Gotteserkenntnis und Weltentfremdung: Der Weg der spekulativen Theologie Hans Lassen Martensens 9783666562297, 9783525562291

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Gotteserkenntnis und Weltentfremdung: Der Weg der spekulativen Theologie Hans Lassen Martensens
 9783666562297, 9783525562291

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Hermann Brandt Gotteserkenntnis und Weltentfremdung

HERMANN BRANDT

Gotteserkenntnis und Weltentfremdung Der Weg der spekulativen Theologie Hans Lassen Martensens

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zut systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink Band 25

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1971. — Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

VORWORT Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 1968/69 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen als Dissertation angenommen worden. Für den Druck habe ich sie an einigen Stellen ergänzt und überarbeitet. Mein Dank gilt zuerst meinem verehrten Lehrer Herrn Professor D. Dr. Wolfgang Trillhaas für die Förderung, die ich in meinem Studium und bei der Ausarbeitung der Dissertation durch ihn erfahren habe. Aufrichtig danken möchte ich auch Herrn Professor D. Emanuel Hirsch, von dem ich auf dem Gebiet der Theologie und Philosophie des 19. Jahrhunderts Belehrung und für meine Arbeit wichtige Anregung empfing. Sodann danke ich den Korreferenten Herrn Professor Dr. Dr. Carsten Colpe und Herrn Professor D. Götz Harbsmeier, der mir einen Studienaufenthalt in Borchs Kollegium, Kopenhagen, vermittelt hat, und den Herren, die midi während meiner Studienzeit in Dänemark beraten haben: J.K.Bukdahl, Professor Dr. S.Holm, Professor Dr. R.Prenter, Professor Dr. K.E. Skydsgaard, Professor Dr. Ν. H. See, Dozent Dr. A. Pontoppidan Thyssen und Professor Dr. N. Thulstrup. Endlich danke ich denen, die die Drucklegung ermöglicht haben: Herrn Professor D. Dr. Edmund Schlink für seine Bereitschaft, meine Dissertation in die Reihe der „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie" aufzunehmen, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung einer großzügigen Beihilfe, der Landeskirche Schleswig-Holsteins und der Lippischen Landeskirche für namhafte Zuschüsse und nicht zuletzt Fräulein Irene Herrn für ihre Hilfe bei der Anfertigung des Manuskripts. Detmold, im Mai 1970 Hermann Brandt

5

Abkürzungen I. Schriften von Martensen Au

De Autonomia conscientiae sui humanae, in theologiam dogmaticam nostri temporis introductam Böhme Jacob Böhme, Theosophische Studien D Die christliche Dogmatik Dorner I, II Briefwechsel zwischen H. L. Martensen und I. A. Dorner, 18391881, I. und II. Band Ε I, II, III Die christliche Ethik, Allgemeiner Theil (I); Specieller Theil, Erste Abtheilung: Die individuelle Ethik (II); Zweite Abtheilung: Die sociale Ethik (III) Eck Mester Eckart, Et Bidrag til at oplyse Middelalderens Mystik Gr Grundrids til Moralphilosophiens System. Udgivet til Brug ved academiske Forelaesninger Gude I, II, III Biskop H. Martensens Breve, Band I, II, III, Breve til L. Gude L I, II, III Aus meinem Leben. Mittheilungen; Erste Abtheilung, 1808-1837 (I); Zweite Abtheilung, 1837-1854 (II); Dritte Abtheilung, 1854-1883 (III) LF Ueber Lenaus Faust LF, MS Betragtninger over Ideen af Faust. Med Hensyn paa Lenaus Faust, in: Mindre Skrifter og Taler af Biskop Martensen . . . . S. 27 ff. MS Mindre Skrifter og Taler af Biskop Martensen. Udgivne med en Oversigt over hans Forfattervirksomhed af Julius Martensen II. Schriften über Martensen Andersen Arildsen

I. O. Andersen, Biskop Martensens Ungdom Skat Arildsen, Biskop Hans Lassen Martensen, hans Liv, Udvikling og Arbejde, Studier i det 19. Aarhundredes danske Aandsliv, I

III. Schriften von W. H. Riehl bG F LL

Die bürgerliche Gesellschaft Die Familie Land und Leute

IV. Schriften von Schelling FrL PhO WA

Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Werke, hrsg. von M. Schröter, Band 4, S. 223-308 Der Philosophie der Offenbarung zweiter Theil, in: Werke, hrsg. von M. Schröter, Band 6, S. 389-726 Die Weltalter, in: Werke, hrsg. von M. Schröter, Band 4, S. 571720

Vollständige Bibliographie auch zu den in den Anmerkungen genannten Literaturangaben im Literaturverzeichnis, S. 261 ff. 6

INHALT Vorwort

5

Abkürzungen

6

Hinweis

9

Einleitung

11

1. Vorbemerkung 2. Martensen im Urteil der deutschen Theologiegeschichte

·

·

A. Biographischer Abriß B.

17

Darstellung der Theologie Martensens in ihrer Entwicklung

.

63 63

I. Die Aneignung der spekulativen Methode 1.Die ersten Schritte zu einer „freien" Theologie a) Sdileiermacher in Kopenhagen b) Die Kolthoff-Rezension c) Die „spekulative Poesie" („Ueber Lenaus Faust") d) Die Rezension von Heibergs „Einleitungsvortrag"

11 12

. . . .

63 63 65 66 75

. . . . . . . .

2. Die Abkehr von Schleiermacher unter Berufung auf Hegel a) „De Autonomia conscientiae sui humanae" b) „Meister Eckart"

76 76 85

3. Martensen im Banne Hegels — das erste „System" („Grundriß zum Studium der Moralphilosophie") a) Inhalt und Aufbau b) Der Einfluß Hegels c) Kunst und Spekulation d) Ort und Rang des „Christlichen" im „Grundriß" e) Die offenen Stellen des Systems: Ausblick auf Schelling . .

91 92 99 101 103 105

II. Die Basis für die Endgestalt von Martensens theologischer — Die Philosophie Schellings

Spekulation

1.Die Freiheitslehre 2. „Die Weltalter" 3. „Der Philosophie der Offenbarung zweiter Theil" . a) Die Unterordnung der Philosophie unter die Offenbarung b) Die Mythologie und das Christentum c) Die Trinität und die Potenzen

. .

· .

109 109 115 119 119 120 122 7

d) Das christologische Problem und seine Lösung e) Die Satanologie f) Zusammenfassung und Überleitung

123 128 132

III. Martensens „Christliche Dogmatik"

135

1. Die Prolegomena

135

a) Das reformatorische Prinzip und der Nachholbedarf der Dogmatik b) Der innerkirchliche Standort der Dogmatik c) Die spekulative Dogmatik und die Schrift d) Die Behandlung der Tradition e) Die vorgeschaltete Trinitätslehre

2. „Die Lehre vom Vater" a) Der trinitarische Gottesbegriff und die Schöpfungslehre b) Der Bezug zur Gegenwart 1. Schöpfungsteleologie, Ebenbildlichkeit, Humanität 2. Dogmatik und Naturwissenschaft — der erste Adam c) Der Fall und seine metaphysischen Voraussetzungen 1. Notwendigkeit des Sündenfalls? 2. Sünde als Verkehrung der Prinzipien 3. Die Überbietung der immanenten Satanologie 4. Satanologie und Heilsgeschichte 5. Rückblick und Überleitung

146 .

.

.

. . .

. . .

. . .

3. „Die Lehre vom Sohne" a) Schöpfung und Inkarnation b) Die kosmische Bedeutung Christi und der Gedanke der Leiblichkeit c) Die doppelte Mittlerschaft (Logosoffenbarung und Christusoffenbarung) d) Die Funktion der Kenosislehre e) Einschaltung: Der Gottmensch und der Jesus der Evangelien . f) Martensens verkappte kenotische Christologie in ihrer Entfaltung g) Die Widersprüche und die Schwierigkeit einer Widerlegung . h) Der Anhangscharakter der „Lehre vom Geiste" i) Der Streit um die Dogmatik j) Die Berufung auf Schelling IV. Martensens „Christliche Ethik"

8

135 137 139 141 143 146 147 147 148 150 150 153 154 158 160

161 161 163 166 170 171 174 182 183 185 190 193

1. Vorbemerkung 2. Der Aufbau der Ethik 3. Die Zielsetzung der Ethik

193 193 197

4. M o t i v e in d e r G r u n d l e g u n g des ethischen P r o g r a m m s . . a) Die Anerkennung der religionslosen Sittlichkeit auf dem Hintergrund der Dogmatik

201 201

b) Die Vereinnahmung aller Sittlichkeit für die Arbeit am Reich Gottes c) Die ungewollte Abhängigkeit der Ethik 5. Ethik und Kultur — Bruchstücke einer Kulturtheorie a) Kultur als Lebenselement b) Teleologie der Kultur c) Protestantismus und Kultur d) Positive Kultur e) Normierte Kultur

·

· 210 211 212 213 214 215

6. Ethik in der Defensive (Die Methode der Ethik) . . . . a) Der Aufweis des Fragmentcharakters der Existenz und ihrer „Relativität" b) Das Bemühen um eine Selbstbescheidung der normativen Ethik c) Die Berufung auf die Erfahrung und der Appell an die unmittelbare Evidenz d) Die Reduktion der Voraussetzungen für die Einsehbarkeit . 7. Wilhelm Heinrich Riehl und die soziale Ethik a) Martensens Lehre von Familie und Staat 1.Die Familie 2. Der Staat b) Nachweis und Deutung der Abhängigkeit Martensens von W. H. Riehl

204 207

217 217 219 221 223 225 225 225 226 230

8. Ethik und Spekulation

237

9. Martensen und Kierkegaard

240

V. Martensens Zuflucht in der Theosophie

248

C.

Abschließende Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

250 261

Hinweis Der Leser wird um Verständnis dafür gebeten, daß das dänische dän ÄL bzw. sc im folgenden durchweg A E bzw. ae wiedergegeben wird.

9

EINLEITUNG 1.

Vorbemerkung

Die Beschäftigung deutschsprachiger Theologie mit dem Leben und Werk Soren Kierkegaards dauert seit nahezu zwei Generationen an. Der Ansporn zu tieferem Eindringen, das Problem sachgerechter Interpretation verschärfte sich noch dadurch, daß Kierkegaard zur Legitimierung der eigenen theologischen Position beansprucht wurde 1 . Kierkegaard ist als Bündnispartner im theologischen Gefecht allseitig umworben worden: Zwei deutsche Kierkegaardausgaben, veranstaltet von H.Diem und E.Hirsch, konkurrieren miteinander. Diese Präsenz Kierkegaards im theologischen Bewußtsein in Deutschland hat freilich hinsichtlich der geschichtlichen Würdigung eine Simplifizierung zur Folge gehabt, insofern man weithin den Maßstab zur Beurteilung vor allem seines Verhältnisses zur „Staatskirche" direkt seiner Polemik entnahm. Die kirchlichen Verhältnisse Dänemarks in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden nur gleichsam einäugig wahrgenommen; man beurteilte sie eben nach dem Schema „Kierkegaard und die Staatskirche", und die Option für Kierkegaard stand dabei von vornherein fest. Dieses eintönige Bild hat seit kurzem eine Belebung erfahren. Ohne Rückgriff auf die durch Kierkegaard bereit gelegte Optik ist N . F . S . Grundtvig, der Begründer der Volkshochschule, als selbständige Erscheinung der Theologie und Kirche Dänemarks im 19. Jahrhundert gewürdigt worden 2 . Kierkegaard und Grundtvig — es sind somit zwei kirchliche Außenseiter, denen noch heute in Deutschland ein, wenn auch unterschiedlich großes, Interesse gilt. Schon 1867 jedoch hatte Martensen gegen die Ansicht protestiert, „daß Grundtvig und Kierkegaard die zwei bestimmenden Factoren sein sollen für unser kirchliches Leben". Denn es gibt „eine dritte, in diesem Jahrhunderte gleichzeitig mit Grundtvig, von Mynster anfangende (und d.h.: von Martensen fortgeführte!) acht evangelische, 1 Vgl. z.B. H.Diem, Methode der Kierkegaard-Forschung, ZZ, 6. Jg., 1928, S. 140-171 (bes. S. 165ff.); ders., Die Kirche und Kierkegaard, ZZ, 9. Jg., 1931, S. 297-319 und S. 386-404; ders., Erbe und Schuld. Zur Psychologie der Kierkegaard-Renaissance, ZZ, 10. Jg., 1932, S. 216-248 (bes. S. 236f.); ferner die instruktive Ubersicht bei H. Fischer, Subjektivität und Sünde, S. 9-13. 2 Vgl. G. Harbsmeier, Kierkegaard und Grundtvig, EvTh, 25. Jg., 1965, S. 7283 (dort auch weitere Literatur); ders. (als Hrsg. mit Κ. E. Logstrup), Kontroverse um Kierkegaard und Grundtvig, Bd. I: Das Menschliche und das Christliche.

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Christenthum und Humanität, damit auch Christenthum und Wissenschaft vereinigende Richtung, der bei weitem die größere Anzahl der Geistlichkeit angehört. Kirchliche Zustände können doch nicht beurtheilt werden, nur nach der Opposition und den Extremen. Kierkegaards kirchlicher Einfluß ist übrigens gar nicht mit Grundtvigs zu vergleichen . . . " 3 So viel steht fest: jene kirchliche Hauptrichtung, jene damals herrschende, die Mehrheit repräsentierende Theologie, von der aus beide, Kierkegaard wie auch Grundtvig, für nicht mehr als Randerscheinungen gelten konnten, — sie ist heute eine unbekannte Größe geworden. Die Vergessenheit, die sich über Martensens Werk und Gestalt gebreitet hat, ist bestürzend: Keine einzige deutsche Monographie hat sich seiner angenommen; Artikel in Lexika bilden die greifbare „Sekundärliteratur" 4 . Wenn es deshalb dieser Arbeit gelänge, unter Beiseitesetzung bestehender Pauschalurteile einen nuancierten Eindruck von der Geistesart und Gedankenwelt eines Mannes zu vermitteln, der über ein halbes Jahrhundert lang das kirchliche Leben — nicht nur seines eigenen Landes — geprägt oder wenigstens mitbestimmt hat, dann wäre das genug. So sieht diese Arbeit ihr Ziel darin, ein Versäumnis gutzumachen. Sie möchte zunächst nichts weiter, als daß audi der dritte der drei so verschiedenen, aber je in ihrer Art großen, dänischen Theologen des 19. Jahrhunderts selbst gehört wird. Denn die deutsche Literatur über Martensen reicht dazu nicht aus. 2. Martensen

im Urteil der deutschen

Tbeologiegeschicbte

Hans Lassen Martensen ist nach dem Urteil von Eduard Geismar „der bedeutendste dänische Theologe des 19. Jahrhunderts" 5 . Diese positive Einschätzung Martensens durch einen engagierten Kierkegaardforscher stellt für die Zeit der Neuentdeckung Kierkegaards in den zwanziger Jahren eine Ausnahme dar. Freilich — Geismar ist Däne, und nicht zuletzt nationale, sprachliche, geschichtliche Verbundenheit wird es sein, welche ihm bei aller herben Kritik 6 ermöglicht, über Martensen zu urteilen unter Einbeziehung dessen, was er für das Leben und die Geschlossenheit der dänischen Kirche bedeutet hat. Die achtungsvolle Haltung auch der Kritiker charakterisiert die dänische Martensen-Literatur durchgängig 7 . 8

Brief Martensens an Dorner vom 7. Juli 1867, Dorner II, 37 f. Vgl. die Artikel „Martensen" in RE, 3. Aufl., Bd. 12, S. 373-379 (P. Madsen); RGG, 1. Aufl., Bd. 4, S. 187f. (P. P. Jörgensen); RGG, 2. Aufl., Bd. 3, S. 2026 (E. Geismar); RGG, 3. Aufl., Bd. 4, S. 777f. (H. Hohlwein); EKL, 2. Bd., S. 1259f. (H. Koch). 5 E. Geismar, Artikel Martensen, RGG, 2. Aufl., Bd. 3, S. 2026. β Ε. Geismar, Sören Kierkegaard (darin: „Der Kirchenkampf, S. 601 ff.). 7 Sie ist ζ. T. verzeichnet bei C. I. Scharling, Artikel Martensen, Dansk Biograiisk Leksikon, Bd. 15, S. 377, vgl. auch V. Nannestad, H. L. Martensen. Nyt Bidrag til en Karakteristik af dansk Praediken; C. I. Scharling (Hrsg.), H. L. Martensen. Im 4

12

Als Kierkegaard seinen Einzug in Deutschland hielt, wurde dagegen sein Kampf gegen die dänische Kirche und gegen Bischof Martensen als ihrem Primas in aller Einseitigkeit zum Leitbild der Bewertung, ohne daß wie in Dänemark ein geschichtlich gespeistes Bewußtsein vom Recht auch der Martensenschen Position als Korrektiv hätte eingreifen können. So wird Martensen in Werner Elerts Buch „Der Kampf um das Christentum" unter der Uberschrift „Die Kierkegaard-Renaissance" geschildert als „der hervorragendste außerdeutsche Vertreter des Brückenschlag-Christentums, d e r . . . nie gelernt hat, über Kierkegaard objektiv zu urteilen" 8 . Ähnlich heißt es noch heute bei Karl Jaspers: „In der Form der Milde und Gerechtigkeit, in der überlegenen Haltung des weisen Kirchenfürsten, verharmloste und zersetzte er Kierkegaards Werk und Erscheinung." 9 Aber Martensens Sieg über Kierkegaard war ein Scheinsieg. Denn es „kam die Zeit, wo man, wenigstens in Deutschland, Martensen vergessen hatte, und statt dessen jener andere, Einzelne wieder aufstand" 1 0 . In der Tat ist damit die Stellung, welche beide Dänen bis heute in der wissenschaftlichen Diskussion in Deutschland einnehmen, wie bereits angemerkt, prägnant beschrieben: Seit einem halben Jahrhundert hält Kierkegaard die deutsche Forschung in seinem Banne. Wenn man überhaupt auf Martensen zu sprechen kommt, dann nur von Kierkegaard aus 11 . Kierkegaards später Sieg erscheint als ein Sieg auf der ganzen Linie. Und zwar dann um so mehr, wenn man sich vor Augen führt, welche ungewöhnliche Verbreitung Martensens Schriften gerade in Deutschland zuvor zuteil geworden war. Adolph von Harless begrüßte im Vorwort zur siebenten Auflage seiner „Christlichen Ethik" unter den Neuerscheinungen das gleichnamige Werk Martensens vorrangig als „ein Gemeingut Deutschlands" 12 . Martin Kähler spricht von Martensen als einem „Mitarbeiter an der deutschen Theologie" 1 3 . Daß dies keine übertriebenen Aussagen sind, belegen die hohen Auflagen, zu denen es Martensen besonders mit seiner Dogmatik und mit seiner Ethik in Deutschland gebracht hat 1 4 . Es sollen daher vorab einige übrigen wird Martensen in Dänemark naturgemäß gern als theologischer Klassiker zitiert, vgl. z. B. S. Holm, Religionsphilosophie, Ν. H. See, Christliche Ethik. 8 W. Eiert, Der Kampf um das Christentum, S. 432. 9 K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, S. 518f.; ähnlich H. Diem, Die Kirche und Kierkegaard, ZZ, 9. Jg., 1931, S. 398. 10 W. Eiert, a.a.O., S. 139. 11 So noch jüngst L. Steiger, Unzeitgemäßer Kierkegaard, EvTh, 29. Jg., 1969, S. 244-266. 12 G. Chr. A. v. Harless, Christliche Ethik, S. XVIII. 13 M. Kähler, Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, S. 16; vgl. auch F. Kattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher, S. 58 Anm. 14 Die Dogmatik wurde viermal in der anonymen, zweimal in der autorisierten Ubersetzung aufgelegt, die Ethik erschien 1892/94 in der sechsten Auflage, vgl. MS S. 6, 9, 11. 13

allgemeine Charakterisierungen zusammengestellt werden, die Martensens Ort im theologischen Bewußtsein der Zeit vor der Kirkegaard-Renaissance markieren. Bei der Würdigung, welche Martensen in Deutschland erfuhr — von ihr allein soll hier die Rede sein15 —, fällt zunächst das Vorwiegen formaler Gesichtspunkte auf. „Er ist ein Meister der Form. Das Talent conciser Darstellung, reinlicher Abgrenzung, prägnanter Zuspitzung ist ein außerordentliches." 16 „Seine ungewöhnliche Darstellungsgabe" 17 befähige ihn, so rühmte man ihm nach, „seine Dogmatik wie Unterhaltungsliteratur" zu schreiben18. Kein noch so trocken scheinendes Thema, dem er nicht durch Aufreißen interessanter philosophischer, ästhetischer oder historischer Perspektiven in souveräner Leichtigkeit neuen Reiz abgewönne. Wilhelm Gass bezeichnet ihn kurz und bündig als den „Ethiker der höheren christlichen Geistesbildung" 19 . Diese Einstufung Martensens muß nun allerdings nicht uneingeschränkt als Vorzug aufgefaßt werden; denn indem sie zur Hauptsache auf dem formal Eindrucksvollen seines darstellerischen Talentes beruht, ist über den Inhalt noch nichts ausgemacht. Daß bei einer derartigen, keinerlei Mühen im Technischen kennenden Begabung „die strenge Wissenschaftlichkeit der Behandlung gegen das Lebens- und Geistvolle zu sehr zurücktritt" 20 muß jedenfalls in Kauf genommen werden. Wer „die schwersten Probleme im Konversationston besprechen kann" 21, darf andererseits mit einer großen Leserschaft rechnen — sicherlich hat die Beherrschung der Form den Erfolg von Martensens Büchern begünstigt. Setzen sie sich über die Erfordernisse systematischer Strenge hinweg, so bieten sie stattdessen „mannigfache allgemeinere Betrachtungen" 22 . Was nun aber die inhaltliche Kritik und Würdigung betrifft, die Martensen erfahren hat, so gruppieren sie sich naturgemäß um seine beiden wichtigsten Werke, die Dogmatik und die Ethik. Dabei pflegt als das die Dogmatik Kennzeichnende ihr konservativer Charakter hervorgehoben zu werden: Sie bietet eine „Rekonstruktion der lutherischen Kirchenlehre" 23 unter besonderer Hervorkehrung der realistischen Züge in der 15 Zur komplexen Größe „Vermittlungstheologie" und ihrer unterschiedlichen Beurteilung vgl. J. Rothermundt, Personale Synthese, S. 11-42. " C. Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie, 1864, S. 384. 17 W Gass, Geschichte der christlichen Ethik, 2. Bd., 2. Abtig., S. 302. 18 M. Kahler, a.a.O., S. 178f. 19 W. Gass, a.a.O., S. 302 (bei Gass gesperrt!). 20 L. Schöberlein, Rezension der Dogmatik, ThStKr, Jg. 1852, S. 404. 21 M. Kähler, a.a.O., S. 178. 22 Chr. E. Luthardt, Geschichte der christlichen Ethik, 2. Hälfte, S. 655. 23 P. P. Jörgensen, Artikel Martensen, RGG, 1. Aufl., Bd. 4, S. 187, ähnlich Μ. A. Landerer, Neueste Dogmengeschichte (von Semler bis auf die Gegenwart), hrsg. von P. Zeller, 1881, S. 354; vgl. auch O. Pfleiderer, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, 2. Aufl., 1. Bd., 1883, S. 632.

14

Sakramentsauffassung 24 und des objektiven Moments in der Ekklesiologie25. Aber, und das kommt als zweites hinzu, der dogmatische Stoff gewinnt seine Verbindlichkeit bei Martensen dadurch, daß er spekulativ gewonnen wird. An dieser Stelle werden gewöhnlich die Einflüsse vermerkt, welche Hegel, Baader, Schelling, Böhme und die Mystik auf Martensen ausübten, „so daß seine Theologie einen theosophisdien Zug erhielt" 26 . Die konservative und die spekulative Ausrichtung werden — drittens — vereinbar durch die ausgesprochen harmonistische Tendenz seiner Theologie. Er erscheint als oberflächlicher Eklektiker 27 . Auch Besonderheiten, wie etwa seine Christologie, wirken nicht eigentlich sperrig gegenüber konträren Auffassungen. Indem Martensen eine Harmonie zwischen Schrift, Bekenntnis und Spekulation zu erarbeiten suchte, bzw. voraussetzte, erweichte er sein schroffes Luthertum 28 und machte es dadurch freisinnigeren und philosophisch interessierten Geistern akzeptabel, wie er umgekehrt als konfessioneller Lutheraner einer nach „rechts" tendierenden, restaurativen Christlichkeit unverdächtig erscheinen mußte. Es ist daher nur Ausdruck dieser Mehrdeutigkeit, daß Martensen in Stephans Theologiegeschichte bei der Darstellung der theologischen Richtungen zwischen Schleiermacher und Ritsehl zweimal besprochen wird, einmal unter der Überschrift „Die restaurative Theologie", sodann im Abschnitt „Die Vermittlungstheologie" 29 . Nimmt man den Eindruck allseitiger, von umfassender Bildung zeugender Aufgeschlossenheit hinzu, der von seinen Schriften ausgeht 30 , so daß er, selber kein Liberaler, auch in diesem Lager Respekt erwarten konnte 81 , so erklärt sich vollends aus diesen mehrfachen Zuordnungsmöglichkeiten zu den theologischen Richtungen seiner Zeit die weite Verbreitung seiner Werke. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch hinsichtlich der Beurteilung seiner Ethik. Sie stellt „besonders das weite Gebiet der Weltbetrachtung und des Kulturlebens unter den sittlichen Gesichtspunkt" und zeichnet sich dabei aus durch ein „weitgehendes Verständnis für die verschiedenen Fragen des Lebens und ein maßvolles Urtheil" 32 . Darin äußert sich Martensens Bereitschaft, „das Sittliche auch in weiten Entfernungen an sich selber 24 H. Stephan, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie, 2., von M. Schmidt bearbeitete Aufl., S. 175. 25 H. Hermelink, Das Christentum in der Menschheitsgeschichte, Bd. 2., S. 207. 26 H. Stephan, a.a.O., S. 195; ebenso H. Hermelink, a.a.O., S. 127. 27 „Die saubere Technik, die glatte, je geleckte Art der Behandlung verräth nur zu sehr die äußerliche Stellung des Verfassers zu seiner Arbeit, seinen, wenn auch geschickt verdeckten, Eklekticismus." C. Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie, S. 384. 28 29 M. Kahler, a.a.O., S. 179. H. Stephan, a.a.O., S. 174f., 194f. 30 W. Gass, a.a.O., S. 302f.; Luthardt, a.a.O., S. 654. 31 W. Gass, a.a.O., S. 302. 32 Chr. E. Luthardt, a.a.O., S. 654f.

15

wieder zu erkennen" 3S , und sein Weitblick hinsichtlich der entstehenden Probleme des Sozialismus 34 erscheint als natürliche Konsequenz solcher Aufgeschlossenheit. Alles in allem eine Ethik, die wenn „auch auf Kosten der scharfen Begriffsfassung und Grenzbestimmung" 35 das „Christentum mit der Humanität verbindet" 3 6 , eine Ethik, die sich „die meisten Freunde, einen ausgebreiteten Kreis von Benützern und langedauernde Geltung erworben" hat 3 7 . So richtige Beobachtungen diese Stimmen festhalten mögen — die Wertung bleibt blaß, weil sie mit von außen herangetragenen Maßstäben arbeitet. Die mit ihnen vollzogenen Deutungen und Bewertungen bleiben vor allem deshalb an der Oberfläche, weil sie die Frage nach der Entwicklung der theologischen Persönlichkeit und der Motive ihrer Wandlungen aussparen. Die Voraussetzungen für die Berücksichtigung derselben wären bei Martensen schon im Blick darauf gegeben, daß er zwei ethische Entwürfe veröffentlicht hat, den schmalen „Grundriß zum Studium der Moralphilosophie" von 1841 und die große „Christliche Ethik", deren erster Band 1871 erschien. Man vergegenwärtige sich die zwischen beiden Büchern liegende Zeit. Schon ein Vergleich nur dieser beiden Schriften ergäbe ein wirklich plastisches Bild. Aber auch Martensens Dogmatik ist mit den angeführten Charakterisierungen nur vordergründig beschrieben. Schlagworte wie konfessionell, spekulativ, vermittelnd sind einfach nicht konkret genug, um die theologische Arbeit dieses Mannes anschaulich und in ihren Voraussetzungen und Absichten verständlich zu machen. Dabei kann gerade bei Martensen auf eine Skizze seiner Biographie nicht verzichtet werden. Sie dient — außer dem Zweck der Veranschaulichung — dazu, auf das Problem hinzuweisen, das Martensens Schriften in ihrer Gesamtheit durchzieht und das durch die Gestalt Martensens gleichsam exemplarisch verkörpert wird. 34 H. Hermelink, a.a.O., S. 208. W. Gass, a.a.O., S. 303. 38 H. Hermelink, a.a.O., S. 208. Chr. E. Luthardt, a.a.O., S. 655. 37 Fr. Jodl, Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft, 2. Bd.. S. 521. 33

35

16

Α. B I O G R A P H I S C H E R

ABRISS

Für das Erfassen der Theologie Martensens ist die Berücksichtigung seines Lebensschidksals, seiner persönlichen Veranlagung, seines Naturells, seiner Charaktereigenschaften von großer Wichtigkeit. Martensens theologische Arbeiten gehören nicht zu denen, die ganz in sich selbst ruhen, obwohl sie diesen Eindruck erwecken möchten. Ihre Eigentümlichkeit, ihr Problem, das ein Interesse verdient, erscheint in aller Deutlichkeit erst, wenn man sie im Kontext der Biographie Martensens versteht. Wenn es sich erhärten läßt, daß das gesamte theologische Werk Martensens an der Polarität von Spekulation und Ethik, von Metaphysik und real erfahrbarer Welt orientiert ist, dann dürfte es einleuchten, daß die biographische Sphäre geradezu ein Interpretament für das Verständnis einer solchen Theologie werden kann. Für eine Theologie, die sich gezwungen sieht, das wirkliche Leben mit der „Ideenwelt" in Beziehung zu bringen, bzw. die Realität von der Idealität her zu begreifen, hängt ja viel davon ab, wie der betreffende Theologe dieses konkrete Leben erfährt, auffaßt, sich ihm einordnet. Deshalb soll im Folgenden Martensens Biographie skizziert werden, ehe seine Theologie zum Zuge kommt. Die Scheidung zwischen der realen und der Ideenwelt ist für sie konstitutiv. Ob und wie diese beiden Welten aufeinander bezogen werden können — dies ist Martensens eigentliäies Problem geworden. Man muß Martensen unter dieser Fragestellung sehen, will man den Nerv seiner Theologie erfassen 1 . Das Problem des Bezuges zwischen theologischer Wissenschaft und kirchlicher Praxis ist demgegen1

Die vorliegende Arbeit will daher einerseits weniger, andererseits mehr als die Martensen-Darstellung „Biskop Hans Lassen Martensen, hans Liv, Udvikling og Arbejde" von Arildsen. Weniger, weil Martensen im Folgenden nicht als Zentralgestalt des dänischen Geisteslebens im 19. Jahrhundert geschildert werden soll, wie es Arildsens Arbeit in ihrem Untertitel ankündigt. Während Arildsen sein Buch als „Studier i det 19. Aarhundredes danske Aandsliv" auffaßt, beschränkt und konzentriert sich diese Arbeit bewußt darauf, Martensen als spekulativen Theologen darzustellen und zu verstehen. Diese Ausrichtung kann sich aber nun gegenüber Arildsens Buch durchaus als vorteilhaft erweisen. Der im übrigen bienenfleißigen und materialreichen Arbeit Arildsens fehlt eigentlich ein Telos. Es gibt keine übergreifenden Gesichtspunkte. Die Darstellung läßt kein Auswahlprinzip erkennen; alle Schriften Martensens werden nach dem gleichen Schema referiert. Es gelingt Arildsen nicht, die Fülle der Einzelheiten zu einem lebendigen Gesamtbild zusammenzufügen. Dies wäre nur durch Raffung und durch das Setzen von Akzenten möglich. Hier sieht die vorliegende Arbeit ihre Aufgabe. 2

Brandt, Gotteserkenntnis

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über ein abgeleitetes Problem. An ihm wirkt sich nur die Spannung aus, die zwischen der im Metaphysischen verankerten Spekulation (und dies ist für Martensen die einzige Wissenschaft, die ihren Namen verdient) und der von der Idee unberührten Wirklichkeit besteht. Das heißt: Der Gegensatz zwischen spekulativer und empirisch vorgehender Welterfassung ist die Grundprämisse von Martensens ganzer Theologie. Die Darstellung wird zeigen, was das für eine Theologie bedeutet. — Doch diese Sätze greifen weit voraus. Zunächst muß nun die Biographie Martensens dargestellt werden. Vier Gebäude bilden die Einfassung des Frauenkirchplatzes in Kopenhagen: die ehemalige Metropolitanschule, die jetzt zur Universität gehört, die Universität, die bischöfliche Residenz und die Frauenkirche (Vor Frue) selbst. Dieser Hauptplatz in Kopenhagen ruft in eigenartiger Weise die Erinnerung an das Leben und Wirken von Hans Lassen Martensen wach. Erst Schüler in der Metropolitanschule, dann Student, Dozent, zuletzt Ordinarius für Systematische Theologie an der Universität, schließlich Bischof über Seeland, mit Amtssitz im Bispegaard in Kopenhagen vis ä vis von Vor Frue — dies waren die Stationen seiner Laufbahn, und so kann man den Vor Frue Plads in Kopenhagen als einen Spiegel gerade für das Leben H . L. Martensens betrachten 2 . Hans Lassen Martensen stammt aus kleinen Verhältnissen. Sein Vater, Hans Andersen Martensen, geb. 1782, kam aus einer Bauernfamilie, hatte aber keine rechte Lust zum Bauernleben, sondern verdingte sich als Seemann. Vor seiner ersten großen Fahrt nach Westindien wohnte er in Flensburg bei dem Buchantiquar Niels Truelsen. Nach einem Jahr kehrte er nach Flensburg zurück, bestand 1803 mit Erfolg einen Navigationskurs und erhielt sein Steuermannsattest. Am 25. 11.1807 heiratete er die Tochter seines ehemaligen Wirtes, Anna Maria Truelsen (geb. 1781). So wurde H . L. Martensen am 19. 8.1808 in Flensburg geboren. Er blieb das einzige Kind seiner Eltern; sein Bruder Niels Truelsen Martensen lebte nur knapp vier Jahre (1813—1816), das Mädchen, das seine Mutter 1815 zur Welt brachte, war eine Totgeburt. Während des schon vor der Hochzeit der Eltern ausgebrochenen Krieges zwischen England und Dänemark brachte sein Vater Getreide nach Norwegen. Bei einer dieser Fahrten wurde sein Schiff von Engländern gekapert. Hans Andersen Martensen geriet in jahrelange englische Gefangenschaft. Er verlor Gesundheit und Vermögen. Als gebrochener Mann kam er nach Flensburg zurück und mußte sich nach einer neuen Tätigkeit umsehen, um seine Familie ernähren zu können. Er verlegte sich auf die „Theorie", gab Navigationsunterricht und versuchte sich als Verfasser von Schriften über Seefahrt und Handel. 1815 erschien sein 2

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Vgl. Björn Kornerup (Redaktion), Vor Frue Kirke og Menigheds Historie.

erster „Fors0g til en Handbog for Skipperne og Soehandlende" (Haderslev 1815, 2. Aufl. Kobenhavn 1822). So ist Martensen unter spürbaren finanziellen und wirtschaftlichen Beschränkungen aufgewachsen. Noch in seiner Biographie spricht er davon, „daß ich zu Hause an sehr dürftige Verhältnisse gewöhnt war, und bei den Verwandten mir ein viel bedeutenderer Wohlstand entgegentrat" 3 . Und ein sensibles Gemüt wie Martensen reagierte auf derartige Unterschiede sehr empfindlich. Ihm wurde schmerzlich bewußt, „daß meine Vettern und Cousinen an Bildung höher standen und von der Welt mehr als ich wußten" 4 . Im Herbst 1817 übersiedelte Hans Andersen Martensen mit seiner Frau und dem neunjährigen Hans Lassen nach Kopenhagen, wohl vor allem aus ökonomischen Überlegungen. Auf den Jungen muß das damalige Kopenhagen mit seinem Glanz und der Vielfalt seines kulturellen Lebens zunächst wie ein Traum gewirkt haben. Kurz nach dem Umzug empfing er schon durch die königlichen Paraden, die Feiern anläßlich des Jubelfestes zur Dreihundertjahrfeier der Reformation einen Eindruck dieser neuen Welt, und zugleich spürte er, wie fremd er im geistigen Klima der Hauptstadt noch war. „Wo ich im geselligen Leben erschien, wurde ich als neulich aus Holstein angekommener kleiner Junge begrüßt." 4 " Einer solchen Bagatelle hätte Martensen sich im hohen Alter kaum erinnert, wenn ihm, hochbegabt und ehrgeizig wie er war, die Erfahrung, als Außenstehender eingestuft, von oben herab angesehen und nicht für voll genommen zu werden, nicht einen empfindlichen und dauernden Stich versetzt hätte. Die Kluft zwischen den ärmlichen häuslichen Verhältnissen und der reichen, lockenden Welt ringsum zu überwinden, sich in der Metropole Heimatrecht zu verschaffen, das ist die heimliche Sehnsucht seiner Schulzeit gewesen. Nachdem H . L. Martensen bereits in Flensburg auf eine deutsche Schule gegangen war, besuchte er in Kopenhagen von 1817—1823 das v. Westensche Institut. Während ihm Rechnen und Mathematik „besonders Noth machten" 5 und auch Latein und Griechisch noch keine Begeisterung in ihm weckten, schlugen ihn Oehlenschlägers und Grundtvigs Dichtungen in ihren Bann. Literarische Debatten (wie die Fehde zwischen Baggesen und Oehlenschläger) erweckten lebhafte Anteilnahme. Auch Martensens lebenslängliches Interesse für die Welt des Theaters fand schon jetzt reiche Nahrung. Was auf den zahlreichen Bühnen Kopenhagens geschah, drang bis in die Schulräume. Man spielte, so oft man 3

L I, S. 6. Für die Frage nach dem Quellenwert yon L I—III sei grundsätzlich verwiesen auf Andersen, S. 134-141. 4 4a L I, S. 6. L I, S. 9. 6 L I , S. 10.



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konnte, selbst Theater, und Martensen läßt es sich nidit nehmen, eine Rolle zu erwähnen, die er damals gespielt hat. In das Königliche Theater freilich kam er „schon aus ökonomischen Gründen" nur selten. Aber „ich las alles Poetische, dessen ich habhaft werden konnte" e . Im Oktober 1822, ein Jahr bevor Martensen auf das Gymnasium, die Metropolitanschule, kam, starb sein Vater. Und das bedeutete für das vierzehnjährige Einzelkind noch mehr als vorher ein eintöniges Leben allein mit seiner Mutter. Geselligkeit war nun noch weniger möglich als zuvor, und so begünstigten die „bedrängten Umstände" 7 den Hang des Jungen zum „Still- und Innenleben" 8 . Der alte Martensen sagt im Rückblick auf diese Zeit: „Während ich in meiner inneren Welt lebte und ungestört mich dieser hingeben konnte, ward die Außenwelt mir gleichgültiger als gut war." 9 Wenn seine Jugend so gekennzeichnet ist durch das Desinteresse an der „Außenwelt" zugunsten der Beschäftigung mit sich, selbst und der aus vielerlei Lektüre sich aufbauenden Gedankenwelt, inwiefern, so mag man schon jetzt fragen, hat sich bei ihm das Verhältnis dieser zwei Welten später gewandelt? H a t es sich überhaupt gewandelt? Ließe sich der zitierte Satz womöglich als Kennzeichnung und Kritik des ganzen Lebens und Werkes Martensens ansehen? Einstweilen gab es für Martensen jedenfalls keine andere Möglichkeit, Anteil an dieser Außenwelt zu nehmen, als in der aufgenötigten Zurückgezogenheit mittels geborgter Schriften zu versuchen, das Bedürfnis nach Kontakt zu befriedigen. Von der Innenwelt der gemachten Gedanken aus wurde die Außenwelt in den Blick genommen. Die Innenwelt war das Primäre, sie war sozusagen immer schon fertig, wenn es darum ging, das Außen in Augenschein zu nehmen. Ein spontaner, unkontrollierter Einbruch von Erfahrungen von außen war durch diese Apperzeptionsweise abgeschirmt. War die Außenwelt wesentlich präsent in den von Literatur, Oper und Dichtung dargebotenen Kategorien, wie sollte sie sich dann unmittelbar direkt im Bewußtsein geltend machen, zumal da durch die Liebe der Mutter „alles Äußere . . . zurechtgelegt wurde und von selbst entgegenkam" 10 . Von 1823—1827 konnte Martensen das Gymnasium, die schon erwähnte Metropolitanschule, besuchen u . Im Vergleich zu dem v. Westenschen Institut, in dem er bislang gewesen war, empfand er, daß er „hier in eine höhere und edlere Sphäre aufgenommen sei" 12 . Mit Lust und Liebe studierte er die lateinischen und griechischen Schriftsteller, und in 7 « L I, S. 14. L I, S. 16, vgl. Arildsen S. 29f. 8 9 L I, S. 17. L I, S. 17. 10 L I, S. 18 11 Vgl. C. A. S. Dalberg og P. M. Plum, Metropolitan Skolen gennem 700 Aar, bes. S. 103-120, 238. 12 L I, S. 18.

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der verhältnismäßig reichlich bemessenen Freizeit eignete er sidi darüber hinaus die Werke der deutschen Klassiker und Romantiker an 1 3 . So sei ihm in dieser Zeit, sagt Martensen, eine „humanistische und ästhetische Erweckung" zuteil geworden. E r habe sich jedoch, besonders in der letzten Zeit seines Schullebens, „in einem Zustande nicht blos geistiger, sondern zum Theil christlich-religiöser Erweckung" befunden 1 4 . Was ist mit dieser religiösen Erweckung gemeint und wodurch wurde sie hervorgerufen? Arildsen hat diese Frage folgendermaßen beantwortet. Er verweist auf Martensens Erwähnung, daß ihm damals zufällig Henrik Steifens' Büchlein „Von der wahren Theologie und dem falschen Glauben. Eine Stimme aus der Gemeinde durch Henrik Steffens", Breslau 1823, in die H ä n d e gefallen sei 1 5 . Martensen schließt in seinen Erinnerungen den betreffenden Passus mit der Bemerkung, „daß ich durdi diese Schrift in ihrer Totalität eine Ahnung davon empfing, daß es eine Welt- und Lebensanschauung geben müsse, in welcher alles, was im Bereiche des Daseins Bedeutung hat, N a t u r und Geist, N a t u r und Geschichte, Poesie, Kunst, Philosophie, sich harmonisch zusammenfaßt zu einem Tempel des Geistes, in welchem das Christenthum den Alles beherrschenden und Alles erklärenden Mittelpunkt bildet" 1 β . D a s führt Arildsen zu dem Schluß, diese „Ahnung" sei bei Martensen durch die Lektüre des ihm geistesverwandten Steffens geweckt worden 1 7 . Dem Buch von Steffens müsse eine zentrale Bedeutung für Martensens ganze spätere Entwicklung beigemessen werden 1 8 . Das „Problem", das Martensen — schon während der Schulzeit! — umgetrieben habe, sei die Versöhnung des religiösen und des spekulativen Interesses gewesen, d.h. die „Expansion" und die „Synthese" der religiösen und der spekulativen Sphäre 1 9 . Dieses Problembewußtsein sei Ausdruck des psychischen Zustandes, in dem sich Martensen in den Jahren 1823—1827 befunden habe: D a s Spekulative sei bei ihm in dieser Zeit weit mehr entwickelt gewesen als das Religiöse 2 0 . In dieser Verfassung sei Martensen nun die „Ahnung" von der Möglichkeit und Ausgestaltung einer „Totalanschauung" durch Steffens vermittelt und bekräftigt worden. Arildsen belegt diese These, indem er Steffens ausführlich referiert 2 1 , und zwar so, daß die Verbindung zwischen Steffens und Martensen, d.h. Steffens' Wirkung auf Martensen leicht erkennbar wird 2 2 . Gegen diesen Deutungsversuch Arildsens hat aber J . O. Andersen schwere Bedenken erhoben. Er weist zu Recht darauf hin, daß Arildsen seine These von der tiefgehenden Beeinflussung Martensens durch Steffens L I, S. 21-23. L I, S. 26. 17 Arildsen, S. 28. " Arildsen, S. 28. 21 Arildsen, S. 23-27. 13

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L I, S. 25. " L I, S. 27. 18 Arildsen, S. 21, 29. 20 Ebd. 22 Arildsen, S. 27.

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nur durch ein äußerst gewaltsames Referat der Schrift von Steffens habe belegen können 23 . Die Methode, mit der Arildsen Martensens Abhängigkeit von Steffens belege, beruhe auf einer petitio principii. Arildsen sei dazu verleitet worden, weil er den oben zitierten Passus, in dem Martensen von seiner Idee einer Totalanschauung spricht, uneingeschränkt als Uberzeugung des (höchstens) neunzehnjährigen Schülers aufgefaßt habe und nicht als Formulierung des Achtzigjährigen 24 . Diese von Andersen in aller Ausführlichkeit geübte Kritik ist deshalb so überzeugend, weil er Arildsen überführen kann, durch seine Überbetonung des Einflusses von Steffens auf Martensen und — im Zusammenhang damit — durch sein Bild eines fertigen Martensen, der schon auf der Schule sein wissenschaftliches Lebensproblem klar vor Augen hat, einen anderen Einfluß sehr vernachlässigt zu haben, nämlich den Grundtvigs und seiner Parteigänger 25 . Freilich kann sich der Nachweis einer Zugehörigkeit des Schülers und Studenten Martensen zum Grundtvigschen Lager nicht auf den Wortlaut seiner eigenen Biographie stützen. Das macht die Schwierigkeit, aber auch die innere Wahrscheinlichkeit aus. Denn es ist ja sehr einleuchtend, daß der achtzigjährige Martensen, nachdem es zwischen ihm und Grundtvig zum völligen Bruch gekommen war, nur andeutungsweise davon spricht, daß er in seiner Jugend durchaus zur Partei Grundtvigs gehört hatte 28 . Trotzdem sind diese Andeutungen durchaus ergiebig, wenn man sie recht zu wägen weiß. Berücksichtigt man Martensens Vernachlässigung seines ursprünglich nahen Verhältnisses zur Partei Grundtvigs, so ergibt sich nämlich aus den Andeutungen seiner Biographie klar, daß es Grundtvigs Angriff auf Η . N. Clausen 27 und seinen Rationalismus war, wodurch Martensens intellektuelles Interesse an religiösen Fragen geweckt wurde. Weiter erfährt man, daß Martensen sich hierbei auf die Seite der „Orthodoxie" (d.h. Grundtvigs) stellte. „Orthodoxie und Heterodoxie waren die einzigen uns(!) bekannten Kategorien." 28 Die Vermittlerrolle hat offenbar der Grundtvigianer J. C. Lindberg gespielt, schon in v. Westens Schule Martensens Lehrer im Hebräischen, der eine stille Propaganda für Grundtvig trieb. Er lieh Martensen Grundtvigs Schriften und brachte ihm in langen Gesprächen dessen Gedanken nahe; Martensen gedenkt seiner mit kaum verhohlener Ehrerbietung 29 . 23 Andersen, S. 150. Andersens Schrift ist aus dem Votum entstanden, das er als Opponent bei der Promotion Arildsens abgab (vgl. S. 134). 24 25 Andersen, S. 148. Andersen, S. 151. 26 Man kann mit Andersen von einer Verschleierungstaktik Martensens sprechen, von „de mange Smaatraek i Selvbiografien, der skal tilslore for Laeseren, at Μ. har vaeret i Forhold til det egentlig Grundtvigske." (Andersen, S. 145, vgl. S. 146f.) 27 Vgl. S. Holm, Η. N . Clausen, Bidrag til en Karakteristik, 1945. 28 28 L I, S. 23. L I, S. 24f., vgl. Andersen, S. 145f.

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Es kann also keine Rede davon sein, daß sich Martensen durch die Lektüre von Steifens über sein Lebensproblem klar wurde — an keiner Stelle mißt er ihr „zentrale" Bedeutung zu, wie Arildsen tut. Und ebensowenig erweckt er den Eindruck, bereits zu dieser Zeit „fertig" gewesen zu sein. Martensen bekennt vielmehr, daß die religiöse Erweckung „längerer Zeit bedurfte, um auszugähren" 30. Martensen war Grundtvigianer — damit ist für den in Rede stehenden Zeitabschnitt das Wichtige gesagt. Und das legt sich auch noch aus einem anderen Grund nahe. Da der Primaner Martensen angesichts der Alternative Heterodoxie— Orthodoxie, d. h. Clausen — Grundtvig, Partei ergiff und sich, durch den Einfluß seines Lehrers Lindberg, als Anhänger Grundtvigs verstand, war es natürlich, daß er seine Disputationslust, seine unbestrittene Fähigkeit, sich in Wortgefechten zu behaupten, in den Dienst der Grundtvigschen Sache stellte. Seine Ironie (von der später allerdings nur noch selten etwas zu spüren ist) kam ihm dabei zu Hilfe. Er konnte sich nunmehr als Mitglied einer selbstbewußten Gruppe betrachten. Das muß für Martensen viel bedeutet haben. Auch später hat er es ja, wo er nur konnte, vermieden, gegen den Strom zu schwimmen. Aber jetzt hatte sich ihm, der bisher ziemlich abseits bei seiner Mutter gelebt hatte, überhaupt erst die Möglichkeit aufgetan, als wichtiger Kopf einer einflußreichen Gruppe anzugehören. Er merkte, hier wurde er anerkannt, weil er gebraucht wurde. Martensen diskutierte und argumentierte für die Grundtvigianer, und er erhielt dafür von ihnen ein gestärktes Selbstbewußtsein zurück. Die Zeiten, wo man auf ihn als armen, kleinen Jungen aus Holstein herabsah, schienen vorbei zu sein: Man hatte ihn nötig. Die Zugehörigkeit zur Grundtvigschen Partei Schloß ihn mit gleichgesinnten Schulkameraden, Studenten und Kandidaten zusammen — sie alle gehörten ja mit dazu und Martensen zu ihnen. Er verschmähte es nicht, zusammen mit ihnen im Dienste der Grundtvigschen Sache die Kampfschrift seines Lehrers Lindberg „Om Kristendommens Forsvar i Danmark mod falske Laerere og falske Laerdomme" mit der Hand abzuschreiben und so verbreiten zu helfen 31 . Es sind also nicht Steffens, sondern Grundtvig und seine Anhängerschaft, denen sich Martensen verschrieben hatte (möglicherweise ist Martensen erst durch Grundtvigs Rezension auf die Schrift von Steffens aufmerksam geworden) 32 . Und es sind nicht nur und nicht zuerst religiöse Gründe, auch nicht das intensive Beschäftigtsein mit dem Problem der Vereinbarkeit von Religion und Spekulation, die Martensen dazu ver30

L I, S. 25. „Über die Verteidigung des Christentums in Dänemark gegen falsche Lehrer und Lehren", Andersen, S. 146. 32 Andersen, S. 147. 31

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anlaßten, sondern sein Anerkennungsbedürfnis und die Erfahrung, es in diesem Kreise befriedigen zu können. Wenn — was Arildsen verschweigt — Martensens Lehrer, der spätere Bischof G. P. Brammer, in seinen Erinnerungen einige Schüler nennt, bei denen es ihm gelang, sie im Sinne eines positiv christlichen Glaubens zu beeinflussen, so paßt es in dieses Bild, daß Martensen sich nicht unter den Genannten befindet 33 . Schließlich ist hier auch noch Martensen Verhältnis zu seiner Mutter zu erwähnen, worüber sich bei Arildsen gleichfalls nichts findet. Der Brief, den Martensen anläßlich ihres Todes am 23. März 1853 an seinen Freund Gude schrieb84, bekräftigt die Schilderung der Mutter in Martensens Biographie 35 — ihre selbstlose Aufopferung für den Sohn nach dem Tode des Vaters und das innige Vertrauensverhältnis, das zwischen Mutter und Sohn bestanden hatte. Martensen gibt in dem genannten Brief an Gude eine Schilderung ihrer religiösen Entwicklung. Ihr Christentum habe zu Anfang ein entschieden rationalistisches Gepräge gehabt, erst nach und nach sei ihr Vorsehungsglaube für das Evangelium von Gottes eingeborenem Sohn empfänglich geworden 86 . Wann seine Mutter zu diesem volleren Christentum gefunden habe, darüber drückt Martensen sich auffallend unklar aus 37 . Jedenfalls ist es im Verlauf einer lange währenden Entwicklung geschehen, die gewiß sehr viel später als zur Zeit der Jugend Martensens anzusetzen ist. Martensen hätte sonst bei ihrem Tode nicht nur „gehofft", daß der Herr sie in Gnaden angenommen habe 38 . Nimmt man alles zusammen — Brammers Erinnerung, den rationalistischen Vorsehungsglauben der Mutter und Martensens inniges Verhältnis zu ihr, so legt sich der Eindruck nahe, daß Martensens Religiosität während seiner Schulzeit kaum anders ausgesehen hat, als die seiner Mutter 39 . Daß Martensen, der glücklich im Grundtvigschen Lager Fuß gefaßt hatte, bereits in dieser Zeit den spekulativen Gedanken mit dem religiösen habe versöhnen wollen, ist also eine fehlgehende Annahme. Die Grundtvigsche Partei war zudem ja gerade gegen jede Umdeutung des „historischen, ursprünglichen Christentums", wie sie die Spekulation und der Rationalismus versuchten. Nichts lag Martensen damals ferner als ein Vermittlungsversuch, der ihn unweigerlich der Gruppe entfremdet hätte, zu der gehören zu dürfen seinem Selbstbewußtsein so schmeichelte. Wie hätte er das so schnell aufs Spiel setzen können! 33

Biskop, Dr. theol. G. P. Brammers Ungdomsliv, S. 133-136. 35 33 Gude I, S. 76-79. L I, S. 16f. Gude I, S. 77. 3 ' „Forst efterhaanden . . . hendroges hun mere til det Christelige, og mere og mere uddannedes da i efterfolgende Tid hendes Modtagelighed for Guds eenbaarne Sons Evangelium." — Gude I, S. 77. 38 38 Gude I, S. 77. Mit Andersen, S. 144, gegen Arildsen. 34

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Dies alles hätte kürzer behandelt werden können. Aber es war nötig, von der falschen Fährte Arildsens zurückzulenken auf das, was sich auf Grund der Quellen wirklich sagen läßt. Womit Martensen in dieser Zeit vor dem Übergang zur Universität doch wohl vordringlich beschäftigt war, ist etwas anderes. Er war Sohn einer armen Mutter. Und er war sehr ehrgeizig. Und so „fing ich . . . an, mich zusammenzunehmen und unter die Pflicht zu stellen" 40 . Mit Auszeichnung bestand er sein Absdilußexamen. In dem Stipendiumsantrag, den der Rektor der Metropolitanscliule an den damaligen Dekan der philosophischen Fakultät, H . C . 0 r s t e d , richtete, wird auf die „Extrapensa" verwiesen, denen sich Martensen aus eigener Initiative („paa egen Haand og ved privat Fliid") unterzogen habe. Denn daß das examen artium, das in die ersehnte Unbeschwertheit des Studentenlebens führen sollte, so strahlend wie nur möglich ausfalle — dies wird doch die Hauptsache für ihn gewesen sein41. Der Erfolg blieb nicht aus. Martensen bestand die Aufnahmeprüfung zur Universität (examen artium) mit Auszeichnung, „laudabilis et publico encomio ornatus". Am 18. Oktober 1827 wurde er immatrikuliert. Bevor man sein eigentliches Fachstudium beginnen konnte, war dann eine Art Studium generale zu absolvieren, das sich über zwei Semester erstreckte und für alle Studenten obligatorisch war. Am Ende dieses Jahres stand das in zwei Teilen abzulegende „anden Examen" („examen philologicophilosophicum"). Und wie schon das examen artium, so bestand Martensen auch diese Prüfungen mit glänzendem Resultat 42 . Das Bild, das Arildsen von dem sich nun anschließenden Theologiestudium Martensens zeichnet, sieht so aus. Schon seit seiner Schulzeit wird Martensen von „seinem brennenden Problem" umgetrieben, nämlich, „wie er das religiöse und das spekulative Interesse versöhnen solle, beide forderten Expansion und Synthese" 43 . Alle Martensen während seiner Universitätszeit begegnenden Einflüsse werden nun von Arildsen daraufhin angesehen, ob und inwieweit sie zur Lösung dieses seines Problems haben beitragen können. So wird Martensen von einem zum anderen und von diesem zum nächsten getrieben — nirgends findet er das „lösende Wort". Dieses „forlosende Ord" hört er weder bei dem Grundtvigianer Rudelbach, der bei Arildsen die Reihe eröffnet, noch bedeuten ihm die Vorlesungen von Η . N . Clausen eine Hilfe für sein „per40

L I, S. 18f.

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Vgl. Andersen, S. 153, mit Bezug auf Arildsen, S. 30. Den ersten Teil am 12. 4.1828, den zweiten am 13. 11.1828, vgl. Arildsen, S. 36. 43 „Det Problem . . . har aabenbart drejet sig om, hvorledes han skulde forsone den religiose og den spekulative Interesse; begge kravede at udfolge sig (Expansion) og at forenes (Syntese)." Arildsen, S. 28, 36. 42

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sönliches Problem" 44 . Aber auch Sibbern, dessen Einfluß auf das Denken Martensens („Hovedislaet i Martensens Taenkning") Arildsen nachweisen will 45 , verhilft Martensen nicht zu einem festen Standpunkt — auch Sibbern vermochte sein Suchen nicht zufriedenzustellen 46 . Und wie Martensen nicht Sibbernianer, so konnte er auch nicht Grundtvigianer werden, denn Grundtvig kam seinem „doppelten, religiös-spekulativen Interesse" gleichfalls nicht entgegen 47 . Von Grundtvig geht es zu Mynster — auch hier die gleiche Fehlanzeige 48 . So treibt Martensen die Suche nach einer Lösung seines Problems über die Grenzen Dänemarks hinaus zu den Denkern des „Auslands". Doch auch bei Schleiermacher ward ihm die Erleuchtung nicht zuteil 49 . Und obgleich ihn schließlich Hegel mehr zufriedenstellte als Schleiermacher, so konnte er hier ebenfalls keine Ruhe finden50. So sieht nach Arildsen die Odyssee von Martensens Studentenzeit aus. Arildsen ist durch sein Bemühen, auf jeder Entwicklungsstufe Martensens jeden „Einschlag" („Islaet") zu verzeichnen, zu einem Bild gelangt, in dem Unbedeutendes neben Wichtigem zu stehen kommt. Was für den Studenten Martensen wirklich entscheidend gewesen ist, bleibt deshalb unklar. Indem alles gleich wichtig genommen wird, verschwimmen die Konturen. Diese gilt es also jetzt wieder aufzufrischen. Und das ist nicht schwer, wenn man sich folgende Fakten vergegenwärtigt. Derjenige, der Martensen schon vor Beginn des eigentlichen Theologiestudiums, also zwischen examen artium und examen philologico-philosophicum (die sogenannten Rusforelaesninger), durch seine ungeheure Bibliothek das Gefühl vermittelte, „daß ich jetzt meinen Fuß in das Land der Theologie gesetzt hatte", ist Grundtvigs Kampfgenosse Dr. Andreas Gottlob Rudelbach gewesen51. Er imponierte Martensen durch seine Physiognomie und durch sein ausgebreitetes Wissen und verhalf dem jungen Studenten dadurch, daß er „dogmatische, exegetische und historische Fragen" beantwortete, zu einem Uberblick über die theologische Literatur der Zeit. Das Werk, das Rudelbach dem jungen Martensen zum Selbststudium empfahl, war Marheinekes „System des Catholizismus" (erster Teil der Christlichen Symbolik, 1810 ff.). Schildert Marheineke Protestantismus und Katholizismus hier als zwei gleichermaßen notwendige Durchgangsphasen in der Entfaltung des Wesens des Christentums, so stand dieses Werk in tiefem Gegensatz zu H.N.Clausens eben 45 " Arildsen, S. 37f. ( 40. Arildsen, S. 45ff. 47 Arildsen, S. 45. Arildsen, S. 52. 49 « Arildsen, S. 53. Arildsen, S. 53. 50 Arildsen, S. 55. 51 L I , S. 32 f.; zu Rudelbach vgl. C.R.Kaiser, Andreas Gottlob Rudelbach, ein Zeuge der lutherischen Kirche, Fr. H. R. v. Frank, Geschichte und Kritik der neueren Theologie, S. 235 ff. 46

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erschienenem Buch „Catholicismens og Protestantismens Kirkeforfatning, Laere og Ritus", 1825. Hier wurden Katholizismus und Protestantismus als wesensmäßig getrennt einander gegenübergestellt. Dieses Buch hatte den „Kirchenkampf" zwischen Grundtvigs „Orthodoxie" und dem Rationalismus Clausens eigentlich entfacht. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß Martensen, dessen Denken sich, wie gezeigt, schon in seiner Schulzeit der Alternative Orthodoxie (Grundtvig) und Heterodoxie (Clausen) unterstellt hatte, das Buch Marheinekes nicht neutral zur Kenntnis nahm, sondern als Bekräftigung der Grundtvigschen Position aufgefaßt hat. Und war dies nicht auch immer noch seine eigene? Ist diese Frage schon damit beantwortet, daß man auf das Fehlen eines Haupteinflusses Rudelbachs in Martensens Theologie hinweist („et Rudelbachsk Hovedislaet" 52 )? Fr. Hammerich erzählt in seinen Erinnerungen, daß Martensens Begeisterung für Rudelbach so weit ging, daß er Mimik, Gang und Redeweise Rudelbachs imitierte, bis seine Freunde ihn deshalb verulkten 53 . Diese Reminiszenz trägt mehr aus als der Nachweis Arildsens, es fehle ein „Hovedislaet". Man hat Martensen später immer wieder seine auf Abstand bedachte Reserviertheit (ein in Dänemark besonders schwerwiegender Vorwurf!) angekreidet 54 . Um so gewichtiger ist es, wie rückhaltlos sich Martensen hier mit dem Grundtvigianer Rudelbach identifiziert hat. Wie sehr Martensen in den ersten Jahren seines Studiums im Grundtvigschen Lager gestanden haben muß, geht aber noch klarer aus dem folgenden Zeugnis Hammerichs hervor. Hammerich und Martensen haben Rudelbach dabei geholfen, das Register zu den 13 Bänden der „Theologisk Maanedsskrift" auszuarbeiten. Die Zeitschrift wurde herausgegeben von Grundtvig und Rudelbach. Das Register umfaßt 60 Seiten. Zu einer solchen Arbeit wird ein Herausgeber einer kirchlichen „Partei"Zeitschrift nur einen Studenten heranziehen, der weiß, wo die Streitpunkte liegen und welche Auffassungen sich gegenüberstehen, und der vor allem auch mit von der Partei ist. Natürlich besaß Martensen die intellektuelle Fähigkeit zu dieser Aufgabe. Aber er tat sie auch als Grundtvigianer, — wobei es für ihn die Hauptsache war, in dieser anerkannten Gruppe seinen anerkannten Platz zu haben, gebraucht zu werden. Sei es wie hier zur Anfertigung eines Registers oder sei es auch, um im engeren Freundeskreis die „Rationalisten" Kopenhagens lächerlidi zu machen. Martensens Glanznummer, in der sich zu produzieren er 62

Arildsen, S. 37. ®3 Fr. Hammerich, Et Levnetslob, S. 187; S. Chr. Ley, Papirer, Danskeren, Tidsskrift for Land og By, 5. Bd. 1891, S. 227. 54 Vgl. z.B. S. Bredstrup, J. H. Monrad, S. 56f., 73f.; V. Birkedahl, Personlige Oplevelser i et langt Liv, S. 202f. 27

immer wieder gebeten wurde, war es, den damaligen Hauptpastor von St. Petri, Dr. J. C. G. Johannsen, zu persiflieren 55 . Kein Wunder also, daß Martensen sich unter denjenigen befindet, die sich am Kauf eines Silberpokals beteiligten, der Rudelbach zum Abschied geschenkt wurde 56 . Martensens Freund Chr. Siegfred Ley hat darüber in seinen „Papirer" berichtet. Aus der Liste, die er anführt und die sich zu Grundtvig zählende Theologen und Laien umfaßt, geht hervor, daß Martensen trotz seiner beschränkten Mittel zu diesem Zweck drei Reichstaler geopfert hat 57 . Natürlich hat er dann audi an dem Abschiedsfest teilgenommen (4.4.1829). Ley überreichte Rudelbach den Becher und dieser machte dann, nachdem den ersten Schluck Grundtvig selber getrunken hatte, die Runde bei allen Anwesenden. Arildsen hat von diesen Episoden kaum Notiz genommen. Faßt man sie zusammen, so bezeugen sie ganz unzweideutig, wie vorbehaltlos, wie unkritisch Martensen sich als Student den Grundtvigianern verschrieben hatte. Das geht aus den Berichten von Martensens Kommilitonen Hammerich und Ley klar hervor. Martensen erscheint als ein hochbegabter, aber ziemlich bornierter Parteigänger. Dieser Eindruck wird noch bekräftigt durch Andersens Untersuchungen über Martensens Beteiligung an den von der Fakultät im Rahmen des bestehenden Plans abgehaltenen Übungen und Kollegs. Er kommt zu dem Schluß, daß Martensens Verhältnis zu den von der Fakultät veranstalteten Kursen ein „höchst platonisches" gewesen ist 58 . Ganz gewiß hängt diese Einstellung Martensens zum Studienbetrieb seiner Fakultät zusammen mit der Rudelbach-Grundtvigschen Verdächtigung des „akademischen Sammelsuriums" 59 . Uber den Schulbetrieb der Universität fühlte man sich ja hoch erhaben. „War von Theologie die Rede, so ergoß sich ein Strom von Verhöhnungen der Schulfuchserei und aller der unnützen Gelehrsamkeit, mit welcher man auf der Hochschule vollgepfropft werde, der todten Papierhefte, des systematischen Gerippes der Dogmatik und Moral; ein Strom von Anklagen gegen die Schriftgelehrten, die Hochgelehrten, welche klug sein wollten über das hinaus, 55 Die Kampfeshitze wird spürbar in dessen Schrift „Über das Treiben der Zeloten in Kopenhagen. Schreiben an einen Freund in Deutschland." Sie trägt als Motto 2 Tim 4,31 Vgl. auch Zeuthens Schilderung des Disputierclubs auf dessen Zimmer in Borchs Kollegium (u. a. Bornemann, Gebr. Hammerich, Martensen, Zeuthen), Zeuthen, Mine forste 25 Aar, S. 131, und Hammerich, Et Levnetslob, S. 189, sowie L I , S. 31: „In Tabakswolken eingehüllt saßen wir(I) da beisammen und schleuderten unsere Bannstrahlen gegen den Rationalismus." M Rudelbach war seit 1829 Pastor primarius, Superintendent und Konsistorialrat in Glauchau/Sachsen. 67 Chr. S. Ley, Papirer, Danskeren, Tidsskrift for Land og By, 5. Bd., 1891, S. 230-239. 58 69 Andersen, S. 193. Vgl. Andersen, S. 192.

