Grammatik und Sprachstruktur: Karl Ferdinand Beckers Beitrag zur allgemeinen Sprachwissenschaft in historischer und systematischer Sicht [Reprint 2018 ed.] 9783111646596, 9783111263434

177 98 32MB

German Pages 309 [320] Year 1966

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Grammatik und Sprachstruktur: Karl Ferdinand Beckers Beitrag zur allgemeinen Sprachwissenschaft in historischer und systematischer Sicht [Reprint 2018 ed.]
 9783111646596, 9783111263434

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Biographische Notizen
Erster Teil
Zweiter Teil
Anhang
Namen- und Sachverzeichnis

Citation preview

GERHARD HASELBACH GRAMMATIK U N D

SPRACHSTRUKTUR

Ölgemälde Κ. F. Beckers von G. W. Bode in Offenbach

GERHARD HASELBACH

Grammatik und Sprachstruktur Karl Ferdinand Beckers Beitrag zur Allgemeinen Sprachwissenschaft in historìscher und systematischer Sicht

WALTER

DE

GRUYTER

Berlin 1966

&

CO

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© Archiv-Nr. 45 76 65/1 Copyright 1965 by Walter de Gruyter fie Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp. · Printed in Germany • Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Franz Spiller, Berlin 36

Vorwort Aus Anregungen meines hochverehrten Lehrers Professor Dr. Ernst OTTO, die er in seinen Vorlesungen und Seminaren über Fragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft und Pädagogik an der Freien Universität Berlin vielfältig gegeben hat, ist diese Arbeit entstanden. Sie konnte nach dem Tode Ernst Ottos nur durch die menschliche und sachlich-beratende Hilfe Herrn Prof. Dr. von KIENLEs und Herrn Prof. Dr. Friedrich KAINZ' vollendet werden. Ich bin ihnen tiefen Dank schuldig. Es war meine Absicht, den der Abhandlung zugrunde liegenden antikritischen Vorwurf mit Belegmaterial zu festigen, das aus dem handschriftlichen Nachlaß K. F. Beckers gewonnen werden konnte. Die Erschließung des bisher unbekannt gewesenen Becker-Archives wurde von der Freien Universität dankenswert gefördert. Dem Kurator, Herrn Dr. von Bergmann, gebührt besonderer Dank dafür, daß er die Finanzierung einer Studienreise zu den westdeutschen Aufbewahrungsorten des Beckernadilasses sicherte; ebenso Herrn Professor Dr. Wieland Schmidt. Die Schwierigkeiten der Literaturbeschaffung wurden von den für den deutschen Leihverkehr zuständigen Angestellten der Universitätsbibliothek vorbildlich gemeistert. Frau Hedwig Becker (München), Herrn Professor Hellmut Becker (Berlin) und Frau Carola Lexis f (Marburg) habe ich dafür zu danken, daß sie mir den Weg zu den Archivschätzen und damit zu gerechter Beurteilung Karl Ferdinand Beckers wohlwollend öffneten. In speziellen Archiv- bzw. Familienfragen standen mir Frau C. Knapp und Herr Dr. Martin Knapp (München), Frau Luise Bresslau-Hoff (Säo Paulo) und Herr Min.-Dir. a. D. Dr. F. Trendelenburg f mit nützlichem Rat und Hinweis zur Seite. Meinen Studien über das Verhältnis K. F. Beckers zu Wilhelm von Humboldt brachte Frau von Heinz (Berlin-Tegel) großes Verständnis entgegen. HumboldtAutographen zu entziffern halfen mir in sehr freundlicher Weise Herr Professor Dr. Wilhelm Richter (Berlin) und Herr Dr. Arndt Schreiber f (Heidelberg). Herr Dr. Fr. Schrod (Offenbach am Main) wies mich auf Dokumentenquellen hin, und Herr Professor Dr. Georg Weigand (Darmstadt) gestattete mir bereitwillig die Einsicht in das noch unveröffentlichte Manuskript seiner Arbeit über Karl Ferdinand Becker. Allen denen, die mit förderndem Interesse an den Vorarbeiten zu dieser Schrift teilhatten, vor allem meiner opferbereiten Frau und Herrn Oberpostrat a. D. Ernst Lupprian (Seesen), sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Vorwort

VI

An der von mir gebrauchten Zitierweise möge man beachten: Zitate von deutschen Autoren sind, jeweils auf den wesentlichsten Inhalt beschränkt, durchweg der neuhochdeutschen Orthographie angeglichen worden. Eckige Klammern in Zitaten umschließen Anmerkungen bzw. Ergänzungen des Verfassers. Hervorhebungen sind immer als Ausdruck der Ansicht des Verfassers zu betrachten. Verweise auf öfter genannte Werke enthalten nur verkürzte (durch „ " gekennzeichnete) Titel. Siehe Bibliographie im Anhang S. 284.

A m Schluß bleibt noch eine Bitte, die ich mir erlaube, mit den Worten Karl Ferdinand Beckers aus der Vorrede zu seinem Erstlingswerk zu

formulieren:

„Mögen Männer [und Frauen] mit ausgebreitetem Kenntnissen und reiferer Beurteilungskraft meine Überzeugung befestigen, oder mögen sie mir das Mangelhafte meiner Ansicht vor Augen legen: Ich werde es ihnen gewiß herzlich Dank wissen."

Berlin-Dahlem, im März 1963

Gerhard Haselbach

Inhalt Seite V

VORWORT BIOGRAPHISCHE N O T I Z E N

1 ERSTER

TEIL

DIE AUFGABE

9

GEISTIGE ZUSAMMENHÄNGE

14

I. Die Wurzeln der Sprachtheorie Karl Ferdinand Beckers

14

1. Seine naturwissenschaftlichen Schriften

14

2. Sdiellings Naturphilosophie

19

3. Romantische und logisch-systematische Sprachbetrachtung

27

II. Beziehungen, Anregungen und Einflüsse

36

1. Jacob Grimm und K.F.Becker

36

2. Wilhelm von Humboldt und K. F. Becker

49

3. Zusammenarbeit in philosophischen, linguistischen und pädagogischen Fragen .

63

III. Die Philosophie Karl Ferdinand Beckers 1. Metaphysik

73 73

2. Erkenntnistheorie 3. Logik

80 100

4. Sprachphilosophie

112 ZWEITER

TEIL

DIE ALLGEMEINE GRAMMATIK KARL F E R D I N A N D BECKERS

127

I. Das System II. Kategorien der Satzlehre

127 141

1. Morphologie des Satzes: die Beziehungsmittel

143

a) Beziehungsmittel der äußeren Form: Flexion — Formwörter

145

b) Beziehungsmittel der inneren Form: Wortstellung

145

Betonung

146

Intonation

147

Wortart 2. Semantik des Satzes: die Beziehungsbedeutungen

148 154

a) Innensyntaktische Beziehungsbedeutungen 154 Die grammatische Form des prädikativen, attributiven, objektiven Satzverhältnisses 155

Inhalt

Vili

Die logische Form des prädikativen, attributiven, objektiven Satz Verhältnisses b) Außensyntaktische Beziehungsbedeutungen Die subjektiven Beziehungen der Tätigkeits- und Seinsbegriffe : Modusverhältnis Tempus Verhältnis

Seite 160 170 175 176

Verhältnis der Aktionsart

177

Raum Verhältnis

183

Größenverhältnis

185

Person Verhältnis

186

Genusverhältnis

190

Verhältnis der Demonstration

195

c) Die Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung im Satz

205

Kennzeichnung durch Gliedwörter

205

Wortstellung

206

Flexion

207

Satzakzent

207

Psychologisches Prädikat

209

Die komplexe Struktur der Beziehungsmittel

212

d) Die Kennzeichnung der Stellungnahme zum Satzgedanken Die Modi der Aussage: Urteil

215 216

Frage

216

Aufforderung (Befehl)

218

Wunsch

219

Die Modi des Prädikats

III. Kategorien der Wortlehre

219

222

1. Morphologie des Begriffswortes

225

Wortarten als Begriffsformen

226

Individualisierung der Formen der Tätigkeits- und Seinsbegriffe

228

Das System der Begriffsformen (Ableitung)

229

2. Semantik des Begriffswortes Differenzierung der Arten der Tätigkeits- und Seinsbegriffe

233 234

Die Struktur des allgemeinen Begriffssystems

236

Kritische Bemerkungen zum Begriffssystem K. F. Beckers

240

Die Vermengung von Inhalt und Form

244

IV. Kategorien der Lautlehre

248

1. Morphologie des Sprachlautes 2. Semantik des Sprachlautes Das Problem der Lautsymbolik K. F. Beckers Prinzip der Euphonie D I E L Ö S U N G D E R AUFGABE

248 251 252 257 259

Inhalt ANHANG DOKUMENTENSAMMLUNG

IX Seite 267

I. Ausgewählte Briefe und Auszüge aus Briefen wissenschaftlichen Inhalts . . . . 267 II. Verzeichnis vorhandener oder nachweisbarer Handschriften BIBLIOGRAPHIE I. Karl Ferdinand Beckers Werke II. Wichtige Sekundärliteratur III. Manuskripte NAMEN- UND SACHVERZEICHNIS

277 284 284 286 293 294

χ

Inhalt

Verzeichnis der Abbildungen 1. Ölgemälde K.F.Beckers 2. Brief Jacob Grimms 3. Deckel- und Vorsatzblatt der „Deutschen Wortbildung" K.F.Beckers 4. Brief W. v. Humboldts. 1 Seite 5. Manuskript Beckers für die „Ausführliche Grammatik" (Lautwandel). 1 Seite

Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder 1. Zeittafel (Biographie K. F. Beckers)

Se¡te

II 42 44/45 56 252/253

Seite 2

2. Inhalt des Organismusbegriffs

76

3. Beckers Organismus der Natur

79

4. Beckers „schöpferischer Akt des Geistes"

89

5. Beckers Kategoriensystem der Grammatik

132

6. Ernst Ottos System der Allgemeinen Sprachwissenschaft

140

7. Beckers Prinzip sprachlicher Differenzierung

159

8. Analyse eines Satzgefüges nach K. F. Bedcer

161

9. Systematisierung der dichotomischen Struktur des Satzgedankens 10. Die komplexe Struktur der Beziehungsmittel (Satzschemata)

169 213

11. Systematische Ableitung der Begriffsformen nach K. F. Bedcer

230

12. Allgemeines Begriffssystem nach K. F. Beckers Strukturprinzip

237/238

13. Die phonetische Seite der Sprache (Form der Laute) nach Becker

249

14. Die phonetische Seite der Sprache (Stoff der Laute) nadi Becker

251

MEINEN

ELTERN

in besonderer Dankbarkeit meiner lieben Mutter — gest. am 4. Juni 1953 —

ZUGEEIGNET

Und wir, Zuschauer, immer,

überall,

dem allen zugewandt, und nie hinaus! Uns überfüllt's. Wir ordnen. Es

zerfällt.

Wir ordnen's wieder und zerfallen

selbst.

Rainer Maria Rilke

Biographische Notizen Vorbemerkungen Eine ausführliche B i o g r a p h i e fehlt bis heute. Einigermaßen in Einzelheiten, wenn audi nicht ganz vorurteilsfrei, geht die kurze Darstellung von Leben und Werk Karl Ferdinand Beckers von seinem Schwiegersohn Georg Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker, der Grammatiker. Eine Skizze", Allgemeine Schul-Zeitung, Darmstadt, Jahrg. 1849, Sp. 1577—1592. Sonderdrucke dieses Nekrologs erschienen 1854 und öfter. Sonst gibt es nur spärliche und ungenaue Hinweise in Lexika bzw. biographischen Sammelwerken. P o r t r ä t s von K. F. Becker sind literarische Raritäten. Lediglich in den Blättern des Offenbacher Geschichtsvereins „Alt-Offenbach", 4. Jahrg., Juni 1928, Heft 2, S. 33—41, finden sich Abbildungen. Ein Ölgemälde hängt noch heute im Stadtverordneten-Sitzungssaal von Offenbach am Main. Die folgende Z e i t t a f e l beschränkt sich auf biographische Notizen, die für diese Untersuchung wesentlich sind. Viele der Daten waren der gelehrten Öffentlichkeit bisher unbekannt. Idi durfte sie entnehmen: a) dem Material des Becker-Archives (Briefdokumenten, einer fragmentarischen Selbstbiographie Beckers, einem Manuskript Nanna Stahls vom 19. Februar 1914: „Ferdinand Becker und Friedrich Rosen", und anderen Schriftstücken), b) Aufzeichnungen von Mitgliedern der Beckerschen Sippe (den Familien Trendelenburg, Pansch und Stahl), vor allem dem Buch „Ferdinande Trendelenburg geb. Becker. Ein Lebensbild aus ihren Aufzeichnungen und Briefen, zusammengestellt für ihre Enkel und Urenkel", Weihnachten 1896. Als Ms. gedruckt in der Druckerei Waisenhaus, Halle, c) einem unveröffentliditen Manuskript Georg Weigands: „Karl Ferdinand Becker. Sprachphilosophisdie Grundlegung und didaktisch-methodische Auswertung seiner Grammatik" (Darmstadt 1933), d) Mitteilungen des Dekanats der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen, e) einer Auskunft des Fürst-von-Isenburgischen Rentamtes in Birstein, f ) dem Buch: „Memoirs of a Literary Veteran; including sketches and anecdotes of the most distinguished literary characters from 1794 to 1849", by R . P . Gillies, 3 Vols., London 1851, und anderen teils unveröffentlichten Quellen. 1 Haselbadi

2

Biographische

Notizen

Zeittafel

1. Periode: Vorbereitung amt, Seminar prof essor

auf den Lehrberuf,

Ausbildung

für das Priester-

1775, 14. April

K a r l Ferdinand Becker zu Lieser an der Mosel geboren; im katholischen Glauben getauft.

1780

Rückkehr mit den Eltern nach Westfalen auf ein Gut bei Neuhaus (Paderborn). K . F. Beckers Heimat ist Westfalen, das Paderbornische Land.

ab 1782

In Paderborn Erziehung unter Aufsicht des Oheims, des D o m vikars: Vermittlung aufklärungsphilosophischen (Kant) und pädagogischen Gedankengutes. Zum Priesteramt bestimmt, besucht er das Paderborner G y m nasium, eine von Exjesuiten geleitete ehemalige Ordensschule; dort erhält K . F. Becker vornehmlich Latein- und MathematikUnterricht.

1791

Beginn mit dem Besuch theologischer Vorlesungen in Paderborn.

1792

Eintritt ins Fürstbischöfliche Priesterseminar Josephinum Hildesheim.

ab 1794

Lehrer für Latein und Mathematik in den unteren grammatisdien Klassen des Josephinums. E r s t e S p r a c h s t u d i e n .

ab 1795

wird K . F. Becker in den Akten des Josephinums als f e s s o r geführt.

1799, Oktober

Abschied aus dem Priesterseminar aus weltanschaulichen Gründen. Verlust des Lehramtes.

zu

Pro-

Hinweis darauf in den Akten des Josephinums: „Becker, Ferdinand, Seminarist seit 92, lehrte bis 9 9 Oktober in den grammatischen Klassen, ging dann nach Göttingen und studierte Medizin, beweibte sich und hatte seine N o t . "

2. Periode: Naturwissenschaftliches Universitäts-Dozent

Studium,

praktischer Arzt,

Chemiker,

1799, 19. Oktober

Als „F. Becker, ehemaliger Lehrer am Katholischen Gymnasium zu Hildesheim", an der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen unter der Matrikelnummer 127 immatrikuliert. Seine akademischen Lehrer waren vor allem: J o h . Friedr. Blumenbach und Richter. Sie führten Becker in die „philosophische" Naturforschung, Medizin, vergleichende Anatomie bzw. Physiologie ein.

[etwa ab 1801 bis P] 1

Briefwechsel mit F. W . J . Schelling.

1801

A u f eine von der Fakultät K . F. Becker mit der am

1

t

] = erschlossene Daten.

gestellte

Preisfrage

antwortet

Biographische

Notizen

4. J u n i 1802

preisgekrönten Schrift: „Commentario de effectibus caloris et frigoris externi in corpus humanuni vivum", auf Grund deren er wahrscheinlich am

12. Juni 1802

zum D o c t o r Medicinae promoviert wurde,

1803, Ostern

beendet Becker seine medizinischen Studien.

2. April 1804

Heirat

bis 1810

Praktischer A r z t in H ö x t e r , „eifriger Anhänger B r o w n s " ; er „war allzeit ein denkender, philosophischer A r z t " .

1809

Erfolgreiche Bekämpfung der Typhusepidemie in H ö x t e r .

1811, Ende d. J .

Auflösung der Praxis in Höxter. D i e Beckersche Familie verzieht nach Karlshafen (Weser); kurz darauf Rückkehr nach Göttingen. Von Göttingen aus nimmt K . F . Becker kurzen Aufenthalt in Kassel am H o f e Jeromes, um den schwierigen juristischen Fall der Verurteilung seines Oheims zu bereinigen. Wichtige Bekanntschaften (?) und Festigung seiner patriotischen Gesinnung.

ab 1811 bis 1814

Neben Arztpraxis Anstellung als Sous-Directeur der Sdiießpulver- und Salpeterfabrikation im H a r z - und Leine-Distrikt (unter König Jerome Bonaparte). In gleichgesinnten Professorenkreisen und philosophische Studien.

naturwissenschaftliche

1812/1813

Im Wintersemester hält K . F. Becker eine einstündige Vorlesung über „Die Naturgeschichte des Salpeters und die künstliche Gewinnung desselben" an der Universität Göttingen. — N o t und Krankheit.

1814, Februar

stellt sich Becker der Zentralhospitalverwaltung der Verbündeten Heere in Frankfurt am Main zur Verfügung. Kinder und Frau bleiben in Göttingen; diese unterrichtet Professorenkinder neben den eigenen (lautierend) in den Anfangsgründen.

ab 1814, April

Dirigierender Oberarzt an Militärlazaretten in Heusenstamm bei Offenbach und in Frankfurt/M. Verkehr mit dem Freiherrn vom Stein und Ernst Moritz Arndt.

ab 1815

Praktischer Arzt in Offenbach am M a i n ; Hausarzt der „französischen" Aristokratenfamilien d'Orville und Bernard, wo während ihrer Sommerresidenz in Offenbach auch Goethe (Lili) und Bettina Brentano verkehrten.

1815, 1. März

ist die Beckersche Familie nach langer Trennung wieder vereint.

1817 bis 1819

J a h r e der Krankheit und N o t im Hause K . F. Beckers. Rückgang der Einkünfte aus der Arztpraxis.

3. Periode: Lehrer und Erzieher, 1819

1*

Sprachforscher

Zur Unterrichtung in der deutschen Sprache wird der erste neunzehnjährige Schotte im Beckerschen Hause aufgenommen. Die Erziehung der Kinder durch Becker ist natürlich und liberal, ohne ständische Vorurteile; sie hat ihr Ziel in der Erkenntnis von Pflicht und Notwendigkeit (Kantische Einflüsse).

4

Biographische

Notizen

ab 1820

kann man von einem Unterrichts- und Erziehungs i n s t i t u t „für Knaben und Jünglinge" (vornehmlich Engländer und Schotten, auch Irländer) im K . F. Beckerschen Hause sprechen. D e u t s c h u n t e r r i c h t mit unzulänglichen Grammatiken führt Becker zur Sprachforschung. E r sucht Verbindung zu Schulmännern in Frankfurt/M., H a n a u und Darmstadt.

1821

Die Grundkonzeption vom „organischen" Bau der S y n t a x , the „three forms of syntax" (die drei Satzverhältnisse) liegt vor. R . P . Gillies, ein Schüler, urteilt 30 J a h r e später: „I know not o f any German philologist, not even excepting the Brothers Grimm, more estimable than D r . Becker." K . F. Becker übermittelt J . C . A. Heyse V e r b e s s e r u n g s v o r s c h l ä g e für dessen deutsche Grammatik, die in Neuauflagen berücksichtigt werden.

[ 1 8 2 2 ] 1827 b i s ?

Briefwechsel mit J . C . A . Heyse; persönliche Bekanntschaft ist zu erschließen.

etwa ab 1822

V o r t r ä g e im Frankfurtischen Gelehrten-Verein für deutsche Sprache über Wortbildung (speziell V o r - und Nachsilben).

etwa 1820 bis 1827

versammelt sich bei Becker regelmäßig ein diskutierender Kreis von Gelehrten, der grammatische und allgemeinsprachliche F r a gen behandelt; ihm gehören u. a. Aug. Grotefend jun., S. H . A. Herling, Konrad Schwenck an. Beckers Fachbibliothek enthielt neben Grammatiken der nordischen Sprachen und Wörterbüchern vor allem die Schriften J a c o b Grimms.

etwa 1823 bis 1827

Tiefergehende v e r g l e i c h e n d e S p r a c h s t u d i e n . U n ter dem Einfluß J a c o b Grimms Studium des Althochdeutschen, Sanskrit, des Russischen und der nordischen Sprachen. Seit dieser Zeit sind Gäste und ständige Freunde des Beckerschen Hauses: Ε. M . Arndt, v. Buttel, Buch, Dahlmann, Ludw. Uhland, Passavant, Dorothea v. Schlegel u. a. Uhland und Arndt werden in Familienpapieren als „intime Freunde des Hauses" bezeichnet.

1824 bis [ 1 8 2 7 ]

Briefwechsel mit J a c o b Grimm.

1824 bis?

Briefwechsel mit George Frieder. Benecke; vermutlich nähere Bekanntschaft.

1824

A u f Anregung des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache veröffentlicht Becker sein erstes Buch: „Die Deutsche Wortbildung". Mit J o h . Heinr. V o ß , J e a n Paul, J a c . und Wilh. Grimm, Aug. Grotefend jun., Aug. Fr. Bernhardi, S. H . A. Herling, Reinbeck, Petri, F. Erdmann, J . C . A Heyse, F r . Schmitthenner, J . A. Schmeller, Ad. Trendelenburg u. a. ist K . F. Becker Mitglied des Frankfurtischen Gelehrten-Vereins für deutsche Sprache.

1825 bis 1835

Briefwechsel mit dem Orientalisten Friedrich August Rosen.

1825 bis 1833

Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt.

1827

erscheint der „Organism der Sprache" in erster Auflage.

Biographische 1827, April

Notizen

5

wird Adolf Trendelenburg von Beckers Sohn Ferdinand in das Beckersdie Haus eingeführt: Trendelenburg war wohl schon seit Ende des Jahres 1826 mit K. F. Becker bekannt, jener heiratete später die jüngste Tochter „seines väterlichen Freundes".

1827 bis 1833

Beiderseitig befruditende Gespräche zwischen K. F. Becker und A. Trendelenburg über Grammatik, Logik, Pädagogik und Politik.

Seit 1827 etwa

pflegte K. F. Becker jährlich eine größere Reise, vor allem nach Berlin, das er liebte, zu machen. Besuche bei Wilh. v. Humboldt in Tegel, Trendelenburg, Karl Lachmann u. a.

1827, 22. Juli

(Entscheidender) Besuch K. F. Beckers bei Jacob Grimm in Kassel; „ein freundliches Verständnis angeknüpft".

1828

S. H. A. Herling schlägt Becker die gemeinsame Herausgabe einer deutschen Grammatik vor. Der Plan scheitert aber schließlich an den auseinandergehenden Ansichten.

1828, 7. April

Zusammentreffen K. F. Beckers mit Wilhelm von Humboldt in Frankfurt am Main.

1829

„Deutsche Grammatik".

1830

„A Grammar of the German Language" in erster Auflage.

1831, 11. Februar

Antrag der Herausgeber an K. F. Becker, für die Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle) im Fache der deutschen Sprache und Grammatik Rezensionen zu schreiben. (Original im BeckerArchiv; Antwort nicht belegt.)

1831

„Schulgrammatik der deutschen Sprache", 1. G r a m m a t i k e n der n e u e r e n und c h e n b a u e n a u f dem B e c k e r s c h e n Die „Deutsche Grammatik" wird für den richt popularisiert (R. J. Wurst).

1832

ist einer der regelmäßigen Besuche Beckers in Berlin belegt.

1833

„Das Wort in seiner organischen Verwandlung".

1833

„Leitfaden für den ersten Unterricht", 1. Auflage.

1833

„Uber die Methode des Unterrichtes in der deutschen Sprache", 1. Auflage.

Auflage. alten SpraS y s t e m auf. Volksschulunter-

1834, nach dem 22. Juni

Besuch K. F. Beckers in Berlin belegt.

etwa 1835

Besuch bei K. Lachmann in Berlin belegt.

1836 bis 1839

„Ausführliche deutsche Grammatik" in erster Auflage.

1836 bis 1849

Briefwechsel mit Adolf Trendelenburg.

1841

Zweite neubearbeitete Auflage des „Organism der Sprache".

1842 bis 1843

2. Auflage der „Ausführlichen deutschen Grammatik".

1847, 24. bis 26. Sept.

K. F. Becker nimmt an den V e r h a n d l u n g e n d e r G e r m a n i s t e n zu Frankfurt am Main teil. Es waren — neben „Herrn Dr. Carl Ferdinand Becker von Offenbach" — Ludwig Uhland (Tübingen), Dahlmann (Bonn), Gervinus (Heidelberg),

Biographische

6

Notizen

die Brüder Grimm aus Berlin (Jacob Grimm hatte den Vorsitz), Schmeller (München), F. G. Welcker (Heidelberg) und viele andere anwesend. Einige von ihnen nahmen in Beckers Offenbacher Haus Wohnung. 1848

»Der deutsche Stil" in erster Auflage.

1848/1849

Politische Orientierung in der Deutschen Partei.

1848, Mai

Während der ersten Frankfurter Nationalversammlung war K . F. Beckers Haus in Offenbach mit seinem Garten am Main Treffpunkt für die Gesinnungs- und alten Freunde aus der Zeit der Freiheitskriege. Hier fanden politische Diskussionen mit Arndt, Dahlmann, Uhland, von Buttel, Passavant statt, in denen Becker sich zur zentralen und einigenden Kraft Preußens im Neuaufbau eines deutschen Reiches bekannte. Becker glaubte an den Sieg Preußens, „des geistigen, protestantischen Prinzips" (!) in Deutschland.

1849, 4. September 2 2

Karl Ferdinand Becker zu Offenbach am Main gestorben.

Der Große Herder, 4. Auflage 1932, 2. Band, S. 152, und der Große Brockhaus nennen fäschlicherweise den 5. September 1849 als K . F. Beckers Todestag.

Erster Teil

Die Aufgabe Ausgangspunkt für meine Arbeit war der Zweifel, ob die bisherige Beckerkritik nicht einige wesentliche Fragen übersehen habe. Kritische Äußerungen aus philosophischen, psychologischen und germanistischen Kreisen ließen vermuten, daß zu Karl Ferdinand Beckers linguistischem Lebenswerk das letzte Wort noch nicht gesprochen sei. Uberzeugend wurde die anfängliche Vermutung bei gründlicher Durchsicht der zahlreichen Primärliteratur und nachdem eigene wissenschaftsgeschichtliche Vergleiche Neues zutage gefördert hatten; vollends jedoch, seit mir der Becker-Nachlaß zur Verfügung stand, der bis dahin unentdeckt in Marburg und an anderen Orten geruht hatte. Wie ist es zu erklären, daß heute selbst mancher Germanist den Namen eines Mannes nicht mehr kennt 1 , der vor 130 Jahren mit Jacob Grimm und Wilhelm von Humboldt als einer der Begründer der Sprachwissenschaft gefeiert worden ist? Ich sehe vor allem zwei Ursachen und zwei Gründe für das Verwischen der Spuren von K . F. Beckers denkwürdigem Lebenswerk: 1. Einflußreiche Erben seiner wissenschaftlichen Aufgabe mißtrauten ihm, weil er in gewagten Vorstößen Fragestellungen geklärt hatte, die über die Grenzen der Einzelsprache hinausreichten. 2. Man verachtete ihn, weil man glaubte, er habe der menschlichen Sprache ein ihr unangemessenes Entwicklungsprinzip aufzwingen wollen 2 . 3. Darum wurde K. F. Beckers sprachphilosophisches und linguistisches Werk zunächst mit allen Mitteln des Psychologismus und Historismus abgelehnt* und später meist totgeschwiegen. 4. Trotz allem war K . F. Beckers Lehre von den Sprachkategorien schon seit der Mitte des 19. Jahrh. zum anonymen Allgemeingut der Grammatiken und ihrer Benutzer geworden. Das Urteil der Positivisten erweist sich zwar als teilweise berechtigt, jedoch — das kann schon hier gesagt werden — sind alle Arten der Beckerkritik einseitig; d. h. sie weisen mangelhafte Einsicht in die Grundlagen und den Schöpfer dieses sprachtheoretischen Werkes selbst auf. 1

Das Forum einer Gastvorlesung, die H . Glinz am 16. Februar 1955 in Marburg hielt, bewies das. — F. Stroh: Handbuch d. german. Philologie. Berlin 1952, erwähnt Becker auch im Abschnitt über organologische Sprachbetraditung (S. 285—288) nicht!

2

R. v. Raumer: „Der Unterricht im Deutschen", S. 1 7 6 — 1 8 8 , 198—200.

3

H . Steinthal: „Grammatik, Logik und Psychologie", 1855, S. V I f., 26 ff.

10

Die

Aufgabe

Karl Ferdinand Beckers Verdienste liegen nicht auf einzelsprachlichem Gebiet, sondern darin, daß er bestrebt war, aus dem von der vergleichenden und geschichtlichen Sprachkunde zusammengetragenen empirischen Material ein Gerüst allgemeinsprachlicher Kategorien, das ist ein solches der menschlichen Sprache überhaupt, zu errichten. Und es ist längst erforderlich, in erneuter Anlehnung an Wilhelm-vonHumboldtsche Gedankengänge4 audi das geistige Vermächtnis K. F. Beckers, sein wissenschaftliches Streben, gerechter zu werten. Es gilt, im großen Rahmen einer Herausarbeitung allgemeiner Gesetzlichkeiten der Sprachstruktur das Gültig- und Nützlichbleibende in K. F. Beckers Gedankengängen von dem zweifellos Unbrauchbaren und durch den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis Überholten zu scheiden. Die seit vier Jahrzehnten von Ernst Otto auf geistes- und strukturwissenschaftlicher Grundlage betriebene Sprachforschung bietet eine Basis für die neue Gesamtbeurteilung Karl Ferdinand Beckers. Ernst Otto ist in allen seinen allgemeinlinguistischen Schriften bemüht gewesen, eine produktive Beckerkritik zu fördern. Schon bei Wilhelm Scherer finden sich Bemerkungen, die auf eine Ehrenrettung Beckers hinzielen; 1875 sagte er: „Es wäre Zeit, daß eine produktive Kritik das Fruchtbare in seinen [Beckers] Anschauungen für die deutsche Wissenschaft zurückzuerobern suchte*." Ich betrachte diese berechtigte Forderung, weil sie gerade aus Scherers Mund kommt, als bedeutungsvoll und mache sie völlig zur meinen. Mit einigen Worten sei hier auf das folgenschwerste Beispiel der Kritik an Becker hingewiesen: auf diejenige Steinthals. Seine Position ist die der Apperzeptions- und der Völkerpsychologie: Alles Gesetzmäßige in der Sprache soll auf psychische Bedingungen zurückführbar sein. Die sprachwissenschaftliche Forschung überschreitet, nach Steinthal, die Grenzen der Philologie (definiert als Geistesgeschichte) dadurch, daß sie sowohl die vorgeschichtlichen Sprachen der Kulturvölker als auch die Sprachen der „kultur- und geschichtlosen" Völker zu berücksichtigen hat. Die Darstellung einer Einzelsprache hat unter Berücksichtigung ihrer Abhängigkeit von der Individualität des Volksgeistes zu erfolgen, und zwar kann eine Sprache nur dann voll erkannt werden, wenn sie einmal in der Verbindung mit allen anderen Sprachen und zum andern „in der Verbindung mit dem Nationalgeiste" erforscht wird6. Am folgenschwersten war die unerfreuliche Polemik deswegen, weil die Beckerkritik bis heute kaum eine entscheidende Änderung jenes Standpunktes vorgenommen zu haben scheint. 4

Siehe z . B . Karl Bühler: „Sprachtheorie", 1934, S. IV (Vorwort). Bühler meint, daß wir im Geiste W. v. Humboldts einem neuen Aufschwung der allgemeinen Sprachwissenschaft entgegengehen.

5

Wilhelm Sdierer in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Band II, Leipzig 1875, S. 225.

• H . Steinthal: „Einleitung in die Psychologie", 1881, S. 41, 38, 40. Aber auch K . F. Becker vertritt die, nicht weiter ausgeführte, Ansicht, daß Volksgeist (Volksintelligenz) und Sprache sich gegenseitig bedingen. „Organism", 1841, S. 2 f.

Die

11

Aufgabe

Steinthal wollte unter „Bekämpfung von K . F. Becker die Logik aus der Grammatik hinausgeworfen" sehen. Die Verdienste der beginnenden psychologischen Sprachbetrachtung unbestritten, gelang es jedoch audi Steinthal nicht, eine gültige Grundlage für die Grammatik, die sie nun unabhängig von der Logik gemacht hätte, zu schaffen. J a , er war sogar gezwungen, die von Becker geprägten grammatischen Begriffe, ζ. B. den des Objekts und Attributs, des attributiven und prädikativen Satzverhältnisses zu übernehmen! Die von Intoleranz bestimmte Kritik Steinthals beginnt bei (bewußt?) überspitzt formulierten Bemerkungen über die Beckersche Auffassung von der Sprache, welche, angeblich nach Becker, „um kein Haar breit von der Logik abweichen" dürfe („Es darf keine Grammatik geben, nur Logik!") 7 , und führt weiter zu einem Urteil über die Person Beckers, das man in der Form — ausgesprochen von einem zu seiner Zeit hochgeachteten Gelehrten — nur bedauern kann. So führt Steinthal u. a. aus, es mache ihm Mühe, Becker „von denen zu unterscheiden, die man geisteskrank nennt". Aber es sei lediglich ein Zufall, wie Steinthal immerhin zugibt, diesem Wahn, den er als einen objektiven bezeichnet, nidit audi selbst verfallen zu sein 8 ! Auch Steinthals Apperzeptionspsydiologie

ist mit

der H e r b a r t s

überwunden

worden, und die völkerpsychologische K o n z e p t i o n h a t sich schließlich als unzulänglich

herausgestellt,

weil

u. a.

mit

Psychologie

keine

Geschichte

getrieben

w e r d e n k a n n (G. P ä t s d i ) . Es bleibt vielleicht im U r t e i l der Wissenschaftsgeschichte über Steinthal nicht viel m e h r als das, was er großzügig „die positive Seite Beckers" nannte, nämlich ein Verdienst, „das freilich nur in seinem S t r e b e n ' l i e g t " ! Diese einseitige Charakter

Auseinandersetzung einer gelehrten

(Becker

Kontroverse.

war Der

1849

gestorben)

Kampf

bis zur

trug

kaum

Vernichtung

Gegners (in diesem Sinne ist die Steinthalsdie K r i t i k in Fachkreisen

den des

aufgefaßt

w o r d e n ) ziemt wohl dem theoretischen Bereiche nicht. E i n Streit u m die wissenschaftliche W a h r h e i t sollte d o r t seine Grenzen finden, w o es um die A n e r k e n n u n g der Persönlichkeitswerte des geistig Mitstrebenden geht, — um des

Fortschritts

unserer Wissenschaft willen! Steinthals Kritik, „so gänzlich zerstörend das Gebäude und den G r u n d , so vollständig zersetzend im G a n z e n und im E i n z e l n e n " , „ w a r ohne Verständnis für das 7

Diese Behauptung Steinthals ist unbegründet. Sie kann mit keinem Zitat aus Beckers Schriften belegt werden. — Typisch für Steinthals Geisteshaltung ist der folgende Satz, mit dem er seine Haltung gegenüber der bei Humboldt und Becker zu beobachtenden, zwischen Grammatik und Logik vermitteln wollenden Theorie „begründet": „Wir aber hassen jede derartige Vermittlung im Grunde unserer Seele" („Grammatik, Logik und Psychologie", 1855, S. 120).

8

Siehe H . Steinthal: „Grammatik, Logik und Psychologie", 1855, S. V I , V I I (Vorwort), S. 26 ff., 120, 160. — Im Geiste der Herbartschen Psychologie war bereits Königsberg 1845 H . Diestels Budi erschienen: Die rationelle Sprachforschung. Auf ihrem gegenwärtigen Standpunkte geprüft und psychologisch begründet (Eine Vorbereitungsschrift zu einer auf Subskription herauszugebenden deutschen Sprachlehre) — ein Beispiel gerechter wertender K r i t i k !

' Man vergleiche z . B . Lessing über den Wert des Strebens nach Wahrheit: „Eine Duplik". — Schon A. F. Pott hatte die Abhängigkeit von Herbart nicht gebilligt.

Die Aufgabe

12

Edite und Bedeutende in Becker", wie W . Scherer zu Recht dieses wenig beispielhafte Kapitel wissenschaftlicher K r i t i k abschließt 1 0 . Vor seinem Tod wurden die reformerischen Gedanken K. F. Beckers besonders von den Rezensenten der Allgemeinen Schul-Zeitung, allerdings häufig in iiberschwenglidier Weise, gelobt. Einem objektiven Standpunkt kommt die meist sachliche Kritik H. Diestels (1845) nahe. Karl Hoffmeister 11 gelingt es, bei Betrachtung der Ziele der „philosophischen" Sprachforschung an Fehler und Vorzüge des Beckerschen grammatischen Systems heranzukommen. Jedoch ist von diesen und anderen Kritikern niemals der Beitrag K. F. Beckers zur allgemeingrammatischen Forschung umfassend, bis an die Quellen hinabreichend und objektiv (d. h. unabhängig von einer bestimmten philosophischen oder psychologischen Richtung), dargestellt worden.

Dieses „Echte und Bedeutende in Becker" zu finden, ist die Problematik einer produktiven Beckerkritik, also auch meiner Abhandlung. Welcher Lösungsweg ist einzuschlagen? Ich will zunächst (im ersten Teil) klären, a) wo die Wurzeln des Organismus-Prinzips liegen, das bei Becker beherrschend ist, und was die Termini „Organismus" bzw. „organisch" überhaupt bedeuten, b) wo im Nachlaß K . F. Beckers Hinweise auf seine Beziehungen zu J a c o b Grimm und Humboldt sowie andere zeitgenössische Linguisten und Pädagogen

zu

finden sind, c) welcher

Art

das

philosophische

Fundament

der Beckerschen

Allgemeinen

Grammatik ist. Daraus wird sich ein Überblick über die Voraussetzungen zum Verständnis des zweiten Teiles, der Beckerschen Lehre von den Sprachkategorien, ergeben. D o r t soll auf den pädagogischen Standpunkt, den K . F. Becker immer innehat, indem er die Erlernung fremder Sprachen durch Lehren der allgemeinen Sprachstruktur am

empirischen

Material

der

Muttersprache

erläutern

möchte 1 2 ,

eingegangen

werden. H i e r soll ein neuer Weg der Beckerkritik gegangen werden: Ich habe mich nicht damit begnügt, den Beitrag K . F. Beckers zur Allgemeinen Sprachwissenschaft aus den häufig mißverständlichen, weil unexakten Formulierungen seiner Schriften abzuleiten, sondern habe mich bemüht, Beckers grammatische Kategorien aus seiner Weltansicht, Beckers Sprachphilosophie aus der wissenschaftsgeschichtlichen Situation, Beckers Gelehrtenpersönlichkeit aus seinem Schicksal zu verstehen. 10

Man vergleiche hierzu A . F . P o t t : Wilhelm von Humboldt und die Sprachwissenschaft. Berlin 1876, S. L X X V . - Hans Glinz: „Geschichte und Kritik", 1947, S. 65.

11

Erörterung der Grundsätze der Sprachlehre, mit Berücksichtigung der Theorien Beckers, Herlings, Schmitthenners und anderer Sprachforscher; als Prolegomena zu jeder künftigen allgemeinen Grammatik, welche als Wissenschaft wird auftreten können. Erstes Bändchen, Essen 1830.

12

Vgl. z . B . IC. F. Becker: „Deutsche Grammatik". 1829, S. X I V ; „Ausführliche deutsche Grammatik", 2. Aufl., Bd. 1, S. I X , X X I I .

Die

Aufgabe

13

Das Problem der Grammatik K. F. Beckers sehe ich als ein komplexes; es soll daher von einem möglichst umfassenden und ganzheitlichen Gesichtspunkt her, an verschiedenen Stellen bis in Einzelheiten gehend, aufgerollt werden. Ich weise darauf hin, daß im begrenzten Rahmen dieser Abhandlung nur ein geringer Teil des umfangreichen Materials des Becker-Archives verwendet werden konnte. Allein über 360 bisher unveröffentlichte Briefe habe ich gesichtet, ausgewertet und die bedeutsamsten im Anhang vorgelegt. Weitere geeignete Handschriften und Dokumente sollen späterer Veröffentlichung, vielleicht im Rahmen einer ausführlichen Biographie Karl Ferdinand Beckers, vorbehalten bleiben 13 . 15

D a s vorhandene oder nachweisbare Handschriftenmaterial ist im Anhang, S. 277 bis 283, zusammengestellt.

Geistige Zusammenhänge Dieser Teil soll einen Überblick über die Art der Verwurzelung des Beckersdien Denkens und der Fundierung seines allgemein-sprachwissenschaftlichen Systems in der geistigen Situation der Zeit geben. Die traditionelle Beurteilung des Verhältnisses K . F. Beckers zu seinen Zeitgenossen soll berichtigt, ergänzt oder auch widerlegt werden, sofern vorhandene Dokumente bzw. deren angemessene Deutung dies ermöglichen. Eine kurze Darstellung der Philosophie Beckers wird direkt zum zweiten Teil hinüberführen.

I. D I E W U R Z E L N D E R S P R A C H T H E O R I E K . F. B E C K E R S

1. Seine naturwissenschaftlichen

Schriften

In den hier zu betrachtenden Schriften ging es Becker um eine ganzheitliche, zugleich aber auch allseitige Betrachtung und Erklärung des menschlichen Körpers und seiner Funktionen. Becker fragt immer wieder nach dem Wesen des Organischen, und er schreitet stets zu einer Form der Problemerklärung, die es nur gestattet, Becker den Vertretern der Naturphilosophie F. W. J . Schellings zuzuordnen 1 . Obwohl das aus allen naturwissenschaftlichen Scliriften K . F. Beckers klar ersichtlich ist, war sich die Beckerkritik bis heute ζ. B. nicht einig, ob und wann jeweils Beckers Organismusbegriff im biologischen Sinne oder metaphorisch aufzufassen sei. Das ist aber von grundlegender Wichtigkeit, denn ohne zu wissen, was „organisch", „Organismus" sei, ist auch die Sprachtheorie Beckers unverständlich. Becker war wie Schelling und W. v. Humboldt im Innersten angeregt durch die um die Wende zum 19. Jahrhundert vor sich gehende Erweiterung des naturwissenschaftlichen Forschungsfeldes: die Entdeckungen Galvanis, Cuviers

(ver-

gleichende Methode), Lavoisiers, John Browns, Albr. v. Hallers, Kielmeyers und Blumenbachs. Tief beeinflußte Becker die Entdeckung wirkender Kräfte sowohl im physikalisch-mechanischen

(Elektrizität, Attraktion — Repulsion)

als auch im

organischen Bereich der Natur. Nach Ed. Spranger war bei W. v. Humboldt in der ersten Göttinger Epoche seiner Geistesentwicklung der gleiche Einfluß bemerkbar; denn um 1800 waren naturwissenschaftliche Experimente das, freilich oft dilettantisch gerittene, „Steckenpferd fast aller Gebildeten". 1

Vgl. den Brief F. W. J. Schellings an A.Trendelenburg vom 31. Januar 1842 (Anhang S. 272 f.)

Die Wurzeln der Sprachtheorie Κ. F. Beckers „Commentatio in c o r p u s

de

humanuni

effectibus vivum"

caloris

et

frigoris

15 externi

(1802)

In dieser gekrönten Preisschrift definiert Becker das die Entwicklung steuernde und das entfaltende Prinzip, die „Lebenskraft", „nicht als eine einfache Kraft, sondern als eine Entgegensetzung von Kräften" 2 . Hier liegt der Gedanke einer schärferen Abgrenzung von physikalischer und organischer Seinsweise zugrunde 3 , der zur Heraushebung des Wesens des Organischen führt. Dieses ist, daß — im Sinne von John Browns 4 Erregbarkeitstheorie — „jeder Einwirkung von außen eine bestimmte Reaktion entgegengesetzt" wird; und zwar entspricht einem Dualismus („antagonistischen Kräften") der äußeren Natur „ein Dualismus in der Reaktion des Organismus". In diesem Sinne beherrschen, nach Becker, den menschlichen Körper die Dichotomien: Oxydation — Desoxydation, Zunahme — Abnahme der Reizbarkeit, Eingenommenes — Ausgeschiedenes, Sthenie — Asthenie; assimilierende — sezernierende Systeme, Sensibilität — Irritabilität usw., ein „Antagonismus der Kräfte im Innern des Organismus". — Analogien zur Sprachbetrachtung K. F. Beckers liegen auf der Hand. Sie sollen später herangezogen werden. Im Streben, die für organisierte Körper typischen Gesetze zu finden, folgte Becker somit nicht der alten Physiologie, die der anorganischen Natur nahezu unumschränkte Herrschaft im organischen Sein zubilligen wollte. Er erkannte vielmehr mit Blumenbach 5 und Schelling den Lebenskräften und ihrer Macht den Vorrang im Organischen zu, allerdings auch nicht alleinigen Einfluß. D i e „physischen 2 s 4

5

Op. cit., S. 107; vgl. weiterhin S. 23, 19, 64, 97, 88, 96, 17, 12 f., 62, 98, 28, 10. Ich zitiere nach der deutschen, erweiterten Ausgabe Göttingen (Dieterich) 1804. Damals ein aktuelles Thema; man vergleiche dazu Hegels und Schellings Meinung. John Brown (1735—1788), erst Theologe, dann Mediziner; 1780: „Elementa medicinae", Hegel (in Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, hrsg. v. Joh. Hoffmeister, F. Meiners Philos. Bibl., Leipz. 1949, 5. Aufl., S. 323 Anm.) urteilt: „So ein leerer Formalismus der Brownianismus war, wenn er das ganze System der Medizin sein sollte, und wenn die Bestimmung der Krankheiten auf Sthenie und Asthenie . .., wenn diese Unterschiede ferner auf Kohlen- und Stickstoff . . . und dergleichen ihn naturphilosophisch machen sollende Formeln reduziert wurden, so hat er doch wohl mit dazu beigetragen, die Ansicht des bloß Partikulären und Spezifischen ... zu erweitern und ... vielmehr das Allgemeine als das Wesentliche zu erkennen." — Das war Beckers Streben sowohl in der Medizin als auch in der Sprachwissenschaft; audi die kritische Einstellung zu Brown dürfte Becker mit Hegel geteilt haben. Johann Friedrich Blumenbach (1752—1840), philosophischer Naturforscher, las seit 1785 an der Universität Göttingen vergleichende Anatomie und vergleichende Physiologie. Ausgehend von dem Phänomen absichtlich verstümmelter Kaltblütler, deren fehlende Körperteile innerhalb einer gewissen Zeit dem Gesamtorganismus entsprechend durch verstärkten Wachstumsprozeß ersetzt werden, stellte B. die These des allumfassend in der organischen Natur wirkenden Bildungstriebes auf. Ihn sieht B. vor allem in den Erscheinungen der Reproduktionskraft und in den sich zielbewußt nach einem immanenten Plane entwickelnden Embryonen. „Alle und jede organisierte Körper haben ihren Bildungstrieb", eine Art apriorischen Vervollkommnungsbewußtseins. — Ob W. v. Humboldt während seiner Göttinger Zeit von B. Anregungen empfing, die später seine Sprachvollendungstheorie beeinflußten, wäre noch genauer zu untersuchen. Vgl. Ed. Spranger: „W. v. Humboldt und die Humanitätsidee", 1909, S. 148.

16

Oie Wurzeln der Spracbtheorie

Κ. F. Beckers

Kräfte" werden im lebenden Organismus nicht aufgehoben, sondern physikalische (kausale) Gesetze werden „durch die Herrschaft der Lebenskräfte [die teleologischen Gesetzlichkeiten] modifiziert." Bemerkenswert ist, daß schon zu diesem Zeitpunkt in Beckers Denken ein erweiterter Organismusbegriff vorliegt. Der unverkennbare Einfluß Sdiellings und seiner Naturphilosophie erzeugte bei Becker aus der entschiedenen Opposition gegen die alleinige Anerkennung mechanistischer Gesetze in der Natur 6 eine organische Weltansicht. Das organische Prinzip ist also von vornherein nicht allein Gesetz für lebende Körper der biologischen Seinsschicht, sondern ist zugleich der Übertragung auf die „Welt" des Seienden überhaupt fähig. Der übertragene Organismusbegriff erhält durch Heraushebung des Wesentlich-Allgemeinen aus ersterem seine Berechtigung. So konnte K. F. Becker schließlich Mensch, Sprache und Wirklichkeit im Hinblick auf eine übergeordnete Idee als Organismen ansehen, weil ihnen allen ein strukturartiges Prinzip als wesentliches gemeinsames Merkmal eignet: nämlich ein teleologisch funktionierendes Gefüge polarisch entgegenwirkender Kräfte. „Es ist das Wesen der organisierten Körper, daß sie nur in einem Kampfe entgegengesetzter Kräfte ihr Dasein, und in dem beständigen Wechsel der Erscheinungen ihre Fortdauer haben." Der Unterschied zwischen den (biologischen) Einzelorganismen und dem Organismus als universalem Wirkungsprinzip ist also der, daß jene die ungeheuer vielfältigen Erscheinungsformen von diesem sind. „Innerlich" jedoch ist beides ein und dasselbe. Ganz im Geiste Schellings und der Romantiker ist Becker tief durchdrungen von der Ehrfurcht vor dem Heiligtum des allgemeinen Lebens. Dies läßt ihn jedoch nicht die Gefahr unangemessener Systembildung vergessen. Er weiß, „je eifriger man an einer neuen Idee hängt, desto fruchtbarer ist diese in Erzeugung mehrerer neuer Ideen, welche man so gern mit der ersten in Verbindung setzt; und so konstruiert man sich Systeme, welche so oft den Theoretiker von der Wahrheit entfernen und den Praktiker zu gefährlichen Mißgriffen verleiten". Becker hat den Gefahren durch ein Wahrheitskriterium auszuweichen gesucht, das kennzeichnend für seine Arbeitsmethode ist: Eine Erkenntnis ist für ihn dann wahr, wenn sie — „empirisch aufgefunden1" — „sich von selbst anschließt an die höchsten Gesetze des organischen Lebens". „Beleuchtung Brownische

des

Marcardischen

Irrlehre"

Aufsatzes:

Uber

die

(1803)

Diese von K. F. Becker anonym veröffentlichte kleine Streitschrift ist das einzige Beispiel dafür, daß Becker den Boden streng sachlicher Diktion zu verlassen vermochte, um polemisch zu schreiben. • Für Hegel ist das mechanistische Prinzip, auf der Zusammensetzung als ganz äußerlicher Beziehung beruhend, „die schlechteste Form, in der die Dinge betrachtet werden können; audi die niedrigsten Naturen müssen eine innre Einheit sein". „Wissenschaft der Logik", hrsg. v. G. Lasson, 2. Teil, Leipzig 1951, Meiners Philos. Bibl., S. 256. 7 Vgl. audi K.F.Becker („Beleuchtung des Marcardischen Aufsatzes", S. 73): Alle Prinzipienforschung hat „unmittelbar aus der Erfahrung" zu schöpfen!

