Gottfried Arnold: Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti 9783412213893, 9783412206895

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Gottfried Arnold: Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti
 9783412213893, 9783412206895

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Eine Publikation der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Engi

Gottfried Arnold Radikaler Pietist und Gelehrter

Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti Herausgegeben von Antje Mißfeldt

2011 Böhlau Verlag Köln Weimar W ien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Porträt Gottfried Arnolds von Georg Paul Busch, Berlin 1716 (Stich aus der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich).

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20689-5

Inhaltsverzeichnis Zusammenarbeit – zusammen Arbeit!............................................................ Von Antje Mißfeldt

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Arnoldstudien .............................................................................................. Von Hanspeter Marti

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Einleitung . ..................................................................................................... 11

Die Rhetorik des Heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus................................................................................................ 15 Die Verkündigung des irdischen Paradieses. Spiritualismus und Utopie ........ 77 Die Utopie des inneren Friedens bei radikalen Pietisten................................. 92 Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold. Konfessionalistische Abgrenzung und mystisch-spirituelle Solidarität........... 106 Der Seelenfrieden der Stillen im Lande. Quietistische Mystik und radikaler Pietismus.......................................................................................... 130 Litterärhistorie und Ketzergeschichte. Jakob Friedrich Reimmanns historiographische Toleranz . .......................................................................... 144 Gottfried Arnold – Magister der Philosophie in Wittenberg Seine Dissertation über die Engelsprache: ediert und kommentiert ............... 161 Einleitung . ............................................................................................... 161 Faksimiletext . ........................................................................................... 171 Anhang: Personenregister, Zitatnachweise . .............................................. 186 Nachweis der Erstpublikationen...................................................................... 190 [Gottfried Arnold:] Offenhertzige Bekäntniß Urausgabe Ohne Ort 1698.............................................................................. 191 Herausgegeben von Dietrich Blaufuß Vorbemerkungen – Editorische Hinweise – Textvarianten............................. 193 Edition............................................................................................................ 203 Register der Bibelstellen ................................................................................. 262 Personenregister.............................................................................................. 265

Zusammenarbeit – zusammen Arbeit! Besondere Umstände erfordern eine besondere Gattung: Mit der Jubiläumsgabe auf Gegenseitigkeit gratulieren Hanspeter Marti und Dietrich Blaufuß einander zu ihren runden Geburtstagen und feiern gleichzeitig ihre nunmehr 30-jährige Freundschaft. Eine Festschrift auf Eigeninitiative; honni soit qui mal y pense! Am Anfang stand die Idee von Dietrich Blaufuß, Hanspeter Marti solle anläßlich seines 60. Geburtstages 2007 seine verstreut erschienenen Aufsätze über Gottfried Arnold in einem Sammelband herausgeben. Dietrich Blaufuß hatte ihr Entstehen im Zusammenhang mit seinen Pietismusforschungen seit Jahrzehnten mit wacher Anteilnahme begleitet. Zur Bekräftigung brachte er eines Tages einen Vorabdruck des Offenherzigen Bekenntnisses mit, den er ausdrücklich Hanspeter Marti widmen wollte, was nun diesen veranlaßte, seinerseits die gesammelten Arnoldaufsätze Dietrich Blaufuß zuzueignen, zumal inzwischen dessen 70. Geburtstag 2010 in die Nähe rückte. Die Vorbereitung der Publikation hatte sich, wie üblich, aufgrund verschiedener Widrigkeiten verzögert. Das Ergebnis der gelungenen Zusammenarbeit liegt jetzt vor. Wir wünschen dem interessierten Leser spannende und erkenntnisreiche Einblicke in Gottfried Arnolds Werk und Wirken. Den Jubilaren sei gedankt für ihre gründlichen Arbeiten im Dienst der Pietismus- und Gottfried Arnold-Forschung ebenso wie für den Mut, mit der gegenseitigen Jubiläumsgabe den wissenschaftlichen Büchermarkt um eine ungewöhnliche Textgattung zu bereichern. Kiel, August 2010

Antje Mißfeldt

Arnoldstudien Von Hanspeter Marti

Einleitung Meine im Folgenden wieder aufgelegten Arbeiten über den radikalen Pietisten Gottfried Arnold (1666–1714) wurden in den Jahren 1982 bis 2002 für die Zeitschrift Linguistica Biblica, für eine Festschrift und diverse Tagungsdokumentationen verfaßt. Die hier präsentierte Reihenfolge entspricht nicht der Chronologie der Erstveröffentlichungen,1 sondern einer inhaltlichen Kriterien geschuldeten Anordnung: Am Anfang stehen drei Aufsätze, in denen versucht wird, das ambivalente Verhältnis Gottfried Arnolds zur Gelehrsamkeit, insbesondere zur Rhetorik, zu bestimmen sowie sein Werk in einen utopiegeschichtlichen Kontext zu stellen.2 Der Begriff der Rhetorik des Heiligen Geistes, der die rhetorikgeschichtliche Forschung auf eine noch breitere Materialbasis abstützen und um einen bisher vernachlässigten Themenbereich frühneuzeitlicher Textproduktion erweitern wollte, stieß vor allem in Theologenkreisen wohl wegen der Engführung von göttlicher Offenbarungsrede und gewöhnlich nah bei der Ideologie angesiedelter Rhetorik auf wenig Interesse und Zustimmung. Dies ungeachtet der Tatsache, daß sich auch theologische Dogmen – man denke nur an die Trinität – immer wieder der Kritik und der Wortlaut der Bibel philologischer Auslegung zu stellen hatten und noch haben. Auch die mit dem Begriff der spirituellen Utopie beabsichtigte Aufhebung der vor allem von der profanhistorischen Utopiegeschichtsschreibung gezogenen Grenze zwischen weltlich-utopischem und eschatologisch-religiösem

1 Abgesehen von einigen Korrekturen im Beitrag über die Rhetorik des Heiligen Geistes erscheinen alle Aufsätze in inhaltlich unveränderter Form, jedoch stilistisch bearbeitet sowie mit einigen Hinweisen zu der seit der Erstpublikation erschienenen Sekundärliteratur. Letztere wurde nur dort nachgetragen, wo dies im Hinblick auf die gewählte Fragestellung notwendig erschien. Unentbehrliche Informationen zur Pietismus-Geschichtsschreibung vermittelt die (einst 1974/75 bis 1990 von Klaus Deppermann und Dietrich Blaufuß) in dem Jahrbuch Pietismus und Neuzeit etablierte, allgemein anerkannte laufende Pietismus-Bibliographie. 2 Zum Verhältnis von Eschatologie und Utopie im Allgemeinen: Markus Meumann: Zurück in die Endzeit, oder: Ist die Moderne das Tausendjährige Reich Christi? Beobachtungen zum Verhältnis von heilsgeschichtlicher und säkularer Zukunftserwartung in der Neuzeit. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52, 2004, S. 407–425. Matthias Pohlig: „The greatest of all Events“: Zur Säkularisierung des Weltendes um 1700. In: Matthias Pohlig, Ute Lotz-Heumann, Vera Isaiasz, Ruth Schilling, Heike Bock, Stefan Ehrenpreis: Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien. Berlin 2008, S. 331–371. Zum radikalen Pietismus: Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann, Johannes Schilling und Reinhard Staats. Göttingen 1999, S. 187–212.

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Arnoldstudien

Schrifttum fand nicht den erhofften Beifall.3 Mit der Neuauflage der einschlägigen Beiträge wird nicht nur der thematisch eher unkonventionelle Forschungsansatz, sondern auch die Biographie Gottfried Arnolds, um eine ideengeschichtliche Dimension erweitert, in Erinnerung gerufen.4 Inzwischen wurde der einseitig geistes- und theologiegeschichtliche Ansatz der Pietismusforschung mehrfach zu Recht kritisiert und aus wirtschafts-, sozial-, medien-, alltags- und kulturgeschichtlicher Warte auf unterrepräsentierte Problemfelder und Fragestellungen hingewiesen, ohne daß das Daseinsrecht der hier vorwaltenden Ausrichtung grundsätzlich in Frage gestellt worden wäre. Der historischen Erforschung geistiger Einflüsse und Abhängigkeiten, dem Aufspüren ideeller Beziehungen und Querverbindungen sowie der Anwendung von Methoden hermeneutischer Textauslegung wird auch in Zukunft im Spektrum anerkannter methodischer Pluralität ein wichtiger Platz zukommen.5 Studien mit dem Titel ‚Das Bild Arnolds von …‘ beschreiben dessen Position im Spiegel wichtiger Gestalten der Kirchen- und Profangeschichte.6 Eine Arbeit, die sich mit dem Verhältnis Arnolds zu den Jesuiten, und eine andere, die sich mit dem Quietismus des radikalen Pietisten befaßt, unterstreichen 3 Zustimmende Aufnahme durch den Philosophiehistoriker Andreas Urs Sommer: Fragmentarisierte (Heils-)Geschichte? Bemerkungen zu Gottfried Arnold. In: Udo Sträter (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Halle, Tübingen 2005, S. 135–144. Ferner: Claus Bernet: „Gebaute Apokalypse“. Die Utopie des himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit. Mainz 2007, S. 11. 4 Vgl. dazu meinen Arnoldartikel in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage, hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 1: A – Blu. Berlin, New York 2008, S. 220–222. 5 Zur Kritik an der herkömmlichen Pietismusforschung lesenswert Martin Gierl: Im Netz der Theologen – die Wiedergeburt der Geschichte findet nicht statt. Von Pietismusforschung, protestantischer Identität und historischer Ethik 2003/04. In: Zeitschrift für Historische Forschung 32, 2005, S. 463–487. 6 Hinzuweisen ist auf Rudolf Schlögl: Hermetismus als Sprache der »unsichtbaren Kirche«: Luther, Paracelsus und die Neutralisten in der Kirchen- und Ketzerhistorie Gottfried Arnolds. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, hg. von Anne-Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 165–188; Hanspeter Marti: Thomas Campanella in Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie. In: Günter Mühlpfordt, Ulman Weiß (Hg.): Kryptoradikalität in der Frühneuzeit. Stuttgart 2009, S. 229–246. Zu Arnold und Jakob Böhme: Lothar Vogel: Beobachtungen zur Böhmerezeption in Gottfried Arnolds Sophienschrift. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel. Göttingen 2010, S. 271–292, sowie die Referate Wilhelm Schmidt-Biggemanns und Cecilia Muratoris der Münchener Tagung (21.–24. April 2010) ‚Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert‘. Zur radikalpietistischen Poesie, u.a. über Gottfried Arnold, siehe Burkhard Dohm: Poetische Alchemie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000.

Einleitung

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einmal mehr die Notwendigkeit der Erforschung interkonfessioneller Beziehungen, seien diese nun von Harmonie, von Dissens oder von beidem geprägt. In den eben erwähnten Aufsätzen geht es um die mit Arnolds Unparteilichkeitsanspruch verknüpfte, konfessionsübergreifende Hinwendung zu Erleuchteten aller Konfessionen und Denkrichtungen sowie um die Ablehnung der Ketzermacherei, konfessionalistischer Eindimensionalität und der entsprechenden Organisationsstrukturen in Kirche und Staat. Daß auch der Pietismus aller Schattierungen eine geistige Kampfbereitschaft an den Tag legte und die von ihm erhobenen irenischen Postulate nicht immer in die Praxis umzusetzen wußte, relativiert die von toleranzgeschichtlichen Prämissen ausgehenden Forschungsergebnisse. Eine kleine Studie beschäftigt sich sodann mit einem Kapitel der frühen Wirkungsgeschichte Gottfried Arnolds, nämlich mit dem Bild, das der Litterärhistoriker Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743) von seinem nicht allzu häufig herangezogenen Gewährsmann entwarf. Es ermöglicht einen Seitenblick auf die frühaufklärerische Rezeption des Unparteilichkeitsdenkens. Am Anfang meiner Pietismusforschungen stand eine Edition der unbegreiflich lange Zeit verschollenen, von Arnold verfaßten und unter dessen Vorsitz an der Universität Wittenberg verteidigten Dissertation über die Engelsprache,7 die ein Stück des akademischen Werdegangs Gottfried Arnolds dokumentiert, der es bis zur Professur für Geschichte an der Universität Gießen brachte, von dieser aber freiwillig zurücktrat. Über diese Amtsniederlegung und ihre Begründung informiert Arnolds Offenhertzige Bekänntniß (1. Auflage 1698), das hier erstmals in einer neuen, kommentierten Ausgabe zugänglich ist. Ich danke meinem langjährigen Freund Dietrich Blaufuß, dem ich die neu aufgelegten Arnoldaufsätze zu seinem 70. Geburtstag widme, für den auch editorisch wegweisenden Beitrag. Dieser paßt in den Rahmen der vorgestellten Themenbereiche, weil er ein zentrales autobiographisches Dokument der paradox anmutenden Vita des radikalen Pietisten und Gelehrten erschließt. Dietrich Blaufuß veröffentlichte weitere maßgebliche Arbeiten über Gottfried Arnold8 und dessen Gegner. Er führte 1986 in 7 Welcher Zusammenhang zwischen dieser Dissertation und Arnolds Erwerb des Magistergrads besteht, geht aus den Titelblattangaben des Thesendrucks über die Engelsprache nicht hervor. Die Suche nach einem weiteren Probestück, das den pro-graduVermerk trägt, war bis jetzt vergeblich und wird es mit Sicherheit bleiben. 8 Dietrich Blaufuß (mit Jürgen Büchsel): Gottfried Arnolds Briefwechsel. Erste Bestandsaufnahme – Arnold an Christian Thomasius 1694. In: Pietismus – Herrnhutertum – Erweckungsbewegung. Festschrift für Erich Beyreuther, hg. von Dietrich Meyer. Köln 1982, S. 71–106. Ders.: Zur Predigt bei Gottfried Arnold. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714, hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 33–54 (auch in: ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge, hg. von Wolfgang Sommer und Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 279–301. Ferner: Pietism. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Edited by Wouter J. Hanegraaff in collaboration with Antoine Faivre, Roelof van den Broek, Jean-Pierre Brach. Volume 2. Leiden, Boston 2005, S. 955–960.

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Arnoldstudien

Laubach (Hessen) Autoren zusammen und initiierte das vom 10. bis 13. Juni 1990 gemeinsam mit Friedrich Niewöhner durchgeführte Arbeitsgespräch über Gottfried Arnold in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Von beiden Veranstaltungen gingen wichtige forschungspolitische Impulse aus, die in themenspezifischen Sammelbänden dokumentiert sind.9 Blaufuß setzte die von manchen bis zum Überdruß bloß postulierte wissenschaftliche Interdisziplinarität in die Tat um und ermöglichte mir über Jahrzehnte hinweg einen fachlichen und persönlichen Gedankenaustausch im Gebiet der theologischen Pietismusforschung, deren Verständigungsbereitschaft sowohl innerhalb des Fachs als auch über die Disziplinengrenzen hinaus oft genug nicht den Normen erfolgversprechender wissenschaftlicher Zusammenarbeit genügt. Antje Mißfeldt, Kiel, und meiner Frau, Karin Marti-Weissenbach, Engi, danke ich für zahlreiche kritische Hinweise und sprachliche Verbesserungen, Dietrich Blaufuß für den auch im Hinblick auf die vorliegende Publikation kompetenten, fachlichen Rat. Daß Antje Mißfeldt die Herausgeberschaft für diesen als doppelte Jubiläumsgabe angelegten Band übernommen hat, ist Ausdruck der engen Freundschaft, die unsere Familie mit ihr verbindet. Dem Stiftungsrat, der die Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Engi, und damit u.a. auch meine wissenschaftliche Tätigkeit seit bald fünfzehn Jahren begleitet, danke ich für die Finanzierung und dem Böhlau-Verlag, insbesondere Harald Liehr und Susanne Kummer, für die gute Kooperation bei der Vorbereitung und drucktechnischen Verwirklichung dieser Publikation.

9 Pietismus-Forschungen. Zu Philipp Jacob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischen Umfeld. Mit Beiträgen von Dietrich Blaufuß, Rüdiger Mack, Harald Schieckel, Hanspeter Marti, Rolf Lippoth, Reinhard Breymayer, unter Mitarbeit von Karin Marti, hg. von Dietrich Blaufuß. Frankfurt a.M., Bern, New York 1986. – Gottfried Arnold (Anm. 8).

Die Rhetorik des Heiligen Geistes Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus 1. Einleitende Vorbemerkungen An der Sprache als einem Gegenstand erkenntniskritischen, also allgemein philosophischen Nachdenkens kommt heute keiner vorbei, der das Medium, in dem Selbst- und Welterkenntnis hauptsächlich sich vollzieht, nicht einfach unbefragt für seine Zwecke in Anspruch nimmt. Gegenwärtig erfreuen sich die Theorie und die Ethik des Diskurses eines großen Ansehens und auch kritischen Interesses. Der allerdings schon vor dem Entwurf einer Diskursethik (Apel, Habermas) feststellbare Aufschwung von Sprachphilosophie und Sprachkritik scheint die Theoretisierung der Sprachwissenschaft, ihre Konstituierung als Linguistik, wenn nicht begründet, so doch gefördert zu haben, obwohl auch umgekehrt die Bestrebungen der Philosophen als Antwort auf die Herausforderung sprachzugewandter Disziplinen verstanden werden können. Angesichts eines solchen Katalogs der Präferenzen lässt sich die diachrone Beschäftigung mit Sprachauffassungen sinnvoll rechtfertigen; sie entspricht dem Kanon zeitgemäßer Forschungs- und Erkenntnisprioritäten. Schließlich hat die Rhetorikrenaissance maßgeblich auf die Pietismusforschung (Dyck, Breymayer) eingewirkt. Anstößen dieser Art verdankt sich vorliegende Untersuchung. Daß in der zeitgenössischen Homiletik die Auffassung vorherrscht, Heiliger Geist und Rhetorik seien überhaupt nicht miteinander zu vereinbarende Kategorien, beweisen die einleitenden Sätze in Jörg Rothermundts empirischer Homiletik,1 in der gerade auf die Erneuerung der Geistrhetorik, auf die Verbindung des scheinbar nicht zu Vereinbarenden Wert gelegt wird. So kommt unsere Arbeit, in rhetorikgeschichtlicher Absicht verfaßt, auf eine verschüttete Tradition zu sprechen, deren Antwort auf die Frage nach dem merkwürdigen Zusammenwirken von göttlichem Geist und rhetorischer Kunst vielleicht nicht aus bloß historisch-antiquarischem Interesse für die moderne Predigttheorie von Bedeutung sein könnte; Rothermundts programmatische Schlußbemerkungen scheinen diese Vermutung zu bestätigen: „[…] durch das Wirken des Geistes werden die persönlichen Möglichkeiten zu Werkzeugen einer Verkündigung, die das Neue schafft, das, so unvollkommen es sein mag, Vor-Schein des vollendeten Gottesreiches ist. […] Empirische Homiletik hat daher die große Aufgabe, dem Wirken des Geistes nachzuspüren und bei den Predigern die Bereitschaft zu fördern, den Geist zu empfangen und seine Mitarbeiter zu sein.“2 1 Jörg Rothermundt: Der Heilige Geist und die Rhetorik. Gütersloh 1984 (freundlicher Hinweis von Reinhard Breymayer). 2 Rothermundt (Anm. 1), S. 152.

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Arnoldstudien

Indem Seeberg und, teilweise in der Auseinandersetzung mit ihm, Büchsel3 mit ihren Arnoldmonographien das Gesamtwerk vor Augen, erst einmal Grundlegendes herausarbeiteten und August Langen im allgemeinen Hinblick auf die Sprache der Pietisten ein tragfähiges Fundament für weitere Beobachtungen geschaffen hat, wird man jetzt mit umso größerem Recht in Einzeluntersuchungen, von Details in den Quellen und ihren Beziehungen ausgehend, Feststehendes zu erhärten, andeutungsweise Erkanntes schärfer zu erfassen sowie, was im Falle Gottfried Arnolds je länger je schwerer fallen dürfte, grundlegend Neues herauszufinden haben. Die Schriften Arnolds – eingeschlossen die Vorworte, die er zu den von ihm herausgebrachten Werken beisteuerte, wie schließlich diese selbst – enthalten immerhin genügend Aussagen, die für eine genauere Rekonstruktion der historischen Sachverhalte und Zusammenhänge herangezogen werden können. Wissenschaft, Gelehrsamkeit einerseits, Erfahrung, Lebens- und Glaubenspraxis anderseits sind die beiden Pole, um die Arnolds Denken, bisweilen unausgesprochen, kreist. Die contradictio in adiecto, welche Arnold als gelehrten Pietisten charakterisiert, erweist sich als eine scheinbare; Sprache vermittelt bei ihm zwischen Theorie und Praxis, indem sie, den jeweiligen rhetorischen Wirkungsabsichten gemäß, die Kluft zwischen beiden optimal zu überbrücken sucht, (gelehrtes) Wissen der Praxis zuführt und Praxis, in die Form des Wissens übersetzt, nachvollziehbar machen will.

2.  Ausbürgerung des Profanen aus dem Gelehrtenstaat und der Pädagogik Die Interpretation von Arnolds Stellungnahmen zum Gelehrtenwissen allgemein und zu einzelnen Gelehrtendisziplinen, seiner verstreuten metasprachlichen Äußerungen und seiner pädagogischen Zielsetzungen vermittelt eine zwar mehr oder weniger in sich geschlossene, aber verkürzte, allgemeine Vorstellung von Arnolds Sprachverständnis. Dessen historische Bedingtheit soll vor dem Hintergrund der Arnold bekannten, jedoch hier nur in Umrissen präsentierten vom Humanismus bis zur Frühaufklärung reichenden Gelehrtenliteratur, welche die Gelehrsamkeit und den Gelehrten selber zu ihrem Gegenstand hat, herausgearbeitet werden. 3 Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, will die Lebensphasen des Pietisten stärker aufeinander beziehen, während Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik. Meerane i. Sa. 1923 (Ndr. Darmstadt 1964), die drei Etappen (1. Bekehrung durch Speners Einfluß in Wittenberg; 2. radikale Absage an die Welt und Niederlegung der Professur; 3. Eheschließung und Übernahme des Pfarramts) deutlich voneinander abhebt und von Brüchen in Arnolds Leben spricht. Auch wenn Büchsels Arnoldbild eine harmonisierende biographische Sicht verrät, indem es die Ganzheit dieses Lebens betont, wird man es wohl, wie auch aus dem Folgenden hervorgeht, vorbehaltloser übernehmen dürfen als dasjenige Seebergs.

Die Rhetorik des Heiligen Geistes

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Nicht von ungefähr kommt es, wenn Arnold den Gegensatz zwischen profanem und sakralem, weltlichem und geistlichem, heidnischem und christlichem Wissen auf die Spitze treibt, die christliche Dichtung (poesis sacra) und die mystische Rede (sermo mysticus) so entschlossen aufwerten und das Geistige von den schädlichen Einflüssen alles Weltlichen rein halten will. 2.1.  Entweltlichung der Wissenschaften und Künste oder der Sieg Jerusalems über Athen Dycks Buch Athen und Jerusalem wendet sich der einen Traditionslinie zu, welche die Überlegenheit des Christlichen im Vergleich zum Antiken bzw. Heidnischen betont, und verfolgt sie exemplarisch vom Barock bis zum Sturm und Drang. Darin kommt zum Ausdruck, wie sehr pietistische Autoren, unter ihnen namentlich Gottfried Arnold, die Hinwendung zum christlichen Geist und damit zur genaueren Bestimmung des genuin Christlichen am Ende des 17. und in den ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts mitverantworten. Der hier dargestellte Sieg Jerusalems über Athen war zwar vorbereitet worden, lange bevor der Pietismus aufkam. Einzelne seiner Repräsentanten haben jedoch einen maßgeblichen Anteil an der radikalen Verurteilung der heidnischen Antike und der gleichzeitigen Hochschätzung der Zeit des frühen Christentums, der Autorität der Kirchenväter und der mystischen Tradition vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Pietistische Erbauungsliteratur und Bibelpoesie möchten ein innerhalb der Grenzen streng christlicher Unterweisung und Belehrung bleibendes Erziehungs- und Frömmigkeitsideal verwirklichen helfen. Dyck hat schon auf diese Bestrebungen des Pietismus hingewiesen, dem eine „Abwehr humanistischer Kunstauffassung zentral“4 sei. Er zählt Hamann zu den Hauptverfechtern einer religiös inspirierten Dichtung und stellt von ihm ausgehend die Verbindung zum Sturm und Drang her.5 Der Vorgang der Säkularisation in der Literatur der Sturm- und Drangzeit6 gehört schon lange zu den umstrittenen und immer wieder aufgegriffenen Gegenständen der Germanistik. Aber die Gegenbewegung, auf die der Sturm und Drang antwortet, verdient nicht weniger Beachtung. Manche Pietisten gehören zu den wichtigsten Vertretern eines christlichen Humanismus, wie das Seeberg zutreffend bereits für Gottfried Arnold fest4 Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, S. 116. 5 Ebd., S. 114–123. 6 Vgl. auch Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. Frankfurt a.M. 21973 (1. Aufl. Wiesbaden 1961). Auf eine Kritik des Säkularisationsbegriffs muß hier verzichtet werden. Jedenfalls zeigt sich, daß Pietistisches vom Sturm und Drang unter anthropozentrischweltlichem Blickwinkel übernommen wurde, beispielsweise die Gefühls- und Herzensrhetorik.

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Arnoldstudien

gestellt hat.7 Einige geistesgeschichtliche Linien, welche zu ihm hinführen, können nun versuchsweise stärker ausgezogen werden, nachdem man seit der Entdeckung des Bibliothekskataloges über seinen Bücherbesitz etwas besser Bescheid weiß.8 Schon Seeberg ist auf einen in dieser Hinsicht wichtigen Gewährsmann Gottfried Arnolds aus dem 16. Jahrhundert, auf den Spiritualisten Sebastian Franck, gestoßen, und er hat ihm in seinem Buch einen eigenen Abschnitt gewidmet. Man habe, „[...] bei einem Vergleich der Gedankenwelt der beiden Männer [...] die Empfindung, als reichte Arnold über eineinhalb Jahrhundert hinweg seinem einsamen Bruder im Geist die Hand“, doch könne „von einer Abhängigkeit Arnolds von Franck [...] natürlich nicht die Rede sein.“9 Letztere Einschätzung trifft nicht zu. Immerhin waren laut Auktionskatalog mindestens vier Werke Francks in Arnolds Besitz,10 so daß nicht bloß vage von einer geistigen Affinität zu Franck gesprochen werden darf; vielmehr hat man mit größter Wahrscheinlichkeit auch unmittelbare Einflüsse anzunehmen.11 Besonders geeignet, Franck als Vorläufer des radikalen Arnold zu betrachten, sind jedoch jene Schriften, in denen die welt7 Seeberg (Anm. 3), S. 34. 8 Reinhard Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog zur Bibliothek Gottfried Arnolds. In: Gottfried Arnold (1666–1714) . Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 55– 143. 9 Seeberg (Anm. 3), S. 516f. 10 Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi, inspectoris et pastoris Perlebergensis 1714. Faksimile-Ndr. in: Gottfried Arnold (1666–1714) (Anm. 8), S. 337–410. Der Catalogus erwähnt die Chronica (S. 339), die Paradoxa (S. 359), die Abhandlung von der Trunkenheit (S. 359) sowie das Kriegs=Büchl des Friedens (S. 378). Er erfaßt nicht einmal alle Bücher, die Arnold einst besessen, geschweige denn alle die, welche er gelesen oder gekannt hat (vgl. Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog, Anm. 8, S. 61–65). 11 Die entscheidende Stelle in Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer= Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1729 (Faksimile-Neudrucke Hildesheim 1967 und 1999), Theil II, Buch XVI, Capitel XXI, 40–43, S. 748–750, an der er auf Franck eingeht, ist Seeberg (Anm. 3) freilich wohlbekannt (S. 516 Anm. 2). Arnold erwähnt dort eine Reihe von Werken Francks, die ihm „zu handen kommen“ (43, S. 750), darunter auch alle Schriften, die hier mit Nachdruck in Erinnerung gerufen werden, weil Seeberg ihnen keine oder nicht genügend Beachtung schenkte. Daß Franck auf der Liste der Gewährsleute in Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie oder geheimen Gottesgelehrtheit wie auch derer alten und neuen Mysticorum. Frankfurt a.M. 1703 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969) fehlt, könnte mit taktischen Rücksichten erklärt werden ebenso wie die Zurückhaltung, die Seeberg auf Seiten Arnolds im Umgang mit Franck vermutet. Ob Arnold diesen wirklich der mystischen Tradition zurechnete, muß ebenfalls dahingestellt bleiben. Als wichtigster Vorläufer Arnolds wird dagegen Sebastian Franck bezeichnet von Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Gottfried Arnold. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 7. Orthodoxie und Pietismus. Hg. von Martin Greschat. Stuttgart 1982, S. 261–275, hier S. 273.

Die Rhetorik des Heiligen Geistes

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liche Gelehrsamkeit scharf verurteilt und das Reden des Heiligen Geistes im Innern des erleuchteten Menschen12 dem äußerlichen Sprechen, dem fleischlichen Wort,13 entgegengesetzt wird. „Die ander Kunst vnd weißheit / so ein Thorheit vor der Welt ist / ist Göttlich vnd ein frucht des Bawmes des lebens / wer sie hat / kan nimmer sterben. Dise kompt durch des Weibs samen in menschen / vnd würt allein von Gott geben vnd gelert / die ist liebreich / thättig / göttlich / nüchter / etc. Vnd heisst die Kunst oder erkantnus Gottes in der Schrifft. Darumb das sie nicht vnd von nichten weiß / dann von Gott. Dise leert vnd predigt Gott selbs / in aller gelassenen menschen hertzen. Dise nimpt sich nichts an / vnd wie sie bloß aus Gott ist geflossen / also tregt sie alle ding wider in Gott. Sie verneüet / rechtfertiget / macht lebendig / vnd Gott gleich / Jedoch kompt sie in keinem / er hab dann allen weltlichen lüsten / künsten / willen / weißheit / entsagt.“14

Nicht der Baum der Erkenntnis, von dessen verbotenen Früchten die sogenannten verkehrten Gelehrten naschen,15 sondern der des Lebens16 vereinigt den Men12 In Francks Schrift ‚Von dem Bawm des Wissens Guts vnd Böß‘ finden sich wiederholt nachdrückliche Verweise auf die Wiedergeburt, so z.B. Bl. 135v: „[...] da hülfft nichts für / er ziehe dann den alten Menschen aus / vnd sei kein mensch mer / sonder ein neü geburt / Creatur / vnd gottes kindt.“ Siehe in: Sebastian Franck: Das Theür vnd künstlich Büchlin Morie Encomion / das ist / Ein Lob der Thorheit / von Erasmo Roterodamo schimpfflich gespilt / zu lesen nit weniger nützlich dann lieblich / verteütscht. [Auf demselben Titelblatt angekündigt und in entsprechender Reihenfolge mitgedruckt sind folgende Schriften:] Von der Heylosigkeit / Eitelkeit / vnd vngewißheit aller Menschlichen Künst vnd Weißheit / Zu ende mit angehefft. Ein Lob des Esels / auß Heinrico Cornelio Agrippa / De Vanitate / etc. verteütscht. – Von dem Bam des wissens Gutz vnd Böß / Dauon Adam den Todt hat gessen / vnd noch heüt alle Menschen den Todt-essen [sic! M.] / Was der sei / vnd wie er noch heüt jederman verbotten. Was dargegen der Bawm des Lebens sei. – Encomium / Ein Lob des Thorechten Göttlichen Worts / Was das sei / von des selben Maiestät / vnd was für vnderscheid zwisschen der Schrifft / eüssern vnd innern Worts sei. Alles zum teil verteütscht / zum teil beschrieben / durch Sebastianum Francken von Wörd. Zu End mit einem Register / alles inhalts. Wo vil weißheit ist / da ist vil onmuts. Vnd wer vil erfärt / muß vil leiden. Eccles. 1. s.l. s.a. [Exemplar UB Basel]. 13 Ebd., Bl. 142r: „Darumb bleibt es war / das auch der Buchstab die Schrifft weder lieb noch glauben gibt / sonst wer niemandt so fast glaubig als die gelerten / die doch gemeiniglich sein die verkerten.“ 14 Ebd., Bl. 141r. 15 Siehe Anm. 13, Zitat; die Formel ‚verkehrte Gelehrte‘ ist auch den Pietisten geläufig. Zum Thema allgemein: Carlos Gilly: Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung. Florenz 1991. 16 Bemerkenswert ist, wie in Faust I (Vers 2038f.) Mephisto dem wißbegierigen Schüler den Baum des Lebens näherbringen und die Lust an der grauen Theorie verderben will. Ist bei Goethe dem Teufel dasselbe wie einst den Pietisten heilig? Voreilige Schlüsse sollten nicht gezogen werden. Andere Überlegungen finden sich in: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen 2001. Dazu meine Rezension in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 114, 2003, S. 436f.

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schen, der den irdischen Lüsten entsagt und dafür der himmlischen Gnade teilhaftig wird, mit Gott. So kann Franck die wahre Gottesgelehrsamkeit „mer ein erfarnus [...] dann ein kunst“17 nennen. Das geschriebene wie das mündliche Menschenwort treten in ihrer Bedeutung völlig hinter dem erfahrenen, lebendigen Wort Gottes zurück, durch welches der göttliche Geist unmittelbar (on mittel) dem Menschen sich offenbart.18 Das Reden von Gott reicht nie an das Reden Gottes in der menschlichen Seele heran. Erfahrungen, die, sich selber genug, keiner Objektivation bedürfen, können durch das gesprochene Wort nicht adäquat wiedergegeben werden. Sogar dem Bibelwort haftet der Geruch des Vermittelten und damit etwas IrdischÄußerliches an wie übrigens, mehr noch, einer jeden Exegese, die sich des Buchstabens bedient.19 Franck bleibt in der Hypostasierung des Lebens, das er mit der lebendigen Gotteserfahrung, dem Hören auf die Worte des Heiligen Geistes im Innern der Seele, gleichsetzt, ebenso konsequent wie in der Ablehnung des todbringenden profanen Wissens, das Nicht-Wiedergeborene bei der Ausübung ihrer Brotkünste verbreiten.20 Allein den Erleuchteten kann weltliches Wissen getrost 17 Franck: Von dem Bawm (Anm. 12), Bl. 142r. 18 Franck: Encomion (Anm. 12): „Von der Maiestet des freien / selbsständigen / ewigen / Göttlichen worts / wie es an nichts gebunden / inn nichts verschlossen / auch nit mit der Schrifft / vmbzeünnet werden mög. Jtem ein vnderschaid zwischen der Schrifft / eüssern vnd innern Wort.“ (Titel, Bl. 167v). „Das lebendig wort ist / das inwendig vns leret / vnd fruchtbar macht. Das tödt / das vns im Buchstaben vnd flaisch würt fürtragen.“ (ebd., Bl. 170v). „Darumb ist das geschrieben Wortt / nit das waar wort / sonder nur ein muster dauon / Ja auch die schrift außgesprochen vnd herauß geredt / ist nit Gottes wort warhafftig / sonder allein des selben zeügnuß.“ (ebd., Bl. 173r). Francks kleine Abhandlung über das menschliche und göttliche Wort verdiente es, ausführlicher referiert und interpretiert zu werden. 19 Franck (Anm. 12): Encomion / das Lob des Göttlichen Worts. In: Das Theür vnd künstlich Büchlin, Bl. 158v/159r: „[...] wir kein Abgot aus der Schrifft machen / vnd wissen das etwas höhers zum himmel von nöten sei / dann ein Bibel / Nämlich / das wir Gott bitten vmb das liecht seins Worts / das in diser latern werde auff gesteckt. Jtem vmb den rechten Lerer den Heiligen geist / der vns in die Schrifft richt / anleit / vns lere / die siegel auffthu / vnd diser monstrantz heilthumb vns zeig / Nämlich / sein Göttlich wort / gesatz / willen / vnd verstand / vnder disem tödtenden Buchstaben verdeckt. Vil meinen es sei genug das sie ein Bibel haben / die lesen können [...].“ – Diese Schrift lernte ich zuerst in einer Vorlesung Karl Pestalozzis, Basel, über Sprachauffassungen in der Zeit des Humanismus kennen. 20 Ebd., Bl. 155r/v. Schillers Unterscheidung zwischen dem Brotgelehrten und dem philosophischen Kopf erinnert von fern an die von Franck und den Pietisten getroffene zwischen den Anhängern weltlicher und geistlicher Gelehrsamkeit; an die Stelle der göttlichen Inspiration, der passiven Wahrnehmung des göttlichen Worts, das den Erleuchteten beseelt, tritt beim Philosophen (Weltweisen!) in Schillers Typologie das selbsttätige Erkenntnisvermögen, dessen Trieb nach Wahrheit sich am eigenen Geist um des Geistes willen vergnügt. Es darf also das Subjekt ohne Hilfe von außen die Früchte seiner Erkenntnis genießen.

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anvertraut werden, da sie vor dem Mißbrauch des überlassenen Gutes durch die illuminatio geschützt sind: „Summa / diß sei der beschluß allersach / vnnd da bei würt es bleiben / Der Gott sälig neü geboren Mensch würt vnd kan allein alle ding brauchen / alle künst / vnd auch der Haiden Bücher mit lust nützen vnnd lesen. Man kan jm nichts werenn oder verderben / er ist ein reins binlein / warauff er sitzt / darauß saugt er eittel honig vnd leben / auch auß dem tod vnd sünd.“21

Da dem Reinen alles rein ist,22 kann er sich an jedes äußere Wort heranwagen, ohne Schaden zu nehmen. Die erfolgte Wiedergeburt nimmt dem eitlen, weltlichen Wissen seinen Stachel. Vor der Wiedergeburt, der Einkehr Christi im Herzen, wird sich der Gläubige von den Erscheinungen der Sinnenwelt, wozu auch die Leistungen sämtlicher artes gehören,23 abwenden und sein Herz dem Einfluß des göttlichen Geistes zugänglich machen. Dessen Wirken kommt der Individualität des Gottsuchenden entgegen, was die durch die artes vermittelten technischen Anweisungen niemals zu leisten vermöchten. Den Begriff des Individuums, der seit Herder Geschichte gemacht hat, finden wir bei Franck vorgeprägt. Dieser faßt ihn, wenn auch nicht explizit, allerdings von der spezifischen Wirkungsweise Gottes im Seeleninnern des Gläubigen, vom Vorgang der Wiedergeburt her, in deren je einmaligem Verlauf das Individuum dank des Hebammendienstes des göttlichen Geistes erst seiner selbst gewahr wird.24 Sprachliche Äußerungen können angesichts dessen allein die Begrenztheit ihrer Reichweite feststellen und auf die Notwendigkeit der individu21 Ebd., Bl. 177v/178r. Man vergleiche die Aufnahme und Abwandlung des der humanistisch-eklektischen Imitatiolehre vertrauten Bienengleichnisses. 22 Franck: Von dem Bawm (Anm. 12), Bl. 135r. Immer wieder begegnet dem Leser pietistischer Schriften das Wort aus dem Titusbrief 1,15 an zentralen Stellen der Argumentation. 23 Ein einfältiger Bauer, meint Franck, könne die mit den menschlichen Künsten beschäftigten Gelehrten „mores leren“ (Encomion, Anm. 12, Bl. 166r). Die „Künstler vnnd Weltgelerten“ haben „glatt kein vortail / für dem geringesten Jdioten“ (Franck: Zeugnusz der Schrifft / [...]. In: Das Theür vnd künstlich Büchlin, Anm. 12, Bl. 144r). Der geharnischten Gelehrtenkritik entspricht das Lob des einfachen Mannes aus dem Volk. 24 Franck: Encomion (Anm. 12), Bl. 174v/175r: „Wie vil Rechtbücher nu vorhanden sein / so sind doch die Fäll so mancherlei / das sich etwa einer zutregt / darumb man keinen außdruckten Canonem odder gesatz hat / vnd erst auß vernunfft dichten und finden muß. Also tregt sich offt so ein seltzamer Fall zu / dann eim die gantze schrifft wil zurinnenn / das sie disen nit mag leeren / trösten / laitten / befrieden / vnd erst zu Gott einkeren / vnd Got vmb ein sonder [Hervorhebung von mir; M.] wort des geists raths fragen muß / sein wanckend gewissen zu erlaben [...]. Nit anders / dann wie ein gemeiner schein der Sonnen ist / so vil doch ein ieder erleücht dauon gesihet / so uil ist die Sonn sein [M.]/ vnd sein [M.] Sonn genent. Also wie vil ein ieder von Gott vnnd seinem Wort hat / so vil ist Gott sein / so vil hat er den gemeinen Gott sonder [M.]/ vnd des gemein Wort eigen [M.] [...]. Derhalb ist die schrifft vil zu wenig / das sie einem zapplenden gewissen in all seinen anstössenn genug thu / vnnd befride / Gots lebendigs

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ellen Selbstfindung in Gott, auf die Praxis der inneren Läuterung, verweisen. In der guldin arch, einem geistlichen Florilegium mit Zwischenkommentaren, betont Franck die Entbehrlichkeit von Auslegekunst und Predigt für den Erleuchteten, dem das brennende Licht des Geistes im eigenen Innern die Bibelworte erhellt.25 Franck bezieht sich in seiner Anklage der irdischen Torheit neben Erasmus auf Agrippa von Nettesheim, aus dessen De incertitudine et vanitate scientiarum er ganze Abschnitte übersetzt und in sein eigenes Encomion des göttlichen Worts einfügt.26 wort muß es selbs thun / vnd dise eer hat jm Gott allein vorbehalten / vnnd weder der schrifft / noch keiner Creatur vergönt.“ 25 Sebastian Franck: Die guldin arch darein der kern und die besten hauptsprüch der Hayligen Schrift / alten Lerer und Vätter der Kirchen […] zusamen tragen. S.l. 1539, Vorrede iii: „Der gläubig aber / so si [ = die Bibel; M.] gelassen imm gayst lißt und verstehet / dem ist sie das ewig leben / und legt sich mit forcht und zyttern imm glauben gelesen / selber auß dann der Gottgläubig / so Gott inns hertz sicht / sicht gleich inn seinem liechte / das liecht und den sinn der schrifft / was und wie es Gott alles gemaynt hab. Derhalb verstehet er auch die schrifft allayn [...].“ Der Vergleich der Zitate, die über Francks Stellung zu den sprachlichen Objektivationen Auskunft geben, läßt, bei prinzipiell konstanter Abwertung des äußeren Worts, Nuancen in der Ein-, bzw. Hochschätzung des Bibelworts erkennen. 26 Franck: Encomion (Anm. 12), Bl. 152v. Die Kritik an den Repräsentanten der einzelnen Künste, Encomion, Bl. 165v–166v, stammt aus cap. 100 ‚de verbo dei‘ (S. 544–557) in: Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: De incertitudine & vanitate omnium scientiarum et artium liber. Frankfurt a.M. / Leipzig 1715. Die Übersetzung Francks stellt ein einmaliges Zeugnis der auch für Arnold relevanten Gelehrsamkeitskritik dar. Im Anhang seiner Schulschrift ‚Der woleingerichtete Schul-Bau nach denen vornehmsten Stücken einer wohlbestelleten christlichen Schule in einer Introductions-Rede summarisch entworffen / nunmehro aber auf Begehren etwas erläutert. Leipzig / Stendal 1711‘ werden wie bei Franck Agrippa und Erasmus als Kronzeugen der richtigen Unterscheidung von wahrer und falscher Gelehrtheit genannt. Die wenig bekannte Stelle aus Francks ‚Encomion‘ sei daher ausführlich zitiert: „Die Theologen predigen vil von Gottes Wort vnd gebot / wann sie es sollen zu werck ziehen / so ist niemandt daheim / Ja können es kaum leiden / das es andere thun / dz sie etwa selbs leren / sonder lassen es fein bei den worten bleiben / vnd machen ein lautter kunst / geschwätz / vnd Disputation aus dem Wort Gots / vnd wöllen lieber gescholten sein / Gottes wissend vnd erkenner / dann lieber. [...] Der Grammaticus verhüt in alweg / das er nit felh inn der red / aber die fäl des lebens acht er nit groß. Des gleichen auch der Poet / wil lieber an seinem leben vnd glauben / dann an seinen Carmen hincken. Die Philosophi wöllens alles wissen / vnd wissen sich selbs nit. Der Histori schreiber / beschreibt alle völcker / vnd seines lebens hat er kein acht. Der Rhetor besorgt mer er rede übel / dann das er übel, leb vnd glaub. Der Dialecticus weicht ehe von der Warheit / dann das er von seinem kopff vnd Conclusion stehe. Die mit den Circkel vmbgehen / messen alle ding ehe auß / dann jr leben. Der Musicus hat mer acht / dz der gesang nit dissonier vnd mißhäl / dann das sein leben vnnd gemüt zu samen stimm. Die Sterngücker durch wandern den gantzen himmel / vnd sagen zukünfftig ding / die grub die jn vor dem maul stehet / sehen sie nit. Der Weltschreiber zälet alle Berg / Tall / Wäld / Flüß / vnd Land / Jedoch machet diß den menschen nit vmb ein haer besser. Der Artzt hailet aller krancken leib /

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Während für Franck der Wiedergeborene allein in den Besitz der göttlichen Weisheit gelangt, die Bibellektüre also nur dem Erleuchteten zum Segen gereicht, setzt Agrippa das Bekehrungserlebnis nicht voraus, wiewohl er seine Leser zur Selbsterkenntnis ermahnt: „Jam non in scholis philosophorum & gymnasiis sophistarum, sed ingressi in vosmetipsos, cognoscetis omnia […].“27 Die Bibel enthält die Summe allen gelehrten Wissens, und die Bibelgestalten sind die besten Lehrer, die wahren Magister der Wissenschaften.28 Wer sich dem Buch der Bücher anvertraut, bleibt von den schädlichen Wirkungen der Weltweisheit der anderen, unreinen Quellen verschont. Blütezeiten der Wissenschaften, die eine Vorliebe für Sprachkenntnisse und rhetorischen Schmuck entwickeln, kennzeichnen in der Geschichte des Christentums den Verfall: Ketzereien breiten sich aus, der kirchliche Friede wird gestört.29 Die Rhetorik als Kunst der Überredung, die aus heutiger Sicht Humanismus und Reformation miteinander verbündete, ist hauptverantwortlich für die folgenschwere Zwietracht unter den Christen. Agrippa hatte, im Gegensatz zu manchen Reformationshistorikern unter den Theologen des 20. Jahrhunderts, keinen Grund, die Bedeutung der Rhetorik für die Verfechter des neuen Glaubens herunterzuspielen oder sogar zu leugnen. Seine Polemik gegen die neuen Verführer kann trotz ihrer Standortgebundenheit den seit Dockhorn wieder gewonnenen Einsichten als indirekte Bestätigung dienen.30 Wie allein schon aus den beigefügten Zitaten ersichtlich, kämpft Agrippa mit rhetorischen Mitteln gegen die

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vnd verseümet sein eigen seel zu hailen. Die Juristen / sindt der menschlichen gesatz vnnd gebot überauß gefliessen / Gottes gebot onachtsam / über tretten sie / so gar / das zu einem sprichwort ist worden / Das weder der Artzt wol lebt / noch der Jurist wol stirbt. Darumb das der Artzt gar ein onmässig geschlecht der Menschen / vnd die Juristen die bösten Christen sind.“ Arnold hat Agrippas Werk besessen (Catalogus, Anm. 10, S. 389: Agrippa de Vanitate Scientiarum). Agrippa (Anm. 26), operis peroratio, S. 570. Ebd., S. 572: „Igitur ad Moysen, ad prophetas, ad Salomonem, ad evangelistas, ad apostolos recurrendum est, qui omni modo doctrina, sapientia, moribus, linguis, vaticiniis, oraculis, prodigiis, & sanctitate coruscantes, de divinis ex ipso, de inferioribus autem supra homines locuti sunt, omnia dei & naturae secreta nobis clara luce tradiderunt. Omnia enim dei & naturae secreta, omnis morum & legum ratio, omnis praeteritorum, praesentium, & futurorum notitia, in ipsis sacris bibliorum eloquiis traduntur.“ Ebd., cap. 101 ‚de scientiarum magistris‘, S. 560: „Nunc verò ubi linguarum peritia, dicendi ornatus, & authorum numerus reviviscunt, invalescuntque scientiae, turbatur ecclesiae tranquillitas, & novae insurgunt haereses.“ Ebd., cap. 6 ‚de rhetorica‘, S. 59: „Qui sunt duces Germanicarum haeresium, quae ab uno Luthero suscepto exordio hodie tam multae sunt, ut fere singulae civitates suam peculiarem habeant haeresin: nonne authores illorum homines disertissimi linguae eloquentia & calami elegantia instructi […]?“ Klaus Dockhorn: Rhetorica movet. Protestantischer Humanismus und karolingische Renaissance. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert. Hg. von Helmut Schanze. Frankfurt a.M. 1974, S. 17–42, beklagt, wie erfolglos er die Theologen auf Luthers Verwendung genuin rhetorischer Quellen hingewiesen habe (S. 20f., Anm. 6).

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Rhetorik, so daß er selber dem Kreis derer anzugehören scheint, von denen er sich so vehement abgrenzt. Die einseitig betonte Bibelabhängigkeit weist ihn zwar als Vertreter eines christlichen Humanismus aus, wenngleich er, um den von den artes angerichteten Schaden augenfällig zu machen, immer wieder auf Exempel der antiken Tradition zurückgreift. Nicht alle christlichen Humanisten gingen in der Verachtung der Künste so weit wie Agrippa, und manche kamen auch zu einer grundsätzlich toleranteren Haltung heidnischen Schriften gegenüber. Ludovico Vives, der im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert noch mit Vorliebe in Gelehrtenkreisen zitiert wird, ist sich über die Gefahren einer Rezeption heidnischen Schrifttums namentlich durch die Jugend bewußt, glaubt aber, daß durch Einhaltung der vermittelten pädagogischen Anweisungen Schlimmes vermieden werden könne.31 Matthias Flacius Illyricus unterstreicht in seiner Bibelhermeneutik, wie unentbehrlich die Rhetorik und die weltlichen Wissenschaften seien, und distanziert sich von den ‚Fanatikern‘, die ohne sie auszukommen glaubten.32 Die Aufnahme der humanistischen Tradition durch die Pietisten sowie ihre Beurteilung Luthers und der Reformation33 wären dankbare Untersuchungsgegenstände. Man wird sich an Werke bedeutender christlicher Humanisten des 16. Jahrhunderts, vor allem an solche des Erasmus, erinnern, wenn es um die Vorgeschichte der Entweltlichung der Wissenschaften durch den Pietismus geht. Die Auswahl, die Arnold trifft, ist zudem durch eine gewisse Vorliebe für Außenseiter (Franck, Agrippa) gekennzeichnet, welche den menschlichen Künsten skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Ihn aber auf solche Gewährsleute dieser Zeit festlegen zu wollen, würde seinen umfassenderen Interessen nicht gerecht.34 Den humanistischen Imitatiolehren freilich, welche die Lektüre und Nachahmung heid31 Johann Ludwig Vives: Ausgewählte Schriften. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit einer einleitenden Abhandlung über Vives’ Leben und Werke. Hg. von Jacob Wychgram. Wien / Leipzig 1883 (De tradendis disciplinis, S. 244–294). 32 Matthias Flacius Illyricus: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der heiligen Schrift. Lateinisch-deutsche Parallelausgabe, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1968, S. 79: „Nec tamen interea fanaticos homines sequi debemus; quasi humanae scientiae sint prorsus inutiles, aut etiam noxiae ad cognitionem Sacrarum literarum, & doctrinae coelestis. Oportet enim discere linguas, & eruditas Grammaticas. Utilis ac plane etiam necessaria est Dialectica ac Rhetorica, & reliquae Philosophiae cognitio.“ Flacius weist aber auch auf die Bedeutung der göttlichen Gnade für das Erkennen hin. Zu Flacius vgl. Rudolf Keller: Der Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes bei Matthias Flacius Illyricus. Hannover 1984. 33 Zu Luther – Arnold siehe Seeberg (Anm. 3), S. 438. 34 Mit verschiedenen Werken sind im ‚Catalogus‘ (Anm. 10) Melanchthon, Erasmus und Pico della Mirandola vertreten, Marsilius Ficinus mit ‚De vita studiosorum‘. Nicht übersehen werden darf die recht umfangreiche Kollektion antiker Autoren, wozu u.a. Aesop, Hesiod, Pindar, Aristophanes, Isokrates, Plato, Ovid, Seneca, Tacitus, Sueton, Gellius und Ausonius gehören. Unter den Römern fehlen bemerkenswerterweise Ci-

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nischer Autoren mit Nachdruck vertreten, versagt Arnold zusammen mit anderen Pietisten die Gunst. Seine Literaturempfehlung im Anhang des Woleingerichteten Schul=Baus lenkt unser Augenmerk auf einen weiteren wichtigen Verfechter einer entweltlichten Pädagogik und Wissenschaftsauffassung, auf Kaspar von Barth, aus dessen Soliloquia Arnold gar lateinische Exzerpte mit kurzen deutschen Überleitungen abdrucken läßt. Barth ist nicht nur für Arnold, sondern noch für andere Pietisten eine unangefochtene Autorität.35 Sie erkennen in seinen emphatischen Bekenntnissen, von den weltlichen Neigungen abgekommen und ein Herold der göttlichen Sophia geworden zu sein, das Abbild eines exemplarischen Lebens. Immer wieder werden in seinem sehr umfangreichen Spätwerk Lasterhaftigkeit und Gottferne der Zeitgenossen angeklagt, die sich vom vorbildhaften Leben der frühen Christen abgewandt36 und daher eindringlichste Gewissensappelle, Belehrung und Ermahnung nötig hätten: Den Umgang mit der göttlichen Dreifaltigkeit haben sie einer sinnlosen Beschäftigung mit den weltlichen Künsten und dem Meinungswissen, also mit unerbaulichen Nichtigkeiten, geopfert. In dieser Hincero, Horaz und Vergil; die goldene Latinität ist also nicht vertreten. Zu Erasmus und Vives siehe auch Seeberg (Anm. 3), S. 290. 35 So für Theophil [Gottlieb] Spizel: Felix literatus ex infelicium periculis et casibus, sive de vitiis literatorum commentationes historico-theosophicae. Augsburg 1676, S. 1047, wo die ‚Soliloquia‘ und ihr Verfasser eigens gelobt werden: „[...] bonas horas optimè collocasset, maximumque in Sacro suo odio suscepisset negotium, seriam sc. à profanae doctrinae vanitate ad sinceram pietatem meditatus conversionem [Hervorhebung: M.]. Quâ de cumprimis testatur illustre SOLILOQUIORUM OPUS, extremis vitae temporibus à Barthio publicatum, flagrantissimis ad DEUM suspiriis oppidò plenum [...].“ Man erkennt, was dem Pietisten an diesem Lebenslauf gefällt. Auch Ahasver Fritsch: Dissertatio de vitiis eruditorum. Rudolstadt 1676, bringt ausführliche Zitate aus Barths ‚Soliloquia‘ (S. 7–11). Arnold hat die Ausgabe von 1655 besessen (Catalogus, Anm. 10, S. 364). Unverständlich erscheint, weshalb der Verfasser der Lebensskizze in der Allgemeinen Deutschen Biographie. Bd. 2, S. 102, allgemein behaupten kann, Arnold habe Barth verketzert. Literaturhinweise zu Person und Werk gibt Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 257–263, der sich allerdings nur mit Barths weltlichen Werken und ihrer antiklassizistischen Ausrichtung beschäftigt, während seine Religiosität, mit dem Odium der Bigotterie und der Reaktion auf eine gierige Inbesitznahme der Welt behaftet (S. 261), ausgeklammert bleibt. Seine Wirkung auf die Erbauungsschriftsteller, allen voran die Pietisten, darf dabei nicht vergessen werden. Zur Person Barths siehe auch Wilhelm Kühlmanns biographischen Artikel in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2. vollst. überarb. Aufl. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 1. Berlin/New York 2008, S. 332f.; weitere Literaturangaben in: Heiner Schmidt: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Duisburg 1994, S. 453. 36 Kaspar von Barth: Soliloquiorum rerum divinarum libri XX. Zwickau 1655, lib. X, cap. VII, S. 329: „O excordes, & fastu seculari excaecati, revertimini retrò cum animis vestris, retrò redigite ad Acta priorum temporum, & historiarum seriem, cogitationes vestras, invenietis illic, quid faciat gloriosum hominem Christianum in Christiano populo. [...] Inter haec quis locus sit eruditioni Philosophicae?“

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sicht sind Barth vor allem Poesie, philologische Akribie, Rhetorik, die Philosophie, insbesondere Logik und Disputationslehre, verdächtig und verhaßt.37 Schmucklos und ohne gelehrte Ambition läßt sich die schlichte christliche Wahrheit, dem Leben verbunden, mitteilen; die Einfalt bedarf der Kunst nicht. In jener verwirklicht sich für Barth die Lebensnorm der Gottgefälligen.38 Dem Vergnügen, das nicht erbaut und den Menschen nicht Gott, sondern der Welt zuführt, steht er äußerst ablehnend gegenüber, und das rhetorische ‚delectare‘ ist von diesem grundsätzlichen Argwohn mit getroffen. Barth gelangt in seinen Soliloquia so zu einer starken Betonung des Gegensatzes zwischen weltlichen Bedürfnissen und geistlicher Forderung. Die Unversöhnlichkeit beider Ansprüche hat auch Arnold, zumindest in seiner radikalen Phase, nachdrücklich hervorgehoben. Er zählt die Soliloquia zu den ihm so teuren Quellen gelungener Selbstdarstellung, die „[...] mehr Wahrheit in sich / als insgemein geglaubet wird“39 enthalten. So geht auch bei Barth der Entzündung der Liebesflamme im Herzensinnern und der Erleuchtung durch den göttlichen Geist zwingend die Vertreibung des Weltgeistes voraus. Arnold hat die Schlüsselstelle in seine kleine Exzerptsammlung aufgenommen. Die Feuermetaphorik scheint Barth, wie Arnold und vielen anderen, geeignet, die Wirkung des göttlichen Lichts in der erleuchteten Seele sprachlich angemessen zu veranschaulichen: „Weshalb grübeln wir und mühen uns in unserer Herzensangst mit Gelehrsamkeit, Lektüre und Beredsamkeit ab, so daß wir darüber unsere Zeit verlieren, unsere Körperkraft aufbrauchen und uns in Sorge verzehren, um doch bloß einen Schatten von Wissen in eitler Mühe zu erlangen? Der Geist gewährt uns ja und bietet uns das Leben selbst an, nicht für die Bücher, nicht in den Büchern, sondern für unser Herz, für unser eigentliches Leben. Was sollen neben dem Angebot und Geschenk dieses [Lebens-] buches die sorgenvollen und mühseligen Wissenschaften, Studien und Überlegungen, das Forschen nach sinnlosen Erkenntnissen? 37 Ebd., lib. XX, cap. XXXII, S. 964: „Quid Cyprii Lepores, Virgunculaeque sannae? / Quid Apollini & Camoenis / Novem, joci, placentes? / Quid amabilis Thaliae / Rosae ore profluentes? / Quid melle tincta, mille / Deliriis metrorum / Blandum ingruens Poesis? / Quid Artium Universa / Heliconiarum Imago? / Quid vincta Syllogismis, / Ratio aegra disserendi? / Quid Eloquentiae vi / Solvenda tot plicarum / Sententiosa techna? His Vita vana gaudet, / Erratilesque Curae, / Hominum, in diem, absque sensu / Viventium profane. / Titillat ista larva / Animas Humi tenaces: / Sapientiae perennis / Sophia, hos perinde damnat [...].“ Ebd., lib. V, cap. IV, S. 405, spricht er vom Gefasel der ‚Grammatistarum‘ und ‚Rhetoricastrorum‘ und verurteilt scharf die Schönrednerei (studium eloquentiae nitidioris). 38 Ebd., lib. XII, cap. I, S. 97f.: „Simplicitati vero, quam Columbae nobis effigie praescripsit, Serpentinam prudentiam nos jungere praecepit. Eamque ideo, ut cavere nobis à malis antiqui Serpentis artibus queamus. Itaque simplices in cursu Vitae, simplices in conversatione cum proximis nostris, simplices item simus in Spe, Fide, Oratione, Gratiarum Actione, perpetua erga Deum.“ Die Schlangenklugheit freilich will Arnold nicht mit der unschuldigen Einfalt in eine so nahe Beziehung bringen. 39 Arnold: Mystische Theologie (Anm. 11), Literaturverzeichnis, S. 489.

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Wir dürfen diese [unsere] arme Seele nicht kränken, plagen und foltern, indem wir sie ständig für die Enttäuschungen hinfälliger Hoffnungen in den Dienst nehmen, damit sie sich ja nicht aus eigener Kraft zu ihrer Freiheit aufschwinge; sondern wir müssen sie mit göttlichem Licht erleuchten und aufrichten, an den Flammen des himmlischen Feuers entzünden, damit sie die Asche der zeitlichen Irrtümer abschüttelt und aus dem Rauch der unzähligen Eitelkeiten auftaucht, in den sie sonst eingehüllt ist, so daß sie gezwungen wird, die Augen vor der himmlischen Erleuchtung zu schließen.“40

Allerdings traut Barth der Seele und dem Subjekt per se bisweilen mehr selbstreinigende Kräfte zu als Arnold, indem er sie aktiver als dieser an ihrer eigenen Erlösung beteiligt sein läßt und sie nicht so ausschließlich41 der mittels Gebet zu erflehenden Wirkungsbereitschaft göttlicher Gnade aussetzt. In den Schriften Pierre Poirets42 erreicht die Kritik an der zur reinen Weltweisheit verkommenen Philosophie ihren Höhepunkt sowohl hinsichtlich der Vielfalt der gegen sie vorgebrachten Argumente als auch der erkenntnistheoretischen Tiefe der gegebenen 40 Barth (Anm. 36), lib. V, cap. III, und Arnold: Schul-Bau (Anm. 26), Anhang, S. 72: „Quid in anxietate Animarum nostrarum scrutamur, indagamus, in Eruditione, Lectione, Eloquentia, ut perdamus super his tempora nostra, consumamus medullas corporum Animorumque curas incendamus, quo potiamur umbrâ Doctrinae in Laboribus Vanitatis; cum ipsam vitam nobis praestet, & offerat Spiritus, non in Libros, non in Libris; sed in corda nostra, & ipsam nostram Vitam? Quid ad oblationem & donationem hujus Libri, Litterae, Studia, Meditationes aerumnosae, laboriosaeq; futilium Eruditionum inquisitiones? Non affligenda, torquenda, crucianda, est misera haec Anima, quae servit perpetuis frustrationibus sperum caducarum, ne per se possit eniti ad libertatem suam, sed illustranda, & erigenda, lumine divino, incendenda superni ardoris flammis, ut excutiat à se cineres stultitiarum seculi, & emergat summos innumerabilium Vanitatum, quibus involuta, oculos claudere cogitur contra illuminationem caelestem [...].“ 41 Die Differenz zwischen Barth und Arnold ist so groß nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, darum die vorsichtige Formulierung. Das vorangehende Kapitel (lib. V, II) schließt mit einem an Christus gerichteten, innigen Gebet, das Hilfe erbittet. 42 Die Wirkung Poirets auf den deutschen Pietismus wäre eingehender, als es bisher geschehen ist, zu würdigen. Arnold erinnert an verschiedenen Stellen seines Werks an die Bedeutung dieses Philosophen (vgl. auch die indirekten Hinweise: Catalogus, Anm. 10, S. 394, Literaturverzeichnis in der ‚Mystischen Theologie‘, Anm. 11, S. 506). Seeberg (Anm. 3) weist auf die Nachwirkung der systematisierten Erkenntnistheorie der Mystik Poirets bei Arnold hin (S. 163 Anm. 2 und S. 206 Anm. 4), besonders S. 347–353, wo aber Poirets ‚Oeconomie divine‘ im Zentrum der wirkungsgeschichtlichen Betrachtung steht, vgl. immerhin S. 353 Anm. 5, wo schon auf ‚De eruditione solida, superficiaria et falsa‘ kurz eingegangen und eine Monographie als „dringend erwünscht“ bezeichnet wird. Weitere Poiretliteratur verzeichnet Reinhard Breymayer: Auktionskataloge deutscher Pietistenbibliotheken. In: Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der frühen Neuzeit. Hg. von Reinhard Wittmann. Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 10. Wolfenbüttel 1984, S. 113–208, hier S. 165–167. In unserem Zusammenhang wenig ergiebig der Beitrag Ernst Scherings: Pietismus und die Renaissance der Mystik. Pierre Poiret als Interpret und Wegbereiter der romanischen Mystik in Deutschland. In: Pietismus – Herrnhutertum – Erweckungsbewegung. Festschrift für Erich Beyreuther. Köln 1982, S. 39–70.

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Begründungen. Poiret unternimmt es, die der Verweltlichung angeklagten Gegner mit deren eigenen Waffen rationaler Beweisführung zu schlagen,43 die innere Kohärenz systematischer Lehrgebäude, namentlich in seiner Descarteskritik, durch grundsätzliche Einwände zu zerstören und die vom aktiven Intellekt, der überheblichen ratio, erzeugte oberflächlich-profane Gelehrsamkeit (eruditio superficiaria) vor der vom göttlichen Geist mit gestützten (eruditio solida)44 ins Unrecht zu setzen. Die damit ausgesprochene Warnung vor der ihre Möglichkeiten überschätzenden Vernunft richtet Poiret zwar an die Adresse der Aufklärer. Er leistet aber anderseits den Nachweis der geringen Reichweite der auf sich selber gestellten menschlichen Erkenntnisvermögen durchaus mit an der Aufklärung geschulter philosophischer Kompetenz. Daher ist es verständlich, daß Christian Thomasius das Werk des Franzosen einer kritischen Besprechung, unter Hervorhebung seiner Vorzüge, würdig erachtete.45 Poiret macht aus seinem großen Vorbehalt gegenüber den Antikeverehrern unter den Humanisten keinen Hehl und zählt zu seinen Musterautoren manche Kirchenväter, ferner Thomas a Kempis und den Verfasser der Theologia deutsch sowie, als Vertreter eines christlichen Humanismus, Sebastian Castellio und Erasmus. Selbst als stilistische Vorbilder verdienen sie alle den Heiden vorgezogen zu werden.46 Wer es in der Gottesgelehrtheit weit genug gebracht hat, bedarf der menschlichen Autoritäten ohnehin nicht mehr. Dementsprechend zieht der 43 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2: 1640–1780. Stuttgart 1970, widmet ihm nur einen kleinen Abschnitt (S. 125f.). Daß er ihn zu den mystischen Schwarmgeistern zählt, bei denen sich Logikverachtung mit logischer Inkompetenz verbinde, ändert an der hier, freilich von anderen Maßstäben her erfolgten Einschätzung seiner Leistung nichts. Auf die Abhängigkeit des Pietisten Joachim Lange (Medicina mentis) von Poiret hat schon Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945 (Ndr. Hildesheim 1964), S. 75–82, hingewiesen. 44 Pierre Poiret: De eruditione solida, superficiaria, et falsa, libri tres. […] Editio nova cui accessit Christiani Thomasii […] dissertatio de scriptis autoris. Frankfurt / Leipzig 1694, S. 124: „Quapropter quaecunque mens non habet intellectum passivum divino lumine illustratum , nec DEI amico favore auxilioque gaudet, ejus Mentis intellectus activus, sive Ratio, nihil recti agere potest.“ 45 Christian Thomasius: Dissertatio de scriptis autoris [sc. Petri Poireti]. In: Poiret: De eruditione (Anm. 44), am Schluß angefügt. Es ist allerdings bezeichnend, wie Thomasius die Differenz zwischen seinem und Poirets Denken beschreibt: „Interim mea methodus imperfectior est, Philosophica [! M.] est, Autoris sanctior & Christiana magis est.“ (S. 41). Er fährt fort: „Alia est methodus, hominem ex bestialitate ducendi ad humanitatem, alia ex humanitate ad Christianismum.“ (Ebd.). Thomasius will sein Werk der Vervollkommnung des Menschen auf einem tieferen Ist-Zustand beginnen als Poiret, dessen Enthusiasmus für die christlich-mystische Erziehung er zwar bewundert, nicht jedoch teilt. Nach Thomasius eilt Poiret der Aufklärung zu sehr voraus, die sich erst um die Verwirklichung der humanitas bemühen muß. Vgl. Seeberg (Anm. 3) zu Thomasius – Poiret, S. 354. Arnold hat das Poiretwerk mit Thomasius’ Dissertatio besessen (Catalogus, Anm. 10, S. 394, Nr. 351). 46 Poiret: De eruditione (Anm. 44), S. 263; über den teuflischen Humanismus S. 264.

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französische Mystiker auch bei seiner Einschätzung der Affekte einen scharfen Trennungsstrich: Während alle Leidenschaften, die der menschlichen Eitelkeit schmeicheln und durch die Lektüre der heidnisch-profanen Schriftsteller geweckt werden, der eigenmächtigen Vernunft in nichts an Verdorbenheit nachstehen, gelten die die Selbstverleugnung (abnegatio sui) herbeiführenden Affekte, die Gottesliebe und die Demut, als die vornehmsten Regungen überhaupt.47 Denn sie läutern den Geist und machen ihn von den schädlichen Wirkungen der lasterhaften Begierden unabhängig. Wer sich schließlich dank seiner Fähigkeit zur Selbstpreisgabe in den Geist der Verfasser der Heiligen Schrift einfühlen kann, ist deren unfehlbarer Interpret.48 Poirets Anthropologie postuliert eine geistlich-affektive Grundverfassung des Menschen, in welcher dieser nach erfolgreicher Bekehrung,49 endlich befreit von persönlichen Neigungen und der göttlichen Liebe teilhaftig geworden, die von subjektiven Einflüssen ungetrübte Erkenntnis der Wahrheit genießen kann. Poirets Philosophie hat im deutschen Sprachraum auch in zahlreichen Universitätsschriften der Zeit der Frühaufklärung ihre Spuren hinterlassen; verschiedene Dissertationen bezeugen die lebhafte Auseinandersetzung, die um sie geführt wurde.50 Ein bis heute noch wenig erforschtes und daher nur schwer überblickbares Gelehrtenschrifttum sowohl aus der Feder von Pietisten wie aus der ihrer Gegner beweist,51 wie entschlossen jene ihre Attacken gegen die in ihren Augen verwelt47 Ebd., S. 197: „Sunt namque affectus quidam debiti, pro quibus mens facta est; quique eam non turbant, sed illuminant atque serenant: veluti desiderium [! M.] & amor erga Deum, animi humilitas, & ejus generis similes.“ 48 Ebd., S. 206. 49 Ebd., S. 395f., wo der Weg der Bekehrung zur göttlichen Gelehrsamkeit beschrieben wird; auf die in unserem Zusammenhang äußerst aufschlußreiche Erkenntnistheorie Poirets kann hier leider nicht ausführlicher eingegangen werden. Vgl. auch seine Darlegungen zur Wiedergeburt S. 400. 50 Einige Titelnachweise liefert Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti. München u.a. 1982, nämlich die Nrn. 3356, 3597, 4265, 4266, 4560. 51 Verschiedene größere Untersuchungen (Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980; Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983; Kühlmann: Gelehrtenrepublik (Anm. 35); Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1970), die seit dem bahnbrechenden Aufsatz von Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur. In: Deutsche Barockforschung. Hg. von Richard Alewyn. Köln / Berlin 31968, S. 147–181, zur Gelehrtenkultur des Barock erschienen sind, nehmen sich daher auch des Gelehrtenschrifttums im allgemeinen, nicht nur der Poetiken und Rhetoriken an, wie das früher hauptsächlich der Fall war. Über den bibliographischen Erschließungsstand habe ich mich an anderen Stellen eingehender geäußert (vgl. Marti: Philosophische Disserta-

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lichten Wissenschaften und Künste auch in die Gelehrtenrepublik hineintrugen, um auf zeitweise nicht ganz aussichtslosen Posten für ein dezidiert christliches pädagogisches Konzept und eine Wissenschaftsauffassung zu kämpfen, die eine sorgfältig ausgewählte christliche Tradition allein oder wenigstens fast ausschließlich berücksichtigen wollte. Die Pietisten wiederholen in zahlreichen Variationen die Klagen gegen die heidnischen Dichter und Philosophen, sind besorgt über den ihnen zweifelhaft erscheinenden Nutzen des Fortschritts in der Buchdruckerkunst und geben damit ihrem prinzipiellen Mißtrauen gegen das objektivierte Wort beredt Ausdruck.52 Die Hauptlaster der Gelehrten (superbia, ambitio, tionen (Anm. 50); ders: Joachim Dyck: Athen und Jerusalem: Rezension. In: Daphnis 8, 1979, S. 396–407). Unter der Optik des Historiographen des Pietismus und seiner Gegner wären in den Zeugnissen, in denen sich die Gelehrten über ihren Beruf und seine Zielsetzungen klar zu werden versuchen, noch manche Funde zu machen. An der vermehrten Berücksichtigung lateinischer Schriften käme man nicht vorbei; ihnen hat Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der ‚Künste‘. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Köln 1958, in seiner im übrigen verdienstvollen Untersuchung keine Beachtung geschenkt. Wo immer nun der Pietismus vorgegebenes Gelehrtenwissen aufgenommen, umgearbeitet und in teils populärer Gestalt weitergereicht hat – das ist gerade eine der Hauptleistungen der führenden Bekenner –, setzte er sich mit dem gelehrten neulateinischen Schrifttum, wie mit der Väterliteratur und der Mystik, auseinander. Gottfried Arnold ist freilich das herausragendste Beispiel eines gelehrten, selbst in dieser Hinsicht radikalen Pietisten! 52 So z.B. Fritsch in oben (Anm. 35) erwähnter, Spener gewidmeter Schrift zur weltlichen Gelehrsamkeit, S. 32f.: „Multis sanè Bibliorum lectio sordet, magis Plato vel Aristoteles, Cicero, vel alius humanae sapientiae celebris Doctor placet. [...] Omnis sapientia humana sine cognitione Christi & amore verbi Dei, vanitas est & stultitia.“ Fritsch hat eine Fülle von Traktaten verfaßt, in denen er die Verdorbenheit der Sitten der Gelehrten anprangert. Auch auf die schädlichen Auswirkungen des Buchdrucks, einer an sich segensreichen, von Gott den Menschen gegebenen Erfindung, wie er sagt, geht er in einer besonderen Publikation noch genauer ein: Dissertationes duae historico-politicae, altera de abusibus typographiae tollendis […]. Editio altera. Jena 1664. Die Mißbräuche des Buchdrucks möchte er mit einem massiven Ausbau der Zensur bekämpfen. Seeberg (Anm. 3) zu Arnolds ablehnender Haltung, S. 208. Arnold: Mystische Theologie (Anm. 11), S. 496, empfiehlt Fritschs Schriften als „Fritschens bekande Sachen“. Zu Fritsch: Dietrich Blaufuß: Fritsch, Ahasverus. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 35), Bd. 4, 2009, S. 46–48. – Ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. von Wolfgang Sommer und Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, hier: XVIII. Cura Politica Christiana. Ahasver Fritsch zwischen „Himmels Lust und Weltunlust“?, S.  413–432. – Susanne Schuster: Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt und Ahasver Fritsch: eine Untersuchung zur Jesusfrömmigkeit im späten 17. Jahrhundert. Leipzig 2006. – Andreas Christoph Calvisius (Präses) / Johannes Paul Gumprecht (Respondent): De caussis incrementi literarii post barbara secula. Leipzig 1698, kommt dagegen zu einer uneingeschränkt positiven Einschätzung der Typographie als der „conservatrix rerum omnium notabilium, correctrix librorum vitiosè scriptorum, mater omnium artium, aeternitatis medium, receptus spirituum acutissimorum, aerarium omnium inventionum, magistra virtutum omnium, propagatrix heroici facti […]“ (§ XIX; unpag.).

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philautia, invidia, ira, avaritia) und die Verstöße gegen die guten Sitten werden zwar von allen Parteien geahndet, wenngleich die Schuld an den Mißständen dann häufig dem Gegner in die Schuhe geschoben wird. Die Begeisterung über den Fortschritt in der weltlichen Gelehrsamkeit und selbst in der ‚Gottesgelahrtheit‘ vermögen die Pietisten gewöhnlich nicht53 mit den Verfassern von Gelehrsamkeitsgeschichten, den Artikelschreibern in gelehrten Journalen und den Autoren frühaufklärerischer Fortschrittstraktate zu teilen.54 Das Standesbewußtsein 53 Sofern Pietisten selber eine Lehrtätigkeit an Universitäten und hohen Schulen ausüben, werden sie dem aufklärerischen Fortschrittsideal ( Johann Christian Lange) und den antiken Musterautoren (Matthias Nikolaus Kortholt) gegenüber toleranter, vgl. folgende Anm. 54 Belege für das frühaufklärerische Fortschrittsdenken finden sich in den zahlreichen Gelehrsamkeitsgeschichten, z.B. bei Burkhard Gotthelf Struve: Introductio ad notitiam litterariae et usu bibliothecarum. Bd. 1. Jena 1704. Bd. 2. Jena 1706. Bd. 3. Frankfurt a.M. / Leipzig 1754; bei Daniel Georg Morhof: Polyhistor, in tres tomos, literarium, philosophicum et practicum. Lübeck 1708; bei Christoph August Heumann: Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam literariam iuventuti studiosae aperta. Hannover 51746, sowie in vielen Abhandlungen, Reden, Dissertationen und Schulprogrammen, die sich lobend über die Fortentwicklung des neuen Zweigs der Historie und seine Unentbehrlichkeit äußern, z.B. in solchen Friedrich Wilhelm Bierlings (Dissertatio de eruditione politica oder / wie man cavalierement studieren solle? Respondent: Friedrich Ludwig ab Haus. Rinteln 1708), Justus Christoph Böhmers (Prolusiones VII publicarum lectionum auspiciis in academia Iulia praemissae. Helmstedt 1707), Johann Leonhard Froereisens (De praeiudiciis in studiis historicis evitandis commentatio aliquot disputationibus in alma Salana proposita. Jena 1718), Justus Christoph Thorschmids (De studiorum ratione ad genium seculi composita. Respondent: Johannes Gottfried Schubart. Wittenberg 1718), allerdings auch Johann Christian Langes (Schediasma academicum de eo quod est moris novissmi in republica literaria: sive von der neuesten Mode bey der gelehrten Welt. Respondent: Georg Adolph Rühfelius. Gießen 21714); das Beispiel eines Artikelschreibers in Gelehrtenzeitschriften gebe ich in Hanspeter Marti: Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt (München 1981). Rezension. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch 3, 1983, S. 159–164. Kapitzas Buch bringt viele Texte zur Aufnahme der Querelle des Anciens et des Modernes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Unter den Verfechtern des absoluten Vorranges der Alten befindet sich auch der Pietist Matthias Nikolaus Kortholt, dessen im Hinblick auf die Querelle-Rezeption in Deutschland wichtige Gießener Rede (Oratio, de antiqua eloquentia, recentiorum perperam postposita à Carolo Peralto, scriptore libri cujus est titulus Parallele des Anciens et des Modernes. […] Dicta publice 22.VI. 1700. Gießen) inzwischen in der Universitätsbibliothek Marburg entdeckt wurde. Daß hier ein Pietist für die heidnische Antike Stellung bezieht, die Errungenschaften der christlichen Tradition außer acht lassend, ist immerhin bemerkenswert, ebenso wie die Negation des Fortschritts der artes durch ihn typisch erscheint. Auf das pietistische Konzept einer nov-antiken Rhetorik hat schon Reinhard Breymayer hingewiesen: Pietistische Rhetorik als Eloquentia novantiqua. Mit besonderer Berücksichtigung Gottfried Polykarp Müllers (1684–1747). In: Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. Festschrift Winfried Zeller zum 65. Geburtstag. Hg. von Bernd Jaspert und Rudolf Mohr. Marburg 1976, S. 255–272. Lediglich Heumanns Lob auf die

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der gelehrten Elite ist freilich keine reine Erfindung pietistischer Polemik; der Leipziger Johann Burkhard Mencke, der sich in einer damals verbreiteten Abhandlung mit gelehrten Scharlatanen befaßt, erinnert in einer Dissertation an die Vorschriften des decorum, wonach ein Gelehrter mit seinesgleichen Umgang zu pflegen und nicht sich unter den Pöbel zu mischen habe.55 Während sich aber die Adressaten der pietistischen Kritik Standesdünkel und häßlichen Hochmut vorwerfen lassen müssen, gibt Michael Lilienthal den Vorwurf der Dünkelhaftigkeit an die ehrsüchtigen, sich seltsam gebärdenden Absender, die Pietisten, zurück, die allerdings all jene schon längst nicht mehr erreichten, welche christliche Klugheit (prudentia christiana) mit wahrer Frömmigkeit (vera pietas) zu verbinden wüßten; einfache Weiblein und Tölpel vermöchten sie zu fangen.56 Er nimmt Anstoß an der Dunkelheit der Sprache, die von den ‚Fanatikern‘ mit zweifelhaften Begründungen (Bedeutsamkeit der Sache, göttlicher Ratschlag) gerechtfertigt werde.57 Es kommt sogar so weit, daß die Bezeichnung ‚Pietist‘ in ein und demselben Kontext mit unterschiedlichen Bedeutungs- und Wertschattierungen gebraucht und zwischen Pietisten im schlechten und, implizite, solchen im guten Sinne unterschieden wird: „Aber wenn manche von denenjenigen / die da Profession von der Frömmigkeit machen / und andere dazu anleiten sollen / sich bewußt sind / daß sie nichts weniger / als warhaftig fromme gottselige Leute sind: So müssen sie doch Amtshalber die Masque der Pietät annehmen. Das sind also / im schlimmen Verstande genommen / die ei-

Fortschritte der Bibelexegese seit der Reformation sei wörtlich zitiert: „Melanchthonis Commentarii ad libros aliquot novi foederis, Erasmi ad Novum Testamentum annotationes, Hunnii, Brentii, Balduini, Gerhardi labores exegetici, hi, inquam, Commentarii non quidem prorsus contemnendi sunt, (absit!) sed tamen ita comparati, ut aequiparari haudquaquam possint principibus nostrae aetatis interpretibus.“ (Poecile sive epistolae miscellaneae ad literatissimos aevi nostri viros […]. Bd. 1. Halle 1722, S. 525f.). Das Fortschrittsdenken der Frühaufklärer ist im allgemeinen nicht dasjenige der Pietisten, die den individuellen Fortschritt im Geiste vom Fortgang der Bekehrung abhängig machen und denjenigen im Ganzen von der Zahl der Erleuchteten. 55 Johann Burkhard Mencke: Dissertatio II. de eo, quod decorum est. In: Dissertationum academicarum [...] decas. Leipzig 1734, S. 42–84, S. 78: „Doctos enim cum doctis conversari decet, non infimae misceri hominum feci [...].“ Zu Person und Werk Menckes siehe meinen Artikel in: Killy Literaturlexikon (Anm. 35), Bd. 8, 2010, S. 158f. 56 Michael Lilienthal: De Machiavellismo literario. Königsberg / Leipzig 1713, S. 147f.: „Ubique se ab aliis, tanquam hominibus mundanis & carnalibus, separant, tanquam quos non parvo sanctitatis intervallo se putant antecedere. [...] Alios praeterea induunt mores, ipsaque etiam externa conversatione faciem longe a caeteris diversam, tristem plerumque & gemebundam prae se ferunt. Honores, quorum tamen sunt quam sitientissimi [...].“ Im Folgenden werden die Schreiber von ‚pia desideria‘ ausdrücklich zu dieser Menschengattung gezählt: Es sind Eiferer, die an anderen stets etwas auszusetzen haben. 57 Ebd., S. 102.

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gentliche Pietisten / und da man sie ofters mit Händen greiffen kann /müste einer sehr tumm seyn, wenn er leugnen wolte / daß es dergleichen Leute in der Welt gäbe.“58

Der Hallenser Philippi, der das behauptet, will sich mit seinen Gegnern lieber nicht weiter einlassen, da sie Meister in der Ketzermacherei und ungestüme Religionseiferer seien; er verzichtet daher auf eine genauere Schilderung der „tartüffischen Charletans“.59 Der vielfältigen Topik des Gelehrtenlobes und -tadels im letzten Quartal des 17. und im ersten des 18. Jahrhunderts, die auf den ersten Blick stereotyp anmutet, wären auf dem Hintergrund konfessionell und innerkonfessionell bedingter unterschiedlicher Standpunkte neue Aspekte abzugewinnen. Eine psychologische Typologie hielt nämlich Kriterien für eine Charakterdiagnose bereit, aufgrund welcher der Normalfall und die Abweichungen sich zuverlässig bestimmen ließen. Mit Vorliebe haben die Kontrahenten die bereitliegenden Kategorien aufgegriffen und psychologisch, das heißt die Person des Gegners ins Auge fassend, argumentiert. Mit dem Menschen wird auch die Sache, die er vertritt, bloßgestellt. Von psychologischen Einsichten hat nicht nur die Bekehrungsliteratur der Pietisten, sondern auch, in rudimentärer Form freilich, die Polemik zwischen diesen und den Orthodoxen gezehrt. Balthasar Schupps Pedantismuskritik trägt eine christliche Note, was sie von der der meisten anderen Autoren60 deutlich unterscheidet. Als Ursache des Lasters wird die Beschäftigung mit der aristotelischen Ethik im Rahmen des universitären Disputationsbetriebs angegeben: „Es ist Pedanterey / daß man auff Universitäten viel disputationes macht auß dem Aristotele, de Virtutibus et Vitiis. Man explicire der Jugend die zehen Gebott recht und lasse sie fleißig in die Kirch gehen. Solte Petrus und Paulus nicht besser gewußt haben was Virtutes und Vitia seyn als Aristoteles? Oder ist Moses deßwegen ein Narr oder ein höfflicher Bauer gewesen / weil er deß Aristoteles Ethic nicht gelesen hat?“61

In beidem, der Ablehnung der heidnischen Philosophie resp. Ethik und der des akademischen Streitgesprächs, stimmt Schupp mit den Pietisten überein. Sie neh58 Johann Ernst Philippi: Cicero, ein grosser Wind=Beutel, Rabulist und Charletan; zur Probe aus dessen übersetzter Schutz=Rede die er vor den Quintius gegen den Nervius gehalten. Halle 1735, S. 52. 59 Ebd. 60 Der Pedantismus- und Galantismuskritik resp. der Kritik am praeiudicium antiquitatis und novitatis in der frühaufklärerischen Gelehrtenliteratur haben sich schon Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981, Beetz (Anm. 51) und Kühlmann: Gelehrtenrepublik (Anm. 35) angenommen. Letzterem fiel auch der „biblizistisch-christliche Rigorismus“ (S. 397) in Balthasar Schupps Pedantismuskonzept (Schrifften. Hanau 1663) auf. 61 Schupp (Anm. 60), S. 5. Das Zitat bringt auch Kühlmann: Gelehrtenrepublik (Anm. 35, S. 397f.) z.T. ausführlicher, z.T. mit Auslassungen. Der Catalogus Arnolds (Anm. 10) verzeichnet S. 405, Nr. 123, „Schriften Schupps“.

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men derartige gedankliche Anstöße mit Vorliebe auf, oft, indem sie das kritische Einzelargument ins Grundsätzliche wenden. Gottlieb Vockerodt, auf den sich Arnold ebenfalls im Schul=Bau wiederholt beruft und dessen Schriften im erwähnten Anhang auch zur Lektüre empfohlen werden, entwirft das Programm einer von christlichen Lehrinhalten geprägten Schule, obwohl gleichzeitig die Bedeutung der antiken Vorbilder, namentlich Ciceros und Caesars, für die sprachliche imitatio ausdrücklich hervorgehoben wird. Die Lesestoffe, die antiken Autoren entnommen werden, müssen strengen Anforderungen der Auswahl genügen.62 Das praeiudicium antiquitatis, hier als übertriebene Liebe für das nicht-christliche Altertum gefaßt, hindert die Pedanten daran, zu den Zeugnissen der wahren, christlichen Weisheit und eigentlichen Beredsamkeit vorzustoßen.63 Die Entwicklung zum Heidnischen in der Schule und bei den Lehrern wird unverhohlen beklagt: „[...] maior praeceptorum cura in tradendis bene dicendi, quam bene vivendi praeceptis: minor alumnorum diligentia in cognoscendis factis Christi & apostolorum ex Evangelio, quam Alexandri M. ex Curtio; ut notius, tritiusque sit, quid Terentius, & Plautus, quam Petrus, & Paulus scripserint?“64

Die wahrhaft christliche Schule muß für Vockerodt ihre Zöglinge auf eine sittliche Lebenspraxis nach den Grundsätzen des Evangeliums vorbereiten und nicht zur bloßen Schönrednerei erziehen. Die pietistische Pädagogik richtet sich ganz auf die Erfordernisse der praktischen Bewährung im Sinne der Bekehrung und 62 Gottfried Vockerodt: Consultationes de litterarum studiis recte, et religiose instituendis; nec non de publicarum scholarum usu, pretio, et disciplina sanctiore. Accedit commentatio de vera, et falsa eruditione in summe rev. Adami Rechenbergii libellum de studiis academicis. Gotha 1705, S. 82: „Delectus itaque veterum monumentorum, a Romanis conditorum scriptoribus, diligentissime, & providentissime est habendus.“ Von Vockerodts Ablehnung der Mitteldinge weiß auch Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Halle / Leipzig 1731–1754 (Ndr. Graz 1961). Zu Vockerodt siehe Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, S. 36–45, 91f., 119f., und Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005, S. 259–268, 273–278. Das wichtigste Unterrichtsziel ist für Vockerodt die Bekehrung „[...] MYSTERIUM CONVERSIONIS recte perspiciendum, & usu, proprioque experimento cognoscendum, et explorandum“ (in: de vera et falsa eruditione, im Anhang der Consultationes, S. 32). Gottfried Arnold empfiehlt er (in: Commentatio de eruditione, S.  82) neben Poiret, Spener, August Hermann Francke, Pico della Mirandola, Franciscus Lambertus u.a. als Künder der göttlichen Sophia. Der zuletzt Genannte verdient das Interesse der Pietismusforscher. Er ist auch für Arnold und Paul Anton wichtig. 63 Vockerodt (Anm. 62), S. 93f.: “[...] ita monumentis inhaerent profanis, & tantum tempus in iis legendis consumunt, ut ad sacras litteras vix possint respicere. [...] ita obstat vanitas, ut nec ad veram sapientiam, nec rectam eloquentiam unquam perveniant, lapsi ad hanc insaniam.” 64 Ebd., S. 187.

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der Erleuchtung aus. Den Zuspruch, den die weltlich-heidnische Literatur findet, betrachtet Vockerodt als einen Hohn angesichts der Blüte, in der die christliche sich befinde.65 Mit allen Kräften setzt er sich für ein vertiefteres Verständnis der Schönheiten der ‚poesis sacra‘ ein, deren beste Zeiten er zuversichtlich in der Zukunft erst noch erwartet.66 Andere ihrer Apologeten sind aber auch stolz über den Weg des Fortschritts, den sie im 16. und 17. Jahrhundert schon zurückgelegt hat, und werden nicht müde, ihre Vorzüge zu preisen und die Leistungen früherer Zeiten auf dem Gebiet der christlichen Erbauung in Erinnerung zu rufen.67 Gottfried Arnolds dichterisches Schaffen schließt sich dieser Tradition an, steht ganz im Zeichen der Bibelpoesie und der christlichen Dichtung und ist frei von profanen Inhalten, die von den Vertretern eines streng christlichen Erziehungsideals verabscheut werden.68 Damit folgt er schon früh der Losung, mit der er seinen pädagogischen Traktat beschließt: „Es ist alles gantz eitel (auch die Welt-Gelehrsamkeit) und noch dazu eine böse Plage / wenn sie ohne GOtt und seinen Geist getrieben wird!“69 Hiermit ist ein weiter Bogen geschlagen. Er umfaßt, in Andeutungen nur, die Tradition, in deren Ausstrahlungsbereich Arnold gestanden hat, bis zu seiner Äußerung in einem seiner späteren Werke, das nicht den Rückzug aus der Welt, sondern die Rückkehr in sie bezeugt. Arnolds Vertrauen in die segensreiche Wirksamkeit des göttlichen Geistes, von dem sein poetisches Werk getragen wird, ist schließlich so gewachsen, daß es dasjenige in die Institution der Schule und ihre Verbesserungsfähigkeit nach sich zog. Sein Verhältnis zur Gelehrsamkeit im allgemeinen, zu einzelnen Disziplinen im besonderen und, von ihm abhängig, die Sprachauffassung bedürfen nun einer zusammenfassenden Würdigung. 2.2.  Das Dilemma der geistreichen Rede70 An der scharfen Trennung von Weltweisheit, welche von Arnold unhinterfragt heidnisch-weltlichem Wissen und Streben gleichgesetzt wird, auf der einen und der geheimen Gottesgelehrtheit, deren Geheimnisse dem Gottergebenen durch den Heiligen Geist eingeflößt werden, auf der anderen Seite hält Arnold in allen Äußerungen fest, die sich auf die Vervollkommnung des Menschen und seinen 65 66 67 68

Ebd., S. 174 [recte 178]. Ebd., S. 180. Belege in Marti: Rezension zu Dycks ‚Athen und Jerusalem‘ (Anm. 51). Arnolds Werk ist unter dem pädagogischen Blickwinkel noch zu wenig gewürdigt worden; auch Andreas Eisner: Erziehung und Unterricht im Pietismus (1675–1760). Wien 1979 (Diss. masch.) klammert es vollständig aus. 69 Arnold: Anhang zum ‚Schul-Bau‘ (Anm. 26), S. 80. 70 ‚Geistreich‘ im Sinne Arnolds bedeutet hier ‚erfüllt vom Heiligen Geist‘, nicht ‚scharfsinnig‘, wie es das Argutia-Ideal nahelegt. Die argute Sprechweise wird von den Pietisten abgelehnt, weil sie dem Gebot der Einfalt widerspricht.

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Eintritt in den Gnadenstand beziehen. Erst wenn die Welt mit ihren Verlockungen und Lastern schon im Diesseits durch den inneren Vorgang der Wiedergeburt überwunden wird und der Prozeß der geistigen Enteignung im Zustand inneren Friedens, der Seelenruhe in Gott als seinem Telos, zum Stillstand kommt, hat der göttliche Wille die Antriebskräfte der fleischlichen Kreatur, der geistige den natürlichen Menschen besiegt. Der Antithese zwischen weltlichem und geistreichem Wissen auf der Gegenstandsseite entspricht bei Arnold im Innern des Menschen ein Gegensatz zwischen verschieden ausgerichteten und einander, vom Ziel ihrer Wirksamkeit her betrachtet, ausschließenden Bestrebungen. Dieses Widerspiel der Kräfte, der in die menschliche Seele hineingetragene Kampf zwischen Gott und dem Teufel, bildet die Grundsubstanz der Anthropologie der Bekehrung. Diese gibt Arnold niemals preis, mag er das Verhältnis des Menschen zur Welt, seinen eigenen Erfahrungen gemäß, auch je anders fassen: Resignation und Hoffnung haben im Laufe seines Lebens wechselnde Anteile. Auf die unterschiedliche Einschätzung der Mittel und Möglichkeiten, den Gnadenstand zu verwirklichen, kann hier nicht eingegangen werden, wohl aber auf die für Arnold unumstößlichen Grundeinsichten, die seine Wirksamkeit im Dienste von Bekehrung und Wiedergeburt erst ermöglichten.71 Arnolds Sündenfall- und Erlösungstheologie lässt die Kluft zwischen Welt und Gott so groß erscheinen, daß die von ihm geforderte Vergeistigung der menschlichen Weisheit ideengeschichtlich einen Höhepunkt der Entweltlichungsbestrebungen darstellt. Die Zerstreuung der menschlichen Herzen, die sich in der Vereinzelung der Gemütskräfte äußert,72 sowie ihre Neigung, die göttliche 71 Arnolds Verhältnis zu Welt und Geist auf knappem Raum referierend zusammenfassen zu wollen, kommt natürlich der Quadratur des Zirkels gleich. Die Monographie von Büchsel (Anm. 3) und andere Untersuchungen (Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold. Göttingen 1963; Seeberg, Anm. 3), die alle einen hohen Grad an Differenziertheit erreichen und die historische Entwicklung von Arnolds Denken deutlich machen, müßten einen vor einem solch aussichtslosen Versuch warnen. Dennoch sei er gewagt. Vielleicht erlaubt die spezifische Themenstellung, die Akzente etwas anders – und hoffentlich nicht ganz falsch – zu setzen. Die allgemeinen Darlegungen nehmen stärker Arnolds Äußerungen in der radikalen Phase auf, wenn man von der zu Vergleichszwecken und aus quellenkundlichen Überlegungen beigezogenen Schulrede absieht. Die mystische Sprachauffassung läßt sich aber auch später – also nicht nur für die radikale Phase Arnolds – nachweisen. 72 Statt die Seelenkräfte nach außen zu richten, sie zu zerstreuen, ist ‚Sammlung‘, die konzentrierte Bereitschaft, Gottes Stimme zu hören, die Wendung nach innen, vonnöten. Vgl. Gottfried Arnold: Theologia experimentalis, das ist: Geistliche Erfahrungs-Lehre. Frankfurt a.M. 1715, S. 536: „Sondern wir müssen entweder mit Christo sammlen und die durch den Fall zerstreuete Kräffte zu dem Einzigen Nothwendigen anwenden / oder aber wir werden zerstreuen und vollens alles Gute und den Seelen=Frieden verliehren / daß man als verirret allen Feinden zum Raube würde.“ Gottfried Arnold: Das Geheimniß der göttlichen Sophia oder Weißheit. Leipzig 1700 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963), S. 154, spricht von der Wirkung der göttlichen Weisheit auf das menschliche Gemüt: „Alle ihre zufriedensprechungen dringen tieff ein / und zielen

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Stimme zu überhören, Merkmale des Abfalls der Menschen von Gott, entsprechen in der anthropologischen Mikroperspektive dem von der Kirchen- und Ketzerhistorie (KKH) entworfenen Modell des historischen Verfalls im Ganzen. Der Streit der seelischen Vermögen im subjektiv-privaten Bereich spiegelt denjenigen der Konfessionen und Kirchen (Secten) im öffentlich-politischen wider. Das selbständig handelnde Subjekt, an dessen behaupteter Autonomie die Frühaufklärer sich schon erfreuten, ist bei Arnold der Ausdruck des vom Menschen allein verschuldeten Verrats an Gott.73 Arnold will es aus den Schlingen des Weltgeistes, in dessen Netz es sich verstrickte, befreien. Wenn der Mensch den alten Adam ablegt und sich der Leitung des göttlichen Geistes anvertraut, kann er die verlorene Gottebenbildlichkeit74 wieder gewinnen. Der mystische Königsweg, den Arnold in seiner Lyrik und in den einschlägigen Abhandlungen empfiehlt, führt zu diesem Ziel hin. All diesen didaktischen Bemühungen liegt das Schema eines theoontologischen Dreitakts zugrunde: Stand der Unschuld im Paradies, Zeit nach dem Sündenfall mit der Erwartung der Wiederkehr des Paradieses auf Erden und erneute Rückkehr in den ursprünglichen Zustand der kindlichen Unschuld.75 Nie hat auff eine beständige gemüths=harmonie und vollkommene ruhe.“ Schiller sagt in den ästhetischen Briefen Ähnliches über den ästhetischen Zustand, nur ist es dort nicht die göttliche Sophia, sondern das ideale Kunstwerk, welches die einander widerstrebenden Triebe im Gleichgewichtszustand innerer Ruhe versöhnt. 73 Diese Wertung des ‚eigenständig‘ erkennenden und urteilenden Subjekts kommt in der Diskreditierung der Vernunft und der Philosophie als (bloßer!) Weltweisheit zum Ausdruck. Der Vernünftling, der sich ihr hingibt, wird immer wieder gescholten. Anders wird die Vernunft an einzelnen Stellen der Poiret’schen ‚Verthädigung der Mystischen Theologie‘ (in: Historie und Beschreibung der Mystischen Theologie, Anm. 11), z.B. S. 7, eingeschätzt. Poiret bemühte sich in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern um eine logisch-rationale Argumentation und sicherte sich, indem er die Vernunftmäßigkeit der mystischen Theologie nachzuweisen suchte, gegen Einwände ab. 74 Die Beschreibung Adams im Paradies (Theologia experimentalis, Anm.  72, S.  616) gibt eine konkrete Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie Arnold sie denkt: „Nicht allein aber war der Geist und die Seele Adams also beschaffen / sondern auch der Leib genoß eine übernatürliche Herrlichkeit / darinn sich Gottes Majestät mit spiegelte. Es ist kein Zweiffel / daß er Englische Schönheit an sich gehabt / darinn er auch des Schöpffers Schönheit darstellen mußte. So war auch der Leib dazumal nicht so zertheilt / unrein / schwach / grob / irdisch und thierisch / oder auch so voller Stanck und Unflath wie jetzo / sondern geistlich paradiesisch und herrlich [...].“ ‚Anmut und Würde‘ werden hier, freilich in entweltlichter Gestalt, vorweggenommen. 75 Vgl. Arnold: Theologia experimentalis (Anm. 72) über die drei Zustände (S. 607): Der Mensch hat den Friedensstand, „diesen Himmel mit samt allen Seeligkeiten“ verlassen. Die Erinnerung an die verlorene Glückseligkeit und die Buße können „eine warhaffte Umkehrung des Gemüths und des gantzen Wandels von dem abtrünnigen Wesen des Falles“, den Eintritt in den Gnadenstand, bewirken. Deutlicher äußert sich zu letzterem die Sophienschrift (Anm. 72); nur ein Wiedergeborener könne „die rechten schätze der weißheit finden und brauchen / weil der neue mensch alsdenn nach außtreibung der

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sich jedoch bei Arnold die globale Perspektive, wiewohl auch sie vorhanden ist, in einem ausgefeilten geschichtstheologischen Konzept niedergeschlagen. Immer wieder wird das lineare Verlaufsschema von einer Einzelfälle registrierenden individuell-anthropozentrischen Betrachtungsweise durchbrochen, wird damit historische Kontingenz ermöglicht. Sieht man vom anfänglichen paradiesischen Urstand und der Zäsur des Sündenfalls – von ohnehin in mythischer Ferne liegenden ‚Zuständen‘ und ‚Ereignissen‘ – ab, stehen die folgenden beiden Phasen quer zur Geschichte im Sinne eines die Menschheit als ganze umfassenden chronologischen Kontinuums. Denn der Gnadenstand ist für Arnold kurzfristig, innerhalb eines Menschenlebens, für den Anwärter erreichbar. Die geschichtstheologisch relevante longue durée tritt in den Hintergrund, so daß die dem Subjekt empirisch zugängliche Zeitspanne zum Maßstab der Wiedergeburt im Geiste werden kann. Weil Arnold sein eigenes Leben als – keineswegs kontinuierlich ablaufenden – Läuterungsprozeß erfährt, wird er auch zur Geschichtlichkeit, sprich Vorläufigkeit und Vergänglichkeit seiner jeweiligen Erfahrungen stehen.76 1698 hat Gottfried Arnold bekanntlich sein Professorenamt in Gießen niedergelegt und diesen Entschluß auch öffentlich gerechtfertigt.77 1711 kommt von ihm der schon mehrfach erwähnte, von großem pädagogischen Optimismus getragene Traktat heraus, in dem er die ideellen Ziele einer christlichen Schule sowie deren Fächerkanon beschreibt. Die beiden konträren Zeugnisse sind geeignet, sowohl die Fähigkeit des Verfassers zur Selbstrelativierung wie auch seine Standhaftigkeit im Geist exemplarisch darzutun. Die Sophienschrift verhält sich zum Offenherzigen Bekenntnis wie ein theoretisches Manifest zu einem persönlichen Rechenschaftsbericht über den entscheidenden Schritt seiner praktischen Verwirklichung: Die göttliche Weisheit, für deren Ausbreitung Arnold dort kämpfte, kann sich, wie er hier ernüchtert feststellen muß, innerhalb institutioneller Zwänge nicht entfalten, und er sieht sich daher in der Hoffnung getäuscht, daß der Schuldienst „einem erleuchteten Gemüthe noch etwas erträglicher und dienlicher zur Erbauung“78 sein könne als ein Kirchenamt. Mit seinem Abgang von der Universität setzt Arnold seine im-

falschen bilder und götzen alle dinge in ihrem ersten wesen durch den spiegel der reinen natur beschauen / und in ihr innerstes hinnein dringen kan/ [...]“ (S. 185). Die Zitate zeigen, wie die Umrisse der geschichtsphilosophischen Theologie verschwimmen. 76 Der Primat der Erfahrung, ein geistlicher Empirismus, ist für Arnold wichtig. Das Subjekt, das sich als Werdendes in der Gottesliebe fühlt, ist sich der Historizität seiner jeweiligen Äußerungen bewußt. Es hat keine Person, nichts, das seine Identität verbürgte, zu verteidigen; als ein wandelbares erfährt es sich. Ob sich daher die Suche nach Widersprüchen in Arnolds Leben und Werk erübrigt? 77 Zu Arnolds Lehrtätigkeit und zur Niederlegung der Professur siehe Hans Schneider: Gottfried Arnold in Gießen. In: Gottfried Arnold (1666–1714) (Anm. 8), S. 267–299. 78 Gottfried Arnold: Offenhertzige Bekänntniß von Ablegung seiner Profession. Frankfurt a.M. / Leipzig 1729, S. 10; s.u. S. 210, 5–6.

