Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte [1 ed.] 9783428425921, 9783428025923

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Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte [1 ed.]
 9783428425921, 9783428025923

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 19

Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte

Von

Eike von Hippel

Duncker & Humblot · Berlin

E I K E VON H I P P E L

Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte

Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Band 19

Recht

Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte Von Dr. Eike von Hippel

DUNCKER

& HUMBLOT

/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1965 Duncker & Humblot, Berlin Gedruckt 1965 bei Albert Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Meinen

Eltern

Vorwort Bei der Weite des zu behandelnden Problemkreises und dem Reichtum an einschlägiger Literatur und Rechtsprechung kann eine Studie von beschränktem Umfang nicht mehr sein als ein bescheidener weiterer Diskussionsbeitrag. Dieser sucht aus der Fülle des Vorhandenen die eigentlich tragenden Gesichtspunkte herauszustellen und i n eine gehörige Ordnung zu bringen. Von hier aus läßt sich dann, wie der Verfasser hofft, zur Klärung grundsätzlicher Probleme und zur Lösung auch mancher Einzelfrage etwas beitragen. Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, Inhaber des Verlages Duncker & Humbiot i n Berlin, bin ich für seine freundliche Förderung der Arbeit zu Dank verpflichtet. Freiburg i. Br., i m Oktober 1964 Eike von

Hippel

Inhalt

Einleitung

11

I. Die vorgegebenen Probleme II. Der Lösungsversuch des Grundgesetzes

13 .

;

21

I I I . Die „Grenzen" der Grundrechte

23

IV. Der „Wesensgehalt" der Grundrechte

47

Einleitung Der Gedanke sogenannter „Grund"- oder „Menschenrechte", einst von den Naturrechtsdenkern i n einer bestimmten historischen Lage entdeckt, hat sich i m Laufe der Zeit die Welt erobert. 1 Heute enthalten die Verfassungen wohl aller modernen Staaten gewisse „Grundrechte". Und darüber hinaus ist der Gedanke neuestens auch auf übernationaler Ebene zum Ausdruck gekommen. Einmal i n der — freilich nur programmatischen — „Erklärung der Menschenrechte" (Declaration of Human Rights) der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948.2 Sodann i n der „Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" vom 4. November 1950.' Betrachtet man i m besonderen die Rechtslage, wie sie bei uns hinsichtlich der Grundrechte besteht, so fällt auf, daß Theorie und Praxis zunehmend auf die Grundrechte hinweisen und zurückgreifen, u m für alle möglichen Probleme Lösungen zu finden und zu rechtfertigen. Manchem erscheint diese Tendenz bereits übertrieben und deshalb nicht unbedenklich. Besorgte Stimmen warnen vor einer „Inflation" und einem „Ausverkauf" der Grundrechte. Unter diesen Umständen ist es nicht nur berechtigt, sondern notwendig, über Wesen, Bedeutung und Tragweite der „Grundrechte" weiter nachzudenken. Zu den vielfältigen Bemühungen i n dieser Richtung möchte die vorliegende Studie über „Grenzen" und „Wesensgehalt" der Grundrechte beizutragen suchen. Ausgehend von den vorgegebenen Problemen (I.) und einem Blick auf den Lösungsversuch des Bonner Grundgesetzes, der sich als nicht v o l l geglückt erweist (II.), bemüht sich die Arbeit, den Geltungsbereich der Grundrechtssätze zu bestimmen oder, um das gleiche i n der bisher üblichen Terminologie auszudrücken, die „immanenten" „Schranken" („Grenzen") der Grundrechte herauszuarbeiten (III.) und damit zugleich 1 Einen eindrucksvollen Überblick gibt insoweit Fritz Härtung, Entwicklung der Menschen- u n d Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 3. A u f l . 1964. Weitere Literaturnachweise daselbst S. 173 ff. 2 Siehe näher K . - H . Sonnewald, Deklaration der Menschenrechte der V e r einten Nationen, Dokumente Heft 16 (1955). 3 Als deutsches Gesetz verkündet am 7. August 1952 (BGBl. I I S. 685 ff.) — siehe näher Claus Weiss, Die europäische Konvention zum Schutze der M e n schenrechte und Grundfreiheiten, Dokumente Heft 15 (1954).

12

Einleitung

eine Entscheidung der umstrittenen Frage zu ermöglichen, welche Bedeutung dem A r t i k e l 19 Abs. 2 GG 4 zukommt (IV.). Die Studie schließt m i t einer Empfehlung für die zukünftige Verfassungsgesetzgebung.

4 „ I n keinem Falle darf ein Grundrecht i n seinem Wesensgehalt angetastet werden."

I . Die vorgegebenen Probleme B e t r a c h t e t m a n , w i e sich d i e G r u n d r e c h t e h e r a u s g e b i l d e t h a b e n u n d w i e sie i n d e n b e d e u t s a m s t e n V e r f a s s u n g e n j e w e i l s f o r m u l i e r t w o r d e n sind, so f ä l l t u. a. folgendes a u f : E i n i g e der f r ü h e s t e n E r k l ä r u n g e n , e t w a die b e r ü h m t e „ B i l l of R i g h t s " v o n V i r g i n i a (1776) 1 s o w i e die der U S - V e r fassung (1787) i m J a h r e 1791 a n g e f ü g t e n A m e n d m e n t s , g a r a n t i e r e n die G r u n d r e c h t e ohne j e d e n a u s d r ü c k l i c h e n V o r b e h a l t . Schon d i e D é c l a r a t i o n des d r o i t s de l ' h o m m e et d u c i t o y e n v o m 26. A u g u s t 1789 b e m ü h t sich h i n g e g e n n i c h t n u r , gewisse G r e n z e n d e r F r e i h e i t g r u n d s ä t z l i c h d e u t l i c h z u machen, 2 s o n d e r n w e i s t anschließend auch b e i d e n e i n z e l n e n F r e i h e i t s r e c h t e n a u f die d u r c h das Gesetz 3 b e g r ü n d e t e n oder b e g r ü n d b a r e n R e g e l u n g e n h i n . 4 Entsprechende B e m ü h u n g e n lassen sich seit j e n e r Z e i t ü b e r zahlreiche V e r f a s s u n g s u r k u n d e n des 19. J a h r h u n d e r t s bis z u r G e g e n w a r t h i n v e r f o l g e n . 5

1 Siehe insbes. Section 1 u n d 12 (abgedr. etwa bei Günther Franz, Staatsverfassungen, 1950, S. 10). 2 Nämlich i n A r t . 4: „Die Freiheit besteht darin, alles t u n zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen n u r die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuß der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch Gesetz festgelegt werden." — Die französische Verfassung v o m 3. September 1791, der die „Déclaration" dann vorangestellt wurde, verdeutlichte diesen P u n k t noch i n i h r e m ersten T i t e l : „Die gesetzgebende Gewalt k a n n keine Gesetze erlassen, welche die Ausübung der natürlichen u n d bürgerlichen R e c h t e . . . beeinträchtigen oder hindern. Aber da die Freiheit n u r darin besteht, alles das t u n zu können, was weder den Rechten eines anderen noch der öffentlichen Sicherheit schadet, k a n n das Gesetz Strafen gegen die Handlungen festsetzen, welche die öffentliche Sicherheit oder die Rechte eines anderen angreifen u n d dadurch der Gesellschaft schaden würden." 3 Dieses w i r d i m Sinne von Rousseau als Ausdruck der „volonté générale" angesehen u n d bezeichnet (Art. 6). 4 Dieser Unterschied erklärt sich w o h l daraus, daß die amerikanischen E r klärungen i m Gegensatz zur französischen Déclaration die Menschenrechte (noch) nicht einseitig als Garantie subjektiver Rechte des Einzelmenschen verstanden, sondern sie eher als objektive Prinzipien, also von ihrer institutionellen Seite her sahen (vgl. Walter Hamel. Die Bedeutung der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat, 1957, S. 8 f.). 5 Siehe etwa A r t . 7 ff. der belgischen Verfassung von 1831; §§ 138 ff. des Verfassungsentwurfs der Frankfurter Nationalversammlung von 1849; A r t . 55 f. der Schweizer Bundesverfassung von 1874; u n d A r t . 111 ff. der Weimarer Verfassung (sämtlich abgedr. bei Günther Franz, Staatsverfassungen, 1950).

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I. Die vorgegebenen Probleme

Dieser Entwicklungsgang bestätigt die schon rational gewinnbare Einsicht, daß die Grundrechtsnormen — wie jeder Rechtssatz — nicht i n abstracto, sondern nur i n Beziehung auf ganz bestimmte Lebenssachverhalte gelten. 6 Diese Tatsache ist es, die sich hinter dem allgemein gebräuchlichen Bi]d von (immanenten) „Schranken" oder „Grenzen" der Grundrechte verbirgt: jedes Freiheitsrecht, so w i r d erklärt, trage von vornherein gewisse „inhärente" oder „immanente" „Schranken" („Grenzen") i n sich.7 8 Diese Terminologie erscheint nicht unbedenklich. Wie eine noch durchzuführende genaue Untersuchung ergeben würde, liegt ihr eine überprüfungsbedürftige, ihrer selbst häufig nicht v o l l bewußte Betrachtungsweise zugrunde. Hier kann insoweit einstweilen nur auf Folgendes hingewiesen werden: Unter dem Eindruck einer bestimmten historischen Entwicklung hat man sich allzusehr daran gewöhnt, die Grundrechtsnormen i n abstracto als Garantien sogenannter „subjektiver Rechte" zu betrachten. Diese „subjektiven Rechte", 8a die seit den Naturrechtslehren das Denken bis heute beherrschen, werden nun nicht mehr als Ausdruck dafür verstanden, daß i n ganz bestimmten Lebenslagen diese oder jene Regelung gelten soll; sondern sie verselbständigen sich zu Schemen von räumlich-gegenständlichem Charakter. Als solche erscheinen sie zunächst entweder unbeschränkt — so daß jede sie 6 M a n braucht n u r einen der bekannten Kommentare zum Grundgesetz aufzuschlagen, u m sich diese Tatsache an einer Fülle von Einzelfällen zu v e r anschaulichen; s. etwa v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. (1957) S. 161 ff. 7 Siehe hierzu die detaillierten Angaben u n d Zitate unten I I I . S. 23 ff.; auch die bedeutsame A r b e i t von Peter Häberle (Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962) bleibt nach einem Generalangriff auf das traditionelle „Eingriffs- u n d Schrankendenken" (S. 3 u n d passim) bei der Vorstellung von „immanenten Grenzen" der Grundrechte stehen (S. 51 ff.), macht i n der Sache allerdings bereits deutlich, daß es u m die Frage nach dem Geltungsbereich der Grundrechtsnormen geht. 8 Das gleiche B i l d w i r d über den Bereich der Grundrechte hinaus ganz a l l gemein f ü r die sog. „subjektiven Rechte" gebraucht — s. etwa Soergel-Siebert, Bürgerl. Gesetzbuch, 1. Bd. (1959) Ziff. 1 ff., bes. Ziff. 12 (S. 755) vor § 226 u n d Staudinger-Weber, K o m m . z. BGB, 2. Bd., T e i l l b (1961) Bern. D 24 ff. S. 749. 8a Z u r zentralen Stellung des „subjektiven Rechts" i n der überkommenen Systembildung des Privatrechts vgl. die Nachweise bei Raiser, Vertragsfunktion u n d Vertragsfreiheit, i n : Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Festschrift Deutscher Juristentag Bd. 1 (1960) 101 ff.; ders., Der Stand der Lehre v o m subjektiven Recht i m deutschen Zivilrecht, J Z 1961, 465 ff. Nachweise zur entsprechenden Lage i m öffentlichen Recht daselbst S. 471 A n m . 65. Nicht ohne G r u n d regen sich nunmehr aber Zweifel an der Angemessenheit der traditionellen Denkformen. So weist Raiser darauf hin, das Privatrecht sollte besser nicht als ein System subjektiver Rechte, sondern als ein System von Rechtsstellungen u n d Rechtsverhältnissen entwickelt werden (a.a.O. S. 105; vgl. auch JZ 1961, 472).

I. Die vorgegebenen Probleme b e t r e f f e n d e R e g e l u n g als „ E i n s c h r ä n k u n g " ( „ E i n g r i f f " ) sich d a r s t e l l t — , oder als v o n v o r n h e r e i n gewisse i m m a n e n t e „ S c h r a n k e n " ( „ G r e n z e n " ) i n sich t r a g e n d . 9 V o n dieser A u f f a s s u n g d e r G r u n d r e c h t e ( w i e der „ s u b j e k t i v e n Rechte" ü b e r h a u p t ) als r a u m k ö r p e r h a f t e r G e b i l d e m u ß m a n sich f r e i m a c h e n u n d den unbefangenen Blick f ü r die Lebenswirklichkeit zurückgewinnen. D i e G r u n d r e c h t s n o r m e n s i n d d e r Versuch, b e s t i m m t e G r u n d f r a g e n d e r S o z i a l o r d n u n g i n e i n e r s i n n v o l l e n Weise z u r e g e l n . 1 0 Sie b e d e u t e n eine G r u n d s a t z e n t s c h e i d u n g : n ä m l i c h d i e A b s a g e a n d e n a l l e L e b e n s v e r h ä l t n i s s e r e g l e m e n t i e r e n d e n t o t a l e n S t a a t u n d das B e k e n n t n i s z u e i n e r f r e i h e i t l i c h e n , auf der S e l b s t b e s t i m m u n g des E i n z e l n e n a u f b a u e n d e n O r d n u n g . 1 1 F r e i l i c h ist h i e r b e i v o n v o r n h e r e i n z u beachten: D i e G r u n d r e c h t s n o r m e n s i n d (bloße) G r u n d s a t z n o r m e n . 1 2 D i e v o n i h n e n aufgestellten P r i n z i p i e n bedürfen der K o n k r e t i s i e r u n g . 1 3 I n i h r e r hohen A b s t r a k t i o n k ö n n e n die G r u n d r e c h t s n o r m e n i m ganzen n u r R i c h t l i n i e n geben — die d a n n f r e i l i c h f ü r v i e l e F ä l l e z u e i n d e u t i g e n E n t s c h e i d u n g e n f ü h r e n — , n ä m l i c h d a r a u f h i n w e i s e n , daß b e s t i m m t e n F r e i h e i t s i n t e r essen (Glaubens-, M e i n u n g s - , B e r u f s - , E i g e n t u m s f r e i h e i t usw.), k u r z 9 Diese Entwicklung läßt sich f ü r die „subjektiven Rechte" über den Bereich der „Grundrechte" hinaus beobachten. Sie hat i n der Zivilrechtslehre zu dem fragwürdigen u n d wenig fruchtbaren Streit darüber geführt, „ob die A u s übungsschranken der subjektiven Rechte von außen bestimmt werden (Außentheorie: H. A. Fischer, Oertmann) oder i m Rechte selbst wurzeln (Innentheorie: Endemann, K i p p , O. v. Gierke)" (Esser, Schuldrecht, 2. Aufl. 1960, § 34 Ziff. 8 S. 117). Detaillierte Nachweise hierzu bei Staudinger-Weber, Kommentar zum BGB, 2. Bd., T e i l l b (1961) § 242 D 24 ff., S. 749. 10 A u f die verschiedenen Begründungsversuche der Grundrechte u n d auf den Streit über ihren positiven oder überpositiven Charakter (s. hierzu etwa Erich Fechner, Die soziologische Grenze der Grundrechte, 1954, S. 27) braucht hier nicht eingegangen zu werden. Denn die folgenden Ausführungen gelten unabhängig davon, welche Stellung man insoweit einnimmt. 11 Vgl. etwa Erich Kaufmann, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Autorität und Freiheit) 1960, S. 285 ff., 520 f., 589 ff. Siehe näher unten S. 48 f. 12 A l b e r t Hensel bemerkt hierzu: „Die Grundrechtsordnung preßt i n v e r hältnismäßig wenigen Sätzen den K e r n der gesamten deutschen Rechtsordnung z u s a m m e n . . . So k a n n man sagen, ein großer T e i l der i n den Grundrechten verwandten Einzelbegriffe trägt den Charakter einer Generalklausel" (Grundrechte u n d Rechtsprechung, i n : Die Reichsgerichtspraxis i m deutschen Rechtsleben, 1929, S. 1 ff., 28). 13 So spricht etwa Georg Jellinek von „abstrakten, erst durch detaillierte gesetzgeberische Durchbildung lebensfähigen Prinzipien" (Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, 3. A u f l . 1919, S. 4). U n d v a n der Ven weist darauf hin, das „Recht am Leben" könne nicht mehr als ein „Ausgangspunkt" sein, von dem der Weg durch ein Gestrüpp kasuistischer Problematik gebahnt werden müsse — von der Notwehr über die Todesstrafe zum Kriegsrecht, von dem Lebensrecht des Embryos zur Euthanasie. Entsprechendes gelte für sonstige Rechte (Grundrechte u n d Geschichtlichkeit, 1960, S. 27). Vgl. auch Hans Huber, Die Verfassungsbeschwerde (1954) S. 17 ff.

16

I. Die vorgegebenen Probleme

d e m G e d a n k e n i n d i v i d u e l l e r S e l b s t b e s t i m m u n g , b e i d e r O r d n u n g der L e b e n s v e r h ä l t n i s s e u n d der L ö s u n g v o n K o n f l i k t s f ä l l e n e i n besonderes G e w i c h t beizumessen ist. D i e B e r ü c k s i c h t i g u n g sonstiger Gesichtspunkte s o l l d a d u r c h aber n i c h t ausgeschlossen w e r d e n . 1 4 W i r stoßen h i e r a u f e i n P r o b l e m , das sich f ü r j e d e R e c h t s n o r m s t e l l t , also v o n a l l g e m e i n e r B e d e u t u n g i s t : n ä m l i c h auf d i e F r a g e nach d e m G e l t u n g s b e r e i c h d e r e i n z e l n e n Rechtsnormen. Jede R e c h t s n o r m g i b t als sozialer „ S o l l " - S a t z 1 5 an, w i e sich j e m a n d i n e i n e r b e s t i m m t e n L a g e z u v e r h a l t e n hat, z u m B e i s p i e l als K ä u f e r oder V e r k ä u f e r , als F i n d e r , Erbe, Ehegatte, V a t e r , B e a m t e r . 1 6 Diesen „ S o l l " - C h a r a k t e r v e r l i e r t e i n Rechtssatz auch d a n n n i c h t , w e n n m a n i h n nicht i m H i n b l i c k auf den Verpflichteten („Sollen"), sondern i m H i n b l i c k a u f d e n B e r e c h t i g t e n ( „ D ü r f e n " ) f o r m u l i e r t . So b r i n g t e t w a der Satz „ D e r E i g e n t ü m e r k a n n m i t der Sache nach B e l i e b e n v e r f a h r e n u n d andere v o n j e d e r E i n w i r k u n g ausschließen" m i t t e l b a r z u m A u s d r u c k , daß a l l e a n d e r e n das V e r h a l t e n des so B e r e c h t i g t e n i h r e r s e i t s ( g r u n d sätzlich) h i n z u n e h m e n u n d z u d u l d e n haben. Das Gleiche g i l t auch h i n s i c h t l i c h der G r u n d r e c h t s n o r m e n . H i e r bed e u t e t e t w a d e r Satz „ J e d e r h a t das Recht, seine M e i n u n g f r e i z u ä u ß e r n u n d z u v e r b r e i t e n " : d i e „ ö f f e n t l i c h e G e w a l t " 1 7 m u ß es (grundsätzlich) h i n n e h m e n u n d d u l d e n , daß die E i n z e l n e n i h r e M e i n u n g ä u ß e r n u n d 14 Aufschlußreich ist insoweit ein Vergleich zwischen dem Bonner G r u n d gesetz u n d der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte. Beide Dokumente gehen von einer sehr weiten Fassung der Grundrechte aus u n d suchen diese knapp u n d leicht verständlich zu formulieren. Während aber „das Grundgesetz dieser weiten Fassung n u r allgemein gehaltene Bestimmungen über die Schranken des einzelnen Rechts beifügt, umreißt die K o n vention m i t kasuistischer Genauigkeit, was die einzelnen A r t i k e l gewähren sollen u n d was nicht. M a n geht von einem Grundbegriff aus u n d zwängt eine ganze ,Kommentierung' i n den einzelnen A r t i k e l , wobei der Schwerpunkt dieses »Kommentars' auf den aus der Garantie auszuklammernden Tatbeständen liegt" (Claus Weiss, Die europ. Konvention zum Schutze der Menschenrechte, Dokumente Heft 15, 1954, S. 11). Freilich k a n n trotz solcher Bemühungen der Geltungsbereich der Grundrechtsnormen nicht von vornherein für alle fraglichen Fälle eindeutig festgelegt werden (s. unten Anm. 22). Es handelt sich insoweit u m ein Problem, das für alle Generalklauseln besteht. Deshalb erscheint fraglich, ob — w i e Smend meint — diese Schwierigkeit sich „einfach daraus" erklärt, „daß die Grundrechte eben nicht Verwaltungsrecht, Spezialpolizeirecht, Privatrecht usw., sondern daß sie Verfassungsrecht sind" (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 161). 15 Fritz v. Hippel, Recht u n d Unrecht, Bericht über die Würzburger Tagung der deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission am 2. u n d 3. Dezember 1961, S. 68 ff. (90); jetzt auch abgedruckt i n v. Hippel, Rechtstheorie u n d Rechtsdogmatik (1964) S. 265 ff. (294). — Die Ansichten über den Charakter des Rechtssatzes sind allerdings nicht einheitlich. Siehe dazu näher Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1960) S. 152 ff. 16 V o n den Sätzen m i t bloßem Hilfscharakter, wie etwa den Definitionssätzen (z. B. §§ 90, 97 BGB), w i r d hier abgesehen. 17 Dieser Begriff w i r d gebraucht i n A r t . 19 Abs. 4 GG u n d § 90 BVGG.

I. Die vorgegebenen Probleme

verbreiten, darf also eine solche Meinungsäußerung (grundsätzlich) nicht verbieten. 1 8 1 0 Jeder Rechtssatz gibt also an, was i n einer bestimmten Lebenslage gelten soll; er ist die A n t w o r t auf eine bestimmte vorgegebene Lebensfrage. Die eigentliche Schwierigkeit besteht nun darin, die Sätze so zu fassen, daß eindeutig feststeht, auf welchen Lebenssachverhalt sie sich jeweils beziehen, für welche Fälle sie also jeweils gelten sollen. Die kasuistische Regelung sucht diese Schwierigkeit dadurch zu meistern, daß sie die Rechtssätze möglichst detailliert faßt. Dadurch werden dann zwar die Fälle, für die die Regeln jeweils gelten sollen, i m ganzen tatsächlich so klar bezeichnet sein, daß sich ein weiteres Nachdenken insoweit regelmäßig erübrigt. Doch w i r d es auch immer wieder Fälle geben, i n denen selbst gegenüber einem möglichst detailliert gefaßten Rechtssatz die Frage, die man bannen wollte, neu sich aufdrängt: Soll dieser (scheinbar so eindeutige) Rechtssatz auch für diesen besonderen Fall gelten? Ein Arzt eilt m i t seinem P k w einem verblutenden Schwerverletzten zu Hilfe. Gilt für diesen Fall die Vorschrift des § 9 Abs. 4 StVO, die die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften auf 50 k m / h beschränkt? Oder die Vorschrift des § 2a StVO, nach der den Weisungen und Zeichen von Polizeibeamten zum Anhalten zu folgen ist? Es zeigt sich an einem einzigen solchen Beispiel, daß gegenüber der vielgestaltigen Fülle des Lebens auch die weitgetriebenste Kasuistik noch zu wenig differenziert. Kann nun aber nicht einmal die weitgetriebenste Kasuistik alle Zweifel bannen und stets eindeutig angeben, für welche Fälle ein bestimmter Rechtssatz gelten soll, u m wieviel größer müssen dann die Schwierigkeiten werden, wenn man es nicht mit einer detaillierten Regel zu t u n hat, sondern mit einem abstrakt-allgemein gefaßten Rechtssatz. Hier ist die Frage, die sich gegenüber einer detaillierten Regelung nur i n Ausnahmefällen stellt, regelmäßig zu beachten: Bezieht sich dieser Rechtssatz auch auf den vorliegenden konkreten Fall? Diese Frage muß nun insbesondere auch gegenüber den abstraktallgemein gefaßten Grundrechtsnormen gestellt werden. Es zeigt sich 18 I n der amerikanischen Verfassung w i r d dies durch die Formulierung k l a r zum Ausdruck gebracht: „Congress shall make no l a w . . . " (1. Zusatzartikel); „No State shall make any l a w . . . " (14. Zusatzartikel). 19 Ob diese Duldungspflicht nicht n u r die „öffentliche Gewalt", sondern jedermann oder doch zumindest auch gewisse „soziale Gewalten" trifft, mag hier dahinstehen; s. zu diesem Problem sog. „ D r i t t w i r k u n g " der Grundrechte etwa Enneccerus-Nipperdey, Allgem. T e i l des bürgerl. Rechts, 15. A u f l . 1. H a l b band (1959) § 15 I I 4 (m. w. Nachw.); ders. i n : „Die Grundrechte" IV/2 (1962) S. 747; Walter Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht (1960).