Seine naturwissenschaftlichen

17

Schriften

Becker verteidigt hier John Browns neues System einer praktischen Heilkunde. Er geht im Urteil über den Wert des Brownschen Systems der Heilkunde einig mit Schelling, welcher — später in etwas weniger unbedingt-zustimmender Weise — J . Brown als ersten Vertreter der philosophischen Medizin ansieht, der „die einzig wahren und echten Prinzipien aller organischen Naturlehre zuerst" eingesehen habe. In Verfolgung dieser Konzeption nennt Schelling den Brownschen Begriff der Erregbarkeit das Wesen des (biologischen) Organismus. Die Methode ganzheitlicher Erfassung des Forschungsobjekts, obwohl schon in seiner Erstlingsschrift angedeutet, tritt jetzt immer stärker in den Vordergrund : Im Rahmen der theoretischen Medizin steht nun neben der These des teleologischen Zusammenhanges der Organismen die von dem einen durchgehenden Prinzip der Erregbarkeit. Für Becker ist (nach Brown) das Wesen einer organischen Kategorie, daß sie „nur eine im ganzen Körper" ist. Es sei kurz auf die parallele Gedankenführung Beckers in der Sprachphilosophie hingewiesen8. Wenn wir hier (1803) hören, daß „kein einzelner Teil des Körpers von einem Reiz affiziert werden" kann, „ohne daß der ganze Körper in verstärkte Tätigkeit versetzt wird", so illustriert das die Vorstellung, die K. F. Becker 1827 vom Organismus der Sprache hat. Sein Wesen ist die strukturelle Verbindung „aller Teile der Sprache untereinander" zu Differenzverhältnissen dergestalt, daß „sowohl Einzelnes als Besonderes . . . innerlich untereinander und mit dem Ganzen verbunden" ist9.

„Theoretisch-praktische

Anleitung

zur

künstlichen

zeugung und G e w i n n u n g

d e s S a 1 ρ e t e r s" (1814)

Er-

10

Ebenso wie die Streitschrift zeigt auch dieses Buch besonders aufschlußreich IC. F. Beckers theoretisch-systematische, immer auf das Allgemeine gerichtete Denkweise, indem er als „denkender" Arzt „ein System, das zuerst das Verhältnis der Außenwelt zum menschlichen Körper in seinem ganzen Umfange darstellt", dem Chaos bis dahin herrschender willkürlicher Meinungen, die „ohne Ordnung und Zusammenhang" dastehen, vorzog 11 . Die Kritik habe das System als Ganzes von der Anwendung des Systems zu scheiden, sagt der 28jährige Gelehrte. „Selbst Brown ging es, wie es großen Köpfen oft geht, daß sie einen sehr richtigen, tief dringenden Blick haben, solange sie ihn auf das Ganze, auf das Große richten, daß sie hingegen oft in Irrtum fallen, sobald sie sich mit dem Einzelnen befassen. So richtig Brown seine Idee gefaßt, so folgerecht er das System daraus entwickelt In der Vorrede zur „Deutschen Grammatik", 1829, S. X , spricht Becker z . B . über „das eine Prinzip, welches die ganze Sprache in allen Richtungen durchdringt und alle Teile der Grammatik innerlich zu einem Ganzen verbindet". » K . F . B e c k e r : „Organism", 1827, S. 10, 11, 13.

β

10

Mit dieser Abhandlung stellte K. F. Becker als Chemiker der preußischen Verwaltung die unter der französischen Besetzung gemachten Erfahrungen bei der Schießpulverproduktion zur Verfügung.

11

Siehe dazu K . F. Becker: „Beleuchtung des Marcardischen Aufsatzes", S. 27, und zum Folgenden S. 37.

2

Haselbadi

18

Die Wurzeln der Sprachtheorie

Κ. F. Beckers

hatte, so vermied er dodi in der Anwendung der allgemeinen Grundsätze nicht jeden Fehlgriff 12 ."

Becker wollte die Grundsätze finden helfen, die die Medizin als Wissenschaft begründen können. Auch in der Sprachforschung ging es ihm um das Auffinden allgemeingültiger Prinzipien. Es ist die Suche nach den „leitenden Ideen", die K . F. Becker in der Nachfolge Aristoteles', Kants und Schellings zur Überzeugung kommen ließ, „daß sowohl die ganze Naturlehre, also auch die Naturlehre der lebenden Organismen, die Physiologie, . . . auf einen höchsten Grundsatz könne zurückgeführt werden".

„ÜberdieErkenntnisundHeilungdesPetechialfiebers(1814) Als Theoretiker, der fest auf dem Boden der Erfahrung steht, will Becker die Begründung einer neuen „Theorie des Petechialfiebers" (Typhus) geben, „weil es audi theoretisch erkannt werden muß, was der Empirie immer klar gewesen ist" 1 3 . Die Analogien zur zehn Jahre später begonnenen sprachtheoretischen Grundlegung fehlen audi hier nicht: Wie sich K . F. Becker als erfolgreicher Wundarzt bemüht, die mannigfaltigen Krankheiten des biologischen Einzelorganismus „rein aufzufassen, wie sie sich der durch keine Schulansicht getrübten Wahrnehmung" darbieten; wie er überall bestrebt ist, „ein treues und vollständiges Gemälde" des Charakteristischen und Eigentümlichen der Krankheit zustande zu bringen, „um den Gegenstand wahr und vollständig aufzufassen", genauso, mit gleichem Ziel und gleicher Intention, geht K. F. Becker auf dem Gebiete der Sprachforschung als heilender Chirurg mit theoretischem Skalpell der — wie er fest glaubte — Mißgeburt der konventionellen Grammatik zu Leibe.

Zusammenfassung 1. Was Becker in den naturwissenschaftlichen Schriften unter der „Idee des Organismus" versteht, ist ausschlaggebend für seine Sprachtheorie. Der O r g a n i s m u s - B e g r i f f als Seins- und Erkenntnisprinzip konstituiert sich auf der Grundlage des Becker und Schelling eigentümlichen Begriffs der Wissenschaft von der Natur. Natur ist identisch mit der außerhalb des Bewußtseins befindlichen „Welt" und ihrer Konstruktion. Natur ist geradezu das organische Prinzip selbst. Auch schon in den medizinischen Schriften Beckers ist der Organismus-Begriff eindeutig nicht auf biologisch Seiendes eingeschränkt; er erweitert sich in der Zeit von 1802 bis 1814 zu einem „geistigen" Prinzip des Universums, einem S t r u k t u r p r i n z i p der Welt, als dessen Merkmale Becker den Zweckzusammenhang und die innere Ganzheit hervorhebt. 12

K . F . B e c k e r : „Beleuchtung des Marcardischen Aufsatzes", 1803, S. 44 f.

"

Op. cit., S. X I , VII.

Schellings

Naturphilosophie

19

2. Die Tendenz der naturwissenschaftlichen Schriften beweist, daß die später vertretene Auffassung vom „organischen" Bau der Sprache bereits in seiner Idee des naturphilosophischen Organismus vorgebildet liegt. 3. Die wissenschaftsgeschichtliche Quelle der Sprachphilosophie K . F. Beckers ist Naturwissenschaft. Dennoch ist, wie wir sehen werden, Beckers Sprachbetrachtung vom rein biologisch-naturwissenschaftlichen Standpunkt weit entfernt. Er bleibt sich durchaus bewußt, daß die Sprache ein geistig-psychisch-physisches Phänomen ist. Daran ändert auch nichts die gelegentliche Bemerkung Beckers, sein Organismusbegriff sei „naturwissenschaftlich" aufzufassen; denn in diesem Falle kam es Becker lediglich auf die Kennzeichnung der Verwurzelung seines Prinzips an. 4. Die Theorie K . F. Beckers ist metaphysisch fundiert in dem Gedanken durchgehender Seinskategorien, die aber in der jeweils „höheren" Seinsschicht von den da beginnenden Kategorien durch Modifikation beherrscht werden. 5. K . F. Becker arbeitete als Arzt und Chemiker im Geiste derjenigen Forscher, die sich von einer Überformung der Einzelwissenschaften durch die Philosophie (beispielsweise John Brown) eine wesentliche Bereicherung der Erkenntnis, ja überhaupt erst das Wesentliche erhofften. In einem Briefe Beckers findet sich dieser Gedanke prägnant formuliert: „Ohne Philosophie ist die Medizin und jede andere Wissenschaft ein geist- und sinnloses Polemisieren 14 ." Zeitlebens ist Becker diesem Grundsatz treu geblieben. Die im Briefwechsel mit Schelling und anderen begonnene Diskussion naturphilosophischer Probleme wurde später, in den 30er Jahren, vornehmlich mit seinem Sohn Ferdinand Wilhelm Becker, der praktischer Arzt in Berlin und Privatdozent für Pathologie an der Berliner Universität war, fruchtbar fortgesetzt. Ich verweise auf die im Anhang veröffentlichten Briefdokumente.

2. Schellings

Naturphilosophie

Geschichtliche

Bedingungen

Die Naturphilosophie Schellings mit allen ihren Übertreibungen, Unklarheiten und Totalismen wird aus einem Mangel der Fichteschen Wissenschaftslehre verstanden. Auch Beckers Verhältnis zu Fichte ist bestimmt durch die bei Schelling vorliegende Vernachlässigung des Momentes der geistigen Freiheit. Becker ist sich jedoch später (in der linguistischen Forschungsperiode) dieses Mangels bewußt geworden, vornehmlich durch die Diskussion sprachphilosophischer Probleme mit W. v. Humboldt und den Romantikern. Im ganzen geht Becker mit Schelling 14

2*

Brief K. F. Beckers an seinen Sohn Ferdinand Wilhelm in Edinburgh vom 3. September 1827 (Becker-Archiv).

20

Die Wurzeln der Sprachtheorie

Κ. F. Beckers

konsequent den Weg des Kampfes gegen die Fichtesche Entwertung der Natur, die auch N. Hartmann als „etwas Unnatürliches" empfindet15. Aus der bei Schelling und Becker gleichermaßen vorhandenen Tendenz zur Verselbständigung und Verallgemeinerung des Natur-Begriffes ist die Kritik an Becker zu verstehen, die ihm einmal wirklichkeitsfremde idealistische Spekulation, zum anderen materialistisch-kausalgesetzliche Systematisierungsbestrebungen vorwirft. Die Beschäftigung mit Kant und seiner Moralphilosophie (ζ. B. : Die Religion, Königsberg 1793), mit naturwissenschaftlichen Einzelproblemen und der Naturphilosophie begann bei Becker nachweisbar schon während der Gymnasial- und Seminaristenzeit: ausschließlich zurückgehend auf Anregungen seines Erziehers, des Oheims Ferdinand Becker, damals Domvikar zu Paderborn 16 . Weiterhin kann angenommen werden, daß Kants Antinomienlehre (in ihrer Weiterführung über Fichte zu Schellings dialektischem Verfahren und zu Hegels philosophischer Methode) von starkem Einfluß auf K. F. Beckers natur- und sprachwissenschaftliche Methode gewesen ist. Mit Beginn des Medizinstudiums wendete sich Beckers Interesse ausschließlich dem naturphilosophischen System Schellings zu.

K . F . B e c k e r und

Schelling

Überhaupt ergeben sich in der geistigen Entwicklung Beckers und Schellings viele Parallelen: ζ. B. humanistische Bildung, Theologiestudium, Auseinandersetzung mit Kant, speziell medizinische und naturwissenschaftliche Studien im ganzen. In Übereinstimmung mit Hinweisen aus dem Becker-Archiv und anderem familiengeschichtlichen Material ist Beckers Schellingstudium den Jahren der Göttinger Studienzeit (1799—1803) und der Zeit seines zweiten Göttinger Aufenthaltes (1811—1814) zuzuweisen. In die gleiche Zeitspanne ist zweifellos auch der wohl belegte, aber nicht mehr vorhandene Briefwechsel Beckers mit F. W. J . Schelling zu legen. Auf die Existenz des Briefwechsels weist das Verzeichnis der in Tübingen gelagert gewesenen Bestände des Becker-Archives und wohl auch der im Anhang (S. 272) veröffentlichte Brief Schellings an A. Trendelenburg hin; aber die übrigen Briefdokumente müssen leider als Nachkriegsverlust angesehen werden. Dieses wichtige Material wenigstens durch Belege 15

N . H a r t m a n n : Die Philosophie des deutschen Idealismus, I.Teil: Fichte, Schelling und die Romantik. Berlin und Leipzig 1923, S. 123 (Bd. 8 der Geschichte der Philosophie).

16

Der Domvikar F. Becker wies den Gläubigen, im Kantisdien Sinne, einen Weg „zum moralischen Reiche Gottes" und war in diesem Sinne ein revolutionärer und einflußreicher Pädagoge (Methodik und Didaktik der Elementarschule). Den für ihn äußerlichen formalistischen Glaubensbetrieb der katholischen Kirche lehnte er ab. Er fiel daher auch der Inquisition zum Opfer. — Über das tragische Schicksal dieses Reformators hat Heinz Knab, aus dem Becker-Archiv schöpfend, gearbeitet: „Zum Inquisitionsprozeß Ferdinand Beckers", (maschinenschriftliche) Examensarbeit am Pädagogischen Institut Weilburg, 1951. — Weitere Belege sollen hier nicht gebracht werden.

Schellings

Naturphilosophie

21

für Erschließungen zu ersetzen, dürfte auch der Schellingforschung wegen großer Verluste unmöglich sein.

Wenn audi persönliche Beziehungen zu Schelling nicht belegbar sind, so nennt doch K.F.Beckers Preisschrift (1802): „Commentati» de effectibus caloris et frigoris externi" die geistigen Väter: Blumenbach, F. W. J . Schelling, Richter. In dieser damals allgemein beachteten Abhandlung, die ihm von der Universität Göttingen den Titel des Doctor Medicinae einbrachte, weist Becker auf Stellen in den folgenden Schriften Schellings hin: „Von der Weltseele" (Hamburg 1798), „Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" (1799), „Zeitschrift für spekulative Physik" (1800—1801). Das ist also der Jenaer, der mit Hegel noch weitgehend gleichgesinnte Schelling, welcher mit den Schlegels, mit Tieck und anderen die romantische Schule begründete; das ist die Schellingsche Periode der Natur- und Identitätsphilosophie. Nach der Entzweiung Schellings mit Hegel ist Becker zweifellos der Naturphilosophie Schellings treu geblieben, obwohl ihn ebenso die Hegeische Philosophie interessiert hat. K. F. Becker hat wohl auch aus dem dialektischen Universalprinzip Hegels nur den Gedanken Schellings von der Polarität und Gegensatzspannung in den Naturgesetzlichkeiten herausgelesen17. Ein einziges Mal erinnert eine Definition Beckers an die Terminologie Hegels 18 . Becker rundweg als Hegelianer zu bezeichnen, wie es Steinthal gelegentlich getan hat, dürfte einer genaueren Untersuchung des Sachverhaltes nicht standhalten.

Im Begriff der Spekulation scheidet sich Becker von Schelling. Bei diesem ist die spekulative, vom Erfahrungswissen unabhängige, Erkenntnis beweisführend. Das Tatsachenmaterial dient lediglich zur Verifizierung deduzierter Thesen. Der Standpunkt Schellings ist bei Becker ganz eindeutig in Richtung auf einen, wie N. Hartmann es nennt, „Real-Idealismus" erweitert worden. Das Beckersche Wahrheitskriterium setzt als primären Vorgang ausdrücklich das empirische Auffinden einer Erkenntnis und kennzeichnet die Deduzierbarkeit aus einem allumfassenden Natursystem als sekundär notwendig. Außerdem führt die Vernachlässigung der Bedeutung spontaner Tätigkeit des Subjekts bei Becker dazu, daß er das Kunstwerk nicht als Organismus ansieht. Die Schellingsche Gleichung Universum = Organismus = Kunstwerk besteht in letzter Konsequenz, und besonders in der Sprachphilosophie, für Becker nicht. Bedeutsame Abweichungen von Schelling, die hier nicht weiterverfolgt werden können. Bei einem literarkritischen Vergleich zwischen den in Frage kommenden Schriften Beckers und Schellings werden die Einflüsse Schellings auf das metaphysische Fundament der Beckerschen Sprachtheorie, seinen Organismusbegriff, evident. Hier sei auf einige Kernpunkte eingegangen. 17

Vgl. Handbuch der Philosophie, Abteiig. I: Metaphysik der Neuzeit, München und Berlin 1934, S. 159.

18

Das das Seiende überhaupt („Natur", audi Denken und Sprache) konstituierende Prinzip sind Gegensätze, „positive Gegensätze, die, einander negierend, an die Stelle des N e gierten etwas Neues setzen und in eine höhere Einheit können aufgenommen werden". K . F . B e c k e r : „Ausführliche deutsche Grammatik", 1842, Ì.Band, S. 21.

Die Wurzeln der Sprachtheorie Κ. F. Beckers

22

Der

S e i n s a u f b a u 19

Schelling überwand den subjektiven Idealismus in einem Neuaufbau des Seienden. Er erstrebte die „idealistische Konstruktion der Natur"; und in diesem Sinne waren ihm „zugleich mit den Kategorien der Konstruktion der Materie überhaupt auch die für die Konstruktion des organischen Produkts gegeben", „da selbst die organische Natur nichts anderes als die in der höheren Potenz sich wiederholende unorganische" sei. Die Potenztheorie der Naturentwicklung, von dem Gedanken durchgehender, modifizierter Seinskategorien ausgehend, setzt ein für alle Schichten des Seins g l e i c h a r t i g e s P r i n z i p d e r K o n s t r u k t i o n voraus. Dabei sind nicht die anorganischen Naturprodukte das Primäre, sondern gerade die (geistige) Organisation 20 . Auf diese Konzeption geht K . F. Beckers Theorie des Seienden zurück, welche den Schellingsdhen Konstruktionsbegriff (der dem der Abstraktion entgegengestellt wird) entlehnt bzw. übernimmt.

Materie

und

Geist

Sich von Fichte distanzierend, gewannen Schelling und Becker einen neuen Standpunkt im Hinblick auf das Materie-Geist-Verhältnis. Der Geist ist die höchste Potenz des Materiellen; beides schließt einander nicht aus, sondern ist überformt durch ein identisches Ganzes. Alles Seiende ist Geist und Materie zugleich, Natur. Die Natur ist ohne ein durchgehendes (geistiges) Prinzip nicht organisiert denkbar. Geist im Objektiven und Subjektiven gehorcht gleichen Konstruktionsgesetzen, ist durch die gleiche produzierende Kraft einheitlich ausgerichtet. Materie und Geist, Sein und Denken, kausale und teleologische Gesetzlichkeiten madien das strukturell gegliederte All, den Organismus, aus. „Der Organismus ist das Prinzipium der Dinge." Besonders wichtig ist für K. F. Beckers Sprachphilosophie, daß die naturphilosophische Methode 1. die Intelligenz, den subjektiven Geist, aus dem Urprinzip der unbewußten Natur ableitet, 2. die reale Natur als Erscheinung der idealen ansieht. Die Erscheinung (Objektivierung) der Idee ist das Materielle 21 . Das Wesen der Natur als Ganzheitszusammenhang ist das Identische, das ihm innewohnende „Leben", die identische produktive Tätigkeit 22 . 18

In diesem Abschnitt und im folgenden habe ich zurückgegriffen auf F. W . J . Schelling : Werke, hrsg. von M. Schröter, 2. Hauptband, München 1927. Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen (1799), S. 90 f., 143, 174 f., 117 f. Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik (1800), S. 638. R. Eisler: „Wörterbuch der philosophischen Begriffe", I. Bd., 4. Aufl., Berlin 1927, S. 708 ff., 710.

20

N . H a r t m a n n : „Fichte, Schelling und die Romantik", 1923, S. 135 f.

21

Vgl. N . Hartmann, a . a . O . , S. 130, 136, 138, 145.

82

Hans Driesch: Metaphysik der Natur. Handbuch der Philosophie, Abteiig. II (Natur — Geist — Gott), Berlin 1927, S. 54 f., 56, 52. Nach Driesch hat das Identische jeweils eine

Schillings

Naturphilosophie

23

Von hier aus führen direkte Beziehungslinien zur These K. F. Beckers von der Gleichheit der kategorialen Ordnung in der objektiven Welt und in der Sprache. Natur und Intelligenz sind im Grunde ein und dasselbe Wesen!

Ganzheit

und

Identität

Das „organische" Prinzip ist ein auf Ganzheit gerichtetes, ein Strukturprinzip. Die Seinsschichten — anorganische und organische Natur — werden nicht durch differente Seins- und Erkenntnisprinzipien beherrscht, sondern die absolute Vernunft vereinigt beide. Jedes zunächst einzeln Seiende ist nur Glied eines Ganzen; jedes Glied kann nur existieren, indem es die übergeordnete Identität zur Voraussetzung hat. Alle Modi sind Seinsarten der Identität, quantitative Differenzierungen des Abstrakten. Daraus ergibt sich, daß auch jedes Glied Repräsentant des Ganzen, die Darstellung der Totalität in den Grenzen der speziellen Seinsweise ist, welche durch den Grad der Differenzierung bestimmt wird 23 . Dieses identitätsphilosophische Moment, Einflüsse Leibniz' (Teleologie der Entwicklung), Spinozas (Einheit des Seinsprinzips) und Piatos (Geistige Formprinzipien) aufweisend, ist ein charakteristisches Merkmal auch der Beckerschen Metaphysik und Sprachphilosophie. Das allgemeine Leben birgt die Urtriebkraft zur Ganzheit und zu dem universalen Organismus 24 . Es muß sich die Frage erheben: Wenn man den Organismus-Begriff ganz allgemein als das dynamische Gleichgewicht der Natur definiert, wenn man behauptet, das Wesentliche aller Dinge sei ihr Leben, ist dann die Bezeidinung „Organismus" überhaupt nodi gerechtfertigt? Was als Summe wesentlicher Merkmale dieses Begriffes übrigbleibt, ist ein Strukturgefüge, „in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist" (Kant), in dem — wie Driesch mit Bezug auf Schelling sagt — einer „organischen" Ganzheit „organische" Vielheit zugeordnet ist, das Universum als „Ganzes in Vielheit" genommen wird, in dem unter einem teleologisch-dynamischen Prinzip des Wirkungszusammenhanges organische und anorganische Natur miteinander verbunden, die Prinzipien des Mechanismus und des Organismus also die gleichen sind. ideale und eine reale Seite. Das identische Wesen der höchsten Verzweigung der N a t u r ins Ideale und Reale ist der „Organismus"; d . h . : das gegliederte All, Universum ist der Organismus! 23

Vgl. N . Hartmann: „Fichte, Schelling und die Romantik", S. 157.

24

Ins Mystische geht die Erklärung seines Weltprinzips, wenn Schelling in der Sdirift „Von der Weltseele" (1798) sagt: Das Leben ist allgemeines Prinzip, das sich in den einzelnen Lebewesen individualisiert. D i e systembildende Kraft des Universums ist die Weltseele. Sie erhält, nach Schelling, die Kontinuität der anorganischen und organischen Welt und verknüpft die N a t u r zu einem a l l g e m e i n e n O r g a n i s m u s . Vgl. dazu: „ H a n d wörterbuch der Philosophie nach Personen" v o n Ziegenfuß/Jung, 2. Band, Berlin 1950, S. 427 ff. (Schelling).

24

Die Wurzeln der Sprachtheorie

Κ. F. Beckers

Zur Klärung der G e n e s e des B e c k e r s c h e n b e g r i f f e s erscheint mir das Folgende von Wichtigkeit:

Organismus-

Der in universeller Bedeutung verwendete Organismusbegriff kennzeichnet den Einfluß romantischen Gedankengutes auf K. F. Becker. Ihm ist auch alles Unklare, Dunkle und „Dämonistische" in der Sprachmetaphysik Beckers zuzuschreiben. Vom Organismusproblem her gesehen, gehören Becker und Schelling an den gleichen philosophiegeschichtlichen Ort; die Sprachphilosophie führt aber zu speziellen Fragen der Konstruktion der geistigen Seinsschicht. Logisch-dialektische Erkenntnisse beförderten um 1800 die allgemeine Meinung, daß „sich der Bildungstrieb, der in niederer Form in den Naturorganismen wirksam ist, in dem Prozeß der menschlichen Geistesbildung kontinuierlich fortsetze". Auch Ed. Spranger sieht im universellen Organismusbegriff dieser Epoche einen allgemeinen Strukturgedanken. Er sagt: Der Organismusbegriff „greift . . . gleichsam über das Physische und Psychische zugleich hinüber, gehört dem letzteren Gebiet nicht minder als dem ersteren an". Er „deckt für das Denken dieser Epoche zugleich das höchste Geistige und das einfach Natürliche: er drückt die Ahnung eines inneren Struktur- und Bildungsgesetzes aus, . . . Alles Leben ist organisch, d. h. ein System von innerer Zweckmäßigkeit, gegenseitiger Bedingtheit der Teile und geistiger wie physischer Fortpflanzungsfähigkeit; in diesem gesetzmäßigen Ganzen sind zugleich die Gesetze des Raumes, der Zahl (d. h. der Rhythmik) und der mechanischen Vorgänge als untere Potenzen mit einbegriffen. Die Natur ist für Humboldt durchgängiger Organismus" 25 . In dieser identitätsphilosophischen Periode Humboldts ist also auch eine weitgehende Übereinstimmung mit Beckers Begriff des Organismus als Prinzip und dessen Wurzeln festzustellen. Zu berücksichtigen bleibt allerdings, daß Becker später den Sprechakt als organisch im Sinne einer physiologischen Funktion, im Gegensatz zum Gesprochenen, ansieht. Eine „Methodeninvasion" (Spranger) setzte ein, die, von der exakten Naturwissenschaft herkommend und an ihren Gesetzen abgelesen, die Erkenntnishaltung zum Seienden a l l e r Seinsschichten in ihren Bann zog. Das Organismusprinzip in der Gestalt polarisch-wechselwirkender Gesetzlichkeiten wird zur Bestimmung der gesetzlichen Zusammenhänge in den Geisteswissenschaften verwendet; es wandelt sich in einen a l l g e m e i n e n S t r u k t u r g e d a n k e n ! Ich möchte daraus den Schluß ziehen, daß der Begriff des Organismus, aus dem Zusammenhang der ursprünglichen Opposition zur mechanistischen Naturbetrach25

Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, 1909, S. 144; vgl. S. 145, 200 f., 149. — Spranger gibt in seinem Buch ein Bild der geistigen Situation, das W. v. Humboldts wie auch K. F. Beckers wissenschaftliche Haltung deuten lehrt. E r weist auf die organische Analogie zur Erforschung der Struktur des Geistes, die im Grunde aristotelisch sei, hin; auf die dialektischen Kategorien der Differenzierung und Integrierung (S. 23, 146, 147), auf den Ursprung des Organismusgedankens der Sprachbetrachtung bei Schelling (S. 73, 144, 149) und in der Identitätsphilosophie allgemein (S. 142).

Schelling!

Naturphilosophie

25

tung herausgerissen und ins Ungemessene erweitert (den Gegenpol dabei verschlingend), nur sehr bedingt brauchbar ist, zumal wenn er bei Becker auch nodi für den geistigen Seinsbereich in gleicher Bedeutung gültig sein soll. Wenn letztlich alles organisch ist, dann ist freilich auch jede sprachliche Erscheinung „organisch"; womit allerdings nodi sehr wenig zum Wesen der Sprache gesagt ist. Weil er wegen seiner metaphorischen BegrifFsbedeutung auf Grund biologischer Analogien bis heute in der Beckerkritik Mißverständnisse hervorgerufen hat und weil selbst Becker in den eigenen Schriften keine seinsdifferenten „organischen" Erscheinungen kennt, kommen wir nur weiter, wenn der Organismusbegriff durch einen Strukturbegriff ersetzt wird, der die Schichtendifferenz berücksichtigt. Becker hat ständig Mißbrauch mit dem Terminus „organisch" getrieben. — Auf die einzelnen Merkmale des besonderen Organismus der Sprache wird später noch einzugehen sein; ebenfalls auf die daraus zu ziehenden systematischen Konsequenzen. Die

Dialektik

Das organische Prinzip schafft ein innerlich zusammenhängendes System; und die Ordnung beschränkt sich nicht auf Gesetzlichkeiten der Koexistenz, sondern auch auf solche der Sukzession: sie hat zum Ziel ein auf dem Dualismus widerstreitender Kräfte beruhendes Entwicklungssystem. Bei Schelling ist der Organismus durchgehendes Seinsprinzip wechselseitiger Beziehungen in p o l a r e n Spannungsverhältnissen,- er ist im Sinne von Kants Konstruktion der Materie das Prinzip aller Bildungen der Natur. Und so konnte Becker auch die Sprache, als ein geistig-leibliches Zwittergebilde, aus diesem dichotomischen Prinzip erklären; Dialektik als Erkenntnismethode verläuft mit dem dialektischen Seinsaufbau in eins. » Bei K. F. Becker fundiert die Polarität (das Differenzverhältnis) S e i n — T ä t i g k e i t das Seinsprinzip der Sprache. Dabei ist, wie die Beckerkritik bewiesen hat, der Begriff des Seins mißverständlich: er darf nicht Existenz, sondern muß Substanz bedeuten. Die Polarität Sein-Tätigkeit findet sich in Sdiellings Aufsatz über den „Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" (1799) im Gebrauch, und zwar in Verbindung mit den Gegensätzen Nerv —Muskel, Kontraktion — Expansion, Elektrizität — Galvanismus, die audi Becker gelegentlich zur Erläuterung seines Sprachprinzips heranzieht. Welcher Art ist die Struktur der Schellingschen Dialektik? Die Kantische Antinomie von Kausalität und Zweck, von mechanisch-mathematischem und teleologisdi-organischem Prinzip wurde von Schelling identitätsphilosophisch überformt. Und im ursprünglichen Indifferenzpunkt des absolut Seienden, der Einheit von Materie und Geist („Licht"), von Subjekt und Objekt, Denken und Sein ist, wie bei K. F. Becker, der Ursprung der „organischen" Naturprodukte. Kant nannte als Bedingung aller organischen Bildung die Entzweiung des Identischen: Die Natur sucht in dem Wechsel von Anziehung und Zurückstoßung

26

Die Wurzeln der Sprachtheorie

Κ. F. Beckers

eigentlich nur „aus der Differenz, die ihr zuwider ist, in die Indifferenz zurückzukehren". Nach Schelling zerfällt so das Ursprüngliche, Identische zunächst in entgegengesetzte Faktoren (vgl. die Beckerschen Faktoren der syntaktischen Differenzverhältnisse), die dann „notwendig selbst wieder Produkte sind". Sie zerfallen kontinuierlich weiter in Differenzen, die dann neue Produkte, und zwar sich in gleicher Selbständigkeit dichotomisch gegenüberstehende, sind, und so weiter. Als das Wesen dieses organischen Prozesses ist das „Individualisieren der Materie ins Unendliche" (Driesch) verstanden worden. Grundlegende Kategorien sind die sich regelmäßig ablösenden der D i f f e r e n z i e r u n g und I n t e g r i e r u n g der Glieder. Wir haben es hier mit einer teleologischen Beschreibweise zu tun, einer Auffassung des Wesentlichen im Seienden, seiner „Natur", die sich gleichzeitig — im Gegensatz zu Kants Auffassung von der objektiven Zweckmäßigkeit — als „konstitutives, metaphysisches Prinzip" im Seienden selbst wiederfindet. Der Organismus ist (wie die Struktur) subjektiv und objektiv zugleich. Nach Schelling müssen die Natur- und analog die geistigen Phänomene „von innen her", auf dem Wege spekulativer Konstruktion erkenntnismäßig aufgebaut werden28. Die Bedeutsamkeit der Grundkategorien Integrierung und Differenzierung bei Schelling stellt N. Hartmann so dar 27 : Die reale Entwicklung der Natur ist

Î I I

einesteils fortgesetzte Integrierung des Differenzierten. Sie in Betracht ziehen heißt, sich um die Erkenntnis des Wesens der Dinge bemühen; andernteils fortgesetzte Differenzierung des Identischen. Die Erkenntnis darauf ausrichten heißt, zum Einzelnen der Welt vordringen.

All diese Kernpunkte hat K.F.Becker in seiner Frühperiode, bis etwa 1833, kaum mit eigentümlichen Abweichungen inerkannt und übernommen, indem er die systembildende Kraft jenes all-mächtigen „organischen" Prinzips auf das Phänomen menschlicher Sprache — damit sowohl physiologische und physikalische, als auch geistige und psychische Seinsbereiche erfassend — in Anwendung brachte. An vielen Einzelfragen, die in Beckers medizinischen Schriften abgehandelt werden (ζ. B. was seine Haltung zu John Browns Erregbarkeitstheorie betrifft), lassen sich Übereinstimmungen mit F. W. J . Schelling konstatieren. Sie, und auch die Abweichungen, sind das Ergebnis eines tiefgreifenden Schellingstudiums. Um Beckers Streben angemessen beurteilen zu können, muß man wissen, daß er — auf Grund des vorherrschenden Schellingschen Einflusses — die Fundamente der Sprache durch ein Prinzip zu beschreiben und erklären suchte, das keine kategorialen Grenzen zwischen Natur und Geist kannte und dessen Systemkategorien, modifiziert zwar, vom materiellen bis zum geistigen Sein durch den gesamten „Organismus" des Seienden hindurchlaufen. Wie heute mit dem (geistespsychologischen) Strukturbegriff die Verwissenschaftlichung der sogenannten historischen „Wissenschaften" 2

« Vgl. Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie, II. Bd., S. 292—295 (Schellings naturphilosophische Periode).

27

„Fichte, Schelling und die Romantik", 1923, S. 135.

Romantische

und logisch-systematische

Sprachbetrachtung

27

betrieben wird, so war es für die Zeit Schellings und Beckers das Organismusprinzip, das der Medizin wie der Sprachkunde als den „inexakten Wissenschaften" zum Status von Gesetzeswissenschaften verhelfen sollte. Wie heute, so lag schon damals das Streben zugrunde, die Phänomene aller Seinsschichten ganzheitlich in ihrem inneren Zusammenhang, ihrem strukturgesetzlichen Aufbau zu verstehen. Besonders der Beckersche Verstehens- und Bildungsbegriff liegt voll tiefer Bedeutung, wenn man die Kategorien seines Systems bis zu den Wurzeln verfolgt. Verstehen hieß schon bei Becker Erfassung von strukturierten Ganzheiten.

3. Romantische

und logisch-systematische

Die romantischen

Merkmale

Sprachbetrachtung

des O r g a η i s m u s b e g r i f f s

Nachwirkungen romantischer Geisteshaltung sind in der Weise, wie Becker, Humboldt und Grimm die Sprache betrachten, vielfältig zu finden. Während Humboldt einer echten Synthese der romantischen und logisch-systematischen Haltung nahekommt und Jacob Grimm immer mehr einem historischen Sprachpositivismus vorbaute, nahm Becker einen dritten Standpunkt ein, der sich freilich sowohl auf die Forschungen Grimms wie auch (und dies in entschiedenerem Maß) auf die Humboldts gründete. Die Gesamtentwicklung überschauend, glaube ich, daß die Romantik nur vorwissenschaftlichen Boden bereitet hat. In dieser vorwissenschaftlich-romantischen Periode der Sprachbetrachtung treffen die Lehren Fidi tes und Schellings zusammen: Eine Verquickung von Priorität des sprechenden Subjekts und Dominanz des Realprinzips der Sprache. Bei Becker laufen alle Einflüsse romantischen Geistes zusammen in dem umfassenden und zentral postierten Organismusbegriff. Auf ihn, die metaphysische Grundlage seiner Sprachbetrachtung, sind alle Einzelmerkmale romantischen Einflusses letztlich zu beziehen. Aber im Organismusbegriff Beckers ist sowohl eine romantisch-spekulative als auch eine systematisch-rationale Seite erkenntlich. Ich beschränke mich hier zunächst auf die Merkmale, die ich für romantischen Ursprungs halte: 1. Entscheidender Bestandteil romantischer Geisteshaltung 28 ist die Schau einer dynamischen Weltordnung, die sich vielfach vitalistisch gebärdet. Das Seiende stand unter dem Begriff des allgemeinen Lebens, auch die Sprache (besser: das Sprechen und die Sprache) ist ewiges Werden. Im Hintergrund, besonders bei Becker, steht Schelling. 28

Vgl. zum folgenden Eva Fiesel: „Die Sprachphilosophle der Romantik", Tübingen 1927, S. 12, 132 f., 153, 87 f., 89, 113, 116, 135, 152, 148, 163.

28

Die Wurzeln der Sprachtheorie

Κ. F. Beckers

Viele Romantiker beteten, da ihnen Fichtes zu abstrakte Lehre nichts bieten konnte 29 , die Schellingsche Naturphilosophie an. Eine Haltung, die in ihren einseitigen Konsequenzen zur Ausrichtung des Denkens auf das Gegenständliche, die Natur/das Sein, führte. Von hier aus ergeben sich Beziehungen zu Beckers Systemdenken. 2. Der romantische Evolutionsgedanke Schloß alles Besondere in überformender Identität zusammen. Das Wesen des allgemeinen Lebens war Kampf und Bewegung, und zwar in dialektischem bzw. didiotomisdi/tridiotomischem Fortschreiten. So r

ist — durchweg Schellingscher Einfluß — audi Beckers Idee von der dialektischen Struktur und Entwicklung der Sprache ein legitimes Kind der Romantik. Sie ergänzt auf dem Gebiet der Sprache das Bild vom ewigen „Drama des Weltalls", wo „Zwiespalt im Einen, das endlose Sichsuchen, Vereinigen und Auseinanderfliehen der getrennten Pole, die Disharmonien" sich in einem harmonischen Zusammenhang, in der allumfassenden Einheit auflösen30. Das Thema der Identität von Gegensätzlichem kehrt bei vielen Romantikern, in Variationen, wieder. So treffen wir in den philosophischen „Fragmenten" bei Novalis immer wieder auf die „Idee des Ganzen", die (gegensätzliche) Glieder, Teil- oder Halbphänomene, zwei Seiten in einem identischen Sein überformt: Der Tanz ist ζ. B. nur die andere Hälfte der Musik, der Künstler nur die Synthese aus Theoretiker und Praktiker; so war der Dichter, nach Novalis, im Anfang mit dem Priester eins. Die „Wissenschaft ist nur eine Hälfte. Glauben ist die andere", usf.

3. Dazu gehört, daß A.W.Schlegel schon in den „Berliner Vorlesungen" (1804/ 1806) erkennt, wie der Akzent den Satz zu einer Einheit verknüpft. Dieser Gedanke wurde später audi von W. v. Humboldt in ähnlicher Form übernommen*1. Beckers Auffassung von der Beziehungsbedeutung des Akzents ist die gleiche. 4. Das evolutionale Merkmal des romantischen Organismusbegriffs geht zurück auf die von Friedrich Schlegel in „Sprache und Weisheit der Indier" (1808) erstmalig ausgesprochene Idee von der „inneren Struktur" der Sprache, die in der Beckerschen Konzeption — allerdings dem systematischen Merkmal untergeordnet — wieder auftaucht. Leskien setzt diesen Begriff mit dem Boppschen Organismusbegriff gleich32. Es war eine Entdeckung Friedrich Schlegels, daß die Entwicklung der Sprachen aus der Wortwurzel, wie aus einem lebendigen Keim 33 heraus, vor sich gehe. Sonach sind die flexivischen Sprachen (Sanskrit, Griechisch) die „organischen" 29

Vgl. z . B . den Brief Jacob Grimms an Weigand vom 29. März 1862: Fichtes „deutscher Geist" ist „mir lieb und teuer, dessen Philosophie mir zu redselig und überspannt". Hrsg. von Ed. Stengel, „Private und amtliche Beziehungen", Bd. I, S. 380.

30

Ricarda Huch: Die Romantik, I. Band: Blütezeit der Romantik, Leipzig 1920, 8./9. Aufl., S. 164 ff., 167; vgl. S. 236.

31

Humboldt spricht von satzbildender Synthesis, die durch Wortrhythmus und Satzakzent vermittelt wird, auch von dem „synthetischen Setzen".

Allg. Deutsche Biographie, Bd. 3 (Lpz. 1876): Artikel Bopp, S. 144. 33 Vergleiche z . B . Novalis: „Die Sprache ist ein Produkt des organischen Bildungstriebes" (Blumenbach); organologisch-strukturelles Ganzheitsdenken: „Dichten ist Zeugen. Alles Gedichtete muß ein lebendiges Individuum sein."

32

Romantische

und logisch-systematische

Sprachbetrachtung

29

Sprachen par excellence gewesen, weil in ihnen die Beziehung der grammatischen Begriffe durch „innere" Veränderung bezeichnet wurden. Die Beckersdie Organismusidee entfernt sich aber mit fortschreitender Forschung immer weiter von dem romantischen Standpunkt. Daraus ergibt sich, ζ. B. bei A. W. Schlegel, eine auf das Einzelne (nicht das Strukturglied!), das Wort in der Sprache gerichtete Forschungsweise, ohne daß überhaupt ein systematischer Zusammenhang vorschwebt34. Die Oberbetonung des evolutionalen Elements des Organismusbegriffs im romantischen Gedankenkreis kommt in der Überzeugung Friedrich Schlegels zum Ausdruck, daß die Flexion, also eine Art der Beziehung zwischen den Gliedern im Satz, „organisch" und nicht medianisch (agglutinierend) entstanden sei35. Das evolutionale, typisch romantische Merkmal des Organischen in der Sprache ist in Beckers Schrift von der „Deutschen Wortbildung" (1824) noch sehr deutlich erkennbar. Wie hier, so ist auch für die Schlegelsche Idee der Schellingsche Ursprung klar. Becker ist der Dritte im Bunde, sofern das Wesen des Organischen, auf das Niveau eines allgemeingültigen Gefüges sprachlicher Gesetzlichkeiten erhoben, „in der inneren Einheit und Konsequenz der Bildung" gesucht wird. Aber das führt schon hinüber zur rationalen Sprachbetrachtung. 5. In der Lexikologie Beckers finden wir viel vom mystisch-mythologischen Etymologisieren à la Kanne ( f 1824) wieder. Die frühe Periode romantischer Genialität bei Jacob Grimm lag unter dem gleichen, allerdings wesentlich tiefergehenden Einfluß dieser Tendenzen. 1815 entschloß sich A . W . Schlegel — W . v. Humboldt, der in seinem Briefwechsel mit Schlegel etwas verächtlich von „Etymologien à la Kanne" spricht, war gleicher Meinung — dem Unwesen „des enthusiastisch wüsten Etymologisierens" gerechterweise durch scharfe Verurteilung ein Ende zu machen, indem er auch starke Kritik an Jacob Grimm übte. Die darauf folgenden Jahre nüchternerer Sprachbetrachtung, in denen J . Grimm seine ehemals praktizierte „Etymologie nach dem ähnlichen Klange" (nach Schlegel: „spekulative Etymologie") durch eine auf das „gesetzmäßige Verhalten der Laute" im geschichtlichen Wandel gegründete Etymologie (nach Schlegel: „grammatische" und „historische" Etymologie) ersetzte 36 , konnten dennoch Becker nicht abhalten, nach eigener (logisch-begrifflicher) Methode die Etymologie zu verwissenschaftlichen — ein gescheiterter Versuch.

Ähnlich Kanne geht Becker in seinem System der Lexikologie auf einen indifferenten, d. h. noch nicht differenzierten „Wurzelbegriff" zurück, aus dem sich begriffsetymologisch alle Bedeutungen herleiten lassen sollen. Die Sprachforschung verliert sich damit in mystisch-religiösen Spekulationen: Einflüsse der Periode „transzendentaler" Romantik (Fiesel). 6. Aus der Spiegelbildtheorie Beckers und der Bedeutung, die er dem Bildungswert des Unterrichts in der Muttersprache bzw. in den Sprachen überhaupt beimißt, 34

35 36

Vgl. die Charakterisierung A. W. Schlegels und W . v. Humboldts in B. Delbrücks Einleitung zum „Briefwechsel zwischen W. v. Humboldt und Aug. Wilh. Schlegel", hrsg. von Albert Leitzmann, S. X V I I I . „Humboldt dagegen ist [wie Becker] immer auf das Allgemeine gerichtet, . . . " a . a . O . , S. X I I f. Humboldts vermittelnde Einwände: S. 54 (Wortschatz und Syntax!). Allgemeine Deutsche Biographie, Band 9 (1879), S. 682 ff. (Grimmbiographie W . Scherers).

Die Wurzeln der Sprachtheorie Κ. F. Beckers

30

geht weiter hervor, d a ß er die Sprachwissenschaft als fundamentale Wissenschafi ansieht. Ebenso J. A. Kanne, Oken, J. J. Wagner, die die Sprachforschung als Grundwissenschaft betrachten, weil sie die Erscheinungswelt spiegelnd u n d ordnend, zur Trägerin aller ersten Erkenntnis wird. Bei K . F. Becker erweitert sich dieser G e d a n k e zur Idee einer Unterrichts- und Erziehungsreform u n d zu ontologisdien Einsichten. 7. Eine der weittragendsten Einwirkungen romantischer Geisteshaltung ist die die Beckersche Sprachtheorie fundierende These: Die Sprache ist kein O r g a n o n der Gedanken, sondern das Reden ist „nur ein äußerlich u n d sichtbar gewordenes Denken, das D e n k e n nur als ein innerliches Reden zu betrachten" (ähnlich Baader, N o v a l i s : „grammatische Mystik"). So sagt Heinrich Luden (in seiner „Allgemeinen Geschichte der Völker und Staaten"), die Sprache sei „nichts anderes als . . . die Erscheinung des Geistes für den Geist". Karl Solger (f 1819) schreibt, die Sprache sei wohl nichts anderes „als das in Erscheinung übergehende Denken, welches dennoch Denken bleibt". (Jnd W. v. Humboldts Auffassung von der Sprache als „Emanation des Geistes" ist ebenfalls romantisch.

8. Schließlich k a n n nicht d a r a n gezweifelt werden, d a ß K . F. Beckers „euphonisches" Prinzip der Sprache („Deutsche W o r t b i l d u n g " , 1824), das dem „logischen" opponiert wurde, auf die durch ästhetische Gesetze der E u p h o n i e u n d E u r y t h m i e gegründete L a u t - u n d W o r t b i l d u n g Schlegels zurückgeht. E. Fiesel weist darauf hin 3 7 , d a ß die F r ü h r o m a n t i k eine im wesentlichen an ästhetischen N o r m e n gemessene Charakteristik der nationalen Sprachen zu verwirklichen suchte. Hiernach ist die Sprache als Band zwischen Faktum und Philosophie ästhetischer Natur; bei Humboldt — in Anlehnung an Schellingsche Gedankengänge — unbewußt erzeugtes Kunstwerk, und darum Organismus. K. F. Becker aber leitet daraus gerade ab, daß dem Kunstwerk kein organisches Wesen eignet. Beckers Organismusbegriff ist auf reine Kulturgebilde nicht anwendbar. Auf dem Standpunkt Humboldts stehend, greift H. Steinthal Becker an.

Becker ist als D e n k e r niemals vorwiegend oder gar einseitig auf die romantische G r u n d h a l t u n g festzulegen, denn die Merkmale: mystische E n t r ü c k u n g aus dem Bereich der Wirklichkeit, religiös-künstlerisch-geschichtliche V e r a n k e r u n g u n d schließlich eine Katholisierung der Weltanschauung (Eichendorff) w a r e n keine Kennzeichen seiner Lebensführung. D i e hier erwähnten romantischen Elemente seiner Sprachtheorie beschränken sich im wesentlichen auf die Vorstellungen, die Becker von der metaphysischen Basis seiner Forschungsdisziplin h a t t e ; sie sind eigentlich metalinguistischen Charakters. Die 1o gisch - sy st em a t isch eη Merkmale begriffs

des

Organismus-

Becker w i r d vielfach als das H a u p t der sogenannten „rationellen" Spradibetrachtung bezeichnet. D a s Epitheton rationell w i r d verwendet, um einen Gegensatz zur historisch-empirischen Sprachforschung zu nennen, um Tatsachen- von Prinzipienforschern trennen zu können. 57

a . a . O . : S. 87, 98, 163.

