Geschworenen, wenn Anklage erhoben worden war, die Schuldigen freisprachen. Eine wirksame Bestrafung der Lynchfälle ist nur möglich, wenn das Lynchen durch ein Bundesgesetz unter Strafe gestellt wird. Dann können die Bundesbehörden die Strafverfolgung übernehmen. Bisher ist es zu dem Erlaß eines solchen Gesetzes nicht gekommen. Der Versuch, zusammen mit einer grundlegenden bundesgesetzlichen Regelung des Rassenpro blems auch die Lynchfälle zu erfassen, ist an dem geschlossenen Widerstand der südstaatlichen Mitglieder des amerikanischen Senats gescheitert 29 • 3. übe r g riff e ein z eIs t a a t 1i ehe r Be amt er Aus der Rechtssprechung des Obersten Gerichtshofes ergibt sich, daß Neger wiederholt durch einzelstaatliche Beamte mißhandelt worden sind. Die meisten der bekanntgewordenen Fälle ereigneten sich anläßlich der Verhaftung oder Vernehmung von Negern, die einer strafbaren Handlung verdächtig waren. Die einzelstaatlichen Behörden schritten gegen die pflichtvergessenen Beamten nicht ein, sondern duldeten selbst schwere Mißhandlungen stillschweigend. Daher erhob sich für die Bundesgerichte und die Strafverfolgungsbehörden des Bundes die Frage, ob die geschilderten Mißstände auf Grund des Bundesrechtes bekämpft werden konnten. a) Der Oberste Gerichtshof hat einen wesentlichen Beitrag zur Lösung dieses Problems geleistet, indem er strafrechtliche Urteile aufhob, wenn nachgewiesen wurde, daß Beweismittel, insbesondere Geständnisse, unter dem Druck körperlicher Mißhandlungen von den Negern erpreßt worden waren. 28

U

American Civil Liberties Union. Konvitz, The Constitution and Civil Rights, 1947, S. 104.

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Der Oberste Gerichtshof hat dabei bewußt in Kauf genommen, daß notorische Verbrecher straffrei ausgingen. Der Schutz der schwarzen Rasse vor Mißhandlungen durch einzelstaatliche Behörden erschien dem Gericht wichtiger als die Sühne eines einzelnen noch so schweren Verbrechens. In dem Fall Chambers v. Florida30 waren mehrere Neger angeklagt, einen Weißen in brutaler Weise ermordet zu haben. Der Beweis gegen sie hatte aber nur geführt werden können, nachdem sie unter dem Druck körperlicher Mißhandlungen seitens der Polizei ein Geständnis abgelegt hatten. Der Gerichtshof erblickte darin eine Verletzung der gehörigen Rechtsverfahrensklausel des 14. Verfassungszusatzes und hob die Verurteilung auf 31 • In der Begründung sagte der Richter Black u. a.: "Nach unserer Verfassung sind die Gerichte der Hafen der Zuflucht für diejenigen, die sonst leiden würden, weil sie hilflos und schwach sind, oder weil sie in der Minderheit sind, oder weil sie Opfer des Vorurteiles und der öffentlichen Erregung geworden sind." b) Neben der im Chambers-Fall angewandten indirekten Methode, Übergriffe weißer Beamten gegen Neger zu verhindern, haben die Bundesbehörden versucht, die schuldigen Beamten selbst strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Als Handhabe diente ihnen eine alte Bestimmung aus dem Bürgerrechtsgesetz von 186682 • Sie lautet in der jetzt geltenden Fassung des § 20 des Bundesstrafgesetzbuches38 : Wer absichtlich unter dem Deckmantel eines Gesetzes . . .... . . einem Einwohner eines Einzelstaates Rechte, Privilegien oder Immunitäten entzieht, die durch die Verfassung und die Gesetze der Vereinigten staaten geschützt sind .. . . .. , wird mit Geldstrafe bis zu 1000 $ oder mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit beiden strafen bestraft. Die außerordentlichen Schwierigkeiten, die sich der Anwendung dieses Gesetzes entgegenstellen, ergeben sich aus dem Urteil Screws V.U.S.M, dessen Gegenstand ein besonders schweres Verbrechen eines weißen Beamten an einem Neger bildete. Screws, Sherriff im Staate Georgia, hatte mit Unterstützung zweier Gehilfen einen Neger, der im Verdacht stand, einen Autoreifen gestohlen zu haben, nachts in dessen Wohnung verhaftet. Der Neger wurde mit Handschellen gefesselt in einem Wagen zum Gefängnis gefahren. 30

309 U. S. 227 (1940).

Ebenso Brown v. Mississippi 297 U. S. 278 (1936). Vgl. S. 170 u. 180. Gesetz vom 9. April 1866, 14 Stat. 27. n Sec. 20 des Federal Criminal Code. Gesetz v. 4. März 1909, 35 Stat. 1092

Si

I!