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mer wiederholte Lehre von der Priorität der Tat vor dem Wort79 vor aller Öffentlichkeit in die Tat um, wenngleich er hinterher auch auf das rechtfertigende Wort nicht verzichten kann.80 Jedenfalls wird die in den frühen Schriften theoretisch schon strapazierte Antithese zwischen Welt und Geist durch das biographische Faktum noch weiter verschärft. Das bekennende Herz, das die arglistige Welt verlassen will, hat sich aber schon bei diesem Entschluß für einen Verbleib in ihr entschieden, indem es durch die geistige Botschaft, die es verkündet, ihren Zustand zu verbessern trachtet. Das harte Entweder-Oder, auf das Arnold sich scheinbar eingelassen hat, wird tatsächlich zu einem kompromißfreudigeren Sowohl-als-Auch gemildert. Die Entlastung von drängenden Amtspflichten und den damit verbundenen Äußerlichkeiten soll den Christenmenschen der wahren Freiheit näherbringen, einem Zustand, in dem er den eigenen Willen wie auch den der irdischen Körperschaften, in die er eingegliedert ist, dem göttlichen opfert.81 Obwohl Arnolds Bekenntnis die grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen einer Institution, welche für die weltliche Gelehrsamkeit einsteht, und dem Sophienideal betont, richtet sich seine Abneigung nicht im gleichen Maße gegen alle Disziplinen und schulischen Aktivitäten. Sie trifft vor allem die Profangeschichte, die Philosophie, am stärksten aber das Disputationswesen, das seiner Ansicht nach die schädlichen Affekte des natürlichen Menschen am meisten weckt und die Herrschaft der den fleischlichen Begierden hörigen Vernunft festigt.82 Nicht die Weltklugen, deren prudentia als schlimmster Feind der Einfalt, 79 Ebd., S. 64 (s.u. S. 239, 26–29): „Sondern eben dieses schmertzte mich so hefftig / daß ich so vieles von dem innersten Verderb der Kirchen / der hohen und anderer Schulen / ja der gantzen Christenheit erkannt / und doch in vielen nur mit Worten und nicht mit wircklicher Enthaltung bekannt habe.“ Ferner S. 68 und vor allem S. 90 (s.u. S. 253, 1–3), wo er davon spricht, daß „[...] viele auch ohne Wort durch einen unsträfflichen Wandel gewonnen werden / weil dergleichen wirckliche thätige Zeugnisse [...] wahrhafftig mehr als alle Predigten / Lectiones und Worte [...]“ ausrichteten. 80 Das beweist neben dem ‚Bekänntniß‘ das ihm angehängte Extract eines Schreibens von Arnold (s.u. S. 198). 81 Arnold: Offenhertzige Bekänntniß (Anm. 78), S. 87, wo wörtlich von ,Aufopferung‘ die Rede ist. 82 An der Profangeschichte schrecken ihn die weltlichen Händel (S. 25), die Logik wird sich von Arnold den Vorwurf der Spitzfindigkeit, der Sophisterei und des Witzes gefallen lassen müssen, seine tiefe Abscheu vor dem Disputationswesen, die ihn mit anderen Pietisten (Spener!) verbindet, bekundet er immer wieder, nicht nur im ,Bekänntniß‘ (s.u. S. 212, 9). Seine Äußerungen erinnern an Benedikt Biedermann: Libellus Disputatorius, das ist Ein Disputation-Büchlein Spöttlicher Weise schamroth zu machen und zu widerlegen alle Disputanten und Gelehrten Die wider das Liecht der Natur studiren und De vero modo cognoscendi nichts wissen. Amsterdam 1698, ein Werk, das Arnold besessen hat (Catalogus, Anm. 10, S. 385). Dort werden Selbsterkenntnis und Gelassenheit zu den wichtigsten Voraussetzungen der Wahrheitsfindung erklärt, die subtile Klugheit der Menschen im Vergleich zur göttlichen Weisheit einer vernichtenden Kritik ausgesetzt und dem Disputieren dieselbe Bedeutung beigemessen wie dem Teufel für die heilige Kirche. Das Mißtrauen gegenüber jedem äußeren Wort geht

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Aufrichtigkeit und kindlichen Unschuld gilt, sondern die Unmündigen, die von aller List und Kunst nichts wissen, sind die Träger der göttlichen Offenbarung.83 Weil die Schule einem weltmännischen Erziehungsideal huldigt und den Praxisbezug nach außen, zur Gesellschaft herstellt, nicht aber den Menschen auf das innere Gotteswort ausrichtet und ihn an die Einsamkeit gewöhnt,84 verhindert sie die imitatio Christi, die Gefolgschaft im Geiste, auf welche es Arnold gerade ankommt. Die Unvereinbarkeit der Kommunikation des Menschen mit Gott und derjenigen zwischen institutionell gebundenen Menschen liegt der anderen zwischen geistiger Berufung und Amt als unausgesprochene Voraussetzung zugrunde.85 Der Konflikt, den Arnold als Universitätslehrer zunehmend zu spüren bekam, erscheint im Lichte seines damaligen Sprachverständnisses letztlich als der zwischen zwei einander ausschließenden Sprachauffassungen, deren eine den Menschen bloß auf die Rolle des passiven Hörers des inneren, von Gott ausgehenden Wortes festlegt und im übrigen nur die Unterredung mit dem göttlichen Gesprächspartner im Gebet anerkennen will, während die andere ihn als Hervorbringer seiner eigenen Worte einer auch von ihm geschaffenen Kunst, dem erlernbaren rhetorischen Können, unterstellt. Ohne es ausdrücklich zu sagen, beansprucht der Verfasser des offenherzigen Bekenntnisses, die Synthese zwischen Weltausrichtung und Geisterfülltheit, die er im allgemeinen verwirklicht sehen möchte, individuell wenigstens gefunden zu haben. Denn aufrichtig will Arnold in schriftlich fixierten Äußerungen dartun, was ihn zu seinem Schritt, die Professur niederzulegen, bewogen hat. Dem hohen Objektivitätsanspruch, den er mit seinem Bericht verknüpft, kann er vor seinem eigenen Gewissen nur gewachsen sein, weil er während der Abfassung seiner Schrift von seinem Eintritt in den Gnadenstand völlig überzeugt ist. Nun muß sich der Erleuchtete weder die erprobten Regeln der ars rhetorica aneignen noch sie sich stets vergegenwärtigen. Der göttliche Geist, der aus ihm spricht und sich der Welt mitteilt, wird die Anforderungen einer Kunst mit Leichtigkeit in spontaner Rede erfüllen. In ihr kommen denn auch die beiden Sprachauffassungen zur Deckung, deren Widersprüchlichkeit zusammen mit dem Stand der Korruption und der Weltverfallenheit überwunden erscheint. Die Bekenntnisschrift hebt den Dualismus auf, von dem sie spricht, indem sie von ihm spricht und die Geistrhetorik – unausbei Biedermann sehr weit: „Die Bibel kann man verbrennen, den Geist nicht.“ (unpag.) Seine Anti-Disputationslehre ist ein Katechismus der – auch bei Pietisten häufig anzutreffenden – Logikverachtung . 83 Arnold: Offenhertzige Bekänntniß (Anm. 78), S. 96; s.u. S. 255, 23–256,6. 84 Ebd., S. 119 (nicht in OB 1698). In der Ablehnung der Welt- und Staatsklugheit unterscheidet sich Arnold vom Thomasischen Erziehungsideal und den Postulaten der Hofphilosophie; für die Galanterie hat er nur Verachtung übrig, in ihr bekämpft er nicht allein ihr Extrem, den Galantismus, dem Thomasius auch nicht gewogen ist. 85 Am deutlichsten im ,Offenhertzigen Bekänntniß‘ (Anm. 78), S. 40 (s.u. S. 227, 14–16): „Wie manchmahl ist die Krafft und Bewegung des H. Geistes gehindert worden / wenn man sich an gewisse Stunden und andere Umstände binden müssen [...].“

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gesprochen – an die Stelle der von menschlichen Wirkungsabsichten diktierten Kunstrhetorik setzt. Wohl geht für Arnold die Kunst im Geist auf, nicht jedoch der Geist in der Kunst. Daher erhält die Rhetorik durch ihre Divinisierung und das Patronat des Heiligen Geistes eine höhere Weihe; als menschliches Kunsthandwerk nur, vom alten Adam gebraucht, verfällt sie der Kritik. In seiner mehrfach schon erwähnten Schulschrift hat sich nun Arnolds Kompromißbereitschaft im Vergleich zu früher so sehr verstärkt, daß ihm das Wirken innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens nicht mehr als eine unerfüllbare Pflicht und daher als eine unerträgliche Last, sondern vielmehr als Erfolg versprechende Tätigkeit erschien. Beim Wohleingerichteten Schul-Bau86 handelt es sich ursprünglich um eine schon 1709 vor der Einsetzung neuer Lehrer in der Kirche Perleberg vor versammelter Gemeinde gehaltene Rede Arnolds, die er für die Publikation mit einer kurzen Vorrede, durch Fußnoten, welche die sehr häufigen Zitate nachweisen, und einen längeren Anhang, bestehend aus drei königlichen Schulverordnungen sowie den Auszügen aus Barths Soliloquia, ergänzt hat. Die Publikation als ganze enthält das Konzept einer christlichen Schule, wie es Arnold entsprach; das Dokument, auf das es hier allein ankommt, zeigt diesen in einer öffentlichen Rolle, als Förderer des lokalen Schulwesens, stellt aber unmittelbarer noch als das nur in schriftlicher Form abgelegte Bekenntnis eine genuin rhetorische Leistung dar, die geistlichen und politischen Anliegen gleichzeitig Rechnung tragen will. Familie, Schule, Kirche und Staat (Politik!), private und öffentliche Auflagen, dürfen, wenn es um die Erziehung und Ausbildung des jungen Menschen geht, nicht geschieden oder gar gegeneinander ausgespielt werden. Lebenspraxis spielt sich in einem umfassenden Lebenszusammenhang, innerhalb eines gesellschaftlichen Kontexts, ab, in den Arnold hier das Wirken des Einzelnen, nicht zuletzt sein eigenes, einzubeziehen trachtet. Die Maxime „Sei der Welt zugewandt, um sie verbessern zu können, ohne ihr jedoch zu verfallen“ bringt das umfassende Praxisverständnis, das sich in Arnolds Schulschrift am eindrücklichsten kundtut, auf die treffende Formel. Die Rede hat einen klaren, weil einfachen Aufbau und folgt darin dem Hauptgrundsatz pietistischer Rhetorik. Gleich zu Beginn, im exordium, wird in einer unaufdringlichen captatio benevolentiae auf den Sprachgebrauch eigens reflektiert und zurückhaltend um die Gunst eines bunt zusammengesetzten Publikums geworben: Den Verständigen möge die Rede nicht unangenehm, dem einfachen Volk nicht unerbaulich sein. Die Verwendung der deutschen Muttersprache wird beiläufig zwar, aber immerhin ausdrücklich, erwähnt, bevor die Zuhörer auf die häufig eingeflochtenen Aussprüche berühmter Männer sowie die wörtlichen Zitate aus Schulordnungen vorbereitet werden. Tatsächlich räumt 86 Wilhelm August Schulze: Die Pädagogik Gottfried Arnolds. In: Evangelische Theologie 14, 1954, S. 131–144, gibt eine genaue, aber stark wertend-aktualisierende Inhaltsangabe. Wir beschränken uns auf das in unserem Zusammenhang Wesentliche und stellen die Befunde in den umfassenderen Kontext der vorliegenden Fragestellung.

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Arnold hier den menschlichen Autoritäten, die seine Meinung stützen sollen, sehr viel Platz ein.87 Ihre unmißverständlichen Aussagen scheinen ihm passend, den eigenen, auf jeden oratorischen Schmuck bewußt verzichtenden Äußerungen den erforderlichen argumentativen Rückhalt zu geben. Die ganze Rede, eine Ermahnung an alle Erzieher, die christlichen Grundsätze bei ihrer Tätigkeit nie aus den Augen zu verlieren, soll in ihrer schlichten Bestimmtheit, durch Realwissen unterstützt, überzeugen. Das Wirkungsziel des informativen docere und der damit verbundene Gewissensappell scheinen ganz im Vordergrund zu stehen. Als Gerüst der dispositio liegt dem Hauptteil der Rede das emblematische Bild eines Hauses zugrunde, so daß diese in ihrem Fortgang den Schulbau, von dem sie spricht, anschaulich vor dem inneren Auge des Zuhörers entstehen lassen kann. Das Gebäude ruht auf dem festen Fundament der Gottesliebe und der Gottesfurcht, sein Dach, das die der Schule gewogene Gunst von Obrigkeit, Gönnern und Eltern symbolisiert, wird von vier Hauptsäulen getragen, von denen jede, eine unentbehrliche Voraussetzung für das Gedeihen des Ganzen darstellend, eine besondere Aufgabe wahrnimmt: Die erste veranschaulicht das gute Vorbild der Lehrer, eine andere Zucht und Ordnung, die sich aus der Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus zu ergeben hat, eine dritte den gewissenhaften Unterricht und die letzte das Pflichtgefühl der Lernenden. Die Pietas, der sittliche Ernst, ist der Oberbegriff, unter den sich die vier Voraussetzungen subsummieren lassen, der hohe moralische Anspruch das Kennzeichen der christlichen Schule. Obwohl die aristotelische Philosophie als Reminiszenz der zu überwindenden Scholastik aus dem Lehrplan gestrichen und die Lektüre heidnischer Autoren sehr maßvoll betrieben werden soll,88 verteidigt Arnolds Konzept einen breiten Fächerkanon, dessen Gestalt der praktische Nutzen des dargebotenen Stoffes bestimmt und dessen Schwerpunkt daher bei den Realfächern Geschichte, Chronologie, Genealogie, Geographie, Mathematik und ähnlichen Disziplinen liegt. Diese Aufzählung und die Pedantismuskritik im Anschluß an Thomasius und Huber erinnern an die Reformvorschläge, wie sie von Autoren unterbreitet wurden, die eine praktisch-politische Ausrichtung 87 Diese Besonderheit wird mit dem unverblümt ausgesprochenen Vorwurf gerechtfertigt, daß bei vielen die menschliche Autorität mehr Gehör finde als die göttliche (Schul-Bau, Anm. 26, S. 8). Poiret wird zweimal lateinisch zitiert und ,De eruditione‘ (Anm. 44) einmal zusammenfassend empfohlen. Auch andere lateinische Zitate kommen vor. Ob sie von allen verstanden oder in der Rede übersetzt wurden? Vockerodt ist ein sehr wichtiger Gewährsmann für Arnolds Erziehungsauffassung, auch August Hermann Francke wird gelobt (S. 47). 88 Arnold: Schul-Bau (Anm. 26), S. 14: „Zwar hat sich niemand zu besorgen / als wolle man hiemit die Auctores profanos aus denen Schulen gäntzlich ausgemustert wissen. Man giebet aber nur unpartheyisch zu bedencken / ob man aus denen Göttlichen Scribenten oder aus denen menschlichen und Heydnischen das Hauptwerck machen / und womit man die meiste Zeit zubringen müsse.“

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der Lehre an Universität und Gymnasium forderten.89 Arnold steht ihnen hier näher als je zuvor.90 Natürlich ist es ein Unterschied, ob Arnold als Pfarrer den Lehrern die Aufgabe eines Umgangs mit den ihm selber unbeliebten Gegenständen delegiert oder sich selber mit der Erfüllung eben dieser undankbaren Pflicht konfrontiert sieht. Jedenfalls ist das Vertrauen Arnolds in die Leistungskraft der Schule gewachsen, auch wenn man die okkasionellen Momente berücksichtigt, die seine Stellungnahme begünstigt haben mögen. Ihr geht der Entscheid voraus, innerhalb dieser Institution, der kleinen Perleberger Schule wenigstens, in der Rolle eines geistlichen Schirmherrn im Sinne des allgemeinen Besten wirken zu wollen. Nicht mehr stellt er wie damals in Gießen ernüchtert die Unzulänglichkeit von Kirche und Schule fest, sondern die Gottesfreunde müssen auf beide Wirkungsstätten Einfluß nehmen. Die Anleitung zu Bekehrung und Wiedergeburt hier wie dort ist,91 wie bei Vockerodt, ausdrücklich formuliertes Ziel von schulischer Erziehung und kirchlicher Unterweisung. Die Lehrer werden angehalten, den Gottesdienst zu besuchen, damit sie im Unterricht das in der Predigt Vermittelte wiederholen und die Schüler zu einem innigen Glaubensleben mit anleiten können. Sie sollen zum Herzensgebet, einer offenen Selbstaussprache mit Gott, nicht zum geistlosen Auswendiglernen und Nachplappern vorgeformter Aussagen, erzogen werden. Die Ausbildung der memoria darf, ganz im Sinne der Frühaufklärung, hinter der anzustrebenden Veränderung des Willens und der Verbesserung des Verstandes zurücktreten. Zu den Unterrichtsfächern gehört daher auch die antiaristotelische Logik, die, weil sie nicht zu scholastischen Begriffsspaltereien verführt, eine nützliche Aufgabe erfüllt, indem sie die Technik des wirklich vernünftigen Schließens vermittelt. Auch auf die Grammatik kann man nicht verzichten, noch weniger auf die Rhetorik. Wenig Verständnis 89 Zu Ulrich Huber: Oratio de paedantismo. In: Adam Rechenberg (Hg.): Edmundi Richeri obstetrix animorum, seu prudens docendi et discendi methodus, cum clar. virorum opusculis non dissimilis argumenti. Leipzig / Lüneburg 1693, S. 42–93, und der ihm folgenden Auseinandersetzung des Thomasius mit dem Pedantismus äußert sich ausführlich Kühlmann: Gelehrtenrepublik (Anm. 35), S. 423–454. Er weist auf die dem Pietismus und der Aufklärung gemeinsame Praxisbezogenheit und ihre Verankerung im christlichen Humanismus hin (S. 443 Anm. 65). Arnolds Rede unterstreicht das Gemeinsame; im übrigen wird man die spezifischen Unterschiede herausarbeiten und auf die Denunziation der theoretischen Vernunft und der Weltweisheit durch die Pietisten hinweisen müssen. Aristoteles freilich ist auch vielen Aufklärern verhaßt. Das Programm einer ‚eruditio politica‘ vermittelt zusammenhängend Friedrich Wilhelm Bierling (Anm. 54). Zur pietistischen Pedantismuskritik und zu Poiret kurz Kühlmann, S. 452. Arnold wird nicht namentlich erwähnt, auf Joachim Lange und August Hermann Francke hingewiesen. 90 Freilich gehören „hohe Staats-Dinge“ nicht vor junge Leute, da sie davon „weder Begriff noch Erfahrung haben können“ (Schul-Bau, Anm. 26, S. 37). Wer über beides verfügt, wird sich – offenbar ohne von Arnold verurteilt zu werden – damit abgeben dürfen. 91 Arnold: Schul-Bau (Anm. 26), S. 7.

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findet allerdings die sogenannte galante oder alamodische Beredsamkeit, deren Schmuck Arnold mißfällt, da er dem Geschwätz Vorschub leistet und menschlicher Eitelkeit schmeichelt. Erst wenn der Verstand und das Urteilsvermögen hinreichend ausgebildet sind und ein fundamentum in re geschaffen ist, wird man sich ohne Bedenken der Wortkunst und der Mitteilung des Erfaßten zuwenden dürfen. Arnold legt einmal mehr Wert auf die Feststellung, daß sich seine Bedenken nicht gegen die Rhetorik an sich, wohl aber gegen deren Mißbrauch wenden. Obwohl in der Rede versucht wird, das Verhältnis zur Redekunst möglichst ungetrübt erscheinen zu lassen, legen die einschränkenden Wenn und Aber wie die vorsichtige Zurückweisung von Unterstellungen die Vermutung nahe, daß Arnold in der Rhetorik ein gefährliches, demagogischen Zwecken leicht zugängliches und damit die unschuldige Wahrheit kompromittierendes Werkzeug erblickt. Doch die Warnung vor der falschen Beredsamkeit impliziert das Vorhandensein einer wahren, so daß die Stelle zu Recht als für das pietistische Rhetorikverständnis typisch gelten kann,92 wenn man gleichzeitig einräumt, daß gerade bei Arnold von einer – kontextgebunden – äußerst vielschichtigen rhetorischen Sprachauffassung auszugehen ist. Am Schluß werden die Eltern, insbesondere die Hausväter und Vormünder, ernstlich ermahnt, ihre Kinder zur Schule zu schicken „[...] um die ewige Verdammniß zu meiden.“93 Auch der sozial Bedürftige soll in den Genuß des Unterrichts kommen. Arnold übt auf die Zuhörer einen gewaltigen moralischen Druck aus und schreckt vor sozialpolitischen Forderungen nicht zurück, die seinen Willen zur Tat unterstreichen und insbesondere eine ideelle und materielle Besserstellung der Schulbediensteten erstreben: „Es dienen zwar rechtschaffene Arbeiter in Kirchen und Schulen nicht den Menschen / sondern dem lebendigen Gott / nicht ums Lohn oder Gewinstes halber / sondern von Hertzens-Grund / wo sie nicht als Miedlinge vor Gott wollen erfunden werden. Jedennoch aber erfodert es die natürliche Billigkeit / und solte niemand sich erst dazu nöhtigen lassen einem Arbeiter den Lohn / dessen er wehrt ist / zu reichen.“94

Der Schritt von der Einsicht in die Notwendigkeit, inneres Leben zu entfalten, Zeit für die mystische Versenkung zu gewinnen und deshalb den Abgang von der Universität öffentlich rechtfertigen zu müssen, zu dieser politisch-praktischen Stellungnahme ist beachtlich, auch wenn die erfolgreiche Schulführung der Hallenser Pietisten Arnold den Rücken gestärkt haben mag. Seine Rede zeugt von einem nun ganz nach außen gerichteten Sendungsbewußtsein, das den Geist, von dem es sich durchdrungen fühlt, von wirklicher Zuversicht und Hoffnung auf bes-

92 Ich gebe hierin Reinhard Breymayer: Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik. In: Rhetorik (Anm. 30), S. 87–104, hier S. 94, recht. 93 Arnold: Schul-Bau (Anm. 26), S. 51. 94 Ebd., S. 52.

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sere Zeiten geprägt, in die Welt hineinwirken läßt.95 Das Vertrauen Arnolds in die Möglichkeiten der von göttlicher Gnade geleiteten Praxis ist offenbar unbegrenzt und wie ehedem unerschütterlich. Der an ausgewählten Gesichtspunkten durchgeführte Vergleich des Bekenntnisses mit der Schulrede gestattet einige grundsätzliche, d.h. verallgemeinerbare Feststellungen zu Gottfried Arnolds Sprachverständnis: 1. Arnold geht stets von einem – ihm mehr oder weniger stark ausgeprägt erscheinenden – Dualismus von Welt und Geist, profaner und christlicher Weisheit, geistloser und geistreicher Erkenntnis aus, der individuell und – weniger deutlich ausgesprochen – von den Menschen insgesamt überwunden werden muß und – wenigstens temporär – auch überwunden werden kann. Die Sprache ist für ihn das einzige Mittel, den erfahrenen Gegensatz beider Wirklichkeiten allgemein bekannt zu machen und so an seiner allmählichen Verringerung, am Fortschritt des Menschen im Geiste, zu arbeiten. Sie ist demnach das Instrument im Kampf für die Wahrheit, für Bekehrung und Wiedergeburt. Sie vermittelt praktisch anwendbare Erfahrungen und Erkenntnisse, ist das Medium des Erfahrungsaustausches. Die Art und Weise, wie sie jeweils eingesetzt wird, hängt davon ab, wie der Sprechende seine eigenen, subjektiven Bedingtheiten und die äußeren Bedingungen einschätzt, zu deren Verbesserung die Sprache beitragen soll. Der Selbsterkenntnis (Gewissenserforschung!) kommt besonders große Bedeutung zu. 2. Von Nicht-Wiedergeborenen eingesetzt, ist Sprache ein gefährliches Werkzeug, das als Vehikel der Eigenliebe dazu beiträgt, den Erfolg taktisch-strategischen Handelns zu garantieren96 (vgl. Arnolds Kritik an der mit der Fähigkeit zur List gleichgesetzten prudentia der Weltweisen). 3. Die Erziehung zum wahren Christentum und zur Wahrhaftigkeit im Glauben, zur kindlichen Unschuld, ist der einzige Ausweg, der aus der Sackgasse der verderblichen Weltverfallenheit herausführt. Ist der Mensch vom göttlichen Geist ergriffen, hat die Sprache ihr gefährliches Wirkungspotential verloren; sie dient dann der segensreichen Verbreitung des wahren Glaubens, des christlichen Geistes. Jedenfalls geht ihr bei Arnold die rhetorische Bestimmung, der Praxis- und Publikumsbezug, nie verloren; sie bewahrt also ihre genuin rhetorischen Qualitäten. 4. Die Priorität der Praxis führt dazu, daß bei Arnold Reflexionen über die Sprache eher selten vorkommen. Die grundlegenden Befunde seiner Sprachauf95 Mit dem ‚Woleingerichteten Schul-Bau‘ (Anm. 26) zu vergleichen ist Gottfried Arnold: Predigt von christlicher Haushaltung und Kinder=Zucht. o.O. 1731, wo er, von pädagogischem Eifer beseelt, einen ähnlichen Ton anschlägt. 96 Büchsel (Anm. 3, S. 169–174) hat auf die unterschiedliche Bewertung der Wiedergeburt durch Arnold namentlich in der ‚Wahren Abbildung des inwendigen Christenthums‘, Frankfurt a.M. 1709, und in den Schriften der radikalen Phase ausdrücklich aufmerksam gemacht. Diese Differenzen haben sich, soweit ich sehe, auf diesen Aspekt der Beurteilung der Sprache bei Arnold nicht ausgewirkt.

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fassung müssen daher, mit zum Teil erheblichem Interpretationsrisiko, aus mittelbaren Äußerungen in den Texten gewonnen werden. 5. Besondere Beachtung verdient bei Arnold die Rolle, die das menschliche Subjekt bei der Gestaltung der Rede übernimmt, da es durch das göttliche Wirken des Geistes seiner Eigenverantwortung beraubt, nicht mehr als Urheber seiner Sprechhandlungen betrachtet werden kann. Sermo mysticus und Rhetorik gehen miteinander ein gespanntes Verhältnis ein, weil jener die Regeln dieser ‚spontan‘ zu beachten scheint.

3.  Arnolds rhetorische Antirhetorik: Der Mensch als Gefäß und Sprachrohr des Heiligen Geistes Schon in der unter seinem Vorsitz 1687 verteidigten Dissertation über die Engelsprache97 schließt sich Gottfried Arnold bemerkenswerterweise der Meinung an, die Intelligenzien würden sich in einer Geistsprache mittels Gedankenübertragungen untereinander verständigen. Auch später haftet für ihn geäußerten Worten, auch wenn sie vom göttlichen Segen begleitet werden, immer etwas Unreines, das Odium der Körperlichkeit, an. Da sie aber den Austausch geistlicher Erfahrungen zu Erbauungszwecken sicherstellen und durch kein gleichwertiges oder gar wirksameres und unbescholteneres Kommunikationsmittel ersetzt werden können, sind sie dem mystischen Didaktiker unentbehrlich, auch wenn er sein Publikum zum geduldig aufmerksamen Hören auf die Stimme des göttlichen Geistes im Herzensinnern, also zum Schweigen, anleiten will. In der erstmals 1699 herausgekommenen zeitkritischen Abhandlung Heilsame Wahrnehmung jetziger Zeiten wird dem Leser das Programm des mystischen Rückzugs aus der Welt nahegebracht: „Du wirst als ein arbeitseliger und beladener zu seinem Sohn kommen / denn er ruffet dich in deinem Hertzen. [...] Folge nur getrost dieser ruffenden Stimme / sie kan dich unmüglich irre führen. Heute / Heute / so du sie hörest / so verstocke dein Hertz nicht! [...] Er [= Christus; M.] wird dir den Geist des Glaubens geben / den Geist der Liebe und der Krafft und der Zucht / den Geist der Gnaden und des Gebets. Dieser wird dich von dem Auswendigen ins Inwendige ziehen / da er GOttes Reich aufrichten will. Er wird dich von aller Zerstreuung / Welt= und Creatur=Liebe in dein Hertz führen. In die Wüsten wird er dich locken und dir ins Hertz reden.“98 97 Gottfried Arnold (Präses) / Paul Teutsch (Respondent): Locutio angelorum. Wittenberg 1687, ediert von mir in diesem Band, S. 161–189. 98 Gottfried Arnold: Heilsame Wahrnehmung jetziger Zeiten, von Gottfried Arnold bereits Anno 1698 herausgegeben […] nun aber aufs neu zum Druck befördert. o.O. ²1718, S. 24f.; nur mit Hilfe des Paradoxons vermag das Gedicht ‚wahre einsamkeit‘ in Gottfried Arnold: Göttliche Liebes=Funcken aus dem großen Feuer der Liebe Gottes in Christo Jesu entsprungen. 3. Edition mit neuen göttlichen Liebes=Funcken und ausbrechenden Liebes=Flammen aus des sel. Autoris Göttlicher Sophia vermehret.

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Der Mensch soll in seiner bloßen Empfängerrolle zunächst völlig aufgehen, bis er, dem göttlichen Einfluß je länger je mehr geneigt, von Gott schließlich als Wiedergeborener an der Verbreitung der Geistkirche beteiligt, wie in den ersten Zeiten der Christen predigen wird.99 Der ganze Vorgang der geschilderten imitatio Christi hebt, sprachphilosophisch betrachtet, mit dem Zustand der Sprachlosigkeit des Subjekts an, um dann abgelöst zu werden von einem anderen, in dem der nach außen tretende göttliche Geist sich des Subjekts als einer Quelle der Offenbarung bemächtigt hat. Die Paradoxie, welche einleitend Arnolds mystischer Sprachauffassung antirhetorische Rhetorizität zuspricht, ist daher näherer Erläuterung durchaus zugänglich: Einerseits verdankt sich die Rede des Heiligen Geistes, die am höchsten qualifizierte Sprache, nicht menschlicher Kunst, sondern dem Wirken göttlicher Gnade, zum anderen soll sie trotzdem von Menschen an Menschen, die aufnahmebereit sind, weitergegeben werden können. Das wiederum gelingt nur, wenn die Gesetzmäßigkeiten rhetorischer Wirkung, die den menschlichen Aufnahmevermögen angepaßt sind, in Kraft bleiben. Der Arnoldtext umschließt das breite Spektrum der Möglichkeiten, die für das Verhältnis des Mystikers zur Sprache in Betracht kommen: Es reicht von der schweigenden Passivität,100 in der das Horchen auf die göttliche Stimme zum Ausdruck kommt, bis zur Rede des Wiedergeborenen, in der der Heilige Geist wirklich Wortgestalt annimmt und sich anderen mitteilt. Arnold schreitet hier thematisch den Bereich der Geistrhetorik und ihres Hauptgegenstandes, des sermo mysticus, ab. Alois Haas, der verdiente Erforscher mittelalterlicher und barocker Mystik, hat insbesondere in seinen unter eben dem Titel Sermo mysticus herausgekommenen Untersuchungen, die der Pietismusspezialist dankbar heranziehen sollte, nachdrücklich die grundlegende Bedeutung der Sprache für den Mystiker hervorgehoben: „So wichtig dieses Beharren auf der authentischen Erfahrung der Schau Gottes ist, so fragwürdig wäre eine Unterschlagung der sprachlichen Vermittlung, die dazu führt. [...] Da er [ = der Mystiker; M.] Gott noch nie gesehen hat, kann er auch nicht selbständig verifizieren, ob das, was sich ihm als Gott



Leipzig 1724, S. 244, das Verhältnis des Mystikers zur Welt bestimmen, aus der er sich zurückgezogen hat und in der er nach wie vor verbleibt: „Geh aus dir selbst und deiner eigenheit / So bistu in der Welt von welt befreyt.“ 99 Auch im Hinblick auf Gottfried Arnold stimme ich mit Breymayer: Pietistische Rhetorik (Anm. 54), prinzipiell überein, wenn er das Wesen der pietistischen Rhetorik am Beispiel anderer Zeugnisse als das einer nov-antiken bezeichnet. Für unseren Autor wäre die Bezeichnung ‚rhetorica spiritualis nov-antiqua christiana‘ angemessen. 100 Der Begriff der Passivität ist in der mystischen Theologie ein gradueller; so betont Maximilian Sandäus: Theologia mystica seu contemplatio divina religiosorum a calumniis vindicata. Mainz 1627, S. 495: „Iam vero auditio mystica est perceptio infusionis, vocationis, excitationis: quae sane absque omni actu percipientis non contingit.“ Auf Nuancen kommt es Arnold an der zitierten Stelle nicht an.

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vorstellt, auch Gott ist.“101 Noch im Vorwort zum Inwendigen Christentum wird einer solchen Erfahrungskontrolle durch die Lektüre mystischer Schriften größte Wichtigkeit beigemessen: Der mit seiner eigenen Erfahrung allein Gelassene bedarf der in Büchern objektivierten Erfahrungen anderer. Freilich warnt Arnold anschließend davor, „[...] alle mysticos auszustudieren / sie alle in einen weg zu bringen / und demselben nachzugehen. Welches schädlich / ja eben so unmüglich und eben so lächerlich seyn würde / als wenn jemand in fremde länder reisen / vorher aber alle itineraria oder reise=beschreibungen durchlesen / sie alle in eine route oder folge bringen / dann aber derselben von ort zu ort nachgehen / und allen denen reisenden in ihren besondern unternehmungen und begebenheiten es gleich thun wolte.“102

Von der mystischen unterscheidet Haas die poetische Erfahrung, weil diese ohne das Gedicht, also ohne Worte sinnlos werde, jene dagegen durchaus stattfinden könne, ohne daß sie sich in Worten objektivierte. Es gebe Mystiker, die ein ganzes Leben lang geschwiegen hätten, „[...] ohne dass sie doch irgendeine Einbusse der eingegossenen Beschauung hätten in Kauf nehmen müssen.“103 In Gottfried Arnolds radikaler Phase sind, was der Untertitel unserer Arbeit deutlich macht, Mystik bzw. sermo mysticus und Poesie resp. poesis sacra eine so innige Verbindung eingegangen, daß es schwerfällt, die beiden Erfahrungsbereiche auseinanderzuhalten. Arnold ist in seiner lyrischen Schaffensepoche das Musterbeispiel eines mystischen Poeten, dem die sprachliche Vermittlung des – eigenen oder übernommenen – mystischen Gedankengutes gelingen muß. Die Einlösung dieser Forderung im Gedicht zeugt von einem großen Vertrauen in die Leistungskraft der Sprache und von pädagogischem Eifer; die Beschäftigung mit Arnolds mystischer Sprachauffassung bezieht hieraus ihre eigentliche Berechtigung. Die Interpretation von Arnolds Lyrik setzt genaue Vertrautheit mit der Terminologie der Gotteserfahrung voraus. Zu ihrer begrifflichen Festlegung hat namentlich die – noch weitgehend unerforschte – mystische Theologie des 17. Jahrhunderts, wie sie vor allem von den Jesuiten und Karmelitern als Lehrdisziplin gepflegt wurde, Entscheidendes beigetragen.104 Sie hat die einschlägigen Begriffe 101 Alois Haas: Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Freiburg (Schweiz) 1979, S. 337f. Vgl. ebd., S. 334 Anm. 12, wo im Anschluß an August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 21968, vom Nachwirken Spees und anderer geistlicher Dichter des Barock im Echogedicht des Pietismus die Rede ist. In der 3. Ausgabe der Göttlichen Liebes=Funcken von 1724 (Anm. 98) ist ein solches enthalten (S. 77–79). 102 Gottfried Arnold: Wahre Abbildung des inwendigen Christenthums (Anm. 96), Vorrede, Bl. c2v, Abschnitt 25. 103 Haas: Sermo mysticus (Anm. 101), S. 76. 104 Ebd., S. 144 Anm.19, weist Haas auf das Forschungsdesiderat hin und erwähnt „Blosius, Sandaeus und viele andere mystische Theologen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts“, die für die Nachwirkung der deutschen Mystik in der späteren Mystiktheorie in Betracht kämen.

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durchaus nach scholastischem Vorbild in einem System einander zugeordnet; einem solchen Systemzwang ist auch Arnolds Mystische Theologie deutlich verpflichtet. Obwohl man sich hüten wird, in seiner Lyrik bloß die Umsetzung vorgegebener theoretischer Konzepte in die dichterische Praxis zu erblicken, bilden diese die hermeneutische Grundlage, von welcher her ein adäquates Verständnis der in den Gedichten vorkommenden mystischen Begriffe erst möglich wird. Zu sehr, scheint mir, hat man sich bis jetzt auf die Zufälligkeit von Arnolds mystischem Vokabular verlassen. Auch finden sich die praecepta der Geistrhetorik, auf die es hier ankommt, nicht primär in den Lehrbüchern zur eloquentia sacra, sondern in denjenigen der mystischen Theologie. Auf sie muß der folgende Exkurs, vorläufig und fragmentarisch genug, hinweisen.105 Von einer – über Seeberg hinausgehenden – zusammenhängenden Darstellung der mystischen Theologie des 17. Jahrhunderts sind auch für das Verständnis des Pietismus neue Einsichten und Erkenntnisse zu erwarten. 3.1.  Exkurs: Vorbemerkungen zur Theorie des sermo mysticus Der bedeutendste Vertreter unter den katholischen Mystiktheoretikern des 17. Jahrhunderts ist für Arnold der Jesuit Maximilian Sandäus, der in der Mystischen Theologie oft zustimmend erwähnt und zitiert wird.106 Sandäus unterstreicht, daß die der mystischen Sprache zu Unrecht vorgeworfene Dunkelheit von der Größe und sprachlichen Unfaßbarkeit der göttlichen Gegenstände herrühre, von denen sie handle. Als unzulängliches Mittel ihrer Charakterisierung setzt der sermo mysticus Metaphern, Hyperbeln und Superlative ein und bedient sich der figürlichen Ausdrucksweise, die mehr verhüllt 105 Eine ausführlichere Untersuchung zur Bedeutung der Mystiktheorie für Arnold und den Pietismus muß ich auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, da die Behandlung der Frage unseren Rahmen bei weitem sprengen würde. Bei der Erschließung der Rhetorikliteratur wird das Schrifttum beachtet werden müssen, in dem – wenn auch selten allein – von der Geistrhetorik die Rede ist. 106 Sein Name kommt auf wenigstens zwanzig Seiten in der ‚Mystischen Theologie‘ (Anm. 11) vor, und im Verzeichnis der mystischen Schriften ist er mit sieben Titeln (S. 509) vertreten, auch in Poiret: Verthädigung (Anm. 73) ist mehrfach von ihm die Rede. Maximilian Sandäus: Pro theologia mystica clavis. Köln 1640, ist zudem in Arnolds Buchbesitz (Catalogus, Anm. 10, S. 357) nachgewiesen. Seeberg (Anm. 3) erwähnt ihn S. 379, spricht von einer Belastung der Mystik mit einer Art von Erkenntnistheorie, welche die gelehrte Kombination von verschiedenen Typen der Mystik, wie sie bei Arndt oder Arnold zu beobachten sei, herbeigeführt habe. Seeberg hat sich durch seine ablehnende Haltung leider von einer weiteren Behandlung des Gegenstandes abhalten lassen; das Faktum als solches hat er durchaus richtig erkannt, vgl. auch S. 43, wo er sagt, Arnolds Mystik sei mehr eine mystische Theologie. Auch Büchsel (Anm. 3) kommt zum Schluß, daß die Einflüsse verschiedener Mystiker und Mystiktheoretiker auf Arnold genauer untersucht werden müßten (S. 203).

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als bloßlegt.107 In einem nach dem Frage-Antwort-Schema aufgebauten Artikel (Prima disquisitio. Quae sit loquutio mystica?) wird die folgende Definition der mystischen Sprechweise gegeben: „Mystisch nennen die [Gottes]Gelehrten jene Sprechweise, mittels welcher Gott entweder selber oder durch eine von ihm beauftragte Kreatur einen in der Dunkelheit befindlichen Geist anspricht, indem er der Seele des Betrachtenden Worte eingibt, die diesen zu seinem eigenen oder dem Heil anderer belehren und ihn zu großer Ehrfurcht, zum Gehorsam oder andern heiligen und göttlichen Affekten [Regungen] antreiben.“108

Es werden von Sandäus insgesamt sechs verschiedene Formen göttlichen Sprechens, vier äußere und zwei innere, auseinandergehalten. Die Äußerungen der Hl. Schrift sowie der Interpreten des Gottesworts, erwiesene Wohltaten und gesandtes Unheil gehören zu jenen, Inspiration sowie von Gott geschenktes Vertrauen, erhört zu werden, oder Entzug dieses Vertrauens durch Gott machen diese aus.109 Er kann sich dem Mystiker im Traum offenbaren, denn „tunc homo ad audiendam vocem Dei est aptissimus“,110 oder kontemplative Zuwendung und Hingabe im Gebet mit einer Antwort belohnen. Sandäus zählt die Mitteilungsweisen, die sich zwischen den ungleichen Partnern Gott und Mensch ergeben können, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit auf und vermittelt so – freilich auf knappem Raum – eine Typologie der Ausdrucksformen mystischer Rede. Den beiden zuletztgenannten liegt die Struktur des geistigen resp. inneren Dialogs zugrunde. Die göttlichen Eingebungen erfolgen im Flüsterton;111 ihre Wirkung auf die Seele wird von Sandäus wie folgt beschrieben: „Vorerst freilich verwirrt, schreckt und richtet die mit den Ohren des Geistes wahrgenommene göttliche Stimme. Wenn du aber fortwährend gut aufmerkst, belebt, 107 Sandäus: Pro theologia mystica clavis (Anm. 106), Vorrede (unpag.): „Iam character mysticorum est obscurus, involutus, difficilis, sed & stylus ipsorum habet frequentes hyperbolas, excessus, improprietates, quod inficiari non possumus. At caussa est, non affectatio, sed divinarum rerum celsitudo & incomprehensibilitas, cui accedit affectuum alio eloquutionis genere inexplicabilium conditio.“ Gleich darauf, ebd.: „Scatet etiam ORATIO mysticorum metaphoris, alijsque loquutionibus figuratis.“ Zu den Superlativen ebd., S. 10. Freilich passen die von Sandäus propagierte Metaphernsprache und der hohe Stil nicht zu der von den Pietisten geforderten simplicitas. Poiret: Verthädigung (Anm. 73), S. 48, meint, es sei lächerlich anzunehmen, Moses habe sich im Gespräch mit Gott rhetorischer Figuren bedient. 108 Sandäus: Theologia mystica (Anm. 100), S. 487: „Loquutionem Dei mysticam vocant DD. eam, qua menti in caligine constitutae loquitur Deus, vel proxime per se, vel per subiectam creaturam formando verba in contemplantis animo quibus illum peculiariter dealiquo [sic; M.] ad salutem aut profectum illius, aliorum ve erudiat atq; ad magnam reverentiam, obedientiam aut alios adfectus sanctos, & divinos impellat.“ 109 Sandäus: Theologia mystica (Anm. 100), S. 484–487. 110 Ebd., S. 490. 111 Ebd., S. 496.

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erweicht, erwärmt, erleuchtet und reinigt sie. Schließlich ist sie unsere Speise, unser Schwert und unsere Medizin, Stärkung und Erholung, auch unsere Auferstehung und Vollendung.“112

Sandäus ist sich des Gegensatzes zwischen den von der mystischen Theologie vertretenen Prinzipien und den aristotelischen bewußt; das sei kein Grund, jene als falsch zu verurteilen.113 Könnte sich nicht, wie das oft in der Naturlehre der Fall war, auch unter dem Schleier der Wahrscheinlichkeit hergebrachter Meinungen über die Seele Falsches verbergen?114 Die Erfahrungen der Mystiker verdienen es, ernstgenommen zu werden. Naturwissenschaft und Mystik vereinigt Sandäus unter einem Dach, nämlich dem der empirischen Disziplinen. Das Recht auf eine eigene Sprache, den stilus mysticus, braucht sich die letztere deswegen nicht nehmen zu lassen: „Mystici suum habent stylum ut quelibet curia, suas loquendi formulas, dictionem propriam, & phrasim.“115 Sandäus versteht es, das Ansehen der mystischen Theologie zu festigen, indem er deren methodische Gemeinsamkeiten mit den empirischen, der Welt der Körper zugewandten Naturwissenschaften hervorhebt, deren Prestige damals im Wachsen war. Anderseits beharrt er auf der Eigenständigkeit der geistigen Wirklichkeit, wo es um die Mitteilung der in ihr gemachten Erfahrungen geht. Der Dualismus zwischen der Welt der Körper und derjenigen der geistigen Erscheinungen taucht in der mystischen Sprachauffassung des Sandäus in der Gestalt der Unterscheidung von innerer und äußerer geistiger Rede wieder auf: Das äußere Gotteswort, ein Zwitterding von Materie und Geist, bleibt damit anfällig für Kritik aus den Reihen extremer Spiritualisten. Auf der anderen Seite mißt Nikolaus Caussinus in seiner im 17. und 18. Jahrhundert weit verbreiteten Predigtlehre der Geistrhetorik eine geringere Bedeutung bei als sein Ordensbruder Sandäus.116 Er empfiehlt dem Geistlichen, den sensus mysticus, unter welchem Oberbegriff er die drei geistigen Schriftsinne erfaßt, maßvoll anzuwenden, obwohl die nicht buchstäbliche Auslegung beim einfachen Volk besser ankomme.117 Ausgerechnet dieses ist vornehmlich das Zielpublikum der Pietisten. Damit ist das theoretische Umfeld, innerhalb dessen auch die pie-

112 Ebd., S. 498: „Primum quidem sonans in auribus animae vox divina, conturbat, terret, dijudicatque: sed continuo si bene adverteris, vivificat, liquefacit, calefacit, illuminat, mundat. Denique & cibus noster est, & gladius, & medicina, & confirmatio, & requies: resurrectio quoque, & consummatio nostra.” 113 Sandäus: Pro theologia mystica clavis (Anm. 106), S. 10. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 6. 116 Nicolaus Caussinus: De eloquentia sacra et humana, libri XVI. Lyon 1643. Zu Caussinus vgl. Franz Günter Sieveke: Eloquentia sacra. Zur Predigttheorie des Nicolaus Caussinus SJ. In: Rhetorik (Anm. 30), S. 43–68. 117 Caussinus (Anm. 116), liber XV, S. 957.

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tistische Geistrhetorik anzusiedeln ist, wenigstens grob umrissen.118 August Hermann Francke, auf den sich der Pietist Paul Anton in seiner knappe Anweisungen vermittelnden Homiletik mehrfach bezieht,119 gibt in seiner Wegleitung zur Bibellektüre auch eine Lehre der geistlichen Affekte (affectus spirituales), deren Wesen er wie folgt bestimmt: „Affectus spirituales principium habent ipsum Spiritum Sanctum, & sunt fructus spiritus.“120 Die geistlichen Affekte sind, im Gegensatz zu den natürlichen, nicht der Eigenliebe verpflichtet, sondern im Glauben und in der Nächstenliebe gegründet, ganz auf Gott und seinen Ruhm, die Erbauung der Mitmenschen, die Vervollkommnung der Natur und den Fortschritt in der Gnade ausgerichtet, immer mit der Demut und nicht, wie die natürlichen, mit dem Hochmut verbunden. Nie lassen sie Bitterkeit im Herzen aufkommen oder bringen sie dieses aus der Fassung, wohl aber verbreiten sie dort Freude und Gelassenheit.121 Selbst der Wiedergeborene muß gegen den Ansturm der natürlichen Affekte kämpfen, immer wieder ist er gemischten Gefühlen ausgeliefert, um deren Reinigung er sich bemühen soll,122 denn seine Reinheit steht und fällt mit dem ihn beherrschenden Affekt: „Secundum regnantem Affectum homo denominatur vel carnalis, vel spiritualis.“123 Francke liefert eine klare Bestimmung der geistlichen und natürlichen Affekte, da nur deren beider Unterscheidung die von ihm erstrebte Vergeistigung des natürlichen Menschen, seine Veredlung in Bekehrung und Wiedergeburt herbeiführen kann. 118 Dadurch werden natürlich nicht sämtliche Pietisten auf die Geistrhetorik festgelegt; Arnolds Sprachauffassung aber läßt sich, ohne daß man einen Begriff von jener hat, nicht bestimmen. 119 Paul Anton: Elementa homiletica, in materiam ac usum praelectionum, tum exercitiorum & censurarum etiam, quae in hoc genere fieri solent, consignata […]. Halle 1707. Antons Homiletik hat Arnold besessen (Catalogus, Anm. 10, S. 390). Auch Dyck (Anm. 4) hat auf die affektivische Exegese der Pietisten aufmerksam gemacht, indem er in zweiter Hand aus August Hermann Franckes ‚Praelectiones hermeneuticae‘ zitiert (S. 115 Anm. 78). Franckes ‚Manuductio ad lectionem scripturae sacrae‘ (London 1706) muß auch unter dem Aspekt der Geistrhetorik im einzelnen nicht mehr vorgestellt werden. Erhard Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes. Bd. 1. Berlin 1964. Bd. 2. Berlin 1966, hat alle hermeneutischen Schriften Franckes sehr eingehend besprochen (Bd. 2, S. 13–126; zur Affektenlehre S. 97–100). Auch die ‚Manuductio‘ war im Besitz Arnolds (Catalogus, Anm. 10, S. 400). 120 Francke: Manuductio (Anm. 119), S. 121, ebd. die ergänzende, gegenstandsbezogene Definition: „Affectus spirituales versantur circa objecta divina, aeterna, spiritualia, invisibilia.“ 121 Ebd., S. 122: „Affectus spiritualis tendit ad emendationem naturae, ad incrementum gratiae, ad aedificationem proximi, non alium finem, quam solam Dei gloriam propositum habens.“ Belege zu den übrigen Aussagen auf derselben Seite. 122 Ebd., S. 125: „[...] existimandum non est, in animo hominis renati affectus illos statim esse adeo sejunctos, ut spiritualibus nil plane se immisceat affectus naturalis. Quin potius quotidianum hoc erit piorum exercitium, ut magis magisque affectuum naturalium (naturae nempè corruptae ac depravatae) insultibus ac dominio liberentur.“ 123 Ebd.

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Sein hermeneutisch-exegetisches Lehrbuch ist ein Vademecum der Selbstprüfung, die sich allein auf affektiv-emotionaler Basis abspielen soll. Indem Francke alle geistlichen Affekte in der Liebe zu Gott und zum Nächsten gegründet sieht, befindet er sich im Einverständnis mit dem Schwenckfeld nahestehenden protestantischen Mystiker Christian Hoburg, den auch Arnold gerne als Autorität beizieht.124 Im Gegensatz zum Hallenser hat Hoburg, wie übrigens auch Arnold, die Affektenlehre in seiner mystischen Theologie nicht zusammenfassend-systematisch abgehandelt. Umso stärker hebt er die einzigartige Bedeutung der Liebe hervor, in der er den Quellgrund und das Kraftzentrum aller göttlich-geistigen Regungen erblickt. Sie ist das reine, von Gott in das menschliche Herz eingesenkte Licht, das den Menschen vom falschen Licht der Eigenheit und vom schädlichen Einfluß der äußerlichen Worttheologie befreit und ihn, den Erleuchteten, an der Herzensgemeinschaft mit Gott teilhaben läßt. Den geistigen Läuterungsvorgang, der sich in der unio mystica vollendet, versucht Hoburg mit einem der Physik entlehnten Bild zu veranschaulichen. Die Seele, ein mit schwarzem Rost überzogenes Eisen, wird von einem Feuer, dem der göttlichen Liebe, durchdrungen, gewärmt und gereinigt.125 Auch Gottfried Arnold wendet sich immer wieder der sprachlichen Bewältigung dieses Prozesses zu: Die als wirkend erfahrene Gottesliebe scheint ihm Antrieb und Gegenstand des Schreibens zugleich gewesen zu sein.126 3.2.  Arnolds Rhetorik der Gottesliebe in der Lyrik Die Verabsolutierung der Liebesthematik in den meisten Gedichten, in einer Vielzahl von Predigten und anderen Werken Arnolds läßt seine Rhetorik des Geistes als eine von der umfassenden Empfindung göttlicher Liebe getragene erscheinen. Der Geist, der sich in all diesen Schriften ausspricht, ist der der geistlichen Liebe 124 Vgl. Arnold: Mystische Theologie (Anm. 11), S. 308; Peter C[hristian] Erb: Pietists, Protestants, and Mysticism: The Use of Late Medieval Spiritual Texts in the Work of Gottfried Arnold (1666–1714). London 1989, S. 111: „Arnold had a close knowledge of his [= Hoburgs] publications, and through these [...] he must have contacted mystical ideas.“ 125 Christian Hoburg (oder Hohburg): Theologia mystica das ist / verborgene KrafftTheologie der Alten. Amsterdam / Frankfurt a.M. 1675, Dritter Theil, S. 201. 126 Auch bei Caussinus (Anm. 116), liber VIII., cap. XIV, S. 485, ist die Liebe der am höchsten eingestufte Affekt: „Ut coelestes orbes, is qui omnium supremus est, suo ambitu contentus, motu pariter versat, & rapit: sic omnes affectus unius amoris complexu comprehensi, unius quoque amoris conversione moventur.“ Bei Arnold findet sich eine schöne Stelle in der Vorrede zu den Liebes=Funcken von 1697 (in: Gottfried Arnold: Göttliche Liebes=Funcken, Anm. 98), Bl. b4v-b5r: „Ihr [= der Seele; M.] Inwendiges ist zu enge, die Macht der Liebe in sich zu verbergen. Diese ist wie ein Feuer, das nicht lange verborgen bleibt, sondern zu Thüren und Fenstern ausschlägt, und den Nachbarn weiset, was vorhanden sey.“

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und die Sprache, die er per analogiam angenommen, die der Liebenden. Dem Dualismus von physischer und geistiger Wirklichkeit ist nicht nur der Mensch, sondern auch dessen Sprache unterworfen: Sie kann, solange sie sich im äußeren Wort manifestiert, ihre körperliche Hülle nicht verleugnen und nicht sich zur reinen Geistigkeit der von ihr anvisierten Gotteserfahrung emporschwingen. Jedoch beruht die hier entscheidende Kommunikationsleistung zwischen Menschen gerade auf der sprachlichen Äußerung, so daß, so betrachtet, die Schwäche der Sprache, wiewohl ein Übel, zugleich ihre Stärke darstellt. Der triviale Befund, Arnolds Gedichte ließen sich der Gattung der geistlichen Liebeslyrik zuordnen, soll nicht bloß wiederholen, was sich von selbst versteht. Es ist, als ob bei ihm das Vertrauen in die schöpferische Kraft der göttlichen Liebe, die letztlich auch die entferntesten Gegensätze miteinander versöhnt, jene unauflösbare Spannung zwischen res und verba, genauer zwischen res divinae und äußerer, objektivierter Rede, sowie das damit verbundene Leiden, die passio, hätte erträglicher machen müssen und auch können. In einer Vorrede der Liebes=Funcken,127 wo Arnold, angesichts der unaussprechlichen Größe von Christi Geheimnis des Scheiterns des äußeren Wortes gewahr wird, führt er gleichzeitig noch eine qualitative Unterscheidung ein zwischen der geisterfüllten, einfältigen Rede der im göttlichen Liebesdienste Stehenden und dem bloßen Mundgeschwätz ihrer heuchlerischen Verächter. Immer stehen die geäußerten Worte also hinter den res, den wahren Sachverhalten und dem Sachverhalt der Wahrheit zurück; und dennoch wiegen sie nicht alle gleich schwer. Ihr Gewicht bestimmt der göttliche Einfluß, der sich in ihnen zur Geltung bringt. Der vom göttlichen Liebesfeuer Erleuchtete kann sich den Einflößungen des Heiligen Geistes überlassen und braucht sich um die Regeln poetischer Kunst nicht mehr zu kümmern.128 Gemessen an dieser Absage an die Adresse der normativen Poetik erstaunt die Regelmäßigkeit der Metren, Reime und Strophen in den meisten Arnoldgedichten. Im Bewußtsein Arnolds stehen wohl Geist= und Kunstrhetorik einander nicht so fern, wie man nach einer die historischen Voraussetzungen zu wenig berücksichtigenden Lektüre der programmatischen Einleitung zu den Liebes=Funcken annehmen möchte. Von formalen Gesichtspunkten her wird sich 127 Es handelt sich um diejenige zu Arnold: Neue Göttliche Liebes=Funcken und Ausbrechende Liebes=Flammen (Anm. 98), vgl. dazu wie zu den anderen Ausgaben die exakten Beschreibungen von Traugott Stählin: Gottfried Arnolds geistliche Dichtung. Göttingen 1966, im Anhang I, S. 119–130. 128 Arnold: Liebes=Funcken (Anm. 98), Vorrede von 1697, Bl. b3v: „Ich halte alles Dichten und Sinnen vor unnütze, das nicht aus dem Geist Gottes fleußt.“ Und ferner hat man geglaubt „[...] das Recht zu haben, daß man nicht allezeit denen gemeinen Kunst=Regeln unterworffen wäre, wo die Sache selbst und der Nachdruck etwas besonders erforderte. Man war gemeiniglich vergnügt, wenn ein Vers von sich selber ungezwungen dahin floß, daß es keines Flickens und Kopfbrechens bedurffte [...]“ (Bl. b2v-b3r). Die ‚Neuen Göttlichen Liebes=Funcken‘ (Anm. 127) nehmen für sich bloß die selbstverständliche poetische Freiheit in Anspruch, die es gegeben habe.

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nämlich zwischen den Objektivationen beider kaum ein grundlegender Unterschied feststellen lassen, selbst wenn man die Maßstäbe der professionellsten Barockpoetiken auf die Gedichte anwenden wollte. Inhaltliche Parallelen finden sich in der mystischen Erbauungsliteratur zur Genüge. Solange der Mystiker didaktische Ziele verfolgt, kann er sich auch nicht über innersprachliche Konventionen und Verständigungsnormen hinwegsetzen. Der unausweichlichen Paradoxie, durch Reden sich für das Schweigen einsetzen zu müssen, entgeht Arnold nicht:129 Damit zollt der Pädagoge den Bedingungen des Verfalls seinen Tribut. Die dichterische Paraphrase zum Hohenlied 2,8.9130 handelt von dem Liebeswort des Herrn, das – für Arnold wichtig – „ohn mittel“131 gehört werden kann. Es ist, wie dort (Str. 5) zum Ausdruck kommt, von grundsätzlich anderer Qualität als das äußere: Es ist wortlos. Das innere Wort Gottes, das wortlose Wort, wird durch die gleichzeitige Anwendung von Negation und Paradoxon charakterisiert. Sie markieren die prinzipielle Unvereinbarkeit von innerem und äußerem Wort, die Antithese von Welt und Geist, Zeitlichem und Ewigem, kurz die sprachlich unüberwindbare Kluft zwischen den Gegensätzen, in deren Spannungsfeld der sterbliche Geist sich notgedrungen bewegt. Die rhetorischen Stilmittel sind nicht bloß Zeichen des sprachlichen Scheiterns. Sie drücken die Hoffnung aus, den Bereich des Sagbaren auf das Unaussprechliche hin überschreiten zu können, ohne daß doch damit die das äußere Wort bestimmenden Grenzen überwunden wären. Paradoxon und Negation deuten an, was sie dann als dem weiteren sprachlichen Zugriff, der positiven Definition, verschlossen erklären müssen. Der sermo mysticus geht hier in seiner Dienerrolle, ancilla experientiae zu sein, völlig auf; die Differenz zwischen Welt und Geist wird nur die lebendige, unmittelbare, also auch nicht durch natürliche Worte vermittelbare Erfahrung aufheben können. Diese wird an einer anderen Stelle der Hohelieddichtung ‚Wesen‘, das äußere Wort ablehnend ‚Buchstabe‘ genannt.132 Die Paraphrase zu HL 1,5133 liest 129 Angelus Silesius hat sie im ‚Cherubinischen Wandersmann‘ mit Vorliebe gestaltet, z.B. IV, 11: „Mit Schweigen ehrt man Gott / Die heilige Majestät, willst du ihr Ehr erzeigen, / Wird allermeist geehrt mit heiligem Stilleschweigen.“ (zitiert nach: Sämtliche poetische Werke. Hg. und eingeleitet von Hans-Ludwig Held. Bde. 1–3. München 3 1949–1952, Bd. 3, S. 110). 130 Gottfried Arnold: Poetische Lob= und Liebes=Sprüche von der ewigen Weißheit nach Anleitung des Hohenlieds Salomonis: Nebenst dessen neuen Ubersetzung und Beystimmung der Alten, XXIII, S. 20f. An: Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia (Anm. 72). Die Bibelstelle lautet: „Da ist die Stimme meines Freundes! [...] er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.“ Bei Arnold ist bezeichnenderweise von der Stimme des ‚Geliebten‘ die Rede. 131 Das mystische Theorem wird uns später noch begegnen. Ich muß mich mit der sehr exemplarischen Auswahl von wichtigen Stellen zur Sprachthematik in Arnolds Lyrik zufrieden geben. Mehr als ein paar Grundlagen für Einzelinterpretationen können hier nicht vermittelt werden. 132 Arnold: Poetische Lob- und Liebessprüche (Anm. 130), IV, S. 3. 133 Ebd., X, S. 7f.

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sich wie eine poetische Illustration des bekannten Standpunktes der Verächter aller menschlichen Künste und ihres Hauptrepräsentanten, Sebastian Franck: Die Weisheiten der Gelehrten, von denen keiner die Früchte des Lebensbaumes gekostet hat, erschöpfen sich in leerem Geschwätz. Die von Gott erfüllte Seele, die Braut Christi, hat als sprechendes Ich für die Verwalter der weltlichen Nichtigkeiten nur anteilnehmendes Mitleid übrig. Obwohl der Kampf gegen das Teuflische den Geist der Versöhnung, der sich hier aussprechen soll, auf eine harte Bewährungsprobe stellt, findet Arnold einen dem besonderen Gegenstand des Gedichts angemessenen affektiven Grundton. Die Spielformen der Liebe, die sich in den Liebessprüchen affektrhetorisch verwirklichen, wären im einzelnen zu beschreiben. Sofern man die pietistische Sprachauffassung von der rationalistischen der Aufklärer abgrenzen will, mag der Begriff ‚Herzenssprache‘ sinnvoll erscheinen,134 für die Affektnuancen, auf die es einer rhetorischen Analyse gerade der geistlichen Liebeslyrik ankommen müßte, ist er zu allgemein. Die Rhetorik des Geistes ist – wie erwähnt – für Arnold per definitionem expressis verbis non declaratam eine Rhetorik der Liebe;135 seine Gedichte wären für entsprechend ausgerichtete Differenzierungsbemühungen ein dankbarer Untersuchungsgegenstand. Arnolds 134 Vgl. Kaiser (Anm. 6): „Der Pietist ist in seiner Grundeinstellung religiös-emotional, der Aufklärer weltlich-rational.“ (S. 13). Auch August Langen (Anm. 101) spricht von einer „irrationalistischen Auflockerung und Befreiung“ (S. 11), die vom Pietismus ausgegangen sei. 135 Richtig bemerkt Seeberg (Anm. 3), daß die Affektenlehre bei Arnold an die der Stoa erinnere, ohne daß bei ihm von einem Ideal der Selbstbeherrschung, wie sie die Apatheia der Stoiker fordere, gesprochen werden könne (S. 160): „Das Ziel ist bei Arnold nicht die Erdrückung der Affekte, sondern ihre Veredelung, ihre Verwandlung in gute.“ Anderseits zeigt Stählin (Anm. 127, S. 115) am Beispiel einer Liedstrophe Arnolds, daß Affektenlehre und stoische Apatheia bei ihm miteinander in Verbindung treten können. Der Terminus ‚Affekt‘ bezeichnet bei Arnold entweder nur die schädlichen Affekte, nicht also die Liebe, die sie verdrängen soll (vgl. Gottfried Arnold: Quedlinburger Predigt am IV. Trinitatis 1700. In: Gottfried Arnold: Der richtigste Weg durch Christum zu Gott: bey öffentlichen Versammlungen in dreyen Sermonen oder Predigten angewiesen. Frankfurt a.M. 1700, S. 47), oder er braucht ihn in einem Zusammenhang, wo von der natürlichen Unordnung, in die sie geraten sind, die Rede ist (Theologia experimentalis, Anm. 72, S. 31; vgl. auch die Aufzählung, die Haß, Zorn, Neid, falsche Liebe, böse Begierde, Furcht, Reue, Verdruß, Widerwille, Tücke, Frevel, Trotz erwähnt). Der positive Gegenbegriff ist der der wahren Liebe. An einer Stelle in Gottfried Arnold: Die geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten ans Licht gestellet und in dieser andern Ausfertigung mit dem II. Theil vermehret, so daß fast alle zum Predigamt gehörige Puncte untersuchet werden. Frankfurt a.M. / Leipzig 1723, S. 366, ist die Bewegung der Affekte als officium concionatoris positiv verstanden, was ihre nachfolgende Reinigung durch die göttliche Liebe, den edlen Affekt, nicht ausschließt. Der Gedanke aber wird nicht ausgeführt. Die Feuer- und Flammenmetaphorik wird auf sämtliche Affekte angewendet, was auf den ihnen gemeinsamen Oberbegriff schließen läßt (vgl. z.B. Liebes=Funcken, Anm. 98, Gedicht ‚Liebes=Recept‘, S. 307, Str. 1).

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Ablehnung der ars darf den Interpreten von einem rhetorischen Zugang zu seiner Dichtung ebensowenig abhalten wie der hohe Gegenstand, den diese behandelt. Ein genaueres Bild von Arnolds Sprachauffassung vermittelt das Gedicht zu HL 7,7 (Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne!): Ohne unmittelbare Gotteserfahrung, die sich der tatkräftigen Gnadenwirkung des göttlichen Geistes verdankt, läßt sich das Bibelwort nicht wirklich verstehen. Die tote Buchstabenschrift kann nur vom Erleuchteten zum Leben erweckt und entziffert werden. „Ja wenn du in der schrifft noch so ein meister bist / So must du alles doch erst in der that erfahren / Was du aus buch und schall nach kunst buchstaben weißt / Der Geist muß dir im grund ohn mittel offenbahren / Was Christus in uns sey / was neuer namen heist“ (Poetische Lob- und Liebes=Sprüche, LXVI., S. 81)

Das allerdings ist das spiritualistische Credo, das Gottfried Arnold in eine größere Nähe zu Franck und den Schwenckfeldianern136 bringt als zu Johann Arndt, dessen Wortauffassung zwischen derjenigen Luthers, der Orthodoxie und der protestantischen Spiritualisten die Mitte hält.137 Bei Arnold vernehmen wir nicht, wie bei Arndt, angeregt durch das äußere Zeugnis der Schrift, Gottes Wort im Innern der Seele; vielmehr muß seine Erfahrung immer der einfühlenden Aufnahme der äußeren Worte der Bibel vorausgehen. Das Nacheinander, nicht die Gleichzeitigkeit und die wechselseitige Kausalität von geistiger Inspiration und Auslegung des Buchstabens werden von Arnold betont. Die Inspiration ist conditio sine qua non der Bibelinterpretation, nicht umgekehrt. Auch wenn Arnold in unserem Text ein buchstäbliches Wissen um die äußeren Offenbarungsinhalte voraussetzt, bedarf dieses eben doch der Verifikation, die aber nur von der inneren Wirksamkeit des Heiligen Geistes ausgehen kann. Das letzte Hoheliedgedicht Arnolds (zu HL 8,13: Laß mich deine Stimme hören)138 beschreibt den Weg, den die Seele bis zu ihrer Vereinigung mit Gott zurückzulegen hat, ganz vom Eindruck des im Seeleninnern wirksamen Gottes136 Schon recht bald nach dem Erscheinen (erstmals in den Jahren 1699/1700; zitiert wird nach der Ausgabe Frankfurt a.M. 1729) der KKH (Anm. 11) fällt den Gegnern der Spiritualisten Arnolds günstiges Urteil über Schwenckfeld auf (vgl. die anonym erschienene ‚Erörterung einiger theologischer Fragen / aus Liebe zur Warheit öffentlich an den Tag gelegt von C. F. Im Jahr 1705. Sine loco, S. 104, wo mit der Autorität Speners die Meinungen radikaler Pietisten zurückgewiesen werden). Erb (Anm. 124) und Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog (Anm. 8) rufen der Arnoldforschung die wichtige Beziehungsfrage in Erinnerung. Von Arnolds Sprachverständnis her bestätigt sich die Vermutung einer Abhängigkeit. 137 Der Vergleich mit Johann Arndt wurde ermöglicht durch die aufschlußreiche Untersuchung von Berndt Hamm: Johann Arndts Wortverständnis. Ein Beitrag zu den Anfängen des Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 8, 1981, S. 43–73. 138 Arnold: Poetische Lob- und Liebes=Sprüche (Anm. 130), LXXV., S. 96f.

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wortes her. Das mystische Lehrgedicht enthält ein zusammenfassendes Fazit alles Vorangegangenen und ist als ganzes sprachthematisch ausgerichtet: „Gott pflegt mit dir / o mensch / auff manche weiß zu reden Inwendig in dir selbst. Am ersten geußt er ein Die gnad im seelen=grund / die sünd in dir zu tödten In buß und starckem trieb zerknirscht und klein zu seyn. Hierauff wird seine huld dein kaltes hertz entzünden Mit brünstig=reiner lieb / die kaum zu halten ist: So daß dir die natur fast scheinet zu verschwinden / Und wie zerschmoltzen liegt mit allem / was du bist. Als dann wird er dir sein geheimnis selbst auffschliessen / Er wickelt alles aus / erklärt was dunckel ist / Unmittelbar und schlecht / einfältig / daß du wissen Und Göttlich schauen kanst / wovon vernunfft nichts liest. Und ferner giesset Gott mehr süssigkeit im grunde Des innern tempels aus / die ewigs leben heist; Da hangt der seelen durst an JEsus süssem munde / Und wird ein neuer mensch getaufft vom liebe=geist. Bißweilen läßt uns Gott sein volles licht erblicken / Darüber man sich selbst / geschweig die welt vergißt: Weil diese krafft uns kan das wesen selbst eindrücken / Daß man von keinem baum verbotner frucht mehr ißt. Zuletzt würckt gott allein im innern Chor der seelen / Ohn mittel / bild und hülff / figur und creatur; Diß ist daß ew‘ge wort / das sich mit ihr vermählen Und gantz ermengen will nach sterbender natur. Willtu / o mensch / hievon die gnade selbst empfinden / So muß die lieb zu dir und zum geschöpff verschwinden: Drum wehl den besten theil / den niemand nimmt noch stiehlt / O wol / wer in sich selbst nach solchem himmel ziehlt!“

Das ‚ew’ge wort‘ wird von Arnold als Wesen, als eine rein geistige Sache, beschrieben, und vom ontologischen Glanz, den es als etwas Außer- oder besser Übersprachliches ausstrahlt, geht einiges Licht auch auf die wiewohl niedrigeren Erscheinungsformen des sermo mysticus über. Denn obwohl die unio mystica folglich als ein Zustand sprachlosen Einverständnisses mit Gott gefaßt wird, kommt auch allen ihren Vorstufen Bedeutung zu. Das äußere Wort hat eine propädeutische Aufgabe wahrzunehmen. Bei Arnold bilden die dem Bedeutungsfeld von ‚Wort‘ zugehörigen Begriffe und Metaphern das Grundvokabular einer geistdurchtränkten Sprache, welche nur noch lose mit der Welt der Erscheinungen, der Körpernatur, verbunden ist. Im vorliegenden Beispiel wird dies durch das außergewöhnlich hohe Abstraktionsniveau noch unterstrichen, auf dem sich die Aussagen bewegen. Sosehr Ar-

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nold an anderen Stellen139 der Individualität einen wichtigen Platz in seinem Denken zuweist, wird man gerade in seiner Hohelieddichtung, die eine – wiewohl im einzelnen unterschiedliche – Abhängigkeit von der Vorlage Daniel Sudermanns verrät, vergeblich nach Gedichten suchen, die auch nur annähernd dem Typus individueller Erlebnislyrik oder deren Vorläufern entsprächen. Je zwei der insgesamt sieben Strophen sind in fortschreitender Abfolge einer Stufe mystischer Vollkommenheit zugeordnet, so das erste Strophenpaar der Reinigung, das folgende der Erleuchtung und Wiedergeburt und das letzte der Vereinigung mit Gott. Die siebte Strophe, die sich von den anderen zwar nicht im Metrum – dem Alexandriner, wohl aber in der Wahl des Paarreims, im Gegensatz zum Kreuzreim der anderen, unterscheidet, enthält die zusammenfassende Schlußfolgerung. Während in den ersten drei der Leser mit ‚Du‘ angesprochen wird, nimmt das dichterische Ich in den folgenden drei Strophen die direkte Anrede zurück und führt sie in der letzten, die sich so deutlich vom Mittelteil abgrenzt, wieder ein. Die Konsequenz, mit der dies geschieht, läßt an Absicht denken. Die Quintessenz der mystischen Theologie, das tiefste Geheimnis, wird dem Leser in einer objektivistischen Schilderung nahe gebracht (Str. 4–6), während die Vorphasen der unio (Str. 1–3) und der Schlussappell (Str. 7) ganz auf die Person des zu belehrenden Subjekts abzielen. Theorie, in objektivierender Distanzhaltung vermittelt, will, unterstützt von eindringlichen Appellen, dem usus durch die Angesprochenen unterstellt sein. Der praktische Impetus, der von der Du-Anrede ausgeht, fehlt der von Arnold benützten Sudermannschen Vorlage ebenso wie der straffe Aufbau, obwohl anderseits der Pietist den sechs von Sudermann erwähnten Sprechweisen des göttlichen Geistes (Gnade, Entzündung der Liebe, Erleuchtung, Wiedergeburt, Erkenntnis des göttlichen Lichts, Vereinigung) ebenfalls je eine Strophe zuerkennt. Arnold hat in seinem Schlußgedicht den Grundgehalt der mystischen Theologie klar gegliedert und in eine poetisch reguläre, freilich der barocken Konvention entsprechende Form gebracht. Die letzte Strophe geht allein auf ihn zurück; auch weicht er mit seinen sieben von den zehn Strophen Sudermanns ab. Daß Gottfried Arnold in seiner Hoheliedlyrik von diesem abhängig ist, weiß man aufgrund des Selbstzeugnisses schon längst.140 Hier sei lediglich auf die von dort unverändert ins Schlußgedicht übernommene Sprachauffassung verwiesen, welche dem unmittelbar ins Herz gesprochenen Gotteswort huldigt.141 Man wird jedenfalls nicht allgemein behaupten dürfen, Arnold habe sich ganz am Schluß seines Werks am weitesten von seiner Vorlage 139 Vgl. ebd., S. 11 und 19. 140 Ebd., Anhang, S. 177. Er sei dem Verlangen einiger Freunde nach einer deutlicheren Erklärung der Sudermannschen Hoheliedbearbeitung gefolgt, gesteht Arnold dort. Auf sein Verhältnis zu Sudermann ist Erb (Anm. 124) ausführlich, soweit er interpretiert, natürlich exemplarisch, eingegangen; Hinweise auch bei Stählin (Anm. 127, S. 61–68). 141 Arnold hat in Strophe 3, Z. 3, noch ein ‚unmittelbar‘ hinzugefügt, um seine Intention zu verdeutlichen.

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entfernt.142 In unserem Gedicht unterscheidet er sich inhaltlich in keinem wesentlichen Punkt von seiner Vorlage. Daniel Sudermann und seine bedeutende Rolle in der Überlieferungsgeschichte der spätmittelalterlichen Mystik wird uns im folgenden Abschnitt über die Predigt noch eingehender beschäftigen. 3.3.  Geistrhetorik und Predigtlehre Martin Schian, der vor fast hundert Jahren den zwischen Orthodoxie und Pietismus geführten Streit um die Predigt in einer heute noch beachtenswerten Untersuchung behandelte, räumt Gottfried Arnolds Predigtauffassung innerhalb des abgesteckten historischen Rahmens eine Sonderstellung ein. Da es für ihn einen radikalen Pietismus nicht gibt, zögert er, den Einzelgänger Arnold, der sich am weitesten von den herkömmlichen, auf Kunst und Methode bedachten Predigtlehren entfernt habe, überhaupt zu den Pietisten zu zählen.143 Von ihnen unterscheide er sich durch den Geist der mystischen Innerlichkeit.144 Wen würde es wundern, wenn Arnold, für den die göttliche Inspiration die unentbehrliche Grundlage für die Verkündigung des wahren Gotteswortes bildet, den Prediger kurzerhand den Wirkungen des heiligen Gnadengeistes überantwortete, ohne der Predigttheorie auch nur die geringste Beachtung zu schenken? Doch Arnolds Theoriefeindschaft geht auch hier so weit nicht. Er empfiehlt geeignete Handbücher der eloquentia sacra und der Homiletik und hat selber auch eine ganze Auswahl davon besessen:145 abusus non tollit usum. Schließlich liegt uns in 142 Ich nehme in dieser Hinsicht das unter Anm. 140 erwähnte Bekenntnis Arnolds nicht so ernst, wenn er schreibt „[...] biß mir im fortgang der zweck und verstand des Hohen=Liedes immer tieffer kund worden / daß ich hernach von dem Autore [= Sudermann; M.] ab= und der spur des H. Geistes / wie selbige in meinem gemühte mich geleitet / nachgehen müssen.“ Hingegen behält es als Zeugnis für Arnolds Selbstverständnis, seine Neigung zur Geistrhetorik, volle Gültigkeit. 143 Martin Schian: Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt. Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts. Gießen 1912, S. 39. – Vgl. nun auch den wichtigen Aufsatz von Dietrich Blaufuß: Zur Predigt bei Gottfried Arnold. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. von Wolfgang Sommer und Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 279–301. 144 Schian (Anm. 143), S. 77; eigens erwähnt wird die Schmucklosigkeit der Arnoldschen Predigten, ihre einfache, klare Sprache. 145 Gottfried Arnold: Evangelische Reden über die Sonn= und Festtags=Evangelien zu einer bequemen Hauß= und Reise=Postill heraus gegeben; mit einer Vorrede de methodo heroica oder von der freyen und einfältigen Predigt=Art. Leipzig 1713, beruft sich in seiner Vorrede auf Paul Anton, Andreas Kesler, Joachim Lange, Nicolaus Rebhan und Christoph Schleupner. Unter anderen hat Arnold Predigtlehrbücher von Paul Anton, Erasmus, Johann Hülsemann, Johann Michael Lange, Andreas Pangratius (oder Pancratius), Johann Andreas Quenstedt und Schleupner besessen. In ‚Die geistliche Gestalt‘ (Anm. 135) gibt er gar konkrete Literaturhinweise, die sich aller-

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seiner Gestalt eines evangelischen Lehrers ein Werk vor, das ein umfassendes Bild des begnadeten Predigers entwirft. Hier gelangt er denn auch, indem er Aussagen Augustins, ‚Taulers‘ und Luthers in seinem Sinn harmonisiert und ohne Abstriche im Zitat übernimmt, mit Hilfe der erlauchten Vorbilder zu einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses von äußerem und innerem Wort.146 Ihrer beider Abhängigkeit voneinander war nicht ausdrücklich in seiner Lyrik festgehalten worden; diese hat einseitig die Bedeutung des inneren Wortes hervorgehoben. Sobald es nun aber um die Unterweisung des christlichen Lehrers geht, der sich nicht mit dem Hören der inneren Stimme begnügen darf, sondern das Wort Gottes seiner Gemeinde verkündigen muß, erlangt das nach außen getragene (innere) Wort eine größere, praktische Bedeutung. Arnold greift im Evangelischen Lehrer genau diejenigen ‚Taulerzitate‘ auf, welche der Vorläufer Sudermann seiner Paraphrase von HL 8,13 angefügt und die er, Arnold, im Textanhang seiner eigenen Hoheliedbearbeitung zusammen mit allen anderen von Sudermann beigebrachten Zitaten wieder abgedruckt hat. Der erneute Rückgriff auf altbekannte Autoritätsbelege beweist, daß Arnold seine ursprüngliche Auffassung von Sprache nicht grundsätzlich geändert hat, wohl aber seine Ausführungen dem unterschiedlichen Zielpublikum anpassen und die Akzente etwas anders setzen mußte. In seinem Predigerhandbuch zitiert Arnold jedoch zusammenhängender als Sudermann, der aus demselben Werk zwar, aber ohne die Reihenfolge der Sätze zu berücksichtigen, einen eklektischen, den Anschein von Homogenität wahrenden Text zusammenflickt. Da Arnold etwas gewissenhafter mit seiner Vorlage umgeht, mit Fußnoten auf sie verweist und sie empfiehlt,147 muß er die spätmittelalterliche Quelle, um die es sich hier handelt, wohl genauer gekannt haben. dings fast ganz auf pietistische Werke beschränken ( Joachim Lange, Paul Anton, Spener, S. 371). Die Predigttheorie des 17. Jahrhunderts ist noch unzureichend erforscht, das Material bibliographisch noch nicht genügend aufgearbeitet. Vgl. dazu die Aufsätze von Joachim Dyck: Ornatus und decorum im protestantischen Predigtstil des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 94, 1965, S. 225–236, sowie von Hans Henrik Krummacher: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert. In: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 26 (1–2), S. 145–162, wo immerhin eine Anzahl einschlägiger Literaturnachweise vermittelt wird. 146 Gottfried Arnold: Die geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten. Halle 1704, S. 431–451. Hier und in späteren Anmerkungen wird die Erstausgabe zitiert, die wie die zweite Ausgabe (Halle 1714) noch keinen zweiten Teil enthält. 147 Es handelt sich um ‚Das Buch von geistlicher Armuth, bisher bekannt als Johann Taulers Nachfolgung des armen Lebens Christi‘, das später von Heinrich Denifle, München 1877, unter diesem Titel herausgegeben wurde. Die Schrift wird außerdem in Arnold: Mystische Theologie (Anm. 11), S. 95, und im Anhang zu Arnold: SchulBau (Anm. 26), S. 79f., erwähnt.

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3.3.1.  Arnolds Wortverständnis und das Buch von geistlicher Armut Johann Tauler überragt bei Arnold alle anderen Mystiker an Bedeutung.148 Aus dem fälschlicherweise jenem zugeschriebenen Buch von geistlicher Armut oder der Nachfolge des Armen Lebens Christi, wie dieser es nannte, bezog der Pietist seine Auffassung vom doppelten Wort. Erb hat sich ausführlich mit dem Nachwirken der spätmittelalterlichen Mystik auf Arnold befasst und festgestellt: „Tauler and Ruysbroeck receive fullest attention.“149 Von 615 Zitaten aus mittelalterlichen Autoren auf den ersten 500 Seiten der Wahren Abbildung stammen fast ein Drittel,150 nämlich 214, von ‚Tauler‘. Die bisherigen Kenntnisse über die Kanäle des Einwirkens spätmittelalterlicher Mystik auf den Pietismus können am Beispiel des Buchs von der geistigen Armut bzw. der Nachfolgung des Armen Lebens Christi, und anderer (Pseudo)Tauleriana um wenige, doch entscheidende Beobachtungen ergänzt werden. Die erste Druckausgabe des Buchs von der geistigen Armut, die 1621 in Frankfurt a.M. erschien,151 geht auf den Tübinger Rechtsprofessor Christoph Besold (1577–1638) zurück, dem sie in der Verthädigung der Mystischen Theologie auch richtig zugeschrieben wird: „Jch setze noch hinzu / daß viel der Wercklein Tauleri, vielmahl wieder von neuen gedruckt seyn / eben auch zum Gebrauch der Protestanten; dergleichen / daß ein Professor auff der Tübingischen Universitaet, der Herr M. Besoldus, zu erst entdecket und drucken lassen / das schöne Tractätlein Tauleri, Die Nachfolge des Armen Lebens Christi / eben, wie Herr D. Spener zu erst ans Tageslicht kommen lassen / dieses Tauleri anderes Büchlein / von dem Beschaulichen Leben: welches man sonsten nicht findet / als in der Franckfurtischen Edition.“152 Denifle, der mit plausiblen Gründen Tauler die Verfasserschaft am Armutsbüchlein absprach,153 mußte die vom Schwenckfeldianer Daniel Sudermann benützte Handschrift aus dem Jahre 1448 als verschollen erklären.154 Besold, der sich in der Edition des Buchs von der 148 Poiret: Verthädigung (Anm. 73), S. 94: Alle seien sich einig, daß die „[...] gantze Mystische Theologie enthalten ist in den Schriften Tauleri, und daß unter denen Mystischen Autoren, keiner von größern Ansehen / Würde und Hochhaltung sey / als er.“ 149 Erb (Anm. 124), S. 140. 150 Ebd., S. 173. 151 Vgl. die Bibliographie alter Mystikdrucke im Anhang dieses Aufsatzes. 152 Poiret: Verthädigung (Anm. 73), S. 94f. 153 Denifle (Anm. 147), S. VI. 154 Über Daniel Sudermann: Gottfried Hermann Schmidt: Daniel Sudermann 1550 bis frühestens 1631. Diss. Leipzig 1923. – Hans Hornung: Daniel Sudermann als Handschriftensammler. Diss. Tübingen 1957. – Ders.: Der Handschriftensammler Daniel Sudermann und die Bibliothek des Straßburger Klosters St. Nikolaus in undis. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 107, 1959, S. 338–399. – Monica Pieper: Daniel Sudermann (1550 – ca. 1631) als Vertreter des mystischen Spiritualismus. Stuttgart 1985. – Michael Schilling: Sudermann, Daniel. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. Bd. 11. München 1991, S. 280f. – Thomas Gandlau: Daniel Sudermann. In: Biographisch-Bibliographisches

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geistigen Armut nicht als Herausgeber zu erkennen gab, lag aller Wahrscheinlichkeit nach die Sudermannsche Handschrift noch vor.155 Es sei daran erinnert, dass Philipp Jakob Spener das Buch von geistlicher Armut 1681 wieder auflegte und auch die Vorrede von seinem Vorgänger wortwörtlich übernahm.156 Die im Jahre Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz. Bd. 11. Hamm 1996, Sp. 166–169. – Der Pietismusforschung ist Sudermann schon lange bekannt (vgl. Anm. 140). 155 Diese Sachverhalte, insbesondere die Herausgeberschaft Besolds, hat Ulrich Bubenheimer in verschiedenen Publikationen klargestellt, zuletzt in: Rezeption und Produktion nonkonformer Literatur in einem protestantischen Dissidentenkreis des 17. Jahrhunderts. In: Religiöse Devianz in christlich geprägten Gesellschaften. Vom hohen Mittelalter bis zur Frühaufklärung. Hg. von Dieter Fauth und Daniela Müller. Würzburg 1999, S. 107–125. Wie andere Autoren ging ich bisher von der irrigen Annahme aus, Sudermann hätte das ‚Buch von geistlicher Armut‘ herausgegeben, obwohl die mit C.L.B. unterzeichnete Widmung einer Taulerausgabe von 1670 auf die richtige Spur geführt hätte. Es ist also kein Zufall, dass die Initialen D.S. auf dem Titelblatt der Ausgaben der ‚Nachfolgung des Armen Lebens Christi‘ fehlen, im Unterschied zu anderen Editionen, die sie tragen. Die in der Universitätsbibliothek München vorhandene Sammelausgabe von drei mystischen Schriften, darunter auch das Armutbuch, die im Anhang dieses Aufsatzes ausführlich bibliographiert wird, weist auch auf dem Haupttitelblatt die Sudermanninitialen, die Angabe des Druckjahres 1621, aber nicht die des Druckers und des Druckorts auf. Die Gestalt des Titelblatts dieser von Eberhard Wild in Tübingen gedruckten Sammeledition (freundliche Mitteilung von Ulrich Bubenheimer) hat zur falschen Zuschreibung des ‚Buchs von geistlicher Armut‘ an Daniel Sudermann geführt, an der auch Niklaus Largier: Das Buch von der geistigen Armut. Eine mittelalterliche Unterweisung zum vollkommenen Leben. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und mit einem Nachwort und Anmerkungen von Niklaus Largier. Zürich / München 1989, S. 237, 276, festhielt. Zum sog. Tübingerkreis, zu dem außer Besold Johann Valentin Andreae und der erwähnte Buchhändler Eberhard Wild (1588– um 1635) gehörten und der sich an der Frankfurter Ausgabe des Armutbuchs beteiligte, schreibt Bubenheimer (wie oben; S. 118f.): „Der Herausgeber Besold hielt es für opportun, seinen Namen zu verschweigen, ebenso wie der Drucker Wild seinen Namen nicht nannte und stattdessen den Namen des für nonkonforme Literatur aufgeschlossenen Frankfurter Verlegers Lukas Jennis (1590 – nach 1631) aufs Titelblatt setzte, der die Ausgabe in Kommission vertrieb und dem die Tübinger Theologen nichts anhaben konnten.“ Bubenheimer stellt auch die Beziehung im 75. Kapitel der Utopie von Johann Valentin Andreae: Christianopolis. Aus dem Lateinischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort hg. von Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart 1975, zum ‚Buch von geistlicher Armut‘ als Rezeptionsquelle her (S. 122). 156 Hornung: Der Handschriftensammler (Anm. 154), S. 355 Anm. 100, erachtete die „von andern geäußerte Vermutung“, Spener sei durch Sudermann beeinflußt, als kaum beweisbar. Immerhin verbindet beide die ausgesprochene Vorliebe für Tauler; auch Sudermann zitiert ihn am häufigsten und hat ihm gerne Schriften unbekannter Verfasser, darunter das ‚Buch von geistlicher Armut‘, zugeschrieben (Hornung, ebd., S.  360f.). Wenn auch bei Spener kein unmittelbarer Einfluß Sudermanns vorliegen sollte, tritt der Pietist doch in die Fußstapfen seines Vorgängers, dessen editorisches

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1703 unveränderte Neuauflage der Spenerschen Ausgabe hat Gottfried Arnold nachweislich besessen.157 Das Problem, nach welcher Ausgabe Arnold das Buch von geistlicher Armut zitiert, ist aufgrund der von ihm im Evangelischen Lehrer gegebenen Quellennachweise nicht leicht zu lösen. Es braucht nicht, wie Erb annimmt, die Spenersche von 1703 zu sein,158 obwohl sich das für das erstmals ein Jahr später erschienene Werk auch nicht ganz ausschließen läßt. Wie nun auch immer die Antwort auf die gestellte Frage ausfallen mag, kann man grundsätzlich Wichtiges festhalten: Während Arnolds Schlußgedicht zu seiner Hoheliedbearbeitung Sudermannsche Gedanken leicht faßlich weitergeben wollte und daher den Sprachspiritualismus aus seiner unmittelbaren Vorlage übernahm, löst sich Arnold mit dem Rückgriff auf den Wortlaut der spätmittelalterlichen Quelle gleichzeitig aus dem engen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Vorläufer: Sein spiritualistisches Sprachverständnis nimmt damit, im Vergleich zur Hohelied-Paraphrase, leicht gemäßigtere Züge an. Um eine genaue Vorstellung von der im Büchlein enthaltenen vorhumanistisch-mystischen Sprachauffassung zu vermitteln, stelle ich den Wortlaut der Arnoldzitate im Evangelischen Lehrer den entsprechenden Stellen in Denifles Ausgabe gegenüber:

Erbe er weiterreicht. Auf die Bedeutung des Frankfurter Juristen Johann Jakob Schütz für die Spenersche Taulerausgabe wurde Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 1970, S. 283–306, aufmerksam. Die Behauptung Wallmanns in: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. In: Chloe, Beihefte zum Daphnis 2, 1984, S. 50–74, hier S. 63 Anm. 32, Spener habe die 1621 in Frankfurt [bei Aubry / Schleich!; M.] herausgekommene Taulerausgabe benützt, ist ungenau und in Bezug auf das ‚Buch von geistlicher Armut‘ nicht zutreffend. Die Ausgangslage bei den Taulereditionen von 1621 ist verwickelt. Spener gibt in seiner ‚Tauler‘ausgabe (1703) nachweisbar, da die Initialen D.S. vorhanden sind, die Sudermannsche Version des von Denifle (Anm. 147, S. L) Tauler aberkannten ‚Ein edles Büchlein des von Gotte Hocherleuchteten Doctor Johann Taulers, Wie der Mensch möge Ernsthafftig, Innig, Geistlich und Gottschawende werden [...]‘ heraus, was die Bedeutung der Sudermanndrucke für die pietistische Taulerrezeption unterstreicht. Freilich darf dabei auch Johann Arndt als Vermittler ‚Taulerscher‘ Schriften nicht übergangen werden; Spener greift tatsächlich, worin Wallmann recht zu geben ist, auch auf editorische Vorleistungen Arndts zurück. 157 Catalogus (Anm. 10), S. 357: „Tauleri Schrifften vermehret / Leipz. 1703.“ 158 Erb (Anm. 124), S. 174, zu dieser Ausgabe: „[...] the edition continually used by Arnold [...]”. Von einer 1694 erschienenen Taulerausgabe, die Arnold erwähnt (Mystische Theologie, Anm. 11, S. 404), habe ich leider kein Exemplar finden können. Sie nennt auch Erb (S. 140).

Die Rhetorik des Heiligen Geistes Arnold: Evangelischer Lehrer Es ist zweyerley Hören des Wortes Gottes, in dem einen Wort ist die Seligkeit, das andere bereitet zur Seligkeit. [S. 390] Das erste Sprechen (oder Wort) ist in dem Wesen der Seelen, und da mag keine [S. 390] Creatur zukommen, denn Gott allein mag darin sprechen, wenn die Seele alle Dinge verleugnet, und ihre Krafft schweiget, und bloß acht gibt in dem Grund ihres blossen Wesens, bis die Seele das Wort höret, das Gott spricht [...] [S. 391]

Das andere Sprechen (oder Wort) ist in den Kräfften. Und diß Wort mag der Lehrer sprechen, und der Mensch mag es hören mit leiblichen Ohren. Und von diesem Hören NB. ist er nicht selig, als nur so viel er ihm folget in dem Leben. Dieses Sprechen ist ein Mittel der Creaturen und ist in Bilden und Formen. Was ein Mittel ist, das macht die Creatur nicht selig; aber es bringet und bereitet sie zur Seligkeit, und lehret sie, wie sie NB. die Mittel soll ablegen, daß sie komme in das blosse Wesen, darin sie Gott ohne Mittel schauet, und wenn sie mit einem vernünfftigen Unterscheid alle Mittel durchdringet und ableget, daß sie bloß stehet alles gebrechlichen Zufalls, und sie soll alle äusserliche Worte lassen, die im Mittel der Creaturen gesprochen werden, und soll sich indem kehren in das Innigste ihres Wesens, und soll allein da vernehmen das ewige Wort, das Gott der Vater spricht, und soll von allem creatürlichen Sprechen abgehen, und wäre es ja ein Engel, der Mensch solte sich davon kehren. [S. 391]

65 Buch von geistlicher Armut (Denifle) [...] es ist […] zweier hande hören daz wort gottes; und daz eine wort da ist selekeit inne, und daz ander bringet und bereitet zu selikeit. [S. 68, Z. 29–32]

Daz erste sprechen daz ist in dem wesen der selen, und do mag kein creature in komen, [...] wan got ist alleine die stat behaltende, und dar umb mag er alleine dar in sprechen. Und danne sprichet got dar in, so die sele alle ding zu rucken schaltet und ir krefte zu male geswigent, und sie ein blos ingaffen hat in den grunt irs blossen [S. 68, Z. 33–38] wesens. Und in die bloßheit und stilleheit so sprichet got der vatter sin wort, und daz wort höret die sele; […] [S. 69, Z. 1–2] Daz ander sprechen daz ist in den kreften, und daz wort mag der lerer sprechen und der mensche mag es hören mit sinen liplichen oren, und von dem hören ist er nit selig danne also vil er ime volget nach leben. Und daz sprechen ist in mittel der creaturen, und ist in bilden und in formen; und waz in mittel ist, daz machet die sele nit selig, mer: es bringet und bereitet sie zu selikeit, und es leret sie wie sie mittel sol abe legen, daz sie kumme in daz blosse wesen, do sie got sunder mittel inne schowet. Und wenne sie mit einem vernünftigen underscheit alle mittel durchtringet, und abe geleit, daz sie blos stat alles gebrestlichen zuvalles, so sol sie alle usserliche wort lassen die in mittel der creaturen gesprochen werdent, und sol sich in keren in daz innigeste ires wesendes, und sol alleine do vernemen daz ewige wort daz got der vatter sprichet, und sol alleme creatürlichen sprechen abe gan, were es ioch engelsch, der mensche solte sich da von keren. [S. 69, Z. 22–37]

66 Ob es [S. 391] schon wahr ist, daß das Wort des Lehrers nicht seye sein Wort, sondern Gottes, noch dennoch ist es ein Mittel, und dringet nicht also nahe, als das Wort Gottes, das ohne Mittel gesprochen wird, und die Seele ist geledigt von allem Mittel und von allem Bilde, und darum darff sie nicht bleiben auf dem, das ein Mittel, sondern ihr Gegenwurff soll seyn Gott nach seinem blossen Wesen, und in die Wesentlichheit soll sie eindringen. [...] Ists aber, daß der Mensch überladen ist mit äusserlicher Grobheit, und er nicht kommen ist in die Bloßheit seines Wesens, so mag er das äusserliche Wort hören, und das lehret ihn, wie er sich soll ablegen und zunehmen in der Wahrheit. Und nach der Weise ist das äusserliche Wort Gottes nütze. [S. 392] [...] Nun möchte man sprechen: Liegt nun des Menschen höchste Seligkeit darin, daß er schweige, und allein das ewige Wort in ihm höre, und alle andere Worte lasse; was will man denn Predigt hören? Antwort: Das [S. 392] Predigen ist nichts anders, denn ein Führen zu Gott, und zu hören das ewige Wort nach seiner Bloßheit. Denn was ferne von dem andern ist, das mag nicht hören das heimliche Wort, das jenes spricht. Und davon muß man sagen in Bilden und Formen dem Menschen, daß er herzu komme und höre das verborgene Wort Gottes. Und die Menschen müssen das äussere Wort hören, und damit kommen sie zu dem innern Wort, das Gott spricht in dem Wesen der Seele. = = = Und darum muß man predigen und sagen denen, die noch nicht seynd kommen in den rechten Schafstall, da sie die Stimme des Hirten hören. [S. 393]

Arnoldstudien Wie daz sy daz daz wort des lerers nit sy sin wort, mer: gottes, noch danne so ist es ein mittel, und tringet nit als nahe als daz wort gottes, daz sunder mittel gesprochen wurt. Wan die sele ist gelediget von allem mittel, und ist entblösset [S. 69, Z. 37–40] von allen bilden, und da von so bedarf sie nit bliben uf dem daz in mittel ist […] ir gegenwurf sol sin got nach sinem blossen wesen, und in die wesenlicheit sol sie tringen. Aber ist daz der mensche beladen ist mit usserlicher gropheit, und er nit komen ist in die blozheit sines wesens, so mag er daz usserliche wort hören, und daz leret in wie er sich sol abe legen und zu nemen in warheit. Und nach der wise so ist daz usserliche gottes wort nütze. [S. 70, Z. 1–8] Nu möhte man sprechen: ‚sider nu des menschen höhste [S. 65, Z. 40] selekeit lit dar an, daz er swige und allein daz ewige wort im ime höre, und alle andere wort lasse: waz wil man danne zu predigen und predige zu hörende?‘ Hier zu sprich ich, daz predigen nit anders ist danne ein füren zu got und zu hörende daz ewige wort. [...] wan waz verre von dem andern ist, daz mag nit gehören daz heimliche wort, daz eins gegen dem andern sprichet. Und da von so mus man sagen in bilden und in formen dem menschen, daz er har zu kome und höre daz verborgene wort gottes. Und die menschen müssent daz usser wort hören, und da mit müssent sie komen zu dem inren wort, daz got sprichet in dem wesen der selen. [...] Und dar umb so mus man predigen und sagen den, die noch nit sint komen in den rehten schafstal, do sie die stimme des hirten hörent. [S. 66, Z. 1–17]

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Das Endziel allen äußeren Redens ist dem Verfasser des Büchleins von der geistlichen Armut in der Tat das Schweigen: „Und daz swigen und daz liden ist daz höhste volkomenste werck daz er [= der Mensch; M.] haben mag, und machet in leben.“159 Die Predigt ist das didaktische Instrument, das die Zuhörer auf die unmittelbare Vereinigung mit Gott, die unio mystica, vorbereitet, das äußere Wort also Mittel zum Zweck im eigentlichen, mystischen Wortsinn. Die Nachfolge Christi ist der einzig gültige Prüfstein eines gottgefälligen Lebenswandels. Der mittelalterliche Autor besteht nicht ausdrücklich auf der Erleuchtung des Predigers durch den Heiligen Geist im Zeitpunkt der Predigt. Der geistliche Lehrer wird aber seine Aufgabe nur erfüllen können, wenn er in seinem eigenen Innern das Gotteswort vernehmen gelernt hat und aus Erfahrung sprechen kann. Die eindeutige Priorität des inneren, geistigen Worts, des göttlichen sermo mysticus, im mittelalterlichen Werk hat den Intentionen Arnolds ganz entsprochen. Seinem Vorbild folgend, stellt er hier ausdrücklich auch die umgekehrte Ursache-Wirkung Beziehung her, die vom äußeren Wort ihren Anfang nimmt und das innere erst in der Folge erweckt: „Denn eben dieser Göttliche Geist reget und erwecket durch seine äußerliche Zeugnisse und Worte das im Hertzen verborgene Wort, welches als ein Licht alle Menschen gern erleuchtet, die in die Welt kommen.“160 Trotz dem Nachdruck, mit dem er betont, daß beide Worte nebeneinander bestehen könnten, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen, so daß also die auswendige Lehre die inwendige bestätige, hält er am Vorrang der inneren Erfahrung fest. Es folgt für ihn nämlich von selbst, daß „[...] das äußere Lehren hauptsächlich bestehe in einer Anleitung zu der innern Lehre und Unterweisung des Heiligen Geistes, durch welche das äußerliche erst recht muß bekräfftiget werden.“161 Entschieden und doch vorsichtig genug bringt Arnold seine Meinung zum Ausdruck. Zur Zurückhaltung mahnt die Befürchtung, mit Lesern rechnen zu müssen, denen der Beizug des mystischen Kronzeugen Tauler verdächtig erscheinen könnte.162 Die Geistrhetorik hat er freilich, von dem im gleichen Sinn in Anspruch genommenen Luther abgesehen,163 159 Denifle (Anm. 147), S. 65. 160 Arnold: Die geistliche Gestalt (Anm. 146), S. 435. 161 Ebd., S. 397. 162 Ebd., S. 394. 163 Arnold will, gerade wo es um das Wort geht, Luther treu bleiben. Seinem Lutherverständnis, das den Reformator von der mystischen Tradition abhängig sein läßt, kommen aktuelle Bestrebungen, in Luthers Theologie die mystische Komponente hervorzuheben, entgegen. Vgl. Alois Haas: Luther und die Mystik. In: Neue Zürcher Zeitung, 5./6. Nov. 1983, S. 69–70, wo es heißt, daß der „ideelle Vorbehalt von Luther-Forschern, dass sich bei Luther das Mystische mit dem Reformatorischen grundsätzlich nicht verträgt, als eine unangemessene petitio principii abgewiesen werden“ müsse (S. 69). Ferner bemerkt er, daß Luther Tauler ausschließlich positiv zitiere (S. 70). Ausführlicher ders.: Gottleiden – Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter. Frankfurt a.M. 1989, hier ‚Luther und die Mystik‘, S. 264–284 und S. 457–476. Vgl. auch Seeberg (Anm. 3), S. 437, der das positive Verhältnis Luthers zur Mystik schon erkannt hat.