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was geschrieben stehe, und nicht wüßten, daß nur der Kindesglaube uns die Schrift öffne." 60 So hat Martensen aus der Distanz des Alters den Parteigeist geschildert, ohne allerdings zu vermerken, wie sehr diese Schilderung gerade auch auf den damaligen Studenten Martensen zutrifft. Nicht also ein Wechsel verschiedener Schülerschaften kennzeichnet Martensens Studentenzeit, sondern eine feste Verwurzelung im Parteigeist „seines" Grundtvigschen Kreises' 1 (Grundtvig selbst hat er erst nach seiner Auslandsreise 1834—1836 persönlich näher kennengelernt). Erst wenn man in Betracht zieht, wie selbstsicher und wie dankbar sich Martensen in diesem engen Horizont der Parteilichkeit bewegte, kann man ermessen, wie einschneidend der sich langsam anbahnende Bruch werden sollte. Wie kam es zu dieser allmählichen Entfremdung? Es war das Interesse für Philosophie im allgemeinen und für die Spekulation im besonderen, das Martensen allmählich aus dem Grundtvigschen Zirkel herauslöste. Dieser Umschwung ist seinen Freunden erst nach seinem theologischen Examen (Embedsexamen), das Martensen am 25.10. 1832 „laudabilis et quidem egregie" bestand, offenkundig geworden 62 . Daß Andersen Hammerichs Zeugnis, demzufolge Martensen sich für „eine spekulative Weltbetrachtung" eingesetzt hat 63 , auf die Zeit zwischen September 1831 und Oktober 1832 datiert, stimmt hiermit überein. So prägt die Beschäftigung mit der Philosophie Martensens Kandidatenzeit. Im Wintersemester 1832/33 las Poul Moller über „den metaphysiske Videnskabs nuvaerende Standpunkt", und Martensen zählte zu seinen Hörern 64 . In diesem Kolleg hat es sicher nicht an werbenden Worten für Hegel gefehlt, von dem Moller damals ganz eingenommen war 6 5 . Auf eine Entwicklung, in deren Verlauf Martensen immer mehr aus dem Kreis seiner grundtvigschen Freunde herausgeführt wurde, deutet auch das Zeugnis Hammerichs: „Er zeigte sich nun in Mynsters und Clausens eo

L I, S. 43. Die von Ley, Papirer, Danskeren, Tidsskrift for Land og By, 5. Bd., 1891, S. 233f., wiedergegebene Spenderliste enthält folgende Namen: H. C. Ley; Chr. Sigfr. Ley; Η. Α. Laurent, stud, theol.; Μ. C. Clausens enke; G. Jensen, stud, theol.; C. F. Hassenfeldt, cand. theol.; L . D . H a s s , stud, theol.; L. Siemonsen, Katechet; L. Goricke, stud, theol.; En ubenaevnt; Stud, theol. L. C. Hagen; H. Martensen, stud. th.; C. F. Kragerop, cand. theol.; P. C. Petersen, cand. philos. + philol.; H. C. Hansegaard, fdm. i admir.; H.C.Andersen, bogholder i g. p. direktionen; F. Plochross; En ubenaevnt; N . J . ; J. Hoi, snedkermester; Spandets assessor; I. Madsen; Schade, stud, theol.; Μ. P. Kierkegaard; N. Olsen; Aborre, skomagermester; P. Fenger, sognepraest; H. Cramers; Cand. theolog. L. S. Borring; Hammerich, J., Grosserer; L. C. Müller, cand. theol.; P. A. Jacobsen. «2 Vgl. Arildsen, S. 57, Andersen, S. 169. 63 64 Hammerich, a.a.O., S. 243. Vgl. Arildsen, S. 57. 6 « Vgl. Andersen, S. 179. 61

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Kreisen, vor allem aber war Schleiermacher sein Mann."®6 Das sind natürlich keine Belege für eine plötzliche Kehrtwendung — dazu war Martensen zu fest in seiner Grundtvigschen Vergangenheit verwurzelt, die immerhin seine ganze Studentenzeit geprägt hatte. Aber sie dokumentieren Martensens Ausbruchsversuche. Sie führten schließlich zur völligen Loslösung. Martensen kam zu der Erkenntnis, daß Grundtvigs Verdammungsurteile über Prof. H.N.Clausen nicht gerechtfertigt waren. Mit Genugtuung erlebte er, daß ihn der scheue Professor auf Grund einer schriftlichen Arbeit zu sich einlud und ihn in seinen Familien- und Freundeskreis einführte 67 . Auch das Haus des berühmten Physikers Prof. H . C . 0 r s t e d öffnete sich ihm 68 . 0rsted war ein philosophischer Kopf; auch hier wurde Martensen durch den Freisinn und die geistige Weite angelockt. „Mit reger Aufmerksamkeit hatte ich seine Vorlesungen über die Physik gehört, und namentlich einen lebhaften Eindruck von der Einleitung empfangen, in welcher er das Verhältnis zwischen Natur und Geist entwickelte, wie die Gesetze der Natur dieselben seien, wie die des Geistes, und dieser daher in der Natur immer sich selbst wiederfinde. Von diesem Gesichtspunkte aus hatte ich mit ihm mehrere Unterhaltungen." 69 Es war doch Fr. Chr. Sibbern, Professor für Philosophie, von dem er die nachdrücklichste Wegweisung weg von Grundtvig in seine neue philosophische Heimat empfing. „Hier fand ich die ersten Anfänge dessen, was ich suchte." Er war es, „der von allen meinen Lehrern in jener Periode mir das Meiste gewährte, sowohl auf dem Katheder, als in seinem Hause und unter Gottes freiem Himmel, da er häufig mit mir spazieren ging und peripatetisch seine Philosophie entwickelte" 70 . Diese „Philosophie des Christentums", die Martensen „mit größtem Interesse" hörte, war im Grunde eine spekulative Theologie. Sie bedeutete für Martensen eine neue Einsicht in die Möglichkeit nicht nur, sondern in die Notwendigkeit einer Vereinigung von Spekulation und Christentum. Und diese Notwendigkeit gründete nicht nur auf der Forderung der Philosophie, daß die Wahrheit des Christentums nur „denkend" als wahr erkannt werde — sie entsprach ebenso dem richtig ausgelegten Neuen Testament, wie man denn „ohne spekulative Grundlage die in der heiligen Schrift enthaltenen Schätze nicht richtig verwerthen könne"; immer wieder scheine bei Paulus und Johannes eine „Alles umfassende Weltanschauung" durch 71 . So kann man sagen, daß die „Spekulation" es war, die den Keil zwischen Martensen und die Grundtvigianer getrieben hat 72 . Dabei ist Spekulation zunächst nichts weiter als eine unspezifische Kurzbezeichnung für die Denkform und die geistige Welt, wie sie die Schriften von Fichte, 66 68 70 72

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Vgl. Andersen, S. 182. Vgl. L I, S. 68ff. L I, S. 72. Vgl. Andersen, S. 229.

67 69 71

L I, S. 65ff., vgl. Andersen, S. 196f. L I, S. 68f. L I, S. 74.

Schelling, Hegel, Schleiermacher repräsentieren. Spekulation, spekulative Theologie ist ein Gegenbegriff gegen Grundtvigs „Orthodoxie". Aus der sich anbahnenden Gegnerschaft, also recht vordergründig, muß er bei Martensen zunächst verstanden werden. Diese Gegnerschaft eint, von Martensen aus gesehen, die Genannten. Martensen hatte sie anfangs eher aus Trotz gegen die geistige Bevormundung gelesen73, aber er ist diese Geister dann nicht mehr losgeworden. Gewiß würde eine Intelligenz wie er den engen Parteigeist ohnehin auf die Dauer hinter sich gelassen haben. Aber ebenso deutlich ist, daß Martensen zumindest einen wichtigen Anstoß für sein Verlassen dieser Gruppe nicht aus dem unmittelbaren, für sich allein und zurückgezogen betriebenen Studium der genannten Denker erhielt. Sondern es war das ihm ganz neue Erlebnis einer kultivierten Atmosphäre, wie sie in den Häusern seiner erwähnten Lehrer Clausen, 0rsted und Sibbern herrschte74. Hier löste sich für Martensen der Zwang, beständig in Fronten zu denken. Die geistreichen Gespräche, deren Zeuge und Teilnehmer Martensen wurde, erhoben sich weit über das bisherige Niveau, sie waren auch thematisch viel umfassender. „In dem Familien- und Freundeskreise . . . war vornehmlich die Rede von Kunst, von den Schätzen Roms, von Thorvaldsen . . . , von politischen und socialen Fragen, wie eben die Zeitereignisse solche anregten. Theologie kam weniger zur Sprache." 75 So ging es bei Clausens zu und im Hause 0rsteds nicht anders 76 . Eine neue Welt hatte sich erschlossen, im Vergleich zu der das Niveau des vormaligen Freundeskreises als recht dürftig erscheinen mußte. „Für einen jungen Menschen, der keine sonderliche Gelegenheit gehabt hatte, sich in den Kreisen der höheren Bildung zu bewegen, mußte es von großer Bedeutung sein, daß ihm ein solches Haus geöffnet war." 7 7 Urbanität, kulturelle Gepflegtheit, geistige Weite, weniger aufgeregtes Kämpfertum, weniger Enge, vielmehr Souveränität und Gelassenheit, Unaufdringlichkeit und Freisinn im Austausch der Gedanken — dies war das Neue, wodurch Martensen in seinem Umgang mit den Spitzen des akademischen Lebens der Hauptstadt immer mehr angezogen wurde. Dagegen mußte alles Frühere verblassen. Audi der Ehrgeiz in Martensen wird ihn in diesem Eindruck bestärkt haben. Er brauchte jetzt den Rückhalt durch die Grundtvigsche Gruppe nicht mehr. Jedenfalls wird man Martensens oben geschilderte Zuwendung zur „Philosophie" mit dieser biographischen 73

74 Vgl. L I, S. 44ff., 76 ff., 93f. Vgl. auch L I, S. 71 f. L I, S. 67. 76 Vgl. L I, S. 69, 75f. Auch das Elternhaus seines Freundes und Gefährten auf der Auslandsreise ist hier zu erwähnen. Martensen bezeichnet die im Hause Bornemann gegebenen Gesellschaften als „bildendes Gegengewicht" gegen eine „einseitige Versenkung in metaphysische und religiöse Fragen". L I, S. 95. 77 L I, S. 68, vgl. S. 93, 97. 75

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Situation in Zusammenhang bringen müssen. Nicht die Grundtvigianer, wohl aber die deutschen Idealisten paßten in das Fluidum der Salons von Kopenhagen. Martensen drückt sein Verhältnis zu Grundtvig mit den Worten Fausts aus: „Du hast die Kraft, mich anzuziehn besessen, doch mich zu halten hast du nicht die Kraft." 78 Vielleicht wäre Shakespeare zutreffender gewesen: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan . . . " Das Ziel, die akademische Laufbahn einzuschlagen, scheint Martensen spätestens in seiner Kandidatenzeit fest vor Augen zu stehen 79 . Das „Manuduciren", d.h. das Abhalten theologischer Repetitorien, wozu er durch seine weiterhin dürftige finanzielle Lage gezwungen war, benutzte er, um sich „zugleich... etwas auf den theologischen Vortrag einzuüben" 80. Martensen nennt zwei seiner Manuduzenden, den schon erwähnten Vilhelm Birkedahl und S0ren Kierkegaard. „Ich wählte . . . die Aufgabe, ihm die Hauptpunkte der Dogmatik Schleiermachers vorzutragen und hierüber Gespräche mit ihm zu führen." 8 1 Die Wahl Schleiermachers war nicht zufällig. Wie sehr gerade Schleiermacher für Martensen bei seiner Lösung von den Grundtvigianern zum Repräsentanten jener neuen philosophischen Weltbetrachtung und Lebenshaltung wurde, bezeugt die Resonanz, die der Besuch Schleiermachers (Herbst 1833) in Kopenhagen bei Martensen hervorrief. Davon wird noch die Rede sein. Martensens erster Versuch, sich die Spekulation und ihr Verfahren technisch anzueignen, ist seine Beantwortung der von der Fakultät gestellten Preisaufgabe „Quodnam est fundamentum theologiae naturalis, quis ambitus & quaenam relatio ejus ad theologiam positivam". Martensens „Forsog til en Besvarelse af den theologiske Priisopgave" (Dezember 1833) brachte ihm hohes Lob der Fakultät und eine Medaille ein. Martensen findet freilich im Rückblick diese Arbeit „nicht bedeutend genug um sie hier weiter zu besprechen" 82 . Sie soll daher kurz betrachtet werden. Auf Grund der Korrelation zwischen Religion und Offenbarung wird die natürliche Theologie definiert als die Wissenschaft, die, ausgehend vom 78

L I, S. 51. Als Kandidat setzte er seine philosophischen Studien fort, hörte Vorlesungen bei Sibbern über spekulative Psychologie und bei Poul M. Moller über Metaphysik, nahm aber auch im Pastoralseminar, in das er kurz nach seinem Examen eintrat (6. 11. 1832), an homiletischen und katechetischen Übungen teil, vgl. L H , S. 79; Arildsen, S. 57-59. 80 L I, S. 90. 81 „Ich überzeugte mich bald, daß hier eine ungewöhnliche Begabung war, aber auch ein unüberwindlicher Hang zur Sophistik, zu einem Spiel des Scharfsinns, welches bei allen Gelegenheiten zutage trat und oft ermüdend war." L I , S. 91 f. 82 L I, S. 90. Da es mir nicht möglich war, die Abhandlung im Familienarchiv einzusehen, stütze ich mich auf Arildsens, allerdings sehr ausführliches Referat, das weithin Originalzitate bringt, vgl. Arildsen, S. 60-71 und dazu N. Thulstrup, Kierkegaards Forhold til Hegel og den spekulative Idealisme indtil 1846, S. 47. 7i

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allgemeinen religiösen Bewußtsein, eine philosophische Entwicklung der Begriffe Religion und Offenbarung bietet. Nicht durch Berufung auf die objektive Kirche, sondern — dem Wesen des Protestantismus entsprechend — in freier Forschung muß der Religionsbegriff bestimmt werden. Das Prinzip, das fundamentum der natürlichen Theologie ist also „die ursprüngliche religiöse Idee". Da „nur diejenige Identität lebendig und wirklich ist, die eine Einheit entgegengesetzter Motive ist", muß das Verhältnis zwischen Gott und Mensch sowohl als Identitäts- wie als Gegensatzverhältnis bestimmt werden. Alles, das Leben des Geistes eingeschlossen, hat Leben nur im ewigen Heraustreten aus der Einheit und in der ewigen Rückwendung zu ihr. „Alles Leben ist innere, ewige Bewegung, in der seine Momente mediiert werden. Nur in dieser Bewegung hat es seine Existenz." Der Religionsprozeß besteht demgemäß darin, daß „der Mensch sich von Gott sondert, diese Sonderung aufhebt und sich und die Welt wieder dem Unendlichen hingibt". (Wie oft wird Martensen künftig noch mit diesem Schema operieren! Bereits hier sucht er sich von Schleiermacher abzusetzen mit dem Hinweis, dieser fasse das Verhältnis zwischen Gott und Mensch einseitig als Einheitsverhältnis und lasse den Gegensatz nicht zu seinem Recht kommen.) Von der doppelten Voraussetzung aus, erstens, daß die Spekulation in gedanklicher Notwendigkeit zum höchsten Gottesbewußtsein aufsteigen kann und, zweitens, daß das Christentum dem absoluten Begriff der Religion entspricht, definiert Martensen Umfang (ambitus) und Aufgabe der natürlichen Theologie. Sie ist „die spekulative Wissenschaft, die die christliche Grundgnosis entwickelt". Wie aber ist dann das Verhältnis (relatio) zwischen spekulativer und positiver Theologie zu denken? Martensens Antwort reflektiert seine Aneignung des spekulativen Denkens. „Wenn für uns feststeht — und um diese Annahme kann niemand herumkommen —, daß es alle Wahrheit nur im Bewußtsein gibt, daß Gott für uns nur in der Idee da ist, so ist es dasselbe, ob man sagt, daß die Idee, die als Gottes eigene Selbstverkündigung in unserem Innern betrachtet werden muß, sich zu dem ewigen Begriff der christlichen Offenbarung entwickeln muß, oder aber daß Gott dieses tut; und ist es uns gewiß, daß Gott sich im Christentum offenbart hat, so muß es uns auch gewiß sein, daß die Bestimmungen der christlichen Offenbarung dem Menschengeist immanent sind und sein eignes, innerstes Wesen ausmachen. Ist also die Offenbarung die entwickelte Vernunft, so ist das Reich des religiösen Bewußtseins ein mit sich identisches Ganzes, so muß die Erkenntnisweise für dieses Gleichgeartete dieselbe sein, und man kann nicht sagen, bestimmte Ideen könnten begriffen, andere müßten geglaubt werden, sondern man muß dann entweder die ganze Sphäre des 3

Brandt, Gotteserkenntnis

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Gottesbewußtseins auf den Glauben beschränken oder ein Wissen der Totalität einräumen." Diese erste Arbeit Martensens bezeugt, daß er sich die Technik spekulativen Denkens angeeignet hat. Mit Hilfe dieser Methode, die Martensen schon jetzt verdächtig gut handhabt, ist die Totalität greifbar geworden. Martensen ist im Besitz des denkerischen Rüstzeugs zu ihrer Erfassung. Seine frühen Schriften, von der Kolthoff-Rezension, die im Juli 1834 erschien, bis hin zur Dogmatik von 1849, sind von diesem Selbstbewußtsein geprägt. Im Herbst 1834 trat Martensen, nunmehr 26jähriger Kandidat, zusammen mit seinem Freund F. C. Bornemann eine zweijährige Auslandsreise an. Das ihnen gewährte Reisestipendium war nicht kleinlich bemessen 83 . Und Martensen hat es weidlich ausgenutzt. Man vergegenwärtige sich nur die in den Jahren 1834—1836 gemachten persönlichen Bekanntschaften. Wahrhaftig eine neiderregende Reihe: Claus Harms in Kiel 8 4 , Marheineke, Steffens, Gossner, Droysen, Göschel in Berlin 85 , Tieck in Dresden 86 , Daub, die beiden Söhne Hegels, H . E . G . P a u l u s in Heidelberg 8 7 , D.Fr.Strauss, F.Chr.Baur, L.Uhland in Tübingen 88 , in München Baader, Schelling, G. H . v. Schubert, J.v.Görres, und wohl auch schon Julius Hamberger 8 9 . Dann, im Winter 1835/36 die Freundschaft mit Lenau, im Zusamenhang mit der Martensens erstes Büchlein „Ueber Lenaus Faust" entstand und endlich, in Paris, die Begegnung mit dem Ehepaar Heiberg. Von Martensens Beziehung zu Lenau wird bei der Besprechung seiner Faust-Schrift zu reden sein; im Rahmen dieses biographischen Überblicks sind noch einige Bemerkungen nötig, erstens über Martensens Berliner Zeit, zweitens über seine Begegnung mit Baader und Schelling und drittens über das erwähnte Zusammentreffen mit den Heibergs in Paris, kurz vor seiner Rückkehr nach Dänemark (Herbst 1836). 1. Daß Martensen in Berlin eine „persönliche Krise" durchgemacht habe, wird immer wieder in den Uberblicken über seinen Lebensgang be8 1 Vgl. L I, S. 98; L II, S. 26. Vgl. Arildsen, S. 75, Anm. 2. Vgl. L I , S. 98, 102, 105ff., 108, 111 und Martensens Briefe an Clausen vom 12.12. 1834 und vom 25. 4.1835, bei Arildsen, S. 496-503. 8e Vgl. L I, S. 126. 87 Vgl. L I, S. 132 ff., 140, 145 und den Brief an Clausen vom 10. 8.1835. bei Arildsen, S. 503-508. 88 L I, S. 150ff., 157. 89 L I , S. 159, 171 ff., 181 ff.; über ein Zusammentreffen mit seinem „alten Freunde" Hamberger (LIII, S. 210) berichtet Martensen an dieser Stelle nichts; möglicherweise hat er mit ihm in Schellings Kolleg gesessen, vgl. W. Preger, Artikel Hamberger, RE, 3. Aufl., Bd. 7, S. 376. 83

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hauptet. Diese Behauptungen stützen sich auf Martensens Schilderung90, in der jedoch nicht von einer „Krise", sondern von „skeptischen Stimmungen" 91 die Rede ist. Hervorgerufen, bzw. begünstigt wurde der Lebensüberdruß, „in welchem Alles mir gleichgültig ward", so schreibt Martensen, durch ein leibliches Übel, über das er sich aber nur sehr verschwommen ausdrückt. „In der Natur dieses Übels lag es, daß es Hypochondrie mit sich führte." 92 In seiner Autobiographie — zwischen ihr und besagter Episode liegen fast 50 Jahre — versucht Martensen diesen Zustand daraus zu erklären, „daß unter der angestrengten, bloß intellektuellen Beschäftigung mein Glaubensleben zurückgedrängt und unwirksam geworden war" 9 3 . Seine Depressionen seien „ein Memento" gewesen, „hinfort Glauben und Erkenntnis innerhalb meines eigenen persönlichen Lebens in die richtige Stellung zu bringen" 94 . Er betont aber, dies sei ihm „erst zu einem späteren Zeitpunkt" klar geworden. Dennoch nimmt Arildsen die ganze Schilderung für historisch erwiesen und schließt aus ihr, im Verlauf der Krise im Zeitraum Januar-April 1835 95 habe das persönlich-religiöse Moment den Vorsprung, den das spekulative Moment in Martensens geistiger Entwicklung bislang gehabt habe, eingeholt 96 . Nun wiederholt Martensen auf diesen Seiten der Biographie ζ. T. wörtlich, was er vier Jahre zuvor in seiner Speziellen Ethik zum Thema Lebensüberdruß gesagt hatte: nicht durch verstärktes Glaubensleben, sondern durch regelmäßige Arbeit sei er zu bekämpfen 97 . Dementsprechend schildert Martensen auch in seiner Biographie, „jener natürliche Glaube an das Leben" habe ihn die Hypochondrie überwinden helfen, „jene optimistische Anschauung . . . daß, wenn ich es nur aufrichtig und ernst meine, Alles gut, Alles klar und licht werden muß" 9 8 . Ob — in Arildsens Paraphrase — „dieser jugendliche, unbekümmerte, freudige Glaube" 99 wirklich genügte, um den spekulativen Vorsprung aufzuholen? Machte sich denn von jetzt an ein Einfluß persönlichen Glaubenslebens auf Martensens Denkarbeit bemerkbar? Martensens Schriften sprechen eine andere Sprache. Sie aber sind gegenüber den ζ. T. etwas betulichen Aussagen der Lebensbeschreibung grundsätzlich als die verläßlicheren Zeugen anzusehen" 100 . Im Vorblick auf den später zu würdigenden literarischen Befund und die große Bedeutung, die Schelling für Martensen bekommen sollte, darf aber nicht übersehen werden, daß Martensen seine geistige Beunruhigung als Reflex der Erschütterung beschreibt, welche Schelling bei den Berliner 90

91 92 L I, S. 114-123. L I, S. 115. L I, S. 115. 94 L I, S. 120. L I, S. 122. 95 98 Arildsen, S. 85. Arildsen, S. 89. 97 98 Vgl. Ε II, S. 452-454. L I, S. 123. 99 Arildsen, S. 89. 100 Vgl. auch V. Birkedahl, Personlige Oplevelser, S. 199. 93

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Hegelianern durch seine „Vorrede zu einer philosophischen Schrift des Herrn Victor Cousin" (1834) 101 hervorrief. Daß die höhere Wirklichkeit nicht durch eine rationale Philosophie im Stile Hegels, sondern nur durch einen „höheren Empirismus" verstanden werden könne — dieses Wort Schellings „drang wie ein Stachel in die Seelen, und mehrere unter denen, die gegen ihn polemisiert hatten, traten nachher zu ihm über. Auch in mir selbst" — so fährt Martensen fort — »ging damals eine Umwälzung vor sich"102. Und dann folgt die erwähnte Beschreibung seiner „Krise". Von ihr als einer „religiös-intellektuell-spekulativen Wiedergeburt" zu sprechen103 ist wohl etwas übertrieben. Man wird exakter sagen müssen: In Berlin hat sich Martensens Übergang zu Schelling angebahnt. Darauf, daß Schelling allmählich Macht über sein Denken gewann, beruhten Martensens Zweifel. Sie sind ein natürliches Phänomen im Verlauf einer Umorientierung. „Über Schellings System laufen hier die verschiedensten Gerüchte um", schreibt Martensen im Dezember 1834 an H.N.Clausen, „sie bestärken meine Sehnsucht nur noch mehr, mich selbst von seiner Beschaffenheit zu überzeugen". Es ist Schelling, um dessentwillen Martensen hauptsächlich München besuchen wollte 104 . 2. Auch Martensens Schilderung seiner Münchner Zeit sollte mit Vorbehalt als direkte historische Quelle gewertet werden. Man gewinnt aus ihr auf den ersten Blick den Eindruck, daß von nun an Baader weit größere Wirkung auf Martensen ausübte als Schelling105. Dieser Eindruck beruht auf der für Martensens Lebenserinnerungen charakteristischen Mischung der biographischen Daten mit den Reflexionen und Monitionen des Greises, der gerade zwei Jahre zuvor seine theosophischen Studien über Jakob Böhme veröffentlicht hatte. Wenn Martensen „den Unterschied zwischen Schelling und Baader" hervorhebt, „wie derselbe jetzt (i. e. 1883) aus den gesammelten Werken Beider dokumentiert werden kann" l o e , daß nämlich Schelling nichts von Baaders religiöser Philosophie hören wollte 107 , dann darf man diese Überzeugung dem jungen Kandidaten so nicht imputieren. Nichts spricht dafür, daß er sich mit Baader zuvor so beschäftigt hatte wie mit Schelling. Außerdem sind Martensens kritische Äußerungen nicht zu überhören: Ungeeignet, Kollegs zu halten („es war in dem ganzen weder Methode, noch Fluß") 108 , unfähig, sein philosophisches Wissen systematisch darzulegen 109 , sprach sich Baader am 101

In: Werke, hrsg. von M. Schröter, 4. Erg.bd., S. 445^68. 103 L I, S. 114. Arildsen, S. 89. 104 „Schelling for hvis Skyld jeg vassentligt vilde besoge München" — Brief Martensens an Η. N. Clausen (12. 12.1834), bei Arildsen, S. 500. 105 Vgl. L I , S. 159; so auch typisch wieder Arildsen, S. 95ff. 108 107 108 L I, S. 175. Ebd. L I, S. 160. 109 Vgl. L I, S. 161. 102

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besten in Privatgesprächen aus. Martensen vermag kaum zu sagen, „was ich von ihm gehört h a b e , . . . da nicht Weniges davon dunkel war. Er gab sich nicht die Mühe, für die Anfänger die Sache zu expliciren" u o . Es sei jedoch Baaders Verdienst gewesen, ihm mit der Formel „credo, ut intelligam" sein theologisches Arbeitsziel bewußt gemacht zu haben. Dies ist als die Quintessenz der Wirkung Baaders auf den jungen Martensen anzusehen. Baader hat ihn darin bestärkt, daß Spekulation und Glaube, d. h. für Martensen: Spekulation und Theologie, zusammengehören. Das Anselm-Motto zielt jedoch bei Martensen nur scheinbar auf Unterordnung des Erkennens unter den Glauben 111 . Sondern es hat bei Martensen die Funktion, das spekulative Erkennen theologisch zu legitimieren. „Credo ut intelligam" ist also bei ihm ein pragmatischer Satz. Es war aber das Schellingsche System, nicht Baaders Aphorismen, das Martensen die Augen dafür öffnete, wie sich dieses Prinzip spekulativ verifizieren lasse. Martensens Schilderung von Baader und Schelling wirkt wirklich lebendig eigentlich nur in Bezug auf ihren Vorlesungsstil. Das war für den angehenden Dozenten eine wichtige Sache. Und hier fällt das Urteil klar aus: Gegenüber Baader „muß man von Schelling sagen, und zwar im eminenten Sinne sagen: dieser Mann konnte Vorlesungen halten" 112 ! Doch über die inhaltliche Wirkung, die München auf Martensens Theologie ausübte, kann vom Biographischen her Endgültiges nicht gesagt werden. 3. Und schließlich Paris. Wie in Heidelberg und Wien, so arbeitete Martensen auch hier weiter in der Literatur der Mystiker; die Exzerpte verarbeitete er später in der Schrift „Meister Eckart" (1840). Das Besondere aber während dieser Pariser Zeit war Martensens Begegnung mit dem Ehepaar Heiberg. Joh. Ludw. Heiberg, seit 1822 Professor für dänische Sprache und Literatur in Kiel und von 1849 bis 1856 Theaterdirektor in Kopenhagen, weilte mit seiner reizenden jungen Frau zur selben Zeit in Paris. Durch Zufall traf Martensen die beiden bei einem Landsmann. Heiberg „setzte sich zwischen uns; und auf mich machte seine ganze Konversation einen so angenehmen, so ansprechenden Eindruck, daß ich es mir nicht versagen mochte, ihm und seiner Gattin, welche von der Bühne herab mir schon wohlbekannt war, einen Besuch zu machen" 113 . Martensens Besuch bei den Heibergs dauerte von mittags 12 bis nachts um 12 Uhr, worauf vielsagend hingewiesen wird. Diese Schilderung ist köstlich zu lesen. Zunächst Diskussion mit Heiberg über die Hegeische Philosophie — „Frau Heiberg . . . verhielt sich während dieser Verhandlung vorwiegend als Zuhörerin" 114 . Dann gemeinsam vortreffliches Essen, während dessen 110 111 112

L I , S. 161 f. Gegen Arildsen, S. 99: „Tro er det primaere, Erkendelsen det sekundaere." 113 114 L I, S. 171 ff. L I, S. 251 f. L I, S. 253f. 37

das Gespräch auf das Literarische überging, nämlich auf die Einschätzung Shakespeares. „Auch während dieser Shakespeare-Frage begnügte sich Frau Heiberg zu horchen und geistreiche Fragen zu thun." 1 1 5 Dann, während des Spaziergangs im Garten des Palais Royal, regte sich das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl; man gedadite der dänischen Kämpeweisen und Lieder 116 . „Frau Heiberg konnte garnicht aufhören, von jenen alten, noch heute frisch duftenden Liedern zu reden; und sie leitete meine Aufmerksamkeit auf ein Lied, welches sie vor anderen liebte." Martensen kannte es nicht, „sie aber lehrte es mich, indem sie, den Springbrunnen umkreisend, es mir recitirte und leise summend vorsang" m . In Heibergs Hotel setzte sich der Gesang fort: „ D a war's, wo Johanna Luise — es sei mir erlaubt, sie hier so zu nennen — uns erfreute und erhob, indem sie sang, was sie vorher nur gesummt hatte, als wir um den Springbrunnen wandelten . . . Ich war von ihrem Gesänge hingenommen." 118 Man wird, ohne Martensen zu nahe zu treten, vermuten dürfen: es war nicht nur ihr Gesang — es war sie selbst. Zu deutlich tritt in Martensens Schilderung ihr Mann immer mehr zurück. Martensen war damals 28, Frau Heiberg 24 Jahre alt 1 1 9 . Martensen hat sehr wenig Freunde gehabt. Seine lebenslange Freundseihaft mit den Heibergs, besonders mit Frau Heiberg, datiert von diesem Sommerabend her 120 . Daß Martensens Erinnerung in diesem Fall bis in Einzelheiten stimmt, bestätigten die Lebenserinnerungen Johanne Luise Heibergs („Et Liv Gjenoplevet i Erindringen") 121 . Immer wieder taucht dieGestalt Martensens in ihnen auf.Schon im folgenden Winter (1836/37) war er ein immer häufiger gesehener Gast im Heibergschen Haus und wurde ständiger Teilnehmer der bei Heibergs stattfindenden „Lesebälle" 122. Martensen philosophierte nicht nur mit ihrem Mann 1 2 3 , sondern teilte wirklich Freud und Leid der Familie 124 . Martensens helfende Worte sind ihr unvergeßlich geblieben 125 . Bei einer schweren Krankheit ihres Mannes war er zur Stelle 126 . Er begrub, inzwischen Bischof, Heibergs Mutter und dann auch Heiberg selbst, der am 15. 8.1860 starb. Viele 116 Vgl. L I, S. 258. i » L I, S. 256. 117 L I, S. 259. 118 L I, S. 261, vgl. S. 266! 119 Vgl. L I, S. 253. 120 ..Jeg gaar til Fruen" (ich gehe zur Frau) pflegte Martensen später zu sagen, wenn er sie aufsuchte. Diese Besuche durchbrachen seinen sonst streng eingehaltenen Tagesablauf. Seine Tochter Josepha schildert die Aufregung, die im Hause Martensen entstand, als der Hausherr kurz nach seiner zweiten Verehelichung einmal erst nachts um 2.30 Uhr von einem solchen Besuch zurückgekommen war. Vgl. Josepha Martensen, H. L. Martensen i sit Hjem og blandt sine Venner, S. 27 ff., 128 ff. 1 2 1 A.a.O., Bd. I, S. 352—355. 122 A.a.O., S. 369, vgl. L II, S. 31 ff. 124 A.a.O., Bd. II, S. 91, 240f. A.a.O., S. 412, Bd. IV, S. 6. 1 2 f A.a.O., Bd. I, S. 371; Bd. III, S. 25; Bd. IV, S. 122, 210, 221. 12« A.a.O., Bd. III, S. 146.

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Briefe gingen zwischen beiden Häusern hin und her127. Und als Martensen am Ende seines Lebens selber schwach und krank wurde, kam Frau Heiberg an sein Sterbelager und führte die letzten, unvergeßlichen Gespräche mit ihrem „langjährigen, getreuen Freund", wie sie ihn stereotyp nennt. Mit Martensens Tod beschließt sie ihre Erinnerungen128. Für Martensen sollte diese Freundschaft so etwas wie ein Refugium inmitten der parteilichen und unruhigen Welt, inmitten der „Prosa des Lebens" werden12®. Aber das ahnte er noch nicht, als er tatendurstig und arbeitsfreudig im Herbst 1836 die Heimreise antrat. Folgende Daten bezeichnen den kontinuierlichen akademischen Aufstieg Martensens. Anderthalb Jahre nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen, am 21. 4. 1838 wird er zum außerordentlichen Dozenten mit der Amtsbezeichnung „Lektor" bestellt. Am 1.12.1840 ernennt ihn König Christian VIII. zum Professor extraordinarius für Theologie. Dieses Amt hat Martensens 10 Jahre innegehabt, bis er auf Grund königlicher Resolution am 1. 9. 1850 zum Professor Ordinarius aufrückte. Am 15. 4.1854 erfolgte dann seine Ernennung zum Bischof über Seeland. Die literarische Produktion, die Martensen während dieser Zeit entfaltete, enthält folgende größere Werke130. 1837 erscheint die Lizentiatenabhandlung über „Die Autonomie des menschlichen Selbstbewußtseins", 1840 seine Studie über Meister Eckart, 1841 der „Grundrids til Moralphilosophiens System", und 1849, nach fünfjährigem literarischen Schweigen, „Die christliche Dogmatik". Außerdem hat Martensen in dieser Zeit dreizehn kleinere, verschiedenen Themen gewidmete Rezensionen, Stellungnahmen und Aufsätze erscheinen lassen. Sie seien in zeitlicher Reihenfolge aufgeführt. 1836 eine Rezension über J. L. Heibergs Einleitungsvortrag über die Philosophie Hegels131, 1837 die erweiterte, dänische Ausgabe von „Ueber Lenaus Faust", 1838 Rezension der Dichtung „Fata Morgana", Komödie von J. L. Heiberg, 1839 die vorsichtige Auseinandersetzung mit Mynster in dem Aufsatz „Rationalisme, Supranaturalisme og principium exclusi medii", 1840 ein kleiner Zeitungsartikel, der Hegel in Schutz nimmt, 1841 wieder eine ästhetische Abhandlung in Form einer Besprechung von Heibergs „Nye Digte", 1842 eine Betrachtung über die religiöse Krise der Gegenwart. Auch die Studie „Den christelige Daab betragtet med A.a.O., Bd. IV, S. 189, 196, 252-306, 3 0 6 f r . A.a.O., Bd. IV, S. 355f, 357f. »» L II, (Vorwort: S. III), vgl. Gude I, S. 47; II, S. 30, 33, 72, 186. 180 Die Predigten sind hier nicht berücksichtigt. Sie sind vollständig aufgeführt in MS, S. 13-24, vgl. auch V. Nannestad, H. L. Martensen. Nyt Bidrag til en Karakteristik af dansk Praediken. m Vgl. für diese und die folgenden Schriften die bibliographischen Angaben im Literaturverzeichnis am Ende dieser Arbeit. 128

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Hensyn paa det baptistiske Sporgsmaal" (1843) befaßt sich mit einer aktuellen Frage, gefolgt von einer schöngeistigen Meditation über das astronomische und das Kirchenjahr (Kirkeaaret, 1843). Anlaß zu dem Zeitungsartikel „Litterairt Uvaesen" bot dann im nächsten Jahr die ohne Martensens Willen erfolgte Veröffentlichung von Teilen seines Kollegs über die Dreieinigkeitslehre (1844). Die auf die Dogmatik folgenden Schriften deuten dann bereits thematisch Martensens Ubergang ins praktische Kirchenleben an. Außer den der Verteidigung der Dogmatik gewidmeten „Dogmatiske Oplysninger" (1850) gab Martensen ein „Sendschreiben an den Herrn Oberconsistorialrath Nielsen in Schleswig" (1850), eine Schrift über die Verfassungsfrage der dänischen Volkskirche (1851) und einen kleinen „Versuch in der praktischen Theologie" (1853) heraus. Wenn man von den zuletzt erwähnten, auf praktische Fragen bezogenen Schriften absieht, so überwiegen die an literarischen, ästhetischen und allgemein philosophischen Themen orientierten Aufsätze die streng genommen theologischen bei weitem. Das ist kein Zufall. Sondern darin spiegelt sich das sympathische Bild des Professors Martensen ab, der es sich auf Grund des Niveaus seiner Bildung, seines noblen akademischen Stils, seiner Selbstsicherheit und Unabhängigkeit leisten konnte, nicht nur in angemessener Form mit Bischof Mynster zu disputieren, sondern audi, ohne Rücksicht auf die unmittelbar theologische Verwertbarkeit, die Grenzen seines Faches zu überschreiten und sich selbstzweckhaft mit Gedichten und Dramen zu beschäftigen. Er wußte, daß er sich das leisten konnte. Seine Lehrtätigkeit hatte glänzenden Erfolg. Ein jugendlicher, fortschrittlicher Dozent, dessen Vortrag zündete und dessen Gedankengänge verlockten — so hat Martensen von 1838 bis 1854 Vorlesungen gehalten 132 . „Die Wirkung meiner Vorlesungen darf ich ohne 132 Anbei die Liste seiner Kollegs. SS = Sommersemester, WS = Wintersemester (in Klammern die Zahl der Wochenstunden). Vorlesungen in der philosophischen Fakultät, SS 1838, SS 1839, SS 1840: Philosophia moralis (3); SS 1841: Philosophia moralis ad ductum compendii, quod mox in lucem prodibit (3); Vorlesungen in der theologischen Fakultät: WS 1837: Dogmatica speculativa (2); WS 1838: Historia philosophiae recentioris (inde a Kantio ad Hegelium usque) eiusque ad theologiam relatio (2), Dogmatica speculativa (4); SS 1839: Dogmatica speculativa (3), Epistola Pauli ad Galatas Danice (2); WS 1839: Symbolica Christiana (2), Ethica Christiana (3); SS 1840: Symbolica christiana (2), Ethica theolgica (3); WS 1840: Historia philosophiae etc. (2), Systematis dogmatici pars prior (4); SS 1841: Eschatologia christiana (2), Expositio systematis dogmatici (4); WS 1841: Historia doctrinae Lutheranae (2), Ethices christianae prior pars ad ductum compendii a se editi (3); SS 1842: Historia doctrinae Lutheranae (2), Ethices christianae posterior pars (3); WS 1842: Historia philosophiae recentioris etc. (2), Theologia dogmatica (4); SS 1843: Notio theologiae dogmaticae (2), Expositio systematis dogmatici (4); WS 1843: Symbolica christiana (2), Ethica christiana ad ductum etc. (2); SS 1844: Symbolices christianae altera pars (2), Ethices christianae altera pars (3); WS 1844:

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U b e r t r e i b u n g als eine große u n d u n g e w ö h n l i c h e bezeichnen. E i n e neue B e w e g u n g , ein neues L e b e n , o f f e n b a r t e sich u n t e r d e n S t u d e n t e n d e r T h e o l o g i e . P h i l o s o p h i s c h e Interessen u n d S t u d i e n ü b t e n ihre f e s s e l n d e Macht, u n d die Studenten führten beständig untereinander Gespräche ü b e r d i e höchsten P r o b l e m e . " 1 3 3 D i e s e s U r t e i l trifft z u ; viele seiner d a m a l i g e n H ö r e r h a b e n es b e s t ä t i g t 1 3 4 . A u c h K i e r k e g a a r d h a t M a r t e n s e n s K o l l e g mitgeschrieben 1 3 5 . F r e d e r i k k e B r e m e r , d i e geistvolle, vielgelesene Schriftstellerin 1 3 8 , spricht a l s o f ü r viele, w e n n sie den D o z e n t e n M a r tensen als philosophischen S ä m a n n ersten R a n g e s bezeichnet, w e n n sie Epistolae Pauli ad Ephesios et Colossenses (2), Theologiae dogmaticae prior pars (4); SS 1845: Introductio in theologiam dogmaticam (2), Expositio systematis dogmatici (4); WS 1845: Historia philosophiae recentioris etc. (2), Ethica Christiana (3); SS 1846: Historia doctrinae Lutheranae (2), Ethices christianae posterior pars (3); WS 1846: Expositio doctrinae Lutheranae (2), Theologia dogmatica (4); SS 1847: Introductio in theologiam dogmaticam (2), Posterior pars theologiae dogmaticae (4); WS 1847: Symbolica Christiana (2), Ethica christiana (3); SS 1848: Posterior pars symbolices christianae (2), Posterior pars ethices christianae (3); WS 1848: Introductio in theologiam dogmaticam (2), Prior pars theologiae dogmaticae (4); SS 1849: Epistola Pauli ad Ephesios (2), Posterior pars theologiae dogmaticae (4); WS 1849: Evangelium Marci (3), Prior pars ethices christianae (3); SS 1850: Posterior pars evangelii Marci (3), Posterior pars ethices christianae (3); WS 1850: Historia philosophiae recentioris etc. (2), Theologiae dogmaticae pars prior (3); SS 1851: Prolegomena dogmatices christianae (2), Altera pars dogmatices christianae (3); WS 1851: Den christelige Ethiks forste Halvdeel (3), Det lutherske Laerebegrebs Historie (2); SS 1852: Det lutherske Laerebegrebs Historie (2), Den christelige Ethiks sidste Halvdeel (2); WS 1852: Den christelige Symboliks forste Halvdeel (2), Den christelige Dogmatiks forste Halvdeel (3); SS 1853: Indledningen til den christelige Dogmatik (2), Den christelige Dogmatiks anden Halvdeel (3); WS 1853: Practisk Theologie (2), Christelig Ethik (3); SS 1854: Den practiske Theologies sidste Halvdeel (2), Den christelige Ethiks sidste Halvdeel (3) (vgl. Arildsen, S. 156— 158). L II, S. 7. „ H o s Martensen var der Lysglands, Solstraaler over Gjenstanden, ja Lyset skinnede igjennem den — ; Hojskolens Horesale var Alt saa traet, intet gjaer, der künde lofte Massen . . . " (V. Birkedahl, Personlige Oplevelser, S. 193f.) — „Det kristelige Aabenbaringsindhold kom til at tage sig ud som noget hidtil ukjendt og uhort, o g den nye Evangelieform vakte den storste Interesse hos de Studerende." (Η. N . Clausen, Optegnelser om mit Levneds og min Tids Historie, S. 211) vgl. ferner V. Beck, Erindringer fra mi Liv, S. 16ff., 119ff.; June Bondo, Biskop Dr. Teol. og Fil. Bruun Juul Fogs Levnet, S. 27f., 216f.; Joh. Fibiger, Mit Liv og Levnet, S. 73, 323ff.; Fr. Hammerich, E t Levnetslob, S. 186ff.; J . P. Mynster, Meddelser om mit Levnet, S. 235f. 1 3 5 Die Nachschriften, die Kierkegaard und ein anderer Student von Martensens Kolleg angefertigt haben, befanden sich zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit gerade im Druck. Der Herausgeber, Herr Dr. Niels Thulstrup, hatte jedoch die Freundlichkeit, mir mitzuteilen, daß diese Nachschriften im Blick auf die Entwicklung der Theologie Martensens nichts Neues ergeben, vgl. im übrigen N . Thulstrup, Kierkegaards Forhold til Hegel, S. 45, 119ff.; ebd. S. 122ff. der Abdruck einer Nachschrift aus Martensens Kolleg. 136 Vgl. L II, S. 144f. 133

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die Klarheit rühmt, mit welcher er die tiefsten spekulativen Lehrsätze behandle, und wenn sie von dem Interessanten und Genialen seiner Darstellungskunst schwärmt 137 . Um so verständlicher, daß König Christian VIII. diesen berühmtesten Theologieprofessor des Landes auf Veranlassung Bischof Mynsters zum Hofprediger ernannte 138 . Dies geschah im Jahre 1845 und wurde für Martensen bedeutsam, weil er durch dieses neue Amt sowohl mit der praktisch-kirchlichen Arbeit 139 als auch mit dem Leben bei Hofe näher in Berührung kam. Martensens Aufstieg hielt an 140 . „Insbesondere kam ich denn auch in ein Verhältnis zu den höchsten Personen, dem Könige und der Königin, Christian VIII. und Caroline Amalie." 141 . Auch die übrigen Größen, derer Martensen in seinen Erinnerungen unter der Überschrift „Persönliche Verhältnisse" gedenkt 142 , bestätigen den Eindruck, daß Martensen vornehmlich mit der Hautevolee seiner Zeit verkehrt habe. Außer seinem Schulkameraden, J. H . Paulli, Martensens Vorgänger als Hofprediger an der Schloßkirche und Beichtvater der königlichen Familie, werden I.A.Dorner, das Heibergsche Haus, Oehlenschläger, Grundtvig und Mynster erwähnt. Von Dorner sagt Martensen: „Unser freundschaftlicher Verkehr war auf Korrespondenz angewiesen." 143 Diese Korrespondenz liegt vor in dem zweibändigen, sich von 1839 bis 1881 erstreckenden Briefwechsel. Vom Heibergschen Haus ist oben schon die Rede gewesen. Bei Oehlenschläger spricht Martensen von ihren Diskussionen über das Verhältnis von Poesie und Spekulation 144 . Interessanter ist Martensens Bericht über Grundtvig. Er erzählt, wie er 1836 das erste Mal mit ihm zusammengetroffen sei, als Marheineke, der 1836 zum Jubiläum der dänischen Reformation in Kopenhagen weilte, sich von Martensen zu Grundtvig führen ließ. Damit war die Verbindung hergestellt; Martensen wurde ein häufig gesehener Gast im Hause Grundtvigs. Auch dienstlich traf er mit ihm — und mit Mynster — zusammen, da alle einer Kommission angehörten, die sich um die Ersetzung des rationalistischen dänischen Gesangbuches bemühen sollte. Die Er137 „En Saedemand i höieste Betydning er H. Martensen, ung endnu og i sin bedste Kraft . . . Den usaedvanlige Klarhed ob Bestemthed, med hvilken denne rigt begavede Taenker kan i Sproget fremstille de dybeste spekulative Laeresaetninger, det Interessante, det Genialske i hans Fremstillingsmaade gjör ham til en populair Skribent." (Fr. Bremer, Liv i Norden, S. 36f.) 138 Vgl. L II, S. 87 ff. 139 Martensen hatte bislang keinerlei Predigterfahrung, vgl. L II, S. 79 und Arildsen, S. 58f. 140 „Dadurch, daß ich Hofprediger ward, kam ich in ein Verhältniss zu gesellschaftlichen Kreisen, mit denen ich bisher keinerlei Berührung gehabt hatte." (L II, S. 105.) 141 142 143 L II, S. 105. L II, S. 16ff. L II, S. 24. 144 Vgl. L H , S. 45ff.

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arbeitung eines Probeheftes stand im Zeichen sowohl der genialen Produktivität wie der Störrigkeit Grundtvigs. Es wurde aber abgelehnt. Martensens „Traum von einem Grundtvigschen Gesangbuch für die Kirche Dänemarks war dahin" 145 . Es sollte auf dem Gebiet kirchlicher Entscheidungen noch schwerere Enttäuschungen für Martensen geben. Zwar hatte Paulli eine nähere Bekanntschaft zwischen Martensen und Bischof Mynster vermittelt 146 . Dennoch blieb Mynster zurückhaltend. Er mißtraute dem Hegelianer in Martensen. Hinzu kam, daß Martensen 1843 in der erwähnten Schrift über die christliche Taufe im Blick auf die baptistische Frage gegen Mynster den liberalen Standpunkt vertreten und eine vom Staat verordnete Zwangstaufe der Baptistenkinder abgelehnt hatte. Zu der Divergenz in dieser praktischen Frage kam eine theologische. In einer Rezension von Martensens Dissertation hatte J . A . Bornemann sowohl den Rationalismus als den Supranaturalismus als veraltete theologische Standpunkte bezeichnet. Daraufhin bekräftigte Mynster in seiner Entgegnung die theologische Unaufgebbarkeit dieses Gegensatzes; im Blick auf die sich hier bekämpfenden Prinzipien sei nur ein Entweder-Oder möglich. Jetzt schrieb Martensen den schon genannten Artikel „Rationalisme, Supranaturalisme og principium exclusi medii (I Anledning af H. H. Biskop Mynsters Afhandling herom i dette Tidsskrifts forrige Hefte)" 147 . Er ist durch und durch eine Verteidigung, ein Programm der „Vermittlung", des Rechtes und der Notwendigkeit der „Mediation" zwischen den Gegensätzen. Nicht nur die Christologie Hegels und Schleiermachers wird gewürdigt 148 , sondern Martensen vermag hier sogar D. Fr. Strauss als einen anzuerkennen, der ganz sagt, was andere halb sagen, und der somit ein gedankliches Prinzip repräsentiert 149 . Trotzdem gewann Mynster allmählich Vertrauen zu Martensen. Im Verlauf der persönlichen Annäherung schien sich Mynster „zu überzeugen, daß ich dasselbe wollte wie er, wiewohl ich in wissenschaftlicher Hinsicht einen anderen Weg ging" 150 . Es soll hier nicht ein Gesamtabriß über die dänische Kirchengeschichte gegeben, sondern lediglich versucht werden, der Gestalt Martensens nahezukommen. In dieser Hinsicht ist Martensens Beschreibung seiner „persönlichen Verhältnisse" aufschlußreich. Sie zeichnen das Bild, um nicht zu sagen: das Wunschbild eines Theologen, der von sich glaubt, im Mittel146 Vgl. L II, S. 23. L II, S. 69. In Tidsskrift for Litteratur og Kritik, 1. Bd., 5. Heft, S. 456-473. 148 A.a.O., S. 466. 149 „At have ladet en Tanke, der tilfarn kun havde gjort sig gjaeldende i enkelte empiriske Anvendelser fremtraede som Princip . . . vil have en rensende Indflydelse paa Theologien . . . (han har) tvunget Theologerne til at indlade sig paa Principssporgsmaal." A.a.O., S. 467. 160 L II, S. 79; vgl. Martensen, Til Erindring om J. P. Mynster, S. 55. 145

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punkt der geistigen und gesellschaftlichen Elite seines Landes zu stehen. Einen wie großen Einfluß dieses Selbstporträt Martensens geübt hat, zeigt der Untertitel von Arildsens großer Martensen-Arbeit „Studier i det 19. Aarhundredes Danske Aandsliv" (Studien über das dänische Geistesleben im 19. Jahrhundert). Gewiß entspricht dieses Bild dem Rang der Stellung, die Martensen in der Öffentlichkeit bekleidete — er schrieb seine Biographie ja als der Primas der dänischen Volkskirche. Dennoch bedarf es im Blick auf den Briefwechsel, den Martensen mit seinem Freund und Anhänger, L. Gude, geführt hat 151 , einer korrigierenden Ergänzung. Obwohl diese Korrespondenz zwischen Martensen und Gude fast ebensolange währte wie die mit Dorner, nämlich vom 5. August 1848 bis zum 7. Februar 1883, und 424 Briefe Martensens enthält, übergeht Martensen seinen Intimus Gude (zuletzt durch Martensens Nachhilfe 152 Dompropst in Roskilde) in seiner Autobiographie ganz 153 . Schweigt er sich über ihn aus, weil er mit Gude keinen Staat machen konnte, oder geschieht es aus dem Gefühl ängstlicher Unsicherheit heraus? Denn im Briefwechsel mit Gude hatte er seinem Herzen Luft gemacht, hier hatte er seine Sympathien und Aversionen nicht zu begründen brauchen, sondern sie einfach los werden können. Martensen wird gewußt haben, daß seine Briefe an Gude nicht zu dem Leitbild paßten, dem er selbst zu entsprechen suchte. Hier begegnet nämlich ein anderer Martensen: ängstlich, komplexbeladen, ständig um seine Autorität bangend, mißgünstig, unausgeglichen, von Stimmungen und Situationen abhängig, mit Monrads Worten: ein großer Geist mit einer kleinen Seele154. Die Furcht, sich bloßzustellen und Kritikern dadurch Angriffsmöglichkeiten zu bieten, mag auch seine große Scheu, über seine wirklichen „persönlichen Verhältnisse", z.B. über sein Familienleben zu sprechen, erklären. Erst ganz am Schluß des dritten Bandes seiner Lebenserinnerungen, zwischen dem Bericht über sein 25jähriges Bischofsjubiläum und einem „Blick vorwärts und rückwärts", erwähnt er auf drei kleinen Seiten seine „Häuslichen Verhältnisse" 155 . Erst hier erfährt man, daß er zweimal geheiratet hat. Näheres muß man sich mühsam zusammensuchen, und die Ausbeute bleibt kärglich genug. Am 22. September 1838, nach seiner 151 Biskop H. Martensens Breve, Udg. af Selskabet for Danmarks Kirkehistorie ved Björn Kornerup, 3 Bde ( = Gude I, II, III); vgl. dazu die Rezension von N. Thulstrup, Dansk Theol. Tidsskrift, 19. Jg. 1956, S. 121 ff. 152 Vgl. Gude I, S. 223; II, S. 136, 149, 156; ferner z.B. Faedrelandet, Jg. 1866, Nr. 76, 3. April. 153 Auch Arildsen, der so viel Abgelegenes zusammengetragen hat, erwähnt diese 424 Briefe, aus denen sich gewiß kein Ruhmeskranz für Martensen flechten läßt, mit keinem Wort. 151 St. Bredstrup, Jorgen Herman Monrad, S. 73. 155 L III, S. 229-232.