18 U. S. C. 52 (1946). u 325 U. S. 91 (1945).

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Beim Aussteigen aus dem Wagen versuchte der Neger angeblich nach einer Waffe zu greifen. Der Sheriff und seine zwei Gehilfen schlugen ihn nieder. Auf den am Boden Liegenden schlugen die 3 anderen mit Fäusten und mit einem Polizeiknüppel ein. Der Neger starb an den Folgen der erlittenen Verletzungen. Zeugen bekundeten, daß der Sheriff einen Groll gegen den Neger hegte und schon vor längerer Zeit erklärt hatte, er werde ihn "kriegen". Das Verhalten des Sheriffs war nach dem Recht des Staates Georgia als Totschlag oder sogar als Mord strafbar; trotzdem unternahmen die Behörden von Georgia nichts. Daher erhob der Bundesstaatsanwalt Anklage vor einem Bundesgericht wegen Verletzung des § 20 Bundesstrafgesetzbuch, um wenigstens eine Bestrafung im Rahmen der Strafgrenzen des Bundesgesetzes zu erwirken. Screws wurde verurteilt, weil er unter dem Deckmantel der Gesetzesbestimmungen des Staates Georgia, die ihn zur Verhaftung des eines Verbrechens verdächtigen Negers berechtigten, diesem das durch die Bundesverfassung garantierte Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren vorenthalten habe. Im Obersten Gerichtshof bildeten sich 3 Meinungen. a) Richter Douglas und 3 andere Richter 35 vertraten den Standpunkt, daß dem unteren Gericht ein Fehler in der Rechtsanwendung unterlaufen war. Sie wollten die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverweisen. b) Die Richter Murphy und Rutledge traten für eine Bestätigung des Urteils ein. e) Richter Roberts und 2 weitere Richter 3& stimmten für eine Aufhebung des Urteils und Freispruch des Angeklagten. Die entscheidende Frage war zunächst, ob § 20 des Bundesstrafgesetzbuches die gehörige Rechtsverfahrensklausel des 5. Verfassungszusatzes, der klare und bestimmte Straftatbestände erfordert37, verletzt. Bedenken bestanden insofern, als § 20 die Beeinträchtigung aller durch die Verfassung geschützten Rechte und Privilegien unter Strafe stellt. Im einzelstaatlichen Bereich wird der Umfang der geschützten Rechte durch die 3 Generalklauseln des 14. Verfassungszusatzes der Bundesverfassung bestimmt. Die Bedeutung dieser Klauseln ist erst durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes geklärt worden38 • Um zu ermitteln, welche Tatbestände nach § 20 Bundesstrafgesetzbuch unter Strafe Der Chefrichter Vinson und die Richter BlaCk und Reed. Die Richter Frankfurter und Jackson. s, Vgl. S. 172. 3R Vgl. S. 177 ff.

M

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gestellt sind, müßte man Hunderte von Urteilen, die sich mit der Auslegung des 14. Verfassungszusatzes befassen, heranziehen. Die Gruppe Roberts hielt diese Bedenken für so schwerwiegend, daß sie § 20 als einer vagen und unbestimmten Strafvorschrift die Anwendung versagen wollte. Die Gruppe Douglas dagegen sah die von Richter Roberts erhobenen Bedenken nicht als durchschlagend an, da § 20 nur ein absichtliches Verhalten unter Strafe stelle. Der Täter müsse im Bewußtsein und mit der Absicht handeln, ein verfassungsmäßig garantiertes Recht zu verletzen. Dadurch sei die sonst zu beanstandende Unbestimmtheit der Vorschrift genügend ausgeglichen. Das erkennende Gericht habe jedoch keine ausdrückliche Feststellung darüber getroffen, daß der Täter im vorliegenden Falle absichtlich gehandelt habe; daher sei Aufhebung des Urteiles und Rückverweisung an das Untere Gericht notwendig. Die Richter Murphy und Rutledge sahen § 20 Bundesstrafgesetzbuch als gültig an, sie hielten auch eine Rückverweisung im vor liegenden Fall nicht für nötig, da nach den getroffenen Feststellungen kein Zweifel bestehen könne, daß Screws in der Absicht gehandelt habe, dem Neger ein verfassungsmäßig garantiertes Recht zu entziehen. Das formelle Versehen des Vorderrichters, der es unterlassen hatte, eine ausdrückliche Feststellung über das Tatbestandsmerkmal der Absicht zu treffen, war nach Ansicht der Richter Murphy und Rutledge kein ausreichender Grund, um das Urteil aufzuheben. Ein weiteres Problem bildete die Auslegung des § 20 Bundesstrafgesetzbuch. Die Gruppe Roberts vertrat den Standpunkt, daß § 20, selbst wenn er mit der Verfassung vereinbar wäre, auf den vorliegenden Tatbestand nicht angewendet werden könne. Zweck der Vorschrift sei, wie an Hand der Motive nachgewiesen wurde, diejenigen einzelstaatlichen Beamten zu bestrafen, die in Befolgung eines einzelstaatlichen, mit den Grundsätzen des 14. Verfassungszusatzes in Widerspruch stehenden und daher ungültigen Gesetzes einem anderen die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte entzogen. Im vorliegenden Fall habe jedoch der Angeklagte nicht in Befolgung, sondern im Gegenteil unter Verletzung einzelstaatlichen Rechtes gehandelt, die Verfolgung dieser Straftat sei ausschließlich Sache des Einzelstaates. Demgegenüber sahen die Gruppen Douglas und Murphy den Tatbestand des § 20 Bundesstrafgesetzbuch als erfüllt an. Für sie genügte die Tatsache, daß Screws in amtlicher Eigenschaft und auf Grund eines gültigen einzelstaatlichen Gesetzes zur Verhaftung geschritten war, dann aber dem Verhafteten das ihm verfassungsmäßig garantierte Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren entzogen hatte.

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Hinter der Auseinandersetzung der 3 Gruppen stehen in Wahrheit tiefe Gegensätze in der Bewertung der Grundprinzipien des amerikanischen Verfassungsrechts. Für Murphy und Rutledge, die Vorkämpfer des Gedankens der Menschenrechte, ist der Schutz der schwarzen Rasse vor Mißhandlungen der alle anderen Erwägungen überragende Gesichtspunkt. Sie sind bereit, § 20 Bundesstrafgesetzbuch die weiteste Auslegung zu geben. Technische Versehen des- erstinstanzlichen Urteils wiegen für sie nicht schwer. Der Gedanke, daß Screws in seinen Rechten verletzt sein könnte, weil das Gesetz, auf Grund dessen er verurteilt war, zu vage sei, tritt für Murphy und Rutledge in den Hintergrund angesichts der viel ernsteren Bedrohung, der die Rechte der Neger in den Südstaaten ausgesetzt sind. Auch die Gruppe Douglas tritt entschieden für den Schutz rassischer Minderheiten ein und geht daher in der Auslegung des § 20 weiter, als die Motive des Gesetzgebers es rechtfertigen. Aber diese Gruppe sieht zugleich die schwere Gefahr, die der ganzen amerikanischen Nation durch die Anwendung vager und unbestimmter Strafgesetze droht. Sie will die gefährlichen Folgen solcher Gesetze mildern, indem sie strenge Voraussetzungen an die Erfüllung der subjektiven Tatbestandsmerkmale stellt und die unteren Gerichte zwingt, exakte Feststellungen über das Vorliegen dieser Tatbestandsmerkmale zu treffen. Die Gruppe Roberts schließlich hält konservativ an den traditionellen Grundsätzen des amerikanischen Verfassungsrechtes fest. Für sie ist die AufteiIung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Einzelstaaten und die Einhaltung der Verfassungsgrundsätze über die an ein Strafgesetz zu stellenden Anforderungen ein genau so wichtiges Anliegen, wie der Schutz rassischer Minderheiten. Sie sieht keine Möglichkeit, im vorliegenden Fall durch Bundesgesetz einzugreifen. Darüber hinaus erscheint ihr dieses Bundesgesetz als so unvollkommen, daß sie ihm die verfassungsrechtIiche Gültigkeit abspricht. Da keine der 3 Gruppen über die erforderliche Mehrheit von 5 Stimmen verfügte, entschloß sich Richter Murphy, dem Standpunkt der Gruppe Douglas beizutreten, da er es für dringend wünschenswert hielt, daß das Gericht zu einer Entscheidung des Falles kam. Er ging dabei ebenso wie die Gruppe Douglas davon aus, daß das erstinstanzliche Gericht nach Rückverweisung das Vorliegen einer Absicht bei dem Angeklagten feststellen und ihn demgemäß in einer zweiten Verhandlung ordnungsgemäß verurteilen würde. Diese Annahme bewahrheitete sich indessen nicht. Screws wurde in der zweiten Verhandlung freigesprochen 39 • 38

