Gleichheit und Artgleichheit [1 ed.] 9783428406265, 9783428006267

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Gleichheit und Artgleichheit [1 ed.]
 9783428406265, 9783428006267

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 28

Gleichheit und Artgleichheit

Von

Werner Hill

Duncker & Humblot · Berlin

Werner H i l l / Gleichheit und Artgleichheit

Schriften

zum öffentlichen Band 28

Recht

Yon Dr. Werner H i l l

D U N C K E R

& H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1966 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1966 bei Büro-Technik GmbH., Berlin 36 Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

9 Erster

Teil

Der Gleichheitsbegriff Rousseaus

19

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

19

1. Z u m Gang unserer Untersuchung

19

2. Methodische Schwierigkeiten Rousseaus

21

3. Der Mensch i m Naturzustand

23

a) Grundprinzipien b) Eigenschaften u n d Lebensweise, Unterschied v o m Tier c) Gleichheit u n d Ungleichheit i m Naturzustand 4. Der Mensch i m Gesellschaftszustand a) Die E n t w i c k l u n g der Gesellschaft als Entwicklung der Ungleichheit b) Zusammenfassung: Der Weg v o m Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft

B. Die Konstruktion des Contrat Social

23 25 27 32 32 36

40

1. Vertragsbegriff u n d politische Gemeinschaft

40

2. Despotie u n d politische Gemeinschaft

43

3. Der Contrat social — die Lösung des Grundproblems der p o l i t i schen Vereinigung

43

a) Die Situation beim Vertragsabschluß b) Die zentrale Klausel des Vertrages 4. Nähere Untersuchung der N a t u r des Contrat social

43 44 46

a) Der Contrat social als Statusvertrag b) Die Vertragspartner des Contrat social c) Die „besondere A r t " des Contrat social

46 47 50

5. Rousseaus Staatsbegriff i m Contrat Social

52

6. Regierung u n d Regierungsform i m Contrat Social

57

Inhaltsverzeichnis

6

7. F u n k t i o n u n d Bedeutung der Gleichheit i n der Staatskonstruktion des Contrat Social a) Das Verhältnis v o n Staatsoberhaupt, Regierung u n d V o l k i n a l l gemeinen Formeln u n d B i l d e r n b) Das harmonische Zusammenspiel der K r ä f t e i m Staate c) Die Forderung nach „Gleichheit" der Machtgruppen u n d ihre w i r k l i c h e Bedeutung d) Gleichheit u n d Ungleichheit i m Verhältnis v o n Staatsoberhaupt und Untertan 8. Die Gleichheit der Staatsbürger a) b) c) d) e)

58 61 63 64 66

Die Bedeutung u n d das Verhältnis von Freiheit u n d Gleichheit Freiheit, Gleichheit u n d Gemeinwohl Rechtsgleichheit u n d Gerechtigkeit Rechtsgleichheit u n d Demokratie Staatsbürgerliche Gleichheit u n d die Forderung nach Gleichheit „des" Gesetzes

9. Der Gesetzgeber: K r i t i k u n d Deutung C. Zusammenfassende

58

66 68 72 73 79 85

Schlußbetrachtung

97

Zweiter

Teil

Gleidiheitssatz und Gleidiheitsbegriff in der Weimarer Staatsrechtslehre

105

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

105

A . Der Satz von der Gleichheit

105

vor dem Gesetz und seine Interpretation

1. Die Entstehung des Gleichheitssatzes der Weimarer Verfassung u n d der Beginn der Auslegungskämpfe 105 2. Grundlagen, Argumente u n d Definitionen der alten u n d der neuen Lehre 109 B. Motive satzes

und Konsequenzen

der „neuen"

Auslegung

des

Gleichheits-

118

1. Die M o t i v e der neuen Lehre

118

2. Die Konsequenz: das richterliche Prüfungsrecht

130

C. Die Grundvoraussetzung keit

der neuen Lehre und die politische

D. Ansatz zu einer objektiven E. Versuch einer Klärung

Einordnung

der Begriffe

Wirklich-

140

der alten und der neuen Lehre 144

und Funktionen

148

1. Deutung des richterlichen P r ü f imgsrechtes i n der Demokratie

148

2. Z u r N a t u r der Gleichheit i m modernen Staat

151

Inhaltsverzeichnis F. Zusammenfassende

Schlußbetrachtung

153

2. Abschnitt: Integration, Homogenität, Gleichartigkeit

159

G. Rudolf

160

Smend

1. Aufgabenstellung u n d Angriffsrichtung

160

2. Die Lösung: Einheit des Staates durch Integration

163

3. Historische Einordnung u n d W ü r d i g u n g der Integrationslehre

166

ff. Hermann

Heller

168

1. Die Gewinnung des Staatsbegriffs

168

2. Demokratischer Staat u n d soziale Homogenität

171

3. Hellers Theorie u n d die politisch-historische W i r k l i c h k e i t

173

4. Wesen u n d K r i t i k der „Homogenität"

178

I. Carl

Schmitt

182

1. Der Begriff des Gesetzes

183

2. Carl Schmitts Auslegung des Gleichheitssatzes

184

3. Der „ H ü t e r der Verfassung"

186

4. Carl Schmitt u n d die Feinde der Weimarer Verfassimg

188

5. Carl Schmitts Vorstellungen über die Weiterentwicklung der W e i marer Verfassung 191 6. Die Lösung des Problems: Demokratie u n d Gleichheit

Dritter

194

Teil

Artgleichheit

205

1. Abschnitt: Wege und Nebenwege zur Artgleichheit: Grundlegung, Beispiele und Deutungen A. Der Horror

vor der Gleichheit

B. Zusammentreffen semitismus C. Deutungen:

205

Kritik

und Konkretisierung :

und Synthese

1. A n t i s y m b o l ohne Symbol?

205 Antidemokratismus

und

Anti-

215 226 226

2. Synthese: Gleichheit u n d Volkssouveränität, Rassenlehre u n d A n t i semitismus 233

8

Inhaltsverzeichnis

D. Schlußbetrachtung

241

2. Abschnitt: Hitler und seine juristischen Interpreten

244

E. Grundzüge der StaatsGesellschafts stellung Adolf Hitlers F. Die innere Struktur

und Weltordnung

in der Vor-

des Hitler-Staates

244 255

1. Grundsätzlich: H e r d e n - S t r u k t u r

255

2. Stände i m H i t l e r - S t a a t

257

3. F ü h r e r t u m

260

G. Hitlers

Theorie

im Spiegel der Rechtswissenschaft

263

1. Carl Schmitt: F ü h r e r t u m u n d Artgleichheit als Grundbegriffe des nationalsozialistischen Rechts 264 2. Ernst Forsthoff: Der totale Staat

273

3. Otto K o e l l r e u t t e r : V o l k u n d völkische Verfassimg

277

4. Ernst-Rudolf H u b e r : Das Prinzip der „Garantie" ist überwunden 281 5. Heinrich H e n k e l : „Artgemäße Rechtssicherheit" oder: die lückenlose Strafandrohimg 285 6. Theodor M a u n z : „Gleichheit aller Artgleichen" — ein Grundsatz deutschen Rechts 288 7. A n m e r k u n g e n zu Dissertationen über das Gleichheitsthema Literaturverzeichnis

292 297

Einleitung Die Überlegungen, denen die vorliegende Untersuchung ihren U r sprung verdankt, galten der jüngsten deutschen Geschichte: der Weimarer Republik und ihrer viel diskutierten und doch immer noch problematischen Ablösung durch die D i k t a t u r Hitlers. Es stellte sich heraus, daß das Begriffspaar Gleichheit-Ungleichheit und einige verwandte Begriffe wie Homogenität und Gleichartigkeit i m Prozeß des Aufbaus und Verfalls der deutschen Demokratie eine überragende Rolle spielen. Sie spielen sie, genauer gesagt, dort und insoweit, als Begriffe i n der Geschichte eine Rolle spielen können : i m Denken und durch das Denken, durch Reden und Literatur aller A r t , von der gelehrten Abhandlung bis zum Pamphlet, vom wissenschaftlichen Streitgespräch bis zur agitatorischen Straßenrede. Ohne uns der Illusion hinzugeben, daß dieser Bereich des Denkens, Redens, Schreibens aus sich heraus schon die Möglichkeit böte, geschichtliche Vorgänge zu erklären, gehen w i r von der Voraussetzung aus, daß seine Durchleuchtung und Auswertung jedenfalls erheblich dazu beitragen kann , diese Vorgänge zu verstehen. I m Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen Schriften, die sich m i t politisch-rechtlichen und gesellschaftlichen Grundfragen befassen. Einen besonderen Raum nehmen Arbeiten aus dem Bereich des Staats- und Verfassungsrechts ein. Selbst da, wo man die faktische Irrelevanz, die Ohnmacht einzelner dieser Gedanken und Ideen nachweisen kann, dient das so gewonnene Wissen der historischen Erkenntnis: es macht die siegreiche Gegenseite u m so deutlicher. Welchen Einfluß Gedanken, Ideen, Begriffe und insbesondere wissenschaftliche Lehren tatsächlich ausüben, hängt wesentlich von der K r a f t und Wirkungsweise des Faktischen ab. F ü r die Weimarer Republik kommen als faktische Gegebenheiten beispielsweise i n Betracht der Verlust des Krieges, die Revolution, der Versailler Friedensvertrag, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Aber sobald man ins Detail geht und konkret w i r d , gerät man von den Sachen an die Personen. Personen, die sich m i t den Fakten auf ihre Weise auseinandersetzen: sie befehlen, marschieren, streiken, hungern und schießen nicht nur, sie denken und sprechen und schreiben . Indem sie aber denken und ihre Gedanken zum Ausdruck bringen, bedienen sie sich notwendig bestimmter Formen, Gewohnheiten, Traditionen; stellen sich hin-

10

Einleitung

ein oder wenden sich gegen bestehende Strömungen. Das Denken und seine geistigen Voraussetzungen werden so Faktoren des historischen Prozesses. Wenn die Tatsachen mächtig, aber doch so wirken, daß eine eindeutige Bewegung, daß eine bestimmte Ordnung nicht entsteht, sondern vielmehr Chaos, Leere oder Ungewißheit, dann können Gedanken, können Ideen und ihre zentralen Begriffe von entscheidender Bedeutung werden: sie weisen den vagierenden Kräften die Richtung, bilden die Formen, formen das sich Bildende. Daß das „Denken" i m Aufbau und Verfall der Weimarer Republik eine beträchtliche Rolle spielte, ist längst erkannt 1 . Allerdings mußte man sich zunächst m i t einem allgemeinen Sammeln, Ordnen und Aufbereiten der Gedanken und Begriffe befassen. Das Buch von K u r t Sontheimer, i n dem eine Fülle „antidemokratischen Denkens" registriert und analysiert wird, charakterisiert schon vom Titel her am treffendsten diese Richtung, setzt aber auch einen Schlußpunkt. Jetzt ist es an der Zeit, einzelne Ideen und Begriffe herauszugreifen, ihren Weg und ihre W i r k u n g zu verfolgen. Natürlich bedingt das eine Änderung der bisher geübten Methode. Der Ausgangspunkt einer solchen Arbeit w i r d i m allgemeinen eine ideen- oder begriffsgeschichtliche Untersuchung sein müssen. Damit zu unserer Sache! Der Begriff der Gleichheit war offensichtlich für die Gegner wie die Anhänger des nach dem Ende des ersten Weltkrieges entstehenden neuen deutschen Staatswesens zunächst einmal das Wort, das die Staatsform der Demokratie am eindeutigsten kennzeichnete, nahezu ein Synonym für „Demokratie". „Jede politische Einheit", so schrieb etwa Carl Schmitt, „bedarf e i n e r . . . inneren Logik ihrer Einrichtungen und Normierungen. Sie braucht einen einheitlichen Formgedanken, der alle Gebiete des öffentlichen Lebens durchgängig gestaltet". U n d der Fundamentalbegriff der Demokratie sei die Gleichheit . 1 W i r verweisen hier n u r auf die A r b e i t e n v o n A r m i n Möhler: Die K o n servative Revolution i n Deutschland 1918—1933. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950; W a l t e r Bussmann: Politische Ideologien zwischen Monarchie u n d Weimarer Republik. E i n Beitrag zur Ideengeschichte der Weimarer Republik, München 1960 (HZ 190, H e f t 1); K u r t Sontheimer: Antidemokratisches Denken i n der Weimarer Republik, München 1962. — Bussmann sagt v o n der „zeitgeschichtlichen W i r k u n g " der v o n i h m u m r i s senen Ideologien u . a . folgendes: „Sie (die Wirkung) besteht vornehmlich darin, daß z . B . Begriffe w i e autoritäres F ü h r e r t u m an Stelle einer parlamentarisch k o n t r o l l i e r t e n Regierung oder organische Gliederung an Stelle demokratischer Gleichheit i n der Vorstellungswelt breiter Kreise der Gebildeten, v o r allem, so darf hinzugefügt werden, der Begabtesten u n d Hochgestimmten unter der akademischen Jugend gängig u n d heimisch wurden. Bestimmte Vokabeln u n d Begriffe übten eine zwingende W i r k u n g selbst bis i n Kreise h i n e i n aus, die noch auf dem Boden der demokratischen Staatsordnung zu stehen glaubten." (a. a. O., S. 77). 2 Verfassungslehre, B e r l i n 1957s (Unveränderter Neudruck der ersten A u f lage v o n 1928). — Staat, Bewegung, V o l k , H a m b u r g 19358.

Einleitung Neben dem Begriff der Gleichheit rückte der der Volkssouveränität, wenn auch einige Kommentatoren der neuen Verfassung i n ihm den „Fundamentalsatz aller Demokratie" sahen 3 , ziemlich i n den Hintergrund. Die Gleichheit wurde als das eigentlich Neue des neuen Zustands begriffen, und dies insbesondere und auch besonders frühzeitig von denen, die m i t der neuen Ordnung unzufrieden waren. A n der Idee der Gleichheit und ihren möglichen Auswirkungen entzündeten sich die kleinen und großen, die persönlichen und sachlichen Ressentiments, und die einmal erregte und dann aus den heterogensten Quellen gespeiste Unzufriedenheit kehrte i n dem breiten Strome des antidemokratischen, antiparlamentarischen, antiliberalen Denkens nahezu regelmäßig zu diesem Begriff zurück. Fast jede dieser Attacken könnte sinngemäß m i t einem catonianischen „ I m übrigen b i n ich der Ansicht, daß alles Übel von der Gleichheit kommt und daß diese abgeschafft werden muß", abgeschlossen werden. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Versuche, den Angriff auf die demokratische Gleichheit zu rechtfertigen und historisch zu begründen, auch auf das ganze Reservoir der Argumente gestützt wurden, das sich i n nahezu zwei Jahrhunderten der Auseinandersetzung m i t dem Begründer des modernen politischen Gleichheitsbegriffs, m i t JeanJacques Rousseau angesammelt hatte. Unter denen, die i m Zuge dieser Bemühungen zu neuen Ehren kamen, ist vor allem Joseph A r t h u r Comte de Gobineau zu nennen, dessen Theorien von der „Ungleichheit der Menschenrassen" schon seit der Jahrhundertwende i n Deutschland Eingang und steigende Verbreitung gefunden hatten 4 . Geradezu emphatisch geteilt wurde der Horror des französischen Grafen vor der „nivellierenden, wertevernichtenden" Gleichheit von Friedrich Nietzsche, der Rousseaus Schriften „leidenschaftliche Torheiten und Halblügen" nannte 6 und i n der Lehre von der Gleichheit, der „modernen Idee par excellence", Gift sah — „es gibt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit i s t . . . ,Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches 4 — das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit; und was daraus folgt, ,Ungleiches niemals gleich machen 46 ". 8 Anschütz, G.: Die Verfassung des Deutschen Reichs v o m 11. August 1919, B a d Homburg v. d. H. i960 1 4 , S. 37. 4 Die deutsche Übersetzung v o n Gobineaus „Essai sur l'inégalité des races humaines" (1853—55) v o n L u d w i g Schemann erlebte bis 1922 vier Auflagen. Neben Schemann, der den Rassenfragen als Jünger Gobineaus später noch eine ganze Reihe v o n Büchern widmete, w u r d e n v o r allem bek a n n t „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" v o n H. St. Chamberlain. Das Buch erschien zuerst 1899 u n d k a m dann bis 1940 noch i n 25 Auflagen heraus. 6 Nietzsche, F.: Menschliches, Allzumenschliches, 8. Hauptstück: E i n Blick auf den Staat ( = Werke i n drei Bänden, hrsg. v o n K . Schlechta , Bd. I , S. 677, München i960 2 ). 6 Nietzsche, F.: Götzen-Dämmerung ( = Werke I I , S. 1023 f.).

12

Einleitung

Schon während des ersten Weltkrieges hatte man i n Deutschland gegen die „westlichen Demokratien" und ihre Grundbegriffe und Institutionen polemisiert, vor allem unter den Hochschullehrern 7 . Jetzt, nach seinem Ende, nahm ein ganzes Heer konservativer Schreiber aller Schattierungen den alten Kanon der Klagen und Verunglimpfungen m i t der Hauptstoßrichtung gegen die Idee der Gleichheit wieder auf: Adolf Bartels und Hans Blüher, Othmar Spann und Hans Frey er, Edgar Jung und Friedrich Georg Jünger, A r t h u r Moeller van den Bruck und Wilhelm Stapel, Werner Sombart und Jakob von Uexküll, — u m nur einige zu nennen. A u f der anderen Seite sahen sich aber auch die demokratischen Kräfte genötigt, auf den Begriff der Gleichheit zurückzugreifen, u m sich und den Staat gegen die Angriffe zu verteidigen, u m die junge Demokratie zu fundieren, zu befestigen, u m sie überhaupt erst zu dem zu machen, was sie bisher — „improvisiert" (Eschenburg) eingerichtet, entstanden mehr aus äußerem Zwang als aus innerer Notwendigkeit — mehr auf dem Papier und i n einigen zentralen Institutionen als i n Wirklichkeit war. Diese Bemühungen gingen i n großem Maße von dem Dokument aus, i n dem die Entscheidungen über die A r t und Form des politischen Gemeinwesens festgehalten waren: vom Verfassungstext. Dort bot sich der Absatz 1 des Artikels 109 („Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich") an, der — ungeachtet der Tatsache, daß auch die alte preußische Verfassung von 1850 einen analogen Satz enthalten hatte — n u n zum Ansatz- und Sammelpunkt demokratischer Interpretationen des gesamten Verfassungswerks und darüber hinaus zum Leitgedanken des Rechts- und Staatslebens werden sollte. Er erhielt plötzlich eine Bedeutung, von der sich die Verfassunggebende Nationalversammlung nichts hatte träumen lassen. Der Eindruck, den man von den so verschiedenartigen Bemühungen u m den Zusammenhang von Demokratie und Gleichheit, von Gleichheit und Einheit gewinnt, ist verwirrend. V i e l Unkenntnis i n den Grundlagen, nämlich i n bezug auf die logische Struktur des Gleichheitsbegriffs zeigt sich, noch weniger aber ist man m i t dem Begriff der Gleichheit bei Rousseau und m i t der ganzen Staatskonstruktion Rousseaus vertraut. Damit war der Gang unserer Untersuchung vorgezeichnet. I h r erster Teil besteht aus einer Interpretation des Gleichheitsbegriffs Rousseaus8. I m zweiten Teil w i r d von dieser Grundlage aus — allerdings 7 Schwabe, K . : Deutsche Professoren u n d politische Grundfragen des ersten Weltkrieges. Diss. F r e i b u r g 1958. 8 Dieser T e ü des vorliegenden Buches w u r d e am 20.6.1964 unter dem T i t e l „Der Gleichheitsbegriff Rousseaus i n der »Abhandlung über den U r sprung u n d die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen 1 u n d i m

Einleitung ohne die Weimarer Demokratie n u n über den Leisten der Staatskonstruktion Rousseaus zu schlagen — die Diskussion u m Gleichheitssatz und Gleichheitsbegriff i n der Weimarer Staatsrechtslehre einer kritischen Betrachtung unterzogen. Nur da, wo der Zusammenhang zwischen der Weimarer Demokratie und den Gedanken Rousseaus von den Diskutierenden selbst hergestellt w i r d oder sich doch aus der Sache zwingend ergibt, werden w i r auf das i m ersten Teil Erarbeitete zurückgreifen. I n dieser Diskussion tauchen einige Begriffe auf, die, geprägt m i t dem Ziel, Kennzeichen und Wegmale der zu erringenden Einheit des politischen Gemeinwesens zu sein, über die Staatsform der Demokratie hinausweisen. Diese Begriffe und dieses Denken ziehen ihre Wurzeln und empfangen ihre Anstöße aus ganz anderen Bereichen als denen des Staats- und Verfassungsrechts: aus dem Unterholz der Rassentheorien, des Rassenantisemitismus, der biologischen Staats- und Gesellschaftsbilder; aus dem ressentimentgeladenen Mystizismus der „Konservativen Revolution"; aus romantischen Volksideen; aus morbidem Kulturpessimismus und Vorstellungen von autoritärer Erneuerung und totalitärer Erfüllung. W i r werden insbesondere den von Carl Schmitt entwickelten Begriff der „demokratischen Gleichartigkeit" i m ersten Abschnitt des dritten Teiles m i t diesem vielschichtigen Bereich konfrontieren, u m den erwähnten Zusammenhang deutlich zu machen. Der zweite Abschnitt des dritten Teiles beschäftigt sich zunächst m i t einem „Denken", über dessen Relevanz nicht viele Worte verloren zu werden brauchen: dem Denken Adolf Hitlers . Als Hitler 1933 zur Macht kam, richtete er einen A u f r u f an das deutsche Volk, i n dem er versprach, „die geistige und willensmäßige Einheit unseres Volkes wieder her(zu)stellen" 9 . D e r d e u t s c h e V o l k s w i r t , das Organ Gustav Stolpers, schrieb dazu i n einem mutigen Kommentar, der Mehrheit solle die geistige Haltung einer Minderheit aufgezwungen werden. Und er fuhr fort: „Aber zunächst einmal möchte man wissen, w o r i n die geistige u n d willensmäßige Einheit selbst dieser Minderheit besteht. I n dem ganzen Aufruf sucht man ein einziges konkretes Wort 1 0 ." Nun, Hitler hatte, wenn auch nicht i n seinem Regierungsaufruf, so doch i n seinen früheren Schriften und Reden eine Unmenge konkreter Wörter darauf verwandt, zu erklären, w o r i n er die „Einheit" begründet sehe. Was er da von Rasse und B l u t gesprochen hatte, klang vielen so phantastisch und konfus, daß sie es nicht der Beachtung für wert ,Gesellschaftsvertrag' " v o n der Philosophischen F a k u l t ä t der H a m b u r g als Dissertation angenommen. 9 Der deutsche V o l k s w i r t , 7. Jg., N. 18 v o m 3. 2.1933. 10 Ebd.

Universität

14

Einleitung

hielten. Er aber hielt m i t monomanischer Treue an seinen Ideen, seinen Wahnvorstellungen fest. Es w i r d unsere Aufgabe sein, die Grundzüge der Staats-, Gesellschafts- und Weltordnung i n der Vorstellung Adolf Hitlers nachzuzeichnen. I m letzten Kapitel des dritten Teiles werden w i r dann zeigen, was eine Reihe von deutschen Rechtswissenschaftlern m i t der — weith i n aus bestimmten Zeitströmungen zu erklärenden — Theorie Hitlers machte, wie sie ihre früher entwickelten Denkansätze und ihr Begriffsschema m i t dem Hitlers i n Übereinstimmung brachte 11 . I n diesen traurigen Dialogen m i t dem Ungeist kristallisiert sich schließlich auch der Begriff heraus, der, wie die Gleichheit die Demokratie, als Fundamentalbegriff alle Bereiche des Regimes Adolf Hitlers durchdringen und angeblich seine Einheit konstituieren sollte: der Begriff der Artgleichheit . Dieser Begriff, geprägt von einem Juristen und gewachsen auf dem Boden der Rassenlehre, war der Gegenbegriff sowohl als auch die totale Perversion der staatsbürgerlichen Gleichheit. Denn „Artgleichheit" ist nichts als das umschreibende, mehr verhüllende als verdeutlichende Kennwort für die dogmatische These: Die Menschen sind von der größten physischen, geistigen, seelischen Ungleichheit, Gleichheit gibt es nur innerhalb einer Rasse. Da es ohne Gleichheit aber keine Einheit, also auch keine staatliche Einheit gibt, muß der Staat auf die Gleichheit der Rasse begründet werden. Es ist ein klägliches und — was seine Folgerungen betrifft — schauerliches Ende, das das deutsche Streben nach Einheit — über ein Jahrhundert lang von den besten Geistern des deutschen Volkes getragen, durch Bismarck für eine kurze Periode wenigstens nach außen h i n verwirklicht, i m Innern aber bald u m so mehr durch die sozialen Gegensätze bedroht und schließlich durch den Ausgang des Weltkrieges äußerlich und innerlich total i n Frage gestellt — i n diesen Schriften nimmt. Indem ihre Schreiber das i n Jahrhunderten entwickelte wissenschaftliche Rüstzeug ihrer Disziplin nur noch darauf verwenden, den Rechtsstaat zu zerschlagen u n d die unbedingte Herrschaftsgewalt des „Führers" über die „Artgleichen" zu begründen, sind ihre Produkte ein getreues A b b i l d der deutschen Wirklichkeit dieser Jahre, eilen ihr teilweise sogar voraus. Noch einige Hinweise zum ersten Teil der Untersuchimg. Eine umfassende Deutung des Gleichheitsbegriffs Rousseaus liegt i n der bisherigen Rousseau-Literatur noch nicht vor. Sie w i r d hier durchgeführt, 11 W i r möchten besonders betonen, daß es uns nicht d a r u m geht, i n diesem K a p i t e l einzelne Personen i n e i n bestimmtes Licht zu rücken. Es geht uns lediglich u m die Sache, f ü r die uns die hervorgezogenen Arbeiten symptomatisch erscheinen. M a n hätte das gleiche, zumindest z u m Teil, auch anders belegen können.

Einleitung indem w i r jedem Gebrauch dieses Begriffs nachgehen, der auf den Menschen und auf die Ordnung der politischen Gemeinschaft Bezug nimmt. A l l e Einzelfragen werden vor dem Hintergrunde des Rousseausehen Menschenbildes und i m Rahmen seiner politischen Gesamtkonzeption behandelt. Es gibt bis zum Jahre 1925 bereits mehr als tausend Veröffentlichungen über Rousseau 12 . Dazu kommen die zahllosen kürzeren Darstellungen und Hinweise i n allgemeinen Werken über Staat und Verfassung, K u l t u r und Literatur. Dieser Sachverhalt ließ es von vornherein wenig sinnvoll erscheinen, von der sekundären Literatur größeren Gebrauch zu machen. Fülle, Verschiedenartigkeit der Standpunkte und der Wertungen ersticken i n der Tat jeden solchen Versuch — davon hat sich der Verfasser überzeugt — i m Keim. W i r stützen unsere Ausführungen daher i m wesentlichen auf Rousseaus Schriften und setzen uns lediglich m i t den i n einigen neueren Arbeiten über Rousseau vertretenen Meinungen, die unseren Gegenstand betreffen, etwas näher auseinander. Auch eine Beschränkung hinsichtlich der Quellen ist angebracht. Da Rousseaus Aussagen schon innerhalb einer Schrift voneinander abweichen und nicht restlos und ohne Widersprüche zu einem einheitlichen Gedankengebäude zusammenzufassen sind u n d da dieses Dilemma bei der synchronen Betrachtung seiner nach Entstehungszeit, Fragestellung und Zweck verschiedenen Arbeiten nur größer w i r d — auch dafür bietet die vorhandene Sekundärliteratur anschauliche Beispiele — konzentrieren w i r uns auf die Werke, die die Entwicklung der politischen Geschichte wie der „political philosophy", u m hier den trefflichen englischen Ausdruck zu gebrauchen, am nachhaltigsten beeinflußt haben: die „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen" und — vor allem — den „ Gesellschaf tsvertrag" . Nach dem Ende des 2. Weltkrieges erschien eine Reihe von Schriften über Rousseau, i n denen das Problem behandelt wurde, ob Rousseau ein „totalitärer" oder ein „liberaler" Denker sei. Wieder einmal hatte die Geschichte eine neue Fragestellung produziert: man suchte eine Erklärung für das bedrängende und herausfordernde Phänomen des totalen Staates, suchte den entscheidenden Wendepunkt i n der Vergangenheit, den „Umschlag" der Werte, — suchte nach den Voraussetzungen totalitären Staatsdenkens. Hatte Hitler, wie einst Robespierre, Rousseau studiert? U n d wie hatte er i h n verstanden? Führt nicht ein Weg von Rousseau zu Hitler, wie auch zu Lenin u n d Stalin 1S? 12 Glum, F.: Jean-Jacques Rousseau — Religion u n d Staat, Stuttgart 1956, Seite 336 f.

16

Einleitung

Die sachlichen und, u m das gleich deutlich zu machen, rein -fiktiven Anknüpfungspunkte solcher Überlegungen bestehen i n der Frage der Eingliederung des Individuums i n die Gesamtheit und zum andern i n der Rolle, die — angeblich — einzelne Gruppen und Personen bei der Lenkung und Beherrschimg des politischen Körpers nach Rousseaus Vorstellungen spielen oder jedenfalls zu spielen i n der Lage sind. W i r d der einzelne Mensch, so fragen sich die Vertreter der These von dem „totalitären" Charakter des Rousseauschen Denkens, i n dem durch den Contrat Social zustandegekommenen Staat nicht ebenso vergewaltigt und entwürdigt wie i n den totalitären Regimen unserer Tage, — des Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus? „Der Einzelmensch", antwortet darauf etwa der Soziologe Werner Ziegenfuß, „existiert i n seiner pathetisch proklamierten Gleichheit gegenüber allen anderen lediglich als persönlich indifferenter und ethisch impotenter Statist einer vorgestellten Gesamtheit.. , 1 4 ". Wenn aber alle Einzelmenschen, so fährt Ziegenfuß fort, „kraft ihrer bloßen E x i s t e n z . . . grundsätzlich als gleich gelten sollen, dann w i r d es unmöglich, i n der Gleichheit noch einen Wertgesichtspunkt zu sehen. Die ,Gleichheit 4 der Menschen hat keinen anderen Sinn mehr als die der Individuen einer Tiergattung untereinander 1 5 ". Das Pathos, mit dem Rousseau Freiheit u n d Gleichheit als höchste aller Güter proklamiere, diene also praktisch nur dazu, „einen prinzipiell amoralischen und wertgleichgültigen Sachverhalt zu überblenden m i t dem Nachglanz einer von niemand gründlicher als von Rousseau selbst i n ihren wenn auch noch so schwach nachwirkenden Grundsätzen verleugneten und zerstörten sittlichen Welt 1 6 ". Z w e i antithetische Begriffspaare sind es also, unter deren verengender Perspektive Rousseau i n den beiden letzten abgeschlossenen Phasen der deutschen Geschichte diskutiert bzw. m i t deren Hilfe diese Geschichte gedeutet wurde. Gleichheit oder Ungleichheit? hieß die Frage, die man i n Weimar m i t Rückendeckimg bei oder i n Frontstellung gegen Rousseau zu beantworten und zu entscheiden suchte. Totalitär oder liberal? heißt die Alternative, unter der heutige Rousseau-Interpreten an den „Gesellschaftsvertrag" herangehen und, wenn sich die Waage zugunsten des „totalitären" Charakters der Rousseauschen Gedanken neigt, m i t der sie dem „Staate" Hitlers zu einem theoretischen Vorläufer verhelfen. Wieweit damit der Theoretiker Rous13 Friedrich Glum hat sich der letztgenannten Fragen angenommen u n d sie negativ beantwortet, vgl. „Jean-Jacques Rousseau — Religion u n d Staat" u n d „Philosophen i m Spiegel u n d Zerrspiegel", München 1954. 14 Ziegenfuß, W.: Jean-Ja[c]ques Rousseau. Eine soziologische Studie. Erlangen 1952, S. 222 f. 16 Ziegenfuß, ebd. S. 226 f. 16 Ziegenfuß, ebd. S. 248.

Einleitung seau belastet und der Praktiker Hitler erklärt, wieweit diese Fragestellung überhaupt sinnvoll ist, möge der Leser nach der Lektüre dieses Buches für sich selbst beantworten. W i r hoffen, m i t unserer Untersuchung zu einer Klärung der Zusammenhänge und zu einer Abklärung der Gemüter beizutragen, die sich den vor 200 Jahren erschienenen Schriften Rousseaus noch immer nur m i t Leidenschaft zu nahen vermögen, und die die gegenwärtigen Übel selbstverständlich, allzu selbstverständlich auf sein Haupt kommen lassen.

Erster

Teil

D e r Gleichheitsbegriff Rousseaus A. Die Abhandlung über die Ungleichheit 1. Zum Gang unserer Untersuchung „Das zentrale Problem der politischen Philosophie", sagt C. E. Vaughart, „ist, das richtige Verhältnis zwischen dem I n d i v i d u u m und dem Staat festzulegen" 1 . Rousseau dringt zu dieser zentralen Frage vor, indem er sie auflöst i n die Frage nach den beiden i n Beziehung gesetzten Größen. „C'est de Thomme que j ' a i ä parier", beginnt Rousseau die Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen, und dieser Ausgangspunkt findet sich auch noch i n den berühmten Anfangsworten des Contrat Social: „L'homme est ne libre", — wenn auch dort der Blick sofort auf die andere, die „gesellschaftliche" Seite fällt: „et partout i l est dans les fers". Der Mensch ist also das erste Objekt, dem Rousseau sich nach alter philosophischer Tradition zuwendet. Zwei Richtungen sind unter den vom Individuum aus entwickelten Staatstheorien zu unterscheiden: Die Stoiker nahmen eine ursprüngliche Soziabilität des Menschen an, auf die etwa noch Grotius sich stützte, der den Geselligkeitstrieb (appetitus societatis) als den Grundtrieb des Menschen bezeichnete. Die andere Richtung geht auf Epikur zurück, der eine natürliche Gemeinschaft zwischen Menschen verneinte und Zweckmäßigkeitserwägungen des Individuums als Grundlage des Zusammenschlusses ansah 2 . Rousseau folgte Hobbes und Locke i n der Annahme der epikureischen Theorie des sogenannten „gesellschaftlichen Atomismus". Wodurch er sich jedoch von diesen und von allen anderen Philosophen unterschied, war, nach seiner Meinung, daß alle Vorgänger das Wesen des noch nicht i n Gesellschaft lebenden Individuums nicht richtig erkannt hätten: Er allein gelangte, so glaubte er, denkend bis zum Natur1 Vaughan, C. E.: Studies i n the History of Political Philosophy Before and A f t e r Rousseau, Vol. 1, N Y I960 2 , S. 2. 2 Windelband, W.: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 195716, S. 148—149.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff Eousseaus

zustand zurück 3 , i n dem er den reinen, den „unverdorbenen" Menschen beobachten konnte, wie er es gemäß dem Worte des Aristoteles, das er der Untersuchimg über die Ungleichheit voranstellte, für nötig hielt 4 . Der Naturzustand, dessen Schilderung den ersten Teil der Abhandlung über die Ungleichheit ausmacht, hat für Rousseau eine so große Bedeutung, w e i l man nach seiner Hypothese nur i n i h m den Menschen als statische Erscheinung vorfindet, als ein Urphänomen, zeitlos, ungeschichtlich, isoliert wie eine Reinkultur i m Laboratorium, und gerade darum zur Beobachtung und zur Bestimmung seines wahren Wesens geeignet. I n diesem Zustand verblieb der Mensch nach Rousseau Hunderttausende von Jahren 5 , ohne Entwicklung, ohne Fortschritt: „Die Gattung war schon alt, doch der Mensch blieb stets ein Kind 6 ." I m zweiten Teil der Abhandlung über die Ungleichheit schildert Rousseau sodann den allmählichen Übergang zum Gesellschaftszustand: Der Mensch t r i t t aus dem Dunkel der geschichtslosen Zeit hervor, er begegnet seinesgleichen, schließt sich zu immer größeren Gemeinschaften zusammen und unterliegt gleichzeitig damit einem Prozeß der Veränderung seines Wesens und seiner Verhaltensweisen. Es zeigt sich, daß der Mensch vervollkommnungsfähig, daß er eine dynamische Erscheinung ist. Der Gedankengang der Abhandlung über die Ungleichheit findet i m Contrat Social 7 seine — wenn auch nicht ungebrochene — Fortsetzung. Hatte Rousseau zunächst die Fragen „Was war der Mensch?" und „Was ist der Mensch heute?" behandelt, so versucht er n u n die Lösimg der Aufgabe: „Was kann bzw. soll der Mensch heute und morgen noch sein, und wie kann bzw. soll die Ordnung aussehen, i n der er lebt?" W i r wollen i n unserer Untersuchung den Schritten Rousseaus folgen u n d wenden uns daher zunächst dem Naturzustand zu: welches B i l d entwirft Rousseau von dem „statischen" Menschen, dem „Wilden", wie er i h n i m allgemeinen nennt? 8 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur cette question proposée par TAcadémie de D i j o n : Quelle est l'Origine de l'Inégalité p a r m i les hommes et si elle est autorisée par la l o i naturelle? ( = Classiques Garnier) Paris 1960, S. 39. — I m folgenden zitiert als „ A b h a n d l u n g über die Ungleichheit" (im Text) bzw. als „Discours" (in den Anmerkungen). A l s Ubersetzungshilfe w u r d e vorwiegend benutzt die Ausgabe v o n Peter Goldammer (s. Lit.-Verz.), die v o n H . Mende u n d K . Peter unter Verwendung älterer Übersetzungen aus dem Französischen übertragen wurde. 4 „ N o n i n depravitis, sed i n his quae bene secundum n a t u r a m se habent, considerandum est q u i d sit naturale." 6 Discours, S. 51. 6 Discours, S. 63. 7 Rousseau, Jean-Jacques: D u Contrat Social ou Principes d u droit politique ( = Classiques Garnier) Paris 1960. — I m folgenden zitiert als „Contrat Social" bzw. i n der üblichen deutschen Ubersetzung als „Gesellschaftsvertrag"

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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2. Methodische Schwierigkeiten Rousseaus Es ist klar, daß Rousseau sich einer grundlegenden Schwierigkeit gegenübersehen mußte, auf die w i r kurz eingehen müssen: wie sollte er, selbst der unaufhaltsamen Entwicklung unterworfen und wesensmäßig so verschieden von jenem starren Bilde, das er hypothetisch der Entwicklung voranstellte —, w i e und wo sollte er dieses B i l d suchen, wie seine gewonnenen Erkenntnisse glaubhaft machen? „Durch welche Erfahrungen", fragt er sich, „können w i r zur Erkenntnis des Menschen i m Naturzustande gelangen, und welche M i t t e l haben w i r , diese Erfahrungen innerhalb der Gesellschaft zu erwerben 8 ?" Das ist ein auch im heutigen Sinne streng wissenschaftlicher Ansatz, aber die Antwort, die Rousseau fragend sozusagen schon auf der Zunge hat, — sie fällt ganz anders aus, als w i r es erwarten. Die Wissenschaft (etwa die vergleichende Anatomie), so bekundet er, kann uns nicht helfen: „Ich habe daher alle gelehrten Bücher beiseite gelegt, denn sie lassen uns i n den Menschen nur das erkennen, wozu sie sich selber gemacht haben 9 ." Und noch schlimmer: alle diese Bücherschreiber, so behauptet er, sie lügen 1 0 ! Er, Rousseau, habe dagegen die Geschichte des Menschengeschlechtes in der Natur gelesen, die niemals lüge; was er von ihr habe, sei wahr; mögliche Unrichtigkeiten beruhten nur auf seiner mangelhaften Erkenntnis der Natur 1 1 . Was ist nun diese „ N a t u r " , die für Rousseau Quelle alles Wissens ist? „Natur" ist vor allem die eigene Seele, die Innenwelt, die Rousseau auf dem Wege intuitiver Selbstversenkung ergründet 12 . Diese geistige Schau w i r d kombiniert m i t Erfahrungen eigener und fremder Provenienz: Rousseau beobachtet seine Mitmenschen und profitiert von den vorher geschmähten Bücherschreibern, von Naturgeschichten und Reiseberichten über Naturvölker. „Natur" ist also für Rousseau ein Komplex von Vorstellungen, Gegebenheiten, Methoden, der allein i n seiner Überzeugung eine Einheit gewinnt oder besser: Zusammenfassung erfährt. „Natur" ist, was seiner Inspiration entspricht, was dem geahnten Bilde konkrete Züge zu verleihen vermag. (im Text) u n d als „CS" (in den Anm.), wobei die hinzugefügte römische Ziffer das jeweilige Buch u n d die arabische Ziffer das K a p i t e l dieses B u ches des Contrat Social bezeichnet. A l s Übersetzungshilfe w u r d e vorwiegend benutzt die Ausgabe v o n Heinrich Weinstock (s. Lit.-Verz.), der die Übersetzung von H. Denhardt zugrunde lag. 8 Discours, Vorrede S. 35. 9 Ebd., S. 37. 10 Discours, S. 40. 11 Discours, S. 40. 12 Vgl. M . Hoffmann: „Seine N a t u r des M e n s c h e n . . . ist eine i n der Innenschau gewonnene Conception u n d Abstraction. Hier v e r t r i t t Rousseau selbst die N a t u r . . ( D e r Humanitätsbegriff J.-J. Rousseaus, B o n n 1932, S. 39).

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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U m der durch den Entwicklungsprozeß bedingten Relativität aller Erkenntnis enthoben zu sein, brauchte Rousseau einen festen Stand außerhalb des Geschehens, einen „archimedischen P u n k t " 1 8 . So beschließt er — nach dem Vorbilde des verurteilten Sokrates — Raum und Zeit zu ignorieren. Er versetzt sich i n die Schule von Athen, denkt sich Piaton und Xenokrates als Richter 14 und das ganze Menschengeschlecht als Zuhörer 1 5 . Damit glaubt er sich unabhängig von allem irdischen Urteil. Seine Darlegungen würden einen symbolischen Charakter und er selbst die Autorität des Weltweisen bekommen. „Höre mich, o Mensch", beginnt er dann, „höre deine eigene Geschichte 16 !" Es ist aber dennoch nichts weniger als „Geschichte" i m heutigen wissenschaftlichen Sinne, was w i r anschließend zu hören bekommen: es ist eine poetisch-philosophische Vision m i t natur- und rechtswissenschaftlichen Komponenten, letztere vor allem i n den Anmerkungen. W i r wundern uns nicht, denn der eingenommene Standpunkt sollte i h n j a gerade der Notwendigkeit der kritischen Faktenverwertung entheben und i h m die größte Freiheit i n der Wahl der M i t t e l verschaffen. So können also auch seine Ergebnisse nicht als historische Wahrheit betrachtet werden; eine Folgerung, die nicht deutlich genug hervorgehoben werden kann 1 7 . Rousseau selbst ist sich über den unhistorischen Charakter seiner Schrift völlig i m klaren, trotz des Gebrauchs des Begriffs „histoire": Vielleicht, so räumt er ein, hat der zu ergründende Ursprungszustand niemals bestanden 18, u n d auf jeden F a l l ist es kaum möglich, die „wahren Ursachen" der Entwicklung bis zum gegenwärtigen Zustande anzugeben 10 . 13 Discours, Vorrede S. 34. Das Schreckliche ist, so klagte er, daß w i r uns i m m e r weiter v o n unserem ursprünglichen Zustand entfernen u n d die Erkenntnis i m m e r schwieriger w i r d , je fleißiger w i r auch über den M e n schen nachdenken. 14 Piaton, Apologie ( = Sämtliche Werke Bd. 1, i n : Rowohlts Klassiker der L i t . u n d Wiss.) H a m b u r g 1957. 15 Discours, S. 40. 18 Ebd. 17 Vgl. L . Strauss, Naturrecht u n d Geschichte, S. 276 ff. 18 Discours, Vorrede S. 35. 19 Ebd. — Strauss (a. a. O., S. 278, A n m . 32) glaubt, daß Rousseau den „durch A n w e n d u n g des natürlichen I n s t i n k t s " gewonnenen „Naturzustand" einerseits u n d den „Despotismus" seiner Zeit andererseits als Tatsachen angesehen habe u n d ansehen mußte, denn wäre Rousseau, so meint er, von einem „hypothetischen" Naturzustand ausgegangen, „ d a n n wäre seine gesamte politische Lehre hypothetisch", eine Einsicht, die n u r Gebet u n d Geduld zur Folge haben könne. Dazu ist zu sagen, daß jede politische Lehre bzw. Theorie, die diesen Namen verdient, hypothetische Elemente enthält, ohne daß sie dadurch an Relevanz zu verlieren braucht — ebensowenig w i e durch die utopischen Elemente, ohne die es meistens auch nicht geht. „ H y p o thesen erdichte ich nicht", sagte Newton, u n d i n gleichem Sinne w i r d auch Rousseau seine Hypothese v o m Naturzustand als durch empirische E r k e n n t nisse u n d Eingebungen herausgefordert angesehen haben. Gerade daß er auf das lückenhafte Erfahrungsmaterial i m m e r wieder hinweist, zeigt, daß er

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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Ernst Cassirer sagt, daß der Mangel an historischer Erkenntnis die Theoretiker des Staatsvertrages bzw. die Denker des 17. Jahrhunderts überhaupt gar nicht interessiert habe, da i h r Problem „analytisch, nicht historisch" gewesen sei. Und weiter: „Sie verstehen den Terminus U r sprung' i n einem logischen, nicht i n einem chronologischen Sinn. Was sie suchen, ist nicht der Anfang, sondern das »Prinzip 4 des Staates — seine raison d'être." Bei Hobbes, so führt er weiter aus, könne man dieses Denken besonders gut beobachten: „Was allein (für Hobbes) zählt, ist nicht die historische, sondern die gesetzliche Basis des Staates ; und es ist die Frage nach dieser legalen Basis, die durch die Theorie vom sozialen Kontrakt beantwortet w i r d 2 0 . " Was auch immer Rousseau von den Denkern des 17. Jahrhunderts unterscheidet —: auch er sucht letzten Endes „die wahren Grundlagen des politischen Organismus und die wechselseitigen Rechte seiner Glieder 2 1 ", wenn er über den ursprünglichen Menschen nachdenkt; seine „histoire" ist „Geschichte" bestenfalls i m Sinne einer — theoretischen — „Entwicklungsgeschichte". 3. Der Mensch im Naturzustand a)

Grundprinzipien

U m weiter i n die Vergangenheit einzudringen und „sozusagen den Embryo des Menschengeschlechtes"22 untersuchen zu können, mußte Rousseau — da man allgemein die Vernunft als das wesentliche K r i terium des Menschseins ansah —, auf einen prä-rationalen Zustand des Menschen zurückgreifen. I n den Prinzipien Selbsterhaltung (la conservation de nous-mêmes) und Mitleid (la commisération bzw. pitié) glaubte er die „ursprünglichsten und einfachsten Äußerungen der menschlichen Seele" gefunden zu haben. Selbsterhaltung wâr i h m gleichbedeutend m i t der Sorge für das persönliche Wohl, während er Mitleid als die Unfähigkeit deutete, ein anderes Wesen, vor allem gleicher A r t , leiden zu sehen 23 . Dieses „ M i t l e i d " ist aber, wie sich dann zeigt, ein weiter Begriff: bald nennt Rousseau es eine „Tugend" (vertu), bald eine „Eigenschaft" (qualité), auf die alle gesellschaftlichen Tugenden zurückzuführen sind. Er rechnet unter „ M i t l e i d " auch Mutterliebe ohne Hypothese überhaupt nichts hätte zu Papier bringen können. — Ü b e r dies ist nicht eindeutig, ob Rousseau m i t den „faits" w i r k l i c h den N a t u r zustand bzw. den Despotismus meint, w i e Strauss unterstellt. (Vgl. Discours, Seite 66). 20 Cassirer, E.: V o m M y t h u s des Staates, Zürich 1949, S. 216—229. 21 Discours, Vorrede S. 37. 22 Discours, S. 41. — M a n w i r d an das v o n Haeckel aufgestellte biogenetische Grundgesetz erinnert, das hier praktisch vorweggenommen scheint: „Die Ontogenese ist eine Rekapitulation der Phylogenese." 23 Discours, Vorrede S. 37.