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Promotion zum lie. theol., wurde er in der Garnisonskirche mit Helene Mathilde Hess, Tochter eines Schiffskapitäns, geboren am 19. März 1817, in Kopenhagen getraut. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor: der Sohn Julius und die Tochter Anna Maria. Während Martensen den anhaltenden Kummer, den der Sohn ihm bereitete, verschweigt158, ging bei der Tochter alles seinen gewohnten Gang. Sie heiratete 1865 den Juristen Erhard Florian Larsen, und der aus dieser Ehe hervorgegangene Sohn Hans Martensen-Larsen begann überdies zur Freude des Großvaters das Theologiestudium und hat sich später auch als Verfasser einen'Namen gemacht157. Martensens erste Frau, „diese fromme Seele"158, starb nach neunjähriger Ehe am 20. September 1847, und ein Jahr später, am 10. November 1848, ehelichte er in der Trinitatiskirche Virginie Henriette Constance Bidoulac (geb. am 8. 4.1817, gest. 13. 5. 1904), Tochter des französischen Emigranten Joseph Bidoulac, der in Kopenhagen als Sprachlehrer lebte 159 . Aus dieser Ehe ging die Tochter Josepha hervor, die in ihren Erinnerungen die Vernachlässigung der „häuslichen Verhältnisse" in der Biographie ihres Vaters ein wenig gutmacht 160 . Natürlich kann man begrüßen, daß Martensen seine Biographie so wie sie vorliegt geschrieben und nicht stattdessen sein Familienleben ausgebreitet hat. Hinter dieser Zurückdrängung nicht nur des Familiären, sondern ganz allgemein der Sphäre des Alltäglichen verbirgt sich aber ein von Martensen selbst empfundenes Problem. Er hat das selber ausgesprochen und es im Jahre 1884 seiner zweiten Frau als Verdienst angeredinet, „wenn mein Sinn sich mir für das Persönliche, das Einzelne, das Kleine entwickelt hat, während ich früher nur geneigt war, das Ganze und Große ins Auge zu fassen" 161 . Wenn! Denn sich des Persönlichen, des Einzelnen, des Kleinen anzunehmen, das ist Martensen immer erst auf Grund einer Herablassung möglich gewesen. Das Persönliche, das Kleine, das Einzelne hat ihn zeitlebens gestört, nicht nur in seinem Privatleben, sondern auch in seiner wissenschaftlichen und kirchlichen Arbeit 162 . Und dazu gehört für Martensen auch der ganze Bereich der Politik mit ihren Machtkämpfen. Die politischen Umwälzungen, die Februarrevolution, das Jahr 1848 — von all dem trägt seine 1849 erschienene Dogmatik nicht die geringste Spur. „Unter den Unruhen des Jahres 1848 war ich lse

Auch die Erinnerungen der Tochter aus der zweiten Ehe Martensens, Josepha Martensen, deuten nur an: H. L. Martensen i sit Hjem og blandt sine Venner, S. 40; vgl. Gude II, S. 131; III, S. 75, 86-89. 157 Josepha Martensen, a.a.O., S. 37ff.; vgl. Gude II, S. 69. 158 159 L III, S. 229. Vgl. Gude I, S. 2. 160 161 Vgl. Anm. 156. L III, S. 230. ιβ2 Vgl. L H , S. 107: „. . . die Verhältnisse einer Landgemeinde . . ., welche viel von der grobprosaischen Arbeit mit sich bringen, die gerade nicht nach meinem Geschmacke gewesen wäre." 45

mit einer stillen Arbeit beschäftigt, welche, fernab von dem Gelärme des Tages und seinen weltgeschichtlichen Kämpfen, meine Gedanken in ganz andere Sphären versetzte: die Korrekturlesung meiner Dogmatik, welche jetzt druckfertig war." 1 6 3 Sie erhob sich weit über die hektischen Ereignisse des politischen Alltags; ihre „unerschöpflichen Fragen" wurden dadurch nicht berührt. Zu dem „Einzelnen und Kleinen", mit dem sich zu befassen Martensen nur unter Überwindung möglich war, gehörten aber außer dem politischen Bereich auch die in dem Beruf eines Professors doch unvermeidlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Daß eine Dogmatik Kritik hervorruft — und Martensens Dogmatik stand ja gleich nach ihrem Erscheinen im Zentrum einer heftig geführten Debatte 164 — ist für Martensen keineswegs eine selbstverständliche Sache gewesen, sondern er hat diese leidvolle Erfahrung zunächst sozusagen mit Kopfschütteln quittiert. Ahnungslos hatte er an seiner Dogmatik geschrieben, fassungslos sah er sich den gegen sie gerichteten Angriffen gegenüber. Bedeutete es nicht eine Erniedrigung für seine Dogmatik, war es nicht ein gänzlich unangebrachtes Eingeständnis ihrer Verbesserungsbedürftigkeit, wenn man sich mit ihren Kritikern einließ und sich seiner Haut Punkt für Punkt zu wehren suchte? Diese Untertöne werden bei Martensens Reaktionen immer hörbarer. Die Verteidigung des eingenommenen Standpunktes hatte für ihn mit der „Sache" der Dogmatik im Grunde nichts zu tun, sie wurde notwendig nur wegen des Unverstandes und der Beschränktheit des erhobenen Widerspruchs. Und so antwortet Martensen in der Attitüde der Herablassung und Überheblichkeit; er weiß sich im Besitz der Wahrheit. Ihr darüber hinaus durch mühsames Eingehen auf die erhobenen Einwände Anerkennung zu verschaffen, ist ihm immer lästiger geworden: All dies entfernte ihn von den eigentlichen theologischen Problemen, es war für ihn Zeitverschwendung. In diesem Geiste hat Martensen seine Antworten an seine Kritiker geschrieben. Daß sie über diesen Stil erbost waren, ist nur zu verständlich. Sie fühlten sich zu Recht nicht ernstgenommen. Bereits 1840 hatte er in dem genannten Artikel „Philosophisk Beskedenhed" 165 einen Kritiker Hegels dadurch zurückgewiesen, daß er den Unverstand des anonymen Gegners dekuvrierte, mit dem sich einzulassen „oleum et operam perdere" bedeute. Dies ist ihm Grund genug, auf eine wirkliche Disputation zu verzichten und sich lediglich auf ein paar Worte über die philosophische Bescheidenheit des Verfassers zu beschränken. Aber während Martensen sich hier aus eigener Initiative in den Streit einmischte und im Bewußtsein, eine gute Sache, nämlich die Hegeische L II, S. 144. Sie ist unten im Zusammenhang mit Martensens Dogmatik dargestellt. 1 , 6 Philosophisk Beskedenhed i Kjobenhavnsposten, Faedrelandet, 1. Jg. Nr. 50, 29. Januar. 183 164

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Philosophie, zu verteidigen, sich ins Zeug legte, wortgewandt, beredt und mit sichtlicher Freude seinem Gegner zusetzte (es gelang Martensen hier, sogar witzig zu sein), während man also Martensens Stil zu Anfang seiner Dozentur als offensiv bezeichnen könnte, zeigen seine Reaktionen im Streit um seine Dogmatik, wie er aus der Defensive heraus schreibt. Damit deutet sich eine Entwicklung an, die in Martensens Ethik ihren Tiefpunkt erreichen wird. Aber schon gleich zu Anfang seiner „Dogmatischen Beleuchtungen", in denen er seinen Kritikern antwortet, weist er das Ansinnen weit von sich, die Überzeugungen, die er sich in langen Jahren erarbeitet hat, auch nur zu diskutieren — das komme bei dem durchaus unfertigen Standpunkt seiner Kritiker gar nicht in Frage 1ββ . So ähnlich also beide Äußerungen lauten, ihr biographischer Kontext ist nicht derselbe. Die erste indiziert ein ungebrochenes Zutrauen zu der Resonanz in der Öffentlichkeit, die andere ist aus der Erfahrung beginnender Isolation heraus gesprochen. Aber Martensen war noch nicht am Ende seiner Karriere. Das Höchste, was ein stud, theol. erreichen konnte, war nicht das Amt eines Ordinarius der Theologischen Fakultät — jeder Bischof des Landes stand qua Amt hoch über einem Professor. Primas der dänischen Kirche, also Bischof von Seeland mit Residenz in Kopenhagen zu werden, das war der Gipfel. Darüber hinaus gab es nichts. Das muß man sich klarmachen, falls man nach den Motiven fragt, die Martensen veranlaßten, sein Professorenamt zugunsten des Bischofstitels aufzugeben. Diese Frage stellte sich damals nicht, und schon gar nicht für Martensen. Man kann den Unterschied zwischen Professor und Bischof in der gesellschaftlichen Rangordnung des damaligen Dänemark kaum zu weit ansetzen: Noch heute werden die Bischöfe Dänemarks qua Amt zum königlichen Neujahrsempfang geladen. So ist es verständlich, daß der Wunsch Graf Carl Moltkes, Martensen möge das vakante Amt eines Generalsuperintendenten im Herzogtum Schleswig als Bischof übernehmen, bei ihm auf offene Ohren stieß167. Martensen hätte dann in seiner Vaterstadt Flensburg residiert. Er schildert, wie schon der Tag seiner Ordination zum Bischof festgesetzt gewesen sei. In allerletzter Minute bat er jedoch in Briefen an Mynster und Moltke darum, sein Versprechen zurücknehmen zu dürfen 168 . Martensen begründet seinen Entschluß mit der Einsicht, er würde den schleswigschen Verhältnissen nicht gewachsen sein, und er werde dieses Amt nicht ausüben können. Er wäre „durchaus nicht imstande gewesen . . . , " · Dogmatiske Oplysninger, S. 4, 8, 12f., 28, 76; vgl. auch Gude I, S. 2. 167 Vgl. L II, S. 158. Schleswigs Generalsuperintendentur war vakant seit der Verabschiedung von Sup. Nie. Joh. Ernst Nielsen am 8. 4. 1850, vgl. Gude I, S. 13, 243. " 8 Vgl. L II, S. 159.

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,νοη Herzen' das erwähnte Amt auszurichten, unter dem damaligen regime zu dienen, also zur Durchführung seiner Maßregeln mitzuwirken" 1β9. Martensen spielt hiermit auf die Situation in Schleswig an. Das Sprachenreskript von 1851, das auf eine Zurückdrängung des deutschen Einflusses hinauslief, bezweckte die Danisierung Schleswigs. Dieses Reskript lehnte Martensen ab und hat sich dadurch — bis zu seinem Tod — Zorn, H a ß und Verachtung der konservativ-nationalen Kreise des Landes zugezogen. Diese Haltung Martensens verdient gewiß alle Achtung, und Karl Barth hat Martensen bescheinigt, die Gefahr einer Verquickung von Nationalismus und Christentum erkannt und „prophetisch" vor ihr gewarnt zu haben 17°. Aber der Gedanke, diese Einsicht durch eine sicherlich aufreibende und undankbare Amtsführung als Bischof von Schleswig zu realisieren, liegt Martensen fern. Besonders aufschlußreich ist ja die anklingende Voraussetzung, daß die Ausrichtung des Amtes den Maximen des „regimes" zu entsprechen habe. Von dieser Einstellung aus erklärt sich Martensens späteres Schwanken, ja seine Hilflosigkeit, als er sich als hochkirchlich eingestellter Primas des Landes gegenüber einer national-liberalen Regierung durchsetzen mußte bzw. hätte durchsetzen sollen. Das Unschlüssige seines kirchlichen Handelns beruht darauf, daß es immer Re-aktion, nie konstruktive Aktion gewesen ist. Natürlich sah Martensen, daß man die kirchlichen Angelegenheiten nicht einfach in den Schoß des Kultusministeriums legen konnte. Aber er war zu schwach, und es war ihm zuwider, eine natürlich auf "Widerstand des Staates stoßende, selbständige Kirchenpolitik zu betreiben. Das, was seinem Brief an Gude vom 16. 9 . 1 8 5 0 1 7 1 zu entnehmen ist, bestätigt vielmehr die Vermutung, daß Martensens Rückzieher keineswegs nur durch die Überlegung motiviert war, ob er „von Herzen", also mit gutem Gewissen Bischof von Schleswig sein könne. Unverhohlen schreibt er, was ihn dort erwarten würde. „Im südlichen Schleswig . . . herrscht in kirchlicher Hinsicht eine völlige Anarchie." Das kirchliche Leben liege so gut wie ganz danieder — keine Pfarrer, keine GottesL II, S. 161. Vgl. K.Barth, Kirchliche Dogmatik, III/4, S. 346f.; vgl. im übrigen Martensens Schrift an Nielsen (Sendschreiben an den Herrn Oberconsistorialrath Nielsen in Schleswig) und den Leitartikel gegen Martensen, Faedrelandet, 1854, Nr. 90, 19. April, ferner ebd. den Artikel „Bispe-Agitationen", 1868, Nr. 38, 14. Februar. Martensen hat in seinen Lebenserinnerungen seine Haltung zu dem Sprachenreskript entschieden verteidigt, L II, S. 161-176. Vgl. dagegen W. Hjort, Biskop Martensen og de danske Sprogreskripter i Slesvig. E n Protest; zur Verteidigung Martensens die anonyme Schrift Nogle Bemerkninger i Anledning af Pastor Hjorts Skrift: Biskop Martensen og de danske Sprogreskripter i Slesvig, af en forhv. slesvigsk Embedsmand; wiederum scharf gegen Martensen W. Krogh, Biskop Martensen og Kong Frederik den Syvende. 171 Gude I, S. 12-14. 169

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dienste, keine Taufen und Beerdigungen, erschreckender Rückgang der Kirchlichkeit. In der Tat, Martensen hätte als aufoktroyierter Bischof keinen leichten Stand gehabt und wenig Anerkennung ernten können. „Ich sehe keine Möglichkeit, etwas auszurichten . . . Was würde man unter solchen Verhältnissen ausrichten können? . . . Ich glaube deshalb nicht, pflichtwidrig gehandelt zu haben, wenn ich diesen wenigstens ζ. Z. unauflöslichen Verpflichtungen midi entzogen habe." 172 Kein Wort davon, daß er, wie er 34 Jahre später sagt, „glaube, das Opfer zu bringen und nach Schleswig gehen zu müssen, . . . unter den schwierigen Zeitverhältnissen nach Kräften Hülfe zu leisten." 178 Sondern Bischof in Schleswig zu werden, bedeutet einen Abstieg in die Provinz und ihre verworrenen politischen Zustände — das ist der Tenor in Martensens Brief an Gude. Außerdem war Bischof Mynster zu diesem Zeitpunkt 75 Jahre alt: „Der Gang der Begebenheiten zeigte auch bald, daß es für mich ein wahres Glück war, nicht nach Schleswig versetzt worden zu sein. Und alsbald sollte überdieß ein neuer Ruf an mich ergehen, nämlich zu dem Bischofsstuhle von Seeland." 174 Dieses Kalkül hat bei Martensens Ablehnung des Bischofsamtes von Schleswig wohl die wichtigste Rolle gespielt. Denn jetzt sagte Martensen ohne Zögern ja 1 7 5 . Am 30. Januar 1854 1 7 9 starb Bischof Mynster, der „Wahrheitszeuge", wie ihn Martensen auf der Kanzel der Schloßkirche genannt hatte. Damit war das Stichwort gefallen, das Kierkegaard zu seinem Kampfartikel „Var Biskop Mynster et ,Sandhedsvidne', et af ,de rette Sandhedsvidner' — er dette Sandhed?", Faedrelandet 1854, Nr. 295, veranlaßte. Martensen antwortete auf diesen Angriff, den er gegen sich selbst gerichtet fühlte 177 , wenig später in Berlingske Tidende, Nr. 302 („I Anledning af Dr. S.Kierkegaards Artikel i,Faedrelandet' Nr.295") 1 7 8 . Das blieb Martensens einzige Reaktion. Er glaube sich davon dispensiert, sich noch weiter mit einer „solchen Person" einzulassen179. Die sich in ihrer Heftigkeit immer mehr steigernden Vorwürfe, die Kierkegaard dann in seiner Wochenschrift „Der Augenblick" gegen die bestehende Kirche als unvereinbar mit dem Christentum des Neuen Testaments erhob, rührten Martensen kaum. Es war ihm unverständlich, wie man sich mit diesen bornierten Angriffen in intellektueller Hinsicht so bloßstellen könne: Kierkegaard beweist damit, daß er die Grenzen seiner Fähigkeiten überhaupt nicht 1 7 3 L II, S. 158. Gude I, S. 12f., vgl. S. 34ff. 175 Vgl. L III, S. 2. L II, S. 176. 1 7 e Nicht, wie Martensen L III, S. 1 irrtümlich angibt, „Ende des Jahres 1854", richtig L III, S. 12. 177 Vgl. L III, S. 12. 1 7 8 Deutsch bei S. Kierkegaard, Der Augenblick, in Gesammelte Werke, hrsg. von E . Hirsch u. a., S. 10-14, vgl. Gude I, S. 131-135. 179 Vgl. Gude I, S. 133. 172

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untersucht hat 18 sie sind ein abstrakter Begriff, dem man eine künstlidie Wirklichkeit gegeben hat. Ich spreche hier von dem abstrakt-demokratischen in unseren Verhältnissen. Ein solches ,Dasz' kann nur transitorische Bedeutung haben." 254 Kurz seien noch die Schriften aus seinem letzten Lebensabschnitt genannt. Zwischen seiner „Gelegenheitsschrift" Über Glauben und Wissen („Om Tro og Viden") von 1867, in der er noch einmal die Prinzipien seiner spekulativen Dogmatik bekräftigte, und dem ersten Band seiner Ethik (1871, der zweibändige spezielle Teil 1878) war bereits als Vorabdruck aus der speziellen Ethik die Schrift „Socialisme og Christendom" erschienen255. Die rührige und weitläufige Polemik, die diese Schriften hervorriefen, zu denen man noch die Abhandlung Katholizismus und Protestantismus, die anläßlich des wachsenden Einflusses der Katholiken 261

L III, S. 56f. „Man har 0ieblikke hvor man künde fristes til at onske sig at vaere paa det romerske Concil, istedetfor i denne jammerlige Clique (d. i. die Kirchenkommission), hvor den verdsliggjorde, seculariserede Protestantisme riser sig i sin modbydeligste skikkelsel" Gude III, S. 144; vgl. Gude II, S. 108f., sowie Gude III, S. 20 und 132, wo Martensen der „demokratischen Bestie" nichts entgegenzusetzen hat, als die Hoffnung, sie möge ein Fiasko erleiden. 253 Glaedemark a.a.O. S. 423. 251 Vgl. Glaedemark a.a.O. S. 423; L III, S. 149; Gude II, S. 7. 255 Socialisme og Christendom. Et Brudstykke af den specielle Ethik, Vorabdruck von Ε III, S. 152-206. 252

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in Kopenhagen entstand 256 , rechnen muß, — diese Polemik 257 hat Martensen eigentlich nicht mehr berührt. Sie beruhte für ihn auf Verständnislosigkeit oder Böswilligkeit, der man nur mit Geduld, Ausharren und der Hoffnung auf eine baldige Wendung der Zeiten begegnen konnte 258 . Martensen hatte sich bereits in die Welt der Theosophie zurückgezogen. In seinen theosophischen Studien über Jakob Böhme kehrte Martensen zu den Idealen seiner Jugend zurück. Die übersinnliche Welt, die er in spekulativer Schau ergriff, bot ihm eine höhere Realität als die Wirklichkeit, in die ihn sein Bischofsamt herabgezwungen hatte. Vilhelm Birkedahl hat in seinen Erinnerungen die Schilderung Martensens durch die Überlegung zusammengefaßt, Martensens Büste, die noch heute an der Westseite der Frauenkirche zu sehen ist, stünde dort am falschen Platz, sie gehöre nicht vor die Kirche, sondern nach gegenüber, vor die Universität. Martensens wissenschaftliche Bedeutung überwiege seine kirchliche. Die Denker, nicht aber die Gemeinden hätten etwas von ihm 259 . Am Schluß des letzten Bandes seiner Erinnerung, kurz vor seinem Tode am 3. Februar 1884, schreibt Martensen: Gott „hat mir gegeben, wonach ich von Jugend auf gestrebt, was als ein Ideal mir vorgeschwebt hatte: eine Berufsthätigkeit als Lehrer der theologischen Jugend, wobei ich Gelegenheit hatte, über die höchsten Fragen nachzusinnen und mich in den Reichthum der Offenbarung zu vertiefen. Ich muß annehmen, daß dieses mein eigentlicher, mein primitiver Beruf war, derjenige, der mit meiner Begabung am meisten übereinstimmte. Nichtsdestoweniger muß ich Gottes Führung und seine Vorsehung auch darin erkennen, daß ich nicht in jener ersten Stellung bei der Universität bleiben, sondern mit der kontemplativen Richtung die prakKatholicisme og Protestantisme. Et Leilighedsskrift. Vgl. u. a.: D. G. Monrad, Politiske Breve Nr. 14-18, Liberalismens gjenmaele til Biskop Martensens sociale Ethik; Fr. Vilh. Andersen, Nogle Betragtninger og Studier over og i Sammenhaeng med Biskop Martensens „Den christelige Ethik"; Will. Scharling, Nationalökonomie og Socialisme. Et Forsvarsindlaeg imod Biskop Dr. H. Martensens „Socialisme og Kristendom" in Dagbladet, 1875, Nr. 34 und 35 (10. und 11. Februar); V. Arntzen und Kr. Ring, Et svar til Hr. Prof. W. Scharling, fra den „ikke officielle Ökonomie", in Morgenbladet, 1875, Nr. 42 (19. Februar); vgl. Gude III, S. 91; ferner Faedrelandet Nr. 186-190, Jg. 1879; N. C. Frederiksen, H. Martensen: „Socialisme og Kristendom" in Nationalokonomisk Tidsskrift, 5. Bd. 1875, S. 34-54. — A. A. Wolff: Talmudfjender. Et Gjenmaele mod de seneste Angreb paa Joderne og Jodedommen (von jüdischer Seite); — H. Grüder, H. Niehaus, C. Freund, H. Böhmer, Forelobig Indsigelse (unterzeichnet von „Den katholiske Geistlighed i Kjokenhavn" [siel]) in Norske Kirketidende for Katholske Christne, 1874, 22. Jg., Nr. 22, (31. Mai), S. 192; sowie ebd., 22. Jg. 1874, Nr. 22 bis Nr. 45 (31. Mai bis 8. November) „Katholicisme og Protesiantisme" (sie!). Et Leilighedsskrift af H. Martensen, S. 353ff., 369ff., 385ff., 401ff., 417ff., usw. mit Unterbrechungen bis Seite 719 (von katholischer Seite). 256

257

Vgl. Gude III, S. 129. 269 y g i_ y_ Birkedahl, Personlige Oplevelser i et langt Liv, S. 212, 214. 268

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tische verbinden sollte, und dreißig Jahre hindurch Bischof von Seeland war" 260 . Aber hat das kirchliche Amt bei Martensen wirklich „diese Vereinigung des Kontemplativen und des Praktischen" 261 erbracht? Von diesem biographischen Abriß aus muß man das verneinen. Die Vertiefung in den Reichtum der Offenbarung hat Martensen sein Bischofsamt nicht leichter gemacht. Sie hat ihm sein kirchliches Handeln vielmehr als etwas Uneigentliches erscheinen lassen. Woher kam das? Nur daher, daß er mehr kontemplativ als praktisch veranlagt war? Natürlich ist auch diese Anlage in Rechnung zu stellen2β2. Doch war es nicht im Grunde seine spekulative Auslegung der Offenbarung, die ihn zwangsläufig in eine Doppelwelt verschieden „wahrer" Wirklichkeiten geführt, die ihm Kontemplation und Praxis so weit auseinandergerissen hatte, daß die realen Erfahrungen seines Bischofsamtes gerade wegen ihrer Unabweisbarkeit nicht mehr in die kontemplative Sphäre eingehen konnten? Diese Frage wird durch die Darstellung der Entwicklung der Theologie Martensens beantwortet werden. 260

261 L III, S. 235 f. L III, S. 236. 2β2 Vgl. Fr. Hammerich, Et Levnetslob, udg. af Angul Hammerich, Bd. 2, S. 149.

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Β. D A R S T E L L U N G D E R T H E O L O G I E M A R T E N S E N S IN IHRER ENTWICKLUNG I. Die Aneignung der spekulativen Methode 1. Die ersten Schritte zu einer „freien" Theologie a) Schleiermacher in Kopenhagen Es war bereits davon die Rede, daß die Gestalt Schleiermachers für Martensen bei seiner Herauslösung aus den Grundtvigschen Kreisen so etwas wie ein Leitbild gewesen ist. Und man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß der Besuch des damals 65jährigen Schleiermacher in Kopenhagen das beeindruckendste Ereignis in Martensens Studenten- und Kandidatenzeit war 1 . Noch in der Erinnerung des 74jährigen Martensen zittert die Aufgeregtheit nach, in welche ihn die Ankündigung versetzte, Schleiermacher werde im September 1833 Kopenhagen besuchen. Durch diese Nachricht „wurde ich elektrisirt. Ich mußte ihn sehen, ja womöglich mit ihm reden . . ." 2 Eine Faszination bemächtigte sich seiner, ein Enthusiasmus, welcher Schleiermacher, für kurze Zeit freilich nur, ganz in den Mittelpunkt seines theologisch-philosophischen Bewußtseins rückte. Mehrfach gewährte Schleiermacher dem jungen Kandidaten eine Unterredung. Und Martensen ist sich dieser Sternstunden seiner theologischen Entwicklung bewußt geblieben. Hatte er durch Schleiermachers Abschiedspredigt in der deutschen Petrikirche einen unauslöschlichen Eindruck empfangen, so sollte er erst recht die an ihn gerichteten Worte des Meisters bis an sein Lebensende aufbewahren 3 . Der gesellschaftliche Höhepunkt von Schleiermachers Aufenthalt in Kopenhagen war ein zu seinen Ehren gegebener Empfang, zu dem u. a. auch Oehlenschläger, 0rsted, Mynster und Sibbern erschienen waren 4 . In dem in den Briefen Schleiermachers abgedruckten Bericht, der sich auf Auszüge aus der „Kopenhagener Post" vom 28. September 1833 stützt, ist „von einem jungen Theologen" die Rede, welcher auf deutsch ein Lied 1 Vgl. Ν. M. Plum, Schleiermacher i Danmark, S. 5, „Schleiermachers visit har formet sig som et Triumftog." 2 3 L I, S. 80. Vgl. L I, S. 80-90. * Vgl. L I, S. 84ff.

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verfaßt habe, welches zu Ehren Schleiermachers angestimmt wurde. Dieser junge Theologe ist Martensen gewesen 5 . Das Lied vermittelt einen unmittelbaren Eindruck von der Schleiermacher entgegengebrachten Ehrerbietung und Begeisterung. Dieser Mann repräsentierte f ü r Martensen einen Denkstil und eine Lebenshaltung, gegenüber welchen der bei den Grundtvigianern herrschende Geist einfach als provinziell und minorenn erschien. Auf diesem Hintergrund muß Martensens Bekenntnis zu Schleiermacher gesehen werden 6 : Es wird in der fernsten Weite Der Geist von dem Geiste erkannt. Drum feiern wir einstimmig heute Den Genius, nah uns verwandt. Oft haben wir freudig vernommen, Was männlich er gründete dort, Und über das Meer ist gekommen Sein hohes geflügeltes Wort. Er spähte mit mächtigem Streben Der Weisheit verschlungenen Lauf, Zu fördern in's menschliche Leben Die ewigen Schätze hinauf. Da klangen hellenische Töne Uns wieder lebendig und rein Die Weisheit lud wieder die Söhne Zum Gastmahl des Plato hinein 1 Doch auch in der Heimath Gefilden, Getrieben von hoher Gewalt, Half kräftig und groß er zu bilden Des Lebens verjüngte Gestalt Er hat in gesegneter Stunde am Felsen des Glaubens gebaut, Da ist in dem edelsten Bunde Zuletzt er mit Ehren ergraut! Er hat in den stürmenden Zeiten Das Heiligthum tapfer gewehrt, Und ritterlich braucht' er im Streiten Sein gutes zweischneidiges Schwert. Da mußte wohl zagen und schwanken Der Feinde verbündetes Heer, Es flogen die trüben Gedanken Wie Wolken die Kreuz und die Quer! Gegrüßt uns am dänischen Sunde Der Ritter aus edlem Geschlecht! Willkommen im nordischen Bunde Für Glauben und Wahrheit und Recht! 5 Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. Hrsg. von Jonas und Dilthey, 2. Bd., S. 473-477; zur Identifizierung vgl. L I, S. 84 und Dorner I, S. 306. • Vgl. V. Birkedahl, Personlige Oplevelser, S. 194, 196.

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Hoch lebe der herrliche Meister, Der freundlich zu uns sich gesellt, Es blüh' die Gemeinschaft der Geister Von hier bis an's Ende der Welt 17

Das erste Opus Martensens, welches im Druck erschien, ist dieses Lied gewesen 8 . b) Die

Kolthoff-Rezension

Dieses augenfällige Bekenntnis zu Schleiermacher darf bei Martensen allerdings nicht isoliert, sondern muß im größeren Zusammenhang seiner Zuwendung zur idealistischen Philosophie gesehen werden. Dies geht auch aus Martensens theologischer Erstveröffentlichung hervor, einer Rezension der Schrift von E.G.Kolthoff: „Apocalypsis Joanni Apostolo vindicata", Hafniae 1834. Martensens Besprechung erschien 1834 im Juli-Heft der Maanedsskrift for Litteratur 9 . Martensen äußert hier u. a. das Folgende. Es ist überholt und der Geschichte unangemessen, wenn man, wie Semler mit seinem ideenlosen historischen Prinzip, nur auf die bloßen Fakten blickt, anstatt die Idee oder die ewige Historie zu erkennen, die sich in der einzelnen empirischen Begebenheit offenbart 10 . Von der „Idee" aus muß deshalb auch die Apokalypse begriffen werden. Und zwar ist die Idee, die sich in ihr ausspricht, das Christentum als die absolute Macht der Weltgeschichte11. Um dieser idealen Betrachtung willen ist auch das Evangelium des Johannes unverzichtbar. Denn es fügt der Idee Christi, wie sie die Synoptiker darstellen, etwas hinzu, was uns jene nicht geben. Es ist daher eher als ideale, denn als empirische Ergänzung desselben anzusehen 12 . Diese Unterscheidung zwischen ideal und empirisch wendet Martensen nun auch auf die Kirche an. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Denn Martensen schafft sich so die Möglichkeit, der empirischen Kirche eine f ü r alle Zeit verbindliche gesetzgeberische Autorität abzusprechen. Diese kommt natürlich der „idealen" Kirche zu 13 . Im Protestantismus jedoch muß sich die wissenschaftliche Arbeit „unabhängig von jeder äuße7

Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, 2. Bd., S. 475. 9 Vgl. MS, S. 3. A.a.O., 12. Bd., 1834, S. 1-31. 10 „Ikke . . . det blotte historiske Factum, men Ideen, eller den evige Historie, som igjenem den enkelte empiriske Begivenhed aabenbarer sig." A.a.O. S. 3, vgl. S. 2, 5. 11 „Christendommen, som Verdenshistoriens absolute Magt, er den Idee, som der udtales." A.a.O. S. 10. 12 „Fordi dette nemlig tilfoier et Grundmoment i Christi Idee, som de Forste Fremstilling ikke giver os, og saaledes vel mere bor ansees som et ideale end som empirisk Supplement dertil." A.a.O. S. 11. 13 Es geht nicht an, „at tillaege Kirken i sin empiriske Charakter en lovgivende Myndighed for alle Tider, der naturligvis tilkommer den i dens ideale . . . " A.a.O. S. 23. 8

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ren Autorität" vollziehen 14 . So begründet Martensen das Redit der freien, ungebundenen Entwicklung der Individualität aus der Differenzierung zwischen idealer und empirischer Kirche. Die freie Aneignung der Wahrheit des Evangeliums ist über das Programm kirchlicher Einheitlichkeit zu stellen 15 . Martensens Stil wird hier beinahe hymnisch. Es ist deutlich, wie bei Martensen die Trennung zwischen ideal und empirisch eine kritische Funktion hat. Sie richtet sich gegen die Bevormundung des Einzelnen durch kirchliche und theologische Autoritäten: Da diese der empirischen Sphäre der Kirche angehören, ist ihr Absolutheitsanspruch unbegründet. Diese Folgerung wird möglich auf Grund der Unterscheidbarkeit von ideal und empirisch. Das hatte Martensen bei seiner jüngsten Beschäftigung mit der spekulativen Philosophie gelernt. Damit wird für ihn der Idealismus zum Anwalt der Rechte des freien Individuums, zum Rückhalt freier, liberal betriebener Theologie. Das heißt, diese Rezension ist ein Reflex dessen, daß ihn die spekulative Theologie seinen Grundtvigschen Freunden entfremdet und ihm zugleich die Argumente zur Rechtfertigung dieses Schrittes in die Hand gegeben hat. c) Die „spekulative

Poesie" („Ueber

Lenaus

Faust")

Während seine Kolthoff-Rezension erschien, rüstete sich der nunmehr 26jährige Kandidat mit dem Juristen Bornemann, seinem Schul- und Studienfreund 1β , zu der oben erwähnten Auslandsreise. Martensen hat in seinen Lebenserinnerungen geschildert, wie er auf dem Wege nach Wien anläßlich eines Aufenthalts im Benediktinerkloster bei Mölk auf Lenaus eben veröffentlichten „Faust" stieß und wie ihn die Lektüre auf den Gedanken brachte, ihn mit Goethes Faust in bezug auf die sich in beiden Dichtungen ausdrückende Welt- und Lebensanschauung zu vergleichen17. Es war ihm, in Wien angelangt, alsbald gelungen, über den literarischen Zirkel, der sich im Neunerschen „Silbernen Kaffeehaus" konstituiert hatte 18 , Lenaus Bekanntschaft zu machen. Diese wurde, nach Zeugnissen beider, zur Freundschaft, denn es zeigte sich, „je mehr wir uns gegen einander aussprachen, immer deutlicher, wie innig wir in dem, was uns das Höchste war, sympathisierten" 1β . 15 " A.a.O. S. 22. A.a.O. S. 30f. " Vgl. L I, S. 93-98. 18 " Vgl. L I, S. 186-192 Vgl. L I, S. 192-195 19 L I, S. 197 — Ich habe kaum einen Menschen gefunden, so schreibt Lenau am 29. April 1836 an Em. Reinbeck, „dessen ganzes Leben so unverrückbar aufs Ideale gerichtet, mit kindlichster Frömmigkeit und einer bezaubernden Herzensreinheit eine so sieghafte Gedankenmacht vereinigt. Ein Gespräch mit ihm ist ein wahres Vernunftbad" (S. 227). — „Martensen hat eine meisterhafte Abhandlung über meinen Faust geschrieben, die er . . . erscheinen lassen will." (S. 230) N. Lenau, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von E. Castle, Bd. 4, S. 227 und 230.

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Martensen hat dann die jeweils fertiggestellten Partien seiner Abhandlung „Ueber Lenaus Faust" 20 stückweise erst Lenau selbst, danach im Zusammenhang einem Freundeskreis vorgelesen21. Lenau war es auch, der ihm in Cotta den berühmtesten Verleger für sein Büchlein, weldies nun näher betrachtet werden soll, versdiaffte 22 . Eine erneute poetische Bearbeitung des Fauststoffes kann, so gibt Martensen anfangs zu bedenken, nur gerechtfertigt werden, wenn man von einer Verbesserungsbedürftigkeit von Goethes Faust überzeugt ist. Diese Uberzeugung teilt Martensen rundheraus. Natürlich bleibt der Faust Goethes hinsichtlich seiner stilistischen Meisterschaft, seiner poetischen Kraft unerreichbar. Hierin mit ihm konkurrieren zu wollen, wäre töricht 23 . Aber nun handelt es sich ja beim Faust um die poetische Inkarnation einer spekulativen und religiösen Idee, und es verblassen daher die formalen Mängel, wenn nur „die Idee" angemessen und unverfälscht dargestellt wird. Die kritische Frage ist eben die, „ob Goethe wirklich jene Idee in ihrer ganzen Tiefe gefaßt, oder ob nicht vielmehr jene Tiefe ihm fremd geblieben, und ob also die Lösung der Aufgabe dem neueren deutschen Dichter immer noch obliege" 24 . Von vornherein ist als unabdingbar für ein rechtes Verständnis festzuhalten, daß die Idee der Faustsage in der christlichen Weltanschauung wurzelt. Und zwar — hier hält Martensen sich nicht lange auf — stößt der menschliche Geist, nachdem ihn der Zweifel in den noch zu schildernden Prozeß seiner Bewegung versetzt hat, „zuletzt auf den Punkt, der gleichsam der Centraipunkt der ganzen Weltanschauung ist", nämlich auf „die Idee des Schöpfers in seinem Verhalten zur Creatur" 25 . Aus dieser Idee entspringt Religion und Leben, in ihr 20

Johannes Μ η, Ueber Lenaus Faust, Stuttgart, Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung, 1836. 21 Vgl. LI, S. 211 f. 22 Vgl. L I, S. 212 — Über die damit verbundenen Schwierigkeiten vgl. Lenaus Brief an Martensen vom 14. Juli 1836, N. Lenau, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 232235. Mit der Abfassung einer Schrift über die Faustidee ist Martensen Kierkegaard zuvorgekommen: „O, wie unglücklich bin ich doch — Martensen hat eine Abhandlung über Lenaus Faust geschrieben." Vgl. Sören Kierkegaard, Erstlingsschriften, hrsg. von E. Hirsch (30. Abdg. der Gesammelten Werke), S. 136f. und die zugehörigen Anmerkungen, sowie die „Geschichtliche Einleitung", S. XVI-XIX, vgl. des weiteren E. Hirsch, Kierkegaard-Studien, 2. Bd., S. 44ff. (S. 490ff.). Zu Martensens Lenau-Schrift vgl. C. Roos, Kierkegaard og Goethe, S. 64, 111-122 und dazu die Rezension von N. Thulstrup in Euphorion, 3. Folge, 51. Bd., 1957, S. 341-343. 23 Vgl. L I, S. 213f. 24 LF, (S. 3) Martensen mag Hegels Einstufung des Faust unter „Die Lust und die Notwendigkeit" im Sinn gehabt haben, vgl. Die Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe, Bd. 2, S. 279 ff. 26 LF, S. 4. 5»

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finden beide, so äußert sich Martensen in plerophorischem Überschwang, ihr Zentrum 26 . Des Näheren aber will er die Relevanz dieser Grundidee für das menschliche Streben nach Erkenntnis darstellen. So wie der Prozeß, den Faust durchmachen muß, ein „Erkenntnisprozeß" ist, so begründet das Urverhältnis von Schöpfer und Geschöpf den „Unterschied des göttlichen und menschlichen Erkennens" 27. Während Gott „als der sich selbst absolut Producierende" sich selbst eben deshalb audi absolut durchsichtig ist, muß menschlicher Einsicht die eigene Schöpfung ein Geheimnis bleiben, so lange sich das menschliche Erkennen nicht, im Verzicht auf seine Selbstposition, als in Gott gegründet bekennt. Wenn es dies aber tut und sich somit auf den Standpunkt des Glaubens stellt, kann es die absolute Wahrheit ergreifen 28 . Das Eingeständnis der Kreatürlichkeit ist Bedingung für objektive Wahrheitserkenntnis, wie umgekehrt der Hochmut, welcher meint, „die Wahrheit ohne den Glauben fassen zu können" 29 , einer falschen und unreellen Existenz entspringt, bzw. unaufhaltsam zu ihr führen muß. Der Versuch des nach Erkenntnis trachtenden Menschen, sich über die Schranken seiner Geschöpflichkeit hinwegzusetzen, führt zu einem Wissen, dem die Wirklichkeit fremd bleibt; „seine Begriffe sind nur Larven des Lebens" 30 . Es liegt also ein Wechselverhältnis vor zwischen dem Selbstverständnis des Wahrheit suchenden Menschen und seinem Vermögen, wirklich zu völliger Erkenntnis zu gelangen. „Denn wie sich die ganze Weise seines Seyns verändert, verändert sich audi die Weise des Erkennens." 31 Existenz und Erkennen — um den Aufweis des hier waltenden, jedem Menschen unentrinnbaren, weil ihn als solchen konstruierenden, Bezuges ist es Martensens zu tun. Daß Lenaus Faust durch Suicid stirbt, wird als Folge der Nichtachtung dieser menschlichen Grundverfaßtheit begriffen. Nach diesen von Martensen vorangestellten Thesen ist soviel bereits deutlich: In Lenaus Dichtung, deren Nachzeichnung durch Martensen wegen der reichlich mitgeteilten Textproben auf den ersten Blick einen eher unselbständigen Eindruck macht, bot sich ihm in Wahrheit ein willkommener Anlaß, seine eigenen Gedanken auszusprechen, ohne dabei schon den Anforderungen einer wissenschaftlichen Arbeit genügen zu müssen. So ist seine Studie über Lenaus Faust als Beitrag zum Verständnis der Dichtung entbehrlich, als erstes Zeugnis aber für die Gedankenwelt 26

Die Schöpferidee ist der Zentralpunkt, „in welchem alle religiös-ethischen Begriffe, die Begriffe des Guten und Bösen, des Glaubens und Wissens, des Mysteriums und der Offenbarung, ihre letzte Wurzel haben . . .: das Centraidogma der geoffenbarten Religion, das Grundmysterium und Wunder alles Lebens". LF, S. 4. 27 28 29 LF, S. 22. Vgl. LF, S. 23. LF, S. 16. 31 30 LF, S. 16f.; vgl. L I, S. 189-192. LF, S. 16. 68

des 28jährigen Kandidaten der Theologie durchaus von Interesse. In diesem Sinne urteilte bereits ein Mitglied des erwähnten Literarischen Zirkels über Martensens Lenau-Interpretation: „Sie lassen ihn mehr sagen, als er gedacht hat." 32 Bei Martensen wird Faust als eine Gestalt gedeutet, an deren Schicksal das „Funktionieren" und die Intaktheit jener Grundidee exemplifiziert werden soll, wonach es wahres Erkennen nur im Bewußtsein der Kreatürlichkeit geben kann. Zugrunde liegt, wie auch später nahezu ständig bei Martensen, ein Dreierschema. 1. „In der Exposition eröffnet sich uns gleich die Idee des Gedichts." 33 Faust flieht aus der Menschenwelt; der Zweifel — zum Prinzip seiner Wissenschaft geworden — hat sich in ihm festgesetzt. Indem Faust „rein aus sich" erkennen will 34 , reagiert sein Gewissen mit Schuldgefühlen, welche er zunächst als notwendigen Durchgangspunkt auf seinem Weg zur Wahrheit setzt 35 . Denn noch ist er nur mit sich selbst zerfallen, „noch ist er nicht mit seinem Schöpfer in offenen Kampf getreten" 36 . Damit aber, daß der Zweifel sich zu einem als gut behaupteten bösen Gewissen verdichtet, ist das erste Stadium des Erkenntnisprozesses erreicht, an dessen Ende die bewußte Verkehrung der Idee des Guten ins Böse stehen wird 37 . 2. Nachdem sich anfangs nur Fausts Denken verfälscht hatte, wird in der zweiten Phase „sein ganzes Leben ein falsches" 38 . Faust eignet sich jetzt das „Wissen des bösen Gewissens zu" 39 , das die Erfahrung des Bösen nicht mehr als eines nur gedachten, sondern lebendig realen voraussetzt. Nach seinen abstrakten Studien „wird jetzt zum Praktischen übergegangen" 40 . Aber dieser Lebensabschnitt des sich nicht ausschöpfenden sinnlichen Genusses — von Martensen etwas betulich ausgemalt — bezeichnet nur einen Zwischenzustand: Gottvergessenheit, noch nicht Gotteshaß 41 . 3. Der Mord, den Faust begeht, markiert dann den Uberschritt in das dritte Moment des Gedichts. Was zu Anfang als Mittel in Kauf genommen war, wird jetzt Selbstzweck, nämlich „die Umkehr des Guten ins Böse als solche zu wollen" 42 . Die Wandlung von einem bloß defensiven Verhalten gegen die göttliche Gnade 43 zur absichtlichen, offenen Feindschaft gegen den Schöpfer hat sich vollzogen 44 . Nachdem Faust im zweiten Schritt gelernt hat, „daß es für das Leben kein Surrogat gibt" 45 , hat sich sein Interesse am Besitz der absoluten Erkenntnis verlagert auf das Begehren, schrankenlos frei zu sein4®. Er will also „die Welt nicht bloß mit seinem Denken, sondern mit allen Sinnen, mit allen Kräften 82 38 38 41 44

L I, S. 213. Vgl. LF, S. 20. LF, S. 42. Vgl. LF, S. 34. Vgl. LF, S. 43.

33 38 39 42 45

LF, LF, LF, LF, LF,

S. 13. S. 15. S. 24. S. 42. S. 45.

34 37 40 43 46

LF, S. 17. Vgl. LF, S. 20. LF, S. 25. Vgl. LF, S. 15. Vgl. LF, S. 47. 69

der Menschheit umfassen, und doch darin sein Ich frei und unabhängig erhalten" Vorbedingung dazu wäre die Entäußerung von den Fesseln seiner kreatiirlichen Individualität, seiner Natur und Geschichte. Alle hierauf zielenden Versuche müssen jedoch fehlschlagen. Im Mißlingen dieser Anstrengungen manifestiert sich in Faust die absolute Verzweiflung, die dem absoluten Bruch Fausts mit seinem Schöpfer korrespondiert 48 . Sie drückt sich aus in der immer beklemmender werdenden Verstrickung in das Labyrinth der Selbstreflexion. Fausts Selbstbefreiung erweist sich als nichtig; er „ist nur desto fester an sein Ich gekettet worden, und die Last dieses Ich ist ihm drückender als das ganze Universum" 49. Diesen Faust versteht Martensen als den christlichen Prometheus. „An seinem Herzen nagt der Geyer des unermeßlichen Verlangens, das nie gestillt wird: ,Könnt' ich vergessen, daß ich Creatur!'" 5 0 Weil dieser unerfüllbare Wunsch jede höhere Regung verzehrt, weil dieses Verlangen gleichbedeutend ist mit der Abweisung der Erlösung, erscheint der Selbstmord Fausts als logische Folge des von ihm durchlaufenden Erkenntnisprozesses. Faust hatte aus egoistischer Wahrheitsliebe mit seinem Sdiöpfer um die geistige Ebenbürtigkeit gestritten. Der Verlauf und das Ende dieses Streites illustrierten, daß die Wesensdifferenz zwischen Kreatur und Schöpfer ungestraft nicht aufgehoben wird. Wenn Martensen die „Abstraction vom Schöpfer" dafür verantwortlich macht, „dem speculativen Geiste keine wahre Befriedigung (zu) geben" 51 , so kündigt sich damit bereits die Thematik seiner ein Jahr später abgefaßten Dissertation an. Ganz allgemein aber wird man sagen müssen, daß Martensen schon in seiner Faust-Schrift sich zu Voraussetzungen seines Denkens bekennt, die für ihn zeitlebens gültig bleiben sollten, und daß er hier bereits Probleme angerissen hat, um deren Lösung er sich in seinen späteren Schriften mühen wird. Das erste gilt von seiner Grundeinsicht in die Unterschiedenheit von Geschöpf und Schöpfer; das zweite bezieht sich auf sein Verständnis des Bösen und, im Zusammenhang damit, der Christologie. Das Prinzip des Bösen wird unterschätzt, so hatte Martensen sich gegen Goethe gewendet, wenn man es als notwendigen Weltfaktor auffaßt, durch den das Zustandekommen des Lebens erst vermittelt wird — Mephisto muß vielmehr den zerstörerischen Feind allen Lebens verkörpern 52 . Aber dieses Urteil gründet sich nicht etwa auf ein empirisch gespeistes Wissen von der Wirklichkeit des Bösen in der Welt — empirische, moralische Kategorien fehlen hier noch ganz —, sondern es will die sich « LF, S. 45. 50 LF, S. 55.

70

48 61

LF, S. 43, 47. LF, S. 20.

49 M

LF, S. 50. Vgl. LF, S. 57.

in solcher Sicht des Bösen offenbarenden erkenntnistheoretischen Mängel aufdecken. Im Abfall Fausts vom Schöpfer, wie ihn Lenau konsequent darstellt, enthüllt sich die tiefste Bedeutung des Bösen. Es hat Hinweischarakter, insofern es die Grenzen aufzeigt, innerhalb deren die Spekulation zu wahren Erkenntnissen gelangen kann. Wie ist nun das Verhältnis des Welterlösers zum Bösen zu denken? Weil er das Gott, Welt, Natur und Geschichte in sich tragende „Centralherz der Menschheit" ist, hat der Gottmensch die ganze Weltgeschichte nicht nur geistig erschaut, sondern auf absolute Weise erlebt 53 , freilich ohne daß der geistige Nachvollzug des Bösen der ganzen Menschheit je zu einer bösen Tat geführt und so den Charakter der Wirklichkeit angenommen hätte. Das vom Erlöser bloß gedachte Böse bleibt zwar irreal und kann daher als Schuld nicht zugerechnet werden; aber zugleich fordert der Begriff des Erlösers die gedankliche Aneignung des Bösen: ohne sie bliebe ein zu Erlösendes ausgespart, und damit erhielte der Titel „Welterlöser" eine Unwahrheit. Dementsprechend stellt sich die Sache beim Menschen. Schnell ist zugestanden, daß im Begriffe der Kreatur die Möglichkeit zum Bösen mitgesetzt sei54. Die Erfahrung des Bösen ist „als integrirendes Moment seiner ganzen creatürlichen Seynsweise"85 dem Menschen insofern gestattet, als er es bloß „denken", nicht „erleben" will. Auch hier also macht es sich geltend: Auf das Böse als einen Gegenstand der menschlichen Spekulation kann nicht verzichtet werden; es entstünde sonst der Eindruck der Begrenztheit derselben. Martensen genehmigt daher, entsprechend dem Vorbilde Christi, eine „abstrakte" Erkenntnis des Bösen, worin das Böse als nur gedachtes im Irrealen, Unlebendigen verbleibt 56 . Der Einwurf, daß damit das Böse in seiner Wirklichkeit nicht erschöpfend erfaßt sei, gerade wenn man, gemäß dem Prinzip der Identität von Erkennen und Sein von der Affizierbarkeit des ersten durch das zweite überzeugt ist, hätte auf Martensen wenig Eindruck gemacht — er konnte ja nur geäußert werden, entweder aus einer kritischen oder aus einer konkret empirischen Grundeinstellung heraus. Stellte Martensen in seiner Dissertation die Schwächen des Kritizismus an den Pranger, so zeigt die 1837 erschienene, erweiterte dänische Fassung des Faust 57 sein Desinteresse an einer empirisch-subjektiven Deutung des Bösen. Denn Interesse, so heißt es hier, kann Faust überhaupt nur beanspruchen als ein Repräsentant des menschlichen Strebens nach Gründung eines Intellektualreiches ohne Gott 58 . Was an einer individuellen Gestalt wie Faust über das die allgemeine Idee Offenbarende hinausreicht, hat keiner53 So daß der an ihn Glaubende sowohl an der Unendlichkeit des Begriffs, wie am absoluten und ewigen Leben partizipiert, vgl. LF, S. 46. M 85 M Vgl. LF, S. 23. Ebd. Vgl. LF, S. 24. 68 " Abgedruckt in MS, S. 28ff. LF, MS, S. 31.

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lei eigenständige Existenz 59 . Damit ist jedes Interesse an den Eigentümlichkeiten und Bedingungen historisch-individueller Ausprägung der Idee negiert 90 und die ethische Frage nach der Realisierung des Theoretischen abgewiesen. Denn „es gibt überhaupt keine rein praktischen Begriffe, wie die Empirie sich einbildet. Jeder praktische Begriff hat seine Wurzeln im Theoretischen." 61 Ausgerechnet Lenau muß sich jetzt den Tadel gefallen lassen, daß er „uns allzu wenig von der theoretischen Welt" hat sehen lassen, in welcher Faust zu Hause ist 62 . Hatte Martensen in der deutschen Erstfassung Lenaus Dichtung als zur „Gattung der speculativen Poesie" gehörig begrüßt — „sie kann nur in einem Volk entstehen, dessen höchste Interessen aufs Ideale gerichtet sind" 63 —, so nimmt Martensen nun, das ist das Neue an der dänischen Ausgabe, die Sache selbst in die Hand und „entwickelt" einen Faust aus dem Begriff der spekulativen, der „apokalyptischen" Poesie, so den Maßstab setzend, der an eine befriedigende Faustdichtung künftig zu legen sei64. Als die drei Stufen, welche den Fortschritt der Entwicklung sichtbar machen, in der der Begriff dieser Poesie zu sich kommt, werden — gewaltsam genug — die Apokalypse des Johannes, Dantes Comedia Divina und eben die Faustidee genannt 65 . Die Offenbarung Johannis zeigt die ewig wahre Religion in ihrem Verhältnis zu den vergänglichen Religionen der alten Welt. Die Göttliche Komödie stellt kontemplativ die Gesdbichte der christlichen Kirche dar. Doch diese aufs Extensive gehende Schau bedarf nun — auf höherem Standpunkt — einer Rückführung ins Intensive. Dies geschieht in der protestantischen Fausttragödie 6 '. Sie zeigt Faust als die freie Intelligenz in ihrem Verhältnis zum die Kirche tragenden Dogma. Sie hat die Göttliche Komödie des Katholizismus derart in sich aufgenommen, daß sie sie in die „Idealität reflektiert hat". Damit ist die Bewegung an ihr Ziel gekommen: „Die apokalyptische Poesie hat sich zu ihrem ersten idealen Standpunkt, von welchem sie ausging, zurückgewendet, zur Offenbarung Johannis." 67 Was ergibt diese erste Kostprobe Martensenscher Schriftstellerei? Man wird sie im ganzen als eine Frucht des Idealismus und der Romantik anzusehen haben. Es würde bei dieser Jugendschrift wenig sinnvoll sein, nun im einzelnen die bestimmenden Einflüsse aus Romantik, Idealismus und Christentum gegeneinander abzuheben. Man wird ihr wohl schwer69

LF, MS, S. 30. „Derfor vender Blikket sig bort fra Historien til det, som er dens Princip." LF, MS, S. 37. " LF, MS, S. 29, vgl. S. 45. «2 LF, MS, S. 87. 63 64 LF, S. 7. LF, MS, S. 87. 85 Vgl. LF, MS, S. 32-38; vgl. L I , S. 148f. 87 «« Vgl. LF, MS, S. 37. LF, MS, S. 38. 60

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lieh. Unrecht tun, wenn man darüber hinaus weniger auf die begrifflichen Aussagen als auf den Grundtenor des Ganzen blickt. Und da ist sie vor allem wichtig als ein beredtes Zeugnis f ü r Martensens Selbstbewußtsein und Überlegenheitsgefühl. W e r die Spekulation recht zu handhaben weiß, dem erschließen sich die verborgensten Geheimnisse: Wenn die Finsternis das Licht nicht begreift, „so ist es nur ihre eigene Schuld, denn das Licht gibt sich ihr immer in faßlicher Gestalt" Es gibt absolute Wahrheitserkenntnis! Dabei wird ihre notwendige Voraussetzung, nämlich die Gründung der Spekulation im Glauben, in keiner Weise als Einschränkung empfunden. Hier ist kein O r t f ü r demutsvolle Bescheidung. Im Hervorholen des Wissens aus Gott hat der Mensch die Bedingung der Möglichkeit allumfassenden Erkennens erfüllt. Die angemessene Haltung ist deshalb vielmehr der Stolz. Und so legt Martensens erste Schrift das Bewußtsein eines Erkenntnisvermögens an den Tag, f ü r das es keine dunkle Flecken mehr gibt. Martensen hatte sich freigeschrieben 69 . Kein Wunder, daß ein Ton der Unbekümmertheit die Behandlung der Sachfragen kennzeichnet. Durchgängig spürt man die Abstandnahme vom Empirischen, Historischen, Real-Konkreten 70 . Zugleich zeigt sich die A b wesenheit einer durch Reflexion kontrollierten Verfahrensweise: nichts wird begründet, nichts gefolgert, sondern die Aussagen werden thetisch nebeneinandergestellt. Literarisch-ästhetische Interessen überwiegen, aber so, daß die ästhetische Thematik dem aufgeweckten spekulativen Geist als Betätigungsfeld dient 7 1 . „Spekulative Poesie" lautete darum Marten«8 LF, S. 35, vgl. L I, S. 120, 166-168. „Große Antipathie fühlte ich . . . gegen die Kantische Lehre von der bloßen Subjektivität unseres Erkennens, daß wir nur erkennen können, was die Dinge für uns seien, aber nicht, was sie an sich selbst sind . . . So bedeutungsvoll diese Kantische Auffassung auch ist, nämlich als ein Glied in der Entwicklung der Philosophie, so ist sie doch, für sich allein betrachtet, eine — Bornirtheit, deren man sich erwehren, die man überwinden muß." L I , S. 118, vgl. S. 64, 73f. 70 Die Kirchengeschichte sei, so schreibt Martensen in Briefen an Clausen und Sibbern, in denen es um seine eventuelle Anstellung als Dozent für Kirchengeschichte geht, „i Gründen ikke . . . mit Fag" (S. 506), „da jeg . . . hele min Studietid naesten udelukkende har forfulgt Theologiens speculative Side og det dermed i Forbindelse staaende Studium af den rene Philosophie." (S. 509) Vgl. die Briefe an Sibbern vom 10. August 1835 und an Clausen vom 26. Januar 1836, bei Arildsen, S. 506f. und S. 508ff. 71 Von hier aus läßt sich Martensens „Liberalismus" einschätzen. Man kann im Blick auf sein Naturell kaum erwarten, daß er großes politisches Interesse an den Tag legte. Seinem sowohl in der Schrift über Faust, wie auch im „Meister Eckart" als Grundmotiv wirksamen Bemühen um die „reine Philosophie" korrespondiert eine Haltung politischer Gleichgültigkeit: „Ich besaß damals keine irgend durchgebildete politische Ansicht." (L I, S. 200, vgl. S. 194) Unter diesem Vorbehalt ist seine Sympathie für liberale Ideen zu würdigen. Wenn Martensen die Schattenseiten des Absolutismus beredt zu schildern weiß: das Fehlen jeglichen öffentlichen Lebens, die abstumpfende Wirkung der Zensur usw. (siehe das Zitat unten), so wird das 68

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sens Schlagwort 72 . „Spekulativ" ist auch die Behandlung aller in dieser Schrift berührten Themen. Das Grundverhältnis Schöpfer—Geschöpf wird zum Mittelpunkt aller Aussagen gemacht, nicht wegen der Konsequenz, die eine christliche Dogmatik daraus ziehen könnte, auch nicht um — nach einem Bekehrungserlebnis 73 — geistliches Wissen erbaulich darzulegen, sondern weil nur so die Spekulation eine tragfähige, ihre Überlegenheit gewährleistende Basis erhält. „Will man das Persönliche (in Gott) erkennen, so muß man sich zu diesem in ein persönliches Verhältnis stellen." 7 4 Dieser Satz illustriert deutlich genug, welchen Vorrang Martensen dem spekulativen Intellekt gegenüber bzw. in einer dogmatischen Fragestellung einräumt, wie ja audi die Andeutungen über die Christologie offensichtlich von dem erkenntnistheoretischen Leitgedanken abhängen. Derselbe Sachverhalt ergab sich auch aus der Perspektive, unter der für Martensen das Böse bedeutsam ist. Nicht, um ethische Kategorien zu gewinnen, und schon gar nicht, um sie empirisch zu verifizieren, ist ihm das Böse interessant, sondern weil es die Funktion erfüllen kann, die Bedingung zu veranschaulichen, durch deren Berücksichtigung der Mensch zu wahrer und voller, das ist absoluter Erkenntnis befähigt ist. Wenn also Martensen das Doppelte sagt: Der Mensch bringt es zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit, und: E r kann dies tun auf Grund der Anerkenntnis seiner Kreatürlichkeit, so ist nach allem Gesagten klar, in Pathos solcher Expektorationen nicht von politischem Engagement getragen, sondern ist Ausdruck einer Geisteshaltung, die sich um ihrer Ausrichtung auf das Universale willen keiner Beschränkung unterwerfen möchte. Dies hatte, wie gezeigt, auch seine Trennung von den Grundtvigianern motiviert. Nicht zufällig bekundet Martensen im gleichen Zusammenhang sein Unverständnis über die Kritik an Schleiermachers „Vertrauten Briefen", er findet in ihnen viele psychologisch und moralisch wertvolle Gesichtspunkte und vermag auch den sich in ihnen äußernden „subjektiven Idealismus" nicht zu tadeln, um so weniger, als ja dann die „Monologen" ebenfalls zu verwerfen wären (S. 502). Martensens „Liberalismus" trägt also keine politische Farbe. Er entspricht vielmehr seiner Totalitätsanschauung, welche keinen Gegenstand und kein Thema der Inbesitznahme durch die Wissenschaft entzogen sehen möchte. — Am 25. April 1835 schreibt Martensen an Clausen aus Berlin: „Under mit Ophold har Absolutismens Skyggeside ret viist sig for mig. Denne totale Mangel af alt offentligt Liv, der nodvendig er forbunden med det absolute Monarchie, maa uungaaeligt hos Maengen frembringe en heist slovende og sovndyssende Virkning, og denne har man her daglig Leilighed til at observe. Alt er indskraenket til Privatlivets Eensformighed, for Historiens Bevaegelser og den naervaerende politiske Udvikling fattes al Sands . . . " Vgl. Arildsen, S. 501 f. , 2 Vgl. Martensens Rezension: Fata Morgana. Eventyr-Comedie af J. L. Heiberg, Kjbh., 1838, in Maanedsskrift for Litteratur, 19. Bd. (April-Heft) 1838, S. 361-397, bes. S. 367, und Martensens Rezension: Nye Digte af J. L. Heiberg, Kjbh. 1841, in: Faedrelandet, Anden Aargang, 1841, Nr. 398-400. Lenaus Urteil über Martensen: „Ich habe nie einen so spekulativen Kopf gefunden." N. Lenau, Sämtliche Werke und Briefe Bd. 4, S. 227. n Gegen Arildsen, S. 85f. 71 L I, S. 122. 74

welchem der beiden Sätze sich Martensens eigentliche Intention ausspridit. Der Mensch vermag die Wahrheit absolut zu erkennen. Die theologischen Implikationen, die in diesem Satz stecken, hat Martensen dann in seiner Dissertation ausführlich dargestellt. d) Die Rezension von Heibergs

„Einleitungsvortrag"

Mit seinem Bekenntnis zu Schleiermacher und seinen Erwägungen über eine spekulative Poesie hatte Martensen bereits erkennen lassen, welche Richtung seine Theologie nehmen sollte. Mit Hilfe der Spekulation sollten die Einseitigkeiten von Orthodoxie und Rationalismus überwunden werden. Ein halbes Jahr vor Erscheinen seiner Dissertation, im Dezember 1836, hat Martensen sich über seine Stellung zu Hegel geäußert. Er rezensierte J. L. Heibergs „Indledningsforedrag til de i Novbr. 1834 begyndte logiske Cursus paa den kgl. militaire H0iskole", Kobenhavn, 1835 7S . Es ist Heibergs Verdienst, so stellt Martensen zu Anfang fest, Hegel in Dänemark Eingang verschafft zu haben 78 . Aber, fügt er sogleich hinzu, „ich sage das nicht als Hegelianer" 77 . Dieses Eintreten für Hegel und der gleichzeitige Versuch, sich ihm gegenüber selbständig zu zeigen, charakterisiert die ganze Rezension. Hegels System hat eine unermeßliche Bedeutung f ü r die Gegenwart, es enthält die umfassendste und vollendetste Entwicklung des rationalen Wissens, es bedeutet Krönung und Abschluß einer ganzen Ära der Philosophiegeschichte78. Der Fehler liegt aber in der Bestimmung der Religion als einer bloß symbolischen Form für ewige Vernunftbegriffe. „Ist die Religion nicht die Wahrheit selbst, sondern nur ihr Abbild, so kann sie auch nicht die absolute Macht in unserem Bewußtsein sein, sondern nur Gegenstand für ein spekulatives oder ästhetisches Interesse." 79 Gegenstand spekulativen Interesses aber war die Religion für Martensen in einem eminenten Maße. Seine Versicherung, er sei nicht Hegelianer, beruht wenigstens zu dieser Zeit auf einer Selbsttäuschung 80 . Martensen hatte Hegel nötig als Kronzeugen für seine Einwände gegen Kant und vor allem gegen Schleiermacher. Die folgenden Abschnitte werden das im einzelnen belegen. 75

In Maanedsskrift for Litteratur, 16. Bd., Dezemberheft, 1836, S. 515-528. ™ Das geschah durch seine Schrift „Om den menneskelige Frihed. I Anledning af de nyeste Stridigheder over denne Gjenstand." Kiel, 1824; vgl. ferner J. L. Heiberg, „Om Philosophiens Betydning for den nuvaerende Tid. Et IndbydelsesSkrift til en Raekke af philosophiske Forelaesninger", Kjobenhavn 1833; dazu H. Hoffding, Heiberg og Martensen, in Danske Philosopher, S. 128, 146; N. Thulstrup, Kierkegaards Forhold til Hegel, S. 23ff., 85ff. 77 78 A.a.O., S. 515. Vgl. a.a.O. S. 515-527. '» A.a.O. S. 525 ff. 80 Damit, daß Martensen „ausdrücklich betont, er sei nicht Hegelianer" ist es nicht getan, gegen Arildsen, S. 116. 75

2. Die Abkehr von Schleiermacher unter Berufung auf Hegel a) „De Autonomia conscientiae sui humanae" Sogleich nach der Rückkehr von der Auslandsreise begann Martensen mit der Ausarbeitung seiner theologischen Lizentiatendissertation. Bei der öffentlichen Verteidigung, die am 12. Juli 1837 stattfand, traten als Opponenten Η . N . Clausen, C. T. Engelstoft, F. C. Sibbern und J. L. Heiberg auf, bei welcher Gelegenheit Martensen auch erstmals Bekanntschaft mit dem damaligen stud, theol. Rasmus Nielsen machte, seinem späteren Widersacher. Im Rahmen der Reformationsfeier der Universität am 7. November 1838 wurde Martensen dann zum lie. theol. promoviert 81 . Martensen hat seine Lizentiatenabhandlung „De Autonomia conscientiae sui humanae, in theologiam dogmaticam nostri temporis introdueta" 82 im Rückblick „als eines der besten Erzeugnisse meiner Autorschaft 83 " bezeichnet. Diese Schrift markiert tatsächlich einen neuen Abschnitt in seiner literarischen Produktion. Bislang hatte er noch keine Stellung innerhalb der theologischen Strömungen seiner Zeit bezogen. In seiner Schrift über die Autonomie des menschlichen Selbstbewußtseins geht er theologisch auf Position. Ein formales Charakteristikum des Martensenschen Denkens hat sich deutlich weiter ausgeprägt: Am Anfang steht die Bekanntgabe seines Standorts, ohne daß er sich dabei auf mögliche kritische Bedenken einließe. Seine Sätze treten auf mit dem Anspruch unbezweifelbarer, objektiver Richtigkeit und repräsentieren so den Geist einer theologia thetica. Die Grundanschauung, von der aus er im folgenden operieren wird, äußert sich in den ersten beiden Kapiteln, die die Überschriften „De interiore theologiae cum philosophia nexu" und „De religioso philosophiae prineipio" tragen. Welchen Ort hat seine Arbeit mit ihrem Problem des menschlichen Selbstbewußtseins innerhalb der Geistesgeschichte? Die Antwort, die Martensen, wie immer, wenn er auf historische Bezüge zu sprechen kommt, sehr skizzenhaft und summarisch gibt, läuft darauf hinaus, daß er nach wohlwollender Überschau über das bisher Geleistete in Anspruch nimmt, mit seiner Schrift die Entwicklung von der Stufe aus, auf die sie Kant, Fichte und Hegel gehoben haben 84 , weiterzuführen, ohne in die Fehler der Genannten zu verfallen. 81

Näheres über das Promotionsverfahren bei Arildsen, S. 119f, 114f, auch L H ,

S. 2 f. 82

Havniae, 1837; vgl. L I , S. 170f. Einen Vergleich mit Kierkegaards Unwissenschaftlicher Nachschrift bietet A. Christensen, Efterskriftens Opgor med Martensen, in Kierkegaardiana IV, 1962, S. 45-62. 83 L I, S. 3. 84 Au, S. 7. 76