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auch auf das Einverständnis nachreformatorischer und protestantischer Autoritäten stützen wollen, wenngleich er sich im Evangelischen Lehrer mit den am Anfang genannten Hauptzeugen begnügt. 3.3.2.  Methodus heroica Es ist der Heilige Geist Gottes, der in der Predigt eines Erleuchteten der christlichen Gemeinde das Evangelium verkündet, nicht die Person des Predigers; denn dieser hat seine Eigenheit verloren und ist zum bloßen Werkzeug des göttlichen Willens geworden. So lautet eine der Grundthesen der Anhänger der Geistrhetorik. Zu ihrer Rechtfertigung ziehen sie besonders gerne Stellen aus 1. Korinther 2 oder aus 1. Thessalonicher 1,5 heran; die geistreiche Predigt findet ihren Legitimationsgrund zudem im Matthäusevangelium 10,20: „Denn nicht ihr seid es, die dann reden, sondern der Geist eures Vaters ist es, der durch euch redet.“ Wer den Heiligen Geist reden lassen kann, braucht keine Worte zu stehlen; sie strömen ihm in Fülle zu. Die Gegner der Spiritualisten geben den Vorwurf des gestohlenen Wortes an die Absender zurück: „Solten Dippel und seine Mitgesellen wieder erstatten müssen / waß sie dem Weigel / Schwenckfeld / Böhmen / Theophrastus / Müntzer und andern abgestohlen haben / möchten sie wol wenig über behalten.“164 Während die so Beschuldigten dessen ungeachtet sich beim Predigen allein dem Heiligen Geist anvertrauen wollen, arbeiten die anderen nach den in den rhetorischen Lehrbüchern enthaltenen Vorschriften der inventio und der dispositio die Predigten aus und folgen beim Vortrag den Ratschlägen zur elocutio und pronuntiatio. In der geistreichen Predigt kommt der Rhetorik als menschlicher Kunst zwar keinerlei Bedeutung mehr zu, aber dem Geist als einer göttlichen Kraft muß doch die schlichte Überzeugung seines Publikums gelingen. Die Situation und der rhetorische Wirkungszusammenhang, zu denen Redner, Publikum und Rede gehören, bleiben also trotz allem vollständig erhalten. Anderseits hat das per se vollkommene Wirken eines überirdischen Subjekts, das sein Können nicht der Aneignung technischer Regeln verdankt, den von seinen artes abhängigen Menschen abgelöst, wenngleich nicht ganz unnötig gemacht. Als Sprachrohr des Geistes nimmt auch der Mensch durch seine leibliche Präsenz am Redegeschehen teil: Er wird als Offenbarungsträger ebenso gebraucht, wie er in seiner Eigenheit entbehrlich ist. In der von Arnold dem Prediger übertragenen Rolle, da und gleichzeitig abwesend zu sein, wird die Paradoxie, welche Arnolds Sprachauffassung als rhetorisch und antirhetorisch zugleich erscheinen läßt, am augenfälligsten. Sie hat denn auch in den beiden von der Heldenpredigt

164 Erörterung (Anm. 136), S. 117; Arnold: Die geistliche Gestalt (Anm. 146), S.  194, stellt fest, daß der nicht wiedergeborene geistliche Lehrer gestohlene Worte predigt.

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handelnden Vorreden ihre deutlichste Ausprägung erfahren.165 Indem Arnold sich der ‚heroischen Methode‘ verpflichtet, übernimmt er die Bezeichnung und deren begriffliche Implikationen einer historischen Tradition, die sie vorgeprägt hat. Sie ist, obwohl sie Arnolds spiritualistische Homiletik maßgeblich angeregt hat, weitgehend in Vergessenheit geraten. In der mittelalterlichen Ars praedicandi des Jean de Galles erscheint als vierte die Predigtart der Väter und Lehrer der ersten Zeit des Christentums. Sie waren vom Heiligen Geist erfüllt und mußten nicht, wie die modernen Gelehrten (doctores moderni), durch Zergliederung des biblischen Textwortes (divisio) und Anführen von Väterautoritäten deren Übereinstimmung mit dem biblischen Kanon erweisen.166 Arnold hat die Definition der ‚methodus heroica‘ aus Christoph Schleupners mehrfach aufgelegter Methodenlehre übernommen; 167 dort lautet sie wie folgt: „Die heroische Predigtmethode ist eine kunstlose Sprechweise, bei der mit einem besonderen Geist und göttlicher Kraft begabte Gottesgelehrte in einer Predigt einen bestimmten heiligen Gegenstand behandeln, indem sie meist Gliederung und Nennung der Themen weglassen und auch andere Mittel der Logik und der Rhetorik vernachlässigen, dagegen nach dem Diktat und durch den Ansporn des Heiligen Geistes in wunderbarer Weise mit Eifer, Weisheit und Geschick wie Propheten und Apostel predigen.“168 165 Die erste hat er zu Nicolaus Schröder: Wohl=gemeynte Erinnerungen / darinnen der wahre Gottesdienst / und die nothwendigsten Stücke eines christlichen Lebens / nach denen Zeugnissen der heiligen Schrifft angewiesen werden. […] Nebst einer Vorrede Herrn Gottfried Arnolds […] Von recht geistreichen Predigten. Frankfurt a.M. 1704, die andere, ‚De methodo heroica‘ zu den von ihm herausgegebenen ‚Evangelischen Reden‘ (Anm. 145) geschrieben. 166 Dorothea Roth: Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant. Basel / Stuttgart 1956, S. 79. 167 Christoph Schleupner: Tractatus de quadruplici methodo concionandi. Leipzig 41617 (Exemplar: UB Nürnberg-Erlangen). Arnold hat die Ausgabe von 1610 (Catalogus, Anm. 10, S. 396) besessen; sie ist vorhanden in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Das Werk ist auch in den Jahren 1608, 1613 und 1622 erschienen. Arnold: Evangelische Reden (Anm. 145), Vorrede, Bl. (**)v, gibt Schleupners Begriffsbestimmung in der folgenden Übersetzung wieder: eine „[...] ungekünstelte art zu reden (genus dicendi τενν) da die lehrer des himmlischen worts, die mit einem sonderbaren Geist und Göttlicher krafft begabet seyn, eine heilige Sache meist ohne eintheilung und mit verschweigung der proposition, auch mit hindansetzung der andern stücke aus der Logic und Rhetoric, bloß nach dem trieb und eingebung des Heiligen Geistes mit wundersamen eifer, weißheit und geschicklichkeit in der Versammlung abhandeln als eine Prophet= und Apostolische rede.“ 168 „Methodus concionandi Heroica est genus dicendi τενν ubi verbi coelestis Doctores peculiari spiritu & Divinâ virtute praediti, materiam quandam sacram, omissâ plerunque partitione & suppressâ propositione, neglectisque aliis Logices & Rhetoricae requisitis, ad Spiritus sancti dictamen & incitamentum, zelo, sapientiâ & dexteritate admirabili, instar orationis Propheticae & Apostolicae, pro concione tractant.“ (Schleupner, Anm. 167, S. 5f.).

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Schleupner behandelt die heroische Methode (methodus heroica seu theandrica) in seinem Lehrbuch an erster Stelle und widmet ihr wie den drei übrigen (methodus textualis seu paraphrastica, methodus localis seu articulata und methodus thematica seu Pangratiana) ein ganzes Kapitel. Dieses besteht aus fünf Unterabschnitten. Nachdem der Gegenstand definitorisch bestimmt ist (1.), werden Joachim Mörlin (1514–1571) und Luther169 als die einzigen Repräsentanten des heroischen Predigtstils vorgestellt (2.), und es wird zum Zwecke der Illustration von ersterem ein Brief (3.) und von letzterem ein Predigtbeispiel (Markus 8, Die Speisung der Viertausend; 4.) angefügt. Schließlich warnt Schleupner vor jedem Versuch einer Nachahmung der beiden unerreichbaren Vorbilder (5.): „Sic Magnorum virorum orationes Horoicae [sic; M.] naturis vulgaribus, spiritu peculiari destitutis, sed potius regulis artium dicendi nitentibus, aeque inimitabiles sunt, ac si puer tenellus grandes cujusdam Gigantis calceos induere vellet.“170

Noch Quenstedt weicht in seiner Pastoralethik nicht vom Diktum der Unnachahmlichkeit der Heroen des Geistes ab.171 Gottfried Arnold greift dankbar auf das orthodoxe Lehrbuch Schleupners zurück, um sich von ihm – einer auch seinen Gegnern unverdächtigen Quelle – das Faktum der Heldenpredigt in der ‚reformatorischen Urkirche‘ bescheinigen zu lassen. Die Behauptung, heroisch zu predigen sei in der Gegenwart unmöglich, übernimmt er freilich nicht, denn der Geist weht für ihn bekanntlich, ohne Ansehen der Person, wann und wo er will. Arnold versucht nicht nur, wie so oft, mit der Autorität Luthers im Rücken gegen die Orthodoxie zu kämpfen, er kommt darüber hinaus als erster zu einer 169 Nicht immer allerdings hat Luther nach Schleupner (Anm. 167) auf die rhetorische Gestaltung und Ausarbeitung seiner Predigten verzichtet. Die Einschränkung verdient volle Beachtung vonseiten der Rhetorikgeschichte (vgl. Anm. 30): „Haec determinatio merito additur. Non enim putandum est venerandum patrem & summum illum theologum, praeceptorum rethoricorum [sic; M.] ignarum fuisse, & semper a dispositione & oratoria tractatione sive discreta traditione abhorruisse; siquidem quamplurimae conciones, praesertim illae, quas postilla ecclesiastica complectitur, diversum arguunt: Sed hoc tantum innuimus, spiritum Lutheri heroicum nonnunquam in homiliis domesticis & publicis, supra artium leges exuberasse, & ad eam sublimitatem contendisse [...].“ (S. 8). Zur Geschichte des Erhabenen Théodore A. Litman: Le sublime en France (1660–1714). Paris 1971; Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. 170 Schleupner (Anm. 167), S. 28. 171 Johann Andreas Quenstedt: Ethica pastoralis et instructio cathedralis […]. Wittenberg 1678, S. 514: „Quicquid sit, methodus illa heroica [...] cum autoribus suis dudum obiit, ac inimitabilis est.“ Zur ‚virtus heroica‘ gibt es eine stattliche gelehrte Literatur; aus dem Zeitraum zwischen 1660 und 1750 sind mehr als 40 Dissertationen dazu bekannt (vgl. auch Marti: Philosophische Dissertationen, Anm. 50); zwei von ihnen befassen sich hauptsächlich oder ausschließlich mit Luthers Heroismus (Nr. 161; Nr. 9736). Zur weltlichen Heroik Martin Disselkamp: Barockheroismus: Konzeptionen „politischer“ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002.

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grundsätzlich neuen Einschätzung der Möglichkeit, ‚heroisch‘ zu predigen. Die sichere Grundlage des schon vor langer Zeit von der Orthodoxie erarbeiteten Systemwissens muß er dabei nicht einmal preisgeben, wohl aber mit der radikalpietistischen Aktualisierung der Heldenpredigt die orthodoxe Predigtauffassung. Der Streit der beiden Richtungen wird vor allem um die Frage nach der Notwendigkeit einer rhetorischen dispositio ausgefochten. Auch Quenstedt und Hülsemann, denen Arnold nicht unfreundlich gesinnt ist, bejahen sie unmißverständlich,172 und Heinrich Müllers eindeutige Formulierung bringt die allgemein verbreitete Auffassung stellvertretend für viele andere zum Ausdruck: „Res inventae accuratè disponendae sunt: sine Dispositione Concio est cadaver. Certè si Oratio careat Dispositione, necesse est, ut tumultuetur & sine rectore fluitet, nec cohaereat sibi, multa transeat, velut nocte locis ignotis errans, nec initio nec fine proposito, casum potius quàm causam & consilium sequatur.”173

Aber auch für die gemäßigten Pietisten, die Predigtlehrbücher verfaßt haben, geht Arnold mit seiner Ablehnung der dispositio viel zu weit. Joachim Lange widmet ihr ein langes Kapitel in seiner systematisch aufgebauten Homiletik und gibt dort zur Veranschaulichung der zu beachtenden Grundregeln noch eine Reihe praktischer Beispiele.174 Eine nach urchristlichem Vorbild gehaltene Heldenpredigt175 kann der dispositio entraten, weil sie aus dem Glauben und dem Vertrauen (fides!), aus dem Herzen gesprochen ist und ihre Überzeugungskraft auf die Wirksam172 Quenstedt: Ethica pastoralis (Anm. 171), S. 519: „Haec [sc. dispositio] summopere necessaria est propter memoriam [!; M.], cùm dicentis tùm audientis“, und Johann Hülsemann: Methodus concionandi, auctior edita, cui accesserunt […] Johannis Forsteri methodus ac formulae concionandi […]. Wittenberg 1671, in der Vorrede allgemeiner: “Nec quisquam unquam ex dicendi felicitate nomen sibi peperisse legatur, qui non ante rhetorum alveolos mira sagacitate commemoretur.” Hülsemann wird zustimmend zitiert in der Vorrede Arnolds: Von recht geistreichen Predigten. In: Schröder (Anm. 165), S. 19. 173 Heinrich Müller: Orator ecclesiasticus, sistens, praeter methodum concionandi, complures alias materias theologicas […]. Rostock 21670, S. 17. 174 Joachim Lange: Oratoria sacra, ab artis homileticae vanitate repurgata […]. Halle 2 1713, S. 98: „Textus materia, probe & ordinate cognita, ut etiam ordinate ac distincte proponi tractarique possit, ordinata requiritur dispositio, seu apta partium concionis ordinatio.” Schon Schian (Anm. 143) hat festgestellt, daß Lange als Pietist eine Oratoria gebe so gut wie die Orthodoxen auch, läßt dann aber die „allerkräftigsten Streitsätze eines G. Arnold und anderer“ (S. 87) beiseite. 175 Gottfried Arnold: Wahre Abbildung der ersten Christen im Glauben und Leben. Frankfurt a.M. 1711, Anderes Buch, 12. Kap., wo betont wird, daß die großen Vorbilder, die ersten Lehrer, Chrysostomus eingeschlossen, keine Disposition gekannt hätten: „[...] gibt es wohl hundert, ja tausend Sermonen, die keine gewisse Disposition, Methode oder Eintheilung / vielweniger eine unanständige gekünstelte Zergliederung der Schrifft=Stellen anzeigen.“ (S. 288). Zu Predigten ohne Disposition Urs Herzog: Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt. München 1991, S. 259– 265.

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keit des Heiligen Geistes zurückführen kann. Arnold nimmt das Fehlen jeglicher künstlich, d.h. im voraus ausgearbeiteter dispositio als Merkmal in seine Erläuterung des Begriffs ‚Heldenpredigt‘ auf: „Kurtz: eine ungemeine tugend oder that heist eigentlich heldenmäßig: und also auch wird eine ungemeine rede, die nicht nach der landüblichen methode disponirt und eingerichtet ist, billich eine heldenpredigt oder heroica methodus genennet.“176

Heldenpredigt und methodus heroica werden von ihm wohl deshalb synonym gebraucht, weil die anzuwendende Methode, die sonst den rhetorischen Vollzug vorbereiten und in geordnete Bahnen lenken soll, im Vollzug ganz aufgehoben wird und das momentane Gelingen nach der Erhörung des Beistand erflehenden Herzensgebetes177 im Ermessen des Heiligen Geistes liegt und damit hinreichend gesichert erscheint. Den Forderungen, die an die Ordnung der Gedanken in der Rede und an deren Faßlichkeit gestellt werden, genügt der Urheber aller göttlichen Reden, was Arnold unterstreicht,178 unvergleichlich viel besser als die höchste menschliche Anstrengung es zu tun vermöchte. Die Heldenpredigt kommt den Postulaten der Rhetorik von selber nach. Sie ist zwar anti-rhetorisch, deswegen aber keineswegs a-rhetorisch. Daß die heroischen Zeiten der protestantischen Predigt für Arnold mit der Reformation nicht ein für allemal vorbei sind, beweist seine Aufzählung von Namen großer Prediger: Arndt, Müller, Egardus, Lütkemann und Scriver.179 Helden sind für ihn nicht bloß legendäre, tote Gestalten einer grauen Vorzeit, sondern auch lebende Zeugen der nicht an eine bestimmte Zeit und ihre Erscheinungen gebundenen, daher unermüdlich fortwirkenden göttlichen Offenbarung. Unvermindert mitreißende Überzeugungs-‚Kraft‘ geht daher auch von ihren Worten aus: Es ist der höchste Grad an innerer Bewegtheit, ein äußerstes, jenseits des Rhetorischen liegendes movens, von dem ihre Herzen erfüllt sind und das sie ihren aufmerksamen Zuhörern weitergeben: „Denn die Rede ist wirklich ein Abdruck von der innern Bewegung des Hertzens: und wenn nun das Hertz eines Predigers vom Geiste Gottes beweget wird / so bekommt der Zuhörer nohtwendig einigen Eindruck und Stachel davon / ja wo er nicht freventlich widerstehet / eine kräfftige Alteration und Veränderung im Gemüht.“180

Rhetorisches Wirkungsziel ist die Erbauung (aedificatio) des Publikums. Der angedeutete Überfluß an affektiver Ausdruckskraft, der vom Redner ausgeht, läßt sich also nicht mehr restlos mit den von der antiken Dreistillehre vorgesehenen und die officia oratoris umschreibenden Kategorien fassen: ‚simplicitas‘ und ‚maiestas‘ von Wort und Sache wirken in der Geistrede zusammen und erzeugen die wunderbare 176 Arnold: Evangelische Reden (Anm. 145), Vorrede, Bl. (**)2r. 177 Darunter versteht Arnold die aufrichtige, persönlich innige Bitte um Gottes Gnade. Sie ist die Voraussetzung für den sermo mysticus, der bekanntlich von Gott ausgeht. 178 Arnold: Evangelische Reden (Anm. 145), Vorrede, Bl. (*)3r. 179 Ebd., Bl. (**)4r. 180 Arnold: Von recht geistreichen Predigten. In: Schröder (Anm. 165), S. 30.

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Wirkung, von der Arnold die Bekehrung seiner Zuhörer erhofft. Seine Gegner haben davon einen anderen Eindruck gewonnen: „Daß Herr M. Arnold die ietzige Art zu predigen vor unnütz und schädlich hält [...] nimmt uns eben nicht wunder die weil viel Gelehrte / welche ihn in hiesiger Stiffts=Kirchen predigen gehöret haben / seine fertige Zunge viel Worte zumachen / bewundern / im übrigen nicht verlangen / seine Predigt-Art nach zu ahmen / und leeres Stroh ihren Zuhörern vorzusetzen.“181

4.  Schlußfolgerungen Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln Gottfried Arnold als unermüdlichen Verfechter eines mystisch geprägten Glaubensverständnisses kennengelernt, der die menschlichen Künste, soweit sie dem Zweck geistlicher Unterweisung dienlich sind, überlegt in Anspruch nimmt. Auch die Leistung der menschlichen Rede mißt er an ihrem Verdienst, die unmittelbare Kommunikation der Menschen mit Gott anzuregen und zu fördern. Nur mit Hilfe von sprachlichen Zeichen und Bildern (Emblematik!)182 ist pädagogisches Wirken möglich und kann dem Verfall des Glaubenslebens begegnet werden. Am überzeugendsten wirken erleuchtete Lehrer, dank deren Standhaftigkeit im Glauben (Heroismus!) der Heilige Geist selber zu Wort kommt. Durchdrungen vom Feuer göttlicher Liebesleidenschaft, wollen sie in ihren Zuhörern und Lesern den Seelenfunken entzünden und die Geburt des neuen Menschen durch Abtötung der fleischlichen Begierden vorbereiten helfen. Ihre Rede ist vom Ernst der evangelischen Glaubenswahrheiten erfüllt, schmucklos, eindringlich, belehrend und bewegend zugleich. Allein das Unterhalten, das oberflächlich-sinnliche ‚delectare‘ ist nicht ihr Geschäft: Was den 181 Gerhard Meier: Wahre Nothwendigkeit des Kirchen= und Abendmal=Gehens in kurtzen und abgenöthigten Anmerckungen uber einige Capitel der sogenannten Erklärung Hrn. M. Gottfried Arnolds vom Kirchen= und Abendmahl=Gehen den Quedlinburgischen Gemeinden gründlich fürgestellet von dem ordentlichen Predigt=Ampt daselbst. Quedlinburg 1701 [Exemplar UB Marburg], S. 54. 182 Seitdem der Katalog von Arnolds Bibliothek (Anm. 10) bekannt ist, weiß man auch besser Bescheid über einige der höchstwahrscheinlich von Arnold benützten Emblembücher. Für die genaue Klärung von Einzelfragen, die im Zusammenhang mit dem Grad dieser Quellenabhängigkeit stehen, sind noch gründliche Einzelforschungen zu den verschiedenen, bei ihm auftauchenden Bildmotiven nötig. Es hat sich herausgestellt, daß er eine Anzahl von Schefflergedichten (Heilige Seelenlust) wohl aus dem Helleleuchtenden Herzensspiegel, auf den Breymayer in seinem Aufsatz über Arnolds Bibliothek (Anm. 8), S. 84–91, hinwies, in seine ‚Liebes=Funcken‘ (Anm. 98) unter „einige bißher unbekannte und meist von andern auffgesetzte Lieder“ aufgenommen hat (es sind die Nrn. V, VI, VII, XIII, XIX, XXI, XXII und XXIII dieser Rubrik). Obwohl Arnold dem allegorischen Symbol eine wichtige propädeutische Rolle zuschreibt, ist es für ihn eben nur Mittel zum Zweck. Und dieser liegt jenseits aller an bildliche Erscheinungen gebundenen Erfahrungsinhalte.

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Ohren schmeichelt, dringt nicht ins Herz. Schlichtheit (simplicitas), Erhabenheit (sublimitas; maiestas) und Tiefsinn kommen in den göttlichen Reden der Inspirierten zusammen.183 Von einer Sprachbegeisterung wird man bei Arnold dennoch nicht reden können, denn die ganze erbauliche Unterweisung wirkt auf eine Kommunikation ohne Mittel, infolgedessen auch ohne menschliche Vermittler, auf das Verständnis der rein geistigen inneren Erfahrungssprache hin. Damit ist der Sprachbegriff selber zur Metapher geworden. Umgekehrt kann bei Arnold auch von Sprachverachtung keine Rede sein: Man gewinnt nicht den Eindruck, als brauchte er das Werkzeug nur ungern oder gar widerwillig. Ausgerechnet in seiner radikalen Phase hat er sich der poesis sacra zugewendet und die Sprache als Mittel dichterischer Gestaltung geschätzt. Nie hat er vor dem unüberwindbaren Gegensatz zwischen unmittelbarem Geistwort und vermittelndem sprachlichem Zeichen kapituliert, wohl aber das Spannungspotential, das sich für ihn daraus ergab, auch mit der Hinwendung zum Buchstaben, in eine gewaltige rezeptive und produktive schriftstellerische Leistung umgesetzt. Von inneren und äußeren Gegensätzen sind Zeiten des Verfalls notwendig geprägt. Die Chance, zu ihrer beider Befriedung einen praktischen Beitrag zu leisten, wollte Arnold wahrnehmen. Im Verhältnis zur Sprache spiegelt sich am deutlichsten sein unablässiges Ringen um die Wahrheit, welche Gestalt annehmen, sichtbar gemacht und bezeugt werden soll und doch der Gestaltung, sprachlicher Objektivierung letztlich, sich entzieht. Nachdem am Schluß des ersten Kapitels Arnolds Sprachauffassung in sehr groben Zügen charakterisiert werden konnte, ging es im zweiten Hauptabschnitt um die genauere – wenn auch immer noch sehr allgemeine – Bestimmung des sermo mysticus und seines Verhältnisses zur Rhetorik. Arnold hat ein breites literarisches Gattungsspektrum ausgeschöpft. Dementsprechend vielfältig setzt er auch die Sprache ein. Vieles mußte unerwähnt bleiben.184 Wenn es jedoch gelungen ist, von einem spezifischen Gegenstand her und aus einer ungewohnteren Sicht Streiflichter auf einige Arnoldzeugnisse zu werfen und den historischen Kontext, in dem sie zu sehen sind, besser erkennbar zu machen, schließlich drin-

183 Vgl. dazu die Charakteristik des stilus biblicus durch Joachim Lange (Anm. 174), die ziemlich nah an Arnolds geistrhetorisches Sprachideal herankommt: „Stilus biblicus, ut materiae sacrae proprius, sic & optimus est. Bene ergo sibi consulunt, qui eundem sibi in tempore reddunt quam familiarissimum, inprimis in quantum ille admodum est emphaticus. Sane stilo biblico nihil est simplicius, castius, sublimius, gravius atque significantius. Errant ergo, qui non perspecta stili biblici gravitate, simplicitate ejus non contenti, dictionem affectant turgidam, argutam, profanam, histrionicam [...].“ (S. 93). 184 An sein gutes Verhältnis zur deutschen Sprache und an das Herzensgebet, das sich durch die schlichte Rede, die Einfachheit als Ausdruck der herzhaften Aufrichtigkeit und der ursprünglichen, ungekünstelten Sprachgebärde, durch die bloße ‚simplicitas‘ auszeichnet, sei wenigstens summarisch erinnert.

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gend notwendige Einzeluntersuchungen anzuregen, war die Arbeit nicht umsonst, auch wenn sie oft dankbar längst Bekanntes aufgenommen hat.

ANHANG: ‚Tauler‘ausgaben 1.  Sammelausgabe mystischer Schriften von 1622 bzw. 1621: Guldene Sendtbrieff vieler Alten Gottseeligen Kirchen Lehrer: Als Johann Thaulers / Heinrich Seüssen / Johan Creützers unnd mehr Anderer: In etliche Theil abgetheilt / unnd den uhralten Schrifften / durchausz gemeesz gantz unverfälscht an dasz Liecht gegeben. D. S. Anno. M.DC.XXJJ. [UB München, Signatur: Döllinger 14321/26]

[Darin:]

a) Ain alt und werdes Büchlein. Von der Gnade Gottes / Genommen ausz dem anfang des Hohen I.iedts Salomonis. So nun vor mehr den Dritthalbhundert Jahren / von Johan. Rusebruch / einem Hayligen Waldt=Priester in Brabandt (welcher bey Tauleri Zeiten gelebt / und selbigen in Geistlichen sachen viel underrichtet hatt) geschrieben: Auch zuvor nie Getruckt / und nuhn erstmahls an Tag gegeben worden. Durch D. S. Anno M.DC.XXI. b) Ein Edles Büchlein / Des von Gotte Hocherleuchten Doctor JohannTaulers / Wie der Mensch möge Ernsthafftig / Innig / Geistlich / unnd GOttschawende werden. So noch nie Getruckt / auch nit vil Öffentlich gesehen worden / Jetzo aber Publizirt / auff anordnen D. S. M.D.C.XXI. [Dieses Werk stammt richtig ebenfalls von Ruysbroek, vgl. Hornung, Anm. 154, S. 362. Arnolds Ruysbroekausgabe, Offenbach 1701, hat mit derjenigen Sudermanns nichts zu tun.] c) Doctor Johan Taulers Nachfolgung des Armen Lebens Christi / In zwey Theil abgetheilet: Deren der Erste / sagt viel underschied der wahren Armuth: Der ander lehret / wie man sol kommen zu einem volkommenen armen Leben. Nun zu erst ausz einem alten / vor einhundert und Sibentzig Jaren geschribenen Exemplar / von Wort zu Wort trewlich und gantz unverfälscht nachgetruckt. Matth. V. Seelig seind die / so da Geistlich arm seind / Dann das Himmelreich ist Ihrer. Hebraeor. VI. Laszt uns die Lehr von Anfang Christi underlassen / und zur Volnkommenheit greiffen. Zu Franckfort / bey Lucas Jennis. Im Jahr M.DC.xxi. [Die Schrift c), die Christoph Besold herausgab, ist einzeln u.a. in der Bayerischen Staatsbibliothek München unter der Signatur 4°P.lat.1188 vorhanden.]

2.  Nachdruck von Christoph Besolds Ausgabe (1 c) des Buchs von geistlicher Armut bzw. der Nachfolgung des armen Lebens Christi (1670) D. Johann Taulers Nachfolgung desz armen Lebens Christi / In zwey Theil abgetheilet: Deren der Erste / sagt viel Unterschied der wahren Armuth: Der ander lehret / Wie man soll kommen zu einem vollkommenen armen Leben. Zum erstenmal / Im Jahr 1621. auß einem alten / vor hundert und siebentzig Jahren geschriebenen Exemplar / von Wort zu Wort treulich und unverfälscht nachgedruckt. Nun aber auff Begehren etlicher Liebhaber in dieser Form gedruckt. Matth. 5 Selig seynd die / so da geistlich arm seynd / dann das Himmelreich ist ihr. Hebr. 6 Laßt uns die Lehr von Anfang Christi unterlassen / und zur

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Vollkommenheit greiffen. Franckfurt Bey Hermann von Sand. M.DC.LXX. [Bayer. Staatsbibliothek München, Signatur: 8°P.lat.1874d]

3.  Speners erster Nachdruck von Christoph Besolds Ausgabe (1 c) des Buchs von geistlicher Armut bzw. der Nachfolgung des armen Lebens Christi (1681) D. Joh. Tauleri Nachfolgung des armen Lebens Christi / In zwey Theil abgetheilet: Deren der erste sagt viele Unterschiede der wahren Armut. Der ander lehret wie man soll kommen zu einem vollkommenen armen Leben. Nun zu erst aus einem alten / vor ein hundert und sibenzig Jahren geschriebenem Exemplar / von Wort zu Wort treulich und gantz unverfälschet nachgedruckt. Matth. V. Selig seynd die / so da geistlich arm sind: Dann das Himmelreich ist ihrer. Hebr. VI. Lasset uns die Lehr von Anfang Christi unterlassen / und zur Vollkommenheit greiffen. Franckfurt am Mäyn / Drucks und Verlags Joh. Haassens / 1681. [Enthalten in der ersten Spenerausgabe der Schriften ‚Taulers‘, Bayer. Staatsbibliothek München, Signatur: 4°P.lat.1185]

4.  Ein weiterer Spenernachdruck von Christoph Besolds Ausgabe (1 c) des Buchs von geistlicher Armut bzw. der Nachfolgung des armen Lebens Christi (1703) D. Joh. Tauleri Nachfolgung Des Armen Lebens Christi / in zwey Theile abgetheilet: Deren der Erste sagt viele Unterschiede der wahren Armuth / Der Andere lehret / wie man soll kommen zu einem vollkommenen armen Leben. Zum erstenmal im Jahr 1621. aus einem alten von Anno 1448. geschriebenen Exemplar von Wort zu Wort treulich und gantz unverfälscht nachgedruckt. Matth. V. v.3 Selig seynd die da geistlich arm sind / denn das Himmelreich ist ihr. Hebr. VI. v.1. Lasset uns die Lehre vom Anfang Christi unterlassen / und zur Vollkommenheit greiffen. Mit Königl. Maj. in Pohlen und Churfl. Durchl. zu Sachsen sonderbaren Freyheit. Franckfurt am Mäyn und Leipzig / Verlegts Johann Friedrich Gleditsch / Im Jahr Christi 1703.

[In:] Des hocherleuchteten und theuren Lehrers D. JOH. TAULERI Predigten / Auff alle Sonn= und Feyertage durchs gantze Jahr / Samt dessen übrigen geistreichen Schrifften / Ingleichen auch D. Martin Luthers / Philipp Melanchthons / Johann Arnds und anderer gottseliger Lehrer Zeugnisse von solchen Predigten und Schrifften / So dann einiger anderer geistreicher Männer erbauliche Schrifften / derer Verzeichnis nach der Vorrede zu finden. Insgesamt zu rechtmäßiger Anstellung und beharrlicher Fortsetzung eines gottseligen Lebens und guten Gewissens sehr nützlich und dienlich. Nebst einer Vorrede Herrn D. Philipp Jacob Speners. Mit Königl. Maj. in Pohlen und Churfl. Durchl. zu Sachsen sonderbaren Freyheit. Franckfurt am Mayn und Leipzig / Verlegts Johann Friedrich Gleditsch / Im Jahr Christi 1703. [Bayer. Staatsbibliothek München, Signatur: 4°P.lat.1185d]

Die Verkündigung des irdischen Paradieses Spiritualismus und Utopie Gottfried Arnolds Werk auf sein Verhältnis zur Utopie zu befragen, kann leicht als ein widerspruchsvolles und daher verfehltes Unterfangen erscheinen. Von ihm ist kein Entwurf eines idealen Staates überliefert, und er hat sich – mit besonderem Nachdruck in seiner radikalen Phase – grundsätzlich ablehnend über alle Institutionen geäußert. Utopien scheinen dagegen ohne eine institutionelle Verankerung der von ihnen postulierten Ordnungen nicht auszukommen. Arnold fordert von den Gläubigen, daß sie ihr Leben ganz in Gottes Hand legen, sich der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in ihrem Innern anvertrauen, also eine durchweg passive Rolle übernehmen müßten, während das Subjekt in den utopischen Gesellschaften tatenfroh seiner eigenen Leistungsfähigkeit, das heißt seiner Vernunft und seinem technischen Können, vertraut, seine Pläne verwirklicht und auf die ihm von Gott zugebilligte Autonomie stolz sein darf. Es wendet sich nicht vom Sinnlichen, von der Außenwelt und den Naturerscheinungen ab wie der allein dem Übersinnlich-Geistigen zugewandte mystische Asket, der in der Natur nichts als eine Welt des Verfalls, der moralischen Verworfenheit erblickt, die es in der Wiedergeburt des Geistes, der unio mystica, zu überwinden gilt. Vielmehr greift der Utopier ordnend und regelnd in die Natur ein, das heißt er ‚veredelt‘ sie und befriedigt dadurch seine theoretischen, praktischen, nicht zuletzt aber auch seine ästhetischen Bedürfnisse, seine Vorliebe für mathematisch regelmäßige Formen und Proportionen. Der utopische Entwurf, der vom menschlichen Subjekt ausgeht und diesem auch eine aktiv-gestaltende Rolle in der Welt zuweist, steht dem spiritualistischen Konzept diametral entgegen, das den Menschen als heteronomes Geschöpf des Schöpfers, als willenloses Werkzeug des Heiligen Geistes betrachtet. Spiritualismus und Utopie erscheinen, so gesehen, als einander ausschließende Kategorien, und es wäre töricht, unter diesem Blickwinkel länger über das Verhältnis von Spiritualismus und Utopie bei Gottfried Arnold nachdenken zu wollen. Trotzdem lassen mich einige Fakten vorerst noch etwas beim Thema verweilen. Sie scheinen zunächst allerdings zu bestätigen, was die abstrakte Gegenüberstellung schon in der Vorwegnahme vermuten ließ: Gottfried Arnold hat sich kaum zu den frühneuzeitlichen Utopien geäußert – die Utopia des Thomas Morus hat er allerdings besessen1 – und da, wo er zufällig einmal auf einen Utopietext zu sprechen kommt, bricht er, ohne grundsätzlich über ihn zu urteilen, Zitatstücke aus ihm heraus, die seinem eigenen Argumentationsinteresse entgegenkommen. Genau so wird 1 Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi, inspectoris et pastoris Perlebergensis 1714. Faksimile-Ndr. in: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 337–410, hier S. 390, Nr. 295: „Mori Utopia Lips. 1612“.

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Johann Valentin Andreae aufgrund von zwei Zitaten aus Christianopolis in der Kirchen- und Ketzerhistorie als Zeuge der Wahrheit gewürdigt, weil er Kirche, Hof und Schule als Brutstätten aller schlimmen Laster brandmarke und die Ausrichtung der Wissenschaften auf den Gekreuzigten fordere.2 Arnolds Eintreten für Andreaes Werk ist bedeutsam, weil Christianopolis Bekenntnisse zur Rhetorik des Heiligen Geistes enthält,3 wie sie immer wieder auch bei Arnold anzutreffen und bei ihm in die Konzeption der methodus heroica, der vom Heiligen Geist bewirkten, spontanen Rede,4 eingegangen sind. Bei aller Institutionslastigkeit gewährt Andreae in seiner Utopie dem Wirken des Heiligen Geistes großzügig Raum. Gottfried Arnold hat Andreae übrigens in den Katalog der mystischen Musterautoren aufgenommen.5 In Andreaes Utopie – über die Gattungszuordnung von Christianopolis gibt es meines Wissens keine Meinungsverschiedenheiten – sind also spiritualistisch-mystische und rational-konstruktive Momente enthalten, so daß gerade die Frage nach den Modalitäten ihrer Vereinbarkeit und nach der Beschaffenheit der so entstandenen Synthese beantwortet werden müßte. Das Spannungsfeld der Gegensätze, das Andreaes Utopie zugrundeliegt, läßt die Stellung 2 Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1729 (FaksimileNeudrucke Hildesheim 1967 und 1999) (im Folgenden KKH), Teil II, B. XVII. c. 5, S. 929f. – Zu den Andreaezitaten siehe Johann Valentin Andreae: Christianopolis. Hg. von Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart 1975, Vorrede, S. 8, und Kap. 36, wo von der christozentrischen Ausrichtung der Wissenschaften die Rede ist, denn nur die Christen seien Wissende, und zwar von Gott her; die übrigen führten nur leere Reden, aus sich selbst nämlich (S. 61). 3 Andreae (Anm. 2), Kap. 56: Die Rhetorik: „Wenn die göttliche Wahrheit uns anruft, entbrennt das Herz, der Geist wird tätig, und alles bewegt sich.“ (S. 82). Ferner Kap. 28 (S. 50), 57 (S. 84), 77 (S. 109) sowie 78 (S. 110). Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik. Meerane i. Sa. 1923 (Ndr. Darmstadt 1964), S. 426, weist zwar richtig darauf hin, daß ‚Christianopolis‘ wegen der unmystischen Elemente nur bedingt heranzuziehen sei, doch verdienen die Affinitäten zwischen Andreae und Arnold Beachtung. Die Christianopolitaner beschäftigen sich z. B. auch eifrig mit der Kirchengeschichte (Kap. 72, S. 101f.). 4 Vgl. dazu die Ausführungen zur ‚methodus heroica‘ im Aufsatz über ‚Die Rhetorik des Heiligen Geistes‘ in diesem Band. Zur Bedeutung der Geistrhetorik für die jesuitische Redekunst Barbara Bauer: Jesuitische ‚ars rhetorica‘ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt a.M. / Bern / New York 1986, insbesondere S. 556–565. Immer noch wichtig Conrad Wiedemann: Engel, Geist und Feuer. Zum Dichterselbstverständnis bei Johann Klaj, Catharina von Greiffenberg und Quirinus Kuhlmann. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hg. von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann. Berlin 1968, S. 85–109. 5 Vgl. Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie oder geheimen Gottesgelehrtheit wie auch derer alten und neuen Mysticorum. Frankfurt a.M. 1703 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969), S. 487, wo auf das Verzeichnis von Andreaes Schriften in der KKH verwiesen wird.

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Arnolds zur Utopiethematik in seiner Verkündigung des irdischen Paradieses nun doch als dankbaren Untersuchungsgegenstand erscheinen. Die Unvereinbarkeitsthese muß relativiert, wenn nicht ganz zurückgenommen werden. Die neue Lesart von Arnolds Werk wird noch durch eine weitere Beobachtung gestützt. Schon in der Vorrede zur Kirchen- und Ketzerhistorie nimmt Arnold gegen den noch immer „von Bösen und Heuchlern“ erhobenen Vorwurf Stellung, seine Abbildung der ersten Christen stelle eine „Platonische Republique“ vor.6 Johann Heinrich Feustking, ein scharfer Gegner Arnolds, hält 1704 in einem Anhang seines Gynaeceum haeretico fanaticum fest, daß Arnold in der Abbildung des ersten Christentums „gleichsam eine rempublicam Platonicam, oder civitatem solis abgebildet / die auff solche Art nirgend zu finden gewesen.“7 Ohne den Standpunkt des orthodoxen Arnoldkritikers zu übernehmen, der seinen Gesinnungsfeind in polemischer Absicht dem Utopieverdacht aussetzt, um die Wirklichkeitsferne und Abwegigkeit des urkirchlichen Ideals einsichtig zu machen, werde ich die freilich fragwürdige Bemühung, ein Hauptwerk Arnolds zur Utopie zu erklären, für die historische Legitimation meiner Fragestellung gern beiziehen. Arnolds Verhältnis zur Utopie steht jetzt, in historiographischer Absicht, wirklich zur Debatte. In den 1700 erstmals erschienenen Poetischen Lob- und Liebessprüchen behauptet Arnold, daß die Verheißung der Glückseligkeit nicht erst nach dem Tod, im Jenseits, sich erfülle, sondern im Diesseits von der Schar der Wiedergeborenen verkündigt und dadurch auch gleichzeitig verwirklicht werde.8 Im Leben des frommen Christen sei „das rechte Paradies“ zu finden.9 Arnolds Lyrik widmet sich ganz der Verkündigung dieses irdischen Paradieses, das der Heilige Geist in der dem göttlichen Willen gehorsamen Seele entstehen läßt. Das Innere des Wieder6 Arnold: KKH (Anm. 2), Vorrede, Bl. bv, Abschnitt 20. – Einer der „Bösen und Heuchler“, der Lübecker Superintendent August Pfeiffer (1640–1698), ist identifiziert in: Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699–1927. Hg. von Bernd Moeller. Frankfurt a.M. 1994, S. 751. 7 Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum, oder Historie und Beschreibung der falschen Prophetinnen / Quäckerinnen / Schwärmerinnen / und andern sectirischen und begeisterten Weibes=Personen / durch welche die Kirche Gottes verunruhiget worden; sambt einem Vorbericht und Anhang / entgegen gesetzet denen Adeptis Godofredi Arnoldi. Frankfurt a.M. / Leipzig 1704 (Ndr. München 1998), Vorrede Feustkings, S. 8. 8 Gottfried Arnold: Poetische Lob= und Liebes=Sprüche von der ewigen Weißheit nach Anleitung des Hohenlieds Salomonis: Nebenst dessen neuen Ubersetzung und Beystimmung der Alten. An: Gottfried Arnold: Das Geheimniß der göttlichen Sophia oder Weißheit. Leipzig 1700 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963), S. 157: „Daß die verheissung nicht von der vollkommenheit / Werd nach dem tod verspahrt. Zeig / wie noch hier auff erden Die neu erstandne schaar verkünd’ge weit und breit Der aufferstehung krafft.“ 9 Ebd., Vorrede, Bl. a6-a7, 37: „[…] wenn man der Christen leben im grunde ansiehet / nichts als liebe / freude / süssigkeit wollust stärcke / herrlichkeit und ewiges himmlisches leben / ja das rechte paradies darinne zu finden sey.“

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geborenen wird dabei mit einem Garten verglichen, der nun, nachdem er von Unkraut und Disteln gesäubert ist, die herrlichsten Gewächse beherbergt.10 So greift die Beschreibung der Wiederkehr des Paradieses im Zustand der unio mystica die topischen Pflanzenmotive der herkömmlichen Paradiesdarstellungen in der allegorischen Gestalt des Seelengartens wieder auf. Nach dem Sündenfall kann das Paradies nur als ein geistiges, inneres Eden durch göttliche Gnadenwirkung wiederentstehen. Die Verwirklichung des mystischen Zustandes setzt also die erlösende Tätigkeit des Heiligen Geistes und damit Spiritualität zwingend voraus. Zur weiteren Diskussion der utopischen Qualität von Arnolds mystischem Denken ziehe ich nun aber nicht Arnolds Lyrik bei, sondern die während der zweiten Quedlinburger Zeit entstandenen wichtigen drei Predigten, die 1700, im selben Jahr, in dem er sie gehalten hat, unter dem Titel Der richtigste Weg durch Christum zu Gott11 herausgekommen sind. Mit deren Publikation will er seine Rechtgläubigkeit öffentlich bezeugen und den Beweis erbringen, daß er auch den offiziellen, das heißt den äußeren Anforderungen genügt, die an einen Pfarrer von Amtes wegen gestellt werden.12 Die Predigttexte sind bis jetzt noch nie eingehender betrachtet worden, obwohl sie auch nicht gänzlich unbeachtet blieben. Innerhalb einer kurzen Zeitspanne entstanden, bilden sie ein geschlossenes Textkorpus, bei dessen Interpretation die Gefahr einer Vermischung heterogener Quellenbelege nicht besteht. Die drei Predigten bilden eine zwar schmale, aber für die Beurteilung von Arnolds radikaler Phase unentbehrliche Textgrundlage. Daß die überlieferte 10 Ebd., S. 138, XCVIII. Anfang des paradisischen seelen=gartens. Zu den Dornen und Disteln, S. 134, XCVII. Die erfolgte Eröffnung des Paradieses. – Am Paradiesgedicht läßt sich hervorragend zeigen, welch große Bedeutung der Emblematik und im besonderen der Pflanzenemblematik in Arnolds Lyrik zukommt. Der emblematische Themenkreis gehört ohnehin zu den allzusehr vernachlässigten Aspekten der Interpretation von Arnolds Dichtung; die Pietismusforschung kann aus der besseren Kenntnis frühneuzeitlicher Emblemliteratur großen Nutzen ziehen. Vgl. dazu den Aufsatz ‚Die Rhetorik des Heiligen Geistes‘ in diesem Band (S. 15–76), aber auch Reinhard Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog zur Bibliothek Gottfried Arnolds. In: Gottfried Arnold (1666–1714) (Anm. 1), S. 55–143, hier S. 78–92, wo aufgrund der einschlägigen Besitznachweise auf die Bedeutung der Emblembücher für das Arnoldverständnis hingewiesen wird. 11 Gottfried Arnold: Der richtigste Weg durch Christum zu Gott: bey öffentlichen Versammlungen in dreyen Sermonen oder Predigten angewiesen / und auff Begehren ausgefertiget. [...] Nebenst einer näheren Erklärung von seinem Sinn und Verhalten in Kirchen=Sachen. Frankfurt a.M. 1700. Das Werk ist 1726 ein zweites Mal von Thomas Fritsch in Frankfurt aufgelegt worden und im selben Jahr auch noch in Leipzig, bei Samuel Benjamin Walther, erschienen. 12 Ebd., Nachricht an die Leser, wo Arnold bezeugt, daß er „weder das Lehren und Predigen in Kirchen und Schulen an sich selbst nach rechter Gottgefälliger Art verwerffe / noch auch [sich] der Freyheit und des Rechts in öffentlichen Versammlungen zu reden iemahls begeben gehabt/ oder durch andere berauben lassen.“ (unpag.).

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schriftliche Fassung tatsächlich dem mündlichen Predigtwortlaut genau entspricht, muß freilich bezweifelt werden, obwohl Arnold beteuert, die Niederschrift in frischer Erinnerung angefertigt zu haben.13 Die Predigten, nach Arnolds eigenen Worten in der Vorrede an den Leser ein Produkt spontaner Eingebung durch den Heiligen Geist,14 sind also ihrerseits der von ihm favorisierten, von der rhetorikgeschichtlichen Forschung bisher weitgehend vernachlässigten Geistrhetorik zuzurechnen, die von der durch das menschliche Subjekt hervorgebrachten Rede, insbesondere von der höfisch-weltlichen, politischen Zwecken dienenden Redekunst, unterschieden werden muß. Eine die Konfessionsgrenzen überschreitende geistrhetorische Tradition, die nicht Cicero und andere menschliche Autoritäten, sondern nur den Heiligen Geist als Lehrmeister anerkennt und in der frühen Neuzeit von Sebastian Franck,15 Valentin Weigel16 und 13 Ebd. 14 Ebd.: „Vielmehr lässt man alsdenn dem Geist Christi freyen Platz zu reden / was dessen Sinn ist.“ Noch in Gottfried Arnold: Die geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten auff vielfältiges Begehren ans Licht gestellet. Halle 1704, S. 196, hält der Autor an der geistrhetorischen Predigtauffassung unmissverständlich fest; das in der Verwendung der Licht- und Feuermetaphorik auch von Arnold nirgends übertroffene Bekenntnis zur heroischen Predigt, zum erleuchteten Prediger und zum erleuchteten Publikum sei ausführlich zitiert: „Hingegen die Predigt eines erleuchteten / und aus Gott redenden Mannes / dessen Seele vom göttlichen Licht erleuchtet / und dessen Hertz von der Liebe Gottes / als von einem göttlichen Feuer angezündet ist / und brennet / und der also gleichsam mit feuriger Zungen redet / die Hertzen der Zuhörer mit dem in ihme wohnenden göttlichen Licht und Feuer erleuchte / und in denselben die Liebe Gottes anzünde.“ Denn – Arnold beruft sich auf Matth 10,20 – ein „rechter göttlicher Lehrer muss es nicht selber seyn / der da rede / sondern des Vaters Geist muss durch ihn reden.“ (S. 426). 15 In der neueren Forschung geht man immer mehr von einer starken Prägung des radikalen Arnold durch das Werk Sebastian Francks aus. Vgl. den Aufsatz ‚Die Rhetorik des Heiligen Geistes‘, S. 15–76, aber auch die leider ungedruckte Magisterarbeit von Ursula Kreuder: Gottfried Arnolds Täuferbild. Freiburg i.Br. [1989] (masch.), S. 141–153. 16 Seeberg (Anm. 3) weist an verschiedenen Stellen (z. B. S. 343, 390, 405, 410, 414, 418, 426) eher punktuell auf den Einfluß Valentin Weigels hin; man müßte sich damit einmal ausführlich befassen. Ausgangspunkt einer derartigen Untersuchung könnten die Weigelzitate in der KKH bilden. Schon deren oberflächliche Lektüre zeigt, daß Valentin Weigels Schriften von Arnold stark vom Aspekt der Inspirationslehre, des irdischen Paradieses und der spiritualistischen Sprachauffassung her aufgenommen und exzerpiert wurden (KKH, Anm. 2, Teil II, B.XVII. c.XVII, S. 1088–1114). Daß Arnold das Werk Weigels sehr gut gekannt haben muß, bestätigen die vielen Besitznachweise im Auktionskatalog (Anm. 1, S. 356, 358, 380, 382, 384f., 387). Bezeichnenderweise fehlt Weigel aber auf der Liste der mystischen Autoren in der ‚Mystischen Theologie‘ (Anm. 5); Arnold hat offenbar Autoren hoch geschätzt, die wohl aus taktischen Gründen – Weigel war sehr angefochten, ähnlich wie Sebastian Franck – dort nicht auftauchen, resp. offiziell nicht empfohlen werden. Auch der ‚Libellus disputatorius‘ figuriert im Bibliothekskatalog (S. 385) unter den Schriften Valentin Weigels, obwohl er nicht von ihm, sondern von seinem Anhänger Benedikt Biedermann verfaßt wurde

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Paracelsus17 bis zu den Jesuiten18 reicht, gilt es mit all ihren Verästelungen und Verzweigungen erst noch zu erforschen;19 ihr gehört unter vielen anderen beispielsweise der auch Arnold bekannte und von ihm geschätzte Jesuit Jeremias Drexel20 an, der Geistrhetorik im wesentlichen als Gebetsrhetorik faßt und nur den für wirklich beredt hält „und wann er schon noch ein unmündiges Kind war/ auss dem dieser Geist redt.“21

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(vgl. dazu Fritz Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Eine literarkritische Untersuchung zur mystischen Theologie des 16. Jahrhunderts. Zürich 1962, S. 111–114). Ähnlich wie mit Valentin Weigel verhält es sich mit Paracelsus (Seeberg, Anm. 3, ausführlicher, aber auch zu punktuell S. 341 f., 410, 426f.), von dem Arnold laut Auktionskatalog (Anm. 1) viele Schriften besessen haben muß (S. 341, 355; paracelsische Literatur S. 355, 385) und dem er in der KKH (Anm. 2) (Teil II, B.XVI. c.XXII, S. 778– 782), vor allem aber durch die ergänzenden, langen Exzerpte (Teil IV, Sect. II, Num. XX–XXI, S. 436–456) sogar einen Ehrenplatz zuweist. Auch Paracelsus kommt auf der erwähnten Autorenliste nicht vor. Obwohl vor einer Überschätzung seines Einflusses auf Arnold gewarnt werden muß, darf seine zeitweise Wirkung auf ihn doch auch nicht zu gering veranschlagt werden. Die Utopieforschung hat Paracelsus bis jetzt kaum beachtet, obwohl die Paracelsusspezialisten mit Nachdruck die utopisch-eschatologische Komponente seines Werks hervorheben, z. B. Kurt Goldammer: Paracelsus in neuen Horizonten. Gesammelte Aufsätze. Wien 1966, der schon früh sozialkritische und sozialpolitische Schriften von Paracelsus ediert hat: Paracelsus: Sozialethische und sozialpolitische Schriften. Aus dem theologisch-religionsphilosophischen Werk ausgewählt, eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen. Tübingen 1952. Arnolds Verhältnis zur Utopie kann vor allem im Umfeld Weigelschen Denkens genauer bestimmt werden; die Abhängigkeiten des radikalen Pietisten nicht nur von Paracelsus, sondern von der ganzen naturmagischen Tradition, deren Autoritäten im Auktionskatalog sehr zahlreich vertreten sind, müßten ebenfalls genauer untersucht werden. Vgl. dazu und mit dem Hinweis auf die Emblematik (Anm. 10) u. a. ‚Poetische Lob= und Liebes=Sprüche‘ (Anm. 8), S. 256, XXVIII. „Auff ein artzney=gefäß. Der weißheit safft Giebt lebens=krafft: Drum hilff mir nur Magiae Cur.“ Allgemein zu den Jesuiten vgl. Anm. 4. Vgl. Anm. 4 sowie für das Mittelalter Eckart Conrad Lutz: Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters. Berlin / New York 1984. Zu Jeremias Drexel: Karl Pörnbacher: Jeremias Drexel. Leben und Werk eines Barockpredigers. München 1965. Drexels mehrmals, auch in einer deutschen Übersetzung erschienene ‚Rhetorica caelestis seu attente precandi scientia‘ war ein Standardwerk der Geist- bzw. Gebetsrhetorik, auf das ich eingehe in: Hanspeter Marti: Der Dialog mit Gott im Gebet. Die ‚Rhetorica caelestis‘ des Jesuiten Jeremias Drexel. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Teil 2. Hg. von Dieter Breuer u.a. Wiesbaden 1995, S. 509–521. Vgl. Arnolds Hinweis auf Drexel in der Autorenliste der ‚Mystischen Theologie‘ (Anm. 5), S. 495, „Drexelii Schrifften Lateinisch und Teutsch.“ Jeremias Drexel: Dess Zungen Schleiffers Oder Brinnenden Welt=Kugel Ander Thail. […] durch M. Joachim Meichel verteutscht. München 1631, S. 279f.

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Die drei Stellen des Lukasevangeliums, die Arnold den Predigten zugrundegelegt hat, werden von ihm durchweg als mystische Lehrtexte interpretiert. Die Predigt, Medium einer allgemeinverständlichen Verkündigung mystiktheoretischer Postulate, will den Gläubigen die unio mystica einerseits durch das äußere Wort, anderseits aber auch – mit dem Hinweis auf die Grenzen seiner Mitteilungskraft – durch einen Appell an die Erfahrung nahebringen. Indem die äußeren Formen des Gottesdienstes als taugliche Grundlagen der mystischen Verkündigung anerkannt werden, hat Arnold den Standpunkt einer radikalen Ablehnung der kirchlichen Institutionen verlassen und zu einer gemäßigteren, gleichzeitig aber auch wirkungsvolleren Haltung zurückgefunden. Hinsichtlich des Anspruchs der mystischen Lehre auf Gültigkeit macht er aber nach wie vor keine Konzessionen. Am 10. Juni 1700 hat die kurfürstliche Regierung die von den Magdeburger Landständen am 24. April desselben Jahres vorgebrachte Bitte abgelehnt, Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie durch die magdeburgische Regierung verbieten zu lassen.22 Dem Berliner Regierungsgremium gehörte auch der Pietistenfreund Paul von Fuchs, Vorsteher des Kirchen- und Schulwesens, an, dem Arnold das Predigtbändchen in Dankbarkeit zueignet. Am 4. Juli 1700, als zeitlich erste also, hat er die dann an zweiter Stelle veröffentlichte Predigt23 in der Schloßkirche von Quedlinburg gehalten. Der Text bezieht sich auf die Bergpredigtstelle „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36). Die Liebe des Menschen zu Gott, ein selbst in der sündigen Seele noch vorhandener Rest an Vollkommenheit, ein göttlicher Liebesfunken, der durch den Einfluß des Heiligen Geistes zu einem großen Feuer wird, reinigt den Gott gehorsamen Gläubigen von den Begierden, Affekten und Lastern wie Zorn, Hochmut, Neid, Argwohn und Geiz. Durch die Gottesliebe wird er auch aus den Fallstricken der Vernunft befreit und aus dem natürlichen Verderben heraus-, in den ursprünglichen Zustand der Gottverbundenheit, des Friedens, der Gemütsruhe und der Unschuld zurückgeführt. Der geistige Vorgang, in dem das Telos der unio mystica erreicht wird, spielt sich, von der Biographie des Einzelnen abhängig, individuell verschieden ab. Das Gewissen, ein göttliches Sprachrohr, läutert, das heißt schwächt das Selbstbewußtsein des bußwilligen Gläubigen, um ihm durch die von den Gewissensbissen verursachte seelische Pein die gänzliche Preisgabe seiner selbst zu erleichtern. Weil dieser Bußkampf allein im menschlichen Innern, in der Abgeschiedenheit der Seele, stattfindet, muß sich das Subjekt, das die Wiedergeburt erstrebt, völlig von der Außenwelt abwenden. Im stoischen Gleichmut, mit dem es ihr begegnet, wird es den ersehnten inneren Frieden des wiedergewonnenen paradiesischen Urzustands, die göttliche Barmherzigkeit, erfahren und, davon erfüllt, diese auch den andern Menschen, ja allen Kreaturen weitergeben können. Obwohl die Quedlinburger Predigt nicht beim 22 Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preussische Staat unter Friedrich III. (I.). Göttingen 1961, S. 30f. 23 Arnold: Der richtigste Weg (Anm. 11), S. 43–77.

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Postulat einer geistlichen Vervollkommnung des einzelnen Menschen stehenbleibt, konzentriert sich Arnold dennoch stark auf die heilspsychologische Entwicklung des Individuums und weist überschwengliche Hoffnungen zurück, es lasse sich ein irdisches Friedensreich verwirklichen, das nur durch das einigende Band der Gottesliebe zusammengehalten würde.24 Das irdische Paradies, das er in der Predigt verheißt, kann, so muß er sich eingestehen, nur für eine kleine Anzahl Auserwählter Lebenswirklichkeit werden, „da die meisten sich solches himmels auf erden selbst unwürdig achten.“25 Daher bleibt die Herzensgemeinschaft der Liebenden, die alle Menschen umfassen würde, ein Idealzustand, und es ergeht an den Einzelnen der Appell, angesichts der insgesamt ungünstigen Voraussetzungen für ihre Verwirklichung, wenigstens um die persönliche Seligkeit auf Erden besorgt zu sein.26 Nicht zufällig hat Arnold in seiner Publikation die am 15. August 1700 in Aschersleben gehaltene Predigt an die erste Stelle gesetzt. Sie macht nämlich die Zuhörer in einer populären Form mit den wichtigen mystiktheoretischen Kenntnissen vertraut, will sie von der Notwendigkeit einer Bekehrung sowie der Wiedergeburt überzeugen und gibt Anweisungen, wie der Gläubige Gott in seiner Seele erfahren und im Gebet der ihn anrufenden innern Stimme antworten kann. Mehr noch als in der Quedlinburger Predigt, deren Leitgedanken z. T. fast wörtlich wiederholt werden,27 lenkt Arnold hier die Aufmerksamkeit des Publikums auf den seelischen Vorgang, der zur unio führt, wie auch auf diese selbst, indem er die Lukasstelle (19,41–48), an der Jesus die Händler aus dem Tempel jagt, zum Anlaß einer mystisch-allegorischen Ausdeutung nimmt. Die Stadt Jerusalem wird, dem sensus moralis28 entsprechend, der menschlichen Seele gleichgesetzt, die von den schädlichen Affekten und Begierden gereinigt und in einen Ruhezustand29 24 Arnold hat schon in der KKH (Anm. 2) die Möglichkeit einer Verwirklichung des irdischen Paradieses unterschiedlich beurteilt: zunächst ging er an einer Stelle von der Annahme einer Naherwartung (KKH, II, Beschl. 9, S. 1202) aus, die er dann aber bereits ein Jahr später wieder zurücknahm (KKH, IV, Beschl. 21, S. 1179). Auf die beiden Belegstellen wurde ich durch die Arbeit Ursula Kreuders (Anm. 15), S. 149f., aufmerksam. 25 Arnold: Der richtigste Weg (Anm. 11), S. 75. 26 Ebd. 27 Z. B. ebd., Quedlinburger Predigt, S. 55f., Predigt in Aschersleben, S. 2. 28 Max Wehrli: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung. Stuttgart 1984 (Ndr. 1997), S. 248, wo Jerusalem als klassisches Beispiel für die Interpretation der Bibel nach dem vierfachen Schriftsinn angeführt wird: „Jerusalem ist die historische Stadt der Juden, die mystische Stadt der Kirche, die christliche Seele, das himmlische Jerusalem als triumphierende Kirche.“ 29 In der Apologie der innern Ruhe, des Seelenfriedens, scheint sich der Einfluß der quietistischen Mystik zu zeigen, der sich Arnold gerade in den Jahren 1699 und 1700 zugewandt hat (vgl. Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, S. 198). Zum Einfluß, der vom ‚Geistlichen Wegweiser‘ Molinos ausging, den Arnold ediert hat, siehe den Molinosaufsatz in diesem Band.

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gebracht werden muß. Erneut erkennt Arnold in der „erbarmenden liebesgewalt Gottes“,30 im Mitleid, das dieser den Menschen und sie einander entgegenbringen, die Ausdrucksform der göttlichen Barmherzigkeit, einen geistlichen, das heißt guten Affekt.31 Damit erhält das innere Gleichgewicht der unio mystica eine Gefühlsqualifikation, die es sowohl mit der stoischen Anthropologie32 als auch mit der rhetorischen Affektenlehre kompatibel macht. Das Mitleid ist der wichtigste 30 Arnold: Der richtigste Weg (Anm. 11), S. 5. 31 Die ‚misericordia‘ gehört zum Grundinventar der rhetorischen Affekte (vgl. z. B. Johann Gerhard Vossius: Commentariorum rhetoricorum sive oratoriarum institutionum, libri sex, quarta hac editione auctiores, et emendatiores. Leiden 1643, wo die ‚misericordia‘ (lib. II, cap. X, S. 261–269) neben ‚ira‘, ‚lenitas‘, ‚amor‘, ‚odium‘, ‚metus‘, ‚confidentia‘, ‚pudor‘, ‚gratia‘, ‚indignatio‘, ‚invidia‘, ‚aemulatio‘ und ‚contemtio‘ vorkommt). Bisweilen wird die ‚misericordia‘, die Barmherzigkeit, als dauernder, positiver Seelenzustand von der ‚commiseratio‘, dem Mitleid als einem kurzlebigen, negativ bewerteten Affekt, unterschieden (vgl. Benedikt Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Otto Baensch. Hamburg 1967, III. Teil, Lehrsatz 18, S. 173; Hinweis aus Käte Hamburger: Das Mitleid. Stuttgart 1985, S. 47). Bis jetzt ist die Bedeutung des Mitleids für die Dichtungstheorie, insbesondere für die Poetik der Tragödie und des bürgerlichen Trauerspiels, weitgehend unabhängig von seiner wichtigen Rolle in der christlichen Tradition abgehandelt worden (vgl., außer Käte Hamburger, zu dieser von Lessing her zeitlich nach vorn ausgerichteten Perspektive auch Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980). Bei Arnold steht die ‚misericordia‘ als emotionale Grundhaltung, die moralisches Handeln maßgeblich bestimmen soll, im Vordergrund; das Mitleid wird dabei als momentane Gerührtheit durch das Leiden anderer nicht streng von der gottgefälligen barmherzigen Grundhaltung unterschieden. Obwohl Arnold, im Unterschied zu August Hermann Francke (Manuductio ad lectionem scripturae sacrae, London 1706, insbes. die im Anhang befindliche ‚Delineatio doctrinae de affectibus quatenus ad hermeneuticam spectat‘; darüber Erhard Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes. Bd. 2. Berlin 1966, S. 15–31), keine Theorie der geistlichen Affekte hinterlassen hat, bringt er diese vor allem in seinen Predigten und in den Gedichten ständig ins Spiel. Neben den hier aufgewiesenen ‚misericordia‘, ‚pudor‘, ‚confidentia‘ und vor allem ‚amor‘ ist, abgesehen von den schädlichen Affekten und den Lastern, immer wieder von der Sanftmut (lenitas) die Rede. Sie paßt zum innern Frieden, den Arnold propagiert. Erst die Analyse der einschlägigen Arnoldschriften wird die komplizierten, weil begrifflich vielschichtigen und amorphen affektrhetorischen Implikationen freilegen, die in Arnolds Äußerungen enthalten sind. Es wird auf die Symbiose von Affektenlehre und moralischer Unterweisung zu achten sein. Zur frühneuzeitlichen Affektenlehre: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. von Johann Anselm Steiger. 2 Bde. Wiesbaden 2005. 32 Auf welchen verschlungenen Wegen die stoische und neustoizistische Tradition Arnold beeinflußt hat, ist ebenfalls erst noch zu klären. Dieser gibt in der Predigt selber einen versteckten Hinweis auf deren mögliche Einwirkung, wenn er betont: „Ja die heyden haben viel von der gemüths=ruhe gar bedencklich ausgedruckt / welches wol die sogenannte Christen beschämen solte.“ (Der richtigste Weg, Anm. 11, S. 18). Schon Seeberg (Anm. 3) hat zum Verhältnis Arnolds zur Stoa einige Thesen aufgestellt (S. 160f.), die allerdings genau überprüft werden müßten.

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Indikator der christlichen Nächstenliebe, der geglückten imitatio Christi und, von Arnold weniger deutlich hervorgehoben, eines glücklichen und harmonischen menschlichen Zusammenlebens. Das innere Jerusalem, wie es unsere Predigt im Anschluß an die Lukasstelle auslegt, ist ein Topos des mystischen Spiritualismus und könnte ohne irgendeinen Abstrich aus Valentin Weigels Traktat Vom Ort der Welt übernommen sein. Dort heißt es nämlich: „Danach ist auch ein jeder Gläubige ein Paradies Gottes, eine Wohnung und Tempel und das himmlische Jerusalem. [...] Also ist das Paradies oder Christus oder das Reich Gottes nicht außerhalb uns, sondern in uns.“33 Mir erscheint fraglich, ob die hier betrachteten Predigten, so orthodox-gemäßigt Widmung und Vorrede tönen, tatsächlich als Dokumente einer mit ihnen überwundenen radikalen Lebensphase Arnolds gelesen werden dürfen.34 Daß er nun die kirchliche Institution, einschließlich der Predigt als Mittel zum Zweck der mystischen Verkündigung braucht, ist jedenfalls nicht unbedingt ein Zeichen eines grundsätzlichen Sinneswandels; es können auch pragmatische Einsichten und pädagogische Absichten zu dieser Neueinschätzung der Amtskirche geführt haben. Die letzte, am 3. Oktober 1700 in Halberstadt gehaltene Predigt stellt mit ihrer Kritik des Hochmuts (superbia) und der Apologie der Demut (humilitas) ein Laster einer christlichen Grundtugend gegenüber. Das Bibelwort aus Lukas 14,11 „Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ erlaubt es, die unio mystica als affektive Grundhaltung genauer, nicht nur vom resultierenden Gefühl, dem Mitleid, sondern auch noch von der Demut als von ihrer Tugendvoraussetzung her positiv zu bestimmen. In der Demut und im Mitleid35 teilt sich die göttliche Liebe dem 33 Valentin Weigel: Vom Ort der Welt. Ausgewählte Werke. Hg. von Siegfried Wollgast. Stuttgart u.a. 1978, S. 303. Aus dem Traktat ‚Vom Ort der Welt‘ wird in der KKH (Anm. 2) (S. 1110; vgl. Anm. 16, hier auch allgemein zum Einfluß Weigels auf Arnold) zitiert, und er gehört zu den Werken Weigels, die Arnold nachweisbar besessen hat (Catalogus, Anm. 1, S. 356). 34 Insbes. Franz Dibelius: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Berlin 1873, S. 139, spricht von einer veränderten Haltung Arnolds: „Er hatte den Fehler und die schädlichen Folgen seiner bisherigen Schroffheit eingesehen.“ Büchsel (Anm. 29), S. 118, stellt fest, daß sich vom Ende des Jahres 1700 an die Zeichen für Arnolds Wandel zu mehren beginnen; die Predigten gehörten demnach, da sie vor diesem Zeitpunkt gehalten wurden, genau genommen noch nicht zu den Zeugnissen, durch welche eine solche Sinnesänderung dokumentiert wird. 35 Die beiden Indikatoren der göttlichen Liebe, Demut und Mitleid resp. Barmherzigkeit (zum Mitleid vgl. Anm. 31), verdienen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tradition, die ihre Bedeutung begründet, Beachtung. Die Schriften der Kirchenväter sind auch in dieser Hinsicht wichtige, in ihrer Wirkung auf Arnold bis anhin jedoch zu wenig beachtete Quellen. – Parzival hat es unterlassen, die Mitleidsfrage zu stellen, und in der Unterweisung, die ihm von Ritter Gurnemanz zuteil wird, nehmen die beiden Eigenschaften einen wichtigen Platz ein: „iuch sol erbarmen nôtec her: / gein des kumber sît zu wer / mit milte und mit güete || vlîzet iuch diemüete.“ (Wolfram von

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Wiedergeborenen mit; beide bilden sie das moralisch-affektrhetorische Fundament von Arnolds spiritualistischer Sprachauffassung und seiner geistlichen Lebensführung. In einem lebenslänglichen Prozeß der Selbsterniedrigung, der immer wieder zu Rückfällen in eine nur scheinhafte Demut führt und von einer strengen Gewissenserforschung begleitet ist, durchläuft der Gläubige verschiedene Stufen der geistlichen Erhöhung, ohne jeweils aber ganz an das Ziel, in einen Zustand vollständiger innerer Ruhe, zu gelangen.36 Immer wieder wird er durch die Erfahrung des Hochmuts beschämt (pudor),37 und stets kann er wieder neues Vertrauen (confidentia)38 zu Christus fassen, der den auf die innere Stimme Hörenden der Wiedergeburt im Geiste entgegenführt. Deutlicher als in den beiden ersten Predigten betrachtet Arnold hier die unio mystica als einen Seelenzustand, der selbst von den Erleuchteten nur annähernd und auch nur zeitweise erreicht werden kann, und sieht den mystischen Vorgang nicht als einen linearen Prozeß des geistlichen Fortschritts. ‚Confidentia‘ und ‚pudor‘ sind die spirituellen Affekte, die das Gemüt des Gläubigen nie ganz zur Ruhe kommen lassen und es im Zustand innerer Bewegtheit erhalten. Arnold hat damit zwar die Position eines ‚mystischen Realismus‘ aufgegeben, der die empirische Faktizität der unio betont, nicht aber die Verkündigung eines in gradueller Annäherung an die Idee wenigstens temporär erreichbaren irdischen Paradieses. Welche Folgerungen lassen sich nun aus der Kurzinterpretation der drei Predigten im Hinblick auf das Verhältnis Arnolds zur Utopie ziehen? Ich fasse die Interpretationsergebnisse zunächst in drei Thesen zusammen und beziehe diese gleich auf unsere Fragestellung: 1. Arnold lokalisiert das wiedergewonnene Paradies im Innern der menschlichen Seele, transformiert also die ideale Landschaft des Gartens Eden in einen geistigen Idealzustand, der – trotz Allegorese – durch sinnliche Prädikate nicht eigentlich erfaßt werden kann. 2. In der ersten Predigt evoziert Arnold kurz die Idee einer durch die Nächstenliebe der Erleuchteten zusammengeschweißten Herzensgemeinschaft, ohne aber an deren Verwirklichung zu glauben. Die postulierte Gemeinschaft bezeichne ich als utopisch, einerseits aufgrund der von ihm selber eingestandenen Nichtrealisierbarkeit, anderseits weil er sie sich als eine geschichtlich-innerweltliche vorstellt. Eschenbach: Parzival. Bd 1: Buch 1–8. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch; übersetzt von Wolfgang Spiewok. Stuttgart 1981, 3, 170, v. 25–28). 36 Arnold: Der richtigste Weg (Anm. 11), S. 99: „Denn die selbsterniedrigung nach ihren unzehlichen arten und stuffen / wird von Christo in den seinigen fortgesetzt / so lange noch ein stäublein vom alten menschen / so zu sagen übrig ist / und also durch das gantze leben. Jch will von tiefferen und subtileren stuffen nicht gedencken: sondern nur an denen grossen heiligen zeigen / wozu man sich dissfalls zu resolviren habe.“ 37 Ebd., S. 96. 38 Ebd., S. 90.

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3. In der letzten Predigt bleibt für Arnold selbst das innere Paradies ein nicht realisierbarer Zustand und wird dadurch ebenfalls utopisch. So wie Arnolds Sprachauffassung, seine Kritik am äußern Wort und an der Unzulänglichkeit der vom Menschen hervorgebrachten Rede, dem Konzept der Geistrhetorik entspricht, so könnte für eine analoge Bestimmung von Arnolds Verhältnis zur Utopie der Begriff der ‚spirituellen‘, resp. der Geistutopie eingeführt werden. Ich möchte den Neologismus zur Bezeichnung dieses Grenzfalls einer Utopie nicht in die Utopiediskussion einbringen, sondern den in der Forschung gängigeren Begriff der Zeitutopie übernehmen. Damit wird, in Ergänzung zur Raumutopie, wie sie die fiktiven Idealstaaten darstellen, an das utopisch-eschatologische Potential der Bibel erinnert, das im anschaulichen Paradiesesmythos wie im Reich des Geistes am Ende der Zeit zum Ausdruck kommt.39 Arnold hat innerweltliche Idealzustände im Auge, verlegt den Ort der Glückseligkeit also nicht wie die reine Eschatologie in ein transzendentes Jenseits. So rückt er zwar sein Konzept näher an die weltliche Utopie heran, von der es sich aber durch das gänzliche Fehlen von Institutionen gleichzeitig doch stark abhebt. Der Hin39 Ich übernehme im wesentlichen den erweiterten, das ganze Spektrum von Raum-und Zeitutopie umfassenden Utopiebegriff von Sven-Aage Jørgensen: Utopisches Potential in der Bibel. Mythos, Eschatologie und Säkularisation. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hg. von Wilhelm Vosskamp. Bd. 1. Stuttgart 1985, S. 375–401, hier S. 380, wo es heißt: „Es gibt in der frühen Neuzeit deutlich einen Fächer von utopischen Gattungen, dem ein Fächer von utopischen Haltungen entspricht. Am einen Ende Eschatologisches/Chiliastisches, das sich in der Aktualisierung (Predigt, Kirchenlied, Visionen, Sendbriefe usw.) des utopisch-mythischen Potentials der Bibel äußerte, und die Zeitdimension typologisch/prophetisch aktualisierte: Garten Eden – Neues Jerusalem; Sündenfall – Gegenwart; Tausendjähriges Reich – Parusie. Am andern Ende das Entwerfen fiktiver idealer Staaten als Gegenbilder zu der jetzigen Ordnung [...].“ Damit wende ich mich gegen die in der Utopieforschung vorherrschende Meinung, wonach die Geschichte der Gattung mit der Raumutopie von Thomas Morus beginne (vgl. Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie. Stuttgart 1974; Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 1981). Auch Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989, geht von demselben gattungstheoretischen Vorverständnis aus. Dieses erhält bei ihm durch die an sich durchaus gerechtfertigte Interpretation der ‚Kunstkammer‘ als einer Ausdrucksform utopischen Denkens neue Nahrung. – In Arnolds Buchkatalog (Anm. 1, S. 360) figuriert auch der Roman des arabischen Philosophen Ibn Tufail (Abu Bakr, um 1115–1185), der unter dem Titel ‚Philosophus autodidactus‘ sehr bekannt geworden ist und in welchem ein auf einer entlegenen Insel ausgesetzter Knabe zu den höchsten, göttlichen Erkenntnissen gelangt (Hinweis von Friedrich Niewöhner). Dieses Zeugnis ist, gerade wegen der Fragwürdigkeit der von Morus’ Raumutopie maßgeblich hergeleiteten Gattungskonzeption, vorzüglich geeignet, auch die Frage nach dem Verhältnis des Mittelalters zur Utopie einmal mehr grundsätzlich zu stellen.

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weis auf die Zeitutopie ist, abgesehen davon, auch deshalb sehr notwendig, weil es gegen diesen Utopietypus grundsätzliche Einwände gibt. In der populärwissenschaftlichen Literatur zur Utopie werden die Abgrenzungen, von denen meine Darlegungen in kritischer Absicht ausgegangen sind, ohne jede Begründung weiter kolportiert: Der Utopist „wartet nicht demütig darauf, daß das Gnadenreich von oben auf ihn herabbricht: Er schafft selber etwas.“40 Es gibt aber auch in der professionellen Utopieforschung eine offenbar noch wirkungsmächtige Strömung, die auf einer möglichst strengen Scheidung von eschatologischem und utopischem Denken besteht. Für Wilhelm Kamlah ist die Utopie eine Unternehmung der philosophischen Vernunft, die Eschatologie eine solche des Glaubens, kritisiert der Utopist mangelhafte Institutionen und stellt diesen bessere gegenüber, während der Eschatologe Institutionen als irdische Verfallprodukte grundsätzlich ablehnt.41 Die pietistischen Wunschträume sind für Kamlah Zwitterprodukte, in denen sich Chiliastisches mit Utopischem mischt.42 Dieses und ähnlich lautende Verdikte haben den Pietismus – von den bekannten Ausnahmen, der Insel Felsenburg43 und Sinolds Die glückseeligste Insul auf der gantzen Welt44 abgesehen – zu Unrecht ins Abseits der Utopieforschung gedrängt. Wie schon Alfred Doren45 hat Reinhart Koselleck die für die Utopiegeschichte folgenschwere Behauptung aufgestellt, die Zeitutopie habe erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Zukunftsroman L’an 2440 von Louis-Sebastien Mercier die Raumutopie abgelöst.46 Die These, daß 40 Carna Zacharias: Wo liegt Utopia? Nur wer träumt, ist Realist. [München] 1985, S. 21. 41 Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit. Mannheim / Wien / Zürich 1969, S. 31f. Hier heißt es u.a.: „Vergleichen wir nunmehr Eschatologie und Utopie, so dürften wir nicht mehr in die Versuchung kommen, das eine mit dem anderen zu verwechseln.“ (S. 31). 42 Ebd., S. 32f. 43 Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Stuttgart 1979. Vgl. dazu Wilhelm Vosskamp: ‚Ein irdisches Paradies‘: Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731–43). In: Literarische Utopien von Morus [!M.] bis zur Gegenwart. Hg. von Klaus L. Berghahn und Hans Ulrich Seeber. Königstein/Ts. 21986, S. 95–104. 44 Damit hat sich recht ausführlich Stockinger (Anm. 39) beschäftigt, der auf die Schwierigkeit Sinolds hinweist, das im Roman unter dem Diktat des Leistungsprinzips stehende Arbeitsethos mit der generell weltfeindlichen Haltung, die immer wieder durchschimmere, in Einklang zu bringen (S. 304). Eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse propagiere Sinold nicht (S. 342). 45 Alfred Doren: Wunschräume und Wunschzeiten. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924–1925. Hg. von Fritz Saxl. Leipzig / Berlin 1927, S. 158–205. „Den einzigen Vorläufer dieser in die Zukunft projizierten Idealbilder in vormarxistischer Zeit bildet, soviel ich sehe, die 1772 erschienene, mir nur aus Zitaten bekannte Utopie von Mercier L‘an 2440.“ (S. 204 Anm. 67). 46 Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie. In: Utopieforschung (Anm. 39), S. 1–14. Braungart (Anm. 39), der an Kosellecks These grundsätzlich festhält, verlegt den Anfang der Verzeitlichung utopischen Denkens, das für ihn seinem Romanhaft-

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im 16. Jahrhundert die spiritualistisch konzipierte Zeitutopie von der letzteren etwas in den Hintergrund gedrängt wurde, ist nicht weniger wahrscheinlich. Wer den mystischen Spiritualismus der frühen Neuzeit wie das utopische Potential im christlichen Denken überhaupt der Aufmerksamkeit der Utopieforschung empfehlen will, kann sich freilich auf Ernst Bloch berufen, der sich an einer Stelle in Atheismus im Christentum emphatisch äußert: „So jedenfalls ist die kostbarste christliche Mystik, durch und durch ergreifend, topisch-neu, utopisch-geladen mit dem Funken, der nicht untergeht.“47 Solche Aussagen hätten der zu sehr auf Idealstaaten fixierten Utopieforschung einen wichtigen Denkanstoß geben und ihr schon viel früher zu der längst fälligen Horizonterweiterung verhelfen können. Vielleicht tragen meine provokanten Bemerkungen zur Belebung der Diskussion über das Verhältnis des Pietismus und der Pietismusforschung zur Utopie bei.48 Die zeitutopisch-spirituellen Anklänge in Arnolds Werk hatten aber auch eine politische Relevanz: die Liaison zwischen dem radikalen Pietisten und dem preußischen Staat49 spricht gegen eine revolutionäre Sprengkraft, die in Arnolds Äußerungen gelegen hätte. Dieser hatte freilich allen Grund, sich Berlin gegenüber als loyaler Untertan zu verhalten. Die Konzentrations- und Gehorsamspflicht, zu der Arnold die Gläubigen dem Allmächtigen gegenüber verpflichtet, die Abkehr von der Welt, die er propagiert hat, und die daraus hervorgehende Verinnerlichung und Vergeistigung des Lebens führen, konsequent befolgt, zu einer völligen politischen Gleichgültigkeit. Arnold hat als radikaler Pietist zu einer Festigung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen, wenn auch nicht aller kirchlichen Ordnungen beigetragen und ein vielleicht lehrreiches Beispiel dafür gegeben, wie inneres Paradies und durchaus verbesserungsfähige politische Wirklichkeit in Frieden nebeneinander bestehen können. Hat die apolitische, spirituelle Utopie einer geistigen Vervollkommnung in den folgenden Jahrhunderten nicht etwa breite Bevölkerungsschichten in einer säkularisierten Form, ich erinnere vor allem an das sog. Bildungsbürgertum,50 nachhaltig im Denken und leider vielleicht

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Werden gleichkommt, auf Schnabels ‚Insel Felsenburg‘ zurück (S. 14); die Zeitutopie im Sinne Jørgensens (Anm. 39) bleibt dabei diskussionslos auf der Strecke. Ernst Bloch: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Frankfurt a.M. 1973, S. 240. Vgl. dazu den Beitrag von Reinhard Breymayer: Politik aus dem Geist der Bibel: Die wiederentdeckte ‚Optima Politica‘ (Amsterdam 1660) von Hermann Jung, einem Freund von Friedrich Breckling und von Johann Amos Comenius. Edition und Bibliographie. In: Pietismus-Forschungen. Hg. von Dietrich Blaufuß. Frankfurt a.M. / Bern / New York 1986, S. 385–513. Deppermann (Anm. 22), S. 173f. Die weit ausgreifende, daher vielleicht zu gewagte Schlußbemerkung will an einen Problemzusammenhang erinnern, den schon Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 21965, zwischen dem humanistischen Leitbegriff der Bildung, seinem Weiterleben in der Mystik des Barock und zwischen der ‚Bildungsreligion des 19. Jahrhunderts‘ gesehen hat (S. 8). An Wilhelm von Humboldts Begriffsverwendung lasse sich zeigen, wie der Aufstieg des Wor-

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auch im Handeln bestimmt? Damit ist aber die Grenze zum ebenso brisanten wie lohnenden, diesen Rahmen jedoch sprengenden Thema ‚Gottfried Arnold und die Politik‘ schon überschritten.

tes ‚Bildung‘ die alte mystische Tradition erwecke, wonach der Mensch das Bild Gottes, nach dem er geschaffen ist, in seiner Seele trägt und in sich aufzubauen hat (ebd.). Nach Hegel bestehe das allgemeine Wesen der menschlichen Bildung darin, sich zu einem allgemeinen geistigen Wesen zu machen (S. 9). Gefordert wird hier, ähnlich wie bei der Verwirklichung der unio, die Preisgabe der Eigenheit, „eine Aufopferung der Besonderheit für das Allgemeine.“ (S. 10). Die theozentrisch motivierte Selbstverleugnung, wie sie die Mystik propagiert, weicht unter dem Einfluß des ‚Bildungsenthusiasmus‘ einer anthropozentrischen Variante, die das Subjekt an der Preisgabe seiner Besonderheit zugunsten einer höheren allgemeinen Subjektivität aktiver teilhaben läßt. Der selbstgefällig-stolze Bildungsbürger stellt freilich nur die Karikatur des gebildeten Menschen dar, wie er von der Anthropologie und der Pädagogik der Goethezeit entworfen wurde und der in der idealistischen Konzeption des autonomen, ‚sich bildenden‘ Subjekts die höchsten philosophischen Weihen empfing.

Die Utopie des inneren Friedens bei radikalen Pietisten In den Bibliographien zur utopischen Literatur fehlen in der Regel die radikalen Pietisten, was schon Anlass genug sein kann, sich mit den Gründen dieser Absenz und mit dem anscheinend problematischen Verhältnis der Exponenten des äußersten Flügels der pietistischen Reformbewegung zur Utopie zu befassen. Dies soll im folgenden am Beispiel eines ausgewählten Traditionsstrangs in der gebotenen Kürze, dennoch aber in der ehrgeizigen Absicht geschehen, die stagnierende wissenschaftliche Diskussion über die Gattung ‚Utopie‘ wieder in Gang zu bringen. Radikale Pietisten, von zeitgenössischen Kritikern als Schwärmer, Enthusiasten oder Fanatiker gescholten, stellten, im Gegensatz zu ihren gemäßigteren Gesinnungsgenossen, die Amtskirche und ihre institutionellen Strukturen als Satanswerk grundsätzlich in Frage.1 Sie suchten im Zustand der ‚unio mystica‘ die eigene Person zugunsten einer Konformität mit dem göttlichen Willen völlig zurückzunehmen und glaubten an eine unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes im Innern der menschlichen Seele und an den dadurch bereits auf Erden erreichbaren Frieden. Diese Hoffnung wurde gewöhnlich mit Endzeiterwartungen verknüpft, deren Erfüllung die ‚Zeichen der Zeit‘ ankündigten, als welche die entsprechenden historischen Ereignisse und Naturerscheinungen, häufig Kometen, von den chiliastischen Propheten bezeichnet wurden.2

1 Zu Begriff und Erscheinungsformen des radikalen Pietismus vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit 8, 1982, S. 15– 42; ders.: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit 9, 1983, S. 117–151; ders.: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht. Göttingen 1993, S. 391–437; ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: ebd., Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. Martin Brecht und Klaus Deppermann. Göttingen 1995, S. 107–197; Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 1990 (= Die Kirche in ihrer Geschichte. Bd. 4, Lfg. O 1), hier S. O 80–O 108: Der radikale Pietismus. 2 Eine allgemeine Einführung gibt Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot. Stuttgart u.a. 1980. Über die chiliastischen Neigungen der Pietisten geben auch Schriften von Pietismusgegnern Auskunft, z.B. [Erdmann Neumeister]: Idea Pietismi, Oder Kurtzer Entwurff Von der Pietisten Ursprung / Lehr und Glauben / Durch ein Send=Schreiben in gebundener Rede gezeiget von Orthodoxophilo. Frankfurt a.M. / Leipzig 1712 (Exemplar der Stadtbibliothek Augsburg), S. 53–55, hier S. 55: „Daher wir diesen Traum [des biblischen tausendjährigen Reichs] mit Recht verwerffen mögen.“ Zu Endzeitvorstellungen radikaler Pietisten siehe Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. Göttingen 1999, S. 187–212.

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Die verbreitete Gattungsnorm der ‚Utopie‘ ist vom gleichnamigen Werk des Thomas Morus abgeleitet und orientiert sich an den rationalen Konstrukten der Staatsentwürfe der von der Utopia begründeten Gattungstradition.3 Daher wird ein um eschatologische Konzepte erweiterter Utopiebegriff, wie er hier vertreten wird, in der Regel ohne Begründung abgelehnt und die von Menschen erdachte Utopie von dem durch göttliche Offenbarung bewirkten Endzeitzustand streng geschieden. Vom Verhältnis der radikalen Pietisten zur Utopie kann aber positiv nur dann die Rede sein, wenn der, obwohl durch eine breite communis opinio abgesicherte, enge Utopiebegriff durch den hier postulierten umfassenderen abgelöst wird.4 Dies kann im Rückgriff auf bekannte Gewährsleute geschehen. Karl Mannheim unterschied verschiedene Stufen des neuzeitlichen utopischen Bewußtseins, das mit der von Thomas Müntzer beeinflussten Richtung der Täuferbewegung einsetzte.5 In ihr traten, wie er behauptet, rational konzeptlos, ekstatisch-orgiastische Energien aus tiefen Seelenschichten unterdrückter Bevölkerungsgruppen nach außen und trachteten danach, die Welt umzugestalten.6 Aber Mannheim sah in der sinnlichen Wucht der revolutionären Bewegung, die ins geschichtliche Hier und Jetzt einbricht, den Gegenspieler der später entstandenen rationalen Utopie und ihres ideellen Gehalts.7 So trug Mannheim, obwohl er im frühneuzeitlichen Chiliasmus die Wurzel des utopischen Bewußtseins erblickte, selber zur Abgrenzung von eschatologischem Weltbild und Utopie bei. Ernst Bloch, auf den er sich bei seiner eigenen Begriffsbestimmung beruft, sagt Mannheim, habe im Müntzer-Buch dank seiner „innere[n] Affinität zum Dargestellten das Wesentliche am Phänomen des Chiliasmus am adäquatesten erfaßt [...]“.8 Bloch war es dann, der in Atheismus im Christentum das utopische Potential der Bibel aufgriff und dabei auch die eschatologischen Inhalte der Heiligen Schrift für sein ‚Prinzip Hoffnung‘ nutzbar machte.9 Ohne die Chiliasmusvorstellung Mannheims oder die gesellschaftskritisch-marxistischen Implikationen Blochs für das postulierte 3 Exemplarisch: Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 2. 4 Zum erweiterten Utopiebegriff vgl. meinen Aufsatz über ‚Die Verkündigung des irdischen Paradieses‘ in diesem Band; Barbara Hoffmann: „... daß es süße Träume und Versuchungen seyen“. Geschriebene und gelebte Utopien im radikalen Pietismus. In: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. von Hartmut Lehmann und Anne-Charlott Trepp. Göttingen 1999, S.[102]–127; dies.: „Das ganze leben und wandel war vor dem angesicht Gottes ein gebet“: Die Rezeption von Gottfried Arnolds ,Erste Liebe‘ in radikalpietistischen Gruppen. In: Gebetsliteratur der Frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit: Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden. Hg. von Ferdinand van Ingen und Cornelia Niekus Moore. Wiesbaden 2001, S. 167–178. 5 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Frankfurt a.M. 71985, S. 184–191. 6 Ebd., S. 186. 7 Ebd., S. 191. 8 Ebd., S. 185 Anm. 7. 9 Ernst Bloch: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Frankfurt a.M. 1973, hier z.B. S. 221, 255f. und 290.

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Utopieverständnis übernehmen zu wollen, sind die Leistungen beider Denker als Versuche zu würdigen, den Utopiebegriff auf die jüdisch-christliche Eschatologie und ihre Nachwirkungen auszudehnen.10 In der exegetisch-typologischen Tradition wurde mit Vorliebe vom irdischen Paradies am Anfang der Schöpfung auf die Gestalt der Welt in der Endzeit geschlossen: „Da wird in diesem Reiche der Auserwählten, und Zionsbürger das güldene Alter wiederkehren, das vor Adams Fall die Erde beglückte. Gott wird bey den Menschen wohnen, und mit ihnen umgehen. Jhre ganze Natur wird sich eredeln. Die Welt wird zu einem Paradiese werden.“11

Der Einbezug von Bibeltexten in das utopische Denken läßt sich mit den dort enthaltenen Konkretisierungen einer besseren irdischen Welt rechtfertigen. Der vorausgesetzte göttliche Eingriff verändert das menschliche Zusammenleben und die vom Menschen geschaffenen Institutionen in ähnlicher Weise wie die von den weltlichen Utopien erhobenen staats- und gesellschaftspolitischen Postulate. Am Ende des 17. Jahrhunderts kam es zu einer Inflation eschatologischen Gedankenguts, das auch in die Kirchen- und Ketzerhistorie von Gottfried Arnold, des bekanntesten radikalen Pietisten, einfloß. Daß dieser sein Hauptwerk mit dem Jahr 1688 beendete, war kein Zufall und hatte wohl eschatologische Beweggründe, ohne daß das allerdings aus den Äußerungen des Autors ganz klar hervorginge.12 Gottfried Arnold setzte sich nämlich in einer besonderen Schrift, die 1698, ein Jahr vor dem Erscheinen der ersten beiden Teile der Ketzerhistorie, herauskam, ausdrücklich mit den ‚Zeichen der Zeit‘, unter anderem mit den Hugenottenverfolgungen, auseinander.13 Er besaß eine stattliche Anzahl eschatologischer Werke,14 darunter auch ein 1690 anonym erschienenes Pamphlet, das die Zeit des Weltendes mit historischen Ereignissen der letzten beiden Dezennien des 17.

10 Wichtige einschlägige Bibelstellen sind z. B.: Jes 2; Jes 11; Mi 4,3–4; Offb. 11 Exemplarisch [Heinrich Corrodi]: Kritische Geschichte des Chiliasmus. Dritter Theil. Frankfurt a.M. / Leipzig 1783. Das Titelblatt gibt einen falschen Erscheinungsort an: Das Werk kam in Zürich bei Orell, Gessner, Füssli & Co. heraus (vgl. Thomas Bürger: Aufklärung in Zürich. Die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761–1798. Frankfurt a.M. 1997, S. 211). 12 Diese Vermutung äußert Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (Anm. 1), S. 414. 13 [Gottfried Arnold]: Die Zeichen Dieser Zeit / Bey Dem Anfang der instehenden Trübsalen / Erwogen von Einem / der damit Gute Absichten hat. Aschersleben 1698. Die Anfangsbuchstaben „G“ und „A“ von „Gute Absichten“ weisen auf den Autor hin. 14 Vgl. den Katalog von Arnolds Bibliothek: Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi, inspectoris et pastoris Perlebergensis 1714. Faksimile-Ndr. in: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 339–410.

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Jahrhunderts in Beziehung brachte.15 Eine zentrale Rolle spielen auch hier, wie bei Arnold,16 die Aufhebung des Edikts von Nantes und die sich daraus für die Reformierten ergebenden Folgen. Der Pamphletist übernimmt und kommentiert die Prophezeiung aus der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienenen Prophetie Johann Lichtenbergers.17 Aus ihr geht hervor, daß 1687 und 1688 Frankreich die Pfalz erobere, diese Gegend mit allen Greueln des Krieges heimsuche, dann aber in große Bedrängnis komme. Die Periode des Krieges werde durch die Endzeit des Friedens abgelöst.18 Dann würden die Menschen „ohne allerley Uneinigkeit und Zwietracht [...] in rechter warhafftiger Liebe unter einander [...] [leben]“ und „durch Gottes Geist in der heiligen Schrifft erleuchtet [...].“19 Die inhaltlichen Parallelen zwischen der anonymen Flugschrift und Arnolds Zeichen der Zeit sowie die chronologische Entsprechung zwischen dem Datum der erfüllten Prophezeiung und dem Terminus ad quem der Arnoldschen Kirchen- und Ketzerhistorie lassen auf einen verbreiteten Konsens eschatologischen ‚Wissens‘ schließen, auch wenn kein unmittelbarer Einfluß des Pamphlets auf diese anzunehmen ist. In diesem Umfeld konnten die radikalpietistischen Friedensutopien entstehen und verbreitet werden. Nachdem sich Arnold 1698 vom Gießener Lehramt zurückgezogen hatte, wandte er sich allmählich von der Geschichtsschreibung ab und der mystischen Theologie zu. Das Quietismuskapitel der Kirchen- und Ketzerhistorie stellte diesen Übergang zur quietistischen Mystik her, die Arnold hauptsächlich in der von der römischen Inquisition verfolgten Person des spanischen Weltgeistlichen Michael Molinos verkörpert sah.20 Im Geistlichen Wegweiser, 15 Ebd., S. 355: „Lichtenbergers und Paracelsi Propheceyung“. Der genaue Titel (der zweiten Auflage) dieser Schrift lautet: Etliche Sonder= und Wunderbahre Merckwürdige Prophezeyungen So sich auf das 1680. biß zu dem 1700ten Jahr erstrecken. Darinnen Von denen Welt=wohlbekandten und Hochgelahrten Männern / alß von Johann Lichtenbergern schon Anno 1512. zu Wittenberg / und von Doct. Philippo Theophrasto Paracelso Anno 1546. zu Saltzburg und anderen unbekandten Authoren in diesen Seculo Grosse Veränderungen entdecket werden. Darbey auch des Seel. Doct. Martini Lutheri Meynung / was er von Johann Lichtenbergers Prophezeyung gehalten. Nebenst Einer wehemühtigen Klage und Bitte derer sämptlichen Pfaltzischen und Rheinischen ruinirten Ländern und Städten / an die Allerhöchste und unendlichste Majestät / wieder die allergrausamsten Proceduren Ludewigs des XIV. Königs von Franckreich. Zu diesen gefährlichen betrübten Zeiten wohlmeinend auff vielfältiges Nachfragen / zum andern mahl zum Druck befordert. Und mit einer Explication der obscuren Nahmen und wörther verwahret. Jm Jahr Christi 1690. (Exemplar der Stiftsbibliothek St. Gallen, Sign.: HH m V 12). 16 Arnold: Die Zeichen Dieser Zeit (Anm. 13), S. 26f. 17 Catalogus (Anm. 14), S. 357: „Lichtenbergers Weissagungen durch Lutherum edirt / und andere alte Sachen“. 18 Prophezeyungen (Anm. 15), S. 10. 19 Ebd., S. 7. 20 Auf die Beziehung zwischen Michael Molinos und Gottfried Arnold gehe ich im Aufsatz ‚Der Seelenfrieden der Stillen im Lande‘ in diesem Band ein.

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dem wichtigsten Werk des Spaniers, das Arnold erstmals 1699 in einer deutschsprachigen Übersetzung edierte, wird das metaphorisch aufgefaßte Paradies als höchster Glückszustand in die menschliche Seele verlegt und dem Leser gezeigt, wie er den Seelenfrieden der unio mystica erlangen kann. Die Utopie des inneren Friedens können die Gottesfreunde individuell verwirklichen, wenn sie sich dem Einfluß des Heiligen Geistes öffnen, der göttlichen Stimme in ihrem Herzen Raum schenken und den eigenen Willen preisgeben. Arnold nahm dort, wo er vom ‚Seelengarten‘ spricht, die Vorstellung des inneren Paradieses auch in seine Sophienlyrik auf.21 In seinem späteren dogmatischen Werk wollte er sich aber in der Paradiesexegese weder ganz auf die von ihm bevorzugte spirituelle Deutung noch auf die des sensus litteralis festlegen lassen. An der Erbsündenlehre wie an der Wiedergeburt hielt er fest.22 Die Utopie des Friedens verwirklicht sich für Gottfried Arnold als göttliches Gnadenereignis im Innern des Menschen und strahlt von hier auf die Mitmenschen aus. Unter ‚Frieden‘ versteht er den Seelenfrieden, die innere Ruhe der Wiedergeborenen, von der auch die politische Gemeinschaft ihren Nutzen hat, vorausgesetzt, daß der Staat die praxis pietatis fördert und gegen kirchliche Anfeindungen schützt. Gottfried Arnold befaßt sich aber weder mit dem Frieden im Innern eines Staatswesens noch mit dem friedlichen Zusammenleben der Völker und Staaten noch – allgemein – mit den Aufgaben und Zielen politischer Willensbildung und Strategien. Deshalb entspricht sein Werk, utopiegeschichtlich gesehen, dem Typus einer rein spirituellen, auf geistliche Vervollkommnung des Individuums ausgerichteten biblizistischen Utopie. Von September 1697 bis Ende März 1698 war Gottfried Arnold Geschichtsprofessor an der Universität Gießen, an der Pietisten eine führende Rolle spielten.23 Dort weilte zur selben Zeit auch Johann Konrad Dippel, der bereits im Juli 1697 die Lehrerlaubnis an der philosophischen Fakultät erworben hatte.24 Er war ein Schüler des pietistischen Theologieprofessors Johann Heinrich May,25 21 Dazu der Aufsatz ‚Die Verkündigung des irdischen Paradieses‘ in diesem Band, S. 77– 91. 22 Gottfried Arnold: Wahre abbildung des inwendigen Christenthums / nach dessen Anfang und grund / fortgang oder wachsthum / und ausgang oder ziel in lebendigen glauben und gottseligen leben aus denen zeugnißen und exempeln der gottseligen alten zur fortsetzung und erläuterung der Abbildung derer ersten Christen dargestellet. Frankfurt a.M. 1709, S. 31f. 23 Schneider: Gottfried Arnold in Gießen. In: Gottfried Arnold (Anm. 14), S. 267–299, hier S. 280. 24 Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (Anm. 1), S. 416: Der Titel von Dippels Pro-loco-Dissertation lautet: Duodecas postulatorum philosophicorum circa facultates mentis humanae. 25 Zu May vgl. Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1 (Anm. 1), S. 279–389, hier S. 341–343; Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in HessenDarmstadt. Gießen 1984. Eine Monographie über May bleibt ein Forschungsdesiderat.

