Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland 3515108971, 9783515108973, 9783515108997

Das Ausmaß der Teilhabe an der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen ist ein wichtiges Kriterium bei der An

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Polecaj historie

Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland
 3515108971, 9783515108973, 9783515108997

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
BÜRGER SEIN IM BÜRGERSTAAT
LEGITIMATION DURCH MEHRHEITSENTSCHEID?
ZENSUSGRENZEN FÜR DIE ÄMTERBEKLEIDUNG IM KLASSISCHEN GRIECHENLAND
TEILHABE UND SYSTEMEFFEKTIVITÄT

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Wolfgang Blösel / Winfried Schmitz / Gunnar Seelentag / Jan Timmer

Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10897-3 (Print) ISBN 978-3-515-10899-7 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Jan Timmer Einleitung ............................................................................................................... 7 Gunnar Seelentag Bürger sein im Bürgerstaat. Soziopolitische Integration im klassischen Kreta ..................................................................................................................... 13 Winfried Schmitz Legitimation durch Mehrheitsentscheid? Partizipationschancen und Partizipationsgrenzen im Athen des 6. und frühen 5. Jh. .................................... 47 Wolfgang Blösel Zensusgrenzen für die Ämterbekleidung im klassischen Griechenland. Wie groß war der verfassungsrechtliche Abstand gemäßigter Oligarchien von der athenischen Demokratie? .................................................... 71 Jan Timmer Teilhabe und Systemeffektivität. Überlegungen zur Legitimität von Entscheidungen im klassischen Athen ................................................................. 95

EINLEITUNG Jan Timmer Teilhabe gilt als das Zeichen gelungener Demokratie schlechthin. Daß diese Teilhabe nicht unbeschränkt ist, Chancen und Grenzen politischer Partizipation auch in dieser Herrschaftsform interkulturell sowie in historischer Perspektive variabel sind, ist zwar unbestritten, wird aber häufig lediglich als Abweichung von einem Idealtyp „Demokratie“ verstanden, wobei dieser wiederum, wie dies bei einem derart aufgeladenen Begriff nicht anders zu erwarten ist, häufig unklar bleibt. Der vorliegende Sammelband, der hauptsächlich die Beiträge der Sektion Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland im Rahmen des 48. Deutschen Historikertages in Berlin 2010 versammelt,1 soll – anstatt den schwierigen Demokratiebegriff zum Ausgangspunkt der Analyse griechischer politischer Systeme zu machen – die Funktion und Ausgestaltung von Partizipationsgrenzen im Spannungsfeld zwischen der Legitimität der Entscheidung und der Effektivität des Ergebnisses am Beispiel von Verfassungen des klassischen Griechenlands untersuchen. Die dahinterstehende Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Partizipationschancen und -grenzen sowie nach den Maßstäben für die Bewertung demokratischer Systeme ist aktuell, und dies in mehrfacher Hinsicht: Das Interesse an politischen Organisationsformen im Allgemeinen und Demokratien im Besonderen ist in der Alten Geschichte ungebrochen rege, wie die Vielzahl neuerer Publikationen zum Thema zeigt, die z.T. explizit auf die lebensweltliche Erfahrung veränderter Grundbedingungen für demokratische Herrschaft verweisen.2 Dabei stellt die attische Demokratie schon aufgrund der Quellenlage einen Schwerpunkt des Interesses dar. Sowohl in Hinblick auf die Entstehung der Demokratie als auch auf ihre weitere Entwicklung sind in den letzten Jahren weiterführende Ergebnisse erzielt worden.3 Allerdings zeigen Ausmaß und Form der Beschäftigung mit der antiken Demokratie die mit ihrer Analyse verbundenen Probleme: Demo1

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Bei den Beiträgen von W. Blösel, W. Schmitz und J. Timmer handelt es sich um überarbeitete Versionen der auf dem Historikertag gehaltenen Vorträge. Der Originalbeitrag von Gunnar Seelentag ist mittlerweile unter dem Titel Die Ungleichheit der Homoioi. Bedingungen politischer Partizipation im archaisch-klassischen Kreta in der HZ erschienen (Seelentag 2013). Hervorzuheben ist dabei Egon Flaigs grundlegende Arbeit über die Mehrheitsentscheidung (Flaig 2013), die leider erst nach Fertigstellung der einzelnen Beiträge erschien und daher nicht mehr systematisch Berücksichtigung finden konnte. Vgl. aber auch Cartledge 2008; dort ein Überblick über die neuere Literatur. Mit einer pointierten Darstellung der unterschiedlichen Forschungspositionen: Raaflaub/Ober/Wallace 2007.

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Jan Timmer

kratie ist ein schwieriger und umstrittener Begriff, bei dem allenfalls noch Klarheit darüber herrscht, daß breite instrumentelle Partizipation durch die Bürger ebenso notwendig hinzugehört wie Verfahren, die den Wechsel des Herrschens und Beherrschtwerdens steuern. Die Leistungsfähigkeit von „Demokratie“ als analytischer Begriff ist hingegen kritisch zu bewerten. Dies gilt um so eher für die in den Blick genommene Epoche, das spätarchaische und klassische Griechenland, als sowohl „Demokratie“ wie auch der Gegenbegriff „Oligarchie“ bereits nach der Mitte des 5. Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen zwischen Athen und Sparta als politische Schlagwörter von athenischen „Demokraten“ geprägt worden sind.4 Schon damals trat ihr deskriptiv-analytischer Gehalt gegenüber ihrer propagandistischen Tendenz zurück. Eine Möglichkeit, Kriterien für die Beschreibung und Analyse politischer Systeme im antiken Griechenland zu gewinnen, liegt im Blick auf die Diskussion in den Nachbarwissenschaften. Die Frage danach, was geeignete Analysekriterien von politischen Systemen sind und welche Rolle instrumentelle Partizipation für die Legitimität von Entscheidungen spielt, ist nicht auf die Alte Geschichte beschränkt.5 Vielmehr gibt es zu diesen und verwandten Fragen seit einiger Zeit eine intensive Debatte innerhalb der Politikwissenschaft, die sich an der Frage nach Form und Qualität der Demokratie der Europäischen Union entzündet hat. Es lassen sich stark vereinfacht zwei Positionen unterscheiden: Wird von Vertretern einer beteiligungszentrierten Demokratietheorie ein grundsätzliches Demokratiedefizit der EU in Hinblick auf die Möglichkeiten der Beteiligung der Bürger an Entscheidungen diagnostiziert,6 so halten Vertreter der „rationalistischen“ Demokratietheorie die Ergebnisse, die das System zeitigt und die in der Regel positiv bewertet werden, für die wesentliche Grundlage der Legitimität des Systems.7 Die Frage läuft also auf den Zusammenhang von drei Leitdimensionen zur Analyse politischer Systeme hinaus, nämlich instrumenteller – also auf die Auswahl von Entscheidungen bezogener – Partizipation, der Effektivität bzw. Systemrationalität und deren jeweiliger Bedeutung für die Legitimität des Systems sowie der vom System hergestellten kollektiv verbindlichen Entscheidungen. Vor dem Hintergrund dieser Debatte in der politikwissenschaftlichen Demokratietheorie untersuchen die Beiträge dieses Sammelbandes mithilfe der aus der Politikwissenschaft entlehnten Leitdimensionen Legitimität, Effektivität / Systemrationalität und Partizipation die Teilhabechancen und –grenzen im klassischen Griechenland. Dabei wird unter Legitimität ganz klassisch „die Chance“ verstanden, „dafür in einem relevanten Maße gehalten und praktisch behandelt zu werden“.8 Das Begriffspaar Effektivität / Systemrationalität verbindet zwei zusammengehörende Parameter, zum einen die Fähigkeit, kollektiv verbindliche Entscheidungen bei akzeptablen Transaktionskosten herzustellen, zum anderen 4 5 6 7 8

Bleicken 1979. Hüller 2005. Vgl. etwa: Buchstein/Jörke 2003. etwa: Scharpf 1999; Moravcsik 2004. Weber 1972.

Einleitung

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den Erhalt des politischen Systems zu sichern. Schließlich soll Partizipation im Sinne instrumenteller Teilnahme verstanden werden, also einer Handlung, die Auswirkung auf die Wahl der Handlungsoptionen besitzt und nicht allein darauf ausgerichtet ist, Zugehörigkeit zu symbolisieren. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Dimensionen, insbesondere wie durch die Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten Legitimität geschaffen werden konnte, welche – gegebenenfalls nachteiligen – Folgen für die Effektivität politischer Systeme die Ausweitung mit sich brachte und, komplementär dazu, in welchem Maße die Legitimität politischer Systeme litt, wenn diese Partizipationsmöglichkeiten etwa durch Zensusgrenzen eingeschränkt wurden. Schließlich ist zu prüfen, mit welchen Mitteln die Gleichzeitigkeit von Teilhabe und Effektivität gesichert werden sollte. Hierbei ist etwa an Formen symbolischer Kommunikation, die es ermöglichen, Exklusion zu verschleiern, oder an die Ausweitung normativer Partizipationsformen zu denken. Der den Sammelband eröffnende Beitrag von Gunnar Seelentag „Bürger sein im Bürgerstaat. Soziopolitische Integration im klassischen Kreta“ stellt die These in Frage, daß in der Frühklassik oder gar schon in der Archaik die Vorstellung eines klar konturierten Bürgerrechts als eines Katalogs eindeutiger Kriterien existiert habe – eine Vorstellung, die auf die anachronistische Rückprojektion von Verhältnissen des klassischen Athen zurückgeht. Seelentag betrachtet vier Inschriften aus verschiedenen kretischen Poleis, die in der Forschung bislang kaum eine Rolle gespielt haben, wegen ihrer Detailliertheit und frühen Entstehungszeit aber für eine Diskussion dessen, was es hieß, um 500 in einer griechischen Polis „Bürger“ zu sein, besonders gut geeignet sind. Diesen Zeugnissen ist gemeinsam, daß sie Individuen, die bislang nicht zu den politischen Akteuren der jeweiligen Polis gehörten, dahingehend privilegierten, in Zukunft an den Praktiken einer Reihe soziopolitischer Integrationskreise teilhaben zu dürfen. Darunter zählten etwa die Eingliederung in den Kreis jener, die Eigentum an Haus und Grund in der Polis haben und in ihren Streitfällen untereinander bestimmte Rechtsregeln beanspruchen, die an den Mahlgemeinschaften der Männer teilnehmen und im Gymnasion trainieren durften. Der Beitrag zeigt, daß diese für das Individuum identitätsstiftenden Integrationskreise nicht aus einem Bereits-Vorhandensein einer starken und klar konturierten Polisgemeinschaft resultierten, sondern diese überhaupt erst herstellten. Die Einbindung eines Mannes in mehrere dieser Integrationskreise und seine darin gespiegelte Akzeptanz, ein seinen Statusgenossen gleichberechtigter Akteur zu sein, waren erst die Voraussetzung für seine Teilhabe am Gemeinwesen. Denn in Spätarchaik und Frühklassik offenbarte sich „das Gemeinwesen“ als die Schnittmenge verschiedener Integrationskreise; es ging also nicht vorrangig darum, „an der Polis teilzuhaben“, sondern zunächst einmal „an den Praktiken einer Reihe sozialer Integrationskreise teilzuhaben“. Hierbei wird deutlich, daß unter den für die Selbstverortung und Fremdwahrnehmung des Einzelnen maßgeblichen Integrationskreisen die Teilhabe „an der Polis“ wohl nicht die bedeutendste war. Winfried Schmitz untersucht in seinem Beitrag die Neuregelung von Partizipationschancen der verschiedenen sozialen Schichten im Zuge der solonischen

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Reformen. Durch die Einsetzung der Heliaía wurden schiedsrichterliche Entscheidungen adeliger basileis durch ein Votum von Geschworenen ersetzt, die aus der gesamten Bürgerschaft rekrutiert wurden. Gleichzeitig erhielten mit der Einführung eines Gerichtszwangs die Urteile der Geschworenen ein höheres Maß an Verbindlichkeit und Legitimität. Indem die Archonten nicht mehr durch Kooptation bestimmt und nach der Amtszeit in den Areopag aufgenommen wurden, sondern fortan durch alle Bürger gewählt wurden, waren die Partizipationschancen der mittleren und unteren Schichten wesentlich erweitert worden. Gleichzeitig wurden sie dadurch reglementiert, dass Solon Schatzungsklassen einrichtete und die Übernahme niederer Ämter an die Zugehörigkeit zu den Zeugiten, die Übernahme höherer Ämter an die zu den Pentakosiomedimnoi und Hippeis band. Den Herrschaftsanspruch der adeligen Schicht wollte er auch dadurch absichern, dass er dem Areopag die Kompetenz übertrug, über Fälle vorsätzlicher Tötung zu urteilen und über Bestrebungen von adeligen Hetairien, eine Tyrannis zu errichten. Außerdem sollten Konflikte, die die Polis zu lähmen drohten, durch Entscheidungen im Areopag beigelegt werden. Um ein hohes Maß an Legitimität und Akzeptanz für diese Entscheidungen zu gewinnen, forderte Solon durch das sog. Stasisgesetz eine Partizipation aller Areopagiten ein. Das Gesetz mit der Verpflichtung, sich bei einer stásis der einen oder der anderen Seite anschließen zu müssen, wollte man sein Bürgerrecht nicht verlieren, war aber kein Aufruf, im Falle eines Bürgerkriegs zu den Waffen zu greifen und sich einer Bürgerkriegspartei anzuschließen, sondern legte den im Areopag versammelten Adeligen die Verpflichtung auf, bei einem Dissens Stellung zu beziehen, durch Teilnahme an den Abstimmungen. Wie die mehrmalige anarchía zu Beginn des 6. Jh., die Tyrannis des Peisistratos und die wiederaufflammenden gewalttätigen Adelskonflikte in der Zeit des Kleisthenes zeigen, erreichte allerdings die Pflicht zur Partizipation keine hinreichende Akzeptanz, was letztendlich der Anlass dafür war, solche Entscheidungen – in Form des Ostrakismos – auf die gesamte Bürgerschaft zu übertragen, also Partizipationsrechte erheblich zu erweitern, um eine höhere Legitimität und Systemeffektivität zu erreichen. Wolfgang Blösel nimmt in seinem Aufsatz die Zensusbeschränkungen für die politische Partizipation in den verschiedenen griechischen Poleis der klassischen Zeit zum Ausgangspunkt, um eine Lösung für die Frage anzugehen, wieweit die athenische Demokratie von zahlreichen antik wie modern als Oligarchien klassifizierten Verfassungen entfernt ist. Dabei vertritt er die These, daß die unterste Zensusklasse in Athen, die Theten, bis zum Ende der Demokratie in Athen 322 v. Chr. von sämtlichen Ämtern ausgeschlossen blieben. Er erklärt den Ausschluß der ärmeren Schichten sozialpsychologisch mit dem Festhalten der Athener am Ideal des bäuerlichen Landbesitzers, während sie bei ihren landlosen Mitbürgern nur Bestechlichkeit und sehr geringe Verfassungstreue argwöhnten. Blösel kann ein gutes Dutzend Poleis ausfindig machen, in denen – ähnlich wie in Athen – Bürger zwar zur Volksversammlung zugelassen, aber von den (höheren) Ämtern ausgeschlossen waren. Die Athener beließen sogar den Bündnern im Seebund dieses oligarchische Element – solange sie den Athenern treu blieben. Entscheidend für

Einleitung

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das athenische Modell der Demokratie blieb ohnehin die allesüberragende Kompetenz der Volksversammlung. Jan Timmer untersucht abschließend Veränderungen des Verhältnisses von Legitimität, Systemeffektivität und Partizipation vom 5. zum 4. Jahrhundert v. Chr. Läßt sich in der Regel eine Korrelation von Partizipation und Legitimität von Entscheidungen feststellen und wird somit auf Legitimitätsdefizite nicht selten mit der Ausweitung von Partizipationschancen reagiert, so zeigt sich bei der Entwicklung der attischen Demokratie ein abweichendes Bild. Das strukturelle Legitimitätsdefizit der radikalen Demokratie in Athen konnte nicht mehr durch eine weitere Ausweitung von Teilhabe ausgeglichen werden. Wichtig war daher, den output des Systems zu erhöhen und über die Weiterentwicklung der Handlungsdispositionen, die für das Funktionieren demokratischer Mehrheitsverfahren nötig sind, nämlich durch die Stärkung solidarischen Verhaltens und Vertrauens in die Mitbürger wie in das politische System, eine Grundlage dafür zu legen, daß bis zu einem gewissen Grad Systemeffektivität und Partizipation gleichzeitig maximiert werden konnten. Gleichwohl zeigt sich für das 4. Jahrhundert v.Chr. ebenfalls, daß gegebenenfalls auch über die Reduktion instrumenteller Partizipation Legitimität gesteigert und der Systemerhalt sichergestellt werden kann. Am Ende bleibt zu danken: den studentischen Hilfskräften in Bonn und Essen für ihre Arbeit an der Erstellung der Druckvorlage, dem Franz-Steiner-Verlag für die Bereitschaft, die Beiträge der Historikertagssektion zu publizieren, und besonders Katharina Stüdemann nicht zuletzt auch für ihre Geduld.

BIBLIOGRAPHIE Bleicken, J. 1979. Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert (Monarchie, Aristokratie, Demokratie). Historia 28, 148–172. Buchstein, H./Jörke, D. 2003. Unbehagen an der Demokratietheorie. Leviathan 31, 470–495. Cartledge, P. 2008. Eine Trilogie über die Demokratie. Stuttgart. Flaig, E. 2013. Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik. Paderborn. Gehrke, H.-J. 1985. Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jhs. v. Chr. München. Hüller, Th. 2005. Was macht Demokratien „gut“? Eine Kritik prozeduralistischer Bewertungskriterien, in: Blockaden staatlicher Politik. Sozialwissenschaftliche Analysen im Anschluss an Claus Offe, hg.v. A. Geis/D. Strecker. Frankfurt/M., 155–170. Moravcsik, A. 2004. Is there a Democratic Deficit in World Politics? A Framework for Analysis. Government and Opposition 39, 336–363. Raaflaub, K.A./Ober, J./Wallace, R.W. 2007. Origins of Democracy in Ancient Greece. Berkeley. Scharpf, F. 1999. Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch? Frankfurt/M. Seelentag, G. 2013. Die Ungleichheit der Homoioi. Bedingungen politischer Partizipation im archaisch-klassischen Kreta. HZ 297, 320–353. Weber, M. 51972. Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen.

BÜRGER SEIN IM BÜRGERSTAAT Soziopolitische Integration im klassischen Kreta Gunnar Seelentag

„Wer also die Frage gelöst hat: Wer ist der Bürger?, der hat (...) auch die Frage gelöst: Was ist der Staat?“ 1

Seit langem ist die Forschung zum archaischen und klassischen Griechenland in ihren Versuchen, die Polis zu beschreiben und zu analysieren, auch darum bemüht, eine ihrem Wesenskern nach passende Übersetzung dieses antiken, in seiner Bedeutung vielfältigen Begriffs zu finden. So setzte sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend durch, die Polis anstelle eines ‚Stadtstaates‘ eher als einen ‚Bürgerstaat‘ zu benennen. Diese Umakzentuierung leuchtet unbedingt ein, drückt der Begriff ‚Bürgerstaat‘ doch die für die Polis charakteristische Identität von der Bürgergemeinschaft und ihrem Gemeinwesen aus.2 Allerdings ist bei aller Reflexion über diesen Begriff und das dahinter stehende Konzept die Diskussion in viel stärkerem Maße mit der Definition des ‚Staates‘ befaßt gewesen: welcher Art dieser gewesen sei und ob es überhaupt gerechtfertigt sei, diesen Begriff zu verwenden.3 Viel seltener war die Forschung um eine Definition des ‚Bürgers‘ bemüht, welcher doch das wesentliche Merkmal der Gemeinwesen dieses Typs war. Um einen Beitrag zu einem besseren Verständnis des Wesens griechischer Politien der archaischen und klassischen Zeit zu leisten, untersucht dieser Aufsatz, was es hieß, in einem Bürgerstaat des 6. und 5. Jh. v.Chr. ‚Bürger‘ zu sein. Unsere Beispiele werden sich aus dem reich erhaltenen Inschriftenmaterial kretischer Poleis speisen. Die Gemeinwesen dieser Insel bieten uns eine solche Fülle epigra1 2

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Szanto 1892, 5 in den Spuren von Aristot. pol. 3.1274b 40. S. etwa Thuk. 7.77.7: „Männer machen die Polis aus, nicht Mauern oder unbemannte Schiffe.“ Walter 1993, 23 weist darauf hin, daß diese Verbindung so eng war, daß der moderne Begriff ‚Bürgerstaat‘ im Grunde eine Tautologie sei. Den Begriff etablierte Heuss 1946; ein Plädoyer für seine Verwendung bieten etwa Walter 1993 und 1998, 540f., außerdem – für den ‚citizen(s)-state‘ – etwa Hansen 1993b, 1998 und 2006 sowie van der Vliet 2005 und 2008. Eine Diskussion und ein in seiner methodischen Differenziertheit überzeugendes Plädoyer für die Verwendung der Kategorien ‚Staat‘ und ‚Staatlichkeit‘ auch für Gemeinwesen der klassischen Antike bietet Lundgreen 2014, der neben sozialanthropologischen auch politologische und juristische Kriterien zur Definition des Staates erörtert.

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phischen Materials und weisen darüber hinaus derart bemerkenswerte Befunde in der materiellen Kultur auf, daß Kreta für die archaische und frühklassische Zeit als eine der bedeutendsten Fallstudien des ‚Dritten Griechenland‘ gelten kann, die bislang aber in Archäologie wie Geschichtswissenschaft nur selten untersucht wird.4 Und so sollen die folgenden Seiten vier Inschriften des 6. und 5. Jh. näher vorstellen, die aus verschiedenen Poleis der Insel stammen. Es handelt sich um Zeugnisse, die bei der Diskussion des Bürgerstaates im frühen Griechenland annähernd keine Rolle spielen, die aber – jeweils einzeln, vor allem jedoch in Zusammenschau – einen bemerkenswerten Einblick in Strukturen von soziopolitischer Teilhabe in Archaik und Frühklassik bieten. Ihnen ist gemeinsam, daß sie verzeichnen, im Rahmen welcher Vergesellschaftungsformen Individuen und Gruppen, die bis dahin nicht zu den Politen des jeweiligen Gemeinwesens gerechnet wurden, in den Verband der Polisgemeinschaft eingebunden wurden. Gerade diese Zeugnisse, die mit ‚Anderen‘, mit ‚Nicht-Bürgern‘ befaßt sind, jenen spezifische Rechte verleihen und Pflichten auferlegen, lassen uns ex negativo zu einem klareren Bild dessen gelangen, was den Politen eines griechischen Gemeinwesens ausmachte. EINE TELEOLOGISCHE MEISTERERZÄHLUNG In der heute üblichen Behandlung vom griechischen Bürgerstaat, vom Bürger und Bürgerrecht kommt oftmals die teleologische Komponente der heute vorherrschenden ,Meistererzählung‘ der griechischen Geschichte zum Ausdruck.5 Zahlreiche Darstellungen ziehen bei ihrer Beschreibung soziopolitischer Strukturen der Archaik nämlich eine mehr oder minder gerade Entwicklungslinie von den in den homerischen Epen gespiegelten Verhältnissen über zunächst Hesiod und Solon, um dann – nach kurzen Verweisen auf einige der frühen Gesetze: Dreros und Chios, die Große Rhetra und Drakon – hin zu Kleisthenes zu gelangen. Und dort ist es häufig die athenische Demokratie, welche als Höhepunkt dieser Entwicklung vorgestellt wird.6 Viele dieser Arbeiten betreiben mit ihrem Fortschreiben

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Noch heute gilt, was Gehrke 1997, 23 konstatierte: Kreta werde im Wesentlichen auf seine minoisch-mykenische Zeit hin untersucht; die Beschäftigung mit der archaischen und klassischen Zeit der Insel liege eher am Rand des althistorischen Interesses. – Zu den Besonderheiten kretischer Poleis s. etwa Willetts 1955; Link 1994; Gehrke 1997; Chaniotis 2004 und 2005; Seelentag 2013 und im Druck. Dieses Konzept bezeichnet historische Großdeutungen, die für eine bestimmte Zeit oder eine bestimmte Erzählperspektive leitend werden. Jarausch/Sabrow 2002 bieten eine wissenschaftshistorische Einordnung dieses Begriffs. – Zum “defective master-narrative in Greek archaeology” s. Small 2014. Ein solcher Determinismus liegt neben zahlreichen amerikanischen Arbeiten, wie Raaflaub/Ober/Wallace 2007, 23f., etwa auch Meier 1980 und Stahl 2003 zugrunde; s. ausdrücklich dagegen Dreher 2005; Hall 2013, 14.

Bürger sein im Bürgerstaat

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der Meistererzählung überdies ganz ausdrücklich Sinnstiftung für die eigene Gegenwart.7 Natürlich räumen die Autoren dieser Studien mit einem Blick auf die soziopolitischen Verhältnisse der Epen und der archaischen Gesetze durchaus ein, daß die uns dort entgegentretenden Formen von Vergesellschaftung in späterer Zeit selbstverständlich noch eine wesentliche Entwicklung durchgemacht hätten. Doch immer wieder werden die Verhältnisse der frühen Zeit mit Hilfe oder vor dem Hintergrund der Einrichtungen späterer Zeit erklärt. Die methodische Crux dieser Herangehensweise besteht darin, daß der Blick auf die vermeintliche Blüte einer Entwicklung ganz wesentlich die Wahrnehmung und Deutung früherer Zustände determiniert. Mit einem Bild des demokratischen Athen als Fluchtpunkt der griechischen Geschichte im Hinterkopf wird man in der homerischen Agora zwar nicht deren direkte Vorstufe sehen, aber doch eine soziopolitische Konstellation, die in einigen Jahrhunderten in die athenische Demokratie einmünden würde. Und dies wiederum führt dazu, daß bei einer Deutung archaischer Quellen und der in ihnen zu rekonstruierenden Verhältnisse diejenigen Phänomene als dominant erachtet und privilegiert betrachtet werden, welche sich später ‚durchsetzten‘. Eine anachronistische Deutung der archaischen Verhältnisse ist das Resultat. Die Vorstellungen von ‚Bürger‘ und ‚Bürgerrecht‘ als abstrakter und deutlich umrissener Konzepte, die einen klar definierbaren Katalog von Kriterien besaßen, werden in ein Jahrhundert zurückprojiziert, in dem Quellen der Zeit selbst keinen positiven Hinweis auf deren Existenz geben. Die attischen Dekrete klassischer Zeit etwa halten formelhaft fest, daß das von ihnen genannte Individuum Athener sein solle, er und seine Nachkommen; und er solle in diejenige Phyle, Deme und Phratrie eingeschrieben werden, die er selbst sich aussuche.8 Diese Zeugnisse setzen also zum einen voraus, daß bekannt war, was es hieß, Athener zu sein; zum anderen ist hier der immer gleiche Katalog von politischen Funktionseinheiten genannt, in die ein Neubürger eingeschrieben wurde. Diese Dekrete bezeugen also ein hohes Maß an Standardisierung und damit wohl auch an Abstraktion, welche Merkmale ein Individuum erfüllen mußte, um Bürger zu sein. Demgegenüber soll unsere Untersuchung nicht davon ausgehen, daß in der Archaik und Frühklassik bereits die Vorstellung eines abstrakten Bürgerrechts existierte, eines Konglomerats von klar definierten Rechten und Pflichten, welches einem Individuum aufgrund bestimmter Kriterien von Geburt an zukam oder en bloc und mittels standardisierter Praktiken von der Bürgerversammlung eines Gemeinwesens einem Individuum übertragen werden konnte, sofern dieses die

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Als bezeichnendes Beispiel einer solchen Agenda sei die 2003 erschienene Monographie von Brook Manville und Josiah Ober mit dem Titel “Citizens. What the world’s first democracy teaches leaders about creating great organizations” genannt. Deren drittes Kapitel “The invention of citizenship” beginnt mit den Sätzen: “The invention of democratic-style citizenship ranks among the greatest accomplishments of Greek civilization. Indeed, it is arguably among the greatest of all human inventions, comparable to the invention of the alphabet, the corporation, or computer software.” S. Osborne 1981–83 und Lambert 2012 zu diesem Material.

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hierfür notwendigen Kriterien erfüllte.9 Wenn Aristoteles in seinem Abriß der Politeia kretischer Gemeinwesen berichtet: „[Die Kreter] haben nämlich ihren douloi in allen anderen Angelegenheiten die gleichen Rechte zugestanden, ihnen aber lediglich den Besuch des Gymnasions und den Besitz von Waffen untersagt“,

so ist diese Erklärung offensichtlich defizitär.10 Dies waren beileibe nicht die einzigen Faktoren, welche die Politen ausmachten; und die jene nicht allein von Unfreien, sondern auch von jenen freien Bewohnern der Polis trennte, die nicht zur Gruppe der vollgültigen Akteure des Gemeinwesens gehörten, den freien Nichtbürgern wie Fremden. Allerdings beruht die Erklärung des Aristoteles auf einem Element, das uns im Folgenden begleiten wird, den ,Bürger‘ zu definieren: Es waren bestimmte Praktiken, die einen Mann zum Mitglied der Politengemeinschaft machten. Und so werden wir auf den nächsten Seiten feststellen, daß die Teilhabe am Gemeinwesen durch die Einbindung des Individuums in ganz unterschiedliche soziale Integrationskreise vermittelt war. Es war die Teilhabe an den Praktiken mehrerer dieser Integrationskreise, die einen Mann zu einem mit Rechten und Pflichten ausgestatteten Mitglied des Gemeinwesens und zu einem von Seinesgleichen akzeptierten, vollgültigen Akteur im Gemeinwesen machten. Wir werden aber auch sehen, daß unter den möglichen Integrationskreisen des Einzelnen, die für seine Identität und Zugehörigkeit maßgeblich waren, die Teilhabe ‚an der Polis‘ wohl nicht die bedeutendste war. Uwe Walter hält mit Blick auf den modernen Staat fest: „[E]rst wenn geklärt ist, wer als Staatsangehöriger (oder allgemeiner: als Mitglied eines Gemeinwesens) gelten kann und wer nicht, stellt sich die Frage, wie die Staatsangehörigen am Gemeinwesen partizipieren.“11 Für die frühe griechische Polis muß diese Reihenfolge umgekehrt werden: Erst als Kataloge möglicher Praktiken herausgebildet und etabliert waren, welche Partizipation in jenen Integrationskreisen möglich machten, welche von der Polis im Zuge ihrer institutionellen Differenzierung inkorporiert und von ihr genutzt wurden zur Herausbildung umfassenderer Identitäten, konnte geklärt werden, wem der Weg zu dieser Teilhabe offenstand und von

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Selbst Beiträge, die sich ausdrücklich mit der Entwicklung des Bürgerrechts befassen, sind für die Frage nach dem Entstehen dieses Konzeptes nahezu unbrauchbar, so Rhodes 2009 und Blok 2013: Die archaische Zeit wird nur eines kurzen Blickes gewürdigt, das Gesetz von Dreros und die solonische Vermögensordnung erwähnt, um dann ausführlich Aristoteles zu zitieren und auf dieser Grundlage die Partizipation der Bürger im demokratischen Athen zu behandeln. Auch Hall 2013, der „The rise of state action“ in den Blick nimmt, geht von der Existenz der „citizens“ als bereits in der Archaik umrissener und handelnder Gruppe aus, die nicht weiter thematisiert werden müsse. Und Lintott 2009 verzichtet in seinem Beitrag „Citizens“ von Vorneherein auf eine nähere Diskussion der Archaik. Wichtige Ausnahmen sind etwa die Studien von Manville 1990 und besonders Walter 1993 und 1996. 10 Aristot. pol. 1264a20. 11 Walter 1993, 15f.

Bürger sein im Bürgerstaat

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seinen Peers zugestanden wurde – und damit wer vollumfänglich an sämtlichen dieser Praktiken teilhaben konnte.12 ‚TEILHABE AN INTEGRATIONSKREISEN‘ STATT ‚BÜRGERRECHT‘ Die im Folgenden behandelten Inschriften aus kretischen Poleis spielen in der Forschung zum archaischen Griechenland bislang kaum eine Rolle. Wegen ihrer Detailliertheit und ihrer früheren Entstehungszeit scheinen sie aber für die Diskussion der Anfänge des ,Bürgerrechts‘ besser geeignet als jene kleine Gruppe von griechischen Quellen der frühklassischen Zeit, welche die Forschung üblicherweise als Beispiele der ersten Verleihungen von ,Bürgerrecht‘ bemüht.13 In bemerkenswerter Weise illustrieren sie die Einbindung der Politen in eine Reihe sozialer Integrationskreise und die Teilhabe an verschiedenen zivischen Praktiken, die unter dem Dach der Polis und von ihr mittels solcher Regelungen gelenkt stattfanden, kurzum: die Anfänge des Konzeptes von Bürgerrecht. Es handelt sich um die ‚Regelung über auswärtige Handwerker‘ von Axos, den ‚Arbeitsvertrag‘ des Poinikastas und Mnamon Spensithios mit der Polis Datala, das ‚Ehrendekret‘ für Dionysios aus Gortyn und die ‚Zusage von Schutz vor Verfolgung‘ der Freigelassenen im gortynischen Latosion. Die unterschiedliche Etikettierung dieser Zeugnisse in Corpora und Forschungsliteratur verhinderte bislang ihre Zusammenschau. Und doch haben sie einen gemeinsamen Kern, denn sie alle gestehen Individuen in unterschiedlichem Maß die Teilhabe an verschiedenen Integrationskreisen innerhalb des Gemeinwesens zu. Der Katalog der in ihnen übertragenen Privilegien ergibt hierbei einen Eindruck von den zivischen Praktiken, die das Äquivalent des späteren ‚Bürgerstatus‘ ausmachten. Hierbei ist zu beachten, daß keine dieser Inschriften eine ausdrückliche ‚Bürgerrechtsver-

12 Walter 1993, 20f.: „Wie die Polisstaatlichkeit ein Produkt der Entwicklung der archaischen Zeit darstellte, bildete sich auch das Bürgersein in den Poleis schrittweise aus. Das Bürgerrecht als definierter, einem Individuum anhaftender Status (...) stand erst am Ende dieser beiden Entwicklungen und machte als rechtliche Kategorie nur einen Teil des Bürgerseins aus. Bürger zu sein war nicht allein ein Privileg mit Pflichten, sondern auch ein Habitus, eine Mentalität, eine das tägliche Handeln bestimmende Größe. (...) Die Zugehörigkeit zur ausgebildeten Polis [i.e. der (spät)klassischen Zeit; GS] manifestierte sich nach wie vor in Handlungen und Haltungen, doch waren diese zu fest definierten Rechten und Pflichten geworden.“ 13 Zu jenen gehören (1) die Aufnahme des Deukalion und seiner Nachkommen unter die Chaladrier, Bronzeplatte aus Elis, nach Olympia geweiht, um 500–475: IvO 11 = Nomima 1.21; (2) die Schutzgarantie der Eleer gegenüber dem Schreiber Patrias und dessen Nachkommen, Bronzeplatte aus Elis, nach Olympia geweiht, um 475: IvO 2 = Koerner 37 = Nomima 1.23; (3) die Privilegierung des Arztes Onasilos, seiner Brüder und Kinder durch den König Stasikypros von Idalion auf Zypern sowie den Demos dieser Polis, Bronzeplatte aus Idalion, in den 470er Jahren; ICS 217 = Nomima 1.31, vgl. DGE 679, Koerner 1981, 195–201; und schließlich (4) das Gesetz über die Zusiedlung nach Naupaktos, Bronzeplatte aus dem westlokrischen Chaleion, um 460–450; IG IX 1.32.718 = Koerner 49 = Nomima 1.43.

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leihung‘ ist. Vielmehr erlauben diese Zeugnisse – auf unterschiedlichen Ebenen – eine verschiedenartig intensive Teilhabe am Gemeinwesen. 1. Die Privilegierung der Handwerker von Axos Bei unserem ersten Zeugnis handelt es sich um eine Inschrift aus dem zentralkretischen Axos, die wohl aus dem letzten Viertel des 6. Jh. stammt. Sie war in zwei nebeneinanderliegende Blöcke einer Mauer eingeschrieben, die sich auf dem höchsten Punkt der Polis, im Bereich des Apollontempels befand. Obschon die Steine heute nur noch in Teilen erhalten sind, erreicht diese Inschrift immer noch beindruckende Ausmaße.14 Hier ist festgehalten: [– – – – – – – – – – – – – – –] [– – – κλέ]ϝκος | ἴναντι τõν [– – –] [– – –]ιν οκ ν κ α ν τ ς τ[ ο ς] κα τ ς τ λ ας τέκνα το [τ]ιν [νο – – –] [– – –] κατ’ έ αν α ιõ ν. | α ’ ἐ έλθοι ν ν ταῖ ι έντ α ὴ λέοι[ ν – – –] [– – –]ν | τ ν ’ ν | έντ’ έ ας ϝ γακ α[ ένο]ς τ ι όλι τος. τõ ὲ ι [τõ– – –] [– – – τ ]ς ν ντ η οι ι λ ιος .ι ια λοι ἐ οϝ ν | ἐκ οαι. [– – –] [– – – ]ϝτ ς | ϝ κ τος ὴ νθέ ν | τ ι ό[λ]ι. ὲ τõ ι τõ| α ον[ ο – – –] [– – – τ ] ὲ τ λ οντι· | ἴ ς τ τ ν ἐκατόνβαν τ ν γ λαν | κα τ θ α | κα . . . . . . ν[– – –] [– – α] ήιον ι ό ν· | τõν ’ ἄλον ντον τέλ ιαν κα τ ο ν ν ντ η οι κα[– – –] – – – Most. Im Angesicht des – – – scheint, daß die Handwerkskunst wert sei des Unterhalts und der Abgabenfreiheit. – – – sollen für jeden Tag bestrafen. Wenn sie kommen (vel. eine Klage vorbringen15) in den fünf (Tagen?), wenn sie nicht wollen – – – indem sie von diesen

14 IC 2.5.1 = Koerner 101 = Nomima 1.28; Übs. nach Koerner. Block A (Maße in Metern): 1,72 h., 1,85 b., 0,30 d.; Block B: 1,53 h., 0,73 b., 0,64 d.; hierzu s. Jeffery 1990, 413 mit Taf. 60.22; Koerner 1981, 180–189; Hölkeskamp 1999, 73–75; Perlman 2004b, 114f.; zum architektonischen Kontext s. Tegou im Druck. 15 Allein an der Deutung des ἐ έλθοι ν als „kommen“ hängt die gängige Interpretation dieser Inschrift als ein Arbeitsvertrag für auswärtige, nicht aus Gortyn selbst stammende Handwerker; so Guarducci 1939, 50, akzeptiert wird dies von den meisten Besprechungen dieses Dokuments, etwa Hölkeskamp 1999, 74; angezweifelt allerdings von Jeffery/Morpurgo-Davies 1970, 149; Nomima 1, 124 und Perlman 2004b, 114f. Letztere verweist auf die – allerdings erst erheblich später nachgewiesene – Bedeutung dieses Verbs als „eine Klage vorbringen“ in PEleph 3.3 aus dem 3. Jh. v.Chr. und die in kretischen Inschriften mehrfach nachgewiesenen Fristen für Klagen und andere Transaktionen; etwa in IC 1.10.2.2–3; IC 4.42B, 4.72.11.46– 55. Die inhaltliche Parallele dieser axischen Inschrift zu einem zeitgenössischen Dokument, einer gortynischen Inschrift des 5. Jh., die Regeln für Handwerker entwirft, die wohl tatsächlich von außerhalb kamen, legt allerdings nahe, daß auch unsere Inschrift mit auswärtigen Arbeitern befaßt war; s. IC 4.79 = Koerner 154 = Nomima 1.30.

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Tagen fünf Tage ohne Lohn für die Polis arbeiten. Von dem Lohn aber – – – der Speisung im Andreion. – – – zum Eifer – – – jeder von ihnen soll nicht (Ausgaben) auferlegen der Polis. Wenn sie über den Lohn Klage erheben – – – Dieses aber entrichten sie: Zu der großen Hekatombe und dem Opfer und – – – sollen sie (ein Opfertier?) geben. Von allem anderen aber Abgabenfreiheit und Speisung im Andreion – – –

Dieses Dokument ist nicht allein wegen seiner Unvollständigkeit, sondern auch wegen der Unsicherheiten in der Interpretation des noch Erkennbaren nur mit größter Vorsicht heranzuziehen. Ein erstes Problem ist die Identifizierung der von dieser Inschrift in den Blick genommenen Personen. Manche Deutungen vermuten in ihnen die Kinder von Exilanten oder die Kinder eines Baumeisters. Die Mehrheit sieht Handwerker behandelt oder eher diejenigen, welche – wie die Inschrift betont – die „Handwerkskunst“ ausüben.16 Letzteres scheint plausibel, nicht nur weil es in unserer Inschrift an mehreren Stellen um „Lohn“ und „Arbeit“ geht, sondern weil auch andere axische Inschriften, die aus der gleichen Zeit und dem gleichen Kontext stammen wie unser Dokument, ebenfalls Begriffe wie τέκνα und ϝέ γον nennen.17 In unserer Inschrift geht es also offenbar um eine Übereinkunft der Polis mit diesen Handwerkern. Diesen ist auferlegt, ihre Arbeit in Axos gegen Lohnzahlung zu erledigen. Für wen sie arbeiteten, bleibt unklar; ob für einzelne Mitglieder der Gemeinschaft oder im öffentlichen Auftrag. Wir sehen allein, daß die Polis wiederholt als eine Bezugsgröße auftritt und demnach wohl auch als der Vertragspartner anzusehen ist. Auch worin diese Arbeit bestand, und in welcher Höhe der Lohn angesetzt war, läßt unsere Inschrift nicht länger erkennen. Aufgrund der Erwähnung von „Most“ unmittelbar zu Beginn des uns erhaltenen Textes ließe sich vermuten, daß die Entlohnung auch in Naturalien erfolgte.18 Deutlich aber scheint, daß die Polis Strafen festlegte für den Fall, daß die Handwerker ihre Seite des Abkommens nicht erfüllten. So ist die Rede von einer Strafzahlung pro Tag und eines Zeitraumes von fünf Tagen, innerhalb dessen die Handwerker ohne Lohnzahlung für die Polis arbeiten müßten. Andererseits regelt diese Inschrift auch die Rechte der Handwerker, denn es scheint festgehalten, auf welche Weise 16 Perlman 2004b bietet die Thesen der älteren Literatur. Sie selbst deutet ebd. 114 mit Anm. 106 τέκνα zu Beginn der Inschrift nicht als kretischen Ausdruck für ἡ τέχνη, sondern für τ τέκνα; sie sieht hier eine Privilegierung der Nachkommen des Architekten/Baumeisters, nicht der(jenigen, welche die) Handwerkskunst (ausüben); dort s. auch ihre Begründung der dafür notwendigen Lesung τõ ν ένο. Auch Nomima 1, 122–125 ziehen in Betracht, daß es hier um Kinder gehen mag und bringen dies mit ihrer Deutung des ἐ έλθοι ν als ‚zurückkehren‘ zusammen, um dann zu spekulieren, es könne sich bei den hier Privilegierten um die Nachkommen einstmals Verbannter handeln. Letztlich entscheiden sie sich aber gegen diese kaum fundierte Deutung. 17 IC 2.5.2.2 und 9, 3.4, 4.5 = Koerner 102–4. Auch eine ursprünglich nicht aus dem Bereich des Apollontempels stammende Inschrift hielt eine Vereinbarung der Polis mit den dort mehrfach genannten ϝέ γα τα fest. Dort sind auch eine aus 30 Stateren bestehende Strafsumme sowie die Involvierung des Kosmos genannt (Z. 11, 13f.), außerdem ging es um den Abschluß eines Vertrages ( νγνοῖ ν, 6) und die Pfändung ( νέκ α, 7f.). 18 S. Perlman 2004b, 103–108 über einem Decken- oder Mantelmacher aus Eleutherna, der im ausgehenden 6. Jh. seinen Lohn in Edelmetall wie auch in Naturalien empfing.

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sie bezüglich ihres Lohnes Klage erheben durften.19 Zusätzlich zum vereinbarten Lohn sicherte die Polis den Handwerkern aber auch „Abgabenfreiheit und Speisung im Andreion“ zu; und dies, weil „(es) scheint, daß die Handwerkskunst“ dieser beiden Privilegien „wert sei“, wie die Inschrift betont. Der Polis scheint also in hohem Maße daran gelegen gewesen zu sein, diese Handwerker an die Polis zu binden. Der den Handwerkern gewährte „Unterhalt“ beziehungsweise „Unterhalt im Andreion“ ist an zwei Stellen des Dokumentes erwähnt. Somit wird deutlich, daß dieser Punkt für das Verhältnis von Polis und Handwerkern von besonderer Relevanz war. Tatsächlich waren es diese Mahlgemeinschaften der Hetairien, denen alle Bürger ein Leben lang angehörten, in denen sich ganz wesentlich die Sozialisation und Selbstverortung der Politen vollzogen. Daß es maßgeblich die Mitgliedschaft in einer der Hetairien war, welche überhaupt erst die Teilhabe am Gemeinwesen, die Rechte eines politischen Akteurs und jenes soziopolitische Ansehen vermittelte, welches eben allein den ‚Bürgern‘ zukam, wird in der Bezeichnung ‚Apetairoi‘ deutlich: „diejenigen, die keiner Hetairie angehören“. Hier zeigt sich, daß Zugehörigkeit in kretischen Gemeinwesen nicht in erster Linie über die Mitgliedschaft in der Polis vermittelt wurde, sondern über die Einbindung in einen jener sozialen Integrationskreise, welche die Polis konstituierten. Doch es ist unklar, welchen Charakter diese Speisung im Falle der axischen Handwerker hatte. Immerhin drei – und damit alle wesentlichen – der uns erhaltenen literarischen Quellen zur Organisation der Gemeinschaftsmahlzeiten kretischer Poleis berichten, daß sich neben den Bürgern auch Fremde im Andreion aufgehalten hätten – und dort gut behandelt worden seien.20 Mögen diese Autoren etwa deren gesonderte Sitzplätze an eigenen Tischen auch als Ehre darstellen, wird in diesen Passagen doch deutlich, daß sich die Fremden im Andreion mit den Bürger nicht mischten beziehungsweise daß sie dies allein in einem kontrollierten Rahmen taten. Wurden die Handwerker von Axos, als man ihnen die Speisung im Andreion zugestand, also vor den Augen aller Politen von jenen separiert oder wurden sie an den Tischen der Politen plaziert? Eine Antwort ist auf der Grundlage dieser Inschrift allein nicht möglich. Die daneben stehende ausdrückliche Ausnahme der Handwerker von Abgaben aber mag darauf hindeuten, daß sie als Gruppe – zumindest befristet, nämlich solange ihr Auftrag in der Polis noch nicht abgeschlossen war – in den Verband jener integriert waren, deren Zugehörigkeit zur Polis der Axier ganz maßgeblich auf diesen Privilegien beruhte: die Gruppe der Bürger.21 19 Derart wird die Formulierung ὲ τõ ι τõ | α ον[ ο – – –] in Z. 11 zu verstehen sein; Koerner 1993, 354. 20 S. hierzu ausführlich Seelentag im Druck. – Unsere Hauptquellen hierfür sind Herakl. Lemb. epit. Aristot. frg. 611.15 (Rose); Pyrgion ap. Athen. 4.143e–f; Dosiadas ap. Athen. 4.143a–d. – Zu Fremden und deren Behandlung in kretischen Poleis s. etwa Gehrke 1997, bes. 55; Perlman 2004b; Chaniotis 2005, bes. 186–188; Seelentag im Druck. 21 Vgl. SEG 11.244 = Nomima 1.75, eine Inschrift aus Sikyon um 500, die einer Gruppe von 63 namentlich aufgeführten Männern die Speisung im hestiatorion erlaubt, solange diese ihren dort ebenfalls benannten Pflichten nachkämen.

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Diese Deutung einer Integration der Arbeiter in die Reihen der Politen wird auch von einem weiteren Aspekt ihrer Privilegierung nahegelegt; schließlich legt die axische Inschrift die Beteiligung der Handwerker an bestimmten kultischen Handlungen fest. Genannt sind die „Große Hekatombe“, „das Opfer“ sowie eine weitere, hier nicht rekonstruierbare Gelegenheit, denen sie ein Opfertier beisteuern sollten.22 Diese Abgabe sollten wir nun aber nicht als eine von der Polis auferlegte und lästige Pflicht verstehen. Denn mit der Teilnahme – und zwar als Beiträger – an mehreren Opferhandlungen waren die Handwerker an einigen der für die Einbindung der Politen in das Gemeinwesen wichtigsten Praktiken beteiligt. Schließlich gehörten die regelmäßige Opferhandlung und das sich anschließende Opfermahl zu den wesentlichen Ritualen, bei denen sich die Polis als ein Verband von Individuen konstituierte, die hierbei ihre gemeinsame Identität als Mitglieder dieser Gemeinschaft erlebten.23 Es bleibt unklar, ob es sich bei der axischen Regelung um einen Werkvertrag handelte oder um ein auf unbestimmte Zeit geschlossenes Verhältnis, von dem man ausging, daß eine der beiden Seiten es einmal aufheben wird; oder ob hier sogar an eine prinzipiell dauerhafte Einbindung der Handwerker in den Politenverband gedacht war. Letzteres scheint nicht der Fall gewesen zu sein. Denn anders als in den beiden im Folgenden zu besprechenden Inschriften, die ausdrücklich festgehalten, daß das in ihnen genannte Individuum und dessen Nachkommen an der Gemeinschaft teilhaben sollten, deutet in der axischen Inschrift nichts auf eine solche Perpetuierung der Privilegien hin. Mit der Erledigung des Vertrages dürften diese geendet haben. So sollten wir also davon ausgehen, daß die Handwerker für die Dauer ihrer – offenbar hochgeschätzten – Arbeit dem Verband der Politen assoziiert wurden. Ob ihnen damit allerdings die Ausübung sämtlicher Praktiken offenstand, welche den Politen von Axos ausmachten, ob sie durch diesen Vertrag also zu ‚Bürgern‘ – und wenn auch nur auf Zeit – wurden, scheint mir nicht plausibel. Denn in den beiden folgenden Dokumenten erfahren wir von der Teilhabe an einer ganzen Reihe von integrativen Praktiken unter dem Dach der Polis, die wir im Falle unserer Handwerker aber nicht erwähnt finden.

22 So legt es die hier vorgebrachte Ergänzung – – – α] ήιον ι ό ν nahe. Blass 1905, GDI 5125A hingegen schlägt vor – – – ς ντ] ήιον ι ό ν. In diesem Fall hätten die Handwerker nicht allein den genannten Kulthandlungen, sondern auch im Andreion eine Gabe beizusteuern, deren Art und Umfang hier allerdings nicht näher spezifiziert gewesen wäre. 23 Diese verpflichtende Teilnahme der Handwerker an den genannten kultischen Handlungen findet ihre Entsprechung im Vertrag zwischen Knossos und Tylissos, in dem sich Knossos um 450 verpflichtete, all denen Gastfreundschaft zu gewähren, die an den Opfern in der Polis teilhatten; die also zumindest in gewissem Umfang zu Mitgliedern der Polis als Kultgemeinschaft wurden; IC 1.8.4 und 1.30.1 = Nomima 1.54 I und II = StV 147 und 148 = HGIÜ 1.72. Zu diesem Gesetz s. bes. Gschnitzer 1958, 44–48; Merrill 1991; Kyriakidis 2012. – s. Blok 2013, bes. 164f., zur Rolle der Polis als Kultgemeinschaft bei der Herausbildung von Bürgeridentität.

