Anstifter zur Beteiligung?: Die Förderung politischer Partizipation durch gemeinnützige Stiftungen 9783110652383, 9783110656503, 9783110652499

This is the first study to examine the work of foundations in the promotion of democracy, particularly efforts to encour

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Anstifter zur Beteiligung?: Die Förderung politischer Partizipation durch gemeinnützige Stiftungen
 9783110652383, 9783110656503, 9783110652499

Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Konzeptioneller Bereich I: Demokratische Beteiligung und ihre Faktoren
3. Konzeptioneller Bereich II: Stiftungen in der Demokratie
4. Konzeptioneller Bereich III: Ansätze zur Förderung politischer Partizipation
5. Empirische Exploration: Methode und Entwicklung des Forschungsdesigns
6. Empirische Exploration: Auswertung der Projektanalyse
7. Zusammenführung und Ausblick
8. Literatur
9. Anhang

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Siri Hummel Anstifter zur Beteiligung?

Maecenata Schriften

Herausgegeben von Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz, Dr. sc. Eckhard Priller und Christian Schreier

Band 17

Siri Hummel

Anstifter zur Beteiligung? Die Förderung politischer Partizipation durch gemeinnützige Stiftungen

ISBN 978-3-11-065238-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065650-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065249-9 ISSN 1866-122X Library of Congress Control Number: 2019946282 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

| Meinen unermüdlichen Eltern

Inhalt Abbildungsverzeichnis | XI Tabellenverzeichnis | XIII Abkürzungsverzeichnis | XV 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung | 1 Drei Ausgangspunkte | 1 Forschungsfrage und Aufbau der Arbeit | 9 Konzeptioneller Rahmen | 14

2

Konzeptioneller Bereich I: Demokratische Beteiligung und ihre Faktoren | 16 Die historische Bilanz und drei Demokratieangebote | 16 Elitistische und repräsentative Demokratieansätze | 19 Beteiligungszentrierte Ansätze | 22 Deliberativen Ansätze | 26 Das Versprechen der Demokratie | 28 Gemeinwohl, Gemeinnützigkeit und ihr Bezug zur Gleichheit | 30 Die reale Ungleichverteilung von Partizipation | 35

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

Konzeptioneller Bereich II: Stiftungen in der Demokratie | 48 Stiftungen in der Demokratie | 48 Was sind Stiftungen? | 50 Forschung zum Stiftungswesen und Forschungsdesiderate | 53 Stiftungen: Von der Geschichte zur Gegenwart | 57 Ein Blick hin zum US-amerikanischen Stiftungssektor und zurück | 63 3.3 Stiftungen als Akteure in der Zivilgesellschaft | 71 3.3.1 Zum Begriff der Zivilgesellschaft | 71 3.3.2 Positionen von Stiftungen in der Zivilgesellschaft | 74 3.3.3 Gründungsmotive und Funktionen von Stiftungen | 76 3.3.3.1 Motive der Stifter | 76 3.3.3.2 Funktionen | 77 3.3.4 Stiftungen zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen | 82 4 4.1

Konzeptioneller Bereich III: Ansätze zur Förderung politischer Partizipation | 89 Wege zu einer Typologie | 89

VIII | Inhalt

4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1

Politische Bildung als Voraussetzung für Partizipation | 91 Politikberatung durch Think Tanks | 100 Das Strukturmodell: Vier Typen des Förderansatzes | 102 Der szientive Fördertyp (Bürgerkompetenz) | 105 Der potestative Fördertyp (Bürgerkompetenz) | 110 Der agorative Fördertyp (Gelegenheitsstruktur) | 115 Der advokative Fördertyp (Gelegenheitsstruktur) | 119 Ein erstes Fazit | 122 Empirische Exploration: Methode und Entwicklung des Forschungsdesigns | 124 Methode | 124 Fallauswahl | 127 Die Unternehmensstiftung | 129 Die Bürgerstiftung | 129 Die staatlich geförderte Stiftung | 130 Die parteinahe Stiftung | 131 Textauswahl | 132 Theorie- und empiriegeleitete Hypothesenbildung und Prämissen | 134 Die Operationalisierung | 136 Die form-fokussierte Sektion | 136 Die (emittent-fokussierte) reflektierende Sektion | 137 Die (rezipient-fokussierte) appellativ-performative Sektion | 138 Empirische Exploration: Auswertung der Projektanalyse | 143 Bertelsmann Stiftung (BS) | 144 Der Förderansatz und die intendierte Partizipationsform der BS | 148 Reflexion und Problembewusstsein über die Ungleichverteilung von Partizipation | 153 Auswertung der performativ-appellativen Sektion | 158 Bürgerstiftung Heidelberg (BSH) | 159 Der Förderansatz und die intendierte Partizipationsform der BSH | 161 Reflexion und Problembewusstsein über die Ungleichverteilung von Partizipation | 164 Auswertung der performativ-appellativen Sektion | 165 Stiftung Mitarbeit (SM) | 167 Der Förderansatz und die intendierte Partizipationsform der Stiftung Mitarbeit | 169

Inhalt | IX

6.3.2 6.3.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 7 7.1 7.2

Reflexion und Problembewusstsein über die Ungleichverteilung von Partizipation | 172 Auswertung der performativ-appellativen Sektion | 173 Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. (FES) | 176 Der Förderansatz und die intendierte Partizipationsform der FES | 179 Reflexion und Problembewusstsein über die Ungleichverteilung von Partizipation | 182 Auswertung der performativ-appellativen Sektion | 185

7.3

Zusammenführung und Ausblick | 191 Zusammenführendes Fazit zu den konzeptionellen Bereichen | 191 Zusammenführendes Fazit zu der empirischen Überprüfung der Partizipationsförderung der Stiftungen | 197 Ausblick | 205

8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4

Literatur | 207 Stiftungsdokumente | 222 Bertelsmann Stiftung | 222 Bürgerstiftung Heidelberg | 225 Stiftung Mitarbeit | 225 Friedrich-Ebert-Stiftung | 227

9 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.2 9.3

Anhang | 233 Übersicht der untersuchten Projekte | 233 Bertelsmann Stiftung | 233 Bürgerstiftung Heidelberg | 234 Stiftung Mitarbeit | 234 Friedrich-Ebert-Stiftung | 235 Tabelle: Code und Subcodes | 238 Auszug aus der Codiertabelle | 244

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Förderbereiche politische Partizipation | 103 Abbildung 2: Fördertyp Stiftung Bertelsmann | 152 Abbildung 3: Nutzerebene Stiftung Bertelsmann | 152 Abbildung 4: Fördertyp Bürgerstiftung Heidelberg | 162 Abbildung 5: Nutzerebenen Bürgerstiftung Heidelberg | 162 Abbildung 6: Fördertyp Stiftung Mitarbeit | 171 Abbildung 7: Nutzerebenen Stiftung Mitarbeit | 171 Abbildung 8: Fördertyp Friedrich-Ebert-Stiftung | 181 Abbildung 9: Nutzerebenen Friedrich-Ebert-Stiftung | 181

https://doi.org/10.1515/9783110656503-204

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Szientiver Fördertyp | 110 Tabelle 2: Potestativer Fördertyp | 115 Tabelle 3: Agorativer Fördertyp | 119 Tabelle 4: Advokativer Fördertyp | 122 Tabelle 5: Ergebnis Fördertypen | 199

https://doi.org/10.1515/9783110656503-205

Abkürzungsverzeichnis BS = Bertelsmann Stiftung ZdD = Abteilung Zukunft der Demokratie KB = Projekt Kommunale Bürgerbeteiligung FES = Friedrich-Ebert-Stiftung FJuB = Forum Jugend und Politik MuP = Management und Politik KA = Kommunal-Akademie PD = Politischer Dialog FB = Forum Berlin FEF = Fritz-Erler-Forum LBB = Landesbüro Bayern LBNRW = Landesbüro Nordrhein-Westfalen LBBW = Landesbüro Baden-Württemberg LBS = Landesbüro Sachsen LBH = Landesbüro Hessen LBMV = Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern LBSA = Landesbüro Sachsen-Anhalt FPG = Forum Politik und Gesellschaft LBN = Landesbüro Niedersachsen LBH_B_SH = Landesbüro Hamburg, Bremen und Schleswig Holstein SM = Stiftung Mitarbeit BSH = Bürgerstiftung Heidelberg NBB = Netzwerk Bürgerbeteiligung

https://doi.org/10.1515/9783110656503-206

1 Einleitung 1.1 Drei Ausgangspunkte Im März 2013 wurden die Auslandsbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau und St. Petersburg von russischen Behörden durchsucht und einige Computer beschlagnahmt. Hintergrund der Razzia war das erst seit wenigen Monaten in Kraft getretene „Agentengesetz“, das die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus fremdländischen Mitteln einschränken soll und die Organisationen zur Registrierung als „fremdländische Agenten“ zwingt. Die beiden parteinahen Stiftungen, die ihre Aufgabe in Russland ihrem Leitbild entsprechend in der Stärkung demokratischer Strukturen und der Zivilgesellschaft sehen, zeigten sich auf Nachfrage deutscher Medien sehr besorgt angesichts dieser Maßnahmen. Etwa ein halbes Jahr nach diesen Ereignissen veröffentlichte die Initiative Bürgerstiftungen zusammen mit dem Kompetenzzentrum für Bürgerengagement der Volksbanken und Raiffeisenbanken „Aktive Bürgerschaft“ in Berlin eine gemeinsame Erklärung. Darin bekunden sie die Absicht, „das Selbstverständnis der Bürgerstiftungen als starke Bewegung prägen […] und das große zivilgesellschaftliche Potenzial der Bürgerstiftungsbewegung in Deutschland wahren und bestmöglich unterstützen [zu wollen]“.1 Die sich immer weiter verbreitende Idee der Bürgerstiftung sei ein Vehikel gemeinschaftlicher Partizipation und bürgerschaftlichen Engagements und es gelte, so das Anliegen des Papiers, diese als solche begrifflich zu schützen und zu fördern. Der Bundesverband Deutscher Stiftungen unterstützte die Erklärung und bewarb sie öffentlichkeitswirksam. Am 11. Dezember desselben Jahres veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung unter der Schlagzeile Demokratie der Besserverdienenden einen Artikel, der mit folgenden Zeilen begann: „Wer beteiligt sich an Wahlen, wer bleibt lieber daheim? Die Bertelsmann Stiftung legt eine Studie vor, die zeigt: Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto eher bleibt jemand der Wahl fern.“2 Auch Die Welt, Spiegel Online, die Badische Zeitung und weitere, regionale wie überregionale, Zeitungen berichteten über die Studie. Es lassen sich zweierlei Beobachtungen und Ausgangspunkte aus diesen Ereignissen ableiten. Erstens: In allen drei Beispielen treten gemeinnützige Stiftungen medial als Akteure einer politischen Zivilgesellschaft in Erscheinung.3 Stiftungen sind vermutlich

|| 1 Aktive Bürgerschaft 2013: 1. 2 http://www.sueddeutsche.de/politik/studie-zum-wahlverhalten-demokratie-derbesserverdienenden-1.1841544 [21.11.2017]. 3 Wenn ich im weiteren Verlauf von Stiftungen schreibe, meine ich gemeinnützige Stiftungen. https://doi.org/10.1515/9783110656503-001

2 | Einleitung

nicht die Institutionen, an die man bei dem Stichwort politische Zivilgesellschaft als erstes denkt. Zuvor würden wohl vielmehr große NGOs und Vereine wie Greenpeace oder Amnesty International, die Wohlfahrtsverbände oder soziale Bewegungen, wie die Anti-Atomkraft-Bewegung, genannt werden. Dabei sind Stiftungen als Akteure der Zivilgesellschaft nicht zu unterschätzen. Denn wie sich auf den zweiten Blick zeigt, gibt es eine große Anzahl von Stiftungen in Deutschland: eine Anzahl, die in den letzten drei Jahrzehnten kräftig gewachsen ist. Erhebungen im Stiftungssektor zählen circa 19.000 bis 22.000 Stiftungen unterschiedlicher Rechtsformen.4 Über zwei Drittel der heute in Deutschland bestehenden Stiftungen wurden seit der Wiedervereinigung gegründet, jede zweite seit der Jahrtausendwende.5 Damit ergibt sich heute also ein deutlich größeres Aufkommen an stifterischem Kapital und Engagement als noch vor ein paar Jahren. Zeitgleich zu der steigenden Anzahl der Stiftungen zeichnen sich im politischen System Veränderungen ab, die für eine vermehrte Zulässigkeit politischer Gestaltungsansprüche von zivilgesellschaftlichen Akteuren sorgen. Die klassische Ordnung repräsentativer Demokratie wird zunehmend multipler gestaltet und durch partizipative Muster, wie beispielsweise Referenden oder Schlichtungsgespräche, ergänzt.6 Diese Veränderungen der Rahmenbedingungen politischer Entscheidungsfindung werden oft unter den Begriffen der Governance oder einer erstarkten Zivilgesellschaft gefasst und beschreiben unter anderem die „Öffnungsprozesse von vorhandenen Verhandlungs- und Entscheidungssystemen gegenüber neuen Akteuren“ auf allen Politikebenen.7 Als eine der Folgen dieser Entwicklung ist eine zunehmende Verlagerung staatlicher Aufgaben an private Akteure oder in öffentlich-private Partnerschaftskooperationen, beispielsweise mit Stiftungen, zu beobachten, die Empfehlungen und Forderungen aus der Sphäre der Zivilgesellschaft an politischem Gewicht gewinnen lassen.8 Stiftungen sind als Teil dieser Governance-Strukturen zu betrachten und engagieren sich auf den verschiedenen Gesellschafts- und Politikfeldern: dem Sozial- und Kulturbereich, in Wissenschaft und Forschung oder im Bildungswesen. Auf diesen Feldern stellen sie Ressourcen zur Verfügung, sei es mittels ehrenamtlicher Arbeit, Kapitalausschüttungen oder durch ihre organisatorische und bauliche Infrastruktur. Große Stiftungen nehmen darüber hinaus auch vermehrt themensetzende und politikberatende Funktionen wahr und etablieren ihren Gestaltungsanspruch in den politikgesellschaftlichen Reformierungsprozessen.9 „Insbesondere die großen operativen Stiftungen haben das Selbst-

|| 4 Die Zahlen stammen aus zwei unterschiedlichen Erhebungen: Erstere sind die Zahlen der Forschungsgruppe Anheier et al 2017. Letztere entstammen dem Verzeichnis Deutscher Stiftungen des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, Stand Dezember 2017. 5 Anheier et al. 2017a: 1. 6 Nolte 2011. 7 Walk 2008: 34. 8 Keane 1988, Anheier 2014. 9 Welzel 2006, Demirovic 2010.

Drei Ausgangspunkte | 3

verständnis eines Katalysators von Innovationen, als Netzwerkagenten und Themenanwälte.“10 Es ist dieser Eigenanspruch der Stiftungen im Zusammenspiel mit der steigenden Anzahl, der eine verstärkte Forschung in diesem Bereich notwendig macht. Zweitens: Die Stiftungen in den eingangs genannten Beispielen haben eine gemeinsame Thematik. Stiftungen treten als Förderer demokratischer Strukturen auf. Ganz allgemein wird mit dem Begriff „Stiftungen“ von der Mehrheit der Bevölkerung das Engagement für gemeinnützige Zwecke assoziiert.11 Üblicherweise wird ihre Arbeit mit der Förderung sozialer Projekte und mit Kultur-, Bildungs- oder Sportförderung verbunden. Das stifterische Engagement im Bereich der Demokratieförderung ist weniger präsent – wohl auch, weil es innerhalb verschiedener, von der Abgabenordnung festgelegter, gemeinnütziger Zwecke stattfindet, die dann jedoch nicht so heißen, wie beispielsweise dem der Bildung. Wie die eingangs zitierte Berichterstattung über die Studie der Bertelsmann Stiftung verdeutlicht, finanziert diese die Forschung über die Einflussfaktoren politischer Partizipation und verbreitet deren Ergebnisse medial. Die zuvor als Beispiel genannte Initiative zur Stärkung von Bürgerstiftungen unterstreicht den Anspruch dieser Institutionen, durch die Einbindung von Ehrenamt und Engagement vieler lokaler Stifter zu mehr Solidarität und Gemeinsinn unter den Bürgern zu motivieren.12 Dadurch sollen ganz im Sinne des Putnamʼschen Sozialkapitals demokratische Kompetenzen gefördert und „das Vermögen zur gesellschaftlichen Selbstorganisation“ gestärkt werden.13 Die parteinahen Stiftungen, die im ersten angeführten Beispiel wegen ihres Engagements für die Stärkung einer politischen und damit potenziell regierungskritischen Zivilgesellschaft von den russischen Behörden kontrolliert wurden, sind nicht nur im Ausland in der Demokratieförderung tätig, sondern auch als Träger politischer Bildungsarbeit in Deutschland aktiv. Aus der Liste der 34 größten gemeinwohlorientierten Stiftungen in Deutschland lässt sich für mindestens zehn ein Engagement nachweisen, das unter den Begriff der Demokratieförderung eingeordnet werden kann.14 Neben der Bertelsmann Stiftung kann bei der Baden-Württemberg Stiftung GmbH beispielsweise auf das Projekt Demokratie-Monitoring, das Teil eines Gesamtprogramms mit dem Titel Bürgerbeteili-

|| 10 Striebing 2017: 93. 11 Bundesverband Deutscher Stiftungen 2014. 12 Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text häufig die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige beider Geschlechter. 13 Putnam 1997, Seubert 2009: 9. 14 Eine Auslistung der größten gemeinwohlorientierten Stiftungen ist zu finden unter: https://www.stiftungen.org/stiftungen/zahlen-und-daten/liste-der-groessten-stiftungen.html# tab177 [20.12.2017]. Es sei allerdings daraufhin hingewiesen, dass eine Einschätzung der Größe kritisch betrachtet werden muss, da die Stiftungen unterschiedliche Ansätze bei der Bewertung ihrer Vermögen angeben. Siehe Koss 2002.

4 | Einleitung

gung und Zivilgesellschaft war, verwiesen werden.15 Die Robert Bosch Stiftung führt als einen aktuellen Themenschwerpunkt Jugend und Demokratie auf,16 ebenso wie die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die ihr Engagement unter Demokratie stärken kommuniziert.17 Vorträge mit dem Titel Kein Mensch muss müssen! Die Bedrohung der Demokratie (in Europa) aus der Projektreihe Politik und Gesellschaft der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius18 lassen sich ebenso dazu zählen wie die Publikation Demokratie einfach machen der Körber-Stiftung.19 Thematische Sonderforschungsbereiche und -programme wie Sicherheit, Gesellschaft und Staat der Gerda Henkel Stiftung20 oder Staat, Wirtschaft & Gesellschaft der Fritz Thyssen Stiftung21 fördern gezielt demokratietheoretisches Know-how, während die Stiftung Mercator GmbH die Stärkung Europas und in ihr die „Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie und Freiheit des Individuums“ als eines ihrer vier Förderziele sieht.22 Auch die ausschüttungsstärkste Stiftung Deutschlands, die Volkswagen Stiftung, engagiert sich beispielsweise mit Vorträgen in der Reihe der Herrenhäuser Gespräche zu demokratietheoretischen Themen.23 Diese schlaglichtartigen Beispiele der größten deutschen Stiftungen geben einen Eindruck der Relevanz und Anlass zu einer genauen Analyse stifterischen Wirkens auf dem Feld der Demokratieförderung. Doch auch kleinere Stiftungen, wie beispielsweise die Amadeu Antonio Stiftung, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Demokratie in Deutschland zu stärken, indem sie Projekte gegen Rechtsextremismus und Rassismus fördern. Andere Stiftungen engagieren sich spezifisch für die soziale und politische Selbstbestimmung bestimmter Gruppen. Dazu zählt die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung, die sich für Schwule, Lesben, Transund Intersexuelle einsetzt. Erstaunlicherweise steht eine Aufstellung aller deutschen Stiftungen, die sich in der Förderung demokratischer Strukturen engagieren, bis dato aus. Die circa 400 Stiftungen, die sich laut der Datenbank des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen den Zweck der Förderung des demokratischen Staatswesens gegeben haben, sind als

|| 15 https://www.bwstiftung.de/fileadmin/Mediendatenbank_DE/BW_Stiftung/Programme_ Dateien/Bildung/Nachhaltige_Entwicklung/Buergerbeteiligung/BDBAWUE_Erste_Ergebnisse_ Website.pdf [20.12.2017]. 16 http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/jugend-und-demokratie.asp [20.12.2017]. 17 https://www.ghst.de/demokratie/staerken/ [20.12.2017]. 18 https://www.zeit-stiftung.de/termine/detail/871/?print=1,https://www.zeitstiftung.de/projekte/politikundgesellschaft/ [20.12.2017]. 19 https://www.koerber-stiftung.de/veranstaltungsuebersicht/wir-sind-demokratie-514.html. 20 https://www.gerda-henkel-stiftung.de/spsss[20.12.2017]. 21 http://www.fritz-thyssen-stiftung.de/foerderung/foerderbereiche/staat-wirtschaft-gesellschaft/. 22 https://www.stiftung-mercator.de/[20.12.2017]. 23 https://www.volkswagenstiftung.de/nc/veranstaltungen/veranstaltungsarchiv/detailansichtveranstaltung/news/detail/artikel/freiheitlich-demokratisch-offen-die-beste-aller-moeglichengesellschaften/marginal/5353.html [20.12.2017].

Drei Ausgangspunkte | 5

Maßgabe nicht ausreichend, da Demokratieförderung auch in anderen Zwecken aufgeht, wie dem der Bildung oder dem der geschlechtlichen Gleichberechtigung. Eine klare Zuteilung wird zudem dadurch erschwert, dass das Gemeinnützigkeitsrecht in Deutschland den Spielraum der politischen Mitgestaltung durch gemeinnützige Körperschaften bewusst einschränkt.24 Die politische Tätigkeit darf nicht den alleinigen Zweck darstellen, die Förderung der einzelnen politischen Parteien zum Gegenstand haben und muss die demokratischen Grundprinzipien „objektiv und neutral würdigen“.25 Hier zeigt sich die Sorge des Gesetzgebers, dass die politische Tätigkeit nur einem kleinen Kreis von geförderten Personen und nicht der Allgemeinheit zugutekommen könnte. Wie die beschriebenen Beispiele zeigen, üben Stiftungen trotz dieser vorbehaltlichen Formulierungen jedoch in vielerlei Weise Tätigkeiten aus, die sich unter einem demokratiefördernden Zweck subsumieren lassen können. Mit Demokratieförderung sind hier länderinterne Prozesse gemeint, die zur Stabilisierung des gesellschaftlichen und politischen Regimes in einer bereits konsolidierten Demokratie beitragen und durch Gesellschaftsakteure wie Stiftungen organisiert werden, und nicht externe Einflüsse im Rahmen einer Demokratieetablierung, wie sie im Sinne der Transformationsforschung verstanden wird.26 Die genannten Punkte verdeutlichen die verschiedenen Arten und die Fülle des Mitwirkens von Stiftungen an der demokratierelevanten Wissens- und Strukturbildung der Gesellschaft. Zudem zeigt sich, dass diese Form des Engagements in der Öffentlichkeit zunehmend sichtbarer wird, und die Stiftungen selbstbewusst einen gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsanspruch formulieren. Die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze einer solchen Demokratieförderung gilt es im Interesse genauerer Einsichten zu einem ganzheitlichen Bild zusammenzutragen, denn eine solche Klassifizierung möglicher Förderansätze steht noch aus. Für Stiftungen, die in Deutschland in der Demokratieförderung aktiv sind, steht vor allem die Partizipationsförderung im Mittelpunkt. Sie stellt das zentrale Demokratieförderungsmerkmal innerhalb einer etablierten Demokratie wie der Bundesrepublik dar, da das Beteiligungsprinzip für eine Demokratie konstitutiv ist.27 Empirische Studien haben insbesondere die Ungleichverteilung von politischer Partizipation als dringendes und grundlegendes Problem in konsolidierten Demokratien identifiziert.28 Denn wiewohl die Frage umstritten ist, wie viel aktive Bürger sich auf welchem Wege in einer Demokratie beteiligen müssen, zeigt die Forschung, dass || 24 Strachwitz 2016. 25 Ziffer 8 und 15, Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) [6.12.2017]. 26 Merkel 2010. 27 Andere Aspekte wie die internationale Entwicklungs- und demokratische Regimeförderung, oder Projekte gegen Rechtsextremismus, die auch als Bestandteile von Demokratieförderung gesehen werden können, werden hier nicht explizit untersucht. 28 Bödecker 2012, Schäfer/Schoen 2013, Geißel 2015, Schäfer 2015.

6 | Einleitung

systematische Ungleichheiten bestehen; unabhängig davon, ob bei Wahlen, in deliberativen Verfahren, auf Demonstrationen oder bei neuen Beteiligungsformaten im Netz.29 Obwohl politische und rechtliche Gleichheit verfassungsrechtlich geschützt und gesellschaftlich anerkannt sind, wird offensichtlich, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen weniger partizipieren als andere. Die separierenden Demarkationslinien verlaufen entlang von Faktoren wie Bildung, Einkommen, Geschlecht oder Alter, sodass wohlhabende, gut gebildete und ältere Männer am häufigsten aktiv an allgemein verbindlichen Entscheidungsprozessen teilnehmen. Es ist besonders geboten zu ermitteln, wie gemeinnützige Stiftungen sich zu der Ungleichverteilung verhalten, da sie in einem Spannungsverhältnis stehen, welches sich aus ihrer elitären Gestalt und ihrem gemeinwohlorientierten Handeln heraus entwickelt und an den Diskurs über ihre demokratische Legitimität anknüpft. Anders als Vereine etwa gelten Stiftungen nicht unbedingt als sehr partizipative oder demokratische Institutionen. Der Wesenskern einer Stiftung liegt vielmehr darin, dass der Wille eines Vermögenden im Prinzip auf ewig gebunden wird, um dem einmalig getroffenen gemeinwohlorientierten Zweck zu dienen. Die charakteristische Relation von Stiftung (Geber) zu Destinär (Empfänger), die mildtätig ist – und somit rechtlich oder rechenschaftspflichtig nicht zurückgebunden ist –, negiert die grundlegende demokratische Idee von Gleichheit und reziproker, potenzieller Wechselfähigkeit.30 Da Stiftungsgremien nicht gewählt werden, lässt sich bei ihnen intern keine demokratische Legitimation ableiten. Zudem ist in Demokratien die fiskalische Autonomie zum Nutzen wohlfahrtsstaatlicher Steuerung legitimatorisch von besonderer Bedeutung, was einen Konflikt über die Zugriffseinschränkung der oft enormen Vermögenswerte der Stiftungen, die von diesen bewahrungspflichtig sind, geradezu vorprogrammiert. Auch ist demokratischen Gesellschaften ein Bewusstsein für die zeitliche Begrenzung von Macht – per Legislaturlimit und durch Abwählbarkeit – gemein. Daher können Organisationen, die auf politische Prozesse Einfluss nehmen, ohne deren zugrunde liegenden Prinzipien zu entsprechen, unter Rechtfertigungsdruck geraten. Striebing identifiziert für Stiftungen verschiedene Legitimitätsarten, die unterschiedliche Formen der Rechenschaftsforderungen nach sich ziehen.31 Neben der pragmatischen Legitimität, die sich aus dem Nutzen ergibt, den eine direkte Anspruchsgruppe einer Organisation zuschreibt, ist für Stiftungen vor allem die moralische Legitimität entscheidend, die sich aus dem Nutzen ableitet, den sie vonseiten des Gemeinwesens als mittelbare Anspruchsgruppe zugeschrieben bekommt. Von dieser Anspruchsgruppe können Stiftungen bei Nichterfüllung der von ihr gestellten Rechenschaftsforderungen als demokratisch bedenklich bewertet werden.32 „Die moralische Legitimität ei-

|| 29 Merkel 2015b. 30 Borchert 2013. 31 Striebing 2017. 32 Striebing 2017.

Drei Ausgangspunkte | 7

ner Organisation erodiert, wenn ihre Anspruchsgruppen an einen negativen Effekt der Organisation auf das Gemeinwesen glauben.“33 Der Verdacht eines negativen Effektes kann auch durch den Umstand genährt werden, dass Stiftungen oft von Unternehmern und Angehörigen einer wohlhabenden Elite gegründet werden, was Partikularinteressen nahelegen könnte.34 Stiftungen werden in der Regel von Menschen gegründet und verwaltet, die sich selbst vielseitig engagieren, gut vernetzt sind, häufig partizipieren und den vermögenden und gut gebildeten Teilen der Bevölkerung angehören.35 Ihre Arbeit könnte deswegen einerseits – bewusst oder unbewusst – „gebiast“ sein, d. h. durch ihre Perspektive so verzerrt sein, dass sie Themen und Destinäre wählen, die ihren eigenen Präferenzen entsprechen. So könnten andere Bevölkerungsschichten bei der Zweckumsetzung ausgeschlossen beziehungsweise deren Bedürfnisse nicht erkannt werden. Andererseits sind gemeinnützige Stiftungen eben Organisationen, die der Gemeinheit nützen sollen und deren Zweck der Gesetzgeber festlegt, „um die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern“.36 Ihr Auftrag liegt somit darin, dem Gemeinwesen und gerade nicht Partikularinteressen zu dienen. Dabei gilt es zu unterscheiden: Gemeinnützigkeit ist ein rechtlicher Terminus und wird durch BGB § 52 AO festgelegt; in der Abgabenordnung wurden vom Gesetzgeber die steuerlich geförderten Zwecke bestimmt und damit das Gemeinwohl quasi operationalisiert. Der Status der Gemeinnützigkeit bringt steuerrechtliche Vorteile mit sich; Organisationen, die sie besitzen, werden zum Teil erheblich steuerlich entlastet. Der Begriff des Gemeinwohls hingegen ist in seiner Bedeutung umstritten. Was das Gemeinwohl beinhaltet, konstituiert sich aus den jeweils gültigen Normen und Wertvorstellungen einer Gesellschaft. Zumeist finden sich in Gemeinwohlvorstellungen soziopolitische Ideale formuliert wie ein gerechtes, sicheres oder freies Leben für alle Mitglieder in der Gemeinschaft und die Unterstützung der Armen und Schwachen in ihr.37 Werte des Gemeinwohls sind demnach öffentlich verhandelbare Normen, sie richten sich jedoch an Grundwerten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Frieden und Wohlstand aus.38 Das demokratische Gemeinwohl speist sich aus einer (unbestimmten) Mehrheitsvermutung, zu deren Gunsten es formuliert wird, orientiert sich in seiner Aushandlung aber auch an den Grundwerten einer rechtsstaatlichen, auf Ausgleich bedachten Gesellschaft, sodass es den besonderen Schutz bedürftiger Ge-

|| 33 Striebing 2017: 34. 34 Die enge personale Überschneidung von Unternehmens- und Stiftungsführung haben jüngst belegt: Hirsch/Neujeffski/Plehwe 2016. 35 Allgemein zum Zusammenhang von Reichtum und Philanthropie siehe Lauterbach/Hartmann/ Ströing 2014, speziell zu Stiftungen siehe Adloff und Strachwitz im gleichen Band. 36 BGB § 52 AO. 37 Seubert 2004. 38 Von Beyme 2002: 144.

8 | Einleitung

meinschaftsmitglieder umfassen kann.39 Wenn Stiftungen ihren gemeinnützigen Status – und damit ihre Steuererleichterungen – erlangen und behalten wollen, müssen sie ihren gemeinwohltätigen Nutzen in der steueramtlichen Prüfung nachweisen. Da sie zudem in der Öffentlichkeit oft auf das Gemeinwohl als Richtlinie ihrer Handlungen und damit letztendlich als Quelle ihrer Legitimität verweisen, müssen sie auch dort zeigen, dass diese Inanspruchnahme gerechtfertigt ist.40 Dies geschieht jedoch nur unzureichend. Bei Stiftungen ergibt sich ein besonders hohes Maß an Rechenschaftsdefizit infolge ihrer „Ressourcenautonomie, [also ihrer S.H.] Unabhängigkeit vom Wettbewerb um Spenden, freiwillige Mitglieder, Wählerstimmen oder Verkäufe von Produkten und Dienstleistungen in Kombination mit einer unter Verschwiegenheitspflicht stehenden staatlichen Minimalaufsicht und minimalen Anforderungen an die Governance“.41 Die fehlende Kontrolle von Stiftungen ist in der Forschungsliteratur oft Gegenstand der Kritik, sowohl in Hinblick auf die Kontrolle der rechtlichen Gemeinnützigkeit als auch im weiteren Sinne auf ihre Gemeinwohlorientierung und hat zu Forderungen nach mehr Überprüfung geführt.42 Auch die problematische Konstellation hinsichtlich ihrer Legitimität in demokratischen Gesellschaften wird in der Forschung diskutiert, zugleich aber stets auf den mangelnden Erkenntnisstand in diesem Bereich hingewiesen.43 Das oben beschriebene Spannungsverhältnis von Stiftungen lässt sich begrifflich fassen als „interessenloses Interesse“. Dies gilt für Stiftungsarbeit im Allgemeinen, unabhängig von ihrer spezifischen Zwecksetzung. Es gilt aber auch insbesondere bei der Demokratieförderung, da sich hier die Vertretung und Förderung von Partikularinteressen besonders gravierend auswirken können. Stiftungen sind, wie Reich festgestellt hat, „[a] type of plutocratic voice in democratic societies, [a] private power directed at a public purpose”.44 So kann man argumentieren, dass die Legitimitätsdebatte um Stiftungen im Bereich der Demokratieförderung umso dringlicher zu führen ist, da sie aufgrund ihrer Einflussnahme auf politische Meinungsbildung einer strengeren Rechenschaft unterliegen sollten als zum Beispiel die stifterische Gestaltung von Sport oder Kultur. Die vorliegende Publikation soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen und dabei das partizipationsfördernde Potenzial der Stiftungen in den Mittelpunkt stellen. Dieses ist umso mehr ein Desiderat, als Stiftungen die Kraft haben, neue kreative Wege für inklusivere Beteiligungsformen und gerechtere Zugangsvoraussetzungen zu finden: ein Potenzial, das sie – dies wird ein Ergebnis dieser Untersuchung sein – noch unzureichend ausschöpfen. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit von marktwirtschaftlichen oder fraktionellen Zwängen wird ihnen eine besonders hohe || 39 Münkler/Bluhm 2012. 40 Adloff 2004, Strachwitz 2010 und 2015, Striebing 2017. 41 Striebing 2017: 16. 42 Striebing 2017, Hirsch/Neujeffski/Plehwe 2016. 43 Adloff 2004, Strachwitz 2010 und 2015, Striebing 2017, Reich 2017. 44 Reich 2016: 477.

Forschungsfrage und Aufbau der Arbeit | 9

Problemlösungs- und Innovationsfähigkeit bescheinigt.45 Stiftungen könnten also freie Spielräume eröffnen, um kreative Lösungen und neue Anwendungsmöglichkeiten zu entwickeln. Damit könnten sie für eine gerechte, ihrem Gemeinnützigkeitsauftrag entsprechende Umsetzung eintreten und eine gesellschaftliche Vorreiterrolle für inklusionssensibles Vorgehen bei der Förderung von politischer Partizipation einnehmen.46 Hier setzt die vorliegende Arbeit an und nimmt folgenden Vorschlag der Forschungsliteratur auf: „Wie gut stehen Stiftungen […] da, wenn man sie am Maßstab von Entdeckungen misst? Um diese Frage zu beantworten, wäre mehr empirische Forschung nötig.“47

1.2 Forschungsfrage und Aufbau der Arbeit Aus den Beobachtungen der steigenden Anzahl von Stiftungen in der Demokratieförderung, der Obligation zur Gemeinwohlumsetzung dieser Organisationen sowie der Ungleichverteilung von politischer Partizipation leitet sich die Frage ab, wie Stiftungen die Förderung politischer Partizipation in Deutschland gestalten und ob sie die Ungleichverteilung von Beteiligung wahrnehmen und versuchen ihr zu begegnen. Zur Beantwortung dieser Frage wird sich das Buch in zwei Teile untergliedern. Zum einen in einen Teil, der den theoretischen Zugang zum Thema demokratische Partizipation und Stiftungen darlegt und die Entwicklung eines Ordnungsschemas für die vielen unterschiedlichen Ansätze der Stiftungsarbeit ermöglicht. Dem wird sich als zweiter Teil eine textanalytische, empirische Überprüfung anschließen, die als Datengrundlage die Programmankündigungen und Projektflyer von vier Stiftungen nimmt und sie auf die Wahrnehmung und Reaktion der Stiftungen auf die Ungleichproblematik hin untersucht. Hiermit soll eine Analyse der bewussten wie unbewussten Kommunikation mit den zu Fördernden auf Basis der veröffentlichten Texte durchgeführt werden, um das Gelingen einer zielgruppengerechten Angebotskommunikation bewerten zu können. Mit der (Text-)datenauswahl der Projektankündigungen und -präsentationen wird eine beobachtende Position aus Sicht eines möglichen Teilnehmers gewählt, um die ansprechenden bzw. abschreckenden Formulierungen in den Angeboten analysieren zu können. Die der Untersuchung zugrunde liegende Forschungsfrage untergliedert sich in drei Aspekte:

|| 45 Anheier 2003, Schmidt 2003. 46 Mit Inklusionssensibilität meine ich in dieser Arbeit die bewusste Einbeziehung benachteiligter Menschen und die Hilfestellungen für marginalisierte Gruppen zur Teilhabe an politischen Prozessen. Ich gehe damit über den engen Begriffsbezug von Inklusion auf Menschen mit Behinderung hinaus. 47 Reich 2017: 41.

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Wie kann man deskriptiv-systematisch die Förderung politischer Partizipation durch Stiftungen beschreiben? Wie reflektieren die Stiftungen die Ungleichverteilung von politischer Partizipation? Wie versuchen Stiftungen die Ungleichverteilung in ihrer Projektumsetzung auszugleichen?

Möchte man Stiftungen auf ihre Förderung von politischer Partizipation hin untersuchen, gilt es zunächst die beiden zentralen Begriffe Stiftung und Partizipation zu klären, da sie in ihrem Zusammenhang kaum untersucht sind. Stiftungen gibt es viele und in sehr verschiedenen Formen, ihre Funktionen werden unterschiedlich bewertet, ebenso wie ihre Zwecksetzung. Wie viel Partizipation in einer Demokratie notwendig ist und auf welchem Wege sie organisiert werden soll, wird ebenfalls äußerst kontrovers diskutiert. Die ersten beiden Kapitel nach der Einleitung werden deshalb jeweils einen der beiden zentralen Begriffe zum Gegenstand haben. Sie werden ihn dort definieren, in einen erläuternden Kontext setzen sowie den aktuellen Forschungstand wiedergeben. In Kapitel 2 wird der Begriff der politischen Partizipation in der Demokratie diskutiert. Diesem liegen verschiedene Demokratieverständnisse zugrunde, von dem sich unterschiedliche demokratische Partizipationsanforderungen ableiten. Es werden zuerst die drei wichtigsten Diskurslinien, die repräsentativ-elitäre, die beteiligungszentriert-partizipative und die deliberative Position erläutert. Als aktuell am wirkmächtigsten erweisen sich dabei die beiden letztgenannten, was Ausdruck in der Bestimmung einer multiplen Demokratie gefunden hat (2.1). Die drei Ansätze zeigen trotz ihrer Differenzen eine Übereinstimmung im Kern: in dem, was als das Versprechen der Demokratie bezeichnet werden kann und was die politische Gleichheit als Gesellschaftsanspruch und als normative Richtschnur politischen Handelns setzt und höchsten verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Durch die Kombination der multiplen Beteiligungsformen und der politischen Gleichheitsnorm etabliert sich der gesellschaftliche Wunsch, politische Beteiligung möglichst vielen im Land lebenden Menschen in möglichst unterschiedlichen Formen zu ermöglichen (2.2). Eine gleiche und weitreichende Beteiligung wird so zum Wert der Gemeinwohlvorstellung. Als ein solcher wird er auch für den Begriff der Gemeinnützigkeit relevant, der Inhalte des Gemeinwohls rechtlich konkretisiert und für gemeinnützige Stiftungen von großer Bedeutung ist. So wird das normative Ideal der politischen Gleichheit als wesentlicher Bestandteil demokratischer Gemeinwohlvorstellung und als Gesellschaftsanspruch auch an die Stiftungen und ihre Partizipationsförderung herangetragen, mit dem sie um ihrer Legitimität willen umgehen und dem sie entsprechen müssen. Dadurch scheint eine gleiche und faire Beteiligungspraxis in ihren Projekten erwartbar, sie bleibt jedoch zu prüfen (2.3). Im Anschluss daran werden das Problem und die Gründe der Ungleichverteilung von Partizipation diskutiert (2.4). Das Kapitel schließt mit der diagnostischen Zusammenfassung, die als Rahmenbedingungen stif-

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terischen Handelns anzusehen sind: der aktuelle gesellschaftliche Wunsch nach einer multiplen und vielfältigen Demokratie und nach politischer Gleichheit als Versprechen der Demokratie sowie die empirische Ungleichverteilung von Partizipation (2.5). In Kapitel 3 sind es die Stiftungen, die im Fokus stehen. Nach einem einleitenden Teil (3.1) werden Stiftungen definiert, der deutsche Stiftungssektor beschrieben und der aktuelle Stand der Stiftungsforschung erläutert (3.2.). Der Abschnitt umfasst zudem einen historischen Blick auf Stiftungen, der die Anpassungsfähigkeit von Stiftungen an ihre jeweilige Gesellschaft aufzeigt und aktuell einen Demokratisierungstrend von Stiftungen erkennen lässt. Im Anschluss daran wird ein Vergleich des deutschen mit dem amerikanischen Stiftungssektor gezogen. Der amerikanische Stiftungssektor ist traditionell wesentlich größer als der deutsche und dient oft als Verweisungsmodell. Der Vergleich zeigt Ähnlichkeiten wie Unterschiede auf und erklärt den steigenden Anspruch deutscher Stiftungen, politisch beratend und gestalterisch agieren zu wollen, sowie die hiesigen Forderungen nach größerer staatlicher Kontrolle, welche im amerikanischen Sektor ausgeprägter ist (3.2.3). Der nächste Abschnitt des dritten Kapitels beleuchtet die Rolle von Stiftungen in der Zivilgesellschaft. Nach einer kurzen Einführung zum Begriff der Zivilgesellschaft (3.3.1) wird die Position von Stiftungen in dieser dargelegt sowie ihre Verbindungen in die Nachbarsektoren Wirtschaft, Politik und Privatheit aufgezeigt, aus denen sie die Transferleistung von Geldern zu gemeinwohlorientierten Zwecken in die Zivilgesellschaft erbringen. Denn der moderne Stiftungssektor geht über die Vorstellung vom reichen Kaufmann oder dem Kirchenfürsten als klassischem Stifter hinaus und zeigt eine enorme Vielfalt an Gründungskonstruktionen, die auch staatliche Institutionen, eine Vielzahl an Einzelpersonen oder Konzerne zu Stiftungsgründern werden lässt. Auch in der Demokratieförderung sind Stiftungen mit diesen verschiedenen Gründungskonstellationen zu finden. Daraus leitet sich die Frage ab, ob die verschiedenen Quellen der Finanzierung nicht auch unterschiedliche Formen des Stiftungshandelns mit sich bringen, weshalb bei der Fallauswahl auch unterschiedliche Stiftungsarten gewählt wurden (3.3.2). Im nächsten Abschnitt werden die Motive und die gesellschaftlichen Funktionen von Stiftungen erläutert, zu denen auch die besagte Innovationsfunktion zählt (3.3.3). Anschließend gehe ich auf die ambivalente Rolle ein, die Stiftungen in Hinblick auf Gemeinwohl- und Partikularinteressen spielen können. Wie eingangs beschrieben, zeichnet sich ein Spannungsverhältnis ab aus der Tatsache, dass Stiftungen zum einen zumeist von Mitgliedern wohlhabender und gebildeter Schichten gegründet und geleitet werden, zum anderen aber den Auftrag haben, gemeinnützig – also im Interesse aller Bevölkerungsschichten – zu handeln. Stiftungen werden letzterem nicht gerecht und vertreten stattdessen Partikularinteressen, wenn Unternehmerstiftungen beispielsweise ihre Themensetzung an den ökonomischen Interessen der stiftenden Unternehmen ausrichten oder wenn Stiftungen, die ein bestimmtes Weltbild vertreten, mehr Geld als andere Akteure aufwenden können, um in sozialen Streitthemen tonangebend zu wirken (3.3.4).

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Das Kapitel 4 nimmt die Frage nach der Art der Partizipationsförderung auf, indem es eine systematische Typologie möglicher Förderansätze entwickelt. Hierzu sollen zunächst aus den zwei Forschungsfeldern der politischen Bildung und politikberatender Think Tanks (4.2 und 4.3) bereits existierende Ideen und Kategorien zu Fördermöglichkeiten abgeleitet werden. Im zweiten Schritt werde ich diese Ideen mit Beispielen aus der Stiftungspraxis ergänzen und in einem Typenschema systematisieren (4.4). Die demokratie- und partizipationsfördernden Programme der Stiftungen ordnen sich entlang zweier Linien: zum einen der der Bürgerkompetenz und zum anderen der der Gelegenheitsstruktur. Mal treten Stiftungen mehr als Informationsund Wissensvermittler in Erscheinung, mal mehr als Interessensvertreter und als Akteure, die auf Politik Einfluss zu nehmen versuchen. Diese beiden Linien verzweigen sich weiter in den Zweistrang einer Wissens- und Fähigkeitenvermittlung einerseits und den Zweistrang einer öffentlichkeits-, netzwerksschaffenden Funktion sowie einer anwaltschaftlichen Vertretung andererseits. Ich möchte argumentieren, dass sich daraus vier Typen der politischen Beteiligungsförderung durch Stiftungen ableiten lassen: der szientive, der potestative, der agorative und der advokative Förderansatz (4.4.1–4.4.4). Kapitel 5 reflektiert die Arbeit methodologisch und stellt die Vorgehensweise der empirischen Untersuchung vor. Es erläutert zunächst tiefergehender die eingangs gestellte Forschungsfrage und das Erkenntnisinteresse (5.1), gefolgt von der Begründung des Forschungsdesigns und der Methodenwahl der qualitativen Inhaltsanalyse (5.2). Im Anschluss wird die Fallauswahl der vier Stiftungen der Untersuchung, der Bertelsmann Stiftung, der Bürgerstiftung Heidelberg, der Stiftung Mitarbeit und der Friedrich-Ebert-Stiftung, begründet. Bei der Fallauswahl wurden bewusst Stiftungen gewählt, die sich im Hinblick auf die Größe, die Ausschüttungskapazität sowie den Finanzierungshintergrund unterscheiden, um zu sehen, ob sich bei verschiedenen Typen unterschiedliche Ansätze oder Formate der Förderung etablieren. Den verschiedenen Stiftungstypen werden in der Literatur unterschiedliche Demokratisierungspotenziale zugetraut – die Bürgerstiftung beispielsweise wird oft als Werkzeug einer neuen demokratischen Form des Stiftens beschrieben. Mit dem Vergleich der verschiedenen Typen lassen sich diese Annahmen, zumindest in Hinblick auf ihre Fähigkeit, marginalisierte Gruppen in Prozesse politischer Beteiligung miteinzubeziehen, überprüfen (5.3). Anschließend wird die Projektauswahl des Samples begründet (5.4). Die theorie- und empiriegeleitete Hypothesen- und Prämissenbildung bündelt die in den vorangegangenen Kapiteln diskutierten Annahmen, die dann in der Operationalisierung in messbare Faktoren überführt werden (5.5). So wird der Kriterienkatalog generiert, der die Untersuchungsfolie für die Texte der Ankündigungsund Projektflyer der Stiftungsprojekte darstellt. Der Kriterienkatalog teilt sich in drei Hauptkategorien, die Form-fokussierte, die Emittent-fokussierte, reflektierende sowie die Rezipienten-fokussierte, performative-appellative Sektion, die sich in ihrer Reihenfolge grob den drei Aspekten der Fragestellung zuordnen lassen. Zunächst werden in der Form-fokussierten Sektion Textdaten zum Förderansatz, zur Destinärs-

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bestimmung sowie der angestrebten Form von politischer Beteiligung erhoben. Dieser Teil leistet damit den Beitrag einer systematischen Beschreibung der Förderung von politischer Partizipation durch Stiftungen. Die zweite Sektion erfasst die wichtigsten Aussagen zum Problembewusstsein der Ungleichverteilung politischer Partizipation vonseiten der Stiftungen, die Einschätzungen der eigenen Wirkungsmöglichkeiten sowie eventuelle Problemlösungsvorschläge. Mittels dieser Daten wird geklärt, ob die Stiftungen sich des Problems der Ungleichverteilung bewusst sind und wie sie dieses verhandeln. Dabei wird die Position des Senders der Texte, also der Stiftungen, eingenommen, weshalb sie als Emittent-fokussiert bezeichnet wird. Die dritte Sektion, die performativ-appellative Kategoriensektion, soll diejenigen Aussagen untersuchen, die sich an potenzielle Empfänger der Texte richten und Textintention wie Textwirkung betreffen, weshalb sie Rezipient-fokussiert genannt wird. Die Kategorien wurden dabei so entwickelt, dass sie diejenigen Inhalte systematisieren, die als Aufforderungen an beziehungsweise Informationen für Etablierte oder Marginalisierte verstanden werden können: Sie können die Zielgruppe entweder abhalten oder bestärken, an den Projekten der Stiftungen teilzunehmen. Der performativ-appellative Block stellt das Kernstück zur Ermittlung der Inklusionssensibilität dar. An dieser Stelle werden Aussagen über Zugangsbeschränkungen oder -erleichterungen erhoben und der Kreativitäts- und Innovationbonus, den Stiftungen so oft zugeschrieben bekommen, auf seine Berechtigung hin überprüft. Im Vergleich der Ergebnisse des zweiten mit dem dritten Block lässt sich eine Aussage darüber treffen, inwiefern Anspruch und Umsetzungswirklichkeit in den Projekten voneinander abweichen (5.6.). Das Kapitel 6 umfasst die Ergebnisse der Textanalyse. Für die vier ausgewählten Stiftungen wird der Fördermodus erläutert, welche Partizipationsformen sie verfolgen und wie sich diese den zuvor kategorisierten Fördertypen zuordnen lassen. Darüber hinaus werden die Ergebnisse der einzelnen Schlüsseltexteme des im Kapitel 5 entworfenen Kategoriengerüstes dargestellt. Kapitel 7 bietet eine konzise Zusammenfassung der gewonnenen Ergebnisse, in der die wesentlichen Befunde rekapituliert und ein Vergleich zwischen den einzelnen Stiftungsbeispielen in Hinsicht auf die Schlüsselkategorien gezogen wird. In der Beschreibung der einzelnen Stiftungsbeispiele und ihrem Vergleich zeigt sich, dass es keiner der untersuchten Stiftungen gelingen konnte, eine überzeugende inklusionssensible Umsetzung ihrer Projekte zu organisieren und besonders innovative Ideen einer auf Marginalisierte ausgerichteten Ansprache zu entwickeln. Ein perspektivischer Ausblick auf den Forschungsgegenstand schließt die Untersuchung ab. Mit der Entwicklung eines systematischen Überblickes über mögliche Förderansätze von Stiftungen in der Partizipationsförderung auf der einen Seite sowie der textanalytischen Überprüfung ihres De-facto-Beitrages zu einer auf Gleichheit bedachten Verwirklichung von Beteiligung auf der anderen Seite leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag sowohl zur zivilgesellschaftlichen Forschung als auch zu Demokratiestudien. Sie möchte damit zum einen die Grundlagenforschung über Stiftungen be-

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reichern. Dies tut sie, indem sie sie als Akteure im Handlungsraum der Politikgestaltung thematisiert und dies als relevanten Aspekt einer Theorie der gesellschaftlichen Rolle von Stiftungen hinzufügt. Zum anderen kann sie anhand der empirischen, qualitativen Überprüfung der Förderprojekte von Stiftungen unter Maßgabe ihrer Fragestellung nach der Umsetzung von politischer Gleichheit die normative Diskussion um ihre demokratische Legitimität und ihre Gemeinwohlverwirklichung mit belegbaren Daten unterlegen. Das entwickelte Kategoriensystem könnte als Setzkasten auch Ausgangspunkt für weitere großflächigere Untersuchungen dienen. Die positiv hervortretenden Projektumsetzungen können zudem als Best-Practice-Beispiele für andere Stiftungen anleitend wirken und helfen, erkennbare Mängel oder gar Missstände zu beheben.

1.3 Konzeptioneller Rahmen Die Untersuchung verortet sich zunächst im Gebiet der Politikwissenschaft. Aufgrund des komplexen Ansatzes werden Resultate aus verschiedenen Forschungsbereichen einbezogen, deren Hintergründe – grob gefasst – entweder dem Feld der Demokratiestudien oder dem der Zivilgesellschaftsforschung zugeordnet werden können. Das Forschungsinteresse dispergiert in einem Dreieck folgender Forschungsbereiche: 1. Stiftungsforschung als Teil der Zivilgesellschaftsforschung Hier liegt der Fokus auf der Rolle von Stiftungen in der Demokratie und auf ihrer Legitimität.48 Kontextuell bettet sich dieser Ansatz ein in die Debatte um NPOs (Non-Profit-Organisationen) oder NGOs, die in den neuen Governance-Strukturen in politischen Entscheidungsfindungsprozessen, national wie international, zunehmend eine wichtigere Stellung einnehmen.49 Zur Beschreibung dieser Sphäre und zur Absteckung des theoretischen Rahmens werde ich in erster Linie mit dem Begriff der Zivilgesellschaft arbeiten. Mit Zivilgesellschaft ist mit Kocka jener gesellschaftliche Bereich gemeint, der sich durch Selbstorganisation und freiwilliges Engagement auszeichnet und in dem Stiftungen als Organisationsform und als Akteure bestimmte soziale Funktionen wahrnehmen.50 2. Politische Partizipationsforschung und lokale Politikforschung Die politische Partizipationsforschung und das Feld lokaler Politikforschung liefern zum einen Ergebnisse über die Ungleichverteilung von politischer Partizipation und Ansätze zu ihrer Überbrückung.51 Zum anderen zeigen sie aber auch die

|| 48 Schwertmann 2006, Adloff 2010, Strachwitz 2015, Striebing 2017. 49 Für die internationale Debatte: Scott/Meyer 1994, Boli/Thomas 1999, Take 2002, Ebrahim 2003. Für den deutschen Sektor: Zimmer/Priller 2004, Zimmer/Sima 2014. 50 Kocka 2000. 51 Partizipationsforschung allgemein: Niedermayer 2005. Mit Bezug auf soziale Ungleichverteilung: Bödecker 2012, Schäfer/Schoen 2013, Geißel 2015, Schäfer 2015.