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unter dessen Vorsitz er schon 1692, bei seinem ersten Aufenthalt an der Gießener Universität, eine exegetische Dissertation verteidigt hatte.26 Unter dem maßgeblichen Einfluß Gottfried Arnolds, dessen Anhänger und Freund er über beider Gießener Zeit hinaus blieb, wurde Dippel ein überzeugter Pietist.27 Im Auftrag von May veröffentlichte er unter dem Pseudonym ‚Christianus Democritus‘ eine erste Streitschrift gegen die Orthodoxie und bald danach, noch während Arnolds Amtszeit, eine weitere. Das Jahr 1699, in dem die ersten beiden Teile von Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie herauskamen, galt ihm als eschatologisches Entscheidungsjahr. Vor dem Hintergrund dieser Nahzeiterwartung erschien 1700 die Schrift Christen=Stadt auf Erden ohne gewöhnlichen Lehr=Wehr= und Nehr=Stand,28 die mit den Utopien von Thomas Morus und mit Johann Valentin Andreaes Christianopolis in dieselbe Traditionsreihe gestellt wurde,29 ohne daß diese Zuordnung bis jetzt von der Utopieforschung nachvollzogen oder gar anerkannt worden wäre. Dippel legte in seinem eschatologischen Traktat Wert auf die kommende Realität der von ihm skizzierten endzeitlichen Lebensgemeinschaft.30 Diese zeichnet sich, 26 Titel: Examen historiae criticae textus Novi Testamenti a. P. Richardo Simonio vulgatae. [Gießen] 1694 (Disputation vom 16. Juli 1692). Bibliographische Angaben nach: Hermann Schüling: Die Dissertationen und Habilitationsschriften der Universität Gießen 1650–1700. Bibliographie. München u.a. 1982, Nr. 1746, S. 313. 27 Zur Beziehung Dippel – Arnold siehe Schneider: Gottfried Arnold in Gießen (Anm. 23), insbes. S. 280f., sowie ders.: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (Anm. 1), S. 416f. (hier auch über Dippels Streitschriften in der Gießener Zeit und über die eschatologische Ausrichtung seines Werks). Vgl. auch Wallmann: Pietismus (Anm.  1), S. 96–99, hier S. 98: „Dippel ist der radikale Schüler Gottfried Arnolds.“ 28 Der ausführliche Titel lautet: Christen=Stadt auf Erden ohne gewöhnlichen Lehr=Wehr= und Nehr=Stand / Oder kurtze Doch eigentliche Abbildung derer aus dem Reich der Natur entstandenen, und im Zorn Gottes bestätigten Ordnungen, unter den Menschen=Kindern zu Babel, die Christi Nahmen führen, Samt Einer unpartheyischen Untersuchung des, auf diese Ordnunge gegründeten, befleckten und unvernünfftigen Gottesdiensts, im Gebett / Fürbitt, und Dancksagung [...]. Unserem Beitrag liegt der Wortlaut dieser Schrift zugrunde, wie er im ersten Band der Edition der Werke Dippels posthum 1747 in Berleburg erschien. Diese Ausgabe trägt den die Friedensthematik in den Mittelpunkt stellenden Titel: Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen, Durch die Publication der sämtlichen Schrifften Christiani Democriti, Jn Drey Bänden [...]. Bd. 1. Berleburg 1747, S. 515–555. Eine Inhaltsangabe der ‚Christen=Stadt‘ gab bereits Heinz Renkewitz: Hochmann von Hochenau (1670–1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus. [Breslau 1935] (Ndr. Witten 1969), S. 44–46. Arnolds Bibliothekskatalog (Anm. 14, S. 363, 367, 373, 388, 391, 403, 404 und 405) weist eine große Anzahl der Schriften von Dippel nach, auch die ‚Christen=Stadt‘ (S. 405: „Democriti Christen Stadt auf Erden / 1700“). 29 So Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (Anm. 1), S. 417f. 30 Dippel hatte seine Schrift wegen des Realitätsanspruchs ausdrücklich nicht als ,Utopie‘ eingestuft: „Die unachtsame Spötter aber, welche davor halten, es werde so in Ewigkeit auf Erden bleiben, wie es jetzund ist, mögen sich unterdessen auf ihre Gefahr damit kützlen, daß dieses beschriebene Reich Christi in Utopia, (nirgendwo) oder im Schla-

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im Unterschied zu den herkömmlichen politischen Staatsentwürfen, durch das Fehlen jeglicher kirchlicher und weltlicher Institutionen, durch die Aufhebung der sozialen Stände und die Verschmähung des Eigentums aus. Im unmittelbaren Kontakt mit Gott, durch Gebet und Fürbitte, gewinnen die ihre Eigenart, ihre ‚Eigenheit‘ preisgebenden Einzelnen und die menschliche Gemeinschaft Kraft und Stärke. Dippel bereitet die weltlichen Obrigkeiten und den Klerus, deren unchristliche Machenschaften er scharf verurteilt, warnend auf das kommende Gnadenreich vor, in dem sie überflüssig würden. Im Gegensatz zu Gottfried Arnolds nicht detailliert entfalteten eschatologischen Vorstellungen enthält Dippels Schrift eine konkrete Friedensutopie mit unübersehbar politischen Dimensionen und mit einem unmißverständlich ausgesprochenen Verdikt gegen den Krieg.31 Hier ging Dippel noch weit über die Idee eines innerstaatlich konfessionellen Friedens hinaus, die er als überzeugter Vertreter religiöser Toleranz in einer nach 1700 publizierten, pragmatischer ausgerichteten Schrift vertrat.32 Seine Christen= Stadt dagegen vereinigte das Postulat der besseren säkularen Welt mit den prospektiv spirituellen Inhalten der biblischeschatologischen Vision. Im Gnadenzustand des geoffenbarten Friedens, den Dippel herannahen sah, sollte mit den ständischen und politischen Differenzen auch das den natürlichen Dingen innewohnende Konfliktpotential verschwunden sein. Mit Dippels Entwurf einer göttlich inspirierten Liebesgemeinschaft der Menschen wird das stärker anthropo-theologische, auf das Individuum bezogene Arnoldsche Konzept der Gnadenwirkung33 auf das soziale und politische raffenland müsse gesucht werden, und daß es süsse Träum und Versuchungen seyen, womit jetzt die müßige Grillenfänger sich schleppten.“ In: Dippel: Christen=Stadt (Anm. 28), S. 527. 31 Ebd., S. 526: „Dann es ist, zum Exempel, schlechter Dings unmöglich, daß ein Gemüth, in welchem Christus die völlige Herrschaft hat, solte einwilligen können in Krieg und Blutvergiessen, und andere dergleichen affairen, (Geschäfften) die den Regeln Christi und seinem Reich gerad entgegen lauffen; ob sie schon unter dem Reich der Natur und des Gesetzes oder Zorns Ordnungen GOttes sind.“ Zum friedensutopischen Gehalt vgl. ebd., S. 549. 32 Es handelt sich um ‚Ein Hirt und eine Heerde‘ (1706). Dazu Hans Schneider: Konfessionalität und Toleranz im protestantischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Konfessionalisierung vom 16.–19. Jahrhundert. Kirche und Traditionspflege. Referate des 5. Internationalen Kirchenarchivtags Budapest 1987. Hg. von Helmut Baier. Neustadt a.d. Aisch 1989, S. 87–106, hier S. 95. 33 Programmatisch dicht, auf die an einen Geistlichen gestellten Anforderungen bezogen, in: Gottfried Arnold: Die geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten auff vielfältiges Begehren ans Licht gestellet. Halle 1704, S. 249, hier über die innere Befriedung: „Sintemal eine Seele / nach gehörigem Streit und Sieg über die Feinde und nach treuer Demüthigung Gottes / allgemeine Liebe gegen alle Menschen ins Hertz bekömt / zu treuen Mitleiden gegen alle / ohne Unterschied und Partheyligkeit. Auch muß eine solche Seele bereits ihren göttlichen Frieden in ihr selbst gefunden / und also das ewige Leben in Befreyung vom Zornfeuer und

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Zusammenleben ausgeweitet. Dieses wird von oben, durch unmittelbaren göttlichen Eingriff, beeinflußt und geregelt. Der geistlich vollkommene Mensch ist, wie bei Gottfried Arnold, nicht autonom handelndes Subjekt, nicht ‚animal rationale‘ mit eigenem Verstand und Willen, sondern das Werkzeug des Heiligen Geistes, bloßer Übermittler und, paradox ausgedrückt, passiver Mit-Verwirklicher der göttlichen Offenbarung. Deshalb wohl mag es befremden, wenn die von Dippel geschilderte eschatologische Realität zusammen mit den fiktiven Staatsgebilden der allgemein anerkannten frühneuzeitlichen Utopien unter demselben Gattungsbegriff vereinigt wird. Wie sich aber auch an der Wirkung der heilsgeschichtlich begründeten gesellschaftlichen Entwürfe der radikalen Pietisten zeigen läßt, gehören beide Typen einer besseren Welt, der eschatologisch-utopische und der säkular-utopische, gattungsgeschichtlich zusammen, so verschieden sie auch im Ansatz sind. Dies versuche ich nun am Werk eines weniger bekannten Autors, an den Utopien Johann Friedrich Bachstrohms (1686–1742),34 nachzuweisen. Bachstrohm nahm im Spannungsfeld von radikalem Pietismus und Aufklärung eine merkwürdige Zwischenstellung ein, stand aber, vor allem in den späteren Lebensjahren, der Aufklärung weit näher als der radikalen Richtung der pietistischen Frömmigkeitsbewegung. Bachstrohm, dessen Herkunft nicht genau zu bestimmen ist, wurde am 24. Dezember 1686 im polnischen Städtchen Rawitsch geboren, besuchte zunächst das Elisabethengymnasium in Breslau und absolvierte danach an der Universität Jena,35 vielleicht auch in Halle, ein Theologiestudium.36 1717 wurde er Professor am Gymnasium in Thorn. Noch im selben Jahr machte er sich mit einer Predigt, in der er die orthodoxe Geistlichkeit angriff, und wegen pietistischer Zusammenkünfte, die er im Gymnasium organisierte, sehr unbeliebt.37 Im Sommer 1720

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starcken Eiffer empfangen und geschmecket haben / ehe sie zu einer rechten Stille / Harmonie und Sänfftigkeit ihrer Gemüthsbewegungen kömmt.“ Bibliographische Nachweise zu den Erscheinungsjahren 1945–1990 in: Heiner Schmidt: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Duisburg 1994, S.  387. Kurzbiographien: Herbert Schönebaum: (Art.) Bachstrom (Bachstrohm), Johann Friedrich. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Begr. von Wilhelm Kosch. Erg.Bd.  1. Bern 31994, S. 503; Neue Deutsche Biographie. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 366f. Ausführlich: Hermann Ullrich: (Art.) Bachstrom, Johann Friedrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd.  55: Nachträge bis 1899. Leipzig 1910, S. 664–667. Beste, weil quellennahe Darstellung von Leben und Werk: Hermann Ullrich: Johann Friedrich Bachstrom. Ein Gelehrtenleben aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 16, 1909, S. 28–58 und S. 321–349 (hier mit Werkverzeichnis, S. 345–349). Im März 1713 disputierte Bachstrohm unter dem Präsidium von Karl Friedrich Buddeus, einem Bruder von Johann Franz (Dissertatio I. de officio hominis circa eruditionem acquirendam. Jena, 60 Seiten, mit Zitatnachweisen, die das geistige Umfeld der beiden Disputationsteilnehmer beleuchten). Biographische Fakten übernehme ich aus den beiden Aufsätzen von Ullrich (Anm. 34). Ullrich: Johann Friedrich Bachstrom. Ein Gelehrtenleben (Anm. 34), S. 37, dem die Predigthandschrift nicht vorlag. Diese fand ich, zusammen mit einer Verteidigungs-

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mußte er Thorn verlassen.38 1723 wurde der auch naturwissenschaftlich Interessierte in Kopenhagen zum Doktor der Medizin promoviert. Seit dem Wegzug aus Thorn hatte für ihn, da er sich auch die Jesuiten zu Feinden machte, ein unruhiges Leben begonnen, das ihn in andere europäische Länder, für eine Zeitlang sogar nach Konstantinopel führte. Anfang 1737 kam er am Hof der Fürstin von Radziwill in Litauen unter, nachdem er in Aussicht gestellt hatte, ihren Sohn, den Prinzen Hieronymus, von einem Sprachfehler zu heilen.39 Dort machte er sich auch um die Förderung der Industrie, so der Porzellan- und Glasfabrikation, verdient.40 Wegen Anklage auf Hochverrat, die von Prinz Hieronymus und seiner Umgebung ausging, wurde er ins Gefängnis gesetzt, wo er im Juni 1742 starb.41 Dem abenteuerlichen Leben Bachstrohms entspricht ein sehr vielfältiges literarisches Werk, dessen gattungsbezogenen Schwerpunkt utopische Entwürfe bilden. Die mit Land der Inquiraner betitelte Schrift ist eine inzwischen bekannter gewordene Robinsonade.42 Sie macht die Praxis religiöser Toleranz von der Auflösung kirchlicher

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schrift Bachstrohms vom 13. Dezember 1717 (Defensio ab Dn. Bachstromio facta) im Archiv des Studienzentrums der Franckeschen Stiftungen, Halle a.d. Saale (Signaturen: Predigt vom 30. November 1717: D 85, S. 1415–1425; ,Defensio‘: D 85, S. 1375–1382). Auf Bachstrohms umstrittenes Wirken in Thorn und auf den Einfluß des Pietismus in Polen werde ich an anderer Stelle zurückkommen. In den beiden Bänden der ‚Geschichte des Pietismus‘ (Anm. 1) kommt Bachstrohm nicht vor, hingegen bereits bei Eduard Winter: Die Pflege der west- und südslawischen Sprachen in Halle im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Nationwerdens der westund südslawischen Völker. Berlin 1954 (Personenregister). Eine kurze Notiz mit dem Hinweis des Scheiterns des Pietismus in Polen findet sich in: Vier Thaler und sechzehn Groschen. August Hermann Francke. Der Stifter und sein Werk. [Ausstellungskatalog] Bearb. von Paul Raabe. Halle 1998, S. 204. Ullrich: Johann Friedrich Bachstrom. Ein Gelehrtenleben (Anm. 34), S. 38. Ebd., S. 325. Ullrich: Bachstrom, Johann Friedrich (Anm. 34), S. 666. Ebd., S. 667. Sie erschien anonym unter dem Titel (nach Ullrich: Johann Friedrich Bachstrom. Ein Gelehrtenleben, Anm. 34, Werkverzeichnis, S. 348): Das Bey zwey hundert Jahr lang unbekannte, nunmehro aber entdeckte vortreffliche Land der Inquiraner, Aus der Erzehlung Eines nach langwieriger Kranckheit in unsern Gegenden verstorbenen Aeltesten dieses glückseligen Landes, Nach allen seinen Sitten, Gebräuchen, Ordnungen, Gottesdienst, Wissenschafften, Künsten, Vortheilen und Einrichtung umständlich beschrieben, Und dem gemeinen Wesen zum Besten mitgetheilet, Von A. B. C. Frankfurt a.M. / Leipzig 1736. Dieses Erscheinungsjahr bezieht sich offenbar nur auf den ersten Teil der Utopie; der zweite erschien erst 1737 (Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle a. d. Saale). Auf die Inquiraner-Erzählung gehen ein: Dietrich Naumann: Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung. Heidelberg 1977, S. 109–118; Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 83–94 (mit Titelblattfaksimile des zweiten Teils der Utopie, S. 84). Beide Autoren behandeln die Beziehung Bachstrohms zum Pietismus kaum. Lange vor Naumann und Müller wurde Herbert Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian

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Satzungen abhängig und stellt das friedliche Nebeneinander verschiedener Religionen sowie die von ihm begünstigten Früchte der Arbeit des tätigen Subjekts dar.43 Wille und Vernunft sind die Antriebskräfte, denen das vom Menschen gestaltete Paradies, das heißt die technisch und wissenschaftlich beherrschte Natur, die Existenz verdankt. Die unmittelbaren Eingriffe Gottes in die Welt halten sich in sehr engen Grenzen.44 Dennoch ist, wie angedeutet, für die Inquiraner das Innere der Seele der religiöse Kraftquell lebendigen Glaubens. Schon in früheren Jahren, als Bachstrohm in Polen als Anhänger des Pietismus zu wirken versuchte, stand er mit August Hermann Francke brieflich in Verbindung und berichtete nach Halle, „wie es in seinem Weynberge bey und zu Thoren stehet.“45 Später setzte er den Briefkontakt mit August Hermanns Sohn, Gotthilf August Francke, fort.46 Mehr Aufmerksamkeit als den seine Erwartungen vielleicht enttäuschenden Hallenser Pietisten schenkte er dem Vertreter der radikalen Richtung, Johann Konrad Dippel. Dessen Glaubensauffassung verbreitete er unter dem Pseudonym ‚Christianus Democritus Redivivus‘ durch eine Edition von Textauszügen, die er einzelnen thematischen Sammelrubriken zuordnete.47 Kurz darauf veröffentlichte er unter

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Wolff. Frankfurt a.M. 31974, S. 183f., auf Bachstrohm aufmerksam. Bachstrohm und sein Werk, das die unterschiedlichsten Wissensgebiete, literarischen Gattungen und geistigen Strömungen berührt, verdienten eine ausführliche Monographie. Bachstrohm forderte in einer besonderen Publikation: Die Liebreiche Vereinigung der drey Haupt=Religionen des Heil. Röm. Reichs, Wie solche allgemach oder Stückweise fürzunehmen sey. Vorjetzo Jn dem eintzigen Haupt=Artickel vom Heiligen Abendmahl, als dem Ersten Versuche, Zu jedermanns Prüfung aufs deutlichste und einfältigste vorgestellet. [...] [Görlitz 1731] (Titel nach Ullrich: Johann Friedrich Bachstrom: Ein Gelehrtenleben, Anm. 34, Werkverzeichnis, S. 346). Dazu auch Müller: Gegenwelten (Anm. 42), S. 90; Zitat über das inquiranische Toleranzdenken siehe ebd., S. 89. Man wird die philosophische Haltung, die hinter der Robinsonade steht, aber nicht, wie Naumann: Politik und Moral (Anm. 42), S. 116, als „aufgeklärten Deismus“ bezeichnen dürfen. Franckesche Stiftungen, Halle a.d. Saale, Studienzentrum, Archiv: Sign.: D 94: Bl. 124f. (undatierter Brief, wohl von 1717). Franckesche Stiftungen, Halle a.d. Saale, Studienzentrum, Archiv: Briefe vom 21. März 1733, vom 15. April 1733 und vom 20. Mai 1733. Christianus Democritus Redivivus. Das ist: Der zwar gestorbene, aber in seinen Schriften noch lebende und nimer sterbende Königl. Dänische Cantzeley Rath Dippel, Jn Einem summarischen Auszuge seiner ehemaligen und letztern Theologischen Schriften Denen Liebhabern der unpartheyischen Wahrheit mitgetheilet von Einem ungenannten Freunde derselben. Friedrichstadt 1736 (Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle a. d. Saale, Sign.: J b 2889). Ein Exemplar der Ausgabe Altona 1735, das ehemals im Besitz der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden war (siehe Ullrich: Johann Friedrich Bachstrom. Ein Gelehrtenleben, Anm. 34, Werkverzeichnis, S. 347), zählt, nach einer Mitteilung der ehemaligen Standortbibliothek, zu den Kriegsverlusten. Dagegen scheinen die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena sowie die Universitätsbibliothek Würzburg noch je ein Exemplar der Altonaer Ausgabe zu besitzen.

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demselben Pseudonym eine vom sensus spiritualis diktierte Paradiesexegese, das erste Produkt einer fiktiven Gruppe von drei Gelehrten, die aus einem Theologen, einem Juristen und aus dem nach seinem Tod munter weiterlebenden Dippel bestand.48 Das Dreigestirn hat sich zum Schutz vor Angriffen aus der wissenschaftlichen Zunft und aus dem Einflußbereich der Politik an einen einsamen Ort in den Schweizer Alpen zurückgezogen, wo es, in einem unterirdischen Wohnsitz geborgen, seine publizistischen Aktivitäten nach Lust und Laune entfalten, seine Werke vorbereiten und außerhalb des engen Kreises verbreiten kann. Diese winzige fiktive Gelehrtensozietät, die im Abseits der Welt, aber nicht ganz unberührt von ihr, interdisziplinär in Frieden forscht, bedarf keiner politischen Ordnung und keines staatlichen Verwaltungsapparates. In einem Dutzend schlichter Statutenartikel sind die Gesetze und Normen der Dreiergemeinschaft festgehalten. Deren Mitglieder – es dürfen nicht mehr als drei sein – haben sich vor allem durch moralische Qualitäten auszuzeichnen: „Alle diese Personen aber sollen vor allen Dingen den Ruff eines stillen und ordentlichen Lebens und sitsamen Wandels haben.“49 Zum wissenschaftlichen Programm gehört neben der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin, den Disziplinen der höheren Fakultäten, die Physik, vor allem die Erforschung der Gestalt der unterirdischen Welt, die Erkenntnis göttlichen Wirkens in der Natur.50 Die Wirkungsstätte der ständischen Elite soll, wie eine Festung, von der Außenwelt abgeschirmt sein, so, daß „weder zu Kriegs= als zu Pest=Zeit nicht so leicht jemand zu uns kommen könne.“51 Der Ort der Handlung wird in einen geschützten, mehr noch: in einen verborgenen und daher freien 48 Christiani Democriti Redivivi Umständliche Erzehlung, Wie es mit seinem vermeinten Tode zugegangen sey, Und Wie er nebst seiner neuen Gesellschafft jetzt in seiner Einsamkeit Den Fall Adams Und Ursprung der Sünde Und Alles Bösen Gantz anders und besser als vormahls eingesehen. Gedruckt auf dem Johannis=Berge in der Wüsten 1736 (Exemplar der Zentralbibliothek Zürich, Sign.: XXVII, 456). Dazu auch Müller: Gegenwelten (Anm. 42), S. 91–93, mit einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts, aber ohne die Brücke von Bachstrohm zum Pietismus wirklich zu schlagen. Dippel findet als Außenseiter, der auch bei „den gemäßigten hallenser Pietisten und der Herrnhuter Brüdergemeine auf Widerstand [stieß]“ (ebd., S. 91), Erwähnung. Bachstrohms Gelehrtenutopie findet sich an versteckter Stelle in der langen, 116 Oktavseiten umfassenden Vorrede an den ‚Geneigten und Wahrheit=liebenden Leser‘. Der Akzent der Erzählung liegt auf der Schilderung des Zustandekommens der Sozietät und beim wissenschaftlichen Produkt, das aus der gelehrten Zusammenarbeit hervorgeht, nicht aber auf den Charakteren der Beteiligten. Zum Konflikt mit der Zensur siehe Agatha Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen. Ideologische Strömungen und politische Meinungen zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697–1763). Weimar 1988, S.  72–76. Zur Paradiesexegese im 18. Jahrhundert (ohne Erwähnung Bachstrohms) siehe Martin Metzger: Die Paradieseserzählung. Die Geschichte ihrer Auslegung von J. Clericus bis W. M. L. De Wette. Bonn 1959. 49 Christiani Democriti Redivivi Umständliche Erzehlung (Anm. 48), S. 75. 50 Ebd., S. 78. In der naturwissenschaftlichen Forschung der Gelehrtengruppe kommen sowohl die Neigungen Dippels als auch die Bachstrohms zum Ausdruck. 51 Ebd., S. 79.

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Raum verlegt, die Hauptbedingung für ungestörtes wissenschaftliches Arbeiten. Dieses soll sich außerhalb von Schule, Kirche und Staat abspielen, sich aber nach außen Gehör verschaffen, auf die bestehenden Institutionen und das von ihnen verwaltete Wissen einwirken: „Auch soll unserm Collegio der Nahme eines Collegii Democritaei beygeleget werden, wolte man uns aber einen deutschen Nahmen geben, so möchte man uns nennen: Die Stillen im Gebürge, jedoch wollen wir zu der übermäßigen Bosheit und Thorheit der Welt keinesweges stille schweigen, maassen wir besorgt sind, daß wo wir schweigen solten, endlich unsere Steine schreyen würden.“52

Die neue Gelehrtensozietät entfernt sich von der quietistisch-harmonisierenden Innenschau des radikalen Pietisten Arnold und wendet sich, wie die Aufklärer, dem äußeren Wort, genauer dem rationalen Argument und der Vernunft als oberster Entscheidungsinstanz auch in exegeticis zu. Der sensus spiritualis wird also bei Bachstrohm, anders als bei den Radikalpietisten, nicht vom Heiligen Geist eingegeben, sondern von der menschlichen ratio aufgedeckt. Bei Bachstrohm ist aber die Gelehrtenutopie auch und vor allem das Instrument geistlich-religiösen Fortschrittsdenkens, das Transportmittel theologischer Aufklärung im Sinn der Toleranz: „Wie glückseelig würden wir seyn, wenn [...] ein Fluß der Vergessenheit entspringen wolte, daß wir daraus trincken, und auf einmahl aller väterlichen Meynungen und Vorurteile in Religions=Sachen vergessen könnten [...].“53

Mit dem radikalen Pietisten Dippel aber teilt Bachstrohm die grundsätzliche Kritik an den etablierten, insbesondere an den gelehrten und kirchlichen Institutionen und Autoritäten. Das ‚Paradies‘ ist also bei ihm einerseits Gegenstand einer rationalen Hermeneutik und wird andererseits im moralisch-spirituellen Sinn, demnach im Grundsatz ebenso wie von den radikalen Pietisten, verstanden. Die kleine Gelehrtenrepublik sollte denn auch nicht eine Kopie des Hallenser Waisenhauses darstellen, das die Erziehung junger Menschen zum Ziel habe, sondern eher mit einer klösterlichen Einsiedelei zu vergleichen sein, „wo etliche fromme alte Leute den Rest ihres Lebens in der Stille und Ruhe zubringen sollten.“54 Bachstrohms Sozietät trägt die Merkmale eines gelehrten Seniorenklubs, die Wohnstätte die eines Altersasyls. Auffällig ist der Aktivismus dieser Altersgemeinschaft, ihr ungebrochener Wille, verändernd und gestaltend auf die sie umgebende Wirklichkeit Einfluß zu nehmen. Nichts wird hier dem Walten des göttlichen Geistes überlassen. Indem Bachstrohm mit der Erbsündenlehre, wie Dippel, auch den Determinismus der Leibnizschen prästabilierten Harmonie ablehnt, erklärt er den

52 Ebd., S. 110f. (in Anlehnung an die Bibel: Hab 2,11 und Luk 19,40). 53 Ebd., S. 115. 54 Ebd., S. 109.

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Menschen zum eigenverantwortlich handelnden Subjekt.55 In der Theodizeekritik trifft er sich mit anderen anti-leibnizischen Tendenzen der deutschen Aufklärung. Im Mystischen Paradies, der als selbständiges Werk gedachten Fortsetzung der Umständlichen Erzehlung,56 setzte Bachstrohm dann die Paradiesexegese im geistlichen Wortsinn fort, ohne daß der Inhalt des utopischen Vorspanns, die Tätigkeit der Gelehrtensozietät, noch einmal in Erinnerung gerufen oder gar die Geschichte des Gelehrtentriumvirats fortgesetzt würde. Hatte die Utopie in der Umständlichen Erzehlung auch noch die didaktische Aufgabe einer narrativen ‚Eselsleiter‘, das heißt des poetischen Rahmens übernommen, verlor sie im späteren Werk Bachstrohms selbst diese untergeordnete Funktion. Im Mystischen Paradies hatte sich der exegetische Stoff so weit verselbständigt, daß die Utopie, als Vermittlungsinstanz offenbar überflüssig geworden, nun ganz auf der Strecke blieb. Arnolds quietistische Mystik, Dippels geistlich-eschatologische Utopie mit politischem Einschlag sowie Bachstrohms utopische Gelehrtensozietät einschließlich der von ihr praktizierten Paradiesexegese stellen wirkungsgeschichtlich eine Traditionskette dar, die, im Sinn des postulierten erweiterten Utopiebegriffs, Paradigmencharakter für die künftige Utopieforschung besitzen müßte. Es war vor allem der radikale Pietist Dippel, der die Gattung ‚Utopie‘ in noch viel höherem Maße, als es zuvor, etwa durch Johann Valentin Andreae in Christianopolis, geschehen war, für eschatologische Inhalte empfänglich machte. Bachstrohm, der dem Pietismus in der Spiritualität der Bibelauffassung und der Aufklärung im Lobpreis der Vernunft nahestand, versuchte die Gattung als Medium rationalistisch-spiritueller Bibelexegese zu nutzen. Im Zentrum seiner Bemühungen im Anschluß an Dippel stand ein Kernstück biblizistischen Utopieverständnisses: das irdische Paradies. Bereits in der Wortverbindung spiegelt sich das problemgeladene Verhältnis von Utopie und Eschatologie. Aus den historischen Erscheinungsformen 55 Zu Dippels Kritik an der Leibnizschen Theodizee vgl. Stefan Lorenz: De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997, hier S. 133–150. Zu Bachstrohms Ablehnung der Erbsünde: Christiani Democriti Redivivi Umständliche Erzehlung (Anm. 48), insbes. S. 264; zur menschlichen Selbstverantwortung: ebd., S. 276. 56 Christiani Democriti Redivivi Mystisches Paradies, Oder Nachdencklicher und Sinnreicher, bishero aber allen fleischlichen Geistlichen fest verschlossener und verriegelter Lust=Garten des menschlichen Lebens, Mit dem Apocalyptischen Schlüssel Johannis nochmals eröffnet und gantz weit aufgesperret; Hingegen die nackten, blossen und schändlichen Meinungen der wircklichen und auch der halb reformirten Juden Von dem Sünden=Falle Adams, Von der Erb=Sünde, und Von dem Fluche oder ewigen Verdamniß aller seiner unschuldigen Nachkommen, Mit des Cherubs seinen blossen und blinckenden Schwerdte aus diesem Orte des Vergnügens hinaus gepeitschet, und in das Barbarische Land der geistlosen Dummheit, wo lauter Dornen und Disteln von ihnen gepflantzet werden, auf ewig verwiesen. Patmos in der Schweitz, Auf Kosten guter Freunde, getreuer Nachbarn und desgleichen (Exemplar der Zentralbibliothek Zürich, Sign.: XVII, 456).

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des irdischen Paradieses in den Texten läßt sich die erweiterte, aber dennoch klar umrissene Gattungsnorm der Utopie gewinnen. Grenz- und Zweifelsfälle der Zuordnung, wie das Arnoldsche Paradies des inneren Friedens, von dem ich ausging, erfüllen dabei eine wichtige heuristische Aufgabe.

Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold Konfessionalistische Abgrenzung und mystisch-spirituelle Solidarität 1.  Einleitung Pietismusforschung muss international, interdisziplinär und interkonfessionell ausgerichtet sein, wenn sie der Eigenart der von ihr untersuchten Frömmigkeitsbewegung und vor allem der radikalen Ausläufer angemessen Rechnung tragen will. Die universale Liebesgemeinschaft der Erleuchteten, die unmittelbar Gott unterstehen und dem Gnadeneinfluß des göttlichen Geistes ausgesetzt sein möchten, erhebt den Anspruch, irdische Grenzen aller Art sowie Meinungsdifferenzen überwinden und die trennende Vielfalt von Menschenhand geschaffener Institutionen entbehren zu können. Mit seiner Abkehr von den ,Gegen‘ständen der Welt und durch die Vereinigung mit Gott gibt der Fromme auch die Subjekt-ObjektTrennung preis, unter deren ontologischem Regime für ihn alle an Raum und Zeit gebundene Erfahrung und mit ihr auch die historische Erkenntnis steht. Dieser defiziente Erfahrungsmodus wird durch die Rückkehr des Wiedergeborenen in den Urgrund göttlicher Weisheit überwunden. Allerdings hat Gottfried Arnold auch nach dem Erscheinen der Kirchen- und Ketzerhistorie (KKH) die Geschichtsschreibung weiter betrieben, sie, ungeachtet ihrer Defizienz, für seine religiösen Reformbestrebungen instrumentalisiert.1 Während aber in der Optik des erleuchteten Historikers, als welcher Arnold sich verstand, die äußerlichen Unterschiede zwischen den Wiedergeborenen (Herkunft, Konfession, Alter, Geschlecht, Beruf ) verschwimmen, geht die Forschung, außer auf die Geistesverwandtschaft der Pietisten, auch auf die individuellen Eigenschaften und Abhängigkeiten der Gotteskinder sorgfältig ein. Bei dieser Rekonstruktion der historischen Gegebenheiten kommt auch den Äußerungen der

1 Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie oder geheimen Gottesgelehrtheit wie auch derer alten und neuen Mysticorum. Frankfurt a.M. 1703 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969) [im folgenden: MT], Vorrede, An den unpartheyischen Leser, Bl. )(2r/v: „Denn in diesen letzten Jahren bleibet mein Vorsatz feste / daß ich mich mit bloß Historischen und andern dergleichen Dingen nicht mehr verwirren / oder meine Zeit zubringen will. Wiewohl auch ein verständiger Leser aus dieser Schrifft gnugsam erkennen wird / daß dieselbe mehr in die wahre Erkäntniß und Liebe der unsichtbahren Gottheit / als in eine bloßhistorische Wissenschafft einleite.“ Hier zieht Arnold die Mystikgeschichte für die mystiktheologische Unterweisung heran. Das Werk deklariert sich selber auch als ein historiographisches.

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Pietismusgegner große Bedeutung zu.2 So gewähren zum Beispiel die zahlreichen Reaktionen auf die KKH nicht nur Einblick in die Details der damaligen kirchengeschichtlichen Diskussion, sondern auch in eine grundsätzliche Auseinandersetzung um die Objektivitätskriterien historischer Erkenntnis. Leider ist die Erforschung der Rezeption von Arnolds Hauptwerk bis heute noch nicht weit genug gediehen.3 Sie würde eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern. Selten genug entspricht die Forschungspraxis dem Postulat, die etablierten Fächergrenzen zu überwinden. So trennt insbesondere Theologen und Germanisten häufig die Kluft unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden und Interessen, ganz zu schweigen von den unnötigen Doppelspurigkeiten, die auch in der Pietismusforschung, selbst unter Zunftgenossen, vorkommen. Mit dem Verhältnis Gottfried Arnolds zu den Jesuiten soll vor allem die interkonfessionelle Dimension des radikalen Pietismus an einem geeigneten Einzelfall hervorgehoben werden. Bis jetzt ist nur beiläufig auf die geistigen Wechselbeziehungen zwischen Pietisten und Jesuiten und, wenn überhaupt, allenfalls auf die Ausstrahlungskraft von Hermann Hugos Pia desideria, hingewiesen worden: So gehen die Titelkupfermodelle in Johann Henrich Reitz’ Historie der Wiedergebohrnen auf Vorbilder in Hugos Erbauungsbuch zurück.4 Auch die aus der Feder Johanna Eleonora Petersens stammenden Gespräche des Hertzens mit Gott (1689) sind von denselben Kupferstichen im Werk des Jesuitenautors angeregt.5 Ihr Ehemann, Johann Wilhelm Petersen, hat als Rostocker Poesieprofessor statt über

2 Wegleitend Dietrich Blaufuß: Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712). Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum. In: Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. von Wolfgang Sommer und Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 303–336. 3 Vgl. immerhin das recht umfangreiche Kapitel ‚Die Nachwirkungen Gottfried Arnolds‘ in der Monographie von Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik. Meerane i. Sa. 1923 (Ndr. Darmstadt 1964), S. 535–611; Irmfried Martin: Der Kampf um Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie. Vornehmlich auf Grund des dritten Bandes der Schaffhausener Ausgabe von 1740–42. Heidelberg, Theol. Diss. 1973 (masch.); Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Erster Teil: Abele-Bohse. Stuttgart 1990, ‚Gegenschriften‘, S. 315. Ergänzend, aber ebenfalls bei weitem nicht vollständig, ein Dutzend einschlägiger alter Dissertationen in: Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie unter Mitarbeit von Karin Marti. München u.a. 1982. 4 Johann Henrich Reitz: Historie der Wiedergebohrnen. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Bd. 4. Tübingen 1982, Nachwort des Herausgebers, S. 177 Anm. 92. 5 Markus Matthias: Enthusiastische Hermeneutik des Pietismus, dargestellt an Johanna Eleonora Petersens „Gespräche des Hertzens mit GOTT“ (1689). In: Pietismus und Neuzeit 17, 1991, S. 36–61.

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Ovid über Hermann Hugos Pia desideria gelesen: Daß dieser „ein Jesuit war, störte offenbar nicht.“6 Richard van Dülmen geht sogar davon aus, daß die Verbindung von Askese, missionarischem Eifer und Weltgestaltungswillen sowohl den Jesuitenorden als auch die Pietisten auszeichne.7 Mit der generellen Behauptung einer Wesensverwandtschaft zwischen dem Orden der katholischen Gegenreformation und der protestantischen Frömmigkeitsbewegung nimmt er – freilich leicht modifiziert – auch Argumente in seine historische Darstellung auf, die einst der lutherischorthodoxe Pietisten- und Jesuitenfeind Johann Friedrich Mayer in polemischer Absicht seinen beiden Widersachern entgegengeschleudert hatte.8 Für van Dülmen bilden Pietisten und Jesuiten die Vorhut der Moderne, da er in der durch sie verwirklichten Verbindung von Askese und Hinwendung zur Welt ein Hauptmerkmal der Neuzeit erkennt; die ‚vita contemplativa‘ der mittelalterlichen Mönche werde durch die neue Lebensform in den Hintergrund gedrängt.9 Aus dem Blickwinkel der an aufklärerischer Rationalität und weltlichem Fortschrittsdenken geschulten Moderneauffassung stellt sich da die Frage nach der Kontinuität und, grundsätzlicher noch, der Vereinbarkeit der geistigen Modernisierungsprozesse in der frühen Neuzeit. Bei allem Gemeinsamen, das Pietisten und Jesuiten miteinander verbinden mag, sind sie dennoch keine geistigen Zwillinge. Pietisten haben sich denn bisweilen auch ausdrücklich und ohne jede Einschränkung von den Jesuiten distanziert. So tadelt Johann Daniel Herrnschmidt, der Hallenser Theologieprofessor und enge Mitarbeiter August Hermann Franckes, in seiner Vorrede zu Arnolds neuaufgelegtem Werk Leben der Altväter die enge Bindung der Jesuiten an den Heiligen Stuhl, ihre weltliche Ethik und ihr Versagen in der Nachfolge Christi.10 So gesehen geht den Jesuiten die Reinheit des Glaubens gerade ab, die pietistische Religiosität für sich in Anspruch nimmt. 6 Ders.: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. Göttingen 1993, S. 109. 7 Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung 16.–18. Jahrhundert. München 1994, S. 131. 8 Johann Friedrich Mayer: De fraternitate pietistarum et Jesuitarum, dissertatio prima & altera. Greifswald 1708 (Exemplar der Württembergischen LB Stuttgart). In der ‚dissertatio prima‘, S. 14, gibt Mayer Arnolds ‚Ketzerhistorie‘ den satirischen Titel „Apologia deicidarum, Christicidarum, hostium trinitatis, sacrae scripturae, mysteriorum fidei, aliorumque satanae, in impugnanda veritate coelesti, instrumentorum, adversus zelum Christi militum, adornata in gratiam diaboli, haereticorum, calumniae, seductionis simplicium, à Godofredo Arnoldo, diaboli hujus temporis advocato ordinario“, der die häretische Absicht des Werks entlarven soll, in der ,dissertatio altera‘, S. 14, behauptet er, daß in der Mystiktheologie „[...] pietistae Jesuitis vix cedunt“. 9 Van Dülmen (Anm. 7), S. 122. 10 Gottfried Arnold: Vitae patrum oder Leben der Alt=Väter. Hg. von Johann Daniel Herrnschmidt. Halle 1718, Vorrede vom 11. April 1718, Bl. d1r/v.

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Die Patristik und die mittelalterliche monastische Theologie haben Gottfried Arnold in seinem religiösen Denken und Empfinden viel stärker geprägt als die gegenreformatorischen Einflüsse in der frühen Neuzeit. In dieser erreichen nämlich seiner Ansicht nach die kirchlichen Institutionen den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung, während gleichzeitig die Herzensfrömmigkeit in eine tiefe Krise gerät. Arnold verabscheut die hierarchischen Strukturen der römischen Amtskirche, die Herrschaftsgewalt ihres päpstlichen Oberhaupts, und er konnotiert die offizielle kirchliche Praxis mit Aberglauben, Heidentum und Babel: „Die theatralischen auffzüge und gauckelspiele in ihren kirchen / womit dem armen volck die augen gefüllet / und die greuel umb so viel geld verkaufft werden / müssen auch einem nur natürlich=verständigen menschen weisen / daß die auctores derselben wol meist nicht weit vom atheismo, oder wenigstens verblendete und aberglaubische gemüther seyn müsten.“11

Aber gleich im übernächsten Satz folgt auf diese kategorische Ablehnung des katholischen Zeremoniells ein Lobpreis der Werke der Theresa von Avila, des Kapuziners Johannes Evangelista von Herzogenbusch und des Angelus Silesius.12 Bereits in der KKH geht Arnold also davon aus, daß es selbst noch in der frühen Neuzeit innerhalb der katholischen Kirche Zeugen der Wahrheit, Erleuchtete, gibt, ein Gedanke, der dann in der Historie und Beschreibung der mystischen Theologie (MT) durch die gewaltige Ausdehnung des Kanons frühneuzeitlicher katholischer Autoritäten noch unterstrichen wird. So eindeutig Arnold die römische Kirche als Institution ablehnt, so differenziert ist sein Urteil über ihre Mitglieder. Deren individuelle Qualifikation – und auf sie kommt es ihm bei der Wertschätzung der Brüder und Schwestern im Geist an – hänge vom erreichten Stand der Gnade, vom geistlichen Fortschritt in der Wiedergeburt und von der Heiligkeit des Lebenswandels ab. Damit fällt für Arnold die Zugehörigkeit zu einer der sichtbaren Kirchen bzw. Konfessionen als Frömmigkeitskriterium oder gar -maßstab gänzlich außer Betracht. Vor allem seit Albrecht Ritschl in seiner Pietismusgeschichte die unbeseitigte Altlast katholischer Frömmigkeit für den anhaltenden Zustand der Selbstentfremdung des Protestantismus verantwortlich gemacht und dessen permanente Identitätskrise vor allem dem beträchtlichen Einfluß bernhardinischer Mystik zugeschrieben hat,13 kann die Geschichte der Pietismusforschung auf weiten 11 Gottfried Arnold: Unparteyische Kirchen- und Ketzer=Historie [im folgenden: KKH]. Frankfurt a.M. 1699, Theil II, Buch XVII., Kap. XIV, 5, S. 576. 12 Ebd. 13 Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Bonn 1880; Bd. 2. Bonn 1884; Bd. 3. Bonn 1886 (Ndr. Berlin 1966); zu Ritschl und den Nachwirkungen Bernhards von Clairvaux vgl. Johannes Wallmann: Bernhard von Clairvaux und der deutsche Pietismus. In: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit. Hg. von Kaspar Elm. Wiesbaden 1994, S. 353–374: „Ich habe meine Karten ausgespielt. Ritschls Trumpfansage, die aus dem Thema ‚Bernhard und der Pietismus‘ ein großes Spiel zu machen versprach, hat nicht viele Stiche eingebracht.“ Wallmann

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Strecken als eine solche der Berührungsängste mit katholischen Autoren und mit den Ausdrucksformen römisch-katholischer ‚pietas‘ gelesen werden. Selbst die Spenerforschung, die auf derartige Abwehrreaktionen ihres Gewährsmannes verweisen kann,14 wird sich aber zumindest mit der Wirkung Taulers auf den Vater des Pietismus befassen15 und die interkonfessionell geprägte geistige Mittlerrolle Johann Arndts berücksichtigen müssen. Bei der Erforschung von Leben und Werk Gottfried Arnolds, der weit weniger skrupulös als Spener immer wieder auf verschiedene römisch-katholische Traditionen ausdrücklich Bezug nimmt, wird dem historisch wertneutral verwendeten Ansatz Ritschls künftig wohl doch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommen. ‚Godofredus Arnoldus catholicans?‘ lautet dann die Ausgangsfrage eines umfassenden Forschungsprogramms.16 In diesem thematischen Umfeld ist auch der vorliegende Beitrag anzusiedeln. Er geht zu der nach wie vor oft konfessionalistisch gefärbten Kirchengeschichtsschreibung auf Distanz und thematisiert die Interkonfessionalität des radikalen Pietismus und deren Auswirkungen auf die verschiedenen Bekenntnisrichtungen in der Übergangszeit zwischen Barock und Aufklärung. Gottfried Arnold wurde von verschiedenen, ja gegensätzlichen Zeitströmungen berührt. So stand er im Spannungsfeld von konfessionalistischer Kontroverstheologie und mystisch-überkonfessioneller Irenik. Von der Ambivalenz seines Standpunkts ist auch sein Verhältnis zum Jesuitenorden und zu einigen seiner Hauptrepräsentanten geprägt. Schon während seines Studiums an der Universität Wittenberg kam Gottfried Arnold mit Werken von Jesuiten in Kontakt. In seiner am 14. Dezember 1687 verteidigten Dissertation über die Engelsprache (Locutionem angelorum)17 hat er die Thomaskommentare von Rodrigo de Arriaga und Gabriel Vasquez, vor allem aber von Franz Suarez als angelographische Argumentationsquellen herangezogen. Die erste Schulschrift Arnolds dokumentiert allerdings weniger den Einfluß jesuitischer Gewährsleute auf den jungen Präses als bezeichnenderweise die Interkonfessionalität des Autorenkanons der Disputationen der Wittenberger Universität, damals einer Hochburg lutherisch-orthodoxer Lehre.

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räumt allerdings ein, daß Arnold und Zinzendorf von seiner Globalthese weniger hart betroffen sind (ebd., S. 354f.). Vgl. Blaufuß: Mayer (Anm. 2), S. 324 Anm. 70. Dazu gehört, außer dem Verhältnis führender Pietisten zur Taulerschen Mystik, auch die Klärung der vor allem von Arnold behaupteten Übereinstimmung Luthers mit Johann Tauler in den Grundsätzen des christlichen Glaubens. Die Anregung zu dieser Formulierung verdanke ich einer Arbeit von Dietrich Blaufuß: „Pietismus catholicans?“ Ein Hinweis auf Johann Baptist Crophius. In: Blaufuß: Korrespondierender Pietismus (Anm. 2), S. 137–151. Hanspeter Marti: Gottfried Arnold – Magister der Philosophie in Wittenberg. Seine Dissertation über die Engelsprache: ed. und komm., S. 161–189 in diesem Band.

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Über Arnolds spätere Büchervorlieben gibt der Katalog seiner Bibliothek genauer Auskunft.18 Hier sind neben antijesuitischer Literatur19 auch Werke verschiedener Jesuiten vertreten. Außer dem von ihm häufig benutzten mystiktheologischen Nachschlagewerk von Maximilian Sandäus, der Clavis theologiae mysticae, besaß Arnold Robert Bellarmins De scriptoribus ecclesiasticis und dessen De controversiis christianae fidei, das Martyrologium und einen Katechismus des Petrus Canisius, die Medulla theologiae moralis von Hermann Busenbaum, die Vitae patrum von Heribert Rosweyd, eine griechische Grammatik von Jakob Gretser, das Philosophia imaginum betitelte Emblembuch von Claude-François Menestrier, die Pia desideria von Hermann Hugo, von Johannes Bisselius die Illustrium, ab orbe condito, ruinarum decas, jesuitische Ordensregeln, das lyrische Werk von Matthias Casimir Sarbiewski sowie das Bellum ubiquisticum vetus et novum inter ipsos Lutheranos bellatum und Thummius et Zeaemann par nobile fratrum von Lorenz Forrer sowie eine Ausgabe von Friedrich von Spees Buch gegen die Hexenprozesse.20 Über Arnolds Kenntnis der Jesuitenliteratur vermittelt aber der Bücherkatalog kein vollständiges Bild. So wird Jeremias Drexels Gesamtwerk durch Arnolds Literaturverzeichnis in der MT dem Leser empfohlen21 und das Buch desselben Jesuiten über das Fasten sogar in einer Fußnote der Wahren Abbildung angeführt.22 Der Bücherkatalog weist 18 Reinhard Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog zur Bibliothek Gottfried Arnolds. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 55–143. Hierin S. 337–410: Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi, inspectoris et pastoris Perlebergensis 1714. Faksimile-Ndr. 19 Catalogus (Anm. 18), S. 354, Nr. 53: Alphonsus de Vargas [= Kaspar Schoppe] de Stratagematis Jesuitarum. Suppresio [sic!] Congregationis Jesuitarum Romae, 1636. Novum fidei Symbolum Jesuitarum, 1636. 20 Ebd.: Rosweydi vitae pp. s. historia eremitica Antwerp. 1628 (S. 341, Nr. 70); Bellarmini Controversiae Tomis IV. Colon. 1615 (S. 341, Nr. 74); Canisii Martyrologium Dilingae 1573 (S. 354, Nr. 69); Sandaei Clavis Theologiae Mysticae Colon. 1641 (S. 357, Nr. 97); Getseri [sic!; M.] Grammat. Graeca Ingolst. 1595 (S. 350, Nr. 48); Menesterii Philosophia Imaginum Amsterd. 1695 mit Kupffern (S. 388, Nr. 244); Bisselii Ruinae Illustres Decas II Dilingae 1679 (S. 389, Nr. 265); Ejusd. Dec. III. (S. 389, Nr. 266); Alvarez Trivium Coeleste Col. 1625 (S. 400, Nr. 16); Hugonis Pia Desideria per Ursinum Gedani 1659 (S. 402, Nr. 51); Foreri Bellum Vbiquetisticum Dilingae 1627 (S. 402, Nr. 53); [ders.] Thumius & Zaemannus Par Nobile Fratrum (ebd.); Busenbaum Theologia Moralis Col. 1680 (S. 402, Nr. 64); Sarbievii Lyrica Antwerp. 1634 (S. 403, Nr. 71); Regulae Societatis IEsu Lugd. 1607 (S. 403, Nr. 73); Anonymi Cantio [sic; M.] Criminalis Solsibaci 1695 (S. 406, Nr. 140) [Friedrich von Spee, Cautio criminalis, Solisbaci 1695]; Canisi Pabstischer Catechismus Amberg 1708 (S. 408, Nr. 176). 21 Arnold: MT (Anm. 1), „XXIV. Capitel, Register derer Mystischen und Ascetischen Scribenten / aus dem 16. und 17.Secul. [...]“, S. 495, „Drexelii Schrifften Lateinisch und Teutsch“. 22 Gottfried Arnold: Wahre Abbildung der ersten Christen im Glauben und Gebet. Frankfurt a.M. 1700, 4. Buch, 4. Kap., 13, S. 496, Verweis auf Drexels ‚Aloe amari sed salubris succi ieiunium‘. (Nachweis bei Arnold: „Drexelius lib II. De Jejun. c.2.“).

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hingegen keinen einzigen Drexeltitel nach. Auch fehlen unter den Referenzen des Buchbesitzes z. B. weitere Abhandlungen Bellarmins, die Bibliotheca selecta von Antonio Possevino, die Ignatiusbiographie von Giovanni Pietro Maffei sowie Jakob Gretsers De funere christiano,23 vor allem aber das von Arnold am meisten zitierte jesuitische Werk, die Theologia mystica von Maximilian Sandäus. Die Zitatnachweise in Arnolds gedruckten Werken sind, im Hinblick auf die Jesuiten, die weitaus zuverlässigsten rezeptionsgeschichtlichen Zeugnisse. Noch in der Theologia experimentalis beruft sich Arnold auch auf jesuitische Autoritäten und erblickt im Autoritätsargument das geeignete Mittel, den durch Vernunftgebrauch und Sündennatur verdorbenen Weltmenschen zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen.24 In Arnolds Lyrik, in seinen Gebeten, den katechetischen Werken und den Predigten fehlen in der Regel die Fußnoten. Darum sind in diesen Literaturgattungen geistige Abhängigkeiten kaum ausfindig zu machen. Das gilt vor allem für die Herkunft einzelner Emblembilder der Gedichte, so z. B. für das Sonnenblumenmotiv.25 Angesichts ihrer allgemeinen Verbreitung ist die Annahme eines jesuitischen Einflusses, auch wenn er vielleicht sehr naheliegt, nur ein schwaches Wahrscheinlichkeitsargument.26 Dagegen gibt es auch an unerwarteter Stelle, z.B. in Arnolds spätem Briefwechsel, Belege für seine Kenntnis und Wertschätzung jesuitischer Literatur.27 Im folgenden beschränke ich mich aber weitgehend auf das 23 Ebd.: Bellarmin (2. Buch, 4. Kap., 22, S. 195; 8. Buch, 11. Kap., 4, S. 304; 21. Kap., 3, S. 410; 23. Kap., 12, S. 433); Possevino (6. Buch, 4. Kap., 19, S. 98); Johann Peter Maffei (6. Buch, 5. Kap., 21, S. 111); Gretser (6. Buch, 6. Kap., 18, S. 127). 24 Gottfried Arnold: Theologia experimentalis. Das ist: Geistliche Erfahrungs=Lehre. Frankfurt 1714, Bl. g3v-g4r. Vgl. die Tabellen der Autorenzitate in der ‚Theologia experimentalis‘ bei Volker Keding: Theologia experimentalis. Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold. Münster 2001, S. 232–249. 25 Gottfried Arnold: Poetische Lob= und Liebes=Sprüche von der ewigen Weißheit nach Anleitung des Hohenlieds Salomonis: Nebenst dessen neuen Ubersetzung und Beystimmung der Alten. An: Gottfried Arnold: Das Geheimniß der göttlichen Sophia oder Weißheit. Leipzig 1700 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963), S. 247, XV. ‚Auff eine Sonnenblum‘. 26 Obwohl Arnold Hermann Hugos ‚Pia desideria‘ besessen hat und das Sonnenblumenemblem dort vorkommt, kann er dieses aus dem Werk Jan Ruysbroeks (Nachweis bei August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968, S. 302), Christian Hoburgs (Emblemata sacra. Das ist Göttliche Andachten / Voller Flammender Begierden [...]. Frankfurt a.M. / Leipzig 1692, S. 102f.) oder ebensogut aus einer andern Quelle übernommen haben. Zum Sonnenblumenmotiv in der jesuitischen Sinnbildtradition: Gabriele Dorothea Rödter: Via piae animae. Grundlagenuntersuchung zur emblematischen Verknüpfung von Bild und Wort in den ‚Pia desideria‘ (1624) des Herman Hugo S. J. (1588–1629). Frankfurt a.M. u.a. 1992, insbes. S. 51–58. 27 In einem Schreiben vom 4.8.1711 aus Perleberg vermittelt Arnold dem Gießener Theologieprofessor Johann Heinrich May d.Ä. Literaturhinweise zum Schicksal der alten Völker. Darunter befinden sich die ‚Illustrium ruinarum decas‘ von Bisselius, der ,Oedipus Aegyptiacus‘ von Athanasius Kircher sowie die ,Chronologia reformata‘ des italienischen Jesuiten Giambattista Riccioli. Der Brief ist abgedruckt in: Rüdiger Mack:

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Porträt der Jesuiten, das sich aus der Interpretation der einschlägigen Stellen der KKH und der MT, der ohnehin wichtigsten Quellendokumente, ergibt.

2.  Das Bild der Jesuiten in der Kirchen- und Ketzerhistorie Im ‚unpartheyischen‘ Urteil des erleuchteten Geschichtsschreibers trifft die Objektivität der historischen Aussage mit dem Offenbarungsgehalt göttlicher Inspiration zusammen. Der angesprochene, die Wiedergeburt erstrebende Leser der KKH ordnet die erzählten Begebenheiten als anschauliche Beispiele den Grundsätzen richtig zu, die in den einleitenden Allgemeinen Anmerckungen von denen Kätzer=Geschichten präsentiert werden. Die Grundsätze ihrerseits fallen unter eine der vier ihnen übergeordneten Themenrubriken, welche die Ketzermacher, die Ketzer, den Inhalt der Häresie sowie die Mittel der Ketzerverfolgung zum Gegenstand haben. Die Interpretation der Ketzergeschichten soll also in der Verortung des ausgebreiteten historischen Wissens im vorgegebenen heuristisch-topischen Kontext bestehen.28 Beim Wiedergeborenen erfolgt die Wahrheitserkenntnis unmittelbar, divinatorisch-intuitiv, ohne Mithilfe einer natürlichen Erkenntnisinstanz, allein durch die Wirkung des Heiligen Geistes. Die historiographische Entfaltung der geschichtlichen Tatsachen im Medium des äußeren Worts entspricht dem Zustand des durch die Sünde in Ungnade gefallenen Menschen. Dieser bedarf der sprachlichen Vermittlungsinstanz, der Krücke logisch-rhetorisch konzipierter Rede sowie der Autoritätszeugnisse, um von der Wahrheit überzeugt zu werden. Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984, S. 203–205. 28 Dazu und zu den folgenden allgemeinen Befunden: Arnold: KKH (Anm. 11), ‚Allgemeine Anmerckungen von denen Kätzer=Geschichten‘, An den Leser, S. 1: „Man hat zu dem ende sich dieser bescheidenheit gebrauchet / daß erstlich einige vielen paradox und ungewöhnlich scheinende fragen nicht als gewisse sätze zum disputiren auffgedrungen / sondern als problemata und gewisse aus den historien herausgezogene generale anmerckungen / quaestiones factorum oder loci communes und artickel denen zur warhafftigen prüfung und entscheidung capablen gemüthern zu überlegen vorgeleget worden.“ Ferner die Leseanweisung in den dem vierten Punkt zugeschlagenen Darlegungen über Absicht und Wirkung der Häretisierung (ebd., S. 28, 9): „ Jch muß aber hier bestehen bleiben / und den Leser nunmehro zu ordentlicher Untersuchung derer folgenden kätzergeschichten selbst lassen / in welchen er / so er sie mit erleuchteten und durch keine partheyligkeit verdunckelten augen einsehen wird / sattsame antwort auff alle und jede vorgesetzte fragen finden mag: Welche exempel denn mit diesen gemeinen anmerckungen weißlich zusammen zu halten sind / damit von dergleichen begebenheiten / sie mögen vergangen oder gegenwärtig seyn / ein warhafftiges / gründliches / und zulängliches urtheil gefället werden könne.“ Auf die komplexe rhetorische Argumentationsstruktur der KKH und auf die Bedeutung der Gattungstradition der Exempelsammlungen für das Verständnis von Arnolds Geschichtsauffassung kann hier nicht eingegangen werden.

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Erst über die Vermittlung von Buchstaben, das äußere Wort, scheint er allmählich zur göttlichen Weisheit zu gelangen, Gottes Wort im Innern der Seele hören zu können. Geschichtsschreibung erfüllt eine wichtige propädeutische Funktion, so lange der Fromme noch nicht am Ziel der Wiedergeburt im Geist angekommen ist. Mit dem erreichten Zustand der ‚unio mystica‘, dem Telos des geistlichen Lebens, ist die Bedingtheit historischer Existenz überwunden. In diesem Tenor des Abschieds von der Historie feiert Arnolds Schlußwort der KKH den Sieg göttlicher Gnade über die irdische Natur. Arnold sieht auch die Jesuiten und deren Position im historischen Geschehen in der Optik der allgemeinen Deutungskategorien und Sätze, die den Exempelcharakter aller geschichtlichen Fakten stark betonen. Seine Darstellung des Gegenstandes ist vom Subsumtionsverfahren geprägt, dem sie ihre Entstehung verdankt. Jedes beschriebene Individuum weist nur die negativen Merkmale seiner Gattung auf. Die meisten Jesuitenporträts entsprechen ganz den Musterbildnissen kontroverstheologischer Topik und Rhetorik, wie sie im polemischen Schrifttum des konfessionellen Zeitalters allenthalben begegnen. Jesuiten sind bei Arnold nicht bloß, wie bei den orthodoxen Protestanten, die Feinde des von der Amtskirche verwalteten wahren Glaubens, sondern auch Kontrastfiguren zu den eigentlichen Christen, als welche sich die Angehörigen der unsichtbaren Geistkirche verstehen. Die Jesuitenpolemik der KKH bedient sich gerne der Standardargumente von orthodoxen Lutheranern und Reformierten, biegt sie aber, wenn sie institutionsfreundlich sind, in ihrem Sinn zurecht. Jesuiten bezeichnet Arnold als „päbstische Pfaffen“.29 Er sieht in ihnen den verlängerten Arm der römischen Amtskirche, gehorsame Diener des Papstes, kurz, die zuverlässigsten Stützen einer korrupten Amtsführung und Herrschaft. Sie repräsentieren Babel, den Antichristen sowie den von diesen beiden ausgehenden Gewissenszwang. Sie schützen die von Arnold angeprangerte natürliche Ordnung, die sich in den kirchlichen Machtstrukturen verfestigt hat. Am Regensburger Religionsgespräch von 1601 nahmen auf katholischer Seite neben zehn von Arnold nicht genauer bezeichneten Personen die Jesuiten Jakob Gretser, Albert Hunger sowie Adam Tanner teil, die er namentlich nennt.30 Sie erscheinen als Hauptexponenten der römischen Kirche und sind, zusammen mit den Vertretern der protestantischen Orthodoxie, seiner Meinung nach hauptverantwortlich für die durch Religionsdispute heraufbeschworene Glaubensmisere. Obwohl Arnold 29 Arnold: KKH (Anm. 11), Theil II, Buch XVII, Kap. II, 19, S. 449, „päbstische pfaffen oder Jesuiten“; ebd., 23, S. 450 (Nicolas Kellio in Ungarn); bereits Buch XVI, Kap. XXXIV, 18, S. 417; ferner Buch XVII, Kap. XIV, 7, S. 576, „deß Pabsts schoß=kinder“. Papst Gregor XV. hat Jesuiten in den Heiligenstand erhoben (Buch XVII, Kap. XIV, 2, S. 575). Anderseits berichtet Arnold, daß der Papst Schriften des Jesuiten Louis Maimbourg verworfen habe (ebd., 24, S. 581), was aber die von ihm hervorgehobene enge Liaison zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Orden kaum tangiert, da Maimbourg diesen verlassen hat. 30 Ebd., Theil II, Buch XVII, Kap. IV, 2, S. 458.

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die Schulzänkereien verabscheut und den sprachlichen Purismus aller Disputationsteilnehmer attackiert, erwähnt er doch ausgerechnet Tanners mangelnde Griechischkenntnis.31 Dieser Vorwurf mußte umso schwerer wiegen, als in der Jansenismusdebatte die „[...] Scholastische Theologie und andere Pedanterien derer Jesuiten ziemlich derb angepackt / und zu schanden gemachet wurden“,32 Tanners philologische Inkompetenz also auch die allgemein monierte theologische der Jesuiten unterstreicht. Diese übernehmen in den innerkatholischen Glaubenskontroversen die Schlüsselrolle von Sachwaltern der offiziellen kirchlichen Doktrin, beispielsweise in bezug auf die päpstliche Unfehlbarkeit.33 Arnold spricht sich gegen die Jesuiten, jedoch für die Jansenisten aus. Jansenius und Antoine Arnauld hätten, im Gegensatz zu ihren jesuitischen Widersachern,34 die von Affekten beherrscht, auf die natürlichen Kräfte des Menschen vertrauten, in der (freilich durch das Subjekt unterstützten) Heilswirkung der göttlichen Gnade den Schwerpunkt ihrer Lehre erblickt.35 Arnold mißbilligt überhaupt die von Jesuiten vertretenen dogmatischen Auffassungen und stimmt in der Regel mit denjenigen ihrer Gegner überein. So schätzt er den Quietismus Miguel de Molinos,36 entlarvt die Unionspostulate Jakob Masens als Betrug37 und lehnt den Probabilismus sowie die Kasuistik aus grundsätzlichen moralischen Erwägungen ab.38 Arnold bezichtigt Jesuiten auch des Antisemitismus. In Wien sei der Judenhaß des Volkes durch sie noch angeheizt und ein Rabbi grausam zu Tode gefoltert, statt dessen Reue und

31 Ebd.: „Man vergaß beyderseits der theologischen gravität und des ernsts / warff einander grammaticalische schnitzer und soloecismos vor / wenn etwa z.e. der Jesuite Tannerus ein griechisch wort unrecht gesagt hatte.“ 32 Ebd., Kap. XIV, 8, S. 576. 33 Ebd., 22, S. 581. 34 Im Vordergrund steht Luis de Molina, der „[...] den menschlichen kräfften bey der bekehrung fast mehr als GOtt selbst zugeschrieben [...]“ (ebd., 15, S. 578). Erwähnt werden noch – neben verschiedenen, nicht als solche bezeichneten Nichtjesuiten – Dionysius Petavius, Franz Annat, Isaac Habert, Juan Martinez de Ripalda, Jean de Brisacier, sowie Molinas Anhänger, die sogenannten Molinisten. Zum Streit zwischen den Jansenisten und den Jesuiten ebd., bereits 6, S. 576. 35 Ebd., 17, S. 579f. und 19, S. 580. 36 Arnold hat Molinos’ ‚Geistlichen Wegweiser‘ ediert und dessen Lehre in KKH (Anm. 11), Theil III (Fortsetzung und Erläuterung Oder Dritter und Vierdter Theil der unpartheyischen Kirchen= und Ketzer=Historie [...]. Frankfurt a.M. 1700), Kap. XVII, S.  172–188, ,Von denen Quietisten‘, eingehend vorgestellt. Zu Molinos’ Einfluß auf Arnold siehe den Aufsatz ‚Der Seelenfrieden der Stillen im Lande‘ in diesem Band. 37 Arnold: KKH (Anm. 11), Theil II, Buch XVII, Kap. XIV, 30, S. 583. 38 Ebd., 27, S. 582: „Sonderlich hat sie ihr liederlicher sinn meist dahin getrieben / ihre morale so einzurichten / daß ihr und ihres gleichen schlimmes leben dadurch nicht beschämet werden möchte.“ Die von Stephan Bugot und verschiedenen Ordensgenossen vertretene Sündenlehre habe Antoine Arnauld bekämpft, „[...] weil sie ihnen in ihrem üblen leben sonderlich einen trost zu geben [...]“ schien (ebd., 28, S. 583).

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Bekehrung abgewartet worden.39 Als Gralshüter katholischer Rechtgläubigkeit üben, so sein Vorwurf, die Jesuiten ihre Rolle als Ketzermacher mit aller Härte aus.40 Deshalb stünden sie in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Gottes- und Menschenliebe der unsichtbaren Kirche. Deren Toleranz kann sich, wie die Stellungnahmen der KKH beweisen, auf sie nicht erstrecken. Wegen ihres beträchtlichen Einflusses auf die weltlichen Machthaber, wegen ihrer rücksichtslosen Anwendung der Ränke der strategischen Vernunft und ihrer Rolle als politischer Unruhestifter begegnet ihnen Arnold mit einer grundsätzlichen Abwehrhaltung. Als die Inkarnation des Bösen stünden sie mit der Welt und dem Teufel im Bund und erfüllten die Funktion negativer Exempel. So hätten sie sich in England an einer Verschwörung gegen König Jakob I. beteiligt, welche dann aber die göttliche Vorsehung vereitelt habe.41 In Venedig hätten sie sich so lange als Handlanger päpstlicher Machtpolitik hervorgetan, bis sie von den Venezianern verjagt worden seien. Später, nach ihrer geduldeten Rückkehr, seien sie dann ihres politischen Einflusses beraubt worden.42 Wilhelm Lamormaini und Johann Weingartner, beides Jesuiten, seien Hofprediger und Beichtväter des Kaisers gewesen, die „[...] dem Herrn die ohren so voll machten / und einen solchen verkehrten eyffer einbliesen / daß er das lamentiren der bedrängten nicht einmal hörte.“43 Ferdinand II., eine schwache Persönlichkeit, sei den Einflößungen seiner geistlichen Ratgeber wehrlos ausgeliefert gewesen. In dieser Einschätzung war Arnold, wie auch an anderen jesuitenfeindlichen Stellen der KKH, von neueren Geschichtswerken, vor allem von der Historia papatus des Zürcher Theologen Johann Heinrich Heidegger abhängig.44 Dieser, stark vom Coccejanischen Bundesgedanken geprägt, ist durch 39 Ebd., Buch XVII, Kap. XV, 30, S. 595. 40 Z. B. ebd., Theil II, Buch XVII, Kap. XIV, 10, S. 577: Jansenius’ Calvinismus, „[...] womit er so gut als verdammt und ein kätzer war.“ Ebd., Theil III, Kap. XVII, 9, S. 174, gegen Molinos: „Den anfang machten / wie gesagt /die Jesuiten / in dem sie erstlich den Molinos vor einen ketzer ausrufften / und zu dem ende / damit das kind einen namen hätte / seine freunde Quietisten titulierten.“ Als wichtigster Gegner Molinos’ wird der italienische Jesuit Paolo Segneri mit Namen erwähnt. Die angeblich jesuitische Herkunft der Bezeichnung ‚Quietist‘ hindert Arnold nicht daran, sie zu Klassifikationszwecken zu übernehmen. Ferner die Affären um den Kemptener Prediger Georg Zeaemann (ebd., Theil II, Buch XVII, Kap. II, 8, S. 445; aber auch Theil IV, Sect. III, Num. 1, S. 465–468) und um den Tübinger Theologen Theodor Thumm (ebd.). 41 Ebd., Theil II, Buch XVII, Kap. II, 19, 20, S. 449. 42 Ebd., Kap. XIV, 1, S. 574f. 43 Ebd., Theil II, Buch XVII, Kap. II, 7, S. 445, ‚Wilhelm Lemmermann und Johann Weingärtner‘. 44 Johann Heinrich Heidegger: Historia papatus. Novissimo historiae Lutheranismi & Calvinismi fabro kata biaion [griech. Schrift] reposita. Qua ecclesiae Romanae, septem periodis distinctae, origo & progressus, ad nostra usque tempora, pertexitur [...]. Amsterdam 1684, S. 340: „Rebúsque & experiundo constitit, Ferdinandum Euangelicis ore, papae verò corde jurâsse. Statim enim initio regni ejus homines nefarii, consultores pessimi, id unum operam dederunt, ut literas majestatis convellerent, libertatisque adeò

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seine Kontroversen mit dem Katholizismus bekannt. Seine Geschichte des Papsttums entgegnet der Histoire du Lutheranisme (1680) und der Histoire du Calvinisme (1682) des Exjesuiten Louis Maimbourg.45 Im Dreißigjährigen Krieg, für Arnold ein göttliches Strafgericht,46 ist der Jesuitenorden der Verbündete hoher katholischer Machthaber.47 In der KKH wird mißbilligend ein angeblich von Jakob Balde stammendes politisches Gedicht abgedruckt, in dem sein Verfasser den Winterkönig, Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, verspottet.48 Die politische Satire ist Arnolds Genre nicht. Für ihn stehen Politik und christliche Religiosität, (Staats-)Klugheit und Frömmigkeit, weltliche und geistliche Aktivitäten in einem sehr gespannten Verhältnis zueinander oder schließen sich sogar aus, während im Bild, das Arnold von den Jesuiten entwirft, ‚pietas‘ und ‚prudentia‘ in ein Mittel-Zweckverhältnis zueinander treten können. Welt und Geschichte sind für ihn Schauplätze göttlicher Offenbarung und als solche mit dem Überirdischen sehr eng verbunden. Deshalb kann der geistliche Mensch dank seiner Kooperation mit den Wirkungen der göttlichen Gnade den Einfluß innerweltlicher Kräfte zurückdämmen. Der innere Vorgang, der diese Scheidung der Bereiche bewirkt, reinigt, einem ins Geistliche transponierten alchemistischen Veredlungsprozeß vergleichbar, die Seele von allen irdischen Schlacken. Weil die Jesuiten als politische Handlungsträger ins profane Geschehen eingreifen und sich dabei mit dem Makel des Unvollkommenen beflecken, halten sie am Zustand der Vermischung von Gutem und Bösem fest. Von diesem Gebrechen blieb sogar ihre Missionstätigkeit, vor allem in China, nicht frei: „Es gebens aber glaubwürdige und Papistische relationen selbst / daß die Jesuiten und andere so genannte Apostel mehr auf ihren zeitlichen gewinn / als die erweiterung des Reichs Christi gesehen.“49 Trotzdem gelangt Arnold zu einem differenzierten Ur-

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in religione concessiones illas, si non data fide sanctas, certè ingenti subditorum pretio redemptas, cuniculis subruerent, denique injurias injuriis cumulando patientiam ordinum fatigarent.” Die Jesuiten bezeichnet Heidegger als „malorum omnium architectos“ (ebd., S. 340f.); vgl. auch das Urteil über die moralische Verwerflichkeit jesuitischen Handelns an zentraler Stelle (ebd., ‚Praefatio ad lectorem‘, Bl. [*4r/v]). Zu Maimbourg und den Jesuiten Heidegger (Anm. 44), Praefatio, Bl. [**1v]: „Has similésque verè Sinonias artes quemadmodum exeruerit [sic!] famosus ille Historiae Lutheranismi & Calvinismi faber (à Societate illa Ignatianorum seriò jam, an per ludum exauthoratus sit, parùm nostra scire refert. jam pridem enim est, quòd histrioniam in mundo homines isti scitè exercent) in propatulo est.“ Arnold: KKH (Anm. 11), Theil II, Buch XVII, Kap. I, 35, S. 440. Ebd., 11, S. 432. Ebd.: „Ubi minorum gentium || Fridericus ille friget? || Nivem videns in purpura || Tantum semel cadentem: || Unius anni regulus, || Hoc nomen inquinavit: || Jam pulvis est, jam vermis || est; || Cui vero nota tumba || est?“ (Nachweis ebd.: „(k) Jac. Balde de Vanit. Mundi Poem. 72.“) Dieses von Arnold herangezogene Gedicht konnte in den konsultierten Ausgaben von Baldes ,De vanitate mundi‘ bis jetzt merkwürdigerweise nicht entdeckt werden. Ebd., Theil II, Buch XVII, Kap. XV, 20, S. 591.

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teil über die Jesuitenmission. Er anerkennt ihre Erfolge in Nord- und Südamerika, obwohl er das von der kirchlichen Hausmacht verbreitete Eigenlob für übertrieben hält.50 Denn die Jesuiten setzen sogar in der Mission die strategische Vernunft ein, statt die Bekehrung der Herzen zu erwirken.51 Die laue Zustimmung und das wache Interesse an der Jesuitenmission gehen mehr auf Arnolds grundsätzliche Anerkennung der Bedeutung der Mission als solcher52 als auf die Wertschätzung der missionarischen Bemühungen der Jesuiten zurück. Die katholische Amerikamission betrachtet Arnold zudem als gescheitert.53 Deshalb fällt das positive Urteil in seiner ambivalenten Stellungnahme zur jesuitischen Mission kaum ins Gewicht.54 Sie ist aber ein wichtiger Indikator für das generell kontrastreiche Bild der Jesuiten in der KKH. Der Gegensatz von Welt und göttlicher Vollkommenheit durchdringt nämlich, wie alle historischen Erscheinungen, auch den Jesuitenorden und seine Angehörigen, die in der Regel der Macht des Bösen gehorchen. Die Dichotomie von gut und böse, die alles Irdische prägt, bildet die Basis von Arnolds theozentrischer Anthropologie und Geschichtsmetaphysik. Sie ermöglicht es ihm, historische Ereignisse und Personen in ihren feinen Abstufungen und individuellen Besonderheiten differenziert zu beschreiben und zu bewerten. Das kohärente, aber schablonenhaft-topische Bild des Jesuitenordens wird nun durch singuläre Einzelerscheinungen relativiert, mit dem Ausnahme- oder Gegenexempel konfrontiert. Damit werden historische Individuen aus der bloßen Gattungsidentität entlassen und die Anforderungen der Unparteilichkeit, wie sie der erleuchtete Historiker zu erfüllen verspricht, durch die narrative Form unterstützt, in die historiographische Praxis umgesetzt. So ist für Arnold in der Person des Ignatius von Loyola die frühe, durch Äußerlichkeiten und institutionelle Mängel noch unverdorbene 50 Ebd., 15, S. 588. Weniger wohlwollend fällt sein Urteil über die Mission der Jesuiten in Japan aus; über ihre Chinamission hält sich Arnold trotz seiner Kritik auf dem Laufenden (ebd., 15; 16, S. 589f.). Zu seinem Missionsverständnis: Wilhelm August Schulze: Der Verlauf der Missionsgeschichte nach Gottfried Arnold. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 64, 1952/53, S. 260–291. 51 Arnold: KKH (Anm. 11), Theil II, Buch XVII, Kap. XV, 31 [recte 21], S. 591, daß die Jesuiten die „[...] vermeinte religion bloß durch menschliche mittel nach der vernunfft und derselben listigen anschlägen fortpflantzen wollen.“ 52 Ebd., 28, S. 594f. 53 Ebd., Theil II, Buch XVI, Kap. XXXIV, 18, S. 417. An Menschlichkeit sind die Indianer den Spaniern überlegen, „wiewol die Jesuiten und andere Päbstische Pfaffen auch hier des eiteln ruhms kein ende wissen / was vor bekehrungen der Heyden / wunderwercke und dergleichen dabey vorgegangen.“ 54 Immerhin registriert der katholische Geistliche Johann Nikolaus Weislinger: Außerlesene Merckwürdigkeiten. Von alten und neuen Theologischen Marckschreyeren [...]. Augsburg / Freiburg 41750, S. 475, die freundliche Würdigung der Verdienste der Jesuitenmission durch Gottfried Arnold. Dessen Wirkung auf katholische Autoren ist ein Desiderat interkonfessioneller Kirchengeschichtsschreibung.

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Frömmigkeit verkörpert.55 Das Beispiel des Jesuitengenerals Gian Paolo Oliva und die von ihm getragene Oppositionsbewegung sind ihm Beweis dafür, daß die Kasuistik innerhalb des Ordens nicht unangefochten, moralische Substanz in ihm auch nach der Gründungszeit noch vorhanden gewesen sei.56 Am Beispiel eines Jesuiten, der, weil er Molinos’ Lehren billigte, von seinen Ordensgenossen umgebracht wurde,57 trete der Konflikt zwischen erwachtem Individuum und Ordenskollektiv unvermittelt in Erscheinung. An der grundsätzlichen Tendenz des ersten und zweiten, bereits 1699 herausgekommenen Teils der KKH, die Jesuiten sehr negativ zu beurteilen, ändern die Ausnahmebeispiele wenig. Trotzdem zeigen sie einen Gegentrend an, der dann im dritten und vierten, 1700 erschienenen Teil des Werks stärker zum Tragen kommt. Im Kapitel Quietisten werden, neben dem Ordensgründer, Balthasar Alvarez und Hermann Hugo kurz genannt und zu den Wahrheitszeugen gezählt.58 Aber Arnold geht im selben Zusammenhang noch auf die Verdienste von zwei weiteren Persönlichkeiten näher ein: „[...] wie auch des Schlesischen Jesuiten Johannis Angeli geistliche gedichte / darunter vornemlich der Cherubinische wandersmann in 12. welcher aus denen vornehmsten mystischen Theologis die summam der geheimen Gottesgelehrtheit in nervosen und nachdrücklichen Epigrammatibus vorträgt. Zugeschweigen was Maximilianus Sandäus in seiner Theologia Mystica und dem clave [...] hierbey gethan haben.“59

Arnolds irrtümliche Zuweisung des Angelus Silesius unterstreicht einmal mehr, daß für ihn auch Jesuiten sogar zu den angesehensten Gotteskindern gehören können. Maximilian van der Sandt und seiner Bedeutung für Arnolds MT ist der folgende Abschnitt hauptsächlich gewidmet. Mit der im Quietismuskapitel noch eher beiläufig erfolgten Einführung der Mystik als Frömmigkeitsalternative zum Buchstabenglauben tritt nun bereits in der KKH eine irenische Komponente der Argumentation in den Vordergrund. 55 Arnold: KKH (Anm. 11), Theil II, Buch XVI, Kap. XXXIV, 6, S. 413: „Dieser war ein soldat und im kriege hart blessiret worden / dahero er nachmahls auff die gedancken fiel eine abgezogene lebensart anzufangen.“ Hinter dieser Beschreibung steht eine Vita, die wegen des Rückzugs aus der Welt mit Arnolds Leben in der Gießener und der Quedlinburger Zeit manches gemeinsam hat. Vgl. auch Theil III, Kap. VII, 6, S. 72, Ignatius, positiv beurteilt als verfolgter Ketzer, sowie ebd., Kap. XVII, 3, S. 172, wo er unter den von Arnold geschätzten katholischen Mystikern genannt wird. Ignatius von Loyola figuriert auf der Liste der geistlichen Musterbiographien (MT, Anm. 1, Das XXVI. Capitel. Einige merckwürdige geistliche Lebens=Beschreibungen, ,Vita Ignatii Lojolae‘, S. 517). 56 Arnold: KKH (Anm. 11), Theil II, Buch XVII, Kap. XIV, 27, S. 582. 57 Ebd., Theil III, Kap. XVII, 9, S. 174. 58 Ebd., 3, S. 172. 59 Ebd.; bei der Nennung des Johannes vom Kreuz, der in der Aufzählung katholischer Mystiker ebenfalls vorkommt, teilt Arnold auch das Urteil Pierre Poirets über das Werk dieses Karmeliten mit (vgl. dazu den 4. Abschnitt dieses Aufsatzes).

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Das Bild der Jesuiten in der KKH wird zwiespältig. Manche von ihnen nehmen an der ‚vita activa‘ der Politik teil, andere machen sich um das kontemplative Leben verdient. Wo immer sie die Ruhe in Gott propagieren und der Welt entsagen, gehören sie für Arnold zur Liebesgemeinschaft der unsichtbaren Kirche. Als politische Werkzeuge geistlicher und weltlicher Herrscher dagegen sind sie Knechte des Teufels. In der Mystiktheologie stehen sich radikalpietistische und jesuitische Frömmigkeit sehr nahe. Im Unterschied freilich zu den Jesuiten legitimiert Arnold auf dieser Grundlage die institutionelle Ungebundenheit des Gewissens sowie die interkonfessionelle Toleranz und lehnt die strategische Rationalität entschieden ab.

3.  Jesuiten als Wahrheitszeugen und Gotteskinder in der Historie und Beschreibung der Mystischen Theologie In Arnolds Autorengalerie zur Geschichte der Mystik, die der Karmelit Johannes vom Kreuz abschließt, fehlen Jesuiten. Immerhin werden einige im summarischen Abschnitt über die frühneuzeitliche Mystik aufgezählt und die Verdienste einzelner kurz gewürdigt.60 In der Autorenliste zum 16. und 17. Jahrhundert, dem XXIV. Kapitel der MT, sind sie dagegen sehr zahlreich vertreten, manche, wie z. B. Jakob Alvarez de Paz, Robert Bellarmin, Franz Borgia, Leonhard Lessius, Johann Eusebius Nieremberg, Ludwig de Ponte, Maximilian Sandäus, sogar mit einer ganzen Anzahl von Werken. Die Aufzählung lesenswerter Biographien (XXVI. Kapitel) empfiehlt die Lebensbeschreibungen von Petrus Canisius, von Aloysius von Gonzaga, von Ignatius von Loyola und von Franz Xaver. Balthasar Cordier und Maximilian Sandäus sind in der MT die wichtigsten jesuitischen Gewährsleute in mystiktheologischen Fragen. Wenn es um Daten zu Leben und Werk der von Arnold porträtierten Mystiker geht, ist Sandäus, zusammen mit Bellarmin und Possevino, die wichtigste jesuitische Autorität. Sandäus war auch als Mystiktheologe unter Katholiken anerkannt. So rühmt ihn der Konvertit Angelus Silesius.61 Sandäus hat aber weit über die konfessionellen Grenzen hinaus gewirkt: Abraham von Franckenberg empfiehlt ihn zur Lek60 Arnold: MT (Anm. 1), S. 291f.: Hervorgehoben werden Ludwig de Ponte, Jakob Alvarez de Paz, Robert Bellarmin; in der Aufzählung Vinzenz Caraffa, Maximilian Sandäus, Alfons Rodriguez, Balthasar Cordier, Bernardin Rossignoli, Johann Eusebius Nieremberg, Leonhard Lessius, Jean-Joseph Surin. 61 Angelus Silesius ( Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Hg. von Louise Gnädinger. Stuttgart 1984, Vorrede, S. 22. Vgl. dazu: M. Hildburgis Gies: Eine lateinische Quelle zum ‚Cherubinischen Wandersmann‘ des Angelus Silesius. Untersuchung der Beziehungen zwischen der mystischen Dichtung Schefflers und der ‚Clavis pro theologia mystica‘ des Maximilian Sandäus. Breslau 1929. Arnold hat den ,Cherubinischen Wandersmann‘ herausgegeben (Frankfurt a.M., Johann David Zunner, 1701); Vorrede vom 30.9.1700.

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türe.62 August Hermann Francke rechtfertigt seine Auffassung über die ‚deiformitas hominis‘ mit derselben Sandäusstelle wie sein Widersacher Johann Friedrich Mayer.63 David Hollaz verweist, wo er die Dreiweglehre behandelt, gleichzeitig auf ihn und auf Gottfried Arnold.64 Im selben Zusammenhang erwähnt ihn Adam Rechenberg in einer Dissertation über den Ursprung der Mystiktheologie.65 Auch Johann Benedikt Carpzov ist er bekannt.66 Die Rezeptionsgeschichte der Mystiktheologie des Sandäus veranschaulicht verschiedene Formen geistiger Kooperation zwischen jesuitischen und protestantischen Autoren in der Übergangszeit von konfessionalistischem Zeitalter und Frühaufklärung. Maximilian Sandäus hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das fast alle Sparten der Theologie (Mystik, Aszetik, Predigt, Dogmatik, Mariologie, Kontroverstheologie, Emblematik) umfaßt.67 Drei wichtige Schriften hat er ausschließ62 Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650. Berlin 1988 (Berlin 21993), S. 786 Anm. 109. 63 August Hermann Francke: Gründliche und Gewissenhaffte Verantwortung gegen Hn. D. Johann Friedrich Mayers [...] harte und unwahrhaffte Beschuldigungen [...]. Halle 1707. In: August Hermann Francke: Streitschriften. Hg. von Erhard Peschke. Berlin / New York 1981, S. 285. Johann Friedrich Mayer: Warnung an die Studiosos Theologiae so den Schwedischen Scepter unterthänig seynd Sich für denen Observationibus Biblicis Hrn. M. August Hermann Franckens [...] wol fürzusehen. Sammt einer Vorrede welche Herr M. Franckens jüngste Schrifften So er wider den Bericht von Pietisten als auch von der Disputation de Trinitate Pietistarum herausgegeben beantwortet. Greifswald 1707, Vorrede unpag. vom 4.2.1707. (Exemplar der Bibliothek des Studienzentrums der Franckeschen Stiftungen, Halle a.d. Saale, Sign.: 11 F 15). 64 David Hollaz: Scrutinium veritatis, complectens pentadecada, quaestionum theologicarum illustrium, quibus nonnullae mysticorum hypotheses perquiruntur, et excutiuntur. Wittenberg 1711, S. 43. 65 Adam Rechenberg (Präses) / Gustav Dietz (Respondent): De origine theologiae mysticae. Leipzig 1690, Bl. [Bv]. Arnold kennt Rechenbergs Dissertation genau (Zitatnachweise MT, Anm. 1, S. 24, S. 26 [!], S. 34, S. 44, S. 66, S. 108, S. 189, S. 206, S. 209, S. 227). 66 Johann Benedikt Carpzov (Präses) / Johannes Günther (Respondent): De religione quietistarum [Disputation: 3.5.1687]. Leipzig 1717, S. 5. 67 Maximilian Sandäus (van der Sandt), geboren den 17. April 1578 in Amsterdam, trat am 21. November 1597 in Rom bei den Jesuiten das Noviziat an, unterrichtete in Würzburg Theologie und Philosophie, die Heilige Schrift in Mainz und wurde Vorsteher des bischöflichen Seminars in Würzburg. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in Köln, wo er am 21. Juni 1656 starb. Biographie und Werkverzeichnis bei Carlos Sommervogel SJ: Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Tome VII. Bruxelles / Paris 1896 (Ndr. Mansfield Centre CT [1998]), S. 556–567 (59 Titel). Vgl. auch Jos Andriessen: Sandäus. In: Dictionnaire de spiritualité. Tome XIV. Paris 1990, Sp. 311–316. Bernhard Duhr: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts. Bd. 2,2. Freiburg i.Br. 1913, S. 444, bezeichnet Sandäus’ Emblematisieren als den „Gipfel der Geschmacklosigkeit“. Sandäus’ Werk verdient eine von Wertkonnotaten freiere, historisch ausgerichtete Darstellung. Hanspeter Marti: Gesellschaftliches Leben und ,unio mystica‘ am Beispiel der Mystiktheorie des Jesuiten Maximilian Sandäus (1578–1656). In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter.

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lich der Mystiktheorie gewidmet: die Theologia mystica, ein Lehrbuch, welches das mystische Wissen mit einem am Systemdenken geschulten Vollständigkeitsanspruch vermitteln will, die Pro theologia mystica clavis, ein mit mystiktheoretischen Abhandlungen durchsetztes alphabetisches Nachschlagewerk, sowie die diesem beigegebene schmale Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen des Jesuitenordens.68 94 Prozent oder 44 der insgesamt 47 Sandäusnachweise in Arnolds MT beziehen sich auf das mystiktheoretische Hauptwerk, nur drei auf die Clavis, während die Jubiläumsschrift nicht unter Arnolds Zitatreferenzen figuriert. Von allen drei Sandäusschriften ist jeweils nur eine Auflage erschienen, was sie für genaue rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen besonders geeignet macht.69 Man erhält allgemeine Hinweise über Arnolds Verhältnis zum Wortlaut der von ihm zitierten Quellen, im besondern aber Aufschluß über das eklektische Verfahren, dem das Erscheinungsbild dieses Jesuiten in der MT seine Entstehung verdankt. Arnold hat mit Vorliebe auf die mystiktheologischen Kenntnisse von Sandäus zurückgegriffen, diese recht oft einfach übernommen und den Jesuiten als gelehrte Autorität hoch geschätzt. Das betrifft dessen Lehre vom Schriftsinn,70 vom Schmecken und der Erfahrung Gottes im Zustand der ,unio‘,71 von der Mystik als Glaubenspraxis für Fortgeschrittene,72 vom Verhältnis zwischen Emblematik und mystischer Theologie,73 von der Demut,74 von den drei Stufen oder Wegen der Mystik75 sowie das Konzept der ‚vita mixta‘.76 Hie und da hat Arnold Sekundärzitate den Werken des Sandäus entnommen, diese also wie Florilegien ausgeschöpft.77 Auch befürwortet er, wie Sandäus, die Anwendung von Superla-

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Hg. von Wolfgang Adam u.a. Teil I. Wiesbaden 1997, S. 199–209, beschränkt sich auf einen Gesichtspunkt des vielschichtigen mystiktheoretischen Werks des Jesuiten. Vgl. dazu auch: Mabel Lundberg: Jesuitische Anthropologie und Erziehungslehre in der Frühzeit des Ordens (ca. 1540–ca. 1650). Uppsala 1966. Theologia mystica seu contemplatio divina religiosorum à calumniis vindicata. Mainz 1627. – Pro theologia mystica clavis. Köln 1640 (Ndr. Heverlee-Louvain 1963). – Iubilum societatis Jesu seculare ob theologiam mysticam a fundatore suo Ignatio eiusque sociis primo conditae societatis seculo excultam et illustratam. Köln 1640. Oft bereitet es Mühe, die von Arnold gegebenen Zitatnachweise in den Originalwerken zu verifizieren, besonders wenn zahlreiche Ausgaben ein- und desselben Textes vorliegen. Dazu schon Seeberg (Anm. 3), S. 250. Arnold: MT (Anm. 1), S. 26f. Ebd., S. 35f. Ebd., S. 67–71. Ebd., S. 93f. Ebd., S. 155. Ebd., S. 104; S. 121; S. 127. Ebd., S. 56f. Ebd., S. 67 ( Johann Gerson; zu Gregor dem Großen, Übernahme des bloßen Zitatnachweises durch Arnold); S. 69 (Bernhard von Clairvaux); S. 82 (Cassianus); S. 97 (Bellarmin; aber mit genauerem Zitatnachweis bei Arnold als bei Sandäus); S. 155, S. 157 ( Jakob Alvarez de Paz).

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tiven und Negationen, wie sie das Unsagbarkeitsaxiom der mystiktheologischen Sprachkritik fordert.78 Dieses steigert Arnold aber bis zur radikalen Sprachskepsis, während für Sandäus die Sprache ein leistungsfähigeres Instrument mystischer Erkenntnis und Erfahrung darstellt. Dem Jesuiten kommt es auf Einheit und theoretische Kompatibilität von Schultheologie und Mystik, auf deren Integration in ein umfassendes System der Gottesgelehrsamkeit an. Arnold dagegen geht, selbst wo er Sandäus mit einem Zitat ganz zu folgen scheint, von einer grundlegenden Differenz zwischen Scholastik und Mystik aus.79 Der radikale Pietist versucht, was aus der folgenden synoptischen Gegenüberstellung von Zitatausschnitten hervorgeht, die Mystiktheologie ihrer formallogischen Gestalt zu entkleiden, um sie unmittelbarer der Nutzanwendung in der ,praxis pietatis‘ zuzuführen:80 Sandäus Theologia mystica

Arnold Mystische Theologie

Tertiae Disquisitioni. Quodnam sit discrimen inter Theologiam Scholasticam & Mysticam, cum versentur circa idem obiectum? Agit fuse de hac re Ioannes Gerson in suis contemplationibus de Theol. Mystica speculatiua. Breuiter: Primo, quamuis obiectum materiale sit idem, differunt tamen plurimum formali: Scholastica enim spectat Deum & illius attributa, quoad veritatem cognoscibilem ex principiis fidei, euidenti consequentia deductam: Mystica, quoad bonitatem & amabilitatem.

(1) Die Schul=Theologie betrachtet GOtt nach der erkäntlichen Warheit aus dem Grund des Glaubens / vermitteltst klarer Schlüsse: die Mystische aber nur nach seiner Güte und Liebenswürdigkeit.

Obwohl Sandäus Mystiktheologie und ,unio mystica‘ einer gelehrten geistlichen Elite vorbehält,81 vertritt Arnold das Gleichheitspostulat, das die Gotteserfahrung jedem, besonders aber dem einfachen Menschen, zugänglich macht.82 Hierarchische Ordnungen in Kirche und Staat sowie Standesprivilegien jeder Art verhindern das Wachstum der unsichtbaren Kirche, die aller weltlichen Ingredienzien 78 Ebd., S. 37f. 79 Vgl. folgende Anm. Anderseits warnt auch Sandäus vor den durch die Schultheologie geweckten schädlichen Affekten. Arnold (Anm. 1), S. 62f.; Sandäus: Theologia mystica (Anm. 68), S. 646. 80 Arnold: MT (Anm. 1), S. 30f.; Sandäus: Theologia mystica (Anm. 68), S. 642. 81 Ebd., S. 612. Sandäus geht es um den Nachweis der Vereinbarkeit von Mystik und ,vita mixta‘, wie sie die Jesuiten führen. 82 Arnold: MT (Anm. 1), S. 49f.

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gänzlich entbehrt. Auch die Ständeklausel des Sandäus, die Mönche und Kleriker begünstigt, hebt Arnold zugunsten der ,simplicitas laicorum spiritualium‘ auf. Auch angesichts der sehr wohlwollenden, im Grundtenor affirmativen Aufnahme jesuitischer Mystiktheologie durch Arnold kann selbst in der MT von einer uneingeschränkten geistigen Übereinstimmung zwischen dem radikalen Pietisten und dem katholischen Ordensmann nicht die Rede sein. Die Rezeption des mystiktheologischen Wissens erfolgt differenziert-kritisch, so daß sich in den aus Sandäus übernommenen, aber von Arnold modifizierten Inhalten der MT das ambivalente Verhältnis der KKH zu den Jesuiten, mit umgekehrtem, überwiegend positivem Vorzeichen, auf einer abstrakteren Ebene der Darstellung wiederholt. Bei der Präsentation mystischer Autoren übernimmt Arnold Kenntnisse und Urteile von Sandäus als einem anerkannten Gelehrten häufig kommentarlos.83 Im angefügten Register „mystischer und ascetischer Scribenten aus dem 16. und 17. Secul“ empfiehlt er Johannes Avila, Johann a Jesu Maria und Thomas a Jesu sogar, indem er sich auf ihre Wertschätzung durch den Jesuiten beruft.84 Die Nennung der Werke von Bonaventura und von Hugo von Sankt Viktor beläßt er ganz in der in der Vorlage angetroffenen Reihenfolge.85 Doch Arnold ist auch in der Übernahme positiven Wissens nicht sklavisch von Sandäus abhängig. So widerspricht er, wenn dieser in Niklaus Esch (Nicolas van Essche) den Verfasser der Evangelischen Perle (Margarita evangelica) erblickt.86 Sandäus’ überschwengliches Lob des Richard v. Sankt Viktor gibt Arnold nur in der distanzierten und verkürzten Form des ausdrücklich gekennzeichneten Referats wieder.87 Jan van Ruysbroek und Johann Tauler, die Sandäus als sehr anspruchsvolle Autoren nur der höchsten geistlichen Gelehrtenelite zumutet, widmet auch Arnold ein besonders ausführliches Kapitel.88 Es erstaunt aber nicht, daß er sie, was vor allem seine RuysbroekEdition beweist,89 nicht den Gelehrten vorbehält. Im Qualitätsurteil stimmt er mit 83 Ebd., Thomas von Aquin, S. 393; Mechthild von Magdeburg, S. 399; Johannes Gerson, S. 426; Katharina von Bologna, S. 435; Angela von Foligno, S. 470. 84 Ebd., Johannes Avila, S. 488; Johann a Jesu Maria, S. 492f., S. 499; Thomas a Jesu, S. 499f. 85 Ebd. (jeweils erster Teil der Literaturhinweise), Hugo v. St. Viktor, S. 379; Bonaventura, S. 387f.; Sandäus: Theologia mystica (Anm. 68): Hugo v. St. Viktor, S. 649, Bonaventura, S. 650. 86 Arnold: MT (Anm. 1), S. 467. 87 Ebd., S. 380; Sandäus: Theologia mystica (Anm. 68), S. 649f. 88 Sandäus: Theologia mystica (Anm. 68), S. 650f. ( Jan van Ruysbroek, Johann Tauler). Arnold: MT (Anm. 1), S. 412–421 (Ruysbroek), S. 404–412 (Tauler). 89 Des Ehrwürdigen Vaters || D. JOHANNIS RUSBROCHII, || Weiland Canonici Regularis Augustiner Ordens / || [...] Schrifften / || [...] Alles ins Teutsche treulichst übersetzet / || von G.J.C. || Und mit einer Vorrede herauß gegeben / || von || Gottfried Arnold. || Offenbach am Mayn / || Druckts Bonaventura de Launoy, Ysenburg= und Büdingischer Hof=Buchdr. || Jm Jahr 1701. In der Vorrede wird neben Peter Canisius und Robert Bellarmin Sandäus gleich zweimal als Autorität angerufen (S. 11 und

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Sandäus überein. Er teilt jedoch die Ansicht des Jesuiten nicht, daß Luther kein Häretiker geworden, wenn er Tauler gefolgt wäre.90 Um die katholische Mystik für die protestantische Frömmigkeit nutzbar zu machen, ist Arnold vielmehr bemüht, die geistige Identität des mittelalterlichen Gottesmanns mit dem Reformator nachzuweisen.91 Trotz dieser Differenzen in der Beurteilung einiger Mystiker bewirkt der zwischen Arnold und Sandäus vorherrschende Konsens eine Stabilisierung des Kanons mystischer Autoren des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Es tragen der Jesuit und der radikale Pietist vereint zur Ausbildung und Festigung der mystiktheologischen Tradition bei. Die von Arnold herausgehobene Überkonfessionalität der Mystik92 verstärkt die geistige Solidarität unter den Frommen verschiedener Bekenntnisrichtungen. In der MT treten denn auch, im Vergleich mit der KKH, die Angriffe gegen die etablierten Kirchen zugunsten der irenischen Theologie konfessionell neutraler Gotteserfahrung in den Hintergrund. Religiöse Toleranz ist in der MT nicht ein Postulat politischen Handelns, das sich für ein friedliches Zusammenleben verschiedener Konfessionen im gleichen Staat einsetzt, sondern vielmehr das Ergebnis der spirituellen Kommunikation des frommen Subjekts mit dem Heiligen Geist, wie sie sich im irdischen Gottesreich der ‚Stillen im Lande‘ verwirklicht. Die in der MT festgestellte Invasion katholischer Autoritäten des Mittelalters und der frühen Neuzeit, namentlich der Jesuiten, geht vor allem auf den großen Einfluß des reformierten Katholikenfreundes Pierre Poiret, zurück, auf den Gottfried Arnold sich immer wieder bezieht.

4.  Pierre Poiret und die Aufwertung von Jesuiten bei Gottfried Arnold Obwohl Arnold lebende Wahrheitszeugen in der KKH eigentlich nicht vorstellen will,93 hat er dort Pierre Poiret ein stattliches Denkmal gesetzt. Mit diesem war er nicht nur geistig, sondern offenbar durch persönlichen Kontakt verbunden.94

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S.  12). Arnolds Ruysbroek-Vorliebe scheint von Sandäus mit getragen zu sein. Von dieser zeugen auch die zahlreichen Ruysbroekzitate in verschiedenen Werken Arnolds. Sandäus: Theologia mystica (Anm. 68), S. 652: „Si doctrinae Tauleri adhaerere voluisset, profecto haereticus nunquam fuisset. Nam ex vnius Tauleri scriptis haereses, quae hisce temporibus emerserunt plenissime confutari possunt.“ Arnold: MT (Anm. 1), S. 407. Ebd., S. 288. Arnold: KKH (Anm. 11), Theil III, Kap. XVI, 32, S. 168. Neben v. Schröder (Anm. 99) hat bereits Seeberg (Anm. 3, S. 347–354, insbes. S. 354) die Bedeutung Poirets für Arnold erkannt. Zu Poiret vgl. auch den Aufsatz ,Die Rhetorik des Heiligen Geistes‘ in diesem Band. Poiret als wichtigen protestantischen Vermittler katholischer Frömmigkeit behandelt auch Max Wieser: Peter Poiret. Der Vater der romanischen Mystik in Deutschland. Zum Ursprung der Romantik in Deutschland. München 1932, insbes. S. 93. Hier (S. 140) auch das Zitat aus dem Reisetage-

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Poiret sandte Arnold das Manuskript eines summarischen Lebenslaufs der Antoinette Bourignon zu.95 Arnold hat diese Vita aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt und in der KKH veröffentlicht96 sowie aus einer anderen Poirethandschrift je ein Kapitel über David Joris, Heinrich Jansen (Pseud.: Hiel) und Jakob Böhme in den Additamenta der KKH abgedruckt.97 Diese drei Abschnitte sind dann, zusammen mit weiteren, in teilweise veränderter Form, in Poirets 1700 anonym erschienener Erstauflage der Théologie réelle im Druck erschienen.98 Arnolds MT ist ein Sammelwerk. Es setzt sich aus sehr verschiedenartigen Teilen zusammen, die gleichwohl thematisch zusammenhängen. Dem Nachschlagezweck dienen das Autorenregister zum vorausgehenden beschreibenden Hauptteil, das erwähnte Verzeichnis mystischer Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts (XXIV. Kapitel), das anschließende Verzeichnis erleuchteter Frauen (XXV. Kapitel), die ebenfalls schon bekannte Liste geistlicher Biographien (XXVI. Kapitel) sowie drei Register zu den Inhalten der einzelnen Kapitel. Unter dem Titel Verthädigung || Der || Mystischen Theologie werden in deutscher Übersetzung verschiedene Teile von Poirets Théologie réelle, ihrerseits eine Buchbindersynthese, abgedruckt, ohne daß diese Quelle und ihr Autor genannt werden.99 In der lateinischen Aus-

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buch Gottlieb Stolles, der anläßlich seines Besuches bei Poiret den Eindruck gewann, einen Katholiken und nicht einen Indifferentisten vor sich zu haben. Vgl. vor allem die grundlegende bio-bibliographische Studie von Marjolaine Chevallier: Pierre Poiret. Baden-Baden 1985. Arnold: KKH (Anm. 11), Theil IV, Sect. III, Num. XVII, S. 737. Ebd. Ebd., ‚Einige Additamenta oder Zusätze‘, Dritter Zusatz, S. 6–12 (Beleg vgl. Anm. 100). Daß Arnold auch dieses Manuskript von Poiret persönlich überlassen wurde, steht nicht mit Sicherheit fest. LA || THEOLOGIE || RE’ELLE || Vulgairement ditte || LA THEOLOGIE || GERMANIQUE. || Avec quelques autres TRAITE’S || de même nature; || Une Lettre & un Catalogue sur les || Ecrivains Mystiques. || Une Preface Apologetique sur la || Theologie Mystique, avec || La Nullité du Jugement d’un Protestant sur || la même Theologie Mystique. || [Vignette] || A Amsterdam, || Chez HENRI WETSTEIN, 1700. Das Werk gehörte zu Arnolds Buchbesitz; Catalogus (Anm. 18), S. 405, Nr. 107. Es handelt sich um den zweiten (Sur la théologie mystique, S. 34–94) und den dritten Teil (Nullité du jugement d’un protestant sur la théologie mystique, S. 95–189) sowie um die als Einzelstück paginierte ,Lettre sur les principes et les caractères des principaux auteurs mystiques et spirituels des derniers siècles‘ (S. 5–127, allerdings ohne Vorrede). – Die ‚Théologie réelle‘ enthält auch einen Katalog mystischer Autoren, der, um Abhängigkeiten festzustellen, mit dem in der MT Arnolds (Anm. 1) und denen des Sandäus genau zu vergleichen wäre. Es fällt auf, daß Poiret, im Gegensatz zu Arnold, radikale Geister wie Sebastian Franck, Paracelsus, Jakob Böhme und Valentin Weigel aufführt. Auch viele Jesuiten kommen, zum Teil (Spanier!) mit einem Stern, dem Vorzugszeichen, versehen, vor (z. B. *Balthasar Alvarez, Franz Borgia, Vinzenz Caraffa, Balthasar Cordier, Hermann Hugo, Jeremias Drexel, *Jakob Alvarez de Paz, *Ludwig de Ponte, *Alphons Rodriguez, Heribert Rosweyd, Maximilian Sandäus, Franz Suarez, *Jean-Joseph Surin). – Auf Poiret als Autor der ,Verthädigung‘ in der MT hat schon William von

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gabe der MT befindet sich eine Vorrede, die in der deutschen nicht abgedruckt wurde, in der aber die Poiretschrift als Vorlage der Verthädigung und weitere Einzelheiten zur Entstehungsgeschichte der KKH sowie der MT bekanntgegeben werden.100 Aus ihnen geht hervor, daß Poirets Werk kurz vor 1700 und einige Jahre danach besonders stark auf Gottfried Arnold eingewirkt hat. Die Aufwertung der Jesuiten zu Wahrheitszeugen im III. Teil der KKH sowie ihre zentrale Stellung in der MT gehen wohl vor allem auf den Einfluß von Poirets Théologie réelle zurück. In dieser gibt sich der reformierte Mystiktheoretiker durchweg als großer Jesuitenfreund zu erkennen. Er lobt Alfons Rodriguez, Heribert Rosweyd, Jean-Baptiste Saint-Jure, Jacques Nouët und René Rapin101 – die diesem fälschlicherweise zugeschriebene Oraison sans illusion läßt er wie Jean-Joseph Surins Berger illuminé 102 in seiner Théologie du coeur103 sogar abdrucken – sowie François Guillore und den eben erwähnten Père Surin.104 Auch auf Maximilian Sandäus kommt er wiederholt, sogar in den in die MT aufgenommenen Passagen, zu sprechen.105 Mit dessen und des Jakob Alvarez de Paz Beispiel nimmt er

Schröder: Pierre Poirets Anteil an Gottfried Arnolds ,Historie und Beschreibung der mystischen Theologie‘. In: Monatshefte für rheinische Kirchengeschichte XVI, 1922, S. 3–10, summarisch hingewiesen. 100 Gottfried Arnold: Historia et descriptio theologiae mysticae seu theosophiae arcanae et reconditae, itemq; veterum & novorum mysticorum. Frankfurt a.M. 1702, Admonitio ad lectores, S. 426–428. Aus der ,Admonitio‘ geht auch hervor, daß ein Freund Arnolds, dessen Identität allerdings noch nicht feststeht, Poiret für die MT übersetzt hat und daß Arnold den dritten Zusatz in den Additamenta zur KKH (Anm. 11) aus Poiretmanuskripten übernommen hat (vgl. Anm. 97). 101 Poiret: Verthädigung der Mystischen Theologie. In: Arnold: MT (Anm. 1): Rodriguez, S. 243f.; Rosweyd, S. 244f.; Saint-Jure, S. 247f.; Nouët, S. 250; Rapin, S. 250f. 102 ,L’oraison sans illusion, contre les erreurs de la fausse contemplation‘ (Paris 1687) hat den Jesuiten Jean Rigoleuc zum Verfasser. Richtige Zuschreibung durch André Derville: René Rapin. In: Dictionnaire de spiritualité. Tome XIII. Paris 1988, Sp. 120. ,Le berger illuminé’ schreibt Poiret statt dem Jesuiten Surin dessen Ordensgenossen Jan Buys zu. Vgl. dazu Chevallier (Anm. 94), S. 176, die den Titel richtig mit ,Colloque spirituel d’un dévot Ecclésiastique et d’un Berger‘ wiedergibt. In Gottfried Arnold: Wahre Abbildung des inwendigen Christenthums […]. Frankfurt a.M. 1709, wird auf den ,Berger illuminé‘ als Zitatquelle mehrmals verwiesen. 103 LA || THEOLOGIE || DU COEUR || OU || RECUEIL || DE QUELQUES TRAITE’S || [...] || SECONDE PARTIE || A COLOGNE [...] 1696. Zitathinweise in Arnold: MT (Anm. 1), S. 25, S. 33, S. 37, S. 467. Poirets Herzenstheologie hat Arnold besessen, Catalogus (Anm. 18), S. 406, Nr. 131. 104 Poiret: Verthädigung der Mystischen Theologie. In: Arnold: MT (Anm. 1), Guillore, S. 253f.; Surin, S. 254. 105 Ebd., S. 197 (Hinweis auf die ‚Clavis‘ als mystiktheoretische Referenz); S. 224 (Kenntnis von Sandäus’ ‚Theologia symbolica‘); S. 232 (Kritik an Sandäus über die falsche Zuschreibung der ‚Evangelischen Perl‘ an Nicolas van Essche; von Arnold übernommen). Schon in dem von Arnold nicht in die MT (Anm. 1) übernommenen ,Avis‘ zur ,Lettre sur les principes et les caractéres des principaux auteurs mystiques & spirituels

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die Mystiktheologen gegen den Vorwurf unmethodischen Vorgehens in Schutz.106 Die Mystiktheologie soll gemäß Poiret, wie bei Sandäus, auch dem Anspruch wissenschaftlicher Systematik genügen, worauf die nicht so sehr auf den Intellekt ausgerichtete mystische Theologie Arnolds weniger Wert legt. Poirets Plädoyer für das Herzensgebet stützt sich stark auf die Referenz jesuitischer Autoritäten, zu denen auch Sandäus zählt.107 Noch im Spätwerk zieht auch Arnold diesen heran, wo es ihm u.a. um die Rechtfertigung jener Form stiller Zwiesprache mit Gott geht.108 Diese radikalpietistische Auffassung des Gebets knüpft an eine breite spirituelle Tradition an, die in der frühen Neuzeit auch von den Jesuiten aufgegriffen und weitergeführt wurde. Die Exerzitien des Ignatius und die Frömmigkeitslehren seiner bedeutenderen Nachfolger, zu denen im deutschen Sprachbereich auch Maximilian Sandäus zählt, haben die Gebetslehre radikaler Pietisten nachhaltig beeinflußt. Wieweit diese in ihren Gebeten von ihnen unmittelbar abhängig sind, bedarf genauerer Untersuchung. Sicher beugten sie sich der zum Teil straffen Ordnung jesuitischer Exerzitien nicht.