Carr, Federal Protection, S. 108 ff.

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Der Fall zeigt die schweren Lücken, die der Rechtsschutz der rassischen Minderheiten gegenüber einzelstaatlichen Beamten noch heute aufweist. 4. Mit wir k u n g als G e s c h w 0 ren e In einer Reihe von Einzelstaaten waren die Farbigen lange Zeit von dem Amt der Geschworenen ausgeschlossen. Ein farbiger Angeklagter, der sich vor Gericht verteidigen mußte, sah sich daher einer nur aus Weißen besteh~nden Geschworenenbank gegenüber und zwar auch in solchen Staaten, in denen über die Hälfte der Bewohner Farbige waren40 • Der Ausschluß der Farbigen von dem Geschworenenamt ist auf verschiedene Weise durchgeführt worden. Nach Abschluß der Rekonstruktionsperiode erließen zunächst einige der Südstaaten besondere Gesetze, nach denen die Farbigen nicht zu Geschworenen bestellt werden durften. Diese Gesetze hatten jedoch nur kurzen Bestand. Schon 1880 erklärte sie der Oberste Gerichtshof für ungültig, da sie gegen die gleiche Rechtsschutzklausel des 14. Verfassungszusatzes verstießen41 • Nach diesem Fehlschlag wurden zwar die einzelstaatlichen Gesetze geändert, an der Praxis änderte sich jedoch nichts. In Amerika werden die Geschworenen meist durch einen Beamten, den Geschworenenkommissar, ausgewählt42, der bei seiner Entscheidung Ermessensfreiheit hat. In den Südstaaten pflegten die Geschworenenkommissare nur Weiße zu Geschworenen zu bestellen. So kam es, daß bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in manchen Gegenden kein Neger jemals als Geschworener bei einer Strafverhandlung mitgewirkt hatte. Diese Praxis hat der Oberste Gerichtshof lange geduldet. Er bürdete dem verurteilten Neger die Beweislast auf, daß seine Rassegenossen absichtlich und in diskriminierender Weise von der Geschworenenbank ausgeschlossen worden seien43 • Dieser Beweis konnte nicht geführt werden. Die entscheidende Wendung trat 1935 ein. In dem Norris-Fall44 hob der Oberste Gerichtshof die Verurteilung eines Negers auf, als nachgewiesen wurde, daß in dem betreffenden Gerichtsbezirk noch niemals ein Neger als Geschworener mitgewirkt hatte, obwohl etwa die Hälfte der Bevölkerung aus Negern bestand. Darin sah der Oberste GerichtsSo z. B. in Alabama vgl. Norris v. Alab....ma, 294 U. S. 587 (1935). Strauder v. West Virginia 100 U. S. 303 (1880) vgl. oben S. 181. 8 U. S. C 44 (1946), (Gesetz v. 1. März 1875, 18 Stat. 336) verbietet zudem ausdrücklich den Ausschluß von Geschworenen aus rassischen Gründen in Bundesgerichten. 42 Den jury commissioner 43 Vgl. den Artikel in 94 L. Ed. 856 ff. (1950). 44 Norris v. Alabama, 294 U. S. 587 (1935). 40

41

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hof einen prima facie Beweis für einen diskriminierenden Ausschluß der Farbigen. Seitdem haben sich die Staaten auf die neue Rechtssprechung eingestellt. Es ist jetzt üblich, daß Farbige bei der Urteilsfindung mitwirken. Das bedeutet einerseits einen gewaltigen Fortschritt, wenn man bedenkt, daß in Amerika die Geschworenen ihre Beschlüsse einstimmig fassen müssen45 , andererseits entspricht die Beteili~ng der Neger auch heute noch nicht ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Trotzdem hat der Oberste Gerichtshof jahrelang die Geschworenenbänke, die mit jeweils einem Neger besetzt waren, nicht beanstandet46 • Man muß dabei berücksichtigen, daß ein Teil der farbigen Bevölkerung die Voraussetzungen des Geschworenenamtes nicht erfüllt, weil er nicht lesen und schreiben kann. In jüngster Zeit scheint aber der Oberste Gerichtshof einen strengeren Maßstab anlegen zu wollen. In Texas (Cassell v. Texas47) hatte 8 Jahre hintereinander jeweils nur ein Neger in der Anklagejury mitgewirkt, vielfach war überhaupt kein Neger vertreten gewesen. Der für die Auswahl der Geschworenen zuständige Beamte erklärte, er könne nur solche Personen zu Geschworenen bestellen, die ihm persönlich bekannt seien. Er kenne jedoch außer den von ihm bestellten keine Neger, die die Voraussetzungen des Geschworenenamtes erfüllten. Der Oberste Gerichtshof stellte sich auf den Standpunkt, daß es die Aufgabe des Beamten sei, sich die entsprechende Personenkenntnis zu verschaffen und hob das Urteil auf. 5. Teilnahme an den Wahlen Die Regelung der Wahl der drei Bundesorgane (des Präsidenten, des Senats und des Repräsentantenhauses) obliegt den Einzelstaaten. In der Bundesverfassung und in Bundesgesetzen sind nur wenige grundsätzliche Bestimmungen über das aktive und passive Wahlrecht getroffen. Von besonderer Bedeutung sind der 15. und 19. Verfassungszusatz, nach denen niemand wegen seiner Rasse oder seines Geschlechtes von der Wahl ausgeschlossen werden darf48 • Trotz dieser Vorschrift haben die Einzelstaaten versucht, die Teilnahme von Farbigen an den Wahlen zu verhindern. Dazu sind die verschiedensten Mittel angewandt worden. Zunächst ist die sogenannte "Großvaterklausel" zu nennen. Mehrere Staaten bestimmten, daß Personen, die nicht lesen und schreiben konnten, von der Wahl ausgeschlossen sein sollten, mit Ausnahme derer, 45

48 47 48

Vgl. S. 169.