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2. Der Schreiber und Erinnerer Spensithios von Datala Die zweite Inschrift, die wir als das Zeugnis einer Verleihung von Privilegien der Teilhabe deuten wollen, ist das sogenannte Spensithiosdekret. Träger dieser Inschrift ist eine bronzene Mitra, Teil einer kretischen Rüstung; ein ursprünglich gewölbter Unterleibsschutz, den man hier allerdings flach bog, um beide Seiten beschreiben zu können. Den Buchstabenformen nach wurde dieses Dokument um 500 in Zentralkreta verinschriftlicht. Wo es gefunden wurde, ist unklar; auch die hier genannte Gemeinschaft der Dataleis läßt sich nicht lokalisieren.24 Dieses bedeutende Zeugnis – häufig als ‚Arbeitsvertrag‘ bezeichnet – legt die Rechte und Pflichten eines gewissen Spensithios und seiner Nachkommen fest, die der Polis fortan als Poinikastas und Mnamon dienen sollten.25 In der Vergangenheit wurde diskutiert, ob jener Schreiber und Erinnerer denn ein Bürger jener Polis gewesen sei, in welcher er seine Funktion versah; genauer gesagt, es wurde die Frage gestellt, ob Spensithios bereits zum Zeitpunkt seiner Anstellung Bürger von Datala gewesen sei, oder ob er auch nach seiner Anstellung weiterhin Nichtbürger gewesen sei.26 Als Indiz für Letzteres wurde der Privilegienkatalog des Spensithios ins Feld geführt, der einigen Forschern auf dessen Status als ein Fremder hinzuweisen schien, welchem nun ein Auskommen in der ihm fremden Polis bereitet werden sollte.27 Man diskutierte bislang aber nicht die Möglichkeit, daß Spensithios eben durch die hier verzeichneten Privilegien in den Kreis der Politen eingegliedert wurde – daß wir hier also keinen bloßen ‚Arbeitsvertrag‘ vor uns haben. Vielmehr beobachten wir die Übertragung gewisser Rech24 Jeffery/Morpurgo-Davies 1970 = Nomima 1.22 = SEG 27.631. – Zur Konstituierung dieses Textes s. auch die Anmerkungen von Gschnitzer 1974, zu Text und Übersetzung s. Koerner 1981. Ausführliche Kommentierung und Besprechung bieten auch van Effenterre 1973; Beattie 1974; Koerner 1981; Gorlin 1988; Pebarthe 2006; Reiche 2006, 118–133. – Zu den Umständen dieses Fundes und seiner Publikation wie auch den Bemühungen, Datala mit dem heutigen Afrati zu identifizieren, s. Viviers 1994, 235f., 240f. und Perlman 2004a, 1156. 25 Zur Funktion von Mnamones s. Reiche 2006; Carawan 2007 und Seelentag im Druck. 26 Vgl. die Diskussionen etwa bei Guarducci 1950, 146f.; Willetts 1967, 80f.; van Effenterre 1973 und 1979, 279–288; Gorlin 1988; Thomas 1992 und 1995; Koerner 1993, 539; Nomima 2, 162; Perlman 2004b, 113f. 27 Hierbei spielt allerdings die Frage, wie der Status eines ‚Bürgers‘ von Datala, wie ‚Bürgerrecht‘ in einer kleinen kretischen Polis des 6. Jh. denn überhaupt definiert gewesen sei, keine Rolle. Perlman 2004, 108 etwa legt einen anachronistischen, der teleologischen Meistererzählung folgenden Bürgerbegriff zugrunde, wenn sie betont, daß die dem Spensithios übertragenen Privilegien diesen offensichtlich nicht zum Bürger gemacht hätten. Schließlich halte sein Arbeitsvertrag mit Datala ja nicht etwa fest, daß er auch in das Phylenregister der Polis eingetragen worden sei. Denn tatsächlich stammten die frühesten kretischen Zeugnisse einer solchen Eintragung von Neubürgern in die Phylen erst aus dem Hellenismus. Gorlin 1988 dagegen nimmt bei aller von ihr markierten Vorsicht bezüglich der Frage des ‚Bürgerrechts‘ im archaisch-klassischen Kreta an, Spensithios sei bereits vor seiner Privilegierung ‚Bürger‘ von Datala gewesen. Das ihm Zugestandene, vor allem Lebensunterhalt und Abgabenfreiheit, sieht sie im unbedingten Willen der Polis begründet, ihn als Schreiber behalten zu wollen, ihn mittels dieser umfangreichen Unterstützung vor einem Herausfallen aus dem Bürgerverband zu bewahren.

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te an den Poinikastas und seine Eingliederung in bestimmte Integrationskreise, welche maßgeblich für die Identität der politischen Akteure von Datala waren. Auf der Mitra ist festgehalten: Seite A θιο · ϝα αταλ ι κα ἐ έν α ς όλις | ν ιθ ι λ ν έντ ’ ἐκ τας θ ο |ν τ κα τέλ ιαν ντ ν αὐτῶι τ κα γ νι ι ὤ|ς κα όλι τ α ό ια τ τ θιήια κα τ νθ ώ ινα | οινικ ν τ κα να ον ϝην· οινικ ν ὲ | [ ]όλι κα να ον ϝ ν τ α ό ια ήτ τ θιήι|α ήτ τ νθ ώ ινα η έν’ ἄλον α ὴ ν θ[ι|ο]ν αὐτόν τ κα γ νι ν τõν , α ὴ ἐ α οι τ| κα κέλοιτο ἢ αὐτ ς ν θιος ἢ γ νι | [τ]õν ὄ οι ο ῆς ἶ ν τῶν [ ]ῶν ο λ ς· | ι θ ν ὲ ό ν τõ ἐνια τõ τῶι οινι[κ |α] τ ι ντήϟοντ τ όϟοος κλ ύκιο|ς κην [. ] [. . ]ς κατι α κ ιος ἢ κα [ (?)]|ός, ό ν ὲ τ κλ ϟος ἐς τõ ό ο ὄ| κα λῆι ἐλέ θαι· α ὲ ὴ ο η τ κλ [ ϟ|ο]ς αι [. . . ] [ . c. 3–4. ]α[. ] [. c. 3. ]ς ϟό |ος ἐ ταϟ ς [. c. 4?. ]ι[. c. 4?]λ [. ] κ[. |. ?] αι λο α[. . ]α[. ] α ὴ αὐτοι |ι[. c. 3–4 . ] ολ[. . ]αν η ν τῶι ϟό |[ ι . c. 7?. . ] [. ] τ ένια [. . ]ϟ|[. c. 2?. ] τ ϝῖ ον λακὲν ϟό[ ι(??)] α [. c. 4?. ] | […… c. 17?. . . . . . ]α[. c. 6?. ] Seite B – – – τ ϝῖ ον λακὲν τ ν οινικα τ ν κα α ῆ |ν κα νῆ ν ἐ τ θιη ν κα ἐ ’ νθ |ν ν ντ ὄ κα ὀ ϟό ος ἴη κα τ ν οινι|κα τ ν, κα ὄτι κα θιῶι α ὺς ὴ ιαλο|[ . c.1–2 . ] θύ ν τ τ α ό ια θύ ατα τ οινικα τ |ν κα τ τ ένια κ ν, ή ’ ἐ γ αν |[ν] ή ύτιον α λ ν τ ν οινικα τ ν, |ικα ὲ ὄτ όν κα #7 ώληται ὀ οινικα [τ| ]ς α οιαλοικ η ταιην ϟό | οι ικα ϝοι τέλ ται, ἄλ ὲ οὐ ὲ | ν. καια ἐς ν ήιον ώ ι έκα έλ ϟ ς κ έ ν, αἴ κα ϟ ι ἄλο[ι] | [ (?)] ϟ νται, κα τ ἐ νιαύτιον, τ | ὲ λ κ ιον νϝαλ ῖ, ἄλο ὲ [η |ὲ]ν ἐ νανϟον ν αἴ κα ὴ λῆι | ό ν. ν ὲ τ θιήια τ[ῶι | ιγ] τ ι. {²vac.}² Seite A Götter! So gefiel es den Dataleis, und wir, die Polis, nämlich fünf von jeder Phyle, haben dem Spensithios Lebensunterhalt versprochen und Befreiung von allen Abgaben, ihm und seiner Nachkommenschaft – unter der Bedingung, daß er der Polis als Schreiber und Mnamon in öffentlichen Angelegenheiten diene, sowohl kultischen wie profanen. Es soll aber der Stadt als Schreiber und Mnamon in öffentlichen Angelegenheiten kultischer und profaner Art niemand anderes wenn nicht Spensithios und seine Nachkommenschaft dienen, wenn es nicht veranlaßt und anordnet Spensithios selbst oder seine Nachkommenschaft, sofern es die Mehrzahl der erwachsenen Söhne ist. Als Lohn soll man dem Schreiber jährlich geben fünfzig Prochooi Most und – – – für zwanzig Drachmen oder – – – Man soll ihm den Most geben von dem Grund(besitz), wo er ihn wählen will. Wenn (einer) aber nicht gibt den Most – – – der amtierende Kosmos – – – Straflosigkeit – – – wenn ihnen nicht – – – dem Kosmos – – – die heiligen Bezirke Doppeläxte (?) – – – den gleichen Anteil erhalten wie der Kosmos – – – Seite B – – – der Schreiber soll den gleichen Anteil erhalten. Er soll auch bei allen kultischen und profanen Vorgängen dabei sein und daran teilnehmen, wo auch der Kosmos da ist. Und wo für einen Gott ein eigener Priester nicht da ist, soll der Schreiber die öffentlichen Opfer darbringen und die heiligen Bezirke verwalten. Auf den Schreiber soll kein Zugriff sein, und man soll bei ihm keine Pfändung durchführen. Was aber einen Prozeß betrifft, so soll ihn der Schreiber, je nachdem, ob er das eine oder andere vorzieht, ebenso haben wie die anderen auch, oder er soll sich beim Kosmos belangen lassen; anders geht es auf keinen Fall. Als gesetzliche Verpflichtung soll er für das Andreion zehn Doppeläxte Fleisch geben, in gleicher Weise, wenn die anderen ihr Amt antreten, und die Jahresgebühr. Er soll den Anteil sammeln (?). Anderes aber soll nicht obligatorisch sein, wenn er es nicht geben will. Die kultischen (Funktionen und Einkünfte) sollen dem Ältesten zukommen.

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In diesem Dokument sind die Pflichten, die Spensithios als Schreiber und Erinnerer von Datala erfüllen sollte, mit den Rechten und Privilegien, die aus dieser Tätigkeit für ihn resultierten, untrennbar miteinander verbunden. Allein sofern Spensithios und seine Nachkommenschaft die hier vereinbarten Aufgaben erledigten, sollten er – und seine Nachkommen – die hier verzeichneten Begünstigungen genießen. Wir sehen hier also eine Privilegierung auf Zeit formuliert, und doch ist dieser Zeitraum nicht begrenzt. Denn allein wenn Spensithios oder die Mehrzahl seiner erwachsenen Söhne nicht länger wünschten, diese Tätigkeit auszuüben, dürfte auch ein anderer Mann Schreiber und Erinnerer werden. Hier ist also ein einseitig aufkündbares Abkommen entworfen: Kurzum, solange die Nachkommen des Spensithios derart definierte Mitglieder des Gemeinwesens bleiben wollten, dürften sie es.28 Ein näherer Blick auf die mit der Funktion des Schreibers und Erinnerers verbundenen Privilegien läßt deutlich werden, daß diese weit mehr als eine bloße Entlohnung für geleistete Dienste waren. An erster Stelle sind genannt die Gewährung des Lebensunterhaltes für Spensithios und seine Nachkommen sowie ihre Befreiung von allen Abgaben, und dies ohne Einschränkung. Es wird nicht deutlich, ob die im weiteren Verlauf des Dokumentes genannten Vergünstigungen eine nähere Erläuterung und Differenzierung dieser beiden umfänglichen Punkte bedeuten; oder ob unter „Lebensunterhalt und Befreiung von allen Abgaben“ ganz konkrete, den Vertragsparteien bekannte Rechte und Praktiken verstanden wurden, zu welchen die darunter aufgeführten Punkte noch hinzu kamen. Aufgrund der Parallele zur eben besprochenen Inschrift von Axos, welche unter den in ihr verzeichneten Begünstigungen die τõν ’ ἄλον ντον τέλ ιαν κα τ ο ν ν ντ η οι nennt, ist wohl auch für die dataleische Inschrift davon auszugehen, daß es sich bei der zugestandenen trophe nicht um eine bloße Sicherstellung der Ernährung des Spensithios handelt, sondern um sein Recht, im Andreion zu speisen.29 Diese Deutung wird bekräftigt durch die am Ende der Inschrift spezifizierten Beiträge des Schreibers zum Männermahl. Im Übrigen bilden diese ausdrücklich die einzigen Ausnahmen zu der dem Mnamon gewährten Befreiung von allen Abgaben. Insofern sollten wir diesen Punkt der Privilegierung beim Wort nehmen: Spensithios leistete keine Abgaben. Als Lohn erhielt der Schreiber eine hier bezifferte Menge verschiedener Naturalgüter, so etwa 50 Kannen Most und ein aufgrund der Beschädigung der Mitra an dieser Stelle nicht länger rekonstruierbares Gut im Wert von 20 Drachmen. Bemerkenswert ist, daß er den Most von jedem beliebigen Stück Land beziehen durfte, das er dafür auswählte. Wahrscheinlich wurde dessen jeweiliger Eigentümer dafür entschädigt; und wahrscheinlich haben wir die darauffolgende Passage 28 Ab Zeile 11 der Seite A ist nicht mehr die Rede von „Spensithios und seinen Nachkommen“, sondern allein von den Pflichten und Rechten des „Poinikastas“. Hierin wird deutlich, daß die genannten Privilegien tatsächlich nicht allein dem Spensithios zukommen sollen, sondern eben „dem Schreiber“ und damit dem jeweiligen Inhaber jener Position, die ja ausdrücklich Spensithios mitsamt seinen Nachkommen übertragen wurde. Das Dekret geht also von einer dauerhaften Privilegierung dieser Familie aus. 29 IC 2.5.1.15 = Koerner 101 = Nomima 1.28.

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in dem Sinn zu deuten, daß der Kosmos den Schreiber bei der Wahrnehmung dieses Rechtes auch gegen den Willen des eigentlichen Eigentümers unterstützen sollte, und daß eine solche Wegnahme straflos sein sollte.30 Desweiteren soll Spensithios eine Reihe von Erträgen bei unterschiedlichen Gelegenheiten oder aus unterschiedlichen Quellen empfangen. Der Inschriftenträger läßt nur noch erkennen, daß es unter anderem um die Erträge im Zusammenhang mit der Verwaltung der Liegenschaften heiliger Bezirke ging, daß Spensithios den gleichen Anteil wie der Kosmos erhalten sollte, und daß diese Menge wohl in der Einheit ,Doppeläxte‘ beziffert war. Aufgrund der Parallele zur Seite B, auf welcher diese Einheit zur Bestimmung einer Menge Fleisch dient, ist auch hier anzunehmen, daß es sich bei diesen Einkünften des Mnamon ebenfalls um Fleisch handelte. Damit korrespondiert, daß Spensithios die Pflege jener Kulte von Datala wahrnehmen soll, für welche kein eigener Priester vorhanden ist. Auf der Grundlage von Parallelen aus anderen kretischen Poleis, die belegen, daß Priester einen Teil des Opferfleisches erhielten, ist anzunehmen, daß bei dieser Gelegenheit auch für Spensithios größere Fleischmengen abfielen.31 Mit den ihm zugestandenen Einkünften ging eine Definition oder Modifikation seiner Rechtsstellung einher. Auf Spensithios und seine Nachkommen sollte „kein Zugriff“ sein; hier scheint die Personalexekution untersagt, also der außerprozessuale beziehungsweise vorprozessuale Zugriff auf einen Kontrahenten. Auch soll man bei ihm keine Pfändung durchführen dürfen. 32 Nun wissen wir nicht, ob diese Punkte ihn aus der Menge der anderen Politen von Datala heraushoben, oder ob es grundsätzlich verboten war, einen ‚Bürger‘ derart zu behandeln, und Spensithios damit nur die ganz üblichen Rechte eines dataleischen Politen 30 Diese Deutung der Passage wird von einer Reihe kretischer Inschriften nahegelegt, welche mit den Umständen von Zwangsvollstreckung und einer Stellvertretung hierbei befaßt sind und sich darum bemühen, die potentiell gewaltsamen Umstände dieser Maßnahmen einzuhegen; s. Seelentag im Druck . Hier sei nur so viel gesagt: Das in Frage stehende Land scheint von Privatleuten bestellt worden sein, die sich womöglich weigerten, dem Spensithios die von ihm beanspruchten Naturalien auszuhändigen. Die ausdrückliche Zusicherung dieses Rechtes durch Polis und Dataleis machte nicht notwendigerweise auf alle Politen gleichermaßen Eindruck. Und so scheint diese Passage darum bemüht, die rechtmäßige Wegnahme der Naturalien von einer unrechtmäßigen zu differenzieren, also vom Diebstahls oder gar Raub abzugrenzen. Diese Delikte hätten mit entsprechender Gewalt des Landeigentümers gegenüber dem Wegnehmenden beantwortet werden dürfen. Um so heikler war die Klärung des hier entworfenen Sachverhaltes, da es sich bei diesem Wegnehmenden nicht unbedingt um Spensithios selbst, also den Inhaber des entsprechenden Rechtstitels handelte, sondern um den Kosmos, also lediglich einen Stellvertreter des Spensithios. In Regeln wie diesen werden die Bemühungen der Polis um eine Konturierung von Institutionen und des Prinzips der von diesen Institutionen vermittelten extrapersonalen Macht deutlich. – Parallelen bieten etwa IC 4.87 = Koerner 161 = Nomima 1.97 (Recht der gortynischen Esprattai); IC 4.80.8–12 = Nomima 1.7 = StV 2.216 (der rhittenischen Preigistoi); IC 4.77 A–C = Koerner 152 = Nomima 1.49 (der gortynischen Karpodaistai); IC 4.42 B 11–4 = Koerner 129 = Nomima 2.5 (des gortynischen „Dikastas, der über Pfändungsangelegenheiten urteilt“). 31 S. etwa Axos, 5. Jh.: IC 2.5.9 = Koerner 106; womöglich auch schon Dreros, 7. Jh.: van Effenterre 1946, Nr. 4 = Koerner 93 = Nomima 1.27. 32 Gschnitzer 1974, 273f.

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erhielt, welche jenen aber von allen ‚Anderen‘ dieser Polis unterschieden. Da uns jegliches Vergleichsmaterial aus dieser Polis fehlt, läßt sich diese Frage kaum beantworten. In Gortyn zumindest wurde die Personalexekution spätestens in der Mitte des 5. Jh. untersagt.33 Womöglich hatte die Polis der Dataleis ihren Anspruch, den außerprozessualen Zugriff zu untersagen und einen bestimmten Gerichtsweg vorzuschreiben, bereits um 500 formuliert. Allerdings ist nicht davon auszugehen, daß die private Zwangsvollstreckung eines Politen gegenüber einem anderen prinzipiell verboten gewesen wäre und Spensithios damit nur die gleichen Rechte wie jeder andere Bürger auch erhalten hätte. In Gortyn etwa wurde dieses Vorgehen durch Institutionalisierung befördert, als man bereits im frühen 5. Jh. Bestimmungen verinschriftlichte, welche es in geregelte Bahnen lenken sollten. So sollten wir wohl auch für Datala annehmen, daß nach den Regeln der Selbsthilfe im Streit zweier Politen untereinander die private Zwangsvollstreckung durchaus erlaubt war. Die ausdrückliche Ausnahme des Spensithios hiervon bedeutete also eine erhebliche Besserstellung seiner Person gegenüber den Mitbürgern. Wenn wir diesen Punkt nun aber als eine Privilegierung verstehen, sollten wir wohl auch die im Text mit ihm verbundene Befreiung von der Personalexekution als eine besondere Bevorzugung des Spensithios ansehen. Dies ergibt auch vor dem Hintergrund der folgenden Bestimmung Sinn, welche dem Poinikastas erlaubt, sollte er in einen Prozeß verwickelt werden, diesen vom Kosmos führen zu lassen. Abermals kann allein der Blick nach Gortyn diese Passage erhellen. Die uns erhaltenen Inschriften zeigen, daß dort eine Klage zwar üblicherweise vom Kosmos angenommen, von jenem aber an einen Dikastas überwiesen wurde, der gegebenenfalls erst einmal eingesetzt werden mußte. Dieser entschied gemäß den geltenden Gesetzen, sofern Sachverhalt und womöglich Schuldfrage unumstritten waren. Sollte es in der Sache aber Dissens geben, lud der Dikastas Zeugen, ließ Eide schwören und so fort, um dann auf der Grundlage seiner Prüfung zu entscheiden. Anschließend scheint dann wieder der Kosmos dafür verantwortlich gewesen zu sein, mit seinem auf institutioneller wie persönlicher Macht beruhendem Einfluß zu garantieren, daß die Entscheidung des Dikastas auch umgesetzt wurde.34 Wenn Spensithios nun also zugestanden wird, er dürfe – ganz nach seiner Entscheidung – seinen Prozeß entweder führen lassen wie alle anderen auch oder aber vom Kosmos, deutet dies vor dem Hintergrund des gortynischen Prozeßrechtes darauf hin, daß die Politen von Datala ihren Streit üblicherweise nicht vom Kosmos entscheiden lassen durften, sondern wohl von einem Dikastas. Wenn Spensithios seinen Prozeß also auch vor dem Kosmos führen durfte, dann diente 33 Zum ersten Mal sehen wir dieses Prinzip in den ersten Paragraphen des Großen Gesetzes formuliert: IC 4.72.1.1–3 = Koerner 163 = Nomima 2.6. Allerdings verzeichnet das Große Gesetz nicht nur neue Regelungen; es inkorporiert und vereinheitlicht eben auch ältere, schon längere Zeit gültige. Hierzu s. Kristensen 2004; Gagarin 2008, 145–175. 34 Zu diesem Verfahren s. Wolff 1946; zum Wesen der Macht von Funktionsträgern in der frühen Polis s. Seelentag 2009 und im Druck.

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dies nicht dem Zweck, durch Letzteren eine in der Sache kompetentere Lösung des Streites zu bekommen. Vielmehr scheint mit dem Engagement des Kosmos höchstselbst ein größeres Prestige für jene Partei des Streits verbunden gewesen zu sein, die ihn hatte einschalten dürfen. Denn nicht allein war der Kosmos in der Hierarchie der Funktionsträger höher angesiedelt als die Dikastai; vor allem besaß ein Mann, der das oberste Amt der Polis bekleidete, mit großer Wahrscheinlichkeit eine derartige persönliche Macht, daß sein Spruch in einem Streitfall eine größere Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit garantierte. Zuletzt hält unsere Inschrift fest, welche Abgaben Spensithios zu leisten habe. So wurde er „gesetzlich verpflichtet“, die große Menge von zehn Doppeläxten Fleisch, wohl rund 36 Kilogramm, für das Andreion beizusteuern und auch, wenn „die anderen ihr Amt antreten“. Außerdem hatte er die „Jahresgebühr“ zu entrichten. Diese Auflagen sollten wir – wie schon den Beitrag der axischen Handwerker zu verschiedenen Opfern – nicht in erster Linie als eine ‚Pflicht‘ betrachten. Vielmehr sehen wir, daß Spensithios etwa mit seinen Abgaben zum Andreion als Beiträger zu den Gemeinschaftsmahlzeiten auftrat – und das mit einer gewaltigen Menge von Fleisch.35 Wenn wir überdies lesen, daß Spensithios nicht dazu verpflichtet war, darüber hinaus noch Weiteres zu geben, sofern er nicht wollte, heißt dies, daß dem Schreiber und Erinnerer durchaus freistand, noch größere Abgaben zu leisten. Dies war von großer Bedeutung, denn anders als in Sparta gaben die Mitglieder kretischer Hetairien keinen absoluten, sondern einen relativen Beitrag. Dieser entsprach einem Zehntel ihrer Einkünfte – und zwar ungeachtet, wie viel dies jeweils war. Auf Kreta also mochte ein Mann seiner Hetairie nur sehr wenig beisteuern. Und doch geriet er nicht in Gefahr, wegen geringer Einkünfte seinen Status als Bürger und Krieger für die Polis zu verlieren. Die Partizipation am Gemeinwesen war nicht durch Zensusgrenzen abgestuft. Allerdings dürfte der beträchtliche Zehnte der reicheren Bürger jenen einen uneinholbaren Prestigevorsprung beschert haben. Denn mit gleichen Mitteln konnten sich die weniger Reichen bei ihnen nicht revanchieren. Zum Männermahl lediglich geladen zu werden wie ein Fremder und nicht die Möglichkeit zu haben, als Beiträger aufzutreten, war keine Ehre. Ein derart Geladener sah sich in einer Position ständiger Verpflichtung und damit sozialer Unterordnung. Das dem Spensithios zugestandene Recht, zum Andreion so viel beizusteuern, wie er wollte, stand sicherlich jedem Bürger offen; wir sollten hierin keine besondere Privilegierung des Spensithios sehen. Und doch war es offenbar erwähnenswert, dem Poinikastas ausdrücklich den Wettbewerb mit den etablierten Mitgliedern dieser Gemeinschaft zu ermöglichen. Jene traten seit langem als großzügige Beiträger im Andreion auf und hatten sich auf diese Weise nicht allein die Achtung ihrer Mitbürger erworben. Sie hatten sich diese nach den Geboten der Reziprozität eben auch zu einem komplementären Verhalten von Ehrerbietung und 35 Die maßgeblichen literarischen Quellen sind Dosiadas FGrHist 458 F2 ap. Athen. 4.143a–d; sowie Pyrgion FGrHist 467 F1 ap. Athen. 4.143e–f. Zum System der Finanzierung der Andreia s. Seelentag 2013 und im Druck.

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Unterstützung verpflichtet, zur Anerkennung der sozialen und politischen Überlegenheit der Reicheren. All dies sollte nun auch dem neuen Mitglied der Dataleis, das über beträchtliche Einkünfte verfügte, offenstehen. 3. Dionysios von Gortyn Der Prozeß, gewisse, ansonsten allein den Bürgern vorbehaltene Rechte Nichtbürgern zu übertragen, wird auch in unserem dritten Zeugnis deutlich, einem gortynischen Dekret zugunsten des um die Polis verdienten Dionysios und seiner Nachkommen. Die Inschrift stammt aus der ersten Hälfte des 5. Jh. und ist geschlagen in zwei verbundene Blöcke, die zusammen eine Länge von 177 cm erreichen.36 θιο , θ κ γαθ ι. ο ι ν οκαν ιον [ οι το]ι ο[– – –] | [– – – τ ς ἐ ]ολέ[ οι κα ἐ]ϝ γ ας ν κα Γό τ νς ἐ αν α | ϟ’ ο ἐν Ἀϝλõνι ϝοικ οντ ς τέλ ιαν [ ντον ]ϝτõ[ι κα ἐ γόνοις – – –] | [– – – ϝα] τ αν καν κα ϝοικ αν ἐν Ἀϝλõνι ἐ|ν ος ύ γο κα ϝοικό ον ἐκ οι γ ν κ[– – –] | [– – –]κον κα γ[ ν]α ο. vac. Götter! Zu gutem Gelingen! Als ein Geschenk gaben dem Dionysios, Sohn des Ko[– – –], seiner Tapferkeit im Krieg und seiner Wohltaten wegen das gesamte Gortyn und die, die in Aulon wohnen: Ausnahme von Besteuerung in allen Dingen, ihm und seinen Nachkommen [– – –], Rechtsprechung wie ein astos und ein Haus in Aulon in Pyrgos (vel. im Turm) und ein Stück Land außerhalb von [– – –] und im Gymnasium.

Die Liste der dem Dionysios übertragenen Privilegien zeigt Gemeinsamkeiten mit den Rechten, welche den Handwerkern von Axos und Spensithios übertragen wurden. Ähnlich wie im Fall des Poinikastas von Datala gestattete auch diese Regelung nicht allein dem Dionysios, sondern ausdrücklich auch seinen Nachkommen die Teilhabe an den genannten Praktiken. Diese Garantie zeigt, daß auch hier eine Familie auf Dauer in den Verband der Politen eingegliedert wurde. Einen Unterschied dieser Inschrift zu den beiden anderen sehen wir in der Motivation der jeweiligen Privilegierung. Während die Handwerker ihre Privilegierung wohl als Gegenleistung für ihre von der Polis hochgeschätzten Dienste erhielten, und Spensithios fortan die wichtige Aufgabe eines Schreibers und Erinnerers wahrnehmen sollte, wird Dionysios für bereits vergangene Taten geehrt. Seine Verdienste sind mit „seiner Tapferkeit im Krieg und seiner Wohltaten wegen“ sehr allgemein formuliert.37 Keine Rede ist davon, daß man von ihm in Zukunft ein bestimmtes Verhalten erwartete. Dionysios wurde rechtlich privilegiert, wenn Gortyn ihm die ϝα τ α κα übertrug. Hiermit scheint eine Art der Behandlung in Rechtsstreitigkeiten ge36 IC 4.64 = Nomima 1.8 (vgl. SEG 28.731, 39.1866), Gortyn im frühen 5. Jh. nach Perlman 1996, 266 und Nomima 1994, 50. 37 Angemerkt sei an dieser Stelle, daß sich hierbei um einen der wenigen Hinweise auf die in archaischer und klassischer Zeit zwischen kretischen Poleis geführten Kriege handelt. Worin das erwähnte, von seinen Taten im Krieg differenzierte euergetische Handeln lag, läßt sich nicht nachvollziehen. – vgl. im Übrigen vergleichbare Formeln aus Athen in Manville 1990.

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meint, wie ein astos sie in Anspruch nehmen durfte. Dieser Begriff der wastia dika ist bereits in einem gortynischen Gesetz des 6. Jh. nachgewiesen, aufgrund dessen starker Fragmentierung es allerdings nicht möglich ist, den größeren Sinnzusammenhang herzustellen.38 Überliefert ist hier aber unter anderem die zusammenhängende Phrase: „Er selbst möge zweimal laut sagen die wastia dika auf der Agora“. Das Gegenstück hierzu war die κ ν α κα, die ein zu Beginn des 5. Jh. geschlossener Vertrag zwischen Gortyn und der von Gortyn dominierten Gemeinschaft der Rhittenier erwähnt. Dort bezeichnet dieser Begriff die Regeln eines Rechtsstreits, in den Mitglieder beider Gemeinschaften involviert sind.39 Die xeneia dika scheint also jenes Recht zu bezeichnen, das angewendet wurde, wenn gortynische Politen mit Fremden – ob aus einer anderen kretischen oder einer nichtkretischen Polis – stritten.40 Auf Sklaven bezog sich diese dika nicht, denn deren Täterschaft oder Opferrolle in einem Vergehen wurden über ihren Herrn vor Gericht verhandelt. Und so läßt sich die wastia dika wohl dahingehend spezifizieren, daß sie den rechtlichen Rahmen für einen Rechtsstreit bezeichnete, den zwei astoi miteinander hatten – wobei astos hier synonym mit ‚Bürger‘ verwendet scheint. Dieser Befund legt nahe, daß zumindest in Gortyn zwei Rechtssysteme beziehungsweise Verfahrenswege nebeneinander existierten. Es sei die Vermutung geäußert, daß die uns erhaltenen Inschriften der archaisch-klassischen Zeit zum allergrößten Teil allein aus dem Bereich der wastia dika stammen. Regelungen der xeneia dika scheinen fast ausschließlich in jenen wenigen Inschriften reflektiert, in denen von der Zuständigkeit des Xenios Kosmos die Rede ist. Eines dieser Zeugnisse, die Schutzzusage gegenüber den Freigelassenen von Latosion, werden wir unten noch näher betrachten. Hier sei nur so viel gesagt: In den uns erhaltenen kretischen Inschriften spielen Fremde nur dann eine Rolle, wenn die 38 IC 4.13g–h.2 = Koerner 120 = Nomima 1.1:[- -].οι ϝτ ς ι λῆι [λ] ϟοι ϝα τ αν καν [ἐν τ ι γ]ο ι. – Es kann nur vermutet werden, daß diese Inschrift ein Straf- beziehungsweise Reinigungsritual eines Funktionsträgers beschreibt, der gegen eine Regelung der wastia dika verstoßen hatte. Im gleichen Kontext ist unter anderem auch die Rede von „Strafe zahlen“, „der ganzen Polis“ und „wird aufgenommen durch den xenodokos“. 39 IC 4.80.8 = Nomima 1.7 = StV 2.216. – Hier ist die Rede davon, daß ein Gortynier, der den Besitz eines Rhitteniers verletzt habe, von seinem Startagetas sowie dem gortynischen und rhittenischen Kosmos mit einer Drachme Strafe belegt werden solle, um diese – wohl zu gleichen Teilen – „bei dem Startos und den Rhitteniern verwenden. (...) Belegen sie ihn aber mit einer höheren Strafe oder verwenden sie diese nicht, so sollen sie nach der xeneia dika gerichtet werden (κ ν αι κα[ι ι]κ θαι).“ – Zu dieser Deutung der Inschrift s. van Effenterre 1993 und Nomima 1, 51; Perlman 1996, bes. 262–266 und 281 mit Anm. 163 und 165f.; und die ausführliche Besprechung von Craven 2009. – Zum Phänomen der ‚abhängigen Polis‘ s. unten. 40 Archaische Inschriften aus Eleutherna deuten in Zusammenschau mit itanischen und gortynischen Dokumenten darauf hin, daß kretische Poleis verschiedene Gruppen von Fremden differenzierten: Allopoliten und Xenoi; s. Eleutherna, letztes Viertel des 6. Jh.: IC 2.12.3 = Koerner 109 = Nomima 1.10; sowie IC 2.12.4 = Koerner 110 = Nomima 1.83. – Lyttos, spätes 6. Jh./um 500: van Effenterre/van Effenterre 1985 = Koerner 87 = Nomima 1.12. – Gortyn, Mitte des 5. Jh.: IC 4.72 6.46–55, hier 46f. = Koerner 171 = Nomima 1.13.

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Perspektive besteht, daß sie mit den Bürgern eines Gemeinwesens oder auch mit ‚der Polis‘ in Konflikt geraten könnten. In diesen Regelungen geht es aber keineswegs vornehmlich darum, die Rechte der Fremden zu wahren. Vor allem sind sie darum bemüht, den Fremden Auflagen zu machen. So finden wir Fälle, welche die Bedingungen ihres Arbeitsverhältnisses mit der Polis festlegten; welche die Umstände verfügten, unter denen Bürger einen Fremden adoptieren und diese Adoption auch wieder lösen konnten; oder welche die Amtsträger zur Ahndung eines Deliktes veranlaßten – selbst wenn die Opfer keine Bürger, sondern nur Fremde waren. Angesichts dieses Befundes ist ferner anzunehmen, daß uns für jene Rechtsregeln, die Anwendung in Fällen fanden, wenn allein Fremde untereinander Streit hatten und kein Bürger beteiligt war, kein einziges Beispiel überliefert ist. Dies heißt nun nicht, daß solche Regeln nicht existierten; sie wurden aber eben nicht in der gleichen Weise in Stein geschlagen und monumentalisiert wie jene Regelungen, welche die Auseinandersetzung zwischen den Bürgern der Polis betrafen und deren Akzeptanz aus genau diesem Grund prekärer war, weshalb man sich bemühte, sie unter anderem durch Verinschriftlichung mit größerer Verbindlichkeit auszustatten.41 Vor diesem Hintergrund sei die Frage gestellt, in welchem Verhältnis das uns topographisch ansonsten nicht bekannte Aulon zu Gortyn stand. Die addierende Formel „und die, die in Aulon wohnen“ deutet zunächst darauf hin, daß diese nicht als Teil des „ganzen Gortyn“ angesehen wurden.42 Es ließe sich argumentieren, daß Aulon nicht einfach nur ein Ortsteil von Gortyn war, sondern eine separate Siedlung. Schließlich verzeichnet der Beschluß auch die explizite Zustimmung ihrer Bewohner zu dem Beschluß oder dessen Mitgestaltung, was wir nicht erwarten sollten, wenn es sich um eine abhängige Gemeinschaft gehandelt hätte. Allerdings zeigt unsere Inschrift auch, daß es nötig schien, die Zustimmung der Bewohner von Aulon zu diesem Vorgang – auf Weisung Gortyns – noch einmal gesondert zu verzeichnen. Immerhin waren sie von den Privilegien des Dionysios unmittelbar betroffen, denn unter ihnen erhielt er Haus und Land, unter ihnen war er von Abgaben befreit. Wir sehen in Aulon wohl den Fall einer polis hypekoos, einer ‚hörigen Polis‘. Bereits im 7. und 6. Jh. hatte Gortyn sein Territorium erheblich ausgedehnt und andere Siedlungsgemeinschaften der Messaraebene aufgelöst beziehungsweise sich einverleibt. Die Bewohner dieser abhängigen Gemeinwesen wurden zwar nicht in die Unfreiheit gedrückt, wurden rechtlich aber eben auch nicht wie die 41 Hierzu s. Thomas 1995, besonders 74; im gleichen Sinn auch Camassa 1996; Hölkeskamp 1994, 1999, 273–280 und 2000, vor allem 88–91; und Seelentag 2009. – Bei all dem ist uns allerdings völlig unbekannt, in welcher Weise sich die beiden dikai voneinander unterschieden. Zur Diskussion s. etwa Koerner 1993, 368f.; Gehrke 1997, 49. 42 Vgl. einen Vertrag aus dem 2. Jh. zwischen Gortyn „und denen, die auf Kaudos wohnen“, einer Kreta vorgelagerten und von Gortyn abhängigen Inselpolis; IC 4.184 = Chaniotis 1996, Nr. 69. – vgl. etwa auch die ungleichen Abkommen zwischen Praisos und Stalai vom Anfang des 3. Jh.: IC 3.6.7 = Chaniotis 1996, Nr. 64 = StV 3.553 = HGIÜ 3.340; sowie zwischen Eleutherna und den Artemitai aus der zweiten Hälfte des 3. Jh.: IC 2.12.22 = Chaniotis 1996, Nr. 68.

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Politen Gortyns behandelt.43 Nun scheint Gortyn gegenüber den von ihr abhängigen Gemeinschaften darum bemüht gewesen zu sein, deren Eigenständigkeit zu betonen. Deutlich ist dies etwa in dem zu ungleichen Bedingungen geschlossenen Vertrag Gortyns mit den Rhitteniern, in welchem jene ausdrücklich als αὐτ]όνο [ο]ι κ’ αὐτό ικοι bezeichnet werden – um dann aber doch Weisungen zu empfangen.44 So läßt sich wohl auch im Falle Aulons bei aller hierarchischen Diskrepanz zu Gortyn diese Geste vermeintlicher Souveränität bei der Zustimmung zu den Privilegien des Dionysios erklären. Letztlich stand dahinter aber wohl die Verfügung Gortyns über Gebiet und Bewohner Aulons. Sollte es sich bei Aulon also um eine abhängige Gemeinschaft gehandelt haben, wäre die Zuerkennung der ϝα] τ α κα an Dionysios von besonderer Relevanz gewesen. Denn als Mitglieder einer polis hypekoos dürften – in Analogie zum Fall der Rhittenier – die Bewohner Aulons nach der xeneia dika behandelt worden sein. Damit hätte diese Privilegierung des Dionysios also gesagt, daß, obwohl er Haus und Land nicht im geographischen Einzugsgebiet der gortynischen wastia dika hatte, da er eben nicht auf dem Territorium Gortyns, sondern dem von Aulon wohnte, er im Rechtsstreit trotzdem wie ein gortynischer astos behandelt werden sollte. Die ausdrückliche Zuerkennung der wastia dika an Dionysios bedeutete für diesen den Zugang zu Praktiken, welche die Politen Gortyns offenbar als ein von ihnen gehütetes, für sie reserviertes Vorrecht ansahen. In der Ehrung des Dionysios spielt auch Land eine wichtige Rolle. Erst durch Gortyns Zugriff auf das Territorium von Aulon und die Zuweisung eines genau lokalisierten Hauses und die Übertragung eines „Stückes Erde“ in einem ebenfalls bezeichneten Gebiet wird Dionysios in den Kreis derjenigen aufgenommen, die genau aufgrund dieses Eigentums und der daraus resultierenden Einkünfte vollumfängliche politische Partizipation beanspruchen konnten.45 Womöglich sollte es ihm damit möglich gemacht werden, mit seinen Erträgen aus Landwirtschaft oder Weidewirtschaft als Beiträger eines Andreions aufzutreten. Dies legt zumindest der Vergleich mit dem Spensithiosdekret nahe. Hier wie dort sehen wir, daß über Land und dessen Erträge zu verfügen, die Voraussetzung für alle anderen Praktiken der Partizipation war.46 Dies war nicht zuletzt deswegen möglich, weil 43 Zum Phänomen abhängiger Gemeinwesen auf Kreta s. Gschnitzer 1958; Perlman 1996 sowie Chaniotis 1996, 160–168 und passim. Gschnitzer 1958, 54f. sieht in Aulon keine abhängige Gemeinschaft – anders aber Chaniotis 1996, 434; Perlman 1996, 266–268; 2002, 199f. und 2004a, 1152f. mit Diskussion der älteren Literatur. – Zur gewaltsamen Expansion kretischer Poleis während der Archaik s. Viviers 1994; Erickson 2010, bes. 238–245. – Weitere Beispiele für solche abhängigen Gemeinschaften bieten etwa IC 2.12.22 = Chaniotis 1996, Nr. 68 aus dem späten 3. Jh., ein Vertrag zwischen Eleutherna und der Gemeinschaft der Artemitai; sowie IC 3.6.7 = Chaniotis 1996, Nr. 64 = StV 3.553 = HGIÜ 3.340, ein Abkommen zwischen Praisos und Stalai vom Anfang des 3. Jh. 44 IC 4.80.1 = Nomima 1.7 = StV 2.216. 45 Es ist unklar, ob die ϝοικ α (...) ἐν ος ύ γο ein Haus in einem zu Aulon gehörenden Bezirk namens Pyrgos bezeichnet, oder ob es sich bei ihr um das Haus in einem beziehungsweise dem Turm von Aulon handelt. 46 Die Relevanz – ja, die ideologische Aufladung – eines Hauses als Mittelpunktes einer Wirtschaftseinheit wird aber auch in einer Passage des Großen Gesetzes von Gortyn deutlich, die

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ein Gutteil des Landes kretischer Gemeinwesen von Unfreien bestellt wurde. Dieses System gewährte allen Bürgern die notwendigen Freiräume, an den zeitintensiven sozialen Institutionen der Polis teilzunehmen.47 Die Erwähnung von γ[ ν]α ο am uns nur fragmentarisch erhaltenen Ende der Inschrift ist wohl zu deuten als die Zuerkennung des Rechts, fortan im Gymnasion zu trainieren. Im archaischen Griechenland kamen dessen Besucher aus der Elite; hier pflegten sie eine aufwendige Kultur der schönen Körper, anmutigen Bewegungen und teuren Salböle. Und hier trugen die Eliten untereinander einen durch Kampfregeln institutionalisierten und dadurch eingehegten Wettbewerb aus. Gleichzeitig aber grenzten sie sich als die Gruppe jener, die an diesen Praktiken teilhatten, von allen Anderen ab, denen dies nicht offenstand; diese Erzeugung von Alterität beförderte die Kohäsion der Aristoi. Und so war das Training im Gymnasion neben den elaborierten Praktiken sympotischer Kommensalität einer der wesentlichen sozialen Räume zur Inszenierung von Distinktion und Repulsion.48 Im Zuge der soziopolitischen Transformation kretischer Gemeinwesen in der zweiten Hälfte des 7. Jh. wurden sowohl die Teilnahme an den kommensalen Gemeinschaften der Andreia als auch das Training im Gymnasion von einem nur kleinen auf einen erweiterten Kreis von Akteuren ausgedehnt.49 Fortan hatten auch die ‚einfachen‘ Politen die Möglichkeit, als Mitglied einer fleischverzehrenden Kriegergemeinschaft zu speisen und sich körperlich zu ertüchtigen. Nun bedeutete diese Öffnung aber nicht die Verwässerung ursprünglich elitärer Praktiken – eine ‚Demokratisierung‘ von Andreion und Gymnasion. Vielmehr sehen wir eine ‚Aristokratisierung des Demos‘ vor uns. Denn nun war es einem jeden Politen möglich, durch athletische Leistungen Ruhm zu erwerben und geehrt zu werden, wie es ursprünglich für die Aristoi reserviert gewesen war.50 Die Kohäsion der gemeinsam Speisenden und gemeinsam Trainierenden sowie ihre Repulsion gegenüber den hierbei nicht Zugelassenen blieben aber konstitutiv für den soziopolitischen Raum der Speisegenossenschaft und des Gymnasions. In ihnen sehen wir wesentliche soziale Integrationskreise der Politen, aus denen – wie Aristoteles

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mit dem Erbrecht befaßt ist, vor allem mit dem Erbteil von Töchtern. Anders als die anderen Teile des Erbes sollten ein Haus, das ein Bürger in der Polis besaß, sowie das Inventar dieses Hauses unbedingt in männlicher Linie weitergegeben werden, nicht über eine Tochter in deren neue Schwiegerfamilie übergehen: IC 4.72.4.31–7, 46–8 = Koerner 169 = Nomima 2.49. Zum Kontext und den Gründen für diese Regelung s. Link 1994, 74–96, bes. 79–83 und 94f. – Daß sich im archaischen Griechenland der Reichtum eines Mannes und damit auch sein Einfluß und Grad der Teilhabe am Gemeinwesen nach Land und Herden bemaßen, erörtern etwa van Wees 2013 und Foxhall 1997 sowie 2002; s. allerdings ebd., 218: „I have never been able to resolve in my own mind the paradox of substantial inequalities in landholding juxtaposed to the notion of political equality in poleis where landholding and citizenship were linked in several ways.“ Zu den Unfreien kretischer Poleis s. Link 2001; van Wees 2003; Gagarin 2010. Zur Entstehung des Gymnasions und der Relevanz des Agons bei der Herausbildung einer Elitenkultur s. Mann 1998. Hierzu s. Rabinowitz 2009 und 2014; sowie Seelentag im Druck und im Druck c. Hierzu s. Meier 2006; so auch schon Spahn 1977, 109.

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für die Unfreien Kretas betont, und wie es die Bezeichnung ‚Apetairoi‘ für freie Nichtbürger nahelegt – alle Anderen ausgegrenzt waren.51 Wie Spensithios und die axischen Handwerker, die mit der „Abgabenfreiheit von allem“ privilegiert werden, wird auch dem Dionysios die atéleia, die „Abgabenfreiheit“, zuerkannt. Gerne wüßten wir anhand zeitgenössischer Inschriften der Insel, welcher Art die hier erlassenen Abgaben waren. Von den Politen kretischer Gemeinwesen wissen wir allein, daß sie eine regelmäßige Beisteuer zum Andreion leisteten.52 Diese aber kann hier nicht gemeint sein, da Spensithios und den Handwerkern zwar die Atelie zuerkannt wird, sie zugleich aber die Auflage – beziehungsweise das Recht – erhalten, zum Andreion beizusteuern. Ansonsten sind uns für das archaisch-klassische Kreta keine regelmäßigen Abgaben, keine ‚Besteuerung‘ von Bürgern überliefert.53 Tatsächlich ist es zweifelhaft, daß die Politen solche Abgaben entrichten mußten.54 Gemeint sind womöglich Abgaben auf die Inanspruchnahme von durch die Polis gewährleistete Infrastruktur beziehungsweise auf gewisse auf dem Gebiet der Polis vollzogene Transaktionen. Der Befund für solche Abgaben für das archaische und klassische Kreta ist aber schmal. Allein ein um 450 unter der Aufsicht von Argos geschlossener Vertrag der kretischen Poleis Knossos und Tylissos verzeichnet eine Abgabe auf Exporte im Seehandel.55 So ist es vielleicht denkbar, in der Zuerkennung der Atelie in den hier besprochenen Dokumenten die jeweilige Ausnahme der Genannten von jenen Abgaben zu sehen, welche allein die Nichtbürger zu leisten hatten. Von solchen berichtet Aristoteles in seinen Ausführungen über die Finanzierung der Andreia, es würde „vom Staatsland, von allen seinen Felderträgen und dem (dort weidenden) Vieh, und von den Abgaben, welche die Periöken entrichten, ein Teil für die Götter und die öffentlichen Aufgaben bestimmt; der andere für die gemeinsamen Mahlzeiten, 51 Apetairoi: IC 4.72.2.2–45, hier 2–15 = Koerner 164 = Nomima 2.81; zu ihnen s. etwa Willetts 1955, 37–45 und 1967, 12f.; Link 1994, 29. – Unfreie: Aristot. pol. 1264a 21–2. Die Ideologie einer Orientierung des Gymnasions und anderer Institutionen kretischer Gemeinwesen hin auf die kriegerische Ertüchtigung der Politen ist in den platonischen Gesetzen explizit gemacht; s. etwa Plat. leg. I 625c–626b wie auch VII 814d; VII 834a–d. 52 Deutlich wohl in der Karpodaistai-Inschrift von Gortyn: IC 4.77 a–c = Koerner 152 = Nomima 1.49; hierzu Willetts 1961; Link 1994, 13 Anm. 23. – Diese Inschrift läßt freilich auch erkennen, daß jene Abgaben nicht immer freiwillig entrichtet wurden. 53 Vgl. den gortynischen Vertrag mit Kaudos, der aber erst aus dem späten 3./frühen 2. Jh. stammt; IC 4.184a und dazu Chaniotis 1996, 160–168, 407–420). Hierin ist verfügt, daß die Bürger des von Gortyn abhängigen Kaudos eine dekate ihrer Landesprodukte an den Tempel des Apollon Pythios von Gortyn zahlen sollen(, und zwar „wie es auch die Gortynier taten“). Dieser Zehnte galt für alle Produkte außer Tieren und Hafeneinkünften, Gemüse, Wacholder und Salz, deren Abgabemenge in absoluten Maßen festgeschrieben war. 54 Dieses Thema ist für Kreta bislang nicht behandelt worden. – Morris 2009, 72: „But state institutions were always weak. Confiscated property, fines, voluntary contributions, and indirect taxes on markets and harbors were their main sorces of revenue in Archaic times: direct taxation was always considered incompatible with freedom.“ – s. nun van Wees 2013b, bes. 28–30, zur Archaik; sowie Rubinstein 2009 zur Atelie nacharchaischer Zeit. 55 IC 1.8.4, hier 11–14, und 1.30.1 = Nomima 1.54 I und II = StV 147 und 148 = HGIÜ 1.72.