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von Hippel

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I. Die vorgegebenen Probleme

d a n n sehr schnell, daß d e r einzelne Grundrechtssatz f ü r eine V i e l z a h l v o n F ä l l e n , a u f d i e er i n f o l g e seiner a b s t r a k t e n Fassung bezogen w e r d e n k ö n n t e , v o n v o r n h e r e i n n i c h t g i l t ; u n d z w a r deshalb n i c h t g i l t , w e i l n e b e n d e m Freiheitsinteresse, dessen Schutz d e r Satz g a r a n t i e r t , z a h l reiche a n d e r e G ü t e r stehen, d i e a n B e d e u t u n g u n d S c h u t z w ü r d i g k e i t diesem Interesse i n v i e l e n F ä l l e n v o r g e h e n . 2 0 D e s h a l b k ö n n e n d i e e i n z e l n e n G r u n d r e c h t s n o r m e n ( u n d d a m i t k o m m e n w i r a u f unseren A u s g a n g s p u n k t zurück) n i c h t m e h r geben als d e n a l l g e m e i n e n H i n w e i s , daß b e s t i m m t e n F r e i h e i t s i n t e r e s s e n (Glaubens-, M e i n u n g s - , B e r u f s - , E i g e n t u m s f r e i h e i t usw.), k u r z , d e m G e d a n k e n i n d i v i d u e l l e r S e l b s t b e s t i m m u n g , b e i d e r O r d n u n g d e r L e b e n s v e r h ä l t n i s s e u n d der L ö s u n g v o n K o n f l i k t s f ä l l e n e i n besonderes G e w i c h t beizumessen i s t . 2 1 Z u w e l c h e n E r g e b n i s s e n dieser a l l g e m e i n e H i n w e i s , der f r e i l i c h o f t ohne w e i t e r e s eine e i n d e u t i g e E n t s c h e i d u n g e r m ö g l i c h t , i m E i n z e l f a l l f ü h r e n w i r d , das l ä ß t sich erst a u f G r u n d e i n e r s o r g f ä l t i g e n A n a l y s e der j e w e i l i g e n S i t u a t i o n u n t e r gerechter A b w ä g u n g a l l e r h i n e i n s p i e l e n d e n Interessen entscheiden. 2 2 20 E i n Katalog der wichtigsten insoweit i n Betracht kommenden Interessen findet sich etwa bei Claude d u Pasquier, L a liberté et le droit suisse, i n : Die Freiheit des Bürgers i m schweizerischen Recht (1948) S. 1 ff. (7 ff.). Den V e r such einer systematischen Ausarbeitung hat n u n Gallwas unternommen, der insoweit unterscheidet: 1. Vorrangige Interessen eines anderen Grundrechtsträgers, 2. vorrangige Interessen der Allgemeinheit, 3. schutzwürdige I n t e r essen der staatlichen Gewalten (Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, Diss. München 1962, S. 54 ff., 95 ff., 108 ff.). Vgl. auch die unten S. 35 ff. angeführten Beispielsfälle. 21 Folgerichtig ist von einer „grundsätzlichen FreiheitsVermutung" auszugehen, wie dies das B V e r f G unter Berufung darauf tut, „daß nach der Ordnung des Grundgesetzes die freie menschliche Persönlichkeit der oberste Rechtswert ist" (BVerfG 13, 97 (104 f.) sowie schon zuvor das Apothekenurteil B V e r f G 7, 377 (405); zustimmend Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2, 1962, S. 789 m. w. Nachw. — kritisch hingegen Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, V V D S t R L 20 (1963) 52, 86 f.). Soweit das Gericht i m folgenden v o m „grundsätzlichen Vorrang des Freiheitsrechts" (BVerfG 13, 105) spricht, sollte seine Terminologie allerdings nicht übernommen werden. Denn die Grundrechtsnormen gelten, wie bereits betont, nicht i n abstracto, und folglich gibt es auch keine abstrakt-absoluten Freiheits-„Rechte", von deren Vorrang man ausgehen könnte. Ob u n d i n w i e w e i t ein Grundrechtssatz für bestimmte Fälle g i l t u n d ob und i n w i e w e i t damit Freiheits-„Rechte" zu bejahen sind, ist j a gerade erst durch eine Abwägung der Freiheitsinteressen und der sonstigen Interessen zu ermitteln! M a n k a n n also allenfalls v o m grundsätzlichen V o r rang der Freiheits-,,Interessen" sprechen. 22 Das gilt auch dann, w e n n der Verfassungsgeber — was regelmäßig der F a l l ist — den Geltungsbereich der einzelnen Grundrechtsnormen dadurch näher zu bestimmen sucht, daß er ihnen gewisse „Vorbehalte" anfügt. Denn erstens sind diese Vorbehalte oft nicht vollständig (s. Hamel, Bedeutung der Grundrechte, 1957, S. 50; eine aufschlußreiche I l l u s t r a t i o n am Beispiel des A r t . 13 — „die Wohnung ist unverletzlich" — bei Eduard Kern, Schutz des Lebens, der Freiheit u n d des Heims, i n : Die Grundrechte I I , 1954, S 51 ff. K e r n bezeichnet A r t . 13, besonders seinen 3. Absatz, als „einen der am wenigsten geglückten Grundrechtsartikel des Grundgesetzes . . . Der Gesetzgeber hat

I. Die vorgegebenen Probleme

Betrachtet man die Grundrechtsnormen i n dieser Weise, so erübrigt es sich, von („immanenten") „Schranken" oder „Grenzen" der Grundrechte zu sprechen. Die Frage lautet dann nicht mehr: Bestehen „immanente Schranken" („Grenzen") und wie sind diese zu bestimmen? Sondern vielmehr: Für welche konkreten Fälle gilt diese abstrakt gefaßte Grundrechtsnorm? 23 I m Hinblick auf die bisher übliche Terminologie werden i m folgenden die Ausdrücke „Grenzen" und „Begrenzung" der Grundrechte der Einfachheit halber teilweise gleichwohl beibehalten. Doch w i r d dadurch, daß diese Ausdrücke i n Anführungszeichen gesetzt werden, laufend daran erinnert, daß es sich insoweit um eine Ausdrucksweise handelt, die i n einem fragwürdigen Bilde den oben dargestellten Sachverhalt abgekürzt auszudrücken sucht. Es erscheint ratsam, an dieser Stelle auf einige naheliegende Einwände einzugehen. So könnte man einwenden, die hier kritisierte räumlich-gegenständliche Betrachtungsweise der Grundrechte sei schon aus Gründen der Beweislastregelung durchaus berechtigt. Man müsse bestimmte Freiheitsbereiche zunächst einmal zum Sperrbezirk erklären, damit jeder, der hier eindringen wolle, die Beweislast dafür trage, daß ein solches Eindringen berechtigt sei. — Dieser Einwand ist jedoch nicht stichhaltig. Denn man kommt zu der gleichen Beweislastregelung, wenn man die Grundrechtsnormen als Hinweise für Interessenbewertungen versteht. 24 — Daß die Vorstellung von den Grundrechten als raumkörperhafter Gebilde bedenklich ist und auch durch pädagogische Erwägungen schwerlich gerechtfertigt werden kann, zeigt sich insbesondere darin, daß sie zu der — unhaltbaren — Unterscheidung zwischen mehreren Arten von Grundrechtsbegrenzungen und von Gesetzesvorbehalten geführt hat. 2 5 hier bei seiner Aufzählung der zulässigen Eingriffe eine ganze Reihe der wichtigsten, aus dem Rechtsleben nicht wegzudenkenden Fälle übersehen" (a.a.O. S. 102 f.). U n d zweitens ermächtigen die Gesetzesvorbehalte, w i e noch zu zeigen sein w i r d , den Gesetzgeber keineswegs zu beliebigen Regelungen, sondern können ihrerseits n u r gewisse Richtlinien geben (siehe hierzu näher unten I V 2 S. 50 f t ) . 23 Entsprechendes gilt über den Bereich der Grundrechte hinaus f ü r alle sog. „subjektiven Rechte". Niemals ist nämlich i n abstracto von „dem" „subj e k t i v e n Recht" auszugehen u n d dieses dann — „ v o n außen" oder „ v o n innen" — zu „begrenzen". Ausgangspunkt müssen vielmehr stets die einzelnen Rechtsnormen sein, deren jeweiligen Geltungsbereich es i n der angegebenen Weise zu ermitteln gilt. 24 Siehe die vorige Seite, besonders A n m . 21. 25 Siehe hierzu unten I I I A n m . 91; I V A n m . 22, 26, 52. — Auch sonst führt jene Betrachtungsweise leicht zu gekünstelten Unterscheidungen. So erklärt uns etwa J. M a r i t a i n : „Selbst bei ,unveräußerlichen' Rechten muß man z w i schen Besitz u n d Ausübung unterscheiden, letztere ist den Bedingungen u n d Begrenzungen unterworfen, die i n jedem Falle von der Justiz d i k t i e r t werden.

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I. Die vorgegebenen Probleme

A b e r w e n d e n w i r uns n u n j e n e r w i c h t i g e n F r a g e z u : W i e k a n n bes t i m m t w e r d e n , f ü r w e l c h e k o n k r e t e n F ä l l e die a b s t r a k t gefaßten G r u n d r e c h t s n o r m e n gelten? Oder, u m d i e F r a g e i n d e r b i s h e r ü b l i c h e n Terminologie zu formulieren: W i e können die „ i m m a n e n t e n Schranken" ( „ G r e n z e n " ) der G r u n d r e c h t e e r m i t t e l t w e r d e n ? Diese F r a g e scheint d o r t gegenstandslos z u sein, w o eine G r u n d r e c h t s n o r m ( w i e z. B . A r t . 12 A b s . 1 GG) d e n a l l g e m e i n e n Gesetzesvorb e h a l t e n t h ä l t , u n d d a m i t feststeht, daß der Gesetzgeber R e g e l u n g e n t r e f f e n d a r f , d i e e i n (grundsätzlich) geschütztes Freiheitsinteresse bee i n t r ä c h t i g e n . 2 6 D i e F r a g e t r i t t d a f ü r aber u m so d e u t l i c h e r h e r v o r , w e n n e i n G r u n d r e c h t ohne j e d e n a u s d r ü c k l i c h e n V o r b e h a l t , also scheinb a r „ a b s o l u t " , g a r a n t i e r t w i r d 2 7 oder aber n u r u n t e r b e s t i m m t e n genau fixierten Vorbehalten steht.28

Wenn ein Verbrecher gerecht zum Tode verurteilt werden kann, so geschieht das, w e i l er sich selbst durch sein Verbrechen, nicht des Rechts auf Existenz, sondern der Möglichkeit, dieses Recht für sich i n Anspruch nehmen zu dürfen, beraubt hat" (Maritain, i n : U m die E r k l ä r u n g der Menschenrechte, ein Symposion, 1951, unter dem Patronat der Unesco herausgegeben v o m Europaverlag, Zürich—Wien—Konstanz, S. 19). — Der realistische Betrachter muß dem entgegenhalten: Das „Recht auf Leben" besagt, daß die öffentliche Gewalt das Lebensinteresse des einzelnen zu achten hat, also nicht verletzen darf. Dieser Satz g i l t jedoch nicht ohne weiteres für den Fall, daß jemand einen anderen rechtswidrig u n d schuldhaft getötet hat. 26 Das Apothekenurteil (BVerfG 7, 377) zeigt, daß dieser Anschein trügt. Denn die Frage stellt sich auch hier, freilich i n veränderter Form. Während sie nämlich hinsichtlich „vorbehaltslos" garantierter Grundrechte lautet: „Wie w e i t reichen die Grundrechte?", lautet sie gegenüber einem dem Gesetzesvorbehalt unterstellten Grundrecht: „Wie w e i t reicht die gesetzliche Regelungsbefugnis?" Der Sache nach geht es hier wie dort u m ein u n d dasselbe Problem (nämlich u m die Frage nach dem Geltungsbereich der Grundrechtsnormen), das man i m ersten F a l l von dem Grundrecht ausgehend betrachtet, i m zweiten F a l l hingegen von dem gesetzlichen Regelungsvorbehalt her. Die „ U n t e r schiedlichkeit" der Fragestellung erklärt sich aus der bisher offenbar nicht hinreichend beachteten systematischen Problematik i m Grundrechtsteil, auf die noch näher einzugehen sein w i r d (s. unten S. 50 ff.). 27 Vgl. A r t . 4 Abs. 1 u n d 2; 5 Abs. 3; 8; 9 Abs. 3; 12 Abs. 3; 16 Abs. 2; 17. 28 Anschaulich zeigt sich dies an der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Hier hatte der U.S. Supreme Court die „vorbehaltslos" garantierten Einzelfreiheiten sachgemäß zu begrenzen. Siehe insoweit etwa das von Paul A. Freund u. a. herausgegebene Buch „Constitutional L a w " Bd. 2 (1954); K a r l Carstens, Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre V e r w i r k l i c h u n g (1954) S. 156 ff., bes. 187 ff.; K a r l Loewenstein, Verfassungslehre (1959) S. 340.

I I . Der Lösungsversuch des Grundgesetzes Das Problem läßt sich am Bonner Grundgesetz gut studieren. Bei den Vorberatungen war man sich wohl bewußt, daß die Freiheitsrechte nicht unumschränkt, sondern nur innerhalb gewisser „Grenzen" gelten können. Andererseits standen abschreckend die Erfahrungen der Vergangenheit vor Auigen, i n der zahlreiche Grundrechte auf Grund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts vielfach so „ausgehöhlt" worden waren, daß sie praktisch „leer liefen". So bemühte man sich nun — wie auch bei anderen Problemen — u m einen sachgerechten Ausgleich. Dieses Bestreben kam i n Art. 21 Abs. 3 und 4 des Entwurfs vom Herrenchiemsee (1948) deutlich zum Ausdruck. Die Vorschrift bestimmte: 1 (3) „Die Grundrechte sind, soweit sich aus ihrem Inhalt nichts anderes ergibt, i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung zu verstehen. (4) Eine Einschränkung der Grundrechte ist nur durch Gesetz und unter der Voraussetzung zulässig, daß es die öffentliche Sicherheit, Sittlichkeit oder Gesundheit zwingend erfordert. Die Einschränkung eines Grundrechtes oder die nähere Ausgestaltung durch Gesetz muß das Grundrecht als solches unangetastet lassen." Aufschlußreich ist die Erläuterung, die der Vorsitzende des Grundsatzausschusses Dr. v. Mangoldt i n der 6. Sitzung (am 7. 10. 1948) zu dieser Vorschrift des Entwurfes gab: „ W i r haben immer i n allen A r t i keln gesagt: dieses Grundrecht steht i m Rahmen der Gemeinschaftsinteressen, und zum Schutz dieser Gemeinschaftsinteressen ist nun i n einer gewissen Konkretisierung die Möglichkeit gegeben, durch Gesetz i n diese Freiheiten einzugreifen." Demgegenüber müsse nun zum Ausdruck gebracht werden, daß „diese Gesetzgebungsbefugnis niemals so weit gehen dürfe, daß sie das Grundrecht in seinem Bestand angreift", 2 Aber diese (jetzt i n Art. 19 Abs. 2 GG ausgesprochene) Begrenzung der gesetzlichen Regelungsbefugnis genügte noch nicht dem Bestreben, die Grundrechte möglichst weitgehend zu sichern. Deshalb strich man die i m soeben zitierten Art. 21 Abs. 3 zunächst vorgesehene begrenzende Generalklausel zugunsten einer kasuistischen Regelung. 3 I n der 8. Sit1

JöR * JöR 5 Vgl. 2. Aufl. (59 ff.).

(Neue Folge) 1, S. 176 f. (Neue Folge) 1,177. die Aufzählung bei v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, (1957) S. 120f.; kritisch zu dieser Änderung etwa Dürig, AöR 79, 57

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I I . Der Lösungsversuch des Grundgesetzes

zung erklärte Dr. v. Mangoldt hierzu, der Grundsatzausschuß habe „diesen Satz von der Geltung der Grundrechte i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung von vornherein für gefährlich gehalten und sich daher bemüht, i h n bei der Formulierung der Einzelgrundrechte zu konkretisieren, so daß er als Generalklausel wegfallen könne. Ebenso sei A r t . 21 I V S. 1 Ch. E. durch die Konkretisierung der einzelnen Grundrechte vorweggenommen und dadurch eine stärkere Sicherung der Grundrechte erreicht worden". 4 Hatten die Väter des Grundgesetzes geglaubt, die behandelten Fragen auf diese Weise geklärt und gemeistert zu haben, so erwies sich diese Ansicht schnell als Illusion. Schon bald entbrannte der bis heute nicht abgeschlossene Streit um die Frage, ob es neben den ausdrücklichen (Vorbehalts-)„Schranken", die bei den meisten Grundrechten statuiert worden sind, auch noch allgemeine „immanente" „Schranken" („Grenzen") gibt und wie diese gegebenenfalls zu bestimmen sind. Daneben bildet die Frage, was unter dem i n Art. 19 Abs. 2 gegen jede Antastung geschützten „Wesensgehalt" eines Grundrechts zu verstehen ist. bis heute eines der umstrittensten Probleme des Grundrechtsteils. I m folgenden ist nun auf diese beiden Fragen einzugehen, bei denen es um e i n u n d d a s s e l b e Grundproblem geht: nämlich darum, den Geltungsbereich der einzelnen Grundrechtsnormen sachgerecht zu bestimmen und so einen optimalen Ausgleich zwischen der Freiheit des Einzelnen und sonstigen Interessen zu ermöglichen. 5

4

JöR 1, 176 f. E i n großer T e i l der umfangreichen einschlägigen L i t e r a t u r ist zusammengestellt bei Peter Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz (1962) S. 239 ff. 5

I I I . Die „Grenzen" der Grundrechte Daß k e i n e G r u n d r e c h t s n o r m u n u m s c h r ä n k t g i l t , daß also jedes G r u n d r e c h t gewisse „ G r e n z e n " h a t — m ö g e n diese n u n a u s d r ü c k l i c h g e n a n n t sein oder n i c h t — . d a r ü b e r besteht h e u t e g r u n d s ä t z l i c h Einigkeit.1 U m s t r i t t e n ist hingegen, w o diese „ G r e n z e n " v e r l a u f e n u n d w i e sie z u b e s t i m m e n sind. W i r e r h a l t e n i n s o w e i t eine ganze R e i h e v o n A n t worten. So e r k l ä r t u n s e t w a K l e i n , 2 es b e s t ü n d e n d r e i A r t e n v o n a l l g e m e i n e n „ i m m a n e n t e n S c h r a n k e n " , n ä m l i c h erstens „sachlich i m m a n e n t e Gew ä h r l e i s t u n g s s c h r a n k e n " , d i e sich aus d e m „ B e g r i f f des g e w ä h r l e i s t e t e n O b j e k t s " (Glauben, Gewissen, R e l i g i o n , K u n s t , Wissenschaft, L e h r e , V e r e i n , W o h n u n g , E i g e n t u m , E r b r e c h t usw.) e r g e b e n ; 3 z w e i t e n s „systematisch immanente Gewährleistungsschranken", die „aus dem System der G r u n d r e c h t s b e s t i m m u n g e n " f o l g e n ; 4 u n d d r i t t e n s d i e aus d e m 1 Vgl. etwa v. M a n g o l d t - K l e i n (1957) S. 120; Maunz-Dürig, GrundgesetzKommentar (1960) A r t . 2 1 Rdnr. 69 (jeweils m i t weiteren Angaben); Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2 (1962) 741 ff. (767). 2 v. Mangoldt-Klein, S. 123 ff. 8 Hierbei seien die fraglichen Begriffe „ i n aller Regel" aus sich selbst zu bestimmen. Doch komme auch der geistesgeschichtlichen Entwicklung des jeweiligen Grundrechts „einige Bedeutung" zu. Schließlich seien auch die positiven außerverfassungsrechtlichen Regelungen zu berücksichtigen, die m i t den betreffenden Grundrechtsbestimmungen jeweils zusammenhängen (v. Mangoldt-Klein, S. 124). 4 Hierbei geht es u m folgendes : Bekanntlich hat sich das Grundgesetz nicht damit begnügt, die individuelle Freiheit durch eine Generalklausel zu schützen u n d deren Entfaltung der Rechtsprechung zu überlassen. Vielmehr hat es diese Entfaltung weitgehend selber durchgeführt, indem es dem Grundtatbestand des A r t . 2 weitere Vorschriften anfügte, die die wichtigsten E r scheinungsformen der menschlichen Freiheit besonders aufzählen u n d für sie verschieden „abgestufte Gesetzes vorbehalte" (BVerfG 6, 32, 37) vorsehen (s. hierzu näher Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2, 1962, 758 ff.). F ü r die Frage nach den „Einschränkungsmöglichkeiten" eines Grundrechts ergeben sich hieraus (lt. Klein) Komplikationen. Es ist nämlich möglich, daß das V e r halten einer Person, die sich zur Rechtfertigung ihres Verhaltens auf ein bestimmtes Grundrecht beruft (ζ. B. auf ihre Glaubensfreiheit), zugleich unter dem B l i c k w i n k e l einer anderen Grundrechtsnorm zu betrachten ist. So berührt etwa die Durchführung einer Prozession nicht n u r die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 u n d 2), sondern auch die Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Art. 8) u n d der Freiheit der Person (Art. 2 I I S. 2), die i m Gegensatz zu A r t . 4 unter ausdrücklichem Gesetzesvorbehalt stehen. D a m i t werden (nach Klein) die

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I I I Die „Grenzen" der Grundrechte

T r i a s v o r b e h a l t des A r t . 2 Abs. 1 GG, d e n K l e i n als G e n e r a l v o r b e h a l t deutet, r e s u l t i e r e n d e n „ a l l g e m e i n e n S c h r a n k e n " (Rechte anderer, v e r fassungsmäßige O r d n u n g , Sittengesetz). 5 D i e s e r T r i a s v o r b e h a l t ist r e g e l m ä ß i g A n s a t z p u n k t d e r B e m ü h u n g e n , „ a l l g e m e i n e S c h r a n k e n " z u g e w i n n e n . H i e r b e i w i r d insbesondere u m den Begriff „verfassungsmäßige Ordnung"' gerungen. 6 So lesen w i r e t w a b e i M a u n z v o n „ a l l g e m e i n e n , j e d e m F r e i h e i t s r e c h t bereits v o n Verfassungs w e g e n i n n e w o h n e n d e n i m m a n e n t e n Schranken, als w e l c h e A r t . 2 A b s . 1 G G d i e Rechte anderer, d i e verfassungsm ä ß i g e O r d n u n g u n d das Sittengesetz n e n n t " . 7 U n t e r „verfassungsm ä ß i g e r O r d n u n g " v e r s t e h t M a u n z h i e r b e i „ n i c h t n u r die a l l g e m e i n s t e n t r a g e n d e n S t r u k t u r p r i n z i p i e n unseres Verfassungsrechts, z u denen i n s besondere auch die sogenannte Sozialstaatsklausel des A r t . 20 G G z u rechnen ist, s o n d e r n d a r ü b e r h i n a u s d i e staatliche G r u n d o r d n u n g i n i h r e n w e s e n t l i c h e n Rechtssätzen, m a g sie sich n u n aus d e n Verfassungs-

Vorbehalte dieser Grundrechtsnormen i m vorliegenden Falle auch für A r t . 4 bedeutsam. V o n hier aus könnte ζ. B. die Durchführung einer Prozession wegen drohender Seuchengefahr untersagt werden. Nach K l e i n müßten es die Prozessionsteilnehmer von hier aus auch dulden, daß die Prozession für kurze Zeit zumDurchlaß des Verkehrs unterbrochen w i r d ; sie könnten sich allerdings „dagegen wehren, daß die Prozession i n ihren feierlichen Augenblicken (ζ. B. bei Erteilung des Segens) unterbrochen w i r d , w e i l dadurch der Wesensgehalt des A r t . 4 Abs. 2 angetastet w ü r d e " (Klein, S. 180 a.a.O.). — M. E. ist fraglich, ob sich die Teilnehmer w i r k l i c h n u r i n einem derart extremen Falle wehren können. W a r u m sollte man ihnen nicht ein Recht auf ungestörte Durchführung der Prozession geben, sofern sich bei einer Güterabwägung i m konkreten Falle zeigt, daß die Verkehrsinteressen eine Unterbrechung nicht so dringend erfordern, daß sie dem Interesse an störungsfreier Durchführung der Prozession überzuordnen sind? (Zu Recht kritisch gegenüber K l e i n äußert sich auch Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, 1961, S.127 ff.). K l e i n weist insoweit übrigens selbst auf die Notwendigkeit einer Güterabwägung h i n : „ B e i der Lösung einer solchen Kollision von Grundrechtsbestimmungen muß eine gewisse Güterabwägung' dahin vorgenommen werden, ob etwa die (systematisch) einzuschränkende Grundrechtsbestimmung der anderen, gleichzeitig i n Anspruch genommenen, ihrem I n h a l t nach . . . derart vorgeht, daß sich eine solche Einschränkung verbietet. Unter Umständen w i r d dann die andere, gleichzeitig i n Anspruch genommene Grundrechtsbestimmung erweitert" (Klein, S. 125). 5 K l e i n rechtfertigt diese Deutung rein „teleologisch": Gewisse Einschränkungen seien auch bei Freiheitsrechten ohne besonderen Gesetzesvorbehalt nötig u n d i n einem „sinnvollen System der Grundrechtsschranken" könnten sie „nicht anders als durch die Entwicklung des Halbsatzes 2 zu einem allgemeinen Gemeinschafts vorbehält" begründet werden. Diese Lösung sei jedenfalls „annehmbarer als die bisher verbreitete Methode, die notwendigen E i n schränkungen der Freiheitsrechtsbestimmungen i n unklarer W o r t - , Begriffsund Systembildung aus von jeher den Grundrechten als immanent oder i n härent gedachten Schranken abzuleiten" (S. 177 a.a.O.). β S. insoweit die Angaben bei Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2 (1962) 741 ff. (803 f., 809 ff.). 7 Maunz, Deutsches Staatsrecht, 13. Aufl. (1964) S. 100.

I I I Die „Grenzen" der Grundrechte

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Sätzen des GG selbst oder aus geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtssätzen außerhalb des Grundgesetzes ergeben". 8 Nipperdey versteht unter dem Begriff die „maßgebenden Grundprinzipien der Verfassung" und zählt zu diesen — insoweit E. R. Huber folgend 9 — den früher i n Art. 151 Weimarer Verfassung umschriebenen Grundsatz, „daß gesetzliche Beschränkungen der Einzelfreiheitsrechte statthaft sind, soweit überragende Forderungen des Gemeinwohls eine solche Beschränkung unabdingbar verlangen". 1 0 I n dem Bemühen, den Begriff stärker zu präzisieren, vertritt Dürig die Auffassung, er umfasse die „öffentliche Ordung und Sicherheit" i m Sinne des Polizeirechts. 11 Demgegenüber w i l l Herbert Krüger unter „verfassungsmäßiger Ordnung" allein „sämtliche geschriebenen und ungeschriebenen Existenzelemente" des „Staates" verstanden wissen. 12 Auf den ersten Blick mögen diese sich befehdenden Ansichten unvereinbar erscheinen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß praktisch gesehen keine eigentlichen Unterschiede zwischen ihnen bestehen. 13 Sämtliche Theorien bemühen sich um eine A n t w o r t auf die Frage: „ F ü r welche Fälle gelten die abstrakt gefaßten Grundrechtsnormen?" W i l l man auf diese allgemeine Frage mit einer allgemeinen Formel antworten, so kann diese nur lauten: „Jede Grundrechtsnorm gilt nur, 8 Maunz, a.a.O. S. 103. • E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1953) S. 663; ders., Der Streit u m das Wirtschaftsverfassungsrecht, D Ö V 1956, 135 (136). 10 Enneccerus-Nipperdey. Allgem. Teil des bürgerl. Rechts, 15. Aufl., 1. H a l b band (1959) S. 101; ders., in': Die Grundrechte IV/2 (1962) 741 ff. (804 ff., 813). 11 Dürig, A r t . 2 des Grundgesetzes u n d die Generalermächtigung zu allgemeinpolizeilichen Maßnahmen, AöR 79, 57 (74 f.) ; sowie i n Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. 1 Rdnr. 81. Gegenüber dem naheliegenden Einwand, der Rückgriff auf diese „Kautschukbestimmung" (Drews-Wacke, Allgem. Polizeirecht, 7. Aufl. 1961, S. 66) führe nicht weiter, betont Dürig, die polizeiliche Generalklausel sei heute auf G r u n d einer langen E n t w i c k l u n g ähnlich präzisiert wie etwa § 242 B G B ; i m übrigen gelte es „sorgsam gegen Ausweitungen" abzusichern (Art. 2 I Rdnr. 84). 12 Herbert Krüger, Neues zur Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung u n d deren Schranken, N J W 1955, 201 (204). 15 So ist bezeichnend, daß Herbert Krüger, nachdem er die Ansichten von Huber („Gemeinwohlklausel") u n d D ü r i g („Nichtstörungsklausel") energisch abgelehnt hat, sogleich über die „Existenzklausel" die (auch von i h m als nötig anerkannte) allgemeine Begrenzung der Grundrechte erreicht. Seine Ansicht, er habe damit an die Stelle des (von i h m abgelehnten) „Blankettbegriffs" der „immanenten Schranken" einen „ausgefüllten", v o m Gesetzgeber „lediglich anzuwendenden" Begriff gesetzt, der sich i m Gegensatze zu den eine „ B l a n k o vollmacht an den Gesetzgeber" darstellenden „immanenten Schranken" als eine „echte Bindung" erweise (NJW 1955, 204), dürfte k a u m haltbar sein (vgl. Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2, 1962, S. 741 ff., 810).