Hili v. Texas, 316 U. S. 400 (1942). 339 U. S. 282 (1950). Siehe S. 174.

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deren Vorfahren schon vor 1861 gewählt hatten. Diese Regelung richtete sich ausschließlich gegen- die Neger. Sie wurde im Jahre 1915 vom Obersten Gerichtshof mit der Begründung für ungültig erklärt, daß sie gegen die im 14. und 15. Verfassungszusatz verankerten Grundrechte verstoße49 • Heute gibt es kein Gesetz dieser Art mehr. Nur in zwei Einzelstaaten, in Neu-Mexiko und Arizona, sind die dort lebenden Indianer durch Gesetz vom Wahlrecht ausgeschlossen5o • Aber noch jetzt ist in vielen Staaten die Beteiligung der farbigen Bevölkerung an den Wahlen gering. Ein besonders beliebtes Mittel, die Neger von der Wahl fernzuhalten, ist die Erhebung einer Wahlsteuer51 • Wer wählen will, muß zuvor eine Abgabe entrichten. Diese Institution richtet sich zwar auch gegen die arme weiße Bevölkerung, im besonderen Maße ist jedoch die farbige Bevölkerung betroffen. Die Wahlsteuer verschwindet immer mehr. Sie wird noch in 5 Staaten erhoben52 • Aus Statistiken, die das Komitee für Menschenrechte veröffentlicht hat, ist zu entnehmen, daß die Wahlbeteiligung in diesen Staaten weit unter dem Bundesdurchschnitt lag53. Der Oberste Gerichtshof hat die Wahlsteuer für zulässig erklärt, er steht auf dem Standpunkt, daß die Einführung einer solchen Steuer im Rahmen der staatlichen police power liegt und nicht gegen die Grundrechte der Verfassung verstößtö4 • Die Bundesregierung hat wiederholt versucht, durch Einbringung eines Bundesgesetzes die Wahlsteuer allgemein für unzulässig zu erklären. Jedesmal ist die Vorlage im Senat an dem Widerstand der Vertreter der Südstaaten gescheitert55 • Eine Reihe anderer Staaten machte das Wahlrecht davon abhängig, daß sich der Wähler einer Intelligenzprüfung unterzog. In Alabama wurde z. B. verlangt, daß der Wähler die staatliche Verfassung lesen Guinn v. U. S. 238, U. S. 347 (1914). Report of the President's Committee on Civil Rights, 1947, s. 40. 51 Der sogenannten poll-tax. 52 Alabama, Arkansas, Mississippi, Texas, Virginia. Report of the President's Committee on Civil Rights, 1947, S. 33 ff. Im Jahre 1950 und 1951 schafften South Carolina und Tennessee die Wahlsteuer ab. New York Times v. 11. März 1951. 53 Bei der Präsidentenwahl von 1944 betrug die Wahlbeteiligung in den 7 poll-tax-Staaten 10 %, in den übrigen 41 Staaten 49 %. Bei den Kongreßwahlen von 1946 lauteten die entsprechenden Ziffern 5 % und 33 Ofo. Report, a.a.O., S. 33 ff. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Hauptwahlen in einigen Südstaaten geringe Bedeutung haben, da es in diesen Staaten nur eine Partei gibt. Die eigentlichen Entscheidungen fallen bereits in den Vorwahlen. Siehe S. 33. M Breedlove v. Suttles, 302 U. S. 277 (1937). 5; Report of the President's Committee on Civil Rights, 1947, s. 33 ff. 4r.

50

H C ars t e n

S ,

Grundgedanken

210

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und erklären konnte5&. Die Prüfungen wurden von weißen Kommissionen abgenommen, Farbige bestanden sie selten. Diese Praxis hat der Oberste Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt57 • Er hat eine bewußte Diskriminierung der Neger festgestellt und den Ausschluß von Wählern wegen nicht bestandener Prüfung als unwirksam bezeichnet. Als der Ausschluß der Farbigen von den Hauptwahlen immer schwieriger wurde, versuchten mehrere Staaten die Farbigen von den Vorwahlen fernzuhalten, die im Süden die entscheidenden Wahlen sind. Eine Reihe von Staaten bestimmte in den Gesetzen, die das Verfahren bei den Vorwahlen regeln, daß sich nur Weiße an den Vorwahlen beteiligen dürften. Man bezeichnet diese Regelung als "Weiße Vorwahlen"58. Formell wurde durch solche Gesetze der 15. Verfassungszusatz nicht verletzt, da die Teilnahme an den Hauptwahlen nicht eingeschränkt wurde. Dennoch schritt 1927 der Oberste Gerichtshof ein. Er stellte sich auf den Standpunkt, daß die Gesetze, durch die die "Weißen Vorwahlen" angeordnet wurden, gegen den im 14. Verfassungszusatz verankerten Grundsatz des gleichen Rechtsschutzes verstießen59 • Daraufhin änderten die Südstaaten die Gesetze über die Vorwahlen entsprechend ab und gaben die Teilnahme an den Vorwahlen für alle Staatsbürger frei. Jedoch führte die demokratische Partei in den Südstaaten alsbald in ihren Statuten den Grundsatz ein, daß nur Weiße die Parteimitgliedschaft erwerben könnten. Im Ergebnis blieben die Farbigen wiederum von den Vorwahlen ausgeschlossen. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1935 billigte der Oberste Gerichtshof diese Praxis 60 • Er erklärte, die Parteien seien keine staatlichen Institutionen, sie könnten ihre internen Angelegenheiten regeln, wie sie wollten, der 14. Verfassungszusatz richte sich nur gegen die Einzelstaaten und gegen die einzelstaatlichen Behörden61 • Neun Jahre später hat der Gerichtshof diesen Standpunkt aufgegebenGI!!. Der von dem Präsidenten F. D. Roosevelt neu besetzte liberale Gerichtshof entschied, daß die demokratische Partei der Südstaaten in Wahrheit eine staatliche Einrichtung (agency) sei. 56 Das sogen. Boswell Amendment zur Verfassung von Alabama. Report of the President's Committee on Civil Rights, 1947, S. 33 ff. S7 Schnell v. Davis, 336 U. S. 933 (1949). 58 White primaries. ,,~ Nixon v. Herndon, 273 U. S. 536 (1927). 60 Grovey v. Townsend, 295, U. S. 45 (1935). 61 Diese Argumentation stützt sich auf den Wortlaut des 14. Verfassungszusatzes: "Kein S t a at soll irgendjemandem innerhalb seines Hoheitsberei,ches den gleichen Rechtsschutz versagen." Vgl. oben S. 178. 62 Smith v. Allright, 321 U. S. 649 (1944).