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sodaß alle aus öffentlichen Mitteln ernährt werden, Frauen, Kinder und Männer.“56 Und Dosiadas hält in seinem Bericht über die Andreia in Lyttos fest, „von den erzielten Erträgen bringt jeder den zehnten Teil in die Hetairie ein sowie die Einkünfte der Stadt, welche die Vorsteher der Stadt den Häusern der einzelnen zuteilen. Von den Douloi steuert jeder pro Kopf einen aiginetischen Stater bei.“57 Diese beiden Zeugnisse berichten also von einer regelmäßigen Beisteuer der Nichtbürger zu Praktiken, an denen sie selbst nicht teilhatten. Womöglich sollten wir in der Abgabenfreiheit, die in allen drei besprochenen Inschriften prominent erscheint, also nicht unbedingt und – in Parallelisierung zu den Charakteristika der Atelie in späterer Zeit – von Vorneherein eine zusätzliche Privilegierung sehen, welche die derart Geehrten unter ihren Mitbürgern noch einmal gesondert hervorhob. Vielleicht bezeichnete sie statt dessen die ausdrückliche Ausnahme von jenen Abgaben, die allein Nichtbürger zu leisten hatten; und somit die Ausnahme von einer Praxis, die maßgeblich dazu beitrug, die Minderprivilegierung der ‚Anderen‘ gegenüber dem Politen herauszustellen.58 In diesem Falle beobachteten wir hier also abermals, daß nicht etwa ein ‚Bürgerrecht‘ übertragen wurde; statt dessen wurden jenen Individuen, die an der Polis teilhaben sollten, bestimmte Praktiken erlassen, welche die Pflicht von Nichtbürgern waren: Fortan sollten auch sie an der Gemeinschaft jener teilhaben, die keine Abgaben dieser Art zahlten, nämlich der Bürger. 4. Die Freigelassenen von Latosion Unser viertes und letztes Zeugnis einer Eingliederung von Individuen in die Integrationskreise des Gemeinwesens und die Teilhabe an seinen Praktiken ist eine gortynische Inschrift des frühen 5. Jh. Sie trifft Vorkehrungen für die Ansiedlung und den Schutz einer Gruppe von Freigelassenen, wenn sie verfügt:59 56 Aristot. pol. 1272 a12–21. 57 Dosiadas FGrHist 458 frg. 2 ap. Athen. 4.143a; Übs. nach Link 1994. 58 Ein Dekret aus Kyzikos, das aus dem 6. Jh. stammt, überliefert eine Reihe von Abgaben. Es gewährt den dort Privilegierten – Manes, den Söhnen des Aisepos und deren Nachkommen – „die Abgabenfreiheit mit Ausnahme des nauton, der Abgabe für die Benutzung der gemeindlichen Waage, der Pferdekaufabgabe, der Viertelabgabe und der Sklavenkaufabgabe. Bei allem anderen sollen sie abgabenfrei sein.“ – Aufgrund unserer Unkenntnis bezüglich der soziopolitischen Verhältnisse in dieser Polis zu jener Zeit können wir allerdings nicht sagen, ob diese Steuern von einem jeden Politen zu entrichten waren, der entsprechende Geschäfte tätigte, und diese Privilegierung die Genannten unter ihren Mitbürgern besonders heraushob; oder ob es sich vielleicht auch hier um eine ausdrückliche Freistellung von jenen Abgaben handelte, wie allein Fremde sie zu entrichten hatten. Das in dieser Inschrift ebenfalls zugestandene Recht, fortan im Prytaneion zu speisen, spricht freilich für Ersteres; IMT Kyz Kapu Dag 1447 = Nomima 1.32 = HGIÜ 1.18, Übs. von Brodersen/Günther/Schmitt, jeweils mit Diskussion und weiteren Hinweisen. Hölkeskamp 1999, 172f. datiert die Inschrift an das Ende, Raaflaub 1993, 77 an den Anfang des 6. Jh. 59 Text und Übersetzung nach IC 4.78 = Koerner 153 = Nomima 1.16, allerdings mit der wesentlichen sinnverändernden Emendation von Lipsius 1909, 9 und 16. Zur Begründung der

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θιο . τ ’ ϝα τοῖς Γο τ ν οις α ον [ι]· vac. τõν λ [θέ ον – – – | – – – κ]α λ ι καταϝοικ θαι ατό ιον ἐ τ ι ϝ ϝαι [κ|α τ] ι ὀ ο αι, κα έτινα το τον έτ κατα ολό[θαι έτ λ ν. | α ’ ικ ]οιτο, τ ν κ ένιον κό ον ὲ λαγαῖ ν. α ὲ [ λ| ]οι ν, ἐκατ ν τατ ανς ϝέκα τον τ νς τ τανς [ἐ |θαι, κα τ ν ]ι λ αν τõν κ τον ἐ τ αντανς ο ό [ |ν]. α ’ ο τ ται ὲ ϝέ κ ι ν ἆι γ αται, τ ν ι λ αν ἄ[ταν ϝέκα το|ν αὐτõν τõι ] ο ένοι ο ό ν κα τ ι όλι θέ ν. Götter! Dies beschlossen die Gortynier, als sie abstimmten. Von den Freigelassenen – – – (soll), wer will, Latosion besiedeln unter dem gleichen und gleichartigen (Recht), und keiner soll einen solchen versklaven [noch ihn berauben. Wenn aber zuwidergehandelt] wird, soll der Xenios Kosmos es nicht geschehen lassen. Wenn er es aber unterläßt, sollen die Titai einhundert Statere von jedem (Xenios Kosmos) eintreiben und das Doppelte der Güter als Buße (dem Beraubten) zurückgeben. Wenn die Titai nicht tun, was geschrieben ist, soll die doppelte Strafe [jeder von ihnen dem] Kläger erstatten und der Stadt erlegen.

Hier wird also freigelassenen Sklaven (apeleutheroi) erlaubt, sich in Latosion niederzulassen.60 Unklar ist, worum es sich bei diesem Ort handelte; er mag seinen Namen von einem dort liegenden Heiligtum der Leto empfangen haben.61 Es scheint sich jedenfalls nicht um einen Bezirk in oder außerhalb von Gortyn gehandelt zu haben, welcher allein von Metöken und Fremde bewohnt wurde, um jene von den Bürgern räumlich zu separieren. Schließlich stellt unsere Inschrift es den Freigelassenen frei, sich dort niederzulassen; sie befiehlt es nicht. Den Passus, dort würden sie dann „unter dem gleichen und gleichartigen Recht behandelt“, sollten wir – auch angesichts der darauffolgenden Schutzzusage – als eine Privilegierung deuten. Allerdings ist nicht davon auszugehen, daß die Freigelassenen zukünftig nach dem gleichen Recht wie die Bürger von Gortyn behandelt wurden. Dies wäre ein sozialer und rechtlicher Sprung über die Gruppen der freien Nichtbürger hinaus. Eher ist anzunehmen, daß in dieser Inschrift verfügt wird, daß sie nach ebendem Recht behandelt werden sollten, welches die anderen Bewohner von Latosion genossen. Ein Schlüssel zum Verständnis dieser Aussage liegt darin, Latosion nicht als einen bloßen Ortsteil von Gortyn sehen, sondern als eine von

hier vorgetragenen Lesung – vor allem des Umbruchs der dritten auf die vierte und der vierten auf die fünfte Zeile – und der damit einhergehenden Deutung s. Seelentag im Druck b. – Nicht näher eingegangen sei an dieser Stelle darauf, daß diese Inschrift einer der frühesten Nachweise für eine Mehrheitsentscheidung im griechischen Kulturraum ist. Zu ihr s. Flaig 2013, der die kretischen Fälle aber nicht erwähnt; zu Verfahren politischer Entscheidung auf Kreta s. Seelentag 2013. 60 Das verlorene Ende der ersten Zeile ließe sich nach Nomima 1, 75 auch ergänzen als τον λ [ α ένον. Dann ginge es hier nicht um ‚Freigelassene‘, sondern um ‚Zurückkehrende‘. Dies wurde allerdings von Petzl 1997, 615 mit der Frage nach der Bedeutung dieser Form und aus inhaltlichen Gründen in Zweifel gezogen. Tatsächlich deutet das Verbot, die nämlichen Personen (erneut?) zu versklaven, eher darauf hin, in ihnen ehemalige Unfreie zu sehen; s. auch Zelnick-Abramowitz 2005, 113f. 61 Von den Einwohnern des Latosions ist auch in einer anderen, stark fragmentierten Inschrift aus Gortyn die Rede, die bereits in das 6. Jh. datiert wird. Hier ist für ein nicht länger rekonstruierbares Delikt eine Strafzahlung von 10 Stateren verfügt, die womöglich „den Latosiern“ zugute kommen sollte; IC 4.58 = Koerner 143 = Nomima 1.15.

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Gortyn abhängige Gemeinschaft, wie Aulon und Rhitten. Dies wird auch durch die hier verzeichnete Zuständigkeit des Xenios Kosmos plausibel. Der Funktionsträger dieses Titels ist uns allein aus Gortyn bekannt, und zwar bereits seit dem späten 7. oder frühen 6. Jh. Er gehört damit zu den ältesten auf Kreta und in der griechischen Welt überhaupt nachgewiesenen Institutionen.62 Die wenigen uns zu ihm erhaltenen Zeugnisse bieten nur einen ungefähren Eindruck, welche Aufgaben er wahrnahm; und doch scheint deutlich, daß er in Konflikten handelte, an denen freie Nichtbürger beteiligt waren. So war der Xenios Kosmos neben dem in unserer Inschrift erwähnten Schutz von Freigelassenen dafür zuständig, von außerhalb nach Gortyn gekommene Handwerker zu bestrafen, die ihre Arbeit nicht gemäß ihres mit der Polis geschlossenen Vertrags erfüllten. Außerdem war er an der Auflösung von Adoptionen beteiligt, durch welche die ehemals Adoptierten die Mitgliedschaft in der Hetairie ihres Adoptivvaters verloren und damit – da die Zugehörigkeit zu einer der Mahlgemeinschaften wesentliches, unabdingbares Merkmal des Politen war – ihren Status als Bürger.63 Den Grund, weshalb eine auf den ersten Blick derart spezialisierte Institution bereits in so früher Zeit existierte, sollten wir vor allem in der bereits erwähnten territorialen Ausdehnung Gortyns in archaischer Zeit suchen. Angesichts der sich aus ihr ergebenen Kontaktflächen mit freien Nichtbürgern, in deren Folge man auch xeneia dika und wastika dika voneinander schied, ist es durchaus verständlich, daß in Gortyn bereits im 7. Jh. Aufgaben anfielen, die von eigens dafür reservierten Funktionsträgern erledigt wurden. Wir sollten den Xenios Kosmos also zum einen vor dem Hintergrund einer immer weiter ausgebildeten Aufgabenteilung und institutionellen Differenzierung innerhalb der kretischen Politien am Ende des 7. Jh. sehen. Zum anderen müssen wir die Funktion dieses Amtes im Kontext jener in verschiedenen Poleis der Insel zu beobachtenden Bemühungen sehen, den Umgang mit ‚Anderen‘ in bestimmte Bahnen zu lenken.64 Die kretischen Poleis waren einerseits bemüht, diesen Gruppen Rechtssicherheit zu gewähren, andererseits jedoch das Verhältnis der Politen zu den Nichtbürgern zu definieren, die Grenze zwischen Bürgern und Fremden etwa klar zu ziehen.65

62 IC 4.14 g–p = Koerner 121 = Nomima 1.82, hierzu s. Perlman 2002, 208–211; sowie IC 4.30 = Koerner 126 = Nomima 2.68. Zum Xenios Kosmos s. Seelentag im Druck und im Druck b. 63 Handwerker: IC 4.79 (vgl. IC 4.144) = Koerner 154 = Nomima 1.30; Adoptionen: IC 4.72.11.10–7 = Koerner 180 = Nomima 2.40. 64 In Lyttos verbot um 500 ein Gesetz gar die Aufnahme von Fremden; eine Zuwiderhandlung wurde schwer bestraft; Koerner 87 = Nomima 1.12, editio princeps und ausführliche Besprechung durch van Effenterre/van Effenterre 1985 mit van Effenterre ebd. 174; s. auch van Effenterre 1989 und Perlman 2004b, 125–127: „Götter! Die Lyttier beschlossen: Wer einen Fremden aufnimmt, (soll Strafe erlegen), außer (für den,) den er selbst in seiner Gewalt hat, oder einen Itanier. Wenn aber der Kosmos oder der Apokosmos einen aufnimmt, soll er auf Beschluß der Bola 100 Lebetes zahlen für jeden, den er aufnimmt. (Strafe auferlegen) sollen die Richter jedem, sobald er einen aufnimmt. Wenn sie dies ablehnen, schwören (?) sie, vor dem ‚Wächter‘ – – – Strafe zu bezahlen – – –.“ 65 Überdies war die Schaffung von einer gewissen Anzahl von Funktionen in der Polis – neben der kollegialen Besetzung dieser Rollen etwa – einer der wichtigen Schritte von Institutionali-

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Wahrscheinlich wurde den Freigelassenen unserer Inschrift hier also der Zugang zu einem Rechtsstatus übertragen, der jenem von freien Fremden entsprach, die aber nicht das gortynische ‚Bürgerrecht‘ besaßen; deshalb war der Xenios Kosmos für ihren Schutz zuständig. Und doch überrascht die Zusage, die apeleutheroi sollten Schutz genießen vor Versklavung und Beraubung. Immerhin waren die Betroffenen doch freigelassen und waren rechtlich Freien gleichgestellt; und es gibt keine Regelung, die etwa dieser Personengruppe einen derartigen Schutz ausdrücklich zugesagt hätte. Für sie galt selbstverständlich ein Schutz vor solcher Mißhandlung. Weshalb also diese Redundanz? Nun wissen wir nichts über die Umstände einer Freilassung in kretischen Poleis der archaischen und klassischen Zeit; können nicht sagen, ob es zwischen den verschiedenen Arten von Unfreien und Freien einen Status der Freigelassenen mit spezifischen Rechten beziehungsweise spezifisch geschmälerten Rechten gab. Wir sollten allerdings bedenken, daß die Erwähnung von apeleutheroi in dieser Inschrift die allererste ihrer Art überhaupt ist. Tatsächlich wurde das Konzept des ‚Freigelassenen‘ in der griechischen Welt erst während des 5. Jh. entwickelt.66 Hier mag der Vergleich mit den oben besprochenen Fällen helfen. Womöglich beruhte die Entlassung einer Person aus einem Verhältnis der Unfreiheit genausowenig auf einer bereits abstrahierten Vorstellung von ‚Freilassung‘, die eine en bloc Übertragung genau definierter und klar konturierter Rechte und Pflichten umfaßte, wie die Eingliederung von Individuen in den Verband der Politen auf der Übertragung eines abstrakten ‚Bürgerrechts‘ beruhte. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wären die Zusage, die apeleutheroi dürften sich an einem bestimmten Ort niederlassen, wie auch die Garantie ihrer Behandlung nach der wastia dika und schließlich die Zusicherung ihres Schutzes vor Versklavung und Beraubung also keine redundante Behandlung von doch ohnehin Freigelassenen. Tatsächlich scheinen Zusagen wie diese den Status eines Freigelassenen überhaupt erst definiert zu haben. Das heißt nun nicht, daß unsere Inschrift selbst die Freilassung vollzog. Vielmehr nennt beziehungsweise bestätigt sie ausdrücklich jene sozialen Integrationskreise, jene Praktiken und Rechte, an denen die apeleutheroi fortan teilhaben dürften. Es waren diese Facetten von Teilhabe, die allein Freien offenstanden, und nicht etwa ein abstrakter Zustand des ‚Freigelassenseins‘, durch welche sich die Freigelassenen von Unfreien unterschieden. Auch der ‚personenrechtliche Status‘ eines Individuums bestand im archaischen Kreta weniger in einem Konglomerat klar umrissener Privilegien oder gar einer abstrahierten Vorstellung, sondern in der Teilhabe an bestimmten Praktiken.67

sierung, welche geeignet waren, den Wettbewerb der Eliten um Prominenz in der Gemeinschaft einzuhegen. Hierzu s. Seelentag im Druck. 66 Das früheste literarische Zeugnis für diesen Begriff bietet das Satyrspiel Soph. Ichn. 199 (Radt 1977) wohl in den späten vierziger Jahren des 5. Jh. Der alternative Begriff exeleutheroi ist inschriftlich und literarisch erst noch später nachgewiesen; s. Zelnick-Abramowitz 2005, 99–129, bes. 101f. und 107. 67 Die apeleutheroi waren vielleicht in größerer Gefahr als ihre immer schon freien Mitbewohner, aufgrund ihrer schwächeren sozialen Stellung erneut versklavt oder beraubt zu werden.

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Die Androhung der in unserer Inschrift genannten recht hohen Strafe ist nur zu einem geringen Teil als Meßlatte des Rechtsschutzes zu sehen, den die Freigelassenen fortan genießen sollten. Denn es geht dieser Regelung überhaupt nicht darum, den Schutz von Freigelassenen mittels detaillierter Bestimmungen unbedingt zu gewährleisten und festzuschreiben, welche Strafe denjenigen drohte, welche die Freigelassenen versklavten oder beraubten. Denn diese Inschrift ist in einem Gutteil der uns erhaltenen Zeilen mit prozeduralen Fragen befaßt. Sie verfügt, daß der Xenios Kosmos die Beraubung und Wiederversklavung der Freigelassen zu verfolgen habe. Sie bestimmt aber auch, daß, wenn der Xenios Kosmos dies zu tun versäume, die Institution der Titai 100 Statere von jedem Xenios eintreiben solle. Abschließend hält sie fest, was zu geschehen habe, wenn auch die Titai ihren Aufgaben nicht nachkämen. Die hier festgelegten Pflichten von Amtsträger, in Reaktion auf eine bestimmte Tat im Rahmen eines definierten Verfahrens zu handeln, und die Etablierung von Vorkehrungen für den Fall, daß er dies nicht tue, sodaß dann eine andere Institution jenen ersten bestrafen solle, und so fort, gehören in die Reihe zahlreicher anderer Inschriften der Archaik mit vergleichbaren prozeduralen Regeln, die allesamt bemüht sind, Funktionsträgern Pflichten aufzuerlegen und verbindliche Verfahren zu etablieren; kurzum: Institutionen zu konturieren.68 In unserem Fall sind es eben die Xenioi Kosmoi und die Titai. Es geht hier also nicht vorrangig um die Behandlung eines Mannes, der Freigelassene beraubt oder versklavt, beziehungsweise um deren Rechtsschutz, sondern um die für die politische Ordnung des Bürgerstaates ungleich schwierigere Frage, wie Institutionen verläßlich arbeiten und wie sich gemeinschaftlich beschlossene Verfahren gegen die Handlungswillkür Einzelner durchsetzen könnten.69 AN DER FRÜHEN POLIS TEILHABEN Die Privilegien, mit welchen die vier besprochenen Zeugnisse Individuen die Teilhabe an den Integrationskreisen des Gemeinwesens zugestehen, sind nicht deckungsgleich. Dies ist auch nicht zu erwarten, stammen sie doch aus unterschiedlichen Poleis und Jahrzehnten und überhaupt aus einer Zeit, in der ein stanWomöglich bezieht sich diese Regel vornehmlich auf die ehemaligen Herren der genannten Freigelassenen, die von ihnen Dienste oder Güter erpressen wollten. 68 Dies sehen wir bereits in einer der frühesten kretischen Regelungen; IC 4.14 g–p 2 = Koerner 121 = Nomima 1.82, Gortyn am Anfang des 6. Jh. Als ein weiteres Beispiel sei IC 2.5.9, hier 8–11 = Koerner 106 genannt, aus Axos im 5. Jh. – Zu den zahlreichen prozeduralen Bestimmungen früher griechischer Gesetze s. Koerner 1987; Hölkeskamp 1999; Papakonstantinou 2008. – Vergleichbar mit unseren Regelung ist die in Anm. 13 erwähnte Privilegierung des Patrias und seiner Nachkommen. Auch diese Inschrift formuliert vor allem, welche Institutionen in welcher Weise für eine Gewährleistung des Zugesprochenen verantwortlich seien. 69 Gagarin 2008, 138f. weist auf die für Gortyn im 5. Jh. einzigartige Eingangsformel dieser Inschrift hin: die Invokation der Götter und der Hinweis auf eine Abstimmung der Gortynier. Dies mag auf eine besondere – dann aber prozedurale – Relevanz dieser Regelung hinweisen.

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dardisiertes Bürgerrecht eben noch nicht existierte. So erhält etwa allein Dionysios ein Haus und ein Landlos zugewiesen; allerdings gestattet man ihm nicht ausdrücklich die Speisung im Andreion, die in den Privilegierungen von Axos und Datala eine wichtige Rolle spielte. Aus diesen Unterschieden lassen sich nun aber relative Mehr- oder Minderprivilegierung ableiten, keine graduelle Einschränkung der Teilhabe am Gemeinwesen. Für die Zeitgenossen mag völlig klar gewesen sein, daß ein Mann, sofern dieser über Land und ein Haus verfügte und überdies allen Mitbürgern als ein von ihnen per Dekret privilegiertes Mitglied der Gemeinschaft bekannt war, selbstverständlich auch an den Gemeinschaftsmahlzeiten teilnahm. Und wenn Dionysios nicht ausdrücklich in eine Phyle eingeteilt wird, und damit in eine Struktur, deren Existenz als sinnstiftende Integrationskreis in kretischen Poleis immerhin schon für das 7. und 6. Jh. überliefert ist, mag dies mit seinem immerhin klar benannten Wohnort Aulon zusammenhängen.70 Auch fehlt in unseren drei Inschriften jede Bezugnahme auf einen mit dieser Privilegierung einhergehenden militärischen Einsatz für die Polis. Denkbar ist allerdings, daß diese Pflicht des Tragens und Einsatzes von Waffen, die wir ohnehin eher als ein Recht verstehen sollten, mit dem Eigentum an Land wie selbstverständlich einherging.71 Bei allen Unterschieden der besprochenen Zeugnisse kristallisieren sich aber doch einige soziale Integrationskreise und deren konstituierende Praktiken heraus, die von besonderer Relevanz für die Teilhabe am Gemeinwesen waren. Dies war zunächst der Zugriff auf Ackerland beziehungsweise auf die Erträge eines Stückes Land. Erst damit scheint die Möglichkeit, ja das Recht, verbunden gewesen zu sein, als Beiträger zum Andreion aufzutreten und an den Gemeinschaftsmahlzeiten der Männer teilzunehmen, nicht – wie ein Fremder – geladen zu sein, selbst aber nichts beizutragen. Über diese Beisteuer hinaus scheinen die Bürger das Privileg genossen haben, keine regelmäßigen Abgaben entrichten zu müssen. Von großer Relevanz war auch ihr Recht, an den körperlichen Ertüchtigungen des Gymnasion teilzunehmen. Wenn wir die literarischen Zeugnisse des 4. Jh. hierin beim Wort nehmen dürfen, trennte sich dort der Bürger und Waffenträger von allen ‚Anderen‘ in ähnlicher Deutlichkeit wie im Andreion.72 Einen weiteren Integrationskreis des Einzelnen sehen wir in seiner Teilnahme an verschiedenen Opfern, bei denen sich die jeweilige Gruppe, die dieses Opfer darbot und mit einem 70 In den Phylen, die in Gortyn ‚Startoi‘ genannt wurden, traten die Politen als Gemeinschaft der waffentragenden Männer zusammen. Diese Unterabteilungen der Polisgemeinschaft gründeten in lokalen Siedlungsgemeinschaften und besaßen bereits im 7. Jh. Relevanz als maßgebliche Kreise soziopolitischer Integration: Dreros, spätes 7. Jh.: van Effenterre 1946, 590–597 = Koerner 91 = Nomima 1.64. – Gortyn, Anfang des 5. Jh.: IC 4.80.3–7, 8–9 = Nomima 1.7 = StV 2.216; Mitte des 5. Jh.: IC 4.72.5.5–6 = Koerner 169 = Nomima 2.49. Hierzu s. Seelentag im Druck. 71 Von der Ideologie des Waffenträgers im archaisch-klassischen Kreta, der mit Gewalt über die seine Felder bewirtschaftenden Unfreien herrscht, da jene nicht wagten, Waffen zu führen, zeugt das ‚Lied des Hybrias‘ ap. Athen. 15.695f–696a, das einzige uns erhaltene Skolion Kretas. 72 S. oben mit Anm. 10.

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Festmahl beging, immer wieder als Kultgemeinschaft konstituierte. Schließlich war er auch politischer Akteur, etwa in jenen Beschlußverfahren, aus denen Regelungen wie die hier besprochenen hervorgingen. Er war Teil einer nach außen hin einstimmig beschließenden Menge, wie sie sich etwa in der Formel „das ganze Gortyn“ manifestierte. Und nicht zuletzt weisen unsere Inschriften mit ihrer Betonung, die von ihnen gewährten Vorrechte gälten auch für die Nachkommen der derart Privilegierten, darauf hin, daß die dem jeweils genannten Individuen genannten Begünstigungen weitergereicht werden sollten.73 Die Söhne des Genannten und dann deren Söhne würden natürlich die von der Polis geregelte Paideia durchlaufen, ihre Zeit in der Agela und zehn Jahre als ‚Dromeis‘ genannte Jungbürger zubringen, schließlich zu Vollmitgliedern der Andreia werden, mit allen Rechten, allen Pflichten und allem Ansehen. Die Ehrungen des Spensithios und des Dionysios legen sogar nahe, daß die in ihnen jeweils betonte Perpetuierung der einem Individuum verliehenen Privilegien über dessen eigene Lebenszeit hinaus, wesentliches Merkmal seiner umfassenden Eingliederung in das Gemeinwesen und die Gruppe seiner Politen war. Weder im Falle der axischen Handwerker, die wohl allein für die Zeit ihrer Anstellung in der Polis die aufgezählten Privilegien genießen sollten, noch im Falle der Freigelassenen, die ja nicht ausdrücklich unter die Gortynier, sondern unter die Bewohner von Latosion aufgenommen wurden, sind deren Nachkommen erwähnt. Die ihnen gewährten Vorrechte umfassen also gerade nicht jene Perspektive der Dauerhaftigkeit, die wir angesichts der Befunde wohl ein wesentliches Kriterien dessen sehen sollten, was wir anachronistisch als ‚Verleihung des Bürgerrechts‘ zu bezeichnen gewohnt sind. Inschriftliche Dokumente wie die hier vorgestellten lassen erkennen, daß die Bürgerstaaten Kretas darum bemüht waren, den Umgang mit Fremden und ansässigen Nichtbürgern, mit Unterworfenen und Unfreien in bestimmte Bahnen zu lenken. Einerseits gestand man den Angehörigen dieser Gruppen gewisse Rechte zu und gewährte ihnen damit Sicherheit, sofern sie sich an bestimmte Auflagen hielten; andererseits lassen diese Zugeständnisse der Polis doch immer wieder erkennen, daß ein zu enger Kontakt zwischen Politen und Fremden nicht erwünscht war. Die Separierung beider Gruppen fand vor aller Augen statt und beförderte somit auch das Gefühl der Bürger, als eine in sich geschlossene Gruppe diesen Anderen gegenüber zu stehen. Ursprung und Sinn dieser Trennlinien sind im Kontext der soziopolitischen Transformation kretischer Gemeinwesen am Ende des 7. Jh. zu sehen.74 In Reaktion auf die Herausforderungen der zunehmenden Komplexität soziopolitischer Konfigurationen, mit denen freilich alle Teile der griechischen Welt konfrontiert waren, scheinen die kretischen Gemeinwesen einen Weg eingeschlagen zu haben, bei dem die Aristoi auf solche kulturellen Praktiken verzichteten, welche ihre 73 Ebendies zeichnet auch jene in Anm. 13 angeführten Zeugnisse aus, die jeweils ein Individuum und dessen Nachkommen in die Polis aufnehmen. 74 Hierzu s. Erickson 2010; Seelentag 2013 und im Druck; und die Beiträge in Pilz/Seelentag 2014.

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Überlegenheit gegenüber dem Demos betonten und auf Distinktion zielten, wie sie in anderen Poleis typisch waren. Vor allem der materielle Befund vom 7. bis 5. Jh. ist ein wichtiger Hinweis auf eine erfolgreiche ethische Homogenisierung der kretischen Eliten. In deren Zuge fanden zwei gesellschaftliche Ideologeme Ausdruck, wurden Normen etabliert und kulturelle Praktiken institutionalisiert, die für alle Akteure Verbindlichkeit beanspruchten. Dies war zum einen das Ideologem der Gleichheit der politischen Akteure; die Fiktion, daß alle Bürger gleich seien. Hierbei wurden gewisse Ausdrucksformen der natürlich vorhandenen materiellen Ungleichheit unterbunden. Statt dessen wurden ursprünglich elitäre Distinktionspraktiken, wie körperliche Ertüchtigung und gemeinschaftliche Kommensalität, auf einen weiteren Kreis von Teilnehmern ausgedehnt. Dies diente der Demonstration und Einübung einer Homogenität der Politen, die in zahlreichen sozialen Praktiken eingeübt und bestätigt wurde. Diese Konstruktion der Binnengleichheit machte aber die Schaffung von Ungleichheiten nötig. Denn je größer die tatsächlichen Unterschiede zwischen jenen sind, die untereinander ihre Gleichheit betonen, desto größer muß deren gemeinsamer Abstand gegenüber den ,Anderen‘ sein; desto deutlicher muß die Alterität zwischen den ,Gleichen‘ und den ,Anderen‘ institutionalisiert werden.75 Ein Vehikel dafür war die Ideologisierung dieser Gleichheit durch ,Freiheit‘ – so legt es die Selbstbezeichnung der Politen als Eleutheroi nahe: Bei allen Binnenunterschieden waren sie untereinander doch darin gleich, daß allein sie wahrhaft frei waren und auf die ,Anderen‘ verächtlich herabblicken konnten.76 Das zweite Ideologem besagte, daß die ‚Polis‘ die verschiedenen in kretischen Poleis angelegten Bruchlinien der Gesellschaft überbrücke. Die Entität der Polis bot einen Integrationskreis übergeordneter Identität für Aristoi und Damoden, für die zahlreichen Nachbarschaften und Kultgemeinschaften, für Phylen und Hetairien.77 Denn es ist bemerkenswert, daß die in diesem Beitrag erörterten Praktiken der Teilhabe nicht im Rahmen jener abstrakten Entität der ‚Polis‘ stattfanden, die uns ab dem 7. Jh. in den Beschlußformeln der Inschriften ja durchaus begegnet, sondern in den besprochenen sozialen Integrationskreisen. Diese aller75 Dieser Abstand des Ansehens wird auch deutlich im Katalog von Strafen für Vergewaltigung und Ehebruch im Großen Gesetz von Gortyn, IC 4.72.2.2–45 = Koerner 164 = Nomima 2.81. Hier wird die Vergewaltigung eines Bürgers oder einer Bürgerfrau mit 100 bzw. 200 Stateren bestraft, während die Vergewaltigung von apétairoi, freier Nichtbürger, lediglich 10, die von Sklaven sogar nur mit 2,5 bzw. 5 Stateren nach sich zieht. Der wesentliche Statusunterschied liegt also nicht zwischen Freien und Unfreien, sondern zwischen den Bürger und allen ‚Anderen‘. 76 Die kretischen Inschriften lassen nicht erkennen, wie die Selbstbezeichnung der ‚Bürger‘ lautete. Das beinahe vollständige Fehlen von Begriffen wie demos, politai oder astoi lässt vermuten, daß am Ehesten ‚Eleutheros‘ das Konzept des Bürgers und die mit ihm verbundenen Assoziationen ausdrückte; dies in Anlehnung an Zeugnisse wie IC 4.75b = Koerner 147 = Nomima 2.46 sowie IC 4.72.2.2–45, hier 2–15 = Koerner 164 = Nomima 2.81; ferner IC 4.72.3.22 = Koerner 167 = Nomima 2.32; IC 4.72.5.53 = Koerner 169 = Nomima 2.49; s. auch Anm. 71 mit dem Hinweis auf die Ideologie des ‚Liedes des Hybrias‘. Hierzu s. Seelentag im Druck. 77 S. Seelentag 2009 sowie 2013 und im Druck.

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dings ergaben nicht einfach in ihrer Gesamtheit ‚die Polis‘; sie standen als dem Einzelnen sinnspendende Formen von Vergesellschaftung wohl durchaus in Konkurrenz oder gar Widerstreit mit jener zentralen Institution. Und doch war es eben ‚die Polis‘, die seit dem 7. Jh. als beschlußfassende Autorität in kretischen Gesetze auftrat und die mittels der von ihr getragenen Maßnahmen der Institutionalisierung Einfluß nahm auf die Umstände der Praktiken in diesen sozialen Integrationskreisen unterhalb der Ebene der Polis.78 Hierbei ist zu bedenken, daß die derart sinnstiftenden Integrationskreise keineswegs unbedingt aus einem Bereits-Vorhandensein einer starken und klar konturierten Polisgemeinschaft resultierten, sondern diese überhaupt erst – und dann immer wiederholt – tatsächlich herstellten. Ebenfalls ist festzuhalten, daß diese verschiedenen sinnstiftenden Integrationskreise natürlich keinesfalls ohne Überschneidungen waren. Vielmehr war ihre Überschneidung – und das heißt, daß ein Individuum in verschiedene Integrationskreise eingebunden war – überhaupt erst die Voraussetzung für dessen Teilhabe am Gemeinwesen.79 Denn ,das Gemeinwesen‘ offenbarte sich in dieser Zeit als die Schnittmenge verschiedener Integrationskreise. In der hier vorgestellten Zeit, in welcher der Bürgerstaat überhaupt erst institutionell ausdifferenziert wurde, ging es also nicht vorrangig darum, ,an der Polis teilzuhaben‘, sondern zunächst einmal ,an den Praktiken einer Reihe sozialer Integrationskreise teilzuhaben‘.80 Abschließend sei noch einmal Uwe Walter zitiert: „Parallel mit ihren staatlichen Einrichtungen mußte sich vielmehr auch die Gesellschaft als politische Gemeinschaft konstituieren.“81 In der Tat hatte dies parallel zu erfolgen; doch schei78 Dies wird deutlich in Inschriften wie jener aus Dreros, letztes Viertel des 7. Jh.: Nomima 1.68 = Nomima 2.89 = Koerner 92, zur Lesung und Deutung s. Seelentag 2009b, in welcher die Polis „in Hinblick auf die Hetairien“ die Umstände der Ausbildung in den Agelai und der Ephebenentführung regelt; oder in jener Bestimmung aus Eltynia, um 500: IC 1.10.2 = Koerner 94 = Nomima 2.80 = SEG 2.509, die Körperverletzungen im Rahmen der Paideia sanktioniert, etwa in den Agelai der Epheben. 79 Einen Eindruck der Vielfalt der für ein Individuum sinnstiftenden Integrationskreise vermittelt ein Solon zugeschriebenes Gesetz: „Was ein Demos oder Mitglieder einer Phratrie (phratores) oder eine Vereinigung für kultische Feste (orgeones) oder gennetai oder Mahlgenossen (syssitoi) oder ein Begräbnisverein (homotaphoi) oder Mitglieder von religiösen Vereinigungen (thiasotai) oder Leute, die auf Beute oder Handel ausgehen, untereinander abmachen, das soll rechtens (kyrion) sein, wenn es nicht durch eine von öffentlicher Seite gemachte Verordnung (demosia grammata) untersagt ist.“; Solon frg. 76a Ruschenbusch 2010 ap. Gaius Dig. 47.22.4, hierzu s. Jones 1999, 25–50 und 311–320. 80 Die Formulierung in Anlehnung an den Titel von Walter 1993. – vgl. hiermit das aristotelische Konzept der koinoniai unterhalb der Ebene der Polis, etwa Aristot. eth. Nic. 1160a 4–6; dazu Vlassopoulos 2007, 13. 81 Walter 1993, 20; ebd. 22 zitiert Connor 1986, 347, der betont, es sei zu fragen, “how people came to shape a civic order, to feel they belonged to it and it to them and to derive part of their identity from their existence. The problem of access to power and control of state apparatus, upon which so much traditional Greek political analysis depends, retains its importance, but not its exclusive claim on our attention. We must see it not in isolation, but as one of the many ways in which the citizens expressed and even created a sense of belonging to a polis. It must be understood as part of a cultural complex that included cult, processions, festivals, the

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nen mir die Ereignisse der zweiten Satzhälfte einen deutlichen Primat zu beanspruchen: Das Bewußtsein einer Gruppe um ihre Existenz als politische Gemeinschaft war Voraussetzung für die Schaffung von, wie es hier heißt, polis‚staatlichen‘ Einrichtungen. Und so ist die Frage, welche soziopolitischen Konfigurationen diesen Kraftaufwand der Institutionalisierung leisteten, mittels dessen jene untereinander häufig agonalen Integrationskreise in die Polis integriert und zum Bürgerstaat geformt wurden, ein unbedingt lohnender Ausgangspunkt für weitere Studien. Das archaisch-klassische Kreta bietet reiches Material hierfür.

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LEGITIMATION DURCH MEHRHEITSENTSCHEID? Partizipationschancen und Partizipationsgrenzen im Athen des 6. und frühen 5. Jh. Winfried Schmitz

„Dem Volke nämlich gab ich so viel Anteil, wie genug ist, /von seiner Ehre nahm ich nichts, hab’ nichts dazubegehrt. /Die aber Macht besaßen und durch Geld in Achtung standen, /auch denen hab’ ich klug verwehrt unziemlichen Besitz! /Stand hielt ich so – mit starkem Schild gewappnet – beiden, /und siegen ließ ich beide nicht auf ungerechte Art.“ 1

In dieser Elegie gibt Solon als Archon des Jahres 594 v. Chr. Rechenschaft über sein Bemühen, einen gerechten Ausgleich zwischen dem Volk (δῆμος) und den Mächtigen (οἳ δ’ εἶχον δύναμιν) herzustellen. In der althistorischen Forschung gilt Solon als Reformer, dem es gelang, nicht nur die Aufhebung aller Schulden durchzusetzen, sondern auch das Volk zur politischen Teilhabe heranzuziehen. Das Volk trat stärker in den Mittelpunkt politischen Agierens, weil er die Bestellung der Archonten von einem Kooptationsverfahren auf die Wahl durch die Phylen umstellte. Die Gesetze und Rechtsverfahren wurden verschriftet und mit der heliaía ein Gerichtshof geschaffen, der über private und öffentliche Klagen entschied und an dem athenische Bürger aller Schatzungsklassen teilhaben konnten.2 In der antiken politischen Theorie galt Solon sogar als Begründer der attischen Demokratie. So urteilt der Autor der Athenaion politeia, folgende drei Züge der Verfassung Solons scheinen in höchstem Maße volksfreundlich (δημοτικώτατα) zu sein, nämlich dass man bei Darlehen nicht mehr mit dem Körper haftete, dass öffentliche Klagen eingerichtet wurden, die jeder bei einem an Dritten verübten Unrecht einbringen konnte, und dass die Möglichkeit bestand, gegen Maßnahmen von Amtsträgern vor Gericht zu klagen.3 Das Agieren der Adeligen, die diese Ämter innehatten, war nun einer Kontrolle auch durch das Volk ausgesetzt. Insbesondere der genannte dritte Aspekt ließ den Autor urteilen: „Wenn das Volk Herr über den Stimmstein ist, dann wird es auch Herr über die Verfassung.“4 Entspre-

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Sol. fr. 5 West /Diehl; 7 Gentili-Prato (Übersetzung J. Latacz). Die Gesetze sind zusammengestellt in: Ruschenbusch 1966; Ruschenbusch 2010 und Martina 1968. Einen neuen Forschungsüberblick über Solon als Politiker, Reformer, Gesetzgeber und Dichter bieten Blok/Lardinois 2006; zu den solonischen Reformen siehe Rhodes 2006, 248– 260. Vgl. auch Mülke 2002; Irwin 2006. Aristot. Ath. pol. 9,1; vgl. 10,1. Ebd. 9,1: κύριος γὰρ ὢν ὁ δῆμος τῆς ψήφου, κύριος γίγνεται τῆς πολιτείας.

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chend kennzeichnet der Autor die dritte, solonische Verfassungsänderung als diejenige, „von der die Demokratie ihren Ausgang nahm“.5 Dezidierter ist das Urteil über Solon in Aristoteles’ Politik.6 Er habe die oligarchía aufgelöst, die zu ungemischt gewesen sei, das Volk aus der Knechtschaft (δουλεύοντα τὸν δῆμον) befreit und die von den Vätern überkommene demokratía geschaffen (καὶ δημοκρατίαν καταστῆσαι τὴν πάτριον), indem er die Verfassung wohlüberlegt mischte. Dabei bilde der Rat auf dem Areopag das oligarchische, die Wahl der Amtsträger das aristokratische und die Gerichte das demokratische (δημοτικόν) Element. Solon habe die Demokratie geschaffen, indem er die Gerichte aus allen Bürgern bestellt habe.7 Nach Meinung einiger Kritiker habe er damit das Gericht, weil es aus allen Bürgern erlost werde, zum Herrn der Verfassung gemacht.8 Dies habe die Verfassung (politeía) in die jetzt bestehende demokratía umgewandelt. Aristoteles richtet sich in den folgenden Zeilen gegen die Kritik an Solon. Er scheine dem Volk nur „die notwendigste Macht“ (ebd. 15f.: τὴν ἀναγκαιοτάτην … δύναμιν) gegeben zu haben, die Amtsträger zu wählen und zur Verantwortung zu ziehen (εὐθύνειν), doch die Amtsstellen seien nur aus den Angesehenen und Reichen (ἐκ τῶν γνωρίμων καὶ τῶν εὐπόρων) besetzt worden. Möglicherweise nimmt Aristoteles damit unmittelbar Bezug auf die solonische Elegie (fr. 5 West, s.o. S. 47). Auch wenn nach heutigem Urteil der althistorischen Forschung zu Recht bestritten wird, dass Solon mit seinen Reformen bereits eine Demokratie geschaffen habe, so ist doch hervorzuheben, dass er die Partizipationschancen des Demos erheblich erweitert und einem unbotmäßigen Gebaren von Adeligen Schranken gesetzt hat. Ich möchte in meinem Beitrag aber zunächst nicht die neuen Partizipationschancen, sondern die Partizipationsgrenzen betonen. Indem Solon vier Schatzungsklassen nach dem landwirtschaftlichen Ertrag festgelegt und die politische Partizipation daran geknüpft hat, gewährte er den unteren Schatzungsklassen, den Zeugiten und Theten, einerseits Partizipationsrechte (die Zeugiten konnten niedere Ämter bekleiden, Zeugiten und Theten am Geschworenengericht teilhaben), schloss sie andererseits aber auch vom Archontat und damit vom Areopag und von höheren Ämter ausdrücklich aus.9 Hinzu kommt, dass er dem Areopag einige seiner alten Entscheidungskompetenzen ausdrücklich bestätigt und ihm weitere zugeteilt hat. Das Amnestiegesetz Solons beweist, dass der Areopag bereits in vorsolonischer Zeit über Tyrannisaspiranten geurteilt und über sie Verbannungsurteile ausgesprochen hat.10 Dieses Recht hat Solon dem Areopag belassen. Zu5 6 7 8 9

Ebd. 41,2: ἀφ’ ἧς ἀρχὴ δημοκρατίας ἐγένετο. Aristot. pol. 2,12, 1273b 35–1274a 21. Aristot. pol. 2,12, 1274a 2–3: τὸν δὲ δῆμον καταστῆσαι, τὰ δικαστήρια ποιήσας ἐκ πάντων. ebd. 4–5: κύριον ποιήσαντα τὸ δικαστήριον, πάντων κληρωτὸν ὄν. Aristot. pol. 2,12, 1274a 18–21; Ath. pol. 7,3–8,1. Zu den solonischen Schatzungsklassen in archaischer und klassischer Zeit: Schmitz 1995, 573–597; van Wees 2006, 351–389; Raaflaub 2006, 390–428. 10 Aristot. Ath. pol. 8,3–4; vgl. 16,10: „Bei ihnen (den Athenern) gab es nämlich folgendes Gesetz: Rechtlich festgesetzt und althergebracht ist dies für die Athener: Wenn einige sich zur Errichtung einer Tyrannis erheben oder bei der Errichtung einer Tyrannis mitwirken, seien

Legitimation durch Mehrheitsentscheid?

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sätzliche Kompetenzen verlieh Solon dem Areopag in den Rechtsverfahren bezüglich der Tötung. Die Bestimmung Drakons, dass die Angehörigen des Opfers in denjenigen Fällen eigenmächtig Blutrache ausüben konnten, in denen die Tötung mit Vorbedacht oder ohne Vorbedacht geschehen war, dass sie hingegen lediglich Anspruch auf eine Buße hatten, wenn die Tötung versehentlich erfolgt war, und auf eine Buße verzichten mussten, wenn die Tötung (z.B. des Ehebrechers oder des nächtlichen Diebs) berechtigt war, ließ Solon bestehen. 11 Um aber Blutracheverfahren einzudämmen und zusätzlich die Möglichkeit zu eröffnen, gegen mutmaßliche Täter vorzugehen, die nicht bei der Tat ergriffen worden waren und sich nicht zu ihrer Tat bekannt hatten, regelte Solon Anklagen wegen Tötung (díkai phónou), die ein Familienangehöriger des Opfers beim Archonten einbringen konnte. Anklagen wegen einer Tötung aus Vorbedacht wurden – als eines von ganz wenigen Rechtsverfahren – dem Areopag übertragen. Solon hob damit dieses Delikt wegen der möglichen daraus resultierenden Konsequenzen aus den anderen Rechtsverfahren als ein besonderes heraus. Der Areopag als angesehenes und altehrwürdiges Gremium erschien ihm als diejenige politische Institution, deren Entscheidungen eine Gewähr dafür zu bieten schien, dass die Entscheidungen bei den betroffenen Familien Akzeptanz finden würden und eine Kette von Blutracheverfahren vermieden werden könnte. Die Strafen wurden von Solon nicht abgemildert. Ein wegen Tötung Verurteilter musste Attika verlassen, ja wurde – wenn er die Entscheidung nach dem zweiten Redenteil abwartete – zum Tode verurteilt.12 Dass dem Areopag, in dem „die angesehenen und reichen Athener“ versammelt waren, eine wichtige Rolle in der von Solon wiederhergestellten eunomía zuerkannt wurde, zeigt nicht zuletzt das so genannte Stasisgesetz, das

diese ehrlos, sie selbst und ihre Familie“ (16,10: ἐάν τινες τυραννεῖν ἐπανιστῶνται, ἢ συγκαθιστῇ τὴν τυραννίδα, ἄτιμον εἶναι καὶ αὐτὸν καὶ γένος). Plut. Solon 19,4: „Aber die dreizehnte Tafel Solons enthält das achte Gesetz, welches wörtlich folgendermaßen lautet: ‚Von den für ehrlos Erklärten sollen diejenigen, die dies waren, bevor Solon Archon war, wieder in ihre Rechte eintreten mit Ausnahme derjenigen, die aufgrund einer Verurteilung durch den Areopag oder die Epheten oder das Prytaneion unter dem Vorsitz der Könige wegen eines Tötungsdelikts oder Strebens nach der Tyrannis sich in der Verbannung befanden, als dieses Gesetz erlassen wurde“ (ὁ δὲ τρισκαιδέκατος ἄξων τοῦ Σόλωνος τὸν ὄγδοον ἔχει τῶν νόμων οὕτως αὐτοῖς ὀνόμασι γεγραμμένον· ‘ἀτίμων ὅσοι ἄτιμοι ἦσαν πρὶν ἢ Σόλωνα ἄρξαι, ἐπιτίμους εἶναι, πλὴν ὅσοι ἐξ Ἀρείου πάγου ἢ ὅσοι ἐκ τῶν ἐφετῶν ἢ ἐκ πρυτανείου καταδικασθέντες ὑπὸ τῶν βασιλέων ἐπὶ φόνῳ ἢ σφαγαῖσιν ἢ ἐπὶ τυραννίδι ἔφευγον ὅτε ὁ θεσμὸς ἐφάνη ὅδε; Übersetzung K. Ziegler). Da die Epheten und das Gericht im Prytaneion allein über Tötungsdelikte befanden (Aristot. Ath. pol. 57,3–4), lag die Aburteilung von Tyrannisaspiranten beim Areopag. Dass die Urteile wegen Tötungsdelikten (φόνος und σφαγή) durch die Epheten und das Prytaneion ausgesprochen wurden, die Urteile wegen Strebens nach der Tyrannis durch den Areopag (also ein Chiasmus vorliegt), diese Meinung vertritt zu Recht de Bruyn 1995, 24–27. Die Argumente für die Position, das Gericht am Prytaneion habe über Tyrannisvorwürfe geurteilt, wie von Wallace 1985, 22–28, Braun 1998, 16–29, hier 28f., und Schubert 2000, 103–132 vertreten, überzeugen demgegenüber nicht (ältere Positionen zu dem Problem finden sich bei de Bruyn, Braun und Schubert). 11 IG I³ 104; Demosth. or. 23,53; 60. 12 Zum Verfahren Schmitz 2001, 7–38. Zu Phillips 2008 siehe die Rezension Schmitz 2010.