Romantische

und logisch-systematische

Sprachbetrachtung

31

Rationell wird daher meist mit dem Begriff „philosophisch" gleichgesetzt, ist also sehr wenig hintergründig, ja häufig — durch die Unterstellung, der Historismus sei keine philosophische H a l t u n g — unexakt. Vor allem sei betont, daß hier romantisch und rational an sich keine Opponenten sind, vielmehr beruhen beide nachromantischen Forschungsrichtungen mehr oder weniger auf romantischen Ideen. Die systematisch-logischen wie die historisch-empirischen Sprachforscher verfügten gemeinsam zunächst über romantisches Geistesgut, wenn auch das Traditionsgefühl auf grundverschiedene Geschichtssphären zurückgreift. Becker ζ. B. hat sich niemals bewußt in Gegensatz zur romantischen bzw. historischen Sprachforschung gestellt, die — um mit Fr. v. Schlegel zu sprechen — die Betrachtung der Einzelsprachen darum und nur dann als wissenschaftlich anerkannte, weil bzw. wenn sie „durchaus historisch" vorginge 38 . Von hier aus ergeben sich entscheidende Ausblicke auf die Unterschiede in den Organismus-Begriffen der beiden Forschungsrichtungen. K. F. Becker sah — und mit ihm sein großes Vorbild W. v. H u m b o l d t — die rationelle Sprachforschung stets als höhere Forschungsform, die die historisch-vergleichende einschließen und natürlich auch anerkennen muß, an. Man vergleiche damit kritisch das Dogma seiner großen Kontrahenten! Wir können das Wesen des Beckerschen Systems erst dann vollkommen begreifen, wenn wir wissen, daß er erkenntnistheoretischer Rationalist ist und mit Schelling in das Lager des objektiven Idealismus gehört 39 . Dabei ist der historisch-positive und vergleichende Weg des Erkenntnisgewinnes nicht abgelehnt, ja nicht einmal bewußt vernachlässigt, sondern die auf diesen Wegen gewonnenen Einsichten sind Voraussetzung f ü r die sinnvolle Anwendung der rationellen Methode und bleiben aus diesem Grunde sekundär wichtig. Hier lag der Glaube an eine vernünftige Entwicklung u n d vernünftige Ordnung des Universums zugrunde. Metaphysisch ist das der zweite Pol des Beckerschen Organismusbegriffs. K. F. Beckers romantische Idee von der dichotomischen Evolution u n d Struktur der Welt wird ergänzt durch die Vorstellung, die Sprache sei eine dem biologischen Organismus analoge Einheit sich gegensätzlich gruppierender Gefügeglieder. Bei Friedrich Ast ("j" 1841) ist die H e r k u n f t dieses systematischen Gedankens aus der Philosophie Schellings offenbar; Ast findet in der Sprache die Einheit des Geistes, 38

Vgl. Fr. v. Schlegel: Ober die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde, 1808. Fr. v. Schlegels sämtl. Werke, 2. Orig.-Ausgabe, VII. Band, Wien 1846, S. 297.

59

Wenn v o n Beckers metaphysischer Grundlage der allgemeinen Grammatik im Sdiellingschen Geist die Rede ist, so sei zugleich auf den Versuch Gottfried Hermanns, der ein spradiphilosophisches System, eine „Kritik der grammatischen Vernunft" nach der Kantischen Kategorienlehre schuf, und die allgemeine Sprachlehre F. Bernhardis hingewiesen, der wiederum ein Sprachsystem naah der Fichteschen Wissenschaftslehre aufbauen wollte. - Sal. Lefmann: „Franz Bopp", Nachtrag 1897, S. X I I I , X I V , X X X . - In Vaters „Mithridates" (1817) versuchte auch W. v. Humboldt, aus Kants Kategorien der Relation die Kasus abzuleiten und der Zahl nach zu bestimmen.

32

Die Wurzeln der Sprachtheorie

Κ. F. Beckers

„die Gegensätze, in denen er sich im Menschen offenbart", wieder40. J . J . Wagners ( f 1841) Auffassung vom organischen Bau der Sprache setzt die Dichotomie Bewegung — Ruhe (Becker: Tätigkeit — Sein) an die Spitze des Systems. Danach ist das Verbum das Spiegelbild des Begriffs der Bewegung, das Nomen das des Begriffs der Ruhe. Die Substantive wiederum werden als der positive Pol (das Unbestimmte) und die Adjektive als der negative Pol (das Bestimmende) jener letztgenannten Grundkategorien angesehen41. Die hier anknüpfende Kritik E v a Fiesels ist berechtigt. — Einer Sprachmystik, die nur den sprachlichen Stoff „fremden Ideen und philosophischen Systemen anzupassen" versuche, ist Becker aber bei weitem nicht gefolgt, wenn er auch Anregungen von da bezog. E. Fiesel weist richtig diese Entwicklung grammatisch-formaler Kategorien nach rein deduktiver Methode in die geistesgeschichtliche Sphäre der Sdiellingschen Naturphilosophie, der „diesseitigen Romantik" 4 2 .

Ziel des Beckerschen Denkens ist ein S y s t e m allgemeingültiger g r a m m a t i s c h e r K a t e g o r i e n , ein Gefüge solcher die menschliche Sprache tragender Strukturglieder und deren Verhältnisse. Oberste Gesetzlichkeit der sukzessiven Sprachdimension wie der der Koexistenz ist ein dialektisches, dichotomisches Prinzip. Nur im Bereich der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kann das wahre, das „innere" Wesen der Sprache erkannt werden; nur die vérités de raison können Fundament einer verwissenschaftlichten Sprachkunde sein. Es ist Beckers Forderung, daß das einzelsprachliche empirische Material sub specie aeterni, unter dem Gesichtspunkt apriorischer Wesenheiten geordnet werden muß; — unter der Voraussetzung allerdings, daß Denken ohne Anschauung unmöglich ist 43 . Bei Becker ist das systembildende Moment des romantischen Organismusbegriffes dominierend. Daraus ergibt sich, daß der Beckersche Begriff des Organischen in der Sprache etwas ganz anderes bedeutet als etwa bei F. Schlegel oder Bopp. Bei diesen liegt allein das evolutionale Moment zugrunde: die historische Entwicklung der Sprachen aus den Wurzeln der Wörter. Dem entspricht auch die vergleichende Methode linguistischer Untersuchungen. Wenn Becker in seiner „Grammar of the German Language" (1845) — um sein Organismusprinzip in der Anwendung zu zeigen — bezeichnenderweise von „the peculiar structure of this language" spricht44, so ist Struktur ein Systembegriff gleich Organismus, aber etwas anderes als die von Fr. Schlegel geprägte Bezeichnung „innere Struktur der Sprache", die lediglich auf bestimmte Phänomene des Lautwandels bei synthetischen („organischen") Sprachen anzuwenden und angewendet worden ist. 40

Vgl. F . A s t : Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik.

41

Vgl. Johann Jakob Wagner: Von der Natur der Dinge, 1803.

42

E. Fiesel: „Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik", 1927, S. 152, 170, 115 und öfter.

43

Vgl. K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 13 f.: „Wir ersehen hieraus, daß der Geist [ = ratio!] den Stoff der Gedanken zwar von der sinnlichen Anschauung empfängt, daß er aber den Stoff nach . . . eigentümlichen Gesetzen zu Gedanken bildet . . . " ; und andere Stellen.

44

a . a . O . : p. III (Preface).

Romantische und logisch-systematische Sprachbetrachtung

33

Ich fasse, an Hand eines 112 Jahre alten Buches, das sich äußerst klug, d.h. tolerant, mit dem Problem der rationalen Sprachforschung und ihrer Stellung zur historisch-vergleichenden auseinandergesetzt hat 45 , die wesentlichen Merkmale der sogenannten rationellen Sprachforschung zusammen. Es ist das beachtliche Werk des Deutschlehrers einer Königsberger Armenschule, der es als seine „Berufspflicht" (wer empfindet sie wohl heute noch?) ansah, systematische Sprachstudien auf der Basis von Einsichten in das Wesen der Sprache zu treiben. Die Durchsicht dieses Buches von Diestel, das leider keine Fortsetzung gefunden hat, weil man dem Autor seine gelehrten Seitensprünge schließlich verübelte, ist sehr fruchtbar. 1. Die rationelle Sprachforschung, vor allem aber Becker, verwendet eine Organismusidee als Systembegriff. Sie arbeitet logisch. System bedeute nicht einfach: übersichtliche Anordnung vorliegenden Material, sondern: Einsicht in das Realprinzip der Sprache, das an den wirklichen Einzelsprachen abgelesene allgemeine Kategoriengerüst. Dieses System ist ideell! 2. Während historisch-romantische Sprachforschung Besinnung über die Gestalt und Entwicklung der Sprache« brachte, erfolgt durch die rationelle („philosophische") eine „Vertiefung in das Wesen der Sprache"4β. 3. Daraus ergibt sich, daß die systematische Sprachwissenschaft, weil sie auf allgemeine Wesenszüge der Sprache geht, der historischen und vergleichenden vorzuarbeiten hat 47 . Eine eigentlich wissenschaftliche Einstellung liegt überhaupt nur dann vor, wenn das systematisierende Vorgehen grundlegend und die Fakten nicht vernachlässigend ist. 4. Da bei Becker und den in die gleiche Richtung Strebenden die Sprache als kategoriales Abbild der Umwelt aufgefaßt wird und nach Gesetzlichkeiten (Kategorien) gesucht wird, darf man die rationelle Sprachforschung mit dem wissenschaftlichen Streben gleichsetzen, die Sprache als natürliche Wirkung der physischen Beschaffenheit des sprechenden Menschen und der Wirklichkeit zu erkennen48. 5. Schon Leibniz, auch W. v. Humboldt, Schmitthenner, Herling, die Romantiker hatten versucht, Entstehung und Entwicklung der Sprache durch die organische Analogie zu erklären, aber Becker war der erste, der den Organismusgedanken zum P r i n z i p e i n e r s y s t e m a t i s c h e n S p r a c h f o r s c h u n g erhoben hat. 6. Daran, daß aus den vielfältigen romantischen Anregungen bei Becker dennoch eine systematische, „rationelle", „philosophische", „logische" Sprachbetrachtung geworden ist, ist wesentlich seine Erziehung im Geiste der Aufklärung, d. h. Kants, beteiligt49. Es sind maßgebliche Anregungen von Kant, Leibniz u. a., wenn Becker 45 4

H . Diestel: „Rationelle Sprachforschung",

1845.

« a . a . O . : S. 11/12.

47

a . a . O . : S. 15.

48

a . a . O . : S. 1, 17.

49

R . P. Gillies: „Memoirs of a Literary Veteran . . . " , 3. Band, S. 32. E r urteilt über Becker: „Like his favorite Schiller, without being a professed metaphysician, he was deeply imbued with the principles of Kant's philosophy . . . "

3

Haselbach

34

Die Wurzeln der Sprachtheorie

Κ. F. Beckers

der grundsätzlichen Meinung ist, daß Aufgabe der Vernunft die Analyse des durch die Erfahrung gegebenen Tatsachenmaterials sei, um die letzten „Grundverhältnisse" seiner Konstruktion zu finden. Die empirisch-historischen Fakten der Sprache sollen daraufhin untersucht werden, was ihnen an notwendigen Gesetzlichkeiten zugrunde liegt; eine allgemeine Grammatik hat diese allgemeinen Bestimmungen in systematische Ordnung (in ein Strukturgefüge) zu bringen. Erkenntnisse werden erst dann wissenschaftlich, wenn die Begriffe sich einem einheitlichen Prinzip zuordnen, wenn sie einen inneren Zusammenhang, ein System, bilden. Ich hielt es für wichtig, nicht nur am Rande auf das Urteil H. Diestels über die systematische Sprachforschung im allgemeinen und über Becker im besonderen hinzuweisen. Diestels Standpunkt ist der psychologische Herbarts, mit vernünftigen Abweichungen. Für ihn ist, das Wesen der menschlichen Sprache in einem System (notwendigerweise!) logischer Begriffe zu sehen, ein Unding. In der rationalen Sprachforschung wird, nach Diestels Meinung, ein Prinzip der Betrachtung der Sprache als Realprinzip der Sprache geltend gemacht. — Daß Becker mit seinem Organismusprinzip auf die Realstruktur der Sprache hinaus will, bestreitet niemand. Der weitere Weg von Diestels Argumentation ist folgender: „Man verwechselt das Prinzip einer begrifflichen Klassifikation, die dazu dient, in der Mannigfaltigkeit des Gegebenen sich zu orientieren (wie ζ. B. Linnes Pflanzensystem), mit dem Prinzip des Mannigfaltigen, der Sache selbst; man verwechselt einen logischen Einteilungsgrund, der willkürlich jedem gemeinschaftlichen Merkmal eines gegebenen Bereichs entnommen werden kann, mit dem physiologischen Grunde desselben. Anstatt die Konstruktion der Sprache zu erklären, wird eine logische Determination der Spracherscheinungen dargeboten; und einen abstrakten Begriff, der nur in der Idee existiert, stellt man an die Spitze des Systems; anstatt den Grund der Sprache zu ergründen, reguliert man die Art und Weise, sie anzuschauen, sie zu betrachten. Ein Prinzip der Betrachtung der Sprache wird als Prinzip der Sprache geltend gemacht." Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit der von Becker postulierten Wechselbeziehung zwischen Logik und Grammatik, zwischen dem Gedanken und der Sprache, in der die Logik von Becker als das Regulativ der Grammatik hingestellt wird. Grammatik und Logik aber, so sagt Diestel, stehen in gar keiner Beziehung; vielmehr sei überall „das von der Logik unabhängige und abstrahierende Denken . . . alleiniges Regulativ". Die Psychologie, nicht die Logik, muß die Grammatik begründen. „Das logische Denken, im eigentlichen Sinne das formal gültige Denken, . . . gehört gar nicht hierher. Es ist Produkt, nicht Grund der Sprache. Das psychologische Denken ist Grund der Sprache50." Im zweiten Teil seiner Abhandlung stellt Diestel als dem Wesen der Sprache entsprechend drei Realprinzipien zur Diskussion: a) das o b j e k t i v e Prinzip der Sprache (der Unterschied des Seins und Werdens), b) das s u b j e k t i v e Prinzip der Sprache (das Merken und Bemerken, Bewegung der Begriffe, Fügung der Wörter), 50

H . Diestel, a. a. O . : S. 36, 27, 135.

Romantische und logisch-systematische

Sprachbetrachtung

35

c) das f o r m a l e Prinzip der Sprache (Gegensatz des Abstrakten und Konkreten). Diestels abschließendes Urteil: „Beckers organisches Prinzip ist in aller Hinsicht — ist logisch, physiologisch und metaphysisch — ein absolut undenkbares 5 1 ." Jedoch gesteht Diestel, daß die rationellen Sprachforscher den Empirikern Entscheidendes voraushaben, nämlich die Berücksichtigung allgemeiner Sprachgesetzlichkeiten, das „ehrenwerte Streben" 5 2 , in das Wesen der Sprache einzudringen, und zwar auf einem bis dahin ungebahnten Weg, mit wissenschaftlichem Ernst und allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Ich schließe mich im wesentlichen der positiven K r i t i k Diestels an und werde im Kapitel über den Logikbegriff K . F. Beckers, S. 94 ff., noch darauf zurückkommen. 51 52

3'

a . a . O . : S. 43. a. a. O.: S. 124.

II. BEZIEHUNGEN, ANREGUNGEN UND EINFLÜSSE 1. Jacob

Grimm

und K. F.

Becker

Unterschiede Zur Kennzeichnung der Grimm und Becker unterscheidenden Forschungsart gehören folgende Merkmale: a) Während Jacob Grimm sich in seiner Jugend an den Maßstäben der bildenden Kunst orientierte (Pariser Zeit), lehrte Becker Mathematik und Grammatik der klassischen Sprachen in einer Jesuitensdiule und studierte Naturwissenschaften; wie jener mit der ihn auszeichnenden „Andadit zum Unbedeutenden"1 die Spracheinzelheiten sammelnd, ordnend und vergleichend vorging, indem sein Blick das ganze Leben der „deutschen" (germanischen) Sprachen vom Jünglings- über das Mannes- bis zum Greisenalter (nach dem Gleichnis Herders) umfängt, so analysiert K. F. Becker den lebenden Körper der deutschen Sprache in theoretisierender und spekulierender — schließlich von den Fakten abstrahierender — Weise, wobei sein Streben nach allgemein verbindlicher sprachlicher Wahrheit sehr bald die Grenzen der Muttersprache überschreitet; dort die Suche nach den Gesetzlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung des sprachlichen Lautbestandes und dessen genealogischer Einordnung, hier der Drang, aus dem aktuellen und historischen Material der Sprachen das allgemeine und notwendige Gerüst wesentlicher Kategorien herauszuheben. Wenn auch Jacob Grimm der Bezug auf die Philosophie nicht abgesprochen werden darf, so liegt hier doch eine beträchtliche Diskrepanz vor zwischen geschichtsphilosophischem Standpunkt und logisch-systematisierender Verfahrensweise. Die üblicherweise angewendete Gegenüberstellung von „historischer" und „philosophischer" Richtung in der Sprachwissenschaft ist unexakt. Die ersten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts galten der Entwicklung dreier Methoden, die für die Verwissenschaftlichung der Sprachkunde entscheidend waren: der vergleichenden (Franz Bopp) 2 , der historischen und der „rationellen" (allgemeingrammatischen), in deren 1

Wilhelm Scherer: „Jacob Grimm", 1885, S. 149.

2

Es gibt keine sog. vergleichende Sprachwissenschaft; es kann nur die Sprachvergleichung als linguistische Methode geben! — Franz Bopp lehrte an der Berliner Universität Sanskrit- und vergleichende Grammatik; seit 1821 (durch Vermittlung der Brüder v. Humboldt) war er Professor der orientalischen Literatur und allgemeinen Spradikunde, seit 1822 Mitglied der Preuß. Akademie der Wissenschaften. Sein Lehrer: Windisdimann. Der Gedanke der Sprachvergleichung ist nicht in Friedrich Schlegels „Sprache und Weisheit der Indier" (1808) zum ersten Male geäußert worden, sondern er wird schon von Aug. Wilhelm Schlegel in seiner Rezension der Bernhardischen Sprachlehre („Europa", 1803) entwickelt. Siehe A.W.Schlegels Sämtliche Werke, Band 12, S. 152. A. Leskien hat also mit seiner Behauptung, der Name „Vergleichende Grammatik" sei zuerst von Fr. Schlegel angewendet worden, nicht den Ursprung der Idee genannt (vgl. A. D. B., Bd. 3, Leipzig 1876, S. 146, Bopp-Biographie).

Jacob Grimm und K. F. Becker

37

Rahmen W. v. Humboldt und Becker gemeinsam gestellt werden müssen. Es war vornehmlich die These der letzteren Richtung, daß alle drei Methoden sich zur höheren Einheit einer Sprach-Wissenschaft zu ergänzen haben, — Gedankengänge, die schon 130 Jahre alt und noch nicht Gemeingut linguistischer Forschung geworden sind! Damals führte der Widerspruch der historischen Sprachforscher gegen Becker zur Destruktion. Und audi heute noch scheint man vielfach zu glauben, daß man sich „nicht von der allgemeinen Grammatik in die besondere hineinreden" lassen dürfe; nodi weniger aber solle man „die allgemeine als die wichtigere oder gar als die allein wichtige" ansehen 3 .

b) Als Vertreter zweier grundverschiedener Denkformen gehen J. Grimm und K. F. Becker auf verschiedenen Wegen letztlich doch dem einen Ziel der Verwissenschaftlichung der Sprachkunde entgegen. Es ist das Verdienst W. v. Humboldts und K. F. Beckers, nach der Versöhnung der methodischen Gegensätze in diesem gemeinsamen Ziel gestrebt zu haben. „Wer immer nur den historischen Weg ging, auf welchem nur ein größerer Reichtum an Fakten gewonnen wird, der gewöhnt sich zuletzt so sehr, überall nur das Besondere aufzufassen, daß er zuletzt den Wald nicht vor Bäumen sieht 4 ." Man könnte die Geister sich an ihrem Verhältnis zum Denken-und-Sein-Problem scheiden lassen. Jacob Grimm würde dann, im Kierkegaardschen Sinne, zu den existierenden Denkern zu zählen, als subjektiver Denker zu bezeichnen sein, dessen Denken „im Dienst seines Existierens" durch die besonderen Aufgaben und Schwierigkeiten seines Schicksals bestimmt ist (patriotische Gesinnung usw.). Bei ihm fallen Denken und Sein im wesentlichen zusammen. Die Schwäche und Gefahr des subjektiven Denkers besteht darin, daß der Lebensbezug dem Einzelmenschen nicht „die Übersicht über das Ganze" gestattet und ihn somit „jeweils auf bestimmte Teilansichten" festlegt. Rechnet man, diesen Gedanken verfolgend, K. F. Becker zu den objektiven, abstrakten Denkern, so charakterisiert man ihn als einen solchen, der gegen die Lebensbedingungen des denkenden Subjekts im wesentlichen gleichgültig ist; grundsätzlich versucht er, den aktuellen Forderungen des Lebens auszuweichen. Bei ihm „fallen Sein und Denken notwendig auseinander", weil er sich im Denken „in einem Medium des reinen Gedankens bewegt und auf die besonderen Bedürfnisse und Voraussetzungen seines Daseins [und das seiner Mitmenschen] nicht weiter achtet" 5 . c) Jacob Grimm hielt von der Suche nach allgemeingültigen Sprachkategorien wenig. Der ganze Blickwinkel des Allgemeingrammatischen ging ihm auf seinem Wege der Sprachforschung ab. J. Grimms höchstes Ziel war, der deutschen Grammatik „ihre Eigentümlichkeit zu bewahren" und sie nidit „unter das Joch der allgemeinen Sprachvergleichung" zu beugen. Er bekannte sich bewußt und öffentlich zur Methode der „ungenauen Wissenschaften", die sich „so versteigen dürfen, daß ihre Fehler und Schwächen möglicherweise lange Zeit gelitten werden, bis sie 3

4 5

So charakterisierte H. Steinthal („Grammatik, Logik und Psychologie", 1855, S. X I I f.) die Situation in seiner Zeit. Brief K. F. Beckers an seinen Sohn Ferd. Wilhelm (Becker-Archiv). In Anlehnung an Gedanken O. F. Bollnows aus: „Existenzphilosophie", 3. erw. Aufl., Stuttgart 1949, S. 18/19.

38

Beziehungen,

Anregungen

und

Einflüsse

in stetem Fortschritt aus Fehlern und Mängeln immer reiner hervorgehen: Geschichte, Sprachforschung . . . " ! Denn die exakten Wissenschaften „ergreifen nicht die Herzen". Die Aufgabe, die sich Jacob Grimm gestellt hatte, „diente einem großen patriotischen Zweck"®, der Erhellung der Geschichte des deutschen Volkes, seiner Kultur, von Savigny auf die historisch-allseitige Betrachtung eines wissenschaftlichen Objektes, von Ludwig Tieck auf den besonderen poetisch-romantischen Reiz der altdeutschen Sprache und Dichtung hingewiesen. Ein systematischer Überblick über das Ganze der menschlichen Sprache lag nicht in der Absicht J . Grimms. In einem Brief an Lachmann vom 12. Mai 1823 kommt sein Streben und zugleich das Bewußtsein seiner Beschränkung wohl am klarsten zum Ausdruck. Er schreibt dort: Die Auffassung Wilhelm von Humboldts von der Sprache und ihrem Studium „kann mich trösten über das, was meinen Arbeiten fehlt. Ich gehe wenigstens auf einem, der guten Wege; der Geist, der im herbeigeschafften Material schläft, wird mit der Zeit schon erwachen oder erweckt werden" 7 . Karl Ferdinand Becker dagegen versuchte, in Anerkennung der Leistungen historischer Sprachforschung, den im einzelsprachlichen Material „schlafenden" Geist zu wecken. d) Zur Verdeutlichung der methodischen Unterschiede scheint mir ein Vergleich der Hauptwerke beider Gelehrter geeignet: Die „Deutsche Grammatik" Jacob Grimms enthält im (1819 erschienenen) I . T e i l die Deklination des Substantivs, Adjektivs, der Zahlwörter, Eigen- und Völkernamen, des Pronomens, die Konjugation und Komparation, historisch an der Vergleidiung der westgermanischen Dialekte des Gotischen, Alt- und Mittelhochdeutschen, Altniederdeutschen, Altsächsischen, Angelsächsischen, Altfriesischen, Altnordischen, Schwedischen, Dänischen, Neuenglischen, des Neunieder- und Neuhochdeutschen dargestellt. Die 2. Ausgabe 1822 fügt eine historische Lautlehre bei. Im II. Teil (Göttingen 1826) behandelt Grimm in demselben vergleichenden Rahmen die historische Wortbildungslehre (compositio). Im III. Teil wurde sie fortgesetzt. Erst 1837 erscheint im rudimentären IV. Teil der Versuch einer historischen Syntax des einfachen Satzes. Diese erschöpft sich aber, nach Grimms Gliederung, in den Kapiteln: Das Verbum im einfachen Satz (Genus, Modus, Tempus, Numerus, Person), Das Nomen im einfachen Satz (Genus, Numerus), Das Pronomen (der Artikel, die Arten des Pronomens), Die Flexion, Kasus, Adverb und Adjektiv.

An der Aufgabe, eine umfassende historische Syntax der indogermanischen Sprachen zu schreiben, wird nun die beherrschende Überzeugung Jac. Grimms, daß „auch in der Grammatik die Unverletzlichkeit und Notwendigkeit der Geschichte • Gustav Schlesier: „Erinnerungen an W . v. Humboldt", II. Teil, Stuttgart 1845, S. 518 ff.; vgl. S. 501 f. 7

Ed. Stengel, Hrsg.: „Private und amtliche Beziehungen", Bd. I, S. 307, aus einem Brief J . Grimms vom 5. Dezember 1840 an Vilmar. — J a c . Grimm: Kleinere Schriften, Bd. 7 : „Über den Wert der ungenauen Wissenschaften", S. 563, 565 f.

Jacob Grimm und K. F. Becker

39

anerkannt werden müsse"8, durch Überlegungen ergänzt, die ihm ursprünglich ferngelegen haben müssen und im Bereich der philosophisch-syntaktischen Forschung beheimatet sind. So erkennt Grimm 18379, daß die Betrachtungsweise der „Wörter an sich, nach ihren Elementen" in der Laut-, Flexions- und Wortbildungslehre einer Ergänzung bedarf. Er sagt an dieser Stelle: „Laut, Wurzel, Wort, Bildung und Flexion des Worts [!] enthalten Sinn und Bedeutung, die aber erst durch das Geschäft des Denkens lebendig werden. Reden heißt Gedachtes aussprechen. Jeder Gedanke verbindet einen Gegenstand mit einer Vorstellung, jeder Satz der Rede fordert daher ein Subjekt und ein Prädikat . . . " So und ähnlich las man es schon 1827 bei K. F. Becker! Vor allem erinnert die Idee von Sinn und „Bedeutung" der Flexion (Beziehungsbedeutung) an Beckers Begriff der syntaktischen bzw. „organischen" Bedeutung von Beziehungsausdrücken. — Jacob Grimm als „Logiker"? Während Grimm das historisch-lautliche Element als der Sprache wesentlich ansieht10, folgt Becker der Idee des Ganzheitlidi-Inhaltlichen. Daraus folgt bei diesem ein Prius der Syntax, des Ganzen vor den Gliedern. Es geht ihm niemals allein um eine einzelne Disziplin der Grammatik, auch nicht um die Grammatik der deutschen Sprache oder der „deutschen" Sprachen, es geht bei Becker immer um das grammatische Gerüst der menschlichen Sprache überhaupt und im allgemeinen darum, daß an der Sprache „alle Teile . . . in denjenigen inneren Verhältnissen aufgefaßt und dargestellt werden, durch welche sie zu einem Ganzen verbunden werden" 11 . Seine Idee kommt im „Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprache" (1833) am klarsten praktisch zum Ausdruck. Die Gliederung dieses Lehrbuches entspricht nahezu vollkommen der Theorie K. F.Beckers: I. Von dem Satze II.

Wortfügung

III.

Wortbildung Lautbildung

IV. Von der

Schriftsprache.

Die Reihenfolge der grammatischen Disziplinen, die hier von der traditionellen Grammatik (und der Grimms) wesentlich abweicht, wird leider bei Becker nicht durchgängig beibehalten. Aber lediglich ein äußeres Zugeständnis an die „Klarheit der Darstellung" 12 ist die sich in den übrigen grammatischen Werken wieder mehr der traditionellen Reihenfolge angleichende Gliederung. Sie ändert in der Tat nichts daran, daß — wie es Becker theoretisch immer vertreten hat — seine Grammatik das Besondere und die Elemente in ein diese überformendes Ganzheitsgefüge einreiht, im Gegensatz zur positivistischen Grammatik, die 8

Jac. Grimm: „Deutsche Grammatik", I.Teil, 1. Ausg., Göttingen 1819, S. IV.

9

Jac. Grimm: „Deutsche Grammatik", IV. Teil (4. Buch), S. 1.

10

Die Sprache ist eine vom Menschen, ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung nach, in Freiheit erworbene; „sie ist unsere Geschichte" (Jac. Grimm: „Uber den Ursprung der Sprache").

11

Allgemeine Sdiul-Zeitung, Jahrg. 1830, Abt. I, Nr. 27 (4. März), Sp. 209: Besprechung von K.F.Beckers „Deutscher Grammatik" (1829) durch Pseudonym Schulmeister Felix.

12

K. F. Becker: „Organism", 1841, S. 31.

40

Beziehungen,

Anregungen

und Einflüsse

grundsätzlich von den Elementen (Lautlehre) ausgeht und dann additiv-mechanistisch bis zum Satze fortschreitet (Syntax; wenn überhaupt vorhanden!). An der Spitze der Beckerschen allgemeinen Grammatik 13 steht die Betrachtung des sie konstituierenden Prinzips: des Organismus-Gefüges der Sprache. Damit ist einleitend immer der ganzheitliche Zusammenhang gegeben. Es folgt die „organische" Lautbildung, die „organische" Wortbildung und die „organische" Satzbildung; wobei das Epitheton „organisch" auf die gefügehafte Einordnung der Einzeldisziplinen in das Ganze der Lehre von der menschlichen Rede (Syntax) — nicht nur äußerlich — hinweist. e) Nicht übersehen wollen wir einen anderen charakteristischen Unterschied zwischen der Methode Beckers und J . Grimms: K . F. Beckers Streben wird umkleidet von pädagogischen Intentionen, während Grimms Untersuchungen hiervon absehen und zunächst wohl nur in dem Bereich wissenschaftlicher Forschung von Nutzen und Interesse waren 1 4 . Das Beckersdie Ziel der Fruchtbarmachung der Kenntnisse vom Wesen der menschlichen Sprache für den Unterricht im allgemeinen und den Sprachunterricht im besonderen, für die „geistige" Erziehung und Bildung der Jugend, mußte in Konkurrenz mit der historischen Grammatik Grimms bei der damaligen geistigen Situation den Sieg davontragen. Die Grammatik Grimms hatte ja bis 1837 noch gar keine Satzlehre und wurde daher hauptsächlich wegen ihres besrchänkten methodischen Horizontes angegriffen. P . Lorberg kennzeichnet in Beckers Sinn diese Situation mit den Worten: „Eine bloße Zusammenstellung des auf empirischem Wege Gefundenen konnte bei den Fortschritten einer bildenden Unterrichtsmethode nicht mehr genügen. Es bedurfte kaum des Spottes eines Grimm, . . . um denkende Lehrer zu der Überzeugung zu bringen, daß der Unterricht in der Muttersprache ein höheres Ziel haben muß, als den Schüler mit den Deklinations- und Konjugationsformen bekanntzumachen. Jenes höhere Ziel war, die Ideen nachzuweisen, welche den Formen der Sprache zum Grunde liegen . . „Erst in der Zusammenstellung und Verbindung zu einem Ganzen hat das Einzelne seine Bedeutung erreicht und seine Bestimmung erfüllt." Daraus ergab sich die Notwendigkeit, den ganzen Stoff der Grammatik „unter der Syntax zusammenzufassen" 1 5 . 13 14

15

= „Organism der Sprache" (1827 u. 1841). Daher auch der breite Erfolg der Grammatiken und sprachphilosophischen Werke K. F. Beckers. Sie zielten letztlich auf mehr als eine Reform der sprachlichen Erziehung ab. Den Mangel der didaktischen Tendenz hat Grimm wohl schmerzlich empfunden; er gesteht ein, daß die Organismusidee, verbunden mit dem rationalen Weg, durch ihre größere Werbekraft im lernenden Volk und unter den Lehrern auf breiter Basis ruhe. So schrieb z . B . Jac. Grimm am 31. Dezember 1826 an Benecke: „Diese Leute helfen uns wahrlich nicht das geringste, sondern verderben und verwirren bloß das Publikum und den Markt" („Briefe aus der Frühzeit der deutschen Philologie an George Frieder. Benecke", hrsg. v. Rud. Baier, Leipzig 1901, S. 73). Und Weigand schreibt am 10. April 1854 an Jac. Grimm über das linguistische Wissen der Lehrer: „Beckers Grammatiken haben in unserem Lande, besonders unter den Lehrern, zuviel eingewirkt und einem gründlichem Studium geschadet" („Private und amtliche Beziehungen", hrsg. v. Ed. Stengel, Band II, S. 342). Zitat aus P. Lorbergs Rezension von S. H. A. Herlings „Syntax der deutschen Sprache", 3. Aufl., Frankfurt/M. 1830/32 (Allgemeine Schul-Zeitung, Jahrg. 1832, Abt. I, Nr. 67, 7. Juni, Sp. 529 ff.).

Jacob Grimm und Κ. F. Becker

41

Damals wurden dem Sprachunterricht Ziele gesteckt, die — nach dem Interregnum des Positivismus — heute wieder von Pädagogen und Linguisten als aktuell bezeichnet werden, allerdings kaum mit Bezugnahme auf die äußerst verdienstvollen Forschungen des Arbeitskreises um K. F. Becker und diesen selbst. Ich kann auf die Bestrebungen Ernst Ottos, Walter Hübners und R. Münchs hinweisen.

Berührungspunkte

und

Gemeinsamkeiten

Diese sind vor allem in dem gemeinsamen Bekenntnis zur A b k e h r v o n d e r t r a d i t i o n e l l e n G r a m m a t i k zu suchen. Der Begriff der „neueren Grammatik" umfaßt die historische, die vergleichende und die rationelle Grammatik. Die Grammatik (Adelungs ζ. B.) als mehr oder meistens weniger zweckmäßig angeordnetes Sprachmaterial sollte endgültig durch eine solche mit „wissenschaftlicher Gediegenheit" abgelöst werden. Weiterhin geben die in Grimms wie Beckers Geistesgut vorhandenen romantischen Elemente die Basis ab für eine Brücke zwischen den Ansichten der führenden Köpfe so stark differierender Forschungsrichtungen. Dieser Versuch kann unternommen werden zumindest für die kurze Zeit, etwa von 1822 bis 1827, als die methodische Kluft noch nicht unüberbrückbar bzw. von Grimm in ihrer vollen Bedeutsamkeit (das Verhältnis zu Becker betreffend) noch nicht erkannt war: In Frage kommt in erster Linie das Element der naturwissenschaftlichen (biologischen) Analogie, dann das eng damit zusammenhängende der vergleichenden Methode. Von Paris, den Forschungen Cuviers ausgehend, hatte diese Methode über Schlegel auch in die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen W. v. Humboldts, Jac. Grimms, K. F. Beckers u. a. Eingang gefunden. Die bis 1820 vorliegenden aufsehenerregenden Ergebnisse waren Anregung und Grundlage auch für Beckers Sprachsystematik geworden. Entscheidende Bedeutung gewann aber für Becker und Jac. Grimm der O r g a n i s m u s b e g r i f f . Er war das vorerst einigende Band. Bei Becker hat sich jedoch in der Folge nur das systematisierende (konstitutive, konstruktive) Moment der Organismusidee fruchtbar erwiesen, während J . Grimm das Moment der (historischen) Wandlung in seiner Grammatik der deutschen Sprache zur Alleingeltung brachte. Übrigens sind bei Jacob Grimm aus dieser Grundlage später auch Momente einer ganzheitlichen Sprachbetrachtung erwachsen: „Jeder Verlust [an Sprachmitteln] wird aus der Mitte des Ganzen ersetzt, aber zugleich von dem Ganzen empfunden, so daß in dem Leben der Sprache zwar eine Änderung, doch nirgends eine Hemmung erfolgt 18 ." Wenn auch bei Becker späterhin die eigentlich historische Sicht ganz fehlt, so ist doch innerhalb seiner vollständig ausgeprägten Organismusidee keineswegs der Entwicklungsgedanke überhaupt verlorengegangen17. 16

Jac. Grimm : Über die deutsche Sprache. Insel-Verlag, Leipzig o. J., S. 6.

17

Die Ergebnisse historischer Betrachtungsweise machen nadi Beckers Meinung nur ein und nicht das wichtigste Element im Wesen der menschlichen Sprache aus. Grimms Forschungen sind besonders in der Beckerschen Flexionslehre ohne jede Kritik über-

42

Beziehungen,

Anregungen

und Einflüsse

fJt φ ^ Μ

O

r

^

U

r

^

H

^

t

^

Á

^

w

{ ¿ X

Ä t

ÍU V i g L · ^ ^ i L · fi,* O U ^ J J /

Ιτλ1

bft&j/l j w J ^ e L 4nt

Λ

rWiñíftn

oL· Ê .» ^ Λ. ΛΛ .η

O / J ^ O ^ t Ä Ä JvjJ

JU

¡ U a . J M ^

η

a« « χ ό Α γ ^

Ï 1825, •

Humboldt an K . F. B.,

bezeugt 5 0

2.

1826, 26. März,

Humboldt an K . F. B.,

original 5 1

3.

1826, 28. Mai,

K . F. B. an Humboldt,

bezeugt 52 und Entwurforiginal

4.

1826, vor dem 5. Juni,

K . F. B. an Humboldt,

bezeugt 58

5.

1826, ? April,

K . F. B. an Humboldt,

erschlossen 51

6.

1826, ? Juli,

Humboldt an K . F. B.,

bezeugt 54

7.

1827, 22. April

K . F. B. an Humboldt,

bezeugt 5 5

8.

1827, 20. Mai,

Humboldt an K. F. B.,

original 5 "

9.

1827, Mai oder später,

K . F. B. an Humboldt,

erschlossen57

10.

1827, nach dem 19. Nov.,

K . F. B. an Humboldt,

erschlossen 56

11.

1828, 24. Januar,

K . F. B. an Humboldt,

Entwurforiginal

12.

1829, 12. Okt. oder 10. Dez. Humboldt an K . F. B.,

original

13.

1830, 23. Mai,

erschlossen 58

48

49

50

Humboldt an K . F. B„

Aus dem Material des von mir aufgefundenen Becker-Archivs konnten bisher insgesamt 25 Humboldtbriefe (ζ. T. an Ferd. Wilh. Becker) erschlossen oder bezeugt und 4 besonders wertvolle im Original geborgen werden (s. Anhang). Herr Dr. F. Schrod (Offenbadi am Main) unterrichtete mich zu Beginn meiner Nachforschungen freundlicherweise über die Existenz von W.-v.-Humboldt-Briefen im Besitz von Nachkommen K. F. Beckers. Manuskript: „Ferd. Becker und Friedrich Rosen" von Nanna Stahl, 1914, S. 12 (BeckerArchiv): Brief F. A. Rosens an K. F. Becker (1825).

51

Außerdem bezeugt in einem Brief F.A.Rosens an K.F.Becker vom 18. Mai 1826 (Becker-Archiv).

52

Im Brief K.F.Beckers an seinen Sohn Ferd. Wilh. Becker vom 28. Mai 1826 (BeckerArchiv). Im Brief Ferd. Wilh. Beckers an seinen Vater K.F.Becker vom 5. Juni 1826 (BeckerArchiv).

53

54 55

Im Brief K. F. Beckers an F. A. Rosen vom 23. Juli 1826 (Becker-Archiv). Im Brief K. F. Beckers an F. A. Rosen vom 22. April 1827 (Becker-Archiv).

58

Dieser Brief ist außerdem bezeugt in a) einem Brief K. F. Beckers an F. A. Rosen vom 27. Oktober 1827, und b) einem Brief K.F.Beckers an seinen Sohn Ferd. Wilh. Becker vom 19. November 1827 (Becker-Archiv).

57

Aus dem Brief K. F. Beckers an seinen Sohn Ferd. Wilh. Becker vom ? Mai 1827 (BeckerArchiv). Aus einem Brief W. v. Humboldts an Franz Bopp, dem zwei Exemplare von Humboldts letzter Akademie-Abhandlung (Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen, Berlin 1830) — eines für K.F.Becker und ein anderes

58

Wilhelm von Humboldt und Κ. F. Becker

55

14.

1830, August oder früher,

Humboldt an K . F. B.,

erschlossen5'

15.

1832, 9. August,

K. F. B. an Humboldt,

erschlossen9®

16.

1832, 7. Dezember,

K . F. B. an Humboldt,

belegt

17.

1833, 19. Januar,

Humboldt an K . F. B.,

original

18.

1833, ? Juni,

Humboldt an K . F. B.,

61 bezeugt.61

Aus den Inhaltsverzeichnissen des Becker-Archives ergeben sich Hinweise auf weiteren ehemals vorhandenen Briefwechsel zwischen K . F. Becker und Wilh. von Humboldt. Ergebnis

des

Briefwechsels

Das Ziel Beckers ist konsequent auf die rationale Erfassung allgemeingrammatischer Kategorien eingeengt, während Humboldt — audi stets von einer empirischen Einzelsprache ausgehend — eher das irrational-geistige Wesen der menschlichen Sprache intuitiv zu schauen sucht. Keinesfalls kann aber deshalb von einer Gegnerschaft zwischen Becker und Humboldt 62 die Rede sein, audi nicht für die Zeit nadi 1833. Im Gegenteil: W. v. Humboldt hat gerade auf die Divergenzen und die sich daraus ergebende Möglichkeit fruchtbarer Vergleidiung Wert gelegt. An Hand der beiden nodi erhaltenen Originalbriefe W. v. Humboldts an K . F. Becker (vom 26. März 1826 und 20. Mai 18 27) 6 3 ergibt sich folgendes Bild: 1. Wilhelm von Humboldt kennzeichnet in diesen Briefen das Einende und das Unterscheidende in beider Ansichten vom Wesen der Sprache. Humboldt ist zu diesen äußerst wichtigen Betrachtungen von Becker selbst angeregt •worden. 2. Humboldt mißt der Tatsache Nutzen bei, daß Becker (gestützt auf die Forschungen Grimms) von dem engeren Kreis der indogermanischen Spradien, vornehmlich von der neuhochdeutschen, er aber ζ. B. vom Baskisdien, den Südsee- und für seinen Sohn F . W . B e c k e r — beigelegt waren. Beleg bei: Salomon Lefmann: Franz Bopp, sein Leben und seine Wissenschaft. Nachtrag Berlin 1897, S. 72 f. — In diesem Werk ist K. F. Becker nodi an den folgenden Stellen erwähnt: 2. Hälfte (1895), S. 192 f. (etymologische Methode), S. 194 f.; Nachtrag, S. 92 f. (Potts Rezension von Beckers „Wort"), S. 222 f. (Becker, J. C. A. Heyse: Jac. Grimm). Im Nachtrag, S. 83, ist einwandfrei n i c h t K. F. Becker gemeint. 59

Aus dem Brief K. F. Beckers an seinen Sohn F. W. Becker vom 17. August 1830 (BeckerArchiv).

60

Aus dem Begleitbrief zu einer Büchersendung („Das Wort in seiner organischen Verwandlung") an F. W. Becker in Berlin, in dem K. F. Becker seinen Sohn um die Weitergabe der Exemplare an verschiedene Berliner Gelehrte bittet. Ein Exemplar war „für den Minister v. Humboldt" bestimmt.

61

Aus einem bei S. Lefmann, „Franz Bopp", Nachtrag, Berlin 1897, S. 92, zitierten Brief W. v. Humboldts an F. Bopp vom 27. Dezember 1833.

62

Vgl. audi die Andeutung E . O t t o s : „Stand und Aufgabe", 1954, S. 40.

63

Text siehe im Anhang. — Im folgenden ist immer auf die in diesen beiden Briefen geäußerten Gedanken Bezug genommen.

56

Beziehungen,

Anregungen

und

Einflüsse

Indianersprachen ausging. Darin, daß Becker und Humboldt „in einigen und nicht unwesentlichen Ideen auseinandergehen", liegt der Grund für den andauernden Gedankenaustausch.

¿¿¿Ι AU?

*

Τ*?

^

¿-J

-

J ^ L

T L ^ ^ : ,

r

^

- ν

^



' ~

,

Das erste Blatt des Briefes Wilh. v. Humboldts vom 20. Mai 1827 an K. F. Becker, mit Eingangsvermerk von Beckers Hand Der vollständige Text ist mit freundlicher Genehmigung von Frau C. Lexis im Anhang erstmals veröffentlicht. Aufbewahrungsort: Becker-Archiv, Marburg.

Wilhelm von Humboldt

und Κ. F. Becker

57

3. Die folgenden Punkte heben in Kürze das heraus, was Humboldt als das ihn von Becker Trennende nennt. a) In bezug auf Beckers „Organism der Sprache" (1827) ist W.V.Humboldt „in mehreren einzelnen Punkten abweichender Meinung": ζ. B. in der Deutung der Kasus und Tempora, der Erklärung der Natur und Entstehung der Flexion überhaupt sowie des Unterschiedes zwischen synthetischen und analytischen Sprachen. b) Entscheidender und kennzeichnender sind Unterschiede des metaphysischen Fundaments: das dialektische Prinzip des Organismus, die Vernachlässigung der Rolle der schöpferischen Phantasie und der daher fehlenden Freiheit in den Sprachbildungen. W. v. Humboldt geht auch auf folgende Momente ein: das geistige Element in der Sprache wird nicht durch das, was Becker das „Logische" nennt, erschöpft; durch Sprachentwicklung und Sprachmischung bzw. fremdsprachliche Einflüsse entstehen außerhalb des Organismus der Einzelsprache stehende Elemente®4 ; bei Becker ist der soziologische Bezug weniger betont als in Humboldts Ansicht, nämlich daß „die Sprache in ihren Einzelheiten . . . aus allen die Bildung der menschlichen Gesellschaft leitenden Gesetzen" entspringe. Hier, scheint mir, ist der tiefste Ansatzpunkt für eine geistesgesdiichtliche Deutung des Humboldt-Becker-Verhältnisses. Es ist besonders wichtig, daß Humboldt, vorn eh ml ich durch die intensiven Forschungen Beckers angeregt, im Brief an Becker vom 20. Mai 1827 zugesteht, die soziologische sei nur eine der notwendigen Bedingungen neben der des individuellen Organismus u. a. Hier darf nicht vergessen werden, daß Becker keineswegs von Physiologie nur im biologisch-naturwissenschaftlichen Sinne als Bedingung der Sprachbildung spricht. Außerhalb wissenschaftlicher Diktion, im Umgang mit seinen Kollegen und Familienangehörigen, sprach Becker häufig von der „Sprache als physiologischer Funktion" 65 , welche Ansicht das Sprechen aber durchaus im Sinne eines physikalischbiologisch-psychisch-geistigen Komplexgebildes, primär als ein ewiges Aufeinanderfolgen „geistiger Akte" (im Sinne des Beckerschen Geistbegriffes) deutet. So dürften da, wo Humboldt Becker einen wesentlich erweiterten Physiologie- (bzw. Organismus-)Begriff empfiehlt, MißVerständnisse vorliegen; denn für Becker ist der geistige Bereich (nicht identisch mit dem Irrationalen!) nur eine Gliedstruktur des «4 Vgl. Wilhelm Scherer: „Jacob Grimm", 1885, S. 165 f. 65

Z . B . im Brief Ferd. W. Beckers vom 10. Mai 1827 an seinen Vater (Becker-Archiv).

58

Beziehungen,

Anregungen

und

Einflüsse

menschlichen Organismus66. Sein Physiologiebegriff ist, ähnlich dem des Organismus, an die vielschichtige Struktur des Menschen gebunden. Wenn Humboldt vom Organismus des Einzelmenschen als dem wichtigsten der bedingenden Elemente spricht, so mag er damit die in seinem Brief nicht erläuterte Vorstellung von einer Rangordnung der Bedingungen des Sprechens und der Sprache67 verbunden haben; und zwar in dem Sinne, daß er physikalisch-biologische Kategorien als „stärkste", d. h. elementarste Voraussetzungen der Sprache, die Gesellschaft aber — mit den anderen natürlich innig verknüpft — als „letzte", „schwächste" Bedingung auffaßte. H. Steinthal übertreibt die Humboldt und Becker trennende Differenz im beidseitig gebrauchten Organismusbegriff. Zu Recht weist er auf dessen naturphilosophischen Begriffsinhalt bei Becker hin, dem im Humboldtschen Sprachgebrauch „bloß ein verdeutlichendes Bild ohne Geistreichigkeit, wie bei Becker und sonst vielfach" 88 , entspräche. Hier dürfte Steinthal irren, wie weiter unten nachzuweisen sein wird: sowohl in Humboldts wie Beckers und Jac. Grimms Munde kann der Gebrauch des allgemeinen Begriffs des Organismus der Sprache stets und allein nur im Sinne einer Metapher angewendet worden sein. Steinthal bemüht sich nie, die auch vorhandenen Gemeinsamkeiten herauszustellen, welche ganz allgemein in der Philosophie des deutschen Idealismus, im besonderen aber in einem strukturellen Denken begründet liegen. Der Organismusbegriff ist das Kernproblem aller Differenzen zwischen Humboldt und Becker. 4. Von besonderem Wert für meine Abhandlung ist aber nun, was W. v. Humboldt über die Gemeinsamkeiten in den beiderseitigen Auffassungen vom Sprachwesen sagt, da sich daraus Schlüsse auf den Umfang der Zusammenarbeit zwischen W. v. Humboldt und Becker ziehen lassen und da die Kenntnis der beiden im Becker-Archiv gefundenen Briefe erstmalig gestattet, Behauptungen über diese Frage durch belegte, also gültige Feststellungen zu ersetzen. Zu letzterer Möglichkeit tragen auch andere Quellen aus dem privaten Briefwechsel bei. Wenn man nämlich —was wohl selbstverständlich ist —unterstellt, daß Humboldt in den Briefen an Becker vom 26. März 1826 und 20. Mai 1827 seine Meinung über grundsätzliche Fragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft in ehrlicher Absicht 89

In dem nächsten (für ein Datum nach dem 19. November 1827 zu erschließenden) Brief Beckers an Humboldt hat Becker versucht, „manches abzugleichen".

67

Man beachte, daß die Bedingungen des Sprachwandels, wie sie E. O t t o in „Stand und Aufgabe" dargestellt hat, nicht hierher gehören; auch Humboldt spricht davon nicht, ebensowenig Becker in diesem Zusammenhang.

68

H . Steinthal: „Grammatik, Logik und Psychologie." 1855, S. 123 f. Völlig unbegründet ist die Behauptung, Humboldt habe mit der Philosophie Beckers „nicht das mindeste gemein", weil Humboldt nirgends auf Beckers Schriften hinweise. Hier wird Steinthal nun mit Humboldts eigenen Worten widerlegt. Auch Franz Bopp ist mit seinem Lehrer Windischmann Anhänger Schellings gewesen. Aber der Psychologe Steinthal sieht darin nur eine Richtung, „die von allen ernsten Denkern verachtet, vielfach gegeißelt worden ist" (a. a. O.).