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Ihre innere Organisation und das Verfahren, nach dem sie ihre Kandidaten zu ermitteln habe, sei durch einzelstaatliche Gesetze geregelt. Die von der Partei durchgeführten Vorwahlen bildeten einen untrennbaren Bestandteil des Prozesses, durch den nach amerikanischem Verfassungsrecht das Volk die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften und die Träger anderer Ämter wähle. Unter diesen Umständen bedeute der Ausschluß Farbiger von der Partei-Mitgliedschaft eine Beeinträchtigung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und einen Verstoß gegen den Grundgedanken des 14. Verfassungszusatzes. Der neuen Rechtsprechung versuchte der Staat Süd-Carolina alsbald dadurch zu begegnen, daß er alle die politischen Parteien oder das Auswahlverfahren der Parteikandidaten betreffenden Gesetzesbestimmungen aufhob. Die demokratische Partei Süd-Carolinas stellte sich auf den Standpunkt, daß sie nunmehr "eine freiwillige private Personenvereinigung" sei und ihre internen Verhältnisse durch Beschlüsse ihrer Mitglieder regeln könne. Sie schloß demgemäß erneut Neger von der Mitgliedschaft und von der Teilnahme an der Auswahl der Parteikandidaten aus. Aber die Bundesgerichte verwarfen diese Argumentation. Sie behandelten auch die Beschlüsse der neuen demokratischen Partei wie einzelstaatliche Maßnahmen im Sinne des 14. Verfassungszusatzes und erklärten demgemäß den Ausschluß der Farbigen für unzulässig6/1. Der Oberste Gerichtshof bestätigte diese Rechtsprechung indem er einen certiorari-Antrag verwarf 64 • Die von dem Obersten Gerichtshof konsequent verfolgte Tendenz, das Wahlrecht der farbigen Minderheiten gegen alle Versuche einer Beeinträchtigung zu schützen, erfährt nur dann eine Unterbrechung, wenn der Grundsatz der Gleichheit in Konflikt gerät mit der vom Gerichtshof selbst aufgestellten Regel, daß "politische Akte" der Einzelstaaten von der Nachprüfung durch die Gerichte ausgeschlossen sind. Zu den politischen Akten gehört nach ständiger Rechtsprechung auch die Einteilung der Einzelstaaten in Wahlbezirke. Im Falle South v. Peters65 wurde nachgewiesen, daß im Staate Georgia die Bewohner eines Bezirks das 120fache Stimmgewicht gegenüber denen eines anderen hauptsächlich von Negern bewohnten Bezirks hatten. Gegen den nachdrücklichen Protest der Richter Black und Douglas lehnte der Oberste Gerichtshof es ab einzugreifen: Er stellte sich auf den Standpunkt, daß es sich hier um eine politische Frage handele. U3 64

';5

Rice v. Elmore 72 F. Supp. 516; 165 F. (2d) 387 (1947).. Rice v. Elmore 68 Sp. ct. 905 (1948). Pritchett, S. 124. 339 U. S. 276 (1950).

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6. Räumliche Trennung der Rassen .a) Nach dem Ende des Bürgerkrieges und der auf ihn folgenden Rekonstruktionsperiode führten die meisten Südstaaten ein Prinzip ein, das im Laufe der folgenden Jahrzehnte zu einem Eckpfeiler des Lebens im Süden geworden ist: das Prinzip der Trennung der Rassen (segregation). Durch einzelstaatliche Gesetze wurde bestimmt, daß Farbige und Weiße getrennte Schulen zu besuchen haben, in getrennten Wohnbezirken wohnen, getrennte Kirchen besuchen, sich in getrennten Lokalen und Theatern aufhalten, in getrennten Abteilen oder Wagen der öffentlichen Verkehrsmittel (Eisenbahn, Straßenbahn, Omnibus) reisen müssen, und daß sie nur getrennte Sportveranstaltungen besuchen dürfen. Hohe Strafen drohen dem, der die gesetzlichen Schranken übertritt, sei es ein Weißer oder ein Farbiger. Dieses Prinzip gilt noch heute in den meisten Staaten, die einen starken farbigen Bevölkerungsanteil haben. Es ist zwar - wie noch zu zeigen sein wird - an manchen Stellen durchbrochen worden, aber noch immer ist die Tatsache der Rassentrennung der vorherrschende Eindruck im Süden des Landes. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes hat bisher die Trennung gebilligt, wenn die für die Neger geschaffenen Einrichtungen gleichwertig waren 88• Dabei sind in letzter Zeit immer schärfere Anforderungen an die Erfüllung dieser Voraussetzung gestellt worden87 . Wo die für die Neger bestehenden Institutionen nicht völlig gleichwertig waren, hat das Gericht die Trennung, d. h. den Ausschluß der Farbigen von den Einrichtungen der weißen Bevölkerung, für unzulässig erklärt 8s • b) Auch der Bundesgesetzgeber hat den Grundsatz der Rassentrennung nicht zu beseitigen vermocht. In einem Bundesgesetz über die Bürgerrechte von 1875 war zwar die Diskriminierung in allen Lokalen, Hotels, Vergnügungsstätten und öffentlichen Verkehrsmitteln untersagt und mit Strafe bedroht worden. Das übergewicht der Nordstaaten war in der Rekonstruktionsperiode nach dem Bürgerkrieg so stark, daß dieses Gesetz von beiden Häusern des Kongresses verabschiedet wurde69 • Aber das Gesetz scheiterte acht Jahre später im Obersten Gerichtshof1°. Das Gericht entschied, daß der Bundesgesetzgeber keine Befugnis 6~

Vgl. z. B. die Grundsätze in Plessy v. Ferguson, 16 Sp. ct. 1138 (1896).