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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und pure Angst, deutet Großmut, Milde und Menschlichkeit als „ M i t leid gegenüber dem Schwachen, dem Schuldigen, kurzum gegenüber dem menschlichen Geschlechte überhaupt", u m fortzufahren: „Selbst Zuneigung u n d Freundschaft entspringen, genau betrachtet, einem fortgesetzten Mitleid, das auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist 2 4 ." Ein für uns zunächst befremdlicher Rationalismus leuchtet durch alle diese Deutungen emotionaler bzw. psychischer Phänomene hindurch, um schließlich an einer Stelle v o l l aufzublenden, wo er das Mitleid als eine „dem Menschen außerordentlich nützliche Tugend 2 6 " bezeichnet; es enthalte, so fügt er hinzu, eine „vielleicht noch nützlichere" Forderung als die Gerechtigkeit: „Strebe nach deinem Besten, aber lasse dieses Streben anderen so wenig wie möglich zum Nachteile gereichen 26 !" Die Gerechtigkeit sieht Rousseau als ein Produkt der Vernunft an; seinen natürlichen Menschen kann sie folglich nicht auszeichnen. I h m eignet dafür das Mitleid, das aller Überlegung vorausgeht und eine der Gerechtigkeit (des gesellschaftlichen Menschen) äquivalente Position einnimmt, es „ v e r t r i t t i m Naturzustande die Stelle der Gesetze, der Sitten u n d der Tugend 2 7 ". Als Gebot der Gerechtigkeit sieht Rousseau die sogenannte „goldene Regel" des sittlichen Verhaltens an, die bei i h m die F o r m hat: „Verhalte dich gegen andere, wie du erwartest, daß man sich dir gegenüber verhält." Diese Regel hat dem Sinne nach bei allen K u l t u r v ö l k e r n Geltung 2 8 . Rousseaus „Gebot des Mitleids" trägt dem ungebundenen Naturmenschen Rechnung: dieser kann noch nicht erwarten, daß sich sein sporadisch auftauchender Artgenosse ihm gegenüber i n irgendeiner bestimmten (durch Sitte oder Gesetz) oder bestimmbaren Weise verhalte; beide folgen n u r den ihnen innewohnenden zwei Prinzipien. U m nun eine Kollision der Individuen zu vermeiden bzw. die Folgen einer solchen zu vermindern, verlegt Rousseau die Regel des (späteren) Gesellschaftszustandes vor i n das Individuum: die den einzelnen beschränkende, Geselligkeit erst ermöglichende W i r k u n g der goldenen Regel ist i n dem Naturmenschen i n Form einer K r a f t enthalten, die das Streben nach seinem Wohle mildert, die also als Gegenkraft des Selbsterhaltungstriebs w i r k t . Gemeinsam ist dem M i t l e i d wie der Gerechtigkeit also die Funktion, die sie i n den aufeinanderfolgenden Stadien menschlichen Begegnens und menschlichen Zusammenlebens ausüben. Während aber 24

Discours, S. 58, 59. Ebd., S. 58. 26 Ebd., S. 60. 27 Ebd. 28 Die „goldene Regel" geht auf Tobias 4, 16 zurück: „Was d u nicht willst, daß m a n d i r tu, das füg auch keinem andern zu." Siehe Philosophisches Wörterbuch (Kröners T A Bd. 13) unter Regel. 26

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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das Mitleid als für den Menschen konstitutiv gedacht ist 2 9 , ist die Gerechtigkeit konsekutiv gesehen: sie ergibt sich aus der Vernunft. Sie ist das Spätere, weniger Unmittelbare, weniger Feste, m i t einem Wort: das weniger Natürliche. Stets bleibt die Gerechtigkeit von dem Maße der Vernunft abhängig. Rousseau sucht die Grundlagen des politischen Organismus. Grundlage kann nur das Festeste, das Natürlichste sein. Zwar ruht die Konstruktion des Contrat Social eindeutig auf Vertrag und Gesetz, also auf Produkten der menschlichen Vernunft. Aber Rousseau w i r d bemüht sein, daneben soviel „Natürliches" wie eben möglich zu verwenden, u m die vielfältig und unablässig bedrohte Festigkeit des Gemeinwesens zu stärken — sei es auch, daß er das „Natürliche" künstlich wieder herbeiführt.

b) Eigenschaften

und Lebensweise,

Unterschied

vom Tier

Rousseau sieht i n dem Naturmenschen ein vorwiegend allein lebendes Wesen, dem er halb menschliche, halb tierische Züge gibt. Naturmensch wie Tier haben eine Seele, beide verfügen über Sinne und haben eine A r t von Begriffen, wobei der Unterschied zwischen Mensch und Tier lediglich quantitativer Natur ist, mehr auf der Freiheit des Handelns als auf der Verstandestätigkeit beruht 3 0 . Mensch wie Tier stellt sich Rousseau als „künstliche Maschinen" vor, deren eine i n Freiheit, die andere aus Instinkt funktioniert 3 1 . Neben der Freiheit (liberté) die — bzw. deren bewußtes Erleben — dem Menschen die Geistigkeit (spiritualité) seiner Seele offenbart, ist es die Fähigkeit, sich zu vervollkommnen (perfectibilité), die den Naturmenschen vom Tiere unterscheidet 82 . 29 Wenn Rousseau davon spricht, daß m a n auch bei Tieren „gewisse A n zeichen" v o n M i t l e i d antrifft, so bedeutet das nur, daß er den natürlichen Menschen nicht i n jeder Hinsicht scharf v o m Tiere abgrenzt. 30 Discours, S. 47. 81 Discours, S. 47. — Wenn Rousseau auch die Lebewesen m i t Maschinen vergleicht, so ist er doch k e i n Anhänger eines mechanistischen Weltbildes — er versucht sich n u r eine bestimmte Seite des menschlichen Wesens zu v e r anschaulichen: „Die Naturkunde reicht zwar einigermaßen aus, den mechanischen B a u der Sinne u n d die Entstehung der Begriffe zu erklären, aber das Vermögen, zu w o l l e n oder — besser — zu wählen, u n d das Bewußtsein dieses Vermögens sind alleinige Handlungen u n d Entscheidungen des Geistes; sie lassen sich nicht durch mechanische Gesetze erklären." 32 Discours, S. 47 f. — Die hier aufgezählten Begriffe sind nicht identisch m i t unseren Vorstellungen von Freiheit, Geistigkeit etc., m a n muß sie sich als erste Ansätze denken, w o f ü r der Freiheitsbegriff als Fähigkeit "bzw. Macht des Wählens (la puissance de choisir) — gedacht als Befreitsein v o n I n s t i n k t — ein gutes Beispiel ist.

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I . T e i l : Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

D e r a l l g e m e i n s t e u n d g r u n d l e g e n d s t e U n t e r s c h i e d des N a t u r m e n s c h e n v o m T i e r e l i e g t i n des e r s t e r e n S e l b s t b e w u ß t s e i n s o w i e i n d e r E r k e n n t n i s , d i e er v o n seinen F ä h i g k e i t e n h a t . Rousseau h a t d e n seine E x i s t e n z „ e r l e b e n d e n " M e n s c h e n d e r N a t u r i n W o r t e n v o n dichterischer K r a f t g e s c h i l d e r t : „ S o n âme, q u e r i e n n ' a g i t e , se l i v r e a u seul s e n t i m e n t de son e x i s t e n c e a c t u e l l e sans aucune idée de l ' a v e n i r , q u e l q u e p r o c h a i n q u ' i l puisse ê t r e ; . . .®3." W i r e r i n n e r n u n s e i n i g e r Z e i l e n aus d e r A c h t e n E l e g i e Rilkes, die n a c h F o r m u n d I n h a l t ä h n l i c h das U n t e r s c h e i d e n d e v o n M e n s c h u n d Tier zum Ausdruck bringen: „ W ä r e Bewußtsein unsrer A r t i n dem sicheren Tier, das uns entgegenzieht i n anderer Richtung —, riß es uns h e r u m m i t seinem Wandel. Doch sein Sein ist i h m unendlich, ungefaßt u n d ohne Blick auf seinen Zustand, rein, so w i e sein Ausblick. U n d w o w i r Z u k u n f t sehn, dort sieht es alles u n d sich i n a l l e m u n d geheilt für immer." So w i e h i e r R i l k e w e h m ü t i g a u f d i e Sicherheit, d i e R e i n h e i t , d i e U n v e r s e h r t h e i t u n d d i e U n b e s c h w e r t h e i t des T i e r e s schaut, so h a t t e schon Rousseau seinen f i k t i v e n N a t u r m e n s c h e n n a c h d e m B i l d e d e r „ z u k u n f t s l o s e n " K r e a t u r g e f o r m t 3 4 , i h m aber g l e i c h z e i t i g zugeschrieben, w a s R i l k e als das Gegensätzliche u n d m i t d e r R e i n h e i t u n d d e m „ H e i l s e i n " n i c h t z u V e r e i n e n d e a n s i e h t : B e w u ß t s e i n . Rousseaus N a t u r mensch v e r e i n t d i e E i g e n s c h a f t e n des (Rilkeschen) T i e r e s m i t d e m spezifisch m e n s c h l i c h e n B e w u ß t s e i n , er i s t A d a m — z u g l e i c h v o r u n d nach d e m Sündenfall. 33 Discours, S. 49 („Seine Seele, v o n nichts bewegt, überläßt sich der bloßen Empfindung ihres gegenwärtigen Daseins, ohne irgendeinen Gedanken an die Z u k u n f t , w i e nahe auch i m m e r sie bevorstehe..."). 34 Das B i l d des Rousseauschen Naturmenschen sei hier noch etwas v e r vollständigt. Der „ w i l d e Mensch" w a r zwar einsam u n d müßig, aber auch i m m e r v o n Gefahren umgeben. Dieses Los teilte er m i t allen Tieren, und deshalb w a r er auch m i t den gleichen A b w e h r m i t t e l n ausgestattet: „Gefühl u n d Geschmack müssen außerordentlich grob, Tast-, Gehör- u n d Geruchssinn aber sehr fein sein. So verhält es sich bei sämtlichen Tieren und, nach Berichten v o n Reisenden, auch bei den meisten w i l d e n Völkern." (Discours, S. 46). Die ersten Seelenregungen des w i l d e n Menschen w a r e n rein „ a n i malisch": Wahrnehmen u n d Fühlen, Wollen u n d Nichtwollen, Begehren u n d Fürchten. (Disc., S. 48). A l s Einzelwesen k a n n dieser Mensch keine A r t v o n Beziehungen haben: er kennt weder M o r a l noch Pflicht, weder Eitelkeit noch A u t o r i t ä t , weder Hochachtung noch Geringschätzung; er ist nicht gut oder böse, tugendhaft oder lasterhaft, denn er weiß überhaupt nicht, was das alles bedeutet. (Disc., S. 57 f., 61). Er braucht nach der Rousseauschen L o g i k auch keine Sprache, u n d deshalb kennt er sie nicht; er hat nicht die Sorgen des zivilisierten Menschen: Wohnung, Eigentum, Familie, Erziehung, Beruf, Krieg. (Discours, S.52, 61, 63).

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit c) Gleichheit und Ungleichheit

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im Naturzustand

Rousseau hat m i t großem Nachdruck darauf hingewiesen, daß der Naturmensch allein lebte. I n bezug auf die Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit der „Naturmenschen" untereinander (ein Plural, den Rousseau absichtlich so gut wie gar nicht benutzt —) ergibt sich aus dieser Annahme zunächst zweierlei. Einmal war damit die Berechtigung und überhaupt der Sinn eines abschätzenden Vergleichs (der die notwendige Voraussetzung eines Gleichheits- oder Ungleichheitsurteils ist) der Naturmenschen miteinander entfallen. Bezeichnenderweise „vergleicht" Rousseau den Naturmenschen immer wieder m i t dem Tiere: eine Sicht, aus der sich für die Beziehungen des Menschen zum Menschen nichts von Bedeutung ergeben kann. Z u m anderen aber konnte Rousseau unter der Annahme des Alleinlebens des Naturmenschen von eventuell doch vorhandenen oder jedenfalls nicht als nicht-existent zu erweisenden Verschiedenartigkeiten getrost absehen 35 . „Naturmensch" ist für Rousseau ein Gattungsbegriff. Er sah die einzelnen Exemplare „Naturmensch" als „von Natur aus ebenso gleich wie die Tiere ein und derselben Gattung" an. Rousseau dachte dabei an eine „reine" Gattung oder A r t (espèce kann beides bedeuten), aus der, wie er sagt, noch nicht durch „verschiedene physische Ursachen" A b - oder Unterarten entstanden seien 36 . Man w i r d die Rousseauschen Begriffe espèce und variété w o h l am richtigsten und zweckmäßigsten m i t A r t und Unterart (= Rasse) wiedergeben. Den Begriff der A r t (species) hatte schon der schwedische Zeitgenosse Rousseaus Linné (1707—1778), der „Vater der systematischen Biologie", als die Grundeinheit der Klassifizierung der Organismen verwendet 37 . Linné glaubte, daß die Arten von Gott geschaffene Einheiten seien; er w i r d sich dabei an den Platonischen „Ideen" orientiert haben 38 . Aus den „Bekenntnissen" wissen wir, daß Rousseau das Linnésche System m i t großem Interesse studiert, ja sogar m i t „Leidenschaft" praktisch geprüft hat. Während der kurzen glücklichen Zeit, die er 1765 auf der Insel Saint-Pierre i m Bieler See verbrachte, gehörte die Botanik zu seinem Tagesplan. Linné war i n Rousseaus Augen einer der wenigen, die die Botanik „als Naturforscher und Philosoph zugleich" betrieben, hatte aber immer noch „zu viel aus Herbarien und Gärten 35 So sagt Rousseau etwa, daß die Ungleichheit i m Naturzustand „ k a u m bemerkbar oder doch wenigstens ohne Einfluß" w a r , oder daß sie (so a m Ende der Abhandlung), „ i m Naturzustande so gut w i e nicht vorhanden w a r " . (S. 65, 92). so Discours, Vorrede S. 34. 37 Dobzhansky, Th.: Die E n t w i c k l u n g z u m Menschen, H a m b u r g / B e r l i n 1958, S. 174. 38 Windelband, W.: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, §11.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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und nicht genug aus der Natur selber gelernt. Ich, der ich die ganze Insel zu meinem Garten machte, ich eilte, sobald ich eine Beobachtung anzustellen oder nachzuprüfen hatte, m i t meinem Buch unter dem A r m i n Wald und Wiese hinaus, dort legte ich mich neben die i n Frage stehende Pflanze auf den Boden, u m sie i n größter Gemächlichkeit zu untersuchen. Dieses Verfahren ist m i r äußerst dienlich dabei gewesen, die Pflanzen i n ihrem natürlichen Zustand, ehe sie von Menschenhand angebaut und umgestaltet sind, kennenzulernen 30 ". Zwischen Rousseaus Pflanzenbeobachtungen und seinem Studium des Menschen besteht, wie diese Worte zeigen, prinzipiell kein Unterschied. Rousseau hat die wissenschaftliche Literatur seiner Zeit gelesen und i n der Abhandlung über die Ungleichheit verwendet. Er zitiert mehrfach ausführlich zur Belegung seiner Ansichten aus der Naturgeschichte Buffons, eines anderen Zeitgenossen (1707—1788). Aber Rousseau ist doch mehr Philosoph als Naturforscher, seine botanischen Studien sind, trotz der i m einzelnen vielleicht trefflichen Beobachtungen, i m Grunde Meditationen. M a n mag, u m sich den Ansichten Rousseaus durch Vergleich zu nähern, auch an Goethe denken, der 1790 i n seiner „Metamorphose der Pflanzen" eine „Urpflanze" als ein allgemeines Schema entwickelte, einen „Grundbauplan" der Pflanze, von der die wirklich vorhandenen Pflanzen Varianten sein sollten 40 . Eine treffende allgemeine Charakteristik der kulturgeschichtlichen Strömung des 18. Jahrhunderts hat Georg Simmel i n einem 1957 veröffentlichten Aufsatz gegeben 41 , i n dem er sich u. a. mit dem Zusammenhang von Gleichheit und Individualität befaßt. Simmel nimmt einen starken Einfluß des Naturbegriffs dieser Zeit auf alle ihre k u l turellen Strömungen an; für diesen Naturbegriff aber habe nur das „allgemeine Gesetz" bestanden. „Darum", so fährt er fort, „steht der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt, i m Interessenzentrum dieser Zeit, statt des historisch gegebenen, des besonderen und differenzierten." U n d weiter: „Wenn das Allgemein-Menschliche, sozusagen: das Naturgesetz Mensch — als der wesentliche K e r n i n jedem durch empirische Eigenschaften, gesellschaftliche Stellung, zufällige Bildung individualisierten Menschen besteht — so braucht man i h n eben nur von all diesen historischen, sein tiefstes Wesen vergewaltigenden Einflüssen und Ablenkungen zu befreien, damit als dieses Wesen das allen Gemeinsame, der Mensch als solcher, an i h m hervortrete. — Hier liegt der Drehpunkt dieses Individualitätsbegriffs, der zu den großen 89 Rousseau, J.-J.: Bekenntnisse. Übertragen v o n E . H a r d t , Leipzig 19595, 12. Buch, S. 818 f. 40 Dobzhansky, a. a. O., S. 144, 233 f. 41 Simmel, G.: Das I n d i v i d u u m u n d die Freiheit (in: Brücke u n d Tür, Stuttgart 1957).

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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geistesgeschichtlichen Kategorien gehört: Wenn der Mensch von allem, was nicht ganz er selbst ist, befreit wird, so verbleibt als die eigentliche Substanz seines Daseins der Mensch schlechthin, die Menschheit, die i n i h m wie i n jedem anderen lebt, das immer gleiche Grundwesen, das nur empirisch-historisch verkleidet, verkleinert, entstellt w i r d 4 2 . " Simmel bezieht an anderer Stelle auch Rousseau ausdrücklich i n dieses Denken ein. Zweifellos wollte Rousseau den Menschen i m Sinne Simmeis „befreien", und ebenso sicher ist, daß Rousseau sowohl i n seinen Vorstellungen von einer ungeteilten Ausgangs-„Art" wie auch i n seinem Entwicklungsdenken unter dem Einfluß der Naturwissenschaft seiner Zeit stand. Rousseaus Begriff „Naturmensch" läßt sich also einordnen neben die „species" i m Sinne der damaligen Biologie, neben die Vorstellungen vom „ U r b i l d " und vom „Grundbauplan". Der „Naturmensch" hat i n Rousseaus Augen eine A r t Glaubens-Realität: er „weiß", daß es i h n i n einer fernen Vergangenheit gegeben haben muß; aber er weiß auch, daß er dieses „Wissen" nicht exakt belegen kann. Deshalb ziehen w i r es vor, diese besondere A r t von Existenz des Naturmenschen nicht, wie Leo Strauss, „Tatsache" zu nennen: Tatsachen sind greifbar und beweisbar. W i r halten auch den von I r i n g Fetscher i n seinem Werk über Rousseaus politische Philosophie gewählten Begriff des „Idealtypus" für wenig glücklich 43 . Idealtypus ist ein Begriff der neueren Soziologie, der erst durch Georg Jellinek und insbesondere durch Max Weber inhaltlich fixiert wurde 4 4 . Die Frage nach der „Gleichheit" des Naturmenschen erledigt sich nach dem oben Ausgeführten sozusagen von selbst. Der Naturmensch ist von Rousseau definiert als unaufgespaltene, undifferenzierte A r t , ein Naturmensch muß dem anderen i m wesentlichen gleich sein. A l l e Naturmenschen sind einheitlich ausgestattet m i t Grundtrieben und einigen Eigenschaften. Man kann diese „species" nur beschreibend von anderen „ A r t e n " abgrenzen, und Rousseau zieht denn auch ständig Affen, Wölfe, Pferde, Hühner und andere „espèces d'animaux" zu Vergleichen heran. Er kann (und muß) alle diese A r t e n von Lebewesen als Einheiten, als konstante Größen behandeln, w e i l er aus dem Natur42 Simmel, a.a.O., S.262f. — Z u einem ähnlichen U r t e i l k o m m t auch F r i t z Valjavec i n seiner „Geschichte der abendländischen A u f k l ä r u n g " , Wien/München 1961, S. 91 ff. 43 Fetscher, I . : Rousseaus politische Philosophie ( = Politica Bd. 1) Neuw i e d 1960, S. 17. 44 Weber, M.: Die „ O b j e k t i v i t ä t " sozialwissenschaftlicher Erkenntnis (in: Soziologie — Weltgeschichtliche Analysen — P o l i t i k , Kröners T A Bd. 229, S. 186—262; v o r allem S. 234 ff. über „ D i e gedankliche Gestalt des Idealtypus") — A u f die gedankliche Vorarbeit Jellineks am Begriff des Idealtypus weist H e r m a n n Heller i n seiner „Staatslehre", S. 61, hin.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

zustand jede Entwicklung, jeden Fortschritt durch Definition ausschließt. Es gibt also nur einen, den Naturmenschen 45 . Allerdings konnte Rousseau neben dieser Gleichheit i n Anlage und Ausstattung die Möglichkeit von unterschiedlicher Gesundheit, K r a f t und vor allem die Tatsache unterschiedlichen Lebensalters nicht ausschließen oder übersehen. Gewisse Ungleichheiten waren also unvermeidlich, konnten aber wegen der isolierten Lebensweise vernachlässigt werden. Spricht Rousseau also von der weitgehenden Gleichheit oder der so gut wie nicht vorhandenen Ungleichheit i m Naturzustand, so ist das die Gleichheit bzw. Ungleichheit des Physischen oder Biologischen, eine Gleichheit bzw. Ungleichheit, die die Züge des Zufälligen, Vorübergehenden, Vergänglichen, Nicht-Institutionellen trägt. Bezugspunkte dieser „Gleichheit" sind weiterhin jene Freiheit, jene Geistigkeit der Seele und jene Vervollkommnungsfähigkeit, die, wie w i r sahen, den natürlichen Menschen vor allen anderen Lebewesen seiner Umgebimg auszeichnen —: die i h n eigentlich zum Menschen machen. Der Schweizer Hans Nef und der Amerikaner Henry A. Myers kommen m i t ihren Formulierungen diesem Gleichheitsbegriff Rousseaus in unseren Tagen w o h l am nächsten. Nef schreibt: „Dieser Begriff »Mensch4 muß doch wie alle Begriffe einen bestimmten Inhalt haben, und dieser kann n u r durch etwas gebildet werden, was allen Exemplaren, die darunter fallen sollen, gemeinsam ist, wodurch sie eben i n gleicher Weise alle unter i h n subsumiert werden können. Die Menschen sind also notwendigerweise alle darin, daß sie überhaupt unter den Begriff ,Mensch4 fallen, gleich. Sie sind gleich i n ihrem Menschsein. Das ist das Allgemeinste, was w i r über ihre Gleichheit sagen 45 Fetscher glaubt „verschiedene »Grade 4 der N a t ü r l i c h k e i t " entdeckt zu haben u n d einen Unterschied zwischen dem „sauvage", dem „barbare" u n d einem „einfachsten sauvage" machen zu müssen, w o r u n t e r er „Jäger", „ H i r ten" u n d „Sammler" versteht. M a g Rousseaus Terminologie auch nicht i n allen Werken einheitlich sein, so gibt es doch i n der A b h a n d l u n g über die Ungleichheit eine Stelle, aus der zweifelsfrei hervorgeht, was Rousseau unter dem „homme n a t u r e l " u n d unter dem „ w a h r e n Naturzustand" (véritable état de nature) versteht: die Zeit nämlich, i n der der Mensch allein i n den Wäldern umherirrte, ohne jeglichen „Fortschritt", i n anscheinend sinnloser Geschlechterfolge, deren jede „ v o n v o r n " beginnen mußte i m Erwerb der zum Leben notwendigen Fähigkeiten u n d Kenntnisse. Das entscheidende K r i t e r i u m des Naturzustandes ist die „fortschrittslose Isoliertheit". A n die kulturgeschichtlichen Begriffe des Jägers, des H i r t e n etc. darf m a n sich nicht k l a m m e r n : die Hauptsache ist, daß der Mensch allein jagt, sammelt etc., daß er nicht m e h r K o n t a k t m i t seinesgleichen hat als die Einzelgänger unter den Tieren m i t ihresgleichen. — Die wechselnde T e r m i nologie Rousseaus läßt sich übrigens mindestens z u m T e i l aus stilistischen Gründen erklären: er spricht z. B. i n einem kurzen Abschnitt hintereinander v o n den „ersten Menschen", den „ w i l d e n Menschen", den „Menschen i m Naturzustand" oder einfach den „Menschen", wobei aber k e i n Zweifel aufkommen kann, daß er damit das gleiche meint. (Vgl. über den „ w a h r e n Naturzustand" Discours, S. 63).

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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können. Das ist aber sehr viel, denn es besagt, daß sie i n allem, was den Menschen als Menschen konstituiert, gleich sind 4 6 ." U n d Myers faßt seine an Schopenhauer orientierten Vorstellungen i n die Worte: „Such is the true meaning of human equality. I t may be stated coldly, almost geometrically. Each man is to himself equal to the great w o r l d of his own experience. I n what matters most to men this w o r l d has the same import to all; i t teaches each the lesson of his own infinite worth. A n d so men, who are equal to the same thing, are equal to each other. One being of infinite w o r t h cannot be greater or less than another of i n finite worth 4 7 ." N u n spricht Rousseau aber auch bei der Beschreibung des Gesellschaftszustandes von Gleichheit und Ungleichheit, und zwar, wie w i r noch sehen werden, vorwiegend unter rechtlichem und politischem Aspekt. Das Begriffspaar Gleichheit-Ungleichheit ist i m Rousseauschen Sprachgebrauch also mehrdeutig. A n einigen Stellen der A b handlung über die Ungleichheit ist Rousseau sich dieser Tatsache bewußt und unterscheidet klar 4 8 , an anderen vermißt man die klare Trennung der Urteilsbereiche, die vor allem den Beginn der Untersuchung auszeichnet. E i n Zufall ist das wohl kaum. Trotz der grundlegenden Andersartigkeit von Naturzustand und Gesellschaftszustand, zwischen denen ein tiefer Schnitt besteht, mußte Rousseau einige Prinzipien des einen Zustands als vergleichbar m i t denen des anderen Zustands erweisen, durfte die Verbindung nicht ganz abreißen lassen, wenn der Naturzustand nicht jede „Verbindlichkeit" für die Gesellschaft und ihre Einrichtungen verlieren sollte. Einer begrifflichen Analyse bietet sich daher folgendes Bild: Rousseau ordnet das eine (physisch-seelische) Begriffspaar Gleichheit/Ungleichheit i m wesentlichen dem Naturzustand, das andere (rechtlichpolitische) ausschließlich dem Gesellschaftszustand zu. Naturzustand und Gesellschaftszustand sind die verschiedenen Phasen eines Entwicklungsablaufs. Die erste Phase ist durch ein Vorherrschen der (physisch-seelischen) Gleichheit, die andere durch ein Vorherrschen der (rechtlich-politischen) Ungleichheit bestimmt; der Gegenbegriff ist je40

Nef, H.: Gleichheit u n d Gerechtigkeit, Zürich 1941, S.41f. Myers, H . A . : A r e men equal? A n I n q u i r y into the Meaning of A m e rican Democracy. Ithaca, N Y , 19552 ( = Great Seal Books, 1. A u f l . 1945) S. 32. Übersetzung: „Das ist die wahre Bedeutung menschlicher Gleichheit. Sie mag k ü h l , beinahe geometrisch umschrieben werden. Jeder Mensch setzt sich selbst gleich m i t der großen W e l t seiner eigenen Erfahrung. I n dem, w o r a u f es f ü r Menschen a m meisten ankommt, hat diese W e l t für alle die gleiche Bedeutung; sie gibt jedem die Lehre v o n seinem eigenen, unbegrenzten Wert. U n d so sind die Menschen, dem gleichen Dinge gleich, auch untereinander gleich. E i n Wesen v o n unbegrenztem Wert k a n n nicht größer oder geringer als ein anderes v o n unbegrenztem W e r t sein." 48 Discours, S. 43. 47

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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weils praktisch ohne Bedeutung. Jedes der Begriffspaare (gleichen Namens, aber verschiedenen Bezugs) hat auf diese Weise ein Glied quasi verloren, und es ist der Trick — so könnte man sagen — Rousseaus, den Rest zu einem neuen Paar zu verbinden, also die physischseelische Gleichheit m i t der rechtlich-politischen Ungleichheit. Das neue Paar repräsentierte nun einen „historischen" Prozeß, bestand aus den Kernbegriffen zweier Stadien der Menschheitsentwicklung. Die „Aussage" dieses Begriffspaares faßt die Aussage der Darstellung Rousseaus i n äußerster Knappheit zusammen: dem Naturzustand der Gleichheit folgte der Gesellschaftszustand der Ungleichheit. Die völlig verschiedenen Geltungsbereiche der beiden Begriffe des neuen Paares fielen unter den Tisch. Wenn n u n die „Ungleichheit" i n der bürgerlichen Gesellschaft einer vernichtenden K r i t i k unterzogen wurde, konnte dem die „Gleichheit" i m Naturzustand als leuchtendes (Vor-) B i l d entgegengehalten werden. Bei genauer Betrachtung fehlt diesem revolutionären Vergleich die zwingende logische Schärfe. Seiner geschichtlichen Wirkung hat das aber keinen Abbruch getan. 4. Der Mensch im Gesellschaitszustand a) Die Entwicklung

der Gesellschaft als Entwicklung

der Ungleichheit

Selbsterhaltungstrieb und M i t l e i d waren die Grundkräfte, die den Naturmenschen beherrschten. I n dem Prinzip „ M i t l e i d " sah Rousseau die notwendig-ausgleichende Gegenkraft des Selbsterhaltungstriebes. Die ersten Anfänge eines Gesellschaftszustandes, wie er sie i m zweiten T e i l der Abhandlung über die Ungleichheit schildert, sind durch ein stärkeres Hervortreten des Selbsterhaltungstriebes und eine Abschwächung des Mitleids gekennzeichnet: das „natürliche" Gleichgewicht der Kräfte kommt ins Wanken 4 9 . M i t den Grundprinzipien änderten sich auch die Eigenschaften des Menschen, oder m i t den Worten Rousseaus: die Menschen „mußten andere Eigenschaften annehmen, als sie sie i n ihrem ursprünglichen Zustande gehabt hatten 6 0 ". Die entscheidende Ursache dieser Veränderungen sieht Rousseau i n der Zunahme der Zahl der Menschen und der damit notwendig verbundenen Kontaktzunahme bzw. Kollisionsmöglichkeit. Hatte er den Naturmenschen als allein lebendes Wesen definiert und aus dieser Annahme alle seine Eigenschaften und sein Verhalten erklärt, so ist 49

Discours, S. 68, 72. Übrigens ein anschauliches Beispiel f ü r die U m k e h r u n g der Denkrichtung, die m a n bei Rousseau i m m e r wieder beobachten k a n n : v o m N a t u r zustand aus w i r d n u n deduziert, als sei dieser k e i n Ergebnis der I n d u k t i o n , sondern eine Tatsache. N a t ü r l i c h muß er so operieren, daß er den Gesellschaftszustand, v o n dem er ausgegangen w a r , nicht verfehlt. 50

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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nun der gesellschaftliche Mensch der nicht mehr allein Lebende, dessen Eigenschaften er aus eben dieser Tatsache m i t geradezu penetranter Beharrlichkeit zu erklären versucht 51 . Die „vielen Jahrhunderte rasch durcheilend", schildert Rousseau, wie sich als erste kleine Gesellschaft die auf gegenseitiger Zuneigimg und Freiheit beruhende Familie entwickelt 0 2 , wie allgemein eine „gewisse Seßhaftigkeit" sich bemerkbar macht 53 , wie Horden (troupes) und Volksstämme (nations) m i t gleichen Sitten und Eigenarten entstehen. Noch sind es nicht Gesetze und Verordnungen, sondern einheitliche Lebensweise und Lebensumstände, die das einigende Band der Gesellschaften abgeben, noch ist auch das natürliche Mitleid, wenn auch abgeschwächt, vorhanden. Dieses „Jugendalter" der Welt, nach dem Vorbilde der Lebensweise von Eingeborenen gezeichnet, hält Rousseau, der den Naturzustand als die „Kindheit" des Menschengeschlechtes charakterisiert hatte, für die „glücklichste und beständigste Epoche", da sie zwischen der „Trägheit des ursprünglichen Zustandes und der törichten Wirksamkeit unserer Eigenliebe die richtige Mitte" halte 5 4 . Freilich entstanden nun, da die Menschen sich und ihre erwachenden Fähigkeiten (Vernunft, Gedächtnis, Phantasie etc.) zu vergleichen lernten, auch Begriffe bzw. Vorstellungen wie öffentliche Anerkennung, Eitelkeit, Neid, Verachtung, Scham 55 . Verhängnisvoll aber wurde die Entwicklung erst — und dann auch endgültig — durch die Einführung des Eigentums. Damit erst wurde die bürgerliche Gesellschaft eigentlich gegründet. Waren auch schon vorher kleine Schritte i n Richtung auf die Ungleichheit getan worden (so wie sie sich notwendig aus dem ersten Vergleichen der Menschen ergeben mußten), so war n u n der Weg betreten, der stufenweise bis zur völligen Sklaverei führte. Rousseau schildert die weitere Entwicklung der Gesellschaft i n ständigem Vergleich m i t der parallel sich entwickelnden 61 Das beste Beispiel hierfür sind die Ausführungen Rousseaus über das Problem des Ursprungs der Sprache. „Bloße menschliche K r ä f t e " , d . h . Kräfte, über die der (vereinzelte) Naturmensch verfügt, können nach seiner Ansicht Sprachen nicht hervorgebracht haben. A l l e n derartigen Sprachtheorien stellt Rousseau seinen lösenden Gedanken gegenüber: daß nämlich die Menschen „näher zusammengedrängt" u n d durch natürliche Barrieren eingeschlossen wurden. Der theoretische Idealfall ist eine Insel, auf der sich bei wachsender Bevölkerung ein i m m e r engerer K o n t a k t zwischen den einzelnen herstellen muß. So folgert Rousseau, daß Inseleinwohner die übrige Menschheit die Verwendung der Sprache gelehrt hätten. „Zumindest", so m e i n t er, „ist es höchst wahrscheinlich, daß Geselligkeit u n d Sprache zuerst auf den Inseln entstanden sind u n d dort vervollkommnet wurden, ehe auf dem K o n t i n e n t überhaupt etwas davon bekannt w a r " . (Discours, S. 70). 62 Discours, S. 69 f. 68 Ebd., S. 71. 04 Ebd., S. 72. 65 Ebd., S. 71.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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Ungleichheit; diese ist sozusagen das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, ihre Entelechie: Jede weitere Entwicklung der Gesellschaft sieht er an als eine Entwicklung auf die Ungleichheit hin; die Ungleichheit w i r d verwirklicht durch die Gesellschaft. Die Kulturen, die der Mensch anlegt, die Felder, die er bebaut, — sie werden i n Rousseaus Augen zu symbolischen Pflanzstätten der Ungleichheit, Eisen und Getreide zu den Ursachen des Verderbens des menschlichen Geschlechtes. Der Ackerbau führte zum Eigentumsbegriff, aus diesem folgten die ersten Rechtsgrundsätze 68 . N u n konnten sich die unterschiedlichen menschlichen Fähigkeiten (Rousseau spricht i n diesem Zusammenhang von der „natürlichen Ungleichheit") i n unterschiedlicher Leistung und damit gestuftem Eigentum auswirken: „Der Unterschied der Menschen wurde auffallender, dauerhafter und w i r k samer, bis er schließlich auf das Leben eines jeden einzelnen Einfluß erlangte 57 ." Konkurrenz, Rivalität, Interessengegensätze, Begierden entstanden: alles Folgen des Eigentums, der Ungleichheit, oder einfach: der Ungleichheit des Eigentums 58 . Der einmal durchbrochenen Gleichheit folgten dann „noch schrecklichere Verheerungen", folgte ein regelrechter „Kriegszustand". Damit ist Rousseau bei dem Naturzustand des Thomas Hobbes angelangt, der seinen „state of nature" als einen dauernden Krieg aller gegen alle definiert und daraus als „Recht der Natur" die Freiheit abgeleitet hatte, sich für die Selbsterhaltung m i t allen M i t t e l n einzusetzen. Für Rousseau ist dieser Zustand dagegen der der „entstehenden Gesellschaft" 59 . Während aber Hobbes die Anarchie dieses Zustandes letzten Endes darin begründet sah, daß unter den sich gegenseitig bekämpfenden Menschen auch der Schwächste noch stark genug sei, u m seinen Mitmenschen das größte Übel, den Tod, zufügen zu können, daß also auch der Stärkste nicht sicher sein und von sich aus keine Sicherheit schaffen könnte, sah Rousseau nicht einen derart abstrakten (logisch natürlich unwiderleglichen) Antagonismus, sondern den Gegensatz zwischen reich und arm, zwischen Besitzenden und Besitzlosen als Hauptursache des Kriegszustandes an. Während Hobbes die (natürliche) Gleichheit gerade darin erblickt, daß jeder jeden umbringen kann, ist für Rousseau die Gleichheit m i t der Entstehung dieser „Klassen" dahin. 66 Rousseaus Gedankengang ist dabei, daß k e i n Mensch sich Eigentumsrechte an Gegenständen anmaßen könne, die er nicht selbst hergestellt habe. Z w i n g e n d ist diese M o t i v a t i o n keineswegs. I m übrigen k a n n m a n auch den Acker als etwas „Hergestelltes" ansehen. 67 Discours, S. 75. 68 Ebd., S. 76. 59 Ebd., S. 77.

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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Der Ausweg, auf den die Menschen i n ihrer mißlichen Lage kamen, ist — so deutet Rousseau die bisherige Geschichte — ein Ergebnis der List und Tücke einer Klasse: der Reichen. Diese hatten „den ausgeklügeltsten Einfall, den der menschliche Geist je ersonnen hat", indem sie die Armen zur Schaffung von Gesetzen überredeten, die den bestehenden Zustand rechtlich fixierten. „Die Gesellschaft und die Gesetze", behauptet Rousseau, „die so entstanden sind (oder deren Entstehung auf diese Weise erklärt werden kann), schufen für die Armen neue Fesseln, für die Reichen aber neue Machtmittel, vernichteten unwiderbringlich unsere natürliche Freiheit, legten das Eigentum und die Ungleichheit für immer als Gesetz fest, verwandelten einen geschickt erworbenen Besitz i n ein unwiderrufliches Recht und verdammten zum Vorteil einiger Ehrgeiziger das gesamte menschliche Geschlecht zur Arbeit, zur Knechtschaft u n d zum Elend 8 0 ". Rousseau dürfte an Hobbes denken, wenn er von einer anderen Theorie über die Entstehung der politischen Gesellschaften spricht, die „die Vereinigung der Schwachen" als Ausgangspunkt annahm 61 . Er bemerkt dazu, daß die Wörter stark und schwach mehrdeutig seien und daß i h r Sinn i n der Zeit bis zur Gründimg des Staates besser durch arm und reich auszudrücken sei, denn anders als durch Reicht u m habe sich die Stärke damals nicht äußern können; eigentliche „Macht" sei erst durch die Staatsgründimg entstanden**. Der Reichtum war das A und O der Ungleichheit, durch i h n wurden alle aus der Quelle der persönlichen Eigenschaften fließenden Ungleichheiten gegenstandslos, — denn m i t Geld kann man alle übrigen Vorteile kaufen und damit auch alle Ungleichheiten hervorrufen. Rousseau schildert die korrupte und verdorbene, sich nach „Reichtum, Adel oder Rang, Macht und Verdienst" einschätzende und i n ihrer Gier nach Ansehen, Ehre und Vorteilen sich bekämpfende, Katastrophen und Laster erzeugende Gesellschaft i n einer Weise, die erkennen läßt, daß man hier einem der stärksten Antriebe seines Schreibens nahe ist 0 3 . Hatte Rousseau die Einführung des Eigentumsrechtes als Gründung der Gesellschaft und gleichzeitig als erste Entwicklungsstufe der Ungleichheit angesehen, so w a r i h m die Einsetzung der obrigkeitlichen Gewalt gleichbedeutend m i t der Gründung des Staates und der zweiten Stufe der Ungleichheit. Die dritte und letzte Stufe der Ungleichheit 60

Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 79 f. 62 Ebd., S. 80. 68 Seine Gegner versuchten später, v o n diesem P u n k t e aus sowohl seine Theorie aufzurollen als auch seine M o t i v e zu verunglimpfen: ohne W e t t eifer u n d K a m p f gäbe es keinen Fortschritt, u n d die Welt müßte zugrunde gehen (Gobineau); aus i h m selbst spräche n u r der „ N e i d des Plebejers" (Nietzsche). 61

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff Eousseaus

glaubte er m i t der Ersetzung der freien Wahl des Herrschers durch ein erbliches Herrschaftsrecht, also der „Verwandlung der legitimen Gew a l t i n eine w i l l k ü r l i c h e " 6 4 erreicht. Alle Stufen sind durch die Entstehung neuer Unterschiede gekennzeichnet: „ I n der ersten Epoche entstand der Unterschied zwischen Reichen und Armen, i n der zweiten der zwischen Mächtigen und Schwachen, und i n der dritten gab es Herren und Sklaven, w o m i t die letzte Stufe der Ungleichheit erreicht war 6 5 ." Die dritte Stufe der Ungleichheit, zu Ende gedacht, enthüllt das Wesen des reinen Despotismus: „Dies ist", so schließt Rousseau seine visionäre Beschreibung ab, „der Punkt, wo der Kreis sich schließt... Die Menschen werden wieder einander gleich, w e i l sie alle nichts sind. . . . Es entsteht ein neuer Naturzustand, der sich freilich von dem unterscheidet, m i t dem w i r begonnen haben. Jener war ein reiner Naturzustand; der jetzige hingegen ist das Ergebnis der äußersten Verderbnis. Sonst unterscheiden sich diese beiden Zustände aber nur wenig voneinander 6 8 ".

b) Zusammenfassung: Der Weg vom Naturzustand

zur bürgerlichen

Gesellschaft

Rousseau sieht die Entwicklung vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft am Ende der Abhandlung über die Ungleichheit als eine Kreisbewegung an: Aus dem Geschlechte der wenig differenzierten, i i u wesentlichen gleichartigen Naturmenschen w i r d nach einem „unermeßlichen Zeitraum", nach immer stärkerem Zusammenrücken der Menschen und immer stärker sich ausprägenden Teilungen und Klassifizierungen am Ende wieder ein Geschlecht von „Gleichen". Die Bewegung „ i m Kreise" — Rousseau hat i m Contrat Social noch andere geometrische Figuren m i t seinen Ideen i n Einklang zu bringen und damit Gesetzmäßigkeiten aufzuweisen versucht — ist jedoch schlecht gewählt, u m das zu verdeutlichen, was er uns auf all den Seiten vorher erzählt hat. „Gleich" ist an diesen beiden „Gleichheiten" nur der Name, sonst nichts: Die Zeit ist vorangeschritten, die Welt hat sich verändert und vor allem der Mensch ist nicht mehr der, der er war. Rousseau selbst geht j a soweit, den ursprünglichen Menschen als „allmählich verschwunden" zu bezeichnen. „Der wilde Mensch unterscheidet sich vom zivilisierten i n seinem Wesen u n d i n seinen Neigungen so sehr, daß das Glück des einen die Verzweiflung des anderen bedeuten würde. Jener 64 66 66

Discours, S. 87. Ebd., S. 87. Ebd., S. 90.

A. Die Abhandlung über die Ungleichheit

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sehnt sich nur nach Ruhe u n d Freiheit; er w i l l nur leben und untätig bleiben; allem übrigen gegenüber ist er gleichgültiger als der unempfindlichste Stoiker. Der Bürger hingegen ist immer tätig, er schwitzt, arbeitet und quält sich unaufhörlich .. , 8 7 ." Rousseau hat damit — durchaus i m Sinne der gesamten Darstellung — ausgesprochen, daß das „Gleiche" für die so verschiedenen menschlichen Geschlechter eben nicht das gleiche ist. Sieht man von der allgemeinen Tatsache, daß beide unter den Begriff Mensch fallen, ab, dann gibt es für beide keinen gemeinsamen Maßstab, keinen gemeinsamen Begriffshorizont. Wenn das Glück der einen nicht das Glück der anderen ist, dann ist die Gleichheit der einen auch nicht die Gleichheit der anderen. Die Gleichheitsurteile Rousseaus sind nach seiner eigenen Voraussetzung auf verschiedene Inhalte bezogen: hat er den Naturmenschen unter physisch-seelischem Aspekt betrachtet, so den i m Gesellschaftszustand lebenden Menschen unter rechtlich-politischem. A l l e i n unter rechtlichem Aspekt kommt Rousseau hinsichtlich der Despotie zu einem Gleichheitsurteil. Die Gleichen sind gleich als Entrechtete. — Über den Naturmenschen läßt sich dagegen „rechtlich" gar nichts aussagen, er lebt noch jenseits von Gut und Böse, von Recht und Gesetz68. Die Welt des Naturmenschen ist klein: er hat es (hinsichtlich vergleichsfähiger Wesen) immer nur m i t sich selber zu tun. Rousseau stellt i h n als „Gattung" oder „ A r t " vor, er schildert einen, den Menschen, für alle Naturmenschen. Das Gleichheitsurteil, das er abgibt, gilt dem Menschen als solchem, seiner Substanz. Die Welt des i n Gesellschaft lebenden Menschen dagegen ist unendlich groß: Der Mensch hat es n u n m i t allen anderen zu tun, m i t der Vielzahl der Ordnungen und der Maßstäbe, i n denen und nach denen verglichen werden kann u n d nach denen der Mensch zu vergleichen lernt. I n der Anerkennung fremder Maßstäbe, der Existenz also von — wie w i r heute sagen würden —„anerkannten Werthierarchien", sieht Rousseau die tiefste Ursache aller Verschiedenheiten: „Der wilde Mensch lebt aus sich selbst; der gesellige hingegen lebt immer außerhalb seines Selbst und u n t e r w i r f t sich stets der Meinung anderer, und nur aus ihrem U r t e i l schöpft er sozusagen das Bewußtsein seiner E x i stenz 69 ." Einmal i n Gesellschaft, vernachlässigt der Mensch die Beschäftigung m i t sich selbst immer mehr zugunsten der Beschäftigung m i t den anderen, er wagt es gar nicht mehr, die alles entscheidende Frage nach seinem Ich selbst zu beantworten: die anderen sollen i h m sagen, 67

Discours, S. 91. Das übersieht Fetscher, der Rousseaus Argumentation k r i t i k l o s übern i m m t , vgl. a. a. O., S. 42. 60 Discours, S. 92. m

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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wer oder was er sei 70 . Indem der Mensch diese seine ureigenste Frage an die Gesellschaft weiterreicht, liefert er sich ihr aus. Er w i r d nun beurteilt nach den Äußerlichkeiten und Unwesentlichkeiten, die i n der Gesellschaft gelten, nach dieser Welt von „Schein, Tand und Spiel" — nicht mehr nach seiner Substanz, sondern nach seinen Akzidentien. Rousseau hat sich i n seiner Abhandlung über die Ungleichheit die Aufgabe gestellt, m i t dem Naturzustand auch die „Grundlagen des politischen Organismus und die wechselseitigen Rechte seiner Glieder" zu finden 71 . I n den abschließenden Sätzen seiner Schrift läßt er das Problem noch einmal anklingen und sagt u. a., aus seinen Darlegungen ergäbe sich, daß die „rechtliche Ungleichheit (inégalité m o r a l e ) . . . übera l l dort i n Widerspruch zum Naturrecht (droit naturel) gerät, wo sie nicht der physischen Ungleichheit entspricht" (en même proportion avec l'inégalité physique). Als erklärendes und gleichzeitig zeitkritisches Beispiel fügt er noch hinzu: „Es läuft ganz offensichtlich dem Gesetz der Natur (loi de nature) zuwider, daß ein K i n d über einen Greis befiehlt, ein Kluger unter der Leitung eines Schwachsinnigen steht und eine Handvoll Menschen i m Überfluß lebt, während die ausgehungerte Menge das Notwendigste entbehrt 7 2 ." M i t diesem Satz endet die Abhandlung über die Ungleichheit. Rousseau kehrt zu der Mehrdeutigkeit des Gleichheitsbegriffs zurück, offenbar, w e i l die Nutzanwendung aus seiner Arbeit anders nicht zu ziehen war. Seine Hypothese besagte, daß der wahre Naturzustand, wenn er i h n nur ergründe, i h m auch sein Gesetz, das „Gesetz der Natur" offenbaren werde. Es bleibt aber sehr fraglich, ob die zur physischen Ungleichheit des Naturzustandes (die doch eben, wie Rousseau sagt, „so gut wie nicht vorhanden" war) i n Bezug gesetzte Rechtsgleichheit/ Ungleichheit zu irgendeiner sinnvollen Ordnung und zu einer allgemein akzeptablen Idee der Gerechtigkeit führt. Rousseau greift i n seinen Schlußworten zu dem M i t t e l der Übertreibung, vermutlich u m sich und seine Leser doch noch davon zu überzeugen, daß die Natur schon den richtigen Weg zur Findung des Rechtes zeige. Er stellt das K i n d über den Greis und den Klugen unter den Schwachsinnigen und sagt: Offensichtlich ist dies doch gegen die Natur! Auch dieses M i t t e l kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Rousseau sein letztes Ziel nicht erreicht hat: Naturzustand und Gesellschaftszustand bleiben zwei verschiedene Welten. Aus dem einen Zustand, i n dem es keine zwischenmenschlichen Beziehungen gibt, läßt sich kaum etwas für die Gemeinschaft ableiten 73 . 70 71 72

Discours, S. 92. Discours, Vorrede S. 37. Discours, S. 92.

A . Die Abhandlung über die Ungleichheit

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Rousseau h a t d e n G e d a n k e n g a n g d e r A b h a n d l u n g ü b e r die U n g l e i c h heit i m Contrat Social wieder aufgenommen. D e r gewordene Staat, dessen E n t w i c k l u n g er geschildert h a t t e , i s t e i n G e b i l d e , das d e m wahren M e n s c h e n n i c h t e n t s p r i c h t u n d das er i n j e d e r H i n s i c h t v e r abscheut. Diese E n t w i c k l u n g h ä t t e n a c h seiner A n s i c h t n i c h t so v e r l a u f e n müssen. Rousseau w e i s t i n d e r A b h a n d l u n g ü b e r d i e U n g l e i c h h e i t a u f e i n i g e S i t u a t i o n e n h i n , i n d e n e n d e r falsche W e g eingeschlagen w u r d e , e t w a a n d e r b e k a n n t e n S t e l l e z u B e g i n n des z w e i t e n Teiles („Welche Verbrechen, w i e viele Kriege, M o r d e u n d Greuel, w i e v i e l E l e n d h ä t t e n d e m m e n s c h l i c h e n Geschlecht e r s p a r t w e r d e n k ö n n e n , wenn..."). Rousseau w e i ß , daß sich d i e E n t w i c k l u n g n i c h t r ü c k g ä n g i g m a c h e n l ä ß t u n d daß v o r a l l e m d e r M e n s c h n i e w i e d e r d e r w e r d e n k a n n , d e r er w a r . W a s sich aber ä n d e r n k a n n , i s t d i e O r d n u n g , i n d e r er l e b t . I m C o n t r a t S o c i a l h a t Rousseau eine solche O r d n u n g e n t w o r f e n — „ m i t d e n Menschen, w i e sie s i n d " , u n d Gesetzen, „ w i e sie sein können"74.

73 Leo Strauss sieht deshalb i n Rousseaus Lehre v o m Naturzustand die Krise des modernen Naturrechts überhaupt erreicht. „ B e i m Durchdenken dieser Lehre", so schreibt er, „sah sich Rousseau vor die Notwendigkeit gestellt, sie vollständig fallen zu lassen. W e n n der Naturzustand noch nicht menschlich ist, dann ist es absurd, auf i h n zurückzugehen, u m i n i h m die N o r m f ü r den Menschen zu finden". „Das charakteristisch Menschliche", so interpretiert Strauss weiter i n gleichem Sinne (sich hauptsächlich auf die A b h a n d l u n g über die Ungleichheit stützend), sei „nicht die Gabe der N a t u r " , vielmehr sei „das menschliche Wesen des Menschen das Produkt des historischen Prozesses". (a.a.O., S.286ff.) — Dazu ist folgendes zu sagen: Zweifellos ist die Überlegung Strauss' v o n der „ A b s u r d i t ä t " i n sich richtig, aber ebenso sicher hat — was Strauss j a auch nicht entgeht — Rousseau i n der A b h a n d l u n g über die Ungleichheit den Naturzustand nicht fallen lassen. Schon die oben angeführten Zitate zeigen, daß er bis z u m Schluß, w e n n auch etwas krampfhaft, an diesem Begriff festhält. Strauss übertreibt (und das gibt seiner Argumentation eben den Rest v o n Logik, der bei Rousseau — notwendig — fehlt), w e n n er den Rousseauschen Naturzustand als bar alles Menschlichen deutet. Das Problem ist gar nicht, daß der Naturzustand etwa „noch nicht menschlich" ist u n d daß m a n deshalb „die N o r m für den Menschen" nicht i n i h m finden könne — : f ü r den Menschen sucht u n d findet Rousseau die N o r m i m Naturzustand, w i e Strauss selbst einige Seiten später merkt. Das Problem ist vielmehr, daß das, was f ü r den Menschen güt, nicht auch f ü r die Menschen g i l t u n d sich nicht transponieren, nicht auf den T o n der Gesellschaft stimmen läßt. 74 CS I — Z u r besseren Verständlichkeit sprechen w i r i m folgenden v o m Contrat Social, w e n n w i r das Buch als Ganzes meinen, u n d v o m „Contrat social", w e n n es sich u m den eigentlichen Vertragsakt handelt.