Wilhelm von Humboldt

und Κ. F. Becker

59

geäußert hat, so ist alles, was bisher über das Humboldt-Becker-Verhältnis gesagt worden ist, mindestens unzureichend, meist aber falsch 69 . Entscheidend in der Antwort auf die Frage nach den Gemeinsamkeiten der Anschauungen beider dürfte W . V . H u m b o l d t s Feststellung (1827) sein, daß „ b e i F u η d a m eη t a 1üb er eiηst im mu η geη auch bedeutende Abw e i c h u n g e n " v o r h a n d e n seien. Die Verschiedenheit ist nach Humboldts Worten 7 0 „sogar nicht so groß, als sie scheint". H u m b o l d t erwähnt in den vorliegenden beiden Briefen folgende stimmende Momente:

überein-

a) die Ableitung des Wesens der Sprache einerseits aus der individuellen, vielschichtigen Ganzheit des sprechenden Menschen, anderseits aus dem überindividuellen Kollektivgebilde der Menschheit; b) so sei, bei Becker wie bei Humboldt, die Sprache im ersteren Bereich „das notwendige Vehikel des Denkens", im letzteren analog das notwendige Mittel jeglicher Mitteilung; c) dieser doppelte Zweck der Sprache (des Sprechens) setzt voraus, daß sie „mit der N a t u r des Menschen selbst unmittelbar gegeben", „dem Menschen eingewachsen und immer als ein Ganzes hervorgehend" sein muß; d) die strenge Trennung der materiellen (äußeren) von der geistigen (inneren) Seite der Sprache und das hieraus zu Folgernde. e) Der Ursprung der Sprache ist nicht als Verstandesschöpfung aufzufassen; der Verstand kann Sprache nicht erfinden, sondern nur ihr Wesen zu begreifen suchen. f) Die Sprachforschung muß den „rationellen Weg" verfolgen, um wissenschaftliche Erkenntnisse und Struktureinsichten zu erzielen. Ja, die Suche nach allgemeinen Sprachkategorien ist sogar der historischen wie auch der komparativen Methode übergeordnet: „Es ist nicht . . . möglich, ihn [den historischen Weg] ohne Betretung des rationellen zu nehmen, da man auf dem letzten erst die Geschichte hegreifen lernt. N u r die Verbindung beider Wege . . . ist der innern N a t u r der Sprache angemessen." In einem Brief F. A. Rosens an Ferd. Wilh. Becker (K. F. Beckers Sohn) vom 16. August 1827 spiegelt sich das Urteil W. v. Humboldts über den „Organism der Sprache" (1827) 89

70

Wahrscheinlich wesentlich auf der Sdierer-Biographie fußend, schreibt ζ. B. Henrik Becker (Jena) in der Neuen Deutschen Biographie, l . B a n d , Berlin 1953, Seite 711: Becker „kommt von der Aufklärung und Wilhelm von Humboldt, die er fruchtbar mißverstand, und führt [?] über H. Steinthal, der ihn schädlich mißverstand, und H . P a u l [?],dem er im Guten half [?],zu der heute aufstrebenden Querschnittforsdiung." Ganz abgesehen von der angreifbaren Kennzeichnung des Humboldt-Bedcer-Verhältnisses ist mir der Gedankengang nicht einsichtig. In welcher Form sollen die Ideen K. F. Beckers gerade über H. Steinthal und H. Paul fortgeführt worden sein? Brief an K. F. Becker vom 20. Mai 1827. Siehe Anhang.

60

Beziehungen,

Anregungen

und

Einflüsse

von K. F. Becker wider. Rosen schreibt: „Sein Organism der Sprache hat eine schöne Tendenz und enthält gewiß im einzelnen viel Treffliches. Aus dem historischen Gesichtspunkt ließe sich manches erinnern. Historische Forschung und philosophische Ansicht sollen voneinander untrennbar sein, einander gänzlich durchdringen... Leider zeigt aber die E r fahrung, daß jetzt die historischen Forscher so selten den Mut haben, ihre Resultate zu etwas Allgemeinerem zu vergeistigen. Dies hat Dein Vater getan; er hat die gewonnene Überzeugung auf eine durchaus eigentümliche, lebendige A r t durchgeführt, aber dabei allerdings hin und wieder Kleinigkeiten unberücksichtigt gelassen und anderes in seine Ideen verwebt, was man als eine Instanz gegen dieselben geltend machen könnte . . . — Humboldt habe ich nur einmal gesprochen; . . . im wesentlichen teilt er meine Ansichten 71 ."

Es wird Gelegenheit sein, im Laufe meiner Arbeit auf einige der eben genannten Punkte zurückzukommen.

Die Zeit nach

1833

Das freundschaftliche, durch Gespräche und Briefe gegenseitig befruchtende und „bei Fundamentalübereinstimmungen auch bedeutende Abweichungen" einschließende Verhältnis K.F.Beckers zu W. v. Humboldt wird getrübt durch das 1833 von Becker veröffentlichte Buch „Das Wort in seiner organischen Verwandlung". Nach einem vermutlich letzten Brief W. v. Humboldts an Becker, der von Sal. Lefmann bezeugt72 und etwa auf Juni 1833 zu datieren ist, brechen die gegenseitigen Beziehungen ab, da Humboldt seit dieser Zeit leidend war und bis zu seinem Tode (1835) zurückgezogen lebte. Das Buch war ein kühner Versuch, mit Hilfe der Organismus-Idee die bis dahin nach Beckers Meinung nodi mangelhaften und einseitigen etymologischen Forschungen wissenschaftlich zu fundieren. Der von Humboldt durchaus anerkennend beurteilte Ganzheitsgedanke in Beckers Theorie, nämlich die sprachliche Einheit von Laut und Bedeutung, war bei Becker Grundlage für eine allgemeinsprachwissenschaftliche Theorie des Wortwandels. Setzt sich das Buch auch zum Ziel, sowohl den Wandel (bzw. Wechsel) des Lautes als auch den Wandel (bzw. Wechsel) des Begriffes gleichermaßen zu berücksichtigen, so ist doch die von Becker ausgesprochene gesetzliche Parallelisierung73 beider Vorgänge ein Unding. Dreierlei führt W. v. Humboldt zur Ablehnung dieses Beckerbuches: a) die Unterordnung des phonetischen Wandels unter das logische Gesetz der Ableitung, das Prinzip der Individualisierung, b) die damit notwendig verbundene Vernachlässigung historischer Gesetzlichkeiten im Lautwandel, 71

Zitiert nach dem Manuskript Georg Weigands: „Karl Ferdinand Becker", 1933, S. 153 f.

72

Salomon Lefmann: Franz Bopp, sein Leben und seine Wissenschaft, Berlin 1897, S. 92 (Humboldt an Bopp, Tegel 27. Dezember 1 8 3 3 ) : „Becker muß schon aus einem Briefe von mir vor meiner Reise ins Seebad gesehen haben, daß midi sein ,Wort' nicht anspricht."

73

K. F. Becker: „ W o r t " , 1833, S. 6, 7 f.

Wilhelm von Humboldt und Κ. F. Becker

61

c) die Erkenntnis, daß dessen Wert letztlich allein auf dem Gebiet der Begriffsforschung, d. h. in der Aufstellung eines für alle Sprachen gültig sein sollenden Begriffssystems, zu suchen sei 74 . K . F. Becker sandte, wie üblich, das „ W o r t " an Humboldt, und dieser schrieb ihm offen, daß es ihn „nicht anspricht". In einem Brief W . v. Humboldts an Franz Bopp vom 27. Dezember 1833 7 5 erläutert Humboldt seine H a l t u n g : Beckers „Bemühen, die Wörter nach Begriffs-Etymologien zu ordnen, ist eigentlich ein Bestreben, sich außerhalb aller Sprache zu stellen, und dies ist noch unmöglicher, als mit Archimedes einen Punkt außerhalb der Erde zu fordern. Es gibt ohne W o r t gar keinen vollendeten Begriff" 7 ®. Unter dem ungünstigen Eindruck der damals gerade von A. F. Pott rezensierten 7 7 Schrift schreibt Humboldt in diesem Brief an Bopp weiter über das „Sprachwesen" K . F. Beckers: „Ich gestehe offenherzig, daß ich mich damit nie habe befreunden können, und ich glaube, auch Ihnen geht es ebenso." Zu Recht wird Becker von P o t t der V o r w u r f gemacht, daß Vernachlässigung (wenn auch „Verleugnung", wie P o t t sagt, eine Unterstellung ist) historisch-morphologischer F o r schung zu unzureichenden und falschen Systematisierungen führen müsse (Sp. 7 4 4 ) . O h n e genügende Berücksichtigung des Wandels der äußeren W o r t f o r m versuche Becker, „der Etymologie eine systematische Gestaltung zu geben" (Sp. 744), indem er die allgemeine These Humboldts von der Einheit von Laut und Begriff im W o r t gesetzmäßig allein aus gewissen Kategorien des Begriffswandels und -wechseis ableite. D a m i t aber ließe er sich von ganzheitlicher auf einseitige Betrachtungsweise hin ablenken. D i e ganze Wahrheit sei in der Etymologie, nach Humboldt, immer Laut und Begriff. Es ist richtig, daß P o t t das Verdienst dieser Schrift Beckers darin sieht, auch auf dem Gebiet der Etymologie „mit größerer Bestimmtheit auf eine Auffassung der Sprache in ihrer vollen Ganzheit und in ihrem einheitlichen Zusammenhange gedrungen zu haben" (Sp. 7 4 6 ) und damit die „Ungetümen Massen" empirischen Materials „durch eine wissenschaftliche Anordnung ihres Wortvorrats" zu ordnen. Das Buch hat also, streng genommen und obwohl Becker eine solche Absicht verfolgte, weniger einen Wert für die etymologische Forschung als vielmehr für Bestrebungen, ein allgemeingültiges Begriffssystem aufzustellen, das ζ. B . von Nutzen für die Gliederung der Begriffswörterbücher wäre 7 8 . 74

75 7e 77

78

Becker sagt selbst („Organism", 1841, S. 71), daß sein Ziel ein „organisches Begriffssystem" sei. — Vgl. das Kapitel über die Lexikologie. S. Anmerkung S. 60. Vgl. hierzu S. Lefmann: „Franz Bopp", 2. Hälfte 1895, S. 194; audi S. 222 f. In den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik (von der Sozietät für wissenschaftliche Kritik zu Berlin im Sinne einer Tribüne für den Hegelianismus herausgegeben), Stuttgart und Tübingen, Jg. 1833, November, Nr. 93—96. Obwohl „wenig Gewandtheit im Stil" (Humboldt) zeigend, hat Pott hier einen für die Gesamtbeurteilung Beckers wesentlichen Beitrag geliefert. Vergleichsweise wichtig ist dazu Humboldts Brief vom 19. Juni 1833 an K. F. Becker (siehe Anhang S. 271 f.). Siehe unten im Kapitel über Lexikologie. — Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1833, Nr. 9 3 - 9 6 , Sp. 744, 746, 761, 764 f.

62

Beziehungen,

Anregungen

und Einflüsse

Die Rezension der Beckerschen Schrift über „Das Wort in seiner organischen Verwandlung" ist insofern recht nützlich, als sie einmal von Pott, dem derzeitigen Experten in etymologischen Fragen, stammt und auch deswegen, weil sie weitgehend die Meinung W. v. Humboldts zum Ausdruck bringt 79 .

Zusammenfassung a) K. F. Beckers erste linguistische Arbeiten (1822—1824) entwickelten unabhängig von Wilhelm von Humboldt eine eigenständige Idee vom Organismus der Sprache, für welche jener nachweisbar lediglich Anregungen aus Jakob Grimms Schriften aufnahm. b) Mit der ersten Auflage des „Organism der Sprache" (1827) begann für Becker eine schöpferische Zeit, die durch tiefgreifenden Einfluß der Schriften von und Gespräche mit W. v. Humboldt gekennzeichnet ist. Dieses Verhältnis ist ohne Zweifel ein gegenseitig gedanklich befruchtendes gewesen; es hat jedoch Becker niemals zur Änderung oder Aufgabe seiner naturphilosophisch Sdiellingsdien Grundkonzeption vom Aufbau der Sprache führen können. c) Die zwei vorliegenden Originalbriefe Humboldts an K. F. Becker zeigen, daß zwischen dem dort wie hier gebrauchten Begriff vom Organismus der Sprache sowohl grundlegende Übereinstimmungen als auch wesentliche Divergenzen herrschten80. d) Das äußerst wohlwollende Interesse W. v. Humboldts für die Forschungen Beckers dürfte erstmalig 1833, nämlich nach Veröffentlichung des „Wortes in seiner organischen Verwandlung", einer kühleren Beurteilung, d. h. einem stärkeren Bewußtwerden der Divergenzen gewichen sein. Dieser der Sache geltende Wandel der Einstellung hat jedoch kaum die persönliche Achtung vor Becker als mitstrebendem Gelehrten trüben können. Die zweite Auflage des „Organism der Sprache" (1841) nach dem Tode Humboldts hat Becker dessen Andenken gewidmet. e) Bei der tiefen und offenen Verehrung K. F. Beckers für Wilhelm von Humboldt und bei aller anerkennenden Hochachtung Humboldts vor den systematischen Leistungen Beckers im Bereiche der Allgemeinen Sprachwissenschaft bleibt dodi immer ein Teil nicht zu Vereinbarendes zwischen beiden, das im wesentlichen auf grundlegende Probleme der Etymologie (des historischen Wandels) und der Wortlehre allgemein zu beschränken ist. 79

S. Lefmann: „Franz Bopp", Nachtrag 1897, S. 92 f., Humboldt an Bopp (27. Dezember 1833): „Ich kann nicht gerade finden, daß er [Pott] die Beckersche Schrift zu scharf getadelt hat. Er hat es nur in einem zu beißenden und aufreizenden Tone getan, und dies hat denn wieder seine natürliche Gutmütigkeit zu übertriebenem Lobe des Verfassers überhaupt und seines ganzen Sprachwesens verleitet."

80

Ich mußte midi bewußt auf diese kurze Darstellung des Sachverhaltes beschränken. Ein umfassender Vergleich der Beckerschen Theorie mit den Gedanken W. v. Humboldts über das Wesen der Sprache konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht durchgeführt werden.

Zusammenarbeit

in philosophischen,

pädagogischen

und linguistischen

Fragen

63

f) K. F. Becker, selbst der erfolgreichste Vertreter dieser Richtung, verehrte in W. v. Humboldt sein großes Vorbild, den Führer der allgemeinen („rationellen") Sprachforschung.

3. Zusammenarbeit Fragen

in philosophischen,

Adolf Trendelenburg

pädagogischen

und

linguistischen

u n d K. F. B e c k e r

Von besonderer Bedeutung gerade auch für das Becker-Humboldt-Verhältnis war die Verbindung Beckers mit Adolf Trendelenburg; denn beiden, Becker wie Trendelenburg — und Humboldt —, lag das Problem der Vermittlung zwischen Logik und Grammatik am Herzen 81 . Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung traf Becker aber bei Humboldt auf Ablehnung, als er die Etymologie durch reinlogische Kategorien zu verwissenschaftlichen suchte. Anlaß zu der immer mehr das Logische hervorhebenden und das eigentlich Allgemeinsprachliche vernachlässigenden Tendenz ist zweifellos die enge Bekanntschaft mit Trendelenburgs Gedankengängen gewesen. Ohne die Möglichkeit zu haben, dies hier mit einer vergleichenden Literaturkritik im einzelnen zu belegen, sei auf folgendes hingewiesen. Die Vermittlung seines Vaters führte Ferdinand Wilhelm Becker82 in Berliner Gelehrtenkreise ein; hier, bei gemeinsamen Universitätsstudien, lernte er A.Trendelenburg kennen. Nach seiner Promotion 1826 wurde Trendelenburg bei privatem Studium des Sanskrit auf die linguistischen Arbeiten des Vaters seines Freundes aufmerksam und bei K. F. Becker in Offenbach durch F. W. Becker im April 1827 eingeführt. Bis 1833 im Dienst des preußischen Generalpostmeisters von Nagler als Hauslehrer, gaben längere Aufenthalte in Bonn und Frankfurt a. M. Trendelenburg willkommene Gelegenheit, mit K. F. Becker tiefgreifende Gespräche über Sprache, Grammatik und Logik, Pädagogik und Politik zu führen83. Diese persönlichen Begegnungen führten zwei Gelehrte von vorbildlicher Gesinnung und außerordentlicher Schaffensenergie zu fruchtbarer Arbeit zusammen. Trotz des großen Altersunterschiedes — Trendelenburg war 27 Jahre jünger als K. F. Becker — wird jener als vertrauter Freund und wissenschaftlicher Berater, dieser als „väterlicher Freund" geschildert. Dieses herzliche Verhältnis verband auch beide Familien: Ad. Trendelenburg heiratete Ferdinande, die jüngste Tochter K. F. Beckers. 81

Vgl. H . Steinthal: „Grammatik, Logik und Psychologie", 1855, S. 118. Steinthal sieht in diesem Streben Humboldts zwar nicht seine beste Seite, gibt aber zu, daß Humboldt die These niemals aufgegeben hat.

82

F . W . B e c k e r : geboren 1805, gestorben 1834 als praktischer A r z t und Privatdozent in Berlin. E r hielt sich längere Zeit in Schottland und London auf, war Freund und A r z t in Th. Carlyles Haus (Comely Bank). F. W. Becker machte Carlyle mit Jean Pauls Schriften bekannt. — Manuskript Nanna Stahls: Ferdinand Becker und Friedr. Rosen. 1914, S. 17 (Becker-Archiv).

83

„Ferdinande Trendelenburg", 1896, S. 50, 96. — Friedrich Trendelenburg: Aus heiteren Jugendtagen. Berlin 1924, S. 153.

64

Beziehungen,

Anregungen und Einflüsse

Gemeinsame philosophische Interessen und gegenseitige Wertschätzung, welche die beiden Gelehrten dauernd vereinte, kommen sowohl in Trendenlenburgs als auch in K. F. Beckers Schriften zum Ausdrude. Friedrich Trendelenburg teilt mit, daß die „Deutsche Grammatik" K.F.Beckers (1829) unter „tätiger Anteilnahme" Adolf Trendelenburgs entstanden sei84. In Beckers 2. völlig neu bearbeiteter Auflage des „Organism der Sprache" 1841 ist der Einfluß der Trendenburgschen organischen Methode auf aristotelischer Grundlage, in den 1840 erschienenen „Logischen Untersuchungen" Trendelenburgs wiederum die Anregung durch allgemeingrammatische Theorien Beckers, vor allem das Problem Sprache und Denken betreffend, zu erkennen85. Trendelenburg achtete ganz besonders das Verdienst Beckers, die organische Anschauung im Bereich der Sprachforschung ausgebildet zu haben und daß er in der Praxis die Grammatik mit philosophischem Geist zu beleben suchte. Er erkannte in Beckers Struktursyntax die Verwirklichung der Forderung: nicht anatomische Zerlegung, sondern „physiologische" Betrachtung der Sprache (Strukturanalyse!). Das gesamte sprachwissenschaftliche Material „wird nun von einem durchgehenden Gedanken durchdrungen. Was früher toter Bestandteil des Satzes war, ist nun Organ .. ,"8e Trendelenburg hat das rege Interesse und die Zustimmung Beckers zu seinem Werk herzlich und dankbar anerkannt 87 . Im Berliner Trendelenburgschen Hause ist Karl Ferdinand Becker hoch verehrt worden. Die Familienerinnerungen aus dem Jahre 1861 erwähnen eine „imposante, überlebensgroße Büste (von Heidel)" 88 . Nach K.F.Beckers Tod am 4. September 1849 schrieb Adolf Trendelenburg: „Es w a r i h m e i g e n , i m m e r s e i n W e s e n i n g r ö ß e r e n Z ü g e n a u s z u p r ä g e n u n d h i n z u g e b e n . Das Kleine verschmähend, oft selbst Größeres, als sei es Kleines, mißachtend, s u c h t e e r i m m e r d a s G e i s t i g e i n d e n D i n g e n und fand dafür einen klaren Ausdruck." D e r G e 1 e h r t e η k r e i s um B e c k e r u n d s e i n

Wirkungsbereich

Karl Ferdinand Beckers linguistische Schriften sind aus dem Gedankengut eines ganz bestimmten Kreises von Sprachforschern und Sprachlehrern heraus84

85

88

87 ä8

Aus heiteren Jugendtagen. Berlin 1924, S. 153. — Adolf Trendelenburg rezensierte die „Deutsche Grammatik" und die „Deutsche Schulgrammatik" (1831) Beckers in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Halle und Leipzig, Oktober 1831, 3. Band, Sp. 181 ff. Er gesteht (Sp. 293), aus den Büchern viel gelernt zu haben und empfiehlt sie für den Schulgebrauch. Man ziehe dazu die weiteren Hinweise und Anmerkungen in Beckers und Trendelenburgs Werken heran. Die 1. Auflage der „Logischen Untersuchungen" (3. erg. A u f l . Leipzig 1870), 2 Bände, ist Karl Ferdinand Becker gewidmet. „Logische Untersuchungen", 1840, Ì.Band, S. 316; — Georg Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker", Sonderdruck 1854, S. 12. Vgl. „Logische Untersuchungen", 1870, l . B a n d , S. X (Vorreden). „Ferdinande Trendelenburg", 1896, S. 229.

Zusammenarbeit

in philosophischen,

pädagogischen

und linguistischen

Fragen

65

gewachsen. Die ersteren sind (vornehmlich Alt-)Philologen, die dem Frankfurtischen Gelehrten-Verein für deutsche Sprache angehörten und Professoren an Universitäten bzw. Gymnasien waren. Der Frankfurtisdie Gelehrten-Verein für deutsche Sprache w a r 1 8 1 7 aus A n l a ß der 300jährigen Reformationsjubelfeier „zur Veredlung und Verherrlichung unserer M u t t e r sprache" gegründet worden. Das Ziel des Vereins ist knapp zu umschreiben mit den Begriffen: „Reinheit und Reichtum, Richtigkeit und Bestimmtheit, Schönheit und W ü r d e " der deutschen Sprache 8 9 . J a c o b Grimm und auch K . F . Becker, beide waren Gegner derjenigen extremen Sprachreiniger, die dieses P r o g r a m m in pedantisch-puristischer Manier 9 0 auszuführen gedachten.

Ein nach der Gründung seiner Unterrichts- und Erziehungsanstalt (in Offenbach) entstandenes didaktisches Bedürfnis führt K . F. Becker in den Kreis der Frankfurter Gelehrten, von wo er sich Hilfe gegen die, nach seiner Ansicht, mangelhaften Grammatiken versprach. Für die Unterrichtung von Engländern und Schotten in der deutschen Sprache fand Becker nur die Heysesche Grammatik einigermaßen brauchbar 91 . E r begann um das Jahr 1822 Verbesserungsvorschläge niederzuschreiben und an J . C. A. Heyse zu schicken, der sie in Neuauflagen verwertete. In der 6. Auflage seiner deutschen Grammatik (1826) erwähnt Heyse Beckers „Deutsche Wortbildung" lobend. Leider sind uns aus der sicher umfangreichen K o r respondenz zwischen beiden nur drei Briefe erhalten. Aus dem Brief Beckers an J . C. A. Heyse vom 15. Mai 1827 geht hervor, daß Becker und Heyse sich ihre Schriften austauschten, und weiter, daß Becker in bezug auf „die Gestalt" der deutschen Grammatik „wesentliche Abänderungen" forderte, die sich aus dem Gesichtspunkt der organischen Sprachbetrachtung ergaben 92 . Einige Jahre, etwa bis 1822, dachte Becker nicht an eigene Veröffentlichungen, sondern wendete das Ergebnis der Gespräche und Gelehrtendiskussionen nur im eigenen Sprachunterricht an. Die Anregung, seine Ideen schriftlich zu fixieren, ging vom Frankfurtisdien Gelehrten-Verein aus. Becker war in Frankfurt — auf Anregung S. H . A. Herlings und Aug. Grotefends — zunächst mit Vorträgen über Wortbildung (Vor- und Nachsilben) hervorgetreten 98 und erweiterte dann 1824 seine Forschungen zu der Schrift über „Deutsche Wortbildung", die gleichzeitig den Grundriß seiner neuen Vorstellungen vom Aufbau der Sprache enthielt. Für das J a h r 1821 etwa belegt uns R . P. Gillies 94 , ein Schüler Beckers, die Existenz der syntaktischen Kategorien dreier Satzverhältnisse. 89

Abhandlungen des Gelehrten-Vereins für deutsche Sprache. 1. Stüde, F r a n k f u r t a. M. 1818, S. 7 und 9.

80

Vgl. „Die Sprachpedanten" in: J a c o b Grimms Kleineren Schriften, B a n d 7, S. 2 1 5 ; „Pedanten und Puristen, was eigentlich eine B r u t ist, sind mir oft so vorgekommen wie Maulwürfe, die dem Landmanne zu Ä r g e r auf Feld und Wiese ihre Hügel aufwerfen und blind in der Oberfläche der Sprache herumreuten und wühlen."

91

J o h . C h r . Aug. H e y s e :

„Kleine

theoretisch-praktische

deutsche

Grammatik",

H a n n o v e r 1816 (5. sehr verb. Ausg. H a n n o v e r 1 8 2 5 ) . 52

Dieser Brief wird hier im Anhang erstmalig veröffentlicht.

93

Georg H e l m s d ö r f e r : K a r l Ferdinand Becker, Sonderdruck 1854, S. 10.

94

„Memoirs o f a L i t e r a r y V e t e r a n " , 1851, S. 33.

5

Haselbadi

1. Aufl.

Beziehungen,

66

Anregungen und Einflüsse

Ein Arbeitskreis des Gelehrten-Vereins hatte sich in dieser Zeit den nodi offenstehenden Fragen

der

Syntax

zugewendet. K . F. Becker, offensichtlich in maß-

gebender Position, arbeitete hier zusammen mit Simon Heinrich Adolf Herling 9 5 , August Grotefend

(jun.)9®, G. Τ. A. Krüger 9 7

und

anderen

damals

bekannten

Grammatikern. Die von diesem Arbeitskreis erarbeiteten Grundsätze sind Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Grammatiken der deutschen Sprache, der anderen neueren Sprachen und auch der alten Sprachen verwirklicht gewesen und blieben bis heute — in mehr oder weniger verstümmelter bzw. mißverstandener Form — erhalten. Vor allem syntaktische Kategorien, die, an der Quelle betrachtet, durchaus auch für uns gültiges grammatisches Wissen darzustellen vermögen, werden heute in der vorliegenden Gestalt oftmals rundweg abgelehnt. Eine die Schriften des syntaktischen Arbeitskreises vergleichend betrachtende Untersuchung dürfte jedoch, dessen bin ich sidier, Wertvolles zutage bringen. Hans Glinz hat die außerordentliche Verbreitung soldier auf K. F. Becker zurückgehender Ideen in der Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts im Rahmen einer Kritik der traditionellen Syntax dargestellt98. Der Zürcher Seminardirektor Scherr98 ist der früheste Vertreter, Rudolf Kühner 100 und Franz C. Honcamp 101 beeinflußten Norddeutschland, Lorenz Kellner lehrte in Sadisen102, Heinrich Kurz 103 u. a. in der Schweiz. Audi in deutschen Kreisen St. Petersburgs wurden die Beckerschen Grammatiken geschätzt, und die 1830 in London erschienene „Grammar of the German Language" wurde beim Sprachunterricht an der Universität benutzt. Götzinger war einer der ersten, die unter direkter Anregung durch Becker die Prinzipien der Wortbildung in die deutsche Grammatik einführten 104 . Mit K. F. Beckers Billigung wurden damals auch die französischen Sprachlehren von Mager, P. F. Schmitz und E. Zandt im Unterricht gebraucht. Als Literaturkritiker stand am bedingungslosesten auf K. F. Beckers Seite: Georg Albrecht Philipp Lorberg 105 . Auch F. A. W. Diesterweg stand den Bestrebungen K. F. Beckers wohlaä

90

97

98 99 100

101

1780—1849, Professor am Gymnasium und Lyzeum in Frankfurt a. M. Briefwechsel im Becker-Archiv Kreßbronn erhalten. 1775—1853; bis 1821 Professor am Lyzeum in Frankfurt am Main. Briefe, auch von G. F. Grotefend, im Becker-Archiv vorhanden. Von ihm erschien 1826 in Frankfurt a. M.: „Uber die grammatische Einteilung und grammatischen Verhältnisse der Sätze." Audi einige Briefe Krügers an K. F. Becker sind erhalten geblieben. Hans Glinz: „Geschichte und Kritik", 1947, S. 55 f., 67. „Kurzgefaßte Schulgrammatik", 1833 (zitiert nach Glinz). „Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache", 1. Aufl. Hannover 1834, 2. Aufl. Hannover 1869/70. Z . B . : „Gedanken über den Unterricht in der Sprachlehre", Soest 1845; „Leitfaden für die Spradibildung in deutschen Volksschulen", Essen 1838.

102

„Praktischer Lehrgang für den gesamten deutschen Sprachunterricht", Erfurt 1840.

103

„Grammatik der deutschen Sprache nach Becker, zunächst für Real- und Industrieschulen", Zürich 1839. Kurz war Professor an der Katholischen Kantonsschule St. Gallen.

104

Georg Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker", Sonderdruck 1854, S. 12. Als Erzieher in Frankfurt a. M. wurde auch ihm die Grammatik zu dem Problem des Sprachunterrichts. Wie Becker hielt Lorberg einzig die Heysesche Grammatik für ver-

105

Zusammenarbeit

in philosophischen,

pädagogischen

und linguistischen

67

Fragen

wollend gegenüber, wenn er sie audi nicht förderte und deren Mißbrauch erkannte. Briefe von Scherr, Kühner, Honcamp, Kurz, Mager und Lorberg sind im Becker-Archiv aufgefunden worden. Siehe Anhang. Es kann mit Sicherheit gesagt werden, daß die Versuche R a i m u n d J a k o b W u r s t s und anderer Volksschullehrer, die überaus erfolgreichen wissenschaftlichen G r a m matiken Beckers in einer A r t \ 7 olks-Sprach„wissenschaft" zu popularisieren, nicht von Becker geleitet wurden. Die Beckersche G r a m m a t i k brachte vielmehr in den dreißiger J a h r e n des vorigen J a h r h u n d e r t s eine sprachpädagogische L a w i n e ins Rollen, die außerhalb jeder K o n t r o l l e durch K . F . Becker geriet. Es w ä r e , selbst beim besten Willen, für ihn unmöglich gewesen, hier noch ordnend und richtigstellend einzugreifen. Als autorisierte V e r t r e t e r

der Beckerschen L e h r e

können

zunächst nur diejenigen anerkannt werden, a u f die Becker in seinen Schriften ausdrücklich hinweist Becker-Archiv

(Kühner,

finden

Götzinger

u. a.). W u r s t

ist niemals

erwähnt;

im

sich sieben Briefe Wursts an Becker, ein Brief Beckers an

W u r s t ist leider nur belegt, ein Besuch Beckers in St. Gallen ist ebenfalls nachweisbar 1 0 8 . E i n Spiegelbild solcher Verfälschungen und Verstümmelungen des Beckerschen Systems,

aber

auch echten Epigonentums,

war

die in D a r m s t a d t

erscheinende

Allgemeine Schul-Zeitung 1 0 7 . V o n R . J . W u r s t angeregt, offensichtlich an Beckers Schriften anknüpfend, erschien hier 1 8 3 1 1 0 8 eine (schließlich abgebrochene) A r t i k e l serie über m i t dem Deutschunterricht zu verbindende „sogenannte

unmittelbare

D e n k ü b u n g e n " . H i e r liegt der A n f a n g eines f o r t d a u e r n d e n und sich bis zur U n verständlichkeit steigernden Mißbrauchs der G e d a n k e n K . F . Beckers. Freilich ist die allgemeine V e r w o r r e n h e i t im heutigen G r a m m a t i k - U n t e r r i c h t durch eine U n zahl solcher falscher J ü n g e r Beckers gefördert w o r d e n ; es ist aber ein grober Fehlbesserungswürdig. Seit 1823 Kirchenrat in Biebrich, war er Mitarbeiter bei der Allgemeinen Kirchen-Zeitung und der Allgemeinen Schul-Zeitung. E r lieferte Rezensionen über pädagogische und germanistische Schriften für Seebodes „Kritische Bibliothek für das Schul- und Unterrichtswesen" und schrieb Beiträge für Rossels Monatsschrift sowie Diesterwegs „Rheinische Blätter". Seit 1830 Mitglied des Frankfurtischen GelehrtenVereins für deutsche Sprache. — Vgl.: „Das pädagogische Deutschland der Gegenwart oder: Sammlung von Selbstbiographien jetzt lebender, deutscher Erzieher und Lehrer. Für Erziehende" herausg. v. F. A. W. Diesterweg, I I . Band, Berlin 1835, S. 218 (Lorberg) : „Meine Ansichten von der deutschen Sprache erhielten ihre Richtung hauptsächlich durch die seit 1824 erschienenen Schriften von K . F . B e c k e r , die mich ungemein anzogen. Gleich anfangs war ich überzeugt, d a ß m i t B e c k e r e i n e n e u e Epoche in der Behandlung der Muttersprache eintreten w e r d e . . . Auch den Werken von Herling verdanke idi viel." 10e

Ich kann mich also der Behauptung H . Glinz', Wurst habe als „der offizielle Interpret des Meisters der logischen Grammatik" gegolten, nicht anschließen. „Geschichte und K r i t i k " , 1947, S. 57.

107

Allgemeine Schul-Zeitung, Abt. I und II, mit pädagogisch-philologischem Literaturblatt. Darmstadt 1824 bis 1881. Begründet von Dr. Ernst Zimmermann, fortgesetzt von Dr. K a r l Zimmermann, Dr. Vogel u. a.

108

A.S.Z., Jg. 1831, Abt. I, z . B . : Sp. 41—48 usw.; Sp. 8 3 3 - 8 3 6 ; Jg. 1832, Abt. I, z . B . : Sp. 3 6 9 - 3 7 6 usw.

5*

68

Beziehungen,

Anregungen

und

Einflüsse

schluß, diesen sicher unhaltbaren Zustand dem Manne zuzuschreiben, der schon vor 125 Jahren die gleichen Forderungen gestellt hat, wie sie heute von verantwortungsbewußten Spracherziehern und -methodikern im Sinne einer struktur- und geisteswissenschaftlichen Begründung des Sprach- wie des gesamten Schulunterrichts erhoben werden! Die Ideen Beckers wurden verfälscht von denen, die 1. den abstrakten Schematismus Hegelscher Dialektik in den Anfangsunterricht und den Sprachunterricht überhaupt einführten (Becker war kein Hegelianer) 109 ; 2. die durch sprachphilosophische Forschungen erkannten Wesensmerkmale der Menschensprache und deren allgemeingrammatisches Gerüst in den Sprachgebrauch des (nicht akademisch gebildeten) Volkes übersetzten und zum obligatorischen Stoff für die Grundschulen machten; 3. die Beckerschen Grammatiken Paragraph für Paragraph von vorn nach hinten durchnahmen, weil sie nicht verstanden, daß bei Becker ein am Wesen der Sprache abgelesenes kategoriales Grundgerüst und nicht ein methodisch-didaktischer Gesichtspunkt das Gliederungsprinzip seiner wissenschaftlichen Grammatiken abgab. Idi halte deshalb die vor allem von R. J . Wurst und anderen im Sinne dieser drei Punkte aus der Allgemeinen Grammatik Beckers gezogenen Konsequenzen in ihrer Anwendung auf den sprachlichen Anfangsunterricht für abwegig110. Es gibt keinen Beweis dafür (auch die zahllosen Widmungen für Becker, „den Begründer einer neuen Epoche in der Methodik des Sprachunterrichts" usw., in dergleichen Schriften sind nicht beweiskräftig), daß Becker diese Bestrebungen und ihre Initiatoren autorisiert hätte. Trotz des mir zur Verfügung stehenden Urkundenmaterials konnte ich bis jetzt nicht einwandfrei feststellen, ob dieser Arbeitskreis des Frankfurtischen GelehrtenVereins identisch ist mit dem in Beckers Offenbacher Haus regelmäßig tagenden Diskussionskreis, der philologische und linguistische Fragen erörterte. Hieran war außer Herling und Grotefend noch Konrad Schwenck beteiligt 111 . Auf weitere Teilnehmer wird im Nachlaßmaterial Beckers, allerdings ohne Namensnennung, hingewiesen. Von diesem Zentrum systematisierender („rationeller") Sprachforschung aus gingen über brieflichen Kontakt mit Karl Ferdinand Becker Verbindungslinien zu Adolf Trendelenburg, Wilhelm von Humboldt, Friedrich 109

Vgl. ζ. Β. die Rezension aus der Feder Theodor Beckers in: A.S.Z., Jg. 1849, Sp. 118 ff.

110

Hierher gehören die Schriften R . J. Wursts : „Praktische Sprachdenklehre für Volksschulen und Elementarklassen der Gymnasial- und Realanstalten", Reutlingen, Aarau, Zürich, St. Gallen 1836 (3. Aufl. 1843). Nach Glinz erlebte dieses Buch in sechs Jahren 19 Auflagen mit 150 0 0 0 Exemplaren und erschien 1894 in 73. Aufl.; „Theoretischpraktische Anleitung zum Gebrauche der Spradidenklehre", 2 Teile, Reutl., Aarau, St. Gallen 1836/1838 (2. Aufl. 1 8 4 1 ) ; weiterhin: „Elementarbuch zu praktischen Denkund Stilübungen für Volksschulen und die Elementarklassen der Gymnasial- und Realanstalten", Reutl. 1840; „Theoretisch-praktisches Handbuch zu elementarischen Denkund Stilübungen", Reutl. 1840.

111

1793—1864, Schüler F. G. Welckers, Professor für Geschichte am Frankfurter Gymnasium.

Zusammenarbeit Schmitthenner,

in philosophischen, Friedrich

pädagogischen

August

Rosen,

und linguistischen

aber

auch

zu

Fragen

F . G . Welcker,

69 George

Friederich Benecke, F r a n z B o p p u n d J e a n P a u l . Die Germanistenversammlung vom 2 4 — 2 6 . September 1846 in Frankfurt a. M . gab K . F. Becker als Teilnehmer der sprachwissenschaftlichen Sektion Gelegenheit zu ungezwungenem Gespräch nicht nur während der Sitzungen, sondern audi im eigenen Offenbacher Haus am Main, wo er einige Freunde während dieser Zeit beherbergte. Zweck dieses später wiederholten Treffens deutscher Redits-, Geschichts- und Sprachforscher war „die wissenschaftliche Förderung deutscher Geschichte, deutscher Sprache und deutschen Rechts, insbesondere durch persönlichen Verkehr der Teilnehmer". Leider sind Tagebücher oder andere Niederschriften von Beckers Hand nicht mehr vorhanden 1 1 2 . Sein Haus war seit dieser Zeit ein Zentrum geistiger, politischer, moralischer und philosophischer Anregung, indem es (vor allem während der ersten Frankfurter Nationalversammlung 1848) häufig führenden Männern, wie Ε . M . Arndt, seinem vertrauten Freund, Dahlmann, von Buttel, C. Passavant, Ludwig Uhland u. a., Unterkunft gab. S. H . A . H e r l i n g

und

F r . Schmitthenner

waren

bezüglich

der

Allgemeinen

G r a m m a t i k diejenigen Gelehrten, m i t denen Becker a m engsten z u s a m m e n g e a r b e i t e t h a t . H e r l i n g schlug 1 8 2 8 s o g a r die gemeinschaftliche B e a r b e i t u n g u n d H e r a u s g a b e einer deutschen G r a m m a t i k v o r . Anläßlich v o r b e r e i t e n d e r G e s p r ä c h e w a r jedoch H e r l i n g nicht bereit, den offensichtlich r a d i k a l e r e n W e g Beckers m i t z u g e h e n . D i e „Deutsche G r a m m a t i k " ( 1 8 2 9 ) erschien d a n n doch n u r u n t e r d e m N a m e n Beckers. Sie ist aber seinem

„verehrten

Freunde"

Herling

gewidmet118.

Herling

folgte

Becker nicht bis z u m organischen F u n d a m e n t der S p r a c h b e t r a c h t u n g u n d m a c h t e v o r allem Beckers dialektische K o n s t r u k t i o n nicht mit. W i e w e i t t r o t z a l l e m die Z u s a m m e n a r b e i t beider G e l e h r t e r geht, zeigt schon ein oberflächlicher Blick in den A u f b a u der S y n t a x bei H e r l i n g 1 1 4 . Die Scheidung des Wortvorrates in Form- (mots vides) und Begriffswörter (mots pleins) haben Becker und Herling von Abel Remusat übernommen 1 1 5 . Becker weist in seiner „Deutschen G r a m m a t i k " (1829) auf Herling als den Urheber der Theorie von der S a t z gliedfunktion der Nebensätze („Substantiv-", „Adjektiv-" und „ A d v e r b i a l s ä t z e ) hin. Das System der drei Satzverhältnisse, das von einigen Beckerkritikern allein S. H . A . Herling zugeschrieben wird, dürfte vom syntaktischen Arbeitskreis des Frankfurtischen GelehrtenVereins gemeinsam erarbeitet worden sein. Weder Becker bezieht sich dieserhalb auf H e r ling (was unter der genannten Annahme unbedingt erforderlich gewesen wäre) noch um112

„Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt a. M. am 24., 25. und 26. September 1846." Frankfurt a. M . 1847, S. 6, 10 f., 135; 140, 143. — G . Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker", Sonderdruck 1854, S. 22—28: „Der Verkehr mit lieben Freunden und mit den Heroen der Wissenschaft hatte stets etwas Verjüngendes für ihn, und ein Tag in Tegel bei W. v. Humboldt wirkte lange in ihm in jugendlicher Erfrischung nach." (S. 22)

113

Georg Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker", Sonderdruck 1854, S. 13.

114

Man vergleiche z . B . Herlings Bücher: „Die Syntax der deutschen Sprache", l . T e i l , Frankfurt a. M. 1830, und den „Ersten Kursus eines wissenschaftlichen Unterrichts der deutschen Sprache für Deutsche", 1828, mit der „Deutschen G r a m m a t i k " Beckers (1829) und dem „Organism der Sprache" (1827). Herling pflegt ständig auf Beckers Schriften hinzuweisen, während Becker Herling nur gelegentlich zitiert. Auf Briefwechsel zwischen Schmitthenner bzw. Herling und Becker ist im Anhang hingewiesen.

115

S. H . A. Herling: „Die Syntax der deutschen Sprache", 1830, S. 20 Anm.

70

Beziehungen,

Anregungen

und

Einflüsse

gekehrt; für Becker liegen allerdings frühere Belege des Gebrauchs dieser drei syntaktischen Grundkategorien vor.

Auf Übereinstimmungen bzw. Differenzen in einzelnen anderen Kategorien wird später gelegentlich hinzuweisen sein. Ein Vergleich der Schriften F. Sdimitthenners mit denen Beckers zeigt größere Unterschiede in den Systemkategorien und im A u f b a u allgemein, obwohl die reformerische Tendenz im gleichen Maß wie bei Becker, ja vielleicht noch radikaler und polemischer, zum Ausdruck kommt. Schmitthenner ist auf der Suche nach der „Ursprache", d. h. der Idee der Sprache, einer „allgemeinen Sprache", die das „Korrelat des Begriffes der Menschheit" ausmachen soll. Der Weg dazu, aus „chaotischer Verwirrung" herausführend, soll über philosophische Bildung der Grammatiker und die Verwendung der Ergebnisse historisch-vergleichender Sprachforschung 116 führen. Aus dem Kreis der Sprachlehrer und -forscher um Becker ist Friedrich August Rosen 117 hervorzuheben. K. F. Beckers Sohn Ferdinand Wilhelm kannte Rosen von der gemeinsamen Schulzeit im Göttinger Gymnasium her. Sie trafen sich wieder an der Berliner Universität. Von seinem Vater mit Sanskrittexten bekanntgemacht, wendete Rosen sich unter der Leitung Fr. Bopps der etymologischen Forschung zu und f a n d bald in Berliner und englischen Linguistenkreisen große Anerkennung. 1825 trat auch Adolf Trendelenburg in regen wissenschaftlichen und freundschaftlichen Verkehr mit F. A. Rosen. Das herzlich-kameradschaftliche Verhältnis zwischen Rosen und dem gleichaltrigen F. W. Becker Schloß bald auch Karl Ferdinand Becker ein. Briefe zwischen K . F . B e c k e r und Rosen wurden von 1825 bis etwa 1835 gewechselt 118 ; wie auch der Briefwechsel mit F.W.Becker, so enthält jener fast ausschließlich äußerst aufschlußreiche linguistische Diskussionen über Themen, die K. F. Becker angeregt hatte. Der gesamte Briefwechsel mit Rosen, zu großen Teilen im Becker-Archiv noch heute vorhanden, wirft neues Licht auf die wichtigste Epoche unserer Wissenschaft und sollte veröffentlicht werden. Ich habe hier nicht die Möglichkeit, näher darauf einzugehen. In dem ersten oder einem der ersten Briefe (1825) an K. F. Becker schreibt F. A. Rosen: „Ich muß vor allen Dingen die Freude kundgeben, welche ich über die Nachricht empfunden, daß Wilh. v. H u m b o l d t eine Korrespondenz mit Ihnen angeknüpft hat. Idi bin stolz 116

F. Schmitthenner: „Ursprachlehre. Entwurf zu einem System der Grammatik." Frankfurt a. M. 1826, S. 18 ff. und V f f .

117

Sanskritist Friedrich August Rosen, 1805—1837, seit 1828 Professor für orientalische Literatur an der Universität London und D o z e n t für Arabisch, Persisch und Hindustanisdi am University College (durch Fr. Bopp empfohlen). Schriften: „Radices Sanscritae", Berlin 1827 (W. v. H u m b o l d t gewidmet), „The Algebra of Muhammed ben Musa", Text u. Ubers. London 1831. 1831 Erster Sekretär der Asiatischen Gesellschaft in London. — N a n n a Stahl: „Ferdinand Becker und Friedrich Rosen", Manuskript 1914 (Becker-Archiv).

118

Im Becker-Archiv sind etwa 26 Originalbriefe, teils v o n K. F. Beckers, teils v o n Rosens H a n d , erhalten.

Zusammenarbeit

in philosophischen, pädagogischen und linguistischen Fragen

71

darauf, die causa occasionalis . . . zu dieser Bekanntschaft gewesen zu sein, indem ich Ihre .Wortbildung' zuerst Humboldt mitteilte 110 ." U m das Jahr 1830 lernte Adolf Trendelenburg auf seinen Reisen von Berlin nach Bonn und Frankfurt audi die Lehrerseminare in Friedberg und Idstein kennen 120 . Hier dürften Trendelenburg selbst und die Grammatiken Beckers Vermittler einer engen Freundschaft zwischen K. F. Becker und dem Direktor des evangelischen Schullehrerseminars zu Friedberg, Theodor Friedrich Roth, gewesen sein. Ein Brief K. F.Beckers an seinen Sohn F. W.Becker aus dem Jahre 1830121 klärt manches: „Den 18ten Oktober besuchte idi den Direktor des Schullehrerseminars Friedberg (Roth), von dem ich gehört hatte, daß er seine Seminaristen nach meiner Grammatik bearbeitete und hatte die große Freude, einen 60jährigen tüchtigen vielerfahrenen Schulmann zu finden, der sich den innersten Sinn und Geist der Grammatik ganz vollkommen angeeignet hat und wie ein Jüngling davon begeistert ist. Da er den audi von andern schon ausgesprochenen Wunsch äußerte, daß die Gr[ammatik]. populärer gefaßt werde, um sie in die Schulen einzuführen, so bin ich gleich ans Werk gegangen, und ich denke, daß gegen Ostern eine eigentliche Schulgrammatik erscheinen soll122." Zweifellos hat Roth nicht nur die Herausgabe der kurzgefaßten „Sdiulgrammatik der deutschen Sprache" 123 , sondern später auch einen Leitfaden für den Erstunterricht und eine Broschüre über die methodische Behandlung der Grammatiken angeregt 124 . Anregungen zur Bearbeitung der wissenschaftlichen Grammatiken für den Gebrauch in Volksschulen sind sicher auch von K. Zimmermann (Darmstadt), dem Herausgeber der Allgemeinen Schul-Zeitung 125 , G. A. Ph. Lorberg 126 u. a. Lehrern, z. B. aus Hanau, gekommen. Die noch erhaltenen Briefe des Briefwechsels zwischen K. F. Becker und J. C. A. Heyse 1 2 7 erlauben, gegenseitige Anregung in unterrichtsmethodischer H i n 119 120 121 122 123 124

125

126 127

Ms. Nanna Stahls: „Ferdinand Becker und Friedrich Rosen", 1914, S. 12. Erich Feldmann: „Der deutsche Neuhumanismus", 1930, S. 12. Becker-Archiv. Sdiulgrammatik der deutschen Sprache. Frankfurt a. M. 1831 (1. Auflage). In sieben Auflagen von 1831—1852 in Frankfurt a. M. erschienen. K.F.Becker: „Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprachlehre", Frankfurt a. M. 1833 (Neuauflagen bis 1870). — „Über die Methode des Unterrichtes in der deutschen Sprache als Einleitung zu dem Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprachlehre", Frankfurt a. M. 1833. — Vgl. G. Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker", Sonderdrude 1854, S. 14. Man vergleiche die durchweg positiven Besprechungen der Büdier Beckers in der A. S. Z., Darmstadt: Jg. 1824, Nr. 75 („Deutsche Wortbildung"), Jg. 1830, Nr. 27 und 28 („Deutsche Grammatik"), Jg. 1834, Nr. 146 („Leitfaden" und „Methode des Unterrichtes"), Jg. 1839, Nr. 164 („Ausführliche deutsche Grammatik", 1. Auflage). Vor allem während dessen Tätigkeit als Prinzenerzieher in Biebrich von 1823—1832. Siehe Anhang. — Heyses Sdiulgrammatik war vor Becker unzweifelhaft führend in Deutschland; aber schon Meyers Konvers.-Lexicon für die gebildeten Stände, 15. Band,

72

Beziehungen,

Anregungen

und

Einflüsse

sidit anzunehmen. Der uns erhaltene Brief George Friederich Beneckes 128 — dieser w a r wohl mit der Beckerschen Familie schon von der Göttinger Zeit her bekannt — läßt auf engere persönliche Beziehungen zu K . F. Becker schließen. Briefwechsel über längere Zeit hin ist sehr wahrscheinlich. Mit K a r l Lachmann in Berlin unterhielt K . F. Becker wohl keinen Briefwechsel; lediglich ein Besuch bei Lachmann ist um das Jahr 1835 belegt. Um einen regelmäßigen Gedankenaustausch mit Franz Bopp hat sich Becker bemüht; dieser hat jedoch nur über F. A. Rosen Verbindung mit Becker gehabt. Das Becker-Archiv nennt weiteren Briefwechsel K . F. Beckers mit Κ . Ε. P. Wackernagel, von Bodmer (Berichte aus Jena über Schiller und die „Braut von Messina"), Ernst Moritz Arndt 1 2 9 . Mit Dorothea von Schlegel, Frau von Metternich und Jean Paul korrespondierte wohl hauptsächlich K . F. Beckers Gattin Amalie. Eine große Menge von Briefen schottischer, irischer und englischer Schüler K . F. Beckers und über 6 0 Briefe sprachwissenschaftlichen Inhalts von verschiedenen Autoren an Becker sind erhalten, Berichte schottischer Zeitungen über den Linguisten und Erzieher K . F. Becker sind belegt. Die Behauptung, daß Goethe K a r l Ferdinand Becker persönlich bekannt war, möchte idi nicht von der Hand weisen, sie ist jedoch nirgends belegt. Ein einziger in Frage kommender Beleg ist äußerst fragwürdig, mit großer Sicherheit falsch 130 .