Reppy, S. 149.

67 Report of Civil Rights Committee, S. 81; Missouri ex Tel. Gaines v. Canada, 305 U. S. 337 (1938). 68 Vgl. etwa Sweatt v. Painter, 339 U. S. 629 (1950). Ge Gesetz vom 1. März 1875, 13 Stat. 336. 70 Civil Rights Cases, 109 U. S. 3 (1883). Vgl. dazu Konvitz, The Constitution and Civil Rights, S. 8 ff.

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habe; die Materie zu regeln. Zwar könne der Kongreß gemäß Zusatzartikel XIV, 5 einzelstaatliche Gesetze aufheben oder einzelstaatliche behördliche Maßnahmen verbieten, die dem Gleichheitsgrundsatz verletzten; aber der Bund habe nicht das Recht, in den der einzelstaatlichen Gesetzgebung vorbehaltenen Bereich einzugreifen und ein bestimmtes Verhalten einzelner Privatpersonen, wie der Gaststätten-· und Hotelinhaber zu erzwingen71. Der Bürgerrechtsfall enthält nur ein abweic..~endes Votum, das des Richters, John M. Harlan. Es verdient, wegen seiner zukunftweisenden Bedeutung hervorgehoben zu werden. Nach Harlan's Auffassung sind Gaststätten und Vergnügungs lokale nicht als rein private Gewerbebetriebe anzusehen, es handelt sich vielmehr um öffentliche oder halböffentliche Einrichtungen. Weim farbige Staatsbürger von der Benutzung solcher Einrichtungen ausgeschlossen werden, genießen sie nicht -die volle persönliche Freiheit, die der XIII. Verfassungszusatz ihnen geben will. Zugleich liegt ein Verstoß gegen den ersten Satz des XIV. Verfassungszusatzes in Verbindung mit Artikel IV der Verfassung vor, wonach die ehemaligen Sklav~n dieselben Privilegien und Immunitäten haben, wie die frei geborenen Staatsbürger. Der Kongreß kann daher nach Richter Harlan's Ansicht auf Grund der Zusatzartikel XIII, 2 und XIV, 5 den diskriminierenden Ausschluß farbiger Staatsbürger in Gaststätten und Vergnügungslokalen durch Bundesgesetz verbieten. Nach dem 2. Weltkrieg hat die amerika nische Regierung den Gedanken an ein Bürgerrechtsgesetz wieder aufgegriffen. Sie hat mehrfach Gesetzesvorlagen, die in großen Zügen dem Gesetz von 1875 entsprachen, dem Kongreß zugeleitet. Bisher sind diese Bemühungen jedoch gescheitert. Die Stellung der elf Südstaaten im Senat ist so stark, daß ihr geschlossener Widerstand mit der Unterstützung einiger anderer Mitglieder des Senats das Zustandekommen des Gesetzes regelmäßig verhindert. Inzwischen geht jedoch schrittweise eine beachtliche Wandlung vor sich. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung sind in den letzten Jahren . zahlreiche Einzelprobleme der Rassenfrage gelöst worden. 'Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes hat diese Entwicklung entscheidend gefördert72 • . c) Am schärfsten entbrannte der Kampf um die Zulassung der Farbigen zu den Universitäten der Südstaaten. Die meisten Südstaaten hatten nach dem Prinzip: "Getrennt, aber gleich" besondere Universi71

Vgl. S. 177 f.

'.2

Vgl. den Bericht In Time v. 11. Mai 1953, S. 31 ff., vor allem S. 32.

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Die Stellung der Minderheiten

täten für die Farbigen eingerichtet und verweigerten den farbigen Studenten den Zutritt zu den Universitäten der Weißen. In einer Reihe bedeutsamer Entscheidungen hat der Oberste Gerichtshof dazu Stellung genommen. Die Entscheidung Sweatt v. Painter78 befaßt sich mit der Universität Texas. Der Staat Texas hat je eine Rechtsschule für Weiße und für Farbige. Der Kläger, ein Neger, wollte an der Rechtsschule für Weiße immatrikuliert werden. Die Universität lehnte das Ersuchen unter Hinweis auf ihre Statuten, wonach sie nur Weiße aufnehmen dürfe, ab. Die Gerichte untersuchten den Fall und stellten folgende Tatsachen fest: An der Rechtsschule für Weiße waren 850 Studenten eingeschrieben, die Fakultät bestand aus 19 Professoren. An der Rechtsschule für Neger dozierten 5 Professoren vor 23 Studenten. An der Rechtsschule für Weiße standen 65000 Bücher zur Verfügung, an der für Schwarze 16000 Bücher. Eine Gegenüberstellung dieser Zahlen ergab, daß die Rechtsschule für Neger in Anbetracht der Zahl der Studenten gut ausgestattet war. Aber der Gerichtshof berücksichtigte eine Reihe weiterer Momente. Aus der Rechtsschule für Weiße waren eine große Anzahl bedeutender Juristen hervorgegangen. Sie gehörten dem Verband ehemaliger Studenten an und standen noch in enger Verbindung zu der Universität. Sie vermittelten den weißen Studenten wertvolle Beziehungen. Demgegenüber hatte die Rechtsschule für Neger nicht einen einzigen "Alten Herrn". Das Gericht stellte sich auf den Standpunkt, daß für einen jungen Juristen die Beziehungen, die er auf der Universität anknüpft, von großer Bedeutung seien. Sie könnten seinen beruflichen Werdegang entscheidend beeinflussen. Wenn der Staat Texas den farbigen Studenten in dieser Hinsicht nicht die gleichen Chancen gebe wie den Weißen, so versage er ihnen den gleichen Rechtsschutz und verletze den 14. Verfassungszusatz. Unter dem Einfluß solcher und ähnlicher Urteile haben nach und nach die meisten Südstaaten ihre Rechtsschulen für Weiße auch den Farbigen geöf'fnet 74 • d) Ähnliche Schwierigkeiten wie im Schulwesen traten in den verschiedenen Bereichen des Personenverkehrs (Eisenbahn, Straßenbahn, Omnibus) auf. Auch hier hat der Oberste Gerichtshof zunächst das Prinzip der Trennung weitgehend gebilligt15 . 73