Entspricht es dem liberalen Geist des Protestantismus, daß sich nach der Reformation die Philosophie als selbständige Wissenschaft etabliert hat 85 , so verdankt es die Theologie der Neuzeit der Arbeit dieser befreiten Philosophie, daß sie — als Wissenschaftslehre86 — die Dogmatik von der Darbietung ihrer traditionellen Aussagen herübergelenkt hat zur Frage nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen, unter denen objektive Aussagen überhaupt zustande kommen können 87 . Indem der Intellekt sich selbst zum Gegenstand seiner Nachfrage macht, gerät das Problem des menschlichen Selbstbewußtseins in das Zentrum des modernen theologischen Interesses. „Inculcatum est antiquum illud: ,nosce te ipsum!'" 88 Martensen ist sich also der Aktualität seiner Arbeit bewußt; er hält sich mit ihr im Rahmen der neuen Problemlage. Indem er die Berechtigung der neuen Philosophie anerkennt, das Selbstbewußtsein zu ihrem Zentralthema zu machen, gewinnt er nach seiner Überzeugung die Möglichkeit, die gesamte philosophische Arbeit nun seinerseits korrigierend zu überbieten. Ansatz- und Ausgangspunkt ist dabei seine kritische Frage an die genannten Philosophen und die ihnen folgenden Theologen, „num mens humana . . . hanc theoriam propria vi et virtute conficere possit, an etiam hic assistentia egeat divina" 89 . Dieser Frage inhäriert deutlich die Antwort, und Martensen betont denn auch sofort, in der Erkenntnislehre müsse sensu eminenti gelten, „quod in omni rerum divinarum cognitione valeat: ,In lumine tuo videmus lumen.'" 90 Damit hat Martensen die Wunderwaffe in die Hand genommen, mit der er gegen seine Gegner Kant und Schleiermacher angehen wird. Doch wie verhält sich zunächst dieser Grundansatz zu den einschlägigen Äußerungen in der Schrift über Faust? Man geht am besten aus von der Herausstellung und inhaltlichen Befrachtung, den der Begriff „conscientia" hier in der Lizentiatenabhandlung erfährt. Dieses „Gewissen" 91 ist fürs erste kein „sensus obscurus, sed clara cognitio" 92 . Das Gewissen ist von hohem ethischen Belang, insofern es den Unterschied zwischen Gut und Böse dem Bewußtsein unwidersprechbar deutlich macht. Aber mit einem solchen engen, das ist praktisch-ethischen Verständnis des Gewissens ist sein eigentliches noch gar nicht getroffen; 85

Au, S. 8. „Philosophia est scientiae scientia." ' Videnskabslaere — Erkjendelseslaere.'" Au, S. 5. 87 „Hisce theoriis summa conversio facta est . . . " Au, S. 8. 88 89 Au, S. 9. Ebd. 90 Bei Martensen gesperrt: Au, S. 10. „Mens igitur humana non propria vi et virtute, sed sola gratia divina illuminante verum cognoscere, divinae auctoritatis subiecta, semperque divina assistentia egere habenda est." Au, S. 14. 91 „Samvittighed — συνείδησις — Gewissen", Au, S. 10. 92 Au, S. 11. 88

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keineswegs ist es, wie meist vorausgesetzt wird, von jeder „theoria longe remota" 9 3 . Sondern „conscientia rationem involvit; conscientia igitur creaturam rationabilem qua talem constituit, hominem hominem facit" 9 4 . Und zwar wird das in dem Gewissen sich äußernde Phänomen seiner unmittelbaren Evidenz ausdrücklich bezogen auf das sich in ihm aussprechende Wissen von Gott in seinem Verhältnis zum Menschen. So wird das Gewissen bei Martensen zum universalen Erkenntnisorgan 95 . E r illustriert sein Verständnis von Gewissen mit dem lateinischen conscientia im Zusammenhang mit mystischen Formeln Eckarts 98 . Die vollen Aussagen der spekulativen Theologie werden also in einer conscientia verankert, welche, um als solche Basis dienen zu können, von Martensen so gefaßt ist, daß sie über partikular-ethische Weisungen hinaus universale, theoretische, religiöse Erkenntnis vermittelt. Sie umgreift die ratio, die isoliert, von ihren eigenen Voraussetzungen aus, nicht zur Erkenntnis Gottes und so des Universums kommen kann. Das aber bedeutet, daß die Hervorhebung des conscientia-Begriffs dazu dient, die Grundaussagen aus dem „Faust" weiter zu befestigen und erkenntnistheoretisdi zu legitimieren97. Wie in „Ueber Lenaus Faust" ist das Schöpfungsmysterium Basis und Zentrum aller rechten Theologie 98 . Dies unverbrüchlich einzuprägen ist letzten Endes die Quintessenz des Ausbaus des Gewissens84 Ebd. Au, S. 12. Es ist „notio universalis et religiosa absolutam hominis relationem, locum eius in universitate rerum, statum et positionem eius quod deum, fundamentalem igitur modum eius existendi immediata evidentia definiens et manifestans", Au, S. 11. 86 Die conscientia umgreift die conscientia dei (vgl. Au, S. 10): „Mein Aug' und Gottes Aug' sind ein A u g ' " (Au, S. 14); „cognitio igitur dei speculativa non est scientia solitaria, sed conscientia (ikke en eenlig Viden, men Samviden)", Au, S. 15, vgl. S. 65. 97 Wenn Arildsen daher Baaders Erkenntnistheorie und Baaders Gewissensbegriff als „Hauptquelle der in der Lizentiatenabhandlung entfalteten Gedanken" (Arildsen, S. 133) ansieht, kommt er damit zu spät: Bereits in „Ueber Lenaus Faust" hatte Martensen, eben aus München kommend, dem cogito ergo sum das credo ut intelligam entgegengesetzt (vgl. LF, S. 11 f.; L I , S. 166). Dieses Motto hatte Baader schon 1824 seinem Aufsatz „Ueber das durch unsere Zeit herbeigeführte Bedürfnis einer innigeren Vereinigung der Wissenschaft und der Religion." vorangestellt (Fr. v. Baader, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Fr. Hofmann, J . Hamberger u. a., 1.-16. Bd., Leipzig 1851-1860, der genannte Aufsatz ebd., Bd. 1, S. 81-96). Und der 31. Lehrsatz im ersten Heft von Baaders „Vorlesungen über religiöse Philosophie im Gegensatz der irreligiösen älterer und neuerer Zeit", 1827, lautet: „Alles Erkennen der Creatur, insofern es von einer Gabe und einem Empfangen ausgeht (wozu man selbst das Verlangen zu zählen hat) und durch dieses Empfangen vermittelt wird, geht vom Glauben aus, und Anselmus v. C. hat darum Recht, wenn er sagt: ,credam ut intelligam', so wie Thomas v. Aquino Recht hat, wenn er sagt: .oportet eum, credere, qui discit'." Baader, a.a.O., Bd. 1, S. 238. 98 Vgl. Au, S. 34f., 64, 69. 93 95

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begriffs: „conscientiam accuratius definimus lucem, qua homo creatura dei manifestatur" Die ersten beiden Abschnitte der Abhandlung wollten die aus der Schrift über Faust schon bekannten Hauptgedanken befestigen. Auch die zwei folgenden („Autonomia conscientiae sui humanae philosophiae recentioris principium" und „Autonomia conscientiae sui humanae in theologia dogmatica nostri temporis") dienen demselben Zweck. Wenn, wie Martensen gesehen hat, sich in den Erörterungen der systematischen Theologie die Problemlage der jeweils zeitgenössischen Philosophie abspiegelt, so muß der ihr gegenüber erhobene Einwand („omni igitur auctoritate in principio remota, item auctor conscientiae sui humanae tacite negatur"10°) auch gegenüber der Dogmatik gelten. Sie steht vor der Alternative, „theologia sui sibi consciam" oder „theologia dei sibi consciam" sein zu wollen 101 . Im ersten drückt sich das große Manko der derzeitigen Theologie aus. Im zweiten ist das Desiderat einer Theologie genannt, für die Martensen die Zeit gekommen erachtet. So finden sich in diesem Zusammenhang bereits programmatische Sätze, welche die Hauptintention seiner Dogmatik von 1849 im Vorgriff charakterisieren. Es ist Aufgabe der dogmatischen Theologie, „in iis quae dogmatae implicite continentur (quam ob rem definivimus cognoscibile dei), speculative explicandis versatur" 102 . So rechtfertigt sich die Spekulation durch den Rekurs auf das im christlichen Dogma objektiv Gegebene103. Die die Abhandlung leitenden „universalen Prämissen" sind damit vorgestellt 104 . Die Operationsbasis für die nun folgenden polemischen Gänge — sie erstrecken sich über 115 von insgesamt 135 Seiten! — ist geschaffen. Die erste Kritik gilt einer „Theologia moralis", deren exklusive Norm das Ethische ist. Es allein entscheidet in ihr über die Geltung bzw. die unumgängliche Umdeutung der Dogmen der Religion. Repräsentiert wird eine solche, die Ethik als Kriterium der Religion behauptende Theologia moralis durch das philosophische Werk Kants 105 . Martensen entschuldigt sich bei seinen Lesern begründetermaßen für das Generelle seiner Kritik durch den Hinweis darauf, daß seine Arbeit vorwiegend das Typische und Prinzipielle herausstellen wolle. Und so erweist sich Kant, in Sonderheit durch seine Religionsphilosophie, als der Typos eines „subjektiven 99

Vgl. Au, S. 12; Die Geschöpflichkeit des Menschen ist -weiterhin interessant nur als Prämisse einer spekulativ-theologischen Erkenntnislehre; die Sünde spielt dabei ausdrücklich keine Rolle: „Est autem nobis persuasum, veritatem aeternam eiusque typum essentialem peccato non mutatam esse, ita ut relatio substantialis inter creatorem et creaturam eadem maneat." Au, S. 46. 100 102 Au, S. 24. i»i Au, S. 31. Au, S. 29f. 103 „Recurrentes igitur ad objectivum dogmatis christiani argumentum" (Au, S. 31) — hier ist jedes Wort betont 1 101 105 Vgl. Au, S. 46. ' Vgl. Au, S. 48, 80.

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Idealismus" 106 , der die wahre Richtung des Erkenntnisvorgangs umkehrt, so daß das religiöse Erkennen der menschlichen Autonomie unterstellt wird 107 . Es ist besonders der subjektive Ansatz dieser Philosophie, der Martensens Unwillen erregt. Von seinem Verständnis des Gewissens aus muß Kant natürlich außerordentlich dürftig erscheinen, und Martensen läßt keine Gelegenheit vorbeigehen, seinen Maßstab diesem philosophischen Kritizismus anzulegen und dessen Kümmerlichkeit zu entlarven. Ganz abgesehen von Kants Gewissensbegriff selbst108 — seine Interpretation der dogmatischen Topoi (Schöpfung 109 , Attributenlehre 110 , Inkarnation 111 , Trinität 112 ) und also seine Deutung des christlichen Glaubens belegt allenthalben die Fixierung dieser Philosophie auf sich selbst113. Sie vermag bloß Gegebenes deskriptiv darzubieten, ohne daß sie die Erkenntnis spekulativ weitertriebe und sich so neue Inhalte erschlösse114. Somit liegt ihr Grundfehler nicht eigentlich in der Frage nach der ethischen Interpretierbarkeit religiöser Sätze, sondern in der dieser Frage voraufgegangenen Begrenzung des Erkenntnisvermögens 115 . Weil diese kritische Philosophie entschlossen ist, ihre Probleme „sola ratione" 116 , „non ex deo, sed ex ipsa" 117 zu lösen, auf das Licht der Religion zu verzichten und die Zentralthemen einer echten Philosophie beiseite zu schieben, muß sie in einer verhängnisvollen Glorifizierung ihrer selbst enden 118 . Das Subjektivitätsprinzip ist das „vitium originale" 119 . Aus ihm begründet sich die Beseitigung jeder „objektiven" Idee, das Perhorreszieren des „Positiven" der Religion 120 und die Vergleichgültigung ihrer historischen Konturen 121 . Diese Kritik ist ein klarer Fingerzeig auf den theologischen Weg, den Martensen zu gehen sich anschickt. Die folgende Auseinandersetzung mit Schleiermacher trägt die Uberschrift „Theologia sensus"122 und bezieht sich ausschließlich auf die Glaubenslehre. Es hat zunächst den Anschein, als wolle Martensen einen versöhnlicheren Ton anschlagen — „Autonomie conscientiae sui in alteriorem formam elevata est" 123 . Die Religion erhält bei Schleiermacher einen höheren Rang zugewiesen als im Kritizismus; sie umfaßt, als dem menschlichen Geist unmittelbar inhärent, das gesamte Leben und wird daher zu Recht als aller Reflexion vorausliegend definiert 124 . Und auch darin hebt sich Schleiermacher erfreulich von Kants Lehre, Christi historische Existenz habe lediglich hypothetischen Wert, ab, daß er dieselbe 10

« Vgl. Au, S. 65, 71. 107 Vgl. Au, S. 53. „Decernet haec autonomia propria auctoritate, omnia officia hominis spectanda esse ac si essent praecepta divina." (Ebd.) 108 109 110 Vgl. Au, S. 58, 64. Vgl. Au, S. 65, 69. Vgl. Au, S. 58. 111 112 113 Vgl. Au, S. 69f. Vgl. Au, S. 84. Vgl. Au, S. 57, 62. 114 115 116 Vgl. Au, S. 82. Vgl. Au, S. 69. Au, S. 49. 117 118 119 Au, S. 58. Vgl. Au, S. 64f. Au, S. 63, 65. 120 121 122 Vgl. Au, S. 65, 71. Vgl. Au, S. 74-76. Au, S. 86. 123 124 Ebd. Vgl. Au, S. 87 f. 80

als gewiß bekräftigt und den Ursprung aller wahren Frömmigkeit von Christi historischer Erscheinung herleitet 12s . Aber das ist auch alles. Denn genauer besehen liegt bei Schleiermacher die gleiche gedankliche Struktur zugrunde wie bei Kant 128 . Die einzige Differenz besteht darin, „quod rationi practicae Kantii Schl.(eiermacher) substituerit sensum p i u m " m . Und im übrigen gilt hier wie dort: „In utroque systemate conscientia sui hominis arbiter et constitutor omnium est, et eodem iure quo theologiae morali etiam theologiae sensus autonomia adscribitur, quippe quae veritatem non ex deo cognoscit, sed ex semetipsa." 128 . Gerade in dieser Autonomie des denkenden Ich tritt die „interna cognatio et consanguinitas" Schleiermachers mit dem Kritizismus heraus 129 . Kant wie Schleiermacher fallen daher klar unter die Rubrik „Rationalismus": Ihre cogitatio hat den Menschen, nicht Gott zum Gegenstand 13°. Dieser Aufweis der Identität im Grundriß beider Systeme bleibt nun gewiß im Vordergründigen stecken, geschweige denn, daß er ihr Verhältnis zutreffend beschriebe. Er erfüllt aber bei Martensen — das zeigt der Duktus seiner Gedanken eindeutig — den Zweck, die bei der Besprechung Kants erhobenen Mängel zusätzlich auf das Schuldkonto Schleiermachers zu buchen. Was Martensen zuvor Kant angelastet hatte, war immer schon auf Schleiermacher bezogen gewesen. Die Diskussion um Kant war 1837 nicht mehr aktuell — Schleiermacher ist Martensens eigentlicher Widerpart. Daß Schleiermachers Glaubenslehre auf Martensen mit seinen spekulativen Ambitionen geradezu aufreizend gewirkt haben muß, ist diesem Abschnitt über die theologia sensus, der den gedanklichen Fluchtpunkt der Arbeit ausmacht, noch abzuspüren. Gleich das Anselmische Motto, unter das Schleiermacher seine Glaubenslehre gestellt hat, ist für Martensen ein Dorn im Auge: Schleiermadier beruft sich durchaus zu unrecht auf Anselm, bei dem, wie auch bei Augustin und Luther, die Objektivität des Dogmas nicht angetastet war. In Wahrheit müssen Anselm und Schleiermacher antithetisch aufeinander bezogen werden m . Eine im Selbstbewußtsein ihren Ausgangspunkt nehmende Theologie verbaut sich zwangsläufig die Möglichkeit zu Aussagen, die die durch die menschliche Subjektivität gesteckte Grenze überschreiten können. Sie werden, als bloß formale, im Endlichen hängen bleiben, anstatt das Infinitive 125

Vgl. Au, S. 117f. 12 128 Vgl. Au, S. 96. ' Au, S. 108. Au, S. 96. 129 130 Au, S. 108. Vgl. Au, S. 96. 131 „Quemadmodum apud Anselmus deus in aeterna sua personalitate obiectum cognitionis, et idem deus est cognitionis principium: ita in theologia sensus, ubi homo est obiectum cognitionis, animus humanus principium eius sistitur." Au, S. 98; vgl. S. 97-99, 107f. 126

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Brandt, Gotteserkenntnis

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in qualitativen Wesensbestimmungen zu ergreifen 132 . „Idea obiectiva ex religione remota" — das ist das Ergebnis eines Kritizismus, der die Basis des Erkennens, sei es auf die ratio practica, sei es auf den pius sensus verengt 133 . Die Folgen soldier Reduktion offenbart denn auch Schleiermachers Behandlung der christlichen Hauptdogmen. Das Dogma über Gott, den Schöpfer, ist, so konstatiert Martensen schlicht, seines Inhalts gänzlich beraubt; es kann in einem System, aus welchem kraft des Selbstbewußtseins alle diesem nicht zugänglichen Inhalte herausgefiltert sind, ja auch gar nicht gedacht werden 134 . Mit Schleiermachers Christologie verhält es sich ebenso. Freilich laboriert Martensen sichtlich daran, daß Schleiermacher im Geltendmachen ihres historischen Grundes eine audi ihm selbst unaufgebbare Intention verfolgt. Hatte er vorher Schleiermachers Rückführung des Schöpfungsbegriffs auf den der Erhaltung als „nominalistisch" gebrandmarkt 135 , so bemüht er sich jetzt, diesen „positiven" Zug an Schleiermacher als ein durch dessen Eklektizismus bedingtes zufälliges Moment wegzuinterpretieren 13a . Martensen will gegenüber Schleiermacher den Satz durchhalten, „quum . . . notio dei inde ab initio evacuata sit in hocce systemate, etiam notio Christi evacuatur" 137 . Christus wird bei Schleiermacher in die Grenzen einer auf sich fixierten Subjektivität eingeschlossen, und so wird die absolute Gültigkeit des „Ich bin die Wahrheit" relativiert 138 . Also: „Ut pater, ita filius."139 Gerade die Lehrstücke, die Christi absolute Würde bezeugen (Auferstehung, Himmelfahrt, Mitwirkung am Jüngsten Gericht), haben in dieser Theologie keinen Platz. Sie will — und jetzt fährt Martensen schweres Geschütz auf — den Glauben der Kirche ausdrücken und verneint durch die Leugnung des Dogmas von der Auferstehung geradezu das Zentrum des christlichen Gottesdienstes, den Sonntag, der ohne Ostern seinen Sinn verliert 14°. Von hier aus enthüllt sich die ganze Zweideutigkeit von Schleiermachers Bewertung des Historischen an den christlichen Dogmen; Martensen sagt das in aller Massivität 141 . Martensens Schleiermacher-Kritik läßt sich in drei Schlagworten zusammenfassen, welche Martensen auch in Zukunft als Ketzerhüte benutzt. Solipsismus:142 Durch die Gründung seines Systems im menschlichen 132

133 Au, S. 116f., 123. Vgl. Au, S. 96. 136 Vgl. Au, S. lOOf., 113f. Vgl. Au, S. 128. 136 137 Vgl. Au, S. 117f. Au, S. 117. 138 „ N o n imago veritatis aeternae, ipsa manifestations lucis, sed imago pietatis, cui deest scientia obiectiva i. e. vera lux" Au, S. 123. 139 140 Au, S. 117. Vgl. Au, S. 119-122; L I, S. 77f. 141 „Quamvis non negatur realitas eorum historica, tarnen, id quod gravissimum est, negatur realitas eorum religiosa. Et hie imprimis apparet autarkia illius pietatis, sese dominum domini facientis, suam ideam historiae inferentis, sibi confidentis et sufficientis." Au, S. 121. 142 Vgl. Au, S. 31, 58, 82, 86f., 26f. 134

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Selbstbewußtsein verzichtet Schleiermacher auf die Möglichkeiten spekulativer Erkenntniserweiterung; diese theologia sensus muß bei sich selbst bleiben. Nominalismus143: Der von den christlichen Dogmen umschlossene Gehalt wird nicht nur nicht entfaltet, sondern unter der kritisch reduzierenden Reflexion ihres Inhalts so beraubt, daß nur die bloßen Namen Gott, Schöpfung etc. zurückbleiben. In der unbeirrten Durchsetzung beider sucht Schleiermacher diese vollendete Autonomie des Selbstbewußtseins unanfechtbar, „autark" 144 zu machen. Auf dieser dunklen Folie lassen sich nun Martensens positive Aussagen abheben. Was hat er gegenüber Schleiermacher aufzubieten? Das schon gegen Kant geltend Gemachte kehrt hier verstärkt wieder. Den durch die Heilige Schrift und die kirchliche Tradition übermittelten Dogmen eignet Objektivität und d. h. Positivität 145 . Ihre Objektivität verbürgt ihre Wahrheit; Wahrheit gibt es nur als objektive 146 . Die vollen Aussagen über Gott in seiner ewigen personalitas und somit seiner libertas 147 , über die Attributenlehre 148 , über Inkarnation, Auferstehung und Jüngstes Gericht 149 müssen unverkürzt aufrechterhalten werden. Diese Geheimnisse bleiben einem bloß deskriptiven Verfahren natürlich immer unzugänglich150. Erst die theologische Spekulation vermag in sie einzudringen, sie auszuschöpfen und ins Licht der Erkenntnis zu stellen. Sie wird dazu dadurch befähigt, daß sie Gott als ihr Fundamentalprinzip anerkennt 151 . Diesen Gesichtspunkt hebt der Schlußabschnitt der Schrift („Transitus in autonomiam conscientiae sui humanae sub specie spiritus absoluti conceptae") 152 noch einmal hervor. „Soli creatori, cuius scientia absolute productiva est, cuius productio sui absolute conscia, autonomia et autarkia attribuenda est." 153 Blickt man zurück, so liegt das Eigentümliche, wodurch die Dissertation als Dokument für Martensens Entwicklung wichtig ist, nicht im Ergreifen und Durcharbeiten wirklich neuer Einsichten; die Schrift über Lenaus Faust, wie auch die in Abfassung befindliche über Eckart, sind heimlich präsent. Das Kennzeichnende besteht doch in der Art und Weise, wie Martensen von der beschriebenen Basis aus kritisch vorgeht. Genauer gesagt, im Grunde besteht für ihn gar kein Anlaß zu einer Kritik, die sich mit den Thesen der Gegenseite wirklich auseinandersetzte. Das hält 143

Vgl. Au, S. 69, 128. Vgl. Au, S. 121 (s. o. Anm. 141), 134. 145 148 Vgl. Au, S. 119 f. Vgl. Au, S. 98. 147 148 Vgl. Au, S. 98, 107. Vgl. Au, S. 58. 149 Vgl. Au, S. 117-122. 150 Ygj A U ) s. 82f. „Necesse est, ut homo carceres sensus excedat, ideam obiectivam cogitando amplectatur." Au, S. 120. 151 162 Vgl. Au, S. 98, 108. Au, S. 130ff. 153 Au, S. 134; vgl. S. 130f. 144

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Martensen nicht für nötig: Es genügt die schlichte Entgegensetzung seiner Position gegen die Schleiermachers, um deren Dürftigkeit bloßzustellen. Sie beschränkt sich auf bloße Deskription; sie gelangt nur zu formalen, nie zu qualitativen Aussagen 154 . Martensens spekulatives Überlegenheitsgefühl verhindert das Eingeständnis, daß die Selbstherrlichkeit, die er dem autonomen Selbstbewußtsein, wie es sich bei Schleiermacher ausspricht, zum Vorwurf macht, ja audi durchaus sein eigenes thetisches Vorgehen kennzeichnet. Aber das Charakteristische an Martensens Standpunkt ist gerade diese Erhabenheit, die derartige Zweifel gar nicht erst aufkommen läßt. Sie darf selbstsicher sein, weil sie den Beweis ihrer Kraft in sich trägt. Martensen könnte aber nicht aus Eigenem in dieser Weise gegen Sdileiermacher Front machen; er kann es nur deshalb, weil er — seiner Versicherung, er sei „über ihn hinausgekommen", zum Trotz 1 5 5 — ständig Hegel im Rücken hat. Das hat die obige Darstellung streckenweise schon gezeigt. Und was ist es anderes als ein simplifizierter Hegel, den Martensen zur Geltung bringt, wenn er schreibt: „ Ό Έ γ ώ cogitans non amplius primas partes tenet, sed cogitatio aeterna, in independentia sua ab animo humano, idea absoluta, a deo non diversa, omnia ex semetipso evolvens, ut momenta sua explicans." 158 Sicherlich steht Martensens Hochschätzung Hegels und die Aufnahme seiner spekulativen Gedankenentwicklung im Einklang mit dem durch J.L. Heiberg repräsentierten dänischen Hegelianismus 157 . Diese Konzession an die philosophische Mode ist gerade typisch für Martensen. Anders als Kierkegaard sprengt er mit seinen Anschauungen nie den Rahmen des allgemein Akzeptierten und bewegt sich innerhalb seiner stets so, daß er krasse Konfrontationen umgeht. Jetzt, da Hegel das Feld in Kopenhagen beherrschte, hielt sidi Martensens Berufung auf ihn durchaus innerhalb der aktuellen Diskussion. Die Begeisterung für Schleiermacher, in die 154

Schleiermacher erweist sich damit als Nachfahre des Descartes: vgl. Au, S. 19, 49, 58. 155 >>Je8 troer at vaere kommen ud over Hegel" schreibt Martensen am 27. Januar 1836 aus Wien an Sibbern, bei Arildsen, S. 508, vgl. L I , S. 169; L H , S. 5. — Kierkegaard hat diese Selbsteinschätzung in dem „Streit zwischen dem alten und dem neuen Seifenkeller" persifliert. Dort tritt u. a. ein „Herr Phrase" auf („ein Abenteurer, Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften und Mitarbeiter an allerlei Zeitschriften"), der ständig den Satz wiederholt: „Ich bin über Hegel hinausgekommen; wohin, kann ich jetzt noch nicht so ganz genau sagen; aber hinausgekommen bin ich über ihn." Vgl. S. Kierkegaard, Erstlingsschriften, hrsg. von E. Hirsch (30. Abdg. der Gesammelten Werke), S. 151, 166, 169. 168 Au, S. 131. 167 Vgl. E. Geismar, S. Kierkegaard, S. 78f.; G. Brandes, Gesammelte Schriften, 2. Bd. ( = Skandinavische Persönlichkeiten, 1. Teil), S. 346-402; ders., Gesammelte Schriften, 3. Bd. ( = Skandinavische Persönlichkeiten, 2. Teil), S. 446-453; ferner L I, S. 7. 84

Martensen vier Jahre zuvor so überschwenglich eingestimmt hatte 158 , war wie ein Strohfeuer erloschen. Aber es spielte auch ein persönliches Motiv mit. Martensen hatte 1833 im Blick auf Hegel an Schleiermadier die Frage gestellt, ob „eine philosophische Erkenntnis des Wesens Gottes an sich selbst, des inneren, ewigen Lebensprocesses in Gott möglich sei", und Schleiermadier hatte erwidert: „Ich halte es f ü r eine Täuschung." 169 Schleiermacher hatte also den spekulativen Ideen Martensens eine unmißverständliche Abfuhr erteilt. Hegels Denken aber unternahm es, unter Abwendung von einem kahlen Spiel der Reflexion die objektive Fülle Gottes spekulativ zu entwickeln. Das war es, was ihn, trotz aller Vorbehalte" 0 , geeignet erscheinen ließ, Martensens eigene spekulative Interessen gegenüber Schleiermacher zu vertreten. Hegel erwies Martensen den unschätzbaren Dienst, als geheimer Vollstrecker des Urteils über Schleiermadier sich brauchen zu lassen. In Hegel findet Martensen seinen spekulativen Optimismus verbürgt 1β1 . Er ist ihm der willkommene Gewährsmann f ü r die spekulative Uberbietbarkeit Schleiermachers. Das magische Netz des Hegeischen Systems 162 sollte Martensen audi in der Folgezeit sobald nicht wieder freigeben. b) „Meister Eckart" Anläßlich der Krönung von König Christian VIII. und Königin Caroline Amalie hatte die Universität eine allgemeine Einladung an wissenschaftlich Ambitionierte ergehen lassen, akademische Grade zu erwerben. Martensen, inzwischen akademischer Lehrer, fühlte sich aufgefordert, sich um die Erlangung des theologischen Doktorgrades zu bemühen und beschloß daher, seine während der Auslandsreise 163 gesammelten Exzerpte aus Schriften der Mystiker zu einer Abhandlung über die deutsche Mystik im 14. und 15. Jahrhundert zu verwenden. Er erwirkte durch ein während der Abfassung an den König gerichtetes Gesuch die Erlaubnis, in Abweichung von der akademischen Gepflogenheit statt der lateinischen die dänische Sprache zu gebrauchen. D a ihm aber die Kieler theologische Fakultät, vornehmlich auf Betreiben I.A.Dorners und anläßlich desselben Krönungsfestes, auf Grund seiner Lizentiatenabhandlung den Dr. theol. h. c. verlieh, erübrigte es sidi f ü r ihn, von seinem Ersuchen, dem der König am 20. März 1840 stattgegeben hatte, Gebrauch zu madien. Soviel zur Vorgeschichte von Martensens Schrift „Mester Eckart. Et Bidrag til at oplyse Middelalderens Mystik" 1 6 4 158

159 Siehe oben S. 63ff. L I, S. 81f., 136. 161 Vgl. L I, S. 79. Vgl. Au, S. 135. 162 Vgl. L I, S. 110; S. 78, 83f. 1β3 Besonders in Heidelberg, Wien und Paris, vgl. L I, S. 146f., 192, 249f. 1,1 Vgl. zu diesem Absatz LI, S. 146f.; LII, S. 13; Dornerl, S. 7-17; Arildsen, S. 165-167.

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Der Charakter dieser Schrift ähnelt sehr dem der Abhandlung über Lenaus Faust. Während Martensen beim Verfassen seiner Lizentiatenschrift schon wegen des geforderten Lateins unter dem Zwang zu unpersönlicher Diktion und abstrakter Exaktheit gelitten hatte, kann er sich jetzt wieder fühlbar frei bewegen. So bietet er, wie in seinem ersten Büchlein, ein leichtes Gebilde dar, worin der historische Bezug die Funktion hat, assoziativ ergreifbare Gedanken anzuregen. Er hat sich hier weder dem Ideal historischer Akkuratesse verschrieben, noch legt er übergroßen Wert auf die Schlüssigkeit der Gedankenführung; er will vielseitig anregen, nicht eigentlich eine Überzeugung durchsetzen. Er führt seine Gedanken gleichsam probeweise vor. Diesem, man könnte sagen, essayistischen Ideal, welchem Martensen seiner individuellen Anlage nach zuneigt, kommt nun die Mystik selbst entgegen! Man kann die gesamte Anschauung der Mystik erfassen, ohne sie ganz, d. h. in allen ihren Äußerungen zu kennen. Die Mystik läßt sich, ihrem vollständigen Begriff nach, bereits aus wenigen Textproben entfalten 165 . Martensen demonstriert das durch den Abdruck einiger, aus ihrem Zusammenhang gelöster, mystischer „dicta probantia" 1ββ . Er plant also keine Textausgabe 16? , sondern will die verborgene Aktualität zeigen, welche die Mystik gerade hinsichtlich der gegenwärtig Philosophie und Theologie beschäftigenden Fragen auszeichnet188. Immer deutlicher enthüllt sich das zwischen der Mystik und der Problematik der Gegenwart bestehende Verhältnis: Die Grundanschauungen der Mystik nehmen die Errungenschaften der neueren Spekulation praktisch vorweg. „Antizipation" ist der Gesichtspunkt, unter dem die Mystik dargestellt wird 169 . Es gibt Aussagen der Mystiker, in denen christliche Spekulation nur ihre eigenen tiefsten Wahrheiten wiedererkennen kann 17°. Was an der Mystik bestimmt Martensen des näheren als seiner eigenen Position verwandt? Inwiefern gehen die in der Mystik wirksamen Tendenzen seinen eigenen Intentionen konform? „Die" Mystik — diese Generalisierung ist jetzt also gerechtfertigt — basiert auf der Grundeinsicht, daß es, damit Gott ganz Gott sei, nichts außer ihm geben dürfe. „Praeter deum nihil." Damit beginnt eine Bewegung, in deren Prozeß das Endliche vernichtet wird. Insofern hat man es in der Mystik mit „Pantheismus", genauer: mit „Akosmismus" oder Weltverneinung zu tun 171 . Die Interpretation dieses mystischen Pantheismus durch Martensen ist nun recht aufschlußreich. Er sieht in ihm die erste, 165 „Mystikerners Maneer er nemlig en saadan, at der ikke behoves et stört Antal Skrifter af dem for at laere deres hele Anskuelse at kjende." Eck, S. 17. 1ββ Vgl. Eck, S. 20 ff. 167 Immerhin ist eine Eckart-Predigt im Anhang ganz abgedruckt. 188 lM Vgl. Eck, S. 2. Vgl. Eck, S. 72, 84, 104. 170 171 Vgl. Eck, S. 73. Vgl. Eck, S. 40.

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unmittelbarste Gestalt, in welcher „die Idee" in einem Denken präsent ist, welches, in Abwendung von traditioneller Betrachtungsart, „spekulativen Grund" betreten hat 172 . „Der Akosmismus ist so der generellste Ausdrude für das Freiwerden des philosophischen Geistes von der Endlichkeit, für seinen ersten Flügelschlag und Atemzug im Äther der Ewigkeit." 173 Und zwar gilt das über die historische Reminiszenz hinaus grundsätzlich: Das philosophische Denken muß der Stagnation verfallen, wenn der Pantheismus nicht als ständig belebendes Moment in das System einbezogen wird 174 . Insofern sich der Pantheismus im akosmischen Sinne verstehen läßt, nämlich nicht als abstrakte Negation des Endlichen, sondern als dessen Rückführung auf das Unendliche, repräsentiert die Mystik den völligen Gegensatz zu einer theologischen Betrachtungsweise, welche es mit dem Stehenbleiben auf einem bloß weltlichen und menschlichen Standpunkt bewenden läßt 173 . Unnötig zu sagen, daß Martensen hier in der Mystik die Vertreterin seiner eigenen Interessen erblickt. Ähnlich verhält es sich mit dem, was Martensen — mißverständlich genug — als den „A-theismus" der Mystik bezeichnet. Martensen meint damit das Hinausstreben der Mystik, nicht nur allgemein über „Endlichkeitsbestimmungen", sondern auch über den herkömmlichen Gottesbegriff, demzufolge Gott nur in und auf Grund seiner Relation zur Welt gedacht werden kann. Der wahre, das innerste Mysterium suchende Mystiker strebt über „Gott" und „Welt" hinauszukommen, um das Dritte, beiden vorausliegende, zu ergreifen: die Gottheit als Grund und Möglichkeit der göttlichen Persönlichkeit176. Damit bekundet die Mystik ein beachtliches Zutrauen zum Vermögen des Menschen, in das innerste Geheimnis der Gottheit erkennend einzudringen 177 . Das ist das echt Spekulative an der Mystik, und eben darin weiß sich Martensen mit ihr einig178. In der Mystik sind unaufgebbare christliche Wahrheiten geltend gemacht; aber sie liegen in einer noch rudimentären Form vor, so daß sie weitergebildet und korrigiert werden muß. So läßt sich Martensens zweistufiges Verhältnis zur Mystik bezeichnen. Das wird nun beim Durchschreiten der Hauptdogmen konkret verifiziert. Wenn die Mystik die Schöpfung als für Gott zwangsläufig ansieht, so ist das eine Folge des mystischen Offenbarungsbegriffs: Die Welt ist nötig, damit Gott offenbar werden kann 179 . Erst indem Gott sich mit der Welt als etwas Anderem identisch weiß, wird er sich selbst wirklich objektiv. Zugrunde liegt hier 172

173 Vgl. Eck, S. 39. Eck, S. 41. „Den philosophiske Taenkning strander paa Endelighedens Klippe, den stagnerer i Prosaen, hvis ikke Pantheismens friske Luftning som Prosaens uafbrudte Negation gaaer igjennem Systemet." Eck, S. 39. 178 178 Vgl. Eck, S. 42f. Vgl. Eck, S. 49. 177 178 Vgl. Eck, S. 52. Vgl. Eck, S. 49. 179 Vgl. Eck, S. 85 f. 174

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die so wichtige Distinktion zwischen Gottes SelbstofFenbarung und seiner Offenbarung in der Welt. Damit hat die Mystik einem „platten Theismus" gegenüber unbedingt recht 18°. Unrecht hat sie darin, daß sie, entsprechend ihrem Hang zur Unmittelbarkeit, den Offenbarungsfokus Gottes vorschnell in die Seele des einzelnen Mystikers verlegt 181 . Vorschnell deshalb, weil sie dadurch die Lehre vom „Mittler", die Christologie als reale Offenbarungsgeschichte182, ausscheidet. Auf dem Bestreben, diesen Fehler zu vermeiden, ohne die berechtigten Intentionen der Mystik aufzugeben, beruht nun die Zentralstellung, die Martensen dem trinitarischen Dogma zuweist. Es übernimmt den Platz, den in seinem Denken bislang die Relation Schöpfer-Geschöpf innehatte. Dieser Stellenwechsel markiert eine in seinen bisherigen Entwürfen gegenüber neue Phase. Mit der Vorordnung der Lehre der Trinität hat Martensen sein dogmatisches Schema gefunden. Martensen spricht nunmehr vom „Standpunkt der Trinität" aus 183 . Die spekulative Ausdeutung des Trinitätsdogmas gestattet es, das von der Mystik angebahnte Wissen von der Selbstoffenbarung Gottes vor aller Schöpfung 184 konkret zu entfalten. Gott kann in seinem unendlidien Selbstobjektivierungsprozeß 185 nicht bei sich bleiben: seine Selbstoffenbarung involviert auch das Offenbarwerden am „Anderen" und damit dessen relative Subsistenz18e. Gott kann jedoch in der subjektlosen Natur sein Anderes nicht finden; der Welt fehlt das absolute Selbst, die „Zentralpersönlichkeit" 187 . An dieser Stelle werden der Trinitätslehre christologische Sätze eingeordnet. „Erst wenn der sich in seiner Offenbarung suchende Gott sich im ewigen Auge des Sohns spiegeln kann, hat er seine Selbstoffenbarung wirklich gefunden." 188 Der Sohn, nicht die Welt, ist also das „erste Negative" im Wesen der Gottheit. Die Welt ist als das zweite Negative zu denken, als alteram dei filii, das den Sohn als sein positives Prius voraussetzt 189 . Die letzte Aussage läßt sich dahingehend umkehren, daß ohne die Welt der Sohn Gottes nicht seinem „Begriff" innerhalb des göttlichen Wesens entspricht, weil dieser die Einung von göttlicher und nicht-göttlicher, also kosmischer Natur verlangt 190 . Der Sohn, der in der menschlichen Natur offenbar wird, als Versöhner des Universums aber seine göttliche Natur nicht aufgibt, ist so das wahre, persönliche Nicht-Ich, welches den Vater sucht191. — Erst unter Voraus180 182 184

181 Vgl. Eck, S. 88-90. Vgl. Eck, S. 89 f. 183 Vgl. Eck, S. 116, 124. Vgl. Eck, S. 95. „Det horer Gud til, at han . . . erkjender og elsker sig selv, aabenbarer sig

for sig selv, og denne Aabenbaring og Erkjendelse er endnu i Gud uden Skabning." Eck, S. 88. 185 187 188 181

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Eck, Eck, Eck, Eck,

S. 91. S. 91, 93. ebd. ebd.

188 188 190

Vgl. Eck, S. 92. Vgl. Eck, S. 94. Vgl. Eck, S. 95.

setzung dieser Bewegung, aber dann auch mit vollem Recht erhält der Satz der Mystik, ohne die Welt sei Gott nicht Gott, christliche Gültigkeit 192 . Das ewige Zusammenspiel zwischen Vater und Sohn nennt Martensen dann kurz den Heiligen Geist 193 . Damit ist der theogonische Prozeß, durch welchen sich Gott ewig selbst hervorbringt, nachgezeichnet. Martensen ist hier bereits der Ansicht, ihm entspringe die Trinitätslehre „mit innerer Notwendigkeit" 194 . Das militärische Dogma dient also als Interpretament für das spekulative Begreifen des Prozesses in Gott. Dabei ordnen sich die Lehren von Schöpfung und Inkarnation der trinitarischen Bewegung ein. Schöpfung und Menschwerdung bezeichnen Momente im sie umgreifenden und aus sich heraussetzenden trinitarischen Prozeß 195 , wobei insofern eine Umkehrung eintritt, als die Schöpfung erst als Resultat der Inkarnation erscheint. In seiner Dogmatik wird Martensen das alles weiter ausführen. Aber noch übertreffen die negativen Abgrenzungen die positiven Aussagen an Deutlichkeit. Martensen meinte, durch das trinitarische Dogma eine Handhabe gegenüber der mystischen Theorie gewonnen zu haben, in welcher die Idee des Vaters in ein farbloses Pleroma verfälscht sei und die die Idee der Inkarnation durch Abstreifen aller konkret-historischen Züge an der Persönlichkeit des Sohnes aufgelöst habe, so daß ein blasses „Wesen" Christi zurückblieb. Schließlich sei durch den gänzlichen Abbau des Gemeindegedankens das reiche Leben des Geistes auf das Ahnen und Fühlen der Subjektivität reduziert worden 19β . D. h.: Die Mystik repräsentiert den unversöhnten Gegensatz zwischen Allgemeinheit und Einzelheit; sie repräsentiert damit den Begriff des Mittelalters 197 . Mysterium und Offenbarung verharren in der Trennung 198 , bzw. Gott und Mensch werden unmittelbar, pantheistisch, vermengt. Anstatt ordentlicher Entfaltung herrscht Unvermitteltheit. Die Kritik richtet sich zugespitzt auf „die einseitig asketische Selbstbeschäftigung, die alles Andere vergißt" 19e . Die Mystik erweist sich mit ihren genannten Fehlern als Frucht des Katholizismus 200 . Aber es ist doch nicht eigentlich die reformatorische Gegenposition, von der aus Martensen auf die Mystik als eine überwundene Phase herabblickt. Die theologische Sprache, deren sich Martensen im Schlußteil bedient, hat nur akzidentellen Charakter. Das unverändert spekulative Interesse greift auf die dogmatischen Formeln über und madit sich ihre Aussagen dienstbar. Der rechtfertigende Glaube der lutherischen 182 Vgl. Eck, S. 95. „Den treenige Gud kan ikke undvaere Mennesket." Eck, S. 96. 193 „Det er en evig Udgang og en evig Indgang . . . Faderens og Sonnens Sammenspil er den Hellig Aand." Eck, S. 97. 195 Vgl. Eck, S. 92. Vgl. Eck, S. 98. 187 "» Vgl. Eck, S. 116-119. Vgl. Eck, S. 54, 137, 139, 142f. 198 Vgl. Eck, S. 146. Vgl. Eck, S. 145. 200 Vgl. Eck, S. 139. 89

Theologie, der Christi historische Wirklichkeit als seine unabdingbare Voraussetzung anerkennt 201 und sich damit das ganze Feld des Konkreten zueignet, welches die Mystik überspringt 202 , repräsentiert die „vermittelte" Versöhnung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen 203 . Mit dieser Feststellung glaubt Martensen „das Prinzip der Reformation" auszusprechen204. Der historische Zeuge dafür, welche Gestalt die berechtigten Motive der Mystik nach dem Ausscheiden ihrer Mängel durch die Anwendung dieses reformatorischen Prinzips annehmen müssen, ist J.Böhme. Er hat als echtes Kind der Reformation 205 den Uberschritt von der Mystik zur Theosophie vollzogen. Seine theosophische Schau bringt die „Meditation", die Aufhebung des Unmittelbaren, voll zur Geltung. Der Fortschritt, der die Theosophie vor der Mystik auszeichnet, erhellt daraus, daß die mystische Einheit von Religion und Philosophie „subjektiv-praktisch", die der Theosophie „objektiv-theoretisch" ist 206 . Hier wird erstens deutlich, daß die Hervorhebung des „Objektiven" (noch) nicht als Reaktion auf einen fühlbar gewordenen christlichen Substanzverlust im kirchlichen Leben motiviert ist, sondern abstrakt-philosophischem Bemühen um die spekulative Ausweitung der Basis menschlichen Erkennens entstammt. Insofern ist Martensens Hauptanliegen unverändert geblieben. Der Schluß der Schrift enthält eine Polemik gegen den frühen Schelling und seine Schule: In dem Versuch, die Begriffseinheit von Religion und Philosophie unter Aussparung des Reflexionsmomentes herzustellen, zeigt sich ein Zurückgesunkensein auf den Standpunkt der Mystik. Man vergißt, daß die durch die Reflexion vollzogene Aufhebung der Unmittelbarkeit notwendiger Durchgangspunkt auf dem Wege zur Gewinnung des Begriffs ist 207 . Es zeigt sich zum anderen, daß Hegels Einfluß auf Martensen noch zugenommen hat. Wenn Martensen das, was die Mystik als „Akosmismus" und „Atheismus" charakterisiert, zurückführt auf die sich darin ausprägende Vereinigung von Philosophie und Religion und dann ihr Hervorgebrachtsein bloß durch die mystische Subjektivität bemängelt 208 ; wenn er den Finger darauf legt, daß die Unmittelbarkeit, die Selbstidentifikation, in der der Mystiker das Mysterium erlebt, dessen weitere 201

Vgl. Eck, S. 125,139. „Christendommen indeholder den uendelige Forening ikke blot af det almeen Menneskelige, men af den empirisk, individuell Menneskelige med det Guddommelige." Eck, S. 66. 203 Eck, S. 143. „Reformationens Princip . . . er Forsoningen af det Almindelige og det Enkelte, af Samfundet og Individet." „Det Negative optraeder i sin fulde Kraft, det Enkelte indsaettes i dets christelige Ret og Betydning." Eck, S. 146. 2M 205 Vgl. Eck, S. 143 Vgl. Eck, S. 145. 208 207 Vgl. Eck, S. 146 f. Vgl. Eck, S. 147. 208 Vgl. Eck, S. 56. 202

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Ausfaltung entbehrlich werden läßt und demgegenüber (immer auch mit einem Seitenblick auf Schelling) hervorhebt, nur das entfaltete Mysterium oder (!) die Offenbarung als alle Negationen in sich begreifende könne die Wahrheit enthalten 209 ; wenn Martensen an der unmittelbaren Einung von Religion und Spekulation tadelt, dadurch würde sowohl unmöglich werden, die Religion als Objekt der Spekulation zu fassen, wie auch, die Spekulation zum Objekt ihrer selbst zu machen 210 ; wenn er betont, die Negation, der Gegensatz sei in jedem System, das nicht Ausdruck öder Leblosigkeit sein wolle, ein unverzichtbares Moment 211 ; wenn er von da aus auf das Unfreie der Mystik hinweist und es aus dem Fehlen eben jener klärenden Gegenüberstellung herleitet 212 , — so liegt auf der Hand, daß es Hegeische Denkmodelle sind, an denen Martensen die Mystik mißt. Es gibt zwei Arten, die Begreifbarkeit Gottes zu bestreiten, sagt Martensen, einmal durch die rationalistische These, alle menschlichen Begriffe seien als nur endliche dazu nicht geeignet, und dann durch die Anschauung der Mystik, dergemäß Gottes Unbegreiflichkeit zu seiner Eigenschaft wird 213 . Martensen hat sich durch Hegel 214 darin bestärken lassen, daß der Verzicht, in Gott spekulativ einzudringen, weder dem Wesen Gottes, noch dem menschlichen Denken angemessen sei. Hegel hat den geistigen Boden bereitet, auf welchem Martensen, der ja nie solitär gedacht hat, seine spekulativen Früchte ernten konnte. Uber Schelling freilich war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die Kritik an Schelling, die Martensen hier im „Meister Eckart" übte, bezog sich auf das Identitätssystem — die tiefgehende Wirkung der positiven Philosophie Schellings auf Martensen sollte erst später sichtbar werden 215 . 3. Martensen im Banne Hegels — das erste „System" („Grundriß zum Studium der Moralphilosophie") Frederik VI. hatte am 21. April 1838 Martensens Universitätsanstellung als Lektor in der theologischen Fakultät gebilligt. An dieses Lektorat war die Verpflichtung geknüpft, an Stelle des verstorbenen Professors für Philosophie, Poul Moller, für die zum philosophischen Examen sich vorbereitenden Studenten Vorlesungen über Moralphilosophie zu halten 216 . Bis zum Jahre 1841, in welchem Rasmus Nielsen mit der vakanten 208

„Aabenbaringen er System, articuleret Logos, uendeligt Begreb, hvis dybeste Udtryk er Selvbevidsthed, Personlighed." Eck, S. 52. 210 Vgl. Eck, S. 56. 211 „Idet Mysteriet bliver aabenbart, befrier det sig fra sin Modsigelse o g udvikles til Begreb." Eck, S. 53. — Eben diesem Prozeß hat sich die Mystik verschlossen: „I sin substantielle Identitet med sig selv er den mystiske Bevidsthed sig selv en usigelig Hemmelighed, et taust Mysterium." Eck, S. 57. 212 Vgl. Eck, S. 57. »w Vgl. Eck, S. 58f. 214 215 218 Vgl. Eck, S. 50, 57. Vgl. L II, S. 6. Vgl. L II, S. 3.

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Professur betraut wurde, hat Martensen vier Sommersemester Ethik traktiert. Die Quintessenz dieser Kollegs findet sich in dem „Grundrids til Moralphilosophiens System. Udgivet til Brug ved academiske Forelaesninger, Kjobenhavn 1841. Dieser Grundriß ist zwar eine Gelegenheitsschrift. Er befindet sich etwas außerhalb von Martensens wissenschaftlichen Intentionen. Seine Hauptinteressen galten in jener Zeit ja ganz der spekulativen Dogmatik 2 1 7 . U n d diese „kleine" Ethik liegt in der T a t im Schatten des Interesses an der theologischen Spekulation. Gerade so aber ist sie wichtig als ein Vorläufer 2 1 8 der 30 Jahre später erschienenen „großen" Ethik, wichtig auch zur Beantwortung der Frage, ob sich die Ethik von 1871 von der spekulativ-dogmatischen Bevormundung ihrer Vorgängerin freimachen und selbständig werden konnte. Der „Grundriß" soll daher jetzt selbst, als Martensens erstes System, ausführlich zu Wort kommen. a) Inhalt und Aufbau Martensen beginnt mit einleitenden Betrachtungen über den Begriff der Moralphilosophie. Dieser Begriff kann wegen seiner Kongruenz mit der voll entfalteten Wissenschaft selbst nicht dem System vorangestellt werden; erst im abgeschlossenen System erweist sich der Begriff als das, was er ist 2 1 9 . So gewiß freilich die Moralphilosophie die konkreten Gestalten der Sittlichkeit voraussetzen muß, um an ihnen die Begriffsentwicklung anfangen zu lassen , so beschädigt doch dies Faktum ihrer Nachgängigkeit gegenüber den in den verschiedenen Religionen und Volkstümern ausgeprägten sittlichen Formen keineswegs ihre Selbständigkeit als philosophisch erzeugte Disziplin. Die Moralphilosophie geht nach dialektischer, begreifender Methode, nidit nadi deduzierender, vor. Sie versteht jede einzelne Aussage erst als Glied der Ganzheit. Indem jeder einzelne ethische Satz als Moment der Gesamtbewegung gesehen wird und so seine relative Wahrheit findet, ergibt sich die Totalerkenntnis oder „der Begriff" 2 2 1 . N u n bestimmt Martensen die Ethik in Abgrenzung gegen die Religionswissenschaft, für die das Gute bereits in der Versöhnung mit Gott und Welt real ist, und gegenüber Anthropologie und Rechtslehre, welche das Gute und die Freiheit isoliert als innere Anlage, bzw. als äußerliche Gegebenheit sehen als die „Wissenschaft von dem Guten, soweit es als die unendliche praktische Aufgabe für den Menschen gesetzt ist und verSiehe oben S. 40f.; vgl. L II, S. 4, 14f.; Arildsen, S. 142ff. „Skjont naermest besternt for det philosophiske Cursus, vil det . . . tillige forelebigt kunne benyttes af mine theologiske Tilharere, indtil jeg seer mig istand til at forelaegge disse en Laerebog, udarbeidet efter en storre Maalestok, med besternt Hensyn til Moralens theologiske Momenter." Gr, S. III. 219 Vgl. Gr, § 1. 220 Vgl. Gr, § 2. 221 Vgl. Gr, § 6. 222 Vgl. Gr, §§3-5. 217

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wirklicht wird durch das ideale Streben des freien Willens" 223 . Die Ethik betrachtet das Gute in seinem Ubergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit; weil dieser sich in der freien Selbstbestimmung des Willens vollzieht 224 , muß die Lehre über die menschliche Willensfreiheit als Voraussetzung der Moralphilosophie angesehen werden 225 . Denn da das Selbstbewußtsein des Geistes das seiner Freiheit in sich schließt, ist eine Äußerung des Geistes nur als Freiheitsakt denkbar 2 2 6 . Indem der freie Geist die Verwirklichung des Gedankens zum Selbstzweck macht, bestimmt er sich als der frei wollende 227 . Als solcher ist er der „wesentliche Wille". Insofern er nun subjektiver Einzelwille werden muß — erst in dieser Vereinzelung übrigens kann sein Hang zum Bösen entstehen —, wird er durch seine individuell-natürliche Ausbildung begrenzt. Die ihm entstehenden zwei „Antinomien", die sich aus dem Verhältnis des Einzelwillens zu seiner Naturbestimmtheit einerseits, zum göttlichen Willen andererseits ergeben, werden im ersten Fall so gelöst, daß die Natur als Dienerin des Geistes verstanden wird 2 2 8 , im zweiten dahingehend, daß der Mensch in der Ausführung des Willens Gottes zugleich den eigenen wesentlichen Willen durchsetzt 229 . Damit ist der freie Wille nach seinen Grundmomenten bereits bestimmt. Die ihn verneinenden Positionen — „Indifferentismus, Determinismus, Fatalismus" — werden als falsdie Vereinseitigungen je eines Pols der oben genannten Antinomien geschildert23®. Zwar eignet ihnen eben daher eine gewisse Gültigkeit, aber sie verabsolutieren eine nur partielle Wahrheit. Dieselbe wird „aufgehoben" in der den freien Willen bekräftigenden (!) Lehre von der göttlichen Vorsehung, in deren Begriff göttliche und menschliche Freiheit sich einen 231 . Die genauere Fassung der Idee des Guten zeigt des weiteren, daß das Gute nicht nur Ziel des freien Willens, sondern auch sein Fundament ist. Im Grunde, d. h. in Gott, ist der freie Wille ja mit dem Guten identisch. Indem aber der göttliche Wille sich offenbart, um sich dem Menschen wesentlich mitzuteilen, muß als das Gute genauer bestimmt werden die Einheit des menschlichen mit dem göttlichen Willen. Dieser Begriff des Guten ermöglicht überhaupt erst den subjektiven Einzelwillen und ist ihm zugleich der Inbegriff seiner Bestimmung 232 . 224 Vgl. Gr, § 4. Gr, § 1. Vgl. die Überschrift über Gr, §§ 7 ff. 228 Vgl. Gr, § 8. 227 Vgl. Gr, § 9, Anm. 228 „Den ydre Natur har kun den Betydning at vaere Element og Bygningsmateriale til Aandens Tempel." Gr, § 11. 228 Vgl. Gr, § 12. 238 Vgl. Gr, § 13ff. 231 „De naturlige og historiske Skranker er kun forsvindende Momenter i Forsynets Idee og Midler i den teleologiske Verdensstyrelse." Gr, § 19. 232 Vgl. Gr, § 20. 223

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Aus der Wesenseinheit des Guten und des freien Willens entspringt schließlich die dritte noch für das ethische System erforderliche Idee: die der Persönlichkeit. Indem der Wille sich zum Guten in ein wirkliches Verhältnis setzt, ist er das frei wollende Ich, welches im Ubergriff über die empirischen Lebensumstände sich selbst zum Guten als der „Totalidee" bestimmt. Dies aber ist nichts anderes als die Selbstbestimmung zur Persönlichkeit233. — Damit kann das eigentliche System der Moralphilosophie seinen Anfang nehmen. Es ist dreigeteilt: das Gute als Gesetz, als Ideal, als Reich der Persönlichkeit. Auch in den Unterteilungen herrscht durchweg der Dreitakt vor. A. Das Gute als Gesetz Nachdem zunächst ein Einvernehmen darüber hergestellt ist, daß das moralische Gesetz im eigentlichen Sinne noch nicht in den Bräuchen von Volks- und Familiensitte bestehe, sondern erst, wenn es nach Überwindung bloß äußerlicher Autorität selbstbewußt geworden sei234, wird erstens „das innere Verhältnis des Gesetzes zum Willen" besprochen. Unter dieser Überschrift kommen die Themen „Pflicht", „Gewissen" und „Grenze der Pflichtbestimmung (adiaphora? opera superergatoria?)" zu stehen235. Im zweiten Schritt geht es dann um „die Selbstbestimmung des Willens im Verhältnis zum Gesetz". Hier erörtert Martensen „Handlung und Zurechnung", übrigens ohne ein Wort über den unfreien Willen zu verlieren — es gibt kein echtes Handeln, es sei denn das selbstbewußte 236 . Drittens endlich: „Der Streit und die Versöhnung des Willens mit dem Gesetz." 237 „Streit" meint dabei Sünde, und zwar gehört die hier einschlägige Lehre vom Bösen nicht eigentlich zur Ethik, sondern in den Bereich der theologischen Spekulation. Gleichwohl ist auch die Moralphilosophie nicht so sehr an dem individualethischen Problem interessiert, sondern faßt das nur spekulativ zu lösende des Urgegensatzes zwischen Gut und Böse in den Blick23S. — Auf dem Weg vom Streit zur Versöhnung bezeichnet die Reue — das übersehen Fichte und Spinoza, die ihren sittlichen Rang bestreiten — den notwendigen Durchgangspunkt 230 . Die Umkehr ist die Geburtsstunde des neuen Menschen, in welchem das Gute zur Natur des Willens geworden ist. Das Verhältnis des Willens zum Guten ist nicht mehr eines der bloßen Abhängigkeit, sondern der Identität: „die Pflicht ist versöhnt mit der Freiheit." 240 Das Gute kann jetzt als Ideal dargestellt werden. Zuvor jedoch noch eine Zwischenbemerkung. Die Grenzen und die Vorzüge dieses Grundrisses lassen sich daran ablesen, daß der eben skizzierte 233 235 238 240

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Vgl. Gr, § 21. Vgl. Gr, §§ 26-33. Vgl. Gr, § 36. Gr, § 43, Anm.