5.  Epilog: Unmittelbarkeit zu Gott Mit seiner Ablehnung des institutionalisierten Gewissenszwangs und mit der Verteidigung der Gewissensfreiheit hat Gottfried Arnold in der KKH Forderungen der rationalistischen Naturrechtskonzeptionen der Frühaufklärer Samuel Pufendorf und Hugo Grotius übernommen. In der Mystiktheologie postuliert er die religiöse Toleranz unter den Wiedergeborenen gleich welcher Konfession und demonstriert seine Indifferenz gegenüber herrschenden weltlichen und kirchlichen Ordnungen. Aus beidem resultiert die für das Individuum geforderte Freiheit der des derniers siécles‘, Bl. 4v (in: Poiret: Théologie réelle, Anm. 98), hebt Poiret die Leistungen des Sandäus in der Mystiktheologie hervor. 106 Poiret: Verthädigung der Mystischen Theologie. In: Arnold: MT (Anm. 1), S. 103. 107 Poiret: Théologie du cœur (Anm. 103), S. 225: „Entre les Jésuites le P. Jacques Alvarez de Paz en traite au Livre IV. de la Vie spirituelle; le Pere Loüis Dupont en la Preface de ses Meditations, & dans la Vie du Pere Baltazar Alvarez; le P. Maximilien Sandaeus en sa Thelogie [sic!; M.] Mystique; [le Pere Noüet en son Homme d’Oraison;] & le P. de Langle en sa Conduite sprituelle [sic!; M.]. Le Directoire des Exercices de Saint Ignace la designe sur la fin; & Saint Ignace méme en divers endroits de ses Exercices, où il veut qu’on s’aréte sans mediter quand la volonté se sent touchée.“ 108 Arnold: Wahre Abbildung des inwendigen Christenthums (Anm. 102), 1. Buch, Kap. XIII, 21, S. 204, ,Vom Gebet des Geistes‘. In dieser Schrift begegnen insgesamt elf Zitatverweise auf Sandäus. Im VII. Kapitel des 3. Buches der ,Abbildung‘ distanziert sich Arnold von diesem als dem disputierenden Schulgelehrten, der die Frage erörtere, „ob der Wille auch wol lieben könne ohne vorhergehende erkänntnis“ (13, S. 694). Wichtig aber auch der zustimmende Verweis auf Sandäus, wo es Arnold um die Selbstverleugnung geht (1. Buch, Kap. XVIII, 9, S. 274). Selbst noch die ,Theologia experimentalis‘ (Anm. 24), Bl. b3r/v, beruft sich auf Sandäus.

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Gestaltung seines Verhältnisses zu Gott, dem es unmittelbar, das heißt ohne das Dazwischentreten menschlicher Gewalten, untersteht. In der von Mystiktheorie und Naturrecht gleichermaßen geforderten Toleranz manifestiert sich das Bündnis ideologischer Gegensätze. Bei Poiret tritt das Spannungsverhältnis von Aufklärung und Mystiktheorie ganz deutlich in Erscheinung, da er den ihm verhaßten a-theistischen Rationalismus der ,starken Geister‘ mit rationalen Argumenten bekämpft109 und darauf bedacht ist, auch die Mystiktheologie rational faßbar zu präsentieren, ohne sie dadurch dem Willen und den affektiven Kräften, allen voran der Liebe, zu entfremden. Auch Gottfried Arnolds ‚homo religiosus‘ muß sich, so lange er noch nicht zu den Wiedergeborenen zählt, diesem Konflikt zwischen Erkenntnis- und Willenskräften stellen. Erst in der unparteiischen Erkenntnis des erleuchteten frommen Gelehrten und in der Gotteserfahrung des ungelehrten Frommen ist die irdische Beschränktheit – sie manifestiert sich in der Ambivalenz und Disharmonie innerweltlicher Erscheinungen – überwunden. Arnolds theologische Argumentation bezieht ihre Überzeugungskraft ganz aus einer paradoxen Denk- bzw. Erfahrungsvoraussetzung: aus der unter den Auspizien göttlicher Gnadenwirkung als realisierbar vorgestellten Utopie der Transzendierbarkeit irdischen Daseins im Diesseits. Es ist die ‚schwebende‘ Position prätendierter Unparteilichkeit, wie sie zum einen aus der indifferenten Haltung der Welt gegenüber, zum andern aus dem Zustand geistiger Erleuchtung und der Konzentration auf Gott hervorgeht. Die Bemühungen des menschlichen Verstandes können und dürfen Aufklärung von oben, göttliche Offenbarungen, nie entbehrlich machen. Die bei der geschichtlichen Verortung Arnolds maßgebliche Ambivalenz möge von der Arnoldforschung als geistige Herausforderung aufgenommen werden. Das Rahmenthema würde dann ‚Gottfried Arnold und die Frühaufklärung‘ heißen.

109 Poiret: Théologie du cœur (Anm. 103), Préface Bl. 4r/v, 5: „Or on ne voit pour tous effets des lumiéres du siecle éclairé que l’accroissement de toutes sortes de maux. On n’y voit que divisions, contentions, animosités, haines implacables, envie de se calomnier & de s’exterminer les uns les autres autant qu’il est possible: On y peut remarquer que la science des plus doctes & des plus moderés aboutit enfin à l’Atheïsme: que les Philosophes abandonnent Dieu pour n’adherer qu’à l’idole vaine de leur raison corrompue [...].“

Der Seelenfrieden der Stillen im Lande Quietistische Mystik und radikaler Pietismus Nach dem freiwilligen Verzicht auf die Ausübung der Geschichtsprofessur an der Universität Gießen zog sich Gottfried Arnold im Mai 1698 bekanntlich nach Quedlinburg zurück,1 um, weltlichen Einflüssen entrückt, seinen geistlichen Bedürfnissen entsprechend leben zu können. Dieser Einschnitt in der Biographie des radikalen Pietisten bedeutete zugleich den Beginn der Zuwendung zur zeitgenössischen quietistischen Mystik und zu deren Vorläufern. Die Mystiktheologen erblickten das Ziel geistlicher Vervollkommnung in der Konformität des menschlichen mit dem göttlichen Willen, in der vollständigen Rücknahme der ‚Eigenheit‘, genauer: im Zustand der ‚annihilatio‘ und der von Sinneseindrücken freien Kontemplation Gottes. In seiner auf den 6. Juni 1700 datierten Vorrede zu der in Quedlinburg entstandenen Schrift über den Kirchen- und Abendmahlsbesuch beteuerte Gottfried Arnold, die Pietisten in Schutz nehmend, daß „[…] alle angegebene gefahr oder schaden / durch interessirte auffwieglerische leute erdichtet / und hingegen von solchen stillen im lande / als denen treuesten unterthanen / ein ungemeiner segen über Obere und untere von Gott gantz und gewiß erhalten werde.“2 Im fortdauernden Streit über die politische Rolle der Pietisten und um die obrigkeitliche Gunst der zerstrittenen Parteien fand die biblische Begriffsverbindung ‚die Stillen im Lande‘ im Umfeld der Quedlinburger Auseinandersetzungen zunehmend Verbreitung und semantisches Profil,3 ohne allerdings den Schlagwortcharakter zu verlieren. Mit der im Titel verwendeten Begriffstrias ‚Seelenfrieden‘, ‚die Stillen im Lande‘ und ‚quietistische Mystik‘ wird die Relevanz der hier thematisierten Verbindung von radikalpietistischer Frömmigkeit und quietistischem Einfluß im Werk Gottfried Arnolds plakativ vorweggenommen. Eine zusätzliche historische Legitimation beziehen die gebrauchten Termini aus der Streitschriftenliteratur der frühen 90er Jahre des 17. Jahrhunderts. In ihr wird scherzhaft mit dem Gleichklang von ‚Pietismus‘ und ‚Quietismus‘ plausibel ge1 Dazu Jürgen Büchsel: Vom Wort zur Tat: Die Wandlungen des radikalen Arnold. Ein Beispiel des radikalen Pietismus. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 145–164, hier S. 154. 2 Gottfried Arnold: Erklärung / Vom gemeinen Secten=wesen / Kirchen= und Abendmahl=gehen; Wie auch Vom recht= Evangel. Lehr=Amt / und recht= Christl. Freyheit: Auff Veranlassung derer von Ernest Salom. Cypriani [...] vorgebrachten beschuldigungen wider seine Person / unpartheyisch vorgetragen. Leipzig 1700, S.  12; auch in: Gottfried Arnold. In Auswahl hg. von Erich Seeberg. München 1934, S. 139. 3 Bibelzitat: Ps 35,20. Mehr über dessen Bedeutung in den Quedlinburger Auseinandersetzungen bei Franz Dibelius: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Berlin 1873, S. 141f.

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macht, daß das Wort ‚Pietist‘ aus der Bezeichnung ‚Quietist‘ abgeleitet sei.4 Die gewagte Etymologie eines Pietistengegners führt zu einer sinnvollen allgemeinen historischen Fragestellung, nämlich auf das Problem der wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Frömmigkeitsbewegungen. Nach einem verbreiteten biographischen Topos umschreibt darüber hinaus die Bezeichnung ‚Quietist‘ den geistlichen Habitus, den der Pietist Gottfried Arnold in der radikalen Lebensphase ausgebildet und später wieder verloren habe.5 Der quietistische Einfluß auf Gottfried Arnold, der von der zweiten Quedlinburger Zeit an bis in die letzten Lebensjahre hineinreichte, scheint jedoch, bei allem Wandel im einzelnen, ein Kontinuum in Arnolds Leben zu bilden.6 Diese Wirkung ging vornehmlich vom Hauptrepräsentanten der quietistischen Bewegung innerhalb der römischen Kirche, dem spanischen Weltgeistlichen Michael de Molinos (1628–1696),7 und seinem italienischen Gesinnungsfreund und Protektor Kardinal Pietro Matteo Petrucci (1636–1701)8 aus. Gottfried Arnold 4 Bericht Und Erinnerung / Auff eine neulich in Druck Lateinisch und Teutsch ausgestreuete Schrifft / Jm Latein IMAGO PIETISMI, Zu Teutsch aber Ebenbild der Pietisterey / genannt. [...] Abgefasset Anno 1692, im Monat Januario. Sambt Einer Vorrede D. Philipp Jacob Speners / Darinnen sonderlich die Historie und was in der Sache bißher vorgegangen / enthalten ist. Jm Jahr MDCXCII (Exemplar der Stiftsbibliothek St. Gallen, Sign.: HH m V 12), Bl. Ev: „Hierauff verlohnet sich nicht der Mühe / weitläufftig zu untersuchen und anzuführen / wie das Wort pietist, nach des Autoris Vorgeben / auffkommen / und ob man es nicht vielmehr aus einem halben Schertz / licentia poetica ersonnen / und auf das Wort Quietist, davon um selbige Zeit in Leipzig viel geschrieben und geredet worden / gereimet.“ Das Zitat spielt an auf ein Leichengedicht in Sonettform des Leipziger Professors Joachim Feller auf Martin Born (1666–1689), das abgedruckt ist in: Reinhard Breymayer: Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert. Hg. von Helmut Schanze. Frankfurt a.M. 1974, S. 87–104, hier S. 88f. 5 Diese Ansicht vertritt Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik. Meerane i. Sa. 1923 (Ndr. Darmstadt 1964), der in Arnolds Biographie zwei Brüche feststellt und deshalb die Unterschiede zwischen den drei Lebensabschnitten des Pietisten stark betont. Zu diesem Arnoldbild siehe meinen Aufsatz ‚Die Rhetorik des Heiligen Geistes‘ in diesem Band, S. 16, Anm. 3. 6 Auch Jürgen Büchsel (Anm. 1) betont die Einheit von Arnolds Vita und, schon in der früher erschienenen Monographie: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, S. 203, die Notwendigkeit, den Einfluß der verschiedenen Richtungen der Mystik, namentlich des Quietismus, auf den radikalen Pietisten genauer zu untersuchen. 7 Zu Leben und Werk siehe: Eulogio Pacho: Molinos (Michel de). In: Dictionnaire de spiritualité. Bd. 10. Paris 1980, Sp. 1486–1514. Der interkonfessionellen Ausstrahlung von Molinos’ Werk wird dieser Lexikonartikel nicht gerecht. 8 Zu Leben und Werk: Pietro Zovatto: Petrucci (Pierre-Matthieu). In: Dictionnaire de spiritualité. Bd. 12. Paris 1984, Sp. 1217–1227.

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brachte bekanntlich beider Werk durch von ihm geförderte deutschsprachige Editionen, die er mit apologetischen Vorreden und anderen Zugaben versah, dem einheimischen Publikum näher.9 Im folgenden kann in Grundzügen nur auf die Beziehung Arnolds zu Molinos eingegangen werden.10 Leben und Werk des von der römischen Kirche Verfolgten und von der Inquisition schließlich, nach lange hinausgeschobenem Prozeß, Verurteilten bildeten für Arnold eine untrennbare Einheit. In der Person des Spaniers fand er die typischen Merkmale des Wahrheitszeugen mit der Besonderheit der römisch-katholischen Herkunft vereinigt. Daß Molinos zudem ein Zeitgenosse des Verfassers der Kirchen- und Ketzerhistorie (im folgenden KKH) war, verschaffte seiner geistlichen Autorität und seiner Individualität bei Gottfried Arnold besonders hohes Ansehen. Im Jahr 1687, als das Gerichtsverfahren gegen Molinos zum Abschluß kam,11 begann man sich im deutschen Sprachraum, vorerst in Leipziger Gelehrtenkreisen, mit dem von der römischen Kirche Geächteten näher zu befassen. Bereits im Januar 1687 rezensierte Veit Ludwig von Seckendorf in den Acta Eruditorum eine Streitschrift des Jesuiten Paul Segneri gegen Molinos.12 Am 3. Mai desselben Jahres wurde an der theologischen Fakultät der Leipziger Universität über den Quietismus disputiert.13 Im Herbst 1687 erschien dann sowohl in Leipzig 9 Zu den Molinoseditionen siehe weiter unten. Edition der Briefe Petruccis: Kurtze  / Geistliche und Gott= || seelige || Brieffe / || Von || Hrn. Petro Matthaeo || Petrucci, || Weyland Bischoff zu Jesi und Car= || dinal || geschrieben / || Nunmehro aus der Jtaliänischen in || die Hochteutsche Sprache übersetzt / || Mit einer Vorrede || Gottfried Arnolds. || Halle 1705 (Exemplar der Universitätsbibliothek Basel, Sign.: His 162). In Arnolds Vorrede zu dieser Edition ist vom Quietismus nicht ausdrücklich, von Molinos überhaupt nicht die Rede, hingegen von der reinen Gottesliebe im Sinn von François de Salignac de La Mothe Fénelon. Ein Exemplar der angeblich bereits 1702 erstmals erschienenen, von Arnold herausgegebenen Petrucciübersetzung (Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Erster Teil: Abele-Bohse. Stuttgart 2 1990, S. 334) konnte bis jetzt leider nicht aufgefunden werden. 10 Ergänzend ist z.B. auf die Wirkung des Werks der Madame Guyon hinzuweisen; vgl. dazu Hans-Jürgen Schrader: Madame Guyon, le piétisme et la littérature de langue allemande. In: Rencontres autour de la vie et de l’oeuvre de Madame Guyon. Hg. von Jacques Le Brun, Pierre Caran und Marie-Louise Gondal. Grenoble 1997, S. 83–129, hier (insbes. S. 96–98) auch kurz über Gottfried Arnolds Verhältnis zum Quietismus. 11 Vgl. Pacho: Molinos (Anm. 7), Sp. 1509–1513, detaillierte Schilderung des Prozeßverlaufs und der Verurteilung. 12 Acta Eruditorum. Leipzig 1687, S. 19–26: „Concordia tra la fatica e la quiete nell’ orazione etc. da Paolo Segneri. i.e. Concordia laboris & quietis in oratione, a Paulo Segnerio, ex. Soc. Jesu, in responso ad religiosum quendam descripta. Bononiae, apud J. Recaldinum, 1681. in 12.” – Zur Identifikation des Rezensenten siehe: Augustinus Hubertus Laeven: The ‚Acta Eruditorum‘ under the editorship of Otto Mencke (1644–1707): The history of an international learned journal between 1682–1707. Amsterdam 1990, S. 313. 13 Johann Benedikt Carpzov (Präses) / Johann Günther (Respondent): De religione quietistarum. 3.5.1687. Leipzig. Daß bereits 1686 an der theologischen Fakultät der Uni-

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als auch in Sulzbach die von August Hermann Francke angefertigte Übersetzung von Molinos’ Hauptwerk, der 1675 zuerst in spanischer Sprache in Rom veröffentlichten Guia espiritual.14 Die Leipziger Ausgabe von Franckes lateinsprachiger Übersetzung aus dem Italienischen wurde im Oktober in den Acta Eruditorum kommentarlos angekündigt15, auf der folgenden Seite der Zeitschrift dann das Inquisitionsdekret gegen Molinos vom Rezensenten Christian Wagner mit dem zwiespältig entschuldigenden Hinweis vorgestellt, „[…] etiamsi vix inter ERUDITORUM ACTA fanatici illius propositiones, decreto insertae, locum mereantur.“16 In den folgenden Jahren setzte man sich dann mit Molinos auch anderenorts zum Teil recht eingehend und kritisch auseinander. Das geschah vor allem an den Universitäten und Hohen Schulen des deutschsprachigen Gebiets, so z. B. in Kiel, Helmstedt und Zürich, später in Tübingen – hier ist an die von Johann Albrecht Bengel unter Johann Wolfgang Jäger verteidigte Dissertation zu denken.17

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versität Leipzig eine Dissertation mit dem Titel ‚De Quietismo contra Molinosum‘ verteidigt wurde, wie Hans Leube: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Bielefeld 1975, S. 174, ohne nähere bibliographische Angaben behauptet, ließ sich bis jetzt nicht verifizieren. Martin Brecht: Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. VIII. August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. Göttingen 1993, S. 442, identifiziert die fragliche Disputation ohne nähere Begründung mit der oben erwähnten vom 3.5.1687. D. MICHAELIS DE MOLINOS, || SACERDOTIS, || MANUDUCTIO || SPIRITUALIS, || Extricans animam, eamque per viam, || interiorem ad acquirendam contemplationis || perfectionem, ac divitem pacis inte- || rioris thesaurum dedu- || cens, || una cum || TRACTATU EJUSDEM || De || QUOTIDIANA || COMMUNIONE, || Fideliter & stylo Mysticorum conformi- || ter in latinam lingvam translata || A || M. AUG. HERMANNO || FRANCKIO. || Liber, in quo praecipua Eorum, || qui vulgo QUIETISTAE vocantur, || DOGMATA declarantur. || LIPSIAE, || Sumpt. REINHARDI WAECHTLER, || hactenus Arg. nunc Lips. Bibliopol. || MDCLXXXVII, (Franckesche Stiftungen, Halle a.d. Saale, Studienzentrum, Bibliothek: Sign.: 15 G 13). Ein Exemplar mit dem Erscheinungsort ‚Sulzbach‘, das beinahe dasselbe Titelblatt wie die Leipziger Ausgabe aufweist, befindet sich ebenfalls in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen (Sign.: 14 L 7). Acta Eruditorum (Anm. 12), 1687, S. 588. Ebd., S. 589–591, hier S. 589. Kiel: Johann Friedrich Mayer: De quietistarum persecutionibus. Dissertatio. Stockholm  / Hamburg 1688 (Franckesche Stiftungen, Halle a.d. Saale, Studienzentrum, Bibliothek: Sign.: 64 H 40). – Helmstedt: Johann Andreas Schmidt (Präses) / Hieronymus Nieper (Respondent): Quietismi revolutio in quietistis decimi quarti & hujus seculi: Helmstedt 1696 (Franckesche Stiftungen, Halle a.d. Saale, Studienzentrum, Bibliothek: Sign.: 54 E 2). – Zürich: Johann Heinrich Fries: Oratio de quietismo. Zürich 1691. – Tübingen: Johann Wolfgang Jäger (Präses) / Wilhelm Ludwig Mohl und Johann Albrecht Bengel (Respondenten): Dissertatio de theologia mystica eiusque processu. 25./26.2.1707. Tübingen. Ferner: Johann Wolfgang Jäger (Präses) / Hermann Vast (Respondent): Dissertatio de actibus mysticis et primò de orationibus seu precibus. 11.4.1707. Tübingen. Johann Wolfgang Jäger (Präses) / Johann Friedrich Brand

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Gottfried Arnold wandte sich in der ersten Phase seines schriftstellerischen Wirkens nicht den Wahrheitszeugen der jüngsten Geschichte zu, sondern widmete sich den Anfängen des Christentums, der Gestalt und Entwicklung der Urkirche. Im Offenherzigen Bekenntnis noch wird die unüberbrückbare Kluft zwischen der mit Babel identifizierten Welt und dem Wirken des göttlichen Geists beklagt und daher, im Anschluß an die Kirchenväter und vor allem an Makarius den Ägypter, die Lösung dieses Konflikts im Rückzug aus der Welt, in die Einsamkeit gesucht.18 Die autobiographische Schrift nimmt im übrigen allgemeines mystiktheologisches Gedankengut auf, das, infolge fehlender präziser Quellennachweise, nicht einzelnen Autoren oder Denkrichtungen genau zuzuordnen ist. Hingegen lassen sich in Arnolds Lyrik quietistische Einflüsse klar nachweisen, wobei das als Molinosparaphrase gedeutete 19-strophige Gedicht Als ich das Nichts nahm wohl in acht, Und mich darein ergeben nur mit Vorbehalt Arnold zugeschrieben werden darf.19 Läßt man dieses unsichere Zeugnis beiseite, kann am ehesten das mit Weg der Ruhe betitelte Gedicht20 als Versuch einer poetischen Umsetzung quietistischer Vorstellungsinhalte gelten. Arnold entsagt hier seiner Bindung an die manieristische Sprache der Sophienlyrik und der Hohelieddichtung.21 Im Fortgang der Strophen verlieren sich die Metaphern und andere sinnliche Ge-

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und Johann Philipp Kieser (Respondenten): Dissertatio theologica de oratione vocali, mentali, et passiva. August 1714. Tübingen (Exemplare der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg). Gottfried Arnold: Offenhertzige Bekäntnüs / Was Jhm bewogen / bey unlängst geschehener freywilligen Verlassung eines Academischen Ambtes schrifftlich von Jhm abgeleget worden [...]. Frankfurt a.M. / Leipzig 1699, XLV., S. 28f.; s.u. S. 240f. § 45 – Ausführlich über Arnolds Begegnung mit Makarius: Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold. Göttingen 1963, S. 148–193; zum ‚Offenherzigen Bekenntnis‘, S. 168. Traugott Stählin: Gottfried Arnolds geistliche Dichtung. Glaube und Mystik. Göttingen 1966, behauptet (S. 52f.), daß Arnold im Gedicht über das Nichts das 20. Kapitel im 3. Buch von Molinos’ ‚Geistlichem Wegweiser‘ lyrisch umgesetzt habe. Diese Hypothese stützt sich auf den oberflächlichen Textvergleich, nicht auf den genauen Nachweis von Zitaten. Hinzu kommt, daß Karl Christian Eberhard Ehmann in: Gottfried Arnold: Sämmtliche geistliche Lieder mit einer reichen Auswahl aus den freieren Dichtungen und einem Lebens-Abriß desselben. Ein Beitrag zur christlichen Hymnologie und Mystik. Hg. von Karl Christian Eberhard Ehmann. Stuttgart 1856, dieses Gedicht nur aufgrund eines fragwürdigen Analogieschlusses (Texte, „[...] die nach Geist und Form das Arnold’sche Gepräge tragen [...]“, ebd., S. VIII) Gottfried Arnold zuschreibt. Gottfried Arnold: Neue Göttliche Liebes=Funcken und Ausbrechende Liebes=Flammen / in fortgesetzten Beschreibungen / der grossen Liebe GOttes in Christo JESU. Leipzig 1700, CXXXI, S. 305f. Peter-André Alt: Reinigung des Stils oder geistlicher Manierismus. Zur pietistischen Bildsprache. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Teil 2. Hg. von Dieter Breuer u.a. Wiesbaden 1995, S. 563–577. Alt legt Arnolds Lyrik einseitig auf den tropenreichen barocken Manierismus fest, obwohl sie dort, wo sie die mystische ‚via negativa‘ propagiert, nur sehr sparsam Metaphern verwendet.

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staltungsmittel der sprachlichen Aussage fast ganz: Der bereits am Gedichtanfang nur zaghaft auftretende Gestus des rhetorischen ‚genus sublime‘ wird allmählich zurückgenommen. So lautet die letzte Strophe: „Jst er [das heißt: Gott, der Herr] nun Alls / was ist denn mehr zu thun / Als Nichts / und in der still des glaubens ende hoffen! [das heißt: des Glaubens Ziel] O selig / wer so kan im schoose ruhn / Der hat den zweck der herrlichkeit getroffen. Sein fiat wird im augenblick mehr sehn / Als von dir kan dein lebenlang geschehn.“22

Das jambische Metrum und die in strenger Reimordnung (ababcc) fixierten Sechszeiler lassen dem ohnehin verhaltenen Pathos der Worte wenig Raum. Aber auch dieses geistliche Lehrgedicht, das den inneren Frieden und das Schweigen propagiert und tatsächlich von Arnold stammt, ist für den gesicherten Nachweis einer Abhängigkeit des Verfassers von bestimmten quietistischen Autoren nicht geeignet. Zentral nicht nur im Hinblick auf die Wirkung von Quietisten auf Gottfried Arnold, sondern auch für die allgemeine Kenntnis der Vermittlungskanäle und ihrer Einflußsphären ist das ausführliche Kapitel, das Arnold in der KKH dem Quietismus gewidmet hat.23 Der spanische Mystiker wird hier zum ersten Mal in einem Werk des radikalen Pietisten als Person faßbar. Arnold vermittelt dem Leser in deutscher Sprache ein vergleichsweise umfassendes, wenn auch apologetisches Bild des Quietismus, das er mit vielen bio-bibliographischen Informationen sowie mit längeren Quellenausschnitten anreichert. Einerseits bemüht er sich um eine objektive Geschichtsschreibung, indem er ausgewählte Zitate, die für sich selber sprechen sollen, aneinanderreiht, anderseits macht er gezielt Propaganda für den von der Orthodoxie verfemten Molinos. Hauptgegenstände der Darstellung sind das Lebensschicksal und das wichtigste Werk des Spaniers, das in deutscher Übersetzung von Arnold kurz Geistlicher Wegweiser genannt wird. Die von der Inquisition verurteilten 68 Propositiones druckte Arnold zusammen mit kritischen Anmerkungen eines unbekannten Autors ab.24 Die vier monita, deutsch Berichte oder Erinnerungen genannt, die Molinos dem eigentlichen Text seines Seelenführers vorausschickte, wurden von Arnold in deutscher Übersetzung ungekürzt in die KKH aufgenommen.25 Als Vorlage diente ihm wohl, wie ein Vergleich der Texte ergibt, die erwähnte, bereits 1687 erschienene lateinische Molinosaus-

22 Arnold: Neue Göttliche Liebes=Funcken (Anm. 20), S. 306. 23 Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1729 (Faksimile-Neudrucke Hildesheim 1967 und 1999), Theil III, Das XVII. Capitel ‚Von denen Quietisten‘, S. 176–193. 24 Ebd., S. 180–184. 25 Ebd., S. 186–189.

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gabe von August Hermann Francke.26 Erst am Schluß des Quietismusabschnitts kommt Arnold auf die von ihm erstmals 1699 edierte deutsche Molinosausgabe zu sprechen,27 deren Vita des Verfassers er dann anfügt,28 obwohl er diese im selben Artikel in einer anderen Version bereits vorgestellt hat. Im biographischen Nachschub, der zu dieser Doppelspurigkeit führte, ist das Todesdatum Molinos’ vom 28. Dezember 1697 ausdrücklich auf den 18. Oktober 1696 korrigiert,29 ohne daß das im ersten Lebensabriß im Text vermittelte Datum30 dem neuen Stand der Erkenntnis angepaßt worden wäre. So erscheint das Quietismuskapitel mit den in ihm enthaltenen Varianten zur Biographie des Molinos, wie auch viele Abschnitte der KKH, als ‚work in progress‘. Vermutlich lieferte Arnold den seiner Molinosausgabe entnommenen Lebenslauf des spanischen Mystikers im Jahr 1699 der Druckerei zur ergänzenden Publikation nach. Das Hauptthema der vier Erinnerungen des Geistlichen Wegweisers, die Arnold wortwörtlich übersetzt publizierte, bildet die Kontemplation, die ‚Beschauung‘ als höchste Form der Gottesverehrung. Hieraus folgt eine Abwertung der Betrachtung oder Meditation, die für Molinos lediglich eine propädeutische Funktion besitzt, indem sie den Gläubigen vorbereitet auf die ‚unio mystica‘, den von sinnlichen Erfahrungen und von Vernunfterkenntnis freien Zustand der Vereinigung mit Gott. Da die Aszetik die geistliche Vervollkommnung des Menschen unter Mitwirkung der natürlichen Kräfte erstrebt, verliert sie für den im spirituellen Leben Fortgeschrittenen an Bedeutung. Dieser vertraut sich ganz dem Gnadenwirken des Heiligen Geistes an, in dessen bereitwilliger Aufnahme er die eigene Nichtigkeit erfährt. Arnold übernimmt und verbreitet das vom Geistlichen Wegweiser entworfene, die Natur zugunsten der Gnadenwirkung völlig zurückdrängende Konzept quietistisch-mystischer Theologie. Damit wendet er sich zugleich von den agonalen Tendenzen der KKH ab und der friedfertigeren Glaubensauffassung der Mystik zu. Noch bevor Pierre Poiret einzuwirken begann, gingen wohl entscheidende Impulse von der durch August Hermann Francke geschaffenen Übersetzung des Geistlichen Wegweisers aus. Mit dem Quietismuskapitel der KKH ist der Übergang von der Geschichtsschreibung als einer wissenschaftlich-religionspropädeutischen Disziplin zur praktischen Frömmigkeitslehre bereits vollzogen. Die Edition von Molinos’ Geistlichem Wegweiser von 1699 unterstreicht noch Arnolds Hinwendung zur kontem-

26 Die hier besprochenen Molinoseditionen können an dieser Stelle nicht miteinander verglichen werden. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte des ‚Geistlichen Wegweisers‘ im deutschen Sprachbereich ist dies aber ein dringendes Desiderat. 27 Vgl. Anm. 31. 28 Arnold: KKH (Anm. 23), S. 190. 29 Ebd., S. 193; Pacho (Anm. 7), Sp. 1489, nennt, ohne eine Begründung zu geben, den 28. oder den 29. Dezember 1696 als Todestag. 30 Arnold: KKH (Anm. 23), S. 185.

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plativen Mystik.31 Es handelt sich bei dieser Ausgabe um die erste nahezu vollständige Übersetzung der Molinosschrift ins Deutsche. Die Übertragung ist aber nicht Arnolds Werk, sondern eine Gemeinschaftsarbeit, von der nicht feststeht, ob überhaupt und, gegebenenfalls, in welchem Ausmaß und in welcher Eigenschaft Arnold daran beteiligt war.32 Er scheint, was schon das Quietismuskapitel der KKH beweist, alle ihm verfügbaren publizistischen Mittel eingesetzt zu haben, um den Geistlichen Wegweiser im eigentlichen Wortlaut bekannt zu machen. Arnolds Molinosedition war ein großer Erfolg, wurde sie doch zu Lebzeiten des Herausgebers mindestens dreimal, 1712 sogar in erweiterter Form,33 veröffentlicht. Diese spätere, erweiterte Fassung erschien dann noch sicher zweimal, 1732 und 1743, unverändert.34 Seither wurden meines Wissens keine so vollständigen deutschsprachigen Übersetzungen des Geistlichen Wegweisers mehr publiziert.35 Schon die 31 Gottfried Arnold (Hg.): Der || Geistliche || Wegweiser / || Dienende || Die Seele von den sinnlichen Din= || gen abzuziehen / || und dieselbe durch den in= || nerlichen Weg zu der vollkom(m)enen Be= || schauung und zum innerlichen Frieden || zu führen: || Erstlich geschrieben || Von || Michael de Molinos, || der H. Schrifft D. und Predigern  / || Nunmehro in die Hochteutsche Sprache || mit besondern Fleiß übergesetzet / || zusamt des || Autoris Lebens=Lauf || und einem || Sendschreiben || Von seinem inwendigen Zustand. || Franckfurth / bey Joh. Christoph König. || Anno 1699. || (Franckesche Stiftungen, Halle a.d. Saale, Studienzentrum, Bibliothek: Sign.: 17 G 13). 32 Ebd. in der Herausgebervorrede, Bl. [C4r], gibt Arnold, ohne Namen zu nennen, über die Entstehungsgeschichte der von ihm edierten Molinosübersetzung Aufschluß: vor einigen Jahren habe ein Gelehrter die deutsche Fassung gleichzeitig auf der Basis einer lateinischen und einer französischen Version erarbeitet, worauf sie von einer weiteren Person mit einer italienischen verglichen worden sei. Des weiteren habe der erste Übersetzer einige typisch katholische Passagen weggelassen und ein Kenner der mystischen Theologie schließlich die Anmerkungen hinzugefügt. Über die Identität all dieser Beteiligten gibt es bis jetzt leider keinerlei Hinweise. Peter Nickl: Quietismus, Hesychasmus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7: P–Q. Basel 1989, Sp. 1834–1837, hier Sp. 1837, schreibt die Übersetzung irrtümlich Gottfried Arnold zu. 33 Bibliographischer Nachweis siehe Anm. 34. 34 Michael de Molinos: Geistlicher Wegweiser. Frankfurt a.M. 1732 (Franckesche Stiftungen, Halle a.d. Saale, Studienzentrum, Bibliothek: Sign.: 159 M 31). Ders.: Geistlicher Wegweiser. Frankfurt a.M. 1743 (Universitätsbibliothek Basel, Sign.: His 175). Von weiteren, in der älteren Literatur erwähnten Arnoldschen Ausgaben des ‚Wegweisers‘ (Goslar 1700, Leipzig 1704 und Goslar 1707) konnte bis jetzt kein Exemplar gefunden werden. Dünnhaupt: Personalbibliographien (Anm. 9), S. 327, führt in seinem Verzeichnis der Werke Gottfried Arnolds ein defektes Exemplar einer Molinosausgabe (Frankfurt 170/4?/) in der UB Erlangen an. Es handelt sich dabei wohl um die Frankfurter Ausgabe von 1704 (Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen). 35 Arg verstümmelt ist die von Georg Priem aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte Fassung: Michael de Molinos: Der geistliche Führer welcher die Seele frei macht und sie auf dem inneren Wege zur Erlangung vollkommener Anschauung führt und der reiche Schatz innerlichen Friedens. Leipzig s.a.

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erste Arnoldsche Edition von 1699 enthält die mit Arnolds Initialen gezeichnete Vorrede, eine Kurtze Historie Von dem Autore dieses Büchleins und einen Vorbericht, die beide aber nicht vom Herausgeber stammen, die Vorrede des Molinos, die Einleitung und die drei Bücher des Geistlichen Wegweisers mit erklärenden Anmerkungen, einen Brief von Molinos sowie das Inhaltsverzeichnis. Insgesamt handelt es sich um eine abgerundete, sorgfältig gestaltete Edition. Sogar ein Kupferstich mit dem Porträt des Verfassers fehlt nicht. Offensichtlich wollte Arnold breitere deutschsprachige Leserschichten mit der Person und dem Werk des Molinos eingehend vertraut machen. Von der bedeutenden Rolle Pierre Poirets bei der Umorientierung Arnolds auf die frühneuzeitliche mystische Theologie wird an anderer Stelle berichtet.36 Wie bei Molinos erfreut sich bei Poiret der passive Intellekt im Zustand der Seelenruhe des stärksten Einflusses göttlicher Gnade.37 In doppelter Hinsicht war Poiret ein wichtiger Vermittler katholisch-quietistischer Kontemplationsmystik. Arnolds Historie und Beschreibung der mystischen Theologie (im folgenden MT),38 zuerst 1702 in lateinischer Sprache erschienen, enthält unter dem Titel Verthädigung der mystischen Theologie eine Übersetzung von längeren Textabschnitten aus Poirets Théologie réelle. In diesen Auszügen verurteilt Poiret ausführlich und mit philologischem Exaktheitsanspruch das tendenziöse Gehabe eines Molinoskritikers und preist Molinos’ Wegweiser uneingeschränkt als ein Buch, worin „[…] ich und die gantze Welt nichts als schönes […] gesehen“.39 Mit diesem Lob der kontemplativen Mystik ist, historisch gesehen, auch die mystische Theologie der Karmeliten

36 Siehe dazu meinen Aufsatz ‚Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold’ in diesem Band, S. 106–129. 37 Pierre Poiret: Vollkommene Gewissens=Ruhe der Frommen. Wie solche Von allen Christen / Die da GOTT fürchten / kan genossen werden / Zu Beruhigung der Friedliebenden. Frankfurt a.M. / Leipzig 1714, S. 435: Obwohl nicht unkritisch gegenüber den Quietisten, sieht Poiret in der Seelenruhe die „[...] allerhöchste Stufe [...] zu welcher der Heilige Geist die Gott=ergebene Seelen erhebet [...].“ Erste, französischsprachige Ausgabe dieser Schrift unter dem Titel ‚La paix des bonnes ames dans tous les partis du christianisme, sur les matiéres de religion & particuliérement sur l’eucharistie (Amsterdam 1687)‘ (nach Marjolaine Chevallier: Bibliotheca Dissidentium, répertoire des non-conformistes religieux des seizième et dix-septième siècles. Bd. V: Pierre Poiret. Baden-Baden 1985, S. 89). Diese Poiretausgabe erwähnt auch Arnold: KKH (Anm. 23), Theil III, Capitel XVI, S. 169. Zur Hochschätzung des passiven Intellekts durch Poiret vgl. den Aufsatz ‚Rhetorik des Heiligen Geistes‘ in diesem Band, S. ?????. 38 Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie oder geheimen Gottesgelehrtheit wie auch derer alten und neuen Mysticorum. Frankfurt a.M. 1703 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969). Titel der lateinischen Ausgabe: Historia et descriptio theologiae mysticae seu theosophiae arcanae et reconditae, itemq; veterum & novorum mysticorum, Frankfurt a.M. 1702. 39 Pierre Poiret: Verthädigung Der Mystischen Theologie. In: Arnold: MT (Anm. 38), S. 126.

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gemeint, die auf das Werk des Molinos maßgeblich einwirkte.40 Von Poirets Traktat angeregt,41 kam es denn auch um 1700, erstmalig in den deutschen Ländern, zu einer Aufnahme von Leben und Werk der Hauptrepräsentanten karmelitischer Mystik auf interkonfessioneller und zugleich muttersprachlicher Basis.42 Es war hauptsächlich Gottfried Arnold, der unter dem Einfluß des Geistlichen Wegweisers von Molinos die Schriften des Johannes vom Kreuz und der Theresa von Avila über die konfessionellen Grenzen hinaus bekannt zu machen begann. Er besaß die Werke dieser beiden führenden Karmeliten in seiner Bibliothek43 und propagierte sie, in Verbindung mit einem Lebensabriß, eigens in der MT.44 In Leben der Gläubigen (1701) nahm er, wenn auch in abgewandelter Form, die Vita des Johannes vom Kreuz in einem ins Deutsche übersetzten Auszug aus der lateinischen Kölner Ausgabe von 1639 sowie den Lebenslauf der Heiligen Theresa aus der deutschen Kölner Edition von 1686 auf.45 Außerdem pries er im Katalog mystischer Autoren, den er der MT anfügte, die Schriften einer ganzen Anzahl wei-

40 Vgl. dazu Pacho (Anm. 7), z.B. Sp. 1492, 1494, 1495, 1504, 1505. Schon die frühen Molinoskritiker, z.B. Fries (Anm. 17), S. 68f., strichen den karmelitischen Einfluß heraus. 41 Poiret: Verthädigung (Anm. 39), S. 170–178 ( Johannes vom Kreuz), S. 178–180 (Theresa von Avila). 42 Zur allgemein spät einsetzenden Rezeption des Karmel in den deutschen Ländern, insbesondere des auch in der römischen Kirche heterodoxieverdächtigen Johannes vom Kreuz Guillaume van Gemert: Teresa de Avila und Juan de la Cruz im deutschen Sprachgebiet. Zur Verbreitung ihrer Schriften im 17. und im 18. Jahrhundert. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hg. von Dieter Breuer. Amsterdam 1984 (Chloe, Beihefte zum Daphnis 2), S. 77–107. Auf den interkonfessionellen Einfluß der Karmeliten, namentlich auf die Pietisten, weist van Gemert (ebd., S. 105) nur summarisch hin. Zur Wirkung der Schriften der Theresa von Avila Dietrich Briesemeister: Die lateinsprachige Rezeption der Werke von Teresa de Jesús in Deutschland. In: Iberoromania 18, 1983, S. 9–21. Hier, S. 11, ein kurzer Hinweis auf die Mittlerrolle von Pierre Poiret. 43 Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi, inspectoris et pastoris Perlebergensis 1714. Faksimile-Ndr. in: Gottfried Arnold (1666—1714) (Anm. 1), S. 337–410, hier: Joh. a Cruce Opp. Mystica, Colon. 1639 (S. 356); Joh. vom Creutz geistl. Schrifften / teutsch / Prag 1687 (S. 364); Der H. Teresae Schrifften und Leben / Cölln 1686 (S. 359). 44 Arnold: MT (Anm. 38), S. 476–480, hier, zu Johannes vom Kreuz, S. 479: „Und in diesen allen hat der Autor an Weißheit und Tieffe des Ausdrucks wenige / oder fast niemand seines gleichen / wie ein ieder / der den Geist der Prüfung vom Vater empfangen hat / bekennen wird.“ Zu Theresa von Avila, ebd., S. 472–476. 45 Gottfried Arnold: Das Leben Der Gläubigen Oder Beschreibung solcher Gottseligen Personen welche in denen letzten 200. Jahren sonderlich bekandt worden. Halle 1701: Vita des Johannes vom Kreuz, S. 49–68; Leben der Theresa von Avila, S. 68–241. Die Übersetzung der Lebensbeschreibung von Johannes vom Kreuz aus dem Lateinischen stammt nicht von Gottfried Arnold (vgl. die allgemeine Bemerkung, Bl. []:[2v].

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terer Karmeliten an.46 Einige dieser Werke hatte bereits Poiret in der von Arnold edierten Verthädigung der mystischen Theologie empfohlen.47 Bei Arnold zog also die Rezeption der quietistischen Mystik des Molinos bald die Aufnahme einer ganzen kontemplativen Frömmigkeitstradition nach sich, deren Wirkung, im Unterschied zu der in Quedlinburg gemäß dem Offenherzigen Bekenntnis praktizierten Weltabkehr, keineswegs eine nur vorübergehende war. Die spirituelle Bindung an Molinos und an die Frömmigkeit des Karmel gab Gottfried Arnold zeitlebens nicht mehr auf. Die Kontemplationsmystik scheint ihm nicht zuletzt auch die Rückkehr in das institutionengeprägte Leben erleichtert, ja sogar erst ermöglicht zu haben. Denn Molinos lehrte seine Anhänger, daß sie dank des Gleichmuts, den sie durch Kontemplation erlangten, den Verpflichtungen von Alltag und Beruf gewachsen seien und diese keinesfalls vernachlässigen dürften.48 ‚Vita contemplativa‘ und ‚vita activa‘ sind aufeinander bezogen und in der Lebenspraxis des Gottesfreundes untrennbar miteinander verbunden. Die Geschichte des Quietismus will Arnold in der MT nicht noch einmal erzählen, da sie der Leser in der KKH und in der deutschen Molinosausgabe finde.49 Also auch von der Mystiktheologie her gesehen, stellt der Quietismus für Arnold inhaltlich das Bindeglied zum historischen Hauptwerk dar. Dies bestätigt sich eindrücklicher, später noch als in der MT, in der Arnoldschen Molinosausgabe von 1712.50 In dieser wird nämlich der bereits in der ersten Edition von 1699 veröffentlichte Lebenslauf des Molinos durch Arnold mit Auszügen aus dem Quietismuskapitel der KKH zu einer neuen Molinosvita verwoben.51 Außerdem 46 Arnold: MT (Anm. 38), S. 486–513: Katalog mystischer Autoren. Hier z.B. Johannes von Jesus Maria, S. 499; Nikolaus von Jesus Maria, S. 499; Thomas von Jesus, S. 499f., von dem Arnold sogar die folgenden Werke besaß: De contemplatione divina (Antwerpen 1620); De oratione divina sive infusa (Antwerpen 1623), vgl. Catalogus (Anm. 43), S. 385. 47 Poiret: Verthädigung (Anm. 39): Johannes von Jesus Maria, S. 174; Thomas von Jesus, S. 174f. 48 Molinos: Geistlicher Weg=Weiser (Anm. 50), 1. Buch, XIV., S. 262f. 49 Arnold: MT (Anm. 38), S. 309. 50 MICHAEL DE MOLINOS, || Theol. Doctoris und Predigers || Geistlicher || Weg=Weiser / || Die Seele von den sinnlichen Dingen || abzuziehen, und durch den innerlichen Weg || zur völligen Beschauung und innern || Ruhe zu führen: || Aus fremden Sprachen in die || Hochteutsche übersetzt, || Und ehemahls || Nebst des AUTORIS Lebens=Lauf || und Send=Schreiben von seinem || inwendigen Zustand heraus= || gegeben, || Jn dieser dritten Ausfertigung aber || mit einer Anleitung zu unanstößiger || Lesung dieses Buchs vermehret || Von || Gottfried Arnold / || Kön. Preuß. INSPECTORE. || Frankfurt / bey Joh. Christoph König / Ao. 1712. || (Universitätsbibliothek Basel, Sign.: d’Ann. D. 68; das Exemplar stammt aus der Bibliothek des pietistischen Basler Pfarrers Hieronymus Annoni [1697—1770]). 51 Ebd., S. 59–122: „Umständlichere Nachricht Von der ganzen Sache und Verfolgung dieses Mich. de Molinos (Aus dem III. Theil der Kirchen=Historie Cap. XVII. p. 172. seqq. und der kurzen Historie von dem Auctore dieses Buchs zusammen gezogen)“.

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ergänzt der Herausgeber die neue Molinosausgabe mit einer Lektüreanleitung zum Geistlichen Wegweiser.52 In diesen Modifikationen kommt die ungebrochene Verehrung, die Arnold bis in seine letzten Jahre dem spanischen Mystiker entgegenbrachte, ebenso deutlich zum Ausdruck wie der Einfluß, den dessen Schriften kontinuierlich auf ihn ausübten.53 Damit schrumpft die sogenannte radikale Phase zu einer vergleichsweise kurzen Episode zusammen, biographisch stellt sie aber die entscheidende Wende im Leben Arnolds dar.54 Vor allem war es die quietistische Mystik des Molinos und seiner karmelitischen Vorgänger, welche Arnold bald wieder mit den kirchlichen Einrichtungen versöhnte, nicht aber mit den dort wirkenden Menschen und dem von ihnen ausgehenden möglichen Schaden. Die uneingeschränkte Anerkennung, die Arnold dem Molinos in der KKH entgegenbringt, behält er, im Grundtenor unverändert, in der Lektüreanweisung der späten Edition bei. Indem er unter anderem auf molinosfreundliche Äußerungen Philipp Jakob Speners zurückgreift,55 führt er hier die Auseinandersetzung mit den Gegnern des Quietismus genau im Sinn der KKH fort. Seine Kritik richtet sich hauptsächlich gegen eine Publikation des orthodoxen Danziger Altseniors Andreas Kühn,56 dessen molinosfeindliche Argumente er apologetisch nutzbar zu machen versucht:57 Nicht auf die inhaltliche Schwäche des Wegweisers gehen die gegen Molinos erhobenen Einwände zurück, sondern auf mangelhafte geistliche Erfahrung.58 Molinos’ Lehre stehe auf einem festen christologischen Fundament.59 Zur Beschleunigung des Prozesses innerer Vervollkommnung sei die maßvolle Unterstützung durch einen geistlichen Berater und Helfer, wie Molinos ihn darstellt, nicht bloß gerechtfertigt, sondern sogar angezeigt.60 Die ‚annihilatio‘ wird mit der Autorität Taulers bekräftigt und wiederum die göttliche Gnadenwir52 Ebd., S. 1–42: „Anleitung diß Buch ohne Anstoß zu lesen“ (von Gottfried Arnold datiert auf den 3. Mai 1712). 53 Büchsel: Gottfried Arnold (Anm. 6), S. 202f. Anm. 8, zur Abhängigkeit des späten Arnold von Molinos. 54 Ebd., S. 198, bringt die Zuwendung Arnolds zur quietistischen Mystik (Molinos, Mme de Guyon, Johannes vom Kreuz, Theresa von Avila, Petrucci; Vermittler Pierre Poiret) in der Zeit des Übergangs (1700–1701) mit der Stabilisierung des inneren Zustandes des Rezipienten in Verbindung: „Die ‚selige Hitze‘ [...] des Aufruhrs und Radikalismus ebenso, wie der Einung mit Gott, beginnt der inneren Ruhe zu weichen.“ 55 Molinos: Geistlicher Weg=Weiser (Anm. 50), Anleitung Arnolds, S. 3, 4, 6, 8, 12, 17. Siehe auch den komplementären Beitrag von Klaus vom Orde: Der Quietismus Miguel de Molinos bei Philipp Jakob Spener. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. von Hartmut Lehmann [u.a.]. Göttingen 2002, S. 106–118; vom Orde bin ich für fachliche Anregungen zu Dank verpflichtet. 56 Andreas Kühn: Von der Mysticorum quietismo contemplativo oder mystischen Beschauungs-Ruhe. Danzig 1688. 57 Molinos: Geistlicher Weg=Weiser (Anm. 50), Anleitung Arnolds, S. 11, 14. 58 Ebd., S. 16, 18, 30f., 38. 59 Ebd., S. 26–28, 42. 60 Ebd., S. 28f.

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kung hervorgehoben.61 Der Wegweiser ist für eine Elite von Frommen bestimmt, die dieses Buch „[...] nicht ohne besondere Vorsichtigkeit, und also mit Furcht GOttes in wahrer Christlicher Weißheit und Discretion und mit aufrichtigem Sinn und Verlangen nach der lautern Wahrheit zur Gottseligkeit [...]“ zu gebrauchen verstehe.62 Gottfried Arnold stellt hier das Hauptwerk des Molinos in seiner Bedeutung sogar neben die Heilige Schrift.63 Damit drückt der radikale Pietist sein Vertrauen in die von der Kraft des Heiligen Geistes durchwirkte Sprache des spanischen Mystikers aus. ‚Buchstabe‘ und ‚Geist‘, Äußeres und Inneres können und müssen in der christlichen Unterweisung zur Deckung kommen. Die Leseanleitung, die Arnold der späteren Molinosausgabe beifügte, übernimmt auf einer der natürlichen Vernunft angepaßten Ebene eine didaktische Vermittlungsfunktion. Aus beiden Zeugnissen spricht der Einsatz für die, wenn auch nur durch die Person des Unterrichtenden verkörperte Institution eines geistlichen Lehramts. Bereits 1704, also lange bevor die Lektüreanleitung zum Wegweiser entstand, hatte Gottfried Arnold die Geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers, das heißt des Pfarrers als eines kirchlichen Amtsträgers, skizziert.64 An entscheidenden Stellen, unter anderem dort, wo es um das stille Leben, den inneren Frieden und um die Selbstverleugnung geht, beruft er sich auf den Geistlichen Wegweiser des Molinos: „So ist es dir doch besser, daß du stille und gelassen in deinem Nichts bleibest / biß daß dich Gott hervor ziehe und zum Dienst und Nutzen anderer Seelen beruffe.“65 Fünf Jahre später, im Inwendigen Christentum, häufen sich Zitathinweise auf Molinos und, oft nicht unabhängig von ihnen, solche auf karmelitische Autoritäten, vor allem auf Johannes vom Kreuz.66 Übereinstimmung mit den Karmeliten besteht in der Erfahrung des göttlichen Dunkels, das heißt in der Propagierung der geistlichen Nacht als einer Wirkung des göttlichen Lichts. Dieses befreie das Kind Gottes aus dem Zustand der natürlichen Eigenheit.67 Die dogmatische Pointe seiner mystischen Kontemplationslehre bezieht Arnold in der Abbildung des inwendigen Christentums aber aus dem Geistlichen Wegweiser des Molinos: Es geht um „[...] die hochachtung GOttes / als woraus die völlige gleichförmigkeit mit dem göttli-

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Ebd., S. 36. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Gottfried Arnold: Die geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten auff vielfältiges Begehren ans Licht gestellet. Halle 1704. 65 Ebd., S. 56. Vgl. auch S. 55, 222f., 562f. 66 Gottfried Arnold: Wahre abbildung des inwendigen Christenthums / nach dessen Anfang und grund / fortgang oder wachsthum / und ausgang oder ziel in lebendigen glauben und gottseligen leben aus denen zeugnißen und exempeln der gottseligen alten zur Fortsetzung und erläuterung der Abbildung derer ersten Christen dargestellet. Frankfurt a.M. 1709; Molinosnachweise S. 162, 176, 204, 274, 505, 768, 857. 67 Ebd., z.B. S. 173, 177, 774.

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chen Willen / und hieraus die vernichtigung folge / aus dieser aber alle Göttliche gnaden=gaben.“68 Der mit dem Quietismuskapitel der KKH begonnene wirkungsgeschichtliche Abriß weist auf die zentrale Rolle der Übernahme quietistisch-mystiktheologischen Gedankenguts und auf die in der Folge bahnbrechende Bedeutung des Molinosschen Wegweisers für das theologisch-spirituelle Selbstverständnis Gottfried Arnolds hin. In diesem Werk des Molinos fand der radikale Pietist den ersehnten geistlichen Ruhepol, in der Vita des spanischen Mystikers das zeitgenössische Exempel des unter den Verfolgungen der Amtskirche leidenden und zugleich in Gott aufgehobenen Individuums. Die identifikatorische Wirkung des Molinos auf Gottfried Arnold sollte die Aufmerksamkeit der Forschung wieder vermehrt auf interkonfessionelle Abhängigkeiten lenken, die besonders in der Reaktion der Pietismusforschung auf Ritschls übertrieben katholizistisches Pietismusbild heruntergespielt oder gar verdrängt wurden.69 Arnold postulierte maßgeblich in der Molinosnachfolge und unter dem Einfluß der Mystik der Karmeliten die ‚Vernichtigung‘ des Subjekts, das heißt dessen passive Hingabe an die Wirkung göttlicher Gnade. Diese Ausrichtung seines theologischen Denkens auf die reine Kontemplation macht die geistige Distanz sichtbar, die ihn von den Frühaufklärern trennt. Daher wird man nicht – obwohl es immer wieder vorkommt70 – den radikalen Pietisten einseitig zu einem Anhänger der Hoffnung auf Vernunft71 erklären dürfen.

68 Ebd., S. 274, mit dem Verweis auf das 19. Kapitel des 3. Buchs von Molinos ‚Geistlichem Wegweiser‘. 69 Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Bonn 1880; Bd. 2. Bonn 1884; Bd. 3. Bonn 1886 (Ndr. Berlin 1966). 70 Siegfried Wollgast: Zu den philosophischen Quellen von Gottfried Arnold und zu Aspekten seines philosophischen Systems. In: Gottfried Arnold (1666–1714) (Anm. 1), S. 301–335, hier S. 310. 71 Im Anklang an: Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990.

Litterärhistorie und Ketzergeschichte Jakob Friedrich Reimmanns historiographische Toleranz Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts begegnete der Bibliothekar der Fürstabtei St. Gallen, Johann Nepomuk Hauntinger, dem ihn belastenden Vorwurf, das Fach der Gelehrsamkeitsgeschichte sei generell in den Klosterbibliotheken untervertreten,1 mit dem Erwerb auch einer beträchtlichen Anzahl einschlägiger Standardwerke protestantischer Autoren.2 Darunter befand sich die Historia literaria Jakob Friedrich Reimmanns.3 Obwohl nicht ohne konfessionelle Vorbehalte gegen die römische Kirche,4 konnte offenbar Reimmanns Werk im gelehrten benediktinischen Umfeld, nicht nur dank seines Lobs maurinischer Quellenkritik,5 Gefallen und Verwendung finden. So unerforscht das Thema ist, geht es mir bei diesen Ausführungen ebensowenig um die interkonfessionelle Wirkung protestantischer ‚Historia literaria‘ wie um die Haltung Reimmanns zu verschiedenen Erscheinungsformen von Ketzerei oder nur um sein Verhältnis zur Geschichtsschreibung der Häresie im allgemeinen. Im Mittelpunkt stehen dagegen die Aufnahme von Gottfried Arnolds Unpartheyischer Kirchen- und Ketzerhistorie (KKH) in Reimmanns Litterärgeschichte, Reimmanns innerkonfessionelle Toleranz, das heißt seine Beziehung zum radikalen Pietisten Arnold und seine Einstellung zum Pietismus als ganzem, sowie, end1 Vgl. Codex 1285 der Stiftsbibliothek St. Gallen: Johann Nepomuk Hauntinger OSB: Verzeichniß der Handschriften, Bücher, Kunst, und Naturprodukte, Welche seit dem 23. Oktober 1780 bis Ende Mayes 1792 der Stift St.Gallischen Bibliotheke sind einverleibet worden, fol. 116/117. 2 Es waren die Gelehrsamkeitsgeschichten von Daniel Georg Morhof, Valentin Heinrich Vogler, Gottlieb Stolle, Burkhard Gotthelf Struve, Christoph August Heumann, Johann Andreas Fabricius und von Hieronymus Andreas Mertens (ebd., fol. 146–148). 3 Jakob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam so wohl insgemein als auch in die Historiam Literariam derer Teutschen insonderheit. 6 Bde. Halle 1708–1713. Dem St.Galler Exemplar der ‚Einleitung in die Historiam literariam‘ ist noch ein siebter Band beigeben, der folgende Reimmann-Schriften enthält: 1. Die ersten Linien von der Historia literaria derer Teutschen / Nach der Grund=Lage des bißhero aufgerichteten Reimmanianischen Gebäudes entworffen / und in einem so kurtzen Begriff verfasset / Daß die Liebhaber die Oeconomie derselben um so viel deutlicher einsehen [...]. Halle 1713. – 2. Versuch einer Einleitung in die Historiam literariam antediluvianam. Halle 1709. – 3. Versuch einer Critique über das Dictionaire Historique & Critique des Mr. Bayle. Halle 1711. 4 Z.B. Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 412 („papistischer Sauerteig“); Bd. 2, S. 105 („papistische Charybdis“; „papistisches“ Mittelalter). Daneben auch interkonfessionelle Ausrichtung, vgl. Angaben zur katholischen Ordensliteratur (Bd. 1, S. 460–466). 5 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 77.

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lich, in dem auf die Epochenzuordnung von Reimmanns Schaffen ausgerichteten Schlußteil, die Interdependenzen von Pietismus und Aufklärung. Der Ehrgeiz des skizzierten Programms besteht also darin, einen exemplarischen Fall heranzuziehen, um zu allgemeineren historischen Befunden zu gelangen. Wie aus Arnolds Historie und Beschreibung der mystischen Theologie6 übernahm Reimmann auch aus dessen KKH historische Fakten, ohne deren Wahrheitsgehalt in Frage zu stellen oder gar quellenkritisch überprüfen zu wollen. So verdankt er seinem Gewährsmann eine Auskunft über den Paracelsisten Heinrich Nollius7 sowie einige Informationen zur Reformationsgeschichte, beispielsweise über das Schicksal von Luthers Schriften,8 über den ersten evangelischen Prediger in Schneeberg, den Namensvetter Johann Reimmann,9 oder über Johann Förster, einen anderen frühen Vertreter der neuen Glaubensrichtung,10 und viel weiteres punktuelles Detailwissen.11 Vereinzelt wurde, ohne jede Polemik, Arnold von Reimmann korrigiert.12 Ein grundsätzliches Mißtrauen Arnold gegenüber, wie es bei Arnolds schärfsten Widersachern begegnet, ist bei Reimmann jedenfalls nicht auszumachen. Im Abschnitt über Johann Arndt verweist er kurzerhand auf Arnold als Zeugen der Wahrheit, mit dessen Autorität er auch die Wundergeschichte über das in Brandfällen angeblich unversehrt gebliebene Paradiesgärtlein beglaubigt.13 Und er zögert nicht, Arnolds KKH als maßgebliche Informationsquelle zur Lebens- und Wirkungsgeschichte Jakob Böhmes anzugeben,14 Arnolds Paracelsusdarstellung gegen deren Kritiker Andreas David Carl in Schutz zu nehmen15 und das Quirinus-Kuhlmann-Kapitel des radikalen Pietisten sogar als ganzes zur Lektüre zu empfehlen.16 Ferner übernimmt er bedenkenlos fast wortwörtlich Arnolds Charakteristik des Spiritualisten Sebastian Franck, einschließlich der 6 Z.B. Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 21, 264f.; Bd. 2, S. 206, 208, 216, 218, 221, 225. Vgl. auch Reimmanns Rezension von Arnolds Mystiktheorie in: Jakob Friedrich Reimmann: Catalogus bibliothecae theologicae, systematico-criticus, in quo libri theologici, in bibliotheca Reimanniana extantes [...] enumerantur. Hildesheim 1731, S. 47f. 7 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 3, S. 483. 8 Ebd., S. 55. 9 Ebd., S. 82. 10 Ebd., S. 83. 11 Z.B. ebd., S. 59 (Urteil Albert Grauers über den Rostocker Professor Eilhard Lubinus); ebd., Bd. 4, S. 591 (über die ‚Ethica christiana‘ von Johann Crell); ebd., Bd. 5, S. 171f. (über Johann Angelus Werdenhagen); ebd., S. 383 (über Christoph Pezel); ebd., S. 423 (über Johann Pistorius). 12 Z.B. ebd., Bd. 3, S. 76 (Korrektur des Geburtsorts eines Pfarrers von ‚Halberstadt‘ zu ‚Helmstedt‘); ebd., Bd. 4, S. 74 (Verwechslung zweier Gelehrter). 13 Ebd., Bd. 3, S. 132. 14 Ebd., S. 420; S. 426f. (Fehlpaginierungen der Ausgabe). 15 Ebd., Bd. 6, S. 565. 16 Ebd., Bd. 3, S. 183.

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positiven Wertung.17 Reimmann warnt vor dem etwas zu harten Urteil Philipp Melanchthons über die Dissidenten,18 möchte im rationalen Pro und Contra der Argumente die angefochtenen Lehren gründlich dargestellt wissen und so zu einer ausgewogenen, gerechten Stellungnahme gelangen.19 Ketzerhistorie ist für ihn als Sektengeschichte Kritik an der Wirksamkeit menschlicher Leidenschaften, als solche nützlich und daher notwendig. Hierin deckt sich grundsätzlich Reimmanns mit Arnolds Auffassung: „Denn da sehe ich [...] daß man zuweilen die reinesten Lehrer aus Privat Affecten zu Ketzern gemachet / und die gröbesten Ketzer mit unter die Zahl der reinesten Lehrer gesetzet.“20 Auch darin, daß „[...] durch die vielfältigen Sectas Theologicas die Liebe [...]“ erstickt worden sei,21 stimmt er mit Arnold überein. Doch der Schein trügt. Nicht nur in der Zuordnung einzelner Personen zur einen oder anderen ‚secta‘, sondern auch grundsätzlich können die Meinungen beider Autoren, trotz Übereinstimmungen in der Wortwahl, stark auseinandergehen. Reimmann erhebt zudem, wie angedeutet, das iudicium der natürlichen Vernunft zur kritischen Instanz historischer Wahrheitsvergewisserung, für Arnold dagegen verbürgt die Kraft des Heiligen Geistes, der dem Menschen gnadenhalber göttliche Weisheit einflößt, eine übergeschichtliche Wahrheit, den Offenbarungsgehalt historischer Aussagen.22 Während der radikale Pietist Arnold das äußere Wort als faden Ausdruck menschlicher Defizienz und als weltliches Machwerk betrach17 Ebd., Bd. 5, S. 334–338. Reimmann schätzt Francks Temperament gleich ein wie Arnold, übernimmt dessen Annahme über die Seltenheit von Francks Werken, Arnolds Urteil über Francks Lutherkritik und hält, wie sein Gewährsmann, fest, daß Franck in Straßburg und in Ulm in Verruf geraten sei. 18 Ebd., S. 644. 19 Ebd., S. 643f., wo Melanchthons Verdienste um die Ketzerhistorie grundsätzlich gelobt werden. Ferner Reimmann: Versuch einer Critique (Anm. 3), S. 24. 20 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 187. 21 Ebd. 22 Vgl. Vorrede von Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, vom Anfang des Neuen Testaments biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1729 (Faksimile-Neudrucke Hildesheim 1967 und 1999), Bl. [ar]: „Jn welchem redlichen vorsatz mir es allein und einig um die blosse lautere warheit zu thun war, als nach welcher ich so lange jahr eifrigst und von gantzem hertzen geforschet, die ich auch aus Gottes ewiger erbarmung gefunden gehabt. Und als mir diese einmal so gar süsse und selig worden, konte ich freylich nicht anders, als derselben warheit, wie sie von Gott geoffenbaret ist, in allem treulich nachgehen, mit hindansetzung aller vorgefaßten meinungen, menschlichen ansehen und teuschereyen, väterlichen weisen, und was sonsten dieses helle licht verdunckeln, oder entnehmen, und also der heilsamen lehre zuwider seyn kan.“ (Auch ediert in: Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699–1927. Hg. von Bernd Moeller. Frankfurt a.M. 1994, S. 9–29, hier S. 10). Arnold instrumentalisiert teilweise das Vokabular der Frühaufklärung für die Aufklärungskritik (Lichtmetaphorik), teilweise vertritt er, mit einer anderen Begründung, eine frühaufklärerische Position (praeiudicium auctoritatis!).

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tet und sich daher nach göttlicher Erleuchtung sehnt,23 klebt der Schulmann, Gelehrte und Prediger Reimmann am Buchstaben, an den schriftlich fixierten Präparationen, hängt an Philologie und Exegese, an den Büchern und an seiner kostbaren Bibliothek.24 Auch nachdem diese teilweise einem Brand zum Opfer gefallen war und der Besitzer in diesem Unglück offenbar einen Wink Gottes erblickt hatte, der ihn für die irdischen Büchervorlieben bestraft habe,25 scheint das biographische Schlüsselereignis das erotische Verhältnis Reimmanns zum geschriebenen Wort und zum historischen Wissen kaum beeinträchtigt zu haben. Im Gegenteil: Die Buchbesprechungen in Reimmanns Bibliothekskatalogen zeugen vom Einsatz der ungebrochenen, rational gesteuerten ‚curiositas‘, die in der ‚ars critica‘ immer wieder neu ihre Erfüllung suchte. Mit dem Sündenfall ging nämlich dem Menschen für Reimmann die ursprüngliche Einfalt, die göttliche ‚sapientia‘, 23 Vgl. den Aufsatz ‚Die Rhetorik des Heiligen Geistes‘ in diesem Band, S. 15–76 (hier verschiedene weitere Belege zur geisttheologischen Sprachauffassung Arnolds). 24 Jacob Friederich Reimmann: [...] eigene Lebens=Beschreibung oder Historische Nachricht von sich selbst, nahmentlich von seiner Person und Schriften, aus dessen eigenhändigen Aufsaz mitgetheilet, bis an seinen Tod ausgeführet, und mit einigen Anmerkungen und einem kurzen Vorbericht versehen. Hg. von Friedrich Heinrich Theunen. Braunschweig 1745, Bericht des Herausgebers (für viele andere Stellen, vor allem in der ‚Einleitung in die Historiam literariam‘, an denen von der Bedeutung von Sprache, Wort und Buchstaben, von den Philologien, von Logik und Rhetorik, allen voran von der Historiographie und von den Hilfsmitteln der Gelehrsamkeitsgeschichte die Rede ist), S. 230: „Und dabey erklärte er sich also: das nehme ich auch in acht, denn ich habe die Grammatic stets bey der Hand, und lasse selten einen Tag hingehen, daß ich nicht etwas darinnen lese: denn ich meine die Grammatic und die Bibel lernet niemand aus. Er schrieb alle seine teutsche und lateinische Reden von Wort zu Wort auf, auch so gar, wenn ein Wort zu reden war, da es nicht eben so viel zu sagen hatte, und habe ich bey Untersuchung seiner Papiere mich der Verwunderung nicht erwehren können, wie es möglich gewesen, daß bey der Lesung so vieler Bücher, die doch allemahl mit einer Scharfsinnigkeit und reifen Urtheilen begleitet worden, und andern vielen Amtsgeschäften im Kirchen= und Schulwesen, dem seligen Manne so viel Zeit übrig bleiben können, alles was er sagen wollen, genau zu überlegen und aufzuschreiben.“ Vgl. bereits die von Reimmann unter Johann Philipp Treuner 1689 in Jena verteidigte Dissertation: Paedagogia philosophiae ad revelationem ex ignorantia ortus linguarum primi [...] ad d. Octobr. Anni M.DC.LXXXIX. Jenae. (Exemplare der Forschungsbibliothek Gotha, Sign.: Diss. phil. 49 (19) und Diss. phil. 54 (9)). In Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti. München u.a. 1982, S. 492, Nr. 8630, ist ein falsches Jahr, 1684, angegeben. Theodor Günther: Jakob Friedrich Reimmann 1668–1743. Mühsal und Frucht. o.O., o.J. (masch.), S. 210, verzeichnet die gedruckte Dissertation fälschlicherweise unter „ungedruckte Manuskripte“. Auch handelt es sich nicht, wie Günther (ebd., S. 33) meint, um eine Magisterdisputation. 25 Vgl. Reimmann: Lebens=Beschreibung (Anm. 24), S. 201: „Jch hatte mein Herz zu viel gehänget an meine Bücher, und diese Abgötterey bestrafte der HERR an mir mit Feuer, damit er meine Bibliothek verzehrete, und diesen meinen Götzen vernichtete.“

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unwiederbringlich verloren,26 ein Verlust, den das Streben nach weltlichem Wissen, die Pluralität der Wissensdisziplinen und die Geschichtswissenschaft, alles Kompensationsversuche, nur ungenügend ersetzen können. Aus dieser Not heraus wurden die anthropologischen Indikatoren des theologisch begründeten Defizits, ‚curiositas‘ und ‚delectatio‘, zu Antriebskräften des wissenschaftlichen Fortschritts erklärt. Mit der Erhebung der Historie zur ‚curiösen‘ Universaldisziplin, die den fortschreitenden Wissenserwerb dokumentiert,27 wurden die ‚scientiae‘, allen voran die Kirchengeschichte,28 zu profanen, von der Theologie unabhängigen Wissenschaften. Der Wissensnorm weltlicher ‚scientia‘, wie sie Reimmann in seiner Historia literaria vertritt, steht daher die Offenbarungsform der göttlichen ‚sapientia‘ von Arnolds KKH recht fremd gegenüber: Hier Autonomie des Subjekts und Apologie des Erkenntnisvermögens, der natürlichen Vernunft, dort die Betonung der Gnadenwirkung des Heiligen Geistes, das heißt Annahme einer theozentrischen Lenkung des Menschen. Doch wird dieser diametrale Gegensatz, nicht unerwartet, durch das ambivalente Urteil Reimmanns über Leben und Werk Gottfried Arnolds gemildert.29 Den Beweggründen, die diesen spannungsvollen Zustand literaturkritischer Gerechtigkeit herbeiführten, gilt nun unsere Aufmerksamkeit.

26 Zusammenhängend, vgl. Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam antediluvianam (Anm. 3), S. 100–102; ferner ebd., S. 111; ders.: Critisirender Geschichts=Calender. Von der Logica, darin das Steigen und Fallen dieser hoch=vortrefflichen Disciplin von Anfang der Welt biß auf das Jahr nach Christi Geburt 1600. entworffen [...]. Frankfurt a.M. 1699, S. 2: „Denn da sich der erste Mensch durch die listigen Sophismata des Satans so weit bewegen lassen; daß er das allerheiligste mandat des grossen GOttes von der Enthaltung des Baumes der Erkäntnis des Guten und des Bösen überschritten; so hat er dadurch das erleuchtete Vermögen ziemlich eingebüßet / daß er in der Erkäntnis des Wahren und des Falschen zuvor erhalten.“ 27 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 201: „[...] du must die Bücher fleißig lesen / die zu der notitia librorum was beytragen können; Mit einem Worte: du must curieux seyn.“ 28 Ebd., S. 18 (‚Historia ecclesiastica‘ als Teil der ‚Historia literaria‘); Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam antediluvianam (Anm. 3), S. 267 (zum Monopol der Theologen über die Geschichte). Der Hamburger Gelehrte Michael Richey wandte sich im Schulprogramm: De eo quod nimium videtur in Iac Frid Reimmanni [...] piis desideriis historiae literariae. Stade 1709 (Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Sign.: 7 in Bibl. Diez 4° 2457) u.a. gegen Reimmanns Profanierung der Kirchengeschichte, Bl. [B2r]. 29 Reimmann: Lebens-Beschreibung (Anm. 24), entwickelte, ohne Anhänger der pietistischen Geisttheologie zu sein, ein reges Interesse für das Wirken der göttlichen Vorsehung, wie vor allem die ausführlichen Darlegungen und die Lektüreempfehlungen in der Autobiographie bezeugen (S. 179–187). Vgl. ebd., S. 99–101, seine Meinung über die Träume als Offenbarungsträger, eine Auffassung, die sich mit der pietistischen weitgehend deckte.

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Gerne übernimmt Reimmann die Anekdoten über die frühneuzeitlichen Schulmetaphysiker Cornelius Martini und Johann Scharff aus Arnolds KKH,30 da sie das Fach und seine Vertreter gleichermaßen der Lächerlichkeit preisgeben. In der Metaphysik, wie sie vor allem von den mittelalterlichen Scholastikern, namentlich von Albertus Magnus,31 gepflegt wurde, überlagern sich für Reimmann die Kompetenzbereiche von Philosophie und Theologie, die er klar voneinander trennen möchte.32 Denn „[...] so mercke ich z.e. in der Historia [...] ecclesiastica, daß alle Ketzereyen und irrige Lehren aus der Vermischung der Theologie mit der Philosophie entstanden.“33 Arnold verabscheut insbesondere die Vergötterung der Vernunft durch die Anhänger der Metaphysik, verurteilt indessen, zumindest in seiner radikalen Phase, die Philosophie (die Weltweisheit) überhaupt, das heißt mit ihr auch die Logik, die Rhetorik und die Grammatik, was ihn von Reimmann, wie gesagt, grundsätzlich unterscheidet. In seiner kritischen Haltung gegenüber der Metaphysik gewinnt Reimmann Vertrauen in die Beweiskraft historischer Exempel. Dies trifft zwar auch für Arnold zu, doch bringt dieser infolge seines ‚odium rationis‘ kein geschichtstheoretisches Interesse auf34 und hätte wegen seiner prinzipiellen Ablehnung des Weltwissens eine durchgängige Historisierung aller Wissensdisziplinen auch gar nicht für sinnvoll erachtet.35 Die Beispiele von Erleuchteten, die der radikale Pietist heranzieht, will dieser unter die allgemeinen Regeln subsumieren, die er in den einleitenden Anmerkungen der eigentlichen Ketzerhistorie vorausschickt:36 Der Einzelne 30 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 4, S. 18 (Martini); ebd., S. 29 (Scharff ); Arnold: KKH (Anm. 22), Theil II, Buch XVII, Capitel VI, 36, S. 956 (Martini); ebd., Capitel XI, 10, S. 1004 (Scharff ). 31 Ebd., Bd. 2, S. 199; S. 208, wo aber auch die Verdienste Alberts des Großen um die Mystik erwähnt werden. 32 Ebd., Bd. 1, S. 258; Bd. 2, S. 114: „Die Clerisey aber gerieth aus der Unwissenheit in die allerverderbteste Art der Menschlichen Weißheit / indem dieselbe die Theologie und Philosophie miteinander vermengete / und aus der Zusammen=Schmeltzunge dieser beyden unterschiedenen Wissenschafften eine gantz wunderbahre und seltzame Mißgeburt zu wege brachten / die noch heutiges Tages Theologia Scholastica genennet wird [...].“ Ferner: Bd. 2, S. 158, S. 222; Bd. 3, S. 199f. (protestantische ‚Scholastik‘ nach Luther); Bd. 5, S. 729. 33 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam antediluvianam (Anm. 3), S. 270. 34 Ebd., S. 265–274. 35 Vielleicht kann man, wenn man Arnolds durchgängige Kritik am profanen Wissen in Abzug bringt, von einer späten Annäherung an Reimmann in der Schulrede (Der woleingerichtete Schul=Bau nach denen vornehmsten Stücken einer wohlbestelleten christlichen Schule in einer Introductions-Rede summarisch entworffen [...]. Leipzig / Stendal 1711; vgl. auch den Aufsatz ‚Die Rhetorik des Heiligen Geistes‘ in diesem Band, S. 15–76) sprechen, wohl ohne daß Arnold Reimmanns Schriften gekannt oder auch nur eine einzige von ihnen besessen hat. 36 Arnold: KKH (Anm. 22): Allgemeine Anmerckungen von denen Kätzer=Geschichten. An den Leser. Von dem IV. Punct, denen absichten und würckungen solcher verkätzerungen No. 9, S. 26.

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interessiert ihn als solcher nicht, nur die moralisch-geistliche Norm, der das Individuum als Sprachrohr der Wahrheit entspricht oder die es, im Fall der Ketzermacher, als Lügengeist verletzt. Anders Reimmann, welcher die unverwechselbare Eigenart von Person, Werk und Wirkung, die Individualität des Gelehrten hervorhebt und meist auch kritisch kommentiert.37 Dieses Vorgehen kommt besonders eindrücklich in seinem Arnoldporträt zur Geltung, dem er im Vergleich mit seinen anderen Gelehrtenbiographien viel Platz einräumt.38 Im Zentrum von Reimmanns Literaturkritik steht Arnolds Hauptwerk, die KKH, die ein gutes Jahrzehnt vor der Historia literaria erschien39 und in der gelehrten Welt ein lang anhaltendes Echo auslöste, was außer Reimmann auch viele Zeitgenossen, nicht zuletzt engagierte Arnoldgegner wie der spätorthodoxe Theologe Ernst Salomon Cyprian, Reimmanns Briefpartner,40 bestätigen.41 Arnold zählt für Reimmann zu den Hauptautoren der ‚historia ecclesiastica‘, weil er mit der KKH das „paradoxiste und sonderbarste“42 Werk der neueren Kirchengeschichte geschaffen habe. ‚Paradox‘ bedeutet hier, daß die von Arnold vertretenen Auffassungen Reimmann neu und außergewöhnlich, daher ‚curiös‘ und wissenswert, gleichzeitig aber moralisch anrüchig, ketzerisch und abscheulich, aber auch begründungsbedürftig, das heißt logisch nicht ohne weiteres nachvollziehbar, ‚enthusiastisch‘, erscheinen.43 In der Ambivalenz dieses Urteils äußert sich die Verlegenheit 37 Ein gutes Beispiel hiefür ist Reimmanns Kurzbiographie des Mediziners Georg Ernst Stahl (Einleitung in die Historiam literariam, Anm. 3, Bd. 6, S. 641–650). 38 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 5, S. 687–700. 39 Erste Auflage: Bd. 1. Frankfurt a.M. (Thomas Fritsch) 1699; Bd. 2, ebd., 1700. 40 Zum Briefwechsel Reimmanns mit Cyprian, vgl. Reimmann: Lebens-Beschreibung (Anm. 24), S. 102. 41 Zu Ernst Salomon Cyprian vgl. Hans Schneider: Cyprians Auseinandersetzung mit Gottfried Arnolds ‚Kirchen- und Ketzerhistorie‘. In: Ernst Salomon Cyprian (1673– 1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Vorträge des Internationalen Kolloquiums vom 14. bis 16. September 1995 in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha Schloß Friedenstein. Hg. von Ernst Koch und Johannes Wallmann. Gotha 1996, S. 111–135. 42 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 196f. 43 Ebd., S. 477 (Desiderat: Abhandlung über paradoxe Autoren in allen Wissenschaften); Bd. 4, S. 678 (‚paradox‘ bedeutet ‚enthusiastisch‘, Quirinus Kuhlmann als „paradoxischer Kopff“); Bd. 5, S. 80, 172 (‚paradox‘ als „seltzsam / ungereimt und wunderlich“); Catalogus bibliothecae (Anm. 6), S. 677, 742 (‚paradox‘ auch ‚mystisch‘, ‚rätselhaft‘); Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 6, S. 48, 109 (Grundsatz des Thomas Hobbes, ‚bellum omnium in omnes‘, ist „paradoxisch“, da er nicht mit den überlieferten Meinungen übereinstimmt); Catalogus bibliothecae (Anm. 6), S. 712, 725, 1125 (ebenfalls für ,unüblich‘, ‚neu‘). Im ‚Catalogus bibliothecae‘ gibt es die recht umfangreiche Rubrik XIV. „De paradoxicis“ (S. 677–778), in der Werke von radikalen Pietisten, von Spiritualisten (Sebastian Franck, Jakob Böhme, Valentin Weigel, Paracelsus, John Pordage, Pierre Poiret, Christian Hoburg, Friedrich Breckling, Gottfried Arnold), von Rosenkreuzern und von Amos Comenius besprochen werden. ‚Paradox‘ ist hier Synonym von ‚heterodox‘ (auch: Bibliotheca historiae literariae critica, eaque generalis, hoc est, catalogi bibliothecae Reimmannianae systematico-criticae tomus secundus

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des Autors: Die ‚curiositas‘ des weltlichen Bücherfreunds Reimmann wird durch die merkwürdige Publikation im selben Maß geweckt, wie die häretische Tendenz des Werks den kirchentreuen Theologen Reimmann schreckt. Wie versucht nun der Literaturkritiker Reimmann diesen Konflikt divergenter Wertmaßstäbe in der Anwendung auf Arnolds KKH rational zu bewältigen? Zunächst und vor allem, indem er an der Forderung einer unparteilichen Geschichtsschreibung festhält. Den Begriff der Unparteilichkeit verwendet er oft genug, ohne ihn zu bestimmen, als Schlagwort mit Appellcharakter, das er für den Historiker und für den Leser bzw. Literaturkritiker zum wissenschaftlichen Wertmaßstab erhebt.44 Daß Arnold im Titel der KKH den Terminus aufgegriffen hat, erscheint Reimmann als Tautologie, der damit verknüpfte theoretische Anspruch selbstverständlich und daher unbestritten.45 In einigen erläuternden Kontexten, welche die Unparteilichkeit preisen, wird sie mit dem kühlen Verstand, dem Fehlen von Haß und (Eigen-)Liebe, mit der emotionsfrei abwägenden historischen Kritik der literarischen Primär- und Sekundärquellen, kurz mit dem ausgewogenen ‚iudicium sine ira et studio‘, gleichgesetzt.46 ‚Unparteilichkeit‘ meint eine psychologische Konstellation des Einklangs von Verstand und Willen, einen von Vorurteilen freien Geisteszustand, der die Freiheit auch der Kritik garantiert. Reimmann führt nämlich den Fortschritt aller philosophischen Disziplinen im 17. und frühen 18. Jahrhundert auf die durch die thomasische Eklektik ermöglichten Innovatio[...]. Hildesheim 1739, S. 704). Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 6, S. 618 (paradoxe Folgerungen); Catalogus bibliothecae (Anm. 6), S. 1073, für ,den Ansprüchen logischer Beweisführung nicht genügend‘: „[...] arte ratiocinandi non bene imbutus, perpetuas committit petitiones principii, & fallacias accidentis, & collectiones asyllogisticas, à particulari ad universale, & à dicto secundum quid ad dictum similiciter. Et hinc illa paradoxa [...].“ – Arnold verwendet den Begriff in der KKH (Anm. 22), indem er in den „Allgemeinen Anmerckungen“ von „[...] vielen paradox und ungewöhnlich scheinende[n] fragen [...]“ (S. 1) und in der Vorrede (Abschnitt Nr. 47, Bl. b3v) von „Paradoxa“ spricht, die „[...] desto bedencklicher und angenehmer fallen, weil doch der wahre weg Christus selbst nicht so gemein, annehmlich, oder denen angenommenen meinungen [...] gemäß ist, daß ihn jederman oder auch nur die meisten betreten sollten“. ‚Paradox‘ charakterisiert hier das Leben Christi bzw. dasjenige der Auserwählten, die im wahren Glauben stehen und Christus nachfolgen. Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das ist: Gründl. Nachrichten aus der Historia philosophica [...]. Erstes Stück. Halle 1715, S. 26f., erblickt im rationalen Nachvollzug paradoxer Wahrheiten das Ziel aufgeklärter Erkenntnis. 44 Z.B. Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 8, 144, 192; Bd. 2, Vorrede, Bl. [a8r], S. 324; Bd. 3, Bl. [b8v], S. 179, 192, 211, 433, 472 (eigene Befangenheit gegenüber Leibniz); Bd. 4, Bl. [b4v], S. 332, 369, 431, 601; Bd. 5, Bl. [a2v], Bl. [b3v], S. 151, 166, 268, 337, 408, 519, 596, 653, 797; Bd. 6, S. 301, 394, 403, 648. 45 Ebd., Bd. 5, S. 748f. 46 Theunen (Anm. 24), S. 227 (beschreibt Reimmann als Feind aller Parteilichkeiten); Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 6, S. 648 (Charakteristik Georg Ernst Stahls). Ders.: Critisirender Geschichts=Calender (Anm. 26), Vorrede, Bl. [3v].

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nen des Denkens zurück.47 Diese verdanken sich der in rationale Bahnen geleiteten wissenschaftlichen Neugier, der ‚Curiosität‘ als Impuls menschlichen Erkennens und Handelns.48 Der Unparteilichkeitsanspruch, den Arnolds KKH erhebt, wurde in der gelehrten Diskussion zum Stein des Anstoßes, dann zum wichtigsten Streitgegenstand der literaturkritischen Auseinandersetzung um die KKH und schließlich der Hauptauslöser einer geschichtstheoretischen Grundsatzdebatte. Reimmann dokumentiert diese Vorgänge in der Historia literaria als aufmerksamer Zeitgenosse mit auffällig langen Anmerkungen, in denen er die Titel einschlägiger Pamphlete sowie deren Autoren nennt.49 Das Unparteilichkeitsdogma vermag der Gelehrtenstreit um die KKH nicht zu erschüttern. Aber es wird von Reimmann nicht durchweg gleich unbekümmert vertreten und verteidigt, wenn er eingesteht, daß „[...] sich in der historia civili eben so viel güldene legenden mit silbernen Federn beschrieben finden / als in der historia ecclesiastica: Und daß ein unpartheyischer Geschicht=Schreiber eben wie der Vogel Phoenix nur alle 500. Jahr einmahl gebohren werde.“50 So selten Reimmann die Unparteilichkeitsnorm von den Historikern erfüllt sah, so sehr drängte sich bald nach dem Erscheinen von Arnolds Hauptwerk die Grundsatzfrage nach ihrer Erfüllbarkeit auf. Reimmanns exakt ausführliche bibliographische Aufnahme einschlägiger Streitschriftentitel sowie der Abdruck eines entsprechenden längeren Zitats aus einem arnoldkritischen Pamphlet von Hofrat Tobias Pfanner51 lenkten die Aufmerksamkeit eines breiteren gelehrten Publikums auf die Parteilichkeitsproblematik. Es ist das Verdienst Arnolds, wie Reimmann in einem Resümee behauptet, „daß er mit dieser 47 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 3, S. 167f. (Deutsche als Wiederentdecker der eklektischen Philosophie, Bedeutung von Christian Thomasius); ebd., S. 473 (Aufschwung des eklektischen Denkens); Bd. 4, S. 596f. (Fortschritt dank der Eklektik in einzelnen Fächern, z.B. in der Ethik durch Hugo Grotius). Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophieund Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, geht zwar (S. 421–423) auf Reimmanns Beziehung zur thomasischen Eklektik, nicht aber auf die fächerübergreifende Bedeutung der Eklektik in Reimmanns ‚Einleitung in die Historiam literariam‘ ein. Zum thomasischen Begriff der Eklektik vgl. Albrecht (ebd., S. 398–416, § 34, Christian Thomasius: Der Selbstdenker als Eklektiker). Die Eklektikauffassung der ‚Einleitung in die Historiam literariam‘ steht derjenigen von Christian Thomasius und von Johann Franz Budde sehr nahe. 48 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 201; Bd. 3, S. 154 (Wissensdurst, gelehrte Neugier des Fragenden); Bd. 3, S. 168 (Neugierde als Erkenntnisantrieb führt zu den der Eklektik verdankten neuen Erkenntnissen); Reimmann: Lebens=Beschreibung (Anm. 24), S. 178. Vgl. Christoph Daxelmüller: Disputationes curiosae. Zum ‚volkskundlichen‘ Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts. Würzburg 1979, S. 117–186 („‚Curiositas‘. Der Prozeß der wissenschaftlichen Entmythologisierung“). 49 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 5, S. 690–698. 50 Ebd., S. 634. 51 Ebd., S. 693.

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seiner paradoxischen Arbeit zum wenigsten denen Theologis Gelegenheit gegeben die H.[istoria] E.[cclesiastica] genauer zu untersuchen / und sich um die Beschaffenheit derselben mehr zu bekümmern als biß dahin geschehen war.“52 Der Aphorismus Lichtenbergs im Sudelbuch, der erklärt, selbst Unparteilichkeit sei parteiisch,53 war dann das Spätprodukt eines geschärften ideologiekritischen Problembewußtseins. Zu dessen prominenten Vorläufern gehörten neben den Arnoldkritikern auch Gottfried Arnold selber und, in wichtigen Details von ihm abhängig, Jakob Friedrich Reimmann. So erkennt Reimmann zum Beispiel in Sebastian Franck einen unparteiischen Historiker, indem er sich, wie erwähnt, auch in biographistischer Absicht ausdrücklich auf Arnolds KKH beruft.54 Sieht jedoch Arnold in Franck einen vom Heiligen Geist erleuchteten Wahrheitszeugen, so führt Reimmann Francks Unparteilichkeit auf dessen natürliches Erkenntnisvermögen und Temperament zurück.55 An den unterschiedlichen Bildern, welche die beiden Autoren von Sebastian Franck entwerfen, wird wiederum klar, daß ihre Auffassungen von Unparteilichkeit und daher auch ihre historiographischen Positionen weit auseinandergehen: Überkonfessionelle und internationale Auflistung von Wahrheitszeugen zum Wirken des Heiligen Geistes bei Gottfried Arnold, kulturpolitische Werbung, nationalpädagogische, ja patriotische Panegyrik sowie das Streben nach zeitlichem Glück durch gelehrte Tätigkeit bei Reimmann,56 dem Verfasser der ersten deutschsprachigen Litterärgeschichte. Für Reimmann ist Arnolds KKH in demselben Geist verfaßt wie Francks Chronica zeytbuch, der „[...] fast eben so dreiste von denen Ketzern geschrieben als der Herr Arnold.“57 Freilich ging es Reimmann, im Gegensatz zur heutigen Forschung über den radikalen Pietisten,58 weniger um den genauen Nachweis einer historischen Abhängigkeit Arnolds von Franck als vielmehr, bei allem kuriositätsbedingten Interesse, um eine Distanzierung von Arnolds kühnem ketzerhistorischen Projekt. Zwar tadelt Reimmann die Geschichtsschreibung spiritualistischer Separatisten grundsätzlich. Doch stimmt er, was den Zustand des Christentums zur Zeit 52 Ebd., S. 700. 53 G.[eorg] C.[hristoph] Lichtenberg: Sudelbücher. Hg. von Franz H. Mautner. Frankfurt a.M. 1984, S. 280: „Alle Unparteilichkeit ist artifiziell. Der Mensch ist immer parteiisch und tut sehr recht daran. Selbst Unparteilichkeit ist parteiisch. Er war von der Partei der Unparteiischen.“ 54 Vgl. Anm. 17. 55 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 5, S. 336f. Für ihn ist Franck der weltliche Gelehrte, ein ‚teutscher Historicus‘. 56 So schon Theunen (Anm. 24), Bl. [*5r]. Eine ähnliche Differenz zeigt sich in den positiven Würdigungen des mittelalterlichen Historikers Sigisbert von Gembloux durch Reimmann (Einleitung in die Historiam literariam, Anm. 3, Bd. 2, S. 365f.) und durch Arnold (KKH, Anm. 22, Theil I, B. XII, c. III, 6, S. 389f.). 57 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 5, S. 699. 58 Vgl. den Aufsatz ‚Rhetorik des Heiligen Geistes‘ (Anm. 23), S. 15–76.

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Konstantins des Großen angeht, gegen William Cave59 ebenso unmißverständlich der Dekadenztheorie Gottfried Arnolds zu. Das negative ‚praeiudicium auctoritatis‘60 stellt also für Reimmann, da er unabhängig von der Person die Sache beurteilen will, kein Argument dar. Deshalb trachtet er auch die mit der postulierten Unparteilichkeit verknüpfte Urteilsfreiheit als Norm kritisch-rationaler Meinungsbildung zu erhalten. Reimmann kann im übrigen seine ambivalente Haltung zu Arnolds KKH mit dem allgemeinen Konsens der Gelehrten rechtfertigen, denn das Werk sei „biß dato von keinem gantz durchgehends refutiret worden“.61 So trifft, wo der consensus omnium gegeben ist und daher Parteien fehlen, auch der Parteilichkeitsvorwurf ins Leere. Reimmann ist bestrebt, die Unparteilichkeit seiner Kritik an der KKH mit den üblichen logischrhetorischen Beweisgründen zu untermauern. Dabei geht es denn auch um den Schutz der eigenen Position gegen Einwände hauptsächlich orthodoxer Theologen. Reimmann scheint in seiner Kritik am Arnoldschen Werk den Testfall für die Unparteilichkeit seines Urteils, den Hauptgrundsatz der Literaturkritik, gesehen zu haben. Das zeigt die meines Erachtens dunkelste Passage der Historia literaria, die sich bezeichnenderweise im Arnoldabschnitt befindet. Es handelt sich um die erste einer ganzen Reihe von Informationen, die Reimmann dem Leser als weniger bekannt weitergibt. Sie lautet: „[...] so kanst du nach Belieben hiebey behalten: 1) Daß der Herr N.N. das primum principium von diesem Werck gewesen / der den Arnold zu erst auff dieses concept gebracht / und ihm auch einen nicht geringen apparatus zu der Ausführung desselben an die Hand gegeben habe.“62

Welche Person verbirgt sich hinter der anonymen Bezeichnung „Herr N.N.“? Ist es Christian Thomasius, der schon den Zeitgenossen als Stofflieferant der KKH

59 Reimmann: Catalogus bibliothecae (Anm. 6), S. 850: „Ecclesiam Christianam tempore Constantini Magni fuisse florentissimam persuasum sibi habet, atque ex hoc uno falso supposito sequuntur plura.“ 60 Die menschliche ‚curiositas‘ (er)findet und ent-deckt Neues, weshalb das Vorurteil der Autorität besonders stark beargwöhnt wird (vgl. Reimmann: Lebens=Beschreibung, Anm. 24, S. 208: „[...] daß ich mich durch keines Menschen Autorität blenden und von niemand in der Welt einen Brill aufsetzen lassen, sondern mir allemahl die Freyheit vorbehalten die vorgetragene Sachen mit meinen eigenen Augen zu beschauen“). Das ‚nihil novi sub sole‘ des Predigers Salomo (Pred. 1,9) und das Terenzianische (Eunuch, Prol. 41) „Nullum est iam dictum, quod non sit dictum prius“ (Einleitung in die Historiam literariam, Anm. 3, Bd. 5, Bl. [a2r], [a8]) weist Reimmann zurück. Mit dem ‚praeiudicium novitatis‘, vor dem manche Zeitgenossen ebenso eindringlich warnen, scheint er als ‚curiöser Schriftsteller‘ kaum zu rechnen. – Reimmann tritt den schärfsten Arnoldkritikern entgegen (Catalogus bibliothecae, Anm. 6, S. 152; Bibliotheca historiae literariae, Anm. 43, S. 371), gibt aber dem radikalen Pietisten dann doch die Schuld, daß jene Kritik so einseitig schlecht ausfiel (Catalogus bibliothecae, Anm. 6, S. 825). 61 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 5, S. 699. 62 Ebd., S. 698.

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bekannt war?63 Was aber bewog den doch sonst sehr mitteilsamen Reimmann – ich finde keine einzige ähnlich verklausulierte Stelle in der ganzen Historia literaria –, dem curiösen Leser ausgerechnet diesen Personennamen vorzuenthalten? Ging es ihm gerade darum, die ‚curiositas‘, die Lust zu fragen, zu forschen und zu urteilen, durch ein Versteckspiel zu wecken, oder war für den Leser von damals ohnehin klar, wer gemeint war? Die Lösung dieses Rätsels zu suchen ist ein hermeneutisches Abenteuer, das vielleicht in verstiegenen Spekulationen endet. Schränkt man aber die Personensuche auf gewöhnliche Sterbliche ein, die allenfalls in Frage kämen, gelangt man meines Erachtens kaum ans Ziel. Denn auf keinen Menschen paßt die metaphysisch gefärbte Bezeichnung eines ‚primum principium‘. Bedenken der Überinterpretation gegen den Beizug der Metaphysik wären gerechtfertigt, wenn positives Wissen verfügbar, auffindbar oder wenn Reimmanns Verrätselung irgendwie anders als durch seinen Rückgriff auf übernatürliche Kausalitäten erklärbar wäre. All das ist aber, Irrtum immer vorbehalten, nicht der Fall. Deshalb neige ich zu der Annahme, daß Reimmann im mysteriösen „Herrn N.N.“ als Urheber von Arnolds KKH eine außermenschliche Macht, nämlich, in einer der göttlichen untergeordneten Stellung, diejenige des Bösen,64 vermutete. Neben der Verwendung des Euphemismus bzw. der Metonymie „N.N.“ als Bedeutungsträger, welche Gottfried Arnold ohnehin als heteronomes Subjekt vorstellen, spricht wohl auch eine entstehungsgeschichtliche Koinzidenz für die metaphysische Hypothese, nämlich die geheimnisumwitterte, von Reimmann zu einem Hauptgesichtspunkt stilisierte Tatsache, „[...] daß es [d.h. das Buch, Arnolds KKH; M.] in eben der Stadt und in eben der Gasse/und wo 63 Johann Christoph Coler: Historia Gothofredi Arnoldi qua de vita scriptis actisque illius non copiose magis quam vere atque idonea fide exponitur [...]. Wittenberg 1718, S. 150f.: „Quod si uero quaeramus, undenam depromserit ARNOLDVS monumenta ista, et tot, tantarumque rerum collegerit apparatum, et subsidia, sciamus, licet, eum a plurimis re, consilioque adiutum fuisse. Multa in primis suppeditauit D. CHRISTIANVS THOMASIVS ICtus, et alii [...].“ Reimmann: Catalogus bibliothecae (Anm. 6), S. 178, besprach Colers Arnoldbiographie und monierte deren kompilatorischen Charakter. Vgl. zum Verhältnis Arnolds zu Christian Thomasius die weiteren bibliographischen Nachweise im Aufsatz von Hans Schneider (Anm. 41), S. 123f. Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik. Meerane i. Sa. 1923 (Ndr. Darmstadt 1964, S. 515) unterstreicht, daß Arnold in seiner KKH von Christian Thomasius „[...] nicht mehr abhängig [sei] als von den vielen, von ihm sonst zitierten Büchern“. Vor Coler sah bereits Ernst Salomon Cyprian in Christian Thomasius den Hauptkollaborator Arnolds (vgl. Hans Schneider, Anm. 41, S. 123f.). Jedenfalls war Christian Thomasius strenggenommen nicht, im Sinn des Reimmannzitats, der Urheber der KKH. 64 Vgl. den in der zeitgenössischen Arnoldkritik verbreiteten Topos, daß die KKH (auch) ein Werk des Satans sei (z.B. Altes und Neues aus dem Schatz theologischer Wissenschafften. [...] Januarius 1701. Wittenberg 1704, S. 102: „Jn übrigen erkennen wir bey diesen Werck / so wohl Gottes Regierung / als des Satans gefährliche Kunstgreiffe. Der Barmherzige Vater in Himmel hat solches Aergernuß nach seinen heiligen Rath geschehen lassen“).