Konzeptioneller Rahmen | 15

3.

unterschiedlichen Formen möglicher Bürgerbeteiligung und sogenannter politischer Gelegenheitsstrukturen auf, die von Stiftungen als Ansatzpunkte genutzt werden.52 Wesentlicher Bestandteil dieser Diskussion ist die Wandlung der ehemals vor allem repräsentativ verfassten Willensbildung zu der Möglichkeit einer multipleren Form von Beteiligung über ein weites Spektrum hinweg, das von Wahlen, der Parteimitgliedschaft über Bürgerinitiativen und neue Beteiligungsverfahren bis hin zu Demonstrationen reicht.53 Politische Bildung Das Forschungs- und Praxisfeld der politischen Bildung dient der Untersuchung als Hintergrund, auf dem Bedingungen der Möglichkeit politischer Partizipation diskutiert und entwickelt werden.54

|| 52 Kilschelt 1999, Vetter 2008, Glaab 2016. 53 Nolte 2011. 54 Himmelmann 2001, Breit/Schiele 2004.

2 Konzeptioneller Bereich I: Demokratische Beteiligung und ihre Faktoren Die zwei Kernbegriffe der Fragestellung, Stiftungen und demokratische Partizipation, sollen in den nächsten beiden Kapiteln ausführlicher besprochen und in ihre jeweiligen theoretischen Rahmenbezüge eingebettet werden. So wie der Blick in den Stiftungssektor die große Vielfalt und Bandbreite dieser Institutionen zeigt, wird beim Versuch, den Begriff der demokratischen Partizipation zu bestimmen, schnell klar, dass sich hier ebenfalls ein enormer Interpretationsspielraum auftut. Denn wenngleich Demokratie übersetzt die Herrschaft des Volkes bedeutet, ist nicht per se ausgemacht, wie politische Partizipation in dieser konkret ausgestaltet wird.55 Deshalb werden in diesem Kapitel die Begründungszusammenhänge der unterschiedlichen demokratischen Partizipationsanforderungen vorgestellt. Ziel des Kapitels ist es, die Definition der grundlegenden Begriffe, u. a. von Partizipation und Demokratie, zu klären, den aktuellen Forschungsstand in der wissenschaftlichen Debatte um politische Partizipation in der Demokratietheorie aufzuzeigen und die Gründe der real existierenden ungleichen Politikbeteiligung und Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen zu kennzeichnen.

2.1 Die historische Bilanz und drei Demokratieangebote Zuerst einmal soll politisches Handeln definiert sein als dasjenige soziale Handeln, welches die allgemein bindenden Regelungen in einer Gesellschaft hervorbringt und Interessendiversität in allgemeine Verbindlichkeit transformiert.56 Unter politischer Partizipation wird, daran anschließend, jene Verhaltensweise von Bürgern verstanden, welche diese alleine oder mit anderen freiwillig und mit dem Ziel unternehmen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.57 Diese Einflussnahmen können sich auf eine oder mehrere Ebenen des politischen Systems, beispielsweise die Kommune oder den Bund, richten und in verfassten und unverfassten Formen stattfinden. Als verfasst gelten institutionell klar definierte Formen wie Wahlen, mit unverfasst sind hingegen jene Aktionsformen gemeint, die in einem spontanen oder geplanten „Mobilisierungsprozess außerhalb eines institutionalisierten Rahmens“ entstehen.58 Die Definition zeigt bereits die Breite der möglichen Formen der Einflussnahme. Die unterschiedlichen Auffassungen von politischer Partizipation ergeben sich vor allem aus der enormen Konnotationsvarianz des Demokratiebegriffs selbst, also aus den || 55 Ich verwende Beteiligung und Partizipation synonym. 56 Lange 2005: 260. 57 Kasse 2000. 58 Kaase 2000: 473. https://doi.org/10.1515/9783110656503-002

Die historische Bilanz und drei Demokratieangebote | 17

unterschiedlichen Vorstellungen davon, was die Herrschaft des Volkes beinhaltet. Der Demokratiebegriff gilt in der politischen Ideengeschichte als einer der am härtesten umkämpften Begriffe überhaupt.59 Unklarheiten ergeben sich dabei sowohl aus dem historischen Erbe des Begriffs von der Antike bis in die Moderne hinein als auch durch die vielen nebeneinanderstehenden und miteinander konkurrierenden Ansätze moderner Demokratietheorien. Dem Phänomen Demokratie kann man sich gut aus zwei Perspektiven, quasi diachron und synchron, nähern: einmal in Betrachtung eines historischen Längsschnitts, der die beiden Pole des antiken und modernen Demokratieverständnisses offenlegt – hier nur kurz dargelegt –, und einmal in der Perspektive eines diskursiven Querschnitts, der die unterschiedlichen Ansätze verschiedener Demokratietheorien entfaltet und hier ausführlicher vorgestellt werden wird. Im Vergleich der attischen Polisdemokratie mit den modernen liberalen Demokratien westlicher Prägung fällt auf, dass sie, außer dem Namen, nicht viel miteinander gemeinsam haben. Im antiken Stadtstaat des 5. Jahrhunderts v. Chr. entschieden die Bürger in Volksversammlungen direkt über ihre Belange und die Besetzung politscher Ämter wurde durch Los oder Rotation bestimmt.60 Es gab keine verfassungsrechtlichen Beschränkungen der Entscheide und jene Bürger, die abstimmen durften, machten nur einen kleinen Teil der gesamten Bevölkerung aus. Diejenigen, die nicht frei, nicht besitzend oder nicht männlich waren, hatten kein Stimmrecht: Sklaven, Besitzlose, Frauen waren also ausgeschlossen. Die positive Konnotation mit dem Begriff Demokratie ist ein modernes Phänomen und nicht eine der philosophischen Reflexionen in der Antike. Das aristotelische Verfassungsschema nimmt Demokratie als die schlechte und vor allem instabile Herrschaft des Pöbels auf, die immer nur eine Nasenlänge von der Tyrannei entfernt sei.61 Während Aristoteles noch die Möglichkeit der besten Herrschaft in der Mehrzahl der tugendhaften Bürger sieht, lehnt Platon die Herrschaft der Mehrheit rigoros als falsche und illegitime Staatsform ab. Er definiert Demokratie in seinem Werk Politikós zusammenfassend als Regierung der Menge, die „mit Gewalt oder mit ihrem guten Willen […] über die, welche das Vermögen in Händen haben“ regiert.62 Die Wendung zum modernen Demokratiebegriff vollzieht sich über den Republikanismus der italienischen Renaissance, die die sukzessive Ablösung des räumlichen demokratischen Denkens von kleinen Stadtstaaten zu einem institutionellen Flächenstaat vorbereitet. Diese findet sich in der Folge beeindruckend verteidigt in der Verfassungsbegründung der Federalist Papers, deren Autoren der jungen amerikanischen Demokratie um 1788 den Entwurf einer Bundesverfassung vorlegen.

|| 59 Göhler/Iser/Kerner 2004. 60 Buchstein 2004. 61 Braun/Heine/Opolka 1984: 67. 62 Politikos 291d-292a.

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Die beiden entscheidenden Unterschiede, zwischen einer Demokratie und einer Republik sind: erstens, die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von den Übrigen gewählten Bürger in letzterer, zweitens, eine größere Zahl von Bürgern und ein größeres Territorium, auf das die Republik ausgeweitet werden kann.63

Mit den 85 Artikeln werden Fragen zum Schutz des Individuums vor der Tyrannei der Mehrheit aufgeworfen und jene Vorteile des Föderalismus, der Gewaltenteilung und des Pluralismus diskutiert, die in der Folge prägend für alle modernen liberalen Demokratien sein werden.64 Die modernen Demokratien zeichnen sich durch ihren repräsentativen Charakter aus. In den zumeist großen Flächenstaaten werden Delegierte für feste Legislaturperioden in Repräsentativorgane gewählt. Weitere Kennzeichen der modernen Demokratien sind Gewaltenteilung und die verfassungsmäßige Begrenzung politischer Entscheidungsfreiheit.65 Die Wahlberechtigung erstreckt sich seit einigen Jahrzehnten in der Regel auf alle volljährigen Staatsbürgerinnen. Die Idee von Demokratie in der Gegenwart nimmt demnach die delegierte, repräsentative Form von Demokratie zum Ausgangspunkt. Allerdings ist in dieser Idee noch immer ein großer Spielraum für die Beantwortung der Frage enthalten, in welchem Maße und in welcher Form sich die Beteiligung im politischen Prozess zeigen soll (und kann).66 Es spannt sich eine Skala an Möglichkeiten zwischen zwei Polen, deren antagonistische Stellung letztendlich von dem Grad der Zumutung an den einzelnen Bürger bestimmt wird. Die elitistischen Demokratietheorien auf der einen Seite gehen davon aus, dass eine besonders fähige Gruppe von Menschen die politischen Sachbelange für alle verhandeln und entscheiden kann und die Volksherrschaft nur in der Wahlakklamation dieser Eliten liegen sollte. Die Demokratietheorien Max Webers (1914), Joseph Schumpeters (1950) und Giovanni Satoris (1992) fallen beispielsweise, jeweils mit graduellen Unterschieden, in diese Kategorie.67 In der pessimistischen Lesart ist hier der normale Bürger entweder zu inkompetent, zu egoistisch oder zu desinteressiert, um Entscheidungen mit Allgemeinverbindlichkeit treffen zu können. Auf der anderen Seite stehen Befürworter einer möglichst direkten Form politischer Willensbildung mit regem Austausch zwischen Wählern und Gewählten. Bei den partizipativen, direktdemokratischen Demokratieansätzen, wie sie beispielsweise Carole Pateman (1970) oder Benjamin Barber (1984) formulieren, soll möglichst jeder Bürger an verschiedenen Phasen des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses teilhaben und gut informiert sowohl von seinem passiven als auch aktiven Wahlrecht Gebrauch machen. Kommunikationstheoretische, deliberative Ansätze,

|| 63 Hamilton/Madison/Jay [1788]1994: 55. 64 Schmidt 2010: 98. 65 Buchstein 2004. 66 Ein einführender Überblick bietet Schmidt 2010. 67 Für Gemeinsamkeiten und Unterschiede vgl. Massing/Breit 2003.

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wie Jürgen Habermas (1992) sie bekannt gemacht hat und die sich auf der Skala gewissermaßen zwischen den beiden anderen ansiedeln ließen, stellen den rationalen Konsens und die gemeinsame Beratung als Kern demokratischen Handelns in den Fokus.68 Sowohl den deliberativen als auch den direktdemokratischen Ansätzen ist die Vorstellung inhärent, dass Politik keine abgrenzbar soziale Sphäre ist und nur im Parlament stattfindet, sondern vielmehr lebensweltlich alle Individuen einer Gesellschaft vielfach berührt. Das Verständnis von Demokratie weitet sich und wird zu einem gesellschaftlichen Strukturmerkmal, das auch die Bereiche der Arbeitswelt und des Bildungssystems umfasst. Die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft wird nicht trennscharf gezogen, und der Mensch wird als Bürger, als homo politicus in einer Zivilgesellschaft begriffen. Der Bürgerbegriff lädt sich damit anspruchsvoll auf und benötigt die Fähigkeit zu einer ausgeprägten Gemeinwohlorientierung, welche das Eigeninteresse des Einzelnen übersteigt.69 Ich schließe mich in dieser Arbeit dem weiter gefassten Demokratie- und Bürgerbegriff an, da er eine umfassendere nicht nur auf Wahlen basierende Mitbestimmung beinhaltet.

2.1.1 Elitistische und repräsentative Demokratieansätze Die Argumente, die elitistische Demokratieansätze gegen andere Modelle anführen, sind in der Regel die besserer Politikergebnisse. In der Vorstellung eines Systemmodells, in dem politischer Input in bestimmten Abstimmungsmodi zu verbindlichen Entscheidungen (dem Output) verarbeitet wird, betrachten diese Ansätze eher die Ergebnisse, also die Output-Seite.70 Sie gehen davon aus, dass die gewählten Politiker über höheren Sachverstand und Rationalität als der Durchschnittsbürger verfügen und deswegen bessere Entscheidungen treffen können. Die partizipative Minimalanforderung des Wahlgangs alle paar Jahre wird quasi verrechnet oder in Kauf genommen mit besseren, soll mithin heißen gerechteren, effizienteren oder nachhaltigeren Regierungsergebnissen. Oft findet sich in diesem Demokratieverständnis die Angst vor einer ungezügelten Einflussmöglichkeit breiter Bevölkerungsschichten, eine Angst vor der Herrschaft des Mobs oder vor der Tyrannei der Mehrheit, wie sie bereits Tocqueville 1834 heraufbeschworen hat und die die Debatte um Beteiligung in der Demokratie im Grunde genommen seit je her begleitet.71 Eine nüchtern-pragmatische Varietät repräsentativer Demokratietheorie stellt die Pluralismustheorie dar, die in Deutschland vor allem durch Ernst Fraenkel geprägt wurde. Sie geht davon aus, dass

|| 68 Habermas 2009. 69 Münkler 1997. 70 Das Input-Output-Modell politischer Systeme geht auf David Easton zurück und hat breite Anwendung gefunden. 71 Tocqueville [1848] 1976.

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die Verfolgung von Eigeninteressen einen essentiellen Bestandteil der menschlichen Anthropologie darstellt und auch in politischen Entscheidungsprozessen wirksam ist.72 Die Theorie stellt keine ideellen Erwartungen an den Bürger und erwartet von ihm lediglich die Wahl der für ihn geeigneten Repräsentanten und Parteien sowie die teilnehmende Beobachtung am politischen Geschehen. Dabei sind in der Summe der Einzelinteressen durchaus gemeinwohlorientierte Politikergebnisse möglich; ein Gemeinwohl a posteriori kann unter der Maßgabe entstehen, dass dieses als regulative Idee in den Aushandlungen – von allen Teilnehmern – mitgedacht wird.73 So unentbehrlich es für die westlichen Demokratien ist, den in den Interessenorganisationen in Erscheinung tretenden differenzierten kollektiven Interessen freien Spielraum zu gewähren, so unerlässlich ist es zu betonen, dass die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen nur dann als verbindlich anerkannt werden können, wenn die Auseinandersetzung unter Einhaltung der Regeln eines fair-play geführt werden und die Ergebnisse der Auseinandersetzungen sich im Rahmen der Mindesterfordernisse der sozialen Gerechtigkeit bewegen.74

Auch bei der in der Analogie zum Markt gesetzten Konkurrenztheorie Schumpeters herrscht ein nüchterner, ja pessimistischer Blick auf den Bürger als politisch handelndes Subjekt vor. Da dieser oft selbst nicht wisse, wie er seine Wünsche am besten bestimmen und vertreten könne, sich oft „als schlechter Kenner [der] eigenen langfristigen Interessen“ entpuppe und gerade auf dem politischen Gebiet zu irrationalem Handeln neige, sei ihm am besten gedient, wenn er sich darauf konzentriere, geeignetes politisches Führungspersonal durch einen Wettbewerb, bei dem die Bewerber ihr Bestes geben müssen, auszuwählen.75 Diejenigen Stimmen, die für eine strenge politische Arbeitsteilung zwischen Eliten und der Restbevölkerung eintreten, haben jedoch seit den 1970er-Jahren zunehmend an Boden verloren.76 Dies liegt auch daran, dass die klassische (moderne) Form der repräsentativen Demokratie, bedingt durch ihren eigenen Erfolg, mit einigen Krisenerscheinungen zu kämpfen hat. Aus dem Konflikt des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der realsozialistischen Regierungen tritt das Modell der westlichen liberalen Demokratie konkurrenzlos hervor. Andere Herrschaftsbegründungen, etwa dynastischer, theokratischer oder faschistischer Art, stehen nicht weiter zur Verfügung.77 Mit dem Triumph der Demokratie folgt aber auch ein stärkerer Selbstbezug und somit die Frage nach strukturellen Fehlern und Leistungsgrenzen des politischen Systems. Es wachsen die Zweifel, ob die Demokratien in der Lage sind, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmende Angleichung der Lebensverhältnisse ih|| 72 Fraenkel [1974] 1991. 73 Buchstein 2002. 74 Fraenkel [1974] 1991: 89. 75 Schumpeter 1952: 414. 76 Vetter 2008, Kaufmann 2014, Glaab 2016. 77 Offe 2004.

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rer Bürger fortsetzen und ihre wohlfahrtsstaatlichen Sicherheiten aufrechterhalten zu können. Ihr Rückhalt und ihre Legitimität werden durch sinkende Wahlbeteiligungen bei Kommunal-, Länder- oder Bundestagswahlen und rückläufige Mitgliederzahlen bei den etablierten Parteien in Frage gestellt.78 Zudem befördert die Globalisierung, verstanden als die immer dichter werdenden Verflechtungen zwischen den Staaten sowohl in wirtschaftlicher, rechtlicher als auch politischer Hinsicht, aber auch das Aufkommen neuer Akteure in den internationalen Beziehungen, Leistungsund Steuerungsgrenzen zu Tage.79 Durch die stärkeren ökonomischen wie rechtlichen Abhängigkeiten – man denke hier beispielsweise an die Stützungsmaßnahmen der EU-Länder untereinander im Rahmen der Finanzkrise – werden legitimatorische Fragen der demokratischen Rückbindung aufgeworfen, weil gewählte Parlamente in ihren Entscheidungskompetenzen trans- oder supranational beeinflusst werden.80 Die strukturellen Veränderungen der letzten Dekaden in den westlichen Nationalstaaten, die dort fast überall einen wohlfahrtsstaatlichen Rückbau einschlossen, sind gekennzeichnet „durch die Privatisierung und Deregulierung öffentlicher Aufgaben, eine veränderte Steuerpolitik und monetaristische Wirtschaftspolitik“.81 Diese Transformation und Internationalisierung staatlicher Politik wird oft als Staatsversagen und Verlust der Dezisionshoheit der nationalen Regierungen interpretiert. Diese inneren wie äußeren Einflüsse evozieren den Eindruck einer Krise des Parlamentarismus, die auch als postdemokratisch bezeichnet wird. Kennzeichnend für den maßgeblich von Colin Crouch geprägten Begriff der Postdemokratie ist, dass, obgleich die formalen institutionellen Arrangements der repräsentativen Demokratie – wie etwa Wahlen oder Gewaltenteilung – intakt sind, der Souverän, das Volk, seinen Willen nicht mehr legitim umsetzen kann, da er in großen Teilen vom politischen Prozess ausgeschlossen ist.82 Innerhalb dieser Fassadendemokratie seien die Bürger, eine kleine Elite ausgenommen, reine Statisten, die allenfalls – gelenkt von politischer PR und Agenda-Setting – kopf- und herzlos ihr Kreuzchen machen dürfen. Die reale Politik werde abseits dieser politischen Inszenierung von einigen Wenigen gemacht.83 Die privilegierte Elite, so Crouch, vertritt in erster Linie die Interessen der Wirtschaft und lässt große, global agierende Unternehmen ihren Einfluss transnational zur Geltung bringen. Inwieweit Stiftungen eine Rolle dabei spielen können, wird in Kapitel 3 genauer beschrieben werden. Der Leistungsverlust der Demokratie entspricht demnach sowohl einem politischen wie ökonomischen Gleichheitsverlust;

|| 78 Korte 2009, 2013. 79 Held 2007: 143. 80 Streeck 2013. 81 Pierre and Peters 2000, übersetzt aus Walk 2008: 37. 82 Für einen Überblick auch anderer postdemokratischer Ansätze vgl. Buchstein/Nullmeier 2006. Eine Kritik an dem Begriff der Postdemokratie lautet, dass er unterschiedliche Einzelerscheinungen subsumiere, in konzeptioneller und normativer Hinsicht aber diffus bleibe. Vgl. dazu Richter 2006. 83 Crouch 2008.

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ihre Institutionen können weder die aktive Beteiligung möglichst aller Bürger an der Politik noch die Angleichung der Lebensverhältnisse gewährleisten. Die wesentlichen Kernpunkte der postdemokratischen Kritik liegen also zum einen auf dem sich entpolitisierenden Individuum (Politikverdrossenheit), zum anderen auf dem Wandel der gesellschaftlichen Teilbereiche Wirtschaft und Politik. So sehr sich die Ökonomie auf der einen Seite in die Politik drängt und sie neuen Regelungsmechanismen unterwirft, so sehr verkommt die Politik auf der anderen Seite in ihrer eigentlichen Funktion zu einer bloßen medialen Inszenierung (Politainment).84 Doch wie ist dem Problem der zwar ausgehöhlten, aber intakten institutionellen Arrangements der repräsentativen Demokratie zu begegnen? Es ist ein Kritikpunkt an dem Konzept der Postdemokratie, dass es im Grunde nur eine diffuse Zustandsbeschreibung etablierter Demokratien sei, aber keinen Ausweg aus der gegenwärtigen Demokratiekrise aufzeigen könne.85 Mag man der postdemokratischen Krisendiagnose nun zustimmen oder nicht, die rückgehende Wahlbeteiligung wird von den meisten Beobachtern als Zeichen dafür gedeutet, dass der Wahlgang allein und die Bestimmung eines (parteigebundenen) Abgeordneten mittlerweile als Partizipationsform und Quelle demokratischer Legitimation nicht mehr genügen; und es ist offensichtlich, dass die elitistischen Demokratieansätze diesem Anspruch nicht begegnen können.86 Die partizipative Minimalanforderung, nach der der Bürger nichts tun muss, außer sich eine Partei zu suchen, die in etwa seine Präferenzen vertritt, und diese dann zu wählen, scheint unzureichend und das Argument der besseren Entscheidungen nicht mehr evident.

2.1.2 Beteiligungszentrierte Ansätze Der Versuch, dem entstehenden Legitimitätsdefizit zwischen Volkssouveränität und -vertretung epistemisch zu begegnen, hat bei vielen Forschern zu der Forderung einer Re-Politisierung des Bürgers und des Konzeptes der (politischen) Zivilgesellschaft geführt. Das Präfix weist auf den Wunsch der Wiederherstellung von etwas schon einmal Dagewesenen hin, und so sehen sich auch viele Vertreter der beteiligungszentrierten Ansätze in der ideengeschichtlichen Tradition direktdemokratischer Verfahren der griechischen und römischen Antike oder des volonté generale Rousseaus.87 Die Theorieansätze verästeln sich im ausgehendenden 20. Jahrhundert und werden beschrieben als republikanische bzw. neorepublikanische, kommunitaristi-

|| 84 Crouch 2008. 85 Jörke 2011. 86 Es gibt auch die Erklärung, nach der der Rückgang der Wahlbeteiligung einfach als Zufriedenheit gedeutet werden könnte. 87 Eine gute Einführung gibt Hölzing 2014.

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sche oder assoziative Demokratietheorien. Ihnen gemeinsam bleiben die Betonung gemeinschaftsorientierter Werte, die Notwendigkeit einer Bürgertugend, das Präferieren der bürgerlichen Selbstorganisation in freiwilligen Assoziationen und der Vorrang des Guten vor dem Recht. Der Kommunitarismus wie auch die anderen Ansätze sucht in Antwort auf den oft als entleert wahrgenommenen Liberalismus mit seinem Fokus auf dem institutionellen Rechtsstaat und das einzelne Individuum eine affektiv-bindende Brücke zu schlagen zwischen Bürger und Staat bzw. Individuum und Gemeinschaft.88 Diese erstarkte, weil ausgeweitete Demokratie, die mit Namen wie Amitai Etzioni oder Benjamin Barber verknüpft ist, soll maßgeblich in und aus der Zivilgesellschaft heraus belebt werden, was ihr einen wichtigen Stellenwert in den beteiligungszentrierten Ansätze einräumt.89 Obwohl ideengeschichtlich weitaus weiter zurückführbar, ist der Begriff der Zivilgesellschaft seit den 1980er-Jahren wieder verstärkt in den Diskussionen der Demokratietheorien zu finden.90 „Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen.“91 Die Zivilgesellschaft gilt damit neben dem Staats- und Wirtschaftssystem als die Sphäre, in der sich die Bürger sozial und politisch organisieren können, und als Ort alternativer Beteiligungsformen. Die Forderungen nach einer starken Zivilgesellschaft sind mithin Bestandteil liberaler, konservativer, sozialdemokratischer oder linker Rhetorik geworden und spiegeln die Hoffnung auf die Möglichkeit einer Überbrückung des politischen Institutionalismus und der individuellen Privatsphäre jenseits der Wahlurne wider. Neue Partizipationsformen werden in mehrfacher Hinsicht als alternative Legitimitätsquelle zur klassischen Form der Stimmabgabe gesehen.92 Bei den beteiligungszentrierten Demokratieansätzen soll möglichst jeder Bürger in verschiedenen Phasen des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses teilhaben können. Sie fokussieren sich somit eher auf die Input-Seite des Politikmodells und argumentieren oft mit dem Gerechtigkeitsaspekt einer möglichst holistischen Einbeziehung der Bevölkerung. Die Mittel dazu können die Durchführung von Referenden, Bürgerinitiativen oder Demonstrationen sein, sie umfassen aber auch rechtliche Weichenstellungen etwa durch Verstärkung der Informationsrechte und Anhörungsrechte, beispielsweise in

|| 88 Zentrale Texte sind übersetzt in: Honneth 1993. 89 Etzioni 1993, Barber 1984. 90 Im dritten Kapitel wird das Konzept der Zivilgesellschaft vor dem Hintergrund der theoretischkonzeptionellen Verortung von Stiftungen als einer ihrer Akteure ausführlicher diskutiert, der Begriff soll an dieser Stelle aber schon eingeführt werden, da er maßgeblicher Bestandteil jener Demokratietheorien darstellt, die einen weiten lebensweltlichen Demokratiebegriff haben. 91 Adloff 2005: 24. 92 Schmidt 2005: 236.

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Planungsverfahren, oder durch die Einrichtung sogenannter runder Tische oder anderer Mediationsverfahren.93 Es sollen die Bürgerforen und Protestformen in der Tradition der Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre erhalten und erweitert sowie alternative Abstimmungsmöglichkeiten durch neue Medien und Kommunikationskanäle und die Möglichkeiten einer E-Democracy ausgelotet werden.94 Die verschiedenen Formen der Beteiligung werden oft im Bild einer Treppe beschrieben, die über Information, Mitsprache, Mitbestimmung bis zur Selbstverwaltung reicht. Je höher die Stufen der Treppe liegen, desto größer ist der Einfluss der Beteiligung auf die Entscheidungen.95 Die Partizipationsmuster in Deutschland haben sich in den letzten dreißig Jahren von eher informativen Verfahren und Betroffenenbeteiligung hin zu einer eher kooperierenden Problembearbeitung gewandelt.96 Die historische Entwicklung lässt sich von fast ausschließlich repräsentativer Teilhabe in den 1950er-Jahren über die Bürgerrechtsdemonstrationen der neuen sozialen Bewegungen in den 1960er- und 1970er-Jahren bis heute als ein mehr oder weniger kongruenter Kampf um die Zunahme an formellen wie informellen Beteiligungsformaten lesen.97 Bis Ende der achtziger Jahre führten direktdemokratische Verfahren ein Schattendasein, doch nach der Wiedervereinigung werten alle Bundesländer direktdemokratische Elemente in den Landesverfassungen auf. […] Bis 2007 gab es auf lokaler Ebene mehr als 2.000 Bürgerentscheide, drei Viertel davon in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern.98

Mehr als 80 Prozent der Deutschen wünschen sich laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung weitere Beteiligungsmöglichkeiten jenseits von Wahlen, worauf zunehmend auch die Parteien reagieren.99 Insbesondere auf der lokalen, kommunalen Ebene lässt sich der Versuch, dieser Forderung nachzukommen, erkennen und eine Vielfalt von Reformen zu Beteiligungsmöglichkeiten verzeichnen.100 Ist dieser Trend in ganz Europa zu beobachten, sticht Deutschland innerhalb dieser Gruppe nochmal besonders hervor.101 Im internationalen Kontext wurden mit der Aarhus-Konvention (1998) oder dem Weißbuch Europäisches Regieren (2001) als Grundsätze guter Regie-

|| 93 Eine systematische Übersicht bietet Alcantara et al. 2016. 94 Buchstein 2001, Coleman/Blumler 2009, Maier-Rabler/Huber/Schmid 2012. 95 Walk 2008. 96 Walk 2008. 97 Lediglich in Bayern und in Baden-Württemberg bestand vor 1960 die Möglichkeit der direkten Bürgermeisterwahl. 98 Schäfer 2015: 197. 99 Bertelsmann 2014. 100 Vetter 2008, Glaab 2016. 101 Schäfer 2015.

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rungs- und Verwaltungsführung „die Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Politikgestaltung und Entscheidungsfindung auf allen Ebenen der EU“ festgelegt.102 Die Reformierungsbestrebungen könnten als Antwort auf ein gewandeltes Politikverständnis gesehen werden, bei dem die politischen Institutionen quasi auf die geänderte Nachfrage des Souveräns reagieren. Ein punktuelles, zeitlich begrenztes politisches Engagement vonseiten der Bürger korrespondiert dann „mit dem Befund eines gewandelten Politikverständnisses, das als eher situativ, kontextabhängig, erlebnis- und betroffenheitsorientiert beschrieben wird“.103 Viele Befürworter vermehrter Bürgerbeteiligung argumentieren meist normativ mit einer höheren Systemakzeptanz der Bürger und mit einer Revitalisierung der Demokratie als Antwort auf die oben genannten Krisenphänomene. Oft wird allein ein Mehr an Beteiligung im quantitativen Sinne als ein „Mehr an Demokratie“ verstanden. Direktdemokratische Verfahren seien demnach demokratischer als repräsentative, da sich in ihnen der Mehrheitswille unverfälschter ausdrücken könne. Zumeist werden sie als sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie gefordert.104 Zusammengefasst gruppieren sich die Argumente für direktere Beteiligungsformen um den Gewinn von Akzeptanz und Legitimität, die durch mehr Responsivität, eine höhere Effektivität und Effizienz erreicht werden sollen.105 Die Responsivität kann als Rechenschaftspflicht vonseiten der Politiker verstanden werden, die durch offenere und transparentere Entscheidungsprozesse und durch mehr Informationen verstärkt werden kann.106 Zudem versprechen direktere Beteiligungsformen mehr Kontrolle durch das Volk: „Allein die Möglichkeit, Parlamentsentscheidungen per Volksentscheid zu Fall zu bringen, sorg[t] dafür, dass die Entscheidungen der Repräsentanten sich nicht zu weit vom Volkswillen entfernen.“107 Das vertikale Machtverhältnis kann somit wieder ins Lot gebracht werden. Effizienter erscheinen sie, da „die Pluralisierung von Expertise – sofern die Schnittstellen zum Entscheidungssystem funktionieren – eine differenziertere Problemwahrnehmung und zusätzliche Problemlösungsalternativen aufzuzeigen [vermag ].“108 Der Mangel an Legitimität, der entsteht, wenn immer weniger Bürger zur Wahl gehen und immer mehr politische Entscheidungen in intransparente Arenen verlagert werden, kann aus Sicht der partizipativen Position also durch ein Mehr an zivilgesellschaftlichem Engagement und Öffentlichkeit wettgemacht oder zumindest abgefedert werden. Die partizipativen Demokratietheorien sind aktuell auch deswegen wirkmächtig, weil sie einen Ausweg aus dem Problem aufzeigen könnten, welches als zunehmende || 102 Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2001: 17. 103 Glaab 2016: 4. 104 Barber 1984. 105 Vetter 2008. 106 Vgl. Pickel 2013 zur kritischen Frage, ob mehr Transparenz zwingend mehr Legitimität erzeugt. 107 Schäfer/Schoen 2013: 98. 108 Glaab 2016: 7.

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Individualisierung innerhalb der westlichen liberalen Gesellschaften beschrieben wird. Die steigende Anzahl an individuellen und unterschiedlichen Lebensentwürfen, so die Überlegung, führt dazu, dass sich immer weniger Menschen durch die großen Volksparteien angemessen vertreten sehen und kleinteiligere Formen der vertikalen Interessenvertretung notwendig werden. Verschiedene Formen der Beteiligung können auch das horizontale Verhältnis der Bürger untereinander verändern, es stärken, indem sie die Isolation der Individuen partiell auflösen und Solidarität untereinander erzeugen. Diese Debatte ist stark mit der Arbeit Robert Putnams verknüpft, der die Abnahme zivilgesellschaftlichen Engagements und hierbei vor allem den Niedergang des US-amerikanischen Vereinswesens seit den 1960er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts untersucht hat.109 Laut Putnam gab es dort bereits eine breit aufgestellte Zivilgesellschaft, deren Erosion zu einer Abnahme des gegenseitigen gesellschaftlichen Urvertrauens und einer Schwächung der demokratischen Stabilität geführt habe. Als Gründe für die Abnahme nennt er gesellschaftliche Veränderungen, wie etwa die erhöhte soziale Mobilität, ein verändertes Medienverhalten, aber auch die zunehmende Teilnahme der Frauen am Arbeitsleben. Befürworter partizipativer Demokratieansätze sehen hier die Möglichkeit, mit der Bildung neuer sozialer Netzwerke, dem Mitwirken an Referenden, Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen oder Demonstrationen ein Wiedererstarken der Zivilgesellschaft und den“ sozialen Kitt“ untereinander fördern zu können.110 Diese Beteiligung, so ihre Annahme, fördert bei ihren Teilnehmern ein Sozialkapital; die verständnisorientierte Kommunikation und ihren sozialen Zusammenhalt und so, im prozeduralen Nutzen, eine gute Gesellschaft.111 Voraussetzung dieses Demokratieverständnisses ist allerdings, dass der Bürger sich für Politik interessiert und die Zeit und die Mittel hat, sich auch in den entsprechenden Beteiligungsformen zu engagieren. Damit stellt das Funktionieren der Zivilgesellschaft eine „Tugend- und Kompetenzzumutung“ an den Bürger dar.112

2.1.3 Deliberativen Ansätze Ein weiterer Ansatz, der sich, da er Momente der beiden anderen beinhaltet, gewissermaßen zwischen ihnen ansiedeln ließe, stellt den rationalen Konsens als Kern demokratischen Handelns in den Fokus. Die deliberative Demokratietheorie versucht den akuten Legitimitätsproblemen von Demokratien mit dem Versprechen rationaler Politikergebnisse beizukommen. Das Adjektiv deliberativus, das im Lateinischen so

|| 109 Putnam 1995, Clark 2004. 110 Barber 1984, Kean 1988. 111 Mehr zum Konzept des Sozialkapitals vgl. Seubert 2009. 112 Buchstein 1995, Münkler 1997, Münkler 2002.

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viel meint wie erwägend oder sich beratend, konnotiert einen kommunikativen Prozess, in dem vor einer Entscheidungsfindung zunächst alle möglichen Argumente zugelassen und erwogen werden, bis sich das rational überzeugendste schließlich durchsetzt.113 Diese „kommunikativ erzeugte legitime Macht“ kann dann in administrative Entscheidungen und ins politische System überführt werden.114 Jörke unterscheidet zwei Modelle der deliberativen Demokratie: ein stärker parlamentarisch ausgerichtetes Modell mit Vertretern wie Jürgen Habermas und ein eher partizipatorisch ausgelegtes wie etwa bei James Fishkin.115 Bei Ersterem erfolgen die diskursiven Prozesse vornehmlich in parlamentarischen Räumen im Zusammenspiel mit medienvermittelten Öffentlichkeiten, bei Letzterem sollen diese Verfahren unter unmittelbarer Beteiligung der Bürger in diskursiven Arenen wie Bürgerversammlungen oder aleatorisch ermittelten Bürgergruppen stattfinden.116 Ziel ist es, auf dem einen oder anderen Weg zu allgemein vertretbaren und gemeinwohlorientierten Entscheidungen zu kommen und so verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Vorbehalte der Bürger, nach denen Politik uninteressant und nichts außer unfairer Interessendurchsetzung sei, sollen so abgebaut werden. Der Grad an Beteiligung variiert entsprechend dem parlamentarischen oder partizipatorischen Modell, Kern der deliberativen Theorie ist jedoch die Annahme der Notwendigkeit einer Performancemöglichkeit aller zu denkenden Argumente in einem politischen Diskurs, also die prinzipielle Offenheit für die Ansichten aller möglichen Betroffenen und die gleichberechtigten Redeoptionen für alle Beteiligten. Durch diese kategorisch gedachte Offenheit einer interessenfreien, vernunftgeleiteten und fairen Beratschlagung könne man zu einer gerechten Lösung von Konflikten gelangen, der alle Betroffenen zustimmen könnten. Insofern ist dieser Ansatz in der Theorie so partizipativ wie nur möglich. Gleichwohl liegt es auf der Hand, dass seine Umsetzung kritische Fragen hinsichtlich der realistischen Machbarkeit sowie des Zugangs und der Gleichberechtigung in diesen Prozessen aufwirft. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Die gewünschte Form politischer Partizipation fällt in den Theorien unterschiedlich aus und hängt eng mit dem jeweiligen Demokratieverständnis zusammen. Elitäre Varianten beinhalten das Verständnis einer klar getrennten Aufgabenteilung von politischer Elite und Delegierenden in der Repräsentation mittels Wahl, beteiligungszentrierte Ansätze die Vorstellung von Demokratie als einer möglichst direkten und vielfältigen Beteiligung der Bevölkerung in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen, während deliberative Ansätze die Auffassung von Demokratie als Prozess verständigungsorientierter Beratschlagungen betonen, in denen jeder seine Argumente vorbringen können sollte. In der

|| 113 Buchstein/Jörke 2007. 114 Habermas 2009: 61. 115 Jörke 2014. 116 Jörke 2012.

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Realität überschneiden sich die Ideen oft und treten in verschiedenen Kontexten unterschiedlich zu Tage. Auf kommunaler Ebene werden direkte Beteiligungsmöglichkeiten öfter gefordert als auf Bundesebene, und, je nach Sachverhalt, etwa in der Energiewende anders bewertet als in der nationalen Sicherheits- oder Außenpolitik. Momentan ergibt sich dadurch ein Bild unterschiedlicher Partizipationsbedarfe einerseits aber auch der breite gesellschaftliche Trend zur Forderung nach mehr Beteiligung andererseits. Paul Nolte versieht die Anforderungsvielfalt moderner demokratischer Systeme mit dem Begriff der „multiplen Demokratie“.117 Die vorliegende Arbeit schließt sich normativ dem Demokratiebegriff der partizipativen und deliberativen Theorien mit ihrem erweiterten Beteiligungsverständnis an, da dieser die Handlungsbereiche der Zivilgesellschaft und der Stiftungen umfasst.

2.2 Das Versprechen der Demokratie Trotz der Unterschiedlichkeit der Theorien, die jeweils unterschiedliche Schwächen und Stärken des demokratischen Systems hervorheben, und trotz ihrer unterschiedlich gestellten Anforderungen an den Bürger birgt der Demokratiebegriff ein übereinstimmendes Merkmal, einen „relativ stabilen Bedeutungskern“.118 Das Wort Demokratie impliziert trotz aller Krisenhaftigkeit, der sie ausgesetzt ist, die normativen Ziele des Friedens, der Gleichheit, der Freiheit und des Wohlstandes der in ihr lebenden Menschen; und es sind diese Versprechen der Demokratie, die ihre weltweite Attraktivität ausmachen und sie für Bewohner autoritärer Regime erstrebenswert sein lässt.119 Aus der Innenperspektive, also der Sicht derer, die Freiheit und Sicherheit bereits besitzen, der etablierten Demokraten, ist es – und da schließe ich mich der These Jens Borcherts an – jedoch primär das Gleichheitsversprechen, das das Versprechen der Demokratie ausmacht.120 In erster Linie ist damit die politische Gleichheit gemeint, diese verweist jedoch im Gleichklang immer noch darüber hinaus. Politische Gleichheit ist bereits an sich ein Faszinosum, weil sie die Unausweichlichkeit der alltäglichen Ungleichheitserfahrung dementiert, in dem sie eine Sphäre postuliert, in der alle Bürgerinnen und Bürger ‚trotz allem‘ gleich sind. [Sie] war und ist immer auch potentiell das Mittel der Wahl zur Überwindung sozialer Ungleichheiten aller Art.121

Gemeinsam mit der verfassungsrechtlich gesicherten Gleichheit vor dem Gesetz ist sie Teil real gewordener Utopie einer gleichen Gesellschaft, in einer, aktuell und aus ökonomischer Sicht gesehen, immer noch stark ungleichen Gesellschaft. Deswegen || 117 Nolte 2011: 10. 118 Buchstein 2013: 34. 119 Buchstein 2013. 120 Borchert 2013: 231. 121 Borchert 2013: 235.

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wird ihr ein so großer Wert zugesprochen und sie wird zum Maßstab, an dem gemessen wird, wie demokratisch etwas ist oder nicht. Deswegen wird bei dem Verdacht einer ungleichen Verteilung von Einfluss oft argumentiert, etwas oder jemand verliere dadurch an Legitimität. Die Kritik an den europäischen Institutionen etwa, der Vorwurf ihrer fehlenden Legitimität, entzündet sich nicht an dem Umstand zu vieler oder neuer Akteure, sondern an dem Mangel an Nachvollziehbarkeit und Transparenz und dem ungleichen Zugang von Lobbygruppen. Die komplexe Struktur der EU, ihre bisweilen bewusst bürokratisch-juristische Unzugänglichkeit, setzt nicht nur ein Mindestmaß, sondern vielmehr ein Höchstmaß an Engagement und Willensanstrengung zu ihrer Durchdringung voraus. Diese Intransparenz ist ein Problem, weil sie dem demokratischen Ideal entgegensteht, gemäß dem prinzipiell jeder die Chance haben sollte, seine Stimme zu einem ihn betreffenden Sachverhalt abzugeben. Wie Borchert erläutert, umfasst das Gleichheitsversprechen drei Dimensionen politischer Gleichheit, die in komplexem Zusammenhang miteinander stehen. Diese sind erstens die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger untereinander, zweitens die relative Gleichheit zwischen Regierenden und Regierten und drittens die Gleichheit zwischen den verschiedenen Teileliten.122 Die erste Dimension ergibt sich aus dem horizontalen Prinzip des gleichen Wahlrechts (one person, one vote), nach dem die eine Stimme genauso viel wiegt wie die andere, es also kein nach Steuerleistung abgestuftes Stimmenrecht gibt, wie dies beispielsweise in Preußen von 1848 bis 1918 der Fall war. Zudem muss in dieser Dimension die öffentliche Sichtbarkeit der Gleichheit in kollektiven Entscheidungsprozessen sichergestellt sein. Damit ist gemeint, dass nachvollziehbar ist, welche Stimmen in welcher Gewichtung die Entscheidungen bestimmt haben.123 Die zweite, vertikale, Dimension der Gleichheit, die die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten umschreibt, fußt auf der potenziellen Wechselfähigkeit zwischen den beiden. Da das Wahlrecht neben dem aktiven auch das passive Wahlrecht, also das Recht, sich selbst zu einem politischen Amt aufzustellen, umfasst, beinhaltet die Gleichheit hier, dass jeder Bürger sowohl Regierender als auch Regierter sein könnte.124 Zudem werden Ämter in Demokratien in Legislaturen vergeben, d. h., sie sind auf bestimmte Zeit begrenzt. Am Ende einer solchen Periode dreht sich das Machtverhältnis dann gewissermaßen um, und der Bürger kann den zur Wahl stehenden Politiker durch Stimmentzug sanktionieren. Dieser ist dadurch zur Responsivität gegenüber dem Regierten gezwungen, und aus diesem Wechselverhältnis leitet sich politische Gleichheit ab. Ihre dritte, wiederum horizontale, Dimension bezieht sich auf das Verhältnis sozialer Gruppen untereinander, in ihr muss sichergestellt sein, dass „verschiedene gesellschaftliche Gruppen einen prinzipiell gleichen Einfluss“ im Ent-

|| 122 Borchert 2013: 237. 123 Borchert 2013: 237. 124 Borchert: 2013.

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scheidungsprozess haben können.125 Haben ressourcenstarke Bevölkerungsgruppen einen besseren Zugang zu politischen Arenen, beispielsweise durch etabliertes Lobbying, kann der Gleichheitsgrundsatz systematisch gestört sein. Der Anspruch auf und Wunsch nach politischer Gleichheit ist also Wesenskern demokratischen Denkens. Somit werden das politische Gleichheitsversprechen und das Verhältnis seines Ideals zu seiner realen Umsetzung zum Maßstab gesellschaftlicher Bewertung von guter und legitimer Politik. Ein Bruch des Versprechens in einer der genannten Dimensionen wird deshalb oft auch als fundamentale Krise empfunden und bringt die gesellschaftliche Forderung zu dessen (Wieder-)Herstellung hervor.126 An der Verletzungsmöglichkeit dieses Gleichheitsgrundsatzes entzünden sich dann auch die jeweiligen Kritiken der hier vorgestellten Demokratietheorien. Gemäß diesen droht in der Zuspitzung des Gleichheitsbruches die Tyrannei, mal durch die gewählte Elite, mal durch die der Engagierten und mal durch die kommunikativ Gesegneten.

2.3 Gemeinwohl, Gemeinnützigkeit und ihr Bezug zur Gleichheit Daraus lassen sich als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen folgende Punkte festhalten. Obwohl es unterschiedliche Auffassungen über den Grad an zulässiger und notwendiger Beteiligung in der repräsentativen Demokratie gibt, wird der aktuelle Diskurs von jenen Modellen dominiert, die ein Mehr an Partizipation jenseits der Wahlurne gutheißen und diese in möglichst vielen Formen und auf möglichst vielen Strukturebenen verwirklicht sehen wollen. Bürgerbeteiligung ist en vogue. Partizipation sollte außerdem sozial möglichst gleich verteilt sein. Dieser Gesellschaftsanspruch leitet sich aus dem Ideal politischer Gleichheit ab, der normativer Bestandteil des demokratischen Bedeutungskerns ist. Ich möchte diese Überlegungen nun mit dem Konzept des Gemeinwohls verbinden und dieses in Zusammenhang mit dem Begriff der Gemeinnützigkeit bringen, da dieser offenkundig für gemeinnützige Stiftungen handlungsgebend ist. Wie sich zeigt, ist die staatliche Hoheit der Gemeinwohlherstellung in Deutschland heutzutage ins Wanken geraten, und Stiftungen, die in einer jahrhundertealten Tradition gemeinwohlorientierten Handelns stehen, treten wieder erstarkt als Bearbeiter konkurrierender und pluralistischer Gemeinwohlaufgaben in Erscheinung.127 Zivilgesellschaftliche Akteure wie Stiftungen verweisen in der Öffentlichkeit oft auf das Gemeinwohl als Richtlinie ihrer Handlungen und damit implizit auf sie als Quelle ih-

|| 125 Borchert 2013: 239. 126 Jörke 2012. 127 Zur Tradition der etatistischen Gemeinwohlherstellung siehe Münkler/Bluhm 2001.

Gemeinwohl, Gemeinnützigkeit und ihr Bezug zur Gleichheit | 31

rer Legitimität.128 Da politische Gleichheit als Wert in der Gemeinwohlvorstellung platziert ist, wird dieses Ideal so auch für Stiftungen zum Orientierungspunkt. Der Begriff des Gemeinwohls ist, wiewohl sehr oft benutzt, in seiner Bestimmung unscharf. Was das Gemeinwohl beinhaltet, konstituiert sich mit den jeweils gültigen Normen und Wertvorstellungen einer Gesellschaft.129 Innerhalb dieser Gesellschaft ist der Begriff in seiner Belegung ebenfalls offen, freilich nicht beliebig, sondern von einer „relativen Unbestimmtheit“ geprägt, mit der die Menschen symbolisch interagieren können und bei der ähnliche Assoziationen und Gefühle ausgelöst werden.130 Zumeist wird in der Debatte um Gemeinwohl auch Gemeinsinn genannt, wobei diese beiden Begriffe in einer Art Ursache-Wirkungs-Verhältnis zueinander stehen. „Abstrakt gefaßt, ist Gemeinwohl ein normativer Orientierungspunkt sozialen Handelns; Gemeinsinn wiederum ist die Bereitschaft der sozial Handelnden, sich an diesem normativen Ideal tatsächlich zu orientieren, seinen Anspruch auf soziale Verbindlichkeit in Verhalten und Handeln umzusetzen.“131 Zumeist finden sich in Gemeinwohlvorstellungen soziopolitische (noch unerreichte) Ziele formuliert wie ein gerechtes, sicheres oder freies Leben für alle Mitglieder in der Gemeinschaft und die Unterstützung der Armen und Schwachen in ihr. Als Gemeinwohl formulierte Werte sind also öffentlich verhandelbare Normen, sie richten sich jedoch an Grundwerten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Frieden und Wohlstand aus.132 Im Anschluss an die Festlegung von Gemeinwohl als einer „normativ regulative[n] Idee, die nach Ausgleich der Interessen und nach Mindestanforderungen für eine gerechte Gesellschaft sucht“,133 stehen Fragen nach der Bezugsgröße, der Deutungshoheit und nicht zuletzt der Funktion dieser Idee zur Diskussion. Wenngleich bei der Frage, wessen Wohl das Gemeinwohl sei, theoretisch alles zwischen dem Familienverband und der Weltgesellschaft in Betracht gezogen werden kann, ist der nationalstaatliche Bezugsrahmen doch der maßgebliche.134 Eine textanalytische Untersuchung einschlägiger Zeitungskommentare zeigt pauschale Bezeichnungen wie die Allgemeinheit, die Bürger oder unsere Bevölkerung der Bundesrepublik bzw. unseres Landes, identifiziert jedoch auch Untergruppen wie Arme und sozial Schwache, Arbeitslose oder die Arbeiter.135 Die Rückversicherung in der Verwendung der (modernen) Gemeinwohlrhetorik liegt in der Regel in dem Bezug auf den Mehrheitswillen.

|| 128 Striebing 2017. 129 Seubert 2004: 101. 130 Neidhardt 2002: 167. 131 Münkler/Fischer 2002b: 9. 132 Von Beyme 2002: 144. 133 Von Beyme 2002: 137. 134 Offe 2002. 135 Neidhardt 2002: 171.

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Der demokratische Prozeß in seiner prozeduralen Fairness-Grundlage geht davon aus, daß anders als im Mittelalter major pars auch sanior pars ist. Es spricht bei jedem Mehrheitsbeschluß – ob knappe oder große Mehrheit oder gar Einstimmigkeit – eine Vermutung für Gemeinwohl. Mehrheit muß an die Stelle von Wahrheit treten.136

Die „Fairness-Grundlage“ und die implizierte Gerechtigkeitsausrichtung im Gemeinwohl fordert aber manchmal auch anstelle des Mehrheitswohls das Wohl benachteiligter Minderheiten, beziehungsweise deren größtmöglichste Inklusivität.137 Das demokratische Gemeinwohl speist sich also aus einer (unbestimmten) Mehrheitsvermutung, orientiert sich aber in seiner Aushandlung an den Grundwerten einer rechtstaatlichen, gerechten Gesellschaft, die als Norm wirken.138 In Deutschland wurde lange Zeit, anders als in der französischen oder englischen Tradition, in erster Linie der Staat als Hüter und Erzeuger von Gemeinwohl gedacht.139 Dieses Monopol scheint jedoch zu bröckeln. „Im gegenwärtigen Staat – gleich, ob man ihn als kooperativen Staat, als schlanken Staat, der sich auf seine Kernaufgaben zurückzieht oder als aktivierenden Staat faßt – sind andere Akteure im Spiel als die herkömmlich mit der Gemeinwohlwahrung betrauten Beamten […].“140 Somit verteilt sich die Erfüllung des Gemeinwohls mithin auf ausschließliche Staatsaufgaben, beispielweise der Landesverteidigung, sowie auf konkurrierende Gemeinwohlaufgaben zwischen Staat und Privaten, beispielsweise in der Kultur- und Sportpflege und ausschließlich pluralistischen, ganz den Grundrechtsträgern überantwortete Aufgabengebiete.141 Gleichwohl gilt für gemeinnützige Organisationen nach wie vor die justitiable Einhegung per Abgabenordnung, durch die der Staat die steuerlich geförderten Zwecke bestimmt und das Gemeinwohl quasi operationalisiert. Die Zweckauslegung wiederum ist bewusst breit gefasst: Das Gemeinnützigkeitsrecht finanziert keine vorgegebenen Projekte, sondern „folgt seiner Steuerentlastung blind der privaten Gründungs- und Spenderinitiative. Der Staat ist mittelbarer Mäzen, überlässt aber die konkrete Förderungsentscheidung ausschließlich dem privaten Spender.“142 In diesem

|| 136 Von Beyme 2002: 138. 137 Von Beyme 2002: 149. 138 Möllers nennt Normen „positiv markierte Möglichkeiten. […] Normen verweisen auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis. […] Die positive Markierung einer Möglichkeit zeigt an, dass diese sich verwirklichen soll“ (S. 14). Normen gehen daher mit sozialen Praktiken einher, in denen sich „eine Gemeinschaft von der eigenen Realität distanziert, nicht notwendig, aber unter bestimmten Umständen, um diese zu verändern“ (S. 15), vgl. Möllers 2015. 139 Von Beyme 2002: 138. 140 Münkler/Bluhm 2001: 9–10. 141 Seer 2003: 20. 142 Kirchhof 2003: 4.

Gemeinwohl, Gemeinnützigkeit und ihr Bezug zur Gleichheit | 33

Sinne sind die in der Abgabenordnung festgestellten Zwecke der Gemeinnützigkeit die rechtliche Kodifizierung gemeinwohlorientierten Handelns privater Akteure.143 Der Zusammenhang von Gemeinwohl, Gemeinsinn und Gemeinnützigkeit zeigt sich dadurch wie folgt: Der moderne Wohlfahrtsstaat kümmert sich um seine Bürger mithilfe der Steuern, die er von ihnen zur Verfügung gestellt bekommt, die Verteilungsschlüssel sind dabei gemeinwohlorientiert ausgerichtet bzw. werden durch den Bezug auf dieses legitimiert. Mit dem Instrument der Gemeinnützigkeit geht der Gesetzgeber noch einen anderen Weg. Der Staat subventioniert steuerlich gemeinwohlorientiertes Handeln und überlässt die Ausgestaltung, in Alternative seiner fiskalischen Haushaltshoheit, aber den privaten Initiativen. Dabei gewährt er diesen also einen Vertrauensvorschuss in Sachen Gemeinsinn, d. h., er geht davon aus, dass diese Initiativen in einer für die Gesellschaft positiven Weise und ausschließlich auch nur mit diesem Anliegen handeln. Da er eigentlich Anspruch auf die Steuern hätte und sie in seinem Sinne verteilen könnte, liegt hier die Begründung der (stärkeren) staatlichen Kontrolle der gemeinnützigen Körperschaft. Die aktuelle Verschiebung der Gemeinwohlerzeugung von staatlichen zu anderen Akteuren beeinflusst auch die Gemeinsinnerwartung an die Bevölkerung und verlangt verstärkt nach dem tugendhaften Bürger, der sich für sein Gemeinwesen engagiert. Ein Mindestmaß an kollektivem Gemeinsinn ist für eine freiheitliche Ordnung, in der die Anwendung von Zwang nur das letzte Mittel darstellt, von zentraler Bedeutung.144 Im Zuge der Debatte um die Krise der repräsentativen Demokratie greifen die Bedarfe daran über dieses Mindestmaß hinaus. Denn obwohl dem Liberalismus der Coup gelungen sei, „Gemeinwohl als Resultat von Eigeninteresse zu setzen“, sind die Risse in dieser scheinbar möglichen Deckungsgleiche zuletzt im Zuge neoliberaler Privatisierungs- und Deregulierungsprozesse doch immer wieder offensichtlich geworden und haben eine neue Gemeinwohldebatte ausgelöst.145 Nicht mehr nur der Staat, sondern vielmehr alle Bürger und ihr aggregierter Zustand der Zivilgesellschaft sollen jene „sozial-moralische[n] Ressourcen“ generieren, die für eine solidarische Gesellschaft häufiger zu fehlen scheinen.146 Semantisch wird der Begriff Gemeinwohl in Opposition zu Partikularinteresse oder Eigeninteresse gebracht, die Ingebrauchnahme impliziert die Überwindung oder zumindest die Mäßigung der selbigen und den überparteilichen Einsatz für die Mehrheit.147 Wesentlicher Bestandteil der Diskussion um Gemeinwohl ist deshalb

|| 143 Die Gemeinnützigkeitsordnung ist nur ein Teil der juristischen Gemeinwohlkonkretisierung. In der Gesetzgebung taucht die im rechtlichen Diskurs oft als öffentliches Interesse gezeichnete Gemeinwohlbegründung in vielfacher Form in verfassungs-, straf-, privat- und sogar völkerrechtlichen Bereichen auf. 144 Münkler/Fischer 2002b: 10. 145 Münkler/Bluhm 2001. 146 Münkler/Fischer 2002b: 10. 147 Von Beyme 2002: 138.