128

129

Hildburghausen 1850, S. 716, enthält nur Yz Spalte über J . C. A. Heyse und sein Werk, während der Sprachtheorie K. F. Bedkers und dessen Schriften, 4. Band, 1845, S. 58—65, 13% Spalten gewidmet sind. vom 30. Juli 1824; siehe Anhang. G. F. Benedce war seit 1815 Professor für ahd. und engl. Literatur in Göttingen. Er hatte ahd. und mhd. Texte als erster zum Thema akademischer Vorlesungen gemacht. Die freundschaftlichen Beziehungen K. F. Beckers zu Arndt und vom Stein begannen zweifellos in der Zeit von Juli bis September 1814 bei der Zentralverwaltung der Verbündeten Heere in Frankfurt am Main. K. F. Becker unterstützte damals als Dirigierender Oberarzt vom Stein bei der Errichtung von Militärlazaretten in und um Frankfurt. E . M . A r n d t war bis 1816 Mitarbeiter vom Steins. Nach Beendigung dieser Arbeit im September 1814 bekam Bedter eine Anstellung als Kreisarzt in Offenbadi am Main. Bis 1824 verlebte vom Stein mehrere Male den Winter in Frankfurt, und E . M . A r n d t hatte von 1818 bis 1820 eine Professur in Bonn inne. Zusammenkünfte in Frankfurt oder Offenbadi mit K. F. Becker sind sehr wahrscheinlich. G. H. Pertz erwähnt in seinem Werk „Aus Steins Leben", 1. Hälfte, Berlin 1856, S. 639, daß Stein in Frankfurt seine Freunde aus der Umgebung zu empfangen pflegte. Die Freundschaft mit Ernst Moritz Arndt erneuerte Becker während der ersten Frankfurter Nationalversammlung 1848. Vgl. dazu G. Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker", Sonderdruck 1854, S. 24 f., 27: „. . . ein erhebender Anblick, wenn die beiden Greise die Zeiten besprachen und, mit freudigem Mute über die Gegenwart hinwegblickend, der Zukunft sich zuwandten . . . "

130

„Goethe und Offenbach am Main." Festschrift zur Goethe-Feier 1932. Im Auftrag des Offenbacher Geschichtsvereins herausg. von Ad. Völker, Offenbach 1932, S. 60 ff. In der hier zitierten Goethe-Stelle liegt sicher eine Verwechslung K. F. Beckers mit einem Frankfurter Botaniker namens Becker vor.

III. D I E PHILOSOPHIE KARL FERDINAND

BECKERS

In dem Bestreben, den Beitrag K . F. Beckers zur Allgemeinen Sprachwissenschaft aus dem objektiv-geistigen Zusammenhang des beginnenden 19. Jahrhunderts zu deuten, war ich von den Wurzeln der Beckerschen Sprachtheorie in der naturwissenschaftlichen Forschung, in Schellings Naturphilosophie, in romantischem und rationalistischem Geistesgut ausgegangen. Ein größerer Rahmen hätte ohne Zweifel Kant, Herder, Reinhold, Bernhardi u. a. einzubegreifen gehabt. Zum Zweck wissenschaftsmethodischer Einordnung nahm ich besondere Rücksicht auf K . F. Beckers Beziehungen zu W. v. Humboldt, J a c o b Grimm, Adolf Trendelenburg und zeitgenössischen Grammatikern sowie Pädagogen. Die bis hierher in vornehmlich antikritischer Haltung gekennzeichneten Zusammenhänge würden aber unvollständig bleiben ohne die Darstellung der metaphysischen, erkenntnistheoretischen, logisdien und speziell sprachphilosophischen Grundlagen. Damit soll im nächsten Kapitel die notwendige Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis des Beckerschen Systems der Allgemeinen Grammatik geschaffen werden.

1.

Metaphysik

Karl Ferdinand Beckers Weltanschauung ist gekennzeichnet durdi das Streben der deutschen Idealisten nach der Bildung eines umfassenden Systems auf der Grundlage eines Einheits- bzw. Ganzheitsaspekts. Wie anderen Vertretern des objektiven Idealismus liegt auch Becker die „Versöhnung" von Subjekt und Objekt, Stoff und Form, Geist und Materie, des Allgemeinen und Besonderen am Herzen. Der Welt kann nur ein Strukturgefüge allgemeingültiger Gesetzlichkeiten immanent sein, das alle Gegensätze überwindet. „Einheit und Mannigfaltigkeit sind vereint im organischen Ganzen 1 ." Das Tatsachenmaterial der Einzelwissensdiaften muß, im Zusammenhang gesehen, auf einen „höchsten Grundsatz" zurückgeführt werden können. Methodisch steht Becker (wie A. Trendelenburg) auf der Grundlage „einer im Realen gegründeten idealen Betrachtung" der Dinge. Das Wesentliche jeder einzelwissenschaftlichen Forschung, d. h. das Metaphysische, finden wir dort, „wo ihre besonderen Gründe in das Allgemeine übergehen oder vielmehr, wo das Allgemeine zum Besonderen sich ausbildet". In diesem Sinne versucht Becker bei jeder seiner einzelwissenschaftlichen Untersuchungen, sei es eines medizinischen, diemischen oder sprachlichen Objektes, „das Seiende als solches, das Allgemeine als Grund des 1

Vgl. E. Rothacker: „Geisteswissenschaften", 1926, S. 15, 17, 54.

74

Die Philosophie Karl Ferdinand

Beckers

besonderen Gegenstandes aufzufassen 2 ". Wissenschaftliche Bedeutung haben nur in der Metaphysik und L o g i k gegründete Erkenntnisse 3 . I m Sinne K a n t s glaubte Becker, daß Metaphysik empirisch gefestigten E r k e n n t nissen

„aus

eigener

Machtvollkommenheit

kein einziges

Moment"

hinzufügen

könne, vielmehr mittels A n a l y s e des durch die E r f a h r u n g gegebenen Materials zu „reinen Grundverhältnissen" vorzudringen v e r m a g . Sie soll ein noch „dunkles und komplexeres G a n z e " zur K l a r h e i t bringen und uns seine „ S t r u k t u r durchsichtig" machen 4 . D e r G r u n d der realen W e l t ist ihr „ O r g a n i s m u s " , aber keine gottverursachte H a r m o n i e , sondern Becker setzte die ursprüngliche Einheit eines bildenden P r i n zips an, das „ v o n sich a u s " zu einer inneren Verknüpfung, z u r Gesetzmäßigkeit des Gegenstandszusammenhanges führt. D i e Ergebnisse der K a p i t e l über Beckers naturwissenschaftliche Schriften und den Einfluß

der

Schellingschen

Naturphilosophie

verarbeitend

und

voraussetzend,

müssen w i r uns im folgenden noch eingehender mit dem Beckerschen Begriff des „organischen G a n z e n " beschäftigen.

Der

Organismus-Begriff

K.F.Beckers

Seine Idee des Organismus w u r d e v o r allem inspiriert durch Schelling 5 , fundiert durch naturwissenschaftliches Studium und auch eigene Forsthungen, gefördert und gestützt durch A d o l f Trendelenburgs organische Weltanschauung 6 . Ad. Trendelenburg: „Logische Untersuchungen", 1870, 1. Bd., S. X I , V I I , 9. A. a. O., S. 2 : Wissenschaftliche Untersuchungen sollen immer mit dem Einzelnen beginnen und dann zur „geistigen Bestimmung des Ganzen" hinführen. „Wo das Einzelne scharf beobachtet wird, offenbart es an sich die Züge des Allgemeinen." s Ad. Trendelenburg im Beckerschen Sinne: „Logische Untersuchungen", 1870, l.Band, S. 13 f. * Vgl. E. Cassirer: „Kants Leben und Lehre", Berlin 1918, S. 58, 72 = Immanuel Kants Werke, Band X I (Erg.-Band). 5 Wie auch die Wilhelm von Humboldts. Siehe Ed. Spranger: „W. v. Humboldt", 1909, S. 266, 2 0 1 : „Die Natur ist für Humboldt durchgängiger Organismus." S. 3 8 2 : Nach Spranger wird das Wesen des Organischen von Humboldt durch folgende drei Elemente bestimmt: 1. die Gesetze des Raumes und der Zeit, 2. die Ganzheit, „die aus der Einheit der Idee hervorgeht", 3. „eine innere frei wirkende Kraft". Diese Gesetze der Organisation sind für Humboldt auch die Gesetze der Kunst.

2

• Die starken Einflüsse Adolf Trendelenburgs zeigen sich in jedem Einzelmerkmal des Beckerschen Organismusbegrifies. Vgl. dazu: Peter Petersen: Die Philosophie Friedrich Adolf Trendelenburgs. Ein Beitrag zur Geschichte des Aristoteles im 19. Jahrhundert. Hamburg 1913, S. 90. Ebenso: „Logische Untersuchungen", 3. erg. Aufl., Leipzig 1870, l . B a n d , S. X . - Vgl. Ed. Spranger: „W. v. Humboldt", 1909, S. 23. - Die „organisch gestaltete Weltanschauung" ist bei Becker die der Weltbemächtigung des Menschen durch Sprache. Der Weg zum Sein führt nur über die Sprache. K . F. Becker: „Organism", 1841, S. 14, 8, 1, 6 2 : Indem „der Geist die durch die Sinne angeschaute Welt in sich aufnimmt . . ., macht der Mensch die von ihm angeschauten Dinge zum Eigentum seines Geistes und sich zum Herrn der Welt".

Metaphysik

75

Dessen Überzeugung ging zurück auf Piatos teleologisches Weltbild und die Anschauung des Aristoteles von der zweckbestimmt-einheitlichen Ordnung der Natur. Rothacker 7 weist darauf hin, daß zur Zeit der Romantik der Organismusbegriff nicht ausschließlich im Sinne einer biologischen Analogie zur Erklärung geistiger Phänomene verwendet worden ist, sondern auch die naturwissenschaftliche Forschung den Organismusbegriff im Sinne geisteswissenschaftlicher Analogie gebraucht hat. D a ich oben in den Kapiteln über K . F. Beckers naturwissenschaftliche Schriften und den Einfluß der romantischen Naturphilosophie nachweisen konnte, daß Beckers naturwissenschaftlichem Studium (auch seiner Heilpraxis) ausschließlich von Schelling die Richtung gewiesen worden ist, gehe ich kaum mit der Meinung fehl, daß auch K . F. Becker den Organismusbegriff als geisteswissenschaftliche Analogie zur Erklärung von Natur- und Lebenserscheinungen verwendete. Von biologischer Analogie kann bei Becker also nur mit Bezug auf die Grundbedeutung des Wortes Organismus gesprochen werden. D e r Organismusbegriff K a r l F e r d i n a n d Beckers ist durch die folgenden M e r k m a l e zu kennzeichnen: 1. D e r Begriff selbst gehört

der Sphäre

geistigen

Seins an6. D i e Begriffe „ O r g a -

nismus", „organisch", „ O r g a n " , „wirkende K r a f t " , „Lebenskraft", „ L e b e n " , „ o r g a nisches L e b e n " , „ B i l d u n g " , „organische B i l d u n g " , „Bildungstrieb"; audi Begriffs„familie", schaft",

„ N a t u r der Sprache",

„Sprachwurzel",

„Physiologie der Sprache" 9 ,

„Sproßform"

„Sprachverwandt-

und andere, die z u m ständigen

Sprach-

gebrauch K . F . Beckers gehören, sind der biologischen Seinsschicht entnommen. Sie sind aber nicht Becker

zur

in ihrer ursprünglichen Begriffsbedeutung v e r w e n d e t , sofern sie

Beschreibung

von

außernaturwissenschaftlichen

wendet. Gelegentlich jedoch ist „ O r g a n i s m u s " Einzelmenschen",

Erscheinungen

im Sinne v o n

„physiologisch" und „organisch"

(z. B . in

„Organismus

verdes

erkenntnispsycholo-

gischen und Abschnitten, die den Sprechakt, dieArtikulation betreffen) in der eigentlichen Begriffsbedeutung v e r w e n d e t . A n manchen Stellen ist es schwer, bildlichen und originalen Gebrauch des Begriffes zu unterscheiden. In der Ausdeutung der biologischen Analogie h a t — wie mir scheint — die Beckerkritik

bisher

versagt.

Der

Gebrauch

naturwissenschaftlicher

Termini

im

geistigen Seinsbereich ist keineswegs ein I r r t u m Beckers, nicht einmal Biologismus. So häufig tiefgehende K r i t i k e n in diesem P u n k t ansetzen, — sie sind ungerecht. W a s Becker getan hat, ist ganz einfach das ehrliche Eingeständnis seines U n v e r m ö gens,

begrifflich e x a k t e r zu fassen. W e n n Becker seinen Organismusbegriff sogar

„naturwissenschaftlich" verstanden haben will, so dürfen w i r dodi die (uns heute 7

„Geisteswissenschaften", 1926, S. 85—91. R . hat die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Organismusbegriffes ausführlich erörtert. Über K . F. Becker a. a. O., S. 89. R . beklagt sich zu Recht darüber, daß „Wörterbücher . . . fast ausschließlich vom biologischen Organismusbegriff handeln". Das sei „um so beschämender, als über die mit den biologischen und metaphysischen Bedeutungen gleichaltrigen Anwendungen des Begriffs auf ethisch-gesellschaftliche Verhältnisse [auch die Sprache] eine relativ große Literatur besteht" (a. a. O., S. 85).

8

So auch Erich Rothacker, a. a. O .

9

Bei Ad. Trendelenburg („Logische Untersuchungen", 1870, 2. Band, S. 381) der gleiche Gebrauch des Begriffes „Physiologie der Sprache". — Auch Constantin Franz: „Vorschule zur Physiologie der Staaten", 1857 (Rothacker: „Geisteswissenschaften", 1926, S. 89).

76

Die Philosophie Karl Ferdinand

Beckers

geläufige) unangemessene Opposition des Begriffes „geisteswissenschaftlich" hier nicht unterstellen. Denn: 2. „Organismus" ist bei Becker der Parallelbegriff zu dem der „Natur"; ja: Natur = Organismus10! Aber „Natur" ist die vielschichtige objektive Welt, und das Bewußtsein mit seinen Produkten hat, auf Grund einer Abbildtheorie, die gleiche Struktur. Dürfen wir nun hieraus die kritische Folgerung ziehen, bei Becker bedeute „organisch" ja nur „natürlich" 11 ? Ich meine: Nein. Denn jene Konsequenz ließe die kennzeichnenden Einzelmerkmale des Beckerschen Organismusbegriffs unberücksichtigt. Sie verführt zu der irrigen Meinung, Becker habe die Sprache als Objekt «iîiwrwissenschaftlicher Erkenntnis angesehen. Und das hat K. F. Becker in Wirklichkeit niemals getan! Wie könnte er sonst von „geistigen Akten" sprechen, die die Struktur der Sprache bestimmen? Zudem haben die Begriffe „Organismus", „Leben", „Natur" trotz ihrer universellen Begriffsbedeutung verschiedene einzelschichtige Ausprägungen, Aspekte. Bezüglich des Naturbegriffs z. B. hat sich Becker — unbeholfen natürlich und terminologisch nicht korrekt — zu helfen versucht, indem er auch wieder von lebloser ( = physikalischer) und belebter ( = biologischer) Natur sprach. Die möglicherweise irreführende Terminologie darf uns aber nicht abhalten, in der durch Schelling verursachten Begriffsverwaschung die eigentliche Grundkonzeption zu suchen. 3. Der Begriff des Organismus, die davon abgeleiteten Begriffsformen und oben genannte Begriffe sind Metaphern und dienen Becker zur Erklärung schwer beschreibbarer metaphysischer und seelisch-geistiger Phänomene12. Zur Verdeutlichung der Beckerschen Terminologie mögen folgende Schemata dienen: 1.

biologisch (Pflanzen-, Tierkörper)

ORGANISMUS

2.

seelisch!geistig

= Metapher

(z. B. Sprache) 3.

universal/metaphysisch (Erde, Struktur)

Originalbegriff Organismus des lebenden Körpers

gemeinsame

= Originalbegriff

bildlicher

= Metapher

Begriff

Organismus der Natur, der Sprache

Merkmale

Ganzheitsgefüge, dynamisch-didiotomisches Prinzip ; Tätigkeit — Sein, Integration — Differenzierung als Grundkategorien

77

Metaphysik 4. Organismus ist bei Becker kein System schlechthin; er ist die Struktur allgemeinen

des

Lebens.

D e r universale Organismusbegriff gehorcht einem durchgehenden

(„geistigen")

Lebensprinzip; das U n i v e r s u m ist durchwaltet v o n einer einheitlichen D y n a m i k des Werdens, dessen Grundkategorien in allen Seinsschichten Gültigkeit

haben,

jedoch dort jeweils „unter verschiedenen Gestalten" „in die Erscheinung t r e t e n " 1 ' . I m Z u s a m m e n h a n g dieser P r o b l e m a t i k spricht Becker v o n wirkenden K r ä f t e n , der „Lebenskraft" und einem universalen Bildungstrieb.

Die

K o n s t r u k t i o n

des

Organismus

5. D i e allgemeine Lebenskraft ist dichotomisch

wirksam1*;

sie errichtet m i t H i l f e

sich gegensätzlich stützender K a t e g o r i e n der K o n s t r u k t i o n die gefügehafi derte

Ganzheit

geglie-

des Organismus.

F ü r K a r l F e r d i n a n d Becker ist der Organismus höchster Realbegriff, nicht e t w a A u s p r ä g u n g logischer Bestimmungen: Organismus ist der Begriff der I d e n t i t ä t des Naturseins. Diese Seinsganzheit h a t Teile b z w . Teilganzheiten nur im Sinne v o n Gliedern, die v o n einer U r k r a f t ausgerichtet sind und sich gegenseitig, aber diese auch die Ganzheit, bedingen. E s liegt ein Z w e c k z u s a m m e n h a n g als formales R e a l prinzip vor, wie die Zweckmäßigkeit

bei Becker nicht allein subjektives

Ver-

knüpfungsprinzip, sondern zuerst konstituierendes P r i n z i p ist. I n der E r k e n n t n i s haltung Beckers bleibt das Einzelne w o h l Voraussetzung, Material, aber unwesentlich; ebenso A g g r e g a t e v o n Einzelnen. N u r Gefügeglieder und Gliedgefüge sind wesentlich. Der Standpunkt Beckers geht aus dem Briefwechsel mit seinem Sohn Ferdinand Wilhelm Becker hervor (siehe Anhang). Von Diskussionen im Berliner Gelehrtenkreis berichtend, erwähnt dieser in einem Brief an seinen Vater den „Organismus als Verkörperung, als natürliche Manifestation der logischen Bestimmung des Zweckes", wogegen K . F. Becker „so sehr" eifere. Und K . F. Becker antwortete in dem dazugehörigen Brief : „Was die Zweckmäßigkeit betrifft, so muß uns allerdings alles in der Natur als zweckmäßig er10

Vgl. Ad. Trendelenburg : „Logische Untersuchungen", 1870, Beginn des 2. Bandes: Die Natur ist ein organisches Ganzes.

11

„Unnatürliches aber gibt es nirgends"! H . Steinthal: „Grammatik, Logik und Psychologie", 1855, S. 4. Steinthal weist zwar zu Recht den bei Becker „unbegrenzt verschwimmenden" Organismusbegriff zurück, kümmert sich aber sehr wenig um den eigentlichen Wert der Sache, im besonderen nicht um die Einzelmerkmale des Begriffs. Das Streben Beckers, auch im geistigen Bereich des Seienden Kategorien der „Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit" einzuführen, versteht Steinthal ebensowenig. Vgl. a. a. O., S. 7, 12, 13, 15, 19 f., 46. Beckers „anerkennenswertes Streben" verfällt zwar in Begriffsvernebelung, ist aber durchaus keine „nichtssagendste Phrasenhaftigkeit "(S. 40).

12

Audi in W. v. Humboldts Denken der ersten naturphilosophischen Periode ist, nach Spranger, „das Organische durchgängig als Analogie für das Geistige und seine Entwicklung benutzt" worden. „W. v. Humboldt", 1909, S. 433.

13

Siehe z . B . K . F . B e c k e r s „Organism", 1841, S. 16.

14

Vgl. Ed. Spranger: „W. v. Humboldt", 1909, S. 23.

78

Die Philosophie

Karl Ferdinand

Beckers

scheinen. Denn ein Organism könnte gar nicht da sein, wenn in ihm nicht alles zweckmäßig wäre. Allein man hat längst erkannt, daß die Zweckmäßigkeit nicht als Erklärungsprinzip gelten kann."

Vom TeleologiebegrifF ausgehend, könnten hier die Unterschiede zwischen der Philosophie Beckers und der Kants und Hegels deutlich gemacht werden. Dazu ist nicht der Platz, und es sei nur darauf hingewiesen, daß Becker die Unterschiede zwar nicht in seinen Schriften, so doch im Gespräch und im Briefwechsel betonte. Die Konstruktion des universalen Organismus ist bei K. F. Becker eine dynamische. Nur der zum Begreifen befähigte Mensch kann das von der sinnlichen Anschauung dargebotene Aggregat unendlicher Mannigfaltigkeit von Dingen der objektiven Welt im inneren Zusammenhang erkennen und wieder (z. B. sprachlich) darstellen. „Bei einer tiefer eingehenden Betrachtung der realen Welt wird man bald gewahr, daß auch sie an sich nicht, wie sie den Sinnen erscheint, ein Aggregat von Einzeldingen ist, sondern sich als ein organisch gegliedertes Ganzes entwickelt hat und noch fortwährend entwickelt. Uberall in der realen Welt ist das eine um des andern willen und das Besondere nur als Glied eines Ganzen da, dem es dient und von dem es getragen wird 15 ." Die Natur und alle sich aus ihr differenzierenden Gliedphänomene sind also mechanistisch nur unangemessen erklärbar. Im Ganzen des Seienden webt eine Urkraft im Sinne eines Urgeistes, identifiziert mit dem Wesen der Natur selbst. Zu dieser Weltvorstellung Beckers gehört auch das Moment der Zielstrebigkeit, eines zum Selbstbewußtsein „empor"-drängenden Geistes. Die subjektive Vernunft hat wohl die (relative) Freiheit zu erkennen, sie ist aber den universalen und allgemeingültigen Strukturgesetzen unterworfen; sie ist Ziel der Natur, nicht ihr Schöpfer! Aus den folgenden Kategorien, die Becker an den Gegebenheiten der Wirklichkeit abliest, ergibt sich die Beziehung, das Verhältnis aller Glieder des Seinsbaues zueinander und zum „Organismus": a) aus dem Streben nach D i f f e r e n z i e r u n g , b) aus dem Streben nach I n t e g r i e r u n g , und zwar c) auf Grund eines Prinzips der Entwicklung in p o l a r i s c h e n sätzen.

Gegen-

Diese beiden wichtigsten Merkmale seines Organismusbegriffs, das der Integration zur Ganzheit und das der Differenzierung in Dichotomien, teilt K.F.Becker mit Adolf Trendelenburg 16 . Man kann soweit gehen zu sagen, die „Logischen Untersuchungen" Trendelenburgs und die sprachphilosophischen Schriften Beckers entsprangen einem Verhältnis gleichberechtigter Zusammenarbeit. 15

K. F. Becker: „Organism", 1841, S. 63.

16

Zum Beispiel: „Wie im Sein aus der Tätigkeit die Substanz hervorgeht und wiederum aus der Substanz Tätigkeiten: so werden aus Urteilen Begriffe, aus Begriffen Urteile." — „In der organischen Betrachtung der Dinge zeigt sich allenthalben die Einheit eines Gegensatzes, der das Abbild des Gegensatzes von Seele und Leib ist." Adolf Trendelenburg: „Logische Untersuchungen", 1870, 2. Band, S. 536, 537.

Pi O

H < Ζ

w Q C/5 Ρ s ΟΛ H-t

Ζ < O P¿ O co Ρ* w ^

υ w m

fe

80

Die Philosophie

Karl Ferdinand

Beckers

Alle das Grundgerüst des Seinsaufbaues konstituierenden polarischen Gegensätze werden von Becker „organische D i f f e r e n z v e r h ä l t n i s s e " genannt. „Der oberste Gegensatz, der sich durch alle Verhältnisse der organisdien Natur auf die mannigfaltigste Weise wiederholt, ist der von Tätigkeit (Geist) und Sein (Materie)." „Organisch different" sind „solche Tätigkeiten und Stoffe . . ., welche einander entgegengesetzt sind, aber gerade durch den Gegensatz einander bedingen und miteinander ein gegenseitiges Verhältnis eingehen, vermöge dessen a nur dadurdi a ist, daß es einem b entgegengesetzt ist, und umgekehrt 17 ." Indem ich zusammenfasse, darf ich versuchen zu definieren, was Karl Ferdinand Becker unter „Organismus" und „organisch" versteht: „Organismus" ist ein Seinsgefiige, dessen durchgehende Formkategorien sich in dichotomischer Individualisierung über vier Schichtengefiige, jeweils modifiziert gestaltet, bis ins Konkrete erstrecken, das sich nach einem immanenten

dichotomischen Bildungsprinzip

entwickelt,

das nur auf Grund eines gleichartig kategorial gegliederten Bewußtseins erkannt und ebenso mittels Sprache bzw. Sprechens dargestellt werden kann18 (Vergleiche Schema Seite 79). „Organisch" bedeutet demnach (modifiziert nadi dem Seinsbereich des attribuierten Gegenstandsbegriffes) : diesem dichotomischen Seins-, Entwicklungs-, gemäß.

Erkenntnis- und

Darstellungsprinzip

Erst mit diesem terminologischen Schlüssel geben uns Bezeichnungen Beckers, wie „organisches Differenzverhältnis", „organische Natur" und viele andere, die man auf jeder Seite der Beckerschen Schriften antrifft, ihren vollen — nämlich metaphysischen, nicht naturwissenschaftlichen — Grundgehalt frei.

2.

Erkenntnistheorie

Dem ersten Kapitel der Satzlehre (Satzbildung im allgemeinen) in seinem „Organism der Sprache", 1841, stellt K. F. Becker eine Abhandlung über Erkennen und Darstellen voran (a.a.O., S. 153—162). Schon Helmsdörfer sieht darin den 17

K. F. Becker: „Organism", 1841, S. 16; S. 63: Kraft und Materie.

18

Vgl. Theodor Litt: Die Sprache ist „die sichtbarste und klarste Offenbarung einer ganz bestimmten aktiv schöpferischen geistigen Struktur", indem sie „den Befund der Wirklichkeit in ihren Begriffen sammelt und ordnet, . . . die Beziehungen dieser Wirklichkeit in syntaktischen Fügungen wiedergibt, . . . die Fülle des Unkörperlichen im Bilde erfaßt und vergegenwärtigt" und „bestimmte Wertungen ausprägt". In: Geschichte und Leben. Von den Bildungsaufgaben geschichtlichen und sprachlichen Unterrichts. Berlin und Leipzig 1918, S. 24.

Erkenntnistheorie

81

„Mittelpunkt des Organismus" K . F. Beckers 19 . Mir scheint jedodi, als ob es zugleich das dunkelste und verworrenste Kapitel der Beckerschen Philosophie sei. Hier hatte sich Becker die Aufgabe gestellt, die von ihm postulierten Kardinalaxiome, nämlidh a) das der in polarischen Gegensätzen änderung alles Seienden,

voranschreitenden Entwicklung und Ver-

b) das der strukturellen Gliederung alles Seins in Uberordnungsverhältnissen des Allgemeinen zum Besonderen (Integration) und Unterordnungsverhältnissen des Besonderen zum Allgemeinen (Differenzierung), als Gesetze der Struktur des Bewußtseins und der Struktur der Sprache aufzuweisen. Hier muß auch der wohlwollende Kritiker zugestehen: Das ist ihm nicht überzeugend gelungen — und konnte auch nicht! Unklare Formulierungen wechseln mit offenen Widersprüchen ab, die beim Lesen sofort in die Augen springen. Es ist meine Aufgabe, ausführlich dazu Stellung zu nehmen. Hier sei in den vielfach versdilungenen Gedankengängen nur das einsichtig gemacht, was sich aus Bediers metaphysischer Grundkonzeption zwingend ergibt und was zum Verständnis seiner Struktur der allgemeinen Grammatik notwendig ist. Der Theorie K . F. Beckers liegt ein e Drei-Dimensionen-Weltvorstellung I.

die Dimension des objektiv/„real" Seienden,

II.

die Dimension des subjektiv/geistig Seienden,

zugrunde:

II.a die Dimension des sprachlich Seienden. 1. und I I . trennt der Unterschied zweier Seinsbereiche, während die Sprache von Becker als eine geistige Gliedstruktur, eine Subdimension bzw. Seinsstruktur 2. Grades aufgefaßt wird. Beachtenswert ist, daß Becker in die Sprachstruktur das Sprecher-Hörer-Verhältnis, das Verstehen von Sprachlichem einbezogen hat 2 0 . Jede der drei Dimensionen wird von Becker ausdrücklich nicht als „ein Aggregat von Einzeldingen", sondern als „organisch gegliedertes Ganzes", „in dem notwendig eine innere Gesetzlichkeit waltet", als eine Struktur gekennzeichnet, in der „das eine um des anderen willen und das Besondere nur als Glied des Ganzen da" ist, „dem es dient und von dem es getragen wird 2 1 ." So ist die Reproduktion der „realen" Welt in der „geistigen", die Darstellung der „geistigen" Welt in der sprachlichen und das Verstehen von Gesprochenem an die allgemeingültigen Strukturgesetzlichkeiten des Universal-Organismus und seine Entwicklung gebunden. Die Seinsweise der objektiven Welt ist die einer ewigen Wiedergeburt, die eines Werdens zu immer anderen Strukturbildern aus den Verhältnissen zwischen ihren Gliedern, den Dingen. Die Seinsweise der subjektiven Welt ist die einer ständigen Neuschaffung von Bewußtseins- und Sprachstrukturen aus den Beziehungen zwischen Begriffen bzw. Bedeutungen. 19 20 21

6

G. Helmsdörfer: „Karl Ferdinand Becker", Sonderdrude 1854, S. 16; vgl. dazu S. 18 f. Vgl. z.B. K.F.Becker: „Organism", 1841, S. 156 f. a.a.O.: S. 63, 13. Haselbadi

82

Die Philosophie

Karl Ferdinand

Beckers

Κ. F. Becker spricht in zweierlei Hinsicht von strukturellem Zusammenhang, „organischer Einheit" 2 2 : a) Die Gefügefaktoren stehen als T ä t i g k e i t (Kraft) und S e i n (Substanz!) zueinander im polarischen (nicht kontradiktorischen) Gegensatz, b) Sie sind als Allgemeines und Besonderes einander unter- bzw. übergeordnet. Die einfache Zuordnung von in sich Identischem entspricht Seinsaggregaten; Seinsstrukturen — was besonders f ü r deren Assimilation, Reproduktion und Darstellung wichtig ist — jedoch erfordern, nach Becker, eine Beziehung ihrer Glieder gemäß dem Prinzip des Gegensatzes und dem Prinzip der Unter- und Überordnung. Zwischen Dimension I und Dimension II herrscht strukturelle Ähnlichkeit, zwischen I I und I I a Strukturgleichheit, d. i. Wesensgleichheit. Kommt im geistigen A k t der Reproduktion des Realen den beiden Seinsweisen gewissermaßen äußerliche Unvereinbarkeit zu, so ist die sprachliche Welt — in Modifizierung W.-v.-Humboldtscher Gedankengänge — „ein treues Gegenbild" der geistigen. Wie das Spiegelbild mit dem gespiegelten, so ist die Sprache, nach Becker, innerlich eins mit dem subjektiven Geist. Das Verhältnis jener zu diesem ist das der Abbildung, das des Ausdrucks2S.

Das

Erkennen

Um sich einigermaßen der erkenntnistheoretischen Grundhaltung Beckers zu vergewissern, genügt es nicht, das oben genannte Kapitel über „Erkennen und D a r stellen" heranzuziehen. Noch an zwei anderen Stellen des „Organism der Sprache", 1841, wird Grundsätzliches zu diesem Problem gesagt: in den einleitenden Paragraphen des Buches, die vom „Organism der Sprache im allgemeinen" (S. 1—4, 11—14) handeln, und zu Beginn des Abschnittes über die organische Wortbildung („Entwicklung der Begriffe", S. 62—70). An verschiedenen Orten wird von Becker immer wieder zu seiner Theorie des Erkennens und Darstellens Stellung genommen; stets aber in anderer und in manchem einzelnen P u n k t sogar gegensätzlicher Weise, die ständig wechselnde und daher mißverständliche Terminologie nicht in Betracht gezogen. Eine vergleichende Durcharbeitung ergibt das Folgende: 1. Mit der Theorie des Erkennens und Darstellens erläutert K . F . B e c k e r das Wesen der Sprache; wir befinden uns also eigentlich schon mitten in der Sprachphilosophie. 2. Erkennen bedeutet „Denken" im engeren Sinne von Begreifen bzw. Urteilen; und Darstellen u m f a ß t sowohl das Strukturieren von Begriffen in Gedanken als auch deren Ausdruck im „Sprechen". Schon die verbale Form der beiden Zentralbegriffe kennzeichnet eine funktionale/aktualgenetisdie Einstellung. Es werden in Beziehung gesetzt: der Aktvollzug des Erkennens (Urteilens) und der Aktvollzug (Becker: „Verrichtung", „Funktion", „Vorgang" oder „Entwick22 23

a . a . O . : S. 62. a. a. O.: S. 62.

Erkenntnistheorie

83

lung") des Sprechens. So ergibt sich für Becker audi das Wesen jeder Denksystematik und Sprache, ja der Logik und Grammatik aus den „genetischen Verhältnissen" des Denk- und Sprechaktes24, d. h. seiner Struktur, nicht aber aus dem Fixierten, „Gegebenen", historisch Überlieferten! „ . . . Wie die reale Welt der Dinge, in beständiger Verwandlung begriffen, sich in jedem Augenblicke neu gebiert, so ist audi die geistige Welt der Gedanken immer im Werden begriffen 25 ." „ . . . Die gesprochene Sprache als ein Produkt der menschlichen Natur" ist nur „ein durch die Verrichtung des Sprechens Gewordenes und eigentlich ein durch diese Verrichtung nodi in jedem Augenblicke Werdendes; in der gesprochenen Sprache wird nur die . . . flüchtige Erscheinung des Gedankens als ein Stetiggewordenes festgehalten 26 ." Hieraus entsteht für die von Becker verwendeten Begriffe „Logik", „logisch", „Begriff" usw. ein ganz besonderer Sinn, worüber im Kapitel Logik, unten S. 100 ff., mehr zu sagen sein wird. Das Verhältnis des Denkaktes zum Akt der Darstellung wird von der Überzeugung Beckers bestimmt, daß alles Geistige notwendig in die Erscheinung treten müsse. So sei z. B. das Wort nur die dargestellte Begriffsbedeutung, das Sprechen (und die Sprache) nur die sinnliche Erscheinung von Denkstrukturen. Beide Vorgänge seien „gewissermaßen ein und derselbe Vorgang; daher erklären sie sich . . . gegenseitig; und der eine Vorgang kann nicht wohl ohne den andern verstanden werden 27 ." Unter dieser Denkvoraussetzung werden alle Probleme der Allgemeinen Grammatik von Becker gelöst: Die allgemeinen Formen der Sprache, besonders die syntaktischen, können nicht ohne die Denkvorgänge verstanden und unterschieden werden28. K. F. Becker tut nun auch den Schritt von der Ontogenese zur Phylogenese, begreift die Geschichte der Sprache und des menschlichen Denkens in seine Betrachtungsweise ein und leistet damit — auf Grund seines Kulturbegriffes, von dem unten noch die Rede sein wird — einen wesentlichen Beitrag zur geistesgeschiditlichen Forschung. „Weil Denken und Sprechen innerlich eins sind, entwickeln sich Gedanken und Sprache gleichen Schrittes bei dem einzelnen Menschen und bei ganzen Völkern." Sprachhistorische Stufen bezeichnen den jeweiligen Stand der Kultur der Völker. Kultur (Volksgeist, -„Intelligenz") und Sprache bedingen sich gegenseitig29. Beckers Standpunkt, besonders die biologische Analogie, wird verständlich aus seinen naturwissenschaftlichen Vorarbeiten, die die sogen, lebende Natur (Biologisches, Seelisches, Geistiges, Sprachliches) einheitlichen Struktur- und Entwicklungsgesetzlichkeiten unterstellt. 24

Jedes Dinges Natur kann erst dann wahrhaft erkannt werden, „wenn man weiß, wie es geworden ist." K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 1.

25

a . a . O . : S. 25.



a . a . O . : S. 1.

27

K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 62, 2 - 3 .

28

K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 155.

29

a . a . O . : S. 2 f.

6*

84

Die Philosophie

Karl Ferdinand

Beckers

Hätte die Beckerkritik sich jemals die Einsicht in diesen Standpunkt zur Grundlage gemacht, so wäre wohl der bis heute ständig wiederkehrende Vorwurf, Becker treibe Logik und nicht Sprachforschung, erspart geblieben; — es sei denn, man hätte den ganz eigenständigen Logik-Begriff Beckers vorausgesetzt, was aber nirgends der Fall ist80. 3. Das Erkennen richtet sich bei Becker immer auf das sogenannte „Reale". Da Becker den Begriff der Realität nicht definiert hat, ist es unsere Aufgabe, ihn aus dem Textzusammenhang zu deuten. Das Reale steht zunächst dem erkennenden Subjekt gegenüber. Objektives Sein und Bewußtsein sind Gegenpole. Becker weist aber darauf hin, daß sich beides im übergeordneten Universalorganismus zur Ganzheit zusammenschließt: „Das Reale ist in einer höheren Ordnung der Dinge mit dem Geistigen dergestalt zu einer Einheit verbunden, daß die realen Dinge auch den Formen des Geistigen entsprechen" (Gemeinsamkeit)31. Die ständig vorkommenden Formulierungen „reale Welt der Dinge", „reale Dinge" usw. bedeuten eine doppelte Opposition: a) gegenüber der „geistigen Welt der Begriffe", b) gegenüber dem realen Gegenstandszusammenhang. Textstellen legen die Vermutung nahe, daß Becker die „reale Welt der Dinge" mit der Grundkategorie des Seins (im Sinne von Substanz, Besonderem) und die Verhältnisse bzw. Veränderungen dieser Dinge mit der Grundkategorie der Tätigkeit (Bewegung, Geist, Allgemeinem) identifiziert. Weiter soll, nach Becker, die reale Welt an sich eine strukturelle Ganzheit sein. In der ersten Phase des Erkennens jedoch bieten sich der sinnlichen Anschauung nur zusammenhanglose Substanzen; für unsere Sinne ist die reale Welt also Aggregat von individuellen Besonderen32. Schließlich können wir auf Grund der naturphilosophischen Voraussetzungen annehmen, daß sich Becker die reale Welt als mehr-, vielleicht vierschichtige Struktur vorstellte, die in Sinnliches (Sein: Substanz) und Nichtsinnliches (Tätigkeit: Geist) aufgespalten ist, wobei das objektivierte reale Sprechen als Sprache beide Seinsbereiche umfaßt. Von Strukturkategorien der physikalischen und der biologischen Schicht erfahren wir einiges aus Beckers naturwissenschaftlichen Schriften; über seine Vorstellung von den Kategorien der seelischen und der geistigen Seinsschicht findet man leider nur Verstreutes und Unsystematisches im „Organism der Sprache" 33 . Ich verweise auf meine schematische Darstellung des Beckerschen Organismus der Natur oben S. 79.

Ich fasse zusammen: Im Universum, dem Organismus der Gesamtnatur, ist die reale Welt der Gegenstände und Gegenstandszusammenhänge (reale Tätigkeit-Sein50

Vergleiche dazu die eingehenderen Ausführungen im Kapitel „Logik", unten S. 100 fi.

31

a . a . O . : S. 168.

32

K . F.Becker, z . B . : „Organism", 1841, S. 63.

33

Becker hat sich zum Problem des Schichtenbaues des Seienden nie ausdrücklich geäußert.

Erkenntnistheorie

85

Einheit) der „geistigen" Welt der Begriffe und Gedanken polarisch zugeordnet (geistige Tätigkeit-Sein-Einheit). Dem Erkenntnisvermögen steht offensichtlich nur die „reale Welt der Dinge" (Individuell-Substantielles) gegenüber. Reale Strukturzusammenhänge, Objektiv-Geistiges, Sinngehalte (: der Begriff der realen Tätigkeit) werden also nicht erkannt, da sie nicht sinnlich anschaubar sind! 4. In diesem Problemzusammenhang scheint mir die Frage wichtig, auf welche Weise die reale Welt in eine Bewußtseinswelt verwandelt werden soll. Ist man nämlich häufiger über Beckers fundamentalen Satz gestolpert: „Die eigentliche Aufgabe des denkenden Geistes b e s t e h t . . . darin, daß der Geist die durch die Sinne angeschaute Welt in sich aufnimmt und durch eine organische Assimilation die reale Welt der Dinge in eine geistige Welt der Gedanken und Begriffe umschafft" 84 , so liegt die Frage nahe, ob Becker der Ansicht ist, daß die sinnliche Anschauung einzige Erkenntnisquelle sei. Im voraus muß betont werden, daß Becker die erkenntnistheoretisdie Grundproblematik ganz vom Standpunkt der sprachlichen Verhältnisse aus zu lösen versucht: Intelligenz und Sprache bedingen sich gegenseitig35! So ist er sich auf Grund etymologischer Untersuchungen bewußt, daß die Phylogenese der Sprache ausschließlich mit der Darstellung von Begriffen von sinnlich Anschaubarem (Substanzen, Sein) beginnt". Die Begriffsgeschichte erweise, daß „der ganze Wortvorrat . . . nur auf die Darstellung von Begriffen sinnlich anschaulicher Dinge angelegt ist". Becker stellt selbst die Frage, „auf weldie Weise in der Sprache die Begriffe der nicht sinnlich anschaulichen Dinge" ausgedrückt werden können, und antwortet: Alle nicht sinnlichen Begriffe lassen sich auf 1. Begriffe geistiger Tätigkeiten (wie denken, trauern, sich freuen), 2. Begriffe von den Verhältnissen der Dinge zueinander, 3. Begriffe von den Verhältnissen der Dinge zum erkennenden und begehrenden Menschen zurückführen. D a der reale Stoff dieser Begriffe nicht „in die Sinne fällt", sondern nur gedacht wird, habe die Sprache „keinen unmittelbaren Ausdruck" dafür. Gemäß der geistes- und sprachgeschichtlichen Ursprungssituation, die für die allgemeine äußere Form der menschlichen Sprache bestimmend ist, kann die Sprache das Nichtsinnliche nur darstellen, nachdem sie ihm „eine sinnliche Gestalt gegeben und das Nichtsinnliche in ein Sinnliches gleichsam übersetzt hat" 3 7 .

Die auf diese Tatsache des Sprachursprungs zurückzuführende und bei allen Sprachen zu beobachtende allgemeine Wortstruktur verleitet Becker zu folgenden nicht exakten philosophischen Konsequenzen: „Die Aufnahme der realen Welt in den menschlichen Geist ist durch die Sinne vermittelt 38 ." Es ist nur der „in der sinnlichen Anschauung aufgenommene Stoff", der „durch die selbstkräftige Tätigkeit des Geistes in Begriffe und Gedanken verwandelt wird" 3 9 . Wie die Geschichte 34

K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 62, u. ö. in ähnlicher Form.

35

a . a . O . : S. 3.

36

a . a . O . : S. 63.

37

a . a . O . : S. 80.

38

a . a . O . : S. 63.

39

a . a . O . : S. 13, 14, 167 u. ö.

Die Philosophie

86

Karl Ferdinand

Beckers

der menschlichen Sprache, nach Becker, beweist, war der Verstand ursprünglich darauf angewiesen, seine Erkenntnisse aus den Sinnen zu beziehen. Allgemeine, Struktur· und Wesenserkenntnisse sowie Selbsterkenntnis sind kennzeichnend für eine spätere Stufe der Geistesgeschichte, — wie wiederum die Sprachgeschichte beweist. Keinesfalls berechtigen uns nun aber eben genannte und ähnlich lautende Zitate zu der Konsequenz, Becker sei als Vertreter des erkenntnistheoretischen Empirismus anzusehen. Abgesehen vom eigentlichen „Erkennen", dem Assimilieren des real Sinnlichen, findet man nämlich bei Becker noch zwei andere Erkenntnismöglichkeiten (allerdings an untergeordneten Textstellen): a) die Aufnahme des Real-Allgemeinen und b) die sogenannte „geistige Anschauung", ohne Zweifel der sinnlichen Anschauung entgegengesetzt. Nach Beckers sprachgeschichtlich bedingter Definition des Erkennens ist es unmöglich, daß Inhalte der Seinskategorie der Tätigkeit (Objektiv-Geistiges, Allgemeines) erkannt werden können 40 ; denn in dem geistesgeschichtlich ersten und paradigmatischen schöpferischen Akt des Erkennens41 (dem Ursprung der Sprache) wurde ein objektiv Besonderes (Substanz) in ein subjektiv Allgemeines (die geistige Form des Artbegriffes) aufgenommen und dadurch „geistig assimiliert". Real-Allgemeines wird nach Becker aber nicht erkannt, sondern „verstanden". Es wird im Grunde auch nicht assimiliert, denn die Seinskategorie der Tätigkeit ist das sinntragende und strukturbildende, das geistige Moment der realen Substanzen überhaupt. „Der Geist erkennt in der Tätigkeit, die ihm in der realen Welt entgegentritt, sein eigenes Wesen"! Geistige Form wird verstanden; — Verstehen bedeutet schon bei Bedeer: geistige Strukturzusammenhänge einsehen. Hier liegt eine, und zwar nicht mehr primitive, Art des Erkennens vor, die von der sinnlichen Anschauung absieht (vgl. Schema S. 89). Zur Charakterisierung der Beckerschen Erkenntnishaltung ist aber weiter von Wichtigkeit, daß selbst sinnliche Anschauung nur dadurch möglich ist, „daß in dem Realen und in dem Geiste ein beiden Gemeinsames liegt" 42 . Ist Verstehen als unmittelbares, ganzheitliches Erkennen aufzufassen, so ist auch im sinnlich-mittelbaren Erkennen die Geist und Realität gemeinsame Kategorie der Tätigkeit das entscheidende Moment. Auch die Sinne könnten Real-Substantielles nicht vermitteln, wäre im „Geiste" die Form, die es zu empfangen hat, nicht schon bereitgestellt. 40

a . a . O . , S. 155: „Die Tätigkeiten sind an sich schon ein Allgemeines; sie werden daher nicht eigentlich erkannt . .

41

a . a . O . : S. 161; S. 169 spricht Becker von „dem ersten Akt des erwachenden Bewußtseins", „der ersten Tat des denkenden Geistes", S. 2 von den „Objekten der sinnlichen Anschauung, welche die Verrichtung des Denkens in dem menschlichen Geiste zuerst hervorrufen".

42

a . a . O . : S. 64.

Erkenntnistheorie

87

Während die sinnliche Anschauung Realobjekte — kategorial gesehen: SeinTätigkeit-Einheiten, in welchen das Gestaltmoment, das Moment des Besonderen, das der Substanz, vorherrschend ist — in das Begriffssystem geistig-allgemeiner Artbegriffe einordnet, vermittelt die geistige Anschauung diese Artbegriffe (Idealobjekte) dem System von Denksdiemata weiter, wo die Glieder als Tätigkeit und Sein dichotomisch auseinandertreten, sich dadurch individualisieren und schließlich wieder zu einer Tätigkeit-Sein-Einheit zusammengeschlossen werden (im Gedanken und dessen Ausdruck, dem Satz) 43 . Im Rahmen der fortschreitenden Geistesevolution stehen also, nach Becker, dem Verstand zwei Wege der Auffassung von Gegenständlichem, der „geistigen Assimilation", offen: das Erkennen (mittels der sinnlichen Anschauung) und das Verstehen (mittels der geistigen Anschauung). Die geistige Anschauung ist auf alles Ideelle und Seelische gerichtet. Sie faßt Begriffe als geistige Strukturglieder zu einem System zusammen, aus dem das Denken Material bezieht. U m die Erläuterung seines Begriffes der geistigen Anschauung hat sich Becker wenig bemüht. D i e Konsequenz der Beckerschen Gedankengänge setzt aber diesen zweiten Weg des Erkenntnisgewinns als gleichberechtigt voraus. Ein Beispiel v o n vielen findet sich in der Schulgrammatik 44 : Wenn Becker dort — unter Beachtung seiner Fundamentalthese, daß Sprechen einzig und allein Ausdruck v o n Gedachtem ist — v o n Wünschen, Befehlen, Geheißen, Affekten spricht, die „Gedanken sind", so meint er stets, daß Sätzen, die diese psychischen Phänomene im A k t des Darstellens ausdrücken, ein gedachter Wunsdi, ein gedachter Befehl, ein gedachter Schmerz usw. vorausgegangen ist. — Freilich mußten wir daraus audi folgern, daß Becker Ideelles und Seelisches mit zur „realen Welt außer ihm" zählt, die „in eine geistige Welt der Gedanken und Begriffe" umgeschaffen 45 werden soll.