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ich nicht irre / in eben dem Hause zu seiner Vollkommenheit gedien / darinnen der bekante Christian Hoburg sich just 50. Jahr vorher auffgehalten/und seine Hertz=Postilla geschrieben hat.“65 Dieses Faktum ist für Reimmann mehr als das Ergebnis zufälligen Zusammentreffens derselben räumlichen Gegebenheiten bei verschiedenen Personen in verschiedener Zeit. Es geht, in seinem Blickwinkel, auf das Wirken der Vorsehung zurück. Reimmann ging es, wie er in seiner Autobiographie hervorhebt, zeitlebens darum, die Wege der göttlichen ‚providentia‘ zu erforschen und zu erkennen. Auf das providenzielle Wirken hinzuweisen war ein Grundanliegen der Verkündigung in seinen Predigten.66 Dieses theologische Fundament ist so unaufdringlich wie unübersehbar in der Historia literaria vor allem da gegenwärtig, wo, wie in der Beurteilung der Arnoldschen KKH, die ratio durch die unerklärliche Verbindung widersprüchlicher Merkmale und die paradoxen Explikationen stark gefordert, vielmehr überfordert zu sein scheint. Arnolds Werk enthalte „[...] viel gutes / nöthiges / nützliches / rares und sonderbares [...]; aber auch viel welches einen gründlichern Beweißthum / deutlichere Auswickelung / nähere Erklährung / Auffrichtigere Verbesserung und gäntzliche Durchstreichung vonnöthen [...].“67

Unter diesen wirklich besonderen Umständen die Spreu vom Weizen zu trennen, alles zu prüfen und das Gute zu behalten, lautet die Aufgabe, mit welcher Reimmann den Leser allein läßt, nachdem er ihm mit einigen verbindlichen allgemeinen literaturkritischen Schlußfolgerungen wenigstens auf die Spur geholfen hat. An Arnolds KKH kann sich, wie an keinem anderen Werk, kritische Rationalität als historische Kritik heranbilden, abarbeiten, sich verbessern und immer wieder bewähren und damit auch, wie Reimmann in seiner Arnoldkritik selber demonstriert, scheitern. Die Gefahr der Heterodoxie, welche von Arnolds KKH ausging, scheint Reimmann weit stärker gewichtet zu haben als deren historischen Informationsgehalt und quellenkritischen Lehrwert. In der Besprechung von Joh. Chr. Colers Arnoldbiographie, die ihrerseits als mißlungene Publikation eingestuft wird, wünscht Reimmann, Arnold hätte die KKH besser gar nicht geschrieben.68 Auch in den übrigen Rezensionen, die Reimmann Arnolds Werken widmete, überwiegen Mißtrauen und Vorbehalte, auch gegenüber der Person Ar-

65 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 5, S. 699. – Arnolds Vorrede zu einem anderen Werk Hoburgs, dem ‚Teutschen Krieg‘, lobt Reimmann (Catalogus bibliothecae, Anm. 6, S. 770). 66 Reimmann: Leben=Beschreibung (Anm. 24), S. 179. 67 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 5, S. 699. 68 Vgl. Anm. 63, Zitatwortlaut: „Quem [= Arnold; M.] facile largimur fuisse hominem, & humani ab eo nihil extitisse alienum, rectius etiam consuluisse sibi & aliis, si consilium de scribenda haeresiologia vel nunquam animo suscepisset, vel statim in lacte suppressisset, unde tanta malorum nata est Ilias.“

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nolds, deutlich.69 Die Arnoldsche Sophienlehre70 und die Heilig-Geist-Theologie mußten Reimmann als unzulässige philosophische Übergriffe in die Theologie, als paradoxe Mischgebilde fragwürdiger, das heißt häretischer Metaphysik erscheinen. Daher grenzte sich der Verfasser der Historia literaria von Arnold als einem Hauptvertreter des radikalen Pietismus klar ab.71 Damit ist aber das Urteil über Reimmanns Beziehung zum gemäßigten Pietismus noch nicht gesprochen. Auf sie sei daher, ohne daß die einschlägigen Belege vollständig ausgewertet würden, kurz eingegangen. Halberstadt, in der Nähe von Halle gelegen und von 1693 bis 1704 Wirkungsstätte Reimmanns,72 war bereits Ende des 17. Jahrhunderts einer der Hauptschauplätze innerkonfessioneller Auseinandersetzungen, an denen sich auch Vertreter des radikalen Pietismus maßgeblich beteiligten.73 Justus Lüders, Generalsuperintendent in Halberstadt und Förderer Reimmanns, gehörte dem Kreis führender 69 Rezension der ‚Historie und Beschreibung der mystischen Theologie‘ (Catalogus bibliothecae, Anm. 6, S. 47f.), des ‚Offenherzigen Bekenntnisses‘ (ebd., S. 188) und des ‚Geheimnisses der göttlichen Sophia‘ (ebd., S. 721). Den besten Eindruck von allen besprochenen Werken Arnolds machte Reimmann die ‚Wahre Abbildung der ersten Christen‘ (ebd., S. 825), deren Zielsetzung er auch in der ‚Einleitung in die Historiam literariam‘ (Anm. 3), S. 689f., vorstellte. Die KKH wurde in den beiden Katalogen (Anm. 6 und 43) nicht besprochen. 70 Vgl. Anm. 69, Wortlaut der Kritik: „Scripsit hunc librum Arnoldus, cum haeresi Gichtelianae adhuc esset addictus [...].“ 71 Dazu auch Reimmanns Urteil über Poiret (Catalogus bibliothecae, Anm. 6, S. 686: „Vir in doctrina acutissimus, & in vita etiam inculpatus, (si separatismum exceperis) [...].“), über Christian Hoburg (ebd., S. 617 [recte: 717]: „[...] Vir integer vitae scelerisque purus. Sed principiis Weigelii, Schwenckfeldii, Böhmii &c. nimium deditus“), über Joachim Betke (auch unter Berufung auf Philipp Jakob Speners Autorität) und die orthodoxe Glaubenstradition, der auch Johann Arndt angehört (ebd., S. 716: „Quo magis accedit ad J. Arndium J. Betkius, eo magis recedit à C. Hoburgio, & F. Brecklingio“). Anderseits lobt Reimmann Johann Jakob Zimmermann als Böhmekommentator (ebd., S. 713). Den Frauen verbot er die Lektüre fanatischer, d.h. spiritualistischer und radikalpietistischer Literatur (Bibliotheca historiae literariae, Anm. 43, S. 762) – eine Reaktion auf die Vorkommnisse um die erleuchteten Mägde in Halberstadt? – Nur nebenbei sei erwähnt, daß Reimmann sein Exemplar von Nicolas van Essche: Exercitia theologiae mysticae. Köln 1670, nach eigenen Worten (Catalogus bibliothecae, Anm. 6, S. 580), aus der Bibliothek des spiritualistischen Pfarrers Heinrich Ammersbach (1632– 1691) in Halberstadt übernommen hatte. Ob auch andere heterodoxe Schriften in seinem Besitz von dort stammten? 72 Günther (Anm. 24), S. 222f. (Zeittafel). 73 Erste Informationen zu Halberstadt erhält man über die Ortsregister der beiden Bände zur Geschichte des Pietismus: Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht. Göttingen 1993; Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann. Göttingen 1995, sowie über die Register der Zeitschrift ‚Pietismus und Neuzeit‘. Eine umfassende Monographie zu den kirchlichen Verhältnissen und zur Frömmigkeit im 17. und 18. Jahrhundert in Halberstadt steht noch aus.

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Wolfenbütteler Pietisten an.74 Sogar in der Historia literaria konnte sich Reimmann nicht enthalten, vom Wirken Philipp Jakob Speners und der Hallenser mit höchster Anerkennung zu sprechen: „Und Herr M.[agister] Francke, D.[oktor] Breithaupt, D.[oktor] Antonius, und andere sind noch jetzo darüber / daß sie denen piis desideriis des seeligen D.[oktor] Speners ein Gnügen leisten mögen. Zu welcher Bemühung der HErr sein gnädiges Gedeyen von oben herab verleihen wolle.“75

Ihr Hauptverdienst sieht Reimmann darin, die theologische Metaphysik durch Reformbestrebungen überwunden und den alten, reinen Glauben in seiner Einfalt wieder hergestellt zu haben.76 Gegen den Vorwurf, Pietist zu sein, setzte er sich aber ausdrücklich zur Wehr.77 Anderseits zählten August Hermann Francke, Johann Hieronymus Wiegleb, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Johann Anastasius Freylinghausen und sogar der radikale Johann Wilhelm Petersen zu seinen Briefpartnern.78 Reimmann versah eine Hildesheimer Ausgabe von Speners Sprüchen der Heiligen Schrift mit einem Vorwort,79 stellte Philipp Jakob Spener als Kirchenreformer auf die gleiche Stufe wie Johann Arndt und sogar wie Martin Luther. Speners Schriften stehen für ihn an der Spitze der nachre74 Zu Lüders vgl. Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, S. 24. – Lüders war u.a. Inspektor der Schulen des Fürstentums Halberstadt und der dazu gehörigen Grafschaften. Er ernannte Reimmann zu seinem Adjunkten (Günther, Anm. 24, S. 59). Reimmann distanzierte sich in der ‚Lebens=Beschreibung‘ (Anm. 24), in der er auf diese Beförderung zu sprechen kam, ausdrücklich vom Pietismus: Diese „konte wohl niemand anders als der Generalsuperintendens Lüders ausgewürket haben, der zu Berlin gar grosse Favoriten, und ich weiß nicht warum, zu mir eine sonderbahre Neigung hatte, ungeachtet ich Zeit meines Lebens in seinen Zusammenkünften nicht gewesen, auch mich zu den so genanten Pietisten nicht bekennet; wiewohl ich mich auch mit denselben so wenig schriftlich als mündlich broulliret habe.“ (S. 46). 75 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 3, S. 137. 76 Ebd., S. 136. 77 Vgl. Anm. 73. Ferner Günther (Anm. 24), S. 163, der aus einer gelehrten Zeitschrift (Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes. Hg. v. Traugott Immanuel Jerichow. Bd. 1. Frankfurt a.M. / Leipzig 1731, S. 818) zitiert, die Reimmann als Parteigänger der Pietisten bloßstellt. Abwehr eines ähnlichen Angriffs, vgl. Reimmann: Lebens=Beschreibung (Anm. 24), S. 147f. 78 Reimmann: ebd., S. 102f. 79 Ebd., S. 158f.; Günther (Anm. 24), S. 201. In Paul Grünberg: Philipp Jakob Spener. Dritter Band: [...] Spenerbibliographie. Göttingen 1906 (Ndr. Hildesheim 1988), S. 222, [Nr. 62] (freundlicher Hinweis von Dietrich Blaufuß, Erlangen), ist diese Ausgabe (Hildesheim 1733) nicht enthalten. Kommentar Reimmanns zur Frankfurter Ausgabe von 1693: „Opusculum praeclarum & tanto auctore omnino dignum.“ (Catalogus bibliothecae, Anm. 6, S. 332). Die von Reimmanns Sohn Johann Wilhelm herausgebrachten ‚Accessiones uberiores ad catalogum bibliothecae theologicae systematicocriticum. A sectione I. usque ad sectionem VI. [...]. Brunsvigae 1747‘ wissen auch von einer Hildesheimer Ausgabe der Sprüche von 1731 (S. 231).

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formatorischen protestantischen Literatur.80 Seine Autobiographie ist an einigen Stellen sogar nach dem Vorbild des Lebens von Spener konzipiert.81 Und Reimmann hatte Lust, „auf den Schlag / da der Herr Dr. Spener seel. pia Desideria Theologica geschrieben / einen ziemlichen Band mit piis desideriis Historiae Literariae anzufüllen“.82 Dem Frage-Antwortschema der Historia literaria könnte der didaktische Leitfaden der katechetischen Methode Speners mit zugrundeliegen,83 Reimmanns Litterärgeschichte, überspitzt ausgedrückt, als großer Katechismus der deutschen weltlichen Gelehrsamkeit bezeichnet werden.84 Jedenfalls war Reimmann – so lautet das merkwürdige Fazit dieses Verortungsversuchs –, ohne Pietist sein zu wollen, ein überzeugter Anhänger Philipp Jakob Speners. Offenbar zählte er diesen, aber auch die Hallenser, ihrer geistigen Herkunft und religiösen Ausrichtung nach, zum rechtgläubigen Luthertum, während er die radikalen Pietisten als kirchenfeindliche Außenseiter und Separatisten betrachtete. Inwieweit Reimmanns Standpunkt eine taktische Konzession an herrschende politische und 80 Reimmann: Catalogus bibliothecae (Anm. 6), S. 536: „Siquidem theologorum nostrae aetatis omnium phoenix fuit Spenerus, vir plane ultra vulgarem eruditorum aleam evectus, multarum linguarum, artium, scientiarum, & rerum peritia instructus, insigni facultate apprehendendi, reminiscendi, & judicandi donatus, pietate, candore, humanitate, sedulitate & omnium virtutum corona condecoratus, sexcentis fortunae fluctibus jactatus, summis semper honoribus per 42. annos in ecclesia defunctus, nec paucioribus inimicis, quam amicis, circumvallatus, varia rerum theol. cognitione ad miraculum usque eruditus. Alter in reformanda vita Christianorum Lutherus.“ (Mit Rangliste der Spenerwerke: 1. Pia desideria; 2. Natur und Gnade; 3. Allgemeine Gottesgelahrtheit). Martin Luther als „reformator fidei“ und Johann Arndt als „reformator vitae“, mit der Empfehlung, die Rigaer Ausgabe des livländischen Superintendenten Johann Fischer von Johann Arndts ‚Wahrem Christentum‘ zu benützen (ebd., S. 562f.). Ebenfalls begeistertes Lob für Speners ‚Theologische Bedencken‘, trotz einiger geringfügiger Einwände, ebd., S. 593. – Zum Dreigestirn Luther – Arndt – Spener vgl. auch Reimmann: Lebens=Beschreibung (Anm. 24), S. 91. 81 Reimmann: Lebens=Beschreibung (Anm. 24), S. 62, 79, 80, 91, 98 (irenischer Predigtstil), 169. 82 Reimmann: Einleitung in die Historiam literariam (Anm. 3), Bd. 1, S. 477. 83 Zur Spenerschen Reform des Katechismusunterrichts vgl. Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 21986, S. 215–219, sowie Peter Schicketanz: Speners Beitrag für die Erziehung der Gemeinde. In: Pietismus und Neuzeit 12, 1986, S. 84–93. Karl Dienst: Evangelische Kinderlehre in Frankfurt am Main zwischen Orthodoxie und Pietismus. In: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 19, 1968, S. 189–206, relativiert Speners katechetische Reformleistung. 84 Reimmann: Lebens=Beschreibung (Anm. 24), S. 206, wo dieser festhält, „daß man auf Universitäten so viel dictiret und discouriret, und so wenig catechisiret, oder durch Frag und Antwort die nöthigen Sachen denen Studiosis suchet beyzubringen.“ Vgl. vor allem ‚Einleitung in die Historiam literariam‘ (Anm. 3), Bd. 2, Bl. [b3r], wo Reimmann in einer Passage der Vorrede den Gebrauch der ‚methodus catechetica‘ expressis verbis rechtfertigt.

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kirchliche Verhältnisse war, müßte eine auch auf lokalgeschichtliche Kontexte bezogene Untersuchung klären. Zusammenfassend: Bei Reimmann fällt einerseits der gleich große ideologische Abstand vom Enthusiasmus radikaler Pietisten sowie von der lutherischen Spätorthodoxie, anderseits die gleiche Nähe zum Spenerschen Pietismus und zum frühaufklärerischen Rationalismus auf. Pietismus und Frühaufklärung verschmelzen im historischen Rückblick auf die Person Reimmanns zur geistigen Einheit. Reimmanns historiographische Duldsamkeit, aus der sogar die umstrittene Persönlichkeit Gottfried Arnolds Nutzen zog, ist das Produkt einer Apologie der Unverwechselbarkeit des Subjekts. Reimmann ging zwar von der natürlichen Defizienz des Menschen aus, konnte aber, dank der hieraus entstandenen Relativierung der gelehrten Verdienste eines jeden, auch jedem einzelnen seinen Anteil am Fortschritt menschlichen Wissens und Könnens zumessen. Die Grenzen dieser natürlichen Leistungen werden für Reimmann aber durch das Wirken der göttlichen Vorsehung und durch das Wissen um die ‚iudicia divina‘ abgesteckt, eine Erkenntnis, die ihn wieder näher an die von ihm geschmähte Metaphysik heranführt, als die vorerst herausgehobene Distanznahme vermuten ließe. Die Aufklärungsforschung wird in ihm vielleicht einen Hauptexponenten oder wenigstens einen Kanonisator des Bündnisses von Pietismus und Aufklärung entdecken, und dies mit allen Folgen, die sich aus der Optik dieser historischen Versöhnung von, zugegeben, vielleicht schwachen Gegensätzen ergeben.

Gottfried Arnold – Magister der Philosophie in Wittenberg Seine Dissertation über die Engelsprache: ediert und kommentiert 1. Einleitung 1.1. Weder verloren noch verschollen: Arnolds Erstling wiederentdeckt Die Fundumstände sind bald geschildert: Bei der systematischen Durchforschung eines Teils des großen Altbestands an philosophischen Dissertationen aus dem 17. und 18. Jahrhundert stieß ich in der Bibliothek des Wittenberger Predigerseminars, ohne gezielt danach gesucht zu haben, im Sammelband Diss. 90 (126) auf Gottfried Arnolds bis 1982 verschollenes oder gar verloren geglaubtes Probestück.1 Dieses verzeichnet auch der recht zuverlässige alphabetische Zettelspezialkatalog der ‚Hochschul- und Schulschriften von der zweiten Hälfte des 16. bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts‘.2 Ebenso wie Band 142, der die beiden bekannteren, ebenfalls unter dem Präsidium Arnolds verteidigten Dissertationen3 1 Aus Platzgründen sei lediglich auf einige Publikationen verwiesen, die sich an Arnolds ‚De locutione angelorum‘ erinnern: Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, „verschollen“ (S. 27 Anm. 37); Frank Carl Roberts: Gottfried Arnold as a historian of Christianity: a reappraisal of the Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Ph. D. Diss. in Religion, Vanderbilt University, Nashville, Tenessee 1973 (Xerokopie UB Tübingen: 14 A 10279), „the third dissertation is lost“ (S. 6 Anm. 10); Johann Friedrich Gerhard Goeters: Gottfried Arnolds Anschauung von der Kirchengeschichte in ihrem Werdegang. In: Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. Festschrift Winfried Zeller zum 65. Geburtstag. Hg. von Bernd Jaspert und Rudolf Mohr. Marburg 1976, S. 241–257, „noch nicht wieder aufgefunden” (S. 243 Anm. 13). – Jöcher und Zedler erwähnen den richtigen Titel; es kommen aber auch unzutreffende Nennungen vor (z.B. Johann Georg Theodor Graesse: Bibliotheca magica et pneumatica. Leipzig 1843, Ndr. Hildesheim 1960, S. 17: „de cantione angelorum“). 2 Der Wittenberger Spezialkatalog weist nicht nur eigentliche Schulschriften wie Reden, Programme und Dissertationen nach, sondern auch Abhandlungen, Berichte, Anordnungen, Briefe, Flugschriften, Gutachten, Huldigungsschriften, Predigten, Zeitungsnummern usw. – Die Bibliothek ist eine Fundgrube für altes, im allgemeinen schwer zugängliches, weil unzureichend erfaßtes Kleinschrifttum. Herrn Wolfgang Otto und Frau Erika Schulz danke ich für die wertvolle Unterstützung meiner Arbeit. 3 a) Gottfried Arnold (Präses) / Bartholomäus Bausner (Respondent): Lotio manuum […] ad factum Pontii Pilatii recensita. 27. 3. 1689, Wittenberg, Henckel, [16] S. (Sign.: Diss. 142, 14 und Diss. 25, 54). – b) Gottfried Arnold (Präses) / Adam Hermann (Respondent): De Hermunduris. 3. 4. 1689, Wittenberg, Wilcke, [16] S. (Sign.: Diss. 142, 13). Beide Schriften sind abgedruckt im Anhang von Franz Dibelius: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Berlin 1873; eine sorg-

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enthält, stammt die Nummer 90 aus der Bibliothek des Archidakonen Jeremias Deutschmann.4 Angesichts des geraden Weges, der zum Sucherfolg geführt hätte, wird man sich mit Recht fragen, warum die der Arnoldforschung keineswegs unbekannte Schrift nicht schon längst aufgefunden wurde. Verschiedene Gründe können dafür verantwortlich sein. Der Präses erscheint auf dem Titelblatt der wiederentdeckten Dissertation als Godofredus Arnoldi (Nominativ!), was allerdings weniger befremdet, wenn man weiß, daß auf den beiden anderen Probestücken dieselbe Schreibweise des Namens begegnet und diese im wesentlichen mit der Eintragung in den Wittenberger Matrikeln übereinstimmt.5 Möglicherweise traute man auch zu sehr einer Fußnote von Dibelius, der behauptete, die dritte Dissertation sei in Wittenberg nicht auffindbar, 6 oder man hat, mit Goeters, vorsichtig angenommen, Arnold habe sie als Respondent unter dem Präsidium Johann Deutschmanns verteidigt.7 Diese Vermutung führt auf eine falsche Fährte; man konzentriert sich dann bei der Suche auf die vielen unter dem Patronat des bekannten Wittenberger Theologen entstandenen Probestücke. Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß damit schon hinreichend erklärt wäre, weshalb die Schrift so lange als verschollen galt. Abgesehen davon, daß diese Standortbibliothek lange Zeit ziemlich unbekannt war, entstand der erwähnte Zettelkatalog erst kurz vor und während dem Zweiten Weltkrieg. Das macht vielleicht verständlich, warum für Dibelius Arnolds Arbeit in Wittenberg nicht aufgefunden werden konnte. Schließlich hat man bis in die 1980er Jahre den alten Dissertationen im allgemeinen wenig Beachtung geschenkt. Im besonderen hält Büchsel, indem er sich auf Seeberg bezieht, die Wittenberger Dissertationen im Hinblick auf die Entwicklung von Arnolds Denken für unergiebig; sie ergänzten nur das, was man ohnehin schon von ihm wisse, und bestätigten seine rein historischen Neigungen und seinen Lokalpatriotismus.8 Noch Erb geht davon aus, daß die drei Schulschriften, „[... ] which although of no real value for a study of his

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fältig kommentierte Neuherausgabe wäre wünschenswert. Hinsichtlich a) ist Goeters (Anm. 1), S. 243, zu korrigieren: Der Katalog der Bibliothèque Nationale, Paris, nennt richtig Arnold, nicht Bausner, als Präses. Vgl. Heinrich Kramm: Wittenberg und das Auslandsdeutschtum im Lichte älterer Hochschulschriften. Leipzig 1941, S. 46 und S. 165; auch unser Band trägt das Ex Libris Jeremias Deutschmanns (1634–1704). Daß die Dissertationen vorher seinem Bruder Johann (1625–1706) gehört hätten, von dem sie auf Jeremias übergegangen wären, wie Kramm vermutet, ist nicht zu belegen. Album Academiae Vitebergensis. Jüngere Reihe. Bd. 2: 1660–1710. Bearbeitet von Fritz Juntke (in Registerform). Halle 1952, S. 7: „Arnoldi, Gottofredus, Annaebergensis Misnicus“. Dibelius (Anm. 3), S. 195. Goeters (Anm. 1), S. 243 Anm 13. Büchsel (Anm. 1), S. 27f.; Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik. Meerane i. Sa. 1923 (Ndr. Darmstadt 1964).

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thought, indicate the early importance historical demonstration as an apologetic tool had for him.”9 Vielleicht ist es daher gerade kein Zufall, daß der vermißte Erstling nicht von einem Arnoldspezialisten entdeckt wurde.10 1.2.  Der Präses Arnold und der Respondent Teutsch; Verfasserschaftsfrage Mit der Dissertation über die Engelsprache ist das bis jetzt früheste Druckerzeugnis gefunden, auf dem der Name Gottfried Arnolds steht. Über frühere Disputationen, an denen er als Präses oder als Respondent beteiligt war – Arnold hatte sich am 18. Juni 1685 immatrikuliert und am 28. April 1687 den Magistergrad erlangt – ist nichts bekannt.11 Am Nachmittag des 14. Dezember 1687 versuchte Arnold nun als Magister – man beachte das M. vor dem Namen –, zusammen mit seinem Respondenten, beim angekündigten Streitgespräch in der Rolle des Vorsitzenden den Nachweis gelehrten Könnens zu erbringen. Die spärlichen biographischen Nachrichten, die wir über die Studienjahre Arnolds besitzen, werden damit immerhin durch ganz wenige neue Daten ergänzt. Der Respondent, Paul Teutsch aus Kronstadt, war einer der zahlreichen Siebenbürger, die im 17. Jahrhundert in Wittenberg studierten. Er immatrikulierte sich am 4. Dezember 1686, einem Jahr, in dem noch weitere sieben Kronstädter an der Leucorea ihre Studien aufnahmen: Johann Balthasar, Marcus Draude, Johann Francisci, Christoph Greissing, Georg Herberth, Georg Schertfez, Andreas Tartler.12 Nach der Rückkehr in seine Heimat war Teutsch zunächst Lehrer am 9 Peter C[hristian] Erb: The Role of Late Medieval Spirituality in the Work of Gottfried Arnold (1666–1714). Diss. phil. masch. Toronto 1976 (Mikrofilm 1 F 3107 in der UB Tübingen), S. 57. 10 Die aufgefundene Dissertation war Anlaß genug, mich in der Folgezeit weiter mit Gottfried Arnold zu beschäftigen. – Von Arnolds Engelsdissertation befinden sich drei weitere Exemplare in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden und je ein Stück in der Stadtbibliothek Lübeck sowie in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Auf letzteres stieß Peter C. Erb: Pietists, Protestants, and Mysticism: The Use of Late Medieval Spiritual Texts in the Work of Gottfried Arnold (1666–1714). London 1989, S. 322 Anm. 5; es hat aber unter dem Brand vom 2. September 2004 gelitten. Der Faksimileedition in diesem Band (S. 171–185) liegt nicht wie der ersten das Exemplar des Wittenberger Predigerseminars (vgl. S. 161) zugrunde, sondern dasjenige der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle a.d. Saale, auf das ich erst bei der Suche nach einer geeigneteren Druckvorlage stieß. Frau Anke Mies, Halle, danke ich für die Unterstützung. 11 Album Academiae Vitebergensis (Anm 5), S. 7. Wie die Magisterpromotion abgewickelt wurde, ist bisher nicht bekannt. 12 Ebd., S. 426 (Teutsch). Die Namen der übrigen Siebenbürger sind deshalb von Interesse, weil sie näher an den Personenkreis heranführen können, in welchem auch Arnold verkehrt haben dürfte. Es wäre sinnvoll, nach Schulschriften Ausschau halten, in denen sie begegnen. Paul Teutsch hat am 12.1.1688 unter dem Präsidium Johann Deutsch-

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Kronstädter Gymnasium, 1695 wurde er Stadtprediger, 1706 kam er als Pfarrer nach Wolkendorf, 1713 nach Honigberg, wo er 1719 an der Pest starb.13 Die personengeschichtlichen Ermittlungen, die noch nicht abgeschlossen sind (vgl. Anm. 12), lassen wohl annehmen, daß die Dissertation über die Engelsprache im weiteren Wirkungsbereich Johann Deutschmanns entstanden ist. Nun ist es mitunter nicht einfach, die Verfasser alter Dissertationen zuverlässig zu bestimmen. Die Gestalt des Titelblatts (Name Arnolds im Nominativ, Respondentenname im Ablativ) spricht hier für die Verfasserschaft des Präses. Überdies würde sein scharfer Gegner, Johann Christoph Coler, der viel auf ein gutes Latein hält, Arnold das Lob, die drei Dissertationen seien „non ineleganter scriptae“,14 mit Sicherheit vorenthalten, wenn er mit gutem Grund hätte davon ausgehen können, sie wären nicht wirklich von seinem Widersacher selber geschrieben worden. 1.3.  Thema, Inhalt, geistige Einflüsse Die Engelsprache war im 17. Jahrhundert ein beliebter Disputationsgegenstand,15 denn über die den reinen Geistwesen eigene Form der Verständigung ließ sich manns eine ‚Dissertatio theologica de aeterna permissionis lapsus oeconomia, ex psalm. 81. 13.‘ verteidigt, Johann Francisci gleich zweimal unter Nathanael Falck disputiert, nämlich am 17.8.1687 über ‚Angelus in assumpto corpore apparens‘ und am 19.10. desselben Jahres über ‚Positiones selectae ex pneumaticis de anima separata‘. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Glückwunschadressen; vielleicht würde man auch da von Arnold hören. Über die Anziehungskraft, welche die Persönlichkeit Johann Deutschmanns zeitweise auf Siebenbürger Studenten ausübte, berichtet schon Kramm (Anm. 4, S. 143f.); daß Arnold zu dessen Tischgenossen zählte, ist seit langem bekannt. 13 Josef Trausch: Schriftsteller-Lexicon oder biographisch-literarische Denkblätter der Siebenbürger Deutschen. Bd. 3. Kronstadt 1871 (Ndr. Köln u.a. 1983), S. 392f. 14 Johann Christoph Coler: Historia Gothofredi Arnold qua de vita scriptis actisque […] exponitur. Wittenberg 1718, S. 107. 15 Allein aus der Zeit zwischen 1661 und 1684 sind mir folgende Dissertationen zum selben Thema bekannt: Friedemann Bechmann (Präses) / Christoph Lehmann (Respondent): Multigenae scholasticorum opiniones de loqvutione angelorum. 16.1.1661. Jena. – Johann Faust (Präs.) / Johann Andreas Knoderer (Resp.): Disputatio pneumatica de loquela angelica. 13.[?]9.1661. Straßburg. – Kaspar Schön (Präs.) / Peter Stumm (Resp.): Ex theologia naturali disputatio de angelorum loquela. 1667. Wittenberg. – Friedrich Madewis, (Präs.) / Friedrich Ledel (Resp.): Disputatio academica de cognitione et loquutione angelorum. 1669. Jena. – Georg Wagner (Präs.) / Joachim Ernst Mergo (Resp.): Ex philosophia spirituum de locutione angelica dissertatio. 28.1.1671. Wittenberg. – Valentin Alberti (Präs.) / Andreas Rancke (Resp.): Dissertatio de locutione angelorum. 13.12.1678. Leipzig. – Johann Pasch (Präs.) / Matth. Jakob Oldach (Resp.): Exercitatio pneumatico-scholastica de angelorum lingua sine lingua. 4.10.1684. Wittenberg. Noch 1738 hat in Bayreuth Friedrich Adam Scholler unter German August Ellrod seine Dissertation ‚De poesi angelorum lingua‘ verteidigt. Standortnachweise zu den erwähnten Dissertationen bei Hanspeter Marti: Philosophische Disserta-

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trefflich streiten.16 Da die Disputation weniger von gesicherten Erkenntnissen und Erklärungen als vom Wahrscheinlichkeitsbeweis und den auch von Arnold in seiner Dissertation wiederholt hervorgehobenen ‚coniecturae‘ lebt, wird man unserem Präses zubilligen dürfen, ein Thema gewählt zu haben, das dem Anlaß, einer Disputation, aufs beste entsprach. In 23 Paragraphen von unterschiedlicher Länge und Bedeutung setzt sich Arnold auf gedrängtem Raum mit dem ihm verfügbaren Meinungswissen zum Gegenstand auseinander. Durch häufige Überleitungen, die das eigene Vorgehen kurz rechtfertigen, werden die Aussagen und die Art ihrer Verknüpfung gegen Einwände abgesichert. Um das Kernstück der Dissertation, den rechnerisch genau in der Mitte befindlichen Paragraphen 11,17 gruppiert der Verfasser die restlichen Abschnitte. Zunächst steht auch für ihn fest, daß Engel sprechen können. Niemand wird glauben, so betont er, daß ein dem Menschen an Vollkommenheit überlegenes Wesen diese Fähigkeit nicht besitze. Nur ist die menschliche Rede körpergebunden, die Engel dagegen teilen sich auf rein geistige Art, durch Gedankenübertragungen, mit. Arnold wendet sich gegen jede Versinnlichung dieser Kommunikation und daher gegen alle Autoritäten (Durandus!), welche die ‚intelligentiae‘ auf irgendeine Zeichensprache festlegen wollen. Der Austausch reiner Gedanken zwischen den Engeln läuft nicht wie ein naturgesetzlicher Vorgang ab, sondern setzt die Bereitschaft der potentiellen Gesprächspartner unbedingt voraus. Es muß, was besonders hervorgehoben wird, zwar von der Willensfreiheit dieser Geschöpfe ausgegangen werden, doch wirke das Gespräch verändernd auf den Intellekt der beteiligten Subjekte ein. Unter den Autoritäten, die mit der für die Disputation typischen, eklektizistischen Argumentationshaltung angerufen, befürwortet oder abgewiesen werden, befinden sich antike Autoren, der Kirchenvater Augustinus, mittelalterliche Scholastiker und zeitgenössische Metaphysiker beider Konfessionen. Aufschlußreich ist, daß Arnold, im Gegensatz zu den meisten seiner Gewährsleute, ohne den Beizug von Bibelstellen auskommt. Während er gewöhnlich zwar entschlossen Stellung bezieht, dennoch aber distanziert und betont sachlich Meinungen einander gegenüberstellt und Probleme erörtert, greift er sowohl am Anfang, wo er die Unwissenheit der heidnischen Autoren bedauert, wie auch gegen Schluß, wo die Annahme einer Zeichensprache der Engel energisch zurückgewiesen wird, auf sprachliche Gestaltungsmittel zurück, die eher dem rhetorischen Wirkungsziel des ‚movere‘ als dem Nüchternheit fordernden ‚docere‘ zuzuordnen sind. Logische und rhetorische Argumentationstechniken sind eng miteinander tionen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie unter Mitarbeit von Karin Marti. München u.a. 1982. 16 Dies wird indirekt von Christoph Scheibler bezeugt, den Arnold auch konsultierte: Scheibler: Metaphysica (siehe Anhang 2.2.), S. 650: „Ego hac in re nihil temerè decerno. Quod loquantur angeli, ex priori quaestione certum est. Quomodo id fiat, non existimo naturali ratione satis constare.” 17 Zu beachten sind die Rückverweise in den §§ 14, 17 und 19.

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verbunden, was nicht nur Arnolds Dissertation, sondern die Disputation ganz allgemein kennzeichnet. Unabhängig davon, welcher Stellenwert dem Erstling innerhalb von Arnolds Gesamtwerk eingeräumt wird, kann er als wirkungsgeschichtliches Zeugnis und als typischer Vertreter seiner Gattung zur weiteren Beschäftigung mit den alten Dissertationen anregen. Denn diese von der philosophischen Forschung lange Zeit sehr vernachlässigten Quellen geben, da sie der damaligen Argumentationspraxis näherstehen als die im Unterricht verwendeten Kompendien, ergänzende, jedenfalls genauere Informationen über den Lehrbetrieb und die alltägliche Rezeption der Schulphilosophie. Daher lernt man durch sie die von den einzelnen Universitäten und hohen Schulen ausgehenden oder von ihnen aufgenommenen Bildungseinflüsse besonders gut kennen, worauf erst eine exakte Beschreibung der lokalen Eigenheiten des Unterrichts an den einzelnen Fakultäten möglich würde. Ich muss mich hier mit ein paar Hinweisen zu Arnolds Dissertation begnügen. Keinen Namen nennt Arnold häufiger als den des spanischen Jesuiten Franciscus Suarez. Er beruft sich aber nicht auf dessen Disputationes metaphysicae, deren Bedeutung für die Entwicklung der protestantischen deutschen Schulmetaphysik seit langem bekannt ist,18 sondern auf den Thomaskommentar, der sich ausführlich mit den Engeln befaßt und dessen Aufnahme an den protestantischen Bildungsstätten Deutschlands bis jetzt von philosophiegeschichtlichen Darstellungen kaum berücksichtigt wurde. Die bloßen Erwähnungen des Namens und die vorhandenen konkreten Stellenverweise geben nur einen oberflächlichen Eindruck von der weitgehenden Abhängigkeit des Verfassers vom spanischen Spätscholastiker. Die ganze Dissertation ist im Sinn und Geist des ‚Vorbildes‘ geschrieben. Es werden einzelne Sätze fast wortwörtlich von ihm übernommen, gewisse Passagen leicht verändert oder zusammengefaßt, andere freilich auch fortgelassen. Die Arbeit stellt daher weitgehend das Produkt einer reflektierten Aneignung und Auswahl Suarezscher Gedanken dar, die als Disputationsstoff, in Kurzabschnitten zusammengedrängt, wieder- bzw. weitergegeben werden. Jeder Aussage Arnolds entspricht inhaltlich eine solche bei Suarez, dessen Thomaskommentar das eklektisch vorgehende ‚iudicium‘ des Verfasserpräses wie einen Thesaurus ausschöpft. So ließe sich anhand der Autorenbelege und der Präsentation der Argumente wohl ungefähr nachvollziehen, wie die Arbeit vom Exzerpt und der ‚inventio‘ zur Anordnung der Gedanken, der ‚dispositio‘, und zur Ausführung voranschritt. 18 Vgl. Karl Eschweiler: Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts. In: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Bd. 1, Reihe 1, 1928, S. 251–325 (auch unter http://www.fgbueno.es/ger/ ke1928a.htm ); Ernst Lewalter: Spanisch-jesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts. Darmstadt 1967; Peter Petersen: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig 1921 (Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964); Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1939 (Ndr. Hildesheim u.a. 1992).

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Bis und mit § 18 bedient sich Arnold einer freien, mosaikartigen Zusammenstellung der (Suarezschen) Argumente, wogegen er sich von §  19 an ganz dem Argumentationsgang des Spaniers anvertraut.19 Bei Arnold geht es in den letzten Paragraphen um die Widerlegung von Einwänden gegen früher Vorgebrachtes; gemeinsamer Gegner beider Autoren ist der spanische Jesuit Gabriel Vasquez, der von Suarez zurückhaltend, von Arnold schroff angegriffen wird. Auch wenn hier das selektive Auswahlverfahren, das Umformulierungsprozedere bzw. die Arbeitsmethode Arnolds nicht analysiert werden können, so vermittelt doch die folgende exemplarische Gegenüberstellung einen ersten Eindruck. Arnold

Suarez

§ 19, Zeilen 4–6 „Sunt enim qui novum id atq; insolitum esse exclamant, angelum quasdam posse qualitates producere [...]“

cap. 28. 1. S. 256 „Prima difficultas est, quia novum et insolitum est dicere, angelum posse aliquas qualitates producere […]“

§ 19, Zeilen 8–11 „ [...] nos actionem illam non realem, & ad communicationem essentiae perfectionisq; suae, sed intentionalem solum, & ad cooperandum cum intellectu tendentem affirmare.“

cap. 28. 2. S. 257 „Quia duplex est modus actionis, unus est quando actio fit ad communicationem sui esse et perfectionis, quae solet dici realis actio, alius est quando solum fit ad sui manifestationem, seu ad cooperandum cum potentia cognoscente, quae solet dici actio intentionalis.“

§ 19, Zeilen 13/14 „[…] producere tamen species intentionales, quas vocant, posse.“

cap. 28. 2. S. 257 „[...] et sic dicimus posse efficere speciem intentionalem suorum actuum.“

§ 21, Zeilen 17–21 „Rationi subjunctae sic satisfiet, si ex vero dixerimus, impressionem speciei quatenùs est locutio ab intellectu quoad directionem profecta, vitalem actionem dici omninò posse; pendereq; adeò à rationis voluntatisve facultate, indeq. à libero loquentis arbitrio.“

cap. 28. 6. S. 258f. „Ad rationem autem, quae ingeniose excogitata est, respondetur primo, quamvis impressio speciei intelligibilis, ut manat ab actu tanquam ab objecto intelligibili, non sit vitalis actio, et a solo illo objecto, tanquam a principio eliciente fiat, nihilominus, ut est locutio intellectualis, est aliquo modo actus vitalis: nam loqui actus est rationis, et vitae, saltem quoad directionem, et imperium, et ideo ex hac parte pendet a facultate rationis, et voluntatis, ac subinde a libero arbitrio.“

19 Vgl. Suarez (siehe Anhang 2.2.), cap. 28. 1–14, S. 256–261.

168 Arnold § 22, Zeilen 7–10 u. 12–14 „Quandoquidem distantia tunc impedire non potest, quin contingere valeat objectum potentia cognoscens, & ad id terminari. Neq; etiam illud tacendum est, spirituales angelorum actiones per medium neutiquam diffundi [...]. Quid quod spiritûs illos motu velocissimô praestantes celerrimè convenire posse collocuturos haud sit inficiandum.”

Arnoldstudien Suarez cap. 28. 13. S. 261 „Et licet nunc etiam censeam id non esse improbabile, nec habere inconveniens, cum angeli velocissimi sint, et quamcumque distantiam, subito, aut motu velocissimo vincere possint, nihilominus illi sententiae non licenter adhaereo […]. Unde […] dicendum videtur, fieri posse ab angelo sine propinquitate in situ, seu substantiali praesentia, vel quia talis actio non fit per medium, neque ullam ad spatium habet habitudinem.”

Neben den spanischen Scholastikern, besonders Suarez, und teilweise vermittelt durch sie, wurden auch die mittelalterliche Hoch- und Spätscholastik, allen voran Thomas von Aquin und seine Kommentatoren, an den protestantischen Universitäten und hohen Schulen des 17. Jahrhunderts rezipiert und aufgearbeitet; so auch in Wittenberg. Arnolds Dissertation zeugt von diesem bedeutenden wirkungsgeschichtlichen Vorgang. In eben dem Zusammenhang müssen die beiden Gießener Philosophen Christoph Scheibler, von Zeitgenossen nicht zufällig der ‚protestantische Suarez‘ genannt,20 und Caspar Ebel, sein Schüler und Nachfolger, der Thomaskommentator,21 erwähnt werden. Ihre Werke hatte Arnold vermutlich ebenso zur Hand wie den Suarez. Obwohl darauf hingewiesen wurde, daß sich in Wittenberg, im Unterschied zu anderen Universitäten, die Ausgliederung der Pneumatik aus der Metaphysik besonders deutlich vollzogen habe – als Kronzeugen für diese Tatsache gelten Jakob Martini und Johann Scharff22 – beruft sich Arnolds Wittenberger Dissertation ausgerechnet auf auswärtige Autoritäten, die die natürliche Theologie und ihre drei Hauptteile (de deo, de angelis, de anima 20 Zu ihm Eschweiler (Anm. 18), S. 294, Lewalter (Anm. 18), S. 71, ferner: Walter Sparn: Die Schulphilosophie in den lutherischen Territorien. In: Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe hg. von Helmut Holzhey. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4/1. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Basel 2001, S. 475–587, hier S. 538–540. 21 Dazu Hermann Schüling: Caspar Ebel (1595–1664), ein Philosoph der lutherischen Spätscholastik an den Universitäten Marburg und Gießen. Gießen 1971, sowie ebenfalls Sparn (Anm. 20), S. 540f. 22 Lewalter (Anm. 18), S. 72: „Vielmehr stemmt sich Wittenberg […] auch weiterhin gegen das Überwuchern der natürlichen Theologie.“ Auch Schüling (Anm. 21), S. 14 Anm. 86, spricht von der „Verselbständigung der Lehre vom Geiste, die besonders bei den Wittenberger Philosophen anzutreffen“ sei.

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separata) in die Metaphysik integriert wissen wollten. Allein schon deshalb, weil für Arnolds Erstling zur Engelsprache die philosophische Fakultät zuständig war, läßt sich in diesem Fall eine Vereinnahmung der Pneumatik durch die Metaphysik annehmen. Vielleicht veranlaßt der der Tendenz widersprechende Einzelbefund auch in dieser Hinsicht klärende Studien. 1.4.  Bedeutung des Fundes für die Arnoldforschung Soweit ich sehe, bedürfen die jüngsten Bestrebungen, die verschiedenen Lebensphasen des Pietisten stärker aufeinander zu beziehen, keiner Korrektur.23 De locutione angelorum erweist ihren Verfasser als den Anforderungen des Disputationsbetriebes gewachsen; er hat sich das logisch-rhetorische Rüstzeug angeeignet, und seine Bildung unterscheidet sich wohl kaum grundsätzlich von der anderer junger Gelehrter seiner Zeit. Hat sich Arnold später ebenso von den schulmäßigen Arbeitsmethoden und Gestaltungsnormen gelöst, wie er sich von den ihm in Wittenberg vermittelten Inhalten trennte? Hat er nicht das ganze formale Instrumentarium, das er dort sich aneignen mußte, verfeinert und auch polemischen Zwecken dienstbar gemacht? So oder anders macht die Erstlingsschrift deutlich, wie sehr ihr Verfasser aus Erfahrung spricht, wenn er später die Schulgelehrsamkeit, vor allem Logik und Metaphysik, als Teufelswerk verwünscht.24 Sie relativiert 23 Zum Forschungsstand: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995; hier, S. 411–425, Hinweise von Hans Schneider zu Sekundärliteratur über Arnold bis zum Erscheinungsjahr 1993. Reinhard Breymayer, der mich über Publikationen zu Arnold auf dem laufenden hielt und mir damals eine Kopie des auf Korrekturbogen vorliegenden erwähnten Aufsatzes freundlicherweise zukommen ließ, sei auch an dieser Stelle gedankt. Dietrich Blaufuß bin ich für sein Einverständnis und Interesse verpflichtet. 24 Die einschlägige Stelle aus Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1729 (Faksimile-Neudrucke Hildesheim 1967 und 1999) sei ausführlich zitiert (Teil I, Buch 14, Kap. 2, 5, S. 419), nicht zuletzt, weil uns da mittlerweile bekannte Autoritäten wieder begegnen: „Der satan ruhete auch nicht, biß er das einmal erfundene scholastische unwesen dißmal auf den höchsten grad brachte. Denn da kam nun weiter ein schwarm von solchen stachel=köpffen hervor, die nichts als unnütze grillen und vernunft=schlüsse wusten, und damit die Theologie zerreten und zauseten, wie sie wolten. Da wurden gleichsam in die wette neue Barbarische monstrose termini, distinctiones, definitiones und fragen erdacht, unzehliche sophismata, lügen und irrthümer vor himmlische warheiten verkaufft, die allerlächerlichsten meynungen, schändlichsten fragen und zänckereyen der armen Jugend eingebläuet. Man schmierte gantze fuder voll Quodlibeta, Repertoria, Specula, Cornua Copiae, Vade mecum und dergleichen zusammen, fast wie noch solche logicalische und metaphysische scartecken alle winckel erfüllen. Darinn aber lase man nichts als von formalitatibus, entitatibus, haecceitatibus, determinationibus und 1000 andern greueln, damit der teuffel der armen leute recht-

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aber auch jenen Wertmaßstab und zeigt den nachmaligen Pietisten noch stärker an all das gebunden, wogegen er sich dann so vehement abgrenzt. Hier stößt nicht das Individuum Gottfried Arnold auf besonderes Interesse, sondern das Paradigma, der junge Gelehrte. Dadurch erhalten die Bildungseinflüsse ein besonders großes Gewicht. Allerdings verbietet gerade die Textgattung ‚alte Dissertation‘ voreilige Rückschlüsse von den schriftlich fixierten Inhalten auf die tatsächliche Meinung des Schreibers, weil der übungshalber eingenommene Standpunkt nicht mit dem wirklichen übereinzustimmen braucht. Ist also die leise Skepsis gegenüber dem gelehrten Wissen über die Engel im Erstlingswerk ein Zugeständnis an die Gattungsnorm der Dissertation bzw. die Kommunikationsnorm der Disputation oder schon eine persönliche Stellungnahme gegen den von der ‚Schultheologie‘25 erhobenen Erkenntnisanspruch?

schaffen spottete. Und hierzu halffen vornemlich die haupt=erfinder solcher tröstlichen sachen: als Johannes Duns Scotus Herveus, Natalis, Petrus Aureolus, Durandus de S. Porciano, Godfridus Cornubiensis, Fr. de Mayronis und sehr viele dergleichen […].“ 25 Vgl. bei Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie oder geheimen Gottesgelehrtheit wie auch derer alten und neuen Mysticorum. Frankfurt a.M. 1703 (Faksimile-Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969) das Porträt der Schultheologie (S. 30f.), bei der das Disputieren und das Folgern, die logische Argumentation, im Vordergrund stehen.

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2.  Faksimiletext (Exemplar der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle, Signatur: 76 F 3 [14])

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3.  Anhang: Personenregister, Zitatnachweise In der alphabetischen Abfolge der Namen, wie sie im Faksimiletext erscheinen, wird die gelehrte Literatur, welche auf Arnolds Argumentation eingewirkt hat, aufgeführt. Das Verzeichnis soll dazu beitragen, den geistesgeschichtlichen Kontext zu bestimmen, innerhalb welchem die Dissertation entstanden ist. Da es sich um eine akademische Gelegenheitsarbeit, dazu noch um ein Erstlingswerk handelt, muß freilich offen bleiben, wie eingehend sich der Autor mit seinen Gewährsleuten – abgesehen von Suarez – auseinandergesetzt hat. Die kargen bibliographischen Angaben machen es, vor allem bei mehrmals aufgelegten Werken, unmöglich, festzustellen, welche Ausgabe Arnold vor sich hatte; wobei davon ausgegangen werden muß, daß viele Stellenvermerke geborgt sind – namentlich aus Suarez. Besonders über die während des 17. Jahrhunderts im Umlauf stehenden Druckausgaben mittelalterlicher Scholastiker weiß man bis jetzt noch wenig. Verschiedene Quellenbelege sind bei Arnold ungenau; die herangezogenen Autoritäten werden von ihm bloß sinngemäß und sehr knapp besprochen; das Referat bezieht sich dann auf längere Passagen in jenen Werken. Die genannten Autoren sind auch im Hinblick auf einen Vergleich mit späteren Werken Arnolds von Bedeutung. Die Paragraphen, in denen Namen und/oder Stellenverweise auftreten, werden in runden Klammern (römische Zahlen) direkt hinter dem Namen, wie er in der Dissertation vorkommt, verzeichnet. Da zwei Paragraphen, die erwähnt werden müssen, mit einer XII versehen sind, nenne ich den zweiten von ihnen zur besseren Unterscheidung XII’. Daß es auch zwei Paragraphen VII, dafür weder einen XIII. noch einen XX. gibt, spielt in diesem Register keine Rolle. Hinter der Thesennummer steht in eckigen Klammern der ausführliche oder gängige Name der von Arnold bemühten Autorität. Im allgemeinen verzichte ich auf biographische Angaben, da sie in den bekannten Nachschlagewerken bequem zugänglich sind. Bei seltenen Schriften, die eingesehen wurden, folgt den Erscheinungsdaten das Bibliothekssigel oder die abgekürzte Bibliotheksbezeichnung in runden Klammern. Für die Zitatnachweise wurde nur die Genauigkeit erstrebt, welche die ‚allegationes‘ in der Dissertation zulassen. Schließlich wird auf Unsicherheiten und Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Namen hingewiesen. Alensis (XI) [Alexander von Hales]. Arriaga (XIV) [Arriaga, Rodrigo de, S.J.]: Disputationes theologicae in primam partem D. Thomae tomus secundus; qui continet tractatus tres, de angelis, de opere sex dierum, de ultimo fine hominis. Antwerpen 1643 (19). Darin: Disputatio 12, de locutione angelica, sectio 4, 25, S. 113. Augustinus (X): Enchiridion XV, 58 bis XVI, 60. In: Corpus Christianorum. Series Latina XLVI, Aurelii Augustini opera, pars XIII, 2. Turnhout 1969, S. 81. – Die zweite Augustinusstelle, die Arnold anführt (L. 16. de Civit. dei c.

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16.), könnte unkritisch aus Scheibler (siehe daselbst) übernommen worden sein. Dieser zitiert die erste sinngemäß und erwähnt dann die andere ebenso kurz wie Arnold. Die Überprüfung in Augustinus: De civitate Dei, liber XVI, cap. 16. In: Corpus Christianorum. Series Latina XLVIII, Aurelii Augustini opera, pars XIV, 2. Turnhout 1955, S. 520f., ergibt, daß dort von Engeln nicht die Rede ist. Könnte stattdessen bei unserem Autor wie auch bei seinem mutmaßlichen Gewährsmann liber XVI, cap. 32, S. 537, Zeile 44f., gemeint sein, wo es heißt: „Sed divina per angelum verba potius audiamus“? Aureolus (XI) [Petrus Aureolus]. Bassolus (XII’) [ Johannes de Bassolis]. Bonaventura (XI). Cajetanus (XIV) [de Vio Cajetanus, Thomas]: Commentaria in summam theologicam [...] s. Thomae Aquinatis rursus edita [...] studioque H. Prosperi […]. Volumen primum, commentaria in primam partem summae theologiae. Lyra 1892. Darin: Quaestio 107, articulus 1, S. 780f. Capreolus (XIV) [Capreolus, Johannes]: Defensiones theologie in quattuor libris sententiarum [...] doctoris Thome de Aquino […]. Addito [...] repertorio [Bartholomei Spinaei Pisani]. Capreolus super secundo sententiarum. Venedig 1517 (12). Darin: Distinctio 11, quaestio 1, fol. 158v Sp. l bis fol. 160v Sp. 2. Cicero (I) [Cicero, Marcus Tullius]: Liber secundus, de divinatione, cap. 32, § 69. Bibliotheca [...] Teubneriana, part. IV, vol. II. Leipzig 1878, S. 221. Clasen (XIV) [Clasen, Daniel, *1622 †1678, zuletzt Rechtsprofessor in Helmstedt]: Theologiae naturalis liber secundus in quo de intelligentiarum natura et attributis quantum fieri potest e lumine naturae agitur [...]. Magdeburg 1653 (29: 4° Misc. 191). Darin: Cap. 25, S. 117–122: De locutione angelorum. Durandus (XVIII) [Durandus a Sancto Portiano]: […] In quattuor sententiarum libros questionum plurimarum resolutiones […] a magistro Jacobo Merlino recognite et gemino indice illustrate. Paris 1526 (12). Darin: Liber 2, distinctio 11, questio 2, fol. 170 [recte 169]v Sp. 2 bis fol. 170v Sp. 1. Ebelius (X, XIV ) [Ebel, Kaspar]: Opera philosophica [...] edita [...] a Kiliano Rudrauffio […]. Frankfurt a.M. 1677 (12). Darin: Collegii metaphysici [...] partis specialis, disputatio 6, de angelis, sectio 3, articulus 3, de locutione angelorum, S. 1265f. Gabriel (XII) [Gabriel Biel]: Collectorium in quatuor libros sententiarum. 1. 2. [Tübingen 1501] (21). Gabriel in secundum librum sententiarum, distinctio 9, questio 2, articulus 4, fol. hv Sp. 2 bis fol. II Sp. 2. Greg. (XVIII) [vermutl. Gregor von Rimini]. Wird von Arnold zusammen mit Marsil. (siehe dort) genannt. Gerhard Ritter: Studien zur Spätscholastik. 1. Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland. Heidelberg 1921, weist mehrfach auf die starke Abhängigkeit des Marsilius von Inghen von Gregor von Rimini hin. Obwohl in der angelographisehen Literatur hier und dort auch Gregor der Große erwähnt wird, ist es eher unwahrscheinlich, daß Arnold hier schon wagt, eine so ehrwürdige Autorität derart

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entschlossen abzulehnen. Gregor von Rimini hat zusammenhängend über die Engel (auch über ihre Sprache) geschrieben in: Gregorius de Arimino in primo [et] secundo sententiarum restitutus per Paulum de Benazano. [Venedig 1503] (21). Beachte dort: Tabula omnium quaestionum totius libri secundi sententiarum [...], fol. 119v Sp. 1. Guilielmus (XVIII) [vermutl. Wilhelm von Ockham]. Henricus (XVI) [Heinrich von Gent]: M. Henrici Goethals a Gandavo […] aurea quodlibeta tomus primus, hac postrema editione commentariis [...] illustrata M. Vitalis Zuccolii Patavini […]. Venedig 1613 (12). Darin: Quodlibetum 5, quaestio 15 [articulus 2], fol. 270r Sp. 1 bis fol. 274v Sp. 2. Herera, Herrera (XII’) [vermutl. Herrera, Franciscus]. Schon in Martin Lipenius: Bibliotheca realis theologica. Frankfurt a.M. 1685, Sp. 40, findet sich die Referenz „Franc, de Herrera, de angelis, Salmant. 1595“. Vgl. auch Lukas Wadding: Scriptores ordinis Minorum. Rom 1650 (Faksimile-Ndr. Frankfurt a.M. 1967), S. 120, und Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten=Lexicon. 2. Theil. D-L. Leipzig 1750 (Faksimile-Ndr. Hildesheim 1961), Sp. 1557f. Hervaeus (XVI) [Herveus Natalis]: […] In quattuor Petri Lombardi sententiarum volumina scripta subtilissima [...]. (Drucker: Lazarus Soardus) s.l., s.a. (12). Darin: Herveus Brito in secundum sententiarum volumen, distinctio 11, questio I, fol. 16v Sp. 1 bis fol. 17r Sp. 2. Klozius (XV ) [Klotz, Stephan, *1606 †1668, Theologieprofessor in Rostock, dann Propst in Flensburg]: Bis jetzt konnte kein Exemplar der mutmaßlichen ‚Collegii pneumatici disputatio nona‘ (wohl: Rostock 1629) gefunden werden. Livius (I) [Livius, Titus]: Ab urbe condita. Oxford 1964, tomus I, liber V, cap. 50, 5/6. Major (XVI) [ Johannes Maior, Scotus]: Ioannes Maior in secundum sententiarum. [Paris 1510] (12). Darin: Distinctio 9, quaestio 2 [...] „ad ultimum [... ]”, fol. XX [recte XIX]r Sp. 1 bis fol. XX [recte XIX]v Sp. 1. Marsil. (XVIII) [vermutl. Marsilius von Inghen]. Siehe auch Greg. (Kommentar) und vgl.: Questiones Marsilii super quattuor libros sententiarum, libri 1 und 2. [Straßburg s.a. ] (21), wo die ‚tabula alphabetica‘, fol. a4r Sp. 1, auf einschlägige Stellen zur ‚locutio angelorum‘ hinweist. Ocamus (XII) [Wilhelm von Ockham]: [Super quatuor libros sententiarum]. Lyon 1495 (21). Darin: Libri secundi questio 20, fol. G6r Sp. 1 bis fol. H2r Sp. 1. – Und: Quotlibeta septem. Tractatus de sacramento altaris. Straßburg 1491 (Faksimile-Ndr. Löwen 1962). Darin: Quotlibetum 1, questio 7, fol. a6r Sp. 1 bis a6v Sp. 2. Panus (XVIII) nicht identifiziert. Weil dieser Name weder in den konsultierten Nachschlagewerken noch in anderen angelographischen Schriften gefunden werden konnte, ist wohl davon auszugehen, daß er in der Dissertation Arnolds entweder unvollständig oder falsch angegeben wird. Liegt ein Kürzel vor, wäre vielleicht an Michael Paludanus zu denken, der einen Kommentar zur Summa des Aquinaten verfaßt hat. Handelt es sich dagegen um einen Druckfehler,

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könnte, was allerdings noch zweifelhafter ist, Melchior Canus gemeint sein, den Vasquez nennt, wo bei ihm von der Engelsprache die Rede ist. Die Autopsie der Werke des Canus hat aber nicht weitergeführt. Richardus (XI) [Richard von Mediavilla]. Scaligerus, J. C. (XII’) [Scaliger, Julius Caesar]. Scheiblerus (X) [Scheibler, Christoph]: Metaphysica duobus libris universum huius scientiae systema comprehendens. [...] Editio nova emendata. Genf 1636 (UB Basel). Darin: Liber 2, cap. 4, articulus 2, S. 650. Scotus (XII’) [Duns Scotus, Johannes]: Scotus novissime […] castigatus. [Scripta super sententiarum 1–4, cura Philippo de Bagnacavallo]. Venedig [1505] (21). Darin: Scotus super secundo sententiarum, [distinctio 9], questio 2, fol. 46r Sp. 1 bis fol. 50r Sp. 1. Suarezius (III) [Suarez, Franciscus, S.J.]: Opera omnia, tomus seeundus. Commentaria ac disputationes in primam partem D. Thomae de deo effectore creaturarum omnium, in tres praecipuos tractatus distributa, quorum primus de angelis. Paris 1856. Darin: Cap. 26, S. 234–243. Suarezius (VI): Ebd.: Cap. 28, S. 256–281. Suarezius (XI): Ebd.: Cap. 27, S. 243–256. Suarezius (XII’): Ebd.: Cap. 27, 25f., S. 251. Suarezius (XVII): Ebd.: Cap. 26 (bei Arnold falsch cap. 25), 5 (eher 6), S. 236. Suarezius (XVIII): Ebd.: Cap. 26, 3, S. 235. Tullius (XI) [Cicero, Marcus Tullius]. Vasquezius (III) [Vasquez, Gabriel, S. J.]: Commentariorum, ac disputationum in primam partem s. Thomae tomus secundus [...]. Ingolstadt 1609 (12). Darin: Quaestio 57, disputatio 211, articulus 4, cap. 1, S. 601f. Vasquezius (XVI): Ebd.: Cap. 11, S. 614f. Vasquezius (XXI): Ebd.: Cap. 5, S. 605–607, mit Rückverweis auf cap. 4 ‚Unum angelum alteri loqui imprimendo illi speciem suae cognitionis nonnulli censent‘ (S. 604f.).

Nachweis der Erstpublikationen 1. Die Rhetorik des Heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus bei Gottfried Arnold Erstdruck in: Pietismus-Forschungen. Zu Philipp Jakob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischen Umfeld. Hg. von Dietrich Blaufuß. Frankfurt am Main: Lang 1986, S. 197–294. 2. Die Verkündigung des irdischen Paradieses. Spiritualismus und Utopie bei Gottfried Arnold Erstdruck in: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden: Harrassowitz 1995, S. 179–196. 3. Die Utopie des inneren Friedens bei radikalen Pietisten Erstdruck in: Klaus Garber und Jutta Held (Hg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München: Fink 2001, S. [187]–199. 4. Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold. Konfessionalistische Abgrenzung und mystisch-spirituelle Solidarität Erstdruck in: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 1. Vormoderne. Weimar, Köln, Wien: Böhlau 1997, S. [501]–519. 5. Der Seelenfrieden der Stillen im Lande. Quietistische Mystik und radikaler Pietismus – das Beispiel Gottfried Arnolds Erstdruck in: Jansenismus, Quietismus, Pietismus, hg. von Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schrader und Heinz Schilling. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002, S. 92–105. 6. Litterärhistorie und Ketzergeschichte. Reimmanns historiographische Toleranz Erstdruck in: Martin Mulsow und Helmut Zedelmaier (Hg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Tübingen: Niemeyer 1998, S. [60]–75. 7. Gottfried Arnold – Magister der Philosophie in Wittenberg. Seine Dissertation über die Engelsprache: ediert und kommentiert Erstdruck in: Linguistica Biblica 52, 1982, S. 41–70.

[Gottfried Arnold] Offenhertzige Bekäntniß Urausgabe Ohne Ort 1698 Herausgegeben von Dietrich Blaufuß

Vorbemerkungen Dem Werk Gottfried Arnolds ist im 20. Jahrhundert nur eine bescheidene editorische Mühe gewidmet worden. Das wird diesem in vieler Hinsicht bedeutenden Pietisten nicht gerecht. Die mögliche Reserve gegenüber diesem zum Radikalpietismus (bis hin zur Separation) neigenden Theologen hat inzwischen nachgelassen – aber der Blick auf die ungeheuren Textmengen nicht nur der Wahren Abbildung und der KKH mag oft schon Pläne einer Arnold-Edition in das Reich der Utopie verwiesen haben. Zu diesem Umfangsproblem gesellt sich eine Fülle von Sachfragen. Arnolds Werk, oft von stupender Gelehrsamkeit, umfaßt viele literarische Gattungen und fordert der editorischen Bemühung hohe interdisziplinäre Kompetenz ab. Dabei haben bibliographische, theologische, literaturwissenschaftliche, kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Erforschung zu reicher Kenntnis über Arnold geführt. Vorliegender Sammelband führt dies in wünschenswerter Klarheit vor Augen. Hier genügt es, für das 20. Jahrhundert an das Faktum diverser exemplarischer Editionen von Arnold-Texten zu erinnern. Sie reichen in ihrer Gestaltung von der Erstellung eines modernisierenden Lesetextes bis hin zum wissenschaftlich erarbeiteten, kommentierten Text – hier aus der Wahren Abbildung und der KKH. Es sei an die Namen Werner Mahrholz, Martin Schmidt, Erich Seeberg, Bernd Moeller/Thomas Kaufmann und Hans Schneider erinnert.1 Drei Werke Arnolds in vollständigem Umfang sind nur als Reprints,2 ein anderes – Erklärung vom gemeinen Secten-Wesen – als Abdruck3 zur Verfügung.4

1 Dietrich Blaufuß: [Rezension zu] Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699–1927. Hg. von Bernd Moeller. Frankfurt/Main 1994. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 71, 2002, S. 267–270, hier S. 269f. die Einzelheiten. E. Seeberg bietet in seiner Auswahlausgabe (Gottfried Arnold. In Auswahl hg. von Erich Seeberg. München 1934; gegen S. 269) durchaus Worterklärungen (siehe S. 61, 65, 71, 114, 117), Übersetzungen (siehe S. 117) und Präzisierungen von Belegen; zu letzterem vgl. z.B. S. 31–36 mit Gottfried Arnold: Die Erste Liebe, hg. von Hans Schneider. Leipzig 2002, S. 100,1 – 106,10 zusammen mit S. 158f. und in S. 164–184 die Werknachweise der zitierten Autoren. 2 Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 1.  Teil. Stuttgart 1990, S. 314–352, Arnold, Gottfried (1666–1714), hier Nr. 17.4, Nr. 20 und Nr. 33.II.2. 3 Arnold Auswahl, hg. von E. Seeberg (Anm. 1), S. 133–239; vgl. S. 23. 4 Abgesehen wird hier von den beiden im 19. Jahrhundert erschienenen Editionen der geistlichen Lieder durch Albert Knapp 1845 und K. C. E. Ehmann 1856. Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner (Hg.): Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Wiesbaden 1995, S. 416 (in Hans Schneiders Zusammenstellung der Arnold-Literatur 1714–1993; ebd., S. 415–424). Auf den Zugang zu Ganztexten Arnolds im Internet sei nur pauschal verwiesen; vgl. unten S. 205 in Anm. 1 Ende.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

Auf dem Wolfenbütteler Arbeitsgespräch zu Gottfried Arnold vom 10. bis 13. Juni 1990 wurde auch das „Projekt eines Bandes ‚Gottfried Arnold: Kleine Schriften‘“ angedacht.5 Es kam nicht zu Konkretisierungen. Dabei bietet sich einschlägiges Material reichlich an: Vorworte von mitunter erheblichem grundsätzlichen Gewicht, Predigten, Reden, poetische Texte, Korrespondenz,6 Verteidigungsschriften. 2014 und 2016 stehen der 300. Todestag bzw. 350. Geburtstag Gottfried Arnolds an. Hierfür werden nicht nur Veranstaltungen zu planen sein. Das vielschichtig zu bedenkende Problem der Präsentation wissenschaftlich edierter Arnold-Texte und natürlich vorweg die Entwicklung der Konzeption einer ArnoldAusgabe könnten auf die Etablierung von konkreten Projekten hindrängen. Der auf der oben genannten Tagung abgesteckte Rahmen einer Zusammenführung von Germanistik, Historischer Wissenschaft, Philosophiegeschichte, Kulturwissenschaft und Theologie dürfte freilich keinesfalls verengt werden. Eine ‚Kleine Schrift‘ im oben genannten Sinn wird hier vorgelegt, Arnolds oft, in kurzem Zeitraum 1698 bis 1700 und dann in einer späten Ausgabe 17297 aufgelegtes Offenhertzige Bekäntniß/ welche Bey unlängst geschehener Verlassung eines Academischen Amtes abgeleget worden [OB].8 Germanistische Zuordnung gliedert das Werk dem pietistischen autobiographischen Schrifttum ein.9 Es ist nicht die einzige Äußerung Arnolds, in der er auch gegenüber einer irritierten Öffentlichkeit ein Stück Rechenschaft zu überraschenden Schritten in seinem Leben ablegt – die Publizierung war offenbar von Anfang an vorgesehen.10 Arnolds Biographie war reich an solchen Schritten, oft als Brüche charakterisiert wie seine unerwartete Heirat oder der lange nicht für möglich gehaltene Weg ins kirchliche Amt. Indes hatte der so schnelle Abschied Arnolds von einer als aussichtsreich geltenden akademischen Laufbahn schon etwas Außerordentliches an sich. Der Schritt provozierte weit über Arnolds persönliches Geschick hinaus Fragen etwa des (nicht nur theologischen) Wissenschaftsverständnisses und ‑betriebs. Diese wurden von einem wissenschaftlich ausgewiesenen Theologen und Historiker nicht nur 5 Blaufuß/Niewöhner (Anm. 4), S. 2. 6 Hierzu in Vorbereitung: Jürgen Büchsel: Der Briefwechsel zwischen Gottfried Arnold und Tobias Pfanner und weitere Arnold-Briefe und Quellentexte [...]. 2011. [Ich danke Dr. Büchsel für die freundliche Überlassung von Erstinformationen zu dem Projekt]. 7 Dünnhaupt (Anm. 2), Nr. 16.7, demnach „der langen Serie seiner [ J. F. Regeleins] Büdinger Nachdrucke“ zuzurechnen (Hans Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus : Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, S. 431). 8 Die – aussagekräftige! – Gegenüberstellung mit Arnolds Gießener Antrittsrede wird nach Vorliegen von deren deutscher Übersetzung (s.u. S. 211,1) erheblich erleichtert. 9 Geschichte des Pietismus, hg. von Martin Brecht [u.a.]. Bd. 4. Göttingen 2004, S. 398– 399, in der umfangreichen Zusammenstellung von „Autobiographien/Autopsychographien“ durch Hans-Jürgen Schrader. 10 Siehe unten S. 220,15-16. – Vgl. dazu des Verlegers Begründung für die Veröffentlichung: S. 205,10-13.

Vorbemerkungen

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thematisiert, sondern Arnold zog daraus auch praktische Konsequenzen. Nicht zuletzt dies verlieh dem Vorgang eine überindividuelle Brisanz und damit eine publizistische Bedeutung. Fünf Auflagen des OB11 von 1698 bis 1700 und das gut belegte und erforschte Echo spiegeln dies wider. OB mit seinen 73 Paragraphen ist nicht streng gegliedert. Vier ungleiche Teile12 kann man markieren.13 Ein erster Block gibt Auskunft über den Zweck der Veröffentlichung. Den bisherigen (Studien-)Weg sei er nicht ohne Anfechtungen und Zweifel gegangen – bis hin zu dem Punkt, an dem die Frage einer Lebensaufgabe an der Universität Gießen von innen problematisiert wurde (§§ 4–7). Erneute ebensolche unlösbaren Zweifel stellten sich abermals ein. Vier Hauptgründe für seinen Abschied werden entfaltet: Liebe zu Gott (§§ 11–13), das die Kräfte überfordernde Leben (§§ 14–17), die Existenz zwischen Profan- und Kirchengeschichte (§§ 18–19) und die Einschränkungen durch menschliche Regelungen (§ 20). All das machte schließlich die Frage der Trennung unausweichlich (§ 21). Ein zweiter Abschnitt erweitert und vertieft vieles des zunächst durch Arnolds persönlichen Schritt Beleuchteten ins Allgemeine. Hier reklamiert er eine nicht von „Vorurtheil und Partheylichkeit“ geschwächte Einsicht in das Verderben (§ 22) und kritisiert die Wissenschaften, die Hochschullehrer, das Disputationswesen (§§ 25–28). Die Hoffungslosigkeit gewinnt an Stärke (§ 34). Erstaunlich intensiv erörtert Arnold die Fragen der Herrschaft über die „theuer erkaufften Seelen“ (§ 37), des Gottesdienstes und des Abendmahlszwangs (§§ 36–38). – Mit all dem will er seinen Schritt hinaus aus der ‚Welt‘ verständlich machen. Arnolds „auswendige [äußer(lich)e] Verrichtungen“ „mag ja leichte ein anderer auch thun können“. Für die nötige „weitere Entdeckung [Entfaltung] der Kirchen-Geschichte in gehöriger [nötiger] Freyheit des Gewissens/ so lang es Gott gefallen mag“ sah Arnold keinen Raum mehr (§ 39). Ein dritter Teil verweist auf Arnolds Anliegen der Wiedergewinnung der imago dei. Sodann nimmt er die wenigen sich Gott Zuwendenden in Schutz, die mit ihrer Entscheidung auch die Heuchler in Frage stellen, und bringt in diesem Zusammenhang die ersten Christen als Maßstab ins Spiel (§§ 40–46). In einem großen Passus weist Arnold nicht weniger als sieben gegen ihn erhobene Vorwürfe zurück – für Arnold muß die Kritik am Verfall der allgemeinen Zustände zum Ausdruck gebracht werden und die praktische Folgerung daraus gezogen werden, damit nichts zu tun haben zu wollen (§ 56; auch § 60). Ein Schlußteil artikuliert Arnolds Abbitte für das große Maß von ihm geübter Kritik. Zugleich betont er die Gewißheit über seine Entscheidung (§§  57–58). 11 Reinhard Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog zur Bibliothek Gottfried Arnolds. In: Blaufuß/Niewöhner (Anm. 4), S. 55–143, markiert (S. 62f. in Anm. 10) Möglichkeiten der Klärung bibliographischer Unstimmigkeiten auf präzise Weise. 12 Franz Dibelius: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Berlin 1873, S. (84) 89–95, und Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold. Göttingen 1963, S. 56–58, bieten Überblicke zu OB. 13 Ich ziehe die etwaigen Grenzlinien: §§ 1–21, §§ 22–39, §§ 40–56 und §§ 57–73.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

Der Wunsch nach Offenbarwerden des verborgenen großen Geheimnisses Gottes (§ 61) steht freilich dem Wunsch nach einer Obrigkeit mit Eifer für Gottes Ehre (§ 62) nicht im Wege. An sie wie auch an die Geistlichen, die Gläubigen, die Professoren und die Studenten (§§ 64–72) richten sich Arnolds je unterschiedliche Appelle – mit dem Ziel, um den Geist der Wahrheit zu bitten. Es gibt etwas Besseres als das Gefängnis der Weltliebe (§ 73). Die kleine Schrift fand vielfältiges Echo – bei Freund und Gegner, ebenso rief sie briefliche, bald auch öffentliche Erklärungen, Verschärfungen und Verteidigungen hervor. Das ist in der Arnold-Forschung zur Kenntnis genommen und offengelegt.14 Es bleibt die Aufgabe, den vorgelegten Text nach den verschiedensten Richtungen hin auszuleuchten, zu analysieren, seine Stellung in Arnolds literarischem Werk zu beschreiben, ja auch als autobiographische Schrift zu würdigen. Die Edition gibt den Text nach dem Exemplar der ‚Urausgabe‘ von 1698 wieder, das in der Universitätsbibliothek Erlangen verwahrt wird. Ein durchgehender Vergleich mit späteren Ausgaben wurde bei den Stellen vorgenommen, bei denen in den Text eingegriffen wurde.15 Es ist kaum davon auszugehen, daß Arnold sich noch der Betreuung späterer Ausgaben gewidmet hat. Die Er läuter ungen hatten eine Fülle von biblischen Bezügen festzuhalten. Hier handelt es sich vielfach um ein Gemenge von Allusionen, Zitaten und Kombinationen. Die je unterschiedliche Nähe zum biblischen Text konnte in den Anmerkungen nicht konsequent angezeigt werden und ist daher im Auge zu behalten.16 Hinweise auf die Literatur sollen (nicht im einzelnen darzustellende) Kontexte auch aus Arnolds Werk festhalten, ohne daß hier ‚Vollständigkeit‘ erstrebt, geschweige denn erreicht wäre. Vergleichbares gilt für Querverweise innerhalb vorliegender Edition. Solche Verweise beziehen sich ggf. auch auf die an den genannten Stellen zu findenden Anmerkungen. Über das nötige Maß von Worterklärungen wird das Urteil immer schwanken; der einschlägige Bedarf ist freilich steigend. Für manche wichtige, z. T. häufiger wiederkehrende Begriffe seien hier die Stellen ihrer teils breiteren Erläuterung genannt: Abendmahl (in) S. 235,8 Akad. Leben, Ekel S. 212,7 Beruff S. 210,13 Einfalt S. 218,14 Einiges Notwendiges S. 209,1 Gewissen S. 249,7 Höchstes Gut S. 247,6

Satzungen S. 227,22 scheinbar S. 210,3 Schwätzen, Geschwätz S. 248,19 Welt S. 207,11; S. 213,10 Wissen, bloßes ~ des Christentums S. 220,22 Zug S. 217,8

14 Hier ist noch zu verweisen auf Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984, S. 79–90, S. 197–202; vgl. unten S. 233,25. 15 Siehe unten S. 205,1. 16 Synoptische Parallelen sind nicht vermerkt.

Vorbemerkungen

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Der Anspruch einer ‚abschließenden‘ Edition besteht nicht. Eine solche ‚endgültige‘ Edition hätte zumindest die schon sehr bald dem OB angefügten Erweiterungen, die erweiterte Fassung von OB selbst sowie die niederländische Übersetzung von 1699 und die englische von 1700 zu berücksichtigen.17 – Im Blick auf 2014 und 2016 (siehe oben) konstituiert sich hoffentlich ein kompetenter „Arbeitskreis Edition von Werken Gottfried Arnolds“. Exemplare:

A Offenhertzige || Bekäntniß/ || welche || Bey unlängst geschehener || Verlassung || eines | Academischen Amtes || abgeleget worden. || [Strich] || Gedruckt im Jahr Christi 1698. 12°. [A1]-A5.[A6].A7.[A8]-[A12]. B1-B7.[B8]-[B12]. C1-C7.[C8]-[C12]. D1-D7.[D8]-[D12] ([A1]v und D12 vacat). – Unpaginiert, am oberen Rand sehr knapp beschnitten, ohne Schmuck, außer: A2r drei Sterne, A3r Zierband, Initiale „D“ und [D11]v (letzte Seite) Zierstück. UB Erlangen: Thl.XX,554a[2] (zusammen mit F und einem Werk gegen Dippel, für Johann Friedrich Mayer und Samuel Schelwig). [A1]r handschriftlich (alte Signatur?) „102 (verbessert aus 402 [?]); [A1]v handschriftlicher Eintrag: „Jn duplo (vid. ab initio | h[ui]us libri. [i. e. F])“ F Gottfried Arnolds || Offenhertzige || Bekänntniß/ || von || Ablegung seiner Profession, || Anjetzo || Zum sechsten mahl heraus || gegeben/ und || vermehrt: || (1.) Mit einigen Zeugnissen von der || Christlichen Freyheit im gemeinen || KirchenDienste. || (2.) Vom Zustand derer Universitä- || ten. || (3.) Mit einer kurtzen GegenErinne- || rung auff eines Ungenannten || Wohlmeynende Erinnerung über || diese Bekänntniß. || [Strich] || Franckfurt und Leipzig/ bey Samuel || Müllern/ || 1700. 12°. [A1]r (Titel)-A7.[A8]-[A12], B1-B7.[B8]-[B12] usw. bis E3v. – Unpaginiert [EXTRACT und 3 Anhänge siehe unten]. UB Erlangen: Thl.XX,554a[1] (zusammen mit A und einem Werk gegen Dippel, für J. F. Mayer und S. Schelwig). G Gottfried Arnolds || Offenhertzige Bekänntniß/ || von || Ablegung seiner Profession, || Anjetzo zum siebenden mahl heraus || gegeben, und vermehret: || (1.) Mit einigen Zeugnissen von der || Christlichen Freyheit im gemei- || nen Kirchen-Dienste. || (2.) Vom Zustand derer Universi- ||täten. || (3.) Mit einer kurtzen Gegen-Erinne- || rung auff eines Ungenannten || Wohlmeynende Erinnerung über || diese Bekänntniß.  || [Zierband] || Franckfurth und Leipzig/ [d. i. Büdingen]: Johann Friederich Regelein, 1729. 12°. [A1]r (Titel), A2 bis E6v ([A1]v vacat). – S. [1]-108 [EXTRACT und 3 Anhänge siehe unten]. UB Erlangen: Thl.XX,554. 17 Siehe Dünnhaupt (Anm. 2), S. 315, letzte Zeile („Gedoppelter Lebenslauf“); Nr. 16.1. Dörries (Anm. 12), S. 90f. Anm.  86. Johann Gerhard Friedrich Goeters: Gottfried Arnolds Anschauung von der Kirchengeschichte und ihrem Werdegang. In: Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. Festschrift Winfried Zeller zum 65. Geburtstag. Hg. von Bernd Jaspert und Rudolf Mohr. Marburg 1976, S. 241–257, hier S. 251 Anm. 41 zu den niederländischen Übersetzungen Arnoldscher Werke insgesamt.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

EXTRACT und Anhänge, Zwischentitel

F

G

Bemerkung

EXTRACT eines Schreibens, || von || Gottfried Arnold/ || de dato 29. Nov. 1698. || Darinnen er antwortet auf || einige falsche Berichte, als ob seine || Resignation ihn gereute/ Wie auch auf einige Anzäpffungen || Seiner || O f f e n h e r t z i ge n B e k ä n n t n i ß , e t c . Erster || Anhang/ || Zu Erläuterung etlicher Stellen || Vom Gebrauch || Des Kirchen-Dienstes und | ABENDMAHLS || wie auch || Vom Zustand derer Universitäten. || [Zierband] Anderer || Anhang/ || Von dem Zustand derer || Universitäten/ || Von Lutheri biß zu unsern Zeiten || sind unter andern Klagen und || Zeugnissen diese folgende || merckwürdig. || [Schmuckblumen] Dritter || Anhang/ || bestehende in einer || Kurtzen || Gegen-Erinnerung/ || über die || zu Wittenberg gedruckte || Wohlmeinende Erinne- || rung/ || wegen dieser || offenhertzigen Bekäntniß.

E4r–F1v

109–130

nach G

F2r–G2v

[131]–154 nach F

G3r–[H8]r

[155]–190 nach F

[H8]v–[K10]v [191]–240 nach F [K11].[K12] vacat

Folgende Autoren zieht Arnold in den drei Anhängen (vor allem im dritten) heran: Luther (weit überwiegend), Anastasius Hodgus [?], Johann Matthäus Meyfart, Johann Mathesius, Erasmus Sarcerius, Nicolaus Selnecker, Paulus Jenisius, „Annales Annaeb.“ [!], Philipp Nicolai, Cyriacus Spangenberg, Nicolaus Hemming, Johann Cuno, Andreas Musculus, David Chytraeus, Melanchthon, Georg Major, Magdeb. Centurien, Confessio Augustana. Apologie Art. VIII.18 – Für das 17. Jahrhundert verweist Arnold auf KKH, Buch 17, Cap. IV (KKH 1729, I 2, S. 920–923).

18 Mit Zitat bei Arnold: „[...] Doch soll man falsche Lehrer nicht annehmen noch hören; denn dieselbigen sind nicht mehr an Christus statt, sondern sind Widerchristi. [...].“ Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburger Konfession 1930. 4.[,] durchgesehene Auflage. Göttingen 1959, S. 246,20– 23 || 19–21 (lat.).

Vorbemerkungen

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D a n k . – Vorliegende Textausgabe wäre ohne vielfältige Hilfe nicht zustandegekommen. Mit Dr. Hanspeter Marti (Engi/GL) sind schon vor langer Zeit eindringende Gespräche über eine Edition von OB geführt worden. Das schloß damals die – ergebnislosen – Bemühungen um wissenschaftliche Begleitung und verlegerische Betreuung ein. Zu großem Dank bin ich Prof. em. Dr. Hans Schneider (Marburg) verpflichtet. Er hat uneigennützig und kollegial die große Mühe der Durchsicht des Textes auf sich genommen und eine ganze Anzahl von Bibelstellen genannt sowie zu den Erläuterungen beigetragen. Dr. Marcus Meier (Marburg) hat ebenfalls auf die Berücksichtigung biblischer Bezüge geachtet, hier viele Ergänzungen beigetragen und einige – durch [MaM] gekennzeichnete – Hinweise aus Arnolds Werk beigesteuert. Dr. Antje Mißfeldt (Kiel) ließ es sich nicht nehmen, als Germanistin das Vorhaben schon in einem frühen Stadium zu durchleuchten und eine Fülle von nötigen Anstößen für die Erläuterungen zu geben. Sie hat schließlich entschieden zum Abschluß der Edition ermutigt. Prof. Dr. Johann Anselm Steiger (Hamburg) beantwortete diverse Fragen zum editorischen Verfahren. An letzter, hervorgehobener Stelle ist die Stiftung für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/GL zu nennen. Sie ermöglichte durch ihre finanzielle Hilfe die Digitalisierung des Textes und stand entschieden und zuverlässig hinter der Veröffentlichung des ganzen Bandes. Auf unübertreffliche Weise förderten Karin und Hanspeter Marti die Arbeit durch unverdrossene Gespräche, überwältigende Gastfreundschaft und unaufdringliche Geduld. Ich unterschätze dies gerade im Rahmen wissenschaftlichen Bemühens nicht und sehe in all den genannten Hilfen eines bestätigt: Editionen leben von gelingender Kommunikation. Erlangen, Januar 2010

Dietrich Blaufuß

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

Editorische Hinweise – Textvarianten Die Textgestaltung bemüht sich um möglichste Nähe zur Vorlage. Unklare Getrennt-/Zusammenschreibung wird nach heutiger Regel wiedergegeben. „ “ werden nach heute üblichem Gebrauch gesetzt. = wird als einfacher Trennungs- oder Bindestrich wiedergegeben. Umlaute werden zu ä, ö und ü. bei a, o und u un[d] stillschweigend ergänzt. lang-s nicht gekennzeichnet. Jch als Ich wiedergegeben. Schluß-e mit wird zu en. Strich ~ über dem m mm Text recte kursiv wiedergegeben. Text halbfett e t w a s ge s p e r r t . * hier verzeichnete Texteingriffe (jeweils mit F und G verglichen).

S. 206,1 S. 206,1 S. 212,14 S. 212,15 S. 214,6 S. 214,20 S. 218,22 S. 219,4 S. 219,25 S. 220,7 S. 220,8 S. 221,18 S. 223,17 S. 225,2 S. 225,19 S. 226,12 S. 228,11 S. 229,11 S. 229,12 S. 230,3 S. 230,21 S. 231,16 S. 233,3.4 S. 237,18

vor ] vo A lasse ] lassen A; lasse F, G gantzen ] gautzen A keit ] A6v, nach Z. 27 Kustode kiet A allem ] allem kopfstehend A Ausstossung ] Austossung A; Anstossung F, G hinterstellige ] hinter|terstellige A – A11r|v; Kustode A11r stellige 17 ] 16 A (ungeacht ] [ungeacht A (als ] [als A Rituum ] [(Rituü? [Vgl. S. 239,23 jämmerlich] wahrscheinlicher:) ~ unterbrochen über zweitem u A Tage ] Tagen A; Tage F, G Sanfftmuth ] Sanffmuth A meist ] miest A des ] des des A (als ] [als A Botten ] A; Bothen F, G Paulinische ] Paulinis. A Verheissung ] vielleicht Verheisfung A Puncten ] Puncen A nach ] uach A Beängstigungen ] Beänstigungen A, F; Beängstigungen G (besage ... Klagen) ] [besage ... Klagen] A wie ] wie wie A – Seitenwechsel C2v|3r; Kustode C2v er

Editorische Hinweise – Textvarianten

S. 238,21 S. 240,7 S. 240,12 S. 241,10 S. 242,2 S. 242,6/7 S. 245,28 S. 246,10 S. 252,9 S. 255,3 S. 256,24 S. 256,25 S. 261,4/5

201

aber ] bber A (nach ... Christi) ] [nach ... Christi] A angehenden] angehengen A; angehenden F, G verteutschten ] verteutschen A ungeacht ] unge- | geacht A geschrieben ] schrieben A – Kustode C6r geschriedürffe] dürfte F; dürffte G der ] d’ A (dem ... kann) ] [dem ... kann] A unter ] nnter A umzukehren: und A; : unsicher, Druck schlecht] umzukehren. Und F, G Abgeschiedenheit ] Abgefchiedenheit [?] A nachjaget ] jaget A; Kustode D10v nach-

[A1r]

Offenhertzige

Bekäntniß/ welche

Bey unlängst geschehener

Verlassung eines

5

Academischen Amtes abgeleget worden.

Gedruckt im Jahr Christi 1698. [A1v leer]

Vorwort des Verlegers

205

[A2r] Der Ausgeber1 an den Leser. ES ist vor weniger Zeit durch sonderbare Fügung GOttes geschehen/ daß ein gewisser Professor auff einer bekanten Universität seine Station nach deren kurtzen Bedienung freywillig und ohne einigen äusseren Zwang/ Befehl oder Veranlassung/ ja vielmehr mit grossem Mißvergnügen Hoher und Niedriger niedergelegt 5 und resigniret.2 Wenn dann über diese zwar3 ungewöhnliche und selten erhörte Sache bey Freund und Feind seltsame Gedancken und Judicia erfolgen dürfften/ auch bereits bekant werden wollen. Die gedachte Person aber durch viele sehr bedenckliche Gründe und bindige Ursachen sich zu solcher Veränderung in ihrem Gewissen gedrungen gesehen: Als hat man vor gut geachtet/ selbige durch 10 den Druck (da der Copeyen4 allzuviel erfordert werden möchten) gemein zu machen/ und zwar so/ wie er sie selbst in einem ausführlichen Bericht5 an einige Freunde abgefasset und von sich geschrieben. Angesehen/6 da sich derselbe gleich schwerlich vor denen in [A2v] der Welt gebräuchlichen übeln Urtheilen und raisons scheuen wird; indem er ja widrigen Falls solche nebenst der übrigen Ungele- 15 genheit meiden und in der Function nicht ohne zeitliche Vortheile stehen bleiben können: So hat er dennoch vielen sonst gutmeinenden/ aber annoch schwachen/ ungeübten und blöden Gemüthern zuvor zu kommen und zu ihrer Befriedigung die wichtigsten Scrupel zu benehmen sich gemüssiget und aus Liebe schuldig gefunden. Aus welcher auch alles dieses treulich communiciret wird/ in Hoffnung 20 und ernstlichem Wunsch/ daß der Leser nicht so gleich aus Unverstand alles ihm paradox-scheinende7 verwerffen/ sondern seinen Schöpffer zuvor um den wahrhafftigen Geist der Prüfung und des gewissen Verstandes anruffen möge/ der das Gemüthe von allen schädlichen Vorurtheilen abziehe und reinige/ auch kein ander 1 Das ist der Verleger. – In der Ausgabe 1699 [Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 1. Teil. Stuttgart 1990, S. 314–352, Arnold, Gottfried (1666–1714) Nr. 16.5. Hans Schneider: Gottfried Arnold in Gießen. In: Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner (Hg.): Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Wiesbaden 1995, S. 267‑299, hier S. 283 mit Anm. 106f.] bietet der Verleger M. Pape eine die Vorrede von A verändernde und erweiternde Vorrede, „[...] Geschrieben im Jahr CHristi 1698. [...] Der Verleger.“ Exemplar Universitäts- und Landesbibliothek Halle (Saale): Pon[ickaviana] Za 792, QK – digitalisiert (siehe VD17 14:068912G). – OB meint immer Offenherziges Bekenntnis. 2 Die Einzelheiten zu Gottfried Arnolds Antritt der Professur und Rücktritt siehe Schneider (Anm. 1), S. 282–291 (Literatur). Vgl. auch den einschlägigen Abschnitt bei Jürgen Büchsel: Vom Wort zur Tat: Die Wandlungen des radikalen Arnold. Ein Beispiel des radikalen Pietismus. In: Blaufuß/Niewöhner (Anm. 1), S. 145–164, hier S. 149–154. 3 allerdings [so öfters, aber nicht immer]. 4 Handschriften/Abschriften, die wohl im Umlauf waren. Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold. Göttingen 1963, S. 90f. Anm. 86. 5 S. 207,2. 6 Unter Berücksichtigung dessen, im Blick darauf, daß. 7 Siehe unten S. 207,5-6.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

Muster noch Vorschrift unsers gantzen Christenthums vor* Augen stehen lasse* als den vollkommensten Willen GOttes/ wie er uns an dem Leben JEsu Christi selbst in seinem Evanglio wahrhafftig vorgestellet und noch täglich denen/ die ihn hören/ klar und lebendig wird. Dessen allgewaltiger und einiger Regierung man 5 einen jeden treulich überlässet. Geschrieben am 10. Junii 1698. [A3r]

§§ 1–2

207

1.

DAß ich kein Bedencken trage/ diesen ausführlichen Bericht von meiner kürtzlich geschehenen Veränderung8 hiemit zu erstatten: geschiehet um keiner andern Ursach willen/ als aus hertzlichem Verlangen/ daß sich doch niemand im Urtheilen oder Sorgen über diesen der Vernunfft und Gewohnheit gantz widrigen Weg9 5 verunruhigen oder verschulden10 möge. Denn ob ich wol keinem andern dißfalls dergleichen Gewißheit oder Frieden geben kan/ als mir selbst darinnen beywohnet: So soll mir doch genügen/ daß ich in Christlicher und allgemeiner Liebe versuche/ was zur Besserung und wahren Gemüths-Ruhe dienet. Diesem nach will ich allen denen/ welchen es nöthig und dienlich [A3v] seyn möchte/ (mit den 10 Unverständigen und Ungläubigen habe ich nichts zu thun)11 in Auffrichtigkeit und Wahrheit erstlich einen kurzen Bericht meiner bißherigen Führungen/ und so denn die Ursachen12 dieser Veränderung vor Augen legen/ weil beydes genau zusammen hänget. 2. Ich13 bin alsbald in meinen zartesten Jahren von der Göttlichen Weißheit14 15 immerdar mercklich gerühret und gezogen/15 auch öffters empfindlich und nachdrücklich gezüchtiget worden. Und da ich gleich aus natürlicher Blindheit am wenigsten treulich gefolget/ so hat mich doch immerzu der H. Geist in meiner Einfalt16 unter vielen Verführungen vor denen Lüsten der Jugend17 und anderen Ausbrüchen der Boßheit bewahret/ hingegen aber mit grosser Liebe zu sich ge- 20 8 9 10 11 12 13 14

15 16 17

Ende März 1698 verläßt G. Arnold Gießen. Schneider (Anm. 1), S. 282. Vgl. S. 205,21/22. sich schuldig machen (etwa durch falsches Urteilen). Scharfe Abgrenzung Arnolds von der ‚Welt‘; vgl. Gottfried Arnold: Die Erste Liebe, hg. von Hans Schneider. Leipzig 2002, S. 157 zu S. 98,10. Vgl. unten S. 213,10; S. 220,2. Siehe unten S. 215,10. Zu §§ 2–4 (G. Arnold in Wittenberg) vgl. Dörries (Anm. 4), S. 49–50 (51) und S. 139. SprSal 8,22-36: Anspielung auf Sophia als personifizierte Weisheit, die für Arnold eine hervorragende Rolle spielt. [MaM] – Vgl. zur einschlägigen Bedeutung des salomonischen Schrifttums Walter Nigg: Zur Einführung. In: Gottfried Arnold: Das Geheimnisz Der Göttlichen SOPHIA oder Weiszheit [...]. (Leipzig 1700) FaksimileNdr. Stuttgart Bad-Canstatt 1963. Hier 2. Teil, S. 231–351, Neue Göttlich und Ausbrechende Liebes-Flammen [...], S. V–XL, hier S. XXIII–XXV. Lothar Vogel: Beobachtungen zur Böhmerezeption in Gottfried Arnolds Sophienschrift. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel. Göttingen 2010, S. 271–292. Arnolds Rede von dem „göttlichen Zug“ ist markant; siehe unten S. 217,8; S. 244,21. Unerfahrenheit. Vgl. aber Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 135 zu S. 18,33 und unten. Vgl. 2Tim 2,22. – Siehe unten S. 258,17.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

locket. Dergestalt ist mir der wahrhafftige Hirte Christus JEsus unermüdet nachgegangen/ als einem armen Schaaffe;18 und hat mich unter vielem Treiben des Gesetzes und anderer menschlichen Zucht-Meister19/ wie auch unter vergeblicher Bestrebung nach eigener Gerechtigkeit und Heiligkeit20 solange mühselig beladen21 werden lassen/ biß ich endlich von ihm selbst wahrhafftig ergriffen22 und zu seinem lebendigen Erkäntniß durch die Krafft seines ver- [A4r] klärenden Geistes gebracht worden. Da ich nun zuvor das meiste in Buchstaben/ in vielen Lesen/ Lernen/ Hören/ Nachschlagen (so auch an sich selbst gut war) wie auch in denen kirchlichen und Academischen Ubungen23 suchte: war es mir zwar eine Handleitung24 und Zeugniß zu Christo JEsu/ indem die Schrifft in dem dunckeln Orte meines Hertzens als ein Liecht auch mir davon zeugte.25 Alleine zu Ihm selber war ich doch nicht kommen26/ als zu unserm einigen Meister27 und Propheten28. Als aber dieser Morgenstern29 selbst auffgieng/ erfuhr ich ohne viel Worte aus lauter Gnaden dasjenige in der That nacheinander/ was ohnlängst in denen Göttlic hen Liebes-Func ken/ sonderlich im Anfang aus wahrhafftiger Erfahrung durch Gottes Gnade bezeuget worden.30 3. Immittelst31 hat der Feind/ der mir mein Heil nicht gönnete/ auff tausenderley Arten mich hieran zu hindern gesucht. Zu förderst zog mich meine natürliche Lust und Fähigkeit annoch sehr auff vieles Wissen/ sonderlich auff die Philologie und darinnen auff die Antiqvität/ Historiam Civilem und Criticam. Hierinne nun litte der Geist unter grosser Mühseligkeit sehr viel Gefahr und Schaden. Es zog mich auch die Liebe GOttes32 durch stetige [A4v] Gegensätze33 und Zeugnisse 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

30 31 32 33

Vgl. Luk 15,4. Vgl. Gal 3,24. Eph 4,24. Matth 11,28. Vgl. unten S. 253,21. Vgl. Phil 3,12. Lehrveranstaltungen, am ehesten Disputationen. Vgl. unten S. 227,9. Grimmsches Deutsches Wörterbuch, Internetfassung Universität Trier, Bd. 10, Sp. 402: Unterricht, Information. Vgl. Joh 5,39. Z. 9–12: Zeugnis von und Begegnung mit Christus werden unterschieden. Matth 23,11. Joh 6,14. Vgl. 2Petr 1,19; unten S. 228,20 und S. 259,22. Siehe Dörries (Anm. 4), S. 31 und vor allem S. 50. Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, S. 24–25 (Hinweis auf Text 1708). Vogel (Anm. 14), S. 290 mit Anm. 96 aus dem (für OB wichtigen) Abschnitt „Die >Wissenschaftslehre< […]“, S. 288–291. Nachweise aus Göttliche Liebes-Funcken (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 15.1-3 mit 31) siehe Dörries (Anm. 4), S. 50 Anm. 6. inzwischen, einstweilen. Jer 31,3. Siehe unten S. 214,1-2.

§§ 2–4

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offt davon gewaltig ab und auff das einige Nothwendige.34 So gar daß ich etlichemal nicht nur alles unnütze Studiren zu unterlassen/ sondern auch alle meine Bücher/ biß auff wenige abzuschaffen35 durch die äusserste Beängstigung36 meines Hertzens und Uberzeugung von der grossen Eitelkeit gedrungen wurde. Jedoch weil meine natürliche Begierde zu vieler Zerstreuung37 und sofort zu Lob der 5 Leute so gar groß war/ und ich dahero immer wiederum in die scheinbare38 Lust der Gelehrsamkeit eingienge: Als ließ es GOtt aus heiligen Absichten endlich zu/ daß ich mich/ biß zum höchsten Eckel und Uberdruß mit solchen Dingen/ wie dorten die Israeliten mit dem Fleische/ füllen39 mochte. 4. Gleichwol wurde mein Sinn hiebey auff einigen guten Zweck gelencket/ in- 10 dem ich endlich nach vieler Bemühung in andern Wissenschafften und Sprachen hauptsächlich auff die Kirchen-Historie gerieth.40 Nun hatte ich ohne dem nach Erkäntniß des tieffen Verfalls41 in der gantzen so genannten Christenheit42 keinen Vorsatz in ein öffentliches Kirchen-Amt zu gehen; Zumaln ich mich auch zu denen äusserlichen Ceremonien/ und denen dabey fast43 nöthigen Vorstellungen44 15 gantz nicht tüchtig und ge- [A5r] neigt fand.45 Daher geriethen viele nebenst mir auff die Gedanken/ ich könte meine gantze Lebenszeit am nützlichsten ausser öffentlichen Aemtern in Untersuchung und Entdeckung46 der bißhero unter uns Teutschen sehr unbekanten und verfälschten Kirchen-Geschichte zubringen. Ich ließ mir also hierinnen eine Arbeit nach der andern auffbürden/ und geriethe so 20 ferne von meinem Hauptzweck (nach dem besten Theil zu streben47) ab/ und hin34 Luk 10,42 (vgl. Z. 21; 216,12/13 [zu Z. 1]. – Gottfried Arnold: Die Erste Liebe [...], Das ist/ Wahre Abbildung [...] (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 6.1 – 6.8; hier 6.2). ²1700, S. 95: „Denn darauff war es mit aller ihrer Unterweisung und Schul-Arbeit angesehen, daß sie das Einige Nothwendige denen zarten Seelen nachdrücklich vorstelleten“. [MaM]. 35 Siehe Details bei Reinhard Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog zur Bibliothek Gottfried Arnolds. In: Blaufuß/Niewöhner (Anm. 1), S. 55–143, hier S. 61–64. 36 Siehe Büchsel: Wandlungen (Anm. 2), S. 153–154. 37 Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 31, Sp. 784 ‚zerstreuen‘: „ …‚unaufmerksam, durch fremdartige eindrücke abgelenkt‘ auf …“ (aus G. Arnold!). 38 trügerische Lust. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 14, Sp. 2436, 4. Vgl. S. 230,5. 39 2Mose 16,3. 40 Dörries (Anm. 4), S. 58, S. 140, auch S. 67. 41 Siehe unten S. 227,18. 42 Nach Arnold geriet das Christentum bald nach den Aposteln, seit Konstantin aber besonders drastisch, in Verfall. 43 Hier und öfters im Sinn von sehr, ganz. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 13, Sp. 1349f. 44 ... den Vorstellungen: den Abläufen. 45 Dörries (Anm. 4), S. 54, S. 140. 46 Wohl (auch) im Sinn von Erklärung, Deutung, Korrektur (Z. 19!), Entlarvung. 47 Vgl. Matth 6,33; Luk 10,42. (vgl. oben Z. 1; unten S. 216,12-13).