34 | Konzeptioneller Bereich I: Demokratische Beteiligung und ihre Faktoren

auch die Beobachtung, dass der Begriff regelmäßig von einzelnen Interessengruppen dazu genutzt wird, Legitimation zu generieren, und eine Strategie darstellt, ihre Partikularinteressen mit dem Gemeinwohl zu identifizieren, um diese salonfähig zu machen. Wie Neidhardt zu Recht betont, ist der Gemeinwohltopos die verallgemeinerungsfähigste moralische Position, die sich öffentlich vertreten lässt. „Vom Gemeinwohl profitieren alle – wenn nicht direkt, so doch indirekt – wenn nicht sofort, so doch auf lange Sicht.“148 Dieser inflationäre Gebrauch kann, neben der Gefahr, dass Gemeinwohlrhetorik zu einer schlichten Leerformel verkommt, auch den Effekt der Selbstbindungswirkung entfalten, d. h., wer öffentlich für sich in Anspruch nimmt, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, muss sich auch der öffentlichen Überprüfung dieser Normumsetzung stellen; „[…] im Rahmen dieser Selbstbindungswirkung erzwingt eine strategisch intendierte Gemeinwohlrhetorik eine tatsächliche Gemeinwohlorientierung“.149 Der nicht zu unterschätzende Vorteil des Gemeinwohlkonzeptes liegt also auch in seiner vertrauens- und systemstabilisierenden Wirkung. Mit Vernunft wird den Akteuren klar werden können, daß die Mäßigung von Egoismus und ein verträglicher Ausgleich im Gefilde der stacheldrahtbewehrten Felder der Interessengruppen im wohlverstandenen Interesse aller Akteure liegt. Denn ohne diese Tugenden endet alles in der Spaltung des Gemeinwesens und im Kampf aller gegen alle. Der Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts schadet auf Dauer Jedem. Gemeinsinn dient einem Gemeinwohl, das über die Sicherung des sozialen Friedens in Jedermann Interesse liegt.150

Stiftungen gehören zu jenen Akteuren der Zivilgesellschaft, die für sich in Anspruch nehmen, gemeinwohlorientiert zu handeln, und sie verweisen in der Öffentlichkeit oft auf das Gemeinwohl als ihre Aufgabe. So werden sie auch zu Spielern im Spiel um die Bestimmung des Gemeinwohls. Damit stehen sie zugleich aber auch unter dem Verdacht der bloßen Verwendung von Gemeinwohlrhetorik zur Legitimierung ihrer eigenen Interessen, d. h., sie müssen beweisen, dass die Inanspruchnahme gerechtfertigt ist. Insofern ist zu prüfen, ob die von Münkler/Fischer vermuteten Selbstbindungskräfte, die „die strategisch intendierte Gemeinwohlrhetorik in eine tatsächliche Gemeinwohlorientierung“ münzen, auch tatsächlich zu beobachten sind.151 Durch den steuerrechtlichen Status der Gemeinnützigkeit stehen Stiftungen jedoch zusätzlich unter verschärfter Beweislast hinsichtlich ihrer Gemeinwohltätigkeit; sie müssen diese damit sowohl gegenüber der öffentlichen Meinung als auch unter dem justitiablen Druck der steueramtlichen Prüfung glaubhaft machen. Die Steuerersparnisse bei Vermögens- und Ertragssteuern werden dort gewährt, wo eine Körperschaft, wie beispielsweise eine gemeinnützige Stiftung, ihre Tätigkeit darauf richtet, „die Allge-

|| 148 Neidhart 2002: 159. 149 Münkler/Fischer 2002 a: 15. 150 Neidhardt 2002: 169. 151 Münkler/Fischer 2002a: 15.

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meinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern.“152 Die gemeinwohlorientierte Zwecksetzung und Erfüllung ist also die Grundvoraussetzung ihrer Legalität im Sinne des Rechtsstatus der Gemeinnützigkeit und ihrer steuerlichen Bevorzugung.153 Da das Gemeinwohl als eine „normativ regulative Idee“ verstanden werden kann, „die nach Ausgleich der Interessen und nach Mindestanforderungen für eine gerechte Gesellschaft sucht“ und sich in Grundwerten wie Freiheit und Gerechtigkeit konkretisiert, ist der demokratische Nukleus, das Versprechen auf politische Gleichheit als ein solcher Grundwert markiert.154 Politische Gleichheit lässt sich als Wert des Gemeinwohls in demokratischen Gesellschaften verstehen. Trotz der starken etatistischen Tradition der Gemeinwohlerfüllung in Deutschland gilt diese Normbindung auch für diejenigen (nichtstaatlichen) Akteure, die eine Gemeinwohlorientierung beanspruchen. Daraus leitet sich meines Erachtens Folgendes ab: Das normative Ideal politischer Gleichheit als Bestandteil demokratischer Gemeinwohlvorstellung, die den Rahmen der Rechtsauslegung von Gemeinnützigkeit vorgibt, trägt einen Gesellschaftsanspruch an die Stiftungen und ihre Partizipationsförderung heran, mit dem sie um ihrer Legitimität willen umgehen und dem sie entsprechen müssen. Dadurch ist zu erwarten, dass Stiftungen eine gleiche und faire Beteiligung in ihren Projekten, zumindest auf dem Papier, anstreben werden, um dem Gemeinwohlanspruch zu genügen. Inwieweit das angestrebte Gemeinwohl auch umgesetzt wird, bleibt also zu prüfen. Im Anschluss folgt der letzte Abschnitt des Kapitels, der die Ungleichverteilung von Beteiligung in der realen demokratischen Praxis zeigt und das Missverhältnis zwischen dem Ideal gleicher, vielfältiger Partizipation und deren Verfahrenswirklichkeit offenbart.

2.4 Die reale Ungleichverteilung von Partizipation Obwohl die westlichen Demokratien heute im Vergleich zu ihren historischen Vorläufern weitaus inklusiver sind, sogar von einem Siegeszug der demokratischen Gleichheit gesprochen werden könnte, entzündet sich am Maßstab der Gleichheit auch bei den heutigen Zuständen immer wieder Kritik.155 Ich möchte das an den drei vorgestellten Demokratieansätzen in der Folge erläutern. Aus der Sicht der elitären Demokratieperzeption, in der die Volksherrschaft allein mittels der Wahl von Repräsentanten ausgeübt wird, zeigen sich momentan empi|| 152 Abgabenordnung (AO) § 52 Gemeinnützige Zwecke. 153 Dieser Abschnitt enthält Auszüge aus meinen Artikel Förderer von Partizipation? Demokratisierungspotenziale bei Stiftungen, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen Heft 4 2017, S. 55-63. 154 Von Beyme 2002: 137. 155 Linden/Thaa 2009, Schäfer 2015.

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risch in Deutschland mindestens drei problematische Konstellationen in Bezug auf die politische Gleichheit. Diese ergeben sich zum einen aus der zunehmenden Entfremdung und dem steigenden Misstrauen der Regierten gegenüber den Regierenden, zum anderen aus der systematischen Entpolitisierung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten, und – damit eng verwoben – zum dritten, aus der parlamentarischen Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen. Alle drei Problemlagen lassen sich in die Debatte um den Rückgang der Wahlbeteiligung integrieren. Seit etwa Mitte 1980er-Jahre nimmt die Wahlbeteiligung in Deutschland ab, die Landes- und Kommunalwahlen sind dabei stärker betroffen als Bundestagswahlen.156 Lag die Wahlbeteiligung 1972 dort bei hohen 91,91 Prozent, rutschte sie bis 2009 auf ein Tief von 70,8 Prozent und erholte sich dann wieder leicht. Bei der Bundestagswahl 2013 lag die Wahlbeteiligung bei rund 73 Prozent.157 Das Argument, dass dieser Rückgang auch die Zufriedenheit mit der betriebenen Politik ausdrücken könne, wird durch Erhebungen suspendiert, die ein steigendes Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber Parteien und Politkern und Unzufriedenheit mit der Umsetzung von Politik als Grund der Wahlenthaltung nahelegen.158 Umfragen zeigen, dass das Vertrauen in das politische Personal deutlich abgenommen hat, ebenso wie die Bereitschaft der Wähler, den Politikern Lösungskompetenz bei wichtigen Aufgaben zuzugestehen.159 Als Gründe für den allgemeinen Wahlbeteiligungsrückgang zeigt sich ein „komplexes Ursachenbündel aus politischem Desinteresse, Enttäuschungen aufgrund von Problemlösungsdefiziten oder einer als unzureichend wahrgenommenen Responsivität von Politik“, außerdem ein „faktisches Unwissen über die Funktionslogik des parlamentarischen Systems.“160 Der Politikverdruss scheint sich auch in den schrumpfenden Mitgliederzahlen der Volksparteien zu spiegeln. Die jüngsten Erfolge von Parteien wie der AfD, die sich rhetorisch in die Opposition zu den „Altparteien“ setzt und die Vision eines korrupten Establishments beschwört, weisen ebenso auf eine zunehmende Entfremdung größerer Bevölkerungsteile von den etablierten Parteien hin. Es sind dabei sowohl perzipierte als auch tatsächlich verfestigte ungleiche Machtverhältnisse im vertikalen Verhältnis von Wählern und Gewählten, die Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung fördern. Darüber hinaus zeigt die empirische Partizipationsforschung, dass die Wahlenthaltung nicht zufällig verteilt ist.161 Die Ungleichverteilung der Wahlbeteiligung zeigt eine zweite Störung des politischen Gleichheit(sgewichts) an, denn unabhängig von

|| 156 Von Alemann 2000. 157 Statistische Bundesamt: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Qualitaetsberichte/ Wahlen/Wahlen.html [8.10.2017]. 158 Klingemann/Kaase 2001, Vester 2009, Schäfer 2015. 159 Von Alemann 2000, Schäfer 2015. 160 Glaab 2016: 4. 161 Klingemann, Kaase 2001, Brettschneider, van Deth, Roller 2004, Schäfer 2013. Zu neuen Beteiligungsformen Gabriel 2005, Schäfer 2010; 2013 Bödeker 2012, Klatt 2011.

Die reale Ungleichverteilung von Partizipation | 37

der Politikebene und Wahlart wird eine wachsende soziale Kluft in der Wahlbeteiligung deutlich. Bestanden in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren nur geringe Unterschiede in der sozialen Staffelung der Beteiligung, ist diese seither deutlich angewachsen.162 Zu Beginn des betrachteten Zeitraums ab 1980 gibt es keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen. Doch im Zeitverlauf wächst die Kluft zwischen Niedrigund Hochgebildeten. Ab Mitte der neunziger Jahre liegen nichtzufällige Unterschiede vor, die seither weiter angewachsen sind. Vor allem Menschen mit niedrigem Schulabschluss wählen heute seltener als in der Vergangenheit. Wählten Angehörige aller Schichten noch in den siebziger Jahren mit ähnlich hoher Wahrscheinlichkeit, gibt 2009 nur noch jeder zweite Befragte an, gewählt zu haben, der sich selbst der Unterschicht zurechnet, während dies 94 Prozent der Oberschichtangehörigen für sich reklamieren.163

Auch der internationale Vergleich zwischen den etablierten Demokratien zeigt, dass in Ländern mit ungleicher Einkommensverteilung die Wahlbeteiligung niedriger ausfällt und zwischen den sozialen Gruppen stark auseinandergeht.164 Dieser Zusammenhang tritt so häufig auf, dass in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ein „Gesetz der Streuung“ formuliert wurde, welches besagt, dass, je niedriger die Wahlbeteiligung ist, umso größer auch die soziale Ungleichverteilung der Beteiligung ausfalle.165 Neuere Studien belegen auch für die Bundestagswahl 2013 in der Spitze eine Differenz von fast 30 Prozent zwischen einkommensstarken und sozial schwachen Stimmbezirken.166 Zudem scheint auch ein Zusammenhang zwischen dem Komplexitätsgrad der Wahlausführung und der Wahlbeteiligung evident: Je komplizierter das Wahlrecht wird – beispielsweise durch die Möglichkeit, seine Stimmen zu kumulieren und zu panaschieren –, umso wahrscheinlicher wird die soziale Spaltung in der Wahlbeteiligung. Für die Wahlen zur Hamburger und Bremer Bürgerschaft 2011, bei denen jeweils ein reformiertes, komplizierteres Wahlrecht angewendet wurde, konnte nachgewiesen werden, dass sowohl die Wahlbeteiligung in sozial schwachen Stadtteilen insgesamt zurückgegangen war als auch der Anteil an ungültigen Stimmzetteln dort überproportional hoch war.167 Ein Abstimmungsrecht, das es gestattet, politische Präferenzen differenziert auszudrücken, deswegen aber auch vergleichsweise kompliziert sein muss, wirkt sich negativ auf diejenigen aus,

|| 162 Schäfer 2015. 163 Schäfer 2011: 144. 164 Schäfer: 2015. 165 Schäfer 2012: 242. 166 Bertelsmann Stiftung 2013. 167 Schäfer 2013.

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die sich weniger für Politik interessieren, und kann damit zu einer geringeren Beteiligung oder zu mehr ungültigen und unter Umständen »falsch« abgegebenen Stimmen führen.168

Als Gründe für die soziale Ungleichverteilung bei der politischen Beteiligung werden in der Partizipationsforschung unterschiedliche Determinanten isoliert, die häufig in mikro- und makrosoziologische Faktoren unterteilt werden.169 Das Einkommen einer Person wirkt ebenso erklärend wie die Faktoren der Bildung, des Alters und des Geschlechts. Ebenso beeinflussen politische Einstellungen, also das politische Interesse, die positive Einschätzung der Responsivität des politischen Systems und der eigene Glaube an die Einflussmöglichkeiten und die (Un-)Zufriedenheit mit dem System. Der mikrosoziologische Fokus untersucht zum einen die sozialstrukturellen Ressourcen eines Individuums, wie Bildung, Einkommen oder seine Integration in soziale Netzwerke, zum anderen aber auch psychologische Faktoren wie politische Einstellungen und Interessen, das politische Effektivitätsgefühl sowie die Parteiidentifikation.170 Der makrosoziologische Zugang konzipiert kontextuelle Erklärungsmodelle der Wahlbeteiligung.171 Demnach können sich das sozioökonomische Umfeld, die institutionellen Rahmenbedingungen sowie die durch das jeweilige Parteiensystem bestimmten Wettbewerbsbedingungen auf die Höhe der Wahlbeteiligung auswirken. Vetter unterscheidet in drei Makrodimensionen und eine Mikrodimension lokaler Wahlbeteiligungsfaktoren: Zur Makrodimension gehören der institutionelle, der politische sowie der sozioökonomische Kontext. Der institutionelle Kontext umfasst das Wahlrecht, die Organisationsstruktur des lokalen Parteiensystems und die Bedeutung der zu wählenden Institution sowie den lokalen Autonomiegrad. Der politische Kontext beschreibt die Wahlkampfthemen, das Personalangebot der Parteien, den politischen Wettbewerb und die Wahlebene (z. B. Bundestags- oder Landtagswahlen). Der sozioökonomische Kontext schließlich meint die übergeordneten kulturellen Normen, die Größe und Homogenität der Gemeinschaft, die ökonomischen Basisgrößen und die zivilgesellschaftliche Struktur.172 Als Mikrodimension definiert Vetter individuelle Ressourcen wie Zeit, Wissen oder Geld sowie die Einbindung einer Person in soziale Netzwerke und ihre sozialpsychologischen Orientierungen.173 In der Gesamtheit der unterschiedlichen Erklärungsfaktoren zeigt sich, dass die politische Gleichheit im horizontalen Verhältnis der Bürger untereinander in Schieflage gerät. Die Entfremdung entstehe aus dem Gefühl „systematischer politischer Benachteiligung, die auf ungleichen Ressourcen beruht. Die Entfremdung schlägt sich in sozial selektive Nicht-Partizipation nieder, die dann das gefahrlose Ignorieren be-

|| 168 Schäfer 2013: 115. 169 Falter/Schoen 2014. 170 Caballero 2014, Schoen/Weins 2014, Klein 2014. 171 Schoen 2014. 172 Vetter 2008c. 173 Vetter 2008c.

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stimmter Interessen ermöglicht.“174 Das Problem der ungleich verteilten individuellen politischen Zugänglichkeit lässt sich auf die Einheitsebene sozialer Gruppen vergrößern. Es liegt auf der Hand, dass bei rein repräsentativen Demokratieansätzen die Gefahr politischer Ungleichheit durch systematisch unterrepräsentierte Gruppen in der Vertretung latent vorhanden ist. Eine Betrachtung der Zusammensetzung des deutschen Bundestages mag dies verdeutlichen: Der Frauenanteil des 17. Bundestages lag bei etwa einem Drittel, das Durchschnittsalter bei knapp 50 Jahren.175 Der Bundestag ist fast vollständig ein Akademikerparlament, Arbeiter oder einfache Angestellte sind kaum vertreten. Die Disproportionalität wird offensichtlich, wenn man bedenkt, dass nur etwa 14 Prozent der Bevölkerung über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügen, im Bundestag jedoch weit mehr als 80 Prozent der Abgeordneten Akademiker sind.176 Dabei scheinen nicht nur die im Bildungsweg erworbenen sachlichen Qualifikationen eine Rolle zu spielen, sondern auch die finanzielle Möglichkeit, den eigenen Wahlkampf zu finanzieren. Dies ist zwar vor allem vom amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf bekannt, scheint jedoch auch für das hiesige Parlament durchaus von Belang zu sein. Im Durchschnitt steuern Bundestagskandidaten mehrere tausend Euro bei, um der eigenen Kandidatur zum Erfolg zu verhelfen, was zumindest teilweise erklärt, warum bestimmte Berufsgruppen überrepräsentiert sind, was demokratietheoretisch problematisch ist, wenn die Einstellungen der Elite von denen der Bevölkerung abweichen.177

Innerhalb der Parteien sieht es bei den Mitgliedern ähnlich aus; sie sind „eher männlich, eher mittleren und gehobenen Alters, eher hochgebildet, eher Angehörige des öffentlichen Dienstes und eher der mittleren und oberen Mittelschicht zugehörig.“178 Die Spaltung nimmt auch mit der Machtfülle der politischen Ämter zu. „Obwohl sich die Parteimitglieder schon überproportional aus höheren Einkommensgruppen rekrutieren, nimmt die Exklusivität bei der Kandidatenaufstellung und erfolgreichen Kandidaturen weiter zu.“179 In der Besetzung kommt eine zunehmende Disproportionalität hinzu: „Je wichtiger ein Amt bewertet wird, desto selektiver ist der Zugang zu ihm.“180 Die Besetzung der unterrepräsentierten Gruppen, die sich aus diesen Ergebnissen ableiten lassen, sind auch kulturell determiniert. Nach Nancy Fraser ergibt sich politische Marginalisierung beispielsweise anhand von Maßstäben wie Geschlecht‚

|| 174 Borchert 2013: 236. 175 Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jahrgang 41 (2010) Heft 3. 176 Schäfer 2013: 90. 177 Schäfer 2015: 23. 178 Klein 2011: 58. 179 Schäfer 2015: 23. 180 Schäfer 2015: 23.

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„Rasse“, ethnischer Zugehörigkeit, Sexualität, Religion oder Nationalität.181 Bei Young stellen minoritäre und zugleich marginalisierte Interessengruppen, bezogen auf die Vereinigten Staaten, „Frauen, Schwarze, amerikanische Indianer, alte Menschen, arme Menschen, Behinderte, schwule Männer und lesbische Frauen, spanischsprachige Amerikaner, junge Menschen und unqualifizierte Arbeiter“ dar, während die politisch dominierende Mehrheit „weiße Männer aus der Mittelklasse“ sind.182 Schäfer identifiziert in Deutschland „ethnische oder religiöse Minderheiten, aber auch die Politikfernen und Geringgebildeten“, die systematisch weniger partizipieren.183 Aus dieser Kritik heraus formulieren sich unterschiedliche Forderungen nach einer gerechteren Repräsentation, die von einer spiegelbildlichen Vertretung der Bevölkerung im Parlament, einer vonseiten der Abgeordneten stärker responsiven Begründungspflicht bis hin zu Gruppenrepräsentation und -quoten reichen, die sicherstellen sollen, dass die benachteiligten Gruppen im Parlament vertreten sind.184 Ottersbach schlägt in diesem Zusammenhang die doppelte Staatsbürgerschaft für Migranten vor, um die Wahlmöglichkeiten für Migranten zu erhöhen.185 Bei den beteiligungszentrierten Demokratieansätzen lassen sich Schwierigkeiten in Hinblick auf die beschriebenen Faktoren schon erahnen: Auch bei diesen Ansätzen, die breitere Beteiligungsmöglichkeiten favorisieren, spielen Ressourcen für die Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle und in ihnen wird politische Gleichheit nicht per se garantiert. Denn obwohl ihre Befürworter oft damit argumentieren, dass direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten demokratischer seien, im Sinne von: Wenn Demokratie etwa Gutes ist, dann muss ein Mehr an Demokratie immer besser sein, ist Skepsis in Bezug auf Gleichheit und Inklusion angebracht. Dies gilt auch für das Argument, ein Mehr an Beteiligung könne selbstlaufend dem Krisenphänomen der schleichenden Entpolitisierung der Bürger und der abnehmenden Dezisionshoheit nationaler Regierungen im Angesicht der globalisierten Welt entgegenwirken. Die Ergebnisse einer Umfrage zeigen: Das individuelle Wahlrecht war für die meisten Befragten nicht nur wichtig im Allgemeinen, sondern auch die persönlich nächstliegende und oftmals einzige Form einer politischen Beteiligung. […] Wählen zu gehen bleibt damit – auch in Zeiten der Internetpartizipation und der wachsenden Varianten von Bürgerbeteiligung – die demokratische Beteiligungsform, deren Zugangsschwelle am niedrigsten liegt.186

Nicht von ungefähr wird die Debatte um die Tyrannei der Mehrheit ähnlich breit geführt wie die Debatte um Demokratie selbst, und die Sorge um den ungefilterten Zu|| 181 Fraser 2003. 182 Young 1993: 278 und 288. 183 Schäfer 2013: 2. 184 Young 1993, Fraser 2003, Williams 2005, Bausch 2014. 185 Ottersbach/Yildiz: 2004. 186 Klatt 2012: 8.

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griff besonders durchsetzungsfähiger Mehrheiten oder Minderheiten wird theoretisch wie empirisch artikuliert. Studien zeigen, dass insbesondere in neuen Beteiligungsformen besonders gut vernetzte und aktive Minderheiten mehr Einfluss auf die Politik bekommen als bisher.187 Dies gilt für Möglichkeiten der Direktdemokratie mittels Plebisziten und Volksreferenden, wie auch für die internetbasierten Ansätze einer E-Democracy oder die supranationalen Formen des demokratischen Regierens. Keiner diese Ansätze besitzt eine natürliche Immunität gegenüber den Krankheiten der Demokratie, im Zweifel stärken sie Trends wie die „Oligarchisierung der Gesellschaft“ durch die besser gebildeten Schichten.188 Bildung taucht auch im Zusammenhang mit informelleren Beteiligungsmöglichkeiten als einer der ausschlaggebenden Faktoren einer erfolgreichen Interessenbekundung auf. Viele Studien gehen von Bildungsunterschieden als erklärender Variable für Beteiligungschancen aus und operationalisieren diese mithilfe erhobener Bildungsabschlüsse.189 Der Faktor Bildung lässt sich relativ leicht erheben, und die Ergebnisse geben deutlich zu erkennen: Wer gut gebildet ist, partizipiert häufiger. Neben dem Wissen um die Prozesse und politischen Zusammenhänge mangelt es Bürgern mit niedrigerem Bildungsniveau oft auch an „Kompetenzen kognitiver, prozeduraler oder habitueller Art“.190 Die soziale Spaltung verläuft – und koinzidiert – entlang ökonomischer wie edukativer Kennzahlen, d. h., sowohl geringes Einkommen als auch fehlende Bildung erschweren die Teilnahme an direktdemokratischen Beteiligungsformaten. Auch Untersuchungen im Bereich der sozialen Bewegungen belegen diesen Zusammenhang: Netzwerk-Theorien lenken den Blick darauf, daß das Entstehen sozialer Bewegungen sowie deren Mobilisierungsfähigkeit im starken Maße vom Vorhandensein sozialer Netzwerke abhängt, in denen […] Informationen weitergegeben werden und aus der sich auch die Schlüsselpersonen rekrutieren.191

Der Erfolg einer sozialen Bewegung hängt demnach maßgeblich von den ihr zur Verfügung stehenden materiellen und immateriellen Ressourcen und von der Fähigkeit ihrer Mitglieder ab, diese effektiv zu nutzen. Neben Geld als der wichtigsten materiellen Ressource sind spezielle kommunikative Qualifikationen und Kenntnisse sowie die Zeitspenden der Aktivisten wichtige Ressourcen für eine durchsetzungsstarke Bewegung.192 Die Schlüsselpersonen rekrutieren sich zumeist aus besser gebildeten und wohlhabenden Schichten. Was für die Teilnahme an sozialen Bewegungen gilt, gilt auch für andere Formen des gesellschaftlichen Engagements.193 Der Freiwilligensur|| 187 Barnes/Kaase 1979, Steinbrecher 2009, Böhnke 2011, Boedecker 2012. 188 Merkel 2015b: 40. 189 Böhnke 2011, Boedecker 2012. 190 Münkler 1997. 191 Friedrichs 1994: 366f, zitiert in Kolb 1997: 21. 192 Kolb 1997: 21. 193 Schäfer 2015, Zimmer 2007.

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vey ermittelte, dass die Wohlhabenden in Deutschland ein besonders aktives Profil beim Spenden und zivilgesellschaftlichen Engagement zeigen.194 Generell lässt sich somit für die klassischen Formen ehrenamtlicher Tätigkeiten wie die Mitgliedschaft und die Mitarbeit in einem Verein eine höhere Beteiligungsneigung der Gutsituierten nachweisen.195 Die dem Vereinswesen zugeordnete positive demokratische Wirkung von gesellschaftlichem zu politischem Engagement, das durch die dortige Schulung grundlegender Fähigkeiten im sozialen Umgang oder dem Finden gemeinsamer Entscheidungen entsteht, läuft so ins Leere bzw. kann schon bestehende Ungleichheiten weiter verfestigen.196 Der Zusammenhang von hohem Einkommen und Engagement zeigt sich dann insbesondere im Stiftungssektor, bei dem aufgrund des notwendigen Gründungskapitals besonders oft reiche Menschen Stifter werden.197 Es liegt auf der Hand, dass der Beteiligungsvorteil dann problematisch wird, wenn „Sachfragen von denjenigen mit hoher Beteiligungsbereitschaft anders beurteilt werden als von denjenigen für die das nicht gilt“.198 Schäfer hat das am Beispiel für den Nichtraucherschutz in Bayern nachgewiesen.199 Die Gefahr der Minderheitendominanz lässt sich bei lokal oder regional begrenzten Themen, beispielsweise aktuell im Ausbau geplanter Energietrassen, ohne allzu große Anstrengungen denken. Aber auch bei Entscheidungen mittels Volksabstimmungen über gesamtgesellschaftliche Themen wie den Aus- oder Abbau von Sozialhilfe für Arbeitslose oder Alleinerziehende, beides Gruppen, die über keine gute Vernetzung verfügen, wären wohl Ungerechtigkeiten zu befürchten. Unter dem Deckmantel und der Rhetorik von ‚Graswurzeldemokratie‘ und ‚partizipativer Governance‘ würden sich einzelne Interessen zum Nachteil des Allgemeinwohls durchsetzen. […] politisch bereits aktive Segmente (Männer, Gebildete, Mittelschicht), ressourcen- und organisationsstarke Gruppen sowie Basis-Eliten übernehmen auch partizipative Verfahren. Sie haben Zeit, Geld und Know-how, um sich an den entsprechenden Prozessen zu beteiligen und damit die Berücksichtigung ihrer Präferenzen sicher zu stellen.200

Mit Blick auf Kalifornien, Italien und die Schweiz, wo Volksreferenden, anders als in der Bundesrepublik, häufig abgehalten werden, kommt Wolfgang Merkel in Hinblick auf die Vertretung der unteren Schichten sowohl in der Haushalts-, Sozial und Minderheitenpolitik zu einem ernüchternden Ergebnis: Die Referenden tendieren zum „Fiskalkonservatismus, die steuersenkende Maßnahmen favorisieren, Staatsausgaben bremsen und den Ausbau des Sozialstaates verlangsamen“, also zum Nachteil

|| 194 Gensicke/Geiss 2010: 266. 195 Klatt 2011. 196 Zimmer 2007. 197 Ströing/Lauterbach 2014. 198 Schäfer 2015: 23. 199 Schäfer 2013. 200 Geißel 2008: 31.

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einkommensschwacher Schichten sind.201 Auch bestärken diese zumeist kulturkonservative Muster, was zu Einschränkungen der Rechte religiöser Minderheiten, Homosexueller oder Obdachloser geführt hat.202 Neuere Beteiligungsformate können auch dort sozial spaltend wirken, wo sie alte Strukturen verdrängen. Die politische Repräsentation schwacher sozialer Interessen in der klassisch korporatistischen Verbändestruktur wird durch eine stärkere Ausdifferenzierung gefährdet, beispielsweise durch den Schwund der Mitglieder in der Arbeitnehmervertretung oder den traditionsreichen Wohlfahrtsverbänden.203 Auch die Möglichkeiten neuer digitaler Öffentlichkeiten und internetbasierter Teilnahmeverfahren scheinen diesem Muster zu folgen. Die niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit, die gute individuelle Erreichbarkeit und vor allem der hohe Grad an Responsivität durch das Internet und den Sozialen Medien haben die Hoffnung auf eine neue und gerechtere Form politischer Kommunikation und einer Digital Democracy geweckt.204 Empirische Studien zeigen jedoch auch hier die Schwierigkeiten einer gesamtheitlichen Inklusion und der Revitalisierung entpolitisierter Gruppen. Zwar ist die Bevölkerung in Deutschland mittlerweile flächendeckend mit Internetzugang ausgestattet, das Nutzerverhalten und die Nutzungskompetenz unterscheiden sich aber erheblich und verlaufen entlang den bereits genannten Demarkationslinien von Bildung und Einkommen.205 Auch im Internet mache die schweigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung um jegliche politische Kommunikation einen weiten Bogen, und es bestätige sich die Vermutung: wer im Netz aktiv ist, ist auch sonst aktiv.206 Die digitale Spaltung lässt sich in unterschiedlichen Formen beobachten: zum einen in der absehbaren Entstehung einer Informationselite und in dem Mobilisierungsvorsprung für ihre soziale Gruppe, zum anderen in der Abschottung und Verdichtung von Meinungsmustern innerhalb einzelner sozialer Gruppen, die durch die algorithmische Filterfunktion sozialer Medien hervorgerufen werden. In sogenannten Bubbles, die nur solche Informationen zeigen, die dem personalen Muster entsprechen, verstärken sich bereits vorhandene (politische) Meinungen und erschweren eine offene Diskussion politischer Themen.207 Zudem entstehen mit der neuen Technik auch Debatten um den Zugang zu diesem neuen Medium, und zwar sowohl in

|| 201 Merkel 2015b: 34. 202 So sei auch die späte Einführung des Frauenwahlrechts in der Schweiz im Jahre 1971 zumindest teilweise auf die Vetowirkung von Volksabstimmungen zurückzuführen. Vgl. Merkel 2015b: 36. 203 Von Winter 2000, Zimmermann/Boeckh 2012. 204 Seifert 2011, Czerwick 2013. 205 Merkel 2015, Seifert 2011. 206 Vowe 2013. 207 Auch das Problem sogenannter „FakeNews“, die seit der Präsidentschaftskandidatur Donald Trumps Aufmerksamkeit erfahren, lassen sich diesem Kontext zuordnen.

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Hinblick auf die einzelne, individuelle Technikkompetenz als auch auf die staatliche und unternehmerische Netzhoheit.208 Ansatzpunkt der Kritik an den deliberativen Modellen ist ebenfalls die Frage nach politischer Gleichheit und Inklusion. Das Ideal vernunftorientiert und nicht interessenorientiert geführter Debatten setzt neben dem Willen und Einverständnis dazu vor allem sprachliche und kommunikative Fähigkeiten voraus. Diese Kompetenzen und Ressourcen, die eine Teilnahme an der Deliberation ermöglichen, sind jedoch unter den Bürgern nicht gleich verteilt; arme und schlecht ausgebildete Menschen sind benachteiligt bzw. naturgemäß ausgeschlossen. „Langzeitarbeitslose, ungelernte Arbeiter, Supermarkt-Kassiererinnen verfügen aber in aller Regel nicht über gleiche Argumentationsressourcen wie Anwälte, Richter, Verhandlungsführer in der Wirtschaft oder Professoren.“209 Öffentlich zu sprechen, ob nun in einer Versammlung, in einer Diskussionsrunde oder in einer Onlinedebatte, erfordert zum einen Mut, aber auch die Kenntnis der üblichen Debattenkultur, eine Fähigkeit, die einen langwierigen und oft unbewussten Bildungsweg bedingt. Das dominierende Prinzip der Vernunft führt somit dazu, dass nicht-emotionale, entkörperlichte Kommunikationsformen höher bewertet werden als emotionale und gestikulierende. Dadurch werden besonders die Sprechweisen sozialer Minderheiten, insbesondere von ethnischen Minderheiten, Frauen und Angehörigen der Unterschicht ausgegrenzt. Besonders wenn Menschen sich aus eigener Betroffenheit, aus der Sorge um alltägliche und existenzielle Fragen engagieren, spielen Emotionen wie Wut eine wichtige Rolle. Aktionsformen werden vor allem dann als nicht konform zu den Interaktionsnormen der öffentlich-politischen Sphäre abgewertet, wenn sie von privaten Erfahrungen und Emotionen geprägt sind.210

Theoretisch wird die Bevorteilung gebildeter, diskursfähiger Eliten beschrieben, empirisch bestätigt sie sich.211 Bei vielen deliberativen Verfahren „wird man eine klassenspezifische Vorauswahl der politisch Interessierten mit einem großen freien Zeitbudget haben – so wie in Deutschland bei all jenen Bürgeranhörungen von Bau- und anderen Projekten in den Kommunen.“212 In der Regel erfüllen diese Charaktereigenschaften ältere Männer, die über ausreichend Zeit und einen höheren Bildungsgrad verfügen und bereits vereinsgebunden sind.213 Neben der Besetzung und dem Habitus der Gruppe sind es auch oft die Themen, die bereits gesetzt sind. „Bestimmte Themen werden als unpolitisch ausgegrenzt, weil sie dem vorpolitischen bzw. privaten Raum

|| 208 Artikel zu Netzneutralität: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/wie-das-ende-dernetzneutralitaet-die-demokratie-gefaehrdet-a-1183772.html [20.10.2017]. 209 Merkel 2015b: 61. 210 Munsch 2011: 51. 211 Merkel 2015b. 212 Merkel 2015b: 47. 213 Als höherer Bildungsgrad eingestuft werden Hochschulreife und -studium.

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beispielsweise der Familie zugeschrieben werden.“214 Das Problem wird von den Befürwortern der deliberativen Demokratietheorie durchaus erkannt und diskutiert, die Lösungen sowohl für das Problem des Nichtkönnens als auch des Nichtwollens (Dürfens) politischer Beteiligung können aber nicht überzeugen. Die prozedurale Offenheit der deliberativen Idee soll sicherstellen, dass kein Argument unzulässig wird. Aber auch eine hohe Transparenz der Verfahren und Debatten kann das Legitimitätsdefizit bei fehlender Nachvollziehbarkeit vonseiten größerer Bevölkerungsschichten nicht ausgleichen. Die Möglichkeit einer Rekrutierung der Diskussionsteilnehmer mittels Quoten oder Zufallsauswahl, die als Ausweg für die mehrheitliche Vertretung bestimmter Interessen angeführt wird, löst das Problem der Kompetenzanforderung an den Bürger ebenfalls nicht, denn das Problem der argumentativen Performancenotwendigkeit bleibt bestehen.215 Für alle Szenarien politischer Ungleichheit, sei es in der Wahlbeteiligung, in Referenden oder in Debatten informalerer Beteiligungsformen, lassen sich als Antwort mindestens zwei mögliche Reaktionen denken: Entweder man zieht sich mit dem Verweis auf den freien politischen Willen des Bürgers auf die Position zurück, nichts ändern zu wollen und zu müssen. Demnach kann man niemanden zur Beteiligung zwingen; eine Ungleichvertretung der Interessen ist dann „Folge des Rechts freier Bürger auch auf politisches Desinteresse und kann somit nicht mit überzeugenden Argumenten gegen den Ausbau plebiszitärer Instrumente vorgebracht werden.“216 Aus diesem Blickwinkel stellt das Votum, egal in welcher Verfahrensform, die Meinung der artikulationswilligen Mehrheit dar und wer diese ändern will, muss sich die Mühe eigener politischer Beteiligung machen.217 Diese Position steht allerdings, wie gezeigt, dem demokratischen Nukleus und Wunsch nach politischer Gleichheit entgegen. Weniger lakonische Positionen fokussieren sich auf die Änderung der verantwortlichen Verhältnisse oder auf das Empowerment der Unbeteiligten als Notwendigkeit zur (Wieder-)Herstellung politischer Gleichheit. Da eine Teilnahme am politischen Leben durch so unterschiedliche Faktoren wie Bildung, Alter, Geschlecht oder Einkommen, aber auch durch kompetenz- oder mentalitätszentrierte Merkmale beeinflusst wird, sind die vorgeschlagenen Reformmöglichkeiten ebenfalls vielfältig gelagert. Die Forderungen reichen hier von einer stärkeren ökonomischen Umverteilung und wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung über gerechtere Bildungsreformen bis hin zu der Etablierung neuer Protest- und Diskussionskulturen.218 Die Reformierungsmöglichkeiten umfassen den Bereich der politischen Bildung wie auch den des Sozialbereichs und betreffen alle Ebenen des politischen Systems. Sie setzen auf die ein-

|| 214 Munsch 2011: 51. 215 Jörke 2011. 216 Patzelt 2011: 87. 217 Patzelt 2011: 105. 218 Vetter 208, Munsch 2011, Bukow et al. 2013, Glaab 2016.

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zelne lokal aktivierende Hilfestellung für politisch Marginalisierte oder auf die breite Wirkung einer inklusiveren Gesetzgebung. In Kapitel 4 werde ich zeigen, dass Stiftungen ebenfalls entsprechend vielfältig arbeiten und sowohl bei Ersterem ansetzen und sich lokal in der politischen Bildung engagieren als auch bei Letzterem, indem sie beispielsweise politische Beratungsfunktionen erfüllen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Frage von angemessener Beteiligung oder Repräsentation des Volkssouveräns ist so alt wie die moderne (Massen-) Demokratie selbst und wird immer wieder neu verhandelt. Das gewünschte Maß der Beteiligung innerhalb der verschiedenen Demokratietheorien reicht von der rein repräsentativen Wahl von Volksvertretern zu multiplen Beteiligungsformen, die auf den verschiedenen politischen Ebenen repräsentative mit direktdemokratischen und deliberativen Elementen mischen. Wie stark die Verfahren jedoch auch variieren, dem Kerngedanken der Demokratie wohnt die Idee einer guten Gesellschaft inne, die Gleichheit, Wohlstand und Sicherheit für alle ihre Bürger verspricht. In den etablierten Demokratien wirkt insbesondere das Versprechen auf politische Gleichheit als Maßstab zur Bewertung politischen Handelns und ist mithin Bestandteil der vom öffentlichen Diskurs bestimmten gesellschaftlichen Vorstellung von Gemeinwohl. Da sich aus dieser auch der Rahmen der gemeinnützigen Rechtsauslegung ergibt, ist dies für Stiftungen, sofern sie den Status der steuerlich begünstigten Gemeinnützigkeit für sich beanspruchen, von hoher legitimatorischer Bedeutung. Sie müssen in ihrer Förderung folglich mit diesem Gesellschaftsanspruch auf politische Gleichheit umgehen und ihm entsprechen. Dadurch ist zu erwarten, dass Stiftungen eine gleiche und faire Beteiligung in ihren Projekten zumindest anstreben werden. Dass es da eine Diskrepanz geben könnte zwischen wollen und können, zwischen Anspruch und Umsetzung, lehrt die aufgezeigte problematische Ungleichverteilung im politischen Beteiligungsprozess. Der aktuelle Forschungsstand bestätigt: Egal ob bei Wahlen, Demonstrationen sozialer Bewegungen, Volksabstimmungen, E-Democracy oder in politischen Diskussionsforen und -tischen: Überall gerät die politische Gleichheit in Gefahr, weil manche Gruppen systematisch stärker partizipieren als andere. Einkommen und Bildung sind diejenigen Merkmale, entlang derer die Demarkationslinie verläuft. Zugespitzt formuliert sind es alte reiche Männer mit viel Zeit, die politisch am stärksten involviert sind. Stellt der Gang zur Wahlurne noch eine verhältnismäßig niedrigschwellige Form der Beteiligung dar und lässt sich in dieser die soziale Spaltung bereits nachweisen, zeigen Studien die Verschärfung dieses Trends in den neuen Formen der Beteiligung. Entgegen der allgemeinen Euphorie für neue Partizipationsmöglichkeiten und multiple demokratische Willensbildung deckt ein zweiter Blick die Dominanz der Zivilgesellschaft durch eine miteinander vernetzte und gut gebildete Schicht auf, durch die die Interessendurchsetzung einer Gesellschaftsschicht und der Rückzug bildungsferner Schichten aus der politischen Willensbildung weiter zementiert werden. Somit lässt sich für die Akteure aus dem Stiftungswesen, die sich dem Zweck der Demokratie- und Beteiligungsförderung verschrieben haben, folgendes Bild zeich-

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nen: Als Rahmenbedingung ihres Handelns wird der aktuelle gesellschaftliche Wunsch nach einer multiplen und vielfältigen Demokratie, die auch ihr Versprechen nach politischer Inklusion und Gleichheit einlösen soll, gleichzeitig jedoch mit dem empirischen Befund der Ungleichverteilung von Partizipation und den Realisierungsschwierigkeiten idealer Beteiligungsprozesse konfrontiert wird, sichtbar. Damit ergibt sich auch für die Stiftungen eine Ausgangssituation, die ihre Beteiligungsprojekte in Hinblick auf die Wahrung politischer Gleichheit in das Spannungsverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit setzt.

3 Konzeptioneller Bereich II: Stiftungen in der Demokratie 3.1 Stiftungen in der Demokratie Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde, haben die strukturellen Veränderungen der letzten drei Dekaden in den westlichen Nationalstaaten einen erneuten Wandel des Demokratiebegriffs mit sich gebracht und damit auch die Erwartungshorizonte an die politische Partizipation verschoben. Der wohlfahrtsstaatliche Rückbau, die Privatisierung und Deregulierung öffentlicher Aufgaben und die Internationalisierung ehemals nationalstaatlicher Politikaufgaben haben zu einem Wandel der klassischen repräsentativen Demokratie geführt und den gesellschaftlichen Wunsch nach vielfältigeren Formen der Beteiligung und einer multipleren Demokratie gestärkt. Dadurch wird auch der Begriff der Zivilgesellschaft konjunkturell neu belebt und als Raum politischer Entscheidungen konstituiert. Stiftungen sind Akteure der Zivilgesellschaft, auch wenn die mehrheitlich wahrgenommenen Handelnden in den meisten Konzepten politischer Zivilgesellschaft in der Tradition de Tocquevilles und Putnams eher Vereine und soziale Bewegungen sind. Aber Stiftungen erfüllen die maßgeblichen Kriterien freiwilligen, zivilgesellschaftlichen Handelns und mehr noch: Ihre Präsenz wird immer offenkundiger. Der Stiftungssektor wächst, d. h. Stiftungen nehmen nicht nur an bloßer Zahl zu, vielmehr wachsen gleichzeitig auch ihre Sichtbarkeit im gesellschaftlichen Diskurs und zunehmend auch ihr politischer Gestaltungsanspruch. Möchte man das Verhältnis von Stiftungen und Demokratie ausloten, ergibt sich eine ambivalente Ausgangssituation: Stiftungen weisen zum einen eine Struktur auf, die – im Vergleich zum Verein etwa – wenig demokratisch anmutet und durch den Stifterwillen wie auch in der Besetzung seiner Organe sehr hierarchisch strukturiert ist. Die Stifter sind traditionell zumeist Angehörige einer reichen Elite und verfügen damit häufig auch über Macht und Einfluss. Damit stehen insbesondere Unternehmerstiftungen oft auch im Verdacht, Partikularinteressen in ihrem Sinne zu vertreten. Auf der anderen Seite sind Stiftungen gemeinnützige Akteure der Zivilgesellschaft. Üblicherweise stellt ein Bürger durch eine Stiftung sein eigenes Vermögen für einen von ihm festgesetzten gemeinnützigen Zweck dauerhaft zur Verfügung. Dies kann neben der Finanzierung wohlfahrtlicher oder kultureller Leistungen auch Vorbildcharakter haben und „eine multiplizierende Wirkung des bürgerschaftlichen Stiftungsaktes als Botschaft“ und damit „eine katalytische Wirkung auf die Zivilgesellschaft“ beinhalten.219

|| 219 Schwertmann 2006: 15. https://doi.org/10.1515/9783110656503-003

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Zivilgesellschaftliche Institutionen müssen nicht zwingend demokratisch verfasst sein. Strachwitz weist darauf hin, „wie Verfassungskompatibilität sich auf Gesetzestreue, nicht auf die prinzipielle Kompatibilität der inneren Ordnung gründet, seien für ein gutes zivilgesellschaftliches Wirken die Anerkennung der Grundsätze, nicht aber die demokratische Struktur entscheidend“, und das mithin für die Bewertung der demokratischen Adapationsfähigkeit also das stifterische Handeln ausschlaggebender als ihre Struktur sein sollte.220 Stiftungen sind Non-Profit-Organisationen, deren alleiniger Daseinszweck es ist, umgangssprachlich gesprochen, Gutes zu tun. Unabhängig von Mandat oder Gewinnstreben, wird von ihnen, gemäß ihrer Gemeinwohlorientierung, erwartet, dass sie die Allgemeinheit selbstlos fördern. Dies schließt auch die Akzeptanz und Vertretung demokratischer Werte mit ein. In modernen demokratischen Gesellschaften können sie als Organisationen, die mit dauerhaft gesicherten Mitteln langfristig denken und agieren können, soziale Funktionen erfüllen, staatliche und gesellschaftliche Aufgaben ergänzen, verbessern oder neu bewerten. Oft wird betont, dass ihr Grad an Unabhängigkeit ihnen einen Flexibilitäts- und Innovationsspielraum gibt, den staatlich-administrative oder durch Mitgliedervotum gebundene Institutionen nicht vorweisen können. Dies prädestiniert sie zu kreativen Transferagenten gemeinnütziger Leistung in die Gesellschaft.221 Für die Fragestellung nach der stifterischen Förderung von politischer Partizipation lässt diese ambivalente Eingangsdiagnose eine interessante Ausgangskonstellation erwarten, die sowohl eine positive als auch eine negative Antwort in Bezug auf die Herstellung politischer Gleichheit zulässig erscheinen lässt: Stiftungen wirken aufgrund ihrer elitären Struktur wenig demokratisch, und ein allzu großer Enthusiasmus scheint gegenüber der Umsetzung von politischer Gleichheit in ihrem Handeln vor diesem Hintergrund nicht direkt erwartbar. Zum anderen aber ist bei ihnen durch die Gemeinwohlverpflichtung auch die obligate Orientierung an Werten des demokratischen Zeitgeistes zu vermuten. Durch ihre finanzielle Unabhängigkeit lässt sich von ihnen zudem eine potenzielle Pionierleistung bei der Umsetzung ihrer Partizipationsprojekte erhoffen. Ausgehend von diesem Spannungsverhältnis wird es Aufgabe dieses Kapitels sein, neben einer Begriffsdefinition von Stiftungen ihre Rolle in der modernen Demokratie darzulegen und aufzuzeigen, warum sie als ernstzunehmende, aber auch polarisierende Akteure in der Demokratieförderung anzusehen sind. Ziel des Kapitels ist eine möglichst umfassende Vorstellung des Forschungsgegenstandes. Dazu sind die internen Strukturen von Stiftungen, der prägende Handlungsrahmen ihres För-

|| 220 Strachwitz 2015: 307. 221 Das Kapitel 3. enthält überarbeitete Passagen meines Aufsatzes Förderer von Partizipation? Demokratisierungspotenziale bei Stiftungen, erschienen in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen Heft 4 2017, S. 55-63.

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derverhaltens, ihre Entwicklung sowie ihre Einbettung in die Zivilgesellschaft und ihre dortigen Sozialfunktionen zu erläutern.

3.2 Was sind Stiftungen? Was eine Stiftung genau kennzeichnet, ist nicht leicht zu beantworten, weil der Begriff nicht geschützt ist und unter diesen viele verschiedene rechtliche und betriebswirtschaftliche Formen subsumiert werden. Stiftungen unterliegen je nach ihrer Verfasstheit mal Privatrecht, mal öffentlichem Recht oder Kirchenrecht. Weiterhin gibt es Stiftungen, die sich selbst als solche bezeichnen und öffentlich auch als Stiftungen wahrgenommen werden, aber wegen der Art ihrer Finanzierung nicht als „echte“ Stiftungen gelten, wie beispielsweise die parteinahen Stiftungen. Sicher ist, dass die Anzahl von Stiftungen in Deutschland zunimmt und dass die massive Ausweitung des Stiftungssektors – ungeachtet des universalhistorischen Charakters des Stiftens – ein relativ junges Phänomen ist. Der Bundesverband Deutscher Stiftungen verzeichnete für das Jahr 2017 549 Neugründungen und spricht von 22 274 Stiftungen in Deutschland insgesamt.222 Über siebzig Prozent der deutschen Stiftungen wurden seit 1990 und jede zweite seit der Jahrtausendwende gegründet.223 Da es weder ein bundesweites zentrales Stiftungsverzeichnis noch eine Meldeverpflichtung gibt und bestimmte Formen, etwa Familien- oder Kirchenstiftungen oder die rechtlich unselbstständigen Stiftungen, in den Zählungen oft gar nicht mit berücksichtigt werden, ist, entgegen der vermeintlich genauen Zahl des Bundesverbands Deutscher Stiftungen, keine exakte Anzahl aller deutschen Stiftungen bekannt. Die zwei umfangreichsten Archive zur Erfassung des deutschen Stiftungswesens sind die Datenbank des Bundesverbands Deutscher Stiftungen und der Datenpool des Maecenata-Instituts. Dort sind Stiftungen unterschiedlichster Rechtsform verzeichnet, deren Stiftungskapital von wenigen tausend Euro bis hin zu mehreren hundert Millionen reicht. Weitere Datenbanken, etwa die des Stifterverbands der Deutschen Wissenschaft, fokussieren ihre Auswahl auf bestimmte Betätigungsfelder wie etwa die Bildungs- oder Wissenschaftsförderung. Die rechtliche Form stellt kein kategoriales Kriterium zur Kennzeichnung einer Stiftung dar. Deutschlands bekannteste Stiftung, die Stiftung Warentest, ist zum Beispiel eine in erster Linie staatlich finanzierte Stiftung bürgerlichen Rechts, die den gemeinnützigen Zweck des Verbraucherschutzes im Sinne der Abgabenordnung verfolgt und Konsumprodukte testet.224 Stifterin ist die Bundesrepublik Deutschland. || 222 http://www.stiftungen.org/de/presse/pressemitteilungen/archiv-pressemitteilungen/ pressemitteilungen-dynamische-inhalte/detailseitepressemitteilung/mode/teaserstart/detail/6502.html [20.12.2017]. 223 Anheier et al. 2017a: 5. 224 Bundesverband Deutscher Stiftungen 2009.

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Vergeblich sucht man hier eine Übereinstimmung mit der Vorstellung, eine Stiftung sei zumeist Beschäftigungsort reicher Unternehmer oder bekannter Persönlichkeiten zu philanthropischen, karikativen Zwecken, wie beispielsweise die Dietmar Hopp Stiftung, eine gemeinnützige GmbH. Bei beiden Beispielen handelt es sich jedoch um Stiftungen. Die geläufigste Stiftungsform ist die rechtlich selbstständige Stiftung bürgerlichen Rechts nach §§ 80ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und damit zumeist auch vorherrschendes Erkenntnisobjekt der Stiftungsforschung. In den Paragrafen sind folgende Kriterien enthalten: Eine rechtsfähige Stiftung bedarf der Anerkennung durch die zuständige Behörde des Bundeslandes und eines zulässigen Stiftungsgeschäftes. Mit Stiftungsgeschäft ist die verbindliche Erklärung des Stifters gemeint, ein Vermögen zur Erfüllung eines von ihm vorgegebenen Zwecks zu widmen, das auch zum Verbrauch bestimmt werden kann. Durch das Stiftungsgeschäft muss die Stiftung eine Satzung erhalten mit Regelungen über ihre Organisationsstruktur, Name, Sitz, Zweck und Vermögen. Mit dem Zusatz „das auch zum Verbrauch bestimmt sein kann“ verändert die (seit 2013 geltende) gesetzliche Bestimmung eine herkömmliche Eigenschaft von Stiftungen, nämlich ihren ewigen Charakter.225 Entgegen der Tradition eines das Stiftungsvermögen erhaltenden, auf Ewigkeit ausgelegten und durch den Stifterwillen über dessen Tod fortgeführten Zwecks steht seit 2013 die sogenannte Verbrauchsstiftung als eine Stiftungsform, die für eine bestimmte Zeit errichtet und innerhalb der das Vermögen für die Zweckverfolgung verbraucht werden soll. Um der Heterogenität im Stiftungswesen Herr zu werden, bemüht man sich in Praxis wie Theorie um Ordnungskriterien zur Einteilung der deutschen Stiftungslandschaft. Die interdisziplinär am weitesten verbreitete Unterscheidung, die sich an der Handlungskompetenz der Stiftungen orientiert, ist die dichotome Einteilung in operative und fördernde Stiftungen. Als operative Stiftungen werden diejenigen bezeichnet, die eigene Projekte konzipieren und durchführen und so den Stiftungszweck in eigener Regie erfüllen. Fördernd tätige Stiftungen begünstigen mit ihren Erträgen Fremdprojekte, also Personen oder Organisationen, die dem Förderzweck der Stiftung entsprechen. Adloff und Venez zeigen sich hinsichtlich des Nutzens dieser Einteilung kritisch. So seien die Begriffe im deutschen Recht nicht definiert, sondern ließen sich nur über das Unmittelbarkeitsgebot des Gemeinnützigkeitsrechts ableiten, die eine mittel- und eine unmittelbare Zweckdurchsetzung unterscheidet.226 Demzufolge seien eine operative Tätigkeit im Falle des § 57 AO und eine fördernde Tätigkeit im Falle des § 58 Nr. 1–4 AO gegeben. Die Autoren bemerken: Fraglich ist allerdings, ob eine solche Unterscheidung in der Praxis hilfreich oder eher mißverständlich ist. Denn das Adjektiv „unmittelbar“ bezieht sich auf eine Tätigkeit, die final einen Zweck erfüllen soll. Die Einordnung „unmittelbar“ – „mittelbar“ hängt damit im Ergebnis davon

|| 225 §§ 80ff. BGB. 226 Adloff, Velez 2001: 3.