339 U. S. 629 (1950).

Das ist geschehen in Virginia, Missouri, Maryland, Oklahoma, Texas, Arkansas, Kentucky. 75 Vgl. Plessy v. Ferguson 16 Sp. Ct. 1138 (1896). 74

B. Die rassischen Minderheiten (Neger)

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Aber in neuester Zeit haben sich auch auf diesem Gebiet deutliche Tendenzen zur Überwindung des Trennungsprinzips bemerkbar gemacht. Der Bund und seine Organe wirken von mehreren Seiten auf diese Lösung hin. Soweit die Trennung der Rassen in den öffentlichen Verkehrsmitteln diskriminierenden Charakter gegenüber der farbigen Rasse hat, gibt es zwei Möglichkeiten der Abhilfe. Beruht die Trennung auf einem einzelstaatlichen Gesetz, so wird dieses Gesetz in aller Regel nach dem Gleichheitssatz des 14. Verfassungszusatzes ungültig sein76 • Da aber der 14. Verfassungszusatz keine Anwendung gegenüber diskriminierenden Maßn~hmen privater Gesellschaften findet, können die Beförderungsbestimmungen der Verkehrsunternehmen, die die Rassentrennung vorschreiben, auf diesem Wege nicht beseitigt werden. Hier greüt das Bundesgesetz für zwischenstaatlichen Verkehr ein 77 • Es verbietet jede ungerechte Diskriminierung gegen einen Reisenden auf Grund seiner Hautfarbe oder Rasse. Die Bestimmung richtet sich unmittelbar an die einzelnen Verkehrsunternehmen, aber nur an solche, die am zwischenstaatlichen Verkehr teilnehmen; denn nur sie unterliegen der Bundeskompetenz. Auf Grund des Bundesgesetzes hat der Oberste Gerichtshof entschieden, daß das einzige 1. Klasse-Abteil eines im zwischenstaatlichen Verkehr eingesetzten Eisenbahnzuges nicht für weiße Fahrgäste reserviert werden darf1s. Das gleiche gilt, wenn der Zug nur einen Speisewagen führt79 • Aber auch in solchen Fällen, in denen die Trennung der Rassen ohne jede Diskriminierung durchgeführt wurde, hat der Oberste Gerichtshof eingegriffen. Im Falle Morgan v. Viginia 80 stand ein Gesetz des Staates Virginia zur Nachprüfung. Das Gesetz schrieb vor, daß weiße und farbige Omnibusfahrgäste nicht nebeneinander sitzen durften. Der Schaffner hatte dafür zu sorgen, daß die weißen Fahrgäste in der einen, die farbigen in der anderen Hälfte des Wagens Platz nahmen. Ergaben .sich während der Fahrt durch das Ein- und Aussteigen an den Haltestellen Veränderungen in der rassischen Zusammensetzung der Mitfahrenden. die auf andere Weise nicht ausgeglichen werden konnten, so war jeder Fahrgast verpflichtet, auf Anweisung des Schaffners seinen Platz zu wechseln. Diese letztere Bestimmung erklärte der Oberste Gerichtshof 78

Vgl. oben S. 181.

Interstate Commerce Act v. 4. Febr. 1887 (24 Stat. 379) mit zahlreichen Änderungen, 49 U. S. C. 1 ff. (1946). 76 Mitchell v. U. S. 313, U. S. 80 (1940). 78 Henderson v. U. S. 339, U. S. 816 (1950) . 77

•0

328 U. S . 373 (1946).

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Die Stellung der Minderheiten

für ungültig, soweit sie sich auf die im zwischenstaatlichen Verkehr eingesetzten Omnibusse bezog. Das Gericht war der Ansicht, daß die Vorschrift gegen den aus der zwischenstaatlichen Handelsklausel abgeleiteten Rechtsgrundsatz verstoße, wonach die Einzelstaaten den zwischenstaatlichen Verkehr nicht behindern dürfen81 ; die Bequemlichkeit des Reisens in Omnibussen werde durch die Notwendigkeit, gegebenenfalls mehrmals während der Fahrt seinen Platz wechseln zu müssen, erheblich beeinträchtigt. Das Urteil ist als eine zu weitgehende Interpretation der zwischenstaatlichen Handelsklausel kritisiert worden 8!. Die Kritiker haben darauf verwiesen, daß der Kongreß auf Grund der Klausel jederzeit die Möglichkeit habe, das vom Staate Virginia vorgeschriebene Verfahren durch Bundesgesetz zu verbieten. Man dürfe aber ein solches Verbot nicht unmittelbar aus der Verfassung herauslesen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß im zwischenstaatlichen Verkehr jede mit einer Diskriminierung verbundene Trennung der Rassen ungesetzlich ist. Selbst Maßnahmen, die eine Trennung ohne Diskriminierung bedeuten, werden vom Obersten Gerichtshof einer scharfen Prüfung unterzogen. Im innerstaatlichen Verkehr dürfen die Einzelstaaten durch Gesetz keine diskriminierende Trennung vorschreiben; im übrigen können sie die Trennung gesetzlich bestimmen. Gegenüber den einzelnen Verkehrsunternehmen des innerstaatlichen Bereichs ist ein Einschreiten auf Grund des Bundesrechtes selbst dann nicht möglich, wenn sie die Trennung in diskriminierender Weise vornehmen. e) Die Tendenz zur Überwindung des Trennungsprinzips ist auch auf dem Gebiet des Wohnungswesens festzustellen. In den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg erließen zahlreiche Staaten und Städte sogenannte Zonenvorschriften83, in denen der farbigen Bevölkerung bestimmte Wohnviertel zugewiesen wurden. Außerhalb dieser Viertel durften sie sich nicht ansiedeln. Der weißen Bevölkerung war es untersagt, Grundstücke, die außerhalb der für Farbige bestimmten Wohnviertel lagen, an Farbige zu verkaufen. Ein solches Gesetz wurde bereits 1917 für ungültig erklärt mit der Begründung, daß es gegen die gehörige Rechtsverfahrensklausel des 14. Verfassungszusatzes verstoße. Das Gericht stellte sich auf den Standpunkt, daß die weiße Bevölkerung durch das Gesetz in unzulässiger Weise in der freien Verfügung über ihr Eigentum beschränkt werde84 • "' Vgl. S. 146 f. 8! Richter Black, Sondervotum., 328 U. S. 373 (1946). 83 Zoning ordinanees. S4 Buchanan v. Warley, 245 U. S. 60 (1917), cf. Dowliny, S. 986, Ziffer 4.