5. Die Verwandlung des Realen in Geistiges, die sogenannte „ o r g a n i s c h e A s s i m i l a t i o n " 4 β , ist natii Becker Weltbemächtigung, Schaffung eines geistigen Weltbildes, ein wiederschöpferischer Vorgang. K. F. Becker spricht hierbei stets von dem schöpferischen Akt des Geistes": „Die sinnlich angeschaute reale Welt wird durch die Tätigkeit des Geistes reproduziert in Begriff und Gedanken 48 ." (Vgl. meine schematische Darstellung S. 89.) Phylogenetisch und ontogenetisch geht, nach Becker, dem Bewußtsein der Reiz, die Anregung der Umwelt des Menschen auf die Sinne voraus. Sie stellt im erstmaligen polarischen Entgegensetzen Material für den primären Vorgang des menschlichen Vorstellungsvermögens, das Erkennen, zur Verfügung 4 '. Im Denken kommt 43

a . a . O . : S. 67. Mit der Individualisierung der Begriffe sind wir bereits im Bereich des „Darstellens".

44

2. Ausgabe, S. 200 f.

45

K. F. Better: „Organism", 1841, S. 62.

46

a . a . O . : S. 6. Der subjektive Geist assimiliert das Gegenständliche (Reale) w i e der Körper „Speise und Trank seinen Säften assimiliert".

47

a . a . O . : S. 155 und öfter.

48

a . a . O . : S. 13.

49

K. F. Becker: a . a . O . , S. 13: „Die uns umgebende Welt" bietet „in der sinnlichen A n schauung dem menschlichen Geiste die erste Anregung und zugleich den Stoff zum Den-

Die Philosophie Karl Ferdinand Beckers

88

dann „eine geistige Welt zustande", und zwar entspricht deren Struktur (Organismus) der Struktur der gegenständlichen Welt. Dieser Verwandlungsvorgang ist ein organischer; mit Beckers Worten heißt das: „ein soldier Vorgang, in dem notwendig eine innere Gesetzlichkeit waltet"50. Das Werk des subjektiven Geistes ist nun nicht Seinsschöpfung, sondern die Neusdiöpfung des gegenständlichen, objektiven Seins, das Bewußtwerden dieses Seins in neuen Seins/orwe«. Schöpferische Geistesakte solcher Art schaffen nicht neuen Stoff, neue Inhalte, sondern bedeuten Verwandlung, Veränderung, Angleichung: geistige Assimilation des Realen. Nach Becker besteht der Vorgang des Erkennens darin, „daß der zu assimilierende Stoff" — wie bei jeder organischen Assimilation — „die organische Form des assimilierenden Dinges annimmt". Das heißt, im Assimilationsvorgang des subjektiven Geistes bleibt „der in der sinnlichen Anschauung aufgefaßte Stoff derselbe, aber er nimmt eine dem Geistigen gleichartige Form an" 51 . Die sinnliche Anschauung gibt dem Denken nur die in sich identischen, real individualisierten „Dinge selbst, welche den Stoff und Inhalt der Begriffe und Gedanken ausmachen". Die Beziehungen und Verhältnisse der Begriffe in den Gedanken aber werden nicht mittels sinnlicher Anschauung assimiliert, „sondern sind ursprünglich das Werk des denkenden Geistes"52; d. h. — nach Beckers Definition des Erkennens — sie werden gar nicht erkannt! Entscheidend ist, was Becker unter diesen Formen der geistigen Anschauung versteht: a) Er trennt Formen der Anschauung — wie „der Geist die Begriffe der Dinge anschaut" (Zeit, Raum als Maß der Bewegung; Größe als Maß eines Dinges) — von Formen des Denkens — wie „der Geist die Begriffe der Dinge zu Gedanken verbindet" (allgemein: der polarische Gegensatz als Gegensatz der Begriffe; der Gegensatz von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit als Gegensatz der Gedanken, die Kausalität als Gegensatz von Grund und Wirkung und Möglichkeit und Notwendigkeit) 53 —. b) Sie sind die „Verhältnisse organischer Gegensätze", in denen die „realen Dinge" angeschaut und gedacht werden. Innerhalb der universalen Struktur des Seienden „entsprechen" die realen Verhältnisse den Formen der geistigen Anschauung. c) In den Formen der Anschauung wird der reale Stoff „durch die Rückwirkung des Geistes in Objekte einer geistigen Anschauung verwandelt und . . . in dem ken dar". An der Herkunft dieses Gedankengangs aus der „Kritik der reinen Vernunft" ist nicht zu zweifeln (Einleitung, I.): „ . . . Wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren . . . ? " 5» a . a . O . : S. 13. 51

a . a . O . : S. 167 f.

52

a . a . O . : S. 14. Das geht auf Kants Erkenntnisse a priori hinaus; allerdings ist Beckers eingeengter Begriff des Erkennens zu berücksichtigen.

5S

a . a . O . : S. 169.

co tì H CO h—I «

Ü to W Q H
-l -O C 3

H tí C £ U oo Ζ tí to

c Έ .2 o Jí * « -o c

χ ^ ΗιΗ J j

I O ^

υ P¿! p_ co z



S3 O .a

3


O C Υ

M ( oe? 6 0ωO H 2 OJ2 >t Im »HMα U α > M mM M M Mm mMm m¡-M SSs δ Υ

" S C O

O

to G O u

' Ν C

ΟΙ

S ) Α

' Ν C O Υ

Semantik des Satzes: Die

160

Beziehungsbedeutungen

Durch den Vergleich des primären prädikativen Satzverhältnisses mit den anderen sekundären gelangen wir zum Beckerschen sprachbildenden Prinzip der Individualisierung, der artbildenden Differenzierung. Ihm zufolge wird im attributiven Beziehungsverhältnis ein Seinsbegriff (Subjekt, Objekt) entweder durch einen anderen Seinsbegriff (Apposition) oder durch einen Tätigkeitsbegriff (Attribut) individualisiert. Im objektiven Satzverhältnis dagegen wird ein Tätigkeitsbegriff durch einen Seinsbegriff (Objekt, adv. Bestimmung) individualisiert. Alle sekundären Satzglieder verdanken ihre Existenz der Differenzierbarkeit (im Sinne einer Triebkraft alles Lebendigen: „Physiologie" der Sprache!) der beiden Hauptfaktoren des Satzgedankens: Subjekt und Prädikat. Aber auch alle sekundären Satzglieder sind der artbildenden Differenzierung fähig. Da Becker in keinem seiner Bücher Strukturbilder von Sätzen bringt, habe ich im Schema Seite 159 das Prinzip der Individualisierung an der Struktur eines in vier Ebenen differenzierten Satzes darzustellen versucht. Um die Art der strukturellen Bindung der Satzgliedfaktoren in den drei Differenzverhältnissen genauer zu beleuchten, habe ich im Schema Seite 161 die Analyse eines Satzgefüges vorgeführt. Trotz seiner theoretisch exakten Trennung zwischen Denk- und Sprachstrukturen ist die syntaktische Terminologie K . F. Beckers ein Durcheinander von Bezeichnungen für Faktoren des Satzgedankens und solchen der Satzgliedbegriffe. Als Girard in seinem 1747 erschienenen Buch über „Les vrais principes de la langue française" zum erstenmal von Satzgliedern sprach, die nicht aus den Wortarten (partes orationis) abgeleitet waren, stellte er konsequenterweise dem logischen Begriff Subjekt den sprachlichen des subjectif, dem Objekt (im Akkusativ) das objectif gegenüber. Leider hat Becker diese Zweiteilung nicht beibehalten: Faktoren

des

Satzgedankens:

Sa tzgliedbegriffe

1.

Subjekt

Subjektiv

2.

Prädikat

Prädikativ

3.

Objekt

Objektiv

4.

Attribut

Attributiv

:

Die Bezeichnung Subjektiv fehlt bei Becker ganz; Attribut, Attributiv und Prädikativ wurden von K . F. Becker eingeführt und haben sich bis heute erhalten; der Name Objektiv war von Becker noch in seiner „Deutschen Grammatik" (1829) verwendet worden, ist aber später wieder aufgegeben worden.

Die

„logische"

Form

der

Satzverhältnisse

Im Vergleich zu der 1827 erschienenen 1. Auflage des „Organism" hat sich die Darstellung allgemeinsprachlicher syntaktischer Kategorien in K . F. Beckers „Deutscher Grammatik" von 1829 und in der „Grammar of the German Language", London 1830, nicht wesentlich geändert.

11

Haselbach

162

Kategorien

der

Satzlehre

Anfangs war die Relation zwischen Haupt- und Beziehungsbegriff eines Satzverhältnisses mit der Beziehungsrichtung vom Hauptbegriff zum Beziehungsbegriff, auf den bezogen wurde, identisch. In einer wesentlichen Anmerkung dazu schreibt jedoch K.F.Becker 1831 in der 1. Auflage der „Schulgrammatik" (S. 9 f.) : Die syntaktischen Beziehungen der Begriffe „sind an sich wechselseitig". Man könne nämlich, ζ. B. in dem prädikativen Satzverhältnis Dieser Baum blüht, einerseits annehmen, daß blüh-t (durch flexivische Kennzeichnung) auf Baum, anderseits aber auch, daß Baum (etwa durch determinierende Tendenz während des Sprechaktes) auf blüh-t bezogen ist. Hier scheint Becker zum ersten Male bereit zu sein, sich von seiner ursprünglichen Ansicht, daß die Flexion „der eigentliche Ausdrude der Beziehung" sei, weiter zu entfernen. In der Tat ist eine einseitige strukturelle Bindung von Redegliedern kaum vertretbar; dies beweisen die Ergebnisse der heutigen Sprechaktforschung. Auf einige Veränderungen in der Bestimmung syntaktischer Verhältnisse macht Becker a . a . O . in der Vorrede (S. II) aufmerksam. Im allgemeinen ist nun das Streben zu erkennen, die Begriffsdifferenzen, also die Differenzverhältnisse der Sätze und ihrer Glieder, mit den Kategorien der logischen Form zu begründen. An deutschsprachlichem Material soll jetzt jedes Besondere nicht mehr „als ein Besonderes für sich, sondern nur in seiner Beziehung zum Ganzen aufgefaßt und gedeutet" werden 52 . Das macht sich einerseits in gründlicherer Oberordnung, anderseits aber auch in pedantischerer Unterordnung bemerkbar, die — sofern sie sich auf einzelsprachliche Phänomene allein bezieht — für uns irrelevant sein muß, und sei sie mit noch so systematisch-logischem Eifer vorangetrieben. Wichtig ist zunächst, daß die drei Satzverhältnisse eingeordnet werden in die fundamentale Dichotomie des grammatisch Gegebenen 1. der Begriffe, d. i. der Begriffswörter als sprachlichem „Stoff" (Wortlehre), und 2. ihrer Beziehungen, d. i. der sprachlichen „Form" (Satzlehre). Diese Beziehungen der Begriffe können sein a) solche der Begriffe aufeinander und b) solche der Begriffe auf den Sprechenden (vgl. oben S. 134). Die Beckersche Lehre von den Satzgliedverhältnissen ist unter a) zu finden. Da Tätigkeit und Sein die obersten Begriffsformen sind (entsprechend: Verb/Adjektiv und Substantiv die primären Wortarten), muß es also I. Beziehungen von Tätigkeitsbegriffen (zu Seinsbegriffen) und II. Beziehungen von Seinsbegriffen (zu Tätigkeitsbegriffen) geben. Nach dieser These gehört das prädikative Satzverhältnis und auch das attributive unter Punkt I, das objektive Satzverhältnis unter II (Verb —>- Objekt). Während K. F. Becker bisher von drei allgemeinsprachlichen Beziehungsverhältnissen gesprochen hatte, von denen lediglich das prädikative und das attri52

K. F. Becker: „Sdiulgrammatik", 1831, S.II (Vorrede).

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

163

butive Verhältnis kongruente Begriffe aufwiesen, das objektive aber „opponente" Glieder, begründete er mit der 2. Auflage des „Organism der Sprache" (1841) die Lehre von den Satzverhältnissen logisch, indem er sie als Verhältnisse der Unterordnung darstellt. Obwohl K. F. Becker schon an einer Stelle des „Organism" der 1. Auflage das zwischen den Satzgliedern bestehende Differenzverhältnis als eines der Unterordnung des einen Begriffes unter den anderen bezeichnet hatte (S. 126), so war er dodi im wesentlichen von dem „ursprünglichen" Beziehungsmittel der Flexion ausgegangen, um die Gesamtstruktur des Satzes nach einem grammatischen Prinzip aufzugliedern. Am Beispiel von Prädikaten mit mehreren Objekten erweist sich die Notwendigkeit, die Satzglieder nicht vorwiegend nach lautlich gekennzeichneten Beziehungsmitteln in ein syntaktisches Verhältnis zueinander zu bringen, sondern die Satzglieder nach einem mehr logisch-geistigen Unterordnungsverhältnis zu gliedern. Das hat K. F. Becker in der Folgezeit getan. Aus der Not der lautlichen Unbezogenheit der Objekte zueinander und auf das gemeinsame Prädikat entwirft er die syntaktischen Leistungen der Beziehungsmittel Betonung und Wortstellung. Er stellt fest: „Die Sprache bezeichnet die Unterordnung der Faktoren. . . und die Einheit des Verhältnisses durch die Betonung und durdi die topische Stellung der Faktoren." Audi das wichtige Beziehungsmittel des dynamischen Akzents, das zur Hervorhebung und Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung dient, wird hier von Becker schon in seiner Beziehungsbedeutung erkannt 53 . Die tiefer durchdachte Untergliederung der Beziehungen innerhalb des objektiven Satzverhältnisses mag hier — insofern sie für Beckers Allgemeine Grammatik wichtig ist — angedeutet werden. Seit 1831 wird das Verhältnis zwischen Prädikat und Objekt eindeutig in das Verbum ergänzende (ganz-machende, notwendige) Beziehungen und adverbiale (bestimmende, den Begriff des Verbums nicht ergänzende) Beziehungen getrennt 54 . Die Formen der ersten Gruppe von Objekten sind die Kasus des Substantivs oder präpositionale Ersatzverbindungen. K. F. Becker setzt, „für alle Sprachen gültig", vier grammatische Kasus an: 1. Genitiv (Richtung Woher) Er bedarf der Hilfe, 2. Akkusativ (Richtung Wohin) Er tränkt die Pferde, 53

K. F. Becker: „Deutsche Grammatik", 1829, S. 357 f.; bes. S. 358. — Vgl. auch schon „Organism", 1827, S. 24, 318 ff. (Wortstellung u. Betonung). — D i e wichtige Tatsache der Unterordnung der verschiedenen Glieder, wodurch das zusammengesetzte objektive Satzverhältnis erst „als eine organische Einheit aufgefaßt und wahrhaft verstanden" werden kann, wird v o n Becker auch in der „Ausführlichen Grammatik", 2. Band 1837, S. 228 f., hervorgehoben.

54

Diese Unterteilung in Ergänzungen (notwendig) und adverbiale Bestimmungen des Prädikats wird auch heute nodi durchgeführt und ist im Unterricht zu empfehlen. Vgl. die Syntax (2. Band) der „Ausführlichen Grammatik", 1837, S. 121, 129 ff. — Ansätze dazu sind v o n K. F. Becker schon in der „Deutschen Grammatik", 1829, gemacht worden; vgl. z . B . S. 323, auch 322, 328, 330 u. ö.; ebenso „German Grammar", 1830, Anhang Tafel V I I I : genetive relation = „ s u p p l e m e n t a r y to the notion", ablative relation = „not supplementary to the notion".

11*

164

Kategorien der Satzlehre

3. Faktitiv (Richtung Wohin) Er zwingt 4. Dativ (Personen-Objekt) Er diente

die Feinde

den

zum

Frieden,

Fürsten55.

Aus diesen Beispielen geht eine weitere Gliederung der Objektive hervor: Genitiv-, Akkusativ- und Faktitivobjekte werden als Beziehungen einer Sache gedacht, der Dativ aber als Beziehung einer Person. Weiter bildet die (reale, moralische oder logische) Begriffsbedeutung des Verbs den Grund für eine dritte Einteilungsmöglichkeit der ergänzenden objektiven Beziehungen: a) reale Beziehung (Er pflanzt

einen

Baum),

b) moralische Beziehung (Er bittet um

Brot),

c) logische Beziehung (Er erinnert sich der

Sache).

Das hat mit Syntax nichts mehr zu tun und tut außerdem dem System Gewalt an, vor allem, wenn man bedenkt, daß das ergänzende objektive Verhältnis noch unmittelbarer oder mittelbarer Art, das Objekt ein „tätiges" (Genitiv) oder ein „getanes" (Akkusativ) sein kann. Nun soll der Student, oder gar ein Schüler, ein Sprachbeispiel nach diesen verschiedenen Gesichtspunkten, möglichst alle gleichzeitig in Betracht ziehend, ein,ordnen'. Daß dann bei der Analyse zusammengesetzter objektiver Satzverhältnisse, trotz aller Systematisierungskunst, chaotische Ergebnisse erzielt werden, scheint begreiflich. Man versuche zum Beispiel die Analyse dieses zusammengesetzten objektiven Verhältnisses nach allen genannten Gliederungsmöglidikeiten : Kaiser Karl hatte II zu jener Zeit / in Italien einen gefährlichen Nachbarn.

/ an dem König von Frankreich

II

Bei drei und mehr Objektiven käme man nicht um ein neues Gliederungsprinzip, nämlich nadi Haupt- und Nebenobjektiven, herum — wie es Becker auch getan hat 56 . Die bestimmenden (adverbialen) Beziehungen des Objekts werden eingeteilt in: a) Ortsverhältnis (Er steigt auf den b) Ze/iverhältnis (Er arbeitet c) kausales

am

Turm), Abend),

Verhältnis (Er spielt aus

Gewinnsucht),

d) Verhältnis der Weise (Er spricht recht

hochtrabend).

Die Objektive a), b) und c) werden durch Präpositionen, d) wird durch Adverbien der Weise dargestellt. Die kausale Beziehung kann wieder untergegliedert werden in: 1. realen Grund (Schnee schmilzt durch Wärme) und reale Wirkung (Er wird zum Sklaven gemacht), 55

K. F. Becker: „Deutsche Grammatik", 1829, S. 325 f., hatte noch fünf „grammatische" Kasus für alle Sprachen; später ist der Ablativ und ein Teil des Faktitivs weggefallen.

56

Der genannte Beispielsatz, dessen objektives Satzverhältnis „gewissermaßen nur einen Begriff ausdrücken" soll (a. a. O., S. 357), ist von Becker in der „Deutschen Grammatik", 1829, S. 356 ff., grob analysiert worden. Vgl. dazu die „Ausführliche Grammatik", 2. Band 1837, S. 227 ff. — Für K . F . B e c k e r war es „eine der schwierigsten Aufgaben der Grammatik, alle besonderen Formen des objektiven Satzverhältnisses nach ihrer Bedeutung in einem organischen System . . . zusammenzustellen". A. a. O., S. 111.

Semantik des Satzes: Die Beziehungsbedeutungen

165

2. moralischen Grund (Sie schminkt sich aus Eitelkeit) und moralische Wirkung (Er sehnt sich nach dem Posten), 3. logischen Grund (Er weiß es aus Erfahrung) und logische Wirkung (Er hält ihn für einen Betrüger). Man beachte die Begriffsbedeutung des Wortes logisch und erkenne, daß audi hier niemals syntaktische Kategorien bezeichnet wurden! K. F. Beckers unklarer Bedeutungsbegriff läßt ihn die Grenze zwischen Semasiologie und Syntax übersehen. Aus den grammatischen Schriften der 30er Jahre ist zu erkennen, daß sich Becker den neuen, mit der 2. Auflage des „Organism" (1841) erreichten Gesichtspunkt der „logisdien" Form syntaktischer Kategorien stufenweise erarbeitet hat. Für das Übergangsstadium ist die Darstellung der Syntax in der 1. Auflage der „Ausführlichen Grammatik" von 1837 ein Beispiel: Neben der Flexion treten die Beziehungsmittel Betonung und Wortstellung und ihre Leistungen immer mehr in den Vordergrund. In der Syntax von 1837 ist zum erstenmal die „grammatische" ( = syntaktische) von der logisdien Form des Satzes genau geschieden. Grammatisdie und logisdie Form des Satzes stehen, nadi Becker, in innigem Zusammenhang. Flexionsformen ζ. B. erhalten sich länger, wenn sie unter dem Ton stehen, fallen aber allmählich ab, wenn dieser sich abschwächt. Die syntaktisdie (Beziehungs-)Bedeutung der Wortstellung wird hier (1837) auf nahezu 50 Seiten eingehend behandelt 57 . Im prädikativen und im attributiven Satzverhältnis wird die Ablösung der Kongruenz58 durch das gedankliche Verhältnis der Unterordnung des Beziehungs- unter den Hauptbegriff vorbereitet 59 . Zu dieser Zeit führt K. F. Becker die Unterscheidung in logisches und grammatisches Subjekt ein. Die Herausgabe der 2. Auflage des „Organism" 1841 beendet die Zeit des Schwankens (14 Jahre). Ein Werk gereifter Überzeugung und neuer Definitionen nadi gründlicher Umarbeitung und Verbesserung liegt vor uns80. K. F. Becker will jetzt für die früher „auf etymologischem Wege gefundenen Spradigesetze audi eine innere Begründung durch Zurückführung derselben auf die logisdien Gesetze" finden81. Die Satzbildung betrachtet er nun allein von der sog. logischen Form der Sprache her. „Die Verbindung zu einer organischen Einheit wird nur dadurdi 57

K . F . B e c k e r : „Ausführliche Grammatik", 2. Band 1843, S. 23 f.

58

Sie wird ausgedrückt durch Übereinstimmung von (logischem) Subjekt und Prädikat im Person-, Numerus- und Genusverhältnis des prädikativen Satzverhältnisses. Im attributiven Differenzverhältnis findet die Kongruenz der Begriffe durch den Ausdruck des Numerus, des Genus und Kasus statt. Die Satzglieder des objektiven Satzverhältnisses sind nicht kongruent, sondern das Objekt ist ja „das der Tätigkeit Gegenübergestellte". „Ausführliche Grammatik", 2. Band 1837, S. 17, 87 f., 110.

59

K . F . B e c k e r : „Ausführliche Grammatik", 2. Band (Syntax) 1837, S. 13 (logisdie Form), S. 3, 15 (Unterordnung).

60

Die Wortlehre wurde völlig neu geschrieben, und die Syntax beanspruchte nicht weniger Mühe. — Die logische Festigung der Beckerschen Theorien fällt in die Zeit der Zusammenarbeit mit Adolf Trendelenburg.

61

K . F. Becker: „Organism", 1841, S. X I I I .

166

Kategorien

der

Satzlehre

möglich, daß die Faktoren nicht nur als Tätigkeit und Sein miteinander in einem Gegensatz stehen, sondern auch als Allgemeines und Besonderes einander untergeordnet werden." In den Satzverhältnissen stehen sich die Begriffe des Seins und der Tätigkeit nicht mehr in einem unbestimmten Beziehungsverhältnis polarisch gegenüber; das Auseinandertreten einer organischen Einheit in Gegensätze ist nun gleichzeitig und vornehmlich Ausgliedern von Allgemein- zu individuellen Begriffen im Prozeß der Unterordnung. K. F. Becker setzt über die syntaktische Strukturierung die gedankliche Gliederung; er geht von der Form der Gedanken und den Verhältnissen ihrer Begriffe aus. Das bedeutet, daß ein Glied des logischen Begriffsverhältnisses in das andere — wie „der Inhalt des Begriffes in die Form, der eine Begriff in den anderen—aufgenommen, und das eine dem andern untergeordnet wird". Den syntaktischen Saizverhältnissen und ihrer Gliederung (Opposition) entsprechen nun Begriffs- und Geddn&ewverhältnisse (Subordination). K. F. Becker macht einen klaren Unterschied zwischen der logischen Form der Sprache, die den Gedanken, von dessen Ausdruck in sprachlich-sinnlicher Form abgesehen, in Einheiten des Gedankens und der Begriffe logisch unterordnend gliedert, und der („grammatischen") syntaktischen Form der Sprache. Dieser liegt immer der Gegensatz von Tätigkeit und Sein zugrunde; ihre Verhältnisse sind Beziehungen der Begriffswörter, welche „im allgemeinen durch die Flexion ausgedrückt" werden: „Man nennt das durch Flexion und Formwörter ausgedrückte Verhältnis, in welchem die Glieder des Satzes und der Satzverhältnisse zueinander stehen, die grammatische Form des Satzes . . . " Dagegen versteht K. F. Becker unter der logischen Form des Gedankens und der Begriffe „das besondere Verhältnis des logischen Wertes, in welchem ein Begriff dem andern Begriffe als dem Hauptbegriffe untergeordnet ist." Sie „wird durch die Betonung und durch die Wortfolge bezeichnet"«2. Das Prinzip der logischen Form prägt sich schematisch in den folgenden Unterordnungsverhältnissen aus (vergleiche dazu die Beziehungsverhältnisse oben S. 156): a) dem umgreifenden prädikativen

Gedankenverhältnis

Beispiel: singen

>

Vögel / singen. - —

>-

Gattungsbegriff

durch ein Sein individualisierter Tätigkeitsbegriff Der besondere Begriff des Seins ist dem Allgemeinbegriff der Tätigkeit untergeordnet63. Der untergeordnete Begriff Vogel wird als Faktor von geringerem 62

K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 27, 167 f. — „Auszug aus der Schulgrammatik", 1845, S. 162. Diese Unterscheidung ist für die Theorie vom logischen und grammatischen Subjekt wichtig.

63

K. F. Becker: „Organism", 1827, S. 126. Hier erwähnt Becker schon, daß auch Hauptund Beziehungsbegriff sich im Beziehungsverhältnis nicht gleich wertig gegenüberstehen, sondern der letztere dem ersten untergeordnet ist. — „Organism", 1841, S. 162 f.

Semantik des Satzes: Die

Beziehungsbedeutungen

167

logischen Wert 64 in den unterordnenden Begriff singen als Faktor von größerem logischen Wert aufgenommen. Die Einheit des Gedankens kommt vorzüglich in den Beziehungsmitteln des Akzents (der Betonung) und der Wortstellung zum Ausdruck. Im prädikativen Gedankenverhältnis ohne verbalen Tätigkeitsbegriff als Gattungsbegriff kann das Sein (Subjekt) aber auch durch das Prädikat auf einen Artbegriff zurückgeführt werden: Beispiel : Der Vogel

>

Der Vogel / ist gelb.

Gattungsbegriff

durch eine Tätigkeit individualisierter Seinsbegriff

b) dem attributiven

Begriffsverhältnis

Beispiel: Vogel

>

muntere

Artbegriff

/ Vögel

durch eine Tätigkeit individualisierter Seinsbegriff

Dieses Verhältnis ergibt die Einheit eines Begriffes im Sinne des individualisierten Subjekts. Die attributive Begriffsbeziehung wird durch Becker auf diese Weise erklärt: Der Artbegriff eines Seins „wird durch einen Tätigkeitsbegriff auf eine Unterart oder auf ein Individuum zurückgeführt". Hier wird das Subjekt als Allgemeines dem Attribut untergeordnet, d. h. es entsteht ein besonderer Begriff. Der Inhalt eines prädikativen Verhältnisses kann in der Form einer Begriffseinheit beim attributiven Verhältnis wiederkehren. c) dem objektiven

Begriffsverhältnis

Beispiel : singen

>

Gattungsbegriff

singen / ein

Lied

>-

durch ein Sein individualisierter Tätigkeitsbegriff

Das objektive Begriffsverhältnis stellt eine Begriffseinheit innerhalb des umgreifenden prädikativen Verhältnisses im Sinne eines individualisierten Prädikatbegriffes 84

„Auszug aus der Schulgrammatik", 1845, S. 19 Anm.: „Man nennt den Wert eines Wortes in dem Satze, insofern er durch den Ton als übergeordnet oder untergeordnet bezeichnet wird, den logischen Wert desselben."

Kategorien der Satzlehre

168

dar: Das Prädikat als Allgemeines wird durch das O b j e k t auf einen besonderen Begriff zurückgeführt; es entsteht also ein Artbegriff der Tätigkeit 6 5 . Das gegliederte Ganze einer Gedankenstruktur

sähe nadi K . F. Becker so aus

(vgl. hierzu die Satzstruktur oben S. 1 5 6 ) :

D e r HauptbegrifF ist im logisdien Verhältnis immer der übergeordnete, der B e ziehungsbegriff der untergeordnete. Das Verhältnis der Unterordnung der Begriffe im Gedanken sei an folgendem Schema noch einmal deutlich gemacht: Gattungsbegriffe Artbegriffe

Vögel Muntere

Vogel

singen singen ein Lied

Diese Unterordnungsverhältnisse, die sich beim Sprechen im musikalischen und dynamischen Akzent und in der Wortstellung manifestieren, sind wichtig für das Verständnis des Gesprochenen 6 8 . Die beiden Beziehungsmittel der logisdien Seite fassen sinngemäß zusammengehörige Sprachteile zu Einheiten der Begriffsverhältnisse (und Satzverhältnisse) zusammen. D i e Satzverhältnisse der ersten Periode waren Verhältnisse der „ B e g r i f f s f o r m e n " (Sein — Tätigkeit), abgelesen an den Wortarten und deren Flexionsendungen; die Unterordnungsverhältnisse sind an den Begriffs arten orientiert (Besonderes — Allgemeines; individuelle, A r t - und Gattungsbegriffe), die durch Betonung und Wortstellung gekennzeichnet werden. In der Satzgliedtheorie K . F. Beckers sind drei Systematisierungsgesichtspunkte angewendet (vgl. sdiematisdie Gegenüberstellung auf Seite 1 6 9 ) : 1. der Gesichtspunkt der Beziehungsrichtung, 2. der Gesichtspunkt des logisdien Wertes, 3. der Gesichtspunkt der Individualisierung. D e r letztere verkörpert Beckers Auffassung von der strukturellen Entwicklung sowohl im lexikologischen als auch im syntaktischen Bereich. Nach Becker ist es auch eine sprachliche Tatsache, „daß sich das Einfache zu einem Mannigfaltigen K. F. Becker: „Organism", 1841, S. 163, 167 u. 2 7 ; 160; - „Auszug aus der Schulgrammatik", 1845, S. 9 f.; — „Schulgrammatik", 1852, S. V (Vorrede), 208, 2 4 6 ; S. 8. " Becker hebt die genannten Beziehungsmittel „als organischer Ausdruck für die logische Form" hervor z . B . in: „Ausführliche Grammatik", 3. Band 1839, S. 60 (§ 301): Von der Interpunktion. 65

3 -ο -te 60 IH 3) « · Π o> :rt C "O Η 'S .S

-ο e

e υ

α

η υ Μ) Ν -Μ α C/1 ΪΛ υ Ό I* 3

60 c



§ te t; S) O -Q

do 2

Ü

TD

ο -6 • «Ν -α U

υ

•Ό 60

β

3 U, υ

« ε

4> 4-» C A >> «Λ

C Ρ

.û -o



-S 5

« ¡s



•a c

« Ü

•i C S> li o -6

ω c 3 e -o ι* O

te

Ν *>- ρ* e* g cQ rt « ε •s υ *So te S« 8 flj .-H ^f C ω • i o » Μ

rt
egn/fe sind. Die philosophische Ableitung aller Beziehungsformen gründet in K. F. Beckers Überzeugung, die Sprache sei (kategorial) die vollkommene Entsprechung der realen Welt. Wie die Welt, durch menschliches Denken in objektives und subjektives Sein geschieden, eine strukturierte, sinnvolle Ganzheit darstelle, so müsse audi das vom Menschen immer mit Situationsbezug Gesprochene ein Strukturgefüge sein, und zwar ein solches, das dem Besprochenen prinzipiell entspricht. So geben aus dem Zusammenhang gerissene Wörter, wie ζ. B. Mensch — Baum — blühen, nur eine Reihe allgemeiner Begriffe ohne Sinnzusammenhang. Dem entspricht jedoch die Gestalt des Anschauungsmaterials nidit. Wie alles Allgemeine in der objektiven Wirklichkeit erst Besonderes dadurch wird, daß es auf Grund allgemeiner Gesetze individualisiert wird, so wird im Sprechakt eine Reihe allgemeiner abstrakter Begriffe konkretisiert, indem sie durch subjektive Beziehungen, die ein Verhältnis zu den Anschauungsformen Raum und Zeit herstellen, individualisiert werden: Menschen sind keine blühenden Bäume, oder ähnlich. Das die subjektive Sprache wie den objektiven Wirklichkeitszusammenhang gleichermaßen beherrschende Prinzip drückt Becker in den Worten aus: „Das Allgemeine . . . wird zu konkreten Individuen und Erscheinungen, sowie es nach Raum und Zeit bestimmt wird." Vorgänge (Tätigkeit) werden in der Sprache durch die subjektiven Beziehungsformen der Zeit, Gegenstände (Sein) unter der des Raumes individualisiert. „Die Individualisierung der Begriffe durch Beziehung derselben auf die Anschauungsformen von Raum und Zeit nennen wir die Beziehungen der Begriffe auf den Sprechenden**." Die Begründung der Trennung der subjektiven von den syntaktischen Beziehungen, welch letztere die Glieder der drei Satzverhältnisse in Beziehung setzen, bietet — nach Becker — folgender Gedankengang. Der Mensch denkt, und die Sprache, da sie der organische Ausdruck des Denkens ist, kann also nur durch gewisse menschliche Denkformen in Berührung mit den Realitäten kommen; daher können die in der Sprache zum Ausdruck kommenden Beziehungen lediglich entweder in 68

Ernst O t t o : „Stand und Aufgabe", 1954, S. 57 u. ö. Die Leistungen außensyntaktischer

89

K . F . B e c k e r : „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 26 und 27.

Art sind „Kennzeichnungen von Beziehungen, die auf die Außenwelt hinzielen".

172

Kategorien

der

Satzlehre

Richtung auf den Denkenden oder innerhalb der Sprachstruktur selbst angenommen werden. Ein unmittelbarer Bezug auf die Umwelt ist nach Becker nicht denkbar, da durch den Vorgang des Denkens, als geistiger Bedingung allen Sprechens, „die in der sinnlichen Anschauung aufgefaßte reale Welt in eine geistige Welt der Gedanken und Begriffe verwandelt wird" (Assimilation = Denken). Auf der geistigen Ebene werden die Begriffe von den Dingen und Vorgängen in bestimmten D e n k formen zu Gedanken verbunden und in gewissen Anschauungsformen erfaßt, welche sich ontogenetisch an der Erfahrung mit den Gegenständen und mit dem Denken entwickeln70. Wesensmerkmal der subjektiven Beziehungen ist der Gedanke Beckers, daß die durch die Ausdrücke der Denk- und Anschauungsformen (Modus-, Tempus-, Personalflexion, Hilfsverben, aber auch Ortsadverbien, Demonstrativpronomina usw.) gekennzeichneten Begriffswörter durch diese Beziehungsformen nicht auf andere Begriffswörter, sondern auf den sprechenden Menschen bezogen sind. K. F. Becker kennt nicht nur die auf außersyntaktische Fakten hinweisenden Sprachmittel, sondern beschreibt auch die syntaktischen Leistungen der Sprache zur Kennzeichnung der wichtigsten Mitteilung und zur Stellungnahme zum Sachverhalt des Satzgedankens. Ernst Otto kennt auch für die beiden letzten Leistungen nur den Begriff außensyntaktisch, obwohl für sie der engere Begriff der subjektiven, vielleicht im Gegensatz zu den „realen" Beziehungsbedeutungen, passender erscheint. Nach Becker bilden sich aus den obersten Beziehungsformen von Raum und Zeit die übrigen subjektiven Beziehungen in Gegensätzen. So werden ζ. B. die Kategorien des Zeitverhältnisses Vergangenheit und Zukunft als Gegensätze zur indifferenten (daher unbezeichneten) Beziehungsform der Gegenwart gedacht: Das Zeitverhältnis der Vergangenheit ist zur Gegenwart insofern different, als eine Tätigkeit vergangen gedacht wird; das Zeitverhältnis der Zukunft ist zur Gegenwart different, weil eine Tätigkeit in bezug auf die Gegenwart als zukünftig gedacht wird. Da ist es nun bei den verschiedenartigen subjektiven Verhältnissen wirklich „nicht leicht zu entscheiden, ob sie als Zeit- oder Raumverhältnisse von der Sprache gedacht werden", gesteht K. F. Becker inmitten der Versuche, systematische Konsequenz und Vollkommenheit zu erreichen. Aber die Regel, die besagt, daß Verhältnisse der Vorgangsbegriffe unter der Anschauungsform der Zeit und diejenigen der Gegenstandsbegriffe unter der Anschauungsform des Raumes gedacht werden, gebiert immer wieder Ausnahmen, sobald das Zahlverhältnis (Numerusflexion) und alle die subjektiven Beziehungen betrachtet werden, die sowohl an Vorgangs- (Verb, Adjektiv) als auch an Gegenstandsbegriffen gekennzeichnet werden. Für diese Ausnahmen gibt es eine sogar im System verankerte Regel: begriffsgenetisch sieht K.F.Becker im Sein (existence71) „die gleichsam äußerlich gewordene Tätigkeit", was im Bereich der Sprache bedeutet, daß allen Substantiven begriffs70

Vgl. K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 167, 169, 173.

71

„German Grammar", 1830 und 1845, allgemein so übersetzt. An manchen Stellen, wie in „Schulgrammatik", 7. Aufl. 1852 (hrsg. von Theod. Becker), S. 3, aber richtig erklärt mit „substantia, das Sein".

Semantik

des Satzes:

Die Beziehungsbedeutungen

173

etymologisch der Ursprung aus einem der Urbegriffe der Bewegung nachzuweisen sein muß. „Die Sprache stellt daher zuweilen Zeitverhältnisse unter die der Anschauung näher liegenden Raumverhältnisse" ! K. F. Becker kann auch da von Fehlern nicht freigesprochen werden, wo er versucht, die „aus dem Verhältnisse der Kausalität gefolgerten" subjektiven Beziehungen der Möglichkeit und Notwendigkeit (Modi), an den Verben gekennzeichnet, der Grundbeziehung Zeit zu subordinieren. Das dürfte deshalb mit systematischen Schwierigkeiten verbunden sein, weil — nach Becker — das Verhältnis der Möglichkeit und das der Notwendigkeit (und damit audi die der anderen Modusformen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit) gar „nicht mit der Anschauung gegeben sind" 72 ! Die subjektiven Beziehungen der Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit werden jedoch von Becker nicht auf Zeit (These) oder Raum (Antithese) festgelegt, sondern der Einheit (Synthese) von Zeit und Raum untergeordnet. Und die Kausalität als Denkform wird, nach Becker, von der Sprache als Anschauungsform und Zeitverhältnis gedacht, — weil Denkformen in der Sprache allgemein als Anschauungsformen aufgefaßt würden. Diese Gedankengänge können nicht weiter verfolgt werden; sie sind in unserem Zusammenhang unwesentlich, könnten aber ζ. B. im Hinblick auf eine Beschreibung der K. F. Becker eigentümlichen Denkmethoden recht interessant sein. Der größte Mangel des Beckerschen Systems in diesem Bereich der Satzlehre, wie überhaupt, ist, daß Becker durch Überbetonung und irrtümliche Vermehrung der Gliedwörter als Beziehungsmittel eine Satzstruktur entwickelt hat, die Gruppen von Begriffswörtern (ζ. B. Relationswörter, Adverbien, Pronomen usw.) als Begriffswörter überhaupt nicht kennt. So zählt er auch die begriffsbedeutenden Zahlwörter, adjektivisch und substantivisch gebrauchte, zu den subjektiven Beziehungsformen! Bei der relativ geringen Anzahl von Paradigmen aus nichtindogermanischen Sprachen ist es erstaunlich, wie es Becker dennoch fertiggebracht hat, das Gebiet der subjektiven Beziehungen nahezu umfassend darzustellen. In seinen wissenschaftlichen Grammatiken sind die Kategorien ausführlich erörtert und mit ihrer außensyntaktischen Beziehungsbedeutung richtig erfaßt worden. Selbst die starre Systematisierung, zu der Becker durch die allgemein angewendete dialektische Denkform gezwungen wird, hält ihn nicht davon ab, die gerade in dieser Gruppe von Beziehungen stark hervortretende Kategorienverschmelzung bzw. das Übergreifen von Beziehungsbedeutungen auf unterschiedliche Beziehungsformen anzuerkennen und zu belegen. Letzterer Fall betrifft vor allem das Verhältnis der Modus- bzw. der Beziehung der Aktionsart zur Zeitbeziehung. Für diesen Synkretismus bei den außensyntaktischen Beziehungsbedeutungen gibt Fritz Strohmeyer gute Beispiele 73 : Bei il cherchait bezeichnet -ai- die Beziehungsformen des Tempus (Imperfekt), der Aktionsart (Dauer) und des Modus (Indikativ) gleich72

K . F . B e c k e r : „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 3 0 : „Wir erkennen nämlich eine Tätigkeit als möglich oder notwendig nicht aus der sinnlichen Anschauung, sondern wenn wir den Grund der T ä t i g k e i t . . . erkannt haben."

73

F. Strohmeyer: Neue französische Sprachlehre, Leipzig und Berlin 1937 (5. Aufl.), S. 3 ff.

174

Kategorien

der

Satzlehre

zeitig; -t kennzeichnet sowohl die Beziehungsform des Numerus (Einzahl) als auch die der Person (besprochene). Ähnlich ist es mit der Verschmelzung verschiedener Beziehungsbedeutungen in einer Form, ζ. B. bei ils cherchassent, ils avaient cherché usw. Die subjektiven Beziehungen sind eine Kategorie der „grammatischen Form". Sie sind syntaktisch gekennzeichnete Beziehungen auf die Denk- und Anschauungsformen des Sprechenden, und zwar über die Schwelle der Assimilation hinweg auch auf die reale Umweltsituation. Die verschiedenen Beziehungsbedeutungen dieser Sprachkategorie sind bereits oben S. 132, im Überblick über K. F.Beckers System der allgemeinen Grammatik erwähnt worden. Becker nennt in der 2. Auflage der „Ausführlichen Grammatik" die folgenden außensyntaktisehen Leistungen der Beziehungsmittel74 : I. Die subjektiven

Beziehungen

der

Tätigkeit,

a) als Anschauungsformen der Zeit gedacht: 1. Modusverhältnis (Modus der Aussage: Indikativ — Konjunktiv 75 — Konditional — Imperativ; Modus des Prädikats: Wirklichkeit — Nichtwirklichkeit: Möglichkeit — Notwendigkeit) 2. Tempusverhältnis (Gegenwart — Vergangenheit — Zukunft) 3. Aktionsart 70 (Zeitpunkt — Dauer — Wiederholung — Intensität) b) als Anschauungsformen des Raumes gedacht: 4.

Ortsverhältnis

5.

Richtungsverhältnis

6. Größenverhältnis (teilweise zu a) II. Die subjektiven

Beziehungen

des Seins,

insgemein aus der Anschauungsform des R a u m e s abgeleitet: 1. Personalverhältnis (sprechende — angesprochene — besprochene Person) 2. Genusverhältnis (Personen im natürlichen Geschlecht: männlich — weiblich; 74

l . B a n d 1842, S. 32. Subjektive Beziehungen d. Seins: S. 27—29; subjektive Beziehungen d. Tätigkeit: S. 29—35.

75

F. Fiedler, „English Grammar", 1949, S. 96, führt das Subjunctive Mood mit Hinweis auf dessen Beziehung zum Sprechenden ein : „Der Konjunktiv ist die Aussageform, durch die der Satzinhalt eine persönliche Färbung als Wirkung des subjektiven Empfindens des Redenden erhält."

76

F. Strohmeyer bezeichnet im gleichen Sinne Person, Numerus, Zeit, Aktionsart, Modus und Zustandsform als Beziehungen im Satz, die durch die „Beziehungselemente" Flexion, Hilfswerb und Personalpronomen bezeichnet werden. „Französische Sprachlehre", 1937, S. 4 f., 3 ff.

Semantik des Satzes: Die

175

Beziehungsbedeutungen

Sachen im grammatischen Geschlecht: masculinum — femininum — neutrum) 3.

Ortsverhältnis (auch demonstrative Beziehung)

4.

Größenverhältnis (Zahl — Menge)

Die von Becker um seines dichotomischen Prinzips willen vorgenommene Sdieidung der subjektiven Beziehungsformen in solche von Begriffen „der Tätigkeit in der Zeit" und solche von Begriffen „des Seins im Räume" ist nicht haltbar, da — wie die Beispiele der folgenden Abschnitte und das Beckersdie Größenverhältnis selbst zeigen — die Anschauungsformen der Zeit und des Raumes in der Sprache nicht unabhängig voneinander wirksam sein können und, wie Becker selbst sagt, die eine sehr wohl in Kategorien der anderen dargestellt werden kann. Außerdem weist auch das Beckersdie System Mängel auf. Die Genus- und die Numerusflexion des Adjektivs gehören danach zweifellos zu den Beziehungen der Tätigkeit; ebenso die Personalflexion, die am Verb gekennzeichnet wird. Nicht jedem Betrachter mag auffallen, daß Becker diese Beziehungsformen dem Seinsbegriff zugeordnet hat.

Die subjektiven Seinsbegriffe

Beziehungen

der

Tätigkeits-

und

Modusverhältnis Die subjektiven Beziehungen Beckers zielen nur indirekt auf die Außenwelt. Sie verweisen auf die besondere (geistige) Struktur der Außenwelt in der Vorstellung, in den Ansdiauungs- und Denkformen. Die Formen der subjektiven Beziehungen drücken immer Verhältnisse der Gedanken und Begriffe aus, sie entwickeln sidi, nach Becker, einheitlich aus den Denkformen und werden „als Verhältnisse der Begriffe aufgefaßt und dargestellt". Aus der Tatsache des gemeinsamen gedanklichen Ursprungs erklärt Becker, daß ζ. B. die Modusverhältnisse des Prädikats ursprünglich als Zeitformen durch Tempusflexion dargestellt wurden 77 . Hierzu gibt die Betrachtung des Modus des Prädikats die besten Beispiele. Die Tempusflexion ist, nach Becker, sprachhistorisch gesehen v o r der Modusflexion da, und ursprünglich waren den Einzelsprachen, da diese nidit alle Denkformen in g r a m m a tischen Kategorien darstellen müssen, die Formen des Gedankens der Möglichkeit und der Notwendigkeit durch die Zukunftflexion, die der entschiedenen NichtWirklichkeit durch die Vergangenheitsflexion dargestellt. Auch der Modus der Wirklichkeit (Indikativ) und das Tempus der Gegenwart seien sprachlich-formal immer identisch.

Dem wirklichen Urteilssatz (Indikativ) es regnet liegt direkt kein realer Vorgang zugrunde, sondern lediglich die als „Einheit von Raum und Zeit in der Anschauung" aufgefaßte Wirklichkeit. Die im Beispielsatz ausgedrückte Beziehungsform der Wirklichkeit ist also eine subjektive Beziehung auf die Vorstellung der Wirklichkeit. Ebenso ist es mit den Aussageweisen der Möglichkeit und Notwendigkeit, die als Gegensätze zur Wirklichkeit des Vorganges betrachtet werden und mit der Denk77

K . F . Becker: „Organism", 1841, S. 2 3 6 , 2 5 3 ; 2 5 4 f.

176

Kategorien

der

Satzlehre

form der Kausalität gegeben sind. Wie in der Physiologie des menschlichen Körpers (Auge: sehen, Reiz: husten) sieht Becker auch in der Sprache als Darstellung erkannter realer Vorgänge die Kausalität neben der fundamentalen Denkform des Gegensatzes wirksam. Die Modi der Möglichkeit und Notwendigkeit, als Beziehungen auf die Denkform der Kausalität, werden entweder durch Flexion oder durch Formwörter dargestellt: Denkform der Möglichkeit

Wenn er gesunde Augen würde er besser sehen (sähe er hesser)

hätte,

Denkform der Notwendigkeit

Wenn der Baum kein Wasser bekommt, muß (wird) er verdorren

Einem inneren Grund entspricht die Möglichkeit Einem äußeren Grund entspricht die Notwendigkeit

Das Prinzip des Gegensatzes greift in das der Kausalität ein, denn die Kausalität definiert Becker als die einer gedachten Wirklichkeit (als Grund: ζ. B. kein Wasser) gegenübergestellte andere gedachte Wirklichkeit (als Wirkung: ζ. B. verdorren) 78 . Die subjektiven Beziehungen der Möglichkeit und Notwendigkeit sind different zur Wirklichkeit in der Anschauung, dergestalt, daß sie als nichtwirklich gedacht werden. Als allgemeinsprachliche subjektive Verhältnisse der Modi kennt Becker noch Differenzierungen dieser Hauptformen, die aber für den Sprachgebrauch unwichtig sind, da deren sprachliche Formen identisch mit den bekannten drei Modi sind und es ζ. B. für eine Tätigkeit, deren Wirklichkeit in Frage gestellt, gewünscht, die Wirklichkeit einer anderen Tätigkeit bedingt, kaum besondere Flexionen gibt 79 . Tempusverhältnis Nach dem gleichen subjektivistischen Prinzip werden die Zeitverhältnisse des Prädikats, Präteritum und Futur, „als Gegensätze zu der Gegenwart des Sprechenden" betrachtet 80 . Wie bei allen anderen Sprachrelationen auf die Umwelt des Sprechenden beschränkt sich Becker auf den Vorstellungsbezug, hier auf die Vorstellung der Zeit. Er unterscheidet mithin auch hier nicht zwischen den beiden prinzipiellen Möglichkeiten des Ausdrucks von Beziehungen 81 : 1. formal,

hauptsächlich durch das Beziehungsmittel der Flexion und der Gliedwörter (außensyntaktische Beziehungsbedeutung). Bsp.: sage = Gegenwart, sagte = Vergangenheit, werde sagen = Zukunft;

78

Vgl. dazu „Organism", 1841, S. 170 f., 182 f.

79

Vgl. dazu „Schulgrammatik", 1831, S. 10 f. — Da ich weitere Modus-Paradigmen nicht für nötig erachte, sei hier lediglich auf die lat. Sonderform, das Gerundivum als P r ä dikatsnomen, verwiesen: lat. Ignavia vituperanda est, wobei die Flexionsendung -andus, -a, -um Träger der Beziehungsbedeutung ist.

80

K. F. Becker: „Organism", 1841, S. 255, und öfter.

81

Vgl. Ernst O t t o : „Stand und Aufgabe", 1954, S. 18 f.