B. Die Konstruktion des Contrat Social „Welcher Staat k a n n wohl, nachdem Sparta u n d Rom untergegangen sind, auf einen ewigen Bestand rechnen?" Rousseau, CS I I I , 11

Der Tod des politischen Körpers i n der Despotie ist das Ende der „historischen" Entwicklung vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft, die Rousseau i n der Abhandlung über die Ungleichheit schildert. Die Menschen haben von ihrer Naturgabe, der Freiheit, einen schlechten Gebrauch gemacht; sie hatten die „Macht des Wählens", aber sie haben diese Macht zu ihrem eigenen Nachteil verwendet: als einzelne haben sie ihre Freiheit und ihre Gleichheit verloren, und auch die Gesellschaft, zu der sie sich zusammengeschlossen hatten, w a r nicht von Bestand. Falsche Zielsetzungen der Gesellschafts- bzw. Staatsgründung, falsche und verderbliche Prinzipien haben den Verfall unausweichlich nach sich gezogen. Das Zeitalter der Aufklärung glaubte n u n aber grundsätzlich an die „überlegte Gestaltbarkeit politischer und staatlicher Einrichtungen" 1 , es glaubte daran, die richtigen Prinzipien des Staates, i n dem der Mensch als Mensch zu leben vermöchte, finden zu können. Der Contrat Social Rousseaus ist das Ergebnis einer solchen Umschau nach einem wahren Ziel u n d „wahren Grundlagen des politischen Körpers", oder konkreter: nach den „wahren Grundsätzen des Staatsrechts" 2 . 1. Vertragsbegriff und politische Gemeinschaft I m ersten Buche des Gesellschaftsvertrages befaßt sich Rousseau m i t einer Reihe von Problemen, deren aufschließender Begriff der des Vertrages ist und i n deren Zentrum die politische Gemeinschaft steht. M i t der Hartnäckigkeit, m i t der er i n der Abhandlung über die Ungleichheit das Wesen des Menschen zu ergründen suchte, geht Rousseau nun der politischen Gemeinschaft „zu Leibe". Das kann man fast wörtlich nehmen, denn Rousseau glaubt, daß die wirkliche politische Gemeinschaft so etwas wie ein Leib oder ein Körper sei. I n mehreren Denkansätzen nähert er sich dem Problem, wie aus Einzelmenschen, 1 Valjavec, a. a. O., S. 131. Dieser Glaube erfuhr, w i e V . ausführt, eine wesentliche S t ä r k i m g durch Montesquieu. 2 CS I V , 9.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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aus einer Menge Unverbundener überhaupt eine Einheit, eine Gemeinschaft, ein „corps politique" werden könne, — damit die Frage wiederaufnehmend, die am Ende der Abhandlung über die Ungleichheit offen bleibt, ja, eigentlich erst richtig eröffnet ist. Nichts ist so wenig selbstverständlich wie diese „association", obwohl sie oft, so polemisiert er gegen seine Vorgänger, als selbstverständlich angesehen wird. Dieser V o r w u r f erinnert an den Einwand, den er i n der Frage des Naturzustandes gemacht hatte: ebenso wie keiner bis zum „wahren" Naturzustand zurückging, so beginnen die anderen Staatstheoretiker auch hier m i t einer bereits vorhandenen Einheit zu argumentieren. Grotius etwa läßt ein Volk sich an einen König verschenken und dadurch die politische Gemeinschaft entstehen, wobei er den entscheidenden A k t übergeht, den nämlich, „durch den ein V o l k eben ein Volk ist" 8 . Ehe nun Rousseau diesen A k t i m 6. Kapitel i n einer spezifischen Fragestellung und einer antwortenden Vertrags-Formel i n seinem Sinne klärt, gibt er einige grundsätzliche Bedingungen der „Einheit" an und grenzt sein Thema von der positiven und der negativen Seite her ein. Als Vorbild bzw. Muster aller politischen Gesellschaften überhaupt (modèle des sociétés politiques) nennt er die Familie, als Gegenstück schlechthin die Despotie. Die Familie ist die „einzige natürliche Form aller Gesellschaften", aber auch sie hat nur Bestand, wenn ihre Mitglieder f r e i w i l l i g eine entsprechende Ubereinkunft treffen. I n dieser „convention" geben die Mitglieder ihre ursprüngliche Freiheit (oder einen Teil derselben) u m ihres Nutzens w i l l e n preis und erfreuen sich dann einer „gemeinsamen Freiheit" (liberté commune). Rousseau verneint die Herkunft politisch-gesellschaftlicher Ordnungen aus der Natur. Da die Alternative für i h n „Übereinkunft" (convention) heißt, ist die genaue Kenntnis dieser Verträge der Schlüssel zum Verständnis der „sociétés politiques". Grundbedingung ist, daß der die politische Gemeinschaft konstituierende Vertrag das Wesen des Menschen berücksichtigt. Daraus ergibt sich wiederum die Konsequenz: nur solche Gemeinschaften, die auf einem Vertrag dieser A r t beruhen, verdienen überhaupt den Namen „corps politique". Damit eröffnete sich die Möglichkeit, politische Gebilde per Definition zu disqualifizieren, ihnen den Charakter einer politischen Gemeinschaft abzusprechen. Was für eine A r t von „Vertrag" ist das nun, deren Ergebnis (Familie) Rousseau uns als „Muster" vorstellt? Carl Schmitt hat i n seiner Verfassungslehre 4 nachdrücklich auf die Vieldeutigkeit des Vertragsbegriffs 8 4

CS 1,5. Verfassungslehre, 3. A u f l . 1957, § 7, S. 61 ff.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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hingewiesen. Er unterscheidet den freien Vertrag ( „ i m Sinne der liberalen bürgerlichen Rechts- und Gesellschaftsordnung") vom Statusvertrag. Schmitt charakterisiert diese Vertragsarten folgendermaßen: a) „Durch den freien Vertrag zwischen Individuen werden nur Einzelbeziehungen m i t prinzipiell meßbarem, prinzipiell umgrenztem Inhalt und daher prinzipiell kündbar begründet." b) „ Z u m Unterschied davon begründet der Statusvertrag ein dauerndes, die Person i n ihrer Existenz erfassendes Lebensverhältnis und fügt sie einer Gesamtordnung ein, die nicht nur i n meßbaren Einzelbeziehungen besteht und nicht durch freie Kündigung oder Widerruf beseitigt werden kann." Als Beispiele solcher Statusverträge nennt Schmitt u. a. die Ehe und den mittelalterlichen Lehnsvertrag. Auch der „echte Verfassungsvertrag" — und u m diesen handelt es sich bei seinen Überlegungen — „ist immer ein Statusvertrag". „Dieser Vertrag ist", so sagt Schmitt, „ein freier Vertrag, aber nur, insofern er auf dem Willen der vertragsschließenden Subjekte beruht. Er ist kein freier Vertrag i m Sinne des modernen privatrechtlichen Vertragsbegriffs . . . " Die Freiheit spielt also beim Statusvertrag nicht die entscheidende Rolle wie beim „freien Vertrag"; sie äußert sich i n der Entscheidung für den Vertrag, für den neuen „Status", und dieser Status kann i m Grenzfall (theoretisch) eben auch der der Unfreiheit sein. Wenden w i r uns nun wieder der Rousseauschen Musterfamilie zu, so läßt sich folgendes feststellen: Rousseau würde seine „Familie" w o h l als Produkt eine A r t von Statusvertrag ansehen. Jedoch finden sich bei i h r auch Elemente des freien Vertrages: der Austritt aus der Familiengemeinschaft (also die „Kündbarkeit") w i r d nicht ausgeschlossen. Auch fällt die starke Betonung der Freiheit des Individuums i n dieser Frage und überhaupt i n den ersten Kapiteln des Contrat Social auf, die so weit geht, daß schließlich das Menschsein selbst, die „qualité d' homme", von dem Besitz der Freiheit abhängig gemacht wird. Durch diese Akzentuierung der Freiheit versucht Rousseau die Möglichkeit, daß der Mensch sich selbst durch Vertrag zum Sklaven mache, auszuschließen. Man kann die Freiheit nicht dazu benutzen, eben diese Freiheit gänzlich aufzugeben: das ist ungesetzlich, weil der so Handelnde unmöglich eine Einsicht i n die Folgen seines Handelns haben kann. Rousseau erkennt: es muß eine inhaltliche Begrenzung des Vertrages geben, wenn die Idee des Vertrages nicht unbrauchbar werden soll. Diese notwendige Grenze setzt der Mensch selbst, oder besser: die Grenze ist gesetzt durch den Menschen als Menschen. Die Freiheit zu handeln, die sich als Anlage schon i n der „puissance de choisir" des

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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Naturmenschen findet, kann eben wegen dieser Verankerung i n der menschlichen Natur gar nicht aufgegeben werden; ein entsprechender „Vertrag" wäre nichtig. Es ist fraglich und tatsächlich immer wieder bezweifelt worden, ob dieser fundamentale Gedanke i n der Staatskonstruktion Rousseaus auch w i r k l i c h und durchgängig zur Anwendung gekommen ist, oder ob Rousseau lediglich m i t dem Ideengut des freien Vertrages gegen die älteren Status-Vorstellungen anderer Staatstheoretiker polemisiert und dann doch die Freiheit des einzelnen i n seinem System beseitigt habe, worüber auch seine dialektischen Künste nicht hinwegtäuschen könnten. W i r kommen darauf zurück.

2. Despotie und politische Gemeinschaft Nachdem Rousseau die Unmöglichkeit freiwilligen Verzichts auf die Freiheit erwiesen hat, setzt er sich m i t dem Despotismus auseinander, wobei er methodisch einen anderen Weg einschlägt. N u n ist es nicht mehr die A r t und Weise des Zustandekommens einer fragwürdigen Einheit, sondern der Begriff der Einheit selbst, an dem er sein Objekt mißt. Ergebnis: Die Despotie ist eine „Zusammenhäufung" (agrégation) eines Herren und beliebig vieler Sklaven, aber keine „Vereinigimg" (association); eine „multitude", aber keine „société"; sie verbleibt völlig i m Bereich des Privaten, ist kein „Staatskörper" und kennt kein „Gemeinwohl".

3. Der Contrat social — die Lösung des Grundproblems der politischen Vereinigung a) Die Situation

beim Vertragsabschluß

I n dieser Auseinandersetzimg werden schon die Begriffe bzw. die Bedingungen sichtbar, die Rousseau erfüllt sehen w i l l , wenn von einem „corps politique" gesprochen werden soll. I n dem folgenden Kapitel: „ D u pacte social", dem zentralen des ganzen Buches, zeigt Rousseau dann das Zustandekommen der politischen Gemeinschaft durch einen geeigneten Vertrag. Die Hauptfrage, das „problème fondamental", auf das der Vertrag die A n t w o r t geben soll, ergibt sich aus der Situation, i n der sich die Menschen zur Zeit des Vertragsabschlusses befinden. Ob man diese „Situation" n u n als reine Fiktion, als logische Konstellation oder als quasi-historisch ansieht —: von ihr hat jede Interpretation des Gesellschaftsvertrages auszugehen5. 5

V g l . dazu E. Cassirer, V o m M y t h u s des Staates, S. 227 f.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff Eousseaus

Die Menschen befinden sich nämlich, so sagt Rousseau, i n einer Lage, i n der sie zugrunde gehen müßten, wenn sie nicht auf irgendeine Weise eine „ K r a f t " gewännen, die die Fortdauer ihrer Existenz ermöglichte. Die Erhaltung der eigenen Existenz, die Selbsterhaltung, ist nun aber das mächtigste Grundprinzip, das die Natur i n den Menschen gelegt hat und das darüber hinaus für alle Lebewesen gültig ist. Die hauptsächlichsten Mittel, die dem Menschen zur Realisierung dieses Prinzips zur Verfügung stehen (les premiers instruments de sa conservation), sind seine Stärke und seine Freiheit; diese M i t t e l sind nun nutzlos geworden, sie können ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Wenn der Mensch weiterexistieren w i l l — und er muß es nach dem i n i h m w i r kenden mächtigen Trieb — muß er auf andere Mittel sinnen. So entdeckt er das M i t t e l i n der Bildung einer „Summe von Kräften", i m „Zusammenwirken" mehrerer. Das Problem ist nun, auf welche Weise diese „Summe" gebildet werden kann — m i t den Worten Rousseaus: „Eine Form der Vereinigung zu finden, die m i t ihrer ganzen K r a f t Person und Eigentum jedes Teilhabers verteidigt und fördert, und durch die jeder, indem er sich m i t allen vereinigt, doch nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor." b) Die zentrale Klausel

des Vertrages

Die Lösung dieses Problems, so sagt Rousseau, bietet der „Contrat social". Er schenkt es sich, einzelne Klauseln dieses Vertrages auszudenken, w e i l alle sich auf eine einzige zurückführen lassen: die vollständige Hingabe jedes Teilhabers m i t allen seinen Rechten an die Gemeinschaft (l'aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté) 6 . Durch die vorbehaltlose Hingabe werden alle Teilhaber einander rechtlich gleich, keiner unterscheidet sich durch besondere, etwa noch verbliebene Rechte vom andern 7 . A u f diese Weise w i r d eine vollkommene Einheit zwischen den Teilhabern hergestellt. Rousseaus zentrale Vertragsklausel hat folgenden Wortlaut: 6 Diese zentrale Klausel hat Ernst Bloch i n seinem neuen Buch: N a t u r recht u n d menschliche Würde, Frankf. 1961, vollständig unberücksichtigt gelassen, — w o h l u m seine These: „Absolute Unveräußerlichkeit der Person — das ist das Novum, das Rousseau dem klassischen Naturrecht hinzugebracht hat", nicht zu gefährden. F ü r Bloch geht es i n dem ganzen Buch I, 6 CS n u r u m die „individuelle Freiheit i n Gemeinschaft", — „einzig zum Schutz dieser Freiheit geschah der Staatsvertrag" (a. a. O., S. 76 ff.). Aus dem Mittel — Rousseau sagt w ö r t l i c h „ i n s t r u m e n t " an dieser Stelle — ist bei Bloch der Zweck geworden. 7 B e i den „Rechten", v o n denen Rousseau hier spricht, k a n n es sich n u r u m „Naturrechte" handeln, denn Rechte i m eigentlichen Sinne setzen die Existenz einer Gemeinschaft voraus.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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„Jeder von uns stellt sich und seine ganze K r a f t gemeinsam unter die oberste Leitung des Gemeinwillens, und w i r wiederum nehmen jedes Mitglied auf als einen vom Ganzen unabtrennbaren Teil." Unmittelbare Auswirkung des Vertrages ist die Entstehung eines rechtlich-sittlichen Gesamtkörpers (corps moral et collectif). Dieser „Körper" hat ein eigenes „Ich", ein eigenes „Leben" und einen eigenen „ W i l l e n " ; er ist eine „öffentliche Person", ist das, was früher „Stadt" (-Staat, cité) genannt wurde und jetzt „Republik" oder „politische Gemeinschaft" (corps politique) heißt. I m Akte des Entstehens erhält die politische Gemeinschaft ihre Einheit, die je nach der A r t der Betrachtung Staat (État), Oberhaupt (souverain) oder Macht (puissance) genannt wird, während ihre Mitglieder entsprechend als Volk (peuple), Staatsbürger (citoyens) oder Untertanen (sujets) bezeichnet werden. Bei der Betrachtung dieses Ergebnisses fällt zunächst auf, daß Rousseau von „Staat" spricht, obwohl doch nur die Größen „ V o l k " und „Oberhaupt" i n dem Vertragsakt entstanden sind. Noch fehlt, was er später den „vermittelnden Körper" zwischen Oberhaupt und Untertanen nennen w i r d : die Regierung\ Noch ist der Souverän i n keiner Weise i n der Lage, seinen Willen i n Handlung umzusetzen, noch ist keine Aussage über die Form des „Staates" gemacht, ist die Position der Regierung nicht einmal i m Prinzip erwähnt. Kann man sich einen Staat ohne Form denken, einen Staat also, der weder Monarchie noch Demokratie (etc. alle denkbaren Staatsformen) ist? W i r definieren heute den Staat als „wesentlich Verwaltung" 9 . I n diesem Sinne ist der Staat durch den „Contrat social" noch nicht geschaffen 10 . 8

CS I I I , 1. Vgl. Landshut-Gaebler, Politisches Wörterbuch, Tüb. 1958. Die v o n Fetscher (a. a. O., S. 168) vertretene Ansicht, die durch den CS entstehende „ R e p u b l i k " sei eine Staats/onn, beruht vermutlich auf der i r r tümlichen Annahme, Rousseau benutze bereits den modernen R e p u b l i k Begriff ( = „Sammelbezeichnung f ü r sämtliche nicht-monarchischen Staalsformen", vgl. Landshut/Gaebler, a . a . O . unter „Republik"). Rousseau geht aber grundsätzlich noch v o n dem alten R e p u b l i k - B e g r i f f aus, der „jedes freiheitliche politische Gemeinwesen i m Gegensatz zur Despotie" bezeichnete (Landshut/Gaebler, a. a. O.). Republik ist bei Rousseau — w i e bei Cicero — nicht eine bestimmte Form des Staates, sondern Oberbegriff f ü r viele Staatsformen. (Vgl. dazu auch die Untersuchung von Werner Suerbaum: V o m antiken z u m frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Münster 1961.) Nicht n u r aus CS 1, 6, sondern ebenso aus dem K a p i t e l über das Gesetz (CS I I , 6) geht einwandfrei der Charakter eines Oberbegriffs für „ R e p u b l i k " hervor: „J'appelle donc république tout État régi par des lois, sous quelque forme d'administration que ce puisse ê t r e . . . " I n der dazugehörigen A n m e r k u n g wiederholt Rousseau noch einmal, daß „ t o u t gouvernement guidé par la volonté générale" — „republikanisch" sei, ob es sich dabei u m eine Demokratie, eine A r i s t o k r a t i e oder auch eine Monarchie handle. 0

10

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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ousseaus

Das „corps politique", das aus dem Vertrag hervorgeht, kann zunächst nur als eine ruhende Größe angesehen werden. Rousseau hat an anderen Stellen selbst das dreigliedrige Gebilde aus Volk, Oberhaupt und Regierung als „Staat" bezeichnet, demgegenüber der gerade aus dem „Contrat social" entsprungene „Staat" als eine unfertige Konstruktion, als der nur potentielle Staat erscheinen muß. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? 4. Nähere Untersuchung der Natur des Contrat social a) Der Contrat social als Statusvertrag Zweifellos handelt es sich bei dem „Contrat social" u m einen Statusvertrag. Durch die „vollständige Hingabe" erhält der Naturmensch einen anderen „Status": er w i r d „Mitglied" und „Teilhaber"; aus der „personne particulière", die ihr individuelles Dasein genoß, triebbestimmt, jenseits von Recht und Moral, w i r d eine Person, deren Sein sozusagen aufgespalten ist i n eine Reihe von Funktionen; w i r d ein Wesen, dessen Individualität starke Einschränkungen hinnehmen, viele Einwirkungen verarbeiten und das stets seine Vernunft befragen muß, w i r d — m i t der umfassendsten der neuen Funktionen gesagt — ein Staatsbürger. Seine bisher ausschließlich der Sicherung der persönlichen Existenz dienende Kraft und Freiheit stellt der zum Staatsbürger sich wandelnde Naturmensch (— eine einzigartige Mutation, diese „passage de l'état de nature à l'état civil", CS I, 8 —) vorbehaltlos der Vereinigung zur Verfügung, und die dadurch entstehende „Summe von Kräften" (Rousseau) und von „Freiheiten" (wie man ergänzen muß) schützt von nun an jeden der Vereinigten. Jeder einzelne gewinnt bei diesem Vorgang natürlich mehr als er aufgibt, denn, so erinnern w i r uns, nur die Unfähigkeit zur Selbsterhaltung hatte i n den Naturmenschen die Bereitschaft zum Abschluß des Vertrages reifen lassen. Die Selbsterhaltung in Form der Gemeinschaftserhaltung ist nun gesichert. Jeder ist folglich stärker u n d freier als vorher (die Fragestellung nach der A r t des Vertrages verlangte ursprünglich nur ein „gleich frei"), denn, so argumentiert Rousseau, die „Stärke des Staates bildet die Freiheit seiner Glieder" 1 1 . I n Anbetracht einer so instrumental verstandenen Freiheit ist es müßig, unter dem Banner der „Menschenrechte" gegen den „Contrat social" aufzumarschieren. Jellinek etwa und nach i h m Cassirer betrachten die „aliénation totale" zu isoliert, sozusagen als Selbstzweck, und nicht i n dem Zusammenhang von Notwendigkeit und Zweck, i n dem sie bei Rousseau steht 12 . Rous11

CS I I , 12. Vgl. Jellinek, Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte; Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung. 12

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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seau scheint geahnt zu haben, daß man i h n mißverstehen würde, denn er kommt noch wiederholt m i t anschaulichen Beispielen auf diesen Punkt zurück 18 . Leider ist der neue Zustand für den Menschen, das weiß Rousseau sehr wohl, nur theoretisch frei von Mängeln und Mißbräuchen. Sieht man aber von der praktischen Unvollkommenheit zunächst ab — gegen die sich i m übrigen manches t u n läßt und gegen die Rousseau i n der Folge auch eine Reihe von Maßnahmen empfiehlt, — dann besteht das Neue der durch den Vertrag geschaffenen Lage zuinnerst darin, daß der Mensch erst eigentlich zum Menschen w i r d 1 4 . K e i n Zweifel: auch der Naturmensch ist Mensch — noch wenige Zeilen vorher spricht Rousseau von der „Veränderung", die „an dem Menschen" durch den „Contrat social" geschieht, aber diese Veränderung ist eben doch so gewaltig, daß der Mensch, einmal Bürger, rückwärts schauend sich als ein völlig neues Wesen erkennt, ein „être intelligent", das sich bisher brachliegender, unbemerkter, noch gar nicht entwickelter Fähigkeiten bedienen kann. Die kontradiktorische, cum grano salis zu verstehende Aussage, daß der Mensch durch den „Contrat social" zum Menschen wird, kann als schwerwiegendstes Indiz dafür gelten, daß es sich bei diesem Vertrag u m einen Statusvertrag handelt. b) Die Vertragspartner

des Contrat social

Der „Contrat social" ist ein Statusvertrag. Aber wer schließt diesen Vertrag m i t wem ab? A u f der einen Seite stehen, das ist eindeutig, die einzelnen Naturmenschen, die zur Gründung der Gemeinschaft bereit sind. „Jeder übergibt sich allen", sagt Rousseau, „und damit übergibt er sich niemandem 16 ." Der andere, der Mit-Naturmensch, ist also nicht der Vertragspartner. Vertragspartner ist vielmehr das durch den A k t der Vereinigung erst entstehende „corps politique" 1 6 . Wohl u m dieser für den Autor des Contrat Social etwas mißlichen Situation — nämlich seinen Naturmenschen einen Vertrag m i t einem einstweilen noch gar nicht vorhandenen Partner abschließen lassen zu müssen — den Stachel 18 „Jeder Mensch ist berechtigt, sein eigenes Leben zu wagen, u m es zu erhalten. H a t m a n j e einen Menschen, der sich z u m Fenster hinausstürzt, u m sich aus einer Feuersbrunst zu retten, eines Selbstmordes schuldig erk l ä r t ? " — „Der Gesellschaftsvertrag bezweckt die E r h a l t u n g der Gesellschafter. Wer den Zweck w i l l , ist auch m i t den M i t t e l n einverstanden, u n d diese M i t t e l lassen sich v o n einigen Gefahren, j a sogar v o n einigen V e r lusten gar nicht trennen." ( C S I I , 5.) Aus diesem Grunde findet i m CS eine „ w i r k l i c h e Entsagimg" (renonciation véritable) eigentlich gar nicht statt, sondern vielmehr ein „vorteilhafter Tausch" (échange avantageux) (CS I I , 4). 14 CS 1,8. 16 CS 1,6. 18 CS I, 7. Rousseau spricht hier eindeutig v o n dem „corps" u n d den „ m e m bres" als den „ d e u x parties contractantes".

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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logischen Ungenügens zu brechen, vermerkt Rousseau, daß der PartnerKörper „ i m Augenblick" (à l'instant) des Vertragsabschlusses entstehe 17 . K a u m — so mag man sich das veranschaulichen — ist das letzte Wort der Vertragsformel gesprochen, da steht das „corps politique" auch schon fertig da; es entsteht sowohl durch den Vertrag als auch gleichzeitig m i t dem Vertrag. Jedes seiner Mitglieder befindet sich augenblicklich i n einer doppelten Verpflichtung: als Teil der Gestalt des Souveräns gegen die einzelnen (particuliers) und als Mitglied des Staates gegen den Souverän 18 . Diese sibyllinische Formel Rousseaus ist folgendermaßen zu interpretieren: Der Mensch, der den Vertrag abgeschlossen hat, ist einem „Körper" integriert, der zwei Gruppen von Namen führt: „corps politique" = État = Staat einerseits und Souverän = volonté générale andererseits. Als Glied des Souveräns heißt der Mensch Staatsbürger (citoyen), als Glied des Staates Untertan (sujet). Staatsbürger und Untertan sind Bezeichnungen für Funktionen, die der einzelne i n seinem neuen Status auszuüben hat, sind Rollen, die das Individuum mehr oder weniger gut spielt, allerdings: lebenslängliche Rollen. Neben dem Staat und dem Souverän gibt es als dritte Bezeichnung für den gleichen Körper noch den Begriff Volk. Volk ist wie die beiden anderen Begriffe bei Rousseau ein politisch-rechtlicher Terminus, mit dem die Gesamtheit der am Vertrag Beteiligten bezeichnet wird, und zwar dann, wenn die obengenannten Funktionen oder Verpflichtungen der einzelnen außer Betracht bleiben, wenn die reine Tatsache ihrer Zusammengehörigkeit bezeichnet werden soll. Die aus der „doppelten Verpflichtung" sich ergebende zweifache Integration eines jeden besagt nicht, daß das Begriffspaar Herrscher/Beherrschte zur Kennzeichnung der neuen Situation zu verwenden wäre, denn die sujets, die den Staatskörper bilden, werden nicht beherrscht, sondern sie erfüllen — sofern sie w i r k l i c h als Untertanen handeln — ihre Pflicht, lösen ihre i m „Contrat social" eingegangene Verpflichtung ein. Zwischen citoyen und sujet besteht kein Herrschaftsverhältnis, sondern ein Verhältnis sich ergänzender Pflichten. N u n ist das Individuum aber nicht vollständig integriert. Es hat zwar die Rolle des citoyen und des sujet übernommen, aber es ist noch ein Rest geblieben, der partikulare Interessen hat und entsprechend einen Willen entwickeln kann, der möglicherweise dem allgemeinen Willen zuwiderläuft oder doch jedenfalls von i h m abweicht. Diese Tatsache w i r k t sich nach Rousseaus Meinung hauptsächlich dahin aus, daß der 17

CS1,6. „ . . . comme membre d u souverain envers les particuliers, et comme membre de l'État envers le souverain." (CS I, 7). 18

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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einzelne seine Rolle als sujet nicht mehr gemäß seiner Verpflichtung verkörpert. Und damit ist n u n die Stunde des Souveräns gekommen, die Stunde der Entscheidung u n d Gewaltanwendung. Man kann überspitzt sagen, daß sich der Souverän eigentlich nur da zeigt, wo der sujet versagt. Solange der einzelne als sujet treu erfüllt, was er sich als citoyen vorschreibt, arbeitet der politische Körper wie eine gut geölte Maschine bei normaler Belastung. Rechte und Pflichten greifen sinnvoll abgestimmt ineinander, vereinen sich zur Leistung. Sobald das i n jedem sujet steckende I n d i v i d u u m aber die Überhand gewinnt, w i r d der Lauf gehemmt und unruhig. Hier greift, wie gesagt, der Souverän ein: er zwingt den sujet wieder i n seine (freiwillig!) übernommene Rolle, und das heißt, wie Rousseau m i t einer oft fehlgedeuteten Wendung sagt, daß der einzelne „gezwungen wird, frei zu sein" 19 . Die den Zwangseingriff des Souveräns ermöglichende und legitimierende K l a u sel ist „stillschweigend" i m „Contrat social" vorgesehen; sie ergänzt und sichert die eingegangene doppelte Verpflichtimg und ist damit der Kunstgriff, der den spielenden Lauf der „machine politique" bewirkt 2 0 . Die doppelte Verpflichtung läßt sich nun wie folgt beschreiben: Der einzelne ist (1.) verpflichtet, m i t den andern zu gehorchen (sujet-Rolle) und er ist (2.) verpflichtet, sich und andere nötigenfalls — gemeinsam m i t den andern — zum Gehorsam zu zwingen (citoyen-Rolle). Neben die unter (2.) genannte Pflicht des citoyen treten natürlich die Pachte, die er als solcher innehat, d. h. das Staatsbürgerdasein erschöpft sich nicht etwa i n der gelegentlichen Zwangsausübung. Grundsätzlich ist festzuhalten, daß die Verpflichtung das primäre Element des „Contrat social" darstellt, das durch das Element Zwang nur ergänzt und gesichert w i r d . Die Pflicht ist das Konstruktionsprinzip, das verwendet werden kann, w e i l Rousseau den Menschen als einer Verpflichtung fähig ansieht: der Mensch ist von Natur aus nicht böse oder schlecht. Der andere wesentliche Gesichtspunkt, der sich hier auswirkt, ist: der Mensch ist frei geboren, und als solcher kann er sich verpflichten, aber nicht einer schrankenlosen Gewalt unterwerfen. Wenn Zwang gegen i h n zur Anwendung kommt, so nicht auf Grund einer vorausgegangenen „vertraglichen" Unterwerfung, sondern auf Grund einer Pflichtverletzung.

19

CS 1,7. „ . . . condition q u i fait l'artifice et le j e u de la machine p o l i t i q u e . . (CS I , 7.) Wenn Rousseau sagt, daß die Klausel „tacitement" i m CS enthalten sei, dann heißt das natürlich nur, daß sie eine Folge der „aliénation totale" einerseits u n d des „engagement réciproque" andererseits sei. 20

4 Hill

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

Es ist dies der Punkt, an dem sich Rousseaus Gedankengang grundlegend von dem Hobbes' unterscheidet. I n den Kapiteln 5 und 6 von Hobbes' „De Cive" (über die Entstehung des Staates u n d den Souverän) stößt man immer wieder auf das Wort unterwerfen: es ist sozusagen die zentrale Vokabel. Die Menschen unterwerfen sich bzw. ihren Willen einem oder mehreren anderen, der (bzw. die) für ihre Sicherheit m i t der gemeinsamen K r a f t aller zu sorgen hat, geleitet nur durch seinen eigenen Willen. Anders als für Rousseau ist für Hobbes die „Schlechtigkeit der menschlichen Gesinnung allen offenbar", und deshalb sind mündliche oder schriftliche Abmachungen der Vertragspartner über i h r zukünftiges Verhalten i m Staate sinnlos. Seiner Natur nach kann sich der Mensch i n den Augen Hobbes' nicht zu Gesetzestreue und Sittlichkeit verpflichten: er muß deshalb m i t der Androhung drakonischer Strafen zur Einhaltung der Gebote (= Gesetze!) gezwungen werden. Unbegrenzte legitime Strafbefugnis ist konsequenterweise das wesentliche Charakteristikum des Inhabers der höchsten Staatsgewalt, des Souveräns: „Denn wer Strafen nach seinem Ermessen m i t Recht auferlegen kann, vermag m i t Recht alle zu allem nach seinem Willen zu zwingen, und eine größere Herrschaft kann man sich nicht denken 21 ." Das doppelte Verpflichtungsverhältnis, i n dem sich jedes Glied des politischen Körpers als citoyen und sujet befindet, bedeutet nach der Ansicht Rousseaus keine Selbstverpflichtung: der sujet x gelobt ja nicht dem citoyen x, sondern dem Souverän Z Gehorsam, von dem citoyen x nur ein Teil ist. Der Grundsatz des bürgerlichen Rechtes, daß niemand sich gegen sich selbst rechtsverbindlich verpflichten kann, ist also nicht verletzt. c) Die „besondere Art"

des Contrat

social

Die Tatsache, daß Rousseau hier vom bürgerlichen Recht spricht, hat die Vermutung aufkommen lassen, der ganze „Contrat social" habe bürgerlich-rechtlichen Charakter 2 2 . Das w i r d jedoch sowohl von dem Zusammenhang, i n dem sich dieser Hinweis Rousseaus befindet, als auch von Bemerkungen i n anderen Schriften widerlegt. So sagt Rousseau i m Emile, der Gesellschaftsvertrag sei „von einer besonderen und nur i h m eigenen Wesenheit" 23 , und i n den Lettres de la Montagne 21 Hobbes, Th.: V o m Menschen — V o m Bürger. Eingel. u n d hrsg. von G. Gawlick, Hamb. 1959 ( = Philosophische B i b l i o t h e k Bd. 158) S. 134. 22 Fetscher, a. a. O., S. 100. — Wenn Rousseau die Möglichkeit bzw. die Rechtmäßigkeit einer solchen Verpflichtimg nach dem bürgerlichen Recht untersucht (und konstatiert, daß k e i n Verstoß gegen dieses stattfindet), dann bedeutet das nicht, daß auch der Vertrag selbst bürgerlich-rechtlichen Char a k t e r hat. Rousseau hat lediglich gewisse Einschlüsse oder Folgen des „Contrat social" auch am bürgerlichen Recht gemessen. Der Vertrag selbst hat Status-Charakter u n d m i t dem freien V e r t r a g des bürgerlichen Rechts

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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heißt es, der Gesellschaftsvertrag sei „ein Vertrag von besonderer A r t " 2 4 . Diese Formulierungen deuten den Sachverhalt an, den Rousseau i m Contrat Social dargestellt hat. Der Vertrag muß von besonderer A r t sein, denn er ist der „Schlüssel" für den m i t neuem Inhalt zu erfüllenden Begriff des Staates. Carl Schmitt ist überzeugt, daß Verträge zwischen Individuen und Verträge zwischen politischen Einheiten „etwas so wesentlich Verschiedenes" sind, daß „die gleiche Bezeichnung ,Vertrag' nur nebensächliche und äußerliche Gleichheiten an den beiden Vorgängen treffen" kann 2 6 . Der F a l l des „Contrat social" liegt zwischen beiden Möglichkeiten, und auch diese dritte A r t von Vorgang ist von den anderen grundverschieden. Der „Contrat social" ist ein Vertrag zwischen einzelnen und der Gemeinschaft — das macht einmal seine Besonderheit aus. Die Gemeinschaft ist, von je einzelnen aus gesehen, der Partner i m Sinne des zweiten Kontraktanten. Da aber der Vertragsakt eine gemeinschaftliche Handlung vieler einzelner ist, also grundsätzlich nicht von zweien ausführbar ist, kann man die Situation auch anders sehen. Den einzelnen gegenüber ist die Gemeinschaft dann ein „Drittes", das neu Geschaffene bzw. noch zu Schaffende. Rein konstruktiv kommt der „Contrat social" also dem Hobbesschen Modell nahe. Das Rousseausche „ D r i t t e " ist jedoch aus der Substanz der einzelnen gebildet und daher sozusagen „unecht", und diese Tatsache kann man als die eigentliche Besonderheit des Rousseauschen Vertrages ansehen. Wenn man der Vertragsformel Rousseaus (in CS I, 6) noch eine zweite hinzufügen w i l l , die die reine Konstruktion deutlicher hervortreten läßt, so kann man die diesbezüglichen Äußerungen Rousseaus folgendermaßen zusammenfassen: Der Gesellschaftsvertrag ist ein Vertrag vieler einzelner zugunsten eines von ihnen wesensmäßig verschiedenen Dritten, von dem sie selbst Teile sind.

nichts gemein; alle „Konzessionen" erweisen sich bei näherem Hinsehen als scheinbar, die „totale Hingabe" ist der entscheidende u n d nicht wegzudeutende P u n k t . So macht Rousseau auch i n CS I I , 4 eine „Konzession", indem er die „ V e r äußerung" (der Macht, Freiheit etc. des einzelnen) auf den T e i l beschränkt, „den das Gemeinwesen nötig hat". Welchen W e r t diese Konzession hat, zeigt sich i n der anschließenden Feststellung, daß natürlich „le souverain seul est juge" i n der Festlegung dessen, was das Gemeinwesen nötig hat. Wenn der Souverän zu der Ansicht k o m m t : „Es ist dem Staate dienlich, daß d u stirbst" (CS I I , 5), muß er auch das hinnehmen. 23 Vgl. Fetscher, a. a. O., S. 99. 24 Ebd. 25 Verfassungslehre, S. 67.



I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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ousseaus

5. Rousseaus Staatsbegriff im Contrat Social Es wurde festgestellt, daß der Begriff Staat zunächst eine Bezeichnung für eine A r t unfertiger Konstruktion darstellt. Handelt dieses Gebilde, dann ist es „Souverän". Staat und Souverän sind also das gleiche i n verschiedenem Zustand, unterscheiden sich nur durch ihre Aktionsform. Gelegentlich ersetzt Rousseau „souverain" auch durch „corps du peuple" (CS I, 7). Das verbindende Merkmal dieser aus der gleichen Substanz gebildeten Begriffe (État, souverain, corps politique und corps du peuple) ist die Körperlichkeit, Geschlossenheit, Einheit. A l l e Differenzierungen, die Rousseau vornimmt, alle Perspektiven, aus denen er das Vertragsergebnis betrachtet, haben also einen einzigen Sammelpunkt: Einheit. Sinnbild dieser Einheit ist der Begriff corps. E i n wichtiges Charakteristikum jedes Körpers ist die zentrale Lenkung aller Einzelaktionen durch einen Willen. A n dem Vorhandensein eines Willens k a n n man den Körper erkennen, — an der Existenz der „volonté générale" den Staat. Sobald das Volk eine solche Geschlossenheit zeigt, daß man von einem „corps" sprechen kann, könnte man es nach Rousseau w o h l auch als Staat, bzw. wenn es handelt, als Souverän bezeichnen. Eine Schwierigkeit ergibt sich allerdings dadurch, daß der Wille allein noch keine Handlung zustande bringt. Wie i m Menschen eine Verbindung von Seele und Körper, von Wille und K r a f t notwendig ist, damit Handlungen möglich seien, so muß i m Staate durch eine w i r kende Substanz der Wille des Staatsoberhauptes den Untertanen übermittelt werden, damit der Staat i n Bewegung gerate und seine K r a f t (force publique) sich zeige 26 . Durch den „Contrat social" entsteht der Staat, aber er hat noch kein eigenes Agens, noch keine Regierung. Seine Souveränität ist unsichtbar. Dieser Staat gleicht einem Motor ohne Antriebsstoff. Rousseau bestätigt dieses Dilemma selbst i n einer Analogie MenschStaat i m 3. Buche des Contrat Social: „Die gesetzgebende Gewalt ist das Herz des Staates, die vollziehende sein Gehirn, das allen Teilen Bewegung gibt. Das Gehirn kann gelähmt werden und der Mensch trotzdem weiterleben. Er verfällt i n Blödsinn, aber er lebt; sobald jedoch das Herz seine Tätigkeit einstellt, ist das (nur noch) tierische Wesen tot" (l'animal est mort). Durch den Ausfall des Gehirns w i r d der Mensch (homme) zum Tier (animal). Ohne Gehirn kein Mensch — ohne Regierung (bzw. vollziehende Gewalt) kein Staat, das ist der zwingende Schluß aus dieser Rousseauschen Analogie. 20

CS I I I , 1.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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Für das Verständnis des Staatsbegriffs ist aus dieser und ähnlichen Analogien Rousseaus nicht v i e l zu gewinnen. Mensch und Staatskörper sind wesensmäßig allzu verschieden, als daß der Vergleich fruchtbar sein könnte. Die den Menschen (und jedes Lebewesen) auszeichnende Einheit von Körper und Seele, die eindeutige Zuordnung und Abgestimmtheit von Wille und K r a f t möchte Rousseau auch i m „politischen Körper" verwirklicht wissen, aber über die Bekundung dieser Absicht kommt er doch nicht wesentlich hinaus. Schon sein Bestreben, die Schaffimg der Einheit als solcher von der Schaffung der Herrschaftsgewalt zu trennen, steht jeder „organischen" Verbindung i m Wege. — Einen einzigen Vorgang allerdings gibt es, der an die „Schöpfung" Rousseaus erinnert und an den er gedacht haben könnte: die Erschaffung des Menschen durch Gott. I m biblischen Schöpfungsbericht heißt es: „ U n d Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß und er blies i h m ein den lebendigen Odem i n seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele." 1. Mose, 2, 7 Der noch nicht verlebendigte Mensch des Schöpfungsberichtes, — das ist der „Mensch", dem der durch den „Contrat social" geschaffene „Staat" Rousseaus gleicht. Politische Theorie und historische Entwicklung gehen, nach einem Wort von C. E. Vaughan, „ H a n d i n Hand" 2 7 . Viele der Schwierigkeiten, die sich bei der Deutung des Rousseauschen Staatsbegriffs ergeben, haben ihre Ursache letztlich i n eben dieser Gegebenheit: I n der Theorie Rousseaus spiegelt sich die krisenhafte Zeit, i n der er lebte; spiegeln sich die Kämpfe, an denen er teilnahm. Innerhalb des Staates entwickelte sich m i t der Gesellschaft ein neues Organisationsprinzip der vom Absolutismus ihrer früheren Positionen beraubten einzelnen, die „Zwischengewalten" gewesen waren und nun dem absoluten Monarchen unmittelbar gegenüberstanden. Diese „staatsbürgerliche Gesellschaft" deklarierte sich, wie Otto Brunner sagt, schließlich (1789 durch Sieyes) als „Nation": „Freiheit und Gleichheit, Gleichheit des Rechts, sind ihre Grundprinzipien" 2 8 . Z u Rousseaus Zeit war jedoch die allgemeine Unsicherheit oder besser: Unwissenheit i n Begriffen, Funktionen und Zuständigkeiten noch groß. Alte, hohl gewordene Ausdrücke beherrschten den Sprachgebrauch. I n dem zentralen Kapitel des Contrat Social, dem 6. des 27 Vaughan, Studies i n the H i s t o r y of Political Philosophy Before and A f t e r Rousseau, Vol. 1, N Y i960 2 , S. 1 f. 28 Brunner, O.: Das Zeitalter der Ideologien: Anfang u n d Ende (in: Neue Wege der Sozialgeschichte), Göttingen 1956.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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ersten Buches, das sich wie kaum ein anderes m i t Begriffen befaßt, gibt Rousseau interessante Hinweise auf die Lage, aus denen auch seine Absichten deutlich werden. Ganz allgemein und vage nennt er dort das Vertragsergebnis zunächst eine „personne publique", die man früher cité genannt habe und die, so merkt er an, von den citoyens gebildet worden sei, also der „Stadtstaat" von den „(Stadt-)Staatsbürgern", während heute die meisten die cité für eine ville und den citoyen für einen bourgeois nähmen. K e i n französischer Schriftsteller außer d'Alembert kenne den Unterschied von citoyen und bourgeois, auch Bodin habe dabei Fehler gemacht, und wenn die Franzosen sich citoyens nennten, so begingen sie, wenn man ihnen ihre Unwissenheit nicht zugute halten würde, ein Majestätsverbrechen, denn nach seinem Wissen hätten die Untertanen eines Fürsten niemals cives geheißen. I n diesem sarkastischen Hinweis steckt das ganze, noch unbewußte Dilemma einer Übergangszeit, das Rousseau — hier i n für i h n besonders charakteristischer Weise, nämlich durch die Klärung der Begriffe — aufzuhellen sich anschickt. Die Franzosen einschließlich ihrer Staatstheoretiker nennen sich — als Untertanen eines Königs! — citoyens, und niemand hat bis jetzt noch gemerkt, daß, wer cives/citoyen sagt, eigentlich ein Wesen bezeichnet, das „participant à l'autorité souveraine". Das Eigentliche, Wahre und das Revolutionäre, — Vergangenheit und Zukunft fallen i n den Gedanken Rousseaus zusammen: der citoyen war und muß wieder werden ein Mit-Träger der Souveränität, es muß i h m bewußt gemacht werden, wozu schon sein Name i h n berechtigt. I n dem nach den Prinzipien des Contrat Social zustande gekommen corps politique w i r d er es sein. U n d dann schließt Rousseau das 6. Kapitel wieder m i t dem höchst bezeichnenden, d.h. die unklare Übergangssituation seiner Zeit bezeichnenden Satz: „Aber diese Ausdrücke (und damit bezieht er sich auf État, souverain, puissance, peuple, citoyen, sujet) gehen oft ineinander über und werden miteinander verwechselt..." Die Frage nach dem Staatsbegriff Rousseaus i m Contrat Social, die w i r uns gestellt haben, ist nur annäherungsweise zu lösen. Rousseau wollte den verdorbenen Menschen i n einer verderblichen, ungerechten Herrschaftsordnung das B i l d eines reinen, gesunden, gerechten polischen Körpers entgegenhalten. Er gewinnt dieses B i l d teils durch Freilegung verschütteter alter Inhalte, teils durch neue Anordnungen, teils durch Prägung neuer Formen. Seine epochemachende Schrift trägt den T i t e l „ D u Contrat Social", und schon wenn w i r diesen Titel ins Deutsche zu übersetzen versuchen, werden die i n dem vorstehenden Kapitel behandelten Schwierigkeiten offenkundig: Ist der Contrat Social nun ein „Gesellschaftsvertrag" oder ein „Staatsvertrag"? Ernst

B. Die K o n s t r u k t i o n des Contrat Social

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Bloch v e r w e n d e t i n „ N a t u r r e c h t u n d menschliche W ü r d e " 2 9 b e i d e B e g r i f f e abwechselnd, d a n e b e n häufig, w o h l i m B e w u ß t s e i n d e r größeren P r ä g n a n z , d i e O r i g i n a l f a s s u n g . R . M . Maclver w i r f t Rousseau v o r , daß e r w i e H e g e l d i e Gesellschaft m i t d e m Staat v e r w e c h s l e 3 0 , w a s er eine gefährliche V e r w i r r u n g nennt, die z u m „Totalitarismus" führe. F ü r H e r m a n n Heller i s t es der Staat, dessen E i g e n g e s e t z l i c h k e i t z u g u n s t e n des V o l k e s Schaden n i m m t o d e r sogar u n t e r g e h t 3 1 . A l l e diese S c h w i e r i g k e i t e n b z w . V o r w ü r f e 8 2 v e r l i e r e n i h r e n g r a v i e r e n d e n C h a r a k t e r , w e n n m a n sich d i e S i t u a t i o n Rousseaus v e r g e g e n wärtigt. V o l l e r V e r w i r r u n g , voller Ungenügen, G ä r u n g ist die Zeit, i n der u n d g e g e n die, a b e r auch für d i e Rousseau schreibt. D e r wahre Staat, d e n e r schaut i n m i t t e n eines Z u s t a n d e s p o l i t i s c h e r , sozialer, r e c h t l i c h e r U n g l e i c h h e i t ; angesichts des „ ü b e r a l l i n K e t t e n l i e g e n d e n " M e n schen — : S o l l er i h n ü b e r h a u p t „ S t a a t " nennen? I s t dieser B e g r i f f w i e so v i e l e andere n i c h t v ö l l i g e n t w e r t e t d u r c h d e n I n h a l t , d e n er i m L a u f e d e r v e r d e r b l i c h e n E n t w i c k l u n g e r h a l t e n hat? Rousseau s p r i c h t i m C o n t r a t Social a u f f a l l e n d w e n i g v o n „ r f i t a t " . M a n c h m a l g e b r a u c h t er diesen B e g r i f f i n u n m i t t e l b a r e m Z u s a m m e n h a n g m i t „ l a 29

F r a n k f u r t 1961, S. 76 ff. The Web of Government, deutsche Ausgabe: „Macht u n d A u t o r i t ä t " , Frankf. 1953 S. 297 f. 31 Heller, H.: Staatslehre, Leiden 19612, S. 162 ff., 165. 32 H e r m a n n Heller schreibt, daß Rousseau die „Eigengesetzlichkeit des Staates i n einer Volksmetaphysik untergehen" lasse, indem er „ d e m Volke als N a t i o n eine Volkspersönlichkeit" zuschreibe u n d es damit „ z u einer apriorischen Willensgemeinschaft u n d vorgegebenen politischen Einheit" metaphysiziere (a.a.O.). — W e n n m a n der Hellerschen Intention, nachzuweisen, „daß eine Relativierung der staatlichen Einheit auf ihre Substanz, das V o l k , nicht möglich ist", auch gerade i m H i n b l i c k auf den Zeitpunkt der Entstehimg seiner A r b e i t (abgeschlossen 1934) die größte Sympathie entgegenbringen w i r d , so muß m a n doch ein Fragezeichen hinter seine Rousseaudeutung u n d - K r i t i k setzen. Es t r i f f t zu, daß das „corps d u peuple" nach der Darstellung Rousseaus als „Staat" bezeichnet werden kann. Da aber „ V o l k " f ü r Rousseau ein juristischer Begriff ist, der die Gesamtheit der a m Vertrag Beteiligten (associés) bezeichnet, könnte m a n auch u m gekehrt sagen, daß Rousseau das Volk verstaatlicht, seine Eigengesetzlichkeit aufhebt. Eine sinnvolle Interpretation hat m. E. v o n der Tatsache auszugehen, daß es ein irgendwie unpolitisches, „eigengesetzlich" lebendes V o l k nicht länger geben konnte, w e n n diejenigen, die das V o l k ausmachten, gleichzeitig als die den Staat bzw. den Souverän Konstituierenden zu denken waren. Durch diese neuen Doppelfunktionen w u r d e n die bisherigen einfachen Relationen Souverän/Untertan u n d Staat/Volk sehr k o m p l i z i e r t ; neue Denkmodelle m u ß t e n das neue Verhältnis erklären. Die wichtigste Aufgabe, die sich für Rousseau stellte, bestand darin, den f ü r den Staatsbegriff konstitutiven Beg r i f f der Souveränität als höchster Entscheidungsgewalt nicht dadurch innerlich aufzulösen, daß n u n eine Vielheit v o n Personen (mit vielen Willen!) die F u n k t i o n des Souveräns wahrzunehmen hatte. Die Lösimg konnte n u r d a r i n liegen, diese Vielheit als Einheit zu denken. 30