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ab, wie der Zweck formuliert wird. Mit anderen Worten, dieselbe Tätigkeit läßt sich je nach der Gestaltung der Satzung als fördernd oder als operativ definieren.227

Trotz dieser definitorischen Schwäche kommt man basierend auf einer Selbsteinschätzung der befragten Stiftungen auf etwa 50 Prozent fördernd, 24 Prozent operativ und 25 Prozent gemischt handelnder Stiftungen.228 Des Weiteren ist es üblich, Stiftungen nach Art der stiftenden, natürlichen oder juristischen Person her zu kategorisieren, also in Unternehmensstiftung, Kirchenstiftung, Bürgerstiftung etc. Das führt im Einzelfall allerdings oft zu weiteren notwendigen Spezifizierungen, beispielsweise in unternehmensnahe, Unternehmer- oder Unternehmens-Stiftung, und erhöht die Verwirrung eher noch.229 Eine kürzlich von Anheier in die Diskussion gebrachte Kategorisierung behält die Unterscheidung zwischen operativ und fördernd tätig bei, schlägt ergänzend eine Einteilung nach Vermögen (>/< 100.000 Euro) und in vier Stiftungstypen vor – Nischenanbieter, Engagement-Stiftung, Dienstleister und Professionelle Philanthropen. Ob sich diese Typologie im weiteren Verlauf durchsetzen kann, wird sich zeigen, jedoch entspricht sie der Komplexität der Stiftungslandschaft wohl besser als eine dichotome Einteilung.230 Trotz der geschilderten Heterogenität lässt sich als definitorischer Kern gemeinnütziger Stiftungen Folgendes festhalten: Stiftungen sind in der Regel Institutionen zur Bereitstellung von finanziellen (privaten) Mitteln durch einen Stifter zu gemeinnützigen Zwecken (mit ewiger Absicht). Es bedarf des Stifters und einer Satzung, die Organisationsstruktur, Name und Sitz, vor allem aber den Zweck gemäß der Gemeinnützigkeitsordnung und die Höhe des Vermögens regelt. Doch haben sich Stiftungen im Laufe der Zeit oft gewandelt hinsichtlich ihrer Rechtslage, ihrer Struktur oder ihres Handelns; und die aktuell wachsende Zahl von Verbrauchsstiftungen oder öffentlich finanzierter Stiftungen lässt die Kennzeichen der privaten Finanzierung oder der Ewigkeitsbindung nicht mehr als ausschlaggebend erscheinen, weswegen sie oben in Klammern gesetzt wurden. In einer weiteren organisationssoziologischen Definition nach Anheier sind Stiftungen demnach formale Organisationen, die auf einem Vermögen beruhen, privat verfasst sind, sich selbst verwalten, grundsätzlich nicht kommerziell ausgerichtet sind, gemeinnützig agieren und sich selbst auch als Stiftung verstehen.231

|| 227 Adloff, Velez 2001: 3. 228 Anheier et al. 2017a. 229 „Die juristische Fachliteratur spricht beispielsweise von unternehmensverbundenen Stiftungen, von Stiftungsunternehmen, unternehmensbezogenen Stiftungen, Unternehmensstiftungen oder Unternehmensträgerstiftungen. […] Von all diesen begrifflichen und organisationsrechtlichen Varianten ist zunächst einmal die Unternehmerstiftung abzugrenzen […].“ Siehe Adloff 2010: 375. 230 Anheier et al. 2016. 231 Anheier 2014.

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Die öffentliche Wahrnehmung der gemeinnützigen Stiftungen ist, zumindest bei den großen, überregional agierenden Stiftungen, vorhanden. Laut einer Umfrage des Allensbach Instituts im Auftrag des Bundesverbands Deutscher Stiftungen ist die Stiftung Warentest die bekannteste Stiftung Deutschlands, mit etwa 69 Prozent Bekanntheitsquote. Es folgen eine Reihe weiterer Stiftungen, über die eine deutliche Mehrheit der Befragten genauere Vorstellungen hat oder die zumindest dem Namen nach bekannt sind. Darunter fallen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der FriedrichEbert-Stiftung die beiden größten parteinahen Stiftungen in der Bundesrepublik ebenso wie die Bertelsmann Stiftung, WWF-Deutschland und die Deutsche Stiftung Denkmalschutz.232 Die Arbeitsschwerpunkte, die die Bevölkerung den Stiftungen in Deutschland zuschreibt, decken sich in ihrer Rangfolge in bemerkenswerter Deutlichkeit mit den Stiftungszweck-Hauptgruppen. So gehen 60 Prozent der Bevölkerung davon aus, dass Stiftungen soziale Projekte fördern, 52 Prozent sehen einen Schwerpunkt bei Bildung, Wissenschaft und Forschung, 46 Prozent bei Kunst und Kultur, 25 Prozent bei Umwelt und Naturschutz. 40 Prozent der Bürger sind der Meinung, dass Stiftungen intensiv auf dem Feld der Nachwuchsförderung – von Wissenschaftlern über Künstlern bis hin zu Journalisten – aktiv sind. [...] Mit Abstand am stärksten ausgeprägt ist die Vorstellung der Gemeinnützigkeit des Stiftungsengagements. Fast zwei Drittel der Bürger verbinden mit Stiftungen das Engagement für gemeinnützige Zwecke.233

Neben dieser positiven Wahrnehmung wird das Bild der öffentlichen Debatte über Stiftungen immer wieder geprägt von kritischen Stimmen, die die Steuererleichterungen und große Vermögensbindung sowie die intransparenten Einflussmöglichkeiten von Stiftungen beklagen (vgl. 3.4).

3.2.1 Forschung zum Stiftungswesen und Forschungsdesiderate Entsprechend dem anhaltenden Ausbau des deutschen Stiftungswesens hat sich die wissenschaftliche Forschung über diesen Bereich entwickelt. Die Projekte zu einer ganzheitlichen empirischen Erfassung des deutschen Stiftungssektors sind das bereits genannte, seit 1991 erhobene Verzeichnis Deutscher Stiftungen durch den Bundesverband und die Datenbank des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft. Beide sind jedoch durch die fehlende Berichtspflicht der Stiftungen in der Vollständigkeit ihrer Datenerhebung eingeschränkt. Beide bringen auch eigene Studien zur Stiftungsforschung hervor, wie beispielsweise Leitbilder und Funktionen deutscher Stiftungen (2004), Empirische Studien zur Zivilgesellschaft (2011), Statistiken zum deutschen Stiftungswesen (2013) oder Stiftungsforschung heute und morgen – eine Einschätzung des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen (2014). Seit 2012 bündelt der || 232 Bundesverband Deutscher Stiftungen 2014. 233 Bundesverband Deutscher Stiftungen 2014: 18.

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Bundesverband eigene Forschungsprojekte in seinem Kompetenzzentrum Stiftungsforschung.234 Das Heidelberger Institut Centrum für Soziale Investitionen und Innovationen betreibt ebenso Stiftungsforschung wie einige Stiftungen selbst, beispielsweise die Bertelsmann Stiftung mit der StifterStudie (2005), die momentan eine Neuauflage erlebt. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung seit der Nachkriegszeit fällt eine anfängliche Hoheit der rechtwissenschaftlichen Stiftungsforschung auf, die dann in eine immer aktivere Ausdifferenzierung von verschiedenen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder der Politik- und Erziehungswissenschaften mündet. Die Stiftungsforschung ist eingebettet in den breiteren Diskurs der Zivilgesellschafts- oder Dritte-Sektor-Forschung, die ebenfalls interdisziplinär aufgestellt ist.235 Auch fällt Stiftungsforschung manchmal unter den Begriff der Philanthropieforschung. Unter den (deutschsprachigen) Historiker(inne)n sind die Arbeiten Sitta von Redens zum antiken Stiftungswesen236, die Michael Borgoltes zum mittelalterlichen und neuzeitlichen Stiften und schließlich zur neueren Geschichte die Forschungsarbeiten von Gabriele Lingelbach und Thomas Adam,237 ebenso wie die Frank Adloffs, besonders hervorzuheben. Letzterem sind auch viele komparatistische Studien des US-amerikanischen und deutschen Stiftungswesens zu verdanken.238 Neben der Dokumentation des quasi universalhistorischen Charakters von Stiftungen, um eine Formulierung Borgoltes aufzugreifen, ist der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Stiftungswesen auch das Bewusstsein seiner jeweiligen historischen Kontextualität zu verdanken und die Erkenntnis, dass politische oder religiöse Rahmenbedingungen Form und Vorhandensein der Stiftungslandschaft und deren gesellschaftliche Funktionen prägen. Die soziologische Perspektive auf Stiften und Stiftungen wurde in Deutschland maßgeblich von Frank Adloff und Helmut Anheier eingenommen, wobei Anheier zuletzt einen stärker organisationssoziologischen Ansatz verfolgte, mit dem er die institutionelle Analyse der Formen, Strukturen und internen Prozesse von Stiftungen sowie ihren Interaktionen und Wirkungen auf und mit der sozialen Umwelt und den gesellschaftlichen Subsystemen untersucht.239 In der Weiterentwicklung der Mausʼschen These der Gabe als Reziprozitätsverfahren sehen beide in der Anthropologie des Stiftens altruistische und egoistische Motive miteinander verknüpft. Verkürzt lässt sich diese Überlegung wie folgt formulieren: Indem der Stiftende der Gesellschaft ein privates Vermögen zu gemeinnützigen Zwecken zur Verfügung stellt, erhält er im Gegenzug von dieser Dankbarkeit und Ansehen. Ausgehend von Robert || 234 Bischoff/Hagedorn 2014. 235 Klein 2000, Anheier 2010. 236 Von Reden 2012, 2015. 237 Lingelbach 2005, 2006, Adam 2012, Borgolte 2012. 238 Adloff 2010. 239 Anheier 2016.

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Putnams Arbeiten zum Sozialkapital hat die soziologische Forschung darüber hinaus auch Fragen von stifterischem Wirken in Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Verbindungs-Kapazitäten aufgeworfen. Stiftungen haben demnach, ähnlich wie andere zivilgesellschaftliche Akteure wie Vereine oder Verbände, das Potenzial, bürgerschaftliches Engagement zu aktivieren und dadurch Interaktion, Vertrauen und soziale Kompetenz zwischen den Bürgern zu schaffen.240 Von der Soziologie nur schwer zu trennen, verfolgen politikwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit stifterischem Handeln zumeist demokratietheoretische Fragestellungen. Rekurrierend auf Tocquevilles These der bürgerschaftlichen Vereinigungen als Schulen der Demokratie könnten Stiftungen als Akteure der Zivilgesellschaft soziale und politische Partizipation fördern. Vor allem ein neueres Phänomen im Stiftungsbereich, das der Bürgerstiftungen, deren Merkmal die Kombination von Ideen, Sach- und Geldleistungen mehrerer gemeinsamer Stifter auf lokaler Ebene ist, scheint in dieser Hinsicht vielversprechend, wenngleich ebenfalls noch nicht hinreichend untersucht. Kleinere Stiftungen, wie es Bürgerstiftungen in der Regel sind, binden außerdem oft viele Ehrenamtliche in ihr Handeln mit ein. Eine aktuelle Vermessung der deutschen Stiftungslandschaft zeigt: 89 Prozent aller Stiftungen arbeiten mit ehrenamtlichen Mitarbeitern, über 70 Prozent der deutschen Stiftungen sind kleine Stiftungen, die mit einem Jahresbudget von unter 50.000 Euro, lokal, vor allem aber ohne bezahlte Kräfte, sondern mit ehrenamtlichen Mitarbeitern arbeiten.241 Das demokratische Potenzial von Ehrenamtlichkeit ergibt sich aus der Entwicklung bestimmter sozialer Fähigkeiten bei denjenigen, die diese leisten, und einer vermuteten Strahlkraft darüber hinaus. Hier tritt wieder die von Putnam geprägte Annahme hervor, dass Ehrenamtlichkeit in freiwilligen Vereinigungen zu Kooperationen unter den Teilnehmenden führe, die eine partizipative wie integrative Wirkung entfalten und dadurch auch demokratische Kompetenzen fördern könne. Die gemeinsame freiwillige Zusammenarbeit und Interessenverfolgung im Verein oder von anderen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen könne so unter den Bürgern einer Gemeinschaft ein Gefühl der Gleichberechtigung, der Solidarität und des gegenseitigen Vertrauens erzeugen. So könnten „Gewohnheiten sozialer Kooperation“ eingeübt und praktiziert sowie „das Vermögen zur gesellschaftlichen Selbstorganisation“ gestärkt werden.242 Werden diese Qualitäten externalisiert, stärkt dies auch das politische Gemeinwesen. Damit bekommt das Engagement einen Effekt für die Gesamtgesellschaft und kann als deren Sozialkapital begriffen werden. Ehrenamtliches Engagement basiert nicht auf dem Verhältnis von Lohnarbeit, also dem abhängigen Tausch von Arbeit gegen Gehalt, und auch nicht auf der Bindung familiärer Strukturen. Vielmehr fußt es auf der Psychologie der Gabe. Auch hier existiert eine Tauschbeziehung, vereinfacht ge-

|| 240 Adloff 2005: 123. 241 Anheier 2016: 8. 242 Seubert 2009: 9.

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sprochen findet hier ein Wechselverhältnis von freiwilliger Hilfeleistung gegen Anerkennung und Dankbarkeit statt, aber das spezifisch Zwanglose an dieser sozialen Interaktion scheint ein Verhalten zu fördern, dass gemeinwohlbezogene Motive und Werthaltungen ausprägt. Gelingt der Transfer dieser Motive zu einer breiteren politischen Kultur und zu einer Aktivierung der Bürger, auf die ein demokratisches Gemeinwesen zumindest in Graden angewiesen ist, wird Ehrenamtlichkeit im politischen Sinne und demokratietheoretisch relevant. Dieser benevolenten Lesart von Stiftungen stehen aber auch eine Reihe kritischer Argumente gegenüber, beispielsweise das Argument der „toten Hand“, also der Zweck- und Ressourcenbindung über Generationen hinweg, oder das der Allokation von großen steuerlich begünstigten Vermögen, welche einer demokratischen Kontrolle entzogen sind. Zuletzt ist auch eine zunehmende normative Thematisierung der betriebswirtschaftlichen Ökonomisierung zivilgesellschaftlicher Institutionen wie Stiftungen zu beobachten, innerhalb der die Übertragung wirtschaftlicher Logiken in den eigentlich marktautonomen Bereich der Non-Profit-Organisationen problematisiert wird.243 In der überschaubaren politikwissenschaftlichen Stiftungsforschung des deutschensprachigen Raums sind die Arbeiten von Annette Zimmer, Frank Adloff, Rupert Graf Strachwitz, Ansgar Klein und, nicht ganz so zentral, auch Herfried Münklers zu nennen.244 Die vorliegende Arbeit verortet sich in diesem politikwissenschaftlichen Forschungsfeld und verbindet Überlegungen zu demokratierelevantem Stiftungshandeln mit dem Diskurs um die Problematik selektiver Beteiligung bei neuen Formen von politischer Partizipation in der Zivilgesellschaft. Die kritische politikwissenschaftliche Auseinandersetzung um politische Gleichheit und die Bestimmung von Faktoren bei Beteiligungsprozessen hängt stark mit der Vorstellung vom Grad der nötigen Partizipation in der Demokratie zusammen; bei allen Formen der Beteiligung lassen sich aber systematische Verzerrungen zum Nachteil bestimmter Bevölkerungsteile ausmachen (vgl. Kapitel 2). Diese Forschungen erstrecken sich bei stärker partizipativen und deliberativen Theorien auch auf die Zivilgesellschaft, und der positive Zusammenhang von Ehrenamt und politischem Engagement scheint bestätigt. In der politischen Theorie bleiben gezielte Untersuchungen einzelner Akteure der Zivilgesellschaft meist nur anekdotische Randnotizen. Auch in den stärker empirisch ausgerichteten Ansätzen steht vor allem die Form oder das Medium des veränderten Partizipationsverhaltens mittels Volksreferenden, neuer Medien oder sozialer Bewegungen im Vordergrund, weniger die Vermittlerpositionen.245 Die politikwissenschaftlichen Untersuchungen, die die demokratiefördernde Rolle von Stiftungen in der Zivilgesellschaft thematisieren, vernachlässigen das Spannungsverhältnis, wel-

|| 243 Adloff/Birsl/Schwertmann 2005, Zimmer/Simsa 2014. 244 Klein 2013, Strachwitz 2014, Münkler 2012. 245 Vetter 2008a und 2008b, Merkel/Krause 2015a und 2015b, Bödeker 2012.

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ches sich bei Stiftungen durch ihren elitären Charakter und ihrem gleichzeitigen Anspruch auf Gemeinwohlorientierung ergibt.246 Dabei ist es naheliegend, dass Stiftungen, wenn sie als Netzwerke und Instrumente der sozialen Prestige- und Machtsicherung einer kleinen finanz- und bildungsstarken Gruppe verstanden werden, gerade in ihren demokratiefördernden Maßnahmen mit dem Problem der politischen Gleichheit konfrontiert werden müssen, da die Faktoren, die diese Gleichheit beeinflussen, mit eben jenen Finanz- und Bildungsvorteilen korrelieren. Auch in der Engagementund Ehrenamtsforschung tritt das Problem des sozial ungleichen Zugangs zutage; die Untersuchungen dazu sind jedoch bisher noch sehr übersichtlich.247 „Weitere, zielgruppenspezifische Untersuchungen über Zugangswege, Motivation, Bereitschaft und bestehende Erwartungen sind dringend erforderlich.“248 In der Dritter-SektorForschung und im Kontext sozialpädagogischer Arbeiten gibt es Untersuchungen zur sozialen Struktur und selektiven Beteiligung von Ehrenamtlichkeit in Wohlfahrtsverbänden und Vereinen. Da sich Stiftungen in ihrer Einbindung von Ehrenamt aber erheblich von Vereinen unterscheiden, ist hier ein Vergleich nur bedingt möglich. Die Exklusion einzelner betroffener Gruppen aus der Zivilgesellschaft, wie etwa erwerbslose Personen, wurde einzeln empirisch untersucht, die Erforschung von Inklusionsbemühungen zivilgesellschaftlicher Akteursgruppen wie Stiftungen steht aber noch aus.249 Feministische Untersuchungsansätze fokussieren ihre Kritik auf interne Machtstrukturen der Dritter-Sektor-Organisationen und nicht stiftungsspezifisch, ausgehend von Untersuchungen, die eine systematische Unterrepräsentation von Frauen in Führungsgremien belegen.250 Somit greifen alle diese Ansätze Aspekte von dem hier behandelten Thema zwar auf, bleiben in der von ihm anvisierten Schnittmenge jedoch leer.

3.2.2 Stiftungen: Von der Geschichte zur Gegenwart Stiftungen sind kein Phänomen moderner liberaler Demokratien. In der historischen Betrachtung zeigt sich die Anpassungsfähigkeit des Stiftungswesens, welches sowohl in autokratisch-monarchischen Regimen wie der wilhelminischen Kaiserzeit als auch in einem demokratischen Umfeld gleichermaßen, wenngleich auch mit anderen

|| 246 Schwertmann 2006. 247 So werden beispielsweise sozioökonomische Faktoren im Freiwilligensurvey erhoben, aber nicht weiter untersucht, vgl. Gensicke/Geiss 2010, die eine Fallanalyse vorgelegt haben, vgl. Klatt/ Walter 2014. 248 Vandamme 2012: 709. 249 Munsch 2005, Gensicke 2005, Munsch 2010, Klatt/Walter 2014. 250 Sandberg/Mecking 2008.

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Ausrichtungen und Motivationshintergründen, wachsen konnte.251 Im streng juristischen Sinne gibt es die Rechtsform der Stiftung als juristische Person und Rechtsträger erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts.252 Schenkungen, die relevante Merkmale einer Stiftung erfüllen, finden sich jedoch bereits im Altertum und in der Antike. Auch waren Stiftungen nie ein europäisches Phänomen, sondern immer schon global zu finden.253 Die sprachlichen Wurzeln des deutschen Wortes stiften reichen weit zurück und lassen sich sowohl im althochdeutschen stihten als auch in anderen germanischen Vernakularsprachen, stets mit der Bedeutung von gründen oder einrichten, nachweisen.254 Die Zwecke solcher Einrichtungen fielen je nach Gesellschaft und Epoche unterschiedlich aus, erfüllten in der Regel jedoch immer mehrere Funktionen.255 War im Mittelalter die stifterische Tätigkeit herrschaftlich gewollt und unhinterfragt, entwickelt sich mit dem Aufkommen des modernen Nationalstaates eine Diskussion um die Legitimität und den Nutzen von Stiftungen.256 Die Aufklärung prägt mehrere stiftungsfeindliche Argumentationslinien, die lange nachwirken. Nach

|| 251 Gegen die These der anthropologischen Konstante verweist Borgolte beispielhaft auf die stifterischen Brüche in vorhellenischer Zeit und in der DDR, vgl. Borgolte 2012: 58f. 252 Borgolte 2014. 253 Ein guter Überblick über muslimische, indische oder jüdische Stiftungskultur in Borgolte 2014 und Strachwitz 2015. 254 Pfeifer 1989, Borgolte 2014. 255 So weist von Reden Stiftungen in der griechischen Antike der klassischen und hellenischen Periode eine dezidiert politische Funktion zu, die auf die Erhaltung und Identifizierung der Gemeinschaft zielt. Das Stiften in der Polis umfasst vor allem die Förderung der Kultpflege, das Ausrichten von Festen, Sportveranstaltungen und der Pflege von öffentlichen Einrichtungen und Grabdenkmälern. Neben der Memoriafunktion wurden durch diese Stiftungen mehrere Aufgaben erfüllt, die einen gemeinschaftsstiftenden, öffentlichen Charakter besaßen. So trugen sie zum einen nach außen zur Wahrnehmung der Stadt bei, zum anderen bestätigten sie die sozialen Eliten und sorgten für eine „ideologische Abmilderung von Statusdifferenzen“. Durch die öffentlichen, jedem Bürger zugänglichen Feste und Kulte konnte eine Überbrückungsleistung zwischen reichen und armen Bevölkerungsklassen erbracht werden. Huldigung und Möglichkeiten zur Betonung der Bürgerschaft als einheitlicher Körperschaft wurden zelebriert und sollten den sozialen Zusammenhalt fördern. Die öffentliche Dokumentation und Kontrolle dieser Stiftungen durch die Polis scheint dabei ein eine sehr wichtige Rolle gespielt und dem demokratischen Selbstverständnis der Bürgerschaft entsprochen zu haben. „Philanthropie wird zu einer demokratischen Ethik, die den Zusammenhalt und die langfristige Stabilität einer egalitären Gemeinschaft bedingt und fördert.“ Eine weitere interessante Beobachtung macht von Reden, wenn sie darauf hinweist, dass mit der voranschreitenden Aushöhlung der demokratischen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger im Laufe des Hellenismus eine zeitgleiche Öffnung der stifterischen ‚Nutzergemeinschaft‘ einhergeht. Vermehrt werden Frauen und andere Nichtbürger zu Kulten und Festen zugelassen. Die Inklusionsreichweite des Gemeinschaftsbegriffs schien also zu wachsen in dem Maße, indem die politische Einflussmöglichkeit der Bürgerschaft sinkt. Die stifterische Tätigkeit behält die vermittelnde Funktion zwischen den sozialen Schichten bei, nunmehr aber verstärkt zwischen Monarchie und Adel und der Bevölkerung. Vgl. von Reden 2012, 2015. 256 Strachwitz 2010.

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Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781) oder Immanuel Kant (1724–1804) sind Stiftungen zu unflexibel und zu kostenintensiv, um auf die stetigen Veränderungen und Herausforderungen der neuen Zeit angemessen reagieren zu können, da sie institutionell geknebelt seien durch die tote Hand des Stifters.257 Kant kritisiert die Autonomie der Stiftungen in Opposition zu der gebotenen Handlungshoheit des Staates. Denn der Staat müsse jederzeit in der Lage sein, die Regelungshoheit über alle Organisationen im Lande (dem Volkswillen nach) herzustellen. Dass sowohl Zweck als auch Mittel privater Institutionen über Generationen hinweg und unveränderlich gebunden wurden, entsprach weder dem Staatsverständnis noch den Modernitäts- und Fortschrittserwartungen der Aufklärung.258 Dennoch wäre die Diagnose eines kontinuierlichen Abbaus der (deutschen) Stiftungslandschaft im Angesicht des erblühenden Nationalstaats verfehlt. Strachwitz verweist in diesem Zusammenhang auf mehrere zyklische Wellenbewegungen in Größe und Umfang des Stiftungswesens seit dem 16. Jahrhundert.259 Im 19. Jahrhundert lässt sich ein massiver Anstieg von Stiftungsgründungen verzeichnen, die geprägt sind von wenigen vermögenden Unternehmensstiftern. Im Zuge der Industrialisierung kommt es in Städten wie Leipzig zu großen städtebaulichen Veränderungen, in denen unter anderem große soziale Wohnbauprojekte durch Stiftungsvermögen entstehen.260 Deren Förderung wurde durch die Stifter, wie zum Beispiel im Falle Hermann Julius Meyers, ganz bewusst zum Erhalt des sozialen Friedens eingesetzt.261 In den Metropolen wird zudem die Kulturförderung, etwa durch Museumsgründungen, immer wichtiger, deren öffentliche Zugänglichkeit auch der Vorstellung pädagogischer Volksbildung folgt. Diese Erweiterung der Förderbereiche auf Bildung, Forschung, Kunst und Erholung sind getragen von der Hoffnung, damit einen grundsätzlichen, gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. In der Moderne operieren die Stiftungen somit zunehmend in unterschiedlichen Unterstützungsbereichen, gehen über die religiös induzierte Mildtätigkeit hinaus, sind getragen in der Stiftungsmotivation von einem diesseitigen Fokus und in ihrem stifterischen Handeln von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf soziale Fragen.262 Im Ersten Weltkrieg kommt es zu einem forcierten massenhaften Ankauf von Kriegsanleihen durch Stiftungen, die während der Weimarer Republik infolge der hohen Inflation und des Anleiheablösegesetzes von 1925 praktisch wertlos und infolge-

|| 257 Strachwitz 2010, Strachwitz 2015. 258 Strachwitz 2010., Von Reden 2015. 259 Strachwitz 2010. 260 Adam und Lingelbach weisen auf die großen Strukturunterschiede der Stiftungen der deutschen Kleinstaaten hin. So waren Stiftungen in Bayern eher ländlich, in Preußen eher auf Metropolen fokussiert. Adam/Lingelbach 2015. 261 Adam 2012: 12. 262 Von Schnurbein 2015.

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dessen tausende Stiftungen aufgelöst werden.263 Der Nationalsozialismus ist dann ebenso von einer stiftungsfeindlichen Einstellung geprägt wie später die DDR.264 In Westdeutschland nach 1945 dominiert im Bereich des philanthropischen Gebens zunächst noch das kirchliche Sammlungs- und Kollektenwesen.265 Mit dem Wirtschaftswunder beginnen jedoch auch wieder Stiftungsgründungen eine größere Rolle zu spielen und erste rechtliche, philanthropiefördernde Weichenstellungen, wie die Aufhebung des Sammlungsgesetzes von 1934, folgen.266 In der BRD stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Stiftungswesen und lenkte den Blick auf die USA, die über einen ausgebauten Stiftungssektor verfügten und das Bild von Stiftungen als wichtigen Akteuren einer lebendigen Zivilgesellschaft prägten. Dieses positive Bild wurde übernommen, gewann mit der Debatte um die Aufwertung der Zivilgesellschaft durch Markt- und Staatsversagen an Kraft, sodass „[v]on den 1940 bis in die 2000er Jahre [...] in jedem Jahrzehnt in jedem Jahr so viele Stiftungen neu gegründet [wurden] wie in gesamten Jahrzehnt zuvor“.267 Ein besonderer Anstieg ist neben dem allgemeinen positiven Trend nach den gesetzgeberischen Reformen 2000/2001 und 2007 zu verzeichnen, da diese Stiftungsgründungen maßgeblich erleichterten. Gegenwärtig werden Stiftungen im Zuge der Debatte um eine neue Bürgerkultur verstärkt in der Diskussion um bürgerschaftliches Engagement thematisiert. Stiftungen werden als Akteure in der Zivilgesellschaft wahrgenommen. Ihnen wird, sei dies gerechtfertigt oder nicht, eine bestimmte Rolle, die sie dort erfüllen (sollen), zugesprochen. Vonseiten der Politik gibt es seit längerer Zeit die Erwartung, Stiftungen könnten einen veritablen Teil jener zivilgesellschaftlichen Engagementindustrie bilden, die zur Abfederung eines schmaler werdenden wohlfahrtsstaatlichen Leistungskataloges beitragen könnten. Zur Bedeutung von Stiftungen seiner Zeit gefragt, beschrieb Bundespräsident Roman Herzog Stiftungen als „Pioniere auf dem Weg zur […] effizienten, vielfältigen Verbindung von unternehmerischer Dynamik und Dienst am Gemeinwohl“.268 2014 schloss sich sein späterer Nachfolger Joachim Gauck mit den Worten an: „Wer die Zivilgesellschaft in einer Region stärken will, der muss auch die Stiftungen stärken!“269 Diese Erwartungshaltung seitens staatlicher Akteure spiegelte

|| 263 Adam 2012. 264 Adam/Lingelbach 2015: 233. „In der DDR bemühte man sich aus konfiskatorischen Motiven recht schnell um eine staatliche Erfassung der noch vorhandenen Stiftungen. 1952 erschien ein Erlass des Innenministeriums, dass alle Stiftungen und stiftungsähnlichen Vermögensmassen innerhalb von wenigen Monaten anzumelden seien.“ Strachwitz 2007a: 103, zitiert in Adloff 2010: 353. 265 Lingelbach 2006. 266 Lingelbach 2006: 110. 267 Strachwitz 2015: 305. 268 Herzog 1999. 269 http://www.stiftungen.org/de/presse/pressemitteilungen/archiv-pressemitteilungen/ pressemitteilungen-dynamische-inhalte/detailseite-pressemitteilung/mode/teaserstart/detail/ 4184.html [20.06.2016].

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sich in mehreren Novellierungen des Stiftungsgesetzes wider, welche eine spürbare Erleichterung der Gründungmöglichkeit zur Folge hatten. 2000 wurden die steuerlichen Absetzmöglichkeiten für Stifter vergrößert, 2002 folgte eine zivilrechtliche Reformierung der einschlägigen Abschnitte des BGB. Bei Vorliegen der formalen Voraussetzungen haben Stifter seitdem einen Anspruch auf Anerkennung der Rechtsfähigkeit ihrer Stiftung.270 2007 wurde privaten Stiftern die Möglichkeit eingeräumt, bis zu einer Million Euro innerhalb von zehn Jahren von ihrem steuerpflichtigen Einkommen abzusetzen, wenn sie diese Mittel zur Kapitalausstattung einer Stiftung bereitstellen.271 Andere Akteure der Zivilgesellschaft, Vereine oder Verbände etwa, wurden nicht im selben Maße gleichgestellt.272 Im gleichen Jahr wurde durch das „Gesetz zur Steigerung des bürgerschaftlichen Engagements“ die „Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zugunsten gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke“ neu in die AO aufgenommen.273 Derzeit befasst sich eine Bund-LänderArbeitsgruppe mit der Ausarbeitung von erneuten Änderungsvorschlägen des Stiftungsrechts, in denen den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie der Niedrigzinsperiode oder dem Phänomen der zunehmenden Gründungen durch noch lebende Stifter Rechnung getragen werden soll. Die Novellierungen scheinen zu einer fortschreitenden Flexibilität im Stiftungssektor zu führen. Momentan deutet nichts auf ein Ende des Stiftungsbooms hin. Neben den attraktiven (steuer-)rechtlichen Konditionen sind die Zunahme der deutschen Privatvermögen und ihrer potenziellen Erbmasse, in der Kombination mit der Tendenz einer Ballung dieser Vermögen und den demographischen Kennzahlen, die immer mehr kinderlose Wohlhabende erwarten lassen, Rahmenbedingungen, die für einen anhaltenden Trend sprechen.274 Seit einiger Zeit ist auch ein Trend zur Aufweichung der starren Stiftungsregeln zu erkennen: Rechtliche Novellierungen, die den Verbrauch des Stiftungsvermögens oder Satzungsänderungen zulassen und damit den Ewigkeitsaspekt von Stiftungen aushebeln, da diese den Widerruf und die Verhandelbarkeit des Zwecks und der Ausrichtung ermöglichen, scheinen eine Demokratisierungsbewegung von Stiftungen anzuzeigen. Wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, haben sich die deutschen Stiftungen in diesem Verhalten an dem US-amerikanischen Stiftungssektor orientiert. Diese Bewegung umfasst sowohl die Reformierung der formalen Beschaffenheit von Stiftungen, weil die Möglichkeit der Satzungsänderung eine Wahlfreiheit in der Zweck- und Mittelbindung zulässt, als auch ihre Rechenschaftsprüfung, weil sie ver-

|| 270 Adloff 2014. 271 Adloff 2014. 272 Strachwitz erklärt diese Bevorzugung durch die Politik zum einen mit deren Hoffnung auf finanzielle Entlastung der Wohlfahrtsausgaben durch Stiftungsvermögen und zum anderen mit der „strukturkonservativen“ Ausrichtung des Stiftungssektors. Vgl. Strachwitz 2014: 125. 273 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2007, Teil I Nr. 50. 274 Laut Studien stiften kinderlose Menschen häufiger als Menschen mit Kindern. Siehe Adloff 2010: 362.

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mehrt auf Transparenzforderungen eingehen, und ihre Engagementfelder, da sich Stiftungen in größerem Maße in der Stärkung des bürgerlichen Engagements, der politischen Bildung oder der Förderung des demokratischen Staatswesens betätigen. Denn mit der Stiftungseuphorie ging neben der erhöhten Aufmerksamkeit auch die vermehrte Forderung nach mehr Transparenz und Kontrolle dieser steuerbegünstigten Institutionen einher. Stiftungen sind angewiesen auf ihre öffentliche Reputation, denn diese ist Voraussetzung für die Akzeptanz ihrer Arbeit: Sie ist ihr Türöffner und die Grundlage der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren. Zudem können in Verruf geratene Stiftungen den Status ihrer Gemeinnützigkeit aberkannt bekommen.275 Deswegen und weil Stiftungen um das traditionell staatliche Misstrauen ihnen gegenüber einerseits und die momentane Erwartungshaltung vonseiten der Politik andererseits wissen, reagieren sie verstärkt durch selbst auferlegte Transparenzinitiativen. Bisher haben Transparenzforderungen, sieht man einmal von der steueramtlichen Überprüfung der Stiftungsaufsicht ab, in keinerlei rechtlicher Offenlegungspflicht ihren Niederschlag gefunden und beschränken sich auf freiwillige Selbstverpflichtungen. Transparenzinitiativen wie das Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI), Initiative transparente Zivilgesellschaft, der Price Waterhouse Cooper Transparenzpreis und die Initiative gute Stiftungspraxis des Deutschen Stifterverbandes sind Beispiele hierfür. Auch sind zumindest die großen Stiftungen dazu übergegangen, neben den Satzungen ihre Jahresberichte, Projektübersichten und Jahresabschlüsse mehr oder weniger ausführlich zu veröffentlichen. Die Möglichkeiten der – relativ günstigen – Bereitstellung von Informationen über eine eigene Homepage nehmen inzwischen auch verstärkt kleinere Stiftungen wahr. Mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand und auf die Geschichte des Stiftungswesen bis in die Gegenwart hinein zeigt sich somit Folgendes: Auch wenn die deutschen Stiftungen in ihren Rechtsformen, in ihrem Vermögen und in ihrer Größe sehr unterschiedlich aufgestellt sind, lässt sich im Kern festhalten, dass Stiftungen Institutionen zur Bereitstellung von Mitteln durch einen Stifter zu festgelegten gemeinnützigen Zwecken sind, die gemäß der Abgabenordnung festgelegt sind. Stiftungen werden vermehrt Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, was unter anderem damit zusammenhängt, dass es immer mehr von ihnen gibt. Allerdings lassen sich gerade aus politikwissenschaftlicher Perspektive in Hinblick auf ihre demokratische Legitimität und ihre sozialen Funktionen nach wie vor Forschungsdesiderate ausmachen. Weiter zeigt sich, dass das Gründen einer Stiftung, also die Bereitstellung privater Mittel zu gemeinnützigen Zwecken in ewiger Absicht, historisch betrachtet, ein zeit- und gesellschaftsübergreifendes Phänomens ist. Die Gesellschaften, innerhalb derer gestiftet wird, wirken jedoch auch immer auf Zweck und Ausrichtung der Stiftungen ein. Das Stiftungswesen wird von den politischen Rahmenbedingungen be-

|| 275 Eine solche Forderung in Hinblick auf die Bertelsmann Stiftung ist online zu finden unter: http://www.nachdenkseiten.de/?p=6589 [02.05.2017].

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einflusst, und das stifterische Handeln reflektiert die sie umgebende Gesellschaft. In Hinblick auf die Regierungsform, in denen Stiftungen existieren können, heißt das: Stiftungen sind weder typisch demokratische Organisationsformen, noch existieren sie primär in autoritären Systemen, sie existierten in feudalistischen Zeiten wie in Zeiten ausgebauter Nationalstaatlichkeit. Da die sozialen Normen sowohl Struktur als auch Handlungsfelder von Stiftungen formen, erklärt sich die Demokratisierungstendenz der Stiftungen aus der hiesigen demokratischen Gesellschaft, ebenso dass Stiftungen zwar augenscheinlich frei von Zwängen des Marktes oder der Politik sein mögen, aber keineswegs unabhängig von der öffentlichen Meinung sind.276 Zudem erklärt der ideengeschichtliche Verlauf die Entstehung bestimmter stiftungsaverser Argumente, die noch heute wirken und nach wie vor einen Rechtfertigungsdruck auf Stiftungen ausüben. Die Skepsis gegenüber dem Willen des Stifters, wirklich benevolent und vorausschauend zu handeln, der Vorwurf gegenüber Stiftungen, zu viel Kapital zu binden und ineffektiv zu arbeiten, sind Rechtfertigungskontexte, die Stiftungen seit jeher begleiten, die aber besonders in Demokratien zu wirken scheinen. Aktuell geben vor allem die steuerliche Begünstigung und ihre öffentliche Meinungsmacht Anlass zur Diskussion, Stiftungshandeln einer größeren staatlichen Kontrolle als bisher zu unterwerfen.

3.2.3 Ein Blick hin zum US-amerikanischen Stiftungssektor und zurück Der Vergleich des amerikanischen Stiftungswesens mit dem deutschen zeigt, dass ein demokratischer Hintergrund (in Deutschland ab 1945) nicht zwangsläufig zu gleichen rechtlichen Regulierungsrahmen oder zu gleichem stifterischen Förderverhalten führt, auch wenn die Ansprüche und Erwartungen an Stiftungen, wie etwa gesellschaftliche Innovationskraft und die Abmilderung pauperistischer Gesellschaftszustände, ähnlich geprägt sind. Zunächst einmal ist der größere Umfang, relativ wie absolut, des amerikanischen Stiftungssektors im Vergleich zu seinem deutschen Pendant zu konstatieren. 2012 wurden durch das New Yorker Foundation Center für die Vereinigten Staaten 88.192 Stiftungen277 mit einem Stiftungsvermögen von 715 Milliarden Dollar und einer Förderausschüttung von 52 Milliarden Dollar verzeichnet.278 Der Bundesverband Deut-

|| 276 Die attestierte Unabhängigkeit vom Markt ist diskutabel, vergegenwärtigt man sich die aktuellen Schwierigkeiten von Stiftungen, in der Niedrigzinsphase Ausschüttungsrenditen zu erzielen. Ein Beispiel von Marktabhängigkeit ist auch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die durch die Dividendenstreichung des Thyssen-Krupp-Konzerns 2013 und 2012 zeitweise ihre Haupteinnahmequelle verlor. 277 Die Erhebung beeinhaltete alle „independent and family, community, and operation foundations that reported giving“. 278 http://foundationcenter.org/gain-knowledge/foundation-landscapes [29.06.2016].

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scher Stiftungen zählte für das Jahr 2015 21.301 rechtsfähige Stiftungen des bürgerlichen Rechts mit einem geschätzten Gesamtvermögen von 100 Milliarden Euro und Ausgaben gemäß Satzungszwecken von 5 Milliarden Euro.279 Generell ist die philanthropische Kultur in den USA stärker als in Deutschland geprägt von einer normativen Erwartungshaltung sowohl an die vermögende Oberschicht als auch an die Gesellschaft insgesamt. So liegt das durchschnittliche Pro-Kopf-Spendenverhalten in den USA etwa fünfmal höher als in Deutschland, zudem spenden Amerikaner regelmäßiger als Deutsche.280 16 Prozent der dort 2012 über 316 Milliarden Dollar eingesammelten Privatspenden stammen von Stiftungen. Als Begründung für die unterschiedliche Gabe-Mentalität der beiden Länder wird oft auf das differierende Staatsverständnis verwiesen.281 Demnach herrsche in den Vereinigten Staaten ein höheres Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und ein Vorrang privater Wohltätigkeit, wohingegen in Deutschland der Wohlfahrtsstaat stärker ausgeprägt und damit die Erwartung an privates Engagement niedriger sei. Aktuell verfolgen deutsche Stiftungen laut Stifterverband als Hauptzwecke zu etwa 50 Prozent die Förderung sozialer Zwecke, zu rund 35 Prozent Bildung und Erziehung, zu 30 Prozent Kunst und Kultur und etwa zu 25 Prozent Wissenschaft und Forschung.282 Laut Umfragen engagieren sich etwa 25 Prozent der deutschen Stiftungen mittlerweile auch international.283 Die Erhebung des Foundation Center New York fragt nicht ganz deckungsgleiche Zwecke ab und kommt für 2012 auf 50 Prozent soziale Zwecke (Health and Human Service and Public Affairs/Society Benefit) und 22 Prozent Bildung (Education) und 10 Prozent Kunst und Kultur. Es scheint zunächst paradox, dass trotz einer stärkeren Staatsorientierung Deutschlands die rechtlichen und öffentlichen Regulierungsmechanismen gegenüber Stiftungen weitaus geringer sind als in Amerika. Dies wird jedoch verständlicher, wenn man einerseits die schnell fortschreitende Liberalisierung des deutschen Stiftungssektors in den letzten Dekaden und andererseits die relativ kontinuierliche und lange Regulierungstradition in Amerika betrachtet. Programmatisch mögen dafür zwei Beispiele stehen: zum einen der amerikanische Tax Reform Act von 1969, der Stiftungen erweiterte Auflagen machte,284 zum anderen, fast zeitgleich, die bereits genannte Aufhebung des Sammlungsgesetzes von 1934 durch das deutsche Bundesverfassungsgericht im Jahr 1966, das es Wohlfahrtsorganisationen von da an ermöglichte, ohne besondere behördliche Erlaubnis in der Öffentlichkeit Spendenwerbung zu betreiben.285 || 279 https://www.stiftungen.org/de/presse/faktenblaetter.html [29.06.2016]. 280 http://foundationcenter.org/gainknowledge/research/keyfacts2014/[29.06.2016]. 281 Anheier 2010, Adloff 2010, Strachwitz 2015. 282 Bei der Erfassung waren Mehrfach-Nennungen möglich. 283 Anheier 2016: 6. 284 Prewitt 1999: 353. 285 Lingelbach 2006.

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Auch in der nordamerikanischen Geschichte des Stiftungswesen kann man in der Gesellschaft eine skeptische Haltung gegenüber reichen Stiftern verfolgen, aber früher und in größerem Maße als in Deutschland wird dort auch die Erwartung an vermögende Personen gestellt, sich wohltätig und stiftend zu engagieren. Vor 1900 gab es nur einige wenige Dutzend Millionäre in Amerika und entsprechend wenig große und vermögende Stiftungen. Mit dem fortschreitenden wirtschaftlichen Aufschwung Amerikas zog dieses mit Deutschland in der Anzahl großvermögender Personen zu Beginn des 20. Jahrhundert gleich und überholte es schnell, was sich auch in der deutlichen Zunahme an größeren amerikanischen Stiftungen niederschlug. In dieser Zeit kamen „Industriemagnaten wie Rockefeller, Carnegie und William H. Vanderbilt zu Vermögen in bisher unerreichten Höhen von 200 bis 300 Millionen Dollar“286 und wurden zu den bekannten Stiftern, die noch heute die Vorstellung amerikanischer Philanthropie prägen. Der durch Industrialisierung und wirtschaftlichen Aufschwung geschaffene Bedarf nach gut ausgebildeten Fachkräften hatte zur Folge, dass sich in Amerika zum Ende des 19. Jahrhunderts das stifterische Interesse vieler Unternehmer verstärkt der Finanzierung und Gründung privater Lehrinstitutionen zuwandte. „Der Reichtum floss in etablierte Universitäten wie Harvard oder in neu gegründete Institutionen wie Cornell (1865), Johns Hopkins (1876), Stanford (1891) oder die University of Chicago (189l).“287 Die großen Förderstiftungen von Carnegie oder Rockefeller folgten nicht dem herkömmlichen Konzept der charity, die traditionell die Armen- und Krankenpflege umfasste, sondern prägte den Begriff der Philanthropie als Förderansatz, soziale Probleme mittels wissenschaftlicher Forschung zu erkennen und zu überwinden. Dies restrukturierte den Non-Profit-Sektor, der im 19. Jahrhundert noch von religiösen Organisationen geprägt worden war und nun wissenschaftliche Einrichtungen stärker bevorzugte als sozial karikative.288 Die amerikanische Gesellschaft erlebte im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Umstellung von einer landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft mit verhältnismäßig egalitärer Einkommensstruktur zu einer immer stärker industrialisierten Nation mit schnell auseinanderdriftender Vermögensverteilung. Die Fürsorge der stiftenden Unternehmer für die Wissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert erscheint in diesem Lichte sozialen Konfliktstoffs pragmatisch. Die Sorge und Suche nach Lösungen sozialer Probleme fiel nicht zufällig mit den immer stärker wachsenden finanziellen Möglichkeiten der Industriemagnaten zusammen. In Amerika musste die im Zuge der Industrialisierung immer größer werdende Ungleichverteilung der Vermögen innerhalb der Gesellschaft sinnstiftend und im Sinne der Aufrechterhaltung des sozialen Friedens legitimiert werden. Angesichts drohender alternativer Antworten auf die soziale(n) Frage(n) vonseiten des Sozialismus oder eines wohlfahrtsstaatlich ausgerich-

|| 286 Adloff 2010: 251. 287 Adloff 2010: 251, zitiert Hall 1992: 37. 288 Adloff 2010: 265.

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teten Staates in kontinentaleuropäischer Manier schien für viele reiche Amerikaner die Notwendigkeit von mehr sozialem Engagement gegeben. Den Kapitalismus zu retten, so wurde es von der kapitalistischen Elite zunehmend gesehen, erfordere, ihn ein Stück weit zu verändern.[…] Die erste Privatantwort auf die sozialen Umbrüche, die mit Immigration und Industrialismus verbunden waren, stellte der sogenannte welfare capitalism dar.289

Instruktiv liest sich der 1886 erschienene Essay Andrew Carnegies The Gospel of Wealth, in dem er die Grundposition einer liberalen Philanthropie skizziert und die heute im Giving Pledge Bill Gatesʼ und Waren Buffets wieder ihre Aktualität unter Beweis stellt.290 Große Vermögen, so Carnegie, sollten mit dem Tode des Besitzers (von diesem) gestiftet werden. Eine solche private Philanthropie verhindere zum einen einen zu großen Staatsapparat und entspreche zum anderen einer leistungsgerechten Gesellschaft, da sie eine faule Generation von Erben verhindere. Die produktive Kraft des Unternehmers sollte zeit seines Lebens nicht gestört werden, nach seinem Tode jedoch Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg jener zur Verfügung stellen, die willens- und leistungsbreit seien. Almosen lehnte Carnegie ab, da diese die Trägheit der Angewiesenen fördern würden. Dieses Bild des Reichen, der zum „trustee for his poorer brethren“ wird, und die soziale Akzeptanz großer Vermögensungleichheiten mit der gesellschaftlichen Erwartung zur Philanthropie vereint, prägt Amerika noch heute.291 Die öffentliche Kontrolle der gemeinwohlorientierten Treuhänder großer Vermögen und die Vorstellung von dem Vermögen, welches der Gesellschaft nach dem Tode zur Verfügung gestellt wird und so quasi a common good wird, ist Teil dieses Deals. Seit 1925 konnten durch Stiftungsgründungen erstmals auch steuerliche Vorteile geltend gemacht werden, die zeitgleich mit einer wachsenden staatlichen Regulierung einhergehen. Einige öffentlich gemachte Skandale um den Missbrauch von Stiftungsgeldern waren Grund für den Tax Reform Act von 1969, dem weitere Regulierungen folgten, sodass heute eine breite öffentliche Aufsicht herrscht. Die Durchsetzung größerer Publizität und Rechenschaftspflicht sowie die Professionalisierung der Stiftungsarbeit stellen für Frumkin […] sich wechselseitig verstärkende Prozesse dar und sind klare Anzeichen dafür, dass Stiftungen in den USA zunehmend als »public trust, open and accountable to all« agieren.292

Seit einigen Dekaden nehmen amerikanische Stiftungen nicht mehr nur implizit, sondern explizit die Möglichkeit der Politikgestaltung wahr, parallel zu ihrem Engagement im Bereich der Demokratieförderung. Mit den 1970er-Jahren beginnt in den USA

|| 289 Adloff 2010: 258. 290 http://www.economist.com/node/21555605 [01.06.2016]. 291 http://historymatters.gmu.edu/d/5766/ [01.06.2017]. 292 Adloff 2010: 314.

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eine Phase der konservativen Stiftungsgründungen, die verstärkt im Bereich des Policy-Making und der Politikberatung operieren. Das Förderverhalten konservativer Stiftungen unterschied sich von Anfang an deutlich von dem liberaler Stiftungen, denn sie finanzierten „wenige Institutionen, dafür aber umso intensiver und dezidiert den Aufbau konservativer Ideennetzwerke“.293 Mit der Gründung und Förderung sogenannter Think Tanks verfolgten diese Stiftungen einen direkteren politischen Mitwirkungsanspruch.294 Für 2001 wurde der konservative Stiftungssektor auf ein Vermögen von etwa 7,3 Milliarden Dollar geschätzt. Davon fließen etwa 45 Prozent in den Förderbereich policy (an Think Tanks wie der Heritage Foundation, das American Enterprise und das Cato Institute), gefolgt von jeweils 10 Prozent education und legal issues.295 Dieses Verständnis direkter Einflussnahme hat sich mittlerweile übergreifend und bei fast allen großen Stiftungen Amerikas etabliert. Als ein weiteres Beispiel für ein zunehmend politisches Rollenverständnis US-amerikanischer Stiftungen kann die internationale Ausrichtung ihrer Förderung in den osteuropäischen Transformationenstaaten nach 1989 gesehen werden. Viele Stiftungen warben durch die Finanzierung und den Ausbau ortansässiger NGOs in den Staaten des ehemaligen Ostblocks für das westlich-liberale Konzept von Zivilgesellschaft und Bürgerbewegungen, das neben Rechtsstaatlichkeit und kapitalistischem Wirtschaftssystem als wesentliche Voraussetzung für die gelingende Implementierung einer demokratischen Gesellschaft angesehen wurde. Paradigmatisch dafür stehen Stiftungen wie die Open Society Foundation, ehemals Open Society Institute, welche mit eigenen Büros in Budapest oder Kiew nach wie vor vertreten sind. Heute operiert die Stiftung global und vertritt neben ihrem Engagement in Gesundheit und Bildung auch Themen wie Governance and Accountability und Rights and Justice und sieht sich in ihrer Arbeit als Teil einer globalen Zivilgesellschaft.296 „In the last decade of the twentieth century, there was probably no more salient issue drawing the attention of U.S. private foundations than democratization and support for the burgeoning of civil society around the globe.”297 Ann Vogel weist auf die besondere Rolle der stiftungsfinanzierten Initiativen in Osteuropa zur Gründung sogenannter community foundations (Bürgerstiftungen) hin, etwa durch die Kellogg oder Packard Foundation.298 Diese lokale und von mehreren Gründern getragene Stiftungsform ist auch in Deutschland mittlerweile präsent und wird hier unter anderem durch die Bertelsmann Stiftung und ihr Transatlantic Community Foundation Network gefördert. Nach Adloffs Einschätzung ist „[d]ie: Bertelsmann Stiftung ohnehin für Deutschland der Transmissionsriemen

|| 293 Adloff 2010: 334. 294 Speth 2010. 295 Adloff 2010: 333. 296 Benjamin/Quigley 2010: 245. 297 Benjamin/Quigley 2010: 245. 298 Vogel 2006.