236

231 Vgl. Gr, § 24. 237 Vgl. Gr, § 34f. Vgl. Gr, §§ 36^3. 239 Vgl. Gr, § 42, Anm.

Abschnitt Α. bei Martensen 20 kleine und meist nur zur Hälfte bedruckte Seiten ausmacht und daß häufig ganze Problemkreise auf einer solchen Platz haben. Vergegenwärtigt man sich diese Raffung, so ist klar, daß über den Raum, welchen die bloße Nennung der Themen und die Hinweise auf ihre Zusammenordnung einnehmen, hinaus inhaltliche Näherbestimmungen kaum in Frage kommen. Wo dies der Fall ist, dort ist freilich besondere Aufmerksamkeit indiziert. Solche Ausbuchtungen sind jedoch erst richtig einzuschätzen, wenn das ganze System vorgestellt ist. B. Das Gute als Ideal Es prägt sich aus 1. als göttliches Ideal. Da es, wie schon erwähnt, die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur voraussetzt, müssen die Versuche, die Vereinigung von Gott und Mensch mystisch oder moralisch darzustellen, als Vereinseitigungen zurückgewiesen werden 241 . Die Wahrheit liegt in der persönlichen Einheit von Gott und Mensch, wie sie in Christus auf nicht nur willentliche, sondern wesentlich-metaphysische Weise besteht 242 . Das durch Christus repräsentierte religiöse Ideal kann zum Vorbild einer Nachfolge im irdischen Handeln werden. Damit aber geht es ein in die großen Zusammenhänge des Weltlebens243. 2. Das weltliche Ideal. Der wahre Glaube an das religiöse Ideal führt dazu, die Entwicklung der Welt als die des Reiches Gottes zu betrachten. Um aber selbst Moment in dieser Entwicklung zu werden, ist für das Individuum lebendige und allseitige, keineswegs nur auf die Religion beschränkte Teilnahme und von da aus Weiterbildung innerhalb der weltlichen Sphäre erforderlich. Dies aber setzt die Kenntnis des gegenwärtigen Standes der Entwicklung voraus 244 . So nimmt Martensen unter der Uberschrift (1) „Das Gegenwärtige und das Zukünftige" Hegels Polemik gegen eine subjektive Willkür auf, die das gegenwärtig geschichtlich geltende Ideal überfliegen will; aus ihr sind alle chiliastischen Erwartungen hervorgegangen245. (2) „Optimismus und Pessimismus" bedeuteten, konsequent behauptet, wiederum Absolutsetzungen zweier relativ gültiger Thesen246. Sie werden widerlegt und aufgehoben durch die romantische Christentumsauffassung. Dieser Passus (3) „Die romantische und die humoristische Weltanschauung" ist einer derjenigen, welche durch ihren Umfang wie durch ihr spürbares Engagement aus dem Rahmen fallen. Von ihm soll später im Zusammenhang die Rede sein. Jedenfalls wird erst durch die Verwirklichung des „Weltideals", indem das Individuum durch die Bewältigung der Probleme der Weltgestaltung 241

242 Vgl. Gr, § 49 mit Anm. Vgl. Gr, § 50. 244 Vgl. Gr, § 51. Vgl. Gr, § 52. 246 Vgl. Gr, § 53 mit Anm. 248 „Saavel Optimismen som Pessimismen tilintetgjore al energisk Straeben og fornaegte den sande Tro paa Idealet."(!) Gr, § 54. 243

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zu sich selbst gefunden hat, 3. das Ideal der Individualität erreicht247. Wiederum wird es im Dreierschema näher entfaltet, und zwar erstens unter dem Thema „Seligkeit und Tugend". In der ethisdien Betrachtung sind beide identisch. Die Tugend gestaltet sich im Charakter; er ist das Organ für das Allgemeingültige. Nur insoweit die „objektiven Lebensmächte" sich in ihm geltend machen, kann Tugend sich ausbilden248. Zweitens folgt die Frage nach dem rechten Verhältnis von „Arbeiten und Genießen". Sie wird dahin entschieden, im sittlichen Leben müßten sich beide rhythmisch abwechseln. Fichte auf der einen, Schlegel auf der anderen Seite verkörpern die unguten Extreme, Goethes praktische Weisheit die harmonische Vereinigung beider249. Als drittes wird die Antinomie „Freiheit und Abhängigkeit" vorgestellt250 und im christlichen Standpunkt 251 die Beseitigung weltlicher Leichtsinnigkeit und pietistischer Skrupulösität behauptet252. Gegen letztere — auch dies ist ein Ausbrechen aus dem gleichmäßigen Gang der Schrift — zieht Martensen energisch zu Felde. Auf dem Standpunkt des Ideals darf kein Lebensmoment bloßes Mittel, sondern muß zugleich unendlicher Selbstzweck sein. Ihre höchsten Zwecke aber findet die Tugend in Familie, Staat und Kultur und im Gemeindeleben. Deshalb können sie auch als die einzig legitimen allgemeinen Beförderungsmittel der Tugend anerkannt werden253. Damit ist der Übergang zur letzten, höchsten Stufe angebahnt. C. Das Gute als Reich der Persönlidieit Zunächst wird noch einmal das Doppelte bekräftigt: Die objektiven Lebensmächte Familie, Staat (mit der zugehörigen nationalen Kultur) und kirchliches Leben üben für das Individuum vermittelnde Funktion aus, insofern es sie zur Realisierung seiner persönlichen Vollkommenheit benötigt. Und: In den genannten überpersönlichen Lebenskreisen wirken ewige, durch sich selbst gültige Mächte, welche dem Individuum Ehrfurcht und Aufopferung abverlangen254. Sodann geht es 1. um das Reich der Persönlichkeit in seiner unmittelbaren Wirklichkeit, d. h. um die Familie. In Bezug auf die Ehe findet das sattsam bekannte Verfahren 255 erneut seine Anwendung: Ebenso verfehlt wie das Uberbetonen der natürlichen ist die Überschätzung der geistigen Seite der Ehe256. Die „Antinomie" zwischen Neigungsehe und Vernunftheirat löst sich auf im „Begriff" der Ehe, welcher beide Seiten in sich vereint257. Sie erweitert sich auf dem Boden der jeweils erreichten Bildung über den engeren Hausstand hin847

248 Vgl. Gr, § 59. 261 Vgl. Gr, § 68. 253 254 Vgl. Gr, § 77. 255 Noch in der großen Ethik Mitte zwischen Einbalsamierung 2M Vgl. Gr, § 82. 260

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249 Vgl. Gr, § 61. Vgl. Gr, § 65. 252 Vgl. Gr, § 71. Vgl. Gr, § 75. Vgl. Gr, § 79. führt es zu Sätzen wie dem, das Begräbnis sei die und Verbrennung, Ε II, S. 327f. 857 Vgl. Gr, § 84, Anm. 1 und 2.

aus258 und öffnet sich auf Grund persönlich bestehender Sympathien weiteren Lebenskreisen — Gastfreiheit, Freundschaft, geselliges Leben 259 . In ihnen lebt als gemeinsames Element die Bildung; und die Erwägung, daß sie ihrerseits durch die politischen und kulturellen Zustände des Zeitalters bestimmt werden 260 , führt dann herüber zum 2. Abschnitt, der das Reich der Persönlichkeit in seiner reflektierten Wirklichkeit behandelt. Das Individuum schaut in der Außenwelt das Ideal des Guten in einer relativen Gegensetzung gegen sich an; der subjektive Wille hat es nicht mehr in sich, sondern das Gute begegnet ihm jetzt „indirekt", als ein anderes, außer ihm befindliches. Es muß reflektiert, d. h. aufgehoben und widergespiegelt werden 261 . Das Recht der Individuen auf allgemeine Freiheit wird im Staat durch ihre „systematische" Begrenzung gesichert. Die notwendige Gliederung gewinnt Gestalt in den Ständen und im Verhältnis Obrigkeit-Untertanen 262 . Mit dem Begriff des Staates hängt der des Volkes unlöslich zusammen, und insofern die Nationalität die äußerliche Bedingung dafür ist, daß sich das Individuum das Universelle zueignen kann, eignet der Nationalität Heiligkeit. — Die Vermittler des Absoluten haben teil an seinem Glanz 263 . Weil nun der Volksgeist sich in Kunst, Wissenschaft und Religion des Unendlichen bewußt wird, muß der Staat an ihnen als Gegenständen seiner Zwecksetzungen Interesse haben, so aber, daß er damit zugleich ihre innere Unabhängigkeit anerkennt. Das jedoch bedeutet das Eingeständnis, etwas voraussetzen zu müssen, und dadurch weist der Staat über sich hinaus 264 . Die Kunst stellt zwar nur eine Scheinwelt dar, aber es ist das Ideal, die Freiheit, welche ihr „erscheint", und die verschiedenen Künste gliedern sich entsprechend der Vollkommenheit, in der sie das Ideal ausprägen 265 . Die Bestimmungen, mit welchen Martensen alsdann das Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik faßt, bezeugen wieder eine auffällige Anteilnahme an diesem Problem; auch hiervon soll noch die Rede sein. Das in der Kunst nur „phänomenal", nicht wesentlich präsente Ideal 266 legt in der Wissenschaft seinen Schein ab. Die Persönlichkeit wird sich jetzt — in der reinen Form des Begriffs — selbst objektiv. In der begreifenden Erkenntnis bestimmt sich die Wissenschaft als „Idealismus" 267. Die verschiedenen Glieder eines durchgeführten idealistischen Systems 268

269 Vgl. Gr, § 85. Vgl. Gr, § 86. 281 Vgl. Gr, § 87. Vgl. Gr, § 88. 262 263 Vgl. Gr, § 88. Vgl. Gr, § 90, § 92 Anm. 284 Vgl. Gr, § 93. 285 In der Poesie hat die Kunst ihre Spitze erreicht, „den har Personligheden selv til sit Indhold". Gr, § 95. 288 287 Vgl. Gr, § 96, Anm. Vgl. Gr, § 98. 280

7

Brandt, Gotteserkenntnis

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(spekulative Logik, Naturphilosophie, Geistesphilosophie) bedeuten „relative Totalformen" für die Darstellung der Freiheit als des Absoluten 268 . Betont wird, daß das Interesse der Wissenschaft an ihren Gegenständen kein subjektiv persönliches sein könne. Nur die reine Theorie ist der Wissenschaft angemessen. In der Abblendung aller praktischen Zwecke, in ihrer durch nichts irritierten Ausrichtung auf Logik und Metaphysik behauptet die Wissenschaft ihre Unabhängigkeit gegenüber den Bedürfnissen von Staat und Kirche269. Wird die Wissenschaft zum Mittel für Staatszwecke, so folgt daraus „praktische Barbarei"; als Mittel für die Kirche verödet sie zur Scholastik, bzw. zum Pietismus270. Unerachtet dessen freilich, daß die Ethik theoretische Wissenschaft sein muß, birgt sie in sich doch überall das „argumentum ad hominem", nämlich die Aufforderung, das gedachte Ideal im persönlichen Leben zu verwirklichen. Die wissenschaftliche Theorie entläßt aus sich den Impuls zu praktischem Handeln. „Der reine Gedanke muß im reinen Herzen wiedergeboren werden; der Idealismus des Gedankens muß sich in den des Willens verwandeln." 271 — Der ideale, persönliche Wille aber, in welchem die gesamte Welt der Objektivität als im Brennpunkt zusammengefaßt ist, enthält eine ihn begründende Voraussetzung: die durch Christus gestiftete Versöhnung. Das vorchristliche Heidentum verkannte dies „Mysterium des Willens", indem es das politische, ästhetische und wissenschaftliche Ideal absolut setzte. Es vermochte nicht, die Herrlichkeit der Welt zurückzunehmen in das reine Herz. Erst im Leben der christlichen Gemeinschaft wird das Geheimnis des persönlichen Willens enthüllt. Damit ist der Ubergang zum letzten Abschnitt angezeigt. Er bildet Spitze und Abschluß des Systems: 3. Das Reich der Persönlichkeit in seiner absoluten Wirklichkeit — die Gemeinde — das Reich Gottes als solches. Seit in Christus der heilige Wille sich der Historie anheimgab, breitet Gottes Reich sich aus. „Die Gemeinde des Herrn ist das Allerheiligste der Schöpfung, der Punkt, wo die Entwicklung der Welt ihren Abschluß erhält." 272 Dadurch, daß die Kirche im Gang der Geschichte sich zu einer bestimmten Konfession und Kultusform ausprägt und zugleich ein Verhältnis mit dem Staat eingeht, verliert sie ihre Unsündlichkeit und macht sich schuldig273. Die „Welt" muß sich in Selbständigkeit als etwas „Anderes" als das Reich Gottes entwickeln können, sonst kann es sich nicht als ihr Zentrum offenbaren. Die freie, selbständige Entfaltung von Staat, Kunst und Wissenschaft wird zur Bedingung und Gewähr für die Wesenserhaltung der Gemeinde 274 . Staat und Kirche müssen getrennt je ihr eigenes Prinzip entwickeln. Das christliche Prinzip prägt 288 270 272 274

98

Vgl. Gr, § 99. Vgl. Gr, §§ 101 f. Gr, § 105. Vgl. Gr, § 107.

2ββ 271 273

Vgl. Gr, § 100. Gr, § 103. Vgl. Gr, § 106.

sich nicht nur in religiöser Form aus 275 . Der Konfessionsunterschied hängt mit der Eigentümlichkeit der Nationalitäten zusammen: Der Katholizismus wird dem südlichen, der Protestantismus dem nördlichen Volkstyp zugewiesen276. In Predigt und Sakrament ist Gottes Reich unmittelbare Gegenwart. Dabei darf die Predigt nicht mit spekulativ gewonnener Erkenntnis, dürfen die Sakramente nicht mit ästhetischer Sinnbildlichkeit verwechselt werden 277 . Der letzte Satz des Grundrisses lautet: „Die unmittelbare Gegenwart des Reiches Gottes im Kultus enthält zugleich die Verheißung des ewigen Lebens als des zukünftigen. An die Verheißungen der Religion knüpfen sich die ethischen Verpflichtungen, und die Kirche sendet den Glaubenden zurück in das Weltleben, damit er arbeite in der Hoffnung auf das Kommen des Gottesreiches."278 b) Der Ein flu β

Hegels

Dieser Grundriß sollte das Diktieren von Leitsätzen im Kolleg überflüssig machen279. Man wird ihm als einem Kompendium ethischer Theorien didaktisches Geschick nachrühmen können; kaum eine moralphilosophische Position ist unberührt geblieben. Nun bedeutet der Thesencharakter des Grundrisses für seine Einschätzung Erschwernis und Erleichterung zugleich. Erschwernis, weil man bei einer solchen Form der Darstellung eo ipso keine differenzierten, Details berücksichtigenden Erwägungen erwarten und aus ihrem Fehlen keine übereilten Schlüsse ziehen darf. Erleichterung, weil gerade in dieser Gestalt sich das Typische leicht greifbar heraushebt. Und da zeigt sich nunmehr endgültig und unbestreitbar, wie sehr Martensen im Banne Hegels steht. Dafür ist die ganze Schrift passim und in toto ein Beleg. Ein Beleg zunächst dafür, ein wie brauchbares Einteilungsprinzip der Hegeische Dreitakt für das gesamte zu behandelnde ethische Material abgibt. Ob es nun die Hauptgliederung des Systems (das Gute als Gesetz, Ideal, Persönlichkeitsreich) oder eine Einzelfrage (Neigungsehe, Vernunftehe, „christliche" Ehe) betrifft, immer erweist er sich als willkommene Verfahrenshilfe bei der Stoffanordnung. So nutzt Martensen Hegel für seine pädagogischen Zwecke. Von ihnen her, nämlich von der Absicht, den Studenten die Themen der Moralphilosophie möglichst überschaubar und eingängig gegliedert zu vermitteln, erklärt sich andererseits ein Wesensunterschied zu Hegel, der darin besteht, daß die drängende Dynamik, die eigentliche „Entwicklung" des Hegeischen 278

276 Vgl. Gr, § 107, Anm. Vgl. Gr, § 108, Anm. Vgl. Gr, § 109. Spekulation und Ästhetik sind in der Predigt ebensowenig selbständig wie das Religiöse und Moralische in der Kunst! Gr, § 109, Anm. 278 279 Gr, § 110. Vgl. Gr, S. III; L II, S. 14f. 277

7*

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Denkens bei Martensen einem planen Nebeneinanderstellen von ethischen Anschauungen gewichen ist. Die Notwendigkeit ihres Auseinander-Hervorgehens wird uneinsichtig; die Dramatik der „Übergänge" erlischt. Im Einpassen ethischer Theorien in die durch Hegel vorgegebenen Strukturen zeigt Martensen allerdings eine beachtliche Virtuosität. Sie ist es, welche das Urteil, der Grundriß sei „in systematischer Beziehung die Perle unter seinen Schriften" 2β0 , hervorgerufen hat. Doch dieses Lob wirkt zweideutig. Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine Übereinstimmung zwischen dem formalen Anspruch und der inhaltlichen Aussage nicht besteht. Der Grundriß verhält sich gleichgültig gegenüber ethischen Sachentscheiden. Man hat den Eindruck, daß die Inhalte dieses Systems beliebig ausgewechselt werden könnten. Mag diese Moralphilosophie systematisch eine Perle sein, in ethischem Betracht zeigt sich, daß diese Perle künstlich ist. So jedenfalls muß man von Martensens Ethik von 1871 aus urteilen, in der er eine ethische Welt- und Lebensanschauung zu begründen sucht. Solche praktisch-ethischen Ambitionen liegen Martensen im Grundriß völlig fern. Er will ethische Theorien „rein philosophisch" in ein System bringen. Was sind das für Theorien? Unter dieser Frage erscheint Martensens Abhängigkeit von Hegel nur um so größer. Daß Martensen auch inhaltlich eine Vielzahl Hegelscher Aussagen übernommen hat, hat der Überblick über die Schrift implizit schon gezeigt. Um noch auf einzelnes zu verweisen: Die Erörterung über den Anfang einer philosophischen Wissenschaft, über den Wahrheitserweis eines Systems erst durch den entfalteten Begriff, die Anwendung also der dialektischen Methode — kurz gesagt die Grundlage von Martensens System entstammt der Philosophie Hegels 281 . Wie Hegel bestimmt Martensen den Übergang vom Guten als Gesetz zum Guten als Ideal als das Verlassen des Standpunktes der Moralität, und vollends die Ausführungen über Familie, Staat, Wissenschaft und Kunst lesen sich wie verkümmerte Exzerpte aus Hegel 262 . Wie Martensen seine Stellung zu Hegel verstand, ergibt sich aus seiner Beurteilung der Rechtsphilosophie. Ihr gebühre, sagt Martensen, das Verdienst, durch ihr Herausarbeiten der P. Madsen, Artikel Martensen, RE, 3. Aufl., Bd. 12, S. 377. Vgl. Gr, §§ 1-6. 282 Vgl. Gr, § 27 mit Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, S. 236 und mit Enzyklopädie, Bd. 10, S. 383f.; vgl. Gr, § 4 4 mit Phil. d. Rechts, Bd. 7, S. 223ff.; vgl. Gr, §§76, 79f., 90 mit Phil. d. Rechts, Bd. 7, S. 226-237 und mit Enzyklopädie Bd. 10 S. 397-399; vgl. Gr. §§ 80-92 mit Phil. d. Rechts Bd. 7, S. 237-260 und mit Enzyklopädie, Bd. 10, S. 399-426; vgl. Gr, §§ 94f. mit Ästhetik, Bd. 12, S. 403-406 und mit Ästhetik, Bd. 13, S. 243-264 und mit Ästhetik, Bd. 14, S. 220-235, 479f., 516f. und mit Enzyklopädie, Bd. 10, S. 556-563; vgl. Gr, § § 9 8 - 1 0 0 mit Enzyklopädie, Bd. 8, S. 64f., 413-422. (Die Belege aus Hegel beziehen sich auf die Jubiläumsausgabe seiner „Sämtlichen Werke"). 280

100

sittlichen Objektivitäten die einseitigen Subjektivitätssysteme abgelöst und so das „Wirkliche" philosophisch rehabilitiert zu haben. Demgegenüber sei es geringfügig, daß es Hegel nicht gelungen sei, das Sittliche als eine (gegenüber dem ästhetischen und spekulativen Weg zum Absoluten) Möglichkeit eigenen Rechts, das unendliche Ideal zu ergreifen, zu bestimmen 2 8 3 . Jedenfalls zeige sich das der Hegeischen Philosophie adäquate Verständnis darin, daß man ihre Resultate als Anfangspunkte einer neuen, über Hegel hinausführenden Entwicklung fasse 2 8 4 . Aus Hegel hatte Martensen seine Denkkategorien entlehnt. Gegenüber der kritischen Einrede Schleiermachers hatte Hegel Martensens Vertrauen zur Spekulation bekräftigt. Doch so viele Einzelbestimmungen Martensen in seinem Grundriß der Philosophie Hegels entnahm — seine Spekulation bedurfte eines anderen Themas. In der Moralphilosophie hatte sie sich nicht entfalten können. In der „Christlichen Dogmatik" wird sie ihr Thema gefunden haben. D a f ü r gibt es schon im Grundriß einige Hinweise. Es gibt in ihm Stellen — sie wurden im Vorübergehen bereits erwähnt — , an denen Martensen eine Anteilnahme verrät, die das Gleichgewicht des Systems merklich stört. Dem ist nun weiter nachzugehen. c) Kunst und

Spekulation

Obwohl der Abschnitt über die Kunst Martensens Abhängigkeit von Hegels Ästhetik verrät, fällt doch das Engagement auf, mit welchem sich Martensen dieses Themas annimmt 2 8 5 . U n d zwar macht sich Martensen mit allem Nachdruck zum Anwalt der Kunst gegenüber ihrer Bevormundung durch die Moral. In der Kunst genießt der Mensch die Freude, alle Möglichkeiten der Freiheit als Wirklichkeit zu besitzen. D i e Kunst läßt den Menschen seine empirisch-ethischen Defekte vergessen. Gerade darin liegt ihr Recht. Wenn sich das Gute nicht in das Schöne verwandelte und so den praktischen Ernst verbärge, würde der Mensch niemals frei von der Forderung des idealen Guten, von seiner skrupulösen Selbstbeschäftigung, die aus der Einsicht in die Unvollkommenheit seiner endlichen Persönlichkeit entspringt. Gerade in ihrer Zweckfreiheit, im Fehlen der Frage nach der Anwendung, in der beglückenden Schau der Herrlichkeit setzt sich die Kunst und, wie Martensen gleich hinzufügt, die Wissenschaft in Gegensatz gegen Religion und Ethik, welche beide in der Einschärfung, das Gelehrte praktisch zu verwirklichen, ein argumentum ad hominem enthalten und insofern immer einen Zweck verfolgen müssen. Davon sind Kunst und Wissenschaft frei. Sie ermöglichen eine ästhetische und wissenschaftliche Freude ζ. B. über Christi Herrlichkeit, und diese behauptet der 283 286

Vgl. Gr, S. VI-VIII. Vgl. Gr, §§ 94-97.

284

Vgl. Gr, S. VIII.

101

in der Nachfolge Christi erlebten gegenüber ihr eigenes Recht 286 . Freilich entsteht die Frage nach der "Weise der Zuordnung von Ethik und Ästhetik, von Genuß und Arbeit, von zweckfreiem und zweckgebundenem Handeln sowie die, mit welchem Recht das Kunsterlebnis Sinnbild für die antizipierte Seligkeit sein kann. Dies wird sich klären, wenn man den folgenden Abschnitt hinzunimmt. Wie oben erwähnt, besprach Martensen als die wahre Vermittlung zwischen Optimismus und Pessimismus „Die romantische und die humoristische Weltanschauung" 287 . Wenn audi die romantische Weltansicht in Gefahr steht, die Wirklichkeit, sofern sie sich sukzessive offenbart, zu verkennen, so macht sie doch das Bewußtsein von der verborgenen Herrlichkeit des noch nicht verwirklichten Ideals geltend. Darin, daß sie in der Gegenwart nicht ihr Genüge findet, sondern sie vornehmlich als Durchgangspunkt zur vollen Realität des Ideals begreift, hat sie christlich recht. Diese Anschauung befindet sich in Entsprechung mit der Erfahrung des christlichen Gemütes: Mitten in der Freude über das Gottesreich kennt es im Bewußtsein der Sünde und des Elends der Welt eine Wehmut und Sehnsucht nach Ablösung des Stückwerks durch die Vollendung. „Die romantische Lebensanschauung beruht also auf dem dialektischen Gegensatz, daß das Gottesreidi schon gekommen und daß es noch nicht gekommen ist." 2 8 8 Während ihr an dem Kontrasterlebnis von Ideal und Wirklichkeit der Impuls zum ethischen Handeln entspringt — und nur insoweit ist sie echte Romantik —, indem sie also den Gegensatz aufzuheben strebt, läßt ihn die „humoristische Weltauffassung" unverändert stehen. Sie kann das, weil sie die Welt als verkehrte Wirklichkeit begreift, welche keine ethische Anstrengung verdient. Den „Humor der Weltverachtung" versteht Martensen nun ebenfalls als Basis christlicher Weltansicht 289 , insofern er das Fernziel alles menschlichen Strebens als bereits erreicht antizipiert. Diese Antizipation des Endresultates der Entwicklung kann freilich nur die Geltung eines Momentes innerhalb des Ganzen haben, welches, in der gleichmäßigen Betonung der Vollendungssehnsucht (Romantik) und dem Geltenlassen der nichts mehr bedürfenden Seligkeit in der Zeit (Humor) die Polarität des Christentums ausmacht. Martensen kann diesen Sachverhalt nun bezeichnenderweise auch durch das Gegensatzpaar Spekulation — Empirie interpretieren. Das Humori288 „At der nu gives en reent aesthetisk og videnskabelig Betragtning af Christi Herlighed, at der gives en Glaede over Christus, som er af anden Art end den Glaede, Synderen feler over sin Frelse, og at hiin Betragtning or Glaede er berettiget, dette maa erkjendes som gründet i Ethikens egen Fordring." Gr, § 96, Anm. 287 Vgl. Gr, §§ 54-58. 288 Gr, § 55. 289 „Det Humoristiske er den inderste Baggrund i al christelig Verdensbetragtning." Gr, § 55.

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stische stellt als Lebenshaltung dasselbe dar, was die Spekulation als begreifende Theorie: Beide blicken auf die Bewegung der Welt aus der Ruhe der Ewigkeit herab. Im Gedanken besitzt die Spekulation das Ganze; im Nichtbeachten der durch die Wirklichkeit gesetzten Grenzen ergreift der Humor die Seligkeit. Beide haben an der Gegenwart genug. Beide stehen so in Spannung zur Empirie bzw. zur romantischen Ansicht, welche gemeinsam im Blick auf die Zukunft nach Versöhnung der Endlichkeit mit dem Ideal verlangen. Es ist kennzeichnend f ü r Martensen, daß er dieser Anschauung doch nur untergeordnete Geltung zubilligt — untergeordnet unter die Spekulation, die sich im Jetzt ihr Wissen zueignet und entfaltet 290 . So muß ein Mann urteilen, f ü r den die Spekulation Zukunft hat. Es fragt sich, ob sich diese Vermutung bestätigt, wenn man einen thematischen Bereich des Grundrisses bedenkt, der bislang noch nicht zur Sprache gekommen ist, an dem sich aber die weitere Entwicklung im Denken Martensens aufzeigen läßt. Was hat es eigentlich mit dem „Christlichen" an diesem ethischen Entwurf auf sich? d) Ort und Rang des „Christlichen" im „Grundriß" Zweierlei muß hier festgehalten werden. 1. Es ist mehr als nur eine Äußerlichkeit, daß dieser Grundriß die Erörterung christlicher Aussagen vorzugsweise in den Anmerkungen vornimmt 291 . Die Anmerkungen belehren einmal über das Werden der ethischen Theorien in der Geistesgeschichte und bringen etwas philosophiegeschichtliches Kolorit in das System. Aber dies geschieht dann so, daß durchweg im Christentum die jeweils höhere Stufe der Entwicklung gesehen wird. Sofern zwei ausgeprägte gegensätzliche Ansichten in ihm ihre Einung und Aufhebung finden, ist diese Synthese auf höherer Ebene das eigentümlich Christliche 292 . Das aber hält sich bei Martensen im Rahmen historischer Information und geht über formale Bestimmungen nicht hinaus, wenn etwa der „rhythmische Wechsel" von Tun und Genießen als genuin christlich bezeichnet wird 2 9 3 . Wo jedoch das Christliche mehr ist als ein historisches Moment in der Begriffsgeschichte der Ethik oder als die abstrakte Lösung von Antinomien 294 , so daß es in der Tat als das gefüllte Ideal erscheint, da ist dieses Ideal selbständig spekulativ gewonnen und seine Übereinstimmung mit christlicher Anschauung kann retrospektiv notiert werden. Die christlichen Anschauungen, auf die sich Martensen im Grundriß 290 291

282 294

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Gr, § 56, Anm. die Anmerkungen zu Gr, §§ 25, 27, 29, 32, 35, 36-39, 43f., 46, 50 usw. 293 Gr, § 79, Anm. Vgl. Gr, § 65. Gr, § 40. 103

bezieht, sind — ganz im Kontrast zum Ansatz der späteren, großen Ethik — keiner Apologetik bedürftig, sie sind ihrer auch nicht würdig. Denn Martensen faßt sie nicht als Ausdruck konkreter Sittlichkeit, er wirbt nicht um eine bestimmte ethische Lebensansicht, sondern diskutiert sie rein theoretisch. Dies Urteil bestätigt sich, wenn man die akademische Plattform betrachtet, von der aus Martensen spricht. Er spricht und schreibt als der gefeierte Dozent, Glanzpunkt der Bildungswelt des damaligen Kopenhagen, deren Erwartung er entgegenkam. Kein ethisches Thema gab es, das er nicht freisinnig miteinbezogen, aber auch keine Ansicht, welche er wirklich kompromißlos verfochten hätte. Mit souveräner Leichtigkeit handhabt er die Theorien der Moralphilosophie. Und so handhabt er auch das Christentum; er bedient sich seiner beim Gedankenbau der Moralphilosophie, dessen er sich im übrigen wie einer akademischen Pflichtübung entledigt 295 . Wie die ganze Ethik, so liegt auch das Christliche in ihr für Martensen im Vorfeld des wissenschaftlichen Interesses — es sei denn, daß das dann freilich näher zu bestimmende Christliche der Punkt ist, an welchem die Moralphilosophie über sich selbst hinausweist und sich transzendiert. Das ist nun als Zweites zu erwägen. 2. Unter dieser Fragestellung tritt nun eine etwas andere Einschätzung des Christentums in den Blick. Um sie zu verdeutlichen, muß betrachtet werden, wie Martensen das Verhältnis von Dogmatik und Ethik sowohl zueinander wie auch zur Philosophie bestimmt. Was zunächst den Unterschied zwischen philosophischer und theologischer Ethik anlangt, so ist er im Grunde hinfällig: beide basieren auf demselben System 296 . Sie differieren nur äußerlich darin, daß in der philosophischen Ethik die Struktur des Systems generell entwickelt wird, während die theologische Ethik christliche Näherbestimmungen beibringt. Die „Christlichkeit" einer Ethik bestünde somit in der schärferen Herausarbeitung der bereits im System der philosophischen Ethik gewonnenen „theologischen Momente". „Nicht durch eine von der Philosophie verschiedene Methode, sondern durch konkrete Individualisierung des Allgemeinen soll sich der qualitativ theologische Charakter . . . an den Tag legen." 297 Wie steht es dann mit dem Bezug zwischen der wesentlich einen Ethik 2 9 8 zur Dogmatik? Wiederum stellen die „religiösen Momente" das Verbindungsstück her. Durch sie tritt die Sittenlehre in ein inneres Verhältnis zur Vgl. Gr, S. III. „Systemets almindelige Structur og Grundbegrebernes Stilling til hinanden er den samme." Gr, S. III. 297 Gr, S. XII. 298 „At Moralens philosophiske Typus er den samme, hvorefter den theologiske Moral bor udvikles", Gr, S. XI. 295 296

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Dogmatik 299 . Berücksichtigt man nun, daß die Sittlichkeit in der Religion ihren Grund und ihr Prinzip hat 300 , ein Sachverhalt, dessen Begründung der Dogmatik zukommt 301 , so zeigt sich, daß die christliche Ethik in zweifacher Abhängigkeit steht. Das formale System bezieht sie von der philosophischen Ethik, und hinsichtlich ihrer christlichen Inhalte ist sie auf „Lehnsätze" aus der Dogmatik angewiesen302. Die Ethik kann das Dogma nur in seiner Bedeutung „ad extra" betrachten 303 . Für jemanden, der wie Martensen demnächst nach zehnjähriger Vorarbeit eine spekulative Dogmatik veröffentlicht, kann unter diesen Bedingungen die Ethik kaum als lockendes Arbeitsfeld erscheinen — die eigentlich wichtigen Probleme liegen außerhalb ihrer. Die Ethik erfordert durch ihr eigenes Gesetz, durch ihre unauflösliche Verknüpfung mit Empirie und Praxis 304 ein Sich-Befassen mit nur äußeren Gegebenheiten. Diese sind nach den voraufgegangenen Bestimmungen ja das einzige, was der Ethik als allein ihr zugehörig geblieben ist. Man begibt sich also, wenn man Ethk treibt, aus den heiligen Bezirken in die Profanität, muß sich mit Äußerlichkeiten plagen, anstatt in die Geheimnisse Gottes spekulativ einzudringen und sie zu entfalten. Ihre höchste, sie tragende Grundwahrheit vermag die Ethik nicht selbst zu erweisen, sie kann das nur „indirekt" tun 305 . Insofern hat Martensen sein selbstgesetztes Ziel, „die eigentümliche Aufgabe der Ethik herauszustellen" 306 nicht erreichen können. Zu sehr war er bereits durch die spekulative Dogmatik in Beschlag genommen. Damit aber gewinnt die Frage nach dem „Christlichen" im Grundriß einen neuen Aspekt. Sie wird zur Frage, inwiefern das Christliche, welches also eigentlich in der Dogmatik beheimatet ist, bereits im Grundriß Martensens spätere dogmatische Problemstellungen ankündigt. e) Die offenen Stellen des Systems:

Ausblick auf

Schelling

Soweit Martensen in seinem ethischen Grundriß christliche Anschauungen nicht lediglich historisch und formal verwendete, bezogen sie ihren Rang aus der die Ethik übergreifenden, weil ihr vorauszusetzenden, dogmatischen Spekulation. An den Stellen, wo dieser Sachverhalt vor289

300 Vgl. Gr, S. XIV. Vgl. Gr, S. XIII. In ihr werden die religiös-ethischen Themen biblisch, kirchenhistorisch und dogmatisch näher fixiert und entfaltet, vgl. Gr, S. XII. 302 „I Moralen maa Dogmet mere erkjendes i dets Virkninger, i dets Vaeren for Andet, end i dets metaphysiske Vaeren i sig selv." Gr, S. XIV. 303 304 Vgl. Gr, S. X I V u. ö. Vgl. Gr, S. VI. 305 Vgl. Gr, S. XIV. „Liv o g Fylde kan Ethiken kun vinde ved at forudsaette det hoieste Godes personlige Menneskeblivelse i Historien, o g det ved Christendommen grundede Samfundsliv." Gr, § 6, Anm. so« v g l . Gr, S. VHIf. Die Ethik war damals, so gesteht Martensen in seiner Biographie ein, „für mich etwas verhältnismäßig nur Sekundäres". L II, S. 11 f. 301

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liegt, spricht Martensen durchgängig davon, daß das anstehende Problem erst mit Hilfe der theologischen Spekulation hinreichend erkannt und gelöst werden könne: Diese echt religiöse Anschauungsweise hat tiefer schürfende Sonden zur Verfügung als die prosaische, etwas kahle Moral 3 0 7 . Und zwar sind es im wesentlichen folgende Punkte, an denen solche Verweise begegnen. Der Streit des handelnden Willens mit dem Gesetz läßt einen ursprünglich angelegten Streit erahnen; „hiermit geht die moralische Betrachtung des Bösen über in die religiöse Lehre von der ursprünglichen Sündlichkeit" 308 . Ebenso ist die Zurechnung des bösen Willens als Schuld gar nicht moralisch zu erklären, sondern als absolut, das ist religiös geltende erst spekulativ einsichtig zu machen 309 . — Zweitens vermag die Ethik auch nicht, Christus nach seiner metaphysischen Bedeutung darzustellen: „Christi Persönlichkeit kann erst in ihrem vollständigen Licht gesehen werden, wenn sie als Mittelpunkt in der Offenbarung des dreieinigen Gottes gesehen wird" 31 °. — Schließlich entstammt der Schlußteil des Grundrisses der Dogmatik. Als Zweck des Gottesreiches begreift sie nicht das Bewirken von Kultur und Bildung, sondern Erlösung und Seligkeit der Menschen 311 . Das Problem des Bösen, Christologie und Trinitätslehre, sowie die Endvollendung sind also die Themen, an welchen das Hereinragen der spekulativen Dogmatik in diesen frühen ethischen Entwurf sich abzeichnet. Das kann freilich erst die Darstellung der „Christlichen Dogmatik" voll erweisen. Sie erst wird auch belegen, was sich im Blick auf die geschilderte Zwiespältigkeit dieser kleinen Ethik hinsichtlich der Stellung, die das Christliche in ihr einnimmt, andeutete, daß sie nämlich Zeugnis der Zuwendung Martensens zu einer Philosophie ist, die ihm unter Beibehaltung der ihm von Hegel eröffneten spekulativen Bewegungsfreiheit erlaubt, dem System nun jene Inhalte einzubetten, die für eine christliche Spekulation, die sich anschickt, in das unvordenkliche Sein Gottes und in seine Geheimnisse einzudringen, eine tragfähige Grundlage bilden können. Dazu eignen sich besonders jene genannten Themen: das Böse im Zusammenhang mit der Schöpfung, die Ausfaltung der Trinitätslehre und die Erwägungen über die Endgeschichte. Schelling ist nach allem der Mann, in dessen neuer Philosophie Martensen das Wahrnehmen seiner eigenen Bestrebungen erkennen mußte, und so ist der „Grundriß" auch das Dokument eines sich anbahnenden philosophischen Herrschaftswechsels über Martensen. Unter der Ägide Schellings sollte Martensen seine theologische Arbeit fortsetzen und zum Ziel führen. 307 308 310

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Vgl. Gr, § 25, Anm. 2; § 28, Anm. 2. 309 Vgl. Gr, § 37. Gr, § 36. 311 Vgl. Gr, § 105. Gr, § 50, Anm.

Die These, daß Martensens Dogmatik ihr Eigentliches Schelling verdankt, richtet sich kritisch gegen die Art, wie Arildsen die verschiedensten Einflüsse in Martensens Dogmatik geltend macht. F. C. Sibbern, J. P. Mynster, N . F. S. Grundtvig, I. A. Dorner, D. Fr. Schleiermacher, Fr. Baader, Ph. Marheineke, F. C. Oetinger, F. W. J. Schelling, C. Daub — sie alle haben sicher irgendeinen Einfluß auf Martensen ausgeübt 312 . Aber damit, daß man nacheinander verschiedene Beeinflussungen aufführt, ohne zwischen Wesentlichem und Nebensächlichem zu scheiden, kann man sein Werk nicht wirklich in den Griff bekommen. Es soll hier versucht werden, die zentrale Bedeutung Schellings für Martensens Dogmatik herauszuarbeiten. Diese bewußte Beschränkung auf Schelling mag als zu einseitig empfunden werden, und dieser Einwand trifft insofern, als im Grunde außer Schelling auch die beiden anderen Münchner, nämlich Baader und der Vermittler Baaderscher und Schellingscher Philosophie J. Hamberger 313 hätten berücksichtigt werden müssen. Dennoch ist es im Blick auf Martensen zu rechtfertigen, allein Schelling als den Exponenten dieser „Münchner Philosophie" heranzuziehen 314 . Denn das war er wirklich. Gewiß vertraten der stets als Martensens Quelle angeführte Baader und der immer übersehene Hamberger 315 dieselben Intentionen. Man könnte das an ihrer gemeinsamen Sympathie für J. Böhme zeigen. Aber Sdielling war zweifellos der sie an Einfluß Uberragende. Einzelne Bezugnahmen auf die „aphoristischen" Äußerungen Baaders 316 sprechen nicht dagegen, daß Martensens Dogmatik wesentlich auf dem Hintergrund Schellings gesehen werden muß. Schon in Berlin hatte Martensen die Kritik gelesen, die Schelling in dem Vorwort zu der Schrift von Cousin gegen Hegel gerichtet hatte: Hegel habe das Empirische dadurch hinweggeschafft, daß er an die Stelle des Lebendigen, Wirklichen den logischen Begriff gesetzt habe 317 . Diese 312

Vgl. Arildsen, S. 229-241. 313 v g l . dazu W. Trillhaas, Abt Ludwig Schöberlein als Systematiker, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, 63. Bd., 1965, S. 198212, ebd. S. 210. — Hamberger spricht in seinen Erinnerungen irrtümlich von „dem so geistvollen und tief gelehrten Bischof Dr. Heinrich von Martensen", vgl. J. Hamberger, Erinnerungen aus meinem Leben. Nebst einigen kleinen Abhandlungen, Stuttgart 1883, S. 74. 314 Gegenüber Hegel und Schleiermacher rücken Baader und Schelling bei Martensen ohnehin eng zusammen, vgl. Gude II, S. 123 f. Wie schwer es im übrigen ist, die verschiedenen Einflüsse bei Martensen sauber zu trennen, zeigt Arildsen, S. 236, Anm. 133: Was hier als Baadersches Gut aufgeführt wird, läßt sich ebenso bei Schelling belegen. 315 w . Trillhaas nennt ihn, a.a.O. S. 210, „eine Schlüsselfigur in der nachidealistischen Geistes- und Theologiegeschichte". 313 So Martensen, L II, S. 6. 317 Schelling, Vorrede zu einer philosophischen Schrift des Herrn Victor Cousin, in: Werke, hrsg. von M. Schröder, 4. Erg.bd., S. 456.

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Kritik hatte sich Martensen immer mehr zu eigen gemacht. Und er folgte auch Schellings positivem Programm, das er in demselben Vorwort folgendermaßen angekündigt hatte: „In diesem Sinn also steht der Philosophie noch eine große, aber in der Hauptsache letzte Umänderung bevor, weldie einerseits die positive Erklärung der Wirklichkeit gewähren wird, ohne daß andererseits der Vernunft das große Recht entzogen wird, im Besitz des absoluten Prius, selbst des der Gottheit, zu seyn; ein Besitz, in den sie nur spät sich setzte, der allein sie von jedem realen und persönlichen Verhältnis emancipirte, und ihr die Freiheit gab, die erforderlich ist, um selbst die positive Wissenschaft als Wissenschaft zu besitzen. Hierbei wird also auch der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus in einem viel höheren Sinne als b i s h e r . . . zur Sprache kommen. Empirismus . . . wird in dem höheren Sinne genommen seyn, in welchem man sagen kann, daß der wahre Gott nicht das bloße allgemeine Wesen, sondern selbst zugleich ein besondres oder empirisches ist." 318 Die jetzt vorzustellenden Schriften Schellings hat Martensen als Durchführungen dieses Programms, und d.h. für seine Theologie vorbildlich, gelesen. 318

108

Schelling, a.a.O. S. 460; vgl. LI, S. 113f.

II. Die Basis für die Endgestalt von Martensens theologischer Spekulation — Die Philosophie Schellings Um noch einmal in der Sicht Martensens zurückzublicken — Schleiermacher hatte den Anspruch des christlichen Dogmas durch seine subjektivistische Deutung vernichtet, und Martensen hatte Hegels Philosophie aufgeboten, um die objektive Substanz des Dogmas zu wahren. Er hatte sich die Tendenz dieser Philosophie, ihre Bekräftigung der Möglichkeit eines absoluten Wissens zu eigen gemacht, ohne die Überbietbarkeit der Religion durch den „Begriff" zuzugeben 1 — diese Konsequenz mußte abgeschnitten werden. Unter dieser Bedingung erweisen sich nun die „neueren" Theorien Schellings, sein Versuch einer „philosophischen Darstellung der Religion" als Anreiz und Hilfe 2 . Um das zu erläutern, sollen im folgenden die in Frage kommenden Äußerungen Schellings vorgestellt werden. Dabei kann natürlich lediglich die Überlegung leitend und die Auswahl bestimmend sein, inwiefern sie zum Verständnis und zur Beurteilung der „Christlichen Dogmatik" Martensens erhellend zu sein vermögen 3 . Es gilt also jetzt Schelling gleichsam mit den Augen Martensens zu lesen. Man hat dabei das Wesentliche beisammen, wenn man sich die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, die Schrift über die Weltalter, sowie die einschlägigen Partien aus der Philosophie der Mythologie und Offenbarung vergegenwärtigt. 1. Die

Freiheitslehre

Der vollständige Titel der zunächst zu betrachtenden Schrift Schellings von 1809 lautet „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände" 4 . Die „Gegenstände" meinen dabei nichts Geringeres als Gott, Religion und Weltgeschichte5. Schelling schrieb diese Schrift im Blidk auf Eschenmayers 1

Vgl. L II, S. 8. Vgl. L I, S. 94, 113f., 173f., 179, 182. 3 Vgl. an Gesamtdarstellungen K. Rosenkranz, Schelling. Vorlesungen, gehalten im Sommer 1842 an der Universität zu Königsberg; H. Zeltner, Schelling; K. Jaspers, Schelling —- Größe und Verhängnis. 4 Fr. W. J. (v.) Schelling, Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von M. Schröter, Bd. 4, S. 223-308 ( = FrL). 5 Vgl. K. Rosenkranz, Schelling, S. 301. 2

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Vorwurf, die Kapazität der Identitätsphilosophie erweise sich angesichts des Reichtums religiösen Lebens als ungenügend. So versuchte Schelling in seiner Freiheitslehre, die Aporien des Gott zum Urheber des Bösen machenden Pantheismus zu überwinden, ohne jedoch einem Dualismus zu verfallen, der die Philosophie in die Verzweiflung führe 6 . Insofern markiert diese Schrift ein Neues in der Schellingschen Produktion 7 . Bereits in dem einleitenden Abschnitt deutet Schelling das, worum ihm zu tun ist, in polemischer Frontstellung an. Gegenüber der abgezogenen Begrifflichkeit der Orthodoxie sowohl wie des Idealismus will er in seinem Systementwurf einem lebendigen Realismus Genüge tun, welcher gestattet, auch geschichts- und naturphilosophisdie 8 Erkenntnisse in das Begreifen des Verhältnisses von Gott, Mensch und Welt miteinzubeziehen. „Gott ist etwas Realeres als eine bloße moralische Weltordnung, und hat ganz andre und lebendigere Bewegungskräfte in sich, als ihm die dürftige Subtilität abstrakter Idealisten zuschreibt." 9 Diese befindet sich in schärfstem Kontrast zu der Lebenskraft und Fülle der Wirklichkeit. Gegen jedes derartige Immanenzdenken ist geltend zu machen, „daß der Begriff des Werdens der einzige der Natur der Dinge angemessene ist" 10 . Sie müssen in ihrer Abfolge aus Gott, und d. h. als Gottes Selbstoffenbarung begriffen werden u . Insofern nun der Freiheitsbegriff mit der gesamten Weltansicht aufs engste zusammenhängt 12 , eignet ihm erst recht Realität und Lebendigkeit: „Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie (die Freiheit) ein Vermögen des Guten und des Bösen sei." 13 Das sind zunächst Postulate, die nicht begründet werden 14 ; wie aber werden sie verifiziert und entfaltet? Dadurch, daß Sdielling eine entscheidende Differenz aufstellt, welche in nuce die Konsequenzen seiner späteren Philosophie in sich schließt und die zugleich den wesentlichen Ansatz für ihr Verständnis bezeichnet. Es handelt sich um den Unterschied „zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist" 15 . Das damit konstituierte Spannungsverhältnis äußert sich in der „Sehnsucht" 16 . So läßt sich beispielsweise jedes Naturwesen unter einer doppelten Perspektive betrachten, je nach dem Vorwalten eines der beiden Prinzipien. Einmal daraufhin, „wodurch sie von Gott geschieden, oder wodurch sie im bloßen Grunde sind" (als charakterisierende Begriffe nennt Schelling „Eigenwille", „blinder Wille", „Sucht", 4 Vgl. J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Philosophie der Neuzeit, S. 554. 7 Die Diskussion über die Wandlungen der Philosophie Schellings und deren Bedeutung darf hier auf sich beruhen. 8 8 10 Vgl. FrL, S. 249. Vgl. FrL, S. 248. Vgl. FrL, S. 250f. 11 12 13 Vgl. FrL, S. 239. Vgl. FrL, S. 228f. FrL, S. 244. 14 „Das Nichtableiten, als das Postulieren des Anfanges, war einmal seine unmethodische Methode." K. Rosenkranz, Schelling, S. 303. is FrL, S. 249. " FrL, S. 251, 253f., 282, 287.

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„Begierde") und zweitens in bezug auf den sich den ersten dienstbarmachenden und so das Dunkle ins Licht verklärenden „Universalwillen". Die damit gesetzte Polarität löst sich erst stufenweise17. Zuvor aber muß die Voraussetzung dieser polaren Spannung verstanden werden. Das ist nur möglich, indem man die Bedeutung jenes generellen Unterschiedes im Blick auf Gott erwägt und ausspricht. Er muß, „da nichts vor oder außer Gott i s t , . . . den Grund seiner Existenz in sich selbst haben" 1β . Damit wird nun auch die diesem dunklen Grund entstammende Sehnsucht in Gott hinein verlegt und begründet so „die erste Regung göttlichen Daseyns"19. Denn da beide Spannungspole in Gott selbst liegen, Gott sich also in jedem Falle selber anschaut, erblickt sich Gott auf Grund der durch die Sehnsucht erzeugten innerlich-reflexiven Vorstellung selbst „in einem Ebenbild. Diese Vorstellung ist das erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst; sie ist im Anfange bei Gott, und der in Gott gezeugte Gott selbst. Diese Vorstellung ist zugleich der Verstand — das Wort jener Sehnsucht"20. In der Vereinigung aber des Grundes in Gott mit seinem „Verstand", also mit dem, worin er sich offenbar macht, „ex-istirt", macht sich Gott zu dem freischöpferischen und allmächtigen Willen, welcher nun „in der anfänglich regellosen Natur als in seinem Element oder Werkzeuge bildet" 21 . Damit ist die folgenschwere Formel J.Böhmes genannt, mit welcher Schelling, und in seiner Nachfolge Martensen, jene Basis der Existenz Gottes bezeichnen konnten. Dieser dunkle Grund „ist die Natur in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen" 21 \ Daß sich bei diesem Begriff sogleich die Frage nach seinem Bezug auf die Schöpfung einstellt, beruht nicht nur auf einer Wortassoziation — die Vorstellung von einer Natur in Gott ermöglicht nämlich den einzig rechtmäßigen Dualismus, rechtmäßig deshalb, weil er eine Uberführung in die Einheit zuläßt. Nur die Annahme einer Natur in Gott vermag die Aporie zu lösen, die Dinge zugleich als in Gott und als von ihm unendlich verschieden verstehen zu müssen22. Die Lösung dieser Aporie wird angesichts des Menschen besonders dringlich, in welchem die Zweiheit der Prinzipien zur denkbar größten Spannung fortgeschritten ist. Im Menschen begegnen sich das finstre Prinzip und die Kraft des Lichts je in ihrer ausgeprägtesten Macht. Die Natur in Gott dient somit zur philosophischen Aufhellung menschlichen Seins. „Der Mensch hat dadurch, daß er aus dem Grunde entspringt (kreatürlich ist), ein relativ auf Gott unabhängiges Princip in sich; aber dadurch, daß eben dieses Princip — ohne daß es deshalb aufhörte, dem Grunde nach " Vgl. FrL, S. 254. 20 FrL, S. 253. !la FrL, S. 250, vgl. S. 267.

18

FrL, S. 249. 21 22

18

FrL, S. 252. Ebd. Vgl. FrL, S. 250f.

111

dunkel zu sein — in Licht verklärt ist, geht zugleich ein Höheres in ihm auf, der Geist."23 Die unauflösliche Kongruenz beider Prinzipien, ihre „Identität", kommt freilich Gott allein zu. Sie ist so das eigentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Gott und dem Menschen, in welchem die „Scheidung der Kräfte sich auswirkt" 24 . Diese Erwägung motiviert dann das Weitertreiben der Gedanken: „Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich seyn, — und dies ist die Möglichkeit des Guten und des Bösen." 25 Die Bedingung für ihr Aktuell-Werden beruht demnach auf der Verselbständigung des aus dem göttlichen Naturgrund stammenden Prinzips im Menschen. Es macht die Autarkie seines Eigenwillens aus, daß er — unter dem genannten Vorbehalt — in zu Gott analoger Weise den Geist besitzt, „Selbstheit" innehat. Er ist somit in die die Möglichkeit zum Bösen konstituierende Entscheidungsfreiheit gesetzt 26 . „Der Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu seyn." 27 Und eben diese Aufrichtung des Eigenwillens ist das Böse. Dem Bösen, obzwar nur „Scheinbild des Lebens" und für das Gefühl dennoch durchaus real, kommt etwas Schwebendes zu, welches aus der falschen Einung der Kräfte herrührt. Sie drängt dazu, sich ständig zu verwirklichen, wird aber wegen der falschen Grundentscheidung nie manifest 28 . Diese das Böse indizierende falsche Einheit der Kräfte 2 9 bedarf nun des weiteren zu ihrer Erklärung der Annahme eines im Bösen selbst liegenden Positiven. Das Verständnis des Positiven im Bösen aber hängt ganz und gar ab von der Erkenntnis, wie die Freiheit in dem selbständigen Naturgrund wurzelt 30 . Schelling ist überzeugt, mit Hilfe der Unterscheidung zwischen dem Existierenden und seinem Grunde die allgemeine Basis für den Begriff des Bösen und seine Möglichkeit erstellt zu haben. Das Hauptproblem hingegen, die Wirklichkeit des Bösen, ist damit noch nicht erfaßt, jedenfalls dann nicht, wenn als vordringlich das Problem gesehen wird, wie das Böse nicht nur in Einzelpersonen, sondern als universelle Macht, als mit dem Guten kämpfendes Prinzip, aus Gott habe hervorgehen können 31 . Da sich die Annahme einer Sollizitation des Menschen zum Abfall durch einen 23

24 FrL, S. 255. FrL, S. 253 f. FrL, S. 256. „Wenn . . . der Eigenwille des Menschen als Centralwille im Grunde bleibt, so daß das göttliche Verhältnis der Prinzipien besteht . . so ist der Wille in göttlicher Art und Ordnung." FrL, S. 257. 26 27 Vgl. FrL, S. 256, 277f. FrL, S. 256 ff., vgl. S. 270. 28 Vgl. FrL, S. 273, 282. 29 Die von Schelling in diesem Zusammenhang herangezogenen Bilder sind Baadersches Eigentum, vgl. FrL, S. 282 und K. Rosenkranz, Schelling, S. 304, Anm., S. 311. 30 31 Vgl. FrL, S. 263. Vgl. FrL, S. 265. 25

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geschaffenen Geist verbietet, muß die Erklärung der Realität des Bösen ausschließlich mit Hilfe der beiden Prinzipien in Gott bewerkstelligt werden 32 . Sie repräsentieren zwei verschiedene Willen in Gott, den der Liebe und den des Grundes; letzterer ist Funktion des ersten. Denn ohne daß der Wille des Grundes unabhängig von dem der Liebe wirkte, vermöchte sie nicht real zu existieren. Der Grund bietet der Liebe das Material zu ihrer Verwirklichung 33 . Gott erkannte das Dasein eines von ihm als Geist und Wille unabhängigen Grundes als für sich existenznotwendig 34 . Im Verlauf der Offenbarung Gottes ereignet sich die Reaktion des Grundes. Sie erweckt das Böse, das nun zwar nicht von Anfang an ist, andererseits aber als zur Offenbarung Gottes notwendig angesehen werden muß 35 . Wenn Schelling dies generelle Böse definiert als den „Urgrund zur Existenz, inwiefern er im erschaffenen Wesen zur Aktualisirung strebt, und also in der That nur die höhere Potenz des in der Natur wirkenden Grundes" in ihm erkennt 3 ", und die Erkenntnis dieses „allgemeinen" Bösen für die Voraussetzung einer Einsicht in das Gute und Böse im Menschen hält, so zeigt dies, daß das Böse nach Schelling ursprünglich doch aus Gott stammt, insofern sein Gottesbegriff auch das, was in Gott nicht Gott ist, mit umfaßt, während es seine volle Subsistenz erst durch den Menschen erhält. Das wird nun weiter ausgeführt. Es geht um den Ausgleich zwischen dem Angelegtsein des Bösen in Gott und der Forderung, das Wesen des Menschen müsse „wesentlich seine eigne That" sein37. Dieser Ausgleich motiviert bei Schelling die Behauptung der Prädestination — „aber in ganz anderm Sinne" 38 — so, daß der Mensch in seinem jetzigen Handeln bis an den Anfang der Schöpfung heranreicht3": Die das menschliche Leben in der Zeit bestimmende Entscheidungstat gehört selbst nicht der Zeit an. Sie geht, unergriffen von der Zeit, durch sie hindurch 40 . Wer sich hier in der Zeit für Gut oder Böse entscheidet, realisiert damit nur das schon von ihm in der ersten Schöpfung Ergriffene, ja Schelling wagt die Aussage, er werde „als solcher, der er von Ewigkeit ist, geboren, indem durch jene That sogar die Art und Beschaffenheit seiner Corporation bestimmt ist" 41 . — Was diese Prädestination durch sich selber leisten soll, ist klar. Sie erledigt die Frage, warum dieser gut, jener böse sei und hebt zugleich den Einwand, so werde die Umkehr ausgeschlossen — „das in-sich-handeln Lassen des guten oder bösen Principe ist die Folge der intelligiblen That" 4 2 . 32 34 36 38 40 42

8

Vgl. FrL, S. 266f. Vgl. FrL, S. 270. Vgl. FrL, S. 270. FrL, S. 279f. Vgl. FrL, S. 277f. FrL, S. 281.

Brandt, Gotteserkenntnis

33 35 37 39 41

Vgl. FrL, S. 267 f. Vgl. FrL, S. 265, 273, 281, 287. Vgl. FrL, S. 277. Vgl. FrL, S. 279. FrL, S. 279.

113

N u r die Beschreibung der Erscheinung des Bösen steht jetzt noch aus 4 3 . Doch Schelling wiederholt an dieser Stelle, wie auch häufig sonst 4 4 , nur schon Bekanntes. Das Verhältnis beider Prinzipien im Menschen stellt sich dar als Bindung des finsteren Prinzips der Selbstheit an das des Lichts 45 . In der Einung des Eigenwillens mit dem Universalwillen wird Gott als das „Band der K r ä f t e " im Menschen real; befinden sich die Prinzipien dagegen in Zwietracht, so besetzt ein anderer Geist, „der umgekehrte G o t t " die Stelle Gottes. Von dem in dieser Divergenz entstehenden „Hunger", der „Sehnsucht", ist bereits die Rede gewesen 46 . Ist die Entstehung des vorweltlichen Gegensatzes von Gut und Böse so viel wie möglich untersucht, so steht die Antwort auf die „höchste Frage" doch noch aus, nämlich die nach dem Verhältnis Gottes als sittlichen Wesens zu seiner Offenbarung 4 7 . Gegenüber einer sich im „Warum?" des Bösen festkrallenden Problemstellung und einer Auflehnung gegen seine Existenz muß hervorgehoben werden, daß es ohne das Böse kein Sein gibt4®. Welche Motive bedingen diesen Satz? Gott kann nur wirklich frei, d. h. persönlich werden, indem er seinem Liebeswillen den Willen des Grundes einordnet. Ohne diese Einbeziehung müßte letzterer in Unfreiheit beharren. Die Selbstbestimmung Gottes zur Freiheit aber vollzieht sich nur im Werden 4 9 . Die Frage nach der Möglichkeit des Bösen in Bezug auf Gott klärt sich aus der Einsicht, daß Gott „kein System, sondern ein Leben" ist, weshalb das Vollkommene auch nicht schon im Anfang sein kann. Ein real existierendes, persönliches Leben aber fordert zur Verwirklichung eine Bedingung seiner selbst 5 0 . „Die aktivierte Selbstheit ist nothwendig zur Schärfe des Lebens." Leben erwächst nur aus K a m p f ; ohne ihn fiele das Gute dem Tod, der Öde anheim. Als überwältigtes, d. h. der Potenz nach, muß das Böse im Guten gegenwärtig sein. „ N u r die überwundene, also aus der Aktivität zur Potentialität zurückgebrachte Selbstheit ist das G u t e . " 5 1 Erst im Hinausgehen über die Potentialität wird das Böse es selbst. Ist die Offenbarung Gottes aber zum Ziel gekommen, so reduziert sich das Böse endgültig auf den Potenzzustand; als Basis, als unterworfenes wird es zu gänzlicher Unrealität erklärt. Sein Widerspruch zu Gottes Liebe und Heiligkeit ist dahingefallen 5 2 . — In der Retrospektive erweist sich also das Böse als Konstituens für die Entfaltung der göttlichen Persönlichkeit. „Damit also das Böse nicht wäre, müßte Gott selbst nicht sein!" 5 3 43 45 47 49 51 63

114

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. FrL, FrL,

FrL, S. 281. FrL, S. 284. FrL, S. 286. FrL, S. 287-289. S. 292. S. 295.

Vgl. « Vgl. 48 Vgl. 60 Vgl. 82 Vgl. 44 4

L I, S. 172. FrL, S. 282. FrL, S. 294. FrL, S. 291, 295. FrL, S. 297.

Hier schließt sich der Kreis. Das Ganze ist spekulativ durchmessen und eben damit die Prämisse für den Einbau des krönenden Schlußsteins geschaffen. Denn nun läßt sich, wie Schelling meint, zwingend die Notwendigkeit jener Anfangsunterscheidung zwischen Existenzgrund und eigentlicher Existenz erweisen. Die Spekulation tritt jetzt in ihr Allerheiligstes. Vor aller Dualität muß ein Wesen sein, welches, von keiner Entgegensetzung tangiert, in absoluter Indifferenz besteht, allen Gegensätzen vorausliegt, als Prädikat die Prädikatlosigkeit innehat. „Wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund}"54 Aus seinem indifferenten Weder-Nodi bricht dann die Dualität unmittelbar hervor. Die absolute Indifferenz des Ungrundes bedingt die Zweiheit der Prinzipien sowohl, wie sie sie erst vollauf bestätigt 55 . In ihm ist die Teilung und also Leben, persönliche, reelle Existenz beschlossen. Schelling endet mit dem Satz: „Aber über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Principien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohltun, mit einem Wort, die Liebe, die Alles in Allem ist." 56 2. „Die Weltalter" Schon während seiner Studentenzeit hatte sich Martensen in das Studium von Schellings Freiheitslehre vertieft 57 . Sechs Jahre nach Veröffentlichung seiner „Philosophischen Untersuchungen...", im Jahre 1815, hatte Schelling seine Schrift über „Die Weltalter" fertiggestellt, inhibierte aber dann den schon begonnenen Druck der Schrift. Sie erschien erst in der Gesamtausgabe nach seinem Tode 58 . Die Hauptgedanken der „Weltalter" hatte Martensen aber bei Schelling im Kolleg gehört. „Was ich bei Schelling hörte, war ein Stück eines theogonischen und eines kosmogonischen Prozesses, eine Lehre von den Potenzen, durch welche Gott sich selbst und das Universum hervorbringe." 59 Schellings Schrift über die Weltalter enthält zunächst eine Wiederholung der Freiheitslehre. Dieselbe wird in der „vollständigen Construktion der Idee Gottes" neu befestigt 60 . Damit setzt die Schrift ein. In Gott 64

FrL, S. 298, 300. Weit entfernt, daß „die Unterscheidung zwischen dem Grund und dem Existirenden eine bloß logische, oder nur zur Aushülfe herbeigerufene und am Ende wieder als unächt zu befindende gewesen wäre, zeigte sie sich vielmehr als eine sehr reelle Unterscheidung, die von dem höchsten Standpunkt aus erst recht bewährt und völlig begriffen wurde." FrL, S. 299. 6 57 « FrL, S. 300, vgl. S. 298. Vgl. L I, S. 94. 68 Vgl. J. E. .Erdmann, Grundriß d. Gesch. d. Philosophie, Bd. 2, S. 486. 59 L I, S. 173. 60 Fr. W. J. (v.) Schelling, Die Weltalter, in: Werke, hrsg. von M.Schröter, Bd. 4, S. 571-720 ( = WA), das Zitat WA, S. 645. 66



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einen sich Notwendigkeit und Freiheit 6 1 , wobei die Notwendigkeit, als N a t u r Gottes, die Basis der Freiheit abgibt, dergestalt, daß die zu Anfang gesetzte Notwendigkeit in der Folge untergeordnet wird, „hinsinkt" 8 2 . "Wieder wird der Ursprung des „Anderen" in Gott ausführlich erörtert 6 3 . Wieder wird gelehrt, wieso die „ N a t u r " wegen der Freiwilligkeit ihrer Unterordnung, ihrer „Herabsetzung" 6 4 , auch die Möglichkeit besitzen müsse, in der Abwendung von Gott wieder Selbständigkeit zu erlangen. U n d wie allerdings der „Egoität" in Gott nie der Überschritt von der Potentialität zum Aktus gelingt, sondern nur drängendes, belebendes Moment bleibt, so muß die Möglichkeit des Heraustretens dieses Nichtseienden aus dem Zustand der Potentialität dennoch behauptet werden: In solcher Steigerung des Nichtseienden besteht der Begriff des Bösen 6 5 . Auf dem fundamentalen Widerspruch in Gott, welcher im Ringen mit seiner Natur sich zur Freiheit erhebt, läßt sich Titel und Absicht dieser Schrift über die Weltalter erst richtig verstehen. Denn die „Weltalter" meinen die drei Zeiten in Gott, das, was in ihm Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft ist. Dieses erste (und einzige) Buch von den Äonen Gottes behandelt seine Vergangenheit. Eine derartige Unterscheidung innerhalb Gottes könnte es aber, wie schon bekannt, nicht geben ohne die N a t u r in Gott. Aus ihr geht die Lehre von der Notwendigkeit und Freiheit hervor, sie begründet somit Gottes Persönlichkeit, welche eben daraus erwächst, daß Gott seine N a t u r überwindet und sie zu ewiger Vergangenheit herabsetzt. „Die N a t u r ist ein Abgrund von Vergangenheit." 6 6 D a s Buch von der Vergangenheit in Gott weist zurück auf jenes Ringen des Doppelprinzips im Urlebendigen, wie es Schelling in der Freiheitslehre dargestellt hatte. Ohne die N a t u r in Gott gäbe es in ihm nicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So hängt die Lehre von den göttlichen Weltaltern mit der über die N a t u r Gottes unmittelbar zusammen. Nach dieser Anknüpfung kann Schelling mit der „Erzählung jener Folge freier Handlungen, durch welche Gott von Ewigkeit beschlossen sich zu offenbaren", beginnen 67 . Sie endet dort, wo der biblische Schöpfungsbericht a n f ä n g t Z u r Markierung der Stationen auf dem Weg Gottes zu seiner Offenbarung verwendet Schelling den Begriff „Potenz". Indem in der Schrift von den Weltaltern das göttliche Offenbarwerden durch eine Potenzenreihe interpretiert wird, stellen die „Weltalter" das Bindeglied zwischen der in der Natur Gottes gegründeten Freiheitslehre und der Deutung der christlichen Dogmen in Schellings Spätphilosophie dar. Vgl. WA, S. 585, 615, 620. ·» Vgl. WA, S. 632£f. • 6 Vgl. WA, S. 642-644. " WA, S. 645. 81

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Vgl. WA, S. 586, 596, 630. Vgl. WA, S. 618. «· WA, S. 619. «8 Vgl. WA, S. 707-710.