B. Die rassischen Minderheiten (Neger)

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Unter dem Eindruck dieser Rechtsprechung ist die Praxis einen anderen Weg gegangen. Heute verpflichtet sich der Käufer bei der Ver äußerung eines Grundstücks privatrechtlich, das Grundstück nur an Weiße weiterzuverkaufen und die gleiche Verpflichtung seinem Rechtsnachfolger aufzuerlegen85 . Durch derartige privatrechtliche Vereinbarungen ist es vielen Städten des Landes-keineswegs nur des Südens-gelungen, die farbige Bevölkerung auf bestimmte Wohnviertel zu beschränken. Nach einer Schätzung aus jüngster Zeit unterliegen z. B. in Chikago 80 % aller Grundstücke noch' heute privatrechtlichen Verfügungsbeschränkungen, die sich gegen die farbigen Rassen richten 8&. Die Gerichte haben jahrzehntelang solche Abmachungen bestätigt. Begründet wurde diese Rechtsprechung damit, daß der H. Verfassungszusatz keine Handhabe biete, diskriminierende Handlungen von Einzelpersonen zu verhindern, daß vielmehr insoweit nur die einzelstaatliche Gesetzgebung eingreifen könne87 • 1948 hat der Oberste Gerichtshof seine Haltung in einem bedeutsamen Urteil8S geändert. In dem neuen Fall versagte der Oberste Gerichtshof einer privatrechtlichen Verfügungsbeschränkung zu Lasten der farbigen Bevölkerung die Anerkennung. Zwar - so führte das Gericht aus - kann nach der Bundesverfassung nicht verhindert werden, daß Privatpersonen solche Verfügungsbeschränkungen vereinbaren, denn der 14. Verfassungszusatz richtet sich nicht gegen Privatpersonen. Wenn aber eine private Vertragspartei eine Klage anhängig macht, um die getroffene Vereinbarung gerichtlich durchzusetzen, dann treten staatliche Organe, nämlich die staatlichen Gerichte, in Funktion. Ihre Tätigkeit unterliegt den Bestimmungen des 14. Verfassungszusatzes, sie dürfen nicht daran mitwirken, daß diskriminierende Verträge erfüllt werden. Die soziologische Bedeutung der neuen Entscheidung ist nicht abzusehen. Sie bedeutet wahrscheinlich einen entscheidenden Schritt in Richtung auf die Aufhebung des Trennungsprinzips. Wiederum hat sich das Prinzip des Schutzes der Grundrechte gegenüber allen anderen Erwägungen durchgesetzt8S • Außer durch das Mittel privatrechtlicher Verfügungsbeschränkungen 'wird auf andere Weise versucht, Farbige an dem Erwerb von GrundSogen. restrictive covenants. The President's Committee. Report on Civil Rights, S. 68. 87 Corrigan v. Bucldey, 271 U. S. 323 (1926). ~ Shelley v. Kraemer 334 U. S. 1 (1948). ~o Vgl. dazu Reppy, S. 158. Reppy weist auf die Möglichkeiten hin, das Ergebnis der neuen Entscheidung zu umgehen, z. B. dadurch, daß die Klage nicht auf Erfüllung, sondern auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung erhoben wird. Auch diese Möglichkeit ist jedoch durch die Entscheidung Barrows v. Jackson, 346 U. S. 249 (1952) ausgeschlossen worden. 8S

~I

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Die Stellung der Minderheiten

besitz zu hindern. Californien verwendet dazu die Technik, allen Ausländern, die nicht Bürger der USA werden können90 , den Erwerb von Land durch Gesetz zu verbieten. Dieses Gesetz ist bisher vom Obersten Gerichtshof nicht beanstandet worden, obwohl es sich im Ergebnis vor allem gegen die japanische Minderheit in Californien richtet91 • Ein neuerdings durch das Oberste Gericht des Staates Californien gefälltes Urteil erklärt jedoch das Gesetz wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz für ungültig 92 • f) Dagegen hat sich auf dem Sektor des Gaststätten- und Vergnügungsgewerbes wenig geändert. In etwa 20 Einzelstaaten bestehen Gesetze, die die Trennung der Rassen vorschreiben. Diese Gesetze sind bisher von dem Obersten Gerichtshof nicht beanstandet worden. In anderen Staaten wird die Trennung der Rassen dadurch bewirkt; daß die Inhaber zahlreicher Lokale Farbigen den Zutritt verweigern. Hiergegen hat sich bisher kein wirksames Mittel gefunden. Zwar verbieten etwa 20 Einzelstaaten ein derartiges Verhalten und stellen es unter Strafe, praktisch ist jedoch die Durchsetzung solcher Gesetze außerordentlich schwierig9s . 7. Berufsleben Besonders heftig umkämpft war in den letzten Jahren die Stellung der farbigen Rassen im Berufsleben. Hier bestehen noch heute in erheblichem Umfang Diskriminierungen. Angehörige farbiger Rassen werden von bestimmten Firmen nicht angestellt oder nur für untergeordnete Tätigkeiten verwendet, sie werden von einigen Vermittlungsbüros nicht in frei werdende Stellen vermittelt, und sie werden in einzelne Gewerkschaften nicht aufgenommen94 • Gegen diese Tendenzen \\