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für die Übertragung amerikanischer Stiftungs- und Managementmodelle“.299 Allerdings sind die meisten großen deutschen Stiftungen längst nicht so selbstbewusst in einem demokratiemissionarischen Auftrag einer globalen civil society pbilanthropy unterwegs wie ihre US-amerikanischen Vertreter. Auch gibt es bei ihnen keine klar ersichtliche Teilung in politische Lager, vielmehr bezeichnen sie sich zumeist explizit als weltanschaulich oder parteipolitisch neutral. Eine solche Rolle nehmen in Deutschland vor allem die parteinahen Stiftungen ein, deren Sonderstellung aber noch zur Sprache kommen wird. Es ist jedoch, wie in der Einleitung schon dargelegt wurde, bei immer mehr deutschen Stiftungen ein zunehmendes Engagement in den Betätigungsfeldern der nationalen wie globalen Demokratie- und Menschenrechtsförderung zu verzeichnen. Die Förderung von politischer Beteiligung stellt keinen eigenen Förderzweck im Sinne der Abgabenordnung dar. Ein Grund dafür scheint mir in der zurückhaltenden, nur vorsichtigen Zulassung politischer Tätigkeit im Gemeinnützigkeitsrecht zu liegen, welches eine Tradition widerspiegelt, die die politische Mitgestaltung in erster Linie in den politischen Parteien, nicht aber in gemeinnützigen Körperschaften verortet.300 In der Konkretisierung des Zwecks des bürgerschaftlichen Engagements wird im Anwendungserlass zur Abgabenordnung das Wort politisch vermieden, jedoch von einer „auf die Förderung der Allgemeinheit hin orientierte, kooperative Tätigkeit“, gesprochen, wie sie im Sinne des politischen Sozialkapitals verstanden werden kann.301 Zur weiteren Erläuterung des Zwecks der allgemeinen Förderung des demokratischen Staatswesens heißt es: Eine steuerbegünstigte Förderung […] ist nur dann gegeben, wenn sich die Körperschaft umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien befasst und diese objektiv und neutral würdigt. Ist hingegen Zweck der Körperschaft die politische Bildung, der es auf der Grundlage der Normen und Vorstellungen einer rechtsstaatlichen Demokratie um die Schaffung und Förderung politischer Wahrnehmungsfähigkeit und politischen Verantwortungsbewusstseins geht, liegt Volksbildung vor.302

Die Gemeinnützigkeit wird in dem Falle verneint, in dem ein politischer Zweck als alleiniger oder überwiegender Zweck in der Satzung einer Körperschaft festgelegt ist oder die unmittelbare Einwirkung auf die politischen Parteien und die staatliche Willensbildung gegenüber der Förderung des gemeinnützigen Zwecks in den Vordergrund tritt.303 Der Gesetzgeber betont also immer wieder den allgemeinen Nutzen, den eine politische, gemeinnützige Tätigkeit erfüllen muss und versucht, die Vereinnahmung des Stiftungswerkes durch einen allzu kleinen Kreis geförderter Personen zu verhindern. Es ist somit stets ein schmaler Grat, auf den sich eine gemeinnützige Stif|| 299 Adloff 2010: 349. 300 Strachwitz 2016. 301 Ziffer 2.5 aus dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) [6.12.2017]. 302 Ziffer 8. aus dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) [6.12.2017]. 303 Ziffer 15 aus dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) [6.12.2017].

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tung begibt, wenn sie sich für die Förderung von politischer Beteiligung engagiert. Dass sie es dennoch tun, zeugt von ihrem politischen Gestaltungswillen, welcher sich im Klima einer erstarkenden Zivilgesellschaft entwickeln konnte. Stiftungen, die Beteiligung fördern möchten, können also verschiedene Förderzwecke angeben.304 Die Datenbank des Bundesverbandes gibt für 2014 298 Stiftungen an, die den Zweck der Förderung des demokratischen Staatswesens verfolgen, 627 mit dem Zweck des bürgerschaftliches Engagements und 8015 Stiftungen, die Bildung und Erziehung fördern.305 International tätig sind laut einer Erhebung aus 2015 25 Prozent aller deutschen Stiftungen.306 Ein Hauptaugenmerk vieler, vor allem der größeren Stiftungen, liegt dabei auf Projekten, die sich Integration und Wertebildung innerhalb der Europäischen Union zur Aufgabe machen.307 Ein Grund für das Engagement im Bereich der Demokratieförderung ist m. E. in Deutschland neben der Renaissance des Zivilgesellschaftskonzeptes und eines aktiven Bürgerverständnisses auch die Orientierung an amerikanischen Stiftungsmodellen. Gleichzeitig ergibt sich regional der Bedarf einer europäischen Gemeinschaftsbindung; und verbesserte internationale Kommunikations- und Zugangsmöglichkeiten im Zuge der Globalisierung erschließen einfacher neue Engagementmärkte. Für das Modell institutionalisierter Förderung mit global ausgerichteter Programmatik haben sich seit einiger Zeit Begriffe wie Philanthrokapitalismus, venture philanthropy oder auch strategic philanthropy eingebürgert.308 Etwa 27 Prozent der Fördersumme der zehn größten amerikanischen Stiftungen wurden für international activities verwendet. Das Foundation Center schätzt: “As the many thousands of newer foundations established by younger, more globally focused donors come of age, the number of foundations that incorporate an international focus in their work will undoubtedly continue to grow.”309 Die 1999 gegründete Bill und Melinda Gates Stiftung, die über ein Stiftungsvermögen von über 40 Milliarden Dollar verfügt und damit nicht nur die größte Privatstiftung der Welt darstellt, sondern mit ihren Finanzmitteln viele Staatshaushalte in den Schatten stellt, hat die globale Ausrichtung ihrer Gesundheits- und Entwicklungsförderung || 304 Folgende Zwecke der Abgabenordnung fallen darunter: (7) Die Förderung der Erziehung, Volksund Berufsbildung einschließlich der Studentenhilfe; (13) Die Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens, (24): Die allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens im Geltungsbereich dieses Gesetzes; hierzu gehören nicht Bestrebungen, die nur bestimmte Einzelinteressen staatsbürgerlicher Art verfolgen oder die auf den kommunalpolitischen Bereich beschränkt sind, Punkt (18): Die Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und (25): Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zugunsten gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Zwecke. 305 Eigene Berechnung mithilfe der Datenbank des Bundesverbands Deutscher Stiftungen. 306 Anheier 2016: 9. 307 Beispielsweise die Körber-Stiftung, die Gemeinnützige Hertie-Stiftung oder die Stiftung Mercator. 308 Bishop/Green 2009, Sandberg 2014: 64. 309 http://foundationcenter.org/gainknowledge/research/keyfacts2014/[29.06.2016].

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von Anfang an festgelegt.310 Sie ist ein Beispiel für die Janusköpfigkeit privater Philanthropie, mithilfe derer zum einen durch den engagierten Willen eines vermögenden Stifters ohne große bürokratische Hürden soziale Missstände abgebaut werden können, aber bei der zum anderen die Gefahr einer Einflussnahme auf Politik und Wirtschaft immens groß ist. Mit den Stiftungen der großen Hightech-Unternehmen des Silicon Valley ist auch ein Phänomen virulent geworden, mit dem sich deutsche wie amerikanische Stiftungen aktuell verstärkt konfrontiert sehen und das häufig im Zuge einer allgemeinen Ökonomisierung der Zivilgesellschaft beschrieben wird.311 Verstanden wird unter Ökonomisierung eine zunehmende Relevanz von für die Wirtschaft typischen Handlungsorientierungen und Koordinierungsmodi, wie etwa Effizienz, Konkurrenz und Unternehmertum, gerade auch für nichtwirtschaftliche Bereiche.312

Stiftungen, so lautet der Befund, die eigentlich unabhängig von Markt agieren können, werden in ihrer Struktur und in ihrem Verhalten immer unternehmensähnlicher. Grund dafür sei neben der Entstehung von zivilgesellschaftsorientierten Studiengängen und damit einhergehend der Professionalisierung des Stiftungspersonals eine neue Generation von Stiftern wie Bill Gates, Warren Buffet oder Pierre Omidyar, die bereits während ihres aktiven Unternehmerlebens stiften und dessen Logik auf ihre Stiftungen übertragen.313 Diese Logik greift dann sowohl in die internen Abläufe ein, die effizient strukturiert werden, als auch in die Auswahl der – erfolgversprechendsten – Destinäre und in den konkurrenzorientierten Umgang mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft. Auch am Sprachwandel der Stiftungskommunikation lässt sich dies erkennen, in der immer mehr Begriffe aus der Unternehmenskultur übernommen werden, wenn etwa mittels Performance-Indikatoren der Impact-Strategie der Output der Stiftung bestimmt werden soll. Insbesondere die gestiegene Anforderung an einen Wirksamkeitsnachweis der eingesetzten Gelder bringt die Stiftungen untereinander und mit anderen Akteuren des Drittens Sektor in Konkurrenzdruck zueinander.314 Dies könne zu einer größeren Risikoaversität der Stiftungen führen, was wiederum ihrem Innovationsvermögen abträglich sein könnte, diesseits wie jenseits des Atlantiks. Obwohl Stiftungen nicht im dem Maße von Spenden abhängig sind wie andere NGOs, wird eine (positive) öffentliche Wahrnehmung zunehmend wichtiger für sie, sodass sie im Wettstreit mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft ebenfalls eher

|| 310 http://www.gatesfoundation.org/de/Who-We-Are/General-Information/History [29.06.2016]. 311 Adloff/Birsl/Schwertmann 2005, Zimmer 2014. 312 Zimmer 2014: 164. 313 Adloff 2010, Bischof/Hagedorn 2014, Sandberg 2014. 314 Zimmer/Simsa 2014.

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soziale Probleme in den Fokus nehmen, die bereits eine hohe öffentliche und mediale Präsenz besitzen.315 Der deutsche Stiftungssektor ist im Vergleich zum US-amerikanischen Sektor also kleiner, hat aber hohe Zuwachsraten. Dieser kontinuierliche Trend wurde gestützt von mehreren gesetzlichen Erleichterungen zur Stiftungsgründung und von der anhaltenden gesellschaftlichen Diskussion um eine aktive Zivilgesellschaft, die in ihren Inhalten von der amerikanischen Vorstellung beeinflusst ist. Der deutsche Sektor ist liberaler und weniger scharf reguliert als der amerikanische, bei dem sich eine öffentliche Kontrolle der großen Stiftungsvermögen im Sinne eines common trust stärker etabliert hat. Deutsche Stiftungen, vor allem die großen, reagieren zunehmend auch auf Transparenzforderungen und veröffentlichen Jahresberichte oder beteiligen sich an Initiativen wie der Initiative Transparente Zivilgesellschaft oder Grundsätze guter Stiftungspraxis. Amerikanische Stiftungen haben eine längere Tradition in der Politikberatung und vertreten diese selbstbewusster als ihre deutschen Vertreter. Allerdings scheint sich dies hierzulande zu ändern,316 wie man beispielsweise an der Gründung des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) durch die Stiftung Mercator und sieben weiteren Stiftungen sehen kann.317 Deutsche Stiftungen, die sich für die Förderung politischer Partizipation engagieren, tun dies also in einem Umfeld, welches sich durch dreierlei Gegebenheiten auszeichnet: erstens durch eine liberalisierte, stiftungsfreundliche Politik, die mit einer wachsenden Anzahl an neuen Stiftungen einhergeht, zweitens durch eine Orientierung an amerikanischen Stiftungsmodellen, und drittens innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurs, der das Bild des aktiven Bürgers in einer politischen Zivilgesellschaft positiv stärkt.

3.3 Stiftungen als Akteure in der Zivilgesellschaft 3.3.1 Zum Begriff der Zivilgesellschaft Der Begriff der Zivilgesellschaft wurde im zweiten Kapitel bereits definiert als gesellschaftlicher Raum und plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen.318 Auch wenn der Begriff in unterschiedlichen politischen Kontexten verschieden gedeutet wird, sind seine typischen Merkmale der

|| 315 Edlefsen/Mielke/Mühlhausen 2012, Schober/Rauscher 2014. 316 Welzel 2006. 317 Diese sind die Volkswagen Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Freudenberg Stiftung, die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die Körber-Stiftung, die Vodafone- und die Zeit-Stiftung. 318 Adloff 2005.

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Öffentlichkeitbezug, die Selbstorganisation und die Freiwilligkeit.319 Seit etwa drei Dekaden ist er wieder in der Politikwissenschaft, verstärkt aber auch immer häufiger in öffentlichen Debatten zu finden.320 Anfang der 1990er-Jahre gelang der Begriff zunächst aus der Systemtransformationsforschung Ostmitteleuropas zurück in die wissenschaftliche Terminologie.321 Dem folgte sehr bald eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff auch in der Politischen Theorie, Demokratietheorie und Sozialphilosophie.322 In der Transformationsforschung diente er dabei eher als deskriptiv-analytische Kategorie; im Rahmen demokratietheoretischer Debatten impliziert der Begriff zumeist eine normative Vorstellung von Vergemeinschaftung und Öffentlichkeit, in der Interessen ausgehandelt werden können.323 Sie hat in diesem Verständnis also eine explizit politische Funktion. Ziel ist es, das Gemeinwesen regierbar zu machen, die Handlungssouveränität zurückzugewinnen und der staatlichen Herrschaft durch die stärkere Mitwirkung der Bürger ein höheres Maß an Legitimation zu verschaffen.324

Zudem sollen die Bürger untereinander durch ihre Interaktionen gemeinschaftliche Solidarität entwickeln. Den Organisationen in der Zivilgesellschaft ist die Inanspruchnahme einer Gemeinwohlorientierung gemein, wobei die genaue Auslegung dieser Gemeinwohlorientierung unterschiedlich interpretiert werden und divergieren kann (s. Kapitel 2.3). Durch das Merkmal der Freiwilligkeit und die Herstellung von gemeinwohlorientierten Leistungen und Gütern unterscheidet sich die Zivilgesellschaft begrifflich auch von der Öffentlichkeit und deren reiner Forumsfunktion. „Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben […]“.325 Insofern ist Öffentlichkeit notwendiger Bestandteil der Zivilgesellschaft. Zur Beschreibung eines primär privat organisierten, öffentlichen Raums, in dem politische Meinungs-, Willens- und Entscheidungsfindung stattfinden kann, dienen parallel auch Begriffe wie der Dritte-Sektor oder Governance. Die unterschiedlichen

|| 319 Kocka bestimmt als zivilgesellschaftliches Merkmal überdies noch ein Handeln, das Pluralität anerkennt und gewaltfrei ist, was aber kontrovers diskutiert wird. Vgl Kocka 2004 und Geiges/Marg/ Walter 2015. 320 2001 legte Klein dazu eine umfassende Rekonstruktion zur neueren Ideengeschichte des Zivilgesellschaftsbegriffs vor. 321 Deppe/Dubiel/Rodel 1991. 322 Für die englischsprachige Diskussion vgl. Keane 1988 und Cohen/Arato 1992, für die deutschsprachige Diskussion Rodel/Frankenberg /Dubiel 1989, Habermas 1992. 323 Zu den unterschiedlichen Rezeptionslinien des Begriffes in der Politischen Theorie, etwa in der Tradition Lockes, Montesquieu oder Gramsci, siehe als Überblick Brumlik 1991 oder Schmidt 2007. 324 Schwertmann 2006. 325 Habermas 1992: 436.

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Bezeichnungen sind verschiedenen disziplinären Traditionen geschuldet.326 Zivilgesellschaft hat ihren Ursprung in der politischen Philosophie, der Begriff Dritter Sektor entstammt der Organisationsforschung und der empirischen Soziologie; und der Governancebegriff findet sich vor allem im Fachbereich der Internationalen Beziehungen. Dritter Sektor und Zivilgesellschaft bezeichnen Ähnliches, sind aber nicht synonym. [D]as Konzept der Zivilgesellschaft verbindet eine normative Zielvorstellung in Form eines positiv besetzten politischen Reformentwurfs mit handlungstheoretischen Reformvorstellungen […], bei denen dem Dritten Sektor mit seinem Set von Organisationen […] eine maßgebliche Realisierungsrolle zufällt.327

Der Begriff der Governance umschreibt die „Öffnungsprozesse von vorhandenen Verhandlungs- und Entscheidungssystemen gegenüber neuen Akteuren“ auf allen Politikebenen, [sowie] „die Identifikation neuer Akteurskonstellationen, von denen eine wachsende Koordinationsfähigkeit verlangt wird.“328 Seinen Bezug zur Zivilgesellschaft findet er u. a. in der Definition von Mayntz, die Governance als die Gesamtheit aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure

beschreibt.329 Insofern ist das zivilgesellschaftliche Handeln Teil der Governance, während ihre beobachtbare organisatorische Ausgestaltung als Dritter Sektor angesehen werden kann. Systemisch dient Zivilgesellschaft als Abgrenzungsbegriff zu Staat und Wirtschaft. „Gegen ein nicht nur in der Rezeption verbreitetes Mißverständnis gilt es mit Nachdruck zu betonen, daß die Zivilgesellschaft nicht als das Ganze der Gesellschaft mißverstanden werden darf.“330 Ein typisches Merkmal zivilgesellschaftlicher Konzepte ist, dass diese ein Feld sozialpolitischer Ordnung, neben Markt, Staat und privat-familiärem Raum konstituiert.331 Die Handlungslogik dieses Feldes beruht auf Freiwilligkeit, und die Akteure in ihm können, zumindest in der Theorie, ohne die Funktionslogiken von Macht oder Geld agieren.332

|| 326 Simsa/Zimmer 2014. 327 Birkhölzer et al. 2005: 54. 328 Walk 2008: 34. 329 Mayntz 2004: 72. 330 Klein 2001: 12. 331 Kocka 2004, Birkhölzer et al. 2005, Klein 2001. 332 Simsa/Zimmer 2014.

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Damit reicht das Spektrum, das man mit dem Begriff ‚Zivil- oder Bürgergesellschaft‘ in den Blick nimmt, von den Nachbarschaftshilfen, Stadtteilinitiativen und Friedensdemonstrationen über Vereine, Stiftungen und Spendenparlamente bis zu den ‚NGOs‘, den Nicht-Regierungs-Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace oder Attac.333

Neben der bereits angesprochenen politischen Funktion kann das in der Zivilgesellschaft entstehende bürgerschaftliche und ehrenamtliche Engagement ein enormes soziales, ökologisches oder kulturelles Potenzial in der Gesellschaft entfalten. Daher wird in Bezug auf die beiden anderen Sektoren auch oft von einer Entlastungsfunktion der Zivilgesellschaft gesprochen, die diese im Bereich der Pflege, Erziehung oder Integration erbringen könne. Die Idealkonstruktion der getrennten Bereiche wird in der Realität oft durch Wechselwirkungen und komplexe Überschneidungen durchbrochen, sodass es zu vielfältigen Formen von öffentlich/privater, wirtschaftlicher und staatlicher Zusammenarbeit kommt.334 Wie vonseiten staatlicher Institutionen die Beförderung zivilgesellschaftlichen Handelns mittels engagementpolitischer Rahmengebung gestaltet wird, bezeugt die Einberufung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, die 2002 ihren Abschlussbericht vorlegte, die Erhebung der Deutschen Freiwilligensurveys seit 1999 oder die Gründung des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE).335

3.3.2 Positionen von Stiftungen in der Zivilgesellschaft Stiftungen sind eine klassische Organisationsform der Zivilgesellschaft.336 Denn „das Geschenk macht Stiftungen zum Teil der Zivilgesellschaft“.337 Das bürgerschaftliche Engagement besteht in dem Akt der Bürgerinnen und Bürger, ihr Vermögen dauerhaft gemeinwohldienlichen Zwecken zur Verfügung zu stellen. Da der Stiftungssektor in sich sehr heterogen ist, werden verschiedene Einteilungen und Etiketten zu seiner Beschreibung vorgeschlagen. Den komparatistisch angelegten Arbeiten Anheiers zufolge lassen sich im internationalen Vergleich drei Modelle des Stiftungswesens ausmachen: ein im anglikanischen Raum vorherrschendes liberales Modell, ein (skandinavisch) sozialdemokratisches und ein korporatistisches Modell, welches sich unter anderem in Deutschland finden lasse.338 Diese These wurde von Adloff bei deutschen Stiftungen weiter untersucht, der die hiesige Stiftungslandschaft in einen staatsna-

|| 333 Kocka 2004: 4. 334 Simsa/Zimmer 2014. 335 Enquete-Kommission 2001. Eine gute Einführung zur Entwicklung der Engagementpolitik bietet Neumann 2016. 336 Kocka 2004: 5. 337 Strachwitz 2015: 307. 338 Anheier 2001.

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hen korporatistischen und einen staatsfernen, liberal verfassten Subsektor unterteilt.339 In den liberalen Subsektor fallen bei ihm sowohl die unternehmerische als auch private zivilgesellschaftliche Philanthropie. Ausgehend von einem vierkreisigen Modell der Zivilgesellschaft – Markt, Staat und Privatheit umkreisen den Bereich der Zivilgesellschaft – ist es meines Erachtens zielführender, nicht in einen korporatistischen und einen liberalen Sektor zu unterscheiden, sondern nach drei Stiftungsbereichen zu trennen. Diese sind dann der unternehmerische, der privat-staatliche und der private Stiftungshintergrund. Denn Stiftungen gründen sich oft auf private Initiative einzelner Individuen hin. Gleichzeitig treten aber Unternehmen, ebenso wie Bund, Länder und Gemeinden, ebenfalls als Stifter in Erscheinung. Für den Stiftungssektor gelten somit ähnliche Überschneidungs- oder Graubereiche wie für die Zivilgesellschaft allgemein: Stiftungen entstehen in den Grenzbereichen von Markt, Privatsphäre und Staat, was sich dann als Philanthropie bourgeoise, Philanthropie citoyen und Philanthropie public bezeichnen ließe.340 Stiftungen mit allen drei Hintergründen erbringen den Transfer von Geld in gemeinnütziges Handeln und bilden neben anderen Akteuren die Zivilgesellschaft.341 In Bezug auf diese Aufteilung ergibt sich die Frage, inwiefern die Herkunft der transferierten Mittel mit aus den jeweiligen Sektoren übernommenen Handlungsmustern einhergeht. Operieren privat-staatliche Stiftungen anders als unternehmerische? Zugespitzt mit Blick auf die vorliegende Arbeit lautet die Frage, ob sich ein Unterschied in der Umsetzung und Reflexion über politische Gleichheit feststellen lässt. Ausschlaggebend ist nicht die Frage, ob oder inwiefern Stiftungen komplementäre oder substituierende Funktionen für den Staat erfüllen können (s.u.), sondern ob sich durch die Sektornähe ein bestimmter Umgang mit der Forderung nach politischer Gleichheit bemerkbar macht oder nicht. Es scheint plausibel, dass staatsnahe, stark von der öffentlichen Hand finanzierte Stiftungen einen größeren Anreiz haben, eine repräsentative‚ demokratische Förderung durchzuführen, als zum Beispiel eine kleinere, lokal von einigen Aktiven gegründete Initiative oder eine Unternehmens-Stiftung, deren Destinäre frei nach Laune des Stifters benannt werden. Deshalb wurde die Auswahl der Stiftungen auch aufgrund des Kriteriums der Sektornähe getroffen und jeweils eine Stiftung gewählt, die der Philanthropie bourgeoise, der Philanthropie citoyen und der Philanthropie public entspricht. Dass vier Stiftungen und nicht drei ausgewählt wurden, liegt daran, dass die parteinahe Stiftung und die Stiftung Mitarbeit zwar beide zum großen Teil öffentlich finanziert sind, die Friedrich-EbertStiftung aber eine Sonderposition einnimmt (s. Kapitel 5.2.4). Für die Förderung von || 339 Adloff 2004, 2010. 340 Grundlage der Begriffswahl ist dabei die in der Politischen Theorie gängige Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen als den jeweils in erster Linie ökonomisch oder sozial handelnden Bürgern. 341 Als weiterer Sektor könnten die Kirche und der Transferbereich der kirchlichen Stiftungen aufgenommen werden, ist in dieser Untersuchung aber nicht Gegenstand.

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politischer Partizipation erscheint die Annahme einer Sektorbeeinflussung besonders plausibel, lässt sich aber auch auf andere gemeinnützige Zwecke anwenden, beispielsweise mit der Frage, ob eine von der öffentlichen Hand geförderte Stiftung eine andere Kulturförderung als eine unternehmerische Stiftung verfolgt.

3.3.3 Gründungsmotive und Funktionen von Stiftungen Werden Stiftungen als Akteure in der Zivilgesellschaft wissenschaftlich beobachtet, geschieht dies vor allem in Hinblick auf die Funktionen, die sie dort erfüllen können, und auf die Motive ihrer Gründung. Es stellt sich dabei zum einen die Frage nach der Funktion für die Stifter und zum anderen die nach der Funktion für die Gesellschaft, also die soziale Funktion. 3.3.3.1 Motive der Stifter Die individuellen Beweggründe, eine Stiftung zu gründen, lassen sich zumeist weder allein durch egoistische, etwa durch den Nutzen des Steuersparens, noch durch rein altruistische Begründungsmuster befriedigend erklären. Bei der Frage, warum Menschen anderen – ihnen in der Regel unbekannten Menschen – etwas schenken, ergibt sich das Bild einer gemischten Handlungsmotivation. In der Philanthropieforschung hat sich mit dem Konzept der Reziprozität ein Erklärungsansatz etabliert, der sowohl altruistische als auch egoistische Motivation miteinander verbindet. Ausgangpunkt dazu waren die Thesen Marcel Maussʼ zur Gabe in vormodernen Gesellschaften, in denen, so Mauss, öffentliche Schenkungen gegenseitige Verpflichtungen erzeugten und damit sozial bindend wirkten.342 Dieses Prinzip der wechselseitigen Bindung greift auch heute. Philanthropie, definiert als ein „Transfer von Geld, Sachen und Leistungen für gemeinwohlorientierte Zwecke über die Familie hinaus“,343 findet statt, weil der Gebende im Austausch der von ihm im ausreichenden Maße zur Verfügung gestellten Ressourcen nicht nur von den Destinären, sondern von der ganzen Gesellschaft soziale Anerkennung und Dank, oft verbunden mit der Erhöhung seines sozialen Status, erhalten kann. Der soziale Imagegewinn durch das Geschenk der Stiftung kann für den Vermögenden eine strategische Rolle zur Machtgewinnung oder zum Machterhalt spielen und ist deshalb im demokratietheoretischen Blickwinkel nicht unproblematisch. Handlungstheoretisch betrachtet lassen sich also Gabenbeziehungen […] nicht auf individuelles Interesse oder normative Pflichterfüllung reduzieren; sie bilden das Movens sozialen Handelns

|| 342 Adloff 2010: 41. 343 Adloff 2010: 12.

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und konstituieren symbolisch politische Bündnisse und wechselseitige Anerkennungsverhältnisse.344

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Stiften – und Spenden im Allgemeinen – kontextlos und in ihrer Bezugnahme willkürlich verläuft. Es besteht in der Regel eine soziale Beziehung des Stifters zu den Adressaten, die sich oft biographisch nachverfolgen lässt. Hat der Stifter beispielsweise bestimmte soziale Notlagen selbst oder bei nahen Verwandten erfahren, engagiert er sich oftmals für deren Abschaffung. Oder die Förderung der wissenschaftlichen Erforschung einer Krankheit erklärt sich durch die Betroffenheit in seinem Familien- oder Bekanntenkreis. In Hinblick auf die Solidarisierung mit und die Förderung der fremden Adressaten spielen zudem die Medien eine prominente Rolle, da sie oft die Aufmerksamkeitsagenda für soziale Probleme und Konflikte setzen.345 Wenn Stiftungen durch einen vielfachen Satzungszweck flexibel in ihrer Förderung agieren können, lassen sich oft bestimmte Fördertrends beobachten, die dann auch miteinander in Konkurrenz treten, beispielsweise mit Themen wie der Digitalisierung oder der Flüchtlingskrise. In Umfragen geben Stiftungen als Gründe für ihr Handeln häufig Motive des Bewahrens, des Gestaltens und des Dankes an, so zum Beispiel in einer Befragung des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen (CSI) von 2015, in dem die Befragten am häufigsten angaben, „schon bestehende Einrichtungen fördern zu wollen (71%), der Gesellschaft etwas zurückgeben zu wollen (67%), oder das aufzugreifen, was der Staat nicht mehr leisten könne (63%).“346 Der Glaube an das Vermögen von Stiftungen staatliche Funktionen oder wohlfahrtsstaatliche Leistungen übernehmen zu können, leitet über zu den möglichen sozialen Funktionen von Stiftungen. 3.3.3.2 Funktionen Abgesehen von den Familienstiftungen oder anderen nichtgemeinnützigen Stiftungen produzieren Stiftungen gemeinwohlorientierte Leistungen für die Gesellschaft. Gemeinwohlorientierte Leistungen definieren sich einmal konkret über den Katalog gemeinnütziger Zwecke gemäß dem § 52 Abs. 2 der Abgabenordnung BGB, in dem der Gesetzgeber rechtlich festgelegt, was als gemeinnützig anerkannt ist. Zwecke, die sich nicht ausdrücklich im Katalog wiederfinden, können über eine in § 52 Abs. 2 neu eingefügte Öffnungsklausel für gemeinnützig erklärt werden, wenn sie „gemäß ihrer Zielsetzung den dort genannten entsprechen“.347 Diese Zwecksetzung ist also Grundvoraussetzung für die Legalität einer Stiftung im Sinne des Rechtsstatus der Gemeinnützigkeit und für deren steuerliche Bevorzugung. Die Gemeinwohlorientierung von

|| 344 Adloff 2010: 55. 345 Wenzel/Scholz 2010. 346 Anheier 2016. 347 § 52 Abs. 2 BGB.

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Stiftungen wird zumeist aber darüber hinaus und umfassender begriffen als ein Mehrwert für die Gesellschaftsmitglieder. Was das Gemeinwohl beinhaltet, konstituiert sich mit den jeweils gültigen Normen und Wertvorstellungen einer Gesellschaft und wurde bereits in Kapitel 2 näher erläutert. Zumeist finden sich in Gemeinwohlvorstellungen Ideale formuliert wie ein gerechtes, sicheres oder freies Leben für alle Mitglieder in der Gemeinschaft. Aber: Das Erreichen dieser Ziele sowie die Ziele selbst sind „mehr oder weniger präzise prozedural und inhaltlich bestimmt“.348 Es bedarf also der Interpretation und anschließend des Nachweises eines sozialen Nutzens, um innerhalb der Stiftungen zwischen, wie Adloff es ausdrückt, „Prestigeagenturen“ und „zivilgesellschaftlichen Akteuren“ zu unterscheiden.349 Wie politisch brisant bisweilen die Vergabe des Gemeinnützigkeitsstatus behandelt wird, lässt sich an dem Versuch beispielsweise Attac oder der Informationsstelle Militarisierung, diese abzusprechen, ablesen.350 Als Legitimationsquelle von Stiftungen wird daher oft deren Erfüllung bestimmter sozialer Funktionen diskutiert. Es lassen sich in der Forschungsliteratur rund ein halbes Dutzend Funktionen finden, die Stiftungen zugeschrieben werden.351 Diese sind die distributive Funktion, die Substitutionsfunktion und die Komplementärfunktion gegenüber staatlichen Institutionen, ferner die Vermittlungs- und Pluralismusfunktion zwischen sozialen Gruppen und die Innovationsfunktion; diese sollen im folgenden Abschnitt unter fortlaufenden Nummern vorgestellt werden. Von wirtschaftswissenschaftlichen Autoren wird manchmal auch auf eine ökonomische Funktion, die der Unternehmenswahrung, verwiesen. Diese kann erfüllt sein, etwa in dem Fall, in dem die anfallende Erbschaftsteuer nach dem Tod des Unternehmers den Verkauf von Unternehmensanteilen nach sich ziehen würde. Stiftungen können also als Instrumente der Erbregelung und des Unternehmensschutzes eingesetzt werden. Ob man in diesem Falle jedoch wirklich von einer sozialen Funktion sprechen kann, ist fraglich und wird daher hier nur kurz erwähnt. 1. Dass Stiftungen eine distributive Funktion erfüllen könnten, wird kritisch diskutiert.352 Durch die gemeinnützige Zwecksetzung, deren Destinäre oft sozial benachteiligte Gesellschaftsgruppen sind, könne eine Ressourcenverteilung von oben nach unten angenommen werden. Dies provoziert aber die Frage, ob die gewährten Steuerersparnisse bei ihrer Eintreibung und der Zuführung zum Staatshaushalt nicht eine ähnliche, wenn nicht gar größere distributive Kraft entfalten könnten. Da zudem die Leistungen vieler Stiftungen, beispielsweise im Sozialbereich der Jugend- oder Behinderteneinrichtungen, nicht aus den Erträgen || 348 Seubert 2004: 113. 349 Adloff 2014. 350 http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-11/attac-globalisierung-spenden-urteilgemeinnuetzigkeit. (Zeit-Artikel vom 10. November 2016.) und https://www.heise.de/tp/features/ Mit-dem-Finanzamt-gegen-Friedensbewegung-3414394.html [16.3.2017]. 351 Prewitt 1999. 352 Prewitt 1999, Adloff 2010: 376.

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2.

eines Vermögens, sondern von den Trägern der Sozial- und Krankenversicherungen beglichen werden, kommt Adloff zu dem Schluss: „Die umverteilende Wirkung deutscher Stiftungen, die aus den Erträgen privater Vermögen arbeiten, ist daher als sehr gering einzuschätzen.“353 Aus föderalistischer Perspektive kann eine distributive Wirkung der Stiftungen ebenfalls nicht bestätigt werden. Die Verteilung zeigt vielmehr, dass sich in ökonomisch starken Regionen viele Stiftungen gründen und diese in erster Linie lokal oder regional, aber weniger national arbeiten. Somit perpetuieren sich durch Stiftungen die länderspezifischen Ungleichgewichte.354 Die Erwartungshaltung in der Politik zu Beginn der 1990er-Jahre, die der Liberalisierung der Stiftungsregulierung vorausging und auch noch heute anzutreffen ist, läuft auf die einer Substitutionsfunktion der Stiftungen dem Staat gegenüber hinaus. Stiftungen, so die Hoffnung, können bei Rückzug des Staates aus wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, aber auch bei der Kunst- und Kulturförderung oder im Bildungsbereich, einspringen und diese ersetzen. Einer empirischen Überprüfung hält diese Erwartung allerdings nicht stand, da die Ausschüttung des gesamten Stiftungssektors im Vergleich zu den Staatsausgaben viel zu gering ausfällt. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die so oft gepriesene steigende wissenschaftliche Förderung durch Stiftungen macht nur 1 Prozent, bei Drittmitteln 6 Prozent bei der Finanzierung der staatlichen Hochschulen aus.355 Der Verweis auf die Möglichkeit von Stiftungen, staatliche Funktionen oder wohlfahrtstaatliche Leistungen zu produzieren, vermittelt den Eindruck eines Kräftemessens, der unangebracht ist, da eine Parität bisher nicht existiert und auch in Zukunft illusorisch ist. Die Überschätzung der eigenen Kräfte ist auch oft in den Stiftungen selbst anzutreffen. Gerade bei Stiftungen, die nach 1990 gegründet wurden, scheint diese Dissonanz eher verbreitet: das Bewusstsein, das aufzugreifen was der Staat nicht mehr leisten kann (69% vs. 45% für ältere Stiftungen) und denen zu helfen, denen sonst keiner hilft (61% vs. 52%) ist unter jüngeren Stiftungen signifikant stärker ausgeprägt.356

3.

Stiftungen können das staatliche Angebot ergänzen, aber nicht kompensieren. Eine realistischere Einschätzung geht davon aus, dass Stiftungen, soweit sie den Staat nicht ersetzen können, jedoch bei jenen Bereichen und Themen ansetzen können, die von ihm vernachlässigt, übersehen oder nur teilweise bearbeitet werden. In diesem Sinne ist die Idee der Komplementärfunktion von Stiftungen

|| 353 Adloff 2010: 376. 354 Die Aufteilung der Stiftungen nach Ländern ist zu finden unter: https://www.stiftungen.org/ no_cache/de/forschung-statistik/statistiken.html [29.06.2016]. 355 Speth 2010: 394. 356 Anheier 2015: 4.

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zu verstehen. Denkbar wären hier Projekte, in denen die Stiftung die Anschubfinanzierung übernimmt und der Staat anschließend einer dauerhaften Förderung sicherstellt. Anheier et al. stellen für den Bildungssektor beispielsweise fest, dass dort in Hinblick auf das Verhältnis der Stiftungen zu den staatlichen Akteuren zunehmend ein Wechsel des Bildungsregimes von komplementär zu kooperativ sichtbar werde.357 Als ein Beispiel für diese Art der Zusammenarbeit im Bildungsbereich kann das Projekt Lernen vor Ort gelten, das den Aufbau eines regionalen Bildungsmanagements zum Ziel hat und – initiiert und finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung – über 100 Stiftungen in die Kooperationen mit den beteiligten Kommunen gebracht hat, damit sie diese beim Aufbau sogenannter Bildungslandschaften unterstützen.358 4. Als eine klassische Organisationsform der Zivilgesellschaft können Stiftungen ferner als Vermittler fungieren. Versteht sich eine Stiftung als Verbindungsagentur, übernimmt sie die Aufgabe, Wissens- und Kommunikationsbrücken zwischen EntscheidungsträgerInnen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen und zuständigkeitsgetrennten Fachverwaltungen zu begünstigen, bis eine dauerhaft verbesserte Neuordnung der Aufgabenerledigung durch problemlösende Anwendung neuen Wissens entsteht.359

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6.

Neben der Moderation können sie aber auch die Position einer Initiative einnehmen und Themenanwaltschaft betreiben.360 Je vielfältiger hier der Stiftungssektor aufgestellt ist, umso wahrscheinlicher ist die mögliche Pluralismusfunktion von Stiftungen, da sie, so die Annahme, unterschiedlichste Meinungen und Argumente in die Gesellschaften tragen. Insbesondere die großen operativen Stiftungen geben auf Nachfrage in ihrem Selbstverständnis oft an, als Netzwerkagenten und Themenanwälte zu fungieren.361 Diese Funktion wird im Kapitel 4 noch genauer erläutert, da sie einen grundlegenden Handlungstyp für Stiftungen in der politischen Partizipationsförderung darstellt. Stiftungen verfügen über eigene Vermögen und einen eigenen Verwaltungsapparat und sind in ihren Handlungen deswegen weder von einem Wählerwillen abhängig noch durch ökonomische Gewinnerwartungen restringiert. Sie unterliegen, so zumindest in der Theorie, also weder einer Marktlogik noch müssen sie machtpolitische Strategien verfolgen und verfügen damit über einen großzügigen Handlungsspielraum. Diesen können sie nutzen, um neue Ideen und Themen zu besetzen und zu testen. Vor allem durch die Möglichkeit, bei Rückschlä-

|| 357 Anheier et al. 2017b. 358 Höhne 2015. 359 Gerber 2006: 16, zitiert Havelock 1976. 360 Van Oosting 2014. 361 Anheier et al. 2017.

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gen und Misserfolgen keine Sanktionen in Form von Machtverlust oder Insolvenz fürchten zu müssen, können Stiftungen innerhalb der Gesellschaft also auch eine innovative Funktion einnehmen. Diese kann neue wissenschaftliche Erkenntnisse umfassen genauso wie die praktische Umsetzung neuer Ideen oder Herangehensweisen in allen Gesellschaftsbereichen. Zumeist geht mit dem Begriff der Innovation in diesem Kontext eine Erwartungshaltung einher, die die Lösung sozialer Probleme beinhaltet.362 Eine belastbare Überprüfung der sektorumfassenden Innovationsfähigkeit fehlt allerdings bislang. Erste Studien wie die Falluntersuchung der Freudenberg Stiftung durch Gerber363 zeigen, dass die Implementierung neuer Ansätze, in diesem Fall in der Sozial- und Bildungsarbeit, nur mit einem langfristigen Engagement und der kontinuierlichen Mediation zwischen allen beteiligten Akteuren gelingt.364 Auch in der vergleichenden Untersuchung verschiedener Programme amerikanischer und deutscher Bildungsstiftungen, die einen der ersten explorativen Versuche darstellt, um die Wirkung von Stiftungen belastbar zu messen, stellte sich die langfristige Fokussierung und das Durchhaltevermögen als maßgebliche Voraussetzung für eine gelingende Projektarbeit dar.365 Nun sind Stiftungen geradezu dazu prädestiniert, ein langfristiges Engagement anzustreben, da sie „auf Dauer gestellte Institutionen“ sind und eines ihrer wesentlichen Charakteristika ihre Langlebigkeit ist. Gegen den „Präsentismus“ demokratischer Politik könnten Stiftungen Experimente und Innovation fördern, bei denen sich Ergebnisse erst nach langer Zeit zeigen und intergenerationell Bestand haben.366 Gegen dieses Argument, welches sich vor allem auf die klientelistische Unabhängigkeit der Stiftungen stützt, lässt sich aber die Rechenschaftsforderung vonseiten einer interessierten Öffentlichkeit anführen, die sich durch die Gemeinnützigkeit rechtfertigt: Stiftungen sind in Demokratien auf besondere Weise von gesellschaftlicher Legitimität abhängig.367 Dies bringt oft mit sich, dass sie Projekte und Themen unterstützen, die bereits im Fokus der Öffentlichkeit stehen und diese Unterstützung dann entziehen, wenn das öffentliche Problembewusstsein sich verlagert. Beispiele solcher Trends wären aktuell die Digitalisierung, der demographische Wandel oder die Flüchtlingsarbeit. Eine weitere problematische Folge dieses Legitimitätsdruckes beschreibt Gerber mit dem Begriff des Overselling. Weil Stiftungen nach öffentli-

|| 362 Der Begriff der Innovation ist umkämpft und kann sowohl eine normative Lesart im Sinne einer Verbesserung oder eine beschreibende im Sinne von Veränderung beinhalten, wobei erstere Lesart meines Erachtens nach überwiegt. Zu den unterschiedlichen Verwendungen und auf Governance bezogen siehe Moore/Hartley 2008. 363 Die Autorin ist zugleich Geschäftsführerin der Freudenberg Stiftung. 364 Gerber 2006. 365 Thümler/Bögelein/Beller 2014. 366 Reich 2017: 41. 367 Striebing 2017.

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cher Anerkennung streben, neigen sie zur Überbetonung der zu erreichenden Praxisverbesserungen. „Mikroprojekte werden dabei häufig als Hebel grundlegender Veränderung dargestellt.“368 Dieses Vorgehen schließt dann natürlich auch die Gefahr einer „Enttäuschungsproduktion“ ein.369Adloff zieht aktuell noch eine pessimistische Bilanz hinsichtlich stifterischer Innovationskraft. „Sie wären prinzipiell in der Lage, gesellschaftlichen Wandel über die Vergabe von social risk capital zu befördern und innovative Problemlösungsstrategien auf gleicher Augenhöhe mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln – doch bislang tun dies nur wenige.“370 Wahrscheinlicher sei, dass „Stiftungen so agieren wie andere Organisationen auch: Man passt sich einfach in größere Organisations-Felder ein und kopiert das, was auch von anderen Initiativen und Organisationen betrieben wird.“371

3.3.4 Stiftungen zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen Die Betrachtung der sozialen Funktionalität von Stiftungen ergibt also ein uneinheitliches Bild. Oft wird ihnen mehr Wirksamkeit und Innovationskraft zugeschrieben, als sich empirisch belegen lässt. Für die vorliegende Untersuchung sind die beiden letztgenannten Funktionen, sowohl die pluralismusfördernde als auch die gesellschaftliche Innovationsfunktion, Ausgangspunkte, denn sie sind in besonderer Weise für die Umsetzung politischer Partizipationsförderung von Bedeutung. Die Kritik an der parlamentarischen Demokratie hat neue Wege der Beteiligung eröffnet, aber über die richtige, gerechte Umsetzung dieser Beteiligung wird breit gestritten, und viele Formen sind nicht oder nur geringfügig institutionalisiert. Raum genug also für innovative Akteure, um Experimente zu wagen und auch ungewöhnliche Ideen auszuprobieren, die beispielsweise auf die Teilnahme per Losverfahren oder die Abschaffung von Sprachbarrieren zielen. Aber wie gut sind Stiftungen dazu in der Lage? Bilden sie tatsächlich unterschiedlichste Positionen ab? Oder ist nicht vielmehr eine einheitliche field policy, eine eingewöhnte Stiftungspraxis und die Meinungsdominanz einer bestimmten Gruppe, nämlich die der Stifter, deren soziale Kennzeichen sich gleichen, zu erwarten? Stiftungen haben in der Gesellschaft zwar ein recht positives Image – fast zwei Drittel der Bürger verbinden mit Stiftungen das Engagement für gemeinnützige Zwecke –,372 aber deren Auslegung ist breit gefasst und die effektive Durchsetzung auf-

|| 368 Gerber 2006: 25. 369 Gerber 2006: 28. 370 Adloff 2014: 190. 371 Adloff 2014: 190. 372 Bundesverband Deutscher Stiftungen/Institut für Demoskopie Allensbach 2014.

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grund mangelnder Transparenz oft schwer nachvollziehbar oder nachweisbar. Stiftungen sind undemokratisch geführte Organisationen. Sie weisen eine Struktur auf, die – im Vergleich zum Verein etwa – keine Mitgliedervoten kennt und sehr hierarchisch strukturiert ist. Der Stifterwille, der über den Tod hinausreicht, bestimmt autoritär den Handlungsrahmen, exekutiv agiert in der Regel ein sehr kleiner honoriger Kreis von Kuratoren oder Aufsichtsräten. Ein allzu großer Enthusiasmus, bezüglich eines erklärten Willens zu politischer Gleichheit beizutragen, ist vor diesem Hintergrund nicht direkt zu erwarten. Auf der anderen Seite sind Stiftungen gemeinnützige Akteure in der Zivilgesellschaft. Sie sind Non-Profit-Organisationen, deren alleiniger Daseinszweck es ist, Gutes zu tun, und sie sollten auf politische Gleichheit verpflichtet sein. Sie müssen auch nicht zwingend strukturell demokratisch aufgebaut sein, um zivilgesellschaftliche Hoffnungen zu erfüllen.373 Sie können dennoch als „Idealkonstruktion einer Manifestation bürgerschaftlichen Engagements“ gelten, in der ein Bürger für seine Gemeinschaft eine große Summe Geld spendet.374 Stiftungen müssen nicht zwingend demokratisch verfasst sein – um demokratischen Ansprüchen genügen zu können, müssen sie jedoch in die Beweislast ihres gemeinwohlorientierten Wirkens treten und den Nutzen für das Gemeinwohl plausibel darlegen können. Denn Stiftungen werden steuerlich subventioniert, sie brauchen keine Steuern auf ihre Einkommen zahlen. Hiermit entsteht sowohl eine rechtliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Finanzamt als auch eine moralische gegenüber der Gemeinschaft, weil diese entsprechende Steuerausfälle zu verzeichnen hat. Bei Stiftungen ergibt sich ein besonders hohes Maß an Rechenschaftsdefizit, das sich durch ihre Ressourcenautonomie, [d. h.] ihre Unabhängigkeit vom Wettbewerb um Spenden, freiwillige Mitglieder, Wählerstimmen oder Verkäufe von Produkten und Dienstleistungen in Kombination mit einer unter Verschwiegenheitspflicht stehenden staatlichen Minimalaufsicht und minimalen Anforderungen an die Governance

ergibt.375 Deswegen sind Stiftungen trotz ihrer Unabhängigkeit von Markt und Politik auf eine gewisse Akzeptanz und Wohlwollen in der Gesellschaft angewiesen und sie stehen unter Druck, ihre Gemeinnützigkeit unter Beweis zu stellen und keine Partikularinteressen zu vertreten. Dass Partikularinteressen bestehen könnten, ist offensichtlich nicht abwegig. Die Stifter sind traditionell zumeist Angehörige einer reichen Elite und können in dieser Position entsprechend handeln. Insbesondere Unternehmerstiftungen stehen oft im Verdacht (wirtschaftliche) Eigeninteressen zu vertreten. Stiftungen verfügen m. E. über ein bipolares Potenzial, sowohl inklusive als auch exklusive Tendenzen in der Gesellschaft zu fördern. Dies tritt besonders in den

|| 373 Strachwitz 2015: 307. 374 Schwertmann 2006: 15. 375 Striebing 2017: 16.

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Förderbereichen Bildung, bürgerschaftliches Engagement oder Kunst und Kultur zu Tage. Stiftungen können mittels Fördermöglichkeiten gezielt marginalisierten Gruppen Zugang zum öffentlichen Leben ermöglichen, ganz plakativ etwa, wenn eine Stiftung sozial benachteiligten Bürgern Theaterkarten schenkt. Sie können die Vergabe von Stipendien an soziale Kriterien koppeln und so Schüler und Studierende fördern, die einen sozial schwachen oder nichtakademischen Hintergrund o. Ä. haben. Sie können aber auch genau das Gegenteil tun und Strukturen und Netzwerke bilden, die die vorherrschende Elite, aus deren Mitte nach wie vor die meisten Stifter stammen, stärkt und abschottet.376 Sie können exklusive Treffen organisieren, deren Zugang nur auf Einladung erfolgt, durch Beratung einseitig politische Entscheidungsfindungen und -träger beeinflussen oder, im Sinne Pierre Bourdieus, den herrschenden Habitus stützen und verteidigen. Sie verfügen außerdem, anders als vielleicht viele andere Akteure der Zivilgesellschaft, über die Mittel, Gutachten und wissenschaftliche Expertisen in Sachfragen finanzieren zu können. Da nicht nur der Stifter selbst, sondern auch die Stiftungsbetriebe zu großen Teilen mit Personal aus ähnlichen Milieus besetzt sind und in Vorständen, Stiftungsräten wie Kuratorien eine besonders hohe Dichte an gut gebildeten und reichen Menschen – in der Regel Männern – herrscht, besteht allein wegen der Zusammensetzung des Personals die Gefahr eines biased focus auf das, was Gemeinwohl sei und wie es am besten befördert werden könne.377 Der Verdacht liegt da nahe, dass Stiftungen zwar einen Mehrwert erzeugen können, der erzeugte Nutzen jedoch nicht dem Gemeinwohl, sondern nur einem exklusiven Kreis der Gemeinschaft zugutekommt. Aus diesem Grund gibt es mittlerweile einige theoretische wie empirische Ansätze, Eliten- und Stiftungsforschung zusammenzubringen.378 Denn der Stiftungsboom und die Zunahme an konzentrierten Vermögen evoziert die Frage nach dem Einfluss von Eliten und deren Gebrauch von Stiftungen als Machtinstrument. „Wird also die ohnehin zunehmend ausgeprägte Macht der wirtschaftlichen Eliten hierdurch wirksam ergänzt […]? Schickt sich „das Geld“ an, mit einer Doppelstrategie der Kontrolle über die Märkte und die Zivilgesellschaft die Welt endgültig zu beherrschen?“379 Dass Stiftungen sich Eliten als Einflussinstrumente anbieten, ist substantieller Bestandteil der „Gabebeziehung“. Die Gründung einer Stiftung kann sowohl dem sozialen Aufstieg wie auch dem Erhalt des sozialen

|| 376 Ich übernehme den Elitebegriff von Schäfers, der Elite als mehr oder weniger geschlossene, soziale und politische Einflussgruppen bezeichnet, die sich aus der Gesellschaft herausheben und im politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen System bestimmte führende Funktionen übernehmen. Schäfers 2004. 377 Sandberg 2008, van Klasen 2012. 378 Speth 2006, Nassehi 2006, Beyer 2012, Münkler 2012, Strachwitz 2014, Höhne 2016. 379 Strachwitz 2014: 118.

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Status und der Macht dienen und stellt(e) deswegen auch schon immer einen Grund der Kritik gegenüber ihr dar.380 Obwohl gemeinnützige Stiftungen als (eigen)interessenlos gelten,381 ist bei ihnen, stärker als bei anderen gemeinnützigen Organisationen, die Vernetzung von potenziell starken Interessen erkennbar, da sich ihr Personal, ihre Mitglieder und ihre Gründer zumeist aus den gesellschaftlichen (politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen oder medialen) Eliten rekrutieren.382 „Stiftungen bilden somit personell und strukturell eine Art Knoten im Netzwerk gesellschaftlicher und ökonomischer Beziehungen, medialer Kommunikation und nicht zuletzt politischer Governance.“383 Stiftungen können dadurch in einer Demokratie eine „plutokratische Stimme […] und ein private Macht“ darstellen.384 In Deutschland entzündet sich die Kritik aktuell vor allem an dem Umstand, dass durch die steuerliche Sonderbehandlung von Stiftungsvermögen und die Kapitalbindung großer Geldmengen diese dem demokratischen Willensbildungsprozess und der hoheitlichen Umverteilung entzogen werden. Immer häufiger wird jedoch auch das Problem der zunehmenden politischen Beratungsmöglichkeit und Themensetzungsmacht der großen Stiftungen und der oft intransparenten Überschneidung von stifterischen und unternehmerischen Aktivitäten sowie deren Personalunionen diskutiert.385 Auch das zunehmende Engagement im Schul- und Hochschulbereich von Stiftungen wie Bertelsmann oder Telekom, beispielsweise im Bereich der digitalen Bildung, geben Anlass zur kritischen Überprüfung eventueller Interessenkonflikte zwischen der gemeinnützigen Zweckbindung und dem stiftenden Unternehmen. Diese Vorwürfe rufen Bedenken hinsichtlich der Legitimität dieser Institutionen innerhalb der demokratischen Gesellschaftsordnung hervor. Stiftungen haben kein politisches Mandat und können sich, anders als Vereine oder Verbände, auch nicht auf die demokratische Mitbestimmung ihrer Mitglieder stützen. Dennoch wirken sie sozial gestalterisch und können sowohl indirekt, etwa durch öffentliche Meinungsbildung, als auch direkt durch ihre politische Beratungstätigkeit Einfluss auf die Herstellung gesetzlicher Steuerung nehmen. Philanthropie als Mittel des sozialen Aufstieges und der sozialen Anerkennung scheint in Deutschland auch deswegen wieder ein stärkeres Motiv zu werden, weil sich die Eliten mit der Erosion der klassischen korporatistisch verfassten Interessenverhandlung neu positionieren.

|| 380 Adam belegt dies beispielsweise an dem Bau des Metropolitan Opera House durch neue New Yorker Eliten im 19. Jahrhundert. Siehe Adam 2015. 381 Meyer/Jepperson 2000. 382 Speth 2006. 383 Höhne 2016: 50. 384 Reich 2017: 35. 385 Hirsch/Neujeffski/Plehwe 2016.