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I I I D i e „Grenzen" der Grundrechte

wenn und soweit dem geschützten Freiheitsinteresse keine höherwertigen Interessen (Rechtsgüter) entgegenstehen." Oder, um dasselbe i n der bisher üblichen Terminologie auszudrücken: „Jedes Grundrecht findet seine natürliche (immanente) »Grenze4 an höherwertigen Interessen (Rechtsgütern)". 14 [Hierauf haben insbesondere Rudolf Smend und Erich Kaufmann hingewiesen. Smend hat 1927 i n einem Referat über „Das Recht der freien Meinungsäußerung" 15 zu dem in Art. 118 W V gebrauchten, umstrittenen Begriff der „allgemeinen Gesetze" 16 ausgeführt: „Hier aber handelt es sich um die Aufnahme und abgekürzte Inbezugnahme eines alten sachlichen Gedankens aus dem überlieferten Gedankenkreise der Grundrechte. Seit den Menschenrechten ist eine derartige ,allgemeine' Schranke der Grundrechtsausübung stets anerkannt und nur immer von neuem anders formuliert; die Allgemeinheit, um die es sich dabei handelt, ist aber selbstverständlich die materiale Allgemeinheit der Aufklärung: die Werte der Gesellschaft, die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die konkurrierenden Freiheiten und Rechte der anderen 17 — Sittlichkeit, öffentliche Ordnung. Staatssicherheit 18 —, an ihnen haben die Grundrechte ihre Schranke, deren Ziehung i m einzelnen die Aufgabe ausführender Gesetze ist. Das ist auch die Allgemeinheit des Art. 118: die Allgemeinheit derjenigen Gemeinschaftswerte, die als solche den ursprünglich individualistisch gedachten Grundrechtsbetätigungen gegenüber den Vorrang haben, so daß ihre Verletzung eine Überschreitung, ein Mißbrauch des Grundrechts ist . . . ,Allgemeine' Gesetze i m 14 Z u r Terminologie sei bemerkt, daß die Begriffe „Interesse" und „Rechtsgut" hier synonym gebraucht werden. (Vgl. G. Boehmer, Grundlagen I I , 1 S. 195, der die Interessen als „wertbetonte u n d schutzwürdige Lebensgüter" bestimmt.) Auch das B V e r f G macht keinen Unterschied zwischen „Interesse" und „Rechtsgut". I m L ü t h u r t e i l (BVerfG 7, 207, 210) spricht es i n einem A t e m zug von „Güterabwägung" u n d von „Interessen", i m Apothenurteil (BVerfG 7, 377, 405) von „ A b w ä g u n g d e r . . . Interessen" und „Schutz von Gütern". Unter „Interessen" versteht also auch das BVerfG nicht einfach subjektive Begehrungen, sondern objektive Rechtsgüter. Es ist deshalb nicht berechtigt, wenn Bettermann (JZ 1964, 601 f.) unter Verweis auf das L ü t h u r t e i l dem BVerfG v o r w i r f t , es treibe „Kasuistik u n d Fallentscheidung an Stelle von Verfassungsinterpretation" u n d anfügt: „Statt objektiver Rechtsgüter wägt es subj e k t i v e Interessen gegeneinander ab, ersetzt also die Smendsche Güterabwägung durch eine Interessenabwägung nach zivilrechtlichem Muster. Damit biegt es das Allgemeine ins Individuelle und letztlich Private u m . . . " 15 V V D S t R L 4 (1928) S. 44 ff. 16 „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung . . . frei zu äußern." Entsprechend bestimmt n u n A r t . 5 Abs. 2 GG für die Meinungs- u n d Pressefreiheit: „Diese Rechte finden ihre Schranken i n den Vorschriften der allgemeinen Gesetze .. 17 A r t . 4, 5, 10, 11 der Menschenrechte, Tit. 1 A r t . 5 der französischen V e r fassung von 1791. 18 Schweizerische Bundesverfassung 1874 A r t . 50, 56.

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Sinne des Art. 118 sind also Gesetze, die deshalb den Vorrang von A r t . 118 haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit." 1 9 Kaufmann hat i n seinem anschließenden Diskussionsbeitrag 20 dieser Deutung des Art. 118 W V und den grundsätzlichen Erwägungen Smends zugestimmt: „ I n derselben Weise, wie die Unverletzlichkeit des Eigentums unter den Einschränkungen und, um m i t Smend zu sprechen, dem sachlichen Vorrange und Vorbehalte des Gemeinschaftsgedankens steht, bedeutet der der Freiheit der Meinungsäußerung i n A r t i k e l 118 hinzugefügte Hinweis auf die ,allgemeinen' Gesetze, daß das Recht der freien Meinungsäußerung nur gilt, insofern sich nicht aus der übergeordneten Idee der Gemeinschaft Grenzen und Schranken, Vorbehalte und ein Vorrang ergeben." 21 Allerdings hat die Ansicht von Smend nicht nur Zustimmung, sondern auch Widerspruch gefunden. So hat etwa Carl Schmitt geltend gemacht, die von Smend vertretene Interessenabwägung könne „den absoluten Wert des Gutes der freien Meinungsäußerung leicht relativieren". Das entspreche nicht mehr der Vorstellung des fundamentalen Verteilungsprinzips. „ E i n Freiheitsrecht ist kein Recht oder Gut, das mit anderen Gütern i n eine Interessenabwägung treten könnte. Es gibt für das Prinzip der Grundrechte nichts Wichtigeres als diese Freiheit und die Frage ist nur, den Maßstab zu finden, um staatliche Eingriffe, Gesetze wie Verwaltungsakte zu begrenzen, meßbar und dadurch kontrollierbar zu machen. 22 — Jedoch ist es Carl Schmitt nicht gelungen, an Stelle der Güterabwägung einen anderen „Maßstab" zu finden. Das nimmt auch nicht weiter wunder. Ist doch sein Ausgangspunkt verfehlt: Man kann nicht von isolierten absoluten Freiheits-„Rechten" ausgehen. 23 Diese Einsicht hat sich inzwischen zunehmend durchgesetzt. 24 19

W D S t R L 4, 51. W D S t R L 4, 77 ff. 21 W D S t R L 4, 81. Zustimmend ferner Koellreuter ( W D S t R L 4, 76) und Triepel ( W D S t R L 4, 89). 22 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 3. unveränderte Aufl. 1957, S. 167. 23 „Die Grundrechte stellen, auch wenn man i h r naturrechtliches und vorgesetzliches F u n d a m e n t . . . nachdrücklich betonen möchte, keine absoluten Rechte dar. Jedes individuelle Grundrecht ist i n das Ganze der Verfassungsordnung eingefügt und empfängt von dessen Grundprinzipien — hier ist namentlich auf den Grundsatz des sozialen Rechtsstaates zu verweisen — her gewisse Begrenzungen. Die Vorstellung einer grundsätzlich schrankenlosen Gewährung einer Freiheit, die n u r durch positive Ausnahmen durchbrochen w i r d , entspricht nicht dem Wesen der grundrechtlichen Verbürgung" (Scheuner, Grundrechtsinterpretation und Wirtschaftsordnung, D Ö V 1956, 65, 69). — Siehe i m übrigen oben S. 6 ff. 24 Siehe etwa W. Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat (1957) S. 38 ff., bes. 41 ff.; H.-U. Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten (Diss. München 1962) S. 39 ff., 49; P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (1962), insbes. S. 31 ff.; vgl. auch Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2 (1962) 741 ff. (788). — Allerdings lehnt ein Teil der Lehre die Güterabwägung als 20

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Daß man, um den Geltungsbereich der einzelnen Grundrechtsnormen zu bestimmen, nicht auf den Gedanken der Güterabwägung verzichten kann, macht auch die Stellungnahme von Häntzschel deutlich, der seinerzeit der Ansicht von Smend entgegengetreten ist. 2 5 Häntzschel räumte zwar ein, Smends Ansicht komme „der Wahrheit schon sehr nahe". Der Kerngedanke Smends, daß es auf die Wertrelation der verschiedenen einander widerstreitenden Interessen ankomme, sei zutreffend, „jedoch m i t dem Unterschiede, daß ihre Findung vom Verfassungsgesetzgeber nicht dem freien Ermessen überlassen ist, sondern daß die Verfassung selbst hierfür eine klare Linie vorschreibt". Häntzschel führte dann aus: Das Geistige solle nicht u m seiner rein geistigen W i r kung w i l l e n unterdrückt werden. Doch solle eine über das „rein Geistige hinausgehende" Handlung, die aus „sonstigen Gründen" 2 6 verboten sei, auch nicht deshalb erlaubt sein, weil sie zugleich eine Meinungsäußerung darstelle. Unzulässig seien also nur Rechtsnormen, die als „Sonderrecht" eine an sich erlaubte Handlung „allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch hervorgerufenen schädlichen geistigen Wirkung verbieten oder beschränken". 27 Die Interessenabwägung zwischen dem Rechtsgut der freien Meinungsäußerung und anderen Rechtsgütern erfolge also nicht so, daß bestimmte gesellschaftliche Werte für wichtiger als die Meinungsfreiheit erklärt würden, während andere Rechtsgüter als minder wichtig hinter ihr zurückzutreten hätten, vielmehr i n der Weise, „daß die Freiheit der Meinungsäußerung vor allen Rechtsgütern solange den Vorrang hat, als der Angriff auf sie lediglich mit dem ideellen M i t t e l sachlicher Überzeugung geschieht, daß aber umgekehrt jedes Rechtsgut seinerseits vor der Freiheit der Meinungsäußerung den Vorrang hat, sobald die Meinungsäußerung sich nicht auf ideelle Wirkungen beschränkt, sondern gleichzeitig auch materielle Methode, den Geltungsbereich der Grundrechtsnormen zu ermitteln, immer noch ab, da sie die Grundrechte gefährde — vgl. insoweit etwa W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960) S. 371 f., 391, 393 f.; P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961) S. 129, 292 ff. 25

Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerung, i n : HDStR I I (1932) S. 651 ff. (659). 26 „D. h. auf G r u n d von Rechtsnormen, die ohne Rücksicht auf die geistige Zielrichtung einer bestimmten Meinung allgemein gelten . . . " 27 Ebenso schon Häntzschel, AöR 50 (1926) S. 228 ff. (232) — zustimmend Rothenbücher, W D S t R L 4 (1928) S. 6 ff.; Anschütz, W D S t R L 4, 75; Thoma, V V D S t R L 4, 85; R G J W 1930, 2139 f. (Urteil des 4. Strafsenats v o m 24. 5.1930). Zustimmend n u n auch Ridder, Meinungsfreiheit, i n : Die Grundrechte I I (1954) S. 243 ff. (282 — obwohl Ridder auf S. 281 einräumt, daß Smends Ansicht zu klaren Abgrenzungen führe) sowie Bettermann, Die allg. Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, JZ 1964, 601 ff. (603). Wenn Bettermann meint, die „Schrankengestaltung" des A r t . 5 I I GG könne „ n u r als Absage an Smend verstanden werden", so überschätzt er die Umsicht des Verfassungsgebers u n d überwertet eine Formulierung zu Lasten funktioneller Zusammenhänge.

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Rechtsgüter v e r l e t z t oder u n m i t t e l b a r g e f ä h r d e t " . 2 8 A b e r d a r i n , daß H ä n t z s c h e l h i e r i n e i n e m A t e m z u g e i n m a l a u f d i e Art der M e i n u n g s ä u ß e r u n g a b s t e l l t (soll doch die F r e i h e i t der M e i n u n g s ä u ß e r u n g a l l e n a n d e r e n R e c h t s g ü t e r n solange v o r g e h e n , als d e r A n g r i f f auf diese l e d i g l i c h m i t d e m ideellen Mittel sachlicher Überzeugung geschieht), z u m a n d e r e n a u f i h r e Wirkung (sobald sich d i e M e i n u n g s ä u ß e r u n g n i c h t a u f „ i d e e l l e W i r k u n g e n " beschränkt, s o l l jedes (!) v e r l e t z t e oder u n m i t t e l b a r g e f ä h r d e t e Rechtsgut v o r i h r d e n V o r r a n g haben), l i e g t e i n W i d e r s p r u c h . 2 0 U n d w i e s o l l m a n i m ü b r i g e n b e s t i m m e n , ob eine M e i n u n g s ä u ß e r u n g n u r „ i d e e l l e " oder d a r ü b e r h i n a u s auch „ m a t e r i e l l e " W i r k u n g e n hat? E i n e überzeugende A b g r e n z u n g z w i s c h e n zulässiger u n d unzulässiger M e i n u n g s ä u ß e r u n g i s t H ä n t z s c h e l also n i c h t m ö g l i c h . 3 0 E i n e solche A b g r e n z u n g l ä ß t sich n u r m i t H i l f e d e r schon v o n S m e n d b e f ü r w o r t e t e n G ü t e r a b w ä g u n g erreichen. Tatsächlich h a t d e n n auch ber e i t s H ä n t z s c h e l selbst, w i e d i e v o n i h m a n g e f ü h r t e n B e i s p i e l e zeigen, die A b g r e n z u n g praktisch m i t H i l f e einer G ü t e r a b w ä g u n g vorgenommen. 31 U n d das Bundesverfassungsgericht, das i m L ü t h u r t e i l v o n der A n s i c h t Häntzschels als auch f ü r A r t . 5 G G z u t r e f f e n d a u s g i n g , 3 2 h a t doch als-

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HDStR I I (1932) S. 661.

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Stellt man allein auf die Art der Meinungsäußerung ab, so wäre es ζ. B. unzulässig, gegen jemand vorzugehen, der n u r m i t dem „ideellen M i t t e l sachlicher Überzeugung" für den Umsturz der bestehenden Ordnung eintritt. Stellt man hingegen auf die Wirkungen der Meinungsäußerung ab, so ist ein E i n schreiten bei unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit u n d Ordnung möglich. 30 Schon Jellinek hat den Lösungsversuch Rothenbüchers ( W D S t R L 4, 6 ff.), der Häntzschel folgte, als „ z u wenig brauchbar" bezeichnet u n d die Frage gestellt: „ W i e soll man ζ. B. die bloße Meinungsäußerung, ein Bombenanschlag sei etwas Rühmliches, von dessen strafbarer Verherrlichung unterscheiden, die Meinungsäußerung, jemand sei ein Narr, von einer strafbaren Beleidigung?" ( W D S t R L 4, 83). 31 Vgl. HDStR I I (1932) S. 660 ff. So bemerkt Häntzschel (a.a.O. S. 661) zu den „Tendenzklauseln" des Lichtspielgesetzes u n d des Gesetzes gegen Schmutz u n d Schund, nach denen F i l m e oder Druckschriften nicht wegen ihrer p o l i t i schen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher unterdrückt werden dürfen: „Auch diese Tendenzklauseln sagen nichts anderes, als daß eine Meinungsäußerung wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch verursachten rein geistigen W i r k u n g e n (Ärgerniserregung bei Andersdenkenden wegen Nichtübereinstimmung m i t bisher anerkannten Wahrheiten oder gesetzlich festgelegten Rechtszuständen) nicht unterdrückt werden darf, sondern erst dann, wenn außer der funktionell zu jeder M e i nungsäußerung gehörigen geistigen Wirkungsmöglichkeit durch F o r m oder Umstände noch etwas hinzukommt, was die Meinungsäußerung zu einer W i l lenshandlung stempelt, die i n einer mit den allgemeinen Normen des Gemeinschaftslebens nicht vereinbaren Weise unmittelbar i n den A b l a u f der Geschehnisse eingreift und dadurch nicht mehr ideell, sondern auch materiell wirkt" (Letzte Hervorhebungen durch den Verf.) 82

BVerfG 7, 198 (209 f.).

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b a l d o f f e n v o n d e m E r f o r d e r n i s e i n e r „ G ü t e r a b w ä g u n g " zwischen M e i n u n g s f r e i h e i t u n d sonstigen s c h u t z w ü r d i g e n Interessen gesprochen. 8 3 ] D e r oben g e n a n n t e e l e m e n t a r e S a t z 3 4 i s t eine d e m Rechtssystem i m m a n e n t e N o r m v o n ü b e r p o s i t i v e r R i c h t i g k e i t 3 5 , die ü b e r d e n B e r e i c h d e r G r u n d r e c h t e h i n a u s f ü r d i e gesamte R e c h t s o r d n u n g g i l t 3 6 u n d die sich, auch w e n n m a n sie z e i t w e i l i g n i c h t e r k e n n t oder a n e r k e n n t , l e t z t l i c h i m m e r w i e d e r z w a n g s l ä u f i g durchsetzen w i r d . Das l ä ß t sich n i c h t n u r a n H a n d der Rechtsprechung z u d e n G r u n d r e c h t e n u n d i h r e n „ G r e n z e n " n a c h w e i s e n 3 7 — u n d z w a r e t w a auch f ü r 33 Es hat insoweit zu Recht w e i t h i n Zustimmung gefunden. (Vgl. zuletzt Jescheck, Pressefreiheit u n d militärisches Staatsgeheimnis, 1964, S. 11 m i t w e i teren Nachweisen). Ablehnend allerdings Bettermann, JZ 1964, 601. 34 „Jede Grundrechtsnorm g i l t nur, wenn und soweit dem geschützten F r e i heitsinteresse keine höherwertigen Interessen (Rechtsgüter) entgegenstehen." 35 So weist etwa Erich K a u f m a n n auf „vielfach ungeschriebene Schranken" der Freiheitsrechte hin, „die sich teils aus besonderen Gewaltverhältnissen, teils aus dem auch f ü r sie geltenden Verbot des Mißbrauchs ergeben" (Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, W D S t R L 9, 1952, S. 15; jetzt auch abgedruckt i n Gesammelte Schriften I, 1960, S. 500, 513). Vgl. ferner etwa Raiser, Rechtsschutz u n d Institutionenschutz i m Privatrecht, i n : „ S u m m u m lus, Summa I n i u r i a " (1963) S. 145 ff.; Raiser, der die „Innenschranken der Privatautonomie" über ein „Mißbrauchsverbot" bestimmt, betont, daß dieses „als allgemeines Rechtsprinzip g i l t und daher keiner ausdrücklichen gesetzlichen Stütze bedarf; die Rechtsordnung gäbe sich selbst auf, wenn sie die einzelnen Subjekte ermächtigte, sich über das Recht hinwegzusetzen u n d die Privatautonomie zu schutzunwürdigen Zwecken zu mißbrauchen" (S. 163 A n m . 44; vgl. auch S. 167 daselbst). Deshalb ist es nicht nötig, nach einem „Verfassungsvorbehalt zur Interpretation immanenter Grundrechtsschranken" zu suchen und diesen aus dem „Soweit"-Satz des A r t . 2 I abzuleiten, wie dies Maunz (Deutsches Staatsrecht, 13. Aufl. 1964, S. 100) und i h m folgend D ü r i g t u n (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 72 a. E.). 86 Vgl. etwa Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch, 1. Band (1959) Ziff. 20 vor § 226, S. 757: „Jedes Recht geht seinem I n h a l t nach n u r so weit, w i e es die guten Sitten und Treu und Glauben gestatten." 37 Zur Rechtsprechung des R G s. insoweit Hensel, Grundrechte u n d Rechtsprechung, i n : Die Reichsgerichtspraxis i m deutschen Rechtsleben, Band 1 (1929) S. 1 ff. (S. 15 ff.). Z u r Rechtsprechung seit dem Bonner Grundgesetz s. W i l l i Geiger, Grundrechte u n d Rechtsprechung (1959). Vgl. etwa B G H 12, 197 („Grenze" der Meinungsfreiheit); B G H 13, 334 (338) u n d 24, 72 (79 f.) (betr. die „Abgrenzung" des aus A r t . 1 u n d 2 GG abgeleiteten allg. Persönlichkeitsrechts, „ f ü r die das Prinzip der Güter- und Interessenabwägung maßgebend sein muß . . . Je nach Gestaltung der Dinge k a n n die Reichweite des Persönlichkeitsrechts durchaus verschieden sein."); B V e r w G 1, 48 (52); 2, 295 u.a. bis 7, 125 (139) („Begrenzung" sämtlicher Freiheitsrechte durch die sogenannte „Gemeinschaftsklausel" : nach dieser darf ein Grundrecht dann nicht i n Anspruch genommen werden, „ w e n n dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet werden". — Das Gericht verkennt hierbei allerdings das Verhältnis dieser Klausel zu A r t . 19 Abs. 2 G G ; vgl. hierzu unten I V . A n m . 1). Vgl. ferner etwa BVerfG 7, 198 (Lüth-Urteil) u n d 7, 230 (Abgrenzung der Meinungsfreiheit gegenüber sonstigen Interessen). Schließlich ist i n diesem Zusammenhang auch auf das bekannte Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 7, 377) hinzuweisen. Diese Entscheidung

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die Vereinigten Staaten 38 —, sondern w i r d auch deutlich, wenn man Entstehungsgeschichte und Entwicklung des § 904 BGB betrachtet. 30 Freilich bedeutet jener elementare Satz, auf den sowohl die „Gemeinwohlklausel" (Huber, Nipperdey) als auch die „Gemeinschaftsklausel" (BVerwG) hinausläuft, noch keine Lösung der Probleme — ist dieser Satz doch völlig formal. 4 0 I n jedem Konfliktsfall stellt sich ja sofort die Frage: Welches von den kollidierenden Interessen ist gegenhat m i t den Grundrechts-„Grenzen" zwar scheinbar nichts zu tun. Denn das BVerfG p r ü f t dort j a nur, welche Grenzen f ü r die gesetzliche Hegelungsbefugnis der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) bestehen. Praktisch behandelt das Gericht damit aber — von einem anderen Ausganspunkt her — die gleiche Frage, u m die es auch bei den Grundrechts-„Grenzen" geht, nämlich die Frage nach dem Geltungsbereich der Grundrechtsnormen (vgl. hierzu oben I. A n m . 26). Bekanntlich hat das BVerfG (7, 404 ff.) versucht, diese Frage m i t Hilfe des Prinzips der Güterabwägung u n d der Verhältnismäßigkeit zu lösen. Das Ergebnis sind die „Stufentheorie" u n d das „Differenzierungsgebot". Das Gericht hätte das gleiche Ergebnis auch auf einem anderen, direkteren Wege erreichen können: nämlich w e n n es die Freiheit der Berufswahl nicht dem Gesetzesvorbehalt des A r t . 12 I unterstellt, sondern sie statt dessen als Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt aufgefaßt hätte (vgl. Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2, 1962, S. 813). Dann wäre es genötigt gewesen, jenen obengenannten elementaren Satz, der dem Apothekenurteil praktisch zu Grunde liegt, auch theoretisch stärker herauszuarbeiten. 38 Siehe oben I. A n m . 28. 39 „ I n der zweiten BGB-Kommission beschloß die Mehrheit, die »rechtmäßige 4 Notstandshandlung ,auf Sachgüter zu beschränken', während ,gegen den A n g r i f f eines Anderen auf Leib, Leben, Ehre u n d Freiheit unter allen Umständen Notwehr stattfinden müsse' (Mugdan, Materialien, Bd. 1, S. 804). M a n v e r w a r f damit ,allseitig' den von einem Antragsteller vertretenen Gedanken, ,ein jedes Recht trage schon i n sich selbst die Beschränkung, daß es n u r insoweit ausgeübt u n d verteidigt werden dürfe, als es nicht m i t einem anderen, höher zu wertenden Rechtsgute i n Widerspruch treten würde, hinter dem es nach dem allgemeinen U r t e i l zurückstehen müsse' (a.a.O.). Die unausweichliche, naturrechtliche Richtigkeit dieses Gedankens erwies dann aber die Folgezeit, indem sie jenes Stück legalisierten Liberalismus zugunsten des »Grundsatzes der Güter- u n d Pflichtenabwägung' einfach beiseite schob. V o n hier aus verkündete das R G selbst neben aller »geschriebenen' Rechtsordnung einen ,übergesetzlichen' Notstand dahin, daß i m Falle des Widerstreits von Pflichten oder Rechtsgütern ,die höhere Pflicht auf Kosten der minder hohen zu erfüllen ist' u n d ,das geringerwertigere Gut dem höherwertigen weichen muß' (RG v. 11. März 1927, RGSt. 61, S. 242 f., 254)" (Fritz v. Hippel, Richtlinie und Kasuistik i m A u f b a u von Rechtsordnungen, 1942, S. 22, A n m . 23; jetzt auch abgedruckt i n v. Hippel, Rechtstheorie u n d Rechtsdogmatik (1964) S. 149 ff. (167). Vgl. auch E. Kaufmanns Hinweis, die Rechtsnorm, auf der das Notrecht beruhe, sei „keine i m formellen Sinne gesetzliche', sondern von der Gerichts- u n d Verwaltungspraxis aus der ,Natur der Sache' entwickelt." (Gesammelte Schriften Bd. 1, 1960, S. 459). — I m übrigen ist die somit gegebene „ R e l a t i v i t ä t " der Rechte insbes. i m Zusammenhang m i t der Lehre v o m „Rechtsmißbrauch" betont worden: vgl. etwa Josserand, De l'esprit des droits et de leur relativité, Théorie dite de l'abus des droits (1927); Wolfgang Siebert, V o m Wesen des Rechtsmißbrauchs (1935) S. 18 (mit z. T. freilich zeitbedingten Formulierungen). Soergel-Siebert, B G B (9. Aufl. 1959) § 242 Ziff. 110 ff. 40 Hierauf ist wiederholt hingewiesen worden. „Es liegt nicht mehr als eine Leerformel vor, deren Gehaltlosigkeit geradezu Voraussetzung für ihre generelle Geltung ist. Eine w i r k l i c h hilfreiche Auslegungsregel ist damit nicht