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

cité" (CS I I , 4: „Si l'État ou la c i t é . . . " ) , u m anzudeuten, daß sein „Staat" nicht der Staat der Gegenwart ist. Rousseau bevorzugt ganz eindeutig den Begriff corps politique zur Bezeichnung dessen, was an die Stelle des bisherigen Staates treten soll. Der durch den „Contrat social" entstehende politische Körper ist, wenn überhaupt, ein Staat ganz neuer A r t — wie ja auch der Vertrag selbst von individueller Prägung ist. „Corps politique" ist mehr, ist umfassender, ist zeitloser und damit auch zukunftsvoller als „Staat": Es ist das neue Ganze, von dem „Staat" i n Zukunft n u r noch ein Teilaspekt ist. Die Glieder des politischen Körpers sprechen dann von „Staat", wenn sie an das reine Fakt u m des bestehenden politischen Zusammenschlusses, wenn sie als einzelne sich als Gesamtheit denken, etwa i m Sinne der Prägung: Der Staat, das sind w i r . Der revolutionäre Charakter eines solchen Denkens gegenüber der absolutistischen, L u d w i g X I V . zugeschriebenen Formel „Der Staat b i n ich" ist evident. Mochte auch der Glanz dieser Formel zu Rousseaus Zeiten längst verblaßt und die Identität des Monarchen m i t dem Staat nur noch eine kränkliche F i k t i o n sein — : noch immer wurde der Staat allein vom Monarchen repräsentiert, und der einzelne konnte lediglich das Bewußtsein empfinden, Untertan eines Monarchen, nicht aber Bürger eines Staates zu sein. U m die ganze verfehlte Konstruktion des bisherigen Staates zu beseitigen, n i m m t Rousseau eine rigorose Verlagerung der Machtverhältnisse vor. I n der Polemik gegen Grotius hatte Rousseau seine Absicht zu erkennen gegeben, die Schaffung der Vereinigung als solcher von der Herrschaft über sie zu trennen. Dieses Vorhaben richtete sich praktisch gegen das monarchische System. I m Gegensatz zu dem Grundsätzlichen seines Vorhabens, aber dennoch m i t dem angestrebten praktischen Effekt läßt Rousseau i m „Contrat social" politische Einheit und politische Herrschaft zugleich entstehen: Das Corps politique ist eine i n sich einige und über sich mächtige Person, die Rousseau hinsichtlich ihrer Einheit Staat u n d hinsichtlich ihrer Macht Souverän nennt. „Herrschaft" i m bisherigen Sinne gibt es nun nicht mehr: „Souverän" ist die politische Einheit selbst, die auch der Repräsentation nicht mehr bedarf. Jede Handlung des corps politique erweist dieses als Inhaber der obersten Entscheidungsgewalt, denn seine Handlungen sind stets auf das Ganze gerichtet und für dieses verbindlich. Da der neue Souverän seiner Natur nach ausschließlich zu dieser A r t von Handlungen befähigt ist, muß er sich ein seine Befehle ausführendes Organ schaffen: die Regierung. Von der Schaffimg dieser Institution, bei der bisher alles lag, was „Herrschaft" hieß, und die Rousseau so gründlich beseitigt hatte, daß sie i n dem Vertrag, auf den alles gegründet ist, gar nicht mehr vorkommt, ist n u n i m nächsten Kapitel zu sprechen.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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6. Regierung und Regierungsform im Contrat Social I n seinen einleitenden Überlegungen k a m Rousseau zu dem Schluß, daß nur ein Vertrag als Grundlage des Staates i n Betracht käme. Er erläutert diesen Vertrag und zeigt uns dann die Kehrseite der Medaille: „Es gibt i m Staat nur einen Vertrag, den der Vereinigung: dieser schließt bereits jeden andern aus. Man kann sich keinen öffentlichen Vertrag vorstellen, der den ersten nicht verletzte 33 ." Nur ein Vertrag kommt als Grundlage des Staates i n Frage, aber auch nur ein Vertrag d a n n . . . Was nicht unmittelbar durch den „Contrat social" entsteht, muß also eine andere, weniger feste Grundlage haben; es w i r d sich dabei notwendig u m etwas Abgeleitetes, Sekundäres handeln. Z u diesen abgeleiteten Größen gehört die Regierung. Die Regierung besitzt, sagt Rousseau, gewissermaßen nur ein geliehenes und untergeordnetes Leben" 8 4 . Die Einsetzung der Regierung geht i n zwei Stufen vor sich. Die erste ist der Erlaß eines Gesetzes, die zweite sein Vollzug und bereits (gleichzeitig!) eine Amtsverrichtung der Regierung". W i r können uns m i t dem Gesetzesbegriff Rousseaus hier nicht eingehend beschäftigen und beschränken uns darauf, die Definition zu zitieren, die Rousseau i n Buch I I , 6 gibt: „Sobald jedoch das ganze V o l k über das ganze Volk beschließt, . . . dann ist die Sache, über die man beschließt, ebenso allgemein wie der Wille, der beschließt; und diesen A k t eben nenne ich ein Gesetz." Aus dieser Bestimmung folgt, daß „jedes m i t einem Einzelwesen vorzunehmende Geschäft der gesetzgebenden Gewalt entzogen ist" 3 5 . Der Souverän kann also nicht unmittelbar die Regierimg einsetzen, und deshalb muß dieser A k t aus zwei Einzelakten bestehen. Der Souverän beschließt zunächst — als Gesetz — die Einführung einer bestimmten Regierungs/orm 36 , und das Volk führt dieses Gesetz dann aus, i n dem es die „chefs" nominiert, die die vom Gesetz vorgesehenen Positionen besetzen sollen. Die so bestimmten Träger der vollziehenden Gewalt können von dem Volk jederzeit wieder abgesetzt werden: Sie „erfüllen nur ihre Pflicht als Bürger", sagt Rousseau, „ohne irgendwie berechtigt zu sein, über die Bedingungen zu streiten" 3 7 . Rousseau nennt den Vollzug des Gesetzes durch das V o l k bereits eine „Regierungshandlung". Der Vollzug von Gesetzen ist grundsätz38

CS I I I , 16. CS I I I , 1. CS I I , 6. 88 Rousseau spricht hier v o n der E i n f ü h r u n g eines Regierungskörpers „sous teile ou teile forme" (CS 111,17). Aus den weiteren Ausführungen geht hervor, daß es sich dabei aber nicht, w i e m a n denken könnte, u m den Modus der Regierungsbüdung, sondern u m das handelt, was w i r heute Staatsform nennen. 37 CS I I I , 18. 34

36

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

lieh eine Angelegenheit der Regierung, und so muß, das ist wohl die i h n dabei leitende Überlegung, wer ein Gesetz vollzieht, „Regierung" sein. Wie kann das Volk, so fragt er sich dann, vorübergehend bzw. „unter gewissen Umständen" als Regierung handeln? Die Lösung dieser Frage ergibt sich aus einer der „wunderbaren Eigenschaften" des politischen Körpers, die darin besteht, daß seine Souveränität sich „plötzlich" i n Demokratie verwandeln kann 3 8 . Der gleiche Körper, der eben noch als Souverän ein Gesetz erlassen hatte, kann auf diese Weise i m nächsten Augenblick als Regierung handeln, d. h. als demokratische Volksversammlung eine Regierung einsetzen, kann also „Geschäfte m i t dem Einzelwesen" vornehmen. Sobald dies geschehen ist, ist die Rolle der Volksversammlung als Regierimg vorbei, sie ist wieder Souverän. Ausgenommen von dem F a l l einer w i r k l i c h reinen Demokratie, i n der alle — oder zumindest die Mehrheit — regieren und der A k t der Einsetzung der regierenden Personen ausfällt (weil durch das vom Souverän beschlossene Gesetz die endgültige Regierung, nämlich die Volksversammlung, schon nominiert ist), ist die demokratische Volksversammlung immer nur eine „provisorische Regierung". Die Einsetzung einer Regierung ist also ein Geschehen i n drei Akten: 1. Gesetz, 2. Verwandlung des Souveräns i n eine demokratische Volksversammlung (= provisorische Regierung), 3. Regierungsbildung. Rousseau w i r d nicht müde zu betonen, daß jede Regierung, daß jede Regierungsform (Staatsform) jederzeit vom V o l k (als Souverän) beseitigt werden kann. Der Souverän kann sich an keine Vereinbarung binden, kann keine Verpflichtung eingehen, kann keinen Vertrag abschließen. Die Regierungsform ist also das Ergebnis einer (gesetzlichen) Entscheidung, kein Vertrag. 7. Funktion und Bedeutung der Gleichheit in der Staatskonstruktion des Contrat Social a) Das Verhältnis

von Staatsoberhaupt,

in allgemeinen

Formeln

Regierung und Volk

und Bildern

Nach der Einführung der Regierung können w i r alle unsere früheren Bedenken beiseitestellen und von einem vollständigen und lebensfähigen Staat sprechen. Rousseau hat das Zusammenspiel dieser drei allgemeinen Größen jeder Staatskonstruktion, dem w i r uns nun zuwenden wollen, i m ersten Kapitel des 3. Buches untersucht, und er wünscht sich wegen der dabei auftauchenden Schwierigkeiten einen 38 Auch hier muß — w i e i m „Contrat social" das corps politique „ ä l ' i n stant" entstehen mußte — wieder etwas „subite" v o r sich gehen, u m den Widerspruch aufzulösen. Wieder einmal läßt Rousseau eine noch gar nicht vorhandene Größe handeln u n d beruhigt uns m i t einer angeblichen „Gleichzeitigkeit" v o n H a n d l u n g u n d Entstehung des Handelnden.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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besonders aufmerksamen Leser. Die Zuhilfenahme der Mathematik zeigt, daß es i h m nun u m so etwas wie eine allgemeine Formel des Staates geht. Er stellt eine Proportion auf, bestimmt eine Konstante, zeigt abhängige Veränderungen und Gesetzmäßigkeiten und kommt über eine A r t Harmonieforderung zu einem innersten Strukturprinzip des Staates. Zunächst eine Definition der drei verwendeten Größen: 1. Das Staatsoberhaupt (= souverain), i m folgenden kurz „O", ist das als gesetzgebende Einheit betrachtete corps politique, die „puissance législative", der „Staat i n Aktion". 2. Das Volk (= peuple), i m folgenden kurz „ V " , ist die Gesamtheit der Vertragsteilnehmer, die als einzelne Staatsbürger und Untertanen heißen. 3. Die Regierung (= gouvernement), i m folgenden kurz „R", ist die vermittelnde Kraft, die das Verhältnis des „Ganzen zum Ganzen" regelt, d. h. die der Ganzheit (dem corps politique) i n ihrer Eigenschaft als Souverän eine Einwirkung auf die Ganzheit i n ihrer Eigenschaft als Summe der Untertanen ermöglicht 59 . Die Regierimg ist die höchste Verwaltung („suprême administration"), die rechtmäßige Ausübung der vollziehenden Gewalt („puissance exécutive"). Die m i t der Ausübung dieser Gewalt beauftragte Person (bzw. die Personen) heißen Fürst oder Obrigkeit („prince ou magistrat"), je nachdem, ob das Prinzip oder der reale Verwaltungskörper gemeint ist. Diese drei Größen (O, V, R) faßt Rousseau nun i n einer stetigen Proportion zusammen, deren mittlere Proportionale R ist. Für jeden Staat, der sich i n „guter Ausgeglichenheit" befinden soll, muß zwischen dem „Quadrat" der Macht der Regierung und dem Produkt der Macht von Staatsoberhaupt und V o l k Gleichheit bestehen 40 , oder i n Formeln: O : R = R : V ; R 2 = OV. 39 Rousseau nennt das Verhältnis der „beiden" Ganzheiten auch das des „Souveräns z u m Staat" (CS I I , 12 u n d I I I , 1), eine leicht mißzuverstehende Wendung, w i e der Schluß Fetschers zeigt, der die „isolierten Untertanen" m i t dem „Staat" u n d die „vereinigten Staatsbürger" m i t dem „Souverän" gleichsetzt (a. a. O., S. 148). So verhält es sich natürlich nicht — : w e n n Rousseau auch v o n einer Beziehung des „Ganzen z u m Ganzen" spricht, dann handelt es sich dabei doch u m ein Ganzes, allerdings unter zwei Aspekten, i n zwei verschiedenen Erscheinungsformen, u n d der „Staat" ist, w e n n w i r bei der hier verwendeten Terminologie verbleiben wollen, sozusagen das Ganze, das die anderen Ganzheiten (Souverän, Volk) enthält, ohne doch eine besonders hervorzukehren, oder, w i e Rousseau j a sagt, das „corps", „quand i l est passif". (CS 1,6.) 40 „ . . . pour que l'État soit dans u n bon équilibre, i l faut, tout compensé, q u ' i l ait égalité entre le produit ou la puissance d u gouvernement pris en lui-même, et le produit ou la puissance des citoyens, q u i sont souverain d'un cote et sujets de l'autre." (CS I I I , 1.)

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

Damit hat Rousseau das Kunststück fertiggebracht, die zunächst begrifflich i n „Oberhaupt" und „ V o l k " geschiedene Bürgerschaft nun — hinsichtlich der Macht — wieder zusammenzufassen und (als Produkt) der Regierungsgewalt gegenüberzustellen. Zwischen diesen beiden Machtgruppen muß Gleichgewicht, Balance, oder — wie Rousseau wörtlich sagt — Gleichheit (égalité) herrschen. Die einzelnen Größen der Formel dürfen i n ihrem Wesen nicht geändert werden, d. h. jede Größe darf nur die ihr nach der Definition zukommenden Eigenschaften haben bzw. Funktionen erfüllen, wenn der Staat nicht zerstört werden soll. Rousseau sah Möglichkeiten zur K r i t i k an seiner Formel voraus, die sich schon daraus ergeben, daß man sie sehr genau nimmt. Dann ist etwa die Folgerung möglich, die Rousseau w o h l vorsorglich anführt, u m seinen mutmaßlichen Kontrahenten den W i n d aus den Segeln zu nehmen: daß man nämlich nur die Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl zu ziehen brauche, u m die rechte Regierung zu finden. Rousseau antwortet darauf, daß die Mathematik i h m nur eine kürzere Ausdrucksweise ermögliche und daß er sehr w o h l wisse, daß geistige Größen keine geometrische Präzision aufwiesen. I m Prinzip aber bleibt er dabei: Die stetige Proportion zwischen Staatsoberhaupt, Regierung und Volk ist keine willkürliche Idee, sondern eine notwendige Folge der Natur des politischen Körpers 4 1 . I m Grunde geht m i t dieser Einschränkung, m i t diesem Verzicht auf Präzision auch die ganze Mathematik der Formel verloren, d.h. die Zuhilfenahme der Mathematik zur Erklärung des Staates erweist sich als ein ebenso fragwürdiges Unternehmen, wie die ständigen Analogieschlüsse vom Menschen auf den Staat. Beide Erklärungsversuche enthalten mindestens ebenso viele Schwächen und Gefahren wie Vorzüge, können zur Erhellung wie zur Verdunklung von Tatbeständen führen. Rousseaus Einsicht, daß die Stabilität der durch den „Contrat social" geschaffenen Ordnung am besten gewahrt würde, wenn die Macht der Regierung der „Macht der Staatsbürger, die einerseits Souverän und andererseits Untertanen sind", gleich sei, w i r d nicht dadurch als eine objektive Wahrheit erwiesen, daß er sie i n die Form einer Verhältnisgleichung kleidet. Indem Rousseau den Körper der Regierung m i t dem Körper des gesamten Staates vergleicht und von der Fähigkeit beider spricht, sich i n ähnliche Verhältnisse zerlegen zu lassen (wodurch immer wieder „une nouvelle proportion" entsteht, — man muß annehmen, er ist noch 41 „ . . . l a proportion continue entre l e souverain, le prince et le peuple, n'est point une idée arbitraire, mais une conséquence nécessaire de la nature d u corps politique." (CS I I I , 1.)

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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bei der „stetigen Proportion"), blendet er plötzlich auf ein anderes mathematisches B i l d über. A m Ende der Teilungen gelangt er nämlich zu einem unteilbaren Mittelglied ( „ i m moyen terme indivisible"), dem i n der Regierung die oberste Behörde bzw. der „chef" (als einzige oberste Person) entspreche. N u n kann man durch stetige Teilungen nicht zu einem solchen Mittelgliede kommen, und deshalb eben wählt Rousseau ein anderes Bild: die sogenannte „harmonische Zahlenreihe" 4 2 . Es handelt sich dabei u m eine schon aus dem A l t e r t u m herrührende symbolische Wertung der Welt (im Unterschied zum wissenschaftlich-messenden Begreifen) unter Zugrundelegung einer von der „Einheit" einerseits bis ins unendlich Große, andererseits bis ins unendlich Kleine reichenden harmonischen Zahlenreihe 43 : 1

~

1 1 1 1 2 3 4

I i i

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b) Das harmonische Zusammenspiel

T

der Kräfte

im Staate

M i t diesem Bilde bricht Rousseau die mathematische Veranschaulichung abrupt ab, um, wie er sagt, durch die Vervielfältigung der Ausdrücke keine V e r w i r r u n g zu schaffen. Auch w i r wollen die mathematischen Einzelheiten nicht weiter erörtern. Sinnvoll ist dagegen die Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung der „Formel" und der harmonischen Zahlenreihe für die Erklärung des Zusammenspiels der Kräfte i m Staate. Die Möglichkeit, beide Bilder zu einer Deutung zusammenzufassen, ergibt sich daraus, daß beide einer gemeinsamen Grundvorstellung entsprechen, nämlich dem Gedanken der Harmonie. W i r sprachen anfänglich von einer „Harmonieforderung" Rousseaus, und wenn w i r an diesen Begriff nun eine Interpretation knüpfen, so muß doch gleich angemerkt werden, daß es mehr die Wahl der erwähnten mathematischen Beispiele durch Rousseau als ihre Auslegung ist, durch die w i r uns zu den folgenden Überlegungen berechtigt glauben. Durch den „Contrat social" werden zwei Größen geschaffen, die man als „unabhängige Veränderliche" betrachten kann: Souverän und Volk. Das eigentliche Problem der Staatskonstruktion ist nun, die genau diesen Größen angemessene Regierung zu finden, eine Kraft, die zwar die Bewegung des Ganzen ermöglicht und aufrechterhält, die aber den Gesamtkörper nicht i n Gefahr bringt. Die Regierung muß eine gebändigte, kontrollierte, abgemessene K r a f t sein, die i n den Staatsbürgern eine ebenbürtige Gegenkraft findet. Die Regierung ist also 42 Die oberste Behörde entspricht, so sagt Rousseau, der „ u n i t é entre la série des fractions et celle des nombres". 43 Nach Moser, H . J.: M u s i k l e x i k o n , H a m b u r g 195 l s .

62

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

eine „abhängige Veränderliche", deren Größe vorbestimmt ist; sie ist konstruierbar, berechenbar. Rousseau glaubte, i n der stetigen Teilung das Prinzip für diese Berechnung gefunden zu haben. Es ist nicht genau festzustellen, ob er zunächst mehr von der formalen oder von der inhaltlichen Seite dieses Prinzips angetan war. Formal mußte es seinen Absichten sehr gelegen kommen, daß die stetige Teilung, i m Unterschied zu allen anderen Verhältnisgleichungen, aus nur drei Größen besteht. Da er die Regierung als einen „vermittelnden" Körper ansah, konnte er sie ohne Schwierigkeiten m i t der mittleren Proportionalen identifizieren, und für die beiden äußeren Glieder der Proportion boten sich dann Souverän und V o l k an. Rousseau hätte manchen Widerspruch vermeiden können, wenn er sich formal auf derartige Andeutungen beschränkt und mehr auf den Gehalt seines Prinzips geachtet hätte. Das „bon équilibre", das er für den Staat fordert und anstrebt, ist j a schließlich nichts anderes als die auf die theoretische Politik angewendete Idee der Harmonie, die seit der Antike zum „Normbegriff der gesamten Ästhetik und Kunstlehre" und zum „Grundgesetz der künstlerischen Gestaltung" 4 4 geworden war. Leibniz fand diese Idee (als „prästabilierte Harmonie") besonders i n dem Verhältnis von Leib u n d Seele des Menschen verwirklicht 4 6 . Auch der Rousseausche Naturmensch ist ein „harmonisches" Wesen, das keine zerstörerischen Leidenschaften kennt und sich i n die Ordnimg der Natur gut einfügt. „ I m m e r dieselbe Ordnung u n d stets die gleichen Veränderungen" 4 6 — das ist für den Naturmenschen das „Schauspiel der Natur". F ü r Rousseau w i r d diese Vorstellung ein Symbol der Beständigkeit. Beständigkeit, Dauerhaftigkeit — das ist aber auch die Eigenschaft, die er für den Bau des Staates als unerläßlich ansah. So steht die „Harmonieforderung", die Rousseau für den Staat und die i n i h m wirkenden Kräfte erhob, i n Einklang m i t seinem Natur- und Menschenbild. Beständigkeit und Harmonie gehören zusammen: Harmonie ist Regel, Einklang, Gesetz; Harmonie ist Dauer i n der Veränderung. Der Naturzustand war das Zeitalter ohne Veränderung, die Beständigkeit schlechthin. Die Schöpfungen des gesellschaftlichen Zustandes hingegen sind vergänglich: Alle politischen Gebilde tragen den Keim des Untergangs von ihrer Entstehung an schon i n sich. „Welcher Staat kann wohl, nachdem Sparta und Rom untergegangen sind, auf einen ewigen Bestand rechnen?" So fragt Rousseau, und er antwortet: „Wollen w i r eine dauerhafte Gründung vornehmen, so dürfen w i r also nicht daran denken, ein Werk für die Ewigkeit zu schaffen 47 ." Eines der 44 46 46 47

Der K l e i n e Brockhaus, Wiesbaden 1949. Philosophisches Wörterbuch (Kröners T A Bd. 13) S. 227. Discours, S. 49. CS I I I , 11.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

63

Mittel, den letzten Endes unausweichlichen Verfall eines Staates hinauszuzögern, ist, i h m die beste Verfassung zu geben, die möglich ist. Den Weg, sie zu finden, zeigt die Natur: man muß ihrem Grundgesetz Harmonie folgen. W i r wissen leider nicht, wieweit sich Rousseau des symbolischen Charakters seiner Bilder bewußt war. Sein Zeitalter w a r einer Symbolik nicht gerade günstig, es glaubte vielmehr an die K r a f t des Verstandes und an die Möglichkeit einer rationalen Lösimg der Probleme des Staates. Als reinsten Ausdruck verstandesmäßiger Betätigung sah man die Mathematik an. Schon Hobbes war, beeinflußt von Galilei, zu der Erkenntnis gekommen, daß alles Denken „ein Verbinden und Trennen, Addieren u n d Subtrahieren von Namen" sei, — Denken sei Rechnen 48 . Es liegt i n der gleichen Richtung, daß hinsichtlich alles möglicherweise zu Konstruierenden die Geometrie das große Vorbild wird. So sollen die politischen Gebilde konstruiert werden wie abstrakte geometrische Figuren. Wie i n der Mathematik, so sucht man auch i n der theoretischen Politik Axiome und Gesetze. Es spricht also, wenn man Rousseau als einen Menschen seiner Zeit sieht, alles dafür, daß er hauptsächlich die konstruktive, formale Seite der erwähnten mathematischen Figuren auswerten wollte und i h r symbolischer (Erkenntnis-) Gehalt für i h n verblaßt ist. — N u n war Rousseau aber auch, u n d dieser Zug w i r d oft an i h m hervorgehoben, der Überwinder des reinen Vernunftglaubens. Der Literaturhistoriker Walter Muschg etwa sieht i n Rousseau den „Geist, der den Rationalismus i n seinen Grundfesten erschütterte" 46 und den Begründer des „Mythus vom Ursprung, der seither Romantik heißt" 6 0 . Ohne i m einzelnen zu differenzieren, läßt sich doch sagen, daß Rousseau verschiedenartige Tendenzen i n sich vereinte. So mag er ahnungsvoll zu symbolträchtigen Figuren gegriffen haben, u m sie dann doch nur — sozusagen nach der Mode der Zeit — als Rechenhilfe zu benutzen. c) Die Forderung

nach „Gleichheit"

und ihre wirkliche

der Machtgruppen

Bedeutung

Rousseau verwendet i n seiner mathematischen Abhandlung mehrfach den Begriff der Gleichheit, u n d zwar i n verschiedener Bedeutung. Einmal soll das Gleichgewicht i m Staate durch Gleichheit der Machtgruppen erreicht werden. W i r haben gezeigt, daß die Formel R 2 = OV ungeeignet ist, dieser Forderung Ausdruck zu verleihen. R ist eine 48 Philosophisches Wörterbuch, S. 246. V g l . auch Valjavec, Geschichte der abendländischen A u f k l ä r u n g , S. 78. 49 Muschg, W.: Tragische Literaturgeschichte, B e r n 19532, S. 320. 60 Ebd., S. 48.

64

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

proportionale, keine gleiche Größe, und diese Aussage allerdings steht durchaus i n Einklang m i t den sonstigen Ausführungen Rousseaus. Die Regierung soll j a eine „angemessene" Größe sein, soll i m „richtigen Verhältnis" zur Größe des Staates stehen. Daß dieses Verhältnis, i n Zahlen ausgedrückt, 1 : 1 lauten sollte, ist eher erstaunlich, als daß es sinnvoll erscheint. Denn eine dem Souverän an Macht völlig gleiche Regierung würde sich kaum i n dem Maße unterordnen, wie es die Definition verlangt. Man kann sich nicht vorstellen, wie i m Konfliktsfall (zwischen Souverän und Regierung) bei Machtgleichheit entschieden werden sollte. Die ständigen Hinweise Rousseaus auf die abhängige Stellung der Regierung ließen diese plötzliche Forderung nach Machtgleichheit isoliert und unmotiviert erscheinen, wenn nicht als übergeordnetes Motiv n u n i n Betracht käme, was w i r als das Bestreben seines ganzen Zeitalters kennenlernten: der Wunsch nach einfachsten Grundsätzen, nach obersten und durchgängig verwendbaren Begriffen. Bei der Gleichheit handelt es sich offensichtlich u m einen solchen Begriff. Rousseau hatte seine Bedeutimg für den Naturzustand erkannt und i h m auch für das Verhältnis der Staatsbürger zueinander (wir kommen darauf zu sprechen) eine überragende Bedeutung zugewiesen. Der krönende Abschluß aber würde erst erreicht sein, wenn er diesen Begriff, diese Idee auch i n dem Spiel der großen Kräftegruppen i m Staate würde nachweisen können. Der Versuch Rousseaus, seine i m Prinzip durchaus einleuchtenden Vorstellungen von einem harmonischen Kräftespiel m i t dem Begriff der Gleichheit zu kombinieren, die Harmonie sozusagen auf die Gleichheit zu reduzieren, ist aber nicht gelungen. Halten w i r also fest, daß i n der „Strukturformel" Rousseaus die Gleichheit zur Proportionalität geworden ist. d) Gleichheit und Ungleichheit im Verhältnis von Staatsoberhaupt und Untertan Rousseau zeigt uns noch eine andere Anwendungsmöglichkeit seiner Formel, bei der nun auch das Individuum ins Spiel kommt, und zwar i n seiner Rolle als Untertan. Die m i t der wachsenden Volkszahl zunehmende Gesamtstärke des Staates w i r k t sich nach der Konstruktion des „Contrat social" i n einer Zunahme der Macht des Staatsoberhauptes aus. Der Untertan steht als konstante Größe dem wachsenden Staatsoberhaupt gegenüber, folglich — so argumentiert Rousseau — w i r d seine Freiheit geringer. Wenn w i r (s. Abb.) auf der Basis AB, die dem Untertan entsprechen soll, i n B senkrecht BC (als wachsendes Staatsoberhaupt) antragen, so zeigt uns der W i n k e l bei A die wachsende Volkszahl, der bei C, Ci, Ca etc. die (komplementär) sich verringernde Freiheit.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

65

Die Vergrößerung des Verhältnisses Staatsoberhaupt: Untertan bezeichnet Rousseau nun aber auch als „Entfernung von der Gleichheit"". Diese Gleichheit findet sich, wie die Abbildung veranschaulicht, nur i n dem Dreieck ABC, d. h. wenn A B = BC oder das Oberhaupt m i t dem Untertan identisch ist. Dieser Zustand aber ist der Naturzustand 52 . Jede Staatsgründung beseitigt diese Situation, i n der der Untertan sein eigenes Staatsoberhaupt ist und „Volkszahl" und „Freiheit" gleiche Größen sind. Diese Gleichheit, die Rousseau geometrisch m i t den verschiedenen Ungleichheiten staatlicher Zustände (je größer der Staat, desto größer die Ungleichheit) verbindet, verdient aber genaugenommen diesen Namen nicht, denn es handelt sich hier nicht u m Gleichheit, sondern u m Identität. Die zu vergleichenden Größen Oberhaupt, Untertan, Volkszahl und Freiheit sind i n diesem Falle nicht zu vergleichen, sie fallen vielmehr zusammen, sind identisch. 61

CS I I I , 1. Fetscher (a. a. O., S. 149) versucht sich den Rousseauschen Gedankengängen m i t einer ähnlichen, aber doch nicht ganz schlüssigen Überlegung (die er dann selbst als „unerlaubte F i k t i o n " bezeichnet), zu nähern. „ M a n könnte als Grenzfall einen »Staat4 annehmen", so schreibt er, „der n u r aus einem Menschen besteht, der als sittliches Wesen ganz »Souverän' u n d zugleich als physisches ganz »Untertan 4 wäre." Diese Überlegung hält daran fest, daß dieser „Grenzfall" eben doch noch „Staat" sei (wenn auch i n A n führungsstrichen), u n d deshalb ist sie unergiebig. Erst w e n n m a n den „Grenzfall" als das erkennt, was er allein sein k a n n : nämlich der k o n s t r u k t i v (geometrisch) m i t dem Gesellschaftszustand verbundene Naturzustand, w i r d die Überlegung fruchtbar. 62

5 Hill

66

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

Es ist allerdings auch nicht recht ersichtlich, w a r u m Rousseau i n bezug auf das Verhältnis des Staatsoberhauptes zum einzelnen („en qualité de sujet") überhaupt von Gleichheit bzw. einer mehr oder weniger weiten „Entfernimg" von der Gleichheit i n mehr oder weniger großen Staaten spricht. Nach der Natur des „Contrat social" ist es völlig belanglos, ob der durch i h n geschaffene Staat aus 100 oder 100 000 Bürgern besteht: von irgendeiner Gleichheit zwischen Oberhaupt und Untertan kann i n keinem F a l l die Rede sein. Auch hier drängt sich wieder die Vermutung auf, daß Rousseau i n dem Bestreben, die Gleichheit als ein fundamentales Prinzip des Staatsgefüges zu erweisen, über das Ziel hinausgeschossen ist; aus der Tatsache, daß — mathematisch gesehen — m i t zunehmender Bevölkerungszahl die Einwirkungsmöglichkeit des einzelnen auf den allgemeinen Willen abnimmt, seine politische Macht geringer wird, muß er geschlossen haben, daß an den Anfang dieser Entwicklung eine Gleichheit an Macht zu setzen sei: so w a r das Prinzip gerettet. Läßt man die Entwicklung aber tatsächlich zurücklaufen bis an die Grenze des Möglichen (vgl. A b bildung), so zeigt sich, daß die Überlegung Rousseaus ein Trugschluß ist. Jeder Schritt über die Identität des Naturzustandes hinaus führt i n der von Rousseau hier aufgegriffenen Relation sofort zu Ungleichheiten. M a n kann also zusammenfassend feststellen, daß die Versuche Rousseaus, die Gleichheit als ein letztes Strukturprinzip, als die Essenz einer allgemeinen Formel zu erweisen, die für alle Bereiche des Staates Gültigkeit habe, ohne Erfolg geblieben sind.

8. Die Gleichheit der Staatsbürger a) Die Bedeutung und das Verhältnis

von Freiheit

und Gleichheit

M i t seiner Stärke und seiner Freiheit hatte der Naturmensch sein Leben erhalten, Stärke und Freiheit waren die Waffen des Selbsterhaltungstriebs. Durch den Gesellschaftsvertrag, m i t dem schließlich die Vernunft diesen Waffen eine neue Schärfe gibt, geht der Selbsterhaltungstrieb sozusagen vom einzelnen auf den Staat über. Die Erhaltung des Staates w i r d die Bedingung für die Erhaltung der einzelnen; alle einzelnen haben das größte Interesse an der Erhaltung des Staates. So sind es bei aller Sorgfalt, m i t der Rousseau die Existenzbedingungen des Staates untersucht, bei aller Weisheit, die er bei der Planung seines „Lebenslaufs", bei dem Einbau von Sicherungen zeigt, letzten Endes doch die Menschen, aus denen der Staat seine Lebenskraft zieht. U n d wie jedem Menschen der Tod gewiß ist, muß — so klingt es resig-

B. Die Konstruktion des Contrat Social

67

nierend an manchen Stellen des Contrat Social auf — auch alles vom Menschen Geschaffene und Abhängige vergehen. Das ständige intensive Bewußtsein von destruktiven Tendenzen, das „Gespür" für Verfall ist es, das manche konstruktive Härte bei Rousseau erklärt. Die Einsicht i n die Bedeutung der Freiheit i m Naturzustande hatte Rousseau zur Aufstellung der Bedingung veranlaßt, die Freiheit müsse beim Übergang i n den Gesellschaftszustand erhalten bleiben 65 . Es kann sich nach dem Gesamtzusammenhang der Rousseauschen Darstellung nur darum handeln, daß die Freiheit als Funktion, daß i h r Sinngehalt gewahrt bleibt. Wenn der einzelne seine „natürliche" Freiheit imbesorgt aufgeben kann, so doch nur, w e i l er weiß, daß der durch den Vertrag begründete Staat (und somit er selbst als Teil dieses Staates) die Funktion der Freiheit wahrnehmen wird. M i t der Summe gleichgerichteter Kräfte w i r d der neue Funktionsträger seine Aufgabe sogar ungleich besser erfüllen können. So entäußert sich jeder m i t gutem Grund seiner natürlichen Stärke und Freiheit. Da die Entäußerung ohne Vorbehalt geschieht, sind alle, mögen sie auch unterschiedliche Gaben gehabt haben, durch diesen A k t zu Gleichen geworden. A l l e Rechte bzw. Vorrechte sind aufgelöst, alles Unrecht, alle Abhängigkeit ist m i t einem Schlag verschwunden 64 . Staatsbürger sein bedeutet, sich i n einer jedem andern gegenüber völlig gleichen Situation zu befinden, nichts zu beanspruchen, nichts zu wollen, was nicht auch der Mitbürger w i l l . Die Vertragspartner bilden deshalb augenblicklich eine Willensgemeinschaft, eine „Union, so vollkommen sie nur sein kann" 6 5 . Wo keine Abhängigkeit mehr existiert, herrscht Freiheit. Es müssen also zunächst alle gleich werden, u m frei sein zu können. Die Gleichheit ist die Vorbedingung der Freiheit 8 6 . 53 Rousseau formuliert diese Bedingung auf zweifache Weise. E r fragt zunächst: Wie k a n n der Mensch seine Freiheit aufgeben, ohne sich zu schaden; sodann nach der Gesellschaftsform, i n der der Mensch „so frei wie zuvor" bleibe. Die Lösung dieser auf den ersten Blick widersprüchlichen Bedingungen liegt i n dem Gedanken des Tausches, d . h . der einzelne bekommt als Staatsbürger (in anderer Form) zurück, was er als Vertragspartner zunächst aufgeben muß. 54 W i r haben oben bereits darauf hingewiesen, daß von Rechten i n diesem Augenblick streng genommen noch nicht die Rede sein kann. Möglicherweise hat Rousseau hier eine andere entwicklungsgeschichtliche Situation i m Auge: nicht die Errichtung des Staates i m Anschluß an den Naturzustand, sondern auf dem Boden irgendwelcher Entartungserscheinungen, w i e er sie i m 2. T e i l der Abhandlung über die Ungleichheit beschrieben hatte (Vgl. CS 1,6 u n d I I , 11). 65 CS 1,6. 60 Ä h n l i c h Ziegenfuß, a. a. O., S. 215.

5*

68

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

Damit kommen Freiheit und Gleichheit i n einem unlöslichen Zusammenhang. War i m Naturzustand die physisch-seelische Gleichheit durch den Ansatz Rousseaus (Mensch = Gattungswesen) gegeben 67 , so hat die durch die „aliénation totale" erzeugte Gleichheit eine konstitutive Bedeutung für den Staat: es führt kein anderer Weg zum corps politique denn über sie. Die Gleichheit ermöglicht die Freiheit, also muß die Freiheit auch ständig der Erhaltung der Gleichheit gewidmet sein. Die Freiheit befindet sich also i n einer fortwährenden Abhängigkeit von der Gleichheit, und man hat sie deshalb eine „Funktion der Gleichheit" 6 8 genannt, — eine Bestimmung, die den dynamischen Charakter des Verhältnisses gut zum Ausdruck bringt. b) Freiheit,

Gleichheit und

Gemeinwohl

Die Gleichheit ist die erste Folge der „aliénation totale", sie zeigt an, daß die Grundsituation für den Aufbau des Gemeinwesens erreicht ist: der Baugrund ist geebnet, das A u f und A b disparater Interessen ist — wenn auch nicht beseitigt, so doch i m Hinblick auf das allen gemeinsame Ziel der Staatsbildung stark relativiert 5 0 . N u n sind weitere Schritte möglich: die Regierungsform kann bestimmt, die Regierimg eingesetzt und schließlich das System der Gesetze geschaffen werden. 07 Grundsätzlich über die E n t w i c k l u n g dieser neuen Fragestellung nach der N a t u r des Menschen zu B e g i n n des 17. Jahrhunderts S. Landshut, i n : „ K r i t i k der Soziologie": „Schon i n dieser Frage nach der N a t u r des Menschen liegt aber die stillschweigende A n n a h m e einer einheitlichen u n d gleichen N a t u r f ü r alle, eine Voraussetzung, d i e . . . aus der christlichen Gleichheit aller Menschen übernommen ist " (S. 130). 68 Landshut, a. a. O., S. 145 ff. 69 Siegfried Landshut hat (in: Über einige Grundbegriffe der Politik, A r c h i v f ü r Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik Bd. 54, 1925) die durch den CS gestiftete Einheit des Volkes — unter Berufung auf die K a p i t e l 1 u n d 3 des I I . Buches des CS — m e h r i n der Opposition eines jeden gegen jeden als i n einer w i r k l i c h e n Eintracht bestehend gedeutet. Die Belegstelle lautet: „ . . . l'accord de tous les intérêts se forme par opposition à celui de chacun." Landshut schreibt dazu: „ I n d e m alle i m K a m p f gegen das Einzelinteresse eines Jeden stehen, befinden sie sich eben dadurch i n einem accord, i n einer Übereinstimmung, die Einzelinteressen heben sich w i e das M e h r oder Weniger i n einer Rechnung gegenseitig a u f . . ( a . a. O., S. 50 f.). — „ D i e Einheit des »peuple4, die es i m Staat findet, ist der ,accord', der aus der allseitigen »opposition 1 resultiert, sie ist die Einheit des über das b e l l u m o m n i u m contra omnes gesetzten Gegengewichts u n d hält dem Gegeneinander Jedes gegen Jeden die Balance." Der Staat ist nach dieser Deutung die „Ausgleichsinstanz", die „das Gegeneinander der Menschen . . . i m p l i z i e r t " (a. a. O., S. 53) ; das wesentlichste M o t i v seiner Gründung besteht darin, daß er die „einzige Möglichkeit" darstellt, „ w i e sich der Mensch v o r dem Menschen retten k a n n " (a. a. O., S. 48 f.). Es scheint, daß das v o n Landshut z u m Vergleich herangezogene Denken von Thomas Hobbes diese Interpretation doch zu sehr beeinflußt hat, u n d zwar

B. Die K o n s t r u k t i o n des Contrat Social

69

E h e Rousseau v o n d e n verschiedenen M ö g l i c h k e i t e n , A r t e n u n d System e n v o n Gesetzen u n d Gesetzgebung spricht, h ä l t er noch e i n m a l i n n e , u m sich a u f das Ziel eines j e d e n S y s t e m s d e r Gesetzgebung z u b e sinnen. Dieses Z i e l bestehe, so s t e l l t er fest, i n „ l e p l u s g r a n d b i e n de t o u s " , i m höchsten W o h l a l l e r . Rousseau g e b r a u c h t d a m i t e i n e F o r m e l , d i e sich aus d e m „ S u u m esse c o n s e r v a r e " des Hobbes u n d Spinoza, denen die Selbsterhaltung „Quintessenz u n d G r u n d m o t i v allen Wollens" gewesen w a r , ü b e r Leibniz, Wolff u n d v o r a l l e m d i e englischen A u f k l ä r u n g s p h i l o s o p h e n (u. a. Locke, Cumberland, Butler, Paley, Hartley, Priestley) z u d e r klassischen W e n d i m g „ t h e greatest happiness of t h e greatest n u m b e r " e n t w i c k e l t h a t t e 8 0 . I m L a u f e dieser E n t w i c k l u n g w a r e n d e m r e i n r a t i o n a l - e g o i s t i s c h e n G r u n d g e d a n k e n des H o b b e s — schon v o n S p i n o z a a n — s i t t l i c h - w e r t h a f t e M o m e n t e h i n z u g e f ü g t w o r d e n , so d e r B e g r i f f d e r „ V o l l k o m m e n h e i t " b z w . „ V e r v o l l k o m m n u n g " , d e r B e g r i f f d e r „ B i l d i m g " u n d schließlich d e r umfassende B e g r i f f d e r „ P e r s ö n l i c h k e i t " , i n d e m a u c h G o e t h e das „höchste G l ü c k d e r Erdenkinder" erkannte.

vor allem i n dem zugrunde gelegten Menschenbild. Nach Rousseau ist der Mensch nicht so beschaffen, daß der Staat (wie allerdings bei Hobbes —) als das Resultat der Furcht eines jeden v o r jedem verstanden werden müßte. ( I n dem zentralen 6. Kap. des 1. Buches des CS sind die den Zusammenschluß unumgänglich machenden „obstacles" — seien sie n u n persönlicher oder dinglicher N a t u r — gar nicht näher benannt.) Der Mensch ist nach Rousseau v o n N a t u r nicht böse, nicht der „ W o l f " f ü r den Nächsten, sondern i m Gegenteil durch das seinen Selbsterhaltungstrieb begrenzende Prinzip des Mitleids (vgl. oben Kap. 3a) u n d dessen U m w a n d l u n g e n i m Gesellschaftszustand ein durchaus soziales Wesen; Leo Strauss v e r t r i t t sogar die Auffassung, Rousseau habe eigentlich Gründe genug gehabt, den Menschen als ursprünglich geselliges Lebewesen anzusehen (Naturrecht u. Geschichte, S. 290). W e n n die F u n k t i o n des Ausgleichs gegensätzlicher Interessen also auch eine sehr wesentliche, v o r allem praktisch bedeutende Aufgabe des Staates ist, so doch nicht die einzige. (Dagegen spricht schon, daß dem „accord" die „Opposition" nicht notwendig vorausgehen muß, vgl. CS I I , 1 Abs. 3, daß also nicht i n jedem F a l l „Ausgleich" stattfinden muß.) Der Grundgedanke der Übereinkunft, durch die der Staat zustandekommt, hat sozusagen zwei Seiten —: eine positive u n d eine negative. M a n w i l l gemeinsam etwas tun (eine „Summe von K r ä f t e n " büden), und m a n w i l l gemeinsam etwas v e r hindern (daß die „Hindernisse", welcher A r t auch immer, den Sieg über das menschliche Geschlecht davontragen). M a n ist sich nicht nur einig i m „Verhindernwollen", sondern auch i n dem Bewußtsein, gemeinsam Ziele ganz anderer A r t erreichen zu können als i n der Vereinzelung. V o r der E r reichung solcher — höherer — Ziele aber steht das primäre Interesse, das jeder hat (und das sich durchaus nicht gegen den andern richten muß): das Interesse der Selbsterhaltung. W e ü jeder i n höchstem Maße a n der E r h a l t u n g seiner Existenz (und nicht a n der Beeinträchtigung der des anderen) interessiert ist, u n d w e i l die V e r n u n f t den Zusammenschluß als einzig w i r k sames M i t t e l zur Erreichung dieses Zieles zwingend vorschreibt, deshalb k o m m t es z u m Staat. 00 Windelband-Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, §32 u n d §36.

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

70

ousseaus

Rousseau scheint auf diese Entwicklung und auf ihren Ausgangspunkt (Hobbes) hinzuweisen, wenn er erklärt, daß „le plus grand bien de tous" sich auf zwei Hauptgegenstände zurückführen lasse: auf Freiheit und Gleichheit 61. Da die Formel „le plus grand bien de tous" sich i n ihrer Bedeutung von den ähnlichen, von Rousseau aber häufiger gebrauchten Begriffen „le bien commun", „le bien public", „le bien général" bzw. „bien-être général" und etwa noch „ l ' u t i l i t é publique" inhaltlich nicht wesentlich unterscheidet, läßt sich diese Vermutimg gut i m Zusammenhang des m i t diesen Begriffen jeweils Bezeichneten prüfen. So bezeichnet Rousseau als das Z i e l d e r p o l i t i s c h e n V e r e i n i g u n g (la f i n de l'association politique) einmal die Erhaltung und das Gedeihen ihrer Glieder (la conservation et la prospérité des ses membres, C S I H , 9) u n d einmal einfach das Gemeinwohl (le bien commun, CS I I , 1). „Gemeinwohl" und „Erhaltung und Gedeihen der Glieder" sind also — von der Einrichtung des Staates her gesehen — gleichbedeutend. Der f e r t i g e u n d g e s u n d e p o l i t i s c h e K ö r p e r ist durch das deutlich hervortretende „bien commun" (CS I V , 1) bzw. „bien public" (CS I, 5) gekennzeichnet, sein W i l l e (la volonté générale) richtet sich auf die gemeinsame Erhaltung u n d das allgemeine Wohlergehen (la commune conservation et au bien-être général, CS IV, 1). Vom Souverän her gesehen ist „le bien général" das Ziel jeder Handlung (acte de souveraineté, CS I I , 4). Erst i m u n t e r g e h e n d e n S t a a t verdrängt das auf das persönliche Wohl (le bien particulier) gerichtete persönliche Interesse (l'intérêt particulier) das „bien général" (CS I V , 1). Z w e i Begriffe sind es also, die bei der Bestimmung des Inhalts des Gemeinwohls immer wiederkehren: „conservation" und „bien être" bzw. „prospérité". Eine engere u n d eine weitere Bestimmung: „conservation" ist sozusagen der Grenzbegriff der „prospérité", das vertragsgesicherte M i n i m u m ; die Erhaltung — also das Hobbes'sche „Suum esse conservare" — ist der Kerngedanke, auf den sich das Gedeihen zurückführen läßt. — Gemeinwohl bedeutet zuerst und im Wesen Erhaltung der politischen Gemeinschaft Da die Gesetzgebung das Gemeinwohl bezwecken soll, muß sie zunächst und vor allem auf die Herstellung und Bewahrung von Freiheit und Gleichheit gerichtet sein: sind diese, die i m Natur- wie i m Gesellschaftszustand die Funktion der „conservation" haben, gewährleistet, dann kann das Gemeinwohl i n diesem fundamentalen Sinne nicht mehr verfehlt werden, wie immer 61

CS I I , 11.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

71

die „prospérité" sich i m einzelnen gestalten mag. Die spezielle Gestaltung des Gemeinwohls läßt sich schon deshalb nicht von vornherein festlegen, w e i l sie von der volonté générale abhängig ist, deren Aktionen nicht für die Zukunft festzulegen sind. Der Kerngedanke des Gemeinwohls jedoch ist m i t dem Kerngedanken des Gesellschaftsvertrages identisch, und folglich kann kein A k t des Souveräns Freiheit und Gleichheit verletzen, ohne nicht damit auch den Gesellschaftsvertrag zu zerstören, denn das wäre gleichbedeutend m i t seiner „Selbstvernichtung" 6 2 . Es ist bezweifelt bzw. völlig bestritten worden, daß das Individuum sein „finis vitae" i n der Staatskonstruktion Rousseaus erfüllen könne 68 . Dazu ist zu sagen, daß der Gesellschaftsvertrag das Wohl des einzelnen dem W o h l der Gesamtheit logisch, nicht wertmäßig nachordnet: Das finis vitae kann nicht anders als über die Schaffung einer Summe von Kräften, über die Schaffung eines politischen Körpers erreicht werden, und die Herstellung dieses Körpers wiederum ist nicht denkbar ohne die totale Hingabe des einzelnen. Ausgangspunkt Rousseaus ist also durchaus das Individuum und seine Lebenserfüllung. Rousseau weist aber darauf hin, daß alles, was der einzelne in seinem Leben erreichen könne (an Vervollkommnimg, an Bildung, an Persönlichkeit), dieses Leben zur Voraussetzung habe: ohne die Grundlage der gesicherten Existenz kann kein höheres menschliches Dasein verwirklicht werden. Rousseau demonstriert diesen Gedanken an der extremen Situation des den Unbilden des Naturzustandes hilflos ausgelieferten Menschen. Man kann natürlich sagen, daß diese Ausnahmesituation für den einmal gegründeten und gesicherten Staat keine Bedeutung mehr hat, daß es sinnlos oder jedenfalls einer Höherentwicklung von Mensch und Gemeinschaft hinderlich ist, wenn man sich weiterhin fortwährend an dieser extremen Situation orientiert. Wie soll der Mensch wirklich zum Menschen werden, wenn alle seine Handlungen letzten Endes auf die Überwindung primitivster Gegebenheiten, elementarster Bedrohungen ausgerichtet bleiben? A l l e m liberalen Denken mußte das höchst befremdlich und verdächtig vorkommen. War „leben" und „Menschsein" nicht gleichbedeutend m i t : sich bilden, bereichern, alle Kräfte frei entfalten können: „laissez faire, laissez aller" 6 '? Wenn Rousseau gegenüber dieser bürgerlich-liberalen Strömung auf die Grundlagen und Prinzipien hinweist, auf denen letzten Endes alles persönliche Glück und aller Fortschritt beruht, dann ist damit 62 Qg J

63

?

V g l . ' s ! Landshut, K r i t i k der Soziologie, S. 134—149; Ziegenfuß, J . J . Rousseau, S. 222 ff., 226 f., 248. 04 Geprägt 1758 v o n de Gournay, vgl. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, H a m b u r g 1955*, S. 367.