62 M

Das Leben der ersten Potenz verbleibt noch ganz in der zum Anfang gesetzten Natur. In ihr wohnt die Gottheit ganz. Im negativen Bezug gegen alles „Außen" komprimiert sich die göttliche Substanz. Sie versagt sich und schließt sich ab ··. „Das erste in Gott ist, daß er sich verschließt."70 Nun gilt aber hinsichtlich des Auseinanderhervorgehens der Potenzen das Gesetz: „Wie die ewige Natur als Ganzes den Geist der Ewigkeit anzieht, so jede untergeordnete Potenz die ihr zunächst höhere." 71 Das Resultat, die Lösung dieses Spannungsverhältnisses, besteht dann in der Unterwerfung der ersten Potenz unter die ihr folgende. So führt also das Bestreben der Natur, das Wesen der Geisterwelt an sich zu reißen und so das Höhere zu sich herabzuziehen, zur Erweckung ebendesselben Verlangens nach Vereinigung mit dem Übergeordneten auch in der höheren Stufe, „wodurch also jene von der N a t u r . . . ausgehende Bewegung sich endlich bis in das Höchste fortpflanzt" 72. Demgemäß besteht das Wesen der zweiten Potenz im Erkennbarwerden der Geisterwelt73. Das Prinzip dieser zweiten Potenz erhebt sich über die Natur, ist so gleichsam ihr „Heiland und Befreier" und verkörpert himmlisches Wesen im Stofflichen. Sie bildet so die Basis der zukünftigen Geisterwelt. Im Begriff der zweiten Potenz liegt es dann aber, daß sie sich „aufheben" muß. Zur ersten Potenz verhielt sie sich wie Geistiges zu Leiblichem; aber im weitern Fortgang verfestigt sie sich selbst, nimmt leidende Eigenschaften an und „ersinkt" 74 . Sie hat den Geist an die dritte Potenz abgegeben. Die dritte Potenz ist dann das ewige Band zwischen Natur- und Geisterwelt, die Kraft, durch welche Gott auf sie einwirkt, die Verbindung zwischen Welt und Gott, das „am meisten Wesentliche"75, die das All durchdringende und belebende „Weltseele" 76 . Sie ist „die lauterste Potenz, das gegen beide Gleichgültige, von beiden Freie" 77 . Gott ist in Freiheit alles in allem. Das Bild für diesen Stufengang gibt die Jakobsleiter ab. Ausgehend vom ersten, blinden Leben in Gottes ewiger Natur 7 8 geht der Weg durch den Streit der Kräfte 7 9 empor zu Gott als dem in unumschränkter Freiheit über alle Natur erhabenen. Entsprechend, wenngleich mühsamer, verläuft auch der Gang von der Natur zum Reich des Geistes im Irdischen80. Was sich in ihm nacheinander offenbart, besteht im Wesen Gottes zugleich. Diese notwendigen Momente, soweit sie „in der Simultaneität... seines 70 WA, S. 601. «» Vgl. WA, S. 652, 602f. 71 WA, S. 651. 72 WA, S. 662. 73 Vgl. WA, S. 628, 652. 74 WA, S. 624. 76 WA, S. 604. 76 WA, S. 628, 652. 77 WA, S. 604. 78 Vgl. WA, S. 606. 79 „Alles Leben muß durchs Feuer des Widerspruchs gehen; Widerspruch ist des Lebens Triebwerk und Innerstes." WA, S. 697. 80 Vgl. WA, S. 655 ff., 667f.

117

beharrlichen Seyns" beschlossen sind, nennt Schelling „Prinzipien" in Gott 81 . Aber indem Gott nicht wirklich ist, sondern nur wirklich wird, werden sie in der Sukzession „die Potenzen seiner äußeren LebensPerioden". Dabei ist hervorzuheben, daß allein dies Gesetz, demzufolge der Potenzenfolge auch eine Folge der Zeiten inhäriert, es gestattet, „den Organismus der Zeiten aufzuschließen" 82 . In Bezug auf die — in diesem ersten Buch der Weltalter ja allein thematische — Vergangenheit in Gott stellen sich Schelling die Potenzen als ein Spiel zukünftiger Möglichkeiten vor Gottes Auge dar. Wie in einer traumhaften Vision erstand die ganze Stufenleiter der künftigen Bildungen vor seinem Blick 83 . Sie sind in den Gesichten der innersten Gedanken Gottes präsent. „So erblickt der Ewige in dieser freien, mit sich selbst gleichsam spielenden Lust der ewigen Natur zuerst alles, was einst in der Natur, sodann, was in der Geisterwelt wirklich werden sollte." 84 Als biblisches Interpretament für diese Urzeit vor der Weltschöpfung, in der die Potenzen noch nicht zu ihrer Auswirkung losgelassen, sondern von Gott erst nur erschaut und im Vorblick auf ihre Realisierung vorgestellt sind, verwendet Schelling immer wieder das Bild der Weisheit, die vor Anbeginn der Schöpfung vor Gottes Angesicht spielte (Spr. 8) 85 . „In so früher Zeit also spielte diese wie in einem Jugendtraum goldener Zukunft dem Höchsten vor, was einst seyn würde." 86 Wenn aber Gott so vor und über dem Spiel der Potenzen steht, folgt daraus, daß sich für Schelling, wie schon der Schluß seiner Freiheitslehre zeigte, das Weltengeheimnis in der Vierheit erschließt. Als Beleg führt er hier die pythagoreische Tetraktys und das alttestamentliche Tetragrammaton an 87 . Martensens Abhängigkeit von Schelling kann in ihrem vollen Ausmaß erst im Verlauf der Darstellung seiner Dogmatik gezeigt werden. Aber man kann sich schon an dieser Stelle vorläufig vergegenwärtigen, wie sehr ihn Schellings Vordringen in die Tiefen der Gottessepkulation fasziniert haben muß. Das gilt für den großen Duktus in Schellings Philosophie mehr, als für Einzelbestimmungen. So widerstreitet Schellings Vierfachheit natürlich Martensens trinitarischem Gottesbegriff. Martensen wird diese „Häresie" aber um so verzeihlicher gefunden haben, als sie bestrebt ist, sich biblisch zu legitimieren, besonders aber im Blick auf Schellings Furchtlosigkeit, das Alte Testament philosophisch zu rehabilitieren. Eine spekulative Philosophie, die sich nicht zu gut vorkam, in ihm ihre eigenen Erkenntnisse angelegt zu finden und dies öffentlich zu bezeugen88, die ζ. B. 81 83 85 87

118

WA, S. 685f. Vgl. WA, S. 656f. Vgl. WA, S. 665, 673f., 683. Vgl. WA, S. 649.

WA, S. 686. WA, S. 665. 8« WA, S. 673. 88 Vgl. WA, S. 647-650. 82

84

aus diffizilen exegetischen Erörterungen des Schöpfungsberichtes in Genesis 1 „entscheidende Beweise" erhob 89 , die ihre Gleichläufigkeit mit der christlichen Lehre ausdrücklich vermerkte 90 , und die — im Falle biblisch nicht gedeckter Weiterungen — immerhin die Nahtstelle angab, an der sich die „gewöhnlichen Begriffe" wieder anschließen ließen — es ist verständlich, daß ein spekulativer Theologe in Schellings Philosophie seine eigenen Belange vertreten sehen konnte, zumal diese Philosophie ihr Anliegen, die Wahrung der Priorität des Realismus und sein Geltendmachen als die Kraftquelle aller Philosophie, in der Überzeugung verfocht, damit dem Worte zu entsprechen, daß die Furcht Gottes der Weisheit Anfang sei 91 . Damit ist freilich erst ein sehr vorläufiger Eindruck vermittelt. Am unmittelbarsten hat Schellings Philosophie der Offenbarung auf Martensen gewirkt.

3. „Der Philosophie der Offenbarung zweiter Τ heil" Schellings Spätphilosophie, die „Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung", ist als siebenteiliges Gebilde auf uns gekommen 92 . Es genügt für die Zwecke dieser Arbeit, einen Blick auf den letzten Teil der „positiven" Philosophie zu werfen, der unter dem Titel „Der Philosophie der Offenbarung zweiter Theil" das Christentum behandelt 93 .

a) Die Unterordnung der Philosophie unter die Offenbarung Wenn sich jemand, so heißt es bei Schelling, auf eine philosophische Beschäftigung mit der Offenbarung (die ausdrücklich mit dem Christentum identifiziert wird 94 ), einlassen will, so muß er sich damit abfinden, daß dieses Unternehmen sinnvoll nur sein kann, wenn man sich auf einen über alles notwendige Wissen erhobenen Standpunkt begibt 95 . Die üblichen 80 Vgl. WA, S. 689f. Vgl. WA, S. 707-710. Vgl. WA, S. 720, 604f. 92 Die „Philosophie der Mythologie" hat vier Teile: zwei „Einleitungen" (eine „historisch-kritische", eine „philosophische") gehen den beiden Hauptabschnitten „Der Monotheismus", „Die Mythologie" voraus. Die „Philosophie der Offenbarung" ist dreiteilig. Nach der „Einleitung" folgt im ersten Teil eine Wiederholung der Potenzenlehre und der Philosophie der Mythologie, der zweite Teil ist dem Christentum gewidmet. 93 Η. E . G. Paulus hat ihre Gedanken bereits 1843 — unberechtigt — veröffentlicht. Martensen hat sie gekannt, vgl. D, S. 113, 181, 185, 212. 94 Fr. W. J. (v.) Schelling, Der Philosophie der Offenbarung zweiter Theil, in: Werke, hrsg. von M. Schröter, Bd. 6, S. 389-726 ( = PhO), vgl. PhO, S. 427. 95 Vgl. PhO, S. 419 89

91

119

Kategorien der Notwendigkeit wären zwar auf die Religionen der Mythologie anwendbar, weil diese ja als Produkte eines notwendigen Prozeßablaufs erkannt werden müssen. Der wissenschaftliche Schritt aber von der Mythologie zur Offenbarung bedeutet den Übergang in etwas ganz anderes 9β. Verblieb die Entwicklung der Religionen der Mythologie in den Zwangsbahnen des als notwendig Absehbaren, so hat es die Philosophie hinsichtlich der Offenbarung mit etwas zu tun, das ihr als Resultat eines absoluten Freiheitswillens vorgegeben ist87. So ergibt sidi für das Verhältnis von Mythologie und Offenbarung zur philosophischen Wissenschaft ein Kreuzbezug: Verhalten sich Mythologie („Prozeß") zur Offenbarung („Geschichte") wie bloße Notwendigkeit zur Freiheit, so entspringt der Philosophie aus ihrem Vermögen, die Entwicklungen und Gesetze der ersteren zu begreifen, ein berechtigtes Uberlegenheitsbewußtsein, während sie in Bezug auf die Offenbarung ihren Nachgängigkeitscharakter zugeben muß. Denn die Offenbarung als auf absolutem Freiheitsakte beruhend entzieht sich vorgreifender philosophischer Durchleuchtung. So erlischt für die Philosophie angesichts der Offenbarung das Pathos der Konstruierbarkeit a priori 98 . Wollte die Philosophie von „Offenbarung" sprechen, so müßte sie sich zu der Konzession bequemen, „der Inhalt der Offenbarung müsse ein solcher seyn, der ohne sie nicht nur nicht gewußt würde, sondern nicht einmal gewußt werden könnte"99. So fordert Schelling die Selbstbescheidung der Philosophie, die Anerkenntnis der Offenbarung als ihrer faktischen Prämisse100. Der alle Offenbarung begründende absolute Willensentschluß kann lediglich in seiner Aposteriorität begreiflidi gemacht werden101. Unter dieses „Nachdem"102 muß sich die Philosophie stellen, will sie das im Begriff der Offenbarung enthaltene Ubervernünftige nidbt nivellieren. Ohne diese Unterordnung der Philosophie unter die Offenbarung verlöre alles philosophische Reden von Offenbarung seinen Sinn108. b) Die Mythologie und das Christentum Da das Vollkommene nie das Erste sein kann und das Begreifen der realen Überwindung einer vorausliegenden Phase deren genaue Kenntnis verlangt, versteht sich das Desiderat einer Philosophie der Mythologie. Nur so kann die Philosophie dem Bild des Christentums von sich selbst entsprechen. Das Christentum, das sich vom Heidentum befreite, muß 97 »· Vgl. PhO, S. 400. Vgl. PhO, S. 395f. 88 Vgl. PhO, S. 403. Dieser Verzicht ist geradezu Verstehensbedingung, vgl. PhO, S. 414. M 100 PhO, S. 397. Vgl. PhO, S. 403f., 626. 101 Vor der Offenbarung wird alle Philosophie zur Erfahrungswissenschaft, vgl. PhO, S. 398. 102 103 Vgl. PhO, S. 420. Vgl. PhO, S. 396.

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dasselbe als seine selbstgegebene Voraussetzung verstehen. Andernfalls könnte das Christentum nicht als Glied einer Ökonomie aufgefaßt werden 104. Genauer genommen muß es jedoch dargestellt werden als der Endund Kulminationspunkt zweier zunächst getrennter Ökonomien: Heidentum und Judentum 10ä . Ihr Verhältnis zum Christentum bestimmt Schelling in Analogie zu dem Grundriß des Tempels in Jerusalem: äußerer und innerer Vorhof — Allerheiligstes. Das Heidentum war durch einen doppelten, das Judentum durch einen einfachen Vorhang von der Offenbarung getrennt 106 . Diese Differenz verblaßt aber vor dem gemeinsamen Abstand zur Offenbarung. Heidentum und Judentum stehen unter dem „Gesetz", d. h. unter dem Zwang eines äußerlich-notwendigen Prozesses107. Dennoch soll solche Unterschiedsbestimmung nicht zum Abbruch der Kontinuität führen. Vielmehr ergeben sich Schelling aus der doppelten Perspektive, welche einmal die Divergenz zwischen Mythologie und Offenbarung, zwischen negativer und positiver Philosophie ungeschmälert aufrechterhält, sie aber dann doch als von einem Rahmen umschlossen zusammensieht, zwei Folgerungen, die, von Schelling selbst intendiert, von seinen theologischen Schülern dankbar aufgegriffen werden konnten. Indem sich, erstens, das Christentum nidit darin erschöpft, nur Negation des Heidentums zu sein — so begriffen, wäre es zu einem Begrenzten herabgesetzt 108 —, sondern auch durch ein positives Gemeinsames mit ihm zusammenhängt, wird das Auseinanderfallen der Geschichte in zwei disparate Hälften vermieden. Wenn aber keiner Zeit die Inhärenz wahrer Religion abgesprochen werden darf, muß auch das Heidentum eine wenigstens „relative Wahrheit" 109 besitzen. Um ihretwillen verbietet sich seine Gleichsetzung mit Nichtigkeit und Irrtum. — Wie leicht sich dieser Ansatz für die Erstellung einer objektiven Heilsgeschichte ausmünzen ließ, wird noch verständlicher, nimmt man Schellings in der Philosophie der Offenbarung vollzogene christliche Einkleidung seiner Potenzenlehre hinzu. Zuvor aber ist, zweitens, darauf hinzuweisen, daß die Eröffnung eines geschichtlichen Totalblicks dem Christentum selbst zugute kommen soll. Durch die These vom Hervorgegangensein des Christentums aus Heidentum und Judentum als aus seinen zwei getrennten Wurzeln sollte die „Continuität der Bildung" gewahrt werden 110 . Wird aber so dem Christentum nicht bloß das Judentum, sondern „das ganze große Heidenthum" zum Hintergrund gegeben, so wird es mit der denkbar tragfähiglos io4 v g i . p h o , S. 411 f., 431. Vgl. PhO, S. 467, 470. 108 10 Vgl. PhO, S. 480. ' Vgl. PhO, S. 449, 559. 108 „Eine Religion, die nicht von der Welt her, die nicht durch alle Zeiten ist, kann nicht die wahre seyn." PhO, S. 469. 109 110 Vgl. PhO, S. 470. PhO, S. 414.

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sten „Basis seiner Realität" ausgerüstet1U. — Immer wieder bekennt sich Schelling zu diesem Vorhaben. So versteht er seine Vorlesungen einfach als „objektive" Erklärung des Christentums112, rehabilitiert das durch Kant und Fichte beiseite gesetzte Objekt und bringt es zu neuen Ehren 113 . Auf die Einsicht in die Abhängigkeit der Philosophie von der objektivrealen Gegebenheit des Christentums reagiert Schelling nicht als ein um seine Selbständigkeit besorgter Philosoph. Er ist vielmehr überzeugt, eine Mission zu erfüllen: „Nicht jeder Philosophie ist es gegeben, eine Offenbarung zu begreifen." 114 Nicht jede Philosophie durchschaut, daß die bloße Vernunft nicht dazu taugt, eine Beziehung des menschlichen Geistes zu Gott zu ermöglichen. Die Offenbarung ist etwas Übervernünftiges; nur wenn dies festgehalten wird, kann sie in ihrer Objektivität und Realität dargestellt werden 115. c) Die Trinität und die

Potenzen

Der Anspruch, dem Christentum die Offenbarung als reale Gegebenheit philosophisch deutlich zu machen, legitimiert nun die Einkleidung des Trinitätsdogmas in die Bestimmungen der Potenzenlehre — nur sie vermag es wahrhaft aufzuschließen. Davon, wie Schelling den Entwicklungsgang von Schöpfung und Offenbarung als einen dialektischen Weg vom Urgrund zum Endziel der göttlichen All-Einheit sieht, ist schon die Rede gewesen. In der Philosophie der Offenbarung ordnet er die Weltzeiten, die Äonen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) noch ausdrücklicher den drei göttlichen Personen zu. Sie sind die drei sukzessiven Herrscher dreier sukzessiver Zeiten116. Unverkennbar ist das Pathos, mit welchem Schelling sich der Dreieinigkeitsidee bemächtigt. Er führt sie als ein, auch gerade philosophisches, nun plus ultra vor. „Es sind drei Personen, deren jede Gott ist." 117 Eine bloß starr, formell-dogmatisch gefaßte Dreieinigkeitsidee muß durch das Ferment der Geschichte „gesteigert" und so eine drei Momente umschließende, lebendige Einheit werden — erst durch diese Steigerung wird sie christlich. Ihre Momente lassen sich kennzeichnen als „Tautousie" (alles ist im Vater beschlossen), „Heterousie" (in der Phase der Spannung erwächst die Sehnsucht nach Versöhnung) und „Homousie" 118 . Diese letzte, durch die substantielle Differenz vermittelte und darum erst am Ende mögliche Einheit ist nun, wie Schelling betont, nichts als der „gesteigertste, sublimste Monotheismus" l l e . 111 113 116 116 117 119

122

PhO, S. 470. Vgl. PhO, S. 409f. Vgl. PhO, S. 420f., 412, 414. Vgl. PhO, S. 446ff., 463 ff., 477, 672. PhO, S. 457. PhO, S. 458 f.

112 114

118

Vgl. PhO, S. 621. PhO, S. 420. Konventioneller PhO, S. 463.

Die Belege für die Art und Weise, wie Schelling die Trinitätsidee mit seiner Potenzenlehre kombiniert, sind damit noch keineswegs erschöpft. Er verfügt über reiche Variationsmöglichkeiten120. Doch die gemachten Andeutungen müssen genügen, weil ein Thema dringlich wird, das zwar in der Trinitätsproblematik verankert ist, sich in der Folge aber — auch in der theologischen Diskussion — verselbständigte. Es ist das christologische Problem, welches sich aus dem trinitarischen Konnex löst und daher auch für sich dargestellt werden muß. Seine Komplexität erwächst diesem Problem aus seiner Parallelisierung mit der zweiten Potenz. d) Das christologische

Problem

und seine

Lösung

Eine Bemerkung vorab. Schellings Theorien lassen die kritische Diskussion seiner Zeit unberücksichtigt — eine schwerwiegende Tatsache, wenn man sich allein für das Jahr 1835121 die Namen F.Chr.Baur, W.Vatke, D. Fr. Strauß, L. Feuerbach vor Augen führt 122 . Kuno Fischer hat herbe Worte für diese Dispensierung gefunden123. Das Maß an theologischer Gefolgschaft, welches Schelling dessenungeachtet bei Martensen fand, ist daher nur um so aufschlußreicher. Christus befand sich vor seiner Menschwerdung in einem „mittleren Zustand". Ohne selbst Gott zu sein, war er auch nicht Mensch — ein anderer von Gott, außer Gott gesetzt, ihm gegenüber in Freiheit, unabhängig 124 . Die „als" Christus erscheinende mittlere Potenz befindet sich damit im Status der Autarkie. Allerdings ist dieselbe insofern eine abgeleitete, als ursprünglich dem Vater allein das Sein zukam. Erst in der die Schöpfung ausmachenden Uberwindung des ersten Prinzips verwirklichte sich der Sohn, so daß er erst am Ende der Schöpfung das ist, was der Vater ist. Solche innere Dependenz tut aber der äußeren Autarkie nicht den geringsten Abbruch125. Es bleibt bei der Voraussetzung, daß es Christus vermocht hätte, seine vom Vater losgelöste Existenz zu behaupten, sich das Sein zu apperzipieren und in dieser selbstgewählten Isolation zu beharren 126 : Ein Vgl. PhO, S. 443f., 4 6 3 ^ 6 5 , 474-478, 563f., 628f., 672. „Das Jahr 1835 hat für die Theologie eine ähnliche Bedeutung, wie das Jahr 1848 für das Staatsleben." C. Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie, S. 4. 122 1835 erschienen: F. Chr. Baur: Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung; Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus; W. Vatke: Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt, Erster Theil; D. Fr. Strauss: Leben Jesu; L. Feuerbach: Kritik des Antihegel. 123 K. Fischer, Schellings Leben, Werke und Lehre (7. Bd. der Geschichte der neuern Philosophie, Gedächtnisausgabe), 4. Aufl., 1923. Fischer spricht geradezu von einer „Verblendung" Schellings, a.a.O. S. 714, vgl. S. 709f., 795. 124 Vgl. PhO, S. 437f. 126 Vgl. PhO, S. 429 f., 452. 126 Vgl. PhO, S. 441 f., 428f. 120

121

123

Vermittler im Vollmaß des Begriffs muß über die Möglichkeit verfügen, die Vermittlung audi zu unterlassen. Diese Gedankengänge tragen nahezu durchweg das Gewand philosophischer Schriftstellen-Exegese127; und in großem Stil gilt das für die Verwertung des johanneischen Prologs 128 , dessen spekulative Vollkommenheit der Philosoph behutsam und respektvoll zu ehren weiß 129 . Christi Präexistenz in ihrer Einheit mit, sodann in ihrer Trennung von Gott, seine Menschwerdung und Präsenz in der sichtbaren Welt, endlich seine Wiedereinkehr in Gott — all diese Momente lassen sich beim Entlanggehen an den „Bestimmungen" des Prologs, diesem „großen Texte" 130 in ihrer Stringenz und Konsequenz entwickeln 131 . Schelling weiß sich in seinem Nachvollzug des Prologs einig mit den Intentionen seines Verfassers, der „die Person Christi ganz von vorn begreiflich machen" will 132 . Wenn nun der Sohn frei über sein Sein verfügen konnte, wenn es in seiner Entscheidung stand, es als autonomes Sein zu behalten, oder es Gott oder dem Satan anheimzugeben, so steht die genetische Frage noch aus. Woher hat er das Sein? Schelling antwortet darauf in nuce — und die theologische Verlockung wird durch das Anklingenlassen biblischer Termini nicht eben vermindert —: „Dieses Seyn hat er weder von sich selbst, noch von dem Vater, er hat es von dem Menschen — darum heißt er diesem Seyn nach des Menschen Sohn." 133 Weit entfernt, daß diese, wie sich noch zeigen wird, verführerische These eine Herabwürdigung impliziert, ist sie gerade so geeignet, die „Grundidee" 134 des Christentums adäquat auszusagen. Mit der Person Christi wird das ganze Christentum begriffen; eine Philosophie der Offenbarung, die dies leistet, hat ihre Aufgabe gemeistert 135 . Sie tut es, indem sie es bei der Betrachtung dieser Persönlichkeit nicht bei der üblichen historischen Anschauungsweise beläßt, sondern die vorweltlichen und übergeschichtlichen Horizonte dieser Gestalt aufreißt — wohin sollte man sonst eine Persönlichkeit wie Christus stellen?136 So vollzieht Schelling die Gleichsetzung Christi mit der demiurgischen, zweiten Potenz, die durch die Katastrophe des Falls „in der Gewalt des Menschen ist" 137 . Der Abfall, worin der Mensch das Nichtseinsollende gegen Gott zu behaupten trachtete, dem bereits überwundenen Naturprozeß also erneut anheimfiel, damit die Ordnung der Potenzen verkehrte und so die Menschheit aufs Spiel setzte, unterliegt gleichwohl ambivalenter Bewertung. Er ist der Initiator für den Vermittlungsprozeß 127

128 Vgl. PhO, S. 437f. Vgl. PhO, S. 481-510. 130 129 V g l > p h o > S. 427, 485, 510. PhO, S. 511. 131 Vgl. PhO, S. 496, 504, 506f., überhaupt S. 496-510 passim. 132 PhO, S. 484. 133 PhO, S. 438, vgl. S. 429f., 439, 451, 457. 134 135 PhO, S. 429. Vgl. PhO, S. 427. 137 13« Vgl. pho, S. 427. Pho, S. 428, vgl. S. 446.

124

zwischen Gott und Mensch138. Denn Gott hat seinen Willen nach dem Sturz des ursprünglichen Seins der Welt entzogen, die Wirkung des Vaters endete nach Erschaffung der für den Umsturz anfälligen Welt. Der Fall bedingt also den Beginn der Wirksamkeit des Sohnes, der zweiten Potenz, die die Herrschaft für die Dauer der Weltzeit innehat 139 — ganz inÜbereinstimmung mit dem richtig gefaßten johanneischen Logosbegriff 140 . Unter der Voraussetzung der unbeeinflußbaren Entscheidungsfreiheit Christi als der zweiten, demiurgischen Potenz wird erst die ganze Tragweite der durch das Werk Christi anhebenden Erlösung sichtbar U1 . „Nur der, welcher Herr des außergöttlichen Seyns ist, kann es zugleich mit sich als außergöttliches aufheben, und so es mit Gott wieder vereinen." So gliedert sich das Werk Christi erstens in sein Wirken auf die Menschheit vor seiner sichtbaren Erscheinung, zweitens seine Inkarnation, drittens die dadurch bewirkte Endversöhnung 142 . Was nun das erste betrifft, so ist der Sohn als natürliche Potenz das treibende Movens schon in aller Mythologie gewesen. Schon dort war er das Prinzip einer — freilich noch verschleierten — Offenbarung 143 . Darauf beruhte ja die Einsicht in die relativen Wahrheiten in Heidentum und Judentum. Für beide gilt daher: Christus war „auch schon in der Mythologie, wenngleich nicht als Christus." 144 Ihre Würde beruht darauf, Träger noch nicht geoffenbarter Wahrheit zu sein. Das dritte, das „Gott alles in allem", bedeutet die Zurücknahme des Gott entfremdeten Seins in Gott, die Versöhnung des ins Außergöttliche Gefallenen, und damit das Ende der Weltzeit 145 ; d.h. aber das Ende des solitären Wirkens des Sohnes. „Er tritt in die Gottheit zurück; denn sein eignes außer-Gott-Seyn war bedingt und verursacht durch jenes außergöttliche Seyn; cessante causa cessat effectus." 148 Beides ist der Christi eigentliches Werk umgreifende Rahmen; erst vom Ende her kann ermessen werden, was von jenem Zweiten abhängt, nämlich die Entscheidung, ob Gott das durch die Katastrophe des Falls nicht mehr akzeptable Sein wieder wird annehmen können, d. h. die Entscheidung über das Schicksal dieses abgefallenen Seins. Höchste philologische Subtilität ist erforderlich, um das hier waltende Geheimnis zu erfassen 147 . Was sich dabei „abspielt", schildert Schelling in seiner Auslegung von Phil. 2,6—8 und macht diesen Text dadurch zum locus classicus, zum Herzstück seiner Christologie 148 . Schelling macht dabei ausgiebigen Gebrauch von seiner Einsicht in jene Eigentümlichkeit des „scharfsinnigen" 138 140 142 144 145 147

139 Vgl. PhO, S. 443f. Vgl. PhO, S. 454, 477, 503, 582f. Vgl. PhO, S. 482. i« Vgl. PhO, S. 445f., 564f. 145 Vgl. PhO, S. 481. Vgl. PhO, S. 473, 480. PhO, S. 466f., vgl. S. 449, 471, 506, 559. 146 Vgl. PhO, S. 454f. PhO, S. 456. 148 Vgl. PhO, S. 402, 545 f. Vgl. PhO, S. 431 ff.

125

Apostels 149 , „sich gerade da, wo er das Tiefste, Geheimnisvollste berührt, aufs schärfste und genaueste auszudrücken, so daß man durch genaue Beobachtung seines Sprachgebrauchs den Sinn selbst in den dunkelsten Stellen wohl erreichen kann" 15°. Es zeigt sich dann, daß jedes Wort jener Stelle aus dem Philipperbrief sowie eine Menge anderer des Neuen Testaments 151 die Richtigkeit der philosophischen Erklärung stützt 152 . So hat Phil. 2,6—8 bei Schelling eine doppelte Schlüsselstellung inne. Mit Schellingscher Beobachtungsgabe exegisiert, übt dieser Text eine Deutefunktion nicht nur hinsichtlich der übrigen einschlägigen Dicta 153 aus, sondern eröffnet generell den faktischen Inhalt des Neuen Testamentes 154 . Diese Berufung auf Phil. 2 sichert Schelling sodann vor dem Vorwurf des dogmatisch Extravaganten seiner Christologie. Das ganze Neue Testament bleibt unverstanden, sagt Schelling, es sei denn, man schreibt „dem Sohn, und zwar von der Welt her (denn so wie die Welt ist, ist der Umsturz), eine Existenz außer dem Vater (extra patrem) und unabhängig vom Vater" zu 155 . Denn wie anders, wenn nicht unter Wahrung dieser alles entscheidenden Prämisse könnte die Grundidee des Christentums ausgesagt werden? Das Verdienst Christi, beruhend auf seiner freiwilligen Erniedrigung, seiner Selbstverleugnung, seinem Gehorsam bis zum Kreuz, wäre ja kein Verdienst, wenn sich Christus nicht unabhängig dazu hätte bestimmen können. Ohne das Eindringen in den Sinn der Freiheit, der „Abgeschnittenheit" des Sohnes vom Vater muß also ein Verständnis des Christentums unmöglich bleiben15β. Nun hat die Phase der Trennung des Sohnes vom Vater in der Normaldogmatik keinen Platz; sie kennt nur Christi Zustand vor der Erniedrigung, also in seiner reinen Gottheit und dann den seiner Inkarnation im Fleisch. Deshalb muß, das betont Schelling mit allem Nachdruck 157 , ein „Zwischenzustand" angenommen werden, in welchem Christus außergöttlich, obwohl nicht Mensch, und als solcher Herr des vom Vater dispensierten Seins ist158. Eben diese These vom Zwischenzustand des Erlösers findet Schelling belegt in den Worten έν μορφή θ-εοϋ υπάρχων. Sie müssen die ganze Beweislast tragen 159 , aber sie können es auch: Es gibt kein besseres Argument für „jenen Zwischenzustand einer vom Vater unabhängigen Herrlichkeit, die der Sohn vor der Erscheinung als Christus hatte" 1β0 . 149

PhO, S. 456. PhO, S. 432. Es sind ja „die Sprache Christi selbst und des N.T. überhaupt . . . überall dem Gegenstande und zwar auf das zarteste angemessen". PhO, S. 639. 161 152 Vgl. PhO, S. 440. Vgl. PhO, S. 435. 153 164 Vgl. PhO, S. 437f. Vgl. PhO, S. 440f. 155 168 Vgl. PhO, S. 440. Vgl. PhO, S. 431. 157 168 Vgl. PhO, S. 432. Vgl. PhO, S. 438, 432f. 159 160 Vgl. PhO, S. 432ff., 577. PhO, S. 434. 150

126

Die Möglichkeit, die der Sohn als der Herr der zweiten Potenz besaß, nämlich sie in ihrem Abfall von Gott zu fixieren — diese Möglichkeit verschmähte der Sohn. Darin ist er Christus 161 . Aber dieser bloße Verzicht genügt nicht. Das verlorene Sein kann nur heimgeholt werden zu Gott, indem ihm in seine Gottentfremdung nachgegangen wird 162 . Nur sind dabei die gewohnten Vorstellungen umzukehren, nur müssen die Akzente im großen Thema „Vermittlung" neu gesetzt werden 163 : Nicht als ob erst die Menschwerdung das Sein des Sohnes außerhalb des Vaters manifestierte — die vom Vater unabhängige, also noch zum Aufrichten des Eigenwillens fähige, autonome Existenz des Sohnes charakterisiert vielmehr die Mythologie 164 . Denn auch in der Mythologie, also im Judentum und Heidentum, hatte sich ja das vermittelnde Wirken im Außerhalb Gottes abgespielt. Die theogonische Bewegung war natürlich-kosmisch geblieben. Die Wirkung der vermittelnden Potenz auf das gottwidrige Sein war die Wirkung einer nur bzw. noch außergöttlichen. Die Dialektik des religiösen Bewußtseins blieb in der Mythologie quasi innerhalb der Außergöttlichkeit 165 . — Erst in der eigentlichen Inkarnation vollzieht sich der Überschritt, der die wirkliche Lösung der Aufgabe des Vermittlers, die Rückführung des abgefallenen Seins zum Vater, bedeutet 166 . Zur wahren Versöhnung gehört, daß die vermittelnde Persönlichkeit mit ihrer über das „Unprincip" erlangten Herrschaft sich wiederum selbst aufhebe. Indem sie sich freiwillig aufgibt, wird die Macht des in der Mythologie wirkenden notwendigen Prozesses gebrochen. Was die Rede vom „Gehorsam Christi" 167 besagt, ist eben dies, „sich selbst als Außergöttliches Gott zum Opfer zu bringen", und dieser Wille bezwingt den göttlichen Willen so, daß er den auf dem Menschengeschlecht und allem Sein liegenden Fluch annullieren kann 168 . Der Göttliche selbst hebt sein außergöttliches Sein auf, in seinem Tod stirbt die natürliche Potenz — all diese aus der Passion Christi stammenden Wendungen, inklusive der ständigen Heranziehung der Opferterminologie, werden bei Schelling ganz auf die Inkarnation bezogen. Das „große, ewig gültige Opfer", welches alle Spannung zwischen Gott und Welt löst, ist „der Sinn der Menschwerdung" 169 . Die Inkarnation also, nicht sein Kreuzestod, macht Christus zum ewigen Versöhner. Sein Tod ist in der Menschwerdung bereits angelegt und bedarf daher keiner sonderlichen Akzentuierung 170 . Die äußeren Umstände des Todes Jesu unterliegen, für sich betrachtet, bloß der Kategorie der Merkwürdigkeit 171 . 181 168 165 1,7 169 171

Vgl. PhO, S. 428f. Vgl. PhO, S. 441. Vgl. PhO, S. 448f., 470. PhO, S. 428f. PhO, S. 471, vgl. S. 442. Vgl. PhO, S. 589 f.

182 184 188 188 170

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

PhO, S. 445. PhO, S. 446. PhO, S. 442. PhO, S. 450, 470. PhO, S. 473f., 585f., 587f., 590.

127

Mit dem allen ist nun „der Inhalt der Offenbarung und des Christenthums" seinem Grundgedanken nach klar ausgesprochen172. Als brauchbare Zusammenfassung bietet sich der Satz an: „Der wahre Sohn, die Persönlichkeit, die in der bloß natürlichen Potenz verborgen ist, die, welche von Anfang an schon — in Übereinstimmung mit dem Vater, den Willen hatte, das von Gott abgefallene Seyn zurückzubringen, diese nämlich ist ebenso die Ursache aller Offenbarung, wie eben dieselbe als bloß natürliche Potenz die Ursache aller Mythologie ist." 173 e) Die Satanologie Wenn nicht bereits alles Vorige, so muß Schellings Satanologie deutlich machen, daß sich seine Spekulation gegenüber der kritischen Erforschung der Evangelien und der Dogmen in einer eigenen Welt befand 174 . Auf welchen Motiven beruht die Wirkung, die Anziehungskraft dieser „unkritischen" Satanologie? Zunächst aber: wie sieht sie aus? Das Neue Testament schreibt dem Satan eine so bedeutende Rolle zu, daß eine philosophische Untersuchung dies nicht ignorieren kann. So hatte Schelling denn auch schon eine ausführliche Äußerung über die eigentliche Natur des Widersachers angekündigt 175 . Seine Darstellung der Satanologie zerfällt in einen „kritischen" und einen „positiven" Teil 17β . Der kritische Teil enthält in vier „Bemerkungen" so etwas wie eine freie Paraphrase der Aussagen orthodoxer Dogmatik zum Thema. Wiederum verschmäht es Schelling nicht — dies ist der Inhalt der ersten Bemerkung —, durch penible Erwägungen zum Wortsinn von „Satan" den Eindruck exegetischer Akkuratesse zu erwecken177. Zweitens geht es dann um die „Würde" des Satans 178 . Christus selbst verleiht ihm mit dem Titel „Fürst dieser Welt" eine auffallende Erhabenheit 179 . Dieselbe zeigt sich besonders in der Versudiungsgeschichte. Der Versucher verkörpert das Weltprinzip und muß daher weit mehr sein als bloßes Geschöpf180. Andernfalls wäre es nicht einzusehen, wieso Christus zu seiner Überwindung sich selbst habe einsetzen müssen. Es wird aber erklärlich durch die Annahme einer anfänglich niveaugleichen Position Christi wie seines Widersachers. Beide müssen einander würdig sein. Auch darin ist der Satan und sein Reich mit Christus auf eine Linie zu stellen, daß er wie jener weder ein Geschöpf nodi ein Prinzip für die 172

Vgl. Zur Dogmatik 385. 175 Vgl. i " Vgl. 178 Vgl. 174

128

173 PhO, S. 450f. PhO, S. 480. Kritik vgl. das besonnene Urteil bei W. Gass, Geschichte der prot. in ihrem Zusammenhang mit der Theologie überhaupt, 4. Bd., S. 359-

PhO, S. 49. PhO, S. 635, 645, 650f. PhO, S. 638.

178

Vgl. PhO, S. 633. S. 645. Vgl. PhO, S. 646.

178 V g L P h 0 )

180

Ewigkeit sein kann; sein Begriff muß in der Mitte zwischen beiden angesetzt werden 1 8 1 . Auffallend karg äußert sich Schelling, drittens, über den Satan als negatives Moment, etwa als Feind der Schöpfung 1 8 2 . Solche herkömmlichen, moralischen Kriterien will er ja gerade überwinden. Denn der Satan ist, viertens, ein Werkzeug Gottes im Vollsinn des Wortes. Ein Werkzeug, dessen von Gott selbst gutgeheißene Funktion darin besteht, den Schein zu entlarven, das Unentschiedene zur Entscheidung und so die Wahrheit an den T a g zu bringen 1 8 3 . Die Teufelsgestalt gewinnt so die sympathischen Züge von Unbestechlichkeit und Scharfblick. Der Teufel läßt sich nicht düpieren; allen Dünkel stellt er bloß 1 8 4 . So wird er zum anerkannten Prinzip der Ökonomie Gottes 1 8 5 . Die Hiobsgeschichte zeigt, daß der Satan, seiner Idee nach, eine Macht ist, die „ohne selbst böse zu seyn, dennoch das verborgene Böse hervor- und an den Tag bringt". Die dem Satan zugeschriebene Schadenfreude ist in Wirklichkeit eine Freude über das Offenbarwerden der Wahrheit 1 8 6 ! Als zur göttlichen Weltregierung unentbehrliches Prinzip kann er nicht unbedingt böse sein 187 . Mit seiner Wirksamkeit innerhalb der göttlichen Ökonomie verträgt sich daher keineswegs die Annahme seines durch Empörung gegen Gott veranlaßten Verstoßenwordenseins 188 . Diese Korrektur liegt im übrigen im Interesse der Theologie selbst, nicht nur, weil sie dem Neuen Testament entspricht, sondern weil sie die Theologie von der Belastung durch das Problem der Zulassung des Bösen befreit. Ist der Satan jenes Respekt heischende Prinzip, „das zur göttlichen Offenbarung, zur Schöpfung selbst notwendig ist", so erübrigen sich die theologischen Schutzbehauptungen 189 . Von diesem Punkt der Satanologie aus fällt nun noch ein klärendes Licht auf die Schellingsche Verwendung der Begriffe Möglichkeit und Wirklichkeit, welche in der Christologie zur Differenzierung von Christi Wirksamkeit in der Mythologie und in der Offenbarung gebraucht worden waren 1 9 0 . Der Satan ist darin ein zur Hervorbringung der vollkommenen Wahrheit notwendiges Prinzip, daß er der Schöpfung zu ihrer völligen Wirklichkeit verhilft, indem er die ganze Palette anderer möglicher Verwirklichungen bereithält 1 9 1 . Erst unter der Konkurrenz und in der Bedrängnis schlechterdings nicht auszuschließender Möglichkeiten kann ein Willensentscheid wirklich ernstgenommen werden. Im bewußten Sich-Abtrennen von anderen sich anbietenden Entwicklungsverläufen gei8i 183 185 187 189 191

9

pho, S. 637f. Vgl. PhO, S. 654. Vgl. PhO, S. 639. Vgl. PhO, S. 645, vgl. S. 642. PhO, S. 654. Vgl. PhO, S. 666.

Vgl>

Brandt, Gotteserkenntnis

182 V g l 184 Vgl. iss V g L 188 Vgl. 190 Vgl.

PhO, S. 639. PhO, S. 667. PhO, S. 640, 653. PhO, S. 652. PhO, S. 661. 129

winnt das dann Bestehende seine Selbstbestätigung und seine Ehre 192 . Und zwar ist das Wirken des bösen Prinzips mit seinen ständigen Offerten von Möglichkeiten weit davon entfernt, sich nur auf die „Vergangenheit" zu erstrecken. Vielmehr ist ihm in gewissem Sinn das Prädikat der Allgegenwart zuzuschreiben. Immer wieder, immer neu und immer anders erregt und bewegt es das menschliche Leben. Ohne dieses Prinzip würde „die Welt einschlafen, die Geschichte versumpfen, stillstehen" 193 . Der apostolische Vergleich des Satans mit dem hungrigen Löwen, der umhergeht und sucht, welchen er verschlinge, liegt ganz im Sinne der philosophischen Idee des Satans. Sein „Hunger" meint eben die ewige Sucht des bösen Prinzips, die ihm inkorporierten Möglichkeiten mittels des menschlichen Willens in die Wirklichkeit umzusetzen 194 . In diesen Zusammenhang gehört denn auch die Angelologie. Die bösen195 wie die guten 196 Engel werden ihrem Wesen nach übereinstimmend als reales Bild jener Möglichkeiten und Potenzen verstanden, welche gewissermaßen ständig auf dem Sprunge sind, sich einer ihrer Substanz ungewissen und also wankenden Welt zu bemächtigen197. Der vom Fall des Menschen herrührende Unterschied zwischen bösen und guten Engeln ist nur ein relativer, nämlich ein Gradunterschied ihrer realen Verwirklichung 198 . Dies ist das einhellige Zeugnis Alten wie Neuen Testaments 199 . So rücken böse wie gute Engel zusammen unter ihren Inbegriff, den der Möglichkeit, welche der Wirklichkeit ständig ihre Alternativen vorführt und ihr — in der Ermöglichung ihrer Selbstbehauptung — Selbstbewußtsein verschafft. Hatte der kritische Teil der Satanologie die Unangemessenheit einer Deutung des Satans als bloßen Geschöpfes unter Berufung auf die bestimmtesten Aussagen des Neuen Testamentes aufgedeckt, so ist die sich anempfehlende Ansicht, Satan als Prinzip zu verstehen, nun auch positiv zu erläutern 20°. Erstens. „Bis auf die letzte Kategorie verfolgt, gehört der Satan durchaus zu der des nicht Seyenden" — das ist der Sinn seines hebräischen Namens „Belial" 201 . Die beabsichtigte Konsequenz dieser Bestimmung ist eben im Vorgriff unter dem Thema Möglichkeit—Wirklichkeit schon erläutert worden. Zweitens. Auch die „höchst bedeutende Äußerung über die Natur des Satans" im Johannesevangelium (8,44), welche als Wesensmoment seiner Natur aufstellt, nur Lüge sein zu können, entspricht als willkommenes 192

Vgl. Vgl. 198 Vgl. we v g L zoo v g i . 194

130

PhO, PhO, PhO, PhO, pho,

S. 651, vgl. 673f. S. 663. S. 676 ff. S. 676. S. 648, 650.

193 PhO, S. 662f. iss v g L pho, S. 672 ff. is? vgl. pho, S. 674. 199 Vgl. PhO, S. 679. 201 PhO, S. 650.

Detail dem Begriff des Satans als Prinzip der Möglichkeit und läßt sich ihm ganz zuordnen 202 . Beides läßt sich, drittens, dahin zusammenfassen, daß „dieser Geist das nothwendige principium movens aller Geschichte ist" 203. Das gilt sowohl in bezug auf die persönliche Geschichte jedes einzelnen Individuums 204 wie hinsichtlich der gesamten Menschheitsgeschichte in all ihren Phasen 205 . So ergibt sich, viertens, die philosophische Einsicht in die Doppelheit der Satansvorstellung, in seine „zweiseitige Natur". Indem er das in seinen Möglichkeiten schlummernde Böse aufzuwecken trachtet, permanent Zwietracht stiftet, zur Obstruktion und zum Dissens anleitet, geschieht dies alles gleichwohl zum Zweck, die Wahrheit zu bekräftigen bzw., wo sie eine vorgetäuschte sein sollte, in ihrer Nichtigkeit bloßzustellen. Erhält aber der Satan so trotz, nein auf Grund seiner unablässig irritierenden Tätigkeit, sozusagen Anteil am Ethos aller kognitiven Bemühungen — wie kommt es, daß in den Reden Christi der Satan so einseitig als hassenswert und widergöttlich gezeichnet wird 206 ? Die Antwort muß berücksichtigen, daß Christus nicht auf dem philosophischen, sondern auf dem praktischen Standpunkt steht 207 . Sie muß mit anderen "Worten das Werk in den Blick nehmen, welches Christus durch seine Selbstentäußerung auszuführen sich entschlossen hatte. Ganz in die Menschheit versenkt, fand er sich angesichts des Satans einem Willen konfrontiert, den er nur unter Aufbietung aller Kraft bezwingen konnte. Diese Beziehung duldete keinen neutralen Sektor. Der Kampf mußte die ganze Persönlichkeit restlos in Anspruch nehmen. Nur so konnte die Menschheit der objektiven Herrschaft des bösen Prinzips entrissen werden. Nur das völlige Durchtränktsein Christi mit Feindschaft gegen den Satan vermochte ihn völlig zu treffen 208 . Schelling argumentiert dabei von der Inkarnation aus; von der Inkarnation, wie er sie versteht, nämlich beinhaltend nicht nur das gänzlich Sichanheimgeben der zweiten Potenz an das abgefallene Sein und ihre Identifizierung mit ihm, sondern dann auch ihr Sichaufopfern, ihr Verzichttun auf die mögliche Eigenständigkeit und damit endlich die Rückführung des Abgefallenen aus der Entfremdung ins Reich des Vaters. So öffnet die Satanologie mit ihren Anfechtungen und der Gefährdung durch die dunklen Möglichkeiten erst den Blick für das wunderbare, durch seine κένωσις erwirkte Verdienst Christi. 202

PhO, S. 659 f. 204 vgl. pho, S. 662. 206 Vgl. PhO, S. 667. joe Vgl. pho, S. 670.

9*

203 206 207

PhO, S. 663. Vgl. PhO, S. 661 f. Vgl. PhO, S. 663.

131

f ) Zusammenfassung

und Überleitung

Befragt man die skizzierte Satanologie auf die ihre Gestalt prägenden Motive, so vermag die Antwort darauf auf die hier übergeordnete Frage nach dem Grund der Rezeption Schellings seitens der Theologie ausgedehnt zu werden. Dies Verfahren, das sich übrigens im Einklang mit Schellings eigener Ansicht befindet 209 , soll die während der Darstellung an einzelnen Punkten gemachten Andeutungen zusammenfassen und abrunden. So ist schon die Art und Weise, in der Schelling auf den Vorwurf reagiert, die Neubestimmungen seiner Philosophie zögen die Richtigkeit der üblichen dogmatischen Vorstellungen in Zweifel, höchst charakteristisch. Seinem Verständnis des Satans als eines ungeschaffenen Prinzips liegt ja nichts ferner als die Absicht, „die Realität jener Idee . . . zu bestreiten" oder „der Würde des Satans selbst etwas zu entziehen" 210 — ganz im Gegenteil! Indem die Philosophie das Dürftige und Kleinliche der dogmatischen Ansicht gewahrt, entsteht ihr die Aufgabe, das Dogma nicht etwa zu beseitigen, sondern zu seiner Wahrheit zu erheben. Nur wenn es in seiner „höheren Bedeutung" gefaßt wird, kann es der Wahrheit entsprechen. Diese Entsprechung ist nun desto genauer, je realer die Vorstellung — hier also die des Satans — genommen wird. So stehen Schellings dogmatische Modifizierungen im Zeichen massiver Realitätssteigerung211. Realität und Wahrheit korrespondieren einander, wobei, wie das schon die Freiheitslehre zeigte, das Lebendige und das Persönliche Hauptbedingungen der Realität sind. Angesichts der Auflösungserscheinungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts mußte sich Schellings Philosophie theologisch im Hinblick darauf anempfehlen, daß sie sich nicht durch Preisgabe dogmatischer Positionen dem Zeitgeist anzuschließen, sondern sich auf Grund ihres „gnostischen" Charakters jedes Substanzverlustes energisch zu erwehren schien. So mußte dann auch die Potenzenlehre als Deuteschlüssel für die Zentraldogmen akzeptabel erscheinen. Wichtiger als die Risiken dieser Auslegungsweise war ihre Grundtendenz, keinerlei theologisches Terrain aufzugeben, sondern es allen Anfeindungen zum Trotz zu behaupten und womöglich weiter zu befestigen. Besonders erfolgversprechend nahm sich der heilsgeschichtliche Aspekt der Potenzenlehre aus, der es gestattete, dem Christentum alle außerchristliche Wahrheit als „relativ" einzugliedern, ohne nun auch das 209

„Die Vorstellungen des Satan wie die der guten und bösen Engel greifen so tief in den ganzen Inhalt des Christenthums, daß wer darüber seine Ansicht nicht festgestellt hat, über den Sinn des ganzen Christenthums nur schwankender Vorstellungen fähig ist." Vgl. PhO, S. 684. 210 211 PhO, S. 634. Vgl. PhO, S. 635. 132

Christentum seinerseits zu relativieren, sondern so, daß sämtliche Bezüge den Erweis für die absolute Spitzenposition des Christentums erbrachten 212 . Dem durch Schellings Philosophie solchermaßen ermöglichten Totalaspekt entsprach ein nicht leicht zu definierendes Gefühl, mit dieser Philosophie ganz besonders dicht am wirklich Wesentlichen zu sein. Ein Gefühl, welches Schellings Philosophie um so leichter vermitteln mußte, als sie die Möglichkeit bot, die durch die historische Kritik dringlich gewordenen Probleme mit dem Stempel der Unwichtigkeit zu versehen und dadurch zu entkräften, daß man sie als Oberflächen- und Randprobleme signierte, die im Vergleich zu den tiefen Zentralfragen im Vordergründigen stecken blieben. Die Beschäftigung mit ihnen mußte, überspitzt gesagt, als Allotria erscheinen. Man kann dies gut an der Einschätzung des Historischen illustrieren. Die Beschäftigung mit dieser Materie wird zwar keineswegs verschmäht — historisch-exegetische Subtilitäten wurden ja zu Beweiszwecken gern verwendet 213 . Aber historische Argumente haben im Grunde doch nur subsidiären Wert; sie belegen das schon Gefundene und für sich Feststehende. So erklärt sich auch das Willkürliche im Heranziehen biblischer Stellen. Sie sind willkommen, wo sie brauchbar sind und werden im übrigen ignoriert. Diese antikritische, „philosophische" Verfahrensweise weiß um ihre Überlegenheit über die engen und trokkenen Problemstellungen der neueren Exegese, welche im Geflecht der Einzelheiten hängenbleibt, ohne den Durchstoß zum Ganzen, zum Wesentlichen zu unternehmen. Dies tut Schellings Philosophie. Sie hat daher das Recht, sich über hemmende Bagatellen hinwegzusetzen; und sie ist dies ihrem großen Stil auch schuldig. Sie ist das Vorbild für eine theologisch freie Textbehandlung, die sich aus den exegetischen Niederungen schnell zum „Eigentlichen" erhebt. Solch großzügiger Stil ist auch die Ursache für das fehlende Verhältnis zum Thema der Ethik. Die Moral und ihre Probleme liegen unter dem Niveau einer Philosophie der Offenbarung. Die Ethik gerät so in die Nähe jenes dürren Gebietes der Historie. Wie dieses wird sie für philosophisch bzw. theologisch zweitrangig erklärt. Diese Philosophie hält sich die Rückfrage nach der Verifizierbarkeit ihrer spekulativen Aufstellungen an den historischen Dokumenten vom Leibe, und sie suspendiert die 212 Damit ist eine geschichtliche Entwicklung innerhalb des Christentums nicht ausgeschlossen. Nur begibt man sich mit diesem Thema „aus dieser höhern und innern Geschichte in die äußere" (PhO, S. 685). Wie in vorchristlicher Zeit durch Mose, Elia und Johannes den Täufer, so werden ihre Phasen im Christentum durch Petrus, Paulus und Johannes repräsentiert (PhO, S. 694f.). Letzterer ist der Apostel der Zukunft; die letzte Epoche der Kirchengeschichte steht unter seinem Namen (PhO, S. 716ff., 720ff.). 213 Vgl. PhO, S. 654, 657.

133

Ethik samt ihrer Intention, sich praktisch zu verwirklichen eben um ihres empirisch-realen Momentes willen von der philosophischen Hoffähigkeit. Das geistvolle, beinahe spielerische Sich-Orientieren am orthodoxen Dogma, also das Festhalten am Dogma unter Vermeidung des Verdachtes, dies in einer unphilosophisch engen Weise zu tun, ist nun, Schellings anderslautenden Äußerungen zum Trotz, Ausdruck einer Subordination der Offenbarung unter die Philosophie. Schelling hatte ja ausführlich erörtert, daß sich die Philosophie bei ihrem Reden von der übervernünftigen und übergeschichtlichen Offenbarung stets nur der Retrospektive bedienen, somit die gegebene Offenbarung bloß begreifend nachvollziehen könne. Doch dieser Nachvollzug erweist sich nun als qualitative Uberordnung der begreifenden Philosophie über das ihr zur Erklärung Aufgegebene. Wohl liegt, wie Schelling gern zugesteht, die Bedingung zu dieser Möglichkeit im Kampf Christi mit dem bösen Prinzip. Dieser Kampf war die Lösung einer praktischen Aufgabe, die sich in der puren Einseitigkeit vollziehen mußte. Das Verständnis freilich dieses Kampfes in seiner Bedeutung für das Ganze, somit das Verständnis des Universums selbst, ist erst der Philosophie gegeben. Sie ist über das Einseitig-Praktische und -Historische zur Theorie fortgeschritten. Erst sie kann das Universum „von allen Seiten mit vollkommener Geistesfreiheit betrachten" 214 . Wie wird eine Dogmatik ausfallen, deren Verhältnis zu Schelling als das ausdrücklicher Sympathie bezeichnet werden muß? Es ist Zeit, sich „Die christliche Dogmatik" von H . L. Martensen näher anzuschauen. 214

134

PhO, S. 670, vgl. S. 663.

III. Martensens „christliche Dogmatik" 1. Die Prolegomena α) Das reformatorische Prinzip und der Nachholbedarf der Dogmatik „Die christliche Dogmatik" 1 Martensens tritt mit dem Anspruch auf, die genuin reformatorische Forderung nach lückenloser Aufarbeitung aller Glaubensartikel wenigstens intentional zu erfüllen. Sie weiß sich in dieser Zielsetzung einig mit dem Prinzip der Reformation und betrachtet ihr Unternehmen infolgedessen als die getreue Ausführung des in der Reformation beschlossenen Grundgedankens. Allerdings — die im Prinzip der Reformation enthaltenen Schätze sind großenteils noch nicht ans Licht gebracht, und so möchte Martensen mit seiner Dogmatik diesen verborgenen Reichtum in seiner Fülle entfalten und darstellen 2 . Luther hatte im genauen Bewußtsein für das zur „Gesundheit der evangelischen Kirche" Notwendige ein lebendiges, harmonisches Wechselverhältnis zwischen christlicher Subjektivität und christlicher Objektivität zur Basis seines theologischen Handelns gemacht 3 und an diesem von allen Einseitigkeiten freien Leitbild, welches Martensen in Luther hineinprojiziert, will er sich orientieren. Der Reichtum einer Religion beruht immer auf ihrer gemeinschaftsbildenden Macht. Wenn sie sich jedoch darin erschöpft, bloß Sache des einzelnen zu sein, kommt es zum Auseinanderbrechen zwischen Subjektivem und Objektivem, und mit der Vergleichgültigung des letzteren fiele der Reichtum der Religion mit ihrer Fülle dahin 4 . Das durch die Reformation eröffnete kirchliche Leben muß als die wahre Mitte aller Gegensätze verstanden werden, als das organische Zusammenspiel der aus der Isoliertheit freigesetzten Momente. Sollte später das Bild einer Kirchengestalt, welche sich frei hält von Radikalismen, sie aber zugleich — entschärft — in sich dulden kann, zur Leitidee für Martensens Handeln als Primas der dänischen Kirche werden, so motiviert es hier das historische Urteil, die Reformation habe sidi ebenso bemüht, „das objektive Christentum wiederzugewinnen" 6 , wie die persönliche Uberzeugung aufzuwecken. Sie stelle somit dar bzw. 1

Dänisch 1849; zitiert wird nach der „vom Verfasser selbst veranstalteten deutschen Ausgabe", Berlin 1856. 2 3 1 Vgl. D, S. VIII. Vgl. D, S. 42. Vgl. D, S. 6 f. 6 D, S. 31. 135

fordere die freie, gleichmäßige Einung von Inhalt und Innerlichkeit, Offenbarung und Selbstbewußtsein als der beiden den Glaubensbegriff erst voll konstituierenden Prinzipien. Aber freilich, darüber kann nun nicht länger Zweifel herrschen, daß das Bemühen um Ausgleich zwischen dem oft überbetonten subjektiven und dem meist vernachlässigten objektiven Prinzip auf die Forderung hinausläuft, eben dies vernachlässigte neu zu erarbeiten. Und wenn Martensen als das Ziel seiner dogmatischen Bemühung „die wissenschaftlich vollzogene Synthese des christlichen Erlösungsbewußtseins und des christlichen Offenbarungsbewußtseins" bezeichnet6, so zeigt sich bald, was bei Martensen den Akzent trägt. Er sagt denn auch ausdrücklich, worin seiner Meinung nach der Nachholbedarf der gegenwärtigen Theologie bestehe 7 und wie sich demzufolge seine Dogmatik charakterisieren ließe. Wenn die zentrale Einheit von Gefühl, Wissen und Wille 8 den Glaubensbegriff ausmacht, ihm also die fides quae und die fides qua integriert sein müssen, dann muß doch in Frage gestellt werden, ob der protestantische Lehrbegriff schon im 16. Jahrhundert in jener Katholizität ausgebildet war, „daß alle Momente des christlichen Glaubens gleichmäßig wiederbelebt und erneuert wurden" 9 . Ein ganzer Strang von dogmatischen Wahrheiten war ja im Grunde nicht zur Geltung gelangt 10 . Und die bekannte Tatsache, daß Melanchthon die einseitige Bevorzugung des applikativen Elementes in den späteren Auflagen der Loci korrigierte 11 ist nur Indiz für ein noch gegenwärtiges Bedürfnis. Denn so wenig wie die Mystik kann ihm die „neuere Gefühlstheologie" Genüge tun. Zur Würdigung der „Thatsachen der Offenbarung" 12 bedarf es vielmehr eines intellektuellen Sinnes für das religiöse Objektivitätsverhältnis; die Dogmatik braucht ein kontemplatives Auge für das Reich der Offenbarung 13 will sie „die eigne Intelligenz des Glaubens" entfalten 14 . Sie stellt sich also in die Reihe jener Dogmatiker, welchen erst die zweifelsfreie Glaubensgewißheit den Impuls zur dogmatischen Darstellung gab: Irenäus, Athanasius, Anselm, Thomas 15 . 6

D, S. VIII. Schon früher hatte er vom „dogmatischen Defizit" gesprochen, Nutidens religiose Crisis, S. 67. 8 9 Vgl. D, S. 11. D, S. V. 10 „Die großen Wahrheiten von dem fleischgewordenen Logos und der damit verbundenen Trinitätslehre, von dem Zusammenhange des Mysteriums der Schöpfung mit der Incarnation, von der Gegenwart des Herrn in den Sacramenten, von der Auferstehung des Fleisches und der Vollendung aller Dinge." Ferner die im Epheser- und Kolosserbrief enthaltenen „großen Ideen von der kosmischen Bedeutung Christi", nicht zuletzt auch die Apokalyptik: „Denn wer kann leugnen, daß die Lehre von den letzten Dingen zu den schwächsten, am wenigsten ausgeführten Punkten des protestantischen Lehrbegriffs gehört?", D, S. VI. 11 12 13 Vgl. D, S. 60. D, S. 58 f. Vgl. D, S. 59. 14 15 D, S. 4. Vgl. D, S. VI, 4. 7

136

b) Der innerkirchliche Standort der Dogmatik Den Impuls zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit empfängt die Dogmatik also nicht durch die Skepsis, sondern durch den Glauben 1β , d. h. sie nimmt ihren Standort im Christentum ein 17 . Dieser an sich selbstverständliche Satz beinhaltet bei Martensen nun allerdings mehr. Er begründet seine Teilnahmslosigkeit gegenüber allen sich als voraussetzungslos deklarierrenden philosophischen Bestrebungen. Voraussetzungslos heißt bei Martensen prägnant: Verleugnung der Gültigkeit des „Credo ut intelligam" in jener schon vertrauten Auslegung, welche das Sich-Bekennen zur Kreatürlichkeit zur conditio sine qua non erkenntnistheoretischer Aussagen macht. Eine Philosophie, die die Kreatürlichkeit und damit die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen nicht eingestehen will, ist christlich gesehen bedeutungslos. „Denn nur durch die Wiedergeburt kann der durch die Sünde verdunkelte Menschengeist auf diejenige Stufe des Lebens und Daseins gehoben werden, wo er für göttliche und menschliche Dinge den rechten Blick hat." 1 8 Rationalismus und Naturalismus aber müssen schlechterdings blind sein für die Tatsache, „daß in Christo eine neue Erkenntnisquelle aufgethan ist" 19 , welche eine Fülle von Erkenntnissen ermöglicht, die aus dem Begriff einer fortschreitenden Vernunftentwicklung allein nicht ableitbar wären. Das Schreckbild eines Dualismus im Erkenntnisreich („Vernunft" — „Offenbarung") löst Martensen auf, indem er das „Schöpfungssystem" als Analogie heranzieht: So wie dieses durch die Duplizität zweier abgestufter Potenzen gekennzeichnet ist, so enthält audi das eine Vernunftsystem „zwei Potenzen der Offenbarung der Vernunft" 20 . Die Natur kann mit ihrem „verblümten" Zeugnis von der Gottheit des Schöpfers nur unvollkommenes Offenbarungsmittel sein. Aber audi die Weltgeschichte wäre als adäquates Medium nicht tauglidi — nicht nur wegen ihrer Gleichgültigkeit gegen die Individuen 21 , sondern weil sich auch in ihr keine direkte, unzweideutige Offenbarung Gottes vernehmen läßt. Dazu bedarf es vielmehr einer „Geschichte in der Geschichte", welche ausgesondert von der Profangeschichte den heiligen Weltzweck ungetrübt sichtbar macht. Sie bietet sich dem Dogmatiker dar als die Geschichte der Erwählung Israels, sodann als die heilige Geschichte Christi, welche bis in die Gegenwart hereinreicht: Aus ihr entsprang die christliche Kirche, und die Geschichte der christlichen Kirche durchströmt „die Weltgeschichte als eine neue Geschichte in der Geschichte"22. " Vgl. D, S. 57. D, S. 56. 20 D, S. 24, vgl. S. 25f. Μ D, S. 13. 18

17 19 21

Vgl. D, S. 2. D, S. 24, vgl. S. 25f. Vgl. D, S. 108, 129.