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ü b e r d e m (oder den) a n d e r e n als h ö h e r w e r t i g anzusehen? E i n e A n t w o r t auf diese Frage, die e i g e n t l i c h e „ c r u x " des ganzen P r o b l e m s , k a n n k e i n f o r m a l e r Satz geben. E i n e A n t w o r t k a n n n u r auf G r u n d einer B e w e r t u n g d e r j e w e i l i g e n Interessen g e f u n d e n w e r d e n . E i n e solche B e w e r t u n g setzt W e r t m a ß s t ä b e voraus. U m diese z u g e w i n n e n , m u ß m a n eine H a n g f o l g e der verschiedenen Interessen a u f z e i g e n . 4 0 0 Das versuchen n u n die (oben S. 23 ff.) d a r g e s t e l l t e n T h e o r i e n , die a u f d e n T r i a s v o r b e h a l t des A r t . 2 1 (Rechte anderer, verfassungsmäßige O r d n u n g u n d Sittengesetz) z u r ü c k g r e i f e n . N a c h A n s i c h t dieser T h e o r i e n k e n n z e i c h n e n d i e i n A r t . 2 I g e b r a u c h t e n B e g r i f f e d i e j e n i g e n Interessen, die gegenüber d e n ( i n d e n e i n z e l n e n G r u n d r e c h t s n o r m e n genannten) Freiheitsinteressen den V o r r a n g haben.41 Diese A n s i c h t m u ß jedoch i n F r a g e gestellt w e r d e n . D e n n j e n e B e g r i f f e h a b e n k e i n e n e i n d e u t i g e n , o h n e w e i t e r e s ablesbaren I n h a l t . Das g i l t insbesondere f ü r d e n B e g r i f f „ v e r f a s s u n g s m ä ß i g e O r d n u n g " , d e r nach w i e v o r höchst u m s t r i t t e n i s t 4 2 — w o b e i das E l f e s u r t e i l ( B V e r f G 6, gegeben. Es w i r d v o m Gesetzgeber auf den Richter verwiesen, der n u n nach seinem Ermessen die Leerformel praktikabel zu machen versucht; nach w e l chen Richtlinien dies aber zu geschehen habe, w i r d i h m nicht gesagt. Das Problem ist also verlagert u n d beschrieben, aber nicht gelöst" (von Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden u n d Prinzipien der Grundrechtsauslegung i n der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 2 (1963) S. 448 unter Verweis auf Forsthoff (C. Schmitt-Festschrift, 1959, S. 41), Ernst von Hippel (Das Problem des fehlerhaften Staatsaktes, 2. Aufl. 1960, S. 140 ff.) und Z i p pelius, Wertungsprobleme i m System der Grundrechte, 1962, S. 77). 40a Die Bestimmung der insoweit erforderlichen „Wertskala" bezeichnet J. M a r i t a i n i m Hinblick auf eine internationale E r k l ä r u n g der Menschenrechte als den „entscheidenden Punkt, an dem die Schwierigkeiten u n d Auseinandersetzungen einsetzen." Er weist darauf hin, daß die Verfechter verschiedenster Gesellschaftsordnungen — der liberalen, der kommunistischen, der genossenschaftlichen — „ähnliche, j a sogar gleiche Aufstellungen der Menschenrechte zu Papier bringen." Aber, wie er sogleich anschließend feststellt, „ i n der A n wendung dieser Rechte weichen sie voneinander ab. Alles hängt von dem höchsten Wert ab, von dem alle diese Rechte abhängen, wenn sie unter gegenseitiger Abgrenzung i n ein System gebracht werden sollen." U n d da die A n sichten über jenen höchsten Wert weit auseinander gingen, dürften w i r uns „nicht allzuviel von einer internationalen E r k l ä r u n g der Menschenrechte versprechen" (Maritain, i n : U m die E r k l ä r u n g der Menschenrechte, ein Symposion, 1951, S. 20 ff.). 41 „Der ,Soweit'-Satz liefert i n diesen Fällen Auslegungsmaßstäbe für Gemeinschaftswerte, die von der Verfassung als Bindungen der individuellen Freiheit vorausgesetzt werden" (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 4). 42 Siehe etwa Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 17; Nipperdey, i n : Die G r u n d rechte TV/2 (1962) S. 741 ff. (788 ff.). Der umstrittene Begriff gewinnt auch nicht dadurch einen leichter faßbaren Inhalt, daß man auf die „Sozialstaatsklausel" (Art. 20, 28) verweist. „Denn auch die Schranken des A r t . 2 I sind K o n k r e t i sierungen des Sozialstaatsprinzips" (Bachof, Freiheit des Berufs, i n : Die Grundrechte, I I I / l , 1958, S. 167, A n m . 47). Der Verweis auf die Sozialstaatsklausel ist hier i m Grunde also nicht mehr als ein Appell, einen sachgerechten Ausgleich zwischen individueller Freiheit u n d den Interessen der Allgemeinheit zu suchen.

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32) d i e L a g e noch k o m p l i z i e r t h a t 4 3 — , aber auch f ü r d e n B e g r i f f „ S i t t e n g e s e t z " . 4 4 Ja, selbst d i e „ R e d i t e a n d e r e r " , e i n Begriff, d e r noch a m ehesten k l a r b e s t i m m b a r erscheint, sind, w i e e t w a das L ü t h u r t e i l ( B V e r f G 7, 198) zeigt, n i c h t e t w a s einfach Vorgegebenes, a b s o l u t F e s t stehendes. 4 5 B e i s ä m t l i c h e n d r e i B e g r i f f e n m u ß also — j e d e n f a l l s i n d e n k r i t i s c h e n G r e n z f ä l l e n — der I n h a l t erst noch e r m i t t e l t w e r d e n . P r a k t i s c h w i r d diese I n h a l t s e r m i t t l u n g d a r a u f h i n a u s l a u f e n , daß m a n i n d i e B e g r i f f e zunächst „ t e l e o l o g i s c h " das h i n e i n s t e c k t , w a s m a n i h n e n d a n n anschließend entnehmen w i l l . 4 6 V o n h i e r aus m u ß e i n m a l o f f e n die F r a g e g e s t e l l t w e r d e n , ob der R ü c k g r i f f a u f d i e „ S c h r a n k e n t r i a s " des A r t . 2 A b s . I 4 7 w i r k l i c h w e i t e r f ü h r t u n d m e h r als e i n e n b l o ß psychologischen ( B e r u h i g u n g s - ) W e r t h a t . 4 8 4a Der Begriff w i r d n u n nämlich verschieden ausgelegt, je nachdem, ob es sich u m seine Bedeutung i m Rahmen des A r t . 2 handelt oder u m seine „zusätzliche Bedeutung" für die „Schrankensystematik aller Grundrechte" (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 69). 44 Vgl. B V e r f G 6, 434 = N J W 57, 867 f. — das B V e r f G n i m m t dort erstmals zu dem Begriff Stellung (Homosexualität verstößt gegen das „Sittengesetz"); B V e r w G 1, 303 (307); Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 16; Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2 S. 819 ff. 45 „Geht es doch eben darum, w i e w e i t sich diese Rechte gegenüber den »ersten' Rechten durchzusetzen vermögen" (P. Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, 1961, S. 126 f.; s. auch S. 295 daselbst). Aufschlußreich hierzu neben dem L ü t h u r t e i l (BVerfG 7, 198) etwa B V e r f G 7, 230. Das B V e r f G entschied dort, ein Mieter sei nicht berechtigt, ohne Zustimmung des Eigentümers Wahlpropaganda-Plakate an der Außenfront der Mietwohnung anzubringen. „Die hohe Bedeutung, die dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, namentlich auf freie Äußerung der politischen Meinung, i n der freiheitlichen Demokratie zukommt, hat nicht zur Folge, daß man seine Meinung i n jeder F o r m und m i t jedem M i t t e l äußern dürfte" (S. 234 a.a.O.). „Denn auch das Eigentum ist i m m e r h i n grundrechtlich geschützt, u n d es müssen gewichtige Interessen entgegenstehen, w e n n die natürlichen Eigentümerbefugnisse zurücktreten sollen" (S. 235 a.a.O.). Zugleich hat das B V e r f G aber zu erkennen gegeben, daß der Interessenkonflikt w o h l grundsätzlich anders zu beurteilen ist, soweit Mieter Flaggen, Teppiche, Blumen, Kerzen u n d religiöse B i l d werke bei entsprechendem Anlaß als Bekundung bestimmter weltanschaulicher oder religiöser Überzeugung außen an den Mietwohnungen anbringen (S. 238 a.a.O.). Vgl. auch Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2 (1962) S. 741 ff. (787 f.). 46 Vgl. hierzu die folgende E r k l ä r u n g : „Aus dem ,Soweit'-Satz dürfen n u r solche Bindungswerte entnommen werden, ohne die i m sozialen Bereich schlechthin keine Freiheit anerkannt werden kann. Es k a n n sich n u r u m Werte handeln, deren Nichtbeachtung jegliche Freiheit paralysiert, also u m M i n i m a l w e r t e eines störungsfreien, schaden- u n d gefahrlosen Gemeinschaftslebens" (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 4 a.E.; s. auch A r t . 17a Rdnr. 16 f. daselbst). Ebenso Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2 S. 818 f. 47 Den unterlassen zu haben ζ. B. Bachof dem B V e r w G („Gemeinschaftsklausel") vorgeworfen hat (JZ 1957, 337 Nr. 13). 48 Vgl. hierzu Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 70 ff. D ü r i g p r ü f t dort zunächst die verschiedenen Wege „zur Aufdeckung dieser für jedes Grundrecht . . .

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I m ü b r i g e n ist z u diesem P u n k t e noch folgendes z u b e m e r k e n : Selbst w e n n d e r I n h a l t d e r d r e i B e g r i f f e a b s o l u t feststünde, w ä r e doch d u r c h e i n e n V e r w e i s a u f diese B e g r i f f e n i c h t a l l z u v i e l g e w o n n e n . D e n n d i e Frage, ob e i n b e s t i m m t e s F r e i h e i t s i n t e r e s s e e i n e m a n d e r e n Interesse u n t e r z u o r d n e n ist, k a n n n i c h t pauschal entschieden w e r d e n . Sie m u ß f ü r jedes G r u n d r e c h t gesondert g e p r ü f t w e r d e n . U n d n i c h t g e n u g d a m i t : f ü r jedes einzelne G r u n d r e c h t ist eine w e i t e r e D i f f e r e n z i e r u n g e r f o r derlich, umfassen doch d i e e i n z e l n e n G r u n d r e c h t e r e g e l m ä ß i g m e h r e r e Befugnisse, d i e a n B e d e u t u n g u n d S c h u t z w ü r d i g k e i t sehr verschieden sein k ö n n e n . 4 9 Es k o m m t also b e i d e r I n t e r e s s e n a b w ä g u n g sehr a u f d i e U m s t ä n d e des e i n z e l n e n F a l l e s an. D a m i t s o l l n i c h t gesagt w e r d e n , daß m a n ü b e r h a u p t d a r a u f v e r z i c h t e n sollte, eine R a n g o r d n u n g d e r v e r schiedenen Interessen h e r a u s z u a r b e i t e n . Ganz i m G e g e n t e i l ! Gerade h i e r l i e g t eine w i c h t i g e wissenschaftliche A u f g a b e . A b e r sie k a n n n u r a u f G r u n d genauer P r ü f u n g d e r verschiedenen d e n k b a r e n F ä l l e u n d auf G r u n d s o r g f ä l t i g e r A b s t u f u n g nach t y p i s c h e n F a l l g r u p p e n gelöst w e r d e n — n i c h t h i n g e g e n d u r c h schematisch-allgemeine Thesen u n d D e d u k t i o n e n ( e t w a n a c h d e m M o t t o : e i n b e s t i m m t e s G r u n d r e c h t h a b e stets d e n V o r r a n g v o r e i n e m a n d e r e n ) 5 0 . Selbst der recht p l a u s i b e l k l i n g e n d e geradezu selbstverständlichen Schranken" u n d lehnt die Klausel des B V e r w G i m Anschluß an Bachof (JZ 1957, 337 Nr. 13) als „mehr oder minder frei u n d w i l l k ü r l i c h " geprägt ab. Er erklärt sodann: „Die i m folgenden angewendete Methode besteht darin, i m Wege der Auslegung des Art. 2 I, 2. Halbsatz drei primitive NichtStörungsschranken aufzufinden . . . Die hier eingeschlagene Methode ist verfassungstreu u n d w o h l sogar verfassungstexttreu". I m gleichen Sinne meint Bachof, die (von i h m kritisierte) Gemeinschaftsklausel des B V e r w G könne „ i n der Rechtsgüter trias des A r t . 2 I nicht n u r ihre Rechtfertigung, sondern zugleich auch ihre (notwendige!) Begrenzung finden" (Freiheit des Berufs, i n : Die Grundrechte I I I / l , 1958, S. 167, A n m . 47; auf S. 207 a.a.O. erk l ä r t es Bachof dann allerdings für sekundär, auf welche Weise man die Gemeinschaftsbezogenheit der Grundrechte begründe). Nipperdey hat sich D ü r i g u n d Bachof angeschlossen (in: Die Grundrechte IV/2 S. 818 f.). — Daß man auch ohne Rückgriff auf die Schrankentrias des A r t . 2 I gewisse elementare „Grenzen" der Grundrechte aufzeigen kann, hat übrigens D ü r i g selbst i n AöR 79 (1953) 57 ff. (74 ff.) dargelegt. Das gleiche zeigt auch ein Blick auf die amerikanische Rechtsprechung. Bekanntlich garantiert die US-Verfassung die Grundrechte ohne ausdrückliche Vorbehalte. Gleichwohl setzt der US Supreme Court als selbstverständlich voraus, daß keines der Freiheitsrechte v ö l l i g absolut sein kann. Er hat dies sowohl für die eigentlichen Freiheitsrechte (Adkins v. Childrens Hospital, 261 U. S. 525, 1923) als auch für die Eigentumsu n d Vertragsrechte (Nebbia ν. New York, 291 U. S. 502, 1934) ausgesprochen (angegeben bei Loewenstein, Jahrb. d. öff. Rechts N. F. 4, 131). 49 Siehe hierzu unten S. 60. 50 Insoweit hat etwa Koebel (JZ 1961, 521, 524 f.) berechtigte Bedenken gegen die verallgemeinernden Sätze angemeldet, die W. Leisner (Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 391 ff.) zur Lösung von „Grundrechtskollisionen" aus dem System der Gesetzesvorbehalte entwickelt hat. Kritisch ferner etwa Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, 1961, S. 125. Vgl. auch Koebel, JZ 1963, 188 ff. (Besprechung der Rechtsgutachten von A d o l f Schüle u n d Hans Huber über das Thema „Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit", Tübingen 1961).

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Satz „ U n s t r e i t i g h a t d i e E n t f a l t u n g s f r e i h e i t w e r t m ä ß i g V o r r a n g (,Präponderanz') v o r d e m G l e i c h h e i t s g r u n d s a t z , u n d ist d e n P e r s o n e n w e r t e n stets V o r r a n g v o r d e n S a c h g ü t e r w e r t e n z u z u e r k e n n e n " 5 1 m u ß deshalb kritisch überprüft werden.52 D a b e i geben die ü b e r k o m m e n e n N o r m e n , d i e L e h r e u n d d i e reiche J u d i k a t u r sowie eine rechtsvergleichende B e t r a c h t u n g w i c h t i g e H i n weise f ü r d i e I n t e r e s s e n b e w e r t u n g . 5 3 A n d e r e r s e i t s müssen f r e i l i c h gerade manche überkommenen N o r m e n u n d Ansichten daraufhin überp r ü f t w e r d e n , ob d i e i h n e n z u g r u n d e l i e g e n d e n W e r t u n g e n h e u t e noch als g ü l t i g a n e r k a n n t w e r d e n k ö n n e n . 5 4 I m f o l g e n d e n sollen einige F ä l l e die P r o b l e m a t i k veranschaulichen u n d verdeutlichen: K ö n n e n Fronleichnamsprozessionen i n Gemeinden m i t v o r w i e g e n d protestantischer B e v ö l k e r u n g v e r b o t e n w e r d e n m i t d e r B e g r ü n d u n g , sie v e r l e t z t e n die r e l i g i ö s e n G e f ü h l e d e r B e v ö l k e r u n g s m e h r h e i t u n d d a m i t den konfessionellen Frieden? 55 K a n n d i e P o l i z e i eine Prozession auflösen oder v o n v o r n h e r e i n u n t e r sagen, w e i l sie d e n V e r k e h r stört? K a n n sie d e m P r e d i g e r einer Religionsgemeinschaft, d e r i n e i n e m ö f f e n t l i c h e n P a r k sprechen w i l l , d e n G e b r a u c h eines (die A n l i e g e r störenden) Lautsprechers u n t e r s a g e n ? 5 6 51 Nipperdey, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, i n : Die Grundrechte IV/2 (1962) S. 741 ff. (765). D ü r i g v e r t r i t t für das Verhältnis von Entfaltungsfreiheit u n d Gleichheitsgrundsatz dieselbe Ansicht (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 2), äußert sich aber i m übrigen zurückhaltender: „ M a n w i r d zur Lösung derartiger Grundrechtsantonomien als Faustregel aufstellen müssen: Persongutw e r t geht vor Sachgutwert" (Dürig, Grundrechtsverwirklichung auf Kosten von Grundrechten, i n : Summum lus, Summa I n i u r i a (1963) S. 84). 52 Vgl. E. Scheffler, Ehe und Familie, i n : Die Grundrechte I V / 1 (1960) S. 245 ff. (275); Zippelius, Wertungsprobleme i m System der Grundrechte (1962) S. 45. — Vgl. allgemein zu dem Problem: Hubmann, Grundsätze der I n t e r essenabwägung, AcP 155 (1956) S. 85 ff. (89 ff.). 53 D ü r i g hat zutreffend auf die Bedeutung der Verbotsnormen des Strafrechts (einschließlich des Nebenstrafrechts) u n d auf die umfangreiche überkommene Rechtsprechung zur polizeilichen Generalklausel hingewiesen (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 76 ff., 80 ff.). Seine Auslegung des i n A r t . 2 I gebrauchten Begriffs „verfassungsmäßige Ordnung" (vgl. oben S. 25 A n m . 11) soll j a gerade den Rückgriff auf die dort bereits entwickelten Wertungsgesichtspunkte ermöglichen (vgl. Rdnr. 84). 54 Der Hinweis von Dürig, „daß . . . der 29. Abschnitt (Übertretungen) des StGB i m Hinblick auf die Grundrechte . . . einer verfassungsrechtlichen Durchkämmung bedarf" (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 79), ist also von allgemeiner Bedeutung. So müssen etwa alle die Berufsfreiheit beeinträchtigenden vorkonstitutionellen Normen, insbes. solche, die eine Bedürfnisprüfung v o r schreiben, auf ihre Vereinbarkeit m i t A r t . 12 GG überprüft werden (s. insoweit das Apothekenurteil BVerfG 7, 377). 55 Bejaht v o m Thür. OVG (Gutachten v o m 3. 9. 1947, Jahrb. 18 (1948) S. 243 ff.); zustimmend Drews-Wacke, Allgem. Polizeirecht, 7. Aufl. 1961, S. 78, 135. Diese Ansicht dürfte aber i m Hinblick auf die Wertentscheidung des A r t . 4 heute k a u m mehr haltbar sein (vgl. B V e r f G 12, 1). 5β Verneint v o m US Supreme Court i n Saia ν. New York, 334 U. S. 558 (1948).

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I s t eine Stadt, d i e d e n H a n d e l m i t B ü c h e r n n u r gegen eine G e b ü h r z u l ä ß t , berechtigt, auch v o n m i s s i o n i e r e n d e n Z e u g e n Jehovas f ü r d e n V e r k a u f r e l i g i ö s e r S c h r i f t e n eine L i z e n z g e b ü h r z u v e r l a n g e n ? 5 7 S t ö r t e i n Zeuge Jehovas d i e ö f f e n t l i c h e O r d n u n g , w e n n er k a t h o l i s c h e n Straßenpassanten a u f e i n e r G r a m m o p h o n p l a t t e eine Hede v o r s p i e l t , die beleidigende Ä u ß e r u n g e n über die katholische K i r c h e enthält?58 S i n d M i t g l i e d e r e i n e r R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t s t r a f b a r , w e n n sie einen Gottesdienst i n e i n e m ö f f e n t l i c h e n P a r k a b h a l t e n , o b w o h l i h n e n d i e beantragte Erlaubnis hierfür verweigert worden ist?59 D a r f d i e P o l i z e i die A u f f ü h r u n g eines so u m s t r i t t e n e n F i l m s w i e „ D i e Sünderin" unterbinden?60 57 V o m US Supreme Court zunächst bejaht i n Jones v. Opelika 316 U. S. 584 (1942) m i t der Begründung, durch die Erhebung einer verhältnismäßig geringen Gebühr werde die freie Ausübung der Religion nicht unzulässig eingeschränkt. Wenn die Anhänger einer Religionsgemeinschaft kommerzielle M e thoden anwendeten, u m Geld für ihre Zwecke zu beschaffen, so sei es nicht unbillig, daß sie insoweit ebenso w i e andere Gewerbetreibende behandelt würden. — Aber schon ein Jahr später vertrat die Mehrheit i n einer 5 ^ » E n t scheidung die Ansicht, der Vertrieb religiöser Broschüren durch missionierende Zeugen Jehovas dürfe als religiöse Tätigkeit nicht durch eine Lizenzgebühr behindert werden (Murdock v. Pennsylvania, 319 U. S. 105 — 1943). 58 Der US Supreme Court hat i n diesem Falle auf G r u n d einer Interessenabwägung („free exercise of religion" contra „state . . . interest i n the preservation and protection of peace and good order") entschieden, der Zeuge Jehovas sei keines „Friedensbruches" („breach of the peace") schuldig — Cantw e l l v. Connecticut, 310 U. S. 296 (1940). 59 Verneint i n Niemotko v. Maryland, 340 U. S. 268 (1951); bejaht hingegen i n Poulos von New Hampshire, 345 U. S. 395 (1952). 60 Bejaht von L V G Rheinland-Pfalz V R 4, 733 = D Ö V 1952, 664 (mit ausführlicher Begründung) — auf S. 668 Ziff. 3 werden I n h a l t u n d Darstellungsart des Filmes beschrieben — ; ebenso L V G Münster, Beschl. v. 24. 5.1952 — I L 57/52 — (nicht veröffentlicht). Hingegen verneint v o m O V G Lüneburg, DVB1. 1953, 83 = N J W 1953, 237. — Sämtliche Gerichte gingen davon aus, die A u f führung von F i l m e n werde durch das Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 5) geschützt; aber zu den „allgemeinen Gesetzen", durch die jenes Recht begrenzt werde, gehöre auch die polizeiliche Generalklausel. — Das B V e r w G hielt (insoweit das U r t e i l des OVG Lüneburg bestätigend) das polizeiliche Verbot für unzulässig (BVerwG 1, 303 = J Z 1955, 345 = N J W 1955, 1203). I m Gegensatz zu den anderen Gerichten ging es davon aus, ein (nicht n u r berichterstattender) Spielfilm sei durch A r t . 5 I I I (Freiheit der Kunst) geschützt. Diese unterliege nicht den „Schranken" der polizeilichen Generalklausel, finde aber „dort ihre Grenze, wo ihre Inanspruchnahme ein anderes G r u n d recht verletzen oder Rechtsgüter, die für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendig sind, gefährden würde". Z u diesen Rechtsgütern gehöre zwar auch das „Sittengesetz i m Sinne der allgemeinen grundlegenden Anschauungen über die ethische Gebundenheit des einzelnen i n der Gemeinschaft". Zudem schütze A r t . 6 Ehe u n d Familie. „Das bedeutet aber nicht, daß das Grundgesetz Darstellungen der Kunst ausschließt, die Vorgänge zum Gegenstand haben, welche von dem Sittengesetz m i ß b i l l i g t werden, moralisch ungesund oder unter Strafe gestellt sind oder von den herkömmlichen Anschauungen über Ehe u n d Familie abweichen; denn durch eine bloße Darstellung solcher Vorgänge werden diese Rechtsgüter nicht untergraben." Der F i l m be-