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

gegen in Weitläufftigkeit/ daß ich zuletzt gar unversehens überredet48 ward/ die Historien auff einer Universität öffentlich zu profitiren.49 5. Hierzu musten nun viel scheinbare50 Ursachen dienen/ und zwar insgemein die mir noch beywohnende Einbildung/ ob wäre das Schulwesen51 vor dem KirchenStaat52 einem erleuchteten Gemüthe noch etwas erträglicher und dienlicher zur Erbauung.53 Welches ich desto eher glaubte/ je weniger ich noch davon erfahren: nachdem ich bereits ins zehende Jahr ausserhalb Universitäten gelebet/ zuvor aber wenig von dem allgemeinen Verderb empfunden oder angemercket hatte.54 Nächst diesem begunten andere und ich selbst mir einige Hoffnung/ ja eine ernstliche Meinung einzudrucken/ was in solcher Function noch Gutes ge- [A5v] schehen möchte. Dieses konte bey dem guten Vorsatz GOtt und dem Nächsten zu dienen nebenst den übrigen Veranlassungen mich gewaltig bewegen. Und unangesehen55 mir stracks anfänglich nach Vernehmung des Beruffs56 dermassen angst und bange ward/ daß ich würcklich durch ein Schreiben ihn gäntzlich abschlagen muste:57 so ruheten doch die Versuchungen nicht/ biß sie den bereits siegenden Geist übermochten/58 und mich jenes Schreiben zurück zu ruffen/ hingegen die Sache auff mich zu nehmen durch so viele Einwürffe und anderer Leute Uberredung bewogen.59 6. Nachdem nun das Gemüthe ohne dem aus seiner gehörigen Stille und gefasseten Harmonie kommen war/ das bey solchen Veränderungen und Anläuffen sich wenig fassen kan: begunte ich nach und nach zu glauben/ auch überall und

48 Schneider (Anm. 1), S. 269f.; siehe auch Z. 14/15. 49 etwas öffentlich lehren, vortragen, namentlich als Professor. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 13, Sp. 2163, 3. 50 Hier wohl im Sinn von trügerisch, wesenlos, vergeblich, erdichtet. – „Scheinbar“ bei Arnold wohl nicht einheitlich verwendet. Siehe auch unten S. 219,3. 51 Wilhelm August Schulze: Die Pädagogik Gottfried Arnolds. In: Evangelische Theologie 14, 1954, S. 131–144. 52 Die Kirche in ihrer äußeren Verfassung. 53 Erich Seeberg: Gottfried Arnold: Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik. Meerane in Sachsen 1923 (Ndr. Darmstadt 1964), S. 2–3; ebd., S. 2–5 zu Arnolds in OB niedergelegter Einschätzung seiner Wirksamkeit in Gießen. 54 Studium Arnolds in Wittenberg Sommer 1685 bis Sommer 1689. 55 abgesehen davon, daß; Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 24, Sp. 142, 3. 56 Hier (und öfter, S. 211,2.8; S. 216,2; S. 228,16; S. 243,24; S. 244,3.11) als ‚Berufung‘ – vgl. S. 247,6 – zu verstehen. 57 Vorläufige Ablehnung der Berufung siehe Schneider (Anm. 1), S. 273. 58 stärker sein, überwältigen, bezwingen. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 23, Sp. 424. 59 Amtsantritt Anfang September 1697. Schneider (Anm. 1), S. 273–274.

§§ 4–7

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selbst in der publicirten Oratione inaugurali60 zu gestehen: Es wäre dieses ein Göttlicher Beruff61. Absonderlich weil der Durchl. Landes-Herr62 selber ohne mein geringstes Suchen oder anderer Zurede/ nur nach Lesung eines gewissen Buchs mich zu vociren bewogen worden.63 Dabey ich aber meiner Seits nicht reifflich64 und unpartheyisch65 genug vor GOtt prüffte/ wie ferne offt auch die [A6r] bes- 5 ten und wolgemeinten Gedancken und Anschläge66 derer Menschen von GOttes rechten Wegen seyn und zur Versuchung dienen können. Deßwegen ich zwar diesen Beruff in so weit vor Göttlich und von GOtt zugelassen noch erkenne/ daß er endlich von ihm zu einem heilsamen Ende verordnet gewesen. Zumalen mir hierinne sonderlich offenbar worden/ was in meinem Herzen war/ welches sonst 10 vielleicht verdeckt und also ungerichtet67 blieben wäre. Aber daß mich der H. und weise GOtt zu schädlichen und mir unmöglichen Dingen geruffen hätte/ konte ich nimmermehr glauben/ wol aber mercken/ wie ich von dem Verderb derer Academien ein öffentlich Zeugniß ablegen müste. Dahero wie andere sich dazumal auff meines Hertzens Gewißheit als auff den einigen Grund mit Hindansetzung 15 des äusseren Ruffs bezogen: kan ich mich nun vielmehr nach so mancher Prüfung/ Anfechtung und Uberzeugung desto getroster auff den vollkommenen und besten Göttlichen Willen/ besage68 folgender Umstände/ beruffen. 7. Ich hatte kaum die gewöhnlichen Verrichtungen bey diesem Amte angetreten/69 so empfunde ich alsobald in meiner Seelen allezeit und durchgehends die gröste 20 Angst und Bedräng- [A6v] niß: ob ich wol dieselbe vor andern möglichst verbarg.

60 Antrittsrede Gottfried Arnolds vom 2.9.1697. Franz Dibelius: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Berlin 1873, S. 211–225 [Neuausgabe mit deutscher Übersetzung durch Hans Schneider 2011]. Dünnhaupt (Anm. 1) Nr. 11. Schneider (Anm. 1), S. 276–277. 61 Berufung. 62 Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt (1667, regiert 1688–1739). 63 Das „gewisse(.) Buch(.)“ war Die Erste Liebe Der Gemeinen JESV Christi / Das ist/ Wahre Abbildung Der Ersten Christen 1696 (Dünnhaupt [Anm. 1] 6.1[-6.8]). Schneider (Anm. 1), S. 269–270 (Anm. 18: Literatur!). Auswahlausgabe siehe Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11). 64 „von reif maturus abgeleitet“; Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 14, Sp. 633, 1). 65 hier unbeeinflußt, unvoreingenommen, unbefangen; Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 24, Sp. 1222, 4. 66 Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, S. 443 anschläger: eingeber, ratschläger. 67 nicht bereinigt. 68 gemäß, aufgrund; Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, Sp. 1539. 69 Amtsantritt G. Arnolds am 1. Sept. 1697, am 2. Sept. 1697 Antrittsvorlesung; siehe oben Anm. 59 u. 60. Vgl. Büchsel: Wandlungen (Anm. 2), S. 150–151. Schneider (Anm. 1), S. 284–286; ebd., S. 297–299 Arnolds Gießener Religionsrevers vom 1.9.1697.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

Ich bemühete mich mit Lesen/ Disputiren70 und anderen exercitiis71 treu und fleissig zu seyn/ und suchte mich sonst nach Möglichkeit zu beruhigen: Alleine die bald erfolgende Reue überwoge alles/ (GOtt weiß/ ich lüge nicht72) womit auch einige Creatur mir gefallen wolte. Da giengen bey allen Schritten und Gelegenheiten 5 die stetigen Bestraffungen73 und Warnungen des H. Geistes in meinem Hertzen unaussetzlich an und vor sich. Der Eckel vor dem hochtrabenden ruhmsüchtigen Vernunfft-Wesen des Academischen Lebens74 wuchse täglich/ und das Geheimniß der Boßheit75/ so in mir und andern lage/ wurde zu meinem hefftigen Entsetzen nachdrücklich entdecket. Bey allen Verrichtungen/ Collegiis, Disputationen76 10 und andern Actibus fühlte ich die empfindlichsten77 Gemüths-Schmertzen/ und was von Christi Leben78 übrig war/ fand hier beynahe sein Ende. Alle Worte und Wercke gaben mir lauter Stiche in mein zerschlagenes Gemüth/79 weil ich sogar alles Christo und seiner Niedrigkeit/ Liebe und Einfalt/ ja dem lebendigen Glauben und gantzen* Weg des Heils80 gerade entgegen stehen sahe. 15 8. Alsobald aber begunte die Barmhertzig- [A7r] keit* Gottes (ungeachtet aller Entschuldigungen/ Einwürffen und Beschönungen/ so die Vernunfft machte)/ mich nach und nach meiner heimlich geführten und subtilen Neben-Absichten bey Annehmung81 dieser Function zu überzeugen. Denn ob mir es wol in dem Hauptzweck ein grosser Ernst war: so entdeckte mir doch der H. Geist bey sol70 Dazu ist wenig bekannt; Dünnhaupt (Anm. 1) Nr. 12 und Schneider (Anm. 1), S. 278f. – Vgl. unten S. 214,22 – 215,1. 71 akademischen Verrichtungen. 72 Vgl. Gal 1,20; ähnlich Röm 9,11; 2Kor 11,31; 1Tim 2,7. 73 Im Sinne von „Tadel“; vgl. Luk 23,40. 74 G. Arnolds universitätskritische Haltung häufig in OB, z.B. S. 220,23-26; S. 222,1622; S. 224,19-21. Dörries (Anm. 4), S. 140 mit Anm. 163. Schneider (Anm. 1), S. 284f. (Anm. 116: Literatur!). 75 2Thess 2,7. 76 Siehe unten S. 227,4-11. Zur einschlägigen Erfahrung Speners siehe Philipp Jakob Spener: Schriften, hg. von Erich Beyreuther, Bd. 16/1, Consilia et Iudicia Theologica Latina 1709 I.II, eingeleitet von Dietrich Blaufuß. Hildesheim [u.a.] 1989, (I) S. 233–234; Dietrich Blaufuß: „Scibile et pie“. Adam Rechenbergs und Philipp Jacob Speners theologische Studienanleitungen. Wegweiser der Aufklärung? In: Hanspeter Marti und Detlef Döring (Hg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Basel 2004, S. 329–358, hier S. 349 mit Anm. 92. Ahasver Fritsch: De cavenda [...] in refutandis aliorum scriptis [...] seu convitiandi libidine [...]. Jena 1674 (VD 17 1:007350M). (Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi [...]. 1714. In: Blaufuß/Niewöhner (Anm. 1), S.  339–410, S. 9 [Originalpaginierung] in Nr.  17.4°). Marti, oben S. 39/40 Anm. 82. 77 spürbarsten. 78 „Leben Christi“ hier im Sinne von Gal 2,20. 79 Vgl. Ps 34,19. 80 Apg 16,17. 81 Siehe oben S. 210,16-18.

§§ 8–9

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chem meinem inwendigen Jammer auch offtmals unter dem Gebeth meine geheime Lust an Aemtern/ Titeln und Ehren/ die Furcht vor der Nachrede/ als könte ich zu keinem Dienst gelangen/ die Beysorge82/ wie ich mich Lebenslang erhalten wolte: und in Summa heimlichen Ehrgeitz und Bauch-Sorge83/ und hingegen Furcht und Flucht vor dem armen Leben Christi84 und seinem wahren 5 Geheimniß des Creutzes/ welche Versuchungen sich so gar unter denen so genanten Ständen und Aemtern unvermerckt einmischen/ daß ich wohl bey dieser offenherzige85 Bekäntniß sagen mag: Wer davon frey u. rein ist/ (und zwar in der Stunde des Gerichtes Gottes) der werffe den ersten Stein86 auff mich. Auch stellte mir die Furcht vor Schmach und Feindschafft derer Welt-Leute87 so subtil nach/ 10 daß mir mein Elend dißfalls immer mehr offenbar ward/ wie ich nehm- [A7v] lich noch immer der völligen Creutzigung und Tödtung88 zu entgehen suchte/ dabey die Vernunfft über die Gleichstellung der Welt89 zum Deckmantel90 einige verhoffte Erbauung und Gewinnung brauchen wollte. 9. Hier wurde ich nun von beyden Seiten so in die Enge getrieben/ daß ich mich 15 zu meinem Vater durch Christum desto ernstlicher wendete/ und ihn im verborgenen91 hefftig um seine alleinige gewisse Führung anrieff. Auff eine äusserliche Befreyung durffte ich anfangs vor ihm nicht dencken/ sondern mich in seinen 82 Sorge um ..., Besorgnis. 83 Großer Katechismus; 4. Gebot, Auslegung. Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburger Konfession 1930. 4.[,] durchgesehene Auflage. Göttingen 1959, S. 602,5–6. 84 Das Buch von geistlicher Armut (Nachfolgung des armen Lebens Christi); 1621 aus der Handschrift veröffentlicht und Johann Tauler zugeschrieben. – Vgl. Marti, oben S. 62– 68. 85 In KKH wird „offenhertzig“ als ‚unbekümmert‘ verwendet; Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699–1927. Hg. von Bernd Moeller. Frankfurt/Main 1994, S. 765 zu S. 85,6. – KKH = Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, I.1,2; II.3.4. Frankfurt/Main 1729 [Ndr. Hildesheim 1967 (1999 und 2008)]. Diese Ausgabe wird wegen der guten Erreichbarkeit herangezogen. 86 Joh 8,7. 87 Vgl. A. H. Franckes Rede von den „Kindern der Welt“; Erhard Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes I. Berlin [DDR] 1964, S. 66–78, S. 115–142. August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2., ergänzte Auflage. Tübingen 1968, S. 117–118 und öfter. Geschichte des Pietismus, hg. von Martin Brecht [u.a.]. Bde. 1, 2 und 4. Göttingen 1993, 1995 und 2004, hier Bd. 4, S. 199–201, S. 208 „Pietistische Weltsicht“ (Manfred Jakubowski-Tiessen); S. 556–583 „Pietistisches Weltverständnis und Handeln in der Welt“ (Andreas Gestrich) und öfter, z.B. Abschnitte III.: B. 1; C. 4.2; D. 2.5; J. 8; Bd. 1, S. 584 Register ‚Welt‘, ‚- Abkehr von der‘, ‚-bild‘, ‚-flucht‘, ‚-verleugnung‘; Bd. 2, S. 826 ‚Welt, Abkehr von der‘. Siehe oben S. 207,11. 88 Gal 5,24. 89 Vgl. Röm 12,2. 90 Vgl. 1Petr 2,16. 91 Matth 6,6.

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Rath und treue Regierung ergeben. Zwar mangelte es nicht an unzählichen Gegensätzen/92 Vorschlägen und Einwürffen der Vernunft und aller Creaturen/ die mir offt hart zusetzten. Die Menschen hielten meistens meinen Jammer den man mir auch von aussen abmerckte/ vor Melancholey93 und selbst gemachte Bangigkeit/ oder widersprachen allen Ausbrüchen meiner Erkäntniß/ ob ich mich wohl erstlich ihnen in allem* accommodirte/94 und die wenigsten konten meinen Zustand erkennen/ tragen95 oder glauben. Wiederum traten offte Versucher herzu/96 die mir mit anderen Eitelkeiten noch mehr Netze97 stelleten/ und meine Freyheit/ die ich in Christo JEsu98 [A8r] noch übrig hatte/ durch eheliche oder andere Bande nehmen wollten. Welches alles mich nöthigte/ mich derer meisten Zusammenkünfften zu enthalten/ und die Zeit auff Gebeth und Flehen99 vor meine und anderer Göttliche Regierung und Bewahrung zu wenden: Zu den gewöhnlichen Schmausen aber und Gastereyen hätte ich vollends gar nicht gehen können/ nachdem derselben Greuel auch von Welt-Hertzen100 nicht geläugnet wird. 10. In und nach solchen und vielen andern Ubungen/101 darinne ich GOtte durch seinen Sohn treu zu werden versprechen/ und sonst mich alles eigenen Willens begeben/ seinen aber allein suchen müssen/ wurde mir endlich durch dessen Gnade das Hertz feste102 gemacht/ daß/ weil ich sonst am Geist vor GOtt nicht frey und rein werden/ auch auff ernstliches Ansuchen und Klagen von Menschen keine wahrhafftige Entbindung erlangen/ noch eine gewaltsame Ausstossung*103 vermuthen konte/ ich meine Seele eiligst zu retten und auch leiblich auszugehen Gelegenheit bekam: Wobey mir denn Jacobs geheimer Weg104 vorgelegt ward/ um alles besorgliche Disputiren/ Widersprechen und Auffhalten in meinem gewissen 92 Einwänden, Widersprüchen; Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 5, Sp. 2254. 93 Hans-Martin Kirn: Trauer und Melancholie bei Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter [u.a.]. Halle/Tübingen 2005, S. 571–583, hier S. 571–573. Siehe unten S. 245,5. 94 anpaßte. 95 Wohl im Sinn von ertragen. 96 Vgl. Matth 4,3. 97 Vgl. Ps 31,5; 124,7. 98 Gal 5,1. 99 Phil 4,6. 100 weltlich gesinnte Menschen. 101 Anstrengungen, Bemühungen. 102 Vgl. Hebr 13,9. 103 Amtsenthebung. – Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, S. 349 Anm. 23 (bei Johann Wilhelm Petersen!). 104 1Mose 27,22–24; im Sinn von sich als ein anderer verhalten, als man ist.

§§ 9–12

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Gang zu verhüten.105 Und gesetzt/ daß lau- [A8v] ter Verurtheilung/ Schmach und Schaden mich hierinne begleiten/ oder ich zuviel zu thun scheinen solte/ so that ichs doch GOtt/ und konte dem Finger GOttes106 getrost im Frieden und Gewißheit meines Hertzens/ daß ers selbst wäre/ folgen/ wie er mir so handgreifflich Bahn machte. Welcher mich auch fest behalten wird biß ans Ende/107 daß ich nirgends keinen Mangel108 habe/ und weder im Tod noch Leben/ weder im Gegenwärtigen noch Zukünfftigen ewiglich von der Liebe/ die in Christo ist/ geschieden109 werden könne: Vielmehr aber euch hierinnen öffentlich darthun/ wozu dieses alles also ergehen müssen. 11. Die Haupt-Ursachen110 aber solches Entschlusses/ soviel mir davon aus der Tieffe meines Hertzens hervorzubringen und auszudrucken vergönnet ist/ sind folgende: Dabey ich abermal frey bekenne/ daß mich die Uberredung von einiger Creatur/ oder etwa ein Exempel111 so gar nicht hierzu bewegen können/ daß ich ja vielmehr von jederman in Worten und Wercken das Gegentheil besorgen und würcklich erfahren müssen. Zuförderst ist mein einiger und gewissester Grund GOtt selbst mit seinem wahrhafftigen lebendigen Zeugniß/ so er auch hierinne durch die Krafft [A9r] seines H. Geistes in meinem Hertzen mächtig werden lassen. Welches er mich auch in seinem Liechte nicht nur von allen eigenen Gedancken und Willen unterscheiden lehren/ sondern auch alle aus der H. Schrifft und sonst genommene Gegensätze112 durch seinen H. Geist selbst mit Erinnerung der allertheuersten Worte Christi und seiner Apostel nachdrücklich auffgelöset/ und mir alles so klar und feste gemacht/ daß ich dergleichen einem jeden allezeit von Hertzen wünschen möchte. 12. Und wird ja hiebey zum wenigsten niemand in Abrede seyn/ daß unser HErr und Schöpffer in seiner Gewalt und Weißheit so unumschränckt sey/ mit den Creaturen und sonderlich mit denen/ die ihm im Glauben folgen/ eigenmächtig und frey zu handeln. Da nun diese auch von denen gottlosesten Leuten aus ihren Aemtern können gesetzt und der vorige Beruff also auffgehoben kan werden/ auch solches aus denen H. Absichten Gottes vor selig und gut gehalten wird: was sollte nicht der HErr nach seinem Geheimen Rath auch offte wider alle Gewohnheit

105 Siehe oben S. 212,1-2. 106 Begriff siehe 2Mose 8,15 und öfter. 107 1Kor 1,8. 108 Vgl. 1Kor 1,7. Vgl. Ps 23,1. 109 Röm 8,39. 110 Siehe oben S. 207,13. 111 Zu denken an (zeitweilige) Separatisten wie etwa Johann Heinrich Horch(e) (Geschichte des Pietismus [Anm. 87] Bd. 1, S. 406–409, S. 430–431; Bd. 2, S. 119–121, S. 175–177, Hans Schneider), Johann Henrich Reitz und Philipp Jacob Dilthey (siehe Schneider [Anm. 1], S. 286–287). 112 Gegenargumente.

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und Satzungen113 thun/ und die Seinigen ein- und absetzen/ auch an statt des niedrigen irdischen einen himmlischen und göttlichen Beruff eindrucken114 können? Sollte er [A9v] sie nicht bereden können/ nach Christi Exempel ihr Leben und alles was sie haben/ nicht allemal gezwungen/ sondern freywillig und von sich 5 selbst zu lassen?115 Ob aber nun dieses in diesem Fall geschähe/ kan sein allsehendes Auge selber prüfen und erfahren/ und mögen vielleicht folgende Ursache116 nothdürfftig darlegen. Welche ich denn in Christlicher Treue und Liebe frey und ungescheut entdecken muß/ in Hoffnung/ ein bescheiden und GOttfürchtend Gemüthe werde von selbst alles zum Besten deuten117/ und was es nicht sobald 10 begreiffen mag/ dem HErrn in Demuth überlassen. 13. Einmal sahe und erfuhr ich gleich anfangs mit einem grossen Leid-Wesen/ daß ich mich numehro in einen solchen Stand begeben hatte/ darinnen ich des einigen nothwendigen und besten Theils/118 nehmlich der stätigen Gemeinschafft im Glauben mit dem HErrn JEsu durch Wachen und Bethen119 und des Um15 gangs mit ihm120 nicht allezeit frey und ungehindert abwarten121 könte/ und augenscheinlich merckte/ wie dieses zarte Leben Christi in mir122 sehr abnahm123 und zurück gehalten wurde.124 Denn nachdem mich die dringende brünstige Liebe JEsu Christi einmal zu sich gezogen/125 und mich ihre Süssigkeit so lange schon schmecken lassen: setzte mir [A10r] diese unermüdet in meinem Hertzen zu/ 113 Zu diesem in OB häufigen – gegebenenfalls mit „dürfftig(em)“ verbundenen – Begriff siehe unten S. 227,22. 114 einprägen. 115 Vgl. Luk 9,24; Joh 15,13. 116 „Ursache“ ist Plural. 117 Vgl. Kleiner Katechismus; Achtes Gebot. Bekenntnisschriften ... luth. (Anm. 83), S. 509,23–24. 118 Luk 10,42 (vgl. oben S. 209,1.21). Bei Arnold auch andernorts wiederkehrender Doppelbegriff. Dörries (Anm. 4), S. 121 Anm. 140. 119 Mark 14,38. 120 Dieter Meyer: Der Christozentrismus des späten Zinzendorf. Eine Studie zum Begriff „täglicher Umgang mit dem Heiland“. Bern-Frankfurt/M. 1973, S. 20f. Ebd., S. 311: Arnolds Verwendung des Begriffs „Umgang ...“ ohne Entwicklung eines „charakteristischen Gebrauch[s]“. Vgl. unten S. 218,5. 121 beachten, achthaben auf, pflegen. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm.  24), Bd. 1, Sp. 147. 122 Vgl. oben S. 212,10/11. 123 Johann Gerhard Friedrich Goeters: Gottfried Arnolds Anschauung von der Kirchengeschichte und ihrem Werdegang. In: Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. Festschrift Winfried Zeller zum 65. Geburtstag. Hg. von Bernd Jaspert und Rudolf Mohr. Marburg 1976, S. 241–257, hier S. 253. Hier auch eine knappe Inhaltsund Situationsbeschreibung (für Babels Grab-Lied). 124 Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984, S. 85–86. 125 Siehe unten S. 217,8.

§§ 12–14

217

und nöthigte mich durch einen verborgenen Liebes-Zwang/ bey ihr zu bleiben. Nun konte ich nicht läugnen/ daß ich von der Stund an dieser Vereinigung Worte des ewigen Lebens bey dem allertheuersten Heylande gefunden hatte. Wo solte ich nun hingehen/126 oder woran sollte mein Hertz sich weiter binden lassen/ als an sein Liebes-Joch?127 Was solte ich auch anders wissen oder lehren/ als alleine JEsum Christum den Gecreutzigten?128 Zumaln da diese ewige Liebe des Vaters/ dieser Liebhaber meines Lebens selbst aus Beysorge129 meiner Untreue und Abwendung so viel 1000. gewaltige Züge130 an mir that und versuchte. 14. Diß geschahe auff der einen Seite. Auff der andern forderten auch diejenigen/ so einen Anspruch an mich überkommen hatten/ ihren Dienst und Tribut/ und zwar nach gewissen väterlichen Weisen131/ Satzungen/ Zeiten und Arten. Es solten soviel Stunden von der kurtzen Zeit meiner Wallfarth132 auff unnütze und offt schädliche Verrichtungen gewendet/ und die wenigen Kräffte der Welt und ihren Elementen133 gewiedmet werden. Da gleichwol das allerhöchste Guth134 mir etwas nöthigers und seligers gezeiget und geschencket/ auch mir gleich- [A10v] sam einen Freyheits-Brieff gegeben hatte/ vor denen/ welche noch nichts bessers gefunden oder doch es nicht bewahret/ und also zu denen weltlichen Dingen noch geschickt und geneigt seyn mögen. Hier ist nun leicht zu erachten/ welch ein Kampff in mir sich zwischen Geist und Fleisch135 erhoben habe. Indem jener mich zu Enthaltung aller Dinge anstrengete/ damit ich dem gefiele/ der mich angenommen hatte: Dieses aber bald die Furcht vor übler Nachrede/ bald die Exempel und allgemeine Weise/ bald die Hoffnung zur Besserung136 und andere ScheinGründe darstellte. Also daß mein Hertze offt von beyden Theilen gleichsam in Stücken zerrissen/ und ohne Leben in vollem Jammer und Schmertzen lag/ ja gleichsam in Thränen schwumme.

126 Joh 6,68. 127 Matth 11,29–30. Vgl. unten S. 243,15/16. 128 1Kor 1,23; 2,2. 129 Siehe oben S. 213,3 und öfter. 130 Die Rede vom „göttlichen Zug“, des von Gott „gezogen“-Werdens ist bei Arnold hochbesetzt; Dörries (Anm. 4), S. 118–124 und öfter (Register!). Büchsel (Anm. 29), S. 146 in Anm. 33. Vgl. S. 207,16; S. 208,21/22; S. 216,17/18; S. 219,22; S. 229,6.7; S. 231,17; S. 244,21; S. 253,20; S. 261,20. 131 ... väterlicher Weisen (wohl nicht Weisungen; vgl. unten S. 231,5; S. 232,15). 132 Leben als Wallfahrt 133 elementa mundi; Kol 2,8. 134 Siehe unten S. 247,6. 135 Gal 5,16–17. 136 Indirekte Ablehnung der Konzeption Speners (Geschichte des Pietismus [Anm. 87] Bd. 1, S. 299–301, S. 306–307, S. 380–381; S. 363–366, S. 388–389 [Martin Brecht] und öfter, Register S. 577; Bd. 2, S. 817 sub verbo; Bd. 4, S. 23–25, S. 44–45 [Ulrich Gäbler]; S. 143–153, S. 161–164 [ Johannes Wallmann]).

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15. O wie bald hätte bey solchen Versuchungen das jenige/ was Christus und sein Geist in mir erarbeitet gehabt/ verlohren werden können! Wie leicht kan die einfältige Nachfolge Christi in dem lauteren kindlichen Glauben auch unter denen scheinbarsten137 Dingen Schiffbruch leiden! Wie vergisset man doch so unvermerckt des genauen und vertraulichen Umgangs mit dem Heylande!138 Wie kommt die Seele von dessen wahrer Gemeinschafft in dem [A11r] Geheimniß des Creutzes/ und der stätigen Tödtung des eigenen Willens139 hinweg/ auch da sie meinet immer bey ihm zu seyn! Durch die unendliche Treue GOttes aber merckte ich geschwind aus den Regungen seines H. Geistes/ was ich nun vor Feinde vor mir hätte. Nehmlich die Vernunfft wolte mich bereden/ ich dürffte dem HErrn Jesu nicht in allen seinen Worten und Exempeln gehorsam werden/ und zwar unter so scheinbaren140 Versuchungen. Bald hiesse sie mich dieses bald jenes Joch annehmen/ nur daß ich nicht noch hier das ewige Leben haben/ und dem Hirten/ wo er hingehet/ folgen141 sollte. Jemehr sich die Seele nach der Einfalt Christi142 und nach dessen armen Leben sehnete/ je fleissiger war der Feind einen Strick143 nach dem andern zu versuchen. 16. Alleine eben hierinne verrieth sich das in mir wohnende Böse/ wieviel noch zu überwinden/ und wie höchst nöthig der Kampff wäre/ sollte er auch biß auffs Blut144 ergehen. Da mir nun ferner die wenigen Kräffte meiner irdischen Hütte145 und der kurze Raum meiner übrigen Pilgrimschafft146 offenbar waren: konte ich ja nicht anderst thun/ als den vortheilhafftigsten Entschluß vor meinen unsterblichen Theil fassen. Dieser war nun/ daß ich die hinter [A11v] stellige*147 Zeit im Fleisch148 nicht der Menschen Lüsten/ Ehren oder andern Vortheilen/ sondern dem Willen GOttes leben wolte. Sintemal mir so manche Proben149 handgreifflich 137 scheinbar eindeutigsten Dingen. 138 Vgl. oben S. 216,14/15. 139 Willensaskese ist ein im Pietismus stark betontes Moment der Heiligung. 140 offenbaren ? 141 Vgl. Joh 10,3–5.27. 142 Auch von Spener in den Pia Desideria gebrauchter Begriff; Philipp Jakob Spener: Die Werke. Studienausgabe, in Verbindung mit Beate Köster hg. von Kurt Aland, Bd. I.1. Gießen/Basel 1996, S. 134,28 || S. 135,24 „Christi [...] simplicitatem“. Langen (Anm. 87), S. 362–365. Vgl. Joachim Jacob: Einfalt. Zu einigen ästhetischen und rhetorischen Implikationen eines pietistischen Leitbegriffs. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (Anm. 93), S. 341–351, vor allem S. 345 mit Anm.  19 (Arnold) und S. 350 (Spener; „edle ...“). Siehe unten S. 261,16-17. 143 2Tim 2,26. 144 Hebr 12,4. 145 2Kor 5,1.4. 146 Leben als Pilger- oder Wallfahrt. 147 noch verbleibende; anvertraute. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 10, Sp. 1518f. 148 1Petr 4,2 „die noch übrige Zeit“. 149 Beweise.

§§ 15–18

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gewiesen hatten/ daß gleichwol das zarte/ sanffte/ reine/ unschuldige/ und niedrige Leben Christi bey solchen Eitelkeiten/ Menschen-Satzungen/ Zerstreuungen der Sinnen und Schein-Wesen150 unmöglich sehen könne. 17*. So offt ich nach der gemeinen151 Weise noch einige auch scheinbarste152 Entschuldigungen und Ausflüchte machen wollte/ oder von andern mit dem subtilsten Vorwand machen hörete: Die es meist vor Versuchungen hielten: ward mir sofort unverzüglich alles in meinem Hertzen auffgelöset/ widerlegt und der Betrug entdeckt. Und dieses alles mit denen nachdrücklichsten Uberweisungen/ durchdringenden Ermahnungen und Warnungen/ welche mir auff dem Fusse nachfolgeten, und sich darinne göttlich genug bezeugten: Theils weil sie von einem gewaltig durchbrechenden Liecht begleitet wurden/ so alle Winckel meines Hertzens durchleuchtete/ und die falschen Kräffte/ Irrthümer und Dunckelheiten verjagte/ theils weil sie mich auff den wahren ewigen Weg Christi durch lauter Absterben153 ins Leben treu- [A12r] lich und lauterlich führen wollten. Durch diese obere und himmlische Macht wurden die noch übrigen Schein-Ursachen/ Gegenwürffe154 und Behelffe155 der Vernunfft/ und der harte eigene Wille so gar gedämpffet: daß endlich der gewisse Schluß hervorbrach: Niemand kan zween Herren dienen! 156 18. Hatte ich ferner ehemals so viel Lust und Mühe im Studiren gehabt/ und mir bey dem Antritt vorgenommen/ denen Studirenden in Historia civili157 auch ein Genügen zu thun/ auch solches mit grossem Eiffer und Ernst angefangen:158 so funde ich mitten in der Arbeit einen gewaltigen Zug159 zu etwas Bessers und Höhers/ und einen unüberwindlichen Eckel vor allen Weltlichen Händeln/ denen ich abgestorben seyn sollte/ und alleine GOtt in Christo leben. Dahero wurde mir dieses sonderlich (ungeacht* es mir nach der Natur angenehm und leichte gewesen wäre) so gar verleidet/ daß ich nach so mächtigen Züchtigungen160 nicht 150 Büchsel (Anm. 29), S. 83 Anm. 25; S. 87. 151 allgemeinen, üblichen. 152 durchaus einleuchtende oder/und wie S. 210,3? 153 2Kor 4,10. 154 Gegenargumente. 155 Ausreden, Ausflüchte, Vorwände. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, Sp. 1332. 156 Matth 6,24. Siehe unten S. 246,12. 157 G. Arnold nennt als seinen Lehrer für Philologie und Historie Conrad Samuel Schurtzfleisch (Seeberg [Anm. 53], S. 16; Volker Keding: Theologia experimentalis. Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold. Münster [u.a.] 2001, S. 3–4). Vgl. Catalogus (Anm. 76), S. 23/IIX. die Autoren von Disputationes speciales „Historicae civiles“. 158 Nur eine verfrühte, allgemeine Ankündigung enthält das Lektionenverzeichnis vom 24.4.1697. Schneider (Anm. 1), S. 273. 159 Siehe oben S. 217,8. 160 Vgl. Hebr 12,5ff.

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mehr wohl daran dencken/ geschweige andern etwas vorlesen161 konte. Und wenn einige Welt-Leute162 solche Arbeit von mir verlangten/ von denen ich mich auch dazu bereden ließ: wurde mir sogleich durch die Vorstellung ihrer bösen Absichten/ (als welche auff lauter Ruhm/ Hochmuth/ Ty- [A12v] ranney und andere Staatistische163 Streiche und Politische Greuel abzielten/) aller Muth und Vermögen164 hiezu benommen. Was ich zuvor selbst noch ästimirt165 und beybehalten/ gehabt/ (als* da war die Historia Philosophorum, Virorum Illustrium, Antiqvitatum, Rituum* &c.) muste ich alles nichtig u. unzulänglich erkennen/ ob ich wohl so starcke Einwürffe zu machen wuste/ als einer immer ausdencken mag/ sonderlich aber mich mit allerhand moralibus und porismatibus166 behelffen wolte; die doch zur Aenderung der Gemüther untüchtig sind. 19. Zuletzt/ als ich doch noch zum wenigsten die Kirchen-Historie immerfort zu behalten vermeinte/ als die allerdings sehr nützlich und nötig ist: konte ich die Befreyung von jener damit verknüpfften Arbeit nicht erlangen.167 Deßwegen wurde mir dabey nach und nach so klar und gewiß/ daß/ weil diese Anmerckungen ohne dem öffentlich ausgegeben würden/ sie ein jedes begieriges Gemüthe schon selbst lesen und untersuchen könte. Und daß dahero eben keine Zeit mit eigenen Praelectionen168 von mir bey den Studirenden zuzubringen wäre. Denn zugeschweigen/ daß die meisten darunter im Christenthum ungeübt/ und also zu solchen [B1r] Sachen untüchtig sind/ so gab es auch die Erfahrung/ wie wenig Ernst und Attention169 zu finden war: wenn es die meisten wo nicht alle auff ein blosses Wissen170 und ruhmsüchtiges Nachschwatzen ankommen lassen. Ich habe auch offt mit grossem Betrübniß gesehen/ daß die gemeinen Anstalten auff denen hohen Schulen nicht nur überall unzulänglich/ sondern auch guten Theils dem wahren Sinn und Evangelio Christi/ dessen Einfalt/ Demuth und Lauterkeit ganz zu wider seyn. 20. Ich weiß/ ein bescheidener Christe vergönnet mir/ daß ich allhier denjenigen Begriff/171 welchen ich von diesen Sachen habe/ im Vertrauen darlegen darff. Und wird man mir alles desto williger zu gute halten/ jemehr zwey widrige Dinge in 161 Vorlesung halten. 162 Siehe oben S. 213,10. 163 im Staatswesen übliche. 164 Fähigkeit. 165 geschätzt. 166 Belehrungen. 167 Büchsel (Anm. 29), S. 122. 168 Vorlesungen. 169 Aufmerksamkeit. 170 Vgl. Spener: Pia desideria, Werke I.1 (Anm. 142), S. 208 | S. 209,16–17: „[...] daß es mit dem wissen in dem Christenthum durchaus nicht genug seye/ [...].“ | „[...] scientiam ad Christianismum non sufficere, [...].“ Zu Francke siehe Peschke: Studien, Bd. 1 (Anm. 87), S. 153 und öfter. – Siehe S. 248,19; S. 258,23. 171 dasjenige Verständnis.

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ihrem Gegensatz nach der Wahrheit erkant und erwogen werden können. Zumalen mein Vorsatz (wie es GOtt bekant) nicht im geringsten ist/ jemanden/ der noch aus Noth oder Unwissenheit oder aus guten Absichten darinne stehet/ dißfalls entgegen oder beschwerlich zu seyn/ am wenigsten einen redlichen Mann zu verkleinern/ welches keinem Christen zukommt. So kan ich demnach nicht bergen/172 wie hertzlich es mich betrübet habe/ daß auff denen Universitäten ausser denen ein- [B1v] tzigen Lehren und Regeln Christi JEsu/ so viele menschliche Satzungen/ Einfälle und Statuten von denen vorigen zancksüchtigen173 Zeiten174 her übrig/ und zu Bestrickung der Gewissen behalten worden sind. Daß auch über diß die Gewissen ohne Unterscheid an solche eidlich verbunden und zu einem vor erleuchtete und durch Christum frey-gemachten Gemüther175 unerträglichen Joch gemachet werden. Welche doch/ wo sie mit denen Grund-Sätzen der wahrhafftigen Evangelischen Lehre Christi176 und seiner Apostel zusammen gehalten werden/ offte dieser gerade entgegen stehen. 21. Wenn nun ein treues Gemüthe unter solchen Anstalten bleiben/ und dennoch seinem GOtt auch redlich und ungehindert dienen will: so ist leicht zu erachten/ ob es seinen Zweck/ und dabey ein reines von der Welt unbeflecktes Hertz177 bey solchen Umständen erhalten könne. Will es keine Menschen-Tage* suchen/ noch denen andern zu gefallen heucheln/ sondern der geschenckten Freyheit in Christo178 brauchen: so wird ja freylich von Unwissenden und Irrenden nichts als Widerspruch und Hindernüsse in dem geringsten Gottgefälligen Vorhaben entstehen. Man beredet sich179 wol vergebens/ als könten diese und jene Mißbräuche und [B2r] Greuel nicht eher gehoben werden/ als biß man wircklich dahin eingehe und darinnen bleibe. Denn zugeschweigen daß leider! in so vielen Jahren bißhero die wenigste oder gar keine Probe180 von dieser Maxime gesehen worden: so mag das Gegentheil dem Sinn und Worte GOttes wol am ähnlichsten seyn. Nehmlich da der HErr allenthalben von den Seinigen fordert/ auszugehen/ (und zwar von denen Abgöttischen/ die doch Brüder heissen)/ sich abzusondern/181 und kein Unreines anzurühren182/ auch keine Gemeinschafft mit den Wercken der 172 verbergen, verheimlichen. 173 Vgl. S. 223,24. 174 Wohl Anspielung auf die G. Arnold abverlangte Bekenntnisverpflichtung, Eidesleistung auf den Landesherrn und Unterzeichnung der „leges et statuta“ der Universität vor der Antrittsvorlesung am 2.9.1697. Schneider (Anm. 1), S. 276f. 175 Vgl. Gal 5,1. 176 Lehre Christi im Evangelium. 177 Vgl. Ps. 51,12. 178 Siehe oben Z. 11. 179 redet sich ein. 180 Beweis. 181 Siehe unten S. 236,6-9. 182 2Kor 6,17; Jes 52,11.

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Finsterniß zu haben,183 vielmehr aber sie also in der That ernstlich zu bestraffen/184 und die Frommen von den Bösen sondern185 zu lehren/ wie der HErr von seinen Botten fordert.186 Diesen allein hat er versprochen/ sie anzunehmen/ und ihr allweisester/ starcker und treuer GOtt zu seyn. Ob aber nun eine Seele/ die mit Ernst und Gewalt das Himmelreich zu sich reissen187 will/ bey so vieler Mannichfaltigkeit und Zerstreuung/ und bey so subtilen und mächtigen Reitzungen188 zu Ruhm/ Ehren und Wollüsten nicht nur vor sich unbefleckt bleiben/ sondern noch dazu die jetzt folgende grausame höllische Kräffte der Sünden/ des Satans und Welt besiegen und niederreissen könne: mag niemand beurtheilen/ [B2v] als wer es an sich oder andern erlebet/ und zwar nicht in eigener Liebe/ Erhebung oder falscher Einbildung/ wenigstens in geheimer Gefälligkeit oder gar Gleichstellung189 bey solchem Verderben. 22. Ich wünsche von Hertzen/ daß ein jeder/ der es nöthig hat/ die erschröckliche Tieffen des Verderbens ohne Vorurtheil und Partheylichkeit190 einsehen möchte; so sollte niemand mir verargen/ was ich nun aus innerster Bewegung und Kummer meines Gemüths bekennen muß. Denn gewißlich mag einer Seelen wol kein grösserer Jammer-Spiegel vor Augen geleget werden/ als wenn sie die gemeinen191 hohen Schulen betrachtet/ und zwar von dem Geist JEsu Christi begleitet und geführet. Es hat mir wol ehemals allzuhart geurtheilet scheinen wollen/ wenn einige einen solchen schweren Fluch über denen vom Pabst und der Antichristischen Clerisey192 erfundenen und auff uns fortgepflantzten Universitäten193 liegend erkannt gehabt/ daß von ihnen nimmermehr etwas wahrhafftig-heilsames und gründlich-Göttliches zu hoffen stehe.194 Alleine was soll ich nun sagen/ da 183 Eph 5,11. 184 Siehe unten S. 252,23. 185 absondern. 186 Mark 6,11 par. 187 Vgl. Matth 6,33. 188 Anreizen, Verlockungen. 189 Vgl. Röm 12,2. 190 Jenseits der Religionsparteien; siehe Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 130 zu S. 5,18. Büchsel (Anm. 29), S. 34f. mit Anm. 16 (Varianten des Verständnisses von „unparteiisch“). 191 allgemeinen. 192 Klerus. 193 Arnold kennt die Entstehung der mittelalterlichen Universitäten aus geistlichen Instituten. KKH (Anm. 85) 1729, I.1,2, S. 333–334 (Buch 9, II. Cap., § 8), S. 407 (in Buch 13, II. Cap., § 13), S. 419 (Buch 14, II. Cap., § 6), S. 438–439 (in Buch 14, II. Cap., § 12). Vgl. die kritischen Stellen im Register unter „Academien“. 194 Siehe S. 212,6/7. – Denkt G. Arnold an Kritiker des Universitätslebens wie Johann Matthäus Meyfart oder an Friedrich Breckling: Pseudosophia Mundi (Catalogus [Anm. 76], S. 45, in Nr. 187.8°)? Gottfried Arnold: Offenherziges Bekenntnis. Frankfurt/Leipzig 1700 (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 16.6), G7r – H6v ausführliche Darstellung von Meyfarts „Christliche Erinnerung von den aus den Evangelischen hohen

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mich GOtt dieses unbeschreibliche tieff-eingewurtzelte und durch so viel alte Gesetze/ Gebräuche/ Vorurtheile und Meinungen befe- [B3r] stigte Elend selbst noch gegenwärtig sehen und nach dem Sinn Christi prüfen lassen? Ich erkenne mich fast schuldig/ davon nur etwas zu bezeugen/ und muß dieses vor eine Frucht dieser meiner Führung195 rechnen/ daß dieser unselige Brunn/ woraus das Verderben durch alle Lande und Stände der Christenheit/ durch soviel unreine Röhren geleitet wird/ mir ist entdecket worden. Ach! daß es auch andern also bekant und gewiß werden möchte! 23. Der Regente und Ober-Herr solcher Schulen in ihren alten Anstalten und Gewohnheiten ist ja offenbarlich niemand/ als die verkehrte Vernunfft/ in ihren bösen Wercken/ eine offenbare und gefährlichste Feindin GOttes und seines Sohns: eine Hinderung alles Glaubens/ der Liebe/ Einfalt/ Lauterkeit und Wahrheit/ ohne welches alles wir doch nicht Christen seyn können. Diese bauet allda ihre Höhen und Befestungen196 wider das einfältige Erkäntniß Christi auff in so vieler menschlicher Spitzfindigkeit/ Schlangen-List/197 Sophisterey/ Witz198 und eiteln Wissenschafft/ daß der ewige Sohn GOttes mit seiner himmlischen Weißheit/ Demuth/ Einfalt/ Sanfftmuth* und Liebe keinen Raum findet. So listig ist zwar die verderbte Natur wol/ daß sie über alle ihre Ar- [B3v] beit und Thorheit den H.[eiligen] Nahmen und die Ehre GOttes zum Deckel199 ausbreitet. Aber inwendig200 ist alles Handgreifflich voller Betrug eigener Ehre/ Geitzes/ Neides/ Verläumdung/ Zancks/ Frases und anderer schädlichen Früchten. Die meisten wo nicht alle Gewohnheiten/ Satzungen und Handlungen haben ja offenbarlich den Antichrist zum Vater/201 oder stimmen doch mit dem Leben/ das aus GOtt202 ist/ nimmer überein/ sind auff das alte Schul-Gezäncke203/ Gewissens-Zwingen und verketzern eingerichtet/ daß man GOttes Geboth verlässt um solcher Auffsätze204 willen/ wider die Christus so ernstlich geeiffert hat/ und das Wehe über

Schulen in Teutschland an manchen Orthen entwichenen Ordnungen und erbarn Sitten“. Erich Trunz: Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. München 1987, S. 245–255 mit S. 413–418. Vgl. auch Catalogus (Anm. 76), S. 35, in Nr. 266.8°: Epistolae de statu academiae Giessensis. [Gießen 1707, 1711]. 195 Führung Gottes in meinem Leben. 196 2Kor 10,4 (auch in Grimmsches Deutsches Wörterbuch [Anm. 24], Bd. 1, Sp. 1258). Vgl. S. 255,29. 197 1Mose 3,1. 198 Vorwitz. 199 Vgl. 1. Petr 2,16. 200 Zur Redefigur „aber inwendig“ siehe Matth 7,15; 23,25.27. 201 Vgl. Joh 8,44. 202 Eph 4,18. 203 Siehe oben S. 221,8, unten S. 228,2. 204 Satzung, Auflage. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, Sp. 718.

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die Heuchler deßwegen geruffen.205 Ja wo es noch am klügsten und ehrbarsten zugehen soll/ da findet dennoch GOtt keine gehörige Ehre/ Christus keinen Glauben und Gehorsam/ und der H. Geist keinen Raum in den Hertzen. Wer sich und andere in Demuth erkennen lernet/ wird dieses nicht läugnen. 24. Welch ein Elend ist es um die gemeine mit Recht so-genannte Welt-Weißheit/ die sich gerade wider die ausdrückliche Warnung des H. Geistes/ auch wider des sel. Lutheri ernstliche Verbannung206 dennoch immer mit ihrem Verderbniß und abscheulichen Mißbrauch [B4r] unter Christen erhält und zu unaussprechlichem Schaden herrschet! Wie blähet sich207 der alte natürliche Mensch über einer nichtigen Meinung/ distinction oder termino auf/ und machet sich so gar zu der Weißheit/ die von oben herab kommt208/ untüchtig! wie suchet er in falschen geschminckten209 Worten die Lügen vor Wahrheit ums Geld zu verkauffen/ und die verfallene durchgifftete Natur mit ihren falschen Gründen und Irrthümern noch zu unterstützen! O wie findet das böse Hertz seine Lust und Nahrung in losen Verführungen der gemeinen Philosophie/210 und hat hingegen einen Eckel und Verdruß an aller himmlischen Wahrheit und Weißheit! welche doch allein die greuliche Barbariem211 der natürlichen Menschen vertreiben kan/ nicht aber das fleischliche auffblehende212 Wissen/ wie man insgemein sich und andere betreugt. Ist es aber doch nicht genug zu bedauren/ daß die Göttl. Weißheit so gar auff den Schulen keinen Platz findet/213 und vielmehr biß auff diese Stunde verworffen und verketzert worden. Da sie doch mit ihrem allgemeinen Liechte auch in der Natur die Wunder Gottes eröffnen/ und besage der H. Schrifft aller Künste Meisterin seyn könte.214 [B4v] 25. Dahero auch in allen Wissenschafften so viel Ungewißheit/ Disputiren/ Betrug/ leer Geschwätze und lauter ungöttliches Wesen/ auch dahero mehr Schaden

205 Matth 23,23. 206 Vgl. Dörries (Anm. 4), S. 143–144. Siehe unten S. 226, § 27 und S. 235,1-5. Luthers Kritik an Aristoteles siehe bei Arnold in KKH 1729 (Anm. 85), I.1,2, S. 554 (Buch 16, IX. Cap., § 9), S. 570–571 (X. Cap., §§ 18, 19) – gegen Melanchthon, ebd., S. 551 (§ 4). 207 Vgl. 1Kor 13,4. 208 Vgl. Jak 3,17: Die Weisheit aber von oben her ist [...] unparteiisch, ohne Heuchelei. 209 schönfärberischen. Siehe unten S. 258,18/19. 210 allgemeine (aristotelische) Philosophie. 211 Barbarei. 212 1Kor 13,4. 213 Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts „Vier Bücher vom Wahren Christentum“ als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie. Bde. 1–3. Berlin/New York 2001, Bd. 1, S. 91–107 (108) zu J. Arndts Vorrede zur Theologia deutsch 1597, wo Arndt „die Polemik gegen den theologischen Lehrbetrieb [...] vielleicht am schärfsten formuliert.“ (S. 91) Vgl. auch ebd., S. 148–149 (mit S. 285–301). 214 Büchsel (Anm. 29), S. 109.

§§ 23–26

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als Vortheil sich offt eräugnet. Die Forschung der Natur215 mag ja nach ihrem wahren Grunde und Geheimniß denen Schulen meist*/ verborgen und nur ein Rätzel seyn/ ungeacht sie bißhero hoch gestiegen zu seyn scheinet. Und wie sorglich216 es annoch um die Artzeney-Kunst217 stehe/ läugnen auch redliche und erfahrne Männer selbst nicht. Es gebens aber die Historien aller Zeiten bißhieher/ woher dieses alles komme/ wie gewaltig sich nehmlich die gemeinen Lehrer in allen Collegiis und Facultäten wider allen Ausbruch218 und Mittheilung des wahren Göttlichen Liechts in denen Wissenschafften gesetzet. Indem sie ja alle Göttliche Weißheit/ die von geringen Werckzeugen219 dargeleget worden/ aus Hochmuth und Mißgunst verworffen und wol gar gelästert/ hingegen ihre menschliche ungewisse Heydnische Meinungen und Sätze von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflantzet und erhoben. Dannenhero sie auch biß jetzo von dem höheren Göttlichen Liecht der ewigen alles forschenden Weißheit verlassen u. in ihrem Schatten und Dunckel gelassen worden/ worinne sie [B5r] dann den Glantz jener grossen Herrlichkeit Gottes weder im Reich der Natur noch der Gnaden220 auch nicht einmal von ferne erblicken. 26. Daß es auch um die Wissenschafft der Rechte und Gesetze221 nicht besser stehe/ haben ja die Erfahrensten Leute selber in gantzen Büchern seithero ausgeführet.222 Und ach! daß doch überall unter Jungen u. Alten die Rechte des* HErrn und seine Liebes-Gesetze/ samt allen Gründen der wahren Gerechtigkeit entdecket würden! damit sie nicht Bley vor Gold auff denen Schulen einkauffen und sodann den Lohn der Ungerechtigkeit nicht wiederum von andern durch alle Lande mit falschen Gerichten/ Urtheilen und Advociren erpressen möchten. Mit was vor Gewissen aber die arme betrogene Jugend in so unzählichen unnützen ja schädlichen Dingen auffgehalten werde/ wolle der heilige und allsehende GOtt einem jeden selbst zu erkennen geben. Wahrhafftig die Begierde nach Gewinn/ 215 Johann Arndt: Vier Bücher Von wahrem Christenthumb. Die erste Gesamtausgabe (1610), Buch 1–4. (Ndr. der Ausgabe Magdeburg 1610). Hg. von Johann Anselm Steiger. Hildesheim [u.a.] 2007, IV: Das vierdte Buch vom wahren Chritenthumb/ Liber Naturae. Wie das grosse Weltbuch der Natur/ nach Christlicher Außlegung/ von Gott zeuget/ vnd zu Gott führet/ wie auch alle Menschen Gott zu lieben/ durch die Creaturen gereutzet/ vnd durch jhr eigen Hertz vberzeuget werden. [...]. 216 besorglich, Besorgnis erregend. 217 Catalogus (Anm. 76), S. 23, in Nr. XVI „[Dissertationes] Medicae“. – Siehe auch unten S. 259,20/21. 218 Aufbrechen, Hervorleuchten. – Vgl. auch Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, Sp. 838. 219 Menschen als Werkzeuge. Vgl. 1Petr 3,7 (Frauen als schwächere Werkzeuge). 220 Reich der Natur und Reich der Gnade. 221 Catalogus (Anm. 76), S. 23, Nr. XIV, XVI, XIX Autoren von Disputationes „Juridicae“. 222 Zu denken ist an Ahasver Fritsch, aber auch an einen ganzen Kreis frommer Juristen in seinem Umfeld. Vgl. Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge, hg. von Wolfgang Sommer und Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 421 mit Anm. 23. Siehe auch unten S. 259,20.

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Ehren oder Vergnügung sollte ja auch bey natürlich-klugen Gemüthern nimmer mehr so starck werden/ daß sie so schwere Verantwortung vor GOtt wegen übelangewendter Zeit/ Kosten und Kräfften bey der Jugend223 auff sich laden wolten. Die falsch-berühmte Kunst224 zu schwätzen und betrie- [B5v] gen in allen Facultäten und Wissenschafften muß ja doch endlich ihren Ruhm verliehren der wesentlichen Wahrheit und Weißheit GOttes weichen/ und mit ihrem Urheber225 verworffen und überwunden werden. Der HErr erbarme sich aller Verführten und Verführer an allen Orten! 27. Auch geb ich weiter unpartheyischen226 und Gottliebenden Seelen zu bedencken/ ob in dem allerheiligsten Nahmen des hochgelobten dreyeinigen GOttes (das ist auff seinen Befehl und Verheissung) solche Personen/ die nicht alleine ohne Erleuchtung (als* welche wahrlich zu aller wahren Wissenschafft gehört227)/ sondern auch in den gemeinen228 und von ihnen erforderten Wissenschafften ohne Erfahrung sind/ als öffentliche Doctores, Licentiati und Magistri auffgeführet/ erkläret und ums Geld mit Freyheit und Macht überall zu lehren und zu practiciren versehen werden können? Ich will nicht sagen/ wie die Sache selber aus blossem Ehr- und Geld-Geitz im Pabstthum erfunden/ und wider Christi klares ernsthafftes Verboth229 (dawider kein Verdrehen noch Einschräncken hilfft) eingeführet worden/ dadurch man offenbarlich nicht allein die einige230 Macht GOttes Doctores Theologiæ zu machen/ sondern auch alle [B6r] gemeine Freyheit der wahren erleuchteten Christen auffgehoben/ und sie samt denen Rechten und Pflichten ihres allgemeinen Priesteramts/231 an gewisse von Menschen offt widerrechtlich erklärte Lehrer und Meister gebunden. Welches abermal dem Sinn Christi und der Bekäntniß des sel. Lutheri232 selbst so klar zu wider ist; dessen Gegensatz oder Verläugnung gleichwol unter uns recht etwas Neues/ wo nicht gar irrig und verwerfflich heissen würde. 28. Wenn nun eine von Christo ergriffene Seele bey solchen Handlungen seyn/ und mit examiniren/ votiren/ gratuliren/ dergleichen Dinge in allen Stücken 223 Siehe unten S. 259,12/13. – Den Gesichtspunkt einer nicht zu verschleudernden „Lebens-Zeit“ hat Arnold 1698 auch andernorts betont; Gottfried Arnold. In Auswahl hg. von Erich Seeberg. München 1934, S. 262 (Göttliche Liebes-Funcken, Vorrede). 224 1Tim 6,20 Ende. 225 Teufel. 226 Der von Arnold gezielt gebrauchte Begriff wendet sich gegen alle auch von kleinen Parteien aus Eigenliebe errichteten Trennungsmauern (Dörries [Anm. 4], S. 75 Anm. 65; siehe auch Register sub verbo). 227 Vgl. oben S. 224,6ff. 228 Hier und oft im Sinn von: allgemeinen. – S. 240,13 anders! 229 Matth 23,8.10. 230 alleinige; siehe unten S. 234,19/20. 231 Starkes Anliegen Luthers und Speners. Vgl. Vogel (Anm. 14), S. 290 mit Anm. 97. 232 Siehe unten S. 235,8.

§§ 26–29

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billichen/ doch aber dabey so viel Mißbrauch des Nahmens Gottes/ Ehrgeitz/ Geldbegierde und andere Sünden erblicken sollte: wie möchte sie doch ihr Gewissen anders bewahren/ (wo es ihr anderst um GOttes Ehre ein Ernst und kein Spiel-Werck wäre)/ als daß sie ihr Mißfallen mit Enthaltung bezeugte?233 Denn mit was vor Verwirrung/ Ehrfurcht/ Ruhmredigkeit/ Geschrey und stachlichten/ dornichten234 Wort-Gezäncke sind nicht die Disputationes wircklich verknüpfft!235 wie ist doch dieser Weg die Wahrheit zu erforschen abermal dem Sinn und Wege Christi so gar entgegen! Und was vor elen- [B6v] de Anstalten giebt es sonst insgemein in denen übrigen Academischen Ubungen/236 gesetzt/ daß einer auch in allen sein Gewissen ohne Versäumniß/ Geld-Geitz und dergleichen Greueln bewahren wolte! O wie offte hat mir mein Hertz gebrochen/ daß ich in so vielen Stunden wenig oder nichts von dem wahren einigen Weg zur Glückseligkeit und zu dem höchsten Gut/ wie es Christus JEsus selber ist237/ ohne Widerstand und Hinderung lehren können! Wie manchmal ist die Krafft und Bewegung des H. Geistes gehindert worden/ wenn man sich an gewisse Stunden und andere Umstände binden müssen: Da ja der sanffte Wind des H. Geistes238 in seiner Freyheit bläset wenn und wo er will/239 und dennoch dessen Ausflüsse und Wirckungen bey dem Verfall240 derer Christen an gewisse Zeiten/ Orte und Weisen gleichsam befestiget werden wollen: von welchen allen in der Abbildung der ersten Chr isten zulesen seyn möchte.241 29. Aus diesem nun folget von selbst/ wie weit die gewöhnliche Lehr-Art auch in Göttlichen Dingen reiche/ und ob bey solchen dürfftigen Satzungen242 ein wahrhafftiger Sieg über den Teuffel/ die Vernunfft als die alte Schlange/243 über Welt/ Fleisch und alle Feinde auff hohen [B7r] Schulen zu hoffen sey/ und das wahre Reich JEsu/ in seiner Lauterkeit und Unschuld ohne Menschen-Tand244 und Leh233 Mack (Anm. 124), S. 85–86. 234 stachelig, dornig. 235 Siehe oben S. 212,9. 236 Siehe oben S. 208,9. 237 Siehe unten S. 247,6. 238 Vgl. 1Kön 19,12? 239 Joh 3,8. 240 Vgl. oben S. 209,13; unten S. 232,25. 241 Vgl. oben S. 211,4 Anm. – Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 101–119. „Verfall“ ist die zweite Möglichkeit neben dem ursprünglichen Zustand der Kirche, außer welchen beiden Möglichkeiten eine dritte nicht gesehen wird. Vgl. auch ebd., S. 130 zu S. 5,15. – Siehe unten S. 232,16; S. 233,15/16. 242 In OB häufiger Begriff. Büchsel (Anm. 29), S. 109. Ebd., S. 45 mit Anm. 47 zum sachlichen/begrifflichen Umfeld und zu Luther. Nicht lange danach, am 14.10.1699, mildert Arnold seine kritische Distanz zu äußeren Ordnungen ab (ebd., S. 117). – Siehe unten S. 228,6/7. 243 Offb 12,9; 20,2. – Vgl. unten S. 253,25-27. 244 menschliches nichtsnutziges Bemühen, Beiwerk.

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ren allda erbauet könne werden. Zwar sey GOtt gelobet/ daß er an einigen Orten die verderblichen Wort-Kriege245 und Schul-Gezäncke246 der zerrütteten Lehrer ziemlich abgethan/ und einige Einfalt und Wahrheit erwecket hat.247 Er lasse auch diese nicht länger in Ungerechtigkeit auffgehalten werden; offenbare aber nun Christum Jesum selbst in Lehrern und Zuhörern/ wie er verheissen hat.248 Ach! daß dieser Glantz der Herrlichkeit nicht länger verborgen bliebe/ noch durch dürfftige Satzungen249 und das Gesetz/ das nicht lebendig machen kan/250 verdunckelt würde! wie würde er in seinen Gläubigen eine Gestalt gewinnen/251 wenn die Lehrer zur Gerechtigkeit zuvor wahrhafftig allen Dingen mit ihm abgestorben252 und seinem Tode ähnlich worden wären!253 So dann könten sie wahre Zeugen seines Todes und Lebens seyn/ und rechte Botten* heissen/ wenn sie ihn selber mit Johanne im Geist254 gesehen/ lebendig erkant/ und mit ihm geredet/ sein Abendmal geschmecket und ihn gantz in ihren Hertzen wohnend hätten. Denn wer nicht mit ihm geredet noch seine Gestalt gesehen und seine Verheissungen alle erfahren hat/ wie kan dieser [B7v] von ihm ausgesandt seyn/ oder die andern einladen? Da er von keinem andern als menschlichen Beruff255 weiß/ und selber noch durch Aecker- Weiber- oder Ochsen-Annehmen256 sich aufhält? Er forschet wohl in der Schrifft/ die da von Christo zeuget/257 erkläret und disputiret sie wol durch und durch: aber/ wenn er nicht dadurch zu Christo selbst zukommen bewogen wird/ daß er als der Morgenstern258 nach diesem ersten Schein des Worts selbst im Hertzen aufgehe/259 so kennet er den nicht/ welchen er doch andern verkündigen soll. Und hiebey ist Erleuchteten klar/ wie die Academische buchstäbliche und eingeschränckte Lehr-Art ein Ursprung aller Blindheit/ Boßheit/ Heucheley/ Spaltung/ und Zerrüttung260 jederzeit gewesen.

245 Siehe Winfried Zeller: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2. Hg. von Bernd Jaspert. Marburg 1978, S. 50. 246 Siehe oben S. 224,19/20. 247 Anspielung auf die Universität Halle (vgl. Arnold: Abbildung ²1700 [Anm. 34], S. 98 [MaM])? Siehe Dörries (Anm. 4), S. 57 Anm. 24. 248 Matth 11,27. 249 Siehe oben S. 227,22. 250 2Kor 3,6; Gal 3,21. 251 Vgl. Gal 4,19. 252 Vgl. Röm 6,2; 7,6; Kol 2,20. 253 1Petr 2,24; Phil 3,10. 254 Offenbarung des Johannes. 255 Berufung. 256 Luk 14,15–20. 257 Joh 5,39. 258 Siehe oben S. 208,13, unten S. 259,22. 259 2Petr 1,19. 260 Schneider (Anm. 1), S. 284–285 (Anm. 116 Literatur!).

§§ 29–31

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30. So schencke denn der ewige Vater unsers HErrn JEsu Christi einem jeden Lehrer sein lauteres reines Evangelium mit allen dessen unerforschlichen Reichthümern/ Schätzen und Geheimnissen/ sowol des Creutzes als der Herrlichkeit! Er wende ihren Sinn zu diesem ewigen Liecht allein/ daß es mitten in der Nacht261 der Blindheit/ Vernunfft/ Heucheley und Sünden scheine/ und die Seinen zu Liechtes-Kindern262 wircklich mache! Er ziehe sie alle zu seinem Sohn/263 zu dem niemand kömmt ohne solchen [B8r] mächtigen Zug/264 dessen sich diejenigen wohl erinnern können/ welche ihn empfunden. Diese werden erkennen und erfahren/ daß die Worte die er redet/ Geist und Leben265 in ihnen seyn/266 und auch andern durch sie werden können. Denn woferne sie durch recht gedemüthigte Paulinische* Hertzen erschallen/ welche bey ihren Predigen selbst nicht verwerfflich werden/267 sondern in welchen der Heyland nach seiner theuren Verheissung* offenbar und verkläret worden: soll die Klage über die geringe Krafft der Predigt an denen Hörenden gar bald wegfallen. O wie würde nicht das Evangelium des Friedens die armen Seelen durch lebendige Verheissungen an sich locken! wie sollte der Sohn GOttes in seiner Allmacht/ Weißheit/ Gerechtigkeit und Liebe herrlich und mit Freuden angenommen werden! wo das Wort recht getheilet und die Speise zu rechter Zeit268 gegeben würde. 31. Aber ach! wie viel unbekannte Götter haben noch ihre Altäre und Dienste zu Athen/269 auff hohen und andern Schulen/ in Kirchen und Häusern! Solte ein Paulus umher wandeln und sehen/ wie alles so gar noch abgöttisch ist: wie würde er im Geist ergrimmen/ und weder Lehrer noch Zuhörer erkennen/ wenn er auch den Nahmen eines Lotterbubens270 davon tragen [B8v] müste. Er und alle Jünger Christi hatten gelernet alles vor Koth achten gegen die überschwengliche Erkäntniß Christi.271 Darunter waren nun nicht nur alle falsch-berühmte Künste/272 Formen zu wissen/ Meynungen/ Sitten-Lehren und Menschen-Gesetze/ sondern auch die allerstrengste eigene Pharisäische Gerechtigkeit und Heiligkeit/ das un261 Strophe 4,1.3 von Luther Gelobet seystu Jhesu Christ: „Das ewig liecht geht da hereyn/ [...] Es leucht wol mitten ynn der nacht [...].“ Martin Luther: Die deutschen geistlichen Lieder. Hg. von Gerhard Hahn. Tübingen 1967, S. 27, Nr. 15 Z. 16.18. 262 Strophe 4,4 von Luther Gelobet seystu Jhesu Christ: „[...] vnd vns des liechtes kinder macht [...].“ Luther: Lieder (Anm. 261), S. 27, Nr. 15 Z. 19. 263 Joh 6,44. 264 Siehe oben S. 217,8. Joh 6,44. 265 Joh 14,10. 266 Joh 6,63. 267 1Kor 9,27. 268 Ps 104,27. 269 Apg 17,22. 270 sittlich verwahrloster Mensch u.a.; siehe Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 12, Sp. 1211–1212. 271 Phil 3,8; siehe unten S. 237,11/12. 272 Siehe oben S. 226,4.

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nütze lose Geschwätze/ der Schein des gottseligen Wesens/273 das Heucheln und Schmeicheln/ das antichristische Hochherfahren und Herrschen über Gewissen/ das Wort-Gezäncke über diesen und jenen streitigen Puncten*/ Erklärungen der Schrifft aus der Vernunfft und dem verderbten eigenen Willen/ menschliche erdachte Gottesdienste/ Ubungen/274 scheinbare275 Formen/ äusserliche Geberden/ fleischliche Freyheit und Verkehrung des Evangelii/ Sectirische Trennungen/ Ansehen der Personen/ Pabstentzende276 Erhebung der Prediger über alles was GOtt und Gottesdienst heisst/ und in Summa alle andere ungöttliche Dinge. Er hatte nach seiner gründlichen Demüthigung erfahren/ wie unendlich Gesetz von Evangelio/ Natur von Gnade/277 und das falsche Liecht von dem wahren unterschieden seye/ und davor erkant werden müsse. Drum entdeckte er nun seinen vorigen278 und aller [B9r] natürlichen Menschen Unglauben und das gantze Geheimniß der Boßheit/279 wie man sich hinter den Pharisäischen Schein verstecket/ und doch der Welt auch in vielen ehrbaren und fromm-scheinenden Dingen gefallen will/ damit man nicht von ihr verstossen und verlacht werde. 32. Dieses bestunde hauptsächlich darinne/ daß der Mensch deßwegen nicht gerne Christum annehmen will/ weil er von ihm alsbald dieses Urtheil über den alten Adam höret. Wer nicht sein eigen Leben hasset/ der ist mein nicht werth! 280 Davor fürchtet sich der Heuchler/ und weil er sich gleichwol auch nach der Natur GOtt verbunden weiß/ so erdencket er diese Tücke und Ausflüchte. Er fänget an nach* einiger Vernehmung des Wortes und Rührung seines Hertzens (welches er eine Bekehrung und Wiedergebuhrt nennet)/ mit denen Jüdischen Schrifftgelehr273 2Tim 3,5. 274 an (in Gießen stattfindende) exercitia pietatis zu denken? 275 trügerische Formen. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), sub verbo, 4). 276 Zu „papentzend“ siehe Dietrich Blaufuß: Wider „papentzende“ Theologie. Ein Gutachten Philipp Jacob Speners im Zusammenhang der Konversion von Elisabeth Christine von Wolfenbüttel. In: Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber, hg. von Axel E. Walter. Amsterdam/New York 2005, S. 91–115, hier S. 113 Anm. 59, Christian Thomasius’ Gebrauch von „papenzend“. 277 Arnold hat Ph. J. Speners Natur und Gnade von 1687 ausdrücklich behandelt. Siehe Stephanie Wodianka: Wege und Abwege der Betrachtung. Gottfried Arnold zur Meditation als Gefahr. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (Anm. 93), S. 351–361, hier S. (354) 355–356. Vgl. unten S. 260,15. 278 früheren. 279 2Thess 2,7. 280 Vgl. Matth 16,25 mit 10,37.38 und Luk 14,26. – „[...] Ach gib mir erst nur krafft mein eigen falsches leben | Zu hassen auff den todt/ das sich noch immer frist’t/ | Und nicht gantz sterben will. So kan ich dich [sc. Sophia] erst haben | Und deiner würdig seyn. Schau/ wie die schlange sich (Luc. XIV.26) | In alles mischet noch/ und selbst die besten gaben | Durch ihren gifft befleckt [...].“ Arnold: Bereicht [!] von einer nacht-begebenheit. In: Arnold: Neue [...] Liebes-Flammen (Anm. 14), S. 293–296 (Nr. CXXII.), hier S. 295.

§§ 31–34

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ten sich in allen Gesetzen/ Buchstaben/ Erklärungen/ Lehren und Streit-Sachen zu verwickeln und auffzuhalten: aber sterben mit Christo281 will er nicht. Er hat seine Lust daran/ anderen viel Regeln und Gesetze vorzuschreiben/ ja solche Lasten auffzulegen/282 die er selbst nicht mit einem Finger anrühret. Man hält über denen väterlichen Weisen/283 [B9v] Ceremonien/ Satzungen und Traditionen/ weil sie noch Ehre und andere Vortheile/ das Gegentheil aber Ungelegenheit/ bringen. Dieses aber fället dem natürlichen Menschen mit einem grossen Schein in die Augen/ zumal wenn die äusserlichen Wercke also geschehen/ daß sie von den Leuten gesehen werden.284 Woraus ein allgemeines Lob und sodenn mehrere Erhebung des Hertzens entstehet/ hingegen eine vermessene Verdammung derer/ welche Christo alleine mit Verlassung alles dieses285 Scheins nachfolgen/ als die da wissen/ daß das Reich Gottes nicht mit äusserlichen Geberden komme.286 33. Da findet denn das ewige Wort des Vaters Christus kein Gehör noch Folge/ ob sie sich wol unterwinden287 Lehrer zu seyn/ und einen Schein der Gottseligkeit und die Form zu wissen haben mögen. Alle das Anklopffen des HErrn JEsu288 wird übertäubet/289 die vielen Beängstigungen* des Hertzens werden nicht erkant/ welches lauter Züge zu ihm290 seyn sollten. Und in solchem Elend ists kein Wunder/ daß nach denen offenb. Klagen das Lehren meist vergeblich sey. Sintemal291 die armen Seelen so wenig auff den einigen Meister292 Christum lauterlich und alleine gewiesen werden. O daß der Sinn [B10r] Johannis wiederum zu sehen wäre/ daß die Lehrer/ wenn sie Christum erst wahrhafftig kennen und sehen/ sodann mit Fingern alleine auff ihn wiesen und sagten: Ich bin nicht Christus:293 Siehe/ das ist Gottes Lamm!294 der die Braut hat/ der ist der Bräutigam/ und sein Freund stehet und siehet ihm zu; denn dessen Freude ist nun vollendet.295 Ich will gerne abnehmen wenn er zunimmt296 u. s. w. 34. Alsdenn würden alle Jünger Christi einander lieben/ und diese vornehmlich/ welche den neuen Bund ( Jerem. 31. v. 31. Ebr. 8. v. 8. Cap. 10. v. 16.) fassen 281 2Kor 4,10; 2Tim 2,11. 282 Luk 11,46. 283 1Petr 1,18. – Vgl. oben S. 217,11. 284 Matth 6,1.5; 23,5. 285 indem sie alles dieses verlassen. 286 Luk 17,20. 287 sich unterstehen, sich erdreisten. 288 Offb 3,20. 289 übertönt (bildlich); Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 23, Sp. 592. 290 Siehe oben S. 217,8. 291 da, zumal. 292 Matth 23,8.10. 293 Joh 1,20; 3,28. 294 Joh 1,36. 295 Joh 3,29. 296 Vgl. Joh 3,30.

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und ihre versprochene Kleinode u. Freyheit getrost brauchen. Niemand würde so kühne seyn/ die Gläubigen unter dem alten Bund der dürfftigen Satzungen297 zu halten/ und an gewisse Umstände mit ihrem Gottesdienst zubinden. Sondern man würde sich allenthalben freuen/ daß etliche nicht hie oder da Christum suchen/298 sondern den Vater nur im Geist und Wahrheit anbeten.299 Aber wo Christus weder auff Cantzeln noch Cathedern selbst und alleine wie er uns von Gott gemacht ist/ nach dem Sinn des neuen Bundes lauterlich verkündiget wird/ da ist auch keine Ernde zu hoffen: Und wenn auch alle Moralia, Gesetze/ und Lehren mit dem grösten Eifer unter dem [B10v] Schein der Heiligkeit ohne und ausser dem wahren lauteren Evangelio auffs höchste getrieben werden/ so erfolget doch nur Heucheley und Verstellung/ daß man von Menschen zu Menschen/ nicht aber zu dem Hirten und Auffseher der Seelen selbst bekehret300 wird.301 35. Wie nun dieses mein Erkäntniß von der heil. Schul- und Lehr-Art ist/ und mit dem Evangelio JEsu Christi übereinstimmet: also kan man daraus ersehen/ ob ich in solchem Zustande in meinem Gewissen/ bey denen alten Weisen beruhen302 können. Da nun ferner auch aus dem gedachten303 ersten Christenthum der allgemeine Abfall von dem wahrhafftigen Gottesdienst Sonnenklar ersehen werden mag: so ist freylich meinem Gewissen auch nicht genug gewesen/ solches erkennt zu haben/ und dennoch in allen Stücken der Verderbniß mich gleich zu stellen. Denn ob ich wol in einigen zuerst aus allerhand Bewegnissen mich accomodirt304 gehabt/: so hat doch die dabey erlittene Hertzens-Angst mir es nach und nach nicht zugelassen/ und auch dißfalls den Zwang305 angeleget/ die Freyheit des Gewissens zu ergreiffen. Welches gewißlich nicht von mir selbst/ sondern von der aus so gewissen Urkunden und Zeugnissen durch den H. Geist geschenckten Er- [B11r] käntniß des Verfalles306 hergerühret/ und folglich auch aufrichtigen Gehorsam mit Verleugnung aller Menschen-Gunst und Ehre307 erfordert hat. Je höher ich demnach die nach dem Willen GOttes und dem Muster der ersten Christen eingerichtete Versammlung wahrer Gläubigen halte/ und mit allen Kindern GOttes/ nach der alten Reinigkeit und Unschuld verlange: je mehr muß ich allerdings die in dem gemeinen Kirchen-Dienst eingerissene grosse Mißbräuche/ 297 Vgl. Büchsel (Anm. 29), S. 109. 298 Vgl. Luk 17,20.21.23. 299 Joh 4,23. 300 Vgl. Büchsel (Anm. 29), S. 47–48, S. 164 (aus verschiedenen Phasen Arnolds). Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), Buch I.1, S. 37–58 mit Erläuterungen S. 141–146 „Von der Menschen wahren Bekehrung zu GOTT.“ 301 Siehe unten S. 236,27-30. 1Petr 2,15. 302 es bewenden lassen. 303 Siehe oben S. 227,19/20. 304 angepaßt. 305 Hier ‚positiv‘ konnotiert (im Sinn von δει?). 306 Zu diesem großen Thema Arnolds vgl. Büchsel (Anm. 29), S. 87–90. 307 Vgl. unten S. 238,15/16.

§§ 34–36

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Heucheley/ Opera operata308 und lautere Menschen-Satzungen/ ja den durchgehenden äussersten Verderb bekennen und von Hertzen bedauren. 36. Angesehen ja die heutige Anstalt309 in denen Kirchen (besage* so vieler offenbaren Klagen)* nicht alleine nach den meisten Stücken/ dürfftig und unfruchtbar/ sondern auch wegen der vermengten groben Heucheley und des Operis operati dem wahren Christenthum hinderlich/310 und von denen ersten reinen Versammlungen311 gantz entfernet ist. Und gesetzt/ daß dieses alles denen ungeübten Sinnen zu einiger Zucht312 und Anführung313 dienet/314 auch in dieser Absicht keine einige Verkündigung der Wahrheit verachtet werden kan: so wäre doch hertzlich zu wünschen/ daß man auch Früchte von solchen [B11v] gewöhnlichen Lehren sähe. Imgleichen/ daß auff die/ welche Christum anderst gelernet und in ihm von der Wahrheit gelehret sind/ nicht mit dem geringsten Zwang gedrungen würde. Zumalen man solche von Gott gelehrte Seelen ja nimmermehr überreden wird noch kan/ daß solcher vermeinter Gottesdienst von Gott selbst in seinem Wort befohlen und ihm also gefällig sey: welches alles hier auszuführen allzu weitläufftig und im ersten Christenthum zur Gnüge geschehen ist.315 Da nun dieser gemeine Weg aller Welt (dergleichen der Kirch-Weg316 ist.) ohne dem von Gottlosen und Heuchlern zu ihrer Beschirmung mehr als zu eiffrig betreten und als der einige Himmels-Weg verfochten wird; so mag hierbey schwerlich die Besorgung317 eines Anstosses Platz finden/ wo ihn diejenigen/ welche Christus befreyet hat/ verlassen. Gestalt318 der HErr JEsus von solchem Pharisäischen Aergerniß weißlich geantwortet hat. Daß man Blinde und Leiter der Blinden319 fahren und ihren Vätern immerhin nachlauffen lassen solle: Weil doch ohne dem alle Pflantzen/ die GOtt selber nicht durch seinen Geist gepflantzet hat, ausgerottet werden.320 Er selbst hat/ so offt er noch im Tempel gewesen/ den Greuel der Verwüstung321 bestrafft/ 308 mechanisch, ohne innere Beteiligung vollzogener Gottesdienst. 309 im Blick auf den heutigen Zustand. 310 Goeters (Anm. 123), S. 253. 311 Vgl. Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), (I.2,1–15) S. 10,1–24. 312 Erziehung. 313 Hinführung. 314 der äußerliche Gottesdienst als pädagogische Hinführung zum wahren Christentum für die Ungeübten. 315 Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 10,1–24. Siehe S. 227,19/20. 316 Weg des äußer(lich)en Kirchentums. 317 Sorge vor, Befürchtung. 318 zumal. 319 Matth 15,14. 320 Büchsel (Anm. 29), S. 177–178: Arnolds später mildere Ansicht zur vermischten Gestalt der Kirche. 321 Matth 24,15. – Vgl. G. Arnold an Johann Heinrich May, Quedlinburg 23.5.1698; Mack (Anm. 124), S. 197–200, hier S. 198,14–15: „Die Greül der Verwüstung sind zur Genüge offenbar [...].“

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abgethan oder mit [B12r] Frag und Antwort gezeiget/ welches itzo keine Stat findet. 37. Allermeist ist es denen so theuer erkaufften322 Seelen nicht übel zu deuten/ wenn einige Creatur aus Einbildung ihrer Macht/ Erleuchtung oder anderm Schein die Herrschafft über jener ihren Glauben und Gewissen/ behaupten will. Damit die Kinder des neuen Bundes auch nicht eine Stunde weichen unterthan zu seyn denen/ die von Natur nicht Götter und also zu herrschen nicht befugt sind/ auch sich dißfalls nicht als Diener und Freunde des Bräutigams323 erweisen. Sintemal sie sonst mit grossen Freuden/ wie Johannes/ erkennen würden/ wenn eine Seele durch die Zeugnisse der Schrifft und Predigten zu dem HErrn selbst wahrhafftig gekommen/ und selbst gesehen und erkant hätte/ daß er sey der einige Meister/324 die andern aber alle Brüder.325 Ach der getreue Heyland öffne einem jeden die Augen zu erkennen/ ob seine wahrhafftigen Schaaffe sich noch in alle die väterlichen weisen Ordnungen und Formen schicken können/ nachdem sie das höchste Guth selbst gefunden und erwehlet/ das ihnen soviel blutiges Ringen und Sterben gekostet hat! Es reichen ja menschliche Vorschrifften/ Auslegungen/ Lehren und Muster [B12v] bey dem tieffsuchenden Geiste JEsu Christi nicht zu/ vor dessen hellem Liecht keine Entschuldigung von guter Meinung/ Menschen-Gefälligkeit und andere Absichten gelten/ sondern der alleinige ausgedruckte vollkommene Wille des Vaters. Wenn das Feuer manches Werck solcher Ubungen prüfen wird/326 so möchte wol besorglich von den meisten wenig oder nichts unverzehrt bleiben. Einmal kan niemand einen anderen Grund legen/ denn der schon geleget ist/ welcher ist Christus:327 Wer darauff bauet/ wird wohl bleiben. Denn er ist auff einem Eckstein328 und Felsen329 gegründet. Wem aber dieser Stein ein Stein des Anstosses330 wird/ den wolle er so lange zermalmen und zerknirschen/ biß er mit so zerschlagenem Hertzen331 zu dem Heylande selbst kommt. Den Bauleuten aber so da gerne bauen/ und doch diesen Stein nicht annehmen332/ sondern in den Seinigen verwerffen/ wolle er endlich ein Wunder werden vor ihren Augen/333 und in ihren Hertzen/ daß sie sich an ihm nicht mehr stossen sondern auffrichten und ewiglich leben! 322 1Kor 6,20; 7,23. 323 Vgl. Joh 2,3–5. 324 Matth 23,8. 325 Matth 23,8 Ende. 326 1Kor 3,13. – „Ubungen“ wohl auch im Sinn von Bemühungen. 327 1Kor 3,11. 328 Eph 2,20; 1Petr 2,6f. 329 1Kor 10,4. 330 Röm 9,33; 1Petr 2,8. 331 Jes 57,15. 332 Vgl. Ps 118,22; Matth 21,42 parr; Apg 4,11; 1Petr 2,7. 333 Vgl. Joh 12,37.

§§ 36–38

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38. Lutherus redet an einem Orte sehr bedenklich von einer Seelen/ die Christum selbst „gesehen/ wie sie darinnen so viel kriege/ daß sie sein nimmer genug sehen und hören könne/ und [C1r] auch nichts dafür begehre zu sehen/ zu lernen noch zu wissen/ was man predige/ singe oder sage. Ja sie lasse alle Dinge fürüber gehen/ als höre und sehe sie nichts/ u.s.w. Und anderswo saget er insonderheit vom 5 Abendmahl daß man nicht verdammt sey/ wo man ohne die Sacrament bleibe/ und sich nur sonst in Gottes Wort/ Glauben und Liebe übe.“ Item das Sacrament könne nicht leiden/ daß man die Leute hinzu treibe und zwinge.334 Welche Aussprüche/ wie sie dem Evangelio allerdings gemäß sind/ so haben sie unter diesen im Grund verderbten Gemeinen desto mehr statt/ je mehr sich die Ursachen dazu 10 leider! so gar handgreifflich angeben. Denn welcher wahrer Christe kan wol ohne Jammer und fester Resolution335 sich rein zu bewahren sehen/ wie nicht nur aller Kirchendienst/ sondern auch insonderheit das Abendmahl mit so unendlichen Greueln geschändet worden? Indem allda die grösseste Kleider-Pracht/ Praece334 G. Arnold stützt sich besonders auf den frühen Luther (dazu siehe Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus [Anm. 87], Bd. 2, S. 391–437, hier S. 414 mit Anm. 174 auf S. 434; Seeberg: Arnold Auswahl (Anm. 223), S. 107. – Vgl. Keding (Anm. 157), S. 12, für den späten Arnold und den Kleinen Katechismus, wie aus verschiedenen einschlägigen Luther-Zitaten zu den Sakramenten und zur Beichte im Anhang von OB 1700 (Anm. 194), [F11]v – G2v hervorgeht; z.B. OB 1700, [F11]v: „Das Sacrament kan nicht leiden/ daß man die Leute hinzu treibet und Zwinget/ sie sollen durchs Evangelium gelehret von ihnen selbst aus hungrigen Glauben darum bitten und dringen.“ (= WA [Weimarer Ausgabe] 10 II, 38,13–15; 1522). Vgl. weiter WA 10 I 2, S. 175,32 – 176,3 (1521) entspricht OB 1700, [F12]r/v. Aus Luthers „Von beiderlei Gestalt des Sakraments zu nehmen“. 1522. WA 10 II, S. 1–41: WA 10 II, S. 22,19–24 entspricht OB 1700, G2r. WA 10 II, S. 30,22–25 (1522) entspr. OB 1700, G2r. WA 10 II, S. 30,28 – 31,3 (1522) entspr. OB 1700, G2v. WA 10 II, S. 31,1–3 (1522) entspr. OB 1700, [F11]v/[F12]r. WA 10 II, S. 32,22–24 entspr. OB 1700, G1v. Bekenntnisschriften ... luth. (Anm. 83), S. 505,48 – 507,14 referiert in OB 1700, [F12]v–G1r. Bekenntnisschriften ... luth. (Anm. 83), S. 505,19–27; S. 503,43f. und S. 502,5–9 in OB 1700, G1r/v textnah referiert. Siehe Dörries (Anm. 4), S. 103–104, Arnold zu Separation und Abendmahlsteilnahme ohne „Notzwang“. Ebd., S. 112, zum Abendmahl als äußerlichem Hilfsmittel für die „Schwachen“. Ebd., S. 163–164 und S. 173, Hinweis auf Makarios. Arnold zusammenhängend in „Erklärung“ (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 23). Vgl. Büchsel (Anm. 29), S. 114, S. 182–184. Keding (Anm. 157), S. 99 § 50; S. 113 mit Anm. 268–272; S. 197. – Luthers Kirchenpostille zieht Arnold in OB 1700, G1v heran. 1710 erschien Arnolds Neuausgabe von Speners Edition der Lutherschen Kirchenpostille (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 58; Exemplare siehe Keding [Anm. 157], S. 13 Anm. 108). 335 Entschluß, Entschiedenheit.

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dentz-Streite/336 Heucheley und Sicherheit ungescheuet getrieben/ das äusserliche Werck zum einigen wahren Gottesdienst und Grund aller Seeligkeit gemacht/ und nicht nur alle Gottlosen ohn Unterscheid dazu gelassen/ sondern auch Gewissenhaffte/ erleuchtete oder auch beängstigte Seelen [C1v] gezwungen werden wollen. Woraus gewiß solche Hertzen nicht anders können/ als durch wirckliche Enthaltung oder Entziehung diese Greuel zu bestraffen/337 und sich selbst frembder Sünden nicht theilhafftig zu machen.338 Zumalen der Apostel auch befohlen/ mit solchen/ die bey ihren offenbaren Sünden sich noch Brüder nennen/ auch nicht eine gemeine Mahlzeit/339 geschweige den Tisch des HErrn zu geniessen.340 Aus welcher Treue und Gehorsam denn an statt des besorgten Anstosses oder Mißbrauches vielmehr eine ernstliche Besserung und Uberzeugung der Irrenden zu hoffen stünde/ die sonst durch alle Gleichstellung341 nimmermehr erhalten werden kan. 39. Und so viel habe ich dißmal von denen Ursachen/ wodurch ich in besagter Lebens-Art zurück gehalten worden/ entdecken können/ ob sie wol eine weitere und gnugsame Ausführung nöthig hätten. Ich habe aber bereits erwehnet/ wie mich nun nach Entledigung der bißherigen Dinge nicht allein nach dem Innern/ sondern auch im äusserlichen etwas nöthigers dringe/ woran ich sonsten mercklich gehindert worden. Nehmlich in diesem lieget mir die oben gedachte Untersuchung noch sehr an: welche denn so gar häuffig und weitläufftig auch nothwen- [C2r] dig und dienlich sind/ daß einer wol Zeit Lebens darinne nach Gottes Willen zu thun hätte. In Erwegung dessen/ und da ich ohne dem meine äusseren Kräffte dazu gewidmet gehabt/ habe ich freylich der andern Arbeit mich unterziehen müssen: alldieweil diese guten Theils mit in Erzehlung derer Heydnischen weltlichen Geschichten bestehen solte.342 Denn dieses mag ja leichte ein anderer auch thun können: jenes aber dienet durch öffentliche Vorstellung mehr zum gemeinen Nutz/ als wenn es nur einigen absonderlich vorgeleget wird. Und ob man wol meinen möchte/ ich auch selbst offt gehoffet/ durch diese und jene moralia und Vorstellung der göttlichen Providenz könte die Weltliche Historie noch zu Nutz angewendet werden:343 so hat doch mir meines Orts auch dieses kein Genügen gethan/ der ich an Statt solches Stückwercks gerne nur den geraden Weg zum wahren Heil in Christo mit andern erkant und gelauffen wäre. Daß ich demnach unter denen auswendigen Verrichtungen die gedachte weitere Entde-

336 Streit um die Reihenfolge beim Gang zum Abendmahl. 337 Siehe unten S. 252,23. 338 1Tim 5,22. 339 1Kor 5,11. 340 Vgl. 1Kor 11,27.29. – Siehe oben S. 221,27/28. 341 indem man sich ihnen gleichstellt, mit ihnen Gemeinschaft hat. 342 Büchsel (Anm. 29), S. 121–122. 343 Vgl. S. 232,8-12.

§§ 38–40

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ckung344 der Kirchen-Geschichte in gehöriger Freyheit des Gewissens/ so lang es Gott gefallen mag/ vor die zulässigste und beste ansehen müssen. [C2v] 40. Die vornehmste und allernöthigste Verrichtung aber wolle der HErr JEsus/ Krafft seiner wahren Vereinigung und Gemeinschafft im Glauben und Liebe das Werck der Herwiederbringung des verlohrnen Ebenbildes345 in ernstlicher Absterbung und Ersäuffung des alten Menschen346 und Vollendung der neuen Creatur347 seyn lassen.348 Hieran/ meine ich ja/ findet ein nach seinem Vaterland wiederum eilender Frembdling seiner und anderer wegen schon so viel zu leiden und zu fassen durch die Krafft des ewigen Liebes-Geistes Christi/ als Lebenslang nicht genug geschehen mag. Und welcher wolte noch den Nahmen eines Christen behaupten/ und es dennoch einer Hungrigen Seelen verdencken/ wenn sie nach diesem einigen nothwendigen349 alles andere nicht nur vor Koth achtete350/ sondern auch gantz vergässe und also Christo bloß nachfolgete? Ich finde durch alle Geschichte von Anbeginn der Welt nichts anders/ als daß dieses die geradeste und gesegnetste obwol allerschwerste Lebens-Art oder vielmehr Todes-Ubung derer Heiligen351 endlich geworden/ daß sie mit Hindansetzung aller zeitlichen Dinge in einem abgeschiedenen Leben352 sich auff den Eintritt in die Ewigkeit von GOtt bereiten lassen.353 Dieser Uralte erste und beste Weg/ wie* [C3r] er das sanffte Joch Christi JEsu354 bey den allerwichtigsten Processen der Leiden Christi ist/ also ist er so gar von vielen Zeiten her unter uns vertreten und verdunckelt blieben/ daß man keine Spur davon finden kan. Ungeacht ihn Christus selber mit denen H.[eiligen] Aposteln wircklich gebahnet/ und so viel 1000. Märtyrer/ Asceten Einsame und andere wahre Christen gelauffen haben.355 Alleine nachdem der Widerchrist aus diesem Evangelischen Befehl Christi von Verläugnung und Verlassung aller Dinge356 sein Gesetz-Zwang und Heuchlerisches Mönch-Wesen gemachet: haben sich diejenigen/ so diesen Verderb erkant/ auff der anderen Seite desto fleissiger in die Nahrung geschickt;357 Wobey also die erste Lauterkeit auff 344 Aufdeckung, Enthüllung, Entlarvung. 345 Vgl. unten S. 242,1. 346 Kleiner Katechismus; Die Taufe. Bekenntnisschriften ... luth. (Anm. 83), S. 516,32–36. Vgl. unten S. 251,19-21. 347 Vgl. 2Kor 5,17; Gal 6,15. 348 Vgl. Kol 3,9–10; 2Kor 5,17. 349 Siehe oben S. 216,13. 350 Phil 3,8; siehe oben S. 229,24. 351 Einübung in das Mit-Christus-Sterben. 352 Siehe unten S. 241,1-3. 353 Seeberg (Anm. 53), S. 209 mit Anm. 4. 354 Matth 11,30. 355 Arnold: Erstes Marterthum. 1695, erweitert ²1738 (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 5.1–2). Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 11,23f.; S. 13,7–9. 356 Vgl. Luk 9,23. 357 sich um das äußerliche, leibliche und weltliche Leben gekümmert.

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keiner Seite hervorbrechen/ noch das Muster derer alten Heiligen offenbahr werden mögen/ die da herum giengen in Löchern und Höhlen der Erden/358 und derer die Welt nicht werth war. 41. GOtt gebe aber nun nach seiner überschwenglichen Erbarmung/ daß es nicht als irrig und übel angesehen werde/ wo ja einige wircklich zu erfüllen trachten wollten/ was immer gesungen worden: Daß wir noc h hier auff dieser Erden den S inn und al le Begierden und Gedanken zu ihm haben 3 5 9 sol len. [C3v] Und abermal: Daß sonst al le Z eit verder be ausser denen Stunden/ darinne man sein gedenckt.360 Wiewol freylich von dem alten Menschen und dessen Arglistigkeit und Eigen-Liebe kein ander Urtheil zu erwarten steht: indem ja dieser lieber alles thut und leidet/ wenn er nur nicht allen Dingen gäntzlich entsagen und absterben darff.361 Er stecket sich lieber hinter aller äusserliche Heiligkeit und scheinbare362 Dienste gegen GOtt und Menschen/ preiset diese vor das beste heiligste/ nöthigste und genugsamste/ ja er treibet wohl selber nach dem Gesetz und Buchstaben die Nachfolge363 und Verleugnung sein selbst364. Aber er selbst hat nicht allein nur den Schein hievon/ sondern kan auch an andern kein ernstliches blutiges Ringen und Eindringen durch die enge Pforte365 leiden oder dabey gedultig seyn. Die Beysorge/366 daß er mit dem Creutz Christi nicht verfolget werde/ treibet ihn/ daß er lieber ein Jude wird/ und sich beschneiden und unter alle Satzungen verwahren lässt/ nur daß ihm an seiner Gemächlichkeit/367 Respect und Vortheilen nichts abgehe. Womit man aber* eben vollends alle Gnade verlieret 358 Siehe unten S. 240,19-22. 359 Vgl. Strophe 5,5–7 in Elisabeth Cruciger (ca. 1500–1535): „Herr Christ der eynig Gotts son“: „[...] Wol hie auff dyser erden/ den synn vnd all begerden/ vnd dancken han zu dir.“ Das Erfurter Enchiridion [...] 1524 [...]. Faksimile-Druck mit einem Geleitwort von Konrad Ameln. Kassel [u.a.] 1983, [B3]r. 360 Strophe 5,3–4 in Ludwig Helmbold (1532–1598): „Von gott will ich nicht lassen“: „[...] das ist ein selge Stunde, / darin man sein gedenkt; [...].“ Evangelisches Gesangbuch Nr. 365, Strophe 5. – Vgl. Ps 45,18. 361 darff im Sinn von bedarf; muß; soll. 362 scheinbare: groß erscheinende. 363 Vgl. Matth 16,24. 364 Zur im Pietismus breit reflektierten „Selbstverleugnung“ äußert sich der schließlich separatistische Pietist Johann Jakob Schütz (1640–1690) ausdrücklich in einem Brief an Johanna Eleonora Freifrau von und zu Merlau vom Dezember 1676; Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, S. 114–115 mit Anm. 281, 282. – Arnold selbst ausdrücklich in Wahre Abbildung/ des inwendigen Christenthums (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 52.1); Seeberg: Arnold Auswahl (Anm. 223), S. 447–449. Vgl. oben S. 213,10. 365 Matth 7,13; Luk 13,24. 366 Sorge wegen, Vorsorge vor, Vorsicht gegenüber, Besorgnis. Vgl. Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, Sp. 1394. 367 Siehe unten S. 248,22.

§§ 40–43

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und mehr ab- als zunimmt/ weil der Geist der Gnaden geschmähet368 wird/ wie es leider! bey vielen am Tage ist. [C4r] 42. Sobald denn solche arme Seelen an anderen einen Ernst sehen/ wie sie dem Himmelreich Gewalt zu thun369 trachten/ und sich mit Schein und Worten nicht aufhalten lassen: so müssen sie es freylich um ihrer Sicherheit willen andern unter allerhand Vorwand verdächtig und gefährlich vorstellen. Wozu ihnen denn dieses bey Unwissenden und Irrenden viel Glauben machet/ weil die rechten Jünger Christi den gemeinen Irrweg aller Welt verlassen/ und hingegen seinen eigenen oder ungemeinen Weg/ nehmlich den schmahlen/ dornichten370 und deßwegen so seltzamen Creutzes-Weg371 nach JEsu Christo lauffen. Von welchem er selber saget/ daß ihr wenig ihn finden372 und also selig werden: Die also nothwendig auch vor dem andern grossen Hauffen eigene Gnade und Krafft geniessen/ wovon Vernunfft/ Gewohnheit/ Heucheley/ Selbst-Liebe/ Mund-Geschwätze/ ja alle Welt nichts weiß. Welchen auch ebenfalls dorten die Pharisäer an Christo und seinen Jüngern verwarffen/ als er auch nicht den gemeinen Weg/ sondern den eigenen in Enthaltung aller Dinge bey dem innern Todes-Kampff gienge: deßwegen man noch in Stephani373 und anderer letzten Leiden374 durchgehends solche dahin abzielende Ankla- [C4v] gen findet: Sie hätten die vermeinte heilige Stätte verachtet und verlassen. 43. Meines Orts gestehe ich gerne/ daß mich bey ehmaliger Untersuchung der alten Geschichte die Exempel der ersten Christen/ und darunter derer Einsamen und Asceten oder Ubenden375 gewaltig beschämet: wenn ich offte mich und andere neben mir noch so träge und zärtlich/376 und dahero bloß und jämmerlich/ jene aber als triumphirende Könige und Priester vor GOtt erblicket habe. Da mir dann freylich nicht genug seyn können/ daß ich davon historisch gezeuget/ und andern solche erste Herrlichkeit angepriesen. Sondern eben dieses schmertzte mich so hefftig/ daß ich so vieles von dem innersten Verderb der Kirchen/ der hohen und anderer Schulen/ ja der gantzen Christenheit erkant/ und doch in vielen nur mit Worten und nicht mit wircklicher Enthaltung377 bekant habe.378 Zumaln wenn viele mich freywillig versichert gehabt/ wie sie nimmermehr geglaubet/ daß ich bey solcher Erkäntniß und öffentlich abgelegtem Zeugniß noch in ein ordentlich Amt/ und die damit verknüpfte Satzungen eingehen würde. Welches alles mir 368 Hebr 10,29. 369 Matth 11,12. 370 dornigen. 371 Vgl. Matth 7,14. Vgl. Matth 16,24. 372 Matth 7,14. 373 Apg 6–8. 374 Vgl. Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 11,23f.; S. 13,7–9. 375 Siehe oben S. 237,22/23. 376 verzärtelt. 377 Enthaltung von der Welt, Askese. 378 Vgl. Büchsel: Wandlungen (Anm. 2), S. 151–153.

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neben denen inwendigen Zeugnissen gewiesen/ wie leichte man doch auch [C5r] von dem festesten Vorsatz abkommen und gefangen werden möge. 44. Daß ich aber von der gedachten alten Lebens-Art der ersten Christen nur etwas gedencke/ so ist zu wissen/ daß diese zwar379 anfänglich bey denen grausamen Verfolgungen hin und her unter den Heyden zerstreuet blieben/ aber doch von den Feinden stets deßwegen angeklaget/ gelästert und gemartert worden/ als ob sie das gemeine und Haußwesen380 auffhüben/ weil sie (nach* der Lehre Christi)* nicht in alle eitele Dienste/ Geschäffte und Zerstreuungen mehr eingiengen.381 Dahero man so viel Klagen der Heyden lieset: Die Christen wären die schädlichste Leute auff der Welt: sie machten/ daß die Eheleute ihre Pflichten/ die Kinder ihren Gehorsam/ Unterthanen ihre Arbeit/ das Gesinde seinen Dienst verliessen/ und alles zerrüttet würde. Nachmals da unter der angehenden* äussern Ruhe und Sicherheit die gemeinen382 laulich383 wurden/ und viele sich wieder in die Nahrung schickten/ und dabey des Lebendigen Christenthums vergassen: richtete der Satan mehr Jammers hierdurch an/ als durch alle äussere Drangsalen. Denn er kam ihnen mit Ehren-Aemtern/ Beqvemlichkeit/ Uberfluß und Reichthum bey/ unter dem Schein die Heyden [C5v] zu gewinnen/ und das Christenthum fortzupflantzen. Als nun die Heucheley überall einriß; sahen viele/ daß sie unter diesem Hauffen nicht unbefleckt bleiben könten/ und erwehlten dahero lieber in den Einöden/ Wüsteneyen/ Hölen und Löchern der Erden/ in Peltzen und Ziegenfellen herumzugehen384 und ein stilles abgezogenes und bescheuliches385 Leben zu führen. Wozu denn unter Diocletiano der Anfang durch eine seltsame Gelegenheit gegeben ward/ wie in der Abbildung zu ersehen/386 und hier nicht umständlich auszuführen ist. 45. Nach der Zeit haben nicht nur viele tausend solche Lebens-Art fortgesetzet/ sondern auch einige berühmte Lehrer selbst/ theils aus Uberdruß derer vielen Zerstreuungen/ theils aus Verlangen sich vor dem allgemeinen Verderbniß rein

379 allerdings (?). 380 Gesellschaft und familiäre Ordnung. 381 Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 11,15–20. 382 Gemeinden. 383 Vgl. unten S. 255,7. Zu vergleichbaren Ausführungen in KKH (Anm. 85) siehe Dörries (Anm. 4), S. 15. Zu ,Verfolgung als Folge der Geist-Gegenwart‘ und als Weg zur Vollendung siehe ebd., S. 179, S. 188–189, S. 196. 384 Siehe oben S. 238,2-3. 385 (von der „Welt“) zurückgezogenes und beschauliches Leben. Vgl. auch S. 207,10/11; S. 213,10; S. 214,14. 386 Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 11,21. – Vgl. Gottfried Arnold: Kurtz gefaßte Kirchen-Historie des Alten und Neuen Testaments. Leipzig (²)1700 (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 10.2. Insgesamt 5 Auflagen 1697–1737), S. 171, § 3. KKH 1729 (Anm. 85) I.1,2, S. 136–137 (Buch 4, I. Cap., § 5).

§§ 43–46

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zu bewahren erwehlet: Also hat unter vielen andern Gregorius Nazianzenus387 und Basilius Magnus388 die grössesten Kirchen-Aemter sehr offt nidergelegt/ und das stilleste einsamste Leben erwehlet.389 Man hat es auch diesen allen so gar nicht verarget/ dz solche ungemeine Resolution390 ihnen von den andern nachgerühmet und zum Exempel vorgestellt und angenommen worden. Unangesehen Grego- 5 rius sonderlich sehr scharffe Zeugnisse wider die [C6r] Heuchler und verdorbene Lehrer publicirt/ und sonst von dem eingerissenen Verfall sowol als von der Nothwendigkeit der wahren Verläugnung391 gewaltig gezeuget hat.392 Der heilige Macarius hat eben solchen Weg nicht nur stets betreten/ sondern auch andern gewiesen/ und in seinen nun bekanten und verteutschten Homilien solche Ge- 10 heimnisse des Lebens Christi dargelegt393/ davon man noch biß dato kein Muster finden wird. 46. Wer nun den gedachten Zustand der Kirchen zu selbigen Zeiten in selben grossen Revolutionen von der ersten Brünstigkeit394 auff das Weltförmige Wesen mit den jetzigen weißlich395 zusammen hält: wird leichtlich die Rechnung machen 15 können/ ob es einer Gottbegierigen Seelen/ welche die Weite und Breite der Liebe 387 Gregor von Nazianz, ca. 329 – ca. 390, früh mit Basilius d. Gr. befreundet, hochgebildet, nur kurz Kirchenpolitiker, Vf. u.a. von theologischen und pastoralen Reden. Vgl. Goeters (Anm. 123), S. 253. 388 Basilius d. Gr., 329/330–379, 370 Bischof. – Gregor und Basilius rangieren in Arnold: Abbildung (Anm. 34) unter 132 zitierten Kirchenvätern an 10. und 13. Stelle. Dörries (Anm. 4), S. 209–210. 389 Siehe Büchsel (Anm. 29), S. 193, Arnolds Hinweis auf den Rückzug vieler Lehrer in die Einsamkeit vor Übernahme eines Amtes. Vgl. Dietrich Blaufuß: Reichsstadt und Pietismus – Philipp Jacob Spener und Gottlieb Spizel aus Augsburg. Neustadt a.d. Aisch 1977, S. 102–109, zu Gottlieb Spizels (1639–1691) Schrift „Pius literati hominis secessus“ (1669, ²1685) und ihrer Wertung bei Ph. J. Spener und anderen. Zum Wort(um)feld siehe Langen (Anm. 87), S. 141 („abgschiedenheit“ bei Arnold!), S. 403. Vgl. Marti, oben S. 134 mit Anm. 18. 390 ungewöhnlicher Entschluß. 391 Selbst- und Weltverleugnung, „Verleugnung sein selbst“; vgl. Mark 8,34; Matth 16,24; Luk 9,23. Siehe oben S. 238,15. 392 Gregor von Nazianz, siehe KKH 1729 (Anm. 85), S. 171 (Buch 4, IV. Cap., § 41): zum Amtsverzicht veranlaßt ihn „der elende zustand der Lehrer und gantzen gemeinen selbiger zeit, da alles in grund verderbet war, und dem guten manne wol angst und bange dabey werden mochte, wenn er so viel böses sahe, und dennoch nicht helffen, noch sein gewissen in allem bewahren konte. Weswegen er lieber weit davon zu seyn erwehlete, und die wunden der verfallenen Christenheit vor unheilbar ansahe, gleichwie es auch wircklich immer ärger und endlich ein verzweiffelt böser schade biß auf die stunde worden ist.“ 393 Arnold (Übersetzung): Des Heiligen MACARII Homilien. 1696 (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 8.1–7). Dörries (Anm. 4), S. 148–193, besonders S. 168, S. 192. 394 Liebe. 395 weise.