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff Bousseaus

72

nichts gegen die i m Laufe der Entwicklung realisierten oder noch zu realisierenden Werte, nichts über den Inhalt des Gemeinwohls i m Ganzen und auch nichts über die Lebensziele der einzelnen gesagt. Indem er das Gemeinwohl auf seine zwei Hauptgegenstände zurückführt, zeigt er vielmehr — und das dürfte der primäre Anstoß seines Denkens sein — daß die Entwicklung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft i n ihrer bisherigen Form einen ganz wesentlichen Mangel aufweist, der m i t der angenommenen Ausgangssituation des politischen Körpers unvereinbar ist und der, wenn er nicht behoben wird, seine Existenz gefährdet: daß nämlich die Vorteile der Staatsgründung, d. h. der Existenzsicherung m i t Hilfe und auf Kosten aller nur einer Minderheit zugute kommen — m i t den Schlußworten der Abhandlung über die Ungleichheit: „daß eine Handvoll Menschen i m Überfluß lebt, während die ausgehungerte Menge das Notwendigste entbehrt." Weil ohne Gleichheit oder, wie man i n bezug auf die von Rousseau gemachten Angaben treffender sagen könnte, ohne Angeglicheriheit der sozialen Verhältnisse der Staat i n seinem Bestand bedroht ist, muß eine Verwirklichung des Gleichheitsprinzips versucht werden, auch wenn diese Lösung praktisch ungeheuer schwierig ist. „Einige", so sagt Rousseau i n diesem Zusammenhang, „halten n u n diese Gleichheit für ein spekulatives Hirngespinst, das i n der Praxis nicht existieren kann. Wenn jedoch der Mißbrauch unvermeidlich ist, muß man i h m dann nicht wenigstens Grenzen setzen? Eben w e i l die Macht der Umstände immer auf die Zerstörung der Gleichheit h i n w i r k t , muß die Macht der Gesetzgebung auf ihre Erhaltung bedacht sein" 65 . c) Rechtsgleichheit

und Gerechtigkeit

Die durch den Gesellschaftsvertrag unter den Staatsbürgern hergestellte Gleichheit ist eine Rechtsgleichheit: alle sind dem Vertrag unter den gleichen Bedingungen beigetreten und müssen deshalb auch die gleichen Rechte genießen. Jeder A k t der Souveränität (= jede echte Handlung der volonté générale) t r i f f t alle Staatsbürger; der Souverän kennt nur das Ganze (CS I I , 4). Daß jeder A k t alle gemeinsam betrifft, macht seine Gerechtigkeit aus, daß er den Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat, seine Legitimität. Gerechtigkeit ist also nichts als das Nebenprodukt der (Rechts-)Gleichheit, oder, wie Rousseau sagt, „die Rechtsgleichheit produziert den Begriff der Gerechtigkeit" 66 . Eine A r t psychologischer Erklärung für diese Behauptung liefert Rousseau m i t dem Hinweis, daß, w e i l das Gesetz für jeden einzelnen i n gleicher 65 60

CS I I , 11. CS I I , 4.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

73

Weise gilt, jeder auch bei seiner Schaffung an die Vorzüge denkt, die ihm daraus erwachsen werden. Jeder bezieht den A k t des allgemeinen Willens notwendig auf sich selbst, wenn er auch ebenso notwendig für alle stimmt. W e i l er glücklich sein w i l l , w i l l jeder das Glück eines jeden. So sind es die auf die Existenz und das Wohlergehen gerichteten naturhaften Triebe, Wünsche, Hoffnungen der Individuen, die in das Gesetz einfließen und diesem rationalen Gebilde die Kraft, Dauerhaftigkeit und fraglose Gültigkeit der Dinge der Natur geben. Neben dieser psychologischen Erklärung — und durchaus i m Einklang m i t ihr — g i l t für Rousseau aber auch die dogmatische Wahrheit, daß alle Gerechtigkeit von Gott kommt. „Gott" ist i n diesem Zusammenhang soviel wie die „reine Vernunft"; die Gerechtigkeit — i m Anklang an neuplatonische Vorstellungen — eine Emanation der Vernunft 6 7 . Da die Menschen diese göttliche Gerechtigkeit aber nicht unvermittelt empfangen können, da vor allem die Gefahr einseitigen Mißbrauchs der Gerechtigkeit (nur zum Nutzen der Bösen) besteht, müssen Vertrag und Oesetz den Modus und den Umfang ihrer Verwirklichimg (bzw. „Vermenschlichung") festlegen. Entscheidend ist dabei der Gedanke der Gegenseitigkeit 88 des Gerechtigkeitsanspruchs und der Gerechtigkeitspflicht, m i t anderen Worten: jeder hat den gleichen Anspruch auf gerechte Behandlung, jeder die gleiche Pflicht, gerecht zu handeln. Ohne Gleichheit gibt es unter Menschen keine Gerechtigkeit 69 . Hinter dem „Gegenseitigkeitsprinzip" steckt natürlich nichts anderes als die goldene Regel des sittlichen Verhaltens, die w i r als für alle Kulturvölker gültiges „Gebot der Gerechtigkeit" bereits kennengelernt haben. Rousseau hat diese Regel durch Einbau i n die Konstruktion des Contrat Social rationalisiert und m i t Verbindlichkeit ausgestattet. d) Rechtsgleichheit

und

Demokratie

Es wurde gezeigt, daß durch den „Contrat social" der Staat, nicht irgendeine Form von Staat entsteht. Das Prinzip der Rechtsgleichheit, unmittelbar aus dem „Contrat social" hervorgehend und daher vor jeder Formgebung des Staates existierend, ist — folglich — nicht das spezifische Charakteristikum irgendeiner Staatsform: es gilt für die 67

CS 11,6: „Sans doute i l est une justice universelle émanée de l a raison " Ebd.: „ . . . cette justice, pour être admise entre nous, doit être réciproque . . . " 69 So trotz des Versuchs v o n Hans Nef , Gerechtigkeit u n d Gleichheit wesensmäßig zu trennen („Gleichheit u n d Gerechtigkeit", Zür. 1941) auch heute noch G. Radbruch: „ K e r n (und „Wesen") der Gerechtigkeit als einer v o r - u n d übergesetzlichen Rchtsidee ist der Gedanke der Gleichheit." (Einf. i n die Rechtswissenschaft, Stuttg. 1958, S. 37.) seule 68

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

74

ousseaus

Monarchie wie für die Demokratie, ist ein Merkmal des Staatlichen schlechthin, wie Rousseau den Staat versteht. Diese Folgerung steht i m Widerspruch zu der oft vertretenen A n sicht, daß die Gleichheit das Prinzip der Demokratie sei und daß Rousseau mehr als jeder andere Theoretiker der Politik zur Klärung und Ausprägung dieses Zusammenhangs beigetragen habe. Eine Stütze finden solche Überlegungen anscheinend vor allem i n zwei massiven Äußerungen Rousseaus, i n denen er von der weitgehenden oder sogar vollständigen Gleichheit von Rang und Stand, Vermögen, von Sitten, Grundsätzen und Anlagen und schließlich von Rechten und der „Autor i t ä t " in der Demokratie spricht 70 . Die nähere Untersuchung dieser umfangreichen Liste von Gleichheiten ergibt indes folgendes Bild: Zunächst ein äußerliches Symptom: Rousseau hat i n den Kapiteln 4, 5 und 6 des I I I . Buches m i t der Demokratie, der Aristokratie und der Monarchie die drei klassischen Staats- bzw. Herrschaftsformen beschrieben, und zwar i n dieser Reihenfolge. Das Kapitel über die Demokratie ist das kürzeste, das über die Monarchie das umfangreichste. I n umgekehrtem Verhältnis zu der Länge der Abschnitte steht allerdings das Maß an Gleichheit, das den i n ihnen behandelten Staatsformen zugesprochen wird. Dieses Verhältnis ist kein Ergebnis des Zufalls. Die Monarchie ist für Rousseau der Staat der Gegenwart, das Endprodukt einer verderblichen Entwicklung. Dieser Staat ist i h m nahe, er kann i h n studieren, sezieren und seine Ansicht über i h n ausführlich darlegen und begründen. Die Aristokratie liegt i h m schon sehr fern: er kennt sie aus antiken Quellen und aus Berichten über die Indianer Nordamerikas. Die reine Demokratie schließlich hat i n der Geschichte überhaupt nicht existiert; sie gehört i n den Bereich des Mythischen oder Utopischen, ist eine Herrschaftsform für „ein V o l k von Göttern". Rousseau begreift die Staatsformen also zunächst einmal als Stadien einer Entwicklung. Da aber die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft für i h n grundsätzlich eine Entwicklung zur Ungleichheit ist, muß sich diese Tendenz auch i n den Staatsformen niederschlagen. Die eigentliche Untersuchung der Staatsformen ist natürlich eine theoretische, keine historische. Rousseau konzentriert sich auf das Verhältnis der Regierung (prince) zum Untertan. Die verschiedenen „formes de gouvernement" (also das, was w i r heute als Staats- oder Herrschaftsformen bezeichnen) unterscheiden sich nicht i m Wesen voneinander: die Regierung (als Prinzip) ist eine abgeleitete, untergeordnete Größe. Der Verwaltungskörper eines bestimmten Staates (corps du magistrat) kann jederzeit durch das Oberhaupt i n seiner Gestalt und 70

CS I I , 4 u n d I V , 3.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

75

Zusammensetzung verändert werden. Rousseau unterscheidet die „formes de gouvernement" lediglich nach dem Ausmaß, i n dem die Staatsbürger an der Regierung beteiligt sind: Wenn alle Staatsbürger Regierungsmitglieder sind (das Verhältnis Regierungsmitglied : Untertan also 1 ist „oder die Gleichheit selbst") oder wenn mindestens eine knappe Mehrheit von Staatsbürgern zur Regierimg gehört, dann handelt es sich u m Demokratie, — i m ersten Falle u m reine Demokratie m i t vollständiger „Gleichheit", i n den anderen Fällen u m abgeschwächte oder gemilderte Demokratie m i t mehr oder weniger starker (nach dem Maß der Verringerung des Quotienten Regierungsmitglieder : Untertanen) Tendenz zur Aristokratie und entsprechender Abnahme an „Gleichheit". Sind genau die Hälfte aller Staatsbürger an der Regierung beteiligt, so liegt eine undefinierbare (Übergangs-) Form zwischen Demokratie u n d Aristokratie vor. W i r d die Regierung von etwas weniger als der Hälfte aller Staatsbürger gebildet, so kann man bereits von Aristokratie sprechen. Eine „rigorose Gleichheit" brauche man hier nicht zu verlangen, meint Rousseau, denn nicht einmal i n Sparta habe es sie gegeben. Die Grenze zwischen Aristokratie und Monarchie läßt sich wiederum nicht genau bestimmen. Bei einer aus nur zwei Personen bestehenden Regierung kann es sich noch u m Aristokratie, es kann sich aber, da „selbst das Königtum einer Teilung fähig" ist, auch schon u m Monarchie handeln. Eindeutig ist nur, daß, wenn die Regierung i n den Händen eines einzigen ruht, es sich u m die monarchische Staatsform handelt. I n diesem Falle ist der die Gleichheit angebende Quotient unendlich klein geworden; von Gleichheit kann praktisch nicht mehr die Rede sein. Die „Distanz" zwischen dieser Regierung und dem V o l k ist nach der Meinung Rousseaus so gewaltig geworden, daß der Staat keinen festen Zusammenhang mehr haben kann. Wie die reine Demokratie, so ist aber auch die absolute Monarchie nur ein Produkt der Theorie; praktisch gibt es beide nicht: auch der Alleinherrscher (chef unique) braucht Verwaltungsbeamte, und durch diese w i r d das Verhältnis bereits wieder geändert (der Quotient vergrößert). Die herausgestellten drei Formen geben also nur die Grenzen an für eine Vielzahl von Möglichkeiten der Gestaltung von „le gouvernement". „ I n der Tat", so meint Rousseau, „kann die Regierung so viele Formen annehmen, wie der Staat Bürger hat" 7 1 . Es kommt hinzu, daß i n Wirklichkeit die Reinheit der Formen auch dadurch aufgehoben wird, daß innerhalb jedes Exekutiv-Körpers wiederum Abstufungen zwischen den i h m angehörenden Personen bestehen. Das ergibt sich schon aus der A r t der Ämter, m i t denen diese Personen betraut sind. 71

CS I I I , 3.

76

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

Es i s t k l a r , daß diese v i e l e n F o r m e n d e r H e r r s c h a f t n i c h t j e w e i l s auf ein bestimmtes Prinzip zurückgeführt werden können. Die mediatis i e r t e S t e l l u n g , d i e Rousseau d e r R e g i e r u n g als solcher z u w e i s t , schließt das v o n v o r n h e r e i n aus. D i e G l e i c h h e i t , v o n d e r i n dieser theoretischen A n a l y s e d i e Rede w a r , n u r deshalb z u m P r i n z i p d e r D e m o k r a t i e z u e r k l ä r e n , w e i l sie praktisch das g r ö ß t e M a ß a n V e r w i r k l i c h u n g findet u n t e r dieser F o r m des Staates, — dieser S c h l u ß e n t b e h r t j e d e r N o t w e n d i g k e i t u n d jeder Berechtigung, w i r d aber v o n manchem Rousseauinterpreten i n z u m T e i l erstaunlicher Unkenntnis der Zusammenh ä n g e gezogen 7 2 . Rousseau l e i t e t n i c h t d i e D e m o k r a t i e v o n d e r G l e i c h h e i t ab, s o n d e r n s t e l l t fest, daß e i n h o h e s M a ß a n G l e i c h h e i t d i e Folge d e r E i n f ü h r u n g d e r D e m o k r a t i e sei, w i e e i n geringeres M a ß a n G l e i c h -

72 A l s „repräsentativ" k a n n hier G. Leibholz gelten, der i n seiner Studie „ D i e Gleichheit v o r dem Gesetz" (2. A u f l . 1959, S. 27) einen Teil-Satz aus dem K a p i t e l „ D i v i s i o n des gouvernements", CS I I I , 3 i n einer Weise interpretiert hat, daß m a n sich fragen muß, ob er dabei den ganzen Rest des Contrat Social sorgfältig m i t einer A r t Leserost abgedeckt habe. — Leibholz geht davon aus, daß der Gleichheitsbegriff i m modernen Staate „seinen formalen Ausdruck i n der Allgemeinheit u n d Gleichheit der politischen Rechte", insbesondere i m Wahlrecht gefunden habe. Die Frage sei nur, i n welchem Maße m a n die Gleichheit bzw. das Wahlrecht einschränken könne, ohne den demokratischen Charakter eines Staates zu gefährden. D a m i t wendet L e i b holz sich Rousseau zu, der nach seiner Ansicht als das die Demokratie bestimmende M e r k m a l ein „absolutes K r i t e r i u m " genannt habe, nämlich die Z a h l der Stimmberechtigten. A l s Beweis f ü h r t Leibholz das Z i t a t „ l a démocratie peut embrasser tout le peuple, ou se resserrer jusqu' à l a moitié" an (hier nach dem T e x t der Ausgabe Garnier). Dieser Satz Rousseaus führe, so überlegt Leibholz, zu dem „offenbar unsinnigen Ergebnis", daß alle Staaten, i n denen mehr als die H ä l f t e der Staatsbürger zur Ausübung des Wahlrechts befugt sei, Demokratien genannt werden müßten, also etwa auch Sowjet-Rußland. E i n „absoluter Maßstab", w i e Rousseau i h n zur Entscheidung „über den Bestand des Gleichheitsprinzipes u n d damit über die E x i stenz der Demokratie" eingeführt hat, könne also dem geschichtlichen E n t wicklungsprozeß nicht gerecht werden. Leibholz hat i n seiner Deutung so ziemlich alle gängigen Fehlschlüsse u n t e r gebracht. Die „Gleichheit", v o n der Rousseau i m Zusammenhang m i t der zitierten Stelle spricht, ist nicht die Rechtsgleichheit, w i e Leibholz u n t e r stellt; auch irgendeine andere „Gleichheit" hat Rousseau aber nicht zum existentiellen Prinzip der Demokratie erklärt. Was Leibholz einen „absol u t e n Maßstab" nennt, der „über die Existenz der Demokratie" entscheide, ist lediglich ein Resultat i h r e r Konstituierimg. V o r allem aber ist unerfindlich, w i e Leibholz das aus dem K a p i t e l „ D i v i s i o n des gouvernements" stammende Zitat, das sich auf die Z a h l der „citoyens magistrats" bezieht, zu einem U r t e i l über den Staatsbürger als Glied des Souveräns umdeuten kann, denn n u r als solcher ist er j a ein „Stimmberechtigter". Dieses Recht des S t i m m abgebens hat n u n allerdings jeder Bürger i n jedem Staat uneingeschränkt, vgl. etwa n u r CS I V , 1 : „ . . . le simple droit de voter dans tout acte de souveraineté, droit que rien ne peut oter aux c i t o y e n s . . . " Die Verwechslung der exekutiven (von der Rousseau i m CS I I I , 3 spricht) m i t der legislativen F u n k t i o n der Bürger scheint übrigens die Quelle aller weiteren Fehlschlüsse zu sein. — Richtige V e r w e n d i m g des Zitats dagegen bei R. Michels, Z u r Soziologie des Parteiwesens i n der modernen Demokratie (Einl., 1. Kap.).

B. Die Konstruktion des Contrat Social

77

heit die Folge der Einführung der Aristokratie sei etc., — das ist w o h l ein Unterschied. Der die Demokratie konstituierende Vorgang ist, daß der Souverän m i t der Ausübung der Herrschaft „tout le peuple" oder J a plus grande partie du peuple" betraut, so daß es mehr „citoyens magistrats" als „citoyens simples particuliers" gibt. Aus dieser Betrauung ergeben sich erst die Gleichheiten, die oben bereits aufgezählt w u r den, insbesondere die Gleichheit an Rang und Autorität. N u r von diesen Gleichheiten ist i n den wiedergegebenen Ausführungen Rousseaus über die „formes de gouvernement" die Rede, nicht aber von der fundamentalen Rechtsgleichheit, die i n jeder Staatsform allen Bürgern auf Grund des „Contrat social" zusteht. Diese Tatsache bleibt aber — ebenso wie das gekennzeichnete Verhältnis von Ursache und Folge — oft unbeachtet. Viele Rousseauinterpreten kennen nur einen allgemeinen Gleichheits-Begriff, der inhaltlich i m wesentlichen auf die Rechtsgleichheit hinausläuft, wie sie i n den modernen Verfassungen zum Ausdruck gebracht ist. Sorglos w i r d angenommen, daß eine solche A r t von Rechtsgleichheit i n der Rousseauschen „Demokratie" ein besonders hohes Maß an V e r w i r k lichimg finde. Rousseau hat i m Kapitel über die Demokratie darauf hingewiesen, daß die Tatsache, daß i n der Demokratie Legislative und Exekutive vollständig oder sehr weitgehend identisch sind, dazu führt, daß der Volkskörper (also der Gesetzgeber) seine Aufmerksamkeit von den allgemeinen Zwecken abwenden muß, wenn er sie (in Ausübung der Exekutive) den besonderen Gegenständen zuwendet. Die daraus möglicherweise sich ergebende Berücksichtigung von Privatinteressen durch das Gesetz aber ist das schlimmste aller Übel, schlimmer als ein gelegentlicher Mißbrauch des Gesetzes. A u f die Frage: Warum? gibt der ganze „Contrat social" eine eindeutige A n t w o r t : Weil damit die Rechtsgleichheit beseitigt und der Bestand des Staates i n Frage gestellt wäre; weil, so sagt Rousseau an dieser Stelle, der Staat damit „ i n seiner Substanz verdorben" wäre. — Gerade die demokratische „Regierung" kann also — w e i l die Trennung der Gewalten nicht oder nur unvollkommen durchgeführt ist — der Rechtsgleichheit der Bürger sehr gefährlich werden. Noch eine andere Überlegung spricht eindeutig dagegen, daß Rousseau zwischen der Rechtsgleichheit und der Demokratie einen speziellen, besonders engen Zusammenhang gesehen habe. A n vielen Stellen des Contrat Social 73 w i r f t Rousseau die Frage nach der „besten" Staatsform auf, — die A n t w o r t ist immer die gleiche: grundsätzlich läßt sich das nicht entscheiden. Wie Montesquieu glaubt Rousseau an die Bedingtheit der Staatsformen durch die verschiedensten natürlichen Gegeben73

CS, I I , 11; I I I , 2, 3, 7, 9.

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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ousseaus

heiten. Jede Form kann, so sagt er, i n „gewissen Fällen die beste und i n anderen die schlechteste" 74 sein. Möglich ist es allerdings, i n jedem konkreten Falle zu entscheiden, ob ein V o l k gut oder schlecht regiert werde, denn dafür gibt es ein „einfaches Zeichen", das sich aus dem Zweck der politischen Vereinigung („la conservation et la prospérité") ableiten läßt: die Zunahme oder Abnahme der Bevölkerung. Dies festzustellen, ist eine Sache der Statistiker 7 5 . Rousseau führt also die Frage nach der besten Form des Staates auf die fundamentale Frage nach dem Zweck seiner Einrichtung zurück. Wenn er geglaubt hätte, daß die Rechtsgleichheit, die wichtigste Vorbedingung der Freiheit und damit von Erhaltung und Wohlergehen des politischen Gemeinwesens i n der Demokratie eine besonders weitgehende Verwirklichung und einen besonderen Schutz fände, dann müßte er diese Staatsform als die beste empfohlen haben. Das aber hat er nicht getan 78 . Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß Rousseau i n der Frage der verschiedenen Staatsformen wieder einmal die Mathematik bemüht hat. Die historisch-werthaften Momente der einzelnen Staatsformen sind i h m zwar gewärtig (er erwähnt beispielsweise die K r i t e rien, die für die Bestimmung der aristokratischen Regierung maßgeblich waren: Ansehen, Alter, Erfahrung), aber i n seinem aufklärerischen Drang zur Formalisierung und Arithmetisierung aller Gegebenheiten, i n seinem Bestreben, die allgemeinen „Prinzipien" zu finden, läuft doch manche Überlegung auf Zahlen u n d Zahlenrelationen hinaus. Der Vielfältigkeit der wirklichen Formen zeigt sich seine Methode zwar gewachsen; das nicht i n Zahlen Meßbare erfaßt sie nicht. So steht eine Unmenge ausgezeichneter Beobachtungen über die verschiedenen Staatsformen i n Gegenwart und Geschichte außerhalb seines Systems. Die Systematisierung der Geschichte — auch der Geschichte der Staatsformen — hat eben ihre Grenzen.

74

CS I I I , 3. s. CS I I I , 9. Es ist auch zweifelhaft, ob der Demokratie Rousseaus „Sympathie" gehörte, w i e Fetscher f ü r sicher hält (a. a. O., S. 155). — Die w o h l auf etwas Ähnliches hinzielende Aussage von Strauss, daß die Demokratie der Gleichheit des Naturzustandes näherkomme als irgendein anderes Regime, k r a n k t an dem grundsätzlichen Mangel an Differenzierungen: Was hat es schon f ü r einen Sinn, eine Relation zwischen den so verschiedenartigen „Gleichheiten" des Naturzustandes u n d des Gesellschaftszustandes aufzustellen! (Vgl. a.a.O., S.299). — I m Sinne unserer Interpretation auch F. Glum: „Rousseaus politische Schriften bieten keine A n h a l t s p u n k t e dafür, daß er eine bestimmte Staatsform empfiehlt" (Philosophie i m Spiegel etc., S. 253 f.). 75

76

B. Die Konstruktion des Contrat Social e) Staatsbürgerliche

79

Gleichheit und die Forderung

nach Gleichheit

„des ( < Gesetzes

Die Diskussion u m den A r t . 109,1 der Reichs Verfassung („Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.") i n der Weimarer Republik hat unseren Blick für eine Fragestellung besonders geschärft, die sich unter Vernachlässigung feinerer Verästelungen folgendermaßen wiedergeben läßt: Ist der Satz von der „Gleichheit vor dem Gesetz", der sich heute i n fast allen Verfassungen findet 77, nur ein Gebot zur gleichmäßigen Anwendung des Gesetzes oder zugleich auch eine Aufforderung an den Gesetzgeber, „gleiches" Recht zu schöpfen, sei es i m Sinne einer Anerkennung der rechtlichen Gleichwertigkeit aller Personen (d.h. des Verbotes von Unterscheidungen nach Rasse, Religion etc.) oder einer sachlichen relativen Rechtsgleichheit (d. h. des Verbotes aller ungerechtfertigten Unterscheidungen und Nichtunterscheidungen), — oder aber handelt es sich bei dem Gleichheitssatz nur u m eine Umschreibung eines bestimmten Gesetzesbegriffs? Die Rechtswissenschaft hat i n der Weimarer Zeit auf diesen Fragenkomplex keine einheitliche A n t w o r t zu geben vermocht, — welche A n t w o r t gibt J. J. Rousseau? Die gesetzgebende Gewalt ist an die Substanz des Gesellschaftsvertrages, an die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit gebunden, und zwar m i t ihrer Existenz, die sie nur aus der „sainteté du contrat" zieht 78 . Von diesem „vertragsgesicherten M i n i m u m " abgesehen gibt es für den Gesetzgeber allerdings keine Bindung, kein verbindliches Grundgesetz. Der striktesten Bindung i m Prinzipiellen steht also die weitgehendste Freiheit i n der Bestimmung und Ausgestaltung dessen gegenüber, was zur Erreichimg des Zweckes der Einrichtung des Staates notwendig ist. Diese ungeheure Spannung zwischen Bindung und Freiheit ist das eigentliche Wesensmerkmal des Rousseauschen Souveräns, der ein ganz anderes Profil zeigt als die entsprechenden Körperschaften nach den modernen Verfassungen, speziell auch als der „Gesetzgeber" der parlamentarischen Demokratie von Weimar m i t der verfassungsmäßig vorgesehenen Möglichkeiten des „Volksentscheids", d. h. also des Rückgriffs auf den eigentlichen Inhaber der gesetzgebenden Gewalt, der m i t dem Souverän identisch ist 7 0 . Der Rousseausche Souverän/Gesetzgeber hat eine Verantwortung und eine Kompetenz ganz 77

Vgl. Schmitt, Carl: Verfassungslehre, S. 154. s. CS I, 7. 79 Auch w e n n ein derartiger Rückgriff nicht vorgesehen ist, w i r d er von der öffentlichen Meinung, manchmal auch n u r v o n oppositionellen Gruppen, i n besonders bedeutsamen Fällen gefordert, sei es auch n u r i n der F o r m einer Neuwahl des Parlaments, die m i t der Erteilung eines speziellen M a n dats gleichgesetzt w i r d . I n solchen Erscheinungen zeigt sich die tiefe W a h r heit des Rousseauschen Arguments, daß der W i l l e nicht übertragbar ist. 78

80

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

anderer A r t , als man sie sich bei dem modernen Gesetzgeber vorzustellen i n der Lage ist. I h m gegenüber gibt es keinen Rückgriff mehr. Ist damit auch grundsätzlich die Frage nach der A r t der Bindimg des Gesetzgebers bei Rousseau beantwortet, so ist sie doch, was die Einzelheiten betrifft, durch den Hinweis auf den weiten Kompetenzbereich des Souveräns erst gestellt. Die Gleichheit, die der Staatsbürger durch den „Contrat social" erhält, ist grundsätzlich unantastbar, — wo aber ist die Grenze zwischen dem Grundsätzlichen und dem i n den Augen des Souveräns Verzichtbaren? Der Souverän Rousseaus befindet sich stets i n der Lage, eine Anzahl von Ansprüchen befriedigen zu müssen, die, wie weit sie auch inhaltlich voneinander abweichen, darin identisch sind, daß sie allgemeine Geltung beanspruchen. Denn niemand hat nach der Natur des Vertrages das Recht, etwas nur für sich zu verlangen. Der Souverän kann also völlig von den Personen absehen (und er muß es auch —) und die divergierenden Ansprüche nach dem Muster der arithmetischen Mittelbildung ausgleichen 80 . A l l e Ansprüche fallen so für den Souverän i n einen einzigen allgemeinen Anspruch zusammen: er kennt und anerkennt lediglich den „Körper der Nation" und seinen Willen. Das Gesetz, das er erläßt, ist nichts als der Ausdruck dieses, des „allgemeinen W i l lens"; seine Eigenschaft ist nicht Gleichheit (diese ist vielmehr die Relation der Untertanen zueinander i m Hinblick auf ihre Stellung dem Gesetzgeber und dem Gesetz gegenüber) sondern Allgemeinheit 1. Der „generelle Charakter", den ein Gesetz bei Rousseau haben muß, ist also seine Bezogenheit auf das Ganze, auf den „Körper der Nation". Dieser besteht, wie der organische Körper, aus durchaus ungleichen Teilen. Aus dieser Tatsache ergeben sich für Rousseau nun wichtige Folgerungen i n bezug auf die Grenze zwischen dem grundsätzlichen und dem verzichtbaren Teil der staatsbürgerlichen Gleichheit. Privilegien — sofern sie nur gesetzlich geschaffen sind — und sogar eine gesetzmäßige Festlegung verschiedener Klassen von Staatsbürgern erscheinen i h m als vereinbar m i t der fundamentalen staatsbürgerlichen Gleichheit. Das Gesetz verliert auch dadurch für i h n nichts von seinem 80

Vgl. CS I I , 3. Rousseau hat sich i n den K a p i t e l n 4 u n d 6 des I I . Buches des Contrat Social näher zu dem Begriff der „Allgemeinheit" geäußert. Was er i n K a p i t e l 4 über die „Allgemeinheit des allgemeinen Willens" sagt, wiederholt er fast w ö r t l i c h i n K a p i t e l 6 über die „Allgemeinheit" des Gesetzes. (Schon auf diese Weise zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen Gesetz und volonté générale.) I m m e r wieder taucht auch der Begriff „corps" auf, w e n n Rousseau den Adressat der Gesetze bzw. der „ A k t e der Souveränität" bezeichnen w i l l . Die „Allgemeinheit des Gegenstandes" des Gesetzes bedeute, so erklärt er seine Gesetzesdefinition, daß dieses die Untertanen als Gesamtheit („en corps") u n d die Handlungen als solche („comme abstraites") ins Auge fasse, keinen einzelnen Menschen u n d keine einzelne Handlung. 81

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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allgemeinen Charakter, daß es die Eigenschaften bezeichnet, nach denen die Bürger „klassifiziert" werden sollen. Dagegen darf das Gesetz nicht die Namen einzelner Privilegienempfänger nennen oder die Klasse für den einzelnen Staatsbürger angeben, denn „jedes Amtsgeschäft, das sich auf ein Einzelwesen bezieht, ist ein der gesetzgebenden Gewalt nicht zukommender Gegenstand" 82 . Privilegierungen und Klassifizierungen erfolgen also auf „gesetzlicher Grundlage" durch Verwaltungsakte. Der Staat Rousseaus ist also keine Gemeinschaft von Gleichen u m jeden Preis und i n jeder Hinsicht, er ist vielmehr eine organische Einheit, und es ist wie bei jedem Organismus selbstverständlich, daß Gliederungen der verschiedensten A r t vorkommen, unterschiedliche Funktionen, unterschiedlicher Wert, unterschiedliche Bewertung. Rousseau ist viel zu realistisch, als daß er dies übersehen oder vernachlässigen könnte. „Gleichheit — dieses Wort bedeutet nicht", so sagt er, „daß alle absolut denselben Grad an Macht und an Reichtum besitzen, sondern daß, was die Macht anbetrifft, diese nicht i n Gewalttätigkeit ausarte und nur kraft der amtlichen Stellung und der Gesetze ausgeübt werde, und daß, was den Reichtum angeht, kein Staatsbürger so reich sei, daß er sich einen anderen kaufen könnte und keiner so arm, daß er sich verkaufen müßte". Mächtige und Schwache, Reiche und Arme stören i n Rousseaus Vorstellung das Leben der politischen Gemeinschaft nicht. Die Gesetzgebimg soll nicht alle Unterschiede zwischen den Staatsbürgern beseitigen (was man Rousseau immer wieder vorwurfsvoll unterstellt hat—), sie soll keine „klassenlose" Gesellschaft schaffen, sondern sie soll die extremen Fälle beseitigen oder unmöglich machen, w e i l diese den Bestand des corps politique gefährden. „ W i l l man dem Staate Bestand geben", sagt Rousseau, „so muß man die extremen Punkte einander so weit wie möglich (autant q u ' i l est possible) nähern" 8 8 . So weit wie möglich — damit ist wohl eine bestimmte Tendenz angegeben, die den A k t e n von Gesetzgebung und Verwaltung innewohnt, aber es ist auch deutlich, daß es sich hier nicht u m kompromißlosen „Totalitarismus" handelt. Die Freiheit der einzelnen zum Erwerb von Gütern und die natürliche Neigung zur Verschaffung von Ansehen und Macht sollen nicht absolut beseitigt werden, — ein solches Unterfangen würde die Gesetzgebung i n einen tiefen Widerspruch zur „Natur der Sache" (hier also des Menschen) bringen, die i n den Überlegungen Rousseaus immer eine wichtige Rolle spielt. Durch die Gesetzgebung soll möglichen Entartungen vorgebeugt, sollen die Handhaben geschaffen werden, 82 88

CS I I , 6. CS I I , 11 A n m .

6 Hill

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I . T e i l : Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

gegen a l l e A u s w ü c h s e a n M a c h t d r a n g , R e i c h t u m s a n h ä u f u n g etc. m i t der ganzen M a c h t des Staates v o r g e h e n z u k ö n n e n . Z u m Z w e c k e d e r E r h a l t u n g des G e m e i n w e s e n s m u ß d e r S o u v e r ä n d e n f r e i h e i t l i c h e n B e t ä t i g u n g e n d e r B ü r g e r R a h m e n , M a ß u n d R i c h t u n g geben; er entscheidet ü b e r die Grenzen, d i e b e i dieser B e t ä t i g u n g e i n g e h a l t e n w e r d e n müssen. H i e r w i r d n u n auch d e u t l i c h , w e l c h e R o l l e d e n Sitten und Bräuchen, d e r E r z i e h u n g s f r a g e u n d schließlich auch d e r Bürgerlichen Religion z u k o m m t . D a d i e Gesetze r e i n r a t i o n a l e K o n s t r u k t i o n e n sind, d i e m e h r d e r R i c h t u n g s a n g a b e und B e g r e n z u n g d e r m e n s c h l i c h e n T ä t i g k e i t d i e n e n , ö f f n e t sich z w i s c h e n i h n e n e i n w e i t e r S p i e l r a u m , d e r d i e E n t f a l t u n g v o n S i t t e n u n d G e b r ä u c h e n — das e i g e n t l i c h e V o l k s l e b e n — e r m ö g l i c h t . S i t t e n u n d Gesetze b i l d e n z u s a m m e n eine O r d n u n g , i n der e i n E l e m e n t das a n d e r e s t ü t z t . W e d e r a u f d e r r a t i o n a l e n K o n s t r u k t i o n a l l e i n , n o c h aber auch a l l e i n a u f d e n l e b e n s v o l l e n „ F ü l l u n g e n " b e r u h t d i e G e s u n d h e i t u n d D a u e r eines Staatswesens, s o n d e r n a u f der „ i n n e r e n D u r c h d r i n g u n g " beider 84. Eine wichtige F u n k t i o n b e i der Schaffung 84 M a r t i n Rang hat i n seinem W e r k über „Rousseaus Lehre v o m Menschen" (Gött. 1959) auf einen F a l l v o n „Freizeitgestaltung" hingewiesen, den Rousseau als Muster f ü r ein „fröhliches Gemeinschaftsleben ohne jeden Zwang" schüdert. Es handelt sich u m die Bergbauern aus dem Neuenburgischen u n d ihre sinnvolle individuelle Beschäftigung i m W i n t e r m i t Lesen, Zeichnen, Musizieren, Psalmensingen etc. Rang sagt dazu: „Das also ist m i t der These gemeint, die rechte Regierung sorge dafür, daß das V o l k den Gesetzen nicht n u r gehorche, sondern sie liebe. Es heißt dies, daß Gesetz u n d Sitte eins w e r den; über beiden wacht mehr noch als der Gesetzgeber u n d Richter die »öffentliche Meinung', was w i e d e r u m nicht i n Analogie zur Massenpropaganda von Zeitung u n d R u n d f u n k zu verstehen ist, sondern etwa zur »Meinung 4 eines Dorfes über das, was sich schickt oder nicht schickt. Diese A r t von öffentlicher M e i n u n g soll der Staatsmann schaffen u n d bewahren helfen, w e i l sie, die als Wertmaßstab i n jedem Herzen verwurzelt ist, das eigentliche Ethos der Bürgerschaft bildet. Was Rousseau vorschwebt, ist also die innere Durchdringung v o n persönlicher Tugend, nationaler Sitte u n d staatlicher A u t o rität." (a. a. O., S. 152). J. L . Talmon, dessen „Origins of T o t a l i t a r i a n Democracy" jetzt auch i n deutsch erschienen ist, sieht die Dinge v ö l l i g anders. E r glaubt, daß es das Z i e l der Gesetzgebimg sei, „ t o create a new type of man, a purely political creature, w i t h o u t any particular private or social loyalities, any p a r t i a l interests, as Rousseau w o u l d call t h e m " (a.a.O., S.42). Durch geschicktes Arrangieren v o n Z i t a t e n u n d durch Auslassen des Unpassenden k a n n m a n schließlich m i t Rousseau alles b e w e i s e n . . . Auch J. W. Chapman — so sehr er T a l m o n grundsätzlich widerspricht —, sieht i n den „Gemeinschaftsgefühlen" u n d besonders der Bürgerlichen Religion totalitäre Züge: „ T h e t o t a l i t a r i a n aspect of Rousseau's political theory lies i n his proposals for intensifying social sentiment. I n particular, his proposal for a c i v i l religion is w i d e l y regarded as the manifestation of a t o t a l i t a r i a n orientation" (a. a. O., S. 85 f.). Dieser allgemeinen Ansicht schließt sich Chapman an: „ T h e purpose of the c i v i l religion m a y be to perserve man's political freedom, b u t i t is a means w h i c h destroys his m o r a l freedom and dignity. This is surely sufficient to make i t totalitarian." („RousseauT o t a l i t a r i a n or Liberal?", S. 86.)

B. Die K o n s t r u k t i o n des Contrat Social der E i n h e i t v o n S i t t e u n d Gesetz h a t d i e Erziehung:

83

sie m u ß d i e „ L i e b e ,

Hingabe u n d Begeisterung" der Bürger f ü r die A u f g a b e n der Gemeinschaft w e c k e n 8 6 . Ä h n l i c h e A u f g a b e n h a t auch d i e religion erfüllen:

sie s o l l d i e B e r e i t s c h a f t

z u m L e b e n i n der

civile

zu

Gemeinschaft

fördern 86. D a m i t i s t n u n auch d i e a m A r t . 1 0 9 , 1 R V e n t w i c k e l t e F r a g e s t e l l u n g , d i e w i r , o h n e d i e V e r s c h i e d e n a r t i g k e i t d e r V o r a u s s e t z u n g e n außer acht z u lassen, f ü r d i e I n t e r p r e t a t i o n des „ C o n t r a t s o c i a l " f r u c h t b a r z u m a c h e n suchten, b e a n t w o r t e t . D i e G l e i c h h e i t d e r S t a a t s b ü r g e r i s t b e i Rousseau das E r g e b n i s e i n e r g r u n d l e g e n d e n p o l i t i s c h e n Entscheid u n g , d i e nicht b e i n h a l t e t , daß d e r Gesetzgeber z u r S c h ö p f u n g „ g l e i chen" Rechtes i n i r g e n d e i n e r F o r m v e r p f l i c h t e t w ä r e . D e r S o u v e r ä n h a t i m G e g e n t e i l e i n e n f ü r m o d e r n e V o r s t e l l u n g e n (die a u f die P r o k l a m i e r u n g v o n „Menschenrechten" zurückgehen) außerordentlich groß e n B e r e i c h f r e i e r E n t s c h e i d u n g . E r k a n n i m Interesse des Ganzen, das a l l e i n er w a h r z u n e h m e n h a t , e i n z e l n e G l i e d e r o d e r G r u p p e n v o n G l i e d e r n b e l a s t e n o d e r i h n e n V e r g ü n s t i g u n g e n g e w ä h r e n . Insbesondere d i e B e f u g n i s z u r S c h a f f u n g v o n Klassen erscheint als m i t d e m G l e i c h h e i t s g e d a n k e n des „ C o n t r a t social" fast u n v e r e i n b a r . O b sich Rousseau 86 Rang über die „politische Erziehung": „ D e r Staat, w i e i h n Rousseau sieht, hat zwei Seiten: eine rationale u n d eine emotionale. Er ist ein k u n s t volles Gebilde, dessen Mechanismus Rousseau i m Contrat Social beschreibt; aber er ist auch ein Gegenstand der Liebe, Hingabe u n d Begeisterung u n d könnte ohne die patriotische Tugend seiner Bürger nicht bestehen. U n d so hat denn auch die Regierung zwei Aufgaben: eine politische, w i e Gesetzgebung, V e r w a l t u n g usw., (Rang n i m m t es hier m i t der Terminologie nicht so genau) u n d eine pädagogische, nämlich die Erziehung der Staatsbürger. Diese Erziehung besteht demnach i n erster L i n i e i n der B i l d u n g der p o l i tischen Gefühle: Liebe zur Freiheit, zur Tugend, z u m Gesetz." (a. a. 0.,S. 147). 86 Das eigentliche Charakteristikum des „Glaubensbekenntnisses" u n d die F u n k t i o n der „ r e l i g i o n civile" ist, daß es sich dabei u m „sentiments de sociabilité", u m Ansichten, Meinungen handelt, die — kodifiziert — die Bereitschaft z u m Leben i n Gemeinschaft fördern sollen. Die deutschen Übersetzungen von „sentiments de sociabilité" sind oft wenig treffend. So heißt es bei Denhardt (Reclamausgabe) „allgemeine Ansichten" (S. 193), Fetscher w ä h l t „Gefühle der Geselligkeit" (S. 190), Sakmann ( K r ö ners T A Bd. 85) „soziale Gesinnung" (S. 290). — Diese wenigen Proben zeigen das ganze Dilemma. Ob m a n n u n „sentiments" m i t „Ansicht/Meinung" oder „ G e f ü h l " wiedergibt, ist noch nicht so wichtig, o b w o h l ersteres, w i e sich aus dem sachlichen Gehalt der „sentiments" ergibt, vorzuziehen ist. Ernster aber w i r d es bei „sociabilité", das allgemein mehr i n der Richtung v o n „société" übersetzt w i r d , wobei sich der Bedeutungsakzent v o n dem verbalen V o r gang („sociabilité" ist das substantialisierte Verb sociabiliser = gesellig machen) auf das Ergebnis (Gesellschaft, Geselligkeit oder gar „ A l l g e m e i n heit") verschiebt. Durch Unterschlagung des charakteristischen Suffixes (lat. „bilis") w i r d der eindeutige Sinn der Rousseauschen Prägung verfälscht, die gerade auf das Vorgangartige, Dynamische zielt: die „sentiments" sollen „ f i t " machen f ü r das Leben i n staatlicher Gemeinschaft. ( „ F i t t e d for companionship, ready and Willing to converse, not averse to s o c i e t y . . . " , definiert m i t unüberbietbarer Präzision das „ O x f o r d D i c t i o n a r y " die Wörter „sociable" u n d „sociability").

6*

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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dabei der Herrschaftsordnung seiner Vaterstadt Genf erinnert hat, wie Fetscher annimmt 8 7 , oder ob er an antike Vorbilder, etwa den Staat Piatons, denkt, mag dahingestellt bleiben. Eine Klassifizierung der Bevölkerung ist jedenfalls als ein reines Nebeneinander kaum denkbar, sie muß zwangsläufig zu irgendeiner A r t von hierarchischer Gliederung führen. Wenn Rousseau, dem diese Konsequenz nicht entgangen sein kann, die Klassenschaffung dennoch i n das Ermessen des Souveräns stellt, so w o h l n u r deshalb, w e i l er eine solche Ordnung für die stabilste, für die den „Menschen, wie sie sind" (also den nach Reicht u m und Anerkennung strebenden Menschen der schon verdorbenen Gesellschaft, m i t denen er praktisch doch immer wieder rechnet, auch wenn er seinen „Contrat social" unmittelbar an den Naturzustand anschließt) angemessenste hielt, und er beruhigt sich damit, daß persönliche Abhängigkeiten auch durch Klassengruppierung nicht bewirkt werden könnten: alles geschehe auf Grund von Gesetzen; was herrsche, sei das Gesetz, nicht Menschen. — I m übrigen muß erwähnt werden, daß Rousseau diese Überlegungen nicht i m Zusammenhang m i t den Ausführungen über die Staatsformen gemacht hat. Das heißt, es kann Klassengruppierungen i n Monarchien wie auch i n Demokratien geben. Wenn allein die gesetzliche Grundlage zur Rechtfertigung aller A n ordnungen einer Regierung zu dienen vermag, dann muß allerdings absolut sichergestellt sein, daß nur von dieser Grundlage aus gehandelt wird. Nur die Beschlüsse des ganzen Volkes sind ausschlaggebend und verbindlich, und sie sind es für alle 88 . Die Anwendung des Gesetzes hat also streng nach dem Prinzip der Gleichheit der Staatsbürger zu erfolgen. Sie liegt i n der Hand der Regierung, der damit eine Aufgabe zufällt, die ebenso wichtig für die Erhaltung des Gemeinwesens ist wie sie andererseits zur Ursache seines Verfalls werden kann. Rousseau hat eine ganze Reihe von Kapiteln darauf verwendet 8 9 , die Gefährdung des Staates durch den Mißbrauch der Regierungsgewalt zu charakterisieren. Ständig unternehme die Regierung Anstrengungen, u m die Macht des Souveräns an sich zu reißen, und zwar i n der Regel so, daß sie ihre Tätigkeit nicht mehr nach den Gesetzen ausübe. Das wirksamste M i t t e l zur Festigung der Autorität des Souveräns und dam i t der gesetzgebenden Gewalt, „die das Herz des Staates" sei und überhaupt die einzige Macht, die der Souverän habe, seien, so meint 87

Fetscher, a. a. O., S. 131. „ D a die Staatsbürger durch den Contrat social alle gleich sind, können alle auch vorschreiben, was alle t u n sollen, u n d keiner darf verlangen, daß ein anderer etwas tue, was er selbst nicht auch t u t . Gerade diese zur Beleb i m g u n d Bewegung des Staatskörpers unentbehrliche Recht ist es eigentlich, das der Souverän der Regierung b e i ihrer Einsetzimg verleiht." (CS I I I , 16). 89 CS I I I , 10—14. 88

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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Rousseau, periodische, unvertagbare und unabschaffbare Volksversammlungen, auf denen regelmäßig sowohl über die Beibehaltung der gegenwärtigen Regierungsform als auch über die Verlängerung des Regierungsauftrags an die gegenwärtig Regierenden entschieden werden müsse. Wenn das V o l k als „corps souverain" auftrete, ruhe die Jurisdiktion der Regierimg, die Exekutive sei suspendiert und „die Person des geringsten Bürgers ist ebenso heilig und unverletzlich wie die des höchsten Regierungsbeamten"* 0 . M i t anderen Worten: Durch die Versammlung des Volkes w i r d die Gleichkeit der Staatsbürger i n ihrer fundamentalen Bedeutung realisiert und demonstriert. Der einzelne erscheint als Glied des Souveräns und übt sein unentziehbares Recht aus: bei der Gestaltung der volonté générale mitzuwirken; mitzubestimmen, was als Gesetz gelten, für i h n verbindlich sein soll 01 .