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D a r f sie e i n M i t t e i l u n g s b l a t t beschlagnahmen, das f ü r die k o m m u n i stischen „ W e l t f e s t s p i e l e " w i r b t ? 6 1 D a r f sie gegen d e n V e r t r i e b v o n G u m m i s c h u t z m i t t e l n d u r c h S t r a ß e n automaten einschreiten?62 D a r f sie „ D a m e n r i n g k ä m p f e "

verbieten?63

D a r f sie a u f G r u n d e i n e r v o n höchster S t e l l e a n g e o r d n e t e n „ S t a a t s t r a u e r " ö f f e n t l i c h e T a n z v e r a n s t a l t u n g e n untersagen? Solche u n d ä h n l i c h e F ä l l e h a b e n deutsche u n d a m e r i k a n i s c h e G e r i c h t e beschäftigt. U n d i n fast a l l e n g e n a n n t e n F ä l l e n s i n d verschiedene A n s i c h t e n h a r t a u f e i n a n d e r g e p r a l l t . Es zeigt sich h i e r , w i e w e n i g a l l g e m e i n e F o r m e l n w e i t e r h e l f e n u n d w i e n ö t i g es ist, b e i d e r Interessena b g r e n z u n g nach t y p i s c h e n F a l l g r u p p e n z u d i f f e r e n z i e r e n . Das P r o b l e m d e r I n t e r e s s e n a b g r e n z u n g — die Frage, ob u n d i n w i e w e i t b e s t i m m t e F r e i h e i t s i n t e r e s s e n geschützt w e r d e n k ö n n e n — s t e l l t sich aber n i c h t n u r i m V e r h ä l t n i s des E i n z e l n e n z u r ö f f e n t l i c h e n G e w a l t , s o n d e r n auch i m V e r h ä l t n i s der P r i v a t p e r s o n e n u n t e r e i n a n d e r . 6 4 schränke sich auf eine Darstellung solcher Vorgänge u n d verherrliche diese nicht (BVerwG 1, 307). 61 Bejaht v o m 3. Zivilsenat des B G H i n der umstrittenen Entscheidung v o m 1. 2. 1954 ( B G H 12. 197). Kritisch insoweit insbes. Beyer, N J W 1954, 713 (vgl. auch Zeidler, N J W 1954, 1068; Löffler, D Ö V 1957, 899); demgegenüber i m ganzen verteidigend D ü r i g (Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 81 S. 73 Anm. 1). 62 Diese umstrittene Frage ist inzwischen durch § 41a GewO, der den V e r kauf von Schutzmitteln durch Außenautomaten an öffentlichen Wegen, Straßen u n d Plätzen verbietet, gegenstandslos geworden. Z u der vorher bestehenden Kontroverse s. die Angaben bei Drews-Wacke, Allgem. Polizeirecht, 7. Aufl. 1961, S. 81. Während der B G H die Ansicht vertreten hatte, es verstoße schlechthin gegen Sitte u n d Anstand, Schutzmittel durch Straßenautomaten anzubieten (BGH M D R 1959, 503 = N J W 1959, 1092; B G H D Ö V 1960, 186), schien das B V e r w G einer Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles zuzuneigen (BVerwG 10, 164 = D Ö V 1960, 426 = DVB1. 1960, 482). 63 Grundsätzlich verneinend Württ.-Bad. V G H V R 2, 71 = DVB1. 1950, 26 = D Ö V 1949, 476: es sei nicht Aufgabe der Polizei, gegen bloße Geschmacklosigkeiten einzuschreiten, w e n n durch sie nicht die Sittlichkeit verletzt werde, zumal wenn solche Darbietungen nicht i n aller Öffentlichkeit, sondern i n geschlossenen, n u r gegen Eintrittsgeld zugänglichen Räumen stattfänden; zustimmend Drews-Wacke, Allgem. Polizeirecht, 7. Aufl. 1961, S. 84. 64 Das Zivilrecht hatte sich m i t dieser Frage auseinanderzusetzen, lange bevor „Grundrechte" verfassungsmäßig garantiert waren u n d m a n über eine „ D r i t t w i r k u n g " der Grundrechte streiten konnte. Die Prüfung der früheren Theorie u n d Praxis würde ergeben, daß das Zivilrecht die heute i n den G r u n d rechtsnormen genannten Freiheitsinteressen (Glaubens-, Meinungs-, Berufs-, Eigentumsfreiheit usw.) schon lange v o r der Garantie von „Grundrechten" als bedeutsam u n d schutzwürdig anerkannt hat. [So stellt ζ. B. selbst W. Leisner, ein Hauptbefürworter unmittelbarer „ D r i t t w i r k u n g " , fest, auf A r t . 4 berufe sich die Rechtsprechung kaum, w e i l sie meist, i n Fortsetzung der bisherigen religiösen Bereichsschutzlehre, zu grundrechtsgemäßen Ergebnissen gelangen könne (Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 344)]. — Freilich ist es verständlich, daß nun, nachdem die Verfassung diese Interessen durch den

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I I I Die „Grenzen" der Grundrechte

So fragt sich etwa: Muß eine Lernpflegerin, die i n einer Heilanstalt ausgebildet wird, i m Falle ihrer Verheiratung die Stelle aufgeben, wenn sie bei ihrer Einstellung eine entsprechende Verpflichtung übernommen hat? 6 5 Darf der Leiter einer Pressestelle unter Hinweis auf Veit Harlans Vergangenheit (Regisseur des „Jud Süß") zum Boykott seiner Nachkriegsfilme auffordern? 66 Ist ein Mieter berechtigt, an der Außenfront seiner Mietwohnung Wahlpropagandaplakate anzubringen? 67 Muß ein katholischer Anstreicher, der jahrzehntelang i n einem katholischen Krankenhaus gearbeitet hat und Kündigungsschutz genießt, sich eine Kündigung gefallen lassen, weil er, nachdem seine erste Ehe aus Alleinverschulden der Frau geschieden worden war, eine evangelische Hausangestellte geheiratet hat? 6 8 Liegt darin, daß jemand trotz des Widerspruches seines Ehegatten seine Religionszugehörigkeit wechselt, eine „schwere Eheverfehlung" i. S. des § 43 EheG? 69 Sobald man die Diskussion, die sich allzu leicht i m abstrakten Raum verliert, auf der Grundlage solcher typischen Fälle führt, w i r d vieles klarer. Und es w i r d sich dann wohl auch schnell zeigen, daß die (oben S. 23 ff.) dargestellten einander widerstreitenden Theorien sich i m Ergebnis weithin einig sind. Eines aber steht schon jetzt fest: Selbst wenn es durch sorgfältige Einzeluntersuchungen gelingen sollte, die Rangverhältnisse der verschiedenen denkbaren Interessen — nach typischen Fallgruppen differenziert — i n ihrer ganzen Vielfalt sichtbar zu machen, bliebe doch jener elementare formale Satz 70 der notwendige Ausgangspunkt für jede zu treffende Entscheidung. Und deshalb ist es durchaus legitim, ja notwendig, diesen Ausgangspunkt als solchen offen zu kennzeichnen. Grundrechtskatalog i n ihrer Bedeutung besonders herausgehoben hat, auch der Zivilrechtler bei seinen Wertungen gerne ausdrücklich auf die Grundrechte verweist. Deshalb braucht man aber nicht von einer „ D r i t t w i r k u n g " der Grundrechte zu sprechen (Vgl. hierzu etwa Raiser, JZ 1959, 421; Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, i n : Festschrift Deutscher Juristentag I (1960) S. 135 ff. (141); Koebel, Grundrechte u n d Privatrecht, J Z 1961, 521, 525). 65 Verneint von B A G 4, 274 = N J W 1957, 1688. 68 V o m B V e r f G bejaht i m „ L ü t h u r t e i l " (BVerfG 7, 198). 87 Verneint v o m B V e r f G 7, 230 (siehe oben Anm. 45). 68 Bejaht v o m B A G i n dem umstrittenen „Anstreicherurteil" ( B A G 2, 279 =* A P Nr. 15 zu § 1 KSchG m i t abl. A n m . von Frey u n d Neumann-Duesberg). Ablehnend Ennecc.-Nipperdey, B G B I 1 (1959) S. 104 A n m . 114 (mit weit. Nachweisen). 09 Grundsätzlich verneint von B G H 38, 317 u n d B V e r f G JZ 1964, 363 (Beschluß v o m 7. 4. 1964). Siehe hierzu näher Müller-Freienfels, J Z 1964, 305 ff. (308). 70 „Jede Grundrechtsnorm gilt nur, wenn u n d soweit dem geschützten Freiheitsinteresse keine höherwertigen Interessen (Rechtsgüter) entgegenstehen."

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N i c h t s anderes t u t i m G r u n d e d i e v i e l g e s c h o l t e n e 7 1 „ G e m e i n s c h a f t s k l a u s e l " des B V e r w G . 7 2 W i e schon b e t o n t w o r d e n ist, k a n n eine solche f o r m a l e K l a u s e l n a t ü r l i c h k e i n e Z a u b e r f o r m e l sein, m i t d e r e n H i l f e sich W e r t u n g s f r a g e n lösen lassen. A b e r sie bezeichnet w e n i g s t e n s k l a r d i e F r a g e s t e l l u n g , v o n d e r j e d e T h e o r i e ausgehen m u ß . D i e e i g e n t l i c h e A r b e i t , n ä m l i c h d i e K o n k r e t i s i e r u n g d e r F o r m e l , ist d a n n f r e i l i c h noch zu leisten. Sie h a t nach d e n gleichen G r u n d s ä t z e n z u erfolgen, d i e f ü r d i e K o n k r e t i s i e r u n g sonstiger G e n e r a l k l a u s e l n gelten. Es v e r s t e h t sich danach v o n selbst, daß die e r f o r d e r l i c h e n W e r t m a ß s t ä b e n i c h t d e m B e l i e b e n d e r j e w e i l i g e n U r t e i l e r a n h e i m g e g e b e n sind. D i e M a ß s t ä b e f ü r d i e I n t e r e s s e n b e w e r t u n g b e s t i m m e n sich w e d e r nach d e n p e r s ö n l i c h e n A n s i c h t e n u n d Ü b e r z e u g u n g e n des j e w e i l i g e n U r t e i l e r s , noch nach i r g e n d w e l c h e n T h e o r i e n oder D o g m e n , s o l l t e n diese auch w e i t v e r b r e i t e t s e i n ; 7 3 sondern allein nach der objektiven Wertordnung der Verfassung, nach der Rangfolge, die sich auf Grund dieser Wertordnung für die einzelnen Rechtsgüter ergibt. 74 Diese R a n g f o l g e w i r d n u n f r e i l i c h 71 Siehe statt aller Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht (1961) S. 293 f. (m. w. Nachw.)· 72 Nach dieser darf ein Grundrecht dann nicht i n Anspruch genommen w e r den, „ w e n n dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet werden" (s. oben A n m . 37). Ä h n l i c h verfährt übrigens jetzt Dürig, wenn er formuliert: „Es k l i n g t fast wie eine mathematische Formel: Wenn die Freiheit als solche nach dem W i l l e n der Verfassung gesichert werden muß, dann geht das überhaupt nur, w e n n die einzelnen Bürger dieses Staates mindestens jene Freiheitsbeeinträchtigungen f r e i w i l l i g hinnehmen und notfalls zwangsweise hinzunehmen haben, die diesen W e r t schutz überhaupt erst ermöglichen" (Grundrechtsverwirklichung auf Kosten von Grundrechten, i n : Summum lus, Summa Iniuria, 1963, S. 87 1). 73 „Das Grundgesetz hat sich, w e n n überhaupt, einer Philosophie der F r e i heit verschrieben. Das heißt, daß kein Gedankensystem, mag es sein Verfasser auch f ü r noch so richtig u n d noch so w e r t v o l l halten, den Anspruch erheben darf, das Gedankensystem des Grundgesetzes zu sein" (Herbert Krüger, B e sprechung von W. Wertenbruch, Grundgesetz u n d Menschenwürde (1958), AöR 86 (1961) S. 354). — Vgl. auch Wieacker, Rechtsprechung u n d Sittengesetz, J Z 1961, 337 (340 f.). 74 Das B V e r f G hat mehrfach betont, das Grundgesetz wolle keine w e r t neutrale Ordnung, sondern eine objektive Wertordnung sein (s. etwa L ü t h urteil, BVerfG 7, 198, 205 und 215). Zustimmend etwa Nipperdey, a.a.O. (Note 51) S. 749 m. w. Nachw. und unter K r i t i k der gegenteiligen Ansicht, die Forsthoff v e r t r i t t (Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff.). Schon Smend hat darauf hingewiesen, der Sinn eines Grundrechtskataloges bestehe darin, „eine sachliche Reihe von einer gewissen Geschlossenheit, d. h. ein W e r t - oder Güter-, ein Kultursystem zu normieren" (Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 163). U n d Triepel hat bemerkt, die Grundrechte enthielten vielfach „nichts anderes als legalisierte Wertungen" ( W D S t R L 4, 90). I m gleichen Sinne auch Hans Peters, Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit i n der höchstrichterlichen Rechtsprechung (1963) S. 8 f.; Herbert Krüger, Allg. Staatslehre (1964) S. 540 ff. — Forsthoff ist indes bei seiner Meinung geblieben u n d sieht i n jenem Verständnis der Grundrechte als „Werte" den Anfang v o m Ende: „ . . . gleichgültig, w i e man den Wert des genaueren zu begreifen hat, jedenfalls w i r d m i t i h m die

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I I I D i e „Grenzen" der G r u n d r c h t

n i c h t i m m e r o f f e n zutage l i e g e n . 7 5 Sie ist d a n n d a d u r c h z u e r m i t t e l n , daß g e p r ü f t w i r d , welche Bedeutung und welches Gewicht den jeweils betroffenen Interessen (Rechtsgütern) im Rahmen des Verfassungsganzen zukommt. N a t ü r l i c h w e r d e n t r o t z der B e m ü h u n g e n u m e i n e n d e r a r t o b j e k t i v i e r ten Maßstab die W e r t u n g e n der einzelnen U r t e i l e r nicht i m m e r übere i n s t i m m e n . A b e r dies i s t b e i W e r t u n g s f r a g e n e i n allgemeines u n v e r m e i d l i c h e s P h ä n o m e n , das sich auch d u r c h die beste T h e o r i e n i c h t ausschließen läßt. Es b l e i b t n u n noch z u p r ü f e n , w e l c h e B e d e u t u n g j e n e m e l e m e n t a r e n Satz, v o n d e m j e d e T h e o r i e ausgehen m u ß , f ü r Gesetzgebung (1.), Rechtsprechung (2.) u n d v o l l z i e h e n d e G e w a l t (3.) i m e i n z e l n e n j e w e i l s z u kommt. 1. F ü r die Gesetzgebung besagt d e r Satz: d e r Gesetzgeber darf, auch s o w e i t es an e i n e m a u s d r ü c k l i c h e n V o r b e h a l t z u seinen G u n s t e n f e h l t , e i n F r e i h e i t s i n t e r e s s e b e e i n t r ä c h t i g e n , wenn und soweit dies z u m Schutze v o n Interessen e r f o r d e r l i c h ist, d i e nach der o b j e k t i v e n W e r t o r d n u n g der V e r f a s s u n g als h ö h e r w e r t i g anzusehen s i n d . 7 6 A b w e h r f u n k t i o n des Grundrechts zunächst einmal aufs Spiel gesetzt u n d wie die spätere E n t w i c k l u n g zeigt, de facto auch preisgegeben" (Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, Der Staat 2 (1963) S. 385 [388]). 75 Lerche meint, es sei ein „durch nichts bewiesenes, w e n n auch w e i t h i n geglaubtes Dogma heutiger Verfassungslehre, daß die Verfassung eine für alle Fälle umfassende Entscheidung selbst getroffen habe, die auch dort zum K l i n g e n gebracht werden könnte, wo der Verfassungstext unzulänglich bleibt" (Übermaß u n d Verfassungsrecht, 1961, S. 131). Daran ist sicher richtig, daß die Entscheidung oft nicht ohne weiteres aus den vorhandenen Normen abgeleitet werden kann. Andererseits ergeben sich aber doch auch für Zweifelsfälle aus der Gesamtordnung der Verfassung stets gewisse Richtl i n i e n für eine Wertung. Lerche dürfte deshalb zu w e i t gehen, wenn er erklärt, i n bestimmten Konfliktsfällen halte die Verfassung „keinerlei Maßstäbe (sc. für die Wertentscheidung) zur Verfügung" (S. 130 a.a.O.). 76 U m naheliegenden Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier nochmals betont, daß die Grundrechte dadurch nicht der W i l l k ü r des Gesetzgebers ausgeliefert werden : Der Gesetzgeber darf nicht nach seinem Gutdünken über das Rangverhältnis von Freiheitsinteresse und sonstigen Interessen befinden. Vielmehr ist er bei seiner Entscheidung an die Wertordnung der Verfassung gebunden und unterliegt insoweit der richterlichen Kontrolle. Zudem trägt er die Beweislast dafür, daß seine Regelung zum Schutze des höherwertigen Rechtsguts erforderlich ist (siehe oben A n m . 21). — Es sei auch nochmals hervorgehoben, daß hier n u r offen ausgesprochen w i r d , was sonst unter der Vorstellung „immanenter Schranken" („Grenzen") w e i t h i n i n verschleierten Formen vertreten w i r d . Da n u n einmal — w i e heute w o h l niemand mehr bestreitet — auch die (scheinbar) „vorbehaltlos" garantierten Grundfreiheiten (ζ. B. die Glaubensfreiheit, A r t . 4, u n d die Freiheit der Kunst, A r t . 5 Abs. 3 GG) nicht absolut sein können, sollte man ihre Grenzen lieber i n der hier befürworteten offenen und damit voll kontrollierbaren F o r m bestimmen als m i t H i l f e so undurchsichtiger Begriffe w i e der „immanenten Schranken". Wenn man dem Gesetzgeber sagt: „ D u darfst, auch soweit es an einem aus-

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2. Gilt Entsprechendes auch für die Rechtsprechung? Ein interessanter Beschluß des BVerfG vom 19. 12. 1962, durch den das Gericht der Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwalts stattgab, mag die sich insoweit ergebenden Probleme veranschaulichen: 77 Der Beschwerdeführer war i n einem Strafverfahren wegen Staatsgefährdung Wahlverteidiger eines ostzonalen Funktionärs. Durch einen Beschluß des B G H wurde er, nachdem er dem Gericht die Drohschrift einer ostzonalen Vereinigung übersandt hatte, als Verteidiger ausgeschlossen, weil er sich zumindest der Beihilfe zur Beamtennötigung und Zersetzung schuldig gemacht habe. „Rechtsprechung und Lehre" seien sich m i t wenigen Ausnahmen darüber einig, daß ein Rechtsanwalt von der Verteidigung ausgeschlossen sei, wenn er sich der Beteiligung oder der Begünstigung an der zur Aburteilung stehenden Tat schuldig gemacht habe. 78 Gegen diesen Beschluß wandte sich der Rechtsanwalt mit der Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG ging davon aus, die Ausschließung enthalte einen „Eingriff" i n die freie Berufsausübung des Rechtsanwalts, der nach Art. 12 I GG einer gesetzlichen Grundlage bedürfe. U m die Grundlage des BGHBeschlusses, der sich ja nicht auf eine „Norm des geschriebenen Rechts", sondern auf „Rechtsprechung und Lehre" berufen hatte, prinzipiell als tragfähig anerkennen zu können, sah sich das BVerfG von diesem seinem Ausgangspunkt her zu der „Annahme" genötigt, der B G H sehe die Ergebnisse der früheren Rechtsprechung und Lehre als „Gewohnheitsrecht" an, „das entstanden ist durch ständige Rechtsprechung, Aufnahme durch die Beteiligten und Billigung durch die Rechtslehre." 79 Da es sich insoweit um vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht handle, könne es die Berufsausübung i. S. des Art. 12 I S. 2 GG wirksam regeln, „da ein i n dieser Vorschrift etwa liegendes Gebot formeller Gesetzgebung für vorkonstitutionelles Recht nicht gelten würde". Auch sei der „vom B G H festgestellte gewohnheitsrechtliche Rechtssatz" als solcher inhaltlich m i t A r t . 12 I S. 2 GG vereinbar. drücklichen Vorbehalt zu Deinen Gunsten fehlt, ein Freiheitsinteresse beeinträchtigen — aber nur y wenn D u den Nachweis führst, daß Deine Regelung zum Schutze höherwertiger Interessen erforderlich ist," so schützt man die Grundrechte besser, als w e n n man i h m e r k l ä r t : „Auch die Grundrechte, bei denen es an einem ausdrücklichen Vorbehalt fehlt, haben ,immanente Schranken'. Sie gelten n u r vorbehaltlich der Rechte anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung u n d des Sittengesetzes (vgl. A r t . 2 Abs. 1 GG). Also darfst D u insoweit beeinträchtigende Regelungen treffen." 77 B V e r f G 15, 226 = J Z 1963, 363. Hierzu Eberhard Schmidt, Z u r Problem a t i k der Entziehung der Verteidigungsbefugnis, N J W 1963, 1753. 78 B G H S t 9, 20. 79 E. Schmidt hält diese Auffassung für unrichtig. E r meint, unter der v o m B G H erwähnten „Rechtsprechung u n d Lehre" „dürften . . . doch w o h l die Rechtsgrundsätze zu verstehen sein, die Rechtsprechung u n d Lehre i n bewährter Auslegungsarbeit dem Gesetz entnommen haben" (NJW 1963, 1754).

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I m folgenden beschäftigte sich das Gericht mit der Frage, ob und inwieweit dieser Satz weiterentwickelt werden dürfe. Es mahnte insoweit zu besonderer Zurückhaltung 8 0 und betonte die Notwendigkeit einer „umfassenden Abwägung aller Gesichtspunkte, die auch der Gesetzgeber bei einer ausdrücklichen Regelung bedenken würde". Von hier aus wurde der Ausschluß i m vorliegenden Fall als unzulässig betrachtet, weil er gegen das „Verbot des Übermaßes" verstoßen habe. Ist dem Beschluß des BVerfG i m Ergebnis zuzustimmen, so muß doch sein Ausgangspunkt überprüft werden: die Ansicht nämlich, es sei für jeden Richterspruch, der ein Freiheitsinteresse beeinträchtigt, 81 eine spezielle Ermächtigungsnorm erforderlich. 82 8 3 Diese Ansicht kann, wie der vorliegende Fall zeigt, zu großen Schwierigkeiten führen. Sie nötigte das BVerfG zu der (anfechtbaren) „Annahme" eines „gewohnheitsrechtlichen Satzes". Ließ sich diese „Annahme" hier i m Hinblick auf einige Entscheidungen und Stimmen i n der Literatur allenfalls vertreten, so w i r d sie i n anderen kritischen Fällen keineswegs immer möglich sein. Das zeigt sich klar etwa an einem früheren BGH-Beschluß (BGHSt 8, 194), durch den ein Rechtsanwalt aus Ostberlin, der i n einem Landesverratsverfahren i n Westdeutschland aufgetreten war, als Strafverteidiger ausgeschlossen war m i t der Begründung, es bestehe die „naheliegende Gefahr, daß sich der fremde Nachrichtendienst durch ihn in den Besitz der für i h n wichtigen Erkenntnisse zu setzen versucht". 84 Gegenüber dem Einwand des Verteidigers, durch seinen Ausschluß werde der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verletzt, dem schlechthin der Vorrang vor allen übrigen Belangen gebühre, hatte der BGH zutreffend darauf hingewiesen, „daß sich das rechtsstaatliche Prinzip viel80 „Jede erweiternde Auslegung schafft hier i m Ergebnis einen neuen E i n griff sta tbestand. " 81 Das Gericht spricht i m Sinne überkommener Vorstellungen von „ E i n griff" (vgl. hierzu oben I S. 14 ff.). 82 Wobei diese Rechtsnorm, wenn sie nicht vorkonstitutionell sondern nachkonstitutionell ist, möglicherweise sogar den Rang des förmlichen Gesetzes haben muß. Diese v o m B V e r f G a.a.O. offen gelassene Frage w i r d von der h. L. bejaht: die h. L . verlangt für jede Beeinträchtigung eines Freiheitsinteresses als Ermächtigungsgrundlage ein förmliches Gesetz (s. etwa Herbert Krüger, D Ö V 1955, 559 sowie Dietrich Jesch, Gesetz u n d Verwaltung, 1961, S. 114, 137 f.). Das g i l t insbes. auch für das i n A r t . 12 I S. 2 vorbehaltene „Gesetz" (Nachweise hierzu bei Bachof, i n : Die Grundrechte I I I / l S. 210 Anm. 211; Bachof hält hier entgegen der h. L. ein förmliches Gesetz n u r für erforderlich, wenn u n d soweit sich eine Regelung w i r k l i c h als echte „ E i n schränkung" des Grundrechts darstelle — vgl. unten A n m . 91). 83 Auch i n seinem Beschluß v o m 11. 6. 1963 (NJW 1963, 1771) hat das BVerfG an dieser Ansicht festgehalten. (Es ging dort u m die Frage, ob ein W a h l verteidiger, der als Belastungszeuge i n Betracht kommt, deshalb von der Verteidigung ausgeschlossen werden kann). 84 Die L i t e r a t u r hat teilweise gegen diese Entscheidung Bedenken angemeldet — Nachweise bei E. Schmidt, N J W 1963, 1753 (1754).

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gestaltig äußert und die freie Verteidigerwahl nur einer von mehreren Grundsätzen ist, die sämtlich i n i h m begründet sind und es sichern sollen" und „daß der Tragweite auch beherrschender Grundsätze Schranken gesetzt sind, wenn ihre ausnahmslose Durchführung andere lebenswichtige Grundsätze und Erfordernisse i n Frage stellt". Von hier aus müsse „die Freiheit der Wahl des Verteidigers dort ihre Grenze finden, wo sie dazu benutzt werden soll, oder doch dazu benutzt werden kann, einen gefährlichen Angriff gegen die Sicherheit des Staates zu führen". Der Beschluß konnte sich weder auf Rechtsprechung noch auf Lehre berufen, folglich auch nicht auf einen speziellen gewohnheitsrechtlichen Satz. Vom Standpunkte des BVerfG aus müßte er deshalb mangels rechtlicher Grundlage aufgehoben werden. Ein solches Ergebnis ist unbefriedigend, denn die Begründung des Beschlusses überzeugt. 85 Es fragt sich deshalb, ob man i h n nicht als verfassungsmäßig gelten lassen kann. Das wäre möglich, wenn man von der Regel abginge, jeder Richterspruch, der ein Freiheitsinteresse beeinträchtigt, bedürfe einer speziellen Ermächtigungsnorm, und wenn man stattdessen als Ermächtigungsgrundlage insoweit den genannten elementaren Satz ausreichen ließe: „Jede Grundrechtsnorm gilt nur, wenn und soweit dem geschützten Freiheitsinteresse keine höherwertigen Interessen entgegenstehen." 86 Natürlich kann man berechtigte Bedenken dagegen haben, eine solche ungeschriebene Klausel als Ermächtigungsgrundlage ausreichen zu lassen; w i r d doch damit i m Ergebnis dem Richter, der nach Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht" gebunden ist, ein neues Stück „Richtermacht" eingeräumt und damit das Verhältnis zwischen gesetzgebender und richterlicher Gewalt verschoben. — Andererseits ist aber zu bedenken, daß häufig unerwartete kritische Fälle auftreten. Die soeben angeführte BGH-Entscheidung ist hierfür ein aufschlußreiches Beispiel. Die Gesetzgebung wäre überfordert, wollte man von ihr erwarten, daß sie für alle solche Fälle i m voraus Regelungen trifft. Deshalb läßt sich sehr wohl die Ansicht vertreten, es entspreche durchaus dem Interesse des Gesetzgebers, wenn der Richter befugt sei, hier die nach Sachlage angemessene Regelung zu treffen. Das BVerfG hat denn auch mit Selbstverständlichkeit den Richter für befugt gehalten, dem „Mißbrauch" einer Grundfreiheit zu wehren. 8 7 85 Die Erwägungen des Gerichts beziehen sich zwar n u r auf die Freiheit der Verteidigerwahl, gelten sinngemäß aber i n gleicher Weise f ü r die Berufsfreiheit. — Selbst A r n d t (NJW 1964, 2146 f.), der die Rechtsprechung des B V e r f G und des B G H zur Entziehung der Verteidigungsbefugnis grundsätzlich ablehnt, b i l l i g t den genannten Beschluß (NJW 1964, 2147 A n m . 12). 86 Vgl. hierzu E. Kaufmann, Eigentum u n d V e r w a l t u n g (Vortrag 1930), i n : Gesammelte Schriften Bd. 1 (1960) S. 450 ff. (459). 87 Siehe B V e r f G 12, 1 (4).