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einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der historischen Genese der attischen Demokratie bietet. Vom solonischen stásis-Gesetz ist nur ein einziger Satz überliefert: „Wer sich bei einer stásis in der Stadt weder der einen noch der anderen Seite anschließt, der sei ehrlos (átimos) und verliere sein Recht, an der Polis teilzuhaben.“13 Die althistorische Forschung versteht unter stásis in der Regel einen Bürgerkrieg und bezieht das Gesetz auf bürgerkriegsartige Zustände, bei denen Solon jeden athenischen Bürger dazu verpflichtet habe, Partei für die eine oder andere Seite zu ergreifen und am Bürgerkrieg teilzunehmen. Vermeintlich bestärkt werden die Vertreter dieser Ansicht durch die Formulierung in der Athenaion politeia, „wer bei einer stásis in der Stadt nicht zugunsten einer Partei zu den Waffen greife (μὴ θῆται τὰ ὅπλα) sei ehrlos.“14 Da es nicht die Absicht Solons gewesen sein kann, einen Bürgerkrieg eskalieren zu lassen, verweist die Forschung auf den abschreckenden Charakter des Gesetzes. Zukünftig würde es kein Adeliger wagen, eine stásis-Situation zu provozieren, da sich eine große Menge gegen ihn stellen würde. Ein Bürgerkrieg würde so im Keim erstickt werden. Zweifel an dieser Deutung blieben bestehen. Jochen Bleicken vertrat daher die These, das stásis-Gesetz sei seit dem späten 5. Jh. fiktiv Solon zugeschrieben worden, als es darum ging, während des oligarchischen Regimes in Athen die Demokraten gegen die Oligarchen zu mobilisieren. Eberhard Ruschenbusch, der zunächst die Meinung vertreten hat, das Gesetz sollte gegen diejenigen vorgehen, die sich einem Kriegsdienst entzogen, änderte später seine Meinung und schloss sich der Ansicht von Bleicken an.15 Bedenkenswert ist eine neue These von P. Evelyn van’t Wout, die in dem Gesetz die Verpflichtung erkennt, bei einer stásis neutral zu bleiben, indem sie die in dem überlieferten Gesetz enthaltene doppelte, aber getrennt voneinander stehende Verneinung ernst nimmt: Wer, wenn in der Stadt eine stásis herrscht, nicht mit den Waffen zur Seite steht (sie also ruhen lässt), weder zugunsten der einen Seite noch zugunsten der anderen Seite, der sei ehrlos. Unter Strafe gestellt werde die Parteinahme für eine Seite und die politische Abstinenz, um die neutrale, aber engagierte Mitte zu stärken.16 Dies setzt freilich voraus, dass alle späteren Gewährsmänner das Gesetz gründlich missverstanden hätten, Cicero und Aulus Gellius, Plutarch und Diogenes Laertius und die byzantinischen Autoren.17 13 Aristot. Ath. pol. 8,5: ὃς ἂν στασιαζούσης τῆς πόλεως μὴ θῆται τὰ ὅπλα μηδὲ μεθ’ ἑτέρων, ἄτιμον εἶναι καὶ τῆς πόλεως μὴ μετέχειν. 14 Aristot. Ath. pol. 8,5. 15 Ausführlich dargestellt sind die unterschiedlichen Positionen in: Schmitz 2011, 24–28, und bei van’t Wout 2010, 289–301, hier 289f. mit Anm. 3–6. Zur These von Bleicken: Bleicken 1986, 9–18; ders. 1995, 365f.; 637f. 16 van’t Wout 2010, 290: „The law should be read as one that requires citizens to play an active role in the resolution of a conflict on a basis of neutrality.“ Sie übersetzt (S. 295) Ath. pol. 8,5: „whoever … does not ground his arms without allegiance to either party, shall be atimos.“ Zum Missverständnis der späteren Autoren ebd. 296. 17 Cic. Att. 10,1,2: ego vero Solonis, popularis tui et ut puto, etiam mei, legem neglegam, qui capite sanxit si qui in seditione non alterius utrius partis fuisset, et, nisi si tu aliter censes, et

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Eine neue Perspektive eröffnet sich, wenn man das Wort stásis nicht als Bürgerkrieg, sondern lediglich als eine tief greifende politische Kontroverse versteht, als eine Blockade im Sinne eines „Stillstands“ in der Politik, die freilich in gewaltsame Auseinandersetzungen zu münden drohte. Für dieses Verständnis von stásis gibt es zahlreiche Belege. Herodot z.B. bezeichnet den Zwist zwischen den Söhnen des Perserkönigs Dareios um seine Stellvertretung für die Zeit seiner Abwesenheit als „schweren Konflikt“ (μεγάλη στάσις). Auch Konflikte um einen militärischen Oberbefehl oder die Aufstellung in einer Schlachtordnung können mit dem Wort stásis bezeichnet werden.18 Solche stáseis wurden mit Argumenten ausgefochten, und der mehrheitliche Widerspruch von Bundesgenossen, ihr Parteiergreifen, führte dazu, dass die Forderung zurückgezogen und die stásis überwunden wurde. Die Abwendung einer stásis durch eine Abstimmung ist besonders gut an einem von Thukydides überlieferten Ereignis nachzuvollziehen. Thukydides berichtet, wie der spartanische Feldherr Brasidas im Sommer 424 v. Chr. gegen die Stadt Akanthos zog. Die in der Stadt waren uneins (κατ’ ἀλλήλους ἐστασίαζον), ob sie Brasidas in die Stadt einlassen sollten. Aus Angst um die Ernte waren die Akanthier schließlich bereit, Brasidas allein in die Stadt zu lassen, damit er ihnen seine Haltung erläutern könne. Nach der Rede stritten die Akanthier über das Für und Wider, beendeten dann aber das stasiázein durch eine geheime Abstimmung, hinc abero et illim; Gell. 2,12; Plut. Solon 20,1: Τῶν δ’ ἄλλων αὐτοῦ νόμων ἴδιος μὲν μάλιστα καὶ παράδοξος ὁ κελεύων ἄτιμον εἶναι τὸν ἐν στάσει μηδετέρας μερίδος γενόμενον. βούλεται δ’ ὡς ἔοικε μὴ ἀπαθῶς μηδ’ ἀναισθήτως ἔχειν πρὸς τὸ κοινόν, ἐν ἀσφαλεῖ τιθέμενον τὰ οἰκεῖα καὶ τῷ μὴ συναλγεῖν μηδὲ συννοσεῖν τῇ πατρίδι καλλωπιζόμενον, ἀλλ’ αὐτόθεν τοῖς τὰ βελτίω καὶ δικαιότερα πράττουσι προσθέμενον συγκινδυνεύειν καὶ βοηθεῖν μᾶλλον ἢ περιμένειν ἀκινδύνως τὰ τῶν κρατούντων; Plut. de sera 4 (Mor. 550c): παραλογώτατον δὲ τὸ τοῦ Σόλωνος, ἄτιμον εἶναι τὸν ἐν στάσει πόλεως μηδετέρᾳ μερίδι προσθέμενον μηδὲ συστασιάσαντα. καὶ ὅλως πολλὰς ἄν τις ἐξείποι νόμων ἀτοπίας μήτε τὸν λόγον ἔχων τοῦ νομοθέτου μήτε τὴν αἰτίαν συνιεὶς ἑκάστου τῶν γραφομένων; Plut. Praecepta gerendae reipublicae 32 (Mor. 823f–825); 823f: τί παθὼν ἐκεῖνος ὁ ἀνὴρ ἔγραψεν ἄτιμον εἶναι τὸν ἐν στάσει πόλεως μηδετέροις προσθέμενον Vgl. Plut. de sollertia animalium 8 (Mor. 965d): „Solons Gesetz ist seit langem außer Gebrauch, wonach diejenigen bestraft werden, die sich bei einer stásis keiner von beiden Seiten anschließen“ (πάλαι γὰρ ὁ Σόλωνος ἐκλέλοιπε νόμος, τοὺς ἐν στάσει μηδετέρῳ μέρει προσγενομένους κολάζων). Die Formulierung Plutarchs begegnet ähnlich auch bei Alexandros von Aphrodisias, im Kommentar zu Aristot. top. 2,2, 109b 13 (Comment. Aristot. gr. II 2, p. 139,33; Martina 1968, T 355), einem Philosophen an der Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr., sowie bei dem byzantinischen Historiker Nikephoros Gregoras aus dem 14. Jh. (Hist. Byz. IX 7, I p. 427,6 Schop.; Corp. Script. Hist. Byz. 25,1: οὐτε γὰρ δίκαιον ἦν ἡμᾶς μηδεμιᾶ προσκεῖσθαι μερίδι τοῦ Σόλωνος τοῦτο προστρέποντος) und bei Johannes VI. Kantakuzenos (Hist. IV 13, III p. 87 Schop.; Corp. Script. Hist. Byz. 2,3; ebenfalls 14. Jh.): ὃς ἀτίμους ποιεῖ τῶν πολιτῶν τοὺς ἐν στάσει μηδεμιᾷ μερίδι προσκειμένους. Vgl. Diog. Laert. 1,58. Ruschenbusch 1966, F 38a–g und Martina 1968, T 350–357. 18 Hdt. 7,2,1–3. Im „Streit um den Oberbefehl“ (στάσις ἐγένετο μεγάλη περὶ τῆς ἡγεμονίης) im Perserkrieg gaben die Athener nach, da die Griechen andernfalls zugrunde gehen würden (Hdt. 8,3,1). Mögliche Konflikte um die Wahl eines Strategen sind in Xen. an. 6,1,29 als stásis bezeichnet. Zu diesen Belegen im einzelnen siehe Schmitz 2011, 37–42.

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bei der die Mehrheit dafür stimmte, von Athen abzufallen.19 Die Kontroverse (stásis) in einer politisch brisanten Situation wurde durch eine formelle Abstimmung in der Volksversammlung entschieden. Dass der Begriff stásis einen Konflikt unterhalb der Schwelle eines Bürgerkriegs bezeichnen kann, legt nicht zuletzt eine Formulierung Solons in den Elegien nahe, in der er die Raffgierigen mahnt, sich nicht über die Richtschnur angemessenen und rechtmäßigen Verhaltens hinwegzusetzen: „Schnell gerät sie [die Stadt Athen] in schlimme Knechtschaft, die stásis und inneren Krieg, den schlafenden (στάσιν ἔμφυλον πόλεμόν θ’ εὕδοντ’), aufweckt, der die geliebte Jugendzeit vieler vernichtet“ (fr. 4 West). Die stásis droht in den Bürgerkrieg, einen émphylos pólemos, zu münden, wenn es nicht gelingt, rechtzeitig eine Befriedung der Konfliktparteien herbeizuführen.20 Umstritten ist in der Forschung auch die Wendung μὴ θῆται τὰ ὅπλα in der aristotelischen Überlieferung des Gesetzes. Zwar wird sie vielfach im Sinne von „wer (bei der stásis) nicht zu den Waffen greift“ verstanden, doch haben sich mehrere Forscher intensiver mit Parallelstellen in der antiken Literatur beschäftigt und nachgewiesen, dass θέσθαι τὰ ὅπλα nicht „die Waffen ergreifen“, sondern entweder wörtlich „die Waffen abstellen, ruhen lassen“ oder metaphorisch „Partei ergreifen für jemanden“ bedeutet.21 Die im stásis-Gesetz Solons enthaltene Wendung μὴ θῆται τὰ ὅπλα in ihrer metaphorischen Bedeutung zu verstehen legt die Wiedergabe des Gesetzes bei Cicero und Plutarch nahe, die zwar von seditio und stásis sprechen, nicht aber von einem Ergreifen oder Ruhenlassen der Waffen. Sie verstanden Solons Gesetz als Aufforderung, Partei zu ergreifen. Wenn das Gesetz aber anordnet, bei einem schweren „Konflikt“ (stásis) sei derjenige ehrlos, der „weder Partei für die eine noch für die andere Seite ergreift“ (μὴ θῆται τὰ ὅπλα μηδὲ μεθ’ ἑτέρων), dann muss das Gesetz nicht auf einen bewaffneten Bürgerkrieg, sondern kann auf einen politischen Kontext bezogen werden, auf die Verpflichtung, sich bei einer Abstimmung für die eine oder die andere Seite entscheiden zu müssen, also zum Beispiel in einem politischen Gremium bei einer brisanten Entscheidung Position zu beziehen, um eine möglichst eindeutige Mehrheitsentscheidung herbeizuführen. Dieser Ansatz ermöglicht es zudem, das Gesetz in den Zusammenhang zu stellen, in dem es in der Athenaion politeia und in Plutarchs Solonvita überliefert ist. Nach der Athenaion politeia (8,4–5) obliege dem Areopag die Aufsicht über 19 Thuk. 4,84; 88. 20 Zur Interpretation dieser Stelle siehe Schmitz 2011, 38. 21 Develin 1977b, 507f., 507: „What Solon’s law says is that each man should take a stance in a state of στάσις; there is no reference to actual military or paramilitary involvement, but the setting up of one’s position is a borrowing from military usage“; 508: „But it does recur exclusively in terms of taking sides with a cause“. So auch Rhodes 1981, 157f.: θέσθαι τὰ ὅπλα bedeute: „placing one’s arms, whether literally or metaphorically, at the disposal of one side against another“; „the basic meaning of the expression is ‘rest arms’“. Ebenso Sealey 1983, 100–105; 101: „to take sides with someone“, „to join someone’s side in strife“. Vgl. auch van’t Wout 2010, 291–293, die die Wendung weder im Sinne von ‘to take up armsʼ noch im Sinne von ‘to take sidesʼ, sondern im Sinne von ‘setting down one’s armsʼ versteht. „This act constitutes a public display of readiness to use arms.“

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die Gesetze; er ziehe Gesetzesbrecher zur Rechenschaft und verhänge Bußen und Strafen.22 Auch entschied er gegen diejenigen, die sich zur Auflösung des Demos, also der politischen Ordnung Athens, zusammengetan hatten. Solon habe ein Gesetz erlassen, das die Anklagen gegen solche Personen regelte, und da er gesehen habe, dass einige aus Sorglosigkeit das einfach hinnahmen, was geschah, erließ er gegen sie ein „spezielles Gesetz“ (νόμος ἴδιος), wonach derjenige ehrlos sei, der bei einer stásis in der Stadt nicht für die eine oder die andere Seite Partei ergreife.23 In seiner Solonbiographie (Solon 19–20,1) diskutiert Plutarch die Frage, ob Solon den Areopag geschaffen oder der Areopag in solonischer Zeit bereits bestanden hat. Als Beleg dafür, dass der Areopag bereits auf frühere Zeit zurückgeht, verweist er auf das Amnestiegesetz Solons, wonach alle des Landes Verwiesene und alle Geflohenen nach Attika zurückkehren konnten, außer denjenigen, die von den Epheten oder dem Prytaneion wegen eines Tötungsdelikts oder vom Areopag wegen eines Tyrannisversuchs verurteilt worden waren. Unmittelbar auf diese Überlegungen folgt bei Plutarch der Hinweis auf das Stasisgesetz.24 Solon hat also dem Areopag die für die Stabilität und Leitung der Stadt wichtigen Aufgaben belassen und Verfahren zum Schutz der politischen Ordnung gesetzlich geregelt. Wer die politische Ordnung gefährdete, ein Amt gewaltsam an sich riss oder ein Jahresamt gegen die Regel perpetuierte, konnte vor dem Areopag angeklagt werden. Auch Kontroversen um die Macht in der Stadt, um richtungsweisende Entscheidungen in politisch brisanten Situationen wurden vom Areopag entschieden, wobei Solon die Verpflichtung festschrieb, dass jeder Areopagit in der Abstimmung für die eine oder die andere Seite Partei ergreifen musste. Ziel war es, eine politische Kontroverse, die Athen zu lähmen drohte oder die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen konnte, durch eine Mehrheitsentscheidung zu entschärfen. Je deutlicher das Votum ausfiel, desto eher musste die unterlegene Partei bereit sein, ihre Absichten aufzugeben. Wahrscheinlich konnte, wenn ein Vergehen gegen die politische Ordnung hinreichend nachgewiesen schien, eine Verbannung aus Attika auferlegt werden. Betrachtet man das Stasisgesetz in diesem Kontext, fallen strukturelle Ähnlichkeiten mit den Ostrakismos-Entscheidungen im 5. Jh. unmittelbar ins Auge. Auch beim Ostrakismos, dem Scherbengericht, liegt eine Stasissituation zugrunde, kein Bürgerkrieg, sondern eine Spaltung, eine politische Kontroverse, wobei verschiedene Adelige mit ihren Anhängerschaften für konträre Positionen eintraten: Sollte man Attika vor den heranrückenden Persern evakuieren oder die Stadt verteidigen? Sollte man alles auf eine Karte setzen und den militärischen Erfolg mit der Flotte zu erreichen versuchen? Wie sollte nach den Perserkriegen das 22 Die übrigen Hinweise auf die Kompetenzen des Areopag in der Athenaion politeia (3,6; 4,4; teilweise auch 8,2) werden von den meisten Forschern als unhistorisch verworfen (so Braun 1998, 13–38). Die einzig glaubwürdigen Informationen seien Kap. 8,4 zu entnehmen. 23 Aristot. Ath. pol. 8,5: ὁρῶν δὲ τὴν μὲν πόλιν πολλάκις στασιάζουσαν, τῶν δὲ πολιτῶν ἐνίους διὰ τὴν ῥᾳθυμίαν ἀγαπῶντας τὸ αὐτόματον, νόμον ἔθηκεν πρὸς αὐτοὺς ἴδιον, ὃς ἂν στασιαζούσης τῆς πόλεως μὴ θῆται τὰ ὅπλα μηδὲ μεθ’ ἑτέρων, ἄτιμον εἶναι καὶ τῆς πόλεως μὴ μετέχειν. 24 S.o. Anm. 10.

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Verhältnis zu Sparta ausgestaltet werden? Da es bei solchen Kontroversen nicht um die Ahndung politischer Vergehen ging, mussten sich die Athener in einer Abstimmung für die eine oder die andere Position entscheiden, den einen oder den anderen Adeligen für 10 Jahre in die Verbannung schicken.25 Da man nicht alle Athener dazu verpflichten konnte, an der Abstimmung teilzunehmen, und nicht allen Athenern die politischen Rechte aberkennen konnte, wenn sie an einer solchen Abstimmung nicht teilnahmen, wurde die verpflichtende Teilnahme an der Abstimmung der Sache nach durch ein Mindestquorum von 6000 Stimmen ersetzt.26 Deutet man die von Solon gesetzlich geregelten Abstimmungen im Areopag im Falle einer stásis als eine frühe Form des Ostrakismos, die am Ende des 6. oder zu Beginn des 5. Jh. vom Areopag auf das Volk übertragen wurden, lassen sich einige der umstrittenen Aspekte des Ostrakismos sinnvoll erklären. Neben der Frage, warum gerade beim Ostrakismos ein Mindestquorum von 6000 abgegebenen Stimmen oder von 6000 auf eine Person entfallenden Stimmen festgelegt wurde, fiel die Zwitterstellung zwischen Volksentscheid und gerichtlichem Verfahren auf: In der potenziellen Beteiligung aller athenischen Bürger deckt sich das Verfahren mit dem der Volksversammlung, in der Strafe einer zehnjährigen Verbannung mit dem eines Gerichtsverfahrens.27 Wenn Solon die stásis-Situation ursprünglich vom Areopag in Form eines gerichtlichen Verfahrens entscheiden lassen wollte und er diesbezügliche Anklagen gesetzlich geregelt hat und wenn Kleisthenes diese Abstimmungen vom Areopag auf das Volk übertragen hat, wird unmittelbar nachvollziehbar, wieso es zu dieser Zwitterstellung von Volksentscheid und Gerichtsverfahren gekommen ist. Eine plausible Erklärung finden auch die auf der Athener Agora gefundenen óstraka, die nach den archäologischen Befunden in das 6. Jh. oder an die Wende vom 6. zum 5. Jh. zu datieren sind und hin und wieder zu der Ansicht geführt haben, eine Abstimmung mittels óstraka habe es bereits vor dem Gesetz über den Ostrakismos gegeben.28 25 Zum Ostrakismos siehe: Lang 1990; Brenne/Willemsen 1991, 147–156; Brenne 1994, 13–24; Doenges 1996, 387–404; Dreher 2000, 66–77; Brenne 2001; Forsdyke 2005; Heftner 2008, 75–109; Sickinger 2009, 77–83 (in deutscher Fassung: 2009, 77–86). Eine umfangreiche Zusammenstellung der Ostraka und der literarischen Quellen bietet der Band von Siewert 2002. 26 Nach Plut. Aristeides 7,5 mussten 6000 Stimmen abgegeben werden. Nach Philochoros (FGrH 328 F 30) und einer spätbyzantinischen Quelle hingegen mussten mindestens 6000 Voten auf die Person entfallen, die verbannt werden sollte (so auch Poll. 8,20; Etym. M. s.v. ἐξοστρακισμός). Vgl. Schol. Aristoph. equ. 855b (nach Scheibelreiter ein Exzerpt aus Theophrasts Nómoi in enger Anlehnung an den Wortlaut des Gesetzes). Scheibelreiter (2008, 131– 134) hält das Präsenzquorum für die wahrscheinlichere Variante. 27 Zu den einzelnen Elementen Dreher 2000, 75–77. 28 Siehe dazu unten S. 56 und Anm. 33. Ein dem „Gesetz über den Ostrakismos“ vorausgehendes Verfahren hatte Lindsay G. H. Hall postuliert, ohne indes konkrete Quellen dafür angeben zu können: „The institution of ostracism is thus intrinsically paradoxical, whatever the date of its establishment or the reasoning behind the passage of the law. Three things nevertheless appear to emerge with some clarity. First, it is a priori unlikely that the procedure described by Philochoros, and used at intervals between 487 and the 410s, was dreamt up lock, stock

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Für eine dem Ostrakismos des 5. Jh. vorausgehende Abstimmung mittels óstraka spricht auch die angebliche Verbannung des Theseus, die in verschiedenen Versionen in Fragmenten, Scholien und Lexikoneinträgen überliefert ist, die letztlich auf Theophrast zurückgehen.29 Danach sei Theseus von einem Athener namens Lykos verleumderisch angeklagt worden, er strebe nach der Tyrannis. Er wurde verurteilt und soll damit der erste gewesen sein, der durch Ostrakismos aus Athen vertrieben wurde. Theseus wandte sich nach Skyros, wo er von Lykomedes aus Furcht, er könne ihn aus seiner Herrschaft vertreiben, getötet wurde. Als später in Athen eine Seuche (bzw. eine Hungersnot) ausbrach, holten die Athener auf den Ratschlag Apollons die Gebeine des Theseus nach Athen zurück, errichteten ihm ein Heiligtum (das Theseion) und stifteten zu seinen Ehren das Fest der Theseen.30 In zwei anderen Quellenstellen wird das Vorgehen gegen Theseus ausdrücklich als gerichtliche Anklage bezeichnet.31 Da es im 5. Jh. bei einem Ostrakismos keine Ankläger gab, lassen sich die in den Belegen genannten Einzelheiten nicht mit dem bekannten Verfahren im 5. Jh. in Einklang bringen, 32 wohl aber mit einer früheren Form, bei der Adelige unter dem Verdacht, eine Tyrannis errichten zu wollen, angeklagt – auch verleumderisch angeklagt – und verurteilt werden

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and barrel by anyone at any time. More probably its fifth-century form, like that of other quaint institutions, ancient and modern, was the product of organic development and adaptation, perhaps over several decades or even centuries, regardless of the original function of the institution or the date and circumstances of the law’s promulgation. In that case, secondly, the possibility arises that the institution existed in some form before it was regulated by the law known to our sources, perhaps for some considerable time before“ (Hall 1989, 95). Suda s.v. Ἀρχὴ Σκυρία (A 4101); nach Eust. Comm. ad Hom. Il. 782,51–54 geht diese Nachricht auf den Lexikographen Pausanias Atticista und letztlich auf Theophrast zurück. Vgl. Eus. Chron. p. 50 Schoene. Eine Zusammenstellung, Übersetzung und ausführliche Kommentierung der Belegstellen findet sich bei Heftner 2005, 128–164. Schol. Aristot. 46,241,9–11: Θησεὺς ὑπὸ Λύκου Ἀθήνησιν εἰς τυραννίδα συκοφαντηθεὶς ἐξωστρακίσθη τῆς πόλεως καὶ ἦλθεν εἰς Σκῦρον, …; Schol. Aristoph. Plut. 627 und Suda s.v. Θησείοισιν (Θ 368): Λύκος τις συκοφαντήσας ἐποίησεν ἐξοστρακισθῆναι τὸν ἥρωα. Zu den Quellen, den Textvarianten, Abhängigkeiten und Wurzeln dieser Tradition Heftner 2005, 131ff. Schol. Aischin. 3,13: ὑπὸ Λύκου κατηγορηθείς; Chorikios rhetor 17,84. Heftner 2005, 139f.: Das Verbum ὀστρακίζεσθαι erzwinge nicht „die Vorstellung einer formellen Ostrakophorie im Stile des fünften vorchristlichen Jahrhunderts“, denn: „Die Verbindung von ὀστρακίζειν mit συκοφαντεῖν und die namentliche Nennung des Anklägers Λύκος zeigen, daß hier eher die Vorstellung eines Gerichtsverfahrens mit einer gegen die Person des Theseus gerichteten Anklage als das Bild einer Ostrakophorie, wie sie im 5. Jh. gehalten wurden, dahintersteht.“ Heftner (2005, 141–147) vertritt die Meinung, man könne Theophrast keinen so groben historischen Fehler und eine solch anachronistische Behauptung unterstellen, der Ostrakismos gehe bis in die Zeit des Theseus zurück. Theophrast habe durch die bewusste Wahl des Wortes ὀστρακισθῆναι die Verbannung des Theseus in Analogie zu den Ostrakisierungen des 5. Jh. setzen wollen. Dies habe bei den Lexikographen zu der verfälschenden Formulierung ὀστρακισθῆναι δὲ πρῶτον Ἀθῆνησι Θησέα geführt. Die Verbindungslinie von Theseus zu den Ostrakisierungen des 5. Jh. sei von Theophrast selbst gezogen worden oder gehe auf eine Vorlage in der Mitte des 5. Jh.s zurück (ähnlich Fell 2004, 37–39).

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konnten.33 Es ist daher gut möglich, dass das Motiv, Theseus sei der erste gewesen, der in Athen ostrakisiert wurde, bereits auf das 6. Jh. zurückgeht. Die in der Geschichte des Theseus enthaltene Kritik an der Ostrakisierung passt jedenfalls am besten in eine Zeit, in der Adelige die Opfer ihrer eigenen Standesgenossen geworden waren und eine gegen sie ausgefallene Abstimmung der Areopagiten nicht zu akzeptieren gewillt waren, auch wenn eine so zustande gekommene Verurteilung in einem formellen Verfahren und von einer deutlichen Mehrheit ausgesprochen worden war. In der Diskussion über eine bereits im 6. Jh. praktizierte Abstimmung über tiefgreifende politische Auseinandersetzungen muss auch auf eine anonyme Quelle aus spätbyzantinischer Zeit verwiesen werden, der zufolge der von Kleisthenes eingeführte Ostrakismos zunächst im Rat stattgefunden habe, wobei ein Mindestquorum von 200 Stimmen für eine Verurteilung erforderlich war.34 Es lässt sich nicht entscheiden, ob mit dem Verfahren vor dem „Rat“ (boulé) der solonische Rat der 400 oder der von Kleisthenes auf 500 Mitglieder vergrößerte Rat gemeint ist.35 Dass der byzantinische Autor den Areopag gemeint haben könnte, ist bisher nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden. Auch bei dieser Deutung lassen sich allerdings nicht alle offenen Fragen klären, nämlich ob Kleisthenes ein vorher vor dem Areopag durchgeführtes Verfahren zunächst auf den probouleutischen, von ihm geschaffenen Rat der 500 übertragen hat, bis spätestens 488/87 die Entscheidung dem Volkes anvertraut wurde, oder ob Kleisthenes ein vor dem Areopag verhandeltes Verfahren gleich auf das Volk übertragen hat.36 Schließlich wird in der Athenaion politeia als Grund für die Einführung des Ostrakismos durch Kleisthenes genannt, es sei aus Misstrauen gegen diejenigen, die Machtstellungen innehatten, erlassen worden, weil sich der Demagoge und Stratege Peisistratos zum Tyrannen aufgeschwungen hatte. 37 Drei Jahre lang hät33 Develin 1977, 10–21, hat zwar zugestanden, dass man an einen metaphorischen Gebrauch von ὀστρακίζειν denken könne, wahrscheinlicher sei aber ein Bezug auf ein vor dem Rat der 400 im 6. Jh. durchgeführtes Verfahren. Er vermutet, dass die Theseus-Geschichte zu der Überlieferung in der spätbyzantinischen Quelle (s.u. Anm. 34) geführt hat, es gäbe ein vom Rat durchgeführtes Ostrakismos-Verfahren (S. 13, 16). 34 Codex Vaticanus Graecus 1144 fol. 222rv Nr. 213 Sternbach. Zur Glaubwürdigkeit der Quelle siehe die Diskussion bei Lehmann 1981, 85–99 und Doenges 1996, 387–389. Äußerst kritisch steht Robert Develin der Quelle gegenüber, da die Herkunft der Angaben nicht gesichert werden könne und der Text mit Fehlern behaftet sei (Develin 1977; Develin 1985, 7–15). Vgl. Hall 1989, 91f., 96; Dreher 2000, 66f.; Siewert 2002, 31. 35 Zur Diskussion: Dreher 2000, 67. Für den Rat der 500 plädierte Lehmann 1981 und Doenges 1996, für den Rat der 400 Develin 1977, 11f.; Develin 1985, 8f. 36 H. Taeuber (2002, 401–412), H. Heftner (2008) und Ph. Scheibelreiter (2008, 126f.) sprechen sich für die Ansicht aus, dass das Gesetz über den Ostrakismos erst kurz vor 488/87 beschlossen wurde. Goušchin 2009, 226–233 versucht hingegen plausibel zu machen, warum das Gesetz zwanzig Jahre lang nicht angewandt worden sei. Zur umstrittenen Datierung der Einführung des Ostrakismos vor dem Volk siehe auch Stein-Hölkeskamp 1989, 193–195. 37 Aristot. Ath. pol. 22,3: ἐχρήσαντο τῷ νόμῳ τῷ περὶ τὸν ὀστρακισμόν, ὃς ἐτέθη διὰ τὴν ὑποψίαν τῶν ἐν ταῖς δυνάμεσιν, ὅτι Πεισίστρατος δημαγωγὸς καὶ στρατηγὸς ὢν τύραννος κατέστη. Auch Androtion (FGrH 324 F 6) und Philochoros (FGrH 328 F 30) nennen die Verhinderung einer Tyrannis als Grund für die Einführung des Ostrakismos (vgl. auch Diod.

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ten die Athener „die Freunde der Tyrannen“ ostrakisiert, „deretwegen das Gesetz erlassen worden war. Danach aber, im vierten Jahr, begannen sie, auch andere, die ihnen zu mächtig erschienen, wegzuschicken, als erster von denen, die der Tyrannis fernstanden, wurde Xanthippos, Sohn des Ariphron, ostrakisiert“.38 Die Forschung hat diese Erklärung mit der Begründung verworfen, sie sei aus den ersten Opfern des Ostrakismos abgeleitet worden; authentische Informationen hätten dazu nicht vorgelegen.39 Als Maßnahme gegen die übergroße Macht einzelner sei der Ostrakismos sinnlos. Wenn die Volksversammlung keiner sachlichen Begrenzung unterliege, bedürfe es des Ostrakismos nicht. Das Verfahren hätte die demokratische Ordnung nicht schützen können, denn wenn sich das Volk einem mächtigen Dynasten zuwandte, würde es ihn nicht gleichzeitig ostrakisieren.40 Dieser von der Sache her berechtigte Einwand wird dann hinfällig, wenn man den Ostrakismos in die Tradition des stásis-Gesetzes stellt, das Solon unter anderem deswegen erlassen hat, um eine „Auflösung des démos“ und damit die Etablierung einer Tyrannis zu verhindern. Die im Areopag vertretenen Adeligen mussten – mehr als das athenische Volk – ein Interesse daran haben, eine Tyrannis zu verhindern und eine adelige isonomía zu wahren. Diese ursprüngliche Intention ging an der Wende vom 6. zum 5. Jh. zwar auf das neue Verfahren des Ostrakismos über, verlor aber schnell ihren Sinn. Aus einem Instrument, das dazu dienen sollte, eine Tyrannis und eine zu große Machtstellung von Dynasten zu verhindern, war unter den neuen politischen Bedingungen ein Instrument geworden, den politischen Gegner auszuschalten und dadurch Richtungskämpfe zu entscheiden.41 In der Tragödie Andromache, die zwischen 428 und 424 v. Chr. aufgeführt wurde, gibt Euripides dem Wunsch Ausdruck, eine in der Polis herrschende stásis da-

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11,86,5 für Syrakus). Zu den verschiedenen Deutungen über den Zweck des Ostrakismos siehe Dreher 2000, 74f. Heftner 2008, 84–104, kommt zu dem Fazit: „Die Ostrakisierung konnte somit, kurz gesagt, als eine Art außerordentliches staatsoffizielles Verfahren zur Feststellung einer mit den Ansprüchen der Bürgermehrheit nicht mehr vereinbaren persönlichen Haltung des Einzelbürgers gelten“ (104). Vgl. auch Brenne 2001, 24. Aristot. Ath. pol. 22,6: ἐπὶ μὲν οὖν ἔτη γʹ τοὺς τῶν τυράννων φίλους ὠστράκιζον, ὧν χάριν ὁ νόμος ἐτέθη, μετὰ δὲ ταῦτα τῷ τετάρτῳ ἔτει καὶ τῶν ἄλλων εἴ τις δοκοίη μείζων εἶναι μεθίσταντο· καὶ πρῶτος ὠστρακίσθη τῶν ἄπωθεν τῆς τυραννίδος Ξάνθιππος ὁ Ἀρίφρονος. Martin 1974, 24f. Martin 1974, 25. Ebenso Stein-Hölkeskamp 1989, 195f.; Brenne 2001, 24–26. Vgl. Hall 1989, 99: „Their [der Quellen] unanimous faith that ostracism was conceived and established as a weapon against actual or potential tyranny is certainly incorrect.“ Martin 1974, 25 sieht in dieser Funktion des Ostrakismos keine unmittelbare Stärkung der Demokratie; „Ich sehe auch sonst keine Möglichkeit, den Ostrakismos von den Notwendigkeiten einer Demokratie her zu interpretieren. Dagegen erhält die Institution einen guten Sinn, wenn man sie als Mittel der politischen Auseinandersetzungen zwischen Adligen unter den durch die kleisthenischen Reformen neugeschaffenen Bedingungen begreift. Da sich diese Auseinandersetzungen zunehmend vor der Volksversammlung abspielten, war der Ostrakismos ein geeignetes Mittel, den politischen Gegner für längere Zeit auszuschalten. Obwohl dabei die Volksversammlung gleichsam als Schiedsrichter fungierte, hatte das Verfahren ebenso wenig etwas mit Demokratie zu tun wie die Verbannung Ciceros durch die Volksversammlung in der späten römischen Republik.“ Vgl. demgegenüber Goušchin 2009, 226: „I am sure that ostracism was a democratic institution by its character and procedure.“

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durch zu verhindern, dass nur einer in der Stadt das Steuerruder führt. Er reflektiert damit die veränderten politischen Bedingungen, die in der zweiten Hälfte des 5. Jh. nicht mehr auf die Verhinderung einer Tyrannis ausgerichtet waren, sondern auf die Frage, wie eine kontinuierliche und geradlinige Politik umgesetzt werden könne. Chor: „Nie kann ich loben, dass ein Mann der Frauen zwei /Und zweier Mütter Söhne nährt, /Der Häuser Zwist und feindlich herbe Plage. /Eine Liebe sei dem Mann genug, /Mit andern Frauen pfleg er nicht Gemeinschaft. /Trägt sich doch auch im Staat zweier Herrscher (τυραννίδες) Joch /Nicht leichter als des einen Herrn: /Da häuft sich Last auf Last und Bürgeraufruhr (καί στάσις πολίταις). /Zwischen zwei Gesangesmeistern liebt /Die Muse Zwist und Eifersucht zu spinnen. /Und wenn des Sturmes wilder Hauch die Schiffer fasst, /Da teilt sich ihr Sinn, wie das Steuer zu wenden sei: /Es schafft der Weisen Menge nichts, mehr richtet aus /Ein selbstherrschender schwächerer Geist. /Nur einem sei die Macht verliehn in Haus und Staat, /Wenn das Rechte soll gefunden werden.“42

Der entscheidende Punkt bei den Reformen an der Wende vom 6. zum 5. Jh. ist, dass politische Richtungsentscheidungen nicht mehr durch den Areopag, sondern durch das Volk entschieden wurden, das Volk als Schiedsrichter über die Kontroversen und die konkurrierenden Protagonisten, die für bestimmte Positionen eintraten, fungierte, eingeschränkt allerdings durch das geforderte hohe Quorum der Abstimmenden und durch den Umstand, dass nur einmal im Jahr ein Ostrakismos stattfinden konnte.43 Auch wenn das Volk agitatorischen Einflüssen der Adeligen während der Versammlung und auf lokaler Ebene, sei es in den Demen, sei es in Hetairien, ausgesetzt war, bedeutete die Verlagerung der Entscheidung auf längere Sicht gesehen eine Schwächung der Aristokratie und eine politische Aufwertung des Volkes.44 Wenn die These zutrifft, dass die von Solon neu geregelten Abstimmungen im Areopag und das Stasisgesetz eine Vorform des Ostrakismos sind, hätte dies Auswirkungen auf die Rekonstruktion der Genese der attischen Demokratie, wie im Folgenden skizziert werden soll. Um 632 v. Chr. hatte sich der athenische Adelige und Olympiasieger Kylon mit einer hetairía aus Altersgenossen der Akropolis bemächtigt und versucht, in Athen eine Tyrannis zu errichten, war aber gescheitert. Seine Anhänger wurden auf der Akropolis belagert. Als sie dazu bereit waren, sich einem Gericht zu stellen, und ihnen zugesichert wurde, dass sie nicht mit dem Tod bestraft werden würden, kamen sie von der Akropolis herab, wurden aber dennoch getötet, man-

42 Eur. Andr. 465–485 (Übersetzung J. J. Donner /R. Kannicht); 483–485: ἑνὸς ἄρ’ ἄνυσις ἀνά τε μέλαθρα κατά τε πόλιας, ὁπόταν εὑρεῖν θέλωσι καιρόν. 43 Diese Einschränkungen betonen Hall 1989, 93–95; Forsdyke 2005, 151–155; Heftner 2008, 99f. 44 Nach Martin 1974, 23–26 sei der Areopag durch Kleisthenes’ Reformen unverändert geblieben. Auch de Bruyn 1995, 40–45 diskutiert keine Veränderungen durch die Reformen des Kleisthenes.

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che an den Altären und in den Heiligtümern.45 Dadurch wurden die Konflikte und Parteiungen innerhalb der athenischen Aristokratie angeheizt. Drakons Gesetz über die Tötung stellt wahrscheinlich einen ersten Versuch dar, die Situation zu beruhigen, denn er regelte in dem Gesetz minutiös, wie bei einer unvorsätzlichen Tötung eine Aussöhnung zwischen den Familien des Täters und des Opfers zustande kommen konnte.46 Einen weiteren Aussöhnungsversuch schreibt Plutarch Solon zu. Anhänger Kylons seien in der Stadt wieder zu Macht und Ansehen gelangt und lägen in erbittertem Streit mit Anhängern des Megakles, dem vorgeworfen wurde, er habe sich als führender Archon mit der Tötung der Kylonanhänger einer Befleckung schuldig gemacht und müsse verflucht werden.47 In der Zeit Solons soll die Spaltung in der Stadt, die stásis, ihren Höhepunkt erreicht haben und das Volk entzweit gewesen sein (τοῦ δήμου διαστάντος). Zusammen mit den vornehmsten Athenern machte Solon einen Vermittlungsversuch und bewog die des religiösen Frevels Beschuldigten, sich einem Gericht der 300 angesehensten Athener zu stellen.48 Nachdem die Megaklesanhänger eingewilligt hatten, kam es zu einem Verfahren, bei dem Myron von Phlya die Anklage führte. Das Gericht befand sie für schuldig und verurteilte sie. Sie mussten Attika für immer verlassen, und die Leichname der bereits Verstorbenen wurden aus den Gräbern geholt und über die Grenze geworfen.49 Das gegen die Megaklesanhänger durchgeführte Verfahren könnte das Vorbild für die gesetzliche Regelung gewesen sein, mit der Solon verbindlich festlegte, wie Anklagen im Falle einer stásis wie dieser erhoben und welche politische Institution darüber entscheiden sollte: Über die in den Kreisen der Adeligen ausgefochtenen Konflikte sollten die im Areopag versammelten Adeligen entscheiden, so wie im Verfahren gegen die Megaklesanhänger die 300 vornehmsten Athener, die gemäß Adeligkeit (ἀριστίνδην) bestimmt worden waren.50 Megakles wäre also der erste Athener gewesen, der einem „Ostrakismos“ in seiner frühesten Form zum Opfer fiel, so dass vermutet werden kann, dass die Geschichte von der Ostrakisierung des Theseus auf Megakles zu beziehen ist. In 45 Hdt. 5,71: οἱ πρυτάνιες τῶν ναυκράρων, οἵ περ ἔνεμον τότε τὰς Ἀθήνας. Nach Thuk. 1,126 war die Belagerung in die Verantwortung der neun Archonten gegeben worden. Nach der von Plutarch wiedergegebenen Überlieferung habe der Archon Megakles die Kylonanhänger überredet, von der Akropolis herunterzukommen und sich einem Urteilsspruch zu unterwerfen (Plut. Solon 12,1: Μεγακλῆς ὁ ἄρχων ἐπὶ δίκῃ κατελθεῖν ἔπεισεν). Vgl. auch Paus. 7,25,3. Allein in einer späten Quelle ist ausgesprochen, dass sich die Kylonanhänger einem Verfahren vor dem Areopag stellen sollten (Schol. Aristoph. equ. 445a Koster). Zum Putsch Kylons und zur Einschätzung dieser Quelle de Bruyn 1995, 21–24 (mit der älteren Literatur) sowie Forsdyke 2005, 80–90. 46 IG I³ 104. Dazu s.o. Anm. 12. Zur Aussöhnung Heitsch 1984. 47 Plutarch berichtet, die überlebenden und erneut mächtig gewordenen Kylonanhänger befänden sich mit den Anhängern des Megakles „inständigem Konflikt“ (Plut. Solon 12,2: στασιάζοντες ἀεί). 48 Plut. Solon 12,2–3: δίκην ὑποσχεῖν καὶ κριθῆναι τριακοσίων ἀριστίνδην δικαζόντων. 49 Thuk. 1,126,12; Aristot. Ath. pol. 1; Plut. Solon 12,4. 50 Nach Schubert 2000, 113 bleibe die politische Bedeutung des Areopag in vorsolonischer Zeit und der Übergang vom Adelsrat zum Gerichtshof völlig unklar. Ähnlich Wallace 1985, 3–46.

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der mythischen Brechung sollte möglicherweise Kritik an der Verbannung des Megakles, der nach seiner Verbannung rehabilitiert wurde, geübt werden. Jedenfalls mussten sich beide, Theseus und Megakles, einem gerichtlichen Verfahren stellen, waren von einem namentlich genannten Kläger angeklagt und zur Verbannung verurteilt worden. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass sich die mythische Geschichte von der Ostrakisierung des Theseus auf die Kylonanhänger bezieht. Das Amnestiegesetz Solons zeigt, dass sich in den seinem Archontat vorausgehenden Jahren Athener außerhalb Attikas aufhielten, weil sie durch den Areopag wegen Strebens nach der Tyrannis zu Ehrlosen erklärt worden waren. Es könnte sich dabei um überlebende Kylonanhänger gehandelt haben.51 Nach der Verbannung des Megakles als Fluchbeladener war in der Nähe des Ortes, an dem die Kylonanhänger getötet worden waren, ein Heroon errichtet worden, das Kylóneion,52 und war die Stadt durch den Kreter Epimenides entsühnt worden, nach Mitteilung des Diogenes Laertios, weil Athen von einer Pest (λοιμός) heimgesucht wurde, wobei das delphische Orakel als Ursache der Pest den kylonischen Frevel angegeben habe,53 Elemente, die auch Bestandteil der Theseus-Geschichte sind. Der Befriedung der labilen politischen Lage sollten vermutlich die Verfahrensregeln Solons dienen, durch die die Anklagen wegen Tötungsdelikten und wegen des Strebens nach einer tyrannenartigen Stellung dem Areopag zur Entscheidung übertragen wurden. Im Gegensatz zu den in den letzten Jahren vorgetragenen Meinungen wäre dann dem Areopag im späten 7. und im frühen 6. Jh. eine größere politische Bedeutung beizumessen. Maximilian Braun hatte gegen die Ansicht, in archaischer Zeit sei der Areopag ein mächtiger Adelsrat gewesen, eingewandt, dass sich allein die „Blutgerichtsbarkeit“ für den Areopag nachweisen lasse.54 Auch Odile de Bruyn äußert sich zurückhaltend.55 Doch auch wenn 51 Siehe dazu allerdings die skeptischen Äußerungen von de Bruyn 1995, 24. 52 Schol. Soph. OC 489 mit der Korrektur von K. O. Müller. Siehe Honigmann 1922, 2461 (der das Kylóneion nahe der Mordstelle lokalisiert, da wo das Seil gerissen sei); Judeich 1931, 63, 286; Travlos 1971, 2, 8. 53 Aristot. Ath. pol. 1; Plut. Solon 12,2ff.; Neanthes aus Kyzikos bei Ath. 13,602c; Diog. Laert. 1,110, vgl. 1,112; Paus. 1,14,4; Suid. s.v. Ἐπιμενίδης. Zu beidem Rhodes 1981, 81–84; de Bruyn 1995, 22f. 54 Braun 1998, 13–38; bes. 30: „Nach den bisher untersuchten Quellen war der Areopag vor Solon nichts weiter als ein Blutgericht“ (was im übrigen nicht zutrifft, weil der Areopag erst durch Solon die Funktion erhielt, über Anklagen bei Tötungsdelikten zu entscheiden). Ähnlich S. 37: „Damit ist gezeigt, daß die Angaben der Athenaion politeia über den Areopag in der Zeit vor Solon ohne historischen Wert sind. Es gibt demnach keinen Beleg für die weit verbreitete Ansicht, daß der Areopag vor Solon ein mächtiger Rat gewesen sei.“ Diese Ansicht hatte auch bereits Wallace 1985, 46f. vertreten. 55 De Bruyn 1995, 24, 27f.: Für Interventionen des Areopag in vor- und nachsolonischer Zeit gäbe es nur wenige Indizien. Zu Stimmen, die dem Areopag eine starke Stellung zugewiesen hatten, siehe Braun 1998, 15. Ch. Schubert sieht den Areopag neben der Blutgerichtsbarkeit zuständig für Verfahren nach dem nómos eisangeltikós, die Solon ihm übertragen habe (Schubert 2000, 111f.). Doch weder im 6., noch in der ersten Hälfte des 5. Jh. hätte der Areopag entscheidende politische Bedeutung gehabt.

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die genauen jurisdiktionellen Kompetenzen und politischen Entscheidungen aus Mangel an Quellen nicht rekonstruiert werden können, so verweist das Recht, über innerathenische Konflikte zu entscheiden, auf eine herausgehobene Stellung des Areopag. Trotz der Versuche Solons, das angeheizte politische Klima zu entschärfen, und trotz Solons Reformmaßnahmen kam es in den ersten Jahrzehnten des 6. Jh. zu anhaltenden Konflikten. Zweimal, im Jahr 590/89 und 586/85, kam es zu einer an-archía, konnte also das Archontenamt „wegen der stásis“, wie es in der Athenaion politeia (13,1) heißt, nicht besetzt werden. Oder war vielleicht der Name des Archonten aus der Liste getilgt worden, nachdem er vom Areopag in einem stásis-Verfahren verurteilt worden war? Der Athener Damasias blieb ein zweites Jahr im Amt, bis er zu Beginn seines dritten Amtsjahres 580/79 aus dem Amt vertrieben wurde. Auch in diesem Fall wissen wir nicht, ob Damasias durch eine Anklage vor dem Areopag aus dem Amt und aus Attika vertrieben wurde.56 561/60 schließlich erlangte Peisistratos eine tyrannenähnliche Stellung. Er soll sich selbst verletzt haben, woraufhin ein Athener namens Aristion vor dem Volk den Antrag einbrachte, ihm eine mit Holzkeulen bewaffnete Leibwache zuzuerkennen. Mit ihrer Hilfe besetzte Peisistratos die Akropolis.57 Als sich aber gegen ihn die Anhänger des Megakles und des Lykurgos vereinigten, wurde Peisistratos im sechsten Jahr nach dem Gewinn tyrannenähnlicher Macht, also im Jahr 556/55, vertrieben.58 Geschah diese Vertreibung durch blanke Gewalt? Ist nicht eher davon auszugehen, dass sich Megakles und Lykurgos mit ihren Anhängerschaften zusammengetan hatten und Peisistratos, der nach seinem Amt als árchon polémarchos selbst Mitglied des Areopag war,59 vor dem Adelsrat gemäß dem nómos eisangelías angeklagt und durch eine Abstimmung in diesem stásisVerfahren aus Athen verbannt wurde? Für eine solche Annahme sprechen zwei 1934 und 1937 auf der Athener Agora gefundene Ostraka aus dem 6. Jh., die die Namen „Pisistratos“ und „Aristion“ tragen. Die Scherbe mit dem linksläufig geschriebenen Namen Πισίσρατος, vom Fuß einer geometrischen Schale vom Ende des 8./Anfang des 7. Jh., wurde in einer nicht datierbaren Verfüllung auf der Athener Agora gefunden. Die Scherbe mit dem Namen Ἀριστίον, ein Bruchstück einer Amphora aus dem 7. oder Anfang des 6. Jh., wurde in einer Verfüllung gefunden, die weitere Scherben aus dem 6. Jh. enthielt.

56 Aristot. Ath. pol. 13,2. Zur Chronologie Chambers 1990, 194. Vgl. de Bruyn 1995, 28. 57 Hdt. 1,59,4–6; Plut. Solon 30,3–5. Nach Aristot. Ath. pol. 14,1 geschah dies im 32. Jahr „nach dem Erlass der Gesetze“ unter dem Archon Komeas. Nimmt der Autor Bezug auf die Gesetzgebung Solons, weil Peisistratos mit seinem Tyrannisversuch gegen das Gesetz verstieß, wonach diejenigen, die sich zur „Auflösung des Demos“ zusammengetan hatten, verurteilt werden sollten (siehe Ath. pol. 8,4)? Aristion stammte möglicherweise wie Peisistratos (Plut. Solon 10,3) aus dem Demos Philaidai. Denn in dem zum Demos Philaidai gehörenden Brauron wurde ein Relief eines Grabmals gefunden, das auf der Basis den Namen „Aristion“ trägt (IG I³ 1256, ca. 510? v. Chr.). Vgl. Osborne/Byrne 1994, 53‚ Ἀριστίων (1). 58 Hdt. 1,60,1; Aristot. Ath. pol. 14,3. 59 Hdt. 1,59,4; Aristot. Ath. pol. 22,3; Plut. Solon 8,3–4. Chambers 1990, 199.