9. Der Gesetzgeber: Kritik und Deutung Gelegentlich w i r d i n der neueren Literatur die Ansicht geäußert, daß im Staate Rousseaus einzelne Personen oder Gruppen von Personen ohne Verletzung des „Contrat social" oder sogar unter Berufung auf i h n durchaus i n der Lage seien, die Gesetzgebung und damit die souveräne Gewalt an sich zu reißen. Zuweilen findet man diese Ansicht auch i n der Variante, daß Rousseaus System diese Möglichkeit nicht offen und eindeutig, sondern nur i n implizierter Form aufweise; erst die historischen und theoretischen Weiterentwicklungen der Rousseauschen Lehre hätten diese Möglichkeiten m i t sich gebracht. Man stützt sich bei Auslegungen dieser A r t auf die Ausführungen Rousseaus über den „Gesetzgeber" und auf einige Stellen am Schluß des Kapitels „Über das Gesetz", wo u. a. von Führern (guides) die Rede ist, — gewiß ein Wort, das durch die geschichtlichen Ereignisse i n unserem Jahrhundert einen fatalen Klang bekommen hat. Einer unvoreingenommenen Betrachtung der Gedanken Rousseaus sind solche Assoziationen jedoch offensichtlich sehr hinderlich; sie können zu völlig ungerechtfertigten Rückschlüssen führen. I n den erwähnten Passagen handelt es sich darum, das Gesetz inhaltlich näher zu bestimmen. Rousseau hatte zunächst das Zustandekommen und die wesentlichen Merkmale der Gesetze erklärt und schließlich das Ziel aller Gesetzgebung fixiert. N u n lehrt aber die Geschichte (und m i t diesem Gedanken wendet sich Rousseau von der reinen Theorie ab), lehrt der unaufhörliche Zerfall der Staaten und 90

CS I I I , 14. „ . . . le simple droit de voter dans tout acte de souveraineté, droit que rien ne peut oter aux citoyens" (CS I V , 1). 81

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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Kulturen, daß dieses Ziel (nämlich der dauernde Bestand und das Wohlergehen der politischen Gemeinschaft) schwer oder gar nicht zu erreichen ist. Wie soll ein Volk — das Rousseau i n diesem Zusammenhang eine „blinde Menge" nennt — die Voraussicht des Notwendigen haben, wie ein Unternehmen von derartiger Schwierigkeit, wie es die Gesetzgebung darstellt (und zwar, daran scheint Rousseau vor allem zu denken, der Grund- bzw. Verfassungsgesetzgebung), durchführen? Wenn man sich den theoretisch reinen Fall des eben „vergesellschafteten" Volkes vorstellt, dessen Glieder bislang völlig isoliert lebten, dann erscheint die Lösung der Aufgabe gänzlich unmöglich. Doch hat Rousseau an dieser Stelle anders argumentiert. Die Bürger, so sagt er, sind zwar als einzelne i n der Lage, das Gute (d.h. das für alle Gute) zu erkennen, aber sie machen es — w e i l eben ihre Natur nach Vorzügen strebt — nicht zum Gegenstand ihres Wollens. Es kommt hinzu, daß ein augenblicklicher, naheliegender und deshalb unverhältnismäßig stark sich ins Bewußtsein drängender Vorteil die möglicherweise damit verbundenen, aber erst für später zu erwartenden Nachteile und Gefahren verblassen läßt und so den einzelnen zu einer falschen Entscheidung veranlaßt. Wenn aber die einzelnen i h r Interesse nicht auf das allgemeine Wohl richten, dann kann ein allgemeiner Wille nicht zustande kommen. Deshalb sind Führer notwendig, die die richtigen Verhältnisse zwischen den Dingen sichtbar machen, die über ein klares Urteil verfügen und den allgemeinen Willen vor der Verführung durch den W i l l e n einzelner bewahren; sie müssen die einzelnen Bürger dazu bringen (obliger), daß sie ihren Willen m i t ihrer Vernunft (die ja das Gute durchaus erkennt) i n Übereinstimmung bringen und auf diese Weise dem Träger des allgemeinen Willens die Erkenntnis des jeweils für die politische Gemeinschaft Richtigen und Notwendigen vermitteln. Die Führer müssen dem Souverän die Dinge so zeigen, „ w i e sie sind, bisweilen so, wie sie i h m erscheinen sollen", — d. h. sie müssen unbeeindruckt durch die Vielfalt der Anforderungen und Bedürfnisse des Tages und der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten des Gegenwärtigen das heute und immer für das Gemeinwesen Wichtige und Richtige erkennen und den Souverän auf dieses und nur dieses hinweisen; ihre Weisheit muß die Entscheidungen des Souveräns vorbereiten. Die oberste Entscheidungsgewalt ist damit keineswegs i n Frage gestellt: Entscheidung und Inhalt der Entscheidung sind zweierlei. Nachdem Rousseau das Problem i n der vorgeführten Weise umrissen hat, schließt er das Kapitel (II, 6) m i t der lapidaren Bemerkimg: „Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Gesetzgebers." Das, was Rousseau ganz allgemein zunächst die „guides" genannt hat, sind also konkret die „législateurs", sind die großen Gesetzgeber, von denen die

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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Geschichte berichtet und deren einige Rousseau an verschiedenen Stellen des Contrat Social nennt: Moses, Minos, Lykurg, Solon, Numa, Servius Tullius, Mohammed, Calvin. A n sie hat Rousseau die ganze Zeit gedacht, als er von den Aufgaben der „guides" berichtete; schon ihre Namen machen deutlich, wie wenig sie m i t den modernen sogenannten „Führern" zu t u n haben. Die nähere Bestimmimg des Charakters und der Funktionen des Gesetzgebers, die Rousseau i m 7. Kapitel des I I . Buches vornimmt, sollte vollends jedes Mißverständnis ausschließen. Allein, das Nichtverstehen beginnt schon viel früher, nämlich bei den ersten Andeutungen Rousseaus über die Notwendigkeit einer Lenkung des allgemeinen Willens. WTenn Rousseau sagt, daß man der volonté générale die Dinge manchmal so zeigen müsse, wie sie i h r erscheinen sollen, dann heißt das, wie der Zusammenhang zweifelsfrei erweist, daß die Weisheit des Gesetzgebers (der, genauer gesagt, der Gesetzes-Verfasser ist) dem Volk bei seiner Entschlußfassung beistehen soll etc., und es heißt nicht, — wie viele der modernen Interpreten Rousseaus m i t unüberhörbarem Triumph konstatieren —, daß dem V o l k etwas vorgegaukelt, daß es betrogen werden soll. Daß die Position des Gesetzgebers auch von einem Hochstapler vorübergehend eingenommen werden kann, weiß Rousseau selbstverständlich; er ist aber überzeugt, daß jede Täuschung des Volkes, daß jedes Arbeiten m i t „plumpen M i t t e l n " und „nichtigen Gaukeleien" nicht zur Gründung eines Reiches, sondern zur Ansammlung eines Haufens von Narren führt und daß ein solches Werk m i t seinem Gründer bald zugrunde geht. Wenn Rousseau also auch keine absolute Sicherung (einige Sicherungen nennt er durchaus) dagegen weiß, daß das Volk verführt werden kann — u n d wer wollte heute behaupten, daß derartige absolute Sicherungen überhaupt denkbar wären? —, so hat er doch auch keineswegs blindlings Positionen der Verführung und Verfälschung des allgemeinen Willens geschaffen oder gar empfohlen. Das Auftreten von Gesetzgebern ist eine geschichtliche Tatsache 02 ; wenn Rousseau die Notwendigkeit solcher „ i n jeder Beziehung außerordentlichen" Personen erkennt und sie i n seine Darstellung einordnet, so weist er doch auch deutlich darauf hin, daß das A m t des Gesetzgebers völlig außerhalb seiner Staatskonstruktion steht 03 , daß es vor allem m i t keinerlei Macht, Befehlsgewalt oder Gesetzgebungsrecht verbunden sei oder sein könne. 02 Das hat z . B . Fetscher v ö l l i g verkannt, der Rousseaus Gesetzgeber eine „ H i l f s k o n s t r u k t i o n " nennt, die, so meint er, „notwendig wurde, w e i l Rousseau es ablehnte, eine spontane u n d natürliche Entstehung der gerechten politischen Gesellschaft ins Auge zu fassen", (a. a. O., S. 144). 93 „Ce n'est point magistrature, ce n'est point souveraineté. Cet emploi, q u i constitute l a république, n'entre point dans sa constitution; c'est une

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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Wie Talmon diesen eindeutigen Zusammenhang so mißverstehen kann, daß als Tätigkeit der „Führer" nur „Einschüchterung", „Wahltricks", das „Organisieren spontaner Volksäußerungen", Einbringen von „Petitionen" durch „Aktivisten",,, Drohkampagnen" etc. übrigbleibt, ist rätselhaft 04 . Talmon behauptet, daß Rousseau für alle Entscheidungen der volonté générale „Einstimmigkeit" postuliere, daß die „Führer" durch die zitierten M i t t e l diese Einstimmigkeit herbeizuführen hätten und daß diese Konstellation „kein Entrinnen von der Diktatur" zulasse, so daß Rousseau also „die enge Beziehung zwischen der zum Extrem geführten Volkssouveränität und dem totalen System" klar demonstriere. Abgesehen davon, daß Rousseau die Einstimmigkeit lediglich für den Abschluß und die Auflösung des „Contrat social" fordert und i n allen anderen Fällen (also bei jedem Gesetzl) m i t mehr oder weniger großer Mehrheit des Abstimmungsergebnisses zufrieden ist, so daß also der Talmonsche Ansatz schon von der Quelle her getrübt ist —: Talmon w i l l hier zwischen Literarisch-Theoretischem und der gewordenen Geschichte Beziehungen, j a sogar unabänderliche kausale Verknüpfungen herstellen, die es nun einmal nicht gibt. Auch wenn Talmon von einer zutreffenden Interpretation ausginge, wenn die „implication (!) of dictatorship" mehr als nur Mißverständnis oder Verfälschung wäre, entbehrte doch die Folgerung „no escape from dictatorship" jedes geschichtlichen Sinnes 95 . Anlaß zu vielen Mißverständnissen hat auch der folgende (oben bereits gedeutete) Satz Rousseaus gegeben: „Les particuliers voient le bien qu'ils rejettent; le public veut le bien q u ' i l ne voit pas 96 ." Hier handelt es sich, wie gesagt, einmal u m die Staatsbürger als einzelne, einmal u m die Gesamtheit bzw. wörtlich hier „Öffentlichkeit". Die Worte „particulier" und „public" sind durch vielfachen Gebrauch i m Contrat Social eindeutig determiniert. Rousseau spricht von der „volonté particulière", vom „intérêt particulier", vom „bien particulier" etc. immer i m Gegensatz zur „volonté générale", zum „intérêt commun", zum „bien général", „bien commun", „bien public" 67, und es gibt keinen Anlaß für die Annahme, daß Rousseau i n dem oben fonction particulière et supérieure q u i n'a r i e n de commun avec l'empire h u m a i n . . ( C S I I , 7). 94 Talmon, J. L.: Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln/Opl. 1961, S. 42 (in der engl. Originalausgabe S. 46). Weder aus Talmons Darstell u n g (im Deutschen gleichviel w i e i m Englischen) noch aus den summarischen A n m e r k u n g e n geht eindeutig hervor, ob m a n es bei dieser Passage m i t einfacher Wiedergabe Rousseauscher Gedanken oder m i t deren I n t e r pretation durch Talmon oder durch die Jakobiner zu t u n haben soll. 05 Talmon, ebd.

96 Qg JJ ß^

97

Siehe V o r allem CS I I , 1 u n d CS I V , 1.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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zitierten Satz etwas anderes als diesen für sein ganzes System grundlegenden Gegensatz zwischen dem einzelnen (schlechthin) und der Gesamtheit i m Auge hätte. Leo Strauss verwischt diesen Gegensatz, wenn er aus den particuliers „aufgeklärte Individuen" macht 98 , also aus der Kategorie der A l l h e i t (denn die particuliers sind bei Rousseau eben alle einzelnen) eine solche der Vielheit (im Sinne Kants) macht; der gleiche I r r t u m findet sich verstärkt bei Fetscher, der die Ansicht vert r i t t , daß Rousseau unter den einzelnen „hier nur die wenigen meinen (könne), die an Macht und Reichtum ebenso wie an Verstand die Masse überragen". Und konsequent heißt es dann weiter: „Wenn Rousseau hier von »public' (der Öffentlichkeit) spricht, so meint er damit die Masse der kleinbürgerlichen Bevölkerung, die wegen ihrer mangelnden ,Aufgeklärtheit 4 zwar leicht getäuscht werden kann, aber doch — w e i l sie sich noch nicht so weit vom Stande der Unschuld und Gleichheit entfernt hat — stets das Gute für die Gemeinschaft w i l l . " (a. a. O. S. 136.) — Wie kommt es zu dieser ebenso phantastischen wie das Wesentliche des Rousseauschen Gedankens verkennenden Interpretation? Nun, Fetscher glaubt entdeckt zu haben, daß der zitierte Rousseau-Satz so etwas wie eine Vorwegnahme der Lehre von K a r l Marx sei — „ohne daß man Rousseau für diese Nachkommenschaft verantwortlich' machen dürfe", wie er vorsichtig hinzufügt. So deutet er dann Rousseau m i t Hilfe von M a r x und wendet das Ergebnis der Rousseau-Interpretation noch einmal auf M a r x an, wobei Rousseaus „particuliers" m i t einem „Teil der Bourgeosie" (der bei M a r x das Gute sieht, ohne es zu wollen) gleichgesetzt wird, während aus Rousseaus „public" das Marxsche „Proletariat" w i r d (das das Gute w i l l , ohne es zu erkennen) und aus dem „Gesetzgeber" schließlich die „Partei". M i t solchen Assoziationskünsten ist weder M a r x noch Rousseau gedient. Auch Talmon hat, w o h l von einem ähnlichen Drang der Konstruktion von Abhängigkeiten und Verbindungslinien getrieben (und ohne wie Fetscher die „Verantwortlichkeit" auszuschließen), Rousseaus Gesetzgeber auf eine A r t Partei reduziert. Nach seiner Auslegung des Contrat Social ist „denjenigen, die behaupten, den wahren und endgültigen Willen der Nation zu kennen und zu repräsentieren, der Partei der Avantgarde" (Roussseau hat wieder und wieder ausgesprochen, daß der Wille nicht Übertrag- und vertretbar sei und nur vom Ganzen, vom Souverän zum Ausdruck gebracht werden könne, Anm. d. Verf.) ein „Blankoscheck (gegeben), i m Namen des Volkes zu handeln ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Willen des Volkes". Talmon verfällt auf den Trick, diese „Partei der Avantgarde" — die er auch „das wahre Volk" und („richtiger", wie er sagt) die „Führerschaft" nennt — und 98

Strauss, a. a. O., S. 299.

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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ihren „ A k t des Aufstandes" m i t den „Volksversammlungen" Rousseaus und dem Geschehen auf diesen Versammlungen gleichzusetzen, so daß er dann an und m i t den Volksversammlungen etwas für seine Avantgarde „beweisen" kann. Es kommt hinzu, daß er fälschlicherweise als (automatische) W i r k u n g der Volksversammlungen auch noch die Aufhebung „aller bestehenden Gesetze und Institutionen" annimmt, wovon nicht die Rede sein kann. Rousseau empfiehlt i m Gegenteil für die Auflösung der Regierung, die durch die Volksversammlungen möglich ist, alle nur denkbare Vorsicht, die „Beobachtung aller gebotenen Förmlichkeiten", und zwar, wie er sagt, „ u m einen ordnungsmäßigen und legitimen A k t von einem aufrührerischen T u m u l t zu unterscheiden und den Willen eines ganzen Volkes vom Geschrei einer Partei. Hier darf man vor allen Dingen den widerwärtigen Lagen nicht mehr nachgeben, als man es ihnen gegenüber nach der ganzen Strenge des Rechtes muß, u n d es ist eben diese Verpflichtung, aus der die Regierung einen großen Vorteil zieht, u m ihre Macht auch wider den W i l l e n des Volkes zu bewahren . . . " " Das ist (mutatis mutandis) ein ähnliches Element der Stabilität, wie es etwa die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland m i t dem „konstruktiven Mißtrauensvotum" vorsieht: es soll eben nach dem Willen Rousseaus allen „schreienden Gruppen", allen nach Macht drängenden Minderheiten (der „Avantgarde", wie Talmon sagen würde) der Weg zur Macht verbaut werden, es soll nur dann von der Volksversammlung eine neue Regierung bestimmt werden, wenn es sich nach sorgfältiger, strenger Prüfung herausgestellt hat, daß dies wirklich dem Willen des ganzen Volkes oder doch der überwiegenden Mehrheit desselben entspricht. Es ist besser (so argumentiert Rousseau), die bisherige, vielleicht schon ein wenig aufsässige und ihre Befugnisse überschreitende Regierung bleibt i m Amte, als daß einer schreienden „Avantgarde", die auf jeden Fall eine Minderheit darstellt, das A m t der Regierung überlassen w i r d . Es kann also keine Rede davon sein, daß Rousseau — bewußt oder imbewußt — „totalitären" Entwicklungen den Weg geebnet hätte, es gibt keine offenen Stellen i n seinem Plan, die jederzeit von revolutionären Gruppen besetzt werden könnten. Das ganze 18. Kapitel des CS, i n dem Rousseau über die „Mittel, den Usurpationen der Regierung vorzubeugen" handelt, hat eher ein wenig konservative Züge, denn der Sicherheit des Bestehenden w i r d — wenn auch nicht i n der Befolgung von Regeln des Rechts, sondern i n Anwendung einer „maxime de politique" — ein Teil der politischen Substanz geopfert. Erst wenn die Regierung oder die Regierungsform „incompatible avec le bien 99

CS I I I , 18.

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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public" ist, muß die Volksversammlung eingreifen. Damit befinden w i r uns wieder auf dem eigentlichen Fundament der Überlegungen Rousseaus: Dem Gemeinwohl, also der Erhaltung und dem Gedeihen der politischen Gemeinschaft, sind alle Einzelregelungen unterzuordnen; wenn das Recht schon keine Verhaltensvorschrift mehr liefert, sagen die aus der Erfahrimg gewonnenen politischen Grundsätze, was zu tun ist. Ähnlich wie Talmon spricht auch Möbus davon, daß Rousseau es „einem Einzelnen oder einer Minderheit ermöglichte (durch seine „Ideologie des politischen Kollektivs", wie Möbus es nennt), sich als Vollstrecker des »allgemeinen Willens 4 zu verstehen, obwohl dem offener Widerspruch und Widerstand i n der Gesamtgesellschaft entgegenstand". Dies und die „Erhöhung des Politischen i n den Rang des Religiösen", die Möbus offensichtlich von Erdmann 100 übernimmt, deute schon ( „ i n der vagen D i k t i o n mancher Stellen") „die moderne Mythisierung der Politik an" 1 0 1 . Alle diese Konstruktionen, die letzten Endes einem eigenartigen — teils seelischen, teils politischen — Bedürfnis unserer Zeit ihre Entstehung zu verdanken scheinen, — einer Zeit, die die eigenen Sünden durch den Nachweis ihrer hereditären Bedingtheit zu relativieren versucht —, beruhen auf falschen Prinzipien und stehen, schaut man nur etwas näher hin, auf nur allzu schwachen Füßen. Da werden Zusammenhänge zerrissen, da werden einzelne Wendungen oder gar Wörter m i t Bedeutung aufgeladen oder der Bedeutung beraubt, da werden selbst aus „vagen Diktionen" wichtige Schlüsse gezogen, und schon erkennt der Leser, daß es von Rousseau bis Marx, von Rousseau bis Hitler nur ein Schritt ist, daß Rousseaus Staatskonstruktion die Elemente des Totalitären, des Ideologischen und des Mythologischen bereits enthält 1 0 2 . 100 Erdmann, K . D.: Das Verhältnis von Staat u n d Religion nach der Sozialphilosophie Rousseaus (== Hist. Studien, H. 271) B e r l i n 1935. 101 Möbus, G.: Die politischen Theorien i m Zeitalter der absoluten M o n a r chie bis zur Französischen Revolution ( = Die Wissenschaft v o n der P o l i t i k , Bd. 8) Köln/Opl. 1961. 102 Wieviele Quellen zusammenströmen u n d welcher A r t die historische Konstellation sein mußte, u m e t w a ein Phänomen w i e die Mythologisierung der P o l i t i k zu bewirken, hat i n unvergleichlicher Weise E. Cassirer gezeigt („Vom Mythus des Staates", Z ü r i c h 1949). — Über den geistigen „Zusammenhang" zwischen der Lehre Rousseaus, der Französischen Revolution u n d den modernen D i k t a t u r e n (etwa Hitlers) sagt — ganz i m Sinne der hier v e r tretenen Auffassung — Gerhard Ritter: „ M i t alledem (d. h. den v o n R i t t e r aufgewiesenen analogen Zügen der drei genannten Phänomene) soll natürlich nicht gesagt sein, die Einparteienstaaten des 20. Jahrhunderts w ä r e n als verspätete Nachzügler der großen Französischen Revolution zu betrachten oder gar: sie lebten aus dem Geiste Rousseauscher Freiheitslehren! A b e r die latente Möglichkeit eines jähen Umschlags v o n demokratischer Freiheit zu

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

ousseaus

Werfen w i r n u n abschließend noch einen Blick auf den Gesetzgeber und seine Aufgabe! Rousseaus Staat ist eine allgemeine Konstruktion; seine Gedanken sind grundsätzliche Analysen, Definitionen, Abgrenzungen, zusammengefaßt nach einem bestimmten Bilde. Der Staat als konkrete historische Erscheinimg braucht n u n aber eine konkrete, individuelle Gestaltung, die den Bedingungen von Zeit und Raum und seinen Menschen angepaßt ist, — er braucht Gesetze, die der Basis seiner Existenz gerecht werden. Den Inhalt solcher Gesetze kann man allgemein-theoretisch nicht angeben. Eines aber weiß Rousseau aus der Geschichte: daß es nur i n seltenen Fällen gelingt, einer politischen Gemeinschaft die i n jeder Beziehung adäquaten Gesetze zu geben. Ein Gesetzgeber, dem dies gelingt, ist eine sowohl i n seinem Staate wie auch überhaupt i n der Menschheitsgeschichte ganz außerordentliche Erscheinung, ein Wesen exzeptioneller Intelligenz, ohne Leidenschaften, ohne Ehrgeiz, ohne menschliche Ungeduld — eine rein geistige Potenz. Da nun aber die Masse der Staatsbürger den hohen Gedanken des Gesetzgebers kaum zu folgen i n der Lage ist u n d der Gesetzgeber über keinerlei Machtmittel verfügt bzw. nicht verfügen darf, muß er die „Autorität einer anderen Ordnung" i n Anspruch nehmen. „Das war es", so fährt Rousseau erzählend i n seinem Gedankengang fort, „was die Väter der Nationen zu allen Zeiten zwang, zur Vermittlung des Himmels Zuflucht zu nehmen " Gesetze außergewöhnlicher Qualität lassen sich so immer auf „göttlichen" Ursprung zurückführen, denn die „raison sublime" des Gesetzgebers legt sie i n den „ M u n d der Götter", u m durch die göttliche Autorität allen Zweifel und alles Zögern der weniger Einsichtigen zu beseitigen. Moses und Mohammed sind die historischen Figuren, an die Rousseau i n diesem Augenblick denkt. Da die Geschichte aber auch voller Beispiele für den Mißbrauch der göttlichen Autorität, für falsches Prophetentum ist, muß der wahrhafte Gesetzgeber seine Mission beweisen, was hauptsächlich durch den Erfolg, d . h . durch die Gründung eines dauerhaften Staates geschehen kann. Rousseau beendet das Kapitel m i t der Schlußfolgerung, daß beim Entstehen der Völker Politik und Religion einander als Werkzeug dienten. Das Kapitel über den Gesetzgeber hat i m wesentlichen geschichtsphilosophischen Charakter. A n Hand von Beispielen umreißt Rousseau den Typus des Gesetzgebers, das Generelle seiner Stellung und Tätigkeit. Das A l t e Testament ist eine seiner wichtigsten Quellen. Dort findet totalitärer T y r a n n e i besteht allerdings nicht erst seit gestern." Die Bedingung sei, so f ü h r t R i t t e r weiter aus, gegeben, w e n n — i n der modernen Massengesellschaft — alte A u t o r i t ä t e n h i n f ä l l i g würden. I n Europa sei der 1. W e l t k r i e g z u m entscheidenden Anlaß des Verschwindens „althistorischer A u t o r i t ä t e n " geworden (Vom Ursprung des Einparteienstaates i n Europa. I n : Lebendige Vergangenheit, S.42ff.).

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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er den hier wiedergegebenen Hauptgedanken des 7. Kapitels: Moses, der i n jeder Hinsicht „Außergewöhnliche", der „Führer" seines Volkes i m wahrsten Sinne des Wortes, der m i t einer mächtigen Wundergabe Ausgestattete, der seinem Volke das von Gott geschriebene Gesetz bringt. Es ist nützlich, einige Fakten aus der Quelle Rousseaus hier zusammenzustellen; sie finden sich vor allem i m 2., zum Teil auch i m 3. Buch Mose. Der dramatische A u f t a k t zu der T a t des Moses ist die ausführliche Schilderung seiner Berufung u n d der A r t u n d Weise, i n der er seine Mission dem eigenen Volke u n d Pharao glaubhaft macht, — ein M o t i v , das, w i e gesagt, auch bei Rousseau ausführlich behandelt w i r d u n d das überhaupt i n der Geschichte bis i n die jüngste Zeit h i n e i n i n vielen Variationen wiederkehrt. Moses* erste Worte, nachdem er Gottes A u f t r a g vernommen hat, sind: „ W e r b i n ich, daß ich zu Pharao gehe u n d führe die K i n d e r Israel aus Ägypten?" E r glaubt nicht an seine „ F ü h r e r q u a l i t ä t " , er ist auch überzeugt, daß seine Landsleute i h m seinen Bericht v o m Erscheinen Gottes nicht abnehmen w e r den. Gott geht ohne weiteres auf dieses A r g u m e n t ein u n d rüstet Moses m i t einer „Wundergabe" aus, die i m Prinzip genau der Gabe ägyptischer Zauberer u n d Beschwörer entspricht, sie aber an Stärke alle w e i t übertrifft. Doch Moses hält seine Aufgabe auch jetzt noch f ü r undurchführbar: „ A c h m e i n Herr, ich b i n je u n d je nicht w o h l beredt g e w e s e n . . . " Auch i n diesem Punkte zeigt Gott Verständnis: „ I c h w i l l m i t deinem Munde sein u n d dich lehren, was d u sagen sollst." A l s Moses auch durch dieses Versprechen nicht zur Übernahme des göttlichen Auftrags zu bewegen ist, w i r d Gott zwar „sehr zornig", erkennt die Berechtigimg der Weigerung Moses' aber doch an, denn er weist i h n auf seinen B r u d e r A a r o n hin, der „beredt" sei u n d i h m helfen werde: „ D u sollst zu i h m reden u n d die Worte i n seinen M u n d legen. U n d ich w i l l m i t deinem u n d seinem Munde sein u n d euch lehren, was i h r t u n sollt. / U n d er soll f ü r dich z u m V o l k reden; er soll dein M u n d sein, u n d d u sollst Gott sein." Jetzt endlich w i l l i g t Moses ein. Moses hat nach dem Zeugnis des A l t e n Testaments keinen Augenblick gezweifelt, daß es Gott w a r , m i t dem er sprach. Er hat aber ebensowenig gezweifelt, daß er die i h m angetragene politische Aufgabe so ohne weiteres nicht w ü r d e lösen können. E i n jahrhundertelang i n Knechtschaft lebendes V o l k v o n der bevorstehenden glücklichen Wende der Dinge zu überzeugen; einen Herrscher, der auf generationenlange erfolgreiche Unterdrückung eines Volkes zurückblicken konnte, z u m Einlenken zu bewegen — das w a r e n A u f gaben, eine unlösbarer als die andere. Das Problem der politischen F ü h r e r schaft, die Glaubhaftmachung einer Mission ist hier i n extremster Zuspitzung gestellt. Gott u n d Moses werden sich i n ihrer offenen Aussprache einig, daß die Durchsetzung des göttlichen Willens sehr „menschlicher" M i t t e l bedarf, — daß Zauberkunst, Überredungsgabe u n d Schlimmeres ins Spiel kommen m u ß ; daß Schlangen, B l u t , Aussatz u n d schließlich die ganzen „ägyptischen Plagen" besser w i r k e n als Argumente. Ob diese M i t t e l , die die menschliche Natur, die Enge des menschlichen Verstandes notwendig macht, an sich zweifelhafter oder übler A r t seien, steht zwischen den Gesprächspartnern nicht zur Debatte; sie sind notwendig, das ist alles. Diesen Überlegungen auf der einen Seite entspricht die Reaktion des jüdischen Volkes auf der anderen. Das V o l k ist nicht n u r seiner N a t u r nach wenig geeignet, das Gute u n d Richtige zu erkennen, — es hat auch eine —

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I. T e i l : Der Gleichheitsbegriff Bousseaus

begründete — Scheu, j a sogar Furcht davor, u n m i t t e l b a r m i t Gott konfront i e r t zu werden; es w i l l einen V e r m i t t l e r u n d spricht deshalb zu Moses: „Bede d u m i t uns, w i r w o l l e n gehorchen; u n d laß Gott nicht m i t uns reden, w i r möchten sonst sterben. / Also t r a t das V o l k v o n ferne; aber Mose machte sich h i n z u i n das Dunkel, d a r i n Gott war." A l s es dann zu dem A k t der Gesetzgebung k o m m t , zeigt sich, daß die Zurückhaltung des Volkes wohlbegründet ist: Gott w i l l gar nicht m i t allen sprechen; er verbietet, daß das V o l k i h m nahe. Moses als einziger darf direkt zu i h m kommen. Gott t e i l t Moses das Gesetz für das israelische V o l k zunächst mündlich m i t ; dieser gibt das Gehörte weiter: „Mose k a m u n d erzählte dem V o l k alle Worte des H e r r n u n d alle Rechte. Da antwortete alles V o l k m i t einer Stimme u n d sprachen: A l l e Worte, die der H e r r gesagt hat, w o l l e n w i r tun." N u n weiß aber Gott — u n d die Ereignisse bestätigen es n u r zu schnell — daß das V o l k schnell vergißt, daß es w a n k e l m ü t i g u n d beeinflußbar ist. Moses soll deshalb noch einmal zu i h m auf den Berg kommen, u m zwei steinerne Tafeln abzuholen, die Gott selbst hergestellt u n d i n die er „selber die Schrift eingegraben" h a t ; „Gesetze u n d Gebote, die ich geschrieben habe, die d u sie lehren sollst". Vierzig Tage blieb Moses auf dem Berg bei Gott, u n d als er zurückkam, hatte das V o l k sein Versprechen, hatte den durch Moses m i t Gott geschlossenen Bund vergessen u n d sich einem neuen „ F ü h r e r " u n d einem anderen „ G o t t " zugewandt. „ W i r wissen nicht", so hatte m a n gesprochen, „was diesem M a n n Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat." Vierzig Tage des Wartens am Fuße des Berges haben ausgereicht, u m aus dem anerkannten „ F ü h r e r " wieder „diesen M a n n Mose" zu machen, der sich gewiß Verdienste i n der Vergangenheit erworben hat, an dessen Charisma m a n aber n u n nicht m e h r glaubt. Es folgt n u n der furchtbare Beinigungsakt, i n dem die K i n d e r Levi, „dem H e r r n angehörig", dreitausend ihrer abtrünnigen V e r w a n d t e n u n d Bekannten töten. D a m i t nie m e h r u m ein „goldenes K a l b " getanzt werde, nie wieder falsche Führer Einfluß erlangten, erfolgt eine detaillierte Gesetzgebung gegen allen Aberglauben: gegen die Zauberer, Wahrsager u n d Zeichendeuter u n d die, die auf sie hören oder selbst „auf Vogelgeschrei achten". D i e i n d e n B ü c h e r n M o s e e r z ä h l t e n Geschehnisse s i n d eines — u n d w o h l das w i c h t i g s t e — d e r U r b i l d e r , d i e Rousseau v o r g e s c h w e b t haben, als e r v o m Gesetzgeber schrieb. H i e r f i n d e n sich fast a l l e M o t i v e , die er v e r w e n d e t : d e r a u ß e r g e w ö h n l i c h e Führer als Gesetzesbringer, d e r d e u t l i c h e r k e n n t , w a s d e m V o l k n u r W o l k e n b i l d u n g , Feuersäule, D u n k e l h e i t ; das Volk, das v o n sich aus n i c h t i n d e r L a g e ist, das R i c h t i g e z u t u n ; d i e Legitimierung des F ü h r e r s ; d i e T ä t i g k e i t d e r falschen P r o p h e t e n u n d Volksverführer; das I n e i n a n d e r g r e i f e n v o n Religion und Politik. F r e i l i c h : Rousseau i s t e i n M e n s c h d e r A u f k l ä r u n g ; d i e i n seiner Darstellung verwendeten M o t i v e haben einen anderen A k z e n t bekomm e n . S e i n Gesetzgeber i s t m e h r V e r n u n f t w e s e n d e n n göttliches W e r k zeug; i h m f e h l e n d i e B r u t a l i t ä t u n d d i e L e i d e n s c h a f t l i c h k e i t , d e r M a c h t w i l l e u n d d i e M a c h t m i t t e l , v o n d e n e n i n d e n B ü c h e r n Mose so v i e l d i e Rede ist. A b e r a u c h e r i s t l e t z t e n Endes h i l f l o s o h n e d i e „ A u t o r i t ä t e i n e r a n d e r e n O r d n u n g " , m u ß m i t d e r „ V e r m i t t l u n g des H i m m e l s "

B. Die Konstruktion des Contrat Social

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arbeiten. Die massiven Mittel, die Moses i n die Hand gegeben wurden, sind bei Rousseau zur „autorité divine" sublimiert. Zusammenfassend kann man sagen, daß aus dem kolossalen Urbilde i n den Büchern Mose, das von einem einmaligen geschichtlichen Vorgang und von ganz bestimmten Personen Zeugnis gibt, i n der Darstellung Rousseaus eine — schon durch die gleichzeitige Verwendung von Elementen aus der griechischen und römischen Antike — verallgemeinerte, rationale Zeichnimg geworden ist, aus Moses, L y k u r g u. a. der Gesetzgeber. Da Rousseau aber das eigentlich historische Element — die Einmaligkeit der Personen — beibehält und sogar stark betont, w i r d der Gesetzgeber doch nicht zu einem echten Typus. Man darf annehmen, daß Rousseau sich dessen bewußt war, daß das völlig Außergewöhnliche nicht typisierbar ist, — er hat seinen Gesetzgeber nicht umsonst so deutlich von seiner Staatskonstruktion abgesetzt. Der Gesetzgeber steht ganz außerhalb des Staates, sein Erscheinen ist ein glücklicher Zufall. Wenn eine dauerhafte Staatsgründung ohne ihn auch kaum denkbar ist, so kann man i h n doch nicht „einplanen". Fetscher hat den hier behandelten Zusammenhang so verstanden, daß der Gesetzgeber angesichts des Versagens von Macht und Vernunft an „irrationale Gefühle" appelliere, und zwar „ m i t Hilfe der Religion „Religiöse Gefühle" seien bei Rousseau die Mittel für politische Zwecke, „sie werden", so schreibt er, „bereits ganz modern als Ideologien' gew o l l t " , und es könne „ k a u m geleugnet werden, daß Rousseau hier einen höchst bedenklichen Gesichtspunkt i n die Debatte" werfe 1 0 3 . Dagegen ist festzuhalten, daß Rousseau nicht von „irrationalen" oder „religiösen" Gefühlen (was Fetscher gleichsetzt), sondern von der göttlichen Autorität spricht; auf diese beruft sich der Gesetzgeber unter dem Zwang der Situation aus Klugheit (die beiden Motive schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich). W e i l der Gesetzgeber nur der „Dolmetscher" (Rousseau) Gottes ist und w e i l Gott unbedingte Autorität genießt, sind die Worte des Gesetzgebers wahr, — beweisen muß er nur, daß er der „Dolmetscher" ist, und dies wiederum geschieht nach Rousseau nicht durch die „ M i t t e l " , von denen i m A l t e n Testament die Rede ist, sondern durch den Erfolg. Man w i r d w o h l nicht fehlgehen, wenn man dies einen kalvinistischen Gedanken nennt. Es gibt i n diesem Zusammenhang bei Rousseau keinen „ A p p e l l " (Fetscher) an irgendwelche Gefühle, sondern einen Anspruch (nämlich Gottes Wort wiederzugeben), der einen einwandfreien Beweis erfordert. Es ist auch kaum zu rechtfertigen, hier von etwas „Gewolltem" zu sprechen, von „ganz modern" gewollten Ideologien zumal, da Rousseau eigentlich nichts „ w i l l " , keine Institutionen ins Auge faßt, sondern etwas erzählt. 103

Fetscher, a. a. O., S. 143.

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I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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Wenn Fetscher (und nicht nur er) schließlich das Ganze einen „bedenklichen Gesichtspunkt" Rousseaus nennt, dann liegt es nahe, auch einmal darauf hinzuweisen, daß — wenn man überhaupt zwischen einem literarischen Werk und der politischen Geschichte der Folgezeit einen Zusammenhang i n der Weise Fetschers sehen w i l l — Rousseaus Ausführungen über den Gesetzgeber eine Reihe von Gesichtspunkten enthalten, die i m Falle ihrer Beachtimg gerade die politische Entwicklung, an die Fetscher denkt, durchaus zu verhindern geeignet gewesen wären. Welche „plumpen M i t t e l zur Täuschung des Volkes" (vor denen Rousseau warnt) haben w i r nicht erlebt, welchen Mangel an jeglicher Legitimierung des Auftrags, welche brutale Gewaltanwendung (wo Rousseau das Nichtvorhandensein von Gewalt zur Bedingung macht)! W i r haben einen „Beherrscher der Gesetze" erlebt, der (gegen Rousseaus ausdrückliche Warnimg) gleichzeitig ein „Beherrscher der Menschen" war und nach der für diesen F a l l gemachten Voraussage von Rousseau die Gesetze zu „Werkzeugen seiner Leidenschaften" machte. Er, an den w i r denken, hatte so gar nichts von dem „hohen Geist", von der „Leidenschaftslosigkeit", die nach Rousseau den Gesetzgeber charakterisiert, nichts von der Kunst des Abwartenkönnens dessen, der seiner Sache sicher ist, sondern war getrieben von der Hast des Falschmünzers, dem zum Eintausch seiner „Blüten" nur kurze Frist bleibt. Sein und seiner „Partei" Geschrei (das zu beachten Rousseau m i t Nachdruck empfiehlt) hätte eine Warnung sein können, wenn, ja wenn es an die Ohren eines Volkes von Rousseau-Gläubigen und RousseauKennern gedrungen wäre. Genug also der Hinweise auf Warnungen, die keine waren und keine sein konnten! Schluß aber auch m i t der Konstruktion von Zusammenhängen, Abhängigkeiten und Verbindungslinien, Schluß m i t den Analogien und Assoziationen, soweit sie nicht i m reinen Interesse der Deutung Rousseauscher Gedanken, sondern zu dem Zwecke — oder doch jedenfalls praktisch m i t dem Effekt — erfolgen, i h m einen A n t e i l an dem Verhängnis und der Schuld unserer Zeit zuzuschieben!

C. Zusammenfassende Schlußbetrachtung Der Begriff der Gleichheit findet i n den von uns untersuchten Schriften Rousseaus vielfache, wenn auch nicht immer überzeugende Verwendung. Es ist zweifellos ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Absichten Rousseaus wie der auf i h n zurückgeführten Staatsform der (modernen) Demokratie. Doch sind i n dem letzteren Punkte einige Vorbehalte gegenüber oft geäußerten Meinungen zu machen, und manche Ansichten sind m i t Entschiedenheit zurückzuweisen. Was zunächst den Naturzustand anbetrifft, i n dem Rousseau nach den Grundlagen und Richtlinien für jegliche politische Gemeinschaft sucht, so ist der Mensch i n i h m von der physisch-seelischen „Gleichheit", die die Biologie als K r i t e r i u m für die Klassifizierung ansieht. Der „Naturmensch" Rousseaus ist der Mensch als Gattungsbegriff, der Mensch schlechthin — : homo sapiens. Es mag dahingestellt bleiben, ob es eine derart reine Gattung oder A r t (espèce = species) jemals gegeben hat, ob Rousseau hier lediglich i n dilettantischer Weise eine naturwissenschaftliche Kategorie verlebendigt (oder was man von wissenschaftlich-biologischer Seite ansonsten gegen seine Theorie vorbringen könnte). Tatsache ist, daß Rousseau von einem solchen theoretisch-reinen Menschenbilde ausgeht, daß er von allen leiblichseelischen Verschiedenheiten etwa rassischer A r t und den Prägungen durch zivilisatorische Einflüsse vollkommen absieht. Der Mensch des Naturzustandes bestimmt sich durch die Merkmale, die den Menschen als solchen auszeichnen, die, anders ausgedrückt, den Menschen überhaupt zum Menschen machen. Die „Gleichheit" dieses Menschen ist, rein logisch betrachtet, eine Trivialität. Aber weder zu den Zeiten Rousseaus noch — leider — heute ist es eine allgemein akzeptierte Meinung, daß alle Menschen „ v o n Natur" aus bzw. ihrer Essenz oder Substanz gleich sind. Insofern kommt also der Theorie Rousseaus von der „Gleichheit" des Naturzustandes bzw. des „natürlichen Menschen" m i t ihren vielen hinreißenden Formulierungen der Charakter eines die Zeiten überdauernden Appells an das soziale Gewissen der Menschheit zu, an die Vernunft eines jeden einzelnen und insbesondere aller derer, die m i t der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und politischer Ordnungen befaßt sind. 7 Hill

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

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Damit soll nicht gesagt sein — und nichts liegt Rousseau ferner als eine dahin zielende Behauptung —, daß die verschiedenen Gleichheiten politisch-gesellschaftlicher Zustände sich ohne weiteres aus der „Gleichheit" des Naturzustandes herleiteten oder doch herzuleiten hätten. Der Naturzustand kann schon deshalb nicht als vollgültiger Maßstab gesellschaftlicher Zustände oder Formen Verwendung finden, w e i l der Mensch i n i h m sozusagen noch zu wenig Mensch ist, w e i l er, von den fundamentalen Trieben u n d Fähigkeiten und der Grundstruktur seines Geistes abgesehen, noch gar nicht der ist, m i t dem das „Zeitalter der Gesellschaft" zu rechnen hat. Dennoch aber bleibt der Naturzustand eine A r t letztes, großes Paradigma für alle A r t e n von Ordnungen zwischen Menschen. Wie ungleich die Menschen — so könnte man seinen Sinn formulieren — auch immer i n ihrem Äußeren, i n ihren Fähigkeiten und Eigenschaften sind und i n welchem Maße sich dies alles i n ihrem Stand und Vermögen, i n ihrer Lebensweise und ihrem Ansehen niederschlägt —: keine rechtlich-politische Ordnung kann und sollte außer acht lassen, daß alle Menschen gleich sind in ihrem Menschsein. Die harte K r i t i k Rousseaus an der politisch-gesellschaftlichen Ordnung seiner Zeit, die sich, wie w i r sahen, nicht immer des n u r gleichnisartigen Charakters des Naturzustandes bewußt zu sein scheint u n d die den „Naturzustand der Gleichheit" manchmal zu unvermittelt bzw. unreflektiert dem Zustand der „Ungleichheit" i n der bürgerlichen Gesellschaft gegenüberstellt, findet vor dem Hintergrunde dieser großen und humanen Konzeption ihre Berechtigimg, ist überhaupt nur so zu verstehen. Die Gegner Rousseaus haben sich i m allgemeinen nicht u m ein solches Verständnis bemüht. Sie haben die K r i t i k Rousseaus nicht von gelegentlichen Übertreibungen zu reinigen und auf ihren K e r n zurückzuführen versucht, sondern sie haben die Übertreibungen und Schwächen zu dem K e r n der Sache und diese — oft m i t leidenschaftlichem Eifer — für unsinnig, unmoralisch, verwerflich erklärt 1 . Die Unsachlichkeit ihrer Vorwürfe erhellt schon daraus, daß diese meistens ganz allgemein auf die Theorie Rousseaus oder aber — schlimmer — auf den Contrat Social bezogen werden. Bei näherer, unvoreingenommener Betrachtung gerade der letztgenannten Schrift zeigt sich das gänzlich Verfehlte dieser Vorwürfe. Denn wenn Rousseau auch zunächst, d. h. i n der „Abhandlung über die Ungleichheit", nach dem wahren Bilde des Menschen gesucht hatte, das er der Konstruktion der politisch-rechtlichen Ordnung zugrunde zu legen gedachte, so beruht der durch den „Gesellschaftsvertrag" ge1

Vgl. etwa die i n der Einleitung zitierten Sätze v o n Werner Ziegenfuß.

C. Zusammenfassende Schlußbetrachtung

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schaffene Staat doch keineswegs auf der „allgemeinen Menschengleichheit" des Naturzustandes und die „Gleichheit der Staatsbürger" ist kein (falsches) Analogon zur „Gleichheit des Naturmenschen". Vielleicht ist es nützlich, das Problem, u m das es sich hier handelt, m i t den zwar vermutlich auch auf Rousseau bezogenen, aber doch leidenschaftslossachlichen Worten W i l h e l m Windelbands zu beleuchten, ehe w i r i n unserer Schlußbetrachtung fortfahren. Windelband weist darauf hin, daß bei allen Argumentationen, „welche aus der Gleichheit irgendwelcher Gegenstände andere Gleichheiten an ihnen oder für sie deduzieren wollen", m i t großer Vorsicht vorgegangen werden müsse. „Eine solche Ableitung", so schreibt er weiter, „ist immer nur beweiskräftig, wenn gezeigt werden kann, daß der Reflexionsgesichtspunkt, unter dem die erste Gleichsetzung gilt, auch für die zweite maßgebend bleibt: ist das nicht der Fall, so schwebt die ganze Beweisführung i n der Luft. Eine große Zahl politischer und sozialer Theorien allerlei Tendenz leidet an diesem Grundfehler, daß aus der obenhin behaupteten »natürlichen Gleichheit 4 der Menschen ohne weiteres Gleichheiten ihrer Rechte oder ihrer Aufgaben und Pflichten abgeleitet werden sollen. Derartige Argumentationen werden immer nur dann stichhaltig sein, wenn m i t voller Sicherheit nachgewiesen werden könnte, daß die Gleichheiten, die verlangt werden, i n unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhange m i t denjenigen Gleichheiten stehen, von denen die Ableitung ausgehen soll. W i l l man sich von diesen Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten und zugleich von den Folgen der Willkürlichkeit des Reflexionsstandpunktes, wonach »gleich4 u n d ,ungleich 4 prädiziert wird, ein deutliches B i l d machen, so durchdenke man die bekannte historische Antinomie. Thesis: alle Menschen, gleichviel welcher Rasse sie angehören, sind von Natur gleich; also gebührt ihnen das Gleiche an politischen und sozialen Rechten. Antithesis: die Rassen sind von Natur ungleich; damit ist ihre rechtliche u n d gesellige Ungleichheit begründet 2 ." Reduziert man die Polemiken gegen Rousseau auf ihren sachlichen Kern, dann stößt man fast immer auf den von Windelband hier charakterisierten „Grundfehler", der Rousseau unterstellt w i r d . Wie unsere Interpretation i m einzelnen gezeigt hat, gibt es diesen Fehler bei Rousseau jedoch nicht. Die „Gleichheit der Staatsbürger 44 ist eine Folge nicht natürlicher Gegebenheiten, sondern des Vertrages, den die einzelnen — auf eine allerdings etwas rätselhafte Weise — m i t dem „corps politique" abschließen. Sie ergibt sich, genauer, aus der zentralen Klausel dieses Vertrages, die „totale Hingabe 44 (bzw. „Entäußerung 44 ) vom einzelnen fordert, und sie gilt natürlich auch nur für die, die sich zu einer solchen totalen Hingabe entschließen. 2

7•

Windelband, W.: Über Gleichheit u n d Identität, S . 9 f .

100

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff Bousseaus

Warum nun entschließt sich ein bestimmter Kreis von Personen zu dieser auf den ersten Blick schwer verständlichen Handlungsweise? Die A n t w o r t Rousseaus, die an die des Thomas Hobbes erinnert, lautet: Weil sie ihr Leben als einzelne nicht erhalten können. Keiner ist allein stark genug, die eigene Existenz zu gewährleisten, und infolge dieser durchgängig anzutreffenden (bzw. von Bousseau für eine bestimmte Situation angenommenen) Unfähigkeit der Selbsterhaltung, die i n A n betracht des damit bedrohten fundamentalen menschlichen Triebes einen unwiderstehlichen Zwang zu einer rettenden A k t i o n m i t sich bringen mußte, kommt es zum Abschluß des „Contrat social". Natürlich liegt i n der „allgemeinen Unfähigkeit" ein Moment der Gleichheit. Hobbes hat bekanntlich i n eben dieser Gleichheit ein Charakteristikum des Naturzustandes erblickt: Die Menschen sind („when all is reckoned together") gleich untereinander, denn keiner kann sich vor dem anderen schützen („the weakest has strength enough to k i l l the strongest") 3 . Eine Logik, die viel bewundert worden ist, die aber gerade i n ihrer hier erwähnten, entscheidenden Aussage, daß nämlich die Menschen gleich seien, wenig überzeugend ist: Nach dieser Logik (d. h. bei der Annahme eines nur genügend allgemeinen „Beflexionsgesichtspunktes") kann man auch zwei völlig w i l l k ü r l i c h zu bestimmende Gegenstände — eben als Gegenstände, für „gleich" erklären. Nach Bousseau dagegen sagt die gleiche (bedrohliche) Lage, i n der sich die Menschen nach seiner Annahme befinden, nichts über diese Menschen als Menschen aus. Die Menschen sind „gleich" lediglich als der gleichen Situation Ausgesetzte; es handelt sich hier nicht u m „Menschengleichheit", sondern u m Situationsgleichheit. Diese Situation gehört weder dem Naturzustand noch dem Gesellschaftszustand an. Man w i r d sie als eine Hilfskonstruktion anzusehen haben, die den Übergang von dem einen i n den anderen Zustand verständlich machen soll. (Allerdings dürfte diese Hilfskonstruktion für Bousseau doch mehr als nur logische Bedeutung haben.) Der „logische" Wert dieser Konstruktion ist beträchtlich. Sie füllt die Lücke zwischen Natur- und Gesellschaftszustand, kann aber auch als Ausgangssituation für die Gründimg des Staates auf irgendwelchen Entartungszuständen (also auch dem „bellum omnium contra omnes" des Hobbes) verstanden werden. Die Bousseausche Konstruktion enthebt völlig der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, ob der Mensch jetzt, d. h. unmittelbar vor dem Abschluß des „Contrat social", als gleich oder ungleich anzusehen sei, ob vielleicht die Mehrzahl gleich und einige ungleich seien u n d w o r i n die evtl. Ungleichheit bestehe. Man w i r d durchaus annehmen dürfen, daß Bousseau die verschiedenartigsten 8

Vgl. Leviathan, T e i l 1: V o m Menschen, Kap. 13.

C. Zusammenfassende Schlußbetrachtung

101

Ungleichheiten bei dem E n t w u r f der Hilfskonstruktion vorausgesetzt bzw. einkalkuliert hat. Mögen die Menschen — so mochte er sich etwa sagen — untereinander auch noch so ungleich sein: eine Situation gibt es, vor der alle versagen, u n d deshalb wagen sie den „Sprung aus dem brennenden Fenster", den Sprung i n den Staat 4 . Wenn aber auch vor dem „Sprung" bereits jene eine Gleichheit (vor dem Tode, könnte man sagen) bestand: erst durch den Vertrag werden die Menschen rechtlich-politisch, und damit i n einem umfassenden Sinne zu Gleichen. Sie verzichten auf alles Verzichtbare, was sie voneinander abhob, und erhalten dafür die Garantie, daß die Gesamtheit für die Wahrimg ihrer Existenz eintreten w i r d . Der Staat ist also primär eine Gemeinschaft von Menschen, die sich zu dem Zwecke ihrer Existenzsicherung zusammengeschlossen haben. „Staatsbürger" sein heißt: Glied einer solchen Gemeinschaft zu sein, die unter dem Zwang einer totalen Bedrohung entstanden ist und deren „Einheit" sich dialektisch aus der Gleichheit der einzelnen ergibt. Einheit heißt wiederum vor allem: Willenseinheit. A l l e wollen zunächst und i n der Hauptsache uberleben, sie wollen, m i t dem von Rousseau verwendeten Begriffe: conservation. Erst danach kommt — und hierin gehen dann selbstverständlich die Meinungen auseinander und der Staat hat auszugleichen und Kompromisse zu vermitteln — die prospérité, das Gedeihen und Wohlergehen, die Entfaltung der Persönlichkeit etc. Der Spielraum, der sich hier dem einzelnen eröffnet, ist jedoch nicht denkbar ohne die vorhergegangene „totale Entäußerung": ohne Gleichheit gibt es keine Freiheit. Die funktionale Verbindung dieser beiden Begriffe macht die Essenz des Gemeinwohls aus. W i r haben gesehen, daß Rousseau sich bemüht, „Gleichheit" auch i n dem Spiel der großen Kräftegruppen i m Staate (Souverän, Regierung, Volk) und i n dem Machtverhältnis von Souverän u n d Untertan sowie von Regierung und Untertan nachzuweisen, daß aber diese Versuche, die Gleichheit als ein letztes und durchgängig verwendbares Strukturprinzip, als das entscheidende Glied einer allgemeinen Formel vom Staate zu erweisen, nicht überzeugen. Die Begriffe, auf die das Denken Rousseaus i n diesem Zusammenhange i n Wirklichkeit hinausläuft, sind Identität und Harmonie. Von entscheidender Bedeutung ist der Begriff der Gleichheit indes für den der Gerechtigkeit: die Gleichheit „produziert" sie erst. Den4

C S I I , 5. — Die A r g u m e n t a t i o n des Th. Hobbes ist natürlich, zumindest was den Effekt anbetrifft, sehr ähnlich. Aber i n d e m Hobbes die Existenzbedrohung n u r v o n der Seite des Mitmenschen her a n n i m m t — w i e es bei seinem Menschenbilde nahelag — verfehlt er die großartige Allgemeinheit u n d umfassendere Gültigkeit, die Rousseau durch seine K o n s t r u k t i o n dann erreichte.

I. Teil: Der Gleichheitsbegriff

102

ousseaus

noch schließt die aus der gleichen Unterworfenheit unter den allgemeinen Willen resultierende Rechtsgleichheit der Staatsbürger Privilegien und selbst die Schaffung verschiedener Klassen (plusieurs classes de citoyens) 5 nicht aus. Es bleibe dahingestellt, ob sich dieser Gedanke Rousseaus als ein Niederschlag der Erinnerungen an seine Vaterstadt Genf deuten läßt oder ob der Staat Piatons hier Pate stand. Jedenfalls stellt diese von Rousseau ins Auge gefaßte Möglichkeit (die so gar nicht zu der i h m oft unterstellten „Gleichmacherei" passen w i l l —), ein durchaus konservatives Element dar, und sie erweist den Autor des Contrat Social als einen Mann, der m i t den „Menschen, wie sie sind" rechnete. Die einmal „vergesellschafteten" Menschen sind von der unterschiedlichsten körperlichen u n d geistigen Verfassung, haben verschiedene Neigungen wie Fähigkeiten. E i n Staat, der diese Tatsache nicht berücksichtigte, wäre auf Sand gebaut. I n der letzten Zielsetzung (conservation) wie i n den damit zusammenhängenden Rechten und Pflichten sind alle gleich, ansonsten aber sind alle ungleich und dürfen ihre Ungleichheit bis zu einem gewissen Grade ausbauen. Rousseau strebt keine „Gemeinschaft von Gleichen" an, w o h l aber eine A n geglichenheit der sozialen Verhältnisse. A l l e hiermit skizzierten Probleme und Lösungen gelten für den Staat schlechthin, nicht für eine besondere Form desselben. Die Frage, die uns zur Beschäftigung m i t Rousseau führte, galt nun aber dem demokratischen Staat. Welche besondere Rolle spielt die Gleichheit also für Rousseau i n der Demokratie? Nim, w i r haben darauf hingewiesen, daß Rousseau nachdrücklich alle Staatsformen als etwas Sekundäres und, wenn nötig, schnell wieder zu Beseitigendes ansieht. Alle Aussagen, die danach für eine bestimmte Form des Staates gemacht werden, sind unter dieser Relativierung zu sehen. Rousseau versteht unter Demokratie eine etwas utopische, irreale Staatsform — „ f ü r ein V o l k von Göttern", wie er sagt. Nach seiner Vorstellung bestimmen sich die verschiedenen Staatsformen (= formes de gouvernement) nach dem Ausmaß, i n dem die Bürger an der Regierung beteiligt sind. U m eine Staatsform als Demokratie ansprechen zu können, muß mindestens die Mehrheit der Bürger an der Regierung beteiligt sein. Aus dieser umfangreichen Beteiligung an den Regierungsgeschäften entsteht eine Fülle von „Gleichheiten" (nämlich an Rang, Autorität, Besitz u. ä.), die man gegenüber der fundamentalen staatsbürgerlichen Gleichheit als sekundär bezeichnen könnte. Die Demokratie ist zweifellos die Staatsform, unter der sich die Bürger i n vielen, praktisch hoch eingeschätzten Bereichen und Beziehungen am weitesten angleichen, i n der sie „am gleichsten" sind. 5

CS I I , 6.