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Eine besondere Ermächtigungsgrundlage für das richterliche Einschreiten hat es insoweit (ohne zu diesem Punkte sich ausdrücklich zu äußern) offenbar nicht für erforderlich gehalten. — Darin liegt nun freilich ein Widerspruch zu der Ansicht, die Ausschließung eines Rechtsanwalts als Strafverteidiger (und zwar wegen Beihilfe zu Straftaten des Mandanten) sei ein „Eingriff" i n die freie Berufsausübung des Anwalts, der nach Art. 12 GG einer gesetzlichen Grundlage bedürfe. Denn „mißbraucht" nicht ein A n w a l t seine Berufsfreiheit, wenn er Straftaten seines Mandanten fördert? Es w i r d hier deutlich: Auch der Richter, der gegen den „Mißbrauch" einer Grundfreiheit vorgeht, beeinträchtigt damit ein (insoweit freilich nicht schutzwürdig erscheinendes) Freiheitsinteresse. 88 Die Frage nach dem Erfordernis einer besonderen Ermächtigungsnorm läßt sich also nicht einfach dadurch lösen, daß man den Richterspruch einmal als Vorgehen gegen einen „Mißbrauch" bezeichnet (und dieses für ohne weiteres zulässig erklärt), — ein anderes Mal hingegen als „Eingriff" i n eine Grundfreiheit (und hierfür eine besondere Ermächtigungsnorm fordert). Eine solche Unterscheidung würde jedenfalls erst dann sinnvoll, wenn sich die Fälle des „Mißbrauchs" von den Fällen des „Eingriffs" eindeutig abgrenzen ließen. 89 Das BVerfG w i r d sich daher noch mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob und inwieweit es für einen Richterspruch, der ein Freiheitsinteresse beeinträchtigt, um ein höherwertiges Interesse zu schützen, überhaupt einer besonderen Ermächtigungsnorm bedarf. 8 9 3 88 U n d zwar letztlich stets auf G r u n d einer — oft nicht näher begründeten — Interessenabwägung. Spricht man von „Mißbrauch", so hat man also damit bereits — oft ohne sich dessen v o l l bewußt zu werden — eine Wertung getroffen. I n der A r b e i t von Gallwas über den „Mißbrauch von Grundrechten" (Diss. München 1962) k o m m t dies n u n deutlich zum Ausdruck. Gallwas definiert den „Grundrechtsmißbrauch" als „Realisierung des freiheitlichen Gehalts einer Grundrechtsformulierung, die das Interesse eines anderen am Grundrechtsverhältnis Beteiligten (Rechtsgenosse, Allgemeinheit u n d Staat) verletzt, sofern das verletzte Interesse durch eine i m Verhältnis zum ausgeübten Grundrecht höherrangige Verfassungsnorm, durch eine verfassungsrechtliche Grundidee oder durch einen überpositiven Rechtsgedanken objektiv erkennbar geschützt ist" (a.a.O. S. 49). 89 Eine klare Abgrenzung ist i n den obengenannten Entscheidungen des B V e r f G nicht erfolgt. Die Terminologie ist ansonsten nicht einheitlich. Z u m Teil beschränkt man den Ausdruck „Mißbrauch" auf Fälle, i n denen das Verhalten des Rechtsträgers zu einem besonderen „ U n w e r t u r t e i l " herausfordert (vgl. etwa P. Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, 1961, S. 132). Vielfach spricht man hingegen ganz allgemein von „Mißbrauch" oder „ u n zulässiger Rechtsausübung", w e n n sich jemand auf ein Grundrecht beruft, obwohl dem geschützten Freiheitsinteresse höherwertige Interessen entgegenstehen (vgl. etwa das oben S. 26 f. wiedergegebene Zitat von Smend; Soergel-Siebert, Bürgerl. Gesetzbuch, 1. Bd. 1959, Ziff. 27 vor § 226, S. 759; Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, Diss. München 1962, S. 49). 89a Die Frage ist bisher wenig behandelt worden. Gallwas hält den Richter

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Wie immer man sich i n dieser Frage schließlich entscheidet, wichtig ist vor allem, daß man sich zunächst v o l l bewußt wird, was die eine oder andere Lösung jeweils bedeutet: Entweder man hält am Erfordernis einer speziellen Ermächtigungsnorm für den Richterspruch fest, der ein Freiheitsinteresse beeinträchtigt. Dann muß man i n kritischen Fällen eine solche Norm, etwa durch die Annahme eines „gewohnheitsrechtlichen Rechtssatzes", zu konstruieren suchen, und, soweit das nicht möglich ist, unbefriedigende Ergebnisse i n Kauf nehmen. Oder man verzichtet auf das Erfordernis einer speziellen Ermächtigungsnorm und erkennt den mehrfach genannten elementaren Satz als ausreichende Ermächtigungsgrundlage an. Dann kann man zwar auch ohne Konstruktionen befriedigende Ergebnisse erreichen, muß aber einen gewissen Zuwachs an Richtermacht i n Kauf nehmen. 3. Es bleibt nun noch zu prüfen, ob man auch der vollziehenden Gewalt das Recht zusprechen kann, trotz Fehlens einer sonstigen gesetzlichen Grundlage unter Berufung auf jenen elementaren Satz (grundsätzlich geschützte) Freiheitsinteressen zu beeinträchtigen. Die Frage muß verneint werden. 9 0 Denn ein fundamentaler Grundsatz, die sog. „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" verbietet, daß der vollziehenden Gewalt durch jenen Satz ungeahnte und schwer kontrollierbare Eingriffsmöglichkeiten gegeben werden. 9 1 I m übrigen ist jener Satz aber auch für die vollziehende Gewalt nicht bedeutungslos. Denn er gibt einen wichtigen Hinweis für die Auslegung von Ermächtigungsnormen, insbesondere für die der polizeilichen Generalklausel, und ermöglicht so eine Klärung der umstrittenen Frage, welche Bedeutung und Tragweite dieser zentralen Norm gegenüber den f ü r befugt, i n Fällen des „Grundrechtsmißbrauchs" (zur Definition vgl. A n m . 88) auch bei Fehlen einer ausdrücklichen Ermächtigungsnorm einzuschreiten. Hierbei sei freilich die Macht des Strafrichters durch den Satz „ N u l l a poena sine lege" begrenzt (Gallwas a.a.O. S. 137 ff.). 90 V o n dem E x t r e m f a l l des Staatsnotstandes w i r d hier abgesehen — s. hierzu unten I V . A n m . 40. 91 Z u dem gleichen Ergebnis i n diesem Punkte k o m m t Bachof, allerdings von anderen Grundlagen her. E r geht davon aus, es seien verschiedene A r t e n von grundrechtsberührenden A k t e n der öffentlichen Gewalt zu u n t e r scheiden, nämlich 1. „echte Einschränkungen", 2. „Konkretisierungen i m m a nenter Schranken" u n d 3. A k t e der „inhaltlichen Ausgestaltung u n d Begrenzung" (Freiheit des Berufs, i n : Die Grundrechte I I I / l , 1958, S. 208 — vgl. hierzu unten I V . A n m . 22). E i n formelles Gesetz hält Bachof n u r f ü r erforderlich, „ w e n n u n d soweit sich eine Regelung als »Einschränkung' des G r u n d rechts darstellt" (S. 210 a.a.O.). E r setzt dann allerdings hinzu: „Unabhängig davon w i r d freilich jede ,Regelung', auch w e n n sie die Schranken der F r e i heit nicht konstitutiv bestimmt, sondern n u r — aber doch i m m e r h i n ! — verbindlich feststellt, nach dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der V e r w a l t u n g (Art. 20 I I I ) der formell gesetzlichen Ermächtigung bedürfen . . . " (S. 211 a.a.O.).

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G r u n d r e c h t s b e s t i m m u n g e n z u k o m m t . N a c h d e m G e d a n k e n jenes Satzes k a n n sich d i e v o l l z i e h e n d e G e w a l t z u r R e c h t f e r t i g u n g v o n M a ß n a h m e n n u r d a n n auf die polizeiliche Generalklausel berufen, w e n n i m konkret e n F a l l d i e B e e i n t r ä c h t i g u n g eines Freiheitsinteresses e r f o r d e r l i c h ist, u m h ö h e r w e r t i g e Rechtsgüter z u schützen. 9 2 Entsprechendes g i l t f ü r sonstige G e n e r a l k l a u s e l n . 9 3

92 Vgl. B G H 12, 197 (Beschlagnahme eines kommunistischen Mitteilungsblattes — vgl. oben A n m . 61); i m Ergebnis ebenso B V e r w G 1, 303 (polizeiliches Aufführungsverbot f ü r den F i l m „Die Sünderin" — s. oben Anm. 60); Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte (1957) S. 45 f.; Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 79 ff.; Nipperdey, a.a.O. (Note 51), S. 815 f. 93 So ζ. B. für § 7 PassG. Dieser bestimmt u. a., ein Paß sei zu versagen, wenn der Antragsteller als Inhaber eines Passes die innere oder die äußere Sicherheit oder „sonstige erhebliche Belange" der Bundesrepublik Deutschland oder eines deutschen Landes gefährde. Das B V e r w G hat den Begriff „sonstige erhebliche Belange" zutreffend dahin interpretiert, das Gesetz habe damit n u r Tatbestände gemeint, die „ i n ihrer Erheblichkeit den beiden anderen Tatbeständen, w e n n auch nicht gleich- so doch nahe kommen", „die so erheblich sind, daß sie der freiheitlichen Entwicklung i n der Bundesrepublik aus zwingenden staatspolitischen Gründen vorangestellt werden müssen". — Dieser Auslegung hat das BVerfG i m Elfesurteil (BVerfG 6, 32, 43) zugestimmt.

I V · Der „Wesensgehalt" der Grundrechte D i e b i s h e r i g e n E r w ä g u n g e n h a b e n ergeben: D e r e l e m e n t a r e Satz (jede G r u n d r e c h t s n o r m g i l t n u r , w e n n u n d s o w e i t d e m geschützten F r e i heitsinteresse k e i n e h ö h e r w e r t i g e n Interessen entgegenstehen) b e d e u t e t z w a r noch k e i n e L ö s u n g der „ S c h r a n k e n f r a g e " , ist aber d e r n o t w e n dige A u s g a n g s p u n k t f ü r a l l e Versuche, diese F r a g e z u lösen. I m f o l g e n d e n w i r d z u zeigen sein, daß j e n e r e l e m e n t a r e Satz auch d i e L ö s u n g des u m s t r i t t e n e n P r o b l e m s e r m ö g l i c h t , w e l c h e B e d e u t u n g d e m A r t . 19 A b s . 2 G G z u k o m m t . N a c h j e n e m Satz s i n d gesetzliche Regelungen, d i e e i n g r u n d s ä t z l i c h geschütztes F r e i h e i t s i n t e r e s s e b e e i n t r ä c h t i g e n , i m m e r zulässig, w e n n u n d s o w e i t sie d e r Schutz h ö h e r w e r t i g e r Rechtsgüter e r f o r d e r t . H i e r a u s f o l g t , daß gesetzliche Regelungen, d i e sich i n diesem R a h m e n h a l t e n , d e n „ W e s e n s g e h a l t " eines G r u n d r e c h t s i. S. des A r t . 19 A b s . 2 n i c h t antasten, u n d z w a r selbst d a n n n i c h t , w e n n sie i m E i n z e l f a l l so w e i t gehen, daß v o n d e m b e t r o f f e n e n G r u n d r e c h t „ n i c h t s m e h r ü b r i g bleibt".1 1 Daher hat das Apothekenurteil (BVerfG 7, 377) zutreffend erkannt, daß notfalls v o l l geeigneten Bewerbern durch sogen, „objektive Zulassungsbedingungen" der Zugang zu einem Beruf versperrt werden kann, w e n n dies der Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter zwingend erfordert (S. 405 ff. a.a.O.). — Das B V e r w G hat hingegen mehrfach erklärt, daß objektive Zulassungsbedingungen stets den Wesensgehalt der Berufsfreiheit verletzen. Es hat sie freilich trotzdem für zulässig erklärt, soweit sie zum Schutz der „ f ü r den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter" erforderlich seien (so erstmals B V e r w G 1, 48 (52) — kritisch hierzu etwa Bachof, JZ 1957, 337 Nr. 14; 340 Nr. 31 sowie Dürig, AöR 81 (1956) 135). Seltsam widersprüchlich hat sich das B V e r w G i n seinem Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des handwerklichen Befähigungsnachweises (NJW 1955, 1773) geäußert. Dort stellte es einerseits fest, „daß der Wesensgehalt der Grundrechte keinesfalls durch solche Eingriffe angetastet werden kann, die i n rechtlich vertretbarer Weise den Zweck verfolgen, die Gefährdung anderer Grundrechte oder der für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter zu verhindern. Denn solche Schranken sind dem Grundrecht i m m a nent". Andererseits erklärt es jedoch zuvor: „Eine Prüfung i n der Richtung, ob etwa der Eingriff i n das Grundrecht der Freiheit der Berufswahl nach dem sachlichen Anlaß und Grund, der zu dem Eingriff geführt hat, unbedingt geboten ist u n d eine zwingende Notwendigkeit darstellt, i s t . . . erst bedeutungsvoll, w e n n feststeht, daß das Grundrecht durch den Eingriff überhaupt i n seinem Wesensgehalt angetastet w i r d . " Nach der K r i t i k durch das Apothekenurteil des B V e r f G (siehe unten I V . A n m . 28) hat das B V e r w G seine Ansicht insoweit aufgegeben und die Grundsätze des Apothekenurteils über-

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I V . Der „Wesensgehalt" der Grundrechte

Von hier aus löst sich bereits ohne weiteres das als „höchste dogmatische Belastungsprobe" 2 erscheinende Problem des Strafvollzuges, insbesondere der lebenslänglichen Freiheitsstrafe 3 sowie der Sicherungsverwahrung und der Unterbringung von Geisteskranken auf Lebenszeit — und zwar ohne daß insoweit auf die Streitfrage eingegangen zu werden braucht, ob unter „Grundrecht" i. S. des Art. 19 Abs. 2 das subjekt i v e öffentliche Recht des Einzelnen oder das Grundrecht „als solches

also die institutionelle Seite des Grundrechts, zu verstehen ist. 4 M i t dieser „negativen" Grenzziehung ist freilich die Frage noch nicht voll beantwortet, die es zu lösen gilt: Wann ist der „Wesensgehalt" i. S. des A r t . 19 Abs. 2 GG angetastet? Die richtige A n t w o r t w i r d sich nur gewinnen lassen, wenn man sich den Sinn und Zweck dieser Vorschrift i m Rahmen des Verfassungsganzen verdeutlicht, was zugleich eine Überwertung des Wortlautes („Wesensgehalt") ausschließt.5 Hierzu gilt es, sich ein Doppeltes klarzumachen, nämlich (1.) den Sinn der Grundrechte und (2.) die i n diesem Zusammenhang wichtigen systematischen Probleme des Grundrechtsteiles. 1. Oberstes Ziel des Grundgesetzes ist es, eine freiheitliche und gerechte Gesamtordnung zu ermöglichen. Eine solche Ordnung läßt sich nommen (BVerwG 7, 287; vgl. auch B V e r w G 7, 361). — Siehe i m übrigen etwa W. Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat (1957) S. 34, 38ff.; Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 76, 82 u n d A r t . 2 I I Rdnr. 13 ff. 2 Maunz-Dürig, A r t . 2 I Rdnr. 78, S. 67 A n m . 2. Nach D ü r i g gibt es „ w o h l n u r die eine Lösung, daß m a n insoweit i n A r t . 104 eine i n der gleichen V e r fassungsebene beheimatete Ausnahmevorschrift zur A r t . 19 Abs. 2 erblickt." Aufschlußreich ferner etwa W. Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht (1960) S. 157 A n m . 100. 8 Zutreffend etwa Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte (1957) S. 47. 4 Siehe zu dieser Streitfrage etwa v. Mangoldt-Klein, S. 554; P. Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht (1961) S. 237 if. — Die Ansicht, A r t . 19 Abs. 2 schütze n u r das Grundrecht „als solches", f ü h r t praktisch zu einer w e i t gehenden E n t w e r t u n g der Vorschrift. So würde A r t . 19 Abs. 2 den Gesetzgeber ζ. B. nicht daran hindern, nach der (jetzt vielfach geforderten) A u f hebung des A r t . 102 GG („Die Todesstrafe ist abgeschafft") die Todesstrafe für Diebstahl oder ein ähnliches D e l i k t einzuführen. Denn das „Recht auf Leben" (Art. 2 I I ) als solches würde dadurch j a nicht ernstlich beeinträchtigt! Desgleichen könnte der Gesetzgeber unbekümmert u m A r t . 19 Abs. 2 den Zugang für bestimmte Berufe nach seinem Gutdünken v ö l l i g sperren, solange n u r das Recht der freien Berufswahl (Art. 12) als solches i n t a k t bliebe. Der Gesetzgeber würde also durch A r t . 19 Abs. 2 nicht daran gehindert, für bestimmte Sachverhalte Regelungen, die Freiheitsinteressen beeinträchtigten, nach seinem Belieben zu treffen. A r t . 19 Abs. 2 böte dem Richter keine Handhabe, eine gesetzliche Regelung auf ihre sachliche Berechtigung h i n zu überprüfen. Eine solche i h n entwertende Auslegung w i r d dem Sinn des A r t . 19 Abs. 2 nicht gerecht. 5 Vgl. B G H D Ö V 1955, 729 (730).

I V . Der „Wesensgehalt" der Grundrechte

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nur begründen, wenn sie auf der Selbstbestimmung des Einzelnen aufbaut, also vom Grundsatz der „Privatautonomie" ausgeht. Die Grundrechtsnormen sind i n diesem Zusammenhang zu sehen: Sie garantieren die „Privatautonomie" 6 und damit einerseits die Möglichkeit selbständiger, eigenverantwortlicher Lebensgestaltung für den Einzelnen, 7 andererseits eine freiheitlich strukturierte, von unten nach oben sich aufbauende Sozialordnung. Die Grundrechte haben also eine individuelle und eine institutionelle Seite. 8 · • Es lassen sich zwei verschiedene Bereiche der Privatautonomie unterscheiden, nämlich „ i n d i v i d u e l l e " Privatautonomie (selbstverantwortliche Gestaltung des eigenen rechtlich abgesonderten Lebenskreises) u n d „soziale" Privatautonomie (selbständige Regelung der rechtlichen Beziehungen zu anderen) — s. hierzu näher Fritz v. Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie (1936) S. 69. — Das „Privatrecht", auf dessen Boden u n d m i t dessen M i t t e l n sich die Selbstbestimmung des Einzelnen w e i t h i n vollzieht, setzt Anerkennung u n d Schutz gewisser Grundfreiheiten u n d Institute (so etwa der Vertrags-, Eigentums- u n d der Testierfreiheit sowie der Ehe u n d Familie ) voraus. 7 Diese Feststellung bezieht sich p r i m ä r auf die sog. „Freiheitsrechte". Diese werden bekanntlich oft durch „soziale" Grundrechte ergänzt, die ein gewisses Existenzminimum als Voraussetzung f ü r ein menschenwürdiges Dasein garantieren sollen. (S. näher Hans Huber, Soziale Verfassungsrechte?, i n : Die Freiheit des Bürgers i m schweizerischen Recht, 1948, S. 149 ff.; v a n der Ven, Soziale Grundrechte, 1963). Die hinzukommenden „politischen" Grundrechte (zu deren Bedeutung: K a r l Loewenstein, Verfassungslehre, 1959, S. 334) sollen es dem Einzelnen ermöglichen, über seinen eigenen Lebenskreis hinaus auch die Gestaltung des Gemeinwesens mitzubestimmen. 8 U m sich dies v o l l zu veranschaulichen, braucht man n u r ein Gemeinwesen zu betrachten, i n dem die Grundrechte nicht gelten, so etwa die rotchinesische „ K o m m u n e " oder den Staat des „großen Bruders", w i e i h n O r w e l l i n seinem berühmten Roman „1984" entwirft. — A u f die institutionelle Seite der G r u n d rechte haben insbes. Erich K a u f m a n n u n d Rudolf Smend wiederholt aufmerksam gemacht — s. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz i. S. des A r t . 109 WRV, W D S t R L 3, 2 ff. (15); Diskussionsbeitrag i n W D S t R L 4, 77 ff; Gesammelte Schriften, Band 1 (1960) S. 520 f., 591 ff.; Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, W D S t R L 4, 44 ff. (50), abgedr. auch i n Staatsrechtl. Abhandlungen (1955) S. 89 ff. (95). Vgl. auch M a x Weber, Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl. 1924, S. 289 ff. — Aus der neuesten L i t e r a t u r s. insbes. W. Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat (1957) S. 1 ff., bes. 18 ff., sowie P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (1962), der den „Doppelcharakter" der Grundrechte unter Rückgriff insbes. auf die Institutionentheorie von Hauriou u n d das Rechtsdenken E. Kaufmanns herausarbeitet (a.a.O. S. 70 ff.). — Die Diskussion über die „institutionelle" Seite der Grundrechte ist noch i m Fluß, w i e u. a. auch die Staatsrechtslehrertagung i n Saarbrücken (1963) gezeigt hat. [Siehe den Bericht i n D Ö V 1963, 865. — V o r einer Überwertung der institutionellen Seite warnend ζ. B. Denninger, J Z 1963, 424 (Besprechung der A r b e i t von Häberle)]. Es sei hier gegenüber den manchmal allzu w e i t getriebenen Abstraktionen an den nüchternen Hinweis Nawiasky's erinnert, es komme rechtlich doch n u r auf Verhaltensnormen an; die I n s t i t u t i o n könne n u r die Bedeutung haben, daß i n i h r die Gedanken enthalten sind, die f ü r die A u f fassung der Verhaltensnormen maßgebend sind (Diskussionsbeitrag i n W D S t R L 4, 90 f.). • Neben den Grundrechten dienen eine Reihe von anderen Institutionen, die heute als Charakteristikum des „Rechtsstaats" angesehen werden (vgl. 4

von Hippel

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I V . Der „Wesensgehalt" der Grundrechte

Aus diesem Sinn der Grundrechte ergibt sich als eine selbstverständliche Forderung, daß den Grundrechtsnormen, auch wenn und soweit sie Gesetzesvorbehalte enthalten, stets ein möglichst weiter Geltungsraum belassen wird, daß der Schutz der einzelnen genannten Freiheitsinteressen also nur versagt wird, wenn und soweit dies erforderlich ist, um höherwertige Rechtsgüter zu schützen. Von hier aus ist der oben (S. 25 f.) genannte Satz folgendermaßen zu ergänzen: „Jede Grundrechtsnorm gilt zwar nur, aber auch immer, wenn und soweit dem geschützten Freiheitsinteresse keine höherwertigen Interessen entgegenstehen." W i l l man den gleichen Gedanken aus der Sicht des A r t . 19 Abs. 2 formulieren, so ergibt sich der folgende Satz: „ I n keinem Falle darf ein grundsätzlich geschütztes Freiheitsinteresse stärker beeinträchtigt werden, als dies zum Schutze höherwertiger Rechtsgüter erforderlich ist." 1 0 Dieser Satz ergäbe sich, wie etwa die amerikanische Rechtsprechung zeigt, 11 ohne weiteres, wenn das Grundgesetz auf ausdrückliche Vorbehalte verzichtet und es damit von vornherein voll der Rechtsprechung überlassen hätte, den Geltungsbereich der Grundrechtsnormen herauszuarbeiten, d. h. zu klären, unter welchen Umständen und inwieweit die i n den Grundrechtsnormen genannten Freiheitsinter essen jeweils zu schützen sind. Hieran zeigt sich klar, daß die Frage, die A r t . 19 I I zu beantworten sucht (nämlich: „Wie kann man die dem Gesetzgeber eingeräumte Regelungsbefugnis sachgerecht begrenzen?") ihrerseits schon die Abfolge einer bestimmten Systematik ist. Es führt dies auf einen weiteren wichtigen Punkt, den es i n diesem Zusammenhang näher zu betrachten verlohnt, nämlich auf die Probleme, die m i t der Systembildung des Grundrechtsteils verbunden sind. 2. Jede Verfassung, die Grundrechtsnormen aufstellen will, muß zwischen verschiedenen gesetzestechnischen Möglichkeiten wählen. Sie hat hierbei die folgenden Fragen zu entscheiden: Scheuner, i n : Recht, Staat, Wirtschaft I I I , 1951, S. 152 ff.), dem gleichen Ziel des Freiheitsschutzes, so insbesondere die Prinzipien der „Gewaltenteilung" und der „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung". M a n darf diese funktionell zusammengehörenden Einrichtungen nicht als voneinander unabhängig auffassen. Vgl. etwa Hermann Heller, Staatslehre (1934) S. 273 und siehe näher Nawiasky, Allg. Staatslehre (1956) 3. Teil, S. 123 ff. 10 Das Grundgesetz hat den Gedanken der Güterabwägung u n d der V e r hältnismäßigkeit n u r ausnahmsweise (nämlich i n A r t . 11 I I , 13 I I I und 14 I I I ) zum Ausdruck gebracht. Es unterscheidet sich insoweit von zahlreichen L a n desverfassungen u n d der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (Nachweise bei Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1962, S. 143 f.). 11 Siehe oben I A n m . 28.