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

177

2. begrifflich, durch die Begriffsbedeutungen der vier Seinsschichten, ohne Beziehungsmittel der syntaktischen Struktur zu verwenden. Bsp.: jetzt, chin, chin = Gegenwart; gestern, damals = Vergangenheit; übermorgen, lat. in spe = Zukunft. Die zweite Gruppe hat in der Grammatik Gegenstand der Wort-, die erste Gegenstand der Satzlehre zu sein. Belege für formwörtliche und flexivische Kennzeichnung der Zeitbeziehung der Verben können unterbleiben; ich will nur auf Sonderformen des Tempus, wie frz. il va venir hinweisen, wo va formwörtlich die Beziehung trägt. Die Tempusformen werden also in Beziehung gesetzt zur Denkform des Gegensatzes, in welchem allein Vergangenheit und Zukunft — im Gegensatz zur Gegenwart — als Zeitbegriffe ihren Ursprung haben. Voraussetzung für die Bildung von Zeitformen ist, nach Becker, die begriffliche Differenz. So seien z. B. die im Denken indifferenten Beziehungsformen des Indikativs der Gegenwart (ich) setze, amas, (nous) fermons nidit in besonderen Flexionsformen ausgedrückt. Die Suffixe -e, -s, -ons bezeichnen das Personal- und Numerusverhältnis 82 . Zeitverhältnisse können audi, was Becker nicht gesehen hat, durch Suffixe an Nomina gekennzeichnet werden. Ein Beispiel bietet der sogenannte Zeitkasus 83 im Lateinischen. Lokativ

(örtl. und zeitl. Ruhepunkt) : noctu, vesperï (vespere), herï (here);

Ablativ:

sero, brevi, anno p. Chr. η. nono, initio principio, ηκΙΙδ tempore, vere, hieme, aestate usw.

Akkusativ:

alias = zu anderer Zeit.

Verhältnis der Aktionsart Dies wird vornehmlich durch Flexion und Gliedwörter am Prädikat dargestellt. Becker hat die Beziehung der Aktionsart sehr ausführlich behandelt 84 . Er ordnet sie den Zeitverhältnissen des Prädikats unter und faßt sie als einzelspradilich 82

K . F . B e c k e r : „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 226.

83

Kasusformen sind es eigentlidi nicht, sondern Tempussuffixe an adverbiellen Begriffswörtern, die allerdings — außer der Lokativform — primär die Beziehungsbedeutung von Kasusergänzungen haben.

84

Idi weise hin auf „Ausführliche Grammatik", 1. Band 1842, S. 144 f., 138 ff.; S. 2 2 9 - 2 3 1 . Becker spricht in diesem Zusammenhang v o n der „Bedeutung" der Dauer und Wiederholung, v o n der „Bedeutung" des Perfekts, des Imperfekts usw. Weil sie Ausdrücke der gleichen Beziehungskategorie sind, können Tempusformen auch Aktionsarten — meistens bei Flexionssynkretismus — vertreten. In den idg. Sprachen ist die Tempusflexion fast durchweg zugleich Exponent der Beziehungsbedeutung des Aktionsverhältnisses. So bezeichnet das nhd. haben (wir haben uns gefreut) als Tempusflexion die Vollendung einer Handlung in der Vergangenheit. „Ausführliche Grammatik", 2. Band 1843, S. 45.

12

Haselbach

178

Kategorien

der

Satzlehre

mögliche (also nicht als allgemeinverbindliche) syntaktische Kategorien auf, mit denen eine Sprache manche außensyntaktischen Beziehungen bestimmter bezeichnen, deutlicher individualisieren könne. Ich führe die Aktionsart trotzdem hier an, weil an Hand von Paradigmen bewiesen werden kann, daß K. F. Becker die Aktionsarten im Sinne von Beziehungsbedeutungen auffaßte. Kritische Ergänzungen mögen dazu dienen, den Unterschied dieser Beziehungsbedeutungen zu ähnlichen Kategorien der Wortbildung (Kausativa) klarzumachen. Auch K. F. Becker hat sich über dieses semantische Problem Gedanken gemacht, ist aber in Zweifels- und Grenzfällen zu keiner Entscheidung gekommen; das Kriterium hat er jedoch erarbeitet: „Die Beziehungen der Begriffe werden, insofern sie als wandelbare Verhältnisse der Begriffe in der Rede hervortreten, durch die Flexion (und durch Formwörter) bezeichnet. Diejenigen Beziehungsverhältnisse aber, welche in den Begriff des Wortes selbst aufgenommen werden und an ihm haften bleiben, werden häufig gleichsam als BegrifFsformen durch Ableitungsformen bezeichnet." Bei manchen Formen ist es Becker „zweifelhaft, ob sie als Ableitungsformen oder nur als Flexionsformen anzusehen sind". Der Zweifel müßte wohl beseitigt werden, denn die beziehungsbedeutenden Aktionsarten gehören in die Syntax, die durch Ableitung entstandenen neuen Wortbedeutungen aber in die Lexikologie. Das Problem ist mit der Gegenüberstellung von lat. rubesco als Inkohativverb und ags. ic gân drincan als Begriffsverb + „inkohative Bedeutung", wie Becker sagt, gekennzeichnet. Der von Becker fast durchweg angewendete indifferente Begriff der „Bedeutung" ist an dieser Stelle eindeutig im Sinne einer Beziehungsbedeutung zu erkennen. Becker nähert sich der Klärung des Problems durdi die Scheidung zwischen „wandelbaren" nicht zum Begriffsinhalt gehörenden Ausdrücken (Flexion, Formwörtern usw.), die den Begriff als Strukturglied kennzeichnen, indem sie syntaktische „Bedeutungen" tragen, und Beziehungsausdrücken, die auch äußerlich als „unwandelbar" gekennzeichnet in den Begriffsgehalt aufgenommen werden. Im System Beckers ist die erstgenannte Art des Beziehungsausdrucks als Beziehungsform, die letztgenannte als Begriffsform festgelegt. Bei rubesco läge also, im Sinne Beckers, ein Begriff mit dem Inhalt rotsein + inkohative Form, d. h. „wie jener gedacht wird", vor, wobei „Begriff" geklärt wird, indem er sagt: „Die sinnliche Anschauung gibt nur die Dinge selbst, welche den Stoff und Inhalt" der Begriffe ausmachen85. Begriffsform ist demnach denkende Formung eines durch die Wirklichkeit inhaltlich/stofflich Gegebenen. Wenn bei rubesco überhaupt von einem Beziehungsverhältnis gesprochen werden kann, so ist es keinesfalls syntaktischer Art, denn es muß als Beziehung zwischen Inhalt und Form des Wortes aufgefaßt werden, als Prozeß der Begriffsableitung, der ohne Zweifel in die Lexikologie gehört. Ähnlich liegt der Fall bei dem Beispiel setzen at, f>ä) hatte sich abgeschwächt zur Beziehungbedeutung (£>e). Die einstige demonstrative Begriffsbedeutung kommt nicht selten noch in der Form des Artikels zum Ausdruck, obwohl Demonstrativa und intensivierte Formen daneben existieren: at the time zu jener Zeit, nothing of the kind nichts derartiges; auch: Wednesday was the day [δί dei], September is the [Si] month for dahlias, wo the pronominaler Begriffsbedeutung sehr nahe steht. Vgl. Der Mann kann mir gestohlen bleiben; in der dt. Umgangssprache fehlen überhaupt die Demonstrativpronomen dieser, jener, derjenige usw.

Die Frage nach den Bedingungen und Ursachen dieses Wandels kann einer Klärung zugeführt werden, wenn man die syntaktische Sprachentwicklung im umfassenden Rahmen eines ständigen Wechsels und Austausche der Beziehungsmittel untereinander und mit Begriffsbedeutungen betrachtet, und wenn man die Beziehungsmittel als empirisch ausgeprägte Exponenten der für alle Sprachen geltenden vier Arten von Beziehungsbedeutungen — innensyntaktische, außensyntaktische Sprachleistung, Kennzeichnung der wichtigsten Mitteilung im Satze, subjektive Stellungnahme zum Sachverhalt des Satzgedankens — ansieht. Der Wandel der Beziehungsmittel ist die Folge von Strukturverschiebungen im Sprach- und Denkgefüge der Nation.

Die

Β e ζ i e h u η g sb e d e u t u η g des

Reflexivums

In den weiteren Rahmen der demonstrativen Beziehungsform muß auch das Reflexivum einbezogen werden, wobei die Scheidung des begrifflichen Personalpronomens von der Partikel nicht leicht durchzuführen ist 127 . Um das semantische Wesen der Reflexivverben erfassen zu können, bietet sich eine Grundeinteilung in echte und unechte an 128 . Bei den echten (festen) reflexiven Verben ist die demonstrative Beziehung als Beziehungsbedeutung — im Sinne einer Kreisbewegung — auf den Subjekt-PrädikatKomplex beschränkt. Das echte reflexive Verb bezeichnet keine Handlung, die die Vorstellung eines Urhebers und eines Zielpunktes impliziert, sondern einen bloßen Vorgang, vielfach dem griechischen Interesse-Medium ähnlich 12 '. Wir haben es hier 126

K . Brunner: „Die engl. Sprache", II. Band 1951, S. 119 f.

1S7 Vgl. dazu E . Ottos Bemerkung, „Stand und Aufgabe", 1954, S. 18, wo sich offensichtlich nur Beziehungsbedeutung hat. 1 2 8 Die Unterscheidung W . Jungs in der „Kleinen Grammatik", 1953, S. 189 u. 148, läuft im Grunde auf die gleiche Einteilung hinaus. 1 2 8 Im Lat. vergleiche ζ. B. das Deponens precor = ich bitte für midi, in meinem Interesse > V L mihi preco > Reflexivverben in gewissen romanischen Sprachen.

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

201

mit subjektiven (intransitiven) Begriffsbedeutungen zu tun, denen eine innere (ungenaue) Reflexivbeziehung entspricht:

O

Beispiel :

Ich schäme mich

Definition: Ein (medialer) eines direkten

des

Vorgang am Subjekt Objekts,

des Satzgedankens

Vorfalles

ohne notwendige

aber mit der Möglichkeit

durch ein

Einbeziehung

einer

Erweiterung

solches.

Zur Klasse der echten Reflexivverben gehören u. a.: sich erholen

sich räuspern

sich getrauen

sich bewerben

sich vergnügen

sich schämen

sich verlaufen

sich brüsten

sich entschließen

sich beeilen

Sie sind alle durch folgende Merkmale gekennzeichnet : a) Sie können nur reflexiv gebraucht werden. b) Das Reflexivum s i c h (bzw. dessen flektierte Formen) ist daher untrennbar und notwendigerweise mit dem Verbalbegriff verbunden, es steht syntaktisch unbetont

oder im Nebenton,

es hat nur Beziehungsbedeutung und ist deswegen kein (Begriffswort), sondern eine Reflexivpartikel c) Diese Verben sind immer prädikatreflexiv objektreflexiven Verben).

Reflexivpronomen

(Beziehungsmittel). (im Gegensatz zu den unechten,

Die Reflexivpartikel hat nicht den Satzgliedwert

eines

Objekts.

Beispiel: Er // vergnügt sich // mit ihm. S

//

Ρ

II

O

Die Gültigkeit dieser Feststellungen ist auf solche echte reflexive Verben beschränkt, die eine Person oder doch eine personifiziert vorgestellte Sache zum Subjekt haben. Semantische Sonderfälle stellen in dieser Klasse, wie auch bei den unechten Reflexivverben, die nicht an Personsubjekte gebundenen Verben dar. Verben wie sich ereignen, sich belaufen auf ordnen sich den obigen Merkmalen der echten Reflexivverben unter, wenn in Betracht gezogen wird, daß sie in übertragen reflexiver

202

Kategorien

der

Satzlehre

Bedeutung gebraucht und daß sie — ihrem Sadisubjekt zufolge — gewissermaßen syntaktisch verkümmert sind, weil die Reflexivpartikel nur in der Form der 3. Person Sg. und PI. erscheinen kann. Den unechten (gelegentlichen) reflexiven Verben liegt eine objektive (transitive) Begriffsbedeutung zugrunde. Bei dieser Klasse umfaßt die reflexive Beziehung nicht nur das prädikative Satzverhältnis (die Subjekt-Prädikat-Gruppe), sondern sie macht erst den Umweg über das Objekt, um zum Urheber der durch das eigentlich transitive Verbum ausgedrückten Handlung zurückzukehren. Diesem Handlungsverlauf, der im ersten Teil durch die transitive Beziehungsbedeutung des Verbs und im zweiten durch die reflexive Beziehungsbedeutung des Pronomens bestimmt wird, entspricht eine äußere (begrifflich-genaue) Reflexivbeziehung:

+

Sie wäscht

Beispiel : Definition:

y

Ρ

o2

sich

die

Hände

Eine (intransitive) Handlung in Richtung auf das Subjekt unter Einbeziehung eines direkten Objekts, aber mit der Möglichkeit einer Erweiterung des Satzgedankens durch ein indirektes Objekt (Dominanz der ursprünglich transitiven Begriffsbedeutung).

Zur Klasse der unechten Reflexivverben gehören u. a. : sich verletzen

sich töten

sich lieben

sich bilden

sich beschaffen Sie sind an folgenden gemeinsamen Merkmalen kenntlich: a) Sie können sowohl braucht werden.

reflexiv

b) Sie sind immer objektreflexiv, gliedwert eines Objekts.

als auch objektiv

(ohne Reflexivpronomen) ge-

d. h. das Reflexivpronomen hat den

Satz-

Beispiel: Wir // kaufen / uns (: ihm) // einen Wagen. S

//

Ρ

/

o1

II

ο2

c) Das Reflexivum s i c h (bzw. dessen flektierte Formen) ist daher mit dem Verbum im Satzverhältnis der objektiven Beziehung verbunden, es hat Begriffsbedeutung

und ist Personalpronomen,

es steht daher syntaktisch unter dem Haupt-

oder

Nebenton.

Semantik des Satzes: Die

Beziehungsbedeutungen

203

Unechte Reflexivverben, die mit einem Sachsubjekt syntaktisdi verbunden sind und deshalb nur die unter a) genannten Merkmale haben, nehmen eine semantische Sonderstellung ein. Wie in der Klasse der unechten Reflexivverben die demonstrative Beziehung im allgemeinen dazu dient, Ersatz für die fehlende intransitive Begriffsbedeutung zu sein 130 , so erscheinen reflexiv gewordene Transitiva (öffnen: sich öffnen) syntaktisch als Ersatz für Passiv formen131: Die Tür öffnet sich / . . . wird geöffnet. Reflexivisches öffnen, verbunden mit einem beseelt gedachten Subjekt: Die Rose öffnet sich am Morgen, gehört jedoch unter die regelmäßigen Verben der Klasse 2. Für jene unechten reflexiven Verben läßt sich nun, wenn sie syntaktisch sachgebunden erscheinen, m. E. die Objektreflexivität nicht aufrechterhalten; im Sinne einer Ausnahme von der Regel gälte in diesen Fällen auch Merkmal c) nicht. Sich in den letztgenannten Beispielen, wie audi in dem von E. Otto erwähnten 132 : ..., da β der Siebenjährige Krieg sich vorbereitete, würde idi deshalb nicht als Objektiv, sondern als zum Verb gehörige Reflexivpartikel mit Beziehungsbedeutung auffassen. Die Reflexivpartikel ist notwendiger Bestandteil des Infinitivs der editen Reflexivverben, welche ohne einen Ausdruck ihrer reflexiven Beziehungsbedeutung nicht verwendbar wären. Als eine Art Gruppenpräfix steht sich beim Infinitiv, auch in Wörterbüchern, und es ist bei den echten Reflexivverben nur beziehungsbedeutende Partikel ähnlich dem semantisch schon stärker gesdiwäditen to im Englischen bei Infinitiven, das nodi im Ae. beim flektierten Verbalsubstantiv (ae. dö hit üs tö wïtanne laß es uns wissen, ic 3 e t e o h o d e min lif tö 3eendi^enne ich gedachte mein Leben zu beenden) als Präposition steht. Im Ne. ist audi to ( + Inf.) als proklitische Gruppenpartikel nach Art einer Flexionsform anzusehen. Alle diese Erwägungen zeigen, daß sich bei dem Reflexivum der echten Reflexivverben und wahrscheinlich audi bei dem der sadigebundenen unechten der Schwund pronominaler Begriffsbedeutung in mehr oder weniger fortgeschrittenem Stadium bemerkbar macht. Es läßt sich auch der Schluß ziehen, daß bei den echten Reflexivverben von einer außensyntaktischen demonstrativen Beziehungsbedeutung kaum noch etwas zu spüren ist. Die Rückbeziehung ist vornehmlich in der Kongruenz der Personalpronomina (Ich bilde mir ein) dargestellt, die hier nur innensyntaktisdie Bedeutung hat. Jedoch ist bei den unechten objektreflexiven Verben, wenn sie persongebunden sind, fast durchweg außensyntaktischer Bezug zu erkennen. 130

K. F. Becker: „Schulgrammatik", 1852, S. 2 2 0 : „ . . . , wenn durch das transitive Verb ein intransitiver Begriff soll ausgedrückt werden." Beispiele Beckers: Die Erinnerung belebt

131

Κ . F. Becker: „Schulgrammatik", 1852, S. 2 2 0 : Das syntakt. Subjekt stellt das Objekt

sich wieder, Der Treffliche ließ selber sich herab usw. Vgl. audi S. 79 a. a. O. des transitiven Verbs dar. Aus Beckers Beispielen: Der Posten fand sich in der

Rech-

nung (Schiller), Aus Stiefeln machen sich leicht Pantoffeln (Goethe), Eine neue Ordnung der Dinge führt sich ein (Schiller) usw. 132

„Stand und Aufgabe", 1954, S. 18.

204

Kategorien

der

Satzlehre

Innerhalb der persongebundenen echten Reflexivverben findet man noch eine Menge weiterer semantischer Nuancen. Ergänzungsbedürftige Reflexivverben, wie sich (dem Terror) widersetzen, sich (seiner Rechte) begeben, sich (dem Verfolger) stellen, sich (eines bestimmten Vorfalls) entsinnen, stehen z.B. ganz introvertierten Begriffsbedeutungen gegenüber: sich räuspern, sich beeilen, sich erholen usw.

D i e Β e ζ i e h u η g s b e d e u t u η g des

Transitivums

K. F. Becker gliedert — angemessener, wie mir scheint — nicht in transitive (durch Akk.-Objekt ergänzbare) und intransitive, sondern in subjektive und objektive Verben. Die echten Reflexivverben befinden sich dabei außerhalb dieser Grundgliederung, denn sie umfassen sowohl Begriffsbedeutungen, die keiner Objektergänzung bedürftig sind, als audi solche, die notwendig ein objektives Satzverhältnis fordern. Der Inhalt, den man traditionsgetreu den Termini transitiv und intransitiv beigibt, sollte heute nicht mehr zur semantischen Gliederung der Verbalbegriffe verwendet werden. K. F. Becker sah sehr richtig, daß es hierbei allein darum geht, Tätigkeitsbegriffe (bei Becker auch die Adjektive einschließend) auf Grund der Tatsache zu unterscheiden, ob sie syntaktisch ergänzungsbedürftig sind oder nicht. So sind von Becker die Verben, „mit denen notwendig ein Objekt gedacht wird", die also durch ein Objekt ergänzt werden müssen, als objektive Verben bezeichnet worden 133 ; was sich ohne weiteres auch auf die Adjektive übertragen läßt, ohne daß man verpflichtet wäre, diese — gleich Becker — den Tätigkeitsbegriffen zu subsumieren! Beispiele: Der Kranke bedarf des Weines. Er ist des Weges kundig (Gen.). Räuber überfallen die Reisenden (Akk.). Der Dolch entfällt der Hand. Sie ist dem Vater ähnlich (Dat.). Der Arme bittet um Brot usw. Verben, „deren Begriff nicht auf diese Weise ein ergänzendes Objekt fordert, werden subjektive Verben ... genannt" : Der Mond scheint, Dieser Anblick ist schön usw. Eine solche Gliederung ist vorzuziehen, weil sie den Gesichtspunkt der syntaktischen Beziehungsbedeutung (Becker: subjektive Beziehungsform) zur Grundlage macht. Die von Becker weiter durchgeführte Scheidung in transitive, kausative (die intransitiven Verben sind mit den subjektiven semantisdi identisch) und andere Beziehungsbedeutungen ist wohl interessant, aber weniger in syntaktischer Hinsicht134. Es gibt heute wenige Linguisten, die derartige Reform Vorschläge bereitwillig aufnehmen 135 . Die traditionelle Auffassung hat sogar in der sonst avantgardistisch sich zeigenden deutschen Grammatik "W. Jungs Aufnahme gefunden 136 . 133 134

135

136

K. F. Becker: vor allem „Schulgrammatik", 1852, S. 5. Die gleichzeitige Beibehaltung der Termini transitiv und intransitiv dürfte zu systematischen Überschneidungen führen. Vgl. K.F.Becker: „Schulgrammatik", 1852, S. 78. Einer davon ist Erwin Fr. Schneeweis: Verbalkonstruktionen mit und ohne à im Altfranzösischen. Phil. Diss. Berlin (FU) 1952, S. 5 ff. Bei W. Jung: „Kleine Grammatik", 1953, S. 188 f., der in transitive („zielende") und intransitive („nichtzielende") Verben gliedert. Erstere sind solche, „die ein Akkusativ-

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

205

Wenn wir das ganze Gebiet des demonstrativen Verhältnisses überblicken, können wir sagen, daß wir uns im Grenzgebiet innen- und außensyntaktischer Beziehungsbedeutungen befinden, besonders dann, wenn die Rektion als Beziehungsbedeutung mit in Betracht gezogen wird. Eine eindeutige Beziehung auf die komplexe Umweltsituation ist vor allem bei den objektiven Verben mit Akkusativobjekt-Ergänzung, bei den unechten objektreflexiven Verben und beim Artikel in der demonstrativen und individualisierenden Beziehungsbedeutung vorhanden. Eine Unterteilung der demonstrativen Beziehungsbedeutungen in subjektive (außensyntaktische) und (innen-)syntaktische Sprachleistungen, wie sie Becker vorgenommen hat, besteht also wohl zu Redit. Übrigens hat K. F. Becker das demonstrative Verhältnis als selbständige syntaktische Form erst seit 1836 ( l . B a n d der 1. Auflage seiner „Ausführlichen Grammatik") eingehender behandelt. In den Tabellen der „Deutschen Grammatik" (1830) fehlt diese Kategorie noch. c) D i e K e n n z e i c h n u n g im S a t z

der

eigentlichen

Mitteilung

Wie schon erwähnt, überschneidet sich in dem von K. F. Becker Größenverhältnis genannten Bereich die Kategorie der außensyntaktischen Leistung (ζ. B. Komparation) mit derjenigen der Kennzeichnung der wichtigsten Mitteilung im Satz (dominierende Vorstellungen: Intensität, auch Frequenz). Die Beziehungsform der Intensität wird von Becker unter das an Tätigkeitsbegriffen zu bezeichnende Größenverhältnis, d. i. eine subjektive Beziehung, gestellt 137 . Wir haben die Möglichkeit, selbst auf der Grundlage der Ottoschen Kategorienlehre, hier den Beckerschen Terminus „subjektiv" beizubehalten. Es wird im folgenden klar werden, daß die Beziehungsform Intensität keineswegs — wie Becker behauptet — auf Kennzeichnungen an Tätigkeitsbegriffen beschränkt ist. Die Intensität wird hier nicht allein in der subjektiven Beziehungsbedeutung von Tätigkeitsbegriffen gesehen, vielmehr soll sie als Ausdruck der Leistung der Sprache zur Hervorhebung und Verstärkung beliebiger Begriffswörter im Satz herausgestellt werden. Wir haben es mit der Beschreibung der Beziehungsmittel dynamischer/ musikalischer Akzent und Wortstellung, auch Flexion und Wortart, sowie deren Ersatz durch Gliedwörter zu tun. Kennzeichnung durch Gliedwörter Intensive Aktionsart im Sinne einer Beziehungsbedeutung finden wir ζ. B. beim ne. to do. Der Umfang der Beziehungsbedeutung dieser Partikel ist, wenn Um-

137

objekt bei sich haben können", letztere solche, „die für gewöhnlich ohne Akkusativobjekt gebraucht werden". Begründet wird die Einteilung damit, daß „von den Verben Objekte abhängig sind und daß das Akkusativobjekt das häufigste Objekt ist"! — Es ist nicht einzusehen, weshalb Genetiv- oder Dativobjekte weniger „zielend" im Satzzusammenhang sein sollen als Akkusativobjekte. Die Komparation ist der Intensität als „vergleichendes Verhältnis der Intensität" subordiniert. K. F. Becker: „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 34.

206

Kategorien der Satzlehre

gangssprache und Slang eingeschlossen werden, recht beachtlich138. Die Schattierungen reichen über alle vier Kategorien der Beziehungsbedeutungen hinweg. To do steht als emphatisch-intensives Gliedwort in Gemeinschaft mit dem Beziehungsmittel Akzent bei: Do be quiet! He does work (Er arbeitet wirklich) = Hervorhebung des Tätigkeitsbegriffs durch Gliedwort und Hauptakzent auf der eigentlichen Mitteilung. Bei allen emphatischen Aussagen, wie I dò believe, ist außerdem das Beziehungsmittel der Satzmelodie erheblich an der Sinnvermittlung beteiligt. Auch heute noch scheint mir die obligatorische Höflichkeitsfloskel Yes, I do als intensive Beziehungsbedeutung aufzufassen zu sein, wenn die Partikel do audi nicht immer mit Hauptakzent belegt wird. Ein Unterschied im Satzsinn ergibt sich, wenn durch Hauptakzent das Prädikatswort als eigentliche Mitteilung ausgezeichnet wird: He does wórk. Bei Brunner, a. a. O., sind noch aufgeführt: And grant that all that do confess thy Holy name may agree in truth of holy word (Book of Common Prayer) und die notarielle Formel : I the said Notary do hereby certify ... An deutschen umgangssprachlichen Ausdrücken, wie Schreiben tu ich aber nicht!, sind alle drei Beziehungsmittel der inneren Form — Wortstellung, Satzmelodie und Betonung — beteiligt. Andere das Urteil besonders verstärkende Partikeln finden sich in den folgenden Beispielen: Das ist ja toll! Sei ja rúhig! It is the children that keep me awake. It is hé that has put the question. C'est ton père qui l'a vu139. Fälle wie sehr schön und höchst langweilig stehen an der Grenze zwischen Begriffs- und Beziehungsbedeutung (Modewörter); wenn man sehr mit Grund als begriffsleer ansehen möchte, wozu die Etymologie des Wortes beiträgt, so ist diese Entscheidung bei höchst doch folgenschwerer, weil mit ihr dann die Schar periodisch wechselnder Modeausdrücke, wie schrecklich sauer, mörderisch kalt usw., heraufbeschworen wird. Kennzeichnung durch Wortstellung Die eigentliche Mitteilung eines Satzes kann durch außergewöhnliche Wortstellung gekennzeichnet werden. Aus der englischen starren Wortfolge S —Ρ —O kann jedes Begriffswort durch Spitzenstellung herausgehoben werden: That fellow I know, Down she went, I η he came, Just are the ways of God usw. Die Beispiele für Hervorhebung von Satzgliedern im Französischen zeigen bei End- bzw. Spitzenstellung starke Abhängigkeit von der relativ festen Stimmmodulation: Alors est arrivé mon père; Ce projet, j'y renonce. Im Deutschen ist Spitzenstellung von Begriffswörtern, die dominierende Vorstellungen tragen, vor allem umgangssprachlich üblich : Gutes Fahren habe ich nie gelernt! Zu tief ist er gesunken, Schreiben tu ich aber nicht! Durch folgende Paradigmen wird deutlich, was K. F. Becker mit der „Kom138

Zum Beispiel K a r l Brunner: „Die englische Sprache", II. Band 1951, S. 299, 301 f.

139

Vgl. Ernst Otto: „Stand und Aufgabe", 1954, S. 30, 57.

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

20 7

paration als vergleichendem Verhältnis der Intensität" gemeint hat: He grew poorer and poorer, Er wurde immer ärmer, never and never, more and more usw. 14 · Kennzeichnung durch Flexion K. F. Becker zählt, wie schon erwähnt, die Komparativ- und Superlativsuffixe bzw. deren Ersatz durch Gliedwörter ( m o s t difficult, a m schön sten, most willingly — sehr gern usw.) zur Beziehungsform der Intensität. Die ne. Sprache kennt im sogenannten Nachdruckplural passende Beispiele dafür, daß Flexion nicht nur Ausdruck innen- und außensyntaktischer Beziehungsbedeutungen zu sein braucht, sondern neben der Kennzeichnung der subjektiven Stellungnahme zum Satzgedanken auch dominierende Vorstellungen kennzeichnet: It is et thousand piti es ; in ähnlicher Beziehungsbedeutung bei Fügungen mit favours, kindnesses, returns, regards. Kennzeichnung durch Satzakzent Das der Struktur der deutschen Sprache am nächsten liegende Beziehungsmittel zur Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung ist der dynamische Akzent („Redeton"), der fast immer auf die wichtigste Begriffsbedeutung gesetzt wird, audi ohne die Stellung der Wörter zu ändern oder Umschreibungen mit Gliedwörtern zu gebrauchen. Das gleiche trifft im wesentlichen auf das Englische zu: Im Satze This is my hat kann, ohne die Wortstellung zu ändern, der Ton jeweils auf einem anderen Begriffswort liegen und stets ergibt sich ein neues Sinnganzes mit neuer Aussage141. Im Gegensatz zur griechischen und französischen Sprache, denen mehr rhythmischer Ton eigen ist, besitzt die deutsche Sprache „eine genau der Bedeutung entsprechende und lebendige Betonung". Das mag Französisch lernenden Deutschen die Rüge einbringen, den schwerfälligeren „logischen" Ton anstatt eines rhetorisch flüssigeren rhythmischen Akzents zu sprechen142, worunter das Sinnverständnis stark leidet. Der Französischunterricht unserer Gymnasien, und überhaupt der Unterricht in den neueren Sprachen, sollte deshalb dem Anfänger zunächst die sinnvermittelnden syntaktischen Kategorien — das sind Intonation, dynamischer Akzent, Stellung von Wort und Satz, auch Flexion und Wortart, in ihrer allgemeinen Beziehungsbedeutung — bewußt werden lassen. Im Falle von Satzellipsen bleiben von vollständigen Sätzen nur die dominierende Vorstellungen ausdrückenden Begriffswörter übrig: (Das glaube ich) schon! — Aber einen Einwand muß ich mächen. — Der Polier gibt den Arbeitern bekannt, daß eine kurze Pause gemacht wird: Eine Fuffzehn! — Das Lob eines Vorgesetzten: Gút (gemacht). Vor allem in Ellipsen von Imperativsätzen sieht K. F. Becker als Motiv des Sprechers „ein Streben nach Kürze des Ausdruckes, das sich in sonst ungewöhnlichen Ellipsen kundtut, die nur vermittelst der dem Imperativ eigentüm140

Beispiele v o n F.Fiedler: „English Grammar", 1949, S. 221 ff.

141

F.Fiedler: „English Grammar", 1949, S. 226.

142

K. F. Becker: „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 66.

208

Kategorien der Satzlehre

liehen Betonung verständlich sind": Zurück! Hilfe! Achtung! Komm! "Weiter! Aux armes (it. all'arme > dt. Alarm)U3. Als Beispiele für elliptische Sätze führt Becker weiter an: Geschlossen. (Gute) Nacht. Wirklich? Schon zurück? Um Vergebung. Besser spät, als gar nicht usw. Er sieht in der Ellipse einen Hauptbegriff oder mehrere von den Beziehungsbegriffen entblößte Hauptbegriffe des Satzes. „Sie drückt sehr oft einen ganzen Gedanken durch das auf das Prädikat bezogene Objekt aus", z . B . (Gesegnete) Mahlzeit! Noch ein Fläschchen! Becker behandelt Satzellipsen richtig im Rahmen des Beziehungsmittels Betonung und definiert sie als „Zurückführung eines ganzen Satzverhältnisses auf einen Faktor, nämlich auf den Ausdruck des Hauptbegriffes, mit Auslassung des untergeordneten Begriffes" 144 . Bei Satzkurzformen, die durch Satzakzent isoliert wurden, fällt auf, von welcher Wichtigkeit für das Verständnis der sprachliche Zusammenhang mit der Umweltsituation, der Bezug auf die reale Erlebnisganzheit einer bestimmten Kultursphäre ist. Die Erkenntnis dieser Bedingungen ist für die publizistische Forschung unerläßlich, z. B. auf dem Gebiet der headlines, wo man sdion „of headlinese as a language . . . of its own" gesprochen, das Wesentliche aber — die allgemeingrammatische Grundlage — nicht erkannt hat. Während sich der volle Sinn von Buchtiteln erst dann erfüllt, wenn das Buch zu Ende gelesen ist, so beherrscht dodi in der newspaper block language, vor allem der Tagespresse, die Tendenz zu schnellster Information bei größtmöglicher Kürze vor. Die Einbegreifung des außersprachlichen Zeitgeschehens verlangt vom Leser also meistens, daß er außer der Kopfleiste den darunterstehenden Artikel bzw. dessen Inhalt in großen Zügen kennt, um mit einem Blick die Mitteilung in der Überschrift mit Sicherheit richtig verstehen zu können. Die reinen Überschriftenleser sind immer unvollständig, ja häufig falsch informiert. Auf die Gefahren der headlinese weist Heinrich Straumann hin 145 . Die Überschrift Motorist Refused a Licence könne sowohl bedeuten, daß ein Kraftfahrer die Annahme eines Führerscheins verweigerte, als auch daß — wie es beabsichtigt ist — the motorist was refused a licence. Die entscheidende Beziehungsbedeutung des Passivs wird nur aus der weiteren Umweltsituation erkennbar. In diesem Fall genügt es nicht, die Aussage der Überschrift auf die Hauptbegriffe zu beschränken, wie es häufig geschieht. Wenn Kurzsätze verwendet werden, so zwingt das den Leser, an Hand des Beziehungsmittels Wortart und der in der Landessprache vorherrschenden Satzschemata die Gesamtvorstellung des headline-Schöpfers zu ergänzen. 143

K.F.Becker: „Ausführliche Grammatik", 2. Bd. 1843, S. 4; — engl, alarm, frz. (donner l') alarme. Bedeutungswandel : a) zweiteilige Objektergänzung ( . . . an die Waffen), b) imperative Satzellipse (An die Waffen!), c) Begriffsbedeutung als komprimierte Gesamtvorstellung (der Alarm = Notruf).

144

K. F. Becker: „Schulgrammatik", 1. Band 1842, S. 71.

145

H. Straumann: Newspaper Headlines. A Study in Linguistic Method. London 1935. Vgl. S. 57, 37, 45 f.

1852, S. 30 f., 25. — „Ausführliche

Grammatik",

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

209

In der block language — einem Kurzstil, der vor allem auf den Ausdruck innensyntaktischer Beziehungen durch Gliedwörter verzichtet und daher eine verkümmerte Struktur hat — kommt es darauf an, mit Hilfe der anderen Beziehungsmittel die das Sinnganze schaffenden Beziehungsbedeutungen zu erschließen. Wenn Jespersen — wie Straumann berichtet — die Frage, ob die headline ein Satz ist oder nicht, rundweg verneint hat, so ist diese Behauptung eine unangemessene Verallgemeinerung in bezug auf die verschiedenen headline-Typen, die bekannt sind. Killed His Father-in-Law ist jedenfalls der Ausdruck für eine abgeschlossene Redeeinheit. Ebenso sind die folgenden headlines aus Trägern der eigentlichen Mitteilung gebildet, die zusammen eine Gesamtvorstellung repräsentieren: Pferd geprügelt: Geldstrafe Richtkrone am Kran Tote wieder zum Leben erweckt (PI. oder Sg.?) Streik im Baugewerbe Auch im Feuilleton kann die dominierende Vorstellung als headline vorkommen. In der Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel" vom 18. August 1955, dem audi alle anderen Beispiele entnommen sind, fand ich einen in dieser Hinsicht interessanten Titel der Lokalspitze: Verkannt Dieses Begriffswort ist als eigentliche Mitteilung die dominierende Zentralvorstellung eines 28-Zeilen-Features mit folgendem Grundgedanken: Idi habe einen mir in der Straßenbahn gegenübersitzenden und schnarchenden Mann, der beim ersten Hinsehen am Nachmittag schon „einen über den Durst getrunken" zu haben schien, bedauerlicherweise verkannt, weil ich vor ihm Ekel empfand, der aber nicht berechtigt war; denn er konnte trotz seines Zustandes so aufmerksam sein, mir meine liegengelassene Tasche nachzutragen.

Jespersen ist zu entgegnen: Ein Satz entsteht nicht erst dann, wenn durch eine genügende Anzahl von Wörtern die Satzglieder ausgedrückt sind, sondern der Satz ist die individuelle Struktur von Beziehungsbedeutungen, die die Gesamtvorstellung situationsgemäß gliedern; die Gesamtvorstellung muß nicht immer vollständig ausgesprochen, sie kann u. U. auch — wie headlinese und Telegrammstil beweisen — aus einem oder wenigen die eigentliche Mitteilung tragenden Begriffswörtern durch „geistige Assimilation" erschlossen werden. Kennzeichnung durch das sog. psychologische Prädikat Die Beziehungsmittel werden bei der Satzbildung, sofern sie solche der „logischen" (inneren) Form sind, fast immer gemeinsam angewendet. So schreibt ihnen auch K. F. Becker gegenseitige Abhängigkeit zu. Seiner Erkenntnis, daß die gewöhnliche Wortstellung und der ihr entsprechende „grammatische" Ton auf die Satzgliedverhältnisse, die außergewöhnliche Wortstellung und der ihr entsprechende „logische" Ton aber auf syntaktische Wertverhältnisse zurückgeführt werden müssen, kann zugestimmt werden. Damit wird nämlich durch Becker der Begriff des logischen Wertes zum Kriterium für die Kennzeichnung der eigentlichen Mit14

Haselbach

Kategorien der Satzlehre

210

teilung 149 . Dieser Terminus scheint mir brauchbarer zu sein als die von G. v. d. Gabelentz eingeführten unzweckmäßigen Begriffe „psychologisches Subjekt/Prädikat", die im Hinblick auf die Ausdrücke logisches Subjekt/Prädikat und grammatisches Subjekt/Prädikat zu kategorialer Verwirrung führen. Ernst Otto hat festgestellt, daß sie als sprachwissenschaftliche Termini unbrauchbar und unangemessen sind 147 . Dem Wesen der Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung als einer allgemeingültigen Sprachleistung sind die Begriffe psychologisches Subjekt/Prädikat fremd, sie liegen auf „einer ganz anderen Ebene". Die gleiche Ansicht kommt in Richard M. Meyers negativer Kritik zum Ausdruck 148 . Diese Begriffe hätten, so meint Meyer, „die durch die Vermengung von Logik, Grammatik und Psychologie entstandenen Verwirrungen nicht gelöst, sondern vermehrt." Nach der Darstellung, die Meyer von psychologischem Subjekt/ Prädikat gibt, sind vor allem Stellungs- und Akzentverhältnisse die Beziehungsmittel zur Bezeichnung der Kategorien. Beispiele:

ps. Subjekt

ps. Prädikat

Heute

ist mein

Mein Geburtstag

ist

Geburtstag

heute

Das psychol. Prädikat muß durchaus nicht an letzter Stelle stehen; und im Anschluß an den letzten Satz ist wohl — bei Sinnänderung — nodi eine dritte Version möglidi: Mein Geburtstag Heute

ist mein

ist

heute

Geburtstag

ps. Prädikat Es mag darauf hingewiesen sein, daß der Wundtsche Begriff der dominierenden Vorstellung nicht stets und nur Spitzenstellung des psychologischen Subjekts bedeuten kann, indem es „die zuerst in dem Bewußtsein des Denkenden und Sprechenden auftretende Vorstellungsmasse" ist. Diese Auffassung wäre einseitig, sie vernachlässigte die anderen Beziehungsmittel, die gleichwertig an der Bildung der eigentlichen Mitteilung als Beziehungsbedeutung beteiligt sind. Auch die von anderen wegen ihrer Wichtigkeit abgehobene Vorstellung kann im gesprochenen Satz als eigentliche Mitteilung von einem Begriffswort in außergewöhnlicher Wortstellung getragen werden, sie muß aber nicht. Die eigentliche Mitteilung kann sehr wohl nur durch die Beziehungsmittel Betonung und Intonation bezeichnet werden! Es ist im besonderen verhängnisvoll, wenn man die Termini psychologisches Subjekt/Prädikat in Abhängigkeit zu den ¿«nensyntaktischen Kategorien des idg. Aussagesatzes Subjekt und Prädikat bringt. Psychol. Subjekt und psychol. Prädikat kennzeichnen auf keinen Fall innensyntaktische Beziehungen; „denn die dem Indo146

K. F. Becker: „Ausführliche Grammatik", 2. Band 1843, S. 18, 19.

147

„Stand und Aufgabe", 1954, S. 30. Vgl. dazu, in anderem Zusammenhang, S. 2 8 : „Wir haben nicht das Bewußtsein zu analysieren, sondern ein linguistisches Problem zu sehen . . . "

148

„Deutsche Stilistik", München 1930 (3. Aufl.), S. 268 ff.

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

211

germanischen eigene Gliederung eines Satzgedankens in Subjekt und Prädikat liegt auf einer ganz anderen Ebene als die Leistung jeglicher Sprache schlechthin, das wichtigste Glied der Rede durch syntaktische Beziehungsmittel kenntlich zu machen" 149 . Träger der Beziehungsbedeutung der eigentlichen Mitteilung kann — unabhängig von seiner Stellung — jedes im Satze vorkommende Begriffswort sein, d. h. jedes Substantiv, Verb, Adjektiv oder Relationswort. Diese Tatsache trifft natürlich auch auf das sog. psydiol. Subjekt zu. Der Spezialfall, daß das psydiol. Subjekt vom Subjekt eines Aussagesatzes getragen wird, hat Hermann Ammann zu allgemeinen Feststellungen geführt, denen ich — nach eben Gesagtem — nicht zuzustimmen vermag. „In der Regel" sei „das grammatische Subjekt eben auch psychologisches Subjekt". Das grammatische Subjekt, das „Thema" der sprachlichen Äußerung, sei das „Interesse verleihende Moment", das grammatische Prädikat, die „Aussage", sei die das „Interesse befriedigende eigentliche Mitteilung". Das Subjektswort repräsentiere „den bisherigen Zustand" (?), „das nachfolgende Prädikat den Ubergang zu einem andern, neuen"; die „im ausgedrückten Erlebnis selbst statthabende Sukzession" wirke sich aus in der syntaktischen „Reihenfolge Subjekt — Prädikat". Die Tatsache, daß „in vielen modernen Sprachen" die Reihenfolge Subjekt — Prädikat vorliegt, hänge zusammen mit der „in den allgemeinsten Verhältnissen der sprachlichen Äußerung wurzelnden Nötigung", „vom Thema zur Aussage, vom Handelnden zur Handlung fortzuschreiten" 150 . Es liegt gerade nicht in den allgemeinsten Verhältnissen der Sprache begründet, daß in dem von Ammann genannten Beispielsatz Rom wurde von Romulus gegründet Rom psychologisches Subjekt sei. Rom ist es nämlich nur dann, wenn etwa die Frage voranginge: „Wurde Rom von Remus gegründet?" In diesem Falle wäre aber Romulus die „Aussage", das psychologische Prädikat, und nicht wurde . . . gegründet. Rom wäre auch dann psychol. Subjekt, wenn etwa die Frage voranginge: „Wurde Rom von Romulus zerstört?" In diesem Fall nun wäre das psychologische auch das grammatische Prädikat. Rom ist aber psychologisches Prädikat, wenn etwa die Frage vorangegangen wäre: „Wurde Athen von Romulus gegründet?" Die Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung, und — davon abhängig — des psychologischen Subjekts, betrifft selbst in den idg. Sprachen nur in bestimmten Gesprächssituationen das grammatische Prädikat bzw. grammatische Subjekt. Die allgemeinsprachliche Abhängigkeit von „Thema" und eigentlicher Mitteilung ist nie auf die Struktur eines einzelnen Satzes beschränkbar, da eine Gesamtvorstellung auch in mehreren Sätzen dargestellt werden kann. Diese Tatsache können viele Beispiele beweisen, ζ. B. die oben, S. 196, angeführten Sätze K. F. Beckers und der S. 198 f. zitierte Gedankengang des Apuleius. 149

Ernst O t t o : „Stand und Aufgabe", 1954, S. 30.

150

Hermann Ammann: Vom doppelten Sinn der sprachlichen Formen. Heidelberg 1920, S. 1 9 - 2 2 .

14*

212

Kategorien

der

Satzlehre

Im Normalfall wird in jedem Satz nur eine eigentliche Mitteilung durch die Beziehungsmittel zu kennzeichnen sein. Paul/Stolte gehen in ihrer deutschen Grammatik bei dem Bemühen, den Satz grammatisch und psychologisch zu gliedern, von einem ähnlidi verhängnisvollen Ansatz aus: „Ein Satz hat . . . mindestens zwei Glieder: das psychologische Subjekt . . . und das psychologische Prädikat . . . " Zudem bekennt sich Paul — bekanntlich im Gegensatz zu Wilhelm Wundt — in seiner Satzdefinition zu der überholten Ansicht, der Satz sei eine Vorstellungsverknüpfung151. Dann wird in engstem Zusammenhang einmal davon gesprochen, „Kennzeichen des psychologischen Prädikats" sei „größte Tonstärke", und zum andern, daß in dem Beispielsatz Müller arbeitet langsam als psychologisches Prädikat das Begriffswort langsam zu gelten habe. Wenn nun schon die Relevanz des Beziehungsmittels Betonung vorausgesetzt wird, so ist dodi am Beispielsatz gar nicht abzulesen, weshalb langsam „größte Tonstärke" haben soll. Mit gleichem Recht könnte am Beispielsatz Müller oder arbeitet als psychologisches Prädikat bezeichnet werden. An einem nicht mit Akzentzeichen und Intonationskurven versehenen Text kann, sofern die Wortstellung nicht als Beziehungsmittel den Sinn verdeutlicht, kaum das psychologische Prädikat erkannt werden. — Langsam wäre trotz allem als ein solches gekennzeichnet, erführe man gleichzeitig die den Text umrahmende Situation. Es wird klar, daß nur ein größerer Zusammenhang gesprochener Rede dadurch, daß alle Beziehungsmittel gleichzeitig verwendet werden, beim Hörer zu totalem Sprachverständnis führen kann. Die komplexe Struktur der Beziehungsmittel Das Entscheidende an dem vorliegenden Problem ist etwas anderes: Während des Sprechaktes drängt sich „das bedeutsame Neue" (Paul/Stolte) vor den diffusen Komplex einer bestimmten Gesamtvorstellung, wie Paul/Stolte zugeben; jedoch hat wiederum das psychologische Subjekt als „Früheres" nichts mit syntaktischer Stellung zu tun (Beziehungsmittel)! Folgerichtig wird im Satz sodann die Beziehungsbedeutung der Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung durch die Beziehungsmittel an einem der Begriffswörter dargestellt. Es ist nicht so einfach, den angeführten Satz Müller arbeitet langsam einschließlich der beteiligten Beziehungsmittel richtig abzubilden. In den folgenden S a t z s c h e m a t a mußte zunächst auf das Beziehungsmittel Wortstellung verzichtet werden. Ich habe versucht, die sich bei der Ausgliederung der verschiedenen Gesamtvorstellungen „vordrängenden" Vorstellungen (psychologischen Prädikate) in ein angemessenes Verhältnis zu den bei diesem Vorgang notwendigerweise supprimierten Vorstellungen (meistens psychologische Subjekte) und zur jeweils voranstehenden Gesprächssituation zu bringen. 151

Paul/Stolte: „Kurze deutsche Grammatik", 1951, S. 187 f.

213

Semantik des Satzes: Die Beziehungsbedeutungen

(Die bei veränderter Wortstellung unter Beibehaltung derselben Vordersätze entstehenden Satzvarianten folgen den vier Satzschemata.) Situation : (ps. Subj.)

Ausdruck der im Sprechakt domin. Vorst, feig. Mitteilg.)

supprim. Vorst.

1. Die Angestellten arbeiten im allgemeinen gut; . . .

durch die Beziehungsmittel :

arbeitet langsam X

X ' X

Satzakzent

Satzmelodie suppr. Vorst.

do. V.

su. V,

arbeitet

langsam ' X

2.

der Müller

Sonst ist er flink, nur . . .

X ' X



XX

Satzakzent

Satzmelodie supprim. Vorstellungen 3. Mit der Qualität seiner Arbeit kann man zufrieden sein, aber . . .

do. V.

der Müller

arbeitet

langsam

X ' X

' XX

• X

. / V

Der

'Satzmelodie

supprim. Vorstellungen

do. 4. Müller Π — der Xaver • ist kein guter Arbeiter.

Satzakzent

Müller XX

arbeitet 'XX

y \

langsam ' X

A .

Satzakzent

•®Satzmelodie

Unter gleichzeitiger Berücksichtigung des Beziehungsmittels Wortstellung, wie es

214

Kategorien

der

Satzlehre

in der Umgangssprache fast immer geschieht, seien ergänzend die folgenden Beispielsätze hinzugefügt: (1) . . . langsam arbeitet der = (2) ...arbeiten (3) ...langsam

tut

der Müller langsam — Spitzenstellung des Prädikats

arbeitet

(4) . . . Dieser Müller

Müller Endstellung des Subjekts

ist

der Müller = Spitzenstellung der Prädikatsbestimmung es, =

der langsam arbeitet Erweiterung des Subjekts zum Hauptsatz, Inversion der Bestimmung im Nebensatz.

Unter Berücksichtigung der besonderen Struktur des Deutschen kann man sagen, daß die eigentliche Mitteilung Spitzenstellung bevorzugt. Obwohl K. F. Becker die Termini eigentliche Mitteilung, psychologisches Prädikat oder dominierende Vorstellung nicht verwendete, wußte er doch, daß bestimmte BegrifFswörter, denen der Sprecher größeren logischen Wert als anderen beimißt, mittels verschiedener Beziehungsformen und -weisen syntaktisch gekennzeichnet werden können. Indem er dabei hauptsächlich die Beziehungsmittel dynamischer Akzent und Wortstellung — neben Gliederpause und Entfaltung von Satzgliedfaktoren — im Auge hat, deckt er den empirischen Bereich der Beziehungsbedeutung der Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung. Nach Becker kommt größerer logischer Wert zum Ausdruck 1. durch den Redeton, d . h . durch das Beziehungsmittel dynamischer Akzent. Der Beckersche Begriff „Redeton" ist mit außergewöhnlicher („logischer") Betonung gleichzusetzen. Beispiel: Er will kommen (soll aber nicht!) 2. durch die außergewöhnliche Wortstellung (Inversion). Beispiel: Nicht hérzustellen mehr ist das Vertraun 3. durch besondere Formen des syntaktischen Ausdrucks zur Kennzeichnung der Hauptbegriffe im Satz 152 , wie die Erweiterung von Satzgliedjaktoren zu Satzverhältnissen. Beispiel: (Die Angelegenheit ist wichtig:) großer Wichtigkeit 4. die Erweiterung

von Satzgliedern

Die

zu einem Satz.