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So gibt es Parallelen zwischen dem Stiftungsboom in Deutschland der 1990er und 2000er Jahre und aktuellen Elitentransformationen. […] Mit der Herauslösung der großen Unternehmen aus korporatistischen Bindungen und politischen Verpflichtungen fallen die Gewerkschaften als Partner bzw. Garanten für die Gemeinwohlbindung wirtschaftlichen Handelns weg: Wirtschaftliches Handeln muss sich nun aus sich selbst begründen.386

Dieses äußert sich unter anderem in der obligaten Betonung der Gemeinwohlorientierung der wirtschaftlichen Akteure. Die wirtschaftlichen Eliten werden sichtbarer und dadurch zum einen in die Lage versetzt, neue Formen der Interessendurchsetzung zu nutzen, zum anderen aber auch angehalten, ihre Stellung und ihre Legitimation durch Philanthropie zu festigen.387 Adloff beobachtet hierzu: Wir haben es also mit einer Freisetzung von Wirtschaftseliten aus institutionell regulierten und durchsetzbaren gesellschaftlichen Verpflichtungen bei gleichzeitig performativen und medialen Darstellungen der Übernahme freiwilliger Verpflichtungen zu tun, mit einer gesellschaftlichen Konstellation also, wie sie in den USA schon seit den 1970er Jahren besteht.388

Hinzu komme die staatliche Unterstützung dieser speziellen Art der Philanthropie. Die steuerlichen Anreize, die anderen gemeinnützigen Organisationen nicht in dem Maße zugestanden werden, verweisen auf eine momentane Präferenz für Elitenphilanthropie vonseiten der Politik, unter Inkaufnahme relativer Intransparenz und Ungewissheit über deren Effektivität.389 Die Liberalisierung des Stiftungssektors hat somit den sozialen Eliten neue Gestaltungsspielräume ermöglicht. Die Janusköpfigkeit stifterischer Förderung wird beispielsweise in der Stadtentwicklung sichtbar, die mit der steigenden Lebensqualität der Anwohner auch die Immobilienpreise positiv beeinflusst, etwa wenn ein Wohnungsbauunternehmen eine Stiftung gründet, die Seniorencafés, Kitas und Spielplätze fördert – aber nur dann, wenn diese Einrichtungen in der Nachbarschaft der unternehmenseigenen Wohnanlagen liegen.390 Während Untersuchungen auf nationaler Ebene noch ausstehen, ist die Vernetzung lokaler Eliten mit vor Ort arbeitenden Stiftungen bereits dokumentiert. Beyer hat in einer Netzwerkanalyse die Annahme Adloffs, Stifter seien lokal immer gut vernetzt, in Wuppertal überprüft und die massive Einbindung lokaler Eliten in die Organisationsstruktur der Stiftungen mittels der Eingliederung in Beiräte, Kuratorien oder Aufsichtsräte nachgewiesen.391 Da in Deutschland über 75 Prozent der Stiftungen lokal tätig sind, ist die Brisanz dieser Erkenntnis absehbar.392 || 386 Adloff 2014: 188. 387 Münkler 2006. 388 Adloff 2014: 188. 389 Adloff/Strachwitz 2011: 61, Adloff 2010: 401. 390 Lenz 2015. 391 Beyer 2012. 392 Anheier 2016.

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Es zeigt sich, dass in der Tat besonders auf lokaler Ebene städtische Funktionseliten, Wirtschaftseliten und philanthropische Eliten ein empirisch ermittelbares Netzwerk bilden. […] Die Mitglieder dieser Netzwerke weisen weit überdurchschnittliche Bildungsvoraussetzungen auf und verfolgen Interessen, die sich zu einem nicht geringen Teil aus mehr und weniger selbstbezogenen Anliegen zusammensetzen.393

Aus der erfolgten Betrachtung sowie den Diagnosen des zweiten Kapitels lassen sich folgende Eckpunkte bezüglich der Demokratieförderprojekte und der Umsetzung politischer Gleichheit festhalten: (I) Wachstum des Feldes: Deutsche Stiftungen, die sich für die Förderung politischer Partizipation engagieren, tun dies in einem Umfeld liberalisierter, stiftungsfreundlicher Politik, die mit einer wachsenden Anzahl an neuen Stiftungen einhergeht. Stiftungen sind Akteure einer Zivilgesellschaft. Deren politischer Stellenwert ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Im Zuge dieser Entwicklung engagieren sich die Stiftungen umfangreicher als früher in der Stärkung von bürgerschaftlichen Engagement, viele explizit mit dem Verweis auf das Politische der Beteiligung, oder in der Demokratieförderung. (II) Erwartung und Selbstbindung: Stiftungen sind durch ihre Schenkung unabhängig in ihrem Handeln. Gemeinnützige Stiftungen behaupten ihre Legitimität jedoch durch ihre Reputation in der Öffentlichkeit. Durch den gemeinnützigen Status unterliegen sie zudem auch einer steuerrechtlichen Einhegung. Da der Gemeinwohlbegriff auch die Norm der gleichen fairen Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Prozessen in sich trägt, werden sie dieses Ideal zumindest öffentlich auch anstreben. (III) Elitäre Institutionen und ambivalente Interessenvertreter: Stiftungen bergen dem Anschein nach sowohl Gefährdungs- als auch Förderpotenzial für eine gerechte politische Partizipation in sich. Stiftungen werden zumeist von wohlhabenden Personen gegründet, und auch ihre Gremien sind in der Regel mit Angehörigen eines ähnlich hohen sozialen Status besetzt. Zudem kann bei einer engen Verbindung von Stiftungen und Unternehmen die Inanspruchnahme der Ersteren durch Letztere nicht ausgeschlossen werden. Zusammengenommen ergibt sich daraus der Verdacht, dass Stiftungen, entgegen ihrem gemeinnützigen Auftrag, Partikularinteressen verfolgen können und gerade nicht an der Förderung einer ausgleichenden Beteiligungsmehrheit interessiert sind. Gerade in der Demokratieförderung tritt das Spannungsverhältnis des interesselosen Interesses von Stiftungen stark hervor, da sich hier die Vertretung von Interessen besonders gravierend auswirken können. Diese Überlegungen geben Anlass zur Skepsis hinsichtlich des Demokratiepotenzials von Stiftungen, können aber noch keine pauschale Verurteilung rechtfertigen. Denn auf der anderen Seite ist der Zweck von Stiftungen, die sich der Gemeinnützigkeit verpflichtet haben, der, die Allge|| 393 Strachwitz 2014: 118.

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meinheit selbstlos zu fördern. Sofern eine möglichst faire und gleiche Beteiligung im politischen Prozess also zu der Gemeinwohlvorstellung der Gesellschaft zählt – und es wurde argumentiert, dass dies der Fall ist –, dann müssen sie das Erreichen einer solchen als ihren Auftrag verstehen. Zudem gibt es neuere Stiftungsmodelle wie Bürgerstiftungen, die darauf angelegt sind, möglichst viele Bürger mit kleinen Beträgen zum gemeinsamen Engagement zu versammeln, was unter der Annahme des Putnamʼschen Sozialkapitals demokratiefördernde Auswirkungen erzeugen und Menschen dazu bringen kann, sich nicht nur sozial, sondern auch politisch mehr zu engagieren. Für die Frage nach dem Förderverhalten von Stiftungen in Bezug auf die Herstellung politischer Gleichheit ergibt sich daraus eine Ausgangssituation, die sowohl eine positive als auch eine negative Antwort erwarten lässt. Eine pauschale Antwort auf ihre Inklusionssensibilität ist zu Beginn jedenfalls nicht absehbar.

4 Konzeptioneller Bereich III: Ansätze zur Förderung politischer Partizipation 4.1 Wege zu einer Typologie Der Blick auf den Forschungstand hat gezeigt, dass bisher nur unzureichend systematische Kenntnisse darüber vorliegen, wie Stiftungen die Demokratieförderung und insbesondere Beteiligungsförderung verfolgen und umsetzen, obwohl die vielen eingangs genannten Beispiele von Stiftungen ihr Engagement auf diesem Feld belegen. Ziel dieses Kapitels ist es deshalb zu erfassen, was die Förderung von politischer Beteiligung bei Stiftungen alles beinhalten kann, und diese Förderansätze in einer Übersicht typologisch zu strukturieren. Ich definiere politische Partizipationsförderung von Stiftungen als die operative oder fördernde Unterstützung jener Verhaltensweisen von Angehörigen eines politischen Systems, die sie alleine oder mit anderen freiwillig und dem Ziel unternehmen, in verfasster und unverfasster Form Einfluss auf die politischen Entscheidungen des Systems zu nehmen. Der Arbeitsansatz der Stiftungen in diesem Bereich ist nicht leicht zu bestimmen. Die Faktoren, die eine regelmäßige und gleichberechtige Teilnahme am politischen Leben begünstigen, können an Merkmalen wie Bildung, Alter und Geschlecht, aber auch Einkommen oder den politischen Kenntnissen und Erfahrungen der Teilnehmer festgemacht werden. Das stifterische Handeln lässt sich deshalb oft im Bereich der politischen Bildung verorten, aber auch im Sozialbereich, in der Vertretung bestimmter sozialer Gruppen oder in der Reformierung politischer Gesetzgebung. Ihre Projekte sind so facettenreich und unübersichtlich, wie die Determinanten politischer Beteiligung es selbst sind. Um zu einer systematischen Übersicht möglicher Förderansätze zu gelangen, hilft ein Blick auf andere Akteure, um zu sehen, wie diese vorgehen bei der aktiven Förderung der Partizipationsbereitschaft von Bürgern. Zunächst wäre somit zu klären, welche Modelle und Ansätze anderer wissenschaftlicher Forschungsbereiche für das Thema zur Verfügung stehen. Diese Perspektive eröffnet den Bereich der politischen Bildung und gibt Aufschluss, ob sich Überschneidungen erkennen lassen und Stiftungen ähnliche Maßnahmen anwenden. Manche Stiftungen wurden zudem auch als Think Tanks bezeichnet. Deren prägendes Merkmal ist die Schaffung und Verbreitung politikbezogener Themen und Ideen. Ein Blick in diese Forschungsrichtung verrät, dass mögliche Förderansätze auch darin liegen könnten, die Notwendigkeit politischer Beteiligung als Thema in der Öffentlichkeit zu besetzen und zu vertreten. Dass Stiftungen sich in ihrem Handeln an anderen Institutionen oder Akteuren orientieren, erklärt sich, indem man sich die organisatorischen Usancen einer Stiftung vor Augen führt: Geld – egal ob aus öffentlicher Hand, aus vielen kleinen oder einer großen privaten Spende – soll zu einem bestimmten gemeinnützigen Zweck eingesetzt werden, in diesem Falle also der Förderung von mehr politischer Beteiligung. Der Stifter verfügt in der Regel nicht über das nötige fachliche Wissen zur Umsetzung des https://doi.org/10.1515/9783110656503-004

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Zwecks und ist zudem auf seine öffentliche Reputation bedacht. Er folgt daher häufig den aktuellen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen zu seinem Thema oder orientiert sich an bereits etablierten Akteuren in dem entsprechenden Bereich. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer Typologie des Stiftungshandelns besteht darin, in diese zwei Forschungsfelder genauer hineinzusehen, also zum einen Ziele, Modelle und Akteure der politischen Bildung darzustellen und zum anderen Think Tanks als politikberatende und themensetzende Akteure zu betrachten. Beide Bereiche liefern für das hier bearbeitete Thema Ideen und Grundlagen und bieten Begriffe und Kategorien als Suchkriterien für die Textanalyse der Stiftungsdokumente. Aufbauend auf Welzel und Detjen et al. werden deren Vorschläge dann mit circa 50, im Zuge der Recherche gesammelten, Stiftungsprogrammen abgeglichen, um zu sehen, ob dort Aspekte der politischen Bildung oder des Agenda-Settings ihren Niederschlag finden und praktische Beispiele für Stiftungshandeln liefern können. Im nächsten Schritt lässt sich daraus ein Typenschema entwickeln. Die demokratie- und partizipationsfördernden Programme der Stiftungen sammeln sich, so meine These, entlang zweier Linien: zum einen der der Bürgerkompetenz und zum anderen der der Gelegenheitsstruktur. Diese beiden Linien verzweigen sich jeweils weiter in einen Doppelstrang, den einer Wissens- und Fähigkeitenvermittlung einerseits und dem einer öffentlichkeits- und netzwerkschaffenden Funktion sowie einer anwaltschaftlichen Vertretung andererseits. Mal treten Stiftungen eher als Informationsund Wissensvermittler in Erscheinung, mal eher als Interessensvertreter und als Akteure, die versuchen, auf Politik Einfluss zu nehmen. Ich möchte argumentieren, dass sich daraus vier Typen der politischen Beteiligungsförderung durch Stiftungen ableiten lassen: der szientive, der potestative, der agorative und der advokative Förderansatz. Die systematische Einordnung der Projekte in diese vier Typen erlaubt eine Aussage darüber, in welchen Gestaltungsbereichen Stiftungen bei der Partizipationsförderung besonders aktiv sind, ob sich das Anstiften zur Beteiligung eher in der direkten Bildungsarbeit, in der Distribution von Mitteln oder in der wissenschaftlichen Forschungs- und Studienumsetzung niederschlägt. Die Typen und ihre Ausprägungen dienen als Kategorien der Textanalyse. In der Verbindung mit dem performativen Teil, der auch textanalytisch erfasst wird, kann ein guter Überblick darüber gewonnen werden, welche Projekttypen besonders sensibel in Bezug auf die Wahrung politischer Gleichheit umgesetzt werden und welche nicht.

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4.2 Politische Bildung als Voraussetzung für Partizipation Die Frage nach der Notwendigkeit und den Mitteln demokratischer Teilhabevoraussetzungen und institutioneller Teilhabehilfe wird oft beantwortet mit dem Leitspruch: Demokratie braucht politische Bildung!394 Deshalb richtet sich der erste Blick auf der Suche, wo und wie Stiftungen in der Teilhabestärkung ansetzen können, auf politische Bildung. Was ist mit politischer Bildung gemeint? Beginnend mit der etwas redundant anmutenden Definition, nach der politische Bildung diejenige Bildung sei, die grundsätzlich auf Politik bezogen ist, zeigt sich, dass die Begriffsbestimmung des Politischen maßgeblich für das Verständnis ist.395 Politische Bildung in Demokratien hat den Auftrag, die Bürger in die Lage zu versetzen, ihre Rolle als Souverän wahrzunehmen. Insofern kann mit der Definition der Deutschen Vereinigung für politische Bildung diese als systematische Vermittlung von Kenntnissen über das demokratische politische System mit dem Ziel, autonome und mündige Staatsbürger zu erziehen, verstanden werden.396 Grundlage der Demokratie bildet die Annahme, dass der Souverän, also das Volk, fähig ist, sich selbstständig gruppenverbindliche Regelungen zu geben. Politische Mündigkeit setzt also gewissermaßen zweierlei Arten der Bildung voraus: zum einen Kenntnisse, die ihn zur Beteiligung am Transformationsprozess von Individualinteressen in allgemeine Verbindlichkeit befähigen, und zum anderen die (gelernte) Fähigkeit des rationalen Abwägens und Verhandelns von Eigenund Gemeinwohlinteresse.397 Politische Beteiligung ist folglich voraussetzungsreich und bedarf eines bestimmten Wissens- bzw. Bildungsniveaus und gewisser kognitiver und kommunikativer Kompetenzen.398 Damit scheint die Zielsetzung gegeben, die Umsetzung hingegen verbleibt unscharf. Der zweite wichtige Punkt zur Bestimmung des Begriffsverständnisses ist deshalb die Frage, ob diesem ein enger oder weiter Politikbegriff zu Grunde liegt. Die Verwendung enger und weiterer Demokratie- und Politikbegriffe und die sich von ihnen ableitenden Erwartungshaltungen an Politik wurden im zweiten Kapitel erörtert; ein enger Politikbegriff umfasst die Vorstellung von Politik als einer mehr oder weniger deutlich abgrenzbaren institutionellen Arena oder eines Systems, in dem durch institutionalisierte Akteure, beispielsweise die Parteien und das Parlament, allgemein verbindliche Regeln verhandelt und implementiert werden. Hier ist in erster Linie die Regierungsform gemeint. Wird Politik als etwas sehr praxisnahes und in alle

|| 394 Zu sehen beispielsweise im Titel von Breit/Schiele 2004. 395 Zur Entwicklungsgeschichte politischer Bildung in Deutschland, siehe Gagel 2005. 396 Andersen 2013: 480. 397 Himmelmann 2001: 268. 398 „Mit kognitiver Kompetenz wird ein gewisses Niveau an Wissen und Lernfähigkeit/Lernbereitschaft bezeichnet, von dem angenommen wird, daß nur unter seiner Voraussetzung Partizipationsfähigkeit gegeben ist“ In: Münkler 1997: 156.

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Lebensbereiche hineingreifendes Phänomen, also mehr als Lebensform denn als Regierungsform verstanden, spricht man von einem weiten Politikbegriff. Er umfasst Prozesse, die potenziell in allen gesellschaftlichen Bereichen und in jeder sozialen Interaktion stattfinden können. Es liegt auf der Hand, dass sich von diesen unterschiedlichen Vorstellungen auch unterschiedliche Ansätze zur Vermittlung politischer Bildung ableiten lassen. So sind drei grundsätzliche Positionen denkbar, die sich auch in der Didaktik wiederfinden. Diese sind die wissensorientierte, die werteorientierte und die handlungsorientierte Vermittlung politischer Bildungsinhalte. Während Erstere den Fokus auf die Analyse des Regierungssystems legt und dabei Vor- wie Nachteile kennzeichnet, liegt der Schwerpunkt der zweiten in der normativ positiven Bindung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bürger. So ist die Grundannahme, dass Demokratien, in denen die Bürger eine positive Einstellung von ihr haben, stabiler sind und eine höhere Legitimität besitzen. Jedoch brauchen die Bürger auch genug kritisches Vermögen, um ihre souveräne kontrollierende Rolle zu erfüllen. Bezogen auf das demokratische System sollten die Einstellungen also ein Gleichgewicht zwischen positiver Identifikation bzw. Zustimmung und Kritikbereitschaft aufweisen.399 Die dritte Position der Handlungsorientierung richtet ihr Augenmerk auf das Erleben von Politik, und hier zielt der Mündigkeitsprozess auf die Kompetenzen zum praktischen Umgang damit. Während die Werteorientierung bei den beiden anderen zumeist mitgedacht wird, stehen sich erste und letzte gewissermaßen in Hermeneutik und Pragmatik gegenüber.400 Vereinfacht ließe sich der Diskurs so charakterisieren: auf der einen Seite finden sich die meist von der Politikwissenschaft oder von der Soziologie kommenden Wissenschaftler, die in der Vermittlung von politikbezogenem Sachwissen […] die Hauptaufgabe der politischen Bildung sehen. Auf der anderen Seite die meist aus der Schulpädagogik oder aus der Schulpraxis kommenden Autoren, die in der Ermöglichung von politikbezogenen Erfahrungen den eigentlichen Schlüssel zur politischen Bildung sehen.401

Das Wissen um die Funktionszusammenhänge des politischen Systems ist insbesondere Gegenstand sozialwissenschaftlicher Politikwissenschaft. Ihr Blick ist dabei ein analytischer, der darauf aus ist, politische Wirklichkeiten mittels allgemeiner Theorien zu erklären. Die empirische Demokratieforschung wie die normative Demokratietheorie versuchen Stärken aber auch Schwächen demokratischer Systeme zu bestimmen und Befunde zu liefern, die die Wissensgrundlage einer praktischen Umsetzung guter Regierung bilden können und „Funktionsabläufe, Funktionsvoraussetzungen und Funktionsstörungen verschiedener politischer Systeme“ bestim-

|| 399 Gabriel 2005. 400 Scherb 2014. 401 Reheis 2016: 13.

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men.402 In diesem Sinne ist es Fachwissen und zunächst einmal eine wertneutrale Beschreibung der demokratischen Prozesse, die als Fundament einer gelungenen Aufklärung und Beteiligung der Wahlberechtigten gesehen wird und deren Inhalte der Vermittlung bedürfen.403 Der Bürger soll mit einem Wissensbestand ausgestattet sein, der ihm beispielsweise die Unterschiede zwischen repräsentativen und direktdemokratischen Systemen bewusst macht oder ihm die Tatsache erklärt, dass demokratisches Regieren aufgrund der zeitlichen Begrenzung von Legislaturperioden oft kurzfristig angelegt ist. Von der Didaktik fordert Buchstein in diesem Sinne einen „Wirklichkeitsunterricht“, der angezeigt ist, Mündigkeit zu fördern, indem Vor- und Nachteile des eigenen Regierungssystems bekannt gemacht und vom (zukünftigen) Bürger eingeschätzt und verhandelt werden können. Dies hebt im schulischen Bereich auf ein (ernstgenommenes) eigenes Fach der politischen Bildung ab und richtet sich gegen eine allzu überfordernde und ideell überfrachtete Erwartungshaltung an politische Bildung. Für die politische Bildung liefert die Politikwissenschaft also „Erkenntnisse und empirische Befunde über politische Systeme, ihre institutionellen Ordnungen und verfassungsmäßigen Grundlagen, eine politische Soziologie faktischer politischer Prozesse sowie Partizipationschancen und Einflussmöglichkeiten von Bürgern“.404 Die Bereitstellung dieser Bildungsinhalte erfolgt jedoch auch interdisziplinär, denn eine Politikdidaktik als eigenständige Wissenschaft gibt es in Deutschland nicht. In den Sozialwissenschaften sind traditionellerweise neben der Politikwissenschaft auch die Soziologie und die Psychologie, vor allem die Entwicklungs- und Lernpsychologie, sowie die Erziehungswissenschaften, vor allem die Allgemeine Didaktik und die Schulpädagogik, wesentliche Disziplinen für die politische Bildung.405 Fachwissen, in der Genese wie in der Vermittlung, kann also ein Ansatz stifterischer Tätigkeiten in der politischen Bildung werden und bildet den ersten Typ Förderansatz von Stiftungen, den szientiven. Auf die Befürchtung, nach der, wie Himmelmann es ausdrückt, „[r]ein kognitives Wissen noch keine guten Demokraten schafft“, versuchen die folgenden beiden Schwerpunkte eine Antwort zu geben.406 Neben die reine Wissensvermittlung zur Funktionsweise von Demokratie müssen sowohl das Einüben von Fähigkeiten im Umgang mit ihr als auch der Aufbau von Identifikationsmöglichkeiten mit ihr im Sinne einer positiven demokratischen Grundhaltung treten. Diese weite Sichtweise von einer demokratischen Gesellschaft nimmt die prägenden Lebensverhältnisse und die damit verbundenen Wertvorstellungen in den Fokus und versucht zu bestimmen, wie sich der einzelne Bürger darin bewegen und behaupten kann. || 402 Buchstein 2004: 53. 403 Der Wissensbegriff ist dabei nicht unumstritten, seine konnotative Verwendung ist oft auch Gegenstand der Kritik, siehe beispielsweise Sander 2010. 404 Buchstein 2004: 53. 405 Reheis 2016: 12. 406 Himmelmann/Lange 2005: 15.

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In der politischen Bildung wird im Zusammenhang mit der Entwicklung eines didaktischen Prinzips der Handlungsorientierung zumeist auf den amerikanischen Pragmatismus John Deweys (1859–1952) hingewiesen. Dewey wollte durch die Erfahrung von Partizipation im sozialen Nahraum, insbesondere auch in der Schule, zu einer Entwicklung der Demokratie in der Gesellschaft beitragen. Seine Theorie geht davon aus, dass die Praxis der Demokratie a1s Lebensform des Nahraums ein Modell für die Form des Zusammenlebens in großen Gesellschaften sein kann.407

In Deutschland wurden Deweys Annahmen in den Erziehungswissenschaften zwar immer mal wieder rezipiert,408 die Debatte um handlungsorientiertes Lernen nahm aber mit den schlechten Ergebnissen deutscher Schüler bei den PISA-Studien zu Anfang der 2000er Jahre und der internationalen Civic Education-Studien erheblich an Fahrt auf, da sie zeigten, dass deutsche Schüler „im Bereich der sozial-kooperativen Fähigkeiten erhebliche Defizite“ aufwiesen.409 Demnach sei die politische Bildung in Deutschland bisher zu sehr allein auf kognitives Problem- oder Politiklernen konzentriert gewesen. Deswegen müssten im Unterricht im Sinne des im angloamerikanischen Raum geprägten pädagogischen Ansatzes einer Civic Education, also einer bürgerschaftlichen Erziehung, neben dem konkreten Wissen über Politik verstärkt demokratische Wertebindung und Handlungskompetenz erzeugt werden. Der kompetenzorientierte Ansatz kann als theoretische Grundlage für den zweiten Typ des Förderansatzes der Stiftungen in der Partizipationsförderung dienen. Der Ansatz findet sich beispielsweise bei der Bertelsmann Stiftung. So ist bei ihr zu lesen: Demokratie als Staatsform funktioniert nur, wenn das alltägliche Verhalten der Bürger Werten wie Toleranz, Solidarität, sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Pluralität und Meinungsfreiheit sowie dem Leitbild aktiver Bürgerschaft verpflichtet ist – Demokratie also auch als Lebensund Gesellschaftsform (Gerhard Himmelmann) verstanden wird. […] Civic Education soll basale Kompetenzen für zivilgesellschaftliches Handeln fördern. […] Sie beschränken sich nicht auf die Vermittlung von staatskundlichem Wissen, sondern zielen darauf ab, zivilgesellschaftliche und demokratische Werte, Haltungen, Fähigkeiten und Handlungsbereitschaften zu fördern.410

Die Vermittlung von politischer Bildung im weiteren Ansatz einer civic eduacation erfordert die Übersetzung unscharfer und normativer Zielvorstellungen in konkrete Handlungsmuster. Auch formuliert sie Tugendanforderungen, die bisweilen an „Kompetenzzumutungen“ grenzen.411 Mit abstrakten Begriffen wie Mündigkeit oder Freiheit werden Forderungen aufgestellt, die nicht exakt definierbar sind. „Weil die Begrifflichkeiten mehr oder weniger nur Postulate sind, lassen sie sich weder ergeb|| 407 Abs 2005: 123. 408 Reheis 2015: 98. 409 Himmelmann/Lange 2005: 15. 410 Bertelsmann Stiftung 2015. 411 Münkler 1997.

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nisorientiert fachlich festlegen noch empirisch-systematisch überprüfen. Bildungstheoretische Annahmen sind zu allgemein und unscharf.“412 Auch die Poltische Theorie hat Probleme festzulegen, welche Kompetenzen Bürger in der Demokratie tatsächlich benötigen und wie diese zu erreichen sind. Die Liste der in der Literatur gefundenen Vorschläge ist lang. Der demokratische Bürger brauche Mut zur Verteidigung seiner Gemeinschaft und zur Loyalität ihr gegenüber. Als liberale Ordnungen seien demokratische Gesellschaften auf „Rechtsgehorsam (auf freiwilliger und daher reflexiver Basis), Kooperationsbereitschaft, Fairness und Toleranz (der Bereitschaft, ethische Differenzen auszuhalten)“ ihrer Mitglieder angewiesen.413 In ihrem demokratischen Moment bedürfen sie zusätzlich mindestens der Tugenden der Partizipation (der Bereitschaft, sich an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen), der Verantwortlichkeit (der Bereitschaft, politische Entscheidungen vor einem längerfristigen Zeithorizont zu evaluieren) sowie der Argumentation (der Bereitschaft, sich für die eigene Meinung öffentlich zu rechtfertigen). Und in ihrem sozialstaatlichen Moment bedürfen sie des sozialen Gerechtigkeitssinns und der Solidarität.414

Bei der Vielzahl an Anforderungen an den Schülerbürger ist es nicht verwunderlich, dass dieser Ansatz umstritten ist. Die Kritik wendet sich sowohl gegen den Begriff der Kompetenz, der beispielsweise auf eine zu starke Akzentuierung der schülerischen Bewältigungsleistung von Aufgaben hinauslaufe, als auch gegen die didaktische Umsetzung, die in eine allzu breite Beliebigkeit abzurutschen drohe – man stelle sich die Schwierigkeiten vor, eine gewonnene Toleranzerfahrung im Mannschaftsport als politisch-demokratischen Erfahrungswert zu verbuchen – und gegen mögliche Leistungsgrenzen der normativen Kompetenzzumutungen im Unterricht.415 Trotz dieser unterschiedlichen Auslegungsarten politischer Bildung gibt es aber gemeinsame normative Leitlinien, die im Beutelsbacher Konsens niedergelegt sind. Dieser geht auf eine Tagung zurück, die 1976 auf Initiative der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in Beutelsbach stattfand und in dem die Grundsätze „guter Lehre“ von politischer Bildung festgelegt wurden. Diese beinhalten drei Prinzipien: zum ersten das Überwältigungsverbot, welches jegliche Form von Indoktrination vonseiten der Lehrenden verbietet, zum zweiten das Gebot der Kontroversität, das sicherstellen soll, dass alle Themen, die gesellschaftlich kontrovers diskutiert werden, auch im politischen Unterricht als kontrovers dargestellt werden, und zum dritten das Prinzip der Schülerorientierung, das die Politikvermittlung an den Interessen der Lernenden ausrichtet. Der Schüler soll in die Lage versetzt werden, eine „politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach

|| 412 Detjen et al. 2012: 9. 413 Buchstein 1996: 303. 414 Buchstein 1996: 303. 415 Reheis 2015: 69.

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Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen“.416 Die hier vorgestellten Ansätze zeigen unterschiedliche Stärken in Bezug auf diesen Konsens. Durch den faktischen und wissenschaftlich-objektiven Schwerpunkt scheint der sozialwissenschaftliche Zugang besser als der kompetenzfokussierte, lebensweltliche Ansatz der Demokratiepädagogik den ersten beiden Grundlagen des Beutelsbacher Konsens entsprechen zu können; also sowohl dem Überwältigungsverbot als auch dem Gebot der gleichberechtigten Darlegung kontroverser Themen durch den Lehrenden. Weniger dürfte die reine Vermittlung von Fachwissen, zumal im Frontalunterricht, dem dritten Prinzip der Schülerorientierung genügen, welche eine Beteiligung des Schülers anstrebt sowie ihm die „operationalen Fähigkeiten“ eröffnen soll, „nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“417 Dort sind neuere demokratiepädagogische Konzepte in ihrer Handlungsorientierung besser geeignet. Bei diesen scheint ein Überdehnen der Leistungsgrenze im Unterricht allerdings vorprogrammiert. In der Tat ist ein kritischer Argwohn gegenüber dem Potenzial des – in der Schule vorherrschenden – Frontalunterrichts nachvollziehbar, nicht nur Politikinteresse, sondern zugleich auch Begeisterung und aktive politische Handlungsbereitschaft wecken zu können. Auch scheint der Auftrag der positiven Wertebesetzung mit dem demokratischen Regierungssystem im Lichte des Überwältigungsverbotes zumindest schwierig. In Deutschland wird politische Bildung von verschiedenen Bildungseinrichtungen des schulischen und außerschulischen Bereiches vermittelt.418 Im außerschulischen Bereich sind vonseiten der staatlichen Träger vor allem die Bundeszentrale und die 15 Landeszentralen für politische Bildung sowie große Erwachsenenbildungsorganisationen wie der Deutscher Volkshochschulverband bekannt. Stiftungen zählen zu den selbständigen und eigenverantwortlichen Trägern, die politische Bildung anbieten, wenngleich sich auch hier eine regelmäßige Kooperation mit staatlichen Institutionen des Bildungswesens etabliert hat.419 Stiftungen sind also erst einmal als Akteure der außerschulischen Bildung zu betrachten, da sie nicht offiziell in das Regelsystem der Schule eingebunden sind. Dennoch oder gerade wegen ihrer Position als Kooperationspartner stellt sich für sie aber auch die Frage nach ihrer Haltung zum Beutelsbacher Konsens und inwieweit sie diesen als Selbstverpflichtung annehmen.420 Mit dem Verweis auf ein Urteil des Bundesfinanzhofs gibt der Anwendungserlass der Abgabenordnung in Hinblick auf diese Frage für gemeinnützige Körperschaften eine Richtlinie vor, gemäß der politische Bildung nicht nur in theoreti|| 416 http://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens.html [02.03.2017]. 417 http://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens.html [02.03.2017]. 418 Gagel 2005. 419 Striebing 2017b. 420 Zur Debatte, inwiefern das Kontroversitätsgebot auch für die außerschulische politische Bildung gelten sollte, siehe: Rudolf 2002, Schiele 2006.

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scher Unterweisung bestehen müsse, sondern auch durch den Aufruf zu konkreter Handlung ergänzt werden könne. Keine politische Bildung sei demgegenüber „die einseitige Agitation, die unkritische Indoktrination oder die parteipolitisch motivierte Einflussnahme.“421 Als Synthese der bisher dargestellten Ansätze politischer Bildung soll als Grundlage einiger hier verwendeter Kategorien das Demokratie-Kompetenz-Modell von Joachim Detjen, Peter Massing, Dagmar Richter und Georg Weißeno (ab jetzt Detjen et al.) vorgestellt werden.422 Detjen et al. kombinieren in ihrem Modell kognitionspsychologische und politikwissenschaftliche Forschungserkenntnisse und kommen auf vier verschiedene Kompetenzdimensionen, die Schüler im Unterricht lernen sollten: Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und politische Einstellung und Motivation. Damit ist dieser Ansatz zwar nur auf den (personalen) Teil der Förderungsmöglichkeit und zudem nur auf den schuldidaktischen Gebrauch ausgelegt, dennoch lässt er sich auch für Stiftungen anwenden. Das Fachwissen unterteilen die Autoren in Faktenwissen, welches einzelne Daten und Fakten samt dem Verständnis ihres Zusammenwirkens umfasst, und konzeptionelles Wissen, welches kognitive Transferleistungen ermöglicht. Wenn Schüler über konzeptionelles Politikwissen verfügen, können sie in späteren Anwendungssituationen, sei es als Schüler oder als Bürger, zu kontextadäquaten Lösungen kommen, obwohl sie eine konkrete Erfahrung mit der erforderlichen Lösung noch nicht gemacht haben.423

Auch das Erlernen von politischer Sprache, also dem Fachvokabular, fällt in diesen Bereich. Im Kompetenzmodell Fachwissen wird die zentrale Struktur des Wissens mit Hilfe von Fachkonzepten sowie ihrer konstituierenden Begriffe aufgezeigt, die sich im Verlaufe der Schulbildung zu Basiskonzepten kumulieren. Als Basiskonzepte fungieren Ordnung, Entscheidung und Gemeinwohl, von denen dann in einzelnen Stunden Begriffe wie Gewaltenteilung oder Partei etc. behandelt werden.424 Die Förderung der politischen Urteilsfähigkeit vermittelt Schülern, kognitionspsychologisch gesprochen, Kenntnisse darüber, ein bestimmtes Urteilsobjekt einem Wert auf einer Urteilsdimension zuzuordnen. Das Urteil kann ein Werturteil sein, also etwas für gut oder schlecht befinden, es kann aber auch ein Entscheidungsurteil sein, welches für oder gegen ein Handeln spricht. Diese Kompetenz ist insofern für die politische Bildungsleistung wichtig, als der Bürger die angebotenen Argumente im politischen Aushandlungsprozess, etwa im Wahlkampf – aber auch im persönlichen Ge-

|| 421 Ziffer 8 aus dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) [6.12.2017]. 422 Das Modell hat auch einige Kritik hervorgerufen, beispielsweise an dem von ihm verwendeten Wissens- oder Kompetenzbegriff. Für die Diskussion zentral: Autorengruppe Fachdidaktik 2011 und Sander 2010. Für die Replik darauf siehe Massing et al. 2011. 423 Detjen et al. 2012: 29. 424 Detjen et al. 2012: 29.

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spräch – beurteilen und eigene Meinungen dazu abgeben können muss.425 Die Kompetenzdimension politische Urteilsfähigkeit unterscheiden Detjen et al. nochmals in fünf Urteilsarten, nämlich in Feststellungs-, Erweiterungs-, Wert-, Entscheidungsund Gestaltungsurteile, die über das Erlernen von Beschreibungen, Vergleichen, das Begründen des eigenen Standpunktes oder das Begründen aus der Perspektive eines anderen Akteurs heraus vermittelt werden können. Die Kompetenzdimension politische Handlungsfähigkeit setzt auf die Vermittlung von Fähigkeiten des sozialen Umgangs und Überzeugens, des Argumentierens und Verhandelns. Sie unterscheidet sich von der Urteilsfähigkeit in erster Linie durch ihre externale Orientierung, d. h. die nach außen gerichtete Handlung auf ein Gegenüber. In Anlehnung an Dieter Fuchs teilen die Autoren politisches Handeln analytisch auf in kommunikatives politisches Handeln und partizipatives politisches Handeln.426 So seien mit kommunikativem politischen Handeln vor allem Gespräche oder Diskussionen über Politik im sozialen Umfeld gemeint. In der politischen Soziologie zählt dazu auch die Nutzung der politischen Berichterstattung der Massenmedien. Partizipatives politisches Handeln kann von „der Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen über parteibezogene, gemeinde-,wahlkampf- und politikerbezogene Aktivitäten, legalen Protest und zivilen Ungehorsam bis hin zur politischen Gewalt reichen.“427 Damit wird jedoch auch klar, dass partizipatives politisches Handeln in diesem Sinne im Politikunterricht kaum realisierbar ist, allenfalls in der Möglichkeit zur Teilnahme an Schülervertretung und Schülerzeitung o. Ä. Insofern liegt der Schwerpunkt der schulischen politischen Bildung zur Handlungsorientierung vor allem auf der Vermittlung der Kompetenzfacetten: Artikulieren, Argumentieren, Verhandeln und Entscheiden.428 Die letzte Dimension, die der politischen Einstellung und Motivation, umfasst die emotionale Interpretation und Beurteilung politischer Informationen. Kognitionspsychologisch haben Einstellungen unter anderem „die Funktion, Identität und Zugehörigkeit zu vermitteln und die Selbstdefinition zu erleichtern. Sie reduzieren Komplexität. […] Motivation wird allgemein als aktivierende Zielausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Lebenszustand bezeichnet.“429 Bezogen auf das demokratische System gilt es bei den Schülern eine Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Verfassung so anzuleiten, dass diese bei grundsätzlicher Anerkennung mit kritischer Distanz darin als souveräne Bürger handeln können.430 „Ob jedoch durch Unterricht überhaupt Einstellungen berührt oder gar verändert werden können, wird in den beteiligten Wissenschaften kontrovers dis|| 425 Detjen et al. 2012. 426 Fuchs 1995. 427 Detjen et al. 2012: 65/66. 428 Detjen et al. 2012. 429 Detjen et al. 2012: 99. 430 Gabriel 2005.

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kutiert.“431 Die „aktivierende Zielausrichtung“ sollte im Unterricht auf das Politikinteresse der Jugendlichen gerichtet sein. Setzt der Politikunterricht an den Lebensverhältnissen der Schülerinnen und Schüler an, behandelt er sie betreffende politische Themen, führt das „zu längerer Ausdauer, Freude und besserer kognitiver Verarbeitung“. Inwiefern erzielte Erfolge bei der Vermittlung von politischem Interesse sich auch positiv auf das politische Responsivitätsgefühl der Schüler auswirken bleibt aber unklar.432 Dennoch stellt das Modell einen breiten Ansatz von Demokratiedidaktik dar. Es sucht drei Teile von politischer Bildung zu kombinieren; das Wissen über Politik, die positive Einstellung und aktive Auseinandersetzung mit Politik und das Fähigsein zur Politik bzw. zum politischen Handeln. Insofern kann es als ein allgemeines Modell politischer Bildung angesehen und auf andere Akteure wie Stiftungen angewendet werden. Für die vorliegende Arbeit bot das Modell übertragbare Begriffe und Kategorien, die sich in den Stiftungstexten identifizierbaren lassen. Detjen et al. versuchen in ihrem Modell eine Operationalisierung der abstrakteren Kompetenzdimensionen – Wissen, Urteilen, Handeln und Werten – in anwendbare Lernziele für den Unterricht zu leisten. Diese Lernziele lassen sich so auch auf die Förderung von Stiftungen übertragen, bzw. es lässt sich in den Projektbeschreibungen und Dokumentationen danach suchen. Sind deren Projekte beispielsweise darauf ausgelegt, soziale Kooperation zu trainieren (beispielsweise in Planspielen), oder geben die Stiftungen an, argumentative Praktiken der Teilnehmenden ihrer Projekten zu üben (beispielsweise in Rhetorikseminaren)? Wie und wo versuchen sie, den Geförderten artikulieren, argumentieren, verhandeln und entscheiden oder den Vergleich und das Begründen des eigenen Standpunktes zu vermitteln, wann und wie nehmen sie für sich in Anspruch, demokratische Werte zu vermitteln? Folgen wir der Annahme des Modells, kann die individuelle politische Partizipation durch die Vermittlung verschiedener kognitiver, habitueller und sozialer Fähigkeiten unterstützt werden. Diese Form der Förderung lässt sich unter den Oberbegriff der Förderung von Bürgerkompetenz fassen. Das vorgestellte Demokratie-Kompetenz-Modell schlägt eine Reihe erlernbarer Praktiken zu deren Entwicklung vor, nach denen sich bei den Stiftungen suchen lässt. Es diente somit zum einen als Stichwortgeber in der ersten Phase der Textanalyse, zum anderen als Grundlage der Kategorienbildung im Verlauf der Designentwicklung.

|| 431 Detjen et al. 2012: 100. 432 Dies wird von den Autoren zwar thematisiert, aber nicht zufriedenstellend beantwortet.

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4.3 Politikberatung durch Think Tanks Ein weiterer Ausgangspunkt zur Ermittlung stifterischer Förderansätze entstammt der Governance-Forschung. Diese beschreibt Politik als Prozess, in welchem verschiedenste staatliche und private Akteure in unterschiedlichsten Formen kollektive Regelungen zu gesellschaftlichen Sachverhalten finden.433 Entsprechend werden hier die Organisationen und Akteure zum Gegenstand des Interesses. Eine spezielle Art von Akteuren, nämlich politikberatende Think Tanks, die oft starke Überschneidungen zu Stiftungen aufweisen, sollen für den folgenden Abschnitt im Fokus stehen. Institutionelle Artverwandte wie Think Tanks haben mit Stiftungen gemein, dass sie in der Regel gemeinnützig sind und sich von Verbänden oder Vereinen – als einer anderen Form zivilgesellschaftlicher Organisation – darin unterscheiden, dass sie nicht klientelabhängig sind. Sie eignen sich insofern für den Modell-Transfer. In den vergangenen Jahren sind mehrere Arbeiten erschienen, die Stiftungen in Hinblick auf ihre politikberatende Funktion untersucht und dabei theoretische Anleihen bei der Think-Tank-Forschung gemacht haben.434 Politikberatung muss inhaltlich nichts mit der Förderung von Personen oder Gruppen zu mehr politischer Beteiligung zu tun haben, die Studien sind jedoch anschlussfähig in Hinblick auf die Übereinstimmung der Methoden ihres politischen Handelns, denn ein Vergleich der Studien legt eine partielle Überschneidung der Handlungsmuster politikberatender und beteiligungsfördernder Stiftungen nahe. Politikberatung, verstanden als das „Verfügbarmachen von Informationen und Handlungsempfehlungen für politisch Handelnde und Entscheidende durch Wissenschaftler […] sowie durch Fachleute aus Wirtschaft und Gesellschaft“435, umfasst sowohl die Unterstützung, Transmission und Interpretation politikrelevanter Forschung, die Stiftungen im Zusammenhang ihrer Partizipationsförderung generieren können, als auch die Etablierung von Netzwerken und die advokative Vertretung bestimmter Interessen. Hiervon ausgehend stehen weniger die Wissens- oder Kompetenzvermittlung im Vordergrund als vielmehr die Einflussmöglichkeiten von Stiftungen in der Politikberatung, in der Vertretung von Interessengruppen und von gesellschaftlichen Themen. Denkt man Stiftungen als Think Tanks, die auf politische Akteure direkt oder indirekt über die Öffentlichkeit Einfluss nehmen, indem sie öffentlich Themen besetzen oder klientelbezogene Interessen vertreten, so liegt ein weiterer Förderansatz darin, politische Gelegenheitsstrukturen zu schaffen. Heisterkamp, der in einer vergleichenden Analyse geprüft hat, inwiefern die parteinahen Stiftungen in Deutschland als Think Tanks aufgefasst werden können, greift die in der Forschung etablierte Beschreibung vierer essentieller Funktionen von

|| 433 Zum Begriff der Governance siehe auch Kapitel 3.3.1. 434 Welzel 2006, Speth 2010, Heisterkamp 2014. 435 Wollmann 2007: 413.

Politikberatung durch Think Tanks | 101

Think Tanks auf. Diese liegen in der Schaffung politikrelevanter Ideen und Informationen (Produktion), der Verbreitung politikrelevanter Ideen und Informationen (Diffusion), der Allokation und Netzwerkfunktion (Networking) und der Rekrutierung und dem Transfer politikrelevanter Eliten (Transformation).436 In einem Analyseraster verbindet Heisterkamp diese vier Funktionen mit der in den Politikwissenschaften verbreiteten Aufteilung des Politikbegriffs in die drei Ebenen Polity, Politics und Policy und sortiert die Aktivitäten der parteinahen Stiftungen entsprechend, wobei auf der Policy-Ebene gemäß Heisterkamp „die am weitesten verbreitete, klassische Form politischer Beratung“ stattfindet.437 Für die vorliegende Arbeit sei jedoch angemerkt, dass bei der Förderung politischer Partizipation auch die beiden anderen relevant sind. Politikberatung innerhalb der Polity-Ebene umfasst „Aspekte der politischen Ordnung und Strukturgestaltung“, beispielsweise bei Verfassungs- oder Wahlrechtsreformen.438 Die Politics-Dimension hat die prozessualen Aspekte von Politik zum Gegenstand, in erster Linie die Willens- und Entscheidungsbildungsprozesse der Menschen, die partizipieren. Hier können Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying zivilgesellschaftlicher Akteure die Formen der Durchsetzung von Interessen beeinflussen. Die Policy-Dimension schließlich kennzeichnet die Inhalte, die vor allem bei der Formulierung und Implementierung bestimmter Politiken zum Tragen kommen. Stiftungen können hier ihre Möglichkeiten zu Themensetzung in der Öffentlichkeit nutzen, um Druck auf die Parteien und Regierung auszuüben. Carolin Welzel, die in einem Beitrag aus dem Jahr 2006 das zunehmende Engagement von Stiftungen im Bereich der Politikberatung anhand mehrerer operativer Stiftungen mit einem Stiftungsvermögen von über einer Million Euro in den Blick nimmt, bildet, ebenfalls auf der Grundlage der vier Kernfunktionen von Think Tanks, ein konkretes Aufgabenprofil politikberatender Stiftungen.439 Sie schlägt folgende Rollen vor: – Forschung zu politischen Problemstellungen, die sich im Rahmen des gewählten Themenfeldes der Stiftung ergeben, den Universitäten nicht unähnlich, – Verbreitung der Forschungsergebnisse allerdings in prägnanterer, anwendungsorientierter Form, als dies bei Universitäten der Fall ist, und verschiedene Forschungsquellen kompilierend, – Analyse und Generierung von Problemstellung in Form von Agenda-Setting, – Artikulation einer bestimmten Position in der Öffentlichkeit, – Vermittlung zwischen offizieller politischer Sphäre und anderen gesellschaftlichen Akteuren, auch der breiten Öffentlichkeit, – Ratgeber für die offizielle Politik zu aktuellen Fragestellungen,

|| 436 Die Beschreibung entstammt der amerikanischen Think-Tank-Forschung und wurde in Deutschland durch Winand Gellner eingeführt, vgl. Gellner 1991. 437 Heisterkamp 2014: 139. 438 Heisterkamp 2014: 139. 439 Welzel 2006: 278.

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– – –

Beratung hinsichtlich geplanter oder existierender Regierungsvorhaben, Etablierung von Netzwerken, die ein Forum der Debatte für zentrale Anspruchsgruppen der jeweiligen Problemfelder bieten, Bereitstellung von politischem oder administrativem Personal bzw. Auffangbecken für ehemalige Akteure aus Politik und Verwaltung.

Als stiftungsspezifisch fügt sie zwei hinzu: – die Implementierung von Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen, kommunizierenden, netzwerkenden Arbeit im Rahmen von Modellprojekten mit dem Ziel des Roll outs in die Fläche, – Evaluation der Ergebnisse und Justierung der Vorschläge auf Basis der Evaluationsergebnisse.440 Der Welzelʼsche Katalog der Stiftungsaufgaben stellt zwar eine ältere Rollenbeschreibung dar, bietet aber eine hilfreiche Grundlage für die Aufgabenzuordnung innerhalb der Typologie dieser Untersuchung und findet sich dort modifiziert wieder.

4.4 Das Strukturmodell: Vier Typen des Förderansatzes Die Sichtung der Dokumente bestätigte die Partizipationsförderung durch Stiftungen in diesen Bereichen, zeigte jedoch auch eine große Vielfalt der Gestaltung der Formate und ihrer Umsetzung. Deshalb soll nun eine strukturierende Typologie vorgestellt werden. Methodisch bietet eine Typologie den Vorteil, dass der Untersuchungsbereich durch eine (vorrangig deskriptive) Ordnung und Strukturierung wesentlich überschaubarer gestaltet werden [kann], indem einerseits eine Vielzahl von Elementen in wenige Gruppen geordnet wird und andererseits komplexe Zusammenhänge adäquat reduziert werden können.441

Zum anderen dient die Typologie aber auch heuristischen Zwecken, da sie auf „regelmäßige Beziehungen“ und „Sinnzusammenhänge“ verweisen kann, die den Merkmalskombinationen der Kategorien zugrunde liegen, und „dadurch zur Hypothesenund Theorienbildung anregen“.442 Mit Bezug auf die von Max Weber eingeführte Differenzierung zwischen Ideal- und Realtypus werden die Typen zunächst als Idealtypen beschrieben, die eine Abstraktion real vorfindbarer Merkmale darstellen.443 So wurde eine Struktur der Förderbereiche politischer Bildung erstellt, die in ihrer

|| 440 Welzel 2006: 279. 441 Kluge 1999: 51. 442 Kluge 1999: 51. 443 Weber 1922.

Das Strukturmodell: Vier Typen des Förderansatzes | 103

Schwerpunktsetzung zwei Komplexe bilden, die sich wiederum in zwei Themenstränge aufteilen lassen, wie die folgende Grafik zeigt. Die untersuchten Stiftungen stellen in ihrer Einteilung dann Realtypen dar, bei denen sich einzelne Bereiche überschneiden können.

Förderbereiche politischer Partizipation Bürgerkompetenz

Wissensvermittlung (szientiv)

Politische Gelegenheitsstruktur FähigkeitenVermittlung (potestativ)

Öffentlichkeiten / Netzwerke (agorativ)

Vertretung (advokativ)

Abbildung 1: Förderbereiche politische Partizipation (eigene Darstellung)

Politische Partizipationsförderung von Stiftungen wurde bereits definiert als die Unterstützung jener Verhaltensweisen, die Bürger unternehmen, um Einfluss auf die politischen Entscheidungen des Systems zu nehmen. Die Art des Einflusses kann verfasster oder unverfasster Form sein. Als verfasst gelten institutionell klar definierte Formen, als unverfasst eher spontane Mobilisierungsprozess.444 Die Unterstützung kann sich sowohl auf die Angehörigen des politischen Systems als auch auf den Zugang zur politischen Infrastruktur erstrecken und dort auf allen Ebenen des politischen Systems ansetzen, also etwa der Gemeinde, des Landes, des Bundes oder der Europäischen Union. Somit unterscheide ich die Aktivitäten von Stiftungen im Bereich der Partizipationsförderung zwischen der Förderung von Bürgerkompetenz auf der einen und Hilfe bei dem Aufbau von Gelegenheitsstrukturen für Partizipation auf der anderen Seite. Ziviler Ungehorsam und politische Gewalt gegen Personen und Sachen, die in Begriffsdefinitionen von politischer Partizipation oft mit eingeschlossen werden, sollen unberücksichtigt bleiben, in der Annahme, dass sie nicht unter den Gemeinnützigkeitsbegriff und damit aus dem Aktionsradius der Stiftungen fallen.445 1. Unter Bürgerkompetenz werden hier alle kognitiven, moralischen, sozialen Fähigkeiten gefasst, die es Angehörigen des politischen Systems erleichtern, sich politisch zu beteiligen. Ihre Stärkung kann sowohl in der Vermittlung von Fach-

|| 444 Kaase 2000: 474. 445 Obwohl dies bei Stiftungsgründungen extremistischer Bürgerbewegungen vielleicht auch nicht ausgeschlossen werden kann, hier ist mir aber keine bekannt.

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2.

wissen um die politischen Prozesse und das demokratische System mit seinen Vor- und Nachteilen als auch in der Handlungs- und Engagementförderung und dem Training „vorpolitischer“ Fähigkeiten wie der fairen Urteilsfähigkeit, des Argumentierens und des selbstbewussten Auftretens liegen. Die Bürgerkompetenz bildet eine Schlüsselkategorie im Diskurs um demokratische Beteiligung und ist eng verzahnt mit dem Bereich politischer Bildung, da sich darunter die Vermittlung derjenigen Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung von politischen Handlungsanforderungen subsumieren lassen, die die Autonomie zu rationalem, abwägendem (Wahl-)Verhalten fördern. Mit Gelegenheitsstruktur zur Partizipation sind externe Rahmenbedingungen gemeint, die die Zugangsmöglichkeiten zu den politischen Entscheidungsstrukturen abbilden, und zwar sowohl deren institutionalisierte Formen, wie etwa die Ausgestaltung des Wahlrechts, als auch deren informellere Möglichkeiten der Beteiligung und des Protestes. Die strukturellen Charakteristika des politischen Systems formen die Möglichkeit des politischen Handelns und auch die Bedeutung, die dem politisch partizipativem Handeln der Bürger darin zukommt.446 Die politikwissenschaftliche Forschung geht dabei von der These aus, dass „der Umfang der Gelegenheitsstrukturen sich positiv auf die politische Handlungsbereitschaft und auf das tatsächliche politische Handeln auswirke“.447

Stärker als bei den individuellen Voraussetzungen der Bürgerkompetenz stehen hier Orte und Zugänge der Willensbildung im Vordergrund – Orte deshalb, weil es für die Aushandlungsprozesse bei der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen Plattformen und Öffentlichkeiten geben muss, auf bzw. in denen verhandelt wird. Diese finden in modernen liberalen Demokratien zumeist medienvermittelt statt. Stiftungen können selbst Orte der Öffentlichkeit sein oder diese durch Veranstaltungen schaffen, sie können aber auch Zugänge bereits bestehender Öffentlichkeiten, beispielsweise durch mediales Agenda-Setting, eröffnen. Stifterische Aktionen, die sich um die Etablierung von Netzwerk- und Öffentlichkeitsstrukturen im Sinne von Aushandlungsplätzen drehen, fallen in diesen Bereich. Die Förderung solcher Gelegenheitsstrukturen kann aber auch in dem Versuch der Einflussnahme auf gesetzgeberische Prozesse – etwa einer Wahlrechtsreform zur Herabsetzung des Wahlalters – durch Politikberatung, in der Implementierung neuer Beteiligungsformate oder auch der Schaffung eines niedrigschwelligen Zugangs für bestimmte Gruppen liegen. Zu Letzterem zählt auch die Bereitstellung von Gelegenheiten für eine aktive Vertretung bestimmter Gruppen. Da die Projekte so unterschiedliche Aspekte betreffen und so unterschiedliche Adressaten haben, erscheint es sinnvoll, neben der Typenbildung drei Handlungs-

|| 446 Steinbrecher 2009. 447 Steinbrecher 2009: 21.