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GOttes zu der gantzen Herwiederbringung des verlohrnen Ebenbildes GOttes396 einsiehet/ vor übel gehalten werden möge/ wenn sie ungeacht*397 alles Widerspruchs sich GOtt alleine und gantz auffopffert. Ungeacht sie sonsten nichts bey sich findet/ darnach sie mit diesen Männern könte verglichen werden. Das grösste Vorurtheil mag freylich wol bey allen dieses seyn/ daß man gleichwol kein Exempel hievon sehe/ und doch von der Frömmigkeit genug geredet und [C6v] geschrieben* werde. Alleine eben hierinne liegt der gröste Betrug/ daß viele ja die meisten wohl ihr Christenthum in Worten/ Geberden/398 äusserlichen Ubungen399 und natürlich-guten Wercken setzen/ auch die theuersten Zeugnisse Christi und seiner Apostel nachsprechen: aber in der That sich vor dem Creutze Jesu und dem wahrhafftigen ernstlichen Absterben400 fürchten/ und dahero auch kein Leben in sich haben.401 Denn die Schlange die Hevam betrog/402 kan sich in alles verstellen/ und den grössesten Schein403 der Frömmigkeit annehmen: aber bey dem Creutze und Tode Christi findet sie ihren Untergang. Und dieses ist der wahre Grund von allem itzigen404 Elend der so sehr überhand nehmenden Verführung/ Heucheley/ scheinheiligen Worte und geistlichen Hoffart/ wie auch derer daraus entstehenden falschen Urtheile von geistlichen Dingen. 47. Dergleichen werden nun vermuthlich auch über diese meine Veränderung405 ergehen/ und alle diejenigen/ welche noch kein reines und von Christo selbst hellgemachtes Auge haben/ werden mich nach ihrem Sinn beurtheilen. Ob nun wohl niemand weiß/ was im Menschen ist/ ohne der Geist des Menschen selbst406: so wollte ich doch selbst dagegen auch nichts anders gerne vorgebracht haben/ als was zur Entdeckung der [C7r] heiligen Wege GOttes allein dienen möchte: welcher ohn dem seine eigene Wercke nachdrücklich zu rechtfertigen407 weiß. Zum Grunde aber eines wahren Urtheils wünsche ich einem jeden ernstlich den lautern Sinn nach JEsu Christo/ und den einfältigsten Gehorsam des Glaubens408 nach aller seiner Lehre (ohne Widerstand/ Verdrehung und Vernunfftschlüssen) ausser welchem niemand einen andern Grund legen kan.409 Einer jedweden Seelen wird 396 Siehe oben § 40. 397 ohne Rücksicht. 398 Luk 17,20. 399 äußerlichem Verhalten; auch unten S. 246,25/26. 400 Röm 6,4–11. 401 Vgl. Joh 6,53. 402 1Mose 3,1–6. 403 Anschein. 404 jetzigen. 405 d. h. der überstürzte Weggang aus Gießen. 406 1Kor 2,11. 407 Siehe wieder unten S. 246,1. 408 Röm 1,15; 16,26. 409 1Kor 3,11.

§§ 46–49

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ohne dem ihr eigen Gewissen Zeugniß geben/410 ob sie alle u. jede Worte des Herren ohne Ausnahme/ Auffschub und Entschuldigung treulichst angenommen/ oder aus falschen Absichten und Eigen-Liebe/ Furcht vor Schmach und Schaden/ Menschen-Gefälligkeit und andern Tücken der Vernunfft zurückgegangen/ und die Worte JEsu von Absagung alles dessen/ was sie hat/411 vor allzuhart gehalten/ auch deßwegen nicht von gantzem Hertzen mit ihm gewandelt habe. 48. Denen nun/ welche meinen Weg einer verkehrten Begierde nach Ruhe/ leichterer Lebens-Art/ guten Tagen oder Müssiggang412 zuschreiben möchten/ kan ich vor dem Angesichte GOttes selber gute Versicherung geben/ daß mich vielmehr mein natürlich-geschäfftiges und Arbeit-seliges413 Wesen hievon völlig loßspricht.414 [C7v] Zumalen es ja auch vor der Welt offenbahr ist/ und noch ferner werden möchte/ daß mir der geringste Zeitverderb an mir und andern vor GOtt unvorantwortlich vorkomme. Ja ich habe in mir solche Ausbrüche415 der Lust zu Unruhe/ Verwirrung und Zerstreuung ersehen/ daß ich mich höchst genöthiget gefunden/ auch diese Eigenschafft der verderbten Seelen unter das sanffte und stille Joch Christi416 zu bringen/ und hingegen denen vielen Veranlassungen zu entziehen. Wozu der wahre Dienst des Geistes/ und die fleissige Sammlung aller Sinnen und Kräfften in der tieffsten Liebe JEsu Christi bey seinem geheimen Creutze und Tod mercklichen Vorschub thun kan/ so sie stets in der seligsten Gegenwart und Umgang mit ihm gestärcket wird/ der in unsern Hertzen durch den Glauben wohnen und wandeln will. Die Vernunfft und Heucheley mag nun dieses einen eigenen Weg oder sonst was nennen/ so weiß ich an welchen ich gläube/ und bin meiner Beylage417 gewiß. 49. Andere werden den ordentlichen Beruff418 vorschützen/ welcher ja auch freylich diesen oder jenen wohl binden und halten mag/ nachdem die Christen unter Constantino M. einmal in die Fußstapffen und Wege aller Welt Völcker [C8r] und Heyden/ und also auch in die von Heyden oder Papisten ersonnene Academische Aemter getreten sind.419 Es bleibet auch allerdings wahr/ daß ein jeder 410 Vgl. Röm 2,15. 411 Vgl. Mark 10,21. 412 Vgl. unten S. 248,22. 413 arbeitseifriges. 414 Vgl. Büchsel (Anm. 29), S. 27, zu Arnolds früher literarischer Tätigkeit. 415 Überhandnehmen. 416 Matth 11,30; siehe oben S. 217,4/5. 417 anvertrautes Gut, Evangelium, Glaube(nsgewißheit); vgl. 1Tim 6,20; 2Tim 1,12.14. – Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, Sp. 1377. 418 Orthodoxes Verständnis des rite vocatus. – Arnolds (später auszuformulierendes!) Amtsverständnis (Berufung!) siehe jeweils in seinen Antritts- /Abschieds- /Investitur-Predigten (vgl. Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 40.44.47; Blaufuß: Korrespondierender Pietismus [Anm. 222], S. 283–284, S. 288). Dörries (Anm. 4), S. 142–144. Büchsel (Anm. 29), S. 184–187. 419 Vgl. Dörries (Anm. 4), S. 30, S. 78; Büchsel (Anm. 29), S. 86–87.

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wandeln müsse/ wie ihn der HErr selbst beruffen hat/ nemlich mit einem göttlichenRuff/ welchen er im Hertzen auch unbeweglich versiegelt/ man sey in oder ausser dem äusseren Beruff. Nach diesem gebühret uns ordentlich/ oder wie er es selbst ordnet/ zu wandeln: Gesetzt/ auch alle weltliche menschliche Ordnungen/ Vocationes, Exempel/ Vernunfft und Natur dagegen wären oder damit einstimmeten. Niemand kan dieser höchsten Majestät ihre alles-übertreffende Rechte/ Vorsätze/ Befehle und Führungen disputiren oder dem Höhesten darein reden und fragen: Was machest du mit dieser oder jener Creatur?420 Sondern wie er spricht/ so geschichts/ wie er gebeut/ so stehets da421/ nach seinem Vorsatz und Gnade/ die seinen Verborgenen gegeben ist in Christo JEsu/422 in welchem er sie hat angenehm gemacht/423 und mit einem heil. Ruff beruffen.424 Ihm sey Ehre in Ewigkeit!425 50. Wiederum möchten einige alles dieses einer Singularität426 und Eigensinnigkeit zuschreiben: Denen ich dann wünschen wollte/ daß sie in solchem Feuer der Prüfung427 nur eine kurtze [C8v] Zeit stehen möchten/ biß sie nach ernstem Kampf die liebreiche Gewaltthätigkeit und Macht Gottes in der Seelen von eigenem Willen und Gesuch entscheiden428 lerneten. Wie gerne bliebe doch der alte Adam unter dem Lob der Menschen/ unter Ehre/ Titeln/ Wollüsten/ Bequemlichkeit stehen! wie willig unterwürffe er sich doch allem Menschen-Joch/ Gewohnheiten/ Ceremonien/ Formen/ Satzungen/ und Thorheiten! Wo ihm nicht der Starcke Zebaoth in der magnetisch-ziehenden429 Liebe des Sohnes zu mächtig würde/ und der Glaube sich als den Sieg erweisen könte/ der die Welt überwunden hat.430 Hingegen ist der in Ehren und Schein-Wesen auffgeschwollene genehrte und erhobene Eigensinn wohl werth/ daß er nun von Menschen gerichtet werde/ nachdem die Beschuldigungen und Urtheile derer Menschen allezeit mehr Grund in unserm Verderbniß haben/ als alle Titel und Lobsprüche der Welt an uns wahr sind. Zumal die Vernunfft diejenigen Widersprüche selbst im Hertzen alle erwecket/ die durch andere von aussen vorgeworffen werden.431 Was nun der Mensch an ihm selber in freywilliger Demüthigung nicht thut/ das müssen her420 Vgl. Jes 45,9. 421 Ps 33,9. 422 2Tim 1,9 „[...] uns [!] gegeben ist [...].“ Arnold: „seinen Verborgenen“, d. h. der unsichtbaren Geistkirche! Vgl. unten S. 245,26/27. 423 Eph 1,6. 424 2Tim 1,9 Anfang. 425 Röm 11,36. 426 Besonderheit, Sonderlichkeit. 427 Vgl. Dan 3. 428 unterscheiden. 429 Siehe oben S. 207,16. Vgl. Jer 31,3; Joh 6,44. 430 1Joh 5,4. 431 Vernunft entfaltet selbst alle Zweifel der Widersprüche, die durch andere vorgebracht werden.

§§ 49–52

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nach andere thun/ und das alte Wesen nach allen seinen Eigenschafften verdammen und verspeyen.432 [C9r] 51. Ich sorge/ es werden mir dieses alles was bißher bekannt worden/ die meisten nicht glauben/ und entweder vor eine allzuscharffe Tadelsucht solcher bey der Welt ansehnlichen Dinge/ oder vor eine Melancholey433 und Versuchung auslegen. Alleine jenes ist allen Zeugen Christi/ die von dem allgemeinen Verderben ohne Heucheley geredet haben beygemessen worden/ ungeacht sie der Geist GOttes dazu getrieben/ der die Welt immer bestraffet und warnet. Dieses aber/ nehmlich die vermuthete Versuchung/ ist auch ein gewöhnlicher Titel in solchen Dingen/ die man einer Formalen Ketzerey zu beschuldigen434 sich nicht eben getrauet/ und gleichwol als irrig und gefährlich beschreiben will: welche Methode von dem Ketzermachen435 nicht viel unterschieden seyn möchte. Es wird aber die Zeit/ und sonderlich der Tag des HErrn selbst entscheiden/ ob die wahrhafften Liebes-Wirckungen des Geistes436 JEsu Christi/ wodurch er die seinen zum einfältigen Gehorsam seines klaren Wortes bringet/ Versuchungen/ oder vielmehr recht ernstliche ewig-bestehende Wercke Gottes seyn. Hingegen ob nicht diejenigen Reitzungen und Stricke/437 damit die Seelen von dem besten Theil auff Eitelkeiten und Gleichstellung dieser Welt und ihrer Ehre/ Lüste und Vortheile durch den Ver- [C9v] sucher gezogen werden/ in Wahrheit Versuchungen seyn. 52. Und gesetzt/ daß auch Abraham biß zur Ermordung seines Sohnes versucht/438 und ohne Zweiffel damals/ wo es bekant worden wäre/ grausame Urtheile über ihn gefället worden: so ward ihm doch sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.439 Aber so weit ist es noch mit keinem in diesen Zeiten kommen/ und wir sehen noch kein Exempel der Alten unter uns/ die da biß auffs Blut gekämpffet440 haben/ nicht allein äusserlich im Marter-Stande/441 sondern auch über dem Kampff wider alle Sünde. Und doch ist sehr betrübt zu erfahren/ daß GOtt nach seinen wunderbaren Wegen mit seinen Verborgenen442 fast keinen Schritt ausser dem gemeinen Weg aller Welt thun/ oder solche Wercke wircken dürffe*/ die nicht mit dem allgemeinen Heuchel- und Schein-Wesen übereinkommen: darüber nicht sogleich als über greuliche Irrthümer/ Versuchungen/ Hoffarth/ Eigensinn und dergleichen 432 durch Ausspucken verächtlich machen. 433 Siehe oben S. 214,4. 434 Siehe Dörries (Anm. 4), S. 218 sub verbo ‚[...] Ketzerei‘; ebd., S. 80: Beispiele von Ketzerei-Vorwürfen Arnolds gegenüber Dritten. Vgl. auch ebd., S. 104. 435 Siehe Büchsel (Anm. 29), S. 86, zum ‚neuen‘ Ketzer-Bild in der KKH (Anm. 85). 436 Vgl. 1Kor 12,11. 437 Lockungen und Verstrickungen 438 1Mose 22. 439 Röm 4,3. 440 Hebr 12,4. 441 als Märtyrer. 442 verborgene Christen; siehe oben S. 244,9/10.

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geurtheilet wird. Doch wird der HErr seine eigene Wercke selbst rechtfertigen443 zu seiner Zeit/ und durch derselben Bestätigung und Erklärung die Seinen trösten/ die übrigen demüthigen und herzubringen. Wiewol er auch indessen mitten unter seinen seltsamen nie- [C10r] drigen Führungen ingeheim unaussprechliche Tröstungen darreichet/444 je mehr der Leiden Christi etwa seyn mögen. Und wenn dieses denen bekant werden würde/ die eine einfältige Seele vor unglücklich hiebey achten/ würden sie die Schrifft und die Krafft Gottes wohl verstehen lernen. Woher kömmt auch diejenige Angst und Bangigkeit/ so sich bey vielen anfänglich findet/ als aus dem Unglauben/ da man entweder aus eigener Verderbniß oder anderer Uberredung der* züchtigenden Gnade445 des H. Geistes nicht treulich folgen will. Indem es ja leider! mehr als zu gemein ist/ daß auch die Lehrer solche Krafft des Geistes dämpffen/446 und die armen bedrängten Seelen mit unzeitigem447 Trost einzuschläffern suchen/ der doch keinen Grund noch Bestand hat. Da man vielmehr solche Hertzen/ an denen Christus so gewaltig anklopfft/ ermannen448 sollte/ ihm aufzuthun449 und zu fragen/ was er wolle/ daß sie thun lassen oder leiden solten/ und sodann in allem willigst zu gehorchen/ gesetzt/ daß sie alles um seinet willen verläugnen/450 Schmach/ Schaden und Verwerffung leiden müsten. Alsdenn würde die vermeinte Melancholey451 von selbst wegfallen/ und Christus alleine ungehindert herrschen und den Menschen [C10v] führen können. Hingegen ists ein verkehrter Handel/ wenn solchen von Christi Liebe in die Enge gedrungenen Seelen die Anforderungen/ so sie in sich fühlen/ aus dem Sinne geredet/ hingegen allerhand äusserliche Wercke auffgeleget/ und ohne Absicht/452 ob der innere Grund lauter sey/ gepriesen werden zu Dämpffung des Geistes und Vernichtung des Werckes GOttes in ihnen. Worauff sie dann ihr Hertz durch das äusserliche zu stillen/ und ihren Frieden ja Gerechtigkeit und Gnugthuung in solchen Ubungen453 suchen/ die einem natürlichen Menschen immer möglich sind. Den wahrhafftigen Gehorsam des Glaubens aber/ die Reinigung des Hertzens/ die Liebe im Geist/ die völlige Verlassung aller Dinge/ und gäntzliche Nachfolge Christi454 vergisset man hierbey/ und bleibet auff dem Auswendigen liegen. Aus welchem Abfall von dem lautern Weg des Evangelii nicht alleine das Pharisäische 443 Siehe oben S. 242,23/24. 444 Vgl. 2Kor 1,4. 445 Tit 2,11. 446 zügeln, unterdrücken. – Vgl. oben S. 219,17; unten Z. 23; S. 250,21; S. 258,16. 447 unangebrachtem. 448 nur hier; kaum Setzfehler für „ermahnen“. Auch Ausg. 1699 (Anm. 1), S. 33. 449 Offb 3,20. 450 Matth 16,24. 451 Schwermut. 452 Rücksicht. 453 äußerliches Verhalten. 454 Matth 19,29.

§§ 52–53

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Judenthum und das gantze Werckheilige Pabstthum455 vor diesem entstanden/ sondern auch noch so viel Heuchel- und Schein-Wesen mit dem grösten Applausu der Vernunfft/ ja eine neue Möncherey456 entstehen möchte. 53. So wird es denn auch ferner mit Wahrheit keiner Ubereilung noch Ungedult beygemes- [C11r] sen werden/ wenn eine durstige Seele immer nach dem besten 5 und höchsten Guthe457 eilet/ und nach dem durch eine himmlische Beruffung vorgehaltenen Kleinod sich strecket.458 Wo die Arbeit dem vollkommenen allerheiligsten Willen GOttes nicht in allem gemäß/ hingegen nach der Vernunfft und alten Gewohnheit eingerichtet ist; kan derselben Verlassung keine Ubereilung heissen: Zumalen/ wenn keine Erleichterung des menschlichen Jochs in gehöriger Christ- 10 licher Gewissens-Freyheit erhalten werden kan. Und wer bey solcher Bewandniß und tausend Hindernissen sich keines himmlischen Evangelischen459 Segens und unverweßlicher Früchte in lebendiger Hoffnung versehen kan/ ist wohl schwerlich der Ungedult zu überführen/ da er sonst in dem wahren Dienst des Geistes und des Evangelii mit Freuden dienen würde. Die traurige Erfahrung giebts/ leider! 15 in handgreifflichen Proben/460 daß bey dem jetzt gebräuchlichen äusseren ScheinWesen so viel schwätzige/461 pharisäische/ schmeichlerische/ geistlich stolze und herrschsüchtige Geister erwecket werden/ die hernach zur Zeit der Anfechtung/ oder wenn GOtt sonst mit Ernst auff ihre Bekehrung dringet zurück und abfallen/ wie es die Exempel täglich zeigen. Ja man hält und preiset ge- [C11v] meiniglich 20 alle diejenigen vor fromm und bekehrt/ die um des Interesse462 oder Staats willen mitheucheln: daraus unersetzlicher Schade entstehen muß. Viele lernen einige Wahrheiten nachsprechen/ die Geberden und Stellungen annehmen/ Ceremonien mitmachen/ die Formulen und Redens-Arten in den Kopff fassen. Auch schicket 455 Papsttum, das sein Heil in den Werken sucht. 456 Mönchtum, mönchisches Verhalten. 457 Ps 16,15a. – Bartholomäus Ringwald (1530–1599) 1588 : „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut [...].“ Michael Schirmer (1606–1673): „NUn Jauchzet, all jhr Frommen, [...].“ Strophe 5,7–8: „Vnd thut dem König singen, | Der ist ewr höchstes gut.“ Albert (Friedrich Wilhelm) Fischer: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. 1.–6. Bd. Vollendet und hg. von W.[ilhelm] Tümpel. [Gütersloh 1904–1916]. Ndr. Hildesheim 1964. Bd. 3, S. 457–458, hier S. 458 Nr. 504:5. Johannes Olearius (1611– 1684) 1671: „Ach GOtt, mein GOtt, du höchstes Gut, | Du Brunnquell aller Gnaden | [...].“ Fischer-Tümpel Bd. 4, S. 350 Nr. 428:3. Johann Scheffler (1624–1677): „ICh will dich lieben, meine Stärke [...].“ Strophe 3,4: „[...] Du höchstes Gut und wahre Ruh!“ Fischer-Tümpel Bd. 5, S. 372 Nr. 414:3. Johann Jakob Schütz (1640–1690) 1689/1692: „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut [...].“ A. Deppermann (Anm. 364), S. 168–171. – Siehe oben S. 217,6; S. 227,13; S. 234,15; unten S. 259,10; S. 261,4/5. 458 Phil 3,14. 459 aus dem Evangelium kommenden. 460 Beispiele, Beweise. 461 geschwätzige. 462 wohl Nutzen, Vorteil, Eigennutz; Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 10, Sp. 2147.

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sich die listige Schlange463 in alles/ was etwa wo Ruhm oder andere Vortheile bringet/ daß der Mensch entweder selbst sich ohne wahre Vorbereitung unterwindet Lehrer zu seyn/ oder/ die solche sind/ loben und erheben hilfft/ damit sie ihm wieder einen Dienst thun/ sonderlich wo an einem Orte äusserlicher Schutz und Freyheit ist. Ob aber Christi Geist hiebey durch eine lebendige ewige neue Gebuhrt464 fortgepflantzet werde/ kan in Gerichten/ Kirchen/ Schulen und Familien von denen um Josephs Schaden465 bekümmerten Gemüthern wohl erkannt werden. 54. Ich will nicht sagen/ wie die meisten derer Zuhörer in Kirchen und Schulen in ihrem groben thierischen466 Sinn gantz unempfindlich und verhärtet sind/ so daß keine Worte an ihr Hertze reichen. Sondern ein jeder wolle nur mit unpartheyischen Augen das jenige unergründliche Elend einsehen lernen/ welches auch [C12r] unter denen best-scheinenden Anstalten467 und Ubungen verborgen liegt. Wiewol die meisten Früchte der Heucheley nicht eben verborgen/ sondern auch wol andern natürlichen Menschen greifflich468 vorkommen. Die Einbildung einer genugsamen Erleuchtung und Heiligung hält ja manche arme Seele gleich bey der ersten Rührung469 so gewaltig auff/ daß ihr hernach mit keinem Zeugniß von ihrem übrigen Jammer beyzukommen ist. So bald sie etwa die geringste Krafft des Worts im Anfang empfunden/ bildet sie ihr470 selbst ein wahres Christenthum daraus völlig ein/ und fället auff das äussere Wissen/ Lernen/ Schwätzen471 und Nachäffen472. Ergehet einige Erinnerung473 an sie/ so ist sie mit denen auswendig gelernten Sprüchen und Redens-Arten balde fertig/ dahinter sie sich verstecket/ und das Leben der zeitlichen Ehre/ Nutzens und Gemächlichkeit474 erhalten will. 463 1Mose 3,1. 464 Wiedergeburt. 465 Amos 6,6. In zeitgenössischer kirchenkritischer Literatur stehender Begriff für die Schäden der Kirche. 466 Johann Arndt beschreibt in drastischen Worten, wie der Mensch „für dem Fall [...] gantz himlisch/ geistlich/ göttlich/ vnd engelisch (war) [...], nach dem Fall [...] er [...] inwendig gantz Jrrdisch/ Fleischlich vnnd Bestialisch worden (ist).“ Siehe Arndt (Anm. 215) 1, S. 11–21 (Das II Capitel) „Was der Fall Adams sey.“; besonders S. 19–21 (Marginalie „Thierische Menschen.“), Zitat S. 19 sowie S. 20: „[...] offt kein wild Thier so grimmig ist als ein Mensch [...]. Vmb solcher thierischen vnd viehischen Vnart willen der HERR Christus Herodem einen Fuchs nennet [...].“ Siehe unten S. 258,19-20. 467 Veranstaltungen (Anstrengungen) und Bemühungen. 468 ersichtlich, begreiflich. 469 Langen (Anm. 87), S. 376f.: Einwirkung Gottes auf die Seele als Beginn der Auseinandersetzung des Menschen mit Gott. 470 sich. 471 Das ‚Schwätzen‘ ist oft Gegenstand der Kritik: S. 224,25; S. 239,13; S. 247,17; S. 252,12; S. 258,21. – Zum „äussere[n] Wissen“ siehe oben S. 220,22. 472 Zeller (Anm. 245) 2, S. 159 mit Anm. 64 zum in der Zeitschrift „Geistliche Fama“ kritisierten „Nachäffungs-Geist der Teutschen“. 473 Ermahnung. 474 Siehe oben S. 238,20; S. 243,8.

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Unter dem grössesten Ruhm der Frömmigkeit ist offt der schädlichste SelbstBetrug/ geistliche Hochmuth/ eigene Ruhm/ eitele verkehrte Sinn und tausend falsche Absichten verborgen: Welche alleine GOtt und kein Mensch durch viele Demüthigungen ändern kan. 55. Wann demnach offenbahr gnug seyn will/ daß dißfalls und bey so starcken Hindernissen wenig oder nichts wahrhafftiges in solchen [C12v] zu thun sey/ zumal unter so vielen Einschränckungen und Gewissenszwang:475 so möchten noch viele meinen/ vielleicht hätte man sonst keine Entschuldigung oder auch die erforderte Erudition476 nicht gefunden. Um diese Nachrede werde ich mich auch nicht bekümmern/sondern denen den Ausspruch überlassen/ so mich gehöret oder etwas von mir gelesen. Ob ich wol in Erinnerung meiner ehemaligen grossen Bemühung und Arbeit477 in Philologicis, Historia civili, und der gantzen Polyhistorie: mit Recht sagen könte/ daß die gemeine Regel bey mir/ was die weltliche Gelehrsamkeit anbetrifft/ nicht eben eintreffe: Ars non habet osorem, nisi ignorantem:478 Ich läugne aber doch nicht/ wie es mich offt gejammert/ wenn man aus dergleichen Sachen und Functionen eine so grosse Vortrefflichkeit/ Kunst und Ruhm machen wollen. Angesehen einem natürlich-geschickten Kopf ein leichtes ist/ etwas ins Gehirn zu fassen/ und vor andern davon viel Stunden lang zu reden/ die aus Unerfahrenheit alles vor Geheimnisse und grosse Schwierigkeiten halten/ ungeacht wol kein Fünckgen der wahren Weißheit darinnen liegt. Und auff diese Weise wird eben auff denen hohen Schulen so viel Betrug/ Pralerey und Geitz getrieben/ indem der unwissenden [D1r] Jugend die Thorheit und Eitelkeit der Vernunfft als die wahre Weißheit angepriesen wird. Denn was ein fleischlicher Sinn selber liebet und hochhält/ das bildet er andern so gerne wiederum ein/479 und verkauffet es ihnen theuer genug/ damit es diese wiederum auff andere fortpflantzen. 56. Solcher Gestalt ist das Geheimniß der Boßheit480 unter dem höchsten Schein/ Ruhm und Anbetung aller Welt fortgetrieben worden. Ach wem GOtt diese Tieffen des Satans481 und den unaussprechlichen Schaden und Verderb zu erkennen giebt/ der wird nicht allein selbst keinen Theil noch Gemeinschafft damit 475 Vgl. unten S. 261,7. – Die Berufung auf das Gewissen durchzieht die Schrift; vgl. nur S. 223, 24 und S. 236,3-5 (Gewissenszwang); S. 232,22-23 und S. 237,1 (Gewissensfreiheit). Seeberg (Anm. 53), S. 221. Dörries (Anm. 4), S. 106f. Anm. 115f.; S. 190–191 Anm. 63, hier besonders vorletzter Absatz. 476 Bildung. 477 Vgl. das bis 1698 umfangreiche Œuvre Arnolds (Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 1–15). Siehe Arnolds Selbstaussage zu seinen gründlichen Arbeiten für KKH (Anm. 85) bei Dörries (Anm. 4), S. 200 Anm. 82. 478 Sprichwort, das Arnold z.B. aus dem einschlägigen Werk des Comenius-Schülers Johann Georg Seybold (*1617, †1686 in Schwäbisch Hall) kennen konnte. 479 prägt ... ein. 480 2Thess 2,7. 481 Offb 2,24.

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haben/482 sondern auch davon öffentlich zeugen müssen. Es findet ohne dem noch ein jeder in sich selbst so viel zu überwinden/ und durchzukämpffen/ daß er sich mit solchen äusseren verderblichen Dingen nicht länger auffhalten kan/ zumal wo er so viele Jahre lang bereits darunter Schaden gelitten. Ob ich also wol keinen frembden Knecht/ der noch in selbigen stehet/ richten will;483 so kan ich doch aus allgemeiner hertzlichen Liebe nicht anders/ als uns alle zusammen dem obersten Herren und Regenten in die mächtige Führung seines Geistes ernstlich empfehlen/ auff daß wir auff den Anfänger unsers Glaubens484 alleine so [D1v] sehen/ wie er ihn auch noch hier in diesem Leben verklären kan und will/ an allen die sein Eigenthum werden485. Der lehre uns prüfen/486 was das allerbeste sey/ auff daß wir seyn lauter und unanstössig biß auff den Tag JEsu Christi/ erfüllet mit allen Früchten der Gerechtigkeit/ so in uns geschehen zu seiner Ehre! 487 Wozu gewißlich mehr als ein blosser Wahn/ Wort oder Schein gehöret/ so bey der alten väterlichen Weise zu herrschen pfleget. 57. Im übrigen setze ich noch dieses hinzu/ wie ich unzähligmal vor GOtt bereuen und abbitten müssen/ daß ich so viel Stunden/ Tage und Jahre/ die mir der Schöpffer zu seiner Verherrlichung und meiner Vollendung geschencket/ in unnützem critisiren/ eitelm Wissen und tausendfacher Bekümmerniß um eitele vergangene und frembde Dinge verschwendet habe. Und scheue ich mich nicht zu bekennen/ daß ich keine scheinbarere und doch dabey kräfftigere und beständigere Dämpffung des Geistes488 und Hinderung an der wahren Vereinigung mit Christo gefunden/ als die Weltl. Erudition. Das wenigste von allem meinen Studiren habe ich zu einigem niedrigen guten Zweck hernach erst anwenden können/ und zwar nach vielen schmertzlichen Läuterungen und Bestraffun- [D2r] gen Gottes. Das andere alles/ was mit so grosser Arbeit/ Verderbniß der Zeit/ Kosten/ Kräffte und Gesundheit in so grossem Vorrath gesammlet worden/ hätte zwar mir oder andern einigen Rhum und Nutzen/ aber GOtt keine wahrhafftige ihm gefällige Ehre bringen können. Ich wünsche denen/ so mir dieses nicht glauben oder verübeln werden/ nur halb so viel scharffe Zucht-Ruthen/489 und Zeugnisse in ihr Hertz/ als mir aus ewiger Liebe GOttes wiederfahren/ vielleicht möchten sie noch gehorsamer werden/ als ich leider! zuerst gewesen/ ehe ich mit vielem Schaden klug worden. In Warheit es regieret eine eigene Pestilentz unter denen Welt482 2Kor 6,14–15. 483 Vgl. Röm 14,4. 484 Hebr 12,2. 485 Vgl. Eph 1,14. 486 Anklang an 1Thess 5,21; siehe unten S. 260,17. 487 Phil 1,10–11. 488 Siehe 1Thess 5,19. Siehe oben S. 246,12. 489 Ps 69,33; Spr 22,15. Heinrich Held: „KOmm, o komm, du Geist des Lebens [...]“, Strophe 4,5.6: „[...] Denn des Vaters liebe Ruht Jst uns allerwegen gut.“ Fischer-Tümpel (Anm. 457) Bd. 1, S. 363, Nr. 413,4.

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Gelehrten/490 welche mit einem geheimen durchdringenden Gifft alle Kräffte der Seelen einnimmt/ bezaubert und ohne wahrhafftige Verläugnung und Reinigung zu dem so heiligen und demüthigen Reiche Christi ungeschickt machet. Welches ich nimmermehr so getrost bezeugen wolte/ woferne ich nicht alles so viel Jahre her erfahren müssen/ ungeacht mirs keiner/ der mit solchem Universitäts-Geiste besessen ist/ glauben oder zu gute halten wird. 58. Dieses ists/ was mir bey Entdeckung meiner Gedancken von dieser Sache beygefallen491. Hierinnen bin ich auch in meinem Hertzen gantz getrost/ ruhig und freudig/ und kan mich keine [D2v] unzeitige Beysorge und Furcht weder vor menschl. Urtheilen/ Anstoß oder Feindschafft (welche ich gerne leiden und jedermann vergeben will) noch vor Mangel in zeitlicher Nothdurfft oder anderer dem Fleische widriger Ungelegenheit492 schrecken lassen. Denn was dieses betrifft/ achte ich vor unanständig/493 in die so theure und auch mir gehörige Verheissungen meines HErrn ein Mißtrauen zu setzen/ wo ich nach dem Reiche Gottes und dessen Gerechtigkeit am ersten trachte.494 Es sind auch gewißlich alle Führungen und Schlüsse495 der Liebe Gottes so gar herrlich und selig/ daß man sich mit aller Zuversicht darein willigst begeben/ und dem Vater in dem Blute JEsu Christi auffopffern mag. Der Jünger muß billich seinen Meister so kennen/ daß er sich ihm bey den seltsamsten Auffgaben und Lehren anvertrauen dürffe. Und gesetzt/ daß der alte Mensch mit seinen Lüsten und Begierden endlich völlig ausgezogen und ersäuffet würde:496 solte man denn hierinnen einen Schaden haben? Oder ist dieses nicht vielmehr unser aller Pflicht/ ja der Anfang unseres verlohrnen Paradisischen Lebens? Was hat doch Noah/497 Abraham498 und alle Gläubigen verursachet/ aus aller Freundschafft auszugehen/499 nicht wissende wohin/ als weil sie eines besseren und himmlischen Vaterlandes versichert [D3r] waren? Ich meine ja/ das 490 Carlos Gilly: Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung. In: Antonio Rotondo (Hg.): Studi e Testi per la storia religiosa del Cinquecento. Florenz 1991, S. 229–375, hier S. 327 (Rezeption Sebastian Castellios in KKH [Anm. 85]), S. 369–371. – Vgl. unten S. 259,20. 491 eingefallen; Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 1, Sp. 1369. 492 Not oder andere dem natürlichen Menschen widrige Unbequemlichkeit. 493 Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 24, Sp. 161: „[...] im 17. jh. hat das neue wort noch einen ziemlich schwankenden und weiten begriffsumfang, wie er aus der reichen ausdrucksfähigkeit des verbums anstehen sich ergiebt [...].“ Vgl. ebd., Sp. 163, II. 1), b). 494 Matth 6,33. 495 Entscheidungen. 496 Kleiner Katechismus; Die Taufe. Bekenntnisschriften ... luth. (Anm. 83), S. 516,32–35. Vgl. oben S. 237,5/6. 497 1Mose 7. 498 1Mose 12,4. 499 1Mose 7,1; 12,1; Hebr 11.

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11. Capitel an die Hebräer500 kan uns beschämen/ die wir auff unseren Häfen501 liegen/ und unter so grossem Vorwand unser Leben zu fristen suchen. Hingegen werden alle die ihres Führers Hand und Stab augenscheinlich mercken/ welche den treu achten/ der alles verheissen und in ihren Hertzen versiegelt hat/ durch den H. Geist:502 Diese haben Gnade/ Leben und Friede und wenn auch jedermann ihren Nahmen als eines Boßhafftigen verwirfft. 59. In solcher Gewißheit werden/ sie wol gerne jederman allerley werden/503 aber denen Gläubigen und Schwachen nur/ nicht der Welt in ihren Greueln und dieses wiederum/ wie Paulus (dem* sich zwar504 hierinne niemand noch gleichen505 kann)* so weit es Gottes wahrer Wille zur Besserung dienen lässet. Denn wenn Petrus auch aus Heucheley sich den Jüden/ gleich stellen/506 oder andere noch jetzo unter dieser Beschönung in weltl. Pracht/ Uberfluß/ Hochmuth/ losem Geschwätz und Eitelkeit alles mitmachen/ so ist es ein unverantwortlicher Mißbrauch des Göttlichen Wortes. Und wo unter dem weiten Mantel der Liebe und Gefälligkeit/ oder verhoften Gewinnung der Gottlosen/ so viel heimliche Lüste/ Staats-Maximen/ Regier-Herrschsucht/ Ehr- und Geld-Geitz oder [D3v] Menschen-Furcht stecket: da erfolgt an Statt der Besserung und des Seegens zwiefache Verführung/ Aergerniß und Bestärckung der Bösen; ja ein doppelt befestigtes und mit Heucheley beschirmtes fast unüberwindliches Reich des Satans in den Seelen/ also daß Zöllner und Sünder eher selig werden als Pharisäer und Schrifftgelehrten.507 Was hat aber GOtt hingegen vor theure Verheissungen auff die gelegt/ welche sich von der Welt mit Ernst unbefleckt508 behalten! die keine Gemeinschafft mit den Wercken der Finsterniß509 haben/ sie aber vielmehr bestraffen510. Welches denn am besten mit wircklicher Enthaltung von allem Unreinen geschiehet/ wie Paulus auff der Schule zu Athen zwar ausserordentlich auff dem Marckt und Gassen der Gelehrten ihr Elend entdeckte/511 aber sich selbst in keines ihrer so genannten ordentlichen Bedienungen512 einließ/ sondern Christum alleine verkündigte. Ja wie JEsus selber nur in den Tempel gieng auszufegen und die Priester zu überzeugen/ die Crämer auszuwerffen513 u. s. f. 500 Hebr 11,4 (Noah) und 11,8–10 (Abraham). 501 in bequemer, sicherer Lage sind. 502 2Kor 1,22; Eph 1,13. 503 1Kor 9,22; 10,33. 504 allerdings. 505 vergleichen. 506 Gal 2,11–14. 507 Luk 18,9–14. 508 Jak 1,27. 509 Röm 13,12. 510 tadeln. – Siehe oben S. 222,1. 511 Apg 17,16–34. 512 Beschäftigungen. 513 Matth 21,13.

§§ 58–61

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60. Also würden viele auch ohne Wort durch einen unsträfflichen514 Wandel gewonnen werden/ weil dergleichen wirckliche thätige Zeugnisse mögen wahrhafftig mehr als alle [D4r] Predigten/ Lectiones und Worte durchbrechen.515 Und wobey einem jeglichen/ der da kämpffet die äussere Enthaltung von allen Dingen mit der inwendigen stetigen geheimen Creutzigung des Willens516 einstimmete: von was vor Sieg sollte man nicht in den Hütten der Gerechten singen!517 Ja wo nicht auch unter denen Lehrern das lebendige Muster der ersten Apostel in tieffster Demüthigung und Verläugnung hervor bricht/ kan auch Christus nicht in der Krafft518 verkündiget werden. GOtt hat damals durch jene ausserhalb denen ordentlichen Ständen/ Orden und Satzungen519 seine grösseste Wercke ausgerichtet/ und also ist es durchgehends zu allen Zeiten ergangen/ obschon die in ordentlichen Aemtern sitzende Personen nicht zu frieden gewesen. Was er aber ins künfftige thun werden/ muß die Zeit geben. 61. O daß nun doch balde das von so viel Zeiten her verborgene grosse Geheimniß GOttes/ Christus in uns überall offenbar würde/ als eine Hoffnung der ewigen Herrlichkeit!520 Ach daß alle unsterbliche Seelen erfahren möchten/ wie in ihm alle Fülle wohne/521 auff welche uns der Vater gewiesen hat/ daß wir ihn hören sollen!522 So daß keiner etwas verlangen mag/ daß er nicht wahrhafftig und wesentlich durch gewisse Erfahrung nach einfältigem Ge- [D4v] horsam finde und geniese. Dieser ewige Vater unsers HErrn JEsu Christi ziehe nach seiner tieffen Liebe alle mühselige und beladene523 zu diesem seinem Sohne/524 auff daß sie zu ihm kommen und vor ihre Seelen Ruhe finden.525 Er zerbreche das Joch ihrer Last/ und die Ruthe ihrer Schulter526 in allen losen Verführungen/ Teuscherey und Vernunffts-Wercken. Damit allein Gerechtigkeit/ Friede/ Heil und Leben aufgehe in denen/ die beyde ferne und die nahe sind. Hingegen die alte Schlange und Satanas/ der die gantze Welt (nicht nur die Heyden oder Gottlosen/ sondern auch alle Heuchler) biß auff diese Stunde unter so scheinbaren527 Dingen verführt/528 514 1Kor 1,8 und sehr oft (auch als „untadelig“). 515 Vgl. Arnold an May, 23.5.1698, Mack (Anm. 124), S. 198,25-28. 516 Zu A. H. Francke vgl. Peschke: Studien, Bd. 1 (Anm. 87), S. 54 Anm. 11; S. 89. 517 Ps 118,15. 518 Vgl. Matth 7,29. 519 bei den Stillen im Lande. Dörries (Anm. 4), S. 105–106. – Seeberg (Anm. 53), S. 66 (mit Anm. 4). 520 1Petr 5,10. 521 Kol 1,19. 522 Mark 9,7. 523 Matth 11,28. 524 Siehe oben S. 244,21. 525 Matth 11,28–29. 526 Jes 9,3. 527 Siehe (auch zu S. 254,3) oben S. 218,4. 528 Offb 12,9.

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ausgeworffen werde/529 nach einem ernstlichen Kampff wider die Sünde/ Hölle/ Teuffel/ Welt und alle verderbte Creatur. Einmal gilt in Christo JEsu nichts/ denn eine neue Creatur:530 wenn nun dieses alte betriegliche scheinbare Leben531 auffgegeben und verlassen wird/ so wird alles neu.532 Und wer dem Worte JEsu gehorsam wird/ der gläubet nicht um anderer Rede oder Zeugnisse willen/ sondern er höret selber und siehet/ daß dieser ist Christus der Welt und auch sein völlig erlösender Heyland.533 Ja ob alle Welt den frembden Göttern nachhuret/ und auff allen Höhen534 und unter al- [D5r] len grünen Bäumen opffert: so heisst es von einem solchen: HErr wo sollen wir hingehen? du hast Worte des ewigen Lebens. Und wir haben geglaubet und erkant/ daß du bist Christus der Sohn des lebendigen GOttes!535 62. Zuletzt ergehet noch mein ernstliches Wünschen und Flehen zu GOtt für die Könige/ für die Fürsten und alle Obrigkeiten/ daß doch der HErr in ihnen einen Geist des Eiffers vor seine Ehre erwecken möge/ abzubrechen die Höhen Baals und alle grüne Bäume536 umzuhauen/ und das Land von seinen Götzen zu reinigen. O daß zuförderst ihre eigene Hertzen in wahrhafftiger Reinigung von allen Sünden frey würden/ und zwar von solchen/ womit doch unter dem Schein so viel Pracht/ Hochmuth/ Verschwendung/ Uppigkeit/ Blutvergiessen und Unrecht getrieben wird. Damit sie auch die Unterthanen reitzen und anführen/ und sodann von ihnen hinaus thun möchten/ was böse ist/ da ja ohne dem ein jeder Christe sich von allen unordig wandelnden entziehen/ geschweige die Obrigkeit solche absondern sollte. Vornehmlich aber wolle der ewige König Christus Jesus die jenigen löbl. Regenten/ welchen die Wahrheit nicht gantz verborgen ist/ doch dahin lencken/ daß der Nahme Christi [D5v] mehr und freyer könne und dürffe verkündiget werden/537 auff allerley Weise an allen Orten und zu allen Zeiten. Hiezu gebe er Ihnen und Ihren Bedienten grössern Ernst/ in Geistl. und leibl. Dingen/ alle weltl. StaatsAbsichten/ Vernunffts-Gründe und Listigkeiten/538 Menschen-Furcht und andere Hindernisse des wahren Durchbruchs/539 wodurch das Reich Christi auffgehalten wird/ zu verläugnen/ ihm zu Ehren alles zu wagen/ keine Schmach/ Unruhe/ 529 Offb 20,2. 530 2Kor 5,17; Gal 6,15. 531 Hier ist „scheinbare[s] Leben“ negativ verstanden. Vgl. auch G. Arnold an Johann Heinrich May, Quedlinburg 18.12.1698; Mack (Anm. 124), S. 201–202, hier S. 201,19–20: „[...] wie schädlich mir die vorige scheinbare Lebens Art gewesen [...].“ 532 Offb 21,5. 533 Joh 4,42. 534 illegitime Stätten des Opfers/Gottesdienstes; 1.2Kön oft. 535 Joh 6,68–69. Vgl. Matth 16,16b. 536 Siehe Z. 8. 537 Röm 9,17. 538 Schlauheit, Kräfte der Verführung. 539 Vgl. Arnolds O Durchbrecher aller Bande, Seeberg: Arnold Auswahl (Anm. 223), S.  289–290. Dörries (Anm. 4), S. 190–191. Seeberg: Arnold Auswahl, S. 305–307

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Ungelegenheit oder Schaden zu achten. Warlich sein unschätzbares Evangelium verdienet es noch wol/ und lohnet vor die Mühe/ wo es einen so genannten Lärm und Widerwillen unter* Juden und Heyden erreget. 63. Wo dieser JEsus herrschen soll/ da muß er erstlich ein Stein des Anstosses und ein Fels der Aergerniß540 werden; er wird doch wiederum nach dem Fall eine Aufferstehung vieler in Israel/ und bleibt ein Zeichen des Widerspruchs541 bey den Verkehrten. Wo es aber mit der Wahrheit schläfferig laulich542 und furchtsam zugehet/ wo Gefahr oder Unruhe besorget und alles nach dem Staat und Interesse543 bey der Kirchen abgemessen wird: da ist gewiß schon der Welt zuviel eingeräumet/ und das Schwerdt durch Heucheley und Gleichstellung überlassen [D6r] worden. Alsdenn muß freylich Herodes erschröcken/544 wenn von dem Könige Christo alleine die Nachfrage ist/ weil er sich seines Schadens besorget. Dahero er dieses Kindlein gerne gleich Anfangs unterdrucket und verjaget/545 wozu ihm die Pharisäer und Schrifftgelehrten treulich helffen: bey welchem Zustand nimmermehr Christus offenbar und herrlich werden kan. 64. Aber nicht also ihr Könige und Richter/ die ihr dem HErrn dienen wollet/ nicht also/ ihr Lehrer des Volcks! Freuet euch/ wo Gott durch andere anfangen will/ was ihr selber nicht unterlassen solltet! Lasset das Werck des HErrn nicht so nachlässig geschehen/ seyd nicht mit einer und anderer Heuchel-Frucht zufrieden bey den Leuten/ und bleibet nicht auf dem ersten Anfang der Besserung liegen! Wer im Geringen treu ist/ den wird der HErr über viel setzen/546 und ihm endlich gar das Rechtschaffene vertrauen. Denn er hat noch unendliche Schätze seines Evangelii die warlich noch verschwiegene Geheimnisse sind. Darum wehret denen nicht/ die in dieses gantze Himmelreich wollen/ und preiset den Vater Himmels und der Erden/ daß er denen Unmündigen offenbaret/ was er den Welt- und Staats-Klugen/ auch denen Weisen und Schrifftgelehrten verbirget.547 Sintemal es ihm [D6v] je und je also wohlgefällig gewesen/ aus dem Munde junger Kinder ihm eine Macht zu bereiten/548 den Feind dadurch zu vertilgen in seinen alten Bevestungen und Höhen.549 Sein Weg gehet noch immer vor sich/ da er das Thö-

„CIV. Durchbruch zum sieg.“ (aus „Neue Göttliche Liebes-Funken und ausbrechende Liebes-Flammen“ [vgl. Anm. 14]). Langen (Anm. 87), S. 238–243. 540 Jes 8,14 541 Luk 2,34. 542 Siehe oben S. 240,13. 543 Nutzen, Vorteil (?); Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 10, Sp. 2147. 544 Matth 2,2–3. 545 Matth 2,13–15. 546 Luk 19,17. 547 Matth 11,25 par. 548 Ps 8,3. 549 Siehe oben S. 223,14.

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richte und Verachtete erwehlet/550 vor denen Ordinariis und Hochgelehrten/ die sich samt den Pharisäern allein an Christo allezeit geärgert haben. 65. Der demüthige Heyland drücke551 auch allen Lehrern seinen eigenen Sinn ein/ daß sie ihm zu erst in Enthaltung von allen Dingen/ biß zum Tod am Creutz gleichförmig werden. Nicht als die über das Volck und Erbtheil des HErren herrschen/ und alles mit Zwang/ Befehl und Straffen ausrichten wollen; sondern als Fürbilde der Herde.552 Nicht als die sich der Welt in Pracht/ Uberfluß und Ehrgeitz gleichstellen;553 sondern als die in Göttlicher Gedult zwar die Bösen tragen/ mit ihren Wercken aber keine Gemeinschafft haben.554 Nicht als die denen Kindern GOttes gewisse Gräntzen setzen/ wie weit die ewige Allmacht/ Liebe und Weißheit mit und in ihnen gehen solle: sondern als die Knechte Christi/ die ihren HErrn selbst mit der Braut nach Gefallen handeln und wandeln lassen. Denn es kan gewißlich niemand ein allgemeiner Hirte/ Lehrer und Auffseher über [D7r] alle und jede Schaffe JEsu Christi seyn/ der nicht alle diejenigen Alter/ Stände/ Prüfungen und Zufälle des neuen Menschen von der ersten Empfängniß desselben an biß zur Göttlichen Grösse555 durchgegangen/ und auch in allen und jeden Stücken treu und ausharrend erfunden556 worden. Hat aber eine Seele sich dem HErrn aus der Busse der todten Wercke/557 oder einigen andern Züchtigungen zu zeitlich558 entrissen/ so kan sie von denen folgenden Ubungen/559 die sich unter so mancherley Arten der Christen eräugnen/ weder Erfahrung/ noch Weißheit/ noch Tüchtigkeit sie zu entscheiden560 haben. 66. Wird aber der züchtigende Geist JEsu Christi in uns allen mächtig/ und durch den harten eigenen Willen nicht gehindert werden: so werden wir bald Christum anderst lernen; Man wird so nöthig finden umzukehren; und* zu werden wie das niedrige Kindlein JEsu in tieffster Abgeschiedenheit* und Einfalt.561 Das Hochherfahren des Ruhmredigen Pharisäischen Geistes/ das Spiegeln der listigen Schlange in ihrer eigenen gleissenden Gestalt und in denen Gaben/ ja alle Macht des Widerchrists in uns muß sodann vernichtet werden. Man wird erkennen/ daß man noch nicht die ersten Elementen des Geheimnisses Christi562 in uns gründlich und wesentlich/ geschweige die wahre [D7v] Freyheit seines Evangelii habe/ 550 1Kor 1,28. 551 präge ... ein. 552 1Petr 5,3. 553 Röm 12,2, 554 2Kor 6,14. 555 Siehe unten S. 260,22. 556 1Kor 4,2. 557 Hebr 6,1. 558 frühzeitig. 559 wohl Bemühungen. 560 beurteilen, ein Urteil über ... fällen. 561 Anders als Matth 18,3! 562 Kol 4,3.

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gesetzt563 daß man uns auch vor Meister gehalten hätte. O wenn ein Mensch nach allem Selbstbetrug/ Heuchel- und Schein-Wesen recht auffwachet/ und mit dem Bischoff von Laodicea seine jämmerliche Armuth/ Blindheit und Blösse bey aller äusserlichen Erkäntniß und Ubung564 erblicket; so läugnet er nicht mehr/ daß Christus erstlich anfangen müsse in ihm eine wahrhaffte Gestalt zu gewinnen.565 Ja daß es in dieser wenigen Zeit seiner ersten Bekehrung bey denen unendlichen Hindernissen/ Zerstreuungen und Reitzungen (ohngeacht aller äusserlichen Schein-Dinge) fast schwer oder unmöglich gewesen/ durch die zarte Kindheit der neuen Creatur in den starcken Jünglings-Stand und von dar zur männlichen Statur auch endlich zum Maaß des vollkommenen Alters Christi/566 und also zur Tüchtigkeit alle andere zu regieren zudringen. Ach wie mancher blutiger Schweiß und Kampff/567 wie manches Geheimniß des Creutzes und schmertzlicher Tod/ muß da erstlich vorgehen568? welch eine völlige Absagung aller Dinge/ nicht nur im äusserlichen und zum Schein/ sondern auch in dem ersten Haß des gantzen Adamischen Lebens/ welches bey der gewöhnlichen Weltförmigkeit so viel Nahrung und Fristung findet! Und dennoch sind dieses nur gewisse Vorbereitun- [D8r] gen zu dem neuen himmlischen Wesen/ wenn man samt Christo aufferwecket und samt ihm darein versetzet werden will.569 67. Ich wünsche auch von Hertzen allen Lehrern auff hohen und anderen Schulen/ daß sie sich doch erstlich von dem Geist der Weißheit selbst treulich züchtigen und führen lassen/ seine Zeugnisse/ Bestraffungen und Kräffte in ihren Hertzen nicht unterdrücken. So daß er sie reinigen und zum Wercke des Amtes tüchtig machen könne/ und mächtiglich bewahre vor der schweren Verantwortung alles des Ubels/ so aus denen Universitäten in alle Lande ausgebreitet wird. Damit keinen in der Stunde der Versuchung570 oder des Todes selbst die Erinnerung nagen und schröcken dürffe/ daß er einige Gelegenheit versäumet/ diese und jene Greuel abzuthun und hingegen seine und der Jugend Zeit/ Arbeit oder Krafft auff das wahre höchste Gut571 anzuwenden. Zumalen da es auch bey Gelehrten nicht an vielen Ermahnungen/ und Anlaß zur wahren Weißheit mangeln kan/ auch die geheime Begierde der unsterblichen Seelen nach GOtt dem Ursprung nicht unmüssig ist/ welcher denn nachzuspüren niemand gereuen wird. Und in Wahrheit/ woferne die Menschen nach Anleitung der H. Schrifft durch den Geist der Weißheit und der Offen- [D8v] bahrung die rechte Göttliche Weißheit und Klugheit/ 563 vorausgesetzt. 564 Offb 3,14–22, besonders 17–18. – „Ubung“: Anstrengung, Bemühung. 565 Gal 4,19. 566 Vgl. Hebr 5,12–14? 567 Vgl. Luk 22,44. 568 zeitlich vorangehen („erstlich“!); Grimmsches Deutsches Wörterbuch (Anm. 24), Bd. 26, Sp. 1094. 569 Eph 2,6. 570 Offb 3,10. 571 Siehe oben S. 247,6.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

(wie sie in dem wahrhafftigen Liechte Christo JEsu als Schätze liegen/572 aber den Gottlosen und Heuchlern verborgen sind) durch Gebeth und Wachen im gläubigen Gehorsam ausforscheten/ es würden alle und jede nicht genugsam seyn/ diese unendliche Schätze zu ergründen/ auszubreiten/ und in seligstem Frieden ihrer Hertzen zu geniessen. Nun aber hat der Satan den geschicktesten Theil unter den so genannten Christen (nehmlich die Gelehrten) auff fleischliche Weißheit dieser Welt verführet/ und sie also zu Thoren für GOtt gemacht/ wie es der Apostel ausdruckt/573 daraus denn das Verderben über alles Fleisch gekommen. Der HErr erbarme sich dieses grossen Schadens/ und rücke die aus dem Feuer/ in denen noch ein dürstender Funcke nach GOtt ist!574 Er gebe ihnen auch zu erkennen/ daß diese Zeugnisse keine Verachtung der wahren Gelehrsamkeit/ sondern nur der falschen seye. 68. Eben dieses treibet mich auch die Noth denen Studirenden anzuwünschen/ und ihrem Gewissen vorzulegen/ daß sie doch die Weißheit und Gelehrsamkeit bey dem einigen Qvell derselben dem H. Geist suchen/ und ihn mit seiner GnadenWirckung nicht dämpffen.575 Es ist ja leider! offenbar/ wie die fleischliche irdische [D9r] Weißheit mit ihrer Lehre nur Aufblähung/ und alle Lüste der Jugend576 erwecket und unterhält/ oder zum wenigsten nicht niederhält oder ausrottet. Wer das brutale Leben auff Universitäten577 kennet/ wird wissen/ daß sich diese vermeinte Schüler der Weißheit auch offte greulicher als ein Vieh auffführen/578 das macht bey dem gemeinen Geschwätze der falsch-berühmten Kunst579 und losen Verführung in allen sogenannten Facultäten und Disciplinen kan einer wol eine Bestie bleiben/ weil es auff lauter leeres Wissen/580 Nachschwatzen und Speculiren/ oder so es zur praxi kommt/ auff Heucheln/ Betriegen und Lügen hinausläufft. Die wahre Weißheit aber/ wenn sie auch mit niedrigen und natürlichen Dingen umgehet/ treibet das Gemüthe so gleich zu dessen Reinigung und Erleuchtung/ als wir an allen Rechtweisen in der Schrifft und sonsten sehen. Sie entdecket alle Geheimnisse der Boßheit/581 darinne wir von Natur liegen/ und die unermäßliche Schätze in GOtt/ wie es Salomo582 und andere herrlich anpreisen. 69. Da die Welt-Gelehrten bey aller ihrer Klugheit die elendesten Sclaven von Ehrgeitz/ Bauchsorge und Wollüsten/ und offte nicht so mächtig sind/ den ge572 Kol 2,3. 573 Vgl. 1Kor 1,27a. 574 Luk 16,24. 575 „dämpffen“ oft; siehe oben 250,21. 576 2Tim 2,22. Siehe oben S. 207,19. 577 Arnold dazu in späteren Auflagen von OB: siehe Dörries (Anm. 4), S. 91 in Anm. 86 Nr. 2. 578 Siehe oben S. 248,9. 579 1Tim 6,20. 580 Siehe oben S. 220,22. 581 Vgl. 2Thess 2,7. 582 Vgl. etwa SprSal 3; 11–12.

§§ 67–70

259

ringsten Affect zu bezwingen: So setzet hingegen die Göttliche Weiß- [D9v] heit den Menschen in eine süsse Harmonie mit GOtt dessen H. Geist ihm sodann die höchste Herrlichkeit und Ehren-Bedienungen zusamt allen nöthigen Gaben anvertrauet. Sie machet Freunde GOttes/583 die aus seinen reichen Einkünfften leben/ und gleich denen alten Weisen584 überall Wohnung/ Kleider und Nahrung finden/ ja die auch bey denen reinen Wollüsten ihrer Lieblichkeit keine irdische viehische Lüste zu suchen nöthig haben.585 O wenn nur unter denen Gelehrten sogenannten Christen erst so viel Weißheit zu finden wäre/ als man bey denen alten Philosophis586 mit Verwunderung antrifft/ wie sie in ihrem Wissen und Thun nach dem höchsten Gut587 aus dem Liechte GOttes so ernstlich und mit Enthaltung von der Eitelkeit getrachtet haben!588 70. So mögen dann die Weißheit-suchende und studirende Gemüther wohl zusehen/ wie sie ihre blühende Jahre/ Unkosten und Kräfften ja recht anlegen/589 daß sie alles mit Wucher wiederfinden.590 Es soll ihnen gedachter Massen an wahrhafftigen Ehren/ Reichthum und Vergnügung nicht fehlen/ wo sie alles bey GOtt suchen/ und diese köstliche Perle591 in ihren Hertzen finden/ nehmlich den Brunnen aller Wissenschafften. Ja man wird auch künfftighin solche Leute wohl mit Ernst auffsuchen/ die an statt [D10r] der wurmstichigen und geschminckten592 Waaren etwas gründliches und wahrhafftiges in der Freyheit des Geistes darlegen. Der greuliche Betrug derer Falsch-Gelehrten593 Theologen/ Juristen/594 Médicorum595 und Philosophen/ welche auff blosse Vernunfft und Heydnische Sätze sich gegründet haben/ wird durch den Hellscheinenden Morgenstern596 dieser wahren Sophie597 nach und nach gewaltig entdecket und zu Schanden werden. Darum

583 Joh 15,14f. 584 periti, sapientes antiquitatis 585 Von Arnold bald abgelegte Sicht der Dinge; Heirat 5.9.1701. Dörries (Anm. 4), S. 142, S. 144 in Anm. 168. 586 Vgl. Arndts De antiqua philosophia. Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006, S. 160–163. Geyer (Anm. 213) Bd. 3, S. 388–405. 587 Siehe oben S. 247,6. 588 Vgl. Seeberg (Anm. 53), S. 205. 589 Siehe oben S. 226,2/3. 590 Luk 19,11–28. 591 Matth 13,45–46. 592 Siehe oben S. 224,12. 593 Siehe oben S. 250,32 – 251,1. 594 Siehe oben S. 225,17-19. 595 Siehe oben S. 225,3-5. 596 Siehe oben S. 208,13. 597 Arnold: Göttliche Sophia, 2. Teil, S. 231–351 Liebes-Flammen [...] (Anm. 14; Dünnhaupt [Anm. 1] Nr. 20). Seeberg: Arnold Auswahl (Anm. 223), S. 305–371.

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[Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekäntniß

lasset uns alle/ unsern Schöpffer um erleuchtete Augen598 bitten/ um selbst zu erkennen/ was das beste sey/ und nicht auff das Ansehen anderer trauen/ sondern alles bey dem Ursprung alles Guten zu suchen/ allwo wirs auch wahrhafftig zu unserer zeitlichen und ewigen Vergnügung finden werden. 71. Die übrigen zerstreueten Schaafe wolle ihr grosser Hirte Christus JEsus selber zu sich locken/ seine Stimme in ihren Hertzen zu hören/ und ihm treulich zu folgen/ um sodann das ewige Leben wircklich noch hier in diesem Leben zu empfangen.599 Er selbst/ der sie mit seinem Blut so theuer erkaufft600 hat/ wolle sie ihm auch alle sein wahrhafftiges Eigenthum werden/601 und wo sie also Christi in der That sind/ keines frembden Stimme folgen602 lassen/ damit sie niemand aus seiner Hand reisse.603 Er lasse sie doch nicht so umgetrieben werden durch allerley Wind der Lehre604 [D10v] von Menschen/ die ihn selbst noch nicht gesehen/ noch seine Stimme gehöret/ noch seine Gestalt erkant/605 und also seine Schaafe nicht geworden/ geschweige denn/ daß sie Hirten seyn könten. Drum gebe der HErr JEsus den Geist der Prüfung in alle Seelen/ Natur von Gnade/606 Heucheley von Wahrheit/ und das äusserliche von dem innern Grund wohl zu entscheiden/607 alles zu prüfen und das Gute allein zu behalten.608 72. Also lasse der GOtt und Vater unsers HErren JEsu Christi609 alle und jede um den Geist der Weißheit und Offenbahrung bitten/610 demselben folgen/ und wenn sie wahrhafftig zu Christi Erkäntniß kommen sind/ auch in demselben eine Gestalt gewinnen.611 Worinne sie dann heranwachsen müssen von einem Grad u. Alter zum andern biß zur Göttlichen Grösse:612 welches auch in der That geschehen wird/ wo sie sich an dieses Haupt alleine sorgfältig und unverrückt halten/ und in ihm zusamen gefüget werden613 und bleiben/ damit sie an statt aller ausgehauenen 598 Eph 1,18. – Vgl. Ph. J. Spener: Pia desideria (1675). Spener: Werke I.1 (Anm. 142), S. 88,3 || S. 89,4. 599 Joh 3,36; 10,27. 600 1Kor 6,20; 7,23. 601 Titus 2,14. 602 Vgl. Jer 3,13 und Joh 10,5. 603 Joh 10,28.29. 604 Eph 4,14. 605 Joh 5,37. 606 Vgl. oben S. 230,10. 607 unterscheiden. 608 1Thess 5,21; siehe Arnold: Erste Liebe (hg. von H. Schneider) (Anm. 11), S. 135 zu S. 17,19. Vgl. oben S. 250,10. 609 1Petr 1,3. 610 Eph 1,17. 611 Gal 4,19. 612 Siehe oben S. 256,15-17. Vgl. 2Petr 1,4. – Gegenüber von Arnold: Abbildung (Anm. 34) eine Verschärfung? Büchsel (Anm. 29), S. 57 mit Anm. 78. 613 Kol 2,19.

§§ 70–73

261

Brunnen aus dem unendlichen Uberfluß dieses Brunnen des Lebendigen und Sehenden614 alles nehmen/ auch Gnade um Gnade. Dabey sie wahrhafftig erfahren werden/ wie dieses alles ein allgenugsamer Vorrath aller Lehre/ Erkäntniß/ Gaben/ Liebe und Gnade615 sey/ so daß ein Hertz/ das dem höchsten Gute616 [D11r] nachjaget/* gewißlich und unfehlbar alles in Christo JEsu/ der in uns617 wohnet und wandelt/ treibet und anklopffet/618 finden und geniessen mag. 73. Die andere aber/ welche ihr Gewissen619 von ihrer wircklichen und noch anhaltenden Welt-Liebe/ Fleisches-Lust und hoffärtigem Leben überzeuget/ haben wol höchst-nöthig sich nach etwas gewisseres/ beständigeres und ewiges umzusehen/ und diesem elenden und offenbarlich-nichtigen Leben nicht länger zu trauen. Ihr unsterblicher Theil sehnet sich ja gleichsam insgeheim nach seinem Ursprung/620 und hat gleichwol den Schöpffer nicht so gantz u. gar vergessen/ daß ihre Gedancken nicht einander auff sein Gericht verklagen und bedrohen sollten. So sie ihn nun suchen und fühlen/ so wird sein ewiger alles durchdringender Geist auch nicht unterlassen ihre Gewissen gewaltig zu erwecken/ und ihnen die Thorheiten/ dieses verderbten Lebens zu verleiden/ hingegen ihre edle Seelen621 zu etwas wichtigers/ herrlichers und dauerhaffters bringen/ welches sie ohne Auffhören622 vergnügen soll. Dieser Anfang zu ihrem Heyl soll eine wahrhaffte Verwandelung des Sinnes erwecken/ daß sie sich zu GOtt wenden/ und durch ihn zu seinem Sohne gezogen623 ihm sich anvertrauen und von ihm alle Treue und Liebe wircklich geniessen werden. Welcher auch [D11v] bey solcher Gründung624 ihrer wahren Wohlfahrt sie immermehr von den Ursachen ihres Elends/ Schmertzens und aller schändlichen Affecten befreyen/ hingegen so viel unermeßliche Liebe/ Frieden/ Freude/625 Segen und Leben darlegen wird/ dessen sie sich ewig freuen sollen. Hiezu sey der HErr mit seinem Geist in uns allen mächtig! Amen! Amen! E N D E . 614 1Mose 16,14; 24,62; 15,11. 615 Joh 1,16. 616 Siehe oben S. 247,5/6. 617 Vgl. Kol 1,27. 618 Offb 3,20. 619 welche Akkusativ, Gewissen Nominativ 620 Seele. 621 Vgl. Langen (Anm. 87), S. 355, S. 400 (Arndt, Tersteegen, Zinzendorf ). Vgl. oben S. 218,14/15. 622 Gal 6,9 Ende. 623 Siehe oben S. 217,8. Joh 6,44. 624 Grundlegung. 625 Vgl. Gal 5,22.

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25

Register der Bibelstellen

Altes Testament 1Mose 3,1: 3,1–6: 7: 7,1: 12,1: 12,4: 15,11: 16,14: 22: 24,62: 27,22–24:

223, 248 242 251 251 251 251 261 261 245 261 214

SprSal

215 209

Jes

2Mose 8,15: 16,3:

1Kön 1–22 19,12

254 227

2Kön 1–25

254

Ps 8,3: 16,15a: 23,1: 31,5: 33,9: 34,19: 35,20: 45,18: 51,12: 69,33: 104,27: 118,15:

118,22: 124,7:

255 247 215 214 244 212 130 238 221 250 229 253

3: 8,22–36: 11–12: 22,15:

234 214

Hab

258 207 258 250

Neues Testament

HohL (HL) 1,5: 2,8.9: 7,7: 8,13:

2: 8,14: 9,3: 11: 45,9: 52,11: 57,15:

55 55 57 57, 61

94 255 253 94 244 221 234

Jer 3,13: 31,3: 31,31:

260 208, 244 231

Dan 3:

244

Am 6,6:

248

Mi 4,3–4:

94

2,11:

103

Matth 2,2–3: 2,13–15: 4,3: 5,3: 6,1.5: 6,6: 6,24: 6,33: 7,13: 7,14: 7,15: 7,29: 10,20: 10,37.38: 11,12 11,25 par: 11,27: 11,28: 11,28–29: 11,29–30: 11,30: 13,45–46: 15,14: 16,16b: 16,24: 16,25: 18,3: 19,29: 21,13: 21,42 parr: 23,5: 23,8:

255 255 214 75, 76 231 213 219 209, 222, 251 238 239 223 253 68, 81 230 239 255 228 208, 253 253 217 237, 243 259 233 254 238, 239, 241, 246 230 256 246 252 234 231 234

Register der Bibelstellen 23,8.10: 23,11: 23,23: 23,25.27: 24,15:

226, 231 208 224 223 233

Mark 6,11 par: 8: 8,34: 9,7: 10,21: 14,38:

222 70 241 253 243 216

Luk 2,34: 6,36: 9,23: 9,24: 10,42: 11,46: 13,24: 14,15–20: 14,26: 15,4: 16,24: 17,20: 17,20.21.23: 18,9–14: 19,11–28: 19,17: 19,40: 19,41–48: 22,44: 23,40:

255 83 237, 241 216 209, 216 231 238 228 230 208 258 231, 242 232 252 259 255 103 84 257 212

Joh 1,16: 1,20: 1,36: 2,3–5: 3,8: 3,28: 3,29: 3,30: 3,36:

261 231 231 234 227 231 231 231 260

263 4,23: 4,42: 5,37: 5,39: 6,14: 6,44: 6,53: 6,68: 6,68–69: 8,7: 8,44: 10,3–5.27: 10,5: 10,27: 10,28.29: 12,37: 14,10: 15,13: 15,14–15:

232 254 260 208, 228 208 229, 244, 261 242 217 254 213 223 218 260 260 260 234 229 216 259

Apg 4,11: 6–8: 16,17: 17,16–34: 17,22:

234 239 212 252 229

Röm 1,15: 2,15: 4,3: 6,2: 6,4–11: 7,6: 8,39: 9,11: 9,17: 9,33: 11,36: 12,2: 13,12: 13,22: 14,4: 16,26:

242 243 245 228 242 228 215 212 254 234 244 213, 222, 256 252 252 250 242

1Kor 1,7: 1,8: 1,23: 1,27a: 1,28: 2: 2,2: 2,11: 3,11: 3,13: 4,2: 5,11: 6,20: 7,23: 9,22: 9,27: 10,4: 10,33: 11,27.29: 12,11: 13,4:

215 215, 252, 253 217 258 256 68 217 242 234, 242 234 256 236 234, 260 234, 260 252 229 234 252 236 245 224

2Kor 1,4: 1,22: 3,6: 4,10: 5,1.4: 5,17: 6,14: 6,14–15: 6,17: 10,4: 11,31:

246 252 228 219, 231 218 237, 254 256 250 221 223 212

Gal 1,20: 2,11–14: 2,20: 3,21: 3,24: 4,19: 5,1:

212 252 212 228 208 228, 257, 260 214, 221

264 5,16–17: 5,22: 5,24: 6,9: 6,15:

Register der Bibelstellen 217 261 213 261 237, 254

Eph 1,6: 1,13: 1,14: 1,17: 1,18: 2,6: 2,20: 4,14: 4,18: 4,24: 5,11:

244 252 250 260 260 257 234 260 223 208 222

Phil 1,10–11: 3,8: 3,10: 3,12: 3,14: 4,6:

250 229, 237 228 208 247 214

Kol 1,19: 1,27: 2,3: 2,19: 2,20: 2,8: 3,9–10: 4,3:

253 261 258 260 228 217 237 256

1Thess 1,5: 4,10:

68 219

5,19: 5,21:

250 250, 260

2Thess 2,7:

212, 230, 249, 258

212 226, 236, 243, 258 226, 243, 258

2Tim 1,9: 1,12.14: 2,11: 2,22: 2,26: 3,5:

244 243 231 207, 258 218 230

Tit 2,11: 2,14:

246 260

1Petr 1,3: 1,18: 2,6–7: 2,7: 2,8: 2,15: 2,16: 2,24: 3,7: 4,2: 5,3: 5,10:

1,3: 1,4: 1,19:

260 231 234 234 234 232 213, 223 228 225 218 256 253

260 260 208, 228

1Joh 5,4:

1Tim 2,7: 5,22: 6,20:

2Petr

244

Hebr 5,12–14: 6,1: 8,8: 10,16: 10,29: 11: 11,4: 11,8–10: 12,2: 12,4: 12,5–7: 13,9:

257 75, 76, 256 231 231 239 251 252 252 250 218, 245 219 214

Jak 1,27: 3,17:

252 224

Offb 1–22: 2,24: 3,10: 3,14–22: 3,17–18: 3,20: 12,9: 20,2: 21,5:

94 249 257 257 257 231, 246, 261 227, 253 227, 254 254

Personenregister Vorbemerkung: Da der Name Gottfried Arnolds auf fast jeder Seite vorkommt, wird er nicht in das Personenregister aufgenommen. Ab Haus, Friedrich Ludwig 31 Abu Bakr 88 Adam, Wolfgang 122 Aemilie Juliane von SchwarzburgRudolstadt 30 Aesop 24 Agrippa von Nettesheim 19, 22, 23, 24 Aland, Kurt 218 Alberti, Valentin 164 Albertus Magnus 149 Albrecht, Michael 152 Alensis s. Alexander von Hales Alewyn, Richard 29 Alexander der Große 34 Alexander von Hales 178, 186 Alphonsus de Vargas s. Schoppe, Kaspar Alt, Peter André 134 Alvarez, Balthasar 119, 126, 128 Alvarez de Paz, Diego ( Jakob) 111, 120, 122, 126, 127, 128 Ameln, Konrad 238 Ammersbach, Heinrich 157 Andreae, Johann Valentin 63, 78, 97, 104 Andriessen, Jos 121 Angela von Foligno 124 Angelus Silesius 55, 73, 109, 119, 120, 247 Anna, Fürstin von Radziwill 100 Annat, Franz 115 Annoni, Hieronymus 140 Anton, Paul 34, 52, 60, 61, 158, 159 Apel, Karl Otto 15 Aristophanes 24 Aristoteles 30, 33, 42, 43, 51, 224 Arnauld, Antoine 115 Arndt, Johann 57, 64, 72, 76, 110, 145, 157, 158, 159, 224, 225, 248, 259, 261 Arriaga, Rodrigo de 110, 181, 186 Aubry, Daniel 64 Aubry, David 64

Augustinus 61, 165, 176, 186, 187 Ausonius 24 Avila, Johannes 124 Bachstrom, Johann Friedrich 99–104 Baensch, Otto 85 Baier, Helmut 98 Balde, Jakob 117 Balduinus, Friedrich 32 Balthasar, Johann 163 Barth, Kaspar von 25, 26, 27, 41 Basilius der Große 241 Bauer, Barbara s. Mahlmann-Bauer, Barbara Bausner, Bartholomäus 161, 162 Bautz, Friedrich Wilhelm 63 Bautz, Traugott 63 Bayle, Pierre 144 Bechmann, Friedemann 164 Beetz, Manfred 29, 33 Bellarmin, Robert 111, 112, 120, 122, 124 Bengel, Johann Albrecht 133 Berghahn, Klaus L. 89 Bernet, Claus 12 Bernhard von Clairvaux 109, 122 Besold, Christoph 62, 63, 75, 76 Betke, Joachim 157 Beyreuther, Erich 13, 27, 212 Biedermann, Benedikt 39, 40, 81, 82 Biel, Gabriel 179, 187 Bierling, Friedrich Wilhelm 31, 43 Biesterfeld, Wolfgang 63, 78, 88 Bisselius, Johannes 111, 112 Blaufuß, Dietrich 7, 11, 13, 14, 18, 30, 60, 77, 90, 94, 108, 110, 111, 130, 158, 169, 190, 193, 194, 195, 199, 205, 209, 212, 225, 230, 241, 243 Bloch, Ernst 90, 93 Blosius, Ludwig 48 Bock, Heike 11

266 Böhme, Jakob 12, 68, 126, 145, 150, 157, 207 Böhmer, Justus Christoph 31 Bonaventura 124, 178, 187 Borgia, Franz 120, 126 Born, Martin 131 Bourignon, Antoinette 126 Brach, Jean-Pierre 13 Brand, Johann Friedrich 133 Braungart, Wolfgang 88, 89 Brecht, Martin 92, 96, 133, 157, 194, 213, 217 Breckling, Friedrich 90, 150, 157, 222 Breithaupt, Joachim Justus 158 Brenz, Johannes 32 Breuer, Dieter 82, 134, 139 Breul, Wolfgang 12, 207 Breymayer, Reinhard 14, 15, 18, 27, 31, 44, 47, 57, 73, 80, 90, 111, 131, 169, 195, 209, 219 Briesemeister, Dietrich 139 Brisacier, Jean de 115 Bubenheimer, Ulrich 63 Büchner, Karl Georg 85 Büchsel, Jürgen 13, 16, 36, 45, 49, 84, 86, 130, 131, 141, 161, 162, 194, 205, 208, 209, 211, 217, 219, 220, 222, 224, 227, 232, 233, 235, 236, 239, 241, 243, 245, 260 Buddeus, Johann Franz 99, 152 Buddeus, Karl Friedrich 99 Bugot, Stephan 115 Burger, Heinz Otto 78 Bürger, Thomas 94 Busenbaum, Hermann 111 Buys, Jan 127 C. F. 57 Caesar 34 Cajetanus, Thomas 180, 181, 187 Calvin, Johannes 116, 117 Calvisius, Andreas Christoph 30 Campanella, Thomas 12 Canisius, Petrus 111, 120, 124 Canus, Melchior 189 Capreolus, Johannes 180, 181, 187 Caraffa, Vinzenz 120, 126 Caran, Pierre 132

Personenregister Carl, Andreas David 145 Carpzov, Johann Benedikt 121, 132 Cassianus, Johannes 122 Castellio, Sebastian 28, 251 Caussinus, Nikolaus 51, 53 Cave, William 154 Chevallier, Marjolaine 126, 127, 138 Christianus Democritus s. Dippel, Johann Konrad Christianus Democritus Redivivus s. Bachstrom, Johann Friedrich Chrysostomus, Johannes 71 Chytraeus, David 198 Cicero 24, 25, 30, 33, 34, 81, 176, 187, 189 Clasen, Daniel 181, 187 Clericus, Johannes 102 Cocceius, Johannes 116 Coler, Johann Christoph 155, 156, 164 Comenius, Johann Amos 90, 150, 249 Cordier, Balthasar 120, 126 Corrodi, Heinrich 94 Crell, Johann 145 Crophius, Johann Baptist 110 Cruciger, Elisabeth 238 Cuno, Johann 198 Curtius Rufus 34 Cyprian, Ernst Salomon 130, 150, 155 Daxelmüller, Christoph 152 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht 102 Denifle, Heinrich 61, 62, 64, 65f., 67 Deppermann, Andreas 238, 247 Deppermann, Klaus 11, 83, 90, 92, 157 Derville, André 127 Descartes, René 28 Deutschmann, Jeremias 162 Deutschmann, Johann 162, 163, 164 Dibelius, Franz 86, 130, 161, 162, 195, 211 Dienst, Karl 159 Dietz, Gustav 121 Dilthey, Philipp Jakob 215 Diokletian 240 Dippel, Johann Konrad 68, 96–99, 101, 102, 103, 104, 197 Disselkamp, Martin 70

Personenregister Dockhorn, Klaus 23 Dohm, Burkhard 12 Doren, Alfred 89 Döring, Detlef 212 Dörries, Hermann 36, 134, 195, 197, 205, 207, 208, 209, 212, 216, 217, 224, 226, 228, 235, 240, 241, 243, 245, 249, 253, 254, 258, 259 Draude, Marcus 163 Drexel, Jeremias 82, 111, 112, 126 Duhr, Bernhard 121 Dünnhaupt, Gerhard 107, 132, 137, 193, 194, 197, 205, 208, 209, 211, 212, 222, 235, 237, 238, 240, 241, 243, 249, 259 Duns Scotus, Johannes 170, 179, 180, 189 Durandus a S. Porciano/Portiano 165, 170, 183, 187 Dyck, Joachim 15, 17, 30, 35, 52, 61 Ebel, Kaspar 168, 176, 181, 187 Egardus, Paulus 72 Ehmann, Karl Christian Eberhard 134, 193 Ehrenpreis, Stefan 11 Eisner, Andreas 35 Elisabeth Christine von Wolfenbüttel 230 Ellrod, German August 164 Elm, Kaspar 109 Erasmus von Rotterdam 19, 22, 24, 25, 28, 32, 60 Erb, Peter Christian 53, 57, 59, 62, 64, 162, 163 Ernst Ludwig, Landgraf von HessenDarmstadt 211, 221 Esch, Niklaus 124, 127, 157 Eschweiler, Karl 166, 168 Fabricius, Johann Andreas 144 Faivre, Antoine 13 Falck, Nathanael 164 Faust, Johann 164 Fauth, Dieter 63 Feller, Joachim 131 Fénelon, François de Salignac de la Mothe 132 Ferdinand II., Kaiser 116

267 Feustking, Johann Heinrich 79 Ficinus, Marsilius 24 Fincelius, Christian 171 Fischer, Albert Friedrich Wilhelm 247, 250 Fischer, Johann 159 Flacius, Matthias (Illyricus) 24 Forrer, Lorenz 111 Förster, Johann 145 Forster, Johann 71 Francisci, Johann 163, 164 Franciscus de Mayronis 170 Franck, Sebastian 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 56, 57, 81, 126, 145, 146, 150, 153 Francke, August Hermann 34, 42, 43, 52, 53, 85, 100, 101, 108, 121, 133, 136, 158, 159, 213, 214, 220, 253 Francke, Gotthilf August 101 Franckenberg, Abraham von 120, 121 Franz Xaver 120 Freylinghausen, Johann Anastasius 158 Friedrich I., König in Preußen 83 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 117 Fries, Johann Heinrich 133, 139 Fritsch, Ahasver 25, 30, 212, 225 Fritsch, Thomas 80, 150 Froereisen, Johann Leonhard 31 Fuchs, Paul von 83 Füssli, Johann Heinrich 94 Gäbler, Ulrich 217 Gadamer, Hans-Georg 90, 91 Gandlau, Thomas 62 Garber, Klaus 190, 230 Geldsetzer, Lutz 24 Gellius 24 Gerhard, Johann 32 Gerson, Johann 122, 124 Gessner, Salomon 94 Gestrich, Andreas 213 Geyer, Hermann 224, 259 Gichtel, Johann Georg 157 Gierl, Martin 12 Gies, Hildburgis 120 Gilly, Carlos 19, 251 Gleditsch, Johann Friedrich 76 Gnädinger, Louise 120

268 Godfridus Cornubiensis 170 Goeters, Johann Friedrich Gerhard 161, 162, 197, 216, 233, 241 Goethe, Johann Wolfgang 19, 91 Goldammer, Kurt 82 Gondal, Marie-Louise 132 Gonzaga, Aloysius von 120 Graesse, Johann Georg Theodor 161 Grauer, Albert 145 Gregor XV., Papst 114 Gregor der Große 122, 187 Gregor von Nazianz 241 Gregor von Rimini 183, 187, 188 Greiffenberg, Catharina von 78 Greissing, Christoph 163 Greschat, Martin 18 Gretser, Jakob 111, 112, 114 Grimm, Gunter E. 29 Grimm, Jakob und Wilhelm 208, 209, 210, 211, 214, 216, 218, 219, 223, 225, 229, 230, 231, 238, 243, 247, 251, 255, 257 Grimm, Reinhold 78 Grotius, Hugo 128, 152 Grünberg, Paul 158 Guillore, François 127 Gumprecht, Johannes Paul 30 Günther, Johannes 121, 132 Günther, Theodor 147, 157, 158 Guyon du Chesnoy, Jeanne-Marie 132, 141 Haas, Alois 47, 48, 67 Haase, Johann 76 Habermas, Jürgen 15 Habert, Isaac 115 Hahn, Gerhard 229 Hamann, Johann Georg 17 Hamburger, Käthe 85 Hamm, Berndt 57 Hanegraaff, Wouter J. 13 Hauntinger, Johann Nepomuk 144 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 91 Heidegger, Johann Heinrich 116, 117 Heinrich von Gent 182, 188 Held, Hans-Ludwig 55 Held, Heinrich 250 Held, Jutta 190

Personenregister Helmbold, Ludwig 238 Hemming, Nikolaus 198 Henckel, Matthäus 161 Herberth, Georg 163 Herder, Johann Gottfried 21 Hermann, Adam 161 Herrera, Franciscus 180, 188 Herrnschmidt, Johann Daniel 108 Herveus Natalis 170, 182, 188 Herzog, Urs 71 Hesiod 24 Heumann, Christoph August 31, 32, 144, 151 Heumann-Lotz, Ute 11 Hiel s. Jansen, Heinrich Hieronymus, Prinz von Radziwill 100 Hobbes, Thomas 150 Hoburg, Christian 53, 150, 156, 157 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 97 Hodgus [?], Anastasius 198 Hoffmann, Barbara 93 Hollaz, David 121 Holzhey, Helmut 168 Horaz 25 Horch(e), Heinrich 215 Hornung, Hans 62, 63, 75 Huber, Ulrich 42, 43 Hugo von St. Viktor 124 Hugo, Hermann 107, 108, 111, 112, 119, 126 Hülsemann, Johann 60, 71 Humboldt, Wilhelm von 90 Hunger, Albert 114 Hunnius, Nikolaus H. 32 Ibn Tufail s. Abu Bakr Ignatius von Loyola 118, 119, 120, 122, 128 Isaiasz, Vera 11 Isokrates 24 Jacob, Joachim 218 Jäger, Johann Wolfgang 133 Jakob I., König von England 116 Jakubowski-Tiessen, Manfred 11, 92, 213 Jansen, Heinrich 126 Jansenius, Cornelius 115, 116

Personenregister Jaspert, Bernd 31, 161, 197, 216, 228 Jean de Galles 69 Jenisch, Paul 198 Jenisius, Paulus s. Jenisch, Paul Jennis, Lukas 63, 75 Jerichow, Traugott Immanuel 158 Jöcher, Christian Gottlieb 161, 188 Johannes de Bassolis 180, 187 Johannes Evangelista von Herzogenbusch 109 Johannes vom Kreuz 119, 120, 139, 141, 142 Johannes von Jesus Maria 124, 140 Jørgensen, Sven-Aage 88, 90 Joris, David 126 Jung, Hermann 90 Juntke, Fritz 162 Kaiser, Gerhard 17, 56 Kamlah, Wilhelm 89 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 18 Kapitza, Peter K. 31, 33 Katharina von Bologna 124 Kaufmann, Thomas 193 Keding, Volker 112, 219, 235 Keller, Rudolf 24 Kellio, Nicolas 114 Kemper, Hans-Georg 19 Kesler, Andreas 60 Kieser, Johann Philipp 134 Killy, Walther 12, 25, 30, 32, 62 Kircher, Athanasius 112 Kirn, Hans Martin 214 Klaj, Johann 78 Klotz, Stephan 181, 188 Knapp, Albert 193 Knoderer, Johann Andreas 164 Kobuch, Agatha 102 Koch, Ernst 150 König, Johann Christoph 137, 140 Konstantin der Große 154, 209, 243 Kortholt, Matthias Nikolaus 31 Kosch, Wilhelm 99 Koselleck, Reinhard 89 Köster, Beate 218 Kramm, Heinrich 162, 164 Kreuder, Ursula 81, 84 Kreutzer, Johann 75

269 Krummacher, Hans Henrik 61 Kuhlmann, Quirinus 78, 145, 150 Kühlmann, Wilhelm 12, 25, 29, 33, 43 Kühn, Andreas 141 Kummer, Susanne 14 Laeven, Augustinus Hubertus 132 Lambertus, Franciscus 34 Lamormaini, Wilhelm 116 Lange, Joachim 28, 43, 60, 61, 71, 74 Lange, Johann Christian 31 Lange, Johann Michael 60 Langen, August 16, 48, 56, 112, 213, 218, 229, 241, 248, 255, 261 Langle, Père de 128 Laodicea, Bischof von 257 Largier, Niklaus 63 Launoy, Bonaventura de 124 Le Brun, Jacques 132 Ledel, Friedrich 164 Lehmann, Christoph 164 Lehmann, Hartmut 11, 12, 92, 93, 141, 190 Leibniz, Gottfried Wilhelm 103, 104 Lessing, Gotthold Ephraim 85 Lessius, Leonhard 120 Leube, Hans 133 Lewalter, Ernst 166, 168 Lichtenberg, Georg Christoph 153 Lichtenberger, Johann 95 Lieb, Fritz 82 Liehr, Harald 14 Lilienthal, Michael 32 Lipenius, Martin 188 Lippoth, Rolf 14 Litman, Théodore A. 70 Livius 172, 188 Lombardus, Petrus 188 Lorenz, Stefan 104 Lubinus, Eilhard 145 Lüders, Justus 157, 158 Ludwig XIV., König von Frankreich 95 Lundberg, Mabel 122 Luther, Martin 12, 23, 24, 57, 61, 67, 70, 76, 95, 110, 117, 125, 145, 146, 149, 158, 159, 198, 213, 216, 224, 226, 227, 229, 235 Lütkemann, Joachim 72

270 Lutz, Eckart Conrad 82 Machiavelli, Nikolaus 32 Mack, Rüdiger 14, 96, 112, 113, 196, 216, 227, 233, 253, 254 Madewis, Friedrich 164 Maffei, Giovanni Pietro 112 Mahlmann-Bauer, Barbara 78 Mahrholz, Werner 193 Maimbourg, Louis 114, 117 Maior, Johannes 182, 188 Major, Georg 198 Makarius der Ägypter 134, 235, 241 Mannheim, Karl 93 Marsilius von Inghen 183, 187, 188 Martens, Wolfgang 34 Marti, Hanspeter 7, 12, 14, 29, 30, 31, 35, 70, 82, 93, 107, 110, 121, 138, 147, 149, 153, 164, 165, 190, 199, 212, 213, 241 Marti-Weissenbach, Karin 14, 29, 107, 147, 165, 199 Martin, Irmfried 107 Martinez de Ripalda, Juan 115 Martini, Cornelius 149 Martini, Jakob 168 Masen, Jakob 115 Mathesius, Johann 198 Matthias, Markus 107 Mautner, Franz Heinrich 153 May, Johann Heinrich 96, 97, 112, 233, 253, 254 Mayer, Johann Friedrich 107, 108, 110, 121, 133, 197 Mechthild von Magdeburg 124 Meichel, Joachim 82 Meier, Gerhard 73 Meier, Marcus 12, 199, 207, 209, 228 Melanchthon, Philipp 24, 32, 76, 146, 224 Mencke, Johann Burkhard 32 Mencke, Otto 132 Menestrier, Claude-François 111 Mercier, Louis-Sebastien 89 Mergo, Joachim Ernst 164 Merlau, Eleonora von s. Petersen, Johanna Eleonora Merlinus, Jacobus 187 Mertens, Hieronymus Andreas 144

Personenregister Metzger, Martin 102 Meumann, Markus 11 Meyer, Dieter 216 Meyer, Gottfried 13 Meyfart, Johann Matthäus 198, 222, 223 Mies, Anke 163 Mißfeldt, Antje 7, 14, 199 Moeller, Bernd 79, 146, 193, 213 Mohl, Wilhelm Ludwig 133 Mohr, Rudolf 31, 161, 197, 216 Molina, Luis de 115 Molinos, Michael 84, 95, 96, 115, 116, 119, 130–143 Morhof, Daniel Georg 31, 144 Mörlin, Joachim 70 Morus, Thomas 77, 88, 89, 93, 97 Mudroch, Vilem 168 Mühlpfordt, Günter 12, 190 Müller, Daniela 63 Müller, Gottfried Polykarp 31 Müller, Götz 100, 101, 102 Müller, Heinrich 71, 72 Müller, Samuel 197 Mulsow, Martin 190 Müntzer, Thomas 68, 93 Muratori, Cecilia 12 Musculus, Andreas 198 Naumann, Dietrich 100, 101 Nervius 33 Neumeister, Erdmann 92 Nickl, Peter 137 Nicolai, Philipp 198 Niekus Moore, Cornelia 93 Nieper, Hieronymus 133 Nieremberg, Johann Eusebius 120 Niewöhner, Friedrich 13, 14, 18, 77, 88, 94, 111, 130, 169, 190, 193, 194, 195, 205, 209, 212 Nigg, Walter 207 Nikolaus von Jesus Maria 140 NN [Verleger OB 1698] 194, 205f. Nollius, Heinrich 145 Nouët, Jacques 127, 128 Oldach, Matthias Jakob 164 Olearius, Johannes 247 Oliva, Gian Paolo 119

Personenregister Opitz, Martin 100 Orell, Hans Conrad 94 Orthodoxophilus s. Neumeister, Erdmann Otto, Wolfgang 161 Ovid 24, 108 Pacho, Eulogio 131, 132, 136, 139 Paludanus, Michael 188 Pancratius s. Pangratius, Andreas Pangratius, Andreas 60, 70 Panus 183, 188 Pape, Johann Christoph 205 Paracelsus 12, 68, 82, 95, 126, 145, 150 Pasch, Johann 164 Paulus 34 Paulus de Benazano 188 Perrault, Charles 31 Peschke, Erhard 52, 85, 121, 213, 220, 253 Pestalozzi, Karl 20 Petavius, Dionysius 115 Petersen, Johann Wilhelm 107, 108, 158, 214 Petersen, Johanna Eleonora 107, 108, 238 Petersen, Peter 166 Petrucci, Pietro Matteo 131, 132, 141 Petrus 34 Petrus Aureolus 170, 178, 187 Pezel, Christoph 145 Pfanner, Tobias 152, 194 Pfeiffer, August 79 Philippi, Johann Ernst 32, 33 Philippus de Bagnacavallo 189 Pico della Mirandola, Giovanni 24, 34 Pieper, Monica 62 Pindar 24 Pistorius, Johann 145 Plato 24, 30 Plautus 34 Pohlig, Matthias 11 Poiret, Pierre 27, 28, 29, 34, 37, 42, 43, 49, 50, 62, 119, 125, 126, 127, 128, 129, 136, 138, 139, 140, 141, 150, 157 Ponickau, Johann August von 205 Ponte, Ludwig de 120, 126, 128 Pordage, John 150

271 Pörnbacher, Karl 82 Possevino, Antonio 112, 120 Priem, Georg 137 Prosperus, H. 187 Pufendorf, Samuel 128 Quenstedt, Johann Andreas 60, 70, 71 Quintius 33 Raabe, Paul 100 Rancke, Andreas 164 Rapin, René 127 Rebhan, Nicolaus 60 Recaldini, Giovanni 132 Rechenberg, Adam 34, 43, 121, 212 Regelein, Johann Friedrich 194, 197 Reimmann, Jakob Friedrich 13, 144–160, 190 Reimmann, Johann 145 Reimmann, Johann Wilhelm 158 Reitz, Johann Henrich 107, 194, 214, 215 Renkewitz, Heinz 97 Riccioli, Giambattista 112 Richard von Mediavilla 178, 189 Richard von St. Viktor 124 Richer, Edmond 43 Richey, Michael 148 Rigoleuc, Jean 127 Ringwald, Bartholomäus 247 Risse, Wilhelm 28 Ritschl, Albrecht 109, 110, 143 Ritter, Gerhard 187 Roberts, Frank Carl 161 Rodriguez, Alfons 120, 126, 127 Rödter, Gabriele Dorothea 112 Rossignoli, Bernardin 120 Rosweyd, Heribert 111, 126, 127 Roth, Dorothea 69 Rothermundt, Jörg 15 Rotondo, Antonio 251 Rudrauff, Kilian 187 Rühfel, Georg Adolph 31 Ruysbroek, Jan 62, 75, 112, 124, 125 Saage, Richard 93 Saint-Jure, Jean-Baptiste 127 Sand, Hermann von 76

272 Sandäus, Maximilian 47, 48, 49–51, 111, 112, 119, 120, 121, 122–125, 126, 127, 128 Sarbiewski, Matthias Casimir 111 Sarcerius, Erasmus 198 Saxl, Fritz 89 Scaliger, Julius Caesar 179, 189 Schanze, Helmut 23, 131 Scharff, Johann 149, 168 Scheffler, Johann s. Angelus Silesius Scheibler, Christoph 165, 168, 176, 187, 189 Schelwig, Samuel 197 Schering, Ernst 27 Schertfez, Georg 163 Schian, Martin 60, 71 Schicketanz, Peter 159 Schieckel, Harald 14 Schiller, Friedrich 20, 37 Schilling, Heinz 190 Schilling, Johannes 11 Schilling, Michael 62 Schilling, Ruth 11 Schings, Hans-Jürgen 85 Schirmer, Michael 247 Schleich, Clemens 64 Schleupner, Christoph 60, 69f. Schlögl, Rudolf 12 Schmidt, Gottfried Hermann 62 Schmidt, Heiner 25, 99 Schmidt, Johann Andreas 133 Schmidt, Martin 193 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 12, 168 Schmitt, Wolfgang 30 Schnabel, Johann Gottfried 89, 90 Schneider, Hans 11, 19, 38, 92, 94, 96, 97, 98, 150, 155, 169, 193, 199, 205, 207, 210, 211, 212, 215, 219, 221, 222, 227, 228, 232, 233, 235, 237, 239, 240, 259, 260 Schneiders, Werner 143 Schöffler, Herbert 100 Scholler, Friedrich Adam 164 Schön, Kaspar 164 Schönebaum, Herbert 99 Schoppe, Kaspar 111 Schrader, Hans-Jürgen 107, 132, 190, 194, 214

Personenregister Schröder, Nicolaus 69, 71, 72 Schröder, William von 125, 126, 127 Schubart, Johannes Gottfried 31 Schüling, Hermann 97, 168 Schulz, Erika 161 Schulze, Wilhelm August 41, 118, 210 Schupp, Balthasar 33 Schurtzfleisch, Konrad Samuel 219 Schuster, Susanne 30 Schütz, Johann Jakob 64, 238, 247 Schwenckfeld, Kaspar 53, 57, 62, 68, 157 Scriver, Christian 72 Sdzuj, Reimund B. 34 Seckendorf, Veit Ludwig von 132 Seeber, Hans Ulrich 89 Seeberg, Erich 16, 17, 18, 24, 25, 27, 28, 30, 36, 49, 56, 67, 78, 81, 82, 85, 107, 122, 125, 130, 131, 155, 162, 193, 210, 219, 226, 235, 237, 238, 249, 253, 254, 259 Segneri, Paolo 116, 132 Selnecker, Nicolaus 198 Seneca 24 Seuse, Heinrich 75 Seybold, Johann Georg 249 Sigisbert von Gembloux 153 Simon, Richard 97 Sinemus, Volker 29 Sinold von Schütz, Philipp Balthasar 89 Siveke, Franz Günter 51 Soardus, Lazarus 188 Sommer, Andreas Urs 12 Sommer, Wolfgang 13, 30, 60, 107, 225 Sommervogel, Carlos 121 Spangenberg, Cyriacus 198 Sparn, Walter 168 Spee, Friedrich von 48, 111 Spener, Philipp Jakob 14, 16, 30, 34, 39, 57, 61, 62, 63, 64, 76, 96, 110, 131, 141, 157, 158, 159, 160, 190, 212, 214, 217, 218, 220, 226, 230, 235, 241, 260 Spiewok, Wolfgang 87 Spinaeus, Bartholomäus 187 Spinoza, Benedikt 85 Spizel, Gottlieb 25, 241 Staats, Reinhard 11 Stahl, Georg Ernst 150, 151 Stählin, Traugott 54, 56, 59, 134

Personenregister Steiger, Johann Anselm 85, 199, 225 Stockinger, Ludwig 88, 89 Stolle, Gottlieb 126, 144 Sträter, Udo 12, 214 Struve, Burkhard Gotthelf 31, 144 Stumm, Peter 164 Suarez, Franz 110, 126, 166, 167, 168, 173, 174, 178, 180, 183, 186, 189 Sudermann, Daniel 59, 60, 61, 62, 63, 64, 75 Sueton 24 Surgant, Johann Ulrich 69 Surin, Jean-Joseph 120, 126, 127 Tacitus 24 Tanner, Adam 114, 115 Tartler, Andreas 163 Tauler, Johann 61, 62, 63, 64, 67, 75, 76, 110, 124, 125, 141, 213 Terenz 34, 154 Tersteegen, Gerhard 261 Teutsch, Paul 46, 163, 164, 171 Theresa von Avila 109, 139, 141 Theunen, Friedrich Heinrich 147, 151, 153 Thomas a Jesu s. Thomas von Jesus Thomas a Kempis 28 Thomas von Aquin 124, 166, 168, 186, 187, 188, 189 Thomas von Jesus 124, 140 Thomasius, Christian 13, 28, 40, 42, 43, 152, 154, 155, 230 Thorschmid, Justus Christoph 31 Thumm, Theodor 111, 116 Till, Dietmar 70 Trausch, Josef 164 Trepp, Ann-Charlott 12, 93 Treuner, Johann Philipp 147 Trunz, Erich 29, 223 Tümpel, Wilhelm 247, 250 Ueberweg, Friedrich 168 Ullrich, Hermann 99, 100, 101 Ursinus, Johann Heinrich 111 Van den Broek, Roelof 13 Van Dülmen, Richard 108 Van Essche, Nicolas s. Esch, Niklaus

273 Van Gemert, Guillaume 139 Van Ingen, Ferdinand 93 Vasquez, Gabriel 110, 167, 173, 181, 182, 184, 189 Vast, Hermann 133 Vergil 25 Vives, Ludovico ( Johann Ludwig) 24, 25 Vockerodt, Gottlieb 34f., 42, 43 Vogel, Lothar 12, 207, 208, 226 Vogler, Valentin Heinrich 144 Vom Orde, Klaus 141 Vossius, Johann Gerhard 85 Vosskamp, Wilhelm 88, 89 Wächtler, Reinhard 133 Wadding, Lukas 188 Wagner, Christian 133 Wagner, Georg 164 Wallmann, Johannes 64, 92, 97, 109, 110, 150, 158, 159, 217 Walter, Axel E. 230 Walther, Samuel Benjamin 80 Wehrli, Max 84 Weigel, Valentin 68, 81, 82, 86, 126, 150, 157 Weingartner, Johann 116 Weislinger, Johann Nikolaus 118 Weiß, Ulman 12 Werdenhagen, Johann Angelus 145 Wettstein, Heinrich 126 Wiedemann, Conrad 78 Wiegleb, Johann Hieronymus 158 Wieser, Max 125 Wilcke, Johann 161 Wild, Eberhard 63 Wilhelm von Ockham 179, 183, 188 Winter, Eduard 100 Wittmann, Reinhard 27 Wodianka, Stephanie 230 Wolf, Gerhard Philipp 13, 30, 60, 107, 225 Wolff, Christian 100, 101 Wolfram von Eschenbach 86f. Wollgast, Siegfried 86, 121, 143 Wundt, Max 28, 166 Wychgram, Jakob 24

274 Zacharias, Carna 89 Zeaemann, Georg 111, 116 Zedelmaier, Helmut 190 Zedler, Johann Heinrich 34, 161 Zeller, Winfried 31, 161, 197, 216, 228, 248

Personenregister Zimmermann, Johann Jakob 157 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 110, 158, 216, 261 Zovatto, Pietro 131 Zuccolius, Vitalis 188 Zunner, Johann David 120