Beispiel: Der Kaiser, derme inHerr Es gibt nur eines, was uns

i st,... retten kann,

5. die Gliedpause in Verbindung mit der Spitzenstellung. Beispiel: Die Natur, — sie ist ewig gerecht. 152

Angelegenheit

K. F. Becker: „Sdiulgrammatik", 1852, S. 29, 206 f.

...

ist

von

Semantik des Satzes: Die d)Die Kennzeichnung g e d a n k e n153

der

Beziehungsbedeutungen

Stellungnahme

zum

215

Satz-

Die Bekanntschaft mit K . F. Beckers System läßt schon vermuten, daß die von Ernst Otto zur allgemeinverbindlichen Sprachkategorie erklärte Beziehungsbedeutung — sofern sie von Becker überhaupt berücksichtigt wurde — innerhalb der Beziehungen auf den sprechenden Menschen, innerhalb der subjektiven Beziehungsformen, zu suchen sein muß. Was bezüglich Beckers Einsichten in das Wesen der Kategorie der eigentlichen Mitteilung eben festgestellt wurde, das gilt ähnlich audi hier. Es bedeutet, daß K . F. Becker subjektive Stellungnahmen zum Satzgedanken als Beziehungsbedeutung erkannt hat, wenn er von den Modi der Aussage als Verhältnissen spricht, „in denen sich der Gedanke als ein Akt des Erkennens oder als ein Akt des Begehrens darstellt" 154 . Klärend und erläuternd ist folgendes hinzuzufügen: 1. K . F. Becker legt dem Denken wie dem Sprechen das Erkennen objektiver Gegebenheiten zugrunde. 2. K . F. Becker kennt zwei Arten von psychischen Grundphänomenen im Sinne von „Verrichtungen des menschlichen Geistes": a) das

Erkenntnisvermögen,

b) das

Begehrungsvermögen,

wobei, nach Becker, nur das begehrt werden kann, was schon erkannt worden ist. 3. Der sprachliche Ausdruck eines jeden Gedankens wird als eine Aussage aufgefaßt. Becker bemüht sich, streng zwischen dem, was er Modus der Aussage und dem, was er Modus des prädizierten Begriffes nennt, zu scheiden. K . F. Becker verwendet den Begriff des Aussagesatzes nicht. Denn Aussage und Satz sind für ihn identisch. Unter der Aussage versteht er die grundlegende Form alles Sprechens, nämlich daß „in dem menschlichen Geiste . . . ein Tätigkeitsbegriff mit dem Begriffe eines Seins zu der Einheit eines Gedankens verbunden" wird, das prädikative Satzverhältnis. Alle Modi der Aussage setzen die Aussage selbst voraus. Das Urteil ist nur eines der verschiedenen Modusverhältnisse der Aussage, eine spezielle „Weise des Denkens". Eine syntaktische Gruppe ist, nach Becker, dann eine Aussage, wenn sie in sich eine gedankliche Sinneinheit darstellt, wenn sie als „Ausdruck der Aussage" ein personalflektiertes Verb enthält. Bei zusammengesetzten Prädikaten ist die sogenannte Kopula Träger der Aussage. Dabei hat die Kopula hier nicht nur die Bedeutung eines Bindemittels zwischen den Redeeinheiten, sondern wird von Becker strukturell gedeutet. In Beispielen, wie: Der Bruder ist krank, bezeichnet Becker den „Ausdruck der Aussage und der mit der Aussage 153

Ernst O t t o : „Stand und Aufgabe", 1954, S. 30 f.

154

K. F. Becker: „Ausführliche Grammatik", 2. Band 1843, S. 7 6 : „Der Modus bezeichnet . . . nicht, was der Sprechende erkennt, sondern wie er in dem Augenblick der Rede denkt und darstellen will, und nicht die realen Verhältnisse des Prädikates, sondern die logischen Verhältnisse des Gedankens . . . " — Vgl. hierzu und zum folgenden: op. cit., 2. Band 1843, S. 59 f., 4 3 3 ; l . B a n d 1842, S. 25 f., 2 9 f., 219, 221 ff.; außerdem 2. Band 1843, S. 2 ff., 61; auch „Organism", 1841, S. 2 3 6 - 2 5 3 , 1 8 1 - 1 9 0 .

Kategorien der Satzlehre

216

verbundenen Beziehungsverhältnisse, um eine Benennung zu haben [ ! ] , . . . als die Kopula". Das Urteil ist der Aussage kategorial untergeordnet. Die Aussageformen sind nicht allesamt Urteile, sondern das Urteil als geistiger Akt des Erkennens liegt lediglich anderen Aussagemodi zugrunde (Frage, Wunsch, Aufforderung). Dieser Auffassung folgend, zerlegt Becker audi „die Hauptsätze [Aussagen] . . . in Urteilssätze, Fragesätze, Wünschesätze und Heischesätze". Die subjektive Beziehung des „Modus der Aussage" deckt sich nahezu vollkommen mit der Beziehungsbedeutung, die wir — nach Ernst Otto — als Stellungnahme des Sprechenden zum Sachverhalt des Satzgedankens bezeichnen. Ein Akt des Begehrens kann nur über die urteilende Stellungnahme zum Sachverhalt zum Wünsche-, Befehlssatz usw. ausgegliedert werden. So wird das Urteilen zur grundlegenden Aussageweise, und Sätze wie: Ich wünschte, wir hätten Deutschland unterjocht, Möge er bald genesen, haben die Urteile Wir konnten Deutschland unterjochen und Er kann wieder genesen zur Voraussetzung. Der Grundmodus der Aussage kann also, nach Becker, sekundären subjektiven Tendenzen angepaßt werden. Die Modi der Aussage sind der Ausdruck des Verhältnisses des Gedankens (der Aussage) zu den beiden seelischen Grundphänomenen. Gemäß der Beckerschen Ansicht gibt es somit neben den Interjektionen syntaktische Formen des Ausdrucks des Fühlens und Wollens (Interessenehmens): die subjektiven Beziehungsformen des Modus der Aussage und des Modus des prädizierten Begriffs.

Die

subjektive

Β e ζ i e h u η g s f o r m des

M o d u s ν e r h ä 11 η i s s e s

I. als Modus der Aussage (Modus in „weiterer Bedeutung") a) in selbständigen syntaktischen stellenden Hauptsätzen: 1. D a s

Gruppen,

d. h. eine prädizierende Einheit dar-

Urteil

Als Geistesakt des Erkennens ist es eine Leistung der Beziehungsmittel (gewöhnlidie) Wortstellung, (gewöhnliche) Intonation und den grammatischen Verhältnissen entsprechender Betonung der Satzglieder (grammatischer Ton): Der Hund ist toll. 2. D i e

Frage

Sie ist ebenfalls ein Akt des Erkennens, wenn man — wie Becker es tut — den Antwort-Komplex hinzunimmt: Ist der Hund toll? + Ja, er ist toll = vollständiges Urteil Der in Frage stellende Komplex ist für sich ein „unvollständiges Urteil", das auf Vervollständigung durch einen Akt des Erkenntnisvermögens drängt. In Frage und Antwort berühren sich verschiedene Beziehungsbedeutungen: der erste Teil ist allein der Ausdruck eines Aktes des Begehrungsvermögens, der aber durch inhalt-

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

217

lidie Erfüllung (Antwort) und rückgreifende Umformung den Gesamtkomplex zum Ausdruck eines Aktes des Erkenntnisvermögens macht. Von systematischer Verallgemeinerung der Urteilsbeziehung auf alle Satzformen kann keine Rede sein. Die Kritiker Beckers, die dies und ähnliches behaupten, verkennen Wesentliches; denn nach Beckers eigenen Worten steht neben den Erkenntnisakten die Kategorie der Begehrungsakte, die keine Urteile sind, sondern eben (reine) Fragen, Wünsche, Aufforderungen oder Befehle. K. F. Becker sagt ausdrücklich, und an dieser einen Stelle unmißverständlich: „Wir nennen denjenigen Akt des Erkennens, durch welchen ein Tätigkeitsbegrifi mit dem Begriffe eines Seins zu einer Einheit verbunden wird, ein Urteil." Ein Urteil ist also die Denkweise, die in einem Akt des Erkennens an der Aussage als eine spezielle Beziehungsform kenntlich gemacht werden kann. Weiter heißt es bei Becker: „Und wir verstehn unter dem Gedanken in der engeren Bedeutung des Wortes immer ein Urteil. Der einfache Satz stellt, insofern er einen Akt des Erkennens ausdrückt, den Gedanken als ein präd¿zierendes Urteil . . . dar." Dies heißt wiederum weder, daß der Gedanke immer ein Urteil sein müsse, nodi, daß jeder einfache Satz ein Urteil darstelle155. So kann auch K. F. Beckers Generalthese: Der Mensch spricht, weil er denkt, nicht mehr in dem Sinne gedeutet werden, daß die Sprache lediglich Ausdruck logischer Strukturen sei. Was Becker im Grunde gemeint hat, wird wohl deutlich, wenn man Zitate, wie die folgenden, vergleichsweise heranzieht: „Der Mensch denkt, indem er entweder urteilt oder wünscht . . I c h bin davon überzeugt, Becker wollte nie weiter als bis zu der Behauptung gehen, daß „in jedem Gedanken des Begehrens . . . auch ein Gedanke des Erkennens" liege, „weil nur das Erkannte begehrt" werden kann. Anlaß zu unangemessener Ausdeutung geben zweifellos Formulierungen Beckers wie „Gedanke des Begehrens" und auch die Tatsache, daß er in den Beispielsammlungen seiner Grammatiken fast ausschließlich Urteilssätze anführt 156 . Die offenbar in dem Ausdruck Gedanke des Begehrens (der Frage, des Wunsches, der Aufforderung, des Befehls) liegende Unvereinbarkeit von Denken und Begehren ist nach tieferem Studium der Beckerschen Grammatiken nur in der folgenden Weise zu deuten (Becker selbst hat das Problem nie befriedigend geklärt, wie überhaupt im metaphysischen Fundament seiner Lehre viel Ungenaues, ja Widersprüchliches zu finden ist): Im Vorgang des Denkens wird, nach Becker, durch bestimmte Anschauungs- und Denkweisen die objektive sowie die subjektive Welt geistig assimiliert. Äußere und innere Anschauung sind dabei Vermittler des Stoffes für die Gedanken. Das vorspradilidie (und wesensmäßig unsprachliche) Denken Vgl. K. F. Becker: „Ausf. Grammatik", 2. Band 1837, S. 3 : „Die Imperativ- und Optativsätze drücken an sich nicht ein wirkliches Urteil des Sprechenden aus; aber in ihnen liegt immer ein mögliches Urteil." Beispiele: Schweig! (Ich will, daß du schweigst), Möge er bald gesund werden! (Ich wünsche, daß er bald gesund werde). 1 5 ' K. F.Becker: z . B . „Schulgrammatik", 1852, S. 1; „Ausführliche Grammatik", l.Band 1842, S. 25. 155

218

Kategorien

der

Satzlehre

besteht darin, daß es zu Begriffen assimilierte reale und seelische Inhalte in ein vielschichtiges Gefüge von (logischen) Beziehungen mit allgemeingültigen Strukturgesetzlichkeiten verkettet. Anschauen, Erkennen, Begehren sind an sich selbständige Phänomene. Um einen geheimen Wunsch, eine wichtige Erkenntnis, ein drängendes Begehren spradilich auszudrücken, müssen diese unterschiedlichen Vorgänge in Begriffen und ihren Beziehungen logisch verknüpft, d. h. g e d a c h t werden. Und so ist Sprechen, insofern es aussagend, d. h. satzbildend ist, von Becker wohl vornehmlich als ein Abbild logischer Strukturen gesehen worden. Ein Satz oder ein Satzäquivalent ist also, nach Becker, immer der Ausdruck eines Gedankens, wenn man darunter sowohl gedachte Urteile als auch „gedachte" Fragen, „gedachte" Befehle und „gedachte" Wünsche versteht. Eine soldie Bedingung des sprachlichen Ausdrucks entfällt bei den Interjektionen, da sie keine Aussagen per definitionem sind, „nicht Begriffe und auch nicht Beziehungsverhältnisse der Begriffe" oder Gedanken ausdrücken, sondern „nur Ausdrücke eines augenblicklich durch den Gedanken erregten Gefühles von Freude, Schmerz, Verwunderung usf." sind. Sie sind also, nach Beckers richtiger Meinung, überhaupt keine Wörter, keine Glieder der Rede; sie werden nur „der Rede eingeschaltet", „ohne in den Ausdruck des Gedankens als ein mit ihm verbundenes Glied aufgenommen zu werden" 157 . Als Mittel (Beziehungsmittel) für die syntaktische Kennzeichnung der Frage nennt K. F. Becker Wortstellung, Redeton und Intonation. Auch flexivische (ζ. B. lat. -ne in videmusnef) und gliedwörtliche Kennzeichnung ist möglich, wird von Becker jedoch nicht erwähnt. Nach K. F. Becker stellen nur Sätze, die einen Akt des Erkennens ausdrücken (Urteil, Frage), logische Verhältnisse dar, Ausdrücke eines Begehrungsaktes moralische Verhältnisse. Die aus dieser Gliederung gezogenen Folgerungen und abgeleiteten weiteren Untergliederungen sowie deren Verbindung mit dem Begriff der logischen Wirklichkeit im Zusammenhang mit Hauptsätzen und dem der logischen Möglichkeit im Zusammenhang mit Nebensätzen, aber auch Rückschlüsse auf die Modi des Prädikats und den Gebrauch von Indikativ und Konjunktiv im allgemeinen, verwirren sich bei Becker offensichtlich158. Derartige Gedankengänge zu verfolgen ist uninteressant und unnötig. 3. D i e A u f f o r d e r u n g ,

der

Befehl

Diese Form der Stellungnahme zum Satzgedanken ist, nach Becker, ein reiner Geistesakt des Begehrens. In „Heischesätzen", wie Lies den Brief!, herrscht das Wollen des Sprechenden stärker über das Erkennen als in Wunschsätzen. Ein Akt des Erkennens muß dem Begehren jedoch vorausgegangen sein: Du kannst den Brief lesen. Beziehungsmittel ist, neben Flexion, Gliedwörtern, außergewöhnlicher 157

K. F. Bedcer: „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 54. — In modernen Grammatiken redet man immer noch von der Interjektion als Wortart (Ausrufe- bzw. Empfindungswort) !

158

K. F. Becker: z . B . „Ausführliche Grammatik", 2. Band 1843, S. 65 ff.

Semantik

des Satzes:

Die

Beziehungsbedeutungen

219

Satzmelodie bzw. Wortstellung, vor allem die affektische Betonung, Ein diesem Modusverhältnis eigentümliches Streben nach Kürze führt häufig zu Satzellipsen: Mütze ab!, Weggetreten! usw. Dem Modus des Befehls oder der Aufforderung entspricht die Modusflexion des Imperativs. 4. D e r W u n s c h (die Zulassung) Die wünschende Denkweise entspringt, nach Becker, ebenfalls einem reinen Begehrensakt: Der Herrgott schütze dich! Möge dir alles gelingen! Als spezifische Modusform der Wunschsätze wird von K. F. Becker der Konjunktiv oder der Optativ genannt. b) Modusverhältnisse in syntaktisch (Nebensätzen, Satzgliedern)

unselbständigen

Gruppen

1. e i n e A u s s a g e v o r a u s s e t z e n d : Hierher gehören, nach Becker, ζ. B. prädizierte (nicht in einem Geistesakt prädizierende) syntaktische Einheiten, wie Der tolle Hund . . ., ... den tollen Hund (< Der Hund ist toll), als attributive Satzverhältnisse im Subjekt wie im Objekt. 2. e i n e A u s s a g e e n t h a l t e n d : Hierher gehören z . B . Nebensätze, wie (Es ist fraglich,)

ob der Hund toll ist.

Die Modusverhältnisse der Aussage als Beziehungen der Gedanken zum Sprechenden können am Prädikat durch die Modusflexion ausgedrückt werden: Indikativ = Modus der unbedingten logisdien Wirklichkeit. Urteilssatz: Das Heer ist meine Sicherheit. Fragesatz: Kommt Ihr mit ganzer Vollmacht? Konditionalis = Modus der bedingten logischen (der angenommenen) Wirklichkeit. Urteilssatz: Jeder würde ihm vertrauen, wenn er immer Wort gehalten hätte. In den genannten Beispielsätzen stellt der Sprechende den Gedankeninhalt als wirklich dar. Konjunktiv Optativ

=

Modus der logischen Möglichkeit. Wunschsatz:

Imperativ

Jetzt möge jeder seines Weges gehen. Der helfe dir.

Bruder

=

Modus des Befehls oder Geheißes. Heischesatz: Gib mir etwas zu trinken! In diesen Beispielsätzen stellt der Sprechende den Gedankeninhalt als möglich dar. II. Modus des

Prädikats159

Die Modusverhältnisse der Aussage als Arten der subjektiven Stellungnahme zum Satzgedanken stehen bei Becker den Modi des prädizierten Verbalbegriffes 159

K. F. Becker: „Ausführliche Grammatik", grammatik", 1852, S. 10 f.

l.Band

1842,

S. 29 f., 221—226;

„Schul-

Kategorien der Satzlehre

220

gegenüber, einer Art Stellungnahme des Sprechenden zum Prädikatbegriff. Becker hat schließlich in der Grammatik kategorial zwischen Modusverhältnissen im weiteren Sinne als Beziehungen der Gedanken und soldien in der engeren Bedeutung als Beziehungen des Prädikatbegriffes zum Sprechenden unterschieden. Der Modus des Prädikats ist also keine Weise des Denkens, keine subjektive Einstellung zur ausgesagten Satzvorstellung, er ist vielmehr als Verhältnis des Sprechenden zu dem im Prädikat ausgedrückten Vorgangsinhalt aufzufassen. Unter den Verhältnissen der ausgesagten Tätigkeit versteht Becker „die Verhältnisse des Prädikates zur Wirklichkeit"™. Bejahung oder Verneinung (Beschränkung der Tätigkeit) 1. der Wirklichkeit, d. h. einer wirklichen Tätigkeit des Subjekts: Die Kinder spielen, (vidistine fratrem?) vidi, Ja (modales Gliedwort der Antwort); Die Eltern spielen nicht, I do not think so, Nein161. 2. der Möglichkeit, d. h. einer möglichen Tätigkeit des Subjekts: a) „real" = Mein Hund kann (bzw. nicht) schwimmen; b) „moralisch" = Ich darf (bzw. nicht) verreisen, Er mag bei uns bleiben, Du magst getrost nach Hause gehen; c) „logisch"

= Dieser Berg kann (bzw. nicht) ein Vulkan gewesen sein, Das dürfte nicht richtig sein.

Nach Becker auch durdi modale Gliedwörter, wie vielleicht, ausdrückbar. 3. der Notwendigkeit, a) „real"

wahrscheinlich,

d.h. einer notwendigen Tätigkeit des Subjekts:

= Der Schwache muß (bzw. nicht) weichen;

b) „moralisch" = Du sollst es (bzw. nicht) tun, Richter müssen (bzw. nicht) unparteiisch sein; c) „logisch" = Der Lehrer muß geirrt haben, usw. An der Trennung des Modusverhältnisses in zwei kategoriale Gruppen hat wohl auch Becker selbst nicht mit Überzeugung gehangen. In der sprachlichen Wirklichkeit dürfte es vorzuziehen sein, die Modusbeziehung als Stellungnahme zu dem im Satzgedanken ausgedrückten Sachverhalt in eine syntaktische Kategorie zusammen160

Die Kategorientrennung tritt bei Becker erst im zweiten Stadium seiner sprachtheoretischen Forschungen auf, als er die Beziehungen von der logischen Form des Satzes her deutet. In der „Deutschen Grammatik" 1829 (Tab. I) ist nur von Begriffsbeziehungen die Rede; die 2. Aufl. des „Organism" 1841 bringt eine Erweiterung der Beziehungslehre auf Verhältnisse der Gedanken und Begriffe zum Sprechenden; erst die „Schulgrammatik" von 1852 bringt (Tab. II, S. 448 f.) die endgültige Gliederung der Beckersdien Beziehungskategorie.

161

K. F. Bedcer geht auf die Bejahung und Verneinung als Stellungnahmen des Sprechenden genauer in der „Ausführlichen Grammatik", 2. Band 1843, S. 35—38, ein.

Semantik des Satzes: Die

Beziehungsbedeutungen

221

zufassen. Ohne Zweifel gibt es jedoch einmal eine Stellungnahme zum Satzgedanken im ganzen und zum andern eine Stellungnahme zu den einzelnen Gliedern des Satzgedankens. Die Frage ζ. B. kann sowohl den ganzen Satzgedanken als audi die Satzglieder einzeln in den Bereich der „logisdien Möglichkeit", wie Becker sagt, rücken. Man vergleiche die folgenden Beispiele: Die Stimmodulation kennzeichnet das ganze Urteil als Frage: Dein Hund

schwimmt?

Ein als logisch möglich gedachtes Satzglied wird durch die Beziehungsmittel Wortstellung und Betonung syntaktisch gekennzeichnet : Dem Wer Was Hat

Bettler kau fi Vater einen Hut? hat Lina einen Hut gekauft? hat Vater Lina gekauft? Vater in der Stadt eingekauft?

Sowohl Subjekt als auch Objekt und Prädikat können als logisch möglidie Satzglieder gedacht werden. In der „Ausführlichen Grammatik" zeigen 47 Seiten über das Thema Modus, daß K . F. Becker diese Beziehungsbedeutung mit viel Scharfsinn und Ausdauer angegangen hat. Leider ist oftmals ein starkes Ineinandergreifen der Kategorien 1. Ordnung gerade auf dem Gebiet der subjektiven Stellungnahme zu beobachten, was — nach Becker — damit zusammenhängt, daß die Beziehungen des Gedankens ( = Modus der Aussage) in der sprachlichen Darstellung synkretisiert erscheinen können, „daß die Sprache die mit den Denkformen gegebenen Verhältnisse der Gedanken in der Darstellung auf die mit den Anschauungsformen gegebenen Verhältnisse der Begriffe zurückführt". Es ist, nach Becker, die allgemeinsprachliche T r i e b k r a f t d e r Ö k o n o m i e , das Streben nach Kürze und Sparsamkeit des Ausdrucks, das vielfältig sich kreuzende Beziehungen miteinander verschmelzen läßt (vgl. das Zusammenfallen von Modus- mit Tempusbeziehungen usw.). Beckers Verdienst um das heikle Problem des Modus ist es vor allem, daß er von der Beziehungsbedeutung des Modus ausging, also vom Inhalt und nidit von der äußeren Form! Grammatiken, die heute noch mit Regeln, wie: Nadi quod, ut, ne, cum steht der Indikativ bzw. der Konjunktiv, wenn . . ., oder: Auf die Verben des Wollens, der Gemütsbewegung, des Sagens und Denkens steht im Französischen der Konjunktiv usw. usw., Fremdsprachenverständnis vermitteln wollen, gehen an den strukturellen Eigentümlichkeiten der zu lehrenden Sprachen vorbei. Es war K . F. Beckers Idee, den fremdsprachlidien Unterricht auf der Erkenntnis der in aller Sprache vorhandenen und zuerst an der Muttersprache einzusehenden Strukturkategorien aufzubauen, wobei — das müssen wir hinzufügen — eine einheitliche Terminologie wesentlich ist.

III. KATEGORIEN DER WORTLEHRE Karl Ferdinand Becker hat seine Gedanken über die Struktur der Lexikologie vor allem in den folgenden Schriften niedergelegt: „Die deutsche Wortbildung oder Die organische Entwicklung der deutschen Sprache in der Ableitung". Frankfurt am Main 1824. Das Buch koordiniert die Gesetzlichkeiten der Begriffsindividualisierung mit denen der Wortbildung; es erschien als IV. Stück der Abhandlungen des Frankfurtisdien Gelehrten-Vereins für deutsche Sprache. „Das Wort in seiner organischen Verwandlung." Frankfurt am Main 1833. Auf Grund tiefergehender allgemeingrammatischer Studien machte Becker hier den Versuch einer „festeren Begründung der Etymologie" durch Ableitung der Begriffswörter und ihrer Bedeutungen nach dialektischen Gesetzlichkeiten. Der Gesichtspunkt einheitlicher Betrachtung aller Sprachgegebenheiten wird von Becker vertreten, indem er die Gegenstände lexikologischer und syntaktischer Betrachtung auf der höheren Ebene der Gedankenstruktur zusammenführt. Nach seinem allgemeinen Entwicklungsprinzip gebiert das integrierte Seiende neue Formen und Inhalte durch dichotomische Entzweiung der Einheit in polarisdie Gegensätze. „Immer ist es der Gegensatz von T ä t i g k e i t und S e i n , der in dem Gedanken zu einer Einheit verbunden wird; und wie die Entwicklung der Begriffe und des ganzen Wortvorrates, so geht die Entwicklung des Satzes von diesem Gegensatze aus1." Im Akt des Erkennens werden, nach Becker, die Strukturglieder der Umwelt nebst ihren wechselseitigen Beziehungen durch geistige Assimilation in Gedankenglieder und -beziehungen verwandelt. Die Wortlehre (Lexikologie) behandelt nun die aus den Seinskategorien Bewegung (Kraft) und Materie (Substanz) gewonnenen Begriffskategorien und Begriffswortkategorien Tätigkeit und Sein und — als Stoff des Denkens — deren Individualisierungen. Wie die Syntax sich als System von Beziehungen und deren Exponenten erweist, so stellt die Lexikologie ein Begriffs- und Begriffswortsystem dar. Während in der allgemeinen Syntax Beckers die Beziehungsformen aus den subjektiven Anschauungsund Denkformen abgeleitet werden, ist in der allgemeinen Lexikologie — durch die Lehre vom Erkennen als Assimilation des Realen — direkt auf die realen Entsprechungen der Begriffe hingewiesen. So kennt das Beckersche Begriffssystem nur Begriffsformen, die realer Tätigkeit und realem Sein (dem Ding, das ist) entsprechen. Becker will nicht etwa synchronistisch den Wortschatz der deutschen Sprache aufzeigen; er sieht die Aufgabe viel umfassender, indem er 1. den allgemeingültigen 1

K. F. Becker: „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 1.

Kategorien der Wortlehre

223

Typus eines Wortschatzganzen, 2. die phylogenetische Entwicklung und die ontogenetischen Bewußtseinsvorgänge darzustellen versucht. Die von Becker aufgestellten Strukturgesetzlichkeiten erklären die Sprache sowohl als Ausdrude des Mensdiheits- als auch des individuellen Geistes. K. F. Becker drückt seine Auffassung von der Struktur der Lexikologie in folgenden Worten aus: „Wie der ganze Wortvorrat in der Sprache, so ist audi die Gesamtheit der in der Sprache ausgedrückten Begriffe nicht ein Aggregat von Einzeldingen, die sich zufällig und ohne ein inneres Band angehäuft haben, sondern Produkt einer organischen Entwicklung des Mannigfaltigen aus einer Einheit." Becker nimmt weiter an, daß die fortschreitende Individualisierung allgemeinster Arten von Begriffen „auf diese Weise" zu „einem organischen System von Begriffen" führt. Die Lexikologie Beckers erschöpft sich in einem allgemeingültigen Begriffssystem, das — wie auch die Satzlehre — hauptsächlich deswegen „organisch" heißt, weil der genetische Standpunkt eingenommen worden ist2. Mit seiner organischen Wortlehre wollte Becker dem Etymologisieren eine wissenschaftliche Grundlage geben. E r hat die historisch-etymologische Forschung nicht nur nicht ignoriert, sondern die bis etwa 1830 vorliegenden Ergebnisse der historischen Sprachforschung für höchst wichtig gehalten. E r hat ihr damals nodi wenig fortgeschrittenes Stadium belegterweise bedauert. Eine Zusammenstellung der radices im Sanskrit, die Becker zum Teil mit Hilfe des befreundeten Orientalisten Fr. Aug. Rosen vornahm, bildete das empirische Fundament für seine lexikologische Grundkategorie der Kardinalbegriffe. Etymologisch verwandt sind, nach Becker, die Wörter, denen Identität der Wurzellaute und Wurzelbegriffe nachzuweisen ist.

Das Material aus K. F. Beckers Nachlaß — vor allem der Briefwechsel mit F. A. Rosen — beweist, daß hinter dem Begriffssystem ernste und auch sehr kritische historisch-etymologische Bemühungen standen. Jede seiner Darstellungen der Wortlehre, die ausführlichste in Beckers großer Grammatik, beweist weiter, daß Becker den Humboldtschen Plan der Vereinigung von historischer und rationeller Spradikunde in einer Sprach Wissenschaft auf eigene Weise in seiner allgemeinen Grammatik durchgeführt hatte. Die Tatsache, daß die Fakten sammelnde historische Richtung der Linguistik noch in den Anfängen steckte und Becker seine eigenen verallgemeinernden Schlüsse ziehen mußte, sollte nicht das entscheidende Element der Kritik am Beckerschen System sein! Ich sage kaum zuviel, wenn ich ergänze, daß Becker wohl bis heute der einzige Linguist geblieben ist, der W. v. Humboldts verschiedene das „Apriorische" in der Wortlehre betreffende3 Andeutungen im Rahmen eines sich selbst tragenden Systems verwirklicht hat 4 . Der Sprachursprung wird K. F. Becker nur im Hinblick auf die Sprachschöpfung als originäre Geistestat problematisch. Auf keiner der drei fundamentalen Sprachebenen (Beziehung — Bedeutung — Laut) konnte im geschichtlichen Augenblick des 2

K. F. Becker: „Organism", 1841, S. 70 ff.

' Siehe Ernst Ottos Hinweis in „Stand und Aufgabe", 1954, S. 105. 4

Trotz der neueren Versuche v. Wartburg/Halligs, Dornseiffs u. a.

224

Kategorien der Wortlehre

Sprachursprungs allein Sprache entstehen. Denn jeder Begriff eines Seienden sei, so sagt Becker, das „Produkt eines Urteiles". Das heißt, Sprachschöpfung bedeutet erstmalige Anwendung der menschlichen Fähigkeit, eine diffuse Gesamtvorstellung urteilend auszusagen, einen Gedanken als Gefüge aufeinander bezogener Glieder auszusprechen. Am Anfang war also ein artikulierter durch Begriffsbedeutungen fundierter Satz, der — im Sinne einer Tätigkeit-Sein-Einheit — ein Prädikat enthielt. Zweifellos hat Becker versucht, zwischen evolutionaler Betrachtung des Sprechaktes (dem „geistigen Akt des Urteilens") und der historischen Entwicklung der Sprache zu unterscheiden. In der Anerkennung dieses Strebens halte ich die Kritik Diestels für ungenau 5 . Dieser wendet sich a. a. O. gegen Beckers angebliche Behauptung, das Verbum sei „Urwort der Sprache" und alle anderen Wortarten hätten sich im Laufe der Sprachgeschichte sekundär herausgebildet. Diestel schließt daraus, Becker glaube, die Menschheit habe in den Spradianfängen nur mit verbalen Wurzelwörtern gesprochen. Selbst wenn man Beckers oft unklare und daher mißverständliche Formulierung berücksichtigt, geht Diestel ohne Zweifel von falschen Voraussetzungen aus und bemüht Humboldt umsonst gegen Becker. Vielmehr sagt Becker („Organism", 1841, S. 72) ausdrücklich, daß der „eine Urbegriff nicht in der Sprache audi in einem Urworte" dargestellt werden könne, sondern „uranfänglich schon in mannigfaltigen Wörtern hervortreten" müsse. Dieser nicht umfangreiche UrWortschatz kann aber nicht als eine Menge von Verben im Gegensatz zu Substantiven, Adjektiven usw. unseres heutigen differenzierten Wortschatzes verstanden werden. Der Beckersche Urbegriff vereinigte ja am Anfang der Differenzierung der Arten und der Individualisierung der Formen sowohl die Wortformen als auch die Wortbedeutungen in seinem ganz unbestimmten Begriff räumlicher Bewegung. Der Urbegriff Beckers war Subjekt und Prädikat gleichermaßen, er war ein Urteil („Organism", 1841, S. 70). Das Subjekt war formal wie inhaltlich noch nicht ausgegliedert. Ich glaube, daß Becker auch hier der Humboldtschen Ansicht näher gestanden hat, als Diestel vermutete; die These Wilh. v. Humboldts, daß die Sprache in der „Erfindung" schon alles das besaß, „was sie zu einem Ganzen macht", und schon in der Urform der Sprache „auch der Wortfülle nach ein Ganzes der Sprache vorhanden" war, auch der Grundgedanke Beckers gewesen ist, der allerdings durch prinzipielle Vereinheitlichung von Sprechvorgang und Sprachentwicklung getrübt erscheinen mußte. D i e exakte S c h e i d u n g d e r W o r t l e h r e v o n d e r S a t z l e h r e ist zwar durch Beckers Lehre von dem Primat der Bedeutung bei der Klassifizierung von Spracherscheinungen trefflich vorbereitet; jedoch ergeben sich zwei Hindernisse, deren eines empirischer, das andere metaphysischer Art ist. 1. Becker behandelt in der Wortlehre neben der Wortbildung audi die Flexion. Dadurch wird Verwirrung in das System der Grammatik gebracht, denn die Flexion ist sdion in der Syntax eindeutig als Exponent von Beziehungsformen (Beziehungsmittel) definiert worden; sie hat also in der Etymologie nichts zu suchen! Hierauf wird in dem Kapitel über die Morphologie des Begriffswortes nodi eingegangen werden. 2. Becker kennt nur Relationswörter ohne Begriffsbedeutung; für ihn sind diese durchweg als Formwörter (Gliedwörter) aufzufassen. Auch einige andere Gruppen von Begriffswörtern werden zu Exponenten von Beziehungsformen erklärt. Von 5

H. Diestel: „Rationelle Sprachforschung", 1845, S. 37—39.

Morphologie

des

Begriffswortes

225

diesem Übergriff der Satz- auf die Wortlehre werden betroffen: die Konjunktionen (Ausdrücke syntaktischer Gedankenbeziehungen), Adjektivpronomina und Zahlwörter (Exponenten der subjektiven Beziehung der Person und der Zahl), Modal-, Temporal-, Lokal- und Adverbien der Intensität bzw. der Frequenz (nach Becker Exponenten der subjektiven Beziehungen des Modus-, des Zeit-, des Raum- und Größenverhältnisses), die Personal-, Demonstrativ- und Interrogativpronomina sowie die Numeralia (Ausdrücke der subjektiven Beziehungen des Personal-, Demonstrativ-, Genus- und Größenverhältnisses). Es ergibt sich also der Zustand folgender Disziplinversdiränkung: LEXIKOLOGIE

SYNTAX

Begriffswörter Wortbildung

Hier sind auch bei Becker noch Überreste der Auffassung von der MorphologieSyntax-Opposition vorhanden, obwohl Becker sich zur grundsätzlichen Trennung von Sprachstoff und Sprachform bekannt hat. Man sollte Becker trotz allem Vorwürfe dieser Inkonsequenzen wegen ersparen, denn er ist es ja gewesen, der für diejenigen Linguisten Pionierarbeit geleistet hat, die die Auffassung vertreten, Morphologie (allgemeine Lehre von den Sprachformen) und Semantik (allgemeine Lehre von den Sprachbedeutungen) müßten im Sinne vertikaler Kategorien der allgemeinen Grammatik sowohl Satz- und Wortlehre ais auch die Lautlehre im Sinne horizontaler Kategorien der allgemeinen Grammatik überschneiden. Auf der artikulatorischen, lexikologischen und syntaktischen Ebene der Sprache gibt es zwei Betrachtungsbereiche: 1. den morphologisch-formalen und 2. den semantisch-stofflichen6. Vergleiche oben S. 130. Die Wurzeln des Irrtums liegen schon im System K. F. Beckers. Die Kategorienpolarität Tätigkeit — Sein verbietet von selbst eine echte Mehrgliedrigkeit. So hat sich Becker natürlich keine Rechenschaft darüber abgelegt, daß mit Verben (Tätigkeit), Adjektiven (Tätigkeit) und Substantiven (Sein) ein strukturelles Abbild der realen Welt unerreichbar ist; denn es fehlen die Relationen, und damit die begrifflichen Relationswörter. Seine eigene These, allen Begriffswörtern müsse phonetisch wie begrifflich eine verbale Wurzel nachgewiesen werden können, unterstützt dabei Beckers irrige Ansicht.

1. Morphologie

des

Begriffswortes

Die Gliederung der Lexikologie in eine morphologische und eine semantische Abteilung, der wir hier folgen, wie es auch Ernst Otto vorgeschlagen hat, geht auf « Vgl. Ernst O t t o : „Stand und Aufgabe", 1954, S. 60 f. 15 Haselbadi

Kategorien

226

der

Wortlehre

die Erkenntnis Beckers ( < Wilhelm von Humboldt) zurück: „Jeder Begriff besteht . . . aus zwei Elementen: einem unwandelbaren, nämlich dem . . . Wurzelbegriffe, und einem wandelbaren, nämlich dem besonderen Verhältnisse", wie der Wurzelbegriff „in unserm Vorstellungsvermögen gedacht wird". „Jenes macht den eigentlichen Inhalt des Begriffes aus, dieses gibt ihm seine Form''." Die von Becker genannten morphologischen Kategorien 1. Ordnung bilden eine Zweizahl, ihre Exponenten eine Dreizahl: Begriffsformen

primäre

1) Tätigkeit

a) Verb b) Adjektiv

2) Sein

Wortarten

Substantiv

Die Kategorie der Formwörter wird von K. F. Becker richtig in die Morphologie des Satzes verwiesen, da sie „die Form des Gedankens und seiner Glieder bezeichnen im Gegensatze gegen die Begriffswörter" 8 . Dennoch werden sie unlogischerweise ebenso als „Wörter" bei den Wortarten (sie sind nach Becker Begriffs-, nicht Beziehungsformen!) in der Wortlehre abgehandelt. Aber selbst die Wortart darf ja nicht als lexikologische, sondern muß als syntaktische Kategorie klassifiziert werden. W o r t a r t e n als

Begriffsformen

Einige Ursachen der beschriebenen Inkonsequenzen Beckers sind offensichtlich in gewissen Einflüssen des Systems des Aristoteles zu suchen, der in onoma, rhema und syndesmoi (das sind Präpositionen, Konjunktionen und Pronomina) gliederte. Auch das seit Petrus Ramus in Grammatiken der philosophierenden Richtung (ζ. B. bei Finck-Helwig, Gießen 1615) auftauchende Bestreben, dichotomisch zu systematisieren, mag eine entscheidende Rolle gespielt haben. Aus einer gemäßigt kritischen Bemerkung zur Aristotelischen Gliederung des Wortvorrates, in der Becker seine eigene „Unterscheidung der Begriffe in Begriffe des Seins und Begriffe der Tätigkeit angedeutet" sieht9, kann man den Schluß zumindest formaler Abhängigkeit ziehen. Gegenüber dieser noch in der scholastischen Grammatik üblich gewesenen Einteilung ist K. F. Becker nur insofern abgewichen, als er das Adjektiv zu den Tätigkeitsbegriffen zählt und die Syndesmoi um das Numerale und einen Teil der Adverbien erweitert. So kommt es in der Wortlehre der Beckerschen Schulgrammatik dazu, daß von den Wortarten 3 Begriffswörter nämlich: Verb Substantiv Adjektiv,

mit Begriffsbedeutung (fundamentale Begriffsformen) sind,

7

K . F . B e c k e r : „Organism", 1841, S. 112, 82.

8

Κ. F.Becker: „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 6.

» K. F. Becker: a. a. O., Vorwort S. V.

227

Morphologie des Begriffswortes 4 Formwörter mit Beziehungsbedeutung (Beziehungsformen), nämlich: Pronomen Numerale Präposition Konjunktion, und 1, nämlich das Adverb, je nach seiner Ableitung Form- oder Begriffswort

ist.

Welche Auswirkungen die Spaltung der Gruppe der Adverbien hat, ist schon oben, S. 183 f., am Beispiel der Ausdrücke des Raumverhältnisses deutlich gemacht worden10. Als Ausdrücke der subjektiven Tätigkeitsbeziehung mußten die Ortsund Richtungsadverbien ausnahmslos Formwörter mit Beziehungsbedeutung sein. Sie wären damit den Flexionsformen gleichzustellen gewesen. Bei K. F. Becker stehen sich jedoch gegenüber: Adverbien in begriffswörtlichem Gebrauch:

Adverbien

Westwärts

Rings um die alten liegen Wiesen

in formwörtlichem Gebrauch:

geht sein Blick

Bergauf und bergunter der Weg morgens, abends, anfangs, täglich, jährlich usw.

führt

Wer nicht vorwärts kommt zurücke

Mauern geht,

der

morgen, gestern, bald, jüngst, neulich usw.

Diese Trennung dünkt mich willkürlich und darum unhaltbar. Hier liegt kein dem Inhalt angemessenes Kriterium zur Scheidung der Form- von den Begriffswörtern zugrunde, nicht einmal das der Art der Ableitung und Bildungsweise ist durchgehend zu beobachten. Adverbien, die von Begriffswörtern ohne oder mit Ableitungs- bzw. Flexionsendungen gebildet wurden, haben Begriffsgehalt: morgens < Substantiv, längst < Adjektiv, unglaublich < Verb. Die sogenannten Adverbialpronomina (Gliedwörter wie ja, nicht, nun, so) und aus Formwörtern zusammengesetzte Adverbien sind jedoch Formwörter: vorwärts < Präposition; desgleichen beinahe, sogar, ehemals usw. „Da das Adverb ein Attribut der Tätigkeit bezeichnet, wie das Adjektiv ein Attribut des Seins" 11 , so ist wohl — allein durch diese Tatsache — die Trennung der Adverbien in Begriffs- und Formwörter als unangemessen gekennzeichnet. Becker hat auch die Ableitungsendung -lieh als Flexion aufgefaßt, indem er sagte: Da in Beispielen wie treulich „der Stamm selbst ein Adjektiv ist, so kann die eigentliche Bedeutung der Endung nicht darin bestehen, daß sie die adjektivische 10 11

15*

Vgl. besonders K.F.Becker: „Schulgrammatik", 1831, S. 121 f., 123. K. F.Becker: „Ausführliche Grammatik", l.Band 1842, S. 163, 162.

228

Kategorien

der

Wortlehre

Begriffsform bezeichnet . . sondern sie muß nur irgendein besonderes Beziehungsverhältnis des durch den adjektivischen Stamm ausgedrückten Tätigkeitsbegriffes bezeichnen"! Audi hier macht sich wieder mangelnde Einsicht in die angemessene Scheidung zwischen Begriffs- und Beziehungsbedeutung bemerkbar. Obwohl das erkenntnistheoretische Fundament des Beckerschen Systems zu einer unangemessenen Erweiterung der Kategorie der Formwörter führen mußte, ist dodi die allgemeine Trennung des Wortmaterials (dem Grundsatz der Opposition von Begriff und Beziehung entsprechend) ein positiver Beitrag zur Kategorienlehre der allgemeinen Sprachwissenschaft gewesen, der audi die Basis für eine angemessene Trennung von Lexikologie und Syntax abgegeben hat. Daraus folgt aber audi, daß der Umfang der Lexikologie abgegrenzt werden muß durch die Disziplinen Gliederung, Bildung und Wandel der Begriffsbedeutungen (Begriffswörter). Sie sind als Strukturglieder der Rede die konstitutiven Elemente der allgemeinen Lexikologie. Eine Definition des Begriffes Begriffswort, die möglichst ein Kriterium für die Abgrenzung des Formwortes enthalten soll, macht sich notwendig. Dazu kommt, daß in der allgemeinen Sprachwissenschaft der traditionelle Begriff des Wortes nicht mehr verwendbar erscheint, weil er mit der äußerlichen Bestimmung durch die grammaire traditionelle belastet ist. Die Sprachtypenforschung hat z. B. festgestellt, daß in den sogenannten einverleibenden Sprachen das „Wort" kein phonetisch abgrenzbares, selbständiges Redeglied ist. Dennoch existiert selbstverständlich das bisher mit „Wort" bezeichnete Phänomen, allerdings an inneren Merkmalen erkenntlich. Es dürfte sich daher empfehlen, statt von Wortlehre besser von Lexikologie zu sprechen. Das (Begriffs-)Wort sei hier bestimmt als eine im bedeutungsverleihenden Akt zur Begriffsbedeutung erhobene Vorgangs-, Gegenstands-, Eigenschafts- oder Relationsvorstellung und deren phonetische bzw. sdiriflische Gestalt. Die L e x i k o l o g i e mag hier bestimmt werden als die Lehre von Gliederung, Bildung und Wandel der inneren und äußeren Wortform, d. h. der Begriffsbedeutungen (semantische L.) und Begriffsgestalten (morphologische L.).

Individualisierung und Seiη s b egr if f e

der

Formen

der

Tätigkeits-

Den Begriffsformen Tätigkeit und Sein und ihren mutuellen Relationen sowie ihrer Entwicklung entsprechen in der Umwelt des gesprochenen Wortes die Pole Geist (Kraft, Bewegung) und Materie (Substanz, Ding) und das zwischen diese gespannte Netz struktureller Bindungen und struktureller Individualisierung bzw. Integrierung. Auch in den Disziplinen der Wortlehre herrscht das von Becker auf alle Sprachbetrachtung angewendete dichotomische Organismus-Prinzip. In Kürze sei auf den unberechtigten Einwand K. Hoffmeisters gegen die polarische Opposition von Tätigkeits- und SeinsbegrifF eingegangen. Hoffmeister argumentiert, die Tätigkeit sei doch „offenbar nur eine Weise, eine Art des Seins. Die Tätigkeit nämlich ist ja ebenfalls, hat ja audi Sein". Das Sein sei „also offenbar der allgemeinere Begriff".

Morphologie

des

Begriffswortes

229

Die Kritik wäre berechtigt gewesen, wenn K. F. Becker mit dem Begriff des Seins das Seiende überhaupt gemeint hätte 1 2 . Viele entsprechende Textstellen, vor allem deren Übersetzung ins Englische, beweisen, daß Becker solch ein grober Denkfehler nicht unterlaufen ist. E r sieht vielmehr in der Realkategorie Tätigkeit das Gemeinsame, die Summe aller realen Vorgänge, und in dem realen Sein das Gemeinsame, die Summe aller realen Gegenstände, die „Dinge die sind", wie er definiert. Wenn im Zusammenhang mit dem Urgegensatz der beiden Weisen des Seienden von einer weiteren Überordnung die Rede sein kann, dann — im Sinne Beckers — nur dergestalt, daß als oberster Indifferenzpunkt eine göttlichabsolute Urkrafl, die den Organismus des Universums lebendig erhält, zu denken ist.

In der Etymologie (Wortlehre) beschreibt Becker „die Wörter als gleichsam abgelöste Glieder des Satzes und die Formänderungen derselben". Er unterscheidet „ferner in der Etymologie die Betrachtung der Wortbildung von der Betrachtung der Wortarten und ihrer Flexion" (!). Zu den Formänderungen zählt Becker Ableitung und Flexion gleichermaßen. Das geht jedoch auf keinen grundsätzlichen Irrtum Beckers zurück; denn er hatte den Bedeutungsunterschied zwischen Ableitungs- und Flexionsendungen richtig erkannt. Die Flexion beurteilte er aber schließlich vom phonetischen Gesichtspunkt und wies sie der Lexikologie zu. Offenbar waren es praktische Erwägungen, die es Becker erlaubt erscheinen ließen, in diesem Fall von der prinzipgemäßen Ordnung abzuweichen. „Die Flexion als der Ausdruck für die grammatischen Beziehungen der Begriffe ist zwar unterschieden von der Ableitung, durch welche besondere Formen der Begriffe . . . bezeichnet werden . . A b e r „auf der phonetischen Seite fällt die Flexion mit der Ableitung gänzlich zusammen, da beide Vorgänge durch Ablautung und Endungen zustande kommen . . . Obgleich daher Flexion und Ableitung von seiten ihrer Bedeutung verschiedene Vorgänge sind, indem durch erstere wandelbare Beziehungen, durch letztere aber stetige Begriffsformen ausgedrückt werden, so geschieht es doch wohl vermöge ihrer nahen Verwandtschaft, daß Flexionsformen mit Ableitungsformen wechseln"13.

Das

System

der B e g r i f f s f o r m e n

(Ableitung)

Das Beckersche System der Begrifisformen ist eng verbunden mit dem Begriff der A b l e i t u n g (Wortbildung). Dieser wird auf den Vorgang der Individualisierung der Begriffsformen angewendet, während der Begriff der Abänderung in die semantische Abteilung der Lexikologie, die Lehre von den Begriffsarten, gehört 14 . 12

Karl Hoffmeister: „Grundsätze der Sprachlehre", 1830, S. 27 f. — Die Ausführungen Hoffmeisters gewinnen für die produktive Beckerkritik deswegen an Wert, weil er bestrebt ist, „gründlich, unbefangen, strenge und ohne Rücksicht auf die Person weder zu Liebe noch Haß, einzig im Dienste der ewigen Wahrheit" Kritik zu üben. Vgl. oben S. 12. — Der Ausdruck „Begriff des Seins" ist in K. F. Beckers „Grammar of the German Language" (London 1830) irrtümlicherweise mit „notion of existence" wiedergegeben; er hätte richtig mit „substance" übersetzt werden müssen, wie zum Beispiel a. a. O., p. 2, 6 ; Table I, VII und öfter.

13

K . F . B e c k e r : „Ausführliche Grammatik", l . B a n d 1842, S. 83.

14

K . F . B e c k e r : „Wort", 1833, S. 92.

i-«

Í3

t. S 2 l M a «

B υ ö ' o

a

a i: ti κ o O 3

O

Ζ

C'

w

'öju

s

pi O PH C/5

(A h> 1> Sí

Pi Ü< l-H

e





O

-tì c M 3 pq e -S e Pi M 'S c S. - -s* rt

*4-J •M

3 • -Q

R

•a e -Sf>

H

/

ω a> η

\

IH

•υ pq - a