Das Strukturmodell: Vier Typen des Förderansatzes | 105

ebenen einzuführen, die einer Makro-, einer Meso- und einer Mikroebene. Diese beziehen sich jeweils auf die Reichweite der von den Stiftungen initiierten Projekte, den Destinär, d. h. den primär adressierten Begünstigten der Förderung. Auf der Makroebene ist der Adressatenkreis sehr umfangreich und prinzipiell offen, die avisierte Veränderung zielt auf gesellschaftliche Strukturen. Bei der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse etwa ist von der ganzen Gesellschaft als Zielgruppe auszugehen. Darunter befindet sich die Mesoebene, die sich auf soziale Organisationen und Gruppen formeller wie informeller Art bezieht und auf der die Förderung aufgrund eines bestimmten Gruppenmerkmals stattfindet. Bezieht sich die Projektförderung also etwa auf Klassenverbände oder Flüchtlinge, ist dies der Fall. Die Mikroebene als unterste Ebene bezieht sich auf einzelne natürliche Personen, beispielsweise bei der Vergabe von Stipendien, individueller Nachhilfe oder der Weiterbildung in Kursen. Die einzelnen Fördertypen und ihre Merkmale werden im Weiteren ausgeführt.

4.4.1 Der szientive Fördertyp (Bürgerkompetenz) Der erste Typus von Förderansatz, den Stiftungen verfolgen können, um gesellschaftlich politische Partizipation zu unterstützen, bezieht sich auf politisches Fachwissen. Die mobilisierenden Maßnahmen der Stiftungen hierzu können sowohl in der epistemischen Produktion von (Fach-)Wissen, und zwar im Wissenschafts- wie im Bildungsbereich, als auch bei dessen Verbreitung und Vermittlung an verschiedene Adressatenkreise liegen. Dieser Förderbereich wird als szientiver Fördertyp (von lat. scientia, das Wissen) bezeichnet.448 Als Ausgangpunkt kann eine Stiftung beispielsweise aufgrund von Umfragen der Meinung sein, es fehle der Bevölkerung an konkretem Wissen um das politische System. So konnten im Jahr 2000 53 Prozent der Westdeutschen und 30 Prozent der Bürger aus den neuen Bundesländern nicht angeben, was unter dem Begriff der Gewaltenteilung zu verstehen ist. Beim Begriff Föderalismus wussten 1994 59 Prozent der Bürgern nicht, was er bedeutet; vom Rest machten 14 Prozent falsche Angaben.449 Der Anteil derer, die wissen, dass die Stärke der Parteien im Bundestag durch die Zweitstimme der Wähler festgelegt wird, sank (!) zwischen 1980 und 1994 unter den Westdeutschen sogar von 54 Prozent auf 27 Prozent, unter den Ostdeutschen zwischen 1990 und 1994 von 22 Prozent auf 12 Prozent, wobei 1994 der Anteil derer, die hierzu überhaupt nichts zu sagen wussten, im Westen bei 17 Prozent und im Osten bei 31 Prozent lag.450

|| 448 Ich möchte mich mit dieser Benennung aber nicht der philosophisch-wissenschaftstheoretischen Richtung des sogenannten Szientismus anschließen. 449 Patzelt 2005. 450 Patzelt 2005: 30.

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Eine Fördermaßnahme zur Abhilfe derartiger Bildungslücken kann dann in der Vermittlung dieses Wissens an Betroffene liegen, entweder durch Kooperationen der Stiftungen mit Trägern der schulischen und außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit oder durch eigene Lehrangebote in der Erwachsenenbildung. Auch die populärwissenschaftliche, mediale Aufbereitung und Verbreitung politischer Sachverhalte fällt in diesen Bereich. Als erste Ausprägung des szientiven Typs werden zuerst die Vermittlung von Wissen der politischen Bildung mittels eigener Lehrveranstaltungen oder in Kooperation und die Vermittlung von Wissen der politischen Bildung mit Publikationen oder Methodentraining aufgenommen. Die Stiftungen adressieren mit ihren Publikationen ein breites, prinzipiell offenes Publikum, mit ihren Lehrveranstaltungen aber auch kleinere Gruppen. Deshalb zielen die Maßnahmen auf die Makro- oder Mesoebene. Oft scheint eine fehlende Beteiligung auf die Komplexität eines politischen Vorgangs oder Themas zurückzuführen zu sein. Hier sind grundlegendere Verständniszusammenhänge zu vermitteln, entweder durch unterstützendes Training zur Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten oder mittels Reduzierung der Komplexität zum vereinfachten Verständnis. Damit löst sich die direkte Anbindung der Fördermaßnahmen an Beteiligungswissen auf und geht in ein allgemeineres Bildungs- oder Sozialangebot über. Stiftungen fokussieren sich in diesem Ansatz darauf, Jugendliche und Erwachsene mit den zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendigen kognitiven Voraussetzungen auszustatten. Für den – dennoch überwiegend staatlich dominierten – Bildungsbereich, in dem 37 Prozent der deutschen Stiftungen ihren Hauptförderzweck verorten, bedeutet dies, dass sich Stiftungen dort neben ihrer Tätigkeit als Geldgeber und Bildungsträger zunehmend auch inhaltlich mit Programmen zu neuen Lehrmethoden, verbessertem Berufsübergang oder allgemeiner Chancengleichheit engagieren.451 Das Ineinandergreifen von politischer und sozialer Bildungsarbeit zeigt sich beispielsweise in der Initiative jungbewegt der Bertelsmann Stiftung, die in mehreren Einzelprojekten mal stärker das demokratische Moment und mal stärker das soziale Engagement der Jugendlichen als Ziel betont. Auf der Homepage der Stiftung wird der Zusammenhang von sozialem und politischem Engagement wie folgt beschrieben: Auch Kinder und Jugendliche möchten sich für einen guten Zweck engagieren und ihr Lebensumfeld mitgestalten. Doch häufig fehlen entsprechende Angebote. Dabei entstehen durch freiwillige Beteiligung nicht nur sinnvolle Projekte, sondern sie fördert auch soziale Kompetenz, Verantwortungsgefühl und ein Verständnis für demokratische Zusammenhänge.452

Die Initiative der Stiftung setzt im Vorschulalter an und hat somit neben Schulen auch Kitas und außerschulische Bildungseinrichtungen der Jungendarbeit als Pro-

|| 451 Anheier et al. 2017b. 452 Bertelsmann Stiftung 2015.

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jektpartner im Auge. Sie entwickelt Unterrichtsmaterialien und Didaktikkonzepte, bietet aber auch Fortbildungen für Lehrer und Erzieher an. Die Materialien, die „mit Hilfe von Wissenschaftlern erarbeitet und erprobt wurden“, wie beispielsweise die Reihe der Mitmachhefte, können kostenlos auf der Internetseite der Initiative heruntergeladen oder in gedruckter Form bestellt werden.453 Die Initiative jungbewegt wird auch bei den anschließenden Förderbereichen weiter als Beispiel dienen, denn sie verdeutlicht gut den Mehrebenen-Ansatz der Bertelsmann Stiftung und die enge Zusammenarbeit von privater Stiftung und öffentlichem Sektor. Für die außerschulische Jugendarbeit stellt die jungbewegt-Initiative Materialien zur Verfügung, die neben Evaluationshilfen zum einen „Methoden zur Durchführung von Beteiligungsprojekten“, zum anderen „Methoden zur Entwicklung kommunaler Strukturen für die (partizipative S.H.) Jugendarbeit“ umfassen.454 Beide beruhen auf Publikationen der Bertelsmann Stiftung, nämlich Eine Stadt für uns alle – Handbuch zur Entwicklung kommunaler Strukturen für die Jugendbeteiligung (2008) und Mitwirkung (er)leben – Handbuch zur Durchführung von Beteiligungsprojekten mit Kindern und Jugendlichen (2008). Zu letzten bemerkt Liebel in einer Rezension allerdings kritisch: „Abgesehen von vielen hilfreichen praktischen Hinweisen, ist das Handbuch von den ideologiekritischen Maximen sozialwissenschaftlicher Partizipationsforschung und vom Stand der internationalen Fachdiskussion zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen weit entfernt.“455 Als Ausprägung des szientiven Typs soll deshalb auch die Entwicklung eigener Didaktikformate und Lehrmaterialien der politischen Bildung und die gruppengerechte Aufbereitung von Wissen, Popularisierung von Forschung der politischen Bildung aufgenommen werden. Der Adressatenkreis der anvisierten Destinäre ist prinzipiell offen, richtet sich jedoch manchmal auch an spezielle Gruppen und tangiert damit die Makro- oder Mesoebene. In der Reihe der Mitmachhefte finden sich zwei Arbeitshilfen, Wegweiser Internet Sekundarstufe I und II, die den Blick auf den Punkt der Medienpädagogik lenken. Detjen et al. haben auf den Zusammenhang von Mediennutzungswissen und demokratischer Kompetenz hingewiesen.456 Politik wird in modernen Demokratien zum größten Teil massenmedial vermittelt, und auch im Zusammenhang mit neuen Beteiligungsformaten nimmt die Onlinevermittlung einen prominenten Platz ein.457 Der Politikunterricht habe die Aufgabe, den kritischen Umgang mit Massenmedien zu vermitteln und die dort verhandelten politischen Probleme zu analysieren, dies gelte auch für die Onlinekommunikation.458 Wenn eine Stiftung wie die Bertelsmann Stiftung auf || 453 Bertelsmann Stiftung 2017. 454 Bertelsmann Stiftung 2015. 455 Liebel 2008: 1. 456 Detjen et al. 2012. 457 Schweiger/Beck 2010, Sarcinelli 2011, Vowe 2013. 458 Detjen et al. 2012.

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diesem Feld aktiv wird, bleibt zu diskutieren, ob ihre Nähe zum Medienunternehmen Bertelsmann nicht Interessenkonflikte aufwirft. Generell können Stiftungen als Förderansatz aber durch Medienbildung auch Demokratiebildung betreiben. Die enormen Entwicklungen im Bereich der Onlinekommunikation und die zunehmende Verlagerung von Informationsinhalten in web-basierte Formate haben auch Auswirkungen auf ein klassisches Aktionsfeld von Stiftungen, das der (Präsenz-)Bereitstellung von Information in öffentlich zugänglichen Bibliotheken.459 Die Einrichtungen und Finanzierungen von Stadt-, Universitäts- oder Wanderbibliotheken oder auch die Kostenübernahme von Zeitungsabonnements, Journals oder Lexika für Bildungseinrichtungen fallen in diesen Bereich. Da sich die Art der Informationssuche vieler Rezipienten rapide verändert, reagieren auch Stiftungen zunehmend mit der Digitalisierung ihrer Inhalte und der Förderung von Projekten im Bereich des digitalen Wandels. Die Verbund-Initiative Forum Bildung Digitalisierung, die von einigen großen deutschen Stiftungen unterstützt wird, sucht beispielsweise in Dialogforen und sogenannten Entwicklungsworkshops in der Schule Fortschritte zu erzielen bei Themen wie „computer- und informationsbezogenen Kompetenzen ebenso wie eines Verständnisses von Funktionsweisen und Wirkprinzipien, das Lernen mit digitalen Medien, […], und das kreative Gestalten von und mit digitalen Medien“.460 Auch die Finanzierung von Zugangsmöglichkeiten, etwa durch die Ausstattung von Schulen oder Jugendzentren mit PCs und EDV, findet noch statt461 und wird öffentlichkeitswirksam thematisch besetzt und gefordert.462 Da mittlerweile knapp 90 Prozent der deutschen Bevölkerung über einen Internetanschluss verfügen und der Anteil der Internetnutzer unter den 18- bis 24-Jährigen bei rund 99 Prozent liegt, stellt der Zugang zum Internet kaum noch einen Exklusionsgrund dar. Somit dürfte in Zukunft eher die Medienkompetenz im Vordergrund stehen als die Zugangshilfe.463 Als weitere Ausprägung wird in der Tabelle die Bereitstellung von Wissen der politischen Bildung online und offline hinzugefügt. Diese Maßnahmen richten sich an einen weiten Adressatenkreis und zielen auf die Makroebene.

|| 459 Vorreiter ist auch hier die USA, prominente Beispiele gestifteter Bibliotheken gibt es dort beispielsweise in Yale. 460 http://www.forumbd.de/initiative/#c1412. [02.03.2017]. An der Initiative sind beteiligt: die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung und die Stiftung Mercator. 461 http://dietmar-hopp-stiftung.de/bildung/neue-medien-fuer-zeitgemaesses-lernen [02.03.2017]. 462 Bertelsmann Stiftung 2016. 463 Laut ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation gab es im Jahr 2014 in Deutschland rund 56 Millionen Internetnutzer.http://www.ard-werbung.de/media-perspektiven/projekte/ardzdfstudie-massenkommunikation/, [10.10.2017] Die Daten stammen vom Statistischen Bundesamt: online über:https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsum Lebensbedingungen/AusstattungGebrauchsguetern/Tabellen/Infotechnik_D.html [19.10.2017].

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Die kritische Haltung des Rezensenten Liebel hinsichtlich der wissenschaftlichen Qualität der stiftungsgeförderten Studie, ebenso wie die konsequente Betonung und Rückversicherung der Stiftungen, ihre Projekte mithilfe wissenschaftlicher Expertise durchzuführen, verweisen auf den engen Zusammenhang von Stiftungen mit Wissenschaft und Forschung. Neben der Finanzierung der didaktischen Vermittlung von Wissen können Stiftungen auch als Mobilisierungsakteure dort auftreten, wo sie die Herstellung von Wissen finanzieren, also der wissenschaftlichen Forschung über politische Sachverhalte dienen. Dies kann sowohl die Erstellung von Studien durch eigene Mitarbeiter oder die Synthese und Aufbereitung bereits vorhandener Forschung beinhalten als auch die Förderung fremder wissenschaftlicher Projekte. Für die Untersuchung umfasst das diejenige Forschung, die sich mit Partizipationsfragen auseinandersetzt. Stiftungen betätigen sich auch in der Umfrageforschung, beispielsweise in Erhebungen zu Gründen von Politikverdrossenheit oder politischem Engagement.464 Da die untersuchten Stiftungen keine reinen Wissenschaftsinstitutionen sind, liegt es nahe, dass ihre vorrangige Aufgabe darin liegt, wissenschaftliche Erkenntnisse in ihren Themenschwerpunkten zu sammeln und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.465 Neben der Aufgabe, das vorhandene und zunächst vielleicht nur an einen kleinen Adressatenkreis von Fachleuten gerichtete Wissen in einer für unterschiedliche Rezipienten besser verständlichen und schneller zugänglichen Form neu aufzubereiten, kann dabei ihre Arbeit auch darin bestehen, das Monitoring externer Forschung zu übernehmen und in Metastudien oder Zusammenfassungen zu überführen oder deren Analyse von externen Experten durchführen zu lassen. In einem von Heisterkamp geführten Interview beschreibt ein Mitarbeiter der FES deren wissenschaftsfördernde Praxis wie folgt: […] 90 Prozent dessen, was bei uns gemacht wird, ist das Management von Forschung, d. h. wir vergeben Forschungsaufträge nach außen, nehmen die Ergebnisse, verpacken sie vielleicht nochmal ein bisschen neu, und dann transportieren wir sie weiter. […] [Unser Mitarbeiter] muss vor allem Diskurskompetenz haben, d. h. er muss wissen, welche Positionen werden in diesem Gebiet von welchen Leuten vertreten. […] Das ist aber zu unterscheiden von einer Fachkompetenz im engeren Sinne, die die eigentlichen Experten mitbringen. […] In diesem Sinne gibt es Forschung an verschiedenen Stellen in der Stiftung.466

Sowohl die Bertelsmann Stiftung als auch FES und Stiftung Mitarbeit finanzieren eigene wissenschaftliche Reihen und Periodika, die parallel zu Einzelveröffentlichungen für einen längeren Zeitraum konzipiert sind, beispielsweise Neue Gesell-

|| 464 Friedrich-Ebert-Stiftung 2013. 465 Es gibt Stiftungen, bei denen das der Fall ist, beispielsweise Stiftungsuniversitäten. Der Bundesverband zählte Anfang 2008 18 Hochschulen und private Lehranstalten in Trägerschaft von Stiftungen. Vgl. Speth 2010: 396. 466 Heisterkamp 2014: 206.

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schaft/Frankfurter Hefte (FES), Einwurf oder Spotlight Europe (BS) oder die Fachbuchreihe Beiträge zur Demokratieentwicklung von unten (SM). Neben dem bereits notierten Merkmal der Popularisierung von Forschung der politischen Bildung zählen die Förderung eigener wissenschaftlicher Forschung zu Partizipationsfragen und die Förderung externer wissenschaftlicher Forschung zu Partizipation ebenfalls zu den Ausprägungen des szientiven Typs. Auch hier ist der Adressatenkreis umfangreich, prinzipiell offen und zielt auf die Makroebene. Somit ergibt sich Tabelle 1 eines szientiven Förderansatzes, die die im Detail vorgestellten Ausprägungen zusammenfassend auflistet: Tabelle 1: Szientiver Fördertyp (eigene Darstellung).

Der szientive Fördertyp eigene wissenschaftliche Forschung zu Partizipationsfragen

Makro

Förderung externer wissenschaftlicher Forschung zu Partizipationsfragen

Makro

Bereitstellung von Wissen der politischen Bildung online und offline

Makro

Vermittlung von Wissen der politischen Bildung mittels eigener Lehrveranstaltungen oder in Kooperation

Mikro, Meso

Entwicklung eigener Didaktikformate und Lehrmaterialien

Makro

gruppengerechte Aufbereitung von Wissen, Popularisierung von Forschung der politischen Bildung

Mikro, Meso

Vermittlung von Wissen der politischen Bildung mit Publikationen/Methodentraining

Mikro, Meso

4.4.2 Der potestative Fördertyp (Bürgerkompetenz) Wie in Abschnitt 4.2. beschrieben, besteht der Partizipationsfaktor Bildung nicht allein aus der Vermittlung von (Fach-)Wissen, vielmehr gehören dazu noch drei weitere Kompetenzdimensionen: die Ausbildung bestimmter kognitiver, habitueller und sozialer Fähigkeiten. Alle sind Bestandteil politischer Bildung und können damit ebenfalls Ansatzpunkte stifterischen Wirkens sein. Diesen Typ des Förderansatzes möchte ich im Folgenden als potestativen Typ (von lat. potestas, Macht, Ermächtigung, Gele-

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genheit) bezeichnen.467 Unter ihm subsumieren sich sowohl Maßnahmen zur Förderung des Sprachverständnisses und artikulatorischen Ausdruckvermögens sowie sozial-expressiver und kooperativer Kompetenzen als auch zur Entwicklung von persönlichen Stärken wie Selbstvertrauen und Selbstvermögen einschließlich der Stabilisierung von Responsivitätsvertrauen. All diese Faktoren erleichtern dem Individuum die politische Beteiligung, da sie ihm helfen, sich Informationen anzueignen und zu verarbeiten, sich mit politischen Sachverhalten auseinanderzusetzen und eigene Entscheidungen zu treffen. Er umfasst also jene stifterischen Strategien und Maßnahmen, die den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung der Destinäre erhöhen und es ihnen ermöglichen, ihre Interessen (wieder) eigenmächtig und selbstbestimmt zu vertreten sowie ihr Gefühl (von Selbstwirksamkeit) der Einflussmöglichkeit zu stärken. Der potestative Typ knüpft an den englischen Begriff des Empowerments an. Dieser lässt sich ins Deutsche mit Ermächtigung übersetzen und kommt ursprünglich aus dem Bereich der Sozialpädagogik, wo Empowerment mit dem Ziel verbunden ist, Menschen mit Behinderung zu einer besseren Integration und Selbstbestimmung in ihrem Berufsleben zu verhelfen.468 Der Begriff verbreitete sich, fand Eingang sowohl in die ökonomische Terminologie, wo er betriebliche Mitbestimmungsmöglichkeiten beschreibt, als auch in den politikwissenschaftlichen Diskurs, in dem er vor allem für die selbstbestimmte (politische) Interessenvertretung verwendet wird. Mittlerweile findet er sich auch zunehmend in Feuilletons und Sonntagsreden; in seiner Begriffsbestimmung bleibt er dabei fokussiert auf marginalisierte Gruppen. Als Typbezeichnung wurde er hier nicht übernommen, da er zu unbestimmt ist und sich einige seiner Merkmale mit Merkmalen mehrerer meiner Klassifikation überschneiden. Mit potestativer Absicht helfen Stiftungen den Destinären bei der Ausbildung bestimmter (kognitiver, habitueller und sozialer) Fähigkeiten, die als hinreichende Voraussetzung für politische Partizipation gelten. Die Ausbildung partizipationsrelevanter Fähigkeiten ist Bestandteil vieler Konzepte politischer Bildung. Die (schulische)Vermittlung des aufs Innere bezogenen Urteilens und des aufs Äußere bezogenen Handelns lässt sich auch in Bezug auf die Erwachsenenbildung generalisieren.469 Das Ziel ist, Bürger in die Lage zu versetzen, die angebotenen Argumente im politischen Aushandlungsprozess zu beurteilen und eigene abgeben zu können. Sie sollten darüber hinaus fähig sein, ihre Interessen und Ideen zu artikulieren und zu vertreten (argumentieren), und die Regeln des Verhandelns in der pluralistischen Demokratie kennen und beherrschen. Insbesondere vor dem Hintergrund neuer delibe|| 467 Es wurde bewusst potestats statt facultas verwendet, in der Konnotation des stehenden Begriffes der potestas populi, der Macht des Volkes in der römischen Antike. 468 Wagner stellt zwei verschiedene Begriffsauffassungen gegenüber: eine, die die aktive Seite der Selbstermächtigung, und eine, die die eher passive Seite der Hilfestellung von außen betont. Siehe Wagner 2001. 469 Detjen et al. 2012.

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rativ verfasster Beteiligungsformate geraten artikulatorische und sprachliche Fähigkeiten verstärkt in den Fokus von Beteiligungs(un-)gerechtigkeit. „Viele Formen politischer Beteiligung aus dem Raum der Zivilgesellschaft heraus, beispielsweise in Form eines Appells oder eines Manifestes (Klatt/Lorenz 2011), basieren auf der Fähigkeit, sich gut ausdrücken zu können […]“470 Stiftungen können diese Fähigkeiten vermitteln, indem sie beispielsweise Seminare für Rhetoriktraining anbieten. So hat die Stiftung Mitarbeit seit mehreren Jahren das Seminar Nicht immer einer Meinung!? Konfliktmanagement in Beteiligungs- und Kooperationsprozessen in ihrem Programm, und das Landesbüro Sachsen der FES bietet zum Beispiel das Lernmodul Kompetenzen für den politischen Alltag an.471 Darüber hinaus kann ein Ansatz der Stiftungen in der Organisation von Planspielen bestehen, in denen die Spielregeln der Demokratie geübt werden können, indem mithilfe kontroverser Debatten mit divergierenden Interessen und Meinungen in wechselnden Rollen sowohl die Vertretung eigener politischer Ziele als auch die Akzeptanz gegnerischer Positionen durchgespielt werden können. In diesen Aushandlungsszenarien werden auch sozial-kooperative Fähigkeiten erlernt und gestärkt. Zudem können dort verschiedene institutionelle Settings nachgeahmt und im praktischen Nachvollzug erklärt und nahegebracht werden. Als Merkmal des potestativen Ansatzes kann somit die Ausbildung partizipationsrelevanter Kompetenzen (Urteilsfähigkeit und Responsivitätsvertrauen und sozial-kooperative Fähigkeiten) aufgenommen werden. Außerdem kann eine Stiftung auch die Implementierung eigener Modellprojekte oder die Übungs-Simulation ‚politischer‘ Situationen und Methodentraining organisieren. Solche Maßnahmen zielen dann in erster Linie auf einzelne Gruppen oder Individuen, also auf die Meso- oder Mikroebene. Was im Spiel nur schwer vermittelt werden kann, da es keine realen politischen Auswirkungen hat, ist die Stärkung des politischen Responsivitätsglaubens. Damit ist die individuelle Überzeugung gemeint, tatsächlich auch politischen Einfluss ausüben zu können. Die oft zitierte Politikverdrossenheit umschreibt das Fehlen dieser Überzeugung.472 Responsivität betrifft dabei sowohl Regierung als auch Bürger; im Idealfall findet ein stetiger Austausch zwischen beiden statt und kann als Responsivitätsdependenz beschrieben werden. Sie umfasst somit die positive Einschätzung der Responsivität des politischen Systems, etwa durch geeignete Parteien und Wahlprogramme für die eigenen Interessen, und den Glauben an die Einflussmöglichkeiten über die eigene Wählerstimme. Nach wie vor stellt die Wahl (oder Abwahl) der Parteien die wesentliche Institution zur Responsivität dar.473 Aber auch medialer, öffentlicher Druck und die Einbeziehung direktdemokratischer Einreichungen und neuer Beteiligungsformate – wie beispielsweise Demokratieaudits – können Respon-

|| 470 Klatt 2012: 9. 471 Das Seminar ist der Abteilung Politscher Dialog zugeordnet. 472 Pickel 2013. 473 Fuchs 2000.

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sivität erzeugen, wenn die staatlichen Gewalten der Exekutive und Legislative darauf reagieren. Die Ansatzpunkte der Stiftungen können also sowohl in einer Responsivitätsteigerung des politischen Systems liegen als auch in der Förderung des individuellen Vertrauens auf die eigene Beteiligung, wobei ich Erstere den agorativen (s.u.) und Letztere den potestativen Maßnahmen zuordne. Erfolge bei der Entwicklung individuellen Vertrauens können beispielsweise durch punktuelles, zeitlich begrenztes politisches Engagement in speziellen Projekten erzielt werden. Das Beteiligungsprojekt jugendforum rlp, ein Kooperationsprojekt der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz und der Bertelsmann Stiftung, führte zur Übergabe eines von Jugendlichen entworfenen Vorschlagskatalogs an die Landesregierung.474 Der Katalog wurde anschließend im Ministerrat behandelt und die Ministerien von der Landesregierung aufgefordert, dessen Umsetzungsmöglichkeiten zu prüfen. Etwa anderthalb Jahre später fand eine öffentliche Feedback-Veranstaltung der Landesregierung zum jugendforum rlp statt, bei der die Beteiligten die Umsetzung ihrer Projekte nachvollziehen konnten.475 In der Schule sollen politische Themen lebensnah und spannend vermittelt werden, da man sich davon eine höhere Involviertheit der Kinder mit den Sachverhalten verspricht. Ihr politisches Interesse soll so geweckt werden. Dies lässt sich auch auf die außerschulische Politikbildung übertragen. Zudem: Von besonderer Bedeutung ist das politische Interesse deshalb, weil es den Einfluss der formalen Bildung auf politische Partizipation – insbesondere die Wahlaktivität – moderiert. Bei Kontrolle des politischen Interesses verschwinden die bildungsbedingten Unterschiede in der Bevölkerung.476

Die Einstellung des Politikinteresses erfolgt stark durch interpersonelle Kommunikation, also durch Gespräche in der Familie, mit Freunden oder Kollegen. Der Austausch über Politik mit Personen des sozialen Umfeldes fördert den Vergleich und die Bestärkung der Meinungen untereinander.477 Damit gerät auch das soziale Umfeld als Mobilisierungsfaktor ins Blickfeld. Dies wird von soziostrukturellen Untersuchungen gestützt, die nicht einzelne individuelle Merkmale, sondern Bündel von Merkmalen eines Sozialkreises gruppieren und den positiven Zusammenhang eines bildungsnahen Umfeldes mit politischer Beteiligung darlegen.478 Die Wirkung von Bildung auf politische Aktivität hängt nicht mehr allein von einer wie auch immer absolvierten

|| 474 Unter dem Titel „Unsere Zukunft bestimmen wir – Jugendmanifest rlp“ wurden in den unterschiedlichen Phasen der Onlinediskussion etwa 6.000 verschiedene Besucherinnen und Besucher einmal oder mehrfach auf der Partizipationsplattform des Jugendforums registriert. Die Internetseite wurde laut Betreiber 133.000-mal aufgerufen. https://www.jugendforum.rlp.de/dito/explore? action=landingpage&id=25 [ 6.12.2016]. 475 Die Umfrage startete im Juni 2012, die Feedbackveranstaltung fand im Februar 2014 statt. 476 Seifert 2012: 49. 477 Voltmer/Schabedoth/Schrott 1995. 478 Etwa durch Neugebauer 2007 oder Geißler 2014.

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Verständnisleistung ab, sondern von der Integration der zu Beteiligenden in ein bestimmtes Milieu.479 Sozialstrukturanalysen politischer Milieus gehen davon aus, dass multivariante Merkmalskomplexe den Grad der Beteiligung erklären. Dies sind u. a. politische und normative Einstellungen zu Staat und Gesellschaft, etwa der Parteipräferenz, oder zu der eigenen Persönlichkeit in Kombination mit demografischen Kennziffern.480 Ob sich jemand zur Teilnahme an einem Bürgerforum entscheidet, hängt vielfach davon ab, dass er oder sie von Verwandten, Freunden oder Bekannten aus dem nahen Umfeld von dieser Initiative erfährt und dann auch mitgenommen, animiert, ermutigt und überzeugt wird, selbst aktiv zu werden.481

Die „Determination des Milieus“ scheint in ihrer Konsequenz die individuelle Beteiligungsförderung zu erschweren. Stiftungen können versuchen, durch Strukturmaßnahmen (wie etwa Stadtteilprojekte) Milieus bezüglich ihrer Bildungsnähe zu beeinflussen oder einzelne Personen durch Bildung von außen zu entfremden und ihrem Milieu oder Lebensstil zu entziehen. Allerdings ist in diesen Fällen der direkte Einfluss der Förderung auf mehr politische Beteiligung schwer rekonstruierbar und wird auch von den Stiftungen nicht explizit kommuniziert. Die Förderung kleiner Initiativen durch Preisverleihungen oder deren finanzielle und organisatorische Unterstützung sind weitere typische, traditionelle Aktivitätsfelder von Stiftungen. Die Ehrung des Engagements kann in diesem Zusammenhang bei den Destinären zu mehr Selbstvertrauen führen, dessen Mangel gerade Bewohnerinnen sozial benachteiligter Stadtteile oder Milieus oft vom politischen Engagement abhält. „Und in der Tat verhindert gerade das geringe Zutrauen in sich selbst, in die eigenen Fähigkeiten, dass sich diese Bürger dem Stand einer politischen Initiative zu nähern, geschweige denn selbst eine in die Wege zu leiten.“482 Hier können Stiftungen bereits Aktiven und Multiplikatoren die direkte Ansprache der Menschen vor Ort finanzieren und organisieren.483 Damit kann auch die Fähigkeit gefördert werden, Alliierte und Gleichgesinnte zu finden und gemeinsam eine Agenda zu bilden. Gerade Themensetzungen aus dem privaten Bereich, wie Abtreibung oder Arbeitslosigkeit, sind oft stigmatisiert und schambehaftet und werden deshalb oft nicht vertreten und bedürfen einer gezielten Unterstützung seitens der Stiftungen. Diese kann neben der Finanzierung auch in der Unterstützung beispielsweise durch eine Erfolgsevaluation liegen.

|| 479 Geißler 2014: 110. 480 Neugebauer 2007. 481 Klatt 2012: 16. 482 Klatt 2012: 9. 483 Der Begriff Multiplikator ist in diesem Sinne den Kommunikationswissenschaften entlehnt und meint Individuen mit einer besonders hohen Meinungsreichweite in ihrem Sozialraum.

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Diese Aktivitäten bezwecken die Ausbildung partizipationsrelevanter Kompetenzen (Selbstvertrauen, soziale Kooperation). Als weitere Kategorien des Typs werden zudem die Hilfestellung bei Evaluation und Veröffentlichung von (Fremd-)Projekten oder die Anschubfinanzierung/Anschlussfinanzierung (Fremd-)Projekte aufgenommen. Beide zielen sowohl auf die Meso- als auch auf die Mikroebene. Stiftungen können auch durch direkte Verteilung von Geldmitteln Hindernisse beseitigen, die einer individuellen Teilnahme an politischem Engagement entgegenstehen. Auch wenn ein solcher Zusammenhang nicht direkt ersichtlich ist – wählen gehen oder die Teilnahme an einer Petition ist schließlich kostenlos – kann die finanzielle Unterstützung bei Gebühren für Seminare, Fahrtkosten o. Ä. den Ausschlag geben. Deswegen kann auch die direkte Mittel Förderung (Übernahme Gebühren, Reisekosten etc.) ein Ansatz der potestativen Förderung sein. Dies spielt sich in erster Linie auf der individuellen Destinärs-, also der Mikroebene ab. Damit ergibt sich für den potestativen Fördertyp folgende tabellarische Aufstellung: Tabelle 2: Potestativer Fördertyp (eigene Darstellung).

Der potestative Fördertyp Ausbildung partizipationsrelevanter Kompetenz (artikulatorische und sprach- Mikro liche Fähigkeit/Urteilsfähigkeit und Responsivitätsvertrauen/sozial-kooperative Fähigkeiten) Simulation „politischer“ Situationen

Mikro, Meso

direkte Mittel-Förderung (Übernahme von Gebühren, Reisekosten etc.)

Mikro

Anschubfinanzierung oder Anschlussfinanzierung von (Fremd-)Projekten

Meso

Hilfestellung bei Evaluation und Veröffentlichung von (Fremd-)Projekten

Meso

Implementierung eigener Modellprojekte zur Kompetenzvermittlung

Mikro, Meso

4.4.3 Der agorative Fördertyp (Gelegenheitsstruktur) Um ein hohes Maß an Beteiligung zu generieren, bedürfen die zu Beteiligenden einer vielseitigen und ausreichenden politischen Gelegenheitsstruktur. Für die Aushandlungsprozesse bei der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen muss es Plattformen und Öffentlichkeiten geben, auf denen diese verhandelt werden können. Diese finden in modernen liberalen Demokratien zumeist medienvermittelt statt, und

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neben den stark institutionalisierten Formen der Wahl und der parlamentarischen Diskussion gibt es eine große Vielfalt an Möglichkeiten, Interessen zu bündeln, zu kommunizieren und durchzusetzen. Außer den Fähigkeiten zur Teilnahme und dem Wissen um die Regeln der Einflussmöglichkeiten sind also auch die Orte der Verhandlung und ihre Beschaffenheit weitere Voraussetzungen für eine gelungene Beteiligung. Stifterische Handlungsansätze, die sich um die Etablierung von Netzwerk- und Öffentlichkeitsstruktur im Auftrag von politischer Beteiligung drehen, sind agorative Förderansätze, in Anlehnung an die Vorstellung des antiken Marktplatzes, auf dem die Bürger ihre Geschicke verhandelt und diskutiert haben. In diesen Bereich fallen die Förderung, Entwicklung und Implementierung neuer Beteiligungsformate, beispielsweise direktdemokratische Entscheidungen der Bürgerschaft oder die Beteiligung an Mediationsverfahren. Des Weiteren zählen dazu ein infrastruktureller Ausbau zur Herstellung von Öffentlichkeiten, also Plattformen (Agoren), auf denen Bürger zusammenkommen und (politisch) sozial interagieren können, sowie zur Bildung von Netzwerken, innerhalb derer sich Interessen bündeln können. Stiftungen stellen Experten und Aktivisten mit ihren vorhandenen Ressourcen Plattformen zur Verfügung, die eine Vernetzung ermöglichen. Das seit mehreren Jahren laufende Netzwerktreffen des Netzwerks Bürgerbeteiligung – finanziell durch die Robert Bosch Stiftung und per Manpower durch das bei der Stiftung Mitarbeit angesiedelte Netzwerkmanagement unterstützt – bietet Aktivisten beispielsweise einen solchen Raum zur Diskussion. Grundgedanke der Veranstalter ist dass Netzwerker/innen aus den verschiedensten Kontexten und unterschiedlichen demokratischen Ebenen ins Gespräch kommen und zusammenarbeiten, dass sie sich austauschen, gemeinsam Ideen für notwendige Initiativen und Maßnahmen entwickeln und umsetzen.484

Erklärtes Ziel ist es, dadurch zu „einer politisch-strategischen Förderung der Bürgerbeteiligung zu gelangen“.485 Nach eigenen Angaben sind in dem Netzwerk rund 600 Aktivisten assoziiert. Beim Netzwerktreffen werden neben der Möglichkeit zum Austausch wissenschaftliche Vorträge und Arbeitsgruppen durchgeführt. 2016 waren dies etwa Arbeitsgruppen zu Themen wie Partizipation 2.0/4.0 – Kombination von Online und Face-to-Face oder Aktivierung von Bürgerinnen und Bürgern in Beteiligungsprozessen.486 Stiftungen können mit ihrem IT- bzw. Medien-Know-how auch Infrastrukturen mit aufbauen helfen, die eine breitere Masse an zu Beteiligende anspricht und für diese Öffentlichkeit konstituiert. Mit der Finanzierung lokaler oder kommunaler Projekte wie Bürgercafés oder Jugendtreffs können Orte entstehen, in denen soziale

|| 484 http://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/leitidee-netzwerkorganisation/ [22.11.2017]. 485 http://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/leitidee-netzwerkorganisation/ [22.11.2017]. 486 http://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/informieren-mitmachen/veranstaltungen/ netzwerktreffen/fuenftes-netzwerktreffen/ [22.11.2017].

Das Strukturmodell: Vier Typen des Förderansatzes | 117

Problemlagen besprochen, Gleichgesinnte gefunden und Initiativen gegründet werden können. Solche Orte können aber auch virtuell angelegt sein und Beteiligten einen Austausch online ermöglichen. Stiftungen können die Websites dazu erstellen, pflegen und deren Moderation finanzieren. Das „sagwas.net Online-Debattenportal zu Politik und Zeitgeschehen“ der FES ist Beispiel einer solchen Plattform. Die User können Veranstaltungen live per Stream mitverfolgen und kommentieren, im Anschluss an die Ausstrahlungen stehen die Live-Debatten als Video in der Mediathek zur Verfügung.487 Neben einzelnen Artikeln wird auf dem Portal mindestens zweimal im Monat eine Debatte mit drei Begleittexten veröffentlicht, die jeweils einen Artikel der Pro- und Contra-Position sowie einen thematischen Überblick über die wichtigsten Fakten und Argumente beinhalten. Die User haben die Möglichkeit, die Artikel direkt zu kommentieren und mit Autoren zu diskutieren. Zusätzlich zu der Homepage ist das Debattenportal auch über einen Facebook- und Twitter-Account und über YouTube zu erreichen. Die FES verweist auf die Notwendigkeit digitaler Foren, weil „Meinungsbildung heute vor allem virtuell stattfindet“, und wirbt mit folgenden Worten für sein Debattenportal: Ohne elektronische Partizipation und digitale Transparenz lassen sich Auseinandersetzungen um aktuelle Themen heute kaum noch führen. Dieser neuen Streitkultur wollen wir mit sagwas.net ein Forum geben.488

Als weitere Merkmale des agorativen Fördertyps können also die Bereitstellung von Diskussionsplattformen und der Aufbau von Netzwerken und Öffentlichkeiten aufgenommen werden. Je nachdem, mit welchen Medien und auf welchen Kanälen, zielen die Maßnahmen entweder auf die Meso- oder die Makroebene. Die Stiftung Bertelsmann bekennt sich offensiv zu ihrem Ziel, auch Einfluss auf die Struktur der administrativen Umsetzung und Zulassung von Beteiligungsverfahren nehmen zu wollen. Im Klappentext der Publikationen Bürger beteiligen! Strategien, Praxistipps und Erfolgsfaktoren für eine neue Beteiligungskultur in Behörden ist zu lesen: „Er [der Leitfaden S. H.] motiviert und unterstützt dabei, sich für die erfolgreiche Umsetzung einzelner Bürgerbeteiligungsprojekte zu qualifizieren und Strategien für eine langfristig angelegte Beteiligungskultur innerhalb der Verwaltung zu entwickeln“ und ist adressiert an „Praktiker und Entscheider aus Politik und Verwaltung“.489 Das bereits genannte jungbewegt-Projekt der Stiftung vereint in seiner Zielsetzung gleich mehrere Schritte der Mobilisierungsmöglichkeiten und verdeutlicht die vernetzte Zusammenarbeit der Stiftung mit staatlichen Behörden und Akteuren

|| 487 http://www.sagwas.net/sagwas-erklaert-sich/ [22.11.2017]. 488 http://www.sagwas.net/sagwas-erklaert-sich/ [22.11.2017]. 489 Bertelsmann Stiftung 2014: 1.

118 | Konzeptioneller Bereich III: Ansätze zur Förderung politischer Partizipation

der Zivilgesellschaft.490 Ein Baustein der Projektreihe stellte beispielsweise der Aufbau von kommunalen und regionalen Steuerungsstrukturen in Kooperation mit Pilotkommunen dar, die zur Entwicklung vernetzter Strukturen für eine übergreifende Förderung des Engagements von Kindern und Jugendlichen führen sollten.491 Die Umsetzung innerhalb der Pilotkommunen sollte mithilfe kommunaler Steuerungsgruppen erfolgen, die aus Vertretern der städtischen Verwaltung und Politik, örtlichen Projektpartnern und Stiftungsmitarbeitern bestehen. Über themenbezogene Unterrichtsmaterialien und Fortbildungen für Lehrer und Pädagogen wurden dort Bildungsinstitutionen des Vorschulalters, der Schule sowie der außerschulischen Jugendarbeit einbezogen. Flankierend dazu wurden Wettbewerbe für kreatives Engagement in Projekten ausgeschrieben und mit Fördergeldern ausgezeichnet. Zusätzlich wurden in der Projektphase mehrere themenbezogene Konferenzen durchgeführt und die Ergebnisse veröffentlicht. Die jungbewegt-Initiative befindet sich laut Bertelsmann Stiftung mittlerweile in der zweiten Projektphase, die die bisher evaluierten Ergebnisse bis 2019 mit unterschiedlichen Schwerpunkten in zwei Bereiche transferieren sollen. Die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen sollen in die universitäre Lehrerausbildung eingebunden und unter Durchführung von Beteiligungsprojekten auf weitere Kommunen übertragen werden. Stiftungsarbeit kann darauf abzielen, Verwaltung und Politik davon zu überzeugen, neue Formen der Beteiligung zuzulassen. Über ihre Netzwerke können sie gezielt Einfluss auf die politischen und administrativen Eliten nehmen, deren Einstellung und Verhalten gegenüber einer stärkeren Bürgermitwirkung wichtige Faktoren für die Etablierung neuer Beteiligungsformen sind. Eliten können Motivation hervorrufen, je nach Engagement und Ernsthaftigkeit, mit der sie die politische Beteiligung der Bürger begleiten. Sie können als „Partizipationsunternehmer" fungieren, indem sie Issue-Publika organisieren und/oder diese bei der Erreichung ihrer Ziele unterstützen.492

Da Stiftungsgründer und -personal häufig selbst aus diesen Eliten stammen, ist das Vorhandensein erfolgreicher Netzwerkstrukturen anzunehmen. Neben der Möglichkeit, regulative Top-down-Strukturen zu beeinflussen, können Stiftungen Gemeinschaften und Initiativen mittels Informationen, Organisation und Finanzierung auch helfen, Bottom-up-Prozesse durch eigene Formate in Gang zu setzen. Leitfäden wie das Handbuch Community Organizing. Theorie und Praxis in Deutschland der Stiftung Mitarbeit geben Anweisungen zur Durchführung neuartiger Beteiligungsformate.

|| 490 Laut Bertelsmann waren dies in diesem Projekt neben den lokalen Partnern überregional das Bundesnetzwerk Bürgerschaftlichen Engagements, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik. 491 Bertelsmann Stiftung 2015: 53. 492 Vetter 2008: 18.

Das Strukturmodell: Vier Typen des Förderansatzes | 119

Als weitere Merkmale des agorativen Fördertyps können daher die Förderung der Responsivität in Verwaltung und Politik und die Unterstützung von Multiplikatoren, die in erster Linie auf der Mesoebene ansetzen, sowie die Förderung von Gesetzesvorhaben für mehr Beteiligung, die auch in die Makroebene strahlt, gesehen werden. Die finanzielle Unterstützung von Beteiligungs-Projekten und Erstellen, Erprobung, Evaluation neuer Beteiligungsformen stellen weitere Ausprägungen des Fördertyps dar und tangieren je nach Reichweite sowohl Meso- als auch Makroebene. Zusammenfassend ergibt sich damit folgende Tabelle des agorativen Förderansatzes: Tabelle 3: Agorativer Fördertyp (eigene Darstellung).

Der agorative Fördertyp Etablierung von (Experten-)Netzwerken und Plattformen zur Diskussion beteiligungsrelevanter Themen

Meso

Unterstützung von Multiplikatoren

Meso

Aufbau von Netzwerken und Öffentlichkeiten

Meso, Makro

Förderung der Responsivität in Verwaltung und Politik

Meso

Förderung von Gesetzesvorhaben für mehr Beteiligung

Makro

finanzielle Unterstützung von Beteiligungs-Projekten

Meso, Makro

Erstellen, Erprobung, Evaluation neuer Beteiligungsformen

Meso

4.4.4 Der advokative Fördertyp (Gelegenheitsstruktur) Der advokative Ansatz in der Partizipationsförderung von Stiftungen stellt in mancher Hinsicht eine Synthese bereits genannter Merkmale anderer Fördertypen dar. Er ist dabei aber auf bestimmte Gruppen beschränkt, in deren Namen gehandelt wird, und wurde deshalb nochmal als gesonderter Fördertyp unterschieden. Während der Begriff der Gemeinnützigkeit zwar einen Nutzen für alle Teile der Gemeinschaft impliziert, ist es unter der Annahme der Ungleichverteilung von Chancen und Zugangsvoraussetzungen ebenso denkbar, eine ausgleichende Nutzenverteilung als gemeinnützig gerechtfertigt zu sehen. Ob gruppenspezifische Diversitätsansprüche unüberwindbare Antagonismen oder vereinbare Aushandlungskompromisse sind, wird unterschiedlich beantwortet. Der daraus möglicherweise resultierenden sozialen Ungerechtigkeit kann, beispielsweise von Charles Taylor aus-

120 | Konzeptioneller Bereich III: Ansätze zur Förderung politischer Partizipation

gehend, entweder mit einer Politik der Gleichheit oder einer Politik der Differenz begegnet werden.493 Erstere nimmt die universale Menschenwürde zum Ausgangspunkt und richtet sich von dort aus gegen jegliche Form von Ungleichbehandlung. Letztere hingegen stellt die Wahrung der individuellen Identität des Einzelnen und besonderer sozialer Gruppen in den Vordergrund und richtet sich gegen die assimilierende Normsetzung einer dominierenden Sozialgruppe.494 In Hinblick auf neue Beteiligungsformate wird beispielsweise immer wieder angeführt, dass in ihnen bevorzugt männliches Diskussionsverhalten präsentiert und belohnt und andere soziale Verhaltensweisen benachteiligt würden.495 Ein ausgleichendes Eingreifen von Stiftungen in diesem Bereich lässt sich auf mehreren Wegen denken. Stiftungen als Institutionen haben zum Beispiel die Möglichkeit, Minderheitenforderungen mittels öffentlicher Unterstützung oder Themensetzung in deren Sinne anzuerkennen. In den Kommunikationswissenschaften hat sich für diese Art der Interessenvertretung der Begriff der Advocacy etabliert, gemeint als eine Anwaltschaft in der Öffentlichkeit für Menschen oder gesellschaftliche Gruppen, deren Stimmen unterrepräsentiert sind.496 Er soll als Bezeichnung für den vierten Fördertyp übernommen werden, den advokativen. Das Advokatorische kann die Einflussnahme sowohl auf die öffentliche Meinung als auch auf politische Entscheidungsträger beinhalten, umfasst also sowohl Öffentlichkeitarbeit als auch Lobbying. Stiftungen können zudem die Kostenübernahme der PR-Maßnahmen leisten und die Forderungen der Marginalisierten mit ihrer Unterstützung adeln sowie durch die öffentliche Thematisierung vermehrt Sensibilität innerhalb der Mehrheitsmeinung schaffen. Oft bieten Stiftungen auch Vermittlerstrukturen zwischen weiteren Akteuren der Zivilgesellschaft und/oder anderen Sektoren in sogenannten Advocacy-Coalitions an.497 Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) ist beispielsweise eine solche Kooperationsinitiative verschiedener Stiftungen, deren Gremium jährlich ein Jahresgutachten zu den Entwicklungen in den Bereichen Integration und Migration vorstellt.498 Durch sektorübergreifende Netzwerke und Kooperationen können Ressourcen gebündelt und Interessen gestärkt werden. So wurden etwa im Fonds Flüchtlinge & Ehrenamt der Bürgerstiftung Ham-

|| 493 Taylor 2009. 494 Taylor 2009. 495 Munsch 2011: 50. 496 Obar et al. 2012. 497 Als Advocacy Coalition wird ein Bündnis verschiedener politischer Akteure innerhalb eines (Politik-)Netzwerkes bezeichnet. Siehe: Nohlen/Schultze 2004: 4. 498 Der Sachverständigenrat geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der Volkswagen Stiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an: Stiftung Mercator, Volkswagen Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband und Vodafone Stiftung Deutschland.

Das Strukturmodell: Vier Typen des Förderansatzes | 121

burg von verschiedenen Stiftungen Hamburgs ein gemeinsames Konto eröffnet und die Organisation zusammengelegt. Dem advokativen Fördertyp werden deshalb folgende Ausprägungen zugeordnet: Bereitstellung von gruppenspezifischen Diskussionsplattformen, Artikulation gruppenspezifischer Positionen in der Öffentlichkeit und Politisches Agenda-Setting für Gruppen, aber auch der Einbezug der Gruppen in die Stiftungsarbeit. Diese Maßnahmen werden auf der Mesoebene verortet. Während viele Stiftungen ihre Themen- und Zwecksetzung breit streuen, konzentrieren sich andere Stiftungen auf Destinärsgruppen und spezialisieren sich auf die Interessendurchsetzung bestimmter Sozialgruppen. Dies sind Stiftungen wie beispielsweise die Bundesstiftung Markus Hirschfeld, die zum Ziel hat, „einer gesellschaftlichen Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Personen (Abkürzung: LSBTTIQ) in Deutschland entgegenzuwirken“.499 Ein weiteres Beispiel wäre Filia, eine Stiftung, die national wie international in verschiedenen Projekten die politische Partizipation von Frauen und deren Zugang zu Gerichtsbarkeit, Beschäftigung und höherer Bildung fördert.500 Stiftungen können also als Anwälte unterrepräsentierter Gruppen fungieren und diesen Zugang zu Partizipationsprozessen eröffnen. Sie fungieren advokatorisch, indem sie Öffentlichkeitsarbeit oder parlamentarische Lobbyarbeit leisten, sie können aber auch bei der Ausbildung beteiligungsrelevanter Kompetenzen ausgleichende Hilfestellung geben. Als weitere Merkmale finden die Unterstützung von Fremdprojekten aufgrund von Gruppenmerkmalen – wie beispielsweise Geschlecht, Alter oder Sprache – und die Organisation gruppenspezifischer Projekte, in die Tabelle Einzug. Der Fokus ist bei diesem Typ vor allem auf die Mesoebene gerichtet, da die Destinäre Gruppen sind. Somit ergibt sich folgende Tabelle für den advokativen Fördertyp:

|| 499 http://mh-stiftung.de/ueber-die-stiftung/ [10.02.2017]. 500 http://www.filia-frauenstiftung.de/inhalt/akteurinnen-des-sozialen-wandels/themen.html [10.02.2017].

122 | Konzeptioneller Bereich III: Ansätze zur Förderung politischer Partizipation

Tabelle 4: Advokativer Fördertyp (eigene Darstellung).

Der advokative Fördertyp Bereitstellung von gruppenspezifischen Diskussionsplattformen

Meso

Artikulation gruppenspezifischer Positionen in der Öffentlichkeit

Meso

politisches Agenda-Setting für Gruppenberatung und -vertretung

Meso

Organisation gruppenspezifischer Projekte

Meso

Unterstützung v. Fremdprojekten aufgrund von Gruppenmerkmalen

Meso

Einbezug der Gruppen in die Stiftungsarbeit

Meso

4.5 Ein erstes Fazit Ziel dieses Kapitels war es, eine systematische Übersicht derjenigen Ansätze zu gewinnen, die Stiftungen verfolgen können, wenn sie sich der Förderung politischer Beteiligung verschreiben. Es stellt damit das Kernkapitel zur Beantwortung des ersten Teils der Forschungsfrage dar, der die Beschreibung der Förderung von politischer Partizipation durch Stiftungen zum Ziel hat. Da es keinen Forschungsansatz zu politischer Partizipation von Stiftungen gab, bot sich zunächst als verwandtes Forschungsfeld die politische Bildung an, um wissenschaftliche Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die Menschen in die Lage versetzt werden, politisch handeln zu können. Politische Bildung untersucht die Voraussetzungen und Organisationsformen von Bildungsprozessen, die eine aktive politische Beteiligung aller Bürger ermöglichen. Diese wird in demokratischen Gesellschaften als maßgeblich angesehen, auch wenn es strittig ist und vom jeweiligen Demokratieverständnis abhängt, in welchem Maße sie notwendig ist. Schwerpunkte der politischen Bildung sind die wissensorientierte, die werteorientierte, aber auch die handlungsorientierte Vermittlung von Politik. Alle Formen der Vermittlung können Ansätze der Förderung von Stiftungen sein. Legt die Wissensvermittlung den Schwerpunkt eher auf die Fakten und Begriffe des politischen Systems und schult dessen Verständnis, und richtet sich die Handlungsorientierung stärker auf das Erleben von Politik und das Einüben von Kompetenzen zum praktischen Umgang damit, so konzentriert sich die Wertevermittlung auf die Herausbildung demokratischer Haltungen. Weiter ausbuchstabiert werden diese Ansätze in einem Kompetenzmodell, das als Lernziele für eine erfolgversprechende Beteiligung Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und eine positive Einstellung und Motivation zur Politik kennzeichnet. Für

Ein erstes Fazit | 123

die Typologie ließen sich daraus zwei Arten der Förderung ableiten: zum einen der szientive Fördertyp, der die Erzeugung wie die Vermittlung von Fachwissen um politische Beteiligung zum Ansatz nimmt, und zum anderen der potestative Fördertyp, der die Förderung von Handlungsfähigkeiten für ein politisches Engagement in den Vordergrund rückt. Beide Förderansätze werden unter den Oberbegriff der Bürgerkompetenz gestellt, die alle kognitiven, moralischen und sozialen Fähigkeiten einschließt, die es Angehörigen einer demokratischen Gesellschaft erleichtern, sich politisch zu beteiligen. In einer weiteren Anleihe bei Studien innerhalb der Governance- und Dritter-Sektor-Forschung wurden Stiftungen als politikberatende Institutionen und Akteure des Agenda-Settings als Grundlage weiterer Förderansätze rekapituliert. Davon ausgehend ließen sich zwei weitere Typen des Förderansatzes entwickeln, nämlich zum einen der agorative Fördertyp und zum anderen der advokative Fördertyp. Der agorative Förderansatz umfasst Handlungen, die den Zugang der Destinäre zum politischen System ermöglichen, sei es über die Herstellung von Öffentlichkeit, in der Organisation von Beteiligungsformaten oder über die Bildung von Interessengruppen. Der advokative Ansatz nimmt die Handlungen in den Blick, bei denen Stiftungen als Interessenanwälte unterrepräsentierter Gruppen fungieren und ihnen Zugang zu Partizipationsprozessen verschaffen. Diese beiden Typen fasse ich unter dem Oberbegriff der Gelegenheitsstruktur zur Partizipation zusammen, womit Rahmenbedingungen gemeint sind, die die Zugangsmöglichkeiten zu den politischen Entscheidungsstrukturen konstruieren. Das Strukturmodell mit seinen vier Fördertypen ermöglicht es damit im empirischen Teil der Arbeit die in den Stiftungsdokumenten stehenden Projekte einem bestimmten Fördertypus zuzuordnen.