137

Im Unterschied zu der in Natur und sittlicher Weltordnung gegebenen generellen Offenbarung ist so die Kirche der Hort für die besondere, positive Offenbarung 23 . Es wird verständlich, daß eine Dogmatik, die dementsprechend in der Kirche als Offenbarungsinhaberin Fuß faßt, an den vorgelagerten Problemkreisen von Natur und Geschichte wenig Anteil zu nehmen braucht. Ein wirkliches Sicheinlassen auf sie bedeutete eine Problematisierung des schlechthin Unproblematischen: „Denn für die Dogmatik ist die absolute Wahrheit des Christenthums im Voraus und von aller Speculation unabhängig gegeben."24 Kann es sich so für den spekulativen Dogmatiker allein darum handeln, die als gewiß feststehende Wahrheit denkend tiefer anzueignen und wird dieser „Realismus", wie auch Martensen ihn nennt 25 , kritisch geltend gemacht gegen jeden „logischen Enthusiasmus", so kann dies an den realen Gegebenheiten der Offenbarung orientierte Bewußtsein ein Denkprinzip werden, welchem es gelingt, auf den Grund der Offenbarungstiefen zu gelangen und „ein geistiges Gegenbild der ewigen Offenbarungsweisheit hervorzubringen" 2e. Hiermit ist die Grundhaltung aufgezeigt, welche die Beschränkung dieser Prolegomena motiviert, die nichts weiter wollen, als „das kirchliche Erkenntnissprincip zu entwickeln" 27 . Die Philosophie ist als Gesprächspartner nur akzeptiert, sofern sie von der Theologie bloß durch ihre Methode unterschieden ist 28 . Als Verhaltenskanon zur nichtchristlichen Philosophie aber empfiehlt Martensen nun seinerseits den Skeptizismus29! Das Abstandnehmen, mit dem sich immerhin ein kulantes Geltenlassen verbinden kann 30 — in solcher Philosophie befindet sich der Logos noch im Reiche der Natur 3 1 —, dies Wahren der Distanz bezeugt, daß zur Zeit der Abfassung der Dogmatik noch nicht die philosophischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Probleme auf Martensen eingewirkt hatten, die dann in der Ethik zu dem Versuch führen sollten, diese Distanz zu überwinden. Die Dogmatik steht viel ungebrochener zu ihren Prämissen. Daß sie ihre Ungebrochenheit, ihr Nichtangefochtensein hauptsächlich Schelling verdankt, ließe sich bereits an dieser Stelle zeigen, wird jedoch im weiteren Verlauf noch deutlicher werden. 23

Vgl. D, S. 12f. D, S. 3. „Ein vom Zweifel ausgehungertes Bewußtsein hat nie eine Dogmatik hervorbringen können" (ebd.). 25 26 27 D, S. 3. D, S. 55. D, S. 26. 28 „Die Philosophie vertieft sich . . . in das Mannigfaltige und führt dieses auf das Eine, auf das Reich Gottes als den Mittelpunkt, der Alles klar macht, zurück; die Theologie, die Dogmatik hingegen nimmt von vorn herein ihren Standpunkt in dem Centrum . . . " (D, S. 64). 29 30 Vgl. D, S. 66. Vgl. D, S. 65-67. 31 Vgl. D, S. 66. 24

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c) Die spekulative Dogmatik und die Schrift Der Verengung der dogmatischen Diskussion auf den innerkirchlichen Bereich entspricht nun eine erstaunliche Freizügigkeit. Sofern die offenbarungstheologischen Prämissen unangetastet bleiben, darf die Dogmatik liberale Züge annehmen. Mit dieser Weitherzigkeit im Grundansatz steht und fällt die ganze spekulative Richtung der evangelischen Theologie32. Liberalität ist konstitutive Bedingung für alle Wissenschaft, welche es nicht beim explikativen Begreifen bewenden läßt, sondern sich dem Trieb zur Spekulation anvertrauen will. Daß man auf diesem Wege schnell mit jeder Art von fundamentalistischer Schriftauffassung in Konflikt gerät, obwohl man die Treue zur Schrift selbst bekundet, ist leicht abzusehen und muß bewußt in Kauf genommen werden. Solch purer, nämlich geschichtsloser Biblizismus ist, so behauptet sich Martensen, dem Geist des Luthertums durchaus fremd: Luther und Melanchthon haben in der Beurteilung auch der „Tradition", der dogmatischen sowohl wie der rituellen, „die größte Ehrfurcht und Behutsamkeit" an den Tag gelegt33. — Mit der bloßen Reproduktion des Schriftinhaltes ist die dogmatische Aufgabe also noch nicht erfüllt. Dementsprechend fordert Martensen einen speziell „dogmatischen" Schriftgebrauch, der sich über das beschränkte, auf der Anschauung, wahr sei nur das in der Schrift buchstäblich Nachweisbare, basierende Verfahren zu einer viel großzügigeren Handhabung aufschwingen sollte, „wobei man es nicht auf einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Stellen anlegt, sondern nur auf größere besonders fruchtbare Abschnitte Rücksicht nimmt, um so in dem Gedankengang der heiligen Schriftsteller dieselben Combinationen nachzuweisen, auf denen auch die dogmatischen Resultate beruhen" 34 . Konsequenterweise wird der Phantasie als dem „Organ des religiösen Erkennens" neben der Vernunft dogmatisch-kognitive Relevanz zugemessen35. Was das für die dogmatische Arbeit praktisch bedeutet, demonstriert Martensen selbst daran, wie er für sein spekulatives Vorgehen, das die Mediation der Antinomien im Begriffe verlangt 36 , die Entsprechung in der Schrift findet37. Dieses Beispiel kann generell die Bedingungen, denen sich eine ernstzunehmende Dogmatik stellen muß, aufzeigen. Man ermißt den Wert dogmatischer Sätze daran, daß sie sowohl der Forderung nach „Schriftmäßigkeit" genügen als auch der, daß sie „als innere und gegenwärtige Wahrheit im Bewußtsein müssen dargestellt werden können", 32

33 Vgl. D, S. IV. D, S. 34. 36 D, S. 50. D, S. 9. 3β Vgl. die Rezension der Dogmatik durch L. Schöberlein, ThStKr, Jg. 1852, 2. Heft, S. 393-467, dort S. 405. 37 Sirach 33,16: „Die Werke des Höchsten sind immer zwei wider zwei, und eins wider das andere geordnet." (vgl. D, S. 61). 34

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also entsprechend ihrer „Geltung und Bedeutung, welche sie in sich selber haben, unabhängig davon, daß sie geschrieben sind" 38 . Dieser — wie Martensen sagen würde — „relativen" Abhängigkeit des Schriftbezuges vom selbständig reproduzierenden christlichen Selbstbewußtsein entspricht nun noch eine Reihe ähnlicher Verhältnisbestimmungen, deren gemeinsames Ziel in dem In-Einklang-Bringen, in der Ausgewogenheit besteht, im Ausgleichen von Gegensätzen, die sich z.B. als orthodoxe biblizistische Dogmatik einerseits, als Gefühlstheologie andererseits verselbständigt haben. So wie das Verhältnis zwischen Biblizität und individuellem Gewissen des Dogmatikers wird immer wieder die Beziehung zwischen „Dogmatik und christlicher Wahrheitsidee" 39, das Recht des Gefühlsmäßigen gegenüber der Spröde wissenschaftlicher Begrifflichkeit, wie umgekehrt die Notwendigkeit des Uberwiegens des „Theoretischen" vor dem „Praktischen" erörtert. Der Akzent verschiebt sich dabei je nach der anvisierten Front. Gegenüber dem Bild einer biblisch erstarrten Orthodoxie verstärkt sich das Pathos liberaler Individualität; sie muß bei Ansprüchen an die Schriftgebundenheit als Lockerungsmittel dienen, um eine spekulative Dogmatik als reformatorisch zu legitimieren. Andererseits muß im Blick auf alles überschnelle Umsetzen der dogmatisch-spekulativen Wahrheit in das Anwendbare — sei es des Gefühls, sei es der praktischen Ethik — die Eigenständigkeit des Kognitiv-Theoretischen geltend gemacht und eingeprägt werden. Das ständige Aussein auf Realisierung in der Praxis kann den Blick für die Eigenständigkeit des spekulativen Interesses verstellen. Aufs Ganze der Dogmatik gesehen liegt der Akzent zweifellos auf dem letzteren. Denn „ein speculatives Schauen muß immer vorausgesetzt werden, wenn die Darstellung sich nicht in eine äußerliche Verständigkeit verlieren oder sich darauf beschränken soll, die christlichen Vorstellungen in ihrer praktischen, nur(!) anwendbaren Bedeutung aufzufassen" 40 . Es charakterisiert Martensens Dogmatik im entscheidenden ihres Selbstverständnisses, daß das Wissen um das „Stückweise" des Erkennens gerade keine Selbstbescheidung motiviert; seine Unabschließbarkeit ist kein Manko, dieselbe verweist vielmehr auf ein sich eröffnendes und so auch erreichbares „plus ultra". Spekulatives Begreifen „ist nur als werdendes" 41. Zwar spricht Martensen bei der Erörterung der Angemessenheit spekulativ-dogmatischer Aussagen von ihrer Gebundenheit an „historische und kosmische Bedingungen", worauf die Möglichkeit von wahrer, jedoch die 39 D, S. 54ff. 4 0 D, S. 61. D, S. 50. D, S. 62. „Jeder Abschluß im Begriff wird daher immer nur relativ sein, jede Lösung des Problems wird zugleich eine neue Schärfung des Problems sein; das in der Erkenntnis Abschließende wird zugleich das Divinatorische enthalten, das auf eines höhere Lösung hinweist" (ebd.). 38

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Unmöglichkeit von adäquater Erkenntnis des Wesens Gottes beruhe 42 — die letztere wird erst ein Kennzeichen der theologia beatorum sein, während die theologia viatorum nur zu einer „Schattenerkenntniss" gelangen könne 43 . Zwar wird sogar das Kapitulieren der Spekulation vor für sie undurchdringlichen Fragen als unausweichlich aus der Schrift begründet 44 . Aber schon gleich darauf sorgt das Postulat, richtige Rede vom Wesen Gottes sei nur möglich durch Verbindung von einander entgegengesetzten Schriftstellen, dafür, daß die spekulative Bewegungsfreiheit durch solche Vorbehalte nicht eingeengt wird 45 . Sätze wie der, daß unser Wissen Stückwerk sei, gelten zwar, aber doch nur cum grano salis. Die Unwidersprechbarkeit solcher biblischen Aussagen wird durch den Vorbehalt eines interpretatorischen Korrektivs neutralisiert, jedoch so, daß der Eindruck einer gewissen, jedenfalls positiven Biblizität gewahrt bleibt. d) Die Behandlung der Tradition Doch wie sehr Martensen auch seine Übereinstimmung mit dem Votum der Heiligen Schrift herausstreicht, wie aufrichtig er sich zur Selbstbescheidung angesichts des Mysteriums der ewigen Möglichkeiten der Offenbarung bekennt 46 — die Beschränkung ist vergessen, sobald es gilt, die Gottesidee von allem bloß Menschlichen zu reinigen und die „nominalistische" These zu bekämpfen, Gott werde von uns lediglich als heilig, gerecht usw. gedacht, sei es aber nicht an sich selbst. Mit dieser Unterschiebung rechtfertigt sich die Option für den „Realismus" und seine Lehre, „daß die Eigenschaften objective Bestimmungen in der Offenbarung Gottes sind" 4 7 . Unter der Voraussetzung, daß Gott sich in seinen Eigenschaften offenbart 48 , die die Fülle seiner Beziehungen zur Welt aussagen49, das Erfassen der Beziehungen aber das „Begreifen"®0 ermöglicht, wird die Eigenschaftslehre bei Martensen zu einem Glanzstück spekulativer Ausdeutung überkommenen dogmatischen Traditionsgutes. Es kann hier nicht im einzelnen gezeigt werden, mit welcher Eleganz Martensen dem alten Stoff neue Lichter aufsteckt, ununterbrochen ungewohnte, aber vielversprechende Perspektiven aufreißt. Das Folgende gibt nur ein karges Abbild davon. 43 Vgl. D, S. 100, 84. Vgl. D, S. 83, 202. Vgl. D, S. 82 (Sir. 18,2-6; 43,36). 45 Vgl. D, S. 83. 46 Vgl. D, S. 82. 47 D, S. 85. 48 Vgl. D, S. 84. 49 Vgl. D, S. 81. 50 „Begreifen heißt das Wesen in seinen Beziehungen erfassen, und wenn es nicht zu dem Wesen Gottes gehörte in Beziehungen sich einzufassen, sich begreiflich zu machen, so offenbarte es sich nicht. Nur in den inneren Beziehungen des Selbstbewußtseins besitzt Gott seine Gottheit; und nur dadurch, daß er sich zu seiner Welt in einer Mannigfaltigkeit von Beziehungen setzt, offenbart er der Welt sein Wesen." Vgl. D, S. 81. 42

44

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Gott ist der Ewige. Ewig nicht in toter Unveränderlichkeit — keine Stagnation, sondern „lebendige, in unverwelklicher Jugend emporblühende Ewigkeit" 5 1 . — Als der Ewige ist er der Allgegenwärtige, eine Bestimmung, welche das Entlassensein der Schöpfung, die in den Tiefen des Ewigen erst als Möglichkeit ruhte, zu einer von Gott verschiedenen, wirklichen Existenz impliziert. — Beide aber, Ewigkeit und Ubiquität, einen sich im absoluten Wissen Gottes: „ N u r der wissende Gott vermag auf einmal und in sich selbst und in seinem Geschöpf zu leben." 6 2 Und so geht es fort. Der allwissende Gott ist eo ipso der allmächtige; beide Eigenschaften werden umgriffen von der der Weisheit, des praktischen, teleologischen Wissens 53 . Wie bei Schelling erfährt die Weisheit Gottes ihre Deutung von Sprüche 8 her 54 und erhält zusätzlich ihren Ort in der Heilsgeschichte angewiesen 55 . — Die Macht der Weisheit ist die Gerechtigkeit, die Einheit von Weisheit und Gerechtigkeit aber Gottes Güte 5 6 . Zwar besitzt die gesamte Schöpfung eine Empfänglichkeit für die ihr mit diesen Attributen Gottes verliehenen Gaben, aber erst im Menschen ist sie so gesteigert, daß Gottes Eigenschaften als Ausdruck der göttlichen Liebe erfahren werden können 57 . In der Liebe sind alle Eigenschaften Gottes zusammengefaßt. „Die Weisheit ist ihre Intelligenz, die Macht ihre Productivtiät, die ganze Naturschöpfung und die ganze geschichtliche Gerechtigkeitsoifenbarung Mittel in ihrer Teleologie" usw. 5 8 . Mindestens ebenso gewandt, ja man ist hier versucht zu sagen: leger, wie in der Attributitenlehre verfährt Martensen in seiner Darbietung der Gottesbeweise. Auch hier dies Spielen mit Aspekten, die Leichtigkeit im Herstellen verlockender Bezüge, das Meisterliche der Komposition. Martensen gliedert die Beweise für das Dasein Gottes unter dem Gesichtspunkt der Weltbetrachtung (kosmologischer, teleologischer) und der Selbstbetrachtung (ontologischer, moralischer) 59 , relativiert aber im Verlauf der Darstellung dieses Gliederungsprinzip durch Querverbindungen, so daß der ontologische Beweis als subjektive Seite des kosmologischen erscheint; ebenso werden der moralische und der teleologische Beweis einander zugeordnet 60 . 5 2 D , S. 87. 63 Vgl. D , S. 89. D , S. 86. „Was die Speculation die Idee nennt, der weltbildende Gedanke, wird in der heiligen Schrift bezeichnet als die Weisheit, welche allezeit vor dem Angesicht des Höchsten spielte . . . Und sie wird beschrieben nicht nur als inneres Spiegelbild in Gott, sondern auch als der wirkende, allgestaltende Gedanke." D , S. 89, vgl. Martensen, J a k o b Böhme, S. 136f. 68 Vgl. D , S. 91. " Vgl. D , S. 89 f., 102 ff. 67 „Insofern die göttliche Lebensmittheilung v o m Standpunkt des Universums aus betrachtet wird, ist sie Güte, insofern man sie von dem der Persönlichkeit aus betrachtet, ist sie Liebe." D , S. 92. 68 D , S. 92-95. 59 Vgl. D , S. 69. 6 0 Vgl. D , S. 70f. 61 54

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e) Die vorgeschaltete

Trinitätslebre

Martensen wendet sich gegen den Pantheismus der allerneuesten Zeit, gegen die Konsequenzen, die das „junge Deutschland" aus der idealistischen Philosophie zog. „Anstatt Schelling's und Hegel's intellectuel-poetischer, logisch-mystischer Weltanschauung haben wir nun am Ende ein ganz ordinäres syst^me de la nature bekommen." 61 Mit dieser Feststellung enthebt sich Martensen der Auseinandersetzung. Schon die äußeren Kennzeichen dieser neuen Philosophie, ihr Abstieg in die „allgemeine Faßlichkeit", ihr Appell an die Massen führen bei Martensen zu einer Reaktion des Angewidertseins, das es verhindert, Namen zu nennen und Thesen zur Widerlegung vorzuführen. Und wenn Martensen einmal D. Fr. Strauss zitiert, dann nur, um ihn mittels eines Bibelwortes der Lächerlichkeit preiszugebene2. Unirritiert also von den Erschütterungen im Geistesleben seiner Zeit formuliert Martensen einen Gottesbegriff, demzufolge Gott als das „in sich centralisirte Absolute" und also als Wille und Persönlichkeit sich dem gesamten von ihm beabsichtigten Weltgeschehen vorausgesetzt hat 63 . Und gerade darin, daß er aus seiner ewigen Tiefe eine Welt geschaffener Wesen freisetzte, also seine Macht selbstbewußt beschränkte, erweist er sowohl seine Macht wie seine Vollkommenheit. Um sich beider zu vergewissern, bedarf Gott der Abspiegelung im relativ Selbständigen, er muß sich durch das „Andere" bedingen lassen 64 . Die entstehende Schwierigkeit, Gott sowohl als den zu denken, der sich selber genügt und Niemandes bedarf, wie auch als den, dessen Seligkeit durch die Vervollkommnung seines Reiches bedingt wird — „diesen Widerspruch vermögen wir nur durch die Betrachtung zu lösen, daß Gott ein zwiefaches Leben lebt, ein Leben in sich selber in unverdunkeltem Frieden und in Selbstgenügsamkeit, und ein Leben in und mit seiner Schöpfung, in welchem er sich den Bedingungen der Endlichkeit unterwirft, ja seine Macht durch den sündigen Willen des Menschen beschränken läßt" 65 . Es ist die spekulativ ausgeweitete Trinitätslehre, welche für eine derartige Lösung des Problems die Voraussetzungen schafft64. 6 1 „Unter den Händen dieses Geschlechts ist der mystisch-poetische Flügelstaub von dem pantheistischen Schmetterling verschwunden; der vorher so glänzende zeigt sich nun der Zeit nur in einer prosaischen Nacktheit, oder doch nur mit einem Todtenkopf auf den Flügeln" D, S. 77. 62 Vgl. D, S. 73 (Hiob 38,4 gegen D. Fr. Strauss, Christliche Glaubenslehre, 1840/41, 1. Bd., S. 351) vgl. L I, S. 142f. 83 D, S. 74. M Vgl. D, S. 75, vgl. S. 78, 99, 102, 105f. «5 D, S. 94, vgl. S. 105 f. ββ Die trinitarische Gliederung von Martensens Dogmatik (Lehre vom Vater, Sohn und Geist) hat ihr formales Vorbild in Ph. Marheinekes „Grundlehren der christlichen Dogmatik", Berlin 1819. Sein System hat die Teile: I. Von Gott, II. Von Gott, dem Sohn, III. Von Gott, dem Geist (ebenso in dem von Matthies

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Dabei vermag die aus dem menschlichen Bewußtsein genommene, mit der „Ebenbildlichkeit" theologisch gerechtfertigte Analogie zwischen göttlichem und menschlichem Selbstbewußtsein 6 7 den spekulativen D r a n g ebensowenig zu zügeln wie die historische Einsicht, diese Lehre sei nicht „auf rein metaphysischem Wege" entstanden, sondern habe sich „aus dem Glauben an die Thatsacben der Offenbarung" entwickelt 8 8 . Auch die kritische Funktion, welche Martensen der Trinitätslehre wohl zugesteht, tritt nur gegenüber einer sabellianischen, d.h. pantheistischen Vermengung zwischen Gott und Schöpfung in Kraft. Dabei werden charakteristischerweise Schleiermacher und Hegel gegen Schelling gestellt 6 9 . Die spekulative Ausmünzung der Trinitätslehre überdeckt so die kritischen und korrigierenden Aspekte, die ihr möglicherweise abzugewinnen wären. Sie verblassen vor der Forderung, Gott als ewiges Selbstbewußtsein, d.h. als die ewige Selbstobjektivierung, welche eine von der Schöpfung unabhängige Präexistenz des Vaters, des Sohnes und des Geistes impliziert, „nicht nur sich vorzustellen, sondern zu denken" 7 0 . So wie dieser als denknotwendig behauptete Gegensatz in G o t t 7 1 , so mutet auch seine Einpassung in das trinitarische Schema ganz Schellingisch an. N u r insofern hat eine Verbrämung des Anstößigen stattgefunden, als der bei Schelling allem vorausliegende Urgrund jetzt in die erste Potenz eingegliedert wird. „ D a ß Gott sich als Vater weiß, heißt also: Gott weiß sich als Grund des himmlischen Universums, das ewig aus ihm hervorgeht . . . D a ß Gott sich als Sohn weiß, heißt: Gott weiß sich als den, der von Ewigkeit her aus seinem väterlichen Grunde ausgegangen i s t . . . " 7 2 Wie bei Schelling bezeichnet der Uberschritt von der zweiten zur dritten Hypostase, also der Geist, das Verlassen der Sphäre der Notwendigkeit. D a s väterliche Pleroma, im Sohn als notwendig aufgehendes Idealreich offenbart, verklärt sich im Geist zu einer Fülle nunmehr frei konzipierbarer Willensakte 7 3 . D a s dreifache Verhältnis des göttlichen Ich zu sich selbst wird also bedingt durch das dreifache Verhältnis zur noch unerschaffenen himmlischen Welt. D i e drei „Ichpunkte" sind Ausdruck nicht ideeller, sondern und Vatke edierten 2. Band der theol. Vorlesungen, „System der christlichen Dogmatik", Berlin 1847). Die Trinitätslehre selbst behandelt Marheineke zu Anfang der Geistlehre (III.), während Martensen sie in dem der Lehre vom Vater vorangestellten „christlichen Gottesbegriff" traktiert. 67 Vgl. D , S. 100 Wie die Außenwelt Bedingung unseres eignen Selbstbewußtseins, so ist der Sohn die Bedingung der Ichheit des Vaters, vgl. D , S. 102f. 6 8 D , S. 96. 69 D , S. 96f. 70 D , S. 100. 7 1 Ebd., D , S. 99 Anm., S. lOlf. 7 2 D , S. 102, ebd.: „Ohne den Sohn könnte der Vater zu sich selbst nicht Ich sagen; denn die Ichform ist, ohne eine von dem Ich verschiedene Objectivität (ein Nicht-Ich, ein Du), in Verhältnis zu welcher es sich als Ich erfaßt, undenkbar." 73 Vgl. D , S. 103.

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hypostatischer Unterschiede, bedeuten Subsistenzformen, nicht nur Bewußtseinsformen74. Diese „Lehre von der innern Offenbarung Gottes", also von den innertrinitarischen Bezügen in Gott vor der Schöpfung, das, was Schelling die Vergangenheit in Gott nannte, wird bei Martensen geradezu zum Ausweis der Christlichkeit der Theologie75. Während die ganze Trinität in ihrem vorweltlichen Sein als ein gegenwärtiges Nun — „drei ewige Flammen in dem Einen Licht"™ — begriffen werden muß, obwalten in der Offenbarung ad extra zwar dieselben Momente wie in der inneren Selbstoffenbarung, doch bricht sich diese Parallelität an der Zeitlichkeit. Die Simultaneität in Gott kommt in der Geschichte sukzessive zum Vorschein77. Die ökonomische, die geschichtliche Dreieinigkeit gründet in der übergeschichtlichen, wesentlichen Dreieinigkeit78. Zwar ruht die Weltoffenbarung Gottes auf seiner ewigen Selbstoffenbarung als auf ihrer Voraussetzung. Dennoch bedarf Gott zu seiner vollkommenen Herrlichkeit der Ausdehnung seiner Herrschaft über eine wirkliche Geisterwelt. Sie aber soll nicht nur Objekt majestätischer Gewalt, sondern Gegenstand herzlicher Liebe sein. Dies ermöglichen Schöpfung und Menschwerdung (auch bei Martensen rücken beide sehr nahe zusammen)79. Sie bedeuten die Unterwerfung des Liebesverhältnisses zwischen Vater und Sohn unter die Bedingungen von Zeitlichkeit und erschaffener Endlichkeit. Dadurch aber, „daß Gott in Christo die erschaffene Endlichkeit in sein eigenes Wesen aufnimmt, wird das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht nur ein intellectuelles Liebesverhältnis, sondern auch . . . — ein pathologisches Liebesverhältniss, in welchem Gott sich nicht nur seiner Majestät, sondern auch seinem Herzen gemäß bewegt"80. Man könnte erwarten, daß nach dieser Vorordnung der Trinitätslehre, die ja schon Material der drei dogmatischen Hauptstücke — der Lehren von Vater, Sohn und Geist — in sich aufgenommen hat, diese Lehrstücke bei Martensen zusammengeschrumpft sein müßten. Zuviele Aussagen, besonders des ersten und zweiten Artikels, waren dieser spekulativen Dreieinigkeitslehre vorab inkorporiert worden. Trotzdem — erst die „Lehre vom Vater" und die „Lehre vom Sohne" bringt die eigentliche Entfaltung dessen, was innerhalb des „christlichen Gottesbegriffs" dogmatisch verhandelt worden war. 74

75 Vgl. D, S. 101, vgl. S. 96. Vgl. D, S. 102, 98f. D, S. 104; vgl. S. 96. 77 Vgl. D, S. 109, vgl. Martensen, Jakob Böhme, S. 40ff., 56ff., 243, 264. 78 Vgl. D, S. 105. 79 Christus ist der Erstgeborene aller Kreatur (D, S. 105); Gott schuf den Menschen nach dem Bilde des Sohnes, „der incarnirt werden sollte, so daß also bei der Schöpfung des Menschen das Christusbild Gott vorschwebte, dasselbe der Prototypus ist, danach der Mensch erschaffen ist." (D. S. 135) 80 Vgl. D, S. 105, vgl. S. 281, 283. 76

10

Brandt, Gotteserkenntnis

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2. „Die Lehre vom a) Der trinitariscbe Gottesbegriff

und die

Vater" Schöpfungslehre

Wie sehr sich Martensen bemüht, seine „Lehre vom Vater" 8 1 gemäß der im trinitarischen Gottesbegriff aufgestellten, an Schelling orientierten Prämisse zu formulieren, läßt bereits der Eingangssatz erahnen. „Daß Gott schafft, darin ist enthalten, daß er dasjenige hervorbringt, was nicht Gott ist, dasjenige, dessen Wesen von seinem eigenen verschieden ist, eine freie Endlichkeit, welche er mit seiner Fülle erfüllen will." 82 Der schon erwähnte Zusammenhang von Weltschöpfung und Inkarnation Gottes wird auch an dieser Stelle bekräftigt, und zwar auf Grund der Einsicht in die vorzeitlichen Beziehungen im Dreieinigen Gott. Gott konnte die Welt nämlich nur denken, d.h. 83 schaffen, in dem Gedanken, darin er sich als der Sohn gegenständlich wird; sein schaffender Liebesgedanke ist ein Derivat seiner Eigenliebe84. Dies ist der Sinn des biblischen Theologumenons von der Schaffung der Welt durch den Sohn. Seine Zentralstellung für die Lehre von der Schöpfung wird daraus ersichtlich, daß Martensen unter Berufung darauf die Lehre von der creatio ex nihilo dahin interpretiert, das nihil müsse verstanden werden als die ewigen Möglichkeiten des göttlichen Willens; diese aber können „nur im Sohne ihm aufgehen" 85. Wird so die Schöpfung als Parallelausdruck des innergöttlichen Liebeswillens gedeutet86, und war dort eine Hypostase nur denkbar inklusive der beiden übrigen87, so muß dieses Wechsel Verständnis audi hinsichtlich des Gegenübers von Gott und seiner Schöpfung gelten. Ausdrücklich lehrt Martensen im Vorgriff auf das in der Neuen Schöpfung Gültige88, daß „Gott und die Creatur gegenseitig Mittel und Zweck füreinander" werden89. — Innerhalb dieser Bezüge wollen die nun erfolgenden Näherbestimmungen aufgefaßt werden. Hier wäre vor allem das Thema „Schöpfung und Kosmogonie" zu nennen90. Mit dieser Gegenüberstellung, der die anderen κτίσις — φύσις , creatura — natura, übernatürlich — natürlich entsprechen91, soll jeweils die Gestalt bezeichnet werden, bis zu welcher Judentum bzw. Heidentum dieses Problem vorgetrieben hatten — beide, versteht sich, in Einseitigkeit und beide ohne die nötige Korrektur durch die Gegenthese. Fehlte dem jüdischen Nachdenken über die Gründe und Bedingungen der Weltentstehung der Blick für die Selbstmächtigkeit dieses 81 83 85 87 89 91

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D, S. 107-220. Vgl. D, S. 101. D, S. 108 f. Vgl. D, S. 104. D, S. 107f., vgl. S. 116. Vgl. D, S. 110, 112, 167.

D, S. 107, vgl. S. 243. Vgl. D, S. 109. 8« Vgl. D, S. 98f., 103, 116. 88 Vgl. D, S. 108 Anm. 90 D, S. 109-118. 82

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Werdenden, so mußte es dem heidnischen Denken mit einem wahren Weltanfang auch an der wahren Vollendung gebrechen — Einseitigkeiten, die unter Wahrung ihres christlichen Rechtes aufgehoben werden in jener Vereinigung von Schöpfung und Kosmogonie, wie sie „in der johanneischen Anschauung von dem göttlichen Logos als dem immanenten Weltprincip" gegeben ist 92 . Beide Gesichtspunkte, der kosmogonische wie der übernatürliche, sind in ihren Grenzen berechtigt. Aber dieselben sind dann so weit gesteckt, daß innerhalb ihrer die Rede von einem zweifachen Anfang der Welt, einem schöpferischen und einem natürlichen, möglich ist 9 3 ! Unterliegt die Kosmogonie, inklusive der Entstehung von Zeit, dem außerhalb aller Zeitbestimmungen getroffenen göttlichen Willensentscheid, so ist umgekehrt dieser schaffende Wille zu seiner Konkretion auf das sukzessive Werden der Kreatur angewiesen und muß deshalb — während der Weltzeit — das „Nachhinken" der Schöpfung hinter dem göttlichen Ideal in Kauf nehmen 94 . Damit aber ist das Ganze des göttlichen Willens in Spannung versetzt; erst in der Fülle der Zeiten wird sie aufgehoben werden können. Auf diesen „stufenweisen Ubergang der Kreatur in die Ewigkeit" richtet sich das Auge des Dogmatikers 95 . Hieraus erklärt sich das Vorwiegen des genetischen, des teleologischen Aspekts, unter welchem die Schöpfung begriffen wird. Sie unterliegt der theologischen Reflexion nicht als unmittelbare Gegebenheit. Sie so statisch und punktuell zu fassen wäre geradezu denkunmöglich M . Sondern Gott hat seine Offenbarung einem Werden unterworfen. Darin besteht der Zusammenhang zwischen ihm und seiner Schöpfung. Davon darf beim Thema Schöpfung nicht abstrahiert werden. Sonst verlöre die Schöpfungslehre den Blick dafür, daß der göttliche Wille, um die noch der Irritation ausgesetzte Schöpfung der Ewigkeit, der gotterfüllten Zeit zuzuführen 97 , bis zur Erreichung dieses Ziels immer wieder neue Anfänge, neue „WeltTage", neue Entwicklungsphasen und Epochen anbrechen läßt 9 8 . b) Der Bezug zur Gegenwart 1. Schöpfungsteleologie, Ebenbildlichkeit, Humanität Immerhin entbehrt die Schöpfungslehre nicht ganz der aktuellen Bezüge. Aber sie werden erst möglich durch die spekulativ-christologische Infiltration der Schöpfungslehre. Ein solches aktuelles Thema ist das der 93 Vgl. D, S. 112, 131. D, S. 112. D, S. 114, vgl. S. 139. Ein ebensolches Verhältnis findet statt zwischen den übergeschichtlichen, transzendenten und den immanenten, natürlichen Impulsen, welche die Epochen bis zur Weltvollendung vorantreiben. Dieses Verhältnis wiederum ist dem von Schöpfung und Erhaltung konform (vgl. D, S. 117, 204). 95 D, S. 115, vgl. S. 136. 96 Vgl. D, S. 115. 97 Vgl. D, S. 115f. 98 Vgl. D, S. 116f. 92

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Humanität. Und hier muß nun sofort gesagt werden, daß ohne die Inkarnation des göttlichen Logos alle Humanitätsideale ihre Begründung verlieren. Die Inkarnation des Sohnes hat die Humanitätsideale, wo sie vorkamen, gleichsam rückwirkend ermöglicht, wie sie auch allen künftigen erst Realität verleiht. „Der Mensch gewordene Logos offenbart die ganze Fülle des Ideals, darauf die menschliche Natur ursprünglich angelegt ist, welches aber in jedem endlichen Individuum nur unvollständig realisiert werden kann" Von hier aus (dies ist das Gefälle, in welchem Martensen der dogmatischen Tradition Aussagekraft abzugewinnen pflegt) erschließt sich erst der Sinn dessen, was die Ebenbildlichkeit des Menschen meint, nämlich: Sie ist auf Christus als auf das Ideal der Humanität bezogen. Dieses Verständnis von Humanität muß sich deutlich distanzieren von jener Humanitätsidee, welche die „neuere Culturwelt" entwickelt hat, und die doch eine heidnische blieb, indem sie vergaß, daß die menschliche Freiheit einer „Kultivierung" durch die göttliche Gnade bedarf 100 . Deshalb ist daran zu erinnern, daß „das göttliche Ebenbild oder die wesentliche Humanität" 1 0 1 als in jeder menschlichen Individualität vorhanden erkannt werden muß. Dies ist eine Bestimmung, die dann des weiteren genügend Raum läßt, den nur relativen Unterschied 102 zwischen Kreatianismus und Traduzianismus an einer teleologischen Geschichtsbetrachtung zum Erweis einer schaffenden Vorsehung, der Natur und Geschichte gleichermaßen unterstehen, zu exemplifizieren103. Wiewohl es Perioden gibt, in welchen eines das andere Moment überwiegt, muß jedes Individuum „auf einmal" als Fortsetzung einer Reihe und als Punkt neuen Ursprungs gedacht werden. Denn „jede dieser Anschauungen ist nur wahr, wenn sie ihren Gegensatz bejaht" 104 . Wahre Humanität gibt es nur, wenn es dem Menschen gelingt, sein Verhältnis zu Gott und zur Welt in freier und geistiger Durchdringung, also unter Ausschluß „donatistischen" Zwanges zu verwirklichen 105 . Denn eben darauf beruht der Begriff der Humanität, „daß im Menschen zwei Principien, das kosmische und das heilige, in freier persönlicher Einheit zusammengeschlossen werden" 100 . Mit dieser Aussage ist freilich noch nicht Dargestelltes antizipiert. 2. Dogmatik und Naturwissenschaft — der erste Adam Hatte Martensen sich anläßlich der Erörterung der Ebenbildlichkeit des Menschen mit dem Thema Humanität einer aktuellen Problematik annehmen und sie zurechtrücken wollen 107 , so vermißt man diese Bereit100 »» D, S. 135, vgl. S. 221 f., 239f., 242. Vgl. D, S. 128f. 101 102 D, S. 129, vgl. S. 238, 250. Vgl. D, S. 132, 134. 103 104 Vgl. D, S. 131, 133, 256. D, S. 130. 108 loe 107 Vgl. D, S. 128 f., 240. D, S. 127. Vgl. D, S. 127-129.

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schaft in den „Der erste Adam" übersdiriebenen Paragraphen. Zwar litt auch jene erste Aufgeschlossenheit, vom Gang der Dogmatik aus gesehen, darunter, daß die Erörterungen über die christliche Humanität einem unter dem Vorbehalt des status integritatis stehenden Reflexionskreis entsprangen 108 . Dessenungeachtet hatte Martensen bei diesem Thema Interesse und Diskussionsbereitschaft gezeigt. Ganz anders jetzt. Allen naturwissenschaftlichen Versuchen, die Vorstellungen vom Paradies und dem ersten Adam anzutasten, wird die mögliche Durchschlagskraft rundweg abgesprochen. Martensen weist darauf hin, die Behauptung, das Menschengeschlecht habe sich nicht von einem einzelnen Paare, sondern von mehreren, untereinander nicht abhängigen her entwickelt, sei schon „zu allen Zeiten" vertreten worden und verdiene deshalb keine übertriebene Aufmerksamkeit 109 . Im übrigen bekunden die Ausführungen über das Verhältnis von Dogmatik und Naturwissenschaft die Zuversicht, „daß das letzte Wort der Naturwissenschaft nicht eine Verneinung des Wortes der Offenbarung sein kann" 110 . Die Annahme mehrerer Protoplasten wäre allerdings eine solche Verneinung. Aber Martensen tut sie mit der Feststellung ab, daß „dasjenige, nach welchem hier gefragt wird, außerhalb der Bedingungen der gegenwärtigen Erfahrung liegt" U1 . Die Naturwissenschaft wird also auf ihrem eigenen Gebiet für unzuständig erklärt; sie braucht den Dogmatiker nicht weiter zu behelligen. Ist das Terrain vom Unkraut naturwissenschaftlicher Hypothesen vereinigt, so kann sich die christliche Spekulation ungestört ansiedeln und ausdrücklichermaßen selber naturwissenschaftliche Geltung beanspruchen112. Noch deutlicher als am Problem des ersten Adam wird diese Motivation bei der Frage nach dem Begriff des Paradieses. Weit entfernt von einer Behutsamkeit, die durch jene Dürftigkeit der gegenwärtigen Erfahrung veranlaßt sein könnte, „sind wir nichtsdestoweniger genöthiget, es zu denken" — als den Beginn des Gottesverhältnisses des ersten Adams 113 . Was die Erfahrung nicht deckt, kann „gedacht" werden. Und man könnte fortfahren: Es ist gut so. Denn erwiese die Annahme des einen Protoplasten sich wirklich als irrig, hätte also Christus, der zweite Adam, kein natürliches Vorbild mehr 114 , dann käme die Teleologie des schaffenden Prinzips in Unordnung und der dogmatische Nachweis würde schwer, wieso die menschliche Entwicklung nicht als sich selbst überlassen, sondern „durch Offenbarung und Gnade geleitet" gedacht werden kann 115 . Denn von der Voraussetzung mehrerer unabhängig existierender Autochthonen aus ließe sich die Annahme einer ursprünglichen Sündhaftigkeit nicht umgehen. Die Möglichkeit, daß der Traduzianismus nicht mehr aufrechtzu108 110 112 114

Vgl. D, S. 141. D, S. 139, vgl. S. 138, 255. D, S. 140. Vgl. D, S. 135.

109 111 113 116

Vgl. D, S. 135. D, S. 135f. vgl. D, S. 137. Vgl. D, S. 139. D, S. 136f. 149

erhalten sei, veranlaßt Martensen also nicht, unter dieser neuen Bedingung nach der bleibenden Bedeutung der „angebornen Sündhaftigkeit" zu fragen, sondern er negiert das Recht dieser Eventualität durch die These, „nur unter der Voraussetzung ,der ersten Eltern"' könne die allgemeine Sündhaftigkeit als eine in die Schöpfung hineingekommene und zu allen hindurchgedrungene betrachtet werden 116 . Die geschilderte Einstufung der empirischen Naturwissenschaft und ihrer Ergebnisse läßt sich wohl nicht aus der Witterung erklären, daß in ihr ein Gegner aufgestanden sei, der dann auf die Dauer doch zermürbender wirken sollte, als Martensen geahnt hatte. Nun geht ein solches Urteil davon aus, daß Martensen ein Gespür für die Unentrinnlichkeit naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung überhaupt besessen habe. Es mag im Blick auf Martensens große Ethik von 1871 im Recht sein. Für die Dogmatik von 1849 trifft es aber nicht zu. Die Umorientierung der Wissenschaften, ihre Zuwendung zum Empirischen mußte ihm von seiner nach wie vor feststehenden spekulativen Warte aus als unwesentlich, episodisch und belanglos erscheinen. Es ist schwer vorstellbar, daß er nach einem Sicheinlassen mit der empirischen Naturwissenschaft den folgenden Abschnitt („Der Abfall des Menschen von Gott") in dieser Form hätte schreiben können. Wenn irgendeines, so muß das Thema vom „Abfall" die Frucht vom Baum Schellingischer Erkenntnis zeitigen. Daß Martensen sich durch die Einreden von naturwissenschaftlicher Seite nicht hat stören lassen, dieser Erweis wird im folgenden leicht zu erbringen sein. c) Der Fall und seine metaphysischen

Voraussetzungen

1. Notwendigkeit des Sündenfalls? Darin, „daß es außer Gott eine Welt gibt, die für Gott genommen werden . . . kann" m , liegt die Voraussetzung für den Abfall des Menschen von Gott. Gott und das kosmische Prinzip stehen einander gegenüber. Die mystische Figur der Schlange in der Schöpfungsgeschichte zeigt die übermenschliche Mächtigkeit dieses Prinzips, zeigt „daß es außerhalb des Menschen ist" U8 . Doch es befindet sich zunächst im Gegensatz zu Gott selbst, nicht zum Menschen119. Daß der Mensch diesem Prinzip konfrontiert werde, beruht auf Gottes Absicht, sein Reich durch den Selbstentscheid einer freigesetzten, von sich unabhängigen Welt zu erweitern und zu bereichern. D.h. aus menschlicher Perspektive: das göttliche Ebenbild soll nicht nur verliehen, sondern selbst erworben sein. Der paradiesische 116

117 D, S. 137, vgl. S. 152, 163. D, S. 141. D, S. 143, vgl. S. 158. 119 Vgl. D, S. 142, 161, Die Schlange ist „die verblümte Bezeichnung des kosmischen Principe" (D, S. 178). 118

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Zustand der Unentschiedenheit muß also aufgehoben werden. Dann kann die Geschichte beginnen 12°, in welcher das kosmische Prinzip dem Reiche Gottes allmählich untergeordnet wird. Soll die Unterordnung real sein, muß das Unterzuordnende autonom werden, „muß es sich regen als eine reizende Macht, muß es dem Menschen entgegentreten und ihm die Möglichkeit zeigen, gegen Gott sich zu erheben, Nein zu sagen, wo Gott J a sagt" 1 2 1 . Wie bei Schelling wird die Versuchlichkeit der biblische Beleg für die Uberzeugung, die Realität bedürfe zu ihrer Festigung einer vollbewußten Entscheidung für eine von vielen Möglichkeiten 122 . Ist also der Sündenfall notwendig gewesen? Martensen fühlt sich als christlicher Theologe verpflichtet, diese Frage zu verneinen 123 . So zeigt er in drei sichernden Gängen, daß sich die Notwendigkeit des Bösen weder aus dem Verhältnis der Freiheit zur Natur 1 2 4 , noch aus der weltgeschichtlichen Entwicklung der Freiheit 125 , noch aus dem göttlichen Ratschluß12 s. 214, 216f., 219; LL, S. 255f., 362 mit Ε III, S. 5, 28f., 49, 122. 3 4 0 Vgl. Ε III, S. 30f., 65f. 331 333

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Besonders augenfällig schließlich ist die Übernahme des kleinen Abschnitts über den Salon 341 . Was für die „Familie", das gilt ebenso für den „Staat". Auf die Ständelehre ist bereits verwiesen worden 342 . Aber auch die Vorschläge zur Lösung der Arbeiterfrage, überhaupt die Art der Behandlung des sozialen Problems, einschließlich der Darstellung der Arbeit der „Inneren Mission" 343, wird man als deutliche Übernahmen Riehlscher Gedanken durch Martensen ansprechen müssen344. Diese, bislang noch nicht aufgedeckte, weitgehende Abhängigkeit Martensens von W. H . Riehl 345 ist freilich doch mehr als eine interessante Bagatelle. Es waren ja nicht nur Nebenfragen, bei welchen Martensen Riehl herangezogen hatte, sondern gerade jene Passagen, welche Martensens eigenes Engagement spüren ließen. Fast überall, wo Martensen sich über das Referieren erhob und sein eigenes Bild von einem „sittlichen Gemeinschaftsleben" zeichnete, bediente er sich der vorgegebenen Konturen der „Naturgeschichte des Volkes". Und es ist eben charakteristisch für Martensens christliche Ethik, daß ihr die Riehische Gesellschaftsauffassung so homogen eingeordnet werden kann. Nun sind allerdings auch Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat nur Mittel zur Beförderung und Verleiblichung des Reiches Gottes 34e . Die Dogmatik hatte gezeigt, und die Ethik wiederholt es an ihrem Ende 347 , daß alle diese irdischen Formen nur eine temporäre Veranstaltung sind, welche durch den Ubergang zu einer völlig neuen Ordnung der Dinge beendet wird 348 . Insofern richtet sich das volkspädagogische Ziel der Ethik auf etwas Vorletztes. Das ist ein Vorbehalt, welcher die Gedanken Riehls bei Martensen modifiziert. Die Transparenz der Naturgeschichte des Volkes für das Reich Gottes ist eine Zutat Martensens. Aber davon abgesehen passen die Anschauungen Riehls genau in die Intention der Ethik. Es ging ihr wie gesagt darum, die christliche Lebensanschauung im Volke zu befördern. Sie hatte sich der Kultur in der ganzen Breite ihrer Erscheinungen als Mittel zu diesem Zweck bedient, in der Hoffnung, so die Kardinalvoraussetzung für die Annahme des Christlichen, ein ideales Menschenbild nämlich, zu schaffen. Die Wahrheit aber des idealen Menschenbildes konnte nur von den Stimmen einer positiven Kultur bezeugt werden. Und umgekehrt: die Kulturwelt wurde von vornherein 341

Vgl. F, S. 174, 255 mit Ε III, S. 97-99. Vgl. bG, S. 10, 30, 42, 82, 151, 164, 233, 241 mit Ε III, S. 103f., 137-146, 148-152, S. 233 ff. 343 Vgl. bG, S. 454, 458, 484; LL, S. 362f., 390 mit Ε III, S. 203-205. 344 Vgl. noch LL, S. 397 mit Ε III, S. 108. 345 Sie ist selbst Arildsen, der ja sonst überall Abhängigkeiten wittert, entgangen. 346 347 Vgl. Ε III, S. l f . Vgl. Ε III, S. 423 ff. 348 Vgl. Ε III, S. 424. 342

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daraufhin abgetastet und zur Illustration der Ethik einbezogen, ob sie zur Förderung und Weckung des Idealen als dem Boden des Christlichen sich würde verwenden lassen. Wenn Martensen in diesem Sinne von Kultur sprach, war eine Abstandnahme von allen positivistischen Theorien mitgesetzt. Nur diese Reduktion, diese Ausklammerung hatte es Martensen ja gestattet, sich so angelegentlich auf die Kultur als Mittel zum Zweck seiner Ethik zu beziehen. Aber war es nicht eine vergehende Kulturwelt, auf die sich Martensen berief, um der Auflösung christlicher Substanz Einhalt zu gebieten? War nicht jene „Idee des Organismus, des Systems, der Objektivität" 349 schon zerbröckelt und unwiederbringlich verloren? Taugten diese Ideen überhaupt noch zur Verankerung christlichen Bewußtseins im Volk? Dies ist der Punkt, an dem sich verstehen läßt, warum die Arbeiten Riehls für Martensen so „anregend" waren. Riehl hatte energisch das Verderbliche einer sich vom Überkommenen loslösenden Kulturauffassung und Gesellschaftsidee geschildert. Er hatte an einer unendlichen Fülle von Beispielen gezeigt, wie der Volkskörper sich durch die Verselbständigung künstlich-rationaler Tendenzen zersetzt hatte, welche verheerenden Folgen eine derartige Unterbindung organischer Entwicklung für die Gemeinschaft haben muß. Er hatte dem Aufbegehren liberaler, demokratischer und sozialistischer Theorien entgegengehalten, daß nur eine Rückkehr zur „historischen", korporativ gegliederten Gesellschaft350 Gesundung versprechen könne und hatte überdies als nachahmenswertes Vorbild, als Retterin aus dem Verfall, das konservative Kirchentum hingestellt. So war Martensen für die Aufnahme der Ansichten Riehls in seine Lehre über Familie und Staat förmlich prädisponiert. Martensen sah, daß Riehl gegen dieselben Fronten ankämpfte wie er. In den „idealen Culturaufgaben" hatte er sich selbst dafür ausgesprochen, daß „privatisirende Individuen" mit ihrer Vorliebe für rein skeptische und pessimistische Systeme auf „die Gesellschaft im Großen und Ganzen" Rücksicht nehmen sollten351, und so bot sich ihm in Riehl das auf die Lehre von Familie und Staat passende Komplement an. Denn die Riehischen Anschauungen entsprachen dem kirchlichen Gebot der Stunde, wie Martensen es verstand. Sie waren ein säkulares Zeugnis für die genaue Angemessenheit seiner ethischen Bemühungen an die wichtigsten Fragen der Zeit. Martensen hatte in Riehl einen ihm verwandten Geist gefunden. Daß sich Martensen in der geschilderten Art durch Riehl bestätigen ließ, war in gewisser Weise abzusehen. Daß er sich so weitgehend auf Riehl beziehen konnte, entsprach seiner Eigenart, daß er „die Probleme nur in der349 351

236

Siehe oben S. 232. Ε III, S. 369.

350

Vgl. F, S. 285.

jenigen Form aufstellt, wie er sie selbst zu beantworten im Begriff steht" 352. Riehl war ihm mit seiner Antwort vorangegangen. Aber schließt das aus, daß Martensen dennoch eine erhebliche Wandlung innerhalb seiner theologischen Entwicklung durchgemacht hat? Man braucht ja nur einmal die Dogmatik und die Ethik aneinanderzuhalten. 8. Ethik und

Spekulation

Immerhin war doch die Ethik, vergleicht man ihren Gesamtcharakter mit dem der Dogmatik, ein Beleg für die Einsicht Martensens, daß die christliche Theologie nicht mehr spekulativ verfahren dürfe, wollte sie sich nicht selbst ein Ghetto schaffen. Gerade die Zielsetzung der Ethik zeigt, daß Martensen die Nötigung zu einer Umformung der theologischen Aussagen empfand. Seine Ethik bekundet ein Gespür dafür, daß die spekulative Theologie ein Hindernis für den Öffentlichkeitsanspruch der Kirche geworden war. Die Spekulation war unzureichend geworden für die Wahrung christlicher Lebensanschauung im Volke. Wenn die Ethik wirklich diese Notwendigkeit eines Abschieds von der Spekulation ausspräche, müßte man Martensen eine ungewöhnliche Beweglichkeit, eine beachtliche theologische Wandlungsfähigkeit zuerkennen. Es müßte dann freilich ein Bild entstehen, welches das soeben unter Heranziehung von Riehl gezeichnete erheblich korrigieren würde. Und ist diese Korrektur nicht in der Tat unumgänglich? Man muß sich noch einmal vergegenwärtigen, audi im Rückblick auf den Grundriß zum Studium der Moralphilosophie 353 , in welchem Maße Martensen in der Ethik auf spekulative Deduktionen verzichtet und statt dessen an das empirische Bewußtsein appelliert hatte, wie tief er von der Höhe der Spekulation in die Alltäglichkeit herabgestiegen war, um die ethischen Anschauungen des Christentums zur Evidenz zu bringen und sie eingängig zu machen. So machte Martensen Ernst damit, daß das Anliegen einer christlichen Ethik mit Hilfe der Spekulation, bzw. der Dogmatik — Martensen gebrauchte ja beides synonym — nur unzureichend vertreten werden kann. Wie sollte man anders die Dringlichkeit verstehen, mit der Martensen für eine selbständige, ethische Auslegung der überkommenen Dogmen plädiert? So geht es ihm darum, „die Bedeutung, welche der Glaube an den dreieinigen Gott für die Ethik hat, anzudeuten" 354 . Die verschiedenen dog352 W. Gass, Geschichte der christlichen Ethik, zweiten Bandes zweite Abteilung, 18. und 19. Jahrhundert. Die philosophische und die theologische Ethik, Berlin 1887, S. 302. 353 v g l . p f - h . R. v. Frank, Geschichte und Kritik der neueren Theologie, 1898, S. 236. 354 Ε I, S. 96.

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matischen Versuche zur Lösung dieses Problems werden vergleichgültigt, und es „bleibt die praktische Seite der Sache"35*. Auch hinsichtlich der Christologie gilt es, vor allem „die ethische Bedeutung des Mysteriums" herauszustellen — „welche dogmatische und speculative Erklärung wir nun auch versuchen mögen für jenes Wort des Apostels von Ihm, welcher sich selbst entäußert und Knechtsgestalt angenommen hat, was nur im Zusammenhange der Dreieinigkeitslehre zu entwickeln ist" 35e . In der Ethik aber kann eine „ethische Christologie" unter Verzicht auf spekulatives Denken geboten werden; sie bedient sich der Evidenz des empirisch Nachvollziehbaren. So schildert Martensen Christus als das Vorbild unserer Nachfolge. „Prüfen wir uns s e l b s t . . . , so werden wir . . . aus eigener Erfahrung jenes Wort des Apostels bejahen, daß das ein vollkommener Mann ist, der in keinem Worte fehlt, und daß Christus allein, unser Erlöser und unser Vorbild, dieser vollkommene Mann ist." 357 „Mein Nächster ist, wer meiner Hilfe b e d a r f . . . ; aber mein Nächster ist auch, wer mir w o h l t h u t . . . im tiefsten Sinne ist also Christus der Mensch, welchen ich als meinen Nächsten zu betrachten habe, der himmlische Samariter, welcher, obwohl in göttlicher Gestalt, sich selbst erniedrigte, mein Nächster zu werden." 358 Der ethische, d.h. undogmatische Zugang zu Christo ist dann erschlossen, wenn man „ein geistiges Bild seines Heilands" gewonnen hat 359 . Dieser unspekulative Zugang wird vermittelt durch ein waches Gewissen, als der allgemein-menschlichen „Gestalt des persönlichen Ewigkeitsbewußtseins" 390. Ein jeder kennt „das unmittelbare, existentielle, von jedem Reflexions- und Ideenbewußtsein verschiedene Bewußtsein unsrer Abhängigkeit . . . von der verpflichtenden und richtenden Auctorität" 381 . Martensens Versuch, den Gehalt der Dogmatik durch die Ethik unspekulativ, unter Berufung auf das Gewissen als Stimme evidenter Erfahrung auszusagen, müßte ausführlicher dargestellt werden, wenn der Verfasser der christlidien Ethik sich dieser Aufgabe wirklich mit ganzem Herzen gewidmet hätte. Aber es kann nun doch kein Zweifel darüber bestehen, daß Martensen keine Folgerungen aus seiner Kenntnis von der geringen Tragweite spekulativer Deduktion in der Ethik gezogen hat, weil er sie nicht ziehen wollte und konnte. Er empfindet die Notwendigkeit einer ethischen, undogmatischen Bestimmung christlicher Lehre ein355

356 Ε I, S. 98. Ε I, S. 332. E l l , S. 281; vgl. E l l , S. 191, 200, 237, 270f., 283, 299, 308, 316ff., 424f., 428f., 432, 450, 460, 476, 478f. 358 Ε II, S. 242. 359 Ε II, S. 200; vgl. Ε I, S. 365, 414, 426, 434ff., 489. 360 E I S . 462. 3,1 Ε i' S. 458; vgl. Ε II, S. 336 ff., 467. 357

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fach als „Beschränkung" 362 , und so springt bei der „ethischen" Formulierung der Dreieinigkeitslehre wieder „das innere Liebesleben, welches Gott in sich selber lebt" heraus ses . „Gesetzt also, daß die christliche Dogmatik nicht schon ihrerseits die Dreieinigkeitslehre entwickelt hätte: die Ethik müßte in ihrem Interesse diese Lehre postuliren." 364 Weniger krass als bei der Trinitätslehre zeigt sich das Hereinragen der spekulativen Dogmatik bei der Christologie und der Lehre von der Sünde. Diese Lehren hatte Martensen in seiner Ethik ja doppelt formuliert. So begnügte sich seine Lehre von der Sünde nicht damit, das Böse als eine überindividuelle Macht zu beschreiben, welche ihr Zentrum jenseits der irdischen Sphäre hat, so daß „der Kampf, welcher auf Erden zwischen dem Reiche Gottes und dem Reiche der Sünde gekämpft wird, mit hineingeflochten ist in die Kämpfe jener höheren Geisterwelt" se5 . Sondern Martensen ergänzte diese Erinnerung an die spekulative Dogmatik dann im speziellen Teil der Ethik mit einer reichen Phänomenologie der Sünde in all ihren Verzweigungen im menschlichen Leben3ββ. Ebenso bot Martensen auch eine zweischichtige Christologie. Zunächst die spekulativ-dogmatische Bestimmung: „Nachdem der Mensch gefallen, nachdem die Geschichte des Menschen dem Gesetz der Sünde unterworfen, nachdem selbst die Natur in den Fall der Geister hineingezogen, dieses Falles gewissermaßen theilhaftig geworden ist: so hat die Ökonomie der Vorsehung den Charakter einer Ökonomie der Erlösung und Neuschöpfung . . . annehmen müssen", deren höchste Offenbarung geschaut wird „in Ihm, in welchem des Vaters ewiges Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat, in dem Menschensohne und dem eingebornen Sohne Gottes"3®7. Dies die Bestimmungen der Dogmatik. Ihnen an die Seite treten die breiten Ausführungen, die durch den Aufweis des sittlich Vorbildhaften an der Person Christi die Kraft der durch ihn bewirkten Erlösung zwingend demonstrieren wollen. Die Frage, „ob wir eines sittlichen Vorbildes bedürfen", ist von der anderen unabtrennlich, „ob wir eines Erlösers bedürfen" 3β8. Die offenen Stellen der philosophischen Ethiken und die Erfahrungen der Jünger Christi ergänzen sich dahingehend, „daß wir erst in Christus das Wesen der Menschheit... erkannt haben, und erst in Ihm das Verständniß unserer eigenen Individualität, ihrer E n t f r e m d u n g . . . von Gott und ihrer Bestimmung für Gott, uns aufgegangen ist" 3ββ . In diesen Doppelbestimmungen spiegelt sich das Problem ab, vor welches sich Martensen bei der Abfassung der Ethik gestellt sah: Ob nämlich „das speculative Interesse, welches — wie man auch den Begriff 362 385 367 389

383 3M Ε I, S. 96. Ε I, S. 96. Ε I, S. 98. 368 Ε I, S. 204f., vgl. S. 208, 254. Vgl. Ε II, S. 100-165. 3ω Ε I, S. 171. Ε I, S. 308f. Ebd.