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Abb. 1: Tonscherbe mit dem Namen des Peisistratos, gefunden auf der Athener Agora (nach E. Vanderpool in: Hesperia Suppl. 8, 1949, 405–408), courtesy of the Trustees of the American School of Classical Studies at Athens

Abb. 2: Tonscherbe mit dem Namen des Aristion, gefunden auf der Athener Agora (nach E. Vanderpool in: Hesperia Suppl. 8, 1949, 405–408), courtesy of the Trustees of the American School of Classical Studies at Athens

Diese óstraka machen die Annahme wahrscheinlich, dass bereits bei den vor dem Areopag stattfindenden stásis-Verfahren mittels Tonscherben abgestimmt wurde.60 Beide Scherben wären dann auf die erste Vertreibung des Tyrannen zu beziehen, wie bereits Eugene Vanderpool 1949 vermutet hat.61

60 Inv.-Nr. P 3629 und 10159. Publiziert wurden die óstraka nach T. L. Shear von Vanderpool 1949, 394–412, hier 405–408 und von M. Lang 1976, 17 Nr. D 1 und 19 D 22 Taf. 7 u. 8; Jeffery 1990, 70 Nr. 9e Taf. 2. Der Name Πισίσρατος ist ohne Vatersname und Demotikon auf die Scherbe geritzt. Zur Deutung Vanderpool ebd. 407: „I should like to think that our sherd belongs to the mid-sixth century B.C. and refers to Peisistratos the tyrant. This Peisistratos went into exile on two occasions, and it may be that he was banished by a vote of the Areopagus, the voting being done on potsherds“ und Anm. 42: „The logical body to do it [scil. Peisistratos’ Exilierung] would appear to be the Areopagus, which was charged under the Solonian Constitution with the duty of guarding the laws and particularly with trying per-

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Einige Jahre später wechselte Megakles erneut die Seiten, „weil er wegen der stásis in die Enge getrieben war“.62 Er war bereit, mit Peisistratos wieder zu paktieren, und in einer Inszenierung, bei der Peisistratos in Begleitung einer als Athena verkleideten Frau in Athen einzog, betrat dieser erneut die politische Bühne Athens. Nach erneuter Vertreibung („aus Furcht vor den beiden anderen Faktionen“63) konnte sich Peisistratos 546 endgültig als Tyrann etablieren.64 Nach dem Sturz der Tyrannis 510 v. Chr. nahmen die politischen Rivalitäten erneut gewaltsame Züge an. Im Konflikt zwischen den Adeligen Isagoras und Kleisthenes konnte sich zunächst Isagoras durchsetzen, der für 508/7 zum Archonten gewählt wurde. Bei diesem erneuten stasiázein unterlag Kleisthenes seinem Rivalen und dessen Anhängerschaften, den hetaireίai – nach einer Nachricht bei Aelian soll er sogar einem Ostrakismos zum Opfer gefallen sein. 65 Er musste aus Attika fliehen, doch das Volk belagerte Isagoras und den von ihm zu Hilfe gerufenen Spartanerkönig Kleomenes und zwang sie zum Abzug. Kleisthenes wurde mit seinen Anhängern zurückgerufen und setzte anschließend eine Phylenreform durch.66 Dem Areopag nahm er die Kompetenz, bei einer stásis den in der Abstimmung Unterlegenen aus Athen zu verbannen, und übertrug diese Kompetenz durch ein „Gesetz über den Ostrakismos“ auf das Volk oder, wenn man das Zeugnis des spätbyzantinischen Autors in dieser Weise verstehen will, zunächst auf den Rat der 500, bis das Verfahren durch das „Gesetz über den Ostrakismos“ auf das Volk überging.67 Ob Kleisthenes dem Areopag diese Entscheidungen genommen hat, weil er selbst Opfer einer solchen Abstimmung geworden war oder weil der Areopag in diesen Jahren weit überwiegend mit Adeligen besetzt war, die sich mit der Tyrannis arrangiert hatten und von denen nicht erwartet werden konn-

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sons who conspired to overthrow the democracy.“ Vgl. Thomsen 1972, 70; Lang 1976, 16; Brenne 2002, 70. De Bruyn 1995, 28–31 sieht keine Hinweise darauf, dass der Areopag dazu beigetragen habe, den Tyrann zu vertreiben. Trotz ausführlicher Diskussion der beiden óstraka äußert sie Skepsis gegenüber der Hypothese von Vanderpool, auch wenn sie verführerisch sei. Eine Intervention des Areopag sei damit aber nicht belegbar. Berve 1967, 546 hatte die beiden óstraka auf die zweite Vertreibung des Peisistratos bezogen. Brenne 2001, 259f. lässt die Deutung offen. Das Ostrakon mit dem Namen des Aristion hat er nicht in seine Prosopographie aufgenommen. Aristot. Ath. pol. 14,4. Nach Hdt. 1,60,2 waren diejenigen, die den Peisistratos vertrieben hatten, „erneut miteinander in Streit geraten“ (ἐκ νέης ἐπ’ ἀλλήλοισι ἐστασίασαν). Aristot. Ath. pol. 15,1: φοβηθεὶς ἀμφοτέρας τὰς στάσεις. Hdt. 1,61–64; Aristot. Ath. pol. 14,4–15,3. Zur Chronologie Rhodes 1976, 219–233; Rhodes 1981, 191–199; Chambers 1990, 200–204; vgl. de Bruyn 1995, 31–37. Ail. var. 13,24. Brenne 2001, 26. Hdt. 5,66; 70; 72–74; Aristot. Ath. pol. 20; schol. Aristoph. Lys. 274–281. Dazu Martin 1974, 12–22; Stein-Hölkeskamp 1989, 154–177. Zuschreibung des Gesetzes an Kleisthenes: Aristot. Ath. pol. 22,1 und 4. Ebenso Philochoros FGrH 328 F 30; Ail. var. 13,24; vgl. Androtion FGrH 324 F 6 (der Hipparchos als erstes Opfer nennt) und Diod. 11,55,1. Lehmann 1981, 86f. Zur Frage, auf wen der Ostrakismos zurückgeht und wann er eingeführt wurde, Taeuber 2002, 401–414 und Forsdyke 2005, 281– 284, die sich gegen die Ansicht von Taeuber ausspricht, dass der Ostrakismos 488/87 durch Themistokles eingeführt worden sei.

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te, dass sie Parteigänger des vertriebenen Tyrannen Hippias verurteilen würden,68 oder ob Kleisthenes dem Areopag diese Kompetenz genommen hat, weil sich im 6. Jh. die stásis-Verfahren vor dem Areopag als kein probates Mittel zur Beilegung inneraristokratischer Konflikte erwiesen hatte, weil die Areopagiten selbst zu stark in diese Konflikte involviert waren, wird sich kaum hinreichend beantworten lassen. Auch für die ersten Jahre des 5. Jh. gibt es Hinweise auf stásis-Verfahren, bei deren Abstimmung óstraka eingesetzt wurden. Neben den Tonscherben mit den Namen des Peisistratos und Aristion gibt es drei óstraka mit dem Namen Melanthios, die in der Nähe von Bouleuterion und Tholos in Verfüllungen zusammen mit Scherben des 7. und 6. Jh. bzw. mit solchen des 6. und frühen 5. Jh. gefunden wurden. Melanthios war der Kommandant der Flotte, die Athen 499/98 zur Unterstützung des ionischen Aufstands nach Kleinasien entsandt hatte.69 Der ionische Aufstand provozierte eine heftige persische Gegenwehr, in deren Verlauf die Stadt Milet zerstört wurde und die den persischen Angriff 490 auf Eretria und Athen lenkte. Melanthios für diese wenig glückliche Aktion mit ihren fatalen Folgen zur politischen Verantwortung zu ziehen, ist für die 490er Jahre nachvollziehbar, nicht aber für die Jahre nach dem Sieg bei Marathon. Unklar muss bleiben, ob eine solche Abstimmung im Areopag oder in dem neuen Rat der 500 stattfand. Vermutlich verlor der Areopag mit der Einführung des durch eine Volksabstimmung durchgeführten Ostrakismos nicht nur die Möglichkeit, Richtungsentscheidungen im Falle einer stásis zu fällen, sondern auch Anklagen wegen der Errichtung einer Tyrannis und der „Auflösung des Demos“ zu verhandeln, also diejenigen zu verurteilen, die sich zu einem Umsturz der politischen Ordnung verschworen hatten. Geht man von der Angabe in 8,4 der aristotelischen Athenaion politeia aus, hatte Solon in einem Gesetz diesbezügliche Anzeigen verfahrensrechtlich geregelt.70 In klassischer Zeit wurden die Anzeigen (εἰσαγγελίαι) wegen geplanten Verfassungsumsturzes, Landesverrats, Täuschung des Volkes und Amtsvergehen vor der Volksversammlung verhandelt.71 Die Volksversammlung konnte über die Anzeige selbst entscheiden oder sie an das Geschworenengericht überweisen. In der althistorischen Forschung ist stark umstritten, ob Eisangelieverfahren erst durch Kleisthenes eingeführt und unmittelbar durch das Volk

68 Zur Zusammensetzung des Areopag in den Jahrzehnten während der Tyrannis de Bruyn 1995, 37–40. 69 Hdt. 5,97,3. Vanderpool 1949, 400f. Nr. 14a–c; Hands 1959, 73. Bei der Scherbe mit dem Namen [Ph]alanthos [S]pintharou vermutet Vanderpool, Ostraka 402 Nr. 15 den Vater von Melanthios, Sohn des Phalanthos, so dass Vater und Sohn gleichzeitig Zielscheibe eines Ostrakismos gewesen sein könnten. Die óstraka würden dann in die 490er Jahre gehören (vgl. Lang 1976, Nr. 657 und 662 und Brenne 2002, 62, 66). Lang 1976, Nr. 640–642 und Brenne 2001, 230f. werten Melanthios als ‚Kandidat‘ der 480er Jahre und vermuten eine antipersische Gesinnung, so dass er ein Verbündeter des Themistokles gewesen sein könnte (vgl. auch Brenne 2001, 230f., 263, 289 zu Phalanthos Spintharou). 70 Aristot. Ath. pol. 8,4: Σόλωνος θέντος νόμον εἰσαγγελίας περὶ αὐτῶν. 71 Hyp. 4 (Eux.),7–8. Vgl. Scheibelreiter 2008, 122–125.

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entschieden wurden,72 ob sie im 6. und in der ersten Hälfte des 5. Jh. vom Areopag entschieden und erst durch die Reformen des Ephialtes auf das Volk übertragen wurden73 oder ob dem Areopag diese Kompetenz bereits durch Kleisthenes genommen wurde.74 Strittig sind dabei die für die erste Hälfte des 5. Jh. überlieferten Gerichtsverfahren, für die die Quellen aber nicht eindeutig genug sind, um entscheiden zu können, ob die Verfahren Eisangelien oder andere Rechtsverfahren waren und welche Institution in den Verfahren entschied. Es sind dies die Anklage gegen Miltiades wegen seiner Tyrannis auf der Chersones 493/2 v. Chr., gegen den Tragödiendichter Phrynichos wahrscheinlich im selben Jahr, gegen Miltiades wegen der gescheiterten Expedition gegen Paros 489 v. Chr., gegen Hipparchos, den Sohn des Charmos, wegen Verrats vermutlich nach 480 v. Chr., gegen Themistokles wegen Verrats und gegen Kimon um 463/2 wegen des Vorwurfs der Bestechung, da er es unterlassen hatte, Makedonien anzugreifen. 75 Maximilian Braun hat noch einmal die Unsicherheiten in den Details hervorgehoben, die die Quellen zu den Verfahren enthalten; letztlich könne der Beweis nicht geführt werden, dass es sich um Eisangelieverfahren vor dem Volk handelte. Die These, der Areopag habe das ihm von Solon verliehene Recht, Eisangelien entgegenzunehmen, unter Kleisthenes verloren, könne nicht bestätigt werden, doch zeigten die Quellen zu den Prozessen, dass der Areopag dabei keine herausragende Rolle gespielt habe. Braun vermutet daher, die Delikte fielen möglicherweise nicht in die Kompetenz des Areopag oder dieser wäre so unbedeutend gewesen, als dass er von dem ihm von Solon zugesprochenen Recht Gebrauch gemacht hätte.76 Sieht man die Abstimmungen im Areopag bei einer stásis als eine Vorform des Ostrakismos, hätte der Areopag in der Zeit des Kleisthenes erheblich an politischer Bedeutung verloren und gewönne die Ansicht stärkeres Gewicht, dass beide Verfahren, Ostrakismos und Eisangelien, im Zusammenhang zu sehen sind. Angesichts der dürftigen Quellenlage lassen sich die politischen Reformen an der Wende vom 6. zum 5. Jh. letztlich nicht mit ausreichender Sicherheit rekonstruieren. Wenn man aber davon ausgeht, dass der Areopag die in Kap. 8,4 der Athenaion politeia genannten Kompetenzen hatte,77 erscheint es plausibel, dass diese im 5. Jahrhundert durch zwei Verfahren fortgeführt wurden, einerseits durch den Ostrakismos als fast ausschließliches Abstimmungsverfahren und andererseits 72 73 74 75

So Hansen 1975, 15–21; Hansen 1980, 89–95. Zum Verfahren Hansen 1995, 220–226. So Rhodes 1979, 103–114 und Rhodes 1981, 316f. So Braun 1998, 54–60. Vgl. auch Wallace 1985, 64–66. Miltiades 493/2 v. Chr.: Hdt. 6,104,2; Phrynichos: Hdt. 6,21,2; Miltiades 489 v. Chr.: Hdt. 6,136,1; Hipparchos: Lykurg. Leokr. 117; Themistokles: Plut. Them. 23,1; Kimon: Plut. Kimon 14–15,1 und Perikles 10,6. Nach Krateros FGrH 342 F 11a sei das Verfahren gegen Themistokles ein Eisangelieverfahren gewesen. Zur Diskussion dieser Verfahren: Hansen 1975, 69–71 (die Fälle seien durch Eisangelien an die Volksversammlung gebracht worden); de Bruyn 1995, 42–45 und 51–62 (die unentschieden bleibt); Braun 1998, 54–60. Zum Verfahren gegen Themistokles Blösel 2004, 336–350. 76 Braun 1998, 60. 77 Davon gehen Rhodes 1979, 105, de Bruyn 1995, 44, 60 und Braun 1998, 32–38, 46f. aus.

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durch die Eisangelien in Form von Gerichtsverfahren vor dem Volk oder den Geschworenengerichten. Nach den außen- und innenpolitisch folgenreichen Jahren, in denen die Tyrannis gestürzt wurde, Kleisthenes seine Phylenreform durchsetzte, der neue Rat der 500 zusammentrat, die Perser besiegt und die Strategen als oberste Feldherren gewählt wurden, könnte sich die innenpolitische Situation in den folgenden Jahren beruhigt haben. Die Athenaion politeia berichtet jedenfalls davon, dass in der Zeit nach den Perserkriegen und bis zu den Reformen des Ephialtes der Areopag erneut an Macht gewann und Athen gelenkt habe.78 Konkret lassen sich keine neuen Kompetenzen oder geglückte politische Aktionen benennen. Ausdrücklich ist in der Athenaion politeia (23,1) aber darauf hingewiesen, dass der Areopag nicht durch einen förmlichen Beschluss größeres politisches Gewicht erhalten habe, sondern durch seine Politik im Vorfeld der Seeschlacht von Salamis. Diese politische Aufwertung des Areopag könnte in Kontrast gestellt sein zu den Jahren zwischen 510 und 480, in denen der Areopag wichtige Entscheidungsmöglichkeiten verloren hatte, eben durch den Ostrakismos und eventuell durch die Übertragung der Eisangelieverfahren auf das Volk. In diesem Licht betrachtet, stellt sich die Genese der attischen Demokratie im Wesentlichen als eine Verschiebung von Entscheidungskompetenzen vom Adel, institutionell gesprochen vom Areopag, auf das Volk dar. Umgesetzt wurde diese Verschiebung durch grundlegende Reformen, die in Zeiten politischer Krisen und tiefer Konflikte durchgesetzt wurden. Zunächst hat Solon die Bestellung der Archonten umgestellt. Fortan wurden diese nicht mehr durch den Areopag aus den adeligen Familien berufen, sondern in den vier Phylen wurden je zehn Kandidaten vorgewählt, aus denen dann die neun Archonten ausgelost wurden.79 Auch wenn die Einführung der Schatzungsklassen garantierte, dass nur Angehörige der obersten Schatzungsklassen zu Archonten gewählt werden konnten, so waren die Adeligen dennoch auf einen Rückhalt auf lokaler Ebene angewiesen, um das Amt zu erreichen. Mit der Einrichtung einer neuen rechtsprechenden Institution, der heliaía, hat Solon den Adeligen außerdem wichtige schiedsrichterliche Funktionen genommen. Indem Kleisthenes die Zahl der Phylen auf zehn erhöhte und in ihnen Küsten-, Binnen- und Stadtbevölkerung mischte, durchtrennte er die regional verankerte Hausmacht der Adeligen.80 Gleichzeitig nahm er dem Areopag die Macht, über Standesgenossen zu urteilen, die der Errichtung einer Tyrannis verdächtigt wurden, und nahm ihm die Befugnis, wichtige politische Richtungsentscheidungen zu treffen. Ephialtes vollzog schließlich den dritten Schritt, indem er die Rechenschaftspflicht vom Areopag auf den Rat der 500, das Volk und die Gerichte über78 Aristot. Ath. pol. 23,1; 25,1; 26,1; 41,2. Dazu Martin 1974, 28f.; Braun 1998, 31, 61–68. Allerdings spricht sich Braun für die Ansicht aus, dass vor den Reformen des Ephialtes die Amtsträger Rechenschaft nicht vor dem Areopag abgelegt hätten (Braun 2008, 41–46). 79 Aristot. Ath. pol. 8,1. 80 Dazu Martin 1974, 11–22, 41: „Ohne die Auflösung der gesellschaftlichen Bindungen zwischen Adel und Volk und ohne die Stärkung der politischen Institutionen wäre die Demokratie in Athen nicht möglich gewesen.“

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trug. Aus dem Areopag, einst das Zentrum der politischen Macht in Athen und Kristallisationspunkt adeliger Macht und adeligen Ansehens, war ein nach wie vor angesehener, aber politisch bedeutungsloser und gänzlich entmachteter Rat geworden. Durch die Reformen von Solon und Kleisthenes, die des Jahres 487/6 und die des Ephialtes wurden die Partizipationschancen des Demos erheblich erweitert. Solon hatte mit der Regelung der Anklagen vor dem Areopag und dem Stasisgesetz noch versucht, die Konflikte zwischen Adeligen durch die Standesgenossen entscheiden und schlichten zu lassen. Die Akzeptanz der Entscheidung sollte dadurch erhöht werden, dass alle Areopagiten gezwungen wurden, sich an den Abstimmungen zu beteiligen. Solon hoffte offensichtlich darauf, dass eindeutige Abstimmungsergebnisse die Kontrahenten zur Vernunft bringen würden oder Entscheidungen in brisanten politischen Situationen von allen mitgetragen wurden, wenn die Mehrheit überwältigend war. Doch die zweimalige an-archía, die Perpetuierung des Amtes durch Damasias, die Tyrannis des Peisistratos, die trotz zweimaliger Gegenwehr nicht verhindert werden konnte, und die wieder aufflammenden Konflikte in den letzten Jahren des 6. Jh. offenbarten, dass der gut gemeinte Lösungsweg nicht zu dem Ziel führte, Konflikte um politische Ämter oder die führende Position in der Stadt durch eine Mehrheitsentscheidung der Adeligen zu lösen. Es gelang den griechischen Adeligen nicht, ihr kompetitives Verhalten zu zügeln und Mechanismen der Selbstregulierung so auszugestalten, dass sie erfolgreich angewandt werden konnten. Die Verfahren vor dem Areopag hatten sich trotz der Verpflichtung zur Abstimmung durch das stásis-Gesetz letztlich nicht als politisch effektiv erwiesen, weil die Beschlüsse keine ausreichende Legitimität erzeugten und daher nicht systemstabilisierend wirken konnten. Sowohl bei der Bestellung der Archonten als auch bei der Entscheidung in einer stásis-Situation, bei der Rechenschaftspflicht und damit der Kontrolle der Amtsträger zeigten sich die Adeligen unfähig, ihre Interessen auf die der Polis zu fokussieren und akzeptable Lösungen zu finden. Die Lösung fand man stets darin, die Entscheidungen auf andere Gremien außerhalb des Adels zu verlagern, auch in der Hoffnung, dadurch Beschlüsse im eigenen Interesse durchzusetzen, die im Areopag nicht durchsetzbar waren, was aber letztlich die politischen Partizipationschancen des Demos gewaltig ansteigen ließ.81 Freilich war dies nur möglich, weil gleichzeitig soziale Abhängigkeiten durchtrennt wurden, indem Kleisthenes den Demen als unabhängigen Einheiten wichtige Funktionen übertrug und damit die Möglichkeiten, politische Ziele mit Hilfe von Gefolgschaften durchzusetzen, erheblich erschwert wurden. Ob mit der Ausweitung der Partizipationschancen die Legitimitätsdefizite ausgeglichen wurden, ist kaum zu beantworten. Im 5. Jahrhundert waren nicht wenige Adelige immer noch nicht bereit, sich den Entscheidungen, die nun im Volk getroffen wurden, zu unterwerfen. Auch die Tatsache, dass Ostrakismos-Verfahren in den Jahren nach 460 kaum noch durchgeführt wurden, zeigt an, dass dieses politische Instrument wenig geeignet war, zu allgemein akzeptierten politischen Beschlüssen zu gelangen, politische Auseinander81 Martin 1974, 41; Stein-Hölkeskamp 1989, 197–200.

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setzungen in dieser Weise zu kanalisieren und Konflikte einzuhegen, die in Gewalt auszuarten drohten.

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ZENSUSGRENZEN FÜR DIE ÄMTERBEKLEIDUNG IM KLASSISCHEN GRIECHENLAND Wie groß war der verfassungsrechtliche Abstand gemäßigter Oligarchien von der athenischen Demokratie? Wolfgang Blösel Die Teilhabe möglichst vieler Bürger an den politischen Entscheidungen eines Staatswesens gilt als zentrales Ziel einer Demokratie. Denn dies verschafft dem gesamten politischen System höchste Legitimität. Doch die Bürger westlicher, parlamentarisch geprägter Demokratien nutzen die Möglichkeit, am politischen Willensbildungsprozeß teilzunehmen, jeweils auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene häufig nur einmal alle vier oder fünf Jahre bei den Wahlen zu den jeweiligen Volksvertretungen. In den antiken Stadtstaaten war dies bekanntlich anders: Die geringe Bürgerzahl von wenigen hundert bis zu wenigen Tausend machte es möglich, bei politischen Entscheidungen regelmäßig die Gesamtbürgerschaft in der Volksversammlung zu befragen. Doch was die Übernahme von Ämtern betrifft, so ergibt sich doch eine Parallele zur parlamentarischen Demokratie. Denn wie sich darin längst der Berufsstand der Politiker herausgebildet hat, so sind auch in den antiken griechischen Poleis oft dieselben Individuen oder zumindest Angehörige derselben Familien, d.h. nur ein kleiner Anteil der Gesamtbürgerschaft, als Beamten belegt.1 In Anlehnung an die klassischen griechischen Autoren werden solche Staatswesen dann als Oligarchien bezeichnet, wenn über den allgemeinen Status als Bürger hinausgehende formelle Beschränkungen für die Amtsfähigkeit bezeugt sind. Die geforderte Qualifikation dafür konnte höchst unterschiedlich definiert sein, so etwa die Herkunft aus bestimmten Familien wie in Massalia oder die Abkunft von den Eroberern des Landes oder die Beteiligten an einem Staatsstreich wie in Megara.2 Sehr häufig dürfte die Regimentsfähigkeit jedoch vom Mindestbesitz an Ackerland, Ernteerträgen oder auch vom Vermögen allgemein abhängig gewesen sein. Allerdings lassen sich gerade die konkreten Belege für solche Zensusgrenzen für die Amtsfähigkeit an einer Hand abzählen. Ein Blick auf die reichlich sprudelnden Quellen zum klassischen Athen hilft hier weiter – was um so erstaunlicher ist, scheint doch die Besetzung der jährlich

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Vgl. Jones 1957, 49: „In fact, the Athenian people were rather snobbish in the choice of their leaders.” und Bleicken 1995, 675f. Aristot. pol. 1300a16–19 und 1304b34–39.

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ca. 700 Beamtenstellen3 schon aus demographischen Gründen – bei wenigen Zehntausenden Bürgern – erfordert zu haben, daß sämtliche von ihnen zu den Ämtern zugelassen waren. Dennoch finden wir einige Hinweise, die den formellen Ausschluß der Theten bis zum Ende der Demokratie im Jahr 322 v. Chr. nahelegen. Das erste Ziel dieses Beitrages ist es somit, eine solche Zensusgrenze für die athenischen Ämter zu verifizieren. Ein solcher Befund, der angesichts der häufigen Charakterisierung der athenischen Verfassung als „Thetendemokratie“ doch verwundert, verlangt nach einer sozialpsychologischen Erklärung, die in einem zweiten Schritt geleistet werden soll. Die scheinbar paradoxe Konstellation in Athen, die ich nachzuweisen suche: nämlich formeller Ausschluß der untersten Zensusklasse von den Ämtern bei gleichzeitiger uneingeschränkter Zulassung zur Volksversammlung, schärft unseren Blick für ähnliche Rechtsverhältnisse in anderen griechischen Poleis der klassischen Zeit. In einem dritten Teil sollen solche Städte kursorisch betrachtet werden. Ich möchte allerdings sogleich klarstellen, daß es mir dabei nicht um oligarchische Verfassungen allgemein geht, in denen ein Teil der zivilrechtlich gleichberechtigten Gemeindemitglieder von jeglicher politischer Mitbestimmung ausgeschlossen war.4 Für diesen Fall ging ein Großteil der bisherigen Forschung von der simplifizierenden Vorstellung aus, daß alle Inhaber des Bürgerrechts prinzipiell sowohl über aktives wie auch passives Wahlrecht verfügt hätten. 5 Mein Augenmerk gilt im folgenden jedoch denjenigen Fällen, in denen in Ämter wählbare Vollbürger gegenüber ihren lediglich zur Volksversammlung zugelassenen Mitbürgern privilegiert waren. Verfassungen, die in solcher Weise den Zugang zu den Ämtern abstuften, hat Aristoteles als Timokratie bezeichnet, sie jedoch dort wie auch später in seinen Politiká nicht als Verfassungsform sui generis konzipiert, sondern in die Nähe der Demokratie gerückt; denn darin seien ja alle diejenigen, welche die Schatzungsanforderungen erfüllten, gleich.6 Aristoteles hält sogar eine niedrige Zensusvoraussetzung für Ämter sehr wohl für mit einer demokratischen Verfassung vereinbar7, wie er überhaupt nicht die schiere Existenz, sondern allein die Höhe der Schatzungsgrenzen für einen Gradmesser dafür ansieht, inwieweit eine Verfassung eher der Demokratie oder der Oligarchie zuzurechnen ist.8 3 4 5

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Vgl. Aristot. Ath. pol. 24,3 und Hansen 1980. Dieser Beitrag entstammt einem Projekt über „Oligarchien und Oligarchietheorie in den griechischen Städten der klassischen und frühhellenistischen Zeit“. Vgl. auch Blösel 2000; zudem Brock/Hodkinson 2002; Bernett 2006. Busolt 1920, 361: „Eine Versammlung des ganzen Demos, welche Funktionen der höchsten Staatsgewalt, sei es auch nur in beschränktem Umfange, ausübte, konnte es in oligarchischen Verfassungen nicht geben, denn die Teilnahme aller freien Gemeindemitglieder an der Souveränität war das Grundprinzip des demokratischen Staates, die eines Teiles desselben das des oligarchischen.“ Aristot. eth. Nic. 1160a31–36; b16–19. Vgl. Cobet 1975; Mulgan 1991; ausführlich Schmitz 1995, 573–576; Ostwald 2000; Schwabe 2012. Aristot. pol. 1291 b39–41; 1317b22f. Aristot. pol. 1294b3f.; 1318b27–32. Dennoch sieht er grundsätzlich die Zensusgrenzen bei der Zulassung zu den Ämtern als oligarchisches Prinzip: pol. 1273a25f.: τὸ μὲν αἱρεῖσθαι πλουτίνδην ὀλιγαρχικόν. Vgl. Carlier 2005, bes. seine abschließende Frage 273: „Peut–on re-

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Was die athenische Demokratie entscheidend von solchen Verfassungen unterschied, soll in einem abschließenden vierten Teil erörtert werden. I. In der aristotelischen Ἀθηναίων πολιτεία lesen wir folgendes über die Verfassung zur Zeit Solons: „Die übrigen (sc. mit weniger als 200 Scheffeln Erntegut pro Jahr) gehörten zur Klasse der Theten; sie hatten zu keinerlei Amt Zugang. Deshalb dürfte auch jetzt noch keiner, der sich an der Auslosung eines Amtes beteiligen will, wenn er gefragt wird, zu welcher Zensusklasse er 9 gehöre, antworten: zu derjenigen der Theten.“

Es bleibt festzuhalten, daß die Ἀθηναίων πολιτεία die Disqualifikation der Theten für sämtliche Ämter als zeitgenössisch, also für die frühen 320er Jahre, bezeugt. Der hochkaiserzeitliche Lexikograph Pollux bestätigt in seiner Beschreibung der athenischen Zensusklassen den Ausschluß der Theten von allen Ämtern.10 Ein späterer Passus aus der Ἀθηναίων πολιτεία steigert das Befremden noch. Dort heißt es: „Zunächst gibt es die zehn Schatzmeister der Göttin Athena; dazu wird einer pro Phyle aus den Fünfhundertschefflern gemäß dem noch heute gültigen Gesetz des Solon gelost. Das Amt erhält in jedem Fall der Ausgeloste, selbst wenn er völlig mittellos ist.“ 11

Diese Aussage verschiebt die Fragerichtung und bestätigt zugleich den Verdacht, der einen schon bei der ersten Stelle beschlichen hat: Auf die stereotype Frage nach der Zensusklasse wurde spätestens in den frühen 320er Jahren vom Amtsbewerber offenbar keine wahrheitsgetreue Antwort mehr erwartet. Die Bestim-

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fuser le nom de ‚démocratie‘ à des régimes où une grande partie des hommes libres votent les décisions importantes et contrôlent les magistrats?” Aristot. Ath. pol. 7,4: ... τοὺς δ’ ἄλλους θητικόν, οὐδεμιᾶς μετέχοντας ἀρχῆς. διὸ καὶ νῦν ἐπειδὰν ἔρηται τὸν μέλλοντα κληροῦσθαί τιν’ ἀρχήν, ποῖον τέλος τελεῖ, οὐδ’ ἂν εἷς εἴποι θητικόν (eigene Übersetzung). Ähnlich deuten dies auch Rhodes 1993, 145f. ad loc. und Chambers 1990, 173 ad loc. S.u. zur Problematik, inwiefern die Theten zum Tat der 500 und zu den Dikasterien zugelassen waren. – Auch wenn sich der Abschnitt des Pollux (8,130, s. folgende Anm.) auf die Einrichtung der Zensusklassen durch Solon bezieht, so könnte seine Behauptung ebenso für die klassische Zeit gültig sein wie die darin genannten Verhältnisse der Getreidetrockenmaße der vier Klassen zueinander. Pollux 8,130: Τιμήματα δ’ ἦν τέτταρα, πεντακοσιομεδίμνων ἱππέων ζευγιτῶν θητῶν. ... οἱ δὲ τὸ ζευγήσιον τελοῦντες ἀπὸ διακοσίων μέτρων κατελέγοντο, ἀνήλισκον δὲ μνᾶς δέκα· οἱ δὲ τὸ θητικὸν οὐδεμίαν ἀρχὴν ἦρχον, οὐδὲ ἀνήλισκον οὐδέν. Zwar läßt die Struktur des Passus an eine Entlehnung aus der aristotelischen Ἀθηναίων πολιτεία denken, doch die im übrigen wenig glaubhafte Verbindung der Zensusklassen mit Steuerzahlungen muß aus einer anderen Quellen stammen. Zu dieser Passage ausführlich de Ste. Croix 2004 (verfaßt in den 1960er Jahren!), 56–60 und Guía/Gallego 2010, 271–274 (die 277 von einer gemeinsamen Vorlage für die Ἀθηναίων πολιτεία und Pollux ausgehen). Aristot. Ath. pol. 47,1: πρῶτον μὲν γὰρ οἱ ταμίαι τῆς Ἀθηνᾶς εἰσὶ μὲν δέκα, κλη[ροῦτα]ι δ’ εἷς ἐκ τῆς φυλῆς, ἐκ πεντακοσιομεδίμνων κατὰ τὸν Σόλωνος νόμ[ον (ἔτι γὰρ ὁ] νόμος κύριός ἐστιν), ἄρχει δ’ ὁ λαχὼν κἂν πάνυ πένης ᾖ (eigene Übersetzung).

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mungen über die Zensusschranken scheinen damals nur noch toter Buchstabe gewesen zu sein. Winfried Schmitz geht noch einen erheblichen Schritt weiter: Er postuliert eine formelle Aufhebung des Ausschlusses der Theten von den Ämtern, weil bei der Umstellung von einer Prokrisis der Ämterkandidaten in den Demen auf ein zentrales Los- und Dokimasieverfahren vor den Phylen schon in Perikleischer Zeit die Überprüfung ihrer jeweiligen Schatzungsklassen nicht übernommen worden sei und damit die Athener eine bewußte Entscheidung zur Öffnung (fast) aller Ämter für die Theten getroffen hätten.12 Doch der Umstand, daß die Ἀθηναίων πολιτεία (8,1) Solons Gesetz über die Bestellung der Schatzmeister und eben nicht dasjenige über die Losung der neun Archonten als Beleg für die Losung aus den Zensusklassen anführt, „setzt“ keineswegs, wie Schmitz meint, die explizite Abschaffung der Zensusbeschränkung für die Archonten „voraus“:13 Denn die erklärtermaßen noch zu Zeiten der aristotelischen Ἀθηναίων πολιτεία gültige Zensusbeschränkung der Schatzmeister einzig auf die Fünfhundertscheffler stellte doch ein weit beeindruckenderes Beispiel für die Bedeutung der Zensusklassen dar als die Zensusschranke für das Archontat, die ja seit Solon mindestens einmal bis zu den Zeugiten abgesenkt worden war.14 Auch die Passagen aus Gerichtsreden des Lysias und des Ps.-Demosthenes, laut denen ein „Armer“ habe Archon werden können, hat Ryan überzeugend als stark polemische Übertreibung erwiesen.15 Gegenüber den Gerichtsreden deutlich mehr Gewicht als möglicher Hinweis auf die Ämterzulassung sämtlicher athenischen Bürger hat schon das etwa ein Jahrhundert vor der aristotelischen Ἀθηναίων πολιτεία verfaßte Pamphlet des sog. Alten Oligarchen16, da es als Zustandsbeschreibung der athenischen Demokratie daherkommt. Nachdem der Alte Oligarch anerkannt hat, daß die ärmeren Bürger durch ihren Ruderdienst auf den Trieren weit eher die Machtstellung Athens begründet haben als die Hopliten und die Vornehmen, fährt er fort: „(1) Deshalb scheint es gerecht zu sein, wenn allen die Ämter sowohl bei der jetzt üblichen Losung wie auch bei der Wahl offenstehen und es jedem von den Bürgern, der will, freisteht,

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Schmitz 1995, bes. 579–585. Ähnlich jüngst Guía/Gallego 2010, passim, bes. 278, und Blok 2013, 169, 172. Schmitz 1995, 580; ablehnend dazu C. Mossé und P.J. Rhodes in ihren Kommentaren zu Schmitz 1995, ebd. 598–600 sowie Sinclair 1988, 17 m. A. 64 („dead letter“); 32 („legal fiction“); 106¸Lotze 2000, 143; Rosivach 2002, 46f. und van Wees 2006, 368. Vgl. Aristot. Ath. pol. 26,2 zum Jahr 457. Gabrielsen 1981, 114–119 sowie Schmitz 1995, 580 verweisen auf Lys. 24,13 (Doch daß der Invalide nicht nur von seiner Versehrtheit, sondern auch von seiner Armut von einer Bewerbung um das Archontat abgehalten wird, zeigt schon Lys. 24,4f.) und Ps.-Demosth. 59,72. Auch die von Wallace 1989, 126 angeführte „vollständige Vernachlässigung aller mit der Wahl und der Überprüfung der Archonten verbundenen Vorschriften“, über die Isokrates (7,38: ἔτι γὰρ καὶ νῦν ἁπάντων τῶν περὶ τὴν αἵρεσιν καὶ δοκιμασίαν κατημελημένων) klagt, erklärt sich aus einer polemischen Übertreibung, die Ryan 1994 überzeugend nachweist und ihre Behauptung widerlegt. So schon Busolt/Swoboda 1926, 899 A. 2 (mit älterer Literatur zur Zulassung der Theten zu den Ämtern) und Schmitz 1995, 579. Zur Zeitstellung und zum Autor siehe die Zusammenstellung der Forschungsmeinungen bei Weber 2010, 20–27.

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öffentlich zu reden. (2) Und doch verlangt das Volk nicht im mindesten, daß es zugelassen werde zu all denjenigen Ämtern, die der Gesamtheit des Volkes Segen bringen, wenn sie in guten Händen liegen, und Gefahr, wenn in schlechten. (3) So meinen sie, weder die Posten der Strategen noch der Reiterführer müßten durch das Los zugänglich für sie sein. (...) (4) Alle Ämter aber, die dazu da sind, Entlohnung und Nutzen ins Haus zu bringen, diese er17 strebt das Volk zu verwalten.“

Der gesamte Abschnitt bezeugt meines Erachtens gerade die Existenz der Zensusschranken, nicht ihr Fehlen. Der 1. Satz betont lediglich den anscheinend legitimen Anspruch der unteren Schichten auf die Zulassung zu sämtlichen Ämtern. Laut Satz 2 und 3 verzichtete das Volk aber nicht nur vollständig auf die Bekleidung der anspruchsvolleren Ämter, sondern hielt es – weit grundsätzlicher – für unnötig (man beachte die zweimalige Leugnung der Notwendigkeit durch οὐδὲν δεῖται μετεῖναι sowie οὔτε ... κλήρῳ ... χρῆναι μετεῖναι18), überhaupt die formale Berechtigung dazu zu erhalten. Auch Satz 4 spricht nicht vom tatsächlichen Zugang des einfachen Volkes zu den einträglichen Posten, sondern allein von dessen Streben danach.19 Thukydides läßt seinen Perikles in der Gefallenenrede zwar behaupten, keiner werde in der athenischen Demokratie wegen seiner Armut davon abgehalten, etwas für die Stadt zu leisten; doch scheinen damit weniger der Ämterzugang als vielmehr die Beteiligung an den Volksversammlungen gemeint.20 Daneben äußert sich zur Amtsfähigkeit aller Bürger in dieser Allgemeinheit allein der Dichter Euripides in seiner Tragödie „Die bittflehenden Frauen“ aus dem Jahr 424, wenn er den mythischen König Theseus über sein Athen sagen läßt:

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Ps.-Xen. Ath. pol. 1,2f.: δοκεῖ δίκαιον εἶναι πᾶσι τῶν ἀρχῶν μετεῖναι ἔν τε τῷ κλήρῳ καὶ ἐν τῇ χειροτονίᾳ, καὶ λέγειν ἐξεῖναι τῷ βουλομένῳ τῶν πολιτῶν. ἔπειτα ὁπόσαι μὲν σωτηρίαν φέρουσι τῶν ἀρχῶν χρησταὶ οὖσαι καὶ μὴ χρησταὶ κίνδυνον τῷ δήμῳ ἅπαντι, τούτων μὲν τῶν ἀρχῶν οὐδὲν δεῖται ὁ δῆμος μετεῖναι – οὔτε τῶν στρατηγιῶν κλήρῳ οἴονταί σφισι χρῆναι μετεῖναι οὔτε τῶν ἱππαρχιῶν – ... ὁπόσαι δ’εἰσὶν ἀρχαὶ μισθοφορίας ἕνεκα καὶ ὠφελείας εἰς τὸν οἶκον, ταύτας ζητεῖ ὁ δῆμος ἄρχειν (eigene Übersetzung). Der Verweis auf die fehlende Losung der Strategen und Hipparchen betont die verfassungsrechtliche Dimension dieser Beschränkung. Ähnliche Zweifel hegt Sinclair 1988, 110. An diesem Punkt hilft auch die polemische Frage des Alten Oligarchen (3,13) nicht weiter: „Wie könnte also einer meinen, daß die große Menge in Athen ihres Bürgerrechts beraubt sei, wo es doch das Volk ist, das die Ämter bekleidet?“ (πῶς ἂν οὖν ἀδίκως οἴοιτό τις ἂν τοὺς πολλοὺς ἠτιμῶσθαι Ἀθήνησιν, ὅπου ὁ δῆμός ἐστιν ὁ ἄρχων τὰς ἀρχάς; Vgl. Zunino 2007). Ist nicht gerade die vom hypothetischen Gegner des Alten Oligarchen postulierte Entrechtung der Masse weit eher glaubhaft als dessen Behauptung, zumal dieser noch mit der Doppeldeutigkeit von ἀτιμᾶσθαι spielt. Dies gehört zu den eklatanten Falschdarstellungen des Alten Oligarchen; man denke nur an die kaum glaubliche Behauptung, in Athen wäre den Sklaven und Metöken die gleiche Redefreiheit zugestanden worden wie den Bürgern (1,12, vgl. den Kommentar von Weber 2010, 89). Thuk. 2,37,1: οὐδ’ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώματος ἀφανείᾳ κεκώλυται. So ausführlich Loraux 1993, 232–239, bes. 238f. Zur Gefallenenrede auch die Interpretation bei Leppin 1999, 86–90 mit weiterer Literatur.

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Wolfgang Blösel „Das Volk herrscht mit, der Reihe nach im jährlichen | Wechsel, nicht gibt es dem Reichtum das meiste, | sondern der Arme erhält den gleichen Teil.“21

Den Wechsel von Regieren und Regiert-werden verstand Aristoteles zwar als zentralen Bestandteil der bürgerlichen Gleichheit; doch er moniert, daß die Tugenden, welche die Herrschenden zum Herrschen und die Beherrschten zum Beherrscht-werden benötigten, keineswegs ohne weiteres austauschbar seien.22 Es ist kaum ein bloßer Überlieferungszufall, daß wir in der klassischen politischen Theorie das Rotationsprinzip von Herrschaft unter allen Bürgern nicht unter den Kennzeichen der demokratischen Verfassungsform finden. Denn in der sog. Verfassungsdebatte kennzeichnet Herodot die Volksherrschaft durch vier Elemente: 1. die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. die Verlosung der Ämter und 3. die Verantwortlichkeit der Beamten gegenüber der Volksversammlung; zentral sei aber letztlich, daß alle Beschlüsse von der Gesamtheit gefaßt würden, und zwar per Mehrheitsvotum.23 Auch Thukydides läßt den Syrakusaner Athenagoras die ideale Rollenverteilung in einer demokratisch verfaßten Bürgerschaft so explizieren: „Ich behaupte, ... daß die Reichen die besten Aufpasser für das Geld sind, die Klugen den besten Rat erteilen und die Menge am besten das Gehörte zu beurteilen vermag; all dies hat gleichmäßig und jedes für sich in einer Demokratie seinen gleichen Anteil.“24 Die These von der überlegenen Urteilskraft der Menge beruht auf der sog. Akkumulationstheorie der Demokraten. Nach Aussagen von Herodot und Euripides25 zu urteilen, war sie schon um das Jahr 430 verbreitet, systematisiert finden wir sie aber erst bei Aristoteles: Danach sei die große Masse der Bürger, sowohl was den Reichtum als auch die Tugend angehe, zusammengenommen den einzelnen Aristokraten weit überlegen, so daß sie gemeinsam notwendigerweise bessere Entscheidungen treffe als diese.26 Die Akkumulationstheorie konnte jedoch die 21 22 23

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Eur. Hik. 406–408: δῆμος δ’ ἀνάσσει διαδοχαῖσιν ἐν μέρει | ἐνιαυσίαισιν, οὐχὶ τῶι πλούτωι διδοὺς | τὸ πλεῖστον ἀλλὰ χὠ πένης ἔχων ἴσον (Übersetzung: E. Buschor). Aristot. pol. 1276b15 – 1277b33. Hdt. 3,80,6: Πλῆθος δὲ ἄρχον πρῶτα μὲν οὔνομα πάντων κάλλιστον ἔχει, ἰσονομίην. ... πάλῳ μὲν γὰρ ἀρχὰς ἄρχει, ὑπεύθυνον δὲ ἀρχὴν ἔχει, βουλεύματα δὲ πάντα ἐς τὸ κοινὸν ἀναφέρει. Τίθεμαι ὦν γνώμην μετέντας ἡμέας μουναρχίην τὸ πλῆθος ἀέξειν· ἐν γὰρ τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα. Thuk. 6,39,1: ἐγὼ δέ φημι (…) φύλακας μὲν ἀρίστους εἶναι χρημάτων τοὺς πλουσίους, βουλεῦσαι δ’ ἂν βέλτιστα τοὺς ξυνετούς, κρῖναι δ’ ἂν ἀκούσαντας ἄριστα τοὺς πολλούς, καὶ ταῦτα ὁμοίως καὶ κατὰ μέρη καὶ ξύμπαντα ἐν δημοκρατίᾳ ἰσομοιρεῖν. Herodots Kritik an den 30 000 Athenern des Jahres 500, die sich weit leichter von den Versprechungen des Aristagoras zur Unterstützung des Ionischen Aufstandes verleiten ließen als der eine Spartaner Kleomenes (Hdt. 5,97,2: Πολλοὺς γὰρ οἶκε εἶναι εὐπετέστερον διαβάλλειν ἢ ἕνα, εἰ Κλεομένεα μὲν τὸν Λακεδαιμόνιον μοῦνον οὐκ οἷός τε ἐγένετο διαβάλλειν, τρεῖς δὲ μυριάδας Ἀθηναίων ἐποίησε τοῦτο), setzt m.E. die Akkumulationstheorie der Demokratie schon ebenso als verbreitet voraus wie Eur. Andr. 699–702: σεμνοὶ δ’ ἐν ἀρχαῖς ἥμενοι κατὰ πτόλιν / φρονοῦσι δήμου μεῖζον, ὄντες οὐδένες·/ οἱ δ’ εἰσὶν αὐτῶν μυρίωι σοφώτεροι, / εἰ τόλμα προσγένοιτο βούλησίς θ’ ἅμα. Dies ist gegen die Spätdatierung der Akkumulationstheorie ins 4. Jh. durch Leppin 1999, 57 m. A. 4 anzuführen. Aristot. pol. 1283a–b; ausführlich zur Akkumulationstheorie Toulomakos 1985, 37–60 und Leppin 2013, 151f.

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Demokratie nur insoweit legitimieren, als sie den Führungsanspruch vielköpfiger Körperschaften wie der Volksversammlung oder des Volksgerichtes betraf. Hingegen bei Einzelbeamten oder Kollegien mit wenigen Amtsträgern konnte eine solche Argumentation nicht umhinkommen, implizit die Überlegenheit der Begüterten und Aristokraten gegenüber den ärmeren Mitbürgern einzugestehen. Unter den verschiedenen Elementen, die nach Auffassung der klassischen Autoren von Herodot bis Aristoteles die Demokratie allgemein, nicht allein die athenische, ausmachten,27 wie Freiheit und Gleichheit der Bürger und die Volksversammlung als letztentscheidende Instanz, ist die Zulassung aller Bürger zu den Ämtern nicht als conditio sine qua non für das Selbstverständnis der Demokraten feststellbar. Aristoteles schreibt einer „gemäßigten“ Form der Demokratie gerade den Gebrauch von geringen Besitzgrenzen für die Zulassung zu den Ämtern zu.28 Offenbar haben selbst die oligarchischen Umstürzler des Jahres 411 um Peisander ihre Verfassungsvorstellung, die ja gerade nur noch die Fünftausend Vollbürger die Wählbarkeit für die Ämter vorsah, lediglich als eine andere Form der Demokratie vorgestellt.29 Die Forderung des Redners Antiphon am Ende des 5. Jahrhunderts, man solle „die Theten zu Hopliten machen“, ist weniger militärisch als vielmehr im Hinblick auf deren Zulassung zu den Ämtern zu verstehen.30 Isokrates warb in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts für die Beamtenwahl aus einer kleineren Zahl von Bürger statt deren Losung aus allen als einer Verbesserung der athenischen Demokratie.31 In Athen ist mithin der formelle Ausschluß der Theten davon keineswegs unwahrscheinlich, auch wenn dort – wie es scheint – die Zensusklassenzugehörigkeit der Ämterkandidaten nicht mehr eigens überprüft, sondern stillschweigend das nötige Mindesteinkommen bei ihnen vorausgesetzt wurde. Wenn jedoch die finanzielle Mindestanforderung für die Ämterbekleidung während der gesamten Periode der athenischen Demokratie bis 322 v. Chr. nicht abgeschafft32, sondern 27 28 29

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Ober 1989, 293–314; Brock 1991; Loraux 1993, 224–229; Robinson 1997, 35–64, zusammengefaßt 62f.; Leppin 1999, 41–58, bes. 53; 2013, 150–153. Aristot. pol. 1291b38–41; 1305a30–32; 1306b1–16; 1317b22f. Er sieht pol. 1294b2–5 diese sogar für die Teilnahme an der Volksversammlung vor. Vgl. Robinson 1997, 36f., 42. Thuk. 8,53,1: μὴ τὸν αὐτὸν τρόπον δημοκρατουμένοις βασιλέα τε ξύμμαχον ἔχειν καὶ Πελοποννησίων περιγενέσθαι. Vgl. Lehmann 1997, 43–45; Leppin 1999, 79 und 2013, 155. – Rhodes 1972a, 118f.; 126f. postuliert sogar, daß die oligarchischen Umstürzler damit nur die schon vorhandene Beschränkung der Wählbarkeit für die Ämter auf die Hopliten nochmals eingeschärft hätten. Antiphon fr. B 6 = fr. 61 Thalheim = Harpokration s.v. θῆτες καὶ θητικόν: Ἀντιφῶν ἐν τῷ κατὰ Φιλίνου φησί· τούς τε θῆτας ἅπαντας ὁπλίτας ποιῆσαι. So auch Hanson 1996, 306. Isokr. 7, 21–23, bes. 22: τὴν δὲ κατὰ τὴν ἀξίαν ἕκαστον τιμῶσαν καὶ κολάζουσαν προῃροῦντο καὶ διὰ ταύτης ᾤκουν τὴν πόλιν, οὐκ ἐξ ἁπάντων τὰς ἀρχὰς κληροῦντες, ἀλλὰ τοὺς βελτίστους καὶ τοὺς ἱκανωτάτους ἐφ’ ἕκαστον τῶν ἔργων προκρίνοντες.Vgl. Ober 1998, 248–289. Nicht erfüllt hat sich die Erwartung von Wilamowitz-Moellendorffs 1893,1,124 A. 4: „Dass wir das (sc. daß in Athen einmal „formell … die zulassung aller bürger zu allen ämtern ausgesprochen“ war, W.B.) bisher geglaubt haben, ist keine schande, so unbegreiflich es der nächsten generation schon sein wird, die unbewusst von dem beherrscht werden wird, was wir dem aristotelischen buche danken.“ Er verwirft ebd. mit Recht das Zeugnis des Plut. Arist. 22,1, Aristeides habe nach der Schlacht von Plataiai einen Beschluß fassen lassen,

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offenbar als Relikt aus alter Zeit in der πρόκρισις mit geschleppt wurde, so läßt dieser Umstand doch neue Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der athenischen Demokratie zu.33 II. Im zweiten Abschnitt ist nun nach den Gründen zu fragen, warum das Mindesteinkommen als Qualifikation für die Bekleidung von Ämtern einen so hohen Stellenwert in Athen hatte. Ersten Aufschluß gibt eine Nachricht des Rhetors Deinarchos.34 Er bezeugt noch für das Jahr 323 die gesetzliche Vorschrift, daß Strategen wie Redner Landbesitz in Attika nachweisen mußten. Dies verwundert gerade bei den Rhetoren, da sie doch jeglicher Amtsautorität entbehrten.35 Allerdings hatten der Besitz von Ackerland und die damit implizierte bäuerliche Wirtschaftsweise hohe ideelle Bedeutung, befreiten sie einen Bürger zumindest idealiter vom Stigma der ,Armut‘. Gerade die athenische Mittelschicht, wohl großenteils Besitzer von Ackerland, galt als eigentliche Stützen des demokratischen Systems.36 Gleichwohl haben die reichen Athener schon seit dem 5. Jahrhundert ihr Vermögen weit öfter als Unternehmer, Schiffseigner oder Besitzer von großen Werkstätten denn als Großgrundbesitzer erworben. Deshalb lag der Steuererhebung für die Kriegssteuer (εἰσφορά) und der Leiturgiepflicht schon längst nicht mehr der landwirtschaftliche Ertrag, sondern das Gesamtvermögen eines Bürgers zugrunde. Die Angaben, die die Bürger darüber machen mußten, hatten offenbar nichts mit den „Solonischen“ Schatzungsklassen zu tun, wie eine Rede des Isaios aus den 350er Jahren zeigt.37 Wenn die Athener demgegenüber an der Jahresernte, angegeben im Getreidehohlmaß, dem μέδιμνος, als Maßstab für

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κοινὴν εἶναι τὴν πολιτείαν καὶ τοὺς ἄρχοντας ἐξ Ἀθηναίων πάντων αἱρεῖσθαι. Ähnliche Auffassung bei Meyer 1939, 538. Dies bestätigt Schmitz 1995, 594f., 600 ex negativo, indem er die hohe symbolische Bedeutung der von ihm postulierten Abschaffung der Zensusgrenzen schon im 5. Jh. für das Verständnis von der Gleichheit aller Bürger betont. Dein. 1,71: τοὺς μὲν νόμους προλέγειν τῷ ῥήτορι καὶ τῷ στρατηγῷ, τὴν παρὰ τοῦ δήμου πίστιν ἀξιοῦντι λαμβάνειν, παιδοποιεῖσθαι κατὰ τοὺς νόμους, γῆν ἐντὸς ὅρων κεκτῆσθαι, πάσας τὰς δικαίας πίστεις παρακαταθέμενον, οὕτως ἀξιοῦν προεστάναι τοῦ δήμου. Vgl. zu den finanziellen Anforderungen an die Strategen Roberts 1986, 362–365. Allerdings läßt die übliche Junktur ῥήτορες καὶ στρατηγοί für „Politiker“ doch Zweifel aufkommen, ob diese Anforderungen tatsächlich für amtlose Redner vor der Volksversammlung galten; vgl. ausführlich Ober 1989, 119f. und Worthington 1992, 235f. ad loc. So Eur. Hik. 238–245, Or. 917–922, El. 380–390. Eine breite Mittelschicht, die einen Großteil des landwirtschaftlich bewirtschafteten Bodens besaß, postulieren Bleicken 1995, 134 und Guía/Gallego 2010, 258–265. Eine solche Mittelschicht sieht Hansen 1995, 117–119 weniger als wirtschaftssoziologisches Phänomen denn vielmehr als Ausfluß der militärischen Dreiteilung der Athener in Reiter, Hopliten und Leichtbewaffnete. – Sinclair 1988, 13 (mit zahlreichen Quellen und Literatur in A. 50) vermutet 2 ha Land als den Durchschnitt für die Theten, die überhaupt Ackerboden besaßen. Isai. 7,39: Καὶ μὴν καὶ αὐτὸς Ἀπολλόδωρος οὐχ ὥσπερ Προνάπης ἀπεγράψατο μὲν τίμημα μικρόν, ὡς ἱππάδα δὲ τελῶν ἄρχειν ἠξίου τὰς ἀρχάς, οὐδὲ βίᾳ μὲν ἐζήτει τὰ ἀλλότρι’ ἔχειν, ὑμᾶς δ’ ᾤετο δεῖν μηδὲν ὠφελεῖν.