IV. Der „Wesensgehalt" der Grundrechte

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1. S o l l m a n sich a u f eine (die i n d i v i d u e l l e F r e i h e i t g r u n d s ä t z l i c h g a rantierende) G e n e r a l k l a u s e l beschränken u n d d e r e n A u s f ü l l u n g u n d K o n k r e t i s i e r u n g d a n n d e r Rechtsprechung ü b e r l a s s e n ? 1 2 2. O d e r s o l l m a n d i e e i n z e l n e n F r e i h e i t s r e c h t e i n e i n e m K a t a l o g m ö g lichst „ k a s u i s t i s c h " a u f z ä h l e n ? 1 3 3. O d e r s o l l m a n G e n e r a l k l a u s e l u n d kasuistische R e g e l u n g k o m b i n i e ren, i n d e m m a n e i n e r G r u n d r e g e l e i n e n K a t a l o g d e r w i c h t i g s t e n F r e i heit srechte a n f ü g t ? 1 4 W i e i m m e r m a n sich i n s o w e i t entscheidet, sogleich s t e l l t sich d i e Frage: F ü r welche k o n k r e t e n F ä l l e s o l l e n d i e G r u n d r e c h t s n o r m e n gelten? S o f e r n m a n diese F r a g e n i c h t einfach ( w i e ζ. B . d i e U S - V e r f a s s u n g ) offenläßt u n d d a m i t i h r e L ö s u n g v o n v o r n h e r e i n v o l l d e r Rechtsprechung z u w e i s t , k a n n m a n sie d u r c h A n f ü g u n g v o n V o r b e h a l t e n z u lösen suchen, die, w i e das Grundgesetz u n d sonstige V e r f a s s u n g e n zeigen, sehr verschieden f o r m u l i e r t w e r d e n k ö n n e n . 1 5 Diese V o r b e h a l t e v e r b ü r g e n n u n z w a r — v o r a l l e m w e n n es sich u m die d e n k b a r w e i t gefaßten a l l g e m e i n e n Gesetzesvorbehalte h a n d e l t — 12 Eine derartige Generalklausel könnte etwa lauten: „Jedermann ist berechtigt, alles zu tun, was weder anderen noch der Allgemeinheit schadet" [vgl. hierzu die oben I A n m . 2 zitierten Bestimmungen sowie die von K a r l B r i n k m a n n an Stelle eines Grundrechtskataloges befürwortete „ A l l g e m e i n n o r m " : „Der Einzelne soll frei sein, soweit dies (er) gerecht ist; er soll unfrei sein, soweit sein Freisein (er) ungerecht ist" (K. B r i n k m a n n , Freiheit u n d Verfassung, 1963, S. 268 ff., 306 ff. — besprochen von Klaus M ü l l e r i n : Der Staat 3 (1964) S. 373)]. Eine solche Klausel würde dem Richter ähnliche Probleme stellen, w i e sie sich f ü r i h n i m zivilrechtlichen Bereich beim Ausgehen von der deliktsrechtlichen Generalklausel ergeben („Wer einem anderen rechtswidrig und schuldhaft Schaden zufügt, ist zu dessen Ersatz verpflichtet" — s. etwa A r t . 1382, 1383 des französischen Gode c i v i l u n d dazu E. v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts, i n : Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages, Bd. 2 (1960) S. 49, 65 if.). Hier wie dort muß der Richter Umfang u n d Grenzen der menschlichen Handlungsfreiheit bestimmen. Dabei geht er freilich von verschiedenen Fragestellungen aus — nämlich i m Deliktsrecht von der Frage: Hat sich jemand durch ein bestimmtes Verhalten schadensersatzpflichtig gemacht?; i m Verfassungsrecht hingegen von der Frage: Ist eine bestimmte staatliche Beschränkung der individuellen Freiheit zu Recht erfolgt? 13 Vgl. insoweit z. B. die Regelung der Weimarer Verfassung, I I . Hauptteil, A r t . 109 ff. 14 F ü r diese Lösung hat sich das Bonner Grundgesetz entschieden, indem es dem Grundtatbestand des A r t . 2 Abs. 1 eine Reihe von Vorschriften anfügte, i n denen die wichtigsten Freiheitsrechte besonders normiert werden. Zur Begründung nicht ausdrücklich genannter Rechte k a n n auf A r t . 2 I zurückgegriffen werden (vgl. BVerfG 6, 32 — Ausreisefreiheit; B V e r f G 8, 274, 328 — Vertragsfreiheit). 15 Siehe A r t . 2 ff. G G sowie die Regelungen der i n I. A n m . 5 genannten Verfassungen.

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IV. Der „Wesensgehalt" der Grundrechte

die Möglichkeit sachgerecht differenzierender gesetzlicher Regelungen, die der Vielfalt und dem Wandel der Lebensverhältnisse Rechnung tragen. Andererseits besteht nun aber die Gefahr, daß der Gesetzgeber den Geltungsbereich der Grundrechtsnormen auf Grund jener Vorbehalte nach Belieben einschränkt und damit (i. S. der gebräuchlichen Terminologie) die Grundrechte i m Extremfall so „aushöhlt", daß sie praktisch „leerlaufen". Diese Gefahr mochte einer Zeit verborgen bleiben, die der Integrität des Parlaments v o l l vertraute und unter dem Eindruck allzu weit getriebener Harmonisierungsversuche Rousseaus das Gesetz als Ausdruck des „Gemeinwillens" (volonté générale) idealisierte. 16 Sie ist uns dafür inzwischen durch schmerzliche Erfahrungen u m so deutlicher geworden. Darum stellt sich heute dringlich die Frage, wie man dieser Gefahr begegnen kann. Offensichtlich ist das nur dadurch möglich, daß man die Funktion des Gesetzgebungsvorbehaltes deutlich macht l und damit die natürliche Grenze der scheinbar schrankenlosen „Regelungsbefugnis" aufzeigt: Der Gesetzesvorbehalt soll der sachgerechten „Ausführung" der Grundrechtsnormen dienen, die i m ganzen ja nur Richtlinien geben können. Er soll ermöglichen, daß der Geltungsbereich der abstrakt gef aß ten Sätze auf Grund einer sorgfältigen Analyse der jeweiligen Lebensverhältnisse und einer gerechten Abwägung aller jeweils beteiligten Interessen herausgearbeitet wird. I m Sinne der bisherigen Terminologie soll er eine sachgerechte „Ausgestaltung und Begrenzung" der Grundrechte ermöglichen, nicht aber sie zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers stellen. [Nach der überkommenen Staatsrechtslehre bedeutet der „Gesetzesvorbehalt" die Ermächtigung des Gesetzgebers zu „echten Eingriffen i n die eigentliche Grundrechtssphäre". 17 Demgegenüber hat etwa W i l l i Geiger darauf hingewiesen, daß die Gesetzesvorbehalte nur der „Mißdeutung" begegnen, die Grundrechte gälten „grenzenlos": „Ihre Bedeutung liegt nicht i n einer Einschränkung des Grundrechts, sondern i n der Konkretisierung der Schranken des Gesetzgebers und der Exekutive." Die i n den Grundrechtsvorschriften enthaltenen „Vorbehalte" seien also „nicht eigentlich echte Einschränkungen der Grundrechte, sondern 18 Bezeichnend insoweit A r t . 6 der Déclaration des droits de l'homme et d u citoyen von 1789: „ L a l o i est l'expression de la volonté générale" — u n d als einzige ausdrückliche Schranke für diesen „Gemeinwillen" wurde dann der Gleichheitssatz aufgerichtet: „Elle doit être la même pour tous." 17 Maunz, Deutsches Staatsrecht, 13. Aufl. 1964, S. 100.

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zusätzliche Sicherungen der Grundrechte". 18 I n der Weimarer Zeit hatte schon Albert Hensel zu dem Problem bemerkt: „Es wäre vielleicht eine dankenswerte Aufgabe, für das Grundrechtssystem ganz allgemein zu untersuchen, was der Gesetzesvorbehalt bezweckt und wie er nach seinem Zweck i m einzelnen ausgelegt werden muß. Man kann ihn natürlich formallogisch oder . . . ,streng juristisch' behandeln: dem (Reichsoder Landes-)Gesetzgeber ist die Abweichung verstattet, i h m allein ist es also überlassen, i n welcnem Falle er abweichen und wie weit er die Abweichung ausdehnen w i l l . Vielleicht könnte aber doch durch vertiefte Einsicht aus dem Charakter der ,Ausnahme', die der Gesetzesvorbehalt zuläßt, zum mindesten eine Schranke für den Gesetzgeber selbst gewonnen werden .. . " 1 9 Wenige Jahre später forderte Hensel eine Ergänzung der herrschenden formalen Vorbehaltstheorie „aus dem den Grundrechten innewohnenden Wertgedanken heraus": „Sie müßte etwa dahingehend formuliert werden, daß der Gesetzgeber, wenn er von dem Vorbehalt Gebrauch macht, den Wert der grundrechtlichen Entscheidung unangetastet lassen muß; die Ausnahme hat die Regel zu bestätigen, hat sich dem i n ihr beschlossenen Werte gegenüber selbst als werthaft, als höherwertig zu rechtfertigen. Die werthafte Einheit, welche die Verfassung darstellt, zum mindesten darstellen soll, darf auch durch Ausübung des Vorbehaltsrechts nicht gesprengt werden . . . Durch eine solche materiell begründete Theorie vom Gesetzesvorbehalt werden viele der angeblich leerlaufenden Grundrechte auf eine ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung entsprechende Rang- und Wertstufe erhoben. Der Gesetzgeber ist an die i n ihnen liegenden Grundentscheidungen gebunden . . . Wissenschaftliche Auslegung hat zu erforschen, wie weit die Grenzlinie wirklicher Entscheidungsfreiheit jeweils reicht." 2 0 I n die gleiche Richtung weisen Äußerungen aus jener Zeit von Rudolf Smend, Erich Kaufmann und Gustav Giere. 21 Diese Gedanken weitergeführt und die Funktion des Gesetzesvorbehalts gegenüber mancherlei traditionellen Fehlvorstellungen herausgearbeitet zu haben, ist ein Verdienst der Arbeit von Peter Häberle. 22 2 S ] 18

Geiger, A r t i k e l Grundrechte, Staatslexikon, 3. Band, 6. Aufl. 1959, Sp. 1128. Hensel, Grundrechte u n d Rechtsprechung, i n : Die Reichsgerichtspraxis i m deutschen Rechtsleben (1929) S. 1 ff. (31). 20 Hensel, Die Rangordnung der Rechtsquellen, 1932, HdBDStR I I S. 313 ff. (316 A n m . 2). 21 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung (Bericht 1927), W D S t R L 4 (1928) S. 44 (51 ff.); Kaufmann, Eigentum u n d V e r w a l t u n g (Vortrag 1930), i n : Gesammelte Schriften Bd. 1 (1960) S. 450 ff. (453 f.); Giere, Das Problem des Wertsystems der Weimarer Grundrechte, Abhandlungen der Rechts- u n d Staatswissenschaftlichen F a k u l t ä t der Universität Königsberg, Heft 3 (1932) S. 116 ff. 22 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz (1962) S. 126 ff. (mit ausführlichen Nachweisen). Freilich leidet Häberles Darstellung 19

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O b e n w u r d e festgestellt, daß der Gesetzesvorbehalt eine sachgerechte „ A u s g e s t a l t u n g u n d B e g r e n z u n g " der G r u n d r e c h t e e r m ö g l i c h e n soll. Sachgerecht aber k a n n eine solche „ A u s g e s t a l t u n g u n d B e g r e n z u n g " i m m e r n u r sein, w e n n u n d s o w e i t sie d e m Schutze h ö h e r w e r t i g e r Rechtsg ü t e r dient. D a m i t finden w i r die R i c h t i g k e i t des schon oben (S. 50) f o r m u l i e r t e n Gedankens b e s t ä t i g t : „ I n k e i n e m F a l l e d a r f e i n g r u n d s ä t z l i c h geschütztes Freiheitsinteresse s t ä r k e r b e e i n t r ä c h t i g t w e r d e n , als dies z u m Schutze h ö h e r w e r t i g e r Rechtsgüter e r f o r d e r l i c h i s t . " Dieser G e d a n k e ist es auch, der d e m A p o t h e k e n u r t e i l z u g r u n d e liegt. B e k a n n t l i c h h a t dieses U r t e i l d i e R e g e l u n g s b e f u g n i s des Gesetzgebers d u r c h eine A u s l e g u n g begrenzt, die d e m „ S i n n des G r u n d r e c h t s u n d seiner B e d e u t u n g i m R a h m e n des sozialen L e b e n s " 2 4 R e c h n u n g t r ä g t . Das B V e r f G w a r sich h i e r b e i f r e i l i c h o f f e n b a r n i c h t k l a r d a r ü b e r , daß d e r v o n i h m aus g r u n d s ä t z l i c h e n E r w ä g u n g e n u n a b h ä n g i g v o n A r t . 19 I I G G g e w o n n e n e G e d a n k e gerade d e m S i n n dieser V o r s c h r i f t e n t s p r i c h t . 2 5 Das G e r i c h t h a t d e n A r t . 19 I I aus seinen E r w ä g u n g e n b e w u ß t ausge-

darunter, daß er noch (wie die bisherige Lehre) von „den" „Grundrechten" ausgeht anstatt von den Grundrechtsnormen. V o n diesem seinem Ausgangsp u n k t her k o m m t er zu der fragwürdigen Unterscheidung zwischen „zwei Grundkategorien" von Gesetzesvorbehalten, nämlich zwischen Vorbehalten, „die dem Gesetzgeber den Weg eröffnen, das Grundrecht gegen gleich- und höherwertige Rechtsgüter abzugrenzen" einerseits (sog. „Begrenzungs- oder Güterabwägungsvorbehalte"), u n d Vorbehalten, „die den Gesetzgeber zu l e i t bildgerechter) inhaltlicher Ausgestaltung von Grundrechten ermächtigen — Ausgestaltungsvorbehalte(n)" andererseits (S. 140 ff.). Dieser Unterscheidung, die zuvor etwa auch Bachof (in: Die Grundrechte I I I / l , 1958, S. 208) getroffen hat — (Bachof unterscheidet sogar zusätzlich noch Gesetzesvorbehalte, die zu „echten Einschränkungen" ermächtigen) — kann nicht gefolgt werden. Denn die Gesetzesvorbehalte haben, wie immer sie formuliert sein mögen, stets ein und dieselbe Funktion: sie sollen dem Gesetzgeber ermöglichen, den Geltungsbereich der abstrakt gefaßten Grundrechtsnormen auf G r u n d einer sorgfältigen Analyse der jeweiligen Lebens Verhältnisse u n d einer gerechten Abwägung aller jeweils beteiligten Interessen herauszuarbeiten. Auch Häberle erkennt das letztlich an, wenn er später (im Anschluß an Hamel) erklärt, jede „Begrenzung eines Grundrechts" sei zugleich „ein Stück Inhaltsbestimmung" und umgekehrt (S 179 a.a.O.). 23 F ü r das österreichische Verfassungsrecht betont jetzt Ermacora (Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, 1963, S. 18) entsprechend, der Verfassungsgerichtshof habe einem w i l l k ü r l i c h e n Gebrauch des Gesetzesvorbehalts zu wehren und die angemessenen Grenzen „aus dem Geist der Grundrechte" zu entwickeln. 24 25

B V e r f G 7, 377 (409); vgl. auch schon das L ü t h u r t e i l (BVerfG 7, 198).

Schon Bachof hat betont, die v o m BVerfG i m Apothekenurteil durchgeführte Sinnerschließung des Grundrechts sei „nichts a n d e r e s . . . als die E r schließung seines Wesensgehalts" (Freiheit des Berufs, i n : Die Grundrechte I I I / l , 1958, S. 145 ff., 215). Siehe auch Häberle, a.a.O. S. 61.

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klammert 2 6 — offenbar wollte es sich noch nicht auf eine bestimmte Deutung dieser umstrittenen Vorschrift festlegen. 27 So hat es sich darauf beschränkt, i n einem obiter dictum die sog. „relative Theorie" des B G H und gewisse Ansichten des BVerwG abzulehnen, 28 ohne jedoch darüber 26 „ V o n dem hier eingenommenen Standpunkt aus k a n n dahingestellt bleiben, ob aus dem Verbot der Antastung des Wesensgehalts der Grundrechte sich weitere Grenzen für den Regelungsgesetzgeber des A r t . 12 Abs. 1 Satz 2 ergeben würden und wie sie i m einzelnen zu ziehen wären. Denn die v o r stehenden Darlegungen haben ergeben, daß bereits eine dem Sinn des G r u n d rechts und seiner Bedeutung i m Rahmen des sozialen Lebens Rechnung tragende Auslegung zu einer sachgemäßen Begrenzung der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers f ü h r t " (BVerfG 7, 409). — I m U r t e i l zum handwerklichen Befähigungsnachweis entzog sich das Gericht einer Stellungnahme zu A r t . 19 Abs. 2 m i t einer anderen Begründung: „ W e n n A r t . 12 Abs. 1 GG den Gesetzgeber zu Regelungen' ermächtigt, so bringt er deutlich zum Ausdruck, daß solche Gesetze nicht,Einschränkungen' i. S. des A r t . 19 sind . . . D a m i t scheidet die Anwendung sowohl des A r t . 19 Abs. 2 wie des Abs. 1 Satz 2 GG aus" (BVerfG 13, 97, (122) = N J W 1961, 2011, 2015). — Dieses „Verbalargument" k a n n nicht überzeugen, geht es doch (wie oben unter I. dargelegt) bei sämtlichen gesetzlichen Regelungen, die ein Grundrecht betreffen, mag man sie n u n als „Regelungen", „Einschränkungen" oder „Begrenzungen" des Grundrechts bezeichnen, stets u m die gleiche Frage: u m die Frage nämlich, unter welchen Umständen und inwieweit das i n einer Grundrechtsnorm genannte Freiheitsinteresse geschützt werden soll (vgl. W. Hamel, Die Bedeutung der G r u n d rechte, 1957, S 41 ff.). 27 Darstellungen des Streitstandes finden sich etwa bei v. M a n g o l d t - K l e i n (1957) S. 554 ff. und P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961) S. 34 ff., 236 ff. — I n dem Meinungsstreit über die Bedeutung des A r t . 19 I I stehen sich bekanntlich „relative" u n d „absolute" Theorie gegenüber. Der B G H hat als Vertreter der „relativen Theorie" seine Ansicht folgendermaßen formuliert: „ E i n Grundrecht w i r d durch einen gesetzlichen Eingriff dann i n seinem Wesensgehalt angetastet, w e n n durch den Eingriff die wesensmäßige Geltung u n d Entfaltung des Grundrechts stärker eingeengt würde, als dies der sach*liche A n i aß u n d Grund, der zu dem Eingriff geführt hat, unbedingt und z w i n gend gebietet. Der Eingriff darf also n u r bei zwingender Notwendigkeit u n d i n dem nach Lage der Sache geringstmöglichen Umfang vorgenommen werden u n d muß zugleich von dem Bestreben geleitet sein, dem Grundrecht gleichw o h l grundsätzlich und i m weitestmöglichen Umfang Raum zu lassen" (so etwa B G H S t 4, 375 (377) = DVB1. 1953, 370 (371) betr. Gutachten über die Z u lässigkeit des Impfzwangs; sowie B G H D Ö V 1955, 729, 730 f.). — Hingegen beurteilt sich nach Ansicht der „absoluten Theorie" die Frage, ob ein G r u n d recht i n seinem Wesensgehalt angetastet w i r d , „nicht nach dem Zweck oder Grund der Beschränkung, sondern ausschließlich danach, was nach der Beschränkung von dem Grundrecht überhaupt übrigbleibt" [so etwa B V e r w G 1, 269 (273) = N J W 1955, 763 — freilich berücksichtigte letztlich auch das B V e r w G den Zweck und G r u n d der „Beschränkung" durch den Satz: „ A l l e r dings gehört es zum Inbegriff aller Grundrechte . . . , daß sie nicht i n Anspruch genommen werden dürfen, wenn dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet werden" (s. hierzu näher oben I V . A n m . 1)]. — Eine weitere Ansicht zu A r t . 19 I I v e r t r i t t Dürig. E r versucht, diese Vorschrift durch Bezugnahme auf A r t . 1 zu präzisieren: „Der G r u n d rechtsträger darf nicht zum Objekt des staatlichen Geschehens gemacht w e r den" (Dürig, Der Grundsatz von der Menschenwürde, 1956, AöR 81,177 ff., 136). 28 „Namentlich geht es nicht an, m i t dem Bundesverwaltungsgericht anzunehmen, die unabweisbare Notwendigkeit einer gesetzlichen Maßnahme müsse deshalb geprüft werden, w e i l von ihrer Anerkennung die Zulässigkeit des

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hinaus „positiv" zu A r t . 19 I I Stellung zu nehmen. 29 Der Sache nach ist es jedoch der von ihm abgelehnten Theorie des B G H gefolgt. Denn die von ihm für maßgeblich erklärten Grundsätze der Güterabwägung und der Verhältnismäßigkeit sind ja gerade die Gedanken, die der „relativen Theorie" zugrunde liegen. 30 Diese Gedanken lassen sich i n dem bereits zuvor formulierten Satz zusammenfassen: „ I n keinem Falle darf ein grundsätzlich geschütztes Freiheitsinteresse stärker beeinträchtigt werden, als dies zum Schutze höherwertiger Rechtsgüter erforderlich ist.." 31 Eingriffs i n den Wesensgehalt eines Grundrechts a b h ä n g e . . . Denn der Wesensgehalt eines Grundrechts darf nach dem klaren Wortlaut des A r t . 19 Abs. 2 GG ,in keinem Fall' angetastet werden . . . Aber auch der Auffassung des Bundesgerichtshofs... k a n n sich das Bundesverfassungsgericht nicht anschließen, w e i l sie geeignet ist, den Wesensgehalt der Grundrechte zu relativieren . . . " (BVerfG 7, 411). 29 Aus den bisher vorliegenden Äußerungen des Gerichts läßt sich nicht eindeutig entnehmen, welche Vorstellungen es sich über A r t . 19 I I gebildet hat. Das obige Zitat (s. A n m . 28) u n d der dortige Verweis auf Klein, einen V e r treter der absoluten Theorie, sowie ein Hinweis i m Elfesurteil (BVerfG 6, 32 (41): A r t . 19 Abs. 2 garantiere einen „letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit") berechtigen zu der Annahme, das Gericht neige der absoluten Theorie zu (vgl. auch die Äußerung zu Art.19 Abs. 2 i n B V e r f G 2, 266 (285). — Der Sache nach folgt das B V e r f G freilich der (von i h m abgelehnten!) relativen Theorie (s. hierzu den weiteren Text). 30 Daß die „relative Theorie" nicht n u r auf dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit, sondern auch auf dem Gedanken der Güterabwägung beruht — (vgl. B G H D Ö V 1955, 729 (Gutachten) 2. Leitsatz: „übergeordnete Rechtsgründe"; und zuvor schon B G H S t 4, 375 (378): der Impfzwang beruhe auf einer „zwingenden übergeordneten Notwendigkeit") — ist von ihren K r i t i k e r n (vgl. etwa Herbert Krüger, D Ö V 1955, 598; Dürig, AöR 81, 135; Bachof, J Z 1958,469) freilich oft übersehen worden. Das liegt w o h l daran, daß der B G H den Gedanken der Güterabwägung (Höherwertigkeit der zu schützenden Interessen) nicht hinreichend herausgestellt hat. Einige Gutachten stellen n u r darauf ab, daß der sachliche G r u n d u n d Anlaß die „Einschränkung" zwingend gebieten muß — vgl. etwa B G H S t 4, 385 (392) — erwähnen hingegen nicht ausdrücklich, daß n u r ein Rechtsgut, das dem betroffenen Grundrecht übergeordnet ist, ein solcher sachlicher G r u n d u n d Anlaß sein kann. Doch w i r d dies stets vorausgesetzt (Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte, 1957, S. 40). 31 Die Bedeutung des Apothekenurteils (BVerfG 7, 377) geht also über den Bereich des A r t . 12 weit hinaus. Darauf hat Bachof schon i n seiner Besprechung des Urteils (JZ 1958, 468) hingewiesen ( „ W e g w e i s e r . . . f ü r die Grundrechtsinterpretation überhaupt"). — Allerdings k a n n der obengenannte Satz die Gedanken des Apothekenurteils n u r i n einer gewissen Vergröberung zusammenfassen. Denn er b r i n g t das von diesem U r t e i l ausgesprochene „ D i f ferenzierungsgebot" nicht zum Ausdruck. Aber das ist k e i n E i n w a n d gegen die Richtigkeit des Satzes. Eine Generalklausel — u n d u m eine solche handelt es sich hier — ist zwangsläufig grobmaschig. Worauf es ankommt ist die A r t , i n der die Klausel konkretisiert w i r d . U n d insoweit — bei der Konkretisierung — sind die vom Apothekenurteil herausgearbeiteten Gesichtspunkte („Differenzierungsgebot" u n d „Stufentheorie") ganz allgemein richtungweisend (s. näher unten S. 60 ff.). — Daß es sich bei dem obengenannten Satz u m einen elementaren, an k e i n positives Rechtssystem gebundenen Grundgedanken handelt, zeigt ein vergleichender Blick auf die amerikanische u n d die schweizerische Rechtsprechung (vgl. oben I. A n m . 28; unten I V . Anm. 60).

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Dieser Satz entspricht dem Sinn des Art. 19 Abs. 2, garantiert er doch einen optimalen Schutz der Freiheitsrechte: Anders als die „absolute Theorie" schützt er sie nämlich nicht nur innerhalb eines „Kernbereichs", sondern ganz allgemein gegen unberechtigte Beeinträchtigungen. 32 Und auch hinsichtlich des „Kernbereichs" ist der von ihm verbürgte Schutz nicht weniger intensiv als der der „absoluten Theorie". Das w i r d von deren Anhängern freilich bestritten: sie versprechen — i m Gegensatz zur „relativen Theorie" — für den „Kernbereich" einen angeblich „absoluten" Schutz. 33 Aber sie können dieses Versprechen nicht einlösen, müßten sie sonst doch entschlossen sein, „lieber unterzugehen, als selbst i n der gefährlichsten Krise diesen Wesensgehalt aufzuopfern". 34 Es bleibt ihnen deshalb nichts anderes übrig, als den „Kernbereich" entweder von vornherein so zu verengen, daß er auch durch weitreichende Regelungen nicht angetastet erscheint, 35 oder ihr Urteil, der „Kernbereich" sei angetastet, i m Bedarfsfalle mit Hilfe einer nachgeschobenen Güterabwägung zu korrigieren. 3 6 Es zeigt sich hier eindrucksvoll, daß auch die Anhänger der absoluten Theorie nicht um eine wertende Abwägung herumkommen. Und da diese wertende Abwägung nun einmal sowohl unvermeidlich als auch allein sachgerecht ist, sollte man sie von vornherein unmittelbar zum entscheidenden Prinzip erheben, anstatt sie nur mittelbar oder erst nachträglich zu berücksichtigen. — I m übrigen ist der „absoluten Theorie" zwar zuzugeben, daß der Wortlaut des Art. 19 Abs. 2 sowie die Erläuterung dieser Vorschrift durch den damaligen Ausschußvorsitzenden Dr. v. Mangoldt 3 7 für ihre Auslegung (bloßer „Kernbereichs"Schutz) sprechen. Gewichtiger aber als Wortlaut und Vorstellungen des „Verfassungsgebers" sind Sinn und Zweck des A r t . 19 Abs. 2. Diese Vorschrift ist heute so zu deuten, daß sie ihren Zweck (Schutz der Grundrechte) optimal erfüllt. Der Richter handelt bei einer solchen 32 Z u r K r i t i k an der absoluten Theorie s. etwa B G H DÖV 1955, 729 f. (die Auffassung des B V e r w G führe zur „völligen E n t w e r t u n g " der Grundrechte) u n d Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte (1957) S. 42 ff. 33 Vgl. etwa v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz (1957) S. 559 f. 34 So folgerichtig Herbert Krüger, Allg. Staatslehre (1964) S. 536 f., der allerdings sogleich anfügt: „ M a n braucht k e i n Schwarzseher zu sein, wenn man voraussieht, daß i m Ernstfall von einer solchen Entschlossenheit nicht mehr viel zu finden sein w i r d . " Vgl. auch Krüger a.a.O. S. 553 f. 85 Vgl. etwa E. R. Huber, D Ö V 1956, 135 (142 f.). Huber meint, der durch A r t . 19 Abs. 2 garantierte Schutz setze zwar „erst an einer extremen Grenze" ein, gebe dafür aber dem Recht an dieser Grenze eine „absolute Impermeab i l i t ä t " . Huber engt das „substanzielle M i n i m u m " dann jedoch so ein, daß eine Bedürfnisprüfung i m Rahmen des A r t . 12 nicht als „SubstanzVerletzung" erscheint. 36 So früher das B V e r w G (siehe oben I V Anm. 1). 37 Siehe oben unter I I .