C. Zusammenfassende Schlußbetrachtung

103

Aber Rousseau findet an dieser Form des „Gouvernements" trotz allem keine Freude, denn die allem Wohlergehen der einzelnen zugrunde liegende staatsbürgerliche Gleichheit erscheint i h m i n der Demokratie — wegen der möglichen Vermischimg souveräner und gouvernementaler A k t e und Funktionen — mehr als i n jeder anderen Form des Staates gefährdet. Das wenige, was Rousseau überhaupt über die Staatsform der Demokratie sagt, ist von soviel Skepsis durchsetzt, daß es schwer denkbar wäre, von hier aus eine gangbare Brücke zu den modernen Demokratien unserer Tage zu schlagen und aus dem vergleichenden Betrachten der Institutionen und Begriffe irgendeinen Nutzen zu ziehen. Aus diesem und aus anderen Gründen ist es denn auch längst zur Gewohnheit geworden, die ganze Staatskonstruktion Rousseaus als eine Grundlegung der Demokratie anzusehen. Die Volkssouveränität, für Rousseau das Merkmal des Staatlichen schlechthin, gilt heute als ein Merkmal der Demokratie. Was etwa i n Weimar wegen der Beeinträchtigung der Herrschaft des Volkes i n den Geruch des „Antidemokratischen" kommen mußte, hätte Rousseau als gegen den politischen Körper selbst gerichtet angesehen. I m Zeichen der fundamentalen staatsbürgerlichen Gleichheit, ohne die nach Rousseau kein Staat denkbar ist, wurde i n Weimar u m die Demokratie gekämpft. Die Begriffe Staat und Demokratie, für Rousseau noch wesensverschieden, sind heute — wie es scheint — dabei, Synonyme zu werden. I n A n betracht dieser Entwicklung läßt sich der Maßstab Rousseauschen Denkens — bei aller anzuempfehlenden Vorsicht wegen der Vielzahl geistiger Quellen, die jedes konkrete Verfassungswerk und jeden w i r k lichen politischen Organismus speisen — doch m i t einiger Unbefangenheit und m i t der Aussicht auf Erfolg an den modernen Demokratien verwenden.

Zweiter

Teil

Gleichheitssatz und Gleichheitsbegriff in der Weimarer Staatsrechtslehre Erster

Abschnitt

Die alte und die neue Lehre A. Der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz und seine Interpretation 1. Die Entstehung des Gleichheitssatzes der Weimarer Verfassung und der Beginn der Auslegungskämpfe „ A l t e vornehme A b k u n f t schließt jugendliche Lebenskraft nicht aus, wenn sie auch nicht immer erwartet zu werden pflegt." M i t diesen humorigen Worten leitete Hans Nawiasky seinen Mitbericht über „Die Gleichheit vor dem Gesetz i m Sinne des A r t . 109 der Reichsverfassung" auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer i n Münster i m März 1926 ein 1 . Nichtsdestoweniger galt der Tagungsgegenstand (Art. 109, Abs. 1: „Alle-Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.") den Teilnehmern als eine überaus ernste Sache, als ein „großes und prinzipielles Thema", „das nicht nur m i t den letzten Rechtsfragen auf das Intimste zusammenhängt, sondern auch m i t Weltanschauungsfragen" 2 , ein Thema „von allergrößtem aktuellem politischem und verfassungsrechtlichem Interesse", das „Grundprobleme des gegenwärtigen Staates" 3 berühre, ein Thema schließlich, das ein „Bekenntnis" unumgänglich mache4. So kann man sich vorstellen, daß die treffliche Bemerkung des Mitberichterstatters n u r ein sehr flüchtiges Lächeln auf den Gesichtern der Männer hervorrief, die da am grünen Tisch saßen m i t dem 1 Kaufmann, E. u n d Nawiasky, H . : Die Gleichheit v o r dem Gesetz i m Sinne des A r t . 109 der Reichsverfassung ( = Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer — i m folgenden abgekürzt W S t L — 3) B e r l i n / L e i p z i g 1927. 2 Kaufmann, W S t L 3, S. 2; i n gleichem Sinne Hensel, A.: W S t L 3, S. 58. 8 Nawiasky, W S t L 3, S.28; ebenfalls Kelsen, H.: W S t L 3, S.54. 4 Kaufmann, W S t L 3.

106

II. Teil: Der Gleichheitssatz in der Weimarer Staatsrechtslehre

Bewußtsein, nicht nur ein Fachgespräch zu führen, nicht nur u m die Grundlagen und Methoden der von ihnen hervorragend repräsentierten Wissenschaft zu ringen, sondern, wie es einer von ihnen formulierte, m i t der Überzeugung, daß „der Kampf u m den A r t . 109 . . . zugleich ein Herzstück des Kampfes u m den Rechtsstaat" sei 5 . Wie war es zu dieser Situation gekommen? Woher stammte die neue „Lebenskraft"? Offenbar hatten die Verfassungsgeber sie oder jedenfalls diesen ihren Ausdruck nicht erwartet. Während über die Absätze 2—6 des A r t . 109 i n der Nationalversammlung ein „ausgiebiger Streit" stattfand, wurde der Absatz 1 lediglich als „vorangestelltes allgemeines Prinzip" bezeichnet, als „ein alter Satz, den alle früheren Grundrechte enthalten haben" 6 . Ohne Aussprache wurde er durch einfache Zustimmung angenommen 7 . Otto Mainzer hat dafür die m. E. zutreffende Erklärung gegeben, daß man diesem Satz einen rechtspolitisch neutralen Sinn beigemessen habe: „Bürgschaft reiner Gesetzlichkeit", „ ,formale(r)' Grundsatz der vollkommenen Gesetzesanwendung (zu sein), den schon der E n t w u r f der für die Verfassung vielfach vorbildlichen f r a n k f u r t e r Verfassung 4 vom 28. 3.1849 vorgesehen, und den die preußische Verfassung von 1850 aufgenommen hatte 8 ." I n diesem Sinne lebte der A r t . 109,1 einige Jahre i n Theorie und Praxis — ohne Aufsehen zu erregen — dahin: es war die Zeit eines „vegativen Daseins" 9 . Man hatte den Gleichheitssatz, wie auch den sonstigen „alten Stoff", vor der Aufnahme i n die Verfassung auf sein „Verhältnis zum heutigen Staate" (Friedrich Naumann) geprüft und nichts RevolutionärNeues, sondern nur den Grundsatz des „Rechtsstaates an sich" i n i h m gesehen. Den neuen Verhältnissen sollte indessen insoweit Rechnimg getragen werden, als nach vielen „Nur-Proklamierungen" nun endlich Ernst gemacht werden sollte m i t der Gleichheit vor dem Gesetz, — fürwahr keine geringe Aufgabe für den neuen Staat 1 0 . Erstmalig i m Jahre 1922 tauchte i n der weis auf, daß die bisherige Auslegung des sei und daß A r t . 109,1 sich auch an den genden Jahr wurde dieser Gedanke von 6

Rechtswissenschaft der H i n Gleichheitsatzes ungenügend Gesetzgeber richte 11 . I m folverschiedenen Seiten aufge-

Holstein, ebd., S. 57. Mainzer, O.: Die Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit u n d Recht, B e r l i n 1929, S. 61 f. 7 D i x , W.: Das Grundrecht der Gleichheit u n d die Rechtsetzung. Diss. Marb. 1931. 8 Mainzer, a. a. O., S. 61 f. 9 Nawiasky, W S t L 3. 10 Vgl. Mainzer, a. a. O., S. 63. 11 Durch Hatschek, v g l . Leibholz, G.: Die Gleichheit v o r dem Gesetz. Eine Studie auf rechts vergleichender u n d rechtsphilosophischer Grundlage. M ü n . / Berl. 19592 (1. A u f l . 1925), S. 34, A n m . 1. 6

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

107

griffen oder behandelt 12 . I n der Schweiz erschien eine Dissertation über das Prinzip der Rechtsgleichheit 13 , i n der systematisch die „doppelte Wurzel" des Gleichheitsatzes erarbeitet wurde: Sie steckt, so zeigte der Verfasser, teils i n der Idee des liberalen Rechtsstaates, teils i n der Idee der Demokratie. Während die rechtsstaatliche Richtung m i t der Forderung nach Garantie und Schutz der Individualrechte zu der sogenannten Anwendungsgleichheit geführt habe, sei die Forderung nach Gleichheit i n der Gesetzgebung ein Ausfluß der reindemokratischen Richtung 1*. Deutlich w i r d i n dieser Arbeit die umfangreiche Praxis der schweizerischen Gerichte i n Beziehung auf den Gleichheitsgedanken und vor allem auch dessen Lebendigkeit i n der schweizerischen Bevölkerung. I n der Entwicklung der Anwendungsgrundsätze und Deutungen des i n A r t . 4 der schweizerischen Bundesverfassung niedergelegten Gleichheitssatzes sei man, so berichtete der Autor, schließlich auf das Moment der Willkür gestoßen, das die „letzte Etappe i n der Begriffsentwicklung der Gleichheit i n der Bundespraxis" sei 15 . I n der deutschen Rechtswissenschaft wurde aus genau dieser „Etappe" der Angriff auf die herrschende Lehre der (liberalen) Rechtsanwendungsgleichheit vorgetragen. I n einem Rechtsgutachten gab Triepel 1924 unter Berufung auf die schweizerische und auch die amerikanische Praxis eine erste ausführliche Darstellung der neuen Lehre 1 6 , deren eigentlicher Apostel dann Gerhard Leibholz m i t seiner Studie „Die Gleichheit vor dem Gesetz" (1925) und einer Reihe weiterer Arbeiten und Vorträge wurde, die sich bis i n die Zeit nach dem 2. Weltkriege hinziehen und die Diskussion über den A r t . 109,1 der Weimarer Reichsverfassung m i t der über den A r t . 3,1 des Bonner Grundgesetzes („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.") verbinden 17 . Als 1926 die eingangs erwähnte Staatsrechtslehrer-Tagung stattfand, war die Diskussion u m den Gleichheitssatz bereits i n vollem Gange, — jedenfalls wenn man das Abgeben von Stellungnahmen, die Versuche zur Untermauerung der eigenen Position noch als Diskussion bezeichnen w i l l . I n Wirklichkeit waren die Fronten bereits so verhärtet, daß von einem fruchtbaren wissenschaftlichen Gespräch nicht mehr die Rede sein konnte. A u f beiden Seiten, der herrschenden (oder auch 12

Nämlich von Nawiasky u. Kaufmann, vgl. Leibholz, a. a. O., S. 34. Meyer, P.: Das Prinzip der Rechtsgleichheit i n historischer u n d dogmatischer Betrachtung. Diss. Zürich 1923, Langensalza 1923. 14 Meyer, a. a. O., S. 53 ff. 15 Meyer, a. a. O., S. 70 f. 18 Vgl. Leibholz, a. a. O., S. 34, A n m . 1 u n d D i x , a. a. O., S. 10 f. 17 I n einer 2. erweiterten Auflage hat Leibholz seine Arbeiten „erneut zur wissenschaftlichen Diskussion" gestellt. W i r zitieren i m folgenden aus dieser (1959 erschienenen) Auflage unter V e r w e n d i m g der K u r z t i t e l „Gleichheit" u n d „Erg. Stud." (Ergänzende Studien). 13

1 0 8 I I . Teil: Der Gleichheitssatz i n der Weimarer Staatsrechtslehre schon nicht mehr herrschenden —) wie der neuen Lehre hatte man sich auf Dogmen zurückgezogen, die nicht bewiesen und nicht erschüttert wurden. Dieser Zustand dauerte an bis zum Ende der Weimarer Republik. Die neue Lehre differenzierte sich noch ein wenig, aber grundsätzlich neue Gedanken tauchten nicht mehr auf. Jeder versuchte, z. T. m i t Hilfe von Schülern, die Argumente und Methoden der Gegner als falsch und unzulässig zu erweisen. A m Ende gab es auf beiden Seiten Stimmen, die die jeweils gegnerische Lehre oder ihre Vertreter antidemokratischer Neigungen u n d Wünsche beschuldigte oder zumindest verdächtigte. Das Wort von „Wunschrecht" tauchte auf und wurde wie ein Federball zwischen den streitenden Parteien hin- und hergestoßen. Als nach dem Kriege i n Deutschland eine neue Demokratie aufgebaut und eine neue Verfassimg geschaffen wurde, zog der Parlamentarische Rat die Konsequenz aus dem Weimarer Streit und baute eine Bestimmung ein, durch die ein Wiederaufleben der Auslegungsfrage verhindert w i r d (Art. 1,3 GG). Somit herrscht heute die neue Lehre. Gerhard Leibholz scheint i n dieser Tatsache so etwas wie einen persönlichen T r i u m p h zu erblicken, eine historische Bestätigung der grundsätzlichen Richtigkeit der maßgeblich und unermüdlich von i h m vertretenen Lehre. M i t unüberhörbarer Genugtuung weist er darauf hin, daß alle Argumente seiner früheren Gegner — sowohl die „dogmengeschichtlichen wie exegetischen Bedenken" als auch die behaupteten „angeblich gefährlichen Konsequenzen" — sich als unbegründet erwiesen hätten und durch den Parlamentarischen Rat als unbegründet angesehen worden seien, weshalb es natürlich kein Zufall sei, daß nun auch seine damaligen Kontrahenten sich bekehrt hätten 1 8 . Dieser stille T r i u m p h ist jedoch nur auf der Grundlage der A n nahme möglich, daß die Geschichte über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Theorien entscheide, indem sie deren Realisation entweder zulasse oder verhindere. U n d das ist eine offensichtlich falsche A n nahme. Logik w i r d auch durch die Geschichte nicht zur Unlogik, und umgekehrt. „Bonn ist nicht Weimar" — was heute gut und nützlich ist, braucht es damals nicht gewesen zu sein. Indessen ist es nun an der Zeit, die Problematik der alten und der neuen Lehre näher zu entwickeln.

18

Leibholz, Erg. Stud., Kap. 6, S. 241 f.

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

109

2. Grundlagen, Argumente und Definitionen der alten und der neuen Lehre Die alte Lehre hatte den Inhalt des Gleichheitssatzes so verstanden, daß er allen Deutschen die gleiche Anwendung des gegebenen Rechtes — der Verfassungsbestimmungen wie der übrigen Normen, Bestimmungen, Verordnungen — garantiere. Die Gerechtigkeit liegt nach dieser Vorstellung darin, daß das einzelne Mitglied der Rechtsgemeinschaft nicht als Individuum m i t diesen oder jenen Eigenschaften, Verdiensten, Zugehörigkeiten etc. gedacht und gewertet wird, sondern daß es lediglich i n seiner Eigenschaft als Mitglied, als Deutscher angesehen wird, wenn es i n irgendeiner Weise m i t dem Gesetze i n Verbindung gebracht wird. Vor dem Gesetze, vor der Justitia m i t den verbundenen Augen gilt nur das Faktum „Deutscher", d. h. deutscher Staatsbürger: jeder Gesetzes anwendende hat lediglich (und dies aber auch immer) zu prüfen, ob dieser Tatbestand i n einem gegebenen Falle erf ü l l t sei. Diese Prüfimg ist, logisch gesehen, ein Vergleich zwischen dem Begriff Deutscher des A r t . 109,1 und demjenigen, auf den i m Falle der Erfüllung des erforderlichen Tatbestandes das Gesetz zur Anwendung kommen soll. Erfüllung des Tatbestandes heißt hier nichts anderes, als daß das Urteil des Vergleichens „Gleichheit" lauten muß. Grundlage des Vergleichens ist der — durch A r t . 109,1 bestimmte — „Gesichtspunkt der Reflexion , der darüber entscheidet, was für sie wesentlich oder unwesentlich sein soll" 1 9 , d . h . i n diesem Falle das „Gesetz". I m Sinne der alten Lehre, i m Sinne eines von Jahrhunderten geprägten Sprachgebrauchs und der Erfordernisse, die man von Seiten der Logik und philosophischen Begriffsbildung an den ersten Satz des A r t . 109 der Reichsverfassung stellen kann, muß die Betonung i n i h m auf „Gesetz" liegen: Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. So verschieden sie sonst auch immer sein mögen — unter diesem „Gesichtspunkt der Reflexion" sind sie gleich . I n der legendären Geschichte des Müllers von Sanssouci werden die historischen Anfänge dieser Einschätzung i m deutschen Rechtsgebiet deutlich 20 . Die Angriffe der neuen Lehre auf diese Interpretation des Gleichheitssatzes gehen — obwohl sich ihre Vertreter dessen durchaus nicht immer bewußt sind — von dem Zweifel an der eindeutigen Bestimmtheit des Standpunktes der Reflexion aus. Es muß allerdings hinzugefügt werden: soweit sie überhaupt ernst zu nehmen sind. Denn die 19 Eine hier vortrefflich zu nutzende Wendung W i l h e l m Windelbands aus seiner Untersuchung „Uber Gleichheit u n d I d e n t i t ä t " ( = Sitzungsber. d. Heid. Akademie d. Wiss., phil.-hist. Kl., Jg. 1910, A b h . 14), Heidelb. 1910. 20 Vgl. Radbruch, G.: Einführung i n die Rechtswissenschaft, Stuttg. 1958 (9. Aufl., verb. Neudruck, hrsg. v. K . Zweigert), S. 151.

1 1 0 I I . Teil: Der Gleichheitssatz in der Weimarer Staatsrechtslehre Behauptung, daß der Ton i m Gleichheitssatz eigentlich auf „vor" liege, daß dieses „ v o r " zeitliche Bedeutung habe und also damit gesagt sei, „daß alle Deutschen i n ihren Rechten gleich sind, bevor das Gesetz vollkommen fertiggestellt ist", kann mitsamt der daraus gezogenen Folgerung („ . . . daß der Gesetzgeber dies zu berücksichtigen h a t . . . " ) nur als ein Taschenspieler-Kunststückchen gelten 21 . Für alle, für die die deutsche Sprache noch einen Sinn hat, ist das keine Wortlaut-Interpretation, wie behauptet wird, sondern ein Sophisma 22 . Anders ist es m i t dem Inhalt der bzw. m i t dem Begriff des Gesetzes. Nach der alten Lehre sagt der Gleichheitssatz nichts über den Inhalt des Gesetzes, nichts über den materiellen Gehalt der gegebenen oder zu gebenden Gesetze 28 . Der Gleichheitssatz benutzt lediglich den Begriff Gesetz und setzt i h n damit als bekannt voraus. Es heißt „das Gesetz", also jedes Gesetz, jedes (so muß ergänzt werden) deutsche Gesetz, mithin: die Gesamtheit aller deutschen Gesetze oder das geltende deutsche Recht. Dieses ist das „tertium comparationis", dasjenige, w o r i n bzw. hinsichtlich dessen die zwei jeweils zu vergleichenden Dinge (Personen) nach der Maßgabe des Gleichheitssatzes als gleich zu gelten haben. Inhaltliche Gleichheiten etwa i m Sinne der Forderung „gleiches Recht für alle" finden sich nach der alten Lehre i n den anderen Absätzen des A r t . 109 RV und auch sonst vielerorts i n der Verfassung, nicht aber i m Gleichheitssatz selbst 24 . Die neue Lehre erhob auch gegen diesen Standpunkt Einwendungen, und zwar m i t dem Argument, daß nach dieser Auslegung „neben vielen i n der Verfassung geregelten Sonderanwendungsfällen eine große Reihe von Lücken entstehen würde, i n deren Behandlung der Gesetzgeber frei wäre" 2 5 . I n der Hauptsache aber setzte die neue Lehre ihren Hebel nicht an dem „Inhalt der Gesetze" 26 — wie einige Vertreter der alten Lehre irrtümlich annahmen —, sondern an dem Begriff des Gesetzes an. Carl Schmitt, den man i n gewissem, noch näher zu bestimmendem Sinne 27 ebenfalls zu den Anhängern der neuen Lehre rechnen kann, hat i n 21 Z i t a t aus der Schrift des Leibholz-Schülers H e l m u t Bindewald: Der Gleichheitsgedanke i m Rechtsstaate der Gegenwart, Greifswald 1931, S. 38. — I n gleichem Sinne Leibholz, Gleichheit, S. 35. Leibholz zieht überdies noch den i r r t ü m l i c h e n Schluß, daß, w e n n die Gleichheit in dem Gesetze gewahrt sei, sie auch vor dem Gesetz v e r w i r k l i c h t sei. Das ist keineswegs der Fall, w i e die Rechtsgeschichte nicht n u r der vergangenen Jahrhunderte lehrt. 22 Griech. = etwas „ l i s t i g Ausgesonnenes". 23 Anschütz, G.: Die Verfassung des Deutschen Reichs v o m 11. August 1919, B a d H o m b u r g v. d. Höhe 1960, 14. Aufl., S. 523. 24 Anschütz, a. a. O., S, 522, 527 f. 26 D i x , a. a. O., S. 19. 28 Anschütz, a. a. O., S. 523. 27 Vgl. u n t e n K a p . I .

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

111

seiner Verfassungslehre 29 den Gesetzesbegriff einer historischen und typologischen Analyse unterzogen, aus der das hier Wesentliche entnommen werden kann. Schmitt unterscheidet einen rechtsstaatlichen und einen politischen Gesetzesbegriff, daneben noch einen sog. „formellen Gesetzesbegriff". Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff enthält „geschichtlich wie gedanklich die Ablehnung der Herrschaft von Menschen" und das unabdingbare Merkmal des Allgemeingültigen, des allgemein Verbindlichen und Generellen. „ A u f eine Eigenschaft kann nicht verzichtet werden, ohne daß der Rechtsstaat selbst entfällt: auf den generellen Charakter der Rechtsnorm. Hierin liegt die letzte Sicherung der alten rechtsstaatlichen Unterscheidung von Gesetz und Befehl, von ratio und Wille, und damit der letzte Rest der ideellen Grundlage des bürgerlichen Rechtsstaates überhaupt 2 9 ." Damit ist der politische Gesetzesbegriff schon umrissen: Gesetz i n diesem Sinne ist „konkreter Wille und Befehl und ein A k t der Souveränität" 3 0 . Für den formellen Gesetzesbegriff gibt Schmitt die Definition: „Gesetz ist das, was von den für die Gesetzgebimg zuständigen Stellen i n dem für die Gesetzgebung vorgeschriebenen Verfahren vorgenommen wird 3 1 ." I m Sinne der von Schmitt getroffenen Unterscheidungen läßt sich sagen, daß die neue Lehre der alten vorwarf, den rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff zugunsten des politischen und des formellen Gesetzesbegriffs zu vernachlässigen. M i t besonderem Elan wurde dieser Vorw u r f von Hermann Heller auf der erwähnten Tagung i n Münster vorgetragen: „Der formalistische Positivismus... begnügt sich m i t einer theoretischen Scheinobjektivität und verfällt praktisch unweigerlich i n den radikalsten Subjektivismus 3 2 ." Positivismus und Formalismus waren also die beiden Schlagworte, die man den Vertretern der alten Lehre entgegenrief. Das Fundament ihres Denkens, der Rechtspositivismus, sei brüchig: „Die heutige Krisis erfordert zwangsläufig die revolutionäre Umschichtung unseres Rechtsdenkens durch die Wenzum Rechtsidealismus, w e i l nur durch die Gewinnung der substantiellen Wesenheiten und Werte die ,Einheit des Rechtssystems' errungen werden kann 3 3 ." Das war also der Gegenbegriff, das war auch die Sprache der neuen Lehre. Neu war — oder sollte sein — fast alles: Grundlagen und Grundbegriffe, Sprache, Methode, Motivation. Besonders charakteristisch dafür sind auch die Worte Günther Holsteins i n der Aussprache auf der Tagung zu Münster: „Gewiß rückt auf der einen Seite die Debatte des heutigen Tages mitten i n die große welt28 29 30 31 32 33

Schmitt, C.: Verfassungslehre, B e r l i n 19578, § 13, S. 138 ff. Verfassungslehre, S. 142. Ebd., S. 146. Ebd., S. 143. K a u f m a n n / N a w i a s k y , W S t L 3, S.57. Leibholz, Erg. Stud., Kap. 2, S. 164.

1 1 2 I I . Teil: Der Gleichheitssatz in der Weimarer Staatsrechtslehre anschauliche Wendung unserer Zeit hinein, die auf allen Gebieten über die relativistisch-skeptizistische und technisch-spezialistische Haltung hinaus i n allen Lebensbeziehungen u m letzte metaphysische Absolutheiten ringt. A u f der anderen Seite w i r d man aber auch betonen müssen, daß auf unserem Arbeitsgebiet die positivistische Methode aus sich selber heraus zu einer anderen Methode höherer Ordnung treibt. . . . Was m i r i m Hintergrund der heutigen Diskussion zu stehen scheint, scheint m i r eben die Wendung zur geistesgeschichtlichen Methode i n der Jurisprudenz zu s e i n . . , 3 4 ." So kämpften nach Holstein die Vertreter der neuen Lehre an dem Gegenstand A r t . 109, 1 R V u m Weltanschauung, Methoden u n d u m den Rechtsstaat zugleich: „ . . . so w a r m dies Ideal (des Rechtsstaates) auch von den anders gesinnten Interpreten anerkannt w i r d : W i r fürchten doch, daß es sich bei ihrer rein formalistischen Auffassung von Recht allzu leicht verflüchtigt.. . 3 B ." Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lehren hatte also einen ziemlich komplexen Charakter. Dominierten i n i h r Fragen des Rechtes oder wurde sie von der Politik und der Weltanschauung entscheidend bestimmt? War es ein Streit der Methoden und der Systeme, war der Ausschlag durch Befragen der Historie oder anderer Verfassungen (Schweiz, USA) zu gewinnen? Die Motive und Argumente verschränken sich untereinander, n u r schwer und nicht immer eindeutig sind die einzelnen Aussagen zu erklären. Dies zumal, da der Kampf nicht nur zwischen zwei Gruppen (wie man aus der i n der Literatur gebräuchlichen Terminologie schließen könnte), sondern auch zwischen einzelnen profilierten Persönlichkeiten stattfindet. Wenn etwa Kaufmann (in Münster) seinen Rechtsidealismus durch einen Rekurs auf das rationalistische Naturrecht zu untermauern versucht, r u h t Leibholz nicht, bis die Fachwelt weiß, daß sein Rechtsidealismus nicht naturrechtlich begründet werde: Die „grundlegenden theoretischen Erkenntnisse (würden) nicht rationalistisch, sondern phänomenologisch durch immittelbare intuitive Anschauung zur Evidenz erwiesen" 36 . I n der Bedeutung der rechtsvergleichenden Methode waren sich Kaufmann und Leibholz und wohl so ziemlich alle Anhänger der neuen Lehre einig, aber hier stieß man wieder auf den erbitterten Widerstand der alten Lehre, die erklärte, daß, wenn der Gleichheitssatz irgendwo geltendes Recht sei, das für die Weimarer Verfassung noch nichts besage; das bisher von der gegnerischen Lehre auf diesem Gebiete Gezeigte sei tendenziös, systemlos und habe den Zweck der Verwirrung: „Die Behauptungen einer deutschen Lehrmeinung, deren Begründung schwerfällt, werden in fremden Sprachen wiederholt. Vor den Mysterien der fremden Spra84 36 86

K a u f m a n n / N a w i a s k y , W S t L 3, S. 57. Ebd. Gleichheit (Erg. Stud., Kap. 2, S. 165).

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

113

che aber muß die K r i t i k verstummen 3 7 ." Angesichts dieser verwirrenden Fülle der Argumente ist es — zur Vermeidung von Mißverständnissen — notwendig, nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die hier behandelten Staats- und Rechtstheorien primär als ein Teil der historischen Wirklichkeit begriffen werden. Es steht ganz außer Frage, daß diese Theorien auch isoliert bzw. i m ideengeschichtlichen Rahmen behandelt werden können: als reine Schöpfungen des menschlichen Geistes, als Glieder einer Ideenkette. Diese Aspekte der Dinge treten für uns jedoch weitgehend i n den Hintergrund. W i r sehen i n den untersuchten Arbeiten Antworten auf aktuelle Fragen, und das bedeutet deshalb keine willkürliche, die wahre Natur der Schriften verzerrende Einengung des Blickfeldes, w e i l der aktuelle Bezug von den Autoren selbst immer wieder hergestellt wird. Sie wollten i n einer bestimmten Situation auf diese Situation einwirken, wollten Wege eröffnen, Entwicklungen einleiten, die, wie immer auch ideengeschichtlich gerechtfertigt, ihre besondere Ausprägung und Akzentuierung doch unzweideutig aus der aktuellen Situation erhalten. Viele der hier untersuchten Arbeiten waren trotz ihres rechtstheoretischen Gewandes politische Taten: die Nöte und Hoffnungen der Zeit bestimmen ihren Schnitt, ihren Stil, i h r Maß. Doch n u n an die Entwicklung der Problematik und Systematik der Auseinandersetzung! Da ist zunächst der V o r w u r f des Positivismus und Formalismus, den die neue Lehre erhob. War er berechtigt? I n dem behaupteten Umfang keinesfalls. Nach unserer Kenntnis der Literatur erscheint es unmöglich, daß Holstein den Beweis für seine Behauptimg hätte erbringen können, die alte Lehre ginge von einer rein formalistischen Auffassung aus. E i n schwerer Vorwurf, wenn man sich die Definition des formalistischen Gesetzesbegriffs von Carl Schmitt vor Augen hält. Aber er w a r so gemeint, taucht auch an anderer Stelle auf. „Geradezu paradox" mute es an, schrieb G. Leibholz, „daß vorwiegend demokratisch eingestellte Rechtsgelehrte von besonderer Bedeutung gegen eine wirklich sinnhafte Deutung des Gleichheitssatzes Bedenken erhoben und damit die letzten und wichtigsten Grundlagen des Rechtsstaates in der modernen Demokratie in Frage gestellt haben 38 ." Leibholz erklärte sich dieses Paradox damit, daß die Anhänger der alten Lehre eben doch die „früher geläufige Vorstellung von der Überordnung der Legislative über die Justiz" i n die neue Zeit übernommen hätten, eine Vorstellung, „für die das gesetzte Recht nichts anderes ist als ein Befehl des Staates an seine Beamten" 3 9 . Nun, der politische 37 Mainzer, a. a. O., S. 15. — Auch Anschütz lehnte die Bezugnahme auf die „schweizerisch-amerikanische Deutung des Gleichheitssatzes" ab, vgl. seine „Verfassung", S. 527. 38 Leibholz. Erg. Stud., Kap. 2, S. 169, Hervorh. v. Verf. 30 Ebd.

8 Hill

1 1 4 I I . Teil: Der Gleichheitssatz i n der Weimarer Staatsrechtslehre Gesetzesbegriff, den Leibholz hier den Anhängern der alten Lehre unterstellt, war w o h l kaum am Platze. Von Vertretern des staatlichen Absolutismus aufgestellt 40 , wurde er schon von Locke und dann auch von der deutschen Staatslehre i m 18. und 19. Jahrhundert durch den rechtsstaatlichen Begriff des Gesetzes ersetzt 41 . Leibholz gibt die demokratische Einstellung seiner Gegner selbst zu. Diese stehen i n der liberaldemokratischen deutschen Tradition, die m i t ihrem Bestreben nach Einschaltung der Volksvertretung i n die Gesetzgebung den absolutistisch-politischen Befehlscharakter des Gesetzes längst zu einem Anachronismus gemacht hatte. Wenn und soweit aber das Parlament bei der Gesetzgebung entscheidend mitzuwirken hat, kann von Gesetzen als „Befehlen" nicht mehr gut die Rede sein. Die Erklärung von Leibholz läßt also das Paradox bestehen. Seine wirkliche Auflösung findet es nicht durch dunkle Andeutungen über die Vergangenheit der Anhänger der alten Lehre; diese ist vielmehr i n der Einschätzung der Gefahren zu suchen, die die „Positivisten" m i t der neuen Lehre für die Zukunft verbunden sahen. Nach ihrer Meinung ergab sich Gefahr für die Ordnung des Staatswesens und gerade auch für die rechtsstaatlichen Elemente der Ordnung aus dem richterlichen Prüfungsrecht, das i m Gefolge der neuen Lehre zu ungeahnter Bedeut i m g kommen sollte. W i r müssen jetzt noch einmal zu dem „Hebel am Gesetzesbegriff" zurückkehren, den die Vertreter der neuen Lehre angesetzt hatten. Wie sah der Rechtsidealismus aus, auf den sie sich i n der Überzeugung der Brüchigkeit des Positivismus und Formalismus stellten? Folgen w i r zunächst den Ausführungen von G. Leibholz i n den verschiedenen Arbeiten über die „Gleichheit vor dem Gesetz". A u f Grund einer bereits als völlig sinnwidrig gekennzeichneten Wortlaut-Interpretation kam Leibholz zu dem Schluß, daß i n A r t . 109, 1 die „Gleichheit als eine jedem Gesetze immanente Voraussetzung gedacht" sei 43 , und deshalb bedeute der Gleichheitssatz „auch Gleichheit vor dem i m Gesetz zum Ausdruck kommenden Recht" (Hervorh. v. Verf.). Es kommt zum Ausdruck, und es muß zum Ausdruck kommen: ob das Recht i n einem Gesetz zum Ausdruck gekommen ist, das muß geprüft werden; i m Falle der Verneinung ist das Gesetz kein Recht. Das Recht der Prüfung des „Rechtsgehaltes" des jeweiligen Gesetzes hat der Richter. Soweit i n äußerster Kürze der Gedankengang. Ehe w i r seine Stationen näher betrachten, noch eine vielleicht nicht unnötige Vorbemerkung. W i r wollen nicht den Satz, daß dem Gesetze „Gleichheit" 40 41 42

Klassisch v o n Hobbes, vgl. C.Schmitt, Verfassungslehre, S. 140. Schmitt, Verfassungslehre, S. 140 f. Leibholz, Gleichheit. S. 35.

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

115

— i n einem gewissen Sinne jedenfalls — immanent ist, bestreiten, wenngleich w i r die Begriffe Gleichartigkeit und Allgemeinheit an diesem Platze für angebrachter halten, wie sie von Hegel, Mohl und v. Stein verwendet wurden. Man mag das als eine Frage der Terminologie oder des Stils ansehen, wobei aber zu bedenken ist, daß der diesbezüglichen Freiheit i n einer rechtsphilosophischen Arbeit doch enge Grenzen gesteckt sind. Wenn Lorenz von Stein sagt, daß das Gesetz „das i n allen thatsächlichen Verhältnissen Gleichartige erfassen und den Willen des Staats eben für dieß Gleichartige i n allem Verschiedenen feststellen" wolle und daher „alle seine Objekte einheitlich und gleichartig bestimmen" müsse 43 , dann mag man diese Bestimmung des Gesetzes noch so verstehen oder erläutern, daß i n dem Gesetz „Gleichheiten" stecken, daß das Zustandekommen des Gesetzes nicht ohne einheitlichen oder gleichen Maßstab denkbar ist etc., aber von einer „Gleichheit des Gesetzes" zu sprechen, wie das Leibholz und andere Vertreter der neuen Lehre gelegentlich tun, dürfte den hier zu stellenden Anforderungen an die Korrektheit der Sprache schon nicht mehr genügen 44 . „Gleichheit ist", so definiert Windelband, „ein Verhältnis, w o r i n Verschiedenes zueinander steht 45 ." Gleichheit ist also keine Eigenschaft oder irgend etwas, was einem D i n g zukäme, sondern ein Urteil über mehrere Dinge. Die Formel von der dem Gesetz „immanenten Gleichheit" kann man noch akzeptieren, nicht aber die Behauptimg, daß der Inhalt des A r t . 109, 1 gerade in dieser Formel bestünde. I n Art. 109, 1 w i r d nichts über den Begriff „Gesetz" gesagt, sondern über die dem Gesetz Konfrontierten . Leibholz k a m also auf einem Wege, von dem kein Abschnitt einer näheren Betrachtimg standhält, zu der Feststellung, A r t . 109, 1 bedeute Gleichheit der Deutschen vor dem Recht, und zwar „ i n allen seinen Erscheinungsformen" 46 . Danach überrascht es schon fast nicht mehr, wenn das der „Bestimmung des Gleichheitsbegriffs" gewidmete Kapitel seiner Studie sich i n beträchtlichem Umfang m i t dem Recht, m i t „Rechtsidee und Rechtsbegriff" 47 befaßt. Der an sich unkomplizierte Begriff der Gleichheit w i r d also nicht einfach erklärt, sondern zunächst i n das Gesetz hineinmanipuliert, und das Gesetz wiederum w i r d als 43

Stein, L . von: Die Verwaltungslehre. Neudruck der 1.—2. A u f l . 1866— 1884, T e i l 1, A b t . 1., A a l e n 1962, S. 73 f. — vgl. auch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 141. 44 Leibholz, Erg. Stud., Kap. 5, S. 218, 220; Kap. 6, S. 259; vgl. auch Anschütz, Verfassung, S.523. 45 Windelband, a.a.O., S. 8. — I n gleichem Sinne Nef, H . : Gleichheit u n d Gerechtigkeit, Zürich 1941. 46 Gleichheit, S. 35. 47 Gleichheit, Kap. 2, § 2, S. 53—71. Der oben zit. Begriff „Rechtsinstinkt" taucht auf S. 61 auf.

8*

1 1 6 I I . Teil: Der Gleichheitssatz i n der Weimarer Staatsrechtslehre Ausdrucksform des Rechtes angesehen. Doch damit ist es des „Zurückgehens" (man fürchtet fast: i n i n f i n i t u m . . . ) nicht genug: Hinter dem Recht stehen Rechtsidee, Gerechtigkeit, Rechisbewußtsein, Rechtsinstinkt — hier überall, unter Herstellung von Assoziationen an Piatons Begriffspyramide und Freuds Tiefenpsychologie, w i r d nach der Gleichheit bzw. ihrem „materiellen Gehalt" 4 8 gesucht. Das Recht soll die Rechtsidee verwirklichen, t u t es das, dann ist es gerecht und „richtig", d. h. dann ist es erst Recht 40 . Das Gesetz muß „aus der Rechtsidee, der Gerechtigkeit" fließen, es muß „Ausdruck des Rechtsbewußtseins, der Rechtsgemeinschaft" 50 sein. Gesetz und Recht sind also abgeleitete und ableitbare Größen; zwischen ihnen und dem Rechtsbewußtsein bzw. -instinkt der Rechtsgemeinschaft besteht ein objektiver Zusammenhang. Folglich ist der Gesetzgeber nicht frei i n der Setzung des Rechtes, sondern an diesen objektiven Zusammenhang gebunden. Akte der Rechtssetzung sind „zunächst nur A k t e der Staatsgemeinschaft, d.h. politische Gewaltakte" 6 1 . Sie werden „zu Recht i n einem materialen Sinn erst dadurch, daß das Rechtsbewußtsein einer konkreten Volksgemeinschaft diese als rechtlich motiviert anerkennt, sie zu Recht legitimiert"52. Zwar hat der Gesetzgeber nach Leibholz und anderen Anhängern der neuen Lehre einen Spielraum freien Ermessens, es ist aber möglich, daß er diesen durchbricht und unrichtiges Recht setzt oder sogar vollkommen willkürliche A k t e vornimmt, also Akte, die dem Rechtsbewußtsein (bzw. -instinkt!) der Gemeinschaft, die der Rechtsidee, der Gerechtigkeit, den rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechen, die ungerecht sind. Eine solche Handlung des Gesetzgebers ist möglich, sie kann nicht grundsätzlich verhindert werden, aber sie darf dann wenigstens nicht zu praktischen Folgen führen: Der willkürliche Rechtssatz darf nicht zur Anwendung gelangen. Die Instanz, die die Disqualifikation eines solchen Rechtssatzes auszusprechen hat, ist der Richter, sein Instrument — der Gleichheitssatz (Art. 109, 1). 48 Gleichheit, S. 53. — I m m e r wieder sieht m a n sich genötigt, m i t W. W i n delband auf das grundsätzlich Verfehlte dieses Strebens hinzuweisen: Gleichheit ist nichts „Materielles", sondern „eine D e n k f o r m der Reflexion, welche n u r f ü r die Vorstellungsinhalte als solche ohne jede gegenständliche Bezieh u n g g i l t " (Gleichheit u n d Identität, S. 7). 40 Gleichheit, S. 61. 60 Erg. Stud., Kap. 5, S. 218. 51 Ebd. 52 Ebd. — E i n anderer Anhänger der neuen Lehre, der „Überpositivist" Wolfgang D i x , stellte f ü r das „Verhältnis der Begriffe Recht, Rechtsidee, Rechtsempfinden u n d Rechtsordnung" folgende „ F o r m e l " auf: „Die Rechtsidee ist ein Bewertungsmaßstab, an H a n d dessen das Rechtsempfinden der Mehrheit der Gemeinschaft feststellt, was jeweils Recht sein soll" (a.a.O., S. 43).

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

117

Damit ist der Kreis der Argumentation Leibholz' (man kann auch sagen: der neuen Lehre) geschlossen und gleichzeitig der Punkt erreicht, wo der politische Sinn des ganzen wieder i n den Vordergrund tritt. Wieder, w e i l auch bei der Entstehung der neuen Lehre politische Motive überwiegen. Ehe w i r uns dieser Frage zuwenden, ist das Verhältnis von Gleichheitssatz und W i l l k ü r , wie es Leibholz sieht, noch etwas genauer zu beschreiben. Warum kann der Gleichheitssatz die i h m von Leibholz zugesprochene Funktion erfüllen? A n t w o r t Leibholz': Geprüft und disqualifiziert werden soll die Ungerechtigkeit, die W i l l k ü r . Ungerechtigkeit läßt sich i m Vergleich m i t der Gerechtigkeit erkennen. Eine allgemeingültige Definition der Gerechtigkeit ist aber nicht möglich, w e i l sie „ m i t dem Leben selbst i n unauflöslicher Einheit verbunden" 5 8 ist; die Formen, i n denen sich der Gerechtigkeitsgedanke verwirklicht, ändern sich ständig mit dem Leben der Gemeinschaft. Auch ist das Rechtsbewußtsein der Gemeinschaft nicht immer m i t genügender Sicherheit zu ermitteln 6 4 . Trotz allem läßt sich aber der Kern, das entscheidende Merkmal der Gerechtigkeit (in allen ihren Formen) benennen: Es ist die (aristotelisch — also verhältnismäßig — verstandene) 55 Gleichheit. Gerechtigkeit ist auf jeden Fall Gleichheit 58 . Folglich ist Ungerechtigkeit oder W i l l k ü r = Ungleichheit. Da der A r t . 109,1 die Gleichheit des Gesetzes (Rechtes) garantiert bzw. gebietet 57 , verbietet dieser A r t i k e l Ungerechtigkeit und W i l l k ü r : Der Gleichheitssatz ist ein Willkürverbof 8, er enthält „letzten Endes nichts anderes wie eine Bindimg des Gesetzgebers an die Rechtsidee und damit den Befehl, das Recht stets i n innere Beziehung zu der jeweils näher zu konkretisierenden Gerechtigkeit zu setzen" 59 . Oder i n anderer Formulierung: „ . . . das, was dem Gleichheitssatz widerspricht, auch nicht Gesetz . . . sein k a n n . . . . Gleichheitssatz und Gesetzesbegriff sind insoweit Korrelate 8 0 ." Selbstverständlich sind auch Justiz und Verwaltung durch A r t . 109,1 gebunden: er gilt für „alle Funktionen des Staates". Der Richter hat infolgedessen i m Gleichheitssatz ein universal anwendbares Instrument zur Nachprüfung des „an die Adresse von Rechtssubjekten gerichteten Rechtes".