5 Empirische Exploration: Methode und Entwicklung des Forschungsdesigns Mit der in Kapitel 4 entwickelten Typologie lässt sich die Partizipationsförderung von Stiftungen allgemein klassifizieren. Darüber hinaus soll mit der Forschungsfrage auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie gemeinnützige Stiftungen – die sowohl unabhängige und elitäre als auch auf öffentliche Reputation bedachte Institutionen sind (Gegenstand von Kapitel 3) – auf die existierende soziale Ungleichverteilung von politischer Partizipation (Gegenstand von Kapitel 2) reagieren, wie sie dieses Problem also einerseits reflektieren und ihm andererseits versuchen in ihrer Förderarbeit zu begegnen. Die vorangegangenen Kapitel haben den theoretischen Teil gebildet, Kapitel 5 leitet nun den empirischen Teil ein, in dem der zweite und dritte Aspekt der Forschungsfrage operationalisiert und untersucht wird. Zunächst wird die Methode erklärt, mit der die ausgewählten Stiftungsdokumente auf Textstellen hin untersucht werden, die belegen, mit welchen Maßnahmen Stiftungen Partizipation fördern, ob und wie sie dabei auf ungleiche Beteiligung achten und ob und wie sie diese versuchen auszugleichen. Das Kapitel umfasst die Begründung des Forschungsdesigns und der Fallauswahl, bündelt die in den vorangegangenen Kapiteln diskutierten theoretischen und empirischen Annahmen zu Hypothesen, die somit in messbare Faktoren überführt werden können. Diese generieren den Kriterienkatalog, der die Untersuchungsfolie für die Texte der Stiftungsprojekte darstellt. In den wechselseitigen Auseinandersetzungen von Theorie mit Daten und von Hypothesengenerierung mit Operationalisierung entsteht eine zirkuläre Verbindung zwischen methodischen und epistemischen Inhalten.

5.1 Methode Ein schlüssiger Zugang zur Beantwortung der Forschungsfrage erfolgt über die Analyse einiger ausgesuchter Stiftungen auf Grundlage ihrer Tätigkeitsdokumentation durchgeführter Projekte. Als Prämisse wird dabei von einer bewussten und unbewussten Außendarstellung der Stiftungen ausgegangen. Wie bereits dargelegt, sind Stiftungen auf ihre Reputation und ihre Gemeinwohlbeglaubigung als unmittelbare Ressource ihrer Legitimität angewiesen. Daher ist anzunehmen, dass sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit eine möglichst gemeinwohlorientierte Selbstdarstellung und ein möglichst sozial wünschenswertes Vorgehen, in Hinblick auf politische Partizipation mithin gleiches und gerechtes Verhalten vertreten, um eine möglichst positive Bewertung ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit zu behaupten. Kritische Stimmen, die auf den elitären Charakter von Stiftungen hinweisen, geben aber, insbesondere bei der Frage nach Gleichheit, Grund zur Annahme, dass es zu einer Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit kommen kann und Stiftungen nur Organisationen of the https://doi.org/10.1515/9783110656503-005

Methode | 125

elite, by the elite, for the elite sind. Damit disqualifiziert sich die Methode des Interviews gewissermaßen, da hierbei angenommen werden kann, dass, sofern Stiftungsangehörige die Interviewpartner sind, die positive Außendarstellung überwiegen und das kritische oder relativierende Gegengewicht fehlen würde. Das Problem der sozialen Erwünschtheit oder des „Faking-Good“ ist in der Interview-Forschung ein bekanntes Problem und es wird versucht, ihm dort mit verschiedenen Maßnahmen, wie beispielsweise der Bildung von Kontrollvariablen, zu begegnen und hätte auch in dieser Untersuchung getestet werden können.501 Allerdings erscheint eine Analyse der bewussten wie unbewussten Kommunikation mit den zu Fördernden auf Basis der veröffentlichten Texte robuster, da es das Gelingen einer zielgruppengerechten Angebotskommunikation besser erfassen kann. Denn es ist für die Fragestellung wesentlich, beide Aspekte zu erfassen: die bewusste Darstellung der Projekte durch die Stiftungen sowie die mehr oder weniger unbewusste, performative Umsetzung und Gestaltung der Angebote. Beides lässt sich aus PR-Texten der Stiftungen destillieren. Dies wird mittels der Inhaltsanalyse der Stiftungsdokumente als eine Methode der Sozialwissenschaften, die das Sprachverstehen anhand von Texten zum Gegenstand macht, praktiziert. Die Texte, die maßgeblich untersucht werden, sind Flyer oder Programmbeschreibungen sowie Jahresberichte und als Textsorte für die Ansprache im öffentlichen Raum gedacht. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring ist eine empirische Forschungsmethode, welche alltägliches Sprachverstehen mit methodischen Regeln systematisiert, also das Sinnverstehen von sprachlichen, zumeist schriftlich fixierten Inhalten in den Mittelpunkt stellt. „Die Inhaltsanalyse zeichnet sich dabei durch ein systematisches und nachvollziehbares Vorgehen aus, das auf die Untersuchung formaler und inhaltlicher Merkmale von Kommunikation ausgerichtet“ ist und dabei auf die „Inferenz mitteilungsexterner Sachverhalte zielt“.502 Somit wird anhand der untersuchten Texte eine Aussage über die (außertextliche) Welt getroffen. In theoretischer Anlehnung an Textfunktionen und ein Kommunikationsmodell im Sinne Harold Lasswells wird davon ausgegangen, dass ein Sender (Stiftung) mittels eines Mediums (Stiftungstexte) etwas an einen Rezipienten (Destinär und Öffentlichkeit) senden möchte und dies mit einer bestimmten Intention und Wirkung tut.503 Intention und Wirkung müssen freilich nicht übereinstimmen. Hintergrund dieser Überlegungen sind sprachwissenschaftliche Grundannahmen zu Wirkungsweisen von Texten. Gemäß Brinker kann von bestimmten internen wie externen Textfunktionen ausgegangen werden, die beispielsweise appellative, deklarative oder obligate Charaktereigenschaften aufweisen und „den Sinn, den ein Text im Kommunikations-

|| 501 Hartmann 1991. 502 Hildebrandt/Jäckle/Wolf/Heindl 2015: 303 und Früh 2011: 27-28. 503 Die Lasswell-Formel lautet: Wer teilt wem was wie mit welcher Absicht und mit welcher Wirkung mit?

126 | Empirische Exploration: Methode und Entwicklung des Forschungsdesigns

prozess erhält“, bestimmen.504 Den externen Kommunikationseffekt auf den Leser nennen Gansel und Jürgens auch Bewirkungsfunktion.505 Bestimmte Textbausteine können über die reine Informationsvermittlung hinaus emotionale und soziale Assoziationen hervorrufen und neben Sachinformation auch gruppenspezifische Botschaften vermitteln.506 Es wird damit angenommen, dass eine bestimmte Ausgestaltung, ein bestimmtes Design der Angebote marginalisierte Rezipienten stärker oder schwächer anspricht als etablierte, die Texte also bestimmte Eindrücke und performative Reaktionen bei dem Leser auslösen, auch wenn die Stiftungen dies vielleicht gar nicht so intendiert haben und eigentlich alle Personen ansprechen wollten. Die Untersuchung soll somit gewissermaßen die Position des Textlesers einnehmen und die Außerwirkung der Stiftungen prüfen. Aus der Perspektive einer nicht stark mit Stiftungsarbeit vertrauten Person, die von einem der Projekte gehört hat und sich über die Stiftung informieren möchte oder zufällig einen Flyer in die Hände bekommen hat, soll diese Position neben der Beantwortung der beiden ersten Aspekte der Fragestellung Erkenntnisse darüber liefern, ob sich durch die Texte eher Etablierte oder Marginalisierte angesprochen fühlen könnten.507 Die Inhaltanalyse wurde computergestützt durchgeführt. Für die systematische Auswertung der Textdokumente wird eine Analysesoftware verwendet. Es wurde eine QDA-Software (das Kürzel steht für Qualitative Data Analysis) gewählt, die neben der Möglichkeit zur qualitativen Inhaltsanalyse auch ein Mixed-Method-Tool bot. Die Software MAXQDA ermöglicht in der Analytics Pro Version 12 die Vergabe und Bewertung von Variablen und die Überführung der Daten in quantitative Statistikmodelle. MAXQDA ist neben ATLAS.ti im deutschsprachigen Raum das am weitesten verbreitete QDA-Programm und über eine Kauflizenz sehr gut zugänglich.508 Die Bewertungsmöglichkeit der codierten Textstellen war geeignet, um ein passendes Instrument zur Bestimmung der Inklusionssensibilität entwickeln zu können.

|| 504 Brinker 2005. 505 Gansel/Jürgens 2007. 506 Androutsopoulos 1999. 507 Durch diese Herangehensweise entkräftet sich m. E. auch ein Einwand gegen die Auswahl des Materials, dem zufolge dieses nur eine kleiner Ausschnitt, nicht aber die tatsächliche Realisierung oder die Ganzheit des Projektes darstellt und es so zu einer unfairen Bewertung komme könne, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Wahrnehmung des Teilhabeproblems, die in der Zusammenfassung oder im Flyer nicht thematisiert wurde, während des Seminars, der Podiumsdiskussion oder in Verlaufe des Buches durchaus betrachtet wird. 508 Kuckartz 2010.

Fallauswahl | 127

5.2 Fallauswahl Die Vermessung der deutschen Stiftungslandschaft auf Aggregatebene wird mittlerweile kontinuierlich und in mehreren Forschungsprojekten vorangetrieben.509 Die Heterogenität der Stiftungen auf Individualebene erfordert jedoch auch weiterhin die Untersuchungen von Fallstudien. Als explorative Studien sind sie eine gute Strategie, institutionelle Handlungsmuster von Stiftungen aufzudecken und deren Besonderheiten zu klären. Sie ermöglichen einen „intensiven Dialog zwischen Ideen, Hypothesen und empirischen Beweisen“.510 Da sich eine Untersuchung der Grundgesamtheit, also aller Stiftungen Deutschlands, ausschließt, ist die Studie als (vergleichende) Fallstudie angelegt. In ihrer holistischen Betrachtungsweise sind Fallstudien kontextsensibel, und sowohl historische Entstehungsgründe als auch kulturspezifische Aspekte können in die Untersuchung miteinfließen. Fallstudien nehmen die Komplexität eines Falles auf und erlauben besser als andere Forschungsstrategien, Interpretationen durchzuführen, ob bestimmte Einflüsse unterschiedliche Folgen haben können, ob also bestimmte Stiftungstypen z. B. bestimmte Handlungsmuster verfolgen.511 Methodologisch soll bei der Begründung der Fallauswahl von zwei verschiedenen Orientierungspunkten ausgegangen werden, zum einen von dem diskursanalytischen Ansatz des theoretic samplings, der eine theoriegeleitete Datenauswahl plausibel macht, und zum anderen von der Herangehensweise des most different systems designs, eine Strategie zur Fallauswahl, die in der vergleichenden Politikwissenschaft Anwendung findet und ein möglichst heterogenes Sample vorsieht. Beide Methoden gehen aus unterschiedlichen Traditionen hervor. Die Diskursanalyse ist stark qualitativ geprägt und in ihrer Forschungsperspektive angelegt, „Auskunft über die Bedingungen des Sprachgebrauchs und die Wirkung gesellschaftlicher Sinnstrukturen zu geben“,512 wohingegen der politikwissenschaftliche Ansatz ein quantitativer ist, der im systematisch-empirischen Vergleich gültige Aussagen über den Gegenstandbereich „der politischen Systeme der Welt“ zu treffen versucht.513 Beide zusammen bieten einen plausiblen methodologischen Argumentationshintergrund, möglichst unterschiedliche aber bewusst ausgewählte Stiftungen zu untersuchen. Beim theoretic sampling erfolgt die Erhebung mithilfe von vorab festgelegten, theoretisch begründeten Merkmalsausprägungen in den Daten.514 Die Auswahl wird getroffen „durch den Forschungsgegenstand, den Stand der Theoriebildung und die Kodierprozeduren (theoretic sampling)“ und ist letztlich mit einer Art von Schneeballsystem ver-

|| 509 Siehe Kapitel 3.2.1. 510 Jahn 2013: 234. 511 Jahn 2013: 234. 512 Heinelt 2015: 258. 513 Jahn 2013: 37. 514 Heinelt 2015: 331.

128 | Empirische Exploration: Methode und Entwicklung des Forschungsdesigns

gleichbar, um so die gewonnenen Erkenntnisse sukzessive auszuarbeiten sowie zu differenzieren und zu verfeinern.515 In der Logik des most different system design (mds-design), das in der vergleichenden Politikwissenschaft zumeist Länder zum Untersuchungsgegenstand hat und in der Regel mit niedrigen Fallzahlen von bis zu sechs operiert, werden die Länder aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit voneinander bestimmt. Dadurch lassen sich aus Sicht der Forschungsfrage ggf. andere Erkenntnisse gewinnen, als wenn man strukturähnliche Länder miteinander vergleicht.516 In Analogie zu der vorliegenden Untersuchung wäre ein solches most similiar system design (mss-design) etwa ein Vergleich aller sechs in Deutschland vertretenen parteinahen Stiftungen untereinander und deren Förderverhalten gewesen. Zweck war es jedoch, sowohl die Heterogenität der Stiftungslandschaft zu erfassen als auch die möglichen Differenzen zwischen verschiedenen Stiftungstypen bei der Umsetzung ihrer Projektarbeit zu kennzeichnen. Auch im mds-Design werden zunächst Hypothesen gebildet, die für eine Population zutreffen sollen und im Falle eines positiven Zusammenhangs auf weitere Fälle angewendet werden können.517 Unter Verzicht des mathematischen Signifikanznachweises wurde diese Praxis übernommen und die aufgestellten Hypothesen, die sich etwa durch die Bearbeitung der Dokumente der Bertelsmann Stiftung ergaben, auf die anderen Stiftungen angewendet. Auf Basis dieser beiden Herangehensweisen der Fallauswahl wurden für die vorliegende Studie in Hinblick auf ihre Struktur möglichst unterschiedliche, jedoch gemäß ihrer inhaltlichen Zweckausrichtung der Partizipationsförderung übereinstimmende Stiftungen ausgesucht. In einem ersten Schritt wurden aus der großen Auswahl von schätzungsweise 20.000 Stiftungen in einem mehrstufigen Verfahren passende Stiftungen aus der Datenbank des Bundesverbands deutscher Stiftungen herausgefiltert. Parallel zu der Datenbanksuche wurden mittels Internetrecherchen über verschiedene Schlagwörter geeignete Kandidaten gesucht. Die Stiftung Mitarbeit wurde beispielsweise durch folgende Selbstbeschreibung in die engere Wahl aufgenommen: „Die Stiftung Mitarbeit arbeitet daran, die Autonomie der lokalen Bürgergesellschaft zu stärken und die kommunalen Verantwortungsträger zu ermutigen, mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung in der Kommune zu verwirklichen.“518 Durch diese Schritte ergab sich ein vorläufiger Kanon von circa 60 Stiftungen, die im Anschluss genauer untersucht wurden, indem die Jahresberichte sowie Satzungen und Homepages gesichtet wurden. Da – wie oben beschrieben – eine größtmögliche Strukturvarianz der Stiftungen gewählt werden sollte, wurden in den Kanon Kriterien miteinbezogen wie Vermögen, Mitarbeiterzahl und Tätigkeitsort bzw. Reichweite als

|| 515 Mey und Mruck 2011: 28. 516 Jahn 2013: 238. 517 Jahn 2013: 238. 518 Stiftung Mitarbeit 2013: 11.

Fallauswahl | 129

Indikator für lokal, regional oder national agierende Stiftungen. Der ausreichende Zugang zu Informationsmaterial war ein weiteres Einschlusskriterium. Davon ausgehend wurden aus diesem Kanon vier Stiftungen gewählt, zwei große, eine mittlere und eine kleine. Gemäß der in Kapitel 3 entwickelten Heuristik der Sektornähe, welche die unterschiedlichen Quellen der Finanzierung bestimmt, umfasst die Auswahl der Untersuchung eine Stiftung aus dem Bereich Unternehmensstiftung (Philanthropie bourgeoise), eine Bürgerstiftung (Philanthropie citoyen) und eine staatlich geförderte Stiftung bürgerlichen Rechts (Philanthropie publique). Zusätzlich nehme ich eine parteinahe Stiftung, eine Stiftung e.V., in das Untersuchungssample auf.

5.2.1 Die Unternehmensstiftung Die Bertelsmann Stiftung ist eine Unternehmensträgerstiftung (Sektornähe Wirtschaft) und stellt damit eine klassische Art der Stiftung dar.519 Die Stiftung ist eine der bekanntesten und zugleich auch umstrittensten Stiftungen Deutschlands (vgl. Kapitel 6.1). Sie verfügt über eine hohe Ausschüttung, ist überregional tätig und zählt ebenfalls die Förderung neuer Beteiligungsformate und Demokratie zu ihren Aufgaben. Da diese Stiftung in der Vergangenheit oft wegen fehlender Transparenz und mangelnder demokratischer Legitimität in der Kritik stand und steht, ist eine Prüfung der inklusionssensiblen Umsetzung ihrer Projekte naheliegend.

5.2.2 Die Bürgerstiftung Die kleinere Bürgerstiftung, die durch ihre geringe Ausschüttung und lokale Begrenzung in ihrem Programm nicht mit den anderen größeren mithalten kann, wurde aus zweierlei Gründen gewählt: zum einen genau aufgrund des Kriteriums der Unterschiedlichkeit, welches Aufschluss darüber geben kann, ob kleinere Stiftungen anders arbeiten und fördern als größere, und zum anderen aufgrund des spezifischen Images der Bürgerstiftungen als besonders demokratische Stiftungsform. Eine Bürgerstiftung ist eine unabhängige, autonom handelnde, gemeinnützige Stiftung von Bürgern für Bürger mit möglichst breitem Stiftungszweck. Sie engagiert sich nachhaltig und dauerhaft für das Gemeinwesen in einem geografisch begrenzten Raum und ist in der Regel fördernd und operativ für alle Bürger ihres definierten Einzugsgebiets tätig. Sie unterstützt mit ihrer Arbeit bürgerschaftliches Engagement.520

|| 519 Zu der feineren Abgrenzung der Unternehmensstiftung siehe Hirsch/Neujeffski/Plehwe 2016. 520 Arbeitskreis Bürgerstiftungen 2000: 271.

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Sie etablieren eine neue philanthropische Kultur, in der die Geld-, Zeit- und Ideengabe kombiniert werden und in die viele Stifter eingebunden werden sollen. Werden herkömmliche Stiftungen in der Regel von einzelnen sehr reichen Menschen gegründet, ist die Bürgerstiftung eine Möglichkeit, kleinere Schenkungen zu bündeln und lokal einzusetzen. Ende 2004 gab es 24 Bürgerstiftungen in Deutschland, für 2014 wurden bereits 387 verzeichnet, und sie wachsen stärker als traditionelle Stiftungen.521 Hellmann stellt angesichts des noch geringen Stiftungskapitals der meisten Bürgerstiftungen zwar die Frage „nach ihrer Nachhaltigkeit, aber es zeichnet sich bereits ab, dass es unter den Bürgerstiftungen in naher Zukunft mehr Millionäre geben wird als bei den klassischen Stiftungen. Bürgerstiftungen haben das Potenzial, den Stiftungssektor zu verändern.“522 Eine Allensbach-Studie aus dem Jahre 2013 gibt an, dass für gut jeden vierten Bürger eine Spende oder Zustiftung an eine Bürgerstiftung bei sich am Ort grundsätzlich in Betracht käme, und für Personen, die das Konzept Bürgerstiftungen bereits kennen würden, käme sogar zu einem deutlich höheren Anteil ein finanzieller Beitrag in Frage. Die grundsätzliche Bereitschaft, sich finanziell bei einer Bürgerstiftung zu engagieren, steigt laut den Zahlen dabei mit den eigenen finanziellen Mitteln an.523 Größe, Struktur und Aktualitätsbezug sprechen also für die Aufnahme einer Bürgerstiftung in das Design der Arbeit. Neben der Bürgerstiftung Hamburg und der Bürgerstiftung Stuttgart kam aufgrund ihres Beteiligungsengagements besonders die Bürgerstiftung Heidelberg in die engere Auswahl, die dann auch ausgewählt wurde. Die Bürgerstiftung Heidelberg wirbt, ebenso wie die anderen Stiftungen des Sample, mit dem Zweck der Partizipationsförderung. Auf ihrer Homepage heißt es dazu: Die Arbeit der Bürgerstiftung konzentriert sich vor allem auf zwei eng miteinander verknüpfte Handlungsfelder: Bildung und Integration. Die Entwicklung und Förderung von Bildungsangeboten bezieht sich nicht so sehr auf die klassischen Modelle. Vielmehr möchte die Stiftung die kulturelle Bildung benachteiligter Schülerinnen und Schüler sowie die Partizipation Jugendlicher an kommunalen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen fördern. Zivilgesellschaftliches Engagement im Sinne demokratischer Willensbildung gehört überhaupt zu den erklärten Schwerpunkten der Bürgerstiftung.

5.2.3 Die staatlich geförderte Stiftung Bei der staatlich geförderten Stiftung fiel die Wahl auf die Stiftung Mitarbeit.524 Sie wird in großen Teilen vom Bundesministerium des Inneren finanziert. Auch die Stif|| 521 Stiftung Aktive Bürgerschaft 2015. 522 Hellmann 2014: 269. 523 Studie Allensbach 2013: Bürgerstiftungen. 524 Eine Alternative wäre die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gewesen, die jedoch aufgrund ihrer Fokussierung auf Jugendliche ungeeigneter als die Stiftung Mitarbeit erschien.

Fallauswahl | 131

tung Mitarbeit wurde, neben dem Kriterium der staatlichen Sektornähe und der Ausschüttungshöhe (die im Mittelfeld liegt) unter dem Aspekt der Themenbesetzung gewählt. Im Unterschied zu den anderen hat die Stiftung den alleinigen Schwerpunkt der Demokratieförderung und Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in ihrer Satzung festgeschrieben. Die rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts bezeichnet sich dort als „ein Selbsthilfewerk politisch verantwortungsbewusst handelnder Bürgerinnen und Bürger“ und gibt als Zwecke im Geltungsbereich der Abgabenordnung die Förderung der Bildung, die allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens und die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zugunsten gemeinnütziger Zwecke an.525

5.2.4 Die parteinahe Stiftung Diese stellt einen gewissen Sonderfall dar, da die parteinahen Stiftungen oft mit dem Verweis, sie seien rechtlich ein Verein, unterlägen dem Parteienfinanzierungsgesetz und seien deswegen keine Stiftungen, vom Untersuchungsradar verschwinden.526 Bisherige Untersuchungen in der Stiftungsforschung schließen parteinahe Stiftungen in ihren Studien mit der Begründung aus, sie seien zum einen Körperschaften des öffentlichen Rechts und würden öffentlich gefördert und zum anderen quasi als verlängerter Arm der Parteien zu staatsnah und somit zu zivilgesellschaftsfern.527 Diese Auffassung ist m. E. irreführend. Zum einen werden diese Institutionen, obwohl sie der Rechtsform nach eingetragene Vereine sind,528 als Stiftungen wahrgenommen. So belegen die Konrad-Adenauer-Stiftung oder die Friedrich-Ebert-Stiftung einer Umfrage nach Platz zwei und vier der bekanntesten Stiftungen in Deutschland.529 Sie werden zudem in der Stiftungsdatenbank des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen geführt. Darüber hinaus tragen alle das Wort Stiftung im Namen. Es ist also naheliegend, dass die parteinahen Stiftungen die Wahrnehmung als solche antizipieren. Oft wird betont, dass Vereine aufgrund ihrer wählbaren Gremien demokratischer strukturiert seien als Stiftungen. Für die parteinahen Stiftungen trifft dies nur bedingt zu. Zwar gibt es bei den fünf Stiftungsvereinen Mitgliederversammlungen, in denen beispielsweise der Vorstand gewählt oder bestätigt wird. Die Gesamtzahl der Mitglieder ist jedoch meist durch die Satzung beschränkt und schwankt zwischen ca. 40 und 100. Bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist das oberste Organ das aus höchstens 29 stimmberechtigten Mitgliedern bestehende Kuratorium. Die Auffassung

|| 525 Stiftung Mitarbeit 2017: 2. 526 Denn in der Vereinsforschung finden sie auch keinen Platz. 527 Etwa bei Sprengel 2001 oder Schwertmann 2006. 528 Abgesehen von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. 529 Bundesverband Deutscher Stiftungen 2014.

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der parteinahen Stiftungen als Form sui generis und die damit einhergehende Verbannung ins forscherische Schattendasein ist auch insofern kurzsichtig, als sie verkennt, dass die öffentliche Finanzierung von Stiftungen mittlerweile keinen Ausnahmefall mehr darstellt, sondern gängige Praxis ist. Deshalb ist es angezeigt, auch eine parteinahe Stiftung zu untersuchen. In diesem Sinne stellt die parteinahe Stiftung quasi eine Kontrollgruppe dar, deren Sonderstatus bewusst zur Kenntnis genommen wird. Die Förderung von Stiftungen im Bereich der politischen Partizipation darzustellen, ohne das Modell der parteinahen Stiftungen, die den Auftrag der politischen Bildung als Gründungszweck angeben, miteinzubeziehen, wäre unvollständig. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde gewählt, weil sie, anders als die Konrad-Adenauer-Stiftung (und es sollte eine der beiden großen sein), politische Beteiligung in neuen Formaten explizit auf ihrer Homepage als Agenda setzt.530 Als hybride Organisationen mit vielfältigen Strukturmerkmalen, Tätigkeitsschwerpunkten und Zielen bauen die parteinahen Stiftungen Brücken, […] fungieren als Scharnier zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft, welcher in Zeiten der nationalstaatlichen Entgrenzung hin zur Global Governance wachsende Bedeutung zukommt. Die Stiftungen sind an der Schnittstelle von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Sphäre positioniert, ihre Hebel reichen in beide Bereiche hinein.531

Zudem sind die parteinahen Stiftungen eine der wichtigsten Institutionengruppen für die politische Bildungsarbeit in Deutschland, dennoch gibt es über sie und ihre Rolle in der Zivilgesellschaft keine nennenswerte Forschung, ebenso wenig wie (stiftungsexterne) evaluative Studien zu ihrer Arbeit in der nationalen Demokratieförderung.532

5.3 Textauswahl Im Anschluss der Fallauswahl der Stiftungen erfolgte die Auswahl der Projektprogramme und damit der zu untersuchenden Daten aus dem gesamten Arbeitsbereich der jeweiligen Stiftungen. Im Vorfeld der Recherche wurde schnell klar, dass Stiftungen in der Regel projektbezogen arbeiten. Die Feststellung, dass Stiftungsarbeit in der Regel Projektarbeit umfasst, klingt zunächst banal, war für die Untersuchung jedoch von Relevanz, um die Untersuchungseinheit ermitteln zu können. Stiftungen haben zumeist einen thematischen Aktionsbaum oder ein thematisch strukturiertes Organi-

|| 530 Ein naheliegender Einwand ist der einer Verzerrung durch den Umstand, dass die FES aufgrund der Betonung ihrer sozialdemokratischen Werte eine besondere Beteiligungsförderung wahrscheinlich macht und somit nicht repräsentativ für die anderen parteinahen Stiftungen steht. Dies ist m. E. nicht schlüssig, da alle parteinahen Stiftungen sich positiv zu mehr Beteiligung geäußert haben. Bei allen sechs konnte auch das Bestehen auf eine gleiche Beteiligungschance festgestellt werden. 531 Heisterkamp 2014: 150. 532 Vorholt 2003.

Textauswahl | 133

gramm, innerhalb dessen sie mittels Projekten, entweder in Form eigener Projekte oder der Finanzierung von Fremdprojekten handeln. Die Robert Bosch Stiftung agiert beispielsweise in den fünf Förderbereichen Gesundheit, Gesellschaft, Bildung, Wissenschaft und Völkerverständigung.533 Oft weisen Stiftungen auch aktuelle Schwerpunkte aus. Die Schwerpunkte sowie die Förderbereiche werden mittels einzelner Projektvorhaben umgesetzt. Als eine Form der Arbeitskoordination zeichnen sich Projekte vor allem durch die erwartbare Abschließbarkeit aus. Ein Projekt hat in der Regel ein festgelegtes Ziel, einen definierten Beginn und ein definiertes Ende. Zudem stehen bei seiner Durchführung begrenzte (vorher festgelegte) Finanzmittel und Ressourcen zur Verfügung. Der Projektgegenstand hat oft innovativen Charakter und kann nur begrenzt auf andere Systeme der Abwicklung und Steuerung zurückgreifen.534 Ihr Merkmal ist also die zeitlich befristete, temporäre Struktur zur Erreichung eines spezifischen Zieles.535 Kaufmännisch lässt sich die Abgrenzung von einzelnen Projekten und zu Ober- und Unterkategorien beispielsweise über die Zuordnung von Kostenstellen und dem festgelegten Etat zu ihrer Umsetzung ablesen. Wegen dieses betriebsorganisatorischen Aufbaus wurden nach der Festlegung der Stiftungen jeweils ein Organigramm der Stiftungen erstellt und die Projekte herausgesucht, die thematisch politische Beteiligung fördern. Bei der Projektauswahl ergaben sich einige Grenzfälle, die nach eigenem Ermessen entweder aufgenommen oder begründet vergeworfen werden mussten. So waren beispielsweise einige Projekte allein zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements ausgeschrieben. Sofern bei diesen im gesamten Text kein Bezug zur politischen Dimension dieses Begriffes hergestellt wurde, wurde das Projekt nicht aufgenommen. Ein anderes Beispiel waren Projekte gegen Rechtsextremismus, die zwar unter dem Zweck der Demokratieförderung liefen und bei denen die politische Dimension gegeben war, der Bezug zur Beteiligung m. E. aber zu schwach ausgeprägt war. Einschlusskriterium für die Auswahl war also, dass beide Aspekte – Beteiligung und politische Dimension dieses Handelns – in den Texten formuliert waren. Alle dadurch identifizierten Projekte wurden wiederum in einer (Excel-)Tabelle erfasst und bildeten damit die Grundlage des Samples. Parallel dazu wurde der Untersuchungszeitraum festgelegt. Der Zeitraum von drei Jahren sollte zum einen die längerfristige Beschäftigung der Stiftungen mit dem Thema erfassen und verzerrende Ereignisse wie etwa ein Stiftungsjubiläum ausschließen,536 zum anderen aber auch die Anzahl der Daten überschaubar halten. Ein längerer Zeitraum wäre wünschenswert gewesen, die Menge der Daten hätte dann eine qualitative Untersuchung aber kaum leistbar gemacht.

|| 533 www.bosch-stiftung.de [21.08.2017]. 534 Litke 2004: 8. 535 Bakker 2010. 536 2013 war beispielsweise das 50. Jubiläum der Stiftung Mitarbeit.

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Aus diesen Teilschritten ergab sich ein Sample von 198 Einzelprojekten. Wiederholungen in den Veranstaltungen – beispielsweise bei den Seminaren, die während der drei Jahre wiederholt stattfanden – wurden nur einmal gezählt. Von diesen Einzelprojekten wurden dann alle verfügbaren Texte, also Flyer, Onlineankündigungen oder Abschnitte aus den Jahresberichten, gesammelt. Es muss angemerkt werden, dass die untersuchten Programmhinweise in den meisten Fällen zunächst „Leistungsversprechen“, also Ankündigungen, darstellten und keine Evaluationen der tatsächlich stattgefundenen Veranstaltungen.537 Eine Beschreibung vergangener Veranstaltungen ließ sich teilweise in den rückblickenden Jahresberichten finden.538 Die analysierten Textdokumente der Stiftungen stellen zwar keine Medieninhalte im engeren Sinne und damit übliche Formen der Inhaltsanalyse wie Zeitungsberichte dar, sind jedoch auf öffentliche Rezeption angelegte, medienvermittelte Textinhalte, die online oder gedruckt in Form von Jahresberichten und Internetseiten zugänglich sind. Anschließend wurden alle Flyer, Ankündigungen und Onlinedokumente als (Word-)Textdokumente oder als odt-gescannte PDF-Dateien vereinheitlicht und in MAXQDA überführt.

5.4 Theorie- und empiriegeleitete Hypothesenbildung und Prämissen Die Hypothesenbildung dient der Zergliederung der Forschungsfrage in kleinere, überprüfbare Einheiten und sind, um es mit Popper zu sagen, erstmal Vermutungen.539 Diese Vermutungen können entweder auf deduktivem Wege, ausgehend von bereits aufgestellten Theorien, oder auf induktivem Wege, also auf Grundlage des gesichteten Materials entstehen. Mayring spricht deshalb auch von theoriegeleiteter und empiriegeleiteter Hypothesenbildung.540 Eine Kombination beider Möglichkeiten ist ebenfalls denkbar und wurde auch für die vorliegende Untersuchung vorgenommen. Während die empiriegeleiteten Hypothesen mithilfe eines Samples von circa 10 Prozent des gesamten Textkorpus generiert wurden, erfolgte parallel die theoriegeleitete Bildung der Hypothesen. Diese ergaben sich zum einen über die theoretischen Ansätze der ersten Kapitel zu Demokratietheorie und Stiftungsforschung und zum anderen über eine gerasterte Literaturrecherche ausgehend von Untersuchungen, die sich bereits empirisch mit dem Phänomen von selektiver Beteiligung oder Aktivierung politischer Beteiligung beschäftigt haben. Der Suchvorgang gestaltete sich zum einen über die in den theoretischen Arbeiten genannten Literaturhinweise im soge|| 537 Nolda 2011: 293. 538 Um diese beiden Textsorten unterscheiden zu können, wurde eine Kategorie [Ankündigung/ Rückschau] eingeführt. 539 Popper 2005. 540 Mayring 2003.

Theorie- und empiriegeleitete Hypothesenbildung und Prämissen | 135

nannten Schneeballverfahren, zum anderen über eine Stichwortsuche instruktiver Schlagworte wie [politische Beteiligung und Stiftungen] in verschiedenen bibliothekarischen Katalogen, wie dem des Gemeinsamen Verbundkataloges oder der Deutschen Nationalbibliothek. Die Ergebnisse dieser Suche verliefen stark interdisziplinär und lieferten neben einigen inspirierenden Einsichten unterschiedlichster Forschungszugänge und -ansätze erneut die Bestätigung der aufklaffenden Forschungslücke. Des Weiteren bediente ich mich der weniger in den empirischen Sozialwissenschaften als vielmehr in der Philosophie gängigen Verwendung sogenannter Prämissen, also Vorannahmen, die der Operationalisierung der Annahme dienen. Sie stellte in vielen Fällen gewissermaßen die Vorstufe zur Hypothesenbildung dar. Ein Beispiel: Der in den ersten beiden Kapiteln vorgestellte Forschungsstand in der Partizipationsforschung geht davon aus, dass bildungsferne Menschen weniger stark politisch partizipieren. Dann wäre eine Prämisse, dass ein hoher Bildungsstatus mit einem komplexeren Sprachverständnis einhergeht, weil man im Verlaufe seines Bildungsweges lernt, anspruchsvollere Sprachstrukturen einzuüben und zu verwenden. Weniger gebildete Menschen sind folglich ungeübter in diesem Gebrauch. Als Hypothese lässt sich darauf aufbauend annehmen und überprüfen, ob die Flyer der Stiftungen mehr oder weniger komplex geschrieben sind. Dies kann anhand von Lesbarkeitsindices ermittelt werden. Als Kategorie wurde also Sprachvariabilität aufgestellt mit einer jeweiligen Unterkategorie (in MAXQDA als Subcodes bezeichnet) Sprachkomplexität. Ein weiteres Beispiel wäre die Kategorie Kosten: Da Menschen mit geringen Einkommen zu denjenigen Bevölkerungsteilen zählen, die laut der Forschung weniger partizipieren, werden erhobene Kosten zu einer Kategorie, die, wenn Kosten entstehen, gegen eine inklusionssensible Umsetzung der Stiftungsprogramme sprechen. Als Prämisse gehe ich davon aus, dass Veranstaltungen, die etwas kosten, Menschen mit geringen Einkommen abschrecken, daran teilzunehmen. Als Hypothese in Anwendung auf die untersuchten Texte gilt dann die Frage, in welchem Umfang und zu welchem Angebot die Stiftungen Kosten erheben oder im Kontext der Teilnahme entstehen können. Prämissen und Hypothesen bilden also den Grundstein für die Kategorienentwicklung, die eine operationalisierte Matrix zur Identifizierung jener Textpassagen darstellt, welche Aussagen über die inklusionssensiblen Maßnahmen der Stiftungen sowohl in Form als auch in inhaltlicher und performativer Art zulassen. Mit der Kategorienbildung ist die Festlegung jener Gliederungsprinzipien gemeint, die der Identifizierung der erkenntnisrelevanten Textstellen dienen.541 Wie die Hypothesenbildung wurden sie in Kombination von theoriegeleiteter Deduktion (im Vergleich mit anderen Untersuchungsansätzen) und empiriegeleiteter Induktion (mittels Textstichproben) erstellt. „[Die Kategorien] geben erstens an, auf welche einzelnen, unter|| 541 Früh 2015: 148.

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scheidbaren Merkmale der untersuchten Mitteilungen sich die Analyse beziehen soll und außerdem, welche konkreten Texteinheiten unter einem gemeinsamen übergeordneten Gesichtspunkt als ähnlich betrachtet werden.“542

5.5 Die Operationalisierung Ausschlaggebend für die Inhaltsanalyse ist – unabhängig davon, ob in der quantitativen, in der qualitativen oder in einer Mixed-method-Variante – der hypothesengeleitete Zugang, mittels dessen man sich seinen Texten nähert. Das Verfahren beinhaltet, dass die Fragestellung in Hypothesen überführt wird, die wiederum zu analytischen Kategorien operationalisiert werden, mithilfe derer die Texte dann untersucht werden. Die Fragestellung konkretisiert sich in drei Fragen an den Forschungsgegenstand: 1. Wie fördern Stiftungen politische Partizipation? 2. Sind sich die Stiftungen der Teilhabeverzerrung bewusst? 3. Beachten sie diese bei der Gestaltung ihrer Förderung? Zu den drei Fragen wurden mittels der Prämissen die Hypothesen und die Kategorien entwickelt. Die drei Hauptkategorien (Codes in MAXQDA) sind die [1] form-fokussierte Sektion, die [2] emittent-fokussierte, reflektierende Sektion sowie die [3] rezipienten-fokussierte, performative-appellative Sektion, die sich in ihrer Reihenfolge grob den drei Fragen zuordnen lassen.

5.5.1 Die form-fokussierte Sektion Diese Sektion umfasst die Kategorien Form, die Formate, den Fördermodus, die erreichte Destinärs-Ebene sowie die Form der gewünschten Beteiligung und eingegangener Kooperationen.543 Sie erfasst in erster Linie beschreibende Inhalte der Programmflyer. Alle Kategorien (Codes und Subcodes) sind im Anhang aufgelistet. Als Hypothesen wurden angenommen: – Die Stiftungen bilden Schwerpunkte aus, aus denen sich bestimmte Typen ableiten lassen. – Es gibt bestimmte Formate, die immer wieder verwendet werden. – Die Formate verfügen über eine bestimmte Reichweite.

|| 542 Früh 2015: 148. 543 Es sei angemerkt, dass für einige Formate nicht alle Kategorien relevant sind und zwingend ausgefüllt wurden; beispielweise ist die Kinderbetreuung bei einer Publikation ohne Bedeutung.

Die Operationalisierung | 137

– –

Bei den Stiftungen lassen sich unterschiedliche Präferenzen für bestimmte Politikebenen und Arten der Partizipation unterscheiden. Es gibt Stiftungen, die stärker kooperativ agieren, und Stiftungen, die stärker ohne Partnerschaften arbeiten.

5.5.2 Die (emittent-fokussierte) reflektierende Sektion Dieser Kategorienblock soll Textstellen identifizieren, die den Grad der Reflexion hinsichtlich der Herausforderungen an die eigene stifterische Partizipationsförderung zeigen, die Sensibilität für die Ungleichverteilung von politischer Partizipation, aber auch formulierte Ziele und Ansprüche ermitteln. Mithilfe der sechs erhobenen Kategorien und ihrer jeweiligen Subcodes soll die Auswertung der Aussagen zu Einschätzungen der eigenen Wirkmöglichkeiten bei den Stiftungen, zu deren Problembewusstsein hinsichtlich der Ungleichverteilung von Partizipation sowie eventueller Problemlösungsvorschläge gelingen. Neben dem Wie der Förderung, das den ersten Teil der Forschungsfragen ausmacht, bildet dieser Block den zweiten Teil, um die Frage zu klären, ob die Stiftungen sich des Problems der Ungleichverteilung bewusst sind und wie sie dieses verhandeln. Der reflektierende Kategorienblock umfasst die Kategorien: Thematisierung des Problems sowie Nichtthematisierung des Problems, Gründe des Problems, die für die selektive Teilhabe angeführt werden und Lösungsvorschläge, außerdem den Gruppenbezug, die Fördergründe und die Selbsteinschätzung Wirkung. Alle Kategorien (Codes und Subcodes) sind im Anhang aufgelistet. Als Hypothesen wurden angenommen: – Das Teilhabeproblem ist ein Thema, das diskutiert und als soziales Problem wahrgenommen wird und das es zu lösen gilt. – Die Stiftungen identifizieren bestimmte soziale Gruppen als besonders anfällig für politische Marginalisierung. Durch die Kategorien des Gruppenbezugs wurden beispielsweise die Aussagen über Gruppen dargestellt, die von Beteiligungsprozessen systematisch ausgeschlossen sind und von den Stiftungen genannt werden. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema politischer Beteiligung wird offensichtlich, dass die Zuschreibung oft nicht entlang von Individuen verläuft, sondern entlang gesellschaftlicher Gruppenzuschreibungen.544 Die Frage: Wer beteiligt sich und wer nicht? beantwortet die Forschung mit ‚Frauen, alte oder armen Menschen, Behinderte, „[e]thnische oder religiöse Minderheiten, aber auch die Politikfernen und Geringgebildeten“545 als die-

|| 544 Biografische Ansätze stellen hier eine Ausnahme dar, siehe Munsch 2005. 545 Schäfer 2013: 2.

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jenigen Gruppen, die systematisch weniger partizipieren. Weil dieser Gruppenbezug so stark in der Literatur vertreten wird, wird er als Kategorie übernommen. Denn das Stichproben-Sample ergab, dass sich auch Stiftungen bei der Förderung an sozialen Gruppen orientieren. So weisen sie ihre Destinäre mittels Begriffen wie „Flüchtlinge“ oder „bildungsferne Jugendliche“ aus. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass die Ansprache der Stiftungen oft an „Entscheider“ oder „Verantwortliche“ gerichtet war, also an diejenige Gruppe, die nicht marginalisiert erscheint. Damit ergab sich das Problem, dass die politische Marginalisierung bestimmter Gruppen zwar oft angesprochen wurden, in der Umsetzung diese aber nicht direkt, sondern vielmehr etablierte Gruppen angesprochen werden, was eine Bewertung nur aufgrund der Nennung im Text erschwerte. Um diesen Umstand in der Auswertung kontrollieren zu können, wurde die Gruppennennung deshalb einmal im reflektierenden Teil [Sektion 2] und einmal im appellativ-performativen Teil [Sektion 3] erhoben, um unterscheiden zu können: Über wen wird gesprochen und wer wird direkt angesprochen? Zudem schien es in dieser Sektion auch plausibel, die Argumente der Fördergründe zu erfassen, um nachvollziehen zu können, ob das Partizipationsproblem dort seinen Niederschlag findet oder eine Begründung oder sogar den Auslöser der Förderung darstellt. Begründen die Stiftungen ihre Förderung eher mit Rückgriff auf abstrakte Begriffe wie Gerechtigkeit oder Gleichheit, eher mit Bezug auf das Gemeinwohl, den Willen des Bürgers, den Zeitgeist o. Ä., oder nehmen sie direkt Bezug auf die Teilhabeungleichheit? Als weiteres Argument wurde im Sinne einer ökonomischen Logik das Argument der Effizienz und des Systemerhalts eingeführt.

5.5.3 Die (rezipient-fokussierte) appellativ-performative Sektion Die performativ-appellative Kategoriensektion soll diejenigen Aussagen untersuchen, die sich an potenzielle Empfänger der Texte richten, ist also Rezipient-fokussiert. Die Begriffe performativ und appellativ sind aus der Sprachwissenschaft entlehnte Verwendungen, die die bereits angesprochene Textintention wie Textwirkung begrifflich zu fassen suchen.546 Die Kategorien wurden dabei so entwickelt, dass sie diejenigen Inhalte systematisieren, die als Aufforderungen und Informationen verstanden werden können, welche Etablierte oder Marginalisierte jeweils abhalten oder auffordern könnten, an der Veranstaltung teilzunehmen oder sich von den Projekten angesprochen zu fühlen. Der performativ-appellative Block stellt das Kernstück zur Ermittlung der Inklusionssensibilität dar. An dieser Stelle wurden Aussagen über Zu-

|| 546 Der Begriff der appellativen Funktion entstammt der Textsortenfunktionsforschung. Er bestimmt die primären Aufforderungsinhalte eines Textes. Der Begriff der (Sprech-)Performation und des performativen Aktes kommt aus der Sprechakttheorie Searles und beschreibt den immanenten Zusammenhang von Sprechen und Handeln. Beides siehe Linke/Nussbaumer/Portmann 2004.

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gangsbeschränkungen oder -erleichterungen erhoben und der Kreativitäts- und Innovationbonus, den Stiftungen so oft zugeschrieben bekommen, auf seine Berechtigung hin überprüft. Im Vergleich der Ergebnisse des zweiten mit dem dritten Block lässt sich eine Aussage darüber treffen, inwiefern Anspruch und Umsetzungswirklichkeit in den Projekten voneinander abweichen. Als Hypothesen für diesen Block wurden aufgestellt: – Bei den Stiftungsdokumenten lassen sich Texteme/Formulierungen ausmachen, die etablierten- oder marginalisiertengerecht gestaltet sind. – Die Flyer der Stiftungen sind mehr oder weniger komplex geschrieben. – Das Design eines Flyers kann entscheidend sein, ob sich jemand von dem Angebot angesprochen fühlt oder nicht – Teilnahmeverfahren können komplex und weniger komplex gestaltet sein. – Teilnahmeverfahren können inklusiv oder exklusiv orientiert sein. – Die Anrede kann entscheidend dafür sein, ob sich jemand von dem Angebot angesprochen fühlt oder nicht. Eine direkte persönliche Ansprache fördert die Angebotsannahme. – Finanzielle Kosten sind ein Faktor, der Menschen von mehr Beteiligung abhalten kann. – Die Organisation der Veranstaltung, die Wahl von Zeit und Ort sowie die Zugänglichkeit beeinflussen die Chancen einer gleichen oder ungleichen Beteiligung. – Der Status des Emittenten einer Botschaft beeinflusst den Rezipienten und kann (bei großer Differenz) abschreckend oder (bei Gemeinsamkeit) bindend wirken. – Die Möglichkeit vieler niedrigschwelliger und formloser Kontaktmöglichkeiten ist für eine bessere Beteiligung förderlich. Bei diesen Hypothesen muss einschränkend hinzugefügt werden, dass sie nur Annahmen darüber darstellen, wie die Texte wirken könnten. Die stattfindende Beteiligung, also die tatsächliche Reaktion des Lesers, ist nicht Gegenstand der Untersuchung, sie stellt also keine Wirkungsanalyse dar. Ausgehend von den im 2. Kapitel ausgeführten Partizipationsdeterminanten wurden folgende Annahmen getroffen: Bildung, Einkommen, Alter, Geschlecht, sozialer Status und Selbstvertrauen sind Faktoren, die Beteiligung beeinflussen. Diese Faktoren sind jedoch in den meisten Fällen zu abstrakt, um sie direkt in konkrete Maßnahmen übersetzen zu können, und müssen zunächst operationalisiert werden. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass speziell auf Marginalisierte konzipierte Maßnahmen stärker an ihre Lebenssituation angepasst werden müssen; diese Gruppen, wie es so gerne formuliert wird, ‚abgeholt werden müssen‘.547 Untersuchungen zur Unterstützung von Personen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen in der berufli|| 547 Bödeker 2012, Klatt 2014, Schäfer 2015.

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chen Weiterbildung oder von Migranten in der politischen Bildung haben mittlerweile zu Bedarfsanalysen geführt, deren Ergebnisse sich teilweise auf diese Untersuchung übertragen lassen.548 Demnach seien ein Maßnahmen-Mix aus finanzieller Unterstützung, Ansprache über Personen aus dem Umfeld, Vermittlung von Lerninhalten in einem anderen Kontext (Embedded Learning), sowie zielgruppenspezifisches Campaigning vielversprechend für eine steigende Beteiligung.549 Helmut Kuwan bilanziert als Ergebnis seiner Studien als Erfolgsfaktoren eine individuelle, aufsuchende Beratung, die in einer vertrauten, alltäglichen Lebenssituation erfolgen sollte. Neben der persönlichen Ansprache seien für niedrigschwellige Bildungsangebote vor allem drei Aspekte wichtig: ein einfacher, unbürokratischer Zugang zu Beginn einer Maßnahme, keine Eingangsprüfung mit dem Risiko des Scheiterns sowie eine gute Erreichbarkeit des Lernortes.550 Auch wenn sich die betriebliche Fortbildung nicht eins zu eins auf die Angebote der Stiftungen übertragen lässt, sind die Ähnlichkeiten der politischen Bildungsarbeit doch groß genug, um eine Übertragung der Ansätze zu rechtfertigen und sie in Kategorien zu überführen. Für die Untersuchung wurde weiter angenommen, dass ein hoher Bildungsstatus mit einer höheren Sprachkompetenz einhergeht, da – wie oben beschrieben – man im Verlaufe des Bildungsweges lernt, anspruchsvollere Sprachstrukturen zu gebrauchen und zu verwenden.551 Weniger gebildete Menschen sind folglich ungeübter in diesem Gebrauch. Dies führt dazu, dass es bei den Stiftungsangeboten bei Marginalisierten zum einen zu Verständnisproblemen kommen kann, zum anderen in der Leseransprache die „falsche Sprache“ verwendet wird. Stiftungen sind eine von vielen Institutionen und Akteure, die sich mit dem Problem konfrontiert sehen, ihre Inhalte für alle Zielgruppen verständlich zu gestalten. Studien zum funktionalen Analphabetismus zufolge können 14,5 Prozent der 16- bis 64-Jährigen in Deutschland zwar einzelne Wörter und Sätze lesen (und verstehen), nicht aber zusammenhängende Texte.552 Das Konzept der Leichten oder Einfachen Sprache versucht seit einigen Jahren sprachliche Hürden für diejenigen abzubauen, die Amts- oder Fachsprachen nur schwer verstehen.553 Leichte und Einfache Sprache werden oftmals synonym verwendet, obwohl Ausgangslage, Regeln und Zielgruppen sich unterscheiden. Erstere fokussiert Menschen mit kognitiven Behinderungen oder Lernschwierigkeiten. Letztere konzentriert sich auf Menschen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen; niedrigschwellige Angebote sollen hier den Zugang zur Schriftsprache und den Spaß an Büchern erleichtern. Leichte Sprache im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention || 548 Brüning/Kuwan 2002, Reiter/Wolf 2006, Guggisberg/Schmugge 2007, Bremer/KleemannGöhring/Wagner 2015. 549 Guggisberg/Schmugge 2007. 550 Kuwan/Baum 2005. 551 Kauschke 2012. 552 Grotlüschen/Riekmann 2012. 553 Öztürk 2014: 2.

Die Operationalisierung | 141

folgt bestimmten Regeln, sie zeichnet sich unter anderem durch kurze Hauptsätze aus, weitgehenden Verzicht auf Nebensätze, die Verwendung von bekannten Wörtern, während schwierige Wörter erklärt werden. Das Schriftbild sollte klar, ohne Schnörkel (Serifen) und ausreichend groß sein. Nach jedem Satzzeichen sowie sinnvollen Satzabschnitten sollte ein Absatz folgen und die Optik von Bild und Schrift übersichtlich sein. Farben sind eher sparsam einzusetzen. Einfache Illustrationen sind besser als Fotos, auf denen zu viele Details zu sehen sind.554 Die Einfache Sprache folgt keinem festgelegten Regelwerk, zielt auf eine gute Lesbarkeit durch die sparsame Verwendung von Fremdwörtern, Parataxen und einer reduzierten Wort-, Satzund Textlänge. Der Adressatenkreis der Einfachen Sprache ist größer als der der Leichten Sprache, etwa für Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche, Menschen mit Hirnverletzungen, ältere Menschen und hörbehinderte Menschen mit geringerer Lautsprachkompetenz, Menschen mit geringen Deutschkenntnissen, Lernende einer Fremdsprache oder auch Touristinnen und Touristen.555

Die Idee der Leichten und Einfachen Sprache fand als Kategorie Eingang in die Untersuchung und analysiert die Komplexität der untersuchten Texte, da diese – wie bereits ausgeführt – korreliert mit der sinnverstehenden Aufnahme durch unterschiedlich gebildete Rezipienten und mit einer gelingenden Ansprache. Als Instrumente zur Messung dieser Komplexität wurden zwei Lesbarkeitsindizes verwendet: der Flesch-Index und die Wiener Sachtextformel. Den Flesch-Index hat Rudolf Flesch für die englische Sprache entwickelt. Seine Formel misst die durchschnittliche Wortlänge in Silben und die durchschnittliche Satzlänge in Wörtern, trifft also keine Aussage über den Inhalt. 556 Er basiert auf der Annahme, dass kurze Wörter und kurze Sätze in der Regel leichter verständlich sind als lange, wobei die Länge der Wörter ein größeres Gewicht hat als die Länge der Sätze. Der Index wurde Anfang der 1980er-Jahre auf die deutsche Sprache übertragen. Der Index ergibt in der Regel eine Zahl zwischen 0 und 100, wobei auch Werte jenseits dieser Grenzen vorkommen können. Die Skala reicht von >80 für anspruchslose Texte, 71–80 für sehr einfache Texte, 61–70 für einfache Texte, 46–60 für durchschnittliche Texte, 36–45 für schwierig, bis