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die Zuweisung der Zensusklasse festhielten, diente dies vermutlich dazu, die Fiktion einer bäuerlichen Wirtschaftsweise aller Athener aufrechtzuerhalten. Auf die in der Forschung vielfach und heftig diskutierten Fragen, ob dieses Getreidehohlmaß in Drachmen umgerechnet wurde – wofür jeder Anhaltspunkt fehlt – und ob die Zensusgrenzen erst nachträglich auf die womöglich ursprünglich allein militärische Einteilung des athenischen Heeresaufgebotes in Reiter, Hopliten und Leichtbewaffnete übertragen wurde, kann hier nicht eingegangen werden.38 Als „arm“ galten alle diejenigen Mitbürger, die nicht vom Ertrag ihres Ackers leben konnten, sondern als Kleinhändler, Tagelöhner oder Handwerker von Zahlungen anderer abhängig waren.39 Dies wurde als Mangel an wirtschaftlicher Freiheit verstanden und bestimmte die politische Beurteilung der „armen“ Athener: Einem Armen traute man alle nur möglichen Rechtsbrüche zu, denn dazu werde er von der blanken Not getrieben – eine Unterstellung, die sowohl von Oligarchen wie Demokraten immer wieder zu hören ist.40 Laut Demosthenes war die Armut Grund für die meisten Meineide; arme Richter oder mittellose Teilnehmer der Volksversammlung galten dem Redner Aischines von vorneherein als bestechlich.41 Der Oligarch Theramenes argwöhnte, daß ein Armer die Stadt für eine Drachme verkaufen würde.42 Für Aristoteles war die Armut schließlich Ursache für Bürgerkrieg und Verbrechen.43 Wenn jedoch die Athener so wenig Vertrauen in die politische Zuverlässigkeit ihrer mittellosen Mitbürger setzten, warum vernachlässigten sie dann spätestens seit Mitte des 4. Jahrhunderts die Überprüfung der jeweiligen Zensusklasse der Amtsbewerber? Eine mögliche Erklärung dafür liegt meines Erachtens in der Aristokratisierung der einfachen Bürger durch ihre fortschreitende Partizipation an den politischen Institutionen. Christian Meier erklärt dies folgendermaßen: „Indem der Demos die öffentliche Sphäre zur seinen machte, übernahm er gewisse Ideale des Adels. Bürger sein war folglich eine stolze Sache im Gegensatz zum gering geschätzten Banausentum, mit dem man sich zu Hause abfinden mußte.“44

Stark befördert wurde die Aristokratisierung des einfachen Volkes gerade durch die Redner; sie priesen ihre Zuhörer allesamt als tugendhaft, hochgebildet und als großzügige Förderer der Polis durch die Zahlung von Steuern – obgleich dies sicherlich nur auf einen Bruchteil der Zuhörer zutraf.45 Allein die Tatsache, daß die 38 39

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Eine Übersicht bieten de Ste. Croix, 2004, passim, 72 mit neuerer Literatur im aktualisierten Nachwort; Raaflaub 2006, 404–423, und Guía/Gallego 2010, 265–271. Der Arme (πενής) mußte sich von seiner Hände Arbeit ernähren, erwirtschaftete keine Überschüsse (vgl. Aristoph. Plout. 552–554), war aber strikt vom Bettler (πτωχός) zu trennen. Unter die πενήτες werden die meisten Kleinbauern Athens in einer dichotomen Scheidung zwischen Armen und Reichen gefallen sein; vgl. den Boer 1979, 151. Eur. El. 375f.; Philemon fr. 144 PCG Kassel–Austin; Timokles fr. 30 PCG Kassel–Austin. Demosth. 29,22; Aischin. Ctes. 88. Xen. Hell. 2,3,48. Mit zahlreichen weiteren Beispielen Rosivach 1991, 189–192. Aristot. pol. 1265b12: ἡ δὲ πενία στάσιν ἐμποεῖ καὶ κακουργίαν. Vgl. den Boer 1979, 152. Meier 1980, 256. Z.B. Lys. 28,3f.; 7; Demosth. 1,20; 7,35; 24,111; 28,20; 45,86; vgl. Ober 1989, 224f.; 241; 306f., der jedoch dahinter einen reinen Schachzug der Redner vermutet, sich beim Publikum bzw. den Richtern einzuschmeicheln.

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einzelnen Bürger für halbe oder gleich ganze Tage an der Volksversammlung oder am Volksgericht teilnehmen konnten, schien ihren Anspruch zu untermauern, nicht auf den tagtäglichen Broterwerb angewiesen zu sein, sondern sich den Verdienstausfall leisten zu können. Erst vor diesem Hintergrund wird es verständlich, daß Komödiendichter wie Gerichtsredner es wagen konnten, Demagogen bzw. Prozeßgegner als arme, geldgierige Kleinkrämer, Tagelöhner oder Handwerker zu verunglimpfen46 – obgleich doch im Publikum bzw. unter den Richtern nicht wenige Theten saßen, die ebendiesen Gewerben nachgingen.47 Daß auch Mitte des 4. Jahrhunderts noch das Vorurteil in der athenischen Bürgerschaft virulent war, solchen abhängig Beschäftigten wie Händlern und Handwerkern dürfe nicht die Sorge um das Wohl des Gemeinwesens anvertraut werden48, belegen Demosthenes und Aischines. Jener zitiert ein Gesetz, das es verbot, einen Bürger als Händler auf dem Markt zu verunglimpfen. Aischines hingegen betont, daß der athenischer Gesetzgeber weder diejenigen Bürger, die keine Strategen unter ihren Vorfahren auszuweisen hatten, noch diejenigen, die mit einem Handwerk ihren Lebensunterhalt verdienten, von der Meinungsäußerung in der Volksversammlung ausgeschlossen habe.49 Gegen die These vom Ausschluß der Theten von den Ämtern mag man gerade die Zahlung von Diäten für die Teilnehmer der athenischen Volksversammlung einwenden. In der Tat entsprachen die in den 320er Jahren schließlich gezahlten sechs bzw. neun Obolen, welche die Athener für den Besuch einer außerordentlichen bzw. einer Hauptversammlung erhielten, dem Tageslohn eines ungelernten Arbeiters von oder 60% des Tageslohnes eines gelernten Handwerkes von zweieinhalb Drachmen. Demgegenüber nehmen sich die drei Obolen Richtersold und die täglich fünf Obolen für die Ratsherren (wenn diese für einen Monat Prytanen waren, erhielten sie immerhin sechs Obolen) doch angesichts des im Falle der Ratsherrn doch deutlich höheren Zeiteinsatzes schon auffällig niedrig aus.50 Schließlich dürften die vier Obolen für die Archonten und die eine Drachme für den Archonten von Salamis höchstens die Kosten abgedeckt haben, die 46

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Beispiele bei Ehrenberg 1968, 123f., 128f., 136, 418; W.R. Connor, The New Politicians of the Fifth-Century Athens, Princeton 1971, 171–174. – Andok. 1,146; Demosth. 22,70; 25,38; 57,30–36; Aischin. leg. 93; vgl. ausführlich Dover 1974, 32–35; 40f.; Ober 1989, 272–278. Hingegen sieht Balme 1984, 150f. die meisten Athener von einem schon puritanisch zu nennenden Arbeitsethos geprägt. Vgl. den Boer 1979, 157f. Eur. Hik. 420–422 läßt den thebanischen Herold diese Position gegenüber Theseus aussprechen: γαπόνος δ’ ἀνὴρ πένης,/ εἰ καὶ γένοιτο μὴ ἀμαθής, ἔργων ὕπο / οὐκ ἂν δύναιτο πρὸς τὰ κοίν’ ἀποβλέπειν. Offenbar darauf läßt Thuk. 2,40,2: ἔνι τε τοῖς αὐτοῖς οἰκείων ἅμα καὶ πολιτικῶν ἐπιμέλεια, καὶ ἑτέροις πρὸς ἔργα τετραμμένοις τὰ πολιτικὰ μὴ ἐνδεῶς γνῶναι, Perikles in seinem Epitaphios antworten, daß trotz der eigenen Geschäfte jeder Bürger Athens doch an der Politik beteiligt sei. Doch Loraux 1993, 232f., 479f. (mit weiterer Literatur) zeigt die Ambivalenz dieser Äußerung auf, die den mit täglichen Geschäften Befaßten lediglich die Entscheidung in der Volksversammlung (γνῶναι) zugesteht, nicht jedoch die Vorberatung. Demosth. 57,30 und Aischin. Ctes. 27. Dazu Ober 1989, 276. Rhodes 1972b, 2f. und van Wees 2006, 367f. vermuten sogar den Ausschluß der Theten vom Rat der 500 zumindest für das 5. Jh.; ebenso Lotze 2000, 120, 128. Dies bestreiten hingegen Hansen 1995, 258 und Raaflaub 2006, 418f.

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den hohen Beamten durch ihre Amtsausführung entstanden sind, zumal der Archon noch einen Herold und einen Flötenspieler davon zu bezahlen hatte. 51 Selbst wenn also sämtliche oder doch ein Großteil der athenischen Beamten eine Besoldung auch im 4. Jahrhundert erhielten – wofür uns freilich eindeutige Belege fehlen52 –, hat dieser Sold niemals ihren Verdienstausfall während der Zeit ihrer Amtstätigkeit ausgleichen und damit die hohen Ämter für Handwerker und Tagelöhner attraktiv machen können.53 Und selbst diejenigen Beamten, die sich ja ausschließlich aus den obersten drei Zensusklassen rekrutierten, wurden am häufigsten wegen Bestechlichkeit oder Unterschlagung öffentlicher Gelder angeklagt. In Verbindung mit diesem grundsätzlichen Mißtrauen der Athener gegen ihre Beamten ließ das Zerrbild des käuflichen Armen eine gewaltige Zunahme der Korruption befürchten, wenn man die Ämter auch noch den Theten zugänglich machte. Wer sich also um ein Amt bewarb – so die konsequente Fortführung dieses Postulats –, hatte eo ipso schon seine zumindest zeitweilige Abkömmlichkeit aus dem Arbeitsprozeß und damit sein ausreichendes Einkommen nachgewiesen, so daß sich die Überprüfung seiner Zensusklasse erübrigte. Zudem dürften die im 4. Jahrhundert wachsenden Schwierigkeiten, überhaupt genug Kandidaten für die jährlich etwa 700 Ämter zu finden, nicht gerade Strenge bei der Überprüfung der dafür nötigen Qualifikationen empfohlen haben. Wenn es in den vorhergehenden Abschnitten gelungen sein sollte, wahrscheinlich zu machen, daß in Athen bis zum Ende der klassischen Demokratie im 322 v. Chr. die untersten Zensusklasse der Theten von jeglichen Ämtern formal ausgeschlossen waren, so stellt dies nicht nur das vorherrschende Bild einer vollständigen Gleichberechtigung aller athenischen Bürger in Frage, sondern drängt zudem die Frage auf, in welchen anderen griechischen Poleis wir eine gleiche Struktur in der Abstufung der Bürgerrechte finden. III. Im dritten Abschnitt suchen wir nach anderen Polisverfassungen, die wie die athenische zwar alle Bürger zur Abstimmung in der Volksversammlung zuließen, jedoch einen erheblichen Teil durch Zensusschranken von den Ämtern fernhielten. Es sei vorausgeschickt, daß ein Beitrag zu einem Sammelband nicht der angemessene Ort ist, um die weit grundsätzlichere Frage nach der Einstufung solcher Verfassungen als Oligarchie zu klären. Denn dazu müßten für die einzelnen Städte die jeweilige Struktur, Dauer und Zusammensetzung der Ämter analysiert 51

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Die verschiedenen Tagessummen angeführt von Aristot. Ath. pol. 62,2 (vgl. die Kommentare ad loc. von Rhodes 1993, 691–693 und Chambers 1990, 414f.) – damaliger Lohn für ungelernte Arbeiter und gelernte Handwerker: IG II² 1672, Z. 26–34, 45f., 60–62 aus dem Jahr 329/8 v. Chr. So bestreitet Hansen 1979 und 1995, 249–251 die Besoldung der Beamten überhaupt; gegenteiliger Auffassung ist Gabrielsen 1981. Zum Forschungsstreit vgl. Bleicken 1995, 624f. Vgl. Podes 1995, 12–14.

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werden, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Solche Verfassungen sind explizit nur in Aristoteles’ Politiká54 bezeugt, und zwar für Larisa (allerdings wohl nur zwischen den Jahren 404 und 401)55, Abydos in einer uns nicht bestimmbaren Phase56 und schließlich Herakleia am Pontos, wo im Laufe des 5. Jahrhunderts nicht nur die Zahl der amtsfähigen Vollbürger auf 600 erhöht, sondern auch – vermutlich vor dem Umschwung zur demokratischen Verfassung um 424 v. Chr. – immer mehr nicht-regimentsfähige Bürger zumindest in die Rechtsprechung einbezogen wurden.57 Doch konstatiert Aristoteles bei den genannten Oligarchien eine nur geringe Überlebensdauer, da dort einzelne Amtsberechtigte die Masse durch Demagogie zu gewinnen gesucht hätten.58 Seine Abwertung dieses Verfassungstyps verwundert, lobt er doch an anderer Stelle der Politiká als beste Spielart der Demokratie gerade diejenige Ordnung, die zwar die Ämter abgestuft nach dem Zensus freigibt, aber dennoch alle Bürger in der Volksversammlung die Beamten wählen und von ihnen Rechenschaft fordern läßt.59

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Aristot. pol. 1305b22–24: κινοῦνται δ’ αἱ ὀλιγαρχίαι ἐξ αὑτῶν καὶ διὰ φιλονεικίαν δημαγωγούντων. ἡ δημαγωγία δὲ διττή, ἡ μὲν ἐν αὐτοῖς τοῖς ὀλίγοις. 1305b28–38: ἢ ὅταν τὸν ὄχλον δημαγωγῶσιν οἱ ἐν τῇ ὀλιγαρχίᾳ ὄντες, οἷον ἐν Λαρίσῃ οἱ πολιτοφύλακες διὰ τὸ αἱρεῖσθαι αὐτοὺς τὸν ὄχλον ἐδημαγώγουν, καὶ ἐν ὅσαις ὀλιγαρχίαις οὐχ οὗτοι αἱροῦνται τὰς ἀρχὰς ἐξ ὧν οἱ ἄρχοντές εἰσιν, ἀλλ’ αἱ μὲν ἀρχαὶ ἐκ τιμημάτων μεγάλων εἰσὶν ἢ ἑταιριῶν, αἱροῦνται δ’ οἱ ὁπλῖται ἢ ὁ δῆμος, ὅπερ ἐν Ἀβύδῳ συνέβαινεν, καὶ ὅπου τὰ δικαστήρια μὴ ἐκ τοῦ πολιτεύματός ἐστι – δημαγωγοῦντες γὰρ πρὸς τὰς κρίσεις μεταβάλλουσι τὴν πολιτείαν, ὅπερ καὶ ἐν Ἡρακλείᾳ ἐγένετο τῇ ἐν τῷ Πόντῳ – ἔτι δ’ ὅταν ἔνιοι εἰς ἐλάττους ἕλκωσι τὴν ὀλιγαρχίαν· οἱ γὰρ τὸ ἴσον ζητοῦντες ἀναγκάζονται βοηθὸν ἐπαγαγέσθαι τὸν δῆμον. Eine gemäßigt oligarchische Verfassung mit diesem Merkmal läßt sich für das Larisa dieser Jahre auch aus Ps.-Herod. Att. περὶ πολιτείας 30f. mit Meyer 1909, 252f., 260f.; Westlake 1935, 51–56 sowie Larsen 1960, 240 m. A. 47 erschließen; vgl. den Kommentar ad loc. von Gehrke in Schütrumpf/Gehrke 1996, 496f. Hingegen sieht Robinson 2011, 64 bei Aristoteles den Übergang zu einer demokratischen Verfassung beschrieben. Diese Oligarchie in Abydos wird von Weil 1960, 262 und Gehrke in Schütrumpf/Gehrke 1996, 497f. ad loc. in die Jahre nach dem Abfall von Athen 411 (Thuk. 8,61,1; 62,1) datiert, weil damals der spartanische Harmost Derkylidas eine Dekarchie dort eingerichtet habe (Xen. Hell. 3,1,9); dazu passe auch die herausragende Rolle der Hetairien (Plut. Lys. 13,5ff.). Mir scheint dies wenig wahrscheinlich, da die Dekarchien laut Bommelaer 1981, 209f. als Widerspruch sowohl zu Oligarchien als auch zu Demokratien und laut Welwei 2003, 269– 271 als illegitimes System aufgefaßt wurden. Aristot. pol. 1305b2–6: ὁτὲ μὲν γὰρ ἐξ αὐτῶν τῶν εὐπόρων, οὐ τῶν ὄντων δ’ ἐν ταῖς ἀρχαῖς, γίγνεται κατάλυσις, ὅταν ὀλίγοι σφόδρα ὦσιν οἱ ἐν ταῖς τιμαῖς, οἷον ἐν Μασσαλίᾳ καὶ ἐν Ἴστρῳ καὶ ἐν Ἡρακλείᾳ καὶ ἐν ἄλλαις πόλεσι συμβέβηκεν. 1305b11f.: ἐν Ἡρακλείᾳ (sc. die Zahl der Regimentsfähigen) δ’ ἐξ ἐλαττόνων εἰς ἑξακοσίους ἦλθεν. Vgl. den Kommentar ad locc. von Gehrke in Schütrumpf/Gehrke 1996, 493; Avram/Hind/Tsetskhladze 2004, 956b (Nr. 715) und Robinson 2011, 157–159. Daß Herakleia am Pontos schon bei seiner Gründung Mitte des 6. Jh. eine ,demokratische‘ Verfassung besaß (wie Aristot. pol. 1304b31–34; Ain. Takt. 11,10, Memnon FGrHist 434 F 4,1 nahelegen und mit Nachdruck Robinson 1997, 111– 113 und Saprykin 1996, 31, 52 u.ö. behaupten), erscheint Burstein 1976, 33f. wie auch mir zweifelhaft. Vgl. zur Problematik ausführlich de Luna 2010. Aristot. pol. 1318b27–31: διὸ δὴ καὶ συμφέρον ἐστὶ τῇ πρότερον ῥηθείσῃ δημοκρατίᾳ καὶ ὑπάρχειν εἴωθεν, αἱρεῖσθαι μὲν τὰς ἀρχὰς καὶ εὐθύνειν καὶ δικάζειν πάντας, ἄρχειν δὲ τὰς

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Offenbar bieten die primär durch systematische Kriterien bestimmten, dennoch je nach Kontext oft widersprüchlichen Beurteilungen des Staatsphilosophen keine verläßliche Quellenbasis zur Beantwortung unserer Frage, zumal sich Aristoteles weigert, überhaupt diese minderberechtigten Bürger als eigenständige Kategorie wahrzunehmen.60 Denn er hat seinen Bürgerbegriff ausschließlich aus der Demokratie gewonnen, entscheidend ist für ihn der Zugang zu den Ämtern.61 Auch wenn Aristoteles diese minderberechtigten Bürger oft als die ἐκ τῆς πολιτείας oder ἐκ τοῦ πολιτεύματος umschreibt62, so bleibt diese oft nicht kleine Gruppe doch außerhalb seiner Analyse. Doch auch die historiographischen und epigraphischen Zeugnisse der klassischen Zeit bieten oft nur versteckte Anhaltspunkte für Gemeinwesen. Die Suche gilt gleichermaßen Zulassungsbeschränkungen für Ämter in Ordnungen, welche die Forschung sonst als Demokratien klassifiziert hat, wie auch Hinweisen auf erklärtermaßen oligarchische Verfassungen, die einige Bürger zwar von den Ämtern ausschlossen, aber sie zur Volksversammlung zuließen. 1. Gerade eine solche Konstellation läßt sich für Korinth erschließen. Denn angesichts der hohen Phylenzahl von acht ist zu vermuten, daß auch die Kleinbauern und Gewerbetreibenden den 80köpfigen Rat oder die acht Probouloi wählen konnten, ohne selbst zum Kreis der Regimentsfähigen zu gehören.63 2. Mit einiger Deutlichkeit beschreibt Aristoteles die gesuchte Struktur noch für die Städte Kretas, ohne allerdings dafür einzelne Poleis als konkrete Beispiele zu nennen. In seiner ausführlichen Kritik der kretischen Verfassung bezeugt er die

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μεγίστας αἱρετοὺς καὶ ἀπὸ τιμημάτων, τὰς μείζους ἀπὸ μειζόνων, ἢ καὶ ἀπὸ τιμημάτων μὲν μηδεμίαν, ἀλλὰ τοὺς δυναμένους. Zudem 1268a16. Vgl. auch zum folgenden Mossé 1979; Levy 1980, 236–241; Gallo 2004, 223–225; Lanzillotta 2004, 389f. Aristot. pol. 1278a37–40: λέγεται μάλιστα πολίτης ὁ μετέχων τῶν τιμῶν ... ὥσπερ μέτοικος γάρ ἐστιν ὁ τῶν τιμῶν μὴ μετέχων. Aristot. pol. 1293a23f.; 1308a5–7; 1321a30f.; weitere Belege sowie andere Ausdrücke für die minderberechtigten Bürger vgl. bei Lévy 1980, 238. Zum πολίτευμα als im 4. Jh. aufkommendem Ausdruck für die Gesamtheit der regimentsfähigen Bürger (so in der Verfassung von Kyrene von 322, SEG IX 1,1 = XVIII 726 ) vgl. ausführlich Lévy 1993. Gallo 2004, 224f. verweist immerhin auf pol. 1277b38f., wo Aristoteles die Frage aufwirft, zu welcher Gruppe ein βάσαυνος gehöre, und sie ähnlich wie die Kinder der Bürger als “unvollkommene Bürger” (1278a5f.: πολῖται ..., ἀλλ’ ἀτελεῖς) bezeichnet. Zur oligarchischen Verfassung Nikolaos von Damaskos FGrHist 90 F 60. Die von Thuk. 5,30,5 erwähnte ξύλλογος meint wohl eine Volksversammlung, Demosth. 20,52f. spricht von πολλοί. Eine Zulassung der nicht-amtsfähigen Bürger erwägen Salmon 1984, 235f. m. A. 24 und Gehrke 1985, 82 m. A. 4. Dabei stützen sie sich auf die allgemeinen Erwägungen von Aristot. pol. 1298b26–34: ἐν δὲ ταῖς ὀλιγαρχίαις ἢ προσαιρεῖσθαί τινας ἐκ τοῦ πλήθους, ἢ κατασκευάσαντας ἀρχεῖον οἷον ἐν ἐνίαις πολιτείαις ἐστὶν οὓς καλοῦσι προβούλους καὶ νομοφύλακας, [καὶ] περὶ τούτων χρηματίζειν περὶ ὧν ἂν οὗτοι προβουλεύσωσιν (οὕτω γὰρ μεθέξει ὁ δῆμος τοῦ βουλεύεσθαι, καὶ λύειν οὐθὲν δυνήσεται τῶν περὶ τὴν πολιτείαν), ἔτι ἢ ταὐτὰ ψηφίζεσθαι τὸν δῆμον ἢ μηθὲν ἐναντίον τοῖς εἰσφερομένοις, ἢ τῆς συμβουλῆς μὲν μεταδιδόναι πᾶσι, βουλεύεσθαι δὲ τοὺς ἄρχοντας. Welwei 1998, 252–254 parallelisiert die politische Stellung dieser Korinther explizit mit derjenigen der athenischen Theten. Stickler 2010, 25–34 hält eine verfassungstheoretische Einordnung des klassischen Korinth für unmöglich. Robinson 2011, 21f. bestreitet die Existenz einer Volksversammlung für das 5. Jh.; ähnlich skeptisch Ruzé 1997, 305–310.

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Zulassung aller Bürger zur Volksversammlung – die dann allerdings nur die Beschlüsse der Ratsherren und Kosmen, der Oberbeamten, bestätigen dürfe. Für das Kosmenamt kämen nicht alle Bürger in Frage, sondern nur die aus bestimmten Geschlechtern und für den Rat nur die gewesenen Kosmen.64 In Gortyn sind inschriftlich einerseits verschiedene Klassen von Bürgern mit offenbar abgestuften Rechten und andererseits schon früh die Volksbeschlüsse bezeugt, die gerade das Mitwirken der Gesamtheit betonten.65 3. Auch für das arkadische Mantineia umschreibt Aristoteles eine Beschränkung der Amtsfähigkeit auf nur einen Teil aller Bürger. Die Volksversammlung wählte zudem nicht direkt die Beamten, sondern nur über Wahlmänner. Laut Aristoteles seien die Mantineier – und dies sei ein Kennzeichnen von Poleis, in denen Bauern die große Mehrheit der Bürger bildeten – damit zufrieden gewesen, diese Beamten zu kontrollieren und in der Volksversammlung die letzte Entscheidung zu haben.66 4. Für Elis macht der Vertrag zwischen dem Damos der Chaladrier und Deukalion wohl aus dem frühen 5. Jahrhundert die Existenz eines Aktivbürgerrechtes neben dem normalen Bürgerrecht wahrscheinlich, wenn Deukalion die Stellung „gleich einem πρόξενος und eines δαμιωργός“ zugesprochen wird, weil offenbar die Wählbarkeit zum Damiorgos, der damals wohl nur das lokale Oberamt dar64

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Aristot. pol. 1272a10–12: ἐκκλησίας δὲ μετέχουσι πάντες, κυρία δ’ οὐδενός ἐστιν ἀλλ’ ἢ συνεπιψηφίσαι τὰ δόξαντα τοῖς γέρουσι καὶ τοῖς κόσμοις. 1272a33–35: ἐνταῦθα δ’ οὐκ ἐξ ἁπάντων αἱροῦνται τοὺς κόσμους ἀλλ’ ἐκ τινῶν γενῶν, καὶ τοὺς γέροντας ἐκ τῶν κεκοσμηκότων. 1272a39f.: τὸ δ’ ἡσυχάζειν μὴ μετέχοντα τὸν δῆμον οὐδὲν σημεῖον τοῦ τετάχθαι καλῶς. Perlman 1992, 195f., bestreitet die Beschränkung der Wählbarkeit für Ämter auf wenige Geschlechter. Gunnar Seelentag hat mir jedoch eine Reihe von Argumenten brieflich mitgeteilt, die dafür sprechen, so die starke Betonung der guten Abkunft sowie eine auffällige Konzentration von Kosmen aus einem Startos. Vgl. dazu Chaniotis1992, 305–312 und das Kapitel „Kosmos“ bei Seelentag (im Druck). In Gortyn bezeichnen πολιάτας und πολιατεύειν (I.Cret. IV 51; 72 x 35f.; ix 31–33) die regimentsfähigen Bürger, daneben ἐλεύθερος (Ι.Cret. IV 72 i 1–7) den „potential citizen“ (vgl. M. Bile, Le dialecte crétois ancien, Paris 1988, 343) und δρομεύς (I.Cret. IV 72 v 40–42) den Neubürger mit eingeschränkten Bürgerrechten. Gortynische Beschlüsse werden schon im frühen 5. Jh. von der Formel eingeleitet: τάδ’ ἔϝαδε τοῖς Γορτυνίοις πσαπίδονσι (I.Cret. IV 78); zudem ist in Gortyn πλεθύς (I.Cret. 87, Mitte 5. Jh.) als Bezeichnung für Volksversammlung wahrscheinlich. Für Lyktos sind ähnliche Strukturen wahrscheinlich zu machen. Vgl. ausführlich Ruzé 1997, 111–121 und Perlman 2004, 1163b–1164b, 1176a–b. Aristot. pol. 1318b21–28: ἔτι δὲ τὸ κυρίους εἶναι τοῦ ἑλέσθαι καὶ εὐθύνειν ἀναπληροῖ τὴν ἔνδειαν, εἴ τι φιλοτιμίας ἔχουσιν, ἐπεὶ παρ’ ἐνίοις δήμοις, κἂν μὴ μετέχωσι τῆς αἱρέσεως τῶν ἀρχῶν ἀλλά τινες αἱρετοὶ κατὰ μέρος ἐκ πάντων, ὥσπερ ἐν Μαντινείᾳ, τοῦ δὲ βουλεύεσθαι κύριοι ὦσιν, ἱκανῶς ἔχει τοῖς πολλοῖς· καὶ δεῖ νομίζειν καὶ τοῦτ’ εἶναι σχῆμά τι δημοκρατίας, ὥσπερ ἐν Μαντινείᾳ ποτ’ ἦν. Thuk. 5,29,1 und Xen. Hell. 5,2,7; 6,5,4f. bezeichnen Mantineia um die Jahre 425 bzw. vor 385 als demokratisch regiert. Dennoch mag Aristoteles genau diese „demokratische“ Verfassung beschrieben haben (so Gehrke 1985, 102f. und in Schütrumpf/Gehrke 1996, 632 ad loc. und Nielsen 2004, 519b). Mit den Wahlmännern sind wohl die Täfelchen IG V 2,323 = DGE 663 zu verbinden; vgl. ausführlich zu Überlegungen zum Verfahren im Einzelnen Larsen 1950; Amit 1973, 141–147; Jones 1987, 150 A. 4. Meier 2005, 69 zweifelt, ob man eine solche Verfassung noch als Demokratie bezeichnen kann. Hingegen geht Robinson 2011, 35–38 davon aus, daß ungeachtet der Wahl durch Wahlmänner die Beamten aus allen Bürgern gewählt werden konnten.

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stellte, nicht automatisch mit dem Bürgerrecht verbunden war.67 Ein vielleicht etwas älterer Bündnisvertrag zwischen den Eleiern und Heraia unterscheidet bei der Strafandrohung klar zwischen dem einfachen Bürger (ϝέτας), den Beamten (τελεστά) und dem Volk als ganzes.68 Da wir auch zeitgleich mit diesen beiden Inschriften, d.h. schon um 500, eine starke Stellung der Volksversammlung (δᾶμος πληθύων) und einen Rat der Fünfhundert (βωλὰ πεντακατίων) vorfinden, die zudem weitgehende Kontrollrechte gegenüber den Beamten hatten, und zudem auch nach dem Synoikismos von Elis im Jahr 471 keine stichhaltigen Belege für einen Wechsel der Verfassungsform antreffen,69 könnte die Aufteilung in regimentsfähige Vollbürger einerseits und nur zur Versammlung zugelassenen Bürger noch bis zur Demokratisierung im Jahr 420 fortbestanden haben.70 5. In Delphi mag die für das 4. Jahrhundert belegte Trennung zwischen regimentsfähigen Vollbürgern und immerhin zur Volksversammlung zugelassenen Bürgern schon im 5. Jahrhundert bestanden haben.71 Den größten Aufschluß für unsere Suche nach Staatsordnungen, die mit der Athens vergleichbar waren, versprechen jedoch die Mitgliedsstädte des attischen Seebundes, auf deren jeweilige Verfassung ja ein direktes Einwirken der Athener zu erwarten ist. Bei einigen gerade der wichtigsten Bündnerstädte fällt auf, daß die Athener dort offenbar so lange oligarchische Regime duldeten, wie diese die athenische Hegemonie anerkannten. Doch besonders für solche Oligarchien läßt sich schon die Mitwirkung des δῆμος an der Politik aus Belegen des frühen 5. Jahrhunderts erschließen: In jedem Fall scheinen die Athener allemal bis in die 450er Jahre hinein mit den Oligarchen in Milet kooperiert zu haben; für PseudoXenophon bildet Milet das Musterbeispiel für die athenische Unterstützung für Oligarchen, die sich für die athenischen Demokraten nicht auszahlte, weil die Oligarchen das Volk – vermutlich in den 440er Jahren – schwer schädigten.72 67

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IvO 11 = SGDI 1153 = Koerner 1981, 202–206: Z. 2–4: Χαλάδριον ἦμεν αὐτὸν καὶ γόνον, ϝισοπρόξενον ϝισοδαμιωργόν. Ein spezifisches Aktivbürgerrecht erkennen hierin Gehrke 1985, 52; 365; Walter 1993, 123 und Welwei 1998, 264; gegenteiliger Ansicht ist Koerner 1981, 203. IvO 9 = SGDI 1149 = Meiggs–Lewis 17, Z. 7–10: αἰ δέ τιρ τὰ γ/ράφεα : ταῒ κα(δ)δαλέοιτο : αἴτε ϝέτας αἴτε τ/ελεστὰ : αἴτε δᾶμος : ἐν τεπιάροι κ’ ἐνέχ/οιτο τοἰνταυτ’ ἐγραμ(μ)ένοι. IvO 7 = SGDI 1156; vgl. auch Walter 1993, 120–125 und Roy 2002. So nachdrücklich Welwei 1998, 263–265. Laut Gehrke 1985, 53 wird sich „die anzunehmende Bauerndemokratie (…) von der (…) gemäßigten Oligarchie nicht gravierend unterschieden haben.“ Eine Demokratie seit etwa 500 postulieren hingegen Robinson 1997, 108– 111 und 2011, 28f. sowie Wallace 2013, 201. Für Delphi ist eine zweigeteilte dreißigköpfige βουλά belegt, die jeweils ein halbes Jahr die Geschäfte führte (CID 2,32,78–86; vgl. Salviat 1984); daneben 13 προαιρετοὶ ὑπὸ τᾶς πόλιος (CID 2,32,26–29). Das vermutliche Quorum von 400 Bürgern (CID 1,13,35–37) für Volksbeschlüsse in der Volksversammlung ἀγορά läßt auf eine Bürgerzahl von über 800 schließen, die vermutlich alle aktives, aber nicht passives Wahlrecht besaßen; so Vatin 1961; Roux 1979, 61–93; Salviat 1984; Gehrke 1985, 51f. m. A. 14. Hingegen als Demokratie mit Zulassung aller Bürger zu den Ämtern sehen Delphi Gauthier 1990, 86–89 und Oulhen 2004, 413b–414a. Ps.-Xen. Ath. pol. 3,11, vgl. Marr/Rhodes 2008, 163f. und Weber 2010, 158f. A. 185 ad loc.; zu den verschiedenen Deutungen der milesischen Geschichte von 479 bis 421 vgl. Delorme 1995; Gorman 2001, 216–236; Lapini 2003; Rubinstein 2004, 1084a–1085b; Talamo 2005.

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Auch bis zum Abfall der Insel Samos vom Seebund im Jahr 440 stützten die Athener dort die offenbar gemäßigten Oligarchen in ihrer Herrschaft.73 Ähnliches ist für Mytilene wahrscheinlich: denn dort unterstützte das Volk bei der Revolte gegen Athen 428 sogar die Oligarchen gegen die athenischen Belagerer, was kaum bei seiner völligen Entrechtung zu erwarten wäre.74 Im bis zum Aufstand von 412 oligarchisch regierten Chios war die Volksversammlung jedenfalls für Entscheidungen im Bereich der Außenpolitik und die Mobilmachung kompetent.75 In den genannten Bündnerstädten wurden erst nach ihrer gewaltsamen Wiedereingliederung in den Seebund durch die Athener sog. „Demokratien“ installiert, wie es bei Thukydides heißt.76 Was dies jedoch konkret für die einzelnen Verfassungen bedeutete, wissen wir nicht. Die inschriftlich erhaltenen athenischen Volksbeschlüsse aus den 440er und 430er Jahren zur Neuordnung der Verhältnisse in den wiedereingegliederten Poleis bezeugen keine unmittelbaren Eingriffe in die Struktur der dortigen Ämter. Solche konstatiert Brock erst für die Zeit des Peloponnesischen Krieges.77 Eine Ausnahme bildet jedoch der athenische Beschluß über Erythrai um das Jahr 453/2, der dort die Losung des Rates und ein Iterationsverbot für die Ratsmitgliedschaft innerhalb von vier Jahren vorschrieb.78 Doch dies mag durchaus symptomatisch für die anderen Städte sein, wenn sich die Inschrift über die Überwachung der Magistrate in die Zeit nach der Wiedereingliederung Erythrais in den Seebund um 453/2 datieren ließe: denn dann fände sich in der erythräischen Verfassung neben den genannten unbestreitbar demokratischen Elementen 73 74 75

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Eine samische ἐκκλησίη ist schon für das Jahr 522 unter dem Tyrannen Maiandrios belegt (Hdt. 3,142,3). Zur vermutlich oligarchischen Verfassung vor 440 vgl. Will 1969, 308–312; Legon 1972; Gehrke 1985, 140f.; Ostwald 1993; Rubinstein 2004, 1096. Thuk. 3,11; 27; 39; 50; vgl. Gillis 1971; Gehrke 1985, 369f.; Welwei 1998, 259; Brock 2009, 155. Kompetenzen des Volkes in Chios: Thuk. 8,9,3; 14,1f.; man vergleiche noch die schon in der Inschrift aus der ersten Hälfte des 6. Jh. (Meiggs–Lewis 8, C 2f.) belegte δημοσίη βόλη. Dennoch scheinen die Ämter nur von Oberschichtsangehörigen bekleidet worden zu sein (Thuk. 8,24,4; 8,38,3). Die Inschrift PEP Chios 76, B 1–5 (aus den Jahren 475–450): οἱ πεν]τεκα[ίδεκ]α ἐς βολὴ[ν ἐν]εικάντων [ἐν] πέντ’ ἡμέρη[ι]σιν bezeugt ein Kollegium der „Fünfzehn“, die andere Beamte mit Geldstrafen belegen durften; zudem ist dort B21–25 ein Richtergremium von „300 Unbestechlichen“ belegt: κἀγδικασάντων τριηκοσίων, μὴ ’λάσσονες ἀνηρίθευτοι ἐόντες. Das spricht deutlich für eine Zensusgrenze für die Ämterbekleidung. Zur vermutlich gemäßigt oligarchischen Verfassung von Chios im 5. Jh. vgl. O’Neill 1978/9; Welwei 1998, 263; Lewis/Rhodes 1997, 230; Rubinstein 2004, 1067; Brock 2009, 155f. Hingegen halten Robinson 1997, 90–101 und Wallace 2013, 200f. Chios für eine frühe Demokratie. – Laut Aristot. Ath. pol. 24,2: πεισθέντες δὲ ταῦτα καὶ λαβόντες τὴν ἀρχὴν τοῖς τε συμμάχοις δεσποτικωτέρως ἐχρῶντο, πλὴν Χίων καὶ Λεσβίων καὶ Σαμίων· τούτους δὲ φύλακας εἶχον τῆς ἀρχῆς, ἐῶντες τάς τε πολιτείας παρ’ αὐτοῖς καὶ ἄρχειν ὧν ἔτυχον ἄρχοντες ließen die Athener neben den Samiern und Lesbiern auch den Chiern ihre Verfassung, was eher für einen oligarchischen Einschlag spricht; so auch Rhodes 1993, 298f. ad loc. Thuk. 1,115,3; zudem Aristoph. Ach. 642; Isokr. 4,104–107. Brock 2009, 151f., 159. IG I³ 14 = Meiggs-Lewis 40, Z. 8f.; 12.

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auch ein oligarchisches, nämlich die Vorschrift, daß die insgesamt 27 Richter ein – zugegebenermaßen geringes – Mindestvermögen von 30 Stateren (= 120 attischen Drachmen) besitzen mußten.79 Insgesamt drängt sich bei der Lektüre der athenischen Beschlüsse der Eindruck auf, daß die jeweiligen Volksversammlungen in den betroffenen Bündnerstädten entscheidend an politischem Gewicht gewonnen hatten, weil ihnen die Entscheidung in den meisten Fragen zugefallen war. Hingegen finden sich keinerlei Anzeichen dafür, daß die Athener in diesen Städten die altüberkommenen Ämter selbst oder deren mutmaßliche Besetzung nach Zensusqualifikationen abgeschafft hätten. IV. Der kurze Überblick legt die Annahme nahe, daß im 5. Jahrhundert in zahlreichen Poleis zwar alle zivilrechtlich gleichgestellten Bürger zur Abstimmung in der Volksversammlung zugelassen waren, aber doch eine ärmere Schicht durch Zensusschranken von den Ämtern ausgeschlossen war. Die geschichtliche Entwicklung Gesamtgriechenlands seit archaischer Zeit läßt von vornherein einen solchen Typ als vorherrschend unter den nicht-monarchischen Verfassungen vermuten. Für die meisten der angeführten Städte ist wegen der zentralen militärischen Rolle der Schwerbewaffneten ein Hoplitenzensus als Scheidemarke zwischen regimentsfähigen Vollbürgern und den Minderbürgern zu erwarten. 80 Wenn jedoch dies, wie gesehen, auch im klassischen Athen nicht anders war, so drängt sich die Frage auf: Welchen Vorzug konnten die Athener dann überhaupt an ihrer δημοκράτια rühmen, als sie seit Beginn des Peloponnesischen Krieges die Verfassung verfeindeter Städte als ὀλιγαρχία, als Herrschaft weniger, geißelten? Die Wortbildung beider Schlagworte gibt weiteren Aufschluß zumindest für das Selbstverständnis der Athener, die sie geprägt haben:81 ὀλιγαρχία betonte wie auch μοναρχία die Zahl derjenigen, welche die politischen Entscheidungen 79

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IvErythrai 2, Kol. A, Z. 13–18: ... δικάζειν δὲ ἀπὸ τῶμ φυλέων ἄνδρας ἐννέα ἀπ’ ἑκάστης οἷσιν ἐστιν μὴ ἐλάϡονος ἄξια ἢ τριήκοντα στατήρων. Im selben Beschluß (Kol. B, Z. 25–32): ὅτεο δὲ πατὴ[ρ] ἢ παλαιότερον τιμὰς ἴσχεν ἢ κύαμον ἐδ[έ]ξατο ist die Losung der Ratsmitgliedschaft erwähnt. So bewerten die Inschrift auch Lewis 1997, 56f. und Brock 2009, 161. Hingegen datiert Rubinstein 2004, 1074b die Inschrift mit der geringen Zensusbestimmung für die Richter vor den athenischen Beschluß von 453/2. Vgl. Hanson 1996, 289: „Politically, by the early fifth century B.C., most Greek city-states reflected their agrarian geneses and so had often evolved a constitution that was democratic in that full participation in representative government was limited to those who farmed their own land.“ 307: „Adult Athenian males who enjoyed voting privilege and full access to political office were still a distinct minority of the adult resident population of Attica. Inclusion of the landless at Athens in the citizenry may have resulted in a society that was no more egalitarian in demographic terms than that which existed during more conservative agrarian regimes. Those rural city-states of Greece may have insisted on the tradition of a propertyqualification for their native-born, but they also lacked large numbers of disenfranchised aliens and slaves engaged in trade, commerce, and mining.“ Vgl. Meier 2005, 53, 66. Dies läßt Thuk. 4,86,4; 126,2 jeweils Brasidas verdeutlichen.

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durch die Bekleidung von Ämtern steuerten. Da jedoch der δῆμος als ganzes nicht diese Führungsfunktion, das ἄρχειν, übernehmen konnte, hob δημοκράτια die Obmacht (das κράτος) des Volkes über die gesamte Polis hervor: der δῆμος traf dem Ideal nach in allem die endgültige Entscheidung, in keiner Weise gelenkt von Beamten oder einem Rat. Diese allbeherrschende Stellung der Volksversammlung scheinen die Athener erst im Kontrast zu anderen Poleis als ihr proprium begriffen zu haben. Hingegen brandmarkten sie die „Führung“, die ἀρχή, eines Gemeinwesens durch einzelne Mitglieder als Grundübel in der Verfassung der gegnerischen Poleis. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das entscheidende Charakteristikum der Demokratie in Athen die umfassende Entscheidungsmacht der Volksversammlung war, welche die Athener auch in die Verfassungen ihrer Bündnerstädte exportierten. Während die Athener die Kompetenzen ihrer Beamten durch eine enge Begrenzung der Ressorts, Kürze der Amtszeiten, Einbindung in Kollegien und die permanente Rechenschaftspflicht massiv einschränkten, schlossen sie zugleich einen erheblichen Anteil der Bürger, die Theten, zumindest de iure von diesen Ämtern aus. Denn ein Mindesteinkommen, als dessen Quelle mit den sog. Solonischen Zensusklassen weiterhin die bäuerliche Wirtschaftsweise fingiert wurde, galt als Garantie für politische Unbestechlichkeit. Die im 4. Jahrhundert wachsende Nachlässigkeit bei der Kontrolle der Zensusklasse der Amtsbewerber mag wiederum dem steigenden Bedürfnis der Athener geschuldet gewesen sein, möglichst viele Bürger in die „Demokratie“ einzubinden, die ja immer größeren äußeren und inneren Bedrohungen ausgesetzt war. Mit der dennoch nie aufgehobenen Zensusschranke für das passive Wahlrecht offenbart das klassische Athen einen oft übersehenen oligarchischen Zug, den es mit den Staatsordnungen anderer Poleis des 5., aber auch des 4. Jahrhunderts teilte. Wenn nun selbst Athen als die Demokratie in Griechenland schlechthin die Besitzenden privilegierte und die Mittellosen diskriminierte, so scheint mir die Vermutung nicht zu weit gegriffen, daß die Mehrheit der klassischen Polisverfassungen zwischen regimentsfähigen Vollbürgern und nur zur Volksversammlung zugelassenen Minderbürgern unterschieden. Gewißheit darüber werden wir jedoch angesichts der äußerst spärlichen Quellen wohl nie gewinnen – es sei denn, ein Großteil der verlorenen 158 aristotelischen Verfassungsdarstellungen würde eines Tages wiederentdeckt. Und selbst dann würden sich die dort vermutlich zu findenden Kategorisierungen der Poleis als Demokratie oder Oligarchie als sehr schematisch erweisen. Ohnehin bedarf der heuristische Wert dieser beiden Rubriken einer gründlichen Revision, wurden sie doch erst im Athen der Mitte des 5. Jahrhunderts in der sich verschärfenden außenpolitischen Auseinandersetzung mit Sparta als Selbstprädikation einerseits und als ideologisiertes Feindbild andererseits geprägt.82 Wo in den einzelnen Poleis tatsächlich das soziale Zentrum der Macht lag, ist weniger an der Zugänglichkeit zu den Ämtern 82

Deshalb ist es auch verfehlt, wie es Robinson 1997 tut, Verfassungen, die schon vor den 460er Jahren unverkennbar eine Machtbeteiligung großer Teile der Bürgerschaft gewährten, als Demokratien avant la lettre zu bezeichnen; so urteilen auch die Rez. zu Robinson 1997 von Walter 2000 und Meier 2005, 68f.

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abzulesen als vielmehr am Ausmaß der Kompetenzen der Beamten und komplementär dazu an den Vollmachten der Volksversammlung.

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TEILHABE UND SYSTEMEFFEKTIVITÄT Überlegungen zur Legitimität von Entscheidungen im klassischen Athen Jan Timmer EINLEITUNG Teilhabe ist für das Verständnis des Politischen eine zentrale Kategorie. Das Ausmaß dieser Teilhabe, d.h. die Chancen und Grenzen politischer Partizipation, ist eine wichtige Variable bei der vergleichenden Analyse politischer Systeme.1 Die Breite der Teilhabe gilt vielen als Indikator für die Qualität des Verfahrens der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen.2 Gilt dies für die Analyse politischer Systeme im Allgemeinen, so gilt es im Speziellen für das politische System der attischen Demokratie, das im Folgenden im Mittelpunkt der Überlegungen stehen soll. Die politische Entwicklung Athens läßt sich bekanntlich für die Zeit seit dem Anfang des 6. Jahrhunderts v.Chr. als die Geschichte einer fortschreitenden Ausweitung von Partizipationschancen beschreiben. In diesen bekannten und gut erforschten Prozeß gehören unter Solon eine, wenn auch schwer zu greifende, Stärkung der Volksversammlung,3 die Einrichtung der Heliaia oder des Rates der 400,4 die Veränderung des Verfahrens der Bestellung der Archonten5 und die Popularklage6 ebenso wie unter Kleisthenes die Schaffung des Rates der 500 und die mit der Aufnahme von Neubürgern in die polis einhergehende Phylenreform,7 von der zumindest Aristoteles behauptet, jener habe sie durchgeführt, „damit mehr von ihnen an der Ausübung der politischen Macht Anteil nehmen könnten“,8 und schließlich die Verlagerung der Rechenschaftspflicht vom Areopag zum Rat der 1 2 3 4 5 6

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Naßmacher 1991, 144–146. Bertelsmann Stiftung 2004; Barber 1998; Schmidt 2000, 253; Warren 1992. Aristot. Ath. pol. 7,3f. Die Authentizität der Maßnahme ist, wie so vieles bei den solonischen Reformen, umstritten. Vgl. zuletzt: Scaforo 2006; Rhodes 2006. Aristot. Ath. pol. 8,1. Aristot. Ath. pol. 9,1: Τὰ μὲν οὖν [περὶ τὰ]ς ἀρχὰς τ[οῦ] τον εἶχε τὸν τρόπον. δοκεῖ δὲ τῆς Σόλωνος πολιτείας τρία ταῦτ’ εἶναι τὰ δημοτικώτατα· πρῶτον μὲν καὶ μέγιστον τὸ μὴ δανείζειν ἐπὶ τοῖς σώμασιν, ἔπειτα τὸ ἐξεῖναι τῷ βουλομένῳ τιμωρ[εῖ]ν ὑπὲρ τῶν ἀδικουμένων, τρίτον δὲ μάλιστά φασιν ἰσχυκέναι τὸ πλῆθος, ἡ εἰς τὸ δικαστή[ριον] ἔφε[σι]ς· κύριος γὰρ ὢν ὁ δῆμος τῆς ψήφου, κύριος γίγνεται τῆς πολιτείας. Aristot. pol. 1275b 34–37; Aristot. Ath. pol. 21. Aristot. Ath. pol. 21,2: πρῶτον μὲν συνένειμε πάντας εἰς δέκα φυλὰς ἀντὶ τῶν τεττάρων, ἀναμεῖξαι βουλόμενος, ὅπως μετάσχωσι πλείους τῆς πολιτείας.

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500, der Volksversammlung und den Gerichten im Rahmen der Reformen des Ephialtes.9 Dieses Ausmaß von Partizipationschancen wird in der Forschung zur attischen Demokratie als Eigenheit Athens gerade in Hinblick auf andere antike Gesellschaften hervorgehoben. Und auch, wenn man nach Gründen für das Forschungsinteresse an der attischen Demokratie sucht und nach Ursachen für die positive Bewertung, die die attische Demokratie doch häufig erfährt,10 fragt, wird man nicht zuletzt auf das als vorbildhaft empfundene Ausmaß von Teilhabechancen stoßen.11 Die attische Demokratie des 5. Jahrhunderts v.Chr mit ihrer direkten Beteiligung der Bürger am politischen Entscheidungshandeln und der hohen Bedeutung, die dieses Entscheidungshandeln für die Identität der Akteure besaß, erscheint einigen als positives Gegenbild zu unserer eigenen Parteiendemokratie, die doch wesentlich durch eine indirekte Einwirkung auf Entscheidungen, eine nicht selten ungeliebte politische Klasse, die die Vermittlung von Wählerwillen zu realer Entscheidung übernimmt, und einen häufig vergleichsweise geringen Intensitätsgrad politischen Handelns charakterisiert ist.12 Nun zeigt sich aber zwar eine stetige Ausweitung von Partizipationschancen, es stellt sich jedoch mit Blick auf die in der Einleitung des Sammelbandes formulierten Kategorien die Frage nach der Rolle von Partizipationschancen im Spannungsdreieck von Teilhabe, Legitimität der Entscheidung und deren Effizienz. Grundsätzlich benennen diese Faktoren wichtige Variablen politischer Systeme, und vor allem in demokratischen Gemeinwesen ist die Gleichzeitigkeit der drei Faktoren notwendig. Demokratie läßt sich ohne Partizipation nicht denken. Die Legitimität demokratischer Entscheidungen ist wesentlich vom Ausmaß von Partizipationschancen bestimmt, also den Chancen, tatsächlich an der Auswahl von Entscheidungsoptionen mitzuwirken. Zugleich ist die Legitimität politischer Systeme aber auch – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – daran gebunden, daß diejenigen, die beherrscht werden, von den getroffenen Entscheidungen profitieren. Die Gleichzeitigkeit der Faktoren ist dabei allerdings nicht ohne weiteres sicherzustellen: Gerade das Problem, möglichst vielen die Teilhabe am Entscheidungsprozeß zu ermöglichen und dabei gleichzeitig die Qualität der Entscheidung zu optimieren, bereitet sowohl auf theoretischer wie praktischer Ebene Proble9 Zu dem Prozeß vgl. grundsätzlich Martin 1974; Raaflaub 1998. 10 An dieser grundsätzlich positiven Bewertung ändern auch gelegentliche Einwände wie die Betonung der Fortexistenz sozialer Ungleichheit oder vor allem der mit der Demokratie eng verbundenen Exklusion von Sklaven, Frauen und Fremden nichts; vgl. etwa Osborne 2010, 27–38; Lape 2010. 11 Vgl. zur Bewertung der attischen Demokratie in der modernen Forschung zuletzt die Ausführungen von Herman 2011. 12 Vgl. das explizite Bekenntnis P. Cartledges zu den Gründen für seine Essay-Sammlung zur attischen Demokratie: „Zweitens wegen der Dringlichkeit unserer gegenwärtigen bedrohlichen Lage: eine den Anforderungen nicht gerecht werdende Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten in 2000, der politische Fehler des Krieges gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak in 2003, und nicht zuletzt die Mängel der demokratischen Praxis in unseren eigenen Ländern und der Europäischen Union. All dies bedeutet, daß die Demokratie, die wir verloren haben, ein stets wiederkehrender und gegenwärtiger Grund zur Trauer ist“; Cartledge 2008, 7.

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me.13 Es sei an dieser Stelle nur auf die Debatte zur Qualität der Demokratie innerhalb der EU verwiesen.14 Auch ist es durchaus nicht notwendig, daß die Beziehung der drei Faktoren zueinander in allen Formen politischer Ordnung gleichermaßen gegeben oder gleichermaßen reflektiert ist. Die Entwicklung Athens in der archaischen vordemokratischen Zeit vermag als Beispiel zu dienen: Zwar ist mit Blick auf die genannten Kategorien eine stetige Ausweitung von Partizipationschancen in dem genannten Zeitraum festzustellen, daraus folgt jedoch noch nicht zwangsläufig auch eine enge Verbindung mit dem Kriterium der Legitimität der getroffenen Entscheidungen. Verzichtet man darauf, bereits für die kleisthenischen Reformen anzunehmen, daß es sich um eine demokratische Revolution von unten gehandelt habe, wie dies etwa von Josiah Ober mit Verve vertreten wird,15 sondern versteht diese, wie auch die Auseinandersetzungen zu Beginn des 5. Jahrhunderts v.Chr., noch im wesentlichen als Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Angehörigen der Elite,16 dann ist die Ausweitung der Grenzen politischer Partizipation wie die Entstehung der Demokratie überhaupt über einen langen Zeitraum nur das Nebenprodukt, ein Kollateralschaden. Die Intention ist vielmehr darin zu vermuten, einmal abgesehen von der sicherlich zentralen Schaffung von persönlichen Vorteilen über die Erzeugung und Stabilisierung einer Anhängerschaft, wie dies besonders bei Kleisthenes deutlich wird,17 die Qualität der Entscheidung insofern zu steigern, als Konflikte innerhalb des Adels, deren Lösung den Gruppenmitgliedern offensichtlich nicht gelang, aus der Gruppe hinaus verlagert werden sollten, um damit den Systemerhalt zu gewährleisten.18 Die entscheidende Verbindung ist hier also diejenige von Partizipation und Systemeffektivität/Rationalität. Die Stärkung der Legitimität der Entscheidung war mit dem veränderten Umfang der Teilhabe von Seiten derer, die sie durchführten, wohl nicht primär beabsichtigt. Dies veränderte sich infolge des mit dem Prozeß der Demokratisierung einhergehenden Perspektivwechsels. In der

13 Dahl 1994; Scharpf 1999. 14 Vgl. aus der überaus umfangreichen Debatte etwa: Buchstein 2003; Majone 2005; Moravsik 2002; Ders. 2004. 15 Etwa: Ober 1998; Ders. 2007; vgl. auch Cartledge 2008, 25–29, der die Argumente für die einzelnen „Geburtsstunden“ der Demokratie – wenn auch kaum weniger polemisch als Ober – zusammenfaßt. 16 Raaflaub 1998; Martin 1974; Eder 1998. 17 Martin 1974, 12. 18 Ein strukturell vergleichbares Phänomen ist die Verlagerung der Entscheidung über die Ergänzung der Senatsaristokratie in der römischen Republik. Wie K.-J. Hölkeskamp unter Bezug auf die Überlegungen Simmels zum Verhältnis von Konkurrenz und Konsens wahrscheinlich gemacht hat, enthob die Auslagerung dieser Entscheidung auf das Volk die Elite davon, selbst die Reproduktion der Gruppe zu steuern, eine Frage, die desintegratives Potenzial besitzen mußte; vgl. Hölkeskamp 2004, 85–92. Der Unterschied ist vor allem darin zu sehen, daß aufgrund der Homogenität des römischen Adels und des ausgeprägten Verfahrenskonsenses die Stabilisierung politischer Ordnung in Rom gelang, wohingegen die griechische Elite aufgrund des Fehlens der benötigten Verhaltensdispositionen allein über Verfahrensänderungen nicht in der Lage war, ihre Stellung zu verteidigen.

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sich etablierenden Demokratie wurde die Teilhabe selbst Grundlage und Indikator für die Legitimität der Entscheidungen. GRUNDLAGEN VON LEGITIMITÄT An dieser Stelle sind einige kurze Überlegungen zum Problem der Sicherstellung von Legitimität einzuschieben: Die Zustimmung zu getroffenen Entscheidungen kann bekanntlich auf ganz unterschiedlichen Wurzeln ruhen, die durchaus nicht alle als Legitimität zu beschreiben sind.19 Es ist offensichtlich, daß dort, wo Entscheidungen getroffen werden, die ohnehin allen nutzen, die Frage nach der Legitimität des Zustandekommens eine untergeordnete Rolle spielt. Auch lassen sich andere Gründe konstruieren, aus denen das Steuerungsobjekt der getroffenen Entscheidung gehorcht: Klassisch sind hierbei etwa „Zwang“, „Apathie“ oder „Pragmatismus“.20 Nun sind alle drei Faktoren wenig geeignet, um darauf ein funktionierendes politisches System zu gründen. Notwendig ist, daß die Bürger auch solche Entscheidungen akzeptieren, mit denen sie nicht einverstanden sind und die ihren Interessen zuwiderlaufen – und hier kommt nun die Frage nach der Legitimität der Entscheidung ins Spiel.21 Im Folgenden soll versucht werden, die Entwicklung des Glaubens an bzw. der Begründung von Legitimität von Entscheidungen im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. sowie das Verhältnis von Partizipation und Systemeffektivität anhand von Kriterien zu untersuchen, die von Fritz Scharpf für die Beschreibung moderner Nationalstaaten entwickelt worden sind und die in letzter Zeit auch für die Analyse suprastaatlicher Gebilde Verwendung gefunden haben. Grundsätzlich differenziert Scharpf nicht nach den Gründen für den Glauben an die Legitimität von Entscheidungen, sondern nach dem „Ort“, an dem Legitimität geschaffen wird. Unterschieden werden bei ihm folglich input- und output-orientierte Legitimität.22 19 Damit wird auf eine normative Begründung des Legitimitätsbegriffes bewußt verzichtet. Nicht die Frage, ob eine Form politischer Herrschaft anerkennungswürdig ist, sondern allein, ob sie anerkannt wird, ist Maßstab für die Frage nach der Legitimität. Dabei ist zuzugestehen, daß sich empirisch nicht immer leicht feststellen läßt, ob das Fehlen von Widerstand Folge eines Legitimitätsglaubens ist oder auf anderen Faktoren ruht; vgl. Petersen 2009, 26. 20 Vgl. zu Gründen, Entscheidungen Folge zu leisten, und dem Verhältnis dieser Gründe zum Konzept der Legitimität auch Held 1987, 182. 21 „In der majoritären nationalstaatlichen Demokratie gründet die Legitimität der Mehrheitsherrschaft auf mehreren, sich wechselseitig ergänzenden und verstärkenden Voraussetzungen: Grundlegend ist die Vorstellung einer kollektiven Identität, deren Wohl allen Partialinteressen vorausgeht; ihr entspricht die erfahrbare Existenz einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit, in der Diskurse über die richtige Definition des Gemeinwohls möglich sind; deren Wirksamkeit wird schließlich gestützt durch die politische Abhängigkeit der Entscheidungsträger von ihren Wählern und damit auch von der Meinungsbildung in dieser Öffentlichkeit.“ Scharpf 2004, 458. 22 „Jedoch koexistieren in demokratischen Nationalstaaten input- und output-orientierte Legitimität Seite an Seite, und sie verstärken, ergänzen und ersetzen sich gegenseitig – was erklärt,

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Input-orientierte Argumente laufen dabei darauf hinaus, daß die authentische Zustimmung selbst bereits hinreichende Bedingung für die Verpflichtung zum Gehorsam darstellt, wobei die einzigen Probleme dann darin liegen festzustellen, ob die Zustimmung authentisch, und sicherzustellen, daß einem möglichst großen Anteil des Steuerungsobjekts die Möglichkeit zur Partizipation gegeben ist.23 Output-orientierte Argumente hingegen richten sich auf das Ergebnis des Entscheidungsfindungsprozesses.24 Die Entscheidung ist aus dieser Perspektive dann legitim, wenn sie dem Gemeinwohl nützt und dem Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit entspricht.25 Mit Blick auf die in der Einleitung getroffene Bezugnahme auf Partizipation, Systemeffektivität und Legitimität entsprechen im Wesentlichen input-orientierte Begründungen der Verbindung von Legitimität und Partizipation, output-orientierte Begründungen dementsprechend der Verbindung von Legitimität und Systemeffektivität. ENTSCHEIDUNG UND LEGITIMITÄT IM 5. JAHRHUNDERT V.CHR. Es geht sicherlich nicht zu weit, wenn man für die junge attische Demokratie feststellt, daß die Begründung der Legitimität von Entscheidungen im Mehrheitsverfahren sowohl in input- wie output-Perspektive wenig elaboriert war. Eine zentrale Bedeutung gewann die Frage, warum Entscheidungen der Demokratie legitim sind, im klassischen Griechenland ohnehin nie.26 Zunächst zu den Grundzügen einer input-Argumentation: Bereits bei Herodot findet sich – wenn auch stark verknappt – in der Rede des Otanes innerhalb der Verfassungsdebatte die Vorstellung, daß das Vorhandensein der Mehrheit alleine bereits die Entscheidung legitimiere.27 Ähnliche Argumentationen finden sich auch in der Tragödie, etwa in Euripides Andromache,28 und schließlich auch bei Thukydides im 6. Buch in der Rede des syrakusanischen Demokraten Athenago-

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warum die hier eingeführte theoretische Unterscheidung in der Praxis politischen Diskurses kaum eine Rolle spielt." Scharpf 1999, 21. Zu der Notwendigkeit das Modell Scharpfs durch einen an Luhmann angelehnten 3. Faktor, nämlich die Legitimation durch Verfahren, zu erweitern vgl.: Niesen 2008. Zum Konzept vgl. Luhmann 1969. Jetzt mit Überlegungen zur Anwendung der Kategorie auf das politische System der attischen Demokratie: Kloft 2010; Mann 2008. Scharpf 1999, 17–20. Scharpf 1970; zum Ansatz und seiner Entwicklung auch: Schmidt 2003; Dahl 1998; Ders. 1989. Majone 1989; Scharpf 1970, 21–28; Scharpf 2000, 255–257. Am deutlichsten formuliert von Finley 1962, 3–24, 9: „I do not believe that an articulated democratic theory ever existed in Athens. There were notions, maxims, generalities – which Jones has assembled – but they do not add up to a systematic theory.“ Vgl. dagegen mit einem ausgewogeneren Bild aber auch die grundlegende Studie von Raaflaub 1989. Hdt. 3,80,6; vgl. zur Bedeutung von Teilhabe an politischen Entscheidungen auch Thuk. 2,40,2. Eur. Andr. 699–702: σεμνοὶ δ’ ἐν ἀρχαῖς ἥμενοι κατὰ πτόλιν φρονοῦσι δήμου μεῖζον, ὄντες οὐδένες· οἱ δ’ εἰσὶν αὐτῶν μυρίωι σοφώτεροι, εἰ τόλμα προσγένοιτο βούλησίς θ’ ἅμα.

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ras.29 Es ist hierbei jedoch festzuhalten, daß an allen drei Stellen die Argumentation nur in Grundzügen zu erkennen ist. Grundsätzlich ruht das Argument auf der Vorstellung, daß die Interessen innerhalb der Polis weitgehend homogen sind.30 So läßt Herodot an der genannten Stelle Otanes lediglich feststellen: „Denn im Vielen steckt das Ganze.“31 Zum gleichen Ergebnis kommt man, betrachtet man Thuk. 6, 39 und damit eine der wichtigsten Belege für die Begründung der Legitimität demokratischer Entscheidungen im 5. Jahrhundert v.Chr.: Auch hier geht die Argumentation von der Einheit bzw. Homogenität von in der Bürgerschaft vorhandenen Interessen aus. Athenagoras, den Thukydides hier sprechen läßt, betont: „Ich aber sage einmal, unter Demos versteht man das Ganze, unter Oligarchie aber nur ein einzelnes Glied, und weiter, die Reichen sind die besten Schatzmeister, die Gescheitesten die besten Ratsherren, das ganze Volk aber ist am besten im Stande, über die ihm gemachten Vorschläge das entscheidende Wort zu sprechen; sie alle aber kommen, im einzelnen wie im ganzen in der Demokratie zu ihrem Recht.“32

Wenn aber in einer Entscheidung alle zu ihrem Recht kommen und dies auch noch „im Einzelnen (κατὰ μέρη)“, so steht eine Vorstellung dahinter, die von der Einheit von Gesamt- und Partikularinteresse ausgeht und damit divergierende rechtmäßige Interessen ausschließt.33 Das Problem besteht nun darin, daß die Vorstellung, die hier die Voraussetzung der partizipationszentrierten Begründung der Legitimität der Entscheidung im Falle Athens bildet, fraglich ist.

29 Thuk. 6,39,1f.; zur Rede Leppin 1999, 90–93; daneben jetzt auch: Raaflaub 2006, bes. 211f. 30 Zur Bedeutung der Vorstellung der Homogenität der Interessen Epstein 2011. 31 Hdt. 3,80,6: ἐν γὰρ τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα. Vgl. zur Rolle der Verfassungsdebatte Raaflaub 1989, 41–45, 44: „Consequently, the primary purpose of the debate must have precisely the discussion of the virtues and vices of democracy.“ 32 Thuk. 6,39,1: ἐγὼ δέ φημι πρῶτα μὲν δῆμον ξύμπαν ὠνομάσθαι, ὀλιγαρχίαν δὲ μέρος, ἔπειτα φύλακας μὲν ἀρίστους εἶναι χρημάτων τοὺς πλουσίους, βουλεῦσαι δ’ ἂν βέλτιστα τοὺς ξυνετούς, κρῖναι δ’ ἂν ἀκούσαντας ἄριστα τοὺς πολλούς, καὶ ταῦτα ὁμοίως καὶ κατὰ μέρη καὶ ξύμπαντα ἐν δημοκρατίᾳ ἰσομοιρεῖν. 33 Das hinter der Formulierung stehende Problem wird m.E. unterschätzt. Vgl. Hornblower 2008, 414f.: „This is hard to give much sense to, and may be just politician’s verbiage“ Ebenfalls die Identität von Partikularinteresse und Gemeinwohl betonend Thuk. 1,144,3; 1,75,5; 2,46,1; 2,60,2–5; 6,9,2. Eigeninteresse, das vom Gemeinwohl abweicht, ist hingegen grundsätzlich gefährlich, wie vor allem durch die Schilderung des Verhaltens der Bürger in den Zeiten der Pest deutlich gemacht wird: Thuk. 2,53; vgl. 2,59; 2,65,6–13; 8,63,4. Die fehlende Unterscheidung von wahrem Eigeninteresse und Gemeinwohl kommt auch im epitaphios logos des Perikles zum Ausdruck. Verbunden wird Kampf und Tod für die heimatliche Polis mit der Vorstellung, genau dieser Tod sei auch im Interesse des Einzelnen. κοινῇ γὰρ τὰ σώματα διδόντες ἰδίᾳ τὸν ἀγήρων ἔπαινον ἐλάμβανον καὶ τὸν τάφον ἐπισημότατον, οὐκ ἐν ᾧ κεῖνται μᾶλλον, ἀλλ’ ἐν ᾧ ἡ δόξα αὐτῶν παρὰ τῷ ἐντυχόντι αἰεὶ καὶ λόγου καὶ ἔργου καιρῷ ἰείμνηστος καταλείπεται. ἀνδρῶν γὰρ ἐπιφανῶν πᾶσα γῆ τάφος, καὶ οὐ στηλῶν μόνον ἐν τῇ οἰκείᾳ σημαίνει ἐπιγραφή, ἀλλὰ καὶ ἐν τῇ μὴ προσηκούσῃ ἄγραφος μνήμη παρ’ ἑκάστῳ τῆς γνώμης μᾶλλον ἢ τοῦ ἔργου ἐνδιαιτᾶται (Thuk. 2,43,2). In der stark von Traditionen bestimmten Gattung der epitaphioi logoi gehört das Argument auch im 4. Jahrhundert v. Chr. zum Repertoire attischer Redner; vgl. etwa Dem. 60,32.

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Betrachtet man Gesellschaften, die über einen kleinen Minimalstaat hinausgehen, der sich allein mit Funktionen der inneren wie äußeren Sicherheit beschäftigt und sich durch hohe Homogenität seiner Bürger auszeichnet, und die einen gewissen Grad der Größe und Ausdifferenzierung überschreiten – und um eine solche Gesellschaft handelt es sich zweifelsohne bei der attischen Gesellschaft des 5. Jahrhunderts v.Chr. – kann von der Identität von Einzel- und Kollektivinteresse nicht mehr grundsätzlich ausgegangen werden. Fehlt aber diese Grundvoraussetzung, so ist die Behauptung, Entscheidungen seien in einem demokratischen Mehrheitsverfahren bereits allein wegen des Ausmaßes der Teilhabe legitim, schwerlich aufrecht zu erhalten.34 Der output des politischen Systems war für die Akzeptanz des Systems wichtig, seine Produktion wurde aber selten mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des politischen Systems selbst diskutiert, was dazu passt, daß er auch nur indirekt durch dieses erzeugt wurde.35 Die Polis Athen war im fraglichen Zeitraum erfolgreich: ökonomisch, politisch und militärisch.36 Und mit diesem Erfolg ging output einher, der dem System zugute gehalten wurde.37 Es gelang der Aufbau einer Seeherrschaft im östlichen Mittelmeerraum ebenso wie die Erlangung der Hegemonie in Mittelgriechenland.38 Geld floß von Außen in die Stadt und verstärkte dort die wirtschaftliche Prosperität der Polis. Der Erfolg zeigte sich im zunehmenden Wohlstand.39 Die militärischen Operationen boten den Theten die Möglichkeit, 34 Timmer 2009; anders Epstein 2011, 97–102, der über die plausible These von der Bedeutung der Darstellung von Homogenität der Interessen hinaus auch zu zeigen versucht, daß diese Interessenhomogenität der „Realität“ entsprochen habe. Eine solche Interessenhomogenität ist aber mit Blick auf die Gesellschaftsstruktur nicht wahrscheinlich und im Falle veränderter Interaktionsorientierungen für die Legitimität von Entscheidungen auch nicht notwendig. 35 Das heißt nun nicht, daß entsprechende Überlegungen in der Selbstbeschreibung überhaupt keine Rolle spielen. Die Verbindung der Qualität von Verfassungen mit dem Erfolg der Polis findet sich bei Thukydides einige Male; am wichtigsten sicherlich in seiner Bewertung der Verfassung der 5000 (Thuk. 8,97): ἐγίγνοντο δὲ καὶ ἄλλαι ὕστερον πυκναὶ ἐκκλησίαι, ἀφ’ ὧν καὶ νομοθέτας καὶ τἆλλα ἐψηφίσαντο ἐς τὴν πολιτείαν. καὶ οὐχ ἥκιστα δὴ τὸν πρῶτον χρόνον ἐπί γε ἐμοῦ Ἀθηναῖοι φαίνονται εὖ πολιτεύσαντες· μετρία γὰρ ἥ τε ἐς τοὺς ὀλίγους καὶ τοὺς πολλοὺς ξύγκρασις ἐγένετο καὶ ἐκ πονήρων τῶν πραγμάτων γενομένων τοῦτο πρῶτον ἀνήνεγκε τὴν όλιν. 36 Vgl. grundsätzlich: Davies 1992; Sallares 1991; Welwei 1999. 37 Die Leistungsfähigkeit des Systems wurde selbst von den Kritikern nicht bestritten, wie etwa die einführenden Sätze der pseudo-xenophontischen Athenaion Politeia zeigen (Ps.-Xen. Ath. pol. 1,1); vgl. dazu Mann 2008, bes. 8–18. 38 Rhodes ²1993; Schmitz 1988, 8–78, zu den ökonomischen Folgen der phoroi bes. 73–78; Schuller 1978. 39 Vgl. – wenn in der Form der Darstellung auch übertrieben – Plut. Perikles 12,3–5: ἐδίδασκεν οὖν ὁ Περικλῆς τὸν δῆμον, ὅτι χρημάτων μὲν οὐκ ὀφείλουσι τοῖς συμμάχοις λόγον, προπολεμοῦντες αὐτῶν καὶ τοὺς βαρβάρους ἀνείργοντες, οὐχ ἵππον, οὐ ναῦν, οὐχ ὁπλίτην, ἀλλὰ χρήματα μόνον ελούντων, ἃ τῶν διδόντων οὐκ ἔστιν, ἀλλὰ τῶν λαμβανόντων, ἂν παρέχωσιν ἀνθ’ οὗ λαμβάνουσι, δεῖ δὲ τῆς πόλεως κατεσκευασμένης ἱκανῶς τοῖς ἀναγκαίοις πρὸς τὸν πόλεμον, εἰς ταῦτα τὴν εὐπορίαν ρέπειν αὐτῆς, ἀφ’ ὧν δόξα μὲν γενομένων ἀίδιος, εὐπορία δὲ γινομένων ἑτοίμη παρέσται, παντοδαπῆς ἐργασίας φανείσης καὶ ποικίλων χρειῶν, αἳ πᾶσαν μὲν τέχνην ἐγείρουσαι, πᾶσαν δὲ χεῖρα κινοῦσαι, χεδὸν ὅλην ποιοῦσιν ἔμμισθον τὴν πόλιν, ἐξ αὑτῆς ἅμα κοσμουμένην καὶ τρεφομένην.

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sich als Ruderer zu verdingen.40 Die Position innerhalb des Seebundes gab ihnen die Chance, innerhalb der Volksversammlung Entscheidungen zu treffen, die Relevanz weit über Athen hinaus hatten, und sich zumindest ein wenig als Herr der Welt zu fühlen. Diäten ermöglichten die politische Betätigung breiter Bevölkerungskreise. Der Erfolg und die Leistungsfähigkeit des Systems waren damit für den einzelnen athener Bürger wahrnehmbar. Zudem wurde er auch für alle sichtbar in Szene gesetzt. Bei den großen Dionysien im Elaphebolion sandten die Bündner ihre Beiträge für den Seebund nach Athen, die dort auf der Bühne des Dionysostheaters drapiert und dem Volk so als Leistung des Systems vor Augen geführt wurden.41 Ebenso dienten auch Monumentalbauten wie die Poseidontempel von Sounion, Acharnai und Rhamnous, das Theseion und Bouleuterion oder die Schiffshäuser im Piräus und – im Zentrum der Stadt – die Bautätigkeit auf der Akropolis nicht zuletzt der Sichtbarmachung des Erfolgs der Polis.42 Außenpolitischer Erfolg, der dazu führte, daß alle ein Mehr an gesellschaftlich knappen Gütern zu verzeichnen hatten, ersetzte also ein Verfahren, daß auf Problemlösen und Verteilungsgerechtigkeit hin ausgerichtet war – es sei denn, man möchte Krieg führen und Bündner unterdrücken als Formen der „Problemlösung“ verstehen.43 In Hinblick auf die Akzeptanz des Systems bedeutete diese fraglose Zurechnung außenpolitischer Erfolge zur politischen Ordnung unter weitgehender Ausblendung der Frage, wie es zu einem „Mehr“ an zu verteilenden Ressourcen gekommen war, daß Akzeptanz an genau diesen außenpolitischen Erfolg gekoppelt wurde. Ging er zurück, dann schwand in output-Perspektive die Akzeptanz des Systems im selben Maße.44 Auch steht zu vermuten, daß durch das gewählte Verfahren erhebliche Defizite erzeugt wurden, die die Frage nach der 40 Meier 1990, 585: „Die Kriege waren weiterhin die wichtigsten Voraussetzungen des Reichtums der Stadt. Die Beiträge der Bündner, die Verbesserung der Lage der untersten Schichten, der starke Zuzug von Nicht-Bürgern in die Stadt (aufgrund der großen anfallenden Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten [Rudern, Flottenbau samt Herstellung des Zubehörs, vielfältiges Gewerbe, steigender Konsum, weitgehende Beanspruchung der Athener durch Krieg und Politik etc.]) – auch das folgte aus der Kriegführung. Es gab keine vergleichbare Quelle zu einer solchen Mehrung jedenfalls nicht zu einer Mehrung in so kurzer Zeit.“ 41 Isokr. or. 8,82; Aristoph. Ach. 502; Schol. Acharn. 378; 504. Auch abgesehen von dieser Präsentation der Tribute dienten die großen Dionysien der Darstellung der Leitungsfähigkeit des Systems; vgl. die Abrechnungen in IG II 741. 42 Boersma 1970; Meiggs ³1975. 43 Dabei ist es selbstverständlich nicht so, daß allein deshalb, weil es mehr zu verteilen gibt, der output des Systems also steigt, automatisch die getroffene Entscheidung für legitim gehalten wird. Auch in diesem Fall kann es zu Konflikten und mangelnder Akzeptanz in dem Fall kommen, daß die Akteure den Eindruck haben, daß es bei der Verteilung des Mehrwerts nicht fair zugeht (Schäfer 2006, 194). Zentral ist hierbei also die Bewertung des Verfahrens, durch das Güter verteilt werden. Dieses Problem ist der Ausgangspunkt für die Demokratiekritik, die sich seit der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. etwa beim Alten Oligarchen greifen läßt. Vgl. Hdt. 5,78; zum Problem auch Raaflaub 2006, 211. 44 So auch die Zusammenfassung von R. Osborne: „The strongest defense of democracy in the fifth century had been that it worked. The events of the end of the century revealed to Athenians that democracy did not necessarily worked.“ Osborne 2010, 286.

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Effektivität der Entscheidung betrafen und schließlich deren Legitimität infrage stellen konnten.45 LEGITIMITÄTSDEFIZITE VON MEHRHEITSENTSCHEIDUNGEN Zu den in der politischen Theorie diskutierten Defiziten uneingeschränkter Mehrheitssysteme gehören dabei im Einzelnen: Das Problem der Instabilität von Entscheidungen: Dieser Kritikpunkt gehört zu den schwerwiegendsten und am häufigsten erhobenen Vorwürfen gegen alle Formen von Mehrheitsentscheidungen, insbesondere gegen solche direkter Demokratie.46 Zuletzt hat J. Fishkin in verschiedenen Versuchen diesen alten Vorwurf aufgenommen und gezeigt, daß Versuchsgruppen nach Diskussion der Entscheidungsinhalte ihr Votum regelmäßig und auf nicht vorhersagbare Art und Weise änderten.47 Besonders zu verweisen ist dabei auf der Ebene der Theoriebildung als Extremfall auf das so genannte Condorcet-Arrows-Paradox,48 das die grundsätzlich fehlende Möglichkeit beschreibt, individuelle Nutzenfunktionen zu einer konsistenten sozialen Wohlfahrtsfunktion zu aggregieren. Bei mehr als zwei Wählern sind je zwei stets in der Lage, sich auf Ergebnisse zu einigen, die für sie gegenüber dem status quo attraktiv, für den dritten jedoch unattraktiv sind. Haben sie sich jedoch geeinigt und so in einer neuen Verhandlungsrunde einander nichts mehr anzubieten, ergibt sich für die bisher ausgeschlossene Partei die Möglichkeit, Verhandlungen zu Konditionen zu führen, die für einen der bisherigen Verhandlungspartner wiederum attraktiver als der status quo sind, oder um mit Fritz Scharpf zu formulieren: „Jeder Punkt, auf den sich zwei Akteure geeinigt haben, kann durch die mögliche Einigung zwischen jedem dieser Akteure und der ausgeschlossenen dritten Partei überboten werden. Folglich sind alle Ergebnisse in einem zweidimensionalen Problemraum zyklisch instabil – ein Ergebnis, das auf mehr als drei Akteure und mehr als zwei Dimensionen übertragen werden kann.“49 Die fehlende Effektivität des Verfahrens: Dieser Punkt ist schnell abzuhandeln. Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, daß Mehrheitsentscheidungen rational-egoistischer Akteure mögliche Wohlfahrtsgewinne ausschöpfen. Stattdessen steht zu vermuten, daß sich – wieder am Beispiel der drei Akteure – zwei auf ein Ergebnis einigen werden, das für sie vorteilhaft ist, auch wenn dieses vom Wohlfahrtsoptimum weit entfernt liegt.50 45 46 47 48

Zu den Nachteilen direkter Formen der Demokratie: Dahl 1989; Leib 2006/2007. Vgl. z.B. Fishkin 1995; Leib 2006/7, 910f. Fishkin 1995. Einführend: Gehrlein 2006; dabei ist zu betonen, daß es sich tatsächlich um ein im wesentlichen theoretisches Problem handelt, das sich empirisch nur schwer nachweisen läßt; vgl. Scharpf 2000, 265. 49 Scharpf 2000, 265. 50 Scharpf 2000, 267–269.

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Eine despotische Herrschaft der Mehrheit: Ist das Problem, das mögliche Wohlfahrtsgewinne nicht ausgeschöpft, sondern in der Regel Entscheidungen getroffen werden, die der Mehrheit nutzen und die Minderheit ausblenden, so lange erträglich, wie zumindest jeder zum Teil der Mehrheit werden kann bzw. auch regelmäßig Teil der Mehrheit wird und damit zumindest regelmäßig Gelegenheit erhält, eigene Interessen zu befriedigen, so verschärft sich das Problem, wenn sich Gruppen stabilisieren und dauerhafte Mehrheiten bilden. In diesem Fall wird aus der Mehrheitsregel eine Interaktion von zwei kollektiven Akteuren, von denen der eine diktatorische Vollmacht besitzt. Unter der Prämisse egoistischer Akteure steht in diesem Fall weiterhin zu vermuten, daß dieser Akteur Entscheidungen herbeiführen wird, die ihm nutzen, völlig unabhängig von den Folgen für den Anderen.51 Fehlende Verbindlichkeit der Entscheidung: Spätestens in diesem Moment, wenn Mehrheiten sogar Entscheidungen herstellen können, bei denen ihr eigener Gewinn niedriger ist als der Schaden, den die Minderheit erleidet, stellt sich die Frage, warum die jetzt auf Dauer gestellte Minderheit die über das Mehrheitsverfahren erzeugten Entscheidungen akzeptieren soll. Die Aufkündigung des Verfahrenskonsenses ist die wahrscheinliche Folge. Es ist bei „natürlichen“ Akteuren, also solchen, die rational ihr Eigeninteresse verfolgen, also kaum möglich, die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen durch ein demokratisches Mehrheitsverfahren zu begründen. 52 Weder ist es plausibel, daß eine Minderheit verpflichtet sein sollte, den Entscheidungen der Mehrheit zu folgen, allein, weil es sich um eine Mehrheit handelt, weil sich etwa im Willen der Mehrheit der Willen des Ganzen spiegelt, der also zugleich der – gegebenenfalls nicht erkannte – Wille der abweichenden Minderheit ist,53 noch ist es plausibel anzunehmen, daß dort, wo Akteure rational ihr Eigeninteresse verfolgen, die am Ende hergestellten Entscheidungen die Gesamtwohlfahrt erhöhen oder dem Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit genügen würden und damit aus output-Perspektive Legitimität beanspruchen können. LEGITIMITÄTSDEFIZITE IM 5. JAHRHUNDERT V.CHR. Diese auf demokratietheoretischen Überlegungen beruhenden zu vermutenden Defizite lassen sich im Befund leicht nachweisen:54 Lediglich auf einige exemplarische Quellen sei deshalb eingegangen:

51 Der Punkt gehört zu den grundlegenden Einwänden gegen die Anwendung der Mehrheitsregel: Bereits die klassischen Untersuchungen von Tocqueville oder Mill haben dieses Problem herausgearbeitet; Tocqueville 1951; Mill 2007. Vgl. mit der modernen Forschung: Petersen 2009, 5–28. 52 Sartori 2006, 143–148. 53 Timmer 2009, 29. 54 Vgl. zur Kritik an der Demokratie und dem Ausmaß von Partizipationschancen: Jones 1957; Sinclair 1988, 191–223; Raaflaub 1989.

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Als Beispiel für die Instabilität von Entscheidungsfindungsprozessen durch wechselnde Bildung von Mehrheiten sei etwa auf den letzten durchgeführten Ostrakismos, denjenigen des Hyperbolos, wahrscheinlich 416 oder 415 v.Chr., verwiesen.55 Hyperbolos selbst hatte den Anstoß zu dem Verfahren gegeben, wohl, auch wenn dies nicht gänzlich gesichert ist, um Alkibiades aus der Stadt zu entfernen und selbst dessen Rolle als Vertreter einer „aktiven“ Politik einnehmen zu können. Dabei kann mit Blick auf die Situation in Athen davon ausgegangen werden, daß Hyperbolos mit der Unterstützung von Anhängern des Nikias rechnete. Ohne die Unterstützung dieser Gruppe war die Initiierung eines Ostrakismos sinnlos, und so wird man wohl annehmen dürfen, daß sich Hyperbolos im Vorfeld der Abstimmung um das Zustandebringen einer entsprechenden Mehrheit bemüht hatte. Der Plan ging nicht auf, denn im weiteren Verlauf des Verfahrens einigten sich Nikias und Alkibiades;56 Hyperbolos selbst wurde Opfer des von ihm initiierten Ostrakismos. Bekannter und häufiger zitiert ist das Beispiel der Entscheidung der Volksversammlung über das Schicksal der Stadt Mytilene: Thukydides berichtet im 3. Buch:57 „Die Athener ließen nach dem Eintreffen der Mytilener und des Salaithos den letzteren sofort hinrichten, obwohl er ihnen verschiedene Anerbietungen machte, z.B. daß er die Lakedaimonier von der immer noch fortdauernden Belagerung Platäas abbringen werde. Über diese und andere Männer wurde Rat gehalten, und im Zorn beschloß man, nicht nur die nach Athen gebrachten, sondern sämtliche erwachsenen Mytilener zu töten und die Kinder und Frauen in die Sklaverei zu verkaufen. […]. Sie schickten also eine Triere an Paches, um ihm diesen Beschluß zu übermitteln, und befahlen, die Mytilener nur schnell aus der Welt zu schaffen. Aber am nächsten Tage kam ihnen auf einmal die Reue; sie fanden bei ruhiger Überlegung den Entschluß denn doch zu hart und grausam: eine ganze Stadt und nicht nur die Schuldigen hinzumorden.“58

55 Plut. Aristeides, 7,3f; Alkibiades 13; Nikias 11; vgl. grundsätzlich Rhodes 1994; Heftner 2000; Mann 2007, 230–243. Zum Problem der Datierung Rhodes 1994, bes. 86–91; Mann 2007, 234–236. 56 Auch dies ist in der Forschung allerdings umstritten. Die Quellen sind in der Frage nicht eindeutig. Bereits Plutarch zitiert als abweichenden Bericht Theophrast (Theophr. Frg. 139 (Wimmer)), der ein Bündnis mit Phaiax überliefert. Die Verwendung des Beispiels für die Instabilität von Entscheidungen ist aber von der Frage, wer kooperierte, unabhängig und hat für die Bewertung des Systems keine Auswirkungen. Auch die Neuinterpretation durch Christian Mann, der die Möglichkeiten von Politikern, Anhängerschaften zu mobilisieren deutlich kritischer und Möglichkeiten und Bedeutung des Volkes deutlich höher bewertet, als dies in der Forschung häufig getan wird, ändert an dem Umstand wechselnder Mehrheiten in unterschiedlichen Phasen des Verfahrens grundsätzlich nichts. 57 Zur Bedeutung der Mytilene-Debatte für den Prozeß der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen Raaflaub 2006, 200f.; vgl. zudem die Analyse der Episode bei Ober 1998, 94–104; Jones 1957, 67–72. 58 Thuk. 3,36: ἀφικομένων δὲ τῶν ἀνδρῶν καὶ τοῦ Σαλαίθου οἱ Ἀθηναῖοι τὸν μὲν Σάλαιθον εὐθὺς ἀπέκτειναν, ἔστιν παρεχόμενον τά τ’ ἄλλα καὶ ἀπὸ Πλαταιῶν (ἔτι γὰρ ἐπολιορκοῦντο) ἀπάξειν Πελοποννησίους· περὶ ὲ τῶν ἀνδρῶν γνώμας ἐποιοῦντο, καὶ ὑπὸ ὀργῆς ἔδοξεν αὐτοῖς οὐ τοὺς παρόντας μόνον ἀποκτεῖναι, ἀλλὰ καὶ τοὺς ἅπαντας Μυτιληναίους ὅσοι ἡβῶσι, παῖδας δὲ καὶ γυναῖκας ἀνδραποδίσαι [...] πέμπουσιν οὖν τριήρη ὡς Πάχητα ἄγγελον

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Der Ausgang der Geschichte ist bekannt: Eine zweite Volksversammlung wurde einberufen, die Argumente für und wider die Auslöschung von Mytilene wurden von Kleon und Diodotos ausgetauscht, letzterer konnte sich in der Abstimmung, wenn auch knapp, durchsetzen. Mytilene wurde in letzter Sekunde gerettet. Instabile Entscheidungen blieben aber in Athen ein grundsätzliches Problem, so grundsätzlich, daß der Vorwurf zum gängigen Argument griechischer Demokratiegegner wurde. Verwiesen sei daher nur auf die Ausführungen, die Xenophon in den memorabilia Hippias in den Mund legt: „Wie sollte man aber, Sokrates, die Gesetze oder den Gehorsam ihnen gegenüber für etwa bedeutsames halten, da doch selbst die, welche die Gesetze gegeben haben, diese häufig abschaffen und ändern.“59

Daneben tritt der Vorwurf der einseitigen Umverteilung immer wieder auf: Das Volk treffe Entscheidungen, die die Reichen belasteten und nur den Armen zu Gute kämen. Auch hier ist eine exemplarische Quelle für den häufig thematisierten Sachverhalt ausreichend. Der Alte Oligarch schreibt: „Bei den Choregien hingegen, Gymnasiarchien und Trierarchien wissen sie, daß die Reichen die Chöre bezahlen, das Volk dagegen für die Teilnahme an den Chören bezahlt wird, und die Reichen als Gymnasiarchen und Trierarchen fungieren, das Volk dagegen bei den Trierarchien und Gymnasiarchien mitwirkt. Das Volk hält es demnach für angemessen, Geld zu bekommen, wenn es singt, läuft tanzt und in Schiffen fährt, damit es für sich selbst hat und die Reichen ärmer werden; und in den Gerichtshöfen liegt ihnen weniger die Gerechtigkeit am Herzen als vielmehr ihr eigener Vorteil.“60

Diese Nachteile der Verfassungsordnung, die sich in unterschiedlichen Facetten immer wieder greifen lassen, können sich nun unter bestimmten Umständen verstärken, so daß sie die Legitimität der Entscheidung grundsätzlich in Frage stellen. Der Demos wird als Tyrann erfahren, wie dies Aristoteles in der Politik ausführt: „Wo dagegen nicht die Gesetze souveräne Geltung haben, da kommen Demagogen auf; denn der Demos wird Alleinherrscher, eine einzige Person, die aus vielen zusammengesetzt ist –

τῶν δεδογμένων, κατὰ τάχος κελεύοντες διαχρήσασθαι Μυτιληναίους. καὶ τῇ ὑστεραίᾳ μετάνοιά τις εὐθὺς ἦν αὐτοῖς καὶ ἀναλογισμὸς ὠμὸν τὸ βούλευμα καὶ μέγα ἐγνῶσθαι, πόλιν ὅλην διαφθεῖραι μᾶλλον ἢ οὐ τοὺς αἰτίους. Vgl. auch die Kritik bei Isokr. or. 8,52. 59 Xen. mem. 4,4,14: Νόμους δ’, ἔφη, ὦ Σώκρατες, πῶς ἄν τις ἡγήσαιτο σπουδαῖον πρᾶγμα εἶναι ἢ τὸ πείθεσθαι αὐτοῖς, οὕς γε πολλάκις αὐτοὶ οἱ θέμενοι ἀποδοκιμάσαντες μετατίθενται. 60 Ps. Xen. Ath. pol. 1,13: Τοὺς δὲ γυμναζομένους αὐτόθι καὶ τὴν μουσικὴν ἐπιτηδεύοντας καταλέλυκεν ὁ δῆμος, νομίζων τοῦτο οὐ καλὸν εἶναι, γνοὺς ὅτι οὐ δυνατὸς ταῦτά ἐστιν ἐπιτηδεύειν. ἐν ταῖς χορηγίαις αὖ καὶ γυμνασιαρχίαις καὶ τριηραρχίαις γιγνώσκουσιν ὅτι χορηγοῦσι μὲν οἱ πλούσιοι, χορηγεῖται δὲ ὁ δῆμος, καὶ γυμνασιαρχοῦσιν οἱ πλούσιοι καὶ τριηραρχοῦσιν, ὁ δὲ δῆμος τριηραρχεῖται καὶ γυμνασιαρχεῖται. ἀξιοῖ γοῦν ἀργύριον λαμβάνειν ὁ δῆμος καὶ ᾄδων καὶ τρέχων καὶ ὀρχούμενος καὶ πλέων ἐν ταῖς ναυσίν, ἵνα αὐτός τε ἔχῃ καὶ οἱ πλούσιοι πενέστεροι γίγνωνται. ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις οὐ τοῦ δικαίου αὐτοῖς μᾶλλον μέλει ἢ τοῦ αὑτοῖς συμφόρου. Vgl. innerhalb des Werkes auch die parallelen Ausführungen 1,3: Der Demos lädt den Reichen die Ausübung gefahrvoller Ämter auf; 1,17f.; 2,7– 12: Der Demos monopolisiert die Einkünfte aus dem Seebund 2,13–16 ; vgl. Mann 2008, 13f. Zu den Formen der Herrschaft über die Bündner vgl. auch die Ausführungen des Aristoteles pol. 1281a15–19; Plat. Gorg. 515e.

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die Menge bildet ja den Souverän nicht als Einzelpersonen, sondern als Kollektiv […]. Da der Demos, wie er gerade beschrieben wurde, Alleinherrscher ist, sucht er jedenfalls auch wie ein Alleinherrscher zu regieren; denn er wird nicht vom Gesetz regiert; und er nimmt einen despotischen Charakter an.“61

und wie es bereits im 5. Jahrhundert im Drama thematisiert wird, wenn etwa Aristophanes festhält: „Demos, wie gewaltig bist/ Und gefürchtet von jedermann,/ Herrschest als unumschränkter Regent und Gebieter!“62

Und auch die Folge dieses Despotismus für die Legitimität der Entscheidung sind schließlich Teil der Selbstbeschreibung der attischen Gesellschaft: „Gewalt jedoch und Gesetzlosigkeit, habe er gefragt, was ist das, Perikles? Nicht wahr, wenn der Stärkere den Schwächeren nicht überzeugt hat, sondern ihn vielmehr mit Gewalt zwingt, das zu tun, was ihm gut dünkt? […] Alles, so habe Perikles entgegnet, was jemand einen andere zu tun zwingt, ohne ihn überzeugt zu haben, mag er es nun schriftlich festlegen oder nicht, scheint mir mehr Gewalt als Gesetz zu sein. Und was wohl das gesamte Volk, wenn es den Begüterten beherrscht, vorschreibt, ohne überzeugt zu haben, sollte das dann mehr Gewalt oder Gesetz sein? Gar sehr, Alkibiades, habe Perikles geantwortet, waren auch wir damals in deinem Alter groß in solchen Spitzfindigkeiten; denn auch wir sannen nach und grübelten über das, worum auch du dich jetzt bemühst, wie mir scheint.“ 63

Diese Kritik blieb nicht Teil eines abgehobenen politischen Diskurses.64 Ganz unabhängig von den Detailproblemen, die mit dem Verfassungsumsturz von 411/10 v.Chr. einhergehen – also Fragen nach dem Ausmaß von Gewalt, von welcher Thukydides, im Gegensatz zu den anderen Quellen, berichtet, 65 der Frage nach der Rechtsstellung einer Volksversammlung, die auf dem Kolonos statt innerhalb der Stadt tagte,66 der Rolle, die man den Verhandlungen mit dem Perser-

61 Aristot. pol. 1292a 4–13 τοῦτο δὲ γίνεται ὅταν τὰ ψηφίσματα κύρια ᾖ ἀλλὰ μὴ ὁ νόμος· συμβαίνει δὲ τοῦτο διὰ τοὺς δημαγωγούς. ἐν μὲν γὰρ ταῖς κατὰ νόμον δημοκρατουμέναις οὐ γίνεται δημαγωγός, ἀλλ’ οἱ βέλτιστοι τῶν πολιτῶν εἰσιν ἐν προεδρίᾳ· ὅπου δ’ οἱ νόμοι μή εἰσι κύριοι, ἐνταῦθα γίνονται δημαγωγοί. μόναρχος γὰρ ὁ δῆμος γίνεται, σύνθετος εἷς ἐκ πολλῶν οἱ γὰρ πολλοὶ κύριοί εἰσιν οὐχ ὡς ἕκαστος ἀλλὰ πάντες. 62 Aristoph. equ. 1112–1115: Ὦ Δῆμε, καλήν γ’ ἔχεις ἀρχήν, ὅτε πάντες ἄνθρωποι δεδίασί σ’ ὥςπερ ἄνδρα τύραννον. 63 Xen. mem. 1,2,44–46: Βία δέ, φάναι, καὶ ἀνομία τί ἐστιν, ὦ Περίκλεις; ἆρ’ οὐχ ὅταν ὁ κρείττων τὸν ἥττω μὴ πείσας, ἀλλὰ βιασάμενος, ἀναγκάσῃ ποιεῖν ὅ τι ἂν αὐτῷ δοκῇ [...] Πάντα μοι δοκεῖ, φάναι τὸν Περικλέα, ὅσα τις μὴ πείσας ἀναγκάζει τινὰ ποιεῖν, εἴτε γράφων εἴτε μή, βία μᾶλλον ἢ νόμος εἶναι. Καὶ ὅσα ἄρα τὸ πᾶν πλῆθος κρατοῦν τῶν τὰ χρήματα ἐχόντων γράφει μὴ πεῖσαν, βία μᾶλλον ἢ νόμος ἂν εἴη; Μάλα τοι, φάναι τὸν Περικλέα, ὦ Ἀλκιβιάδη, καὶ ἡμεῖς τηλικοῦτοι ὄντως δεινοὶ τὰ τοιαῦτα ἦμεν· τοιαῦτα γὰρ καὶ ἐμελετῶμεν καὶ ἐσοφιζόμεθα οἷάπερ καὶ σὺ νῦν ἐμοὶ δοκεῖς μελετᾶν. τὸν δὲ Ἀλκιβιάδην φάναι· Εἴθε σοι, ὦ Περίκλεις, τότε συνεγενόμην ὅτε δεινότατος ἑαυτοῦ ἦσθα. 64 Vgl. die Ausführungen des Aristoteles zur Möglichkeit, daß Mehrheitsentscheidungen zur Aufkündigung des Verfahrenskonsenses durch die begüterte Minderheit führen können: Aristot. pol. 1304b19–1305a7. 65 Thuk. 8,54,4; 8,65,2–66,3; Lys. 20,16; Xen. hell. 2,3,45; Isokr. or. 8,108. 66 Thuk. 8,67,2.