63

Gleichheit, S. 58. Ebd., S. 77. 55 Ebd., S. 57. 66 Leibholz hat sogar die Formulierung akzeptiert, er habe „Gleichheit u n d Gerechtigkeit miteinander identifiziert", vgl. Erg. Stud., Kap. 5, S. 232 (1931). 67 Hier w i r d wieder die v o n uns als falsch erwiesene Folgerung als V o r aussetzung eingefügt. 58 Gleichheit, S. 77. 69 Erg. Stud., Kap. 5, S. 232 (1931). Erg. Stud., Kap. 3, S. 201 (1928). 64

1 1 8 I I . Teil: Der Gleichheitssatz in der Weimarer Staatsrechtslehre

B. Motive und Konsequenzen der neuen Auslegung des Gleichheitssatzes Damit dürfte eine ausreichende Basis für die Darstellung der u m die neue Lehre i m allgemeinen und die Auffassung von Leibholz i m besonderen sich erhebenden Diskussion und ihre kritische Auswertung gewonnen sein. Der Streit der Meinungen über die neue Lehre konzentrierte sich i m wesentlichen an zwei Punkten: einmal an den Motiven u n d zum andern an den Folgen. Während die etwas langwierigen rechtsvergleichenden und rechtsphilosophischen Erörterungen Leibholz' i m allgemeinen eine nur summarische Beachtimg fanden, biß man sich an den beiden politischen Endpunkten fest. 1. Die Motive der neuen Lehre Schon wiederholt ist i n der Wiedergabe der Gedanken der neuen Lehre der Gesetzgeber als der eigentliche Bezugs- oder Angriffspunkt sichtbar geworden. Leibholz hat keinen Zweifel daran gelassen, daß seine Schrift eine Attacke auf den Gesetzgeber seiner Zeit, auf das Parlament sein sollte, speziell auf das deutsche Parlament. I n den Repräsentativdemokratien sei, so argumentierte er, „fast die gesamte politische Macht" i m Parlament konzentriert 1 . N u n seien aber „auch einem P a r l a m e n t . . . absolutistische Gelüste nicht fremd" 2 , gegen die das I n d i v i d u u m geschützt werden müsse, was „durchaus i m Interesse einer Veredlung der Demokratie" 3 gelegen sei. Anhaltspunkt für die Suche nach geeigneten M i t t e l n des Schutzes seien die i n der Verfassung verankerten und i n einer Demokratie besonders bedeutungsschweren Grundrechte, allen voran das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz. Was immer dieser alte liberale Satz i n der alten Reichsverfassung bedeutet und was immer man sich bei seiner Übernahme i n die Verfassung der demokratischen Republik gedacht habe — : er sei jetzt „von der Zufälligkeit (seiner) Entstehungsgeschichte zu lösen" 4 und so zu verstehen, wie er i n Staaten m i t ähnlichen politischen und kulturellen Grundlagen ausgelegt würde, etwa i n der Schweiz oder i n den Vereinigten Staaten. Furcht vor der „ W i l l k ü r " und dem „Absolutismus" gegenüber dem Individuum, Sorge u m den Rechtsstaat, materieller Gerechtigkeit, „Veredlung" der Demokratie Motive begründet, handelte es sich hier u m allgemein 1 2 8 4

Gleichheit, S. 13. Ebd. Gleichheit, S. 38. Gleichheit, S. 14.

des Parlaments Verwirklichimg —: waren diese oder doch weit-

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

119

gehend anerkannte Notwendigkeiten? Wie standen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu den aufgeworfenen Fragen und der vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeit? Bestand überhaupt eine begründbare Aussicht, die ins Auge gefaßten Probleme — die doch politische Probleme waren — m i t den vorgeschlagenen M i t t e l n rechtlicher Natur lösen zu können? M i t diesen Fragen müssen w i r uns hier beschäftigen. Da ist zunächst die Furcht vor dem „Parlamentsabsolutismus", das Mißtrauen gegenüber dem deutschen Reichstag. I n diesem Punkte stand Leibholz nicht allein. E i n Zug der Parlamentsfeindschaft und -ablehnung ging von den ersten Tagen der Republik an durch das deutsche Volk, geht i n den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts durch die Welt. W i l l y Hellpach hat diesem Phänomen der „Weltkrisis der Parlamentsgeltung" die Deutung gegeben, daß der Parlamentarismus als „ K i n d der frühen Neuzeit" und des antike Formen wiederbelebenden Humanismus von Dialektik u n d Rhetorik, von Rationalismus und dem Glauben an Überzeugungsmöglichkeit „durch sprachlich vollendet formulierte Gedankenführimg" gelebt und der durch die neuzeitliche Wirtschaft und Technik bewirkte Zwang zur Sachlichkeit dem Parlament sein eigentliches Lebenselement genommen habe. Denn m i t der unübersehbaren Menge und Vielfalt des zu Regelnden sei notwendig die Herrschaft der Spezialisten und der Triumph des Ausschusses gekommen: damit die Heimlichkeit, der Interessenschwund für die jeweils unbekannte Materie und das Mißtrauen, genährt vor allem auch durch die Tatsache, daß die (notwendig gebrauchten) Sachkenner z.T. auch Interessenten seien. Insgesamt sei die Tendenz auf einen „konstitutionellen Parlamentarismus" erkennbar. „Das heißt: die demokratisierten Verfassungen stellen neue Kräfte neben Oberhaupt und Parlament, z.B. die unmittelbare Volksmasse i n Begehr und Entscheid, und die harte Wirklichkeit verleiht alten Kräften neue Bedeutung, z.B. der administrativen Verordnung, die berufen scheint, i n v i e l höherem Maße als vordem an der faktischen, rechtsschöpferischen Gestaltung der Staatsdinge mitzutun 5 ." Die sachliche Analyse des Demokraten Hellpach® enthält neben einigen doch mehr zeit- und situationsbedingten Faktoren auch solche, die i n der Tat die Zukunft bestimmten und heute wieder i n der Diskussion stehen 7 . Eine dauernde und allgemeine Bedeutungsminderung des Parlaments hat sich aber, i m Gegensatz zu der Prognose Hellpachs, nicht ergeben. Das Parlament hat wieder Boden gutgemacht, vor allem auf 5

Hellpach, W.: Politische Prognose f ü r Deutschland, B e r l i n 1928, S.144—176. Hellpach w a r M i t g l i e d der Deutschen Demokratischen Partei u n d 1924/25 Staatspräsident von Baden. 7 E t w a das Verhältnis der Interessengruppen zu Parlament u n d politischer Willensbildung. 6

1 2 0 I I . Teil: Der Gleichheitssatz in der Weimarer Staatsrechtslehre seinem ureigensten Gebiete, der Gesetzgebung. Daß es i n Weimar i n diesem Bereiche mehr und mehr ins Hintertreffen geriet, lag nicht zuletzt an der Konstruktion der Weimarer Verfassung. Bekanntlich hatte M a x Weber während der Schaffung der Verfassung seinen ganzen Einfluß geltend gemacht u m das zu verhindern, was i n den Augen von Gerhard Leibholz dann doch noch nicht genügend verhindert war: daß dem Parlament „fast die gesamte politische Macht" (Leibholz) zufalle. Weber, der bereits i n „Parlament und Regierimg i m neugeordneten Deutschland" (1917) betont hatte, daß i h m „die geschichtlichen Aufgaben der deutschen N a t i o n . . . grundsätzlich über allen Fragen ihrer Staatsform (ständen)" 8 , der aber doch — etwa zur gleichen Zeit 9 — als spezifische und unersetzbare Leistung des Parlaments das Zustandebringen des „relativ Besten" anerkannt und auch die Kontrollfunktion des Parlaments als überaus bedeutungsvoll angesehen hatte 10 , glaubte 1919 vor einem „geradezu blinden Köhlerglauben an die Unfehlbarkeit und Allmacht der Mehrheit — nicht etwa des Volkes, sondern der Parlamentarier . . . " warnen zu müssen, von dem alle Verfassungsentwürfe ausgingen. Denn, so glaubte Weber, i n den kommenden Parlamenten würde man besoldete, unter dem Druck von Berufsverbänden stehende Parteisekretäre finden, „denen die nationale Politik ,Hekuba' ist", ein „Banausenparlament" werde es geben, — „unfähig, i n irgendeinem Sinne eine Auslesestätte politischer Führer darzustellen". Der politischen Bedeutung des Parlaments seien damit Schranken gesetzt, die „unbedingt ein auf dem demokratischen Volkswillen ruhendes Gegengewicht" forderten: „ E i n volksgewählter Präsident als Chef der Exekutive, der Amtspatronage und (eventuell) Inhaber eines aufschiebenden Vetos und des Befugnisses der Parlamentsauilösung und Volksbefragung ist das Palladium der echten Demokratie, die nicht ohnmächtige Preisgabe an Klüngel, sondern Unterordnung unter selbstgewählte Führer bedeutet 11 ." Schmähende, mißtrauische und verächtliche Äußerungen über den Parlamentarismus der Weimarer Zeit sind Legion. Es wäre ein Leichtes, den Hintergrund für die Darstellung der Intentionen Leibholz' und 8 Weber, M . : Gesammelte politische Schriften, hrsg. v o n J. Winckelmann, Tüb. 19582, S. 294. 9 I n : Wahlrecht u n d Demokratie i n Deutschland, Dez. 1917 (abgedr. i n Ges. pol. Schriften). 10 Ebd., S. 276—279. 11 Der Reichspräsident, i n : Ges. pol. Schriften, S. 486 ff. 12 F ü r alle anderen hier i m m e r h i n ein Beispiel, das die Argumente u n d den T o n verdeutlicht, i n dem m a n über diesen Gegenstand sprach: „Das P a r lament dezentralisiert den einheitlichen W i l l e n der Nation, es teilt, spaltet u n d schwächt i h n durch die Existenz einer Reihe sich autonom gebärdender Parteiorganisationen, die auf Kosten v o n Staat u n d N a t i o n eine verhängnisvolle W i r k s a m k e i t ausüben . . . (Das) P a r l a m e n t . . . als ein lästiges Zwischen-

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

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der neuen Lehre m i t Tausenden von Zitaten auszumalen 12 . Vor allem von Seiten der Rechten sind, stimuliert noch durch den Krieg und die dadurch nicht nur i n Deutschland sich ausbreitende faktische Militärdiktatur 1 3 , unablässig Angriffe gegen das Parlament vorgetragen worden. Wenn auch zwischen diesem Schrifttum und dem hier benutzten eine Übereinstimmung insofern besteht, als der positive Bezugspunkt der K r i t i k fast ausnahmslos das Volk ist, so ist der Geist dieser Produkte doch nicht der Geist der neuen Lehre und sind die Absichten ihrer Verfasser nicht die Absichten von Gerhard Leibholz. Leibholz war zweifellos — und das muß angesichts der scharfen K r i t i k , die an seiner Gedankenführung i m einzelnen hier geübt w i r d und auch gegen seine damaligen K r i t i k e r besonders betont werden — Demokrat —, Demokrat nach Absicht und Haltung. Deshalb kommen zur Eingrenzimg seiner Position hier auch nur demokratische Stimmen — wie etwa die Hellpachs und Webers — i n Betracht. Der Weimarer Verfassungsgeber realisierte die Forderungen Max Webers: die Position des Reichspräsidenten wurde m i t erheblicher politischer Macht ausgestattet 14 . W i l l y Hellpach hielt die Macht des Präsidenten der des Parlaments einerseits und des Volks andererseits für ebenbürtig und die Gewaltenauswägung i n der Weimarer Verfassung aus diesem Grunde für die „vielleicht ebenmäßigste, die sich auf Erden findet". Je nach der Stärke oder Schwäche der Person des Reichspräsidenten könne dieser oder auch das Parlament jeweils den Ausschlag geben: „Denkt man sich eine politisch bedeutende Präsidentengestalt, . . . so ist . . . der Parlamentarismus dadurch aufs bestimmteste begrenzt 16 ." stück zwischen N a t i o n u n d Staat empfunden w i r d . . . . den Prozeß der F o r t bildung der Demokratie geradezu sabotiert. D a m i t rückt der Zeitpunkt heran, an dem es v o m Volke selbst als eine scheindemokratische Einrichtung entl a r v t u n d beiseite geschoben w i r d . . . . Die Z a h l der Gegner wächst. W i r genießen das eigentümliche Schauspiel eines Parlaments, das z u m großen T e i l aus Antiparlamentaristen besteht. W i r sehen unbehilfliche, vielhundertköpfige, arbeitsunfähige Körperschaften, die sich i n Rüpelszenen v o r der N a t i o n gefallen. Die Satire, die K a r i k a t u r hat sich dieser I n s t i t u t i o n i n einer F o r m angenommen, die dem Parlamentarismus an sich einen eigentümlichen Beigeschmack gibt. . . . Ist nicht der Gedanke, die Z u k u n f t Deutschlands, den schweren K a m p f u m seinen A u f stieg an eine Schar solcher Mandatare zu knüpfen, lächerlich! Ist nicht die Vorstellung absurd, daß diese von Parteiausschüssen zugelassenen Diätenempfänger i n einem Kampfe u m Freiheit u n d Leben der N a t i o n auch n u r die bescheidenste Rolle spielen können? H i e r ist keine K r a f t mehr, m i t der sich rechnen ließe. Hier w i r k t eine f ü r Staat u n d N a t i o n verhängnisvolle Körperschaft, die den Quell der Anarchie bildet, v o n der Deutschland überflutet w i r d . " (Friedrich Georg Jünger i n : Schultz, E.: Das Gesicht der Demokratie. E i n B i l d e r w e r k zur Geschichte der deutschen Nachkriegszeit, Leipz. 1931, S. 18 f.). 13 Vgl. Weber, M . : Wahlrecht u n d Demokratie i n Deutschland, a. a. O., S. 278. 14 Vgl. K . D. Erdmann: Die Zeit der Weltkriege, S. 111. 15 Hellpach, a. a. O., S. 136 ff.

1 2 2 I I . Teil: Der Gleichheitssatz in der Weimarer Staatsrechtslehre I n einer Reihe von Schriften hat Carl Schmitt gegen Ende der Weimarer Republik den Gedanken Max Webers von der Bedeutung des Reichspräsidenten noch einmal aufgegriffen 10 . Indem er die praktische Entwicklung der Funktionen des deutschen Staatsoberhauptes analysierte, k a m er zu dem Schluß, daß vor allem durch die zwar dem Sinn und Wortlaut der Verfassung nach falsche und logisch unsinnige, aber immerhin herrschende Interpretation und Anwendung des A r t . 48, 2 die Macht des Reichspräsidenten noch erheblich gegenüber dem Parlament gestiegen sei u n d daß man i n i h m den „Hüter der Verfassung" zu sehen habe, der Verfassung, die von der dem Interessenpluralismus ausgelieferten Gesetzgebung des Parlaments gefährdet sei 17 . Carl Schmitt reduziert die ganze Problematik der politischen Situation, i n der sich Deutschland befand, i n einer höchst eindrucksvollen Weise auf die Problematik des geltenden Gesetzesbegriffs und die damit zusammenhängenden Fragen der Gesetzgebungsbefugnis. „Parlamentarische Legalität" und „plebiszitäre Legitimität" werden als unvereinbare „Rechtfertigungssysteme" einander gegenübergestellt: auch hier also der Rückzug auf das Volk als die entscheidende politische Größe. Gesetzesbegriff und Volk (bzw. Volksbewußtsein) erkannten w i r bereits als die wesentlichen Pole der neuen Lehre. Auch Leibholz hatte sich eigentlich die Frage nach dem „Hüter der Verfassimg" vorgelegt, insofern nämlich der i h m am Herzen liegende Schutz des Individuums und des Rechtsstaates m i t der Verfassung stand u n d fiel. Bei einem Vergleich der ähnlich motivierten Schriften von Leibholz und Schmitt fällt aber nicht nur die schärfere Herausarbeitung des theoretischen Kerns bei Schmitt und dessen konsequentes Festhalten an diesem K e r n bei der Umschau nach Lösungsmöglichkeiten auf (— während Leibholz von einer am Rande liegenden Plattform aus — dem Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz — das ganze System durch Neuinterpretation und Verschiebung der Gewichte retten w i l l , woraus 16

Wenn oben gesagt wurde, daß n u r die Stimmen v o n „Demokraten" i n einen Zusammenhang m i t der neuen Lehre gebracht werden, dann mag der Name Carl Schmitt manchem hier fehl am Platze erscheinen. Indes werden auch die, die C. Schmitt die erwähnte Eigenschaft nicht zuerkennen, w o h l zugeben, daß jedenfalls die i n den hier zitierten Schriften niedergelegten Gedanken C. Schmitts demokratische Gedanken, daß sie system-immanent, durchaus an der Weimarer Verfassung orientiert sind. C. Schmitt selbst hat „Legalität u n d L e g i t i m i t ä t " i n einem Nachwort zur 2. A u f l . (1957) als „Beschwörung", „ W a r n r u f " u n d „Notschrei" charakterisiert, — als Notschrei zur Rettung der demokratischen Verfassung (Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 345). 17 Dies u n d die folgende Wiedergabe nach: „Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung", 1929, V o r f o r m von „Der H ü t e r der Verfassung", 1931. Dazu die Besprechung v o n Joh. Popitz, „ W e r ist H ü t e r der Verfassung?", und schließlich: „Legalität u n d L e g i t i m i t ä t " , 1932. A l l e drei A r b e i t e n sind abgedruckt i n : Verfassungsrechtliche Aufsätze, B e r l i n 1958.

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sich alle seine labilen Hilfskonstruktionen und die ganze Umständlichkeit und Schwäche seiner Gedankenführung ergeben —), sondern auch die größere Nähe zur politischen Wirklichkeit und die dadurch ermöglichte schärfere Fixierung der spezifischen Gefahren für die demokratische Ordnimg i n Deutschland. Schmitt erkennt den eigentlichen schwachen Punkt der Verfassung besser, w e i l er intensiver nach der „besonderen Richtung, aus welcher eine Gefahr droht" 1 8 fragt, während Leibholz seinen Ansatz (absolutistische Gelüste des Parlaments) m i t literarischen Zitaten aus vergangenen Jahrhunderten zu unterbauen sucht 19 und sowohl die Richtigkeit als auch die Unbedenklichkeit seiner Theorie m i t Hilfe ausländischer Rechtsprechung und anderswo gemachter Erfahrungen erweisen zu können glaubt. Gegen dieses Verfahren sind schon damals, zum Teil aus Gründen der juristischen Methode, Einwendungen erhoben worden, so etwa von Rümelin 2 0 und Mainzer 2 1 . W i r halten die richtig gehandhabte rechtsvergleichende Methode keineswegs für unzulässig, w o h l aber dann unergiebig und bedenklich, wenn die zu vergleichende Materie i n besonders engem Zusammenhang m i t den politischen Grundlagen und Problemen der zum Vergleich herangezogenen Ordnungen steht. V ö l l i g unmöglich aber w i r d der Vergleich dann, wenn aktuelle Probleme, die tief i n den Besonderheiten historischer und menschlicher A r t verwurzelt sind, nach einer Lösung verlangen. Die i n Jahrhunderten gefestigte und abgeklärte Demokratie der Schweiz und der Vereinigten Staaten, insbesondere auch die Stellung des Supreme Court der USA, konnte nicht als Modell für die „improvisiert" eingerichtete, junge und noch völlig imgefestigte deutsche Demokratie herangezogen werden. Unvergleichbares w i r d hier verglichen, Unmögliches vor allem w i r d von der Justiz i n der Konsequenz des Vergleichs verlangt. F ü r Leibholz liegt die „Gefahr" i n der Existenz des Parlaments als solcher und i n der Stellung, die ein Parlament i n der Demokratie als solcher hat. Seine Haltung ist eine Variante der ewigen Kampfstellung des Liberalen gegen alle Obrigkeit und alle Reglementierung, sie ist durchtränkt von dem Mißtrauen gegen die Institution, an der sich i n einem politischen Ordnungssystem die Macht konzentriert. Diese Oppositionsstellung, die sich ideengeschichtlich auf die Lehre von der Gewaltenteilung stützt und die i n Thomas Jefferson bekanntlich einen besonders beredten Fürsprecher gefunden hat, w i r d nach den Erfahrungen des totalitären Staates kaum jemand i m Prinzip für falsch oder überflüssig halten, aber spezifische Erkenntnisse sind von i h r aus nicht unbedingt zu 18 Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung, a. a. O., S. 66. — Vgl. auch Äußerungen Schmitts i n dem Nachwort zu dieser Schrift, a. a. O., S. 100. 19 Gleichheit, Einl. S. 13. 20 s. Leibholz, Ergänzende Studien, Kap. 2, S. 169. 21 A . a. O., S. 14 f.

1 2 4 I I . Teil: Der Gleichheitssatz i n der Weimarer Staatsrechtslehre erwarten. Das grundsätzliche und latent vorhandene Mißtrauen genügt dem freiheitsdurstigen Liberalen j a schon — : er braucht nicht erst auf den besonderen Anlaß und die akute Gefahr zu warten, sondern sucht fortwährend nach möglichst universalen Abwehrmitteln. Der A r t . 109,1, der etwa 1924 i n das Blickfeld solchen Denkens geriet, war hauptsächlich wegen seiner Universalität so attraktiv und faszinierend; hier schien w i r k l i c h der Stein der (liberalen) Weisen gefunden. War aber der Deutsche Reichstag, so wie er sich bis 1925 (erscheinen der Leibholzschen Schrift) i n seiner Funktion als Gesetzgeber darstellte und war er überhaupt i n dieser Funktion eine Gefahr i m liberalen Sinne? Man w i r d diese Frage w o h l kaum bejahen können. So omnipotent und fähig zum Absolutismus, wie Leibholz i h n sah und auf keinen F a l l erhalten sehen wollte, war er weder nach der Verfassung noch i n Wirklichkeit. Mainzer hat i n seiner subtilen K r i t i k der neuen Lehre bereits eine eindrucksvolle Analyse der in der Weimarer Verfassung liegenden Sicherungen gegen einen eventuellen „machtlüsternen Gesetzgeber" gegeben, aus der w i r einen Abschnitt zitieren 2 2 : „ . . . an der Entscheidung über die Satzung eines Wertes (ist) so ziemlich alles beteiligt, was der Staat an »integrierenden 4 Faktoren aufzuweisen hat: Volksvertretung, Länderregierungen, Reichspräsident und schließlich das Volk selbst. E i n solches Aufgebot gesetzgebender Faktoren ist aber nur der Ausdruck für die Spannimg des Staatsgrundkompromisses, durch den die verfassunggebenden Mächte den Gesetzgeber bestellt haben. Der verfassungstechnische Sinn dieser Gesetzgebungsmaschine ist — u m i m Bilde zu bleiben — ein Reibungsverlust, welcher verbürgt, daß der Wille des Parlaments die i h m von der Verfassung gezogenen Schranken nicht überschreite. In der Verfassung des Gesetzgebungsverfahrens selbst, der ausschließlichen Übertragung der gesetzgeberischen Willensbildung auf ein wohlausgewogenes Kräftespiel, liegt somit die stärkste rechtsstaatliche Garantie (Hervorhebung d. Verf.): daß keine einzelne Macht, kein Träger öffentlicher Gewalt, vor allem nicht die »gesetzgebende4 Volksvertretung sich über die von der Verfassung gezogenen Grenzen hinwegsetze, — der Gleichheitssatz ist daneben nur die feierliche Mahnung, niemand zuliebe und zuleide das Wertgehege des Grundgesetzes zu verlassen 23 ." Dem ist nur noch hinzuzufügen, daß die neue Lehre i n ihrer letzten Konsequenz über die Verfassung und alle durch die Verfassung ge22 Die Einwendungen Mainzers richten sich insbesondere gegen die I n t e r pretation des A r t . 109, 1 durch C. Schmitt als „Verbot von Ausnahmegesetzen", auf die w i r noch zu sprechen kommen, allgemein aber gegen die gesamte neue Lehre. 23 A . a. O., S. 90.

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

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gebenen Sicherungen hinausweist. W i r werden diesen Punkt bei der Darlegung des Umfanges des richterlichen Prüfungsrechts näher erörtern. — Auch das reale politische Bild der Jahre 1924/25 zeigt keine Symptome, die den Vorstoß der neuen Lehre verständlich machen. Durch die Kräfteverteilung i m Reichstag wurde der institutionalisierte „Reibungsverlust" nur noch erhöht, und zwar bis zur Beschlußunfähigkeit. Weit entfernt davon, absolutistischen Neigungen frönen zu können, bot das Parlament ein B i l d der Schwäche: viele Koalitionsmöglichkeiten, aber keine eindeutige Mehrheit. Sozialisten und Demokraten waren noch stark genug, u m den Einfluß der Rechtsradikalen wie auch der äußersten Linken, die beide i n den Wahlen vom Dezember 1924 Einbußen erlitten, i n Grenzen zu halten. Erst i m Januar 1927 kam es m i t der B i l d i m g der Regierung M a r x I V zu einer bedrohlichen Kräfteakkumulation auf der Seite der Rechten 24 , die sich aber rein parlamentarisch wegen der inneren Zerrissenheit des Zentrums kaum i m Sinne der Befürchtungen der Anhänger der neuen Lehre hätte auswirken können. Das deutsche Parlament w a r weder jetzt noch später eine spezifische Gefahrenquelle i m Sinne der liberalen Befürchtungen. Ganz anders steht es allerdings m i t der Haltung und den Leistungen der deutschen Justiz i n den Jahren 1924/25, d . h . also m i t dem Personenkreis und den Institutionen, denen nach den Forderungen der neuen Lehre das Hüten der Verfassung, der Schutz des Individuums auf der Grundlage des Gleichheitssatzes anvertraut werden sollte. Albert Schwarz schreibt zu dieser Frage: „Politische Justiz übelster Form eröffnet das Jahr (1924) m i t dem Hitler-Prozeß; sie setzt es i n mehreren zwielichtigen politischen Prozessen fort und schließt es — als Skandal — ab m i t dem großen Magdeburger Prozeß des Reichspräsidenten 26 ." Und des Übels K e r n waren nichts anderes als Verstöße gegen die Gleichheit vor dem Gesetz: „Die Milde dieses Volksgerichtsurteils (gegen Hitler und Ludendorff) steht i m unübersehbaren Gegensatz zur unversöhnlichen Härte anderer Verfahren, die sich gegen demokratische Politiker richteten. Diese wurden wegen weit weniger schwer wiegenden Verstößen zu empfindlichen Freiheits-, ja Zuchthausstrafen verurteilt und damit bewußt aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet 26 ." Z u dem gleichen U r t e i l kommt auch K . D. Bracher, und zwar ganz allgemein — für den gesamten Zeitraum der Weimarer Republik. I n den politischen Prozessen erkennt er generell eine „Tendenz zur Er24 25 26

Vgl. Schwarz, A.: Die Weimarer Republik, S. 129 ff. Die Weimarer Republik, S. 113. Schwarz, a. a. O., S. 115.

II. Teil: Der Gleichheitssatz in der Weimarer Staatsrechtslehre messensüb er schreitung", die i n „einseitige(r) Beweisführung, unangemessene(m) Strafmaß oder fragwürdige(r) Amnestieanwendimg" ihren Ausdruck fand. „Weite Kreise der Öffentlichkeit", so schreibt er weiter, „kritisierten das ungleiche Vorgehen nicht nur der Regierung, sondern vor allem der Justiz (Hervorhebung d. Verf.) gegen Bayerische Räterepublik und Kapp-Putsch 1920, gegen das Linksregime i n Sachsen und das Rechtsregime bzw. den Hitler-Putsch i n Bayern 1923. Nicht minder einseitig w i r k t e die Tatsache, daß jede K r i t i k , die liberale, pazifistische oder sozialistische Politiker und Publizisten an der illegalen Institution der Schwarzen Reichswehr und anderen Erscheinungen eines militaristischen Rechtsradikalismus übten, als Landesverrat geahndet wurde, während es dagegen i n den Femeprozessen zu erstaunlich milden Strafen kam 2 7 ." Bracher v e r t r i t t die Ansicht, daß „nicht eine offene Verletzung der juristischen Interpretationsgrundsätze, sondern die innere Einstellung der Richter zur Republik", d. h. also ihre ablehnende oder feindselige Haltung dem neuen deutschen Staat gegenüber, für diese Tatsachen verantwortlich zu machen sei, die schließlich (und zwar vor allem die i m Hitler-Prozeß zutage getretene „politische Anfälligkeit oder doch Schwäche der höchsten Spitze der Justizbürokratie", nämlich der Reichsanwaltschaft —) zu einer „machtrealistischen Einschätzung der Justiz" durch die Begünstigten geführt hätten. Wenn man auch den von Bracher genannten inneren Beweggründen der Justiz zustimmen w i r d — sie sind vielfach belegt und schon oft zur Darstellung gekommen 2 * —, so ist doch das, was Bracher „einseitige Beweiswürdigung" oder „einseitige Urteile" nennt, ganz zweifelsohne 27

Bracher, K . D.: Die Auflösung der Weimarer Republik, Stutt./Düss. 1957, 2. A., S. 194 f. — Vgl. auch Jasper, a. a. O., S. 128, 197, 205, 209, 288 f. Jasper bestätigt auf der Grundlage umfangreicher Untersuchungen zum Republikschutzgesetz das oben Ausgeführte: Es w a r nicht die „Lückenhaftigkeit des Gesetzes", die zu den unerfreulichen u n d geradezu „verhängnisvolle(n) E i n s e i t i g k e i t e n ) " führte, „sondern vielmehr die mangelnde Solidarität der Richter m i t dem neuen Staat". Die Richter handelten i m m e r wieder i n direktem „Widerspruch zu den Absichten des Parlaments"; das „Versagen vieler Richter u n d Staatsanwälte i n diesem Bereich ist nicht hinwegzudiskutieren". 28 H i e r ist v o r allem die Schrift v o n Ernst Fraenkel: „ Z u r Soziologie der Klassenjustiz" zu nennen, die 1927 i n der „Jungsozialistische(n) Schriftenreihe" i n B e r l i n erschien. W e n n Fraenkel die historischen Tatsachen auch vielleicht etwas überspitzt, sie nicht i m m e r i n zwingender L o g i k unter seinen sozialistischen Begriffsapparat ordnet u n d „Ungleichheiten" aller A r t auf Klassengegensätze reduziert — Gegensätze, die eine „ O b j e k t i v i t ä t " des Richtertums „gegen die Angehörigen einer Klasse, i n der sie den Urheber ihres Niederganges erblickt", nach seiner Ansicht unmöglich machten u n d die den Richterstand i n dem organisierten Proletariat den „inneren Feind" erblicken ließen —, so bleibt die Schrift doch insgesamt ein wertvoller Beitrag zum psychologischen Verständnis des Phänomens.

1. Abschnitt: Die alte u n d die neue Lehre

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auch eine ojfene Verletzung des obersten r e c h t s s t a a t l i c h e n P r i n z i p s , der G l e i c h h e i t v o r d e m Gesetz u n d s o m i t auch d e r „ j u r i s t i s c h e n I n t e r p r e t a t i o n s g r u n d s ä t z e " . U n b e z w e i f e l b a r w u r d e i n v i e l e n p o l i t i s c h e n Prozessen 2 9 gegen d e n G r u n d s a t z d e r G l e i c h h e i t v o r d e m Gesetz i n d e m f u n d a m e n t a l e n u n d einfachen S i n n verstoßen, i n d e m dieser Satz seit eh u n d j e v o n j e d e r m a n n verstanden w o r d e n w a r . D i e V e r t r e t e r einer L e h r e , d i e w ä h r e n d dieser k o n f l i k t r e i c h e n Z e i t e n t s t a n d , n a n n t e n diesen u n e r f ü l l t e n (und, w i e w i r w o h l h i n z u f ü g e n d ü r f e n : i n dieser Z e i t u n d u n t e r d e n gegebenen U m s t ä n d e n w o h l k a u m e r f ü l l b a r e n , aber doch u n b e d i n g t a n z u s t r e b e n d e n — ) S i n n eine Trivialitätund richteten i h r 29

Die Urteile der heutigen Historiker über die Rolle der Justiz i n den politischen Prozessen der Weimarer Zeit sind vorgebildet i n den Äußerungen der damaligen öffentlichen Meinung. Allerdings muß man, u m sich nicht selbst dem V o r w u r f ungleichen Vorgehens auszusetzen, beachten, daß es damals eine Kontroverse zwischen den A n k l ä g e r n u n d Verteidigern des V e r haltens der Justiz gab u n d daß unter den A r g u m e n t e n der letzteren doch i m m e r h i n einige nicht ganz von der H a n d zu weisen sind. I h r e Berücksicht i g i m g macht indessen die grundlegende Tatsache: die Politisierung der Justiz u n d die Unmöglichkeit, i n ihr den Retter der Demokratie u n d den Garanten der Freiheit des Einzelmenschen zu sehen, n u r noch deutlicher. Aus der großen Z a h l der diesbezüglichen Publikationen greifen w i r n u r zwei v o n jeder der Parteien heraus. Sehr kritisch: E m i l Julius Gumbel: V e r schwörer, Beitrag zur Geschichte u n d Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 1918, W i e n 1924. — Gumbel hat das gleiche Thema immer wieder, teils als A u t o r , teils als Herausgeber, behandelt. So gab er unter anderem eine v o n G. Radbruch als Abgeordnetem angeregte u n d als Minister fertiggestellte „Denkschrift des Reichsjustizministers" zu seiner (Gumbels) Schrift „ V i e r Jahre politischer M o r d " heraus (Berlin 1924), deren Veröffentlichimg auf amtlichem Wege nicht erfolgte. Weitere Veröffentlichungen Gumbels: Acht Jahre politische Justiz. Das Zuchthaus — die politische Waffe, Eine Denkschrift der deutschen L i g a f ü r Menschenrechte, B e r l i n 1927. — Verräter verfallen der Feme, B e r l i n 1929. — Laßt Köpfe rollen. Faschistische Morde 1924—31, B e r l i n 1931. I n die gleiche Richtung gehört auch das Buch v o n Heinrich Mann: Der Haß. Deutsche Zeitgeschichte, Amsterdam 1933. — Vertreter der Gegenpartei sind: Gottfried Zarnow: Gefesselte Justiz, Politische B i l d e r aus deutscher Gegenwart, Bd. 1, M ü n . 1931, 6. A . Nach F. G r i m m („Politische Justiz", S. 2) ist der Name Z a r n o w ein Pseudonym für den Schriftsteller Moritz. — Friedrich Grimm: 40 Jahre Dienst a m Recht. Politische Justiz — die K r a n k h e i t unserer Zeit, B o n n 1953. Dieses Buch ist zwar erst post festum verfaßt, beruht aber auf persönlichen Erfahrungen u n d früheren Veröffentlichungen zur gleichen Sache. Das Fazit der Beobachtungen v o n M a n n w i e auch v o n Gumbel ist, daß trotz der Einführung der demokratischen Staatsform i n Deutschland „die alten militärischen K r ä f t e " oder jedenfalls ihre Denkart herrschte: „Die Justiz w a r nie republikanisch, das sah jeder; die Reichswehr w a r es nicht, die Universitäten. K e i n T e i l der V e r w a l t u n g w u r d e republikanisch durchdrungen . . . " (Mann, a. a. O., S. 27 f.). Die Beispiele, m i t denen diese u n d ähnliche Aussagen belegt werden, sind fast ausschließlich aus dem K o m p l e x der paramilitärischen Organisationen der ersten Nachkriegszeit u n d aus den A u s einandersetzungen der radikalen Parteien gewonnen: Freikorps, Schwarze Reichswehr, Organisation „C", „ S A " , Rotfront sind die Gegenstände. M a n n schreibt w e i t e r : „ I n allen Behörden u n d i n den Parteien saßen Schwächlinge u n d Verräter, daher w a r es erlaubt, viele Jahre lang ein Heer bewaffneter Feinde des Staates heranzubilden, Unsicherheit zu verbreiten, zu M o r -

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I I . T e i l : Der Gleichheitssatz i n der Weimarer Staatsrechtslehre

A u g e n m e r k a u f eine u n e n d l i c h s c h w i e r i g e r e A u f g a b e : d i e K o n t r o l l e des Gesetzgebers. D i e alte, u n d v o n e i n e m g r o ß e n T e i l d e r deutschen J u r i s t e n — d e n A n h ä n g e r n d e r a l t e n L e h r e — i m m e r n o c h sehr ernst g e n o m m e n e A u f g a b e d e r K o n t r o l l e d e r gesetzesanwendenden B e h ö r d e n n a n n t e n sie „ f o r m a l i s t i s c h e n P o s i t i v i s m u s " u n d „ t h e o r e t i s c h e Scheinobjektivität"31, die weder der durch den politischen Umsturz verä n d e r t e n S i t u a t i o n n o c h d e r a l t e n I d e e des Rechtsstaates 3 2 , w e d e r d e r „ w e l t a n s c h a u l i c h e n W e n d u n g " d e r Z e i t 3 3 n o c h d e r I d e e d e r Gerechtigkeit34 „gerecht" werde, die v i e l m e h r k u l t u r e l l rückständig35, verfassungsmäßig u n h a l t b a r u n d l e t z t e n Endes n u r das E r g e b n i s e i n e r l a n g a n g e w o h n t e n S u b o r d i n a t i o n u n t e r d e n j e w e i l i g e n Gesetzgeber sei. W ä r e eine solche T h e o r i e ( u m sie k u r z z u f o r m u l i e r e n : U n t e r o r d n u n g alles Politischen, f a k t i s c h — M a c h t m ä ß i g e n u n t e r G e r e c h t i g k e i t u n d den zu hetzen u n d sie zu begehen. Es w a r erlaubt, die Republik u n d alle Republikaner m i t einem schrecklichen Ende zu bedrohen. A b e r es w a r einzig den Nazis erlaubt, niemals den Kommunisten. . . .Wenn i n kommunistischen Organen ein W o r t zuviel stand, w u r d e n selbst Setzer u n d Zeitungsfrauen v o n den Gerichten eingesperrt. . . . selbst beim klarsten Sachverhalt v e r schleppten die Gerichte die Prozesse, u n d niemals w u r d e u n u m w u n d e n ausgesprochen, w e r der Angreifer war, obwohl jeder es wußte." (a. a. O., 117 ff.). Gumbel befaßt sich m i t einer Reihe v o n Fällen, i n denen u. a. durch w i l l k ü r liche A u s w a h l der Schöffen, A b u r t e i l u n g e n vor „Volksgerichten" (in Bayern) u n d durch auf bestimmte Personenkreise beschränkte Verschärfungen des Festungshaft Vollzuges der Gleichheitssatz verletzt wurde. Z u r Denkschrift des Reichs Justizministeriums stellt er fest: „Nach ihrer L e k t ü r e w i r d jeder unvoreingenommene Leser eine klare Erkenntnis v o n den Rechtszuständen i m heutigen Deutschland haben. Sie gibt den Beweis für das vollkommene Versagen der Justiz, oder besser gesagt f ü r die positive Bejahung, der sich heute die politischen Morde i n Deutschland erfreuen . . . U m ihren I n h a l t noch einmal zu rekapitulieren: es ist amtlich bestätigt, daß i n Deutschland seit 1919 mindestens 400 politische Morde vorgekommen sind. Es ist amtlich bestätigt, daß fast alle v o n rechtsradikaler Seite begangen wurden, u n d es ist amtlich bestätigt, daß die überwältigende Z a h l dieser Morde unbestraft geblieben ist." (a. a. O., 178 f.). Die Gegenseite Z a r n o w / G r i m m operierte m i t den Begriffen Notlage, d r i n gendes Staatsinteresse, Vaterlandsliebe. 30 K a u f m a n n : „Bloß auf die Gesetzesanwendung bezogen, besagt der Satz v o n der Gleichheit vor dem Gesetz n u r etwas Selbstverständliches, ist er n u r eine T r i v i a l i t ä t . Dieser Gedanke hätte keiner grundrechtlichen Sanktion bedurft . . . Etwas w i r k l i c h Bedeutsames besagt der Satz von der Gleichheit n u r i n seiner A n w e n d u n g auf den Gesetzgeber." ( W S t L 3, S. 6.) I n gleichem Sinne Leibholz, Gleichheit. — Dagegen Anschütz i n W S t L 3, S. 48 u n d Mainzer: Keine „ T r i v i a l i t ä t " , sondern die „Weisheit der Erfahrung" spreche aus dem Gleichheitssatz, denn noch w i r k t e n die früheren Standesunterschiede etc. suggestiv f o r t : Der praktischen Neigung zur differentiellen Behandlung der Staatsbürger sei die symbolische K r a f t des GleichheitsSatzes entgegengestellt (a. a. O., S. 80). 31 Heller, W S t L 3, S. 57. 32 Holstein, ebd., S. 57. 33 Holstein, ebd., S. 57. 34 Leibholz, passim. 35 Leibholz, Kaufmann, Bindewald, D i x , Triepel d i r e k t oder sinngemäß an den angegebenen Orten.

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

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Recht m i t Prüfung durch unabhängige Richter) unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, wäre sie auch nur i m Kaiserreich entstanden: man würde sie verständlich und verdienstvoll nennen müssen. Aber so? Der Deutsche Reichstag war nicht der machtlüsterne Despot, war nicht die spezifische Gefahrenquelle, die die neue Lehre so unbedingt verstopfen zu müssen glaubte. Nur m i t Mühe und recht unvollkommen konnte der Reichstag sich der wirklichen Feinde der Demokratie, die aber gleichzeitig auch die Feinde des Rechtsstaates und der Gleichheit der Bürger waren, erwehren, und kurioserweise fehlte es i n diesem Falle nicht an Juristen, die darin — w i r meinen die Gesetzgebung zum Schutze der Republik — eine Verletzung des Gleichheitssatzes sahen: w e i l sie sich nämlich n u r gegen einen Teil der Bevölkerimg richte, w e i l sie die „Opposition" an der „Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Funktionen" hindere 3 8 . Vergegenwärtigt man sich also die Lage des deutschen Staatswesens zur Zeit der Entstehung und Ausbreitung der neuen Lehre über den Gleichheitssatz, eine Lage, zu der ganz wesentlich auch das hier noch gar nicht behandelte „antidemokratische" Schrifttum und die dahinter stehenden Gruppen — alle die „organischen", „biologischen", „ständischen" Staats- und Gesellschaftstheorien beispielsweise, die samt und sonders i n einer Ablehnung der demokratischen Gleichheit gipfeln — gehören, dann n i m m t es nicht Wunder, daß dieser Lehre von mancher Seite Demokratiefeindlichkeit vorgeworfen wurde. Diese Lehre kümmerte sich ja nicht u m die wirklichen Bedrohungen und Verletzungen der Gleichheit, sondern jagte i n Verkennung dieser ihrer eigentlichen Aufgabe dem „Gedanken" oder der „Idee" der Gerechtigkeit nach, der ausgerechnet das Parlament, die nach der Verfassung zentrale demokratische Institution, i m Wege stehen sollte. Nur zu gerne ließen sich ihre Anhänger den V o r w u r f „aristokratischer Neigungen" gefallen 37 : Das fand man „merkwürdig", denn es handele sich doch nur u m eine „ethische Aristokratie geistig schaffender Persönlichkeiten" 38 , man wolle die Demokratie doch nur „veredeln" 3 9 , das sei eine „ m i t den demokratischen Verfassungsgrundlagen des heutigen Staates vereinbare Aristokratie" 4 0 . Außerdem sei es aber auch ganz nützlich, wenn 88 Everling, Friedrich: Bemerkungen zum Republikschutzgesetz. Juristische Wochenschrift 59, 1930, S. 1154 ff. — I n die gleiche Richtung spielten auch einige Wendungen i n dem Beitrag von Alexander Graf zu Dohna i m HdbDStR I : Die staatlichen Symbole u n d der Schutz der Republik (§ 17, 200 ff.). 37 Leibholz, Erg. Studien, Kap. 3, S. 189; Hensel i n : K a u f m a n n / N a w i a s k y , W S t L 3, S. 58; Holstein, G.: V o n Aufgaben u n d Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, a. a. O., S. 36 ff. 38 Holstein, ebd. 39 Leibholz, Gleichheit, S. 38. 40 Leibholz, Ergänzende Studien, Kap. 3, S. 189.

9 Hill

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II. Teil: Der Gleichheitssatz i n der Weimarer Staatsrechtslehre

der Gesetzgeber die „ K r i t i k scheu(t)e, die draußen, die vom Richter geübt w i r d " 4 1 . Fazit: „ W i r haben daher die Aufgabe, unsere Schüler . . . zu erziehen, nicht i m Gesetzgeber, sondern i m Rechte die letzte Instanz zu sehen 42 ." U m verständlich zu machen, w a r u m die der alten Lehre anhängenden Professoren dieser kategorischen Aufgabenstellung ihre Zustimmung versagten, müssen w i r die eigentliche Konsequenz der neuen Lehre eingehender schildern.

2. Die Konsequenz: Das richterliche Prüfungsrecht Den Schutz des Individuums gegen den übermächtigen Gesetzgeber, das Parlament, zu ermöglichen: dieses Ziel hatte sich Gerhard Leibholz i n seiner Studie über die Gleichheit — der Einleitung zufolge — gesetzt. Gegen Ende seiner Schrift 4 3 kommt er auf diesen zentralen Ausgangsgedanken zurück, und zwar m i t dem Geständnis, daß ein solcher Schutz „ n u r auf Umwegen" möglich sei, Der „Umweg" ist der A r t . 109,1, die „Handhabe" das richterliche Prüfungsrecht. Die Weimarer Verfassung sagte n u n zwar über die Prüfungsbefugnis des Richters nichts. Aber das war f ü r Leibholz kein Hindernis: es sei j a „ n u r die durch eine lange Tradition gestützte Vorstellung von der Allmacht des Gesetzgebers", die zu der Annahme führen könne, daß der Richter nicht prüfen dürfe, und von dieser Vorstellung müsse man sich eben frei machen. Z u prüfen seien also: 1. Landesgesetze (auf ihre Übereinstimmung m i t der RV); 2. Reichsgesetze (auf ihre Übereinstimmung m i t der RV); 3. Reichsgesetze, die „unter Wahrung der unter A r t . 76 RV für Verfassungsänderungen vorgesehenen Form zustande gekommen" sind; 4. „sonstige Äußerungen der rechtssetzenden Organe des Reiches", z. B. Notverordnungen nach A r t . 48, Abs. 2 RV. M a n hat, wenn man den Passus m i t dem hier wiedergegebenen Inhalt i n der Erstfassung Leibholz ? durchliest, nicht den Eindruck, daß es sich hier u m einen bedeutungsvollen Teilabschnitt des Ganzen handelt, daß hier m i t Umsicht argumentiert w i r d — i n dem Bewußtsein kommender Einwände u n d Auseinandersetzungen und eingedenk der Tatsache, daß es sich doch schließlich, nach einer Wendung von 41 42 43

Hensel, i n : K a u f m a n n / N a w i a s k y , W S t L 3, S. 58. Hensel, ebd. Leibholz, Gleichheit, S. 123.

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

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W i l l y Hellpach, u m eine „bis ans innerste M a r k der Staatsordnung greifende Frage" 4 4 handelte. A u f nicht zwei Seiten ist alles gesagt. A u f die von vielen Seiten einsetzende K r i t i k an dem richterlichen Prüfungsrecht, das sofort als der interessanteste, w e i l praktikable, und relevanteste Teil der neuen Lehre erkannt wurde, hat Leibholz sich noch wiederholt geäußert, und zwar i m wesentlichen i n der Form neuer Behauptungen, nicht etwa des nachgeholten Beweises. So antwortete Leibholz auf den Einwand, durch das richterliche Prüfungsrecht würde das für den Rechtsstaat und die Rechtssicherheit lebenswichtige Prinzip der Gewaltenteilung i n Frage gestellt, m i t dem Argument, die Gewaltenteilung sei ohnehin bereits „durchlöchert" 4 5 , und das von i h m geforderte Prüfungsrecht sei daneben wohltuend und durchaus tragbar, ein „heilsames Korrektiv gegen gesetzgeberische W i l l k ü r " 4 8 , aristokratisch zwar, aber nicht undemokratisch. I n einem 1931 i n der Tschechoslowakei gehaltenen Referat 47 ging Leibholz noch einmal auf den entscheidenden Punkt: die Aussage der Verfassung zum richterlichen Prüfungsrecht ein, den er zunächst m i t dem „Schweigen" (der Verfassung zum Prüfungsrecht) überbrückt hatte. Sein Gedankengang gliedert sich i n folgende Stufen: a) Die Prüfimg auf Übereinstimmung m i t dem Gleichheitssatz ist nur ein Unterfall des allgemeinen richterlichen Prüfungsrechtes auf „materielle Verfassungsmäßigkeit" der Gesetze48. b) Über diese Befugnis entscheidet „allein der nicht subjektivistisch zu fassende Wille des Verfassungsgesetzgebers". c) „Läßt dieser sich nicht m i t Sicherheit ermitteln, entscheiden die allgemeinen strukturellen Grundlagen der Verfassung." d) „ U n d diese sprechen i n einer konsequent zu Ende gedachten rechtsstaatlichen Demokratie für und nicht gegen das richterliche Prüfungsrecht." Diese vier Stufen enthalten Auflösungen, Verwischungen, unbewiesene Annahmen und Unklarheiten. Schon das unter a) Gesagte t r i f f t nur für die rein formelle Betrachtung zu. Während nämlich das allgemeine richterliche Prüfungsrecht stets nur die prüfende Vergleichung eines Gesetzes m i t einer der Verfassungsnormen, je nach der materialen Vergleichsmöglichkeit, bedeutet (wobei praktisch die Subsumierbarkeit eines bestimmten Falles unter die vorhandenen Normen geprüft w i r d und der Richter das Recht hat, die höhere, also die Ver44 45 46 47 48

9

Politische Prognose, S. 180. Leibholz, Erg. Studien, Kap. 2, S. 181 f., 189. Leibholz, ebd., S. 189. Leibholz, Erg. Studien, Kap. 5, S. 216 ff. So auch schon Erg. Studien, Kap. 2, S. 182 u n d 189.

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II. Teil: Der Gleichheitssatz i n der Weimarer Staatsrechtslehre

fassungsnorm anzuwenden, wenn i h m die niedere Norm unklar oder fehlerhaft erscheint) 49 , w i r d durch die Kombination des A r t ; 109,1 nach Leibholzscher Auslegung m i t dem richterlichen Prüfungstecht dieses ungeheuer aktiviert, aufgewertet, stimuliert: es w i r d zu einem universal anwendbaren Instrument der Kontrolle des Gesetzgebers. Denn der Gleichheitssatz soll nach Leibholz j a nichts Geringeres als die „Bindung des Gesetzgebers an die Gerechtigkeit" 5 0 gewährleisten, und die Prüfimg auf Gerechtigkeit ist schließlich etwas ganz anderes, als die auf verfassungsmäßige Richtigkeit und Unbedenklichkeit eines Gesetzes. Jedes Gesetz kann nach Leibholz „gerecht" oder „ w i l l k ü r l i c h " sein, und es ist eine ungeheure, eine entscheidende Befugnis, mit solchen Kriterien verbindlich umgehen zu dürfen. Genau diese Befugnis hatte Leibholz aber i m Auge. I n b) w i r d die Behauptung von der „Zufälligkeit der Entstehungsgeschichte" wiederholt: entscheidend sollen nicht die evtl. bei der Beratung der Verfassung geäußerten Meinungen und Zielangaben sein, sondern ausschließlich der vorliegende schriftliche Verfassungstext. Das ist aber zumindest keine einmütig anerkannte Lehrmeinung. Fast alle Autoren berücksichtigen auch die i n der verfassunggebenden Nationalversammlung vorgebrachten Meinungen: die Geschichte der Umwandlung von dem 1. E n t w u r f von Hugo Preuß bis zu dem endgültigen Verfassungsdokument. Auch Leibholz verweist inkonsequent auf diese Dinge, wo es i h m nützlich erscheint 61 , was er weder brauchte noch dürfte, wenn der schriftliche Text allein völlig zweifelsfrei zu deuten wäre. Weil er es nicht ist, müssen alle nur denkbaren Möglichkeiten zur Gewinnung des Sinnes der Bestimmungen der Verfassung ausgenützt werden. Streiten kann man sich höchstens über die Rangordnung der Interpretationshillen und -modi, wobei man aber auch w i r d berücksichtigen müssen, daß es eine allgemeingültige Reihenfolge aus zeitlichen und sachlichen Gründen nicht geben kann. Bei einem noch nicht fünf Jahre alten Verfassungswerk w i r d man den subjektiven Beweggründen der Verfassungsschöpfer eine größere Bedeutung zumessen müssen als bei einem fünfzig oder hundert Jahre alten. Leibholz hat diese an sich selbstverständlichen Überlegungen brüsk an die Seite geschoben m i t der Behauptung, der subjektive W i l l e spielte überhaupt keine Rolle, denn sonst „wäre eine lebendige Fortentwicklung des geschriebenen Rechts nicht möglich" 5 2 . 49 Vgl. C. Schmitt: „Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung, a. a. O., S. 87 ff. 50 Leibholz, Erg. Studien, Kap. 5, S. 219. 51 Beispielsweise auf S. 34 seiner Studie, w o er, u n t e r Berufung auf den 3. E n t w u r f der RV, sogar v o n einer „Tendenz" spricht, i n der A r t . 109,1 geschaffen worden sei. 62 Erg. Studien, Kap. 5, S. 230.

1. Abschnitt: Die alte und die neue Lehre

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Die Kette der Halb Wahrheiten setzt sich fort i n dem Satz unter c). Wie gesagt, ist es so eine Sache m i t der „Sicherheit", die man aus einer sprachlichen Äußerung über den Sinn derselben gewinnen kann. Irgendeine Unsicherheit w i r d man außerdem i m Bedarfsfalle immer „ermitteln" können. Damit ist dann der Rückzug auf die „strukturellen Grundlagen" offen und jede Sicherheit dahin. Nicht so allerdings für Leibholz. Denn unter d) entdeckt er doch gerade i n ihnen „Sprecher" für das richterliche Prüfungsrecht. Warum, w i r d nicht verraten. Als Notwendigkeit w i r d allerdings das konsequente „Zu-Ende-Denken" der „rechtsstaatlichen Demokratie" angegeben. Damit ist der Endpunkt des Auflösungsprozesses erreicht: nicht wichtig ist das subjektive Wollen der Verfassungsschöpfer, auch der objektive Wille (sprich Text) kann Unsicherheiten bestehen lassen, auch die „allgemeinen strukturellen Grundlagen" der (also der konkreten) Verfassung können noch nicht die endgültige Entscheidung ermöglichen, aber i n einer „rechtsstaatlichen Demokratie" (d. h. i n der rechtsstaatlichen Demokratie als solcher —) weiß man natürlich, woran man ist. Leibholz' Deutung des A r t . 109, 1 R V basiert nicht auf der Weimarer Verfassung, sondern auf der rechtsstaatlichen Demokratie, also auf einer Idee. N u n möchte man freilich, wenn schon das ideelle Fundament bevorzugt wird, gerne wissen: welche Idee. Aber da w i r d man enttäuscht. Zwar behauptet Leibholz „zu Ende" gedacht zu haben, aber der „Endpunkt" heißt rechtsstaatliche Demokratie. Ist es n u n aber der Rechtsstaat oder die Demokratie, aus der sich das Prinzip des richterlichen Prüfungsrechts ergibt? Diese Frage w i r d i n keiner der Abhandlungen Leibholz' gestellt. I n der Wendung, das Prüfungsrecht sei der „höchste rechtsstaatliche Ausdruck" der Demokratie 5 3 , scheint sich die Waage zugunsten des Rechtsstaates zu senken: Das Prüfungsrecht ist die Stelle, wo die Demokratie rechtsstaatlich wird. Aus vielen anderen Stellen aber ergibt sich das Gegenteil. So vor allem aus den verschiedentlichen Hinweisen Leibholz', die „neue" Interpretation des Gleichheitssatzes sei geboten durch den politischen Umschwung i n Deutschland 64 . N u n aber war das Neue i n den politischen Verhältnissen Deutschlands die Demokratie , ein Rechtsstaat war auch das kaiserliche Deutschland. Demzufolge müßte der Angelpunkt des richterlichen Prüfungsrechts i n der Demokratie liegen. Dahin weist auch folgende Stelle: „Nach der heutigen S t r u k t u r der demokratischen Verfassungen gehören Demokratie, Gleichheit vor dem Gesetz und richterliches Prüf ungs63 64

Erg. Studien, Kap. 5, S. 232. Ebd., S. 168, Kap. 2.

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recht zusammen 56 ." Aber die einleitende Wendung läßt doch wieder Zweifel aufkommen, denn zur „heutigen Struktur der demokratischen Verfassungen" gehört eben auch ganz wesentlich der rechtsstaatliche und nicht zuletzt auch der parlamentarische Charakter. N u n ist auch zu beachten, daß Leibholz auf das Volk und sein Rechtsbewußtsein zurückgreift. Der Legitimationsgrund der Gesetze ist das „Rechtsbewußtsein einer konkreten Volksgemeinschaft" 66 . Erst durch die Zustimmung des Volkes w i r d ein Gesetz zu Recht. Der Richter, der m i t Hilfe des Gleichheitssatzes ein Gesetz prüft, „schöpft", wie Leibholz auf Einwände von Rümelin erklärend ausführt, „aus dem allgemeinen Rechtsbewußtsein des Volkes" 5 7 . Nach dieser Erklärung n i m m t also der Richter stellvertretend das Recht des Volkes wahr, ein Gesetz anzuerkennen oder als Unrecht und W i l l k ü r abzulehnen; er ist, m i t dem Ohr am Munde des Volkes, Sprecher des Volkes! Danach wäre also das richterliche Prüfungsrecht demokratisch legitimiert. So einleuchtend dieser Gedankengang auf den ersten Blick auch ist, auf den zweiten ist er es nicht mehr. Denn mindestens zwei Fragen sind noch offen: 1. Was hört das Ohr des Richters am Mun