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funktionellen Auslegung auch da i m Sinne des „Verfassungsgebers", wo er sich von dessen historisch gebundenen Vorstellungen löst. 38 Der genannte Satz 39 ist der richtige Ausgangspunkt für eine befriedigende Lösung auch der schwierigsten Probleme, so etwa des Ausnahmezustandes (Staatsnotstandes); 40 der Frage, ob und inwieweit die Grundrechte auch i m sog. „besonderen Gewaltverhältnis" 4 1 gelten; 42 38 Z u dem hier angedeuteten Problem hat Erich K a u f m a n n ganz allgemein bemerkt: „Es ist nicht n u r ein Scherz und vielleicht n u r etwas auf die Spitze getrieben ausgedrückt, wenn ich glaube, fordern zu sollen, daß erstens kein M i t g l i e d des Parlamentarischen Rates i n das Verfassungsgericht k o m m t und daß zweitens die Materialien des Parlamentarischen Rates, wenn nicht verbrannt, so doch i n einem verschlossenen Schrank gehalten und n u r zu rein historischer A r b e i t herangezogen werden. Auch die v o m besten W i l l e n beseelten Verfassungsgesetzgeber i n Bonn waren Menschen und als solche dem I r r t u m unterworfen u n d konnten n u r beschränkte und zeitgebundene Einsichten haben" (Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, W D S t R L 9 (1952) S. 12 f.; jetzt auch abgedr. i n Gesammelte Schriften I 1960 S. 500, 510).

„ I n keinem Falle darf ein grundsätzlich geschütztes Freiheitsinteresse stärker beeinträchtigt werden, als dies zum Schutze höherwertiger Rechtsgüter erforderlich ist." 40 Siehe hierzu A r t . 15 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten; K . Hesse, Grundfragen einer verfassungsmäßigen Normierung des Ausnahmezustandes, JZ 1960, 105 ff.; Hans-Ernst Folz, Staatsnotstand u n d Notstandsrecht (1962), bes. S. 190 ff. Auch P. Lerche, der die „Lehre von den vordringlichen Allgemeininteressen" grundsätzlich ablehnt, greift i m Falle des Staatsnotstandes auf ihre Grundgedanken zurück (Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, 1961 S. 301 ff.). 41 Siehe hierzu etwa die Referate von Herbert Krüger und von Ule, Das besondere Gewaltverhältnis, W D S t R L 15 (1957) 109 ff., 133 ff. 42 Hierzu hat etwa das B V e r w G i n seinem U r t e i l zu der Frage, ob die U n i versität einen Studenten ausschließen darf, w e i l er verbotswidrig Farben getragen hat, erklärt: „Eine Einschränkung der durch das Grundgesetz gewährleisteten Freiheitsrechte ist jedoch nach allgemeiner Auffassung auch i m Rahmen besonderer Gewaltverhältnisse n u r zulässig, w e n n sie durch dessen Zweck ihre Rechtfertigung findet... Die Einschränkung darf nicht tiefer dringen, als es das Wesen oder der Zweck des besonderen Gewaltverhältnisses unmittelbar e r f o r d e r n . . . " (BVerwG 7, 125 (137) = JZ 1958, 736 (741)). Von hier aus wurde dann gefolgert: „Es k a n n nicht anerkannt werden, daß die Aufrechterhaltung der äußeren u n d inneren Ordnung des Studienbetriebes oder ein verbandsrechtlich begründeter besonderer Erziehungs- und B i l dungszweck eine so weitgehende Maßnahme wie den Ausschluß vom Studium bei einer Verletzung des Farbenverbots unumgänglich m a c h e n . . . Ebensowenig lassen sozialstaatliche Motive den Ausschluß aus der Hochschulgemeinschaft wegen einer Übertretung des Farbenverbots zwingend notwendig erscheinen" (S. 138 a.a.O.). — A n diesem einzigen F a l l zeigt sich bereits deutlich, daß hinter dem „Zweck"-Begriff, m i t dessen H i l f e man das Problem zu lösen u n d der „Einschränkung" von Grundrechten i m „besonderen Gewaltverhältnis" zu wehren sucht, nichts anderes steht, als der soeben formulierte Gedanke: I n keinem Falle darf ein grundsätzlich geschütztes Freiheitsinteresse stärker beeinträchtigt werden, als dies zum Schutze höherwertiger Rechtsgüter erforderlich ist. Von hier aus lassen sich jene „entscheidenden Fragen" lösen, „ w e r den Zweck des Gewaltverhältnisses bestimmt (sofern es nicht der Gesetzgeber getan hat), und welchen Bindungen diese Zweckbestimmung unterliegt, werde sie n u n v o m Gesetzgeber, vom Anstaltsherrn oder von wem

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sowie der Frage, wo die Grenzen der von Art. 2 Abs. 1 geschützten allgemeinen Freiheit („freien Entfaltung der Persönlichkeit") liegen. 43 Der

auch immer vorgenommen" (Bachof, JZ 1962, 400) : Freiheitsbeeinträchtigende Maßnahmen, die etwa einen Beamten, einen Soldaten oder einen Schüler betreffen, sind immer n u r zulässig, w e n n u n d soweit das Freiheitsinteresse des Betroffenen einem höherwertigen Interesse nachzuordnen ist. Der „Zweck" eines besonderen Gewaltverhältnisses k a n n also (wie u n d durch wen immer er bestimmt werden mag) beeinträchtigende Maßnahmen immer n u r rechtfertigen, wenn und soweit er Interessen dient, die gegenüber den Freiheitsinteressen der „Gewaltunterworfenen" den Vorrang haben (vgl. hierzu etwa BVerfG 15, 288 = N J W 1963, 755; Hamel, a.a.O. S.51; Nipperdey, a.a.O. (Note 51) S. 816 ff.). W a n n dies der F a l l ist, k a n n — wie auch sonst — n u r auf G r u n d einer genauen Analyse der jeweiligen Verhältnisse unter sorgfältiger Abwägung der beteiligten Interessen entschieden werden. 43 „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt u n d nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt" (Art. 2 I GG). Umstritten ist hier, welche Bedeutung dem Begriff „verfassungsmäßige Ordnung" zukommt. Bekanntlich hat das BVerfG i n dem vielgescholtenen Elfesurteil (BVerfG 6, 32) den Begriff interpretiert als „allgemeine Rechtsordnung", „die die materiellen und formellen Normen der Verfassung zu beachten hat, also eine verfassungsmäßige Rechtsordnung sein muß" (S. 38 a.a.O.). — Die K r i t i k e r haben dieser Interpretation immer wieder vorgeworfen, sie habe contra legem für A r t . 2 den allgemeinen Gesetzesvorbehalt eingeführt. Dadurch werde das Freiheitsrecht des A r t . 2 entwertet. Praktisch statuiere A r t . 2 n u n n u r noch den ohnehin selbstverständlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (vgl. statt aller Nipperdey, a.a.O. (Note 51) S. 791 m.w.Nachw. sowie Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) S. 82 ff. — Das BVerfG hatte auf S. 40 a.a.O. vergeblich versucht, dieser K r i t i k , insbes. durch den Hinweis auf A r t . 19 Abs. 2, vorzubeugen). Diese K r i t i k am Elfesurteil w i r d jedoch gegenstandslos, sobald man — wie es dann i m Apothekenurteil (BVerfG 7, 377) beispielhaft für das Grundrecht der Berufsfreiheit geschehen ist — den Gedanken der Güterabwägung heranzieht, u m die gesetzliche Regelungsbefugnis (auch i m Rahmen des A r t . 2 Abs. 1) zu begrenzen. Dieser Gedanke steht bereits hinter dem Elfesurteil (BVerfG 6, 44: „ . . . z u m Schutz dieses übergeordneten Rechtguts..."), ist dort allerdings noch nicht h i n reichend herausgestellt worden. Inzwischen ist er aber auch i m Rahmen des A r t . 2 zunehmend hervorgetreten — vgl. B V e r f G 6, 389 (433) : Bestrafung der Homosexualität zulässig, da diese gegen das Sittengesetz verstößt; B V e r f G 8, 274 (328): Zulässigkeit von preissteuernden „Maßnahmen, die Gefährdungen und ernsthafte Störungen des gesamten Preisstandes abwehren sollen und die für besondere Bereiche des Wirtschaftslebens zum Nutzen des Gemeinwohls geboten sind"; B V e r f G 10, 354 (369 f.): Zulässigkeit ärztlicher Zwangskassen m i t Beitragspflicht (kollektive Zwangsversorgung) zur „Erhaltung eines v o l l leistungsfähigen Ärztestandes" u n d damit auch zugleich zum Schutze der „Volksgesundheit"; B V e r f G 13, 230 (235): Zulässigkeit von Ladenschlußbestimmungen, die die „Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen" für Ladenangestellte sichern u n d „gleiche Chancen i m Wettbewerb" garantieren sollen. — I n manchen Entscheidungen fehlt allerdings leider ein ausdrücklicher H i n weis auf den Gedanken der Güterabwägung, so etwa i n BVerfG 9, 137 (146). — Es wäre zu wünschen, daß das B V e r f G diesen Gedanken k ü n f t i g a u d i i m Rahmen des A r t . 2 Abs. 1 noch stärker als maßgebend herausstellt und damit die Befürchtungen der bis heute nicht verstummten K r i t i k am Elfesurteil zum Schweigen bringt.

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I V . Der „Wesensgehalt" der Grundrechte

Satz führt zum bestmöglichen Ausgleich zwischen dem Freiheitsstreben des Einzelnen und den Interessen der Allgemeinheit. 4 4 Freilich kann der Satz nur ein Ausgangspunkt sein. Das eigentliche Problem besteht darin, ihn i n sachgerechter Weise zu konkretisieren. 45 Bei der Konkretisierung ist nun insbesondere auch darauf zu achten, daß dem Gesetzgeber eine hinreichende „Gestaltungsfreiheit" 4 6 verbleibt. M i t der „Stufentheorie" und dem „Differenzierungsgebot" hat das BVerfG i m Apothekenurteil Gesichtspunkte herausgearbeitet, 47 die (über Art. 12 hinaus) Richtlinien für die Konkretisierung des Satzes geben. 48 Umfassen doch außer der Berufsfreiheit auch andere Grundfreiheiten (ζ. B. Vertragsfreiheit und Eigentum) regelmäßig eine Reihe von Befugnissen, deren Gewicht und Schutzwürdigkeit verschieden groß sind. 49 Von hier aus w i r d es möglich, dem Gesetzgeber innerhalb weiter Bereiche einen angemessenen Spielraum zu belassen und damit zu verhindern, daß i h m die erforderliche und i h m gebührende Gestaltungsfreiheit genommen wird. [Das BVerfG hat selbst mehrfach betont, dem Gesetzgeber müsse eine hinreichende Gestaltungsfreiheit verbleiben. So hat es etwa i m Urteil zum handwerklichen Befähigungsnachweis erklärt: „Dabei ist vom grundsätzlichen Vorrang des Freiheitsrechts auszugehen; doch darf sich der Richter über die Erwägungen und Wertungen, die den Gesetzgeber zu einer nach seiner Auffassung notwendigen Freiheitsbeschränkung geführt haben, nur dann hinwegsetzen, wenn sie sich, am Maßstab des Grundgesetzes gemessen, als unhaltbar erweisen." 50 — Das Schrifttum hat wiederholt eine strenge Selbstbeschränkung der verfassungsrichterlichen Kompetenz gefordert. 51 Es sei i n diesem Zusammenhang insbe44

Er entspricht so dem Ausgleichsstreben des Grundgesetzes, welches das B V e r f G wie folgt charakterisiert hat: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen I n d i v i d i u u m s ; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung I n i v i d i u u m — Gemeinschaft i m Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit u n d Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten." (BVerfG 4, 7, 15 f.). 45 Es k a n n insoweit auf die Ausführungen zu I I I . verwiesen werden. 46 Dieser Ausdruck w i r d i n B V e r f G 11, 50 gebraucht. 47 BVerfG 7, 377 (405 ff.); hierzu Bachof, Freiheit des Berufs, i n : Die Grundrechte I I I / l (1958) S. 155 (212 ff.). 48 Vgl. Häberle, Wesensgehaltgarantie (1962) S. 68. 49 So umfaßt etwa die — durch A r t . 2 Abs. 1 geschützte — Vertragsfreiheit das Recht freier W a h l der Form, des Inhalts, des Abschlusses u n d der A u f hebung von Verträgen (vgl. F. Rittner, Die Ausschließlichkeitsbindungen, 1957, S. 11). 50 B V e r f G 13, 97 (105) = N J W 1961, 2011 (2012). 51 Siehe etwa die eindringliche Mahnung von Horst Ehmke, der — insbesondere auch i m Hinblick auf das von i h m grundsätzlich kritisierte Apothekenurteil — betont, „daß . . . das A u n d Ο verfassungsgerichtlicher Interpretation die nicht n u r proklamierte, sondern auch praktizierte Zurückhaltung

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sondere auf d i e w i e d e r h o l t z i t i e r t e A r b e i t v o n P e t e r L e r c h e h i n g e w i e sen, d e r e n H a u p t a n l i e g e n d a r i n besteht, e i n e r s c h e m a t i s c h - u n d i f f e r e n z i e r t e n A n w e n d u n g des Ü b e r m a ß v e r b o t e s u n d d a m i t einer a l l z u s t a r r e n B i n d u n g des Gesetzgebers z u w e h r e n . 5 2 ] D e r U m f a n g d e r gesetzlichen G e s t a l t u n g s f r e i h e i t b e s t i m m t sich, w i e das A p o t h e k e n u r t e i l a m B e i s p i e l der B e r u f s f r e i h e i t zeigt, nach d e r Regel: Je e m p f i n d l i c h e r eine gesetzliche R e g e l u n g d e n E i n z e l n e n i n sein e n F r e i h e i t s i n t e r e s s e n t r i f f t , j e belastender sie sich f ü r i h n a u s w i r k t , u m so g e r i n g e r w i r d d e r d e m Gesetzgeber v e r b l e i b e n d e S p i e l r a u m , desto m e h r v e r s t ä r k t sich also d e r Schutz z u g u n s t e n des B e t r o f f e n e n . 5 3 B e d e u t s a m ist f e r n e r , ob u n d i n w i e w e i t d i e b e e i n t r ä c h t i g e n d e R e g e l u n g zugleich auch V o r t e i l e f ü r d e n j e w e i l s B e t r o f f e n e n m i t sich b r i n g t . 5 4 Das A p o t h e k e n u r t e i l h a t i n T h e o r i e u n d P r a x i s w e i t h i n A n e r k e n n u n g g e f u n d e n . 5 5 A b e r der i h m z u g r u n d e l i e g e n d e S a t z 5 6 w i r d noch n i c h t a l l des Gerichtes sein muß" [Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) S. 52 ff. (97)]. Vgl. ferner etwa Zippelius, Wertungsprobleme i m System der Grundrechte (1962) S. 198 ff. (mit weit. Nachweisen). 52 P. Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht (1961), bes. S. 98 ff. Lerche stuft die Geltungsintensität des Übermaßverbotes ab. E r stellt hierbei allerdings nicht — w i e hier befürwortet — auf das Gewicht u n d den Grad der Beeinträchtigung der jeweils betroffenen Interessen ab, sondern auf die Art der jeweiligen „Grundrechtsbegrenzung". Nach Lerche sind nämlich verschiedene Kategorien von „Grundrechtsbegrenzungen" zu unterscheiden, u n d zwar die „Hauptformen des Grundrechtseingriffs, der Grundrechtsverdeutlichung, der Grundrechtsprägung, der grundrechtlichen Mißbrauchabwehr u n d der g r u n d rechtlichen Konkurrenzlösung" (S. 99 ff., 350 Ziff. 4). — [Hierbei soll für „ m i ß brauchsabwehrende Normen" das Übermaßverbot v o l l gelten (S. 134), f ü r „eingreifende Normen" grundsätzlich (S. 137 ff.), f ü r die „grundrechtsprägenden Normen" grundsätzlich nicht (S. 140 ff.), für die „konkurrenzlösenden N o r men" bis zu einem gewissen Grade (S. 151 ff.), f ü r die „verdeutlichenden N o r men" nicht (S. 153 ff.)]. — Gegenüber dieser Einteilung ist zu bemerken, daß es bei jeder „grundrechtsberührenden" N o r m (wie i m m e r m a n sie klassifizieren mag) stets um ein und dieselbe Frage geht: um die Frage nämlich, ob und inwieweit ein bestimmtes, in einer Grundrechtsnorm genanntes Freiheitsinteresse Schutz verdient. U n d diese Frage läßt sich n u r dadurch lösen, daß man nach dem Gewicht u n d dem Grade der Beeinträchtigung der jeweils betroffenen Interessen abstuft. Dieser Gedanke steht i m Grunde w o h l auch hinter Lerches Versuch einer Kategorienbildung. Jedenfalls k o m m t Lerche, wie insbes. seine (im Ergebnis bejahende) Stellungnahme zum Apothekenu r t e i l zeigt (S. 145, 253) letztlich w e i t h i n zu den gleichen Resultaten, die man auf dem hier befürworteten Wege erreicht. 53 Bachof hat diesem Grundgedanken des B V e r f G zugestimmt u n d zugleich vor einer Überschätzung formeller Gesichtspunkte — wie der Unterscheidung zwischen „subjektiven" u n d „objektiven" Zulassungsbedingungen — gewarnt (Bachof, i n : Die Grundrechte I I I / l , 1958, S. 215, 217 f.). 54 Vgl. hierzu etwa B H G S t 4, 375 (378 f.) — Gutachten betr. die Zulässigkeit des Impfzwangs. 55 Siehe etwa Bachof, Z u m Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts, J Z 1958, 468; ders., i n : Die Grundrechte I I I / l (1958) S.215; Nipperdey, i n : Die Grundrechte IV/2 (1962) S. 889. Das B V e r w G hat sich dem Apothekenurteil angeschlossen (BVerwG 7, 287). — Soweit das U r t e i l k r i t i s i e r t w i r d , richtet

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gemein anerkannt. Zudem w i r d oft nicht erkannt, daß gerade dieser Satz dem Sinn des A r t . 19 Abs. 2 entspricht, daß also eine Regelung, die diesem Satze Rechnung trägt, damit gerade unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 2 zulässig ist (den „Wesensgehalt" des betroffenen Grundrechts also nicht „antastet"). Steht fest, daß eine als verfassungswidrig angegriffene Norm zum Schutze höherwertiger Güter erforderlich ist, so erübrigt sich jede weitere Prüfung! Und es ist deshalb unrichtig und irreführend, die Norm anschließend „auch noch" unter dem Gesichtspunkt des A r t . 19 Abs. 2 zu prüfen. Leider hat das aber das BVerfG i n einem Falle getan, i n dem es um die Verfassungsmäßigkeit einer Körordnung ging. 5 7 Ein Bauer hatte vorschriftswidrig seinen Bullen nicht gekört und sollte bestraft werden. Der Strafrichter legte die Körordnung dem BVerfG vor. Dieses verneinte eine Verletzung sowohl des A r t . 12 (Berufsfreiheit) als des Art. 14 (Eigentum): Soweit die Vorschrift die Berufsausübung regele, sei sie durch die von der Bundesregierung und der Bayerischen Staatsregierung i m einzelnen dargelegten ernährungspolitischen Gründe gerechtfertigt und gehe inhaltlich nicht über das Maß des Gebotenen und für den Tierhalter Zumutbaren hinaus. Bezüglich des A r t . 14 handle es sich u m eine Bestimmung von Inhalt und Schranken, die aus den gleichen Gründen zulässig sei. — Anstatt seine Prüfung hiermit abzuschließen, erklärte das Gericht dann noch zusätzlich (!), die Bestimmung berühre nicht den „Kernbereich der menschlichen Persönlichkeit". Sein Verweis auf BVerfG 6, 32 (41) ergibt, daß das Gericht hierbei an Art. 19 Abs. 2 dachte. Es zeigt sich hier deutlich, daß sich das BVerfG offenbar nicht darüber klar ist, daß die von i h m i m Apothekenurteil anerkannten Gedanken gerade dem Sinn des Art. 19 Abs. 2 entsprechen. 58 Die bestehenden Unklarheiten sind wohl hauptsächlich der Systemat i k zuzuschreiben, für die sich das Grundgesetz i m Grundrechtsteil entschieden hat. sich die K r i t i k weniger gegen die v o m BVerfG für maßgeblich erklärten P r i n zipien als dagegen, daß das Gericht i m konkreten F a l l den Erwägungen und Wertungen des Gesetzgebers zu wenig Gewicht beigemessen habe (in diesem Sinne Ehmke, W D S t R L 20, 96 f.). 56

„ I n keinem Falle darf ein grundsätzlich geschütztes Freiheitsinteresse stärker beeinträchtigt werden, als dies zum Schutze höherwertiger Rechtsgüter erforderlich ist." 57 58

BVerfG 10, 55.

Sollte sich jedoch die zusätzliche Äußerung zum „Kernbereich" überhaupt nicht auf A r t . 12 und 14 beziehen, sondern — wie Ehmke i n W D S t R L 20 (1963) S. 84 meint — auf A r t . 2 Abs. 1, so wäre dem entgegenzuhalten, daß A r t . 12 u n d 14 als Sondernormen die Anwendung des A r t . 2 Abs. 1 doch von v o r n herein ausschließen — was das B V e r f G (a.a.O. S. 58) übrigens selbst betont. I n jedem Falle wäre zu wünschen, daß die bestehenden Unklarheiten bei nächster Gelegenheit bereinigt werden.

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H ä t t e das Grundgesetz — w i e die V e r f a s s u n g der V e r e i n i g t e n Staaten — sämtliche G r u n d r e c h t e o h n e j e d e n a u s d r ü c k l i c h e n V o r b e h a l t s t a t u i e r t u n d es d a m i t v o n v o r n h e r e i n v o l l der Rechtsprechung überlassen, d e n G e l t u n g s b e r e i c h der G r u n d r e c h t s n o r m e n h e r a u s z u a r b e i t e n , so w ä r e n die U n k l a r h e i t e n s c h w e r l i c h e n t s t a n d e n u n d der Satz: „ J e d e G r u n d r e c h t s n o r m g i l t n u r , d a f ü r aber auch i m m e r , w e n n u n d s o w e i t d e m geschützten F r e i h e i t s i n t e r e s s e k e i n e h ö h e r w e r t i g e n Interessen (Rechtsgüter) entgegenstehen", w ä r e w o h l l ä n g s t a l l g e m e i n a n e r k a n n t . 5 9 A b e r auch v o m B o d e n der j e t z i g e n S y s t e m a t i k aus w ü r d e dieser Satz heute w o h l eher a n e r k a n n t sein, w e n n der A r t . 19 A b s . 2 g l ü c k l i c h e r f o r m u l i e r t oder ganz gestrichen w o r d e n w ä r e . Das m a c h t u. a. e i n v e r g l e i chender B l i c k a u f das Schweizer Verfassungsrecht d e u t l i c h , das k e i n e d e m A r t . 19 A b s . 2 G G entsprechende V o r s c h r i f t k e n n t . 6 0 V o n h i e r aus e m p f i e h l t es sich, d e n A r t . 19 A b s . 2, f a l l s m a n i h n n i c h t ü b e r h a u p t als e n t b e h r l i c h streichen w i l l , 6 1 i n eine f ü r d i e Z u k u n f t erh o f f t e gesamtdeutsche V e r f a s s u n g n i c h t i n der g e g e n w ä r t i g e n Fassung zu ü b e r n e h m e n , s o n d e r n i h n u m z u f o r m e n i n d e n k l a r e n Satz: „ I n k e i n e m F a l l e d a r f e i n g r u n d s ä t z l i c h geschütztes Freiheitsinteresse s t ä r k e r b e e i n t r ä c h t i g t w e r d e n , als dies z u m Schutze h ö h e r w e r t i g e r Rechtsgüter erforderlich ist."62 59 E i n allgemeiner Verzicht auf ausdrückliche Vorbehalte hätte freilich i m Widerspruch zur europäischen Verfassungstradition gestanden und konnte darum v o m Grundgesetz schwerlich erwartet werden. Indes interessiert hier die Möglichkeit eines solchen Verzichts allein unter systematischen Gesichtspunkten. 60 M a n geht i n der Schweiz davon aus, daß sämtliche Grundfreiheiten ausdrücklich oder stillschweigend unter dem Vorbehalt des „ordre public" stehen (siehe M. Bridel, Sur les limites des libertés individuelles, i n : Die Freiheit des Bürgers i m Schweizerischen Recht, 1948, S. 99 ff., 109). Doch schützt das Schweizer Bundesgericht — das insoweit freilich n u r Staatsakte der Kantone, nicht hingegen solche des Bundes überprüfen darf (vgl. Hans Huber, Die v e r fassungsrechtliche Bedeutung der Grundrechte i n der schweizerischen Rechtsprechung, i n : Recht, Staat, Wirtschaft I V , 1953, S. 120 ff.) — die Grundrechte durch das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit (Nachweise bei B r i d e l a.a.O. S. 111) und den Gedanken der Güterabwägung. B r i d e l bemerkt hierzu, das Bundesgericht habe bisher zwar, soweit ersichtlich, i n diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich von einer Güterabwägung gesprochen. Aber i n den weitaus meisten einschlägigen Entscheidungen sei eine richtige Bewertung der einander gegenüberstehenden Interessen nachweisbar. 61 Handelt es sich doch bei dieser Norm, w i e bereits i m Apothekenurteil zum Ausdruck k o m m t (vgl. den aufschlußreichen, oben I V . A n m . 26 zitierten Passus des Urteils) u n d wie auch P. Häberle (Wesensgehaltgarantie, 1962, S. 234) festgestellt hat, u m eine rein deklaratorische Vorschrift. V o n hier aus w i r d verständlich, daß andere Verfassungen — insbesondere die der Vereinigten Staaten und der Schweiz — ohne eine solche Bestimmung auskommen. 62 U m naheliegenden Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier nochmals betont, daß bei der Konkretisierung dieses Satzes nach den Gesichtspunkten des Apothekenurteils differenziert werden muß. Dem Gesetzgeber verbleibt also w e i t h i n ein angemessener Spielraum und damit die i h m gebührende „Gestaltungsfreiheit" (s. näher oben S. 60 f.).