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könig zumaß,67 und schließlich der Abwesenheit eines Teils der Bürgerschaft –, bleibt festzustellen, daß sich in der Abschaffung der Demokratie durch die Volksversammlung die fehlende Akzeptanz des Systems durch breite Teile der Bürgerschaft zeigt und die Form des Umsturzes selbst einen Hinweis darauf zu geben vermag, daß das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des politischen Systems erschüttert und die Vorstellung, Partizipation alleine erzeuge bereits Verpflichtung zum Gehorsam, nicht mehr haltbar war.68 HANDLUNGSDISPOSITIONEN UND LEGITIMITÄT Es hat sich bis hierhin gezeigt, daß mit der Demokratisierung Athens, dem Perspektivwechsel bei der Betrachtung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen im Zuge dieses Prozesses und schließlich der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen durch den Demos im Mehrheitsverfahren erhebliche Probleme bei der Begründung der Legitimität der Entscheidung einhergingen. Wenn nun die Entscheidungsregel selbst nicht zur Disposition stand,69 dann mußte es darum gehen, Handlungsdispositionen wie auch Verfahren so zu verändern, daß die Ergebnisse des Entscheidungsfindungsprozesses für die Betroffenen akzeptabel waren.70 Auch hier soll zunächst auf die Lösungen, die in der politischen Theorie diskutiert werden, eingegangen werden: Wenn sich bei Akteuren, die rational ihrem Eigeninteresse nachgehen, die Legitimität von im Mehrheitsverfahren hergestellten Entscheidungen nicht begründen läßt, dann bedarf es zusätzlicher Annahmen, bzw. zusätzlicher institutioneller Arrangements, um Argumenten der input- wie output-Perspektive Plausibilität zu verleihen. Um Legitimität aus der input-Perspektive zu begründen, ist es notwendig, auf der einen Seite die Interaktionsorientierungen der Bürger so auszurichten, daß sie bei ihren Entscheidungen nicht allein ihr eigenes, sondern zugleich das Interesse ihres jeweiligen Mitbürgers im Blick haben und bei ihren Entscheidungen mitberücksichtigen. Läßt sich dieses nämlich annehmen, so reduzieren sich zumindest die Probleme bei der Legitimation von Mehrheitsentscheidungen.71 Diese „Mitberücksichtigung“ des Interesses des jeweils anderen, mit anderen Worten die solidarische Interaktionsorientierung, ist aber wiederum nicht selbst67 Aristot. Ath. pol.29,1; Thuk. 8,47,2; 8,48,1f.; 8,53,1; 8,56. 68 Zum Umsturz vgl. Bleckmann 1998, 358–386; Hefter 2001; Raaflaub 2006, 213–216. Zum allgemeinen Mißtrauen in dieser Phase vgl. Thuk. 8,66,3f. 69 Demokratie und Mehrheitsregel sind – auch wenn die Ausgestaltung der Mehrheitsregel in unterschiedlichen Systemen recht unterschiedliche Formen annehmen kann – kaum von einander zu trennen. Anders J. Ober, der zumindest für die Frühzeit der attischen Demokratie das Vermögen des Demos, Gegenstände zu entscheiden und die Entscheidungsregel trennt (Ober 2007b); allerdings bleibt in seinen Ausführungen das Verfahren, durch welches das „Vermögen“ ermöglicht wird, unklar. 70 Timmer 2009, 37f.; 47–49. 71 Scharpf 1999, 18–20; Scharpf 2000, 273–276.

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verständlich, sondern an Bedingungen gebunden:72 Neben einer politischen Sozialisation, die auf die Erzeugung der benötigten Handlungsdispositionen hin ausgerichtet ist, ist Solidarität stets an die Beantwortung der Frage gebunden, warum bzw. mit wem ego solidarisch sein soll. Solidarität ist also immer an Grenzen gebunden, die festlegen, welche anderen Akteure bei der Bestimmung des Gemeinwohls Berücksichtigung finden sollen und, um F. Scharpf zu zitieren, „wessen Ressourcenposition relativ zu welcher Bezugsgruppe angeglichen werden soll.“73 Oberhalb der Primärgruppe, d.h. der Familie, in der solidarische Interaktionsorientierungen weitgehend vorausgesetzt werden können, ist diese Bestimmung der Grenzen an die Konstruktion kollektiver Identitäten gebunden, die in der Regel auf historischer, sprachlicher, kultureller oder ethnischer Gemeinsamkeit ruhen.74 Aber selbst in dem Fall, daß diese Bedingungen solidarischer Interaktionsorientierungen erfüllt sind, ist dies nicht hinreichend. Ein Grundproblem des Ansatzes, Legitimität von Mehrheitsentscheidungen allein durch Sicherstellung von solidarischen Interaktionsorientierungen zu erreichen, liegt darin, daß mit dem den Nutzen von alter berücksichtigenden Verhalten nicht sichergestellt ist, daß alter weiß, daß sein Nutzen Berücksichtigung findet, d.h. ein Grundproblem bleibt das Informationsdefizit der Akteure – oder, um nach Athen zurückzukehren: Wenn ein Athener Bürger die Volksversammlung besucht, dann mag es sein, daß der Antrag des Rhetors das Gemeinwohl im Blick hat, ebenso mag es sein, daß auch der Nebenmann eine Handlungsoption unterstützt, die seine eigenen Interessen nicht ideal abbildet, sondern die Interessen seines Mitbürgers mitberücksichtigt, aber wissen kann der Besucher es nicht. Diese Unsicherheit steigt mit zunehmender Zahl der Beteiligten wie mit steigender Komplexität der verhandelten Materie. Gebraucht wird also eine Entsprechung zur solidarischen Interaktionsorientierung, damit diese ihre Wirkung entfalten kann, und dabei handelt es sich um Vertrauen.75 Vertrauen ist in den letzten 20 Jahren zu einem Schlüsselbegriff in den Sozial-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften geworden, wenn auch nicht unbedingt innerhalb der Geschichtswissenschaft, wo es aber ebenfalls Versuche mit dem Konzept gegeben hat.76 Vertrauen als auf Vernunft und Routine ruhendem reflexivem Prozeß, durch welchen die unhintergehbare Verletzbarkeit des Akteurs suspendiert und positive Erwartungen in das Handeln des Anderen in einer be72 73 74 75

Scharpf 2000. Scharpf 2000, 271. Assmann 1997, 144; Offe 1998. Möllering 2005, 6; vgl. aus der mittlerweile umfangreichen Literatur zum Phänomen des Vertrauens grundsätzlich Luhmann 42000; Möllering 2006; Sztompka 1999; Gambetta 1988; Offe 2001. Zwar würde theoretisch auch das Vertrauen, also die Annahme, daß die Mitbürger das eigene Interesse im Blick haben, alleine genügen, d.h. ohne tatsächlich vorhandene solidarische Interaktionsorientierung, da jedoch Vertrauen grundsätzlich, wie bereits Luhmann gezeigt hat instabil ist, sich bewähren muß und bei Enttäuschung rasch schwindet, bleiben solidarische Interaktionsorientierung und Vertrauen stets notwendig aufeinander bezogen; Luhmann 2000,73. 76 Frevert 2003; Johnstone 2011; Leopold 1981; Schloemann 2002.

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stimmten Sache begründet wird,77 kommt bei der Bewältigung von Unsicherheit, unabhängig ob diese aus der Komplexität der Umwelt oder der Ungewißheit der Zukunft resultiert, eine entscheidende Bedeutung zu. Vertrauen spielt im Speziellen zudem in der neueren Demokratietheorie eine wichtige Rolle. Vor allem Piotr Sztompka hat bei seinen Untersuchungen zum Entstehen, zur Stabilisierung und zu den Problemen der neuen Demokratien im ehemaligen Ostblock auf die Relevanz von Vertrauen der Öffentlichkeit in Politiker, Institutionen und die Leistungsfähigkeit des politischen Systems insgesamt hingewiesen.78 Vertrauen in Mitbürger, Institutionen und das System hat zudem weitere für das Funktionieren der Demokratie vorteilhafte Folgen: Es erleichtert den benötigten freien Austausch von Argumenten und befördert die Problemlösung durch Aushandlungsprozesse an Stelle von ausgetragenen Konflikten.79 Zugleich aber ist Vertrauen auch in der Lage den output des politischen Systems zu erhöhen, und zwar durch Senkung der Transaktions- und Kontrollkosten – wenn dieser Zusammenhang auch in Mehrheitssystemen deutlich geringer ausgeprägt ist als dies für Verhandlungssysteme gilt –80 sowie, und dies scheint für demokratische Mehrheitssysteme wichtiger, durch die Möglichkeit, als Grundlage von kooperativem Verhalten potentielle Wohlfahrtsgewinne auszuschöpfen.81 Das benötigte Vertrauen besitzt dabei zunächst individuelle Grundlagen. Vertrauen beruht in diesem Falle auf Erfahrungen mit dem jeweils anderen – auf Vertrautheit. Die Erfahrung von konsistentem und kompetentem Handeln, eine lange gemeinsame Beziehung sind hier von Bedeutung. Wer Vertrauen nie enttäuscht hat, dem kann auch weiterhin vertraut werden.82 Diese Bedingung ist aber offensichtlich außerhalb der primären Einheiten von Kernfamilie und Verwandtschaft nicht ohne weiteres und vor allem nicht für das Funktionieren demokratischer Systeme in hinreichendem Maß gegeben. Aus der Erfahrung mit dem anderen Individuum allein kann nicht dasjenige Vertrauen erwachsen, um das es in Hinblick auf das Funktionieren politischer Systeme geht. Aus strukturellen Gründen gibt es nicht ausreichend Gelegenheiten, auf persönlicher Bekanntschaft ruhendes Vertrauen aufzubauen, die Grundlagen für Vertrauen zu gewinnen und erwiesenes Vertrauen zu erwidern.83 Entscheidend ist also die 77 78 79 80

Zur Definition Möllering 2005, 6. Sztompka 1999. Sztompka 1999, 105–107, 139f.; Offe 2001, 257–259; Ders. 1999, bes. 127. Dies gilt für die Transaktionskosten schon deshalb, weil diese in Mehrheitsverfahren ohnehin eine geringere Rolle spielen als dort, wo Entscheidungen über Verhandlungen hergestellt werden; vgl. Scharpf 2000, 259. 81 Offe 2001, 257–259; speziell zu der Transaktionskosten senkenden Funktion von Vertrauen: Möllering 2006, 26–29; anders hingegen in diesem Fall Gambetta 1988, der die Chancen, kooperatives Verhalten durch Vertrauen zu begründen, kritischer sieht. 82 Luhmann 2000, 20–27; Möllering 2005, 22–24; Sztompka 2001, 69–101. 83 Dies gilt besonders für demokratische Systeme: Vgl. hierzu Sztomka 1999, 139–148; Offe 2001, 263: „Da hier [scil in einer Demokratie] Wahlergebnisse vom souveränen Wählervolk erzeugt werden, daß heißt durch die Mehrheit „aller anderen“, und da ich nicht wissen kann, wie dieses aus anonymen Einzelpersonen bestehende Kollektiv der Wählerschaft tatsächlich

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Substituierung von auf Interaktion beruhender Vertrautheit: Hierzu gehört zum einen auf der Seite des Vertrauenden eine Sozialisation, die auf das Schenken von Vertrauen hin ausgerichtet ist, die Zuschreibung von Vertrauen zu bestimmten sozialen Rollen und schließlich die Etablierung von Vertrauen, das eben nicht auf Interaktion ruht, sondern auf Institutionen gerichtet ist.84 Zudem muß es darum gehen, Zeichen von Vertrauenswürdigkeit zu etablieren, die unabhängig von persönlicher Erfahrung sind,85 d.h. ego vertraut alter nicht daher, weil er ihn oder sie kennt, sondern deduziert die Vertrauenswürdigkeit aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder anhand von Merkmalen, und rechnet dabei damit, daß alle Akteure, die über die entsprechende Gruppenzugehörigkeit oder die entsprechenden Merkmale verfügen, per se vertrauenswürdig sind. Codes für Vertrauenswürdigkeit knüpfen sich dann an die Darstellung der Gruppenzugehörigkeit und können von der Inszenierung des körperlichen Erscheinungsbildes, Lebensstil, Haartracht oder Kleidung bis zu gemeinsamer Sprache reichen und durch Rituale ergänzt werden, die Pseudo-Vertrautheit gleichzeitig dar- und herstellen.86 Einen Sonderfall dieser Form der Vertrauensbildung stellt hierbei die Möglichkeit dar, die Bürger in ihrer Gesamtheit zu Angehörigen einer solchen Gemeinschaft zu erklären, so wie es C. Offe für moderne demokratische Gesellschaften beschrieben hat: „Eine solche Konstruktion kann an Kategorien einer ethno-nationalen Identität, also Gemeinsamkeiten der Kultur, Geschichte oder Territorium ansetzen. Sie kann auch – in verfassungspatriotischer-republikanischer Lesart – an der Verfassung und anderen Institutionen sowie an die aus der gemeinsamen Geschichte hergeleiteten Verantwortung und Verpflichtung anknüpfen. Politische Integration und das Vertrauen in die Wohlgesonnenheit der ‚mir‘ jeweils fremden und unvertrauten Mitbürger entsteht solchen Vorstellungen zufolge auf dem indirekten Wege einer identitätsbezogenen Vergemeinschaftung. Die Bürger sollen sich im Geiste zumindest einer Bereitschaft zu gegenseitigem Vertrauen begegnen, weil sie voneinander wissen, daß sie ein und derselben umfassenden Gemeinschaft angehören – sei es der „nationalen“ oder angesichts ihrer Geschichte verteidigenswerten Ordnung einer liberalen und demokratischen Republik und der ihr geschuldeten Loyalität und Gemeinwohlorientierung.“87

Aber nicht allein aus input-Perspektive, sondern auch mit Blick auf die output orientierte Legitimation von kollektiv verbindlichen Entscheidungen sind Voraussetzungen zu erfüllen, um Plausibilität beanspruchen zu können, d.h. es müssen Verfahren geschaffen werden, die sicherstellen, daß das politische System tatsächlich bestmögliche Ergebnisse für die Bürger erzeugt, die die Maximierung der Gesamtwohlfahrt gewährleisten und am Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit

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wählen wird, ist anzunehmen, daß ein unüberwindbar hohes Maß an Misstrauen und Argwohn gegenüber dem anonymen und unansprechbaren „Volkssouverän“ in Demokratien zur Regel wird.“ Offe 2001, 271–275; Sztompka 1999, 134–138. Vgl. zu einem modernen Fallbespiel Gambetta 2005. Zu denken ist hierbei an das fast zufällige Fallenlassen von Vornamen, langes gemeinsames Speisen und Trinken, name-dropping und die Verbreitung von Klatsch. Offe 2001, 266f.

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ausgerichtet sind, oder – anders formuliert – die effektive Problemlösungen unterstützen und Machtmißbrauch verhindern.88 Zu denken ist hierbei zunächst einmal an Veränderungen der institutionellen Arrangements, über welche die Verantwortung von Funktionsträgern gegenüber den Bürgern sichergestellt, technisch komplexe Fragen, über deren Ergebnisse gleichwohl Konsens besteht, durch Spezialisten, die zugleich der Kontrolle durch die Bürger unterworfen sind, entschieden89 und schließlich die organisatorische Grundlagen für eine offene Debatte, die „Lösungen zur Verwirklichung verallgemeinerungsfähigen Interessen“ bereitstellt,90 gelegt werden. Allerdings ist auch in Hinblick auf die output-Perspektive nicht allein an eine solche Veränderung institutioneller Arrangements zu denken. Vielmehr ist auch hier auf die Bedeutung veränderter Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen zu verweisen. Zwar gilt, daß in dieser Perspektive Interessen, die dann befriedigt werden, zunächst einmal ausreichend sind, kollektive Identität zunächst nicht gefordert wird, da aber – wie oben schon ausgeführt – homogene Interessen im Zuge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft zunehmend unwahrscheinlich werden, braucht es wieder die Konstruktion eines Kollektivs, auf dessen Wohl das Handeln der Akteure bezogen wird. Gibt es diese Bezugsgröße, so kann durch Argumentieren versucht werden, unter gegebenen Bedingungen möglichst ideale Entscheidungen herzustellen. LEGITIMITÄT UND DIE STEUERUNG VON HANDLUNGSDISPOSITIONEN Bereits die erstaunliche Stabilität politischer Ordnung im Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr., die sich sowohl im Fehlen von staseis zeigt, die doch so viele andere griechische Poleis dieser Zeit erschütterten und die geradezu als Kennzeichen der Zeit gelten können,91 als auch in der Beharrungskraft der demokratischen Ordnung nach dem Ende der Souveränität Athens,92 zeugt davon, daß es gelang, die Legitimität von Entscheidungen in input- wie output-Perspektive weiterzuentwikkeln und Defizite, die sich für das 5. Jahrhundert v.Chr. zeigten, zumindest in Teilen zu beseitigen. Im Folgenden sollen kurz zunächst diejenigen Veränderungen, die sich nur auf eine Seite der Begründung von Legitimität bezogen, betrachtet und dann auf die m.E. entscheidenden Mechanismen der Veränderung von Interaktionsorientierungen, die die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen in beiden Perspektiven sicherten, eingegangen werden. 88 89 90 91 92

Scharpf 1999, 22–28. Majone 2005; Moravsik 2002. Scharpf 1999, 27. Gehrke 1985. Auf die beiden Punkte als Indikatoren für die Leistungsfähigkeit der attischen Demokratie des 4. Jahrhunderts v. Chr. hat vor allem W. Eder hingewiesen. Vgl. etwa Eder 1995b.

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Mit Blick auf die Herleitung einer Verpflichtung zum Gehorsam aus dem reinen Vorhandensein einer Mehrheit ist zunächst etwa auf die bekannten Versuche wie die sogenannte „Summierungstheorie“, die Aristoteles in seiner Politik diskutiert und die sich in den Reden des Demosthenes in einer auf die Legitimität der durch ein Mehrheitsverfahren hergestellten Entscheidungen angewandten Form findet, zu verweisen.93 In der Politik heißt es dazu: „Denn auch wenn jeder einzelne aus der Menge nicht selber ein guter Mann ist, so kann diese, wenn sie sich versammelt hat – also nicht als Einzelpersonen, sondern als Gesamtheit – doch besser als jene einzelnen (sehr Guten) sein [...].“94

Diese Beobachtung, die Aristoteles dadurch belegt, daß er auf die höhere Qualität von Speisungen verweist, die von mehreren gemeinsam organisiert werden, sowie auf die höhere Qualität des Urteils der Menge bei der Bewertung von Musik und Kunst, diskutiert der Philosoph im Folgenden unter Berücksichtigung ihrer Relevanz für das politische System. „Ob allerdings in jedem einzelnen Falle das gewöhnliche Volk und die breite Masse die eben beschriebene Überlegenheit der großen Zahl über die wenigen hervorragenden Persönlichkeiten besitzt, bleibt unklar, vielleicht aber ist es, bei Zeus, klar, daß bei einigen eine solche Überlegenheit ausgeschlossen ist. Denn die gleiche Argumentation müßte ja auch im Falle der Tiere zutreffen – jedoch worin unterscheiden sich einige Menschen – wenn man so sagen darf – von den Tieren? Aber nichts steht dem im Wege, daß in bestimmten Fällen das gewöhnliche Volk in der beschriebenen Weise überlegen ist.“95

Zu diesen bestimmten Fällen gehören nun auch die Beteiligung in Rat und Volksversammlung, womit er Kritik an Partizipationschancen der Menge, wie sie sich etwa bei Platon finden läßt, widerspricht.96 Allerdings gilt auch diese Argumentation nicht unbegrenzt: Deutlich wird dies an der Stelle, an welcher Aristoteles über die Unmöglichkeit einer absolut gültigen Form der Herrschaftslegitimation handelt. „Endlich, wenn zwar die Menge regieren soll, weil sie stärker ist als die Wenigen, und wenn dann dennoch einer oder mehrere (mehr als einer, aber weniger als die Menge) stärker sind als die übrigen, so müßten dann diese eher regieren als die Menge. All das scheint zu zeigen, daß von diesen Bestimmungen keine richtig ist, soweit man daraus das Recht ableitet, zu herrschen und alle anderen abhängig sein zu lassen.“97

93 Dem. or. 21,140; vgl. Braun 1959; Touloumakos 1985. 94 Aristot. pol. 1281b 1–3: τοὺς γὰρ πολλούς, ὧν ἕκαστός ἐστιν οὐ σπουδαῖος ἀνήρ, ὅμως ἐνδέχεται συνελθόντας εἶναι βελτίους ἐκείνων [...]. 95 Aristot. pol. 1281b 15–20: εἰ μὲν οὖν περὶ πάντα δῆμον καὶ περὶ πᾶν πλῆθος ἐνδέχεται ταύτην εἶναι τὴν διαφορὰν τῶν πολλῶν πρὸς τοὺς ὀλίγους σπουδαίους, ἄδηλον, ἴσως δὲ νὴ Δία δῆλον ὅτι περὶ ἐνίων ἀδύνατον (ὁ γὰρ αὐτὸς κἂν πὶ τῶν θηρίων ἁρμόσειε λόγος· καίτοι τί διαφέρουσιν ἔνιοι τῶν θηρίων ὡς ἔπος εἰπεῖν;)· ἀλλὰ περὶ τὶ πλῆθος οὐδὲν εἶναι κωλύει τὸ λεχθὲν ἀληθές. 96 Aristot. pol. 1282a 34–41. 97 Aristot. pol. 1283b 23–30: οὐκοῦν εἰ καὶ τὸ πλῆθος εἶναί γε δεῖ κύριον διότι κρείττους εἰσὶ τῶν ὀλίγων, κἂν εἷς ἢ πλείους μὲν τοῦ ἑνὸς ἐλάττους δὲ τῶν πολλῶν κρείττους ὦσι τῶν ἄλλων, τούτους ἂν δέοι κυρίους εἶναι μᾶλλον ἢ τὸ πλῆθος. πάντα δὴ ταῦτ’ ἔοικε φανερὸν

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Insgesamt löst – und das zeigt eben bereits die Behandlung des Ansatzes durch Aristoteles selbst – die Summierungstheorie das grundsätzliche Problem partizipationszentrierter Ansätze nicht. Vielmehr handelt es sich lediglich um eine formale Zusatzannahme mit – so man die Interaktionsorientierungen der Beteiligten nicht ändert – durchaus problematischen Folgen, könnte doch auch für solche Entscheidungen eine Verpflichtung zum Gehorsam gefordert werden, in denen die Mehrheit Eigeninteressen rücksichtslos durchsetzt. Der Ansatz zeigt aber gleichwohl, daß ein Bewußtsein für die Probleme bestand, die mit der Herstellung von Entscheidungen durch die Mehrheitsregel verbunden waren. Wichtiger erscheinen diejenigen Mechanismen, die in output-Perspektive die Legitimität von Entscheidungen beeinflußten, also die Systemleistung erhöhten und Verantwortlichkeit von Politikern sicherstellten. Beide Bereiche können gleichwohl kurz abgehandelt werden, da sie als Veränderungen von Verfahren und Institutionengefüge lange im Zentrum der Aufmerksamkeit der Forschung gestanden haben: Graphe paranomon, graphe nomon me epitedeion theinai oder die Eisangelieklage schufen neue Möglichkeiten, die politischen Akteure zumindest an die Idee eines „Gemeinwohls“ zu binden; Möglichkeiten, von denen auch rege Gebrauch gemacht wurde. Auch die Schaffung klarer Zuständigkeitsbereiche seit der Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. für einen Teil des Strategenkollegiums,98 aber darüber hinaus auch in anderen kollegialen Gremien99 lassen sich als Mechanismus, Verantwortung persönlich zurechenbar zu machen, interpretieren. Zu den Maßnahmen, die die Leistung des Systems erhöhten, gehörten darüber hinaus auch Veränderungen in der Finanzverwaltung Athens, die vor allem nach der Niederlage im Bundesgenossenkrieg die Polis innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit wirtschaftlich wieder stabilisierten.100 Die zunehmende Zentralisierung bei der Verwaltung öffentlicher Gelder bereits seit dem ersten Viertel des 4. Jahrhunderts v.Chr. und ab der Jahrhundertmitte dann das Theorikon und die mit seiner Aufsicht beauftragten Amtsträger, die nicht, wie doch sonst in der attischen Demokratie üblich, jährlich wechselten, sondern dadurch, daß sie über einen längeren Zeitraum im Amt blieben, sich zu „Finanzexperten“ entwickeln konnten, eine Entwicklung, die sich auch, nachdem 339/8 v.Chr. die Stratiotika die Rolle des Theorikons eingenommen hatten, nahtlos fortsetzte, sorgten dafür, daß das System selbst nun die Leistung erbrachte, die im 5. Jahrhundert v.Chr. noch als Leistung von außen dem politischen System lediglich zugerechnet worden war.101

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ποιεῖν ὅτι τούτων τῶν ὅρων οὐδεὶς ὀρθός ἐστι, καθ’ ὃν ἀξιοῦσιν αὐτοὶ μὲν ἄρχειν τοὺς δ’ ἄλλους ὑπὸ σφῶν ἄρχεσθαι πάντας; vgl. Touloumakos 1985, 40f. Aristot. Ath. pol.61,1. SEG 30, 61,34; IG II² 1496; vgl. Hansen 1995, 247. Vgl. zu dieser Frage: Leppin 1995; Oliver 2011, bes. 120–125. Diese Entwicklung zur Professionalisierung wäre auch dann gegeben, wenn man nicht von einer vierjährigen Amtszeit ausgeht, sondern von einem jährlichen Amt mit der Möglichkeit zur Wiederwahl. Die Bemerkung in der Athenaion Politeia: τὰς δ’ ἀρχὰς τὰς περὶ τὴν ἐγκύκλιον διοίκησιν ἁπάσας ποιοῦσι κληρωτάς, πλὴν ταμίου στρατιωτικῶν καὶ τῶν ἐπὶ τὸ θεωρικὸν καὶ τοῦ τῶν κρηνῶν ἐπιμελητοῦ. ταύτας δὲ ειροτονοῦσιν, καὶ οἱ χειροτονηθέντες ἄρχουσιν ἐκ Παναθηναίων εἰς Παναθήναια (Aristot. Ath. pol. 43,1) wäre dann lediglich auf

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Damit sind nun die Veränderungen in der Finanzverwaltung nicht, wie manchmal geschrieben, antidemokratisch, sondern antworten im Gegenteil ganz dezidiert auf strukturelle Legitimitätsdefizite der Demokratie. Sie widersprechen aber – das ist ebenso zu betonen – partizipationszentrierten Ansätzen der Begründung der Rechtmäßigkeit von Mehrheitsentscheidungen. Daß aber Maßnahmen, die den Systemoutput erhöhen, im Widerspruch zu partizipationszentrierten Ansätzen stehen können, ist – wie bereits erwähnt – ein allgemeines und kein für das Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr. spezifisches Problem. Dies gilt auch für die Veränderungen des Gesetzgebungsverfahrens: Die Nomothesie war nicht allein ein Mittel zur Bekämpfung der Instabilität und der Sicherstellung der Qualität der getroffenen Entscheidung, sondern bedeutete zugleich den Ausschluß von ca. 60% der männlichen Bevölkerung vom Entscheidungsprozeß.102 Es ist schließlich auf Veränderungen bei dauerhaften Handlungsdispositionen der Bürger Athens einzugehen, die auf beide Seiten der Legitimität politischer Ordnung wirkten. Auf die Bedeutung des Verhaltens der Bürger und die Veränderungen, die sich in diesem Bereich für das 4. Jahrhundert nachweisen lassen, hat die neuere Forschung mehrfach verwiesen.103 Wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt, liegt dabei ein wesentliches Element in der Erzeugung solidarischer Interaktionsorientierungen, d.h. der Berücksichtigung des Wohles des Anderen bei der Herstellung von Entscheidungen.104 Dies bedeutet in einem ersten Schritt, daß überhaupt die Differenz zwischen Partikularinteresse und Gemeinwohl reflektiert werden muß, wobei es nicht darum gehen kann, Eigeninteresse als Abweichung zu verunglimpfen, wie sich dies in den Quellen des 5. Jahrhunderts v.Chr. findet, sondern als berechtigt anzuerkennen, um es in einem zweiten Schritt mit den ebenso berechtigten Interessen der Anderen in Beziehung zu setzen. Ein solches Vorgehen findet sich zunehmend bei den Rednern des 4. Jahrhunderts v.Chr.: Individuelle Interessen werden als solche erkannt und problematisiert. Die Legitimität der Entscheidung beruht nun nicht mehr darauf, daß es eine natürliche Übereinstimmung der Interessen unterschiedlicher Akteure gibt, die von der schließlich getroffenen Entscheidung gemeinsam abgedeckt würden, sondie unterschiedliche Ausgestaltung des Amtsjahres zu beziehen. Für die Frage einer Entwicklung hin zu Fachleuten in Finanzfragen hätte diese Interpretation aber keinerlei Auswirkungen. 102 Zur Nomothesie vgl. Hansen 1995, 167–183; Grundlage für die Schätzung der Größe der Gruppe der Exkludierten bildet Coale/Demeny² West level 3. 103 Herman 2006; Lambert 2011; Lambert 2011b. 104 Solidarität ist nun nicht mit Altruismus gleichzusetzen. Gemeint ist eine Interaktionsorientierung, bei der das Wohl des jeweils Anderen bei der Entscheidung Mitberücksichtigung findet und gleichsam als eigener Vorteil verbucht wird. Genau solche Formen finden sich auch in der attischen Demokratie des 4. Jahrhunderts als Norm. Vgl. Dem. 23,134f.: ἔστι γὰρ φίλων ἀγαθῶν οὐ τὰ τοιαῦτα χαρίζεσθαι τοῖς ὔνοις, ἐξ ὧν κἀκείνοις καὶ σφίσιν αὐτοῖς ἔσται τις βλάβη, ἀλλ’ ὃ μὲν ἂν μέλλῃ συνοίσειν ἀμφοῖν, συμπράττειν, ὃ δ’ ἂν αὐτὸς ἄμεινον ἐκείνου προορᾷ, πρὸς τὸ καλῶς ἔχον τίθεσθαι καὶ μὴ τὴν ἤδη χάριν τοῦ μετὰ ταῦτα χρόνου παντὸς περὶ πλείονος ἡγεῖσθαι.

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dern die Interessen in all ihrer Unterschiedlichkeit und Unvereinbarkeit eingebunden werden.105 Legitim ist es, unterschiedliche Interessen zu vertreten, nicht legitim ist es hingegen, sie ohne Rücksicht auf diejenigen des Anderen zu verfolgen. Homogenität ist nicht mehr notwendige Voraussetzung des Entscheidungshandelns, sondern das erstrebenswerte Ziel.106 Hinzu tritt, daß eine Verbindung der Berücksichtigung des Nutzens des Anderen mit der Legitimität von Herrschaft gezogen werden muß. Besonders deutlich wird dieses Argumentationsmodell in einer Schrift, die auf den ersten Blick mit Herrschaft innerhalb der Stadt nichts zu tun hat, nämlich im Panegyrikos des Isokrates. Dennoch ist der Gang der Argumentation vor dem Hintergrund dessen zu sehen, was in Athen um das Jahr 380 v.Chr. diskutiert wurde. Beantwortet wird die Frage, wer im Kampf gegen die Perser die Hegemonie innehaben solle, selbstverständlich mit Athen. Begründet wird dies mit den Leistungen, die die Stadt für ihre Bündner, ja für ganz Griechenland erbracht habe – beginnend mit der Weitergabe des Geheimnisses des Ackerbaus, das die Athener von Demeter selbst erhalten hätten bis zur uneigennützigen Unterstützung griechischer Poleis im Kampf gegen die Perser. Oder, um es mit Isokrates zusammenzufassen: „Wer also soll die Hegemonie innehaben, wenn ein Feldzug gegen die Barbaren stattfinden wird? Nicht diejenigen, die in einem früheren Krieg am meisten Ruhm geerntet haben und oft allein für andere Gefahren auf sich genommen haben, in den gemeinsamen Kämpfen aber für würdig befunden wurden, den Siegespreis entgegenzunehmen? Sollen nicht diejenigen die Führung haben, die für die Rettung der anderen ihre eigene Polis verließen und ehemals Gründer der meisten Poleis gewesen sind und sie wiederum aus ihrem größten Unglück gerettet haben?“107

Unmittelbar verbunden wird also solidarische Interaktionsorientierung und Herrschaftslegitimation. Die Bedeutung, die der solidarischen Interaktionsorientierung zukommt, läßt sich aber auch an der steigenden Relevanz, die entsprechende Begriffe bei den Rednern besaßen, erkennen. Schlagworte wie mia gnome oder koinon agathon, die im 4. Jahrhundert v.Chr. bei den Rednern weit verbreitet sind, sind Ausdruck eines veränderten Verständnisses.108

105 Gleichwohl lassen sich selbstverständlich auch bei den Rednern des 4. Jahrhunderts v. Chr. noch entsprechende Formulierungen finden. Das Bild von den gemeinsamen Interessen der Bürger wird nicht vollständig verdrängt, sondern ergänzt, allerdings m.E. an entscheidender Stelle; vgl. Dem. 9,55; 15,15; 18,23; 18,35; 23,25; 24,37. 106 Dem. 14,15; 2,30; 4,7. 107 Isokr. or. 4,99: Καίτοι μελλούσης στρατείας ἐπὶ τοὺς βαρβάρους ἔσεσθαι τίνας χρὴ τὴν ἡγεμονίαν ἔχειν; Οὐ τοὺς ἐν τῷ προτέρῳ πολέμῳ μάλιστ’ εὐδοκιμήσαντας καὶ πολλάκις μὲν ἰδίᾳ προκινδυνεύσαντας, ἐν δὲ τοῖς κοινοῖς τῶν ἀγώνων ἀριστείων ἀξιωθέντας; Οὐ τοὺς τὴν αὑτῶν ἐκλιπόντας ὑπὲρ τῆς τῶν ἄλλων σωτηρίας καὶ τό τε παλαιὸν οἰκιστὰς τῶν πλείστων πόλεων γενομένους καὶ πάλιν αὐτὰς ἐκ τῶν μεγίστων συμφορῶν διασώσαντας; Πῶς δ’ οὐκ ἂν δεινὰ πάθοιμεν, εἰ τῶν κακῶν πλεῖστον μέρος μετασχόντες, ἐν ταῖς τιμαῖς ἔλαττον ἔχειν ἀξιωθεῖμεν καὶ τότε προταχθέντες ὑπὲρ ἁπάντων νῦν ἑτέροις ἀκολουθεῖν ἀναγκασθεῖμεν. 108 Dem. 5,7; 16,1; 18,102; 18,197.

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Wie oben ausgeführt bedarf die Solidarität der Bürger aber einer Entsprechung, um Wirksamkeit entfalten zu können, und dabei handelt es sich um Vertrauen.109 Der für das politische System des 4. Jahrhunderts v.Chr. entscheidende Mechanismus zur Erzeugung des benötigten Vertrauens erscheint fast banal: Zum ersten ist nämlich das politische Verfahren selbst die Grundlage von Vertrauen: Ausgangspunkt hierfür bildet vor allem ein Paradox, auf welches schon Niklas Luhmann in seiner Arbeit zum Vertrauen hingewiesen hat, und das vor allem in demokratietheoretischen Arbeiten zum Phänomen bis heute eine wichtige Rolle spielt. Es geht um die Erzeugung von Vertrauen durch die Institutionalisierung von Mißtrauen.110 Im Einzelnen ist an folgende Prozesse institutionalisierten Mißtrauens zu denken. Am Anfang steht selbstverständlich ein Grundprinzip jeder Demokratie – die Wahl: Letztlich ist diese aus der hier eingenommenen Perspektive nichts anderes als institutionalisiertes Mißtrauen darin, daß mit Macht ausgestattete Funktionsträger sich freiwillig von ihrer Macht trennen werden. In die gleiche Richtung weisen Phänomene wie die begrenzten Kompetenzen von Institutionen und deren wechselseitige Beaufsichtigung, die Verteilung von Macht auf verschiedene Schultern oder die Vorgängigkeit des Gesetzes, das Vorhandensein unabhängiger Gerichtshöfe und schließlich die Offenheit von Kommunikation.111 Während nun aber die Wahl bzw. Erlosung, für die Interpretation ist der Unterschied irrelevant, der Amtsträger von Beginn der Demokratie an – wie auch immer man diesen datieren möchte – konstitutives Element der „Verfassung“ war, zeigen sich mit Blick auf die anderen Vertrauen generierenden Elemente im Verlauf vom späten 6. bis zum 4. Jahrhundert v.Chr. relevante Unterschiede. Auf die Bedeutung der zunehmenden Verrechtlichung, die Bezugnahme von Institutionen aufeinander mit dem Ziel, Machtchancen auszutarieren, und die zunehmende Institutionalisierung des Entscheidungsfindungsprozesses112 als Grundlage der Demokratie hat vor allem W. Eder immer wieder verwiesen.113 Zum zweiten schafft die Offenheit der Debatte Vertrauen: Demokratie lebt vom Austausch divergierender Meinungen. Nur, wenn verschiedene Meinungen 109 Vertrauen spielte auch in der Selbstbeschreibung der attischen Demokratie eine wichtige Rolle. Vgl. etwa die prägnante Zusammenfassung des Demosthenes: χωρὶς δὲ τούτων νυνὶ τῇ πόλει, δυοῖν ἀγαθοῖν ὄντοιν, πλούτου καὶ τοῦ πρὸς ἅπαντας πιστεύεσθαι, ἐστὶ τὸ τῆς πίστεως ὑπάρχον. 110 Luhmann 2000, 118f.; Sztompka 1999, 148. 111 "Die Institutionen der liberalen Demokratie – die mediale Öffentlichkeit, die periodischen Wahlen, die Parteienkonkurrenz, die Regierungsverantwortlichkeit, die Unabhängigkeit der Gerichte – können sämtlich als Vorkehrungen eines institutionalisierten Mißtrauens gelesen werden. Ihr Sinn ist sicherzustellen, daß Verletzungen von Rechten und Verstöße gegen die Norm der Wahrhaftigkeit gegebenenfalls nicht verborgen bleiben." Offe 1999, 128. 112 Dabei sind Institutionalisierungsprozesse auch über den hier angesprochenen Zusammenhang der Institutionalisierung von Mißtrauen hinaus für die Etablierung von Vertrauen funktional, bedeuten sie doch die Stabilisierung von Erwartungshorizonten und damit ein „Fürselbstverständlich-halten“ der Umwelt; Möllering 2005, 13–17. 113 Eder 1991; Eder 1995b; Eder 1998.

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dargestellt werden – und die Abstimmenden zudem ausreichend informiert sind –, sind Mehrheitsentscheidungen, bei denen eine hohe Zahl von Akteuren beteiligt ist, sinnvoll denkbar. Für die attische Demokratie des 5. Jahrhunderts v.Chr. ist ein solcher freier Austausch von Argumenten nur begrenzt sichtbar. Der Ostrakismos als „Schutz“ der Demokratie oder wahrscheinlich eher Instrument der Elite, sich unliebsamer Konkurrenten zu entledigen, führte nun genau zum Gegenteil, nämlich dem Ausfall bzw. zumindest der Beschränkung von Gegenpositionen. Dies gilt für die 480er Jahre, in denen die Gegner der Seepolitik von Themistokles ostrakisiert wurden, es gilt für die Ostrakisierung des Themistokles selbst nur kurze Zeit später. Die Ostrakisierung Kimons wiederum nach den Reformen von 462 v.Chr. ließ die Opposition gegen Ephialtes und Perikles verstummen. Die Beispiele ließen sich erweitern. Wichtig ist die Wirkung, und diese hat Eder m.E. mit Recht folgendermaßen beschrieben: „In sum, although ostracism was used rarely, the method of exiling leaders of the opposite side for 10 years turned out to be an efficient means to shape policies because it cut of extended and substantive Assembly debates about alternative concepts.“114 Die Veränderungen im 4. Jahrhundert v.Chr., also das Fehlen des Ostrakismos und die Ermöglichung des Austausches von Argumenten durch stabile institutionelle Rahmenbedingungen sowie Verfahren, die es gestatteten, Verhalten, das nicht im Sinne der Demokratie war, zu sanktionieren, ermöglichten zugleich offenere Kommunikation, die mit Blick auf die Erzeugung von Vertrauen funktional war. Schließlich ist auf einen letzten Mechanismus einzugehen, über den Vertrauen jenseits von persönlichen Beziehungen aufgebaut werden kann. Wie oben im Anschluß an Claus Offe ausgeführt wurde, kann es für das Funktionieren des Systems sinnvoll sein zu versuchen, Bürger in ihrer Gesamtheit zu Angehörigen einer Gemeinschaft zu erklären, die sich per se durch Vertrauenswürdigkeit auszeichnet, wobei die Konstruktion einer solchen Gemeinschaft u.a. an Gemeinsamkeiten der Geschichte, also der Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit, gebunden werden kann. Für Athen wurde, wie zuletzt Susan Lape festgestellt hat,115 versucht, genau diese Verbindung zu ziehen. Athener Bürger waren Demokraten und das bedeutete, daß sie die für einen Demokraten notwendigen Verhaltensweisen besaßen und ihnen dementsprechend grundsätzlich vertraut werden konnte. Allerdings zeigt sich auch hier eine Entwicklung vom 5. zum 4. Jahrhundert v.Chr. Während im 5. Jahrhundert v.Chr. die Vorstellung vorherrschte, die Bürger besäßen die gewünschten Eigenschaften von Natur aus, zeigt sich im 4.

114 Eder 1998, 120; zur Offenheit der Debatte im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. vgl. auch Kallet-Marx 1994, bes. 250f.; skeptisch, was die Folgen der Ostrakisierung für die Einschränkung der Debatte innerhalb Athens betrifft, Mann 2007. 115 Lape 2008.

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Jahrhundert v.Chr. eine stärkere Betonung des Prozesses politischer Sozialisation.116 Damit zeigt sich hier eine Entwicklung, die sich auch über das Beispiel der Zuschreibung von Eigenschaften an ein Kollektiv hinaus feststellen läßt. Ist die Steuerung von Handlungsdispositionen im beschriebenen Sinn notwendig für das Funktionieren des politischen Systems, so ist sicherzustellen, daß die Akteure die gewünschte Interaktionsorientierung tatsächlich hinreichend internalisiert haben. Dementsprechend zeigt sich für das 4. Jahrhundert v.Chr. insgesamt auch eine zunehmende Bedeutung, die dem Prozeß politischer Sozialisation beigemessen wird. Andererseits liegt hierin nun eine weitere – problematische – Verbindung zu partizipationszentrierten Ansätzen, bedeutet es doch im Umkehrschluß die Begrenzung von Partizipationschancen für diejenigen, die die Bedingungen nicht erfüllen. Da die individuelle Prüfung von Handlungsdispositionen unpraktikabel ist und zudem – wie Claus Offe formuliert – hat, es “Kennzeichen von Demokratien [ist], daß der Status des Aktivbürgers nicht an irgendwelche Kriterien personaler Qualifikation, gar besonderer „Vertrauenswürdigkeit“ gebunden werden kann, sondern als ein nicht-entziehbares Recht allen (erwachsenen) Bürgern zukommt”,117 muß versucht werden, ein generalisiertes Exklusionskriterium zu etablieren, daß der Grundlage demokratischer Ordnung nicht widerspricht. Dabei ist an dieser Stelle auf die Bedeutung von Lebensalter als Kriterium, d.h. die Festlegung bzw. die Anhebung von Altersgrenzen des aktiven und passiven Wahlrechts hinzuweisen. Diese Form, den Erfolg politischer Sozialisation durch Altersgrenzen zu gewährleisten, ruht auf der Vorstellung, daß mit der Ausweitung der Sozialisationsphase auch deren Erfolg sichergestellt oder zumindest befördert werden kann. Dabei besteht der wesentliche Vorteil im Vergleich zu anderen Exklusionskriterien darin, daß Altersgrenzen nicht per se als undemokratisch empfunden werden, da jeder davon ausgehen (oder zumindest erhoffen) kann, die festgelegte Altersgrenze zu erreichen.118 Mit Blick auf das 4. Jahrhundert v.Chr. ist vor allem nochmals auf die Einrichtung der Nomothesie und die damit verbundene Unterscheidung von nomoi und psephismata zu verweisen.119 Die Trennung von Gesetzen, die dauerhaft Gültigkeit beanspruchten, und Dekreten, die kurzfristig wirksam waren, sowie die Verlagerung der Herstellung der Gesetze von der Volksversammlung hin zur neugeschaffenen Nomothesie, bedeutete nicht allein ein Verfahren, um übereilte Be116 Die Bedeutung, die die Übersteigerung kollektiver Identität in Hinblick auf die Handlungsdispositionen spielte, läßt sich folgerichtig auch dort erkennen, wo – ganz im Gegensatz zu dem für das Miteinander in der Gruppe geforderten Vertrauen – für den Umgang mit dem Anderen Mißtrauen gefordert wurde. Gerade bei Demosthenes läßt sich dieses Motiv mehrfach erkennen, wie J.W. Leopold (Leopold 1981) gezeigt hat. Zu mißtrauen ist Oligarchen (Dem. or. 15,17f.), Tyrannen (Dem. or. 1,5; 6,24), allen Fremden (Dem. 9,38) und – selbstverständlich und vor allem – Philipp (etwa 9,63f.). 117 Offe 2001, 263. 118 Timmer 2008. 119 Zusammenfassend Hansen 1995, 176–180.

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schlüsse zu verhindern, sondern ging einher mit einer Anhebung der Altersgrenze, mit der man an der Herstellung von Entscheidungen hoher Reichweite teilhaben konnte, und zwar von 18 auf 30 Jahre.120 Damit wurde eine Altersgruppe ausgeschlossen, die man für noch nicht fähig hielt, am politischen Entscheidungshandeln zu partizipieren, was sich in dieser Gruppe zugeschriebenen Eigenschaften – akolasia wird regelmäßig mit Jugend verbunden – 121 ebenso zeigt, wie darin, daß Redebeiträge von Personen unter 30 Jahren auch in der Volksversammlung als unerwünscht galten.122 In die gleiche Richtung weist auch die Aufwertung des Areopags und damit eines Gremiums, dessen Mitglieder sich bedingt durch die Methode der Ergänzung der Organisation durch überdurchschnittlich hohes Durchschnittsalter auszeichneten.123 Allerdings blieb die Möglichkeit, erfolgreiche Sozialisation durch Verlängerung der Sozialisationsphase sicherzustellen, selbstverständlich begrenzt, was in Athen zur Folge hatte, daß man den Bereich des Unentscheidbaren ausweitete. Durch Kodifizierung und Zuschreibung von Regeln an einen legendären Gesetzgeber dem Willen des Volkes weitgehend zu entziehen und damit dessen Partizipationschancen einzuschränken, war letztlich nicht mehr, als die Kapitulation vor den Grenzen der Möglichkeiten politischer Sozialisation und die Betonung des outputs des Systems gegenüber der Rechtmäßigkeit von Mehrheitsentscheidungen. ZUSAMMENFASSUNG Der hier nachgezeichnete Prozeß ist sicherlich zu glatt. Das 5. Jahrhundert v.Chr. war keine Zeit dauernder Unruhe. Entscheidungen, die durch die Volksversammlung getroffen worden waren, wurden befolgt, und dies nicht nur aus Zwang oder Apathie. Ebenso wenig war Athen im 4. Jahrhundert v.Chr. ein Idealstaat: Das Problem der Instabilität von Entscheidungen bekamen die Athener nie in den Griff. Die Mahnung des Aristoteles, man solle keine neuen Gesetze machen, denn „das Gesetz kann sich durch keine andere Macht durchsetzen als durch die Gewohnheit, und diese entsteht erst in langer Zeit“,124 spricht nicht unbedingt für das Potenzial des gewählten Verfahrens. Schließlich blieb auch die angesprochene Stärkung der output-Orientierung nicht ohne Kosten, die in einer tatsächlich sinkenden Chance auf instrumentelle Partizipation und einem abnehmenden Intensitätsgrad der Assoziation und Dissoziation der Akteure zu suchen sind. Gezeigt 120 Timmer 2008, 289–295. 121 Timmer 2008, 131; Menu 2000, bes. 150–160; zur Bedeutung für die politische Ordnung vgl. daneben: Looy 1990, 71–125. 122 Vgl. zur Unfähigkeit der Jugend, am politischen Entscheidungshandeln zu partizipieren Isokr. or. 7,43–55. 123 Zum Areopag vgl. Bruyn 1995; Wallace 1985; Hansen 1995, 299–306; speziell zur Altersstruktur Hansen 1973; Hansen 1990. 124 Aristot. pol. 1269a20: ὁ γὰρ νόμος ἰσχὺν οὐδεμίαν ἔχει πρὸς τὸ πείθεσθαι παρὰ τὸ ἔθος.

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werden sollte, wie durch die Weiterentwicklung von Handlungsdispositionen, die für das Funktionieren demokratischer Mehrheitsverfahren nötig sind, nämlich durch die Stärkung solidarischen Verhaltens wie Vertrauens, Stabilität des politischen Systems in einer Zeit erreicht wurde, in der diese Stabilität durchaus nicht selbstverständlich war, wie unter bestimmten Umständen, nämlich dann, wenn dadurch der Systemoutput erhöht werden konnte, auch durch die Reduzierung von Partizipationschancen die Legitimität kollektiv verbindlicher Entscheidungen gesteigert werden und darüber hinaus – zumindest in Ansätzen – die Gleichzeitigkeit von Teilhabe und Systemeffektivität sichergestellt werden konnte.

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