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der Speculation näher bestimmen möge — immer ein theoretisches und contemplatives Interesse bleibt, das vorherrschende für die Behandlung der ganzen Ethik sein dürfe", ob man nicht „in einem rein praktischen Interesse" dem Rechnung tragen müsse, „daß die Ethik im strengeren Sinne des Wortes Lebenslehre sei, eine Lehre im unmittelbaren, concreten Zusammenhange mit dem Leben und der irdischen Existenz" 370 . Der zwiespältige Charakter seiner Ethik rührt daher, daß Martensen sich der letztgenannten Aufforderung durchaus bewußt ist und ihr zu einem Teil audi Rechnung trägt, ohne sich jedoch von seinen spekulativen Interessen zu lösen. Das zeigen die Relikte aus der spekulativen Dogmatik, die sich in der Ethik finden, — außer den schon genannten wäre auf die Lehre von der „Natur in Gott" 371 , vom „Zwischenzustand" 372, auf die apokalyptische Eschatologie mit ihrem Wissen vom Ende der Heilsgeschichte zu verweisen373. Warum dieser doppelte Ansatz der Ethik? Wozu in einer Ethik, die ausdrücklich als „Lebenslehre" abgefaßt wird, dieses ständige Konkurrieren des praktisch-ethischen mit dem spekulativ-kontemplativen Interesse? Eine Antwort auf diese Frage muß Martensens persönliche Eigenart, seine ihm von Jugend an feststehenden geistigen Ideale berücksichtigen, die Martensen nicht verleugnen konnte und wollte — auch in der Ethik nicht. Die Intention der Ethik hatte ihn zwar veranlaßt, sich auf die unphilosophischen, gewöhnlichen, ungeistigen Anschauungen der Zeit einzulassen. Aber er hatte den damit eingehandelten Verlust spekulativ-dogmatischer Realität nie ganz verwunden. So hat er sich die Ethik, soweit sie sich bemühte, eine christliche Lebensauffassung im Volk zu befestigen, abringen müssen. Dabei hat ihn das Gefühl, sich einer, zwar durch die Pflicht unumgänglich geforderten, aber doch nicht das wirkliche Zentrum der Theologie ausmachenden Arbeit zu widmen, nie ganz losgelassen. Er fühlte sich durch das ethische Geschäft an die Peripherie gefesselt. 9. Martensen und Kierkegaard Auf eigenartige Weise spiegelt sich diese Zwiespältigkeit in den §§ 69 und 70 des ersten Bandes seiner Ethik, in denen sich Martensen im Zusammenhang mit dem Thema „Socialismus und Individualismus" ausführlich mit Kierkegaard auseinandersetzt 374 . 1. Kierkegaard ist auf Grund „reicher Begabung und potenzirter Einseitigkeit . . . der Anwalt des Individualismus geworden" 375 . Seine Be370

Ε I, S. 75. „Die Wahrheit des religiösen Anthropomorphismus beruht auf der Natur in Gott" Ε I, S. 93. 372 373 Vgl. Ε II, S. 324. Vgl. Ε I, S. 53; Ε III, S. 223 ff., 425, 434. 374 375 Vgl. Ε I, S. 277-303. Ε I, S. 277. 371

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gabung zeigt sich in dem „großen Reichthum von Reflexionden man anerkennen, und in der „reichen psychologischen Beobachtung", die man bewundern muß 37e . Darüberhinaus weist Martensen aber auch auf die Berechtigung der Kierkegaardschen Kategorie des Einzelnen hin. Und dennoch: die gegenseitige Gemeinschaft der Gläubigen wird durch den Kierkegaardschen Erbauungsbegriff ausgeschlossen377. Kierkegaard verleugnet kurz gesagt Kirche und Gemeinde 378 . Die Gemeinschaft kommt bei ihm nicht zu ihrem Recht 379 . Bei ihm „wird man sich vergebens umsehen nach einem Gemeindebegriffe. Für die Gemeinde scheint ihm erst im Himmel, im künftigen Leben, Raum zu sein, wenn nämlich die Einzelnen, nach ihren rein persönlichen Kämpfen und Leiden, zuletzt im Himmel als eine zufällige Gesellschaft zusammentreffen" 380 . Kierkegaards Gemeinde hat etwas Unirdisches. Kierkegaards Grundsatz, jeder solle „seine Seligkeit darein setzen . . . , ein Einzelner zu sein" 381 hat dessenungeachtet Recht gegenüber „jenem bloß herkömmlichen Christenthum, bei welchem der Einzelne sich damit tröstet, daß er glaube, was die Kirche g l a u b t , . . . jenem Gewohnheitschristenthum, . . . wo nämlich zwar viele versammelt sind, ohne daß jedoch ein Einzelner von ihnen in lebendiger Gemeinschaft mit Gott s t e h t . . . , wo sie es alle sich gegenseitig garantieren, daß sie gute Christen seien, während keiner derselben es in Wahrheit ist, oder doch nur in sehr unvollkommener Gestalt" S82 . Ebenso enthält Kierkegaards Zeitanalyse, wie er sie in seiner „Literarischen Anzeige" gab, unwidersprechliche Einsichten. In der Tat ist die durchgängige „Nivellierung", von der Kirkegaard spricht, als Grundzug der Zeit richtig erkannt. „Nicht allein das Ansehen der Institutionen hat sich verloren, sondern auch die persönlichen Auctoritäten, hervorragende, in weiten Kreisen einen geistigen Einfluß übende Männer, sind immer mehr zurückgetreten." 383 Martensen bescheinigt Kierkegaard in Bezug auf seine Deutung des Gemeinschaftswesens einen „gewiß . . . gründlichen Pessimismus". Aber kann man sich damit begnügen, „daß diese ganze mächtige Nivellierungsarbeit dazu dienen soll, das Individualitätsprincip zu entwickeln" 384 ? Ist es damit getan, daß man die Skepsis gegenüber allem Bestehenden fordert, weil sie dazu führt, daß die Individualität 378

3 Ε I, S. 290. " Vgl. Ε I, S. 294f. 379 Vgl. Ε I, S. 296. Vgl. Ε I, S. 300. 380 Ε I, S. 292. „Obgleich seine Lehre von ,dem Einzelnen' in mehrfacher Hinsicht als ein Correctiv gedient hat gegen einen einseitigen Universalismus, bedarf doch dieses Correctiv selbst, in allen wesentlichen Punkten erst corrigirt zu werden." (Ε I, S. 291) 381 382 Ε I, S. 293. Ε I, S. 295f. 383 384 Ε I, S. 299. Ε I, S. 297. 378

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Brandt, Gotteserkenntnis

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sich selbst gewinnt 385 ? Die Frage ist also, „ob solcher Pessimismus der christliche sei, oder der unchristliche". Ob also die Zeit nur „eine Zeit der Auflösung" und nicht auch „eine Zeit der Umbildung" ist 386 . Auch wenn es berechtigt wäre, die gegenwärtige Gesellschaft ausschließlich als eine hoffnungslose Auflösungserscheinung zu begreifen, „so besteht doch jedenfalls, auch mitten in dieser Auflösung, ein Gemeinschaftsorganismus, an welchem kein Christ verzweifeln kann und darf, nämlich die heilige allgemeine Kirche, welche die Verheißung hat, daß die Mächte des Todes sie nicht überwältigen sollen, welche auch nicht von dem Bestehen der Volkskirche abhängig ist, sondern selbst unabhängig von der Verbindung mit Volk und Staat ihr Dasein füglich fortsetzen kann" (!)387. Aber so weit ist es nach Martensens Auffassung glücklicherweise noch nicht. Noch hofft er, die schlimme Entwicklung umzulenken. Das Kapitel über Martensen und Riehl hat das gezeigt. So wenig wie die Kategorie des Einzelnen, so wenig kann daher die Radikalität, in der Kierkegaard der „Idee der Sozialität" 388 jede Lebenskraft abspricht, der konkreten Kirdie in ihren Aufgaben gegenüber der Öffentlichkeit helfen. Kierkegaard versteht sich nicht auf die Belange der Kirche in der Welt: Sein Reflektieren hat ihn in eine „unsichtbare Höhe des Eremitenlebens" versetzt, — „und das mitten in dem weltlichen Gewühle einer Hauptstadt und unter täglicher, äußerer Berührung mit einer Menge von allerlei Menschen" 38e . Man darf dem Staat und der Kirche die tragende und stützende Macht für das Individuum nicht so absprechen wie Kierkegaard dies tut. Martensen hat die Hoffnung, daß die Zeit der Auflösung nur ein Indiz für die Neuordnung der Gesellschaft kraft der alten Ideale ist. Christus ist nicht nur der Erlöser des Einzelnen, sondern der Erlöser der Welt 890 . Das heißt, Kierkegaards „anti-sociale Tendenz" 391 läuft der Aufgabe, die die Kirche in ihrer Zeit und in ihrem Volk hat, zuwider. Denn anstatt die stützende und tragende Macht der kirchlichen Gemeinschaft für den Einzelnen zu erwägen, in welcher das allgemeine Glaubensleben sich nähren und wachsen soll, will Kierkegaard „das Christenthum im Preise steigern" 392. Damit hat Martensen den Grund seines Gegensatzes zu Kirkegaard berührt. Das ergibt sich auch aus einer aufschlußreichen Information, die Martensen bereits 16 Jahre früher, 385

Martensen plädiert Ε I, S. 298 dafür, Kierkegaards „letztes Auftreten in der Schrift: ,Der Augenblick' . . . auf diesem Hintergrunde zu betrachten". Wie schwer ihm das selber immer noch war, zeigt der etwas perfide Abschluß seiner KierkegaardErinnerungen in L III, S. 23 f. 386 387 Ε I, S. 298. Ε I, S. 299. 388 Ε I, S. 298, vgl. S. Kierkegaard, Eine literarische Anzeige, Ges. Werke (E. Hirsch), 17. Abtig., S. 113. 389 Ε I, S. 290, vgl. Ε I, S. 389. 39 381 ° E I , S . 291. E I , S. 293. 392 Ε I, S. 387 f. 242

zwei Jahre nach Kierkegaards Tod, brieflich an Dorner übermittelte. Dorner hatte sich bei Martensen erkundigt, „was es eigentlich mit ihm für eine Bewandtniß habe" 393, und Martensen berichtete daraufhin am 24. August 1857 das Folgende nach Göttingen: „Es ist dies eine sehr weitläufige, in vielen Beziehungen unheimliche Geschichte. Erst eine philosophisch-i/ÄW/ii-religiöse Opposition (manche wahre Correctur enthaltend) gegen die speculative Wissenschaft, die in ihren verschiedenen Formen in Bausch und Bogen geschlagen wurde, in einer ungeheuren Reihe von Büchern in halb wissenschaftlicher, halb belletristisch und humoristischer Form — . . . ; dann — nach Mynsters Tode — eine fanatische auf die Massen . . . berechnete Opposition gegen die Volkskirche als solche, sich aussprechend in Zeitungsblättern und wöchentlichen Pamphlets die Geistlichkeit verhöhnend, die Forderungen des christlichen Asketismus auf eine schwindelnde und nebelhafte Höhe hinaufschraubend, auf donatistische Weise das Verschwundenseyn des wahren Christenthums betrauernd. Principiell kann meines Erachtens sein Standpunkt bezeichnet werden als einseitiger und auf die äußerste Spitze getriebener religiös-ethischer Individualismus . . . Der tiefere Schlüssel zum Ganzen ist aber zu suchen in seiner ungewöhnlich begabten, aber eben in ethischer Beziehung unheimlichen Individualität, in welcher Beziehung es charakteristisch ist, daß er fortwährend aussprach, er selbst mache keine Forderung darauf, ein Christ zu seyn, und könne den Forderungen des Christenthums nicht entsprechen, nur fordere er, daß Andere dasselbe Geständnis ablegten. Das Wesen der christlichen Gemeinschaft, der Geschichte und das Erziehende des Christenthums, wie auch das Werden der Christen war ihm folglich fremd geblieben."394 Die Leugnung des christlichen Rechts zu einer im Rahmen kirchlichpädagogischer Intentionen stehenden Senkung der Forderungen des Christentums durch Sören Kierkegaard war der Punkt, an welchem sich Martensens Urteil über ihn entschied.Galt es sdion gegen A.Vinet, daß die Uberordnung des Individuums über die Gemeinschaft die Gemeinschaft und mit ihr dann auch das Individuum nicht zu ihrem Rechte kommen läßt 395 , so gilt dies noch viel mehr gegenüber Kierkegaard. „Denn bei Letzterem kann man alle Einseitigkeiten und Mängel des Individualismus, so zu sagen in Fractursdirift lesen, wie durch ein natürliches Vergrößerungsglas." 396 2. Das Urteil, das Martensen über Kierkegaard fällt, ist also in dieser Hinsicht negativ. Kierkegaard vermag für die praktischen Aufgaben der Kirche in der breiten Öffentlichkeit, in Staat und Gesellschaft wegen seines abstrakten Individualismus keinen Beitrag zu leisten. Sehr viel anerkennender aber äußert sich Martensen über ihn, sobald er auf die philosophischen Voraussetzungen zu sprechen kommt, auf Grund deren Kierkegaard zu seiner beklagenswerten Einseitigkeit geführt wurde. 393

Dorner I, S. 292. Dornerl, S. 295f.; vgl. Dornerl, S. 355; ferner M. Neiiendam, Martensen, Mynster og Kierkegaard, in: C. I. Scharling u. a., H. L. Martensen, hans Tanker og Livssyn, S. 94 ff. 395 398 Vgl. Ε I, S. 271, 275. Ε I, S. 292. 391

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Sie muß als Resultat der Gegnerschaft Kierkegaards zu Hegel begriffen werden; von hier aus gesehen erscheint Kierkegaard nun bei Martensen in einem anderen Licht. Martensen beginnt mit einer Charakterisierung der Hegeischen Philosophie. Der Panlogismus, wie ihn Hegels Philosophie repräsentiert, müsse konsequentermaßen dazu führen, daß sich „das ganze Dasein in ein Ideenreich, eine Welt der Begriffe verwandle" 397 . Die Erscheinungen der Wirklichkeit wurden bei Hegel nur als Phase des Gedankens gewürdigt. „Auch die Religion galt nur als eine niedere Form des Wissens, als ein Innehaben des Absoluten in der Form der Vorstellung, während die Philosophie die Wahrheit in der allein vollkommen entsprechenden Form des Begriffs besitze." Auch die menschlichen Individualitäten waren nur „Statisten in dem Schauspiele, welches die Idee seit ewigen Zeiten vor sich selber aufführt. Denn die Geschichte sei in Wahrheit nicht die Geschichte des Menschen, sondern der Idee" 398. Was man bei dem allen vergessen hatte, so fährt Martensen fort, war „die religiösethische Idee, welche sich mit einem bloß idealen Sein, einem Sein in Gedanken, im Bilde, nun einmal nicht abfinden läßt, sondern welche Existenz fordert" 399 . (Man erinnert sich, daß dies Martensens eigenen Ubergang von Hegel zu Schelling motiviert hatte.) Und so mußte sich gegen diesen Ideen-Universalismus Hegels seitens der Theologie und Philosophie, seitens der Ethik und der Religion, seitens „der Persönlichkeit und der Individualität, des einzelnen Menschen wie überhaupt alles Einzelnen und Besonderen" eine Reaktion erheben. Es kam zu einem „Umschlag" 400 . Gegenüber Hegels „teleskopischer" machte sich die „mikroskopische" Betrachtungsweise geltend, „der Sinn entwickelte sich für das Kleine, dem Menschen Zunächstliegende" 401 . In dem Zusammenhang dieser gegen Hegel gerichteten, „von dem Interesse für die Wirklichkeit ausgehenden Reaction" muß Kierkegaard und sein Anliegen gewürdigt werden 402 . Dem religiösen und ethischen Realitätsverlust, zu dem Hegels Philosophie führte, setzte Kierkegaard seine Kategorie des Einzelnen entgegen. Wenn man sie so als christliche Antwort auf Hegel versteht, muß man sich Kierkegaards Intention zu eigen machen. Freilich kommt das Persönlichkeitsprinzip bei Kierkegaard nicht zu der umfassenden Ausprägung, die ihm gebührte. Aber grundsätzlich hat Kierkegaard gegenüber Hegel Recht: Der Individualismus steht — „wenn er nämlich den Realismus nicht ausschließt, sondern einschließt" — höher als der Universalismus Hegels. „Das Besondere steht höher als das 397 Ε I, S. 278. Daß Kierkegaards Polemik nicht dem originalen, sondern dem — z.B. von Martensen — vermittelten Hegel galt, braucht hier im Zusammenhang der Deutung Kierkegaards durch Martensen keine Rolle zu spielen, vgl. dazu N. Thulstrup, Kierkegaards Forhold til Hegel, Kobenhavn 1967, passim. 398 399 400 Ε I, S. 278 f. Ε I, S. 279. Ε I, S. 280. 402 « ι Ebd. Ebd.

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Abstract-Allgemeine, das Persönliche höher, als das Unpersönliche... ,Der Einzelne', dieß ist die Kategorie des Christenthums und des Theismus."! 403 „Kierkegaard hat demnach vollkommen Recht, wenn er sagt, mit der Kategorie ,des Einzelnen' stehe und falle die Sache des Christenthums; ohne diese Kategorie behalte der Pantheismus unbedingt den Sieg,"404 3. Bis hierher ist also Kierkegaard völlig zuzustimmen. Kierkegaard selbst hatte sich durch seine Kritik an Hegel alle Voraussetzungen dafür geschaffen, daß er nun „gemeinschaftliche Sache machen werde mit denjenigen philosophischen und theologischen Richtungen, welche es eben darauf anlegen, das Prinzip der Persönlichkeit im Gegensatz gegen den Pantheismus durchzuführen. Das ist indeß bei Weitem nicht der Fall" 405 . Und hier erst setzt Martensens Kritik ein. Im Verlauf seiner berechtigten Kritik an Hegel wurde Kierkegaard dahin geführt, die Spekulation und das System überhaupt zu bekämpfen. „Nicht darum ist es ihm zu thun, eine Speculation durch die andere, ein System durch das andere zu verdrängen, nein er will eine Metabasis in ein ganz anderes Genus." 408 Das ist zu bedauern. Denn damit wendet er sich ja „gegen diejenigen Richtungen der philosophischen und theologischen Speculation, welche doch eben seiner eigenen Kategorie, wenn auch in weit universalerem Sinne als er selbst das Wort reden. Alle diese Richtungen wirft Kierkegaard ohne Weiteres zusammen unter den Namen ,Speculation' und ,Meditation' (Vermittlung), ohne daß er sich irgendwie einlassen sollte auf eine tiefer gehende Untersuchung der inneren Unterschiede jener speculativen Richtungen, namentlich in Betreif ihrer Stellung zur göttlichen Offenbarung, was freilich kein Zeugniß ist von ,sokratischer Besonnenheit'" 407. Wenn schon nicht durch Martensens eigene spekulative Dogmatik, so hätte sich Kierkegaard durch Baader und vor allem Schelling von der Möglichkeit einer spekulativen Korrigierbarkeit Hegels überzeugen lassen müssen. „Während Hegel das Allgemeine als das in der Wahrheit Seiende s e t z t . . . , so betrachtet der spätere Schelling das Einzelne als das in Wahrheit Seiende... Die Idee gelangt bei ihm nur dadurch, daß sie Attribut des Einzelnen wird zur Theilnahme am factischen Dasein, an der Existenz; und Gott ist ihm das absolute Einzelwesen, welches sich mit dem Allgemeinen bekleidet. Während Hegel sagt: das Allgemeine sei es, was sich individualisire, sagt Schelling, daß im Gegentheil das Besondere und Einzelne es sei, was sich universalisire." 408 Weil sich Kierkegaard dieser von Schelling aufgezeigten Möglichkeit einer höheren Vereinigung von Universalismus und Individualismus, von Idee und wirklicher Existenz verschloß, hat er in seiner Reaktion gegen 403 40β

Ε I, S. 281 f. Ε I, S. 284.

404 407

Ε I, S. 284. Ε I, S. 285f.

405 408

Ebd. Ε I, S. 282. 245

Hegel das Kind mit dem Bade ausgeschüttet409. Weil Kierkegaard den gegen Hegel berechtigten Verdacht, „alle speculative Gedanken Vermittlung betrüge nur um die Wirklichkeit", gegenüber der Spekulation überhaupt erhebt, „kämpft er gegen alle Speculation, auch gegen solche Männer, denen es ein Ernst ist, im Glauben zu speculiren, und deren Streben gerichtet ist auf ein tieferes Verständniß der Wahrheiten der Offenbarung" 41°. Martensen meint also, gerade wegen seines Bruchs mit Hegel sei bei Kierkegaard die Voraussetzung gegeben gewesen, daß er sich das Programm der theologischen Spekulation in Martensenschem Stil hätte zueigen machen können. Nicht in der Beurteilung Hegels, sondern an der Einschätzung Schellings entstand demnach der eigentlichen Gegensatz zwischen ihm und Kierkegaard. Im Urteil über Hegel besteht — immer in Martensens Sicht — zwischen ihm und Kierkegaard keine sachliche Differenz. Diese entsteht erst dadurch, daß Kierkegaard sich zu jenem tieferen Eindringen in die Wahrheiten der Offenbarung nicht verstehen konnte. Dadurch, daß Kierkegaard den Glauben als existentielle Leidenschaft deutet, die „der Vernunft zum Trotze, das Paradoxe sich zueignet", wird „alle Erkenntniß und alle Contemplation ausgeschlossen"411. Denn die Beziehung zwischen Spekulation und Existenz erscheint bei Kierkegaard ausschließlich als ein Mißverhältnis. Kierkegaard läßt die echte Spekulation gar nicht mehr zu Worte kommen; sie muß von ihm „in solchen Erscheinungen sich widerlegen lassen, zu welchen sie sich gar nicht als zu den ihren bekennen kann. Zugleich ist aber auch zu beklagen, daß die Existenz, die höhere Wirklichkeit, namentlich das Factum der Offenbarung so unvollständig zur Darstellung gelangt, da Gottes Menschwerdung in Christus... als ein völlig isolirtes Factum — ein deus ex machina — geschildert wird, ohne irgend eine Verbindung mit der Oeconomie und den Alles beherrschenden Grundgedanken der Offenbarung, auf welche er sich überhaupt nicht eingelassen hat, ohne Zweifel, weil er dadurch allzu tief in die Idee und in das Objective hineingerathen wäre, und weil dadurch zu viel Weisheit und Vernunft in das Ganze hineinkommen könnte" 412 . So verschließt sich Kierkegaard der „Fülle der Gottesoffenbarung. Diese Offenbarung wird zu einer bloßen Offenbarung für den Einzelnen, für das Heil der einzelnen Seele, ist aber nicht mehr die Offenbarung an Gemeinde und Volk" 41S . Der universale Horizont der Offenbarung ist bei Kierkegaard zusammengeschrumpft. Das Christentum hat ja „nicht bloß eine Bedeutung für das Individuum . . . , sondern auch eine historische und kosmische". Christus ist „nicht allein Vorbild für den Einzelnen, sondern der Welterlöser, das Haupt, unter welchen das Ganze der Schöpfung soll zusammengefaßt werden" 414 . Kierkegaard «a E I , S. 280. 412 Ε I, S. 278f. 246

410 413

Ε I, S. 286. Ε I, S. 301.

411 414

Ε I, S. 287. Ε I, S. 302.

ist zu kurzsichtig, als daß er „die ethischen Kategorien, also das Alltägliche . . . zugleich (als) das höchste Metaphysische, das tiefste Speculative" hätte begreifen können 415 . So spiegelt Martensens Urteil über Kierkegaard die Zwiespältigkeit der ganzen Ethik Martensens: Kierkegaards Kategorie des Einzelnen stand in Widerspruch zu dem kirchlich-praktischen Ziel der Ethik, die christliche Lebensanschauung durch eine Vereinigung des Humanen und des Christlichen im breiten Volk zu verankern. Hier konnte Martensen nur einen krassen Gegensatz zwischen sich und Kierkegaard konstatieren. Es wird aber meist übersehen, daß dies nur die eine Seite ist. Denn als Versuch einer Korrektur und Überwindung Hegels verdient Kierkegaards Individualismus Anerkennung. Im Blick auf die idealistische Verleugnung der Wirklichkeit verteidigt Martensen geradezu Kierkegaards „Rücksichtslosigkeit gegenüber der Idee". Gegenüber dem abstrakten Idealismus ist Kierkegaard einfach im Recht. Darin findet „diese rücksichtslose, in so mancher Hinsicht völlig unkritische, bloß flankirende Polemik gegen die Speculation . . . eine mildernde Erklärung" 41β . Kierkegaard ist aber leider auf halbem Wege stehengeblieben. Wie Martensen hatte er die Notwendigkeit einer Überwindung Hegels erkannt. Hier zogen sie beide am gleichen Strang. Aber er hatte nicht zugeben wollen, daß diese Überwindung sich auf dem Felde der Spekulation selbst vollziehen müsse. Er hatte nicht sehen können, daß Martensen unter Berufung auf Schelling in seiner Dogmatik ein Beispiel für die Möglichkeit einer spekulativen Uberwindung Hegels gegeben hatte. Und so fühlt sich Martensen durch Kierkegaard nicht irritiert, sondern sogar darin bestätigt, daß die Spekulation die Mitte der Theologie ausmache. Das Abfassen seiner Ethik hatte ihn lange genug an die Peripherie gedrängt. Es verlangte ihn je länger je mehr wieder nach der Beschäftigung mit den zentralen Themen der Dogmatik. 415

Ε I, S. 287.

416

Ε I, S. 286.

247

V. Martensens Zuflucht in der Theosophie „Ich habe schon jetzt das Gefühl", schrieb Martensen während der deutschen Drucklegung der Ethik an Dorner, „daß, wenn ich mit diesem ethischen Werke fertig bin, ich mich sehnen werde zurückzukehren zu dogmatischen Studien" i . Und schon drei Jahre zuvor, als er noch mitten in der Arbeit an der Ethik steckte, hatte er ihm in Bezug auf Schellings Potenzenlehre geschrieben: „In diesen Regionen weilt man doch am liebsten und fühlt sich befreit von den Wirren der Zeit." 2 Dies war die Haltung, mit der Martensen den ethischen Problemen seiner Zeit gegenübergetreten war. Dies ist die Haltung, mit der er, spürbar aufatmend 3 , seine Abhandlung über die Theosophie Jakob Böhmes geschrieben hat 4 . Diese „theosophischen Studien" stehen, wenn man von seiner Autobiographie absieht, am Ende der literarischen Produktion Martensens. Martensen hat dieses Buch unter der Voraussetzung geschrieben, daß die Theosophie sowohl als belebendes Moment der christlichen Wahrheitserkenntnis unaufgebbar sei und daß sie auch die echte Kritik enthalte gegenüber dem Räsonnement seitens der modernen naturalistischen, rationalistischen, atheistischen Wissenschaft5. Martensen bietet in seinem „Jakob Böhme" sozusagen eine theosophische Dogmatik mit den zwei Hauptteilen I. Gott und der unerschaffene Himmel. II. Gott und die erschaffene Welt. Die Versöhnung und Erlösung durch Christum. Der neue Adam. Die letzten Dinge. 1

Brief vom 12./13. März 1878, Dorner II, S. 344. Brief vom 3. April 1875, Dorner II, S. 225. 3 „For mig har dens Udarbeidelse vaeret til Glaede og Oploftelse over denne forgaengelige Verden." Gude III, S. 139. 4 Jacob Böhme. Theosophische Studien. Leipzig 1882; vgl. L I , S. 79, 83; L H , S. 13; L III, S. 219fF.; Dorner II, S. 216ff.; ferner C. I. Scharling, Mystik og Teosofi, in C. I. Scharling u. a., H. L. Martensen, hans Tanker og Livssyn, S. 34ff.; schon drei Jahre zuvor hatte C. H. Scharling eine Böhme-Darstellung gegeben: Jakob Böhmes Theosophie. En religionsphilosophisk og dogmatisk Undersogelse. Festskrift ved Universitetens Firehundredaarsfest, Kjobenhavn 1879. 6 Vgl. Böhme, S. 267-271, bes. S. 269f. 2

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Deutlicher als die trinitarische Gliederung seiner Dogmatik von 1849 zeigt die Zweiteilung, daß sich Martensens theologisches Denken eigentlich nur in den Bereichen der Prä- und Postexistenz zuhause fühlt. War sdion in der Dogmatik die Geistlehre mit ihren kirchlichen Gegenwartsproblemen ein Fremdkörper innerhalb der spekulativen Entwicklung gewesen, so fällt sie in dem Aufriß dieser theosophischen Dogmatik konsequentermaßen ganz fort. Dieser Aufriß läßt freilich nichts davon ahnen, wie vorbehaltlos Martensen Böhme reproduziert. Jetzt endlich, an seinem Lebensabend, konnte sich Martensen wieder ganz seinen spekulativen Gedanken hingeben. In diesen theosophischen Studien war es ganz in sein Belieben gestellt, ob und inwieweit er Einwänden rationaler Philosophie oder kirchlicher Lehre Raum geben sollte. Und so versenkte er sich nach dem langwährenden Zwang zu prosaischer, geistloser Alltagsarbeit, den ihm das Bischofsamt auferlegt hatte, in die Tiefen und Geheimnisse der Gottheit 6 . Nichts hinderte ihn mehr daran. Denn anders als in der Ethik konnte er sich jetzt selbst seine Gesprächspartner aussuchen. Es sind außer Böhme vor allem seine drei Münchner Lehrer bzw. Freunde Baader 7 , Hamberger 8 , Schelling 9 , ferner Oetinger 10 , Swedenborg 11 , Paracelsus 12 . Nimmt man noch die Apokalyptik und die Kabbala hinzu 13 , so überblickt man die Gedankenwelt, in der allein Martensen — trotz seines langen Wirkens in der kirchlichen Öffentlichkeit und für sie — wirklich beheimatet war, und in die er sich jetzt als in sein unantastbares, keiner zeitlichen Veränderung und keiner kritischen Störung mehr ausgesetztes Refugium zurückzog 14 . • Vgl. Böhme, S. 73, 91, 148, 164f., 200; zur „Natur in Gott": S. 31ff., 38, 49-51, 91 f., 117, 124, 151; vgl. Dorner II, S. 364. ' Vgl. Böhme, S. II, 95, 100, 102, 108f., 115, 122, 151, 190, 194, 200f., 203, 241, 265. 8 Vgl. Böhme, S. 10, 13, 39, 62, 95, 100, 102, 135, 265; vgl. L III, S. 210. 9 Vgl. Böhme, S. 44, 59f., 93, 95f., 97f., 99,105,150f., 157f., 203,241f., 252, 262. 10 Böhme, S. 70f., 144, 150, 216f., 250ff., 263f. 11 12 Vgl. Böhme, S. 251, 253f. Vgl. Böhme, S. 238. 13 Vgl. Böhme, S. 149f., 185. 14 „Der er han vendt tilbage til sin forste dybe Kaerlighed: Mystikken (thi Teosofien er dog en naer Slaegtning af denne)." V. Birkedahl, Personlige Oplevelser i et langt Liv, S. 200.

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C. A B S C H L I E S S E N D E

ZUSAMMENFASSUNG

Die Darstellung steht am Ende des Weges, den die Theologie Hans Lassen Martensens genommen hat. Es ging in erster Linie darum, Martensen selbst möglichst erschöpfend zu Wort kommen zu lassen. Deshalb hat sich die Arbeit bewußt auf das Opus Martensens und seine immanente Durchleuchtung beschränkt. Dabei hat sich gezeigt, wie das Ideal der spekulativen Gotteserkenntnis ihn immer gründlicher der Welt, in der er lebte, und der Kirche, für die er Verantwortung übernommen hatte, entfremdete. Die Ursache dafür lag einmal in der unauswechselbaren Eigenart der Person Martensens selbst. Sie lag aber darüber hinaus in der Konzeption einer spekulativen Theologie, und insofern vermag Martensens theologisches Werk die spekulative Vermittlungstheologie zu repräsentieren — in ihrer Zwiespältigkeit, in ihrem Glanz und in ihren Schwächen. In diesem Sinne soll der Ertrag der Darstellung von Martensens Leben und Werk zusammengefaßt und verstanden werden. I. Martensen war keine in sich ruhende Persönlichkeit, er war eine zwiespältige Gestalt. Martensen der Professor sieht anders aus als Martensen der Bischof. Zuerst das Bild des Professors. Im Mittelpunkt der geistigen Auseinandersetzungen in seiner Fakultät und Universität stehend, philosophisch auf der Höhe der Zeit, Kritik an der Kirche nicht scheuend, aber praktische Fragen schnell hinter sich lassend — so hielt er seine mitreißenden Vorlesungen. Aus kleinen Anfängen hatte er sich diese Stellung erarbeitet, sein Auftreten war selbstbewußt geworden. Er brauchte keine Auseinandersetzung zu fürchten. Souverän und frei bewegte er sich in dem Raum des Geistes der Idealität, der sich ihm in seiner ganzen Weite erschlossen hatte. Unangreifbar stand er über dem Heer seiner Kritiker. Liberalität herrschte bei seiner Darstellung philosophischer und theologischer Positionen, die Bekräftigung seiner eigenen Thesen wirkte überzeugend. Diese Theologie und dieser Theologe hatten Stil und Niveau. Der Provinzialismus war überwunden. Mit Martensen stand man an der Spitze des internationalen Geisteslebens der Zeit. Und dann das Bild des Bischofs Martensen. Hier ist aller Glanz erloschen. Keine konstruktiven Leitideen, nur Reaktion, nicht Aktion. Martensens Selbstisolierung nimmt in dem Maße zu, in dem sich sein Un250

willen und seine Unfähigkeit erweist, das Recht der neuen Zeit zu erkennen. Er sieht sich in die Defensive gedrängt. Er vermag den Einfluß seines Amtes nicht zu nutzen, es sei denn zu ständigen Querelen über die Jämmerlichkeit der Zeit und der Menschen, die ihm so viel Ungemach bereiten Der Professor kannte keine Schwierigkeiten, der Bischof sieht nichts als sie. Der Professor zeigt sich überlegen, aber leutselig, der Bischof schnell verletzbar und überheblich. Der Professor ist weltoffen und seiner Zeit voraus, der Bischof ist weltflüchtig und versucht die Entwicklungen zu retardieren. Aber darf man beide Bilder so isoliert gegeneinander stellen? War nicht schon für den jungen Martensen beides bestimmend gewesen, der Hang zur Spekulation und das Geltungsbedürfnis des Parvenüs, die Verlockung der Karriere und das Sichverlieren an eine innere Welt? Müssen daher nicht die Charakteristika des Professors auch für den Bischof gelten und umgekehrt? Sie müssen es in der Tat, wenn man die Quellen nicht ignorieren will. Außerdem aber: eine bloße Konfrontation des Bischofs mit dem Professor verfehlt gerade das Eigentümliche und das Typische der Gestalt Martensens. Doch welchen Sinn kann es dann haben, sich jene zwei Bilder zu vergegenwärtigen? Es ist sinnvoll dann, wenn man den Zwiespalt zwischen Professor und Bischof nicht oberflächlich — als normale Folge eines Berufswechsels, als Kontrast in sich geschlossener Lebensabschnitte — versteht, sondern eine sich in ihm ankündigende, tiefer liegende Problematik wahrnimmt. Hierauf aufmerksam zu machen, darin liegt der heuristische Wert der Biographie Martensens. Sie hat nämlich darauf hingewiesen, daß von einer echten Spannung zwischen theologischer Forschung und kirchlicher Verantwortung, zwischen Theologie und Praxis, zwischen Denken und Handeln bei Martensen gar nicht die Rede sein kann. Eine echte Spannung wäre vorhanden, wenn sich zwei gleichstarke Pole gegenüberstünden. Das ist aber nicht der Fall. Gewiß hat es Martensen immer wieder als seine Aufgabe bezeichnet, daß er „mit der kontemplativen Richtung die praktische verbinden sollte" 2 , oder, wie er an Gude schreibt, „Martha und Maria zu vereinigen" 3 . Aber sogleich fährt er fort, wie sehr ihn diese Aufgabe von der „eigentlichen" Lektüre und der Kontemplation entfremdet. „Mein kontemplatives Leben wird leider in der letzten Zeit sehr gestört durch die vielen wichtigen administrativen Angelegenheiten, die ununterbrochene Aufmerksamkeit verlangen." 4 Dies ist Martensens permanenter Klagegesang. 1

Vgl. Gude I, S. 36, 51, 116, 138; Gude II, S. 76, 104 usw. L III, S. 236. 3 „Det gjaelder nu om at forene Martha og Maria. Til egentlig Laesning og Contemplation levnes kun liden, meget liden Tid." Gude I, S. 120. * Gude I, S. 232f., vgl. S. 120,150, 196, 36, 51,116,138; Gude II, S. 76,104 usw. 2

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Martensen versteht sein Bischofsamt nur als ein „Purgatorium" 5 . Die mit ihm gegebenen Pflichten und Aufgaben gelten ihm als „Extraordinaria" 6 . Sie sind das „Exoterische", während erst in der Kontemplation das „Esoterische", die eigentlich theologische Realität greifbar wird 7 . Der ganze Bereich des praktisch kirchlichen Handelns erscheint so im selben Lichte wie die allgemeinen Zeitverhältnisse. Im Urteil Martensens nähern sich beide bis zur UnUnterscheidbarkeit einander an. Beide erfüllen ihn mit dem Gefühl: „vanitas vanitatum." 8 Die gleiche Prosa durchwaltet das kirchliche Handeln und die Welt, in der die Kirche lebt. Aus der Perspektive von Martensens theologischer Spekulation konnte es nicht anders erscheinen: Kirche und Welt sind ihr gleichermaßen fremd. Im Grunde ist sie an beiden desinteressiert. Deshalb kann eine echte Spannung zwischen Glaubenswirklichkeit und Weltwirklichkeit gar nicht erst aufkommen. Das ist die Tragik dieser Theologie. Auf Grund ihrer Voraussetzung ist sie gezwungen, in den kirchlichen und weltlichen Verhältnissen und Zuständen lediglich die Angeklagten zu sehen, die die Schuld daran tragen, daß die theologische Spekulation sich nicht ungestört nach ihren eigenen Gesetzen entfalten kann. Selbstkritik liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten. Damit ist aber schon der Überschritt von der Biographie Martensens zu dem Problem der spekulativen Vermittlungstheologie des 19. Jahrhunderts überhaupt vollzogen. II. 1. Die Theologie wird nur als spekulative Theologie ihrer Aufgabe gerecht, die Intelligenz des christlichen Glaubens zu entfalten. Moralismus, Rationalismus, Gefühlstheologie und Fundamentalismus sind allesamt untauglich, die Schätze der Offenbarung uneingeschränkt zutage zu fördern. Sie alle leiden unter einem dogmatischen Defizit. Die Theologie muß daher das Desiderat erfüllen, den Gehalt der Dogmen in seinem ganzen Reichtum auszusprechen. Ihre Aufgabe besteht in der unverkürzten Auslegung der Tatsachen der Offenbarung. Sie müssen in ihrer Fülle und in ihrer Objektivität dargestellt werden. Dies ist aber nicht möglich ohne einen intellektuellen Sinn für das religiöse Objektivitätsverhältnis; die Dogmatik bedarf also der Spekulation. Denn erst die Spekulation erlaubt es den Dogmen, sich adäquat auszusprechen. Gegenüber den drohenden Gefahren dogmatischen Substanzverlustes dient die Spekulation zur Bekräftigung des vermeintlich unaufgebbar „Christlichen". Das unaufgebbar Christliche macht sich geltend in 6 7

252

Gude I, S. 166f. Gude II, S. 76.

8 8

Gude II, S. 115. Ebd.

dem Hunger nach „Realität" und „Objektivität". Es erscheint in der Idee der „Leiblichkeit". Es wird faßbar durch eine spekulative Gnosis, die sich als metaphysischen Empirismus versteht. Damit wird die Spekulation zum Leitbild, zum Anwalt der christlichen Theologie. N u r mit Hilfe der Spekulation kann das genuin Christliche in Gedanken gefaßt werden. Eine unspekulative Dogmatik wäre eigentlich nicht mehr christlich. „Theologisch" denken und „spekulativ" denken werden zu Synonymen. 2. Die Spekulation hilft also der Theologie dazu, die Dogmen in ihrer Realität und ihrer Objektivität zu erfassen. Sie ermöglicht der Theologie die notwendige Selbstkorrektur. Sie erinnert an das Vergessene. Insofern ist die Spekulation die Dienerin der Offenbarung. Aber dieser Eindruck täuscht. Denn die Spekulation ist ja mehr als nur Dienerin der Theologie. Die Spekulation bestimmt die Themen der Theologie. Der dogmatische Stoff ist theologisch interessant und relevant nur im Falle spekulativer Ergiebigkeit. Daß die spekulative Ergiebigkeit zum Auswahlprinzip der Dogmatik wird, ist Indiz für eine Vorrangstellung der Spekulation. Was sich also zunächst als legitime Korrektur und Ergänzung der Theologie durch die spekulative Philosophie ausnahm, führt de facto zur Subordination der Offenbarung unter die Spekulation. Denn was die christliche Offenbarung enthält, hat die Spekulation immer schon vorher gewußt. Die Spekulation hat das, was in den Zeugnissen der Offenbarung auf Grund ihrer geschichtlichen Bedingtheit nur unvollkommenen und „endlichen" Ausdruck finden konnte, bereits in reiner Form ergriffen. Sie erhebt so den Anspruch, für jede Theologie verbindlich zu sein. Wenn man hier von einer Identifizierung der Theologie mit der Spekulation sprechen will, dann nur so, daß es die Spekulation ist, die die Theologie mit sich identifiziert, nicht umgekehrt. Martensen hat seine Dogmatik nur schreiben können, weil er spekulativer Theologe war. Ihr Anspruch, „christliche Dogmatik" zu sein, beruht auf der Einschätzung der christlichen Religion als Bedingung, als Mittel und Medium, mit deren Hilfe die Spekulation sich die Geheimnisse des Gott-Welt-Zusammenhanges vollends erschließen könne. Die Theologie ist mithin gegenüber Spekulation unselbständig. Aber diese Feststellung wäre von Martensen energisch bestritten worden, — falls er sie überhaupt als Einwand verstanden hätte. 3. Denn darin, daß die Spekulation die aufrichtige Treuhänderin wahrer christlicher Theologie sei, daß sie das Certum vermittle, aus dem alles übrige sich ableiten lasse, ist Martensen immer mehr bestärkt worden: Schelling hatte ihn gelehrt, wie man sich unter Anwendung der formalen Prinzipien der Hegeischen Philosophie zu einer christlichen Totalerkenntnis aufschwingen konnte, welche das Realitätsverlangen und den Erkenntnisdrang gleichermaßen befriedigte. Schellings positive Philosophie hatte demonstriert, daß erst und einzig das spekulative Erkennen das objektiv 253

Reale voll zu fassen vermochte. Hier waltete kein gnostischer Dualismus. Denn diese Gnosis machte die „Wirklichkeit" überhaupt erst sichtbar. Eben darin lag das tief Christliche dieser Spekulation. Martensen hielt an dieser Überzeugung um so unbeugsamer fest, als er in ihr außer durch Schelling von Baader, von Hamberger und — durch deren Vermittlung — durch Jakob Böhme bestärkt wurde. Sie sind gemeint, wenn von „Schelling und den mit ihm Verwandten" gesprochen wird 9 . Mit Schelling als ihrem Exponenten waren sie die Autoritäten, die der spekulativen Theologie das Bewußtsein ihrer Unerschütterlichkeit und ihrer prinzipiellen Überlegenheit erweckten und erhielten. Im Bunde mit der Spekulation hatte Martensen einst die Kreise Grundtvigs verlassen. Die spekulative Basis seiner Theologie hatte ihn unansprechbar für die Probleme der „Strauß'schen Periode" gemacht10. Sie hatte zu einer diskussionslosen Abqualifizierung aller empirischen Wissenschaft geführt. Sie hatte verhindert, daß der gesellschaftliche und politische Umbruch der Zeit ernstgenommen wurde. Sie hatte vielmehr einen Optimismus verbürgt, der alle diese neuen Entwicklungen nur als Interim wertete, als Erscheinungen eines Überganges, an dessen Ende sich das Recht der Spekulation nur um so klarer erweisen werde. Desto weniger durfte sich die Spekulation in dieser Zwischenzeit irremachen lassen. Diese Märtyrerattitüde führte vollends zur Immunität gegenüber jeder Kritik. Aus der „Gotteserkenntniß geht uns auch eine neue Welterkenntniß auf, in der eine höhere Welt sich uns darstellt, zu welcher diese gegenwärtige Welt, worin wir uns befinden, sich als die unwahre verhält, die vorüberzugehen und zu vergehen bestimmt ist. Daß die Erkenntniß, nach welcher gestrebt wird, ungeachtet des Stückwerkes, das unter diesen irdischen Bedingungen von ihr unzertrennlich ist, eine spekulative sein müsse und solle, eine Erkenntniß der Wahrheit als Wahrheit, in der Gültigkeit, welche sie in sich selber hat, das galt mir als eine unbedingte Forderung" „Uebrigens ist meine Überzeugung, daß Schelling — um von Baader nicht zu reden — wiewohl augenblicklich bei Seite gesetzt, noch eine große Zukunft bekommen wird, wenn nämlich der materialistische Nebel, welcher zur Zeit einen zauberischen Druck auf die Geister ausübt, sich zuletzt hebt, und die Geister wieder frei werden, um nach oben zu blicken und sich mit den Problemen zu beschäftigen, welche doch allein die des Menschen Geistes wahrhaft würdigen sind. Alsdann wird Schelling ein Führer werden, wie ein Plato, ein Aristoteles, welchen er ebenbürtig ist." 12 — Dieser Ansatz hatte unausweichliche Folgen für das Konzept einer „christlichen Ethik". 4. Die Ethik sah ihre Hauptaufgabe in der Vereinigung des Humanen und des Christlichen. Sie hoffte so, der kirchlichen Entfremdung großer 9 11

254

Gude II, S. 67. L I, S. 167.

10 12

Vgl. Gude II, S. 8f. L I, S. 179.

Bevölkerungsschichten entgegenzuwirken. Sie hat alle Anstrengungen unternommen, sich der Bedürfnisse der Zeit anzunehmen, und andererseits die christliche Lebensanschauung so konkret wie möglich darzustellen. Sie hat alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel aufgeboten. Und sie hat sich bei all diesen Bemühungen doch nicht von ihrer Vormundschaft durch die spekulative Dogmatik freimachen können. Der doppelte Ansatz der Ethik ist im Endeffekt kein Hinweis auf eine zu sich selbst kommende Ethik, sondern ein Beleg für die ungebrochene Kraft der Spekulation. Es ist das große Handikap dieser Ethik, eine „abgeleitete" Disziplin zu sein. Sie steht in Abhängigkeit von der dogmatischen Spekulation. Von ihr empfängt sie ihr Wirklichkeitsverständnis, ihre Kriterien und Ziele. Eine Gleichberechtigung zwischen Begriff und Anschauung, zwischen spekulativer Schau und Wahrnehmung der Erfahrungswelt kann deshalb nicht entstehen. Die Realität erscheint der Ethik nur indirekt durch den Schirm der Spekulation. Das Ideal der spekulativen Dogmatik hat die Ethik an eine nur der Spekulation einsichtige Uberwelt gefesselt. Dies ist der eine Grund, weshalb sich das ausgehende 19. Jahrhundert in dieser Ethik nicht wiedererkennen konnte. 5. Hinzu kam, daß die Ethik an einem Kulturbild orientiert war, das der Vergangenheit angehörte. Nun ist es zweifellos Martensens Verdienst, die Kultur nicht ausgeklammert, sondern als legitimes Thema christlicher Ethik festgehalten zu haben. Er hat in ihr zu recht ein Problem gesehen, das sich die Theologie nicht ersparen darf. Aber hat er es wirklich in den Griff bekommen? Martensens Kulturidee war romantischidealistisch-christlich geprägt. Der Organismusgedanke hatte sich mit der konservativen Rechten verbündet, und W. H . Riehls kultur- und sozialgeschichtliche Studien waren als Beweis der Unaufgebbarkeit dieser Kulturidee begrüßt worden. Sie hatten sehr konkret untermauert, daß es eine gesunde Gesellschaft ohne „ideale Kultur" nicht geben könne. So erschien Riehl als Anwalt und Zeuge dafür, daß die Gesellschaft nach den Ideen des Organismus, des Systems, der Objektivität zu ordnen sei. Darauf beruhte die Anziehungskraft seines Kulturbildes gerade für einen spekulativen Theologen wie Martensen. Dieses Kulturbild wirkte immunisierend: Liberalismus, Sozialismus, Marterialismus, alle demokratischen Formen und damit das ganze Thema der Säkularisierung konnten keinen Eingang in das Bild der Kultur finden, wie es Martensen vor Augen stand. Die genannten Tendenzen waren für ihn Ausdruck einer atheistischen Pseudokultur. Sie repräsentierten den Antichristen und waren deshalb dem ethischen Leitbild der Kultur tunlichst fernzuhalten. Die Folge war: Das Kulturbild, auf das sich die Ethik für ihre kirchlichen Ziele berief, entstammte einer anderen Welt als der, in der sie ihre Ziele verwirklichen wollte. Das Kulturideal, das Martensen von seiner Jugend her vorschwebte, war inzwischen viel zu schwach geworden, um seinem 255

ethischen Anliegen Ende des Jahrhunderts Gehör zu verschaffen. Die in der Ethik zutage tretende Kulturauffassung wirkte wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Aus dieser doppelten Fessel: der Bevormundung durch die Spekulation und der Bindung an eine überholte Kulturidee hat sich die Ethik nicht zu lösen vermocht. 6. Das aber bedeutet, daß diese Theologie sich gerade der Voraussetzungen beraubt hatte, die nötig waren, um eine wirklich eindrucksvolle Apologetik zu führen. Diese Theologie hatte sich ihrem inneren Gesetz zufolge davon dispensiert, die Auflösung der Welt- und Lebensanschauung, der gesellschaftlichen und politischen Zustände, wie sie zu Beginn des Jahrhunderts noch bestanden haben mochten, als die unwiderrufliche Bedingung in Rechnung zu stellen, unter der allein noch relevante Theologie möglich war 13 . Eine Theologie, die nicht imstande war, die gegnerischen Positionen auch nur beim Wort zu nehmen, konnte nicht hoffen, auf sie einen Eindruck zu machen. Ihr Weg führte zwangsläufig ins Ghetto. Das Kulturideal der Ethik konnte über ihren defensiven Charakter nicht hinwegtäuschen, sondern enthüllte ihn geradezu. Sie war eine Rückzugsethik. Die Erwartung, durch dieses Ideal einer vergangenen Kulturwelt den neuaufgebrochenen Problemen angemessen zu begegnen, beruhte aber letzten Endes auf der Überschätzung der Kraft der Spekulation: die Diskrepanz zwischen ihr und dem Geist der neuen Zeit sprach nicht gegen, sondern für die Spekulation! Martensen war zu tief in ihr und in ihren philosophischen Voraussetzungen verwurzelt, als daß ihn die Erfahrung des merkwürdigen Kontrastes zwischen den unvergänglichen Werken Schellings und den ganzen Zeitumständen 14 zu einer Uberprüfung seines Verständnisses von Wirklichkeit veranlaßt hätte. Diese irritierende Erfahrung, mit der ihn sein kirchliches Amt ja Tag für Tag konfrontierte, vermochte nicht den kontemplativen Vorbehalt seiner Theologie in Frage zu stellen, geschweige denn zu korrigieren. Das Reich der Spekulation verwahrte sich gegen jeden Einbruch von seiten „dieser" Welt. 7. Im Blick auf die genannten Charakteristika läßt sich Martensens Werk als eine Summe der spekulativen Vermittlungstheologie des vorigen Jahrhunderts ansehen. N u r so ist es theologiegeschichtlich richtig eingeordnet. Zu dieser Einordnung gelangt man also nicht, wenn man vorschnell die Antithese Martensen — Kirkegaard bzw. Martensen — Rasmus Nielsen zum alleinigen Schlüssel der Beurteilung Martensens macht. Daß sich beide Seiten in ihren Methoden und Motiven gar nicht verstanden haben, und daß beide nur innerhalb ihrer eigenen geistigen Welt 13 Vgl. Arildsen (leider nur beiläufige) Bemerkung, Martensen folge allen wichtigen Zeitproblemen nach 1835, löse sie jedoch von einem Standpunkt aus, der vor 1835 liege; Arildsen, S. 112. " Vgl. Gude II, S. 7.

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argumentierten, ohne die Fähigkeit zu besitzen, die so anders geartete des Gegenübers wahrzunehmen, dies spricht ja nicht nur gegen Martensen. Daß der Glaube Erkenntnis in sich schließt (so die Dogmatik), und daß diese Erkenntnis pädagogisch vermittelt werden muß (so die Ethik), darin hat diese Theologie sicher grundsätzlich recht. Wie aber gewinnt sie ihre Erkenntnis? Sie gewinnt sie mittels der spekulativen Methode. Sie repräsentiert ein Erkenntnisverfahren und ein Erkenntnisziel, in welchen sich die Theorien von Böhme, Hegel, Schelling und Baader schwer unterscheidbar amalgamiert haben. Gewiß sind bei Dorner und Weiße, bei Rothe, Hamberger und Schöberlein, bei Daub und Marheineke die verschiedenen Einflüsse verschieden stark ausgeprägt. Aber daß Schellings Philosophie eine kaum hoch genug zu veranschlagende Wirkung ausgeübt hat, dieses Ergebnis der Darstellung von Martensens Theologie ist auf die gesamte spekulative Theologie des Spätidealismus übertragbar 15 . Schelling hat darüber hinaus durch die Bedeutung, die er für Paul Tillichs theologische Entwicklung gehabt hat, bis in unser Jahrhundert weitergewirkt. Tillich hat von Martensen als zu den Theologen gehörig gesprochen, die ihm am nächsten standen, und zwar auf Grund der Bedeutung, die Schelling wie für Martensen so auch für ihn, Tillich, gehabt habe". So ist Martensen ein typischer Vertreter der spekulativen 16 Schelling hat „als Begründer der spätidealistischen Geistesrichtung zu gelten." K. Leese, Philosophie und Theologie im Spätidealismus, S. 5, vgl. S. 27-40. 18 Diese Mitteilung verdanke ich Herrn Professor R. Prenter. Ich zitiere sie mit seinem freundlichen Einverständnis. „Ved et beseg hos mig i forbindelse med en gaesteforelaesning (vistnok i 1954) udtalte Tillich, da jeg sagde, at hans theologi mindede mig om Martensens (f. eks. hans tolkning af det klassiske dogme, isaer hans logoskristologi), at han in realiteten folte de hojrehegelianske theologer som Marheinecke og Martensen som de theologer, de stod ham naermest, og at dette bl.a. hang sammen med den betydning Schellings filosofi havde haft bade for disse theologer og for ham." — Diese weitgehende Verwandtschaft zwischen Martensen und Tillich wird auch recht eindrücklich demonstriert durch ein unbeachtetes Dokument, nämlich durch die zehn Thesen, über welche P. Tillich anläßlich seiner Habilitation disputierte. Einige von ihnen formulieren bereits das Programm seiner Lebensarbeit. Da sie in die ζ. Z. erscheinende Gesamtausgabe seiner Schriften nicht mit aufgenommen sind, seien sie hier ganz wiedergegeben. „1. Der Religionsbegriff muß aus dem GottesbegrifF abgeleitet werden, nicht umgekehrt. 2. Nicht die Idee der Sittlichkeit, sondern die Lehre der Wahrheit muß die Grundlage der Lehre von Gott bilden. 3. Die Lehre von der ,Natur in Gott' ist die Bedingung für einen lebendigen GottesbegrifF. 4. Natürlich und übernatürlich verhalten sich weder wie Natur und Nicht-Natur, noch wie Natur und Geist, sondern wie Relatives und Absolutes. 5. Jede Deduktion der Sünde hebt den Begriff der Sünde auf. 6. Die Einheit von Ethik und Ästhetik ist in ihrem Verhältnis zur Wahrheit begründet: Sittliches und ästhetisches Handeln verhalten sich, wie tätiges und anschauendes Bejahen der Wahrheit.

17 Brandt, Gotteserkenntnis

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Vermittlungstheologie im nachidealistisdien Zeitalter gewesen. In diesem Gesamtzusammenhang, nicht im Blick auf den lokalbedingten punktuellen Zusammenstoß mit Kierkegaard muß Martensen gesehen werden. 8. Man kann das Selbstverständnis und das Hauptproblem der spekulativen Vermittlungstheologie so ausdrücken, daß die „Vermittlung" selbst schon „spekulativ" gedacht wird. Christentum und Humanität, Christentum und Wissenschaft sollen vermittelt werden. Aber die Prinzipien ihrer Vermittlung liefert die Spekulation. Die Spekulation wird zum Maßstab dessen, was vermittelt werden soll und kann — und zwar sowohl seitens des Christentums wie auf Seiten der Humanität. Indem sich die Theologie mit dieser Spekulation identifiziert, ist sie zwangsläufig daran gehindert, das ganze Reich der Humanität zu reflektieren. Aber hatte sie sich trotz ihres Anspruchs, christlich zu sein, nicht auch längst über alles spezifisch Christliche erhoben, über das konkrete Christentum, seine Geschichte, seine Zeugnisse, seine Lebensfragen und Zeitprobleme? Hatte sie nicht eine phantastische Trinitätslehre, eine ausschweifende Lehre über den vorzeitlichen Sündenfall, eine von den neutestamentlichen Texten gänzlich gelöste Logosspekulation leichthin und ungeprüft als die Hauptthemen der Theologie ausgegeben? Sie hat es getan, und sie hat es ungeprüft getan. 9. Diese Theologie ist keine kritische Theologie gewesen. Das war ihr großes Manko 17 . Da sie mit Hilfe der Spekulation das absolute Certum bereits ergriffen hatte, sah sie sich nicht veranlaßt, ζ. B. die Forschung der historischen Kritik zu berücksichtigen. Je größer die Macht der empirisch7. Die eschatologischen Stoffe der Schriftpropheten sind älter als die prophetische Periode der israelitischen Religion. 8. Taufe und Abendmahl haben nirgends im Neuen Testament lediglich symbolische, sondern überall sakramentale Bedeutung. 9. Das geistige und religiöse Wiedererwachen des deutschen Idealismus in der Gegenwart wird historisch verständlich durch die Tatsache, daß der sogenannte Zusammenbruch des Idealismus nicht durch innere Überwindung desselben, sondern durch äußere Abwendung von ihm verursacht war. 10. Die Kirche kann ihrer apologetischen Aufgabe an den Gebildeten nur dann gerecht werden, wenn sie weder die Verteidigung kirchlicher Lehren, noch Grenzregulierungen zwischen Glauben und Wissen anstrebt, sondern das lebendige dialektische Verhältnis des vorhandenen Geisteslebens zum Christentum offenbar macht." (Als Beilage abgedruckt in: P. Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, Inaug. Diss, zur Erlangung der Liz. würde HalleWittenberg; Gütersloh, 1912 ( = BzFchTh 1912, Heft 1)) — Trotz der sich hier zeigenden Ubereinstimmung zwischen Tillich und Martensen sind die Unterschiede zwischen beiden Theologen natürlich unübersehbar. Die Zeitsituation ist von Tillich weitaus genauer und tiefer reflektiert worden; er hat die Nötigung, die sie für die theologische Arbeit bedeutet, viel stärker empfunden, er hat sich infolgedessen den Fragen gestellt, die Martensen übergehen oder abweisen zu können glaubte. 17 Vgl. Chr. Garbo, H. L. Martensen, Theol. Tidsskrift for den danske Folkekirke, Ny Raekke, 9. Bd., 1907-1908, S. 472. 258

kritischen Wissenschaften wurde, desto geflissentlicher wurden sie ignoriert. Die Spekulation sah sich durch die Geistlosigkeit des Materialismus in ihrem Recht bestätigt. Dieser spekulative Zirkel wäre gesprengt worden, hätte man die Kritik hereingelassen. Eine kritische — und das heißt auch eine selbstkritische — Theologie hätte ganz anders ausgesehen. Die Kritik an den eigenen philosophischspekulativen Voraussetzungen hätte sie als Prämissen erkannt, deren Übernahme in eine christliche Dogmatik erst würde begründet werden müssen. Sie hätte das biblische Zeugnis nicht unkontrolliert mittels philosophischer Traditionen ausgelegt. Sie hätte die Inkongruenz zwischen Heilsverlangen und theosophischem Trieb aufgedeckt. Sie hätte die Tendenzen der neuen Zeit so aufdringlich präsentiert, daß das Programm der spekulativen Dogmatik hätte modifiziert werden müssen. Sie hätte eine aktuelle Apologetik ermöglicht. Sie hätte die Ethik zu einer wirklich zeitbezogenen Disziplin gemacht. Eine solche kritische Theologie hätte erkannt, daß die Selbständigwerdung des Säkularen unwiderrufliche Folgen für die Zukunft von Christentum und Kirche haben mußte. Sie würde sich nicht unter Berufung auf die Unerläßlichkeit der Gottesspekulation der Welt, zu der sie doch selbst gehörte, entfremdet haben. Sie hätte, mit einem Wort, ihre Verantwortung wahrnehmen können. Aber Martensens Theologie war keine kritische Theologie. 10. Jede Theologie steht vor der doppelten Aufgabe, die christliche Erkenntnis von Gott ohne Abstrich zu erfassen und zugleich der Forderung nach Kommunikabilität gerecht zu werden. Aus dieser doppelten Aufgabe erwachsen ihr zwei Gefahren. Die eine besteht darin, daß man im Namen der biblisdien Offenbarung und der kirchlichen Dogmen und Bekenntnisse eine unverständliche Theologie betreibt, die ihren Weg in eine unkontrollierbare Esoterik damit rechtfertigt, daß nur so die Offenbarung und die Dogmen unverkürzt zu ihrem Recht gelangen. Die zweite Gefahr liegt darin, ins andere Extrem zu verfallen. Man versucht dann unter allen Umständen den Eindruck zu vermeiden, als wolle die Theologie das Verhältnis Christentum und Welt irgendwie als Gegensatz begreifen. Über der Suche nach Anknüpfungspunkten entgleitet ihr das christliche Thema. Im Rückblick auf die Theologie Martensens zeigt sich, daß sie der ersten Gefahr nicht zu entgehen vermochte. Sein Ideal spekulativer Gotteserkenntnis war ganz exklusiv gefaßt. Seine Theologie war gekennzeichnet — und belebt — von der Abwehr eines Einbrechens „dieser" Welt. Sie entfremdete sich der Welt, weil sie die Welt als von Gott entfremdet ansah. Das aber deutet darauf hin, daß Martensens Bestreben, seine Theologie von den Zeiteinflüssen freizuhalten und das christliche Erbe vor jeder Berührung mit dem niederen Geist der Gegenwart zu schützen, gerade nicht zu einer unverfälschten Darstellung des christlichen Zeug17*

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nisses geführt hat. Damit illustriert Martensen, wie beide genannten Gefahren innerlidi zusammenhängen: Eine Theologie der Isolation verliert mit der Welt letzten Endes auch ihre Christlichkeit, so wie eine Theologie vorbehaltloser Anpassung nicht nur ihr Thema verliert, sondern schließlich audi bei einer verkürzten Weitsicht enden muß. Eine Theologie, die sich dieser Gefahren bewußt wäre, könnte nur eine kritische und selbstkritische Theologie sein. Daß Martensen eine solche Theologie nicht geliefert hat, ist nun kein Anlaß zur Überheblichkeit ihm gegenüber. Das Problem, das Martensen nicht gelöst hat, ist bis heute aktuell. Audi heute ist eine volltönende Theologie in Gefahr, die Welt unter sich zu lassen, und ebenso wird versucht, diesen Weltverlust durch Einebnung des Christlichen gutzumachen. Das Programm einer kritischen Theologie findet heute kaum mehr Verständnis und Billigung als zur Zeit Martensens. Sofern sich aber die heutige Theologie der Kritik verschließt, wird sie der Verlockung, vor ihrer Aufgabe in eine der genannten Richtungen zurückzuweichen, nicht widerstehen können. Eine unkritische Theologie ist gegen diese Versuchung nicht gefeit. Nur eine kritische Theologie wird ja erkennen, daß es alte Zufluchtsorte sind, die sich heute hier wie dort unter neuem Namen anbieten. Erst eine kritische Theologie wird deshalb konstruktiv sein können.

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, Band 1 3 :

Harm Alpers

Die Versöhnung durch Christus zur Typologie der Schule v o n Lund 1964. 225 Seiten, kart. 31.—DM Der Nachweis, daß Luther sogar der größte Lehrer der stellvertretenden Genugtuung ist, auf welcher bei ihm die ganze Rechtfertigung ruht, ist nie gründlicher durchgeführt worden. Lutherischer Rundblick Kleine Vandenhoeck-Reihe, Band 139/140:

Wolfhart Pannenberg

Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie 3. erg. Aufl. 1968. 114 Seiten, kart. 4.80 DM Pannenberg weist in 11 Vorlesungen auf, wie die Offenheit Kennzeichen des Menschseins ist, sowohl von der Offenbarung her wie in der Sicht der Verhaltensforschung und der Soziologie. Die Innere Mission

Sigurd Martin Daecke

Teilhard de Chardin und die evangelische Theologie 1967. 425 Seiten, Ln. 29.80 DM Man muß dem Verfasser dafür dankbar sein, daß er in dieser gründlichen und die entscheidenden Gesichtspunkte berücksichtigenden Studie Teilhards Denken der deutschsprachigen evangelischen Theologie erschlossen hat. Die Bücherkommentare

Wenzel LohfF / Bernhard Lohse (Hrsg.)

Christentum und Gesellschaft Hamburger theologische Ringvorlesung 1969. 267 Seiten, kart. 16.80 DM Die vorliegenden Beiträge liefern Einzelaspekte, die jeder auf seine Weise interessant und faszinierend findet. Deutsches Pfarrerblatt

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich

Taschenlexikon Religion und Theologie Herausgegeben von Erwin Fahlbusch

1250 Seiten, 4 Bände, Folieneinband, Kassette, iP.— Z>Yl/

In den vier Bänden dieses Lexikons ist auf insgesamt 1250 Seiten verständlich und mit wissenschaftlicher Genauigkeit das aktuelle und historische Wissen aus Religionen, Theologie und Kirche und aus ihrer geistigen und politischen Umwelt in Originalbeiträgen zusammengefaßt. 140 Wissenschaftler des In- und Auslandes haben an diesem Lexikon mitgearbeitet.

Die Themenkreise: Religionen der Menschheit Kirchen heute, Konfessionen, religiöse Gemeinschaften Ökumene und Mission Geschichte des Christentums und Geistesgeschichte Dogma, Philosophie, Kritik Der Mensch in seiner Umwelt Das TRT ist ein Nachschlagewerk, das knapp, präzise und übersichtlich informiert: über Phänomene, Hintergründe, aktuelle Fragen und Tendenzen in Kirche, Theologie und religiösem Leben.

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich